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German Pages [736] Year 1984
Enzyklopädie des Märchens Band 4
W G DE
Enzyklopädie des Märchens Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung Herausgegeben von Kurt Ranke, Göttingen zusammen mit Hermann Bausinger, Tübingen Rolf Wilhelm Brednich, Göttingen · Wolfgang Brückner, Würzburg Max Lüthi, Zürich · Lutz Röhrich, Freiburg · Rudolf Schenda, Zürich Redaktion Ines Köhler - Elfriede Moser-Rath - Christine Schmidt Hans-Jörg Uther — Rainer Wehse Göttingen Band 4
1984 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Lieferung 1 Ente - Erster, Erstes, Zuerst Lieferung 2/3 Erster, Erstes, Zuerst — Farn Lieferung 4/5 Farn — Förster
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der Deutschen
Bibliothek
Enzyklopädie des Märchens : Handwörterbuch zur histor. u. vergleichenden Erzählforschung / hrsg. von Kurt Ranke zusammen mit Hermann Bausinger . . . [Hrsg. im Auftr. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen]. Berlin ; New York : de Gruyter NE: Ranke, Kurt [Hrsg.] Bd. 4 (1984). Abschlußaufnahme von Bd. 4 ISBN 3-11-009566-1
Copyright 1982/1984 by Walter de Gruyter & Co., Berlin Printed in Germany Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Übersetzung, der Herstellung von Mikrofilmen und Photokopien, auch auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinder: Fuhrmann KG, Berlin
Herausgegeben im Auftrage der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Gefördert mit Mitteln der Bund-Länder-Finanzierung-Akademienprogramm.
HINWEISE FÜR DEN BENUTZER Anordnung der Stichwörter Die Stichwörter sind in alphabetischer Reihenfolge geordnet. Die Umlaute ä, ö, ü, äu werden wie a, o, u, au behandelt, der Buchstabe ß gilt als ss. Bei manchen Stichwörtern folgen Singular- und Pluralformen direkt aufeinander, woraus sich geringfügige Abweichungen von der alphabetischen Anordnung ergeben (Baum, Bäume, Baumann). Die Schreibung richtet sich grundsätzlich nach den Regeln der Duden-Rechtschreibung. Die Benutzer werden gebeten, die Möglichkeit einer Schreibvariante von sich aus in Betracht zu ziehen (c unter k, ae unter ä, f unter ph etc.). Dem Familiennamen vorangehende Zusätze werden in der landesüblichen Weise alphabetisiert (Friedrich von der Leyen unter: Leyen, Friedrich von der; Carl Wilhelm von Sydow unter: Sydow, Carl Wilhelm von; Aulnoy, Marie Catherine d'; dagegen: De Gubernatis, Angelo). Transkriptionen Namen, Werktitel und Begriffe aus Sprachen, die nicht das lateinische Alphabet benutzen, sind nach den heute wissenschaftlich gebräuchlichen Transkriptionssystemen umgeschrieben (siehe: Schürfeld, C.: Kurzgefaßte Regeln für die alphabetische Katalogisierung an Institutsbibliotheken. Bonn 4 1970). Abkürzungen Das jeweilige Stichwort wird innerhalb des Artikels abgekürzt. Alle anderen Abkürzungen sind im Verzeichnis der Abkürzungen aufgelöst; Flexionsendungen können den abgekürzten Substantiven angefügt sein. Ethnische, geographische und Religionsgemeinschaften betreffende Adjektive werden um die Endungen gekürzt, soweit sie nicht eigens im Abkürzungsverzeichnis aufgeführt sind. Für die biblischen Bücher und außerkanonischen Schriften ist das in Die Religion in Geschichte und Gegenwart ( 3 1957) t. 1, p. XVIsq. verwendete Abkürzungssystem maßgebend. Die für wichtige Sammlungen, Nachschlagewerke, Buchreihen und Zeitschriften gebrauchten Kurztitel können anhand des Verzeichnisses 2 aufgeschlüsselt werden. Literaturangaben und Anmerkungen Weiterführende Literatur ist am Ende jedes Artikels, bei längeren Artikeln auch unter einzelnen Abschnitten in einem chronologisch oder nach Ethnien geordneten Verzeichnis angegeben. Anmerkungen zu einzelnen Textstellen sind mit hochgestellter Zahl gekennzeichnet. Manche Autoren verwenden auch die Kurzzitierweise (Autor, Jahr, Seite), die anhand der Literaturangabe aufgeschlüsselt werden kann. Was Erzähltypen und -motive betrifft, so richtet sich die EM nach den Anordnungsprinzipien und dem Nummernsystem des international verwendeten Typenkatalogs Aarne—Thompson (AaTh), des Motiv-Index von Stith Thompson (Möt.) und der zahlreichen Regionalverzeichnisse. Die Angaben von Typen- und Motivnummern im Text oder in den Anmerkungen sind als weiterführende Hinweise zu verstehen. Werktitel, Erzähltypen und -motive werden im Text kursiv wiedergegeben. Verweise auf andere Artikel sind durch Pfeile (Verweiszeichen: —>) angezeigt.
VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN 1. Allgemeine Abkürzungen Abb. Abhdlg a. Chr. n. afrik. ags. ahd. Akad. allg. amerik. Anh. anthropol. app. aram. Art. Assoc. Α.Τ. Aufl. Aug. Ausg. Ausw.
Abbildung Abhandlung ante Christum natum afrikanisch angelsächsisch althochdeutsch Akademie allgemein amerikanisch Anhang anthropologisch appendix aramäisch Artikel Association Altes Testament Auflage August Ausgabe Auswahl
Bearb., bearb. Beitr. Ber. bes. betr. Bibl. bibl. Bibliogr.,bibliogr Biogr., biogr. Bl., Bll. bret. bulg. byzant. bzw.
Bearbeitung, bearbeitet Beitrag Bericht besonders, besonderer betreffend Bibliothek biblisch Bibliographie, bibliographisch Biographie, biographisch Blatt, Blätter bretonisch bulgarisch byzantinisch beziehungsweise
ca cf. chin. col.
circa confer chinesisch columna
d.Ä. Dez. d.h. Diss.
der Ältere Dezember das heißt Dissertation
d.J. dt.
der Jüngere deutsch
ead. ed., edd.
erg. erw. etc. cthnol. ethnogr. etymol. europ.
dieselbe edidit, ediert von, edited, editio, editor etc. Einleitung Encyclopedia, Encyclopedie, Enzyklopädie ergänzt erweitert et cetera ethnologisch ethnographisch etymologisch europäisch
Faks. Febr. Festschr. fol. Forts. frz.
Faksimile Februar Festschrift folio Fortsetzung französisch
geb. gedr. geogr. germ. Ges. gest. G.W.
geboren gedruckt geographisch germanisch Gesellschaft gestorben
Einl. Enc., Enz.
Gesammelte Werke H. Hb., Hbb. hebr. hist. Hl. hl. Hs., Hss. hs. Hwb. ibid. id. ide.
Heft Handbuch, Handbücher hebräisch historisch Heilige (r) heilig Handschrift, -en handschriftlich Handwörterbuch ibidem idem indoeuropäisch
* Hier nicht aufgelöste Abkürzungen siehe Verzeichnis der Abkürzungen in Band 1, Χ—XX und Band 3, V I I - X V I .
VIII
Verzeichnis der Abkürzungen
idg. i.e. ill. indon. Inst. internat. isl. ital.
indogermanisch id est illustriert indonesisch Institut international isländisch italienisch
J. Jahrber. Jan. jap. Jb. Jh.
Journal Jahresbericht Januar japanisch Jahrbuch Jahrgang Jahrhundert
Kap. kgl. Kl. Kl.(re) Sehr.
Kapitel königlich Klasse Kleine(re) Schriften
lat. Lex. Lfg lib. Lit. literar.
lateinisch Lexikon Lieferung liber Literatur literarisch
MA., ma. masch. Mel. Mem. mhd. Mittlg Monogr., monogr. Ms., Mss. mündl. mythol.
Mittelalter, mittelalterlich maschinenschriftlich Melanges Memoires mittelhochdeutsch Mitteilung Monographie, monographisch Manuskript, -e mündlich mythologisch
Nachdr. ndd. ndl. Ν. F. nördl. norw. not. Nov. N.R. N.S. N.T. num. η. u.Z.
Nachdruck niederdeutsch niederländisch Neue Folge nördlich norwegisch nota November Neue Reihe Neue Serie, New Series etc. Neues Testament numerus nach unserer Zeitrechnung
Okt. Orig. österr. östl.
Oktober Original österreichisch östlich
p. pass.
pagina passim
Jg
p. Chr. η. phil. philol. port. Proc. Progr. prov. Pseud. psychol. Publ.
post Christum natum philosophisch philologisch portugiesisch Proceedings Programm provenzalisch Pseudonym psychologisch Publikation, Publication etc.
Qu. Quart.
Quelle Quarterly
rätorom. Reall. Reg. rev. Rez. rom.
rätoromanisch Reallexikon Register revidiert, revised Rezension romanisch
s.a. Sb. Sehr. schriftl. Schweiz. Sept. skand. skr. s. 1. Slg slov. Soc. sog. soziol. sq., sqq. St. südl. Suppl. s.v.
sine anno Sitzungsbericht Schriften schriftlich schweizerisch September skandinavisch serbokroatisch sine loco Sammlung slovenisch Societe, Society sogenannt soziologisch sequens, sequentes Sankt, Saint etc. südlich Supplement sub verbo (voce)
t. Tab. theol. typol.
tomus Tabelle theologisch typologisch
u.a. Übers. übers. u.d.T. ukr. ung. ungedr. Univ. Unters. u.ö.
und andere, unter anderem Übersetzer, Übersetzung übersetzt unter dem Titel ukrainisch ungarisch ungedruckt Universität, University etc. Untersuchung und öfter
V. v. Var.
Vers vide Variante
IX
Verzeichnis der Abkürzungen verb. Verf. Veröff., veröff. Verz. Vietnam. Vjh. Vjschr. Vk. Vorw. v.u.Z.
verbessert Verfasser Veröffentlichung, veröffentlicht Verzeichnis vietnamesisch Vierteljahr(e)sheft Vierteljahr(e)sschrift Volkskunde Vorwort vor unserer Zeitrechnung
Wb. westl. Wiss., wiss.
Wörterbuch westlich Wissenschaft, wissenschaftlich
Z. ZA. z.B. Zs., Zss. z.T. ztg
Zeile Zeitalter zum Beispiel Zeitschrift, -en zum Teil Zeitung
2. Lexika, Motiv- und Typenkataloge, Textausgaben, Fachliteratur, Reihentitel und Zeitschriften AaTh Acta Ethnographica ADB Afanas'ev Amades Andreev Aräjs/Medne ArchfKultg. ArchfNSprLit. Arewa ARw. AS Äsop/Halm Äsop/Holbek Babrius/Perry Balys Barag Basile Basset Baughman Bausinger Beal. Bebel/Wesselski Bedier von Beit Benfey Berze Nagy
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χ BiblLitV Bihari Boberg Boccaccio Bedker, Folk Literature Bodker, Indian Animal Tales Boggs Bordman BP
Brückner
CA Chauvin Chavannes Child Childers Childers, Tales Choi Christiansen, M. L.
Christiansen, Ν. E. Cirese/Serafini CL Coetzee Cosquin Cross D'Aronco, Italia D'Aronco, Toscana DBF
Delarue Delarue/Teneze DF DFS Dh. DJbfVk. DSt.
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Verzeichnis der Abkürzungen DVldr DVLG Dvorak DWb. Eberhard/Boratav Eberhard, Typen EI 1 EI 2 EM ERE Ergis Erk/Böhme Espinosa FFC FL FLJ Flowers Frenzel, Motive Frenzel, Stoffe Frey/Bolte GA
Gesta Romanorum Ginzberg Goedeke
Gonzenbach Granger
Grimm DS Grimm, Mythologie Grimm, Rechtsalterthümer GRM Günter 1910 Günter 1949 György Hahn
XI
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XII Hansen
HDA HDM HDS Herbert
Hervieux HessBllfVk. Hodscha Nasreddin
Hoffmann Honti Höttges Ikeda Jacques de Vitry/Crane JAFL Jason Jason, Types JFI Jolles JSFO Karlinger Kecskemeti/Paunonen
Keller Keller/Johnson Kerbelyte KHM Kirchhof, Wendunmuth Kirtley Klapper, MA. Klipple KLL Kl. Pauly Köhler/Bolte Kongreß Kiel/Kopenhagen 1959
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Verzeichnis der Abkürzungen Koväcs Krzyzanowski Kurdovanidze
Lambrecht Laogr. Laport LCI Legenda aurea/Benz Legenda aurea/Graesse Liungman Liungman, Volksmärchen LKJ
Lo Nigro Loorits Lörincz LThK Lunding Lüthi, Ästhetik Lüthi, Europ. Volksmärchen Lüthi, Märchen Martinez Marzolph MdW Megas de Meyer, Conte de Meyer/Sinninghe MF MGH MNK Montanus/Bolte Moser-Rath Mot. MPG MPL MSFO
XIII
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XIV Müller/Röhrich NDB Neophil. Neuman Nowak Noy NUC Olrik 0
Siiilleabhäin/Christiansen
ÖZfVk. Pauli/Bolte Pauly/Wissowa Perry
Phaedrus/Perry Pino-Saavedra Plenzat Poggio
Polivka Propp Qvigstad RAC Ranke Raudsep Rausmaa RDK RDL
RE Rehermann RGG Robe Röhrich, Erzählungen
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Sveinsson von Sydow 1001 Nacht
Thompson/Balys Thompson, Folktale Thompson /Roberts Tille Tille, Soupis Ting
Toldo 1 9 0 1 - 1 9 0 9
Tubach
XV
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XVI
Verzeichnis der Abkürzungen
Verflex.
VjsLitg. de Vries Ward
Waterman Wesselski, Arlotto Wesselski, MMA Wesselski, Theorie WF Wickram/Bolte Wienert ZDMG ZfdA ZfEthn. ZfVk.
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3. Verlagsorte Amst. Antw. B. Berk. Bloom. Bud. Buk. Cambr. Chic. Fbg Ffm. Hbg Hels. Kop.
Amsterdam Antwerpen Berlin Berkeley Bloomington Budapest Bukarest Cambridge Chicago Freiburg im Breisgau Frankfurt am Main Hamburg Helsinki Kopenhagen
L. L. A. Len. Lpz. M. Mü. N.Y. Ox. P. Phil. Stg. Sth. W. Wash.
London Los Angeles Leningrad Leipzig Moskau München New York Oxford Paris Philadelphia Stuttgart Stockholm Warschau Washington
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Ente
Ente 1. Ätiologische Erzählungen - 2. Glaubensvorstellungen - 3. Märchen - 4. Sage - 5. Tiererzählung - 6. Zusammenfassung
Die E. wurde etwa um die Zeitenwende im Mittelmeerraum domestiziert 1 ; im Glauben vieler Völker spielt sie eine bedeutende Rolle 2 . Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Tieren hat sie in der antiken und späteren Volksüberlieferung, Lit. oder Kunst einen unterschiedlichen Symbolcharakter zugeschrieben bekommen 3 ; in der Antike ζ. B. wurden ihr (wie zuweilen noch in jüngster Vergangenheit) aphrodisische Eigenschaften zugeschrieben 4 , in Rom galt sie später als Versinnbildlichung des Winters 5 . - Die ,blaue E.' (i. e. Zeitungs-E.) war schon Luther als „eine in Zeitungen verbreitete gleichsam fortschwimmende, wieder auftauchende fabel oder lüge" geläufig 6 . 1. Einer ä t i o l o g i s c h e n E r z ä h l u n g des Kalevala zufolge wurde die Welt aus einem E.n-Ei geschaffen (Mot. A 641.2): oberes und unteres Gewölbe aus je einer Halbschale, das Mondlicht aus den weißen, das Sonnenlicht aus den gelben und das Sternenlicht aus den gesprenkelten Teilen; die dunklen Teile bildeten die Wolken. Nach einem Mythos der Schwarzfuß-Indianer wurde die Welt aus Schlamm erschaffen, den eine E. an ihrem Fuß vom Grunde des Urmeers heraufbrachte 7 . Auch die Farbe der E. (Mot. A 2411.2.6.4), die roten Augen (Mot. A 2332.5.7) und ihre seltsamen Füße (Mot. A 2375.2.8; D 444. 10.3) werden bei den verschiedensten Völkern ätiologisch erklärt 8 . Ihren Namen (penelops) interpretiert eine griech. etymol. Sage: Danach wurde Penelopeia von E.n gerettet, als man sie zur Buße für Palamedes ins Meer warf 9 . Bes. das Quaken der E.n gibt zu mannigfaltigen Deutungen Anlaß. Es kündigt Regen an („Natt, natt" 1 0 ), wird lustig verrätselt (als Beschwerde über Störung beim Putzen 1 ] ) oder sexuell gedeutet („Wieviel Mal?" - „Acht Mal" - „Brav, brav, brav [. . .]" 12 ). Auch im Kinderreim kommt die E. oft vor („Snaterint-Water hett min Aant" 1 3 ). Ihr Ruf weckt die Knechte 14 . Dem der Frösche ist er ähnlich, weil jene früher E.n gewesen sind, bevor Kain I
Enzyklopädie des M ä r c h c n s IV
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sie aus dem Paradies stahl (Mot. A 2426. 4.1.1). Auf Grund ihrer auffallenden Stimme fand die E. auch Eingang in Serge Sergejewitsch Prokofieffs Märchenballett Peter und der Wolf (1936). 2. G l a u b e n s v o r s t e l l u n g e n . Auch im Aberglauben spielt die E. eine bedeutende Rolle: Eier, Fleisch, Blut, Fett, Eingeweide und Schwanz gelten seit der Antike als Heilund Zaubermittel 15 ; andere Völker verschmähen ihr Fleisch, um nicht so langsam zu werden wie sie 16 . Im christl. Bereich begegnet die E. gelegentlich gemeinsam mit der Gans als Attribut der hl. —> Brigitta von Kildare, Patronin von Irland (gest. 523) 17 , da die Heilige der Legende nach sich zu jenen in die Einsamkeit geflüchtet habe 18 . Alte, verblaßte Glaubensvorstellungen spiegeln vielleicht auch Erzählungen wider, nach denen sich Hexen in E.n verwandeln können (Mot. G 211.3.2) oder E.n als Glücksvogel besitzen 19 . E.n selbst erscheinen als Unholde (Mot. G 353.3); Menschen (Mot. D 161.3) oder Wiedergänger (Mot. Ε. 423. 3.10) können E.ngestalt annehmen oder gegen ihren Willen in E.n verzaubert werden. Dies geschah ζ. B. einer der Töchter des Pieros, die sich über die Musen erheben wollte 20 , und ebenso erging es den Gefährten des Diomedes in Italien 21 . Beliebt ist auch das E.nkleid als zauberisches Schwimm- bzw. Flugmittel (—» Federhemd, -kleid), doch tragen die meisten Erzählungen hiervon - ζ. B. Var.n zu AaTh 451: —» Mädchen sucht seine Brüder22 — bereits deutlichen Märchencharakter, gehören also nicht mehr dem geglaubten Bereich an 23 . Naturmythol. Deutungen solcher Erzählungen, wie sie A. De Gubernatis gab 24 , erscheinen von einem modernen Standpunkt aus revisionsbedürftig, doch weist er mit Recht auf die häufige Austauschbarkeit von E., Schwan und Gans hin. 3. M ä r c h e n . Als aus der Asche der Toten entstandener Seelenvogel tritt die E. zuweilen im bait. Märchen auf, wo sie dem suchenden Bruder die Mordtat der hexenden Stiefmutter verrät (AaTh 452 C*: The Sister as Duck): Der Bruder rächt die ermordete Schwester - sie war in eine Grube gelockt und dort verbrannt worden, nachdem alle Tiere, die sie vor der
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Ente
Falle hatten warnen wollen, vorher von der Hexe getötet worden waren —, indem er die böse Alte von seinem Pferd in die winterliche Wildnis tragen läßt 25 . In einem rumän. Märchen andererseits wird die Heldin aus der Gefangenschaft eines Menschenfressers befreit, indem sie von dessen Mutter in eine E. verwandelt wird 26 . Mandarin-E.n verkörpern auch die Seelen zweier Liebender in einer chin. Legende 2 7 . Aus dem Baltikum stammen die beiden einzigen Belege zu AaTh 434*: The Diver and the Princess28: Eine Königstochter liebt den Taucher Nöglas (Der Nadlige), der alle Dinge vom Meeresgrund heraufholen kann. Ein eifersüchtiger Königssohn, der ebenfalls um die Prinzessin freit, läßt ihn auf Rat eines Zauberers nach ihrer Brustspange tauchen: Nöglas kehrt nicht zurück. Statt seiner erscheint eine E. mit einem goldenen Ring um den Hals; es ist der verwandelte Taucher. Am nächsten Morgen trifft die weinende Königstochter einen seltsamen Alten am Meer, der ihr eine Handvoll Mehl gibt. Als sie die E. damit füttert, verwandelt diese sich in Nöglas zurück. Er berichtet, Nixen hätten ihn verführen wollen; da er aber seiner Liebe treu geblieben sei, hätten sie ihn verzaubert. Nun heiratet er die Königstochter und wird später selbst König.
Die Verwandlung des Helden in eine E. begegnet auch in Märchen wie ζ. B. AaTh 450: —> Brüderchen und Schwesterchen. In anderen Zaubermärchen treten E.n des öfteren als —» dankbare oder hilfreiche Tiere auf (Mot. Β 469.4), die verlorene Gegenstände aus dem Wasser holen (Mot. Β 548.2.2.2; Β 548.4) 2 9 , oder, wie in einer thüring. Var. von AaTh 327 A: —» Hänsel und Gretel, den Flüchtenden eine Brücke bauen 3 0 . Überhaupt erscheint die E. häufig im Zusammenhang mit dem Zyklus von der —> magischen Flucht (AaTh 313,314), wenn ζ. B. die von der Hexe (oder einem Menschenfresser) Verfolgten ein Ei hinter sich werfen, das sich in einen See verwandelt, auf dem sie anschließend (nach ihrer Transformation in E:n) schwimmend flüchten 31 . Der Verfolger versucht meist, den See auszusaufen, und platzt. Wie erwähnt, tritt die E. zuweilen an die Stelle anderer Vögel; so agiert sie häufig als magisches Objekt, an dem alle klebenbleiben, in weit verstreuten Var.n des Schwankmärchens AaTh 571: —» Klebezauber32. In AaTh
4
403: Die schwarze und die weiße —> Braut wiederum wird die wahre Braut von der Stiefmutter ins Wasser gestoßen und verwandelt sich dann manchmal in eine Gans, meist aber (wie schon in der ersten vollständigen dt.sprachigen Var. in den Sagen der böhm. Vorzeit33 und kurz darauf in K H M 135) in eine E. 3 4 Durch Kopfabschlagen wird die Verzauberung schließlich rückgängig gemacht; zuweilen jedoch wird statt dessen das Federkleid verbrannt, um das darunter verborgene Mädchen an der Flucht zu hindern 3S . 4. Auch in der S a g e ist die E. des öfteren anzutreffen, bes. prägnant in der Schatzgräbersage von der goldenen E.: „Wer den Schatz, die goldenen Enteneier, holen will", heißt es in einer Erzählung aus Oberschlesien 36 , „muß, ehe er den Gang beschreitet, drei Messen lesen lassen, und ist er an dem See angelangt, so muß er diesen dreimal der Länge nach durchschwimmen [. . .]". Die Schatzhebung mißlingt ausnahmslos. Auch das Märchenmotiv von den in E.n bzw. Schwäne verwandelten Prinzessinnen — wie es schon in J. K. A. Musäus' Volksmährchen der Deutschen belegt ist — findet sich zuweilen in Sagen 37 . 5. T i e r e r z ä h l u n g . Eine Hauptrolle spielt die E. insbesondere im schwankhaften, vor allem in Nordeuropa verbreiteten Tiermärchen AaTh 204: —> Tiere auf Seereise, das im allg. eine Ätiologie der Tierstimmen geben soll; meist kann sich die E. als einziges Mitglied der großsprecherischen Besatzung retten. Häufig tritt die E. auch in den europ. Var.n von AaTh 210: » Tiere auf Wanderschaft auf: Die schmarotzenden Tiere und Gegenstände kehren in einem fremden Haus (oftmals bei einem alten Weib oder in einer Wirtschaft) ein, lassen sich reichlich bewirten und verstecken sich dann an verschiedenen Stellen im Haushalt (oder prellen die Zeche und stehlen sich davon). Wenn der Gastgeber sie am nächsten Tag sucht, so necken oder mißhandeln sie ihn je nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten; zuweilen bringen sie ihn gar zu Tode. Dabei wird das Schnattern der E. oft als Drohung gegen den erzürnten Gastgeber gedeutet, oder jener fällt die Aufgabe zu, ihn mit Wasser zu bespritzen oder mit nasser Wäsche zu schlagen 38 .
In einem siebenbürg. Märchen, das zu AaTh 295: —» Strohhalm, Kohle und Bohne zu
5
Entführung
stellen ist, n i m m t die E . den F r o s c h , den M ü h l stein und die g l ü h e n d e K o h l e mit a u f die R e i s e . A l s sie n a c h e i n e m Fisch t a u c h t , e r t r i n k e n die b e i d e n l e t z t g e n a n n t e n B e g l e i t e r ,
E.
und F r o s c h h i n g e g e n l a c h e n n o c h h e u t e d a r ü b e r 3 9 . In a n d e r e n T i e r e r z ä h l u n g e n
schwankt
der Charakter der E . stark: In einem schwed. Tiermärchen besiegt sie den Strandläufer beim Wettwachen (AaTh 120: —> Sonnenaufgang zuerst sehen)*0. — Nach einer Überlieferung aus Kamerun herrscht Feindschaft zwischen Huhn und E., weil die E. gemeinsam mit dem Käfer darüber lacht, daß das Huhn stolz auf seinen Nutzen für den Menschen ist (da es von ihm gegessen wird) 41 . - Eine Erzählung der Wakweli aus der gleichen Region behauptet das Gegenteil: Darin versuchen die wildlebenden Vögel, das Huhn zu entführen. Als jedoch auf dem Fluß ihr Kahn entzweizubrechen droht, wird das schwere Huhn über Bord geworfen. Die E. erbarmt sich seiner und rettet es vor dem Ertrinken. Seitdem herrscht Freundschaft zwischen diesen beiden Haustieren 42 . — In einem span. Märchen (AaTh 2 0 8 * : Duck Persuades Cock to Cut off his Crest and Spurs) versucht die E. zwischen Hahn und Katze zu vermitteln und wird deswegen von der Katze angegriffen 43 . 6. Z u s a m m e n f a s s u n g . Im Volksmärchen und in den v e r w a n d t e n G a t t u n g e n hat sich z u r E . keine eigene Symbolik ausbilden können. Z u m e i s t tritt sie als b e l i e b i g e s H a u s t i e r u. a. a u f o d e r h a t e i n e N e b e n r o l l e i n n e , i n d e m sie d e m H e l d e n in i h r e r E i g e n s c h a f t als S c h w i m m vogel dienlich i s t 4 4 . D i e V e r w a n d l u n g s f ä h i g k e i t d e r E . im M ä r c h e n g a b zu m a n c h e r l e i p s y c h o l . D e u t u n g e n A n l a ß , die a b e r k e i n e i n heitliches B i l d e n t s t e h e n l a s s e n 4 S . I h r in d e r oralen Tradition weitgehend offener Charakt e r h a t es a n d e r e r s e i t s e r m ö g l i c h t , d a ß ihr in d e n C o m i c s W a l t —» D i s n e y s die v e r s c h i e d e n sten
Eigenschaften
zugeschrieben
k o n n t e n , so d a ß sie in d e r G e s t a l t D u c k s das g e s a m t e S p e k t r u m
werden Donald
menschlicher
V e r h a l t e n s w e i s e n zu r e p r ä s e n t i e r e n i m s t a n d e ist. 1 Paulv/Wissowa, 10. Halbband ( 1 9 0 5 ) 2 6 4 1 ; Keller, O.: Die antike Tierwelt 2. Lpz. 1913 (Nachdr. Hildesheim 1 9 6 3 ) 2 2 8 - 2 3 5 . - 2 cf. H D A 2, 8 4 9 8 5 1 . - 3 R A C 5, 4 3 3 - 4 5 5 . - 4 R D K 5, 7 3 7 - 7 4 0 ; cf. ζ. B. Die gestriegelte Rockenphilosophie [. . .]. Chemnitz 5 1 7 5 9 , 5 4 3 - 5 4 6 (cap. 10: „Wer einen Entenschnabel in seinen Hosensaum nähet, dem muß das Frauenzimmer gut seyn"). — 5 Pauly/ Wissowa (wie not. 1) 2 6 4 5 - 2 6 4 8 . - 6 DWb. 3, 5 0 9 . - 7 Radin, P./Kerenyi, Κ./ Jung, C. G.: Der
ι
6
göttliche Schelm. Zürich 1954, 145. - 8 cf. ferner Dh., Reg. - 9 Pauly/Wissowa 2 ( 1 8 9 6 ) 1202. 10 ZfVk. 13 ( 1 9 0 3 ) 9 2 ; 24 ( 1 9 1 4 ) 59. 11 Am Urquell 4 ( 1 8 9 3 ) 252. 12 ibid. 5 ( 1 8 9 4 ) 31 sq. — 13 Strackerjan, L.: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 2. Oldenburg 2 1 9 0 9 , 135sq., 158. - 14 Kristensen, Ε. T.: Danske dyrefabler og kja:deremser. Arhus 1896, num. 35. 15 cf. H D A 2, 8 5 0 sq.; Jühling, J.: Die Tiere in der dt. Volksmedizin alter und neuer Zeit. Mittweida [1900] 190sq. et pass. - 1 6 d e L e r y , J . : Reise in Brasilien. Münster 1794, 188. - 17 E M 2, 7 9 0 - 7 9 2 . 18 R D K 5, 7 3 8 . - 19 H D M 1, 5 3 7. - 2 0 Antoninus Liberalis, Metamorphöseön synagöge 9. 2 1 Vergil, Aen'eis 11, 2 7 1 . - 22 cf. ζ. B. Eberhard/ Boratav, num. 165. - 2 3 cf. bes. H D M 1, 5 3 9 ; 2, 23. - 2 4 De Gubernatis, Α.: Die Thiere in der idg. Mythologie. Lpz. 1 8 7 4 , 5 7 3 - 5 8 3 . - 2 5 Capeller, C.: Lit. Märchen und Geschichten. B. 1924, num. 14; cf. auch Kallas, O.: Märchen der Ljutziner Esten 20. Dorpat 1900, num. 4 4 (namenloser Vogel als Zeuge der Untat). - 2 6 Dh. 3, 4 3 0 . - 2 7 cf. Eberhard, Typen, num. 2 1 1 ; weitere Belege zur E . als Seelentier im H D M 1, 5 3 8 s q . ; Dh. 3, 4 7 9 . - 2 8 nach Loorits, O.: Estn. Volkserzählungen. B. 1959, num. 95. - 2 9 cf. auch H D M 1, 5 3 7. - 3 0 Bechstein, L.: Dt. Märchenbuch. Lpz. 1845, 78. 3 1 ähnlich bei Kuhn, A./Schwartz, W. (edd.): Norddt. Sagen, Märchen und Gebräuche [. . .]. Lpz. 1848, 3 1 9 - 3 2 1 . - 3 2 ζ. B. Meier, E.: Dt. Volksmärchen aus Schwaben. Stg. 1852, num. 17; Sheikh-Dilthey, H.: Märchen aus dem Pandschab. MdW 1976, num. 23. - 3 3 [anonym:] Sagen der böhm. Vorzeit aus einigen Gegenden alter Schlösser und Dörfer. Prag 1808, 1 4 1 - 1 8 5 (Die goldene E . ; wohl nach frz. Vorlage). - 3 4 cf. B P 3, 8 5 - 9 4 ; E M 2, 7 3 4 . 3 5 B P 3 , 92. 3 6 Kühnau, R . : Schles. Sagen 3. Lpz./B. 1913, num. 1995; weitere Nachweise H D A 2 , 851. - 3 7 Musäus, J . Κ. Α.: Volksmärchen der Deutschen, ed. N. Miller. Mü. 1977, 3 9 1 - 4 5 4 ; cf. Panzer, F.: Beitr.e zur dt. Mythologie, ed. W . - E . Peuckert. Göttingen 1956, num. 191. - 3 8 Aarne, Α.: Die Tiere auf der Wanderschaft ( F F C 11). Hels. 1913 ( 2 1 9 6 7 ) 131 sq., 166; B P 1, 7 5 - 7 9 ; cf. auch K H M 10, wo die E. den Wagen aus einer Nußschale zieht. — 3 9 Haltrich, J.: Zur Vk. der Siebenbürger Sachsen, ed. J . Wolff. Wien 1885, num. 45. - 4 0 Dh. 3, 146. 4 1 Dh. 3, 3 4 7 s q . - 4 2 Bender, C. J.: Die Volksdichtung der Wakweli. B./Hbg 1922, 81 sq. 4 3 Caballero, F.: Cuentos, oraciones, adivinas y refranes populäres e infantiles. Madrid 1877, 61. 4 4 Zahlreiche Beispiele im H D M 1, 5 3 7. - 4 5 cf. von Beit, Reg. Göttingen
Manfred Grätz
E n t f ü h r u n g . U n t e r E . sind s e h r u n t e r s c h i e d lich v e r w e n d e t e M o t i v e z u s a m m e n z u f a s s e n , d e r e n G e m e i n s a m k e i t in d e r g e w a l t s a m e n
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Entführung
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Wegführung von Menschen aus ihrem bisherigen Lebensbereich an einen anderen Ort besteht, wo die Entführten vorübergehend oder dauernd festgehalten werden. Dabei schälen sich von den Absichten der Entführer her folgende Kernthemen heraus:
faßte sie bei der Hand und sprach: ,Ein Kaufmann bin ich nicht, ich bin ein König und nicht geringer an Geburt als du bist - aber daß ich dich mit List entführt habe, das ist aus übergroßer Liebe geschehen. D a s erstemal, als ich dein Bildnis gesehen habe, bin ich ohnmächtig zur Erde gefallen'".
Die E. von jungen Mädchen oder von Frauen durch Menschen oder Jenseitige zum Zweck der E h e oder eheähnlichen Verbindung mit ihnen (—» Brautraub, Mot. Κ 1371); die Ε. von Frauen zur Geburtshilfe bei übernatürlichen Wesen; die E. von Kleinkindern und deren Vertauschung gegen einen - * Wechselbalg; die E. der Braut durch den toten Bräutigam (AaTh 365: —» Lenore).
