Episteme der Medienwissenschaft: Systemtheoretische Studien zur Wissenschaftsforschung eines transdisziplinären Feldes [1. Aufl.] 9783839407127

Die Studie unternimmt den Versuch, die jüngere Geschichte der hoch dynamischen Medienwissenschaft mittels einer systemth

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German Pages 392 Year 2015

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Inhalt
Danksagung
1 ›Transdisziplinarität‹ von Medienforschung
Medienevolution und Medienreflexion
Komplexitätszunahme der Medienforschung
Differenzierung der Medienforschung
Episteme ›transdisziplinärer‹ Medienwissenschaft
Studiendesign und Forschungsprogramm
Anspruch und Reichweite der Untersuchung
Grundlegung
2 Erforschung der Wissenschaft
Gesellschaftsevolutionäre Matrix
Krisis der Wissenschaft und Reflexion der Wissenschaft
(Sub-)Disziplinäre Zugänge der Wissenschaftsforschung
Institutionalisierung moderner Wissenschaftsforschung
Theoriegeleitete Diskussion ›klassischer‹ Wissenschaftsforschung
Reflexionsmechanismen des Wissenschaftssystems
3 Wissenschaftsforschung der Medienwissenschaft
Aktualität, Relevanz und Resonanz der Wissenschaftsforschung
Kopplungen von Wissenschaftsforschung und Medienforschung
System moderner Wissenschaft und wissenschaftlicher Disziplinen
Makroskopische Evolutionslinien disziplinärer Medienforschung
Legitimationsstrategien ›transdisziplinärer‹ Medienforschung
Beobachtungslogik(en) ›transdisziplinärer‹ Medienwissenschaft
Anwendung
4 Forschungskomplex ›Medienphilosophie‹
Synthetische Problemorientierungen
Selbstbeschreibungen von Medienphilosophie
Anfänge medienphilosophischen Nachdenkens
Genealogien von Medienphilosophie
Pragmatische und theoretische Konzepte von Medienphilosophie
Wechselseitige Einschreibung des Geistes und des Materiellen
5 Forschungskomplex ›Medieninformatik‹
Integrale Problemorientierungen
Selbstbeschreibungen von Computer Supported Cooperative Work
Modellierung von Medien im Kommunikationsprozess
Modellierung von Aufgaben im Kommunikationsprozess
Konstitution, Kommunikation und Dynamik von Gruppen
Korrelation von Medien, Kommunikation und Aufgaben
Schluss
6 Wissenschaftsforschung als ›Work-in-Progress‹
Komplexitätsmanagement der Medienforschung
Strukturelles Scheitern disziplinärer Reflexionsroutinen
Anwendung integraler systemischer Wissenschaftsforschung
Wissenschaftstheoretische Problemimplikationen
Umstellung auf ›transdisziplinäre‹ Differenzierung und Evolution
Kultivierung medienreflexiver Wissenschaftsforschung
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Episteme der Medienwissenschaft: Systemtheoretische Studien zur Wissenschaftsforschung eines transdisziplinären Feldes [1. Aufl.]
 9783839407127

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Christian Filk Episteme der Medienwissenschaft

2009-06-15 12-19-16 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ef212961750694|(S.

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) T00_01 schmutztitel - 712.p 212961750702

Christian Filk (Prof. Dr. phil.) ist Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur (HTW), Schweiz. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wissenschaftsforschung, Medienwissenschaft und Kommunikationspragmatik.

2009-06-15 12-19-16 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ef212961750694|(S.

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) T00_02 seite 2 - 712.p 212961750742

Christian Filk

Episteme der Medienwissenschaft Systemtheoretische Studien zur Wissenschaftsforschung eines transdisziplinären Feldes

2009-06-15 12-19-17 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ef212961750694|(S.

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) T00_03 titel - 712.p 212961750774

Die vorliegende Arbeit wurde unter dem Titel »Zur Logik der Medienforschung – Grundlegung und Vorstudien zu einer systemtheoretischen Wissenschaftsforschung der aktuellen Medienwissenschaft« vom Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität Kassel als Dissertation angenommen. Tag der Disputation: 21. Juni 2006.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Christian Filk Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-712-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2009-06-15 12-19-17 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ef212961750694|(S.

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) T00_04 impressum - 712.p 212961750814

Inhalt

Danksagung

1 ›Transdisziplinarität‹ von Medienforschung Medienevolution und Medienreflexion Komplexitätszunahme der Medienforschung Differenzierung der Medienforschung Episteme ›transdisziplinärer‹ Medienwissenschaft Studiendesign und Forschungsprogramm Anspruch und Reichweite der Untersuchung

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9 9 14 21 27 32 36

Grundlegung 2 Erforschung der Wissenschaft Gesellschaftsevolutionäre Matrix Krisis der Wissenschaft und Reflexion der Wissenschaft (Sub-)Disziplinäre Zugänge der Wissenschaftsforschung Institutionalisierung moderner Wissenschaftsforschung Theoriegeleitete Diskussion ›klassischer‹ Wissenschaftsforschung Reflexionsmechanismen des Wissenschaftssystems

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3 Wissenschaftsforschung der Medienwissenschaft Aktualität, Relevanz und Resonanz der Wissenschaftsforschung Kopplungen von Wissenschaftsforschung und Medienforschung System moderner Wissenschaft und wissenschaftlicher Disziplinen Makroskopische Evolutionslinien disziplinärer Medienforschung Legitimationsstrategien ›transdisziplinärer‹ Medienforschung Beobachtungslogik(en) ›transdisziplinärer‹ Medienwissenschaft

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Anwendung 4 Forschungskomplex ›Medienphilosophie‹ Synthetische Problemorientierungen Selbstbeschreibungen von Medienphilosophie Anfänge medienphilosophischen Nachdenkens Genealogien von Medienphilosophie Pragmatische und theoretische Konzepte von Medienphilosophie Wechselseitige Einschreibung des Geistes und des Materiellen

209 209 216 223 237 245 254

5 Forschungskomplex ›Medieninformatik‹ Integrale Problemorientierungen Selbstbeschreibungen von Computer Supported Cooperative Work Modellierung von Medien im Kommunikationsprozess Modellierung von Aufgaben im Kommunikationsprozess Konstitution, Kommunikation und Dynamik von Gruppen Korrelation von Medien, Kommunikation und Aufgaben

259 259 267 279 290 302 308

Schluss 6 Wissenschaftsforschung als ›Work-in-Progress‹ Komplexitätsmanagement der Medienforschung Strukturelles Scheitern disziplinärer Reflexionsroutinen Anwendung integraler systemischer Wissenschaftsforschung Wissenschaftstheoretische Problemimplikationen Umstellung auf ›transdisziplinäre‹ Differenzierung und Evolution Kultivierung medienreflexiver Wissenschaftsforschung

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Literaturverzeichnis

Da nk sa gung Die vorliegende Studie wurde unter dem Titel Zur Logik der Medienforschung im Sommersemester 2006 vom Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität Kassel als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde das Manuskript überarbeitet und gekürzt. Meinen Betreuern und Gutachtern, Herrn Peter Seibert und Herrn Achim Barsch, sage ich großen Dank; sie haben mich jederzeit mit fachkundigem Rat und persönlichem Zuspruch unterstützt. Ferner möchte ich den weiteren Mitgliedern der Promotionskommission, Herrn Georg-Michael Schulz sowie Herrn Josef Wallmannsberger, für die sachlich interessierte Durchführung der Disputatio danken. Besonderer Dank gebührt meinen Eltern, Christel und Karl Hermann Filk, die mir die Möglichkeit gaben, eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen, und die mich immer nach Kräften gefördert haben. Nicht zuletzt danke ich meiner Freundin Ines Carmen Duda von ganzem Herzen für ihre fortwährende mentale Unterstützung. Ihr ist das Buch Episteme der Medienwissenschaft gewidmet.

1 ›Tra ns disziplina ritä t‹ von Me die nforsc hung »Will man ein Urteil über die Möglichkeiten der Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft gewinnen, muß man vor allem bedenken, daß sie nicht mehr als Weisheitslehre mündlich tradiert wird und nicht mehr als Philosophie hohe Abschlußgedanken artikuliert, sondern den Eigengesetzlichkeiten der Massenmedien folgt.«1 – Niklas Luhmann

M e d i e n e vo l u t i o n u n d M e d i e n r e f l e x i o n »Das Zusammenspiel von Nichtwissen und Wissen in der Form des Wissens der Wissensgesellschaft ähnelt«, so die provokante Einlassung des Soziologen Helmut Willke, »[…] der Bewegung von Blinden in systemischen Kontexten, in denen sie sich orientieren können, obwohl ihnen nahezu alle Details unbekannt sind.«2 – Sollte diese Einschätzung in der Tat zutreffen, so wäre die Entwicklung einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft durch ein großes strukturelles Dilemma charakterisiert: das Problem ihrer soziokulturellen, -politischen, -ökonomischen und -technischen Gestaltbarkeit in Gegenwart und Zukunft. Die überkommene postindustrielle Gesellschaft und Industriekultur sehen sich, veranlasst durch den Zerfall ihrer traditionsstiftenden Grundfes-

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Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 1097. Helmut Willke: Dystopia. Studien zur Krisis des Wissens in der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 11-12.

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ten, nach neuen ›Kommunikationskulturen‹ und neuen ›Leitmedien‹ um.3 Fokussiert man sich in der Medienbeobachtung exemplarisch auf die Agenda-Setting-Effekte4 der Installierung und Etablierung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK-Techniken), so konturiert sich ein Panorama engagierter bis kontroverser Diskussionen um das Für und Wider elektronischer Medien seit den frühen 1980er Jahren.5 Eine Phalanx von ›Technikeuphemisten‹ auf der einen Seite und von ›Kulturpessimisten‹ auf der anderen Seite überboten sich gegenseitig in Diagnosen und Prognosen zu tatsächlichen und/oder vermeintlichen Auswirkungen der Informations- und Kommunikationstechnologien. Die regelmäßig unter Verwendung der ›Fortschrittsmetapher‹ beschriebenen Entwicklungsschübe der elektronischen Medien – heute spricht man lieber in unprätentiöser Weise von ›evolutiven Dynamiken‹ – zeitigen tief greifende und nachhaltige Effekte.6 Forciert mit Beginn der 1990er Jahre figurieren interaktive und kollaborative Informations- und Kommunikationstechnologien, man denke beispielsweise an World Wide Web (WWW), Internet, Mobile Devices, Web 2.0, Open (Source) Science, Personal, Social und Semantic Web sukzessive als Moment und Faktor gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. Dieser und ähnlicher Sachverhalte kann man in vielfältigen soziokulturellen, -politischen, -ökonomischen, -technischen, -ethischen und -ästhetischen Diskursen ansichtig werden. So setzten sich die so genannten ›Neuen Medien‹ (im weit gefassten Wortsinne) gesellschaftsweit durch;7 sie gelten im zunehmenden Maße als moderne ›Kulturtechniken‹.8 Ent-

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Vgl. Michael Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 11. Vgl. grundlegend Maxwell E. McCombs/Donald L. Shaw: »The AgendaSetting Function of Mass Media«, in: Public Opinion Quarterly, 36 (1972) 2, S. 176-187. Es sei daran erinnert, dass sich der definitorisch unpräzise Begriff ›Neue Medien‹ damals auf elektronische Medien im weiteren Sinne bezog. Mitunter war nicht nur der aufkommende Personalcomputer (PC) gemeint, sondern auch das Kabel- und Satellitenfernsehen waren mit eingeschlossen. Retrospektiv nehmen sich die terminologischen Veränderungen zur Bezeichnung jeweils ›neuer‹ Informations- und Kommunikationstechnologien als höchst aufschlussreich aus. Vgl. auch Jay David Bolter/Richard Grusin: Remediation. Understanding New Media, Cambridge, Massachusetts/London: MIT Press 1999. Vgl. auch Paul E. Ceruzzi: A History of Modern Computing, Cambridge, Massachusetts/London: MIT Press 1998. Vgl. unter anderem Martin Warnke/Wolfgang Coy/Georg Christoph Tholen (Hg.): HyperKult. Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien, Basel/ Frankfurt am Main: Stroemfeld 1997. Vgl. zum Beispiel Sybille Krämer: »Medien als Kulturtechniken oder: Ist der Umgang mit dem Computer eine vierte Kulturtechnik?«, in: Günter Kruck/Veronika Schlör (Hg.): Medienphilosophie – Medienethik. Zwei Ta-

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sprechende Kommunikationsstrukturen und -prozesse stellen ein konstitutives Moment in individuellen und kollektiven Lebens- und Erfahrungswelten dar; sie erzeugen semiotische, symbolische und ästhetischstilistische Referenzsysteme.9 Elektronische Informations- und Kommunikationstechnologien bilden ein integrales Substrat der viel bemühten ›Glokalisierung‹.10 Die duale Ordnung des Mediensystems (Konkurrenz öffentlich-rechtlicher und privat-wirtschaftlicher Anbieter) gilt als unumkehrbar.11 Kulturelle Paradigmen werden durch ökonomische in Frage gestellt (etwa Gemeinwohl versus Marktkräfte).12 Mediale Präsentationskodes, Ästhetiken und Performanzen werden einem massiven Wandel unterworfen.13 Umfassende Medienstrukturen erzeugen mediale Wirklichkeitskonstruktionen im Modus von ›Derealisation‹, ›Simulation‹ und ›Virtualisierung‹ usf.14 Solche ubiquitär medieninduzierten Veränderungen im Bereich individueller und kollektiver Lebenswelten haben – wie auch immer sie sich konkret ausnehmen mögen – aufgrund ihrer hohen Eigendynamik und -komplexität Folgen und Konsequenzen für die mit ›Medien‹ befassten Wissenschaftsdisziplinen und -kulturen. Ein eigens reklamierter disziplinärer Anspruch auf Ausschließlichkeit und/oder Angemessenheit der Erforschung von ›Kommunikationsmedien‹ bis ›Medienkommunikation‹ lässt sich, sofern es ihn gerechtfertigter Weise jemals gegeben haben sollte, kaum mehr ernsthaft aufrechterhalten. Aus unterschiedlichen Gründen – ich komme darauf zurück – unternehmen zahlreiche Disziplinen verstärkt seit einigen Jahren den Versuch, mit ihren als originär verstandenen Problemexpositionen und Lösungsstrategien ihren Beitrag zur Medienforschung zu leisten.

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gungen – eine Dokumentation, Frankfurt am Main u. a.: Lang 2003, S. 4762. Vgl. Udo Thiedeke: Medien, Kommunikation und Komplexität. Vorstudien zur Informationsgesellschaft, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1997. Vgl. zu diesem Neologismus aus ›Globalisierung‹ und ›Regionalisierung‹ etwa Roland Robertson: »Glokalisierung. Homogenität und Heterogenität in Zeit und Raum«, in: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 192-220. Vgl. zusammenfassend Otto Altendorfer: Das Mediensystem der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001. Vgl. stellvertretend für Viele Marie-Luise Kiefer: Medienökonomik. Einführung in eine ökonomische Theorie der Medien, München/Wien: Oldenbourg 2001. Vgl. beispielsweise Florian Rötzer (Hg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996. Vgl. U. Thiedeke: Medien, Kommunikation und Komplexität (wie Anm. 9), S. 85.

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Gerade in den medien- und kommunikationswissenschaftlichen Communities scheint eine mitunter heftige Diskussion um ›Disziplinarität‹ versus ›Interdisziplinarität‹ aufs Neue zu entbrennen. Davon zeugen einzelne Reaktionen – etwa aus dem Umfeld der Gesellschaft für Medienwissenschaft e. V. (GfM) und der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft e. V. (DGPuK) –15 auf die jüngst vom Wissenschaftsrat (WR) vorgelegten Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Kommunikations- und Medienwissenschaften in Deutschland.16 Das erlauchte Beratungsgremium der Wissenschaftspolitik verlangt in Bezug auf die zukünftige Forschung »nicht eine weitere Differenzierung des Feldes, sondern hält die Verstärkung der Kooperation über die Grenzen der Fächer und wissenschaftlichen Ausrichtungen hinweg für unabdingbar«17. Mit dieser Forderung formuliert der Wissenschaftsrat in gewisser Hinsicht den Lackmustest für eine emergierende Medienforschung:18 Wie halten es Medien- und Kommunikationswissenschaft – unbeschadet der unergiebigen Debatten um ›Inter-‹, ›Multi-‹ oder ›Transdisziplinarität‹19 während der letzten zwei, drei Dezennien – mit dem Postulat einer dezidiert fächerübergreifenden Zusammenarbeit? In der vorliegenden Arbeit vertrete ich die Auffassung, dass die ›Medienforschung‹ – dieser Kollektivsingular sei an dieser Stelle erlaubt – aufgrund einer Komplexitätszunahme in den Problemorientierungen ihrer Gegenstände, wie man insbesondere aus Sicht einer integrierten Wissenschaftsforschung zu gewärtigen vermag,20 inter-, multi- und vermehrt transdisziplinäre Evolutions- und Ausdifferenzierungstrends antizipiert. 15 Vgl. unter anderem dazu Ulrike Bergermann: »Media mainstreaming? Zur Debatte um das Papier des Wissenschaftsrats zur Forschung und Lehre in den Kommunikations- und Medienwissenschaften«, in: MEDIENwissenschaft: rezensionen / reviews, 24 (2007) 4, S. 390-399; die zum Teil divergenten Stellungnahmen »Empfehlungen des Wissenschaftsrates«, in: Aviso. Informationsdienst der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft e. V. (DGPuK), Nr. 45, 3/2007, S. 3-10 sowie die »Positionen« zur Fachpolitik, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM), Ausgabe 2008, S. 3-6. 16 Vgl. Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Kommunikations- und Medienwissenschaften in Deutschland, Köln: Wissenschaftsrat 2007, elektronisch verfügbar unter: (letzte Änderung: 29.05.2007; letzter Zugriff: 01.11.2007). 17 Ebd., S. 82. 18 Vgl. zur Forschungsextension seit den späten 1980er Jahren Jürgen Güdler: Dynamik der Medienforschung. Eine szientometrische Analyse auf der Grundlage sozialwissenschaftlicher Fachdatenbanken, Bonn: InformationsZentrum Sozialwissenschaften 1996, insbesondere S. IX-XIV. 19 Vgl. resümierend Jürgen Mittelstraß: Transdisziplinarität – wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2003, S. 6-9. 20 Vgl. Wolfgang Krohn/Günter Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 7.

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Aus diesem Sachverhalt resultiert forschungslogisch – nicht unbedingt fächerlogisch! – das Gebot nach transdisziplinären Reflexionen in dieser Domäne. Die Studie Episteme der Medienwissenschaft bemüht sich, sich den konzeptuellen Anforderungen und Herausforderungen einer solchen transgressiven Kooperation in der Medienforschung offensiv zu stellen. Der Ansatzpunkt besteht in der Überprüfung der Arbeitshypothese, dass sich seit Anfang der 1980er Jahre nach und nach eine Medienforschung elementar modifizierter Provenienz durchzusetzen beginnt, die in zentralen Kontexten traditionelle disziplinäre Forschungskalküle überschreitet: Einerseits sind subdisziplinäre Formationen medienreflexiver Wissenschaften zu konzedieren, die in ihren Entwicklungslogiken im Prinzip mit evolutionär agierenden Mechanismen (hier: Sekundärevolutionen) disziplinär differenzierter Wissenschaften korrelieren,21 wie sie sich wesentlich im Laufe des 20. Jahrhunderts konfiguriert haben. Andererseits sind – wenn auch zunächst als mehr oder minder explizite Statements –22 transdisziplinäre Differenzierungstendenzen medienreflexiver Wissenschaften zu konstatieren, die sich den traditionellen fachlichen Identifikations-, Explikations- und Legitimationsschemata weithin entziehen, da sie häufig nur noch wenige eindeutige Referenzen in den Basisdisziplinen des ›klassischen‹ Fakultätengefüges der Universität haben. Damit geht die Frage einher: Ob und gegebenenfalls inwieweit lassen sich transdiszplinäre Ausdifferenzierungen in der Medienforschung (re-)konstruieren?

21 Vgl. Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740-1890, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 99. 22 Vgl. unter anderem Peter Ludes/Georg Schütte: »Für eine integrierte Medien- und Kommunikationswissenschaft«, in: Helmut Schanze/Peter Ludes (Hg.): Qualitative Perspektiven des Medienwandels. Positionen der Medienwissenschaft im Kontext »Neuer Medien«, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 27-63, hier S. 50-58; Heinz Bonfadelli/Otfried Jarren: »Publizistik- und Kommunikationswissenschaft – ein transdisziplinäres Fach«, in: Otfried Jarren/Heinz Bonfadelli (Hg.): Einführung in die Publizistikwissenschaft, Bern/Stuttgart/Wien: Haupt 2001, S. 3-14, hier S. 9-10; Gebhard Rusch: »Medienwissenschaft als transdisziplinäres Forschungs-, Lehr- und Lernprogramm. Plädoyer für eine integrierte Medien- und Kommunikationswissenschaft«, in: Gebhard Rusch (Hg.): Einführung in die Medienwissenschaft. Konzeptionen, Theorien, Methoden, Anwendungen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 69-82, hier, S. 76 sowie Mike Sandbothe: »Medien – Kommunikation – Kultur. Grundlagen einer pragmatischen Kulturwissenschaft«, in: Matthias Karmasin/Carsten Winter (Hg.): Kulturwissenschaft als Kommunikationswissenschaft. Projekte, Probleme, Perspektiven, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003, S. 257-271, elektronisch verfügbar unter: , o. S. (letzte Änderung: 29.04.2003; letzter Zugriff: 02.11.2007).

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Komplexitätszunahme der Medienforschung Präzepiert man den von der Wissenschaftsforschung beobachteten und beschriebenen strukturellen Trend in der Wissenschaftsgenese zur Konstitution transdisziplinärer Forschungs- und Entwicklungsfaktoren respektive transdisziplinärer Forschungs- und Entwicklungsformationen,23 so wird dieser Sachverhalt offenbar in der Medienforschung mit einer Zunahme inter-, multi- und/oder transdisziplinärer (Selbst-)Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen reflektiert. Mithin, so scheint es, koinzidieren die Zunahme im Abstraktions- und Komplexitätsniveau von Wissenschaft und Forschung, der strukturelle Trend zur Konstitution transdisziplinärer Forschungs- und Entwicklungskalküle in der Wissenschaftsevolution und das vermehrte Aufkommen inter-, multi- und/oder transdisziplinärer (Selbst-) Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen in der Medienforschung (vornehmlich Medien- und Kommunikationswissenschaft). Nehmen Kultur- und Sozialwissenschaften das ihnen gemeinsame emanzipatorische Aufklärungsmandat an, so kommt ihnen die zentrale Aufgabe zu, auf die Einbeziehung und Gestaltung einer technischen Zivilisation in der modernen funktional differenzierten Gesellschaft zu reflektieren, mithin zu einem tieferen und kritischeren Verständnis der (Re-) Produktion sozialen Sinns beziehungsweise sozialer Ordnung beizutragen. Damit gelangen vor allem (Selbst-)Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen der Differenzierungsprozesse an den Rändern des philosophischen und technikwissenschaftlichen Fächerkanons in den Fokus des Untersuchungsgangs. Hinsichtlich der vorgängigen Dynamik und Emergenz in der Medienforschung finde ich es faszinierend, den transdisziplinären Ausdifferenzierungen und Neukonstituierungen anhand von Forschungskomplexen aus verschiedenen thematischen Sektoren und mit unterschiedlichen evolutionären Formationen nachzugehen. Besonders viel versprechend scheinen mir dabei zurzeit diejenigen Trends zu sein, die mit den Schlagworten ›Epistemisierung‹, ›Informatisierung‹ und ›Ökonomisierung‹ von Medien in Beschlag genommen werden. Diese thematische Konstellation ist nicht allein intellektuell von Interesse, sondern ebenso von empirischer Relevanz, wie die aufschlussreiche Studie Dynamik der Medienforschung des Soziologen Jürgen Güdler eindrücklich belegt.24 23 Vgl. insbesondere Jürgen Mittelstraß: Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 78-82. 24 Vgl. J. Güdler: Dynamik der Medienforschung (wie Anm. 18.) und in der Zusammenfassung Lothar Krempel: »Dynamik der Medienforschung. [E]ine szientometrische Analyse auf der Grundlage sozialwissenschaftlicher Fachdatenbanken«, elektronisch verfügbar unter: , o. S. (letzte Änderung: undatiert; letzter Zugriff: 14.03.2004).

›TRANSDISZIPLINARITÄT‹ VON MEDIENFORSCHUNG | 15

In dieser szientometrischen Analyse wertet Güdler mit einer Arbeitsgruppe die Entwicklung der Medienforschung in der Bundesrepublik Deutschland von 1987 bis 1994 aus, indem er zum einen erfasst: wie viele Wissenschaftler innerhalb eines Forschungsfeldes an Kooperationsnetzwerken teilhaben,25 und zum anderen: welche vorherrschenden wissenschaftlichen Ausrichtungen in einem Forschungsfeld gegeben sind.26 (Details der Güdler’schen Studie werden weiter unten im Zusammenhang der »Wissenschaftsforschung der Medienforschung« einschlägig thematisch werden.) Die in den Relationen der Forschungsfelder manifestierten Strukturen zeichnen sich während des gesamten Untersuchungszeitraums durch hohe Stabilitäten aus. Im Laufe der Auswertungsphasen (von 1987 bis 1988, von 1989 bis 1991 und 1992 bis 1994) differenzierten sich folgende Forschungskulturen aus: • »Neue Medien/Medientechnik«; • »Medien als Wirtschaftsorganisationen«; • »Medienwirkung/Mediennutzung« sowie • »Medien als kultureller Faktor«.27 Wenn man sich einzelne Befunde genauer anschaut, so zeigt sich etwa in der Forschungskultur »Neue Medien/Medientechnik« eine gleichsam ausgeprägte Theorie- wie Anwendungsorientierung. Dieser Forschungskultur wird ein viel versprechendes evolutionäres Potenzial zugeschrieben. Im Bereich der Forschungskultur »Medienwirkung/Mediennutzung« vollzieht sich eine markante Umakzentuierung des Theorieschwerpunktes hin zu »Medien als kultureller Faktor«. Unter der Ägide einer expansiven Anwendungsorientierung sind die der Forschungskultur »Medien als Wirtschaftsorganisationen« inkorporierten Gebiete herauszustreichen. Der Umstand, dass theoretischen Problemstellungen in diesem Sektor lediglich eine deutlich unterdurchschnittliche Relevanz zugeschrieben wird, spricht für ein Forschungsdesiderat. Die »Medienwirkungsforschung« nimmt sich sowohl in der Theorie- als auch in der Anwendungsorientierung kontinuierlich stark ausgeprägt aus. Schlussendlich stellt das Forschungsfeld »Kommunikation« seine »Schlüsselstellung« für die deutschsprachige Medienforschung unter Beweis. Während der drei Untersuchungsphasen der Studie entfällt auf das Forschungsfeld »Kommunikation« der mit beachtlichem Abstand höchste Anteil theoretisch kategorisierter Dokumente. Auch die Anwendungsorientierung rangiert hier auf einem äußerst hohen Niveau.28 Diese der Dynamik medienbezogener Wissenschaften implizier-

25 Vgl. J. Güdler: Dynamik der Medienforschung (wie Anm. 18), S. IX-XIV, S. 6-11, passim. 26 Vgl. ebd. 27 Vgl. ebd. 28 Vgl. J. Güdler: Dynamik der Medienforschung (wie Anm. 18), S. 44-51 und L. Krempel: »Dynamik der Medienforschung« (wie Anm. 24), o. S.

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ten Forschungsprozesslogiken lassen sich nicht (mehr) allein mittels Wissenschaftsdisziplinkalkülen erklären, sondern postulieren vielmehr, so mein Standpunkt, transdisziplinäre Reflexionsansätze grundlegend zu prüfen. Die medialen Transformationen, in denen sich die gesellschaftliche Kommunikation, Tradition und Distribution kulturellen Wissens manifestieren, reüssieren – in systemtheoretischer Diktion – als Leitmotiv der (Selbst-) Beobachtung beziehungsweise (Selbst-)Beschreibung kurrenter Gesellschaftsstrukturen und -semantiken,29 was nicht zuletzt aufgrund des programmatischen Charakters vieler solcher Gegenwarts- und Zukunftsentwürfe auch politische Strategien und Konsequenzen impliziert. Damit versucht die Analyse, dem mit der Medienevolution einhergehenden Komplexitäts- und Abstraktionsniveau Rechnung zu tragen. An Präfixen zur Spezifizierung der Gegenwarts- und Zukunftsgesellschaft herrscht wahrhaftig kein Mangel; als augenfälligste Apostrophierungen kursieren in erster Linie: ›Informations-‹, ›Medien-‹, ›Kommunikations-‹, ›Wissens-‹ oder ›Risikogesellschaft‹.30 Dabei spielen die interferierenden Normen und Effekte von Medien, Kommunikation und (wissenschaftlichem) Wissen31 eine entscheidende Rolle. Rubriziert man die jüngeren Entwicklungen im mannigfaltigen Diskursgefüge der Informations- und Kommunikationstechnologien Pars pro toto unter der Signatur einer emergierenden ›Informationsgesellschaft‹ – ihre funktionalen Äquivalente in der gesellschaftlichen (Selbst-)Beobachtung und (Selbst-)Beschreibung eingeschlossen –, so fungier(t)en die damit verbundenen Maximen und Imperative im Wissenschaftssystem als Attraktoren und Mechanismen einer expansiven Medienforschung wäh29 Vgl. etwa N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (wie Anm. 1), S. 866-1149. 30 Vgl. zum Beispiel Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main/New York: Campus 1992; Nico Stehr: Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994; Richard Münch: Die Dynamik der Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995; Dirk Matejovski/Friedrich A. Kittler (Hg.): Literatur im Informationszeitalter, Frankfurt am Main/New York: Campus 1996; Werner Fricke (Hg.): Arbeit, Umwelt, Technik in der Wissensgesellschaft, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung e. V. 2000; Siegfried J. Schmidt: Kalte Faszination. Medien – Kultur – Wissenschaft in der Mediengesellschaft, Weilerswist: Velbrück 2000; Hans Ulrich Buhl/Andreas Huther/Bernd Reitwiesner (Hg.): Information Age Economy. 5. Internationale Tagung Wirtschaftsinformatik 2001, Heidelberg: Physica 2001 oder Kurt Imhof u. a. (Hg.): Mediengesellschaft. Strukturen, Merkmale, Entwicklungsdynamiken, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004. 31 Immerhin wird zurzeit eine Verdopplung der Anzahl wissenschaftlicher Publikationen alle 16 Jahre prognostiziert. Vgl. Frank Hartmann: Medienphilosophie, Wien: WUV 2000, S. 16.

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rend der beiden letzten Dekaden. Evoziert und/oder provoziert durch sich transformierende Parameter, Indikatoren und Faktoren sehen sich zahlreiche akademische Fächer aufgerufen, sich auf die eine oder andere Weise dazu zu verhalten. Im Prinzip lassen sich zweierlei disziplinäre Vergegenwärtigungsmodi unterscheiden: Entweder zeigt sich eine wissenschaftliche Disziplin ›offensiv‹ und betrachtet die Entwicklungen ›positiv‹ als innovative Anforderung und Herausforderung der Scientific Community oder eine wissenschaftliche Disziplin erweist sich als ›defensiv‹ und sieht die Veränderungen ›negativ‹ als subversive Bedrohung oder als substanziellen Verlust fachlicher Homogenität und Identität. Will man der Eigen- beziehungsweise der Gesamtkomplexität einer modernen funktional differenzierten Gesellschaft angemessen Tribut zollen, so empfiehlt sich eine systemische Perspektivierung.32 Maßgeblich ist hierfür das konstruktivistisch-systemtheoretische Konzept des »Beobachter beobachtenden Beobachters«33. Auch wenn das inflationäre Label ›Systemtheorie‹ für so manchen zeitgenössischen Beobachter »nichts anderes als die übliche unpersönliche Substitution des Namens ›Niklas Luhmann‹ [ist; C. F.]«,34 so gilt es jedoch zu konzedieren, dass es sich bei der Systemtheorie als Sozialtheorie35 – unbeschadet der unbestritten großen Verdienste Luhmanns – um einen umfassenderen Diskurs dezidierter Positionen handelt. Dabei distanziert sich das hier zu modellierende Forschungsdesign ausdrücklich von systemtheoretischen Affiliationen als ›Hermeneutik‹ und ›Metaphorisierung‹ oder ›scholastischer Philosophie‹ und ›Sprachspiel‹.36 Wenngleich in der Sozialwissenschaft oder in der

32 Vgl. hierzu Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 262 (Hervorhebung im Original): »Differenzierung ist aber nicht nur Steigerung der Komplexität; sie ermöglicht ineins damit auch neue Formen der Reduktion von Komplexität. Jedes Teilsystem übernimmt […] einen Teil der Gesamtkomplexität, indem es sich nur an der eigenen System/Umwelt-Differenz orientiert, mit dieser aber das Gesamtsystem für sich rekonstruiert. So kann das Teilsystem sich durch die Voraussetzung entlastet fühlen, daß viele Erfordernisse der Gesamtsystemreproduktion anderswo erfüllt werden. Seine Abhängigkeit vom Gesamtsystem wird entsprechend gedoppelt: es selbst ist Teil des Gesamtsystems und zugleich abhängig von der internen Umwelt und so auf anderen Wegen ebenfalls vom Gesamtsystem.« 33 Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 113. 34 Hans Ulrich Gumbrecht: Eine Geschichte der spanischen Literatur 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 21. 35 Vgl. auch Walter Reese-Schäfer: Luhmann zur Einführung, Hamburg: Junius 1996, S. 166. 36 Vgl. aus der Fülle der kritischen Sekundärliteratur zum Beispiel Mario Bunge: Finding Philosophy in Social Science, New Haven/London: Yale University Press 1996, S. 93, 291 oder Max Haller: Soziologische Theorie im systematisch-kritischen Vergleich, Opladen: Leske + Budrich 1999, S. 411.

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Philosophie immer wieder Stimmen laut wurden und werden, nicht zuletzt durch den Spiritus Rector Luhmann selbst, die der Systemtheorie als Supertheorie, global theory oder grand theory das Wort reden,37 folge ich dieser Auffassung bewusst nicht; vielmehr soll die Systemtheorie als forschungsleitende Heuristik dienen, und dies ohne eine jedwede Ansprüchlichkeit, die Systemtheorie sei ›Leittheorie‹ par excellence. Die Systemtheorie, in einer soziologischen Lesart verstanden, bietet, was sicherlich auch ihre Gestalt als formale Strukturwissenschaft präfiguriert, die Möglichkeit, nicht nur heterogene makroskopische, sondern gerade auch heteronome mikro- und mesoskopische Zusammenhänge zu fokussieren.38 Das spezifisch systemische Differenzierungsinstrumentarium39 wird die Exploration der partiell extrem widerständigen Medienforschung befördern können. Mithin fungiert die Systemtheorie als Orientierungsmatrix für das Studiendesign einer Epistemologie transdisziplinärer Medienwissenschaft.40 Durch die Anwendung eines systemtheoretischen Standpunktes wird es möglich zu analysieren, ob und inwiefern sich Korrelationen zwischen technischen Mitteilungsmedien, sozialer beziehungsweise medialer Kommunikation sowie unterschiedlichen gesellschaftlichen Differenzierungs-

37 Vgl. unter anderem N. Luhmann: Soziale Systeme (wie Anm. 32), S. 9, 19, passim. 38 Vgl. zur Debatte mikroskopischer und makroskopischer Wissenschafts- und Technikforschung auch Jürgen Klüver (Hg.): Mikro-Makro-Ansätze in der Wissenschafts- und Technikforschung, Essen: Universität Essen 1991. 39 In diesem Sinne hält Anatol Rapoport: Allgemeine Systemtheorie. Wesentliche Begriffe und Anwendungen, Darmstadt: Darmstädter Blätter 1988, S. 265, fest: »Hier erfüllt die Allgemeine Systemtheorie ihre wichtigste Funktion, nämlich zum Nachdenken in Begriffen von Analogien anzuregen. Und zwar schärfer, breiter und vor allem disziplinierter, um den Anforderungen wissenschaftlicher Erkenntnis zu genügen. […] Es ist dieser Input der Allgemeinen Systemtheorie zum immer umfangreicher werdenden Speicher verläßlichen und organisierten Wissens, der als der wertvollste Beitrag dieses Herangehens angesehen werden sollte.« 40 Auch unter Geisteswissenschaftlern wird der Systemtheorie durchaus ein gewisses Innovationspotenzial im Bereich einer eigenen disziplinären Wissenschaftsforschung zugestanden. So schreibt etwa Peter J. Brenner: »Das Verschwinden des Eigensinns. Der Strukturwandel der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft«, in: Peter J. Brenner (Hg.): Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 21-65, hier S. 28: »Die für eine geisteswissenschaftsorientierte Wissenschaftsforschung relevanten Fragestellungen, Methoden und Verfahren müssen angesichts der aktuellen Problemlage neu entwickelt werden. In der neueren Diskussion scheinen gewisse Präferenzen für die ›Systemtheorie‹ zu bestehen. Dieser Ansatz hat sich bei der Beschreibung wissenschaftlicher Strukturen und Prozesse als recht brauchbar erwiesen; ob aber nicht auch er von vornherein die Spezifika der Geisteswissenschaften nivelliert, muß noch diskutiert werden.«

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typen beobachten und beschreiben lassen.41 In Anbetracht der jüngeren multi- und hypermedialen Trends und Tendenzen lässt sich mit dem Soziologen Udo Thiedeke die Hypothese formulieren: »Es gibt Anzeichen dafür, daß sich ein Transformationsprozeß in Gang setzt, der die funktional differenzierte Gesellschaft zu einer informationell differenzierten Gesellschaft erweitert. Bei einer informationell differenzierten Gesellschaft basieren die Vergesellschaftung und die innere Strukturierung weniger auf faktischen Funktionsunterschieden, als vielmehr auf Funktionsbehauptungen, Selbstvermittlungsprozessen und der Konstruktion virtueller Wirklichkeitsentwürfe.«42

Mit Blick auf die Sozialdimension im Sinnhorizont der Informationsgesellschaft wird deutlich, das ein Gesellschaftstypus, dessen Einheit im Prozessieren von Information respektive Vermittelbarkeit besteht, eines »kompatiblen Integrationsmodus der Vergesellschaftung von Individuen, Gruppen und Organisationen« bedarf – Thiedeke spricht von »informationelle[r] Inklusion«43 als Surplus zur funktionalen Inklusion. In der Informationsgesellschaft erschließen sich soziale Partizipations- und Inklusionspotenziale zunehmend über alltagsästhetische Performanzen sowie expressive Stilisierungen (zum Beispiel HipHop, Punk und Cyber-Identitäten). Außer der Sozial- ist auch die Sachdimension Veränderungen unterworfen. Die Sachdimension manifestiert sich in der Differenz von sachlich anschlussfähigen Themen, die im Kommunikationsgeschehen von sachlich nicht anschlussfähigen Themen unterschieden werden. Extrapoliert bedeutet dies für den informationell differenzierten Gesellschaftstypus: »Eine Fülle an Welttatsachen sind [sic! – C. F.] überhaupt nur deshalb kommunikativ zu behandeln, weil sie durch mediale Beobachtungs- und Beschreibungstechniken in Informationen umgewandelt werden [sic! – C. F.], die dann Themen und Themenkomplexe aktualisieren.«44 Hier konstatiert Thiedeke ein »Indifferenzproblem der Informationsgesellschaft«,45 das nicht in der Verweigerung strategischer Informationen besteht, vielmehr in der inflationären Verfügbarkeit von Informationen, die ihrem Anschein nach als strategisch gelten. Dabei tritt ein Selektionskalkül sachlichen Sinns auf den Plan, das bewusst mit themenbezogener Indifferenz arbeitet, was sich exemplarisch etwa anhand von Werbung und Public Relations demonstrieren ließe.

41 Vgl. auch Niklas Luhmann: »Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien«, in: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen: Westdeutscher Verlag 1991, S. 309-320. 42 U. Thiedeke: Medien, Kommunikation und Komplexität (wie Anm. 9), S. 12 (Hervorhebung; C. F.). 43 Ebd., S. 89 (Hervorhebung im Original). 44 Ebd., S. 175. 45 Ebd., S. 191.

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Schließlich erfährt auch die Zeitdimension eine Wandlung. Der Zeitbegrifflichkeit droht durch die Expansion der Medienstrukturen und deren temporäre Operationsmodi eine massive Deontologisierung – mit Auswirkungen auf ein Zeit prozessierendes soziales System: »Im System muß eine Auswahl von Elementen getroffen werden, die durch Relationen zu verknüpfen sind. Es steht aber [...] nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung, in der eine Auswahl aus den Sinnmöglichkeiten getroffen und realisiert werden kann.«46 In der »medial dynamisierte[n] Gesellschaftszeit«47 treten Vergangenheit und Zukunft näher an die Gegenwart, was Auswirkungen hat: im Bereich der individuell verfügbaren Zeit erfolgen daraus fragmentarisierte Zeiterfahrungen, im Bereich der gesellschaftlichen Zuschreibung von Entwicklungsmöglichkeiten besteht das Erfordernis der Selbstreflexion auf eigene Voraussetzungen sowie auf das Wahrscheinlichwerden von Risiken. Auf solche Selbstbeobachtungen und -beschreibungen einer informationell differenzierten Gesellschaft reagiert das Wissenschaftssystem unter anderem in Gestalt der Medienforschung. Dabei obliegt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ›Medien‹ längst nicht (mehr) ausschließlich allein den etatisierten Medien- und Kommunikationswissenschaften48 – mehr noch: zu nicht unbeträchtlichen Anteilen verdanken sich Ausdifferenzierungen und Neukonstituierungen in dieser Domäne eben jenen, bis heute ungebrochenen Konjunkturen der Medien und ihrer Erforschung. Schritt für Schritt hat sich ›Medienforschung‹ zu einer wissenschaftlichen Querschnittsthematik und -problematik entwickelt. Mithin gibt es kaum mehr eine (Sub-)Disziplin – nahezu jedweder Provenienz –, die nicht bestrebt ist, ihr genuin spezifisches Explikations- und Innovationspotenzial in diesen offenkundig emergierenden Forschungsgebieten zur Entfaltung zu bringen. Eine gewisse ›Medienorientierung‹ lässt sich gleichermaßen – mit unterschiedlichsten Vorzeichen und Einlassungen – in den Kultur- und Sozialwissenschaften,49 Sprach- und Literaturwissenschaften (Philolo-

46 Ebd., S. 249. 47 Ebd., S. 313. 48 Selbstverständlich soll mit dieser Feststellung nicht bestritten werden, dass man die jeweilige(n) Fachgeschichte(n) wissenschaftlicher Disziplinen und Kulturen, was sich derzeit auch beobachten lässt, unter dem nunmehr aufkommenden Aspekt ›Medien(-forschung)‹ aus einer Binnenperspektive heraus neu schreiben, ordnen und gewichten kann. 49 Vgl. etwa Stefan Münker/Alexander Roesler/Mike Sandbothe (Hg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt am Main: Fischer 2003; Klaus Neumann-Braun/Stefan Müller-Doohm (Hg.): Medienund Kommunikationssoziologie. Eine Einführung in zentrale Begriffe und Theorien, Weinheim/München: Juventa 2000; Peter Winterhoff-Spurk: Medienpsychologie. Eine Einführung, Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer 1999 sowie Christian Filk/Holger Simon (Hg.): Kunstkommunikation: »Wie ist Kunst möglich?« Beiträge zu einer systemischen Medien- und Kunstwissenschaft, Berlin: Kadmos 2009.

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gien),50 Wirtschafts- und Technikwissenschaften51 etc. feststellen. Doch selbst wenn die verschiedensten Wissenschaften und (Sub-)Disziplinen nunmehr nominaliter mit den Präfixen ›Medien‹ und/oder ›Kommunikation‹ belegt sind, sagt das freilich zunächst noch nichts über die jeweils konstitutiven formellen und informellen Charakteristika aus; dies muss selbstredend konkreten problemorientierten Analysen – etwa aus Sicht der Wissenschaftsforschung – vorbehalten bleiben.

Differenzierung der Medienforschung Transformationen der ›Medienforschung‹ sind im Kontext disziplinärer Prozesse im Wissenschaftssystem zu betrachten. Unter dem Primat funktionaler Gesellschaftsdifferenzierung52 setzt ab Mitte des 18. Jahrhunderts eine Differenzierung der Wissenschaft in Disziplinen ein. Die ›Disziplinarisierung‹ der Wissenschaft bildet während des 19. Jahrhunderts das gleichsam epistemische wie organisatorische Fundament53 für die Ausdifferenzierung, Autonomie, Selbstorganisation und soziale Schließung der Wissenschaft, mithin des Wissenschaftssystems. Wissenschaftliche Disziplinen erzeugen füreinander innerwissenschaftliche Umwelten und diese wiederum markieren den ›Kontakt‹ zu außerwissenschaftlichen Umwelten. 50 Vgl. zum Beispiel Helmut Kreuzer: »Medienphilologie und Fernsehgeschichte«, in: Semiosis. Internationale Zeitschrift für Semiotik und Ästhetik, 18 (1993) 69/70, S. 13-24; Josef Wallmannsberger: Virtuelle Textwelten. Theoretische Grundlagen und Implementationsperspektiven der anglistischen Computerphilologie, Heidelberg: Winter 1994; Rolf Bolwin/ Peter Seibert (Hg.): Theater und Fernsehen. Bilanz einer Beziehung, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996 und Klaus Kanzog: Einführung in die Filmphilologie, München: Schaudig & Ledig 1997. 51 Vgl. unter anderem Klaus-Dieter Altmeppen/Matthias Karmasin (Hg.): Medien und Ökonomie, Band 1/1. Grundlagen der Medienökonomie. Kommunikations- und Medienwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003; Klaus-Dieter Altmeppen/Matthias Karmasin (Hg.): Medien und Ökonomie, Band 1/2. Grundlagen der Medienökonomie. Soziologie, Kultur, Politik, Philosophie, International, Geschichte, Technik, Journalistik, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003; KlausDieter Altmeppen/Matthias Karmasin (Hg.): Medien und Ökonomie, Band 2. Problemfelder der Medienökonomie, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004; Klaus-Dieter Altmeppen/Matthias Karmasin (Hg.): Medien und Ökonomie, Band 3. Anwendungsfelder der Medienökonomie, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2006; Jochen Schneider/Thomas Strothotte/Winfried Marotzki (Hg.): Computational Visualistics, Media Informatics, and Virtual Communities, Wiesbaden: Deutscher UniversitätsVerlag 2003 sowie Michael Herczeg: Einführung in die Medieninformatik, München/Wien: Oldenbourg 2006. 52 Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 33), S. 635. 53 Vgl. Peter Weingart: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist: Velbrück 2001, S. 25.

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Für den Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert postuliert der Soziologe Rudolf Stichweh eine funktional äquivalente Identität von disziplinärer Differenzierung der Wissenschaft und Realstrukturen des Sozialsystems Wissenschaft.54 Vom soziologischen Standpunkt aus betrachtet, begründet Stichweh die Faktoren disziplinärer Konstitutionsprozesse des 18. und 19. Jahrhunderts maßgeblich mittels einer differenztheoretischen Explikationsstrategie. Bedingt durch den Umstand, dass sich die Bildung disziplinärer Differenzierung der Wissenschaft in einer sich funktional differenzierenden Gesellschaft als Primärdifferenzierung ausnimmt, greift freilich ein evolutionstheoretisches Kalkül noch nicht an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert.55 Der evolutionstheoretische Erklärungsansatz kommt erst unter Bedingungen einer sich disziplinär differenzierten und konsolidierten Wissenschaft zum Tragen, das heißt: Ein System Wissenschaft und ein System wissenschaftlicher Disziplinen müssen sich gebildet haben, damit auf der Grundlage traditioneller Disziplinen subdisziplinäre Evolutionen initiiert und kontinuiert werden können. Dies geschieht im Kommunikationssystem der Wissenschaft und innerhalb der institutionellen Infrastrukturen der Wissenschaft. Eine solche, sich selbstorganisierende Genese ermöglicht den systemtheoretisch zu beobachtenden und zu beschreibenden Prozess der Variation, Selektion und Stabilisierung (sub-)disziplinärer Problemexpositionen.56 Mithin lassen sich dezidiert evolutionär agierende Mechanismen jedoch erst unter der Prämisse einer disziplinär differenzierten Wissenschaft identifizieren, dokumentieren und analysieren.57 Damit ist jedoch erst während der zweiten Phase akzelerierter subdisziplinärer Evolution zu rechnen, die sich hauptsächlich während des 20. Jahrhunderts vollzieht. In argumentativer Verlängerung der evolutionstheoretischen Perspektive sind auch transdisziplinäre Prozesse und Strukturen im System Wissenschaft und im System wissenschaftlicher Disziplinen zu betrachten. Dabei gilt es prinzipiell zu beachten, dass es in der Forschungspraxis weder ›reine‹ Formen in disziplinären Diskursen noch ›reine‹ Formen in transdisziplinären Diskursen gibt.58 In einer ersten Annährung lassen sich Konzepte, Methoden und Instrumente der ›Transdisziplinarität‹, laut Votum des Wissenschaftsphilosophen Jürgen Mittelstraß, durch die nachstehend aufgeführten vier Sachverhalte charakterisieren:

54 Vgl. R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 21), S. 9. 55 Vgl. ebd., S. 98. 56 Vgl. ebd., S. 99. 57 Vgl. ebd. 58 Vgl. J. Mittelstraß: Transdiziplinarität – wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit (wie Anm. 19), S. 10.

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»Transdisziplinarität ist erstens ein integratives, aber kein holistisches Konzept. Sie löst Isolierungen auf einer höheren methodischen Ebene auf, aber sie baut nicht an einem ›ganzheitlichen‹ Deutungs- und Erklärungsmuster. Transdisziplinarität hebt zweitens innerhalb eines historischen Konstitutionszusammenhangs der Fächer und Disziplinen Engführungen auf, wo diese ihre historische Erinnerung verloren und ihre problemlösende Kraft über allzu großer Spezialisierung eingebüßt haben, aber sie führt nicht in einen neuen fachlichen oder disziplinären Zusammenhang. Deshalb kann sie auch die Fächer und Disziplinen nicht ersetzen. Und Transdisziplinarität ist drittens ein wissenschaftliches Arbeits- und Organisationsprinzip, das problemorientiert über Fächer und Disziplinen hinausgreift, aber kein transwissenschaftliches Prinzip. Die Optik der Transdisziplinarität ist eine wissenschaftliche Optik, und sie ist auf eine Welt gerichtet, die, selbst mehr und mehr ein Werk des wissenschaftlichen und technischen Verstandes, ein wissenschaftliches und technisches Wesen hat. Schließlich ist Transdisziplinarität viertens, auf dem Hintergrund des über die Forschungsform und der Darstellungsform von Wissenschaft Gesagtes, in erster Linie ein Forschungsprinzip, kein oder allenfalls in zweiter Linie, wenn nämlich auch die Theorien transdisziplinären Forschungsprogrammen folgen, ein Theorieprinzip. Sie leitet Problemwahrnehmungen und Problemlösungen, aber sie verfestigt sich nicht in theoretischen Formen – weder in einem fachlichen oder disziplinären noch in einem holistischen Rahmen.«59

Nimmt man vor dem Hintergrund der – nach wie vor – ungebrochenen Konjunktur der Medienevolution und -forschung eine komparatistische Perspektive ein, so ist festzuhalten, dass sich die Genese der medienreflexiven Wissenschaften im deutschen Sprachraum60 recht signifikant ausnimmt. Die Entwicklung der hiesigen Medienforschung scheint einen vergleichsweise eigenständigen Verlauf zu nehmen. Während sich die für die internationale Entwicklung der Medien- und Kommunikations59 Ebd., S. 10-11 (Hervorhebung im Original). 60 Vgl. zur jeweiligen Fachhistorie etwa Werner Faulstich: »Einführung. Zur Entwicklung der Medienwissenschaft«, in: Werner Faulstich (Hg.): Grundwissen Medien, München: Fink 1994, S. 9-15; Roland Burkart: Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2002; Michael Meyen: »Die Anfänge der empirischen Medien- und Meinungsforschung in Deutschland«, in: ZA-Information, Nr. 50, Mai 2002, S. 59-80, elektronisch verfügbar unter: (letzte Änderung: 05.2002; letzter Zugriff: 02.11.2007); Reinhold Viehoff: »Von der Literaturwissenschaft zur Medienwissenschaft. Oder: vom Text über das Literatursystem zum Mediensystem«, in: Gebhard Rusch (Hg.): Einführung in die Medienwissenschaft. Konzeptionen, Theorien, Methoden, Anwendungen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 10-35 sowie Hans Bohrmann: »Was ist der Inhalt einer Fachgeschichte der Publizistikwissenschaft und welche Funktionen könnte sie für die Wissenschaftsausübung in der Gegenwart besitzen?«, in: Edzard Schade (Hg.): Publizistikwissenschaft und öffentliche Kommunikation. Beiträge zur Reflexion der Fachgeschichte, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2005, S. 151-182.

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wissenschaft charakteristischen disziplinären Entgrenzungstrends – hier wäre insbesondere auf den angloamerikanischen Wissenschaftskontext zu verweisen –61 in ausgeprägt intradisziplinären Diskursformationen sedimentieren, manifestieren sich solche und ähnliche Transformationen hierzulande indes in anderen Strukturen.62 In den letzten rund 20, 30 Jahren modellieren sich in unseren Gefilden unterschiedliche Sub- und Bindestrichdisziplinen unter dem vagen Label ›Medienforschung‹. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, sei verwiesen auf die sich vornehmlich im Laufe des letzten Dezenniums ausdifferenzierenden und/oder neu konstituierenden Fachkombinationen wie zum Beispiel: ›Medienphilosophie‹, ›-philologie‹, ›-ästhetik‹, ›-kunst‹, ›-geschichte‹, ›-soziologie‹, ›-politologie‹, ›-psychologie‹, ›-recht‹, ›-ökonomie‹, ›-management‹, ›-technik‹ und ›-informatik‹.63 Diese und ähnliche Richtungen der Medienforschung, die zum Teil immer noch mit gewaltigen Akzeptanzproblemen im eigenen Grundlagenfach und in der eigenen Scientific Community zu kämpfen haben, tendieren – prima vista – dazu, durch genuin eigene Selbstbeschreibungen, Problemorientierungen und Objektbereiche den tradierten disziplinären Selbstverortungen der involvierten Bezugswissenschaften und Wissenschaftskulturen verlustig zu gehen, und dies umso mehr, als dass sich dieser Sachverhalt mittlerweile auch in der Einrichtung entsprechender Lehrstühle und Institute sowie in der Gründung diesbezüglicher Fachgesellschaften und -zeitschriften niederschlägt.64 In Anbetracht der aktuellen Medienforschung richtet sich das Augenmerk meiner Untersuchung potentialiter auf die, systemtheoretisch formuliert, systematischen, historischen und semantischen (Selbst-)Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen einer ganzen Reihe medienreflexiver 61 Vgl. Jesse G. Delia: »Communication Research. A History«, in: Charles R. Berger/Steven H. Chaffee (Hg.): Handbook of Communication Science, Newbury Park, Beverly Hills/London/New Delhi: Sage 1987, S. 20-98; Journal of Communication, 43 (1993) 4; Dennis McQuail: Mass Communication Theory, London/Thousand Oaks/New Delhi: Sage 2000 und Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Kommunikations- und Medienwissenschaften in Deutschland (wie Anm. 16). 62 Vgl. unter anderem Arnulf Kutsch/Horst Pöttker: »Kommunikationswissenschaft – autobiographisch. Einleitung«, in: Arnulf Kutsch/Horst Pöttker (Hg.): Kommunikationswissenschaft – autobiographisch. Zur Entwicklung einer Wissenschaft in Deutschland, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 7-20, hier S. 12-13 sowie Gudrun Schäfer: »›Sie stehen Rücken an Rücken und schauen in unterschiedliche Richtungen‹. Zum Verhältnis von Medienwissenschaft und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft«, in: HeinzB. Heller u. a. (Hg.): Über Bilder sprechen. Positionen und Perspektiven der Medienwissenschaft, Marburg: Schüren 2000, S. 23-33, hier S. 28-31. 63 Vgl. als Überblick etwa Christian Filk/Michael Grisko (Hg.): Einführung in die Medienliteratur. Eine kritische Sichtung, Siegen: Böschen 2002. 64 Vgl. A. Kutsch/H. Pöttker: »Kommunikationswissenschaft – autobiographisch« (wie Anm. 62), S. 12-13.

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Disziplinen und Bindestrichdisziplinen verschiedenster Couleur. In der Darstellung verzichte ich ganz bewusst auf den Versuch einer disziplinären Typologie oder Taxonomie entsprechender Fächer beziehungsweise Fächerkombinationen. Denn vor dem Problemhorizont einer prononciert transgressiven Perspektive auf ›Medienforschung‹ kann, wenn man es so nennen möchte, ein auf disziplinäre Nominalismen fixiertes Prozedere kaum etwas zu der hier unterstellten Multi- und/oder Transdisziplinarität des Wissenschaftskomplexes ›Medienforschung‹ beitragen, wenn es nicht ohnehin – notwendigerweise – in Aporie oder Apologetik enden muss. Im Zentrum der geistes- und sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung65 – auch und gerade in der Domäne der Medien- und Kommunikationswissenschaft –66 stand lange Zeit der Antagonismus zwischen einem als ›qualitativ-deskriptiv‹, ›hermeneutisch-interpretativ‹ oder ›historischästhetisch‹ etikettierten Zugriff auf der einen Seite sowie einem als ›quantitativ-empirisch‹, ›analytisch-funktional‹ oder ›tatsachen- und sozialwissenschaftlich‹ apostrophierten Zugriff auf der anderen Seite. Dieser viel beschworene Dualismus zwischen medien- und kommunikationswissenschaftlichen Dispositionen eskalierte vor allem in den 1970er und 1980er Jahren. Kurrente Evolutionslinien der Medienforschung weisen indes weit über diese spezifisch bidisziplinäre Fokussierung hinaus. Appliziert man den in der Wissenschaftsforschung ausgemachten strukturellen Trend in der Forschungsevolution, demnach seit einiger Zeit die Konstitution transdisziplinärer Forschungs- und Entwicklungskalküle beziehungsweise transdisziplinärer Forschungs- und Entwicklungsmechanismen ein allgemeines Merkmal im Wissenschafts- und Technologiebereich darstellt,67 so geht damit in einer gewissen Zwangsläufigkeit einher, dass sich der epistemologische Kern der (Medien-)Forschung, definiert als ein irreduzibles Set kognitiver Werte und sozialer Praxen,68 weder unter generelle Methodologien noch unter Wissenschaftskulturen privilegierter Provenienz subsumieren lässt.69 Als eine Folge des Differenzierungs- und Identifikationsprozesses in der medienbezogenen Forschung finden sich 65 Vgl. eingehend Udo Kelle: Die Integration qualitativer und quantitativer Methoden in der empirischen Sozialforschung. Theoretische Grundlagen und methodologische Konzepte, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007. 66 Vgl. Michael Charlton/Klaus Neumann: »Der Methodenstreit in der Medienforschung. Quantitative oder qualitative Verfahren?«, in: Rainer Bohn/Eggo Müller/Rainer Ruppert (Hg.): Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft, Berlin: Sigma 1988, S. 91-107. 67 Vgl. insbesondere J. Mittelstraß: Der Flug der Eule (wie Anm. 23), S. 78-82. 68 Vgl. Helga Nowotny/Peter Scott/Michael Gibbons: Wissenschaft neu denken. Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewißheit, Weilerswist: Velbrück 2004, S. 225, 249. 69 Vgl. ebd.

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neben den anskizzierten disziplinären, intra- und subdisziplinären (Selbst-) Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen auch solche zur inter-, multiund transdisziplinären Medienforschung in den letzten Jahren. Unter diesen Prämissen besteht die Differentia spezifica zwischen ›Inter-‹ und ›Transdisziplinarität‹ – mit dem schon zitierten Jürgen Mittelstraß gesprochen – darin: »Während wissenschaftliche Zusammenarbeit allgemein die Bereitschaft zur Kooperation in der Wissenschaft und Interdisziplinarität in der Regel in diesem Sinne eine konkrete Zusammenarbeit auf Zeit bedeutet, ist mit Transdisziplinarität gemeint, daß Kooperation zu einer andauernden, die fachlichen und disziplinären Orientierungen selbst verändernden wissenschaftssystematischen Ordnung führt.«70

In der konkreten Umsetzung basiert meine Studie zur Wissenschaftsforschung transdisziplinärer Medienwissenschaft auf einer konstruktivistischen Epistemologie71 und einer soziologischen Theorie selbstorganisierender Systeme72. Hier stellen Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme,73 Rudolf Stichwehs Analyse der Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen74 sowie Wolfgang Krohns und Dieter Küppers Konzept der Selbstorganisation der Wissenschaft75 wichtige Grundlagen dar. Die Wahl fiel deshalb auf eine kombinierte konstruktivistischsystemische Konzeptualisierung, da man aufgrund der damit verbundenen analytischen Instrumentarien zum einen die Unfestgelegtheit epistemischer Operationen belegen und zum anderen das Dilemma der rekurrenten Stabilisierung epistemischer Prozesse in der Forschung handhaben kann.76 Dabei obliegt der Arbeit selbst, weder mediale Phänomene als solche zu identifizieren oder zu analysieren noch die klassische oder formale Logik syntaktischer Begriffs- und Aussagesysteme hinsichtlich Theorien und Methoden zu explizieren oder gar zu evaluieren.77 Meine primäre Intention 70 J. Mittelstraß: Transdisziplinarität (wie Anm. 19), S. 9 (Hervorhebung im Original). 71 Vgl. die Reader von Siegfried J. Schmidt (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990 und Siegfried J. Schmidt (Hg.): Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992. 72 Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme (wie Anm. 32) sowie N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (wie Anm. 1). 73 Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 33). 74 Vgl. R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 21) und Rudolf Stichweh: Wissenschaft, Universität, Profession. Soziologische Analysen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. 75 Vgl. W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 20). 76 Vgl. ebd., S. 55-56. 77 Vgl. beispielsweise Karl R. Popper: Logik der Forschung, Tübingen: Mohr 1989; Wilhelm Kamlah/Paul Lorenzen: Logische Propädeutik. Vorschule

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fokussiert sich vielmehr auf (Selbst-)Beobachtungs- und (Selbst-) Beschreibungslogiken: Auf welche Art und Weise werden Probleme der Strukturierung und Stabilisierung des Erkenntnisfortschritts in einzelnen Forschungskomplexen vermutlich transdisziplinärer Medienwissenschaft diskursiviert?

Episteme ›transdisziplinärer‹ M e d i e nw i s s e n s c h a f t Vergegenwärtigen wir uns den Zusammenhang von Wissenschaftsforschung und transdisziplinärer Medienwissenschaft mit Blick auf die konzeptuelle Anlage der zu projektierenden Untersuchung: Die Operationalisierung der Problemstellung erfolgt mit Hilfe eines Studiendesigns aus Sicht einer integrierten, systemtheoretischen Wissenschaftsforschung. Als Synonyma für Wissenschaftsforschung kursieren ›Wissenschaft der Wissenschaft‹, ›Wissenschaftswissenschaft‹,78 ›Forschung über Forschung‹,79 ›Science of Science‹,80 ›Science Studies‹,81 auch in Kombination ›Science and Technology Studies‹82. Doch kann und darf die bisweilen

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des vernünftigen Redens, Stuttgart/Weimar: Metzler 1996 und Imre Lakatos: »Falsification and the Methodology of Scientific Research Programmes«, in: Imre Lakatos/Alan Musgrave (Hg.): Criticism and the Growth of Knowledge. Proceedings of the International Colloquium in the Philosophy of Science, London, 1965, Cambridge: Cambridge University Press 1970, S. 91-196, in deutscher Übersetzung Imre Lakatos: »Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme«, in: Imre Lakatos/ Alan Musgrave (Hg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt. Abhandlungen des Internationalen Kolloquiums über die Philosophie der Wissenschaft, London 1965, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1974, S. 89-189. Vgl. Thomas S. Kuhn: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 189 sowie N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 33), S. 69-70, 541-544. Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (Anm. 33), S. 333-336, 532, 595. Als ersten und sehr breit angelegten Ansatz einer neuen Wissenschaft namens »Science of Science« vgl. Marja Ossowska/Stanislaw Ossowska: »The Science of Science«, in: Organon, 1 (1936) 1, S. 1-12. Der Verweis stammt von Ulrike Felt/Helga Nowotny/Klaus Taschwer: Wissenschaftsforschung. Eine Einführung, Frankfurt am Main/New York: Campus 1995, S. 24, 29. Vgl. John Ziman: An Introduction to Science Studies. The Philosophical and Social Aspects of Science and Technology, Cambridge u. a.: Cambridge University Press 1984; David J. Hess: Science Studies. An Advanced Introduction, New York u. a.: New York University Press 1997 sowie Sabine Maasen/Matthias Winterhager (Hg.): Science Studies. Probing the Dynamics of Scientific Knowledge, Bielefeld: transcript 2001. Vgl. Andrew Webster: Science, Technology, Society. New Directions, New Brunswick: Rutgers University Press 1991; Sheila Jasanoff u. a. (Hg.): Handbook of Science and Technology Studies, Thousand Oaks/London/New

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rhetorisch-argumentativ reüssierende Eleganz des Begriffes ›Wissenschaftsforschung‹ nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich dieser verhältnismäßig junge Wissenschaftszweig selbst noch in der »Entwicklungsphase«83 befindet. Wenngleich bereits ab den 1930er Jahren Anzeichen auszumachen sind, auf dem Fundament ähnlicher und vergleichbarer Untersuchungsobjekte und -intentionen ein interdisziplinäres Forschungsgebiet unter dem Label ›Wissenschaftswissenschaften‹ (Science of Science) zu institutionalisieren, so konnte schließlich erst in den frühen 1970er Jahren ein funktionales Äquivalent unter dem eher distinguierten Rubrum ›Wissenschaftsforschung‹ (Science Studies) konturiert werden.84 Unumwunden hat man zu konzedieren, dass die Wissenschaftsforschung, so wie sie sich heute präsentiert, sicherlich nicht mit der originären Konzeption einer Inter- oder gar Transdisziplin koinzidiert – die formalen und informalen Dispositionen und Perspektiven (vornehmlich von Wissenschaftsphilosophie, -theorie, -soziologie und -geschichte) divergieren doch in einem zu eklatanten Maße. Mithin avancierte ›Wissenschaftsforschung‹ (Social Studies of Science) in den letzten drei Dekaden zu einem breit angelegten sozialwissenschaftlichen Forschungskontext, der sich der Analyse der Wissenschaft verschrieben hat.85 Unbeschadet ihrer diskursiven Gemengelage ist es generell das Anliegen der Wissenschaftsforschung – je nach spezifischer und konkretisierter Konzeptualisierung –, Evolutionen, Konstruktionen, Parameter, Prozesse, Organisationen, Institutionen und Funktionen von Wissenschaft(en) und Technologie(n) zu identifizieren, zu analysieren und zu evaluieren.86 Für gewöhnlich adaptiert, integriert und synthetisiert die Wissenschaftsforschung traditionelle wissenschaftsphilosophische, -theoretische, -soziologische und -geschichtliche Ansätze. Auf dieser Basis haben sich viele eigene Ansätze der Wissenschaftsforschung konstituiert und differenziert. Die Operationalisierung der Problemstellung fußt in der vorliegenden Arbeit auf einem Studiendesign aus Sicht einer integralen, systemisch konzeptualisierten Wissenschaftsforschung. Das Hauptargument einer integrativen Perspektive in der Wissenschaftsforschung ist dem Sachverhalt geschuldet, dass disziplinäre Traditionen der Wissenschaftsphilosophie,

83 84 85 86

Delhi: Sage 1995 sowie Bernward Joerges/Helga Nowotny (Hg.): Social Studies of Science and Technology. Looking Back, Ahead, Dordrecht u. a.: Kluwer 2003. U. Felt/H. Nowotny/K. Taschwer: Wissenschaftsforschung (wie Anm. 80), S. 11. Vgl. auch Peter Weingart: Wissenschaftssoziologie, Bielefeld: transcript 2003, S. 11-12. Vgl. ebd., S. 12. Vgl. als einleitenden Überblick U. Felt/H. Nowotny/K. Taschwer: Wissenschaftsforschung (wie Anm. 80), S. 15-29, 30-56, 57-83, 114-148.

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-theorie, -soziologie und -geschichte die Komplexität der modernen Wissenschaft immer weniger angemessen zu reflektieren vermögen:87 »Das zentrale Motiv für eine integrative Sichtweise in der Wissenschaftsforschung war gewesen, daß keine der disziplinären Traditionen der Komplexität der modernen Wissenschaft länger gerecht werden konnte. Deren Aufgliederung in akademische, industrielle und staatliche Forschung, die immer weiter fortschreitende Aufhebung der Trennung von Wissenschaft, Technologie und Technik, die fortschreitende Verwissenschaftlichung der Gesellschaft, diese und andere Aspekte entzogen sich der an der Disziplinenentwicklung orientierten Betrachtungsweise der Historiker, der an der Rekonstruktion von Theorien orientierten der Philosophen und der an der system-funktionalen Handlungstheorie orientierten der Soziologen. Um zu verhindern, daß Wissenschaft über Wissenschaft realitätsfremd und irrelevant wurde, war ein interdisziplinärer Neuansatz notwendig.«88

Hinsichtlich des Desiderats theorieorientierter Studien innerhalb der interdisziplinären Wissenschaftsforschung bietet insbesondere die konstruktivistisch intonierte Systemtheorie innovative Ansätze, um das Problem der Relation von Wissenschaft und ihrer Umwelt zu reformulieren und zu respezifizieren.89 Das konstruktivistisch-systemisch basierte Modell der Wissenschaftsforschung im Rekurs auf Krohn und Küppers offeriert eine Alternative zu überkommenen Disputen wie ›Internalismus‹ versus ›Externalismus‹ oder ›Autonomie‹ versus ›Heteronomie‹ der Wissenschaft.90 Mit der Entscheidung, die vorherrschenden konventionellen kanonischen (Selbst-)Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen, die als disziplinäre Stabilisierung innerhalb einer Scientific Community, mithin einer Community of Practice,91 und als Abgrenzungen zu ihren Umwelten fungieren, zu überschreiten, sind einige Vorannahmen und -bedingungen verbunden. Nach der hier vertretenen Grundüberzeugung verfügt das Wissenschaftssystem einer modernen funktional ausdifferenzierten Gesellschaft 87 Vgl. W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 20), S. 7-27, passim. 88 Ebd., S. 7. 89 Vgl. ebd., S. 7-27. 90 Vgl. Clemens Burrichter: »Aufgaben und Funktionen einer historischen Wissenschaftsforschung. Reflexionen zum Thema des Bandes«, in: Clemens Burrichter (Hg.): Grundlegung der historischen Wissenschaftsforschung, Basel/Stuttgart: Schwabe 1979, S. 7-21, hier S. 9; Wolfgang Krohn: »›Intern – extern‹, ›sozial – kognitiv‹. Zur Solidität einiger Grundbegriffe der Wissenschaftsforschung«, in: Clemens Burrichter (Hg.): Grundlegung der historischen Wissenschaftsforschung, Basel/Stuttgart: Schwabe 1979, S. 123-148 und Renate Mayntz: »Autonomie oder Abhängigkeit. Externe Einflüsse auf Gehalt und Entwicklung wissenschaftlichen Wissens«, in: Jörg Schönert (Hg.): Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. DFGSymposion 1998, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. XXVII-XLII. 91 Vgl. H. Willke: Dystopia (wie Anm. 2), S. 14.

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über das Potenzial, seine Autonomie (Selbststeuerung) durch seine Heteronomie (Fremdsteuerung) zu steigern oder zu schwächen.92 Die adaptierte Theorie selbstorganisierender Systeme bietet die Möglichkeit, die soziale Konstruktion wissenschaftlicher Erkenntnisse zu konzipieren. Systemtheoretische Modelle setzen an der Selbstreferenzialität des Wissenschaftssystems, der sozialen Konstruktion wissenschaftlichen Wissens, an. Mithin werden nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse, wissenschaftliches Wissen, wissenschaftsinhärent produziert, sondern auch die Generierung der Erkenntnisse beziehungsweise des Wissens werden wissenschaftsintern prozessiert. Im Wissenschaftssystem werden durch innergesellschaftliche Ausdifferenzierung ›wahrheitsförmiger‹ Kommunikation über die Unterscheidung Inklusion/Exklusion Leitwerte und Wegmarken für verschiedene Wissenschaftsdisziplinen und -kulturen zur Verfügung gestellt.93 Der Wissenschaft wird nicht nur abverlangt, im alltäglichen Geschäft des Erkenntnisprozesses Entscheidungen über die Anschlussfähigkeit von Unterscheidungen zu treffen, sondern auch im Zusammenhang mit Operationen im Forschungsprozess selbst.94 Just an dieser Stelle bietet ein konstruktivistisch-systemisches Untersuchungsdesign Ansätze zur Lösung der Misere der Strukturierung und Stabilisierung des Erkenntnisfortschritts durch die Theorie der Eigenwerte operational geschlossener Systeme.95 Das explikatorische Potenzial der Theorie der Eigenwerte operational geschlossener Systeme96 wird im Fortgang der Studie genutzt, um im Forschungsinteresse Prozesse struktureller Kopplungen zu beobachten und zu beschreiben: »Entscheidend für die Existenz von Eigenwerten ist die Kopplung der beiden, nach unterschiedlichen Bewertungen operierenden Teile der Erkenntnisoperation. Die für Rekursivität erforderlichen beiden Kopplungen leisten zwei Transformationen, die Operationalisierung von Hypothesen (Behauptungen, die Erwartungen hervorrufen) in Verfahren (Konstruktionen, die Effekte hervorrufen) und die Erklärung von Daten (selegierte Effekte) als theoretisch interpretierbare Informationen. Die beiden Transformationen sind zunächst ›lose Kopplungen‹ zwischen den intellektuellen und den effektiven Komponenten der Forschung […]. Lose Kopplungen deshalb, weil Operationalisierung und Erklärung keine eindeutigen Operationen sind, sondern ein Spektrum von Möglichkeiten eröff92 Vgl. W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 20), S. 18-19. 93 Vgl. etwa R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 21), S. 20; W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 20), S. 46-65 sowie N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 33), S. 194-208. 94 Vgl. W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 20), S. 55-56. 95 Vgl. ebd. 96 Vgl. Heinz von Foerster: Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1985, S. 207.

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nen, unter denen gewählt werden muß, ohne daß ein Zwang besteht, bei einer einmal getroffenen Wahl zu bleiben. […] Wenn an der Entscheidung für spezifische Kopplungen festgehalten wird, dann sind ›feste Kopplungen‹ eingerichtet und geben der Operation die Qualität eines Ergebnisses, einer neuen wissenschaftlichen Überzeugung. Beide Teile der Erkenntnisoperation sind nunmehr fest miteinander verknüpft und die Operation läuft zirkulär. Geht man von dem Standardfall aus, daß wissenschaftliche Überzeugungen in generalisierten Aussagen über Objekte eines umrissenen Geltungsbereichs bestehen, bedeutet die Einrichtung fester Kopplungen, daß bei Wahl beliebiger Objekte dieses Geltungsbereichs dieselben Ergebnisse (bestätigende Beispiele der allgemeinen Behauptung) erzielt werden: die Operation hat ihre Eigenlösung gefunden. Mit anderen Worten: Die Erkenntnisoperation, angewandt auf ihre Beschreibung (Erkenntnis), läßt diese Beschreibung invariant.«97

Dem Studiendesign kommt die Funktion zu, das kognitive Feld der Medienforschung zu selegieren und zu strukturieren. Zu diesem Zwecke macht die Untersuchung Anleihen bei der spezialisierten Kommunikation des Wissenschaftssystems: Publikationen.98 Veröffentlichungen sind basale soziale Handlungen von Wissenschaftlern, wodurch sie an Prozessen intra- und/oder interdisziplinärer Kommunikation partizipieren. Multiund/oder transdisziplinäre Problemstellungen und Themen werden mittels des Konzepts struktureller (trans-)disziplinärer Kopplungen99 der Medienforschung (re-)konstruiert. Auf der Grundlage von Samples einschlägiger Fachveröffentlichungen analysiere ich, wie sich in den beiden letzten Dezennien multi- und/oder transdisziplinäre Komplexe der Medienforschung ausdifferenzieren beziehungsweise neu konstituieren. Dabei identifiziere ich spezifische Beobachtungs- und Beschreibungslogiken, die sich in den entsprechenden Diskursformationen konfiguriert haben.

97 W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 20), S. 60-61 (Hervorhebung im Original). 98 Vgl. Elena Esposito (Hg.): Wissenschaftliches Publizieren. Stand und Perspektiven, Stuttgart: Lucius & Lucius 2005. 99 Vgl. Humberto R. Maturana: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1985, S. 143-145, 150-152, 243-244, 287-289.

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Studiendesign und Forschungsprogramm Da man sich der im Zentrum der Studie situierten Thematik mit unterschiedlichen Interessen und aus verschiedenen Perspektiven widmen kann, seien die Anlage des Studiendesigns sowie der Gang der Argumentation vorab in einem kurzen Überblick wiedergegeben. In Anbetracht der konturierten Fragestellung setzt sich die Darstellung als vordringlichstes Ziel, einen ersten problemorientierten Beitrag zu einer post›klassischen‹ Wissenschaftsforschung der kurrenten Medienwissenschaft zu leisten. Die Ausführungen setzen bislang weithin isolierte und spezifische Fachdiskurse konzeptuell miteinander in Beziehung. Die (Selbst-)Beobachtungs- und (Selbst-)Beschreibungslogiken emergenter multi- und/oder transdisziplinärer Komplexe der ›Medienforschung‹ werden dabei als Problemorientierung dienen. Aufgrund der diskursiven Gemengelage der Wissenschaftsforschung in den letzten rund 30 Jahren ist es angezeigt, zuvorderst die äußerst widersprüchlichen, nichtsdestotrotz aufschlussreichen Standpunkte zur Theorie, Historie und Funktion der Wissenschaftsforschung einander gegenüberzustellen und die zentralen Probleme hervorzuheben (Kapitel 2). Eine Reflexion auf die Zusammenhänge von Wissenschaftsphilosophie, -theorie, -soziologie und -geschichte ist unabdinglich, um das Problemlösungspotenzial transdisziplinärer Forschungslogiken und -designs näher bestimmen zu können. Mittels einer Übersicht lassen sich wesentliche Grundbegriffe und Leitunterscheidungen des ›Wissens‹, des ›wissenschaftlichen Wissens‹ sowie des ›Wissenschaftssystems‹ kategorial systematisieren und theorieorientiert von einem konstruktivistisch-systemischen Standpunkt aus diskutieren. Ich erwarte mir richtungweisende Aufschlüsse über Zusammenhänge von Gesellschaftsformationen und Wissen(-schaft-)ssemantiken, über Probleme der Beschreibung und Beschreibbarkeit von ›Wissenschaft‹ und schließlich Hinweise auf theoretisch-methodologische Konzepte für das Anliegen meiner Studie. Mithin wird sich ein vorläufiger Kontext konturieren, der Erwartungen (Erwartungserwartungshaltungen) stabilisiert, ohne dass damit schon ein Studiendesign und/oder ein operatives Instrumentarium für meinen Untersuchungsgegenstand – die Wissenschaftsforschung einer multi- und/oder transdisziplinären ›Medienforschung‹ – fixiert werden. Im Funktionskontext der Wissenschaftsreflexion wird das Konzept einer integrierten Wissenschaftsforschung auf die aktuelle Medienforschung angewandt (Kapitel 3). In diesem Kapitel beabsichtige ich, eine domänspezifische Grundlage für die Wissenschaftsforschung einer sich transdisziplinär differenzierenden Medienwissenschaft zu entwickeln. In einer ersten Annäherung an den Gegenstand werde ich den bescheidenen Entwicklungsstand von Wissenschafts- und Medienforschung rekapitulieren. Auf dem Fundament einer differenzierungs- beziehungsweise evoluti-

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onstheoretischen Konzeption der Konstitution und Ausdifferenzierung des Systems moderner Wissenschaft und wissenschaftlicher Disziplinen werde ich wesentliche makroskopische evolutive Entwicklungslinien der Medienforschung seit ihrer akademischen Etablierung aus einem bidisziplinären Fokus der Medien- und Kommunikationswissenschaft heraus rekonstruieren. Diese historische Analyse bietet wichtige Anschlussstellen für multi- und transdisziplinäre Ansätze der Medienforschung und gibt konkrete Hinweise für die nachfolgenden themenspezifischen Analysen. Darauf aufbauend werde ich die (Selbst-)Beobachtungslogik(en) einer sich transdisziplinär differenzierenden Medienwissenschaft zu errichten versuchen, was die operative Basis für die Anwendungsstudien zu Forschungskomplexen der ›Medienphilosophie‹ und der ›-informatik‹ bildet. Hier begründe ich auch ausführlich meine thematische Auswahl. In den beiden folgenden Kapiteln werden ausgesuchte transdisziplinäre Wissenschaftskomplexe zur aktuellen Medienforschung der letzten zwei Dekaden analysiert. Am Exempel zweier Forschungsthemen werden transdisziplinäre (Selbst-)Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen der gegenwärtigen Medienforschung ausgewertet. Dabei sind die beiden Problemexpositionen unterschiedliche motiviert: Die eine figuriert unter dem Topos ›Epistemisierung‹, die andere unter ›Informatisierung‹ von Medienkommunikation und Kommunikationsmedien. Die erste Anwendungsstudie befasst sich mit Medienphilosophie (Kapitel 4). Anhand einer kleinen Auswahl deutschsprachiger Veröffentlichungen konturiere, analysiere und interpretiere ich die (Selbst-)Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen im Diskursgefüge der kurrenten ›Medienphilosophie‹. Im Zentrum dieser Untersuchung stehen in erster Linie Positionen, die ›Medienphilosophie‹ anhand der diskursiven Schnitt- beziehungsweise Gelenkstelle, sprich der strukturellen Kopplung, der Disziplinen Medienwissenschaft und Philosophie verorten. Die relevanten Beiträge in der kurrenten Diskussion nehmen sich hauptsächlich als Ansätze aus, die sich unter das Rubrum einer allgemeinen Medienphilosophie (im Unterschied zu speziellen Medienphilosophien) fassen lassen. Durch das Charakteristikum ›allgemein‹ soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich um grundsätzliche Ansätze handelt, die – mehr oder weniger – Gültigkeit für den gesamten Gegenstandsbereich einer Medienphilosophie beanspruchen. Falls ›Medienphilosophie‹ im skizzierten Sinne eines Interparadigmas oder -diskurses als ein Antwortversuch auf Desiderate womöglich beider Disziplinen anzusehen ist, so hätten wir es hier mit dem Phänomen zu tun, dass sich beide Disziplinen auf einem epistemischen Feld treffen, wovon sie sich offenbar die Behebung gewisser Defizite versprechen. Dieser Arbeitshypothese gilt es, anhand der sich abzeichnenden ersten Positionen in diesem noch relativ unkonturierten Diskursfragment nachzugehen. Dies

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kann und soll im Sinne der Fragestellung zugleich auch immer unter Rückgriff auf die bisherigen (Dis-)Kontinuitäten der Problemorientierungen in den jeweiligen Disziplinen geschehen. Strukturierende Elemente sind: Anfänge medienphilosophischen Nachdenkens; Genealogien von Medienphilosophie sowie Konzepte pragmatischer und theoretischer Medienphilosophie. Schließlich werde ich ein vorläufiges Fazit zum Forschungskomplex ›Medienphilosophie‹ als lose strukturelle Kopplung von Medienwissenschaft und Philosophie ziehen. Die zweite Anwendungsstudie setzt sich mit Medieninformatik auseinander (Kapitel 5), exemplifiziert anhand der (Selbst-)Beobachtung und (Selbst-)Beschreibung des transdiziplinären Forschungskomplexes Computer Supported Cooperative Work (CSCW). Die computerunterstützte Gruppenarbeit wird im medieninformatorischen Kontext der Mensch/ Computer-Interaktion (MCI), der strukturell durch eine gewisse epistemische Offenheit charakterisiert ist, diskursiviert. In der Domäne von Computer Supported Cooperative Work sind Vertreter aus Informatik und Sozialwissenschaft, Psychologie und Soziologie, Arbeitswissenschaft und Design sowie Ökonomie und Wirtschaftsinformatik bestrebt, durch den Einsatz kollaborativer Informations- und Kommunikationssysteme die menschliche Zusammenarbeit in vereinten und/oder verteilten Gruppen zu fördern und zu verbessern. In dieser Untersuchung (re-)konstruiere ich beispielhaft die Media-Synchronicity-Theorie der US-amerikanischen Wirtschaftsinformatiker und Managementwissenschaftler Alan R. Dennis und Joseph S. Valacich, der eine transdisziplinäre (Selbst-)Beobachtungs- beziehungsweise (Selbst-)Beschreibungslogik des internationalen Diskurses der computerunterstützten Gruppenarbeit in besonderer Weise impliziert ist.100 Dieser Ansatz stellt einen Zusammenhang zwischen der Synchronizität der Mediennutzung und Charakteristika der Kommunikation her und gibt darüber hinaus weitere Aufschlüsse zur Mediennutzung. Für den Forschungsfokus meiner Studie ist die Media-SynchronicityTheorie gerade deshalb von großem Interesse, da sie im hiesigen Rezeptionskontext unter dem spezifischen Aspekt der »Mediennutzung« und »-theorie« rezipiert und adaptiert wurde, allerdings ohne Partizipation der Medien- oder Kommunikationswissenschaft. Strukturierende Elemente sind: Modellierung von Medien im Kommunikationsprozess; Modellierung von Aufgaben im Kommunikationsprozess sowie Konstitution, 100 Vgl. Alan R. Dennis u. a.: »Beyond Media Richness. An Empirical Test of Media Synchronicity Theory«, in: Hugh J. Watson (Hg.): Proceedings of the 31nd Hawaii International Conference on System Sciences (HICSS 31), Los Alamitos, California u. a.: IEEE Computer Society 1998, S. 48-57 sowie Alan R. Dennis/Joseph S. Valacich: »Rethinking Media Richness. Towards a Theory of Media Synchronicity«, in: Ralph H. Sprague, jr. (Hg.): Proceedings of the 32nd Hawaii International Conference of System Sciences (HICSS 32), Los Alamitos, California u. a.: IEEE Computer Society 1999 (CD-ROM of Full Papers), S. 1-10.

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Kommunikation und Kooperation von Gruppen. Am Schluss des Anwendungskapitels resümiere ich die strikten transdisziplinären Kopplungen im Diskurs von Computer Supported Cooperative Work am Beispiel der Media-Synchronicity-Theorie. Am Ende der Untersuchung Episteme der Medienwissenschaft versuche ich ein erstes Resümee zum Projekt einer integralen systemischen Wissenschaftsforschung (trans-)disziplinärer Medienreflexion zu ziehen (Kapitel 6). Bei den angesprochenen Operationen handelt es sich einmal mehr um ein differenzierendes Markieren. Die Unterscheidung und die Bezeichnung von Erkenntnis und Wissen sowie in Folge dessen ebenso die Unterscheidung und Bezeichnung von ›Wahrheit‹ konstituieren sich immer in einer aktuellen oder durch eine aktuelle Operation: dadurch dass sie vollzogen wird, ist sie schon nicht mehr gegeben – mithin ist Erkenntnis und Wissen immer zeitbedürfend und -bezogen. Nach Luhmann lässt sich ›Wissen‹ und ›Wahrheit‹ lediglich durch einen Beobachter zweiter Ordnung unterscheiden, mithin: »einen Beobachter, der Beobachter beobachtet.«101 Dieser Sachverhalt gilt selbstredend auch für Reflexionstheorien und reflexive Mechanismen. Evidenterweise ist für die Wissenschaft zu reformulieren und zu respezifizieren: Epistemologische Hypothesen sind im Modus der Beobachtung zweiter respektive dritter Ordnung als Programme für die Selbstbeobachtung und -beschreibung des sozialen Systems Wissenschaft102 zu konzeptualisieren.103 Genau an dieser Stelle treten die wissenschaftsreflexiven (Sub-)Disziplinen Wissenschaftsphilosophie, -theorie, -soziologie und -geschichte, mithin die Wissenschaftsforschung, auf den Plan. Aus den vorausgehenden Ausführungen ergeben sich Folgen und Konsequenzen für die so genannten erkenntnistheoretischen Letztbegriffe der Wissenschaftsreflexion: zum einen für Kausalaussagen und -gesetze, zum anderen für Existenzaussagen und -gesetze.104 Im Gegensatz zu den nach wie vor einflussreichen epistemologischen und logischen Traditionsbeständen in Reflexionstheorien der Wissenschaft ist weder der Terminus technicus der ›Kausalität‹ noch der der ›Existenz‹ beobachtungsunabhängig; sowohl der Begriff der Kausalität als auch der der Existenz artikulieren eine ›Realität‹, die man nur durch die konstitutive Ko-Referenz des Beobachters explizieren kann.105 Der Sachverhalt der beobachterabhängigen Bezeichnung und Beschreibung trifft gleichermaßen auf die gängige attributions- und prädikationstheoretische Forschung wie auf die (Selbst-) Untersuchung von Erkennen und Erkenntnis, Wissen und Wissenschaft zu

101 102 103 104 105

N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 33), S. 167. Vgl. ebd., S. 512. Ebd. Vgl. ebd., S. 512, 513. Vgl. ebd.

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– konsequenterweise sind Kausalität und Existenz schlussendlich als genuin wissenschaftsinterne Konstruktionen zu betrachten.106 Ein ausführliches Literaturverzeichnis (Kapitel 7) mit den zitierten und konsultierten Quellen komplettiert die vorliegende Arbeit.

An s p r u c h u n d R e i c hw e i t e d e r U n t e r s u c h u n g Der formale Anspruch und die explikatorische Reichweite meiner Untersuchung sind im Kontext des Forschungsdesigns zu betrachten. Von ihrer Anlage her betrachtet, betritt die Studie innerhalb der Medien- und Kommunikationswissenschaft Neuland, sowohl was ihren Untersuchungsgegenstand als auch was ihr theoretisch-methodologisches Konzept anbelangt. Angespornt durch die bis dato weithin unmarkierte Problembeschreibung einer multi- und/oder transdisziplinären Medienforschung, sehe ich mich veranlasst, mit meinem Forschungsprojekt sowohl innerhalb der Medien- als auch innerhalb der Kommunikationswissenschaft einen neuen Weg zu beschreiten, und dies vornehmlich in dreierlei Hinsichten: • Erstens werden zumindest für die deutschsprachige Medien- und Kommunikationswissenschaft zum ersten Male explizit diskursive, funktionale und explikatorische Zusammenhänge zwischen (transdisziplinärer) Medien- und (integraler systemischer) Wissenschaftsforschung hergestellt und zum Gegensand einer wissenschaftlichen Explorativstudie erhoben;107 • zweitens wird die nicht selten monomane Wissenschaftsreflexion der involvierten (Sub-)Disziplinen – allen voran der Literatur- und Sprachwissenschaft sowie der Medien- und Kommunikationswissenschaft – mit ihren Fixierungen und Insistierungen auf Wissenschaftsgeschichte108 problem- und theorieorientiert auf eine integrative systematische Wissenschaftsforschung hin überschritten und schließlich

106 Vgl. ebd. 107 Eine der ganz wenigen Ausnahmen stellt die schon oben erwähnte transdisziplinär versierte wissenschaftssoziologische Studie von J. Güdler: Dynamik der Medienforschung (wie Anm. 18) dar; vgl. ferner auch die Zusammenfassung von L. Krempel: »Dynamik der Medienforschung« (wie Anm. 24). Die Studie von Güdler gibt allerdings keine wirkliche kausale und funktionale Erklärung für die charakteristische Extension und Dynamisierung der Medienforschung im deutschsprachigen Raum an. 108 Vgl. hierzu etwa die diesbezüglichen Selbsteinschätzungen von Jörg Schönert: »Einführung zum Symposion«, in: Jörg Schönert (Hg.): Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. DFG-Symposion 1998, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2000, S. XVII-XXVI, hier S. XXI und Lutz Hachmeister: Theoretische Publizistik. Studien zur Geschichte der Kommunikationswissenschaft in Deutschland, Berlin: Spiess 1987, S. 6-11.

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• drittens werden in der Medien- und Kommunikationswissenschaft auf der Basis exemplarischer Anwendungsuntersuchungen Ansätze zur Analyse von Selbstbeobachtungslogiken und -beschreibungslogiken transdisziplinärer Ausdifferenzierung respektive Neukonstituierung der Medienforschung offeriert und appliziert. Wenngleich vorstehend, nicht zuletzt aus darstellungstechnischen Gründen, der Kollektivsingular ›Medienforschung‹ bemüht wurde, liegt es selbstredend nicht in meiner Absicht, eine sich thematisch erschöpfende Tour d’Horizon medien- und kommunikationswissenschaftlicher Forschungsdiskurse ins Werk zu setzen, unbeschadet des Umstandes, dass wohl nahezu alle medien- und kommunikationsreflektierenden Wissenschaftsdisziplinen und -kulturen mit solchen und/oder ähnlichen Transformationsprozessen konfrontiert waren und noch immer sind. In Anbetracht des spezifischen Charakters des Forschungskonzepts, der Komplexität der Materie und der Emgerenz transdisziplinärer Konstellationen kann lediglich ein begrenzter thematischer Korpus trangressiver Medienforschung seit Mitte der 1980er Jahre mittels einer konstruktivistischsystemtheoretischen Wissenschaftsforschung identifiziert, dokumentiert und analysiert werden. Mithin weist das Studiendesign ›explorativen‹ Charakter auf.109 Zum Prozedere explorativen Forschens im Zusammenhang wissenschaftlicher Theoriebildung annotieren die Psychologen Jürgen Bortz und Nicola Döring: »Im Rahmen eines Theoriebildungsprozesses, der sich unter Umständen über mehrere Jahre hinzieht, können auf empirischer Ebene verstärkt auch die zeitlich aufwendigeren qualitativen Verfahren zum Einsatz kommen. Im Kontext der Theoriebildung wird man bei der gedanklichen Verarbeitung theoretischer Konzepte und empirischer Befunde bewusst auf einer höheren Abstraktionsebene arbeiten, integrativ und abstrahierend größere Zusammenhänge darstellen, während bei der untersuchungsvorbereitenden Hypothesengewinnung bzw. Hypothesenpräzisierung eine gute Operationalisierbarkeit der entwickelten Ideen im Vordergrund steht. Ergebnis der Theoriebildung ist ein Netz von Hypothesen und Konstrukten, das durch übergreifende Ideen und Annahmen zusammengehalten wird und im gelungenen Fall richtung[.]weisend für weitere Überlegungen, Explorationen und Hypothesenprüfungen ist.«110

109 Vgl. grundlegend auch Klaus Gerdes (Hg.): Explorative Sozialforschung. Einführende Beiträge aus »Natural Sociology« und Feldforschung in den USA, Stuttgart: Enke 1979, passim und Siegfried Lamnek: Qualitative Sozialforschung, Band 2. Methoden und Techniken, Weinheim: Beltz, Psychologie-Verlags-Union 1995, S. 9-11, 82-84, 169-171, 244, passim. 110 Jürgen Bortz/Nicola Döring: Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler, Heidelberg: Springer 2006, S. 355.

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Aufgrund der in Teilen explorativen Ausrichtung der Untersuchung zur Wissenschaftsforschung der aktuellen Medienforschung habe ich mich hinsichtlich Anspruch und Reichweite ihrer Aussagekraft zu bescheiden. Nach dem gemeinhin verbreiteten Verständnis besteht die erste Zielsetzung explorativen Forschens111 darin, durch wissenschaftliche Aktivitäten Arbeitshypothesen gewinnen zu können, mittels derer man zu konstruktiven Vorstellungen und Einsichten über den in Rede stehenden Sozialsektor gelangt. Dieser Ansatz betrifft auch meine Studie zur integralen Wissenschaftsforschung transdisziplinärer Medienwissenschaft. Die Untersuchung konzentriert sich auf die Selbstbeobachtungs- und Selbstbeschreibungslogiken der Medienwissenschaft. Institutionelle und paradigmatische Entwicklungen werden in einer makroperspektivischen Untersuchung dargestellt, eine korrespondierende mikrostrukturelle Analyse steht noch aus. Dementsprechend erfasst die Arbeit in der vorliegenden Konzeption schwerpunktmäßig keine organisationellen Indikatoren oder quantitativen Parameter zum evolutionären Wachstum der beiden untersuchten Forschungskomplexe ›Medienphilosophie‹ und ›-informatik‹. Auch die geografische Ausdehnung der Studie ist zu begrenzen. Mein Forschungsprojekt konzentriert sich vornehmlich auf die deutschsprachige Medienforschung der letzten zwei Dezennien. Ich nehme dabei eine dezidiert zu nennende Beschränkung des Forschungsfokus vor, nicht zuletzt um womöglich unbotmäßigen Erwartungshaltungen präventiv zu begegnen. Die topografische Begrenzung bezieht sich vor allem auf den deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich und die Schweiz), und dies gleich in zweierlei Weise: Ich konzentriere mich primär auf die Prämissen des Medien- und Wissenschaftssystems in der Bundesrepublik Deutschland. Eine weitere Beschränkung betrifft die Selektion und Struktur des (trans-)disziplinären Spektrums der Medienforschung, nämlich ›Medienphilosophie‹ und ›-informatik‹ in der hiesigen Perzeption. Aufgrund der raum-zeitlichen Nähe zur Wissenschafts- und Technikentwicklung, wo Kalküle, Reflexionsansätze, Selbstbeobachtungs- und Selbstbeschreibungslogiken immer noch im Werden begriffen sind und sich entsprechende Eigenwerte erst sehr langsam und bestenfalls in Ansätzen konfigurieren, kann die Studie am ehesten den Status einer Trendanalyse für sich reklamieren, deren Resultate sich nur vorsichtig herauskristallisieren. Eine Extrapolierung hat mit Umsicht zu geschehen, wie weiter unten noch zu explizieren sein wird.

111 Vgl. ebd., S. 352-391.

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Ein letztes klärendes Wort zur epistemischen und sozialen Konstruktion von Wissenschaft und wissenschaftlichen Beschreibungen: »Ein Beobachten von Beobachtungen kann besonders darauf achten«, schreibt Niklas Luhmann am Ende seines Buches Die Wissenschaft der Gesellschaft, »welche Unterscheidungen der beobachtete Beobachter benutzt. Es kann sich fragen, was er mit seinen Unterscheidungen sehen und was er damit nicht sehen kann.«112 In diesem Sinne möchte ich mit meiner Studie Episteme der Medienwissenschaft zu einer intensiveren Selbstreflexion im Bereich der intradisziplinären, aber gerade auch der transdisziplinären Medienforschung anregen. Darüber hinaus soll die Arbeit nicht zuletzt einen konzeptuellen Beitrag zur Beschreibung und Beschreibbarkeit einer multi- und transdisziplinären Medienforschung leisten, die nach der hier verhandelten Auffassung die (in Teilen) nächste Stufe der Wissenschaftsevolution darstellt oder darstellen wird. Selbstredend bin ich mir über die selbstreferenziellen Implikationen als Verfasser der vorliegenden Studie, derer man sich schlechterdings nicht entledigen kann, vollauf im Klaren. Über die diskursiven Anschlüsse werden – wie immer – die Leserinnen und Leser113 dieses Buches entscheiden. Verbliebene Fehler gehen selbstverständlich auf mein Konto – wohl wissend: »Das Mitführen eines Letztsymbols wie Unbeschreibbarkeit, Unsichtbarkeit, Latenz reflektiert nur die Kontingenz des Einsatzes aller Unterscheidungen.«114 *** Hinweis zur Erstpublikation Die beiden nachstehend aufgeführten Veröffentlichungen fungierten als Materialbasis für Teile von Kapitel 4 und Kapitel 5. Für die vorliegende Dissertation Episteme der Medienwissenschaft wurden die entsprechenden Passagen gemäß der explizierten Problemexposition beziehungsweise nach Maßgabe des zu exekutierenden Studiendesigns reformuliert und respezifiziert: 112 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 33), S. 718. 113 Die völlig zu Recht gestiegene Sensibilität für die geschlechtsspezifischen Besonderheiten der deutschen Sprache verlangt von jeder Autorin und von jedem Autor eine Antwort auf die Frage, wie sie beziehungsweise wie er der wichtigen Geschlechterfrage Rechnung zu tragen gedenkt. Auch wenn die politisch korrekte Doppeldenomination weiblicher und männlicher Formen angezeigt ist, verzichte ich im Fließtext des vorliegenden Bandes darauf, immer sowohl den femininen als auch den maskulinen Ausdruck zu verwenden, um die Lesefreundlichkeit nicht zu beeinträchtigen. Auch wenn die männliche Sprachform dominiert, so sind selbstverständlich stets Frauen und Männer zugleich gemeint. 114 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 33), S. 719.

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Filk, Christian: Computerunterstütztes kooperatives Lehren und Lernen. Eine problemorientierte Einführung, Siegen: Universitätsverlag Siegen 2003, S. 70-97. Filk, Christian/Grampp, Sven/Kirchmann, Kay: »Was ist ›Medienphilosophie‹ und wer braucht sie womöglich dringender: die Philosophie oder die Medienwissenschaft? Ein kritisches Forschungsreferat«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 29 (2004) 1, S. 39-65.

Grundlegung

2 Erforsc hung de r Wiss e nsc haft »Every real thing is either a system or a component of a system; every construct is a component of at least one conceptual system; every symbol is a component of at least one symbolic system; and every research field is a component of the system of human knowledge.«1 – Mario Bunge

Gesellschaftsevolutionäre Matrix Wirft man einen auch nur kursorisch zu nennenden Blick in die Geschichte dessen, was als ›Wissen‹, ›wissenschaftliches Wissen‹ und ›Wissenschaft‹ (griechisch: epistéme; lateinisch: scientia), schlicht: als Wissensformen ex positivo beziehungsweise ex negativo, charakterisiert wird, so erkennt man rasch, dass es sich dabei – ich habe aus nahe liegenden Gründen primär die westliche Hemisphäre im Blick –2 um soziale Diskurse handelt, die nicht 1 2

Mario Bunge: Finding Philosophy in Social Science, New Haven/London: Yale University Press 1996, S. 266. Es ist natürlich nicht zu verhehlen, dass sich im Laufe der westlichen Kulturund Wissenschaftsgeschichte fragwürdige Dispositionen entwickeln konnten, welche dem ursprünglichen Ethos der Wissenschaft – dem Streben nach ›reiner Erkenntnis‹ – zuwiderlaufen. Vgl. etwa den Vorwurf insbesondere an die europäische Wissenschaft aus der legendären Studie von Leo Frobenius: Kulturgeschichte Afrikas. Prolegomena zur einer historischen Gestalt, Wuppertal: Hammer 1993, S. 9-10: »Wahrlich, niemals vordem war die minutiöse Genauigkeit (Akribie) in der Betrachtungsweise derart ›virtuos‹ gewesen! Nicht nur in der Betrachtung der Natur; auch in philosophischer und historischer Arbeit. Aber der Anblick der Ganzheit der Erscheinungen wie der Blick durch die Tatsachen bis ins Innere der Wirklichkeit, – das entging der Menschheit. Aus mühsamster Arbeit wurde eine Übersicht erreicht, aber keine Einsicht aus Muße. Es gelang eine filigranartig überfeinerte Miniaturmalerei der Oberflächenwelt.«

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immer und überall gleichermaßen kultiviert wurden und werden. Das Zusammenspiel aller Medien,3 angefangen von sinnlichen Wahrnehmungsmedien (wie Raum, Zeit und die fünf Sinne) über symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien (wie Liebe, Macht, Geld und Kunst) beziehungsweise semiotische Kommunikationsmedien (wie Bild, Sprache, Schrift und Musik) bis zu technischen Verbreitungsmedien (wie Stimme, Buchdruck, Radio, Film, Fernsehen, Computer und Internet), komprimiert, was man mit dem »Gesamtausdruck Kultur«,4 einschließlich eines gewissen Vorrats gleicher Themen, belegen könnte. Diese Verdichtung – der Soziologe Niklas Luhmann spricht von »Kondensierung« – meint, dass ein jedweder bemühter Sinn5 zwar auf der einen Seite qua Wiederbenutzung in unterschiedlich situierten Kontexten derselbe bleibt, sich jedoch auf der anderen Seite konfirmiert und sich somit semantisch mit neuen Bedeutungen auflädt, die nicht (mehr) auf einen Nenner zu bringen sind. Aus diesem Umstand resultiert die Annahme, dass der Verweisungsüberschuss von Sinn wiederum seinerseits das Ergebnis der Verdichtung und Verfestigung von Sinn ist und Kommunikation als der Operator fungiert, der so sein eigenes Medium generiert.6 Im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung wurde ›Wissen‹ bestimmt, wurde die Differenz ›wissenschaftlich‹ gegenüber ›unwissenschaftlich‹ ausgezeichnet7 und wurde schließlich ein spezifischer Sektor 3 4 5

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Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 190-412. Ebd., S. 409 (Hervorhebung im Original). ›Sinn‹ wird bei Luhmann als »›differenzlose[r]‹ Begriff« verstanden, vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 93: »Das Phänomen Sinn erscheint in der Form eines Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handels.« Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (wie Anm. 3), S. 409. Im Sinne der sozialevolutionären Basisargumentation der hier vertretenen konstruktivistisch-systemtheoretischen Gesellschaftstheorie ist der Begriff ›Differenz‹ nicht als wertend auf einer Skala von ›gut‹ bis ›schlecht‹ zu verstehen; vielmehr ist damit die Setzung und Einführung von Unterscheidungen in die wissenschaftliche Kommunikation durch das Beobachten von Beobachtungen gemeint. Vgl. dazu Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 667-668 (Hervorhebung im Original): »Es gibt demnach auch keine kontextunabhängige Entscheidung zwischen unterschiedlichen Geltungsansprüchen, also auch keine kontextunabhängige Bewertung wissenschaftlichen Fortschritts. […] Weder die empirische Wissenschaftsgeschichtsforschung noch die epistemologische Reflexion gibt etwas anderes her. Was statt dessen angeboten werden kann, ist eine rekursiv arrangierte Beobachtung des Beobachtens, ein Kontextieren von Kontexten, ein Unterscheiden von Unterscheidungen, also eine Kybernetik des Beobachtens zweiter Ordnung. Darauf kann eine erkenntnistheoretische Reflexion sich einstellen – zum Beispiel: indem sie sich von Was-Fragen auf Wie-Fragen umstellt. Damit stellt die Wissenschaft sich auf ihre eigene Analyse der modernen Gesellschaft ein. Sie muß aber dann konsequent darauf verzichten, der Gesellschaft deren eigene Fort-

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›Wissenschaft‹ durchgesetzt. Mittels einer systemtheoretischen Modellierung kann man die Wissensformen ›Wissen‹, ›wissenschaftliches Wissen‹ und ›Wissenschaft‹ im Kontext verschiedener gesellschaftlicher Evolutionsstufen der sozialen Ausdifferenzierung von Kommunikation beobachten und beschreiben. Damit geht diskurshistorisch die ›Entdeckung‹ von Wissen und Wissenschaft als ›soziale Kategorien‹ einher.8 Der auf einer solchen Konzeptualisierung gründende Perspektivenwechsel bedarf der weiteren Explikation, vor allem um sich von der ›klassischen‹ Wissensund Wissenschaftssoziologie – abzugrenzen: »Je deutlicher sich die Konturen einer Epistemologie abzeichnen, die soziale Bedingungen des Wissens mit in Betracht zieht oder gar […] exklusiv von der Systemreferenz Gesellschaft ausgeht, desto deutlicher wird auch erkennbar, daß dies eine Neudefinition der Begriffe Erkenntnis (als Ereignis bzw. als Ereignissequenz) und Wissen (als aufgezeichneten Bestand) erfordert.«9

Während tradierte wissenssoziologische Perspektiven10 ceteri paribus einer Zuschreibung von Ideen auf die sie stiftenden und tragenden sozialen Gruppen und/oder Schichten das Wort reden, stellt die Luhmann’sche Soziologie die Gesellschaftsanalyse auf komplexe evolutions- und systemtheoretische Prämissen um: »Unsere inhaltliche Hypothese ist […], daß die Komplexität, die ein Gesellschaftssystem erreichen kann, abhängt von der Form der Differenzierung.«11 In Korrespondenz dazu wird die verbreitete Annahme, dass die Entwicklung der Moderne mit dem Aufstieg der ›bürgerlichen Klasse‹ koinzidiere, durch die makrosoziologische These eines zweifachen Übergangs substituiert: von der segmentären zur stratifikatorischen Gesellschaftsdifferenzierung sowie von der stratifikatorischen zur funktionalen Gesellschaftsdifferenzierung.12 schrittlichkeit zu versichern. Ob nun die Gesellschaft diesen Glauben an die eigene Fortschrittlichkeit weiterhin pflegt oder nicht: sie wird sich dabei jedenfalls nicht auf Wissenschaft berufen können.« 8 Vgl. auch Peter Weingart: Wissensproduktion und soziale Struktur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 12-92. 9 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 7), S. 122. 10 Zum Diskursfeld vgl. historisierend Sabine Maasen: Wissenssoziologie, Bielefeld: transcript 1999; problematisierend Volker Meja/Nico Stehr (Hg.): Der Streit um die Wissenssoziologie, Band 1. Die Entwicklung der deutschen Wissenssoziologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982 sowie Volker Meja/ Nico Stehr (Hg.): Der Streit um die Wissenssoziologie, Band 2. Rezeption und Kritik der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982. 11 Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 22 (Hervorhebung im Original). 12 Vgl. vor allem die vierbändige Studie Niklas Luhmanns im Einzelnen: N. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 1 (wie Anm. 11), S. 2535, 72-82, 162-168, 169-173; Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 2,

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Der Wandel im Komplexitätsniveau des Gesellschaftssystems ist durch Epigenese charakterisiert.13 Die Zunahme von gesellschaftlicher Komplexität – im angeführten Sinne – erfolgt weder durch intentionales soziales Agieren noch ist sie als Befund eines gleichförmigen, stetig fortschreitenden evolutiven Vorgangs zu begreifen; vielmehr ist die Steigerung von Komplexität ein Epiphänomen struktureller Akzentuierungen, »Umlagerungen«, insbesondere der Transformation von Differenzierungsformen. Tritt der Fall ein, dass sich der Komplexitätshaushalt einer Gesellschaft wandelt, so muss die Alltag und Verhalten leitende Semantik rejustiert werden, damit man nicht Gefahr läuft, den Kontakt zur ›Realität‹ – als zugleich soziokulturelles und kommunikatives Konstrukt –14 verlustig gehen zu lassen.15 In der Luhmann’schen Systemtheorie gilt Komplexität als wichtiger interagierender Faktor zwischen evolutionsinduzierten Strukturveränderungen und semantischen Verschiebungen. Bedingt durch den Umstand, dass das Komplexitätsniveau steigt, können im Gesellschaftssystem zum einen vorgängige Trends zur Transformation potenziert, zum anderen so genannte Sekundär-Evolutionen initiiert werden, welche die gegebenen strukturellen und semantischen Elemente der gewandelten binFrankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 18-23, 42-43, 83-88, 177-182, 188189, 270-273; Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 66-67, 146-148, 155, 165, 189-190, 220, 246-250, 267-269, 377-378, 430-433 sowie Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 4, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 86-90, 141-148, 174-175. 13 Vgl. nachstehend N. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 1 (wie Anm. 11), S. 22-23. 14 Epistemologisch dahinter zurückgehend, lässt sich gemäß der »Transzendentalen Analytik« von Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden, Band II. Kritik der reinen Vernunft, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, S. 191, konstatieren: »Realität ist im reinen Verstandesbegriffe das, was einer Empfindung überhaupt korrespondiert; dasjenige also, dessen Begriff an sich selbst ein Sein (in der Zeit) anzeigt. Negation, dessen Begriff ein Nichtsein (in der Zeit) vorstellt. Die Entgegensetzung beider geschieht also in dem Unterschiede derselben Zeit, als einer erfülleten, oder leeren Zeit. Da die Zeit nur die Form der Anschauung, mithin der Gegenstände, als Erscheinungen, ist, so ist das, was an diesen der Empfindung entspricht, die transzendentale Materie aller Gegenstände, als Dinge an sich (die Sachheit, Realität).« 15 Vgl. flankierend die sozialhistorisch fundierte Position von Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 12-13: »Unser moderner Geschichtsbegriff ist ein Ergebnis aufklärerischer Reflexion über die anwachsende Komplexität der ›Geschichte überhaupt‹, in der sich die Bedingungen der Erfahrung eben dieser Erfahrung zunehmend entziehen. Das gilt sowohl für die räumlich ausgreifende Weltgeschichte, die in dem modernen Begriff der ›Geschichte überhaupt‹ enthalten ist, wie für die zeitliche Perspektive, in der Vergangenheit und Zukunft seitdem stets aufs neue aufeinander zugeordnet werden müssen.«

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nengesellschaftlichen Komplexität angleichen, assimilieren. Vermögens der Intervention qua Komplexität bedarf die Transformation von Gesellschafsstruktur und Semantik keinerlei Zielsetzungen. Mithin vollzieht sich Gesellschaftsentwicklung nicht teleologisch gerichtet auf einen – wie auch immer – vorwegzunehmenden Endzustand, und dies unbeschadet des Sachverhalts, dass, belegt durch erfahrungsbegründete Entwicklungen, Zukunftsprojektionen Einfluss nehmen könnten.16 Das vorgebrachte Diskursgefüge von Gesellschaftsstruktur und Semantik ist nur ein wesentlicher Aspekt des weit greifenden Luhmann’schen Ansatzes. Wie aus einschlägigen Veröffentlichungen17 geläufig, konzeptualisiert Luhmann die moderne Gesellschaft mit Hilfe der Epistemologie des operativen Konstruktivismus und dem Differenzierungsinstrumentarium der funktional strukturellen Systemtheorie. Die interdisziplinären und transparadigmatischen Forschungsdiskurse18 sind in 16 Vgl. N. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 1 (wie Anm. 11), S. 22-23. 17 Zu seiner triadischen Gesamtkonzeption schreibt N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (wie Anm. 3), S. 11: »Für die Theorie der Gesellschaft war von Anfang an eine Publikation gedacht gewesen, die aus drei Teilen bestehen sollte: einem systemtheoretischen Einleitungskapitel, einer Darstellung des Gesellschaftssystems und einem dritten Teil mit einer Darstellung der wichtigsten Funktionssysteme der Gesellschaft.« Antizipiert man die von Luhmann selbst gesetzte Zäsur hinsichtlich seiner Schriften, so gelten alle Arbeiten, die vor Soziale Systeme entstanden sind, noch als »NullSerie der Theorieproduktion«; vgl. Niklas Luhmann: »Biographie, Attitüden, Zettelkasten«, in: Niklas Luhmann: Archimedes und wir. Interviews, Berlin: Merve 1987, S. 125-155, hier S. 142. Mit N. Luhmann: Soziale Systeme (wie Anm. 5), 1983 fertig gestellt und 1984 erstmals veröffentlicht, lag die einführende Theorieübersicht vor. Dem schloss sich in den kommenden zehn, 15 Jahren eine Reihe von (Re-)Konstruktionen zentraler Funktionssysteme der Gesellschaft an, nämlich: Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989; N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 7); Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 sowie Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995. Postum erschienen in dieser Serie: Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000; Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000 und zuletzt Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. Mit den beiden Teilbänden von N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (wie Anm. 3) wurde der Fachöffentlichkeit schließlich Ende der 1990er Jahre die Abhandlung zum Gesellschaftssystem übergeben. Kürzlich erschien die Anthologie Niklas Luhmann: Schriften zu Kunst und Literatur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. 18 Einen nicht unwichtigen Anstoß, sein systemtheoretisches Basiskonzept auf naturalistische, biologische, kybernetische, neurophysiologische und kognitionstheoretische, kurz: konstruktivistische Prämissen, die hauptsächlich mit den Namen Maturana, von Foerster und von Glasersfeld verbunden sind, umzustellen, erhielt Luhmann durch die Arbeiten von Peter M. Hejl: Sozialwissenschaft als Theorie selbstreferentieller Systeme, Frankfurt am

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erster Linie durch die Kybernetik zweiter Ordnung Heinz von Foersters (Second Order Cybernetics),19 die mehrwertige Logik Gotthard Günthers (transklassische Logik)20 und die Kognitionsbiologie Humbert R. Maturanas (Autopoiese)21 gekennzeichnet. Von besonderer Bedeutung für die theoretische Konzeptualisierung, mithin für die beobachterabhängige Beobachtungs- und Beschreibungsproblematik, erweisen sich sowohl der differenztheoretische Formenkalkül George Spencer-Browns (»Draw a Distinction!«)22 als auch die Medium/Form-Unterscheidung nach Fritz Heider (Ding/Medium-Gegensatz)23. Jenes ›Beobachten‹ wird bestimmt als Anwendung einer Unterscheidung zum Zweck der Bezeichnung. Der Terminus des Beobachtens impliziert Erkennen und Handeln24 respektive Handeln und Erleben25. Später avancierte die durch die Medium/DingUnterscheidung Heiders inspirierte Medium/Form-Differenz zu einer weiteren Leitoperation in der Systemtheorie Luhmanns. Ein konstruktivistisch respektive systemtheoretisch basiertes Konzept grenzt sich vom überlieferten Verständnis der Genese, Konstitution und Kommunikation von Gesellschaft ab. Den Ausgangspunkt stellt nicht ›Einheit‹, sondern ›Differenz‹ dar.26 Die systemische Analyse setzt ein mit

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Main/New York: Campus 1982, S. 189-211. Vgl. ferner Peter M. Hejl/Wolfram K. Köck/Gerhard Roth (Hg.): Wahrnehmung und Kommunikation, Frankfurt am Main/Bern/Las Vegas: Lang 1978 sowie Frank Benseler/Peter M. Hejl/Wolfram K. Köck (Hg.): Autopoiesis, Communication, and Society. The Theory of Autopoietic Systems in the Social Sciences, Frankfurt am Main/New York: Campus 1980. Vgl. Kenneth L. Wilson (Hg.): The Collected Works of the Biological Computer Laboratory, Urbana, Illinois: University of Illinois, Department of Electrical Engineering 1976. Vgl. zur Übersicht Kurt Klagenfurt: Technologische Zivilisation und transklassische Logik. Eine Einführung in die Technikphilosophie Gotthard Günthers, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995. Vgl. Humberto R. Maturana/Francisco J. Varela/Ricardo B. Uribe: »Autopoiese: die Organisation lebender Systeme, ihre nähere Bestimmung und ein Modell«, in: Humberto R. Maturana: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1985, S. 157-169, hier S. 163-164. Vgl. George Spencer-Brown: Laws of Form / Gesetze der Form, Lübeck: Bohmeier 1997, S. VII-XXXVI, 1-24. Vgl. Fritz Heider: »Ding und Medium«, in: Symposion. Philosophische Zeitschrift für Forschung und Aussprache, 1 (1926) 2, S. 109-157; als Reprint Fritz Heider: Ding und Medium, Berlin: Kadmos 2005, insbesondere S. 45-68. Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 7), S. 111112, 140-141. Vgl. N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (wie Anm. 17), S. 129-130. Zu den von Luhmann im Rekurs auf die mathematische Differenztheorie Spencer-Browns und die mehrwertige Logik Günthers adaptierten Operationen vgl. Niklas Luhmann: »Identität – was oder wie?«, in: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven, Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, S. 14-30 sowie Niklas Luhmann: »Das Erkennt-

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der System/Umwelt-Differenz: »Systeme [...] sind strukturell an ihrer Umwelt orientiert und könnten ohne Umwelt nicht bestehen. Sie konstituieren und sie erhalten sich durch Erzeugung und Erhaltung einer Differenz zur Umwelt, und sie benutzen ihre Grenzen zur Regulierung dieser Differenz.«27 Mit der Umstellung auf Systemtheorie wird ein grundlegender Perspektivenwechsel vollzogen, nämlich der Übergang von der Idee hierarchisch-administrativer Steuerung zum Gedanken gesellschaftlicher Selbststeuerung. Seiner Theorie sozialer Systeme implementiert Luhmann Konzeptualisierungen der Selbstorganisation28 – allen voran den Autopoiesis-Terminus, der ursprünglich auf die chilenischen Neurophysiologen Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela und Ricardo B. Uribe zurückgeht.29 Das Theorem der ›Autopoiesis‹ (neologistisches Kompositum aus auto gleich: ›selbst‹ und poiein gleich: ›machen‹) besagt, dass Systeme sich selbst erzeugende Einheiten sind. Das Zusammenspiel beziehungsweise die Operationsweise der Elemente eines Systems dienen dem Aufbau und der Erhaltung der eigenen Struktur.30 Mit dem Leitgedanken der Autopoiesis geht eine weitere wichtige Akzentverschiebung einher: Der

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nisprogramm des Konstruktivismus und die unbekannt bleibende Realität«, in: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven, Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, S. 31-58. Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme (wie Anm. 5), S. 35. Vgl. stellvertretend für die umfängliche Sekundärliteratur zur Genealogie, Epistemologie und Applikation von Selbstorganisationstheorien und -konzepten etwa Wolfgang Krohn/Günter Küppers (Hg.): Selbstorganisation. Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1990 sowie Rainer Paslack/Peter Knost: Zur Geschichte der Selbstorganisationsforschung. Ideengeschichtliche Einführung und Bibliographie (1940-1990), Bielefeld: Kleine 1990. Vgl. H. R. Maturana/F. J. Varela/R. B. Uribe: »Autopoiese« (wie Anm. 21), S. 159: »Die distinkte Erscheinungsform der autopoietischen Organisation ist die der Autonomie: die Verwirklichung der autopoietischen Organisation ist das Produkt ihres Funktionierens. Solange ein autopoietisches System existiert, bleibt seine Organisation invariant; wenn das Netzwerk der Produktion von Bestandteilen, die die Organisation definieren, zerstört wird, zerfällt die Einheit. Zu einem autopoietischen System gehört folglich ein Bereich, innerhalb dessen [man; C. F.] Störeinflüsse durch die Verwirklichung seiner Autopoiese kompensieren kann, und in diesem Bereich bleibt es als Einheit bestehen.« Vgl. etwa N. Luhmann: Soziale Systeme (wie Anm. 5), S. 43, 60-62, 296298, 555-557, passim. In den frühen Jahren der interdisziplinären Rezeption des Autopoiesis-Konzepts stand Maturana Adaptionen seiner Thesen jenseits der sektoriellen Grenzen von Zellen und Organismen skeptisch gegenüber, wie entsprechende Kommentare belegen; vgl. Erich Jantsch: Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988, S. 22. Zum weiter gefassten Diskurs Maturanas Kognitionsbiologie vgl. Volker Rigas/Christian Vetter (Hg.): Zur Biologie der Kognition. Ein Gespräch mit Humberto R. Maturana und Beiträge zur Diskussion seines Werkes, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 11-90.

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Selbstbezug wird von der Ebene der Strukturkonstitution und -mutation (»Veränderung«) auf die Ebene der Konstitution von Elementen transferiert.31 Neben dem Konzept der Autopoiese ist das der Selbstreferenzialität von großer Bedeutung. Der Begriff der ›Selbstreferenzialität‹ drückt die systemische Fähigkeit aus, Beziehungen zu sich selbst auszubilden und diese zu unterscheiden von Beziehungen zur Umwelt.32 Jedes funktionale, sinnhaft operierende Teilsystem der Gesellschaft (wie beispielsweise Wissenschaft) ist durch einen spezifischen Organisationstypus charakterisiert. Diesen setzt es ein zur Produktion zusätzlicher Operationen und zur Etablierung von Strukturen, die als Programme dieser Produktion fungieren und die Unterscheidung von systemeigenen/systemfremden Modalitäten regulieren. (Die Umwelt des Systems hat keine konstruktiven, sondern höchstens destruktive Effekte auf dessen [Re-]Produktion.) Die mittels der Differenztheorie Spencer-Browns respektive Heiders gewonnene Unterscheidung Medium/Form substituiert die auf der tradierten ›Dingontologie‹ basierten Unterscheidungen Substanz/Akzidens respektive Ding/Eigenschaft. Das Medium ist stabiler als die Form, da es lediglich loser struktureller Kopplungen bedarf. Mit dem Begriff ›strukturelle Kopplung‹ wird in der biologischen und soziologischen Systemtheorie die Korrelativität zweier (oder mehrerer) Prozesse plausibilisiert.33 Bei all dem ist allerdings nicht zu vergessen, dass ausschließlich dem System

31 Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme (wie Anm. 5), S. 60-62. Doch gerade Luhmanns eigentümliche theoretische Konzeptualisierung der Autopoiesis, wie er sie auf Elementenebene definiert, hat nicht zuletzt aus dem konstruktivistisch-systemtheoretischen Lager für grundsätzliche Kritik gesorgt. So schreibt Niklas Luhmann: »Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion von Kunst«, in: Delfin. Eine deutsche Zeitschrift für Konstruktion, Analyse und Kritik III, 2 (1984) 1, S. 51-69, hier S. 51 (zitiert nach Wolfgang Krohn/ Günter Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 23): »Die Systeme produzieren die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen.« – Diese tautologisch anmutende Aussage kommentieren W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie oben in dieser Anm.), S. 23, mit den Worten: »Luhmanns aristotelischer Theoriebegriff, dessen ›unbewegter Beweger‹ die differenzlose Kategorie des Sinns ist, geht von dem Grundgedanken aus, daß soziale Systeme autopoietische Systeme sind, ein Grundgedanke, der konstruktiv nicht eingeholt werden kann. […] Es ist aber schwer zu sehen, wie diese Produktion in einem nicht-metaphorischen Sinne sich vollzieht. Luhmann benutzt den Trick, die basale Wechselwirkung seiner Systeme (Kommunikation) und die Elemente (Kommunikation) einfach zusammenfallen zu lassen, dagegen die (nicht-metaphorischen) Produzenten von Kommunikation als psychische Systeme in die Umwelt der sozialen Systeme zu versetzten […].« 32 Vgl. etwa N. Luhmann: Soziale Systeme (wie Anm. 5), S. 31, 57-59, 593595, 607-609, passim. 33 Vgl. Humberto R. Maturana: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1985, S. 143-145, 150152, 243-244, 287-289.

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selbst die eigene Operationalität und Operabilität obliegt. Dies wird durch die Attribuierung der Selbstorganisation (Autopoiesis) und der -referenzialität legitimiert. Lediglich das System selbst adaptiert seine eigenen Operationen; es kann nur innerhalb seiner eigenen Grenzen Operationen vornehmen. Formen können in einem Medium – für welchen Zeitraum auch immer – gebildet werden, ohne dass das Medium dadurch Gefahr läuft, inflationiert oder mit dem Instabilwerden der Form destruiert zu werden. Form konstituiert sich als »Form-in-einem-Medium«34. Dies lässt sich mit Hilfe des Schemas konstant/variabel beobachten.35 In Antizipation des evolutionstheoretischen Paradigmas in den Sozial- und Kulturwissenschaften36 kommt die gesellschaftliche Ausdifferenzierung singulärer Funktionssysteme, mithin die Konstituierung einer genuin autopoietischen Systemautonomie und die Justierung des gesellschaftlichen Gesamtsystems nach dem Primat funktionaler Differenzierung einem ausgesprochen unwahrscheinlichen Prozess und Resultat gleich. Jener Vorgang des Gestaltwandels, des gestalt switch im Sinne einer »Umzentrierung«, um in der Sprache der Gestaltpsychologie Max Wertheimers zu sprechen,37 markiert für die Gesellschaft ein Moment der Irreversibilität, das seinerseits dependente Strukturentwicklungen aktiviert:38 »Mehr und mehr gerät die Gesamtgesellschaft in den Inklusionssog ihrer Funktionssysteme. Was wichtig ist, wird dort entschieden, und jedes Funktionssystem regelt selbst, welche Themen es aufgreift, nach welchen Regeln es kommuniziert und welche Position es damit Personen verleiht.«39 Die von Luhmann und anderen Sozialtheoretikern vertretene Kombination der Theorie sozialer Systeme mit dem Konzept der funktionalen Differenzierung markiert den Ansatzpunkt einer Theorie der modernen Gesellschaft.40 Formaliter geht mit der Zunahme von Komplexität – Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von »Komplexitätsgewinnen« – die Ausdifferenzierung neuer System/Umwelt-Unterscheidungen in der Gesellschaft einher. Die Gesellschaft expandiert geradezu kommunikativ nach innen. Somit wird im Zuge der strukturellen Gesellschaftsdrift eben das ermöglicht, was operativ zur Autopoiesis von Kommunikation beiträgt: 34 N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (wie Anm. 17), S. 171. 35 Vgl. ebd. 36 Kompatibel ist auch die kognitionsbiologische und neurophysiologische Sichtweise der ›Evolution‹ als »ein historisches Netz von Beziehungen« von Humberto R. Maturana/Francisco J. Varela: »Autopoietische Systeme: eine Bestimmung der lebendigen Organisation«, in: Humberto R. Maturana: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1985, S. 170-235, hier S. 206-207. 37 Vgl. Max Wertheimer: Produktives Denken, Frankfurt am Main: Kramer 1964. 38 Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (wie Anm. 3), S. 707. 39 Ebd., S. 738-739. 40 Vgl. ebd., S. 761.

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mehrere und unterschiedliche Kommunikationen – und dies sowohl gleichzeitig als auch nacheinander. Diesen Mechanismen wird ein jedwedes autarkes Funktionssystem der Gesellschaft je für sich gewärtig.41 Die Ausdifferenzierung von Systemen erfolgt nach System/UmweltUnterscheidungen. Im Differenzierungsprozess der Gesellschaft in eine Mehrheit autonomer Funktionssysteme konstituieren sich jeweils systemdependente Umwelten. Jene systemrelationalen Umwelten sind untereinander nicht kongruent. Die sich ausdifferenzierenden Funktionssysteme beobachten nach Maßgabe ihrer operativen Modi, ihrer evolutionären Dynamiken sowie ihrer Differenzkodierungen ihre inner- beziehungsweise außergesellschaftlichen Umwelten. Mit dem Anbruch der so genannten ›Moderne‹, das heißt vor allem seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, lässt sich eine Intensivierung von Explorationen identifizieren, so dass man seit diesem Zeitpunkt geradezu von einem Expandieren der Gesellschaft in ihre Umwelt, mithin in ihre innergesellschaftliche Umwelt, reden kann.42 Die Gesellschaft differenziert sich in funktionale Teilsysteme aus. Jedes Teilsystem repräsentiert die Gesellschaft unter einem anderen Aspekt. Als eine Folge dessen wird die Differenz von Gesellschaftsreferenz, Referenz zur gesellschaftsinternen Umwelt sowie Selbstreferenz43 zu der Form, in der sich die Funktionssysteme an und in der Gesellschaft orientieren. Daraus resultiert ein Paradox: Die Gesellschaft muss sich auf der einen Seite als Einheit, auf der anderen Seite als Mannigfaltigkeit darstellen. Beide Umstände, sich an und sich in der Gesellschaft zu orientieren, postuliert für ein jedwedes funktionales Teilsystem verschiedene Perspektivierungen. Das Paradox der ›Welt‹ mutiert zum systemeigenen Paradox von Einheit und Differenz.44 In gewisser Hinsicht wurzeln darin die Unerreichbarkeit45 oder Unübersichtlichkeit46 der modernen funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, ihrer Sozialstrukturen und Semantiken.

41 Vgl. ebd., S. 764. 42 Vgl. Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740-1890, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 43-44. 43 Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 7), S. 635. 44 Vgl. ebd. 45 Vgl. Peter Fuchs: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 89-109. 46 Vgl. Jürgen Habermas: Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 141-163.

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Krisis der Wissenschaft und Reflexion der Wissenschaft »Gibt es angesichts der ständigen Erfolge wirklich eine Krisis der Wissenschaften?«47 – So lautet die Einstiegsfrage in Edmund Husserls epochaler Krisis-Abhandlung, der Vorträge aus dem Jahre 1935 zugrunde liegen. Darin reflektierte der Begründer der Phänomenologie als Bedeutungs- und Sinnforschung (»Wesensschau«), die stetig eine Hinwendung »zu den Sachen selbst!«48 einfordert, auf eine tiefe Zäsur in der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte Europas,49 mithin der ihr zugeschriebenen Wirkungen in der und für die Kultur beziehungsweise in der und für die »Lebenswelt« seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: »Unseren Ausgang nehmen wir von einer an der Wende des letzten Jahrhunderts hinsichtlich der Wissenschaften eingetretenen Umwendung der allgemeinen Bewertung. Sie betrifft nicht ihre Wissenschaftlichkeit, sondern das, was sie, was Wissenschaft überhaupt, dem menschlichen Dasein bedeutet hatte und bedeuten kann.«50 In seiner Krisis-Schrift beschied sich Husserl mitnichten damit, in Anbetracht der vorausgegangenen politischen, sozialen und historischen Entwicklungen der 1910er bis 1930er Jahre generell von einer Degeneration europäischer Kultur zu sprechen; vielmehr verstand er den diskursiven Kontext gleichsam als eine Misere der Philosophie wie der Wissenschaft.51 Den Grund dafür lokalisierte er in dem Unvermögen sowohl der Philosophie als auch der Wissenschaft(en), dem Menschen eine auf vernünftigen Erkenntnissen fußende Existenzweise angedeihen zu lassen.52 Nicht von ungefähr diskursivierte Husserl die Krisisproblematik Wissenschaft(en) – 47 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Hamburg: Meiner 1982, S. 1 (im Original komplett hervorgehoben – Hervorhebung »Krisis«; C. F.). 48 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 1986, S. 27 sowie Herbert Spiegelberg: The Phenomenological Movement. A Historical Introduction, The Hague/Bosten/London: Nijhoff 1982, S. 109. 49 »›Europa‹ bezeichnet hier jedoch keinen geographisch abgrenzbaren Kontinent«, stellt Elisabeth Ströker: »Einleitung zur zweiten Auflage«, in: Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Hamburg: Meiner 1982, S. IX-XXXIII, hier S. XVI, fest, »sondern die ›Einheit eines geistigen Lebens‹ als verpflichtendes Erbe aus der Urstiftung der griechischen Philosophie.« 50 E. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (wie Anm. 47), S. 4. 51 Vgl. auch Elisabeth Ströker: »Rationale Kultur durch Wissenschaft. Kritik und Krise Europas in Husserls Phänomenologie«, in: Peter Janich (Hg.): Wechselwirkungen. Zum Verhältnis von Kulturalismus, Phänomenologie und Methode, Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 1-13. 52 Vgl. auch die kohärente Darstellung bei Peter Prechtl: Husserl zur Einführung, Hamburg: Junius 1991, S. 107-108.

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Kultur – Lebenswelt im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert. Die Unbedingtheit, mit der sich seit etwa 1850 die komplette »Weltanschauung des modernen Menschen« durch die »positiven Wissenschaften« definieren und sich just durch die sie bedingte »prosperity« stimulieren ließ, kam einem gleichgültigen Abwenden von eben jenen fundamentalen Fragen gleich, die für ein »echtes Menschentum«,53 so Husserl, maßgeblich sind. Als eine unabweisbare Folge dessen resultierte für den Phänomenologen daraus: »Bloße Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsachenmenschen.«54 In seiner historisierenden kritischen Rekapitulation der Wissenschaftsgenese war Husserl bestrebt – besonderes Räsonnement erfuhren hierin die einschlägigen Konzepte Galileo Galileis, René Descartes’ und Immanuel Kants –, die eigene Position in prononcierter Abgrenzung zu einem sich im Laufe der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte konturierten naturwissenschaftlichen Objektivismus, der wesentlich durch den Gedanken eines wahrhaften, von subjektiver Einflussnahme durch den Menschen unbehelligten Seins geprägt ist, zu explizieren.55 Das ausschlaggebende Moment des naturwissenschaftlichen Denkens glaubte Husserl, in der »Mathematisierung der Natur«56 – namentlich im Rekurs auf Galilei – identifiziert zu haben. Als ambitionierten Gegenentwurf zu der auf ihr mathematisch abstrahiertes Fundamentum reduzierten Sphäre der Wissenschaften führte Husserl seine Idee der »Lebenswelt« als Ausgangs- und Zielpunkt einer phänomenologisch kritischen Reflexion57 ins Feld, mit deren Hilfe schließlich versucht werden sollte, den intersubjektiv in ursprünglicher Gewissheit erfahrenen und sich in der Praxis bewährenden Weltzusammenhang zurückzuholen, mithin neu zu stiften. Nach der Husserl’schen Analyse zeitigen die Normen oder Normierungen der »mathematischen« beziehungsweise »naturwissenschaftlichen Rationalität« eine schicksalhafte »Zerspaltung«, ja eine »Sinneswandlung« der Welt.58 Zu einem ähnlichen Befund gelangte schon Max Weber, wenngleich unter anderen Voraussetzungen,59 in seinem später berühmt

53 E. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (wie Anm. 47), S. 4. 54 Ebd. 55 Vgl. P. Prechtl: Husserl zur Einführung (wie Anm. 52), S. 108-109. 56 E. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (wie Anm. 47), S. 22, 66, passim. 57 Vgl. auch Elisabeth List: »Wissenschaftskritik«, in: Theo Hug (Hg.): Wie kommt Wissenschaft zu Wissen?, Band 4. Einführung in die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, Baltmannsweiler: Schneider 2001, S. 27-33, hier S. 28. 58 Vgl. E. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (wie Anm. 47), S. 66, 87, 103. 59 Vgl. ferner die ›klassischen‹ Untersuchungen von Max Weber: »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«, in: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen: Mohr 1988, S. 17-206.

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gewordenen Referat »Wissenschaft als Beruf«60 aus dem Jahre 1919, in dem er ein wissenschaftliches Institut mit einem kapitalistischen Wirtschaftsbetrieb vergleicht. So konstatierte der Mitbegründer der Soziologie hinsichtlich der interferierenden praktischen Folgen und Konsequenzen der Rationalisierung als Kennzeichen der Moderne61 wie folgt: »Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unten denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran; daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.«62

Neben der viel zitierten Entzauberung-der-Welt-These brachte Weber einen weiteren wichtigen Umstand, die Binnenperspektive von ›Wissenschaft‹ betreffend, zum Ausdruck. Er beschrieb die mit der Differenzierung und Professionalisierung der Wissenschaft einhergehende Spezialisierung der Wissenschaft und des Wissenschaftlers: »In der heutigen Zeit ist die innere Lage gegenüber dem Betrieb der Wissenschaft als Beruf bedingt zunächst dadurch, daß die Wissenschaft in ein Stadium der Spezialisierung eingetreten ist, wie es früher unbekannt war, und daß dies in alle Zukunft so bleiben wird. Nicht nur äußerlich, nein, gerade innerlich liegt die Sache so: daß der Einzelne das sichere Bewußtsein, etwas wirklich ganz Vollkommenes auf wissenschaftlichem Gebiet zu leisten, nur im Falle strengster Spezialisierung sich verschaffen kann.«63

Obwohl Weber die zwangsläufige Weiterentwicklung der Wissenschaft als Spezialisierung nicht im Problemhorizont einer Krisis der Wissenschaft thematisierte – für ihn stand die Professionalisierung des Wissenschaftsbetriebs im Mittelpunkt –, so waren jedoch in seiner Analyse die sich später einstellenden Probleme des Paradox einer Einheit und einer Vielheit der Wissenschaft(en) bereits längst diskursiv impliziert. Mithin wird das nicht zuletzt dem Geist der Aufklärung verpflichtete Ideal des rationalen und universal gültigen wissenschaftlichen Wissens als Basis gesellschaftlicher Strukturen und Handlungsoptionen zusehends von 60 Vgl. Max Weber: »Wissenschaft als Beruf«, in: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen: Mohr 1988, S. 582-613. 61 Vgl. zur Rationalitäts- beziehungsweise Rationalisierungsproblematik auch Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 225-366. 62 M. Weber: »Wissenschaft als Beruf« (wie Anm. 60), S. 594 (Hervorhebung im Original – Hervorhebung »Entzauberung der Welt«; C. F.). 63 Ebd., S. 588.

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einem schier grenzenlosen Bedeutungs- und Machtwachstum wissenschaftlich-technischer Erkenntnis flankiert: »Wissenschaftliches Wissen wurde und wird […] einerseits als Basis des Fortschrittes inszeniert, wobei andererseits Sorge über Konsequenzen dieser Entwicklung wächst. Beides, hohe Erwartungshaltungen und der damit verbundene Wunsch nach einer Optimierung der Wissensproduktion, aber auch die Bedenken in Bezug auf Folgeerscheinungen gesellschaftlicher Anwendung von Wissenschaft führten zu einem verstärkten Wunsch, diese Entwicklung steuern/ kontrollieren zu können.«64

Die anhand der Beispiele Husserls und Webers angesprochenen Trends der Normierung, Rationalisierung und Spezialisierung stabilisierten und potenzierten sich während der Wissenschaftshistorie des 19. und 20. Jahrhunderts merklich. Ab der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts manövrierte sich das schon bei den beiden zitierten Autoren – zumindest partiell und eher kritisch-räsonierend – aufscheinende Normierungsparadigma (in einem strikteren Sinne) in eine massive Misere.65 Auch die über geraume Zeit favorisierte Modellvorstellung der Wissenschaftsgeschichte als Fortschrittsgeschichte wies deutliche Spuren der Erosion auf.66 Die bisherigen Errungenschaften, bewerkstelligt im Namen des Normierungsschemas, suggerierten eine Ausweitung der Verwissenschaftlichung auf Sektoren, die mit konventionellen Instrumentarien nicht zu normieren waren. Während dieser Periode war Wissenschaft und waren Wissenschaften durch fundamentale epistemologische und institutionelle Transformationen gekennzeichnet. Als die wichtigsten seien genannt: • Die Wissenschaft wendet sich vom Laborexperiment ab und widmet sich der Modellierung und der Simulation, womit Theorieinnovationen in Adaptionskontexte transferiert werden. • Die etablierten Abgrenzungen zwischen Grundlagenforschung, angewandter Wissenschaft sowie transdisziplinärer Forschungsorganisation werden durchlässiger. • Die Aufgliederung in akademische, industrielle und staatliche Forschung wird in Teilen aufgehoben. 64 Ulrike Felt: »Wie kommt Wissenschaft zu Wissen? Perspektiven der Wissenschaftsforschung«, in: Theo Hug (Hg.): Wie kommt Wissenschaft zu Wissen?, Band 4. Einführung in die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, Baltmannsweiler: Schneider 2001, S. 11-26, hier S. 11. 65 Vgl. zum Wandel des Normierungsparadigmas auch Peter Weingart: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist: Velbrück 2001, S. 24-26. 66 Vgl. hierzu aus Sicht der Wissenschaftshistoriografie Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 15-17 und Thomas S. Kuhn: Die Entstehung des Neuen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 216-219.

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• Die Desavouierung der Trennung von Wissenschaft, Technologie und Technik schreitet im Sinne einer ›Verwissenschaftlichung‹ der Gesellschaft voran. • Die als ›groß‹ und/oder als ›riskant‹ eingestuften Technologien, Prozesse und Produkte werden in komplexe soziale Konstrukte integriert.67 Es blieb allerdings nicht allein bei diesen genannten Veränderungen, denn: »Wissenschaft, in ihrer europäischen Tradition, ist von Hause aus nicht nur objektorientiert«, intoniert der Wissenschaftsphilosoph Jürgen Mittelstraß, »sondern auch selbstreflexiv […].«68 Den Phänomenen von Wissenschaft und Gesellschaft auf unterschiedlichsten Ebenen versucht man, durch die Installierung von Reflexionstheorien69 oder von reflexiven Mechanismen70 für jeweils funktional spezifische Teilsektoren der Wissenschaft und/oder Gesellschaft zu begegnen: »Wenn sie [gemeint sind »reflexive Mechanismen«; C. F.] eingerichtet sind, erlauben sie es dem System, das über sie verfügt, eine höhere Stufe der Komplexität zu erreichen, weil sie es ermöglichen, komplexere Sachverhalte rascher zu verarbeiten.«71 Diese funktionsspezifischen Reflexionskonzepte, die sich – in der uns zu interessierenden Domäne – in der Regel genealogisch in Wissenschaftsphilosophie, -theorie, -soziologie und -geschichte manifestieren, können keinen elitären Zugriff auf eine – wie auch immer geartete – ›höhere‹ Erkenntnis oder Einsicht für sich beanspruchen; dennoch obliegt es ihnen, gesichertes Wissen in einem (funktional) spezifischen Bereich hervorzubringen.72 Aufgrund vorgängiger soziokultureller, -politischer, -ökonomischer und -technischer Veränderungen in Wissenschaft und Gesellschaft geriet – um mit Weber zu sprechen –: die »intellektualistische Rationalität durch Wissenschaft und wissenschaftlich orientierte Technik«73 verstärkt seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sukzessive in eine tiefe polydimensionale Krise. Wurde zunächst das mehr und mehr erschütterte Zutrauen zu den genuin eigenen Problemlösungspotenzialen und -kapazitäten von Wis67 Vgl. P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 65), S. 25-26 und W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 31), S. 7. 68 Jürgen Mittelstraß: Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 167 (Hervorhebung im Original). 69 Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 7), S. 471472, 533-536, 699-701. 70 Vgl. P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 65), S. 17. 71 Niklas Luhmann: »Reflexive Mechanismen«, in: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 1. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen: Westdeutscher Verlag 1991, S. 92-112, hier S. 106. 72 P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 65), S. 17. 73 M. Weber: »Wissenschaft als Beruf« (wie Anm. 60), S. 593.

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senschaft und Technik für die schwellende Legitimationskrise verantwortlich gemacht, so sollte sich später darüber hinaus die verbreitete Überzeugung durchsetzen, dass Wissenschaft und Technik – wenn man so will: geradezu selbstinduziert – diejenigen Probleme generieren, zu deren Bewältigung sie nunmehr an exponierter Stelle agieren sollen.74 Außer der komplizierten Selbstinduzierung der Wissenschafts- und Technologisierungsmisere sowie einer verunsicherten und kritischen Öffentlichkeit ist die kurrente Wissenschaft mit einer großen Mannigfaltigkeit weiterer Probleme und Modifikationen konfrontiert.75 Dazu zählt eine stetig wachsende Gruppe von Wissenschaftlern und Forschern, die angehalten sind, sich auf die bereits etatisierten respektive institutionalisierten Wissenschafts- und Forschungsfelder zu verteilen. Als ein zusätzliches grundlegendes Dilemma nehmen sich überdies die weiterhin – mitunter exponentiell – zunehmenden Kosten für die sich auf hohem Niveau weiter entwickelnde Technologisierung von Wissenschafts- und Forschungsstrukturen, Wissenschafts- und Forschungsprozessen aus, und dies bei einer mehr oder minder stagnierenden Budgetierung von Wissenschaft und Technologie durch die öffentlichen Haushalte.76 In der modernen funktional ausdifferenzierten Gesellschaft dominiert nicht allein eine Zunahme von Produktion, Distribution und Applikation wissenschaftlichen Wissens; vielmehr sind sie zudem durch eine andere Couleur der Wissensproduktion und -rezeption charakterisiert.77 Ein Set heterogener Faktoren prallt ungeordnet aufeinander: Die fortwährende Differenzierung der Produktion, Perzeption und Adaption wissenschaftlichen Wissens sieht sich einer gleichsam sich international vernetzenden wie im Wettbewerb stehenden Wissenschaft gegenüber;78 die immer komplexer

74 Vgl. Ulrike Felt/Helga Nowotny/Klaus Taschwer: Wissenschaftsforschung. Eine Einführung, Frankfurt am Main/New York: Campus 1995, S. 17-18. 75 Vgl. dazu und nachstehend ebd. 76 Vgl. zu dem in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen Thema der ökonomischen Verwertung und Verwertbarkeit von Wissen und Wissenschaft unter anderem Giorgio Barba Navaretti u. a. (Hg.): Creation and Transfer of Knowledge. Institutions and Incentives, Berlin/Heidelberg/New York: Springer 1998. 77 Vgl. etwa mit verschiedenen Akzentuierungen W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 31); Helmut Willke: Dystopia. Studien zur Krisis des Wissens in der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002 und Helga Nowotny/Peter Scott/Michael Gibbons: Wissenschaft neu denken. Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewißheit, Weilerswist: Velbrück 2004. 78 Dieses Beziehungsgefüge wird mittlerweile auch in neueren Managementkonzepten insbesondere der industrienahen und angewandten Forschung und Entwicklung reflektiert. Ein Beispiel dafür ist ›Coopetition‹: Coopetition ist ein Kompositum aus den Begriffen cooperation und competition. Es beschreibt die Kooperation auf einer gleichen Wertschöpfungsstufe, sprich: horizontale Kooperation, während die Kooperationspartner auf dem Markt für das Endprodukt untereinander konkurrieren. Im Vordergrund stehen vor

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werdenden grenzüberschreitenden Forschungsmechanismen und -kalküle treffen auf gewandelte Erwartungshaltungen seitens einer interessierten und interventionsbereiten (Teil-)Öffentlichkeit.79 Die Krisis der Wissenschaft(en) wird nicht allein zu einem legitimatorischen, sondern darüber hinaus zu einem kommunikativen Problem in der Gesellschaft. Die fortgeschrittene (post-)industrielle Gesellschaft mutiert vor allem in der westlichen Welt zu Massen(medien-)demokratien mit eigenen Gesetzmäßigkeiten.80 Darunter fallen insbesondere auch Institutionen eines generellen partizipatorischen Mitspracherechts seitens der Bürger. Als Folge der Ausdifferenzierung funktionaler autonomer Subsysteme in einer modernen Gesellschaft, das zeichnet sich vor allem in einer systemtheoretischen Bestandsaufnahme ab, wird die Misere der Kommunikation zwischen verschiedenen Subsystemen theoretisch und praktisch zunehmend akut.81 Im makrosoziologischen Zusammenhang sind die mit diesen Topoi apostrophierten Entwicklungslinien bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückzuverfolgen. Allen voran evozierte der Industrialisierungsprozess mit seinen sozioökonomischen, demografischen, politisch-administrativen, kulturellen und wissenschaftlich-technischen Imperativen und Maximen einen fortwährenden Strukturwandel von Öffentlichkeit(en).82 Eine besondere Bedeutung in der Veränderung im Beziehungsgefüge von Gesellschaft, Politik und Öffentlichkeit(en) kommt den Informations- und Kommunikationsmedien zu; sie dringen als »strukturierende Momente« in alle Sektoren der Gesellschaft ein. Ihre Funktion ist »die Vereinheitlichung von gesellschaftlichem Sinn«: »Sie [die Technologie; C. F.] trägt die for-

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allem Kooperationen in der Forschung und der Entwicklung. Vgl. etwa Maura Soekijad/J. H. Erik Andriessen: »Conditions for Knowledge Sharing in Competitive Alliances«, in: European Management Journal, 21 (2003) 5, S. 578-587. Vgl. auch U. Felt/H. Nowotny/K. Taschwer: Wissenschaftsforschung (wie Anm. 74), S. 17-18. Vgl. zu theoretischen Grundlagen und Zugangsweisen der interdisziplinären Forschung Otfried Jarren/Ulrich Sarcinelli/Ulrich Saxer (Hg.): Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft. Ein Handbuch mit Lexikonteil, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 97-250. Vgl. Klaus Fischer: »Wahrheit, Konsens und Macht. Systemische Codes und das prekäre Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik in der Demokratie«, in: Klaus Fischer/Heinrich Parthey (Hg.): Gesellschaftliche Integrität der Forschung. Wissenschaftsforschung Jahrbuch 2005, Berlin: Gesellschaft für Wissenschaftsforschung e. V. 2006, S. 9-58. Vgl. insbesondere Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Öffentlichkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 11-50.

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malisierende und distributive Rationalität der kommunikativen Vergesellschaftung«.83 Mithin kann man aus wissenschaftssoziologischer Sicht – in Abstraktion – sowohl eine Verwissenschaftlichung der Gesellschaft als auch eine Vergesellschaftung der Wissenschaft konstatieren.84 Diese korrelative Entwicklung lässt sich als Wiedereintritt (im Sinne des re-entry George Spencer-Browns)85 der Wissenschaft in die Gesellschaft (Politik, Wirtschaft, Medien usw.) beziehungsweise als Vergesellschaftung (›Politisierung‹, ›Ökonomisierung‹, ›Medialisierung‹ etc.) der Wissenschaft (re-) konstruieren und (re-)interpretieren. Daraus resultieren gewandelte Modellvorstellungen der Produktion, Adaption, Perzeption und Evaluation wissenschaftlichen Wissens in Theorie und Praxis.

(Sub-)Disziplinäre Zugänge der Wissenschaftsforschung Reflexionstheorien und reflexive Mechanismen in einer modernen funktional differenzierten Gesellschaft86 heben sich von den ihnen evolutionär und historisch vorausgegangenen reflexiven Vergewärtigungen wie auch von der oben erwähnten »intellektualistische[n] Rationalisierung«87 Webers ab: Erfahrung wird nicht passiv rezipiert und adaptiert, sondern viel eher prospektiv durch »›forschendes‹ Verhalten« aktiv generiert und in Form systematischer Variationen selektiert und reflektiert.88 Somit folgen gesellschaftliche Innovationen in allen Funktionsbereichen mehr und mehr der Maxime »des durch ›aktive Erfahrung‹ gesteuerten Lernens«89. Mitunter bestehen darin zweifelsohne mit die größten Anforderungen und Herausforderungen der modernen Wissenschaftsforschung. Allen voran waren und sind diejenigen (Sub-)Disziplinen aufgerufen und gefordert, die sich vornehmlich reflexiv – im engeren Sinne des Wortes – in Theorie und Praxis auf Wissenschaft und Technologie konzentrie-

83 Franz Dröge/Gerd G. Kopper: Der Medien-Prozeß. Die Struktur innerer Errungenschaften in der bürgerlichen Gesellschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1991, S. 87. 84 Vgl. dazu weiter die Ausführungen von Peter Weingart: »Verwissenschaftlichung der Gesellschaft – Politisierung der Wissenschaft«, in: Zeitschrift für Soziologie, 12 (1983) 3, S. 225-241 und P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 65), S. 17, 18, passim. 85 Vgl. G. Spencer-Brown: Laws of Form / Gesetze der Form (wie Anm. 22), S. VII-XXXVI, 1-24. 86 Vgl. zu Reflexionstheorien in unterschiedlichen Systemen N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (wie Anm. 3), S. 958-983. 87 M. Weber: »Wissenschaft als Beruf« (wie Anm. 60), S. 593. 88 Vgl. P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 65), S. 17. 89 Ebd.

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ren.90 Neben der akademisch noch relativ jungen Wissenschaftsforschung gibt es eine Reihe von (Sub-)Disziplinen, die sich traditionell einschlägig mit Wissenschaft und Technologie als Untersuchungsobjekten befassen. Als die zentralen (Sub-)Disziplinen sind anzuführen: • Wissenschaftsphilosophie; • Wissenschaftstheorie; • Wissenschaftssoziologie sowie • Wissenschaftsgeschichte. Unbeschadet des Umstandes, dass die obige (sub-)disziplinäre Aufzählung wohl weithin Akzeptanz finden dürfte, gibt es immer wieder – mehr oder minder – hinreichend begründete Versuche und Vorstöße, gerade auch vor dem Hintergrund forcierter metatheoretischer Reflexionsbestrebungen, die vierpolige Agenda um weitere Stellen zu erweitern. Beispiele dafür sind etwa: Wissenschaftspsychologie, -politologie und -ethik.91 In manchen Inventarisierungen von Konzepten der Wissenschaftsforschung wird auf eine der ersten beiden Teildisziplinen (nicht selten die Wissenschaftsphilosophie) verzichtet. Aufgrund der teilweise unterschiedlichen Hintergründe von Wissenschaftsphilosophie und -theorie entspreche ich hier bewusst nicht dieser terminologischen Praxis und verwende – trotz Indifferenzen – die Begriffe Wissenschaftsphilosophie und -theorie gleichberechtigt nebeneinander. Im Ensemble der wissenschaftsreflexiven (Sub-)Disziplinen firmiert Wissenschaftsphilosophie wohl als der unpräziseste und kontroverseste To-

90 Selbstverständlich enthält eine jedwede Wissenschaft notwendigerweise ein gewisses Quantum wissenschaftlicher Selbstvergegenwärtigung. Vgl. auch die offenkundige Evidenz der These von Wolfgang Krohn: »Die Wissenschaftsgeschichte in der Wissenschaft. Zu einer Historiographie der Wissenschaftsgeschichtsschreibung«, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs, Band 1. Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt am Main: Fischer 1993, S. 271-290, hier S. 275 (Hervorhebung im Original): »[…] Wissenschaft [ist; C. F.] immanent und explizit eine Geschichte konstruierende Tätigkeit […], die ihre eigene Fortsetzung nur finden kann, weil sie ihre Herkunft ausweist.« 91 So schlagen etwa Günter Krampen/Leo Montada: Wissenschaftsforschung in der Psychologie, Göttingen u. a.: Hogrefe 2002, S. 13, vor, die ›Wissenschaftspsychologie‹ als weitere Subdisziplin der Wissenschaftsforschung einzuführen: Die solchermaßen verstandene Wissenschaftspsychologie setzt ihre »Schwerpunkte auf d[ie] individuellen Bedingungen und Formen, in und nach denen sich Wissenschaft vollzieht«. Darüber hinausgehend subsumiert Hans Poser: Wissenschaftstheorie. Eine philosophische Einführung, Stuttgart: Reclam 2001, S. 13-17, allerdings unter dem Terminus ›WissenschaftsWissenschaften‹ sieben (Sub-)Disziplinen, nämlich: Wissenschaftsgeschichte, -soziologie, -psychologie, -politologie, -ethik, -theorie und -philosophie.

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pos.92 Erst richtig plausibel wird die Dynamik des wissenschaftlichen und wissenschaftsphilosophischen Denkens im Zusammenhang mit den tief greifenden soziopolitischen, -ökonomischen, -kulturellen und -technischen Transformationen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzten und in ihrer »kumulative[n] Dynamik«93 Europa und Nordamerika nachhaltig wandelten.94 Gerade im letzten Jahrhundert reüssierte ›Wissenschaftsphilosophie‹ als eine Art Metawissenschaft – neben Wissenschaftstheorie und -wissenschaft –,95 die sich in erster Linie auf makroskopische Analysen wie beispielsweise den Theorie/Empirie-Dualismus konzentrierten.96 Es sind in Philosophie- und Wissenschaftsdiskursen durchaus Bestrebungen festzustellen, den Begriff Wissenschaftsphilosophie zugunsten des Terminus Wissenschaftstheorie zu suspendieren. Dieser Vorgang entbehrt insoweit nicht einer gewissen Stringenz, als dass sich Wissenschaftstheorie geschichtlich aus Wissenschaftsphilosophie respektive -lehre (Terminus technicus seit Bernard Bolzano)97 entwickelt hat.98 Über zu konzedierende Differenzierungen und Nuancierungen hinweg ist Wissenschaftsphilosophie – wohl als mehr oder minder explizites strategisches Pendant zur formal-strukturell und/oder logisch-analytisch ver-

92 Die ›Wissenschaftsphilosophie‹ in die für gewöhnlich triadische Konzeption der Wissenschaftsforschung mit Wissenschaftstheorie, -soziologie und -geschichte aufzunehmen, wird womöglich Kritik hervorrufen; doch in der Person von Renate Mayntz: »Autonomie oder Abhängigkeit. Externe Einflüsse auf Gehalt und Entwicklung wissenschaftlichen Wissens«, in: Jörg Schönert (Hg.): Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. DFG-Symposion 1998, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. XXVII-XLII, hier S. XXVII, haben wir eine hoch renommierte Gewährsfrau, zumal eine Soziologin, die Wissenschaftsphilosophie ausdrücklich zur Wissenschaftsforschung zählt. 93 Herbert Stachowiak: »Erkenntnisstufen zum Systematischen Neopragmatismus und zur Allgemeinen Modelltheorie«, in: Herbert Stachowiak (Hg.): Modelle – Konstruktionen der Wirklichkeit, München: Fink 1983, S. 87-146, hier S. 97-98. 94 Vgl. ebd. 95 Vgl. unter anderem Albert Menne: Einführung in die Methodologie. Elementare allgemeine wissenschaftliche Denkmethoden im Überblick, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984, S. 10. 96 Vgl. Peter Klügler: »Was tun Naturwissenschaftler?«, in: Theo Hug (Hg.): Wie kommt Wissenschaft zu Wissen?, Band 4. Einführung in die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, Baltmannsweiler: Schneider 2001, S. 160-173, hier S. 167-170. 97 Vgl. den Begriff der ›Wissenschaftslehre‹ von Bernard Bolzano: »Wissenschaftslehre. Erster Band«, in: Bernard Bolzano: Philosophische Texte, Stuttgart: Reclam 1984, S. 50-158, hier S. 59: »[…] so verstehe ich denn unter der Wissenschaftslehre den Inbegriff aller derjenigen Regeln, nach denen wir bei dem Geschäfte der Abteilung des gesamten Gebietes der Wahrheit in einzelne Wissenschaften und bei der Darstellung derselben in eigenen Lehrbüchern vorgehen müssen, wenn wir recht zweckmäßig vorgehen wollen.« 98 Vgl. A. Menne: Einführung in die Methodologie (wie Anm. 95), S. 10.

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sierten Wissenschaftstheorie –99 durch einen gewissen metaphysischspekulativen Grundduktus charakterisiert. Somit nimmt es nicht wunder, dass unter anderem auch heute noch dafür plädiert wird, den Begriff der Wissenschaftsphilosophie als »Wissenschaftsmetaphysik« zu konzeptualisieren. Beispielsweise vertritt der Philosoph Hans Poser, ausgehend von der Frage, ob und inwieweit man Johann Gottlieb Fichtes »Wissenschaftslehre«100 als »alles allumfassende[.] Theorie systematischen Wissens«101 oder als – wie es bei Fichte heißt –: »System alles möglichen Wissens«102 zum Maßstab einer zeitgenössischen Wissenschaftsphilosophie erheben könne?, den Standpunkt: Zwar solle Philosophie als »Wissenschaftsmetaphysik« keine ewig gültigen Wahrheitswerte, die Wissenschaft betreffend, formulieren; viel eher solle sie »einen Ordnungsvorschlag für den Zusammenhang von Mensch, Gesellschaft und Welt«103 offerieren. Gerade eine solche Wissenschaftsphilosophie als »revidierbare und kritisierbare Metaphysik«104 postuliere einen Konnex der »Wissenschaftswissenschaften«105 – mit der Intention, von deren Erkenntnisse und Einsichten profitieren zu können. Ein anderer Vorschlag, der des Wissenschaftstheoretikers Gerard Radnitzky, geht dahin, den Begriff der ›Wissenschaftsphilosophie‹ für das »Verhältnis der Wissenschaft zu anderen Phänomenen unserer Kultur«106 in Anschlag zu bringen. Darunter klassifiziert er die (Aus-)Wirkungen wissenschaftlicher Ergebnisse auf das Selbstkonzept des Menschen, Explorationen zu Effekten der Wissenschaft und der auf wissenschaftlichen Resultaten gründenden Technik sowie Evaluationen der potenziellen und faktischen Folgen und Konsequenzen von Wissenschaft und Technik unter »substantiellen Wertegesichtspunkten«107 usf.108

99 Vgl. auch Bernhard Lauth/Jamel Sareiter: Wissenschaftliche Erkenntnis. Eine ideengeschichtliche Einleitung in die Wissenschaftstheorie, Paderborn: mentis 2002, S. 11-12. Zur jüngeren Diskussion vgl. ferner Peter Bieri (Hg.): Analytische Philosophie der Erkenntnis, Frankfurt am Main: Hain 1992. 100 Vgl. von den verschiedenen Fassungen der »Wissenschaftslehre« etwa Johann Gottlieb Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre. Aus den Jahren 1801/02, Hamburg: Meiner 1977. A. Menne: Einführung in die Methodologie (wie Anm. 95), S. 12, erläutert, dass Fichte zwar zuerst den Begriff ›Wissenschaftslehre‹ verwandte, allerdings dabei generell Philosophie im Sinne hatte. 101 H. Poser: Wissenschaftstheorie (wie Anm. 91), S. 17. 102 J. G. Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre (wie Anm. 100), S. 47. 103 H. Poser: Wissenschaftstheorie (wie Anm. 91), S. 17. 104 Ebd. 105 Ebd. 106 Vgl. Gerard Radnitzky: »Wissenschaftstheorie, Methodologie«, in: Helmut Seiffert/Gerard Radnitzky (Hg.): Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1992, S. 463-472, hier S. 464. 107 Ebd., S. 464. 108 Vgl. ebd., S. 464-465.

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Diese wenigen, selektiven Annotationen deuten bereits auf grundlegende terminologische und theoretische Abgrenzungsprobleme einer ›Wissenschaftsphilosophie‹ hin, ohne dass ich sie hier in extensio durchdeklinieren kann: zum einen gegenüber der Wissenschaftsethik und -kritik, zum anderen gegenüber der philosophischen Anthropologie und Kulturphilosophie, einschließlich -kritik. Dass die Wissenschaftsphilosophie – in ihrer historischen Gestalt – zu beträchtlichen Anteilen in der Wissenschaftstheorie aufgegangen ist, habe ich schon hervorgehoben.109 In der Philosophie- und Wissenschaftsgenese wurden erstmals durch den Philosophen und Mathematiker Bernard Bolzano unter systematischen Aspekten und als einer eigenen Disziplin wissenschaftstheoretische Probleme in Angriff genommen.110 Wie der befassten Forschungsliteratur zu entnehmen ist,111 wurde der Terminus ›Wissenschaftstheorie‹ zuerst bei Eugen Dühring nachgewiesen: Der Philosoph und Nationalökonom publizierte im Jahre 1878 eine monografische Abhandlung unter dem Titel Logik und Wissenschaftstheorie112. Während eines langen Zeitraums galt das wissenschaftstheoretische Engagement zunächst der epistemologischen und logischen Explikation respektive Legitimation wissenschaftlichen Wissens.113 Daneben etablierte sich in der Wissenschaftstheorie eine intensive Reflexion auf Strukturen

109 Nach wie vor bietet das voluminöse Standardwerk von Wolfgang Stegmüller zur Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie eine sehr akribische Einführung und Übersicht. Vgl. im Einzelnen Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, Band 1. Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, Berlin/ Heidelberg/New York: Springer 1969; Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, Band 2. Theorie und Erfahrung, Berlin/Heidelberg/New York: Springer 1970, 1973; Wolfgang Stegmüller/Matthias Varga von Kibéd: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, Band 3. Strukturtypen der Logik, Berlin/Heidelberg/New York: Springer 1984 sowie Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, Band 4. Personelle und statistische Wahrscheinlichkeit, Berlin/Heidelberg/New York: Springer 1973. 110 Vgl. Bernard Bolzano: Gesamtausgabe, Bände 11 bis 14. Wissenschaftslehre, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann 1985 bis 2000; als ersten Überblick vgl. B. Bolzano: »Wissenschaftslehre. Erster Band« (wie Anm. 97), S. 55-69. 111 Zwar weist A. Menne: Einführung in die Methodologie (wie Anm. 95), S. 12, auf die Einführung des Begriffs ›Wissenschaftstheorie‹ durch Dühring hin, allerdings gibt er mit 1879 das falsche Publikationsjahr an. 112 Vgl. Eugen Dühring: Logik und Wissenschaftstheorie, Leipzig: Fues 1878. 113 Vgl. in außergewöhnlicher Breite zum Beispiel M. Bunge: Finding Philosophy in Social Science (wie Anm. 1) und Mario Bunge: Social Science under Debate. A Philosophical Perspective, Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press 1999.

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und Dynamiken wissenschaftlichen Wissens.114 Im Prozess der Ausdifferenzierung, Diversifizierung und Respezifizierung der Wissenschaftstheorie konzentrieren sich Studien auf den kognitiven Gehalt singulärer Wissenschaften, Bindestrich-Disziplinen und wissenschaftlicher Spezialgebiete. Das wissenschaftsreflexive Spektrum reicht von Logik und Mathematik, Natur- und Technikwissenschaften115 über Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften116 bis hin Sprach- und Literaturwissenschaften (Philologien)117. Als eine Folge dessen verlagert sich ein Teil der wissen114 Vgl. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999; Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, Chicago: University of Chicago Press 1962, deutsche Übersetzung T. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (wie Anm. 66) sowie Imre Lakatos/Alan Musgrave (Hg.): Criticism and the Growth of Knowledge. Proceedings of the International Colloquium in the Philosophy of Science, London, 1965, Cambridge: Cambridge University Press 1970, deutsche Übertragung Imre Lakatos/Alan Musgrave (Hg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt. Abhandlungen des Internationalen Kolloquiums über die Philosophie der Wissenschaft, London 1965, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1974. 115 Vgl. insbesondere Paul Weingartner: Wissenschaftstheorie, Band 2.1. Grundlagenprobleme der Logik und Mathematik, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann 1976; Rudolf Carnap: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Frankfurt am Main/Berlin: Ullstein 1986; Carl Gustav Hempel: Philosophie der Naturwissenschaften, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1974; Friedrich Rapp: Analytische Technikphilosophie, Freiburg im Breisgau/München: Alber 1978 sowie Klaus Mainzer: Thinking in Complexity. The Complex Dynamics of Matter, Mind, and Mankind, Berlin u. a.: Springer 1994. 116 Vgl. aus der Fülle disziplinärer Darstellungen unter anderem Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus, Tübingen: Mohr 1987; Jürgen Habermas: Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985; Franz Breuer: Wissenschaftstheorie für Psychologen. Eine Einführung, Münster: Aschendorff 1991; Ulrich Frank (Hg.): Wissenschaftstheorie in Ökonomie und Wirtschaftsinformatik. Theoriebildung und -bewertung, Ontologien, Wissensmanagement, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 2004 sowie Jörg Becker u. a. (Hg.): Wirtschaftsinformatik und Wissenschaftstheorie. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Wiesbaden: Gabler 1999. 117 Vgl. beispielsweise Dieter Wunderlich (Hg.): Wissenschaftstheorie der Linguistik, Kronberg im Taunus: Athenäum 1976; András Kertész: Philosophie der Linguistik. Studien zur naturalisierten Wissenschaftstheorie, Tübingen: Narr 2004; Heide Göttner: Logik der Interpretation. Analyse einer literaturwissenschaftlichen Methode unter kritischer Betrachtung der Hermeneutik, München: Fink 1973; Heide Göttner/Joachim Jacobs: Der logische Bau von Literaturtheorien, München: Fink 1978; Achim Barsch: Die logische Struktur linguistischer Poetiken. Vergleichende Untersuchungen auf dem Grenzgebiet zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft, Berlin: Einhorn 1981; Peter Finke: Konstruktiver Funktionalismus. Die wissenschaftstheoretische Basis einer empirischen Theorie der Literatur, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1982 sowie Wolfgang Stegmüller: »Walther von der Vogelweides Lied von der Traumliebe und Quasar 3 C

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schaftstheoretischen Diskussion von der metatheoretischen Ebene der Philosophie auf fachwissenschaftlich differenzierte Ebenen. Das Augenmerk richtet sich hier auf (sub-)disziplinär konkretisierte und spezifizierte Erkenntnisinteressen und Gegenstände beziehungsweise Formal- und Materialobjekte einer Wissenschaft. Weitere relevante Richtungen der Wissenschaftstheorie problematisieren die Logik und Methodologie der Forschung118 sowie die Konstruktion und Rekonstruktion wissenschaftlicher Theorien119. In Anbetracht des transgressiven Charakters vieler Studien in wissenschaftstheoretischen Diskursen interferieren die aufgeführten Richtungen häufig thematisch, konzeptuell oder methodisch, so dass die Grenzen zwischen den verschiedenen Schwerpunkten der Wissenschaftstheorie als fließend anzusehen sind. Das 20. Jahrhundert war reich an partiell mit Vehemenz und bis zur Ideologisierung ausgetragenen Kämpfen – man denke nur an den Positivismusstreit in der deutschen Soziologie –120 zwischen Kontrahenten verschiedener Positionen in der Wissenschaftstheorie. Dieser Sachverhalt lässt sich anhand des Problems einer wissenschaftstheoretisch notwendigen und hinreichenden Beschreibung und Bestimmung einer wissenschaftlichen Theorie illustrieren. Unbeschadet der Unterschiede und Widersprüche der jeweiligen Standpunkte und Schulbildungen – etwa des ›Kritischen Rationalismus‹, der ›Philosophischen Hermeneutik‹, der ›Kritischen Theorie‹ (auch ›Diskurstheorie‹), des ›Konstruktivismus‹ oder der ›Systemtheorie‹ – lässt sich zumindest ein von allen beteiligten Kombattanten – mehr oder weniger – geteilter Minimalkonsens skizzieren, was elementare Prämissen wissenschaftlicher Theorien anbelangt. Nicht selten treten Differenzen daher eher in der Operationalisierung und der Applikation zutage. Eine sprachliche Darstellung in den Realwissenschaften sollte demnach möglichst die nachstehend aufgeführten Kriterien erfüllen können, um sich als wissenschaftliche Theorie auszuweisen:

273. Betrachtungen zum sogenannten Zirkel des Verstehens und zur sogenannten Theoriebeladenheit der Beobachtungen«, in: Wolfgang Stegmüller: Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel, Stuttgart: Reclam 1986, S. 27-86. 118 Vgl. dazu allen voran die jungen ›Klassiker‹ von Karl R. Popper: Logik der Forschung, Tübingen: Mohr 1989 sowie Hans-Georg Gadamer: Gesammelte Werke, Band 1. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr 1990. 119 Vgl. etwa Joseph D. Sneed: The Logical Structure of Mathematical Physics, Dordrecht/Boston/London: Reidel 1979 sowie Werner Diederich: Strukturalistische Rekonstruktionen. Untersuchungen zur Bedeutung, Weiterentwicklung und interdisziplinären Anwendung des strukturalistischen Konzepts wissenschaftlicher Theorien, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1981. 120 Vgl. dazu die Beiträge in Theodor W. Adorno u. a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied/Berlin: Luchterhand 1969.

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»Es sollten generelle Aussagen, also Aussagen über Klassen von realen Sachverhalten, enthalten sein. Die beschriebenen Merkmale bzw. Eigenschaften dieser Sachverhalte sollten in ihrem Verhältnis zu Zeit und räumlicher Verteilung möglichst stabil, also invariant sein. Eine – wie auch immer geartete – intersubjektive Überprüfung der Aussagen sollte möglich sein. Theorien sollten neues Wissen über die Welt beinhalten und möglichst informativ sein – wobei die Vorstellungen darüber, was informativ bedeutet, divergieren. […] Theorien sollten bewährt sein, d. h. eine Reihe von Überprüfungsversuchen erfolgreich überstanden haben. Beziehungen zu anderen Theorien sollten aufgezeigt und sorgfältig untersucht werden.«121

Differenzen zwischen unterschiedlichen Standpunkten in der wissenschaftstheoretischen Diskussion erwachsen auf der einen Seite aus abweichenden Überzeugungen, wie das Streben nach ›Objektivität‹, ›Exaktheit‹ und ›Adäquanz‹ realisiert wird, auf der anderer Seite in Bezug auf die für nötig erwogene sprachliche und formale Präzision wissenschaftlicher Aussagen.122 Betrachten wir exemplarisch einige wenige wissenschaftstheoretische Positionen, um einen kleinen Eindruck von der Diskussion und Kontroverse innerhalb der Wissenschaftstheorie zu erhalten. Unter dem geläufigen Begriff Kritischer Rationalismus fasst man den Ansatz Karl R. Poppers und seiner Schüler. In seiner Logik der Forschung, in der er die »rationale Einstellung« der »kritischen Einstellung«123 gleichsetzte, übte Popper massive Kritik am Positivismus des Wiener Kreises, insbesondere dessen Sinndogma: Die einzige Erkenntnisquelle sei die sinnliche Erfahrung.124 Bekanntlich verfocht der Wiener Kreis eine insbesondere qua Induktion begründete Haltung, die unter den Begriffen »Logischer Empirismus«, »Logischer Positivismus« oder »Neopositivismus« (»Neupositivismus«) firmiert. Bedingt durch den Umstand, dass jenes »Sinnkriterium« den selbst aufgestellten Bedingungen nicht zu genügen vermochte – es gibt keine voraussetzungs- oder bedingungslose Beobachtung in der Wissenschaft –,125 setzte Popper an deren Stelle die Falsifizie-

121 Ulrich Frank: »Zur Verwendung formaler Sprachen in der Wirtschaftsinformatik. Notwendiges Merkmal eines wissenschaftlichen Anspruchs oder Ausdruck eines übertriebenen Szientismus?«, in: Jörg Becker u. a. (Hg.): Wirtschaftsinformatik und Wissenschaftstheorie. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Wiesbaden: Gabler 1999, S. 129-158, hier S. 134-135 (Hervorhebung im Original). 122 Vgl. hierzu und zu den nachfolgenden Abschnitten über wissenschaftstheoretische Positionen auch ebd., S. 135. 123 K. R. Popper: Logik der Forschung (wie Anm. 118), S. XV. 124 Vgl. ebd., S. 10-13, 23-35. 125 Vgl. ebd., S. 60-76.

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rung.126 Die Popper’sche Falsifizierung fungiert jedoch nicht als »Sinn-«, vielmehr als »Abgrenzungskriterium«:127 »Ein empirisch-wissenschaftliches System muß an der Erfahrung scheitern können.«128 Mithin werden im Kritischen Rationalismus – von Popper begonnen, von Schülern fortgesetzt – lediglich solche wissenschaftlichen Aussagen oder Sätze akzeptiert, welche im ›Kontakt‹ mit der Wirklichkeit als unhintergehbares Prinzip widerlegt werden (können). Der dem Konzept eigene Kritizismus fordert dabei die fortgesetzte Überprüfung und die fortgeführte Testung sowohl von Hypothesen als auch der hierfür verwandten Analyseverfahren.129 Im Gegensatz zum Kritischen Rationalismus sind die Philosophische Hermeneutik und die Kritische Theorie (Diskurstheorie) der Auffassung, dass sich soziokulturelle Realität mitnichten durch exakte Messungen wie in den Naturwissenschaften erfassen und erklären lässt; viel mehr sei es angezeigt, sich um eine adäquate Interpretation der zu untersuchenden Gegenstände zu bemühen. In Wahrheit und Methode ging es Hans-Georg Gadamer darum, eine Hermeneutik mitnichten als Methodologie der Geisteswissenschaften zu entwickeln, sondern um den »Versuch einer Verständigung über das, was die Geisteswissenschaften über ihr methodisches Selbstbewußtsein hinaus in Wahrheit sind und was sie mit dem Ganzen unserer Welterfahrung verbindet«130. Was bei Gadamer außer dem Instrument der Methode die Disziplin des Fragens und Forschens zur Angemessenheit beitragen soll,131 soll in Jürgen Habermas’ Theorie des Kommunikativen Handelns als kritischer Gesellschaftstheorie und als kommunikationstheoretischer Grundlegung der Sozialwissenschaften132 der »herrschaftsfreie Diskurs« vernunftbegabter Aktanten leisten: »Wir können uns der rationalen Binnenstruktur verständigungsorientierten Handelns nicht vergewissern, wenn wir nicht schon, gewiß nur fragmentarisch und verzerrt, die existierenden Formen einer auf

126 Damit soll eruiert werden, ob sich das »Neue«, das eine Theorie proklamiert, in der Tat bewahrheitet; vgl. ebd., S. 8 (Hervorhebung im Original): »Fällt die Entscheidung positiv aus, werden die singulären Folgerungen anerkannt, verifiziert, so hat das System die Prüfung vorläufig bestanden; wir haben keinen Anlaß, es zu verwerfen. Fällt eine Entscheidung negativ aus, werden Folgerungen falsifiziert, so trifft ihre Falsifikation auch das System, aus dem sie deduziert wurden.« 127 Vgl. ebd., S. 10-15. 128 Ebd., S. 15 (Hervorhebung im Original). 129 Vgl. auch U. Frank: »Zur Verwendung formaler Sprachen in der Wirtschaftsinformatik« (wie Anm. 121), S. 135. 130 H.-G. Gadamer: Gesammelte Werke, Band 1 (wie Anm. 118), S. 3. 131 Vgl. ebd., S. 494. 132 Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 11-68.

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symbolische Verkörperung und geschichtliche Situierung angewiesenen Vernunft vor uns hätten.«133 Gegen die Wissenschaftstheorie wurden und werden immer wieder aus Sicht der Wissenschaftssoziologie (und -forschung) grundsätzliche Einwände erhoben: »Die Praktiken, die das Wissen erst erzeugen, ihre sozialen Bedingungen, Gesetzmäßigkeiten, die sozialen Formen, in denen sie sich vollziehen, Möglichkeiten und Richtungen ihres Verlaufs bleiben jedoch im wesentlichen außerhalb des Blickfelds [der Wissenschaftstheorie; C. F.].«134 Die in diesem Zitat aufgeführten Forschungsfelder sind a fortiori Gegenstände der Wissenschaftssoziologie, mithin der -forschung. Im Gegensatz zu Wissenschaftsphilosophie und -theorie als nicht-empirische und formale (Sub-)Disziplinen wird Wissenschaftssoziologie zumeist als empirische Wissenschaft diskursiviert und konzeptualisiert.135 Bisweilen finden sich auch Apostrophierungen der Wissenschaftssoziologie als ›Meta-Wissenschaft‹.136

133 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1 (wie Anm. 61), S. 9. Vgl. ferner Jürgen Habermas: »Rekonstruktive vs. verstehende Sozialwissenschaften«, in: Jürgen Habermas: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 29-52, hier S. 31-41. 134 U. Felt/H. Nowotny/K. Taschwer: Wissenschaftsforschung (wie Anm. 74), S. 19 (Hervorhebung im Original). Diese Kritik ficht die Wissenschaftstheorie nicht unbedingt an; sie kontert einfach, vgl. J. Mittelstraß: Der Flug der Eule (wie Anm. 68), S. 169 (Hervorhebung im Original), mit der Arbeitsteilung zwischen Wissenschaftstheorie, -soziologie und -forschung: »Vorausgesetzt ist, daß beides, die Analyse der Wissenschaften in Wissenschaftsform und die Analyse der Wissenschaften in Wissenschaftssoziologieform, nicht selbst einfach nur die Praxis fortsetzt, die sie erforscht, sondern die Aufgabe als Aufklärung formuliert. Gemeint ist die Aufgabe, die Wissenschaftspraxis methodisch und institutionell aufzuklären. Das eine ist Sache der Wissenschaftstheorie, das andere ist Sache der Wissenschaftsforschung.« 135 Vgl. zum Entwicklungsstand der Wissenschaftssoziologie etwa Peter Weingart (Hg.): Wissenschaftssoziologie 1. Wissenschaftliche Entwicklung als sozialer Prozeß, Frankfurt am Main: Athenäum Fischer 1972; Peter Weingart (Hg.): Wissenschaftssoziologie 2. Determinanten wissenschaftlicher Entwicklung, Frankfurt am Main: Athenäum Fischer 1974; Nico Stehr/René König (Hg.): Wissenschaftssoziologie. Studien und Materialien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1975; Bettina Heintz: »Wissenschaft im Kontext. Neuere Entwicklungstendenzen in der Wissenschaftssoziologie«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 45 (1993) 3, S. 528-552; David Bloor: »Was ist das Ziel der Wissenssoziologie?«, in: Michael Scharping (Hg.): Wissenschaftsfeinde? »Science Wars« und die Provokation der Wissenschaftsforschung, Münster: Westfälisches Dampfboot 2001, S. 15-31 sowie Peter Weingart: Wissenschaftssoziologie, Bielefeld: transcript 2003. 136 Vgl. als eine Variante P. Weingart: Wissenschaftssoziologie (wie Anm. 135), S. 11-12.

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Gegenwärtig erfreuen sich insbesondere zwei Richtungen in der wissenschaftssoziologischen Forschung großen Zuspruchs:137 Zum einen ist die organisationstheoretische beziehungsweise -soziologische Perspektivierung von Wissenschaft anzuführen. Mit gleicher Berechtigung könnte man auch von institutionstheoretischer und -soziologischer Perspektivierung von Wissenschaft sprechen.138 Zum anderen ist auf die Perspektivierung der sozialen Konstruktion respektive der sozialen Rekonstruktion wissenschaftlichen Wissens und des Systems Wissenschaft zu verweisen. Mitunter reüssiert Wissenschaftsreflexion in diesen Diskurskontexten als Soziologisierung wissenschaftstheoretischer Fragestellungen. Die Anfänge einer ersten wissenschaftssoziologischen Gegenstandskonstituierung im deutschsprachigen Raum139 hoben in den späten 1910er Jahren an.140 Einmal mehr kommt Max Weber eine exponierte Stellung zu. Durch seinen Vortrag »Wissenschaft als Beruf«141 aus dem Jahre 1919 gab er den wichtigen Anstoß zu einer neuen soziologischen Fragestellung, die sich auf die Profession des Wissenschaftlers konzentriert. In seinem Buchbeitrag »Zur Soziologie der modernen Forschung und ihrer Organisation in der deutschen Universität«142 von 1924 rief der Philosoph Helmuth Plessner die Weber’sche Thematik auf. Dabei ging er perspektivisch über den Gedanken der wissenschaftlichen Professionalität und Spezialisierung hinaus, indem er insbesondere auf die »Logik« der Problemorientierung als Spezifikum der wissenschaftlichen Entwicklung abstellte: »Die Logik der Problementwicklung hält seine Wissenschaft in Gang wie der Produktionsplan einen Betrieb.«143 Im Jahre 1939 publizierte der englische Kristallograf und Wissenschaftshistoriker John Desmond Bernal seine 137 Vgl. etwa U. Felt/H. Nowotny/K. Taschwer: Wissenschaftsforschung (wie Anm. 74), S. 19. 138 Vgl. beispielsweise Thomas Schaffer: Institutionen und Erkenntnis. Eine Analyse im Lichte der Popperschen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Berlin: Duncker & Humblot 2001, S. 18-81. 139 Zur Geschichte der jungen Soziologie vgl. im Überblick Dirk Kaesler (Hg.): Klassiker der Soziologie, Band 1. Von Auguste Comte bis Norbert Elias, München: Beck 2003. 140 Vgl. nachfolgend zur Wissenschaftssoziologie der 1910er bis 1930er Jahre auch den Stichwortartikel von Helmut Seiffert: »Wissenschaftssoziologie«, in: Helmut Seiffert/Gerard Radnitzky (Hg.): Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1992, S. 453461, hier S. 454. 141 Vgl. M. Weber: »Wissenschaft als Beruf« (wie Anm. 60). 142 Vgl. Helmuth Plessner: »Zur Soziologie der modernen Forschung und ihrer Organisation in der deutschen Universität«, in: Max Scheler (Hg.): Versuche zu einer Soziologie des Wissens, München/Leipzig: Duncker & Humblot 1924, S. 407-425, als Nachdruck Helmuth Plessner: »Zur Soziologie der modernen Forschung und ihrer Organisation in der deutschen Universität«, in: Helmuth Plessner: Diesseits der Utopie. Ausgewählte Beiträge zur Kultursoziologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 121-142. 143 Ebd. (Nachdruck), S. 132.

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monografische Abhandlung The Social Function of Science144. Darin explizierte er die Funktion der Wissenschaft in der Gesellschaft und plädierte für eine kritische (Selbst-)Reflexion der Wissenschaft.145 Bereits diese kleine, nicht repräsentative thematische Konstellation – Profession, Organisation und Funktion der Wissenschaft – vermag, die Dynamik und das Spektrum der (sub-)disziplinären Gegenstandserschließung während der Frühphase der Wissenschaftssoziologie zu illustrieren. In evolutionärer Perspektive führt die Rekonstruktion der Wissenschaftssoziologie vor allem über die markante wissenssoziologische Debatte in den 1920er und 1930er Jahren, zumal in Deutschland. Auch wenn man innerhalb der Soziologie aus guten Gründen Wissens- und Wissenschaftssoziologie typologisch und genealogisch voneinander scheidet, so darf man jedoch die Bedeutung der einen Subdisziplin für die andere nicht außer Acht lassen.146 Die traditionelle Sicht der Wissenssoziologie, wie sie hierzulande insbesondere durch Max Scheler147 und Karl Mannheim148 personifiziert wurde, sensibilisierte den Wissenschaftsdiskurs seinerzeit für eine Reihe von Aspekten der Konstitution von ›Erkenntnis‹.149 Das wissenssoziologische Reflektieren basiert auf einer radikalen ›Soziologisierung‹ des Wissens; Vergesellschaftung erfolgt maßgeblich im Medium des Wissens,150 was schließlich bei Scheler und Mannheim in den Theoremen des Seinsverhältnisses respektive der -bestimmtheit des Wissens kulminierte. Nur wenig später legte der aus dem galizischen Lwów stammende Mikrobiologe und Serologe Ludwik Fleck – insbesondere in Gestalt seiner Schrift Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache151 aus dem Jahre 1935 – Ansätze zu einer soziologischen Betrachtung der Wissenschaftstheorie vor. Auf geradezu frappierende Art und Weise soll144 Vgl. John Desmond Bernal: The Social Function of Science, London: Routledge: 1939, in deutscher Übersetzung erschienen als John Desmond Bernal: Die soziale Funktion der Wissenschaft, Köln: Pahl-Rugenstein 1986. 145 Vgl. ebd. (deutsche Übersetzung), S. 25, passim. 146 Vgl. auch Roger G. Krohn: »Wissenssoziologie und Wissenschaftssoziologie. Entwicklung eines gemeinsamen Untersuchungsrahmens«, in: Nico Stehr/René König (Hg.): Wissenschaftssoziologie. Studien und Materialien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1975, S. 79-99, hier S. 82-90. 147 Vgl. Max Scheler (Hg.): Versuche zu einer Soziologie des Wissens, München/Leipzig: Duncker & Humblot 1924. 148 Vgl. Karl Mannheim: Ideologe und Utopie, Frankfurt am Main: Klostermann 1995, S. 227, 230. 149 Vgl. auch Elisabeth Gernsheim: Wissenssoziologie im Bezugsrahmen des theoretischen Pluralismus. Untersuchungen zur wechselseitigen Kritik von Wissenssoziologie, Wissenschaftstheorie und Sozialpsychologie, München: Gleno 1973. 150 Vgl. S. Maasen: Wissenssoziologie (wie Anm. 10), S. 8-23. 151 Vgl. L. Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (wie Anm. 114).

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ten seine Überlegungen eine Reihe von Kuhns später legendären wissenschaftsphilosophischen Thesen vorwegnehmen. Diese genealogisch-konzeptuelle Nähe erklärt sich indes durch den schlichten Sachverhalt, dass Kuhn mit seinem Paradigma-Konzept direkt auf Flecks theoretische Entwürfe des Denkkollektivs beziehungsweise -stils rekurriert.152 Als Folge der Diktatur der Nationalsozialisten von 1933 bis 1945 blieb dem Fleck’schen Werk sowohl in deutsch- als auch in englischsprachigen Wissenschaftskreisen die ihm gebührende breite Perzeption über eine lange Zeitspanne hinweg versagt.153 Die Fleck’schen Schlüsselbegriffe lauten ›Denkkollektiv‹ und ›-stil‹: »Definieren wir ›Denkkollektiv‹ als Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen, so besitzen wir in ihm den Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstiles.«154

Und an anderer Stelle führt Fleck weiter aus: »Wir können […] Denkstil als gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen, definieren. Ihn charakterisieren gemeinsame Merkmale der Probleme, die ein Denkkollektiv interessieren; der Urteile, die es als evident betrachtet; der Methoden, die es als Erkenntnismittel anwendet.«155

Der Begriff des Denkstils lässt sich weiter differenzieren: »Jede empirische Entdeckung kann […] als Denkstilergänzung, Denkstilentwicklung oder Denkstilumwandlung aufgefaßt werden.«156 In seinem Ansatz ging Fleck erkenntnistheoretisch von der These aus, dass Wissen als solches nicht definierbar ist; es bedarf stets kognitiver Prämissen, um Aussagen über den jeweiligen Objektbereich treffen zu können. Mithin handelt es sich dabei nicht um Bestimmungen, die – im

152 Vgl. Thomas S. Kuhn: »Foreword«, in: Ludwik Fleck: Genesis and Development of a Scientific Fact, Chicago u. a.: University of Chicago Press 1979, S. VII-XII. Vgl. zum wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang auch Paul Hoyningen-Huene: Die Wissenschaftsphilosophie Thomas S. Kuhns. Rekonstruktion und Grundlagenprobleme, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1989, S. 10, 199. 153 Vgl. hierzu auch Ernst von Glasersfeld: »Stellungnahme eines Konstruktivisten zur Wissenschaft«, in: Theo Hug (Hg.): Wie kommt Wissenschaft zu Wissen?, Band 4. Einführung in die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, Baltmannsweiler: Schneider 2001, S. 34-47, hier S. 34. 154 L. Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (wie Anm. 114), S. 54-55 (Hervorhebung im Original). 155 Ebd., S. 130 (Hervorhebung im Original). 156 Ebd., S. 122 (Hervorhebung im Original).

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Kant’schen Sinne –157 a priori, vor aller Erfahrung bestehen; vielmehr sind diese das gleichsam historische wie soziale Produkt eines interagierenden Denkkollektivs.158 Die Fleck’sche Sichtweise bedingt also, dass sich Denkstile, die teleologische Ausrichtung der Wahrnehmung, Schaffung und Verarbeitung von Wissen, geschichtlich entwickelt haben, sozial begründet sind und miteinander durch Aktanten in Denkkollektiven in einem Interaktionsgefüge situiert sind. Es liegt in diesem Umstand begründet, dass Denkkollektive im Laufe der Zeit eine sozio- und psychogenetisch wandelnde Beziehungsgeschichte mit sich sukzessiv etablierenden Kommunikationsstandards ausbilden. Aufgrund der in diesen soziologischen und psychologischen Prämissen veranlagten Gruppendynamik eines Denkkollektivs respektive einer Scientific Community emergiert Wissenschaft, werden wissenschaftliche Problemstellungen konstruiert und neue wissenschaftliche ›Tatsachen‹ definiert. Die Differentia spezifica im Denken des Forschungsganges Flecks und Kuhns besteht darin: Während Fleck annimmt, dass sich die Bedingungen in einem Denkkollektiv subkutan verändern,159 dessen die Mitglieder des entsprechenden Kollektivs nicht unbedingt gewahr werden (müssen), ist Kuhn der Auffassung, dass sich wissenschaftlicher Wandel in wissenschaftlichen Revolutionen vollzieht.160 Die Begrifflichkeit von Denkkollektiv und -stil nach Fleck lässt sich auch mit Erkenntnisgewinn für die Erklärung des Phänomens spezifischer Wissenschaftssprachen heranziehen. Gemäß Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache ist der Stil einer Wissenschaftssprache wesentlich durch außersprachliche Indikatoren festgelegt, die auf der einen Seite das genuin rationale Kalkül der Wissenschaft und des Paradigmas ausmachen und die auf der anderen Seite die übergeordneten soziokulturellen, -politischen und -ökonomischen Voraussetzungen des wissenschaftlichen Erkennens und Handels betreffen.161 Da die kognitive, soziale und sprachliche Sphäre in einem festen, unaufkündbaren Beziehungs-

157 Vgl. I. Kant: Werke in sechs Bänden, Band II (wie Anm. 14), S. 160-169. 158 Vgl. auch Lothar Schäfer/Thomas Schnelle: »Einleitung. Ludwik Flecks Begründung der soziologischen Betrachtungsweise in der Wissenschaftstheorie«, in: Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. VII-XLIX, hier S. XXV. 159 Vgl. L. Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (wie Anm. 114), S. 111-129. 160 Vgl. T. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (wie Anm. 66), S. 123-146. 161 Vgl. auch Felicitas Thiel/Friedrich Rost: »Wissenschaftssprache und Wissenschaftsstil«, in: Theo Hug (Hg.): Wie kommt Wissenschaft zu Wissen?, Band 4. Einführung in die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, Baltmannsweiler: Schneider 2001, S. 117-134, hier S. 127.

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geflecht eingebunden sind, verweist Wissenschaftssprache stets auf einen Denkstil, der einem Denkkollektiv eigen ist.162 Wichtige konzeptuelle Impulse erfuhr die wissenschaftssoziologische Forschung insbesondere in den Vereinigten Staaten von Amerika seit Ende der 1930er Jahre, was vornehmlich durch die Arbeiten des US-Soziologen Robert K. Merton begründet ist.163 Inspiriert durch das Weber’sche Diktum der kulturellen Bedingtheit von Wahrheitsvorstellungen164 (product of definite cultures) analysierte Merton in seinem 1938 erschienenen Aufsatz »Science and the Social Order«165 das konfliktäre Beziehungsgefüge zwischen Methoden beziehungsweise Resultaten der Wissenschaft und zentralen Werten in der Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Nazi-Deutschland unter dem Hitler-Regime seit 1933 diskutierte Merton die Unvereinbarkeit von im wissenschaftlichen Ethos inkorporierten Dispositionen (sentiments) mit in anderen Institutionen166 situierten Dispositionen. In seinem Zeitschriftenbeitrag »Science and Technologie in a Democratic Order«167 von 1942 präzisierte Merton den Begriff des Ethos. Er plädierte für eine freie Zusammenarbeit autarker Wissenschaftler und Forscher nach Maßgabe einer freiheitlich verfassten Marktwirtschaft. Die Verantwortung von Wissenschaftlern beziehe sich auf die eigene Tätigkeit, hingegen sei ein potenziell demokratisch-liberales Gesellschafts- und Wirtschaftssystem für die Anwendung und Verwertung wissenschaftlicher Befunde verantwortlich.168 Die Merton’sche Definition des Ethos, das mit den institutionalisierten Maximen und Imperativen der Wissenschaft koinzidiert, impliziert basale Momente sozialer Verhaltensdispositionen, wie 162 Vgl. auch ebd. 163 Vgl. Jessica Wang: »Merton’s Shadow. Perspectives on Science and Democracy since 1940«, in: Historical Studies in the Physical and Biological Sciences, 30 (1999) 1, S. 279-306. 164 Vgl. Max Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, in: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen: Mohr 1988, S. 146-214, hier S. 213. 165 Vgl. Robert K. Merton: »Science and the Social Order«, in: Philosophy of Science, 5 (1938) 3, S. 321-337, hier S. 321. 166 Vgl. zur soziologischen Analyse der Wissenschaft als soziale Institution ferner Robert K. Merton: Social Theory and Social Structure, New York: Free Press 1949. In seiner hier elaborierten Struktur- und Funktionstheorie unterscheidet er mittels der Termini »manifeste« und »latente« Funktionen in Kontexten der Gedankenkonstitution zwischen gerichteten, bewussten Funktionen von Gedanken einerseits und ungerichteten, unbewussten Gedanken andererseits. 167 Vgl. Robert K. Merton: »Science and Technology in a Democratic Order«, in: Journal of Legal and Political Sociology, 1 (1942), S. 115-126. Der Text ist in deutscher Übersetzung erschienen als Robert K. Merton: »Wissenschaft und demokratische Sozialstruktur«, in: Peter Weingart (Hg.): Wissenschaftssoziologie 1. Wissenschaftliche Entwicklung als sozialer Prozeß, Frankfurt am Main: Athenäum Fischer 1972, S. 45-59. 168 Vgl. auch U. Felt/H. Nowotny/K. Taschwer: Wissenschaftsforschung (wie Anm. 74), S. 25.

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sie in Theorien des 17. Jahrhunderts konstituiert und seitdem weiter differenziert wurden. Unter soziologischen Prämissen explizierten jene Ansätze, reklamierte Merton, aus welchen Gründen wissenschaftlichem Wissen ein besonderer Status im Unterschied zu anderen Wissensformen zuzubilligen sei.169 Die normative Struktur der Wissenschaft setzt sich nach Merton aus vier primären Normen (key norms) zusammen, nämlich: Universalism, Communism, Disinterestedness sowie Organized Scepticism.170 Im Rezeptionsprozess des Merton’schen Œuvres haben sich – über Dekaden hinweg – einige grundlegende Gegenargumente zu seinem funktionalistischen Ansatz der Wissenschaftssoziologie herauskristallisiert. Zwei Kritikpunkte seinen herausgegriffen:171 Erstens wird bezweifelt, dass die von Merton im Prinzip kaum hinterfragte Hypothese, das Ethos sei der einzige Weg, um Geheimnisse der Natur zu enträtseln, zutrifft. Aufgrund vorliegender Erkenntnisse sollte die lange währende Auseinandersetzung um das Identischsein des Merton’schen Ethos mit einer spezifischen Epistemologie mittlerweile – gerade durch die Schriften eines Ludwik Fleck,172 eines Thomas S. Kuhn173 oder eines Paul Feyerabend174 – als ad acta gelegt betrachtet werden.175 Zweitens wird grundlegend die Geltung des Ethos, begriffen als empirische Interpretation des Agierens und der Motivation von Wissenschaftlern, in Frage gestellt, indem auf eine Mannigfaltigkeit von Verletzungen des als vermeintlich oder tatsächlich verbindlich erklärten Ethos und auf institutionell begründete Abkehrungen vom als vermeintlich oder tatsächlich verbindlich erklärten Ethos verwiesen wird. Die sicherlich uneingeschränkt große Leistung Mertons besteht vor allem darin, die soziale Institution von Wissenschaft als empirischen Untersuchungsgegenstand den Sozialwissenschaften zugänglich gemacht zu haben.

169 Vgl. hierzu P. Weingart: Wissenschaftssoziologie (wie Anm. 135), S. 16. 170 Vgl. R. K. Merton: »Wissenschaft und demokratische Sozialstruktur« (wie Anm. 167), S. 48, 51, 53, 55. 171 An dieser Stelle mache ich stellvertretend für viele kritische Stimmen Anleihen bei P. Weingart: Wissenschaftssoziologie (wie Anm. 135), S. 15-22, 143-144. 172 Vgl. L. Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (wie Anm. 114), S. 31-70. 173 Vgl. T. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (wie Anm. 66), S. 65-78, 79-89, 227-229, 229-230. 174 Vgl. Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 21-32, 39-54, 71-89. 175 In diesem Zusammenhang annotiert P. Weingart: Wissenschaftssoziologie (wie Anm. 135), S. 18, dass die »Gleichsetzung« des Merton’schen Ethos mit einer spezifischen Epistemologie mittlerweile als antiquiert gelten könne.

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Während Merton die für die Wissenschaft als Institution charakteristischen Normen und Werte ins Zentrum seiner Wissenschaftssoziologie rückte, schlug der US-amerikanische Wissenschaftstheoretiker und -historiker Thomas S. Kuhn in seinem 1962 publizierten Buch The Structure of Scientific Revolutions176 andere Töne an. Der Kuhn’sche Ansatz sollte nicht nur den gleichsam zeitgenössischen wie den nachfolgenden wissenschaftstheoretischen, sondern insbesondere auch den wissenschaftssoziologischen Diskurs wesentlich verändern. Seine Schrift Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen markiert, wenngleich mit Verzögerung im Fache perzipiert und diskutiert,177 einen turn around in der selbstreflexiven Erforschung von Wissenschaft, indem die dominierende institutionalistische Wissenschaftssoziologie Merton’scher Provenienz durch einen gewissen cognitive turn substituiert wird:178 »Die außerordentlichen Episoden, in denen jener Wechsel der fachlichen Positionen vor sich geht, werden in diesem Essay [gemeint ist Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen; C. F.] als wissenschaftliche Revolutionen bezeichnet. Sie sind die traditionszerstörenden Ergänzungen zur traditionsgebundenen Bestätigung der normalen Wissenschaft.«179

Das sich von soziologischer Warte aus – eine Haltung, die Kuhn später selbst mehrfach nahe gelegt, wenn nicht sogar befördert hat –180 mehr re176 Vgl. T. S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions (wie Anm. 114). Hier wird nach der deutschen Übersetzung zitiert beziehungsweise referiert: T. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (wie Anm. 66). Die teilweise mangelhafte Übertragung Kuhns aus dem Amerikanischen ins Deutsche hat man zu beachten. 177 Zur umfänglich dokumentierten Rezeptionsgeschichte Kuhns vgl. Clemens Burrichter (Hg.): Grundlegung der historischen Wissenschaftsforschung, Basel/Stuttgart: Schwabe 1979; Gary Gutting (Hg.): Paradigms and Revolutions. Applications and Appraisals of Thomas Kuhn’s Philosophy of Science, Notre Dame: University of Norte Dame Press 1980; Ian Hacking (Hg.): Scientific Revolutions, Oxford u. a.: Oxford University Press 1981 sowie Larry Laudan: Science and Values. The Aims of Science and Their Role in Scientific Debate, Berkeley u. a.: University of California Press 1984. 178 Vgl. auch P. Weingart: Wissenschaftssoziologie (wie Anm. 135), S. 42-43. 179 T. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (wie Anm. 66), S. 20. 180 Vgl. etwa T. S. Kuhn: Die Entstehung des Neuen (wie Anm. 66), S. 43, 44, 57, 381, 390. Der Hauptakzent der soziologischen (Selbst-)Interpretation Kuhns liegt im Wesentlichen auf der Relationierung von Paradigma und Scientific Community. Auch retrospektiv hat sich Thomas S. Kuhn: »Geleitwort«, in: Paul Hoyningen-Huene: Die Wissenschaftsphilosophie Thomas S. Kuhns. Rekonstruktion und Grundlagenprobleme, Braunschweig/ Wiesbaden: Vieweg 1989, S. 4-6, hier S. 5 (schweizerische Orthografie im Original), zur Rezeption der Struktur wissenschaftlicher Revolutionen geäußert: »Seine soziologische Komponente [gemeint ist Kuhns Werk Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen; C. F.] bleibt hauptsächlich im

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volutionär, denn evolutionär ausnehmende Moment seiner Wissenschaftsphilosophie besteht darin, dass sich wissenschaftliche Entwicklungen mitnichten nach Schemata eines »inkrementellen und kumulativen Fortschritts«181 vollziehen, wie es beispielsweise Poppers Kritischer Rationalismus oder Mertons Wissenschaftsinstitutionalismus zu suggerieren scheinen, sondern vielmehr als eine Sequenz von Revolutionen, denen sich Phasen so genannter »normaler Wissenschaft« anschließen.182 Da Kuhns Entwurf wissenschaftlicher Revolutionen durch ein spezifisches Verhältnis zweier aufeinander folgender Phasen normaler Wissenschaft charakterisiert ist, erweist sich für ihr Verständnis der Begriff Normal Science als zentral.183 Darunter fasst Kuhn: »eine Forschung, die fest auf einer oder mehreren wissenschaftlichen Leistungen der Vergangenheit beruht, Leistungen, die von einer bestimmten wissenschaftlichen Gemeinschaft eine Zeitlang als Grundlage für ihre weitere Arbeit anerkannt werden«184. Mit seiner Paradigma-Konzeption erreichte die internalistische Orientierung in Wissenschaftstheorie und -soziologie ihren vorläufigen Klimax – und dies wiederum nicht zuletzt vor dem Hintergrund des seit den 1930er Jahren zwischen marxistischen und liberalen (bürgerlichen) Kombattanten tobenden Streits um Internalismus und Externalismus in der Wissenschaftsreflexion: »Während die einen [gemeint sind die »Internalisten«; C. F.] für die Wissenschaftsentwicklung vornehmlich die immanenten Faktoren und Bedingungen verantwortlich sehen und ihr Interesse sich am Erkenntnisprozess im engeren Sinne orientiert – die scientific community mit ihren traditionell normierten Verhaltensweisen ist der Untersuchungsgegenstand –, gilt das Interesse der Externalisten zuerst und besonders dem Stellenwert der heteronomen, ausserwissenschaftlichen, gesellschaftlichen Faktoren in der Wissenschaftsentwicklung; freilich wird auch hier eine von internen Bedingungen abhängige Entwicklung nicht geleugnet.«185

181 182 183 184 185

Beharren darauf erhalten, dass der Träger solcher Prozesse eine sich selbst reproduzierende Population oder Gruppe sein muss. Solche Gruppen fasse ich immer mehr als Sprach- oder Diskursgemeinschaften auf, das sind Gruppen von Individuen, die durch ein gemeinsames Vokabular miteinander verbunden sind. Dieses gemeinsame Vokabular macht die professionelle Kommunikation zugleich möglich und beschränkt sie auf die entsprechende Gruppe.« P. Weingart: Wissenschaftssoziologie (wie Anm. 135), S. 43. Vgl. ebd. Vgl. auch P. Hoyningen-Huene: Die Wissenschaftsphilosophie Thomas S. Kuhns (wie Anm. 152), S. 37. T. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (wie Anm. 66), S. 25. Clemens Burrichter: »Aufgaben und Funktionen einer historischen Wissenschaftsforschung. Reflexionen zum Thema des Bandes«, in: Clemens Burrichter (Hg.): Grundlegung der historischen Wissenschaftsforschung,

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Der Gegenstandsbereich der Kuhn’schen Wissenschaftsphilosophie und -historiografie erstreckte sich über die Gesamtheit der (naturwissenschaftlichen) Grundlagenwissenschaften.186 Dabei wurden jedoch lediglich diejenigen Wissenschaftsfelder untersucht, die sowohl im disziplinären Querschnitt als auch im historischen Längsschnitt von zu identifizierenden Scientific Communities reflektiert und antizipiert wurden. Die Konstitution und Evolution jener wissenschaftlichen Bereiche analysierte Kuhn mittels Instrumente der seinerzeit aufkommenden wissenschaftsinternen Historiografie.187 Als Objektbereiche seiner Wissenschaftsphilosophie konstituieren diese Wissenschaftsfelder das Fundament für generalisierte Thesen der Wissenschaftsgenese. Der Kuhn’sche Begriff des ›Paradigmas‹ wurde zu Recht – in erster Linie aufgrund der uneinheitlichen Theorieentwicklung seines Schöpfers selbst –188 als gleichsam problematisch wie ambivalent rezipiert, kritisiert und kommentiert. Ungeachtet evolutionärer und konzeptueller Inkonsistenzen des Begriffs ›Paradigma‹, auch und gerade in Abgrenzung zu Basel/Stuttgart: Schwabe 1979, S. 7-21, hier S. 9 (Hervorhebung und schweizerische Orthografie im Original). 186 Vgl. hierzu nachstehend P. Hoyningen-Huene: Die Wissenschaftsphilosophie Thomas S. Kuhns (wie Anm. 152), S. 37-38. 187 Die ›neuere wissenschaftsinterne Historiografie‹ etablierte und standardisierte sich in Nordamerika zwischen den 1950er und 1970er Jahren. Dazu führt Hoyningen-Huene, ebd., S. 30-31 (Hervorhebung und schweizerische Orthografie im Original), näher aus: »Von sachlicher und narrativer Relevanz sind demnach zunächst einmal die Forschungsprobleme, gerade so wie sie in der jeweiligen Gemeinschaft gestellt wurden, und der Hintergrund, vor dem ihr Problemcharakter verständlich wird. Dann ist der Umgang mit diesen Forschungsproblemen bei der jeweiligen Gemeinschaft zu rekonstruieren, zusammen mit den spezifischen Standards, die diesen Umgang normativ beeinflussen und damit verständlich machen können. Insbesondere bei Innovationen jeglicher Art ist zu fragen, als was diese Innovationen in ihrer Zeit aufgefasst wurden, da hier die Gefahr der präsentistischen [sic!; C. F.] Verzerrung besonders gross ist. Die historisch angemessene Darstellung der Forschungsprobleme und des Umgangs mit ihnen erfordert die genaue Rekonstruktion des zeitgenössischen Begriffssystems.« 188 Für Furore sorgte aus der großen Schar der Kuhn-Kritiker allen voran Margaret Masterman: »The Nature of Paradigm«, in: Imre Lakatos/Alan Musgrave (Hg.): Criticism and the Growth of Knowledge. Proceedings of the International Colloquium in the Philosophy of Science, London, 1965, Cambridge: Cambridge University Press 1970, S. 59-89, die Kuhn eine Reihe unterschiedlicher Bestimmungen und Anwendungen des ParadigmaTerminus nachweisen konnte. (Deutsche Übersetzung Margaret Masterman: »Die Natur eines Paradigmas«, in: Imre Lakatos/Alan Musgrave (Hg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt. Abhandlungen des Internationalen Kolloquiums über die Philosophie der Wissenschaft, London 1965, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1974, S. 59-88.) Vgl. dazu auch die Einlassung von Thomas S. Kuhn: »Postskriptum – 1969«, in: Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 186-220, 236-239, hier S. 193, 237.

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den verwandten Termini ›Musterbeispiel‹ und ›disziplinäre Matrix‹,189 lassen sich auf der Ebene wissenschaftlicher Gemeinschaften einige Charakteristika konturieren. Eine gewisse explikatorische Plausibilität lässt sich dem Kuhn’schen Paradigma-Begriff wohl nicht absprechen, zumal wenn man ihn analytisch entlang des Forschungsprozesses in einer Scientific Community differenziert.190 Laut Kuhns Wissenschaftsphilosophie vollziehen sich wissenschaftliche Revolutionen weder kontinuierlich noch kontingent. Wissenschaftliche Revolutionen treten vielmehr dann auf die Agenda des wissenschaftlichen Diskurses, wenn in der Scientific Community in dem Maße Skepsis an den dominierenden Paradigmen zunimmt, wie die Forschung eine wachsende Anzahl von Anomalien erzeugt.191 Aufgrund daraus resultierender Divergenzen können sich Wissenschafter oder Gruppen von Wissenschaftlern veranlasst sehen, ein neues oder alternatives Paradigma zu initiieren und zu postulieren. Der Kausalnexus, warum ein neues oder alternatives Paradigma formuliert wird (oder eben nicht), bleibt bei Kuhn jedoch äußerst vage. Unbestritten ist hingegen, dass Anomalien – als »Störungen der Erwartung«192 – zur Normal Science gehören, denn: »es gibt nicht so etwas wie Forschung ohne Gegenbeispiele«193. Essenzielle Anomalien fungieren, wenn man so will, als Conditio sine qua non wissenschaftlicher Revolutionen; sie sind Elemente mit rekursiver Struktur in der Wissenschaftsgenese. Mithin ist es dem Umstand der höchst artifiziellen »Unterscheidung zwischen Entdeckung und Erfindung oder zwischen Faktum und Theorie«194 in der Wissenschaft zuzuschreiben, dass essenzielle Anomalien entweder zu frappierenden Identifikationen neuer Erscheinungsund/oder Daseinsformen führen oder gar größere revolutionäre Dynamiken hervorbringen (können). Die Entdeckung einer neuen »Tatsache« setzt ein mit der Sensibilisierung für eine Anomalie und zwar in der Weise, dass die Natur – sei es Phänomen, sei es Entität –, in der einen oder anderen Weise, der von einem Paradigma (re-)produzierten, die normale Wissenschaft dominierenden Erwartungshaltung nicht mehr Rechnung zu tragen vermag. Dem 189 Zur komplizierten Genealogie und Derivation der Kuhn’schen Terminologie von ›Paradigma‹, ›Musterbeispiel‹ und ›disziplinärer Matrix‹ vgl. die exzellenten Analysen von P. Hoyningen-Huene: Die Wissenschaftsphilosophie Thomas S. Kuhns (wie Anm. 152), S. 133-162, hier S. 142-143. 190 Vgl. T. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (wie Anm. 66), S. 57-64; ferner P. Weingart: Wissenschaftssoziologie (wie Anm. 135), S. 43. 191 Vgl. zu diesem Komplex der Dynamik wissenschaftlicher Revolutionen auch die ausführliche Untersuchung von P. Hoyningen-Huene: Die Wissenschaftsphilosophie Thomas S. Kuhns (wie Anm. 152), S. 218-256. 192 T. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (wie Anm. 66), S. 11. 193 Ebd., S. 92. 194 Ebd., S. 65.

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schließt sich eine mehr oder minder intensive Exploration des anormalistischen Sektors an. Infolgedessen können vorgängige Theorien nicht nur variiert, sondern gar substituiert werden. Unter diesen Voraussetzungen stehen zumindest zwei oder mehrere womöglich alternative Theorien zu Disposition. Am Ende wird die paradigmatische Theorie so korrigiert worden sein, dass das Anormale zum Kalkül mutiert. Allerdings beschränkt sich die Justierung des neuen »Faktums« nicht auf eine kumulative Korrektur der Theorie. Bis die Anpassung noch nicht vollzogen ist, mithin die Wissenschaftler noch nicht gelernt haben, die Natur mit anderen Augen zu betrachten, gilt die neue Tatsache nicht als richtiges wissenschaftliches Faktum.195 Seinen theoretischen Standpunkt, »daß die Wissenschaft zwar von einzelnen betrieben wird, daß aber die wissenschaftliche Erkenntnis wesentlich ein Gruppenergebnis ist«,196 kennzeichnete Kuhn einmal als »zutiefst soziologisch«197. Mit diesem Vorzeichen lässt sich der Kuhn’sche Ansatz als allgemeines soziologisches Phasenmodell der Wissenschaftsentwicklung lesen. Im Kontrast zum Wissenschaftssoziologen Merton198 setzt Kuhn auf das »Paradigma« anstelle von »Normen« und »Ethos« und im Unterschied zum Wissenschaftstheoretiker Popper199 auf »Theorievergleich« und »-wahl« anstelle von »Verifizierung« und »Falsifizierung«. Mit seiner Konzeption von Wissenschaftsphilosophie und -historiografie schaffte Kuhn – in soziologischer Antizipation – die Grundlage dafür, dass in der sozialwissenschaftlichen Analyse wissenschaftliches Wissen und Sozialstrukturen von Wissenschaftlern, mithin wissenschaftlicher Gemeinschaften (Scientific Communities), theoretisch miteinander in Diskurs ge195 196 197 198

Vgl. ebd., S. 65-66. Ebd., S. 43 (Hervorhebung im Original). Ebd. Vgl. vor allem Robert K. Merton: »Science, Technology and Society in Seventeenth-Century England«, in: Osiris, 4 (1938) 2, S. 360-632 oder als Reprint Robert K. Merton: Science, Technology and Society in Seventeenth-Century England, New York: Howard Fertig and Harper Torchbooks 1970. In dieser wissenschaftssoziologischen Studie analysiert Merton die Folgen und Konsequenzen eines Sets ideeller, ökonomischer und militärischer Indikatoren für die Entstehung der modernen Wissenschaft im England des 17. Jahrhunderts. Er rekonstruiert die im Puritanismus implizierten Ansichten hinsichtlich Absicht und Besonderheit wissenschaftlichen Handelns, welche maßgeblich die experimentelle naturwissenschaftliche Forschung legitimieren sollten. Ökonomische und militärische Faktoren nehmen, so der Merton’sche Befund, Einfluss auf die Formulierung forschungsleitender Fragestellungen. 199 Vgl. K. R. Popper: Logik der Forschung (wie Anm. 118), S. 3-21. Zur solchermaßen bezeichneten Popper/Kuhn-Kontroverse um »wissenschaftliche Rationalität« vgl. auch Wolfgang Stegmüller: »Normale Wissenschaft und wissenschaftliche Revolutionen. Kritische Betrachtungen zur Kontroverse zwischen Karl Popper und Thomas S. Kuhn«, in: Wolfgang Stegmüller: Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel, Stuttgart: Reclam 1986, S. 108-130.

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setzt wurden. Damit wird nicht zuletzt eine wissenschaftssoziologische Kombination kognitiver und sozialer Komponenten ins Werk gesetzt. Wie ich bereits anhand der Exempla Kuhn200 und Merton201 – um nur zwei prominente Protagonisten zu nennen – gezeigt habe, können eine wissenschaftshistorische beziehungsweise -historiografische Perspektivierung für eine sowohl wissenschaftstheoretische als auch -soziologische Konzeptualisierung von großer Tragweite sein. Doch darf dieser Sachverhalt Pars pro toto nicht verallgemeinert werden; denn bis in die 1960er Jahre nahmen Wissenschaftstheorie und -geschichtsschreibung einander kaum wahr.202 Interessant ist indes der Umstand – heute häufig vergessen –, dass Wissenschaftsgeschichte, wie der französische Wissenschaftsphilosoph und -historiker Georges Canguilhem203 eher beiläufig bemerkt, im 18. Jahrhundert als literarische Gattung entstand, bevor sie im 19. Jahrhundert, dem Säkulum der ›Entwicklung‹ und der ›Geschichte‹,204 Einzug hielt in die institutionalisierte Wissenschaft der Universität. Selbstredend reicht der historische Diskurs der Wissenschaftsgeschichtsschreibung zeitlich weit hinter einen begriffs- oder institutionsgenetischen Zugriff zurück. Im Vergleich zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wandelte sich im Laufe der Zeit Grundlegendes im Beziehungsgefüge von Wissenschaftshistorie und -historiografie. Allerdings darf man sich nicht der Illusion eines differenzierten und klar konturierten Gegenstandsbereichs hingeben: »Wissenschaftsgeschichte ist das Feld ›naiver‹ Geschichtsschreibung par excellence.«205 Die nachgängige traditionelle Wissenschaftsgeschichte konzentrierte sich zuvorderst auf die Analyse, Dokumentation und Interpretation der historischen Genese unterschiedlicher Wissenschaften. Dabei gelangten insbesondere Darstellungen einzelner außergewöhnlicher Forscherpersönlichkeiten und allgemeine Strukturzusammenhänge der Wis200 Vgl. etwa T. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (wie Anm. 66), S. 15-24. 201 Vgl. auch R. K. Merton: Science, Technology and Society in SeventeenthCentury England (wie Anm. 198). 202 Vgl. Werner Diederich: »Einleitung«, in: Werner Diederich (Hg.): Theorien der Wissenschaftsgeschichte. Beiträge zur diachronischen Wissenschaftstheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 7-51, hier S. 7-9. 203 Vgl. Georges Canguilhem: »Die Geschichte der Wissenschaften im epistemologischen Werk Gaston Bachelards«, in: Georges Canguilhem: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 7-21, hier S. 7. Vgl. mit einer ähnlichen Rekonstruktion Hayden White: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart: KlettCotta 1991, S. 146-147. 204 Vgl. auch Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/New York: de Gruyter 1975, S. 3. 205 W. Krohn: »Die Wissenschaftsgeschichte in der Wissenschaft« (wie Anm. 90), S. 271.

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senschaft(en) in den Blickwinkel der wissenschaftshistorischen respektive -historiografischen Forschung. Solche Abhandlungen entsprangen überaus häufig dem Geiste und der Anschauung von historischen Laien und Amateuren, die bestrebt waren – inspiriert durch fachliches Pathos und detailliertes Wissen –, den Weg der ›Wissenschaftsgeschichtsschreibung‹ zu beschreiten.206 Erst sehr viel später begann die Wissenschaftsgeschichte, sich gegenüber Wissenschaftstheorie, -soziologie, Sozial- und Kulturwissenschaften sowie anderen (Sub-)Disziplinen hinsichtlich Erkenntnisinteressen, Problemexpositionen, Methodologien, analytischen Instrumentarien usf. zu öffnen.207 Natürlich sind Wissenschaftshistorie und -historiografie im Entwicklungszusammenhang der Geschichtswissenschaft zu sehen und einzuordnen, wenngleich die Wissenschaftsgeschichte längst nicht in der Weise an der Entwicklung des Faches insgesamt partizipierte wie andere Gegenstandsbereiche.208 Grundsätzlich ist allerdings Vorsicht geboten, wie der Kultursoziologe Wolf Lepenies wohl begründet zu bedenken gibt, um nicht zu generalisierte Hypothesen aufzustellen und die Wirkungsträchtigkeit und -mächtigkeit nationaler Wissenschaftstraditionen und -kulturen zu vernachlässigen.209 Exemplarisch lässt sich dieser Sachverhalt anhand der Periodisierungsproblematik erörtern. Analog zum gesamten Spektrum der Historiografie, von der Antike über das Mittelalter bis zur Neueren Geschichte, ist

206 Vgl. ebd. 207 Vgl. zum Forschungstand im Bereich der Wissenschaftshistorie und -historiografie unter anderem Lewis William Halsey Hull: History and Philosophy of Science. An Introduction, London u. a.: Longmans, Green & Co. 1959; Roger H. Stuewer (Hg.): Historical and Philosophical Perspectives of Science, Minneapolis: University of Minnesota Press 1970; Werner Diederich (Hg.): Theorien der Wissenschaftsgeschichte. Beiträge zur diachronischen Wissenschaftstheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974; C. Burrichter (Hg.): Grundlegung der historischen Wissenschaftsforschung (wie Anm. 177); Helge Kragh: An Introduction to the History of Science, Cambridge: Cambridge University Press 1987; Michael Hagner (Hg.): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main: Fischer 2001 sowie Hans-Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg: Junius 2007. 208 Aus diesem Grunde erweist sich eine Subordination der Wissenschaftsgeschichtsschreibung unter ein Typologiemodell und eine Funktionsarithmetik der (allgemeinen) Historiografiegeschichtsschreibung, beispielsweise in Anlehnung an Horst Walter Blanke: »Typen und Funktionen der Historiographiegeschichtsschreibung«, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs, Band 1. Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt am Main: Fischer 1993, S. 191-211, als hochgradig problematisch. Vgl. dazu ferner auch W. Krohn: »Die Wissenschaftsgeschichte in der Wissenschaft« (wie Anm. 90), S. 272. 209 Vgl. Wolf Lepenies: »Probleme einer historischen Wissenschaftsforschung«, in: Clemens Burrichter (Hg.): Grundlegung der historischen Wissenschaftsforschung, Basel/Stuttgart: Schwabe 1979, S. 23-47, hier S. 27.

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die Setzung von Phasen und Zäsuren gleichfalls für die moderne Geschichtswissenschaft zu konstatieren: In aller Regel werden Periodisierungen, in Abhängigkeit von der jeweiligen Grobkörnung des historisierenden Fokus, nach makroskopischen oder mikroskopischen Umschwüngen und Einschnitten in der Geistesgeschichte und/oder politischen Geschichte justiert.210 Darüber hinaus sind für die moderne Historiografie weitere Bezugsgrößen mit in die Überlegungen einzubeziehen. Dabei ist vornehmlich zu denken an: • Verlauf der akademischen Institutionalisierung; • Grad der akademischen Professionalisierung; • Ausmaß der Verwissenschaftlichung sowie • Standpunkt der wissenschaftshistorischen Reflexion.211 Obgleich man durchaus, wenigstens von einer abstrakten Warte aus, die These vertreten kann, dass historische Epochen transnational zu situieren sind, so hat man schließlich doch zu konzedieren, dass historiografiegeschichtliche Untersuchungen im Endeffekt überwiegend national arretiert, mithin limitiert sind.212 Dieser Befund wird zudem durch die komparatistische historische Forschung insoweit gestützt, als dass sich die als international korrespondierend statuierten Perioden beim genaueren Hinsehen nicht selten als äußerst verschieden ausnehmen (können).213 Allerdings darf dieser Umstand für die Wissenschaftshistorie nicht durchweg als signifikant betrachtet werden; hier gilt es, nach Disziplinen zu differenzieren: Während man die Charakterisierung der nationalen Begrenztheit wissenschaftsgeschichtlicher Studien nicht ohne weiteres den Naturwissenschaften, ferner den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften oder der Philosophie, Theologie, Kunst sowie den Altertumswissenschaften zuschreiben kann, so lässt sich dieses Merkmal jedoch – mit einer gewissen Berechtigung – den Sprach-, Literatur- und Rechtswissenschaften sowie der Historiografie selbst zurechnen.214 In Rahmen dieser disziplinären Zuordnung steht die Verortung der Medien- und Kommunikationswissenschaft noch dahin, was auch die vorliegende Arbeit nicht intendiert einzulösen. Schlechterdings können die in den letzten zwei, drei Dekaden merklich an Gewicht gewonnenen forschungsleitenden Diskurse der ›Regionalisierung‹, ›Europäisierung‹, ›Internationalisierung‹ oder ›Globalisierung‹ von

210 Vgl. Ernst Schulin: »Vorbemerkung zum Periodisierungsproblem«, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs, Band 1. Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt am Main: Fischer 1993, S. 97-100, hier S. 97. 211 Vgl. ebd. 212 Vgl. ebd. 213 Vgl. ebd., S. 99. 214 Vgl. ebd., S. 97.

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Geschichte(n)215 nicht die – mitunter über Jahrhunderte hinweg – vorherrschenden nationalen Prägungen der modernen Geschichtswissenschaft kaschieren. Wie eine Analyse etwa der französischen, angelsächsischen und deutschen Tradition von Historiografie, um nur eine kleine, überschaubare Auswahl zu treffen,216 belegt, sind einige durchaus markante Unterschiede auszumachen. Von diesen Voraussetzungen bleiben freilich die jeweiligen landesspezifischen Wissenschaftsgeschichten respektive -geschichtsschreibungen nicht unberührt. Im Vergleich zur angelsächsischen und zur deutschen Ausprägung nationaler Wissenschaftsgeschichte und -kultur kommt der französischen ein besonderer Vorteil zu: Wissenschaftsgeschichte erweist sich in Frankreich217 von ihrer Tradition her als breiter ausgerichtet.218 Ungeachtet der Aufklärungsbewegung mangelte es in Frankreich über eine lange Zeit an einer institutionellen Absicherung. Bedingt durch mannigfaltige politische beziehungsweise bildungspolitische Zäsuren während des 19. Jahrhunderts bildeten sich – separiert voneinander – große Historiografien nach 1820 sowie eine national geförderte Verwissenschaftlichung nach 1870 aus.219 Ab den 1920er waren methodische Innovationen ausmachen, seit den 1960er Jahren gingen diese Verbindungen mit der Lehre ein und dies mit einer großen öffentlichen Wirksamkeit.220 Im Gegensatz zur deutschen Tradition wurde in der französischen Wissenschaftsgeschichte (histoire des sciences)221 aufgrund ihrer breiteren Fundierung nie eine exklusive In-

215 Vgl. unter anderem Michael Gehler: Zeitgeschichte im dynamischen Mehrebenensystem. Zwischen Regionalisierung, Nationalstaat, Europäisierung, internationaler Arena und Globalisierung, Bochum: Winkler 2001. 216 Gerade in der Ära einer sich mit Hochdruck europäisierenden, internationalisierenden, ja globalisierenden Wissenschaft, Forschung und Entwicklung ist es zunehmend schwierig, eine exemplarische Auswahl zu treffen. Mit gleicher Berechtigung ließen sich andere Beispiele nationaler Wissenschaftskulturen mit einbeziehen. Der komparatistische Zugriff auf Frankreich, England und Deutschland zollt einer gebotenen Einfachheit der Darstellung Tribut. Vgl. zur Thematik auch Rudolf Stichweh: »Globalisierung von Wirtschaft und Wissenschaft. Produktion und Transfer wissenschaftlichen Wissens in zwei Funktionssystemen der modernen Gesellschaft«, in: Soziale Systeme, 5 (1999) 1, S. 27-39. 217 Vgl. im Überblick auch Lutz Raphael: »Epochen der französischen Geschichtsschreibung«, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs, Band 1. Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt am Main: Fischer 1993, S. 101-132. 218 Vgl. W. Lepenies: »Probleme einer historischen Wissenschaftsforschung« (wie Anm. 209), S. 27. 219 Vgl. E. Schulin: »Vorbemerkung zum Periodisierungsproblem« (wie Anm. 210), S. 99. 220 Vgl. ebd. 221 Vgl. unter anderem Gaston Bachelard: Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987; Gaston Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988; Georges Canguilhem:

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anspruchnahme des ideografischen Ansatzes verfochten, der sich nach der Bestimmung Wilhelm Windelbands und Heinrich Rickerts auf die Einzelheiten aufzeichnenden Geisteswissenschaften konzentriert.222 Konträr zu Frankreich und Deutschland kann die angelsächsische Tradition auf eine (in Teilen) längere Kontinuität der Geschichtsschreibung verweisen, was vor allem auf eine größere politische Stabilität zurückzuführen ist. Bereits im 18. Jahrhundert bildete die britische Historiografie223 verhältnismäßig hohe theoretische und narrative Standards aus, die aufgrund kaum veränderter politischer Verhältnisse bis etwa um 1860 keinen größeren Wandlungen unterworfen waren.224 Dem schloss sich eine sich langsam vollziehende Phase der Verwissenschaftlichung und Professionalisierung an.225 Ab den 1930er Jahren setzte in Großbritannien ein Innovationsschub ein, der allerdings bei weitem nicht so Aufsehen erregend ausfiel wie in Frankreich, gefolgt von einem pluralistisch versierten Ausbau der Wissenschaft.226 Allgemein sind die angelsächsischen Länder dadurch gekennzeichnet, dass ihre Wissenschaftsgeschichten eine Engführung auf die Historiografie(n) der Naturwissenschaften (history of science)227 erfahren – ein Umstand, der einmal mehr die heterogene Definition des Erkenntnisinteresses und des Gegenstandes respektive des Formal- und Materialobjektes der Wissenschaftsgeschichte unter Beweis stellt.228 Die wissenschaftshistorische Entwicklung in Deutschland229 nahm im Gefolge der durch die Spätaufklärung im 19. Jahrhundert bedingten institutionellen und intellektuellen Fortschritte eine Vorreiterstellung in Europa ein: vor allem die Verbindung aus Forschung, Lehre und Darstellung er-

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Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001 sowie Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981. Vgl. W. Lepenies: »Probleme einer historischen Wissenschaftsforschung« (wie Anm. 209), S. 27. Vgl. auch Jürgen Osterhammel: »Epochen der britischen Geschichtsschreibung«, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs, Band 1. Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt am Main: Fischer 1993, S. 157-188. Vgl. E. Schulin: »Vorbemerkung zum Periodisierungsproblem« (wie Anm. 210), S. 99. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. für die angloamerikanische Tradition zum Beispiel R. K. Merton: Science, Technology and Society in Seventeenth-Century England (wie Anm. 198); T. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (wie Anm. 66) und T. S. Kuhn: Die Entstehung des Neuen (wie Anm. 66). Vgl. W. Lepenies: »Probleme einer historischen Wissenschaftsforschung« (wie Anm. 209), S. 27. Vgl. etwa Hans Schleier: »Epochen der deutschen Geschichtsschreibung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts«, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/ Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs, Band 1. Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt am Main: Fischer 1993, S. 133-156.

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wies sich hier als signifikant.230 Unbeschadet dessen hatten insbesondere die Begriffe ›Bildung‹ und ›Kultur‹ seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts eine besondere Prägung in Deutschland erfahren, mit der unverbrüchlich ein deutscher ›Sonderweg‹ in die Moderne und in die Modernisierungskrisen des 19. und 20. Jahrhunderts eingeschlagen wurde.231 Auf dieser Grundlage kam es zu Erstarrungen, Verfestigungen und zu Zurückweisungen von Innovationen bis in die 1950er Jahre.232 Der Nationalsozialismus markiert eine tiefe Zäsur: Unter der Diktatur Hitlers wurde die Wissenschaft in Deutschland ideologisch, institutionell und funktional gleichgeschaltet.233 Nach Maßgabe eines weit gefassten Wissenschaftsverständnisses zeitigt die Wissenschaftsgeschichte in Deutschland234 in thematischer Hinsicht keine allzu großen Einschränkungen.235 Allerdings dominieren in methodologischer Hinsicht klar die Geisteswissenschaften; die damit einhergehende überkonturierte Separierung ideografischer Konzepte (Einzelheiten beschreibende Geisteswissenschaften) und nomothetischer Konzepte (Gesetzesmäßigkeiten erfassende Naturwissenschaften) hat eine »Theoretisierung der Wissenschaftsgeschichte«,236 so wie wir sie seit wenigen Jahrzehnten ausmachen können, lange Zeit hintertrieben.237 Die von mehreren Wissenschaftlern geäußerte Beobachtung, dass erst in jüngerer Zeit, etwa seit den 1970er Jahren, eine systematisch begründete Wissenschaftsgeschichtsschreibung, wenn auch behutsam, in Angriff genommen wird, vermag nicht wirklich zu überraschen,238 da ab diesem Zeitpunkt die wissenschaftsreflexiven (Sub-)Disziplinen – Wissenschaftsphilosophie, -theorie, -soziologie und -geschichte – beginnen, voneinander

230 Vgl. E. Schulin: »Vorbemerkung zum Periodisierungsproblem« (wie Anm. 210), S. 97-98. 231 Vgl. dazu die hervorragende Studie von Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt am Main/Leipzig: Insel 1994, S. 289-312. 232 Vgl. E. Schulin: »Vorbemerkung zum Periodisierungsproblem« (wie Anm. 210), S. 97-98. 233 Vgl. dazu insbesondere für die Geisteswissenschaften Georg Bollenbeck/ Clemens Knobloch (Hg.): Semantischer Umbau der Geisteswissenschaften nach 1933 und 1945, Heidelberg: Winter 2001. 234 Vgl. unter anderem Jost Weyer: Chemiegeschichtsschreibung von Wiegleb (1790) bis Partington (1970). Eine Untersuchung über ihre Methoden, Prinzipien und Ziele, Hildesheim: Gerstenberg 1974 und Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München/Wien: Hanser 1976. 235 Vgl. W. Lepenies: »Probleme einer historischen Wissenschaftsforschung« (wie Anm. 209), S. 27. 236 Ebd. 237 Vgl. ebd. 238 Vgl. zum Beispiel W. Krohn: »Die Wissenschaftsgeschichte in der Wissenschaft« (wie Anm. 90), S. 271 und C. Burrichter: »Aufgaben und Funktionen einer historischen Wissenschaftsforschung« (wie Anm. 185), S. 7.

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(mehr) Notiz zu nehmen.239 Dabei kommt zweifelsfrei einmal mehr dem wissenschaftsphilosophischen, mithin -historischen Œuvre Kuhns, seiner breiten Rezeption und Diskussion, eine Schlüsselstellung im Diskurs zu. (Immerhin absolvierte Kuhn selbst ein Studium der History of Science.) Folgerichtig heißt es denn auch einleitend zu dem ambitionierten Projekt einer Grundlegung der historischen Wissenschaftsforschung240 aus dem Jahre 1979: »Die zunehmende Historisierung der Wissenschaftsforschung bis hin zur Wissenschaftstheorie und Wissenschaftssoziologie korrespondiert mit dem allgemeinen Trend zur Historisierung der Sozialwissenschaften. […] Die Frage nach den spezifischen Aufgaben und Funktionen einer historischen Wissenschaftsforschung beantwortet sich dann sinnvollerweise fundiert nur vor dem Hintergrund und aus der systematischen Ableitung der Klärung der allgemeinen Funktion historischen Wissens in heutigen Gesellschaften.«241

Stellvertretend für die theorieorientierte und systematisch versierte Auseinandersetzung mit Wissenschaftshistoriografie diskutiere ich die Position des Wissenschafts- und Techniksoziologen Wolfgang Krohn.242 Der Ausgangspunkt Krohns lässt sich auf die axiomatische Formel bringen: »Wissenschaft ist notwendigerweise und immanent Wissenschaftsgeschichtsschreibung.«243 Dieser Grundsatz fußt nicht allein auf der Hintergrundüberzeugung, dass Wissenschaft kontinuierlich Wissenschaftsgeschichte konstruiert und das »Konstruieren« als Prozess und die »Konstruktion« als Struktur wesentliche Prämissen darstellen; vielmehr besteht die Quintessenz darin, dass Wissenschaftsgeschichtsschreibung viel älter ist, als es ihre professionell-institutionellen Ausprägungen vermuten lassen, was auch die mitunter als »naiv« apostrophierte Wissenschaftsgeschichte ausdrücklich mit einbezieht.244 Die Ausdifferenzierungstendenzen der Wissenschaftsgeschichtsschreibung sind im zeitlichen Verlauf mitnichten durch einen – wie auch immer gearteten – ›historischen‹ Impetus externer Instanzen motiviert, so der Argumentationstenor Krohns, sondern vielmehr schlicht durch die Notwendigkeit zur Lösung komplexer erkenntnistheoretischer Probleme evoziert. Dabei versucht Krohn schließlich zu zeigen, dass sich Wissenschaftsgeschichtsschreibung währender der fo239 Vgl. hierzu W. Diederich: »Einleitung« (wie Anm. 202), S. 7 und W. Lepenies: »Probleme einer historischen Wissenschaftsforschung« (wie Anm. 209), S. 24. 240 Vgl. C. Burrichter: Grundlegung der historischen Wissenschaftsforschung (wie Anm. 177). 241 C. Burrichter: »Aufgaben und Funktionen einer historischen Wissenschaftsforschung« (wie Anm. 185), S. 7. 242 Vgl. W. Krohn: »Die Wissenschaftsgeschichte in der Wissenschaft« (wie Anm. 90). 243 Ebd., S. 273 (Hervorhebung im Original). 244 Vgl. ebd.

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kussierten Phasen und Perioden funktional zur Wissenschaft formiert.245 Aus seiner Analyse der »Wissenschaftsgeschichtsschreibung in der Wissenschaft« extrahiert Krohn ein Set von vier Dimensionen: Dimension der »Funktionen«: Die Funktionen für die Generierung neuen Wissens sind zentral. Bedeutsam ist, dass die unterschiedlichen Funktionen in der großen Mehrheit der Fälle lediglich »alternativ« und nicht »additiv« umzusetzen sind, fakultativ sind sie »komplementär«. Das allen Funktionen Gemeinsame besteht in der Rechtfertigung entweder der gegenwärtigen oder der zukünftigen Wissenschaft; allerdings erweisen sich die Modalitäten der Legitimation in der Regel als miteinander nicht vereinbar.246 Dimension der »Historische[n] Zeit«: Darunter werden »Zeithorizont« und »virtuelle Zeitrichtung« klassifiziert. »Zeithorizont« steht für das Ausmaß, indem sich der in einem Typus von Wissenschaftsgeschichtsschreibung aktualisierte Zeitbegriff von dem der Gegenwart unterscheidet. »Virtuelle Zeitrichtungen« beinhalten sehr unterschiedliche Optionen: »der naive oder entwicklungsgeschichtlich reflektierte Gegenwartsbezug, Fortschrittsorientierungen, die entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft verortet sind, historisch verstandene ›Lokalzeiten‹ der Epochen oder Kulturen«247. Dimension von »Kontinuität – Diskontinuität«: Dieses Kategorienpaar erfasst die ›Einheit‹ der Wissenschaft in geschichtlicher Sichtweise. Damit wird die komplexe Problemstellung nach den allgemeinen Stellschrauben der historischen Forschung aufgerufen. Kontinuitätsgeschichtliche Modellvorstellungen können teleologisch (»approximativer Realismus«) oder darwinistisch (»Verzweigungsmodelle«) ausgerichtet sein; diskontinuitätsgeschichtliche Modellvorstellung hingegen können eine Inkompatibilität von Theorien, Weltbildern oder soziokulturell bedingter Erkenntnisinteressen voraussetzen.248 Dimension von »Kontextualität – Dekontextualität«: Die Kontextualität/Diskontextualität-Dichotomie kann zum einen Wissenschaft als soziales Handlungssystem, zum anderen Wissenschaft als den Sektor systematisierten Wissens beschreiben. Kontextuelle Konzepte sind durch eine große Brandbreite von Ansätzen gekennzeichnet: angefangen von ideengeschichtlichen über epochendifferenzierende bis hin zu funktionalistischen Theorien (beispielsweise ›Ökonomismus‹). Dekontextualisierte Konzepte sind charakteristischerweise rationalistisch (›Rekonstruktionismus‹, ›Strukturalismus‹ etc.) und internalistisch orientiert.249

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Vgl. ebd., S. 273-274. Vgl. ebd., S. 285. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 285-286.

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Spricht man heute von ›historischer Wissenschaftsforschung‹, so handelt es dabei um die Denkhaltung – auf einer höheren Komplexitätsstufe als bei Comte, dem Initiator der institutionalisierten Wissenschaftsgeschichte in Frankreich –, die Notwendigkeit und Nützlichkeit wissenschaftsgeschichtlicher Forschung begründen zu können. Wesentlich schwieriger ist es immer noch, den Gegenstandsbereich der Wissenschaftsgeschichte und der historischen Wissenschaftsforschung zu fixieren. Darüber hinaus greifen mehr und mehr die den Diskursen der historischen Wissenschaftsforschung inskribierten Medialitäten – mit Folgen und Konsequenzen für die wissenschaftliche Epistemologie: »Die historische Reflexion der Epistemologie begann sich mit einer epistemologischen Reflexion der Wissenschaftsgeschichte zu verbinden. Es ist aus dieser Perspektive besehen kein Zufall, dass die Mittel und Medien, die dabei ins Spiel kamen, allmählich, aber zunehmend im Sinne einer umfassenden Analyse wissenschaftlicher Praxis in allen ihren diskursiven und materiellen Dimensionen ins Zentrum der wissenschaftshistorischen Aufmerksamkeit und Begriffsbildung rückten.«250

Insgesamt haben sowohl eine forcierte Theoretisierung im Bereich der Geschichtswissenschaft als auch eine expansive Historisierung von Wissenschaftstheorie und -soziologie das Ihrige dazu geleistet, dass die Wissenschaftsgeschichte an Relevanz und Resonanz in wissenschaftlichen Diskursen gewonnen hat.251

Institutionalisierung moderner Wissenschaftsforschung Die Intensivierung wissenschaftsreflexiver Forschungsobjekte motiviert die Konstitution einer neuen Wissenschaftstaxonomie und -organisation. Die sich innerhalb verschiedener wissenschaftsreflexiver Diskurse zumeist anfangs isoliert voneinander formierten Forschungsgegenstände – etwa die soziohistorische Bedingtheit und die methodische Erforschung von Wissenschaft oder Zusammenhänge von Wissensform, Gesellschaftsstruktur und Wissenschaftskultur – werden sukzessive als eigenständige interund/oder transdisziplinäre Forschungsfelder installiert. Pointiert resümiert der Philosoph Clemens Burrichter: »Die Etablierung der Wissenschaftsforschung war die funktionale Reaktion auf erkannte Wissensdefizite über

250 H.-J. Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung (wie Anm. 207), S. 131-132. 251 Vgl. W. Lepenies: »Probleme einer historischen Wissenschaftsforschung« (wie Anm. 209), S. 24.