Der typische Ablauf dieser Episode, wie er als Kernmotiv zum Märchentyp AaTh 516 (Der treue —* Johannes) gehört, aber auch in Var.n zu AaTh 531 (—» Ferdinand der treue und Ferdinand der ungetreue) und zu AaTh 551 (—» Wasser des Lebens) begegnet, erinnert an die von —> Herodot (1,1) geschilderte E. der ahnungslosen Königstochter Io durch phöniz. Seeräuber nach Ägypten 2 . Das Motiv gelangt über die mhd. sog. Spielmannsdichtung und das Volksepos in zahlreiche Var.n zu AaTh 516 und 531 3 . Die listige E. (—> Brautraub, Kap. 5) findet sich in vielen europ. und oriental. Erzählungen und als Sujet der Hochliteratur 4 . In der Volksdichtung wird bes. den supranaturalen Figuren die Absicht unterstellt, Jungfrauen (gewöhnlich Prinzessinnen) durch gewaltsame E. in ihren Machtbereich zu bringen (AaTh 301: Die drei geraubten —» Prinzessinnen). Ziel der E. ist allg. die (eheliche) Verbindung mit dem Entführer. So fungieren etwa Zwerge als Entführer 5 , welche die jungen Mädchen in ihre unterirdische Behausung verschleppen. Im niedersächs. Märchen Das Zwergloch werden drei Schwestern nacheinander gefangengenommen und in der Zwergenhöhle festgehalten; die vierte ist als Braut des Zwergenkönigs ausersehen 6 . Sie befreien sich schließlich, indem sie sich in Sirup und Federn wälzen (Mot. Κ 5 21.1: Escape by dressing in animal skin)1. Schon das ma. Heldenbuch erwähnt die E. durch Zwerge 8 . Weitere Gestalten, denen die E. zugeschrieben wird, sind Riesen 9 und der Wassermann, der Mädchen raubt, um sie für immer gefangenzuhalten 10 . Von einer E. durch das Wilde Heer (—» Wilde Jagd) berichten die hs. Aufzeichnungen Renward Cysats ( 1 5 4 5 - 1 6 1 4 ) ; ein ihm bekannter Landmann habe „ein seltzam gethöß und susen anfangs einem gantzen [. . .] bynenschwarm glych" gehört und sei „jn lüften hinweg in ein frömbd land getragen worden" 1 1 . Von F. Ranke wird dem Kern des Erlebnisses ein realer Gehalt unterstellt, wenn
Die E. betrifft überwiegend weibliche Figuren, in einigen Fällen jedoch auch männliche, wie ζ. B. in AaTh 366: —> Mann vom Galgen oder in Var.n zu AaTh 470 A: —> Don Juan, in denen der Frevler entführt wird. Die vorübergehende oder endgültige E. - meist von Männern — in eine andere Welt wird als —»Entrükkung bezeichnet. Die E. ist kein auf die Gattung des Märchens begrenztes Motiv, sie findet sich ebenso in Sagen, Schwänken, verschiedenen Liedgatturigen und im Mythos. Sie tritt aber fast ausnahmslos als Nebenzug oder Übergangsmotiv auf. Die näheren Umstände der E. werden selten geschildert; nicht das Verhalten des Entführers oder die Reaktion der entführten Person stehen im Mittelpunkt des Interesses, sondern die sich aus der E. ergebenden Möglichkeiten zu weiteren abenteuerlichen Verwicklungen. Eine die Handlung länger tragende Funktion hat die E. nicht. Als konstitutiver Motivbestand findet sich das E.smotiv als sog. Kaufmannsformel (Mot. Κ 1332): Der Freier kann die Braut nur durch eine List entführen, indem er sie — häufig mit Hilfe seines Dieners — aus strenger Bewachung auf ein prächtiges, mit Gold und seltenen Waren beladenes Schiff lockt. Der Entführer gibt sich dabei als Kaufmann aus; die neugierige Prinzessin wird von den prächtigen Schätzen auf dem Schiff so geblendet, daß sie dessen Abfahrt nicht bemerkt; erst auf hoher See erkennt sie die E. 1 : „ ,Ach', rief sie erschrocken, ,ich bin betrogen, ich bin entführt und in die Gewalt eines Kaufmanns geraten; lieber wollt' ich sterben!' Der König aber
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Entführung
er die berichtete E. als Reise eines Epileptikers in seinem Dämmerzustand deutet 1 2 . Gern läßt man den Teufel die Rolle des Entführers spielen; im Gewand des Jägers lockt er die Mädchen vom Tanzboden fort, um sie für immer in seine Gewalt zu holen (—» Teufelsbraut). Die Grundtendenz dieser Erzählungen, überwiegend Sagen, ist es, durch ein abschreckendes Beispiel vor dem Tanzen zu warnen; es handelt sich ursprünglich um Predigtexempel 13 . Bereits —> Thomas Cantipratanus berichtet, daß Teufel die Tochter eines Grafen entführt und nach einigen Stunden zurückgebracht hätten 1 4 . In einem siebenbürg. Märchen wird ein Königssohn vom Teufel in die Hölle entführt 1 5 . Auch Hexen werden in diesem Zusammenhang genannt 1 6 , daneben tragen Zauberer und Hexenmeister dämonische Züge, so der Hexenmeister in KHM 46 (Fitchers Vogel), der in Gestalt eines armen Mannes die Mädchen entführt und ihnen in der Blutkammer den Kopf abschlägt, und schließlich dämonisierte Räuber wie der Räuber Blaubart (AaTh 311, 312: -> Mädchenmördery. In Märchen und Balladen vom —> Räuberbräutigam (AaTh 955) tarnt sich der Entführer als Freier 1 8 . Ein Beleg aus den Tischreden Martin —> Luthers berichtet von einer —> Hebamme, die „vom Teufel wäre weggeführt worden zu einer Sechswöchnerin, mit welcher der Teufel hätte zu tun gehabt" 1 9 . Diese zu ma. Vorstellungen vom —» Incubus gehörende Überlieferung begegnet im Umkreis der Erzählungen vom Hebammendienst bei den Unterirdischen; die E. von Frauen zur Geburtshilfe geschieht bes. durch den Wassermann, aber auch bei Zwergen haben menschliche Frauen oft Handlangerdienste zur Entbindung zu leisten. Werden diese nicht freiwillig erbracht, so werden die Frauen gewaltsam entführt 2 0 . Auch das Wechselbalg-Motiv gehört zym E.s-Komplex; das Unterschieben von Wechselbälgen setzt die listige E. der Kinder aus der Wiege voraus. Häufig bringen die Entführer wie in KHM 39 (3. Var.): Die Wichtelmänner ,das rechte Kind' wieder zurück, wenn man durch unsinnige Verrichtungen den erstaunten Wechselbalg zum Sprechen gebracht hat (AaTh 500: —> Name des Unholds). Dieser Erzähltypus zeigt die frühere irrationale Einstellung zu unerklärten physischen Defekten,
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bes. des Cretinismus, die auf dämonische Feinde zurückgeführt wurden 2 1 . Der Ausdruck ,wehselkint* ist bereits in den St. Pauler Glossen bezeugt 22 . Die Erzählungen, im MA. durch prominente Autoren wie Wilhelm von Auvergne (Paris), Thomas von Aquin, Nikolaus Jauer, Martin Luther und Johannes Hartlieb erörtert und beglaubigt, wurden vielfach als sensationsträchtige Historie kolportiert, so in J. Praetorius' Anthropodemus Plutonicus, Das ist, Eine Neue Weltbeschreibung [. . .] von 166 6 2 3 ; sie sind im ganzen europ. Bereich verbreitet, während außereurop. Belege nur vereinzelt vorkommen 2 4 . Auch die Volksballade kennt das Motiv 25 . Dämonisierte Tiere, ζ. B. Schlange, Walfisch und Adler, werden als Entführer bzw. deren Helfershelfer ebenfalls genannt 2 6 ; in einem Tierbräutigam-Märchen aus dem Irak (AaTh 425 L: The Padlock on the Enchanted Husband) entführt ein Riesenadler die Prinzessin durch die Lüfte in den Palast des Prinzen 27 . Aber auch als Befreier des Entführten können Tiere erscheinen: Ein Ibo-Märchen aus Nigeria erzählt von einem Geier, der die Königstochter aus der Gewalt eines teuflischen Monstrums befreit und ihr die Rettung bringt 28 . Ein als Entführer oft genanntes Wesen ist der —» Drache, der bes. furchterregend auftritt: Im russ. Märchen entführt der Drache Gorynytsch die Nichte des Fürsten Wladimir in die Sorotschinsker Berge, wo er sie neben Königen aus 40 Ländern in einer Höhle gefangenhält. Der Held des Märchens befreit die Fürstentochter schließlich aus der Gewalt des Drachen 2 9 . Die Erzählungen vom frauenraubenden Drachen (Zmej), wie sie sich vor allem in osteurop. Var.n des Märchens von den —» Tierschwägern (AaTh 552) finden, zeigen dabei durchaus erotische Aspekte 3 0 . Die E. gehört als wesentliches Motiv auch zu den Belegen des —» Bärensohn-Typus: Ein Bär verschleppt ein Mädchen in seine Höhle, um dort einen oder mehrere Söhne mit ihm zu zeugen. Dieser Ursprungsmythos, als genealogische Erzählung vor allem im späten MA. beliebt, hat eine weite Verbreitung 3 1 . Verwandte Züge zeigt das singhales. Märchen, in dem eine bengal. Königstochter von einem Löwen entführt wird 32 . Eine sehr altertümliche Glaubensvorstellung, die aber noch lebendig tradiert wird, zei-
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Entführung
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I cf. BP 1, 4 2 - 5 7 ; H D M 1, 551 sq.; Rösch, E.: Der gen die Überlieferungen vom Lenore-Typus 2 (—» Braut, Bräutigam, Kap. 3), die von der getreue Johannes (FFC 27). Hels. 1928. - Art. Io. In: Pauly/Wissowa 18, 1 7 3 2 - 1 7 4 3 ; cf. BP 1, 45, Heimsuchung der Braut durch den toten Bräunot. 4. - 3 Var.n bei BP 1, 45sq. - 4 Geißler, F.: tigam handeln 33 . Hier finden sich intensive Brautwerbung in der Weltlit. Halle 1 9 5 5 , 1 6 6 - 1 7 3 ; Beziehungen zwischen Mann und Frau dokuFrenzel, Motive, 171 — 185. - 5 Art. Zwerge und mentiert, die über den Tod des Partners Riesen. In: H D A 9, Nachtrag, 1 0 0 8 - 1 1 3 8 , bes. 1 1 0 8 - 1 1 1 0 . - 6 Schambach, G./Müller, W.: Niehinausreichen; der Wiedergänger findet erst dersächs. Sagen und Märchen. (Göttingen 1855) seine Ruhe, wenn es ihm gelungen ist, die Repr. Stg. 1948, num. 24. - 7 cf. BP 1, 398sq. Braut aus der Gemeinschaft der Lebenden 8 Peuckert, W.-E.: Dt. Volksglaube des SpätMA.s. fortzureißen und ins Totenreich zu entfühStg. 1942, 199. - 9 Haltrich, J.: Dt. Volksmärchen 34 ren . Den Menschen bedrohende Züge zeigt aus Siebenbürgen. Mü. 6 1956, num. 38. - 10 Bäuauch das Märchen vom —> Mann vom Galgen erle, P.: Die Volksballaden von Wassermanns Braut und Wassermanns Frau. Diss. Tübingen 1934. — (AaTh 366): Man hat ihm Leber oder Herz II Cysat, R.: Collectanea chronica [. . .] 1. ed. J. herausgeschnitten, um sie zu verzehren; der Schmid. Luzern 1969,586. - 12 Ranke, F.: Sage und Diebstahl wird durch die E. des Schänders Erlebnis (1912). In: id.: Kl.re Sehr. Bern/Mü. 1971, 35 gerächt . Auch in den Var.n zu AaTh 470 A 2 4 5 - 2 5 4 , hier 246 sq. - 13 Röhrich, L.: Teufels(—» Don Juan) entführt der im Übermut zu märchen und Teufelssagen. In: id.: Sage und MärGast geladene Tote den Frevler im Gegenzug chen. Fbg/Basel/Wien 1976, 2 5 2 - 2 7 2 , bes. 256 sq. - 14 BP 2, 538 sq. - 15 Zaunert, P.: Dt. Märmit sich in die andere Welt 36 .
Aus den vorangegangenen Ausführungen wird deutlich, in welch heterogenen Zusammenhängen das E.smotiv in der Volkserzählung und in der Hochliteratur verwendet wird. Aus der weiten Verbreitung und dem hohen Alter von Einzelbelegen, wie dem ägypt. Mythos von Anup und Bata (Das ägypt. —* Brüdermärchen), der Odyssee (15, 415—453, bes. 425—429) und dem angeführten Zeugnis des Herodot kann geschlossen werden, daß die E. zum Grundmuster des Sozialverhaltens — J. G. von —» Hahn zählt sie zu den „Urgedanken der Menschheit" 37 — gehört: Sowohl bibl. Belege wie auch Brauchberichte vieler Völker beweisen bis in die Gegenwart hinein Gepflogenheiten des Braut- oder Frauenraubs. Wenn die E. auch nie allein in den Mittelpunkt einer Erzählung gestellt wird, so übernimmt sie doch eine strukturtragende Rolle: Sie dient der Spannungseröffnung und -Steigerung, demonstriert aber auch vielfach die List der Helden. In der Sage sollen Berichte von der E. durch Dämonen und Tote zur Bezeugung der bedrohlichen Macht der Jenseitigen dienen. Im Schwank und im Schwanklied 38 werden der Vorgang der E. und die Täuschung der Gegenspieler des Entführers bes. herausgestellt. Die psychol. Aspekte der E., wie sie H. von Beit betont, werden in den Belegen selbst nur wenig berührt39. —» Brautraub, —> Entrückung, —> Flucht, cf. —» Gefangenschaft
chen seit Grimm. MdW 1964,84. - 16 Ey, Α.: Harzmärchenbuch. Stade 1862, 176; Löwis of Menar, A. von: Finn, und estn. Volksmärchen. MdW 1922, num. 33. - 17 BP 1, 400, 411; Heckmann, E.: Blaubart. Ein Beitr. zur vergleichenden Märchenforschung. Diss. Heidelberg 1930. — 18 cf. Röhrich, L./Brednich, R. W. (edd.): Dt. Volkslieder 1. Düsseldorf 1965,35; Nygard, H. O.: The Ballad of Heer Halewijn (FFC 169). Hels. 1958. - 19 Dt. Volkssagen. ed. L. Petzoldt. Mü. 1970, 429 (zu num. 348). — 2 0 cf. Grimm DS, num. 58, ebenso num. 41, 49, 6 5 - 6 9 , 304; Peuckert, W.-E.: Sagen. Geburt und Antwort der mythischen Welt. B. 1965, 65-68. 21
Piaschewski, G.: Der Wechselbalg. Diss. Breslau 1935; Appel, H.: Die Wechselbalgsage. Diss. Β. 1937, bes. 5 - 1 0 ; cf. allg.: Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N. Y. 1981. — 22 Graff, Ε. G.: Ahd. Sprachschatz 6, 1. (B. 1 8 3 4 46) Repr. Hildesheim 1963, 717. - 2 3 Peuckert (wie not. 8) 1 6 3 - 1 7 0 ; Franz, Α.: Der Magister Nikolaus Magni de Jawor. Fbg 1898, 175; J. Hartliebs Buch aller verbotenen Kunst, ed. D. Ulm. Halle 1914, 73 sq. - 24 Art. Wechselbalg. In: H D A 9, Nachtrag, 8 3 5 - 8 6 4 , bes. 863 sq. - 25 Röhrich, L.: Die Wechselbalg-Ballade. In: Festschr. B. Schier. Göttingen 1 9 6 7 , 1 7 7 - 1 8 5 . - 2 6 cf. Kretschmer, P.: Neugriech. Märchen. MdW 3 1941, num. 1; Krickeberg, W.: Indianermärchen aus Nordamerika. MdW 1924, num. 10. — 27 Noy, D.: One Hundred and Twenty Tales from Iraq. Tel Aviv 1965, 16. - 2 8 Afrik. Märchen, ed. F. Becker. Ffm. 1969, 5 3 - 6 0 . 29 Russ. Märchen, ed. H. Angarowa. M. [s. a.] 2 6 1 - 2 7 2 . - 30 Dukova, U.: Das Bild des Drachen im bulg. Märchen. In: Fabula 11 (1970) 2 0 7 - 2 5 2 , bes. 246. 31 Findeisen, H.: Mensch und Tier als Liebespartner in der volksliterar. Überlieferung Nordeurasiens und in der amerik. Arktis. Augsburg 1956. -
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Enthauptung
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Wesselski, M M A , 2 4 7 - 2 4 9 . - 3 3 Peuckert, W.-E.: Lenore (FFC 158). Hels. 1955; dt. Var.n nachgewiesen bei Ranke 1, 2 7 6 s q . - 34 auch im Lied: v. Röhrich/Brednich (wie not. 18) num. 8; Petzoldt, L. (ed.): Grause Thaten sind geschehen. Mü. 1968, num. 29. - 3 5 K H M 211; dazu auch Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 51. - 3 6 Klapper, MA., 3 5 6 s q . ; Wesselski, M M A , 144; Petzoldt, L.: Der Tote als Gast (FFC 200). Hels. 1968. 37 Hahn, 43, 5 4 - 5 9 . - 3 8 wie etwa im Typ ,The . Crafty Lover' bei Wehse, R.: Schwanklied und Flugblatt in Großbritannien. Ffm./Bern/Las Vegas 1979, 98sq., 267, 325 sq., 331. - 3 9 von Beit 1, 603, 741 und pass.
Lippstadt
Ernst-Dietrich Güting
Enthauptung, früher allg. übliche Todesstrafe, bei Naturvölkern Südostasiens, Melanesiens, Polynesiens, Westafrikas und Südamerikas bis in die Neuzeit auch eine Art, sich Siegestrophäen oder Manaträger zu verschaffen (Kopfjagd). Die Apokryphen liefern ein Beispiel in der Judith-Sage (13, bes. 6— 10), und häufig findet sich E. in den Heiligenviten als eine Form des Martyriums, so bei —» Johannes Baptista, dem hl. Dionysius etc. Nicht nur Menschen wurden enthauptet, sondern auch Tiere und unbelebte Abbilder. Solche Berichte gelangten ins Erzählgut als Chronikerzählungen und Heiligenlegenden, die alle als wesentlichen Bestandteil eine ungewöhnliche oder wunderbare Folge der E. aufweisen. Typische Beispiele in Chroniken schildern etwa, wie die Enthaupteten mit einem Stück Rasen anstelle des Kopfes auf dem Rumpf über viele Äcker zu gehen vermochten 1 . Vom Rumpf getrennte Köpfe versuchen, sich durch Sprechen oder Mienenspiel Ausdruck zu verschaffen (Charles I. von England; Charlotte Corday; auch der enthauptete Verbrecher, der das Ave Maria spricht 2 ). In Martyrien wird z.B. berichtet, daß heilkräftige Quellen dort entspringen, wo das Haupt hinfällt (etwa bei der hl. Winifreda oder Barbara 3 ). Nach einem Lichtblitz kann Wiederbelebung auftreten (Fuscianus und Victoricus) 4 ; die E. selbst kann undurchführbar werden (Sanctulus; Caecilia; cf. Mot. D 1840.1.3); dem Hals entströmt Milch, dann erst Blut (Katharina; Paulus); Leib und Kopf werden auf wunderbare Weise entrückt (Katharina; Secundus); der Nachwelt werden wunderbare Heilungen bei
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(Hals-)Erkrankungen beschert (Blasius). Im 16. Jh. beziehen sich solche Legenden oft auf Protestanten, deren einer, Jörg Schörer, seine Glieder nach der E. in Kreuzform zu legen vermochte 5 . Eine Hostie wurde im Kopf eines von einem Sultan zu Ostern enthaupteten Christen in der Form eines kleinen Kindes gefunden 6 . Ein E.s-Traum wurde Wirklichkeit für Dona Mencia de Guevara (Valladolid 1537), die sich geweigert hatte, ins Kloster zu gehen 7 . Die E. eines unbelebten Gegenstandes konnte aus der Ferne den Tod eines damit in Beziehung stehenden Menschen bewirken (cf. —» Fernzauber). Eine Erzählung aus Stolberg (16. Jh.) berichtet, daß ein Zauberer eine Lilie köpfte und man später eine Leiche ohne Kopf fand 8 . Eine andere Chronikerzählung bezieht sich auf den wegen Hochverrats im Exil lebenden Marquis de Montemor (Konnetabel von Portugal), dessen Abbild Joäo II. von Portugal 1483 auf das Schafott bringen und enthaupten ließ, wobei künstliches Blut aus dem Halse flöß. Wenig später wurde Montemors Leiche gefunden 9 . E. ist auch das Thema von Schwank und Witz, und sogar in Kindergeschichten — man denke etwa an das wiederholte „Schlag ihm den Kopf ab!" der Roten Königin in —> Alice im Wunderland — scheint sie eine bes. Faszination auf die Hörer auszuüben. Ein bekannter Witz enthält die an einen mit fachmännischem Schlag Enthaupteten gerichtete Aufforderung: „Jetzt nicke mal!" Auch um die Guillotine ranken sich zahlreiche schwankhafte Erzählungen. Vielleicht stehen die Geschichten, die von Verjüngung durch Ersetzen von Köpfen handeln (etwa bei Straparola 3,2 = Mot. D 1865.1), in Verbindung mit dem ländlichen Brauch, den Winter in effigie zu enthaupten 1 0 . Der Versuch von Nonnen, durch Verstümmeln ihrer Gesichter der Begierde ihrer Entführer zu entgehen, führte lediglich dazu, daß diese sie wegen Häßlichkeit enthaupteten, und gab in· früheren Zeiten sicher den Stoff für eine komische, nicht für eine ergreifende Geschichte ab. Schwankhaft angelegt ist in der span. Erzählung Wie ein schlauer Bauer Kaufleute hereinlegte das Kernstück, die Episode von der vorgetäuschten E. der Frau des Bauern, welche beim Klang einer Trompete wiederaufersteht, wohingegen die leicht-
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Enthauptung
gläubigen Kaufleute ihre eigenen Frauen wirklich enthaupten (cf. AaTh 1539: —• List und Leichtgläubigkeit)n. Dem Finkenritter, der Titelfigur des gleichnamigen Volksbuches (1559), gelingt es, sich den Kopf wieder aufzusetzen, nachdem er ihn versehentlich mit der eigenen Sense abgehauen hatte 1 2 . Zahlreich sind die Schwanke, in denen —> Köpfe vertauscht oder verkehrt aufgesetzt werden (AaTh 774 A, 1169). In den verschiedenen Fassungen von —» Fürchtenlernen (AaTh 326) treten Helden auf, die darauf vertrauen, die E. zu überleben. Damit ist das Thema in die Nähe der E.sWette (Mot. Μ 221) gerückt, die auch das bekannte Kernstück des mittelengl. Versromans Sir Gawain and the Green Knight (ca 1370 in Mittelengland entstanden) bildet. Erzählungen dieser Art repräsentieren die schwankhafte Ausprägung des E.-Stoffes. Die Ursprünge des Motivs in der ir. Überlieferung und anderswo sind von G. L. Kittredge 1 3 ausführlich untersucht worden, der auch das umfassende Korpus von Geschichten über Mischwesen zusammengestellt hat, die ihren Kopf abnehmen und wieder aufsetzen können, ζ. B. Orrilo in —> Ariostos Orlando Furioso14. Sagen, Märchen und Schwänke berichten häufiger, daß nach der Wiederbelebung Enthaupteter rote, kreisförmige Narben am Hals der Delinquenten zurückblieben, so z.B. der Schweiz. Schwank von Bärtschu und seiner ,Heilung' des geköpften Oberwalliser Soldaten 1 5 ; die Schlußepisode von —• Ferdinand der treue und Ferdinand der ungetreue (AaTh 531); die span. Sage von den Verteidigern von Montemayor, die, um nicht Almanzor und seinen Mauren in die Hände zu fallen, geköpft und später wiederbelebt werden 1 6 .
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wahrt. Darin äußerte sich der Glaube an eine Form des Fortbestehens von Lebenskräften im Haupt (—» Pars pro toto). In Chronikerzählungen wird bisweilen ein Geist dadurch beschwichtigt, daß der Kopf einer begrabenen Leiche entfernt wird, um den Toten von einem zweiten, lemurenhaften Leben zu erlösen 1 8 ; einem Toten, bei dem keine Leichenstarre eintrat, wurde der Kopf abgetrennt 1 9 ; umgekehrt konnte der Abt Coemgenus ζ. B. Enthauptete wiederbeleben, indem er ihnen selbst den Kopf auf den Rumpf setzte oder seinen Scholaren solches auferlegte und seinen Bischofsstab mitgab, den sie zur Unterstützung der Erweckung auf die Brust des Toten legen mußten 2 0 . Reich an Glaubensvorstellungen dieser Art ist die kelt. Überlieferung. Für die Kelten war der Kopf seit alters ein Symbol immanenter Göttlichkeit und übernatürlicher Kräfte, der Sitz der Seele 21 . Köpfe von Feinden symbolisierten nicht nur bes. kriegerische Tüchtigkeit dessen, der sie aufbewahrte, sondern wurden auch in Zusammenhang mit Fruchtbarkeit und Gastfreundschaft gebracht. Bei Banketten wurden solchen abgetrennten Köpfen Speise und Trank vorgesetzt, und sie konnten Einspruch erheben, wenn das nicht geschah 22 . Nach einem allg. verbreiteten kelt. Brauch, der sich in Sagen niedergeschlagen hat, wurden Köpfe verehrungswürdiger Toter in Brunnen und Teiche gesetzt 23 (so die Köpfe von walis. und bret. Heiligen, aber auch Mimirs Kopf, der von Odin in einem hl. Brunnen gehalten wurde - was möglicherweise eine kelt. Quelle der Odin-Sage ist) 24 .
Sterblichen Überresten, dem Blut oder den Kleidern von Enthaupteten schrieb man die Eigenschaft zu, dem Besitzer Gesundheit und Glück zu verleihen. Eine Vorstellung dieser Art dürfte hinter Boccaccios Isabetta und der E. tritt oft in Zusammenhang mit EntzauBasilikumtopf (Decamerone 4,5; Mot. Τ 85.3) berung (—> Erlösung) auf. Tierhelfer fordern stehen. Hier gewährleistet der im Topf begrahäufig vom Helden ihre E., die zur Wiedergebene Kopf bis zu seiner Entdeckung sowohl winnung der menschlichen Gestalt führt (z. das Gedeihen der Pflanze als auch die FortB. AaTh 402: - » Maus als Braut-, AaTh 403: Die schwarze und die weiße —> Braut\ Mot. D dauer der Liebe zum Toten. In der —> Gänsemagd (AaTh 870 A) besitzt der abgetrennte 711) 1 7 . Hier liegt eine gewisse Ähnlichkeit Kopf des Pferdes Falada magische Kraft und mit dem Abstreifen der —»Tierhaut in anderen beschützt die Gänsemagd. Im kymr. —> MabiMärchen vor. Umgekehrt kann die E. einer nogion ist von den segensreichen Kräften des Hexe die Entzauberung all ihrer Opfer bewirabgetrennten Kopfes von König Bran die ken. Rede, der mit dem Gesicht in Richtung auf die In älteren Kulturstufen wurden die —* zu erwartende Invasion der Ausländer begraKöpfe von Toten als Kultgegenstände aufbe-
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Entlastung des Esels
ben ist. Solange der Kopf ungestört ruht, kann kein Unterdrücker eindringen 25 . Abgetrennten Köpfen wurde Sprachvermögen zugeschrieben 26 ; bekannt ist ihre Verwendung bei Weissagungen (später symbolisiert durch Nachbildungen aus Metall). Als Beispiel möge wieder der Kopf des Mimir in der OdinSage dienen. Die Köpfe von erschlagenen Muselmanen waren bes. geschätzt; ein gut belegtes Beispiel ist der Fall eines 1371 von Toledo nach England gebrachten Kopfes 2 7 . In Chronikerzählungen wird den Tempelrittern die Benützung von künstlichen weissagenden Köpfen zugeschrieben, und ein Nachhall hiervon findet sich im Ritterroman Valentin und Orson sowie bei Cervantes (Don Quijote 2. Teil, Kap. 62). In der Legende des hl. Ulrich bringt dieser einen abgetrennten Kopf dazu, die Unschuld einer verleumdeten Dame zu bezeugen 2 8 ; in einer anderen Legende bleibt ein solcher Kopf in Gegenwart des Kreuzes stumm 2 9 . Es hat nicht an Versuchen gefehlt, psychol. Erklärungen dafür zu liefern, warum sich das Phänomen E. in so starkem Maße in der Volkserzählung niedergeschlagen hat. Das Köpfen von Tierhelfern in vielen Märchen entspricht vermutlich der Individuationsstufe des Heranwachsenden, einem Stadium in der Einswerdung der Persönlichkeit 30 , und die Erlösung aus der Tiergestalt bildet gleichsam die Metamorphose des jungen Helden oder der jungen Heldin des Märchens 3 1 , die Bewußtmachung der Anima. I Müller-Bergström, W.: Enthaupten, köpfen. In: H D A 2, 8 5 2 - 8 5 9 . - 2 cf. Tubach, num. 2482. 3 Kittredge, G. L.: Α Study of Gawain and the Green Knight. Cambridge, Mass. 1916 (Repr. Gloucester 1960) 165. — 4 Diese und andere E.swunder kennt die Legenda aurea (Kap. 230, 125,170, 1 7 2 , 9 0 , 5 6 , 38); cf. auch Hebenstreit-Wilfert, H.: Wunder und Legende. Studien zu Leben und Werk von L. Surius ( 1 5 2 2 - 7 8 ) [. . .]. Diss. Tübingen 1975, 143,153; EM 1,657. - 5 Brückner, 152. - 6 ibid., 231 sq. 7 Floreto de anecdotas y noticias diversas [ca 1550]. ed. F. J. Sanchez Canton. Madrid 1948, 128. 8 Brückner, 489. - 9 Garcia de Resende: Crönica de Dom Joäo II. (Ndr. Lissabon 1973) 72 sq. - 10 Müller-Bergström (wie not. 1). — II Gillet, J.: Cömo vn rüstico labrador engano a vnos mercaderes. In: Revue hispanique 68 (1926) 174— 197. - 12 BP 2, 514. - 13 Kittredge (wie not. 3) 147—194 (The Returning or Surviving Head); EM 1,842. - 14 Kittredge (wie not. 3) 148. - 15 Jeger-
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lehner, J.: Sagen und Märchen aus dem Oberwallis. Basel 1913, 96. - 16 Menendez Pidal, R.: Historia y epopeya. Madrid 1934, 1 6 5 - 1 6 7 . - 17 cf. auch HDM 2 , 3 9 5 - 3 9 7 . - 18 Müller-Bergström (wie not. 1). - 19 Schlesien, 1720, zitiert nach Kühnau, R.: Schles. Sagen 1. Lpz. 1910, 196. - 2 0 Günter 1910, 25; Günter 1949, 301. 21 Ross, Α.: Pagan Celtic Britain. Studies in Iconography and Tradition. L. 1 9 6 7 , 6 1 - 1 2 6 (The Cult of the Head). - 22 ibid., 120. - 23 ibid., 111. - 24 ibid., 109. - 25 ibid., 119. - 2 6 Kittredge (wie not. 3) 177. - 2 7 Sayles, G. O. (ed.): Select Cases in the Court of King's Bench under Edward III. t. 6 (Publ.s of the Seiden Soc. 82). L. 1965,162sq. - 28 Tubach, num. 2475. - 29 ibid., num. 2477. - 30 von Beit 1,497. 31 ibid., 255.
Buffalo
Alan Soons
Entlastung des Esels (AaTh 1242 A), Schwank von der —» Dummheit eines Menschen, der das mitgeführte oder eingespannte Tier (zumeist Esel oder Ochse), auf dem er sitzt (von dem er gezogen wird), zu entlasten sucht, indem er sich die Last (einen Teil davon) aufbürdet. A. —> Wesselski hat darauf aufmerksam gemacht, daß in der Descriptio Norfolcensium (12. Jh.) den Bewohnern von Norfolk ähnlich einfältiges Tun nachgesagt wird 1 , doch begegnet die erste literar. Fixierung, soweit bekannt, in der mehrfach aufgelegten Fazetiensammlung —» Poggios (um 1470) 2 . Seine Quelle ist nicht bekannt; die Erzählung ist auch nicht, wie bei Poggio meistens üblich, lokalisiert: Ein Bauer hat mit zwei Ochsen gepflügt. Für den Heimweg besteigt er den mitgeführten Esel, dem er außerdem den Pflug auflädt. Als er merkt, daß jener unter der Belastung leidet, steigt er ab, nimmt den Pflug auf die Schulter und besteigt wieder das Tier: „Jetzt musst du ordentlich laufen können, jetzt trägst du ihn nicht mehr, jetzt trag ich den Pflug!"
Nach dem Vorbild Poggios ist die lustige Geschichte von der absurden Behandlung des Tieres auch in engl., frz. und dt. Schwanksammlungen des 16.—18. Jh.s eingegangen 3 und bis in die neuere Zeit nachweisbar 4 . Dort ist der Dummkopf häufig ein Bauer, der auf dem Markt Gemüse 5 , einen Sack Korn (Mehl) 6 oder Kartoffeln 7 erstanden hat. Nicht immer gibt er eine Begründung für die Umladung im Selbstgespräch, stattdessen
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Entlastung des Esels
wird er von Vorbeikommenden wegen seiner seltsamen Schulterladung angesprochen 8 . Verschiedentlich ist die Erzählung auf bekannte Schelmentypen (Hodscha Nasreddin, Sieur de Goulard, Pall Hall 9 ) übertragen oder auf Bewohner einer bestimmten Stadt gemünzt, die wie —» Abderiten oder —> Schildbürger der —» Ortsneckerei ausgesetzt sind (Einwohner der griech. Insel Chios, von Kalterherberg [Ardennen]) 1 0 . Außerdem kann die Geschichte als Episodenschwank auftreten, wobei Kontaminationen mit anderen Narren-Erzählungen möglich sind, ζ. B. mit AaTh 1276: Die verkehrte —> Richtung, AaTh 1284: Irrige —> Identität, AaTh 1384: - » Narrensuche, AaTh 1530: - » Tausch von Pseudotätigkeiten. Auch hier soll die vermeintliche Tierfreundlichkeit die Dummheit der betr. Person demonstrieren. Eine solche Einbindung begegnet bes. in Erzählungen über die dumme Ehefrau, in denen der Ehemann auf seiner Wanderung erfahren muß, daß es auf der Welt weit Dümmere als seine Frau gibt, und zu ihr zurückkehrt. In einer ukr. Fassung ζ. B. sieht ein Mann, wie eine Frau auf einer Strohfuhre stehend die Ochsen antreibt. Auf seine Frage, warum sie sich nicht setze, gibt sie zur Antwort, die Ochsen hätten schon genug Last mit dem Stroh, sie sollten sie daher nicht auch noch ziehen 11 . Der kleine Schwank von der E. des Tieres hat darüber hinaus zur Ausprägung regional und ζ. T. zeitlich begrenzter Ökotypen geführt. In Form eines Ratschlags begegnet die Erzählung ζ. B. in den Facetiae pennalium J. W. —» Zinkgrefs (1618) 1 2 und in anderen Slgen populärer Lit. der damaligen Zeit 1 3 : Als ein Philosoph (nicht näher bezeichnete Person) den Postjungen mit einem großen Postsack auf einem Esel vorüberreiten sieht, wendet er sich seinem Begleiter zu, beklagt das fehlende Mitleid des Reiters mit dem armen Tier und rät, jener solle sich gefälligst selbst die Last (bzw. „etlich Felleisen") auf den Rücken packen. — In einer anderen Erzählung 1 4 , von der auch mündliche Versionen aus der Neuzeit vorliegen 15 , wird von einem Fuhrmann berichtet, der einen Korb tragenden Wanderer zum nächsten Ort mitnimmt. Jener legt den Korb jedoch nicht ab, sondern verharrt auf dem Wagen in unbequemer Haltung. Als der Fuhrmann ihm freundlich empfiehlt, den Korb abzusetzen, antwortet der Einfältige: „Ey wolt jhr mirs dann auch führen"?
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Mitunter sind auch mehrere Erzählungen gleichen Musters von den Kompilatoren aufgenommen worden 1 6 . Daß dabei ζ. T. nicht der Tierhalter selbst, sondern der zusteigende Begleiter als einfältig dargestellt wird oder der Ratschlag zur vermeintlichen E. des Tiers nur kommentierend von Außenstehenden erfolgt, scheint keineswegs die Freude beim Lesen und Erzählen solcher kleinen Schwänke zu schmälern. Dafür spricht die internat. Verbreitung dieser und ähnlicher Geschichten, die S. Thompson mit Recht zu den Schildbürgerschwänken gestellt hat. Es sind aber auch Parallelen zu Varianten von AaTh 1215: —» Asinus vulgi zu erkennen, in denen Vater und Sohn den Esel tragen, statt ihn als Beförderungsmittel zu benutzen, weil sie des Gespötts der Leute überdrüssig sind. Ausgleichende Belastung sucht ein Mann zu erreichen, der seinem Tier einen Mehlsack nicht auf den Rücken lädt, nur die eine Seite des Sattels in Anspruch nimmt und auf die andere einen gleich schweren Stein packt (AaTh 1242 Β; cf. auch Ting 1242 C: Balancing Pigs). Neuere chin. Erzählungen kennen weitere Variationen, die mit anderen Dummenschwänken (v. oben) kontaminieren. So trägt ein Einfältiger seinen Esel, weil dieser beständig vom Weg abweicht, und das Ganze erfährt eine Fortsetzung dadurch, daß ein stummes Mädchen beim Anblick des ungewöhnlichen Gespanns ihre Sprache wiedergewinnt und den Einfältigen heiratet (Ting 1242 A,). Wie so oft erzeugt der Schwank das Lachen durch widersinniges Handeln (cf. —> Absurdität, —> Ad absurdum führen), indem hier Funktionen des Alltagsbereichs — die Lastenund Personenbeförderung mit Hilfe von Tieren — auf den Kopf gestellt werden. 1 cf. Hodscha Nasreddin 2,229sq. — 2 Poggio, num. 56. — 3 Texte im EM-Archiv (mit num.): Gerlach, Eutrapeliarum 1656 (3.389); Scheer-Geiger 1673 (8.528); Bienenkorb 1 1768 (11.365); weitere Nachweise bei Hodscha Nasreddin 2,229 sq. - 4 Ergänzend zu AaTh v. 0 Suilleabhäin/Christiansen; Jason, Types; Aräjs/Medne; Cirese/Serafini; Rausmaa; SUS; Ting. — 5 Hodscha Nasreddin 2, num. 490 (griech.); Huizenga-Onnekes, E. J.: Groninger volksvertellingen [. . .]. 2: Het boek van Minne Koning. Groningen 1930, num. 61 (Kohlrüben). 6 ζ. B. Christensen, Α.: Molboernes vise gerninger. Kop. 1939, num. 88; Bll. für pommersche Vk. 4
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Entmythisierung
( 1 8 9 6 ) 104sq. - 7 Merkens, Η.: Was sich das Volk erzählt 2. Jena 2 [ 1 8 9 5 ] num. 21. - β ζ. Β. Kristensen, Ε. Τ.: Danske skaemtesagn 1. Aarhus 1900, num. 5 3 4 s q . - 9 cf. Hodscha Nasreddin 2, 2 2 9 s q . ; D B F A 2, 2 1 8 (Pall Hall). - 10 Megas, G. Α.: Folktales of Greece. Chic./L. 1970, num. 59; Zender, M.: In Eifel und Ardennen. Bonn 1936, num. 52; Vries, J. de: Volksverhalen uit Oost-Indie 2. Zutphen 1928, 2 8 7 sq. (indon.). 11 Lintur, P. V.: Ukr. Volksmärchen. B. 1972, num. 116; cf. auch SUS. - 12 EM-Archiv: Zinkgref, Facetiae pennalium 1618 (6.413). — 13 EM-Archiv: Lehmann, Exilium melancholiae 1643 ( 4 1 8 ) und ( 4 6 4 ) ; Gerlach, Eutrapeliae I 1647 (2.263); Zinkgref/Weidner V 1655 (2.218[5]). - 14 EM-Archiv: Zinkgref, Facetiae pennalium 1618 (6.282); Lehmann, Exilium melancholiae 1643 (191); Gerlach, Eutrapeliarum I 1656 (3.390); Burger-Lust 1663 (13.780). - 15 Kristensen, Ε. T.: Molbo- og aggerbohistorier [. . .] 2. Aarhus 1903, 21, num. 60; Sudetendt. Zs. für Vk. 10 ( 1 9 3 7 ) 67; Hnatjuk, V.: Halyc'ko-rus'ki anekdoty. L'viv 1899, num. 129; Lang-Reitstätter, M.: Lachendes Österreich. Salzburg 2 1 9 4 8 , 4 7 ; Landmann, S.: Der jüd. Witz. Fbg 3 1 9 6 0 , 279. - 16 ζ. B. Gerlach, Lehmann, Zinkgref (wie not. 3 und 1 2 - 1 4 ) .
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thentischen Verwendungskontextes angesiedelte Beschäftigung mit Mythen — auch die wiss. — ist E. im pragmatischen Sinn; E. im pragmatischen Sinn kann — im Gegensatz zur E. im semantischen Sinn — die textuellen Konkretisationen von Mythen unberührt lassen. Sowohl unter semantischer als auch unter pragmatischer Perspektive kann E. eine Η a η dl u n g (also einen absichtsvollen Akt) oder einen (nicht-intentionalen) hist. P r o z e ß meinen. Die Tradierung der antiken Mythologie über das christl. MA. und die Renaissance bis zur Neuzeit ist ein Beispiel für ,E. als Prozeß', die kritischen Auseinandersetzungen einzelner Aufklärer mit je spezifischen antiken oder christl. Mythen können veranschaulichen, was ,E. als Handlung' bedeutet.