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das Wissenschaftssystem als Teil des gesellschaftlichen Handlungszusammenhanges, also im Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft.«252 Generell sind zeitgenössische Modellvorstellungen von Wissen und Wissenschaft – in einem Zeitalter der Ungewissheit und der Überschreitung –253 mehr und mehr durch Fragmentierung gekennzeichnet.254 Moderne Ansätze reflektieren die Krise des Wissens und der Wissenschaft in der Weise, dass eine angemessene Beobachtung und Beschreibung von Wissenschaft und Wissensordnung über simple dichotomistische Aussagegefüge hinausweisen (müssen). Komplexe Entwicklungen einer Verwissenschaftlichung der Gesellschaft sowie einer Vergesellschaftung der Wissenschaft sind mitnichten als widersinnig zu erachten.255 Ein solcher Eindruck vermag sich nur dann einzustellen, sofern man Wissenschaft und Gesellschaft als einander diametral entgegengerichtete Entitäten und Phänomene auffasst und eine lediglich einseitige Einflussnahme voraussetzt.256 Diese, die genuin (sub-)disziplinäre Arithmetik transzendierende Evolution wird auch in Form der Institutionalisierung und Systematisierung der Wissenschaftsforschung reflektiert.257 Beachtliche gleichsam empi252 C. Burrichter: »Aufgaben und Funktionen einer historischen Wissenschaftsforschung« (wie Anm. 185), S. 17. 253 Vgl. H. Nowotny/P. Scott/M. Gibbons: Wissenschaft neu denken (wie Anm. 77), S. 36, 49-53, 66, 143-144, 228-231, 251-266, 308-309, 310-311. 254 Vgl. dazu auch P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 65), S. 27. 255 Vgl. ebd., S. 17-19, 27. 256 Vgl. H. Nowotny/P. Scott/M. Gibbons: Wissenschaft neu denken (wie Anm. 77), S. 225 sowie P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 65), S. 27. 257 Vgl. unter anderem Ina-Susanne Spiegel-Rösing: Wissenschaftsentwicklung und Wissenschaftssteuerung. Einführung und Material zur Wissenschaftsforschung, Frankfurt am Main: Athenäum 1973; C. Burrichter (Hg.): Grundlegung der historischen Wissenschaftsforschung (wie Anm. 177); Wolfgang van den Daele/Wolfgang Krohn/Peter Weingart (Hg.): Geplante Forschung. Vergleichende Studien über den Einfluß politischer Programme auf die Wissenschaftsentwicklung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979; Peter Janich (Hg.): Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, München: Beck 1981; Clemens Burrichter (Hg.): Wissenschaftsforschung. Neue Probleme, neue Aufgaben, Erlangen: Deutsche Gesellschaft für Zeitgeschichtliche Fragen 1985; Joseph Ben-David: Scientific Growth. Essays on the Social Organization and Ethos of Science, Berkeley u. a.: University of California Press 1991; Michael Gibbons u. a.: The New Production of Knowledge. The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies, London: Sage 1994; Stefan Hornbostel: Wissenschaftsindikatoren. Bewertungen in der Wissenschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997; Dietmar Braun: Die politische Steuerung der Wissenschaft. Ein Beitrag zum »kooperativen Staat«, Frankfurt am Main/New York: Campus 1997; P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 65); Theo Hug (Hg.): Wie kommt Wissenschaft zu Wissen?, Band 4. Einführung in die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, Balt-

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risch wie systematisch versierte Forschungsbestrebungen sind auszumachen. Neben einer sich schrittweise vollziehenden Etatisierung der Wissenschaftsforschung an Universitäten – zunächst im angloamerikanischen Raum, später auch im kontinentaleuropäischen Raum – hält dieses neue sozialwissenschaftliche Forschungsfeld nach und nach Einzug in umfangreichere Forschungsinitiativen respektive -programme und wird schließlich auch durch eigene Fachgesellschaften sowohl national als auch international repräsentiert.258 Der des Öfteren in der Forschungsliteratur geäußerten Auffassung, dass es – ungeachtet disziplinär und paradigmatisch divergierender Probleme, Positionen und Perspektiven – keine eindeutigen Grenzziehungen zwischen den Fächern oder Fachrichtungen in der Wissenschaftsforschung gibt,259 ist ohne weiteres beizupflichten. Dieses Faktum hängt mit mindestens fünf, mitunter sich überlappenden Sachverhalten zusammen: • Disziplinäre und transdisziplinäre Forschungsareale haben sich aufgrund international differierender und nuancierender Wissenschaftshistorien, -kulturen und -inventarisierungen von Untersuchungsgegenständen unterschiedlich konfiguriert und konkretisiert;260 • die stetige Zunahme von Komplexität in zentralen Überscheidungsbereichen der Forschungsobjekte postuliert eine Integration und Komplementarität der Forschungsstrategien und Problemlösungspotenziale der in Rede stehenden (Sub-)Disziplinen;261 • seit einigen Dekaden wird in der Konstituierung der Wissenschaftsforschung auf der Grundlage einer systematischen Matrix versucht, die vier wissenschaftsreflexiven (Sub-)Disziplinen problemorientiert und konzeptuell zusammenzuführen;262

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mannsweiler: Schneider 2001; P. Weingart: Wissenschaftssoziologie (wie Anm. 135); H. Nowotny/P. Scott/M. Gibbons: Wissenschaft neu denken (wie Anm. 77); Stefan Böschen/Peter Wehling: Wissenschaft zwischen Folgenverantwortung und Nichtwissen. Aktuelle Perspektiven der Wissenschaftsforschung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004 sowie Andreas Frings/Johannes Marx (Hg.): Erzählen, Erklären, Verstehen. Beiträge zur Wissenschaftstheorie der Historischen Kulturwissenschaften, Berlin: Akademie 2008. Vgl. auch U. Felt: »Wie kommt Wissenschaft zu Wissen?« (wie Anm. 64), S. 13. Vgl. U. Felt/H. Nowotny/K. Taschwer: Wissenschaftsforschung (wie Anm. 74), S. 18. Vgl. ebd. Vgl. W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 31), S. 7 und Roland Benedikter: »Das Verhältnis zwischen Geistes-, Natur- und Sozialwissenschaften«, in: Theo Hug (Hg.): Wie kommt Wissenschaft zu Wissen?, Band 4. Einführung in die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, Baltmannsweiler: Schneider 2001, S. 137-159, hier S. 137. Vgl. W. Diederich: »Einleitung«, S. 7 (wie Anm. 202); C. Burrichter: »Aufgaben und Funktionen einer historischen Wissenschaftsforschung«

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• der epistemologische Kern einer Wissenschafts- oder Forschungsrichtung verfügt über eine »Überfülle zahlreicher unterschiedlicher Normen und Praktiken«,263 die sich nicht unbedingt unter »allgemeine Methodologien« beziehungsweise »privilegierte Kulturen wissenschaftlichen Forschens«264 subklassifizieren lassen, was wiederum transdisziplinäres Reflektieren postuliert und schließlich • die Ausbildung dezidiert transdisziplinärer Forschungs- und Entwicklungskalküle beziehungsweise Forschungs- und Entwicklungsmechanismen charakterisiert generell eine jüngere Entwicklung im Wissenschafts- und Technologiebereich.265 Aus den obigen Annotationen ergibt sich – evidenterweise – der genuin inter- beziehungsweise transdisziplinäre Charakter der Wissenschaftsforschung. Doch vermeide ich bewusst den Terminus technicus »›Transdisziplin‹ Wissenschaftsforschung«, der von einigen Autoren und Wissenschaftlern durchaus präferiert wird.266 Die konstitutiven formellen, konzeptuellen sowie institutionellen Indikatoren sind für die Charakterisierung einer Transdisziplin ›Wissenschaftsforschung‹ einfach viel zu schwach ausgeprägt. Mithin firmiert Wissenschaftsforschung außer unter dem unbestrittenen Signum der Inter- und/oder Transdisziplinarität unter den Rubra eines ›integrativen‹ Forschungsfeldes267 sowie einer ›praktischen, anwendungsorientierten Wissenschaft‹268. Grundsätzlich darf man nicht vergessen – dies gilt es immer wieder hervorzuheben –, dass es der Wissenschaftsforschung nicht per se um eine Suspendierung angestammter, historisch gewachsener Fächergrenzen geht; vielmehr erfolgen Auflösungstendenzen aus der inhärenten Zwangsläufigkeit, Forschungsprozesse aufgrund sukzessiv komplexer werdender Fragestellungen und Gegenstände auf einem breiter abgestützten sozialwissenschaftlichen Fundament abzusichern.269 Somit avanciert der Aspekt der Problemorientierung in der

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(wie Anm. 185), S. 7; W. Lepenies: »Probleme einer historischen Wissenschaftsforschung« (wie Anm. 209), S. 24; W. Krohn: »Die Wissenschaftsgeschichte in der Wissenschaft« (wie Anm. 90), S. 271 sowie U. Felt/H. Nowotny/K. Taschwer: Wissenschaftsforschung (wie Anm. 74), S. 18-19. H. Nowotny/P. Scott/M. Gibbons: Wissenschaft neu denken (wie Anm. 77), S. 249. Ebd. Vgl. J. Mittelstraß: Der Flug der Eule (wie Anm. 68), S. 78-82 und R. Benedikter: »Das Verhältnis zwischen Geistes-, Natur- und Sozialwissenschaften« (wie Anm. 261), S. 137. Vgl. unter anderem U. Felt/H. Nowotny/K. Taschwer: Wissenschaftsforschung (wie Anm. 74), S. 27. Vgl. W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 31), S. 7 und U. Felt/H. Nowotny/K. Taschwer: Wissenschaftsforschung (wie Anm. 74), S. 15. Vgl. U. Felt/H. Nowotny/K. Taschwer: Wissenschaftsforschung (wie Anm. 74), S. 20. Vgl. ebd., S. 19.

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Wissenschaftsforschung zu einem entscheidenden Movens ihrer konzeptuellen Entwicklung. Blickt man auf das, was mutatis mutandis State of the Art in der Wissenschaftsforschung ist, so lassen sich mit den Wissenschaftsforschern Ulrike Felt, Helga Nowotny und Klaus Taschwer hauptsächlich drei sich einander überschneidende Untersuchungsgebiete ausmachen:270 • Korrelative Mechanismen und Effekte von Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft. Hier fokussiert sich das erkenntnisleitende Interesse auf die Bedingungen, Vorgänge und Auswirkungen wissenschaftlicher, technologischer, soziokultureller, -politischer und -ökonomischer Maximen, Imperative sowie Faktoren für das alltägliche Leben. Eng mit dieser Perspektivierung sind verbunden Untersuchungen zu Transfer, Distribution, Rezeption und Applikation wissenschaftlichen Wissens. Auch Analysen des Beziehungsgefüges zwischen dem wissenschaftlichen Leistungsvermögen eines Gemeinwesens und seinen ökonomischen Strukturen und Potenzialen sowie der Interaktionen zwischen Wissenschaft und Politik sind hier zu verorten.271 • Gesellschaftliche, soziale und kulturelle Prämissen und Spezifika wissenschaftlicher Forschung. Darunter sind Studien zu fassen, die kommunikative, professionelle, organisationelle und institutionelle Indikatoren und Aspekte des Systems Wissenschaft zum Thema haben. Dabei sind auch die internen Normen und Standards des Wissenschaftssystems inkludiert. In diesen Bereich fallen zudem wissenschaftshistorische oder -historiografische Analysen, die kulturelle und religiöse Ursprünge der neuzeitlichen und modernen Wissenschaft, Forschung und Entwicklung explizieren.272 • Soziale Konstruktion wissenschaftlichen Wissens. Mittels (mikro-)soziologischer Handlungsanalysen an den Orten der Wissensproduktion (Laboratorien, Forschungsinstitute etc.) wird die soziale Generierung wissenschaftlicher Erkenntnisse ausgewertet. Ein wesentliches Augenmerk richtet sich darauf, auf welche Art und Weise inner- und außerhalb der Forschungsstätte wissenschaftliche ›Tatsachen‹ hervorgebracht werden und welche Funktionen dabei der Interaktion zwischen 270 Ebd., S. 20-21. 271 Vgl. zum Beispiel W. van den Daele/W. Krohn/P. Weingart (Hg.): Geplante Forschung (wie Anm. 257); H. Norman Abramson u. a. (Hg.): Technology Transfer Systems in the United States and Germany. Lessons and Perspectives, Washington: National Academy Press 1997; D. Braun: Die politische Steuerung der Wissenschaft (wie Anm. 257) sowie H. Nowotny/P. Scott/M. Gibbons: Wissenschaft neu denken (wie Anm. 77). 272 Vgl. R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 42); Raimund Hasse: Organisierte Forschung. Arbeitsteilung, Wettbewerb und Networking in Wissenschaft und Technik, Berlin: Sigma 1996 und Michael Scharping (Hg.): Wissenschaftsfeinde? »Science Wars« und die Provokation der Wissenschaftsforschung, Münster: Westfälisches Dampfboot 2001.

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Wissenschaftlern zuzuschreiben sind. Ferner spielen die habitualisierten (selbst-)reflexiven Normen und Formen des wissenschaftlichen Handels in einer Scientific Community und die Stellung von Wissenschaftlern in übergeordneten gesellschaftlichen Zusammenhängen eine zentrale Rolle.273 Das method(-olog-)ische Spektrum der benannten Untersuchungsfelder der Wissenschaftsforschung erstreckt sich von apriorisch-normativen Ansätzen über historisch-hermeneutische Studien bis hin zu empirisch-deskriptiven Verfahren.274 Doch selbstredend dürfen jene drei analytischen Perspektiven der modernen inter- und/oder transdisziplinären Wissenschaftsforschung weder als sakrosankt noch als revisionsresistent angesehen werden. Begreift man vornehmlich die Problemorientierung der Wissenschaftsforschung als Agens ihrer konzeptuellen Evolution, so zeitigt der Übergang zum 21. Jahrhundert eine kontinuierliche Dynamik von Veränderungen. Die Wissenschaftsforschung reagiert darauf, indem sie versucht, die Strukturen und Prozesse des Wissenschaftssystems mit Ansätzen der Differenzierung und Kontextualisierung zu explizieren.275 Exemplarisch steht dafür das wechselseitige Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft. Den Zusammenhang der Überschneidung und Vermischung von Wissenschaft und Gesellschaft (»Modus 2-Gesellschaft«) sowie der damit einhergehenden Wissenserzeugung (»Modus 2Wissensproduktion«) erläutern Helga Nowotny, Peter Scott und Michael Gibbons anhand von zwei Sachverhalten: Zum einen wird es zusehends diffiziler, eindeutige Grenzziehungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu fixieren. Die fundamentalen begrifflichen Instrumentarien der Moderne in den Bereichen Staat, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur sind »durchlässig«, mithin »problematisch« geworden.

273 Hier ist in erster Linie an die »Laborstudien« zu erinnern. In den 1970er Jahren untersuchten zum ersten Male ethnomethodologisch ausgerichtete Wissenschaftssoziologen und -forscher die wissenschaftlichen Arbeitsprozesse in Forschungslaboratorien. Vgl. einschlägig Bruno Latour: Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers through Society, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press 1987; Bruno Latour/Steven Woolgar: Laboratory Life. The Social Construction of Scientific Facts, Beverly Hills u. a.: Sage 1986; Karin Knorr-Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984 und Karin Knorr-Cetina: Wissenschaftskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. 274 Vgl. auch U. Felt/H. Nowotny/K. Taschwer: Wissenschaftsforschung (wie Anm. 74). 275 Vgl. hierzu und nachfolgend H. Nowotny/P. Scott/M. Gibbons: Wissenschaft neu denken (wie Anm. 77), S. 65-66, 223, 251-266, 305-306. Die Zitate sind ebenfalls dieser Quelle entnommen.

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Zum anderen sind Wissenschaft und Gesellschaft denselben und/oder ähnlichen Wirkungspotenzialen ausgesetzt – und dies mit einem durchaus »kumulativen Effekt«, nämlich: Zunahme von Ungewissheit, größere Bedeutung des ökonomischen Kalküls, Wandlung der Zeit in eine »erweiterte Gegenwart«, Dynamisierung des Raumes sowie kapazitative Erweiterung der Selbstorganisation von Wissenschaft und Gesellschaft. Jene Interpretationsstränge legen dieselbe Quintessenz nahe: »Wissenschaft und Gesellschaft sind beide zu Phänomenen der Überschreitung geworden.«276

Theoriegeleitete Diskussion ›klassischer‹ Wissenschaftsforschung Das anskizzierte transgressive Moment von Wissenschaft und Gesellschaft kennzeichnet wesentliche Auseinandersetzungen in der gegenwärtigen Wissenschaftsforschung. Nachstehend werde ich auf der Basis der Theorie selbstorganisierender Systeme drei relevante Gesichtspunkte der modernen Wissenschaftstheorie und -forschung näher diskutieren: • Beziehung von System und Umwelt wissenschaftlichen Handelns; • Mikro- und Makroebene wissenschaftlichen Handelns sowie • soziale Konstruktion wissenschaftlicher Erkenntnis. Wichtig für die Argumentation wird insbesondere der Ansatz der Selbstorganisation des Wissenschaftssystems nach Wolfgang Krohn und Günter Küppers sein,277 da dieser sich – im Gegensatz etwa zu Luhmann – stärker am Anwendungsaspekt orientiert. Mit Blick auf die spezifischen Anforderungen und Herausforderungen der sozialwissenschaftlichen Forschung sind der Operationalisierbarkeit gewisse Grenzen auferlegt. Erkenntnisleitend ist die Annahme, dass eine konstruktivistisch-systemische Modellation innovative Perspektiven auf Wissenschaft und Wissenschaftsforschung eröffnet, die nicht zuletzt den die Wissenschaft beobachtenden Beobachter von einigen problematischen und prekären Grundannahmen beziehungsweise Vorentscheidungen entbürden.278 Die nachstehende problemorientierte Auseinandersetzung unterliegt einer grundlegenden Einschränkung. Im Rekurs auf den kanadischen Wissenschaftsphilosophen Mario Bunge gilt es zu bedenken, dass eine (konstruktivistische) Systemtheorie Komponenten unterschiedlicher Theorietypen enthält, insbesondere von Strukturtheorien sowie von (hyper-)generellen Theorien. Aufgrund dessen lassen sich methodologische Essentials 276 Vgl. ebd., S. 66. 277 Vgl. W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 31). 278 Vgl. ebd., S. 18, zu den Vorüberlegungen S. 17-21.

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der Systemtheorie konzeptuell überprüfen; ein empirischer Test der Systemtheorie erfordert darüber hinaus untergeordnete Annahmen oder hinweisende Hypothesen.279 Die Integration und Adaption untergeordneter konkretisierender Annahmen und spezifischer hinweisender Hypothesen ist an dieser Stelle in der Grundlegung meiner Studie nicht zu leisten. In den wissenschaftsreflexiven (Sub-)Disziplinen respektive in der Wissenschaftsforschung obliegt es dem Beobachter, die Gegenstandsbereiche entweder nach Maßgaben interner Zurechnungen auf das System oder nach Richtwerten externer Zuschreibungen auf die Umwelt zu bestimmen.280 Die Theorie der Selbstorganisation eröffnet die Möglichkeit, jene zumeist internalistischen und/oder externalistischen Identifikationen als soziale Vorgänge zu interpretieren, die der Objektbereich selbst, eo ipse, konstituiert.281 Formaliter ist damit ein Perspektivenwechsel von ›normativen‹ und ›deskriptiven‹ zu ›konstruktiven‹ und ›konstruktivistischen‹ Beschreibungsmodi verbunden. Mithin geht mit dieser Umperspektivierung insofern kein relativistisches Moment einher, was in einer Konfusion der Beschreibung kulminieren könnte,282 als dass die einschränkenden Prämissen – Constraints – in der Selbstorganisation veranlagt sind.283 Von theoriestruktureller Warte aus betrachtet, spricht Luhmann von einem sich selbstlimitierenden Kontext.284 Die Theorie selbstorganisierender Systeme bietet der Wissenschaftsforschung einen alternativen Ansatz zu den hergebrachten Disputen wie ›Internalismus‹ versus ›Externalismus‹ oder ›Autonomie‹ 279 Vgl. M. Bunge: Finding Philosophy in Social Science (wie Anm. 1), S. 122-123. 280 Vgl. mit Blick auf die historische Dimension Michael Wolff: »Über den methodischen Unterschied zwischen ›äußerer‹ und ›innerer‹ Wissenschaftsgeschichte«, in: Kurt Bayertz (Hg.): Wissenschaftsgeschichte und wissenschaftliche Revolution, Köln: Pahl-Rugenstein 1981, S. 58-71, hier S. 58-62. 281 Vgl. W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 31), S. 18. 282 In der vermeintlichen Beliebigkeit des Beobachterstandpunktes besteht einer der Hauptvorwürfe gegen die Systemtheorie. Vgl. mit unterschiedlichen Zugriffen Klaus W. Hempfer: »Schwierigkeiten mit einer ›Supertheorie‹. Bemerkungen zur Systemtheorie Luhmanns und deren Übertragbarkeit auf die Literaturwissenschaft«, in: Spiel. Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft, 9 (1990) 1, S. 15-36, hier S. 15-18, passim; Armin Nassehi: »Zum ontologischen und epistemischen Status von Luhmanns Theorie selbstreferentieller Systeme«, in: Werner Krawietz/Michael Welker (Hg.): Kritik der Theorie sozialer Systeme. Auseinandersetzungen mit Luhmanns Hauptwerk, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 43-70, hier S. 48-57 sowie Max Haller: Soziologische Theorie im systematisch-kritischen Vergleich, Opladen: Leske + Budrich 1999, S. 411-507, hier S. 446-462. 283 Vgl. W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 31), S. 18. 284 Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme (wie Anm. 5), S. 7-14, 15-29.

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versus ›Heteronomie‹ der Wissenschaft. Das Wissenschaftssystem ist in der Lage, seine Autonomie durch seine Heteronomie zu steigern und/oder zu schwächen.285 Bis in die Gegenwart hinein schwillt der Streit zwischen internalistischen und externalistischen Positionen in der wissenschaftsreflexiven Forschung. Der elementare Dissens besteht – sedimentiert in unterschiedlichen Variationen und Derivationen – darin: Erstere führen die Wissenschaftsevolution kausal auf wissenschaftsinhärente Prämissen, Faktoren und Normen zurück.286 Der forschungsleitende Fokus der Internalisten richtet sich auf die Prozesse und Strukturen der Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse oder wissenschaftlichen Wissens beziehungsweise der Generierung kognitiver Werte und sozialer Praxen.287 Primärer Bezugspunkt in analytischen Szenarien dieser Provenienz sind tradierte kodifizierte Denk-, Handlungs- sowie Verhaltensschemata in Scientific Communities.288 Hingegen konzentrieren sich Letztere auf wissensschaftsexterne Prämissen, Faktoren und Normen der Wissenschaftsgenese. Darunter sind insbesondere religiöse, politische Ideologien, tradierte Weltbilder und kulturelle Denkweisen zu fassen.289 Des Weiteren sind politische, juristische, ökonomische sowie finanzielle Aspekte zu differenzieren.290 Die Wahl eines internalistischen oder eines externalistischen Standpunktes zeitigt – wie auch die eines konstruktivistisch-systemtheoretischen Designs – Folgen und Konsequenzen. Die Theorie selbstorganisierender Systeme, in der Lesart von Krohn und Küppers, ermöglicht eine gewandelte Perspektive auf die Relation von Wissenschaft und ihrer Umwelt, wodurch die Internalismus/Externalismus-Misere beziehungsweise das Autonomie/Heteronomie-Dilemma ›neutralisiert‹ werden können. Die Theorie selbstorganisierender Systeme fokussiert die System/Umwelt-Beziehung sowohl konzeptuell als auch methodisch anders: Wie ein Blick in die ein285 Vgl. W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 31), S. 18. 286 Mit der Paradigma-Konzeption Kuhns erreicht die internalistische Orientierung in Wissenschaftstheorie und -soziologie ihren vorläufigen Höhepunkt. Vgl. T. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (wie Anm. 66), S. 57-64. 287 Vgl. etwa Michael Polanyi: Implizites Wissen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985; J. Ben-David: Scientific Growth (wie Anm. 257) und Richard Whitley: The Intellectual and Social Organization of the Sciences, Oxford u. a.: Oxford University Press 2000, S. 153-218. 288 Vgl. unter anderem mit Blick auf Faktoren der Kooperation Grit Laudel: Interdisziplinäre Forschungskooperation. Erfolgsbedingungen der Institution ›Sonderforschungsbereich‹, Berlin: Sigma 1999, S. 29-49. 289 Vgl. W. van den Daele/W. Krohn/P. Weingart (Hg.): Geplante Forschung (wie Anm. 257) und H. Nowotny/P. Scott/M. Gibbons: Wissenschaft neu denken (wie Anm. 77). 290 Vgl. etwa I.-S. Spiegel-Rösing: Wissenschaftsentwicklung und Wissenschaftssteuerung (wie Anm. 257) oder D. Braun: Die politische Steuerung der Wissenschaft (wie Anm. 257).

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schlägige Forschungsliteratur dokumentiert, dominiert in Wissenschaftsphilosophie, -theorie, -soziologie, -geschichte und -forschung häufig die Auffassung, dass eine Entweder/Oder-Wahl zwischen den Möglichkeiten ›wissenschaftlicher Autonomie‹ und ›wissenschaftlicher Heteronomie‹ respektive eine Entweder/Oder-Wahl zwischen den Möglichkeiten ›wissenschaftsinterner‹ und ›-externer Determinanten‹ bestehe.291 Die beiden Soziologen Krohn und Küppers widersprechen diesem Mainstream in den wissenschaftsreflexiven (Sub-)Disziplinen. Mithin erweisen sich – in systemischer Betrachtungsweise – die genannten Unterscheidungen mitnichten als Disjunktionen: Demnach ist Wissenschaft weder ausschließlich selbstreguliert noch ausschließlich fremdreguliert; vielmehr vermag das System Wissenschaft, seine Autonomie durch seine Heteronomie zu erhöhen oder zu verringern.292 Diese Differenzierungen sind strukturelle Schemata der vom System erzeugten und aufrechterhaltenen System/Umwelt-Relationen; das heißt: »Das System selbst grenzt seine Umwelt aus. Über den so geschaffenen Rand reguliert es diese Differenz.«293 Diesen Sachverhalt kann man auch mit Blick auf den Begriff der ›Grenze‹ respezifizieren: Das System Wissenschaft setzt seine Sinngrenzen294 beziehungsweise Systemgrenzen295 zur Regulation von System/Umwelt-Differenzen ein. Aus den systemischen Voraussetzungen ergibt sich, dass wissenschaftsextern determinierte Handlungen und Entscheidungen im ›Normalfall‹ (als einer stabilisierten Erwartungserwartungshaltung) durchaus prognostizierbar und kalkulierbar sind und in enger Abstimmung mit wissenschaftsintern definierten Handlungen und Entscheidungen erscheinen müssen.296 Allerdings sind die methodologischen Auswirkungen für die Konzeptualisierung in der Wissenschaftsforschung gravierend: Die Theoriekonstruktion darf nicht ihrerseits die Divergenzen zwischen ›inner-‹ und ›außerwissenschaftlichen‹ Belangen festlegen; sondern ihr obliegt lediglich, die Möglichkeiten aufzuzeigen, wie das Wissenschaftssystem selbst die Unterscheidungen im System und/oder in der Umwelt verortet und

291 Vgl. auch Wolfgang Krohn: »›Intern – extern‹, ›sozial – kognitiv‹. Zur Solidität einiger Grundbegriffe der Wissenschaftsforschung«, in: Clemens Burrichter (Hg.): Grundlegung der historischen Wissenschaftsforschung, Basel/Stuttgart: Schwabe 1979, S. 123-148, hier S. 123-130 und R. Mayntz: »Autonomie oder Abhängigkeit« (wie Anm. 92), S. XXVIIIXXIX. 292 Vgl. W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 31), S. 19. 293 Ebd. (Hervorhebung im Original). 294 Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme (wie Anm. 5), S. 95-96, 265-269. 295 Vgl. ebd., S. 35-36, 51-54,177-179, 295, 560. 296 Vgl. W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 31), S. 19.

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Handeln und Entscheiden in inner- und/oder außerwissenschaftliches Handeln zuordnet.297 In der modernen Wissenschaftsforschung stellt die Unterscheidung beziehungsweise Zuweisung von mikro- und makroskopischer Ebene eine besondere Problematik dar.298 Die Theorie selbstorganisierender Systeme setzt in der Abstimmung zwischen Mikro- und Makroskopie anders als gängige Konzeptualisierungen an, indem sich demonstrieren lässt, wie aus mikroskopischen Oszillationen makroskopische Trends entstehen (können), die schließlich das System in einen neuen Zustand transformieren (können).299 Rekonkretisiert für die Wissenschaft: Im Wissenschaftssystem lassen sich Faktoren identifizieren, durch die aus individuellem Handeln und Verhalten von Wissenschaftlern kollektives Handeln und Verhalten von Wissenschaftlern resultiert – aus Handlungen werden Handlungsregeln extrahiert, die sowohl selegierend als auch strukturbildend auf das Agieren von Wissenschaftlern und von Forschungsgruppen Einfluss nehmen.300 Diese Thematik ruft unweigerlich wiederum Probleme der Identifikation und Analyse ›interner‹ und ›externer‹ Faktoren in der Wissenschaftsevolution mit auf. Unter konzeptuellen Gesichtspunkten bietet es sich für die Wissenschaftsforschung aus Sicht einer Theorie der Selbstorganisation an, auf die Eigenwerte operational geschlossener Systeme im Sinne von Heinz von Foerster zu rekurrieren.301 In seiner operativen Erkenntnistheorie konstatiert von Foerster: »Ein Kernpunkt der Überlegungen […] besteht darin, daß das, was in einer beobachterlosen (linearen, offenen) Epistemologie als ›Gegen-Stand‹ angesehen wird, in einer den Beobachter einbeziehenden (zirkulären, geschlossenen) Epistemologie als ›Zeichen für stabile Verhaltensweisen‹ (oder, wenn man die Terminologie der Theorie rekursiver Funktionen verwendet, als (be-)greifendes ›Zeichen für Eigenverhalten‹) erscheint.«302 297 Vgl. ebd. 298 Vgl. zum Beispiel Uwe Schimank: »Wie die interorganisatorische Einbettung von Forschungseinrichtungen das Forschungshandeln prägt. Die staatlich finanzierte außeruniversitäre Forschung in der Bundesrepublik«, in: Jürgen Klüver (Hg.): Mikro-Makro-Ansätze in der Wissenschafts- und Technikforschung, Essen: Universität Essen 1991, S. 41-76 und Rudolf Stichweh: »Evolutionstheoretische Modelle, hierarchische Komplexität und Mikro/Makro-Unterscheidungen«, in: Jürgen Klüver (Hg.): MikroMakro-Ansätze in der Wissenschafts- und Technikforschung, Essen: Universität Essen 1991, S. 103-119. 299 Vgl. W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 31), S. 20. 300 Vgl. ebd. 301 Vgl. ebd. 302 Heinz von Foerster: Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1985, S. 207.

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In Anbetracht des obigen Sachverhalts303 schließe ich mich der These Krohns und Küppers304 an, dass es konzeptuell und methodologisch höchst problematisch, um nicht zusagen: prekär, ist, vorab Regeln als De-factoStandards in der Analyse zu formulieren und zu fixieren, wie dies in vorgängigen Konzepualisierungen der Wissenschaftsphilosophie, -theorie, -soziologie und -geschichte immer wieder exekutiert wurde (und wird) – allen voran durch den wissenschaftssoziologischen Funktionalismus,305 den Kritischen Rationalismus,306 die operative Logik,307 die Konstruktive Wissenschaftstheorie oder die Erlanger Schule308 (inklusive ihren jeweiligen Genealogien).309 Die folgenden Ausführungen vertiefen diesen Standpunkt in Auseinandersetzung mit einigen einschlägigen Positionen der Wissenschaftstheorie und -soziologie. In der Merton’schen Wissenschaftssoziologie wird Wissenschaft als soziales System beschrieben, das handlungsführende Normen und Regeln für die Wissenschaft vorgibt. Der Wissenschaftsinstitutionalismus Mertons definiert Vorschriften als tatsächlich benutzte Regeln. Im Diskurskontext der Vermittlung zwischen mikro- und makroskopischer Zuordnung erweist

303 Vgl. auch W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 31), S. 60-61. 304 Vgl. ebd., S. 20. 305 Vgl. R. K. Merton: »Wissenschaft und demokratische Sozialstruktur« (wie Anm. 167). 306 Vgl. insbesondere K. R. Popper: Logik der Forschung (wie Anm. 118); ferner Imre Lakatos: »Falsification and the Methodology of Scientific Research Programmes«, in: Imre Lakatos/Alan Musgrave (Hg.): Criticism and the Growth of Knowledge. Proceedings of the International Colloquium in the Philosophy of Science, London, 1965, Cambridge: Cambridge University Press 1970, S. 91-196, in deutscher Übersetzung Imre Lakatos: »Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme«, in: Imre Lakatos/Alan Musgrave (Hg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt. Abhandlungen des Internationalen Kolloquiums über die Philosophie der Wissenschaft, London 1965, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1974, S. 89-189. Vgl. ferner Imre Lakatos: »History of Science and Its Rational Reconstructions«, in: Roger C. Buck/Robert S. Cohen (Hg.): Philosophy of Science Association. Biennial Meeting, Boston, 1970, Dordrecht: Reidel 1971, S. 91-135. 307 Vgl. Paul Lorenzen: Einführung in die operative Logik und Mathematik, Berlin/Göttingen/Heidelberg: Springer 1969. 308 Vgl. Wilhelm Kamlah/Paul Lorenzen: Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens, Stuttgart/Weimar: Metzler 1996; Friedrich Kambartel/Jürgen Mittelstraß (Hg.): Zum normativen Fundament der Wissenschaft, Frankfurt am Main: Athenäum 1973 und Peter Janich (Hg.): Entwicklungen der methodischen Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992. 309 Vgl. auch N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 7), S. 544 sowie W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 31), S. 20.

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sich dieser Ansatz vor allem aus zweierlei, uns schon geläufigen Überlegungen heraus als defizitär:310 Zum einen läuft Merton durch seine kaum hinterfragte Argumentationsarchitektur Gefahr, die Identität des Ethos mit einer spezifisch epistemischen Disposition, wie aus Handlungen von Wissenschaftlern Handlungsregeln für die Wissenschaft werden, zu ontologisieren – und dies unbeschadet der empirischen Problematik der key norms Mertons. Man muss in der Kritik an Merton gar nicht auf systemtheoretische Argumente rekurrieren; gegen seine invariante normativistische Struktur und Statik sprechen eine Reihe anderer Untersuchungen (Fleck, Kuhn, Feyerabend und andere), die epistemische, soziale, psychologische und historische Dynamiken in Forschungs- und Erkenntnisprozessen akzentuieren. Zum anderen ist zu bestreiten, dass die Normativität der von Merton postulierten Werte und Normen – als empirische Interpretation des Agierens und der Motivation von Wissenschaftlern – zutreffen, da eine Mannigfaltigkeit von Verletzungen und Missachtungen in der Wissenschaftsgeschichte das Gegenteil belegen. Offenkundig bietet die rein normative Basis der funktionalistischen Wissenschaftssoziologie ein nur unzureichendes Fundament, um eine Vermittlung zwischen Mikro- und Makroebene zu bewerkstelligen. Durch das Insistieren auf der Normativität des Handelns von Wissenschaftlern in Institutionen als faktischen Regeln reduziert und limitiert Merton in extremer Weise die Bedingung der Möglichkeit, wie aus dem Handeln von Individuen das Handeln von Gruppen resultiert. Auch der Kritische Rationalist Karl R. Popper vertritt in seiner Logik der Forschung311 ein normatives Konzept, wenngleich sich dieses – in Übereinstimmung mit der rationalistischen Tradition der Erkenntnis- beziehungsweise Wissenschaftstheorie – auf die Erklärung und die Bestimmung der Wissenschaftsentwicklung über Inhalt und Gehalt von Theorien konzentriert.312 Damit geht per analogia eine ähnlich gelagerte Problematik wie bei Merton einher, allerdings ist bei Popper ausschließlich die kognitive, normativ-logische Dimension der Überprüfung wissenschaftlicher Erkenntnisse (theoretische Aussagen und theoretische Systeme) betroffen: »Die Erfahrungswissenschaften sind Theoriensysteme. Man könnte die Erkenntnislogik die Theorie der Theorien nennen. [Absatz; C. F.] Wissenschaftliche Theorien sind allgemeine Sätze. Sie sind, wie jede Darstellung, Symbole, Zeichensysteme.«313 Laut dem Methodischen Falsifikationismus

310 Vgl. mit weiteren Hinweisen auch P. Weingart: Wissenschaftssoziologie (wie Anm. 135), S. 15-22, 143-144. 311 Vgl. K. R. Popper: Logik der Forschung (wie Anm. 118). 312 Vgl. auch die weiterführende Diskussion bei Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft, Tübingen: Mohr 1991, S. 219-256. 313 K. R. Popper: Logik der Forschung (wie Anm. 118), S. 31.

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Popper’scher Couleur kann eine Hypothese mitnichten durch Verifikation bewiesen werden, vielmehr ist lediglich die Falsifikation einer Theorie möglich. Sein »Abgrenzungskriterium«314 besagt, dass ein empirischwissenschaftliches System bei einem Test anhand von Erfahrungskategorien (Empirie) durchfallen können muss.315 Dies geschieht nach Popper, indem aus der allgemeinen Theorie durch Deduktion spezielle Sätze respektive Voraussagen generiert werden, die intersubjektiv überprüfbar sind.316 Wird ein abgeleiteter singulärer raum-zeitlicher Satz falsifiziert, ist die Hypothese falsifiziert und somit gleich das gesamte theoretische System.317 Mit einem ähnlich problematischen normativistischen Anspruch wie Popper tritt der Erlanger Konstruktivismus beziehungsweise die Erlanger Schule318 an: »Woran es heute fehlt, ist […] die Disziplin des Denkens und des Redens, die uns endlich ermöglichen würde, unsere hoffnungslos gegeneinander aufgefahrenen Standpunkte und Meinungen abzubauen und, in aller Ruhe sozusagen, miteinander, in vernünftigem Gespräch, einen neuen Anfang zu machen.«319

Dieser Ansatz machte von den 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre hinein als methodenkritische wissenschaftstheoretische Konzeptualisierung von sich reden.320 Auf einer mathematisch-logischen Grundlegung321 intendierten die Begründer des Methodischen Konstruktivismus, Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen, eine sich dem ›klassischen‹ Aufklärungsgedanken verpflichtete Neubegründung der Vernunftphilosophie ins Werk zu setzen. Die Mitglieder dieser Schulbildung bemühen sich, spezifische sprachliche Instrumentarien zu erarbeiten, um wissenschaftliche Aussagen auf die Konsistenz und Legitimität ihrer rationalen Argumentation und Begründung hin überprüfen und beurteilen zu können. Dabei gehen sie – 314 315 316 317 318

Vgl. ebd., S. 10-15. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 7-8. Vgl. ebd., S. 8. Vgl. W. Kamlah/P. Lorenzen: Logische Propädeutik (wie Anm. 308) sowie F. Kambartell/J. Mittelstraß (Hg.): Zum normativen Fundament der Wissenschaft (wie Anm. 308). 319 W. Kamlah/P. Lorenzen: Logische Propädeutik (wie Anm. 308), S. 11 (Hervorhebung im Original). 320 Zu Geschichte, Wandel und Erbe der Erlanger Schule vgl. auch P. Janich (Hg.): Entwicklungen der methodischen Philosophie (wie Anm. 308). 321 In seiner operativen Logik entwickelt P. Lorenzen: Einführung in die operative Logik und Mathematik (wie Anm. 307), S. 4, eine formalistische Konzeption eines »Systems von Regeln zum Operieren mit Figuren«. Erst später wendet er sich einer dialogischen Logik, insbesondere in Zusammenarbeit mit Kuno Lorenz, zu. Vgl. Kuno Lorenz: Elemente der Sprachkritik. Eine Alternative zum Dogmatismus und Skeptizismus in der analytischen Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 52.

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dem späten Wittgenstein (insbesondere seinem Begriff des »Sprachspiels«)322 folgend – davon aus, dass eine absolute Separierung von ›Sprache‹ und ›Wirklichkeit‹ nicht denkbar ist. Gemäß der an der umgangssprachlichen Kommunikation ansetzenden Methode der Sprach-(Re-)Konstruktion323 erweisen sich sprachliche Mittel der Wissenschaft immer zugleich als Konstruktionen ihrer Gegenstände. Der Erlanger Konstruktivismus stellt darauf ab, die Generierung wissenschaftlicher Gegenstände durch die explizite Angabe des methodisch kontrollierten Prozedere und der normativ konstituierten Regeln zu (re-)konstruieren.324 Sowohl der Kritische Rationalismus Poppers als auch der Methodische Konstruktivismus der Erlanger Schule explizieren normative Werte und Vorschriften wissenschaftlicher Rationalität, die mit Kuhn insofern zu relativieren sind,325 als dass Forscher just eben diese boykottieren, gar negieren, wo sie sich am konstruktivsten ausnehmen: »Einen solchen [Paradigmawechsel; C. F.] bewirken grundlegend neue Fakten und Theorien. Nachdem sie bei einem Spiel, das einem System von Regeln folgte, unbeabsichtigt erzeugt worden sind, verlangt ihre Rezipierung ein neues Regelsystem. Und wenn sie schließlich ein Teil der Wissenschaft geworden sind, ist das Unternehmen zumindest jener Spezialisten, in deren Gebiet die neuen Erkenntnisse fallen, nicht mehr ganz das frühere.«326

Vom Standpunkt einer systemischen Theorie der Selbstorganisation her betrachtet, ist es gleichsam an Popper wie an der Erlanger Schule problematisch, dass sie Normen beziehungsweise Methoden festlegen und zudem 322 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe, Band 1. Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914-1916, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 250. 323 Vgl. W. Kamlah/P. Lorenzen: Logische Propädeutik (wie Anm. 308), S. 202-231 und K. Lorenz: Elemente der Sprachkritik (wie Anm. 321), S. 1320, 167-231. 324 In einer späteren Publikation notiert Paul Lorenzen: Konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 48 (Hervorhebung im Original): »Was ernsthaft zu tun ist, ist, daß man zu unterscheiden lernt, was ein Argument ist für die Wahrheit einer Meinung, für die Gebotenheit eines Wollens – und was kein Argument ist. Das wissenschaftliche Argumentieren (bei dem es um die Wahrheit von Meinungen geht) und das vernünftige Argumentieren (bei dem es um die Gebotenheit des Wollens geht) ist selbst Gegenstand einer Kunstlehre: es muß gelernt werden, wie man argumentieren sollte, es müssen Normen (Regeln) des vernünftigen Argumentierens erarbeitet werden. Der einfachste, wegen seiner Einfachheit pädagogisch aber am schwierigsten zu vermittelnde Fall ist der Fall der Normen der ›formalen Logik‹ (häufig kurz ›Logik‹ genannt).« 325 So lautet das Hauptargument von W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 31), S. 20, in erster Linie gegen Popper, Lakatos, Kambartel, Lorenzen und Mittelstraß gerichtet. 326 T. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (wie Anm. 66), S. 65.

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einer nicht hinterfragten ›Fortschrittlichkeit‹ der Wissenschaftsentwicklung – im Sinne des Rationalitätsdogmas – das Wort reden. Nimmt man das Problem der Zuordnung von Mikro- und Makroebene im skizzierten Sinne ernst, so bietet weder der Kritische Rationalismus noch der Methodische Konstruktivismus mit ihren Präliminarien (›Präzision‹, ›Objektivität‹, ›Wahrheit‹ etc.) eine Handhabe, um sozialen Interaktionen und externen Einflüssen im Forschungsprozess adäquat Rechnung zu tragen. Wissenschaftliche Entwicklung reduziert sich hier auf die Formalisierung und Falsifizierung von Theorien, Beweisen und Systemen oder auf die Fixierung formaler methodisch kontrollierter Prozedere und normativ konstituierter Regeln. Solchermaßen lässt sich das Vermittlungsdilemma zwischen mikro- und makroskopischer Ebene nicht operationalisieren, geschweige denn eliminieren. Eine der wichtigsten Derivationen des Kritischen Rationalismus markiert Imre Lakatos’ »Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme«.327 Darin befasst sich der Schüler Poppers mit der Frage des Fortschritts in der wissenschaftlichen Erkenntnis, wobei er – ähnlich wie sein Lehrer – die Rationalitätsmaxime der Wissenschaftsgenese als ›gesetzt‹ ansieht. Mit seinem Konzept der wissenschaftlichen Forschungsprogramme vermag Lakatos, die Defizite der Popper’schen Forschungslogik, der nach wissenschaftliche Theorien und Systeme aufgrund eines einzigen Fehlers zu verwerfen sind, zu minimieren. Seine methodologische Konzeptualisierung des raffinierten Falsifikationismus328 ist im Wesentlichen eine Erweiterung des methodologischen Falsifikationismus Poppers.329 Bedingt durch den Umstand, dass Lakatos gesteigerten Wert auf die Entwicklung von Theorien (»Theoriereihen«) legt, kommt der Bestätigung wissenschaftlicher Theorien im Gegensatz zu Popper evidenterweise eine größere Bedeutung zu als ihrer Widerlegung. Wenn eine empirische Basis mit einer Theorie in Konflikt gerät, kann man eine Theorie als »falsifiziert« bezeichnen; jedoch ist sie nicht in dem Verständnis falsifiziert, dass sie widerlegt wäre.330 Denn es besteht ja die Möglichkeit, dass die Theorie noch immer »wahr« sein könne. Für Lakatos gilt eine wissenschaftliche Theorie erst dann als falsifiziert, sofern eine andere Theorie den kompletten nicht falsifizierten Gehalt der zeitlich vorausgehenden Theorie beinhaltet und dazu noch über einen »Gehaltsüberschuß« verfügt, der partiell bestätigt wurde.331 Daher ist das 327 Vgl. I. Lakatos: »Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme« (wie Anm. 306). 328 Vgl. ebd., S. 113-128. 329 Vgl. en détail auch Gunnar Andersson: Criticism and the History of Science. Kuhn’s, Lakatos’s and Feyerabend’s Criticisms of Critical Rationalism, Leiden u. a.: Brill 1994. 330 Vgl. I. Lakatos: »Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme« (wie Anm. 306), S. 106. 331 Vgl. ebd., S. 114.

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ausschlaggebende Moment für den Fortschritt der Wissenschaft nicht mehr die Weiterentwicklung von Theorien, sondern von »Theoriereihen«. Diese Reihen von Theorien nennt Lakatos »Forschungsprogramme«. Ein Forschungsprogramm besteht aus einem in der Wissenschaftsgemeinschaft goutierten, bis dato nicht widerlegbaren »harten Kern«332 zusammenhängender Theorien, einem »Schutzgürtel« von Hilfshypothesen und einer »positiven Heuristik«.333 Jener Nukleus von Theorien ist protektioniert, kann allerdings unter gewissen Voraussetzungen zur Disposition gestellt werden. Um den harten Theoriekern ist ein Schutzgürtel von Hilfshypothesen angeordnet, anhand derer mittels heuristischer Regeln Hypothesen getestet werden. Lässt sich dabei eine so genannte progressive Problemverschiebung feststellen, so wird dieser Befund als rationaler Forschritt der Wissenschaft interpretiert.334 Nicht allein der raffinierte Falsifikationismus Imre Lakatos’, sondern auch der wissenschaftliche Strukturalismus335 vermag in gewisser Weise, die Forschungslogik Poppers in puncto Explikation von Theoriendynamiken zu überschreiten. Seit den frühen 1970er Jahren entwickelten allen voran Joseph D. Sneed,336 Wolfgang Stegmüller337 und andere Wissen332 Vgl. ebd., S. 129-131. 333 Vgl. ebd., S. 131-134. 334 Vgl. ebd., S. 115-116 (Hervorhebung im Original): »Wir nennen eine solche Reihe von Theorien theoretisch progressiv (die Reihe ›bildet eine theoretisch progressive Problemverschiebung‹), wenn jede neue Theorie einen empirischen Gehaltsüberschuß ihrer Vorläuferin gegenüber besitzt, d. h. wenn sie eine neue, bis dahin unerwartete Tatsache voraussagt. Wir nennen eine theoretisch progressive Reihe von Theorien auch empirisch progressiv (die Reihe ›bildet eine empirisch progressive Problemverschiebung‹), wenn sich ein Teil dieses empirischen Gehaltsüberschusses auch bewährt, d. h. wenn jede neue Theorie uns wirklich zur Entdeckung einer neuen Tatsache führt. Und schließlich heiße eine Problemverschiebung progressiv, wenn sie sowohl theoretisch als auch empirisch progressiv ist, und degenerativ, wenn das nicht der Fall ist.« 335 Auch wenn die Begrifflichkeit eine gewisse Nähe oder Übereinstimmung zu suggerieren scheint, sind selbstredend der ›wissenschaftliche Strukturalismus‹ und der ›(Post-)Strukturalismus‹ streng voneinander zu scheiden. Der wissenschaftliche Strukturalismus basiert auf Ansätzen der analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie. Vgl. auch die treffliche Übersicht von W. Diederich: Strukturalistische Rekonstruktionen (wie Anm. 119), S. 33-50. Der (Post-)Strukturalismus gründet auf disziplinären Kontexten der Ethnologie, Psychoanalyse, Philosophie, Sprach- und Literaturwissenschaft und ist maßgeblich mit den Namen Claude Lévi Strauss, Roland Barthes, Jacques Lacan, Michel Foucault, Julia Kristeva und Jacques Derrida verbunden. Vgl. dazu die hervorragende Darstellung von François Dosse: Geschichte des Strukturalismus, Band 1. Das Feld des Zeichens, 1945-1966, Frankfurt am Main: Fischer 1999 und François Dosse: Geschichte des Strukturalismus, Band 2. Die Zeichen der Zeit, 1967-1991, Frankfurt am Main: Fischer 1999. 336 Vgl. J. D. Sneed: The Logical Structure of Mathematical Physics (wie Anm. 119), S. 1-14, 249-307 und Joseph D. Sneed: »Philosophical Prob-

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schaftstheoretiker338 eine neuartige Begriffskonzeption von Theorien.339 Dieser wissenschaftstheoretische Ansatz ist durch ein einheitliches, komplex gebautes theoretisches Modell charakterisiert. Der wissenschaftliche Strukturalismus begreift sich in erster Linie als eine »Metatheorie der Wissenschaft«340 und soll als solche überprüft werden. Mit dieser Konzeptualisierung geht ein folgenreicher Perspektivenwechsel vom solchermaßen bezeichneten statement-view zum non-statement-view einher.341 Während die mehr oder minder ›klassisch‹ geschulten und ausgerichteten Wissenschaftstheoretiker (Popper, Lakatos, Kamlah, Lorenzen etc.) grosso modo wissenschaftliche Theorien als Mengen von Sätzen oder Aussagen (propositionale Ausdrücke)342 ansehen – diese Praxis entspricht dem statementview –, werden diese von Verfechtern des wissenschaftlichen Strukturalismus als bestimmte Komplexe, bestehend aus unterschiedlichen Strukturtypen, begriffen: »A scientific theory is a conceptual structure that can generate a variety of empirical claims about a loosely specified, but not completely unspecifed, range of applications.«343 Die Identität einer Theorie wird durch eine Klasse solchermaßen bestimmter Modelle definiert.

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lems in the Empirical Science of Science. A Formal Approach«, in: Erkenntnis, X (1976), S. 115-146. Vgl. W. Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, Band 2 [Halbband 2] (wie Anm. 109) und Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung, Band II, Stuttgart: Kröner 1987, S. 468-518. Vgl. unter anderem W. Diederich: Strukturalistische Rekonstruktionen (wie Anm. 119), S. 51-89 und P. Finke: Konstruktiver Funktionalismus (wie Anm. 117), S. 139-184 und Achim Barsch: »Einige Überlegungen zum Verhältnis von Theorie-Konstruktion und Theorie-Rekonstruktion in einer empirisch-analytischen Literaturwissenschaft«, in: Peter Finke/Siegfried J. Schmidt (Hg.): Analytische Literaturwissenschaft, Braunschweig/ Wiesbaden: Vieweg 1984, S. 56-69. Zu den kurrenten Entwicklungen des wissenschaftlichen Strukturalismus in Theorie und Applikation vgl. vor allem Wolfgang Balzer/C. Ulises Moulines (Hg.): Structuralist Theory of Science. Focal Issues, New Results, Berlin/New York: de Gruyter 1996 sowie Wolfgang Balzer/C. Ulises Moulines/Joseph D. Sneed (Hg.): Structuralist Knowledge Representation. Paradigmatic Examples, Amsterdam u. a.: Rodopi 2000. C. Ulises Moulines: »Der wissenschaftstheoretische Strukturalismus«, zitiert nach der elektronischen Publikation unter: , o. S. (letzte Änderung: 2000; letzter Zugriff: 19.09.2005). Vgl. W. Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, Band 2 [Halbband 2] (wie Anm. 109) und J. D. Sneed: The Logical Structure of Mathematical Physics (wie Anm. 119), S. 1-14. In der traditionellen Wissensschaftstheorie und Logik wird der propositionale Gehalt konventionell durch das Schema expliziert. Vgl. auch Max J. Cresswell: Logics and Languages, London: Methuen 1973. J. D. Sneed: »Philosophical Problems in the Empirical Science of Science« (wie Anm. 336), S. 120 (Hervorhebung im Original).

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Maßgeblich ist, dass die zugrunde gelegte Axiomatik möglicht exakt die Klassen von Modellen fixiert, die für die formale Deskription eines ausgewählten empirischen Sektors als zweckdienlich erachtet werden. Von grundsätzlicher Bedeutung ist für den wissenschaftlichen Strukturalismus344 die Differenz von zwei Axiomsarten innerhalb einer jedweden Theorie: zwischen den allgemeinen Voraussetzungen und begrifflichen Festlegungen auf der einen Seite und den ›wirklichen‹ Grundsätzen mit Gehalt, mithin elementaren Gesetzen, auf der anderen Seite. Sofern Strukturen lediglich terminologische Bestimmungen obliegen und somit das begriffliche Rahmenkonzept konstituieren, werden sie als potenzielle Modelle bezeichnet. Diese werden – in ihrer Gesamtheit – durch den Term Mp ausgedrückt. Die Strukturen, welche zudem zu jenen terminologischen Festlegungen die Gesetze einer Theorie, mithin allgemeine Aussagen mit einem empirischen, überprüfbaren Gehalt aufweisen, heißen aktuelle Modelle und werden schlicht durch M symbolisiert. Mithin ist M stets eine Teilklasse von Mp. Grundsätzlich markiert das Strukturpaar die formale Identität einer gegebenen Theorie. Aus diesem Grunde wird das Strukturpaar als »formaler Kern« genauer: »formaler struktureller Kern«, oder einfach als »Kern« der Theorie beschrieben und durch das Symbol K angezeigt.345 In der Präzisierung einer formalen Deskription der Theorie hat nunmehr die Identität K = Gültigkeit. Mithin verfügen wir nicht über das zureichende Wissen, um welche Theorie es geht, wenn wir lediglich den formalen Kern einer Theorie mitteilen. Entgegen rein mathematischen (axiomatischen) Disziplinen ist man daher bei empirischen Disziplinen darauf angewiesen, den Bereich der intendierten Anwendungen dieser Theorien anzugeben, damit man eben diese vollständig bestimmen kann. Bedingt durch den Umstand, dass jener Bereich intendierter Anwendungen nicht vollständig modelltheoretisch erklärt werden kann, müssen weitere wichtige, nicht formalisierbare pragmatische und diachrone Bestandteile integriert werden. Die Bedeutung des wissenschaftlichen Strukturalismus für die Erklärung von Theoriendynamiken lässt sich schließlich wie folgt resümieren: 344 In den folgenden Abschnitten stützte ich mich im Wesentlichen auf die kohärente und komprimierte Darstellung von W. Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Band II (wie Anm. 337), S. 468-479; W. Diederich: Strukturalistische Rekonstruktionen (wie Anm. 119), S. 5189; P. Finke: Konstruktiver Funktionalismus (wie Anm. 117), S. 139-184 und C. U. Moulines: »Der wissenschaftstheoretische Strukturalismus« (wie Anm. 340), o. S. Auf die weiterführende Diskussion zum Problem theoretischer Begriffe und der »Ramsey-Lösung«, benannt nach dem englischen Philosophen Frank P. Ramsey, kann ich an dieser Stelle nicht gesondert eingehen. Vgl. dazu etwa W. Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Band II (wie Anm. 337), S. 480-488. 345 Vgl. auch die kritische Arbeit von Thomas Zoglauer: Das Problem der theoretischen Terme. Eine Kritik an der strukturalistischen Wissenschaft, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1993.

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»Theorieelemente der hier explizierten Art können untereinander auf vielfältige Weise zusammenhängen, ganze Theorienetze bilden, in denen Begriffe jeweils theorienrelativ als theoretisch oder empirisch interpretiert werden, in denen durch Reduzierung, Spezialisierung, Theoretisierung oder andere Operationen, neue Theorien aus bekannten entwickelt und thematische Gruppen gebildet werden.«346

Wählt man den Kritischen Rationalismus Poppers einmal mehr als komparatistischen Referenzpunkt, so vermögen Lakatos’ Methodologie der Forschungsprogramme mit ihren konstitutiven Elementen (harter Kern aus zusammenhängenden Theorien, Schutzgürtel mit Hilfshypothesen und positive Heuristik) respektive der wissenschaftliche Strukturalismus Sneeds und Stegmüllers mit seinen theoretischen und empirischen Strukturkomponenten zweifelsohne einen ›Erkenntnisfortschritt‹ zu erzielen. Unter rationalistischen Prämissen lassen sich durch Lakatos’ Konzentration auf Theoriereihen progressive Problemverschiebungen und ›Fortschritte‹ in der Wissenschaftsevolution auf kognitiver Ebene identifizieren und/oder als solche interpretieren, wohinter Poppers theoretische Konzeption zwangsläufig zurückstehen muss. Darüber hinaus vermag der Sneed-Stegmüller’sche Strukturalismus der traditionellen Wissenschaftstheorie und Logik eine ›Alternative‹ entgegenzuhalten, indem wissenschaftliche Theorien nicht mehr länger als syntaktische Aussagesysteme, sondern vielmehr als Begriffe expliziert werden. In epistemischer Konsequenz können wissenschaftliche Theorien als solche dadurch nicht einfach ›wahr‹ oder ›falsch‹ sein; ausschließlich theoretische Propositionen, das heißt: diejenigen Aussagen, welche durch die Adaption des zentralen theoretischen Prädikats entstehen, können durch die Wahrheitswerte ›wahr‹ oder ›falsch‹ bestimmt werden, und zwar in Abhängigkeit davon, inwieweit es sich bei der jeweiligen Applikation in der Tat um ein Element aus der Menge der (intendierten) Anwendungen des Strukturkerns handelt oder nicht.347 Des Weiteren bietet der wissenschaftliche Strukturalismus ein Explikationsmodell an, wie Theorieelemente miteinander interagieren und Thorienetze konstituieren, indem sie durch unterschiedlichste Operationen neue Theorien aus bereits gegebenen Theorien entwickeln. Durch die im Vergleich zu Popper höhere Komplexität in der Analyse von Dynamiken und Transformationen wissenschaftlicher Theorien lassen sich auf kognitiver

346 Gebhard Rusch: »Was sind eigentlich Theorien? Über Wirklichkeitsmaschinen in Alltag und Wissenschaft«, in: Theo Hug (Hg.): Wie kommt Wissenschaft zu Wissen?, Band 4. Einführung in die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, Baltmannsweiler: Schneider 2001, S. 93-116, hier S. 111 (Hervorhebung im Original). 347 Vgl. W. Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, Band 2 [Halbband 2] (wie Anm. 109), S. 137. Hier entspreche ich dem Verweis von G. Rusch: »Was sind eigentlich Theorien?« (wie Anm. 346), S. 110.

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und modelltheoretischer Ebene Aussagen darüber treffen, ob und gegebenenfalls wie Theoriekerne oder -elemente selegierend und/oder strukturbildend auf das Agieren von Wissenschaftlern und von Forschungsgruppen Einfluss nehmen. So produktiv sich sowohl Lakatos’ raffinierter Falsifikationismus als auch Sneeds und Stegmüllers wissenschaftlicher Strukturalismus auf der logisch-kognitiven Ebene von Theoriendynamik und Wissenschaftsentwicklung auch ausnehmen mögen, so wenig zeigen sie sich jedoch in der Lage, die darunter liegenden konkreten Praxen zu erfassen und zu erklären, die wissenschaftliches Wissen und wissenschaftliche Erkenntnisse zeitigen, eingedenk ihrer sozialen Prämissen, Kalküle, Formationen, Prozesse und Performanzen. Im Gegensatz zum Kritischen Rationalismus und zum Methodischen Konstruktivismus vertritt Thomas S. Kuhn einen deskriptiven Ansatz. Die Kuhn’sche Wissenschaftsphilosophie und -historiografie schafft das Fundament dafür, dass sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Entwicklung wissenschaftlichen Wissens und Sozialstrukturen wissenschaftlicher Gemeinschaften (Scientific Communities) konzeptuell miteinander in Beziehung gesetzt wurden. Die zuvor zumeist diskursiv geschiedenen wissenschaftstheoretischen und -soziologischen Bereiche kognitiver und sozialer Faktoren werden kombiniert. In der befassten Wissenschaftsforschung wurde gegen Kuhn polemisiert, seine Konzeption des revolutionären Paradigmenwechsels erweise sich gegenüber einem »(mikrosozialen) individuellen Rationalismus« lediglich als »(makrosoziale[r]) kollektive[r] Dogmatismus«,348 der keinerlei konzeptionelle Potenziale der Vermittlung zwischen Mikroskopie und Makroskopie wissenschaftlichen Handelns offeriere. Auch wenn man diese Spitze wider die Wissenschaftsphilosophie Kuhn’scher Provenienz nicht unbedingt teilen mag, so ist indes die Feststellung zu unterstreichen, dass genuin wissenschaftsimmanente Theorieansätze wie die Kuhns letztendlich zu begrenzt sind.349 Gemessen an der Problematik der Zuordnung von Mikro- und Makroebene wissenschaftlichen Handelns bietet auch der Kuhn’sche Ansatz – unbeschadet seiner Verdienste zur Erhellung der Zusammenhänge von Paradigma und Scientific Community – keine überzeugende Handhabe, um sozialen Interaktionen und externen Einflüssen im Forschungsprozess gerecht zu werden. Soziale Faktoren werden de facto auf Wissenschaftsimmanenz reduziert, externe Indikatoren sind durch sein wissenschaftsendogenes Prozedere nicht definiert. Im Kontrast zum Kuhn’schen Theorieansatz erfassen die – jenem zeitlich drei Dekaden vorausgegangenen – Fallstudien Flecks auch externe Einflussfaktoren der Wissenschaftsentwicklung. Außer den gemeinschafts348 W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 31), S. 21. 349 Vgl. ähnlich Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999, S. 28.

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bezogenen Spezifika der Forschung, was sich zuvorderst in den Thesen zu Denkkollektiv und -stil (einschließlich Denkstilergänzung, -entwicklung und -umwandlung) des Wissenschaftsprozesses manifestiert,350 weist Fleck ein zusätzliches Charakteristikum (am Beispiel der WassermannReaktion) nach, nämlich: die Determination von Wissenschaft und Forschung durch externe Faktoren als massives »soziales Geschehen« in der zeitgenössischen Gesellschaft.351 Durch sein Konzept des Denkkollektivs und des -stils zur Bestimmung sowohl wissenschaftsinterner als auch -externer Faktoren bietet Fleck durchaus wichtige Hinweise für eine Zuordnung zwischen mikro- und makroskopischer Ordnung wissenschaftlichen Handelns. Gemäß der in der vorliegenden Studie antizipierten Prämisse wird ›Wissen‹ ausschließlich gesellschaftsintern prozessiert; es gibt keine gesellschaftslose, sozialfreie Konstruktion von Wissen.352 Der Begriff ›Wissen‹ beschreibt das Ergebnis unmittelbarer und mittelbarer struktureller Kopplungen im Gesellschaftssystem: In Rekursionsvorgängen der Verdichtung und Verfestigung von Wissen in Bezug auf Wissen hat Wissen entweder gegenüber permanenten Irritationen Bestand oder es wird »lernend« weiterentwickelt.353 Die Theorie selbstorganisierender Systeme offeriert ein zureichend explikatorisches Potenzial, um die soziale Konstruktion wissenschaftlicher Erkenntnis zu konzeptualisieren.354 Selbstredend erweist sich eine konstruktivistische Sozialtheorie ihrerseits als Konstruktion, mithin kann man mit dem Soziologen Peter M. Hejl von einer Konstruktion der sozialen Konstruktion sprechen,355 und dies in einem wenigstens dreifachen Sinne: • Eine konstruktivistisch basierte Sozialtheorie bricht weithin mit den ›klassischen‹ Vorstellungen und Überzeugungen von ›Objektivität‹. 350 Vgl. L. Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (wie Anm. 114), S. 54-55, 122, 130. 351 Vgl. ebd., S. 102 (Hervorhebung im Original): »Einem individuellerkenntnistheoretischen Standpunkte bleibt unser Problem [wissenschaftstheoretische und -soziologische Erklärung der Wassermann-Reaktion; C. F.] unlösbar. Will man eine Entdeckung als solche untersuchbar machen, so muß man sich auf den sozialen Standpunkt stellen: d. h. sie als soziales Geschehen betrachten.« 352 Dieser Befund lässt sich sowohl aus soziologischer als auch aus psychologischer Sicht begründen. Vgl. beispielsweise S. Maasen: Wissenssoziologie (wie Anm. 10) sowie Heinz Mandl/Hans Spada (Hg.): Wissenspsychologie, München/Weinheim: Psychologie-Verlags-Union 1988. 353 Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 7), S. 166. 354 Vgl. W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 31), S. 21. 355 Vgl. Peter M. Hejl: »Konstruktion der sozialen Konstruktion. Grundlinien einer konstruktivistischen Sozialtheorie«, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 303-339.

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• Bedingt durch den Umstand, dass sich unter epistemologischen Vorzeichen keine Realitätskonstruktion von einer anderen unterscheidet, ist eine konstruktivistische Sozialtheorie angehalten, ihren eigenen ›Objektbereich‹ in letzter Konsequenz als einen Vorgang zu modellieren, in dem Individuen ihre Wirklichkeiten hervorbringen und zugleich damit Potenziale viablen Agierens und Kommunizierens356 erzeugen. • Aus dem Befund, dass der Konstrukteur einer Theorie, sozusagen in actu, in den gleichen Prozess integriert ist wie diejenigen Individuen, die seinen Objektbereich bilden, obliegt es einer konstruktivistischen Sozialtheorie, sich schlussendlich in ihrem eigenen ›Gegenstandsbereich‹ – in einem weit gefassten Verständnis – als inbegriffen vorzustellen.357 Was im Allgemeinen für die Konstruktion der ›sozialen Konstruktion‹358 aus Sicht einer konstruktivistischen Sozialtheorie gilt, trifft mutatis mutandis im Besonderen auf die Konstruktion der sozialen Konstruktion wissenschaftlicher Erkenntnis zu. Der Aspekt soziale Konstruktion wissenschaftlichen Wissens markiert, wie vorstehend schon erörtert, eines der drei prominentesten Untersuchungsgebiete der aktuellen Wissenschaftsforschung.359 Mittels mikrosoziologischer Analysen in den Handlungskontexten der Wissensproduktion wird die soziale Generierung wissenschaftlicher Erkenntnisse ausgewertet. Ein wesentliches Augenmerk richtet sich darauf, auf welche Art und Weise inner- und außerhalb der Forschungsstätte wissenschaftliche ›Tatsachen‹ konstruiert, fabriziert werden und welche Funktionen der Wissenschaftlerinteraktion zu identifizieren sind. Wenn von sozialer Konstruktion wissenschaftlicher Erkenntnis die Rede

356 Zur ›Viabilität‹ führt Ernst von Glasersfeld: Wissen, Sprache und Wirklichkeit. Arbeiten zum radikalen Konstruktivismus, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1987, S. 184, aus: »Die Einführung des Begriffs der Viabilität in das Evolutionsmodell stellt die Tatsache heraus, daß Veränderung in der Evolution und Wandel in der Geschichte des Wissens dem gleichen Prinzip unterworfen sind: In beiden Fällen ist Überleben nichts weiter als das Ergebnis einer Überwindung einschränkender Bedingungen, einmal der Umwelt, zum anderen der Erfahrung oder von Experimenten.« 357 Vgl. P. M. Hejl: »Konstruktion der sozialen Konstruktion« (wie Anm. 355), S. 303-304. 358 Es ist nicht zu negieren, dass der Begriff der ›sozialen Konstruktion‹ – vor allem während der Hochzeit des konstruktivistischen Diskurses in den 1990er Jahren – nicht selten zu einer reinen »Kampfvokabel« degenerierte. Hier vertrete ich eine dezidiert konstruktivistisch-systemische Sozial- und Gesellschaftstheorie und distanziere mich mit Nachdruck von inflationären Affirmationen ›sozialer Konstruktion‹. Vgl. dazu die kritischen Einlassungen von Ian Hacking: Was ist ›soziale Konstruktion‹? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften, Frankfurt am Main: Fischer 1999, S. 11-60. 359 Vgl. auch U. Felt/H. Nowotny/K. Taschwer: Wissenschaftsforschung (wie Anm. 74), S. 20-21.

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ist, sind neben empirischen Experimentalbeobachtungen360 zuallererst die Laborstudien361 und die Actor-Network-Theory362 anzuführen. Insbesondere durch eine breite Rezeption Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen363 und die sie initiierende Neuausrichtung der wissenschaftsreflexiven Disziplinen gelangte technisch-wissenschaftliches Forschungshandeln stärker in den Fokus der wissenschaftssoziologischen Analyse.364 Vor dem Hintergrund eines gewandelten Erkenntnisinteresses wurden die bisherigen Forschungspraktiken zumindest in Teilen der wissenschaftsreflexiven Disziplinen – insbesondere in der empirischen Wissenschaftssoziologie – als defizitär empfunden. Dadurch, dass sich die Forschung bis dato en gros denjenigen Problemorientierungen verschrieben hatte, die sich auf wissenschaftliches Wissen und wissenschaftliche Erkenntnisse in bereits institutionalisierten, mithin kodifizierten Kommunikationsstrukturen, Interaktionsprozessen sowie Endprodukten der Wissenschaft (wissenschaftliche Publikationen) konzentrierten, wuchs das Bestreben, die Wissensproduktion dort zu untersuchen, wo neues Wissen entsteht.365 Da schlug die Stunde der so genannten ›Laborstudien‹, mitunter spricht man auch von Science in Action.366 In den 1970er Jahren beobachteten und beschrieben erstmals ethnomethodologisch367 geschulte 360 Vgl. zum Beispiel Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen: Wallstein 2001. 361 Vgl. insbesondere B. Latour: Science in Action (wie Anm. 273) und B. Latour/S. Woolgar: Laboratory Life (wie Anm. 273). 362 Vgl. beispielsweise Michel Callon: »Some Elements of a Sociology of Translation. Domestication of the Scallops and the Fishermen of St. Brieuc Bay«, in: John Law (Hg.): Power, Action and Belief. A New Sociology of Knowledge?, London u. a.: Routledge 1986, S. 196-233, elektronisch verfügbar unter: (letzte Änderung: undatiert; letzter Zugriff: 12.01.2008) und Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. Einen guten Überblick gewährt der Reader von Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: transcript 2006. 363 Vgl. T. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (wie Anm. 66), S. 15-24. 364 Vgl. Karin Knorr-Cetina: »Laborstudien. Der kultursoziologische Ansatz in der Wissenschaftsforschung«, in: Renate Martisen (Hg.): Das Auge der Wissenschaft. Zur Emergenz von Realität, Baden-Baden: Nomos 1995, S. 101-135, hier S. 101-102. 365 Vgl. P. Weingart: Wissenschaftssoziologie (wie Anm. 135), S. 67. 366 Vgl. B. Latour: Science in Action (wie Anm. 273). 367 Es ist insbesondere dem genuinen Movens der Ethnomethodologie zu verdanken – allen voran Harold Garfinkel –, dass sich das erkenntnis- beziehungsweise forschungsleitende Interesse auf gesellschaftliche Handlungsformationen und -strukturen respektive Wissensformationen und -strukturen im Alltag fokussiert. Vgl. einschlägig Harold Garfinkel: Studies in Ethnomethodology, Cambridge: Polity Press 1999.

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Wissenschaftssoziologen die wissenschaftlichen Arbeitsprozesse in Forschungsinstituten in der Absicht, durch mikrosoziologische Untersuchungen Aufschlüsse über die (soziale) Konstruktion und Fabrikation naturwissenschaftlicher Tatsachen in Laboratorien zu erhalten.368 Der wissenschafts- und kultursoziologische Ansatz der Laborstudien, mitunter kursiert auch der Terminus ›ethnomethodologischer Konstruktivismus‹,369 fokussiert sich auf diejenigen wissenschaftlichen Institutionen, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund der Entwicklung technischer Apparate und Instrumente sukzessive zum Zentrum der naturwissenschaftlichen Forschung370 avancierten. Die Redelegation der naturwissenschaftlichen Forschung in das Laboratorium evozierte einen neuen epistemologischen Standard: »Das Labor ist eine ›optimierte‹ Umwelt, die es ermöglicht, die Naturgegebenheiten mit der Sozialordnung kompatibler zu machen.«371 Das reduktionistische Prozedere, die Abstraktion raum-zeitlicher Determinanten und die Manipulation von Gegenständen im Laborsetting nahmen sich beim Studium der Naturgesetzlichkeiten als ausgesprochen erfolgreich aus.372 Der epistemische Triumph laborbasierter Forschung in der Entdeckung neuer Naturgesetze war und ist einzig und allein aufgrund einer konsequenten Separierung von ›Natur‹ und ›Gesellschaft‹ möglich, was nicht zuletzt die »gesellschaftliche Folgenlosigkeit des Experimentierens«373 gewährleistet. Der insbesondere ethnomethodologisch, anthropologisch und kultursoziologisch begründete Ansatz der Laborstudien adaptiert die mikrosoziologische Untersuchungsmethode der teilnehmenden Beobachtung.374 Seit den 1970er beziehungsweise 1980er Jahren, während

368 Vgl. K. Knorr-Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis (wie Anm. 273), S. 17-62 und K. Knorr-Cetina: Wissenschaftskulturen (wie Anm. 273), S. 4573. 369 Vgl. beispielsweise W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 31), S. 21. 370 Vgl. auch Rudolf Stichweh: Wissenschaft, Universität, Profession. Soziologische Analysen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 99-132, vor allem S. 101-110, 112-117. 371 K. Knorr-Cetina: »Laborstudien« (wie Anm. 364), S. 105-106. Zu entsprechenden Beispielen vgl. K. Knorr-Cetina: Wissenschaftskulturen (wie Anm. 273), S. 45-73. 372 Vgl. P. Weingart: Wissenschaftssoziologie (wie Anm. 135), S. 68. 373 Ebd. 374 In seinem Lehrbuch annotiert Siegfried Lamnek: Qualitative Sozialforschung, Band 2. Methoden und Techniken, Weinheim: Beltz, PsychologieVerlags-Union 1995, S. 240 (Hervorhebung im Original): »Das maßgebliche Kennzeichen der teilnehmenden Beobachtung ist der Einsatz in der natürlichen Lebenswelt der Untersuchungspersonen. Der Sozialforscher nimmt am Alltagsleben der ihn interessierenden Personen und Gruppen teil und versucht durch genaue Beobachtung, etwa deren Interaktionsmuster und Wertvorstellungen zu explorieren und für die wissenschaftliche Auswertung zu dokumentieren.«

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dieser Zeit erfuhr diese Richtung der Wissenschaftsforschung ihrerseits eine Reihe von Mutationen, wurden verschiedene Faktoren, Selektionen und Effekte der sozialen Konstruktion und Fabrikation wissenschaftlichen Wissens identifiziert und analysiert. Es ist der anthropologisch-ethnomethodologischen Konfundierung der wissenschafts- beziehungsweise kultursoziologischen Laborstudien geschuldet, dass in entsprechenden Forschungsdesigns ein möglichst ›theoriefreier‹ oder ›-ferner‹, von zuvor getroffenen kategorialen Unterscheidungen unbeeinträchtigter Zugriff375 auf alle als ›relevant‹ erachteten Phänomene und Entitäten operationalisiert wird.376 Bedingt durch diese Perspektivierung auf Mechanismen und Effekte, Prozesse und Selektionen der Wissenschaftsproduktion und -fabrikation kommt den Laborstudien ohne Zweifel in mikroskopischer beziehungsweise -soziologischer Dimension ein großes Verdienst in der Wissenschaftsforschung der vergangenen 30 Jahre zu. Allerdings erweisen sich laborbasierte Forschungsprozesse in der sozialwissenschaftlichen Analyse als äußerst undeterminiert, ihre Gegenstände sind hochgradig entscheidungsgeladen, kontextuell kontingent und regional strukturiert anstatt standardisiert und universell kodifiziert.377 Das Problem der Laborstudien besteht darin, dass die durch den mikrosoziologischen Ansatz im Mittelpunkt situierte Singularität des im Labor generierten und fabrizierten Wissens post festum durch weitere Konstruktionsschritte zu Wissen mit universaler Akzeptanz legitimiert werden muss.378 Doch hier verlässt der mikroskopische Ansatz der Laborstudien sein ureigenes Terrain und muss zu meso- und makroskopischen Theorie- und Methodenkomponenten Zuflucht nehmen, wodurch die Vertreter dieser Richtung der Wissenschaftsforschung Gefahr laufen, die nicht zu leugnenden Stärken ihres Ansatzes (in entsprechenden Grenzwerten) argumentativ zu konterkarieren. Das spezifische Explikationspotenzial der Laborstudien findet dort seine Grenzen, wo die mikrosoziologischen Perspektiven der (sozialen) Konstruktion und Kommunikation innerhalb eines Laboratoriums bewusst oder unbewusst überschritten werden. Offenkundig vermag dieser Ansatz, 375 Auch wenn ›Theoriefreiheit‹ (oder ›-ferne‹) in den Laborstudien postuliert wird, zeitigen die – bewusst oder unbewusst – vorausgesetzten und angenommen Implikationen Folgen und Konsequenzen. Dieser Zusammenhängen kann man sich schlechterdings nicht entledigen. Man kann den Beobachterstandpunkt, zumal aus Sicht einer deontologisierten, detranszendentalisierten Epistemologie, nicht undifferenziert und unmarkiert lassen. Vgl. auch Niklas Luhmann: Erkennen als Konstruktion, Bern: Benteli 1988, S. 13-17, 21-24 und Niklas Luhmann: »Wie lassen sich latente Strukturen beobachten?«, in: Paul Watzlawick/Peter Krieg (Hg.): Das Auge des Betrachters. Beiträge zum Konstruktivismus, München/Zürich: Piper 1991, S. 61-74. 376 Vgl. P. Weingart: Wissenschaftssoziologie (wie Anm. 135), S. 69. 377 Vgl. ebd. 378 Vgl. ebd., S. 69-70.

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effektive externe Faktoren und Mechanismen der (sozialen) (Re-)Produktion wissenschaftlichen Wissens kategorial nicht wirklich zu erfassen oder zu erklären. Aus diesem Grunde sehen sich die Laborstudien immer wieder mit dem Vorwurf einer internalistischen Orientierung konfrontiert,379 womit eine eigentümliche Diffizilität in der Explikation der Wissens- und Erkenntnisproduktion einhergeht. Dieser grundsätzlichen Kritik versucht beispielsweise die Soziologin Karin Knorr-Cetina mit ihrem Konzept der »›trans‹-epistemischen Forschungsarena« respektive des »›trans‹-wissenschaftlichen Feldes« strategisch zu begegnen.380 Der Ansatz der »›trans‹-epistemischen Forschungsarena« oder des »›trans‹wissenschaftlichen Feldes« vermochte zwar, keine unbekannten Zusammenhänge aufzudecken, innovativ war aber zumindest die Erkenntnis, dass die Einflüsse allgemeiner Voraussetzungen bis in die Mikrostruktur wissenschaftlichen Alltagshandelns in Forschungslaboratorien nachgewiesen werden konnten.381 In der Actor-Network-Theory382 wurde der Bourdieu’sche Ansatz des »wissenschaftlichen Feldes«383 – vor allem im Kontext der korrelativen Transformativität symbolischen und materiellen Kapitals –384 von den französischen Wissenschaftssoziologen Michel Callon385 und Bruno La379 Vgl. unter anderem U. Felt/H. Nowotny/K. Taschwer: Wissenschaftsforschung (wie Anm. 74), S. 139-140 und P. Weingart: Wissenschaftssoziologie (wie Anm. 135), S. 70. 380 Vgl. K. Knorr-Cetina: »Laborstudien« (wie Anm. 364), S. 115. 381 Vgl. P. Weingart: Wissenschaftssoziologie (wie Anm. 135), S. 70-71. 382 Vgl. zu den konzeptuellen Grundlagen Ingo Schulz-Schaeffer: »AkteurNetzwerk-Theorie. Zur Koevolution von Gesellschaft, Natur und Technik«, in: Johannes Weyer (Hg.): Soziale Netzwerke. Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung, München/Wien: Oldenbourg 2000, S. 187-209, hier S. 194-201. 383 Vgl. auch Pierre Bourdieu: Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1998, S. 28: »Je heteronomer also ein Feld, desto unvollständiger ist dort der Wettbewerb und desto leichter fällt es den Akteuren, äußere Mächte in die wissenschaftlichen Kämpfe einzuschleusen. Je autonomer umgekehrt ein Feld ist, je näher also an einem reinen und vollständigen Wettbewerb, desto eher ist dort die Zensur eine rein wissenschaftliche, die rein gesellschaftliche Eingriffe (amtliche Verfügungen, sanktionierte Karrieren usw.) ausschließt. Soziale Zwänge nehmen hier immer mehr die Form logischer Zwänge an und umgekehrt: um sich Geltung zu verschaffen, muß man Gründe geltend machen, um den Sieg davonzutragen, müssen Beweise und Gegenbeweise triumphieren.« 384 Vgl. allgemein Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 143-150, 193-195, passim und mit Blick auf Wissenschaft Pierre Bourdieu: Homo academicus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 27, 45, 57, 93-98, 100, 106, 116, 132-134, 142, 146, 151-153, 210, 240. 385 Vgl. M. Callon: »Some Elements of a Sociology of Translation« (wie Anm. 362), S. 197, 201, 203, 205-206, 211-213, 219.

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tour386 weiterentwickelt. In der Forschungsliteratur wird annotiert, dass es sich bei diesem Ansatz mitnichten im engen Wortsinne um eine neue theoretische Konzeptualisierung handelt, viel eher um eine Paradigmatisierung, eine Re-Konstellierung bereits vorherrschender Akteur/Objekt-Relationen,387 die unter dem Aspekt einer ›symmetrischen Anthropologie‹ neu arrangiert werden.388 Als Akteure fungieren hier: »alle Entitäten [sic! – dies schließt ›Subjekte‹ und ›Objekte‹ ein; C. F.], denen es mehr oder weniger erfolgreich gelingt, eine Welt voller anderer Entitäten mit eigener Geschichte, Identität und Wechselbeziehungen zu definieren und aufzubauen«389. Die konstitutiven Definitionen und Differenzierungen von ›sozialen Akteuren‹ und ›natürlichen Objekten‹ beziehungsweise ›Geist‹, ›Natur‹, ›Materie‹ und ›Gesellschaft‹, welche die disziplinären Grundlagen der akademischen Fächerstrukturen ausmachen, werden durch die Actor-Network-Theory radikal in Zweifel gezogen: »Für die Wissenschaftsforschung hat es keinen Sinn, unabhängig voneinander über Epistemologie, Ontologie, Psychologie und Politik zu sprechen – ganz zu schweigen von Theologie, kurz gesagt: ›dort draußen‹ oder die Natur; ›dort drinnen‹ oder der Geist; ›dort unten‹ oder die Gesellschaft; ›dort oben‹ oder Gott. Wir sehen diese Bereiche nicht als voneinander getrennt an, vielmehr gehören sie alle zur selben Übereinkunft, einer Übereinkunft, die durch mehrere Alternativen ersetzt werden kann.«390

Um hinter die bereits kaum mehr hinterfragten vorherrschenden Differenzierungen und Attribuierungen im Diskurskontext der Produktion wissenschaftlich-technischen Wissens zurückzugehen, werden soziale und nichtsoziale Akteure, materiale und natürliche Objekte in symmetrischen Konstellationen391 miteinander in Relation gesetzt. Alle Entitäten, einschließlich materielle Objekte, geografisch-topografische Bedingungen, technische Artefakte, Organismen usf., werden als ›Akteure‹ begriffen, die sich entweder als kooperativ oder als kontraproduktiv bei der Formulierung und Realisierung bestimmter Erkenntnisziele herausstellen und die das 386 Vgl. B. Latour: Die Hoffnung der Pandora (wie Anm. 362), S. 7-35, 211264. 387 Vgl. dazu Johannes Weyer (Hg.): Soziale Netzwerke. Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung, München/Wien: Oldenbourg 2000. 388 Vgl. P. Weingart: Wissenschaftssoziologie (wie Anm. 135), S. 71. 389 Michel Callon: »Techno-Economic Networks and Irreversibility«, in: John Law (Hg.): A Sociology of Monsters. Essays on Power, Technology and Domination, London u. a.: Routledge 1991, S. 132-161, hier S. 140; zitiert nach der deutschen Übersetzung der These von I. Schulz-Schaeffer: »Akteur-Netzwerk-Theorie« (wie Anm. 382), S. 189. 390 B. Latour: Die Hoffnung der Pandora (wie Anm. 362), S. 23. 391 Als ein bekanntes Exempel für dieses Denken vgl. Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt am Main/New York: Campus 1995, S. 33-72.

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darauf fokussierte Handeln von Forschern beeinflussen (können).392 Der Durchbruch von Wissenschaftlern, Wissen zu generieren und eben für dieses soziale Akzeptanz einzufordern, ist schlechterdings nicht durch ›Wahrheitskriterien‹ und deren Erfüllung zu explizieren und zu legitimieren, sondern durch clevere Manipulationen korrespondierender Netzwerke mit heteronomen Elementen (im oben beschriebenen Verständnis), um sich deren Support bei der Erreichung eigener Ziele zu vergewissern.393 Allein unter der Prämisse, dass sich das Netzwerk stabilisiert, verschafft sich das postulierte Wissen (Hypothese, Theorie etc.) soziale Geltung.394 Zentrales Moment der Actor-Network-Theory sind ›Übersetzungen‹, der Transfer von zuerst voneinander isoliert bestehenden Bestandteilen in den interessenbasierten Kontext eines relevanten Netzwerks, eines »Kollektivs«, mithin eines gemeinsamen strategischen Kalküls zum jeweils eigenen Vorteil.395 Aus nahe liegenden Gründen erweist sich die Actor-Network-Theory als ein wenig anschlussfähiges Programm in der kurrenten sozialwissenschaftlichen Forschungslogik.396 Aus Sicht der Theorie selbstorganisierender Systeme ist sowohl gegen den mikrosoziologischen Ansatz der Laborstudien wie auch gegen die Actor-Network-Theory einzuwenden: »Nur das System [die Wissenschaft; C. F.] vermag zu entscheiden, welches soziale Verhalten als rational zu bewerten ist. Den Schlüssel für die Modellierung der sozialen Konstruktion wissenschaftlichen Wissens bietet die Selbstreferenz des Wissenschaftssystems, also der Tatbestand, daß nicht nur Erkenntnisse erzeugt werden, sondern auch die Erzeugung der Erkenntnisse thematisiert wird, also Erkenntnis (Tatsache) und Erkenntnismittel (Konstruktion) Gegenstand der sozialen Interaktion sind. Methodisch bedeutet diese epistemische Selbstfaltung des Wissenschaftssystems wiederum den Ausschluß von modellhaften Annahmen über die Geltungskriterien wissenschaftlicher Erkenntnisse.«397

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Vgl. P. Weingart: Wissenschaftssoziologie (wie Anm. 135), S. 72. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. mit Beispielen B. Latour: Die Hoffnung der Pandora (wie Anm. 362), S. 211-264. 396 Zur Kritik vgl. auch I. Schulz-Schaeffer: »Akteur-Netzwerk-Theorie« (wie Anm. 382), S. 202-207. 397 W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 31), S. 21 (Hervorhebung; C. F.).

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Reflexionsmechanismen d e s W i s s e n s c h a f t s s ys t e m s »Alles was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt.«398 So lautet das Intro Humberto R. Maturanas zur Charakterisierung des nicht hintergehbaren Beobachterstandpunktes. Das soziale Konstruieren von Realität vollzieht sich im Beobachten von Beobachtungen und – wenn es auf Textund/oder Medienkommunikaten basiert –399 im Beschreiben von Beschreibungen.400 Die Prozesse des (Selbst-)Beobachtens und des (Selbst-)Beschreibens sind maßgeblich als kommunikative Vorgänge zu verstehen. Obgleich sich im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung rekursive und rekurrente Schemata des Beobachtens und des Beschreibens formieren, resultiert aus diesem Umstand keine privilegierte Durchsicht oder kein optimierter Zugriff auf zuverlässiges und gesichertes Wissen. Daran bricht sich auch die ›klassische‹ (Selbst-)Beobachtung und (Selbst-)Beschreibung der Wissenschaftsdisziplin Logik: Die (Selbst-)Beobachtung und die (Selbst-)Beschreibung von ›Wissen‹ und ›Wissenschaft‹ scheinen zwar aus Sicht der traditionellen Logik – in der Metaphorik einer ›aufsteigenden‹ Erkenntnisbewegung – auf einem ›höheren‹ Level stattzufinden, so Luhmann, jedoch erfolgt dies schlechterdings nicht von einer epistemologisch prädestinierten oder gar elitären Warte aus.401 Bei den angesprochenen Operationen handelt es sich einmal mehr um ein differenzierendes Markieren,402 das bedeutet: ein Unterscheiden und 398 H. R. Maturana: Erkennen (wie Anm. 33), S. 34. 399 Vgl. zum Begriff des ›[Kommunikations-]Kommunikats‹ Siegfried J. Schmidt: Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft, Band 1. Der gesellschaftliche Handlungsbereich Literatur, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1980, S. 55 (im Original komplett hervorgehoben): »KK ist ein Kommunikat für einen Kommunikationsteilnehmer K in einer Kommunikationssituation KSit genau dann, wenn K mit einer Kommunikatbasis KB, die ihm in KSit wahrnehmbar und dekodierbar präsentiert wird, Kommunikationshandlungen durchführen kann, oder K eine KB produziert, um dadurch mit anderen Kommunikationsteilnehmern Kommunikationshandlungen durchzuführen.« 400 Vgl. hierzu und nachstehend N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 7), S. 110-111. 401 Bereits weiter oben habe ich die epistemologische und operative Problematik des theoretischen Standpunktes Luhmanns hervorgehoben. Der Architekt Ranulph Glanville: »Distinguierte und exakte Lügen«, in: Ranulph Glanville: Objekte, Berlin: Merve 1988, S. 175-194, hier S. 191-192, bringt die entscheidende Kritik wie folgt auf den Punkt: »So ist, was wir wissen, eine persönliche Konstruktion, und wenn wir es erklären, sei es verbal oder nicht verbal, müssen wir es dem Hörer zuspielen und ihm etwas präsentieren, was nicht unser Wissen ist, sondern ein blasses Abbild davon, das auf die Re-Konstruktion durch den Zuhörer angewiesen ist. Als Zuhörer […] müssen wir Verantwortung für unser eigenes Wissen übernehmen.« 402 Vgl. dazu und zu diesem Absatz N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 7), S. 110-111.

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Bezeichnen und dies wiederum in einer radikalen Verzeitlichung der Beobachtung und Beschreibung als eine je situierte, je aktualisierte Operation, mithin in actu.403 In jedem Falle erweist es sich als einen dezidiert empirischen und stets qua Systemreferenz strukturdeterminierten Umstand, der selbstredend auch wieder selbst beobachtet und beschrieben werden kann. Es ist dann lediglich eine Frage der Beobachtung erster, zweiter oder dritter Ordnung. Es liegt in der Autologie und Selbstreferenzialität der Beobachtung und Beschreibung begründet, dass sämtliche Folgen und Schlüsse, die man aus diesem Ausgangspunkt zu ziehen hat, sich rekursiv und rekurrent im Beobachten von Beobachtungen beziehungsweise im Beschreiben von Beschreibungen je für sich nicht nur potenzialisieren, sondern auch aktualisieren. Eine zentrale Conclusio404 aus der Luhmann’schen Konzeptualisierung des operativen Konstruktivismus und der funktional strukturellen Systemtheorie besteht hinsichtlich der Verschiebung der Kernproblematik von ›wissenschaftlicher Erkenntnis‹ und ›wissenschaftlichem Wissen‹ aus der Sach- und Sozial- in die Zeitdimension, mithin eine prononcierte Temporalisierung der Beobachtungs- und Beschreibungsoperationen. Jener Befund lässt sich auch hinsichtlich des Informationsbegriffs anplausibilisieren: »Information ist ein Zerfallsprodukt. Sie verschwindet, wenn sie aktualisiert wird.«405 Die Unterscheidung und die Bezeichnung von Erkenntnis und Wissen sowie in Folge dessen ebenso die Unterscheidung und Bezeichnung von ›Wahrheit‹ konstituieren sich immer in einer aktuellen oder durch eine aktuelle Operation: dadurch dass sie vollzogen wird, ist sie schon nicht mehr gegeben – mithin ist Erkenntnis und Wissen immer zeitbedürfend und -bezogen.406 Auch wenn sich Wissen »verobjektiviert«407 ausnehmen mag, so muss es als solches stets aufs Neue reaktiviert werden; soll heißen: es, das Wissens, kann mitnichten als zeitlich permanent präsent angesehen werden, vielmehr ist es erst als Resultat eines voraussetzungsreichen Prozesses präsent, etwa in Form von »Erfahrungen« als aktualisierte Wissensbestände oder -erwartungen in Sonderhorizonten der Gegenwart und/oder der Zukunft.408 403 Vgl. zur Performativität des Unterscheidens und Bezeichnens unter anderem Uwe Wirth: »Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität«, in: Uwe Wirth (Hg.): Performanz zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 9-61, hier S. 10-17 sowie Nils Werber: »Vor dem Vertrag. Probleme des Performanzbegriffs aus systemtheoretischer Sicht«, in: Uwe Wirth (Hg.): Performanz zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 366-382, hier S. 378-382. 404 Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 7), S. 129. 405 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (wie Anm. 3), S. 1090. 406 Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 7), S. 129. 407 Ebd. 408 Vgl. ebd. An dieser Stelle liegt natürlich die Parallele zur Theorie der Zeithorizonte aus dem »Elften Buch« von Aurelius Augustinus: Bekenntnisse,

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Auch wenn man die Leithypothese formuliert, dass sich im Zuge der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft ein spezifisches Sozialsystem Wissenschaft konstituiert, mutieren jene elementaren Mechanismen der Verdichtung und Verfestigung von Wissen in Bezug auf Wissen nicht.409 Obgleich unter einfacheren gesellschaftlichen Prämissen (im Sinne des Komplexitätsbegriffes gesellschaftlicher Differenzierungsformen) oder auch in alltäglichen Situationen kaum mehr die Unterscheidung ›Wissen‹ und ›Wahrheit‹ en vogue ist – man weiß in der Regel, was als ›wahres Wissen‹ gilt –, so wird die Indifferenz von ›Wissen‹ und ›Wahrheit‹ durch die Norm der Wahrhaftigkeit konserviert, die sich als solche erst relativ spät in der Gesellschaftsevolution ausgebildet hat:410 »Mit Wahrheit wird rekursiv (unter Rückgriff auf vorherige Operationen) ein Geprüftsein des Wissens symbolisiert, das anerkannten Anforderungen genügt und die Einstellung der ›Wahrhaftigkeit‹ ersetzt.«411 In evolutiver Drift basiert die Genese einer solchen Symbolik wohl, wie zahlreiche Gesellschafts- und Zivilisationstheorien proklamieren, maßgeblich auf der Erfindung und Verbreitung literaler, skriptografischer, typografischer sowie elektronischer Informationsverarbeitungssysteme.412 In der selbstreflexiven Beobachtung und Beschreibung von Wissenschaft bietet eine konstruktivistisch-differenztheoretisch versierte Wissenschaftstheorie und -forschung nach Luhmann eine Alternative zur ›klassischen‹ Epistemologie und Reflexionstheorie. Aus den differenztheoretischen Prämissen folgt, dass die Differenz von ›Erkenntnis‹ und ›Gegenstand‹ im operativen Vollzug der Unterscheidung nicht ihrerseits beobachtet werden kann.413 Die Unterscheidung stößt auf ihren eigenen blinden

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413

München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988, S. 318, auf der Hand: »Vielleicht sollte man richtiger sagen: es gibt drei Zeiten, Gegenwart des Vergangenen, Gegenwart des Gegenwärtigen und Gegenwart des Zukünftigen. […] Gegenwart des Vergangenen ist die Erinnerung, Gegenwart des Gegenwärtigen die Anschauung, Gegenwart des Zukünftigen ist die Erwartung.« Vgl. auch N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 7), S. 166. Vgl. ebd., S. 167. Ebd. Vgl. hierzu insbesondere Eric A. Havelock: Als die Muse schreiben lernte. Eine Medientheorie, Berlin: Wagenbach 2007, S. 100-121; Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen: Westdeutscher Verlag 1987, S. 81-117, 118-137; Jack Goody/Ian Watt: »Konsequenzen der Literalität«, in: Jack Goody/Ian Watt/Kathleen Gough: Entstehung und Folgen der Schriftkultur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 63-122; Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 665-680 sowie N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 7), S. 154-156, 167-168, 178-180, 241, 597-602, 655-659. Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 7), S. 519-520.

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Flecken,414 oder um es mit dem Altkonstruktivisten Heinz von Foerster zu sagen: »Wir sehen nicht, daß wir nicht sehen.«415 In konstruktivistischer Perspektive wird die Unterscheidung ›Erkenntnis‹/›Gegenstand‹ durch den Kode ›wahr‹/›unwahr‹ substituiert. Der Kode wahr/unwahr reguliert alle wissenschaftlichen Operationen im funktional ausdifferenzierten System der Wissenschaft. Freilich kann sich die Unterscheidung wahr/unwahr nicht ihrerseits beobachten; eine Selbstanwendung der Unterscheidung ist operativ nicht möglich, was wiederum für einen Beobachter Paradoxien und Tautologien schafft.416 Schlechterdings lässt sich ohne Unterscheidung überhaupt keine Beobachtung vornehmen; ohne die Unterscheidung des Kodes wahr/unwahr kann keine wissenschaftliche Beobachtung gemacht werden. Die Einheit jener Unterscheidung lässt sich lediglich als Paradox oder mittels einer anderen Letztunterscheidung beobachten. Der Reflexionstheorie obliegt es zu klären, welche »Formen der Entparadoxierung«417 offeriert werden können mit Blick darauf, dass und wie das Wissenschaftssystem de facto operiert.418 Der Luhmann’sche Standpunkt zur (Selbst-)Beobachtung und (Selbst-) Beschreibung von Wissenschaft lässt sich in dem Zitat zusammenfassen: »Reflexion ist nur als Selbstbeobachtung in Systemen möglich […]. Sie [die Reflexion; C. F.] kann für sich selbst als Erkenntnis gelten, wenn sie in einer Weise unterscheidet und bezeichnet, die den im System jeweils geltenden Ansprüchen genügt. Für einen Beobachter der Reflexion ist sie aber vor allem ein dynamisches Moment: eine Beobachtung des Systems im System, die sich ihrerseits der Beobachtung aussetzt und darauf bezogene Reaktionen auslösen kann. Eine Stabilitätsgarantie liegt unter diesen Umständen nicht in einer fixierbaren Identität und erst recht nicht in a priori geltenden Prinzipien, sondern allein in der Autopoiesis des Systems: in der rekursiven Anschlußfähigkeit des Beobachtens von Beobachtungen.«419

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Vgl. ebd., S. 520. H. von Foerster: Sicht und Einsicht (wie Anm. 302), S. 26. Vgl. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 7), S. 520. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 544 (Hervorhebung; C. F.)

3 Wiss e nsc ha ftsforsc hung der Medienw issenschaft »Denn hier treffen die Auslagerungen der alten und

erprobten Philologien, der kunst- und geschichtswissenschaftlichen Disziplinen, mit Nachrichtentechnik, Publizistik, Ökonomie, kommunikationswissenschaftlichen und wissenshistorischen Fragen in einem unbestimmten Mischungsverhältnis aufeinander und machen nur deutlich, daß ein gemeinsamer Ort ungewiß und ein[.] gemeinsamer Gegenstand wenigstens problematisch ist. So sehr also eine Frage nach der Funktionsweise, Wirkung und Geschichte von Medien über verschiedene Disziplinen hinweg insistiert, so wenig wird sich deren Beantwortung [...] auf die gesicherte und kanonisierte Einheit eines Fach- und Sachgebiets verlassen können.«1 – Lorenz Engell und Joseph Vogl

Ak t u a l i t ä t , R e l e v a n z u n d R e s o n a n z der Wissenschaftsforschung »Sobald […] in den Philologien die Wissenschaft selbst zum Gegenstand wird, scheiden sich die Geister. Die einen sehen darin die Aktion einer dauerhaft notwendigen Selbstreflexion zur Selbstbestimmung und Weiterentwicklung der Disziplinen, die anderen verstehen solche Unternehmun-

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Lorenz Engell/Joseph Vogl: »Vorwort«, in: Claus Pias u. a. (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 2000, S. 8-11, hier S. 9.

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gen als Fahnenflucht vor dem ›eigentlich philologischen Auftrag‹.«2 – Woher rührt diese spezifische Ambivalenz der philologischen Disziplinen, die einen nicht unbeträchtlichen Teil des kurrenten Komplexes kulturwissenschaftlich orientierter Medienwissenschaft (Medienkulturwissenschaft, Medialitätsforschung, Media Studies etc.) ausmachen, gegenüber der eigenen Wissenschaftsreflexion? Der Soziologe Rudolf Stichweh mutmaßt, dass eine »Asymmetrie« von Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung letztlich womöglich aufgrund von konstitutiven Unterschieden zwischen Geistes- und Naturwissenschaften »unhintergehbar«3 sei: »Wissenschaftsforschung in den Naturwissenschaften ist im Verhältnis zu den von ihr beobachteten Disziplinen dem Kommunikationszusammenhang und dem Leistungsanspruch nach in einem Grade ausdifferenziert, der im Fall der Literaturwissenschaft gerade nicht angestrebt wird.«4 Jener strukturelle Hang zur wissenschaftsreflexiven Selbstverweigerung trifft angesichts korrespondierender Hintergrundüberzeugungen sicherlich nicht allein auf die Literaturwissenschaft, mithin die Philologien5 schlechthin, zu, sondern lässt sich gleichwohl – in Extrapolierung des Sachverhaltes – mutatis mutandis auch auf andere geistes- und kulturwissenschaftliche Fächer (Ausnahmen und Gegenbeispiele mag es immer geben) übertragen.6 Jene selbstreflektorische Renitenz nimmt sich gerade aus der Beobachterperspektive umso ›unverständlicher‹ aus, je notorischer auf dem Projekt einer Neubegründung der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften bestanden wird. Das grenzüberschreitende Mandat einer solchen modernen kulturwissenschaftlichen Forschung besteht, so Wolf2

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Jörg Schönert: »Einführung zum Symposion«, in: Jörg Schönert (Hg.): Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. DFG-Symposion 1998, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. XVII-XXVI, hier S. XVII. Rudolf Stichweh: »Einführende Bemerkungen zu Wissenschaftsforschung und Literaturwissenschaft«, in: Jörg Schönert (Hg.): Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. DFG-Symposion 1998, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 3-5, hier S. 4. Ebd. Einige einschlägige Beiträge zu einer ›Wissenschaftsforschung der Philologien‹ finden sich beispielsweise in den Sammelbänden von Jörg Schönert (Hg.): Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. DFG-Symposion 1998, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000 sowie von Walter Erhart (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? DFG-Symposion 2003, Stuttgart/Weimar: Metzler 2004. Peter J. Brenner: »Das Verschwinden des Eigensinns. Der Strukturwandel der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft«, in: Peter J. Brenner (Hg.): Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 21-65, hier S. 27, führt diesen Umstand auf einen eigentümlichen Zustand dieser Fachwissenschaften und -kulturen zurück: »Die Verpflichtung der Geisteswissenschaften auf ein idealisiertes und kontrafaktisches Selbstverständnis hat sicher dazu beigetragen, daß eine selbstreflexive Erforschung ihrer eigenen internen und externen Möglichkeitsbedingungen bisher kaum Fuß gefaßt hat.«

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gang Frühwald, Hans Robert Jauß, Reinhart Koselleck, Jürgen Mittelstraß und Burkhart Steinwachs in ihrer viel zitierten Streitschrift Geisteswissenschaften heute, darin: »ihren genuinen Beitrag zum Problem einer Reintegration der technologischen Zivilisation in die gesellschaftliche Kultur der Zukunft zu leisten, etwas, das im gegenwärtigen Dialog aller Disziplinen wohl das Vordringlichste ist«.7 Eine konzeptionelle wie programmatische Neuausrichtung der Geisteswissenschaften wird sich schlechterdings kaum ohne Überprüfung der eigenen disziplinären Präliminarien bewerkstelligen lassen, wenn es nicht zwangsläufig bei Unschärferelationen und Reflexionslatenzen bleiben soll. Auch das Beziehungsgefüge von Sozialwissenschaften und Wissenschaftsforschung erweist sich beim genaueren Hinsehen als zumindest schwierig. Unter dieser Misere leidet auch die Medienforschung, sofern sie sich, wie insbesondere die empirisch versierte Kommunikationswissenschaft, epistemologisch, methodologisch und identifikatorisch auf die sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Basisdisziplinen wie Soziologie, Politologie und Psychologie beruft. Die Wissenschaftsforscher Ulrike Felt, Helga Nowotny und Klaus Taschwer haben vor Jahren einen Vorschlag unterbreitet, die Sozial- und die Geisteswissenschaften unter dem Gesichtspunkt der Wissenschaftsforschung voneinander abzugrenzen: »Doch der Blickwinkel der Sozialwissenschaften ist im allgemeinen analytischer; ihre explizite Funktion richtet sich weitaus stärker auf die Konstruktion praktischer und technischer Hilfsmittel, mit denen ein besseres Verständnis von Gesellschaft erreicht werden soll und durch die jene zunehmend en[t]zauberte Welt, die ihre Analyse offenbart, bewältigt werden kann. Um ihre analytische und technische Grundeinstellung zu bewahren, haben die Sozialwissenschaften versucht, eine wissenschaftliche Reflexivität zu pflegen, durch die sie die Kontextualisierung (und teilweise Instrumentalisierung) ihres Wissens in einer bewußt distanzierten und selbst-reflexiven Weise betrachten. Im Gegensatz zu den Geisteswissenschaften bemühen sich die Sozialwissenschaften um intellektuelle Distanz von der Schaffung von Werten und von Sinn, die der kulturellen Produktion innewohnt.«8

Trotz ihrer im Vergleich zu den Geisteswissenschaften offenkundig höheren Bereitschaft zur Selbstreflexion ist den Sozialwissenschaften eine disziplinäre Gebrochenheit eigentümlich, welche tief greifende Folgen und Konsequenzen für einzelne Fächer ihres Kanons zeitigt. In seiner großen 7

8

Wolfgang Frühwald u. a.: »Einleitung«, in: Wolfgang Frühwald u. a.: Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 7-14, hier S. 11. Vgl. zu dieser »bemerkenswerte[n] Sammlung von Gemeinplätzen« auch die kritische Einlassung von Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 109-110, hier S. 110 (Anm. 1). Ulrike Felt/Helga Nowotny/Klaus Taschwer: Wissenschaftsforschung. Eine Einführung, Frankfurt am Main/New York: Campus 1995, S. 170.

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historischen Studie Die drei Kulturen stellt der Soziologie Wolf Lepenies heraus, dass im Streit der »zwei Kulturen«9, der zwischen der literarischen und der naturwissenschaftlichen Intelligenz vorherrscht(e), eine dritte Kultur ins Hintertreffen geriet, nämlich: die sozialwissenschaftliche Intelligenzia.10 Entschieden widerspricht Lepenies der Snow’schen Argumentation: die literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz ringe seit etwa 1850, mit dem Aufbruch zur ›Moderne‹, um das Primat zur Gestaltung der modernen Zivilisation. Vielmehr würden die Soziologie und die Literatur den Streit unter sich ausmachen, so seine Gegenthese, wer die Wegmarken für eine moderne Gesellschaftszivilisation vorgeben würde.11 Die Dispositionierung Lepenies folgt einem sich sowohl in diachroner als auch in synchroner Perspektive als eminent ausnehmenden Dilemma der Sozialwissenschaft(en): »das Schwanken zwischen einer szientifischen Orientierung, die auf eine Nachahmung der Naturwissenschaften hinausläuft, und einer hermeneutischen Einstellung, die das Fach zur Literatur rückt.«12 Die Konstitution wissenschaftsreflexiver Forschungsgegenstände forciert nicht selten die Ausbildung neuer Wissenschaftssystematiken und -institutionalisierungen. Das Exempel Medienforschung macht da keine Ausnahme. Im Falle der Geistes- und Sozialwissenschaften, später der Kulturwissenschaften, sollte es verhältnismäßig lange dauern, bis sich aus disparat figurierenden Forschungsfeldern nach und nach wenigstens semiautonome disziplinäre Wissenschaftsreflexionen etablierten, was erst durch eine starke Rezeption von Thomas S. Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen13 motiviert wurde.14 Der Umstand, dass nicht nur Wissenschaftsdisziplinen und -kulturen der Naturwissenschaften, sondern nunmehr verstärkt auch der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften zum Gegenstand der Wissenschaftsforschung avancieren, markiert den Beginn einer pragmatischen Ausweitung dieser Forschungsrichtung auf weitere Objektbereiche, mithin der Medienund Kommunikationswissenschaft. Bedingt durch die empirische, historische und systematische Untersuchung der Spezifika verschiedener Disziplinen in der Wissenschaftsforschung, angefangen von Natur- und Technikwissenschaften über Sozial- und Wirtschaftswissenschaften bis zu

9 10 11 12 13 14

Vgl. Charles Percy Snow: Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, Stuttgart: Klett 1967, S. 11. Vgl. Wolf Lepenies: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Frankfurt am Main: Fischer 2002. Vgl. ebd., S. 185-189. Ebd., S. I. Vgl. Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Lutz Hachmeister: Theoretische Publizistik. Studien zur Geschichte der Kommunikationswissenschaft in Deutschland, Berlin: Spiess 1987, S. 6-11.

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Geistes- und Kulturwissenschaften, wird es möglich, sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen Fachrichtungen und -kulturen festzustellen, was etwa die Produktion und Konstruktion wissenschaftlichen Wissens und deren gesellschaftliche und organisationelle Prämissen anbelangt.15 Trotz aller Rivalität und Konkurrenz zwischen Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften ist den Akteuren und Gruppierungen der beteiligten Wissenschaftsdisziplinen und -kulturen ein allgemeines Interesse gemein, nämlich: »das Funktionieren von Gesellschaft und das Herstellen von Kultur und Sinnproduktion zu verstehen.«16 Aufgrund der vorgängigen Medienevolution wird nunmehr seit rund zwei Dekaden der Topos Medienreflexion auf die Agenda eines disziplinär differenzierten Forschungs- und Erkenntnisinteresses gesetzt. Just vor diesem Problemhorizont sind Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften ohne Unterschied und Ausnahme mit dem Postulat transdisziplinärer medienreflexiver Forschung – nicht zuletzt eingedenk der Position des Wissenschaftsrates –17 konfrontiert. Wengleich die Wissenschaftsforschung in der Domäne der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften grosso modo nicht hoch im Kurs steht, gibt es durchaus vereinzelt Stimmen, welche die Vorzüge der Wissenschaftsreflexion für die Medien- und Kommunikationswissenschaft artikulieren. So plädierte der Journalistikwissenschaftler und Medienproduzent Lutz Hachmeister bereits vor 20 Jahren für wissenschaftshistorische »Meta-Forschungen« im Bereich der theoretischen Publizistik: »Gefragt ist auch zukünftig eine zeitgeschichtlich orientierte, faktorentheoretische Analyse, die Gesellschaftsentwicklung, Wandlungen im Feld des Gegenstandsbereiches und die soziale wie kognitive Organisation kommunikationswissenschaftlichen Arbeitens gleichrangig in Beziehung setzt.«18 Im aktuellen Diskurs der so genannten ›neuen‹ Kulturwissenschaften wirbt der Philosoph Gerhard Fröhlich dafür, »›Medien‹ und ›Institutionen‹ des Wissens auch mit Instrumentarien der theoretisch-empirischen Wissenschaftsforschung zu beleuchten, und diese kulturwissenschaftlich zu erweitern«19. 15 Vgl. U. Felt/H. Nowotny/K. Taschwer: Wissenschaftsforschung (wie Anm. 8), S. 21-22. 16 Ebd., S. 170 17 Vgl. Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Kommunikations- und Medienwissenschaften in Deutschland, Köln: Wissenschaftsrat 2007, S. 82, elektronisch verfügbar unter: , S. 82, passim (letzte Änderung: 29.05.2007; letzter Zugriff: 01.11.2007). 18 L. Hachmeister: Theoretische Publizistik (wie Anm. 14), S. 265-266. 19 Gerhard Fröhlich: »Wissenschaftsforschung. Die theoretisch-empirische Erforschung der ›Medien und Institutionen des Wissens‹«, in: AG Kulturwissenschaften Graz (Hg.): Kulturwissenschaften in Österreich, Graz: Universität Graz, Institut für Philosophie 2000, S. 28-31, hier zitiert nach der OnlinePublikation, elektronisch verfügbar unter , o. S. (letzte Änderung: undatiert; letzter Zugriff: 25.11.2007). 20 Vgl. unter anderem Peter Weingart: »Interdisziplinarität – der paradoxe Diskurs«, in: Ethik und Sozialwissenschaften, 8 (1997) 4, S. 521-529 sowie Peter Weingart: »Replik – Interdisziplinarität im Kreuzfeuer. Aus dem Paradox in die Konfusion und zurück«, in: Ethik und Sozialwissenschaften, 8 (1997) 4, S. 589-597. 21 Als interessant nimmt sich in diesem Kontext die These von Johannes Feichtinger/Helga Mitterbauer/Katharina Scherke: »Interdisziplinarität – Transdisziplinarität. Zu Theorie und Praxis in den Geistes- und Sozialwissenschaften«, in: newsletter MODERNE, 7 (2004) 2, S. 11-16, hier S. 14, aus: »Der Theorie- und Methodenpluralismus findet heute sein Dach unter den transdisziplinär ausgerichteten Kulturwissenschaften, die ihren Gegenstand diskursiv verhandeln und methodisch vielfältig sind. Die Kulturwissenschaften können daher einen Rahmen für die verschiedensten Reformbemühungen abgeben.« 22 Jürgen Mittelstraß: Transdisziplinarität – wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2003, S. 910.

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Aufgrund der inhärenten Problematik Fachbereichs- und Fakultätsgrenzen transzendierender (Selbst-)Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen habe ich mich zuvorderst auf das Wissenschaftssystem zu konzentrieren. In aller Regel dominieren nach innen (sub-)disziplinäre Identifikations-, Explikations- und Legitimationsstrategien in der Charakterisierung von Forschungsaktivitäten, -initiativen, -programmen und -resultaten; hingegen herrschen nach außen für gewöhnlich (sub-)disziplinäre Differenzierungs-, Distanzierungs- und Desintegrationsstrategien in der Fokussierung von Forschungsaktivitäten, -initiativen, -programmen und -resultaten vor. Dies ist im Prinzip wohl allen (Sub-)Disziplinen gemeinsam. Auf formale interoder transdiszplinäre Anforderungen und Herausforderungen, etwa der Forschungsförderung, reagiert man, längst ein Allgemeinplatz, nicht selten mit einer entsprechend angepassten ›Antragsrhetorik‹. Die sich zweifelsohne alles andere als homogen ausnehmende ›Medienforschung‹ bildet darin keine Ausnahme. Gerade ›Medienforschung‹, in einem weiten Sinne verstanden, aus einem binnendisziplinären Wahrnehmungshorizont heraus beschreiben zu wollen, würde auf der einen Seite zwar bedeuten, einen bestimmten fachlichen Standpunkt – mehr oder weniger – korrekt und konsistent zu (re-)produzieren. Auf der anderen Seite würde dies allerdings auch heißen, den neuen komplexen multi- und/oder transdisziplinären Entwicklungen in nur unzureichender Weise zu genügen. Aufgrund dessen ist es angezeigt, ein anderes Prozedere zu favorisieren.23 Goutiert man die hier vertretene Arbeitshypothese, dass vor allem die letzten beiden Dekaden signifikante Evolutionen und Differenzierungen im Bereich der ›Medienforschung‹ zeitigen, die sich am ehesten unter das Rubrum einer multi- und/oder transdisziplinären Medienwissenschaft subsumieren lassen, so ist für eine ›exterritoriale‹ Perspektivierung zu plädieren. Ich spreche hier ausdrücklich nicht von einer ›Transdisziplin‹ Medienwissenschaft, denn solche Konzeptionen erweisen sich, wie wir schon oben im Falle der Wissenschaftsforschung gesehen haben, als ein zu ideales und puritanes Konstrukt. Prinzipiell muss ohnehin davor gewarnt werden: ›Forschungslogik‹ wohlfeil mit ›Disziplin(en-)logik‹ gleichzusetzen. Konkreter gefasst: Um (sub-)disziplinären Animositäten und Idiosynkrasien, Aporien und Inkonsistenzen präventiv zu begegnen, empfiehlt es sich, die Wissenschaft(en) selbst, hier eine multi- und/oder transdisziplinäre Medienwissenschaft, zum Gegenstand der wissenschaftlichen Reflexion zu erheben. Somit wird man sich, folgt man dem Status quo, mutatis mutandis an Erkenntnisse und Einsichten aus Wissenschaftsphilosophie, 23 Vgl. auch Niklas Luhmann: »Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien«, in: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen: Westdeutscher Verlag 1991, S. 309-320, hier S. 316: »Funktionale Analyse ist eine Technik der Entdeckung schon gelöster Probleme. Die Welt kann nicht auf den Soziologen warten, sie hat ihre Probleme immer schon gelöst. Die Frage kann nur sein: wie?«

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-theorie, -soziologie und -historie, kurzum: der Wissenschaftsforschung, anschließen (müssen). Auch wenn es so manchen Beobachter dünken mag, dass sich in Gestalt der ›Wissenschaftstheorie‹ – und später unter gewandelten Vorzeichen der ›Wissenschaftsforschung‹ – ein wissenschaftliches Instrumentarium zur surpradisziplinären Kontrolle installiere, so stellt sich diese Präsumtion jedoch als vorschnell heraus. Dies habe ich versucht, im vorausgegangenen Kapitel zu zeigen. Denn als auf das prüfende und vergleichende Nachdenken von Identität und Nicht-Identität des Funktionssystems Wissenschaft spezifizierte epistemische Aktivität konstituiert sich Wissenschaftstheorie in Parallelität zur Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen. Im Prozess disziplinärer Differenzierung erweist sich Wissenschaftstheorie – gleichsam wie andere wissenschaftliche Disziplinen auch – als eine dem Prinzip der Selbstreferenzialität unterworfene Disziplin. ›Selbstreferenzielle Geschlossenheit‹ besagt, dass die wissenschaftliche Disziplin Wissenschaftsforschung auf eine eigene Problemgeschichte rekurriert. Es ist gerade die Konstruktion der (Dis-)Kontinuität der eignen Problemorientierung, die die Disziplin Wissenschaftstheorie in ihrer Anschlussfähigkeit an andere wissenschaftliche Disziplinen sowohl strukturiert als auch reduziert.24 Nicht zuletzt bedingt durch massive Irritationen, ausgelöst durch Diskussionen um Hochschulplanung, -steuerung und -evaluation, Bildungs-, Wissens- und Qualitätsmanagement sowie Ziel-, Ergebnis- und Nachhaltigkeitsorientierung in Forschung und Lehre haben die Geistes-, Kulturund Sozialwissenschaften wie andere Wissenschaftsdisziplinen und -kulturen – zumindest in ersten Ansätzen – die Bedeutung der Wissenschaftsforschung (zuallerst Hochschul- und Evaluationsforschung) erkannt oder besser: erkennen müssen.25 Allerdings wurden und werden solche und ähnliche Anforderungen und Herausforderung in der Regel ›von außen‹ – zu-

24 Vgl. Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740-1890, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 54. 25 Es vermag nicht zu überraschen, dass ein namhafter Repräsentant der Wissenschaftssoziologie und -forschung, R. Stichweh: »Einführende Bemerkungen zu Wissenschaftsforschung und Literaturwissenschaft« (wie Anm. 3), S. 3, den Geisteswissenschaften im Allgemeinen und der Literaturwissenschaft im Besonderen wenig Schmeichelhaftes ins Stammbuch schreibt: »Welche Rolle spielt die Literaturwissenschaft oder spielen allgemeiner die Geisteswissenschaften in diesem Komplex namens Wissenschaftsforschung? Ohne provokativ wirken zu wollen, möchte ich sagen, sie spielen so gut wie keine Rolle. Zwar gibt es heute viel Wissenschaftsforschung, insbesondere Wissenschaftsgeschichte in den Literaturwissenschaften, aber die Umkehrung dieser Behauptung gilt nicht: die Literaturwissenschaft ist als ein Teil der Wissenschaftsforschung so gut wie nicht präsent. Oder in einer anderen Formulierung: die Literaturwissenschaft importiert mittlerweile Wissenschaftsforschung in einem erheblichen Maße, aber sie exportiert kaum.«

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meist aus dem politischen System26 – an die Hochschulen herangetragen und sind häufig, wenn man so will, ›fremdmotiviert‹. Die rezenten Diskurse einer genuin eigenen ›Wissenschaftsforschung der Medienforschung‹ sind ihrerseits weder theoretisch und methodologisch noch institutionell und programmatisch ausgebildet.27 Somit erweisen sich die kurrenten Ansätze einer Wissenschaftsforschung der entsprechenden Fächer, soviel sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen, für die vorliegende Problemexposition der Episteme der Medienwissenschaft als wenig hilfreich, da entweder der Kristallisationspunkt ›Medien‹ im Prinzip apräsent ist28 oder sich jene fast ausschließlich (intra-)disziplinspezifisch gerieren. Im Laufe des Kapitels werde ich ausführlich auf diese Gesichtspunkte zu sprechen kommen. Nachstehend argumentiere ich auf der konzeptuellen Basis einer integrativen systemischen Wissenschaftsforschung. Das ausschlaggebende Moment einer prononciert integrativen Perspektive in der Wissenschaftsforschung besteht darin, dass die disziplinären wissenschaftsphilosophischen, -theoretischen, -soziologischen und -historischen Traditionen, sofern sie denn überhaupt gegeben sind, auf die Komplexität der modernen Wissenschaft nicht angemessen zu reagieren vermögen:29 »Als komplex wollen wir eine zusammenhängende Menge von Elementen bezeichnen, wenn auf Grund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element jederzeit mit jedem anderen verknüpft sein kann.«30 Das Gros relevanter Ansätze, die einem interdisziplinären, mithin einem transdisziplinären Projekt ein theoretisches Fundament verleihen sollten, gilt als weithin gescheitert, mehr noch: Es hat sogar den Anschein, als würden disziplinäre Explikationskonzepte angesichts der Misere interdisziplinärer Modelle wieder die Oberhand gewinnen, denn – so paradox es

26 Vgl. zum Beispiel Wolfgang van den Daele/Wolfgang Krohn/Peter Weingart (Hg.): Geplante Forschung. Vergleichende Studien über den Einfluß politischer Programme auf die Wissenschaftsentwicklung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979 und Dietmar Braun: Die politische Steuerung der Wissenschaft. Ein Beitrag zum »kooperativen Staat«, Frankfurt am Main/New York: Campus 1997. 27 So annotiert J. Schönert: »Einführung zum Symposion« (wie Anm. 2), S. XXIII: Das seinerzeitige fachübergreifende DFG-Schwerpunktprogramm »Wissenschaftsforschung« »[hat] nach Einschätzung des zuständigen Fachreferenten jedoch weniger Resonanz und Erfolg als erwartet gebracht […]«. 28 Vgl. etwa J. Schönert (Hg.): Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung (wie Anm. 5) sowie W. Erhart (Hg.): Grenzen der Germanistik (wie Anm. 5). 29 Vgl. Wolfgang Krohn/Günter Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 7. 30 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 46.