Während die Wörter E., aber auch Demythisierung und Demythologisierung allein im dargestellten Sinn t y p o l . gebraucht werden, ist das Wort ,Entmythologisierung' nicht nur typisierendes Prädikat, sondern auch N a m e für ein spezifisches E.s-Verfahren, nämlich für die von R. Bultmann vorgeschlagene Form der Göttingen Hans-Jörg Uther Ν. T.-Exegese 1 (v. Kap. 3). Es ist evident, daß die je spezifische Ausprägung des E.s-Begriffs, ob er nun dominant Entmythisierung semantisch oder dominant pragmatisch, als 1. Begriffsabgrenzung — 2. E. als Instrument und Handlung oder als Prozeß konzipiert wird, Symptom des .Fortschritts' - 3. E. als interkulturelabhängt von dem in seiner Verwendung präle Übertragung von Sinn - 4. E. als Rehabilitation supponierten M y t h o s - B e g r i f f . Sein Wandes Mythos — 5. E. und Erzählen — 6. E. aus der del — und zwar vor allem in pragmatischer Sicht des Feldforschers Hinsicht — fungiert in der folgenden Übersicht zur Geschichte des Begriffs E. als implizites 1. B e g r i f f s a b g r e n z u n g . Der Begriff E. Leitmotiv. Die in Kap. 2 vorgestellten E.s-Beerscheint verschieden ausgeprägt, je nachdem, griffe fassen den Mythos als L ü g e , die es ob sein Verwendungskontext der linguistidurch E. zu e n t l a r v e n gilt; in den Belegen aus schen Teildisziplin der Semantik oder jener Kap. 3 ist vorausgesetzt, daß den Mythen ein der Pragmatik nähersteht. Unter s e m a n t i Erfahrungs- und Artikulationsmodus zugruns c h e r P e r s p e k t i v e meint E. die Umformulierung eines —> Mythos — also einen Eingriff de liegt (das , m y t h i s c h e D e n k e n ' ) , welcher Gesellschaften charakterisiert, die in erhebauf der Phänomenebene der Bezeichnung (die lichem zeitlichen oder kulturellen Abstand von freilich hier sehr weit zu fassen ist) —, eine der Welt des Interpreten situiert sind, wesUmformulierung, welche die Bedeutung des halb Voraussetzung des Mythen-Verstehens Mythos oder die durch ihn realisierte SprachE. als i n t e r k u l t u r e l l e Ü b e r t r a g u n g von handlung möglichst unmodifiziert lassen soll; Sinn wird; während E. als interkulturelle unter p r a g m a t i s c h e r P e r s p e k t i v e bezeichÜbertragung von Sinn ein wechselseitiges net das Prädikat ,E.' eine Rezeption von Ausschließungsverhältnis von mythischem Mythen, welche sich unter einer Einstellung und logischem Denken (letzteres wird verstanund in Verstehenshandlungen vollzieht, wie den als mentaler Grundhabitus der abendländ. sie in einer ,primären', ,mythengerechten' Neuzeit) annimmt, sehen die E.s-Begriffe in Kommunikationssituation ausgeschlossen geKap. 4 Mythos und Logos als Erfahrungswesen wären. Jegliche außerhalb dieses au-
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Entmythisierung
und Artikulationsmodi an, welche prinzipiell in jeder Gesellschaft g l e i c h z e i t i g benutzt werden können, auch wenn sich diese Gleichzeitigkeit in verschiedenen Verhältnissen von Dominanz, Komplementarität, sozialer Stratifizierung hist, konkretisiert: Unter dieser Prämisse ist die wiss. Auseinandersetzung mit Mythen — auch E. im weitesten Sinne — auf die Frage nach funktionaler Spezifizierung von Mythos und Logos (bei prinzipieller Funktionsäquivalenz) gerichtet, und schon allein eine solche Fragerichtung ist vor dem Hintergrund der Auffassungen des Mythos als ,Lüge' oder ,Konkretisation eines der abendländ. Neuzeit fremden Denkens' als R e h a b i l i t a t i o n d e s M y t h o s zu bewerten. Der Wandel des Mythos-Begriffs als Leitmotiv einer Skizze zur Begriffsgeschichte von E. rückt diese in ein metonymisches Verhältnis zur Geschichte der phil. Erkenntnistheorie und der hermeneutischen Erkenntnispraxis. Die folgenden Abschnitte der Darstellung belassen diese Chance wiss.geschichtlicher und mentalitätsgeschichtlicher Ausblicke in ihrer Latenz, da es primär um die Entwicklung des E.s-Begriffs geht. Sie setzt in der Epoche der Aufklärung ein, auch wenn sich Prozesse und Handlungen von E. schon Jh.e zuvor beobachten lassen, weil E. erst an der Wende vom 17. zum 18. Jh. zu einem Programm, damit aber auch zu einem Reflexionsgegenstand und Begriff wurde. Die Bezeichnungen für diesen Begriff sind bis ins 20. Jh., ja bis heute diffus geblieben; es hat jedoch den Anschein, daß der von Bultmann geprägte Name der ,Entmythologisierung' als Anstoß zu Konvergenz· und Terminologisierungs-Bewegungen gewirkt hat. Anders als im Fall der E. läßt sich im Hinblick auf den Mythos seit der Aufklärung eine relativ stabile Beziehung zwischen der Bezeichnung einerseits und andererseits einem Grundbestand von Bedeutungselementen beobachten, welche, obwohl oder gerade weil einige von ihnen erst in jüngster Zeit Gegenstand systematischer Reflexion geworden sind, vom oben skizzierten Wandel der pragmatischen Aspekte des Mythosbegriffs so gut wie unberührt bleiben. Das Prädikat Mythos bezog sich stets auf einen Sinnbestand, welcher in einem Korpus von Texten — mit mehr oder weniger deutlichen Abweichungen —
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artikuliert gefunden wurde; man faßte die Konkretheit der solche Sinnbestände konstituierenden Bedeutungselemente nicht — wie etwa im Fall des christl. Exerppels — als Ansatzpunkt für eine Auslegung auf höherem Abstraktionsniveau; schließlich gehörte ein narrativer Charakter zu den konstanten Bestimmungselementen des Mythos. Was seine Textstruktur angeht, so liegen zwar zahlreiche Versuche zu ihrer generalisierenden Kennzeichnung vor, keine von ihnen würde aber für sich genommen zu einer eindeutigen Abgrenzung des Mythos als Texttyp hinreichen 2 . 2. E . als I n s t r u m e n t u n d S y m p t o m d e s . F o r t s c h r i t t s ' . Als hist. Begriff faßt A u f k l ä r u n g jeglichen Prozeß, in dem ein gegebenes soziales Wissen als dem ,wahren Sein' inadäquat kritisiert und mit dem Anspruch auf Vollständigkeit durch ein neues Wissen ersetzt wird, das sich selbst als Wahrheit inszeniert. Eine Affinität zwischen den typol. Begriffen Aufklärung und E. liegt also auf der Hand. Die über dieses Niveau hinausgehenden Besonderheiten der Mythos- und E.s-Begriffe der europ. Aufklärung des 18. Jh.s ergeben sich aus den Spezifika der Fundierung und der kritischen Zielrichtung des von ihr propagierten Wissensbestandes. Wenn sich dieses neue .wahre Wissen' durch seine Herleitung aus der menschlichen Natur, insbesondere der angeborenen menschlichen Vernunft legitimiert, dann kann das zu revidierende Wissen nicht Konstituens von Ur- oder Frühphasen der Menschheitsgeschichte, nicht Ergebnis einer naturwüchsigen Entwicklung und schon gar nicht menschliches Schicksal sein; vielmehr muß wirklichkeitsinadäquates Wissen, und zu ihm rechnet die Aufklärung Mythen, stets auf eine A b s i c h t d e s B e t r u g s verweisen und so als Mittel gesellschaftlicher Unterdrückung verstellbar werden. Daß nun solcher Betrug, dem die Aufklärung die Genese von Mythen zuschreibt, mit dem Fortschreiten der Aufklärungsbewegung immer selbstverständlicher als P r i e s t e r b e t r u g erschien, ergibt sich aus dem Sachverhalt, daß man die Religion (spezieller: die christl. Kirche) als jene Institution anvisierte, welche in der Tradierung und Distribution des zu revidierenden sozialen Wissens ihre Funktion gefunden hatte. Mythen als ein aus betrügerischer
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Entmythisierung
Absicht entstandenes und der ungerechten Herrschaft dienendes Wissen verdienten — zumindest in der Sicht der Hoch- und Spätaufklärung — die Erhaltung ihrer Grundsubstanz durch interkulturelle Übertragung von Sinn nicht. Gebot des hist. Augenblicks war es, sie außer Kraft zu setzen; der E.s-Begriff der Aufklärung des 18. Jh.s ist deshalb dominant pragmatisch. Die These vom intentionalen menschlichen Urspung der Mythen ermöglichte es freilich noch der Frühaufklärung, die christl. Religion vom Verdacht des Priesterbetrugs freizuhalten, indem sie sein Gegenteil, den Anspruch, Niederschlag göttlicher Offenbarung zu sein, allein für das Ν. T. reservierte. In seiner Histoire des oracles (1687) verfolgt B. Fontenelle die Absicht, das Korpus der hl. Schriften christl. Religion von eingestreuten mythol. Versatzstücken zu reinigen. Das Hauptkriterium, mit dessen Hilfe er mythol. Versatzstücke in der christl. Tradition aufspürt, ist deren Unvereinbarkeit mit dem Allmächtigkeitsprädikat, das die christl. Theologie Gott zumißt. Die Wege, auf denen Gott in apokryphen Texten in das Weltgeschehen eingreift, erscheinen ihm zu umständlich (v. Kap. 4). Erklärungsbedürftig ist in Fontenelles Argumentationsgang natürlich das Eingehen solcher apokrypher Passagen in die christl. Überlieferung. Deshalb verweist er auf die .strategische' Notwendigkeit der jungen Kirche, in ihren apologetischen Schriften den - mythol. - Sinnhorizont der zu missionierenden heidn. Umwelt aufzunehmen, für dessen Genese jedoch die Hypothese vom Priesterbetrug beibehalten wird. Bemerkenswert ist, daß Fontenelle die Rezeption griech. Mythen durch die röm. Kultur im Rahmen seiner Orakelgeschichte als einen E . s - P r o z e ß erzählt, welcher deutlich von seiner eigenen E . s - H a n d l u n g abgehoben erscheint. So habe etwa die Einführung der Prosasprache in die Kommunikationssituationen des kultischen Handelns die Dekadenz der griech. Orakel eingeleitet, weil sie die Beibehaltung einer der wichtigsten Strategien des Priesterbetrugs, nämlich die Bedeutungsoffenheit der Orakelsprüche, erschwert habe 3 .
Der steile Erfolgsweg der E. in der Aufklärung des 18. Jh.s läßt sich erahnen, wenn man der Histoire des oracles die ein halbes Jh. später konzipierte Encyclopedie von D. Diderot und J.-B. d'Alembert gegenüberstellt. Die Artikel Mythologie und Fables (fables bezeichnet hier eine Vorform des heutigen Mythos-Begriffs) beziehen sich zwar explizit allein auf Sinn-
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bestände der heidn. Antike, worin man — je nach Einschätzung der Konsequenz und Durchsetzungskraft staatlicher Zensur — eine Vorsichtsmaßnahme oder ein Symptom für die noch kaum erschütterte Dominanz der christl. Kosmologie sehen mag; sie rekurrieren aber nicht mehr, wie Fontenelle, auf christl. Theologeme als ein Mittel zur Identifikation von Mythen. Ohne die Grundregeln hist. Verstehens zu vernachlässigen, kann man dem Artikel Mythologie erste Ansätze zu einer philolog. und phil. fundierten Methode der E. entnehmen: Dort wird nach inhaltlichen Kriterien zwischen drei Arten von Mythen unterschieden („diverses especes de fictions qui formoient le corps de la fable"): Mythen ,in Zusammenhang mit Naturphänomenen', Mythen, welche,metaphysische Ideen durch sinnliche Bilder' ausdrücken, Mythen, welche ,Züge der ersten historischen Überlieferungen bewahrten'. Allein die dritte Klasse von Mythen könne in eine Relation zum Wahrheitsanspruch aufgeklärten Wissens gerückt werden; freilich erst unter der Voraussetzung, daß man die im Laufe der Rezeptionsgeschichte sedimentierten Modifikationen der ursprünglichen Texte abtrage und die dann noch verbleibenden Elemente inhaltlicher Substanz in eine Konfiguration rücke, welche sie vor dem Hintergrund eines gesicherten Wissens über den ,Ursprung und die Kreuzung der Völker' als wahrscheinlich auszeichne. Die bei Fontenelle noch einzige Erklärung zur Genese von Mythen, die Hypothese des Priesterbetrugs, macht in der Encyclopedie lediglich ein Element eines ganzen Reservoirs von Entstehungsbedingungen aus: Ihm gehören die Vermischung zuvor getrennter Volkstraditionen an, die Ignoranz, die Subtilität der Philosophen, die Launen der Dichter, der mündl. Charakter der Überlieferung, die Insuffizienz chronologischer Klitterung und die Eitelkeit der Redner. Eine modifizierte Ausprägung erfährt die hier nur erwähnte Hypothese vom Priesterbetrug in den von Diderot verfaßten Artikeln Peur, Crainte, Intimider, Trembler. Zwar wird die Erfindung der Mythen dort noch immer - intentional — den Gesetzgebern oder Priestern der Urgesellschaften zugeschrieben, aber als Motivation für solches Mythenschaffen nennt Diderot nicht mehr allein deren Machtbegierde, sondern auch die
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Entmythisierung
— freilich in letzter Instanz die Macht von Gesetzgebern und Priestern stärkende — Bannung der menschlichen Angst vor den Naturgewalten. Der wesentliche Fortschritt der MythenTheorie und E.s-Methode der Encyclopedie gegenüber Fontenelle liegt nun aber gewiß in der Möglichkeit, E. (als ein Vorläufer dieses Terminus taucht im Artikel Mythologie das Prädikat decomposition auf) nicht mehr allein als Außerkraftsetzen der authentischen Rezeptionsbedingungen mythischer Sinngehalte, als ihre Eliminierung zu sehen: Der Begriff mythologie ist dem semantischen Feld belles lettres zugeordnet. Man konstatiert die Unerläßlichkeit eines Bestandes an mythol. Wissen für die conversation, die dominante Interaktionsform der Aufklärungsepoche, und hebt ihren Reichtum an Themen, Bildern, Symbolen, bes. aber die durch Nichtbeachtung ihres religiösen Anspruchs gewonnene Freiheit zur ,arbiträren' Rezeption ausdrücklich als ästhetische Qualitäten hervor. E. hieß in der Aufklärung also auch Überführung der Mythen in eine neue Kommunikationssituation, wobei man freilich den durch das Vernunftprinzip gesicherten Spielraum zu ihrer Modifikation, die Distanz von ihrer ursprünglichen angstbannenden Funktion überschätzte (v. Kap. 4) 4 . Neben dem Genuß in ästhetischer Einstellung soll die Rezeption jener ausdrücklich als nicht wahrheitsfähig gekennzeichneten Mythen der Antike, welche sich mit Naturphänomenen und metaphysischen Fragen beschäftigen, so erwähnt die Encyclopidie eher beiläufig, auch einen kognitiven Gewinn in Aussicht stellen: Man kann in ihnen den Weg des menschlichen Geistes nachvollziehen. Dieser Satz verweist allein auf das notwendige Interesse der sich in der Spätaufklärung formierenden idealistischen Geschichtsphilosophie an den Mythen; er impliziert auch den hier in der Uberschrift zum zweiten Abschnitt der Darstellung hervorgehobenen Sachverhalt, daß mit dem teleologischen Ablaufschema idealistischer Geschichtsphilosophie E. als Distanznahme vom mythol. Z A . stets Symptom und Vehikel des zugesagten Fortschritts der Menschheit war. Ohne den Terminus Mythos zu verwenden, lokalisiert Hegel in der Phänomenologie des Geistes (1807) einen
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solchen Mythosbegriff in der Phase des Pantheismus zwischen Lichtreligionen und solchen Religionen, in denen der Geist als W e r k meister' erscheint: „Der selbstbewußte Geist, der aus dem gestaltlosen Wesen in sich gegangen oder seine Unmittelbarkeit zum Selbst überhaupt erhoben, bestimmt seine Einfachheit als eine Mannigfaltigkeit des Fürsichseins und ist die Religion der geistigen Wahrnehmung, worin er in die zahllose Vielheit schwächerer und kräftigerer, reicherer und ärmerer Geister zerfällt" 5 . Mythologie im Sinne des Hegeischen Pantheismus-Begriffs ist als eine frühe Stufe in der Reihe der Manifestationen des Geistes bestimmt, weil das Selbstbewußtsein des Geistes noch polytheistisch in ,ihre ohne Allgemeinheit bewußte' Vorstellungen zerstreut ist. E., so kann man folgern, wäre also genau jener Schritt im Geschichtsablauf, durch den diese Vielheit in ein Allgemeines aufgehoben wird. In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (1817) hat Hegel mehrfach Piatos und Aristoteles' Philosophieren, nun unter beständiger Verwendung des Prädikats Mythos, in einer Weise kontrastiert, welche es nahelegt, die von diesen beiden Namen markierte Strecke der Philosophiegeschichte als Hauptphase des E.s-Prozesses anzusehen 6 . Zwar hat die von A. Comte begründete Geschichts- und Kulturphilosophie des frz. Positivismus das Philosophem vom Zu-sichselbst-Kommen des Geistes aus ihrem Denken eliminiert, beibehalten sind jedoch die teleologische Struktur der Geschichtsdarstellung und damit auch — weitgehend — die Verteilungen geistesgeschichtlicher Phänomene auf dieses Ablaufschema. E. fällt bei Comte zusammen mit dem Übergang von der theol. zur metaphysischen Phase in der geistigen Entwicklung der Menschheit, mit der Ablösung des als Ergebnis von Wunsch- und Vorstellungs-Projektionen gedeuteten Mythos durch eine Metaphysik der abstrakten Begriffe. Der aufklärerische Begriff der E. hat bis heute in all jenen phil. Kontexten Nachfolgephänomene gezeitigt, denen ein Wahrheitsbegriff disponibel oder zumindest denkbar erscheint, vor dessen Hintergrund falsches Bewußtsein' wegen seiner Wirklichkeits-Inadäquanz erkannt werden kann. ,Ideologiekritik' ist der marxistische Name für E., auch
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wenn der Objektbereich der Ideologiekritik — und dies gilt für die meisten E.s-Bewegungen — Tendenz hat, den Umfang des jeweils historisch-sozial spezifischen Mythos-Begriffs bei weitem zu überbieten. Es ist nun terminologiegeschichtlich interessant, daß R. Barthes in seinem Buch Mythologies (P. 1957) die Spezifik zentraler Ideologeme der bürgerlichen Gesellschaft neuerlich mit dem Wort Mythos bezeichnet. Seine Rückbindung an das aufklärerische Konzept von E. wird dadurch manifest, daß Barthes ,Mythen des (bürgerlichen) Alltags' als Deformationen ansieht. Ihre bes. Funktion soll darin liegen, daß sie geschichtlich Gewordenes (Institutionen also) als naturhaft gegeben präsentieren. Das erreichen die S y then des Alltags', so Barthes, indem sie primäre' (denotative) Textbedeutungen als Bezeichnungen der Ideologeme (im Status .sekundärer' Bedeutungen) fungieren lassen. ,Demaskierend' oder ,entmystifizierend' ist eine analytische Lektüre von ,Mythen des Alltags', welche in der bewußten Konfrontation der primären und der sekundären Bedeutungen deren Ungleichheit konstatiert und damit ihre Deformationsleistung aufdeckt 7 . 3. E. als i n t e r k u l t u r e l l e Ü b e r t r a g u n g von Sinn. Es ist der in der europ. Romantik entstehenden Kulturwissenschaft nicht schwer gefallen, einen argumentativen Schwachpunkt aufklärerischer Mythentheorie zur Rechtfertigung einer neuen Wertschätzung der Mythologie zu nutzen 8 : Indem sie deren Genese aus dem geschichtsphil. Ablaufschema in eine Zeit .natürlicher Unschuld des Menschheitsgeschlechts', die vor dem Sündenfall des Priesterbetrugs liegen sollte, verschob, gewannen die Mythen gleichsam den Stellenwert einer Offenbarung der menschlichen Natur. Freilich bedurfte diese ,Offenbarung' (angesichts der Hauptprämisse romantischer Geschichtsspekulation von der Unwiederbringlichkeit jenes ersten ZA.s der Menschheit) der Bemühung einer Ü b e r s e t z u n g , um in der Gegenwart verständlich zu werden. Seither konkurrieren E. als Außerkraftsetzen des Mythos und E. als interkulturelle Übertragung seines Sinns, und mittlerweile hat die Erfahrung von der Resistenz alter und neuer Mythen gegen alle Bemühungen ihrer Eliminierung zu Ansätzen ihrer Rehabilitation als einer auch in unserer
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Gegenwart funktionstüchtigen Denk- und Artikulationsweise geführt. Auf diese letzte Phase der Geschichte von E. soll im nächsten Abschnitt eingegangen werden. Zunächst aber geht es um Konzepte von E., welche das mythische Denken einerseits fernen Epochen und Gesellschaften zuordnen, andererseits dennoch die Erhaltung ihrer Sinngehalte durch Übertragung für lohnend ansehen. Der 1925 erschienene 2. Band von E. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen9 ist dem mythischen Denken gewidmet. Im Vorwort situiert Cassirer sein Werk in „dem allgemeinen Problemkreis [. ..], den Hegel als Phänomenologie des Geistes' bezeichnet hat", aber solche Perpetuierung des Programms von der dialektischen Aufhebung vergangener Sinnstrukturen rechnet nun schon mit der Erfahrung der Resistenz von Mythen: „Denn die Erkenntnis wird des Mythos nicht Herr, indem sie ihn einfach außerhalb ihrer Grenzen verbannt. Für sie gilt vielmehr, daß sie nur das wahrhaft zu überwinden vermag, was sie zuvor in seinem eigentümlichen Gehalt und nach seinem spezifischen Wesen begriffen hat. Solange diese geistige Arbeit nicht vollbracht ist, zeigt es sich, daß der Kampf, den die theoretische Erkenntnis für immer siegreich bestanden zu haben glaubte, stets aufs Neue ausbricht"10.
Weit dezidierter als die E. der Aufklärungsepoche hebt Cassirer also die interkulturelle Übertragung mythischer Sinngehalte als Voraussetzung ihrer Eliminierung hervor. Seine Verstehensbemühung hat zu bis heute wohl nicht überbotenen Einsichten in die Besonderheit mythischer Sinnstrukturen geführt. Alle bes. Kategorien von Mythen seien durch den spezifischen Objektbegriff und den spezifischen Kausalbegriff des mythischen Denkens geprägt. Mythisches Bewußtsein erfaßt seine O b j e k t e , ohne sie „an einem Nicht-Gegebenen, an einem Vergangenen oder Zukünftigen" 11 zu messen, weshalb ihm die Unterscheidung verschiedener Realitätsstufen, also auch die Auslegung gegebener Sinngehalte auf einen .tieferen Sinn' fremd ist; mythische Kausalität ist gekennzeichnet durch ihre .Radikalität', durch das Prinzip, „daß hier jede Berührung in Raum und Zeit unmittelbar als ein Verhältnis von Ursache und Wirkung genommen wird" 12 . Aus dem Programm seines
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Buches und der geleisteten Rekonstruktion mythischen Denkens ergeben sich zwei E.sBegriffe bei Cassirer: zum einen jener — ähnlich wie in Hegels Phänomenologie lokalisierter — Prozeß, in dessen Rahmen Religionen ihre mythischen Bildwelten durch abstrakte Kategorien ersetzten; zum anderen E. als Handeln gegenwärtiger Kulturphilosophie, durch das verbleibende Substantialismen in den neuzeitlichen Wissenschaften als Reste mythischen Denkens identifiziert und zugunsten funktionalistischer Vorstellungsformen außer Kraft gesetzt werden sollen 13 . Auf die Frage, warum Bultmanns Programm theol. E. zu der eingangs erwähnten terminologischen Konvergenzbewegung geführt hat, bieten sich verschiedene Antworten: Gewiß hat sein E.s-Postulat über die Vermittlungsinstanz religiöser Praxis weit mehr Menschen erreicht und in ihrem Bewußtsein betroffen, als dies je zuvor einem phil. oder fachwiss. E.s-Konzept hätte gelingen können; hinzu kommt der Provokationswert einer Applikation der Kategorie E. auf das Ν. T., welches theol. Reflexionen seit Fontenelle vom Mythos-Verdacht auszunehmen suchten, während sein mythischer Charakter außerhalb der Theologie spätestens seit dem 19. Jh. als ausgemacht galt und seine ethischen Geltungsansprüche invalidierte. Beide Positionen haben übrigens in der theol. Rezeption von Bultmanns Werk — gegen seine Zuordnung des N. T.s zum mythischen Denken und gegen seine Beibehaltung des normativen Anspruchs christl. Offenbarung gerichtet — eine Reaktualisierung erfahren. Der mythische Charakter der Sprache im Ν. T. wird für Bultmann nicht allein in ihrer semantischen Qualität erkennbar, etwa in der Repräsentation metaphysischer Sinngehalte durch diesseitige Erfahrungsbestände wie die räumliche Anordnung von Himmel, Erde und Hölle oder die zeitliche Lokalisierung der Parusie; auch die S p r a c h h a n d l u n g des Mythos muß als hist, weit entfernte Konkretisation einer metahist. Möglichkeit bestimmt werden, als eine Konkretisation objektivierender Sprache nämlich, deren Funktion die Erstellung von Fakten und Kausalbeziehungen sei. Diese Funktion, so Bultmann, sei dem Anspruch der ereignishaften Gottverkündigung, des Kerygmas, nicht gemäß, welche als
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das Sein des Menschen in der Welt betreffendes Wort in e x i s t e n t i e l l e r S p r a c h e zu artikulieren sei. Bultmanns E. ist also genaugenommen eine zweiphasige Handlung der Sinnübertragung: nicht nur müssen die aus einem vorwiss. ZA. stammenden Erfahrungskategorien des N. T.s durch neuzeitliche ersetzt werden; auch die Intention des göttlichen Kerygmas kann erst durch seine Artikulation in nicht-objektivierender, existentieller Sprache getroffen werden. Die Darstellung der Position Bultmanns hebt die nicht-kontroversen Ergebnisse der intensiven Debatte über sein E.s-Konzept hervor, wie sie übereinstimmend in die gängigen theol. Handbücher eingegangen ist14. 4. E. als R e h a b i l i t a t i o n des Mythos. Die auch Bultmanns Programm exegetischer E. in Frage stellende Perspektive der jüngsten Phase in der Geschichte des E.s-Begriffs ist eine Tendenz seiner Applikation auf das Vernunftprinzip, welches der E. seit der Aufklärungsepoche als sichere Basis — und eben nicht als Objekt — gedient hatte. Grundlage für diese Wendung sind — philosophiegeschichtlich — der radikale Cartesianismus phänomenologischer Erkenntnistheorie und — geschichtsphilosophisch — die bereits 1947 von M. Horkheimer und T. W. Adorno in Dialektik der Aufklärung (Amst.) artikulierte Erfahrung vom reduktiven Charakter der im Positivismus institutionalisierten aufgeklärten Vernunft. Horkheimer und Adorno betreiben freilich keinesfalls die Rehabilitation des Mythos, vielmehr denunzieren sie den Positivismus als einen Irrweg aufklärerischer E., als ein mythol. Rezidiv, welches selbst aufklärerischer E. anheimfallen muß 15 . Gerade das Aufgeben der Absicht einer Eliminierung oder teleologisch fundierten Distanzierung des Mythos aus der Gegenwart ist aber Voraussetzung für seine Rehabilitation. A. —> Jolles' Werk —> Einfache Formen ist für diese Tendenz bes. deshalb ein eindrucksvoller Beleg, weil die Rehabilitation des Mythos beileibe nicht zu seinem Programm gehört. Seine — wie man heute sagen würde: pragmatische — Bestimmung der einfachen Form ,Mythe' (und um solche pragmatischen Bestimmungen geht es Jolles) beruht auf drei wesentlichen Beobachtungen:
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Der Mythos ist als Sprachhandlung A n t w o r t auf eine Frage „nach dem Wesen und der Beschaffenheit alles dessen [. . .], was wir in der Welt als stätig und vielfach beobachten" 1 6 ; er ist eine Antwort, welche einen „Gegenstand von seiner Beschaffenheit aus" 1 7 dem Menschen e r s c h a f f t (anders formuliert: Antwort durch die Vergegenwärtigung eines Prozesses ist, dessen Endpunkt jene Beschaffenheiten sind, auf die sich die Mythen provozierende Frage bezog); er ist als Antwort so b ü n d i g , daß die ursprüngliche Frage .erlischt' (mit anderen Worten: in Vergessenheit gerät). In diesem Zusammenhang ist bes. wichtig, daß Jolles die so dargestellte einfache Form Mythe zwar noch nicht rehabilitieren will, aber auch nicht mehr als seiner Gegenwart heteronom zugunsten eines als zeitgemäß' empfohlenen Denkens des Logos oder der Erkenntnis, wie er formuliert, zu eliminieren sucht: „es ist nicht so, daß zeitlich das Eine dem Anderen vorangeht, daß Unzufriedenheit mit dem Einem mählich zum Andern führt, daß Entwicklung das Eine als unzulänglich auszuschalten vermag, um dem Andern Raum zu schaffen - sondern überall und immer stehen sie nebeneinander, und immer und überall sind sie, wie die Königskinder im Liede, getrennt durch ein Wasser, das viel zu tief ist, und können nicht .beisammen kommen'" 1 8 . Eine analoge, aber nun metatheoretisch reflektierte Position zum E.s-Problem bezieht C. —» Levi-Strauss in seiner aus ethnol. Feldforschung während der 40er und 50er Jahre induzierten Mythentheorie. D i e von ihm vorgetragene Funktionsbestimmung des Mythos ist von Jolles' H y p o t h e s e nicht weit entfernt: „Das mythische Denken" gehe aus „von der Bewußtmachung bestimmter Gegensätze" und führe hin „zu ihrer allmählichen Ausgleichung" 19 . Schon bei einer Lektüre seiner strikt materialbezogenen Einzelstudien fällt auf, daß Levi-Strauss den so charakterisierten Mythos nicht selten ein .logisches Instrument' nennt; aus dieser Wertungstendenz hat er 1955 das folgende Fazit gezogen: „Vielleicht werden wir eines Tages entdecken, daß im mythischen und wissenschaftlichen Denken dieselbe Logik am Werke ist und daß der Mensch allezeit gleich gut gedacht hat. Der Fortschritt - falls dieser Begriff dann überhaupt angemessen ist — hätte nicht das Bewußtsein, sondern die Welt als Aktionsraum, in der eine mit konstanten Begabungen ausgestattete Menschheit im Laufe ihrer langen Geschichte mit immer neuen Objekten ringen mußte" 2 0 . Man weiß, daß es die nicht zuletzt von der politischen Imperialismus-Kritik motivierte Ethnozentrismus-Kritik der frz. Anthropologie war, welche Levi-Strauss zur E. der Vor2
E n z y k l o p ä d i e des M ä r c h e n s
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stellung von der Überlegenheit des logischen über das mythische D e n k e n b e w o g 2 1 . J. D e r rida hat wohl zuerst auf die paradoxe Konsequenz dieses Schrittes hingewiesen: Neben einer E. unter den Vorzeichen der aufklärerischen Tradition kann es nun eine andere E. geben, die in letzter Instanz r e m y t h i s i e r e n d ist: Sie „bejaht das Spiel und will über den Menschen und den Humanismus hinausgelangen, weil Mensch der Name des Wesens ist, das die Geschichte der Metaphysik und der Onto-theologie hindurch, das heißt im ganzen seiner Geschichte, die volle Präsenz, den versichernden Grund, den Ursprung und das Ende des Spiels geträumt hat" 2 2 . D e n vorerst letzten gewichtigen Beitrag zur Begriffs- und Problemgeschichte von E. hat H. Blumenberg in seinem Buch Arbeit am Mythos (Ffm. 1 9 7 9 ) vorgelegt. Sein Konzept trifft sich einerseits mit Derridas Levi-StraussInterpretation, weil auch Blumenberg mythisches und logisches D e n k e n als zwei gleichlegitime Modi der Sinnbildung ansieht und aufgrund solcher Rehabilitation des mythischen D e n k e n s das ,Weiterspielen', das .Weiterarbeiten' an den Mythen vom geschichtsphil. Stigma des Rezidivs befreit; er geht andererseits über Derridas Position hinaus, weil seine Basishypothese von der anthropol. Funktionsäquivalenz des logischen und des mythischen D e n k e n s die Möglichkeit eines systematischen Vergleichs ihrer jeweiligen funktionalen Besonderheiten eröffnet. Mythos wie Logos dienen der .Depotenzierung jener Übermacht', welche durch die anthropol. spezifische Fähigkeit der Zukunftsantizipation entsteht. Ihrer bedarf der Mensch — mangels hinreichender Instinktorientierung — als Objekt der Angst und Auslöser ihrer Konsequenz, der lebenserhaltenden Fluchtreaktionen. D i e se zugleich lebenserhaltenden und in Unmittelbarkeit unaushaltbaren Antizipationen werden in Gottes- oder Göttervorstellungen benennbar und damit distanzierbar. Während man den monotheistischen Gott, der Verträge mit sich schließen läßt, durch die A n n a h m e seiner Vertragstreue bannen zu können glaubt, entlastet v o m Druck eines polytheistischen Götterhimmels, der die Kategorie der Allmacht nicht kennt, die Gewaltenteilung, mit anderen Worten: der beständige Streit der Götter.
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Dogma — als Vorläufer des Logos - und Mythos erscheinen nun als die im Hinblick auf die Distanzierung von übermächtigen Antizipationen funktionsäquivalenten, im Hinblick auf ihren Erlebnisstil aber grundsätzlich verschiedenen Modi der Vergegenwärtigung monotheistischer und polytheistischer Transzendenz. Der dogmatischen Tendenz, in formelhaften Konfigurationen von Gottesprädikaten Gottes Macht und seine Treue auszuspekulieren, steht die Vielfalt vergleichsweise umständlicher' Mythen über den Streit der als einzelne nicht allmächtigen Götter gegenüber; der auf metahist. Gültigkeit gestellten Fixierung des Dogmas das modifizierende narrative Weiterspielen des Mythos, in dessen Verlauf die Distanz von jener Angst wächst, welche der Mythos zu Beginn seiner Geschichte bannen mußte; den permanenten Ernst des Dogmas ersetzt im mythischen Denken eine Heiterkeit, welche mit der durch narratives Weiterspielen gewonnenen Freiheit wächst. Der seit Beginn der christl. Ära im systematischen Denken dominierenden Kategorie der E., welche nun nicht mehr — wie in der teleologischen Geschichtsphilosophie - an einen Moment des hist. Ablaufs gebunden ist, kann Blumenberg die Kategorie der (Re-)Mythisierung entgegenstellen, welche den Bestand des Dogmas beständig durch Auflösung in eine Erzählung bedroht und von dem sich das Dogma letztlich, wie das Konzept der Heilsgeschichte beweist, nie freihalten kann. Daß auf der Bezeichnungsebene der Terminus E. nunmehr durch Dogmatisierung, der Terminus (Re-)Mythisierung durch Entdogmatisierung ersetzt werden können, ist mehr als ein terminologiegeschichtliches Detail; die Substitution der Prädikate deutet an, wo die Sympathie — oder die Melancholie 23 — der Philosophen und Mythologen in der jüngsten Phase der Geschichte der E. liegt. 5. E. u n d E r z ä h l e n . Trotz — oder gerade wegen — der Permanenz der Annahme eines narrativen Charakters des Mythos ist der systematische Charakter des Zusammenhangs von Mythos und Narration in der Mythentheorie und in der Problemgeschichte der E. nie thematisch geworden. Dieselbe Frage hingegen gehörte — vor allem in Frankreich — zu den zentralen Themen strukturaler Narrations-
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theorie; dies wohl nicht zuletzt deshalb, weil sie ihre Paradigmen lange Zeit vor allem aus der Mythenforschung der Ethnologie bezog. Das Hauptziel der strukturalistischen Mythenforschung, eine strukturalistisch-semiotische Bestimmung des Texttyps Mythos, ist indes, wie A. J. Greimas 2 4 , ihr Hauptvertreter, konstatiert hat, nicht erreicht worden. Dennoch soll am Ende der Übersichtsdarstellung dieses Thema erneut aufgegriffen und auf die Frage zugespitzt werden, ob E. stets eine Ent-Narrativierung zur Folge hat. Will man das Scheitern der Bemühungen um eine strukturalistische Mythendefinition meiden, dann liegt es theoriestrategisch nahe, den Begriff Narration nicht strukturalistisch oder gar semantisch, sondern pragmatisch zu bestimmen 2 5 . In jüngster Zeit ist der Versuch unternommen worden, Narration — zusammen mit anderen, früher auf Texttypen bezogenen Termini — als a n t h r o p o l . E r l e b n i s s t i l a r t zu definieren. Solche Erlebnisstilarten können in verschiedenen hist., sozialen und ethnischen Kontexten durch je verschiedene Textstrukturen artikuliert und abgerufen werden, ein Rückschluß von Textstrukturen auf Erlebnisstilarten ist — wenn überhaupt — nur im begrenzten Rahmen hist, begrenzter Gattungssysteme methodologisch legitim. Die von A. Schütz und T. Luckmann in ihren Grundzügen entwickelte Kategorie des Erlebnisstils faßt metahist. mögliche, in sich komplexe mentale Attitüden: Traum, Tagtraum und helle Bewußtheit 2 6 wären einfache Beispiele. Zur Kennzeichnung der von Narrationen abgerufenen Erlebnisstilart kann man auf drei Charakteristika verweisen. (1) Narrationen präsentieren jene Erfahrungsbestände, die Gegenstand der Kommunikation sind, p o l y t h e t i s c h , d. h. in einer Sukzession partieller Bewußtseinsinhalte, wie sie den P r o z e ß d e s E r w e r b s der zu übermittelnden Erfahrung konstituiert haben könnten. (2) Der Rezipient einer Narration erfährt s i c h s e l b s t a l s S u b j e k t j e n e r E r f a h r u n g s b i l d u n g , durch die die polythetisch präsentierte Sukzession von Bewußtseinsinhalten zu einem Erfahrungsbestand synthetisiert wird. (3) Die dem Erlebnisstil der Narration eigene B e w u ß t s e i n s s p a n n u n g liegt unterhalb der von deskriptiven oder argumentativen Texten geforderten Bewußtseinspannung.
Zumindest die in Blumenbergs Buch Arbeit am Mythos analysierten Paradigmen legen die
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Vermutung nahe, daß Ε. prinzipiell mit d e m Übergang von narrativem zu deskriptivem Artikulationsmodus verbunden ist. Akzeptiert man nun die H y p o t h e s e von der Konkomitanz zwischen textuellen Artikulationsweisen und Erlebnisstilarten, s o böte dieser B e f u n d eine n e u e Perspektive zum Verstehen des G e g e n satzes zwischen Freiheit und Heiterkeit des Mythos einerseits, Starre und Ernst des D o g m a s andererseits, die auf die je verschiedene Selbsterfahrung des rezipierenden Subjekts und seine Bewußtseinsspannung zu beziehen wären. D i e bisher letzte Phase der G e schichte von E. legt es also nahe, dieselbe — auch — als ein Symptom schwindender O f f e n heit subjektiver und kollektiver Sinnbildung zu deuten. 1 Bultmann, R.: Ν. T. und Mythologie. In: Beitr.e zur evangel. Theologie 7 (1941) 2 7 - 6 9 . - 2 Greimas, A. J./Courthes, J.: Semiotique - dictionnaire raisonne de la theorie du langage. P. 1979 (Art. Mythique [discours, niveau] und Mythologie, wo festgestellt wird, daß die [text-]linguistischen Unters.en zum Mythos nicht zur Rekonstruktion einer textklassenspezifischen semantischen Struktur geführthaben). — 3 Fontenelle, B.: Histoire des oracles, ed. J. Bergier. Verviers 1973, 139, 145, 151, 161, 181, 195 (die Ausg. enthält auch die Entretiens sur la pluralite des mondes). — 4 Encyclopedie 1 - 4 5 . ed. D. Diderot. Neuausg. Genf 1 7 7 7 - 7 9 . 5 Hegel, G. W. F.: Werke 3. ed. E. Moldenhauer/ Κ. M. Michel. Ffm. 1970, 507. - 6 ibid., t. 18,109; t. 19, 30. - 7 v. Barthes, R.: Mythen des Alltags. Ffm. 1970, 92, 111, 113, 130. - 8 v. zu der hier nur in Grundzügen erwähnten Mythenkonzeption der europ. Romantik Blumenberg, H.: Arbeit am Mythos. Ffm. 1979, 56sq. - 9 Cassirer, E.: Philosophie der symbolischen Formen. Teil 2: Das mythische Denken. (B. 1925) Darmstadt 7 1977. - '»ibid., XI. -
" ibid., 47. - 12 ibid., 59. - 13 ibid., IX, 76sq„ 97, 286. - 14 Als bes. ergiebig im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen objektivierender und existentieller Sprache erwies sich ein dort kaum erwähnter Art. R. Bultmanns: On the Problem of Demythologizing. In: The J. of Religion 42 (1962) 9 6 102. - l s Vor allem in der einleitenden Abhdlg Der Begriff der Aufklärung. - 16 Jolles ( 4 1968) 115. 17 ibid., 101. - 18 ibid., 111. - 19 ibid., 97. - 20 LeviStrauss, C.: Die Struktur der Mythen. In: id.: Strukturale Anthropologie. Ffm. 1967, 252; v. auch bes. 242, 247. 21 v. Lepenies, W./Ritter, Η. H.: Einl. In: iid. (edd.): Orte des wilden Denkens — zur Anthropologie von C. Levi-Strauss. Ffm. 1970, 7 - 4 6 , hier 28, 40. 22 Derrida, J.: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wiss.en vom Menschen. In:
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ibid., 3 8 7 - 4 1 2 , hier 410sq. - 23 „Eine melancholische Verteidigung der Möglichkeit des Heiteren" nennt O. Marquard Blumenbergs Mythentheorie in einer brillanten Einführung zur Diskussion ihrer Vorfassung, die unter dem Titel Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos erschien in Fuhrmann, M. (ed.): Terror und Spiel. P. 1979, 240sq., hier 241; Marquards pointierende Zusammenfassung ibid., 5 2 7 - 5 3 0 ; cf. auch Poser, H. (ed.): Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium. B./N.Y. 1979, bes. 4 0 - 5 8 . - 24 wie not. 2. - 25 v. fundiertes Narrationskonzept bei Gumbrecht, H. U.: Über den Ort der Narration in narrativen Gattungen. In: Lämmert, F. (ed.): Erzähltheorie. Stg. 1981 (im Druck). - 26 v. Schütz, A./Luckmann, T.: Strukturen der Lebenswelt. Neuwied/Darmstadt 1975,42-52. Bochum
Hans Ulrich Gumbrecht
6. E. a u s d e r S i c h t d e s F e l d f o r s c h e r s . Spätestens im Laufe des 19. Jh.s erreichte die Aufklärung auch die ländliche Bevölkerung Mitteleuropas. Großenteils waren es Geistliche und Lehrer, die im Sinne der Aufklärung dem sog. Aberglauben entgegentraten und dadurch die religiöse Praxis den neuen Strömungen anzupassen oder d e m technischen Fortschritt den W e g zu ebnen versuchten. Sie wurden von den Kalendermachern und den Herausgebern von Schulbüchern in ihren Bestrebungen unterstützt 1 . D i e folgenden Ausführungen exemplifizieren E. am Beispiel der Schweiz, haben jedoch insofern allg. Gültigkeit, als sie sich auf andere R e g i o n e n übertragen lassen, die im gleichen kulturellen Kontext stehen. Im Gespräch mit Gewährsleuten zutage tretende Zweifel sind schwer auszuloten. M ö g licherweise sucht der Erzähler mit seinen B e denken nur die eigene U n v o r e i n g e n o m m e n heit zu beweisen, Näheres über die Einstellung des Zuhörers zu erfahren oder allfälligen Einwänden vorzubeugen. Man möchte nicht im vornherein für abergläubisch und rückständig gehalten werden. Vorab Informanten in kleinen, abgelegenen Dörfern hüten sich davor, in diesen Ruf zu geraten. D a s gleiche trifft auf Gewährsleute in G e m e i n d e n zu, die sich traditionell eine liberale Grundhaltung in religiösen Belangen zugutehalten 2 . Auch Gewährsleute, die das Erzählte für wahr halten und diesen Anspruch Dritten gegenüber erheben, setzen sich nicht unnötig
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dem Spott der Zuhörer aus, sie unterscheiden zwischen eigenen und fremden Erfahrungen. Während sie zu den eigenen Erfahrungen stehen und sehr direkt darüber berichten, wird bei Schilderungen aus zweiter und dritter Hand die Möglichkeit der Selbsttäuschung offen gelassen. Der Zuhörer soll wissen, daß er zwischen den eigenen, wahren Begebenheiten und den bloß erfundenen Geschichten anderer Erzähler einen Unterschied zu machen hat. Die möglichen Täuschungen reichen vom harmlosen Vorfall (der häufig als H ä r chen' bezeichnet wird) bis zur üblen Nachrede 3 . Dem Zuhörer soll es möglich sein, das Erzählte zu glauben. Glauben kann er aber nur, wenn die Schilderungen auf den jeweiligen Wissensstand Rücksicht nehmen. Die Gewährsleute geben zu, daß die Erscheinungen von Verstorbenen (Wiedergänger) zurückgegangen sind und verweisen auf die von den Kapuzinern eingeführten Seelensonntage und auf Bannsprüche bzw. Ablaßverfügungen von Päpsten; bald wird Pius IX., bald Leo XIII., Pius X., Benedikt XV. genannt. „ Die jungen Leute sehen nichts mehr, weil Pius X. [ . . . ] die Geister bannte, damit sie nicht den Lebenden zur Beschwerde werden" 4 . Einen beträchtlichen Schritt weiter geht die E., wenn die Erscheinungen auf Angst, Traum oder Nervenzusammenbruch, also auf subjektive psychische Momente zurückgeführt werden 5 , noch weiter, wenn die Natur (der Wind, bes. der Föhn 6 ) oder gar die Technik verantwortlich gemacht wird für die auditive Wahrnehmung eines angeblichen Totenzugs: „Wellen in der Luft", „vielleicht sind es Strahlen, die in der Luft sind, wie sie ja heute mit Radio und Fernsehen auch kommen" 7 . Nachdem sich die Vorstellungen der Kirche über den Aufenthaltsort der Seelen ungetaufter Kinder gewandelt haben, lassen sich auch die Ursachen nächtlicher Lichterscheinungen besser erörtern. Man verweist auf phosphoreszierendes Gas 8 . Was die Erscheinung des Nachtvolks anbelangt, bestehen die Erzähler darauf, daß sie es mit Sicherheit gehört haben. Der Vater oder die Mutter hatten es seinerzeit nicht nur gehört, sondern auch gesehen 9 . Wenn es sich um Berichte aus zweiter und dritter Hand handelt, die in einer Erzählrunde weitergegeben werden, entscheiden die Quel-
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len über die Glaubwürdigkeit des Erzählten. Kann sich der Erzähler auf seine Eltern oder auf einen allseits geachteten Mitbürger berufen, hat er es einfacher, als wenn die Quelle nicht mehr näher zu bestimmen ist oder verschwiegen werden muß. Häufig einfließen^e Wahrheitsbeteuerungen lassen darauf schließen, daß der Erzähler mit Vorbehalten des Zuhörers rechnet 1 0 . In sprachlicher Hinsicht fällt die Benützung des Konjunktivs auf. Das trifft auch zu, wenn sich mehrere Personen an einem Gespräch beteiligen. Die den Zuhörern in allen Abstufungen vertraute Mundart läßt weitere, wichtige Rückschlüsse auf das persönliche Verhältnis des Erzählers zum Erzählten zu. Die Sprache verrät vielfach, was die Gewährsleute selber für wahr halten und wo sie zu Vorsicht und Distanz mahnen 1 1 . Die Gewährsleute schätzen es in der Regel, im vertrauten Kreis die Hintergründe des Nicht-Erklärten näher auszuleuchten und die Möglichkeiten einer allfälligen Täuschung ins Gespräch einzubeziehen. Schließlich liegen die Vorfälle um .Muggisturz' (cf. AaTh 113 A: —> Pan ist tot), um den Wettlauf zur Festlegung der Gemeindegrenze und um jenen Alpknecht, der ein Rind absichtlich fallen ließ und es nun in gewissen Nächten den Hang hinauf tragen muß (Sisyphus), schon weit zurück. Mit dem zunehmenden zeitlichen Abstand wird der Anspruch des Erzählers auf volle Zustimmung bescheidener. Er weiß nur zu gut, daß der Teufel seinen diabolischen Schrecken verloren hat. Nicht einmal die Geistlichen wollen ihn noch ernstnehmen. Mit diesem Wandel haben auch die ihm verschriebenen Hexen zu rechnen, wenigstens was die Besenritte, Kaminfahrten, Versammlungen und Verwandlungskünste anbelangt. Davon wird nur noch im Scherz erzählt. Und dennoch steht die Frage im Raum, ob es wirklich nur eine ganz gewöhnliche Katze war, die beim Melken auf das Dach einer Alphütte sprang und die Kühe in solchen Schrecken versetzte, daß sie die Umzäunung durchbrachen und das Weite suchten 12 . Junge Bauern bestätigten, daß sich zwei Kühe auf durchaus natürliche Weise in ein und derselben Kette verwickeln können. In Anbetracht der guten medizinischen Versorgung wagt man nächtliche Atemnot kaum mehr auf das Wirken einer Hexe zurückzuführen, obschon dem Feldforscher in
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Entrückung
den meisten Dörfern Frauen mit solchen Fähigkeiten nach wie vor beim Namen genannt werden 1 3 . Von Begegnungen mit Geistern ist immer noch die Rede. Die Vorkommnisse werden aber nur noch selten einem größeren Personenkreis bekannt. Man berücksichtigt den Wandel in der kirchlichen Lehre. Erzähler, die dazu nicht bereit sind, laufen Gefahr, nicht ernst genommen zu werden. Bei einem über Nacht angeschwollenen Kopf kann es sich möglicherweise um den Stich einer Nachtmücke oder um einen Virus handeln 1 4 . Die Hexenbrüstlein der Säuglinge werden vom ärztlichen Ratgeber einer Illustrierten auf Unregelmäßigkeiten im Hormonhaushalt zurückgeführt 1 5 . Für den durchdringenden Schrei eines bekannten und gefürchteten Nachtgespensts muß die Todesangst des vom Fuchs geschlagenen Hasen herhalten 1 6 . Das unheimliche Orgelspiel eines aufgehobenen Klosters erklärt ein Jäger aus dem Wind, der über den Doppellauf seines an einen Baum gelehnten Gewehrs strich und so die täuschenden Töne hervorbrachte 1 7 . Eigentümlich und unbeantwortet bleibt am Schluß die Frage, weshalb sich Hunde und Pferde, die mehr sehen sollen als der Mensch, in bestimmten Situationen so merkwürdig verhalten. Hält der Druck der Vorbehalte und des Zweifels in einer Erzählrunde zu lange an, werden die Erzähler unsicher und gestehen schließlich, sie würden nur Gehörtes erzählen und hätten selber nie solches gesehen oder erlebt. Sind Kinder zugegen, wird noch hinzugefügt, daß man ja nicht alles, was die Leute erzählen, glauben müsse. Dabei wirken die Konstruktionen, die von den Skeptikern zur E. des Erzählten herangezogen werden, oft noch unglaubwürdiger als der sagenhafte Vorgang selbst. Es sei lediglich an das vermeintliche Herdengeläut in den vom Vieh verlassenen Alpen erinnert, das während des Sommers in den Felsmassen gespeichert und unter bestimmten Voraussetzungen wieder freigesetzt und hörbar werden soll. Die aufgeklärten Gesprächsteilnehmer berufen sich dabei auf den um die Jh.wende populären Magnetismus, eine Erscheinung, die auch bei der Schatzgräberei von Bedeutung war 18 . So tragen Gesprächsrunden, obschon und gerade weil sie das Geheimnisvolle in Frage
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stellen, zur Verbreitung von Sagen bei. Sie vermitteln nicht nur die traditionellen Motive einer Landesgegend in neuen Varianten, sondern auch Hintergründe und Verhaltensmuster bei allfälligen Begegnungen mit dem Jenseitigen. Ähnlich dürfte es sich auch in jenen Fällen verhalten, in denen Sagen in gedr. Sammlungen und Schulbüchern aufgenommen oder literar. bearbeitet werden. Die kritische Einstellung der Zuhörer oder Leser vermag ihnen wenig anzuhaben. Anders ist es, wenn Sagengestalten an folkloristischen Umzügen und am Bildschirm des Fernsehens zur Darstellung gelangen und in diesem Rahmen der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Die Glaubwürdigkeit leidet. Die Sage kann zum Schwank oder Witz werden 1 9 . —> Distanz, —> Dreigliedrigkeit, —> Erzählen, Erzähler, —» Feldforschung, —> Glaubwürdigkeit, —» Informanten, -» Kontext, —» Performanz, —> Realitätsbezüge, —> Zuhörer I
allg. cf. Sooder, M.: Zelleni us em Haslital. Basel 1943, 17sq.; Büchli, Α.: Mythol. Landeskunde von Graubünden. Teil 1. Aarau 1958, 21—37; Senti, Α.: Sagen aus dem Sarganserland. Basel 1974, 451 — 4 6 8 ; Röhrich, L.: Sage und Mächen. Fbg 1976, 292—301; Guntem, J.: Volkserzählungen aus dem Oberwallis. Basel 1978, 2 0 - 2 2 ; Gerstner-Hirzel, E.: A u s der Volksüberlieferung von Bosco Gurin. Basel 1979, 1 1 - 1 3 . - 2 Senti (wie not. 1) 459. 3 ibid., 203. - 4 Guntern (wie not. 1) num. 1311, cf. num. 1301, 1314, 1568, 1696 und p. 507. 5 ibid., num. 917, 1346, 1361, 1554, 1712, cf. p. 5 0 7 s q . - 6 ibid., num. 1288, 1350, 1359sq., 1362, cf. p. 507. - 7 ibid., num. 1362, 1365, cf. num. 1342 und p. 507. - 8 ibid., 507. - 9 Senti (wie not. 1) 4 6 5 sq. - 10 ibid., 460. II ibid., 472. - 12 ibid., 4 6 4 . - 13 ibid., 4 6 2 s q „ 465. — 14 mündlich in Flums. — 15 mündlich in Sargans. — 16 Senti (wie not. 1) 143. — 17 mündlich in Valens. - 18 Senti (wie not. 1) 350. - 19 ibid., 460.
Köniz
Alois Senti
Entrückung 1. Begriff - 2. Erzähltopos und Abgrenzung 3. E. und Jenseitsreisen - 4. E. als Zeichen von Unsterblichkeit und Vergöttlichung - 5. Translokation (Mot. D 2120, D 2 1 2 1 ) - 6. Langer Schlaf 7. Kyffhäuser (Mot. D 1960) - 8. E. und Science Fiction
1. B e g r i f f . E. ist ein nicht immer klar abgrenzbarer Begriff, der oft synonym zu ver-
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Entrückung
wandten Phänomenen wie Himmelfahrt, Himmels·, Jenseits- oder Unterweltsreise, aber auch für Erfahrungen und Erlebnisse im Zustand der Ekstase verwendet wird (—> Jenseitswanderungen, —> Mystik, —> Schamanismus, —• Vision). Dabei kommt die Forschung bei jeweils unterschiedlichen hist. Zeitschichten und ethnol., bibelexegetischen oder religionswiss. Ansätzen zu differenzierten semantischen Inanspruchnahmen des Begriffs 1 . Grundsätzlich bezeichnet E. eine die physischen Fähigkeiten des Menschen übersteigende zeitliche und räumliche Entfernung unter Aufhebung aller physikalisch erklärbaren Gesetzmäßigkeiten in den jenseitigen Raum des Himmels (ascensus), der Hölle oder Unterwelt (descensus), in eine ferne Gegend, aber auch in eine irreale Umwelt (so im Märchen, ζ. B. AaTh 480: Das gute und das schlechte —> Mädchen)2. Dieser Vorgang geschieht unter Aufhebung der Dimension von Zeit und Raum bzw. der menschlichen Vorstellung von Zeitdauer und der mit dieser korrelierenden räumlichen Distanz. Dem Entrückten erscheint die Zeit seiner physischen oder psychischen Abwesenheit nur von kurzer Dauer, während sie in Wirklichkeit viele Jahre oder Jh.e währte (Mot. D 2011); andererseits hält sich der Entrückte durch die Zurücklegung weiter Strecken und die damit verbundenen Erlebnisse für einen langen Zeitraum abwesend, wobei während seiner E. die irdische Zeit stehenbleibt (Mot. D 2012). Diese Verschiebung des irdischen Zeitempfindens beruht u. a. auf der Vorstellung vom Jenseits als Inbegriff einer ewigen Zeitlosigkeit (v. unten), tritt in E.sberichten aber auch bei magischen Reisen im Diesseits ein. Die E. erfolgt unmittelbar und wird durchwegs als kausales Eingreifen einer Gottheit oder als Folge magisch erzwungener Dämonenhilfe erfahren. Dies wird vom Wortgebrauch des Entrückens als eines passiven Vorganges bestätigt: Der Mensch kann sich nicht selbst entrücken, sondern wird entrückt, was ein Agens voraussetzt. So verwendet das Α. T. für den Vorgang der E. vorwiegend das Verbum lqh (fortnehmen) und formuliert damit die E. aus der Sicht Gottes 3 . Die E. kann endgültig (irreversibel) sein, ewig dauern und gilt somit als Zeichen für die dem Menschen sonst unerreichbare Unsterb-
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lichkeit und folglich für die Vergöttlichung. Trotz der von der theol. Lit. immer wieder betonten definitiven Endgültigkeit der E. bleibt sie durch den eschatologischen Glauben an die Rückkunft des Entrückten reversibel: Der Messias wird am Ende der Zeiten als Weltenrichter zurückkommen; die Apostel glaubten, daß die Parusie Christi noch zu ihren Lebzeiten erfolgen würde (—» Eschatologie). Man erwartete Entrückte zum apokalyptischen Endkampf oder als Retter in Zeiten größter politischer Not (ζ. B. Friedrich Barbarossa, Friedrich II., Holger Danske; v. unten). Innerhalb der jüd. Eschatologie 4 fand der Glaube an die Wiederkehr des —» Elias seinen Niederschlag sowohl in zahlreichen Erzählungen (ζ. B. Elias kommt zur Erde zurück, um in der Gestalt eines Armen das Herz eines Reichen zu erweichen 5 ) als auch im Kultus: Am Passahfest füllt man einen Becher für Elias, aus dem nur er allein trinken darf, wenn er unsichtbar erscheint 6 . Bei der Beschneidung steht in der Synagoge neben dem Stuhl des Sandak der des Elias, auf den das Kind niedergelegt wird 7 . Elias selbst wird am Ende der Tage erscheinen (Mal. 3, 23) 8 . Ferner kann die E. eine zeitlich beschränkte Phase des menschlichen Lebens bezeichnen, während der man sich an einem entfernten diesseitigen oder jenseitigen Ort aufhält. Gemeinsam ist jedoch allen E.serzählungen der sozial hervorgehobene Status des Entrückten, ζ. B. eines Frommen, Priesters, Propheten, Königs, Heiligen, Heilbringers, Kulturheroen, Messias, oder — in der negativen Opposition — eines Magiers, Hexers oder Teufeisbündners. 2. E r z ä h l t o p o s u n d A b g r e n z u n g . In von diesen E.sdimensionen geprägten Berichten geschieht die E. im Schlaf, im Zustand der Trance oder der Ekstase; sie gerät damit in die Nachbarschaft mystischer Verzückung oder schamanistischer Ekstasetechniken. In dieser Gruppe von E.en, zu der die Jenseitsreisen gehören, kehrt der Entrückte immer in die Gegenwart von Ort und Zeit zurück. G. Lohfink, der E. und (ekstatische) Himmelsreise der Seele trennt, betrachtet als Subjekt letzterer die u. a. durch magische Praktiken vom Körper losgelöste Seele (psyche) oder den Geist (pneuma), wobei während der Dauer
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Entrückung
d e r E n t f e r n u n g d e r K ö r p e r auf d e r E r d e z u r ü c k b l e i b t . N a c h d e r R ü c k k e h r erfolgt d i e E r z ä h l u n g ü b e r die R e i s e in d e r I c h - F o r m , was damit zum Charakteristikum des Erzähltyps H i m m e l s r e i s e wird 9 . D i e physisch e r f a h r e n e E . , ein m e n s c h l i c h e Erklärungsversuche übersteigendes Wunder, wird h i n g e g e n von Z e u g e n ü b e r l i e f e r t (cf. H i m m e l f a h r t Christi, L k . 24, 5 0 - 5 3 ) . Bei E . s e r z ä h l u n g e n liege d a h e r , so L o h f i n k , d e r A k z e n t im G e g e n s a t z zur H i m m e l s r e i s e nicht auf d e m W e g selbst, s o n d e r n auf d e m t e r m i n u s a q u o u n d a d q u e m des W e g e s . D e r B e t r e f f e n d e w e r d e d e r irdischen W e l t e n t z o g e n u n d zu d e n G ö t t e r n ins J e n s e i t s e n t r ü c k t , d i e E . selbst, a n d e r s als die H i m m e l s r e i s e , nie v o m S t a n d p u n k t d e s E n t r ü c k t e n aus erzählt, s o n d e r n als unerklärliches, den gesamten Menschen bet r e f f e n d e s V e r s c h w i n d e n von Z e u g e n b e r i c h t e t 1 0 . D a m i t liefert L o h f i n k e i n e n allerdings v o r w i e g e n d an bibl. M a t e r i a l e r a r b e i t e t e n erzählterminologischen Ansatzpunkt z u r T r e n n u n g von E . u n d H i m m e l s r e i s e . Seine a n h a n d einer Unters, zum lukanischen Himmelfahrtsbericht gewonnene Unterscheidung der E r z ä h l p o s i t i o n e n von H i m m e l s r e i s e u n d E . ist z w a r hilfreich, b e r u h t a b e r auf d e m V e r s t ä n d nis von E . als e i n e m Ereignis, d a s d e n T o d ausschließt. D e m e n t s p r e c h e n d d e f i n i e r t F. R . Walton die E. „im Unterschied zur Aufersteh u n g " als d e n „leiblichen Ü b e r g a n g e i n e s m e n s c h l i c h e n W e s e n s a u s d i e s e m L e b e n in die a n d e r e W e l t , o h n e d a ß d e r T o d dazwischen t r i t t " 1 1 . A n d e r e r s e i t s setzt d e r E . s v o r g a n g d e r r ö m . K a i s e r a p o t h e o s e d e n leiblichen T o d des I m p e r a t o r s v o r a u s (cf. auch H i m m e l f a h r t M a riens). Solch u n t e r s c h i e d l i c h e Begrifflichkeit m a c h t es d a h e r n o t w e n d i g , E . u n t e r B e r ü c k sichtigung d e r v e r s c h i e d e n e n Z e i t - u n d Kulturschichten u m f a s s e n d als j e d e psychische o d e r physische U b e r w i n d u n g d e s V e r h ä l t n i s ses von Z e i t u n d R a u m zu b e s t i m m e n . W i e diff e r e n z i e r t hier die A n s ä t z e sind, m ö g e n einige Beispiele v e r d e u t l i c h e n :
H. von Beit beschreibt E. psychol. als „ Versinken im Unterbewußtsein" 12 ; wenig glücklich trennt H. Bächtold-Stäubli die E. als „dauernde Versetzung des lebenden Menschen an den Ort des ewigen Lebens, ohne daß er durch den Tod gehen muß" von der „Entführung", unter der er die „wunderbare zeitweilige Versetzung eines Menschen von einem Ort zum andern" als zeitlich begrenzte, dies-
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seitige Translokation versteht13. L. Röhrich schränkt hingegen E. auf diejenigen Erzählungen ein, in denen berichtet wird, „wie ein Mensch für eine lange Zeit, für Jahre oder gar Jahrhunderte entrückt wird, aber die Länge des Zeitraums nicht empfindet, sondern bei seiner Rückkehr in die Wirklichkeit glaubt, nur kurze Zeit fort gewesen zu sein" 14 .
3. E . u n d J e n s e i t s r e i s e n . In m y t h o l . E r z ä h l u n g e n b e z w e c k t d e r A u f e n t h a l t im J e n seits h ä u f i g , A u s k ü n f t e ü b e r d e m M e n s c h e n a n s o n s t e n v e r b o r g e n e D i n g e zu e r l a n g e n (—» D i v i n a t i o n ) : O d y s s e u s begibt sich in d e n H a des, um d i e S c h e m e n des T e i r e s i a s u n d seiner M u t t e r ü b e r sein k ü n f t i g e s Schicksal u n d die Z u s t ä n d e in seiner H e i m a t zu b e f r a g e n ( H o m e r , Odyssee, 10) 1 5 . S c h a m a n e n b e g e b e n sich zu divinatorischen Z w e c k e n auf H i m m e l s r e i sen. D i e s e r G l a u b e an e i n e n b e g r e n z t e n A u f e n t h a l t im J e n s e i t s ist zeitlich u n d räumlich weit v e r b r e i t e t u n d tritt vor allem im Z u s a m m e n h a n g mit —* K u l t u r h e r o e n in Ä t i o l o g i e n auf. D i e ältesten B e l e g e s t a m m e n aus d e r m e sopotam. Kultur. Die sumer. Königsliste erwähnt einen sagenhaften Enmeduranki, den die Götter entrücken, um ihm die Geheimnisse eines baru-Priesters anzuvertrauen16. In einem altbabylon., nur unvollständig erhaltenen Epos bittet —» Etana (AaTh 537) den Sonnengott Samas um das ,Kraut des Gebärens', damit er endlich einen Sohn erhält. Ein Adler bringt ihn zum Himmel, wo sich diese Pflanze befindet (AaTh 313 B) 17 . Im spätestens im 14. Jh. a. Chr. n. entstandenen Adapa-Epos steigt der Priester Adapa unter Begleitung eines Boten des Himmelsgottes An in den Himmel, wo er sich verantworten soll, da er die Flügel des Südsturmes zerbrochen hat. Nach der Beschwichtigung Ans wird ihm Brot und Wasser des Lebens angeboten; Adapa verzichtet jedoch auf Unsterblichkeit und kehrt zur Erde zurück18. Eine Funktion als Kulturbringer üben auch Zauberer verschiedener Stämme in einem austral. Märchen aus, die von Geistern durch ein Loch in den Himmel emporgetragen werden, von wo sie Blumen und Honig auf die Erde zurückbringen19. Ähnlich wird in einem Eskimo-Märchen ein Jäger durch einen Adler in ein fernes Land entrückt, wo ihm die Adlermutter aufträgt, ein Fest gemäß seiner jenseitigen Erlebnisse auf der Erde einzuführen (cf. Mot. F 101.3) 20 . K. R a s m u s s e n , d e r diese E r z ä h l u n g a u f z e i c h n e t e , b e s c h r i e b auch eine S c h a m a n i s i e rung, bei d e r ein S c h a m a n e d e r im M e e r h a u s e n d e n G ö t t i n S e d n a die z u r ü c k g e h a l t e n e n Tiere entreißt:
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Ein Schamane ruft zuerst die Hilfsgötter herbei; nach deren Eintreffen verläuft die Seance auf zwei verschiedenen Ebenen, unter den in der Hütte Versammelten und in der imaginativen Welt des in Ekstase versunkenen Schamanen. Dieser besteht verschiedene Gefahren und findet die Göttin vor einem Teich, in dem alle Meerestiere versammelt sind. Er reinigt Sedna vom Dreck, den Sünden der Menschen 2 1 .
Körper; dies dauerte nur einen Augenblick, ih dem Gott ihm mehr geoffenbart habe als während des gesamten Lebens 2 7 . Ähnliche Vorstellungen von einer Trennung des Bewußtseins und (himmels)reiseähnlichen Erlebnissen spielen auch in der modernen Todesforschung eine Rolle 2 8 .
Im Gegensatz zur leiblichen E. beruht die schamanistische Himmelsreise also auf einer Trennung von Körper und Seele. Der alta. Schamane reitet auf der Seele des Opfertieres zum Himmelssitz Bai Ülgäns; nach seiner Rückkehr begrüßt er, aus tiefem Schlaf erwacht, die Anwesenden wie nach langer Abwesenheit 2 2 . Immer aber bedient er sich für seine Reise ins Jenseits eines helfenden Dämons oder eines magischen Objekts: Der sibir. Medizinmann vollzieht in der Trance die Himmelsreise mittels Besteigen eines Baumes; indem er von einem Ast zum anderen emporsteigt, gelangt er von einem Himmel in den anderen (—» Bohnenranke), wobei er von den Eindrücken und Erlebnissen seiner Reise berichtet. Ein magisches Reisemittel des Schamanen ist ferner die Trommel 2 3 .
4. E . als Z e i c h e n v o n U n s t e r b l i c h k e i t u n d V e r g ö t t l i c h u n g . Vorderasiat., at. und antikes Erzählgut über Himmelsreisen und E.en weist ähnliche Motive auf, so die Auffahrt, der bisweilen eine rufende Stimme vorangeht, im Sturmwind, in verbergenden Wolken, auf Wagen oder Tieren (cf. Flug —> Alexanders des Großen auf zwei Vögeln, Mot. Β 552.1). Die ägypt. Mythologie kennt ζ. B. die entrückungsähnliche Himmelfahrt des verstorbenen Königs mit Hilfe der Götter 2 9 , nicht selten auch als Vogelflug 30 oder Aufstieg über eine Himmelsleiter 31 . Andererseits können E.s- und Himmelfahrtsberichte nicht vom Hintergrund des dem vorchristl. Vorderen Orient gemeinsamen Jenseitspessimismus losgelöst werden; das Hebräische des A. T.s, das sehr viel stärker als die Antike zwischen E. und Tod trennt, weswegen sich auch die an Dt. 34, 6 anknüpfenden Spekulationen über eine E. des —> Moses nie wirklich durchsetzen konnten 3 2 , kennt im Gegensatz zur griech. Fassung kein Wort für Unsterblichkeit. Solche E.sberichte sind daher als Ausdruck des menschlichen Wunsches nach Unsterblichkeit und als Mythologem für den Prozeß der Vergöttlichung zu betrachten.
Die genannten Beispiele zeigen einerseits jeweils spezifische Unterschiede von E. und Jenseitsreise, aber auch beiden gemeinsame Motive. Eine enge Beziehung zu ekstatischen Techniken und mystischen Praktiken prägte andererseits nicht nur die antike Erzählung von —> Orpheus' Aufenthalt in der Unterwelt, die in ihrer späten Überlieferung in den Umkreis von Mysterienkulten geriet, die Hoffnung auf ein seliges Jenseits erwecken sollten 2 4 , sondern auch die Vorstellung von der Himmelfahrt des Mithras auf dem Sonnenwagen 25 . Nach der Pahlavi-Apokalypse Bahman Yast (2, 5—6) nahm Zarathustra einen Trank ein, um die .Vernunft der Allwissenheit' zu erlangen, und seinem Beschützer Kavi Vistäspa gelang es nach der Version des Denkart, seine Seele mittels eines Rauschtranks vom Körper zu lösen und auf Himmelsreise zu schicken 26 . Ähnliche E.en im Zustand der Trance sind auch in der christl. Mystik belegt: Der religiöse Schwärmer und Visionär Hans Engelbrecht (1599—1642) erlebte in einer E. seinen eigenen Tod und die Entfernung der Seele vom
Die ältesten Belege für die mit der Vergöttlichung verbundene E. auserwählter Menschen unter Umgehung des leiblichen Todes stammen wiederum aus Mesopotamien. Im altbabylon., auf sumer. Texte zurückgehenden —> Gilgamesch-Epos besteigt Utnapistim zusammen mit seiner Frau das Schiff des Enlil, das ihn an die (jenseitige) Mündung der Ströme bringt 33 . In der gleichzeitig überlieferten, aber ebenfalls älteren Sintflutgeschichte wird König Ziusudra durch die Götter nach Dilmun entrückt und damit unsterblich 34 . Durch die Chronik des Eusebius, der sich seinerseits über Alexander Polyhistor auf Berossos beruft (zwischen 340 und 270 a. Chr. n. Bel-Priester in Babylon), der späthellenist.
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Welt tradiert 3 5 , greift noch der Chronograph Georgios Synkellos um 800 p. Chr. n. auf diese E.serzählung zurück 36 . Diese mesopotam. Vorstellungen prägten die E.sberichte des A.T.s und des jüd.-apokalyptischen Schrifttums des 1. Jh.s p. Chr. η.; bekannteste Beispiele sind die E.en des Elias während seines Todeskampfes unter Sturmwind (ζ. B. 2. Kön. 2, 1 - 1 8 ; Sir. 48, 9 - 1 2 u. ö.; cf. auch die Bildvorstellung von der Auffahrt des Elias im feurigen Wagen) und des Henoch (Gen. 5, 2 1 - 2 4 ; Sir. 44, 16 u. ö.) 37 . Während die E. des Elias den an wunderbaren Begebenheiten interessierten prophetischen Kreisen zuzuschreiben ist, stehen die HenochBerichte in der strengen theol. und dogmatischen Tradition priesterlicher Gruppen. Die Umarbeitung altoriental. Mythen durch die Theologie des A.T.s zielte dabei sowohl auf eine optimistischere Sicht des Jenseits, das den Frommen vor der Unterwelt bewahrt, als auch auf die bes. Gottverbundenheit nach dem Tode (Ps. 49, 1 6 - 1 8 ; cf. 1. Thess. 4, 17) 38 . Die E. des Elias ist motivgeschichtlich wohl auch von der Ungewißheit über die Lage des Mosesgrabes beeinflußt (Dt. 34, 6) 39 . Damit wird ein rationales Moment in der Entstehung des E.sglaubens erkennbar, das auch in anderen Erzählumkreisen und -traditionen zu beobachten ist: Fehlen oder Unkenntnis des Grabes führte zu E.sspekulationen nicht nur bei Moses, sondern auch bei —» Aaron 4 0 . Solche Spekulationen wurden aber nie populär 4 1 . Da die Christen das Grab Neros nicht kannten, waren sie von seiner E. überzeugt 4 2 . Auch die E. Friedrich Barbarossas bzw. Friedrichs II. in den Kyffhäuser beruhte, so die Koelhoffsche Chronik ,van der hilligen Stadt Cölln' (entstanden vor 1499), auf den wenig bekannten Todesumständen, ja sogar, wie bei dem Wiener Chronisten —»Jansen Enikel um 1280, auf grundsätzlichem Zweifel am Tode Friedrichs II. 43 In der Tradition solcher E.serzählungen stehen nicht nur der Bericht von der Himmelfahrt Christi im N.T. (Lk. 24, 5 0 - 5 3 ; Apg. 1,9—11) 44 , sondern auch antike, den Akt der Vergöttlichung schildernde Mythen: —» Herakles errichtet auf dem Berg Oita einen Scheiterhaufen; als dieser brennt, wird er von einer Wolke aufgenommen und unter Donner zum
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Himmel entrückt 4 5 . Ähnliches geschieht mit —> Romulus bei einer Heeresmusterung während eines Unwetters und in Anwesenheit des Zeugen Proculus (Livius 1, 16) 46 . Die E. des Romulus galt als Vorbild für die Zeremonie der röm. Kaiserapotheose, die allerdings den physischen Tod des Kaisers voraussetzte 47 . So ist sowohl für Pertinax wie für Septimius Severus, Caracalla und Antoninus Pius die Verbrennung in corpore wie in effigie bezeugt. Bestätigte man anfangs die als leiblich betrachtete E. im röm. Totenzeremoniell durch Augenzeugen vor dem Senat, so erklärte man sie im 2. Jh. p. Chr. n. mit dem Fehlen von Überresten, da sich die bei der zweiten Verbrennung benutzte Wachsfigur des Kaisers im Feuer völlig auflöste 48 . Justinus Martyr, der diese Art der E. mit dem Wirken von Dämonen in Zusammenhang brachte, versuchte dennoch, mit dem Beispiel der zu seiner Zeit nicht mehr vollzogenen Kaiserapotheose Auferstehung und Himmelfahrt Christi zu verdeutlichen (Apologia 1, 21, 54) 49 . Reminiszenzen an die röm. Kaiserapotheose tauchen noch im Bericht des Franziskaners Johannes von Winterthur (gest. 1348) über die Hinrichtung Konradins in Neapel auf: Ein über die Leiden Konradins erzürnter Adler sei aus der Höhe herabgeflogen, habe seinen rechten Flügel vor den Augen der Umstehenden durch das Blut gezogen und sich blutbefleckt wieder in die Höhe geschwungen 50 . Berichte über die endgültige, den definitiven Abschluß des irdischen Lebens darstellende E. beruhen auf einem festen erzählerischen Grundschema, das die Anwesenheit von Zuschauern oder Zeugen erfordert und den Vorgang im Gegensatz zur Jenseitsreise immer aus der diesseitigen Perspektive erzählt; Schilderungen von der Ankunft im Himmel fehlen 5 1 . Dieses Muster findet sich auch im Erzählgut anderer Kulturkreise, das den Ubergang vom Diesseits in ein Jenseits schildert: In einer ir. Erzählung des 8. Jh.s p. Chr. n. erscheint dem Echtra Condla Chaim, Sohn des Königs Conn Cetchathach, eine Frau, die sagt, sie komme aus Tir na m-Beo, dem Land der Lebenden, wo es weder Tod noch Sünde gebe. Condla verliebt sich in die Fee, springt trotz des Abwehrzaubers der Druiden in deren kristallenes Boot und verschwindet auf Nimmerwiedersehen 5 2 .
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5. T r a n s l o k a t i o n (Mot. D 2120, D 2121). In den Umkreis der E.sgeschichten gehört auch das Motiv des Zurücklegens einer großen Entfernung in einer mit der Länge des Weges nicht vereinbaren Zeit (cf. Mot. D 2120, D 2121). Wie bei der E. geschieht dies mit Hilfe magischer Objekte oder von Dämonen, Engeln etc., unterscheidet sich aber von E. oder Himmelsreise dadurch, daß sich die ,E.' nicht vom Diesseits ins Jenseits, sondern zwischen zwei weit entfernten Punkten der irdischen Welt vollzieht. In den Venedigersagen entführen geheimnisvolle, im Verdacht der Teufelsbündnerschaft stehende Fremde Menschen in Windeseile nach Venedig S3 . Hexen glauben, auf —» Besen etc. zum Hexensabbat auf den Blocksberg zu reiten (Mot. G 243), was bereits die zeitgenössische Lit. als durch halluzinogene Stoffe in der Hexensalbe hervorgerufene Wahnvorstellungen erklärte 54 . Hierher gehören auch Berichte über die u. a. aus Heiligenviten bekannten Gaben der —» Bilokation und des Zweiten Gesichts. Johann Heinrich Jung-Stilling referiert die Begebenheit, daß sich eine über das unerklärliche Ausbleiben ihres Ehemannes, eines Kapitäns, in Sorgen geratene Frau an einen im Ruf geheimnisvoller Kräfte stehenden Mann in der Nähe von Philadelphia gewandt habe; dieser versetzte sich in totenähnliche Trance. Nach dem Aufwachen beruhigte er die Frau mit dem Hinweis, ihr Mann halte sich in London auf und werde bald nach Amerika zurückkommen. Dies trifft ein, und der Ehemann bestätigt bei einer Gegenüberstellung, er habe den Wahrsager zur fraglichen Zeit in London getroffen 55 .