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klingen mag –: »[…] die Defizite interdisziplinärer Erklärungsversuche haben die disziplinären erträglich gemacht.«31

K o p p l u n g e n vo n W i s s e n s c h a f t s f o r s c h u n g und Medienforschung Eine Wissenschaftsforschung der medienreflektierenden Wissenschaften ist, zumindest unter der Voraussetzung einer integralen systemischen Lesart, bislang so gut wie nicht ausgeprägt. Man kann bestenfalls von schwachen strukturellen Kopplungen von Wissenschafts- und Medienforschung sprechen. In diesem Unterkapitel sollen einige heuristische Hinweise zur Konfiguration des bescheidenen Entwicklungsstandes einer ›Wissenschaftsforschung‹ der Medien- und Kommunikationswissenschaft gegeben werden. Selbstredend ersetzt dieses Vorgehen keine erschöpfende Bestandsaufnahme, doch eine solche muss einer gesonderten Abhandlung vorbehalten bleiben. Bedingt durch den Sachverhalt, dass jüngere Auseinandersetzungen mit Aspekten der Wissenschaftstheorie und -forschung von der – traditionell epistemisch formuliert – metatheoretischen Ebene der Philosophie auf die fachwissenschaftliche Ebene überging, gebührt die Aufmerksamkeit in wachsendem Maße (sub-)disziplinär konkretisierten und spezifizierten Erkenntnisinteressen und Gegenständen beziehungsweise Formal- und Materialobjekten. Vor diesem Hintergrund sind in Bezug auf die Anwendungsdomäne ›Medienforschung‹ kategorial disziplinenendogene beziehungsweise -exogene Ansätze zur Wissenschaftsforschung medienreflexiver Wissenschaften zu unterscheiden: Die einen reflektieren aus Sicht eines medienbezogenen Faches (etwa der Medien- und Kommunikationswissenschaft) auf Medienforschung, während sich die anderen von der Warte eines nichtmedienbezogenen Faches (etwa der Wissenschaftssoziologie und -geschichte) aus diesem Forschungsgegenstand widmen. Grundsätzlich hat man zu gewärtigen, dafür braucht man noch nicht die Wissenschaftsforschung zu konsultieren, dass medienwissenschaftliche Aufgaben- und/oder Problemstellungen bereits en vogue waren, lange bevor sich überhaupt ein ›Medien‹begriff konstituiert hatte.32 ›Medien‹wissenschaftliche Gegenstände konnten schon auf eigene Traditionslinien

31 W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 29), S. 7. 32 Vgl. zum Beispiel für die Einführung des informationsverarbeitenden Systems Buchdruck Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 329389, 391-497.

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zurückverweisen, bevor sie auf die Agenda bestimmter wissenschaftlicher Disziplinen – unbeschadet ihrer Provenienz – gesetzt wurden.33 Das für Genealogien von Disziplinen offenkundig unveräußerbare Insistieren auf der Frage nach ihrem gleichsam epistemischen wie historischen Anbeginn verdeutlicht einmal mehr die Emergenz und Kontingenz von Strukturbildungen durch die variable Kombinatorik von Elementen.34 Im Falle der so genannten ›Anfangsproblematik‹ der Medienwissenschaft(en) tritt der Umstand der zumeist latenten Kontingenz und Emergenz struktureller Kopplungen von Elementen am Fallbeispiel des Terminus ›Medium‹ beziehungsweise ›Medien‹ zutage und streicht heraus, wie komplex sich der Prozess von einer schwachen bis zu einer starken strukturellen Bindung ausnehmen kann. Der Medienwissenschaftler Rainer Leschke hat die »Tücke des Begriffs«, »jenen gedoppelten Plural, mit dem sich die Medien und ihre Wissenschaften herumschlagen«35 müssen, aufgegriffen und mit Erkennnisgewinn die Gegenstands- respektive Methodenkonstitution der Disziplin Medienwissenschaft(en) herausgearbeitet, weshalb ich ihn an dieser Stelle ausgiebig zu Wort kommen lasse: »Das, was heute unter ›den Medien‹ verstanden wird, also jener gesuchte Gegenstand der Medienwissenschaften, ist zunächst einmal sprachlich ein Pluraletantum. Der Singular, […] der Begriff ›das Medium‹, meinte zumindest traditionell etwas anderes als der Plural ›die Medien‹ nämlich – wenigstens sofern er keiner Wissenschaftsdisziplin zugeordnet war – schlicht etwas Vermittelndes. Nur ›die Medien‹, […] der Plural, sind Gegenstand der neuen Disziplin. Der Medienbegriff, der die Grundlage der Medienwissenschaft bildet, ist insofern selbst eine relativ neue Erscheinung und an das Entstehen jenes Pluraletantums ›die Medien‹ gebunden. Man kann allenfalls seit Mitte der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts von einem Medienbegriff im heutigen Sinne, der […] in etwa Medien als Mittel von Kommunikation auffasst, die auf ein System solcher Mittel verweisen, sprechen. […] Der zweite Plural, der die Angelegenheit keineswegs einfacher macht, betrifft die Disziplinen, in denen medienwissenschaftliche Fragestellungen immer schon bearbeitet worden sind: Medien sind keineswegs nur in der Publizistik oder den Kommunikationswissenschaften thematisiert worden, sondern sie tauchen ebenso in der Philosophie, den Sprachund Literaturwissenschaften, der Kunst- und Musikwissenschaft, der Psychologie, der Soziologie und den Wirtschaftswissenschaften auf. Die Medienwissenschaften greifen insofern sowohl bei der Konstituierung ihres Gegenstandes als auch bei ihren Methoden auf unterschiedlichste Disziplinen zurück, so dass der Singular: Medienwissenschaft als Bezeichnung der Disziplin, um die es hier gehen soll, zumindest problematisch ist.«36

33 Vgl. Rainer Leschke: Einführung in die Medientheorie, München: Fink 2003, S. 10. 34 Vgl. auch N. Luhmann: Soziale Systeme (wie Anm. 30), S. 60-62, passim. 35 R. Leschke: Einführung in die Medientheorie (wie Anm. 33), S. 10. 36 Ebd.

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Aus der Anlage der vorstehenden Argumentation resultieren Konsequenzen für die Reflexion auf die strukturelle Kopplung von Medien- und Wissenschaftsforschung: »Es kann also nur bedingt mit Vorgaben wie denen einer Definition des Begriffs operiert werden, sondern es muss vielmehr von einem medienwissenschaftlichen Diskurs ausgegangen werden, der sich sukzessive in den Medienwissenschaften herausgebildet hat. Mit diesem medienwissenschaftlichen Diskurs verfügt man über ein vergleichsweise variables Feld, das sowohl unterschiedliche Konzepte des Medienbegriffs erträgt als auch die korrespondierenden historischen Rückergänzungen, also die geltend gemachten unterschiedlichen Ursprünge, denkbar werden lässt. Man begibt sich damit jedoch notwendig auf eine Metaebene, man beobachtet Medienwissenschaften und ihre Konzepte, betreibt jedoch nicht selbst Medienwissenschaft und macht damit keine eigenständigen Aussagen über den Gegenstand der Medienwissenschaften, sondern nur darüber, inwieweit der Gegenstand durch ein medienwissenschaftliches Konzept konstituiert wird.«37

Richtet man ein gesondertes Augenmerk auf gegenwärtige Initiativen und Aktivitäten der Medien- und Kommunikationswissenschaft, die mit Wissenschaftsforschung – zumindest im engeren Wortsinne – in Beziehung stehen, so sind im Wesentlichen zwei charakteristische Tendenzen zu verzeichnen: Zum einen rief die Gesellschaft für Medienwissenschaft e. V. (GfM) (ehemals Gesellschaft für Film- und Fernsehwissenschaft e. V., GFF), eine Interessenvertretung der ›qualitativ-deskriptiv‹, ›hermeneutisch-interpretativ‹ und ›historisch-ästhetisch‹ versierten (Sub-)Disziplinen der Medienforschung in Deutschland,38 im Jahre 2005 dazu auf, eine »Arbeitgruppe

37 Ebd., 11. 38 In dem seinerzeitigen Mission Statement der Gesellschaft für Medienwissenschaft e. V. (GfM): »Wer wir sind – unsere Ziele«, elektronisch verfügbar unter: (letzte Änderung: 15.06.2001; letzter Zugriff: 09.11.2005), o. S., heißt es programmatisch: »Die Gesellschaft versteht sich nicht als berufsständischer Interessenverband, sondern will ein Forum sein für Austausch und Diskussion; sie will Anregungen vermitteln und öffentliche Debatten initiieren. Die analogen und digitalen Medien haben inzwischen eine Vielzahl beruflicher Spezialisierungen hervorgebracht, und auch ihre wissenschaftliche Erforschung ist extrem partikularisiert. Die GfM will diesen Prozessen entgegenwirken und sucht daher das interdisziplinäre Gespräch. Eine wichtige Aufgabe ist es, zwischen Theorie und Praxis zu vermitteln und die verschiedenen Teildisziplinen der Medienwissenschaft zusammenzuführen. Die Diskussion in der GfM gibt ästhetischen, historischen, soziologischen, psychologischen und kommunikationstheoretischen Ansätzen in gleicher Weise Raum. Sie fördert eine produktive Auseinandersetzung und tritt einer Verabsolutierung der Einzelansätze entgegen. Da sich die Medien rasant verändern, geht es darum, der Dynamik des Gegenstandes gerecht zu werden. Die GfM will die Medienwissenschaften stärker profilieren und ihnen hochschulpolitisch mehr Gewicht verleihen.«

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Medienwissenschaft und Wissenschaftsforschung« zu gründen. Die Initiatoren führten dazu in der »Einladung zur konstituierenden Sitzung« aus: Die Arbeitsgruppe »soll einen Versuch unternehmen, diese verschiedenen Schnittpunkte [gemeint sind vor allem ästhetische, historische, soziologische, psychologische und kommunikationstheoretische Gesichtspunkte; C. F.] aufzugreifen und vor ihrem Hintergrund die disziplinären, methodologischen und theoretischen Beziehungen zwischen Medienwissenschaft und Wissenschaftsforschung zu diskutieren. Damit kann zugleich eine Reflexion über den wissenschaftstheoretischen Status der Medienwissenschaft, ihre Gegenstandsbereiche und Kanonisierungsprozesse verbunden werden.«39

In dieser problemexpositorischen Skizze nimmt sich die Erwartungshaltung der Medienwissenschaft an die Adresse der Wissenschaftsforschung durchaus positiv aus. Die Medienwissenschaft erhofft sich durch eine eingehendere Auseinandersetzung mit Fragen der Wissenschaftsforschung insbesondere mehr Aufschluss über terminologische, theoretische, methodologische, histori(-ografi-)sche sowie objektkonstituierende Aspekte der eigenen Disziplin, ihre Systematik, Differenzierung und Semantik.40 Zum anderen befasst sich die Kommunikationswissenschaft – nimmt man die Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft e. V. (DGPuK) zum Maßstab –,41 wenn auch eher marginal und viel enger an Positionen, Problemen und Perspektiven ›quantitativempirisch‹, ›analytisch-funktional‹ und ›tatsachen- und sozialwissenschaftlich‹ orientierter (Sub-)Disziplinen der Medienforschung ausgerichtet, mit kommunikationswissenschaftlicher Forschungslogik, Methodologie und Operationalität. Obgleich sich in der Kommunikationswissenschaft im Laufe der letzten Jahrzehnte eine Mannigfaltigkeit von Forschungstraditionen durchsetzen konnte, womit ein großes Arsenal wissenschaftlicher Forschungsmethoden und -designs in Theorie und Praxis zur Verfügung steht, konzentriert sich jedoch die eingeschränkte Perspektive einer eher impliziten Thematisierung der Wissenschaftsforschung in

39 Zitiert nach der »Einladung zur konstituierenden Sitzung« der »Arbeitsgruppe Medienwissenschaft und Wissenschaftsforschung« der Gesellschaft für Medienwissenschaft e. V. (GfM), elektronisch verfügbar unter: , o. S. (letzte Änderung: 08.10.2005; letzter Zugriff: 29.10.2005). 40 Vgl. ebd. 41 Vgl. Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft e. V. (DGPuK): Die Mediengesellschaft und ihre Wissenschaft. Herausforderungen für die Kommunikations- und Medienwissenschaft als akademische Disziplin. Selbstverständnispapier der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) vom Januar 2001, elektronisch verfügbar unter: (letzte Änderung: 06.05.2004; letzter Zugriff: 18.07.2004).

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der Domäne der Kommunikationswissenschaft auf die Konsistenz, Stringenz sowie Reliabilität der Medienforschung dieser Couleur. Ingesamt erweist sich die wissenschaftsreflexive Auseinandersetzung in der Medienforschung – mit Blick sowohl auf die Medien- als auch auf die Kommunikationswissenschaft – bestenfalls in einem Anfangsstadium begriffen. Dementsprechend beschränkt sind die Problemorientierungen im Geltungsbereich einer ›Wissenschaftsforschung der Medienwissenschaft‹ respektive einer ›Wissenschaftsforschung der Kommunikationswissenschaft‹ definiert, elaboriert und adaptiert. Trotz oder gerade wegen der skizzierten kontinuierlichen Konjunktur der Medienevolution und -forschung hat es außerordentlich lange gedauert, bis die Medien- und Kommunikationswissenschaft – und sei es noch so vage und defensiv – Fragen einer wissenschaftsreflexiven (Selbst-)Verortung auf die Agenda ihrer jeweiligen disziplinären Diskurse setzten. Neben der Medienproblematik erweist sich in erster Linie die Kulturthematik als Movens einer priorisierten (Selbst-)Reflexivität in den Geistes-42 und Sozialwissenschaften43. Nicht von ungefähr wird daher in vielfältigen Diskussionskontexten jener Provenienzen dem medial turn44 und/oder dem cultural turn45 das Wort geredet. Im Unterschied zum seit geraumer Zeit diskutieren linguistic turn resultiert allerdings aus dem medial turn eine stärkere Akzentuierung technologischer und materieller Apekte von Kommunikationsmedien und Medienkommunikation.

42 Vgl. unter anderem Wolfgang Frühwald u. a.: Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991; Hartmut Böhme/ Peter Matussek/Lothar Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002. 43 Vgl. beispielsweise Helga Kaschl (Red.): Wissensformen in den Sozial- und Kulturwissenschaften, Wien: Institut für Wissenschaft und Kunst 2000 sowie Tamás Meleghy: Soziologie als Sozial-, Moral- und Kulturwissenschaft. Untersuchungen zum Gegenstandsbereich, zur Aufgabe und Methode der Soziologie auf Grundlage von Karl Poppers »Evolutionärer Erkenntnistheorie«, Berlin: Duncker & Humblot 2001. Auch die Kommunikationswissenschaft dockt an den Diskurs um den cultural turn an. Vgl. beispielsweise Ulrich Saxer (Hg.): Medien-Kulturkommunikation, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998 oder Matthias Karmasin/Carsten Winter (Hg.): Kulturwissenschaft als Kommunikationswissenschaft. Projekte, Probleme, Perspektiven, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003. 44 Vgl. etwa Stefan Weber (Hg.): Medial Turn. Die Medialisierung der Welt, Innsbruck/Wien: Studien Verlag 1999 und Stefan Münker: »After the Medial Turn. Sieben Thesen zur Medienphilosophie«, in: Stefan Münker/Alexander Roesler/Mike Sandbothe (Hg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt am Main: Fischer 2003, S. 16-25, 205-206. 45 Vgl. Lutz Musner/Gotthart Wunberg/Christina Lutter (Hg.): Cultural Turn. Zur Geschichte der Kulturwissenschaften, Wien: Turia + Kant 2001 sowie Margaret Dikovitskaya: Visual Culture. The Study of the Visual after the Cultural Turn, Cambridge, Massachusetts u. a.: MIT-Press 2005.

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Jene eigentümlichen Ungleichzeitigkeiten in der Evolution und Differenzierung von Gegenstandskonstitution und -etatisierung, Theoriekonstruktion und Methodenselektion sowie Selbstreflexion und -reflexivität der genannten (Sub-)Disziplinen erklären sich im Wesentlichen damit, dass die geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Fächerkanones verhältnismäßig spät mit Frage- und Problemstellungen der Wissenschaftsforschung konfrontiert wurden.46 Der Grund dafür ist wohl in erster Linie darin zu sehen, dass nunmehr seit rund zwei Dekaden auch von Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften eine ›höhere Legitimation‹ und ›verbindlichere Kommunikation‹ – im Sinne einer gesellschaftlichen Rechenschaftspflicht – eingefordert werden. Die gewandelten Erwartungshaltungen gegenüber unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen und -kulturen korrelieren mit der sukzessiven Etablierung wissenschaftlichen Wissens und reflexiver Mechanismen in allen funktional spezifizierten Sektoren sozialer Ordnung.47 Grundlegender disziplinärer Wandel zeichnet sich deutlich im historischen Längsschnitt ab. Dies gilt auch für die Medienwissenschaft, die dem vorherrschenden (Selbst-)Verständnis nach nicht unwesentlich den Neuphilologien entstammt. In der großen Studie Die sogenannten Geisteswissenschaften. Außenansichten48 aus dem Jahre 1991, die erstmals eine sowohl quantitative als auch qualitative Gesamterhebung der Entwicklung der Geisteswissenschaften an bundesdeutschen Universitäten von den 1950er bis in die 1980er Jahre vornahm, erfasste ein Team um den Wissenschaftssoziologen Peter Weingart auf der Ebene der Denominationen innerhalb der Germanistik auch ›Medienwissenschaft‹. Medienwissenschaft wird im Prozess der Differenzierung und Spezialisierung der Germanistik als »kleinste Einheit«49 aufgeführt, auf die für den untersuchten Zeitraum 1954 bis 1984 drei Nennungen entfallen.50 Als bereichsspezifischen Komplex gibt es in der Fachdidaktik Kinder- und Jugendbuchforschung sowie Mediendidaktik mit sechs Nennungen (Professuren). Publizistik- und

46 Vgl. U. Felt/H. Nowotny/K. Taschwer: Wissenschaftsforschung (wie Anm. 8), S. 149-180. 47 Vgl. dazu einschlägig im wissenschaftsreflexiven Diskurskontext der Informations- respektive Wissensgesellschaft Michael Gibbons/Bjorn Wittrock (Hg.): Science as a Commodity. Threats to the Open Community of Scholars, London: Longman 1985; Michael Gibbons u. a.: The New Production of Knowledge. The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies, London: Sage 1994 sowie Nico Stehr: Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. 48 Vgl. Peter Weingart u. a.: Die sogenannten Geisteswissenschaften. Außenansichten. Die Entwicklung der Geisteswissenschaften in der BRD 1954-1987, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. 49 Ebd., S. 173. 50 Vgl. ebd.

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Kommunikationswissenschaft wurden in der Studie nicht ausgewertet.51 Interpretiert man diese Befunde weiter, so muss sich das Fach Medienwissenschaft erst ab den 1980er Jahren in einer nennenswerten Größe institutionell etabliert haben, was auch mit entsprechenden disziplinären Selbstbeobachtungen und -beschreibung korreliert. In Anbetracht dieses eher bescheidenen Entwicklungsstandes einer disziplinären (Selbst-)Reflexion beziehungsweise (Selbst-)Reflexivität sollten keine überzogenen Erwartungen an die Philologien im Beobachtungs- und Beschreibungskontext einer Epistemologie der Medienwissenschaft gerichtet werden. Denn aktuell geriert sich die defizitäre, disparate ›Wissenschaftsforschung der Literatur- und Sprachwissenschaft‹52 nahezu ausschließlich (intra-)disziplinspezifisch, transdisziplinäre Spezialisierungen, Differenzierungen und Neukonstituierungen mit dem epistemischen Nukleus und der sozialen Pragmatik53 der Forschungskomplexe ›Medien‹, ›Medialität‹, ›Medienmaterialität‹ sowie ›Medienkommunikation‹ wahren im Prinzip lange absent.54 Erst langsam finden ›Medien‹ Eingang in die zumeist nach wie vor wissenschaftshistorische Auseinandersetzung in der Literatur- und Sprachwissenschaft.55 Der kleinste gemeinsame Nenner ist dabei häufig das Konzept einer ›Medienkulturwissenschaft‹.56 51 Publizistik- und Kommunikationswissenschaften werden hier, ebd., S. 124125, 257-258, lediglich als Vergleichsreferenz bei der drittmittelgeförderten Forschung beziehungsweise als organisatorische Gliederungseinheit auf Fachbereichebene angeführt. 52 Vgl. stellvertretend für den Stand der Wissenschaftsforschung in den Philologien J. Schönert: »Einführung zum Symposion« (wie Anm. 2). 53 Vgl. Helga Nowotny/Peter Scott/Michael Gibbons: Wissenschaft neu denken. Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewißheit, Weilerswist: Velbrück 2004, S. 225, 249. 54 Vgl. einschlägig J. Schönert (Hg.): Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung (wie Anm. 5) und W. Erhart (Hg.): Grenzen der Germanistik (wie Anm. 5). Ferner im engeren Sinne vgl. auch Rainer Rosenberg: Literaturwissenschaftliche Germanistik. Zur Geschichte ihrer Probleme und Begriffe, Berlin: Akademie 1989; Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München: Fink 1989; Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaft und Nation. Zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, München: Fink 1991; Jost Hermand: Geschichte der Germanistik, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994; Ludwig Jäger (Hg.): Germanistik. Disziplinäre Identität und kulturelle Leistung. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1994, Weinheim: Beltz Athenäum 1995; Renate Glaser/Matthias Luserke (Hg.): Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996; Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996 sowie Marie Antoinette Glaser: Literaturwissenschaft als Wissenschaftskultur. Zu den Praktiken, Mechanismen und Prinzipien einer Disziplin, Hamburg: Kovač 2005. 55 Vgl. unter anderem Ludwig Jäger/Bernd Switalla (Hg.): Germanistik in der Mediengesellschaft, München: Fink 1994; Jürgen Fohrmann (Hg.): Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahr-

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Das merkliche Aufkommen einer Medienwissenschaft in den 1980er Jahren wurde durch verschiedene (Selbst-)Positionierungsversuche in einem für diese neue Disziplin noch konzeptuell, institutionell und curricular weitest gehend unbestellten Feld flankiert. Symptomatisch steht dafür der programmatische Sammelband Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft,57 der vor rund 20 Jahren erschien. Einleitend reflektieren die Herausgeber, die Medienwissenschaftler Rainer Bohn, Eggo Müller und Rainer Ruppert, auf die epistemisch-institutionelle Stellung des eigenen Fachs: »Der Grad der – vor allem universitären – Institutionalisierung ist noch vergleichsweise gering, die Selbstverständigung über die spezifischen Gegenstände, Methoden, Aufgaben und Ziele hat noch zu keiner breit durchgesetzten Epistemologie der Medienwissenschaft geführt; und doch: es geschieht mehr, es ist mehr zu beobachten als unkoordinierte Aktivitäten einiger ›Sonderlinge‹ des Wissenschaftsbetriebs. Da wissenschaftliche Disziplinen nicht geboren werden, sondern […] ›sich ausdifferenzieren‹, läßt sich auch gar nicht feststellen, ob Medienwissenschaft ihre Geburtsstunde noch vor sich oder schon hinter sich hat. Daß wir mitten im Prozeß der Ausdifferenzierung stehen, ist jedenfalls unumstritten.«58

Angesichts dieser ersten disziplinären Selbstverortung vermag es nicht zu verwundern, dass sich die Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft, ausweislich der dort versammelten Selbstbeschreibungen, weithin als Gemengelage ausnahmen, kamen hier doch vielfältige Bestrebungen mehr oder minder schwacher struktureller Kopplungen verschiedener geistes-, hundert, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2005 und Ralf Schnell (Hg.): Wahrnehmung – Kognition – Ästhetik. Neurobiologie und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript 2005. 56 Vgl. zum Beispiel mit weiteren Verweisen Jörg Schönert: »›Kultur‹ und ›Medien‹ als Erweiterungen zum Gegenstandsbereich der Germanistik in den 90er Jahren«, in: Bodo Lecke (Hg.): Literatur und Medien in Studium und Deutschunterricht, Frankfurt am Main u. a.: Lang 1999, S. 43-64, hier S. 4346, 51-53; Siegfried J. Schmidt: »Literaturwissenschaft als Medienkulturwissenschaft. Anmerkungen zur Integration von Literatur- und Medienwissenschaft(en)«, in: Bodo Lecke (Hg.): Literatur und Medien in Studium und Deutschunterricht, Frankfurt am Main u. a.: Lang 1999, S. 65-83, hier S. 6772, 77-79 sowie Knut Hickethier: »Medienkultur und Medienwissenschaft im Germanistikstudium«, in: Bodo Lecke (Hg.): Literatur und Medien in Studium und Deutschunterricht, Frankfurt am Main u. a.: Lang 1999, S. 85112, hier S. 85-89, 91-101, 111-112. 57 Vgl. Rainer Bohn/Eggo Müller/Rainer Ruppert (Hg.): Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft, Berlin: Sigma 1988. 58 Rainer Bonn/Eggo Müller/Rainer Ruppert: »Die Wirklichkeit im Zeitalter ihrer technischen Fingierbarkeit. Einleitung in den Band ›Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft‹«, in: Rainer Bohn/Eggo Müller/Rainer Ruppert (Hg.): Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft, Berlin: Sigma 1988, S. 7-27, hier S. 7.

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kultur- und sozialwissenschaftlicher Basisdisziplinen mit antizipierten Forschungskomplexen von ›Kommunikationsmedien‹ bis ›Medienkommunikation‹ zum Ausdruck. Es dominierten philologische, theaterwissenschaftliche, kunstgeschichtliche, ästhetische, soziologischen und psychologische Akzentuierungen. Aufgrund ihrer disziplinären Prämissen mit variablen semantisch-kulturellen Traditionslinien reflektieren die Selbstbeschreibungen im Differenzierungsprozess der Disziplinkonstitution von Medienwissenschaft auf homogenes integrierbares beziehungsweise heterogenes nicht-integrierbares Material.59 Wenngleich sich ›Medienwissenschaft‹ seit etwa rund zweieinhalb Dekaden als identitätverleihende Disziplinbezeichnung installiert hat, ›Medienwissenschaft‹ im geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Fächerspektrum etabliert zu sein scheint, darf nicht vergessen werden, dass der medienwissenschaftliche Disziplinkonstitutionsprozess von heftigen Auseinandersetzungen, mitunter auch Anfeindungen aus unterschiedlichsten Lagern, begleitet war. Für nicht wenige Kritiker der Medienwissenschaft ist dieser Vorgang längst noch nicht abgeschlossen, soll heißen: Es stellt sich für so manchen Beobachter nach wie vor die Frage, ob und inwieweit ›Medienwissenschaft‹ sich überhaupt als selbständige, unabhängige Disziplin inner- oder außerhalb der Geistes-, Kultur- beziehungsweise Sozialwissenschaften etatisieren soll, muss, darf oder kann.60 Wenn man die diffizile Thematik der für eine Disziplinkonstitution notwendigen und hinreichenden formellen, institutionellen, theoretischen und methodischen Prämissen außer Acht lässt, vom wissenschafts- und hochschulpolitischen Durchsetzungswillen ganz zu schweigen, so insistiert die basale Problemstellung, ob eine Disziplin, die sämtliche medieninduzierten respektive -relevanten Fragen zu beantworten trachtet, nicht aufgrund der damit verbundenen Komplexitätszunahme zu einer unüberschaubaren Formation mutieren müsste?61 Vor dem Hintergrund einer solchen Zuspitzung transformiert sich auch die Fragestellung nach der inter- beziehungsweise transdisziplinären Organisation der Medienforschung aus Sicht der Wissenschaftsforschung neu. Denn wichtiger als die fachliche Verortung nimmt sich womöglich die programmatische Arbeit an der gemeinsamen Konzeptualisierung eines Grundlagendesigns auf der Basis eines expliziten Medienkonzepts aus.

59 Vgl. R. Bohn/E. Müller/R. Ruppert (Hg.): Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft (wie Anm. 57), passim. 60 Vgl. Siegfried J. Schmidt: »Medienwissenschaft im Verhältnis zu Nachbardisziplinen«, in: Gebhard Rusch (Hg.): Einführung in die Medienwissenschaft. Konzeptionen, Theorien, Methoden, Anwendungen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 53-68, hier S. 59; zudem vertiefend Siegfried J. Schmidt: Kalte Faszination. Medien – Kultur – Wissenschaft in der Mediengesellschaft, Weilerswist: Velbrück 2000, S. 70-279. 61 Vgl. S. J. Schmidt: »Medienwissenschaft im Verhältnis zu Nachbardisziplinen« (wie Anm. 60), S. 59.

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Auf einem solchen Fundament wäre, so die Einlassung des Philosophen und Kommunikationstheoretikers Siegfried J. Schmidt, wenn schon nicht ›Interdisziplinarität‹, so doch zumindest Ko-Disziplinarität parallel elaborierter Medien-Forschungsprojekte vorstellbar – mithin eine Intention, die zwar hinsichtlich der Evolution der Geisteswissenschaften »illusorisch«62 erscheinen möge, deren Umsetzung letztendlich allerdings unvermeidlich sei. Die Reflexion auf die häufig als antagonistisch zur Medienwissenschaft beschriebene Kommunikationswissenschaft diskursiviert sich homogener. Auch wenn die Frage der disziplinären Organisation im Falle der Kommunikationswissenschaft im Gegensatz zur Medienwissenschaft bei weitem als nicht so prekär und indifferent beurteilt wird, hat die Kommunikationswissenschaft – trotz oder gerade wegen ihrer hochgradig dominanten Fixierung auf primär empirische Sozial- und Verhaltenswissenschaften als Basisdisziplinen – mit einer klaren Verortung unter dem Gesichtspunkt der Wissenschaftsforschung zu kämpfen. Seit Mitte der 1960er Jahre adaptierte die Kommunikationswissenschaft sukzessive empirische Forschungskonzepte und -methoden und verstand sich mehr und mehr als empirische Sozialwissenschaft. Als Folge dessen äußern sich auch die disziplinären Rekonstruktionsbestrebungen innerhalb dieser Research Community als interessegeleitet im Sinne des ›Empirie‹-Paradigmas. Mithin ist die Genaologisierung der Kommunikationswissenschaft – analog zu jener der Medienwissenschaft unter anderen Vorzeichen und Einlassungen – eine Stilisierung, die der Anschlussfähigkeit an die aktuelle Forschung dient, nicht zuletzt um sich als verhältnismäßig junge Disziplin über die Herkunft der etablierten akademischen Fächer wie Soziologie, Politologie und Psychologie zu legitimieren. Ähnlich kritisch äußert sich einer der Altvorderen der Kommunikationswissenschaft, Gerhard Maletzke, über die defizitäre Reflexivität seines Faches: »Wir meinen, die Kommunikationsforscher haben bisher über die Grundlagen ihrer Disziplin nicht zu viel, sondern eher zu wenig reflektiert und diskutiert. Sie haben angesichts ihrer Sachfragen und Methodenprobleme die kritische Selbstreflexion vernachlässigt.«63 Da das Fach Kommunikationswissenschaft in den letzten rund 40 Jahren nahezu ausschließlich mit thematischen beziehungsweise methodischen Teilaspekten befasst war, ging dem Fach eine einschlägige Selbstvergewisserung hinsichtlich ihrer genuinen Forschungslogik(en) verlustig.

62 Ebd. 63 Gerhard Maletzke: Kommunikationswissenschaft im Überblick. Grundlagen, Probleme, Perspektiven, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 12.

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Aber Maletzke lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass er sich in der Tradition der Kommunikationswissenschaft als empirischer Sozialwissenschaft (nach angloamerikanischem Vorbild) wähnt – schließlich gehört er seit den frühen 1960er Jahren anerkanntermaßen zu ihren Hauptvertretern.64 Mit Blick auf die Entwicklung seines Fachs führt Maletzke aus, dass sich erst nach und nach die Erkenntnis durchzusetzen begann, der nach Massenkommunikation schlechterdings nicht von interpersonaler Kommunikation zu trennen sei. In der Folgezeit »begann die Kommunikationswissenschaft, sich zu ›entgrenzen‹, ein Prozeß, der sich bis heute und sicher auch in Zukunft fortsetzt«65. Trotz unbezweifelbarer Fortschritte, so Maletzke, sei der Kommunikationswissenschaft bis heute immer noch ein systematisches Defizit eigen. Seine Einschätzung sieht er unter anderem durch den Sachverhalt gestützt, dass man immerhin ›erfolgreich‹ empirische Forschung betreiben könne, ohne sich mit einer – wie auch immer gearteten – Ordnungsmatrix beschäftigt zu haben. Maletzkes Ausführungen sind, wenn ernst genommen, dazu angetan, gerade den etablierten kommunikationswissenschaftlichen Theorien und Praxen ihre eigenen Grenzen und Schwächen aufzuzeigen. Eine vor wenigen Jahren erschienene thematisch einschlägige Publikation, das zweibändige Werk Forschungslogik und -design in der Kommunikationswissenschaft,66 ediert von den Publizistik- und Kommunikationswissenschaftlern Werner Wirth, Edmund Lauf und Andreas Fahr, mag als ein erster Indikator dafür dienen, auf welche Art und Weise sich die empirische Kommunikationswissenschaft – wenn auch nicht in jener expliziten von Maletzke eingeforderten grundsätzlichen Manier – als Disziplin zur kritischen Selbstreflexion in eigener Sache bereit und befähigt zeigt. »Erklärtes Ziel ist es«, so die Herausgeber, »die empirische Beweisund Argumentationsstruktur bestimmter Methoden, Designs […] und/oder Forschungsansätze […] aus einer dezidiert kommunikationswissenschaftlichen Perspektive heraus zu analysieren, zu systematisieren und so eine forschungslogisch korrekte Fachperspektive einzubringen.«67 Vor dem 64 Vgl. insbesondere Gerhard Maletzke: Psychologie der Massenkommunikation, Hamburg: Hans-Bredow-Institut 1963. 65 G. Maletzke: Kommunikationswissenschaft im Überblick (wie Am. 63), S. 12. 66 Vgl. Werner Wirth/Edmund Lauf/Andreas Fahr (Hg.): Forschungslogik und -design in der Kommunikationswissenschaft, Band 1. Einführung, Problematisierungen und Aspekte der Methodenlogik aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive, Köln: Halem 2004 und Werner Wirth/Edmund Lauf/Andreas Fahr (Hg.): Forschungslogik und -design in der Kommunikationswissenschaft, Band 2. Anwendungsfelder in der Kommunikationswissenschaft, Köln: Halem 2006. 67 Werner Wirth/Edmund Lauf/Andreas Fahr: »Vorwort. Forschungslogik aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive«, in: Werner Wirth/Edmund Lauf/Andreas Fahr (Hg.): Forschungslogik und -design in der Kommunikationswissenschaft, Band 1. Einführung, Problematisierungen und Aspekte der

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Hintergrund der eigenen Selbstbestimmung als (Sub-)Disziplin des empirisch-sozialwissenschaftlichen Fächerkanons68 fokussiert sich die Kommunikationswissenschaft hier vor allem auf die Validität, Reliabilität und Operabilität ihrer (sub-)disziplinären Forschungsprämissen, -methodologien, -logiken und -designs.69 Eine über die Präliminarien der Kommunikationswissenschaft als empirischer Sozialwissenschaft hinausweisende Problematisierung der eigenen Disziplin, die sich ›offensiv‹ an aktuelle und progressive Fragestellungen der Wissenschaftsforschung anschließen ließen, ist – nimmt man die beiden Teilbände Forschungslogik und -design in der Kommunikationswissenschaft zum Indikator – derzeit kaum abzusehen und/oder zu erwarten. Eingedenk dieser strukturellen Schwächen der Kommunikationswissenschaft machte der Journalistikwissenschaftler Lutz Hachmeister bereits vor mehr als 20 Jahren in seiner Arbeit Theoretische Publizistik. Studien zur Geschichte der Kommunikationswissenschaft in Deutschland70 nicht nur theoretische beziehungsweise methodische Anleihen bei der Wissenschaftssoziologie, sondern auch bei der -biografie. Vor allem im Rekurs auf die historische Wissenschaftsforschung Thomas S. Kuhns,71 wodurch die Hachmeister’sche Studie sich nach wie vor als weithin singulär im Diskurs einer Wissenschaftsforschung der Kommunikationswissenschaft ausnimmt, misst er dem Terminus der Identität von Scientific Communities eine hohe Bedeutung bei.72 Ausschlaggebend ist für Hachmeisters Argumentation: »Spezifische und als solche auszumachende Kommunikationsnetze sind dabei sowohl für die Entstehung von Identität in Einzeldisziplinen und ›Schulen‹ Voraussetzung, wie auch deren Abgrenzung von konkurrierenden Fächern, Gruppen, Dogmen oder Paradigmen.«73 Mit dem Soziologen Wolf Lepenies unterscheidet Lutz Hachmeister drei Dimensionen von ›Identität‹:

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Methodenlogik aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive, Köln: Halem 2004, S. 7-12, hier, S. 8. Vgl. Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft e. V. (DGPuK): Die Mediengesellschaft und ihre Wissenschaft. Herausforderungen für die Kommunikations- und Medienwissenschaft als akademische Disziplin (wie Anm. 41). Vgl. W. Wirth/E. Lauf/A. Fahr: »Vorwort. Forschungslogik aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive« (wie Am. 67), S. 7. Vgl. L. Hachmeister: Theoretische Publizistik (wie Am. 14). Vgl. T. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (wie Am. 13), S. 57-64. Vgl. L. Hachmeister: Theoretische Publizistik (wie Am. 14), S. 8. Ebd. Hier bezieht sich Hachmeister auf Nicholas C. Mullins: Theories and Theory Groups in Contemporary American Sociology, New York u. a.: Harper Row 1973 und Diana Crane: Invisible Colleges. Diffusion of Knowledge in Scientific Communities, Chicago u. a.: University of Chicago Press 1972.

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• kognitive Identität, die sich auf Paradigmen, Problemexpositionen sowie Forschungsinstrumentarien fokussiert; • soziale Identität, die sich qua disziplinäre Institution respektive Organisation konstituiert sowie • historische Identität, die das Wissen um die eigene Fachgeschichte beinhaltet, auf welche sich im Prinzip alle Angehörigen einer Wissenschaftsgemeinschaft beziehen.74 Eine solchermaßen modellierte Geschichtsschreibung der Sozialwissenschaften, so der Tenor Hachmeisters, werde für eine historisch versierte Wissenschaftsforschung [sic!] eine »organisch« zu nennende Implementation biografischer Elemente motivieren; wobei er schlechterdings weder eine »Wiederbelebung des ›große-Männer-machen-Geschichte‹-Ansatzes«, was uns aus der frühen Wissenschaftshistoriografie geläufig ist,75 noch eine genuin institutionentheoretische Konzeptualisierung,76 die Wirkungen von Wissenschaftskoryphäen nicht angemessen berücksichtigt, ins Werk setzen möchte.77 Ungeachtete dieser spezifisch fachlichen Prämissen lassen sich in den letzten Jahren markante Auflösungserscheinungen des überkommenen Lagerdenkens zwischen Medienwissenschaft auf der einen Seite und Kommunikationswissenschaft auf der anderen Seite empirisch nachweisen, was sich nicht zuletzt als Indiz im Sinne einer ›Multidisziplinarisierung‹ und/oder ›Transdisziplinarisierung‹ der Medienforschung interpretieren lässt. So vermögen auch die Resultate zum disziplinären (Selbst-)Verständnis einer von der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft e. V. (DGPuK) vorgestellten Mitgliederbefragung aus dem Jahre 2003 kaum zu überraschen. Die Studie der DGPuK, erklärtermaßen Sachwalterin einer ›sozialwissenschaftlich-empirisch‹ ausgerichteten Forschung und Lehre, führt nach der Darstellung von Wolfram Peiser und Wolfgang Donsbach zu den signifikanten Befunden:

74 Vgl. Wolf Lepenies: »Einleitung«, in: Wolf Lepenies (Hg.): Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, Band 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. I-XXXV, hier S. I. und L. Hachmeister: Theoretische Publizistik (wie Anm. 14), S. 8, 17. 75 Vgl. beispielsweise Wolfgang Krohn: »Die Wissenschaftsgeschichte in der Wissenschaft. Zu einer Historiographie der Wissenschaftsgeschichtsschreibung«, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs, Band 1. Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt am Main: Fischer 1993, S. 271-290, hier S. 271. 76 Vgl. unter rezeptionshistorischem Aspekt Robert K. Merton: »Wissenschaft und demokratische Sozialstruktur«, in: Peter Weingart (Hg.): Wissenschaftssoziologie 1. Wissenschaftliche Entwicklung als sozialer Prozeß, Frankfurt am Main: Athenäum Fischer 1972, S. 45-59, hier S. 48, 51, 53, 55. 77 Vgl. L. Hachmeister: Theoretische Publizistik (wie Am. 14), S. 8.

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»Fast alle Befragten beschreiben ihren eigenen wissenschaftlichen Standpunkt bzw. ihre Forschung als sozialwissenschaftlich, immerhin die Hälfte auch als geisteswissenschaftlich. Quantitativ-empirische, qualitativ-empirische, theoretische und praxisbezogene Orientierungen sind jeweils bei rund zwei Dritteln der Mitglieder vertreten. Bemerkenswert: Sozialwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Standpunkte werden oft gemeinsam vertreten, und die quantitativempirische Ausrichtung dominiert keineswegs so, wie man das vielleicht erwartet hätte.«78

Als Reflex auf diese Befunde verabschiedete die Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft e. V. (DGPuK) auf ihrer Jahrestagung 2008 mit Kommunikation und Medien in der Gesellschaft. Leistungen und Perspektiven der Kommunikations- und Medienwissenschaft ein neues Selbstverständnispapier, das versucht, jenen Veränderungen gerechter zu werden.79 Darin heißt es pragmatisch: »Im Sinne der Erhöhung von Transparenz wird die sozialwissenschaftlich orientierte Fachrichtung im Folgenden durchgängig als ›Kommunikations- und Medienwissenschaft‹ bezeichnet. Damit ist keine Integration der bestehenden geisteswissenschaftlichen Medienwissenschaft vorweggenommen; vielmehr soll betont werden, dass die geisteswissenschaftliche Perspektive als wichtige Ergänzung der sozialwissenschaftlichen Theorien, Methoden und Befunde angesehen werden kann.«80

Zeitgleich verständigte sich die Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM), deutlich auf Abgrenzung nach außen setzend, auf ein von einer Strategiekommission erarbeitetes Grundsatzdokument Kernbereiche der Medienwissenschaft, das von der Mitgliederversammlung am 4. Oktober 2008 in Bochum beschlossen wurde. Der disziplinäre Tenor lautet: 78 Wolfram Peiser/Wolfgang Donsbach: »Nachgefasst. Mitgliederbefragung. Hinweise auf Handlungsbedarf«, in: Aviso. Informationsdienst der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft e. V. (DGPuK), Nr. 33, 2/2003, S. 24-25, hier S. 24. Vgl. ausführlich zu Resultaten und Interpretationen der Erhebung Wolfram Peiser/Matthias Hastall/ Wolfgang Donsbach: »Zur Lage der Kommunikationswissenschaft und ihrer Fachgesellschaft. Ergebnisse der DGPuK-Mitgliederbefragung 2003«, in: Publizistik. Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, 48 (2003) 3, S. 310-339. 79 Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft e. V. (DGPuK): Kommunikation und Medien in der Gesellschaft. Leistungen und Perspektiven der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Eckpunkte für das Selbstverständnis der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Selbstverständnispapier der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK), verabschiedet auf der Mitgliederversammlung am 1. Mai 2008 in Lugano, elektronisch verfügbar unter: (letzte Änderung: undatiert; letzter Zugriff: 27.08.2008). 80 Ebd., S. 1.

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»Die Medienwissenschaft versteht sich als eine moderne und dynamische Kulturwissenschaft. Sie bestimmt wie jedes andere wissenschaftliche Fach ihre Identität aufgrund ihrer spezifischen ›materiellen‹ Gegenstandsbereiche, ihrer erkenntnisleitenden Interessen sowie der Entwicklung von eigenständigen Theorien und Methoden. Ansatzpunkte der kulturwissenschaftlichen Medienanalyse sind die gesellschaftlichen, technischen und kulturellen und Merkmale von Medien, die sich an Medienprodukten und -gattungen wie auch in den gesellschaftlichen Kommunikationsformen sowie in der Medienproduktion und -rezeption beobachten lassen.«81

Mittels Konzepten und Methoden der Wissenschaftsforschung lassen sich Anhaltspunkte herausfinden, die tiefer gehende Erklärungsansätze für eine zumindest partielle gegenseitige Annäherung und Ergänzung von Medienund Kommunikationswissenschaft in der letzten Dekade geben. Auf Jürgen Güdlers Studie Dynamik der Medienforschung. Eine szientometrische Analyse auf der Grundlage sozialwissenschaftlicher Fachdatenbanken82 aus dem Jahre 1996 hatte ich oben bereits hingewiesen. Sie stellt gegenwärtig eine der wenigen einschlägigen Arbeiten zur strikteren strukturellen Kopplung von Wissenschafts- und Medienforschung dar. Im Auftrag des damaligen Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF) untersuchte eine Forschungsgruppe, bestehend aus Jürgen Güdler, Lothar Krempel, Dominik Sack und Michael Schnegg, die Entwicklungspotenziale der Medienforschung im deutschsprachigen Raum.83 Konzeptuell-methodisch stützten sich die Verfasser auf ein neues integrales wissenschaftssoziologisches Untersuchungsdesign mit einer Kombination szientometrischer Verfahren aus netzwerkbasierten Wissenschaftsindikatoren84 und Visualisierungstechniken85.

81 Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM): Kernbereiche der Medienwissenschaft. Ein Strategiepapier der Gesellschaft für Medienwissenschaft, Beschluss der Mitgliederversammlung am 4. Oktober 2008, elektronisch verfügbar unter: (letzte Änderung: undatiert; letzter Zugriff: 20.11.2008). 82 Vgl. Jürgen Güdler: Dynamik der Medienforschung. Eine szientometrische Analyse auf der Grundlage sozialwissenschaftlicher Fachdatenbanken, Bonn: InformationsZentrum Sozialwissenschaften 1996; ferner auch die Zusammenfassung von Lothar Krempel: »Dynamik der Medienforschung. [E]ine szientometrische Analyse auf der Grundlage sozialwissenschaftlicher Fachdatenbanken«, elektronisch verfügbar unter: , o. S. (letzte Änderung: undatiert; letzter Zugriff: 14.03.2004). 83 Vgl. J. Güdler: Dynamik der Medienforschung (wie Anm. 82), S. IX, 1-2. 84 Vgl. unter anderem D. Crane: Invisible Colleges (wie Am. 73); T. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (wie Am. 13) sowie Derek J. de Solla Price: Little Science, Big Science. Von der Studierstube zur Großforschung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 74-102.

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Als empirische Basis der Studie fungierten mehr als 9.000 Nachweise medienwissenschaftlicher Forschungsarbeiten für den Zeitraum von 1987 bis 1994, die aus den Fachdatenbanken Sozialwissenschaftliches Literaturinformationssystem (SOLIS) und der Referenzdatenbank (PSYNDEX) beziehungsweise der Projektdatenbank Forschungsinformationssystem Sozialwissenschaften (FORIS) selegiert wurden. Diese Nachweise dokumentieren mehr als 6.000 Autoren und Projektmitarbeiter. Die in der Untersuchung ausgewerteten Quellen, die vom Bonner Informationszentrum Sozialwissenschaften (IZ) beziehungsweise von der Trierer Zentralstelle für Psychologische Information und Dokumentation (ZPID) bereitgestellt wurden, geben in erster Linie die Medienforschung im deutschsprachigen Raum mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Bundesrepublik Deutschland für drei Untersuchungsphasen (1987 bis 1988, 1989 bis 1991 sowie 1992 bis 1994) wieder. Die Dokumente auf der Grundlage sozialwissenschaftlicher Fachdatenbanken, das heißt: sowohl Literatur- als auch Forschungsprojektnachweise, wurden mittels Inhaltsdeskriptoren beschrieben. Hierbei handelt es sich um Verschlagwortungen, die zentrale Fragestellungen in einer Forschungsarbeit charakterisieren. Die Inhaltsdeskriptoren markieren das Ausgangsmaterial der szientometrischen Untersuchung. Jeder einzelne Nachweis enthält durchschnittlich elf bis zwölf Schlagwörter. Insgesamt wies das Material annährend 4.000 unterschiedliche Begriffe auf. Um allgemeine evolutionäre Konturen der Medienforschung abbilden zu können, wurden diese Schlagwörter zu 31 »Forschungsfeldern« zusammengefasst. Darunter sind medienbezogene Einheiten (»Fernsehen«, »Hörfunk« usw.), populationsbezogene Felder (»Frauen«, »Kinder und Jugendliche« etc.) sowie generelle Schwerpunktthemen (»Medienwirkung«, »Mediennutzung« usf.) aufgeführt. Diese Forschungsfelder bilden die Grundlage, um Aussagen über thematische Entwicklungslinien in der deutschsprachigen Medienforschung treffen zu können. Die in der Studie adaptierten Wissenschaftsindikatoren basieren im Prinzip auf einem maßgeblich von dem US-amerikanischen Wissenschaftshistoriker Derek J. de Solla Price86 begründeten evolutionären Ansatz der Wissenschaftsentwicklung: »Das Konzept sieht vor allem dort qualitativ hochwertige und innovative Forschung verortet, wo Fragen aus Theorie und/oder Anwendung hohe Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das Entwicklungspotential eines Forschungsfeldes ist dann besonders groß, wenn theoretischen und/oder anwendungsorientierten Fragen im Zeitver85 Vgl. dazu die Gesamtdarstellung von Lothar Krempel: Visualisierung komplexer Strukturen. Grundlagen der Darstellung mehrdimensionaler Netzwerke, Frankfurt am Main/New York: Campus 2005. 86 Vgl. insbesondere D. J. de Solla Price: Little Science, Big Science (wie Am. 84), S. 74-102 und Derek J. de Solla Price/Donald de B. Beaver: »Collaboration in an Invisible College«, in: American Psychologist, 21 (1966) 11, S. 1101-1118.

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lauf wachsende Aufmerksamkeit geschenkt wird.«87 Um sich in der Auswertung des Materials in den Stand zu setzen, allgemeine Entwicklungslinien zu rekonstruieren, wendeten die Autoren zwei neu modellierte Wissenschaftsindikatoren an, wobei beide Untersuchungsinstrumente auf Ansätzen der Netzwerkanalyse gründen: Der »Innovative-Strukturen«-Indikator identifiziert, wie viele Wissenschaftler innerhalb eines Forschungsfeldes an Kooperationsnetzwerken partizipieren. Das Involviertsein in Netzwerke wird zum einen mittels KoAutorenschaften auf der Grundlage von Quellen in SOLIS und PSYNDEX sowie zum anderen mittels gemeinsamer Durchführung von Forschungsprojekten auf der Basis von FORIS-Angaben operationalisiert. Je mehr Wissenschaftler in Netzwerken engagiert sind, desto optimaler stellen sich die Voraussetzungen für »Wissens-Spillover«, einen rascheren Austausch von Wissen und eine schnellere Teilung von Informationen, dar. Darüber hinaus gibt dieser Indikator Auskunft über das ›Alter‹ der in einem Forschungsnetzwerk interagierenden Akteure. Es wird die Hypothese vertreten, dass der Anteil ›junger‹ Wissenschaftler in Netzwerken mit dem Innovationspotenzial dieser Strukturen korreliert.88 Der »Substanzwissenschaft«-Indikator analysiert die dominanten wissenschaftlichen Ausrichtungen in einem Forschungsfeld. Es wird der Stellenwert erfasst, der theorie- und anwendungsorientierten Forschungsintentionen zugeschrieben wird. Dies wird dadurch realisierbar, dass auf Deskriptoren zugegriffen wird, die von den Datenbankanbietern adaptiert werden, um eine nachgewiesene Forschungsarbeit als im Schwerpunkt ›theorie-‹ und/oder ›anwendungsbezogen‹ zu kategorisieren. Forschungsfelder mit großem evolutiven Potenzial werden dort situiert, wo sich der Anteil korrespondierender, als »substanzwissenschaftlich« markierter Forschungsarbeiten als besonders »hoch« beziehungsweise im Zeitverlauf als »dynamisch« zunehmend herausstellt.89 Die Güdler’sche Studie führt zu dem Resultat, dass eine verhältnismäßig hohe Korrespondenz der mit dem Indikatorenset erzielten Ergebnisse zu konstatieren ist. Im Grundsatz wird der Konnex hervorgehoben, dass ein Forschungsfeld mit hohem Theorieanteil für gewöhnlich hochgradig vernetzt ist. Die Anwendungsorientierung eines Forschungsfeldes koinzidiert hingegen mit dem Anteil ›junger‹ Wissenschaftler in Netzwerken. Die Darstellungsweise des Theorie- und Anwendungs-Spillover lässt Schluss-

87 J. Güdler: Dynamik der Medienforschung (wie Anm. 82), S. IX und L. Krempel: »Dynamik der Medienforschung« (wie Anm. 82), o. S. 88 Vgl. J. Güdler: Dynamik der Medienforschung (wie Anm. 82), S. 6-11 sowie L. Krempel: »Dynamik der Medienforschung« (wie Anm. 82), o. S. 89 Vgl. J. Güdler: Dynamik der Medienforschung (wie Anm. 82), S. 11-15; zudem L. Krempel: »Dynamik der Medienforschung« (wie Anm. 82), o. S.

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folgerungen auf thematische Zusammenhänge, Ursprünge sowie Richtungen von Schwerpunktverlagerungen im Zeitverlauf zu.90 Die in den Relationen der Felder manifestierten Strukturen zeichnen sich während des gesamten Untersuchungszeitraums der Studie – im Großen und Ganzen – durch hohe Stabilitäten aus. Felder mit starken Überschneidungen werden zu »Clustern« respektive zu »Forschungskulturen« (Gruppen) zusammengefasst. Grundsätzlich lassen sich drei Forschungskulturen für die erste Untersuchungsphase von 1987 bis 1988 differenzierten: »Neue Medien/Medientechnik«, »Medien als Wirtschaftsorganisationen« sowie »Medienwirkung/Mediennutzung«. Dieser Trend stabilisiert sich in der Untersuchungsphase von 1989 bis 1991. In der letzten Untersuchungsphase von 1992 bis 1994 formiert sich eine vierte Forschungskultur: »Medien als kultureller Faktor«.91

S ys t e m m o d e r n e r W i s s e n s c h a f t u n d wissenschaftlicher Disziplinen Bevor sich das Konzept einer integrierten Wissenschaftsforschung auf die aktuelle hiesige Medienforschung anwenden lässt, gilt es, die sich dafür notwendigen sozialwissenschaftlichen Grundlagen zu erarbeiten. Ohne eingehende Kenntnisnahme der sowohl evolutionär als auch kausal vorausgegangenen gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse unter Entstehung eines modernen Wissenschaftssystems und eines modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen lässt sich schlechterdings keine Modellation einer (Selbst-)Beobachtungslogik transdisziplinärer Medienwissenschaft ins Werk setzen. Die Umstellung des Gesellschaftssystems auf das Primat funktionaler Differenzierung brachte fundamentale Veränderungen mit sich: Das System Wissenschaft und das System wissenschaftlicher Disziplinen konstituierten sich. Habe ich mich bislang primär mit ›wissenschaftlichem Wissen‹ und ›Wissenschaft‹ auseinandergesetzt, so hat sich mein Augenmerk selbstverständlich mit gleicher Intensität auf die wissenschaftlichen Aktanten – die Wissenschaftler – zu richten. Doch sollte, wenn nachstehend von ›Wissenschaftlern‹ die Rede ist, nicht vergessen werden, dass bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die Termini ›Wissenschaftler‹ oder scientist unbekannt waren, um die Funktion des wissenschaftlich Tätigen auszuweisen.92 Die Einführung dieser Begriffe ist vornehmlich einem gesteigerten Differenzierungs- und Reflexionsniveau im Kontext der Professionalisierung 90 Vgl. J. Güdler: Dynamik der Medienforschung (wie Anm. 82), S. 44-51 und L. Krempel: »Dynamik der Medienforschung« (wie Anm. 82), o. S. 91 Vgl. J. Güdler: Dynamik der Medienforschung (wie Anm. 82), S. 44-51 und L. Krempel: »Dynamik der Medienforschung« (wie Anm. 82), o. S. 92 Vgl. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 625.

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und Organisation der Rolle des Wissenschaftlers im Wissenschaftssystem geschuldet.93 Wie Analysen, gestützt auf die funktionale Methode der Systemtheorie,94 zeigen, lassen sich durchaus Vergleiche zwischen der Evolution und Ausdifferenzierung des Funktionssystems Wissenschaft und der Evolution und Ausdifferenzierung anderer funktionsspezifischer Teilsysteme der Gesellschaft unter mehreren Aspekten anstellen.95 Allerdings besteht im Fall des Wissenschaftssystems wenigstens hinsichtlich eines Gesichtspunktes ein eklatanter Unterschied. Für gewöhnlich installieren Funktionssysteme im Prozess ihrer Ausdifferenzierung neue Asymmetrien von Sozialbeziehungen. Jene neu gebildeten asymmetrischen Konstrukte schließen an schon etablierte komplementäre Rollensets an und ersetzen diese. Der Prozess der Ausdifferenzierung adaptiert die schon vorhandenen Sozialbeziehungen als Agens für die Konstitution funktionsspezifischer Sozialsysteme: Beispielsweise schließen das Wirtschaftssystem an die Asymmetrie von Produktion und Konsumption,96 das Erziehungssystem an die Asymmetrie von Erzieher und Zögling beziehungsweise von Lehrer und Schüler,97 das politische System an die Asymmetrie von Regierenden und Regierten98 oder das Medizinsystem an die Asymmetrie von Arzt und Patient99 an. Im Gegensatz dazu nimmt sich das Wissenschaftssystem insofern als exzeptionell aus, als dass seine spezifische Leistung – wissen93 Vgl. vor allem Max Weber: »Wissenschaft als Beruf«, in: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen: Mohr 1988, S. 582613, hier S. 609 (Hervorhebung im Original): »Daß Wissenschaft heute ein fachlich betriebener ›Beruf‹ ist im Dienst der Selbstbesinnung und der Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge, und nicht eine Heilsgüter und Offenbarungen spendende Gnadengabe von Sehern [und] Propheten oder ein Bestand des Nachdenkens von Weisen und Philosophen über den Sinn in der Welt, – das freilich ist eine unentrinnbare Gegebenheit unserer historischen Situation, aus der wir, wenn wir uns selbst treu bleiben, nicht herauskommen können.« 94 Zur funktionalen Methode vgl. unter anderem Niklas Luhmann: »Funktionale Methode und Systemtheorie«, in: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 1. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen: Westdeutscher Verlag 1991, S. 31-53. 95 Vgl. hierzu und nachstehend N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 92), S. 625; ferner Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 743-776. 96 Vgl. Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 72-73, 79. 97 Vgl. Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 120-124, 145-150, 196-198 sowie Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 55-60, 104-108. 98 Vgl. Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 253-265. 99 Vgl. Niklas Luhmann: »Der medizinische Code«, in: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven, Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, S. 183-195, hier S. 185, 186-188.

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schaftliche Erkenntnis, wissenschaftliches Wissen – in symmetrischer Rollenteilung von Wissenschaftlern für Wissenschaftler produziert, distribuiert, rezipiert, kritisiert und adaptiert wird.100 Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgte sukzessive eine Differenzierung der Wissenschaft in Disziplinen. Die ›Disziplinarisierung‹ der Wissenschaft gab im Laufe des 19. Jahrhunderts die »organisatorische[.] und epistemologische[.] Grundlage«101 für den Prozess ab, dass Wissenschaft sich ausdifferenziert, sich autonomisiert, sich selbst organi100 Auf das nicht unproblematische Verhältnis von Wissenschafts- und Erziehungssystem kann ich hier nicht eigens ausführlich eingehen, doch zumindest ist ein kurzes klärendes Wort bezüglich der funktionalen Integration/ Desintegration respektive Inklusion/Exklusion von Wissenschaft und Erziehung in ein System angebracht. In der systemtheoretischen Diskussion sind die Standpunkte konträr und kontrovers. Zwei Beispiele mögen diesen Umstand illustrieren. Definit plädiert N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 92), S. 678-679, für eine strikte Trennung von Wissenschaft und Erziehung: »Die meisten Organisationen der modernen Gesellschaft sind spezifischen Funktionssystemen zugeordnet. Daß Universitäten zugleich zur Forschung und zur Erziehung beitragen sollen, ist eher eine Anomalie. Die unmittelbare Kopplung von Lehre und Forschung würde, wenn ernst genommen, erhebliche Leistungsminderungen in beiden Bereichen verursachen. Vor allem aber ist zu beachten, daß die Phase des exponentiellen Wachstums der Wissenschaft, was Personal und Finanzmittel angeht, irgendwann einmal (wenn nicht heute schon) abgeschlossen ist. Das heißt dann, daß in diesen Hinsichten (nicht deshalb auch: im Wissen selber) ein annähernd stationärer Zustand erreicht werden muß. Und das heißt ganz praktisch: daß ein Wissenschaftler während seines ganzen Lebens nur einen einzigen Nachfolger ausbilden kann. Dann müssen die Universitäten zu Schulen werden, in denen anspruchsvolle Qualifikationen erworben werden, und die Selektion des akademischen Nachwuchses wird man nur noch situativ handhaben können. Es hat dann keinen Sinn mehr, speziell dafür auszubilden. Die Differenzierung von Erziehung und wissenschaftlicher Forschung wird sich auf diese Weise auch hier durchsetzen.« Hingegen konstatiert R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 24), S. 86-87 (Hervorhebung im Original): »Die Funktionenkombination von Wissenschaft und Erziehung schließt Wissenschaft über Universitätserziehung an ein Funktionssystem an, das der Wissenschaft deshalb universelle Relevanz im Gesellschaftssystem sichert, weil jedes Gesellschaftsmitglied einen Teil seines Lebens in Schulen verbringt und damit zumindest potentiell auch in Tertiärerziehung als letzte Stufe der Institutionalisierung von Erziehung einbezogen werden kann. […] Es steht außer Frage, daß die Funktionenkombination mit Erziehung nicht nur das Verhältnis der Wissenschaft zur gesellschaftlichen Umwelt betrifft, vielmehr auch auf die innere Struktur der Wissenschaft zurückwirkt. Außer den schon erwähnten Zusammenhängen von Wachstum der Zahl der Berufsrollen für Wissenschaftler, in Universitäten erreichbarer Organisationsgröße und damit gegebenen Voraussetzungen für Disziplinendifferenzierung ist die Frage der Nachwuchsrekrutierung von Interesse.« 101 Peter Weingart: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist: Velbrück 2001, S. 25.

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siert und sich sozial schließt. Um mich in den Stand zu setzen, die fundamentale Umwälzung in der Wissenschaft und des Wissenschaftssystems nachvollziehen zu können, rekurriere ich exemplarisch auf die Arbeiten des Soziologen Rudolf Stichweh, der einen gewichtigen Beitrag zur (Re-) Konstruktion des Systems Wissenschaft und des Systems wissenschaftlicher Disziplinen im 18. beziehungsweise 19. Jahrhundert geleistet hat. In seiner einschlägigen Abhandlung Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen102 expliziert er die These, dass die elementare Diskontinuität, welche die Wissenschaft des 18. Jahrhunderts von der des 19. und 20. Jahrhunderts separiert, sich als disziplinäre Differenzierung der Wissenschaft, mithin als Konstituierung eines Systems wissenschaftlicher Disziplinen, identifizieren lässt.103 Zum Zwecke der Darstellung der Aus- und Innendifferenzierung des Sozialsystems Wissenschaft folge ich nachstehend maßgeblich dieser Argumentationslinie. Konkretisiert Stichweh seine These auch anhand der (disziplinären) (Dis-)Kontinuität der Physik in Deutschland von 1740 bis 1890, so können seine differenzierungshistorischen Analysen dennoch grundlegende Bedeutung für die Evolution und Differenzierung sowohl eines modernen Systems Wissenschaft als auch eines modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen für sich reklamieren. Entgegen den dominierenden kategorialen Systemen von Wissenschaft expliziert Stichweh die »disziplinäre Differenzierung der Wissenschaft als Realstrukturen des Sozialsystems«104. Disziplinen, verstanden im Stichweh’schen Sinne als disziplinäre Gemeinschaften (Communities) von Wissenschaftlern,105 organisieren sich selbst durch ihre jeweiligen Problemexpositionen, Relevanzkriterien, Interpretationskontrollen etc. Wissenschaftliche Disziplinen generieren füreinander wechselseitig innerwissenschaftliche Umwelten, die den Kontakt zur außerwissenschaftlichen Umwelt ›mediatisieren‹.106 Die Koinzidenz disziplinärer Differenzierung der Wissenschaft und Realstrukturen des Sozialsystems Wissenschaft im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert trifft in der von Stichweh beschriebenen Weise freilich nicht mehr auf das 20. Jahrhundert oder gar das angebrochene 21. Jahrhundert zu – auf die Differenzierungsprozesse werde ich weiter unten noch zu sprechen kommen –, doch ist die Kenntnisnahme dieser sozioevolutionären und differenzierungstheoretischen Prämissen unverzichtbar, um Problemstellung und Studiendesign der vorliegenden Untersuchung angemessen entwerfen und begründen zu können. Erst auf dieser Wissensbasis 102 Vgl. R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 24). 103 Vgl. ebd., S. 9-10. 104 Ebd., S. 9. 105 Vgl. ebd., S. 50, zu den besagten Klassifikationsschemata von Wissenschaft S. 7-14. 106 Vgl. auch W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 29), S. 25-27.

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werden sich gehaltvolle Aussagen machen lassen über den Perspektivenwechsel von disziplinären und intradisziplinären Beobachtungs- und Beschreibungslogiken der Medienforschung hin zu multi- und transdisziplinären Beobachtungs- und Beschreibungslogiken der Medienforschung. Die Auswirkungen des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert waren für die Wissenschaft dermaßen tief greifend, dass eine völlig modifizierte Terminologie zu postulieren ist. Eine soziologische Differenzierungstheorie, so wie hier adaptiert, weist jedoch über den gemeinen Unterschied von Sozialstruktur und Semantik hinaus: »Die Ausdifferenzierung eines Sozialsystems ist nur als Ausdifferenzierung einer Sozialstruktur und Semantik möglich. Die Analyse von Vorentwicklungen, Ungleichzeitigkeiten und Interdependenzen zwischen diesen beiden Ebenen gewinnt nur vor dem Hintergrund dieser Voraussetzung ihr angemessenes Profil.«107

Die Akzeleration sowohl der wissenschaftlichen Expansion als auch der (sub-)disziplinären Differenzierung evozierte, so Stichweh, im Ausklang des 19. Jahrhunderts ein Zweifaches: Zum einen suspendierte dieser Beschleunigungsprozess die letzten überkommenen Wissenschaftsklassifikationen; zum anderen kommandierte er, dass das Gros des Wissens unter je neuen Perspektiven reorganisiert und respezifiziert wird. Diese Veränderungen kommen unter dem Aspekt der ›Wahrscheinlichkeit‹, so Stichweh, einer Steigerung der »Aktivierung des Wissen«108 gleich. Die Ausdifferenzierung des Funktionssystems Wissenschaft lässt sich wie folgt charakterisieren: »Der Prozeß der Ausdifferenzierung in der ihm eigenen sequentiellen Struktur der Ausgrenzung zunächst einzelner Situationen spezialisierter Kommunikation, dann der Entstehung spezialisierter Leistungsrollen und schließlich der Konstitution eines eigenen Sozialsystems, vollzieht sich in der Entwicklung moderner Wissenschaft in genau zwei Formen. Einmal als Ausdifferenzierung der Wissenschaft aus einer nicht-wissenschaftlichen Umwelt, zum anderen als Innendifferenzierung des Wissenschaftssystems in eine Mehrzahl disziplinärer Subkulturen, d. h. der Wiederholung des Prozesses der Systembildung innerhalb des Systems. Innendifferenzierung verändert nicht nur die innere Struktur des Systems, vielmehr […] die Umweltlage des gesamten Wissenschaftssystems.«109

In der Differenzierungshistorie des Sozialsystems Wissenschaft ist der Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert durch einen einschneidenden Perspektivenwechsel gekennzeichnet: von der Aus- zur Innendifferenzierung. 107 R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 24), S. 21 (Hervorhebung im Original). 108 Ebd., S. 13. 109 Ebd., S. 39-40 (Hervorhebung im Original).

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Seit etwa 1750 übernimmt die Innendifferenzierung der Wissenschaft die »Führungsfunktion« im kontinuierlichen Ausdifferenzierungsprozess des Wissenschaftssystems.110 Setzt man den Stichweh’schen Argumentationsduktus des Wechsels in der funktionalen Umstellung von der Aus- hin zur Innendifferenzierung der Wissenschaft voraus, so ist anzunehmen, dass die beiden Prozesse korrelativ einander bedingen und befördern. Mithin resultieren aus diesem Sachverhalt eine selbstreferenzielle Schließung respektive Geschlossenheit der Differenzierung des Wissenschaftssystems.111 Es liegt in dem Umstand der Umstellung der Gesellschaft auf das Primat funktionaler Differenzierung begründet,112 dass wiederum auch der Differenzierungsprozess der Wissenschaft, sofern er erst einmal initiiert ist und sich selbst kontinuiert (nach dem Prinzip der Selbstorganisation, der Autopoiesis), nicht mehr auf Impulse aus der Umwelt der Wissenschaft angewiesen ist. Unter der genannten Prämisse sind Ereignisse in gewissen Phasen des Prozesses der Differenzierung der Wissenschaft in erster Linie durch sowohl kausal als auch temporal frühere Ereignisse des gleichen Vorgangs bestimmt. Dementsprechend schwach ausgeprägt sind die reziproken Beziehungen und Wirkungen mit sowohl zeitlich vorausgegangenen als auch zeitgleich ablaufenden Geschehnissen außerhalb der Wissenschaft, also in ihrer Umwelt.113 Bedingt durch den selbstrestriktiven Trend, dass Umwelt mehr und mehr nur noch in ausgesprochen spezifischen, durch die Referenz auf die genuin eigene Funktion determinierten Perspektiven eines gesellschaftlichen Funktionssystems von Belang ist und somit Indifferenz dominiert, werden Freiheitsgrade für das System Wissenschaft geschaffen.114 Zur Erklärung von Disziplinbildungsprozessen, basierend auf Einsichten und Erkenntnissen aus der Naturwissenschaftsgeschichte des 18. sowie des 19. Jahrhunderts, führt Stichweh fünf komplementäre Mechanismen an:

110 Vgl. ebd., S. 40. 111 Vgl. ebd. 112 Vgl. auch N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (wie Anm. 95), S. 707 (Hervorhebung im Original): »Im evolutionstheoretischen Kontext muß zunächst akzeptiert werden, daß die gesellschaftliche Ausdifferenzierung einzelner Funktionssysteme zu eigener, autopoietischer Autonomie und erst recht die Umstellung des Gesamtsystems der Gesellschaft auf einen Primat funktionaler Differenzierung ein extrem unwahrscheinlicher Vorgang ist, der schließlich aber irreversible, von sich selbst abhängige Strukturentwicklungen auslöst.« 113 Vgl. R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 24), S. 40. 114 Vgl. hierzu und zur »Selbstrestriktion« ebd., S. 42.

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• Differenzierung meint, dass sich eine verhältnismäßig homogene »Ausgangsstruktur« beziehungsweise eine verhältnismäßig stabile »semantisch-kulturelle Tradition« im Prozess der Disziplinbildung in (mindestens) zwei unterschiedliche Komplexe teilt; • Residualdisziplin steht für das Produkt »asymmetrische[r] Differenzierungsprozesse« und zwar in der Weise, dass im Zuge der Disziplinkonstitution heteronome, nicht integrierbare Elemente überbleiben (»nichtantizipierbare Selbstorganisation disparaten Materials«); • Synthesen umschreiben den Disziplinformationsprozess, in dem Bestandteile der Wissenschaft, die zuvor unverbunden nebeneinander firmierten, zu »neuen Synthesen« miteinander verkoppelt werden; • Integration erklärt Disziplinbildung dadurch, dass eine Mehrzahl von heterogenen Problemsektoren dazu tendiert, starke Interaktionen an die Stelle nur schwacher Wechselwirkungen zu setzen und eine »Disziplin« mittels integrativer Problemexpositionen, Termini und Modelle zu identifizieren sowie • Diskontinuität der Entstehung drückt die »Neuheit disziplinkonstituierender Problemstellungen und Begriffe« aus, demnach die Reformulierung der Perspektiven in der wissenschaftlich-geistigen Sphäre eine Disziplin konturiert, die in der Geschichte ohne Vorläufer oder Beispiel ist.115 Die fünf hier lediglich kurz angesprochenen Faktoren, ohne sie an dieser Stelle weiter vertiefen zu können, klassifiziert Stichweh unter einer differenzierungs- und nicht unter einer evolutionstheoretischen Explikationsstrategie: »Daß wir diese theoretische Alternative [gemeint ist der evolutionstheoretische Erklärungsansatz; C. F.] hier nicht verfolgen, hat seinen Grund darin, daß der Gegenstand der Analyse die Phase der Entstehung disziplinärer Differenzierung als Primärdifferenzierung der Wissenschaft ist.«116 Die Konstituierung eines Systems wissenschaftlicher Disziplinen bildet indes die Bedingung dafür, dass sich auf dem Fundament der klassischen (natur-)wissenschaftlichen Disziplinen und der sich – in Parallelität dazu – formierenden institutionellen Infrastruktur eine subdisziplinäre Evolution etablieren kann. Diese Entwicklung gewährt Variationen durch eine »individuell verschiedene Rekombination«117 sowie durch eine »differentielle Reproduktion«118 disziplinärer Problemexpositionen; dabei kann sie auf Mechanismen der Selektion respektive Stabilisierung im Kommunikationssystem und der institutionellen Infrastruktur der Wissenschaft zurückgreifen.119 Ein zureichendes Separieren voneinander unab-

115 116 117 118 119

Vgl. zu dieser fünffachen Punktuation ebd., S. 96-99. Ebd., S. 98 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 99. Ebd. Vgl. ebd.

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hängig »operierender evolutionärer Mechanismen«120 kann erst inmitten einer disziplinär differenzierten Wissenschaft funktionieren. Damit ist jedoch erst während der zweiten Phase beschleunigter subdisziplinärer Evolution zu rechnen, die sich hauptsächlich während des 20. Jahrhunderts vollzieht. Ist ein solcher subdisziplinär differenzierter Entwicklungsstand erreicht, lässt sich ein evolutionstheoretisches Explikationskonzept mit gleicher Berechtigung wie ein differenzierungstheoretisches ins Feld führen.121 Die initiierte Innendifferenzierung des Systems wissenschaftlicher Disziplinen hat kausale Auswirkungen auf die Ausdifferenzierung. Darin ist eine »Diskontinuität in der Ausdifferenzierungsgeschichte des Wissenschaftssystems«122 zu sehen. In Anbetracht der generellen Kontingenz der sozioevolutionären Drift darf man ›Ausdifferenzierung‹ mitnichten als kontinuierlich, gemächlich fortlaufenden Prozess modellieren. Der Formwechsel, den eine Umstellung von bestenfalls hierarchischen Ordnungsformen von Wissen mit bescheidenem Integrationspotenzial zu einer disziplinär (re-)organisierten Wissenschaft impliziert, generiert im Vergleich zu alltäglichen Problemauffassungen geradezu, so Stichweh, einen »epistemologischen Bruch« im Bachelard’schen Begriffsverständnis.123 Man kann hier allerdings nicht von einem schon fortgeschrittenen Prozess der Ausdifferenzierung sprechen.124 Um die hohe Bedeutung der Diskontinuität in der Ausdifferenzierungshistorie des Systems wissenschaftlicher Disziplinen gewärtigen zu können, ist man angehalten, die durch die Differenzierung der Disziplinen evozierte Modifizierung der »Umweltorientierung der Wissenschaft«125 in den Fokus der Betrachtung zu nehmen. Das Besondere an einer Wissenschaft, die noch nicht disziplinär (re-)organisiert ist, besteht darin, dass die primäre Umwelt wissenschaftlichen Handelns eben nichtwissenschaftliche Handlungszusammenhänge der Gesellschaft ausmachen. Im Gegensatz dazu begegnet eine wissenschaftliche Disziplin in ihrer eigenen Umwelt zuallererst einer weiteren wissenschaftlichen Disziplin; sie wendet nicht mehr ›Gesellschaft‹ als die stets korepräsentierte und mitinkludierte Bedingung ihrer Unterscheidungs- und Beobachteroperationen an. Die Ausbildung eines Systems wissenschaftlicher Disziplinen korrespondiert mit

120 121 122 123

Ebd. Vgl. ebd., S. 98-99. Ebd., S. 48. So schreibt Gaston Bachelard: Epistemologie, Frankfurt am Main: Fischer 1993, S. 216: »Wir können, aus der Perspektive des Epistemologen, mit Recht sagen, daß es Zeichen eines Bruches geworden ist, einer Diskontinuität der Sinne, einer Reform des Wissens.« 124 R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 24), S. 46. 125 Ebd., S. 48.

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der Entstehung einer »inneren Umwelt«126 der Wissenschaft. Die vormalig gesellschaftlichen Selektionskriterien wissenschaftlicher Vorstöße werden durch innerwissenschaftliche Selektionskriterien substituiert, die maßgeblich für den Erfolg oder Misserfolg eines – wenn man so will – AgendaSetting-Prozesses einer Disziplin verantwortlich sind.127 In diesem Systemkontext sind zwei weitere Prämissen von besonderer Bedeutung: zum einen die Explikation disziplinkonstitutiver Problemorientierungen, zum anderen die Formation disziplinärer Kommunikationsgemeinschaften wissenschaftlicher Aktanten als soziale Systeme:128 Erstens ist die Formierung einer wissenschaftlichen Disziplin darauf angewiesen, dass in ihrer Entwicklung das den Anbeginn ausmachende Konkretum der Gegenstandsbewandtnis sukzessive durch disziplinkonstituierende Problemorientierungen und -expositionen ersetzt wird. Solche Problemstellungen können extensiv auf je neue Gegenstandsbereiche appliziert werden. Eine jedwede Bestrebung, eine Problemexposition zu fixieren, macht sich die Referenz auf andere, nicht antizipierte Problemstellungen zu Eigen – mit dem identitätsstiftenden Effekt, dass eine jede wissenschaftliche Disziplin ihr eigenes Selbstverständnis immer auch in Beziehung zu ihrer Vorstellung von anderen wissenschaftlichen Disziplinen ausbildet. Eine solchermaßen konzipierte wissenschaftliche Disziplin konterkariert die Starrheit disziplinärer Distanzierungsmechanismen: »Das ganze durch die Pole ›Konkurrenz‹ und ›Kooperation‹ definierte Spektrum möglicher interdisziplinärer Beziehungen wird verfügbar, bei gleichzeitig gesteigerter Autonomie jeder Disziplin in der Selektion ihrer Umweltbezüge.«129 Zweitens erfordert eine Dynamisierung der Relation wissenschaftlicher Disziplinen untereinander die Begründung disziplinärer Gemeinschaften, sprich: Communities. ›Systematiken von Wissen‹ intendieren, eine objektive, eine von den gegenständlichen Bezügen des Wissens her entlehnte Taxonomie greifbaren Wissens zu begründen. Während solche Systematiken, Einteilungen des Wissens, einem wissenschaftlichen Aktanten einen Horizont eröffnen, an der einen oder anderen Stelle in einer bestimmten Wissenssystematik etwas zu ergänzen, stellen wissenschaftliche Disziplinen zuvorderst soziale Systeme, das heißt: »Kommunikationsgemeinschaften von Spezialisten«,130 dar. Für gewöhnlich verschreiben sich Experten einer gemeinsamen disziplinkonstituierenden Problemexposition und haben somit nicht teil an einer zweiten wissenschaftlichen Disziplin. In solchen Kommunikationsgemeinschaften wissenschaftlicher Spezialisten ist es angelegt, Grenzen der eigenen Disziplin zu transzendieren, auf dem

126 127 128 129 130

Ebd., S. 49. Vgl. ebd., S. 48-49. Vgl. ebd., S. 49-50. Ebd., S. 49. Ebd., S. 50.

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Felde anderer Disziplinen zu expandieren und eben hier die Stärke des eigenen disziplinären Ansatzes vorexerzieren zu können.131 Singuläre wissenschaftliche Disziplinen setzen, sofern sie noch über verhältnismäßig enge Beziehungen zu außerwissenschaftlichen Funktionskontexten verfügen, entweder pragmatisch-programmatisch auf die Ausrichtung nach anderen Disziplinen oder sind bestrebt, eine Platzierung im Prestigegefüge wissenschaftlicher Disziplinen zugewiesen zu bekommen. Auf diesem Wege versuchen sie, sich jener außerwissenschaftlichen Verquickungen zu entledigen oder sie in diejenige Form zu überführen, welche mit ihrer disziplinären Autonomie vereinbar ist.132 Die inhärente Struktur der Wissenschaft und die Relation des sozialen Funktionssystems Wissenschaft zu seiner gesellschaftlichen Umwelt sind dadurch gekennzeichnet, dass eine jedwede Disziplin die innerwissenschaftliche Umwelt in einem hochgradigen Maße selektiv wahrnimmt und diese aus diesem Grunde für eine jede Disziplin zwangsläufig eine andere ist. Vor diesem Hintergrund darf man sich die binnenwissenschaftliche Ökologie – Stichweh spricht an dieser Stelle vom »innerwissenschaftlichen Milieu«133 – mitnichten als eine homogene (An-)Ordnung vorstellen, sondern sie rekrutiert sich aus einer Mannigfaltigkeit von Umweltperspektiven. Keine jener Umweltperspektivierungen kann für sich reklamieren, sie sei gegenüber anderen die umfassendere und/oder ausgezeichnetere Sichtweise. An die Stelle der einst hierarchisch nach Rangordnungen (Spitze, Zentrum) formierten Wissenssysteme (wie Theologie, Recht und Medizin) tritt eine dezidiert dezentralisierte Struktur des Systems Wissenschaft, »die nur lokal eindeutig definiert ist − durch die System-Umwelt-Perspektive der an dieser Stelle zu verortenden Disziplin −, aber zwischen zwei Orten weitgehend variieren kann.«134 Aus dem charakteristischen Umstand seiner dezentralistischen Struktur resultieren für das Wissenschaftssystem zwei wichtige Effekte: Zum einen geht der Wissenschaft die Handhabe einer supradisziplinären Kontrolle verlustig; zum anderen verliert die Wissenschaft die Instanz, sich in der Kommunikation zur außerwissenschaftlichen Umwelt durch ein, das gesamte System repräsentierendes Mandat vertreten zu lassen.135 Die Dezentralisierung der modernen Wissenschaft zeitigt Folgen und Konsequenzen für die Repräsentation der – wie auch immer zu beschreibenden – ›Einheit‹ des Wissenschaftssystems. In Ermangelung einer systemischen Spitze oder eines systemischen Zentrums entfällt die Position eines für die gesamte Wissenschaft sprechenden Repräsentanten; somit gibt es keinen

131 132 133 134 135

Vgl. ebd., S. 49-50. Vgl. ebd., S. 51. Vgl. ebd., S. 51. Vgl. ebd., S. 51-52. Vgl. ebd.

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Vertreter, der im Namen der Wissenschaft das Wort gegenüber ihrer gesellschaftlichen Umwelt ergreifen kann und darf.136 Ausgelöst durch die Dezentralisierung des Wissenschaftssystems setzt sich der massive Trend zur Innendifferenzierung weiter fort: Die Ausrichtung einer jeden einzelnen wissenschaftlichen Disziplin an ihrer innerwissenschaftlichen Umwelt, ihrer autopoietischen Operationsweise, ihrer Selbstorganisation sowie ihrer Selbstreferenzialität limitiert ihr Interesse, ihren kommunikativen Kontakt zu außerwissenschaftlichen Umwelten zu intensivieren. Als Reaktion dieser interagierenden Faktoren kommt es zu einer Deinstitutionalisierung einer Großzahl kommunikativer Bezüge, die die Wissenschaften noch während des 18. Jahrhunderts mit einem breiten außerwissenschaftlichen Publikum verbinden. Auch dieser Vorgang lässt sich wiederum als »Innendifferenzierung intensivierter Ausdifferenzierung«137 interpretieren.138 Wie bereits ausgeführt, fungieren Ausdifferenzierung und Expansion der Wissenschaft – in Abhängigkeit von einer makrosoziologischen Umstellung des gesellschaftlichen Differenzierungskalküls − als Prävention eines ›kommunikativen Overload‹ im Kommunikationssystem der Wissenschaft. Hier besteht derselbe Mechanismus wie bei der Überlastung von, Luhmannisch formuliert, psychischen Systemen oder Bewusstseinssystemen: »Diese extreme Reduktion des Außenkontaktes ist zur Abwehr von Reizüberflutung erforderlich.«139 Als Quintessenz jener kommunikativen Überforderung korreliert das Einsetzen disziplinärer Differenzierung mit der wissenschaftseigenen Form der Innendifferenzierung. Die im Kon136 Die heutige Misere mit den etablierten Maximen und Mechanismen der Selektion, Delegation, Repräsentativität und Legitimation von Personen und Institutionen, welche die Funktionen, Interessen und Positionen der Wissenschaft(en) gegenüber der Gesellschaft (Politik, Wirtschaft, Erziehung, Medien und Öffentlichkeit etc.) vertreten (sollen), ist hinlänglich bekannt. Aufgrund jener Dilemmata wird immer wieder von berufener Seite in der einen oder anderen Form die Idee einer Nationalen Akademie der Wissenschaften auf Bundesebene vorgetragen, um der genannten Problemen Herr zu werden. Vgl. etwa Daniel Lübbert: »Eine Nationale Akademie der Wissenschaften?«, in: Deutscher Bundestag. Wissenschaftlicher Dienst, Jg. 2007, Nr. 36, S. 1-2, elektronisch verfügbar unter: (letzte Änderung: 25.08.2006; letzter Zugriff: 02.12.2007). Die befassten Vorschläge weisen zum Teil weit über das gegenwärtige Konzept der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Zusammenschluss der sieben deutschen Wissenschaftsakademien in Berlin, München, Göttingen, Leipzig, Heidelberg, Mainz und Düsseldorf) hinaus. Vgl. (letzte Änderung: 20.11.2007; letzter Zugriff: 02.12.2007). Vom systemtheoretischen Standpunkt aus betrachtet, ist solchen Bestrebungen der Zentralisierung von Wissenschaft mit tiefster Skepsis zu begegnen. 137 R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 24), S. 55. 138 Vgl. ebd. 139 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 92), S. 45.

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text der fortgesetzten disziplinären Differenzierung installierte elementare Reorganisation der inneren Struktur des Wissenschaftssystems transformiert eine Mehrheit von Hinsichten auf die System/Umwelt-Relationen des Systems Wissenschaft. Entscheidend ist, dass die Rejustierung auf die innerwissenschaftliche Umwelt, in die jede einzelne Disziplin kontextualisiert ist, wie eine Triebfeder für die Ausdifferenzierung der Wissenschaft wirkt.140 »Ingesamt erscheinen Ausdifferenzierung und Innendifferenzierung der Wissenschaft«, schlussfolgert Stichweh, »als Teil eines komplex verflochtenen Differenzierungsprozesses moderner Gesellschaft, der − einmal angelaufen − die Dynamik seiner Fortsetzung aus sich selbst heraus erzeugt.«141 Legt man die oben hergeleitete Prädisposition zugrunde, dass unter der Voraussetzung funktionsspezifisch expandierender Umweltbezüge die Informationsnachfrage sowie die Wahrscheinlichkeit des Erzeugens – mitunter kontingenter – Informationen exponentiell zunehmen, so sieht sich die Wissenschaft insbesondere zweierlei Entwicklungen gegenüber:142 Auf der einen Seite kann die Wissenschaft die in anderen (systemischen) Kontexten hervorgebrachten Informationen nach dem eigenen binären Differenzkode ›Wahrheit/Unwahrheit‹ respektive ›wahr/falsch‹ reformieren und vielfältige Perspektiven nach System/Umwelt-Unterscheidungen generieren.143 Auf der anderen Seite ist durchaus erwartbar, dass sich in den jeweiligen Funktionssystemen der gesellschaftlichen Umwelt (außerhalb der Wissenschaft) ihrerseits das Bedürfnis nach einer wahrheitsförmigen Verarbeitung von Information erhöht.144 Dies wiederum lässt die Umweltver-

140 Vgl. R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 24), S. 61-62. 141 Ebd. 142 Vgl. hierzu ebd., S. 44. 143 Vgl. unter anderem mit zum Teil unterschiedlichen Nuancierungen R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 24), S. 20; W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 29), S. 46-65; N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 92), S. 194-208 oder P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 101), S. 48-49, 137-138. 144 Historisch betrachtet, erweisen sich Extension und Distribution wissenschaftlichen Wissens als Langzeittrends. In der heutigen ›wissensbasierten Gesellschaft‹ oder ›Wissensgesellschaft‹ wird nicht allein ›Wissen‹ zum Charakteristikum, sondern vielmehr die vom ›Wissen‹ unterschiedene und bezeichnete andere Seite, nämlich das ›Nichtwissen‹. Vgl. zum Beispiel die Auffassung von Helmut Willke: Dystopia. Studien zur Krisis des Wissens in der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 11, »dass die Besonderheit des Wissens der Wissensgesellschaft darin besteht, Expertise im Umgang mit Nichtwissen zu generieren und verfügbar zu machen.« Vgl. ferner Stefan Böschen/Peter Wehling: Wissenschaft zwischen Folgenverantwortung und Nichtwissen. Aktuelle Perspektiven der

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bindungen und -kontakte zur Wissenschaft ansteigen und richtet modifizierte Leistungsanforderungen – im Sinne erhöhter Erwartungs(-erwartungs-)haltungen – an die Wissenschaft. Unbeschadet der konkreten Konfiguration jener Relationen zeigt sich indes im Endeffekt, dass das intensivierte Umweltverhältnis ausdifferenzierter Funktionssysteme für das Wissenschaftssystem Expansionsimpulse mit sich bringt. Nach übereinstimmenden systemtheoretischen Analysen kann das Funktions- und Kommunikationssystem Wissenschaft im Prinzip mittels zweier Mechanismen auf das zunehmende Wachstum nach innen reagieren: Erstens erhöht das System Wissenschaft seine Selektivität, mithin seine Ausdifferenzierung.145 Man könnte auch von einer Strukturierung respektive einer Hierarchisierung von Aufmerksamkeit sprechen.146 Just die selektive Aufmerksamkeit avanciert zum »strukturierende[n] Prinzip in der wissenschaftlichen Kommunikation«147 – Aufmerksamkeit wird zum »Maß für den Nutzwert von Information«148 schlechthin. In seinem Buch Ökonomie der Aufmerksamkeit hat der Architekt Georg Franck, den Blick auf den Wissenschaftsbetrieb gerichtet, erhellend konstatiert: »Mit Aufmerksamkeit sind attention und awareness stets zugleich – und zwar

zugleich in ihrer Verschiedenheit – gemeint. Das Aufmerksamsein sei, ganz im Sinne des umgangssprachlichen Wortgebrauchs, als die zugewandte und zugleich wach daseiende Geistesgegenwart verstanden. Mit Aufmerksamkeit wird immer sowohl die Kapazität zu selektiver Informationsverarbeitung als auch der Zustand der Geistesgegenwart angesprochen sein. Und mit dem Zustand der Geistesgegenwart wird […] nie nur die Bereitschaft zur Informationsverarbeitung und das Aktiviertsein von Hintergrundwissen gemeint sein, sondern immer auch die bewußte Präsenz.«149

Der Befund selektiver Aufmerksamkeit betrifft in Sonderheit die im Laufe der Zeit stetig wachsende Menge wissenschaftlicher Publikationen, die zu nicht geringen Anteilen überhaupt nicht perzipiert und rezipiert werden kann.150

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Wissenschaftsforschung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 94-105. Vgl. R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 24), S. 44. Vgl. P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 101), S. 104. Ebd. Georg Franck: »Jenseits von Geld und Information«, elektronisch verfügbar unter: , o. S. (letzte Änderung: 09.11.1998; letzter Zugriff: 29.11.2007). Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München/ Wien: Hanser 2003, S. 30 (Hervorhebung im Original). Vgl. auch P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 101), S. 104.

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Zweitens setzt das Wissenschaftssystem im Zuge seines explosionsartigen informationellen Wachstums im 18. Jahrhundert auf Innendifferenzierung151 und Spezialisierung152. Der Spezialisierungsprozess zielt vornehmlich auf Rollen und Personen ab.153 Die Momente der Innendifferenzierung beziehungsweise der Spezialisierung erweisen sich auch und gerade als Reflex auf die ungeheure Zunahme der Produktion und Rezeption wissenschaftlichen Wissens. Dieser Zusammenhang lässt sich als Ergebnis strategischen Handels interpretieren, das Peter Weingart am Beispiel von Märkten und Organisationen erläutert: Erhöht sich die Anzahl der Wettbewerber und nimmt die Dichte der Konkurrenz zu, so wird sich der Impetus, die Motivation zur Differenzierung, was sich in der Regel in der Spezialisierung eines wissenschaftlichen Forschungs- und Lehrgebiets manifestiert,154 verstärken. Spezialisierung erweist sich mitnichten als zufällig; vielmehr wird sie durch existierende disziplinäre Strukturen, Objektbereiche, Problemorientierungen etc. der Wissenschaft als ein kalkulierbarer Erwartungshorizont konturiert. Lediglich insofern kann Spezialisierung als aussichtsreiche Strategie zur Erzeugung von Aufmerksamkeit reüssieren, als dass sie Bezüge zu bereits etatisierten wissenschaftlichen Strukturen und Sektoren – im Sinne von ›Anschlussfähigkeit‹ – nicht außer Acht lässt. Jedoch ist die Funktionalität der Spezialisierung wiederum im Wirkungszusammenhang mit der »Attraktivität«155 alternativer Arrangements zu betrachten, welche ihrerseits in Abhängigkeit steht zu der vorherrschenden Ressourcenökonomie von Wissenschaft und Forschung.156 Der Aspekt ›Veröffentlichungen‹ fand bereits oben im Kontext selektiver Aufmerksamkeit von Informationen in der Wissenschaft en passant Erwähnung.157 Selbstredend sind Kommunikationsprozesse disziplinärer 151 Vgl. R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 24), S. 44. 152 Vgl. P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 101), S. 104. 153 Vgl. Rudolf Stichweh: »Bildung, Individualität und die kulturelle Legitimation von Spezialisierung«, in: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, München: Fink 1991, S. 99-112, hier S. 99-102. 154 Vgl. dazu auch M. Weber: »Wissenschaft als Beruf« (wie Anm. 93), S. 588-589 (Hervorhebung im Original): »Nur durch strenge Spezialisierung kann der wissenschaftliche Arbeiter tatsächlich das Vollgefühl, einmal und vielleicht nie wieder im Leben, sich zu eigen machen: hier habe ich etwas geleistet, was dauern wird. Eine wirklich endgültige und tüchtige Leistung ist heute stets: eine spezialisierte Leistung.« 155 Vgl. P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 101), S. 107. 156 Vgl. ebd., S. 106-107. 157 Natürlich sind Kulturtechniken und Medien wie Schrift und Buchdruck, Institutionen der Kanonisierung und Interpretation von Texten und Quellen sowie kollektives und soziales Gedächtnis wichtige evolutionäre und kulturelle Bedingungen dafür. Vgl. dazu etwa Aleida Assmann/Jan Assmann:

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Gemeinschaften und Scientific Communities von gewissen Mindestanforderungen infrastruktureller und organisationeller Couleur abhängig. Dazu gehört in besonderer Weise das Publikationssystem der Wissenschaft. Es etabliert sich parallel zu wissenschaftlichen Forschungs- und Entwicklungsinstitutionen, Lehr- und Lernorganisationen und ist von Grunde auf komplex konzipiert.158 An dieser Stelle sticht die nicht zu unterschätzende Bedeutung der histori(-ografi-)schen Medien- und Kommunikationsforschung für ›klassische‹ Problemstellungen der Wissenschaftsphilosophie und -theorie, -soziologie und -geschichte sowie -forschung hervor.159 Differenztheoretisch betrachtet – im Sinne des re-entry von George SpencerBrown160 – tritt (paradoxerweise) unser eigentlicher Untersuchungsgegenstand ›Medienforschung‹, hier in Form einer Kommunikations- und Medienhistor(-iograf-)ie, allerdings unproblematisiert in die Konfundierung einer Grundlegung der Erforschung von (Medien-)Wissenschaft ein. In der soziokulturellen, -technischen und -ökonomischen Erfindung und Durchsetzung der Druckerpresse wird der Weg zur Entstehung einer neuzeitlichen Wissenschaft geebnet, ohne damit jedoch die relevanten und innovativen Errungenschaften in den spätmittelalterlichen Skriptorien (beispielsweise Papierverwendung, Paginierung und Register) in Frage stellen zu wollen.161 »In Europa sprengte der Buchdruck […]«, so die pointierte Formulierung des Sprach- und Kommunikationswissenschaftlers Michael Giesecke in seiner großen historischen Fallstudie Der Buchdruck in der frühen Neuzeit,162 »die Grenzen der traditionellen Institutionen und damit auch der überkommenen skriptographischen Kommunikationsnet-

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»Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis«, in: Klaus Merten/Siegfried J. Schmidt/Siegfried Weischenberg (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 114-140, hier S. 130-140. Vgl. zudem Elena Esposito: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 10. Vgl. R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 24), S. 92. Vgl. stellvertretend für Viele die mittlerweile schon ›klassisch‹ zu nennenden Arbeiten von Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen: Westdeutscher Verlag 1987, S. 81-117, 118137; Jack Goody/Ian Watt: »Konsequenzen der Literalität«, in: Jack Goody /Ian Watt/Kathleen Gough: Entstehung und Folgen der Schriftkultur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 63-122 sowie den neueren Beitrag von Jack Goody: »Literacy and the Diffusion of Knowledge across Cultures and Times«, in: Giorgio Barba Navaretti u. a. (Hg.): Creation and Transfer of Knowledge. Institutions and Incentives, Berlin/Heidelberg/New York: Springer 1998, S. 167-177, hier S. 167-168. Vgl. George Spencer-Brown: Laws of Form / Gesetze der Form, Lübeck: Bohmeier 1997, S. VII-XXXVI, 1-24. Vgl. auch N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 92), S. 604. Vgl. M. Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit (wie Anm. 32), zu den theoretisch-konzeptuellen Prämissen S. 37-61.

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ze.«163 Während des 15. und 16. Jahrhunderts zerfällt die große Kommunikationsgemeinschaft des christlichen Abendlandes. Nach und nach entwickeln sich Nationalstaaten und diese bilden »standardisierte Kodesysteme«164 mit vergleichbaren Spezifika, den nationalen Standardsprachen, aus, wodurch Informationsströme fortan in andere Bahnen gelenkt werden.165 In dem Maße, wie sich die seinerzeit ›neuen Medien‹ der Drucktechnik gesellschaftsweit verbreiten, wächst das Erfordernis, sich an das sich völlig wandelnde Kommunikationssystem mit seinen Charakteristika anzupassen. In der Historiografie firmiert dieser Umbruch nicht selten als ›Verschriftlichung des Lebens‹, als ›Rationalisierung‹ oder als ›Verwissenschaftlichung‹.166 Diese Prozesse tangieren verschiedenste gesellschaftliche Bereiche wie, um nur einige zu nennen: Wissenschaft, Erziehung, Recht, Kunst oder Literatur.167 Die Auswirkungen, die der Buchdruck insbesondere für Wissenschaftler und die Wissenschaft zeitigt, sind beträchtlich: Während es zu Zeiten vor der Installierung typografischer Kommunikationsmedien als nicht anstößig oder unschicklich gilt, Rede über Gegenstände zu führen, über die keine visuell kodierten Informationen vorliegen – diverse Informationstypen können durchaus isoliert nebeneinander bestehen –, so sollte sich dies nachhaltig durch den Buchdruck ändern.168 Eine wachsende Anzahl von Personen und Institutionen kommt darin überein, dass Worte mittels visueller Informationen kodiert werden sollten. Verschiedene linguistisch zu unterscheidende Dimensionen – von der Syntaktik über die Semantik bis zur Pragmatik – passen sich den neuen Kommunikationskonventionen an: Sätze werden dezidiert als ›Beschreibungs-‹ oder ›Aussagesätze‹ konzipiert, und zwar in der Weise, dass Artikulationen visuelle Informationen (re-)präsentieren.169 Das Ergebnis der Umstellungen im informationsverarbeitenden System ist nahezu revolutionär:

163 Ebd., S. 129-130. 164 Michael Giesecke: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 58. 165 Vgl. ebd. 166 Diese Auflistung ist ebd., S. 61, entnommen. 167 Vgl. ebd. Schon für die frühe Neuzeit, das 15. und 16. Jahrhundert, adaptiert die Giesecke’sche Darstellung etwa für Wissenschaft, Erziehung und Recht den Systembegriff. Diese gleichsam historisch wie soziologisch sehr frühe Einführung des Systembegriffs ist meines Erachtens nach – unter Verweis auf die hier vertretene sowohl sozialevolutions- als auch differenzierungstheoretische Konzeptualisierung – nicht zu legitimieren. 168 Vgl. hierzu und nachfolgend M. Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit (wie Anm. 32) S. 589. 169 Vgl. ebd. (Hervorhebung im Original): »Das Programm, mit denen man diese Informationen gewinnt, nennt man ›Perspektive‹, die Ergebnisse ›rechte Abkonterfeiungen‹ oder ›wahrhafftige [sic!; C. F.] Berichte‹.«

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»Das komplexe Informationssystem, welches diese ›wahren‹ oder ›rechten‹ Beschreibungen schafft, ist der Beschreiber, seine radikalisierte und ausdifferenzierte Form der Wissenschafter bzw. die Wissenschaft. ›Wahrheit‹ wird zum Markenzeichen für die Resultate eines neuen informationsverarbeitenden Systems – bzw. für die Erkenntnisleistungen eines Menschen, der nach den Regeln dieses neuen Modells arbeitet.«170

Ein jedwedes Bild, eine jedwede Beschreibung reduziert die informationelle Vielfalt von ›Wirklichkeit‹; ›Wirklichkeit‹ fungiert somit als Synonym für die »Überkomplexität von Informationen«,171 wie Giesecke treffend notiert. Im Kontrast zu den alten oralen und skriptografischen Medien stehen der wissenschaftlichen Kommunikation in Form des typografischen Informationsverarbeitungssystems bislang unbekannte und ungeahnte Potenziale zur Verfügung. Die disziplinären Gemeinschaften können auf einmal Texte und Quellen, Thesen und Zitate etc. einer Mannigfaltigkeit von Autoren unter diachronen und synchronen Vorzeichen miteinander in Diskurs setzen. Zweifelsohne ist der Einschätzung beizupflichten, dass der Buchdruck zum ersten Male in der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte die Komplexität des schon geteilten expliziten Wissens sichtbar werden lässt; es mag sogar der Eindruck entstehen, dass sich ein Großteil dessen als unverzichtbar ausnimmt.172 Im Grunde besteht die Anforderung, dass sämtliche Elemente, die für das Verständnis, Annehmen und Weiterverarbeiten der (geteilten) Informationen von Bedeutung sind, im Text veranlagt zu sein haben. In Anbetracht der hohen und noch weiter zunehmenden Komplexität, die mit dem typografischen Informationsverarbeitungssystem des Buchdrucks anhebt, kann letzten Endes keiner mehr davon Kenntnis haben, wer welche Quellen perzipiert und rezipiert hat oder nicht. Mitunter hat man sich infolgedessen auf einen erhöhten Bekanntheitsgrad von Autoren und Werken, auf eine hohe Emergenz und Kontingenz verarbeiteten 170 Ebd. (Hervorhebung im Original); vgl. ferner zum neuzeitlichen Wissensund Wahrheitsbegriff ebd., S. 636-639. 171 Ebd., S. 614. 172 Der Gedanke ist von N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 92), S. 604, inspiriert, weist aber darüber hinaus. Mit Anleihen bei der Kognitions- und Wissenspsychologie lassen sich hier mit Erkenntnisgewinn die Begriffe implizites Wissen (tacit knowledge) und explizites Wissen in Anschlag bringen: Implizites Wissen ist in den kognitiven Systemen einzelner Personen lokalisiert. Es ist nur schwerlich mitteilbar und kodierbar. Gegensätzlich dazu verhält sich explizites Wissen: Es ist außerhalb des kognitiven Systems einer Person in medialen Substraten kodiert. Es ist weniger kontextdependent und leichter zerlegbar. Vgl. zu mentalen Repräsentationen von ›Wissen‹ sowie zu materiellen Artefakten von ›Wissen‹ unter anderem Michael G. Wessells: Kognitive Psychologie, New York: Harper & Row 1984 sowie Heinz Mandl/Hans Spada (Hg.): Wissenspsychologie, München/Weinheim: Psychologie-Verlags-Union 1988.

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wissenschaftlichen Wissens sowie auf ein (anonymes) Publikum und das Konstrukt einer ›öffentlichen Meinung‹ einzurichten.173 Um die immens hohe Bedeutung des typografischen Informationsverarbeitungssystems Buchdruck für das Wissenschaftssystem zu ermessen, ist es angezeigt, sich dem noch etwas detaillierter zu widmen. Dies soll am Beispiel der Fachzeitschrift erfolgen. Jene Mediengattung, verstanden als Instrument disziplinär spezialisierter, wahrheitsförmiger Kommunikation im Wissenschaftssystem, markiert den Übergang, der die neue Ordnung des Systems wissenschaftlicher Disziplinen von der Wissenschaft des 18. Jahrhunderts unterscheidet:174 Im Kontext der Reorganisation der Wissenschaft dient die Fachzeitschrift nicht allein als perzeptive, institutionalisierte Form, die fachliche Trends und Tendenzen antizipiert und adaptiert, sondern sie erweist sich zudem als ein effektives Instrument, das als soziale Matrix der Konstituierung disziplinärer Gemeinschaften fungiert.175 Darüber hinaus kommen der Fachzeitschrift wichtige Aufgaben als Vermittlungs- und Entscheidungsinstanz zu, indem sie mit Blick auf die soziale und kognitive Formation wissenschaftlichen Wissens – gegebenenfalls – intervenieren kann.176 In die Rekonstruktion und Reorganisation disziplinär spezialisierter, wissenschaftlicher Kommunikation sind vor allem zwei weitere Referenzfaktoren, die sich reziprok zur Genese der Fachzeitschrift transformieren, mit ins Kalkül zu ziehen: Zum einen fungiert die Publikation als basale soziale Aktivität des Wissenschaftlers, wodurch er seine Interaktion an disziplinären Kommunikationsprozessen unter Beweis stellt – es besteht sogar die Pflicht des Wissenschaftlers zu (re-)produzieren (nach der Devise: »Publish or Perish!«) –; zum anderen repräsentiert das Kommunikationssystem der Wissenschaft die Systemebene, die durch innergesellschaftliche Ausdifferenzierung wahrheitsförmiger Kommunikation entscheidende Orientierungsschemata und Evaluationskriterien für die Kommunikation in einer Scientific Community expliziert und kodifiziert.177

173 Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 92), S. 604. Zur öffentlich Meinung vgl. des Weiteren Niklas Luhmann: »Öffentliche Meinung«, in: Politische Vierteljahresschrift, 11 (1970) 1, S. 2-28. 174 Vgl. R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 24), S. 394. Es sei daran erinnert, dass Stichweh hierbei in erster Linie die disziplinäre Gemeinschaft der Naturwissenschaften, in Sonderheit der Physik, im Auge hat. 175 Richtigerweise annotieren W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 29), S. 81: »Zeitschriften sind ein Milieu der Forschung; aber sie operieren nach Maßstäben, die nicht die Forschung allein, sondern das wissenschaftliche Publikationswesen setzt.« 176 Vgl. R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 24), S. 394. 177 Vgl. ebd., S. 394-441.

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Wie zu gewärtigen ist, vermag das Publikationsorgan Fachzeitschrift, den spezifischen Kommunikationsproblemen einer Gemeinschaft von Spezialisten gleichsam als Instrument wie als Symbol Rechnung zu tragen.178 Im Grunde ist es den strukturellen Charakteristika des (Print-)Mediums sowie den Kompositionsprinzipien des publizistischen Materials zuzurechnen – verwiesen sei exemplarisch auf die vier »Wesensmerkmale« solcher Medienofferten aus der Zeitungswissenschaft Otto Groths, nämlich: »Periodizität«, »Universalität«, »Aktualität« und »Publizität« –,179 dass die Mitglieder einer disziplinären Gemeinschaft potenziell diskursorientiert, kollektiv, kontinuierlich und unlimitiert an der wissenschaftlichen Kommunikation partizipieren können.180 Die spezialisierte, wahrheitsförmige Kommunikation in disziplinären Gemeinschaften lässt sich noch weiter differenzieren: Für die naturwissenschaftliche Forschung erweist sich die Fachzeitschrift beziehungsweise der Fachzeitschriftenartikel als die ausschlaggebende publizistische Form. Haben sich die strukturellen Merkmale und kompositorischen Prinzipien der Fachveröffentlichungen während der Evolution der modernen Wissenschaft auch gewandelt und unterlagen ihre Funktionen partiell auch Veränderungen, so reüssiert doch der Fachzeitschriftenaufsatz seit dem frühen 19. Jahrhundert als die im Grundsatz gleich gebliebene primäre Form der Publikation in naturwissenschaftlichen Disziplinen. Hingegen dominierte in den Geisteswissenschaften über eine ganze Reihe von Wissenschaftlergenerationen die publizistische Langform der Monografie. Sind in diesen Fächern mit monografischen Arbeiten immer noch hohe Reputationszuschreibungen verbunden, so zeichnet sich aber auch hier eine Durchsetzung des Fachartikels als charakteristische Veröffentlichungsform ab.181 Aus sozioevolutionärer Perspektive heraus argumentierend, richtete sich mein Augenmerk im Kontext der Etablierung spezialisierter, ›wahrheits178 Vgl. dazu vor allem mit Blick auf Funktion und Status der Fachzeitschrift im Formierungsprozess disziplinärer Gemeinschaften ebd., S. 425. 179 Vgl. Otto Groth: Die unerkannte Kulturmacht. Grundlegung der Zeitungswissenschaft (Periodik), Berlin: de Gruyter 1960, S. 440-442; vgl. ferner L. Hachmeister: Theoretische Publizistik (wie Anm. 14), S. 207. Der medientypologischen Korrektheit wegen sei angemerkt, dass sich die angeführten strukturellen Charakteristika gemäß Groth expressis verbis auf die ›Zeitung‹ beziehen. Nichtsdestotrotz treffen die Groth’schen Indikatoren grosso modo auf die ›(wissenschaftliche) Fachzeitschrift‹ zu. Das Kriterium »Universalität« wird man von dieser Aussage ausnehmen müssen, da die wissenschaftliche Fachzeitschrift die Mitglieder einer disziplinären Gemeinschaft in Form spezialisierter, wahrheitsförmiger Kommunikation adressiert. Man könnte auch von Special Interest sprechen. 180 Vgl. R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 24), S. 425. 181 Vgl. hierzu P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 101), S. 100-109 sowie P. Weingart u. a.: Die sogenannten Geisteswissenschaften (wie Anm. 48), S. 311-312.

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förmiger‹ Kommunikation zunächst auf das typografische Informationsverarbeitungssystem. Dabei stand das Exemplum der Drucktechnik stellvertretend für die die wissenschaftliche Interaktion (neu) kodierenden und normierenden Kommunikations- und Informationsmedien. In der zeitlichen Verlängerung dieses Kausalnexus in unsere heutige Gegenwart hinein ist zweifelsohne der These des Philosophen und Wissenschaftstheoretikers Klaus Mainzer zuzustimmen: »Computer- und Informationstechnologien werden nach der gesprochenen und gedruckten Sprache zur neuen Kulturtechnik der Wissensgesellschaft.«182 Die tradierte Kulturtechnik des Buches183 markiert das Dispositiv184 des ›aktiven‹, produzierenden Schreibers (Autors) auf der einen Seite und des ›passiven‹, konsumierenden Lesers (Rezipienten)185 auf der anderen Seite als individuelle Handlungsrollen. Im Laufe der Zeit formiert sich der Typus des »Buchgelehrten«, dessen Beschreibungs- oder Aussagesätze linear, Zeile für Zeile, auf eine Seite gedruckt und sequenziell in einem Buch zusammengebunden werden. Jedoch erweist sich die Arbeit am und mit dem Text weder als linear noch sequenziell, denn es werden Namen, Termini, Zitate und Quellen in anderen Büchern nachgesehen, die ihrerseits auf weitere Texte mit Abbildungen, Quellenangaben, Exegesen und auf zahlreiche andere Zusammenhänge Bezug nehmen (können). Hingegen verhält sich die (Text-)Arbeit mit elektronischen Kommunikations- und Informationssystemen in einigen vergleichenden Hinsichten anders. So (dis-)arrangiert zum Beispiel ein computerbasiertes Hypermedium einen Text in ein Netz von Knoten. Informationen werden durch statische und dynamische Medien strukturiert und repräsentiert. Der Rezipient navigiert selbst nach seinem Wissen und seinen Interessen durch den

182 Klaus Mainzer: »Computernetze und Wissensgesellschaft. Perspektiven des Wissensmanagements«, in: Theo Hug (Hg.): Wie kommt Wissenschaft zu Wissen?, Band 4. Einführung in die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, Baltmannsweiler: Schneider 2001, S. 58-67, hier S. 62. Vgl. ausführlich Klaus Mainzer: Computernetze und virtuelle Realität. Leben in der Wissensgesellschaft, Berlin/Heidelberg/New York: Springer 1999. 183 Vgl. hierzu und nachfolgend K. Mainzer: »Computernetze und Wissensgesellschaft« (wie Anm. 182), S. 62 sowie Rainer Kuhlen: Nicht-lineare Strukturen im Hypertext, Schömberg: Haessler 1991, o. S. 184 Vgl. zum Begriff des ›Dispositivs‹ auch Jean-Louis Baudry: »Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 48 (1994) 11, S. 1047-1074. 185 Wohlgemerkt handelt es sich dabei um dispositive Zuschreibungen. Wie komplex und differenziert sich der aktive, produktive Prozess der Lektüreaneignung ausnimmt, zeigt die Zusammenfassung der Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte von Norbert Groeben: Leserpsychologie. Textverständnis und Textverständlichkeit, Münster: Aschendorff 1982 sowie Norbert Groeben/Peter Vorderer: Leserpsychologie. Lesemotivation – Lektürewirkung, Münster: Aschendorff 1988.

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Hypertext und kann ihn aktiv erweitern und verändern. Es stellt sich der Eindruck ein: »Die Gutenberg-Galaxis mit ihren klassischen Bibliotheken scheint sich im World Wide Web aufzulösen.«186 Aktuellen Untersuchungen Gieseckes187 nach zu urteilen, stellt das alte typografische Informationsverarbeitungssystem jedoch insofern ein gewaltiges Handikap für die innovative und alternative Informationsproduktion, -distribution und -rezeption dar, als dass wir – nach wie vor – dem Nimbus und den Modellen der Buch- und Industriekultur unterworfen sind: »Das überkomplexe Informationsangebot vieler neuer Medien und die Anforderung an Medienintegration und synästhetischer Informationsverarbeitung überfordern nicht nur den Typus des Benutzers, den die Buchkultur entwickelt hat, sondern sie ermöglichen auch einen neuen Benutzertyp: soziale statt psychische Systeme.«188

Mit diesem Perspektivenwechsel geht laut Giesecke, zumindest idealiter gesprochen, eine gewandelte Form der Wissenskonstruktion, -produktion, -distribution und -rezeption einher.189 Demnach kommt es auf eine Förderung des Dialogs, synästhetischer Informationsverarbeitung,190 dezentraler Vernetzungsstrukturen sowie multimedialer, modularer Wissensdarstellungen an. Die Maximen und Konzepte der Buch- und Industriekultur seien allerdings zu entmythologisieren, monosensuelle Informationsgewinnung, -mediale Speicherung und lineare Informationsverarbeitung sowie hierarchische und interaktionsarme Vernetzung seien zu relativieren. Veröffentlichungen sind als grundlegende wissenschaftliche Handlung unerlässlich bei der Modellierung präsenten Wissens. Auf die spezifische Anomalie in der Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems im Vergleich zur Ausdifferenzierung anderer Funktionssysteme habe ich schon aufmerksam gemacht. Wo sich in anderen sozialen Teilsystemen im Kontext der funktionalen Ausdifferenzierung neue Asymmetrien, mithin sozial asymmetrisch komplementäre (Leistungs-)Rollensets konfigurieren, da markiert das System Wissenschaft den Ausnahmefall.191 Denn wissen-

186 K. Mainzer: »Computernetze und Wissensgesellschaft« (wie Anm. 182), S. 62. 187 Vgl. Michael Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 366-367, ferner S. 331454. 188 Ebd., S. 427-428 (im Original komplett hervorgehoben – Hervorhebung »soziale statt psychische Systeme«; C. F.). 189 Ebd. 190 Zur Mediensynästhesie und -synästhetik vgl. auch Christian Filk/Michael Lommel/Mike Sandbothe (Hg.): Media Synaesthetics. Konturen einer physiologischen Medienästhetik, Köln: Halem 2004. 191 Vgl. auch N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 92), S. 624-625.

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schaftliche Verrichtung – insbesondere Produktion und Rezeption wissenschaftlichen Wissens und wissenschaftlicher Erkenntnis – dient, immer mit Blick auf das Handeln in der wissenschaftsinternen Umwelt, mitnichten asymmetrisch einer bestimmten Adressatengruppe; vielmehr muss von einer symmetrischen Leistungsrollenkonstruktion192 gesprochen werden: »Das Publikum der Wissenschaftler sind die Wissenschaftler.«193 Die publizistische Funktion des Wissenschaftssystems lässt sich wie folgt zusammenfassen: »Jede Veröffentlichung verortet sich in der Forschungslandschaft eines Gebietes, indem sie Anknüpfungspunkte aufweist. Dies geht nur durch eine gedrängte Zusammenfassung wesentlicher Ergebnisse anderer. Jede Veröffentlichung leistet damit ein gewisses Minimum an ›historiographischer‹ Tätigkeit: sie rekonstruiert die eigene Fachgeschichte. Dies geschieht nicht interesselos; die Rekonstruktion ist eine Stilisierung, die der Anknüpfbarkeit der gegenwärtigen Forschung dient. Für andere Forschungsgruppen, die Gegenstand dieser Stilisierung sind, sind dies Informationen darüber, wie ihre Arbeiten wahrgenommen werden. Der Zwang zur Modellierung des gegebenen Wissens ist ein Korrektiv gegen die Spezialisierung der Forschung und der erste Aspekt der Dezentrierung [sensu Jean Piaget; C. F.]: Man muß seine eigenen Erkenntnisse aus der ›historischen‹ Perspektive eines Beobachters des Gebietes wahrnehmen.«194

192 Hinsichtlich des Handels in der wissenschaftsexternen Umwelt treffen wir natürlich auf einen anderen Befund: Wissenschaftliches Wissen kann durch andere funktionale Teilsysteme der Gesellschaft, zum Beispiel das politische System, das Erziehungs- oder das Wirtschaftssystem, observiert werden. Doch dies vollzieht sich dann unter den Bedingungen des Differenzkodes, des operativen Modus sowie der evolutionären Dynamik des beobachtenden Systems. Vgl. etwa beispielhaft den systemtheoretischen Problemaufriss zur Erreichung einer konsensorientierten Wissenschaftsund Technologiepolitik in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft von Christian Filk: »Ist eine konsensfähige Wissenschaftspolitik möglich? – Untersuchungen zur intersystemischen Kommunikation«, in: Rundfunk und Geschichte. Mitteilungen des Studienkreises Rundfunk und Geschichte / Informationen aus dem Deutschen Rundfunkarchiv, 30 (2004) 1/2, S. 4952. Dabei scheint wieder das Paradox auf, dass sich Gesellschaft einerseits als Einheit, andererseits als Vielheit präsentiert. Vgl. ferner einschlägig zu diesem Themenkomplex H. Willke: Dystopia (wie Anm. 144), S. 10-47, 209-249. 193 Walter L. Bühl: Einführung in die Wissenschaftssoziologie, München: Beck 1974, S. 242, hier zitiert nach N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 92), S. 625. 194 W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 29), S. 84 (Hervorhebung im Original).

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Makroskopische Evolutionslinien disziplinärer Medienforschung Der Umstand, dass sich ›Medienforschung‹ in der Geschichte des Wissens und der Wissenschaften als formaliter definierter, institutionalisierter und curricularisierter Gegenstand akademischer Forschung und Lehre jüngeren Datums ausnimmt, wird kaum jemand ernsthaft bestreiten oder in Zweifel ziehen (können). Selbstredend geht die – wenn man so will – informelle Genese der (sub-)disziplinären Reflexion auf Medienkommunikation und Kommunikationsmedien weit dahinter zurück.195 Allerdings handelt es sich hier eher um implizite, latente geschichtliche Diskursstränge, die schwer zu kartografieren sind. Die tradierten Fakultätenlogiken, ihre heteronomen fachlichen Selbst- und Fremdbeobachtungen sowie Selbst- und Fremdbeschreibungen inbegriffen, vermögen entsprechende Rekapitulationsbemühungen einer weit zurückreichenden Genealogie, präziser: eines Sets von Genealogien, kaum produktiv zu befördern. Im Besonderen habe ich – neben der Misere historischer (Re-)Konstruktionen sui generis –, mit dem Desiderat einer sowohl intradisziplinären als auch interdisziplinären Situierung meines Untersuchungsgegenstandes, der ›Medienforschung‹, zu kämpfen. Die zu konsultierende Forschungsliteratur vermag lediglich, bescheidene Beiträge zur konzeptuellmethodologischen Konsolidierung zu leisten. Bis dato liegen kaum Wegmarken zur Historisierung einer multi- und/oder transdisziplinären ›Medienforschung‹ vor. Etwaige geschichtliche Rekapitulationsbestrebungen sind nach wie vor maßgeblich auf Zuträgerdienste aus der intra- und subdisziplinären Reflexion angewiesen. Das oben erarbeitete systemtheoretische Rüstzeug zur Konstitution und Differenzierung wissenschaftlicher Disziplinen liefert wichtige strukturelle Anhaltspunkte zur Reflexion auf (meta-)evolutive Entwicklungslinien der hiesigen Medienforschung. Der Publizistik- und Kommunikationswissenschaftler Ulrich Saxer bringt den beobachterabhängigen Ansatz auf den Punkt: »Ihre Institutionalisierung [der deutschsprachigen Publizistikwissenschaft; C. F.] setzt die Abstimmung der unterschiedlichen Rationalitäten der involvierten Sozialsysteme, namentlich von politischen Behörden, universitären Organisationen, der eigenen fachspezifischen, aber auch des Beobachtungsobjektes selber und seines wissenschaftlichen Problemlösungsbedarfs voraus. Innovationsdruck und Innovationsresistenz wirken dementsprechend bei der Ausdiffe-

195 Vgl. zum Beispiel Günter Helmes/Werner Köster (Hg.): Texte zur Medientheorie, Stuttgart: Reclam 2002. Bezeichnenderweise beginnt der Reader bei Moses »Alttestamentarische[m] Bilderverbot« und endet bei Ray Kurzweils »Verschmelzung von Mensch und Maschine«.