Das Motiv der wunderbaren Translokation ist auch in der christl. Legende bezeugt: —> Thomas Cantipratanus überliefert, der hl. Anders von Slagelse sei auf einer Pilgerfahrt nach Jerusalem am Osterfest von seinen Gefährten verlassen worden, da er noch an der Messe teilnehmen und die Eucharistie empfangen wollte. Ein Reiter, dem er sein Schicksal erzählt, fordert ihn auf, das Pferd zu besteigen, und nach einer Stunde schläft er ein. Als er aufwacht, befindet er sich in der Nähe der Stadt Slagelse und kommt gerade noch zur Vesper in seiner Kirche zurecht. Dieser Bericht wird durch die später entstandene dän. Legende des Jakob Mösle um ähnliche Begebenheiten auf Wallfahrten des hl. Anders nach Santiago de Compostela und Nidaros (Trondheim) erweitert (cf. Tubach, num. 3 791) 5 6 .
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6. L a n g e r Schlaf. Zu den bekanntesten europ., aber auch oriental., mongol. und talmud. E.smotiven gehört die irreale Zeiterfahrung im Zustand der Verzückung, im Traum oder im Schlaf und das Wiedererwachen in einer veränderten Welt. Während des magischen Schlafes bleibt für die Personen der einen Ebene die Zeit stehen, setzt sich aber in der anderen Ebene der Außenwelt fort 57 . In der —» Schlafenden Schönheit (AaTh 410; cf. Mot. D 1960.3, D 1967.1) kommt das Fortlaufen der Zeit nur durch flächenhaft andeutende Requisiten wie die das Schloß umwuchernde —> Dornenhecke zum Ausdruck. Andere Märchen betonen den Zeitfortschritt und die radikale Konfrontation mit einer fortentwickelten Umwelt deutlicher: In einem estn. Märchen trifft ein Mädchen auf einem Berg den graubärtigen, einäugigen Nebelkönig, der ihm zwei Spielkameradinnen hervorzaubert. Es verbringt dort zwei Nächte, und als es dann zu seinen Eltern zurückkehrt, findet es diese ergraut vor. Obwohl es heiratet, treibt es nach sieben Jahren die Sehnsucht zurück ins Geisterreich. Vom Ehemann deswegen der Hexerei bezichtigt, soll die Frau verbrannt werden; ein Nebel löscht jedoch die Flammen und entrückt sie 58 .
Bedeutsam für christl. Erzählstoffe von der verschwundenen Zeit wurde eine Sage, die sich um den Athener Priester Epimenides am Ende des 6. Jh.s a.Chr.n. bildete: Von seinem Vater ausgeschickt, ein verlorenes Schaf zu suchen, verirrte er sich und schlief 57 Jahre in einer Höhle; beim Erwachen fand er alles verändert vor, und mit Ausnahme seines jüngsten Bruders erinnerte sich niemand mehr an ihn 59 . Diese Erzähltradition schuf vermutlich in Verbindung mit einem Leichen- oder Reliquienfund die Legende von den —» Siebenschläfern (AaTh 766; cf. Grimm DS 392), deren früheste Fassung Jakob von Sarug um 520 überlieferte: Sieben christl. Brüder, von Beruf Schafhirten, werden auf Befehl Kaiser Decius' 251 in einer Höhle eingemauert. Als ein Bürger von Ephesus 447 die Höhle als Schafstall benutzen will und dafür die Mauer einreißen läßt, findet er die Jünglinge schlafend vor. Einer der Brüder begibt sich in die inzwischen christianisierte Stadt und bezahlt Brot mit einer Goldmünze des Decius. Auf dieses Geschehen hin begibt sich der Bischof zusammen
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Entrückung
mit den Bürgern zur Höhle und findet die Brüder von himmlischem Licht umstrahlt 60 .
Das Motiv des langen Schlafes nimmt auch als Wunder am Heiligengrab Eingang in die christl. Legende: Eine Frau verliert am Grab des hl. Klemens am Meer ihr Kind. Nach einjährigem vergeblichen Suchen findet sie es an der gleichen Stelle wieder; als sie das Kind fragt, wo es das Jahr über gewesen sei, erhält sie zur Antwort, es habe nicht mehr als eine Nacht geschlafen 61 . Zu einer der beliebtesten E.siegenden des MA.s wurde die Erzählung vom entrückten Mönch, der in Gedanken über die ewige Seligkeit versunken nach eigenem Ermessen nur wenige Minuten dem Gesang eines Vogels lauscht, ins Kloster zurückgekehrt aber erfahren muß, daß ihn keiner mehr kennt, da inzwischen viele Jahre vergangen sind (AaTh 4 7 0 - 4 7 1 ; Mot. Β 172.2, D 2011, F 377); zu Tradierung, Intention als Begriffsmodell für die dem Menschen unvorstellbare ewige Zeitlosigkeit Gottes (cf. Ps. 90, 4), zu der in der Erzählung verifizierbaren ma. Paradiesvorstellung und zur profanisierten Variante des in den Himmel entrückten Bräutigams v. —> Mönch und Vöglein (AaTh 471 A) 6 2 . In einer anderen Gruppe von Erzählungen findet die —> Relativität der Zeit ihren Ausdruck in einem nur kurz währenden Traum, in dem die Erfahrungen von Jahren, Jahrzehnten oder Jh.en gemacht werden (AaTh 681). Der bislang älteste Beleg stammt aus dem chiri. Lieh-tzu (3. Jh. a. Chr. n.), die Legende war aber nicht nur in Asien 6 3 , sondern auch in Europa verbreitet 6 4 . 7. K y f f h ä u s e r (Mot. D 1960). Ein weit verbreitetes, vor allem durch die Staufer-Romantik des 19. Jh.s populär gewordenes und seitdem in kaum einer Sagenedition fehlendes Motiv ist die E. an einen diesseitigen Ort, meist einen Berg (cf. ζ. B. Mot. F 131, F 145). Zu dieser Gruppe gehört nicht nur das rätselhafte Verschwinden im Berg (ζ. B. —> Rattenfänger von Hameln), sondern es kann, wie in einer Tiroler Sage, auch mit dem Topos des langen —> Schlafs kontaminiert werden: Ein Jäger wird von seiner Braut gezwungen, vom Rosengarten, einem Bergmassiv, eine Blume zu holen; da dort eine verwunschene Prinzes-
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sin herrscht, fällt er in einen 50jährigen Schlaf; zurückgekehrt ist er ein uralter Mann, die Braut tot 6 5 . Der Glaube an die E. im Berg verbindet sich häufig mit einer Herrschergestalt, die zu einem bestimmten Zeitpunkt zurückkehren wird, und ist ζ. B. in arab.-islam, und griech. Erzählstoffen überliefert 66 . In Dänemark ζ. B. auf den sagenhaften Holger Danske bezogen, konzentrieren sich im dt. Sprachraum diese eschatologisch orientierten Erzählungen auf Friedrich Barbarossa und Friedrich II. (Mot. D 1960.2; cf. Grimm DS 297) 6 7 . Unter dem Einfluß pseudo-joachit. Prophezeiungen, aber auch anti- wie prostaufischer Kreise hatte sich in der Kaisersage des 14. und 15. Jh.s die Erwartung herauskristallisiert, Friedrich II. werde am Ende der Zeiten wiederkommen, um ein ewiges Reich des Friedens zu errichten 68 . Johannes Rothe (ca 1360—1434), Scholastikus am Marienstift in Eisenach, beschrieb den Glauben als verbreitet, Friedrich hause auf einem wüsten Schloß zu Kyffhausen in Thüringen, aber auch auf anderen verlassenen Burgen, und lasse sich bisweilen sehen, was der Kleriker allerdings als Schelmenstreich des Teufels abtat 6 9 . Die Kyffhäuser-Sage entstand vermutlich aus einer Kontamination von Erzählungen über Friedrich Barbarossa und Friedrich II. Von den vielen Lokalisierungen gewann allerdings nur der Kyffhäuser überregionale Bedeutung. Während die hist. Kritik des 17. und 18. Jh.s die E.serzählung des eschatologischen Motivs beraubte, erlebte sie im 19. Jh. vornehmlich durch Friedrich Rückert und die Brüder Grimm eine neue Renaissance; Barbarossa wurde zur Zentral- und Symbolfigur eines politischen Mythos, der versuchte, das Streben nach nationaler Einheit und imperialer Machtentfaltung zu beleben und zu rechtfertigen 70 . 8. E . u n d S c i e n c e F i c t i o n . E.serzählungen lassen sich, abgesehen von den sich in ihnen spiegelnden, kulturell bedingten und daher unterschiedlichen Tendenzen, immer auf das Motiv der überwundenen Raum-ZeitDimension reduzieren. Spätestens seit Einsteins Relativitätstheorie ist dieses Thema (wieder) zum fiktiven Unterhaltungselement der Science Fiction-Literatur geworden. Her-
55
Entrückung
bert George Wells' The Time Machine (L. 1895) und Egon Friedells Rückkehr der Zeitmaschine (Mü. 1946) stehen hier beispielhaft für einen Menschheitstraum, der früher andere Vorstellungs- und Ausdrucksmöglichkeiten besaß. I Argyle, A. W.: The Ascension. In: The Expository Times 66 (1954/55) 2 4 0 - 2 4 2 ; Benoit, P.: L'Ascension. In: Revue biblique 56 (1949) 1 6 1 - 2 0 3 ; Bernard, J. H.: Assumption and Ascension. In: E R E 2 (1909) 1 5 1 - 1 5 7 ; Helm, Κ.: E. in Sage und Dichtung. In: HessBllfVk. 43 (1952) 3 0 - 3 3 ; Hönn, C.: Studien zur Geschichte der Himmelfahrt im klassischen Altertum. Mannheim 1910; Holland, R.: Zur Typik der Himmelfahrt. In: ARw. 23 (1925) 2 0 7 - 2 2 0 ; Lohfink, G.: Die Himmelfahrt Jesu. Unters.en zu den Himmelfahrts- und Erhöhungstexten bei Lukas. Mü. 1971; Pax, Ε.: Ε. In: LThK 3, 905; Pfister, E.: Zu den Himmelfahrtslegenden. In: Wochenschrift für klassische Philologie 28 (1911) 8 1 - 8 6 . - 2 cf. Bieder, W.: Die Vorstellung von der Höllenfahrt Jesu Christi. Beitr. zur Entstehungsgeschichte der Vorstellung vom sog. Descensus ad inferos. Zürich 1949; Grillmeier, Α.: Der Gottessohn im Totenreich. Soteriologische und christologische Motivierung der Descensuslehre in der älteren christl. Uberlieferung. In: Zs. für kathol. Theologie 71 (1949) 1 - 5 3 , 1 8 4 - 2 0 3 ; Kroll, J.: Gott und Hölle. Der Mythos vom Descensuskampfe. B. 1932 (Darmstadt 2 1963); von Beit 1, 36. - 3 Galling, K.: Der Ehrenname Elias und die E. Elias. In: Zs. für Theologie und Kirche 53 (1956) 1 2 9 - 1 4 8 , hier 139; Schmitt, Α.: Ε. - Aufnahme - Himmelfahrt. Unters.en zu einem Vorstellungsbereich im A.T. Stg. 1973, 232sq. - 4 Haufe, G.: E. und eschatologische Funktion im Spätjudentum. In: Zs. für Religions- und Geistesgeschichte 13 (1961) 105 — 113. — 5 Lehman, S.: Eliyohu ha-Nove in der Folksfantasie, Maasses un Legendes varshribn fun Volksmoil. In: Archiv far Yidd. Sprachwiss., Lit.forschung und Ethnologie ( 1 9 2 6 - 3 3 ) 1 4 7 - 1 4 9 , num. 8; Schwarzbaum, 9. — 6 Thieberger, F.: Pessach. In: id. (ed.): Jüd. Fest - Jüd. Brauch. Königstein 2 1979, 210. - 7 Joseph, M.: Berit Mila. In: Thieberger (wie not. 6) 423. — 8 Chajes, Z. P.: Der jüd. Mystizismus. In: Thieberger (wie not. 6) 298. - 9 Lohfink (wie not. 1 ) 3 4 . - 10 ibid., 3 7 - 4 1 . II
Art. E. In: R G G 2, 499sq.; ähnlich Pax (wie not. 1). - 12 von Beit 2, 258. - 13 H D A 2, 851 sq. Röhrich, Erzählungen 1, 275; ähnlich Röhrich, L.: Sage. Stg. 1966, 39. - , s cf. Diels, H.: Himmelsund Höllenfahrten von Homer bis Dante. In: Neue Jbb. für das klassische Altertum 49 (1922) 2 3 9 253; Kroll, J.: Die Himmelfahrt der Seele in der Antike. Köln 1931; Siuts, H.: Jenseitsmotive im dt. Volksmärchen. Lpz. 1911; Back, D. M.: Eine buddhist. Jenseitsreise. Wiesbaden 1979. - 1 6 Jacobsen, T.: The Sumerian King List. Chic. 1939, 75; Schmitt (wie not. 3) 2 8 - 3 1 . - 17 Haavio, M.: Der Etana14
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mythos in Finnland (FFC 154). Hels. 1955. 18 Heidel, Α.: The Babylonian Genesis. Chic. 2 1951, 1 4 7 - 1 5 3 ; Schmitt (wie not. 3) 24sq. - 19 Hambruch, P.: Südseemärchen. MdW 1927, num. 10; cf. von Beit 1, 51. - 20 Rasmussen, K.: Festens Gave. Eskimoiske Alaska acventyr. Kop. 1929, 15—23; id.: Die Gabe des Adlers. Eskimo. Märchen aus Alaska. Ffm. 1937, 23. 21 cf. id.: Intellectual Culture of the Iglulik Eskimos. Report of the Fifth Thüle Expedition 9, 1. Kop. 1929; Hultkrantz, Ä.: Die Religion der amerik. Arktis. In: id./Paulson, I./Jettmar, K.: Die Religionen Nordeurasiens und der amerik. Arktis. Stg. 1962, 394sq. - 22 Eliade, Μ.: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Zürich/Stg. s. a., 185 — 192. — 2 3 Paulson, I.: Die Religionen der nordasiat. (sibir.) Völker. In: Hultkrantz/Paulson/Jettmar (wie not. 21) 1 3 2 - 1 3 7 . - 24 cf. Bousset, W.: Die Himmelsreise der Seele. In: ARw. 4 (1901) 1 3 6 - 1 6 9 , 2 2 9 - 2 7 3 ; Guthrie, W. K.: Orpheus and Greek Religion. L. 193 5. - 25 Lohfink (wie not. 1) 33; Dieterich, Α.: Eine Mithrasliturgie. Lpz./B. 3 1923, 1 7 9 - 2 0 9 ; Vermaseren, M. J.: Mithras. Geschichte eines Kultes. Stg. 1965, 84. - 2 6 cf. Brandt, W.: Das Schicksal der Seele nach dem Tode. Nach mandä. und pars. Vorstellungen. In: Jahrbücher für Protestant. Theologie 18 (1892) 4 0 5 - 4 3 8 , 5 7 5 - 6 0 3 ; Widengren, G.: Die Religionen Irans. Stg. 1965, 69 - 72. - 27 Algermissen, K.: Engelbrecht, Johannes. In: LThK 3, 878; Engelbrecht, Η.: E. In: Antaios 2 (1961) 61 sq. - 28 Moody, R. A.: Leben nach dem Tode. Reinbek 1977. - 2 9 Sethe, K.: Übers, und Kommentar zu den altägypt. Pyramidentexten 2. Glückstadt s. a., 102, § 3 8 0 a - b u. ö. - 3 0 ibid., 252, § 461 a - d u.ö. 31 ibid., 121, § 3 9 0 a - b ; cf. ferner Kees, H.: Totenglauben und Jenseitsvorstellungen der alten Ägypter. Lpz. 192 6. - 32 Lohfink (wie not. 1) 73 sq. 33 Schott, A./Soden, W. von (edd.): Das Gilgamesch-Epos. Stg. 1966, 94; Schmitt (wie not. 3) 1 2 - 1 7 . - 3 4 Civil, M.: The Sumerian Flood Story. In: Lambert, W. G./Millard, A. R. (edd.): AtraHasis. The Babylonian Story of the Flood. Ox. 1969, 1 3 8 - 1 4 5 ; Heidel, Α.: The Gilgamesh Epic and Old Testament Parallels. Chic./L. 2 1949, 1 0 2 - 1 0 5 ; Schmitt (wie not. 3) 4 - 1 2 . - 3S cf. Karst, J.: Eusebius Werke. 5: Die Chronik. Lpz. 1911; Schnabel, P.: Berossos und die babylon.-hellenist. Lit. Lpz./B. 1923 , 3 - 1 5 . - 36 Dindorf, W.: Georgius Syncellus et Nicephorus (Corpus patristicum 1. Corpus scriptorum historiae Byzantinae). Bonn 1829, 5 3 , 1 9 56,3. - 3 7 Galling (wie not. 3); Lohfink (wie not. 1) 61 — 69; Schmitt (wie not. 3) pass.; cf. Danielou, J.: Die hl. Heiden des A.T.s. Stg. 195 8. - 38 Schmitt (wie not. 3 ) 345. - 39 ibid., 136sq. - 4 0 Josephus Flavius, Antiquitates 4, 8 , 4 7 s q . ; Schwarzbaum, Η.: Jewish, Christian, Moslem and Falasha Legends of the Death of Aaron, the High Priest. In: Fabula 5 (1962) 1 8 5 - 2 2 7 . 41 Lohfink (wie not. 1) 6 1 - 6 9 , 73sq.; cf. ζ. B. das kabbalist. Sohar II, fol. 1 5 7 a - b . ed. E. Müller, s. 1.
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Entzauberung — Epische Gesetze
s. a., 230sq.; Schwarzbaum, H.: The Falasha Legend of the Death of Moses and Its Jewish, Moslem, and Slavic Parallels. In: Yeda-'Am 11 (1965) 5 1 - 5 8 . 42 Lactantius, De mortibus persecutorum 2; Bickermann, E.: Die röm. Kaiserapotheose. In: ARw. 27 (1929) 1 - 3 4 , hier 14. - 4 3 Schreiner, Κ.: Die Staufer in Sage, Legende und Prophetie. In: Die Zeit der Staufer. Geschichte, Kunst, Kultur 3. Stg. 1977, 2 4 9 - 2 6 2 , hier 254sq. - 44 Lohfink (wie not. 1) 7 5 - 7 9 ; Bacon, Β. W.: The Ascension in Luke and Acts. In: The Expositor 7,7 (1909) 2 5 4 - 2 6 1 . - 4 5 Lohfink (wie not. 1) 36sq.: Mühl, M.: Des Herakles Himmelfahrt. In: Rhein. Museum für Philologie 101 (1958) 1 0 6 - 1 3 4 . - 4 6 Lohfink (wie not. 1) 34 - 36. — 4 7 Bickermann (wie not. 42) 3; cf. Deubner, L.: Die Apotheose des Antoninus Pius. In: Mittigen des Kaiserlich Dt. Archäologischen Instituts, Röm. Abt. 27 (1912) 1 - 2 0 ; Pippidi, D. M.: Apotheoses imperiales et apotheose de Peregrinos. In: Studi e materiali di storia delle religioni 20 ( 1 9 4 7 - 4 8 ) 7 7 - 1 0 3 . - 4 8 Bickermann (wie not. 42) 13. - 4 9 ibid., 9; Lohfink (wie not. 1) 76. 50 Schreiner (wie not. 43) 253. 51 Lohfink (wie not. 1) 242. - 5 2 Vries, J. de: Kelt. Religion. Stg. 1961, 259; cf. Wachsler, Α.: The Celtic Concept of the Journey to the Otherworld. Diss. University of California L. A. 1972. - 5 3 cf. Locher, Ε.: Die Venedigersagen. Diss. Fribourg 192 2. - 54 cf. ζ. B. Mirus, A. E. ( P r ä s e s ) - J . Nießner (Respondens): De conventu sagarum ad sua sabbata, quae vocant, dissertatio. Wittenberg 1682. ss Jung-Stilling, J. H.: Theorie der Geister-Kunde. Nürnberg 1808, 7 8 - 8 0 . - 56 Thomas vor. Chantimpre: Miraculorum et exemplorum memorabilium sui temporis libri duo. Douai 1605, 401 sq.; cf. Daxelmüller, C./Thomsen, M. L.: Ma. Wallfahrtswesen in Dänemark. In: Jb. für Vk. N.F. 1 (1980) 159sq., 193; Olrik, H.: Danske Helgeners Levned 2. Kop. 1968, 3 1 9 - 3 2 8 . - 57 cf. Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 2 0 0 - 2 0 7 . - 58 Löwis of Menar, A. von: Finn, und estn. Märchen. MdW 1922, num. 69. - 59 Günter 1949, 67 sq. - 6 0 cf. Tubach, num. 4440; cf. Ohly, E. F.: Sage und Legende in der Kaiserchronik. Münster 1940, 2 1 2 - 2 1 4 . 61 Legenda aurea/Benz, 914sq. - 62 Müller, F.: Die Legende vom verzückten Mönch, den ein Vöglein in das Paradies leitet. Diss. Lpz. 1912; Röhrich, Erzählungen 1, 1 2 4 - 1 4 5 , 2 7 4 - 2 8 0 (mit. Lit.); Meisen, K.: Der in den Himmel entrückte Bräutigam. Entstehung, Wanderung und Wandlung einer Volkserzählung. In: Rhein. Jb. für Vk. 6 (1955) 1 1 8 - 1 7 5 ; id.: Die späteren volkstümlichen Var.n der Erzählung von dem in den Himmel entrückten Bräutigam. In: ibid. 7 (1956) 1 7 3 - 2 2 8 ; cf. ferner Braches, Η. H.: Jenseitsmotive und ihre Verritterlichung in der dt. Dichtung des HochMA.s. Assen 1961. - 6 3 Ting, N.-t.: Years of Experience in a Moment. In: Fabula 22 (1981) 1 8 3 - 2 1 3 . - 64 ζ. B. Wesselski, MMA, 179sq„ 255. - 65 Paulin, K.: Tiroler Sagen. Innsbruck/Ffm. 1972, 137sq. 66 Russack, Η. H.: Byzant. und stambul. Sagen und
Legenden vom Goldenen Horn. B. 1941, 177sq. — 67 Brune, T./Baumunk, B.: Wege der Popularisierung. In: Zeit der Staufer (wie not. 43) 3 2 7 - 3 3 5 ; Erben, W.: Untersberg-Studien. Ein Beitr. zur Geschichte der dt. Kaisersage. In: Mittigen der Ges. für Salzburger Landeskunde 54 (1914) 1 - 9 6 ; Graus, F.: Lebendige Vergangenheit. Uberlieferung im MA. und in den Vorstellungen vom MA. Köln/ Wien 1975; Kampers, F.: Die dt. Kaiseridee in Prophetie und Sage. Mü. 1896; Lemcke, P.: Der dt. Kaisertraum und der Kyffhäuser. Magdeburg 1887; Schreiner (wie not. 43); Schultheiss, F. G.: Die dt. Volkssage vom Fortleben und der Wiederkehr Kaiser Friedrichs II. B. 1911; Timm, Α.: Der Kyffhäuser im dt. Geschichtsbild. Göttingen 1961; id.: Barbarossasage in Kaiserslautern und am Kyffhäuser. Bonn 1974; Petzoldt, L.: Sage als aktualisierter Mythos. In: Wirkendes Wort 27 (1977) 1 - 9 . - 68 Schreiner (wie not. 43) 2 4 9 - 2 5 1 . 69 ibid., 254. - 70 ibid., 2 5 9 - 2 6 2 . Würzburg
Christoph Daxelmüller
E n t z a u b e r u n g —> E r l ö s u n g Enzyklopädische tionsliteratur Epigramm
Literatur
—>
Kompila-
Spruch
E p i m y t h i o n —> F a b e l , —> S p r i c h w o r t
E p i s c h e G e s e t z e . D e r Begriff e p i s k e g r u n d love ( e p i s c h e G r u n d g e s e t z e ) w u r d e v o n M . —> M o e in e i n e r e r s t m a l s 1 8 8 9 g e h a l t e n e n u n d 1 9 1 4 - 1 7 p o s t u m p u b l . V o r l e s u n g s r e i h e gep r ä g t 1 . S e i n e I d e e n w u r d e n in W e r k e n A . —» O l r i k s , A . —* A a r n e s , K. —» K r o h n s u n d a n d e r e r A n h ä n g e r d e r —> g e o g r . - h i s t . M e t h o d e a u f gegriffen. Olrik faßte allerdings M o e s G e d a n k e n als e i n e n Teil d e r B e d i n g u n g e n a u f , d i e ,das L e b e n d e r S a g e ' b e s t i m m e n , u n d b e n u t z t e den Terminus E. G. für einen anderen Zweck. D e r B e g r i f f h a t d a h e r zwei v e r s c h i e d e n e B e d e u t u n g e n e r h a l t e n , d i e im f o l g e n d e n g e t r e n n t betrachtet werden. M o e g e b r a u c h t d e n Begriff , E p i k ' f ü r t r a d i tionelle Erzählungen sämtlicher G a t t u n g e n , d a e r d e r A n s i c h t ist, d a ß sie alle d e n s e l b e n —» Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Die epische T r a d i t i o n k a n n hist, in v e r s c h i e d e n e E n t w i c k lungsstufen gegliedert werden: Die ,fließende' E p i k besitzt k e i n e u n v e r ä n d e r l i c h e n f e s t e n F o r m e n ; die Sänger o d e r Erzähler schaffen
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Epische Gesetze
ihre Geschichten oder Lieder aus der Inspiration des Augenblicks und bedienen sich bei ihren Improvisationen epischer —» Stereotypen (diese Vorstellung kommt der späteren —» Formeltheorie von M. Parry und Α. B. Lord nahe); das Kondensations- oder Kristallisationsstadium der epischen Tradition ist dadurch gekennzeichnet, daß die Lieder und Erzählungen schon in stärkerem Maße fixiert sind; im Stadium der ,organischen' Epik schließlich geht die mündlich überlieferte Kunst über ihre Grenzen hinaus und wird zur Lit. (die Epen Homers, Reineke Fuchs etc.). Die Kräfte, von denen diese Entwicklung gelenkt wird, sind von zweierlei Art, d. h. sie wirken in Bezug auf die äußere bzw. auf die innere Form. Moe befaßt sich nicht wie später Olrik mit der äußeren Form, sondern mit den epischen Grundgesetzen, die die innere Entwicklung bestimmen: „I. Allgemeinpsychologische Faktoren. 1. Entwicklung der Motive der einzelnen epischen Stoffe = p l a s t i s c h e r A u s g e s t a l t u n g s t r i e b u n d Fortsetzungstrieb. 2. Entwicklung unter dem Einfluß anderer Stoffe und Sagenkreise = V e r s c h m e l z u n g s t r i e b , A n a l o g i s i e r u n g s t r i e b . Gegenreihe zu 1 und 2: = Z u s a m m e n z i e h u n g s t r i e b und A u f l ö s u n g s trieb. II. Historische Faktoren. 3. Entwicklung unter dem Einfluß geänderten Kulturstandpunkts und wechselnder historischer Bedingungen. α) im äußeren (ζ. B. Szenerie, Personal, Geräte) ß) mit Hinblick auf den Kern, / ) Rationalisierung 2) travestierende und parodierende Umgestaltung. = A n p a s s u n g s t r i e b und U m s c h m e l z u n g s trieb III. Individualpsychologische Faktoren. 4. Persönliche Faktoren bei den Erzählern und Sängern (ζ. B. Gedächtnis, poetische Begabung, Vortragsart usw.)." 2
Olrik behandelte dasselbe Thema in Nogle grundsatninger for sagnforskning, einem im Jahre 1905 (also zu einer Zeit, in der er in ständiger Verbindung mit Moe, Aarne und Krohn stand) begonnenen Vorlesungsmanuskript 3 . Sein Ausgangspunkt ist ein Komplex von ,Gesetzen', die von S. —> Grundtvig erstmals 1863 in drei Vorlesungen 4 angedeutet und von Olrik 1903 in seiner Studie Danmarks Heltedigtning5 zusammengefaßt worden waren. Grundtvigs Beobachtungen zu-
60
folge werden Aufbau und Inhalt von Heldensagen mehr von poetischen als von hist. Aspekten bestimmt. Dies bedeutet — und hierin liegt der wesentliche Punkt für Olrik —, daß diese ,Gesetze' als Kriterium benützt werden können, um in der alten Lit. Sagenstoffe und hist. Material voneinander zu trennen. Grundtvig ist der Auffassung, daß die Überlieferungen der alten skand. Heldensagen nicht aus der Blütezeit stammen, sondern vielmehr bereits Verfallserscheinungen aufweisen. Im Mittelpunkt einer voll entwickelten Heldensage stehe die Geschichte eines Heldengeschlechts, während spätere Stadien durch Fragmentierung gekennzeichnet seien, wie ζ. B. dadurch, daß zweitrangige Figuren aus dem Gefolge des Königs heroische Größe erlangen. Dieser Standpunkt steht in grundsätzlichem Widerspruch zu dem Moes, stimmt aber mit denen Aarnes und Krohns überein. Olrik versteht die Sage (dän. sagn, bei ihm das Äquivalent zu Moes Epik, d. h. jede mündliche Erzählform) als lebenden Organismus und bemüht sich daher um die Untersuchung der für ihr Fortleben günstigen und ungünstigen Bedingungen. In Nogle grunäsatninger
sieht er die Volks-
erzählungen als Rivalen (§ 85) und hebt hervor, daß diejenigen unter ihnen die besten U b e r l e b e n s c h a n cen hätten, die gut erzählt und früh gehört worden seien (äußere Bedingungen) und Gefühl und Phantasie am stärksten ansprächen (innere Bedingungen). Der Konkurrenzkampf führe nach und nach zu einer Auslese (§ 86) und damit zu einer stetigen Erhöhung des Niveaus der ,Sagenwelt'. Dies zeige sich daran, daß Vergleiche zwischen Erzählungen von Stämmen niedrigerer Kulturstufe mit denen höherstehender Stämme ungünstig für die ersteren ausfielen und daß in den Erzählungen der primitiveren' Stämme häufig Anleihen bei denen der höherentwickelten gemacht würden (§ 87). Den besten Schutz für das ,Leben der Sagen' biete der Ort ihres Ursprungs, wo sie von den bes., dort heimischen natürlichen und kulturellen Gegebenheiten getragen würden (§ 88); Veränderungen in der Kultur oder Sprache und die Migration ihrer Träger hingegen stellten eine Gefährdung für sie dar.
Olriks grundsätzliche Auffassung entspricht weder der Moes (organisches Wachstum) noch der Grundtvigs (Devolution), sondern er ist ganz offensichtlich von darwinistischem Denken beeinflußt. Ein Umstand, der von Moe kaum beachtet und von Olrik nur beiläufig erwähnt wird
61
62
Epische G e s e t z e
( § 95), nimmt im Kapitel Die in den Märchen
Veränderungen
von A a r n e s Leitfaden
der finn. Runen-Tradition. Dies bedeutet, daß
der ver-
viele seiner Beobachtungen eng mit Faktoren
eine zentrale
verbunden sind, die in speziellem Zusammen-
Stellung ein: der Faktor der Vergeßlichkeit.
hang mit rhythmischen Formen stehen. W i e
Dies ist zweifellos auf seinen Revolutionären'
A a r n e — und Grundtvig vor ihm — vertritt
gleichenden
Märchenforschung
spricht
Krohn einen fast ausschließlich Revolutionä-
ebenfalls von ,Gesetzen', die er mit denen des
ren' Standpunkt und gesteht der Kreativität
sprachlichen Lebens vergleicht. E r gibt fol-
des einzelnen Übermittlers mündlicher Dich-
gende an:
tung sehr wenig Raum zu: „ Z u m grössten T e i l
Standpunkt
zurückzuführen.
Aarne
sind es jedoch d i e m e c h a n i s c h e n Gesetze des „1.
D a s V e r g e s s e n eines Z u g e s .
Denkens und der Phantasie, die in dem bunten
2. E r w e i t e r u n g durch ursprünglich nicht
zugehö-
rige S t o f f e , auch durch V e r e i n i g u n g verschiedener M ä r c h e n , f e r n e r durch V e r v i e l f ä l t i g u n g der
Per-
sonen [. . .]. 3.
Wechsel einer jeden mündlichen Ü b e r l i e f e rung
walten
[. . . ] " 1 2 .
Diese
mechanischen
Gesetze können große Formenvielfalt hervorbringen, und Krohn hat in früheren Studien
Analogiebildungen.
4. Spezialisierung einer allgemeinen
Bezeichnung
viel A r b e i t darauf verwandt, den Prozessen
o d e r umgekehrt.
der Diversifikation auf die Spur zu kommen.
5. V e r b i n d u n g mit f r e m d e n S t o f f e n durch V e r t a u -
Er schrieb dem V o l k weniger
schung.
Kreativität zu als einige frühere
6. Vermenschlichung der T i e r a b e n t e u e r und u m g e kehrt. 7. Dämonisierung
der T i e r a b e n t e u e r
und
umge-
Forschung [. . .] [ist], dass ich den Bewahrern der
8. U m w a n d l u n g in die I c h f o r m .
Fähigkeit zugetraut h a b e " 1 3 .
Zuges.
Forscher:
„ e i n e der gründlichsten Verirrungen meiner
kehrt. 9. Umgestaltung in F o l g e der V e r ä n d e r u n g eines
unabhängige
Volksüberlieferungen
eine
allzugrosse
Im großen und ganzen ist seine Haltung den
10. A k k l i m a t i s i e r u n g bei W a n d e r u n g .
Übermittlern von Erzählgut gegenüber cha-
11.
rakteristisch für die A n h ä n g e r der geogr.-hist.
Modernisierung"6.
Schule. Sie glaubten, die Folklore führe eine Diese Gesetze, wie überhaupt allg. Betrach-
A r t Pseudoleben für sich, unabhängig
tungen zur Methodenlehre in den Forschungen der finn. Schule, lassen sich den Gesetzen
schaftler wie W . —» Anderson führten sogar
M o e s zuordnen, sind jedoch nicht so universal.
praktische Experimente (—»
Am
Erzählforschung) durch, um die Geltung der
auffälligsten ist A a r n e s
Haltung
zum
der
Traditionsträger.
vom
Bewußtsein
Wissen-
Experimentelle
Gesetzmäßigkeit, von der man glaubte, sie be-
Überlieferungsträger:
stimme die Überlieferung des Volksguts, nach„ Z w a r setzt A a r n e an erste Stelle das Vergessen,
zuweisen 1 4 ; jedoch wurde in den 20er Jahren,
betont kräftig seine Bedeutung für die A b w e i c h u n -
als die Vorherrschaft der Schule ihren H ö h e -
gen und verankert also das geschichtliche L e b e n in
punkt erreicht hatte, von Forschern wie M . —>
der S e e l e des einzelnen Erzählers. A b e r bei
der
Ausgestaltung der Erzählung durch ihn behandelt er fast lauter analogisierende, assoziative
Umbildun-
A z a d o v s k i j , C. W . von —» Sydow u. a. erstmals grundlegende Kritik an dieser Einstellung zu
gen, so daß die künstlerische Leistung als sehr gering
den Traditionsträgern laut. Es zeigte sich, daß
erscheint" 7 .
die
die
Folkloretradierung
lenkenden
epi-
schen ,Gesetze' von den Anhängern der finn. Krohn widmete seine Ausführungen über Die
folkloristische
dieser Zeit
Arbeitsmethode8
bereits verstorbenen
den
zu
Freunden
Schule viel zu mechanistisch begriffen worden waren (—> Conduit-Theorie). Bereits in den 90er Jahren des letzten Jh.s
M o e , Olrik und A a r n e — zu Recht, da er
begann
ihre Beobachtungen über die ,Gesetze' der
Gruppe von Gesetzen, die den —» Stil münd-
Überlieferung mündlichen Erzählguts in den
licher
drei
keln 15 . Sie wurden erstmals 1906 in Semina-
Kapiteln
Einfluss
Lust zu erweitern10
der
Vergesslichkeit9,
und Gesetze der
Olrik
seine
Erzählungen
Konzeption
einer
bestimmen, zu
bes.
entwik-
Umgestal-
ren an der Univ. Kopenhagen erörtert. Einer
miteinander verknüpfte und ergänzte.
von Olriks Studenten, G . Schütte 16 , formulier-
Den größten T e i l seiner Beispiele entnahm er
te im Zusammenhang mit diesen Seminaren
tungu
63
Epische Gesetze
die G e s e t z e des —» Achtergewichts und —> Toppgewichts. Olrik veröffentlichte seine Idee der E. G. 1907—09 in einer R e i h e von Artikeln 1 7 und überarbeitete sein Vorlesungs-Ms. mehrmals 1 8 . D i e letzte Bearb. ( 1 9 1 6 ) ergab die in den Νogle grundsatninger for sagnforskning publ. Fassung, die in folgenden 16 Punkten zusammengefaßt werden kann 1 9 : (1) Das Gesetz der Ü b e r s i c h t l i c h k e i t (§ 58). Im Gegensatz zum wirklichen Leben ist in der Volkserzählung (von Olrik immer als ,Sage' bezeichnet) die Anzahl der handelnden Personen beschränkt, und das Schicksal wird von einer kleineren Zahl von Faktoren bestimmt; das gleichzeitige Zusammenwirken mehrerer Faktoren wird von der Volkserzählung als Nacheinander dargestellt. (2) Das Gesetz der s z e n i s c h e n Z w e i h e i t (§ 59). Im allg. läßt die Volkserzählung nicht mehr als zwei handelnde Figuren gleichzeitig auf dem Schauplatz zu. (3) Das Gesetz der S c h e m a t i s i e r u n g (§ 60). Die Beschreibung von Personen und Ereignissen beschränkt sich auf die zur Entwicklung der Erzählung erforderlichen Züge. (4) Das Gesetz der W i e d e r h o l u n g (§ 61 sq.), eines der Hauptmerkmale mündlicher Dichtung. Die Volkserzählung erlaubt keine kunstvoll-detaillierte Schilderung und muß daher, will sie etwas hervorheben, zum Mittel der Wiederholung greifen. Diese kann schlicht, ohne Entwicklung, oder steigernd sein; eine Sonderform könnte als GegensatzSteigerung bezeichnet werden (zwei Versuche mißlingen, der dritte glückt). (5) Das Gesetz der H a n d l u n g s g e b u n d e n h e i t (§ 63). Eigenschaften von Personen und Dingen werden in der Volkserzählung ausschließlich durch Handlungsabläufe zum Ausdruck gebracht. (6) Die Volkspoesie gipfelt in H a u p t s i t u a t i o n e n p l a s t i s c h e r A r t (§ 64); sie ist von lebhafter Bildkraft, die bevorzugt starke Kontraste in statischen Bildern zeigt. (7) L o g i k d e r S a g e (§ 65). Die ,Sage' konzentriert sich auf die zentralen Kräfte der Handlung, von denen die Personen geleitet werden, und entwickelt diese logisch, nimmt aber dabei kaum Rücksicht auf im wirklichen Leben geltende Wahrscheinlichkeiten 20 . (8) Das Gesetz der E i n h e i t d e r H a n d l u n g (§ 66sq.). Die einfachere Form dieses Gesetzes ist die e p i s c h e E i n h e i t : Jeder Zug wirkt auf die Herbeiführung weiterer Ereignisse hin, die der unter dem Einfluß der in der Volkserzählung geltenden Folgerichtigkeit stehende Hörer von Anfang an erwartet 21 . Eine komplexere Form ist die i d e a l e E i n h e i t , bei der mehrere epische Einheiten durch stufenweise Entfaltung einer gemeinsamen epischen Idee verbunden werden.