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renzierung der Publizistikwissenschaft, wie ihre wechselvolle Geschichte nicht nur im deutschsprachigen Raum zeigt, fast gleich stark mit.«196

Auf der Matrix der von Saxer benannten Faktoren besteht mein primäres Ziel in diesem Unterkapitel darin, den Versuch einer skizzenhaften historischen (Re-)Konstruktion der ›Medienforschung‹ seit den Anfängen ihrer akademischen Institutionalisierung vorzunehmen. »Wissensproduktion ist […] gegenüber ihrer eigenen Geschichte«, so der Wissenschafts- und Techniksoziologe Wolfgang Krohn, »immer in zweifacher Weise erzählend: selektiv und strukturbildend.«197 Somit richtet sich das Augenmerk potentialiter auf die, systemtheoretisch gesprochen, systematischen, historischen und semantischen (Selbst-)Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen einer ganzen Reihe von Disziplinen und Bindestrichdisziplinen verschiedenster Provenienz wie etwa: ›Zeitungs-‹, ›Publizistik-‹, ›Kommunikations-‹, ›Medien-‹ oder ›Journalistikwissenschaft‹ sowie ›Philosophie‹‚ ›Philologie‹, ›Sprach-‹, ›Literatur-‹ oder ›Kulturwissenschaft‹ etc. Hier treffen wir auf den Sachverhalt der disziplinären Selbstreferenzialität, der mich schon im Zusammenhang mit der disziplinären Differenzierung beschäftigt hat. Auch in ihrer Rekonstruktion ist eine (Sub-)Disziplin maßgeblich von ihrer eigenen Selbstreferenzialität, mithin der Selbstreferenzialität ihrer Problemgeschichte abhängig. Es ist gerade die Konstruktion der (Dis-)Kontinuität der eigenen Problemorientierung, die eine bestimmte (Sub-)Disziplin in ihrer Anschlussfähigkeit selegiert und limitiert. Wird insbesondere in der Abgrenzung zur eigenen internen Umwelt des Wissenschaftssystems, wo man auf andere wissenschaftliche Disziplinen stößt, auf eine (intra-)disziplinäre (Selbst-)Beschreibung der eigenen Kommunikationsgemeinschaft oder Scientific Community insistiert, so vermag man kaum, den jüngeren transdisziplinären Entwicklungen – gerade an den Grenzen und Rändern des eigenen Forschungskalküls – gewahr zu werden.198

196 Ulrich Saxer: »Zur Ausdifferenzierung von Forschung und Lehre der Publizistikwissenschaft: das Beispiel Schweiz«, in: Edzard Schade (Hg.): Publizistikwissenschaft und öffentliche Kommunikation. Beiträge zur Reflexion der Fachgeschichte, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2005, S. 69110, hier S. 71-72 (Hervorhebung im Original). 197 W. Krohn: »Die Wissenschaftsgeschichte in der Wissenschaft« (wie Anm. 75), S. 275. 198 Vgl. auch R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 24), S. 54-55.

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Trotz zu konzedierender sich stabilisierender Trends einer Intensivierung der Wissenschaftsgeschichte in den Literatur-199 und Sprachwissenschaften200 und einer forcierten Historisierung der Kultur-201 und Sozialwissenschaften202 hat die Medienforschung – zumal in bidisziplinärer Perspektive der Medien- und Kommunikationswissenschaft – hiervon kaum profitiert. Nach Kenntnis des Verfassers gibt es kein paradigmatisches Prozedere – sieht man zum Beispiel von Phasenmodellen des Wissenschafts- und Hochschulsystems ab –,203 das sich als Folie der Historiografie einer multi- und/oder transdisziplinären Medienforschung prädestiniert. In der Regel herrschen in der wissenschaftshistorischen Reflexion der Medien- und Kommunikationswissenschaft, die als solche ohnehin nicht sonderlich stark ausgeprägt ist, die ›klassischen‹ (sub-)disziplinär versierten Darstellungen vor. Vom methodisch-operationalen Zugang her finden sich die gängigen Formen retrospektiver, rekonstruierender und historisierender Vergegenwärtigungen: angefangen von (Auto-)Biografien und Bibliografien204 über Institutions- und Organisationsgeschichten205 bis zu 199 Vgl. Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 159-243 sowie R. Stichweh: »Einführende Bemerkungen zu Wissenschaftsforschung und Literaturwissenschaft« (wie Anm. 3), S. 3. 200 Vgl. Andreas Gardt: Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland. Vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Berlin/New York: de Gruyter 1999, S. 1-9 sowie Dieter Cherubim/Karlheinz Jakob/Angelika Linke (Hg.): Neue deutsche Sprachgeschichte. Mentalitäts-, kultur- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge, Berlin/New York: de Gruyter 2002, passim. 201 Vgl. Friedrich A. Kittler: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München: Fink 2000, S. 11-19. 202 Vgl. Clemens Burrichter: »Aufgaben und Funktionen einer historischen Wissenschaftsforschung. Reflexionen zum Thema des Bandes«, in: Clemens Burrichter (Hg.): Grundlegung der historischen Wissenschaftsforschung, Basel/Stuttgart: Schwabe 1979, S. 7-21, hier S. 7. 203 Vgl. auch Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hg.): Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln/Weimar/ Wien: Böhlau 2004. 204 Vgl. beispielsweise als jüngere Beiträge Everett M. Rogers: A History of Communication Study. A Biographical Approach, New York: Free Press 1994; Arnulf Kutsch/Horst Pöttker (Hg.): Kommunikationswissenschaft – autobiographisch. Zur Entwicklung einer Wissenschaft in Deutschland, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997; Lutz Hachmeister: Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München: Beck 1998; Peter Glotz: Ferenczy. Die Erfindung des Medienmanagements, München: Bertelsmann 1998; Thomas Schuster: Referenzbibliografie Medien. Bibliografien, Handbücher und Fachzeitschriften zur Massenkommunikation, Konstanz: UVK-Medien 2000 sowie Michael Meyen/Maria Löblich (Hg.): »Ich habe dieses Fach erfunden«. Wie die Kommunikationswissenschaft an die deutschsprachigen Universitäten kam. 19 biografische Interviews, Köln: Halem 2007. 205 Vgl. aktuell etwa Michael Meyen/Maria Löblich (Hg.): 80 Jahre Zeitungsund Kommunikationswissenschaft in München. Bausteine zu einer Institutsgeschichte, Köln: Halem 2004 und Edzard Schade (Hg.): Publizistik-

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Theorie- und Fachhistorien206. Dabei sind die Grenzziehungen nicht selten als fließend anzusehen. Insgesamt betrachtet, sind all diese Ansätze für gewöhnlich wenig systematisch konfundiert, womöglich auch zum Teil als Folge eines vermeintlich oder tatsächlich mangelnden Renommees historischer und historiografischer (Selbst-)Reflexion in den partizipierenden Wissenschafts(-sub-)disziplinen und -kulturen.207 Trotz ihrer Desiderate leisten jene geschichtlichen Analysen zur Medienforschung in Ermangelung ›echter‹ Alternativen – mehr oder weniger – einen unverzichtbaren Beitrag zu einer bidisziplinären Annäherung an die Medienforschung. In der befassten Forschungsliteratur finden sich nicht unbegründete Einwände, die einen gewissen Zweifel an der Möglichkeit äußern, in einem geschichtlichen Überblick die Resultate der ›Medienforschung‹, zu-

wissenschaft und öffentliche Kommunikation. Beiträge zur Reflexion der Fachgeschichte, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2005. 206 Vgl. als selektive Auswahl unter anderem die Untersuchungen und Einschätzungen zu – in systemischer Diktion – schwächeren und stärkeren strukturellen (sub-)disziplinären Kopplungen in der Entwicklung der Medienforschung von Otto B. Röggele: »Die Zeitungswissenschaft im Streit der Fakultäten«, in: Publizistik. Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, 11 (1966) 3-4, S. 390-398; Gerhard Maletzke: Publizistikwissenschaft zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften, Berlin: Spiess 1967; Friedhelm Kröll: »Kommunikationswissenschaft. Auswertung einer Umfrage zur Entwicklung und Situation des Faches im deutschsprachigen Raum«, in: Publizistik. Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, 25 (1980) 4, S. 492-514; Rüdiger vom Bruch: »Zeitungswissenschaft zwischen Historie und Nationalökonomie. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Publizistik als Wissenschaft im späten deutschen Kaiserreich«, in: Publizistik. Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, 25 (1980) 4, S. 579-605; L. Hachmeister: Theoretische Publizistik (wie Anm. 14), S. 2241; Knut Hickethier: »Das ›Medium‹, die ›Medien‹ und die Medienwissenschaft«, in: Rainer Bohn/Eggo Müller/Rainer Ruppert (Hg.): Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft, Berlin: Sigma 1988, S. 51-74; Ulrich Saxer: »Von wissenschaftlichen Gegenständen und Disziplinen und den Kardinalsünden der Zeitungs-, Publizistik-, Medien-, Kommunikationswissenschaft«, in: Beate Schneider/Kurt Reumann/Peter Schiwy (Hg.): Publizistik. Beiträge zur Medienentwicklung, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1995, S. 39-55; Helmut Schanze: »Medien, Methoden, Theorien. Nachüberlegungen zum Methoden- und Theoriedialog des Sonderforschungsbereichs 240 ›Bildschirmmedien‹«, in: Peter Gendolla/Peter Ludes/Volker Roloff (Hg.): Bildschirm – Medien – Theorien, München: Fink 2002, S. 23-32; S. J. Schmidt: »Medienwissenschaft und Nachbardisziplinen« (wie Am. 60) sowie Michael Meyen/Maria Löblich: Klassiker der Kommunikationswissenschaft. Theorie- und Fachgeschichte in Deutschland, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2006. 207 Eine der wenigen journalistik- beziehungsweise kommunikationswissenschaftlichen Habilitationsschriften, die als Biografie vorgelegt wurden, ist die Arbeit von L. Hachmeister: Der Gegnerforscher (wie Anm. 204).

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mal nach dem Zweiten Weltkrieg, zu referieren, zu analysieren und zu interpretieren.208 Der widrige Umstand ist aber nicht allein auf die – vor allem für die ersten Jahre nach 1945 – bescheidene Quellenlage zurückzuführen,209 sondern vielmehr hat man darüber hinaus wesentliche formale und methodische Gesichtspunkte mit ins Kalkül zu ziehen. So hat man ein bestimmtes historisches Konzept (Organisations-, Struktur-, Institutions-, Biografie[n]historie etc.) zu wählen und man hat den räumlich-zeitlichen Kontext der geschichtlichen (Re-)Konstruktion einzugrenzen (angloamerikanischer, deutscher Sprachraum, transkontinental-komparatistische Sichtweise usf.). Um der wiederholt zu konzedierenden Komplexität der Materie und dem intendierten (wissenschafts-)theoretischen Selbstanspruch Rechnung zu tragen, sei der propädeutische Charakter der nachstehenden Ausführungen hervorgehoben. Ich werde zum Teil einander widerständige Traditionskomplexe der ›Medienforschung‹ schematisch rekapitulieren. Zu diesem Zwecke versuche ich, mittels eines eingeschränkten Fokus historische Wegmarken des in Rede stehenden, weithin als antagonistisch diskursivierten Wissenschaftsgefüges zu rekonstruieren. Erkenntnisleitend ist dabei die Annahme, dass man instruktive Aufschlüsse über die Evolution und Ausdifferenzierung der ›Medienforschung‹ im deutschsprachigen Raum, insbesondere für Deutschland,210 gewinnen kann, insofern man Medien- und Kommunikationswissenschaft in ihren geschichtlichen Verlaufsprofilen betrachtet. Dabei sollen die Abgrenzungen allerdings nicht über Gebühr statisch gehandhabt werden. Ein allzu sophistisches Verhar208 Vgl. etwa für die Kommunikationswissenschaft Hans Bohrmann: »Zur Geschichte des Faches Kommunikationswissenschaft nach 1945«, in: Hermann Fünfgeld/Claudia Mast (Hg.): Massenkommunikation. Ergebnisse und Perspektiven, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 51-67, hier S. 59. 209 Vgl. ebd. 210 Die Ausführungen über die ›Medienforschung‹ in Deutschland beziehen sich in erster Linie auf die alte Bundesrepublik und das vereinigte Deutschland. Eine eingehende Untersuchung der ›Medienforschung‹ in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) muss einer gesonderten Abhandlung vorbehalten bleiben. Vgl. hierzu auch die differenzierte Einschätzung von Arnulf Kutsch/Horst Pöttker: »Kommunikationswissenschaft – autobiographisch. Einleitung«, in: Arnulf Kutsch/Horst Pöttker (Hg.): Kommunikationswissenschaft – autobiographisch. Zur Entwicklung einer Wissenschaft in Deutschland, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 7-20, hier S. 18. Vgl. ferner zur DDR-Fachgeschichte der Publizistik, Journalistik und Kommunikationswissenschaft unter anderem Joachim Pötschke: »Sprachkommunikation und Stilistik. Journalistischer Sprachgebrauch als Lehr- und Forschungsgegenstand an der Sektion Journalistik der Karl-Marx-Universität Leipzig«, in: Arnulf Kutsch/Horst Pöttker (Hg.): Kommunikationswissenschaft – autobiographisch. Zur Entwicklung einer Wissenschaft in Deutschland, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 139-160.

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rungsvermögen mit Blick auf das eigene kanonische (Selbst-)Verständnis hinsichtlich disziplinärer Identität und Differenz dürfte sich hierfür als kaum förderlich erweisen. Es handelt sich dabei um keine Geschichte ex negativo, sondern viel eher um eine Geschichte ex positivo, indem ›Medien‹ – selbstbeobachtend und -beschreibend – zum Thema im Wissenschaftssystem gemacht werden und mittels definierter Theorien und Methoden fokussiert werden. Der bereits konturierte Perspektivenwechsel von einer differenz- zu einer evolutionstheoretischen Explikationsstrategie ist für meine (Re-)Konstruktion der Medienforschung im deutschsprachigen Raum mit dem Schwerpunkt Deutschland seit der Nachkriegszeit aus medien- und kommunikationswissenschaftlicher Sicht entscheidend. Mit Hilfe eines evolutionstheoretischen Konzeptes lassen sich Konstitution und Differenzierung der hiesigen Medienforschung beobachten und beschreiben. In Gestalt evolutionär operierender Mechanismen verfüge ich für meine domänspezifischen Überlegungen über ein zureichend differenziertes wissenschaftssoziologisches Instrumentarium, um ›Medienforschung‹ problemorientiert auf der Basis eines Systems traditioneller Disziplinen wie zum Beispiel Nationalökonomie, Philologie, Philosophie, Geschichtswissenschaft oder Soziologie im retrospektiven bidisziplinären Fokus von Medien- und Kommunikationswissenschaft zu konturieren. Das von mir präferierte und im weiteren Verlauf zu modellierende Prozedere zur Wissenschaftsforschung einer transdisziplinären Medienwissenschaft divergiert hinsichtlich des Stichweh’schen historisierenden Ansatzes zur Entstehung des Systems moderner Disziplinen in mehreren Kardinalpunkten.211 Meine (Re-)Konstruktion der Medienforschung wird bereits partiell einige dieser Differenzen präzepieren. Die vier zentralen Unterschiede zu Stichwehs Konzept bestehen darin: • Erstens stellen akademische Disziplinen heutzutage keine Realstrukturen des Wissenschaftssystems oder der -kommunikation mehr wie noch im 18. oder im 19. Jahrhundert dar;212 vielmehr ist von einem sozialen und institutionellen Transfer in Scientific Communities und insbesondere in Forschungsgruppen auszugehen.213 • Zweitens sind Forschungsgruppen der primäre soziale Ort der alltäglichen Interaktion der Wissenschaft, nicht selten interdisziplinär organisiert und rekrutiert, so dass Forschungsaktivitäten und -programme

211 In Teilen mache ich mir die Argumentation von W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 29), S. 25-26, zu Eigen. 212 Vgl. R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 24), S. 9. 213 Vgl. W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 29), S. 26.

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häufig nur schwerlich einer disziplinären Arithmetik eindeutig zugeschrieben werden können.214 • Drittens nehme ich im Gegensatz zu Stichweh, der im Prinzip die wissenschaftliche Umwelt der Disziplinen und deren außerwissenschaftliche Umwelt im Sinne konzentrischer Kreise strukturiert,215 an, dass inner- und außerwissenschaftliche Umwelten gleich zu ordnen sind und dass es einer empirisch-historischen Untersuchung überlassen bleiben muss herauszufinden, ob und allenfalls inwieweit einzelne Forschungsgebiete intensiver mit der einen oder der anderen Umwelt interagieren.216 • Viertens kann man sowohl eine Verwissenschaftlichung der Gesellschaft als auch eine Vergesellschaftung der Wissenschaft konstatieren217 – eine korrelative Entwicklung des Wiedereintritts der Wissenschaft in die Gesellschaft respektive der Gesellschaft in die Wissenschaft, woraus modifizierte Modellvorstellungen218 der Produktion, Distribution, Adaption, Perzeption und Evaluation wissenschaftlichen Wissens in Theorie und Praxis resultieren. Um nicht im Vorfeld bereits einer spezifisch wirkungsmächtigen Modellierung der Wissenschaftshistoriografie anheim zu fallen, orientiere ich mich bei dem Versuch einer bidisziplinären Annäherung an die Medienforschung seit der Nachkriegszeit an einer kombinierten Untersuchungsmatrix institutioneller und kognitiver Indikatoren. Gemäß den Erkenntnissen und Einsichten aus der Wissenschaftsforschung wird Wissenschaft als gesellschaftliches Teilsystem mit eigenen Strukturen begriffen. Als soziales System produziert, rezipiert, distribuiert und prozessiert die Wissenschaft wissenschaftliches Wissen beziehungsweise wissenschaftliche Erkenntnisse in Form von Terminologien, Definitionen, Theorien, Methodologien usw. Mit Blick auf die institutionelle Dimension folge ich den für meine Zwecke instruktiven gesellschaftlichen Entwicklungsphasen des Hochschulsystems in der Bundesrepublik 214 Vgl. ebd. 215 Vgl. R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 24), S. 7-62. 216 Vgl. W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 29), S. 26-27. 217 Vgl. unter anderem Peter Weingart: »Verwissenschaftlichung der Gesellschaft – Politisierung der Wissenschaft«, in: Zeitschrift für Soziologie, 12 (1983) 3, S. 225-241 und P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 101), S. 17, 18, passim. 218 Vgl. etwa den Vorschlag »Wissenschaft neu denken« von H. Nowotny/ P. Scott/M. Gibbons: Wissenschaft neu denken (wie Anm. 53), S. 303-322; vgl. ferner die Überlegungen zu ›Wissen‹ als einer auf »Erfahrung gegründete kommunikativ konstituierte und konfirmierte Praxis« von H. Wilke: Dystopia (wie Anm. 144), S. 10-47, hier S. 14 (Hervorhebung im Original).

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Deutschland nach 1945 in der Darstellung des Soziologen und Hochschulforschers Christoph Oehler.219 Der Oehler’sche Ansatz gründet auf dem Versuch einer Synthese aus gleichsam historischen wie systematischen Faktoren. Die von ihm differenzierten Phasen überschneiden sich zeitlich und sind zudem miteinander verwoben; die aufeinander folgenden Strukturreformen sind durch Entwicklungsbrüche gekennzeichnet.220 Sein Modell identifiziert als die wesentlichsten, mithin einander überlappenden Entwicklungsphasen des Hochschulsystems in der Bundesrepublik Deutschland: • den Wiederaufbau des Wissenschafts- und Hochschulwesens nach 1945, der sich bis in die 1950er Jahre hinein erstreckt; • die in den 1950er Jahren beginnende Expansion des Hochschulbereichs, die ihren Höhepunkt bis Mitte der 1960er Jahre erfährt; • die ›systemveränderten‹ beziehungsweise strukturellen Reformen, die während der zweiten Hälfte der 1960er Jahre respektive bis in die frühen 1970er Jahre hinein dominierten; • die Strukturverfestigungen (›Konsolidierungen‹) in Bezug auf den ›äußeren‹ Ausbau des Hochschulbereichs und in Bezug auf die vorausgegangenen Reformen, die zu Beginn der 1970er Jahre aufscheinen und sich Mitte der 1970er Jahre manifestieren sowie • verschärfte Legitimationsprobleme der Hochschule und neue Schwerpunktbildungen in Forschung und Lehre in Anbetracht veränderter gesellschaftlicher Anforderungen seit den 1980er Jahren.221 In kognitiver Dimension fokussiere ich mich auf die (sub-)disziplinären Strukturen der Medien- und Kommunikationswissenschaft. Dabei habe ich mich mit der Diskussion zentraler Positionen, die für die Evolution und Ausdifferenzierung der ›Medienforschung‹ unter medien- und kommunikationswissenschaftlichen Vorzeichen von Belang sind, zu bescheiden. Aufgrund der dominierenden (Selbst-)Beschreibungen und der vorfindlichen Quellenlage bin ich in der (Re-)Konstruktion darauf angewiesen, der weit verbreiteten Lesart der Konkurrenz und Dichotomie der beiden in Rede stehenden (Sub-)Disziplinen Tribut zu zollen. Somit geraten phasenweise die nicht selten antagonistischen Relationen zwischen Medienund Kommunikationswissenschaft in den Mittelpunkt der Diskussion. In kognitiver Hinsicht geht es insbesondere darum: • die disziplinäre Selbstreferenzialität von Medien- und Kommunikationswissenschaft, mithin ihre jeweiligen Problemgeschichten zu analysieren;

219 Vgl. Christoph Oehler: Hochschulentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945, Frankfurt am Main/New York: Campus 1989, S. 7. 220 Vgl. ebd., S. 14. 221 Vgl. ebd., S. 7-8, 13-14.

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• die Konstruktion der Kontinuität beziehungsweise Diskontinuität in der genuin eigenen Problemorientierung der Medien- und Kommunikationswissenschaft zu explizieren, die ihre (sub-)disziplinären Anschlussfähigkeiten selegieren und limitieren; • die Abgrenzungen von Medien- und Kommunikationswissenschaft durch (intra-)disziplinäre (Selbst-)Beschreibungen der Kommunikationsgemeinschaften oder Scientific Communities zur eigenen internen Umwelt des Wissenschaftssystems zu fixieren sowie • inter- und/oder transdisziplinäre Entwicklungen in der Medienforschung zu identifizieren, die erwartungsgemäß vor allem an den Grenzen und an den Rändern der Forschungskalküle von Medien- und Kommunikationswissenschaft situiert sind. Systematisiert man die deutschsprachige Medienforschung seit dem späten 19. Jahrhundert, so tut sich dem Beobachter ein Panorama divergenter Ausgangs- und Zielpunkte auf. Strukturhistorisch trifft der Betrachter auf disziplinformierende Elemente, die in gleicher oder ähnlicher Weise sowohl in der frühen Soziologie, mithin auch in der späteren Kultursoziologie, als auch bei den Vorreitern der ›Medienforschung‹ am Werk sind. Von einem wissenschaftssoziologischen Standpunkt aus lässt sich der Prozess, indem sich die Wissenschaftsdisziplinen im Laufe des 18. und 19. Jahrhundert konstituierten, maßgeblich als Ausdifferenzierung beschreiben. Differenziert sich zunächst ein funktional spezifiziertes Wissenschaftssystem aus, in dem sich nach und nach eine Binnendifferenzierung nach Disziplinen bildet,222 so kann unter der Bedingung einer konsolidierten und disziplinär bereits differenzierten Wissenschaft ein evolutionstheoretischer Erklärungsansatz zum Tragen kommen: Erst auf der Grundlage eingeführter Disziplinen können weitere subdisziplinäre Evolutionen initiiert, kontinuiert und etabliert werden. Dem Medienwissenschaftler Rainer Leschke wird man beipflichten müssen, wenn er grundsätzlich für sein Fach festhält: »Anfänge sind bereits eigentlich schon von ihrer Natur her problematisch; Medienwissenschaften entstanden, wie alle anderen Wissenschaften auch, keineswegs in einem einzelnen initiierenden Akt, sondern es handelt sich um außerordentlich langfristige Prozesse der Ausdifferenzierung eines Wissensgebietes, so dass weder über einen exakten historischen Beginn noch über die Dauer des Prozesses Auskunft gegeben werden kann. Einigkeit besteht hingegen in den Medienwissenschaften wenigstens insoweit, dass es sich um eine vergleichsweise neue Wissenschaft handelt.«223

222 Vgl. R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 24), S. 98, passim sowie N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 92), S. 447-449. 223 R. Leschke: Einführung in die Medientheorie (wie Anm. 33), S. 9.

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Die Vorläufer der ›Medienforschung‹ seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts waren in nur sehr geringem Maße etatisiert, institutionalisiert und curricularisiert.224 Aus heutiger Sicht ist indes durchaus frappierend, dass die Hauptakteure, die an dieser ersten, noch sehr bescheidenen akademischen Etablierung ›medien‹bezogener Wissenschaften partizipierten, zu einem großen Teil jene Disziplinen repräsentierten, die heute noch den vielstimmigen Diskurs der ›Medienforschung‹ wesentlich ausmachen. Gleichermaßen Staats- und Sozialwissenschaftler wie Literaturwissenschaftler und Historiker firmierten als Initiatoren zunächst der ›Zeitungskunde‹, dann der ›Zeitungswissenschaft‹ in den 1910er, 1920er und 1930er Jahren. Im Jahre 1916 gründete der Nationalökonom Karl Bücher das erste Institut mit der Fachbezeichnung ›Zeitungskunde‹ in Leipzig. In einem Kommentar zu diesem Anlass stellte Hans A. Münster heraus, dass Bücher vor allem durch zweierlei Gründe zu diesem Schritt inspiriert wurde: zum einen durch seine Kritik an der in- und ausländischen Presse und zum anderen durch die Hoffnung, die Bedingungen der Handelnden im Pressewesen durch eine Hochschulvorbildung verbessern zu können.225 Auch wenn der Fokus der zeitungswissenschaftlichen Forschung stark auf der Arbeit der Journalisten und der publizistischen Verbreitung ihrer Meinungen lag, es also primär um die medial vermittelten Botschaften ging, lassen sich hier schon vereinzelt Ansätze finden, die bemüht waren, die verschiedenen ›Kanäle‹ der Distribution auseinander zu dividieren, mithin Medien in ihrem jeweils spezifischen Beitrag zur Kommunikation in den Blick zu nehmen.226 Im Unterschied zu den disziplinären Vorläufern der späteren ›Kommunikationswissenschaft‹, die zumeist in der Zeitungswissenschaft verortet werden, nehmen sich die fachlichen Vorboten dessen, was seit den 1970er Jahren als ›Medienwissenschaft‹ bezeichnet werden sollte, als disziplinäre Gemengelange aus.227 Korrespondierend dazu finden sich vor al224 Vgl. auch Hans Bohrmann: »Was ist der Inhalt einer Fachgeschichte der Publizistikwissenschaft und welche Funktionen könnte sie für die Wissenschaftsausübung in der Gegenwart besitzen?«, in: Edzard Schade (Hg.): Publizistikwissenschaft und öffentliche Kommunikation. Beiträge zur Reflexion der Fachgeschichte, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2005, S. 151-182. 225 Vgl. Kurt Koszyk: »Zeitungskunde in der Weimarer Republik«, in: Hermann Fünfgeld/Claudia Mast (Hg.): Massenkommunikation. Ergebnisse und Perspektiven, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 29-49, hier S. 30. 226 Albert Kümmel: »Papierfluten. Zeitungswissenschaft als Schwelle zu einer universitären Medienwissenschaft«, in: Stefan Andriopoulos/Bernhard J. Dotzler (Hg.): 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 224-252. 227 Vgl. als retrospektive Systematisierung R. Leschke: Einführung in die Medientheorie (wie Anm. 33); als Reader, welche die disparaten Wurzeln sichtbar zu machen versuchen, vgl. Albert Kümmel/Petra Löffler (Hg.): Medientheorie 1888-1933. Texte und Kommentare, Frankfurt am Main:

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lem Ansätze in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Fächern: in den Philologien, in Philosophie, Kunstgeschichte, Theaterwissenschaft, später auch in der Film- und Fernsehwissenschaft. Ein gleichsam disziplinär wie paradigmatisch flotierender Diskurs charakterisiert die frühe Medienforschung. Blickt man beispielhaft auf die Geschichte der Zuschauerforschung, dann ist dieser Sachverhalt durchaus nachvollziehbar. Nicht von ungefähr musste etwa Emilie Altenlohs Studie Zur Soziologie des Kino228 aus dem Jahre 1914 lange als die autoritative Quelle zum Publikum des frühen Kinos herhalten;229 denn es wird geraume Zeit dauern, bis überhaupt vergleichbare Studien zum Kinopublikum in Angriff genommen werden.230 Selbst für andere Medien fehlen ähnlich differenzierte Untersuchungen zur Mediennutzung. Die immer wieder als ein Gründungstext der empirischen Kommunikationswissenschaft gerühmte ›Zeitungsstudie‹ Max Webers, die nicht über den 1914 auf dem 1. Deutschen Soziologentag vorgetragenen Projektentwurf hinaus gedeihen konnte, fordert zwar eine eingehende Erforschung der Zeitung, erwähnt den Untersuchungsgegenstand ›Leser‹ aber eher im Vorübergehen und erst, nachdem er die Produktionszusammenhänge bis hin zum Journalisten ausführlich aufgeschlüsselt hat.231 Auch in Max Webers Skizze liegt das Schwergewicht wie ganz selbstverständlich auf der Erforschung des Kommunikators – und man könnte sich fragen, ob die oft lapidare Abhandlung von Altenlohs Dissertation in der Selbsthistorisierung der Kommunikationswissenschaft allein darauf zurückzuführen ist, dass sie weder über das wissenschaftliche Renommee Max Webers verfügt noch gefügig in die zeitungs- beziehungsweise publizistikwissenschaftliche Genealogie des Fachs passt. Denn ohne Nachfolge blieben – bis auf weiteres – beide Ansätze: sowohl der heute kanonisierte

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Suhrkamp 2002 und ferner Claus Pias u. a. (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 2000. Diese Sonderstellung gilt nicht nur für Deutschland, sondern wird auch für das englischsprachige Ausland betont, wo vergleichbar differenzierte empirische Studien zum Filmpublikum bis in die 1930er Jahre auf sich warten lassen; vgl. »Editorial«, in: Screen, 42 (2001) 3, 2001, S. 245-248, hier S. 247 sowie Jostein Gripsrud: »Film Audiences«, in: John Hill/Pamela Church Gibson (Hg.): The Oxford Guide to Film Studies, Oxford: Oxford University Press 1998, S. 202-211, hier S. 207. Vgl. Emilie Altenloh: Zur Soziologie des Kino. Die Kino-Unternehmungen und die sozialen Schichten ihrer Besucher, Jena: Diederichs 1914. Vgl. auch Christian Filk/Jens Ruchatz: Frühe Film- und Mediensoziologie. Emilie Altenlohs Studie »Zur Soziologie des Kino« von 1914, Siegen: Universitätsverlag Siegen 2007, S. 20-25, 40-46. Max Weber: »Zu einer Soziologie des Zeitungswesens«, in: Wolfgang R. Langenbucher (Hg.): Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Ein Textbuch zur Einführung, Wien: Braumüller 1994, S. 24-30, hier S. 29, stellt aber immerhin die Frage: »Welche Art von Lesen gewöhnt die Zeitung dem modernen Menschen an?«

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Max Weber als auch die vom kommunikationswissenschaftlichen und mediensoziologischen Mainstream marginalisierte Emilie Altenloh. Erst Mitte der 1920er Jahre erzwang das Medium Rundfunk,232 das seine Nutzer nicht einmal mehr als Abonnenten erfassen konnte, eine stärkere Zuwendung zur Nutzungsforschung, die sich zunächst aber auf die Erhebung von Programmpräferenzen und die Konstruktion von Tagesverlaufskurven beschränkte.233 Dass Publikumsforschung nur marginal stattfand, heißt allerdings nicht, dass es keinerlei Vorstellungen vom Publikum gegeben hätte – im Gegenteil: Nur waren die Konzeptionen des Publikums für gewöhnlich so verfasst, dass sich eine differenzierte Untersuchung erübrigte. Spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, als Leser und Theaterbesucher als Erziehungsgegenstand entdeckt wurden,234 ist Kommunikatorzentrierung dadurch begründet, dass dem ›Sender‹ eine Wirkmacht über den ›Empfänger‹ zugeschrieben wird. Wenn sich der kommunikative Effekt aus der Struktur und Intention eines Textes (›Apellstruktur‹) ableiten lässt,235 dann wird es überflüssig, sich für das Objekt dieser Wirkung noch eingehend zu interessieren. Somit kann man dann die Struktur der Zeitung fokussieren statt die Leser, das Werk des Autors statt seine Rezipienten Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bündelte sich jene kommunikatorzentrierte Konzeption von Mediennutzung im Begriff der ›Masse‹, wie er exemplarisch von Gustave Le Bon pointiert worden ist.236 Im 20. Jahrhundert wurde der Begriff – am prägnantesten in den Termini ›Massenkommunikation‹ und ›-medien‹ – zunehmend mit der ›Macht‹ der Kom232 So konstatiert Walter Benjamin bereits zu Beginn der 1930er Jahre eine erste Tendenz zur Bildung differenzierterer Hörergruppen im Rundfunk. Vgl. Walter Benjamin: »Theater und Rundfunk. Zur gegenseitigen Kontrolle ihrer Erziehungsarbeit«, in: Walter Benjamin: Versuche über Brecht, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 97-100, hier S. 99-100: »Was die letztere [Gruppierung; C. F.] betrifft, so ist jedem, der die Bewegung im Rundfunk verfolgt, geläufig, wie sehr man neuerdings darum bemüht ist, Hörergruppen, die nach sozialer Schichtung, nach Interessenkreis und Umwelt miteinander nahe stehen, zu engeren Verbänden zusammenzufassen.« 233 Vgl. Hansjörg Bessler: Hörer- und Zuschauerforschung, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1980, S. 17-33; Denis McQuail: Mass Communication Theory, London/Thousand Oaks/New Delhi: Sage 2000, S. 359411. 234 Vgl. beispielsweise Wilfried Noetzel: Humanistische Ästhetische Erziehung. Friedrich Schillers moderne Umgangs- und Geschmackspädagogik, Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1992. 235 Vgl. hierzu auch Wolfgang Iser: »Die Appellstruktur der Texte«, in: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München: Fink 1975, S. 228-252. 236 Vgl. Gustave Le Bon: Psychologie der Massen, Stuttgart: Kröner 1982. Zur Karriere des ›Masse‹-Begriffs zeitlich vor der Massenpsychologie vgl. Helmut König: Zivilisation und Leidenschaften. Die Masse im bürgerlichen Zeitalter, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992.

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munikationsmittel korreliert und als eine Leitkategorie der Medienbeobachtung etabliert. Interessanterweise lädt nach 1945 gerade das Fernsehen, das die ›traditionelle‹, an einem Ort versammelte Menschenmenge eigentlich zerstreut, zur Applikation der ›Masse‹-Semantik ein.237 Allzu oft wurden die zu einem ›Massenpublikum‹ zusammengefassten Einzelnutzer als ›willenlos‹ und ›quasi-hypnotisiert‹ beschrieben.238 Als – insbesondere nach dem Nationalsozialismus – dominante Chiffre für das Medienpublikum bliebt der Begriff unumgänglicher Anknüpfungspunkt auch für diejenigen, welche die kulturpessimistischen Implikationen der Masse-Diskurse nicht mittragen und für alternative Konzepte wie ›Gruppe‹ optierten.239 In seiner psychologischen Kritik der Massenpsychologie warft Peter R. Hofstätter 1957 Le Bon und seinen Apologeten vor, die ›Masse‹ nur erfunden zu haben, um sich selbst von ihr abzusetzen: »Ich bin nicht Masse, weil ich die Massenhaftigkeit der anderen durchschaue.«240 Die Option, sich den ›vermassenden‹ Kräften zu entziehen und außerhalb der Masse zu situieren, sei Voraussetzung dafür, diese überhaupt beobachten zu können. Und so impliziert die Rede vom ›gefährdeten Massenpublikum‹ stets auch den gebildeten, mündigen und kritischen Mediennutzer, der sich den – zuweilen zum ›Guten‹, aber meist zum ›Schlechten‹ neigenden – Medieneffekten nicht entziehen kann. Der Diskurs um Neubeginn beziehungsweise Wiederaufbau des Wissenschaftssystems lässt sich nicht ohne das Differential Kontinuität/Diskontinuität angemessen explizieren. Darin unterscheiden sich auch die für die Evolution und Ausdifferenzierung der späteren ›Medienforschung‹ reklamierten (Sub-)Disziplinen nach 1945 nicht. Eine (Selbst-)Reflexion auf die eigenen institutionellen Ursprünge der ›Medienforschung‹ ließ verhält-

237 Nicht zuletzt spricht man deswegen auch vom ›dispersen Publikum‹, vgl. einschlägig G. Maletzke: Psychologie der Massenkommunikation (wie Anm. 64). 238 In Zusammenhang mit der Geschichte der Medienwirkungsforschung verweist Isabell Otto: »Hören oder Zuschauen. Wirkungsforschung und die Disziplinierung der Sinne«, in: Christian Filk/Michael Lommel/Mike Sandbothe (Hg.): Media Synaesthetics. Konturen einer physiologischen Medienästhetik, Köln: Halem 2004, S. 181-201, hier S. 185 (Hervorhebung im Original), auf die Etikettierung des Mediennutzers als »durchschnittliches Kollektivsubjekt«: »der ›Hörer‹« respektive »der ›Zuschauer‹«. 239 Zu ›Masse‹-Diskursen des Films vgl. Dieter Prokop: Soziologie des Films, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 36-41; A. Kümmel/P. Löffler (Hg.): Medientheorie 1888-1933 (wie Anm. 229), S. 539-544. Zur kritischen Auseinandersetzung mit dem ›Masse‹-Begriff im Zeitalter des Fernsehens vgl. Christina Bartz: »Die Masse allein zu Hause. Alte Funktionen und neue Medien«, in: Irmela Schneider/Peter M. Spangenberg (Hg.): Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Band 1, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 109-121. 240 Peter R. Hofstätter: Gruppendynamik. Die Kritik der Massenpsychologie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1957, S. 10.

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nismäßig lange auf sich warten.241 Erst seit den späten 1970er Jahren sind hier entsprechende Aktivitäten zu verzeichnen. Richteten sich die Untersuchungen zuerst nach biografischen Fragestellungen aus, so widmeten sich die Analysen daraufhin Problemexpositionen zu Organisation der frühen Institute für Zeitungskunde beziehungsweise -wissenschaft. Gilt in Fachkreisen mitunter die Phase der eigenen Wissenschaftshistorie bis zum Ende des Zweiten Weltkrieg als »gut erforsch«242 – hierbei wird insbesondere auf die akribischen Arbeiten Otto Groths zur Geschichte der Zeitung und der Zeitungswissenschaft verwiesen –,243 so wurden in den letzten Jahren Studien vorgelegt, die nicht zuletzt vor dem Hintergrund der personellen und institutionellen Kontinuität und Diskontinuität (gerade auch mit Blick auf den Nationalsozialismus) wichtige Beiträge zur Wissenschaftshistoriografie des Diskurses leisten sollten. Nach 1945 entwickelte sich die Medienforschung – respektive die Kommunikationswissenschaft seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre und die Medienwissenschaft seit den 1970er Jahren – in ihrer methodischen Ausrichtung zunächst noch stark philologisch und historiografisch orientiert.244 Entsprechend verharrte die Medienforschung in den 1950er Jahren gewissermaßen im Zustande einer ›prädisziplinären Konstituierung‹: Es dominierten die traditionellen Themen und Methodiken der Zeitungswissenschaft und Publizistik. Erst mit einer stärkeren institutionellen Verankerung der Fächer an den Hochschulen und mit Blick auf die internationalen Forschungsdiskussionen, vornehmlich angloamerikanischer Provenienz, kam es im Laufe der 1960er Jahre zu der von heutiger Warte aus so charakteristischen Empirisierung und Soziologisierung der Forschung, die sich auch in der neuen Benennung »Kommunikationswissenschaft« niederschlug.245 In diesem Zusammenhang weist der Kommunikationswissenschaftler und -historiker Kurt Koszyk darauf hin: »Die seit den 60er Jahren vor allem von jüngeren Adepten des Fachs beschworene Soziologie 241 Einen ersten Überblick gewährt K. Koszyk: »Zeitungskunde in der Weimarer Republik« (wie Anm. 225). 242 So lautet etwa das Votum von H. Bohrmann: »Zur Geschichte des Faches Kommunikationswissenschaft seit 1945« (wie Anm. 208), S. 51. 243 Vgl. unter anderem Otto Groth: Die Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft. Probleme und Methoden, München: Weinmayer 1948. 244 Vgl. auch H. Bohrmann: »Zur Geschichte des Faches Kommunikationswissenschaft nach 1945« (wie Anm. 208), S. 57-59. 245 Vgl. als Standardwerk, das auf Basis US-amerikanischer Ansätze ein Fundament für die deutsche Massenkommunikationsforschung legte, G. Maletzke: Psychologie der Massenkommunikation (wie Anm. 64). Zur Durchsetzung des Fachbegriffs ›Kommunikationswissenschaft‹ in den frühen 1960er Jahren vgl. Franz Ronneberger: »Wegemeister einer interdisziplinären Kommunikationswissenschaft. Autobiographische Fragen an Franz Ronneberger von Manfred Rühl«, in: Arnulf Kutsch/Horst Pöttker (Hg.): Kommunikationswissenschaft – autobiographisch. Zur Entwicklung einer Wissenschaft in Deutschland, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 21-35, hier S. 28.

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war ursprünglich keine empirisch orientierte Disziplin, sondern eine der Gesellschaftsphilosophie verwandte«.246 Erst Jahrzehnte später sollte die Kommunikationswissenschaft gewärtigen, dass es einen zentralen kontinentaleuropäischen Pfeiler der empirisch-methodischen Ausprägungen des Faches gibt. Nahezu über 60 Jahre war in Vergessenheit geraten, dass die moderne empirische Massenkommunikationsforschung eine ihrer Wurzeln in Europa, im Wien der beginnenden 1930er Jahre, hat. Im Jahre 1931 betraute die Wiener RadioVerkehrs-A.G., kurz: RAVAG, den studierten Mathematiker Paul F. Lazarsfeld mit der Durchführung einer systematischen Auswertung des Hörerverhaltens (Auftragsforschung). In seiner 1932 als Manuskript zirkulierenden und erst 1996 publizierten RAVAG-Studie247 modellierte Lazarsfeld – in prototypischer Weise – ein theoretisch-methodologisches Setting, das später nicht nur als ein Fundament der modernen empirischen Radioforschung, sondern der gesamten empirischen Massenkommunikationsforschung in den USA, Europa und darüber hinaus arrivieren sollte. Jenseits einer vorgängigen Fixierung des Rundfunks auf ›Einschaltquoten‹ implementierte Lazarsfeld, heute längst State of the Art in der Audience Research,248 sozialwissenschaftliche Instrumente zur empirischen Erhebung von Programmpräferenz und -rezeption, differenziert nach personenbezogenen Daten, Soziodemografie, formalem Bildungsniveau, Herkunft, Religion etc.249 Doch aus den Vereinigten Staaten kamen nicht nur die Impulse, mit denen die Zeitungswissenschaft in eine mit empirisch-statistischer Methodik arbeitende ›Kommunikationswissenschaft‹ transformiert wurde, die sich primär mit den individuellen und gesellschaftlichen Effekten der öffentlichen Massenkommunikation auseinandersetzt.250 Ging es dieser – in den USA anfangs kybernetisch integrierten – Disziplin oft darum, Nachrichtenflüsse möglichst effektiv zu organisieren, wurde nun der übermittelnde ›Kanal‹, der zuvor allenfalls als Quelle störenden Rauschens (»Order from Noise!«) in Erscheinung trat, selbst zum Gegenstand des Forschungsinteresses. An Stelle der Botschaften, die mittels Massenmedien 246 K. Koszyk: »Zeitungskunde in der Weimarer Republik« (wie Anm. 225), S. 29. 247 Vgl. Desmond Mark (Hg.): Paul Lazarsfelds Wiener RAVAG-Studie 1932. Der Beginn der modernen Rundfunkforschung, Wien/Mühlheim an der Ruhr: Guthmann-Peterson 1996. 248 Vgl. D. McQuail: Mass Communication Theory (wie Anm. 233), S. 359411. 249 Vgl. D. Mark (Hg.): Paul Lazarsfelds Wiener RAVAG-Studie 1932 (wie Anm. 247), S. 27-66. 250 Vgl. Erhard Schüttpelz: »›Get the Message Through‹. Von der Kanaltheorie der Kommunikation zur Botschaft des Mediums. Ein Telegramm aus der nordatlantischen Nachkriegszeit«, in: Irmela Schneider/Peter Spangenberg (Hg.): Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Band 1, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 51-76.

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distribuiert werden, wurden hier Medien, wie Herbert Marshall McLuhan formulierte, zu Botschaften, die es zu ›verstehen‹, statt statistisch zu vermessen gilt.251 Diese als »kopernikanische Wende« intonierte »Initialzündung der Medienwissenschaft«252 wird zu Recht mit dem Namen Herbert Marshall McLuhans verbunden, auch wenn dieser weder der erste noch der einzige, aber eben zur ›richtigen‹ Zeit der einflussreichste Denker in dieser Richtung war. Auch für Deutschland gaben seine Schriften wesentliche Anstöße zu einem Paradigmenwechsel in der Medienreflexion. Während sich die etablierte Philosophie nach 1945 – prominent die Frankfurter Schule –253 bis dahin unter vornehmlich ideologie- und kulturkritischen Vorzeichen mit den Inhalten technischer Verbreitungsmedien, zuerst des Radios, dann des Fernsehens, auseinandersetzte, exekutierte eine Reihe deutschsprachiger Medientheoretiker der ersten Generation in den 1970er und 1980er Jahren einen programmatischen Trendwechsel hin zu Walter Benjamin, Herbert Marshall McLuhan, zur Diskurstheorie, zu Jacques Lacans Psychoanalyse, zum Poststrukturalismus generell. Die philosophisch-hermeneutische Tradition, der grosso modo eine Verkennung der medialen Präfiguration alles Geistigen angelastet wird, wird durch eine Analyse der historisch jeweils dominanten Medientechniken substituiert: Nun ist es der Geist, der zugunsten der formierenden Kraft der Technologie aus den Geisteswissenschaften vertrieben werden soll. Eine weitere wichtige Säule der Medienforschung in Form der Medienwissenschaft gründet in den Neuphilologien. Die solchermaßen verstandene Medienwissenschaft hob vor allem mit der so genannten Erweiterung des Literaturbegriffs in Germanistik, Anglistik, Romanistik und Slawistik in den späten 1960er Jahren an. Die Medienwissenschaft – der Terminus technicus ›Medienphilologie‹ sollte sich schlussendlich nicht durchsetzen –254 konzentrierte sich in erster Linie auf die bislang vernachlässigten Aspekte der Geschichte, Ästhetik und Pragmatik der (Massen-)

251 Vgl. Herbert Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. »Understanding Media«, Düsseldorf u. a.: Econ 1992, S. 17: »Das Medium ist die Botschaft.« 252 Hartmut Winkler: »Die prekäre Rolle der Technik. Technikzentrierte versus ›anthropologische‹ Mediengeschichtsschreibung«, in: Heinz-B. Heller u. a. (Hg.): Über Bilder sprechen. Positionen und Perspektiven der Medienwissenschaft, Marburg: Schüren 2000, S. 9-22, hier S. 11. 253 Vgl. insbesondere den rezeptionshistorischen Diskurs zu Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno: »Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug«, in: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main: Fischer 1992, S. 128-176. 254 Vgl. als wichtige Vorarbeiten Helmut Kreuzer: Veränderungen des Literaturbegriffs. Fünf Beiträge zu aktuellen Problemen der Literaturwissenschaft, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975 sowie Helmut Kreuzer (Hg.): Literaturwissenschaft – Medienwissenschaft, Heidelberg: Quelle & Meyer 1977.

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Medien. Später avancierte die Theorie der (Massen-)Medien zum vielleicht prominentesten Gegenstand der Medien(-kultur-)wissenschaft: »Medientheorie stellt gegenwärtig eine Art Leittheorie [sic!; C. F.] in kulturhistorischen und kulturtheoretischen Debatten dar.«255 Eine signifikante, medientheoretisch induzierte Bewegung vollzog sich schließlich im Kontext des viel zitierten ›Kulturalitätsparadigmas‹ der Geisteswissenschaften,256 das eine Umschreibung der überkommenen Geisteswissenschaften zu ›Kulturwissenschaften‹ postuliert.257 Mit der fortscheitenden Institutionalisierung einer historisch-ästhetisch orientierten Medien- und Kulturwissenschaft auf der einen Seite und einer empirisch-funktional versierten Publizistik- und Kommunikationswissenschaft auf der anderen Seite wurde das kognitive Feld der Medienforschung sukzessive markiert. Daraus resultierten zum Teil gravierende Interessenkollisionen zwischen den konkurrierenden Fachwissenschaften und -kulturen. Jener tatsächliche oder vermeintliche Dualismus zwischen medien- und kommunikationswissenschaftlichen Dispositionen eskalierte vor allem in den 1970er und 1980er Jahren. Die Verfechter einer empirisch orientierten Medienforschung versprechen sich durch die Anwendung einschlägiger Erhebungs- und Auswertungsmethoden beziehungsweise -instrumentarien die ›objektive‹ Erfassung einer – wie auch immer – (vor-) gegebenen sozialen Wirklichkeit, die quantifizierende Verdatung zur wissenschaftlich allein gültigen Vorgehensweise in der Forschung erhebt. Hingegen sehen die Kritiker der empirischen Medienforschung gerade in derart überzogenen Versprechungen nicht mehr als den Ausweis von Ideologie oder zumindest eines erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch naiven, mithin in sich prekären Objektivitätsglaubens. Just jener Gegensatz sollte sich in der Medienforschung weithin identitätsstiftend für die disziplinär begriffenen Evolutionen der beteiligten Fachwissenschaften und -kulturen ausnehmen. Der Psychologe Michael Charlton und der Soziologie Klaus Neumann[-Braun] annotierten dazu im Jahre 1988: »Macht man sich unsere Einschätzung zu eigen, daß sowohl die quantitativen als auch die qualitativen Verfahren in den letzten Jahren einen hohen Entwicklungsstand erreicht haben, so verwundert die Härte der Auseinandersetzung zwischen den Anhängern der beiden Richtungen.«258 Hierbei nahmen (und nehmen) sich, um nur einige Beispiele zu nennen, folgende Streitpunkte als besonders markant aus: 255 Helmut Schanze: »Vorwort«, in: Helmut Schanze (Hg.): Metzler-Lexikon Medientheorie – Medienwissenschaft. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, S. V-VIII, hier S. V. 256 Vgl. etwa W. Frühwald u. a.: Geisteswissenschaften heute (wie Anm 42). 257 Als Nachweis für die enge Verbindung einer neuen Kulturwissenschaft mit medientheoretischen Fragestellungen vgl. beispielsweise H. Böhme/P. Matussek/L. Müller: Orientierung Kulturwissenschaft (wie Anm. 42). 258 Michael Charlton/Klaus Neumann: »Der Methodenstreit in der Medienforschung. Quantitative oder qualitative Verfahren?«, in: Rainer Bohn/Eggo

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• Qualitative Daten – ›empirische Nachweisbarkeit‹ versus ›metrische Messbarkeit‹; • Betrachtungsweise – ›Finalität‹ versus ›Kausalität‹ sowie • Methodik – ›Hermeneutik‹ versus ›Empirie‹.259 Nicht zuletzt durch vorgängige soziopolitische, -ökomomische und -technische Entwicklungen und Umbrüche konzentrierte sich die Medienforschung in den 1970er Jahren auf Massenkommunikation, Wirkungsforschung und Medienkritik.260 Dies wurde flankiert durch die Etablierung substanzialistischer, pragmatischer und kritischer Konzepte einzelner Medien wie zum Beispiel Film-, Radio-, Fernseh- und Computertheorien, mit denen die Disziplinen – in Form einer Grundlagenbefragung ihrer Gegenstände – Selbstreflexion betrieben. Die Ausdifferenzierung nahm in den frühen 1980er Jahren weiter zu – ›Medien‹ wurden fortan in vielfältigen Diskursen als Moment und Faktor gesellschaftlicher Transformationsprozesse fokussierbar. Zunehmend beschrieb sich die Gesellschaft selbst als ›Informations-‹ und ›Mediengesellschaft‹, also als eine Gesellschaft, die durch die verfügbaren Informationsund Kommunikationstechnologien, insbesondere die so genannten ›Neuen‹ Medien‹ bestimmt ist. Der offenkundigen Popularität und der immer wieder erklärten Relevanz der ›Medien‹ konnten (und wollten) sich über kurz oder lang auch andere Wissenschaften nicht entziehen, wie die verstärkt seit den 1990er Jahren zu beobachtende Genese einer entsprechenden Vielzahl von Disziplinen und Bindestrich-Disziplinen belegt.261 Kurrente Evolutionslinien der Medienforschung weisen über die spezifisch bidisziplinäre Fokussierung hinaus. Denn die wissenschaftliche Befassung mit ›Medien‹, ›Medialität‹, ›Medienkommunikation‹ und ›Medienmaterialität‹ ist seit geraumer Zeit nicht mehr in exklusiver Weise der institutionalisierten Medien- und Kommunikationswissenschaft vorbehalten – mehr noch: zu beträchtlichen Anteilen verdanken sich Neukonstituierungen und Ausdifferenzierungen innerhalb dieses Gebiets gerade einem ausgeprägten Trend zur Interdiskursivität. Augenfällige Indikatoren dafür sind all diejenigen Subdisziplinen mit dem Präfix ›Medien‹ und ›KommuMüller/Rainer Ruppert (Hg.): Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft, Berlin: Sigma 1988, S. 91-107, hier S. 91. 259 Vgl. ebd., S. 91-107. 260 Vgl. Oskar Negt/Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972; Umberto Eco: Einführung in die Semiotik, München: Fink 1991; Helmut Kreuzer (Hg.): Film- und Fernsehforschung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1978; Gesellschaft für Film- und Fernsehwissenschaft (GFM) (Hg.): Bestandsaufnahme Filmund Fernsehwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente einer Tagung, Münster: Nodus 1987 sowie D. McQuail: Mass Communication Theory (wie Anm. 233). 261 Vgl. J. Güdler: Dynamik der Medienforschung (wie Anm. 82), S. IX-XIV.

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nikation‹, die sich partiell im Laufe der letzten eineinhalb Dekaden ausgebildet haben.262

Legitimationsstrategien ›transdisziplinärer‹ Medienforschung Vor dem Hintergrund des Perspektivenwechsels von disziplinären zu transdisziplinären Forschungslogiken gelten die durchaus ernst zu nehmenden Erfolge sowohl der Technikfolgenabschätzung als auch der sozialwissenschaftlichen Risikoforschung als Referenzexempla einer ›gelungenen‹ Integration sozialwissenschaftlicher Parameter und Indikatoren.263 Die neue alte Debatte um Disziplinarität – Interdisziplinarität – Transdisziplinarität erfährt am Beispiel der Wissenschaftskomplexe ›Medien-‹264 und ›Kulturforschung‹265 eine Neuauflage mit einer engagierten Interaktion und Partizipation vornehmlich geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlicher Diskurse. Anhand von einigen überschaubaren Samples einschlägiger Fachveröffentlichungen identifiziere, dokumentiere und analysiere ich in zwei unten folgenden Anwendungsuntersuchungen zu ›Medienphilosophie‹ (Kapitel 4) beziehungsweise zu ›Medieninformatik‹ (Kapitel 5), wie sich in den beiden letzten Dekaden multi- und/oder transdisziplinäre Komplexe der Medienforschung ausdifferenzieren und/oder neu konstituieren und welche spezifischen Beobachtungs- und Beschreibungslogiken sich hierbei im jeweiligen Diskurs rekonstruieren lassen. In der Umsetzung baue ich auf die konstruktivistische Epistemologie und die soziologische Theorie selbstorganisierender Systeme: »Die Darstellung dieser Aspekte der konstruktivistischen Erkenntnistheorie dient vor allem dem Zweck, die Offenheit der Erkenntnisoperationen nachzuweisen und damit das Problem der rekursiven Stabilisierung von Erkenntnisprozessen in der Forschung vorzubereiten. […] Forschung verfährt auf der Ebene von Theorien und Methoden und wird zur Produktion neuer Erkenntnis betrieben, wobei der Forschungsprozeß ständig sich selbst thematisiert, indem über die Optionen zwischen alternativen Verfahren, Interpretationen, Hypothesen usw. diskutiert wird. Zur Entscheidungsbeladenheit alltäglicher Erkenntnisoperationen kommt 262 Vgl. als Überblick etwa Christian Filk/Michael Grisko: (Hg.): Einführung in die Medienliteratur. Eine kritische Sichtung, Siegen: Böschen 2002. 263 Vgl. P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 101), S. 343. 264 Vgl. J. Güdler: Dynamik der Medienforschung (wie Anm. 82), S. IX-XIV. 265 Vgl. etwa Jürgen Mittelstraß: »Die Geisteswissenschaften im System der Wissenschaften«, in: Wolfgang Frühwald u. a.: Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 15-44 und Hans Robert Jauß: »Die Paradigmatik der Geisteswissenschaften im Dialog der Disziplinen«, in: Wolfgang Frühwald u. a.: Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 45-72.

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in der Wissenschaft die reflexive Thematisierung dieser Operationen hinzu […], durch die die Offenheit der Erkenntnisprozesse noch einmal ins Extreme gesteigert wird. Um so stärker stellt sich das Problem der Strukturierung und Stabilisierung des Erkenntnisfortschritts. Wir werden dieses Problem in Anlehnung an die Theorie der Eigenwerte operational geschlossener Systeme behandeln.«266

Vergegenwärtigen wir uns den Transformationsprozess epistemischer Operationen von der wissenschaftlichen Behauptung bis zur wissenschaftlichen Überzeugung: Ausschlaggebend für den Nachweis von Eigenwerten ist die strukturelle Kopplung von zwei, nach verschiedenen Modi arbeitenden Bestandteilen der Erkenntnisoperation. Die für die Rekursivität notwendigen Kopplungen gewährleisten zweierlei Transformationen, nämlich: die Operationalisierung von Hypothesen als Behauptungen, die Erwartungen hervorrufen, in Prozedere als Konstruktionen, die Effekte zeitigen sowie Explikationen als selegierende Effekte, die als Informationen theoretisch interpretationsfähig sind. Bei den genannten Transformationen handelt es sich um schwache Kopplungen zwischen kognitiven und effektiven Bestandteilen des Forschungsgangs. Die beschriebene strukturelle Kopplung von Elementen ist deswegen als ›lose‹ zu kennzeichnen, da Operationalisierung und Explikation zunächst keine eindeutigen Operationen sind, vielmehr markieren sie eine Bandbreite von Möglichkeiten, aus denen es gilt, eine Auswahl zu treffen, die aber wiederum nicht zwangsläufig unveränderlich sein muss.267 Unter der Voraussetzung, dass man die Entscheidung für eine spezifische strukturelle Kopplung weiterhin aufrechterhält, werden ›strikte‹ strukturelle Kopplungen von Elementen etabliert und qualifizieren die entsprechende Operation als Resultat, mithin ein neues wissenschaftliches Faktum. Die beiden Bestandteile der epistemischen Operation, Hypothese und Explikation, sind jetzt fest miteinander verbunden – die Operation erfolgt zirkulär. Setzt man den Normalfall (das Erwartbare) voraus, dass wissenschaftliche Überzeugungen in verallgemeinerten Aussagen über Objekte eines bestimmten Definienssektor bestehen, so meint die Etablierung fester struktureller Kopplungen, dass bei der Wahl beliebiger Objekte dieses Geltungsbereichs dieselben Ergebnisse gewonnen werden. Mithin hat die Operation die spezifische Form ihrer Eigenwerte angenommen.268 Wie der obigen Erörterung zu entnehmen ist, antizipiert die ›Medienforschung‹ aufgrund einer Komplexitätszunahme in den Problemorientierungen ihrer Gegenstände inter-, multi- und transdisziplinäre Evolutions- und

266 W. Krohn/D. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 29), S. 55-56. 267 Vgl. zu diesem Absatz ebd., S. 60-61. 268 Vgl. zu diesem Absatz ebd.

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Ausdifferenzierungstrends. Aus diesem Sachverhalt erfolgt forschungslogisch, wenn auch nicht in jedem Falle fächerlogisch, das Gebot transgressiver Reflexionen in diesem Wissenschaftsgebiet. Nachfolgend intendiere ich, ein domänspezifisches Fundament für eine integrative Wissenschaftsforschung der Medien- und Kommunikationswissenschaft zu konzeptualisieren. Darauf aufbauend versuche ich, die programmatische Grundlage für die Untersuchung von (Selbst-)Beobachtungs- und (Selbst-)Beschreibungslogiken einer sich fachübergreifend differenzierenden Medienwissenschaft zu begründen, was die operative Basis für die beiden Anwendungsstudien zu den Forschungskomplexen ›Medienphilosophie‹ und ›-informatik‹ bildet. Seinen Ausgang nimmt die Konzeptualisierung bei der bereits formulierten Arbeitshypothese, dass sich ab den frühen 1980er Jahren sukzessive eine Medienforschung veränderter Couleur konfiguriert, welche in ihrer Pragmatik und Programmatik hergebrachte disziplinäre Forschungskalküle transzendiert: Zum einen lassen sich subdisziplinäre Formationen medienreflexiver Wissenschaften konstatieren, die in ihren spezifischen Entwicklungslogiken im Wesentlichen mit evolutionär agierenden Mechanismen, das heißt: Sekundärevolutionen, disziplinär differenzierter Wissenschaften269 korrespondieren. Zum anderen sind transdisziplinäre Differenzierungstendenzen medienreflexiver Wissenschaften zu identifizieren, die sich den ›klassischen‹ disziplinären Identifikations-, Explikations- und Legitimationsschemata weithin entziehen, da sie häufig nur noch wenige eindeutige Referenzen in den Basisdisziplinen des ›klassischen‹ Fakultätengefüges der Universität haben. Setzt man die funktionalen Postulate der ›Transdisziplinarität‹ in den Selbstbeobachtungen und -beschreibungen der Medien- und Kommunikationswissenschaft mit dem strukturellen evolutionären Trend transdisziplinärer Forschung in Beziehung, so resultiert daraus ein funktionales respektive kausales Explikationsdesiderat: Lassen sich transdisziplinäre Entwicklungslogiken der Medienforschung (re-)konstruieren und welche transdisziplinären Idenfikationsschemata lassen sich (re-)spezifizieren? Die oben aufgeworfene Fragestellung versuche ich, am Beispiel von unterschiedlichen, die universitären Fakultätsgrenzen überschreitenden Forschungskomplexen zu analysieren. Mithin konstituieren sich mittels synthetischer und/oder integraler Problemorientierungen Formationen transdisziplinärer (Selbst-)Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen der Medienevolution und -reflexion, die sich anhand von Publikationen auswerten lassen. Die inter- und/oder transdisziplinären Differenzierungstendenzen in der medienreflexiven Domäne lassen sich mit Hilfe des vor-

269 Vgl. R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 24), S. 99.

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gestellten Ansatzes loser beziehungsweise strikter struktureller Kopplung von Elementen270 operationalisieren. Prinzipiell sind Transformationen der ›Medienforschung‹ im Kontext disziplinärer Prozesse des Wissenschaftssystems zu beobachten. Folgt man der von der integralen Wissenschaftsforschung beschriebenen rezenten strukturellen Tendenz in der Wissenschaftsentwicklung, transdisziplinäre Forschungs- und Entwicklungsformen auszubilden,271 so wird dieser Umstand in der Medienforschung mit einer Zunahme inter-, multi- und/oder transdisziplinärer (Selbst-)Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen reflektiert. Hinführend sei an dieser Stelle exemplarisch auf einige Dispositionen des durchaus heteronomen Diskussionsspektrums ›transdisziplinärer‹ Positionierungen innerhalb der Medien- und Kommunikationswissenschaft verwiesen; die nachstehend aufgeführten Statements stellen lediglich eine kleine Auswahl dar. Ein Anspruch auf vollständige Erhebung transdisziplinärer Selbstbeobachtungen und -beschreibungen in der Medien- und Kommunikationswissenschaft wird nicht angestrebt. In einem Beitrag zur grundlegenden Verortung lokalisiert der Medienwissenschaftler Knut Hickethier sein Fach vor 20 Jahren in der kreativen Schnittmenge etablierter geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen: »Die Zukunft der Medienwissenschaft im Kontext der Wissenschaften liegt darin, daß sie sich ihrer Möglichkeiten, aber auch ihrer Grenzen bewußt wird; sie kann an Identität nicht gewinnen, wenn sie ihre Zukunft im völligen Austausch ihrer Methoden vermutet: im Grenzland traditioneller Disziplinen angesiedelt, muß sie die unterschiedlichsten Methoden miteinander verbinden können. Sie hat die Chance, ihren Gegenstand weder philologisch noch soziologisch einzuengen, sondern die beiden großen kulturwissenschaftlichen Konzepte für sich zu nutzen, sie auf dem speziellen Feld der Medien in ihrer Durchdringung und gegenseitigen Stimulierung zu neuer Wirksamkeit kommen zu lassen. Dabei kann Medienwissenschaft ihrem Gegenstand in seiner Komplexität gerechter werden, als dies bei einer einseitigen Fixierung auf ein Konzept möglich ist, und kann neue Erkenntnisse gewinnen.«272

Hier wird die Transdisziplinarität einer Medienwissenschaft als lose strukturelle Kopplung von Philologie und Soziologie vor allem auf konzeptuell-

270 Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (wie Anm. 95), S. 198, passim. 271 Vgl. insbesondere Jürgen Mittelstraß: Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 78-82, passim. 272 K. Hickethier: »Das ›Medium‹, die ›Medien‹ und die Medienwissenschaft« (wie Anm. 206), S. 71-72.

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methodischer Ebene charakterisiert, ohne dass beide Disziplinen ihre genuin eigenen identitätskonfirmierenden Traditionslinien suspendieren müssten. Demnach geht es Hickethier bei einer ›Medienwissenschaft‹ als fachübergreifend situierter Disziplin vornehmlich darum, sich der produktiven Potenziale sowohl der philologischen als auch der soziologischen Profession zu vergewissern. In Anbetracht der hohen Komplexität ihres Gegenstandes votiert er dafür, Medienwissenschaft solle sich durch Methoden beider Fächer komplettieren, um sich weder philologisch noch soziologisch im Potenzial zu beschränken. Gemessen am Zeitpunkt der Veröffentlichung, den späten 1980er Jahren, als die Medienwissenschaft vehement um einen Platz im akademischen Institutionengefüge der Hochschule kämpft, avisiert Hickethier verhältnismäßig früh eine wechselseitige Antizipation anschlussfähigen homogenen Materials als besondere Chance einer fachübergreifenden Kooperation dieser beiden kulturwissenschaftlichen Traditionslinien in der Medienforschung,273 womit er die heutige Diskussion in gewisser Weise vorwegnimmt. Grundsätzlich für ›Transdisziplinarität‹ in »integrationswissenschaftliche[r] Perspektive«274 plädierend, akzentuieren die Publizistik- und Kommunikationswissenschaftler Heinz Bonfadelli und Otfried Jarren die immer wieder ins Feld geführte disziplinäre Differenz in der Medienforschung: »Die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft versteht sich heute mehrheitlich als empirisch orientierte Sozialwissenschaft und integriert dementsprechend theoretische Konzepte und Ansätze sowie methodische Verfahrensweisen beispielsweise aus der Soziologie, der Politologie oder Psychologie. In Abgrenzung dazu definieren sich die Medienwissenschaft im deutschen und die sog. Cultural Studies im englischen Sprachraum mehr als Geistes- bzw. Kulturwissenschaften mit einer stärkeren Betonung von qualitativen Methoden.«275

273 Selbstredend wird die Hickethier’sche Vereinnahmung ›der‹ Soziologie unter der Chiffre der Kulturwissenschaften – es wird nicht ganz klar, ob er dabei lediglich die hermeneutisch, deskriptiv und qualitativ ausgerichteten Ansätze im Blick hatte – zumindest bei einem Teil der Sozialwissenschaftler auf wenig Gegenliebe gestoßen sein, ging es doch insbesondere den empirisch forschenden Fachvertretern darum, sich von den tatsächlich und/oder vermeinschlich ›weichen‹ Ausprägungen der Medien-, Kulturund Sozialwissenschaften abzugrenzen. Vgl. zur zeitgenössischen Konfrontation M. Charlton/K. Neumann: »Der Methodenstreit in der Medienforschung« (wie Anm. 258), S. 91-92. 274 Heinz Bonfadelli/Otfried Jarren: »Publizistik- und Kommunikationswissenschaft – ein transdisziplinäres Fach«, in: Otfried Jarren/Heinz Bonfadelli (Hg.): Einführung in die Publizistikwissenschaft, Bern/Stuttgart/ Wien: Haupt 2001, S. 3-14, hier S. 10. 275 Ebd., S. 9-10.

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Die häufig als konstitutiv vorausgesetzte Differenz zwischen geistes- und kulturwissenschaftlichen Ansätzen auf der einen Seite beziehungsweise sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Ansätzen auf der anderen Seite, die bereits in der Hickethier’schen Argumentation aufschien, findet durch Bonfadelli und Jarren unter konzeptuell-methodischem Gesichtspunkt eine spezifische Fortsetzung. Die angesprochene integrationswissenschaftliche Perspektivierung in der Publizistikwissenschaft (Kommunikationswissenschaft) scheint im Sinne einer pluralistischen Lesart gemeint zu sein. Transdisziplinarität findet dort ihre Grenzen, wo die konzeptuellmethodische Identität der partizipierenden Wissenschaftsdisziplinen und -kulturen aufgrund eines (zu) hohen Grades strikter struktureller Kopplungen qualitativ-deskriptiv, hermeneutisch-interpretativ oder historischästhetisch etikettierter Komponenten einerseits sowie quantitativ-empirisch, analytisch-funktional oder tatsachen- und sozialwissenschaftlich apostrophierter Komponenten andererseits fraglich wird. Auch der Mediensoziologe Peter Ludes und der Journalistikwissenschaftler Georg Schütte greifen den Aspekt einer integrativen Fokussierung von Medien- und Kommunikationswissenschaft auf, gehen allerdings weit über Bonfadellis und Jarrens Standpunkt hinaus, indem sie eine ›transdisziplinäre‹ Synthese aus beiden Fächern insbesondere im Methodischen postulieren: »Die Forderung nach einer größeren Perspektiven- und Methodenvielfalt in der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft entspricht in diesem Sinne der zunehmenden sozialwissenschaftlichen Orientierung der Medienwissenschaft. Damit entstehen Ansätze einer integrierten Medien- und Kommunikationswissenschaft, in der hermeneutisch-qualitative und sozialwissenschaftlich-quantitative Methoden zum Einsatz kommen.«276

Während die drei vorangegangenen Positionierungen eher von einem traditionell disziplinär begründeten Standpunkt aus argumentieren, nehmen die Kommunikationswissenschaftler Klaus-Dieter Altmeppen und Matthias Karmasin den Gesichtspunkt der ›Transdisziplinarität‹ in der Medienforschung – exemplifiziert am Anwendungsbeispiel »Ökonomie der Medien« – aus Sicht einer modifizierten Wissenschaftstheorie respektive -forschung in den Blick: »Aus Sicht der neueren Wissenschaftstheorie kommt für eine Rekonstruktion der Analyse gesellschaftlicher Komplexität nur eine transdisziplinäre Problemorientierung in Frage. Mit einer Problemorientierung werden gemeinsame Bezugspunkte für die Analyse der Ökonomie der Medien geschaffen. In einer transdis276 Peter Ludes/Georg Schütte: »Für eine integrierte Medien- und Kommunikationswissenschaft«, in: Peter Ludes: Einführung in die Medienwissenschaft. Entwicklungen und Theorien, Berlin: Schmidt 1998, S. 33-53, hier S. 47.

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ziplinären Medienökonomie werden die disziplinären Zugänge nicht aufgelöst, sondern im Hinblick auf beobachtbare Probleme des Erkenntnisgegenstandes ›Medien‹ kooperativ angewendet […].«277

Dem hält der Medienphilosoph und -wissenschafter Mike Sandbothe eine andere Konzeption der Medienforschung ›transdisziplinärer‹ Orientierung entgegen, die nicht – wie größtenteils in den obigen Exempla – über die Konstellierung konzeptuell-methodologischer Faktoren operationalisiert wird, sondern aus einer spezifischen, hier prononciert neopragmatischen Modellierung von ›Medien‹ beziehungsweise ›Mediengebrauch‹ resultiert: »Während Mediendefinitionen im klassischen Stil im Regelfall eine der drei Mediensorten als Definiensbereich auszeichnen, von dem her die anderen Bereiche medientheoretisch bestimmt oder exkludiert werden, legt eine gebrauchstheoretisch ausgerichtete Untersuchung den Schwerpunkt auf die dynamischen Interferenzen, die zwischen Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Verbreitungsmedien bestehen. Deren Berücksichtigung charakterisiert eine dezidiert transdisziplinäre Konzeption medienwissenschaftlicher Forschung. In ihrem Zentrum steht die intermedialitätstheoretische Frage, wie Veränderungen im Bereich der Verbreitungs-, Verarbeitungs- und/oder Speichermedien zu Transformationen von Nutzungsgewohnheiten im Bereich der Kommunikationsmedien führen und wie diese wiederum zu einer Reorganisation unserer Wahrnehmungsmedien und damit verbunden der aisthetischen und epistemologischen Grundlagen unseres kulturellen Selbst- und Weltverständnisses beitragen können.«278

Schließlich avisiert der Literatur- und Medienwissenschaftler Gebhard Rusch Medienwissenschaft als ein ›transdisziplinäres‹ Forschungsprogramm, das disziplinäre Normierungsschemata weithin hinter sich lässt und stattdessen für integrative Forschungs- und Lehraktivitäten als fachübergreifende Wissenschaftsprogramme plädiert:

277 Klaus-Dieter Altmeppen/Matthias Karmasin: »Medienökonomie als transdisziplinäres Lehr- und Forschungsprogramm«, in: Klaus-Dieter Altmeppen/Matthias Karmasin (Hg.): Medien und Ökonomie, Band 1/1. Grundlagen der Medienökonomie. Kommunikations- und Medienwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003, S. 1950, hier, S. 34. 278 Mike Sandbothe: »Medien – Kommunikation – Kultur. Grundlagen einer pragmatischen Kulturwissenschaft«, in: Matthias Karmasin/Carsten Winter (Hg.): Kulturwissenschaft als Kommunikationswissenschaft. Projekte, Probleme, Perspektiven, Opladen, Westdeutscher Verlag 2003, S. 257-271, elektronisch verfügbar unter: , o. S. (letzte Änderung: 29.04.2003; letzter Zugriff: 21.10.2005), hier zitiert nach der Online-Version, ebd., o. S.

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»Viel produktiver erscheint der Gedanke, Medienwissenschaft als Integrationsdisziplin aus Literatur- und Kommunikationswissenschaften zwischen bestehenden Fachbereichen zu etablieren, und die medienbezogenen Forschungs- und Lehrgebiete der übrigen unmittelbar beteiligten Fächer wie Psychologie, Soziologie, Wirtschaftswissenschaften, Rechtswissenschaft, Informatik, etc. direkt zuzuordnen. Medienwissenschaft wäre in diesem Verständnis viel eher ein transdisziplinäres Forschungsprogramm als eine eigenständige Disziplin, wenngleich sie im Kern und faktisch aus der komplementären Verbindung von Literatur(einschließlich Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft) und Kommunikationswissenschaft hervorgeht.«279

Beobachtungslogik(en) ›transdisziplinärer‹ M e d i e nw i s s e n s c h a f t Unbeschadet der Konsistenz, Stringenz und Referenz solcher und/oder ähnlicher Definitionen beziehungsweise Modellierungen von ›transdisziplinärer Medienforschung‹ – es steht nicht an, diese und andere Ansätze als solche hier zu problematisieren oder zu evaluieren – hat man zunächst einmal schlichtweg zur Kenntnis zu nehmen, dass neben disziplinären, intra- und/oder subdisziplinären Konzeptualisierungen sukzessive inter-, multi- und/oder transdisziplinäre Konzeptualisierungen die (Selbst-)Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen der Medienforschung kennzeichnen. Nach dem ich anhand dieser kleinen Auswahl von Beispielen einige programmatische, mitunter auch widerständige Aussagen zur ›Transdisziplinarität der Medienforschung‹ vorgestellt habe, gilt es nun, gezielt fachübergreifenden Ausdifferenzierungen und/oder Neukonstituierungen anhand konkreter Forschungskomplexe aus verschiedenen thematischen Sektoren und mit unterschiedlichen evolutionären Formationen nachzugehen. Meine erste Anwendungsstudie befasst sich mit Medienphilosophie (Kapitel 4). Auf diesem neuen epistemischen Feld, das in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Konjunktur erlebte, herrscht unter den Kombattanten gleichwohl wenig Konsens hinsichtlich Intention, Objekt, Methodik und Tradition der mit dem Begriff ›Medienphilosophie‹ in Beschlag genommenen Erkenntnistätigkeiten. Eine gewisse Einmütigkeit herrscht lediglich insofern, als dass es sich bei ›Medienphilosophie‹ mitnichten um eine ak-

279 Gebhard Rusch: »Medienwissenschaft als transdisziplinäres Forschungs-, Lehr- und Lernprogramm. Plädoyer für eine integrierte Medien- und Kommunikationswissenschaft«, in: Gebhard Rusch (Hg.): Einführung in die Medienwissenschaft. Konzeptionen, Theorien, Methoden, Anwendungen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 69-82, hier S. 76 (Hervorhebung im Original).

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zeptierte und etablierte akademische (Sub-)Disziplin der zeitgenössischen Philosophie handelt. Als Reflex auf eine massive Beschleunigung der Medienentwicklung gelangt seit den 1960er Jahren – nicht selten in medienkritischer Absicht – die technische Formierung der Episteme und Sinne in den Fokus der Medien- und Kulturwissenschaften. Für den späteren ›medienphilosophischen‹ Interdiskurs sollte insbesondere die Mediumtheorie des kanadischen Literaturwissenschaftlers und Kommunikationstheoretikers Herbert Marshall McLuhan einflussreich werden. In Kontrastierung zum Gros der ihm zeitlich vorangegangenen Autoren reflektierte McLuhan nicht mehr aus einem spezifischen Erkenntnisinteresse heraus auf singuläre Medien, sondern explizierte diese als ein Theorieelement unter anderen, um ein generelles Medienkonzept plausibel machen zu können. Nach McLuhan weitet jede neue Technik, jedes neue Medium den menschlichen Körper aus: Die technischen Effekte »verlagern das Schwergewicht in unserer Sinnesorganisation oder die Gesetzmäßigkeiten unserer Wahrnehmung ständig und widerstandslos«280. Auf Reizüberflutungen reagiert das zentrale Nervensystem, das Wahrnehmung steuert, nach McLuhan mit »Amputation oder Absonderung«281 des entsprechenden Körperteils. Es ist aufschlussreich, diesem genealogischen Diskursstrang nachzugehen, da sich hieran bereits eine programmatische Absetzbewegung zur ›Medientheorie‹, wie sie in der Medienwissenschaft selbst gepflegt wird, konturiert. Ideengeschichtlich muss die solcherart apostrophierte ›Medientheorie‹ als Reaktion auf das herrschende semiotische Paradigma innerhalb der Literatur- und Kulturtheorie der 1960er Jahre verstanden werden.282 Gegen die damalige Diskursdominanz einer Zeichentheorie, die sämtliche Kommunikationsakte ungeachtet ihrer materiellen Verankerung in sprachäquivalente Entitäten und Funktionen aufzulösen trachtete, funktionalisiert die vor allem mit Herbert Marshall McLuhan283 einsetzende, sich schließlich retrospektiv auf Walter Benjamin284 berufende ›Medientheorie‹ die technologische und materiale Fundierung der (medialen) Kommunikation zum Letztbegründungsargument um. McLuhans legendärer Satz, dass das Medium die Botschaft sei,285 gilt seither als Inaugurationsformel einer wissenschaftlichen Perspektive auf Medienkommunikation, welche diese

280 H. M. McLuhan: Die magischen Kanäle (wie Anm. 251), S. 30. 281 Ebd., S. 58. 282 Vgl. auch Winfried Nöth (Hg.): Semiotics of the Media. State of the Art, Projects, and Perspectives, Berlin/New York: Mouton de Gruyter 1997, S. 13-107. 283 Vgl. H. M. McLuhan: Die magischen Kanäle (wie Anm. 251), S. 17-92. 284 Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 7-43 und Walter Benjamin: Medienästhetische Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, passim. 285 Vgl. H. M. McLuhan: Die magischen Kanäle (wie Anm. 251), S. 17.

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letztlich in der basalen Medientechnologie bereits präfiguriert, wenn nicht prädeterminiert sieht. Die Materialität der Kommunikation286 rückte somit in den Mittelpunkt der Erkenntnisbemühung und löste die tradierten hermeneutischen und/oder ideologiekritischen Praktiken ab, diente der sich konstituierenden Medienwissenschaft hierzulande zugleich als zentrales Legitimations- und Differenzkriterium gegenüber tradierten Disziplinen (auf denen sie genealogisch im Wesentlichen fußt). Während sich die etablierte Nachkriegsphilosophie etwa die Frankfurter Schule287 oder ihr weiteres Umfeld288 bis dato tatsächlich unter primär ideologie- und kulturkritischen Vorzeichen an den Inhalten der Massenmedien gerieben hatte – und somit letztlich eine ›Austreibung der Medien aus den Geisteswissenschaften‹ forcierte –, vollzogen die deutschen Medientheoretiker der ersten Generation einen programmatischen Trendwechsel hin zu Walter Benjamin,289 Herbert Marshall McLuhan,290 der Diskurstheorie,291 Jacques Lacans Psychoanalyse292 oder dem Poststrukturalismus293 generell. In der Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften294 – so der signifikante Titel einer frühen Anthologie poststrukturalistischer Texte, die von dem Literatur- und Medienwissenschaft286 Vgl. die Beiträge in Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, insbesondere auch K. Ludwig Pfeiffer: »Materialität der Kommunikation?«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 15-28, hier S. 17-18. 287 Vgl. M. Horkheimer/T. W. Adorno: »Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug« (wie Anm. 253) sowie Hans Magnus Enzensberger: »Baukasten zu einer Theorie der Medien«, in: Kursbuch, Heft 20, März 1970, S. 159-186. 288 Vgl. zum Beispiel Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: Beck 1987, S. 97-211; dazu auch Christian Filk: Günther Anders lesen. Die Geburt der Medienphilosophie aus dem Geist der ›Negativen Anthropologie‹, Bielefeld: transcript 2009, passim. 289 Vgl. W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (wie Anm. 284), S. 7-43. 290 Vgl. H. M. McLuhan: Die magischen Kanäle (wie Anm. 251) und Herbert Marshall McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Düsseldorf/Wien: Econ 1968. 291 Vgl. beispielsweise Friedrich A. Kittler/Horst Turk (Hg.): Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. 292 Vgl. Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim/Berlin: Quadriga 1987. 293 Vgl. dazu auch François Dosse: Geschichte des Strukturalismus, Band 2. Die Zeichen der Zeit, 1967-1991, Frankfurt am Main: Fischer 1999, S. 236-326. 294 Vgl. Friedrich A. Kittler (Hg.): Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, Paderborn u. a.: Schöningh 1980.

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ler Friedrich A. Kittler ediert wurde, der bis heute als einer der prominentesten und radikalsten Vertreter einer materialistisch-technizistischen ›Medientheorie‹295 reüssiert – fanden diese divergenten Diskurse ihren gemeinsamen und bis heute weithin gültigen Nenner. Abgelöst wurde die philosophisch-hermeneutische Tradition, der eben die Verkennung der medialen Präfiguration alles Geistigen vorgeworfen wurde, nunmehr durch die Analyse der historisch jeweils vorherrschenden (Medien-) Technik beziehungsweise durch das Axiom, ›neues‹ Philosophieren werde immer nur durch neue Medientechnologien aktiviert, sei diesen also nachgeordnet.296 In Analogiebildung zum linguistic turn formulierte sich hier besagter medial turn unter starker, oft einseitiger Akzentuierung des technologischen Fundaments medialer Kommunikationsakte. Die verstärkt seit Mitte der 1990er Jahre virulente Intonierung einer ›Medienphilosophie‹297 nimmt sich prima facie als heteronomes Diskursgefüge aus. Der medienphilosophische Forschungskomplex harrt nicht nur seiner (inter-)diskursiven und wissenschaftshistorischen, sondern letztlich sogar seiner disziplinären Einordnung – mithin ein rekurrentes Reflexionsinstrument zur Unterscheidung von Identität und Differenz im Wissenschaftsbetrieb. Denn tatsächlich ist die Zuordnung der ›Medienphilosophie‹ zu eher medienwissenschaftlichen oder eher philosophischen Geltungsbereichen keineswegs eindeutig. Zwar ist einerseits zu konzedieren, dass ›Medienphilosophie‹ grosso modo durch Vertreter der kurrenten Medien- und Kulturwissenschaft initiiert und intensiviert wurde und sich (wenigstens bislang) durch keine homogenen Diskursschemata geläufiger philosophischer Couleur nachzeichnen lässt, die das Phänomen angemessen plausibilisieren und innerhalb der Philosophie positionieren könnten. Doch steht andererseits einer allzu planen Zuschreibung des Phänomens und der Form unter die Ausdifferenzierungstendenzen der selbst ja noch jungen akademischen Medienwissenschaft zuvorderst das Selbstverständnis der meisten als ›Medienphilosophie‹ klassifizierten Beiträge als eines dezidierten Interdiskurses zwischen den beiden genannten Disziplinen entgegen. Im Zentrum der Anwendungsuntersuchung werden vornehmlich Positionen stehen, die ›Medienphilosophie‹ anhand der diskursiven Schnittbeziehungsweise Gelenkstelle der Disziplinen Medienwissenschaft und Philosophie verorten. Bedingt durch den Umstand, dass Medienwissenschaft, Philosophie und Medientheorie in einem mannigfaltigen, allerdings noch recht wenig miteinander verbundenen Diskurs mit der Erarbeitung 295 Vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München: Fink 1995, S. 519-522 sowie Friedrich A. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bosse 1986, S. 3-6, 7-33. 296 Vgl. Norbert Bolz/Friedrich Kittler/Christoph Tholen (Hg.): Computer als Medium, München: Fink 1999. 297 Vgl. insbesondere Rudolf Fietz: Medienphilosophie. Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche, Würzburg: Königshausen & Neumann 1992, S. 4-15.

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medienphilosophischer Konzepte befasst sind, wird man hier unter dem Gesichtspunkt inter- und/oder transdisziplinärer Differenzierungstendenzen in der medienreflexiven Domäne allenfalls von losen oder schwachen strukturellen Kopplungen philosophischer, medienwissenschaftlicher und -theoretischer Elemente sprechen können. Denn unbeschadet der genuin eigenen Problemstellungen in einer medieninteressierten Fachphilosophie, in einer wissenschaftstheoretisch orientierten Medienwissenschaft und in einer reflektiert-spekulativen Medientheorie erfolgen indes die jeweiligen ›medienphilosophischen‹ Bestrebungen in einem »gemeinsamen komplementären Horizont des Nachdenkens über Medien«298. Die spezifische diskursive Ausgangslage nimmt sich nach dem Philosophen Rainhard Margreiter wie folgt aus: »Wer sich theoretisch mit Medien beschäftigt bzw. die (unterschiedlichen Formen von) Medienpraxis reflektiert, kommt über kurz oder lang ›ins Philosophieren‹. Somit mündet der Mediendiskurs aufgrund der genuinen Fragen, die er selbst stellt, zwangsläufig in eine Art von philosophischem Diskurs. Aber auch wer im 21. Jahrhundert (Fach-)Philosophie betreibt – was nach Hegels Diktum heißt, seine Zeit im Begriff zu erfassen –, kommt nicht umhin, sich mit der offenkundigen ›Medialisierung der Welt‹ – d. h. dem Vormarsch der Neuen Medien in unserer Kultur und Lebenswelt –, aber auch mit der konstitutiven Rolle auseinanderzusetzen, die die ›alten‹ Medien (Mimik und Gestik, Oralität, Literalität und Typografie) schon seit je her oder zumindest seit langem in der Menschheitsgeschichte spielen. Aufgrund ihrer eigenen Fragestellungen wird also auch die Philosophie dazu gezwungen, sich dem Mediendiskurs zu öffnen. Medienphilosophie erweist sich somit von zwei Seiten her als Desiderat: von Seiten der Philosophie und von Seiten des Mediendiskurses.«299

Falls ›Medienphilosophie‹ im skizzierten Sinne eines Interparadigmas oder -diskurses denn in der Tat als ein Antwortversuch auf Desiderate womöglich beider Disziplinen anzusehen ist, so hätten wir es hier gar mit dem merkwürdigen Phänomen zu tun, dass sich – ausgerechnet – eine der ältesten mit einer der jüngsten Fachwissenschaften und -kulturen auf einem epistemischen Felde treffen, wovon sich beide Disziplinen offenbar die Behebung gewisser Defizite versprechen. Auf diese Arbeitshypothese, ausweislich der eingangs zur Sprache gekommenen strukturellen Kopplung zwischen Medienwissenschaft und Philosophie, konzentriert sich die erste Anwendungsstudie (Kapitel 4) anhand der sich abzeichnenden Dispositionen in diesem noch relativ unkonturierten Forschungskomplex. Die jeweiligen Problemorientierungen bilden einen neuen Forschungskomplex, in dem Komponenten beider Disziplinen, die zuvor weithin unverbunden nebeneinander firmierten, zu neuen Synthesen lose miteinander verkoppelt 298 Reinhard Margreiter: Medienphilosophie. Eine Einführung, Berlin: Parerga 2007, S. 10 (Hervorhebung im Original). 299 Ebd.

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werden. Dies kann und soll im Sinne der genannten Fragestellung zugleich auch unter Rückgriff auf die bisherigen (Dis-)Kontinuitäten der Problemgeschichten in den jeweiligen Disziplinen geschehen. Das zweite Anwendungskapitel meiner Studie setzt sich mit Medieninformatik auseinander (Kapitel 5), exemplifiziert anhand der (Selbst-)Beobachtung und (Selbst-)Beschreibung des transdiziplinären Forschungskomplexes Computer Supported Cooperative Work (CSCW).300 Die computerunterstützte Gruppenarbeit wird im medieninformatorischen Kontext der Mensch/Computer-Interaktion (MCI), der strukturell durch eine epistemische Offenheit charakterisiert ist, diskursiviert. CSCW firmiert als dezidiert multi- und/oder transdisziplinäres Forschungsfeld.301 In der Domäne Computer Supported Cooperative Work sind Vertreter aus Informatik und Sozialwissenschaft, Psychologie und Soziologie, Arbeitswissenschaft und Design sowie Ökonomie und Wirtschaftsinformatik bestrebt, durch den Einsatz kollaborativer Informations- und Kommunikationssysteme die menschliche Zusammenarbeit in vereinten und/oder verteilten Gruppen zu fördern und zu verbessern.302 Vor dem skizzierten Diskurshorizont (re-)konstruiere ich in dieser Untersuchung die Media-Synchronicity-Theorie der US-amerikanischen Wirtschaftsinformatiker und Managementwissenschaftler Alan R. Dennis und Joseph S. Valacich303 aus dem Jahr 1998 beziehungsweise 1999. Dieser Ansatz, dem transdisziplinären Forschungsgebiet (sensu Jürgen Mittelstraß)304 der computerunterstützten Gruppenarbeit entlehnt, formuliert Thesen zum Zusammenhang zwischen der Synchronizität der Mediennut300 Vgl. Irene Greif (Hg.): Computer-Supported Cooperative Work. A Book of Readings, San Mateo, Califonia: Kaufmann 1988. 301 Vgl. Gerhard Schwabe/Norbert Streitz/Rainer Unland (Hg.): CSCW-Kompendium. Lehr- und Handbuch zum computerunterstützten kooperativen Arbeiten, Berlin/Heidelberg/New York: Springer 2001 und Tom Gross/ Michael Koch: Computer-Supported Cooperative Work, München/Wien: Oldenbourg 2007. 302 Vgl. Hendrik Lewe: Computer Aided Team und Produktivität. Einsatzmöglichkeiten und Erfolgspotentiale, Wiesbaden: Deutscher UniversitätsVerlag 1995 und Gerhard Schwabe: Objekte der Gruppenarbeit. Ein Konzept für das Computer Aided Team, Wiesbaden: Deutscher UniversitätsVerlag 1995. 303 Vgl. Alan R. Dennis u. a.: »Beyond Media Richness. An Empirical Test of Media Synchronicity Theory«, in: Hugh J. Watson (Hg.): Proceedings of the 31nd Hawaii International Conference on System Sciences (HICSS 31), Los Alamitos, California u. a.: IEEE Computer Society 1998, S. 48-57 sowie Alan R. Dennis/Joseph S. Valacich: »Rethinking Media Richness. Towards a Theory of Media Synchronicity«, in: Ralph H. Sprague, jr. (Hg.): Proceedings of the 32nd Hawaii International Conference of System Sciences (HICSS 32), Los Alamitos, California u. a.: IEEE Computer Society 1999 (CD-ROM of Full Papers), S. 1-10. 304 Vgl. J. Mittelstraß: Transdisziplinarität – wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit (wie Anm. 22), S. 9-10.

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zung in der Gruppe beziehungsweise ihrer Gruppenmitglieder und Konstitutionsmerkmalen der computerunterstützten Kommunikation. Zudem gibt die Theorie von Dennis und Valacich weitere Aufschlüsse über Spezifika des operativen Medieneinsatzes. Für den Forschungsfokus meiner Studie ist die Media-Synchronicity-Theorie nicht zuletzt deshalb von großem Interesse, da sie im hiesigen (medien-)informatorischen Rezeptions- und Produktionskontext unter dem Aspekt einer Theorie der Mediennutzung beziehungsweise der -wahl perzipiert und adaptiert wurde,305 allerdings ohne merkliche Partizipation der einschlägigen Medien- oder Kommunikationswissenschaft. Der Forschungskomplex Computer Supported Cooperative Work (oder auch Computer Supported Collaborative Work) setzte sich seit Mitte der 1980er Jahre durch.306 Die Informatikerin Irene Greif führte früh den Terminus technicus ›Computer Supported Cooperative Work‹ ein.307 Als deutsche Übertragungen von CSCW kursieren in erster Linie: ›Computerunterstützte Gruppenarbeit‹, ›Computerunterstützte kooperative Arbeit‹ und ›Computerunterstützung kooperativen Arbeitens‹.308 In diesen Übersetzungen kommt ein besonderes Verständnis der Arbeitssituation zum Ausdruck. Beim situierten Arbeiten geht es nicht allein um reziprokes Informieren und Koordinieren der Partizipierenden, vielmehr impliziert die Arbeitssituation eine besondere Form gruppenbezogener Zusammenarbeit: 305 Vgl. unter anderem Gerhard Schwabe: »Theorien der Mediennutzung bei der Gruppenarbeit«, in: Gerhard Schwabe/Norbert Streitz/Rainer Unland (Hg.): CSCW-Kompendium. Lehr- und Handbuch zum computerunterstützten kooperativen Arbeiten, Berlin/Heidelberg/New York: Springer 2001, S. 54-65, hier S. 58-61. 306 In der Forschungsliteratur – insbesondere angloamerikanischer Provenienz – finden sich die Begriffe ›cooperation‹/›cooperative‹ (›Kooperation‹/›kooperativ‹) und ›collaboration‹/›collaborative‹ (›Kollaboration‹/›kollaborativ‹) mit bisweilen unterschiedlichen Bedeutungsdifferenzen oder zumindest -nuancen. In der Regel geht es bei den Termini um einen verschiedenen Grad der Zusammenarbeit (in Gruppen), der im Vorfeld per definitionem festgelegt wird. In meiner Abhandlung werden die Begriffe ›cooperation‹/›cooperative‹ sowie ›collaboration‹/›collaborative‹ synonym gesetzt. Um etwaigen Missverständnissen in Bezug auf semantische Konnotationen vorzubeugen, präferiere ich nachstehend grundsätzlich die Begrifflichkeit ›cooperation‹/›cooperative‹ und ›Kooperation‹/›kooperativ‹. Vgl. zur diesbezüglichen Terminologie neben anderen T. Gross/M. Koch: Computer-Supported Cooperative Work (wie Anm. 301), S. 4-6. 307 Vgl. eingehend I. Greif (Hg.): Computer-Supported Cooperative Work (wie Anm. 299), passim; ferner H. Lewe: Computer Aided Team und Produktivität (wie Anm. 302), S. 43. 308 Vgl. auch H. Lewe: Computer Aided Team und Produktivität (wie Anm. 302), S. 43 und Ulrich Frank: »Multiperspektivische Unternehmensmodelle als Basis und Gegenstand integrierter CSCW-Systeme«, in: Ulrich Hasenkamp/Stefan Kirn/Michael Syring (Hg.): CSCW – Computer Supported Cooperative Work. Informationssysteme für dezentralisierte Unternehmensstrukturen, Bonn/Paris/Reading, Massachusetts: Addison-Wesley 1994, S. 179-198.

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»Kooperieren in dem Sinne, daß es bei einer zumindest partiellen Übereinstimmung der Ziele der beteiligten Personen unter gemeinsamer Nutzung knapper Ressourcen zur Erreichung eines Ergebnisses durch koordinierte Einzelhandlungen auf der Grundlage vereinbarter Konventionen kommt.«309

Prima vista scheinen disziplinäre Definitionen den Forschungskomplex ›Medieninformatik‹ auf Basis konstruktiver informatorischer Traditionslinien hinsichtlich seiner theoretischen, method(-olog-)ischen und techn (-olog-)ischen Präliminarien, verhältnismäßig kohärent und homogen explizieren zu können. Doch gerade die Vergegenwärtigung der evolutiven und genaologische Prämissen der medieninformatorischen Konstitutionsfaktoren nötigt der Wissenschaftsreflexion einen ›tiefer‹ greifenden Zugriff ab. Mithin gewährleisten die konventionellen Reflexionstheorien und -mecha-nismen, die Ausbildungen neuer Sub- oder Bindestrichdisziplinen im Prozess der Evolution beziehungsweise Ausdifferenzierung aus eigenen fachlichen Forschungskontexten konzipieren, für meinen ›medieninformatorischen‹ Themenkomplex keine rechte Handhabe. Denn derartige Selbstverortungsversuche eines neuen Gegenstandsbereiches nach Maßgabe des Differentials disziplinärer ›Kontinuität‹/›Diskontinuität‹ dürften am Beispiel ›Medieninformatik‹ schon insofern weithin zum Scheitern verurteilt sein, als dass ›Medien‹ in der akademischen Informatik lange Zeit weder thematisch noch paradigmatisch vertreten waren.310 Trotz eines divergierenden Tenors in aktuellen Selbstbeobachtungen und -beschreibungen, wie weiter unten noch zu sehen sein wird, kommt man innerhalb einer ›Medieninformatik‹ zumindest dahingehend überein: »Medieninformatik ist […] grundsätzlich ein Gebiet, das nur erfolgreich mit anderen Gebieten aus Ingenieur-, Natur-, Geistes- und Gestaltungswissenschaften zusammen betrieben werden kann. Besondere Bedeutung kommt neben der Informatik der Psychologie, den Arbeitswissenschaften und dem Design zu. Diese Form der fachübergreifenden Zusammenarbeit verleiht dem Gebiet einen besonderen Reiz, macht es aber gleichzeitig auch schwierig zu erlernen, zu praktizieren und zu kommunizieren, da die unterschiedlichen Wissenschaftsmethodiken, Fachsprachen und praktischen Arbeitsweisen übersetzt bzw. verknüpft werden müssen.«311

309 H. Lewe: Computer Aided Team und Produktivität (wie Anm. 302), S. 43. 310 Vgl. hierzu die multi- und transdisziplinären Referenzen bei Michael Herczeg: Einführung in die Medieninformatik, München/Wien: Oldenbourg 2006, S. 7-8, 11-29, 232, passim. 311 Ebd., S. 7-8 (Hervorhebung im Original).

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Diese dezidiert transgressive medieninformatorische Selbstverortung312 vermag nicht wirklich zu frappieren. Denn in dem Maße, wie digitale, interaktive und konvergente Medien die Gesellschaft und ihre sozialen Teilsysteme durchdringen, desto mehr scheinen Notwendigkeit und Bereitschaft zur interdisziplinären Kooperation auf Zeit zu steigen und einer mehr und mehr permanent transdisziplinären Zusammenarbeit zu weichen. Als Effekt dessen wandelt sich schließlich die wissenschaftssystematische Ordnung.313 Dadurch werden schwache strukturelle Kopplungen partizipierender Wissenschaftsdisziplinen und -kulturen tendenziell durch striktere strukturelle Kopplungen ersetzt, wodurch das Forschungs- und Wissenschaftsprinzip der Interdisziplinarität durch das der Transdisziplinarität abgelöst wird. Es setzt dort an, wo allein fachliche oder disziplinäre Definitionen von Problemstellungen beziehungsweise Lösungsszenarien nicht mehr machbar sind und solche Bestimmungen überschreiten müssen.314 Insgesamt betrachtet, wird allerdings auch deutlich, dass die gegenwärtigen Fachdebatten hinsichtlich einer eigenen diskursiven Verortung der Medieninformatik innerhalb der befassten Wissenschaftsgemeinschaften bisher noch nicht zu eindeutigen und festen Eigenwerten geführt haben. Wie bereits in der Herleitung aus Sicht einer integralen Wissenschaftsforschung angeklungen,315 besteht eine wesentliche Bedingung dafür, dass in der Genese einer einzelnen (Sub-)Disziplin die zu Beginn prägende »Konkretheit des Gegenstandsbezugs«316 sukzessive durch eine »disziplinkonstituierende Problemstellung« ersetzt wird. Umso größer müssen sich evidentermaßen die Schwierigkeiten ausnehmen, wenn man – wie in den Wissenschaftsdiskursen von Computer Supported Cooperative Work – zwar mit einer emergierenden, jedoch heterogenen disziplin- und paradigmaüberschreitenden Gemengelage konfrontiert ist. Neben der identitätsstiftenden Problemstellung einer (Sub-)Disziplin ist eine weitere wichtige Voraussetzung mit ins Kalkül zu ziehen. Diese betrifft die Organisation. Ein Ausweis für die »Dynamisierung des Ver312 Ähnliche Äußerungen finden sich beispielsweise bei Kai Bruns/Klaus Meyer-Wegener: »Medieninformatik«, in: Kai Bruns/Klaus Meyer-Wegener (Hg.): Taschenbuch der Medieninformatik, Leipzig: Fachbuchverlag 2005, S. 17-27, hier S. 27 und Roland Schmitz: »Einleitung«, in: Roland Schmitz (Hg.): Kompendium Medieninformatik. Mediennetze, Berlin/Heidelberg/New York: Springer 2006, S. V-VII, hier S. VI. 313 Hier greife ich die Differentia spezifica von ›Inter-‹/›Transdisziplinarität‹ im Anschluss an J. Mittelstraß: Transdisziplinarität – wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit (wie Anm. 22), S. 9-10, auf. 314 Vgl. ebd. 315 Verwiesen sei auf die systemtheoretischen Grundlagen bei N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 92); R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 24) sowie W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 29). 316 R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 24), S. 49.

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hältnisses von Disziplinen«317 ist die Ausbildung fachwissenschaftlicher ›Gemeinschaften‹. Eben jener Umstand ist kennzeichnend für den Diskurs, in den Medieninformatik beziehungsweise CSCW positioniert sind. Folgt man der systemtheoretischen Diktion und betrachtet Disziplinen vornehmlich als »Sozialsysteme«, mithin als Kommunikationsgemeinschaften von Experten,318 so liegt es für solche Sozialformationen nahe, die Grenzen ihres disziplinär angestammten Terrains zu überschreiten und das epistemische Feld anderer (Sub-)Disziplinen ins Visier zu nehmen. Die Extension des eigenen wissenschaftlichen Agierens basiert auf der Intention, die Konsistenz und Validität des eigenen Konzepts und der eigenen Resultate außerhalb der eigenen fachlichen Grenzen unter Beweis zu stellen:319 »Problemstellungen […] können expansiv auf immer neue Gegenstände angewandt werden; der Versuch ihrer Formulierung und Weiterentwicklung bedient sich des Bezugs auf andere, jeweils nicht gewählte Problemstellungen, so daß eine Disziplin ihr eigenes Selbstverständnis immer auch in Relation zu ihrem Bild anderer Disziplinen entwickelt. Damit ist die Statik disziplinärer Abgrenzung aufgebrochen.«320

Bedingt durch die genealogische und konzeptuelle Affinität der transdisziplinären Forschungskomplexe Computer Supported Cooperative Work beziehungsweise Medieninformatik sind dem aktuellen medieninformatorischen Diskurs ältere CSCW-Diskursstränge eingeschrieben, die nunmehr hinsichtlich Identität/Differenz kontinuierlicher/diskontinuierlicher Anschlüsse einer sich begründenden ›Medieninformatik‹ reaktualisiert und reinterpretiert werden. Für die zweite Anwendungsstudie sei die Arbeitshypothese einer strikteren transdisziplinären Kopplung im Diskurs von Computer Supported Cooperative Work formuliert. Die Media-Synchronicity-Theorie wird als konzeptuell-explikatorischer Forschungsbeitrag der Mensch/ComputerInteraktion (MCI) innerhalb des transdisziplinären Diskurses von Computer Supported Cooperative Work (CSCW) diskutiert. Dabei wird eine etablierte striktere strukturelle, mithin sich selbststabilisierende Kopplung diverser Wissenschaftsdisziplinen und -kulturen durch Selbstbeobachtungen und -beschreibungen postuliert. Eine integrale Problemantizipation und stärkere disziplinäre Interaktion konstituieren den autarken transdisziplinären Forschungskomplex CSCW und substituieren ehemals heterogene Problemsektoren und schwache Wechselwirkungen der partizipierenden Disziplinen.

317 318 319 320

Ebd., S. 49-50. Vgl. ebd., S. 50. Vgl. ebd., S. 49-50. Ebd., S. 49.

Anwendung

4 Forsc hungsk omple x ›Me die nphilos ophie‹ »Die Frage, inwieweit man seinen eigenen Zweifel verwalten kann, ist […] die entscheidende Frage jeder Erkenntnistheorie – und auch jeder Medientheorie. In diesem Sinne denkt immer noch kartesianisch, wer zwar nicht mehr glaubt, dass sein Zweifel durch eine klare Evidenz beendet werden kann, aber immer noch denkt, dass er über den Anfang des Zweifels verfügt, dass er sich zum Zweifel entschließen kann – und nicht vom Zweifel, wie von der Angst irgendwann erfasst wird. Der Zweifel, von dem man erfasst wird, ist nämlich kein erkenntnistheoretischer Zweifel mehr, sondern vielmehr der paranoide, unabweisbare, ontologische Verdacht, der sich nie beenden lässt.«1 – Boris Groys

S yn t h e t i s c h e P r o b l e m o r i e n t i e r u n g e n Vor zwei Dekaden stellte der Wissenschaftstheoretiker Wolfgang Stegmüller fest: »Je mehr Philosophiegeschichte wir hinter uns gebracht haben, desto größer ist unsere Neigung, philosophische Neuerungen in ein vorläufiges Schema einzuordnen, um ihnen zumindest den Anschein einer gewissen Verständlichkeit zu geben.«2 – Was sich in der jüngeren Geschichte des Faches als instruktives Instrument zur diskursiven Verortung etwa von Wissenschafts-, Sozial- oder Technikphilosophie erwiesen haben 1 2

Boris Groys: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München/ Wien: Hanser 2000, S. 56. Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung, Band II, Stuttgart: Kröner 1987, S. 469.

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mag, greift im vorliegenden Fall einer ›Medienphilosophie‹ jedoch ins Leere. Dementsprechend bieten selbst bewährte Leitkonzepte aus Wissenschaftsforschung (eingeschlossen Wissenschaftsphilosophie, -theorie, -soziologie und -geschichte),3 welche die Konstituierungen neuer Sub- oder Bindestrich-Disziplinen im Prozess der Evolution beziehungsweise Ausdifferenzierung aus dem eigenen fachlichen Forschungskontext (hier: der akademischen Schulphilosophie) modellieren, für diesen Themenkomplex keine rechte Handhabe. Denn derartige Selbstverortungsversuche eines neuen Gegenstandsbereiches nach Maßgabe des Differentials ›Kontinuität‹/›Diskontinuität‹ dürften am Beispiel ›Medienphilosophie‹ schon insofern weithin zum Scheitern verurteilt sein, als dass ›Medien‹ in der universitären Philosophie bislang so gut wie unmarkiert geblieben sind.4 So vermag es auch nicht wirklich zu verwundern, dass einschlägige Institutionalisierungen von ›Medienphilosophie‹, nimmt man die Denomination von Professuren als formalen Maßstab einer Etablierung, zuerst in medien- und kulturwissenschaftlichen und dann in philosophischen und wissenschaftstheoretischen Kontexten zu registrieren sind.5 Zuletzt finden sich in Ausschreibungen von Philosophieprofessuren hin und wieder Aspekte einer partiellen Etatisierung ›medienphilosophischer‹ Gegenstandserschließungen, beispielsweise vermittelt über die Schwerpunkte ›Kommunikation‹, ›Technik‹ oder ›Ästhetik‹. Im Herbst 2007 wurde das »Internationale Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie« der Bauhaus-Universität Weimar, gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der Initiative »Jahr der Geisteswissenschaften«, bewilligt, das sich zur Aufgabe gemacht hat, die »Verhältnisse zwischen Menschen und Dingen in der technisierten

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Vgl. im Überblick Ulrike Felt/Helga Nowotny/Klaus Taschwer: Wissenschaftsforschung. Eine Einführung, Frankfurt am Main/New York: Campus 1995; Mario Bunge: Finding Philosophy in Social Science, New Haven/ London: Yale University Press 1996; Peter Weingart: Wissenschaftssoziologie, Bielefeld: transcript 2003 sowie Helge Kragh: An Introduction to the History of Science, Cambridge: Cambridge University Press 1987. Vgl. hierzu mit zahlreichen Hinweisen auf ›Medienphilosophien‹ respektive ›Philosophien der Medien‹ Mike Sandbothe/Ludwig Nagl (Hg.): Systematische Medienphilosophie, Berlin: Akademie 2005. Meinen Recherchen nach wurden die ersten ›medienphilosophischen‹ Professuren seit 2001 eingerichtet: eine Professur für »Medienphilosophie« an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar respektive eine JuniorProfessur für »Medientechnik und Medienphilosophie« am Institut für Medienwissenschaft an der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum. Im Jahre 2004 wurde eine Professur für »Medienphilosophie« an der Fakultät Gestaltung der Universität der Künste Berlin sowie 2006 eine Professur für »Erkenntnistheorie und Philosophie der Digitalen Medien« am Institut für Philosophie der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien besetzt.

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Medienkultur des 20. und 21. Jahrhunderts«6 zu untersuchen. Allerdings sind die gegenwärtigen Anzeichen einer Installierung der ›Medienphilosophie‹ als akademisch institutionalisiertes Fach an Hochschulen im deutschsprachigen Raum, aufs Ganze gesehen, immer noch verschwindend gering. Kohärenterweise schreiben die Philologen beziehungsweise Philosophen Christoph Ernst, Petra Gropp und Karl Anton Sprengard einleitend in ihrem Sammelband Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie:7 »Die Begriffsverwendung ›Medienphilosophie‹ ist als übergreifende Bezeichnung für ein eigenständiges Forschungsfeld vergleichsweise neu. Dabei bezeichnet der Begriff bisher keine anerkannte Einzeldisziplin der Philosophie. Als Oberbegriff unterschiedlicher Reflexionen über die Medien hingegen ist er jedoch durchaus gängig. Auffällig an dieser Diskussion ist, dass sich zwar ein Konsens darüber abzeichnet, wer oder was historisch zum Kanon einer Medienphilosophie gezählt werden könnte, grundsätzliche methodische und inhaltliche Fragen aber, zum Beispiel die, wie mit der Nähe zwischen Medienphilosophie und kulturwissenschaftlichen Konzepten (Medientheorie, Mediengeschichte, Medienwissenschaft usw.) umzugehen wäre, ungeklärt sind. Demgemäß beruft sich die Philosophie, will sie Medienphilosophie sein, auf dieselben Referenzautoren wie all diejenigen Kulturwissenschaften, die schon in der Anlage ihres Faches […] gezwungen sind, eine medientheoretische Klärung ihrer Objekte vorzunehmen. Dass es Medienphilosophie gibt, scheint […] unstrittig zu sein, was Medienphilosophie ist, ob sich also eine spezifisch philosophische Perspektive auf die Medien hin etablieren lässt, dagegen noch weitest gehend offen.«8

Eine ähnlich gelagerte Einschätzung nimmt der Philosoph Reinhard Margreiter vor: »Freilich ist Medienphilosophie derzeit (noch) keine etablierte wissenschaftliche Disziplin, sondern existiert erst ansatzweise und in voneinander abweichenden, fragmentarischen Gestalten. Sie wird auf unterschiedlichen institutionellen Feldern und auf Grundlage z. T. sehr heterogener methodischer Absichten und Überzeugungen betrieben.«9 Vor diesem Hintergrund differenziert Margreiter zwischen drei Gruppierungen mit verschiedenen medienphilosophischen Modellierungsperspektiven:

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»Internationales Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie« an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar, elektronisch verfügbar unter: (letzte Änderung: 05.11.2007; letzter Zugriff: 11.12.2007). Vgl. Christoph Ernst/Petra Gropp/Karl Anton Sprengard (Hg.): Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie, Bielefeld: transcript 2003. Christoph Ernst/Petra Gropp/Karl Anton Sprengard: »Einleitung«, in: Christoph Ernst/Petra Gropp/Karl Anton Sprengard (Hg.): Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie, Bielefeld: transcript 2003, S. 9-16, hier S. 9-10. Reinhard Margreiter: Medienphilosophie. Eine Einführung, Berlin: Parerga 2007, S. 9.

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• medieninteressierte Fachphilosophen, die sich erst seit jüngerer Zeit vornehmlich unter epistemologischen, handlungstheoretischen, kulturphilosophischen und philosophisch-anthropologischen Aspekten mit dem Topos ›Medien‹ auseinandersetzen; • wissenschaftstheoretisch versierte Medienwissenschaftler, die sich – mitunter deutlich gegenüber Fachphilosophen abgrenzend – in der Reflexion auf ihre fachwissenschaftlichen Termini, Prämissen und Methodologien auf philosophische, mithin wissenschaftstheoretische Argumentarien stützen sowie • spekulativ-experimentelle Medientheoretiker, die – in Opposition sowohl zu Fachphilosophen als auch zu -wissenschaftlern – medienphilosophische Theorieentwürfe aus einem Amalgam postmoderner und ›klassisch‹-moderner Ansätze begründen.10 Eingedenk der skizzierten Exposition gewährt der in den 1990er Jahren begonnene Diskurs des so genannten ›Kulturalitätsparadigmas‹ einen problemorientierenden Zugriff auf das Thema Medienphilosophie im deutschsprachigen Raum. Unter der Signatur ›Kulturalität‹11 vollzieht sich eine Umschreibung der überkommenen Geisteswissenschaften zu ›Kulturwissenschaften‹. Im Kontext der traditionellen geisteswissenschaftlichen Prämissen wird der Status von ›Medien‹ hinsichtlich Epistemologie, Perzeption, Performanz, Imagination und Effekt sowohl unter synchronen als auch unter diachronen Aspekten zunehmend als prekär begriffen. Dieser Befund zieht eine gegenläufige Bewegung nach sich: Auf der einen Seite erfährt das mediale Moment eine beachtliche Aufwertung, mehr noch: es gerät sogar zum Reflexionshorizont einer jedweden gesellschaftlichen, kulturellen Selbstverortung;12 auf der anderen Seite stürzt die ungebrochene Konjunktur medienfokussierter Forschungs- und Wissenschaftsdiskurse13 die solchermaßen benannte Medien- und Kommunikationswissenschaft in eine Definitions-, Legitimations- und Identitätsmisere. Just der Umstand, dass ›Mediales‹ und/oder ›Medialität‹ in der Zwischenzeit zum paradigmatischen Topos in mannigfaltigen Disziplinen und Diskursen avanciert sind, suspendiert allen voran die qualitativ-deskriptive, hermeneutisch-interpretative und historisch-ästhetische Medien10 Vgl. ebd. 11 Vgl. auch Wolfgang Frühwald u. a.: Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991 und Hartmut Böhme/Peter Matussek/Lothar Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000. 12 Vgl. etwa Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 151, 165, 170, 409-410, 537 und Siegfried J. Schmidt: Kalte Faszination. Medien – Kultur – Wissenschaft in der Mediengesellschaft, Weilerswist: Velbrück 2000, S. 324-373. 13 Vgl. Jürgen Güdler: Dynamik der Medienforschung. Eine szientometrische Analyse auf der Grundlage sozialwissenschaftlicher Fachdatenbanken, Bonn: InformationsZentrum Sozialwissenschaften 1996, S. IX-XIV.

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forschung, zumeist in der Selbstbeschreibung als Medienwissenschaft, (mehr als die quantitativ-empirische, analytisch-funktionale und tatsachenund sozialwissenschaftliche Medienforschung, in der Regel in der Selbstbeschreibung als Kommunikationswissenschaft) von ihrem ›Frontposten‹ als ›avantgardistischer Disziplin‹. Zuvor vielerorts um die Legitimität ihres Gegenstandsbereiches ringend und diesen den hergebrachten Zuständigkeitsansprüchen der etablierten Disziplinen mühsam abtrotzend, sieht sich die Medienwissenschaft nunmehr – als zumindest teilautonomisiert – wiederum in Frage gestellt: Im Zuge des oft zitierten medial turn der Kulturwissenschaften14 sind aufs Neue korrespondierende Zuständigkeitsbereiche auszuhandeln und Alleinvertretungsansprüche zu begründen. Und im Zusammenhang jener kurrenten intra- und/oder interdisziplinären Evolutions- und Ausdifferenzierungsprozesse15 wird – neben anderen – auch ›Medienphilosophie‹ auf die Agenda der sich reformierenden kulturwissenschaftlichen Diskurse gesetzt. Auffällig ist, dass das Gros der als ›medienphilosophisch‹ charakterisierten Beiträge gemäß ihren Selbstbeobachtungen und -beschreibungen als ›interdiskursiver‹ Forschungskomplex von Medienwissenschaft und Philosophie thematisiert wird. Integrationsfähiges Material beider wissenschaftlicher Basisdisziplinen wird in der Form ›Medienphilosophie‹ lose über synthetische Problemorientierungen miteinander strukturell gekoppelt. Doch warum eine solche, wenn auch schwache, Verbindung zwischen Medienwissenschaft und Philosophie? Durch eine limitierte und kontrollierte antizipative Selbstorganisation anschlussfähigen Materials, haben Medienwissenschaft und Philosophie über verbindende Fragestellungen am Forschungskomplex Medienphilosophie teil. Aufgrund der verhältnismäßig losen (trans-)disziplinären Interaktion im Forschungskomplex Medienphilosophie gefährden allerdings weder Medienwissenschaft noch Philosophie bislang ihre je eigene wissenschaftliche Identität, Autarkie und Programmatik. Die schwache strukturelle Kopplung der Bezugsfächer impliziert einen doppelten Möglichkeitshorizont beziehungsweise Sinnüberschuss, der sich nach zwei Seiten hin elaborieren lässt: Zum einen vermögen beide Basisdisziplinen ihre potenzielle explanatorische Überlegenheit in bestimmten Forschungsproblemen (in Abgrenzung zur konkurrierenden Wissenschaft) zu demonstrieren; zum anderen können sich Medienwissenschaft und Philosophie eine Abmilderung eigener fachlicher Defizite versprechen. Dieser, nach beiden Seiten hin spezifizierbaren Arbeitshypothese werde ich im vorliegenden Anwendungskapitel anhand der

14 Vgl. zum Beispiel Stefan Weber (Hg.): Medial Turn. Die Medialisierung der Welt, Innsbruck/Wien: Studien Verlag 1999. 15 Vgl. grundlegend Joachim Felix Leonhard u. a. (Hg.): Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen, Berlin/New York: de Gruyter 1999, 2001, 2002.

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ersten sich konturierenden Standpunkten in dem jungen medienphilosophischen Forschungsfeld nachgehen. Um den inhärenten ›Beobachtungslogiken‹ beider Wissenschaftsdomänen beziehungsweise ihrer jeweiligen Partizipation am avisierten Interparadigma ›Medienphilosophie‹ Tribut zollen zu können, bin ich in der Anlage meiner Anwendungsstudie angehalten, einige konzeptuelle Einschränkungen vorzunehmen. Unbeschadet des Umstandes, dass die Diskussionen um ›Medienphilosophie‹ oder Media Philosophy international geführt werden, konzentriere ich mich im Prinzip auf die hiesigen Auseinandersetzungen. Die transnationale Diskursformation lässt sich aufgrund des begrenzten Raumangebots nur schwerlich angemessen zur Darstellung bringen.16 Mithin markieren deutschsprachige akademische (schul-)philosophische Traditionskontexte – wirkungsträchtig bis in die Gegenwart hinein – eigenständige Strukturmerkmale, die es geboten erscheinen lassen, sich zunächst einmal auf das Fundament dieses Diskursgefüges als primärem Referenzbeispiel einer möglichen strukturellen Kopplung mit medienwissenschaftlichen Dispositionen im Horizont medienphilosophischer Fragestellungen einzulassen. Anhand eines überschaubaren Sets deutschsprachiger Publikationen besteht die Möglichkeit, mittels einer Beschreibung von Positionen ein Diskursgefüge der kurrenten ›Medienphilosophie‹ zu konturieren, zu analysieren und zu interpretieren.17 Im Zentrum der Untersuchung stehen Positionen, die ›Medienphilosophie‹ anhand der diskursiven Schnitt- beziehungsweise Gelenkstellen von Medienwissenschaft und Philosophie vermessen.18 Bei den meisten Beiträgen in der aktuellen Debatte handelt es 16 Zum internationalen Diskurs vgl. exemplarisch Mark C. Taylor/Esa Saarinen: Imagologies. Media Philosophy, London u. a.: Routledge 1994; David Norman Rodowick: Reading the Figural, or, Philosophy after the New Media, Durham u. a.: Duke University Press 2001 und Mark B. N. Hansen: New Philosophy for New Media, Cambridge, Massachusetts u. a.: MIT Press 2004. 17 In diesem Kapitel rekurriere ich in Teilen auf die Materialbasis von Christian Filk/Sven Grampp/Kay Kirchmann: »Was ist ›Medienphilosophie‹ und wer braucht sie womöglich dringender: die Philosophie oder die Medienwissenschaft? Ein kritisches Forschungsreferat«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 29 (2004) 1, S. 39-65, hier S. 43-58. 18 Nachstehend (re-)konstruiere ich lediglich eine möglich Variante und Derivation von ›Medienphilosophie‹, die der Selbstbeobachtung und -beschreibung der strukturellen Kopplung von Medienwissenschaft und Philosophie. Mit Fug und Recht wären selbstredend auch andere Paradigmatisierungen vorstellbar, zum einen mittels eines literatur-, film-, theater- oder buchwissenschaftlichen Zugriffs, zum anderen mittels eines technik-, informations-, kulturphilosophischen oder sozialethischen Zugriffs. Vgl. beispielsweise C. Ernst/P. Gropp/K. A. Sprengard (Hg.): Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie (wie Anm. 7); Peter Fischer (Hg.): Technikphilosophie. Von der Antike bis zur Gegenwart, Leipzig: Reclam 1996; Rafael Capurro: Information. Ein Beitrag zur etymologischen und ideengeschichtlichen Begründung des Informationsbegriffs, München u. a.: Saur 1978; Hans-

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sich um Konzepte, die sich zuallererst unter das Label einer allgemeinen Medienphilosophie subsumieren lassen.19 Durch das Attribut ›allgemein‹ soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich um Aussagen grundlegender Art handelt, die – mehr oder minder – Gültigkeit für den gesamten Gegenstandsbereich einer Medienphilosophie sui generis für sich reklamieren (können).20 Nimmt man die obige Selbstpositionierung zunächst einmal ernst – und sei es auch nur im Sinne einer reinen (intradisziplinären) Legitimationsstrategie einer neuen Diskursformation – so ergibt sich daraus zwangsläufig eine doppelte Betrachtungsfolie: • Zu fragen wäre auf der einen Seite, inwieweit ›Medienphilosophie‹ ein neues (Inter-)Paradigma ist, welches – über die kanonisierten Methodiken der Medienwissenschaft hinausgehend – dieser neue Erkenntnisfelder und -instrumente zuzuführen imstande ist? • Zu fragen wäre auf der anderen Seite, inwieweit ›Medienphilosophie‹ der Philosophie einen neuen, bislang womöglich vernachlässigten Gegenstandsbereich erschließt, und inwieweit dieser – gegebenenfalls – eine (und sei es nur partielle) Neuverortung der Philosophie selbst nach sich zieht?

Dieter Bahr: Der babylonische Logos. Medien, Zeiten, Utopien, Wien: Passagen 2005 und Günter Kruck/Veronika Schlör (Hg.): Medienphilosophie – Medienethik. Zwei Tagungen – eine Dokumentation, Frankfurt am Main u. a.: Lang 2003. 19 Vgl. zur Unterscheidung von ›allgemeiner‹ und ›spezieller‹ Medienphilosophie‹ auch Christian Filk: »Medienphilosophie des Radios«, in: Mike Sandbothe/Ludwig Nagl (Hg.): Systematische Medienphilosophie, Berlin: Akademie 2005, S. 299-314, hier S. 300-301. 20 Vgl. in der Übersicht Stefan Münker/Alexander Roesler/Mike Sandbothe (Hg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt am Main: Fischer 2003; Frank Haase: Metaphysik und Medien. Über die Anfänge medialen Denkens bei Hesiod und Platon, München: KoPäd 2005; Werner Konitzer: Medienphilosophie, München: Fink 2006; Rudolf Fietz: Medienphilosophie. Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche, Würzburg: Königshausen & Neumann 1992; Frank Hartmann: Medienphilosophie, Wien: WUV 2000; Mike Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie. Grundlegung einer neuen Disziplin im Zeitalter des Internet, Weilerswist: Velbrück 2001 sowie Matthias Vogel: Medien der Vernunft. Eine Theorie des Geistes und der Rationalität auf Grundlage einer Theorie der Medien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001.

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S e l b s t b e s c h r e i b u n g e n vo n M e d i e n p h i l o s o p h i e Begreift man in einem ersten Schritt die aktuelle ›medienphilosophische‹ Diskussion primär als Reflex auf die ungebrochene Expansion im Bereich medialer Kommunikation, so bietet sich die Entwicklungslogik der Medienwissenschaft und -theorie im deutschsprachigen Raum als heuristische Einstiegsfigur in diesen Fragenkomplex an.21 Im avisierten Zeitraum setzt jene Doppelausrichtung der Medientheorie ein, die bis heute virulent und zugleich permanenter wie ungeklärter Problemhorizont derselben ist: • Ist Medientheorie gleichsam die Summe vorgängiger wie aktueller Theorien zu Einzelmedien, etwa zu Print, Radio, Film, Fernsehen, Computer und Internet? • Oder figuriert Medientheorie als Integral, als übergreifende Konzeptualisierung aller medialen Entitäten und Phänomene, ungeachtet ihrer materialen, produktiven, distributiven, perzeptiven und performativen Differenzen? Ersichtlich (ent-)scheidet sich an dieser Grundsatzfrage zugleich nichts Geringeres als das Selbstverständnis der Disziplin, wie nicht zuletzt die höchst unterschiedlichen Definitionsparameter der jeweiligen Fachvertreter und -institutionen zeigen. Vor diesem durchaus konfliktuösen Hintergrund besehen, stellt sich die Frage, welche Funktion dem neuen Diskursfeld der ›Medienphilosophie‹ – auch und gerade kraft ihres interdiskursiven Moments – für die Selbstdefinition der Medienwissenschaft zukommt, umso nachhaltiger: • Inwieweit wird durch diese Interdiskursivierung eine neue Genealogie des Nachdenkens über Medien geschrieben, die der Disziplin die erhoffte historische Fundierung (und Legitimierung) gleichsam nachreicht? • Oder inwieweit greift vielmehr auch hier der Selbstbehauptungsgestus der Disziplin als unentwegter Avantgarde, dergestalt dass mit der Ausrufung einer ›Medienphilosophie‹ nunmehr ein neuer Exklusivitätsanspruch erhoben wird, der die angesprochenen Legitimationsprobleme scheinbar schlagartig zu lösen verspricht? Bezeichnenderweise differieren gerade in diesem Punkt – der Frage nach Innovationspotenzial oder retrospektiver Traditionsstiftung – vor allem jene Diskursstränge, die sich um eine historische Situierung des aktuellen (Inter-)Paradigmas bemühen, ganz erheblich. Exemplarisch lässt sich dies an den Diskussionsbeiträgen des programmatischen Sammelbandes Me-

21 Vgl. insbesondere Rainer Leschke: Einführung in die Medientheorie, München: Fink 2003, S. 9-31.

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dienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs,22 im Jahre 2003 herausgegeben von den Philosophen Stefan Münker, Alexander Roesler und Mike Sandbothe, ablesen, der eine Reihe profilierter Protagonisten und arrivierter Nachwuchswissenschaftler des neuen Interdiskurses zu Wort kommen lässt: darunter systemtheoretisch ausgerichtete Soziologen wie Elena Esposito, Medienwissenschaftler wie Barbara Becker und Lorenz Engell (Film- und Fernsehwissenschaftler, seines Zeichens Inhaber des ersten Lehrstuhls für ›Medienphilosophie‹ an einer deutschsprachigen Hochschule, namentlich an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar), Philosophen (mit zum Teil ausgewiesenen Forschungsakzenten im Bereich Medientheorie) wie Sybille Krämer, Reinhard Margreiter, Stefan Münker, Alexander Roesler, Martin Seel und Matthias Vogel – und vor allem diejenigen, die den Terminus ›Medienphilosoph‹ bereits als eigenständige denominatorische Berufsbezeichnung für sich reklamieren wie Frank Hartmann, Mike Sandbothe oder Stefan Weber (interessanterweise entstammt Weber der Kommunikationswissenschaft und apostrophiert sich selbst als »Medienepistemologen«). Die von den Herausgebern programmatisch eingeforderte Arbeit am Begriff – jene genuin philosophische Geistestätigkeit – entfaltet sich in den disparaten Beiträgen entlang dreier zentraler Fragestellungen: • Gibt es überhaupt eine ›Medienphilosophie‹ oder soll sie entwickelt werden und wenn ja, in welcher (institutionellen) Form und unter welcher disziplinären Rubrizierung? • Welche Funktion käme der ›Medienphilosophie‹ im gesamtakademischen Diskursfeld zu, was wären ihre primären Gegenstände und was wären ihre konstitutiven Methodiken? • Lässt sich ›Medienphilosophie‹ genealogisch-evolutionär als (relativ) ungebrochene Fortschreibung dezidiert philosophischer Fragestellungen und Methodologien abbilden? Oder muss sie als (revolutionärer) Paradigmenwechsel der tradierten Philosophie angesehen werden? Während Martin Seel die ›Medienphilosophie‹ lakonisch als »eine vorübergehende Sache«, gleichwohl aber als notwendige »Erinnerungsarbeit« der Philosophie bezeichnet,23 die es letzterer ermögliche, ihr Vergessenes in Gestalt einer seit Platon zu beobachtenden (kritischen) Beschäftigung mit Medien zu revitalisieren, beharrt Elena Esposito kaum minder apodiktisch darauf, dass Medien schlechterdings kein Objekt philosophischer Betrachtung sein können, sondern einzig mit systemtheoretischen, mithin so-

22 Vgl. S. Münker/A. Roesler/M. Sandbothe (Hg.): Medienphilosophie (wie Anm. 20). 23 Vgl. Martin Seel: »Eine vorübergehende Sache«, in: S. Münker/A. Roesler/M. Sandbothe (Hg.): Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 10-15, 205, hier S. 14.

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ziologischen Instrumentarien adäquat untersucht werden könnten.24 Derartig dezidierte Absagen an ein Projekt ›Medienphilosophie‹ bleiben indes die Ausnahme! – Alle anderen Beiträger stehen ihm zunächst durchaus bejahend gegenüber, verorten es jedoch höchst unterschiedlich. Für Barbara Becker25 wie Frank Hartmann26 offeriert ›Medienphilosophie‹ die Basis für einen interdisziplinären Dialog, weshalb sie gerade nicht in einer bestehenden oder neu zu schaffenden Disziplin aufgehen sollte, sondern eher zu verstehen sei als »ein Projekt, das im besten Fall (etwa im Forschungsverbund mit Künstlern, Technikern und Programmieren) solche Grenzen sprengt«27. Den interdisziplinären Aspekt unterstreichen zwar auch Sybille Krämer,28 Stefan Münker29 und Alexander Roesler,30 situieren das Paradigma dann aber doch innerhalb der tradierten Disziplinen, nämlich als Teildisziplin der Kulturanthropologie31 beziehungsweise der Philosophie32, die jedoch einerseits quer zu den Gegenstandsbereichen der traditionellen philosophischen Subdisziplinen stehe, andererseits jedoch die klassischen philosophischen Fragestellungen gleichsam ›medial‹ akzentuiere und neu justiere.33 Noch stärkere Fokussierungen auf die Kontinuitätsthese34 finden sich in den Beiträgen von Matthias Vogel35 und Reingard Margreiter36: Hier

24 Vgl. Elena Esposito: »Blindheit der Medien und Blindheit der Philosophie«, in: S. Münker/A. Roesler/M. Sandbothe (Hg.): Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 26-33, 206-207. 25 Vgl. Barbara Becker: »Philosophie und Medienwissenschaft im Dialog«, in: S. Münker/A. Roesler/M. Sandbothe (Hg.): Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 91-106, 200-202, 209-212. 26 Vgl. Frank Hartmann: »Der rosarote Panther lebt«, in: S. Münker/A. Roesler/M. Sandbothe (Hg.): Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 135-149, 216. 27 Ebd., S. 137. 28 Vgl. Sybille Krämer: »Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren«, in: S. Münker/A. Roesler/M. Sandbothe (Hg.): Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 78-90. 29 Vgl. Stefan Münker: »After the Medial Turn. Sieben Thesen zur Medienphilosophie«, in: S. Münker/A. Roesler/M. Sandbothe (Hg.): Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 16-25, 205-206. 30 Vgl. Alexander Roesler: »Medienphilosophie und Zeichentheorie«, in: S. Münker/A. Roesler/M. Sandbothe (Hg.): Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 34-52, 207-208. 31 Vgl. S. Krämer: »Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung?« (wie Anm. 28). 32 Vgl. A. Roesler: »Medienphilosophie und Zeichentheorie« (wie Anm. 30) sowie S. Münker: »After the Medial Turn« (wie Anm. 29). 33 Vgl. A. Roesler: »Medienphilosophie und Zeichentheorie« (wie Anm. 30). 34 Vgl. Reinhard Margreiter: »Medien/Philosophie. Ein Kippbild«, in: S. Münker/A. Roesler/M. Sandbothe (Hg.): Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 150-172, 202-203, 216-217, hier S. 166.

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wie dort figuriert ›Medienphilosophie‹ als generativer Reflexionsmodus über die Medialität jeglichen Weltzugangs mit vielfältigen Anschlussstellen an Ästhetik, Erkenntnis- und Spracherwerbstheorie sowie an Symbol-, Kulturphilosophie37 und Handlungstheorie38. Aus dieser Perspektive, der übrigens auch Martin Seel in anderen Publikationen entschieden zuneigt,39 schreibt ›Medienphilosophie‹ lediglich die reflexive Deutungstradition der abendländisch-neuzeitlichen Philosophiegeschichte fort, welche die Zugangsbedingungen zur ›Welt‹ immer schon als ›vermittelt‹ begriffen modelliert, folglich diesen ›Vermittlungsakt‹ als unhintergehbare Erkenntnisbedingung in den Mittelpunkt ihrer diskursiven Praktiken gerückt habe. Die Geschichte der Philosophie, so lautet hier die teils implizite, teils explizite Conclusio, ist immer schon dem viel beschworenen medial turn, gleichsam avant la lettre, verschrieben gewesen. So prononciert denn auch Reingard Margreiter: »Zumindest ihrer Intention nach – ›dem, was ist‹ nachzugehen – müsste Philosophie von jeher schon ›Medienphilosophie‹ gewesen sein. So gesehen wäre heute der Begriff ›Medienphilosophie‹ eine Tautologie [...].«40 Leichte Reminiszenzen an diese Diskurstradition finden sich auch noch in einzelnen Beiträgen des besagten Sammelbandes, so etwa, wenn Stefan Münker gegen die Medienvergessenheit der Philosophie zu Felde zieht, oder wenn Sybille Krämer fordert, »die nichtsinnhaften, materialen Bedingungen der Entstehung von Sinn, die stummen prä-signifikativen Prozeduren der Signifikation [...] in den Blick«41 zu nehmen. Insgesamt formuliert das Gros der Beiträger42 jedoch unverhohlen Kritik am immanenten Theoretizismus und Technizismus der Medientheorie und fordern eine »prag-

35 Matthias Vogel: »Medien als Voraussetzungen für Gedanken«, in: S. Münker/A. Roesler/M. Sandbothe (Hg.): Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 107-134, 213-215. 36 Vgl. R. Margreiter: »Medien/Philosophie« (wie Anm. 34). 37 Vgl. ebd. 38 Vgl. M. Vogel: »Medien als Voraussetzungen für Gedanken« (wie Anm. 35). 39 Vgl. Martin Seel: »Vor dem Schein kommt das Erscheinen. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Medien«, in: Karl Heinz Bohrer/Kurt Scheel (Hg.): Medien. Neu? Über Macht, Ästhetik, Fernsehen, Stuttgart: Cotta 1993, S. 770-783, hier S. 772-776 und Martin Seel: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 146-166. 40 R. Margreiter: »Medien/Philosophie« (wie Anm. 34), S. 167. 41 S. Krämer: »Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung?« (wie Anm. 28), S. 89. 42 Vgl. vor allem B. Becker: »Philosophie und Medienwissenschaft im Dialog« (wie Anm. 25); F. Hartmann: »Der rosarote Panther lebt« (wie Anm. 26); A. Roesler: »Medienphilosophie und Zeichentheorie« (wie Anm. 30) und M. Vogel: »Medien als Voraussetzungen für Gedanken« (wie Anm. 35).

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matistische Korrektur der medientheoretischen Optik«,43 wie sie Matthias Vogel in einer handlungstheoretischen Ausrichtung der ›Medienphilosophie‹ gegeben sieht – ein Antagonismus, der mich weiter unten noch eingehender beschäftigen wird. Vor allem aber die Verfechter der angeführten Kontinuitätsthese diskursivieren sich vor der Folie des vorgängigen medientheoretischen Apriori44: Die hierin behauptete Tradition jahrhundertealter philosophischer Arbeit am Medialen kann gar nicht umhin, das Mediale dergestalt von seinen jeweiligen technologischen Spezifikationen abtrennen zu müssen und auf den sehr viel allgemeineren Nenner erkenntnistheoretischer Zugangsbedingungen und deren Reflexion auszudehnen. Dann, und nur dann, lassen sich ›Medien‹ im umfassenderen Sinne definieren als entweder »erschließende« oder »erzeugende« Zugänge, die ›Realität‹ »in einer spezifischen Weise gegeben«45 sein lassen. In dieser (potenziell totalisierenden, zumindest auf ihre historischen Differenzierungsfähigkeiten kritisch zu hinterfragenden) Perspektive gilt denn auch, dass es ohnehin keine (dem intentionalen Verhalten zugängliche) Realität ohne Medialität gibt, mithin schließt Realität »eine wenigstens denkbare mediale Zugänglichkeit ein«46 und lässt sich »als Inbegriff all dessen verstehen, wovon zutreffende begriffliche Erkenntnis etwas aussagen kann […]«47. Entsprechend richtet sich das Misstrauen der Kontinuitätstheoretiker48 primär gegen jedwede Ansprüchlichkeit auf Neudefinition der philosophischen Methodologien durch die oder im erkenntnisgeleiteten Bezug auf die je neuen Medientechnologien – was noch einmal eine dezidierte Gegenposition zu prominenten Protagonisten der Medientheorie artikuliert. Konstatiert wird bestenfalls – so etwa Stefan Münker –: »die Sache der Medienphilosophie ist die Reflexion begrifflicher Probleme, die sich als Folge von Verbreitung und Verwendung elektronischer und digitaler Medien einstellen«.49 Hierfür jedoch, so der Konsens innerhalb des Kontinuitätsparadigmas, seien die bewährten Instrumentarien der Philosophie allemal zureichend. Allerdings ermöglicht der Rekurs auf Medien eine aktualisierende Re-Lektüre der philosophischen Kanontexte, und stellt damit »vielfältige[.] Verbindungslinien« her, »die in einschlägigen Diskussionen 43 M. Vogel: »Medien als Voraussetzungen für Gedanken« (wie Anm. 35), S. 111. 44 Vgl. zum medientheoretischen Apriori auch Dierk Spreen: Tausch, Technik, Krieg. Die Geburt der Gesellschaft im technisch-medialen Apriori, Hamburg: Argument 1998, S. 97-138. 45 M. Seel: Sich bestimmen lassen (wie Anm. 39), S. 131. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 129. 48 Vgl. in erster Linie M. Seel: »Eine vorübergehende Sache« (wie Anm. 23); R. Margreiter: »Medien/Philosophie« (wie Anm. 34); A. Roesler: »Medienphilosophie und Zeichentheorie« (wie Anm. 30) sowie M. Vogel: »Medien als Voraussetzungen für Gedanken« (wie Anm. 35). 49 S. Münker: »After the Medial Turn« (wie Anm. 29), S. 20.

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von verschiedenen philosophischen Klassikern zu aktuellen Theorieansätzen gezeichnet werden«50. Kurzum: Es gibt keinen medial turn innerhalb der Philosophie, sondern allenfalls die Fortschreibung einer langen Traditionslinie auch auf technologisch fundierte Weltzugänge, Erkenntnisprozesse und Kommunikationsakte. Die vereinten Beiträge des besagten Sammelbandes kommen grosso modo dahingehend überein, dass die immanente Absetzbewegung vom medientheoretischen Paradigma weitest gehend implizit ist, und daher denjenigen, die mit diesem Diskurs weniger vertraut sind, womöglich eher unverständlich bleibt. Instruktiv und in der Opposition das Diskursfeld klarer konturierend wäre der Einbezug dezidierter Medientheoretiker gewesen. Dennoch lassen sich hierin auch durchweg originelle Beiträge verzeichnen, die das Spannungsfeld ›Medien‹ und ›Philosophie‹ jenseits von Kontinuitätsdebatten ausloten, indem sie die Option des ›archimedischen Punktes‹, der ein Philosophieren über Medien von einem exterritorialen Standpunkt aus überhaupt erst ermöglicht, problematisieren. Hier wäre zuvorderst Lorenz Engells Aufsatz zu nennen, der ›Medienphilosophie‹ schon immer am Werke sieht, wo und wenn es »Medien zweiten Grades«,51 also Speicher- und Massenmedien gibt, und in Korrespondenz eine institutionelle Verankerung für nicht nötig respektive für nicht möglich hält. Denn es sind letztlich die Medien selbst, die ihrerseits ›Medienphilosophie‹ betreiben, und zwar in Form der Selbstbeobachtung und des Sich-selbst-Denkens. ›Medienphilosophie‹ wäre mithin kein (Inter-)Diskurs, sondern »ein Geschehen, möglicherweise eine Praxis, und zwar eine der Medien«52. Mit diesem Vorschlag, Medien also nicht als Gegenstand, sondern vielmehr als Akteure einer ›Medienphilosophie‹ zu betrachten,53 bleibt Engell jedoch auf eine singuläre Position im Diskursfeld festgeschrieben. Gegen die theoretizistische Ausrichtung der bisherigen Perspektiven auf Medien beziehen jedoch auch Stefan Weber und Mike Sandbothe Stellung. Gemein ist beiden Autoren die Fokussierung auf eine notwendig em-

50 F. Hartmann: »Der rosarote Panther lebt« (wie Anm. 26), S. 147. 51 Lorenz Engell: »Tasten, Wählen, Denken. Genese und Funktion einer philosophischen Apparatur«, in: S. Münker/A. Roesler/M. Sandbothe (Hg.): Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 53-77, 198-200, 208-212, hier S. 56. 52 Ebd., S. 53. 53 Just diesen Gedanken greifen Lorenz Engell und Bernhard Siegert explizit in ihrem Projektantrag »Internationales Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie« an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar auf und wenden zu diesem Zwecke die »Agency-Theorie« respektive die »Actor-Network-Theorie« an. Vgl. auch den entsprechenden Webauftritt »Internationales Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie« (wie Anm. 6).

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pirische54 beziehungsweise pragmatische55 Ausrichtung der ›Medienphilosophie‹, mithin das Plädoyer für eine Untersuchung der »Veränderungen im Bereich der technischen Verbreitungsmedien«56 und der hieran anschließenden semiotischen und perzeptiven Veränderungen. Medien sollen hierdurch als Werkzeuge der Handlungskoordination einsichtig gemacht und auf Grundlage politisch-moralischer Standards reflektiert und funktionalisiert werden. Hier scheint immerhin auch die Notwendigkeit einer methodologischen Neuorientierung auf, auch wenn hierfür durchaus – wie im Falle Sandbothe – beträchtliche Anleihen beim Neopragmatismus Richard Rortys57 oder – wie im Falle Weber – beim Radikalen Konstruktivismus58 gemacht werden müssen. Und in diesen beiden Texten wird denn auch dafür plädiert, ›Medienphilosophie‹ als Transdisziplin zu verstehen und somit als ein (Inter-)Paradigma, das oberhalb der tradierten disziplinären Grenzen anzusiedeln wäre. Wie bei der Textgattung ›Sammelband‹ nicht anders zu erwarten, fügen sich die Einzelbeiträge nicht zu einer scharfen Konturierung des Diskursfeldes ›Medienphilosophie‹ zusammen. Indem sie aber dessen vielfältige Komplexitäten und Kontroversen aufspannen, verdeutlichen sie nachdrücklich die offenkundige Unabgeschlossenheit eines sich gerade erst konstituierenden (Inter-)Diskurses sowie die graduelle Abhängigkeit der jeweiligen Bestimmungsversuche von ihren disziplinären Provenienzen und Problemorientierungen. Bei aller Divergenz herrscht unter den Autoren immerhin weit gehende Einmütigkeit darüber, dass das (Inter-)Paradigma ›Medienphilosophie‹ der Medienwissenschaft stärker als der Philosophie bei der Bestimmung und vor allem bei der begrifflichen Klärung ihres Gegenstandes von Nutzen sein könnte. Für die Philosophie selbst wird vom neuen (Inter-)Diskurs primär eine Rejustierung ihrer eigenen Traditionsbestände erwartet, die noch einmal vergegenwärtigt, dass und in welchem Ausmaße die philosophische Reflexion immer schon Medienreflexion impliziert hat.

54 Vgl. Stefan Weber: »Under Construction. Plädoyer für ein empirisches Verständnis von Medienphilosophie«, in: S. Münker/A. Roesler/M. Sandbothe (Hg.): Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 172-184, 203-204, 217-219. 55 Vgl. Mike Sandbothe: »Der Vorrang der Medien vor der Philosophie«, in: S. Münker/A. Roesler/M. Sandbothe (Hg.): Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 185-197, 219-220. 56 Ebd., S. 190. 57 Vgl. unter anderem Mike Sandbothe (Hg.): Die Renaissance des Pragmatismus. Aktuelle Verflechtungen zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie, Weilerswist: Velbrück 2000. 58 Vgl. zum Beispiel Siegfried J. Schmidt (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990 und Siegfried J. Schmidt (Hg.): Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992.

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Aus dem Kanon der hier skizzierten Vorschläge zur Theorie-, Methoden, Begriffs- und Gegenstandsbestimmung einer ›Medienphilosophie‹ lassen sich vor allem aber zwei zentrale, rekurrente Argumentationsstränge destillieren, die in Gestalt dichotomer Positionen das Diskursgefüge zugleich extrapolieren: • Da ist zum einen der Binarismus zwischen evolutionär ausgerichteter Kontinuitätsperspektive einerseits, der These von einer grundlegenden Neuinitiierung der Philosophie durch die ›Medienphilosophie‹ andererseits. • Und da ist zum anderen die Dichotomie zwischen theoreti(-zisti-)schen und pragmati(-zisti-)schen Ansätzen, also zwischen einem eher reflexiven und einem eher empirisch-pragmatischen Selbstverständnis (medien-)philosophischer Praxis. Beide Definitionsmodi, sowohl der genealogisch als auch der funktional orientierte, sollen im weiteren Diskussionsgang anhand einschlägiger Ansätze im Detail vertieft werden.

An f ä n g e m e d i e n p h i l o s o p h i s c h e n N a c h d e n k e n s Der in diesem Forschungskomplex aufscheinende Binarismus zwischen der These einer evolutionär versierten Kontinuitätsperspektive der (Medien-)Philosophie und der These einer elementaren Neuinitiierung der Philosophie durch ›Medienphilosophie‹ reformuliert sich gleichsam in der grundsätzlichen Frage nach dem sowohl epistemischen als auch historischen Anbeginn medienphilosophischen Nachdenkens schlechthin. Auf die Griechen gehen bekanntlich im hiesigen Kulturkreis zuallererst unsere Anfangsgründe von Philosophie und Wissenschaft zurück.59 In 59 Es sei auf den wichtigen Umstand hingewiesen, dass sich in Geschichtsverläufen verschiedener Kulturen unterschiedliche Wissensformationen konstituiert haben, die sich mitunter bis heute auf ›Wissen‹, ›wissenschaftliches Wissen‹ und ›Wissenschaft‹ auswirken (können), ungeachtet dessen, dass die sich mehr und mehr international vernetzende Wissenschaft über Länder und Kontinente hinweg Standards der Forschung und Lehre etabliert und vor allem durch Formalisierungen kodifiziert. Nicht zuletzt das Durchsetzen des, wenn man so will, ›kulturwissenschaftlichen Paradigmas‹ sowie das Aufkommen einer ›Archäologie des Wissens‹ haben die Erkenntnisfähigkeit und -bereitschaft für solche und ähnliche Zusammenhänge befördert. Vgl. dazu etwa aus erkenntnisrelativistischer, strukturalistischer, diskurstheoretischer und ethnomethodologischer Sicht Paul Feyerabend: Irrwege der Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989; Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988; Michael Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 und Elmar Weingarten/Fritz Sack/Jim Schenkein (Hg.): Ethnomethodologische Beiträge zur Soziologie des Alltagshandelns, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976.

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der Antike vollzog sich die Wende von »mythologischen Vorstellungen« (Mythos) zum »logischen Denken« (Logos), die sich philosophiehistorisch etwa in der Zeit zwischen dem 6. und dem 5. Jahrhundert vor Beginn unserer Zeitrechnung datieren lässt.60 Was kaum in philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Problemorientierungen erkannt und bedacht wird, ist, dass jener Umschlag vom »Mythos« zum »Logos« – wie es allen voran der kanadische Altphilologe Eric A. Havelock in der medientheoretischen Tradition Herbert Marshall McLuhans eindrücklich herausstreicht – sich (mit) entscheidend einer kulturtechnischen Zäsur, der literalen Revolution in Griechenland zwischen dem 7. und dem 4. Jahrhundert vor Christus, verdanken könnte: »Eine spezielle Theorie der griechischen Literalität schließt die These ein, daß Sinnlichkeit und Verstand miteinander verbunden sind und daß sich die Art dieser Verbindung mit dem Übergang von der griechischen Oralität zur griechischen Literalität verändert hat und damit auch das Denken selbst. Seitdem unterscheidet sich dieses Denken von der oralen Mentalität«.61

In der Sozialevolution setzte sich – wenn auch erst in langfristiger Perspektive – der Typus des rationalen Argumentierens nach intersubjektiv nachvollziehbaren und überprüfbaren Kriterien durch.62 Als Sinnbild stehen dafür die »Sokratischen Dialoge«,63 die vor allem für die Traditionen des europäischen Denkens ihre Wirksamkeit behalten sollten. Die Griechen haben in Gestalt des »kritischen Erwachens des Logos im Sinne eines kritischen Denkens«64 die kulturelle Funktion und Relevanz von ›Wissen‹ entdeckt und befördert, ja kultiviert. Das als positiv ausgezeichnete Wissen und die Wissenschaft avancierten zu kulturellen Idealen, galten und gelten insbesondere in Europa, aber selbstredend nicht nur da, als Vorbild. Als solche wurden und werden sie adaptiert und kontinuiert – bis in die Gegenwart hinein.65

60 So lautet die pointierte Feststellung von Wilhelm Nestle: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Aalen: Scientia 1966, S. 1-21. 61 Eric A. Havelock: Als die Muse schreiben lernte. Eine Medientheorie, Berlin: Wagenbach 2007, S. 100. 62 Mit Paul Lorenzen: Konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 36, könnte man auch von »Transsubjektivität« als dem sprechen, worauf wir uns »immer schon« in der prädispositiven Anordnung der Gesprächssituation eingelassen haben. 63 Vgl. unter anderem Platon: Theaitetos, in: Platon: Werke in acht Bänden; griechisch und deutsch, Band 6. Theaitetos. Sophistes. Politikos, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990, S. 1-210, hier S. 81-82. 64 W. Nestle: Vom Mythos zum Logos (wie Anm. 60), S. 4. 65 Vgl. etwa Klaus Held: Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Eine phänomenologische Besinnung, Berlin/New York: de Gruyter 1980, S. 1-10.

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Um mich jedoch in die Lage zu versetzen, das womöglich medieninduzierte Beziehungsgefüge von Philosophie und Wissenschaft(en), ihre Sozialstrukturen und Semantiken, in der Denkbewegung, zu begreifen, habe ich zu gewärtigen, dass beide Topoi, Mythos und Logos – ihren Anfängen in der Antike nach –,66 nicht unterschieden waren, sondern in eins gesetzt wurden – tertium non datur.67 Sukzessive erfolgte die Umdiskursivierung von einer religiös, metaphorisch-tropisch und narrativ dominierten Denkungsart hin zu einer säkularen, terminologischen und argumentativen Denkungsart.68 Das bis dato als soziokulturell maßgeblich kodifizierte Wissen, das von den ersten (poetischen) Dichtern wie Homer69 und Hesiod70 um etwa 800 bis 700 vor Christus repräsentiert wird, wurde von Philosophen wie Platon71 und Aristoteles72 als Doxa diskreditiert: Jenes tradierte kulturelle Wissen erweise sich lediglich als ungeprüftes, bloßes ›Meinen‹ und ›Glauben‹.

66 Vgl. ebd. 67 Vgl. nachstehend auch die Hinweise von Reinhard Margreiter: »Wissenschaftsphilosophie als Medienphilosophie«, in: Theo Hug (Hg.): Wie kommt Wissenschaft zu Wissen?, Band 4. Einführung in die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, Baltmannsweiler: Schneider 2001, S. 199-213, hier S. 200, nicht zuletzt unter medienfokussierendem Aspekt. 68 Vgl. vor allem W. Nestle: Vom Mythos zum Logos (wie Anm. 60), S. 1-21. 69 Vgl. Homer: Ilias, Frankfurt am Main: Insel 1988. Folgt man der – mitunter für die ›Medienforschung‹ – nicht uninteressanten Auslegung von Karl R. Popper/John C. Eccles: Das Ich und sein Gehirn, München/Zürich: Piper 1991, S. 22, so war Homer: Ilias (wie oben in dieser Anm.), S. 316-317, 318, der erste Schriftsteller, der »mit der Idee von menschenähnlichen Automaten oder Robotern spielte«. 70 Vgl. Hesiod: Theogonie. Griechisch/Deutsch, Stuttgart: Reclam 1995 und Hesiod: Werke und Tage. Griechisch/Deutsch, Stuttgart: Reclam 1995. Zur philosophiegeschichtlichen Verortung vgl. zudem Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie mit Quellentexten, Band 1. Altertum, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990, S. 12, 27, 29-30. 71 Vgl. Platon: Werke in acht Bänden; griechisch und deutsch, Band 4. Politeia, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990, S. 157: »Nun, sprach ich, welche Hesiodos und Homeros und die anderen Dichter uns erzählt haben. Denn diese haben doch für die Menschen unwahre Erzählungen zusammengesetzt und vorgetragen und tragen sie auch noch vor.« Im Übrigen gilt Platons »Höhlengleichnis«, vgl. ebd., S. 555-577, als eine der ersten medienphilosophischen beziehungsweise -theoretischen Positionen in der Geistesgeschichte. Vgl. dazu auch Rafael Capurro: »Höhleneingänge. Zur Kritik des platonischen Höhlengleichnisses als Metapher der Medienkritik«, elektronisch verfügbar unter: , o. S. (letzte Änderung: 27.05.2000; letzter Zugriff: 25.01.2004). 72 Vgl. Aristoteles: Metaphysik. Schriften zur Ersten Philosophie, Stuttgart: Reclam 1991, S. 98: »Und wenn sie das nicht mit Wissen, sondern aus bloßer Meinung tun, so müssen sie sich weit mehr um die Wahrheit kümmern, wie sich ja auch der Kranke mehr als der Gesunde um die Gesundheit bemüht. Denn im Hinblick auf den Wissenden steht der bloß Meinende in keinem guten Verhältnis zur Wahrheit.«

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Mit einem ähnlichen Argumentationsgestus hebt der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer die Folgen und Konsequenzen für die Ausbildung eines ästhetischen Bewusstseins beziehungsweise einer philologischen Erkenntnis hervor: »Daß Poesie fiktiv ist, wird erst erkennbar, seitdem es einen Wahrheitsbegriff gibt, der von dem abweicht, was die Dichter für wahr ausgeben. Insofern ist Platons Philosophie eine wichtige Voraussetzung dafür, die besondere Stellung der Dichtung zum Wahrheitsgebot bewußt zu machen. Der poetische Enthusiasmus mußte sich der philosophischen Kritik unterziehen, damit seine gottgegebene Irrationalität als Substanz der ästhetischen Mimesis entdeckt werden konnte, freilich mit der Konsequenz, daß sich der Anteil des Göttlichen an diesem Enthusiasmus zu einem metaphorischen Ausdruck verflüchtigte. Erst in dieser entgötterten und vermenschlichten Gestalt konnte die Poesie zum Gegenstand profanen Wissens werden.«73

Die Doxa sieht sich der Episteme als Pendant, als neue normierte Form des Wissens gegenüber: Episteme reüssiert als vermeintlich und/oder tatsächlich nachgewiesenes, erprobtes, da qua ratio argumentierendes Wissen.74 Diesen Umschlag hat, von der Beobachtungslogik her betrachtet, der französische Philosoph Michel Foucault auf den Punkt gebracht, wenn er festhält: »eines Tages hatte sich die Wahrheit vom ritualisierten, wirksamen und gerechten Akt der Aussage weg und zur Aussage selbst hin verschoben: zu ihrem Sinn, ihrer Form, ihrem Gegenstand, ihrem referentiellen Bezug«.75 Korrespondierend dazu besteht eine zentrale Aufgabe in der Vermeidung von Irrtümern; daher fokussiert sich insbesondere die Methodologie auf das Identifizieren der Ursachen von ›Verkennungen‹.76 Im aktuellen medienphilosophischen Diskurs nimmt sich die Frage nach den sowohl epistemischen als auch den historischen Anfängen medialen Denkens als ein sich selbststabilisierender Faktor aus. Vor allem erweist sich die Referenz auf die zitierte Havelock’sche These als wiederkehren73 Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 23. 74 Die Dichotomie Doxa und Episteme wird durch weitere ergänzt, insbesondere: ›Schein‹ und ›Sein‹, ›Täuschung‹ und ›Wahrheit‹, ›nichtsinnliche Wahrnehmung‹ und ›sinnliche Wahrnehmung‹ sowie ›Theorie‹ und ›Empirie‹. Jene Gegensatzpaarungen initiieren und konstituieren – in der entsprechend zu konturierenden Gedankenwelt – historisch den philosophischen respektive den wissenschaftlichen Diskurskontext in Europa. Vgl. auch R. Margreiter: »Wissenschaftsphilosophie als Medienphilosophie« (wie Anm. 67), S. 200. 75 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main: Fischer 1997, S. 14. 76 Vgl. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 148.

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der leitmotivischer Ausgangspunkt. In der eingehenden Thematisierung und Problematisierung des (Nicht-)Zusammenhangs von griechischer Literalität und abendländisch-metaphysischem Denken konfiguriert sich ein Eigenwert des gegenwärtigen medienphilosophischen Diskurses, der immer wieder aufs Neue antizipiert wird. Allerdings wird der Kausalnexus zwischen literaler Revolution und der Medialität des Logos kontrovers diskutiert, wie die widerständigen Argumentationslinien des Medienwissenschaftlers Frank Haase in Metaphysik und Medien77 beziehungsweise des Philosophen Werner Konitzer in Medienphilosophie78 eindrücklich belegen. Lediglich insoweit man zweierlei Prämissen postuliert: erstens, dass das Alphabet die adäquate Darstellung von Lautsprache ist und zweitens, dass die Ausdrucksweisen, die sich im Nachgang gebildet haben, der Sache nach angemessen sind, lassen sich die griechische Denkungsart und Kultur als direkte Auswirkung der literalen Revolution begreifen. Mithin ist die These Havelocks79 nur insofern evident, wenn man voraussetzt, dass die Griechen bereits in ihren, zu Zeiten der oralen Kultur bestimmten narrativen Ausdrucksform das »statische Sein, die Kausalität und die bleibenden Begriffe meinten«,80 jene aber nur deswegen nicht auszudrücken vermochten, da sie nicht über die adäquaten Medien zur Darstellung und Übertragung dieses Wissens verfügten, und dass zugleich die alphabetische Form dasjenige, was Sprache ausmacht und was in Lautsprache natürlich artikuliert ist, angemessen ausdrückt.81 Mit seiner Monografie Metaphysik und Medien greift Frank Haase den Havelock’schen Theoriekontext direkt auf. Die in seiner Arbeit vereinten Studien zu Hesiod und zu Platon akzentuieren die historisch verlaufenden Diskurslinien des Mythos/Logos-Umbruchs – allen voran in der klassischen Schulphilosophie – partiell neu. Denn der schrift- und medientheoretische Zugriff könnte, konsequent weiter gedacht, zu einer Revision in der Beschreibung der philosophischen und wissenschaftlichen Genealogie des Typus des rationalen Argumentierens nach intersubjektiv nachvollziehbaren und überprüfbaren Kriterien führen. Folgerichtig wäre der frühen Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, eingedenk ihrer Semantiken, geradezu eine (laut-)schriftliche Medialität des Logos eingeschrieben. Den Ausgangspunkt der Haase’schen Schrift markiert die Hypothese, dass sich bis dato die Reflexion auf die (Vor-)Geschichte der westlichen Philosophie überhaupt nicht mit der Relevanz und der Funktion der Schrift 77 Vgl. F. Haase: Metaphysik und Medien (wie Anm. 20). 78 Vgl. W. Konitzer: Medienphilosophie (wie Anm. 20). 79 Vgl. insbesondere E. A. Havelock: Als die Muse schreiben lernte (wie Anm. 61), S. 100-121 80 W. Konitzer: Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 89 (Hervorhebung im Original). 81 In diesem Absatz stützte mich auf ebd.

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für die solchermaßen bezeichnete Umstellung vom »Mythos« zum »Logos« befasst habe. Mithin konstatiert Haase, »dass abendländisch-metaphysisches Denken genuin in der Erfindung der griechischen Lautschrift gründet«82. Allein auf Basis einer Lautuntersuchung sei es dem Begründer des griechischen Alphabets möglich gewesen, Zuschreibungen zwischen den »Zeicheninventaren phönizische Schriftzeichen und klassifizierte griechische Laute«83 vornehmen zu können. Daraus resultierte schließlich das griechische Alphabet. Bei dieser arbiträren Zuordnung von Schrift- und Lautzeichen sei zum ersten Male ungewusst das solchermaßen bezeichnete Kodeverfahren zum Einsatz gekommen, dessen theoretische Konstruktion die Griechen der Antike erst durch das Platonische Philosophieren begreifen konnten,84 was den Anbeginn des abendländisch-metaphysischen Denkens markiert: »Diese Grundkonstellation ist es, aus welcher abendländisch-metaphysisches Philosophieren hervorging. Durch sie wurde eine neue Ordnung des Denkens begründet, die folgende Struktur hat: Medien (hier: das Medium phönizische Schrift) und deren Medialität werden maßgebend für die Semiotisierung von Welt (hier: das Medium Stimme und der griechische Redefluss), womit diese in eine distinkte Zeichenordnung überführt wird. Nur auf Grundlage dieser semiotechnologischen Struktur konnten im nächsten Schritt die Artikulationsformen Stimme und Schrift miteinander in Beziehung gesetzt werden. Auf diesem Fundament entstand erstmals eine auf Zeichen gegründete, medial verfasste Welt, die das Prädikat beanspruchte, Wirkliches selbst wiederzugeben.«85

Als Hauptargument führt Haase dafür den Umstand der Nicht-Thematisierung von Schrift in der mesopotamischen Kultur ins Feld. Obgleich bis zur Durchsetzung der griechischen Lautschrift um 800 vor Christus in Mesopotamien eine über 2700 Jahre alte bedeutete Schriftkultur bestanden habe, ließen sich jedoch – frappierenderweise – während dieser überaus großen Zeitspanne keinerlei Hinweise in keilschriftlichen Quellen ausfindig machen, die auf eine – wie auch immer geartete – Form der (Selbst-) Gewärtigung der Bedeutung und Rolle von Schrift in dieser (Schrift-) Kultur hindeuten würden. In Anbetracht dessen formuliert Haase die Fragestellung, ob und inwieweit sich im Zusammenhang mit der Hervorbringung der griechischen Lautschrift eine völlig veränderte Denkungsart ausbilden konnte, deren ureigener Anfang in der »erstmaligen Kopplung von Schrift und Stimme«86 bestehen könnte. Die Erfindung des Zeichensystems phönizisches Alphabet avanciert, kantisch formuliert zur »Bedingung der Möglichkeit« dafür, 82 83 84 85 86

F. Haase: Metaphysik und Medien (wie Anm. 20), S. 7. Ebd., S. 10 (Hervorhebung im Original). Vgl. ebd. Ebd. (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 8 (Hervorhebung im Original).

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dass der Gegenstand ›griechisches Sprechen‹ untersucht und nach Lauten (Konsonanten, Vokale) geordnet werden konnte. Medientheoretisch gewendet: »Vor dem unausgesprochenen wie notwendigen Hintergrund des Mediums Schrift erfolgte«, so der Tenor, »die Semiotisierung von Stimme.«87 Bedingt durch die Lautanalyse sei es möglich geworden, Zuschreibungen zwischen den Zeichenarsenalen der phönizischen Schriftzeichen und kategorisierten griechischen Lauten bewerkstelligen zu können. Just aus dieser »Grundkonstellation« sei das abendländisch-metaphysische Philosophieren, mithin ihre Denkungsart, entstanden. Diese modifizierte Grundordnung konkretisiert Haase beispielhaft anhand von vier Dichotomien: • »Kontinuität des Redeflusses vs. Diskontinuität von Schriftzeichen; • das Viele der individuellen Artikulationen vs. das Eine seiner Verbuchstabung; • die dynamis des Sprechens vs. die stasis von Schrift; • das pánta rheí des Redeflusses vs. die Buchstaben-Ideen des Zeichensystems«88.

Die auf der Ausbildung der Lautschrift fußende mediale Struktur manifestiert sich bereits in einer der frühesten Schriftdichtungen der Antike. Am Exempel von Hesiods Theogonie89 intendiert Haase zu zeigen: »Die Entstehungsgeschichte der Götter ist Medientheorie der Lautschrift und damit Medienmythologie.«90 In der Vorrede dieses Werkes gewinnen »Stimme« und »Schrift« durch die Musen und den Schriftsteller Hesiodos ihre thematisch maßgebliche Form und Gestalt. Die Theogonie nimmt sich, laut Haase, als erster Theorieentwurf einer neuen, medial kodifizierten Ordnung aus, in deren Zentrum die »mediale Funktion« des Dichters91 als Medium der Musen verortet sei. Die Musen selbst seien »keine Medien«, sondern »göttliche Verkörperungen ihrer Funktion, d. h. Personifikationen göttlichen Äußerns, das durch sie zum Ausdruck gebracht wird«92. Die mediale Struktur des Hesiod’schen Ansatzes reduziere sich allerdings mitnichten auf die Legitimation von Dichtern, mithin Autorschaft, vielmehr entwickele sich in der theogonischen Konzeption eine »Medienmythologie«,93 die als erste Medien-, präziser: Schrifttheorie, die abendländischmetaphysische Denkungsart initiiere.

87 88 89 90 91 92 93

Ebd., S. 10 (Hervorhebung im Original). Ebd. (Hervorhebung im Original – Punktuation; C. F.). Vgl. Hesiod: Theogonie (wie Anm. 70). F. Haase: Metaphysik und Medien (wie Anm. 20), S. 18. Ebd., S. 30 Ebd., S. 33. Ebd., S. 56.

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Bei dem geläufigen Sachverhalt, dass erstmals im platonischen Dialog Phaidros94 Medien und Schrift zum Gegenstand der Philosophie erhoben wurden, hält sich der Verfasser nicht lange auf; vielmehr stellt er heraus, dass Platon hier schlechterdings nicht auf einem »instrumentalisierten Schriftgebrauch«95 insistiere, sondern, so die Haase’sche Lesart, Medien selbst als Hervorbringungen des Denkens begreife und diese Erfindung von Medien zum genuinen Topos des philosophischen Dialogs mache. Mithin seien die strukturellen Charakteristika der Medien im Denken selbst veranlagt: »Erst an der zum Gegenstand des Denkens gewordenen medialen Verfasstheit des Denkens wird rekonstruierbar, was das Medium Denken von seiner Medialität her bestimmt und dem Gedachten zugrunde liegt.«96 Das Denken seinerseits weist den Weg zur Lösung des Problems der »Medialität« des Logos beziehungsweise der Medien,97 die in der Erkenntnis von Denkoperationen, mithin des Logos, inbegriffen sei – die platonische Ideenwelt. Schließlich lautet die Conclusio Haases: »Die dem Medium Denken zugrunde liegende Medialität selbst begründet Bewegung (dynamis) und Ruhe (stasis) der Denkbewegung als Identität in der Differenz, wie sie in den medialen Verfassungen des Mediums Denken zum Ausdruck kommen.«98 In seiner Abhandlung Medienphilosophie99 bezieht der Philosoph Werner Konitzer eine Haase entgegengesetzte Position. Auch bei ihm stellt die These Havelocks, die er grundlegend anzweifelt, die maßgebliche problemorientierende Exposition dar. Konitzer geht es darum zu demonstrieren, wie die Entwicklung von Aufzeichnungs- und Übertragungstechniken die Voraussetzungen für Verständlichkeit und Erklärbarkeit philosophi-

94 Vgl. Platon: Phaidros, in: Platon: Werke in acht Bänden; griechisch und deutsch, Band 5: Phaidros. Parmenides. Epistola (Briefe), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990, S. 1-193, besonders S. 179-181, hier S. 179, 181 (Hervorhebung im Original): »Sokrates: Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich: Denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Ebenso auch die Schriften. Du könntest glauben, sie sprächen, als verstünden sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so enthalten sie doch nur ein und dasselbe stets. Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unten denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie sich nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht. Und wird sie beleidigt oder unverdienterweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hilfe; denn selbst ist sie weder imstande sich zu schützen noch sich zu helfen.« Vgl. genau hierzu auch W. Konitzer: Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 31-32. 95 F. Haase: Metaphysik und Medien (wie Anm. 20), S. 107. 96 Ebd., S. 116. 97 Ebd., S. 148, 149. 98 Ebd., S. 149-150. 99 Vgl. W. Konitzer: Medienphilosophie (wie Anm. 20).

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scher Begriffe schaffte, ohne die schlechterdings die Reinterpretation von Sprache, Bewusstsein und Kommunikation im 20. Jahrhundert nicht denkbar gewesen sei.100 In seiner Schrift erlangen methodisch sowohl Ludwig Wittgensteins Verwendungsbegriff sprachlicher Ausdrücke101 als auch Niklas Luhmanns triadischer Kommunikationsbegriff102 besondere Prominenz. Durch den auf Edmund Husserl basierenden phänomenologischen Begriff der »Konstitution« postuliert Konitzer verschiedene Formen raumzeitlichen Andauerns sprachlicher Äußerungen.103 Im Zusammenhang von Schriftlichkeit und Philosophie trifft er eine Reihe definitorischer Unterscheidungen von ›Äußerung‹ und ›Äußerungsakt‹, die seinen Untersuchungsgang leiten: »Daß eine Äußerung sich über den unmittelbaren Äußerungsakt hinaus erstreckt, daß sie sich von der unmittelbaren Äußerungssituation ablöst, daß sie zumindest implizit auf Zeitverhältnisse Bezug nehmen und sich auf besondere Weise in räumliche und zeitliche Konstellationen einflechten muss, all das kennzeichnet sowohl andauernde wie gedehnte Äußerungen. Während aber die gedehnte Äußerung einen bestimmten und bestimmbaren Weg zurücklegt und ihr Ziel in einer einmaligen und von vorneherein festgelegten Verstehenssituation sucht, ist die andauernde ins Unbestimmte geäußert; sie hat kein Ende, kein Ankommen. Sich andauernd zu äußern heißt nicht in demselben Sinne auf Antwort zu warten wie im Falle der gedehnten Äußerung.«104

Deutliche Kritik an der Grundeinstellung seiner eigenen philosophischen Zunft übend, der nach die Auseinandersetzung mit ›Schrift‹ bestenfalls ein Thema poststrukturalistischer respektive medientheoretischer Diskurse sei, vertritt Konitzer vehement die These, dass die Philosophie, sofern sie ihre eigene Geistestätigkeit begreifen möchte, auf die Transformationen in der Form von Schriftlichkeit zu reflektieren habe. Mithin erweise sich ›Schriftlichkeit‹ nicht allein als eine Bedingung der Möglichkeit von Philosophie100 Vgl. ebd., S. 11-14. 101 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe, Band 1. Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914-1916, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 241, 269, 273, 302-303, 430, passim. 102 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 191-216. 103 Vgl. zur »Konstitution« Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Tübingen: Niemeyer 1980, S. 316 (Hervorhebung im Original): »Diese Untersuchungen sind wesentlich bestimmt durch die verschiedenen Stufen und Schichten der Dingkonstitution im Rahmen des originär erfahrenden Bewußtseins. Jede Stufe und jede Schicht in der Stufe ist dadurch charakterisiert, daß sie eine eigene Einheit konstituiert, die ihrerseits notwendiges Mitglied ist für die volle Konstitution des Dinges.« 104 W. Konitzer: Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 48.

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ren neben anderen, sondern Schriftlichkeit nehme sich als Voraussetzung der Verständlichkeit, ja der Tradierbarkeit von Philosophie als »besonderer Praxis sprachlicher Äußerung«105 aus. Versteht man Philosophie als eine »spezifische Form des Operierens mit Symbolen«,106 heißt das, dass einige dieser Symbole zeichengebundene optische Substrate sind, die für eine bestimmte Zeit andauern. Jenes Andauern sprachlicher Ausdrücke sieht Konitzer einerseits in der Materialität des Schriftzeichens, andererseits – hier wiederum den Husserl’schen Konstitutionsbegriff anwendend –107 in verschiedenen Verhaltensformen bedingt. Um philosophieren zu können, bedarf es nach Konitzer einer Praxis gedehnter und aufgeschobener Kommunikation, in die jene visuellen Zeichenträger implementiert sind. Sei weder eine solche semiotische Referenz noch eine entsprechende kommunikative Praxis gegeben, so sei, das, was jemand begreift, der versteht, was Philosophen treiben, nicht ausdrückbar und somit schlechterdings auch nicht raum-zeitlich übermittelbar:108 »Schriftlichkeit bildet insofern den Horizont von Philosophie; auch wenn Philosophie bestrebt ist, dialogisch zu sein, wenn sie zudem Lautsprachlichkeit als primäres Medium des Dialogs ansieht und somit der lautsprachlichen Lehre und Untersuchung den Vorrang gibt, bewegt sie sich doch im Horizont von Schriftlichkeit: Der Sinnesboden von Philosophie als tradierbarer kultureller Gestalt beruht auf einer Reihe von Unterscheidungen, die in Schriftlichkeit fundiert sind.«109

Die laut Konitzer’scher Überzeugung irrige Annahme, dass dem transitorischen, flüchtigen Laut durch »Zuordnung« zu einem in sich dauernden optischen Zeichenträger Konstanz zuteil werde, gründet auf der unbedarften Ansicht, dass »Zuordnung« ein schlichtes, nicht weiter begründbares und stets gleich ablaufendes Prozedere sei. Im Zentrum der Schrifttheorie ist die unbekümmerte Grundhaltung gegenüber der »Einfachheit eines zuordnenden Aktes«110 verortet, welche Ludwig Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen111 einer fundamentalen Kritik unterzogen hat.112 Die Basis bildet die Wittgenstein’sche Bestimmung des ›Sprachspiels‹, woraus sich eine grundlegende Kritik an der sprachtheoretischen Tradition 105 Ebd., S. 17. 106 Ebd. 107 Vgl. E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (wie Anm. 103), S. 316-319. 108 Vgl. W. Konitzer: Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 17-18. 109 Ebd., S. 18. 110 Ebd., S. 20. 111 Vgl. L. Wittgenstein: Werkausgabe, Band 1 (wie Anm. 101), S. 240-241, 244, 251-253, 254-255, 259-261, 269, 270. 112 Vgl. ebd., S. 250 (Hervorhebung im Original): »Das Wort ›Sprachspiel‹ soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.«

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entwickelt; nach Wittgenstein wird die »Praxis des Gebrauchs der Sprache«113 dadurch festgelegt, dass sprachliche Äußerungen im täglichen Miteinander eine bestimmte Funktion zugewiesen bekommen: »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache«.114 Konitzer macht sich die Wittgenstein’sche Kritik zu Eigen, um zu zeigen, dass es sich bei dem, was man mit dem Ausdruck ›Zuordnen‹ zu beschreiben sucht, mitnichten um eine schlichte, nicht weiter auflösbare Operation handelt: »Die Zuordnung von Laut und optischem Zeichen setzt […] ein ganzes Umfeld symbolischer Praktiken voraus, und je nach der Form dieser Praktiken klassifiziert der vermeintlich einfache Ausdruck ›Zuordnung‹ sehr verschiedene Verfahren.«115 Die Konitzer’sche Untersuchung intendiert, den durch die Theorietraditionen gezeitigten einheitlichen Begriff von Schrift zu suspendieren und diesen durch Einzelanalysen der spezifischen Form andauernder Äußerung zu substituieren. Jene Auflösung des tradierten Schriftbegriffs ist darauf angelegt, auch den Begriff von Sprache, soweit er bis dato mit dem Begriff der Schrift korrelierte, zu ersetzen. Ausgehend von Jacques Derridas kritischer Einlassung zur Theorie der Sekundarität von Schrift116 nimmt Konitzer eine Relektüre ›klassischer‹ Schrifttheorien vor, die sich im Gefolge Havelocks ausgebildet haben. Dabei erweist sich Derridas These des Phonologozentrismus117 – analog zum Logo- und Enthnozentrismus gedacht –, die eben auch der Praxis alphabetischer Notationssysteme eingeschrieben ist, als Moment grundlegender Kritik an dem, was er, Derrida, selbst als ›abendländische Metaphysik‹118 bezeichnet hat.119 Zwar habe Derrida angestrebt, die Auflösung des einheitlichen Schriftbegriffs vorzunehmen, jedoch sei es ihm deshalb nicht gelungen, so der Vorwurf Konitzers, da Derrida letztendlich nicht in der Lage gewesen sei, von den gegenstandstheoretischen Prämissen des tradierten Zeichenbegriffes zu abstrahieren. Demnach verharre die Derrida’sche Position in ihrem semiokritischen Aspekt auf einer schlussendlich »verkürzte[n] Kritik dieser Vorstellungstheorie der Sprache«120. Als problematisch erachtet es Konitzer, dass Derridas Argumentation an einer vorstellungstheoretischen Explikation des Wahrheitsbegriffes vor allem im Rekurs auf Husserl

113 114 115 116 117

118 119 120

Ebd., S. 241. Ebd., S. 262. W. Konitzer: Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 20. Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 25, 30. Vgl. ebd., 25-26, hier S. 25: »Unangetastet bleibt somit ihre Herkunft aus jenem Logozentrismus, der zugleich ein Phonozentrismus ist: absolute Nähe der Stimme zum Sein, der Stimme zum Sinn des Seins. Der Stimme zur Idealität des Sinns.« Vgl. ebd., S. 27, 28, passim. Vgl. W. Konitzer: Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 24. Ebd., S. 28.

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festhält, nämlich insofern eine Aussage ›wahr‹ werde, wenn sich eine Intention auf einen gemeinten Gegenstand irgendwie erfülle: »Der Gebrauch des Wortes wahr ist aber nicht an die gegenstands- oder vorstellungstheoretische Erklärung dieses Gebrauches gebunden. Der Sinn von wahr bzw. sein kann eben nur im Rückgang auf die intersubjektiven Verwendungsweisen der sprachlichen Symbole aufgeklärt werden. ›Wahrheit‹ ist dann zwar, wenn man so will, ›nur‹ ein Moment sozialer Praktiken, und insofern irgendwie auf sie relativierbar; aber es genügt, sich vorzustellen, wie unsere Sprache ohne diese Praktiken der Bejahung und Verneinung aussähe, um zu sehen, daß mit dem Begriff der absoluten Wahrheit nicht auch der Wahrheitsbegriff schlechthin verschwindet oder überflüssig wird.«121

Selbst wenn man konzediert, dass sich die Derrida’sche These, der nach sich die Kritik an der Sekundarität der Schrift122 wenigstens als sprachwissenschaftliches Vorurteil entlarvt, als rechtens erwiesen habe, und es auch gelungen sei, die zentralen Kritikpunkte herauszuarbeiten und aus dem dekonstuktivistischen Diskurskontext herauszulösen, sei damit lediglich der Widerspruch des klassischen Entwurfs der Beziehung von Sprache und Schrift herausgestellt worden. Damit sei weder die eigentümliche Widerspruchsresistenz, die das Dogma von der Schrift entfaltet hat, zu plausibilisieren, noch sei damit so etwas wie eine positive, eigenständige Theorie der Schrift begründet worden.123 In der Untersuchung Entstehung und Folgen der Schriftkultur124 von Jack Goody, Ian Watt und Kathleen Gough sieht Konitzer die entscheidenden Definitionen des Terminus Schrift für den vorgängigen Traditionskontext veranlagt: »Die Bedeutung der Schrift liegt darin, daß sie ein neues Kommunikationsmedium darstellt. Ihre wesentliche Funktion besteht in der Objektivierung der Sprache, d. h. darin, der Sprache mit einem System sichtbarer Zeichen ein materielles Korrelat zu geben. In dieser materiellen Form kann Sprache über räumliche Entfernungen übermittelt und durch die Zeit hindurch bewahrt werden; was Menschen sagen und denken, kann vor der Vergänglichkeit mündlicher Kommunikation gerettet werden«.125

Bedingt dadurch, dass Jack Goody Schrift als Kommunikationsmedium fokussiert, reflektiert Konitzer auf die Relation von Schrift und Kommuni121 122 123 124

Ebd., S. 29 (Hervorhebung im Original). Vgl. J. Derrida: Grammatologie (wie Anm. 116), S. 30. Vgl. W. Konitzer: Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 33. Vgl. Jack Goody/Ian Watt/Kathleen Gough: Entstehung und Folgen der Schriftkultur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. 125 Jack Goody: »Funktionen der Schrift in traditionellen Gesellschaften«, in: Jack Goody/Ian Watt/Kathleen Gough: Entstehung und Folgen der Schriftkultur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 25-61, hier S. 26.

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kation mittels eines Zweck/Mittel-Schemas. Als ›schwierig‹ wertet er weniger den Umstand, dass Goody Schrift generell als Mittel konzeptualisiert, sondern vielmehr dass er Schrift als ein bestimmtes Instrument und Modell von Kommunikation, nämlich: Kommunikation als Übertragung eines präartikulatorischen, mental irgendwie präsenten Sinns, aufeinander bezogen annimmt. Die Adaption der Übertragungsmetapher impliziert die Voraussetzung, dass der übertragene Sinn auf irgendeine Weise vom Prozess des Transfers, der Kommunikation, abziehbar sei. Postuliert man, dass Sinn gleichsam außerhalb des Kommunikationsmediums – unbeschadet, ob es sich um Sprache oder Schrift handelt – existieren können, so gehen damit zentrale symbolische Charakteristika verlustig. Träfe die in Entstehung und Folgen der Schriftkultur formulierte These zu, so wäre ›Sinn‹ komplett, sozusagen in »reiner Idealität«, abstrahiert von der Pragmatik jener Symbole, mittels derer er zum Ausdruck gebracht wird. Just diese Konstruktion von Schrift sollte für eine Reihe von Theorien maßgeblich werden. Sofern eine Theorie jedoch die genuinen Spezifika von Schrift expliziert habe, müsse sie voraussetzen, dass »Schrift eine Symbolform eigenen Charakters«126 ist und dass ›Kommunikation‹ je Unterschiedliches aussagen kann – und dies in Abhängigkeit davon, welche Form des Symbolsystems geben ist.127 Zieht man die Konsequenz aus dieser Argumentation, so gilt, konstatiert Konitzer, dass Schrift nicht mehr von einer einzigen Funktion her begriffen werden könne. Das heißt: es müsse – hier ganz Wittgenstein zuneigend – die spezifische Verwendungsweise einer Form erklärt werden. Daraus resultiert, dass man Schrift auch nicht einfach mehr »als Medium« betrachten kann. Mithin ist ein abstrakter Medienbegriff – als Erstunterscheidung – diskreditiert. Der Zweck/Mittel-Ansatz, dass ein Medium als Transmitter für vorher feststehende Absichten oder Inhalte fungiere, muss fallen gelassen werden. Somit konturiert sich eine veränderte Sichtweise auf die Funktionalität von Schrift: »Verstand man im ersten Fall Schrift von ihrer Funktion her, gesprochene Sprache darzustellen, so erscheint nun diese Funktion als [eine; C. F.] von vielen möglichen Funktionen der Schrift; nach ihrer Möglichkeit kann nunmehr gefragt werden.«128 Aufgrund der vorstehenden Diskussion bringt Konitzer kritische Einwände gegen Havelocks These eines kausal-historischen Nexus zwischen einer spezifischen Form des Alphabets und der Ausbildung der abendländischmetaphysischen Philosophie im antiken Griechenland vor:129 Weil Havelock glaube, die alphabetische Schrift die Lautsprache in der adäquatesten Form repräsentiert, vermöge er das Andauern-Lassen von Entäußerungen 126 127 128 129

W. Konitzer: Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 37. Vgl. ebd. Ebd., S. 38. Vgl. nachfolgend ebd., S. 89-90

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nicht als eigenständige kulturelle Praxis zu gewärtigen. Somit sei Havelock auch außer Stande, den in der Form andauernder Äußerungen im Allgemeinen sowie den in der alphabetischen Form im Besonderen enthaltenen »›projektiven‹ Gehalt« zu entdecken. Schließlich begreife Havelock die Bedeutung der Schrift lediglich, insofern sie als »Merkzeichen« dient; die Eigenständigkeit der Verwendungslogik grafischer Zeichen kommt ihm nicht in den Sinn.130 Auch billige Havelock der Verwendung laut- oder geschriebensprachlicher Ausdrücke keinerlei Praxis zu. Deshalb setzt Havelock, so Konitzer, voraus, dass Termini wie beispielsweise Logos oder Ousia entweder »nennend« oder »abbildend« fungieren. Dass sie eine besondere, komplexe Verwendungsweise haben könnten, gelange nicht in den Blickwinkel seiner Untersuchung. Aus diesem Grunde sei Havelock angehalten, die Veränderung, die er darstellt, als eine zu beschreiben, die sich gleichsam »naturwüchsig« vollzieht. Dieser Kausalnexus führt zu einer »Verabsolutierung der Medienfrage«. Eine kohärente symbolisch-kulturelle Praxis wird damit aus dem Gesamtkontext der soziohistorischen und -kulturellen Evolution isoliert und als dominierendes Moment künstlich inszeniert (Konitzer spricht expressis verbis von »fetischisiert«).131 Schlussendlich basiere Havelocks Studie auf einem Irrtum seiner eigenen Problemstellung: »Wonach er [Eric A. Havelock; C. F.] tatsächlich fragt, ist ein verborgener Zusammenhang zwischen verschiedenen kulturellen Praktiken: auf der einen Seite Praktiken der Verwendungsweise sprachlicher Zeichen, auf der anderen Seite Praktiken des Andauern-Lassens und der Dehnung von Äußerungen in der besonderen Form alphabetischer Schriftlichkeit. Wonach er aber zu fragen glaubt, ist die spezifische Wirkung eines einmaligen historischen Ereignisses. Die Frage nach Möglichkeitsbedingungen der begrifflichen Klassifizierungsform sowie die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen philosophischer Diskurse stellen sich also erneut.«132

Hinsichtlich der eingangs von ihm aufgeworfenen Frage nach der Bedeutung des Wandels in der philosophischen Betrachtung der Beziehung von Sprache, Bewusstsein und Kommunikation widerspricht Konitzer entschieden der These vom viel beschworenen Ende der Philosophie durch die transformierte Konfiguration ihrer medialen Bedingungen. Im Kontrast dazu postuliert Konitzer, dass jene Wandlungen geradezu stimulierende Effekte für die Ausbildung neuer Ansätze des Philosophierens zeitigen. Für ihn trifft viel eher der Umkehrschluss zu. Er hält es für nahe liegender, dass mit diesen Mutationen neue Potenziale für die Praxen von Denken,

130 Ebd., S. 89-90. 131 Ebd., S. 90. 132 Ebd., S. 91

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Sprechen und Reflektieren generiert werden, deren Relevanz womöglich noch gar nicht begriffen wurde. Als positive paradigmatische Reaktion auf die grundlegenden Umwälzungen stellt er den späten Wittgenstein mit seinen Philosophischen Untersuchungen133 heraus. Ihm gilt der Initiator der modernen Sprachphilosophie als Paradebeispiel: Indem Wittgenstein das Ziel aufgibt, durch Philosophie apriorische und für alles Verstehen notwendige Begriffe zu ermitteln, greift er die neuen Erfahrungen mit Sprache aktiv auf, die durch die neueren Techniken andauernder und gedehnter Äußerungen ermöglicht wurden.

Genealogien von Medienphilosophie So epistemisch offen sich der Anbeginn medienphilosophischen Nachdenkens ausnimmt, so unklar erweisen sich auch die jüngeren Genealogien von ›Medienphilosophie‹. Die bereits 1992 veröffentlichte Dissertation Rudolf Fietz’ mit dem Titel Medienphilosophie. Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche134 geht dem aktuellen Diskurs terminologisch wie konzeptuell eineinhalb Dekaden voraus. Erstaunlicherweise wird sie jedoch in den gegenwärtigen Debatten weder in ihrer Vorläuferschaft hinreichend gewürdigt, noch überhaupt im nennenswerten Umfange rezipiert. Fietz’ Versuch einer rekonstruktiven Verortung ›medienphilosophischer‹ Gründungsakte lässt sich als Erinnerungsarbeit an den philosophischen Beständen und zugleich als Aktualisierung des disziplinären Gedächtnisses verstehen, wie es für die genealogische Perspektive konstitutiv ist. Aktualisierung der Bestände impliziert jedoch immer auch eine rückwirkende Neuordnung des historischen Kanons aus der Position heutiger Diskursverläufe. Während die oben skizzierten Kontinuitätsthesen cum grano salis das ganze Feld neuzeitlichen Philosophierens im Hinblick auf ›medienphilosophische‹ Reflexionsarbeit zu genealogisieren versuchen, geht es bei Rudolf Fietz’ Rekonstruktion um einen spezifischen und historisch bestimmbaren Diskursstrang der Philosophiegeschichte, in dem für ihn das Nachdenken über Medialität überhaupt erst seinen Ausgang nimmt. Diese genealogische Zurichtung der Philosophiegeschichte auf ein Projekt ›Medienphilosophie‹ hin wird mit einer Segmentierung und Zäsurisierung der Tradition erkauft. Impliziert wird damit zugleich, dass die bisherige disziplinäre Historiografie den Fundamentalcharakter dieser Zäsur, die für Fietz in Friedrich Nietzsche personifiziert ist, »mißachtet und verdrängt«135 habe, um eine bruchlose Kontinuität der Arbeit am Geiste für sich behaupten zu können – wie dies ja auch bei den bereits angeführten Kontinuitätsthe133 Vgl. L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (wie Anm. 101). 134 Vgl. R. Fietz: Medienphilosophie (wie Anm. 20). 135 Ebd., S. 9.

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sen zu beobachten war. Im Gegensatz hierzu begreift Fietz ›Medienphilosophie‹ gerade als unhintergehbaren Bruch mit der immanenten Metaphysik der traditionellen Sprach- und Erkenntnistheorie von Aristoteles136 bis Gottlob Frege137 – mithin als inhärentes Gegenprojekt zur kanonisierten Philosophiegeschichte. Entsprechend postuliert Rudolf Fietz »die Umkehrung des metaphysisch-nominalen Zeichenbegriffs [...] zur Geburtsstunde von Medienphilosophie«138. Hierin formuliere sich eine gleich zweifache Korrektur am ideenorientierten Diskurs der klassischen Philosophie. In einem ersten Schritt wendet Fietz den linguistic turn139 konsequent auf die Disziplin selbst an: Philosophie müsse sich darüber Klarheit verschaffen, dass sie niemals am Geist selbst, sondern lediglich an der Vermitteltheit des Geistigen in Zeichenform(en) arbeiten kann. Fietz hält dabei jedoch weit gehend ausgeblendet, dass besagter linguistic turn von der Philosophie selbst ja mitinitiiert worden ist und dass die jüngere Erkenntnistheorie – zum Beispiel im Rekurs auf Wittgensteins Konzeptualisierung der ›Sprachspiele‹ –140 angesichts der semiotischen Fundierung allen Erkennens als radikaler Zweifel an jeglichem Letztbegründungsargument figuriert. Doch Fietz’ Kritik geht noch den entscheidenden Schritt weiter hin zur performativen Einschreibung des medial turn in den Diskurs, indem er den ›metaphysisch-nominalen Zeichenbegriff‹ als einen solchen analysiert, der die »unhintergehbare Medialität von Inhalten«141 ausgeblendet halte. Die Leugnung der eigenen Reflexionsbedingungen in der klassischen Philosophie zeige sich, so Fietz, primär daran, dass die kommunizierten Inhalte dabei fälschlicherweise als geschlossene Entitäten verstanden werden, die zum Zwecke der Kommunikation zwar einer (temporären) Semiotisierung, Materialisierung und Medialisierung bedürfen, in ihrer Substanz jedoch vom Zeichenträger nicht affiziert und in dieser vorgeblich reinen ›Immaterialität‹ daher auch verlustfrei distribuiert und kommuniziert werden können. Gegen jene Materialitätsvergessenheit der Philosophie wendet sich die von Fietz apostrophierte ›Medienphilosophie‹ in Gestalt einer reflexiven Befragung dieser medialen Prozeduren. Wo immer die Medialität der Zeichenprozesse als eine den Inhalt des Zeichens dominierende und determinierende Größe begriffen und diese Erkenntnis selbstreflexiv auf die philosophische Praxis rückbezogen wird, handelt es sich laut Fietz um ›Medienphilosophie‹. 136 Vgl. Aristoteles: Metaphysik (wie Anm. 72). 137 Vgl. Gottlob Frege: Begriffsschrift und andere Aufsätze, Hildesheim/ Zürich/New York: Olms 1988. 138 R. Fietz: Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 245. 139 Vgl. zur Vor- und Begriffsgeschichte des linguistic turn auch M. Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 48-97. 140 Vgl. L. Wittgenstein: Werkausgabe, Band 1 (wie Anm. 101), S. 250; ferner B. Groys: Unter Verdacht (wie Anm. 1), S. 56, passim. 141 R. Fietz: Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 282.

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Die Geburtsstunde einer derart definierten ›Medienphilosophie‹ lässt sich mit Fietz recht genau bestimmen. Frühe Ansätze fänden sich etwa bei Wilhelm von Humboldt,142 dem Humboldt-Schüler Gustav Gerber143 und bei Richard Wagner144. Zentral – und gerade in ihrer Radikalität – werde die Medialität der Zeichenprozesse aber erst bei Friedrich Nietzsche145 reflektiert: • Erstens thematisiere Nietzsche die Pluralität und Differenz unterschiedlicher materialer Zeichenprozesse (zum Beispiel akkustischmusikalische versus alphabetisch-schriftliche). • Zweitens werde die prinzipielle materiale Verfasstheit jeglichen Zeichenprozesses und der damit einhergehenden permanenten Irritation von (stabilen) Bedeutungszuweisungen bei Nietzsche sprachkritisch herausgearbeitet. • Drittens werde die eigene mediale Präfiguration in Nietzsches selbstreflexiver Schreibweise eingeholt. Bei Nietzsche figuriert ›Medienphilosophie‹ nicht allein auf der Ebene eines kritisch-reflexiv gefassten Gegenstandsbereiches, sondern darüber hinaus als notwendige Neuformulierung der eigenen Praxis philosophischer Artikulationsweisen (etwa in Gestalt des an Nietzsche so oft kritisierten Hangs zur Aphoristik). Wenn somit die Form der philosophischen Rede selbst schon als Element und Konsequenz der Reflexionsarbeit anzusehen ist, wird der engere Zuständigkeitsbereich der Philosophie damit zugleich überschritten beziehungsweise in genuin philologische Kompetenzfelder überschrieben. Aus seiner Nietzsche-Lektüre destilliert Fietz denn auch das Programm eines philologischen Meta-Diskurses, der die tradierten disziplinären Grenzen überformt: »Vielleicht gar kommt der Philologie gerade in der Diskussion der Angemessenheit bzw. Nichtangemessenheit ihres eigenen medialen Zugriffs in bezug auf die mediale Konstituiertheit ihres Gegenstandes eine ausgezeichnete Stellung insofern zu, als sie eben darin paradigmatisch für andere Wissenschaften verfährt. Seit je ist es Aufgabe dieser klassischen Medienwissenschaft [sic!; C. F.], die 142 Vgl. Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden, Band 3. Schriften zur Sprachphilosophie, Stuttgart: Cotta 1988. 143 Vgl. Gustav Gerber: »Die Sprache und das Erkennen«, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert. Textauswahl II, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann 1971, S. 19-60. 144 Vgl. insbesondere Richard Wagner: Oper und Drama, Stuttgart: Reclam 1994. 145 Vgl. vor allem Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe, Band 1. Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV, Nachgelassene Schriften, München/Berlin/New York: Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter 1988.

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Form der Vermittlung von Inhalten zu thematisieren. Wenn es aber, wie gerade bei Nietzsche zu lernen ist, Inhalte nicht außerhalb von Medien gibt, wenn also eine materialisierte Form allererst ins Mittel treten muß, damit es Inhalte ›gibt‹, dann wäre über den wissenschaftstheoretischen Standort jener Wissenschaften, die die Medien zum Thema haben [...][,] erneut nachzudenken.«146

Letztlich also wird ›Medienphilosophie‹ von Rudolf Fietz mit Philologie und ›klassischer Medienwissenschaft‹ in eins gesetzt. Das Tertium Comparationis läge dabei offenbar im gemeinsamen Problemhorizont des je ›eigenen medialen Zugriffs in Bezug auf die mediale Konstituiertheit ihres Gegenstandes‹, mithin der radikalen methodischen Reflexion der eigenen Vorgehensweise und Ausdrucksform. Greift man diesen Gedanken auf, lässt sich dahinter ein noch viel weiter gehender, bei Fietz selbst freilich implizit bleibender Geltungsanspruch erahnen: Wenn es nämlich zutrifft, dass alle Wissenschaften nur auf Grundlage von medialen Zeichenprozessen Wissenschaften sein können und wenn es weiterhin zutrifft, dass alle Inhalte der Wissenschaften medial präfiguriert sind, dann wäre die Philologie im Sinne Fietz’ die Wissenschaft hinter allen Wissenschaften und damit eben auch hinter der traditionellen (metaphysisch-nominalen) Philosophie. Die Philologie/Medienphilosophie/Medienwissenschaft wäre somit nicht nur Leitparadigma jener Wissenschaften, die Medien zum Gegenstand haben, sondern letztlich die ›Leitwissenschaft‹ und Meta-Disziplin, in der alle (Geistes- und Kultur-) Wissenschaften aufgehoben wären. Jenseits vordergründiger Terminologien lässt sich anhand dieser Inthronisation eines neuen Meta-Paradigmas unschwer ihre Affinität zum (mal latenten, mal expliziten) Alleinvertretungsanspruch der materialistischen ›Medientheorie‹ ablesen. Daneben aber meint Fietz’ Modellation von ›Medienphilosophie‹, recht besehen, nichts anderes als das, was im Programm des Dekonstruktivismus und dessen Inaugurationstext schon vorformuliert wurde:147 Die Zentralfigur, die der Dekonstruktivismus in jedem Zeichenprozess am Werke sieht, die so genannte différance, ist zu verstehen als Auslöser der permanenten Verschiebung und Irritation (vermeintlich) stabiler Bedeutungszuweisungen in der Kommunikation.148 Dieser unabschließbare Regress von Semantik und Ideologie wird dabei – und hier wird die konzeptionelle Verbindung zu Fietz’ Nietzsche-Lektüre offensichtlich – als strukturell bedingtes Resultat der materialen Verfasstheit jeglichen Zeichenprozesses beschrieben. Nicht von ungefähr kommen in Fietz’ Programmatik Dekonstruktivismus und ›Medientheorie‹ zur (unausgesprochenen) Deckung, denn wissenschaftshistorisch besehen ver146 R. Fietz: Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 10-11 (Hervorhebung im Original). 147 Vgl. J. Derrida: Grammatologie (wie Anm. 116) und auch Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989. 148 Vgl. J. Derrida: Grammatologie (wie Anm. 116).

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dankt sich ja – wie oben schon ausgeführt – die Etablierung einer zeitgenössischen materialistischen ›Medientheorie‹ in ganz entscheidendem Maße poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Vorarbeiten. Somit wäre Fietz’ Genealogie als ein Versuch zu beschreiben, zwei der wirkungsmächtigsten (Meta-)Paradigmen der Gegenwart im integrativen Konzept einer ›Medienphilologie‹ respektive ›-philosophie‹ zu synthetisieren und historisch auf Nietzsches Sprachkritik zu basieren. Fietz’ Neuinterpretation von Nietzsche als ›Medienphilosophen‹, -theoretiker und Dekonstruktivisten avant la lettre ist somit lesbar als ein weiterer, hier nun indes philologisch gewendeter Anlauf zur Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften.149 In der jeweiligen Fokussierung auf die Sprachkritik als der Geburtsstunde eines medial turn in der Philosophie trifft sich Fietz’ Monografie mit der im Jahre 2000 vorgelegten Abhandlung von Frank Hartmann mit dem bündigen Titel Medienphilosophie.150 Wo Fietz sich auf Nietzsche als (retrospektiv fixiertem) Diskursbegründer konzentriert, unternimmt Hartmann nichts Geringeres als eine genealogische Ableitung der ›Medientheorie‹ und ›-philosophie‹ aus dem Geiste der Sprachskepsis des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Letztere markiert für ihn den zentralen Paradigmenwechsel in der modernen Philosophiegeschichte, insofern sie die seit René Descartes151 und Immanuel Kant152 vorherrschende Erkenntnistheorie ablöst und in ein Programm überführt, das Hartmann – in Anlehnung an Vilém Flusser –153 als ›kommunikologisch‹ gegründet definiert; soll heißen: als eine kommunikationstheoretische Perspektive auf unser Wissen über Welt, die »Medien als Produktivkraft in einem emphatischen Sinne«,154 als »Metapher[n] für ein Ordnungsprinzip«155 versteht und in ihrer »ambivalenten kulturtechnischen Funktion für die gesellschaftliche Reproduktion«156 abzubilden versucht. Ausgehend vom konstruktivistischen Axiom, dass wir »Welt nur durch Medien [...] kennen und unsere Erkenntnisse über sie nur durch Medien mitteilen können«157 konstatiert 149 Vgl. Friedrich A. Kittler (Hg.): Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, Paderborn u. a.: Schöningh 1980. 150 Vgl. F. Hartmann: Medienphilosophie (wie Anm. 20). 151 Vgl. insbesondere René Descartes: Meditationes de prima philosophia / Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg: Meiner 1977. 152 Vgl. vor allem Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden, Band II. Kritik der reinen Vernunft, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983. 153 Vgl. Vilém Flusser: Schriften, Band 4. Kommunikologie, Mannheim: Bollmann 1996, S. 235-351. 154 F. Hartmann: Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 18. 155 Ebd., S. 21. 156 Ebd., S. 24. 157 Ebd., S. 27.

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Hartmann eine ›Verflüssigung‹ des Weltverständnisses in der Moderne, die in der Sprachphilosophie Johann Gottfried Herders158 und Wilhelm von Humboldts159 erste reflexive Spuren tätigte, letztlich aber erst in der Radikalisierung der Sprachkritik bei Fritz Mauthner160 als krisenhaftes Erfahrungsmoment umfassend modelliert wurde. (Dass Hartmann hingegen ausgerechnet Nietzsche aus seinem breit angelegten Panorama der modernen skeptischen Philosophie strikt ausgegrenzt hält, scheint in der Sache kaum begründbar zu sein, dürfte seine Ursache aber in der Vorgängigkeit von Fietz’ einschlägiger Studie haben.) Ob von Mauthner tatsächlich jene direkten Einflusslinien zu dezidierten ›Medientheoretikern‹ wie Harold A. Innis,161 Herbert Marshall McLuhan,162 Walter Benjamin163 und Vilém Flusser164 führen, die Hartmann nachzuweisen sucht; ob sich andererseits die als »Kulturapokalyptiker« inkriminierten Günther Anders165, Martin Heidegger166 und Max Horkheimer beziehungsweise Theodor W. Adorno167 tatsächlich auf die von Descartes gegründeten Traditionsbestände der abendländischen Philosophie überschusslos zurückführen lassen – all dies mag mit Fug und Recht bezweifelt werden. Doch das basale Differenzierungskriterium der hierin virulenten Dichotomisierung ist nun einmal die Rückführung aller Geistestätigkeiten auf die ahistorisch verabsolutierten Kulturtechniken von Schrift und Sprache, die Hartmann als Grundlage der neuzeitlichen Erkenntnistheorie ausmacht. Unverkennbar inspiriert von einschlägigen Vorarbeiten Friedrich A. Kittlers168 und Jacques Derridas,169 sieht Hartmann das neu158 Vgl. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Wiesbaden: Fourier 1985. 159 Vgl. W. von Humboldt: Werke in fünf Bänden, Band 3 (wie Anm. 142). 160 Vgl. Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1997. 161 Vgl. Harold A. Innis: Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte, Wien u. a.: Springer 1997. 162 Vgl. Herbert Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. »Understanding Media«, Düsseldorf u. a.: Econ 1992. 163 Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 7-43. 164 Vgl. Flusser: Schriften, Band 4 (wie Anm. 153), S. 235-351. 165 Vgl. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: Beck 1987. 166 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 1986. 167 Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: »Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug«, in: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main: Fischer 1992, S. 128-176. 168 Vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München: Fink 1995, S. 519-522 sowie Friedrich A. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bosse 1986, S. 3-6, 7-33. 169 Vgl. J. Derrida: Grammatologie (wie Anm. 116) sowie J. Derrida: Die Schrift und die Differenz (wie Anm. 147).

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zeitliche Denken seinerseits in der »spezifischen Buchkultur« einer »rationalistische[n] Epoche«,170 also: medientechnologisch und kulturalistisch determiniert, woraus folgt, dass der »Konstruktionseffekt in der Darstellungsweise wissenschaftlicher Aussagen [...] im philosophischen Aufschreibesystem [sic!; C. F.] selbst [zunächst ebenso verborgen bleibt]«171. In der durch die Sprachkritik formulierten Skepsis an der dominanten »Sprachabhängigkeitsthese«172 des Denkens tritt – zumindest in Hartmanns rekonstruktiver Zurichtung – erstmals offen zutage, »dass sich die philosophisch/kulturtheoretische Reflexion ihre eigenen medialen Bedingungen, nämlich [die; C. F.] der okzidentalen Schriftkultur, bislang zuwenig bewußt gemacht hat«173. In der tradierten Verabsolutierung von Geist/ Denken wird jene symptomatische Grundlagenvergessenheit gegenüber den eigenen Reflexionsbedingungen wirkungsmächtig, die Philosophieren nur als letztlich immaterielle Größe figurieren und imaginieren kann. Wo hingegen sich Geist bereits als unhintergehbar rückgebunden an das Medium, in dem sich Geistigkeit jeweils nur artikulieren kann, begreift, ist ein reflexives Moment aufgerufen, das jedoch solange unvollständig bleiben muss, solange es die historisch und kulturell je spezifischen Artikulationsweisen, -bedingungen und -technologien, kurz: deren Materialität, nicht hinreichend mitreflektiert, sondern mit einer (literal fundierten) Sprachlichkeit kurzschließt. Mit der sprachkritischen Wende wurde erstmals die hochgradige Relativität sprach- und schriftfixierter Reflexionsarbeit ins kritische Bewusstsein gerückt, was die Aufwertung nichtsprachlicher Kodifikationssysteme wie Bild, Zahl, Algorithmus etc. strukturlogisch bedingt nach sich führte. Angesichts der historischen Tatsache, dass nicht-sprachbasierte Medien längst konstitutive Prägungskraft für eine »medienbestimmte[.] Kultur und Lebenswelt«174 der Moderne für sich beanspruchen konnten, wirkte die Aufkündigung des Sprach- und Schriftmonopols in der modernen Philosophie letztlich nur wie ein nachträgliches Eingeständnis der eigenen begrenzten Relevanz. Das viel beschworene »Ende der Gutenberg-Galaxis«175 bringt somit die Ablösung des bisherigen Textprimats in der Philosophie zwangsläufig mit sich. Die »Ko-Evolution von Medien und Gesellschaft in der Technokultur«176 reflektierend zu begleiten und dabei die Pluralität medialer Organisationsformen in der Moderne gegen das Re-

170 171 172 173 174 175

F. Hartmann: Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 50. Ebd. Ebd., S. 111. Ebd., S. 25. Ebd., S. 18. Vgl. Herbert Marshall McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Düsseldorf/Wien: Econ 1968 und Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München: Fink 1995. 176 F. Hartmann: Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 14.

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formationsideal einer rein literal erschließbaren Welt ins Recht zu setzen, muss laut Hartmann also als genuin ›medienphilosophische‹ Aufgabe verstanden und angenommen werden. ›Medienphilosophische‹ Traditionsstiftung bedeutet somit »eine Rekontextualisierung der philosophischen Fragestellungen im Rahmen der geänderten Bedeutung von Kommunikation auf neuen technischen Grundlagen«177. Bei Fietz wie bei Hartmann findet sich eine spezifische Variante des Kontinuitätsparadigmas, der eine implizite Gleichschaltung von ›Medienphilosophie‹ mit (materialistisch-technizistischer) ›Medientheorie‹ zugrunde liegt. Wo Martin Seel und andere Verfechter einer Traditionslinie des philosophischen Nachdenkens über Medien ihrerseits Sprachlichkeit wie Schriftlichkeit ausdrücklich als mediale Erscheinungsformen ansetzen (müssen),178 konstruieren Rudolf Fietz und deutlicher noch Frank Hartmann einen diskursgeschichtlichen Bruch, mehr noch: ein basales Schisma zwischen schrift- und sprachorientierter Erkenntnisreflexion einerseits, einer auf die jeweilige Materialität pluraler Zugangsweisen zur Welt abhebenden modernen (Kultur-)Kritik an der Hegemonie des alphabetischen Kodes andererseits. An der bei den jeweiligen Referenzautoren nachgezeichneten Inthronisierung von Musik, Zahl, (Techno-)Bild oder digitalem Kode zum jeweils ›Anderen‹ von Sprache und Schrift wird für Fietz wie für Hartmann eine vorgängige (Selbst-)Kritik am Logo- und Phonozentrismus179 der europäischen Philosophie einsichtig, die sodann prospektiv als Leitparadigma einer gegenwärtigen und/oder künftigen ›Medienphilosophie‹ in Anschlag gebracht wird. ›Medienphilosophie‹ wäre aus der Perspektive dieser beider Autoren mithin eine in der modernen Sprachskepsis wurzelnde Abweisung der – nachträglich als rein kulturell und historisch bedingt dekonstruierten – Gleichsetzung von Denken und Sprache zugunsten einer die medialen (beziehungsweise medientechnologischen) Dependenzen jedweden Weltzugangs akzentuierenden Erkenntnispraxis. Rückwirkend als ›Medienphilosophie‹ proklamiert wird somit, was der späteren ›medientheoretischen‹ Hypostasierung des Mediums zur unhintergehbaren Matrix aller kulturellen Teilpraxen gleichsam als vorgängiger Gründungstext die Tiefendimension historischer Legitimation zu verleihen imstande erscheint. Fundamentale Funktion einer derart verstandenen ›Medienphilosophie‹ wäre es denn auch, jene »historische Kontingenz von Kulturtechniken«,180 die das Primat der textbasierten Erkenntnistheorie

177 Ebd., S. 27. 178 Vgl. M. Seel: »Vor dem Schein kommt das Erscheinen« (wie Anm. 39), S. 772-776 und M. Seel: Sich bestimmen lassen (wie Anm. 39), S. 146-166. 179 Vgl. J. Derrida: Grammatologie (wie Anm. 116), S. 25-26. 180 F. Hartmann: Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 25.

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bislang »verschleiert hat«,181 nachhaltig auf die Agenda philosophischer Tätigkeitsfelder zu setzen. Die spezifische Leistung dieser beiden Herkunftsbestimmungen liegt in ihrer höheren Differenzierungskraft gegenüber totalisierenden Kontinuitätsstiftungen wie gegenüber der Behauptung einer erstmaligen philosophischen Medienreflexion durch den aktuellen (Inter-)Diskurs gleichermaßen. In der sprachkritischen Fokussierung des je konstruierten Traditionsstranges wird zudem die potenzielle Differenz zwischen sprachbasierten und anderen Kodifizierungsweisen als Problemhorizont einer jeden klaren Identifikation von Philosophie und Medienwissenschaft plausibel und historisch begründet abgebildet.

Pragmatische und theoretische Konzepte von Medienphilosophie Wie bereits angeklungen, mutmaße ich, dass ›Medienphilosophie‹ möglicherweise im Sinne eines lose strukturell gekoppelten Forschungskomplexes als ›Antwortversuch‹ auf disziplinäre Desiderate gleichsam der Philosophie wie der Medienwissenschaft fungiert. Im Rekurs auf medienphilosophisches Explikationspotenzial, so der Tenor der eingangs formulierten Arbeitshypothese, ließen sich Defizite innerhalb der eigenen Wissenschaftsdomäne beheben. Diese Annahme lässt sich exemplarisch anhand von zwei markanten Konzepten einer ›Medienphilosophie‹ eruieren. Zum einen handelt es sich um Mike Sandbothes Pragmatische Medienphilosophie. Grundlegung einer neuen Disziplin im Zeitalter des Internet;182 zum anderen um Matthias Vogels Medien der Vernunft. Eine Theorie des Geistes und der Rationalität auf Grundlage einer Theorie der Medien183. Sowohl Sandbothe als auch Vogel geben ein instruktives Beispiel dafür ab, dass ›medienphilosophische‹ Fragestellungen nunmehr sukzessive auch formaliter als Themata der akademischen (Weiter-)Qualifizierung in der philosophischen Scientific Community akzeptiert werden. Die Abhandlung von Sandbothe erweist sich als die erste dezidiert medienphilosophische Habilitationsschrift im deutschsprachigen Raum überhaupt; die Arbeit von Vogel stellt eine der wenigen philosophischen Dissertationen mit explizit medientheoretischem Fokus dar. In Anbetracht des gemeinhin dominierenden Strukturkonservativismus im Wissenschaftsbetrieb184 ist dieser Umstand sicherlich nicht als gering zu erachten.

181 182 183 184

Ebd. Vgl. M. Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie (wie Anm. 20). Vgl. M. Vogel: Medien der Vernunft (wie Anm. 20). Vgl. zum System Wissenschaft unter anderem Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740-1890, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 7-93; Wolfgang Krohn/Günter Küppers: Die Selbstorganisation der Wissen-

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Beide Autoren reflektieren jeweils auf eine konstitutive Misere des kurrenten philosophischen Diskurses. Sandbothe konzentriert sich auf ein zweifaches, verhältnismäßig neues disziplinäres Forschungsinteresse. In formal-institutioneller Hinsicht intendiert er, »die Grundlegung von Medienphilosophie als akademische Disziplin im Kontext der Auseinandersetzung zu situieren, die gegenwärtig um das Selbstverständnis der Fachphilosophie geführt wird«185. Sandbothe intoniert ›Medienphilosophie‹ nicht allein als neue Bereichs- oder Fundamentaldisziplin innerhalb des vermeintlich oder tatsächlich überkommenen kanonischen Fachverständnisses der traditionellen Philosophie; vielmehr möchte er ein seiner Auffassung nach dominantes ›theoretizistisches‹ Wissenschaftsverständnis transzendieren und ›Medienphilosophie‹ im Rekurs auf eine vorgängige breite Antizipation – Sandbothe spricht von »Renaissance« –186 des Neopragmatismus USamerikanischer Provenienz konzeptualisieren. In theoretisch-konzeptueller Hinsicht konturiert Sandbothe einen triadischen, Luhmanns systemtheoretischer Mediennomenklatura nicht unähnlichen Medienbegriff,187 der einen Konnex zwischen sinnlichen Wahrnehmungsmedien wie Raum, Zeit und die fünf Sinne, semiotischen Kommunikationsmedien wie Bild, Sprache, Schrift und Musik sowie technischen Verbreitungsmedien wie Buchdruck, Radio, Fernsehen, Computer und Internet proklamiert. Während Mike Sandbothe bewusst mit dem der Schulphilosophie eingeschriebenen evolutionären (Selbst-)Verständnis von Diskurskontinuität bricht und explizit bestrebt ist, ›Medienphilosophie‹ als einen neuen disziplinären Leittopos zu initiieren, folgt Matthias Vogel weit gehend implizit dem hergebrachten genealogischen Verlaufsmodell der Philosophie. Somit nimmt es nicht wunder, dass sich Vogel von der Anlage seines Unternehmens her auf ein ›klassisch‹ zu nennendes theoretisch-konzeptuelles Erkenntnisinteresse, nämlich die Suche nach einem adäquaten Verständnis von ›Rationalität‹ im Problemhorizont einer Theorie des Geistes konzentriert. In bewährt philosophischer Manier zentriert sich Vogels Studie um die Frage: Was Rationalität sei? Jedoch fasst er dabei – und dies erlaubt ihm erst die Rubrizierung des eigenen Versuches unter eine Diskursformation ›Medienphilosophie‹ – die Bedingungsmöglichkeiten der Rationalität weiter als in der bislang vorherrschenden Reduktion auf rein sprachliche Phänomene. Seine Überlegungen haben zur Prämisse, dass eine umfassender verstandene ›Rationalität‹ über ein Moment von »Produktivität« verfüge, das mitnichten von der Fähigkeit oder Befähigung zur Sprache abhänschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 28-65 sowie N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 76), S. 271-361. 185 M. Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 13. 186 Vgl. Mike Sandbothe: »Einleitung«, in: Mike Sandbothe (Hg.): Die Renaissance des Pragmatismus. Aktuelle Verflechtungen zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie, Weilerswist: Velbrück 2000, S. 7-28. 187 Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (wie Anm. 12), S. 190-412.

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ge. Aus dieser Absetzungsbewegung gegenüber reduktionistischen Dispositionen des ›Mentalen‹, nicht zuletzt analytisch-kognitivistischer Couleur, folgert er, dass die Philosophie mit Zwangsläufigkeit ein Modell des Geistes zu begründen habe, das insofern eine höhere Komplexität aufweise, als hierin den gemeinsamen Charakteristika sprachlicher und nichtsprachlicher Äußerungen sowie intentionaler Zustände entsprochen wird. Gefordert ist mithin ein »auf der Grundlage des intentionalistischen Vokabulars«188 fußendes Konstrukt, das sich zwar einerseits abstrakter ausnimmt als ein Begriff der Sprache, andererseits jedoch spezifischer ist als Begriffe, die auf wahrnehmbare Merkmale von Äußerungen abstellen. In Vogels Konzept soll eben dies ein »Begriff des Mediums«189 bewerkstelligen. Diese Bemühung um die Integration des Außersprachlichen in den Kanon der Rationalitätskriterien wird hier derart gefasst, dass es nach Vogels Einschätzung letztlich sogar darum gehen muss, »begriffliche Mittel zu entwickeln, die der Tatsache Rechnung tragen, daß mit guten Gründen auch die Entwicklung der (modernen) Kunst als eine Dimension der Entfaltung von Rationalität verstanden wird«190. Ersichtlich nehmen sich Sandbothes und Vogels ›medienphilosophische‹ Positionen in puncto Konzept, Legitimation, Perspektive und Gegenstandsdefinition recht verschiedenartig aus. In gewisser Hinsicht markieren sie dadurch einen Gegensatz und Spannungsbogen, der für das gegenwärtige Diskursgefüge der Medienphilosophie kennzeichnend sein mag. Gemäß Sandbothes eigener Klassifikation191 lässt sich eine pragmatische von einer theoretizistischen Beschreibung von ›Medienphilosophie‹ unterscheiden. Während eine pragmatische Begründung der ›Medienphilosophie‹ insbesondere darauf abzielt, »die medientheoretisch gewendeten Grundfragen der modernen Philosophie auf die soziopolitischen Handlungshorizonte zurückzubeziehen, von denen sich demokratische Gesellschaften leiten lassen«,192 richtet eine theoretizistische Bestimmung der Medienphilosophie ihr zum Teil kantianisch anmutendes Augenmerk auf »ein professionelles Verständnis von Medienphilosophie […], für das die theoretische Reflexion auf die Möglichkeitsbedingungen der Erzeugung von Sinn und der Konstitution von Wirklichkeit zum akademischen Selbstzweck geworden ist«193.

188 M. Vogel: »Medien als Voraussetzungen für Gedanken« (wie Anm. 35), S. 115. 189 M. Vogel: Medien der Vernunft (wie Anm. 20), S. 12. 190 Ebd., S. 13. 191 Hier rekurriert Sandbothe auf Wolfgang Welsch: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995. 192 M. Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 12. 193 Ebd.

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Für die weitere Diskussion apostrophiere ich – hierin dem Sandbothe’schen Differential folgend –194 Sandbothe als ›Pragmatisten‹ und Vogel als ›Theoretizisten‹ im ›medienphilosophischen‹ Diskursgefüge. Beide Positionen lassen sich nach Maßgabe von Selbstbeschreibung, Problemexposition, Argumentationsduktus und Schlussfolgerungen aneinander diskutieren und schärfen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen symmetrischen Vergleich, vielmehr um ein Differenzverhältnis, dessen Kontrastierungspotenzial ausgeschöpft werden soll, um Aufschlüsse über Konvergenzen und Divergenzen in ihren ›medienphilosophischen‹ Konzepten zu gewinnen. In seiner institutionshistorischen Verortung der ›Medienphilosophie‹ als neuer Bereichs- oder Fundamentalphilosophie dient Sandbothe die Leitopposition von Pragmatismus und Theoretizismus als Explikationsbasis. Er diagnostiziert ein wirkungsmächtiges Spannungsgefüge, dem die sich just konstituierende Disziplin ›Medienphilosophie‹ ausgesetzt sei. Das Spiel der Kräfte resultiere wesentlich aus dem inhärenten Transformationsprozess der modernen Fachphilosophie: »Diese Übergangssituation ist dadurch geprägt, dass neben das lange Zeit dominierende theoretizistische Selbstverständnis der akademischen Philosophie, in dessen Zentrum die selbstzweckhaft gewordene Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis steht, zunehmend pragmatische Alternativentwürfe treten.«195

Aus dem Insistieren auf einer theoretizistischen Spezialisierung in der Fachphilosophie resultiere, dass das vor allem durch Kant repräsentierte breite Verständnis von Philosophie, das ausdrücklich pragmatische Perspektiven beinhaltet, sukzessive von der Profession der akademischen Philosophie suspendiert worden sei. Die aktuelle transgressive Bewegung in der Fachphilosophie, evoziert durch medienphilosophische Reflexionen, zeitige jedoch tief greifende und nachhaltige Folgen und Konsequenzen für die Disziplinenstruktur. Sandbothe diskutiert und differenziert die sich gegenwärtig abzeichnenden Standardpositionen, allen voran die von mir oben referierten Modelle von Reinhard Margreiter,196 Sybille Krämer197 und Martin Seel,198 die das Paradigma der ›Medienphilosophie‹ grosso modo zur Reformulierung und Respezifizierung ›klassischer‹ Probemstellungen der Epistemologie, Sprach-, Kulturphilosophie, Philosophischen Anthropologie etc. nutzen möchten. Vor diesem Hintergrund gewinnt für 194 Vgl. M. Sandbothe: »Der Vorrang der Medien vor der Philosophie« (wie Anm. 55), S. 186. 195 M. Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 15. 196 Vgl. auch R. Margreiter: »Medien/Philosophie« (wie Anm. 36). 197 Vgl. weiter S. Krämer: »Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung?« (wie Anm. 28). 198 Vgl. zudem M. Seel: »Eine vorübergehende Sache« (wie Anm. 23).

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Sandbothe dann gerade der Diskursstrang an Prominenz, der einer »Rehabilitierung des pragmatischen Selbstverständnisses der modernen Fachphilosophie«199 das Wort redet. Aus der Rezeption des klassischen Pragmatismus (Charles Sanders Peirce,200 William James201 und John Dewey202) respektive des Neopragmatismus (Wilfrid Sellars203 und Willard Van Orman Quine204 beziehungsweise Richard Rorty und Donald Davidson205) generiert Sandbothe eine Reihe von Maximen, die – auf einen Medienbegriff appliziert – einen doppelten Fokus sichtbar machen: »Zum einen können wir Wörter aus theoretizistischer Perspektive als Erkenntnismedien und Vermittlungsinstanzen auffassen, durch die hindurch sich uns – vorkantisch – die Wahrheit des Seins oder – nachkantisch – die Wahrheit der Erscheinungen erschließt. […] Zum anderen können wir Wörter aus pragmatischer Perspektive als Medien in einem handwerklichen Sinn verstehen, indem wir sie [...] als ›Programm für neue Arbeit‹ und als Mittel im Sinn von Werkzeug gebrauchen, ›durch welche existierende Realitäten verändert werden können‹.«206

Im Gegensatz zu Mike Sandbothes Alternativkonzept, das für eine aktive Partizipation an den pragmatisch gewendeten Weisen unserer Wirklichkeitsveränderung plädiert, kontinuiert Matthias Vogel anhand der Rationalitätsproblematik den traditionellen Fragehorizont der Möglichkeitsbedingungen menschlicher Wirklichkeitserkenntnis. Er positioniert sich damit im Diskurskontext der ›Aufklärung‹ und einer normativ legitimierten Theorie von Rationalität, die trotz oder gerade wegen aller postmodernistischer Dekonstruktionsversuche, so Vogels Einlassung, nicht eilfertig aufgegeben werden dürfe. Eingedenk der dem Menschen eigenen Produktivität sui generis gelte es, diese rationalitätsinduzierte Setzung umso mehr zu bewahren, als dass sich Lernprozesse lediglich mittels normativer Parameter von reinen Prozessen des Wandels unterschieden. In Sinne einer vollständigen Begründung von ›Rationalität‹ erachtet Vogel es schlechterdings 199 M. Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 48. 200 Vgl. Charles Sanders Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. 201 Vgl. William James: Pragmatismus. Ein neuer Name für einige alte Denkweisen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001. 202 Vgl. John Dewey: Kunst als Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988 und John Dewey: Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik, Weinheim/Basel: Beltz 2000. 203 Vgl. Wilfrid Sellars: Der Empirismus und die Philosophie des Geistes, Paderborn: mentis 1999. 204 Vgl. Willard Van Orman Quine: Theorien und Dinge, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985. 205 Vgl. Donald Davidson/Richard Rorty: Wozu Wahrheit? Eine Debatte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. 206 M. Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 109 (Hervorhebung im Original).

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als unumgänglich, den Menschen nicht allein als rational oder vernunftbegabt zu attributieren, sondern ihn darüber hinaus als zur künstlerischen Tätigkeit und zur ästhetischen Erfahrung befähigt zu charakterisieren, worüber künstlerische Kreativität und ästhetisches Empfinden eben zum weiteren Ausweis menschlicher Rationalität avancieren. Um von vornherein den Fallstricken einer auf das begriffliche Moment fixierten Vernunftkritik zu entgehen, pluralisiert Vogel die Perspektiven seiner Theorie der Rationalität und avisiert Sprache als ein durchaus – wie er konzediert – exponiertes, aber eben nur als ein Instrument des Verstehens. Bedingt durch den Sachverhalt, dass sich ›Verstehen‹ als ein Moment der Intersubjektivität ausnimmt, werde es, so Vogel, weiter erforderlich, diejenigen Mittel zu analysieren, die als nichtsprachliches Analogon zur Sprache, jedoch gleichwohl als Instrument der sprachlichen Kommunikation anzusehen seien: »Ohne in die Unmittelbarkeit der Bewußtseinsphilosophie zurückzufallen, versuche ich, mit einer medientheoretischen Untersuchung die ganze Breite der Medien, in denen sich die Tätigkeit des Geistes äußern kann, in den Blick zu bekommen.«207 Dass jedoch, anders als bei Vogel zu beobachten, dezidiert (medien-) theoretizistische Ansätze vor allem in Diskurskontexten über den Wandel von Kultur, Kunst und Wahrnehmung sehr wohl en vogue sind, stellt der kursorische Vergleich zu Georg Christoph Tholens Essay Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen208 noch einmal eindrücklich unter Beweis. Diese Abhandlung, die man wohl eher unter das Rubrum der ›Medientheorie‹ oder ›-wissenschaft‹ zu subsumieren hätte, die sich jedoch zweifelsohne auch im medienphilosophischen Diskurs als anschlussfähig erweisen dürfte, stellt nicht mehr – wie etwa noch die ›klassische‹ Wirkungsforschung – die Frage nach den Effekten von Einzelmedien, sondern gleich nach den medialen Bedingungen von Kultur und Kunst schlechthin. Hierdurch schärft sich der Blick auf das interagierende Moment in Kulturund Technikgeschichte sowie auf dessen historische Ausdifferenzierungsleistung – allesamt produktive Perspektiven auf den Themenkomplex, die Vogels intentionalistischer Theorieausrichtung notwendig entgehen. Wo also Matthias Vogel strukturell in der abstrakten Sphäre einer theoretizistischen Fixierung auf sprachlichen und nichtsprachlichen Verstehenskompetenzen verharrt, wendet Mike Sandbothe seinen Vorschlag einer pragmatisch fundierten ›Medienphilosophie‹ am Beispiel des (hierbei als Transmedium konzeptualisierten) Internets in der konkreten Forschungspraxis an. Für Sandbothe sieht sich die medienphilosophische Disziplin vornehmlich zwei Imperativen gegenüber.

207 M. Vogel: Medien der Vernunft (wie Anm. 20), S. 113. 208 Vgl. Georg Christoph Tholen: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 7-18.

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Diese wären »zum einen die Herausforderung, die von dem aktuellen Medienwandel ausgeht, in dessen Zentrum das Internet steht; zum anderen die Herausforderung, die sich mit dem Projekt der Ausbildung einer integralen Konzeption von Medienphilosophie verbindet, in der pragmatische und theoretizistische Traditionen des philosophischen Selbstverständnisses systematisch zueinander in Beziehung gesetzt werden«209.

Zur (Re-)Konstruktion der transmedialen Verfasstheit des Netzmediums rekurriert Sandbothe auf die seither immer wieder bemühte terminologische Opposition Herbert Marshall McLuhans von »kühlen« und »heißen Medien« aus den 1960er Jahren.210 Um nicht Gefahr zu laufen, dem Theoretizismus McLuhans anheim zu fallen, übt er sich in einer pragmatischen Rediskursivierung der Mediendifferenz des kanadischen Medientheoretikers. So pointiert er, dass Nutzer erst durch ihren sozial konstituierten Umgang mit Medien definiert werden, wenn man so will performativ, woraus im Hinblick auf den Definitionshorizont des Medialen folgt: »Medien sind aus dieser gebrauchstheoretischen Sicht nicht als wahrnehmungstechnische Erweiterungen von Sinnesorganen, sondern vielmehr als soziale Konstruktionen zu verstehen.«211 Transponiert auf die transmediale Verfassung des Internets bedeutet dies, dass Technik und Kultur eine sich wechselseitig stabilisierende Verbindung eingehen, die indes schon vorab mit den konventionellen Massenmedien etabliert wurde. Abschließend eruiert Sandbothe die soziopolitischen Implikationen, die eine Pragmatisierung des Mediengebrauchs für das alltägliche Selbst- und Weltverständnis des common sense kommandieren. Dabei thematisiert er wirtschafts-, bildungs- sowie medienpolitische Voraussetzungen, auf deren Basis sich womöglich demokratisch begründete Kommunikationsverhältnisse im Zeitalter des Internets – medienphilosophisch – besser gestalten ließen. Wie konzeptuell offensiv Sandbothes Konzept in der Selbstbeschreibung angelegt ist, verdeutlicht ein weiterer Vergleich zu Gordon Grahams kleiner, thematisch einschlägiger Monografie The Internet. A Philosophical Inquiry.212 Gordon kontextualisiert das Netzmedium innerhalb einer mitunter konventionell anmutenden ›Technikphilosophie‹ und diskutiert unter dieser Ägide den ›Ort‹ des Internets in der Kultur und ihre Beziehung zu Wissen, politischer Entscheidungsfindung usw. Ausgeblendet bleiben muss hierdurch jedoch die normierende und nominative Kraft sozialer Pragmatik, die im konkreten Mediengebrauch ihr definitorisches Potenzial voll entfaltet, wie Sandbothe aufzeigt.

209 210 211 212

M. Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 152. Vgl. H. M. McLuhan: Die magischen Kanäle (wie Anm. 162), S. 35-47. M. Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 163. Vgl. Gordon Graham: The Internet. A Philosophical Inquiry, London/New York: Routledge 1999, S. 21-38.

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Bei aller konzeptuellen Divergenz ist es frappierend, dass Mike Sandbothe und Matthias Vogel, was die medientheoretische Konfundierung ihrer jeweiligen ›medienphilosophischen‹ Entwürfe anbelangt, im pragmatischen Diskurs Antworten auf unterschiedliche Desiderate finden. Während sich Sandbothe vom explanatorischen Potenzial des (Neo-)Pragmatismus für seine Problemexposition überzeugt zeigt, macht sich Vogel als einzige für ihn konsistente Theorieofferte Deweys Theorie der ästhetischen Erfahrung213 zu Eigen. Dieser methodologischen Wahl geht eine kritische Würdigung des kurrenten Spektrums von Medientheorien voraus, die sich nach Maßgabe ihrer Prominenz als erschreckend destruktiv erweist. Vogels notierten Lektüreimpressionen nach zu urteilen, bei der sich die Vergleichshinsichten der Medientheorien nicht durchgängig als plausibel ausnehmen, sind in Sonderheit Talcott Parsons’,214 Jürgen Habermas’,215 Niklas Luhmanns216 und Herbert Marshall McLuhans217 Positionen als abschlägig zu bewerten: McLuhans Medienbegriff gilt Vogel als zu wenig elaboriert und die soziologischen Medientheorien von Parsons über Habermas bis zu Luhmann träfen konzeptuelle, in sich widerstreitende Vorentscheidungen, so dass sie zu seiner Fragestellung kaum beitragen könnten. Allein Deweys theoretische Annotationen zur Theorie der ästhetischen Erfahrung böten produktive Anschlüsse für einen brauchbaren Medienbegriff. Dessen Vorschlag, in Medien das Fundament eines Prozesses am Werk zu sehen, gereicht Vogel insoweit zum Vorteil, als dass dieser Vorgang der Ausbildung menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten zupass kommt, was im Sinne einer medientheoretischen Basierung von ›Rationalität‹ von eminenter Relevanz sei. Zwei unterschiedliche Perspektivierungen sollen dies präzisieren: »Denn einerseits ist klar, daß den Erfahrungsmöglichkeiten auf seiten der Künstler und Rezipienten Handlungsmöglichkeiten auf seiten der Künstler korrespondieren, die sich erst unter Bedingungen der sozialen Etablierung von Medien ergeben.«218 An dieser Stelle wird die Parallele zu Sandbothe, wenn auch mit anderer Akzentsetzung, offensichtlich! – »Andererseits aber verbindet sich diese Überlegung bei Dewey mit einer nor213 Vgl. J. Dewey: Kunst als Erfahrung (wie Anm. 202), S. 319-346. 214 Vgl. Talcott Parsons: Das System moderner Gesellschaften, Weinheim/ München: Juventa 2000, S. 12-42. 215 Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 141-151, 369-452 und Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 11-68. 216 Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme (wie Anm. 102), S. 191-216 sowie Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 9-23, 138-182. 217 Vgl. H. M. McLuhan: Die magischen Kanäle (wie Anm. 162) und H. M. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis (wie Anm. 175). 218 M. Vogel: Medien der Vernunft (wie Anm. 20), S. 158 (Hervorhebung im Original).

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mativen Komponente, der Überlegung nämlich, daß die Entfaltung von ästhetischen Handlungsspielräumen ein Wert ist, der keiner externen Rechtfertigung bedarf.«219 Um den konzedierten Dilemmata und Inkonsistenzen der arrivierten Medientheorien ein angemessenes Theoriekonstrukt entgegenzusetzen, unternimmt Vogel den Versuch, eine Makrostruktur zu identifizieren, die für sämtliche Medien konstitutiv sei, um hieraus einen allgemeinen Medienbegriff zu destillieren und diesen für eine Analyse der Prozesse des Verstehens nichtsprachlicher Handlungen – in erster Linie des Verstehens von Kunstwerken – zu adaptieren. In einer sehr komplexen Reihe von Ableitungen, die im hier vorgegebenen Rahmen nicht einmal ansatzweise durchexerziert werden kann, gewinnt Vogel hierüber schließlich einen Begriff des Kunstwerkes als Mittel einer Form von Kommunikation, die in fundamentalen Interaktionsprozessen gründet. In diesen Interaktionsprozessen erst avancieren Menschen zu Wesen, die Geist besitzen. Von dort aus werde deutlich, dass es sich bei Sprache um eine spezifische Form der medialen Kommunikation handle; sie baue jedoch auf einer nichtsprachlichen Struktur des Geistes auf, die in elementaren kommunikativen Beziehungen begründet sei. Eine letzte große theoretische Bewegung führt Vogel an seinen Ausgangspunkt zurück, worin er sich letztendlich bestrebt zeigt, die Medientheorie für ein neues Konzept von ›Rationalität‹ und der Reformulierung des ›Projektes der Aufklärung‹ in Anschlag zu bringen: »Das vorgeschlagene Konzept soll vielmehr deutlich machen, daß man mit dem Gedanken ernst machen kann, daß ästhetische Kommunikation eine vollwertige Dimension der Entfaltung der Rationalität darstellt.«220 Medien werden bei Vogel also nicht substanzialistisch, sondern strikt funktionalistisch gefasst, allerdings zu dem Preis, dass die kategoriale Differenz zwischen sozialen Teilpraxen (wie Kunst) und deren Instrumentarien dadurch letztlich hinfällig wird. Was Vogel hierdurch für sein Projekt einer Reformulierung der Rationalität zu gewinnen vermag, büßt er im Hinblick auf eine medientheoretisch präzis formulierbare und differenzierungsfähige Konzeptualisierung sogleich wieder ein. Dem gegenüber entfaltet Sandbothes ›gebrauchstheoretische‹ Definition des Mediums als Resultat sozialer Konstruktionsarbeit ein größeres Distinktionspotenzial in systematischer wie in historischer Hinsicht, lässt sich aber – wie von Sandbothe selbst programmatisch eingeräumt – dadurch eben nicht für ›theoretizistische‹ Fragestellungen operationalisieren. Während Sandbothe sich von der Kontinuitätsobsession der akademischen Schulphilosophie ausdrücklich distanziert und angesichts deren transitorischer Situiertheit die Neuinitiierung einer ›Medienphilosophie‹ favorisiert, kontextualisiert sich Vogel weithin im inhärenten Problemhorizont der fachphilosophischen Tradition. Unbeschadet aller Differenzen und Nuan219 Ebd. (Hervorhebung im Original). 220 Ebd., S. 398-399.

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cen zwischen pragma(-tizis-)tisch orientierten Entwürfen einerseits, theore(-tizis-)tisch versierten Entwürfen andererseits, scheint sich jedoch – und hierfür wären Sandbothe, Vogel und Tholen als Belege anzuführen – im aktuellen ›medienphilosophischen‹ Diskurs eine merkliche Tendenz abzuzeichnen, in der medientheoretischen Konsolidierung auf das pragmatische Explanationspotenzial zu setzen. Dies schreibt eine ›Bezüglichkeit‹ der Reflexionsarbeit in den Diskurs ein, die der eigenen Fundamentalerkenntnis über die mediale Verfasstheit jedweden Weltzugangs, methodisch Rechnung zu tragen beginnt.

Wechselseitige Einschreibung des Geistes und des Materiellen Grundsätzlich stellte sich in diesem Anwendungskapitel die Frage: Gibt es überhaupt Medienphilosophie, gar eine ›systematische‹ Medienphilosophie, innerhalb derer ein jedes Medium (wie beispielsweise Schrift, Sprache oder Internet) seinen, ihm gebührenden Platz zugewiesen bekommt? Redet eine philosophische Orientierung auf je einzelne Medien, wie Kritiker zu bedenken geben könnten, nicht einer fatalen Rückwendung das Wort? Soll heißen: Macht man sich dadurch nicht qua analogia eben jene reduktionistischen Argumentationsmodi singulärer Medientheorien zueigen, die ihren Bedeutungsüberschuss zu einem Medium unter Negierung kontextueller Referenzen zu behaupten suchen? Und gehen damit nicht in letzter Konsequenz Ansätze einer reflexiven Mediensystematisierung verloren, die gerade Dependenz-, Zirkulations- und Konkurrenzrelationen von Medien sowie ihre Integration in historisch sedimentierte Medienkonfigurationen untersuchen? Wie leicht zu gewärtigen, ist die Gefahr groß, den latenten Verwerfungen eines solch ambitionierten Vorhabens anheim zu fallen. Doch das Gros der oben verhandelten Positionen zeigt sich den versteckten Fallstricken der Problematik als durchaus bewusst; denn ihr genuines Erkenntnisinteresse konzentriert sich auf eine Medienphilosophie mit mehreren Dimensionen des Medialen. Nach Mike Sandbothe soll Medienphilosophie mit systematischem Anspruch – die Nähe zu den Luhmann’schen Medienbegriffen liegt auf der Hand –221 Zusammenhänge erfassen zwischen folgenden Komplexen: • sinnlichen Wahrnehmungsmedien (wie Raum, Zeit und die fünf Sinne); • semiotischen Kommunikationsmedien (wie Bild, Sprache, Schrift und Musik) sowie

221 Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (wie Anm. 12), S. 190-412.