64
(9) Das Gesetz der E i n s t r ä n g i g k e i t (§ 68). Die Volksdichtung bevorzugt die aus einem einzigen Erzählfaden bestehende Handlung; komplexere Sagas, Balladen und Epen können in kürzeren Abschnitten von diesem Gesetz abweichen 22 . (10) Die Konzentration um eine Hauptperson (§ 69sq.), das M i t t e l p u n k t g e s e t z . Die Volkserzählung konzentriert sich immer auf das Schicksal einer einzigen Person; bei zwei Hauptfiguren ist eine davon die formale Hauptperson, selbst wenn die Aufmerksamkeit sich auf die andere richtet. Handelt es sich dabei um einen Mann und eine Frau, so ist immer der Mann formale Hauptperson. (11) Das Gesetz des G e g e n s a t z e s (§ 71sq.). Zwei zusammen erscheinende Personen bilden gewöhnlich einen Gegensatz zueinander. (Eine gewisse Vorwegnahme von Levi-Strauss' Strukturanalyse des Mythos 23 ). Dieses Gesetz wirkt sich oft auch auf die Darstellung von Nebenfiguren aus. (12) Das Gesetz der Z w i l l i n g e (§ 73). Treten zwei Personen in derselben Rolle auf, so sind sie schwächer und von geringerer Bedeutung als eine einzige. Wesen untergeordneten Ranges ζ. B. erscheinen oft als ,Zwillinge'. Durch ihre enge Verbindung unterliegen diese nicht dem Gesetz des Gegensatzes, das nur dann gilt, wenn die ,Zwillinge' die Hauptpersonen sind. (13) Das Gesetz der D r e i z a h l (§ 74). In der Volkserzählung herrschen weithin Dreierstrukturen vor, ζ. B. bei Personengruppen, Handlungsepisoden sowie Aufzählungen. (14) Das Gesetz des A c h t e r g e w i c h t s (§ 75) (Nennung der erzählerisch wichtigsten Person an letzter Stelle). Der Gegensatz, das Gesetz des Toppgewichts (Nennung der vornehmsten Person an erster Stelle), ist nicht eigentlich Episches Gesetz; es findet Anwendung bei Aufzählungen von Göttern, Vorvätern etc., betrifft aber nicht die Strukturierung von Ereignissen 24 . (15) Das E i n g a n g s g e s e t z (§ 76). Die Volkserzählung bewegt sich (a) vom Einfachen hin zum Komplexeren, (b) vom Ruhezustand zur Handlung, (c) vom Gewöhnlichen zum Ungewöhnlichen. (16) Das Gesetz des A b s c h l u s s e s (§ 77). Die Volkserzählung bricht nach Abschluß der Hauptereignisse nicht plötzlich ab, sondern berichtet von dem weiteren Schicksal der Personen oder erwähnt den Zuhörern bekannte Auswirkungen (in der Landschaft verbliebene Spuren, Denkmäler, Gespenster).
D i e meisten dieser Gesetze sind miteinander auf vielfältige Weise verknüpft, was von Olrik zwar angedeutet, aber nicht weiter ausgeführt wird. D a s Gesetz der Einsträngigkeit zum Beispiel verbindet sich oft mit den G e setzen der Übersichtlichkeit, Schematisierung, Logik, epischen Einheit und Konzentration
65
Epische Gesetze
um eine Hauptperson. Das Gesetz der Dreizahl verbindet sich, je nachdem in welcher Art es angewandt wird, mit verschiedenen anderen Gesetzen. Bei einer Folge von E r e i g n i s sen kann es als einfache Wiederholung, als allmähliche Steigerung oder als Wiederholung, auf die ein Wechsel folgt, auftreten. Hier liegt eine Verbindung mit dem Gesetz der Wiederholung vor, das auf eine bestimmte Zahl 2 5 festgelegt ist, im zweiten Fall zusätzlich noch mit dem Gesetz der dramatischen Spannung (von Olrik nicht als unabhängiges Gesetz definiert) 2 6 und im dritten Fall mit dem Gesetz des Gegensatzes und dem Gesetz des Achtergewichts. Dreierstrukturen bei P e r s o n e n sind ähnlich differenziert. Unterscheidet sich die dritte Person von den ersten beiden, so verbindet sich das Gesetz der Dreizahl mit den Gesetzen des Achtergewichts, der Zwillinge und des Gegensatzes. An diesen Verknüpfungen zeigt sich die Kohärenz des Systems. Olrik wollte damit alle Kategorien oralen Erzählguts erfassen; sein System ist jedoch insbesondere dem Märchen angemessen, besser als anderen mündl. Gattungen. Es fand begeisterte Aufnahme und gab den Anstoß zu verschiedenen Studien. A. Lunding ζ. B. stellte in ihrer Untersuchung über Indianererzählungen 27 fest, daß in ihnen an die Stelle des Gesetzes der Dreizahl ein Vierzahlgesetz tritt; die Verwendung von Gegensätzen ist zwar gebräuchlich, aber in der Regel sind Indianererzählungen realistischer als die der Europäer und nicht so schematisch; Wiederholung, Achtergewicht etc. treten gelegentlich als künstlerische Effekte auf, aber nicht als Gesetze nach der Auffassung Olriks. H. —» Gunkel war mit der Vorbereitung der dritten Ausgabe von Genesis übers, und erklärt28 beschäftigt, als ihm Olriks Studie bekannt wurde, und drückte in einem Schreiben an ihn seine Überraschung über die Übereinstimmung ihrer Ideen aus 29 . Auch er benützte das Vorkommen von aus der mündlichen Überlieferung bekannten Stilmerkmalen als Mittel zur Erfassung oralen Materials in literar. Quellen des Altertums: „Besonders aber ist der ganze Stil der Erzählungen [der Genesis] nur unter der Voraussetzung ihrer mündlichen Überlieferung zu verstehen" 3 0 . Das Kapitel Kunstform der Sagen der Genesis31 ist der Ausführung dieser These gewidmet, und 3
E n z y k l o p ä d i e d e s M ä r c h e n s IV
66
Olriks Gesetze werden darin durchgehend ohne jeden Vorbehalt zitiert. W. Pohlmanns Diss. De arte qva fabellae Herodoteae narratae sint32 liefert ein weiteres Beispiel für dieses Verfahren. Er wies nach, daß einige Erzählungen bei Herodot durch die von Olrik beobachteten Gesetze bestimmt werden und bescheinigt speziell das Vorkommen der Gesetze der Schematisierung und der Hauptsituationen plastischer Art. R. T. —»• Christiansen zeigte 1915 in einer Studie über AaTh 332 und AaTh 6 1 3 3 3 , daß das Dreizahlgesetz in zweierlei Form auftritt: Es kann Teil der Erzählstruktur sein, und in diesem Fall wird eine Abweichung von der traditionellen Form deutlich als unbefriedigend empfunden. Und es kann akzidentell vorkommen — beinahe jeder Bestandteil einer Erzählung kann zu seiner Hervorhebung verdreifacht werden. K. Krohn widmete in seiner Arbeitsmethode Olriks E. G. ein volles Kapitel 34 . Er versteht sie in erster Linie als Kräfte, die eine Neuordnung und Umstrukturierung der —» Urformen bewirken, und somit als Faktoren, die berücksichtigt werden müssen, will man verstehen, wie Erzählungen zu ihrer heutigen Gestalt gelangt sind. Aus diesem Grunde verbindet er seine Erörterung der E. G. mit einer Diskussion von Grundsätzen zur Rekonstruktion von Urformen 3 5 ; er befaßt sich dabei bes. mit der natürlichen' Form, die manchmal durch die Einwirkung der E. G. entstellt ist. In seinem HDM-Artikel über die E. G. ging W.—» Berendsohn 3 6 bes. ausführlich auf Olriks Konzeption ein. Er bemerkte zu Recht, daß die E. G. in den unterschiedlichen Gattungen nicht in gleicher Weise und gleich starkem Grade auftreten. Seine Idee, die Gesetze mit verschiedenen Entwicklungsstufen oder mit Eigenheiten der menschlichen Psyche in Zusammenhang zu bringen, wurde von ihm nicht im einzelnen erläutert und auch nicht von anderen aufgegriffen; eine Verbindung der E. G. mit modernen Untersuchungen zur —> Formelhaftigkeit würde jedoch die Richtigkeit seiner Intuition möglicherweise bestätigen. Die letzte bedeutende Untersuchung, die sich auf Olriks Grundsätze stützt, scheint E. Holtveds Studie über Eskimosagen zu sein 37 . Er weist in seiner eingehenden Analyse von Sagen aus dem gesamten Eskimobereich nach,
67
Epische Gesetze
daß sie nach Regeln strukturiert sind, die im wesentlichen mit den aus der europ. Folklore bekannten übereinstimmen. Bei Eskimo-Erzählern nehmen Schilderungen teilweise mehr R a u m ein als bei den europ., und die Gesetze der Einsträngigkeit und der epischen Einheit werden von ihnen nicht immer strikt eingehalten, aber dies sind nur Abweichungen gering-' fügiger Art. Nach Holtved scheinen die E. G. weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein. Indessen hat A . D u n d e s ' Übersetzung sie der engl.sprachigen Welt bekanntgemacht, und als zumindest ein Resultat kann man W. O. Hendricks' Versuch ( 1 9 7 3 ) 3 8 betrachten, den E. G. wieder zu ihrem früheren Prestige zu verhelfen. H e n dricks' Argumentationsbasis ist jedoch der Olriks genau entgegengesetzt. Während Olrik versuchte, den Nachweis zu erbringen, daß in der mündlichen Erzählkunst strenge, von den in der Lit. geltenden grundsätzlich verschiedene G e s e t z e herrschen, bemüht sich H e n dricks zu zeigen, daß die Gesetzmäßigkeiten der Lit. und des oralen Erzählguts im wesentlichen gleichartig sind. Er demonstriert dies durch A n w e n d u n g der E. G. auf ein literar. Werk (W. Faulkners A Rose for Emily), was ihm jedoch insofern mißlingt, als er den U n terschied zwischen der Subtilität der literar. Form im Gegensatz zur offensichtlichen Schematisierung der mündlichen nicht erfaßt. Es ist zwar vermutlich richtig, daß orale und literar. Formen keine absoluten Gegensätze darstellen und daß die von Olrik beobachteten E. G. auch literar. Erzählformen beeinflussen, doch sollten solche Ähnlichkeiten nicht dazu verleiten, die wirklichen Verschiedenheiten zu unterschätzen. In dieser Hinsicht hat Olriks Standpunkt im wesentlichen immer noch G e l tung, wenn auch seine Betrachtungsweise wenig dazu beigetragen hat, die Gründe für die Gültigkeit der E. G. zu erhellen. Dazu müssen moderne Untersuchungen zur Struktur und zur Formelhaftigkeit herangezogen werden, wie überhaupt epische Gesetzmäßigkeiten neuerdings unter anderen Termini (cf. V. Ja. Propps Strukturgesetze 3 9 oder M. Lüthis Stilt e n d e n z e n 4 0 ) behandelt werden, die aber wiederum ohne Olriks Vorarbeiten kaum denkbar sind. —» Achtergewicht, —» Auflösungstrieb, —> Drei, Dreizahl, —> Dreigliedrigkeit, —> Ein-
68
strängigkeit, —» Logik, —> Stil, —> Struktur, —» Toppgewicht, —> Verschmelzungstrieb 'Moe, M.: Episke grundlove. In: Edda 2 (1914) 1 - 1 6 , 2 3 3 - 2 4 9 ; 4 (1915) 8 5 - 1 2 6 ; 7 (1917) 7 2 - 8 8 . - 2 Art. E. G. In: HDM 1, 5 6 6 - 5 7 2 , hier 566 (W. Berendsohn). - 3 Olrik, Α.: Nogle grundsztninger for sagnforskning. ed. H. Ellekilde. Kop. 1921, 8 3 - 9 4 . - 4 Grundtvig, S.: Udsigt over den nordiske Oldtids heroiske Digtning. Kop. 1867. 5 Olrik, Α.: DanmarksHeltedigtning 1. Kop. 1 9 0 3 . 6 HDM 1, 567; Aarne, Leitfaden, 2 3 - 3 9 . - 7 HDM 1, 568. - 8 Krohn, K.: Die folkloristische Arbeitsmethode. Oslo 1926. - 9 cf. HDM 1,566 (unter 1,2) und 567 (unter 1); Olrik (wie not. 3) 95. - 10 cf. H D M 1, 566 (unter I) und 567 (unter 2, 5); Olrik (wie not. 3) 92, 101, 106. 11 cf. HDM 1, 566 (unter I, 2 und II) und 567 (unter 3 - 4 , 6 - 1 1 ) ; Olrik (wie not. 3) 9 7 - 1 0 0 , 103. 12 Krohn (wie not. 8) 91. - 13 ibid., 89. - 14 Ander* son, W.: Ein volkskundliches Experiment (FFC 141). Hels. 1951. - 15 v. dazu Holbek, B.: Axel Olrik. In: Arv 2 5 - 2 6 ( 1 9 6 9 - 7 0 ) 2 5 9 - 2 9 6 , hier 290. - 16 cf. Schütte, G.: Oldsagn om Godtjod. Kop. 1907 zu Olrik, A.: Episke love i Gote-ottens oldsagn. In: DSt. (1907) 1 9 3 - 2 0 1 (Erweiterung und Verdeutlichung von Schuttes Begriffen Achter- und Toppgewicht). - 17 Olrik, Α.: Episke love i folkedigtningen. In: DSt. (1908) 6 9 - 8 9 ; id.: Epische Grundgesetze der Volksdichtung. In: ZfdA. 51, N. F. 39 (1909) 1 - 1 2 (engl. Übers, in: Dundes, Α.: The Study of Folklore. Englewood Cliffs, Ν. J. 1965, 129-141). - 18 ν. dazu Η. Ellekildes Kommentar in Olrik (wie not. 3) bes. 147, 1 4 8 - 1 5 0 , 161; diese Version der Olrikschen Theorie erschien in einer reich annotierten ital. Übers.: von M. Viback: La costruzione del racconto: le leggi epiche. In: Uomo & Cultura 1 1 - 1 2 (1973) 1 9 7 - 2 3 2 . - 19 Olrik (wie· not. 16): 18 Gesetze; Olriks ungedr. Berliner Kongreß-Vortrag (1909) enthält 16 bzw. 17, in seiner bearb. Fassung (Olrik 1909 [wie not. 17] 14 Gesetze; id. (wie not. 3): 20 Paragraphen. - 20 Olrik bezieht sich hier auf Moes Theorie einer antiken .mythischen Denkweise'; cf. auch Levi-Strauss, C.: La Pensee sauvage. P. 1962. 21
cf. auch Propp, V. Ja.: Morfologija skazki. Len. 19 2 8. - 22 cf. Lüthi, Europ. Volksmärchen (Kap. Isolation und Allverbundenheit). - 23 cf. Dundes (wie not. 17) 135. - 24 cf. dazu Chambers, R. W.: Widsith. Cambridge 1912, 255 sq. (Kritik) und Olrik (wie not. 3) 76sq. (Erwiderung); Christensen, Α.: Trebredre- og Tobrodre-Stamsagn. In: DSt. 1916) 4 5 - 8 6 (Diskussion des Gesetzes in bezug auf Mythen). - 25 zu anderen Zahlen als drei: Olrik (wie not. 3) 80sq.; Krohn (wie not. 8) 78, 82, 102. - 2fl cf. jedoch Ellekildes Anmerkungen zu Olrik (wie not. 3) 149. - 27 Lunding, Α.: Indiansk sagndigtning og de episke love. In: DSt. (190 8) 1 7 5 - 1 8 8 . - 2 8 G u n kel, H.: Genesis übers, und erklärt. Göttingen 1910. - 29 Zitiert in den Bemerkungen Ellekildes zu Olrik (wie not. 3) 161. - 30 Gunkel (wie not. 28) 9. -
69
Episierung -
31 ibid., X X V I I - L V I . - 3 2 Pohlmann, W.: D e arte qva fabellae Herodoteae narratae sint. Göttingen 1912. - 3 3 Christiansen, R. T.: N o g l e iagttagelser over et par ,episke love' indenfor to eventyrgrupper. In: DSt. ( 1 9 1 5 ) 7 1 - 8 9 . - 3 4 Krohn (wie not. 8) 1 0 0 - 1 1 0 . - 3 5 ibid., 1 0 7 - 1 1 0 . - 3 6 cf. not. 2. 37 Holtved, E.: D e eskimoiske sagns opbygning, belyst ved Axel Olriks episke love. In: DSt. ( 1 9 4 3 ) 2 0 - 6 1 . - 38 Hendricks, W. O.: Essays on Semiolinguistics and Verbal Art. The Hague/P. 1973, 1 0 5 - 1 2 4 . - 3 9 cf. Propp, 234. - 4 0 Lüthi, Ästhetik, 53-90.
Fakse
70
demselben Autor — recht schwankend ist: Er kann einerseits mehr die in einen Roman eingelegte, entweder ganz unabhängige oder die Vorgeschichte nachtragende Novelle oder Erzählung 8 , andererseits mehr die kleine Nebenhandlung innerhalb der Haupthandlung bezeichnen, wobei dann unter der Auffassung von der Einheit des Kunstwerks die funktionale Notwendigkeit der E.n gefordert wird 9 . Ähnlich unkonturiert gebraucht die neuere Lit.wiss. den Begriff 10 .
Bengt Holbek
Episierung —> Epos
Episode (im 17.—18. Jh. gelegentlich Episodium oder Episodie 1 ), griech. epeisodion (Einschiebsel). 1. Der Terminus E. wird in Aristoteles' Poetik in zweifachem Sinn verwendet 2 : (a) quantitativ und nur auf die Tragödie bezogen für die zwischen die Chorgesänge eingeschobene, hist, spätere Dialogszene der Schauspieler 3 ; (b) qualitativ und bezogen sowohl auf Tragödie wie Epos für die konkreten — eigentümlichen und organisch verknüpften — Szenen, in die der Dichter die allg. Skizze der zugrundegelegten Fabel gliedernd ausarbeiten muß 4 . Daneben verwendet Aristoteles die adjektivische Form des Terminus im negativen Sinn: (c) für Zusammenhanglosigkeit der Teile: „Ich nenne einen episodischen Mythos [= Fabel] einen solchen, in welchem die Abfolge der einzelnen Episoden [in der Bedeutung b] ohne Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit erfolgt" 5 . 2. Die Bedeutung von E. verschiebt sich in der nacharistotelischen Dramen- und Epentheorie sowie in der Aristoteles-Auslegung 6 . E. steht nunmehr meistens für eine unwesentliche hinzugefügte Szene oder Handlung oder Beschreibung und ist kontrastiv bezogen auf eine Haupthandlung. Eine E. stellt eine Digression dar. Der Terminus in diesem Sinn spielt eine Rolle bei der Auseinandersetzung um die klassizistische Lit.doktrin im 17. Jh. 7 Ferner wird er in der sich im 17. und 18. Jh. konstituierenden Romantheorie verwandt, wobei sein Gebrauch — selbst bei ein und 3'
Episode
3. Mit der wiss. Bemühung um nicht-klassizistische sowie volkstümliche Erzählformen erhält der Begriff E. — im Sinne von in sich relativ abgeschlossener Handlung — seit dem 19. Jh. eine weitere Verwendungsweise. Es wird gegenüber Aristoteles positiv akzeptiert, daß es Erzählwerke gibt, deren gesamte Handlung aus derartigen E.n besteht. Ein Genre, für dessen Beschreibung der Begriff in dieser Verwendungsweise fruchtbar wird, ist der —» Schelmenroman 11 . Für den Ritterroman hat bereits Jean Paul die Notwendigkeit einer Umstrukturierung des E.nbegriffs erkannt: „Die Episode ist im epischen Roman kaum Episode, ζ. B. im Don Quixote, da er das Leben episodisch nimmt" 1 2 . Vor allem aber Volkserzählungen werden nun als narrative Syntagmen von E.n aufgefaßt. Eine E. setzt sich - nach K. —» Krohn 1 3 — aus den kleineren ,Momenten' oder ,Motiven' zusammen und bildet ihrerseits im Verein mit anderen E.n ein gesamtes Märchen (Beispiel: die —» Magische Flucht innerhalb von AaTh 313). E.n können auch „als Gebilde für sich auftreten" und heißen dann —> Abenteuer (Krohn). Auf dieser terminologischen Grundlage schlägt C. W. von —> Sydow eine Kategorisierung der erzählenden Volksliteratur nach ,einepisodisch' und ,mehrepisodisch' vor 14 . Nicht selten wird freilich E. auch synonym mit —» Motiv gebraucht 15 , wobei allerdings nach M. Lüthi „der Terminus Episode [. . .] im Verhältnis zu ,Motiv' weder einen Ober- noch einen Unterbegriff [bezeichnet], die Episode ist mitunter nur Teil, nur ein Zug eines übergeordneten Motivs, anderseits aber kann sie mehrere Motive und erst recht zahlreiche Details (Züge) in sich bergen" 1 6 . Mit dem Terminus E. gebildete Gattungstermini sind: E.eventyr, ein in Dänemark und Norwegen verwendeter Be-
Episode
71
griff zur Bezeichnung von Märchen, die lose Kompositionen von Schwankerzählungen (aus d e m Bereich von A a T h 1 0 0 0 - 1 1 9 9 ) darstellen 1 7 , sowie E.nlegende, ein von T. Wolpers vorgeschlagener Begriff, bei dem E. eher wieder im ursprünglich aristotelischen Sinn verstanden wird 1 8 . 4. Bes. im ags. Sprachbereich wird der B e griff E. auch im Z u s a m m e n h a n g mit der seit E n d e des 19. Jh.s entstandenen Erzählform der A b e n t e u e r - bzw. Kriminalserie gebraucht. D i e s e Erzählform — die sich u. a. in den M e dien —> Film, —• Comics und —» Television erfolgreich durchgesetzt hat - bringt standardisierte und jeweils abgeschlossene Geschichten, eben E.n 1 9 , um einen oder mehrere serienidentische Protagonisten. 5. D i e Balladen- und Heldensagenforschung versteht unter E.n-Lied ein erzählendes Lied, das aus einem größeren epischen Stoffzusammenhang nur eine einzelne, meist zentrale Szene herausgreift. In diesem Sinne sind z . B . das ältere und jüngere Hildebrandslied20, aber auch die meisten Heldenlieder der —» Edda E.n-Lieder, e b e n s o wie die Volksballaden Die Meererin, Jäger aus Griechenland, Liebestod21 etc. Ein größeres E p o s kann aus mehreren E.n-Liedern zusammengewachsen sein (cf. —> Homer, —> Nibelungenlied) oder umgekehrt in mehrere E.n-Lieder zerfallen, die dann z.T. als Sproßlied eine unabhängige Tradition begründen. - > Detail,
Stil,
Struktur
1 Ähnlich schwankt das Frz. zwischen episode und im 15./16. Jh. - episodie. - 2 Aristoteles: De arte poetica liber. ed. R. Kassel. Ox. 1965 (dt.: Poetik. Ubers. O. Gigon. Stg. 1961); cf. neuere Deutungsrevisionen: Nickau, K.: Epeisodion und E. Zu einem Begriff der aristotelischen Poetik. In: Museum Helveticum 23 (1966) 1 5 5 - 1 7 1 (mit weiterer Lit.); Fuhrmann, M.: Einführung in die antike Dichtungstheorie. Darmstadt 1973, 4 4 - 4 7 . - 3 Aristoteles (wie not. 2) Kap. 12, 18. - 4 Aristoteles (wie not. 2) Kap. 17, 23, 24. - 5 Aristoteles (wie not. 2) Kap. 9; v. Ubers. Gigon (wie not. 2) 37. - 6 Nickau (wie not. 2) 167; Borinski, K.: Die Antike in Poetik und Kunsttheorie vom Ausgang des klassischen Altertums bis auf Goethe und W. von Humboldt 1. Lpz. 1914, 35, 40; t. 2, 158; Weinberg, B.: A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance 1 - 2 . Chic./Toronto 1961, 162sq„ 226sq., 410sq., 4 3 4 436, 4 7 1 - 4 7 5 , 500sq„ 8 3 1 - 8 3 3 , 835sq„ 892sq.,
72
998sq., 1 0 8 8 - 1 0 9 0 u. ö. - 7 Bray, R.: La Formation de la doctrine classique en France. P. 1963, 2 4 0 - 2 5 2 ; Fuhrmann (wie not. 2) 233. - 8 cf. hierzu Lenglet du Fresnoy, N.: De l'Usage des romans [1734]. In: Coulet, H.: Le Roman jusqu'ä la Revolution 2. P. 1968, 97sq.; Beattie, J.: On Fable and Romance [1783]. In: Williams, I. (ed.): Novel and Romance 1 7 0 0 - 1 8 0 0 . A Documentary Ree. L. 1970, 327; cf. Beckford, W.: Vathek. Lausanne/P. 1787, der seinem Roman .Episodes' angliedert. In historistischer Anmessung an seinen Gegenstand Haile, Η. G.: „Octavia: Rom. Geschichte" - Α. Ulrich's Use of the E. In: J. of English and Germanic Philology 57 (1958) 611 - 632. - 9 cf. hierzu Scudery, G. de: Preface [zu Ibrahim, 1641]. In: Coulet (wie not. 8) t. 2, 45; Troeltsch, K. F.: Vorrede [ zu .Geschichte einiger Veränderungen. . .' 1753]. In: Lämmert, E. u. a. (edd.): Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland 1 6 2 0 - 1 8 8 0 . Köln/ B. 1971, 102; Batteux, C.: Principes de la litterature 2. P. 5 1774 (Nachdr. Genf 1967) 2 1 5 - 2 1 8 ; Ramler, K. W.: Einl. in die Schönen Wiss.en. Nach dem Frz. des Herrn Batteux [. . .] 2. Lpz. 4 1774, 2 4 - 2 7 ; Blanckenburg, F. von: Versuch über den Roman [1774], Nachwort E. Lämmert. Stg. 1 9 6 5 , 3 2 4 - 3 3 5 ; Beattie, J.: Essay on Poetry and Music, as They Affect the Mind . . . [1776], In: Williams, I. (ed.): Novel and Romance [. . .]. L. 1970, 253; Sulzer, J. G.: Allg. Theorie der Schönen Künste [. . .]. Teil 2. Lpz. 2 1778, 62sq. (Art. E.); Ersch, J. S./Gruber, J. G. (edd.): Allg. Enz. der Wiss.en und Künste [. . .]. 1. Section, t. 36. Lpz. 1842, 3 8 - 4 0 (Art. E.). 10 Koskimies, R.: Theoriedes Romans. Hels. 1935, 210—212; Lämmert, E.: Bauformen des Erzählens. Stg. 1955, 44, 57, 113, 260sq.; Brooks, C./Warren, R. P.: Understanding Fiction. Ν. Υ. 2 1959, 683 (im Sinne Aristoteles'). Das RDL hat den Begriff nicht aufgenommen. Eine poetologische oder auch literaturpolitische Stellungnahme: Wertheim, U.: Fabel und E. in Dramatik und Epik. In: Neue Dt. Lit. 12, 7 (1964) 8 7 - 1 0 7 . "Alewyn, R.: Johann Beer. Studien zum Roman des 17. Jh.s. Lpz. 1932, 1 5 1 - 1 5 4 ; Petriconi, H.: Zur Chronologie und Verbreitung des span. Schelmenromans. In: Heidenreich, H. (ed.): Pikarische Welt. Sehr, zum europ. Schelmenroman. Darmstadt 1969, 6 1 - 7 8 ; Heilman, R. B.: Variationen über das Pikareske (Felix Krull). In: ibid., 283 sq., 286. - 12 Jean Pauls Sämtliche Werke. Hist.-krit. Ausg. ed. Preuß. Akad. der Wiss.en Abt. 1., t. 11. Weimar 1935, 247. - 13 Krohn, K.: Die folkloristische Arbeitsmethode. Oslo 1926, 29; Peuckert, W.-E.: Dt. Volkstum in Märchen und Sage, Schwank und Rätsel. B. 1938, 30 (Kritik); Bödker, Folk Literature, 85 (im Sinne Krohns). - 14 von Sydow, 60—85. - 15 cf. Vries, J. de: Betrachtungen zum Märchen bes. in seinem Verhältnis zu Heldensage und Mythos. Hels. 1954, 137, 153; Lüthi, Europ. Volksmärchen, 33, 42sq., 4 7 - 4 9 , strenger 110. 16 Lüthi, M.: Motiv, Zug, Thema aus der Sicht der Volkserzählforschung. In: Festschr. E. Frenzel. Stg.
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1980, 1 1 - 2 4 , hier 16. - 17 Christiansen, Ν. Ε., 118sq.; id.: Norske eventyr. In: Nordisk kultur 9 (1931) 275; Bödker, Folk Literature, 85. 18 Wolpers, Τ.: Die engl. Heiligenlegende des MA.s. Tübingen 1964, 192 sq. im Anschluß an den Begriff der E.nballade bei Kayser, W.: Geschichte der dt. Ballade. B. 1936, 30, 41 sq., 45sq. - 19 cf. Feiffer, J. (ed.): The Great Comic Book Heroes. Ν. Y. 1965, 26, 132; nicht zu verwechseln mit E. im ,E.nfilm', cf. dazu Buchers Enz. des Films, ed. L.-A. Bawden. Bearb. W. Tichy. Luzern/Ffm. 1977, 2 2 0 . - 2 0 Dt. Volkslieder. 1: Erzählende Lieder, ed. L. Röhrich/R. W. Brednich. Düsseldorf 1965, num. 13. — 21 DVldr 1, num. 4, 5. 9.