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• technischen Verbreitungsmedien (wie Stimme, Buchdruck, Radio, Film, Fernsehen, Computer und Internet).222 Bei den meisten Beiträgen in der aktuellen Debatte handelt es sich um Konzepte, die sich zuvörderst unter das Label einer allgemeinen Medienphilosophie subsumieren lassen. Durch das Attribut ›allgemein‹ soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich um Aussagen grundlegender Art handelt, die – mehr oder minder – Gültigkeit für den gesamten Gegenstandsbereich einer Medienphilosophie sui generis für sich reklamieren (können). Um mögliche medienphilosophische Indizes zu diskursivieren, wurden ausgewählte Positionen, die von genalogisch-historischen Anfängen (medien-)philosophischen Nachdenkens bis an die Schwelle des 21. Jahrhunderts reichen und für eine Medienphilosophie als relevant zu erachten waren, zielorientiert (re-)konstruiert und für die aktuelle Diskussion fruchtbar gemacht. In Anbetracht des unterentwickelten Forschungsstandes im Bereich einer Medienphilosophie, ganz zu schweigen von einer mit systematischen Vorzeichen, hatte sich meine Darstellung in den konzeptuellen Ansprüchen zu bescheiden und musste sich fürs Erste mit explorativen Hinweisen auf eine systematische Medienphilosophie begnügen. Aus dem vorgängig umrissenen Diskursgefüge lassen sich – ungeachtet seiner weiteren Entwicklung und letztendlichen disziplinären Verortung – immerhin erste Konturen und Tendenzen im Hinblick auf den eingangs aufgeworfenen Fragekanon ablesen. Das dem Projekt der ›Medienphilosophie‹ inhärente Korrekturpotenzial für die in diesem Interdiskurs sich strukturell koppelnden Disziplinen Medienwissenschaft und Philosophie lässt sich nach beiden Seiten hin profilieren: als ›Wiedereinschreibung des Geistes in die Medienwissenschaft‹ und als ›Einführung des MateriellTechnischen in die Philosophie‹. Der kurrenten ›Medientheorie‹ wird in diesem Zuge abverlangt, Medien nicht länger nur in ihrer technischen Materialität fundiert zu verstehen, sondern als Mittel der individuellen wie kollektiven Handlungs-, Wahrnehmungs- und Erkenntniskoordination beziehungsweise -konstitution anzuerkennen. Dies bedingt Neuformulierungen von Kausalitätsund Finalitätsbestimmungen zwischen Gesellschafts- und Mediengeschichte, die über allzu reduktionistische Setzungen einer verabsolutierten Prägungskraft der Medien merklich hinauszuweisen haben werden. Der Philosophie wiederum zeigt das neue Interparadigma die Limitierungen einer rein ›theoretizistischen‹ Fokussierung auf gleichsam ›körperlose‹ Rationalitätsprozesse überdeutlich auf und zwingt sie dadurch, ihre Reflexi-

222 Vgl. M. Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 12.

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onsarbeit um die Analyse des medialen ›Unterbaus‹ erkenntnisgeleiteter Weltzugänge zu erweitern. In Abstraktion der spezifischen Diskurse eines sowohl epistemischen als auch historischen Anbeginns medienphilosophischen Nachdenkens könnte gerade auch die kurrente Medienphilosophie von den Resultaten Frank Haases223 und Werner Konitzers224 profitieren. Das inhärente Korrekturpotenzial für die in diesem Interdiskurs sich lose verkoppelnden Disziplinen Medienwissenschaft und Philosophie lässt sich in zwei Richtungen hin extrapolieren: zum einen als ›Einführung des Logos‹ in die Medienwissenschaft, zum anderen als ›Wiedereintritt des Lautschriftlichen und des Medialen‹ in die Philosophie. Allerdings wird das spezifische Potenzial Haases und Konitzers nicht zuletzt davon abhängen, inwieweit deren medien- beziehungsweise zeichentheoretische Ansätze durch weitere medienarchäologische und kulturhistorische Konfundierungen, insbesondere was die (Ent-)Kopplung von Schrift und Stimme als Kulturund Denktechniken in der Antike anbelangt, Bestätigung finden? Die genealogischen Diskursstränge wiederum bieten beiden Disziplinen Optionen zur historischen Selbstverortung, sei es in Form einer Sichtung und kritischen Neukanonisierung ihrer Traditionsbestände (Philosophie), sei es kraft einer bislang weitest gehend ausgebliebenen Selbstbefragung über den eigenen epistemischen und disziplinären Ursprung (Medienwissenschaft) in Gestalt ihrer Ableitung aus philologischen Entwürfen wie bei Rudolf Fietz225 und/oder sprachkritischen Ansätzen des späten 19. Jahrhunderts wie bei Frank Hartmann226. So wenig wie sich die Medienwissenschaft hiernach noch länger außerhalb der Ideengeschichte wird positionieren können, so wenig wird die Philosophie sich länger als autonom gegenüber der Technikgeschichte begreifen können. Die funktionalistische Neuorientierung hin zu pragmatischen Fragestellungen und Aufgabengebieten, wie sie ja immerhin ein Strang des Diskursfeldes durchzusetzen sucht, dürfte dem in beiden Disziplinen zu beobachtenden Hang zum Rückzug auf binnenreflexive Selbstbespiegelung die unhintergehbare Notwendigkeit zu stärkerer Außenorientierung auf die Agenda der Tätigkeitsfelder schreiben. Nimmt man die Position eines Beobachters erster Ordnung ein, so lässt sich konstatieren: Wenn das ›medienphilosophische‹ Projekt deutlich machen konnte und könnte, dass ›Geistigkeit‹ und ›Medialität‹ nicht nur einander nicht ausschließen, sondern sich im Gegenteil wechselseitig erst hervorbringen, wird evident, dass Philosophie und Medienwissenschaft prospektiv am gleichen Gegenstand zu arbeiten hätten. Dies immerhin wäre als ein beachtlicher Beitrag des neuen Interdiskurses zum Großprojekt 223 224 225 226

Vgl. F. Haase: Metaphysik und Medien (wie Anm. 20), S. 10. Vgl. W. Konitzer: Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 29, 48. Vgl. R. Fietz: Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 9-11. Vgl. F. Hartmann: Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 18-27.

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inter- und/oder transdisziplinärer Forschung festzuhalten und zu honorieren. Hierfür jedoch wird mittelfristig eine gemeinsame und dann entsprechend definitionsmächtigere Arbeit am Begriff des ›Mediums‹ zu leisten sein, als bislang im (Inter-)Diskursfeld zu besichtigen war. Es ist immerhin symptomatisch, dass bis dato entweder auf ein hochgradig integrativ konzeptualisiertes, im Extrem bei Matthias Vogel227 sogar alle menschlichen Zugangs- und Artikulationsweisen beinhaltendes, Meta-Modell von Medien rekurriert wird, das nur über geringe historische Distinktionskraft verfügt – oder aber anhand des bislang jüngsten (Trans-)Mediums ›Internet‹ wie bei Mike Sandbothe228 und Frank Hartmann229 lediglich eine (potenziell normative) Folie des Medialen entworfen wird, der sich die Pluralität vorgängiger Mediendispositive mehr oder minder umstandslos einzupassen hat. Dies mag für den jeweiligen Argumentationskontext eine legitime, vielleicht sogar unumgängliche Applikationsfigur darstellen, bleibt jedoch für eine systematische und historisch differenzierte Klärung des Medienbegriffs letztlich unzureichend. So darf vermutet werden, dass sich in und an der wechselseitigen Begriffsarbeit die Zukunft dieses (Inter-)Diskurses wesentlich (mit) entscheiden wird.

227 Vgl. M. Vogel: Medien der Vernunft (wie Anm. 20), S. 12, 13, 398-399. 228 Vgl. M. Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 109, 152. 229 Vgl. F. Hartmann: Medienphilosophie (wie Anm. 20), S. 18-27.

5 Forsc hungsk omple x ›Me die ninformatik‹ »Die universale Maschine ist (als Wahrnehmungsapparatur) Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich, sie ist etwas, was das Leben des einzelnen übersteigt. Mehr noch: insofern dieser Raum sich ständig ausdehnt und, als ein generatives Feld, stets neue Maschinengenerationen und Möglichkeitsräume entbindet, hat man es, im Wortsinn, mit einem transzendierenden Feld zu tun.«1 – Martin Burckhardt

Integrale Problemorientierungen »Die Informatik ist eines der jüngsten großen Wissenschaftsgebiete. Aufgrund seiner besonderen Bedeutung für alle gesellschaftlichen Bereiche sowie seiner noch kurzen Historie ist«, schreibt der Informatiker Michael Herczeg, »dieses Gebiet und seine Theorien, Methoden und Technologien noch starken Veränderungen ausgesetzt.«2 – Was auf die Informatik im Allgemeinen zutrifft, gilt mutatis mutandis im Besonderen für die Medieninformatik als einer der markantesten rezenten Ausdifferenzierungen in dieser akademischen Wissensdomäne während der letzten rund eineinhalb Dekaden.

1

2

Martin Burckhardt: Vom Geist der Maschine. Eine Geschichte kultureller Umbrüche, Frankfurt am Main/New York: Campus 1999, S. 13-14 (Hervorhebung im Original). Michael Herczeg: Einführung in die Medieninformatik, München/Wien: Oldenbourg 2006, S. IX.

260 | EPISTEME DER MEDIENWISSENSCHAFT

In kurrenten Definitionsvorschlägen zur hiesigen ›Medieninformatik‹ werden vor allem explikatorische, operative und technische Zusammenhänge digitaler, konvergenter Medien beziehungsweise vernetzter, interaktiver Mediensysteme herausgestellt. Zwei Beispiele mögen dies illustrieren. So bestimmt der bereits zitierte Informatiker Michael Herczeg ›Medieninformatik‹ wie folgt: »Das auf Grundlage der konvergierenden, digitalen Medien geschaffene neue Gebiet der Medieninformatik bemüht sich darum, multimediale Technologien und Anwendungen, vor allem Computersysteme und Computernetzwerke auf wissenschaftlicher Grundlage systematisch zu analysieren und zu konstruieren.«3

Eine andere, ähnlich gelagerte wissenschaftliche Definition, die der Informatiker Kai Bruns und Klaus Meyer-Wegener, lautet: »Medieninformatik ist die Wissenschaft, die sich mit den theoretischen und technischen Grundlagen, der Ver- und Bearbeitung, der Übertragung sowie der Präsentation digitaler Medien mit den Mitteln und Methoden der Informatik beschäftigt.«4

Explizite Ansätze einer Begründung von ›Medieninformatik‹ werden vor gut zehn, 15 Jahren ausgemacht.5 Die europaweit früheste einschlägige Synthese von ›Medien‹ und ›Informatik‹ lässt sich allerdings bereits im Jahre 1990 konstatieren, als an der neu errichteten Fakultät Digitale Medien der Hochschule Furtwangen (seinerzeit noch Fachhochschule Furtwagen) ein Studiengang ›Medieninformatik‹ eingeführt wurde.6 Seit Mitte der 1990er Jahre werden an mehreren (Fach-)Hochschulen Schwerpunkte in Forschung und Lehre mit eindeutigen ›medieninformatorischen‹ Bezügen entwickelt und/oder bestehende Informatikschwerpunkte um das Element ›Medien‹ ergänzt. Die erste universitäre Formation, die sich vielleicht am ehesten einer ›Medieninformatik‹ zuordnen lässt, ist die ›Computervisualistik‹7 der Fakultät für Informatik an der Otto-von-Guericke-

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Ebd., S. 7 (Hervorbung im Original). Kai Bruns/Klaus Meyer-Wegener: »Medieninformatik«, in: Kai Bruns/Klaus Meyer-Wegener (Hg.): Taschenbuch der Medieninformatik, Leipzig: Fachbuchverlag 2005, S. 17-27, hier S. 27 (Hervorbung im Original). Vgl. Werner Burhenne: »Medieninformatik an Hochschulen – ein Überblick«, elektronisch verfügbar unter: , S. 4 (letzte Änderung: undatiert [1998]; letzter Zugriff: 14.04.2008) sowie M. Herczeg: Einführung in die Medieninformatik (wie Anm. 2), S. IX. Vgl. die »Historie«, elektronisch verfügbar unter: (letzte Änderung: undatiert; letzter Zugriff: 23.12.2007). Vgl. etwa Jochen Schneider/Thomas Strothotte/Winfried Marotzki (Hg.): Computational Visualistics, Media Informatics, and Virtual Communities, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 2003.

FORSCHUNGSKOMPLEX ›MEDIENINFORMATIK‹ | 261

Universität Magdeburg, welche ab 1996/1997 implementiert wurde.8 Dem schloss sich in den Jahren 2000/2001 der Fachbereich Informatik der Universität Koblenz-Landau mit einer gleichlautenden programmatischen Akzentuierung an.9 In den disziplinären Anfängen der Profilierung eines ›medieninformatorischen‹ Forschungskomplexes während der zweiten Hälfte der 1990er Jahre richtete sich der erkenntnisleitende Fokus vor allem auf Medientechnik und -produktion, gefolgt von einer Kombination aus Software-Engineering und Medienproduktion als einer adäquaten »Form von MedienEngineering«10. Hinsichtlich der gestalterischen Dimension verknüpfte sich Mediendesign, bestehend aus den etablierten Komponenten Kommunikations- und Industriedesign, mit der Gestaltungsorientierung der Mensch/Computer-Interaktion (MCI). Mithin bestand die Notwendigkeit, Software-Ergonomie und Interaktionsdesign unter Berücksichtigung großer heterogener Disziplinen wie Informatik, Psychologie und Gestaltung weiter zu konzeptualisieren. Denn selbstverständlich sind Mediendesigner auf informatisches Basiswissen beziehungsweise Informatiker auf Erfahrungen mit den Arbeitstechniken von Designern angewiesen.11 Die angesprochene ›Mensch/Computer-Interaktion‹12 stellt ein zentrales identitätsstiftendes Merkmal der ›Medieninformatik‹ dar. Weitere charakteristische medieninformatorische Problemorientierungen sind unter anderem:13

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Vgl. näher W. Burhenne: »Medieninformatik an Hochschulen – ein Überblick« (wie Anm. 5), S. 4. Vgl. auch die Selbstdarstellung des Instituts für Computervisualistik am Fachbereich Informatik der Universität Koblenz-Landau, elektronisch verfügbar unter: (letzte Änderung: undatiert; letzter Zugriff: 11.05.2008). M. Herczeg: Einführung in die Medieninformatik (wie Anm. 2), S. IX. Vgl. Michael Herczeg/Horst Oberquelle: »GI-Fachgruppe MI. Medieninformatik im Fachbereich Mensch-Computer-Interaktion (FB MCI)«, elektronisch verfügbar unter: , S. 2 (letzte Änderung: 21.05.2007; letzter Zugriff: 04.12.2007); zudem Ansgar Gerlichter: »Computer-Supported Cooperative Work (CSCW) – kollaborative Systeme und Anwendungen«, in: Roland Schmitz (Hg.): Kompendium Medieninformatik. Medienpraxis, Berlin/ Heidelberg/New York: Springer 2007, S. 143-195 Vgl. unter anderem Roland Mangold: »Medienpsychologie«, in: Kai Bruns/ Klaus Meyer-Wegener (Hg.): Taschenbuch der Medieninformatik, Leipzig: Fachbuchverlag 2005, S. 337-353, hier S. 341, 351-352, passim und M. Herczeg: Einführung in die Medieninformatik (wie Anm. 2), S. 1, passim. Vgl. zur Frage der Gegenstandsinventarisierung innerhalb der Medieninformatik auch K. Bruns/K. Meyer-Wegener: »Medieninformatik« (wie Anm. 4), S. 26 und M. Herczeg/H. Oberquelle: »GI-Fachgruppe MI« (wie Anm. 11), S. 2.

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• • • • • • •

Theoretische Grundlagen digitaler Medien und Systeme;14 Multimedia-Technik und Multimedia-Datenbanken;15 Software-Technik und Software-Engineering interaktiver Medien;16 Mediendesign und -produktion;17 Sicherheit und Zuverlässigkeit interaktiver Mediensysteme;18 Gestaltung und Management interaktiver Mediensysteme19 sowie Epistemologie, Pragmatik und Ethik vernetzter, interaktiver Medien20.

Diese unvollständige Auflistung verdeutlicht in Ansätzen die Korrelativität und Konnektivität von ›Medien‹ und ›Informatik‹ in mehrfacher Hinsicht: • erstens die Relevanz der Medieninformatik für andere Gebiete der Informatik und • zweitens die unmittelbare Relevanz einzelner informatorischer Felder für die Konzeptualisierung interaktiver Medien(-systeme).21

14 Vgl. grundlegend Sybille Krämer (Hg.): Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998; Georg Christoph Tholen: »Platzverweis. Unmögliche Zwischenspiele von Mensch und Computer«, in: Norbert Bolz/Friedrich Kittler/Christoph Tholen (Hg.): Computer als Medium, München: Fink 1999, S. 111-135, hier S. 129-135 und Rainer Leschke: Einführung in die Medientheorie, München: Fink 2003, S. 9-31, 56-67, 145-154. 15 Vgl. einschlägig Ralf Steinmetz: Multimedia-Technologie. Grundlagen, Komponenten und Systeme, Berlin/Heidelberg/New York: Springer 2000, S. 389-404, passim; ferner Klaus Meyer-Wegener: »Multimedia-Datenbanken«, in: Kai Bruns/Klaus Meyer-Wegener (Hg.): Taschenbuch der Medieninformatik, Leipzig: Fachbuchverlag 2005, S. 278-296, hier S. 278-281. 16 Vgl. ausführlich Helmut Balzert: Lehrbuch der Softwaretechnik. Softwaremanagement, Heidelberg: Spektrum 2008, S. 149-159 sowie Jochen Ludewig/Horst Lichter: Software Engineering. Grundlagen, Menschen, Prozesse, Techniken, Heidelberg: dpunkt.verlag 2007, insbesondere S. 1-68. 17 Vgl. Michael Herczeg: Interaktionsdesign. Gestaltung interaktiver und multimedialer Systeme, München/Wien: Oldenbourg 2006, S. 1-70. 18 Vgl. um Beispiel Roland Schmitz: »Mediensicherheit«, in: Roland Schmitz (Hg.): Kompendium Medieninformatik. Mediennetze, Berlin/Heidelberg/New York: Springer 2006, S. 83-125, hier S. 84-92. 19 Vgl. etwa M. Herczeg: Interaktionsdesign (wie Anm. 17), S. 1-70 sowie Arnold Picot/Ralf Reichwald/Rolf T. Wigand: Die grenzenlose Unternehmung. Information, Organisation und Management, Wiesbaden: Gabler 2001, S. 335-385. 20 Vgl. stellvertretend für zahlreiche Quellen Wilhelm Steinmüller: Informationstechnologie und Gesellschaft. Einführung in die Angewandte Informatik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993, insbesondere S. 110133; Andreas Schelske: Soziologie vernetzter Medien. Grundlagen computervermittelter Vergesellschaftung, München/Wien: Oldenbourg 2007, S. 128 und Rafael Capurro/Johannes Frühbauer/Thomas Hausmanninger (Hg.): Localizing the Internet. Ethical Aspects in Intercultural Perspective, München: Fink 2007. 21 Vgl. hierzu auch M. Herczeg: Einführung in die Medieninformatik (wie Anm. 2), S. IX.

FORSCHUNGSKOMPLEX ›MEDIENINFORMATIK‹ | 263

Gerade an Universitäten konfigurieren sich inter- und/oder transdisziplinäre Problemorientierungen als markante Kennzeichen der Medieninformatik. Nicht zuletzt bestehen für die Medien- und Kommunikationswissenschaften im Diskurszusammenhang (medien-)informatorischer Systeme große Anforderungen und Herausforderungen, die im Anschluss an den französischen Philosophen Jean-François Lyotard aus der vorgängigen Dynamik einer »Informatisierung der Gesellschaft«22 resultieren. Seit der medientechnischen und -informatorischen Expansion der 1980er und 1990er Jahre erwies sich vornehmlich die Medientheorie des Computers (konträr zur Rechnertheorie des Computers)23 als besonders prominenter medien- und kommunikationswissenschaftlicher Gegenstand.24 Als Reflex auf die Installierung des World Wide Web (WWW) beziehungsweise des Internets wurden bekannte medien- und kommunikationstheoretische Postulate und medienpessimistische Gesellschaftskritiken neu rezipiert und diskursiviert.25 Nimmt man die verhältnismäßig frühen (Selbst-)Reflexionen auf die Konstitution von ›Medieninformatik‹ in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zum Maßstab einer ersten konzeptuellen, institutionellen und curricularen Etablierung, so zeigt sich, dass die entsprechenden Definitionsversuche primär diejenigen Heuristiken zu erfassen trachten, die in irgendeiner qualifizierenden Weise eine spezifisch hybride Verbindung von ›Medien‹ und ›Informatik‹ eingehen. Gemäß der Beobachtung des Informatikers Werner Burhenne lässt sich während des genannten Zeitraums eine dreifache Typologie von Medien-Informatik – in einem weit gefassten Sinne – identifizieren:26

22 Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien: Passagen 1993, S. 30, ferner S. 30-35. 23 Vgl. originär zur Rechnertheorie beziehungsweise zur Theoretischen Informatik Alan M. Turing: »On Computable Numbers. With an Application to the Entscheidungsproblem«, in: Proceedings of the London Mathematical Society, 42 (1936) 2, S. 230-265. 24 Vgl. Norbert Bolz/Friedrich Kittler/Christoph Tholen (Hg.): Computer als Medium, München: Fink 1999 und Hartmut Winkler: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, München: Boer 1997, S. 223-330. 25 Vgl. insbesondere Herbert Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. »Understanding Media«, Düsseldorf u. a.: Econ 1992; Jean Baudrillard: Die Illusion des Endes oder der Streik der Erreignisse, Berlin: Merve 1990; Paul Virilio: Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen, Frankfurt am Main: Fischer 1996 oder Neil Postman: Keine Götter mehr. Das Ende der Erziehung, Berlin: Berlin Verlag 1995. Aus engerer Informatikperspektive vgl. auch M. Herczeg: Einführung in die Medieninformatik (wie Anm. 2), S. 15-22. 26 Vgl. W. Burhenne: »Medieninformatik an Hochschulen – ein Überblick« (wie Anm. 5), S. 3.

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• Die traditionelle Informatik öffnet sich gegenüber Konzeptionen und Applikationen im Mediensektor. Solche Erweiterungen des Gegenstandsbereichs werden als durchaus »informatik-relevant«27 interpretiert, da der Informatikanteil merklich dominiert. • Die ›klassischen‹ Medien- und Kommunikationswissenschaften komplettieren ihre Gegenstände mit Informatikinhalten und konfundieren ihre bisherigen Informatikkomponenten aufgrund einer wachsenden Ausbreitung und Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK-Techniken). • Schließlich bilden sich dezidiert interdisziplinäre Kooperationsmodelle aus, die gleich von mehreren Fakultäten und/oder Fachbereichen, vornehmlich informatik-, medien-, design- sowie wirtschaftswissenschaftlicher Provenienz, bedient werden. Der obigen triadischen Differenzierung korrespondierend, ist der Diskurs um Medieninformatik durch eine gewisse epistemologische Offenheit gekennzeichnet. Dieser Umstand läßt sich auch anhand gegenwärtig kursierender disziplinärer Selbstbeobachtungen und -beschreibungen in diesem Forschungskomplex ablesen. Dazu seien zwei Beispiele angeführt: Eine Variante antagonistischer Selbstbeobachtungen und -beschreibungen von ›Medieninformatik‹ reflektiert die Modalität der disziplinären Evolution und thematisiert sich entweder als strukturelle Kopplung interner Elemente oder als strukturelle Kopplung externer Elemente: Auf der einen Seite wird ›Medieninformatik‹ – durch eine mehr oder minder implizite Präzeption des genuin eigenen (intra-)disziplinären evolutiven Kontinuitätsmodells –28 als »Spezialisierung der Informatik«,29 sprich: Spezielle Informatik, apostrophiert; auf der anderen Seite wird die »Interdisziplinarität der Medieninformatik«30 akzentuiert, da Prozesse der »Entwicklung interaktiver Medien«31 die Kompetenz und Expertise von Spezialisten verschiedener Provenienz benötigen.

27 Ebd. 28 Gemäß dem (intra-)disziplinären evolutiven Kontinuitätsmodell folgt die fachliche Differenzierung durch Spezialisierungen der Problemorientierungen. Vgl. unter anderem zu diesbezüglichen historisierenden Verlaufskonzepten der Informatik und der Computertechnologie Paul E. Ceruzzi: A History of Modern Computing, Cambridge, Massachusetts/London: MIT Press 1998, S. 1-13; Wolfgang Coy: »Aus der Vorgeschichte des Mediums Computer«, in: Norbert Bolz/Friedrich Kittler/Christoph Tholen (Hg.): Computer als Medium, München: Fink 1999, S. 19-37 sowie Wolfgang Coy: »Was ist Informatik? Eine kurze Geschichte der Informatik in Deutschland«, in: Jörg Desel (Hg.): Das ist Informatik, Berlin/Heidelberg/New York: Springer 2001, S. 1-22. 29 K. Bruns/K. Meyer-Wegener: »Medieninformatik« (wie Anm. 4), S. 26. 30 M. Herczeg: Einführung in die Medieninformatik (wie Anm. 2), S. 201. 31 Ebd., S. 200.

FORSCHUNGSKOMPLEX ›MEDIENINFORMATIK‹ | 265

Eine andere Variante widerständiger Selbstbeobachtungen und -beschreibungen diskutiert sektor- respektive typologiespezifische Differenzierungen von ›Medieninformatik‹. So wird Medieninformatik zum einen diskursiviert als ›Teil‹ der Informatik, mithin als einer Art ›Bereichsinformatik‹, die sich mit Mensch/Computer-Schnittstellen mannigfaltiger medialer Couleur auseinandersetzt; zum anderen wird Medieninformatik als eine besondere Formation Angewandter Informatik begriffen. Während die Verortung der Medieninformatik im Kontext der Mensch/ComputerInteraktion unter Kombattanten weithin konsensfähig ist, schließlich wird innerhalb der (Medien-)Informatik eine »reichhaltige Medialisierung von Benutzungsschnittstellen für interaktive Systeme«32 – mithin »Interaktive Medien«33 – konzeptualisiert, nimmt sich die Apostrophierung der Medieninformatik als ›Angewandte Informatik‹ bis dato kontrovers aus, was nicht zuletzt wohl auch auf unterschiedliche Binnenlogiken konkurrierender Hochschultypen (Universität versus Fachhhochschule) zurückzuführen sein könnte.34 Die Hypothese ›Medieninformatik als Angewandte Informatik‹ scheint nach wie vor umstritten zu sein, wie einige thematische Einlassungen aus dem Kontext von Universitäten beziehungsweise Fachhochschulen verdeutlichen. So wird einerseits zu bedenken gegeben, dass Medieninformatik als Angewandte Informatik einen inkonsistenten Ansatz darstelle, weil es sich bei Medieninformatik mitnichten um »spezifische Anwendungen«35 handle, sondern vielmehr um einen »informatische[n] Schwerpunkt«,36 der medialen Kombinationen aus Technik und Menschen Priorität einräumt. Andererseits wird festgestellt, dass eher an Fachhochschulen das Gros von »Design«-Studiengängen angeboten wird und Studiengänge an Fachhochschulen ohnehin ›anwendungsorientiert‹ ausgerichte sind.37 Insgesamt betrachtet wird deutlich, dass die gegenwärtigen Fachdebatten hinsichtlich einer eigenen diskursiven Verortung der Medieninformatik innerhalb der befassten Wissenschaftsgemeinschaften bisher noch nicht zu eindeutigen und festen Eigenwerten geführt haben.38

32 M. Herczeg/H. Oberquelle: »GI-Fachgruppe MI« (wie Anm. 11), S. 2. 33 Ebd. 34 Vgl. exemplarisch W. Burhenne: »Medieninformatik an Hochschulen – ein Überblick« (wie Anm. 5), S. 3 und M. Herczeg/H. Oberquelle: »GI-Fachgruppe MI« (wie Anm. 11), S. 2. 35 M. Herczeg/H. Oberquelle: »GI-Fachgruppe MI« (wie Anm. 11), S. 2. 36 Ebd. 37 Vgl. W. Burhenne: »Medieninformatik an Hochschulen – ein Überblick« (wie Anm. 5), S. 3. 38 Vgl. auch ebd., S. 2.

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In diesem zweiten Anwendungskapitel kann und soll ›Medieninformatik‹ nicht in ihrer theoretisch-konzeptuellen, methodisch-operativen und konstruktiv-technischen Komplexität verhandelt werden, sondern vielmehr an einem einschlägigen Beispiel. Dies erfolgt innerhalb des markanten medieninformatorischen Kontextes der Mensch/Computer-Interaktion anhand der (Selbst-)Beobachtung und (Selbst-)Beschreibung des fächerüberschreitenden Forschungskomplexes Computer Supported Cooperative Work (CSCW), der computerunterstützten Gruppenarbeit.39 Während sich bislang die Mensch/Computer-Interaktion vornehmlich auf Software-Ergonomie, grafische User-Interfaces sowie dezentrale kooperative Systeme konzentrierte, perspektiviert sich die Medieninformatik – unter Einschluss der genannten Schwerpunkte – auf die Konstruktion des Mensch/Computer-Kommunikations-Kanals oder des Mensch/ComputerInteraktions-Kanals durch eine Mannigfaltigkeit partiell unabhängig, partiell synchronisiert und multimodal adaptierter Subkanäle. Das gestiegene Abstraktionsniveau der Mensch/Computer-Kommunikation beziehungsweise der Mensch/Computer-Interaktion bedarf darüber hinaus neuer und/oder erweiterter Konzepte, Methoden und Techniken für Analyse, Design, Implementierung und Evaluation. Von grundlegender Bedeutung ist in Bezug auf die Selbstbeobachtung und -beschreibung des medieninformatorischen Forschungskomplexes ein besonderer wissenschaftsgenetischer Sachverhalt: Obgleich die Mensch/Computer-Interaktion mittlerweile (auch) als Teilgebiet der Medieninformatik inventarisiert wird, vollzog sich die historische Genaologie jedoch eher umgekehrt, soll heißen: Ansätze der Mensch/Computer-Interaktion gingen den kurrent aufkommenden medieninformatorischen Konzepten sowohl evolutionär als auch historisch voraus.40 Dieser Umstand kann zu Irritationen in der Beschreibung einer kontinuierlich begriffenen Evolution von Medieninformatik führen. Der vielfältige Forschungskomplex Computer Supported Cooperative Work befasst sich mit der Frage, wie die Zusammenarbeit mittels Computerunterstützung besser gestaltet und gefördert werden kann respektive welche Werkzeuge für diesen Zweck am geeignetsten entwickelt und eingesetzt werden.41 Eine spezifische Variation oder Derivation von CSCW 39 Vgl. die zum Teil unterschiedlichen CSCW-Thematisierungen von Edeltraud Hanappi-Egger: »CSCW: eine ›transdisziplinäre‹ Fragestellung«, in: Josef Schiestl/Heinz Schelle (Hg.): Groupware. Software für die Teamarbeit der Zukunft, Marburg: Tectum 1996, S. 21-30, hier S. 24; Theo Wehner/ Christoph Clases: »Wissensmanagement. Transdisziplinäres Thema zwischen Wertschöpfung und Wertschätzung«, in: ETH Bulletin. »Wissenschaft und Öffentlichkeit«, Nr. 277, April 2000, S. 50-53 sowie Tom Gross/Michael Koch: Computer-Supported Cooperative Work, München/Wien: Oldenbourg 2007, S. 5. 40 Vgl. zu diesem Absatz M. Herczeg/H. Oberquelle: »GI-Fachgruppe MI« (wie Anm. 11), S. 3. 41 Vgl. im Überblick Irene Greif (Hg.): Computer-Supported Cooperative Work. A Book of Readings, San Mateo, Califonia: Kaufmann 1988 und Ger-

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ist Computer Supported Cooperative Learning (CSCL).42 Bei der Gruppenarbeit unter Einsatz technischer Systeme geht es darum, ein Ergebnis (Produkt oder Dienstleistung) zu erreichen. Hingegen dient das computerunterstützte kooperative Lehren und Lernen, auch wenn die Gruppe gemeinsame Resultate erarbeitet, in letzter Konsequenz dem Lernen und Wissen des Individuums.43 Bei der computerunterstützten Gruppenarbeit ist somit das gemeinsam erzeugte Produkt der letztendliche Zweck; beim computerunterstützten Lehren und Lernen ist die gemeinsam erzeugte Leistung Mittel zum Zweck des individuellen Lernens.44

S e l b s t b e s c h r e i b u n g e n vo n C o m p u t e r Supported Cooperative Work Für die nachstehenden Ausführungen ist die Arbeitshypothese einer festeren transdisziplinären Kopplung im Diskurs von Computer Supported Cooperative Work forschungsleitend. Die Media-Synchronicity-Theorie der US-amerikanischen Wirtschaftsinformatiker und Managementwissenschaftler Alan R. Dennis und Joseph S. Valacich45 aus den späten 1990er Jahre wird als konzeptuell-explikatorischer Forschungsbeitrag der Mensch/Computer-Interaktion innerhalb des transdisziplinären Diskurses

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hard Schwabe/Norbert Streitz/Rainer Unland (Hg.): CSCW-Kompendium. Lehr- und Handbuch zum computerunterstützten kooperativen Arbeiten, Berlin/Heidelberg/New York: Springer 2001. Vgl. Timothy Koschmann (Hg.): CSCL. Theory and Practice of an Emerging Paradigm, Mahwah, New Jersey/London: Erlbaum 1996 und Timothy Koschmann/Rogers Hall/Naomi Miyake (Hg.): CSCL 2. Carrying Forward the Conversation, Mahwah, New Jersey/London: Erlbaum 2002. Vgl. beispielsweise Christian Filk: Computerunterstütztes kooperatives Lehren und Lernen. Eine problemorientierte Einführung, Siegen: Universitätsverlag Siegen 2003, S. 98-100. Vgl. zu Arbeits- und Lernzielen, Arbeits- und Lernprozessen, Funktion und Methodik von Management und Didaktik bei Computer Supported Cooperative Work beziehungsweise Computer Supported Cooperative Learning Gerhard Schwabe/Christian Filk/Marianne Valerius: »Warum Kooperation neu erfinden? Zum Beitrag der CSCW-Forschung für das kollaborative E-Learning«, in: Hans Ulrich Buhl/Andreas Huther/Bernd Reitwiesner (Hg.): Information Age Economy. 5. Internationale Tagung Wirtschaftsinformatik 2001, Heidelberg: Physica 2001, S. 381-394, hier S. 385-388. Vgl. Alan R. Dennis u. a.: »Beyond Media Richness. An Empirical Test of Media Synchronicity Theory«, in: Hugh J. Watson (Hg.): Proceedings of the 31nd Hawaii International Conference on System Sciences (HICSS 31), Los Alamitos, California u. a.: IEEE Computer Society 1998, S. 48-57 sowie Alan R. Dennis/Joseph S. Valacich: »Rethinking Media Richness. Towards a Theory of Media Synchronicity«, in: Ralph H. Sprague, jr. (Hg.): Proceedings of the 32nd Hawaii International Conference of System Sciences (HICSS 32), Los Alamitos, California u. a.: IEEE Computer Society 1999 (CD-ROM of Full Papers), S. 1-10.

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von Computer Supported Cooperative Work (CSCW) diskutiert. Dabei wird eine etablierte striktere strukturelle, mithin sich selbststabilisierende Kopplung diverser Wissenschaftsdisziplinen und -kulturen postuliert. Eine integrale Problemantizipation und stärkere disziplinäre Interaktion konstituieren den autarken transdisziplinären Forschungskomplex CSCW und substituieren ehemals heterogene Problemsektoren und schwache Wechselwirkungen der partizipierenden Disziplinen. Die wissenschaftlichen Selbstbeobachtungen und -beschreibungen des Forschungskomplexes Computer Supported Cooperative Work nehmen sich nicht einheitlich aus. Die CSCW-Forschung wird bereits seit Jahren als ›inter-‹, ›multi-‹ und/oder ›transdisziplinär‹ charakterisiert: Mitte der 1990er Jahre bestimmt der Wirtschaftsinformatiker Hendrik Lewe ›Computer Supported Cooperative Work‹ als ein »Forschungsgebiet«,46 das sich mit der »Rolle von Informations- und Kommunikationstechnologien bei der Gruppenarbeit«47 befasst. In Korrespondenz wird CSCW als »wissenschaftliche Disziplin« gesehen, bei der es zum »interdisziplinären Zusammenwirken verschiedener Wissenschaftsgebiete«48 wie (Wirtschafts-)Informatik, Künstliche Intelligenz, Psychologie, Soziologie, Anthropologie, Enthnografie, Organisations- und Managementlehre sowie Betriebswirtschaftslehre kommt. Analog äußern sich Jahre später die Herausgeber eines CSCW-Kompendiums. In diesem Lehr- und Handbuch zum computerunterstützten kooperativen Arbeiten definieren die (Wirtschaft-)Informatiker und Psychologen Gerhard Schwabe, Norbert Streitz und Rainer Unland die Computer-Supported-Cooperative-WorkForschung ebenfalls als »interdisziplinär«49: »Dies macht das Forschungsfeld interessant; dies macht es aber auch schwierig, die Grundlagen von CSCW eindeutig zu bestimmen.«50 Über diese Perspektivierung weist der definitorische Zugriff von Edeltraud Hanappi-Egger hinaus. Die Informatikerin vertritt den Standpunkt, dass die Gestaltung von CSCW-Systemen nicht nur eine »interdisziplinäre Aufgabe«, sondern »besser eine transdisziplinäre«51 sei. Nach Auffassung von Hanappi-Egger geht es im Forschungskomplex Computer Supported Cooperative Work – gerade hinsichtlich der modelltheoretischen und me46 Hendrik Lewe: Computer Aided Team und Produktivität. Einsatzmöglichkeiten und Erfolgspotentiale, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 1995, S. 43 (Hervorhebung im Original). 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Gerhard Schwabe/Norbert Streitz/Rainer Unland: »Einleitung«, in: Gerhard Schwabe/Norbert Streitz/Rainer Unland (Hg.): CSCW-Kompendium. Lehrund Handbuch zum computerunterstützten kooperativen Arbeiten, Berlin/ Heidelberg/New York: Springer 2001, S. 2-5, hier S. 2. 50 Ebd. 51 E. Hanappi-Egger: »CSCW: eine ›transdisziplinäre‹ Fragestellung« (wie Anm. 39), S. 24 (Hervorhebung im Original).

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thodologischen Dimensionen computerunterstützter arbeitsteiliger Prozesse – eben nicht darum, wie es der lateinische Terminus ›interdisziplinär‹ suggeriert, dass etwas »›zwischen den Disziplinen‹ steht, also keiner Fachrichtung zugehörig ist«;52 vielmehr sind verschiedene Disziplinen gemeinsam aufgerufen, zusammen komplexe CSCW-Arrangements als einen dezidiert transdisziplinären Gegenstand zu realisieren.53 Ähnlich argumentieren auch Theo Wehner, Christoph Clases und Tanja Manser hinsichtlich der Transdisziplinarität des CSCW-Diskurses (im Kontext des Wissensmanagements), was sie als »Integrationsversuch[.] einzelwissenschaftlicher Perspektiven«54 bezeichnen. Schon Edeltraud Hanappi-Egger erwähnt die Beschreibungspraxis der ›Multidisziplinarität‹ von CSCW,55 indem verschiedene Wissenschaften auf einem Forschungsfeld zusammenarbeiten. Auch jüngst wurde wieder einer solchen Definition das Wort geredet. Die Informatiker Tom Gross und Michael Koch schreiben: »CSCW ist ein multidisziplinäres Gebiet und es gilt zu beachten, dass dabei Akteure aus den einzelnen Disziplinen ihre spezifische Perspektive und Methodologie einbringen. […] Diese unterschiedlichen Herangehensweisen führen zu sehr unterschiedlichen Sichten auf CSCW bzw. unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen.«56

Selbst wenn Computer Supported Cooperativ Work, ausweislich der vorstehenden (Selbst-)Beschreibungen, über viele Jahre recht unterschiedlich attribuiert wurde und wird, manifestiert sich in der konkreten Kooperation der partizipierenden (Sub-)Disziplinen, mithin als Community of Practice, das deutliche Moment eines transgressiven, die partizipierenden Disziplinen überschreitendes Setting, nicht zuletzt durch das konstruktive Mandat, transdisziplinär ein multimediales Environment zu projektieren, zu konzipieren und zu implementieren.57 Denn aus dieser Art der Zusammenarbeit

52 Ebd., S. 25. 53 Vgl. ebd., S. 26, 29 54 Theo Wehner/Christoph Clases/Tanja Manser: Wissensmanagement. State of the Art. Einführung in ein transdisziplinäres Thema und Darstellung der arbeits- und sozialwissenschaftlichen Perspektive, Hamburg: Arbeitsbereich Arbeitswissenschaft der Technischen Universität Hamburg-Harburg 1999, S. 9, elektronisch verfügbar unter: (letzte Änderung: undatiert; letzter Zugriff: 11.05.2008). 55 Vgl. E. Hanappi-Egger: »CSCW: eine ›transdisziplinäre‹ Fragestellung« (wie Anm. 39), S. 25. 56 T. Gross/M. Koch: Computer-Supported Cooperative Work (wie Anm. 39), S. 5. 57 Vgl. M. Herczeg: Einführung in die Medieninformatik (wie Anm. 2), S. 8.

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folgt nichts weniger als eine fortgesetzte, die disziplinäre Ausrichtungen selbst transformierende forschungssystematische Matrix.58 Damit die Rekonstruktion Alan R. Dennis’ und Joseph S. Valacich MediaSynchronicity-Theorie, die sowohl ihre Gesamtarchitektur als auch ihre einzelnen Elemente im Auge behalten muss, nicht Gefahr läuft, aus dem Ruder zu geraten, bedarf es eines ziel- und ergebnisorientierten Vorgehens. Die Media-Synchronicity-Theorie verficht zwar nicht den erklärten Anspruch einer elaborierten Theorie, sie begreift sich vielmehr als eigenständiges Diskussionsangebot mit Blick auf ein – sicherlich völlig zu Recht konzediertes – explanatorisches Dilemma in der computergestützten kooperativen Gruppenarbeit, weshalb ihr konzeptuelle Ambitionen nicht abzusprechen sind.59 Dieser Gesichtspunkt gebührt, meines Erachtens nach, gesondert hervorgehoben zu werden, um den eminent hohen Stellenwert für den Explikationsstrang deutlich zu machen. Bedingt durch den Sachverhalt, dass die Media-Synchronicity-Theorie aus dem USamerikanischen in den deutschsprachigen Wissenschaftskontext transferiert wird,60 ist ein signifikanter Perspektivenwechsel zu konzedieren: Während sich die CSCW-Forschung in den Vereinigten Staaten vornehmlich der Produktentwicklung zuwendet, ohne diese jedoch häufig durch elementare Theoriearbeit abzusichern, widmet sich die CSCW-Forschung in Europa hauptsächlich der empirisch orientierten Theoriebildung.61 Worin wären nun genau die Innovativität und Instruktivität der MediaSynchronicity-Theorie für den wissenschaftlichen Diskurs der computerunterstützten Gruppenarbeit zu sehen? Ohne an dieser Stelle dem eigentlichen Argumentationsgang vorzugreifen zu wollen, lassen sich drei problembezogene Leistungsmerkmale bestimmen: • Mit der Media-Synchronicity-Theorie stünde ein ernst zu nehmendes Konzept zur Verfügung, das eine explizite Antwort auf das bislang in Forschung und Entwicklung unzulänglich bearbeitete Problem der Synchronizität/Asynchronizität des computerunterstützten (kooperativen) Arbeitens formuliert. 58 Vgl. Jürgen Mittelstraß: Transdisziplinarität – wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2003, S. 9. 59 Vgl. A. R. Dennis/J. S. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45), S. 1. 60 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die forschungsmethodologische Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Information Systems Research im angloamerikanischen Sprachraum und der Wirtschaftsinformatik im deutschen Sprachraum von Ulrich Frank: Towards a Pluralistic Conception of Research Methods in Information Systems Reseach, Essen: Universität Duisburg-Essen, Institut für Informatik und Wirtschaftsinformatik 2006, insbesondere S. 2-6. 61 Vgl. H. Lewe: Computer Aided Team und Produktivität (wie Anm. 46), S. 45.

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• Das prozessorientierte dynamische Kommunikationsmodell von Dennis und Valacich würde an einem zentralen Funktions- und Leitbegriff ansetzten,62 an dem nicht gerade wenige Theorieentwürfe (nicht zuletzt im Bereich der computerunterstützten Gruppenarbeit) aufgrund der damit einhergehenden Komplexität und Aporie resigniert haben, geschweige denn, sich überhaupt an eine unmittelbare Auseinandersetzung gewagt haben. • Mit ihrer Media-Synchronicity-Theorie könnten Dennis und Valacich, wenn sie denn eine ›komplette‹ Konzeption der computerunterstützten Gruppenarbeit konturiert haben, mit dazu beitragen, die Explizierung, Implementierung und Applikation entsprechender Szenarien in der Praxis zu konkretisieren. Die Media-Synchronicity-Theorie Dennis’ und Valacichs wird makroskopisch im wissenschaftlichen Diskurs situiert, um ihren Status sowie ihre Funktion besser einschätzen zu können. Natürlich lässt sich im Rahmen dieses Anwendungskapitels nicht der gesamte Computer-SupportedCooperative-Work-Diskurs rekapitulieren. Dies wird auch nicht notwendig sein, zumal in der fachübergreifenden Forschung mittlerweile mehrere 100 (empirische) Studien zu Computer Supported Cooperative Work vorliegen.63 Die Media-Synchronicity-Theorie bildet den Ausgangs- und Zielpunkt. Anhand ihrer Ausführungen kann ich der für meine Aufgabenstellung ausschlaggebenden Momente gewahr werden. Zwei theoretische Richtungen mit unterschiedlich konzeptuellen Akzenten gelangen dabei zu einer besonderen Prominenz: zum einen Aufgaben-, zum anderen Medienorientierung. Mitunter stehen diese beiden Denkrichtungen für einen nicht unerheblichen Diskussionsstrang in der Community innerhalb der letzten Jahre und Jahrzehnte. Gemäß ihrer Selbstbeschreibung werde ich auf die bei Dennis und Valacich selbst angelegte Transformation der Problemstellung der computerunterstützten Gruppenarbeit – angefangen bei der Aufgaben- über die Medien- bis hin zur Kommunikationsorientierung – rekurrieren. Auf dieser Basis lasse ich die mikroskopische Argumentationsstruktur der Media-SynchronicityTheorie Revue passieren. Dabei werden die theoretischen Prämissen und Thesen einer Reflexion hinsichtlich ihrer Explikationen, aber auch gerade auch hinsichtlich ihrer Implikationen unterzogen. 62 Im Überblick zu vorherrschenden Begriffen von ›Kommunikation‹ vgl. Klaus Merten: Kommunikation. Eine Begriffs- und Prozessanalyse, Opladen: Westdeutscher Verlag 1977 und Roland Burkart: Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2002, S. 20-75. 63 Vgl. beispielsweise die hervorragende Sekundäranalyse von Jerry Fjermestad/Starr Roxanne Hiltz: »An Assessment of Group Support Systems Experimental Research. Methodology and Results«, in: Journal of Management Information Systems, 15 (1999) 3, S. 7-149.

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Es entbehrt auf den ersten Blick nicht einer gewissen Evidenz, die computerunterstützte Gruppenarbeit nach Maßgabe der gestellten Aufgaben zu konzipieren und zu strukturieren, sprich: aufgabenorientiert vorzugehen.64 Hierbei ist nicht zu verkennen, dass der ›Aufgaben‹-Begriff in vielen Zusammenhängen, etwa der Psychologie, Pädagogik, Kommunikationswissenschaft, Betriebswirtschaftslehre, (Wirtschafts-)Informatik usw., zum Teil als hoch problematisch angesehen wird.65 Im weiteren Fortgang der Diskussion komme ich gesondert auf diesen Gesichtspunkt zu sprechen. In der Regel beinhalten Aufgaben Ziele, etwa ein bestimmtes Resultat, ein Produkt oder eine Dienstleistung ins Werk zu setzen. Damit können unterschiedliche Anforderungen an Personen mit jeweils verschiedenen Rollenzuschreibungen einhergehen. Die beteiligten Akteure sollen in den Stand gesetzt werden, die ihnen gestellten Aufgaben zu lösen, und dies vollzieht sich beim computerunterstützten Arbeiten in arbeitsteiligen Prozessen. Daraus resultiert das Problem: wie aus dem Soll- der Ist-Zustand wird? Die Aktanten müssen an das Ziel herangeführt werden oder richten dies gegebenenfalls sogar selbst ein. Die Aufgabe muss so formuliert sein, dass die Akteure den Anforderungen – ihren individuellen Voraussetzungen und Leistungsständen gemäß – entsprechen können. Behavioristische Psychologen und Pädagogen,66 allen voran der Hauptvertreter des Neobehaviorismus, Burrhus Frederic Skinner (erinnert sei an frühe Ansätze wie Trial and Error, Drill and Practice, Stimulus and Response etc.),67 gaben die Devise aus: Die im Arbeiten und Lernen implizierten komplexeren Verhaltensdispositionen seien in kleinere Elemente zu zerlegen. Bei diesem Vorgang spricht man auch von Aufgabenanalyse.68 64 In den nachstehenden Ausführungen zur Aufgabenanalyse und -strukturierung beziehe ich mich auf Georg Schreyögg: Organisation. Grundlagen moderner Organisationsgestaltung, Wiesbaden: Gabler 2006, S. 109-206, hier S. 109-155 sowie Gerd Mietzel: Pädagogische Psychologie des Lernens und Lehrens, Göttingen u. a.: Hogrefe 2001, S. 410-411. 65 Vgl. zum Beispiel G. Schreyögg: Organisation (wie Anm. 64), S. 129-155. 66 Zur Periode des Behaviorismus merkt Mario Bunge: Finding Philosophy in Social Science, New Haven/London: Yale University Press 1996, S. 33, kritisch an: »Behaviorism was the golden age of causality in psychology and sociology. Indeed, the environmentalist or stimulus-response (S-R) schema and the unconditioned reflex do have the properties of causal links, especially since they overlook the internal states of an organism. But of cause this oversight leads to faulty results: the internal state, I, of the organism does matter, this being why one and the same stimulus is likely to elicit different responses at different times. In other words, S-R relations are only coarse approximations to S-I-R relations.« 67 Vgl. Barrhus Frederic Skinner: »The Science of Learning and the Art of Teaching«, in: Harvard Educational Review, 24 (1954), S. 86-97. Der Verweis auf Skinner ist G. Mietzel: Pädagogische Psychologie des Lernens und Lehrens (wie Anm. 64), S. 410, entlehnt. 68 Gerhard Schwabe: »Bedarfsanalyse«, in: Gerhard Schwabe/Norbert Streitz/ Rainer Unland (Hg.): CSCW-Kompendium. Lehr- und Handbuch zum computerunterstützten kooperativen Arbeiten, Berlin/Heidelberg/New York:

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Die Elemente werden in der Art und Weise arrangiert, dass sie – entlang einer steten Zunahme von Komplexitäts-, Abstraktions- und Reflexionsniveaus – als Sequenzen formiert werden. Im Vorfeld der Aufgabenanalyse wird sondiert, welche wissensrelevanten Voraussetzungen die Aktanten mitbringen müssen, um das anvisierte komplexere Ziel zu erreichen. Im Anschluss an die Aufgabenanalyse mit der Zergliederung eines Ziels beziehungsweise einer komplexeren Aufgabe obliegt es den Personen, die Elemente in einer logischen Reihenfolge, einer Sequenz, zu organisieren, wobei man der Einfachheit halber vom Simplen zum Komplexeren, vom Konkreten zum Abstrakteren, vom Induktiven zum Deduktiveren fortschreitet. Beim Prinzip der Aufgabenorientierung bleibt allerdings fraglich, ob die in der Planungsphase erdachte Sequenz in der Realisierungsphase dem tatsächlichen Verlauf entspricht, oder anders gesagt: inwieweit es überhaupt Sinn macht, das Geschehen von Anfang bis Ende vorzuschreiben. Mit Problemen der Gewährleistung des Arbeitserfolgs befassen sich Ansätze sequentieller Strukturierung. Diese Konzepte modellieren Arbeiten als einen sich zeitlich erstreckenden Prozess. Im Fall des tradierten Arbeitens leisten der Vorarbeiter oder der Manager mit der zeitlichen Prästrukturierung einen gewichtigen Beitrag. In Analogie kann man den Sachverhalt der Sequenzierung auch auf den Fall des medien- und computerunterstützten Arbeitens übertragen. Sofern die Szenarien zeitlich ›richtig‹ strukturiert sind, lässt sich ein entsprechend positiver Erfolg erwarten. Die zeitliche Anordnung des medien- oder computerunterstützten Arbeitens resultiert aus der sukzessiven Darbietung der Arbeitsgegenstände, sprich: ›Gemeinsames Material‹.69 Bei der zeitlichen Sequenzierung kann

Springer 2001, S. 361-372, hier S. 365, führt zur Aufgabenanalyse im Kontext der Gruppenarbeit, in erster Linie bezogen auf ein betriebliches oder unternehmerisches Umfeld, aus: »Die Aufgabenanalyse beschreibt den Spielraum, den die Gruppe zur Gestaltung ihrer Arbeit und Zusammenarbeit hat und stellt die Schnittstelle der Gruppe zur Organisation dar.« 69 Vgl. zu den Anforderungen an ›gemeinsames Material‹ Gerhard Schwabe: Objekte der Gruppenarbeit. Ein Konzept für das Computer Aided Team, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 1995, S. 138-142, hier S. 142: »Gemeinsames Material muß von der Gruppe gemeinsam manipulierbar sein. Wenn nicht jedes Mitglied direkt oder indirekt Zugriff auf das gemeinsame[.] Material hat, kann es nicht mitarbeiten. Gemeinsames Material sollte vielfältige Formen von Repräsentationen haben. Zwar ist es wünschenswert, daß alle Mitglieder an einem gemeinsamen Material arbeiten, aber für Kreativität sind vielfältige Perspektiven auf das Problem notwendig. […] Die Teilnehmer sollten mit dem gemeinsamen Material spielerisch umgehen können […][,] da spielerischer Umgang mit Material eine wesentliche Quelle von Kreativität ist.«

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man Anleihen machen bei gängigen Phasenmodellen. Solche Modelle offerieren Wegmarken zur zeitlichen Anordnung von Arbeitsinhalten.70 Im Vergleich zu zeitlich strukturierten Settings sind, so könnte man zumindest meinen, logisch strukturierte Arrangements einfacher zu konzeptualisieren. Hierbei handelt es sich häufig um Formen des selbstbestimmten und -organisierten Arbeitens. Der wahlfreie, autonome Umgang mit Informationen und Wissen scheint Reflexionen zur zeitlichen Sequenzierung überflüssig zu machen. Für die Konzeption, Realisierung und Implementierung gerät die sachlogische Strukturierung71 von Arbeitsinhalten in den Fokus des Interesses. Unentbehrlich werden unter diesen Vorzeichen allerdings Orientierungs- und Navigationshilfen für dezidiert individualisierte Mediennutzungsmodi von Usern in Arbeitsprozessen.72 Wenn man beim computerunterstützten Arbeiten in Gruppen ausschließlich auf Aufgabenorientierung setzt, gerät man mit einer gewissen Zwangsläufigkeit in ein grundlegendes Dilemma. Unter der Bedingung, dass Gruppen unter Einsatz technischer Systeme (Computer Supported Cooperative Work) kooperativ ein gemeinsames Ergebnis (Produkt oder Dienstleistung) zu erreichen haben, so ist dies schlechterdings nicht unter Weglassung einer sowohl sozial als auch technisch gestaltbaren Kommunikation und Kooperation denkbar. Dies gilt, zumal Material gemeinsam bearbeitet (manipuliert) werden soll. Sofern eine Aufgabe beispielsweise nach der Aufgabenanalyse in kleinere Einheiten zergliedert und nach bestimmten Kriterien sequenziert wird, können Gruppen beziehungsweise Gruppenmitglieder nur sehr eingeschränkt Einfluss auf die Interpretation und Konsensfindung der allen Beteiligten gestellten Aufgabe nehmen. Mithin vergewissert man sich somit auch nicht der vielfältigen Vorzüge kooperativer Arbeits- und Sozialformen, gestützt auf elektronische Informations- und Kommunikationssysteme. Will man den nicht nur definitorischen, sondern auch positiven normativen Kriterien der computerunterstützten Gruppenarbeit entsprechen, so muss auf verschiedenen Ebenen sichergestellt sein, dass sich die Gruppe und die Gruppenmitglieder kommunikativ und kooperativ einbringen und verhalten (können). Dieser Befund postuliert eine konzeptuelle Erweiterung der zugrunde liegenden Annahmen. Die Betrachtung der Aufgabenorientierung führte in die Misere einer sequenziellen und logischen Anordnung von Arbeitszielen und Aufgaben ein. Neben diesem tritt beim medien- und/oder computerunterstützten Arbeiten noch die Schwierigkeit der konzeptuellen, organisatorischen und

70 Vgl. eingehend Michael Kerres: Multimediale und telemediale Lernumgebungen. Konzeption und Entwicklung, München/Wien: Oldenbourg 2001, S. 186-217. 71 Vgl. ebd., S. 217-247. 72 Vgl. ebd.

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technischen Integration digitaler, konvergenter respektive vernetzter, interaktiver Werkzeugen, Medien und Systeme. Man könnte auch von Medienorientierung sprechen. Vor diesem Problemhorizont stellt die Information-Richness-Theorie oder Media-Richness-Theorie, die Richard L. Daft und Robert H. Lengel seit Mitte der 1980er Jahre vorgelegt haben, ein wichtiges, stark rezipiertes und adpatiertes Diskussionsangebot dar.73 Ich schließe mich hier der Bezeichnung Media-Richness-Theorie an. Die Verfasser der aus einem betriebswirtschaftlichen, mithin managementorientierten Arbeitskontext stammenden Media-Richness-Theorie versuchen diejenigen Indikatoren herauszustellen, die in einer großen Vielzahl und Bandbreite von Zusammenhängen eine rationale Medienwahl begründen. Laut Daft und Lengel gehören zu diesen Faktoren: • Medien; • Informationen; • Kontextvariablen wie Zeit und Entfernung sowie • semiotische und symbolische Charakteristika von Medien.74 In der Media-Richness-Theorie wenden sich Daft und Lengel ausdrücklich dem Aufgabenproblem zu. Sie schlagen vor, dass die Ausführung von Aufgaben ›besser‹ gelinge, wenn man deren Anforderungen auf die Möglichkeiten von Medien abstimme, damit die Aktanten möglichst ›optimal‹ kommunizieren können. Ein gesteigertes Augenmerk richtet sich auf den »Reichtum« (richness) von Medien. Kommunikationsmedien können, so Dafts und Lengels These, in ihrer Fähigkeit, Informationen zu ›transportieren‹, variieren.75 Jedes Medium unterscheide sich nach den Kriterien:

73 Vgl. Richard L. Daft/Robert H. Lengel: »Information Richness. A New Approach to Managerial Behavior and Organization Design«, in: Research in Organizational Behavior, 6 (1984), S. 191-233 sowie Richard L. Daft/ Robert H. Lengel: »Organizational Information Requirements, Media Richness, and Structural Design«, in: Management Science, 32 (1986) 5, S. 554571. 74 Vgl. ebd. 75 Klaus Krippendorf: »Der verschwundene Bote. Metaphern und Modelle der Kommunikation«, in: Klaus Merten/Siegfried J. Schmidt/Siegfried Weischenberg (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 79-113, hier S. 80, hebt hervor: »Jede Metapher hat die Eigenschaft, eine erklärungskräftige Struktur aus einem bekannten Erfahrungsbereich in einem anderen anzuwenden, der entweder noch erklärungsbedürftig ist oder den es neu zu verstehen gilt. Auf diese Weise gibt die Metapher einem unvertrauten oder unzureichend strukturierten Erfahrungsbereich eine neue Klarheit, Offensichtlichkeit und greifbare Gestalt. Metaphern bieten sogar eine sehr viel größere Experimentierfreiheit als physikalische Modelle. Zugleich aber werden die unkritischen Benutzer von Metaphern leicht dazu verführt, die damit geschaffene Neufassung von Wirklichkeit als Tatsächlichkeiten zu sehen und ihre Implikationen als selbstverständlich anzunehmen.« Zur Problematik der ›Container-‹, ›Mitteilungs‹-, ›Kanal‹-Metapher usf. vgl. ebd.

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• • • •

Geschwindigkeit des Feedbacks; Anzahl der Kommunikationskanäle; persönlicher Fokus der Informationsquelle sowie Symbolvielfalt.76

Daft und Lengel votieren dafür, den Status von Medien nach ihrem »Reichtum« zu definieren: Personelle Face-to-Face-Kommunikation gilt als reichstes Medium, gefolgt von Telefon, schriftlichen Briefen und Protokollen etc. Gespräche würden sofortige Rücksprachen erlauben, könnten zahlreiche Themen verhandeln, würden persönliche Informationsquellen darstellen und würden die eigene Körpersprache mit einbeziehen. Hingegen böten (Text-)Dokumente lediglich ein, wenn überhaupt, sehr langsames Feedback, ließen nur eine begrenzte Zahl von Themen zu, seien lediglich eine unpersönliche Informationsquelle und bestünden ausschließlich aus Schriftkommunikation.77 Im Gegensatz zu »ärmeren« (lean) Medien verfügen »reichere« (rich) Medien über eine größere Symbolvarietät, eine größere Anzahl von Informationskanälen, größere Fähigkeiten zur Personalisierung und über ein schnelleres Feedback. Daft und Lengel setzen die Aufgabe, die Personen in einem Kontext aufgegeben ist, und die Medien, die ausgewählt werden, miteinander in Funktion. Die Media-Richness-Theorie unterscheidet zum einen unsichere Aufgaben (tasks of uncertainty) und zum anderen mehrdeutige Aufgaben (tasks of equivocality). Unsichere Aufgaben ließen sich dann am besten bearbeiten, wenn alle notwendigen Informationen zur Verfügung stünden. Mehrdeutige Aufgaben ließen sich wiederum auch nicht durch noch so viele Informationen bewerkstelligen. Das Problem ist bei mehrdeutigen Aufgaben gerade darin zu sehen, dass die beteiligten Aktanten sich gemeinsam um eine einheitliche Interpretation bemühen müssen. Die Differentia spezifica bringt der Wirtschaftsinformatiker Gerhard Schwabe auf den Punkt: »Bei mehrdeutigen Aufgaben sucht man Variablen; bei unsicheren hingegen Variablenwerte.«78 76 Vgl. R. L. Daft/R. H. Lengel: »Information Richness« (wie Anm. 73) sowie R. L. Daft/R. H. Lengel: »Organizational Information Requirements, Media Richness, and Structural Design« (wie Anm. 73). 77 Vgl. auch Tracy Irani: »Communication Potential, Information Richness and Attitude. A Study of Computer Mediated Communication in the ALN Classroom«, in: ALN Magazine, 2 (1998) 1, elektronisch verfügbar unter: , o. S. (letzte Änderung: undatiert; letzter Zugriff: 26.06.2003). 78 Gerhard Schwabe: ›»Mediensynchronizität‹ – Theorie und Anwendung bei Gruppenarbeiten und Lernen«, in: Friedrich W. Hesse/Helmut Felix Friedrich (Hg.): Partizipation und Interaktion im virtuellen Seminar, Münster u. a.: Waxmann 2001, S. 111-134, elektronisch verfügbar unter: , S. 4 (letzte Änderung: undatiert; letzter Zugriff: 19.05.2003).

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Die Media-Richness-Theorie ist im Laufe der letzten 20 Jahre mehrfach überarbeitet worden. Ronald E. Rice übertrug die Theorie auf ›Neue‹ Medien79 und Ralf Reichwald, Kathrin M. Möslein, Hans Sachenbacher und Hermann Englberger entwickelten auf dieser Grundlage ein Modell für die Telekooperation.80 Letztlich sei, so der immer wieder einhellig vorgebrachte kritische Tenor der befassten Forschung, die Media-RichnessTheorie theoretisch zu unpräzise und empirisch nicht genügend validiert.81 Während Daft und Lengel davon ausgehen, dass Spezifika der Aufgabe und deren Bedingungen an den Kontextreichtum eine geeignete Medienwahl festlegen, nehmen ihre Kritiker Alan R. Dennis und Joseph S. Valacich an, dass der Kommunikations- und Kooperationsprozess sowie deren Anforderungen an die Informationsverarbeitungskapazität eines Mediums schließlich die Mediennutzung bestimmen (sollen).82 Vor die Alternative gestellt, den Ansatz von Daft und Lengel in neuralgischen Punkten zu revidieren oder eine neue Theorie zu konzipieren, gaben Dennis und Valacich Letzterem ihre Präferenz: Ausgehend von der eingeführten Media-Richness-Theorie legten sie Ende der 1990er Jahre die im Kontext der computerunterstützten Gruppenarbeit situierte MediaSynchronicity-Theorie vor: »We propose a new theory, which we call a theory of media synchronicity. The theory proposes that group communication processes, regardless of task outcome objectives, are composed of two primary processes, conveyance and convergence. The theory also proposes that media have a set of capabilities that play a dominant role when addressing each type of communication process. Performance will be enhanced when media capabilities are aligned with these processes.«83

Mit diesen Thesen markieren Dennis und Valacich ihre argumentative Opposition zu Konzepten der Aufgaben- und Medienorientierung, erklärtermaßen zur Media-Richness-Theorie. Indem Dennis und Valacich am Kommunikationsprozess ansetzen, mithin: kommunikationsorientiert vorgehen, führen sie – theoriegeleitet – in ein bislang in der Forschung kaum oder nur widerwillig aufgegriffenes Desiderat ein: das explikatorische Problem von Synchronizität/Asynchronizität computerunterstützter (kooperativer) Settings. In den relevanten Wissenschaftsdiskursen finden sich 79 Vgl. vor allem Ronald E. Rice: »Task Analysability, Use of New Media and Effectiveness. A Multisite Exploration of Media Richness«, in: Organization Science, 3 (1992) 4, S. 475-500. 80 Vgl. Ralf Reichwald u. a.: Telekooperation. Verteilte Arbeits- und Organisationsformen, Berlin/Heidelberg: Springer 1998, S. 57, passim. 81 Vgl. A. Picot/R. Reichwald/R. T. Wigand: Die grenzenlose Unternehmung (wie Anm. 19), S. 111, 265, 373, 481, 550. 82 Vgl. A. R. Dennis u. a.: »Beyond Media Richness« (wie Anm. 45), S. 48. 83 A. R. Dennis/J. S. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45), S. 1.

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nur wenige Ansätze zur expliziten Thematisierung von synchronen/ asynchronen Arrangements,84 obwohl die damit verbundenen Erklärungsbeziehungsweise Gestaltungspostulate beim computerbasierten (kooperativen) Arbeiten respektive beim computerbasierten (kooperativen) Lehren und Lernen mit verteilten Personen (distributed information, distributed cognition), aber auch mit vereinten Personen (located cognition, situated cognition), immer impliziert sind.85 Mit der Media-Synchronicity-Theorie legen Dennis und Valacich ein einschlägiges Konzept vor und formulieren konstruktive Thesen zu Zusammenhängen zwischen Synchronizität der Mediennutzung und Besonderheiten der computerunterstützten Kommunikation und Kooperation. Die Media-Synchronicity-Theorie konnte sich auf einige Vorarbeiten stützen. So rekurrierten Dennis und Valacich in besonderer Weise, wenn auch als negative Kontrastfolie, auf Überlegungen von Daft und Lengel. Daft und Lengel reklamieren, wie ausgeführt, Zusammenhänge und Wirkungen zwischen dem »Reichtum« eines Mediums und der in der Kommunikation zu bewerkstelligenden Aufgabe bestimmen zu können. Nach Überzeugung Dennis’ und Valacichs nimmt sich der Ansatz des Medienreichtums zwar auf der einen Seite von seinen Prämissen her als plausibel aus, aber auf der anderen Seite konnte er aber in der empirischen Überprüfung nicht validiert werden.86 In ihrer eingehenden Kritik an der Media-Richness-Theorie monieren Alan R. Dennis, Joseph S. Valacich, Cheri Speier und Michael G. Morris, dass das Konzept des Medienreichtums zwei wesentliche Zusammenhänge nicht zu erfassen vermag: zum einen das Potenzial und die Spezifik der elektronischen Medien und zum anderen die vielfältigen Sozialfaktoren bei Kommunikationsprozessen, die Medien, Informationsauswahl, Interaktionsvorgänge und Resultate manipulieren (können).87 Durch neue unbefriedigende empirische Untersuchungen zu Media Richness veranlasst, schlagen Dennis, Valacich, Speier und Morris mit ihrer Media-Synchronicity-Theorie vor: Alle Aufgaben würden durch zwei basale Kommunikationsprozesse (convergence und conveyance) konstitu84 Vgl auch die fachübergreifenden Beiträge in Michael Beißwenger (Hg.): Chat-Kommunikation. Sprache, Interaktion, Sozialität & Identität in synchroner computervermittelter Kommunikation. Perspektiven auf ein interdisziplinäres Forschungsfeld, Stuttgart: Ibidem 2001. 85 Vgl. grundlegend Hilary McLellan (Hg.): Situated Learning Perspectives, Englewood Cliffs/New Jersey: Educational Technology Publications 1996; Jean Lave: Cognition in Practice. Mind, Mathematics, and Culture in Everyday Life, Cambridge, United Kingdom: Cambridge University Press 1988 sowie Jean Lave/Etienne Wenger: Situated Learning. Legitimate Peripheral Participation, Cambridge, United Kingdom: Cambridge University Press 1991. 86 Vgl. A. R. Dennis/J. S. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45), S. 1-2. 87 Vgl. A. R. Dennis u. a.: »Beyond Media Richness« (wie Anm. 45), S. 49-53.

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iert. Die Wirksamkeit von Kommunikation wird durch das Zusammenkommen der Medieneigenschaften und der Notwendigkeiten der grundlegenden Kommunikationsprozesse beeinflusst, aber nicht durch die gesamten Ansammlungen von Kommunikationsprozessen wie etwa in Untersuchungen der Media-Richness-Theorie.88 Gemäß der Media-Synchronicity-Theorie sind zwei Kommunikationsprozesse voneinander zu scheiden: konvergente Prozesse (convergence) und divergente Prozesse (conveyance). Im Rahmen konvergenter Vorgänge werden Informationen verdichtet, im Rahmen divergenter Vorgänge werden Informationen erzeugt und verteilt. Im Sinne einer rationalen Problemlösung sorgen divergente Phasen dafür, dass Entscheidungen oder Problemlösungen möglichst umfassend fundiert und Unsicherheiten reduziert werden. Konvergente Phasen machen Gruppen handlungsfähig, indem sie dafür Sorge tragen, dass Gruppen nicht in Informationen untergehen und zu einer gemeinsamen Bewertung gelangen (können). Dabei handelt es sich um eine Eingrenzung von Mehrdeutigkeit.89

M o d e l l i e r u n g vo n M e d i e n im Kommunikationsprozess Bereits nach einer flüchtigen Lektüre der Media-Synchronicity-Theorie stellt sich der Eindruck ein, dass man es mit einem, gerade auch für den Bereich der transgressiven (computerunterstützten) Gruppenforschung, relativ abstrakten Entwurf zu tun hat. Aus diesem Sachverhalt ergibt sich für meine Reflexion auf die Media-Synchronicity-Theorie die Notwendigkeit, den Fokus spezifisch einzuschränken. Da es in diesem Anwendungskapitel in erster Linie darum geht zu analysieren, ob und inwieweit es sich im Falle des Konzepts Alan R. Dennis’ und Joseph S. Valacichs um eine sich selbststabilisierende Kopplung beteiligter Wissenschaftsdisziplinen und -kulturen handelt, bin ich darauf angewiesen, mich mit den zentralen Schnitt- und Gelenkstellen zu befassen. Demnach sind die theoretischen Termini, Prämissen sowie Thesen einem eingehenden Räsonnement zu unterziehen. Führen wir uns den Ausgangspunkt und die Stoßrichtung Dennis’ und Valacichs vor Augen:

88 Vgl. ebd., S. 48-49, 53-54. Die Autoren führten ein Laborexperiment zur empirischen Überprüfung der Media-Synchronicity-Theorie durch. Ihre Studie untersuchte den Einfluss unterschiedlicher Medien bei konvergenten und divergenten Kommunikationsprozessen. Die Ergebnisse erhärten die Grundannahmen der Media-Synchronicity-Theorie. 89 Vgl. hierzu auch G. Schwabe: »›Mediensynchronizität‹« (wie Anm. 78).

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»This paper describes a new theory called a theory of media synchronicity which proposes that a set of five media capabilities are important to group work, and that all tasks are composed of two fundamental communication processes (conveyance and convergence).«90

Die Begründer der Media-Synchronicity-Theorie apostrophieren ihre Theorie als ›neu‹ und reklamieren somit für ihren Entwurf einen gewissen Anspruch auf Innovativität und Originalität. Zunächst verhandeln Dennis und Valacich Ansätze zur (computerunterstützten) Gruppenarbeit in der Beschreibungsdimension ›Medien‹. Mit Verweis auf die unbefriedigenden empirischen Befunde distanzieren sie sich – dies hatte ich bereits angesprochen – von kursierenden Ansätzen, allen voran der Media-RichnessTheorie,91 die einer funktional-kausalen Relation von Medienreichtum und Aufgabenausübung das Wort redet. Mehr noch: Dennis und Valacich bezweifeln nachhaltig, dass Medien als solche – seien sie ›reich‹ oder seien sie ›arm‹ – etwas bei der Ausführung einer Aufgabe ausrichten könnten, womit sie gleichsam einem technologisch-ontologisch beziehungsweise substantialistisch-materialistisch fundierten Medienbegriff92 eine klare Absage erteilen. Mit dieser Position wird zudem die weitere These der Media-Richness-Theorie hinfällig, der nach einige Medien per se besser geeignet seien als andere, wenn es um Informationen in ungewissen oder mehrdeutigen Situationen gehe. Während Daft und Lengel behaupten, dass die Fähigkeit von Medien, ›reichere‹ Informationen zu senden, sich für mehrdeutige Aufgaben geeigneter ausnähme und dass die Fähigkeit von Medien, weniger ›reiche‹ In-

90 A. R. Dennis/J. S. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45), S. 1 (im Original komplett hervorgehoben). 91 Ein weiterer, nicht zu vernachlässigender Vorwurf gegenüber Daft und Lengel wurde dahingehend geäußert, dass die Media-Richness-Theorie kaum geeignet sei, sie auf elektronische Settings wie das computerunterstützte kooperative Arbeiten oder das computerunterstützte kooperative Lehren und Lernen anzuwenden. Ähnliche Anmerkungen finden sich auch bei A. R. Dennis/J. S. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45), S. 2: »Many of Daft and Lengel’s media richness dimensions owe their origins to social presence theory and thus, much of media richness theory is built on the presumption that increased richness is linked to increased social presence.« 92 Die Skepsis gegenüber solchen eher technikinduzierten Vorstellungen liegt darin begründet, wie es zum Beispiel Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 13-14, ausdrückt: »Während wir die technischen Apparaturen, die ›Materialitäten der Kommunikation‹, ihre Wichtigkeit unbenommen, aus der Operation des Kommunizierens ausschließen, weil sie nicht mitgeteilt werden, schließen wir den (verstehenden bzw. mißverstehenden) Empfang ein. Eine Kommunikation kommt nur zustande, wenn jemand sieht, hört, liest – und so weit versteht, daß [sich; C. F.] eine weitere Kommunikation anschließen könnte. Das Mitteilungshandeln allein ist also noch keine Kommunikation.«

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formationen zu übertragen, sich für unsichere Aufgaben empfehle,93 halten dem Dennis und Valacich eine völlig andere Sicht der Dinge entgegen: ›Mehrdeutigkeit‹ herrscht vor, wenn viele, womöglich einander widerstreitende Auslegungen von Gruppenmitgliedern vertreten würden. In solchen Fällen besteht die Anforderung, wie auch in der Kommentierung zur Media-Synchronicity-Theorie treffend erkannt wurde,94 dass in der Gruppe ein entsprechend eindeutiges interpretatorisches Einvernehmen hergestellt wird. (Weitere Informationen würden im Falle von Mehrdeutigkeiten nicht wirklich weiterhelfen.) Hierfür würden sich ›reichere‹ Medien anbieten. Hingegen benötigt man bei unsicheren Aufgaben zusätzliche Informationen; es bedarf einer Initiative aus der Gruppe, die fehlenden Informationen beizubringen, was sich womöglich am ehesten durch ›ärmere‹ Medien bewerkstelligen lässt. Aus der Einsicht heraus, dass sich Modellvorstellungen von (computerunterstützter) Gruppenarbeit, die einzig und allein auf das Ausmaß von ›Reichtum‹ der Medien abstellen, so wie es etwa Daft, Lengel und Kombattanten vorexerziert haben, als unzulänglich erwiesen haben, ziehen Dennis und Valacich für ihre theoretische Konzeptualisierung die aus ihrer Sicht zwingenden Konsequenzen. Die sich in ihrer Analyse sowohl als monodimensional als auch als reduktionistisch identifizierte MediaRichness-Theorie muss, wie Dennis und Valacich versuchen zu plausibilisieren, um mindestens eine – neben den Medien – weitere Theoriestelle komplettiert werden: die der Kommunikation. Dieser grundlegende Konnex lässt sich zum Beispiel durch semiotische Modellvorstellungen vor allem Charles W. Morris’95 von Kommunikation stützen.96 Bekanntlich unterscheidet man in der Semiotik (Semiologie) drei verschiedene Ebenen: • erstens Syntaktik als die Analyse von Zeichen und der Relationen zwischen Zeichen; • zweitens Semantik als die Analyse der Relationen zwischen Zeichen und ihrer Bedeutung sowie • drittens Pragmatik als die Analyse der Effekte von Zeichen auf Aktanten.

93 Vgl. R. L. Daft/R. H. Lengel: »Information Richness« (wie Anm. 73) sowie R. L. Daft/R. H. Lengel: »Organizational Information Requirements, Media Richness, and Structural Design« (wie Anm. 73). 94 Vgl. näher G. Schwabe: »›Mediensynchronizität‹« (wie Anm. 78). 95 Vgl. Charles W. Morris: Pragmatische Semiotik und Handlungstheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. 96 Vgl. grundlegend Umberto Eco: Einführung in die Semiotik, München: Fink 1991, mit stärkerem Bezug zur Medienkommunikation Winfried Nöth (Hg.): Semiotics of the Media. State of the Art, Projects, and Perspectives, Berlin/New York: Mouton de Gruyter 1997.

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Es handelt sich dabei um analytische Differenzierungen. In der Anwendung des semiotischen Kommunikationsmodells sind die drei Unterscheidungsebenen im Wirkungszusammenhang miteinander zu sehen. Bezieht man den semiotischen Ansatz von Kommunikation auf die theoretische Erweiterung der Media-Synchronicity-Theorie um eine Kommunikationskomponente, so wird deutlich, dass sich die Funktionsstelle ›Kommunikation‹ in Dennis’ und Valacichs Überlegungen (kommunikations-)pragmatisch begreifen lässt. Die Kommunikationspragmatik integriert, persönliche, psychologische, soziale, organisationelle und technische Faktoren, die ein Kommunikationsereignis (Interpunktion) von einem anderen abgrenzt, und untersucht mögliche Intentionen, Effekte, Folgen und Konsequenzen, die mit Kommunikationsprozessen einhergehen. Information als intendiertes Konstrukt von Wissen erschließt sich erst durch kontextuelles Wissen. Indem Alan R. Dennis und Joseph S. Valacich das Moment Kommunikation theoretisch implementieren, soll nicht nur formaliter ihrer Kritik an der Media-Richness-Theorie Tribut gezollt werden, vielmehr sollen die basalen sozialen Prozesse in der Gruppenarbeit konzeptuell modelliert und expliziert werden (können). Vergegenwärtigt man sich, von den Beschreibungsdimensionen her betrachtet, das Theoriekonstrukt, so sind in den Begriffen ›Medien‹ und ›Kommunikation‹, vorbehaltlich weiterer Ausführungen, Gruppen, Gruppenmitglied, soziale Prozesse und Medien miteinander in Beziehung gesetzt. Dieser Befund lässt sich als erstes Zwischenergebnis der expliziten Argumentation von Dennis und Valacich festhalten. Allerdings impliziert dieser Kenntnisstand bereits auf der Ebene der Beschreibungsdimensionen eine gewisse Unschärferelation. Denn als unverzichtbare dritte Beschreibungsdimension ist ›Kognition‹ in der MediaSynchronicity-Theorie unmarkiert. Dieser Sachverhalt mag umso überraschender erscheinen, als dass Dennis und Valacich, ausweislich ihres Literaturverzeichnisses, einschlägige Publikationen konsultiert haben dürften.97 Der Umstand des ›Fehlens‹ einer kognitiven Komponente könnte sich nicht zuletzt deswegen als problematisch erweisen, da diese als unabdingbar für die Explikation konstitutiver (gruppenbezogener) Wissensvermittlungs- und Wissensaneignungsaktivitäten zu gelten hat. Wie man aus intra- und interdisziplinären Diskursen – insbesondere im Anschluss an die cognitive sciences (Wissens- und Kognitionspsychologie, Wissenssoziologie, Künstliche Intelligenz etc.) – weiß, unterliegt der selbstbezügliche und -organisierende Akt des Entwerfens von Wirklichkeit biologischen, kognitiven und sozialen Rahmenbedingungen der Art- sowie

97 Vgl. beispielsweise Herbert H. Clark/Susan E. Brennan: »Grounding in Communication«, in: Lauren B. Resnick/John M. Levine/Stephanie D. Teasley (Hg.): Perspectives on Socially Shared Cognition, Washington, D. C.: American Psychological Association 1991, S. 127-149.

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der Individualgeschichte.98 Das Individuum erzeugt als kognitives System seine erlebte Wirklichkeit aufgrund selbstorganisierter beziehungsweise autologischer Ordnungsschemata und Bedeutungszurechnungen. Im Rekurs auf wissenssoziologische Ansichten zeigt sich, dass ›Wirklichkeit(en)‹ als Konstrukt(e) personeller und sozialer Systeme konzipiert werden können. Soziale Differenzierungsprozesse führen zur Bildung funktional spezifizierter Subsysteme und zur Individualisierung in der Gesellschaft. Unter der Voraussetzung der Autonomie kognitiver Systeme bedeutet die Zuschreibung von Verstehen, den Erwartungen eines anderen in einer bestimmten Situation zu entsprechen. Dabei ist die soziokulturelle und -historische Sphäre nicht zu vergessen. Mithin lassen sich Medientechnologien und -offerten als Möglichkeiten der Erweiterung des soziokulturellen Gedächtnisses oder auch des Gruppengedächtnisses interpretieren.99 Unter der Voraussetzung, dass man die Beschreibungsdimension der Kognition berücksichtigt, wird sich – unbeschadet des weiteren Untersuchungsgangs – auf ›höherem‹ theoretischen Abstraktionsniveau ein Integrationsproblem abzeichnen, nämlich: wie man ›Kognition‹, ›Kommunikation‹ und ›Medien‹ funktional in ein Modell vereint. Man könnte nunmehr erwarten, dass eine definitorische Sondierung der Termini Dennis’ und Valacichs vorgenommen werde. Jedoch wird an dieser Stelle davon abgesehen, da in der Media-Synchronicity-Theorie – entgegen sozial- und kommunikationswissenschaftlichen Konventionen –100 darauf verzichtet wird, die Hauptbegriffe extra einzuführen und zu bestimmen. Aufgrund dessen schlage ich vor, von singulären Termini zu abstrahieren und größere theoretische Einheiten zu fokussieren, nicht zuletzt weil sich die Begrifflichkeiten bei Dennis und Valacich aneinander schärfen. Der Begriff ›(Teil-)Modellierung‹ scheint sich hierfür zu empfehlen, da sich Dennis und Valacich mit bereits in der (computerunterstützten) Gruppenforschung und -arbeit (Small Group Research) eingeführten Modellvorstellungen kritisch auseinandersetzen und so eine eigene Position gewinnen. Die so genannten (Teil-)Modellierungen zerfallen in zwei Teile: zum einen setzten sie bei ›Medieneigenschaften‹ (media characteristics), zum anderen bei den uns schon geläufigen ›mehrdeutigen‹

98 Vgl. Dieter Münch (Hg.): Kognitionswissenschaft. Grundlagen, Probleme, Perspektiven, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992. 99 Als ersten Überblick mit richtungweisenden Referenzialisierungen zu Medien und Kommunikation vgl. Klaus Merten/Siegfried J. Schmidt/Siegfried Weischenberg (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 3-140. 100 Vgl. stellvertretend für viele Quellen Gerhard Maletzke: Kommunikationswissenschaft im Überblick. Grundlagen, Probleme, Perspektiven, Opladen/ Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 12.

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beziehungsweise ›unsicheren‹ Aufgaben (tasks of equivocality und tasks of uncertainty) an. Zuerst richte ich mein Augenmerk auf die Medieneigenschaften. Wie bereits herausgestrichen, stellt die Einführung des Kommunikationsbegriffs durch Dennis und Valacich die Einbeziehung sozialer Prozesse sicher. Darauf aufbauend benennen die Verfechter der Media-Synchronicity-Theorie ein Ensemble von Medieneigenschaften. Von diesem zeigen sie sich überzeugt, die Effekte des Einsatzes von Medien verstehen zu können, sofern es um die Fähigkeit geht, Informationen zu kommunizieren. Die Bedeutung von Kommunikation – und somit auch die sozialer Prozesse – gesichert, formulieren Alan R. Dennis und Joseph S. Valacich eine erste These, die den Konnex von sozialen Prozessen und Mediencharakteristika vorbereitet: »One primary thesis of this paper is that the richness of a medium − its ability to change understanding within a time interval − is linked not only to its social factors but also to its information processing capabilities.«101

Die kausalen Bezüge in der These bleiben zunächst unklar oder die Aussagen missverständlich. Dass hier auf soziale und mediale Aspekte abgehoben wird, ist offensichtlich. Doch irritiert die Formulierung, dass eine Eigenschaft des Mediums, eine »Fähigkeit«, einen Verständnis- oder Einsichtswechsel herbeiführen könne – und dies, ohne auf beteiligte Aktanten zu verweisen. Allerdings wird man ohne die Einführung weiterer konzeptueller Unterscheidungen schlechterdings ›Kommunikation‹, mithin ›Verstehen‹, nicht begreifbar machen können. Bereits in seinem »Organon-Modell der Sprache«, einem frühen linguistischen Kommunikationsentwurf aus dem Jahre 1934, definiert Karl Bühler als »Leistungen« beziehungsweise »Funktionen« der Sprache: »Ausdruck«, »Appell« und »Darstellung«.102 Hierbei handelt es sich um einen dreifachen Selektionsprozess: In einem Kommunikationsgeschehen muss eine Information, eine Mitteilung und schließlich eine Erwartung einer Annahme ausgewählt und bestimmt werden. In der Sprechakttheorie John L. Austins sind dies bekanntlich:103 • die Sprechhandlung (»Lokution«); • die Proposition (dass p) (»Illokution«) und • die beabsichtigte Wirkung (»Perlokution«).104 101 A. R. Dennis/J. S. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45), S. 2. 102 Vgl. Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart/New York: Fischer 1982, S. 24-33. 103 Vgl. John L. Austin: How to Do Things with Words, Oxford: Clarendon Press 1962, S. 94-96. 104 Vgl. auch Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 196-197.

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Erst aus Sicht der Kommunikationspragmatik heraus wird das Gelingen der Metakommunikation, die Kommunikation über Kommunikation, verständlich. Diesen Gesichtspunkt heben auch Dennis und Valacich im weiteren Verlauf hervor: Für einen ›erfolgreichen‹ Verlauf von Kommunikation ist es unabdingbar, dass der Empfänger die beabsichtigte ›Botschaft‹ des Senders versteht und zwischen den Beteiligten Einvernehmen darüber besteht. Dies macht den metakommunikativen Akt aus, verbunden mit der Feststellung, dass die Message des Senders beim Empfänger ›angekommen‹ ist.105 In der detaillierteren Bestimmung der Medieneigenschaften, die Effekte auf Kommunikation zeitigen, argumentieren Dennis und Valacich fürs Erste historisch. Sie führen die für die weitere Theorieentwicklung – in mehrfacher Hinsicht – folgenreiche mathematische Informationstheorie von Claude E. Shannon und Warren Weaver106 aus dem Jahre 1948 an und unterstreichen deren Ansatz der Dekodierung und Enkodierung von Nachrichten. Die Autoren der Media-Synchronicity-Theorie adaptieren einen Teil der Shannon’schen und Weaver’schen Begrifflichkeit, respezifizieren und komplettieren diese aus ihrer Perspektive. Während in der mathematischen Informationstheorie Nachrichtenquelle (source) und Nachrichtenziel (destination) im Prinzip in das technische System implementiert sind, verorten Dennis und Valacich diese Elemente in Personen, Aktanten, sprich: Sender (sender) und Empfänger (receiver), außerhalb des technischen Systems oder – wie sie es nennen – des Mediums (medium). Hingegen platzieren Dennis und Valacich Sender (transmitter), Kanal (channel) und nochmals

105 Vgl. Paul Watzlawick/Janet H. Beavin/Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern/Stuttgart/Toronto: Huber 1990, S. 41-44, 55, 89, 92-93, 147, 164-167, 179, 181, 196, 216-217. 106 Vgl. etwa Claude E. Shannon/Warren Weaver: »Mathematische Grundlagen der Informationstheorie«, in: Claus Pias u. a. (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999, S. 446-449. In den techniknahen Disziplinen, vor allem in der (Kern-)Informatik, spielt die Informationstheorie in der Tradition von Shannon und Weaver nach wie vor eine große Rolle, zum Beispiel beim Software Engineering und seinen konstitutiven Phasen (Bedarfsanalyse, Design, Einführung, Betrieb und Evaluierung). Vgl. eingehend H. Balzert: Lehrbuch der Softwaretechnik (wie Anm. 16). In den Sozial- und Kulturwissenschaften wird bis in die Gegenwart hinein die Metapher der ›Informationsübertragung‹ (transmission) der mathematischen Nachrichtentheorie als problematisch angesehen. So konstatiert N. Luhmann: Soziale Systeme (wie Anm. 104), S. 193: »Die Übertragungsmetapher ist unbrauchbar, weil sie zu viel Ontologie impliziert. Sie suggeriert, daß der Absender etwas übergibt, was der Empfänger erhält.« Des Weiteren monieren Medien- und Kommunikationswissenschaftler immer wieder, dass ›Nachrichten‹ nach Shannon und Weaver keinen (sozialen) ›Sinn‹ haben. Jedoch muss man Letztere insofern in Schutz nehmen, als dass es ihnen auch gar nicht um soziale Kommunikation ging.

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Empfänger (receiver), allerdings hier im technischen Sinne, als Bestandteile des Kommunikationsmediums. Die konzeptuelle Entscheidung, von der ›klassischen‹ mathematischen Informationstheorie abzugehen und die Komponenten Aktanten und Medien voneinander zu trennen, erweist sich, gemessen an den von Alan R. Dennis und Joseph S. Valacich implizit eingeführten Beschreibungsdimensionen, als konsistent. Wären Dennis und Valacich just in diesem Punkt Shannon und Weaver gefolgt, nämlich alle Elemente im technischen System anzusiedeln, so wären sie zweifelsohne hinter ihren eigenen Erkenntnisfortschritt, der aus der Kritik an der Media-Richness-Theorie resultiert, zurückgefallen. Durch diese Weichenstellung halten sich Dennis und Valacich – von der Anlage ihres Konzeptes her – die Möglichkeit offen, die analytisch getrennten Medien- und Kommunikationssphären funktional und kausal aufeinander beziehen zu können. Mithin scheint darüber hinaus auch die Möglichkeit, was weiter oben schon zur Sprache gekommen ist, zu bestehen, Überlegungen zu einer bislang im Konzept der Media-Synchronicity-Theorie fehlenden expliziten kognitiven Dimension anzuschließen. Nach Auffassung von Dennis und Valacich vermögen fünf Mediencharakteristika, Kommunikation, mithin konvergente und divergente Kommunikationsphasen, zu beeinflussen. Diese wären: • Geschwindigkeit des Feedbacks (immediacy of feedback); • Symbolvarietät (symbol variety); • Parallelität (parallelism); • Überarbeitbarkeit (rehearsability) und • Wiederverwendbarkeit (reprocessability).107 Die aufgelisteten Medienfaktoren der Media-Synchronicity-Theorie sind, wie die Nachweise zeigen, durch verschiedene fachliche Diskurskontexte inspiriert: etwa durch die Organisationsforschung, Betriebswirtschaftslehre, (Wirtschafts-)Informatik, Psychologie und Gruppenforschung. Die einzelnen Mediencharakteristika sind wie folgt zu erläutern: Geschwindigkeit des Feedbacks. ›Geschwindigkeit des Feedbacks‹ steht für die Schnelligkeit mit der ein Mediennutzer (wiederum) auf einen Kommunikationsakt, der ihn erreicht, reagieren kann. Beispielsweise erfolgt das Feedback in einer Face-to-Face-Kommunikation sehr schnell, während es bei einem geschrieben Brief relativ lange dauert. Die Fähigkeit zum Feedback wird durch die technischen und/oder medialen Spezifika eines Werkzeugs oder Systems bestimmt; allerdings können Nutzer diese Möglichkeiten sehr unterschiedlich einsetzen. Die technischen Prämissen kommandieren also nicht mit Notwendigkeit die konkrete Mediennutzungspraxis. 107 A. R. Dennis/J. S. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45), S. 1-2.

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Symbolvarietät. ›Symbolvarietät‹ meint die Vielseitigkeit von Kanälen, auf denen Informationen kommuniziert werden. In Anlehnung an die Media-Richness-Theorie von Daft und Lengel108 (Kanalvielfalt und Sprachvarietät) differenzieren Dennis und Valacich verschiedene Arten, wie Symbolvarietät ›Kommunikation‹ und das ›Verständnis‹ von Botschaften beeinflussen kann. So ist etwa die Symbolvarietät einer Videokonferenz höher als die eines Telefongesprächs. Die Unterscheidungen, die innerhalb der Media-Synchronicity-Theorie getroffen werden, haben zur Voraussetzung, dass Kommunikation und Sprache letztendlich – Daft und Lengel sprechen von »Essenz« (essence) –109 symbolbasierte Systeme sind.110 Doch nicht nur die Spezifik der zur Verfügung stehenden Symbolsysteme, mithin ihre Symbolvarietät, haben Auswirkungen auf einen Kommunikationsvorgang; sondern zudem macht es einen Unterschied, darauf weisen Dennis und Valacich ausdrücklich hin, dass ein Verlust an sozialer Präsenz eintritt, wenn verbale beziehungsweise nichtverbale Symbole nicht gegeben sind. Das an der Face-to-Face-Kommunikation gemessene ›Fehlen‹ einer Symbolkomponente lässt Personen oder Gegenstände »weniger real« erscheinen.111 Der Hinweis ist deswegen nicht trivial, da sich Bedeutungszuschreibungen in der medienunterstützten Kommunikation, mitunter spricht man von parasozialer Kommunikation oder Interaktion,112 zuallererst an der personalen Kommunikation orientieren. Parallelität. ›Parallelität‹ zielt auf die Anzahl der zeitgleichen Kommunikationsakte oder Kommunikationen (conversations) ab, die effektiv durchgeführt werden können. Hierbei machen Dennis und Valacich auch 108 Vgl. R. L. Daft/R. H. Lengel: »Information Richness« (wie Anm. 73) sowie R. L. Daft/R. H. Lengel: »Organizational Information Requirements, Media Richness, and Structural Design« (wie Anm. 73). 109 A. R. Dennis/J. S. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45), S. 2. 110 Mit diesen Thesen goutieren Dennis und Valacich wenigstens implizit den prominent in der Peirce’schen Semiotik beschriebenen Sachverhalt, dass es sich bei Symbolen um eine Klasse von Zeichen handelt, bei denen das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem ohne Ausnahme auf Vereinbarung (Konvention) gründet. Hierin bestehen gravierende Unterschiede zu anderen Klassen von Zeichen wie Index und Ikon. Die Bedeutung von Symbolen ist sprachlich und kulturell begründet. Vgl. Charles Sanders Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. 111 Vgl. A. R. Dennis/J. S. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45), S. 2. Zum Beispiel eröffnen sich einem Betrachter durch analoge Informationen über Mimik, Gestik, Intonation der Stimme etc. weitere Interpretationsdimensionen, die über die digitalen Informationen eines geäußerten Satzes hinausgehen. Vgl. auch P. Watzlawick/J. H. Beavin/D. D. Jackson: Menschliche Kommunikation (wie Anm. 105), S. 61-68. 112 Vgl. zur ›parasoziale Interaktion‹ Klemens Hippel: »Parasoziale Interaktion. Bericht und Bibliographie«, in: montage/av. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation, 1 (1992) 1, S. 135-150, hier S. 135-137.

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vom Begriff der »Breite« (width) eines Mediums Gebrauch.113 Parallelität gibt an, auf wie vielen Wegen wie viele Personen gleichzeitig an Kommunikationsvorgängen partizipieren (können). Zum Beispiel ist die Parallelität eines Anrufbeantworters sehr niedrig: Es kann nur eine Person eine Nachricht hinterlassen, die später eine andere abhören kann. Im Gegensatz dazu ist die Parallelität der Electronic Mail (E-Mail) hoch: Mit einem Mausklick kann eine Nachricht potenziell an eine große Anzahl von Empfängern geschickt werden. Insbesondere elektronische Werkzeuge, Medien und Systeme bieten die Möglichkeit, zeitgleich mehrere oder viele Kommunikationen zu unterstützen. Allerdings nimmt mit der Anzahl der parallelen Kommunikationsprozesse, wie in der Media-Synchronicity-Theorie vermerkt wird, die Schwierigkeit der Koordination und Kontrolle zu. Überarbeitbarkeit. ›Überarbeitbarkeit‹ ist das Ausmaß, indem ein Sender eine Nachricht abändern und/oder verfeinern kann, bevor er diese abschickt. Wenn eine Person ihre Botschaft verschriftlicht (etwa in einem Brief), so kann sie eher auf Inhalt und Form reflektieren, als wenn sie diese wie in der Face-to-Face-Kommunikation direkt artikuliert. Die Fixierung des Inhalts hat zudem häufig eine kognitiv entlastende Funktion. Vor allem digitale Werkzeuge, Medien und Systeme (beispielsweise E-Mail) gewährleisten die Überarbeitung eines Beitrags, da die eingegebenen Zeichen auf dem Bildschirm präsent sind, elektronisch vorliegen oder gespeichert sind. Wiederverwendbarkeit. ›Wiederverwendbarkeit‹ lässt sich als Pendant zur Überarbeitbarkeit begreifen. Sie drückt den Grad der Wieder- oder Weiterverwendung eines Beitrags innerhalb eines Kommunikationsgeschehens aus.114 Ansonsten gelten für die Wiederverwendbarkeit – analog zur Überarbeitbarkeit – ähnliche Merkmale. Die von Alan R. Dennis und Joseph S. Valacich konturierte These zum Reichtum eines Mediums in Verbindung mit sozialen Faktoren und Medieneigenschaften führt zu einer dynamischeren Betrachtung der starren Konstrukte aus der Media-Richness-Theorie. Schon hier zeichnet sich eine Zunahme von Komplexität ab: Wenn man aufgrund des Erkenntnisfortschritts oder aufgrund von empirischen Resultaten angehalten ist, fixe Funktionen und Mechanismen fahren zu lassen, so müssen nunmehr neue und/oder weitere Korrelationen von Faktoren im Theorieentwurf adäquat inkorporiert werden. Damit geht zwar auf der einen Seite eine Flexibilisierung des Theoriedesigns einher, dem steht allerdings auf der anderen Seite 113 In der Forschungsliteratur beziehen sich A. R. Dennis/J. S. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45), S. 2, auf den Begriff der »multiplen Adressierbarkeit« (multiple addressability) von Ronald E. Rice: »Computer-mediated Communication and Organizational Innovation«, in: Journal of Communication, 37 (1987) 4, S. 65-94. 114 Vgl. A. R. Dennis/J. S. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45), S. 3.

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eine diffizilere Kontrollierbarkeit der Parameter einzeln und/oder im Ensemble gegenüber. Aus ihrer Diskussion der Media-Richness-Theorie ziehen Dennis und Valacich drei weit reichende Schlussfolgerungen: »First, no one medium has the highest values on all dimensions so none could be labeled as ›richest‹ in Daft & Langels’s terms. Second, media are not monolithic. It is possible for one medium to possess different levels of a communication capability depending upon how it is configured and used […]. Third, ranking media in absolute terms is not practical.«115

Die Begründer der Media-Synchronicity-Theorie erteilen dem reduktionistischen Medienbegriff Dafts und Lengels eine deutliche Absage. Denn jene verabsolutieren eine einzige Eigenschaft eines Mediums und geraten damit in die Nähe einer gefährlichen ›Ontologisierung‹ oder ›Substantialisierung‹ medialer Kommunikation, wie sie von Medientheoretikern und Kommunikationsforschern kritisiert werden.116 Auch die von Daft und Lengel priorisierte media richness bedarf der Korrektur: Wie Dennis und Valacich argumentieren, verfügen Medien über unterschiedliche strukturelle Merkmale, die je nach Gebrauch des Mediums, der Begriff ›Kommunikationspragmatik‹ scheint mir auch hier die zutreffendste Kennzeichnung zu sein,117 unterschiedlich einzuschätzen sind. Als eine Folge dessen gerinnt die Festschreibung einer Rangordnung (ranking) von den ›reichsten‹ zu den ›ärmsten‹ Medien (und umgekehrt) zu Makulatur. Die vermeintliche Konsistenz der Theorie Dafts und Lengels wurde durch eine folgenreiche Aussparung eines jedweden kommunikativen und/oder sozialen Verwendungszusammenhangs teuer erkauft. Spätestens an dieser Stelle des Argumentationsgangs verabschieden sich Dennis und Valacich von den impliziten Prämissen der MediaRichness-Theorie: Die Media-Synchronicity-Theorie verlässt die monodimensionale Perspektive auf den Medienreichtum und setzt bei der kausalen und funktionalen Analyse von computerunterstützter Kommunikation auf den situierten Kontext. Durch den Perspektivenwechsel der Kontextualisierung gelangen Mediencharakteristika in einer je gegebenen Verwendungsweise ins Blickfeld. Man könnte höchstens von einem Medium mit dem »größten Reichtum« (richtest medium) sprechen, insofern die Eigenschaften des Mediums von einem Aktanten oder einer Aktantengruppe in einer ganz konkreten Situation benötigt und gegebenenfalls genutzt wer115 Ebd. 116 Vgl. grundlegend zu ›Einzelmedienontologien‹ beziehungsweise ›Generellen Medienontologien‹ R. Leschke: Einführung in die Medientheorie (wie Anm. 14), S. 73-159, 237-297. 117 Vgl. P. Watzlawick/J. H. Beavin/D. D. Jackson: Menschliche Kommunikation (wie Anm. 105), S. 41-44, 55, 89, 92-93, 147, 164-167, 179, 181, 196, 216-217.

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den. Mit dem situierten Kontext werden weitere Faktoren auf die Agenda der Theoriebildung gesetzt, nämlich: die beteiligten Individuen und Gruppen, die zu bewerkstelligende Aufgaben- und/oder Problemstellung sowie der soziale Handlungs- und/oder Bezugsrahmen.

M o d e l l i e r u n g vo n Au f g a b e n im Kommunikationsprozess Nachdem zuerst die (Teil-)Modellierung von ›Medieneigenschaften‹ im Mittelpunkt der Analyse der Selbstbeschreibung der Media-SynchronicityTheorie stand, wird sich die Untersuchung jetzt der (Teil-)Modellierung von ›Aufgaben‹ zuwenden. Hierbei knüpfen Alan R. Dennis und Joseph S. Valacich erneut an Dafts und Lengels Media-Richness-Theorie an, in erster Linie an deren Verständnis von ›mehrdeutigen‹ beziehungsweise ›unsicheren‹ Aufgaben (tasks of equivocality und tasks of uncertainty).118 Die zweite These Dennis’ und Valacichs lautet: »[...] we argue that regardless of the task (whether equivocal or uncertain), groups and the individuals within them perform a similar set of fundamental micro-level communication processes. We believe that attempting to recommend a single ›best‹ medium based on a high level task is doomed to failure.«119

Mit diesem Argumentationsschritt bereiten Dennis und Valacich die Eliminierung des für nicht wenige Organisations-, Kooperations- und Gruppentheorien zentralen Begriffs der Aufgabe120 in ihrem Ansatz zur computerunterstützten Gruppenarbeit vor. Gemäß der Media-SynchronicityTheorie erweist es sich als wenig hilfreich, sich eingehender mit Aufgabenkonzepten121 auseinanderzusetzen. Dennis und Valacich vertreten den Standpunkt, dass eine Aufgabenstellung, ungeachtet wie implizit oder explizit sie formuliert sei, letztlich zu Bedingungen von für Gruppenmitglieder konstitutiven mikrostrukturellen Kommunikationsprozessen verhandelt 118 Vgl. R. L. Daft/R. H. Lengel: »Information Richness« (wie Anm. 73) sowie R. L. Daft/R. H. Lengel: »Organizational Information Requirements, Media Richness, and Structural Design« (wie Anm. 73). 119 A. R. Dennis/J. S. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45), S. 3. 120 Vgl. ebd., S. 3-5. 121 In der Gruppenforschung sind eine Reihe von Untersuchungen zu verschiedenen Typen von Aufgaben durchgeführt worden. Systematisch lassen sich vornehmlich Entscheidungs-, Kreativitäts- und Urteilsaufgaben unterscheiden. Vgl. auch Hendrik Lewe: »Gruppenproduktivität«, in: Gerhard Schwabe/Norbert Streitz/Rainer Unland (Hg.): CSCW-Kompendium. Lehr- und Handbuch zum computerunterstützten kooperativen Arbeiten, Berlin/Heidelberg/New York: Springer 2001, S. 454-464, hier S. 459.

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und ausgehandelt wird. Sofern es den Begründern der Media-Synchronicity-Theorie gelingt, den Aufgabenbegriff zu suspendieren, wären sie ihrem Anliegen einer konzeptuell fundierten, kommunikationsbasierten Theorie der computerunterstützten Gruppenarbeit wesentlich näher gekommen. Bevor Alan R. Dennis und Joseph S. Valacich ihre Kritik an mehrdeutigen beziehungsweise unsicheren Aufgaben entfalten, erweitern sie die Diskussionsgrundlage der Gruppenarbeit um neue Gesichtspunkte. Dazu beziehen sie sich auf die bekannte TIP-Theorie von Joseph E. McGrath.122 Die Abkürzung steht für: ›Zeit‹ (time), ›Interaktion‹ (interaction) und ›Ausführung‹ oder ›Durchführung‹ (performance). Die TIP-Theorie besagt, dass Gruppen beziehungsweise Gruppenmitglieder zur gleichen Zeit in soziale und organisatorische Systeme eingebunden sind. Erst vor einem gemeinsamen kontextuellen Hintergrund erschließen sich, so der Ansatz von McGrath, Gruppenprozesse und -dynamiken. Bedingt durch die Verortung im selben sozialorganisatorischen Zusammenhang, führen die Gruppenmitglieder während eines Arbeitsvorgangs zeitgleich drei Funktionen aus. Diese sind: • Produktionsfunktion (production): darunter sind Beiträge zugunsten der Organisation, in der die Gruppenmitglieder eingebunden sind, zu verstehen; • Gruppenwohlfühlfunktion (group well-being): meint Wirkungen auf die Gruppe als solche, indem man für eine intakte und fortsetzungsfähige (mithin -würdige) Sozialstruktur Sorge trägt sowie • Mitgliedsunterstützungsfunktion (member support): zielt auf die Stärkung des individuellen Gruppenmitglieds in seinen spezifischen Belangen ab. Gemäß der TIP-Theorie können Gruppen innerhalb der genannten Funktionen – oder genauer: bei ihrer Ausübung – in vier unterschiedlichen Modi engagiert sein. Diese sind:123 Begründung oder Auslegung (inception). Damit wird auf das Auslegungs- und Entscheidungsproblem in einer Gruppe angespielt. Eine zu bearbeitende Aufgabe wird von Gruppenmitgliedern häufig unterschiedlich wahrgenommen und bestimmt. Aus diesem Grunde sind sie angehalten, ein einvernehmliches Verständnis über die gemeinsamen Ziele herzustellen. Zumeist treten solche Schwierigkeiten in der Anfangsphase eines Projektes auf. Besonders sind diejenigen Gruppen betroffen, die sich aus einander unbekannten Mitgliedern zusammensetzen oder die sich ad hoc bil-

122 Vgl. Joseph E. McGrath: Groups. Interaction and Performance, Englewood Cliffs, New Jersey: Prentice Hall 1984 sowie Joseph E. McGrath: »Time, Interaction, and Performance (TIP). A Theory of Groups«, in: Small Group Research, 22 (1991) 2, S. 147-174. 123 Vgl. ebd.

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den (auch Ad-Hoc-Gruppen genannt). Natürlich können Fragen der Begründung oder Auslegung auch während der Durchführung der Projektarbeit immer wieder für Friktionen sorgen. Technische oder operationale Problemlösung (technical problem solving). Dieser Gesichtspunkt hebt auf die technische, operationale Dimension ab. Man könnte wohl auch von den ersten Anforderungen des ›klassischen‹ Projektmanagements sprechen. In der Gruppe müssen verschiedene Aspekte abgestimmt werden, darunter fallen zum Beispiel: Festlegung von Aufgaben, Verteilung von Rollen und Verantwortlichkeiten, Einigung auf Zeitpläne etc. Psychosoziale Konfliktbehebung (conflict resolution). Bei Gruppenprozessen kommt es immer wieder zu persönlichen, sozialen oder psychischen Konflikten. Im Kontext der psychosozialen Konfliktlösung sollen diese Probleme möglichst behoben oder zumindest ein individuell oder kollektiv akzeptierter Umgang – je nach Fall – mit ihnen gefunden werden. Potenzielle Indikatoren für eine konfliktreiche Zusammenarbeit können sein: verschiedenartige Präferenzen, Wertvorstellungen, Interessen, Aufgabenverteilungen, Sozialstrukturen, Entlohnungsangebote usf. Aus- oder Durchführung (execution). Bei diesem Aspekt besteht eine gewisse Nähe zur technischen oder operationalen Problemlösung. Eine trennscharfe Abgrenzung dürfte in der Praxis zu Beginn einer Gruppenrespektive Projektgründung schwierig sein. Formaliter wird angenommen, dass die technisch-organisatorischen Belange geklärt sind, bevor die Gruppe zur Aus- und Durchführung schreitet. Unter den Gruppenmitgliedern muss ein notwendiges Mindestmaß an Verhaltensregeln ausgehandelt werden, um die Zielsetzung des Projekts, der Gruppe oder der einzelnen Gruppenmitglieder erfüllen zu können. Nach der TIP-Theorie findet die Aus- oder Durchführung durch einzelne Gruppenmitglieder beziehungsweise Kleingruppen statt, und dies unabhängig von der Gesamtgruppe. In ihrer Argumentation betonen Alan R. Dennis und Joseph S. Valacich, dass keine im Vorfeld ausgemachten oder festgelegten Verfahrenswege zur Verfügung stünden, auf die man zurückgreifen könnte, um die vier Modi aus der TIP-Theorie zu strukturieren. Somit hängt es stets vom Einzelfall ab, wann, wie und warum Gruppen in einem bestimmten Modus innerhalb einer bestimmten Funktion agieren (situiertes Setting).124 Mit den differenzierteren Analyseinstrumentarien, die aus dem Exkurs zur TIP-Theorie gewonnen wurden, wenden sich Dennis und Valacich wieder den Aufgabenbegriffen zu. In ihrer Problematisierung der MediaRichness-Theorie nehmen Dennis und Valacich beispielhaft an, dass eine Gruppe eine im hohen Maße mehrdeutige Aufgabe übernommen habe. Die Gruppe fängt im Modus der Gründung an und muss zu einer geteilten Ver124 Vgl. A. R. Dennis/J. S. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45), S. 3, 8.

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einbarung über die Ziele der zugewiesenen Aufgabe gelangen. Mit einer großen Mehrdeutigkeit gehen verständlicherweise vielfältige und mögliche widerstreitende Deutungen der Situation einher. Unter den Gruppenmitgliedern liegt kein Einverständnis über Lösungspräferenzen vor. Es sind mehrere Optionen denkbar. Das Beheben der Mehrdeutigkeit erfordert eine Strategie des gemeinsamen Übereinstimmens (Sensemaking). Dies lässt sich durch Vermittlung und Aufbau einer gegenseitig geteilten Vereinbarung (shared knowledge) über zu begründende Zusammenhänge und gewünschte Resultate erreichen. Wie leicht zu ersehen ist, handelt es sich bei der von Dennis und Valacich ins Feld geführten Sensemaking-Strategie wiederum um eine konzeptuelle Entscheidung, die man zweifelsohne der Beschreibungsdimension der ›Kommunikation‹ zurechnen kann. Mit jüngsten Erkenntnissen aus der Kommunikations- und Sprachtheorie lassen sich die Bezugspunkte Common Sense, Sensemaking, Kompetenz und Kommunikation konfundieren, die bei Dennis und Valacich unproblematisiert vorausgesetzt werden. Die Erläuterungen sollen auch in diesem Bereich einer ›Idealisierung‹ und ›Substantialisierung‹ menschlicher respektive medienunterstützter Kommunikation vorbeugen. In seiner Studie Common-Sense-Kompetenz hat sich der Linguist Helmuth Feilke am Beispiel der Face-to-Face-Kommunikation mit dem nahezu ›selbstverständlichen‹ Funktionieren menschlicher Kommunikation beschäftigt.125 Das Gelingen menschlicher Kommunikation erscheint allerdings in Hinsicht auf die großen Kontingenzpotenziale als gar nicht mehr so unproblematisch. Man denke an die individuelle Konstruktion menschlicher Wahrnehmung und Kognition, die Generativität der grammatischen Kompetenz und die Komplexität und Selektivität hochvariabler Kontexte für das ›Meinen‹ und ›Verstehen‹, um nur einige Beispiele anzuführen. Als wesentliche Erkenntnisse aus der Untersuchung Feilkes ist festzuhalten: •





»Die Common sense-Kompetenz ist kommunikationstheoretisch eine ›Kontextualisierungs‹-Kompetenz, d. h. sie ist eine wichtige Grundlage unserer Fähigkeit, gemeinsame Kontexte für Meinen und Verstehen zu erzeugen. Eine solche Kompetenz ist erforderlich, weil entgegen einer gängigen Auffassung, nach der Kommunikation immer in bereits bestimmten Kontexten stattfindet, eine genaue Betrachtung zeigt, daß Situationen der Kommunikation im Prinzip immer polyvalent, d. h. mehrfach kontextualisierbar und an mehrere mögliche bekannte Kontexte anschließbar sind. Eine Common sense-Kompetenz ermöglicht die pragmatische Strukturierung von Situationen im Hinblick auf Anschlußmöglichkeiten für das verständigungsrelevante Weltwissen und Handeln der sozialen Akteure.

125 Vgl. Helmut Feilke: Common sense-Kompetenz. Überlegungen zu einer Theorie »sympathischen« und »natürlichen« Meinens und Verstehens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, insbesondere S. 361-372.

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Diese außerordentliche Selektivität wird möglich durch den Mechanismus ›idiomatischer Prägung‹, d. h. durch die reflexive Konventionalisierung der Assoziation von im Sprechen und Hören (Meinen und Verstehen) erbrachten Konzeptualisierungsleistungen mit sprachlichen Ausdrücken bzw. Ausdrucksweisen. Der Prozeß resultiert inhaltsseitig in der Konventionalisierung einer perspektivischen Interpretation und ausdrucksseitig in einer konventionalisierten und im idiomatischen Sprachwissen mehr oder weniger stark fixierten Distribution. So können über die Prägung bestimmter Ausdrücke Ressourcen des Vorverständigtseins für die Kommunikation geschaffen und gesichert werden.«126

Es gibt eine Reihe grundlegender Sensemaking-Strategien, die eine Gruppe anwenden kann, um starke Mehrdeutigkeiten zu verringern. Dennis und Valacich legen in ihrer Media-Synchronicity-Theorie den Ansatz von Karl E. Weick und David K. Meader zugrunde. Dieser bezieht sich bereits explizit auf die computerunterstützte Kommunikation und das Handeln in elektronischen Kontexten.127 Die fünf Strategien des Sensemaking, die hier auf den Gruppenkontext appliziert werden, bestehen nach Weick und Meader in den nachstehenden Faktoren: • Handeln (action). Gruppenmitglieder stellen Fragen oder unterbreiten Vorschläge hinsichtlich Handlungen, Informationen, Meinungen usw. Sie warten die Reaktionen oder das Feedback der Anderen ab. • Bestimmung fester Punkte (triangulation). In der Gruppe analysiert man Informationen nach Maßgabe einer Vielzahl von Formaten beziehungsweise nach einer Vielzahl von Quellen. An irgendeiner Stelle könnten Informationen ungenau und/oder unvollständig sein. • Kontextualisierung (contextualization). Mitglieder in der Gruppe versuchen Aufschlüsse zwischen neuen und vergangenen Ereignissen und Begebenheiten herzustellen, um somit eine mögliche Mehrdeutigkeit einzuschränken. • Abwägen (deliberation). In der Gruppe wird ein langsamer und vorsichtiger Argumentationsprozess benötigt. Die Mitglieder bemühen sich, konsistente Schemata von Informationen zu identifizieren, die durch die drei vorangegangenen Strategien Handeln, Bestimmung von Fixpunkten und Kontextualisierung gewonnen wurden. Sofern der Gedankenaustausch genügend Zeit zum Nachdenken einräumt, ist die Chance größer, dass die geäußerten Gründe und Begründungen der 126 Ebd. S. 366-367 (Hervorhebungen im Original). 127 Vgl. A. R. Dennis/S. J. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45), S. 4 und darüber hinaus Karl E. Weick/David K. Meader: »Sensemaking and Group Support Systems«, in: Leonard M. Jessup/Joseph S. Valacich (Hg.): Group Support Systems. New Perspectives, New York: Macmillan Publishing 1993, S. 230-252.

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Gruppenmitglieder klarer werden. Verläuft der Austausch von Informationen zu schnell, so kann es passieren, dass Einzelpersonen Informationen nicht wirklich verarbeiten und auf gewohnheitsmäßige Prozesse und Stereotype (implizites Wissen) zurückfallen. • Verbindung (affiliation). Die Gruppenmitglieder versuchen nachzuvollziehen, wie Andere Informationen auslegen oder verstehen. Somit gelangt die Gruppe zu einer gemeinsamen Interpretation der mehrdeutigen Aufgabe.128 Im nächsten Schritt der Entfaltung der Media-Synchronicity-Theorie führen Alan R. Dennis und Joseph S. Valacich ihre schon zu Beginn proklamierte, doch recht abstrakt gebliebene Hauptthese ein: Gruppenkommunikationsprozesse basieren auf den elementaren Prozessen der Divergenz und Konvergenz. Die erst behauptete Irrelevanz der Aufgabenstellung konnten die Autoren sukzessive begründen, insofern – um es mit den Theoremen der Sprechakttheorie zu sagen – weder Lokution noch Illokution oder Perlokution für sich den Ausschlag geben, sondern der kommunikationspragmatische Umgang mit der Aufgabendenotation. Das heißt: die Gruppe entscheidet in letzter Konsequenz, was der Fall ist (dass p).129 Dennis und Valacich exemplifizieren ihren Gedankengang anhand der Produktionsfunktion im Modus der Begründung der Aufgabenziele. Der bisher gewonnene Kenntnisstand gereicht Dennis und Valacich zum Vorteil. In ihrer Selbstbeschreibung haben sie nachweisen können, dass kommunikativ in der Gruppe über die Ziele einer Aufgabenstellung befunden wird. Damit ist zwar die Entscheidung der Kommunikationsdimension überantwortet, mehr ist darüber hinaus aber nicht ausgesagt. Die fünf aufeinander aufbauenden Stadien des Sensemaking werden in der Media-Synchronicity-Theorie zum Vehikel, um den Kommunikationsbegriff zu schärfen. Mittels der ersten drei beziehungsweise vier Strategien des Sensemaking wird der Divergenzaspekt der Gruppenkommunikation, mit128 Die Analogie der Affiliation-Strategie zum Grounding-Effekt liegt auf der Hand: In beiden Fällen geht es, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten, darum, dass Lernen und Wissensaneignung nahezu beiläufig erfolgen, mithin als Resultat sozialer Kommunikation, indem ein Gruppenmitglied versucht, ein anderes Gruppenmitglied zu verstehen. Durch Kooperation lernen die Mitglieder, dass die Gruppe über mehr und detaillierteres Wissen verfügt als das einzelne Gruppenmitglied. Vgl. hierzu H. H. Clark/S. E. Brennan: »Grounding in Communication« (wie Anm. 97). 129 Mit diesem Befund ist lediglich das Primat der Kommunikationspragmatik, der Performanz der Gruppenaktivität gesetzt. Hingegen ist noch nichts ausgemacht über Zusammenhänge mit dem denotativen, konnotativen, propositionalen, appellativen oder instruktionalen Gehalt der Aufgabenstellung. Hierzu lassen sich Aussagen erst im Nachhinein machen, etwa auf der Grundlage eines Transkripts der Gruppenkommunikation, das sich beispielsweise konversationsanalytisch auswerten ließe. Vgl. dazu etwa Gerd Fritz/Franz Hundsnurscher (Hg.): Handbuch der Dialoganalyse, Tübingen: Niemeyer 1994.

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tels der fünften Strategie des Sensemaking wird der Konvergenzaspekt der Gruppenkommunikation expliziert. Um das Problem der mehrdeutigen Aufgabe in den Griff zu bekommen, versucht man der Ziele Herr zu werden. Die ersten drei Strategien – Handeln, Bestimmung fester Punkte und Kontextualisierung – konstituieren sich auf der Grundlage eines Kommunikationsprozesses: Informationen werden geteilt (conveyance). Das Teilen von Informationen fokussiert sich auf die Verbreitung einer Verschiedenartigkeit der Informationen und Quellen – Informationen, die den Gruppenmitgliedern vorher nicht bekannt waren. Die Absicht besteht darin, durch die Sammlung und Verteilung möglichst vieler (relevanter) Informationen zu versuchen, die fragliche Situation (Aufgabe) zu verstehen. Jedoch hat die Verteilung von Informationen keinen Wert ohne die vierte Sensemaking-Strategie: Es bedarf der Abwägung, um ein für alle Beteiligte sinnvolles Verständnis herzustellen. Sobald die Informationen durch den Verbreitungsvorgang verteilt sind, macht die fünfte Sensemaking-Strategie (Verbindung) einen zweiten grundlegenden Kommunikationsprozess erforderlich, den der Konvergenz (convergence) der geteilten Bedeutung dieser Informationen. Wie bereits mehrfach erklärt, gebührt nicht dem denotativen oder propositionalen Gehalt der Information Aufmerksamkeit, sondern der Interpretation durch die Individuen beziehungsweise die Gruppe. Nach Dennis und Valacich ist intendiert, dass die Gruppenmitglieder über die Bedeutung der Informationen, ihre aktuelle Situation (Aufgabe) betreffend, Einigkeit herstellen. Dieses Ziel hat zur allgemeinen Voraussetzung, dass die Einzelpersonen ein gemeinsames Verständnis erreichen (wollen) und schließlich gegenseitig darin übereinstimmen, dass sie diese Übereinkunft erreicht haben (oder im negativen Fall feststellen, dass ein allgemeines Verständnis nicht möglich ist). Das ist der bereits erwähnte metakommunikative Zusammenhang, die Kommunikation über Kommunikation. Der Konvergenzprozess überprüft die zugeschriebenen Bedeutungen und die Folgerungen, die aus einem Set schon bekannter Informationen stammen.130 Die durch Konvergenz kondensierten Informationen – Dennis und Valacich sprechen von ›destillierten‹ Informationen –131 werden im Vergleich zum Zustand davor eingeschränkter ausfallen. Die von der Media-Synchronicity-Theorie vorgebrachte Vermutung, dass ein gewisses Maß an 130 Im Unterschied zum Divergenzprozess, der durch die ersten drei respektive vier Sensemaking-Strategien schärfer konturiert wurde, bleibt der Konvergenzprozess im Theorieentwurf merklich unbestimmt. In seiner Lesart hat Gerhard Schwabe darauf hingewiesen, dass man letzteren Vorgang insbesondere als eine Priorisierung der geteilten Informationsbestände begreifen kann. Vgl. unter anderem G. Schwabe: »›Mediensynchronizität‹« (wie Anm. 78). 131 Vgl. A. R. Dennis/J. S. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45), S. 4.

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Deckung und Ähnlichkeit in den Schlüssen der einzelnen Gruppenmitglieder wahrscheinlich ist, erweist sich als einleuchtend. Dennis und Valacich erklären dies ihrerseits durch Konvergenz: Die Mitglieder der Gruppe würden ihre Überlegungen mit denen der anderen vergleichen, anstatt ihren kompletten Informationssatz nochmals zu überprüfen. Selbst Unterschiede in den Schlussfolgerungen dienen den Autoren der MediaSynchonicity-Theorie mit gewissen Wahrscheinlichkeitswerten noch als Beleg, dass Deutungen abgewogen wurden und so die Informationen in einem größeren Umfang als die Ausgangsinformationen verarbeitet wurden. Ihren Kenntnisstand fassen Dennis und Valacich in die Worte: »The key point is that for resolving equivocality, there are two fundamental communication processes (conveying information/deliberation and converging on a shared interpretation). Media richness theories emphasize the need to converge; conveyance is left to tasks of uncertainty. We argue that conveying information and converging on a shared meaning are equally critical for tasks of equivocality and uncertainty. Without adequate conveyance of information, individuals will reach incorrect conclusions. Without adequate convergence, the group can not move forward.«132

Auch wenn Alan R. Dennis und Joseph S. Valacich ihre These an einer Funktion und in einem Modus, Produktion und Begründung, exemplifizieren, so reklamieren sie deren Relevanz gleichermaßen für andere Konstellationen. Allerdings darf man nicht außer Acht lassen, dass die These auch für ungewisse Aufgaben Gültigkeit besitzen soll, die bis dato noch nicht als argumentationsleitender Gegenstand firmierte. Die Adaption ihrer These auf die drei weiteren Modi der Produktion – über die der Gründung hinaus – auf die technische oder operationale Problemlösung, psychosoziale Konfliktbehebung sowie Aus- und Durchführung können Dennis und Valacich lediglich kursorisch skizzieren. Auch in Fällen solcher Funktion/Modus-Kombinationen gilt, dass die Gruppenmitglieder Informationen teilen und gemeinsam Bedeutung, Vorgehen und Lösungswege aushandeln. Die für Gruppenkommunikation konstitutiven Prozesse Divergenz und Konvergenz betreffen nicht nur die Produktionsfunktion, sondern auch die weiteren Funktionen aus der TIP-Theorie: Gruppenwohlfühl- und Mitgliederunterstützungsfunktion, auch in Konstellation mit den genannten Modi. Die Aufgabenterminologie der Media-Richness-Theorie wird wiederum zur Untersuchung von ungewissen Aufgaben in Anschlag gebracht. Wir erinnern uns, dass ›ungewisse Aufgaben‹ durch das Fehlen von Informationen charakterisiert sind. Um eine solche Aufgabe zu lösen, folgen Gruppen den gleichen Grundmodi wie vorher, aber das Hauptgewicht kann unterschiedlich ausfallen. Für die Produktionsfunktion kann die Pro132 Ebd. (Hervorhebung im Original).

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jektgründung kurz ausfallen, wenn die Ziele deutlich angegeben sind oder ohne weiteres abgeleitet werden können. Den Gruppenmitgliedern obliegt es, Informationen auszutauschen und abzuwägen und auf Grundlage eines geteilten Sets von Zielen eine Priorisierung vorzunehmen;133 allerdings sind Umfang und Grad der Komplexität geringer. Ebenso kann das technische Lösen von Problemen spezifiziert werden oder ad hoc identifiziert werden, damit Mitglieder schnell zur Durchführung übergehen können, deren Fokus sich auf den Austausch von Informationen richtet. Unbeschadet dessen wird Konvergenz erforderlich werden, bevor die Gruppe zur Durchführung schreiten kann. Gruppenwohl und Mitgliedsunterstützung sind für Aufgaben der Ungewissheit weniger klar. Etablierte Gruppen können zügig nach der Formgründung aufgrund von gewohnheitsmäßigen Programmen mit der Durchführung fortfahren. Wird eine Gruppe eben erst gebildet oder es kommen neue Mitglieder zur Gruppe, so wird mehr Zeit in der Gründungsphase, im technischen, organisatorischen Lösen von Problemen und in der Konfliktauflösung aufgewandt werden müssen. Nichtsdestoweniger wird die Gruppe von den grundlegenden Prozessen der Kommunikationskonvergenz und -divergenz Gebrauch machen, aber die Informationen können – je nach Anforderung – den Einsatz eines anderen Symbolsets erforderlich machen. In kritischer Diskussion, so lässt sich als Interimsfazit festhalten, demonstrieren Dennis und Valacich, dass die von Daft und Lengel verfolgten mehrdeutigen und unsicheren Aufgaben in letzter Konsequenz der Kommunikationspragmatik einer Gruppe unterliegen. Damit ist der formale Aufgabenbegriff für die Analyse computerunterstützter Gruppenarbeit in Dennis’ und Valacichs Konzeption weitest gehend suspendiert. Auf der Basis einer im Prinzip auf die kommunikative Dimension der computerunterstützten Gruppenarbeit abgestellten Modellvorstellung begründen Alan R. Dennis und Joseph S. Valacich ihr Konzept einer Media Synchronicity Theory beziehungsweise einer Theory of Media Synchronicity.134 Der anstehende Theorieschritt ist insofern von weit reichender Bedeutung, weil im Konzept die markierte Schnittstelle der Beziehungen von Kommunikation und Medien kausal und funktional zu bestimmen ist. Das heißt: die fundamentalen Kommunikationsprozesse conveyance und convergence und die Informationsverarbeitungskapazitäten von Medien – ich erinnere an die erste These Dennis’ und Valacichs – sind zu integrieren und zu justieren.

133 Wie schon weiter oben ausgeführt, lässt sich der Prozess der Konvergenz (convergence) als Priorisierung präzisieren. 134 Die ersten Überlegungen wurden noch mit »Media Synchronicity Theory« überschrieben. Vgl. A. R. Dennis u. a.: »Beyond Media Richness« (wie Anm. 45).

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Für ihren Theorievorschlag der ›Mediensynchronizität‹ respektive von ›Mediensynchronizitätsgraden‹ setzen Dennis und Valacich als erste Richtgröße eine umgangs- oder alltagssprachliche Erklärung (Begriffsbestimmung aus einem Konversationslexikon) voraus. Demnach vollzieht sich eine ›synchrone Tätigkeit‹ durch das gleiche Ausmaß an gemeinsamer und zeitgleicher Aktivität von Personen oder einer Gruppe.135 Dennis und Valacich definieren den Begriff ›Mediensynchronizitätsgrad‹ und markieren die Anschlussstellen an die Ergebnisse ihrer bisherigen theoretischen Überlegungen. Im Wortlaut heißt es bei Dennis und Valacich: »Media synchronicity is the extent to which individuals work together on the same activity at the same time; i. e., have a shared focus.«136

Eine Voraussetzung, um den Einsatz eines bestimmten Mediensynchronizitätsgrades für die computerunterstützte Gruppenarbeit festlegen zu können, ist die Kenntnis der zur Verfügung stehenden Medieneigenschaften. Mit Hilfe der medialen Charakteristika sollen zum Beispiel die grundlegenden Kommunikationsprozesse für alle Gruppenfunktionen unterstützt werden. Die wichtigsten Hypothesen bezüglich der Mediensynchronizität lauten: »In general, low media synchronicity is preferred for conveyance.«137 »In general, high synchronicity is preferred for convergence.«138

Für konvergente Phasen benötigt man hohe Synchronizität, weil hier unmittelbares Feedback essentiell ist; für divergente Phasen erhöhen Medien mit niedriger Synchronizität die Produktivität, da hier ein großes Parallelisierungspotenzial besteht. So bietet es sich an, für konvergente Prozesse Medien mit hoher Synchronizität und für divergente Prozesse Medien mit geringer Synchronizität zu verwenden. Offensichtlich besteht die operationale Bedeutung der Mediensynchronizität im Theorieentwurf von Dennis und Valacich in der Strukturierung der Gruppenkommunikation über Medieneigenschaften. Die fünf Medienfaktoren der Media-Synchronicity-Theorie werden hinsichtlich ihrer Relevanz für die Kommunikationsprozesse und Funktionen der computerunterstützten Gruppenarbeit erneut sondiert:

135 Vgl. A. R. Dennis/J. S. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45), S. 5. 136 Ebd. 137 Ebd. 138 Ebd.

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Symbolvarietät. Der Stellenwert der Symbolvarietät ist von der Information, die mitgeteilt werden soll, abhängig. Wird eine ›falsche‹ Medienwahl getroffen, und ein erforderliches Symbolset steht nicht zur Verfügung, so kann dies unter gewissen Vorzeichen negative Folgen und Konsequenzen für die Arbeit und die Zufriedenheit der Gruppenmitglieder nach sich ziehen. Bei der Produktionsfunktion wird für die Divergenz eine höhere Symbolvarietät postuliert, hingegen für die Konvergenz eine niedrigere. Allgemein unterstützen Divergenz und Konvergenz, argumentieren Dennis und Valacich, für die Gruppenwohlfühl- und Mitgliedsunterstützungsfunktion niedrige Symbolvarietäten. Sofern einzelne Gruppenmitglieder nur unter Schwierigkeiten ihre Ansichten (mit-)teilen können, bietet sich eine höhere Symbolvarietät an; sofern alle Gruppenmitglieder miteinander in Kontakt stehen, genügt eine niedrigere Symbolvarietät. Für erfahrene Gruppen, die schon über einen längeren Zeitraum bestehen, reicht eine geringere Symbolvarietät aus. Arbeitsgruppen, deren Mitglieder sich, was Gruppenwohl und Mitgliederunterstützung betrifft, außerhalb der formalen Gruppenabhängigkeiten engagieren (zum Beispiel im Unternehmen), kommen ebenfalls mit einer niedrigeren Symbolvarietät aus. Parallelität. Die Bedeutung der Parallelität hängt wesentlich von der Anzahl der Gruppenteilnehmer ab. Während sie für kleine Gruppen eher unwichtig ist, gewinnt sie mit zunehmender Größe an Bedeutsamkeit. In der Regel wird Konvergenz von einer niedrigen Parallelität profitieren, da so der Standpunkt eines Gruppenmitglieds am ehesten zu verstehen ist. Viele unabhängige Kommunikationsakte lassen sich nicht, was unmittelbar einleuchtet, beaufsichtigen oder steuern, sondern sie beeinträchtigen zudem das Wachsen eines gemeinsamen Verständnisses in der Gruppe. Ein Ausnahmefall kann nach Dennis und Valacich dann bestehen, wenn die Rahmenbedingungen solcher Art sind, dass einzelne Sichtweisen gesondert zu integrieren sind und es angebracht ist, diesen Zugriff zu strukturieren. Allerdings ist jener Umstand eher bei der Produktionsfunktion zu erwarten als bei der Gruppenwohlfühl- oder Mitgliederunterstützungsfunktion. Feedback. Die Geschwindigkeit des Feedbacks nimmt sich als wichtig aus, um das Verstehen in einer Gruppe sicherzustellen. Bei der Übermittlung von Informationen können irreführende Anteile involviert sein. Fehlinterpretationen können durch ein schnelles Feedback relativiert und/oder korrigiert werden. In diesem thematischen Kontext machen die Begründer der Media-Synchronicity-Theorie auf zwei grundsätzliche Probleme aufmerksam: Erstens ist der Zeit- und Planungsaufwand hoch. Absender und Empfänger müssen synchron interagieren – man denke etwa an räumlich und zeitlich verteilte Arrangements. Es kann unter bestimmten Umständen größere Mühen bereiten, die Terminplanung auf einen einzelnen Zeitpunkt abzustellen. Zweitens besteht die Möglichkeit, dass Medien, die unmittelbares Feedback erlauben, eine Erwartungshaltung schüren, welche die

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Kommunikation ungünstig beeinflussen kann. Für Divergenzprozesse von Informationen, die das Nachdenken (deliberation) der Gruppenmitglieder erfordern – als Beispiel werden große, komplexe und mehrdeutige Informationsbündel genannt –, kann sich ein zu unmittelbares Feedback als hinderlich herausstellen. Konvergenzprozesse benötigen weniger Informationen und weniger kognitive Anstrengung als das Überlegen, das das erste Verteilen (conveyance) der Informationen verlangt. Folglich kann hier schnelles Feedback in geringerem Ausmaß hinderlich sein. Weil das Ziel darin besteht, andere Deutungen der Informationen zu verstehen, nachzuvollziehen, nicht die Informationen (Denotation) selbst, gewinnt Feedback an Bedeutung. Überarbeitbarkeit. Überarbeitbarkeit ermöglicht dem Absender, eine Nachricht so zu gestalten, bis sie genau seinen Vorstellungen entspricht. Dennis und Valacich vermuten, dass diese Medieneigenschaft für einfache Nachrichten zweitrangig ist, sie dagegen mit der Komplexität und Mehrdeutigkeit von Informationen an Relevanz zunimmt. Denn die Überarbeitbarkeit, wodurch eine höhere Qualität und Stringenz von Beiträgen erzielt werden kann, ist eine Voraussetzung, um die Ausbildung eines gemeinsamen Gruppenverständnisses zu befördern. Allgemein verfügen Medien mit guten Überarbeitungsmöglichkeiten allerdings häufig lediglich über limitierte Feedbackpotenziale. Wiederverwendbarkeit. Wiederverwendbarkeit stellt für die Empfängerseite sicher, dass sich der Adressat wiederholt mit einer Mitteilung befassen kann. Er kann überprüfen, ob er die Nachricht, die ihn erreicht, verstanden hat. Wiederverwendbarkeit unterstützt den Prozess des Nachdenkens. Wiederverwendbarkeit wird dann umso wichtiger, wenn Umfang, Komplexität und Mehrdeutigkeit einer Mitteilung zunehmen. Erhöhte Wiederverwendbarkeit führt zu einem verbesserten Verständnis, unabhängig von der Information oder vom Kommunikationsprozess (Divergenz und/oder Konvergenz). Doch zumeist ist sie für die Divergenz wichtiger, denn Divergenz erzeugt und verteilt Informationen, die der Nachdenklichkeit bedürfen und Wiederverwendbarkeit ist laut Initiatoren der MediaSynchronicity-Theorie hilfreich fürs Nachdenken. Ihren Erkenntnisstand fassen Dennis und Valacich wie folgt zusammen: •





»Communication environments that support high immediacy of feedback and low parallelism encourage the synchronicity that is key to the convergence process. Communication environments that support low immediacy of feedback and high parallelism provide the low synchronicity that is key to the conveyance/ deliberation process. Symbol variety is related to the nature of information under discussion and thus little can be said in general for its relationship to convergence versus conveyance processes.

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Both conveyance and convergence should benefit from higher levels of rehearsability, but often it moves in opposite directions to the immediacy of feedback. Reprocessability is important for the deliberation that follows conveyance, but can also be important for conveyance when deliberation is needed.«139

Konstitution, Kommunikation und D yn a m i k v o n G r u p p e n Auf der Grundlage ihrer Untersuchung stellen Dennis und Valacich neun Hypothesen zu Aspekten von ›Gruppen‹ auf. Diese beziehen sich auf drei spezifische Momente, nämlich: • Gruppenkommunikation (Hypothesen 1 bis 5); • Gruppenentwicklung (Hypothesen 6 und 7) sowie • Gruppenbildung (Hypothesen 8 und 9). Im problemorientierten Theoriekontext empfiehlt es sich, die Hypothesen Dennis’ und Valacichs jeweils in ihren thematischen Zusammenhängen zu diskutieren. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass die Autoren der Media-Synchronicity-Theorie hierzu lediglich einige wenige Ausführungen machen. Nichtsdestotrotz bieten Dennis’ und Valacichs Hypothesen eine Reihe wichtiger Aufschlüsse, die sich vor dem Hintergrund ihres Diskurshorizonts plausibilisieren lassen. Ihre Hypothesen zu Gruppenkommunikation, -entwicklung und -bildung haben aus psychologischer beziehungsweise soziologischer Sicht eine spezifische (Sub-)Typologie von Gruppen zu reflektieren:140

139 Ebd., S. 7. 140 Vgl. hierzu grundlegend Manfred Sader: Psychologie der Gruppe, Weinheim/München: Juventa 2002, S. 37-82, 111-138, 139-158 sowie Joseph P. Forgas: Soziale Interaktion und Kommunikation. Eine Einführung in die Sozialpsychologie, Weinheim: Psychologie-Verlags-Union 1999, S. 263293. Mit Blick auf medienunterstützte Gruppen (einschließlich Virtual Communities), die seit längerem auch für Wissenschaft, Forschung und Entwicklung zusehends an Attraktivität und Relevanz gewinnen, vgl. Joachim R. Höflich: Technisch vermittelte interpersonale Kommunikation. Grundlagen, organisatorische Medienverwendung, Konstitution »Elektronischer Gemeinschaften«, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996; Nicola Döring: Sozialpsychologie des Internet. Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen, Göttingen u. a.: Hogrefe 1999, S. 369-417 sowie Dieter Hertweck/Helmut Krcmar: »Theorien zum Gruppenverhalten«, in: Gerhard Schwabe/Norbert Streitz/Rainer Unland (Hg.): CSCW-Kompendium. Lehr- und Handbuch zum computerunterstützten kooperativen Arbeiten, Berlin/Heidelberg/New York: Springer 2001, S. 33-45.

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• Kleingruppen bestehen minimal aus zwei, maximal aus 30 Personen. Die Gruppenmitglieder sind über einen längeren Zeitraum hinweg miteinander in Kontakt. Sie haben gemeinsame Ziele, entwickeln zusammen Normen, lösen Aufgaben und nehmen Rollendifferenzierungen vor. Bei zwei Personen spricht man von Dyaden, bei bis zu vier Personen von Minigruppen. • Großgruppen setzten sich aus 30 bis zu mehreren 100 Personen zusammen. Die Kommunikation wird in der Regel von wenigen Personen getragen; viele Mitglieder fungieren als ›Zuschauer‹. Die Gruppeninteraktion und Rollendifferenzierung ist bei weitem nicht so flexibel und dynamisch wie in Kleingruppen. Großgruppen dienen häufig der Informationsvermittlung. • Communities können aus drei bis zu mehreren 1000 Personen gebildet werden. Sie sind relativ offen und zeitstabil. Ihre Mitglieder kennen sich nicht notwendigerweise untereinander. Es herrscht eine hohe Mitgliederfluktuation vor. Lebensstil- und Interessenorientierungen sind charakteristisch. Die lokale Nähe verliert ihre Vormachtstellung als gemeinschaftsstiftendes Moment. Die Hypothesen zur Gruppenkommunikation lauten: Hypothese 1: »For group communication processes in which convergence is the goal, use of media providing high synchronicity (high feedback and low parallelism) will lead to better performance.«141 Hypothese 2: »For group communication processes in which conveyance is the goal, use of media providing low synchronicity (low feedback and high parallelism) will lead to better performance.«142

Die zwei Hypothesen thematisieren die beiden basalen Kommunikationsprozesse der computerunterstützten Gruppenarbeit im Verständnis einer rationalen Aufgaben- und/oder Problemlösung: Wenn Konvergenz (convergence) das Ziel der Gruppenkommunikation sei, so führe die Nutzung von Medien mit hoher Synchronizität (schnelles Feedback und geringe Parallelität) zu einer besseren Performance. Im Zusammenhang mit konvergenten Phasen geht es darum, dass die Gruppe

141 A. R. Dennis/J. S. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45), S. 7, sprechen von ›performance‹. Der Terminus bleibt allerdings recht unpräzise und wird nicht näher definiert. G. Schwabe: »›Mediensynchronizität‹« (wie Anm. 78), hat vorgeschlagen, stattdessen den Begriff ›Leistung‹ zu verwenden. Ich bevorzuge an dieser Stelle jedoch den Terminus ›Performance‹ in seiner neudeutschen Bedeutung, da dieser sich sowohl auf die Durchführung als auch auf das Ergebnis beziehen lässt. 142 A. R. Dennis/J. S. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45), S. 7.

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Handlungsfähigkeit gewinnt. Durch das Verdichten von Informationen in der Gruppe wird ein information overload, eine Überflutung mit Informationen, vermieden. Die gesamte Gruppe nimmt eine gemeinsame Bewertung der Informationen vor, etwa durch Priorisierungen (mit einem dafür geeigneten Werkzeug). Der synchrone Modus von konvergenten Phasen ist insbesondere dann angeraten, wenn ein jedes Gruppenmitglied zur Lösung einer Aufgabenstellung beitragen soll. Wenn Divergenz (conveyance) das Ziel der Gruppenkommunikation sei, so führe der Einsatz von Medien mit niedriger Synchronizität (langsames Feedback und hohe Parallelität) zu einer besseren Performance. Im Zusammenhang mit divergenten Phasen werden Entscheidungen und Problemlösungen umfassend begründet und somit Unsicherheit verringert. Das Erzeugen und Verteilen von Informationen vollziehen die Gruppenmitglieder am besten je für sich, da sie sich so souverän ihrer Tätigkeit widmen können. Die Bedeutung der Parallelität ändert sich mit der Anzahl der Gruppenteilnehmer. Während sie für kleine Gruppen eher unwichtig ist, gewinnt sie mit zunehmender Größe an Bedeutsamkeit. Für gewöhnlich wird Konvergenz von einer niedrigen Parallelität profitieren, da so der Standpunkt eines Gruppenmitglieds am ehesten zu verstehen ist. Viele voneinander unabhängige Kommunikationsaktivitäten lassen sich nicht nur schwerlich kontrollieren und koordinieren, sondern sie behindern zudem die Ausbildung eines gemeinsamen Gruppenverständnisses. Hypothese 3: »A medium’s symbol variety will only affect performance when a needed symbol set is not available.«143

Diese Hypothese hebt hauptsächlich auf das Wohlbefinden beziehungsweise die Zufriedenheit in der Gruppe ab. Die Symbolvarietät eines Mediums beeinflusse ›negativ‹ die Performance nur dann, wenn ein erforderliches Symbolset nicht zur Verfügung stehe. Wird beispielsweise nicht die ›richtige‹ Medienwahl getroffen, da ein benötigtes Symbolset nicht vorhanden ist, so kann dies negative Folgen und Konsequenzen auf den Arbeitsprozess, mithin auf die Befriedigung der Anforderungen und Bedürfnisse der Gruppenmitglieder, haben. Die Auswirkungen hängen wesentlich von Spezifika der Gruppen ab. Für erfahrene Gruppen, die schon über einen längeren Zeitraum bestehen, genügt eine geringere Symbolvarietät. Arbeitsgruppen, deren Mitglieder sich, was das Gruppenwohl und die Mitgliedsunterstützung ausmacht, außerhalb der formalen Gruppenzugehörigkeit engagieren, kommen ebenfalls mit einer niedrigeren Symbolvarietät aus.

143 Ebd.

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Hypothese 4: »Use of media provided higher rehearsability will lead to better performance.«144 Hypothese 5: »For group communication processes in which conveyance is the goal, use of media providing higher reprocessability will lead to better performance.«145

Der Einsatz von Medien, die einen höheren Grad der Überarbeitbarkeit (rehearsability) ermöglichen, führe zu einer besseren Performance. Überarbeitbarkeit ist der Grad, indem ein Sender eine Mitteilung abändern kann, bevor er sie weiterleitet. Damit stellt Überarbeitbarkeit sicher, dass die Nachricht eines Absenders genau mit dessen Ideen übereinstimmen kann. Sofern eine Person ihre Gedanken schriftlich fixiert, kann sie sich besser auf inhaltliche und formale Aspekte konzentrieren, als wenn sie diese – wie in der unmittelbaren sozial situierten Kommunikation (Gespräch, Unterhaltung) – ad hoc äußert.146 Die Verschriftlichung von Überlegungen wirkt sich ferner kognitiv entlastend aus; die Aufmerksamkeit kann sich voll und ganz auf einen bestimmten Gesichtspunkt richten. Für die Überarbeitbarkeit von Beiträgen eignen sich in besonderer Weise elektronische Medien, Werkzeuge und Systeme, da die eingegebenen und verwendeten Daten digitalisiert sind. Es liegt nahe anzunehmen, dass die Medieneigenschaft der Überarbeitbarkeit für einfache Nachrichten zweitrangig ist, aber mit der Zunahme von Volumen, Komplexität und Äquivokalität der Informationen zusehends unverzichtbar wird.

144 Ebd. 145 Ebd. 146 Kognitive Theorien können sich in besonderer Weise auf die Umgebung von Arbeitenden/Lernenden fokussieren. Ein bedeutsamer Ansatz ist Situiertes Lernen beziehungsweise Situierte Kognition (situated learning und situated cognition). Vgl. J. Lave: Cognition in Practice (wie Anm. 85) sowie J. Lave/E. Wenger: Situated Learning (wie Anm. 85). Situiertes Lernen meint: das individuelle Arbeiten in authentischen oder realistischen Lernumgebungen respektive das Lernen mit authentischen oder realistischen Aufgaben und Problemen, welche die ›wirkliche Welt‹ reflektieren. Denn wenn Wissen dekontextualisiert wird, läuft es Gefahr, ineffektiv zu werden. Situierte Kognition schließt (angewandte) Wissens- und Denkübungen ein, um einmalige oder ungewöhnliche Probleme zu lösen. Vgl. H. McLellan (Hg.): Situated Learning Perspectives (wie Anm. 85). Situierte Kognition basiert auf dem Konzept, dass Wissen kontextuell verortet ist und grundlegend beeinflusst wird von Aktivitäten, Kontexten und Kulturen, in dem es angewandt wird. Zu den Hauptkomponenten des Situierten Lernens gehören daher: Begreifen, Kooperation, Reflexion, Coaching, vielfältige Übungen, Artikulation von Aufgaben, realistische Eindrücke und Technologie. Vgl. H. McLellan (Hg.): Situated Learning Perspectives (wie Anm. 85); ferner Peter Strittmatter/Helmut Niegemann: Lehren und Lernen mit Medien. Eine Einführung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000.

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Wenn Divergenz (conveyance) das Ziel der Gruppenkommunikation sei, dann führe die Nutzung von Medien mit höherer Wiederverwendbarkeit zu einer besseren Performance. Wiederverwendbarkeit ist das funktionale Äquivalent zur Überarbeitbarkeit. Sie beschreibt das Ausmaß der Wieder- oder Weiterverwendung eines Beitrags innerhalb eines Kommunikationsaktes. Die Wiederverwendbarkeit gewährleistet, dass sich der Empfänger mehrfach mit einer Nachricht oder einem Beitrag auseinandersetzen kann. Tendenziell wird Wiederverwendbarkeit umso wichtiger, je umfangreicher, dichter und mehrdeutiger eine Mitteilung ausfällt. Erhöhte Wiederverwendbarkeit fördert ein besseres Verständnis, und das nicht nur im direkten Zusammenhang des Informations- oder Kommunikationsprozesses. In den weitaus meisten Fällen ist Widerverwendbarkeit für die divergenten Kommunikationsphasen wichtig, denn Divergenz generiert und distribuiert Informationen, die der Nachdenklichkeit (deliberation) bedürfen und Wiederverwendbarkeit ist eine wesentliche Bedingung fürs Überlegen. Die Hypothesen zur Gruppenentwicklung sind: Hypothese 6: »Established groups with accepted norms will require less use of media with high synchronicity (high feedback and low parallelism) than groups without such norms.«147 Hypothese 7: »As a given group works and develops over time, it will require less use of media with high synchronicity (high feedback and low parallelism).«148

Die Entwicklung von Gruppen beschreiben Dennis und Valacich entlang zeitlicher Verlaufsdimensionen. Konstituierte Gruppen mit eingeführten Normen würden weniger Medien mit hoher Synchronizität (schnelles Feedback und geringe Parallelität) gebrauchen als Gruppen ohne solche Normen. Somit ist die Wahrscheinlichkeit wesentlich höher einzuschätzen, dass die Mitglieder in einer über längere Zeit bestehenden Gruppe in geringerem Maße auf synchrone Medien, die über direktes Feedback verfügen, angewiesen sind. Im Allgemeinen müssen etablierte Gruppen einen kommunikativ reduzierteren Aufwand betreiben, um eine gemeinsame Bewertung der Informationen zu erlangen, beispielsweise hinsichtlich der Normen für die Produktionsroutine, die Mitgliederunterstützung oder das Gruppenwohlbefinden.

147 A. R. Dennis/J. S. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45), S. 8. 148 Ebd.

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Wenn eine Gruppe über eine längere Zeit zusammenarbeite und sich entwickelt habe, bräuchte sie weniger Medien mit hoher Synchronizität (schnelles Feedback und geringe Parallelität). Im Zuge der Bearbeitung eines Problems in institutionalisierten Gruppen bedürfen die Mitglieder weniger Medien mit hoher Synchronizität; sie widmen sich besser den ihnen persönlich zugeteilten beziehungsweise von ihnen individuell übernommenen Teilaufgaben. Die Durchführung der Problemlösung erfordert mehr Divergenz als Konvergenz und damit eher Medien mit geringer Synchronizität, wie Dennis und Valacich bemerken. Mithin ist die Wahl eines niedrigeren Mediensynchronizitätsgrads während der Durchführungsphase sinnvoller als für die Projektinitiierungsphase (mit technischen, organisatorischen und arbeitsteiligen Abstimmungsprozessen), in der ein höherer Mediensychronizitätsgrad erforderlich werden kann. Die Hypothesen zur Gruppenbildung nehmen sich wie folgt aus: Hypothese 8: »Newly formed groups, groups with new members, and groups without accepted norms for production, group well-being, or member support will require more use of media with high synchronicity (high feedback and low parallelism).«149 Hypothese 9: »Newly formed groups, groups with new members, and groups without accepted norms will engage in more socially related communication activities than established groups and thus prefer the use of media providing symbols sets with greater social presence.«150

Die beiden letzten Hypothesen treffen Aussagen über die Konstitutionsphase von Arbeits- und/oder Lerngruppen. Neu formierte Gruppen, Gruppen mit unbekannten Mitgliedern oder Gruppen ohne anerkannte Normen für Produktion, Gruppenwohlbefinden und Mitgliederunterstützung benötigten öfter Medien mit hoher Synchronizität (schnelles Feedback und geringe Parallelität). In solchen Gruppen gibt es noch keine normativen Standards, wie die Gruppenfunktionen und -modalitäten (etwa im Anschluss an die TIP-Theorie)151 zu behandeln sind. Daraus folgt ein wesentlich größerer Abstimmungsbedarf unter den Gruppenmitgliedern, was die Definition der Aufgabe, Verteilung von Rollen und Verantwortlichkeiten, die Aufstellung von Zeitplänen etc. anbetrifft. Bevor Gruppenmitglieder effektiv zusammenarbeiten können, müssen sie ein besseres Verständnis füreinander ausbilden. Aus diesen Grunde wird eine gerade erst neu formierte Gruppe mehr Zeit in der Gründungsphase,

149 Ebd. 150 Ebd. 151 Vgl. J. E. McGrath: Groups (wie Anm. 122) und J. E. McGrath: »Time, Interaction, and Performance (TIP)« (wie Anm. 122).

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mit dem Lösen technischer und organisatorischer Probleme und der psychosozialen Konfliktlösung für alle Funktionen verbringen (müssen). Neu gebildete Gruppen, Gruppen mit unbekannten Mitgliedern oder Gruppen ohne akzeptierte Normen engagierten sich stärker in sozialen Kommunikationsaktivitäten und präferierten deswegen die Verwendung von Medien, die einen Symbolgehalt mit hoher sozialer Präsenz zur Verfügung stellen. Der Status der Symbolvarietät hängt von der Information, die mitgeteilt werden soll, ab. Wird eine ›schlechte‹ Medienwahl vorgenommen und ein für die soziale Präsenz in der neu gebildeten Gruppe notwendiges Symbolset steht nicht in geeigneter Weise zur Verfügung, so kann dies ungünstige Auswirkungen für den Arbeitsvorgang, die Zufriedenheit und das Wohlbefinden der Gruppenmitglieder mit sich bringen. Generell favorisieren Divergenz- und Konvergenzprozesse für die Gruppenwohlfühl- und Mitgliedsunterstützungsfunktion niedrige Symbolvarietäten. Für unerfahrene Gruppen, die noch nicht über einen längeren Zeitraum bestehen, ist eine geringere Symbolvarietät für gewöhnlich unzureichend.

Korrelation von Medien, Kommunikation u n d Au f g a b e n Seinen Ausgang nahm die Analyse bei der Feststellung, dass die reflexiven Selbstverortungsversuche der ›Medieninformatik‹ nach Maßgabe des evolutiven Verlaufsmodells der Disziplin Informatik strukturell scheitern. In der (Re-)Konstruktion lässt sich der junge Gegenstandsbereich Medieninformatik nicht nolens volens als kontinuierliche (intra-)disziplinäre Differenzierung durch Spezialisierung explizieren. Gemäß des Differentials disziplinärer ›Kontinuität‹/›Diskontinuität‹ weist der medieninformatorische Forschungskomplex elementare paradigmatische Diskontinuitäten auf, was inter- beziehungsweise transdisziplinäre strukturelle Kopplungen als potenziellen Erkärungsansatz offeriert. Für diese Anwendungsstudie wurde die Arbeitshypothese einer strikteren transdisziplinären Kopplung in der Medieninformatik, exemplifiziert am Diskurs von Computer Supported Cooperative Work (CSCW), fixiert. Vor diesem Problemhorizont wurde die Media-Synchronicity-Theorie von Alan R. Dennis und Joseph S. Valacich als konzeptuell-explikatorischer Forschungsbeitrag der Mensch/Computer-Interaktion (MCI) innerhalb des transdisziplinären CSCW-Diskurses diskutiert. Es wurde eine striktere strukturelle, sich selbststabilisierende Kopplung partizipierender Wissenschaftsdisziplinen und -kulturen angenommen. Eine integrale Problemantizipation und stärkere fächerüberschreitende Interaktion begründen den autonomen, transdisziplinären Forschungskomplex Computer Supported Cooperative Work und ersetzen die vormalig heteronomen

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Problemfelder und die schwachen Wechselwirkungen der beteiligten Wissenschaften. Wie die (Re-)Konstruktion gezeigt hat, finden sich innerhalb der CSCW-Domäne unterschiedliche informatorische, psychologische, organisationswissenschaftliche und betriebswirtschaftliche Konzepte und Paradigmen, um die elementaren Intentionen, Prozesse, Strukturen, Funktionen, Modalitäten, Identitäten etc. der (computerunterstützten) Gruppenarbeit zu modellieren. Die Referenzialisierung zur sich etablierenden Medieninformatik erfolgte vor allem über die Konzeptualisierung und Implementation des so genannten Mensch/Computer-KommunikationsKanals respektive des Mensch/Computer-Interaktions-Kanals, konstelliert nach verteilten/vereinten, synchronen/asynchronen sowie individuellen/ kollektiven Arrangements. Aus dem breiten Spektrum konnte lediglich ein kleiner Teil von Positionen perzipiert und unter den Gesichtspunkten der Aufgabenorientierung (Media-Richness-Theorie),152 der Medienorientierung (Media-Richness-Theorie), der Funktionsorientierung (TIP-Theorie)153 sowie der Kommunikationsorientierung (Media-SynchronicityTheorie, Sensemaking-Theorie)154 diskursiviert werden. Aufgrund ihres hohen Selbstreflexionspotenzials des Computer-Supported-CooperativeWork-Kontextes fungierte die der Media-Synchronicity-Theorie von Alan R. Dennis und Joseph S. Valacich inhärente Thematik als problemorientierender Fokus über weite Strecken der Untersuchung.155 Die Antizipation der Problemexposition Dennis’ und Valacichs hat gezeigt, wie ambivalent sich grundsätzlich sequenzielle und logische Anordnungen von Arbeits- und Sozialzielen und komplexeren Aufgaben und Problemen ausnehmen (können). Hinzu kommt beim medien- und/oder computerunterstützten Arbeiten das Problem der Medienwahl und ihrer genuin technisch verstandenen Charakteristika. Nach Erkenntnissen – insbesondere aus der Media-Synchronicity-Theorie – prädeterminieren weder Spezifika von Zielen noch Spezifika komplexerer Aufgaben oder deren Bedingungen an den Kontextreichtum eine adäquate Medienwahl; vielmehr legen Kommunikations- und Kooperationsprozesse und deren Anforderung an die Informationsverarbeitungskapazität eines Mediums letztendlich die Mediennutzung fest.

152 Vgl. R. L. Daft/R. H. Lengel: »Information Richness« (wie Anm. 73) sowie R. L. Daft/R. H. Lengel: »Organizational Information Requirements, Media Richness, and Structural Design« (wie Anm. 73). 153 Vgl. J. E. McGrath: Groups (wie Anm. 122) und J. E. McGrath: »Time, Interaction, and Performance (TIP)« (wie Anm. 122). 154 Vgl. A. R. Dennis u. a.: »Beyond Media Richness« (wie Anm. 45); A. R. Dennis/J. S. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45); K. E. Weick/D. K. Meader: »Sensemaking and Group Support Systems« (wie Anm. 127). 155 Vgl. A. R. Dennis u. a.: »Beyond Media Richness« (wie Anm. 45) und A. R. Dennis/J. S. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45).

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Eine modifizierte Media-Synchronicity-Theorie, etwa durch eine dezidiert kommunikationspragmatische Akzentuierung, setzt uns in den Stand, in der Beschreibungsdimension der ›Kommunikation‹ wesentliche Aspekte des computerunterstützten kooperativen Arbeitens besser zu begreifen und genauer zu erklären. Wenn ich die Beobachtungsebene erster Ordnung einnehme und mich auf die operationale Ebene der Theoriebildung begebe, so wird deutlich, dass es Dennis’ und Valacichs Konzeptualisierung der computerunterstützten Gruppenarbeit an einer Anschlussstelle für eine weitere, dritte Beschreibungsdimension mangelt, die gerade für die Wissenskommunikation (knowledge communication) und Wissensmedien (knowledge media) unverzichtbar ist. Gemeint ist: ›Kognition‹. Somit werden sich die weiteren Anstrengungen in erster Linie auf ein dreistelliges Theoriekonstrukt des computerunterstützten kooperativen Arbeitens beziehungsweise des computerunterstützten kooperativen Lehrens und Lernens zu konzentrieren haben, das die Beschreibungsdimensionen ›Medien‹, ›Kommunikation‹ und ›Kognition‹ sowohl kausal als auch funktional in ein Modell integriert.156 Als diskussionswürdig erscheint mir hier die These der strukturellen Kopplung von ›Kognition‹, ›Kommunikation‹ und ›Medien‹ des Kommunikationswissenschaftlers und Philosophen Siegfried J. Schmidt: »Die selbständigen Bereiche Bewußtsein und Kommunikation werden unter Aufrechterhaltung ihrer Selbständigkeit durch einen dritten selbständigen Bereich, den Medienbereich, miteinander strukturell gekoppelt, weil sich die Aktanten in einer Gesellschaft in hinreichend vergleichbarer Weise auf kollektives Wissen [...] beziehen (können) und dies voneinander erwarten. Medienangebote können nur produziert und rezipiert werden, weil und wenn Aktanten die verwendeten Kommunikationsmittel in einer Weise verwenden, die im Verlauf der Mediensozialisation als gesellschaftlich anschlußfähig erlernt und erprobt worden ist.«157

Sieht man von dem offenkundigen Desiderat einer kognitiven Beschreibungsdimension in der Media-Synchronicity-Theorie ab, so bleibt Dennis und Valacich das Verdienst, einen Ansatz vorgelegt zu haben, der nicht nur über das Potenzial zur Erklärung von Kommunikation und Kooperation als soziale Prozesse verfügt, sondern darüber hinaus gerade auch für die Gestaltung von computerunterstützten kooperativen Arrangements. Wegweisend ist die Unterscheidung von konvergenten und divergenten Prozessen für die Planung, Einrichtung und Durchführung computerunterstützten kooperativen Arbeitens und Lernens. 156 Vgl. auch Christian Filk/Karin Schweizer (Hg.): Koordination beim computergestützten Wissenserwerb, Göttingen u. a.: Hogrefe 2003. 157 Siegfried J. Schmidt: Die Welten der Medien. Grundlagen und Perspektiven der Medienbeobachtung, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1996, S. 24.

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Wichtiger als – wie etwa in der Media-Richness-Theorie – über einen möglichst großen Medienreichtum zu verfügen,158 ist das Ziel, dass Gruppenmitglieder überhaupt ziel- und ergebnisorientiert miteinander, sprich: kooperativ, arbeiten, lehren und lernen können und im Laufe der Zeit nicht nur eine erhöhte Effektivität und Effizienz erzielen, sondern vor allem mittels einer abgestimmten Konzeptualisierung von Gruppenfunktionen und -prozessen zu einer Ausbildung prosozialen Verhaltens gelangen.159 Diese Einsicht ist nicht zuletzt Dennis und Valacich zu verdanken. Mit ihrem Ansatz der Mediensynchronizität, der übrigens auch Kommunikationssynchronizität heißen könnte, steht ein theoretischer Entwurf zur Verfügung, der Synchronizität, Kommunikation und Kooperation kausal und funktional miteinander in Beziehung setzt. Durch den überlegten Einsatz computerunterstützter Systeme können flexible und variable Synchronizitätsgrade gewählt werden, insbesondere dann, wenn man die Mediencharakteristika Parallelität und Feedback mit einbezieht. So kann eine im Prinzip identische Arbeits- und Lernsituation allein durch den modifizierten Einsatz computerunterstützter Medien andere (Medien-)Synchronizitätsgrade erhalten. Allerdings gilt dies mit der Einschränkung, dass die kognitive Kapazität der beteiligten Aktanten nicht überfordert wird. Wie ich schon angedeutet habe, kann man sich zum Zweck der Explizierung und Identifizierung von Mediensynchronizität(-sgraden) nicht auf eine einvernehmliche Definition stützen. Aus diesem Grunde sind wir bis auf weiteres darauf angewiesen, der Arbeitshypothese Dennis’ und Valacichs zu folgen, auch wenn sich diese aufgrund ihrer Knappheit noch als verhältnismäßig unscharf konturiert ausnimmt. Nach Dennis und Valacich lässt sich ›Mediensynchronizität‹ als das Ausmaß begreifen, wie Personen zur selben Zeit mit der gleichen Aufgabe befasst sind, mithin über einen gemeinsamen Blickwinkel (shared focus) verfügen. Da ein abstrakter Begriff von Mediensynchronizität schnell Gefahr läuft, missverstanden zu werden, ist es unabdinglich, ihn im sozialen, organisatorischen, technischen und funktionalen Kontext bestimmter Settings zu sehen. Zu Recht wird in der Media-Synchronicity-Theorie auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass man sich Mediensynchronizität auf einer Skala von kontinuierlichen Episoden bis hin zu diskreten Episoden vorstellen kann.160 Während man auf den ersten Blick geneigt sein könnte, einen spezifischen, vielleicht sogar fixen Mediensynchronizitätsgrad zu wählen, der am ehesten mit der Aufgabenstellung eines computerunterstützten kooperativen Arbeitsarrangements zu korrespondieren scheint, macht es gerade 158 Vgl. R. L. Daft/R. H. Lengel: »Information Richness« (wie Anm. 73) sowie R. L. Daft/R. H. Lengel: »Organizational Information Requirements, Media Richness, and Structural Design« (wie Anm. 73). 159 Vgl. auch G. Mietzel: Pädagogische Psychologie des Lernens und Lehrens (wie Anm. 64), S. 376. 160 Vgl. A. R. Dennis/J. S. Valacich: »Rethinking Media Richness« (wie Anm. 45).

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beim computerunterstützten kooperativen Arbeiten Sinn, Mediensynchronizitätsgrade in Abhängigkeit von den computerunterstützten Kommunikations- und Kooperationsprozessen zu bestimmen. Dem ersten Eindruck nach legen Medien(-eigenschaften) gewisse Kommunikations- und Kooperationsprozesse nahe, aber sie können mitunter auch sehr unterschiedlich eingesetzt werden: Beispielsweise kann man mittels E-Mail (asynchrones Tool) fast synchron diskutieren oder einen Chat (synchrones Tool) auch mit einem relativ großen Zeitintervall nutzen. Es scheint durchaus plausibel zu sein, von einer gewissen Synchronizitätsspezifik respektive Synchronizitätsunspezifik eines Mediums, Werkzeugs oder Mediensystems zu sprechen. Bedarf diese Hypothese auch noch der weiteren Präzisierung und Fundierung, so macht folgende Hypothese meines Erachtens nach im Grundsatz Sinn: Ein Medium, ein Werkzeug oder ein System ist dann in hohem Maße synchronizitätsspezifisch, wenn es lediglich einen Synchronizitätsgrad einräumt. Hingegen gilt ein Medium, Werkzeug oder System eher als synchronizitätsunspezifisch, wenn es mehrere oder gar viele Synchronizitätsgrade zulässt. Ohne es an dieser Stelle en détail ausführen, geschweige denn nachweisen zu können, liegt die Vermutung nahe, dass digitale, interaktive, netzwerkgestütze und mobile Medien im Vergleich zu ›klassischen‹ Medien eher synchronizitätsunspezifisch sind. Wenn sich diese Ausführungen auch hauptsächlich auf Mediensynchronizität konzentrieren, dürfen wir nicht außer Acht lassen, das man (Medien-)Synchronizitätsgrade erst in Konstellation mit anderen Faktoren des Kommunikations- und Kooperationsprozesses eingehender beschreiben kann.161 Bedingt durch die genealogische und konzeptuelle Affinität der transdisziplinären Forschungskomplexe Computer Supported Cooperative Work beziehungsweise Medieninformatik sind dem aktuellen medieninformatorischen Diskurs ältere CSCW-Diskursstränge eingeschrieben, die nunmehr hinsichtlich der Identität respektive Differenz kontinuierlicher/ kontinuierlicher Anschlüsse einer sich begründenden ›Medieninformatik‹ reaktualisiert und reinterpretiert werden. Deswegen dominieren in aktuellen Selbstbeobachtungen und -beschreibungen der Mensch/ComputerInteraktion (MCI) derzeit häufig noch Computer-Supported-CooperativeWork-Dispositionen Medieninformatik-Formationen. Unbeschadet des rekonstruierten Diskurses Alan R. Dennis’ und Joseph S. Valacichs Media-Synchronicity-Theorie prognostiziert Michael Herczeg für die nähere Zukunft der Medieninformatik:

161 Vgl. diesem Absatz komplementär auch G. Schwabe: »›Mediensynchronizität‹« (wie Anm. 78).

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»Medieninformatiker müssen die anderen Disziplinen kennen und verstehen und zumindest in der Lage sein, mit Fachleuten aus diesen Gebieten eng zu kommunizieren, meist auch zu kooperieren. In machen Fällen werden sie mit zunehmender Erfahrung auch typische Aufgaben aus den anderen Gebieten selbst übernehmen. Aus fachübergreifender Zusammenarbeit wird dann Interdisziplinarität, eine besondere Kompetenz, die in unserer komplexer werdenden Welt sowohl in der Wissenschaft als auch im Alltag nach dem zwangsläufigen Verlust des Generalistentums eine neue Bedeutung zur Erfassung komplexer Systeme und gesamtheitlicher Zusammenhänge erlangt.«162

162 M. Herczeg: Einführung in die Medieninformatik (wie Anm. 2), S. 8.

Schluss

6 Wiss e nsc ha ftsforsc hung a ls ›Work-in-Progress ‹ »Die soziale Distribuiertheit des wissenschaftlichen Handlungsmodus ist prinzipiell unbegrenzt, er ist auch jenseits des Wissenschaftssystems und ohne den Bezug auf universelle Erkenntnis möglich. Aber dennoch bleibt das Wissenschaftssystem das Bezugssystem, das letztlich die Stabilisierung verläßlichen Wissens leistet.«1 – Peter Weingart

Komplexitätsmanagement der Medienforschung Die vorgängige Argumentation zur Grundlegung und Anwendung einer medienreflexiven Wissenschaftsforschung hat eindrücklich gezeigt: Die Medien- und Kommunikationsforschung stehen zweifelsohne vor großen Anforderungen und Herausforderungen, um die Aufgaben, die auf sie unter den Maximen und Imperativen einer viel bemühten ›Informations-‹, ›Kommunikations-‹, ›Wissens-‹ oder ›Risikogesellschaft‹ zukommen, bewältigen zu können. Im dem Maße, wie sich nicht zuletzt eine medieninduzierte Kultur informationeller Vernetzung globalisiert – unweigerlich assoziiert ein räsonierender Zeitgenosse das McLuhan’sche Sinnbild des »Globalen Dorfes«2 –, steigern komplexe Social Networks einer sich vernetzenden Welt die Aufmerksamkeit eines Beobachters für die prekäre

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Peter Weingart: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist: Velbrück 2001, S. 341. Vgl. insbesondere Herbert Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. »Understanding Media«, Düsseldorf u. a.: Econ 1992.

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Kommunikationsthematik. Mithin gilt: »And so, the more we communicate about communication, the more acute our consciousness of its uncertainties or connectability becomes.«3 Obgleich mediale Kommunikationsformen, eingedenk ihrer ureigenen Kontingenzimplikationen, zu wichtigen Elementen kommunikativer Komplexität avanciert sind, signalisieren sie mitnichten »some kind of linear transition from a previously stable or certain communication world to a somehow unstable one«4. Der Graben zwischen einer überkommenen Interaktionssemantik und Dispositionen sozialer und ökonomischer Organisation bestehen nicht, wie man geflissentlich traditionalistisch postulieren könnet,5 zwischen der »›truth‹ of dialogue«6 und neuen konkreten Erfahrungswerten; vielmehr war die Prämisse der Universalität der Interaktionssemantik (als anthropologische Universalkonstante) ein immanent gesetzter Theorieanspruch, der durch wirkungsmächtige Diskursgefüge aufrecht erhalten wurde (und immer noch wird).7 Jene Komplexität kurrenter Kommunikation veranlasst eine Re-Lektüre der Wahrheitspostulate der (Interraktions-)Semantik als eines geschichtlich situierten Diskurses neben anderen.8 Vor dem Problemhorizont der angerissenen Transformationen komplexer sozial-kommunikativer Netzwerke im weltumspannenden Maßstab gibt der britische Medien- und Kommunikationswissenschaftler Colin B. Grant kritisch zu bedenken: »A communication theory of society needs to explore the new spaces of what could be termed post-nostalgic communication, covering a complex field which requires the broadest possible range of approaches beyond current disciplinary

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Colin B. Grant: Uncertainty and Communication. New Theoretical Investigations, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2007, S. 4. Ebd., S. 5. Implizit scheint das archetypische Kommunikationsmodell personaler Interaktion, gegründet in einer ›Urstiftung‹ des Wechselbezugs menschlichen Sprechens und (Zu-)Hörens, zahlreichen medien- und kommunikationstheoretischen Entwürfen als unveräußerliches Inventar eingeschrieben zu sein. Vgl. auch Paul Lorenzen: Konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 36. Jener originäre epistemische Gründungsakt ›mediale Kommunikation‹ wurde in Anlegung an das tatsächliche oder vermeintliche Ideal der Face-to-Face-Interaktion ins Werk gesetzt und attributiv auf dem Wahrheitstheorem aufgebaut. Vgl. unter anderem Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, Band 2. Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, insbesondere S. 220-263, 311-329, 330-357. C. B. Grant: Uncertainty and Communication (wie Anm. 3), S. 5. Vgl. hierzu Paul Watzlawick/Janet H. Beavin/Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern/Stuttgart/Toronto: Huber 1990, passim. Vgl. C. B. Grant: Uncertainty and Communication (wie Anm. 3), S. 1-32.

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confines, in which even normative accounts can at best be seen as competing with other social codes or semantics.«9

Das Szenario expansiver medialer und kommunikativer Entwicklungen zeugt zwar von einem gewissen Bewusstsein um das wachsende Abstraktionsniveau medien- und kommunikationswissenschaftlicher (Selbst-)Reflexionsarbeit, bleibt allerdings schlussendlich doch den ausgetretenen Pfaden disziplinärer Episteme verhaftet. Zuvorderst setzen viele Fachvertreter nach wie vor auf eine permanente theoretische und methodische Hochrüstung ihrer Gegenstandsbereiche, ohne allerdings die epistemische und programmatische Ordnungsmatrix ihres disziplinären Gefüges – vor allem an den Rändern und Grenzen – an die wachsende Komplexität anzupassen. Eine solche Anlage führt vielfach, so mein Eindruck, nicht weiter. Ein progressives Prozedere bieten die Wissenschaftsforschung durch eine neue Perspektivierung von ›außen‹ auf die (Re-)Konstruktion wissenschaftlichen Wissens, um die disziplinäre Logistik der Medien- und Kommunikationswissenschaft zu irritieren, wie ich versucht habe, in meiner Studie zu demonstrieren. Meine Explikationen beziehen sich nicht, um es nochmals deutlich herauszustreichen, auf disziplinäre medien- und kommunikationswissenschaftliche Forschungen sui generis; sondern damit wissenschaftliche Problemstellungen ›angemessen‹ und ›zufriedenstellend‹ bearbeitet werden können, richtet sich mein Augenmerk vielmehr auf diejenigen Forschungskomplexe: • wo es darum geht, Isolationen auf einer ›höheren Komplexitätsstufe‹ aufzulösen; • wo es darum geht, inmitten eines geschichtlich gewachsenen Konstitutionskontextes Engführungen aufzubrechen; • wo es darum geht, das Problemlösungspotenzial aufgrund (zu) forcierter Spezialisierungen nicht verlustig gehen zu lassen; und • wo es darum geht, die konventionellen und normativen Organisationsprinzipien des disziplinären Wissenschaftsbetriebs zu überschreiten.10 Eingedenk dieses Diskursgefüges ziehen, meines Erachtens nach, viele Repräsentanten der entsprechenden Wissenschaftsdisziplinen und -kulturen häufig noch nicht die daraus konzeptuell gebotenen Folgen und Konsequenzen für ein adäquates – wenn man so will –: Komplexitätsmanagement ihrer wissenschaftlichen Theorie und Praxis. Bei Wissenschaftskonstruktionen handelt es sich – bei »Hypothetik allen Wissens«11 – immer 9 Ebd., S. 3-4. 10 Vgl. auch Jürgen Mittelstraß: Transdisziplinarität – wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2003, S. 10-11. 11 Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 370.

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um Beschreibungen. Auch wenn diese letztendlich aufgrund ihres Komplexitätsgefüges der System/Umwelt-Differenz immer ›suboptimal‹ bleiben müssen, ist es an der Wissenschaft oder besser: an ihren Akteuren gelegen, angemessene Reflexionsinstrumente zu entwickeln und anzuwenden, um wissenschaftlich verlässliche Beobachtung und Beschreibungen (wissenschaftliches Wissen) vornehmen zu können. Vor diesem Problemhorizont stellt Niklas Luhmann aus systemtheoretischer Sicht grundlegend fest: »Um so zwingender stößt man bei jeder Selbstbeobachtung des Systems [gemeint ist das Wissenschaftssystem; C. F.] auf die Frage der Eignung der Instrumente. Wenn schon Komplexitätsgefälle zur Umwelt und Komplexitätsunterlegenheit des Systems, dann macht es einen Unterschied, wie man damit umgeht. Der hier liegende Selektionsdruck erzeugt diejenige Problemlage, in der die Wissenschaft an sich selbst arbeitet. Umgang mit Komplexität wird dann zu dem Leitproblem für die Entwicklung von Strukturen, die unter diesen Bedingungen standhalten. Dies kann verstanden werden als Aufforderung, die Zahl und Verschiedenartigkeit der internen Beschränkungen zu vermehren, unter denen das System operiert. Auch dabei handelt es sich nicht um Arbeit an einem immer genaueren Abbild der Umwelt, wohl aber um eine Vermehrung der Hinsichten, in denen das System intern auf (wie immer ausgelöste) Irritationen durch die Welt reagieren kann. Auch der Prozeß des ›de-randomization‹ von zufälligen Anstößen ist ein interner Prozeß. Die interne Komplexität kompensiert das Fehlen eines operativen Kontaktes mit der Umwelt, und sie bildet auf diese Weise Systeme, die gar nicht entstehen könnten, wenn die operative Kopplung an Ereignisse der Umwelt nicht unterbunden wäre.«12

In Anbetracht dessen stellt sich die Frage nach der Adäquanz der bisherigen Reflexionsinstrumente in der medien- und kommunikationswissenschaftlichen Domäne radikal neu. Mithin erscheint mir gegenwärtig lediglich eine Erkenntnis sicher, nämlich: dass mit der Zunahme von Komplexität fachwissenschaftlicher Gegenstandserschließung und -pflege die bis dato eingeübten disziplinären Routinen immer weniger aus dem strukturellen Dilemma moderner Forschung herausführen; viel eher ist das Gegenteil anzunehmen. Für diese Misere der institutionellen Verfasstheit von Wissenschaft sind mehrere Gründe, wie ich vorstehend erläutert habe, verantwortlich zu machen. Das im Zuge der makrosoziologisch beschriebenen funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert konstituierte epistemologisch-organisatorische Fundament der Wissenschaft – einschließlich der korrespondierenden evolutiven Prozesse im Sozialsystem Wissenschaft – ist sicherlich als wesentlicher Faktor anzuführen.13 Ein System Wissenschaft und ein System wissenschaftlicher Dis12 Ebd., S. 371-372 (Hervorhebung im Original). 13 Vgl. Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740-1890, Frankfurt am Main:

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ziplinen müssen sich installiert haben, um auf der Basis klassischer Wissenssysteme disziplinäre Evolutionen auslösen und fortsetzen zu können.

Strukturelles Scheitern disziplinärer Reflexionsroutinen Meine Studie zu einer Wissenschaftsforschung transdisziplinärer Medienwissenschaft wurde originär durch ein – mitunter notorisch zu nennendes – (Selbst-)Reflexionsdesiderat14 zu vorgängig massiven evolutiven Entwicklungen in den medienbezogener Wissenschaften motiviert. Meinem Eindruck nach sind nicht zuletzt Medien- und Kommunikationswissenschaft, die sich häufig selbst qua definitionem das Primat institutionalisierter Medienforschung zuschreiben (lassen), aufgrund ihrer genuin disziplinären, intra- und subdisziplinären Selbstvergewärtigungspraxen vielfach kaum (mehr) ernstlich in der Lage, die seit nunmehr rund 20 Jahren zu konstatierenden signifikanten Ausdifferenzierungs- und Neukonstituierungstendenzen in dieser Wissenschaftsdomäne, nicht nur in ihren ›Peripherien‹, funktional und kausal zu explorieren. Mithin bestand mein Hauptanliegen darin, angesichts prononciert inter-, multi- und transdisziplinärer Transformationen in der Medienforschung einen dem Mainstream in der Medien- und Kommunikationswissenschaft entgegengesetzten Weg fachlicher Selbstverortung zu beschreiten, soll heißen: eine bewusste Alternative zu wählen: • zum einen zu der Marschroute mehr oder minder entschiedener (subund/oder intra-)disziplinärer Identifikations-, Explikations- und Legitimationsstrategien in der Charakterisierung von Forschungsaktivitäten, -initiativen, -programmen und -resultaten nach innen sowie • zum anderen zu der Marschroute mehr oder weniger konsequenter (sub- und/oder intra-)disziplinärer Differenzierungs-, Distanzierungsund Desintegrationsstrategien in der Fokussierung von Forschungsaktivitäten, -initiativen, -programmen und -resultaten nach außen. Bedingt durch den Sachverhalt, dass transgressiven Forschungs- und Entwicklungstrends in disziplinären Fachdiskussionen wohl immer ein gewisses aporetisches oder apologetisches Strukturmoment innewohnt, ja gar innewohnen muss – schließlich ist dem Gros der Wissenschaften spätestens seit dem 19. Jahrhundert ›Disziplinarisierung‹ als wesentlich episteSuhrkamp 1984, S. 9, 98 sowie P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 1), S. 25. 14 Vgl. für die beiden Fächer beispielsweise Rainer Leschke: Einführung in die Medientheorie, München: Fink 2003, S. 9-31, passim beziehungsweise Gerhard Maletzke: Kommunikationswissenschaft im Überblick. Grundlagen, Probleme, Perspektiven, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 11-13, 14-30, passim.

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misches, identifikatorisches und organisatorisches Prinzip eingeschrieben –, sollte in der vorliegenden Untersuchung ein exterritorialer Blick, vermittelt durch die Konzeption und Adaption einer integralen systemischen Wissenschaftsforschung, auf die Komplexität, Dynamik und Differenz aktueller medienbezogener Forschungsevolution und -reflexion im Wissenschaftssystem geworfen werden. Die vorgetragene kritische Einlassung zu disziplinären medien- und kommunikationswissenschaftlichen Praxen meine ich mitnichten relativistisch oder dekonstuktivistisch.15 Es geht mir schlechterdings nicht darum, einer Medien- oder Kommunikationswissenschaft ihr Recht in Abrede stellen zu wollen, gemäß ihrer tradierten immanenten Selektionskriterien und Strukturkonstituenten, was Erkenntnisinteressen und Untersuchungsgegenstände respektive Formal- und Materialobjekte ausmacht, disziplinär, intra- und subdisziplinär Forschung zu betreiben.16 Selbstredend gibt es genügend Funktionskontexte im Wissenschaftssystem, wo man gut beraten ist, der disziplinären Verfasstheit von Forschung und Entwicklung Tribut zu zollen, weil man sonst – in letzter Konsequenz – womöglich den Ausschluss aus einer bestimmten Wissenschaftsgemeinschaft gemäß des Binarismus sozialer Inklusion/Exklusion riskiert. Das Spezifikum eines Gegenstandsbereichs,17 die Rekrutierung des wissenschaftlichen Nachwuchses,18 die fachwissenschaftliche Evaluation von Forschungsleistungen19 sowie das Begutachtungssystem wissenschaftlichen Wissens20 wären dafür markante Exempla.

15 Vgl. insbesondere Jean-François Lyotard: Der Widerstreit, München: Fink 1989, insbesondere S. 9-16, 251-267 oder Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, insbesondere S. 25-30. 16 Vgl. auch von historisierender Warte aus Wolfgang Krohn: »Die Wissenschaftsgeschichte in der Wissenschaft. Zu einer Historiographie der Wissenschaftsgeschichtsschreibung«, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs, Band 1. Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt am Main: Fischer 1993, S. 271-290, hier S. 275. 17 Vgl. unter anderem Joachim Felix Leonhard u. a. (Hg.): Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen, Berlin/New York: de Gruyter 1999, 2001, 2002. 18 Vgl. zum Beispiel für die Philologien Peter J. Brenner: »Habilitation als Sozialisation«, in: Peter J. Brenner (Hg.): Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 318-356. 19 Vgl. etwa zu Evaluationen von Forschungs- und Lehrleistungen in der Psychologie Günter Krampen/Leo Montada: Wissenschaftsforschung in der Psychologie, Göttingen u. a.: Hogrefe 2002, S. 16-48. 20 Vgl. zu Modellen und Funktionen wissenschaftlicher Expertisen im politischen Entscheidungsprozess P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 1), S. 127-170.

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Ich glaube nicht, dass eine prinzipielle Volte in der medien- und kommunikationswissenschaftlichen Community zu erwarten ist. Eine solche zu motivieren ist auch nicht mein Ansinnen. Meiner Studie lag eine anders gelagerte Intention zugrunde: Ausgerechnet ›Medienforschung‹, in einem weiten Sinne begriffen, routiniert aus habitualisierten Binnenperspektiven heraus zu beobachten und zu beschreiben, bedeutet zwar ein bestimmtes fachliches Kalkül – durch Variation, Selektion und (Re-)Stabilisierung – zu (re-)generieren, heißt aber indes auch, komplexen multi- und/oder transdisziplinären Differenzierungsvorgängen, die mehr oder minder lose respektive fest mit eigenen disziplinären Elementen strukturell gekoppelt sind,21 nicht (mehr) als solche gewahr werden zu können. Denn im Standardfall bestehen wissenschaftliche Hintergrundüberzeugungen beziehungsweise neue wissenschaftliche Tatsachen in generalisierten Aussagen über Objekte eines klar umrissenen Geltungsbereichs, die aufgrund der Einrichtung starker disziplinärer, intra- und/oder subdisziplinärer Kopplungen ihre Eigenlösung gefunden haben und aufrecht erhalten. Dieser Sachverhalt korreliert im Prinzip mit der Kuhn’schen Definition der Normal Science, indem die Forschungsgemeinschaft einer Wissenschaftsdisziplin und -kultur ein Set etablierter wissenschaftlicher Leistungen für eine gewisse Zeit als ziel- und ergebnisführend voraussetzt und verteidigt.22 Vor diesem Hintergrund erklärt sich, zumindest zum Teil, die genetische Asynchronizität des Beobachterstandpunktes in der Identifikation von disziplinären und transdisziplinären Strukturen wissenschaftlichen Wissens. In diesem Sinne lässt sich dem Wissenschafts- und Techniksoziologen Peter Weingart beipflichten, wenn es festhält: »Die Abgrenzung von Gegenstandsbereichen, die durch Disziplinen organisiert sind, ist offensichtlich veränderlich. Disziplinengrenzen und -strukturen verändern sich fortlaufend. Das gilt selbstverständlich auch für die Gesamtstruktur der Wissenslandschaft. […] Der Unterschied zwischen einer disziplinären Struktur und einer angeblich transdisziplinären ist nicht eine mystische Nähe oder eine bessere Anpassung der letzteren an die ›Realität‹, sondern er besteht in den Umständen, unter denen sich diese Strukturen herausgebildet haben, und den neuen, die sich erst später eingestellt haben.«23

Abstrahiert man von der formellen disziplinären Beschreibungsebene, so sind grundlegende Veränderungen auf der objektkonstituierenden Ebene unabweisbar: Die wissenschaftliche Befassung mit ›Medien‹, ›Medialität‹, 21 Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 66, 92-94, 113-114, 532-533, 695-696, 862, 1093. 22 Vgl. Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 25, passim; ferner Thomas S. Kuhn: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 40-43, passim. 23 P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 1), S. 350-351.

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›Medienkommunikation‹ und ›Medienmaterialität‹ ist seit geraumer Zeit nicht mehr exklusiv der institutionalisierten Medien- und Kommunikationswissenschaft vorbehalten. Signifikante Ausdifferenzierungen und Neukonstituierungen in diesem Sektor sind maßgeblich durch Expansion der Medien, der Informations- und Kommunikationstechnologien (IuKTechniken) sowie durch ihre mannigfaltige Erforschung (mit) bedingt. Verstärkt seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre avancierte ›Medienforschung‹ (ähnlich später die ›Kulturforschung‹) somit sukzessiv zur integralen Thematik für eine wachsende Anzahl von Wissenschaftsdisziplinen und -kulturen, so dass mittlerweile fast alle universitären beziehungsweise hochschulgebundenen Fächer Anwartschaften auf ein bestimmtes Gebiet medien- und kommunikationsreflexiver Forschung – mal mehr, mal weniger explizit – geltend machen. Wenn ich versuche, diese komplizierten Entwicklungen zusammen zu denken, so zeichnet sich eine instruktive Problemexposition ab: Appliziert man den in der Wissenschaftsforschung ausgemachten strukturellen Trend in der Forschungsevolution, demnach seit einiger Zeit die Konstitution transdisziplinärer Forschungs- und Entwicklungskalküle beziehungsweise transdisziplinärer Forschungs- und Entwicklungsmechanismen ein allgemeines Strukturmerkmal im Wissenschafts- und Technologiesektor darstellt,24 so geht damit in einer gewissen Zwangsläufigkeit einher, dass sich der epistemologische Kern der (Medien-)Forschung, definiert als ein irreduzibles Set kognitiver Werte und sozialer Praxen,25 weder unter allgemeine Methodologien noch unter Wissenschaftskulturen elitärer Couleur fassen lässt.26 Rein disziplinär orientierte Forschung kommt hier oft nicht weiter. Als eine Folge der Ausdifferenzierungs- und Neukonstituierungssprozesse in der medienbezogenen Forschung kursieren neben den dominanten disziplinären, intra- und subdisziplinären (Selbst-)Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen verstärkt solche zur inter-, multi- und transdisziplinären Medienforschung in den letzten Jahren. Sofern Medien- und Kommunikationswissenschaft in ihren Selbstverständnissen als transdisziplinäre Research Communities und Wissenschaftskulturen den Status quo disziplinärer Beobachtungs- beziehungsweise Beschreibungslogiken überschreiten und sich die erkenntnis- und forschungsleitenden Problemorientierungen und -lösungen verändern, so

24 Vgl. insbesondere Jürgen Mittelstraß: Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 78-82, passim. 25 Vgl. Helga Nowotny/Peter Scott/Michael Gibbons: Wissenschaft neu denken. Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewißheit, Weilerswist: Velbrück 2004, S. 225, 249; zudem Michael Gibbons u. a.: The New Production of Knowledge. The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies, London: Sage 1994. 26 Vgl. H. Nowotny/P. Scott/M. Gibbons: Wissenschaft neu denken (wie Anm. 25), S. 225, 249.

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kann dieser Prozess neue wissenschaftliche, die fachlichen und disziplinären Orientierungen selbst wandelnde, wissenschaftssystematische Ordnungen aktivieren.27 (Die grundsätzliche Möglichkeit, dass unter dem Label der ›Multi-‹ und ›Transdisziplinärität‹ Business as usual betrieben wird, ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, habe ich aber in meiner Studie nicht ausdrücklich verfolgt, da mir in erster Linie an der Identifikation, Analyse und Explikation des weiteren Evolutions- und Differenzierungsprozesses der Wissenschaft gelegen war.) Ist die Prämisse eines die vormalig disziplinären Wissenschaftssystematiken transformierenden Effektes zu bejahen, so stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit in der operativ arbeitenden Medienforschung transdiszplinäre Ausdifferenzierungen zu (re-)konstruieren sind?

An w e n d u n g i n t e g r a l e r s ys t e m i s c h e r Wissenschaftsforschung Ausgehend von einer konstruktivistischen Epistemologie und Differenztheorie, nimmt eine jedwede Beobachtung und Beschreibung von ›Welt‹ Unterscheidungen vor, die als selektierende, strukturierende Instanzen die Produktion, Distribution, Rezeption und Evaluation wissenschaftlichen Wissens kommandieren.28 Hinsichtlich des Desiderats theorieorientierter Studien innerhalb der interdisziplinären Wissenschaftsforschung offeriert, meiner Überzeugung nach, insbesondere eine ›konstruktivistisch‹ inspirierte Systemtheorie innovative Ansätze, um das Problem der Relation von Wissenschaft und ihrer inner- und außergesellschaftlichen Umwelt zu reformulieren und zu respezifizieren.29 Auf Grundlage einer systemischen Matrix befassten sich die vorausgegangenen Kapitel mit der Differenzierung ›wissenschaftlichen Wissens‹. Konstitutive, sozioevolutionär ausgebildete Unterscheidungen von gelehrter und wissenschaftlicher Kommunikation habe ich herausarbeiten können. Sich mittels Differenzierung und Historisierung wissenschaftlichen Wissens dem Wissenschaftssystem, der Form der Wissenschaft in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft,30 anzunähern, mag in gewisser Hinsicht vorteilhaft für die (gezwungenermaßen) lineare Darstellung im Text sein. Dadurch, dass die sich transformierenden Gesellschaftsstrukturen und Semantiken kausal und temporal – entlang des Ausdifferenzie-

27 Vgl. J. Mittelstraß: Transdisziplinarität – wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit (wie Anm. 10), S. 9-10, passim. 28 Vgl. auch P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 1), S. 351. 29 Vgl. Wolfgang Krohn/Günter Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 7-27. 30 Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 271361.

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rungsprozesses – perspektiviert wurden, konnten nach und nach wichtige Differenzierungen eingeführt und erörtert werden. Den Ausgang bildete die unter Konstruktivisten und Systemtheoretikern weitgehend konsentierte Luhmann’sche Hypothese: »Im Kontext einer allgemeinen Theorie autopoietischer Sozialsysteme beschreiben wir die Wissenschaft als ein Funktionssystem der (modernen) Gesellschaft, das sich unter historisch vorliegenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu einer eigenen operativen Geschlossenheit ausdifferenziert hat, also selbst diskriminiert, was wahr und was unwahr ist.«31

Selbstredend ist vorauszusetzen, dass das System innerhalb einer Umwelt situiert ist; auf andere Art und Weise wäre das System nicht in der Lage, seine Einheit mittels einer Sequenz eigener Operationen zu (re-)produzieren. Die Einheit des Systems mit all seinen Elementen, aus denen es sich komponiert, kann allein durch das System eo ipse (re-)generiert werden.32 Wie man auch immer schlussendlich ›Realität‹ modellieren mag – als epistemologische Bedingung der Beobachtung und Beschreibung sozialer Systeme wird man ein Materialitätskontinuum33 postulieren (müssen), das in actu mit der Formierung einer physischen Realität gesetzt ist.34 Diese Zuschreibung ist nicht ontologisch, sondern konstruktivistisch gemeint. Mithin bestehen Kausalbeziehungen zwischen System und Umwelt, die ein Beobachter, vor allem durch Anwendung des Instruments der ›strukturellen Kopplung‹, beobachten und beschreiben kann. Mit strukturellen Kopplungen wird in der biologischen und soziologischen Systemtheorie, wie bereits oben dargelegt, die Korrelation respektive Korrelativität mehrerer Prozesse expliziert.35 Bei all dem ist allerdings nicht zu vergessen, dass ausschließlich dem System selbst die eigene Operationalität und Operabilität obliegen. Dies war durch die Attribuierung der Selbstorganisation (Autopoiesis) und der Selbstreferenzialität legitimiert worden. Lediglich das System selbst adaptiert seine eigenen Operationen; es kann

31 Ebd., S. 9. 32 Vgl. ebd., S. 30. Auf die fundamentale Problematik des Luhmann’schen Autopoiesisbegriffs habe ich weiter oben schon eingehend hingewiesen. Von Kritikern wird dieses Konzept der Selbstorganisation lediglich als »metaphorisch« gekennzeichnet. Vgl. näher W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 29), S. 23. 33 Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 30. 34 Vgl. ebd. 35 Vgl. insbesondere Humberto R. Maturana: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1985, S. 43-145, 150-152, 243-244, 287-289, 143-145, 150-152, 251-253, 287-289; N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (wie Anm. 21), S. 66, 92120, 211, 302, 378, 447-450, 532-533, 601, 695-696, 778-787, 862, 1093 sowie P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 1), S. 28, passim.

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nur innerhalb seiner eigenen Grenzen Operationen vornehmen. In der konstruktivistisch-systemtheoretischen Modellation ist das (Wissenschafts-) System daher häufig als operativ geschlossen, aber informationell offen typisiert worden.36 Eine theoretische Konzeptualisierung des Gesellschaftssystems konstruktivistisch-systemischer Provenienz – der Befund gilt mutatis mutandis für das Sozialsystem Wissenschaft – distanziert sich von tradierten Terminologien der gesellschaftlichen Evolution, Formation und Interaktion sowie von ›klassischen‹ Nomenklaturen gesellschaftlicher Konstruktionen, Sozialstrukturen und Semantiken. Gemäß diesen Antezedensbedingungen bildet der Ansatzpunkt mitnichten ›Einheit‹, sondern vielmehr ›Differenz‹. Dessen wurde ich schon am Beispiel des irritierenden Paradox von Gesellschaft ansichtig: Die Gesellschaft muss sich zugleich als Einheit und als Mannigfaltigkeit (re-)präsentieren. Aus der Bedingtheit, sich an und sich in der Gesellschaft orientieren zu müssen, resultieren für die Wissenschaft – wie für jedes andere funktionsspezifische Teilsystem – verschiedene Fokussierungen. Unter die Beschreibung einer ›Einheit‹ der Gesellschaft lassen sich die unterschiedlichsten Perspektivierungen nicht mehr zugleich subsumieren.37 Die systemtheoretische Analyse startet mit System/Umwelt-Unterscheidungen. Systeme sind strukturell an ihrer jeweiligen Umwelt ausgerichtet; ohne diese könnten sie nicht (fort-)bestehen. Das Wissenschaftssystem formiert und kontinuiert sich durch die Generierung und Konservierung des Differenzkodes ›Wahrheit‹ versus ›Unwahrheit‹.38 Die Wissenschaft benutzt ihre Sinn-39 beziehungsweise Systemgrenzen40 zur Regulation jener Differenz. Mit der Favorisierung eines systemtheoretischen Settings stellt sich Gesellschaft auf ›Selbstorganisation‹, mithin auf gesellschaftliche Selbststeuerung um. An dieser Stelle dockt das auf Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela und Ricardo B. Uribe zurück gehende Autopoiesis-Konzept an. Die autopoietische (Re-)Organisation und (Re-) Produktion bringen zum Ausdruck, wie sich Systeme, zunächst in der ori-

36 Vgl. Siegfried J. Schmidt (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. 37 Vgl. hierzu auch N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 635. 38 Vgl. mit zum Teil äußerst unterschiedlichen Interpretationen und Adaptionen der Differenz von ›Wahrheit‹ und ›Unwahrheit‹ unter anderem R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 13), S. 20; W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 29), S. 46-65 und N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 194-208. 39 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 95-96, 265-269. 40 Vgl. ebd., S. 35-36, 51-54,177-179, 295, 560.

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ginären Version biologischer Systeme41 und später – qua Analogon – in der adaptierten Version sozialer Systeme42, als Einheiten selbst erzeugen und erhalten. Operationalität und Konnektivität der Elemente eines Systems dienen der Reproduktion und Kontinuität der eigenen Struktur. Wichtig ist dabei, dass die Selbstreferenz des Systems von der Ebene der Konstitution von Strukturen übergeht auf die Ebene der Konstitution von Elementen. Im Wissenschaftssystem wird durch den Terminus ›Wahrheit‹ das Evaluiertsein wissenschaftliches Wissen rekursiv symbolisiert.43 In evolutiver Drift basiert die Genese einer solchen Symbolik wohl, wie zahlreiche Gesellschafts- und Zivilisationstheorien proklamieren, maßgeblich auf der Erfindung und Verbreitung literaler, skriptografischer, typografischer sowie elektronischer Informationsverarbeitungssysteme.44 Aus systemtheoretischer Sicht lässt sich präzisierend konstatieren: »[...] die Selektion von Ereignissen aus einer Welt unendlicher Kontingenz in Form von Themen öffentlicher Kommunikation war«, gemäß der These des Politologen und Kommunikationswissenschafters Frank Marcinkowski, »entwicklungsgeschichtlich genau in dem Augenblick unvermeidlich, als diese Ereignisse nicht mehr irrelevant für das Operieren anderer Sozialsysteme waren.«45 Die spezifische Leistung der Publizistik, mithin des Mediensystems, wird 41 Vgl. auch Erich Jantsch: »Erkenntnistheoretische Aspekte der Selbstorganisation natürlicher Systeme«, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 159191, hier S. 162-173. 42 Formal argumentativ beruht die Transponierung des Autopoiesis-Ansatzes von der Biologie zur Soziologie, nicht unwesentlich zu erwähnen, auf einem Analogieschluss. Vgl. auch Frank Benseler/Peter M. Hejl/Wolfram K. Köck (Hg.): Autopoiesis, Communication, and Society. The Theory of Autopoietic Systems in the Social Sciences, Frankfurt am Main/New York: Campus 1980 und Peter M. Hejl: Sozialwissenschaft als Theorie selbstreferentieller Systeme, Frankfurt am Main/New York: Campus 1982, S. 262-315. 43 Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 166167. 44 Vgl. hierzu insbesondere Eric A. Havelock: Als die Muse schreiben lernte. Eine Medientheorie, Berlin: Wagenbach 2007, S. 100-121; Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen: Westdeutscher Verlag 1987, S. 81-117, 118-137; Jack Goody/Ian Watt: »Konsequenzen der Literalität«, in: Jack Goody/Ian Watt/Kathleen Gough: Entstehung und Folgen der Schriftkultur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 63-122; Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 665-680; N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 154-156, 167-168, 178-180, 241, 597-602, 655-659 sowie Michael Giesecke: Die Entdeckung der kommunikativen Welt. Studien zur kulturvergleichenden Mediengeschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 481-510. 45 Frank Marcinkowski: Publizistik als autopoietisches System. Politik und Massenmedien. Eine systemtheoretische Analyse, Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 40.

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in der Bereitstellung von Themen und Beiträgen für die öffentliche Kommunikation gesehen: »Während alle anderen Systeme ausschließlich über Themen ihrer subsystemischen Kommunikation verfügen [...], kommuniziert das publizistische System potentiell alle Themen des umfassendsten Sozialsystems Gesellschaft, allerdings immer in einer spezifisch publizistischen Kreation.«46

Durch Kulturtechniken und informationsverarbeitende Systeme besteht die Möglichkeit, sich wiederholt Texten und Medien als Kommunikate und Substrate expliziten Wissens zu widmen und nochmals »das Geprüftsein [wissenschaftlichen Wissens; C. F.] zu prüfen«47.

Wissenschaftstheoretische Problemimplikationen Im metatheoretischen Argumentationskontext der Wissenschaftsforschung habe ich das benötigte analytische Differenzierungs- und Nuancierungsinstrumentarium für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Reflexionstheorien48 beziehungsweise mit -mechanismen49 hergeleitet und begründet. Analog zu anderen sozialen Funktionssystemen der modernen differenzierten Gesellschaft ist dem Wissenschaftssystem aufgetragen, den durch die System/Umwelt-Differenz gezeitigten Beobachtungen und Beschreibungen Tribut zu zollen. Die Wissenschaft gewährleistet dies dadurch, dass es entweder spezifische Reflexionstheorien oder spezifische reflexive Mechanismen systemintern produziert. Die Generierung und Applikation von Reflexionstheorien und -mechanismen ermöglichen sozialen Funktionssystemen, die über diese besonderen Kompetenzen und Ressourcen verfügen, nicht nur höhere Komplexitätsstufen zu erreichen, sondern auch komplexere Sachverhalte schneller zu verarbeiten –50 ein bedeutsamer Sachverhalt in einer sich rasch vernetzenden ›Weltgesellschaft‹. Dieses Spezifikum ist – funktional spezifiziert und operationalisiert – gleichsam dem Wissenschaftssystem in einer modernen funktional differenzierten Gesellschaft eigen. Die Wissenschaft (re-)produziert, historisch und evolutionär gesehen, erst erkenntnis-, später wissenschaftstheoretische Konzepte und schlussendlich Ansätzen der Wissenschaftsforschung. All diesen und anderen reflexionstheoretischen Bemühungen ist die Funktion gemein zu explizieren, ob und gegebenenfalls wie »Identität und Differenz 46 47 48 49 50

Ebd., S. 50. Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 167. Vgl. ebd., S. 471-472, 533-536, 699-701 Vgl. P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 1), S. 17. Vgl. auch Niklas Luhmann: Einführung in die Theorie der Gesellschaft, Heidelberg: Carl-Auer-Systeme 2005, S. 311-317, 318-319.

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von Erkenntnis und Gegenstand«51 möglich und denkbar sind. Ungeachtet der Zunahme und Ausweitung wissenschaftlicher Unterscheidungen, die mit einer vermehrten Selbstbeobachtung und -beschreibung (Reflexionsakt und -theorie) verbunden sind, sollte nicht verkannt werden, dass diese Werkzeuge Operationen selbstreferenzieller Informationsverarbeitungsprozesse sind.52 Mithin ist entscheidend, dass man im Beobachten von Beobachtungen – auch im Zugriff von reflexiven Mechanismen oder Reflexionstheorien – die Charakteristika des beobachtenden Beobachters53 nicht eliminieren kann. Wenngleich das Beobachten von Beobachtungen, somit die Beobachtung zweiter Ordnung, sich aus Sicht reflexiver Beschreibungslogiken als privilegiert ausnehmen mag, kommt dies jedoch mitnichten einem elitären oder prädestinierten Zugriff gleich.54 In zwei aufeinander aufbauenden Argumentationsschritten habe ich mich der Voraussetzungen und Grundannahmen der Wissenschaftsforschung als Reflexionstheorie vergewissert: Zum einen habe ich mir eine Übersicht über die tradierten wissenschaftsreflexiven (Sub-)Disziplinen verschafft. Dabei richtete sich das Hauptaugenmerk zuvorderst auf diejenigen Disziplinen, die vor allem reflexiv mit Wissenschaft und Technik befasst sind, sei es nun in theoretischer und/oder praktischer Konkretisierung. Außer der akademisch noch relativ jungen Wissenschaftsforschung waren einige weitere (Sub-) Disziplinen zu rekrutieren, die sich per definitionem mit Wissenschaft und Technologie als Untersuchungsobjekte auseinandersetzen: Wissenschaftsphilosophie, -theorie, -soziologie sowie -geschichte. Die genannten vier (Sub-)Disziplinen konfigurieren die Basis der Wissenschaftsforschung. Das spezifische Konstrukt, die evolutionäre Eigendynamik und die markante Interdisziplinarität und/oder Transdisziplinarität der Wissenschaftsforschung ließen sich allein vor dem Diskurshorizont ihrer subdisziplinären Zugänge und Verbindungen angemessen rekapitulieren. Zum anderen habe ich elementare evolutive Konturen der modernen interdisziplinären und/oder transdisziplinären Wissenschaftsforschung diskutiert, deren Anfänge bis in die 1930er Jahre zurückreichen.55 Meine ungeteilte Aufmerksamkeit galt den für die moderne Wissenschaftsforschung charakteristischen Entwicklungslinien. Anhand von exemplarischen kon51 52 53 54 55

N. Luhmann: Soziale Systeme (wie Anm. 39), S. 620. Vgl. ebd., S. 622. Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 113. Vgl. ebd., S. 110-111. Verwiesen sei an dieser Stelle lediglich auf Marja Ossowska/Stanislaw Ossowska: »The Science of Science«, in: Organon, 1 (1936) 1, S. 1-12 und Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999.

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stitutiven Topoi habe ich den Versuch unternommen, historischsystematische Wegmarken einer sukzessiv interdisziplinär und transdisziplinär versierten Wissenschaftsforschung zu rekonstruieren. Im Mittelpunkt standen hierbei die sich im Laufe der Zeit herausgebildeten Problemorientierungen und Lösungskonzepte der modernen Wissenschaftsforschung, mithin: korrelative Mechanismen und Effekte von Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft; gesellschaftliche, soziale und kulturelle Prämissen und Spezifika wissenschaftlicher Forschung sowie soziale Konstruktion wissenschaftlichen Wissens usf.56 In der theoriegeleiteten Debatte hatte ich der wahrscheinlichen Erwartungserwartungshaltung – im Sinne des Aufbaus eines konsensuellen Bereichs –,57 die der Diskurskontext ›Systemtheorie‹ unweigerlich aufruft, Rechnung zu tragen. Deswegen nahmen meine Überlegungen ihren Ausgang einmal mehr bei Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, da ›Systemtheorie‹ hierzulande immer noch fast konkurrenzlos mit dem ehemaligen Bielefelder Soziologen konnotiert wird.58 Von dort aus weitete sich der argumentationsleitende Fokus auf ein breiteres Spektrum konstruktivistisch-sytemtheoretischer Dispositionen und führte systemisches Denken als forschungsleitende Heuristik ein.59 Auf der Basis der Theorie selbstorganisierender Systeme eruierte ich wichtige Gesichtspunkte der ›klassischen‹ und aktuellen Wissenschaftstheorie und -forschung: Bis in die Gegenwart hinein schwillt der Streit zwischen internalistischen und externalistischen Dispositionen in der wissenschaftsreflexiven Forschung. Der fundamentale Dissens besteht – manifestiert in verschiedenen Variationen und Derivationen – darin: Erstere führen die Wissenschaftsevolution kausal auf wissenschaftsinhärente Prämissen, Faktoren und Normen zurück.60 Der interesseleitende Fokus der Internalisten richtet

56 Vgl. Ulrike Felt/Helga Nowotny/Klaus Taschwer: Wissenschaftsforschung. Eine Einführung, Frankfurt am Main/New York: Campus, 1995, S. 20-21. 57 Vgl. H. R. Maturana: Erkennen (wie Anm. 35), S. 256: »Wenn ein Beobachter jedoch mit einem anderen Beobachter kommuniziert, definiert er einen Metabereich, aus dessen Perspektive ein konsensueller Bereich als Bereich ineinandergreifender Unterscheidungen, Hinweise oder Beschreibungen erscheint, je nachdem wie der Beobachter auf das beobachtende Verhalten Bezug nimmt.« 58 Vgl. unter anderem Natalie Binczek: »Systemtheorie«, in: Ralf Schnell (Hg.): Metzler-Lexikon Kultur der Gegenwart. Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 497498, hier S. 497. 59 Vgl. zusammenfassend die Bestandsaufnahme zum gegenwärtigen systemtheoretischen Diskurs von Dirk Baecker u. a. (Hg.): Zehn Jahre danach. Niklas Luhmann »Die Gesellschaft der Gesellschaft«, Stuttgart: Lucius & Lucius 2008. 60 Mit der Paradigma-Konzeption Kuhns erreicht die internalistische Orientierung in Wissenschaftstheorie und -soziologie ihren vorläufigen Höhepunkt.

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sich auf die Prozesse und die Strukturen der Generierung wissenschaftlicher Erkenntnisse oder wissenschaftlichen Wissens, mithin kognitive Werte und soziale Praxen.61 Primärer Referenzpunkt in analytischen Arrangements jener Couleur sind vor allem tradierte kodifizierte Denk-, Handlungs- sowie Verhaltensmuster in Scientific Communities.62 Im Gegensatz dazu konzentrieren sich Letztere auf wissensschaftsexterne Prämissen, Faktoren und Normen der Wissenschaftsgenese. Darunter fallen vornehmlich religiöse, politische Ideologien, tradierte Weltbilder und kulturelle Denkweisen.63 Darüber hinaus sind politische, juristische, ökonomische sowie finanzielle Aspekte zu distinguieren.64 Die Selektion eines internalistischen oder eines externalistischen Standpunktes zeitigt natürlich – wie auch die eines konstruktivistischsystemtheoretischen Designs – Folgen und Konsequenzen. Die Theorie selbstorganisierter Systeme im Anschluss an Wolfgang Krohn und Günter Küppers ermöglicht eine gewandelte Perspektive auf die Relation von Wissenschaft und ihrer Umwelt, wodurch das Internalismus/Externalismus-Dilemma beziehungsweise die Autonomie/Heteronomie-Misere ›neutralisiert‹ werden können. Die Theorie selbstorganisierender Systeme perspektiviert die System/Umwelt-Beziehung sowohl konzeptuell als auch methodisch in anderer Weise: Wie ein Blick in die einschlägige Forschungsliteratur zeigt, herrscht in Wissenschaftsphilosophie, -theorie, -soziologie, -geschichte und -forschung oft die Auffassung vor, dass eine Entweder/Oder-Wahl zwischen den Möglichkeiten ›wissenschaftlicher Autonomie‹ und ›wissenschaftlicher Heteronomie‹ respektive eine Entweder/Oder-Wahl zwischen den Möglichkeiten ›wissenschaftsinterner‹ und

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Vgl. T. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (wie Anm. 22), insbesondere S. 57-64. Vgl. etwa Michael Polanyi: Implizites Wissen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985; Joseph Ben-David: Scientific Growth. Essays on the Social Organization and Ethos of Science, Berkeley u. a.: University of California Press 1991 und Richard Whitley: The Intellectual and Social Organization of the Sciences, Oxford u. a.: Oxford University Press 2000. Vgl. unter anderem Grit Laudel: Interdisziplinäre Forschungskooperation. Erfolgsbedingungen der Institution ›Sonderforschungsbereich‹, Berlin: Sigma, 1999. Vgl. Wolfgang van den Daele/Wolfgang Krohn/Peter Weingart (Hg.): Geplante Forschung. Vergleichende Studien über den Einfluß politischer Programme auf die Wissenschaftsentwicklung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979 sowie H. Nowotny/P. Scott/M. Gibbons: Wissenschaft neu denken (wie Anm. 25). Vgl. auch Ina-Susanne Spiegel-Rösing: Wissenschaftsentwicklung und Wissenschaftssteuerung. Einführung und Material zur Wissenschaftsforschung, Frankfurt am Main: Athenäum 1973 oder Dietmar Braun: Die politische Steuerung der Wissenschaft. Ein Beitrag zum »kooperativen Staat«, Frankfurt am Main/New York: Campus 1997.

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›wissenschaftsexterner Determinanten‹ bestehe.65 Die Systemtheorie widerspricht diesem Mainstream in den wissenschaftsreflexiven (Sub-) Disziplinen energisch. Mithin erweisen sich – in systemischer Betrachtung – die genannten Unterscheidungen mitnichten als Disjunktionen: Demnach ist Wissenschaft weder ausschließlich selbstreguliert noch ausschließlich fremdreguliert; vielmehr vermag das System Wissenschaft, seine Autonomie durch seine Heteronomie zu erhöhen oder zu verringern.66 In der modernen Wissenschaftsforschung gelten die Unterscheidung beziehungsweise Zuordnung von mikro- und makroskopischer Ebene als besondere Problemfälle.67 Die Theorie selbstorganisierter Systeme justiert sich in der Abstimmung zwischen Mikro- und Makroskopie anders als gängige Konzeptualisierungen, indem sich demonstrieren lässt, wie aus mikroskopischen Oszillationen makroskopische Trends entstehen (können), die schließlich das System in einen neuen Zustand transformieren (können).68 Bereits oben habe ich mich der These angeschlossen, dass es konzeptuell und methodologisch höchst prekär, ist, vorweg Regeln als Defacto-Standards in die Analyse einzuführen und anzuwenden, wie dies in vorgängigen wissenschaftsphilosophischen, -theoretischen, -soziologischen und -historischen Entwürfen immer wieder exekutiert wurde und wird – allen voran durch den wissenschaftssoziologischen Funktionalismus,69 den kritischen Rationalismus,70 die konstruktive Wissenschaftstheorie71 oder die Erlanger Schule72 (inklusive ihren jeweiligen Genealogien).73

65 Vgl. auch Wolfgang Krohn: »›Intern – extern‹, ›sozial – kognitiv‹. Zur Solidität einiger Grundbegriffe der Wissenschaftsforschung«, in: Clemens Burrichter (Hg.): Grundlegung der historischen Wissenschaftsforschung, Basel/Stuttgart: Schwabe 1979, S. 123-148, hier S. 123-130 und Renate Mayntz: »Autonomie oder Abhängigkeit. Externe Einflüsse auf Gehalt und Entwicklung wissenschaftlichen Wissens«, in: Jörg Schönert (Hg.): Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. DFG-Symposion 1998, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. XXVII-XLII, hier S. XXVII-XXIX. 66 Vgl. W. Krohn/D. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 29), insbesondere S. 18-19. 67 Vgl. zum Beispiel Uwe Schimank: »Wie die interorganisatorische Einbettung von Forschungseinrichtungen das Forschungshandeln prägt. Die staatlich finanzierte außeruniversitäre Forschung in der Bundesrepublik«, in: Jürgen Klüver (Hg.): Mikro-Makro-Ansätze in der Wissenschafts- und Technikforschung, Essen: Universität Essen 1991, S. 41-76 und Rudolf Stichweh: »Evolutionstheoretische Modelle, hierarchische Komplexität und Mikro/ Makro-Unterscheidungen«, in: Jürgen Klüver (Hg.): Mikro-Makro-Ansätze in der Wissenschafts- und Technikforschung, Essen: Universität Essen 1991, S. 103-119. 68 Vgl. W. Krohn/D. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 29), S. 20. 69 Vgl. Robert K. Merton: »Wissenschaft und demokratische Sozialstruktur«, in: Peter Weingart (Hg.): Wissenschaftliche Entwicklung als sozialer Prozeß. Ein Reader mit einer kritischen Einleitung des Herausgebers, Frankfurt am Main: Athenäum Fischer 1972, S. 45-59, hier S. 48, 51, 53, 55.

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Schon in der theoriegeleiteten Debatte der »Beziehung von System und Umwelt wissenschaftlichen Handelns« respektive der »Mikroebene und Makroebene wissenschaftlichen Handelns« habe ich einerseits auf die soziale Konstitution von Wissen und Wissenschaft, andererseits auf die systemische Referenz der Gesellschaft aufmerksam gemacht. Laut der hier zugrunde gelegten Voraussetzungen wird ›Wissen‹ ausschließlich gesellschaftsintern prozessiert; es gibt keine gesellschaftslose, sozialfreie Konstruktion von Wissen.74 Der Terminus ›Wissen‹ expliziert das Resultat unmittelbarer und mittelbarer struktureller Kopplungen im Gesellschaftssystem: In rekursiven Vorgängen der Verdichtung und Verfestigung von Wissen in Bezug auf Wissen hat Wissen entweder gegenüber permanenten Irritationen Bestand oder es wird »lernend« weiterentwickelt.75 Die Theorie selbstorganisierender Systeme offeriert ein zureichend explikatorisches Potenzial, um die soziale Konstruktion wissenschaftlicher Erkenntnis zu konzeptualisieren.76 Der Aspekt »soziale Konstruktion wissenschaftlichen Wissens« markiert eines der prominentesten Untersuchungsgebiete der kurrenten Wissenschaftsforschung.77 Mittels mikrosoziologischer Handlungsanalysen an den Orten der Wissensproduktion (Laboratorien, Forschungsinstitute usf.) wird die soziale Generierung wissenschaftlicher Erkenntnisse analysiert. Ein zentrales Augenmerk fokussiert hier darauf, wie inner- und außerhalb der Forschungsstätten wissenschaftliche ›Tatsachen‹ konstruiert, fabriziert

70 Vgl. insbesondere Karl R. Popper: Logik der Forschung, Tübingen: Mohr 1989; ferner Imre Lakatos: »Falsification and the Methodology of Scientific Research Programmes«, in: Imre Lakatos/Alan Musgrave (Hg.): Criticism and the Growth of Knowledge. Proceedings of the International Colloquium in the Philosophy of Science, London, 1965, Cambridge: Cambridge University Press 1970, S. 91-196. 71 Vgl. vor allem Paul Lorenzen: Einführung in die operative Logik und Mathematik, Berlin/Göttingen/Heidelberg: Springer 1955. 72 Vgl. Wilhelm Kamlah/Paul Lorenzen: Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens, Stuttgart/Weimar: Metzler 1996; Friedrich Kambartel/ Jürgen Mittelstraß (Hg.): Zum normativen Fundament der Wissenschaft, Frankfurt am Main: Athenäum 1973 und Peter Janich (Hg.): Entwicklungen der methodischen Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992. 73 Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 544 und W. Krohn/D. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 29), S. 20. 74 Dieser Befund lässt sich sowohl aus soziologischer als auch aus psychologischer Sicht begründen. Vgl. beispielsweise Sabine Maasen: Wissenssoziologie, Bielefeld: transcript 1999 und Heinz Mandl/Hans Spada (Hg.): Wissenspsychologie, München/Weinheim: Psychologie-Verlags-Union 1988. 75 Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 166 und P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? (wie Anm. 1), S. 17. 76 Vgl. W. Krohn/D. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 29), S. 21. 77 Vgl. auch U. Felt/H. Nowotny/K. Taschwer: Wissenschaftsforschung (wie Anm. 56), S. 20-21.

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werden und welche Funktionen der Wissenschaftlerinteraktion zu identifizieren sind. Ferner spielen die habitualisierten (selbst-)reflexiven Normen und Formen des wissenschaftlichen Handels in einer Scientific Community und die Stellung von Wissenschaftlern in übergeordneten gesellschaftlichen Zusammenhängen eine zentrale Rolle. Wenn von sozialer Konstruktion wissenschaftlicher Erkenntnis die Rede ist, sind neben empirischen Experimentalbeobachtungen78 zuallererst die Laborstudien79 und die Actor-Network-Theory80 anzuführen. Als Resultat der Diskussion konnte ich festhalten, dass es einzig und allein dem Sozialsystem Wissenschaft oblieg festzulegen, welches Handeln und Verhalten als ›rational‹ einzustufen ist. Das Vehikel zur Konzeptualisierung der sozialen Konstruktion wissenschaftlichen Wissens ist die Selbstreferenz des Funktionssystems Wissenschaft, mithin der Umstand, dass nicht nur Erkenntnisse generiert werden, sondern auch die Produktion von Erkenntnissen problematisiert wird. Somit sind sowohl Erkenntnisse (›Fakten‹) als auch Erkenntnisinstrumente (›Konstruktionen‹) Moment und Faktor sozialer Interaktion im Wissenschaftssystem. In methodischer Perspektivierung gewendet bedeutet das, dass die epistemologische Selbstinduzierung des Sozialsystems Wissenschaft modellgestützte Hypothesen über ›richtige‹ Geltungsmaßstäbe wissenschaftlicher Erkenntnisse beziehungsweise wissenschaftlichen Wissens kategorisch ausschließt.81

78 Vgl. zum Beispiel Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen: Wallstein 2001. 79 Vgl. insbesondere Bruno Latour: Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers through Society, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press 1987; Bruno Latour/Steven Woolgar: Laboratory Life. The Social Construction of Scienctific Facts, Beverly Hills u. a.: Sage 1986; Karin Knorr-Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984 und Karin KnorrCetina: Wissenschaftskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002 und Karin Knorr-Cetina: »Laborstudien. Der kultursoziologische Ansatz in der Wissenschaftsforschung«, in: Renate Martisen (Hg.): Das Auge der Wissenschaft. Zur Emergenz von Realität, Baden-Baden: Nomos 1995, S. 101-135. 80 Vgl. beispielsweise Michel Callon: »Some Elements of a Sociology of Translation. Domestication of the Scallops and the Fishermen of St. Brieuc Bay«, in: John Law (Hg.): Power, Action and Belief. A New Sociology of Knowledge?, London u. a.: Routledge 1986, S. 196-233 und Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2002. Eine brauchbare Übersicht bietet Ingo Schulz-Schaeffer: »Akteur-Netzwerk-Theorie. Zur Koevolution von Gesellschaft, Natur und Technik«, in: Johannes Weyer (Hg.): Soziale Netzwerke. Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung, München/Wien: Oldenbourg 2000, S. 187-209. 81 Vgl. W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 29), S. 21.

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Umstellung auf ›transdisziplinäre‹ D i f f e r e n z i e r u n g u n d E vo l u t i o n Die Studie zur Wissenschaftsforschung einer sich trangsressiv transformierenden Medienwissenschaft machte sich den Vorzug eines exterritorialen Standpunktes zunutze, indem eine systemische Wissenschaftsforschung befragt wurde, wie sich ›Wissen‹, ›wissenschaftliches Wissen‹ sowie ›Wissenschaft‹ im Laufe ihrer Genese verändert haben. Solchermaßen verfügte ich über eine konzeptuelle Basis und ein operatives Instrumentarium, um die ›tiefer‹ liegenden Differenzierungs- und Evolutionsprozesse im Wissenschaftssystem, denen selbstredend auch medienreflexive Disziplinen unterworfen sind, zu untersuchen. Bedingt durch den Umstand, dass meine historisierende Betrachtung der Medienforschung die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und den Anbeginn des 21. Jahrhunderts umfasst, stellte sich meine erkenntnisleitende Argumentation von einer differenz- auf eine evolutionstheoretische Basis um. Ein zureichendes Separieren voneinander unabhängig »operierender evolutionärer Mechanismen«82 kann erst inmitten einer disziplinär differenzierten Wissenschaft funktionieren. Damit ist jedoch erst während der zweiten Phase beschleunigter subdisziplinärer Evolution zu rechnen, die sich hauptsächlich während des letzten Jahrhunderts vollzieht. Ist ein solcher subdisziplinär differenzierter Entwicklungsstand erreicht, lässt sich ein evolutionstheoretisches Explikationskonzept mit gleicher Berechtigung wie ein differenzierungstheoretisches ins Feld führen.83 Der bereits konturierte Perspektivenwechsel von einer differenz- zu einer evolutionstheoretischen Explikationsstrategie ist für meine (Re-)Konstruktion der Medienforschung im deutschsprachigen Raum mit dem Schwerpunkt Deutschland seit der Nachkriegszeit aus medien- und kommunikationswissenschaftlicher Sicht entscheidend. Mit Hilfe eines evolutionstheoretischen Konzeptes ließen sich Konstitution und Differenzierung der hiesigen Medienforschung beobachten und beschreiben. In Gestalt evolutionär operierender Mechanismen besaß ich für meine domänspezifischen Überlegungen ein differenziertes wissenschaftssoziologisches Instrumentarium, um ›Medienforschung‹ problemorientiert auf der Basis eines Systems traditioneller Disziplinen wie zum Beispiel Nationalökonomie, Philologie, Philosophie, Geschichtswissenschaft oder Soziologie im retrospektiven bidisziplinären Fokus von Medien- und Kommunikationswissenschaft zu konturieren.

82 Vgl. R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (wie Anm. 13). 83 Vgl. ebd., S. 98-99.

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Doch die gegenwärtigen Evolutionslinien der Medienforschung transzendieren jene spezifisch bidisziplinäre Reflexion aus Medien- und Kommunikationswissenschaft. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ›Medien‹, ›Medialität‹, ›Medienkommunikation‹ und ›Medienmaterialität‹ ist seit rund 20 Jahren eben nicht mehr ausschließlich für die medien- und kommunikationswissenschaftliche Community reserviert. Zu wesentlichen Anteilen folgen Neukonstituierungen und Ausdifferenzierungen innerhalb dieser Wissensdomäne einer stabilen Tendenz zur Interdiskursivität. Augenfällige Indikatoren dafür sind all diejenigen Subdisziplinen mit dem Präfix ›Medien‹ und ›Kommunikation‹, die sich partiell im Laufe der letzten eineinhalb Dekaden ausgebildet haben.84 Die oben aufgeworfene Fragestellung nach der Möglichkeit der (Re-)Konstruktion transdiszplinärer Ausdifferenzierungen in der Medienforschung versuchte ich, am Beispiel von unterschiedlichen, die universitären Fakultätsgrenzen transzendierenden Forschungskomplexen aus dem Bereich Medienphilosophie beziehungsweise -informatik zu analysieren. Mithin konstituieren sich mittels synthetischer und/oder integraler Problemorientierungen Formationen transdisziplinärer (Selbst-)Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen der Medienevolution und -reflexion, die sich anhand von Publikationen auswerten lassen. Die inter- und/oder transdisziplinären Differenzierungstendenzen in der medienreflexiven Domäne ließen sich mittels des Ansatzes loser beziehungsweise strikter struktureller Kopplung von Elementen operationalisieren.85 Die erste Studie konzentrierte sich auf Medienphilosophie als Beispiel einer rezenten losen, noch nicht etatisierten strukturellen Kopplung von Medienwissenschaft und Philosophie mittels synthetischer Problemorientierungen innerhalb des Fächerkanons und der Wissenschaftskultur der Philosophischen Fakultät. Bedingt durch den Umstand, dass Medienwissenschaft, Philosophie und Medientheorie in einem mannigfaltigen, allerdings noch recht wenig miteinander verbundenen Diskurs mit der Erarbeitung medienphilosophischer Modellationen befasst sind, hatte ich hier unter dem Gesichtspunkt inter- und/oder transdisziplinärer Differenzierungstendenzen in dieser medienreflexiven Domäne lediglich von losen oder schwachen strukturellen Kopplungen philosophischer, medienwissenschaftlicher und -theoretischer Elemente sprechen können. Ungeachtet der eigenen Problemexpositionen in einer medienorientierten Fachphilosophie, in einer wissenschaftstheoretisch versierten Medienwissenschaft und in einer spekulativ-reflexiven Medientheorie erfolgen die jeweiligen ›medienphilosophischen‹ Ansätze allerdings in einem gemeinsamen komplementä-

84 Vgl. als Überblick etwa Christian Filk/Michael Grisko: (Hg.): Einführung in die Medienliteratur. Eine kritische Sichtung, Siegen: Böschen 2002. 85 Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (wie Anm. 21), S. 198.

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ren Reflexionsmodus auf und über ›Medien‹.86 Das dem Projekt der ›Medienphilosophie‹ immanente Korrekturpotenzial für die in diesem Forschungskomplex sich strukturell koppelnden Disziplinen Medienwissenschaft und Philosophie lässt sich nach beiden Seiten hin interpretieren: zum einen als ›Wiedereinschreibung des Geistes in die Medienwissenschaft‹ und zum anderen als ›Einführung des Materiell-Technischen in die Philosophie‹. Von der Medientheorie wird in diesem Zusammenhang gefordert, Medien nicht länger nur in ihrer technischen Materialität fundiert zu begreifen, sondern sie als Werkzeuge sowohl individueller als auch kollektiver Erkenntnis- und Handlungskonstitution beziehungsweise Erkenntnis- und Handlungskoordination zu verstehen. Der Philosophie ihrerseits zeigt das neue Interparadigma die Begrenztheit einer rein ›theoretizistischen‹ Fokussierung auf gleichsam ›körperlose‹ Rationalitätsprozesse auf und zwingt sie dadurch, ihre Reflexionsarbeit um die Analyse des medialen Fundaments erkenntnisgeleiteter Weltzugänge zu erweitern. Die zweite Anwendungsuntersuchung fokussierte Medieninformatik in Gestalt einer theoretischen (Re-)Konstruktion des Forschungskomplexes Mensch/Computer-Interaktion (MCI) innerhalb des transdisziplinären Diskurses von Computer Supported Cooperative Work (CSCW) als Exempel für eine etablierte striktere strukturelle Kopplung diverser Wissenschaftsdisziplinen und -kulturen. Vor diesem Diskurshorizont (re-)konstruierte ich die Media-Synchronicity-Theorie von Alan R. Dennis und Joseph S. Valacich87 aus den späten 1990er Jahren. Wie die Analyse verdeutlicht, sind im CSCW-Forschungskomplex verschiedene informatorische, psychologische, organisationswissenschaftliche und betriebswirtschaftliche Konzepte und Paradigmen impliziert, um fundamentale Intentionen, Prozesse, Strukturen, Funktionen, Modalitäten und Identitäten der computerbasierten Gruppenarbeit zu explorieren und zu explizieren. Der Konnex zur sich etablierenden Medieninformatik wurde in erster Linie mittels Konzeptualisierung und Implementierung des so genannten Mensch/ Computer-Kommunikations-Kanals hergestellt, differenziert nach verteilten/vereinten, synchronen/asynchronen sowie individuellen/kollektiven Szenarien. Im epistemisch offen angelegten Diskurs von Computer Supported Cooperative Work – exemplifiziert anhand der Media-

86 Vgl. Reinhard Margreiter: Medienphilosophie. Eine Einführung, Berlin: Parerga 2007, S. 10. 87 Vgl. Alan R. Dennis u. a.: »Beyond Media Richness. An Empirical Test of Media Synchronicity Theory«, in: Hugh J. Watson (Hg.): Proceedings of the 31nd Hawaii International Conference on System Sciences (HICSS 31), Los Alamitos, California u. a.: IEEE Computer Society 1998, S. 48-57 sowie Alan R. Dennis/Joseph S. Valacich: »Rethinking Media Richness. Towards a Theory of Media Synchronicity«, in: Ralph H. Sprague, jr. (Hg.): Proceedings of the 32nd Hawaii International Conference of System Sciences (HICSS 32), Los Alamitos, California u. a.: IEEE Computer Society 1999 (CD-ROM of Full Papers), S. 1-10.

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Synchronicity-Theorie – sind transdisziplinäre Elemente der Aufgabenorientierung (Media-Richness-Theorie), der Medienorientierung (MediaRichness-Theorie), der Funktionsorientierung (TIP-Theorie) sowie der Kommunikationsorientierung (Media-Synchronicity-Theorie, Sensemaking-Theorie) strukturell strikter gekoppelt. Eine integrale Problemantizipation und stärkere disziplinäre Interaktion begründen hier einen neuen autonomen trandisziplinären Forschungskomplex und ersetzen vormals heterogene Problemsektoren und schwache Wechselwirkungen beteiligter (Sub-)Disziplinen. Die beiden skizzierten Anwendungsstudien einer Wissenschaftsforschung transdisziplinärer Medienwissenschaft sollten der Komplexität, Dynamik und Differenz gegenwärtiger Forschungsevolution und -reflexion genüge tun, was ein konzeptuell-methodisches Prozedere mit besonderen Anschlussfähigkeiten erforderlich machte. In Extrapolierung dieser Resultate wird man von der Analyse spezifischer Themen abstrahieren und eruieren, ob und gegebenenfalls welche spezifischen Forschungsstrukturen sich auf höherer, komplexerer Beobachtungsebene formieren (lassen). Mithin wird man zu diskutieren haben, inwieweit sich die herauskristallisierenden Forschungskomplexe à la longue als Konturen einer multi- oder gar transdisziplinären Medienforschung erweisen?

K u l t i v i e r u n g m e d i e n r e f l e x i ve r Wissenschaftsforschung Mit der vorliegenden Arbeit Episteme der Medienwissenschaft war intendiert, einen Impuls zu einer engagierteren (Selbst-)Reflexion sowohl in der Domäne der intradisziplinären als auch in der Domäne der transdisziplinären Medienforschung zu setzen. Dabei möchte ich mit meiner Explorativstudie nicht zuletzt auch einen konzeptueller Beitrag zur Beschreibung und Beschreibbarkeit einer multi- beziehungsweise transdisziplinären Medienforschung leisten, die nach der diskutieren Arbeitshypothese die nächste Phase der medienreflexiven Wissenschaftsevolution bildet oder bilden könnte. Selbstredend sind die Facetten zur Wissenschaftsforschung der Medien- und Kommunikationswissenschaft um ein Vielfaches komplexer, als es im vorgegebenen Rahmen der Dissertation auch nur annäherungsweise angedeutet werden konnte. Betrachtet man das gesamte Spektrum des Forschungshandelns und des -prozesses in einer funktional differenzierten Gesellschaft, so geraten rasch weitere wichtige Problemstellungen in das Blickfeld einer medienreflexiven Wissenschaftsforschung.

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Handlungstypus

Systemfunktionales Handlungsziel

Kognitive Rückkopplung

Institutionen

Kooperation

Erkenntnisproduktion

kooperative ForschungsFormulierung gruppen von Arbeitszielen

informelle (mündliche) Kommunikation

Information

Reflexion der Forschungstätigkeit in Selbstund Fremdbildern

formelle (schriftliche) Kommunikation

Reputation

Dezentrierung Reports, des Wissens; Zeitschriften Modellierung der Forschungsfelder; Konstruktion der historischen Kontinuität (Vergangenheit)

Wissenschaftspolitik und Forschungsplanung (Aufstellen von Forschungsprogrammen)

Verfügung über finanzielle Ressourcen

Bildung neuer Forschungsfelder; Integration fachfremder und außerwissenschaftlicher Wissensziele; Entwerfen erwartbaren Wissens (Zukunft)

Hybridgemeinschaften, Stiftungen, Fördergesellschaften

Lehre

Rekrutierung von qualifiziertem Nachwuchs

Vereinfachung und Axiomatisierung des Wissens

Fachschulen u.a

Praxis

Verwissenschaftlichung der Gesellschaft

Integration sozialer Präferenzen, Normen, Relevanzkriterien

wissenschaftsgestützte Industrie, Gesundheits- und Erziehungswesen

öffentlicher Diskurs

Legitimierung Integration von von Wissenschaft Wissen

Workshops, Konferenzen, Kongresse, Institutionen, Laboratorien

öffentliche Medien

Abbildung: Systemische »Umweltschleifen« des Forschungshandels88

88 Vgl. ebd., S. 125.

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Die Wissenschafts- und Techniksoziologen Wolfgang Krohn und Günter Küppers haben vor einiger Zeit bereits in ihrer Selbstorganisation der Wissenschaft89 sieben strukturell unterschiedliche Rückkopplungen auf den Forschungsprozess der Wissenschaft identifiziert und systematisch miteinander in Beziehung gesetzt. Die Situierung des Forschungshandelns und des -prozesses in den von ihnen so genannten »Umweltschleifen« der Gesellschaft (vgl. Abbildung oben) geben eine konstruktive Matrix ab, um einige konzeptuelle Vorschläge für eine konstruktive Projektierung und Profilierung der Wissenschaftsforschung aktueller (trans-)disziplinärer Medien- und Kommunikationswissenschaft zu unterbreiten. Als Ausgangspunkt ist vorauszusetzen, dass die uns bereits aus dem vorstehenden Argumentationsgang geläufigen elementaren Mechanismen unverändert bleiben. Die Aktanten in einer Forschungsgruppe agieren in ihrer jeweiligen Umwelt mit der Absicht, die Voraussetzungen und Anschlüsse für die Fortsetzung ihrer Forschungstätigkeit zu gewährleisten. Mithin sind die Mitglieder von Forschungsgruppen einerseits bemüht, die sie umgebende inner- und/oder außerwissenschaftliche Umwelt durch die Steigerung ihres Einflusses vorteilhaft für sich einzunehmen, andererseits sind sie dazu angehalten, selbst wiederum mit unerwarteten Umweltbedingungen und -ereignissen zu rechnen.90 Jenes Umwelthandeln, das Krohn und Küppers als »Wissenschaftshandeln« bezeichnen, differiert insofern von den rekursiven Interaktionen des Forschungshandelns, als dass die korrespondierenden Handlungsfelder sich nicht auf die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnis oder wissenschaftlichen Wissens beziehen, sondern vielmehr auf Gebiete wie beispielsweise das Publikationswesen, die Wissenschaftspolitik oder spezielle Praxisfelder. Aus dem Umstand, dass Wissenschaftler und Nichtwissenschaftler mit korrespondierenden und konkurrierenden Intentionen, Initiativen und Aktivitäten in inner- und/oder außerwissenschaftlichen Umwelten agieren, resultieren wiederum »Ränder«, über die indes keiner allein verfügen kann. Dadurch kann aber eben auch eine gewisse Autarkie geschaffen werden für weitere Anschlüsse des Handelns.91 Diese lediglich in nuce anskizzierten Umweltschleifen und Rückkopplungen des Forschungs- und Wissenschaftshandelns wären mit Blick auf die Medienforschung zu reformulieren und zu respezifizieren. Mithin könnte diese Systematik die Basis für ein eigenes tragfähiges Programm zur Wissenschaftsforschung der (trans-)disziplinären Medien- und Kommunikationswissenschaft sowie anderer Wissenschaftsdisziplinen und -kulturen abgeben. 89 Vgl. W. Krohn/G. Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft (wie Anm. 29), insbesondere S. 66-121, 122-131. 90 Vgl. ebd., S. 71. 91 Vgl. ebd.

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Beschließen möchte ich meine Untersuchung mit einem – konstruktivistisch gewendeten – Zitat: »Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber gibt es Methoden, gleichsam verschiedene Therapien.«92 – Von diesem Wittgenstein’schen Aphorismus möge sich eine medienreflexive Wissenschaftsforschung in der Erfüllung künftiger Aufgaben leiten lassen.

92 Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe, Band 1. Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914-1916, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 305 (Hervorhebung im Original).

7 Litera turverzeichnis Abramson, H. Norman u. a. (Hg.): Technology Transfer Systems in the United States and Germany. Lessons and Perspectives, Washington: National Academy Press 1997. Adorno, Theodor W. u. a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied/Berlin: Luchterhand 1969. Albert, Hans: Traktat über kritische Vernunft, Tübingen: Mohr 1991. Altendorfer, Otto: Das Mediensystem der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001. Altenloh, Emilie: Zur Soziologie des Kino. Die Kino-Unternehmungen und die sozialen Schichten ihrer Besucher, Jena: Diederichs 1914. Altmeppen, Klaus-Dieter/Karmasin, Matthias (Hg.): Medien und Ökonomie, Band 1/1. Grundlagen der Medienökonomie. Kommunikationsund Medienwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003. Altmeppen, Klaus-Dieter/Karmasin, Matthias (Hg.): Medien und Ökonomie, Band 1/2. Grundlagen der Medienökonomie. Soziologie, Kultur, Politik, Philosophie, International, Geschichte, Technik, Journalistik, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003. Altmeppen, Klaus-Dieter/Karmasin, Matthias (Hg.): Medien und Ökonomie, Band 2. Problemfelder der Medienökonomie, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004. Altmeppen, Klaus-Dieter/Karmasin, Matthias (Hg.): Medien und Ökonomie, Band 3. Anwendungsfelder der Medienökonomie, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2006. Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: Beck 1987. Andersson, Gunnar: Criticism and the History of Science. Kuhn’s, Lakatos’s and Feyerabend’s Criticisms of Critical Rationalism, Leiden u. a.: Brill 1994.

344 | EPISTEME DER MEDIENWISSENSCHAFT

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Sandro Gaycken, Constanze Kurz (Hg.) 1984.exe Gesellschaftliche, politische und juristische Aspekte moderner Überwachungstechnologien (2. unveränderte Auflage 2009) 2008, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-766-0

Carmen Gransee, Maren Krähling, Marion Mangelsdorf Technoscience Eine kritische Einführung in Theorien der Wissenschafts- und Körperpraktiken September 2009, ca. 150 Seiten, kart., ca. 13,80 €, ISBN 978-3-89942-708-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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Gesine Krüger, Ruth Mayer, Marianne Sommer (Hg.) »Ich Tarzan.« Affenmenschen und Menschenaffen zwischen Science und Fiction 2008, 184 Seiten, kart., zahlr. Abb., 22,80 €, ISBN 978-3-89942-882-7

Philippe Weber Der Trieb zum Erzählen Sexualpathologie und Homosexualität, 1852-1914 2008, 382 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1019-2

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Science Studies Ralf Adelmann, Jan Frercks, Martina Hessler, Jochen Hennig Datenbilder Zur digitalen Bildpraxis in den Naturwissenschaften Juni 2009, 224 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1041-3

Jochen Hennig Bildpraxis Visuelle Strategien in der frühen Nanotechnologie August 2009, ca. 338 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1083-3

Kai Buchholz Professionalisierung der wissenschaftlichen Politikberatung? Interaktions- und professionssoziologische Perspektiven

Renate Mayntz, Friedhelm Neidhardt, Peter Weingart, Ulrich Wengenroth (Hg.) Wissensproduktion und Wissenstransfer Wissen im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit

2008, 240 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-936-7

2008, 350 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-834-6

Michael Eggers, Matthias Rothe (Hg.) Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften

Katja Patzwaldt Die sanfte Macht Die Rolle der wissenschaftlichen Politikberatung bei den rot-grünen Arbeitsmarktreformen

Mai 2009, 274 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1184-7

Gabriele Gramelsberger Computerexperimente Zum Wandel der Wissenschaft im Zeitalter des Computers Oktober 2009, ca. 296 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-89942-986-2

Wilfried Heinzelmann Sozialhygiene als Gesundheitswissenschaft Die deutsch/deutsch-jüdische Avantgarde 1897-1933. Eine Geschichte in sieben Profilen

2008, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-935-0

Gerlind Rüve Scheintod Zur kulturellen Bedeutung der Schwelle zwischen Leben und Tod um 1800 2008, 338 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-89942-856-8

Tristan Thielmann, Erhard Schüttpelz, Peter Gendolla (Hg.) Akteur-Medien-Theorie November 2009, ca. 470 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1020-8

Juli 2009, ca. 384 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1144-1

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