Hamburg
Günter Dammann
Epos (Epik, Episierung) 1. Gattungsprobleme: Systematik, Geschichte, narrative Universalien — 2. Die narrativen Großformen E. und Roman - 3. Heldenlied und HeldenE. — 4. Märchen und E. — 5. Die komplexen epischen Strukturen auf schriftlicher Stufe — 6. Episierung von Märchen - 7. Episierung weiterer narrativer Kurzformen
1. G a t t u n g s p r o b l e m e : S y s t e m a t i k , G e s c h i c h t e , n a r r a t i v e U n i Versalien. Die drei ,Naturformen' der Dichtung: Lyrik, Epik und Drama, als poetologische Grundkategorien oft kritisiert und für untauglich erklärt, haben sich doch immer wieder als unentbehrlich für eine systematische Lit.betrachtung erwiesen. Problematisch ist nicht der zu grobe Raster, denn die Trias läßt sich in eine Vielzahl von Gattungen und Typen weiter auffächern, wobei auch die Übergangsformen berücksichtigt werden können. Was die Epik betrifft, so lassen sich die Großformen E. und Roman den Kleinformen Heldenlied, —> Ballade, —» Legende, —> Märchen, —> Schwank, —» Novelle, —> Fabel etc. entgegenstellen, während sich über Zwischentypen die Grenzzonen zu den beiden andern ,Naturformen' aufschließen: über das erzählende Preislied oder die Allegorie z.B. in Richtung Lyrik, über das Lesedrama oder die dialogische Epenrezitation in Richtung Drama. Der entscheidende Einwand besteht jedoch darin, daß auch eine noch so ausdifferenzierte Systematik aufgrund ihres normativen Charakters der lebendigen Vielfalt der Formen in
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ihrem geschichtlichen Wandel grundsätzlich nicht gerecht zu werden vermag 1 . Wenn man nicht eine radikale Position vertreten und mit B. —> Croce Gattungsbegriffe prinzipiell ablehnen will, bleibt die Möglichkeit, von den drei ,Naturformen' auf die adjektivischen Begriffe des Lyrischen, Epischen und Dramatischen zurückzugehen und diese transliterar. als Formen menschlichen Daseins und Weltverstehens zu fassen. Dies ist der Weg, den E. Staiger in seiner Fundamentalpoetik gegangen ist 2 . Staiger umschreibt mit dem Begriff des Epischen eine Haltung, von der aus die Welt distanziert in ihren Gegebenheiten gesehen und referiert wird; die epische Sicht beläßt den Teilelementen und Aspekten in hohem Maße ihre Selbständigkeit; eingebettet in Tradition und Gemeinschaft wird die Wirklichkeit unproblematisiert vergegenwärtigt. Der diese epische Haltung charakterisierende Terminus heißt .Vorstellung' — im Gegensatz zu ,Erinnerung', in der das Lyrische, und zu ,Spannung', in der das Dramatische ihre Seinsweisen begründen. Letztlich beruhen diese ,Grundbegriffe' auf unterschiedlichen Formen der Zeiterfahrung im Sinne Martin Heideggers. Staiger hat zwar erwogen, von seiner Fundamentalpoetik aus auch den traditionellen Gattungsfächer auf eine neue Basis zu stellen 3 , er versteht seine Grundbegriffe aber doch in erster Linie als Kategorien für die Analyse des konkreten Einzelwerkes: es erschließt sich dem Interpreten in seinem spezifischen Zeitbewußtsein über das individuell akzentuierte Zusammenspiel lyrischer, epischer und dramatischer Komponenten 4 . Sowohl im Gegensatz zur universal-normativen Gattungssystematik wie zum Rückgang auf eine Fundamentalpoetik zeichnet sich heute eine entschiedene Wende zu einer hist. Gattungsbetrachtung ab. Gattungen werden als Merkmalsbündel verstanden, die, unter einem bestimmten Prinzip organisiert, in ihrem Spiel zwischen Konstanten und Variablen geschichtlich zu beschreiben sind 5 . Dabei ist mit der Möglichkeit zu rechnen, daß Gattungen oder Typen erst im Laufe der Entwicklung ganz zu sich selbst kommen, d. h. die in ihnen angelegten literar. Möglichkeiten erst allmählich mit letzter Konsequenz ausspielen. H. Kuhn hat von Gattungs-,Entelechie' gesprochen 6 . Die bes. methodische Schwierigkeit
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einer solchen hist. Gattungsbetrachtung liegt darin, jenen Punkt im Prozeß der A b w a n d lung festzumachen, an dem ein Merkmalsbündel seine Identität verliert und sich über eine Ä n d e r u n g des Organisationsprinzips ein neuer Typus herauskristallisiert. Trotz dieser W e n d e zur hist. Gattungsbetrachtung bleibt die Frage bestehen, o b und, wenn ja, in welchem A u s m a ß nicht doch mit universalen literar. Typen zumindest einfachster A r t (—» Einfache Formen) zu rechnen ist. Das berührt das Problem poetologischer und insbesondere narrativer Universalien überhaupt, mit dem man sich bei der Kategorienbildung zur Bestimmung gattungskonstituierender Merkmalsbündel letztlich immer konfrontiert sieht. Denn man kann sich nicht darauf beschränken, allg. Bauformen des E r zählens 7 , dominante Konstituenten (Figuren-, Geschehens-, R a u m - Ε . 8 ) , Erzählsituationen und Erzählerrollen (auktoriale Erzählung, Ich-/Er-Erzählung, personale Erzählung 9 ) etc. zu unterscheiden, sondern man wird zugleich mögliche Gesetzlichkeiten ihres Zusammenwirkens oder Sich-Ausschließens, stereotype —> Affinitäten, Kombinationen und Übergänge, sowie das Verhältnis von Strukturen und Funktionen, und d. h. die Möglichkeit allg. Regeln der pragmatischen Einbindung mit in Betracht ziehen müssen. 2. D i e n a r r a t i v e n G r o ß f o r m e n E . u n d R o m a n . U n t e r dem Aspekt einer sowohl hist, wie typol.-universalen Betrachtung ist insbesondere zu prüfen, ob es in den einzelnen Lit.en nicht immer wieder zu gleichlaufenden Gattungsablösungen kommt. So hat man, was die epische G r o ß f o r m betrifft, das E. geschichtlich und typol. vom R o m a n abgehoben. D e r hist. Übergang ist mehrfach erfolgt, in Indien und in der Antike ebenso wie in der Moderne. Die theoretische Differenzierung wurde jedoch maßgeblich von der modernen Entwicklung aus vorgenommen, wobei die herausgearbeitete Abgrenzung nur ζ. T. übertragbar, d. h. in eine universale Regel zu fassen ist. G . Lukäcs ζ. B. versteht den R o m a n als spezifisch neuzeitliche Erscheinung. Während das E. sich auf eine Lebenstotalität mit festen Ordnungen und Werten bezieht, erscheint der R o m a n als Ausdruck einer Position, der die Wirklichkeit
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problematisch geworden ist: die Einbettung des einzelnen in eine sinnvolle Welt und G e meinschaft ist verloren gegangen; der R o m a n held sieht sich auf seine private Existenz zurückgeworfen; er ist gekennzeichnet durch eine „transzendentale Obdachlosigkeit"; er kann sich bestenfalls aufmachen, einen Sinn zu suchen 1 0 . Bes. Schwierigkeiten für eine Zuordnung bietet die ma. Epik: Die Begriffe ,höfisches E.' und .höfischer R o m a n ' werden weitgehend synonym verwendet. Es handelt sich um einen Übergangstypus, der Züge, die dem E. eigentümlich sind, mit Elementen verbindet, die schon den späteren R o m a n ankündigen. Auf das E. zurück weisen die Versform, die G e sellschaftsbezogenheit der Handlung, das umgreifende Weltkonzept, in d e m der Held sich bewegt. R o m a n h a f t dagegen wirken die Problematisierung der gesellschaftlichen Sphäre und der Beziehung des Helden zu ihr, die komplexe Struktur, über die die Einzelelemente auf den Gesamtentwurf bezogen sind, und das Bewußtsein, ja die Thematisierung der Fiktionalität. Dies darf jedoch nicht dahingehend mißverstanden werden, als ob man es im M A . mit einem kontinuierlichen Übergang zum modernen R o m a n zu tun hätte. Es ist vielmehr festzuhalten, daß, was Problematisierung, Strukturbewußtsein, Reflektiertheit anbelangt, die .modernsten' Formen am Beginn der Entwicklung stehen, während der spätere Versroman eher regressiv erscheint, ohne daß er jedoch auf das traditionelle E. zurückfallen würde: gegenüber der selbstverständlichen Einbettung des Helden in Welt und Gesellschaft auf der Stufe des E. steht nun, nachdem man durch die Problematisierung in der hochhöfischen Epik hindurchgegangen ist, die Einbettung in ein Welt- und Wertsystem als normatives Postulat 1 1 . 3. H e l d e n l i e d u n d H e l d e n - E . Z u r Frage, wie die narrativen G r o ß f o r m e n sich gegeneinander abgrenzen, stellt sich das nicht minder schwierige Problem, wie die G r o ß formen sich zu den Kleinformen verhalten. Wieder überschneiden sich dabei prinzipielltypol. mit hist.-genetischen Aspekten. Forschungsgeschichtlich ist das Problem in erster Linie von der Beziehung zwischen Heldenlied
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und Helden-Ε. her. diskutiert worden. Da nicht daran zu zweifeln war, daß im Lied der ältere Typus vorliegt, ging es um die Frage, unter welchen Bedingungen und in welcher Weise sich das E. aus dem Lied entwickeln konnte. Eine erste Antwort gab F. A . Wolf mit der sog. an den homerischen Epen (—> H o m e r ) gewonnenen Liedertheorie 1 2 . Sie besagt, daß das heroische G r o ß - E . durch eine Addition von episodischen Einzelliedern entstanden ist. K. Lachmann hat diese Theorie auf die Geschichte des —> Nibelungenliedes übertragen und es in 20 Einzellieder aufgelöst 13 . Die Wolfsche Liedertheorie ist im übrigen insofern nicht folgenlos geblieben, als Elias Lönnrot in ihrem Sinn den Übergang vom Lied zum E. in einem Lit.bezirk durchzuführen versuchte, in dem er hist, (noch) nicht zustande gekommen war: er hat durch Sammlung und Kombination von finn. Heldenliedern das —» Kalevala geschaffen (cf. —> Fragmententheorie) 1 4 . 1905 ist A . Heusler - in Anlehnung an W. P. Ker - mit einer programmatischen A b handlung der Liedertheorie entgegengetreten 1 5 : Das Einzellied habe nicht episodischen Charakter besessen, d. h. nur je einen A b schnitt aus dem Gesamtzusammenhang einer Sage behandelt, so daß es potentiell immer schon auf den Gesamtzyklus hin angelegt gewesen sein müßte, es habe vielmehr die ganze heroische Fabel in nuce enthalten, und das E. könne folglich aus diesem Kern nur durch A n - oder Aufschwellung entstanden sein. D e r Übergang vom Lied zum E. ist demnach nicht quantitativ als Klitterung und Kontamination von vorgegebenen Einzelstücken zu verstehen, sondern als Gattungswechsel, als W e n d e vom gedrängten Liedstil zum breiten Epenstil. Das germ. Heldenlied war zum Vortrag in der Kriegerhalle bestimmt. Es besaß im A n spruch seines gerafft-prägnanten Stils wie seines heroischen Ethos aristokratisches Gepräge. Die stoffliche Basis bildeten zwar in erster Linie hist. Ereignisse, doch das Interesse galt den aus ihnen abgezogenen allg.-menschlichen Verwicklungen und Konflikten. Mit der Auflösung der völkerwanderungszeitlichen Kriegergesellschaft im F r ü h - M A . gelangte das Heldenlied in die H ä n d e der Spielleute (—» Spielmannsdichtung). Hier kam es zu einer Z e r r ü t t u n g der strengen Form, mär-
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chenhaft-burleske Elemente konnten eindringen, der Stabreimvers wurde vom Endreimvers abgelöst; man erzählte breiter und unverbindlicher. Nach dieser Übergangsphase wird erst im 12. Jh. — wenn man von dem frühen Sonderfall des —> Beowulf absieht — die neue großepische Form geschaffen, die nun wiederum durch eine aristokratische Gesellschaft, durch das höfische Rittertum, getragen und mit dessen Geist erfüllt wird 1 6 . Heuslers Entwicklungsmodell setzt die Vorstellung vom Heldenlied als einer einmaligen poetischen Prägung voraus. Die Schritte der U m f o r m u n g werden entsprechend als individuelle Neukonzeptionen verstanden. Diese grundlegende Prämisse des Modells ist heute angesichts der Erkenntnisse der Oral PoetryForschung (—» Orale Tradition, Α. B. —> Lord) nicht mehr zu halten 1 7 . M a n hat vielmehr davon auszugehen, daß die mündliche Tradition heroischer Epik nicht über wörtlich fixierte Dichtungen erfolgte. Der Sänger in oraler Tradition gibt seinem Stoff improvisierend bei jedem Vortrag eine neue Gestalt. Dabei stützt er sich auf einen ü b e r k o m m e n e n Fundus von formelhaften Wendungen und situativen Versatzstücken. Die Identität der Fabel wird allein durch das Handlungsgerüst im Bewußtsein des Sängers gewährleistet. Beim Vortrag ist es deshalb je nach den äußeren Bedingungen möglich, nicht nur die Länge stark zu variieren, sondern auch die Tonlage zu verändern 1 8 . Die Grenzen für Erweiterungen liegen bei der den Z u h ö r e r n zumutbaren Vortragszeit, doch kann es auch zu einer Aufteilung auf mehrere Tage, ja Wochen kommen 1 9 . Es ist also mit gleitenden Übergängen zwischen Lied und E . zu rechnen 2 0 , wobei die Reihung von Vortragseinheiten durchaus mit Stoffagglutinationen und -kombinationen arbeiten, d . h . einen stark additiv-quantitativen Charakter besitzen kann. Auf der andern Seite ist jedoch Heusler insofern prinzipiell recht zu geben, als die stilistische Anlage jeweils eine andere ist, je nachdem o b zu einem knappen Lied oder zu einer breitkonzipierten epischen Folge angesetzt wird. Die einfachste Form des additiv-agglutinierenden Verfahrens besteht in der Reihung von heroischen Einzeltaten. Dabei bietet sich ein biogr. Rahmen mit den Schwerpunkten
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Geburt, Hochzeit und Tod an. Ein solches Hineinwachsen ins biogr. Schema folgt meist traditionellen Mustern, so daß man immer wieder der stereotypen Struktur der heroischen Vita begegnet 2 1 . Einheitsstiftend kann aber auch ein bestimmtes U n t e r n e h m e n sein, in das die Taten eines oder verschiedener Helden mehr oder weniger zielgerichtet eingebaut werden, so z.B. Kriegszüge wie im Manas (—» Kirgisen) oder die G r o ß e Schlacht wie im —* Mahäbhärata. Ferner besteht eine Tendenz zur Sagenverknüpfung: Die heroische Epik der einzelnen Völker gehört in der Regel bestimmten geschichtlichen Epochen an; für die germ. —> Heldensage ist dies die Völkerwanderungszeit, d. h. die Spanne zwischen Ermanarichs Tod 375 und der Besetzung Oberitaliens durch die Langobarden 568. Die altgriech. Heldensagen spielen im Z A . der Kämpfe um Theben und Troja. Unter bestimmten Bedingungen ist anderweitig jedoch die heldenepische Produktion nicht abgebrochen, sondern reicht bis in die Gegenwart hinein, etwa bei den modernen Griechen seit dem 11. Jh. oder bei den Jugoslawen. W o man es mit einem geschlossenen sog. Heroic Age zu tun hat, rücken die Figuren zusammen: so erscheint ζ. B. Etzel in der Sage als Zeitgenosse —* Dietrichs von Bern, wenngleich der hist. —» Attila schon 4 0 Jahre tot war, als Theoderich sein oberital. Reich errichtete 2 2 . Auf diese Weise können Stoffe miteinander in Beziehung treten, so daß sich schließlich die für die einzelnen heroischen Traditionen charakteristischen Zyklen herausbilden 2 3 . Wenn der Übergang vom Lied zum E. in hohem M a ß e von Erzählsituationen und -gewohnheiten abhängig ist und somit fließend erscheint, müssen auch die sozialgeschichtlichen Aspekte des Heuslerschen Modells neu formuliert werden. C. M. Bowra hat versucht, Beziehungen zwischen bestimmten gesellschaftlichen Strukturen und heldenepischen Typen herzustellen 2 4 . Er unterscheidet drei Möglichkeiten. Zunächst die ,primitive' Heldendichtung bei Viehzucht treibenden, nomadisierenden Völkern: die soziale Struktur ist relativ einfach und homogen. Die Dichtung, ausschließlich mündlich tradiert, feiert das kriegerisch-schweifende Leben unter freiem Himmel; der Typus des Helden ist dadurch
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gekennzeichnet, daß er die dafür erforderlichen Fähigkeiten: leidenschaftlichen Mut, unwiderstehliche Kraft und kühne Klugheit, vorbildhaft gesteigert realisiert; so noch heute bei den Kirgisen, —» Usbeken, —» Kalmücken, —> Osseten, Ainus (—» Japan) etc. — Wenn die Entwicklung von innen her oder durch äußere Einwirkung zu einer gesellschaftlichen Differenzierung führt und sich eine kultivierte aristokratische von einer breiten ungebildeten Bevölkerungsschicht abhebt, so kann die Heldendichtung entweder in der unteren oder der oberen Klasse weiterleben. Im ersten Fall entsteht der proletarische' Typus: das Heroische tritt zurück, derb-brutale Elemente finden Eingang, der Held kann grotesk-komische Züge a n n e h m e n ; so z.B. in den russ. —* Bylinen, der bulg. Epik unter türk. Herrschaft, der armen. Heldendichtung um David von Sassun (—» Armenier). Lebt hingegen die heroische Tradition in der Oberschicht weiter, so nimmt sie ein aristokratisch-höfisches Gepräge an; das heroische Bewußtsein wird bewahrt, aber der Held bewegt sich in einer Welt kultureller Verfeinerung, Eleganz und Prachtentfaltung und nimmt sie mehr oder weniger in sich auf. Als Beispiel nennt Bowra u. a. das —> Gilgamesch-E., den Beowulf, das —> Rolandslied, den Cid. Bowra hat im übrigen betont, daß die drei Typen nicht streng zu trennen sind, ja daß sie unter bestimmten politisch-sozialen Bedingungen nebeneinander auftreten können. Dadurch unterscheidet sich sein Konzept von Heuslers drei Entwicklungsstufen, an die seine Typen erinnern, d. h. das Verhältnis der Typen zueinander besitzt zwar gewisse geschichtliche Implikationen, aber es ist nicht auf ein bestimmtes Entwicklungsschema festzulegen. Dabei rücken in der hohen Auffassung des Heroischen die ,primitive' und die ,aristokratische' Ausprägung der p r o l e t a rischen' gegenüber einerseits näher zusammen, doch hebt sich andererseits die Gattung insgesamt im Hinblick auf den Grundtypus des Helden deutlich etwa von der Dichtung der phänomenologisch älteren Stufe ab, die Bowra als magisch-schamanistisch kennzeichnet 2 5 . Wenn die Fähigkeiten des Protagonisten in der Heldenepik auch über das gewohnte menschliche Maß hinausgehen, so sind sie in der Regel doch menschlicher Natur.
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wohingegen in den Erzählungen der schamanistischen Stufe übernatürlich-magische Praktiken eine entscheidende Rolle spielen. Mit Einflüssen und Nachwirkungen ist aber selbstverständlich zu rechnen. Gibt es also U b e r gangsformen zwischen der präheroischen Erzähltradition und insbesondere dem p r i m i tiven' heldenepischen Typus, so reicht auf der andern Seite der .aristokratische' Typus, wie die Beispiele Bowras zeigen, in eine Entwicklungsphase hinein, in der nicht nur das Heroische höfisch umstilisiert wird, sondern in der es von der neuen höfischen Welt her auch problematisiert werden kann. Damit ist, anders als beim gleitenden Verhältnis zwischen den präheroischen und heroischen Typen, eine epochale lit.geschichtliche Zäsur markiert. Die Bedingungen für diese W e n d e zur Reflexion dürften im Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit zu suchen sein (v. Kap. 5). 4. M ä r c h e n u n d E. Mögen Heldensage und Märchen, wie man immer wieder betont hat 2 6 , idealtypisch auch klar gegeneinander abgrenzbar sein, so sind doch Querbeziehungen in bestimmten Entwicklungsphasen oder bes. Fällen nicht zu leugnen. Die präheroische Erzähltradition zeigt unverkennbare Affinitäten zum Typus des Märchens, so daß J. de —> Vries vermuten konnte, Heldenepik und Märchen seien, wenn sie sich auch in divergierenden Richtungen entwickelt hätten, auf dieselbe Wurzel zurückzuführen 2 7 . Doch auch abgesehen von möglichen Berührungen über einen gemeinsamen Motivfundus sind zwischen den beiden Gattungstraditionen Kontakte denkbar und auch nachzuweisen: die Heldenepik hat immer wieder Märchen oder, märchenhafte Materialien aufgenommen und sie sich mehr oder weniger konsequent anverwandelt. So dürften ζ. B. einer Reihe von Episoden in der Odyssee (—» Circe, —> Kalypso) Märchen zugrunde liegen, wobei gerade hier beispielhaft zu zeigen ist, wie weit man bei der gattungskonformen Adaptation gehen konnte und wo man auf Grenzen stieß 2 8 . Oder: bei der Entwicklung des Nibelungenstoffes und bei ihrer wiss. Beurteilung hat das sog. russ. Brünhild-Märchen - in Wirklichkeit handelt es sich um eine novellistische oriental. Wandererzählung 2 9 - eine nicht unwichtige Rolle
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gespielt: die burlesk-komische Bezähmung des Kraftweibes durch den Werbungshelfer (AaTh 519: —> Heldenjungfrau) ist immer wieder als Fremdkörper empfunden und einer Entwicklungsphase zugerechnet worden, in der der strenge heroische Stil sich lockerte und die Gattungsgrenzen durchlässig wurden 3 0 . — Statt nur mit der Möglichkeit partieller Einwirkungen zu rechnen, wollte F. —> Panzer die —» Siegfried-Sage wie auch den —> Beowulf und die —» Kudrun insgesamt von Märchentypen ableiten 3 1 . Seine eklektische Parallelisierung von Motiven vermochte jedoch der Kritik nicht standzuhalten 3 2 . Trotzdem bleibt die prinzipielle Frage, o b Märchen oder allgemeiner: märchenhaftnovellistische Kurztypen nicht generell oder partiell als Basis für den A u f b a u großepischer Formen dienen konnten. Vor allem in Hinblick auf das höfische E. sind, von wechselnden theoretischen Positionen aus, darauf immer wieder positive Antworten gegeben worden. G. Ehrismann wollte die arthurischen Epen (—» Artustradition) als Umbildungen von Märchen verstehen, die ihrerseits wiederum in hohem Maße aus der ir.-kelt. Heldensage geflossen sein sollen 3 3 . Der Suche nach den märchenhaft-novellistischen (und ζ. T. auch mythischen) Bausteinen der ma.-höfischen Erzählliteratur galten u. a. die weitgreifenden komparatistischen Arbeiten von G. L. Kittredge, A. C. L. Brown und A. Dickson 3 4 . Bei vorwiegend stofflichem Interesse blieben die Gattungsprobleme jedoch so gut wie unbeachtet. — Bes. auffällig sind die Berührungen der —» Chretienschen Versromane mit den gattungsmäßig zwischen Märchen und Novelle schwebenden bret. —> Lais. So gewiß man sein darf, daß Chretien von ihnen stoffliche und strukturelle Anregungen empfangen hat 3 5 , so wenig ist die G r o ß f o r m einfach als episierende Anreicherung des Kurztyps anzusehen; man hat es vielmehr mit einem Sprung von einer einlinigen zu einer mehrschichtigkomplexen Bauform zu tun (v. Kap. 5). Unter veränderten Prämissen ist das Verhältnis von Märchen und höfischer Epik schließlich nochmals aktuell geworden: V. Ja. —» Propps morphologische Märchenanalyse 3 6 mit ihrer Reduktion der konkreten Motivketten auf Funktionsreihen hat in später Nachwirkung zu Versuchen geführt, ma. Epen mit
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ebendiesem Verfahren in ihre Strukturelemente zu zerlegen 3 7 . Es erwies sich als möglich, ζ. B. den Chretienschen R o m a n als eine Kombination von Funktions-Sequenzen zu beschreiben, doch fiel dabei gerade das Gattungsspezifische durch das Strukturmuster durch 3 8 . Die frz. Strukturalisten, insbesondere C. Levi-Strauss 3 9 , C. B r e m o n d 4 0 und A. J. Greimas 4 1 , sind - ζ. T. in unmittelbarer Auseinandersetzung mit Propp — zu höheren A b straktionsstufen weitergeschritten (—> Strukturalismus) und haben narrative Tiefenstrukturen im Blick auf eine universale Erzählgrammatik herausgearbeitet. Damit müßte sich das Problem der Beziehungen zwischen den Gattungen insofern neu stellen, als es sich nicht mehr darum handeln kann, die narrativen Kurztypen direkt auf die epischen G r o ß formen zu beziehen, sondern diese wie jene wären von ihren unterschiedlichen Generierungsprozessen her zu verstehen. Greimas' Aktantenschema ζ. B. faßt narratives H a n deln als einen Konflikt mit Werttransfer zwischen einem Subjekt-Aktanten (Held) und einem O b j e k t - A k t a n t e n (Gegner); der Vorgang beschreibt sich als Dreischritt von Konfrontation — Domination — Attribution: D e m Helden mangelt eine Frau, er zieht auf Werbung aus; die gewünschte Braut wird ihm von deren Vater verweigert; der Held überwindet alle Widerstände und führt die Braut heim. — Man hat zu Recht gegen dieses formale Schema eingewandt, daß es erst über eine inhaltliche Besetzung einen spezifischen Sinn zu vermitteln vermöge; der narrative Dreischritt von Konfrontation - Domination - A t tribution erscheine konkret jeweils auf ein bestimmtes Wertsystem rückbezogen, das dessen literar. Ausformulierung präge und das dadurch implizit und explizit mit thematisch werde 4 2 . O d e r gattungstheoretisch formuliert: Die Organisation der Merkmalsbündel, die die narrativen Gattungen konstituieren, wird von der Bewertung gesteuert, die das elementare Handlungsschema unter konkreten hist. Bedingungen erfährt. Die epischen G r o ß f o r men können somit aus Kurztypen entwickelt sein, doch nicht auf direktem Wege, sondern immer nur über eine Uminterpretation der narrativen Grundstruktur in pragmatischer Rückbindung an ein verändertes System von Werten. — Dies ist die strukturalistische
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Umformulierung des Heuslerschen Stilarguments. 5. D i e k o m p l e x e n e p i s c h e n S t r u k t u r e n a u f s c h r i f t l i c h e r S t u f e . Bei aller Freiheit, die dem Sänger mündlicher Tradition bei der improvisierenden Aus- und U m gestaltung seiner Erzählkomplexe gegeben ist, bleiben seine Möglichkeiten in einer Hinsicht doch beschränkt: die Aufführungssituation zwingt zu einer Kompositionsweise, die im wesentlichen einlinig-reihend voranschreitet. Die Darstellung gleichzeitiger Ereignisse macht ebenso M ü h e wie jede Art der Ü b e r und Unterordnung von Handlungsteilen; denn die jeweils zu gestaltende Episode verlangt die ganze Aufmerksamkeit. Dabei kann sie sich dermaßen isolieren und ihre Verknüpfung im Gesamtzusammenhang so mechanisch sein, daß es zu Widersprüchen kommt 4 3 . Dies gilt gerade auch dann, wenn eine weitläufige Anlage über viele Vortragseinheiten hin eigentlich eine stärkere vorgängige Gesamtplanung erwarten ließe. Komplexe Strukturentwürfe sind somit auf mündlicher Stufe bestenfalls in Ansätzen denkbar. Schon das perspektivische Erzählen in der Ilias vom Zorn des —» Achilleus aus und vor allem in der Odyssee von der Kalypso-Station her in Verschränkung mit der Telemachie dürfte in mündlicher Tradition kaum realisierbar gewesen sein 4 4 . Erst die schriftliche Formulierung befreit in der Ablösung von der Vortragssituation nicht nur vom Angewiesensein auf vorgeprägte Materialien, sondern sie erst ermöglicht eine sorgfältige Gewichtung jedes Details im Gesamtzusammenhang, sie gestattet Retuschen und Umdisponierungen, und sie eröffnet — was das Entscheidende ist — den Weg zu komplexen Strukturen aufgrund eines freien fiktiven Entwurfs. U n d dies heißt zugleich, daß dieser in die Reflexion gerät. Das Verhältnis des Dichters zum Publikum ändert sich damit grundlegend, auch wenn noch lange nicht privat gelesen, sondern immer noch vorgetragen wird: das Spiel mit der Hörererwartung nimmt neue Formen an, denn Dichtung ist nicht mehr je neu produzierte und mit der Produktion vergehende Variation, wobei Entwicklungsmöglichkeiten sich bestenfalls im Hinblick auf stoffliche A n reicherung, technische Virtuosität und erzäh-
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lerisch-pointierende Durchgestaltung (cf. —> Zielform) ergeben, sondern es entsteht nun ein Lit.bewußtsein in der Auseinandersetzung mit Werkreihen, die einen poetischen Prozeß festhalten, dessen Sinnpotential immer wieder neu aufgeschlossen werden kann. Auch f ü r diese Schwelle gilt selbstverständlich, daß die gebotene Chance erst gesehen und ergriffen werden muß. So finden sich in den älteren schriftlich tradierten E p e n der einzelnen Lit.en Züge mündlicher Technik: formelhafte Elemente, klischeehafte Versatzstücke etc. Man wollte sie als Beweis dafür in Anspruch nehmen, daß diese E p e n nicht schriftlich konzipiert, sondern nach mündlichem Vortrag niedergeschrieben worden seien. H e u t e ist man vorsichtiger: man rechnet nicht nur mit einem Nachwirken der älteren Technik auf schriftlicher Stufe, sondern überdies mit einem zeitweiligen Nebeneinander von mündlicher und schriftlicher Ü b e r lieferung unter gegenseitigem Geben und Nehmen 4 5 .
Rettung und die Rückgewinnung der Frau 4 7 . (3) Man kann die Strukturformen der gezielten Episodenreihe und des kontrastiven Doppelkreises kombinieren, und man steht im Prinzip beim komplexen Strukturschema des arthurischen Romans Chretien-Hartmannscher Prägung: —> Erek begibt sich als Protagonist der Artusgesellschaft auf AventiureFahrt. E r gewinnt eine Frau und kehrt mit ihr an den Hof zurück. Mit dem diese Position markierenden höfischen Fest ist jedoch nur ein labiles Gleichgewicht erreicht: eine innere Krise veranlaßt eine zweite Ausfahrt, auf der die Partnerin in neuer Weise nochmals gewonnen werden muß, d. h. der zweite Zyklus rekapituliert den ersten und übersteigt ihn in veränderter Perspektive. Dabei wird mit kontrastiven Episodenreihen gearbeitet, die ihren Sinn vom Wendepunkt her beziehen, auf den der zweite Aventiuren-Weg ausgerichtet ist: das Leben und die Liebe werden dem Helden von ihrer Grenze, vom Tod her, geschenkt 4 8 .
Die Entelechie der epischen G r o ß f o r m auf schriftlicher Stufe zielt auf eine Organisation der Materialien unter einem durchgängigen Strukturprinzip. Es bieten sich verschiedene elementare Möglichkeiten der Strukturierung an: (1) die Episodenreihe, die auf einen Zielund Wendepunkt zuläuft, von dem her diese rückblickend problematisiert wird; der Sinn enthüllt sich im Sprung auf eine neue Wertebene. In dieser Weise ist ζ. B. der ma. —* Alexanderroman strukturiert: Alexander schreitet von Eroberung zu Eroberung, bis er schließlich an die Mauern des Paradieses stößt, wo er zurückgewiesen, aber zugleich über die Grenzen, die dem Menschen gesetzt sind, belehrt wird: er wendet sich nun einem Leben der mäze zu 4 6 . (2) Die Wiederholung einer Handlung unter umgekehrten Vorzeichen; der zweite Durchgang problematisiert das Handlungsprinzip des ersten, um gerade dadurch Ziel und Sinn zu erreichen. Dies ist das Bauschema ζ. B. des König Rother (—> Spielmannsdichtung): Rother gewinnt auf einer ersten Brautwerbungsfahrt durch Machtdemonstration und List eine Frau. Sie wird ihm wieder geraubt, und er bricht ein zweites Mal auf, diesmal in Pilgerkleidung. Ü b e r sein Vertrauen in Gottes Führung, das bis zur Selbstaufgabe geht, erfolgen am Ende die
Je komplexer die Struktur, um so maßgeblicher enthüllt sich der Sinn des Geschehens über die Reflexion ihres Prinzips. Jede Episode erhält ihren Stellenwert von ihrer Position im strukturellen Gesamtentwurf her, und das Verständnis läuft über die Einsicht in dieses System korrespondierender und kontrastierender Bezüge. Die Realisierung derart komplexer Strukturen ist selbstverständlich nur mehr im Raum freier Fiktionalität möglich. Dabei werden die integrierten Materialien — woher immer sie ursprünglich stammen mögen: aus Mythen, Märchen, Novellen gleichgeschaltet, d. h. sie verlieren ihre Gattungsmerkmale und werden zu Marken in einer symbolischen Struktur, die ihnen den neuen Sinn vermittelt. Man kann zwar immer noch von Märchenmotiven etc. sprechen, doch sagt das im Hinblick auf ihre Bedeutung im Zusammenhang des höfischen E. nichts mehr aus 4 9 . Auf der andern Seite gewinnen jedoch mythische, märchenhafte, novellistische u. a. Motive in dem Maße wieder an erzählerischem Eigengewicht, in dem im späteren arthurischen Roman die komplexe Struktur simplifiziert oder eingeebnet wird. Aber die neue Qualität, die die traditionellen Motive dabei gewinnen, ist höchstens eine sekundär märchenhafte etc.. und sie muß
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deshalb wiederum neu von ihrer veränderten literar. Funktion her verstanden werden. 6. E p i s i e r u n g v o n M ä r c h e n . Unter Episierung ist — im Gegensatz zum Einbau von Märchenmotiven oder Motivkomplexen in andere epische Typen — die Überführung eines Märchens in die narrative Großform, also seine Umwandlung zum Märchen-E. oder -Roman zu verstehen. Dieser Prozeß impliziert, daß das Handlungsschema des Märchens auch die großepische Struktur prägt oder doch in Auseinandersetzung und Zusammenspiel mit traditionellen großepischen Strukturen irgendwie in die neue Bauform mit eingeht. Der Vorgang bringt prinzipielle Probleme mit sich, da das Märchen sich seiner Struktur nach als reine Handlung definiert und damit bei der Episierung, die ihrem Wesen nach darüber hinausgeht, sich selbst in Frage stellen muß. Nicht ohne Grund hat die strukturalistische Narrativik mit einer gewissen Vorliebe am Märchen experimentiert, denn es ist scheinbar das Elementarschema des Handelns selbst, und nur dieses, das hier konkretisiert wird, d. h. es mangelt dem Märchen die Kategorie der Erfahrung, oder — um mit M. —> Lüthi zu reden — es fehlen seinen Figuren Innerlichkeit und Zeitlichkeit und damit die Möglichkeit, der Welt, dem Du und der Transzendenz anders als äußerlich zu begegnen 5 0 . Damit scheint es bruchlos aus der narrativen Grundstruktur generierbar zu sein. Genau gesehen täuscht dies, da es, indem es alles ausklammert, was eine Erfahrung von Leid, Zeitlichkeit, Tod etc. vermitteln könnte, das unangefochtene Glück des Helden zu seinem Thema macht. Weil sich dies jedoch strukturell nur dadurch niederschlägt, daß der Dreischritt von K o n f r o n t a t i o n Domination—Attribution immer zum Ziel kommt - bei einem möglichen Mißerfolg geht der Held unberührt zur nächsten Handlungssequenz weiter —, bleibt diese dem Negativkatalog gegenüber einzige positive Kategorie unbeachtet. Die Transformation des Märchens zur Großform stößt deshalb in der poetischen Praxis nicht nur auf genau jene Probleme, die sich theoretisch bei der Interpretation narrativer Großformen anhand generativer Modelle ergeben (v. Kap. 4), sondern das Märchen gerät, da auf der Stufe des
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E. das Glück nicht mehr durch die gattungskonstituierende Negation von Erfahrung gewährleistet werden kann, mit sich selbst in Widerspruch. Man ist dieser Schwierigkeit literarhist. in unterschiedlicher Weise begegnet. Nach dem vereinzelten Versuch des —» Ruodlieb-Autors (letztes Drittel des 11. Jh.s), partiell mit einer Märchenstruktur — es handelt sich um das Schema des Ratschlagmärchens (AaTh 910: Die klugen —* Ratschläge) — zu arbeiten, kommt es vom 12. Jh. an zur Episierung einer Reihe von Märchentypen; am frühsten der Partonopeus (cf. —> Konrad von Würzburg) 5 1 , der auf den Typus —* Amor und Psyche zurückgeht (AaTh 425, mit umgekehrter Figurenkonstellation = AaTh 400: —» Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau; cf. Die gestörte —» Mahrtenehe): Partonopeus verirrt sich auf der Jagd, kommt zu einem Meer, wird von einem ferngesteuerten Schiff in ein fremdes Land gebracht, wo er in einer menschenleeren Burg von unsichtbaren Händen bedient wird. Nachts teilt eine Geliebte — Meliur — sein Lager unter der Bedingung, daß er nicht versucht, sie zu sehen. Bei einem Urlaub in der Heimat redet man ihm ein, die Unbekannte sei der Teufel, und veranlaßt ihn, nach der Rückkehr das Tabu zu brechen. Meliur verstößt ihn; er flieht in die Wildnis, um da zu sterben. Meliurs Schwester findet ihn und bereitet die Versöhnung vor; und über einige U m w e g e finden sich die Liebenden schließlich wieder.
So deutlich sich hier auch das Schema des zugrundeliegenden Märchens abzeichnet 52 , die Episierung geht gegen sein Handlungsprinzip an: Die überirdische Partnerin — im Märchen problemlos zu akzeptieren — ist zu einer zauberkundigen Königstochter geworden. Das Tabu stellt eine Art Liebesprobe dar. Der Bruch des Tabus muß folglich seine mechanische Funktion verlieren: Meliur weist den Geliebten zornig aus dem Land. Aufgrund dieser psychol. Motivation ist es für den Helden nicht mehr möglich, auf die Suche nach der Geliebten zu gehen, sondern er verzweifelt, und es bedarf einer dritten Person, die mit einfühlendem Geschick Meliur von ihrem Zorn befreit und Partonopeus aus seiner Hoffnungslosigkeit herausholt. Was im Märchen als schematische Episodenfolge abläuft, wird bei der Episierung —
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jedenfalls der Tendenz nach — in linearer Motivation verknüpft, aus der Psychologie der Figuren entwickelt und menschlichem Planen unterworfen. Da die Steuerung letztlich aber immer noch vom Märchenschema her erfolgt, garantiert dieses zwar das glückliche Ziel, der Weg dahin wird für den Helden jedoch in hohem Maße zu einem Prozeß leidhafter Erfahrung, d. h. während die Episierung den Bereich subjektiver Innerlichkeit aufschließt, verurteilt die Orientierung am Schema den Helden gleichzeitig zur Passivität. Dies wiederum stößt sich mit dem Konzept des höfisch-ritterlichen Aventiure-Romans, der einen aktiven Protagonisten verlangt. Man hat mehr oder weniger geschickt versucht, die divergierenden Perspektiven zu kombinieren: so stehen im Partonopeus neben der Liebesgeschichte, und oft nur lose mit ihr verknüpft, breit ausgeführte Kampfhandlungen.
steht, sondern bei dem auch mit Einwirkungen des spätgriech. Romans (—» Apollonius von Tyrus) zu rechnen ist, gehören Guillaume d'Angleterre, Die gute Frau, Ulrichs von Etzenbach Wilhelm von Wenden, Sir Isumbras und —> Magelone mit ihren zahlreichen Verwandten 5 6 , zum zweiten Mai und Beaflor, —> Helena von Konstantinopel, La Manekine (AaTh 706: —> Mädchen ohne Hände), Emare und Die Königstochter von Frankreich von Hans von Bühel mit einer großen Zahl weiterer Varianten 5 7 . Die Traditionen sind vielfältig verzweigt; es kommt zu Mischformen und Subtypen (cf. ζ. B. —> Genovefa, —> Hirlanda). Die Verbreitung ist gesamteurop., und die Nachwirkung hält lange an. Vertreter beider Hauptgruppen gehen in die spätma. —> Volksbücher ein, und schließlich erleben sie unter veränderten Prämissen im heroischgalanten Barockroman nochmals eine späte Blüte 58 .
Es gibt eine Reihe weiterer ma. Epen, die auf AaTh 425/400 aufbauen: —> Friedrich von Schwaben, Konrads von Stoffeln Gauriel von Muntabel53, Albrechts von Scharfenberg Seifrid von Ardemont54, —> Peter von Staufenberg, Die Königin vom brennenden See55. Jedes dieser Epen versucht auf seine Weise, mit den Widersprüchen zwischen schematischer Märchenhandlung und großepischem Auserzählen bzw. zwischen märchenhafter Steuerung des Geschehens und ritterlicher Aktivität fertig zu werden, wobei es sich bei den beiden zuletztgenannten Werken um Kurzromane handelt, die in dem Maße, in dem sie die psychologisierende Motivierung zurücknehmen, sich wiederum der einfachen Märchenstruktur annähern.
Mit dem Übergang zum leidenden Helden muß das selbsttätige Glück als Antwort auf die heroische Standhaftigkeit unbefriedigend erscheinen. Es wird deshalb zum göttlichen Lohn für das beharrlich erduldete Leid, d. h. die Episierung dieser Typen tendiert zum Legendenroman, ja kann völlig in ihm aufgehen (v. Kap. 7). Abgesehen von der literar. bes. erfolgreichen Episierung der drei Typen Amor und Psyche, Eustachius-Placidos und Crescentia/ unschuldig verfolgte Frau kommt es zu weiteren vereinzelten Versuchen, Märchen in die epische Großform überzuführen. Neben einer Reihe von Fällen, bei denen die Art der Beziehung zwischen Märchen und Epos/Roman Diskussionen ausgelöst hat (ζ. B. —> Robert der Teufel im Verhältnis zu AaTh 314: —» Goldener, —> Berta im Verhältnis zu AaTh 870 A: —* Gänsemagd), ist insbesondere auf den mittelndl. Walewein hinzuweisen, der AaTh 550 (—> Vogel, Pferd und Königstochter) in Verbindung mit AaTh 505 (—> Dankbarer Toter) als Strukturmuster für die großepische Form verwendet 5 9 .
Die Episierung anderer Märchentypen führt, unter gleichzeitigem Abbau der höfischritterlichen Aventiure-Welt, konsequent zum passiven Helden, d. h. insbesondere zur standhaft-duldenden Heldin, weiter. Es waren vor allem zwei Typen, die sich vorzüglich dafür anboten und denen dann im späteren MA. ein breiter literar. Erfolg zuteil geworden ist, und zwar die Erzählkreise mit den Themen Trennung und Wiederfinden (AaTh 938: —» Placidos) und unschuldig verfolgte —» Frau (ζ. B. AaTh 712: —> Crescentia, —> Constanze). Zum ersten Kreis, hinter dem nicht nur die Eustachius-Placidos-Legende
7. E p i s i e r u n g w e i t e r e r n a r r a t i v e r K u r z f o r m e n . Die Episierungsprobleme bei der Legende sind denen beim Märchen nicht unähnlich. Wie dem Märchen so fehlt auch der Legende eine eigentliche Erfahrung der
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Zeitlichkeit, nur mit dem Unterschied, daß hier Gott dafür sorgt, daß der Held unberührt durch Anfechtungen und Qualen hindurchgeht. Das Legendenepos muß diese wunderhafte Unberührtheit zum stoischen Ertragen von Leid psychologisieren. Dabei kann die Legende von standhaft duldenden Heiligen mit entsprechenden Märchentypen unter der Bedingung verschmelzen, daß der Held noch im Diesseits gerechtfertigt und belohnt wird (v. Kap. 6). Bei bestimmten Typen führt die Psychologisierung zu Schwierigkeiten. Die Opferlegende ζ. B. (der Held opfert sich oder seine Kinder, um mit seinem bzw. ihrem Blut einen Kranken zu heilen; —» Amicus und Amelius) ist in ihrer Kurzform deshalb akzeptabel, weil sie sich völlig auf die Figur des Helden konzentrieren kann. Wenn hingegen auf großepischer Stufe die Nebenfiguren mit in den Blick fallen, gerät derjenige, der das Opfer annimmt, ins Zwielicht, und es wird die Ermordung der Kinder durch den Vater untragbar (cf. den Lösungsversuch Konrads von Würzburg im Engelhard), bzw. es kann das Selbstopfer problematisch erscheinen (cf. die Figur des Meierstöchterleins im Armen Heinrich —> Hartmanns von Aue). Anders vollzieht sich die Episierung beim Legendentyp des Sünderheiligen: hier wird beim Übergang zur Großform die Abfolge von Sünde-Buße-Gnade problematisiert, d. h. während die Kurzform diese Abfolge in mechanisch wirkender Selbstverständlichkeit darbieten kann, bedeutet der Ubergang zum E., daß die grundsätzliche Schuldhaftigkeit des Menschen und ihr Verhältnis zur göttlichen Gnade zum eigentlichen Thema wird. So ζ. B. in Hartmanns von Aue —» Gregorius (AaTh 933): Hartmann läßt den Helden schuldlos in Schuld geraten und ihn dann einsehen, daß es nicht darum gehen kann, diese Paradoxie aufzulösen, sondern sie als Zeichen für die gefallene menschliche Natur zu verstehen und sich jenseits von allem Aufrechnen von Schuld oder Nicht-Schuld ganz der Gnade Gottes anzuvertrauen. Im übrigen lag es nahe, sich bei diesem Prozeß an die Struktur des höfischen Romans anzulehnen, was zu verschiedenartigen Mischtypen führte 6 0 . Daß auch bei der Legende der Weg zur Großform über Stoffakkumulation und -kombination
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gehen kann, zeigt die Buddhalegende in der verchristlichten Version des Barlaam-Romans (—» Barlaam und Josaphat). Sie ist mit Binnenerzählungen, theol. Exkursen etc. dermaßen angereichert, daß sie ζ. B. bei Rudolf von Ems 16.244 Verse umfaßt. Während bei Märchen und Legenden die Großform mit der Strukturgesetzlichkeit der Kurzform in Konflikt gerät und sich daraus literar. fruchtbare Spannungen ergeben können, schließen sich entsprechende Episierungsprozesse beim Schwank und bei der Tierfabel weitgehend aus. Der Weg zum Schwankroman bzw. zum —» Tierepos führt über ein vorwiegend additives Verfahren, wobei der Gattungssprung, d. h. die neue thematische Brechung, von der Rahmenkonzeption her erfolgt; cf. u. a. —> Strickers P f a f f e Amis, —> Eulenspiegel bzw. Roman de Renart, —> Reineke Fuchs. 1 Beispielhaft in die Problematik einführend mit weiterer Lit.: Wellek, R./Warren, Α.: Theorie der Lit. (Bad Homburg 1959) Ffm. 3 1 9 6 3 , 2 0 2 - 2 1 4 (Orig.-Ausg.: Theory of Literature. N . Y . 1942); Kayser, W.: D a s sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Lit.wiss. (Bern 1948) Bern/Mü. 9 1 9 6 3 , 3 3 0 - 3 8 7 ; Wehrli, M.: Allg. Lit.wiss. (Bern 1951) Bern/Mü. 2 1 9 6 9 , 7 1 - 9 3 ; Schröder, W. J.: E. (Theorie). In: R D L 1 ( 2 1 9 5 8 ) 3 8 1 - 3 8 8 ; Seidler, H.: Die Dichtung. Wesen, Form, Dasein. Stg. ( 1 9 5 9 ) 2 1 9 6 5 , 3 4 4 - 6 5 2 ; Sengle, F.: Vorschläge zur Reform der literar. Formenlehre. Stg. ( 1 9 6 7 ) 2 1 9 6 9 ; Strelka, J.: Methodologie der Lit.wiss. Tübingen 1978, 1 4 6 - 1 6 5 . - 2 Staiger, E.: Grundbegriffe der Poetik. Zürich ( 1 9 4 6 ) 2 1 9 5 1 und öfter. - 3 id.: Andeutung einer Musterpoetik. In: Zmegac, V. (ed.): Methoden der dt. Lit.wiss. Ffm. 1971, 2 4 9 - 2 6 0 ( = In: Unterscheidung und Bewahrung. Festschr. H. Kunisch. B. 1961, 3 5 4 362). - 4 Zur Weiterentwicklung der Fundamentalpoetik in Richtung auf dichotome Systeme cf. bes. Hamburger, K.: Die Logik der Dichtung. Stg. ( 1 9 5 7 ) 2 1 9 6 8 ; Tarot, R.: Mimesis und Imitatio. Grundlagen einer neuen Gattungspoetik. In: Euphorion 6 4 ( 1 9 7 0 ) 1 2 5 - 1 4 2 ; unter sprach- und kommunikationstheoretischen Perspektiven: Bayerdörfer, H.-P.: Poetik als sprachtheoretisches Problem. Tübingen 1967; Hempfer, K. W.: Gattungstheorie. Mü. 1973. - 5 Kuhn, H.: Gattungsprobleme der mhd. Lit. In: id.: Dichtung und Welt im M A . Stg. ( 1 9 5 9 ) 2 1 9 6 9 , 4 1 - 6 1 ; id.: Gattung. In: Handlex. zur Lit.wiss. Mü. 1974, 150sq.; Jauß, H. R.: Theorie der Gattungen und Lit. des MA.s. In: Grundriß der rom. Lit.en des M A . s 1. ed. H. R. Jauß/E. Köhler. Heidelberg 1972, 107-138; Guillen, C.: Literature as System. Princeton 1971,
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107—134; Fechner, J.-U.: Permanente Mutation. Betrachtungen zu einer .offenen' Gattungspoetik (Komparatistische Studien. Beih. zu arcadia 4). B. 1974; Voßkamp, W.: Gattungen als literar.-soziale Institutionen. Zu Problemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie. In: Hinck, W. (ed.): Textsortenlehre — Gattungslehre. Heidelberg 1977, 2 7 - 4 4 . - 6 Kuhn 2 1969 (wie not. 5) 5 6 - 6 1 ; cf. auch Wehrli, M.: Formen ma. Erzählung. Zürich/Fbg 1969, bes. 22sq. 7 Lämmert, E.: Bauformen des Erzählens. Stg. (1955) 2 1967 und öfter. - 8 Kayser (wie not. 1) 349—365. - 9 Stanzel, F. K.: Typische Formen des Romans. Göttingen 1964. — 10 Lukäcs, G.: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphil. Versuch über die Formen der großen Epik. (B. 1920) Neuwied/B. 2 1963 und öfter. 11 Cormeau, C.: ,Wigalois' und ,Diu Cröne'. Zwei Kap. zur Gattungsgeschichte des nachklassischen Aventiureromans. Mü. 1977; Haug, W.: Paradigmatische Poesie. Der spätere dt. Artusroman auf dem Weg zu einer ,nachklassischen' Ästhetik. In: D V L G 54 (1980) 2 0 4 - 2 3 1 ; Kern, P.: Die Artusromane des Pleier. Unters.en über den Zusammenhang von Dichtung und literar. Situation. B. 1981. 12 Wolf, F. Α.: Prolegomena ad Homerum [. . .]. Halle 1795 und öfter. - 13 Lachmann, K.: Uber die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelunge Noth (1816). In: id.: Kl. Sehr. B. 1876, 1 - 8 8 . - 14 cf. Fromm, H.: Elias Lönnrot als Schöpfer des finn. E. Kalevala. In: Veenker, W. (ed.): Volksepen der ural. und alta. Völker. Wiesbaden 1968, 1 - 1 2 . - , s Ker, W. P.: Epic and Romance. L. 1897; Heusler, Α.: Lied und Epos in germ. Sagendichtung. (Dortmund 1905) Darmstadt 2 1955. - 16 A m Nibelungenlied programmatisch entwickelt von Heusler, Α.: Nibelungensage und Nibelungenlied. Dortmund (1920) 5 1955; grundlegend für Schneider, H.: Germ. Heldensage 1. B. (1928) 2 1962; im Prinzip noch festgehalten von See, K. von: Germ. Heldensage. Stoffe, Probleme, Methoden. Ffm. 1971; cf. Haug, W.: Andreas Heuslers Heldensagenmodell: Prämissen, Kritik und Gegenentwurf. In: ZfdA 104 (1975) 2 7 3 292. - 17 Überblick mit Lit.: Haymes, E. R.: Das mündliche E.' Eine Einführung in die 'Oral Poetry' Forschung. Stg. 1977; cf. ferner die Sammelrez. von B. Holbek in: Fabula 20 (1979) 2 8 8 - 2 9 6 ; insbesondere zum europ. bzw. dt. MA.: Curschmann, M.: The Concept of the Oral Formula as an Impediment to Our Understanding of Medieval Oral Poetry. In: Medievalia et Humanistica N.S. 8 (1977) 6 3 - 7 6 ; Heinzle, J.: Mhd. Dietrichepik. Mü. 1978, 6 7 - 7 9 . - 18 Bowra, C. M.: Heldendichtung. Stg. 1964,237 sq., 363 (Orig.-Ausg.: Heroic Poetry. L. 1952). - 19 ibid., 3 86 - 391. - 20 ibid., 3 6 2 386. 21 Hahn, J. G. von: Sagwiss. Studien. Jena 1876; Nutt, Α.: The Aryan Expulsion- and Return Formula in the Folk- and Hero-Tales of the Celts. In: Folklore Record 4 (1881) 1 - 4 4 ; modifiziert:
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id.: Studies on the Legend of the Holy Grail. L. 1888, 1 5 3 - 1 5 5 ; Somerset, F. R., Lord Raglan: The Hero. L. 1936 und öfter; Bowra (wie not. 18) 394. - 22 ibid., 2 7 - 3 1 ; von See (wie not. 16) 10sq.; id.: Was ist Heldendichtung? In: id. (ed.): Europ. Heldendichtung. Darmstadt 1978, 1 - 3 8 . 23 Einen - im Gegensatz zu Bowra (wie not. 18) nicht systematischen, sondern hist.-geogr. Uberblick über die heldenepischen Traditionen der einzelnen Völker mit weiterführender Lit. bietet der Sammelband von Oinas, F. J. (ed.): Heroic Epic and Saga. An Introduction to the World's Great Folk Epics. Bloom./L. 1978; zur europ. Heldendichtung cf. See, K. von (ed.): Europ. Heldendichtung. Darmstadt 1978. - 24 Bowra (wie not. 18) 5 2 4 559; cf. auch den typol. Ansatz von Schirmunski, V.: Vergleichende Epenforschung 1. B. 1961. 25 Bowra (wie not. 18) 5 5 2 - 5 5 4 . - 26 cf. ζ. B. von See (wie not. 16) 23 - 30. - 27 Vries, J. de: Betrachtungen zum Märchen bes. in seinem Verhältnis zu Heldensage und Mythos (FFC 150). Hels. 1954, 175. - 28 Grundlegend: Radermacher, L.: Die Erzählungen der Odyssee. In: SB.e der Akad. der Wiss.en. Wien. Phil.-Hist. Kl. 178 (1916) 1. Abhdlg; jüngst: Page, D.: Folktales in Homer's Odyssey. Cambridge, Mass. 1973. Eine skeptische Position vertreten: Fehling, D.: Amor und Psyche. Die Schöpfung des Apuleius und ihre Einwirkung auf das Märchen, eine Kritik der romantischen Märchentheorie (Akad. der Wiss. und der Lit., Abhdlgen der geistes- und sozialwiss. Kl. Jg 1977, num. 9). Mainz 1977; Moser, D.-R.: Die Homerische Frage und das Problem der mündlichen Überlieferung in volkskundlicher Sicht. In: Fabula 20 (1979) 1 1 6 - 1 3 6 . - 29 Löwisof Menar, A. von: Die Brünhildsage in Rußland. Lpz. 1923; Panzer, F.: Das russ. Brautwerbermärchen im Nibelungenlied. In: Hauck, K. (ed.): Zur germ.-dt. Heldensage. Darmstadt 1961, 1 3 8 - 1 6 9 , hier 165sq. (Nachwort T. Frings: 1 7 0 - 1 7 2 ) ( = In: Beitr.e zur Geschichte der dt. Sprache und Lit. 72 [1950] 4 6 3 - 4 9 8 bzw. 4 9 8 500); cf. ferner: Schirmunski (wie not. 24) 4 5 - 5 3 , der ein internat. verbreitetes ,Heldenmärchen' als Basis ansetzt. - 30 ζ. B. Panzer (wie not. 29) 163. 31 id.: Hilde — Gudrun. Eine sagen- und lit.geschichtliche Unters. Halle 1901; id.: Studien zur germ. Sagengeschichte, t. 1: Beowulf. Mü. 1910; t. 2: Sigfrid. Mü. 1912; cf. auch Schirmunski (wie not. 24) 5 4 - 6 1 . - 32 Rutgers, H. W.: Bemerkungen über das Verhältnis von Märchen und Sage, mit bes. Rücksicht auf die Sigfridsagen. Proefschr. Groningen 1923, 18sq.; de Vries (wie not. 27) 73. 33 Ehrismann, G.: Märchen im höfischen E. In: Beitr.e zur Geschichte der dt. Sprache und Lit. 30 (1905) 1 4 - 5 4 . - 34 Kittredge, G. L.: Arthur and Gorlagon. In: HarvStN 8 (1903) 1 5 0 - 2 7 5 ; id.: A Study of Gawain and the Green Knight. Cambridge, Mass. 1916; Brown, A. C. L.: Iwain. Α Study in the Origins of Arthurian Romance. In: HarvStN 8 (1903) 1 - 1 4 7 ; Dickson. Α.: Valentine and Orson.
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A Study in Late Medieval Romance. N.Y. 1929. — 35 Ruh. Κ.: Höfische Epik des dt. MA.s 1. B. (1967) 2 1977, 1 0 2 - 1 0 5 , 1 2 0 - 1 2 4 ; Haug, W.: Die Symbolstruktur des höfischen E. und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach. In: D V L G 45 (1971) 668 — 705, hier 671—675; Frappier, J.: Chretien de Troyes. In: Loomis, R. S. (ed.): Arthurian Literature in the Middle Ages. Ox. (1959) 2 1961, 1 5 7 - 1 9 1 , hier 1 6 1 - 1 6 4 . - 3 6 Propp. - 37 Nolting-Hauff, I.: Märchen und Märchenroman. Zur Beziehung zwischen einfacher Form und narrativer Großform in der Lit. In: Poetica 6 (1974) 1 2 9 - 1 7 8 ; Wachsler, Α. Α.: The Celtic Concept of the Journey to the Otherworld and Its Relationship to Ulrich von Zatzikhoven's Lanzelet. A Structural Approach to the Study of Romance Origins. Diss. L. A. 1972; Firestone, R. R. H.: Elements of Traditional Structure in the Couplet Epics of the Late Middle High German Dietrich Cycle. Göppingen 197 5. - 3 8 NoltingHauff (wie not. 37); kritisch dazu: Cormeau, C.: Artusroman und Märchen. Z u r Beschreibung und Genese der Struktur des höfischen Romans. In: Wolfram-Studien 5 (1979) 6 3 - 7 8 . - 39 LeviStrauss, C.: Die Struktur und die Form. In: Propp, 1 8 1 - 2 1 3 (Orig.-Ausg.: La Structure et la forme. In: Cahiers de l'ISEA 99 [1960] 3 - 36). - 4 0 Bremond, C.: Die Erzählnachricht. In: Ihwe, J. (ed.): Lit.wiss. und Linguistik 3. Ffm. 1 9 7 2 , 1 7 7 - 2 1 7 (Orig.-Ausg.: Le Message narratif. In: Communications 4 [1964] 4 - 3 2 [mit anderen Studien zur Narrativik aufgenommen in id.: Logique du recit. P. 1973, 11 — 47]). 41
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Epos
Greimas, A. J.: Die Struktur der Erzählaktanten. Versuch eines generativen Ansatzes. In: Ihwe (wie not. 40) 2 1 8 - 2 3 8 (Orig.-Ausg.: La Structure des actants du recit. Essai d'approche generative. In: Juilland, A. [ed.]: Linguistic Studies. Festschr. Α. Martinet 1. N.Y. 1967, 2 2 1 - 2 3 8 [ = In: Greimas, A. J.: Du Sens. Essais semiotiques. P. 1970, 249— 270]). - 42 Stierle, K.: Text als Handlung. Perspektiven einer systematischen Lit.wiss. Mü. 1975, 2 0 2 - 2 1 1 ; Warning, R.: Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman. In: Grundriß der rom. Lit.en des MA.s 4. ed. H. R. Jauß/E. Köhler. Heidelberg 1978, 2 5 - 5 9 . - 4 3 Bowra (wie not. 18 ) 3 2 9 - 3 4 8. - 44 cf. Heubeck, Α.: Die homerische Frage. Ein Ber. über die Forschung der letzten Jahrzehnte. Darmstadt 1974, Kap. 1,4, bes. 1 4 6 - 1 4 9 . - 45 Fromm, H.: Der oder die Dichter des Nibelungenliedes? In: Colloquio italo-germanico sul tema I Nibelunghi. Atti dei convegni Lincei. Roma 1974, 6 3 - 7 4 ; dazu Curschmann (wie not. 17). - 4 6 cf. Haug, W.: Struktur und Geschichte. In: G R M 54 (1973) 1 2 9 - 1 5 2 , hier 1 3 1 133, 1 3 5 - 1 3 7 und pass. - 4 7 Curschmann, M.: Der Münchener Oswald und die dt. spielmännische Epik. Mü. 1964, 1 0 1 - 1 0 9 . - 4 8 Ruh (wie not. 35) 1 1 5 - 1 4 1 . - 4 9 Eine Reihe jüngerer Arbeiten zu Märchenmotiven im höfischen Roman sind in dem Maße wertvoll, in dem sie den funktionalen Aspekt herausstellen: Völker, W.: Märchenhafte Elemente
bei Chretien de Troyes (Romanistische Versuche und Vorarbeiten 39). Bonn 1972; Niessen, Μ. H.: Märchenmotive und ihre Funktion für den Aufbau des höfischen Romans, dargestellt am ,Iwein' Hartmanns von Aue. Diss. Münster 1973; Mauritz, H.-D.: Der Ritter im magischen Reich. Märchenelemente im frz. Abenteuerroman des 12. und 13. Jh.s. Bern 1974; Carasso-Bulow, L.: The Merveilleux in Chretien de Troyes' Romances. Geneve 1976. - 50 Lüthi, Europ. Volksmärchen, 8 - 7 5 . 51 Crapelet, G. A. (ed.): Partonopeus de Blois. P. 1834; zu Herkunft und Verbreitung des Stoffes zuletzt: Uri, S. P.: Some Remarks on Partonopeus de Blois. In: Neophil. 37 (1953) 8 3 - 9 8 (mit Bibliogr.). - 5 2 Es tut nichts zur Sache, wenn es sich - nach Fehling (wie not. 28) - hierbei nur um ein Apulcius-abstract bei Fulgentius handelt. 53 Verflex. 2, 9 0 8 - 9 1 0 . - 54 Verflex. 1 ( 2 1978) 2 0 0 - 2 0 6 , hier 203. - 55 ed. P. Sappler. In: Wolfram-Studien 4 (1977) 173 - 2 7 0. - 5 6 cf. zur gesamten Gruppe: Gerould, H.: Forerunners, Congeners, and Derivatives of the Eustace Legend. In: PMLA 19 (1904) 3 35 - 448. - 5 7 cf. zur gesamten Gruppe: Schlauch, Μ.: Chaucer's Constance and Accused Queens. N.Y. 19 27. - 58 cf. Lugowski, C.: Wirklichkeit und Dichtung. Ffm. 1936, 1 - 2 5 . - 5 9 Es, G. A. van (ed.): De jeeste van Walewein en het schaakbord van Penning en Pieter Vostaert 1 - 2 . Zwolle 1957 (t. 1: Culemborg 2 1976); Draak, A. Μ. E.: Onderzoekingen over de Roman van Walewein. (Haarlem 1939) Groningen 2 1 97 5. - 6 0 cf. Wehrli, M.: Roman und Legende im dt. Hochmittelalter. In: Worte und Werke. Festschr. B. Markwardt. B. 1961, 4 2 8 - 4 4 3 ( = id. [wie not. 6] 155-176).
Tübingen
Walter Haug
Erasmus, Hl. (Fest 2. Juni), hist, nicht exakt nachweisbarer Bischof von Formia und Märtyrer der diokletianischen Verfolgung. Die E.-Legende weist typische Kennzeichen und Motive der Märtyrerlegende, dazu eine auffällige Doppelung des Handlungsschemas auf 1 : E. flieht vor der Verfolgung des Diokletian aus Antiochien in die Wüste. Sieben Jahre weilt er auf dem Libanon und vollbringt große Wunder: Er erhält Nahrung von einem Raben gebracht (cf. Tubach, num. 757, 1887), redet mit Engeln und hat vertrauten Umgang mit wilden Tieren 2 . In die Stadt zurückgekehrt, läßt ihn Diokletian gefangennehmen und, als er sich weigert, den heidnischen Göttern zu opfern, vielfachen Foltern unterwerfen, zuletzt mit siedendem Blei, Pech, Schwefel, Wachs und Öl übergießen (cf. Mot. Q 414.1). Unversehrt
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Erasmus
übersteht Ε. alle Martern. Ein Erdbeben aber tötet ein Drittel der Bevölkerung 3 . Nun läßt Diokletian den Hl.n ohne Nahrung in den Kerker werfen, den er eigenhändig versiegelt. Ein Engel jedoch befreit ihn und führt ihn nach Lugridum in Italien 4 . Dort heilt E. Kranke und erweckt einen Jüngling vom Tode; daraufhin lassen sich gegen 40.000 Menschen taufen. Als der Kaiser (des Westreiches) Maximianus davon hört, läßt er E. ergreifen und martern, da dieser sich weigert, den Göttern zu opfern. Nach Sirmium an der Save (heute Sremska Mitrovica) gebracht, stürzt ein Götzenbild zusammen, als E. den heidnischen Tempel betritt. Ein Drache tritt daraus hervor und tötet ein Drittel der Bevölkerung. Als das Volk die Macht des Hl.n sieht, lassen sich 40.000 taufen. Der Kaiser aber läßt E. nunmehr in ein Gewand aus glühendem Erz stecken, schließlich läßt er ihn in einen Kessel mit siedendem Blei, Pech, Wachs und Öl steigen. E. bleibt unversehrt, der Kaiser jedoch wird von einer glühenden Woge angesengt 5 . Erneut im Gefängnis, entführt ihn der Erzengel Michael nach Formia in Campanien, wo er das Volk sieben Jahre lang im Glauben unterweist; ein Engel bringt ihm täglich Speise (cf. Mot. V 232.3). Dort stirbt er, nachdem er zuvor für die Witwen und Waisen gebetet hatte.
In der Campagna wurde E. bereits im 6. Jh. verehrt (erste Nennung im Martyrologium Hieronymianum um 450). 842 erfolgte die Translation nach Gaeta. Insbesondere in den Küstengebieten der Mittelmeerländer wird E. als Patron der Seeleute verehrt. Die Lichterscheinung an erhabenen Gegenständen — bei starker elektrischer Aufladung der Luft — (etwa an Schiffsmasten) wird mit E., der in rom. Ländern St. Elmo heißt, unter der Bezeichnung Elmsfeuer in Verbindung gebracht6. Als ein solches Elmsfeuer wurden — zu Unrecht — gelegentlich die Marter-Pfriemen (Schusterahlen) unter den Fingernägeln des Hl.n auf bildlichen Darstellungen gedeutet. Eine Mißdeutung erfuhr auch ein wohl ursprüngliches Schiffswinden-Attribut des Schifferpatrons: als Winde mit (beim Martyrium des Hl.n) herausgewundenen Gedärmen 7 . Freilich blieb diese Herleitung des Attributs der Gedärmwinde und damit des Winden-Martyriums in der Legende aus einem ursprünglichen Schiffswinden-Attribut in der wiss. Lit. nicht unbestritten. Im Gegensatz dazu wird auch eine freie Weiterdichtung der Legende mit neuen Marterszenen (in Gaeta bis Ende des 13. Jh.s) angenommen, wonach dann erst (seit Beginn des 15. Jh.s) das Windenattribut gebildet wurde 8 . Auch die Über4
Enzyklopädie des Märchens IV
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nahme der Gedärmwinde aus einem anderen Martyrium, vielleicht aus der Legende des hl. Thiemo, wird vermutet 9 . Das Marter-Motiv des Herauswindens der Gedärme läßt E. zum Helfer bei Koliken, Krämpfen, allg. bei Unterleibsleiden werden 10 . Das Attribut der Winde macht ihn zum Patron der Drechsler. Außerdem ist er Schutzherr der Weber und der Haustiere. Im dt.-sprachigen Gebiet ist E. seit Beginn des 14. Jh.s einer der —» Vierzehn Nothelfer. In Liedern von den Vierzehn Nothelfern wird vornehmlich sein frühes, aus dem Gebet vor seinem Tod abgeleitetes Sonderpatronat für Witwen und Waisen angesprochen: „Erasmus sieben Jahre gespeiset ein Rab', / Starke Marter übertragen mit Gottes Genad. / Erasme, den Wittwen und Waisen vor Gott / Ein Helfer sey, wenn sie dir klagen ihr' Noth!" 11 Von der Wallfahrtsforschung beachtet ist die bis in heutige Zeit blühende bäuerliche Verehrungsstätte in Heiligenberg (Niederbayern) 12 , während auf den E.kult in der E.kapeile bei Reinhardsachsen (Baden) erst jüngst aufmerksam gemacht wurde 13 . I AS Junii 1, 2 1 3 - 2 1 6 ; Bibliotheca sanctorum 4. Roma 1964, 1 2 8 8 - 1 2 9 3 ; Reau, L.: Iconographie de Γ art chretien 3,1. P. 1958, 4 3 7 - 4 4 0 ; Legenda aurea/Graesse, cap. 199 (De sancto Erasmo); LThK 3, 955; Fiore, K.: Vita dei santi Erasmo e Marciano. Roma 1950. — 2 Zum Verhältnis der Hll.n zu den Tieren cf. Günter, H.: Legenden-Studien. Köln 1906, 37. Als ein miraculum post mortem wird E. ein Galgenwunder zugeschrieben: Er durchschneidet den Strick eines Gehängten mit dem Schwert, cf. ibid., 160. — 3 Hll. werden in der Legende oft als unverletzlich dargestellt, Tod und Verderben kommt über ihre Verfolger, cf. ibid., 42; Günter 1949, 142. - 4 cf. Günter (wie not. 2) 30; Mot. R 121.6, V 232.4. - 5 Das unwirksame Feuer hat sein Vorbild in der Geschichte von den Jünglingen im Feuerofen im Α. T. (Dan. 3); cf. Günter (wie not. 2) 23; Günter 1949, 141. - 6 H D A 2, 791 sq. und 866sq.; Günter 1949, 189. - 7 c f . Hindringer, R.: Die E.winde. In: Bayer. Heimatschutz 25 (1929) 131; Kriss, R.: Die Vk. der altbayer. Gnadenstätten 1. Mü.-Pasing 1953, 241. 8 Braun, J.: Tracht und Attribute der Hll.n in der dt. Kunst. Stg. 1943, 229; cf. Assion, P.: Die St. E.kapelle bei Reinhardsachsen. In: Bad. Heimat 51 (1971) 2 6 5 - 2 7 9 , bes. 267. - 9 LCI 6, 1 5 6 - 1 5 8 , bes. 157. - 10 H D A 2, 866sq. II Ditfurth, F. W. von: Fränk. Volkslieder [. . .] 1. Lpz. 1855, 68; weitere Lieder von den Vierzehn Nothelfern, in denen auch E. besungen wird: ibid., 6 4 - 7 6 ; cf. Günter (wie not. 2) 115. - 12 Kriss (wie
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Erasmus von Rotterdam
not. 7) t. 2 (1955) 4 6 - 5 1 ; cf. H D A 2, 866sq. 13 Assion (wie not. 8); id.: Reinhardsachsen und der hl. Valentin von Rufach. In: Bad. Heimat 56 (1976) 1 9 2 - 2 0 8 , bes. 1 9 1 - 1 9 7 und not. 8 mit Hinweisen auf weitere E.-Kultstätten (bes. Kapelle der Burg Sprechenstein bei Sterzing).
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zeiten 2 ; für eine Gesamtausgabe seiner Werke beim befreundeten Basler Verleger Hieronymus Froben gab er bereits 1527 Anweisungen3.
2. F o r s c h u n g s s t a n d . In der unübersehbaren Lit. über E. 4 stehen seine Bedeutung für den Humanismus nördl. der Alpen und für die Reformation, sein ambivalentes Verhältnis zu Luther und seine Abwendung vom Erasmus von Rotterdam Neuen Glauben, dem er mit der Edition des N.T.s (Basel 1516) entscheidende Impulse 1. Biographie - 2. Forschungsstand — 3. E. als gegeben hatte, im Vordergrund. In der GeVermittler antiken Erzählguts - 4. Kategorien des Erzählguts — 5. Jüngeres Erzählgut — 6. Wirkungen schichte der Philologie ist er als Herausgeber und Übersetzer berühmt. Untersucht worden 1. B i o g r a p h i e . (Desiderius) E. v. R., sind auch seine pädagogischen Schriften. »Rotterdam 27. oder 28. 10. 1466 oder 1469, Wenig beachtet blieben seine theoretischen t Basel 12. 7. 1536, Theologe, Philologe und und praktischen Beiträge zum volkstümlichen Humanist. Er war unehelicher Sohn eines Erzählen, obwohl schon sein jüngerer ZeitPriesters, seine Jugendzeit bleibt weitgehend genosse Johannes —» Gast(ius) über 40 Stücke im Dunkeln. Sicher war er Schüler bei den aus verschiedenen Werken des E. in seine (Basel 1541 sqq.) überBrüdern vom Gemeinsamen Leben, zuerst in Convivales sermones 5 nommen hatte . Gouda, dann in Deventer und 's Hertogenbosch. Um 1484 Eintritt ins Augustinerkloster Steyn bei Gouda, 1492 Priesterweihe. 3. E. als V e r m i t t l e r a n t i k e n E r z ä h l 1493 Sekretär des Bischofs von Cambrai, guts. Schon im Jugendwerk Antibarbari 1495-99 Studium in Paris (Dr. theol. erst (ASD 1,1,1 sqq. [v. Ausg.n]) wandte sich E. 1506 auf der Durchreise in Turin). 1499 lei- gegen die Ausschließung ,heidnischer' Autotete eine Fahrt nach England sein unstetes ren vom Schulunterricht. In der Folge beWanderleben ein: 1500 wieder in Paris, mühte er sich im besonderen, Werke der 1501—04 in den Niederlanden, 1505 erneut griech. Lit. in Westeuropa bekannt zu machen. in Paris, 1505/06 in England, dann bis 1509 So übersetzte er die Hekabe und die Aulische in Italien (u. a. Bologna, Venedig, Rom), Iphigenie des Euripides (ASD 1,1,193 sqq.) 1510—14 wieder in England, dann bis 1521 in und Dialoge Lukians (ASD l,l,379sqq.) ins den Niederlanden; von dort aus 1514 ein Lateinische. Als eigentlichen Lieblingsautor erster Besuch in Basel, wo er sich von 1521 — empfahl er bei vielen Gelegenheiten Plutarch, 29 niederließ. Der Papst dispensierte ihn den er „als Vermittler von Lebensweisheit, Er1517 vom Klostergelübde und erklärte ihn ziehungsgrundsätzen und Gesundheitsregeln ,ehrlich', womit der Makel seiner Geburt von hochschätzte" 6 ; auch von ihm hat er Verschieihm genommen war. Nach dem Erfolg der denes übersetzt (ASD 4,2,100sqq.). Reformation in Basel siedelte E. nach Freiburg (Breisgau) über, kehrte aber kurz vor Ein eigentliches Sammelwerk antiken Erseinem Tode nach Basel zurück1. zählguts mit Bevorzugung anekdotischer Akademischen Unterricht erteilte er nur Stücke sind die Adagia (LB 2 [v. Ausg.n]), die selten und kurzfristig; viele Berufungen hat er in der letzten Fassung 4.151 Sprichwörter und abgelehnt. In der Jugend lebte er zuweilen als sprichwörtliche Redensarten enthalten 7 , bei Privatlehrer; später konnte er sich als der ge- deren Interpretation E. die damit verbunfeiertste Autor seiner Zeit das Dasein eines denen Geschichten, meist mit Nennung der Privatgelehrten leisten. Er stand mit bedeu- Autoren 8 , zitiert oder zusammenfaßt, und tenden Gelehrten, Kirchenmännern und Für- zwar öfters mit Var.n, die noch der heutigen sten in persönlichem und brieflichem Kon- Erzählforschung nützlich sein können. Ein takt. Eigene Briefe edierte er schon zu Leb- Beispiel: Würzburg
Erich Wimmer
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Adagia 1,1,96 handelt vom unsichtbar machenden Ring des —» Gyges (Mot. D 1361.17). E. erzählt nach Piaton (Politeia, 359 sq.), erwähnt die Kurzfassung bei Cicero (De officiis 3,38) und verweist darauf, daß Herodot (1,8—12) die Ablösung des 1yd. Königs Kandaules durch Gyges ohne das Motiv des Rings schildert. Die anschließende num. (auch AW 7,366 sq. [v. Ausg.n]) bringt assoziativ eine Zusammenstellung über Zauberstäbe (Mot. D 1254). Es ist unmöglich, hier eine Vorstellung von der Fülle der Gattungen und Stoffe zu bieten. Fabeln kommen oft zum Zuge, meist ohne Qu.nnachweis, so ζ. B. 1,2,14 (nach Aesop, num. 255): Der Wolf klagt den Fuchs beim kranken Löwen wegen Majestätsbeleidigung an; der Fuchs zieht sich aus der Affäre, indem er dem König als Mittel zur Gesundung empfiehlt, dem Wolf bei lebendigem Leib das Fell abzuziehen und sich darein zu hüllen (Mot. Κ 961.1.1). Von Realistischen' Tiergeschichten seien die —> Kraniche des lbykus (1,9,22 nach Plutarch, Moralia, 509 f; AaTh 960 A) und die Überführung von Verbrechern durch Hunde (1,7,47 nach Plutarch, Moralia, 969c-970a; Mot. J 1145.1) genannt 9 . In den Bereich der Mythologie führt Leda mit dem Schwan (2,2,21), wie denn überhaupt ein großes Stück der antiken Sagenwelt eingefangen ist, z.B. -> Polyphem (1,4,5; AaTh 1135-1137), Augiasstall (2,4,22), Agamemnons Ermordung (2,6,6), -> ödipus (1,7,61; AaTh 931), das -> Danaidenfaß (1,10,33). Als Proben für die nicht zahlreichen märchenhaften Motive aus dem Altertum seien genannt: Epimenides hat sich in einer Höhle schlafen gelegt und erwacht erst nach 47 (richtig: 57) Jahren wieder (1,9,64 nach Diogenes Laertios 1,109 und Plinius, Naturalishistoria 7,175; cf. Mot. F 564.3.4); Schatzsucher fürchten, statt Gold —> Kohlen zu finden (1,9,30 nach Lukian 153, 840 u. a.; cf. Mot. Ν 558); im Zusammenhang, daß jeder Mensch einen guten und einen bösen Genius habe, ist (1,1,72 nach Plutarch, Vitae, 1000 f) die Geisterscheinung genannt, die dem Brutus ankündigte: „Bei Philippi sehen wir uns wieder" 10 . Weiter vermittelt E. zahlreiche hist. Anekdoten, ζ. B.: Histiäus brennt eine geheime Nachricht auf den Schädel eines kahlgeschorenen Sklaven und schickt ihn zum Empfänger, nachdem das Haar nachgewachsen ist (3,4,42 nach Herodot 5,35 und Aulus Gellius 17,9,18-27). Dabei nimmt Schwankartiges breiten Raum ein: Die Thraker haben mit den Böotiern einen Waffenstillstand für einige Tage vereinbart, greifen aber nachts an. Ausrede: Die Vereinbarung habe sich auf die Tage, nicht auf die Nächte bezogen (1,10,28 nach Strabon 401,4, auch das ein typisches Beispiel für die Gattung der —» Kriegslisten; cf. Mot. Κ 2350 11 ). - Ein Römer stellt sich schlafend, wäh4*
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rend sein Gast, der reiche Maecenas, mit seiner Frau flirtet. Wie ein Diener seinen Wein austrinken will, fährt er ihn an: „Hast du nicht gemerkt, daß ich nur für Maecenas schlafe?" (1,6,4 nach Plutarch, Moralia 759f—760a). - Ein Lehrer der Rhetorik hat mit seinem Schüler vereinbart, die zweite Hälfte des Ausbildungsbeitrags erst einzukassieren, wenn dieser seinen ersten Prozeß erfolgreich bestanden hat. Der Schüler prozessiert zuerst gegen den Lehrer; wegen der genannten Bedingung muß dieser auf jeden Fall verlieren, aber der Lehrer dreht das Argument um und zeigt, daß in jedem Fall e r gewinnt (1,9,25 nach Aulus Gellius 5,10,4sq. und Var.n; Mot. Ρ 342.1). — Eine Hetäre verlangt vom Liebhaber, der von ihr geträumt hat, Lohn. Der Richter entscheidet, sie sei mit dem Schatten des Geldes zu bezahlen (2,65 nach Plutarch, Vitae, 901; cf. AaTh 1804: -> Scheinbuße). - Der Kyniker -> Diogenes uriniert auf die Beine der Leute, die ihm Knochen zum Fraß vorgeworfen haben (1,78 nach Diogenes Laertios 6,46). Schwankhaftes dominiert in den Apophthegmata (LB 4,85—380 [v. Ausg.n]), wo über 2.000 geistvolle Aussprüche aus der antiken Lit., vor allem aus Plutarch und aus den Philosophenviten des Diogenes Laertios, zusammengetragen sind 12 . Auch in den übrigen Schriften kann man immer wieder auf antikes Erzählgut stoßen: Im Nephalion symposion der berühmten Colloquia familiaria (ASD 1,3,643—646) ersetzen Apophthegmata und Anekdoten (vor allem aus Plutarch und Diogenes Laertios) Speise und Trank. Ein Beispiel: Philipp von Makedonien bestraft den athen. Gesandten nicht, der zum Abschied den Wunsch geäußert hat, der König möge sich aufhängen (nach Seneca, De ira 3,23). — Im Ecclesiastes (LB 5,866) nennt E. als mögliches Predigtexempel, was Plinius (Naturalis historia 8,61) nicht als ,fabula', sondern als Tatsache erzählt hat: Einer zog eine Schlange auf, setzte sie aber aus, als ihre Größe bedrohlich wurde. Später wurde der Mann im Wald von Räubern gefesselt; als er um Hilfe rief, erkannte die Schlange seine Stimme, und ihr Erscheinen vertrieb die Räuber (Mot. Β 524.3). Assoziativ schließt E. als weitere Probe für —» dankbare Tiere, wie so oft aus dem Gedächtnis zitierend (nach Aulus Gellius 5,14), —> Androklus und der Löwe (AaTh 156) an. 4. K a t e g o r i e n d e s E r z ä h l g u t s . U m scharfe Abgrenzungen des von ihm verwerteten Erzählguts hat sich E. wenig gekümmert. ,Fabula' verwendet er bald generell für Geschichten aller Art 13 , bald für unwahre oder unwahrscheinliche Stoffe; für ,Altweibermärchen' versieht er ,fabulae' mit dem Zusatz
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,aniles' 14 . Fabeln im heutigen Sinn nennt er dagegen ,apologi' (z. B. LB 2,3, Einl. zu den Adagia)15. Zuweilen scheidet er die wahre ,historia' nach dem Vorbild Quintilians (LB 2,4,2) von der ,fabula' 16 . Einmal (LB 9,523) vermerkt er, bei den Griechen weise ,mythos' dieselbe Mehrdeutigkeit auf wie ,fabula'; verbindendes Element sei, daß die ,fabulae', seien sie wahr oder nicht, vom Volk erzählt würden 17 . Eindeutiger war für ihn der Begriff der Apophthegmata, die er als ,kurze und geistreiche Aussprüche' definiert (LB 4,88) 18 ; wo er von ,iocus' spricht, darf man ,Witz' einsetzen 19 . Als Sonderform nennt er (LB 2,3) die griech. ,skömmata', die persönlich gehaltenen aggressiven Scherzreden 20 , die er (LB 2,505 im langen Adagium 2,2,51) auch als ,sales' bezeichnet. In seinen Erziehungsschriften kommt er verschiedentlich auf die Bedeutung der Erzählstoffe für die propädeutische Ausbildung zu sprechen (ζ. B. ASD l,2,126sqq.), und seine eigenen Beiträge haben denn auch immer zum Ziel, jugendlichen Lesern im Sinne der antiken Rhetorik (cf. Quintilian 1,9,2) guten lat. Stil beizubringen und sie gleichzeitig intellektuell und moralisch zu fördern: daher die häufige Kritik an obszönen Stoffen. Der Heiterkeit und dem Witz aber gewährt E. für den weltlichen Bereich praktisch und theoretisch (cf. LB 1,99 sq.) breiten Raum. Heiterkeit, sagt er in der Einl. zum 6. Buch der Apophthegmata (LB 4,273), paßt zum gemeinsamen Trunk, sofern das Obszöne ausgeschlossen bleibt. 5. J ü n g e r e s E r z ä h l g u t . Im profanen Bereich bekundet sich das Vergnügen des E. an Anekdotischem darin, daß er oft an antike Geschichten oder Sprichwörter eigene Erlebnisse oder aktuelles Erzählgut anschließt 21 : Daß es Leute gibt, die Streit anfangen, um eine Schuld nicht bezahlen zu müssen (Adagia 1,8,96), illustriert er mit dem Fall eines ihm bekannten dt. Arztes, der einem reichen Londoner Hilfe geleistet hatte, von dem Geheilten aber den Vorwurf einstecken mußte, er habe ihn (in lat. Sprache!) geduzt. — Ungeduld (Adagia 4,5,55) exemplifiziert er nach „einem volkstümlichen Scherz" mit einem Holländer, der nach der Einnahme einer Pille erwartete, schon geheilt zu sein, und mit einem andern, der sich wunderte, nach drei Tagen Aufenthalt in Frankreich noch nicht frz. sprechen zu kön-
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nen (cf. Mot. W 196). - Zur Redewendung von den Mykoniern, die sich selber einladen (Adagia 4,8,24), stellt er nach der Erzählung eines engl. Freundes die Geschichte von dem Iren, dem es mit Unverschämtheit gelang, am engl. Hof ein Mittagessen zu bekommen 22 . - Entsprechend schließt er in der Schrift Lingua (ASD l,4,281sq.) an die auch hier erwähnten Kraniche des lbykus das eigene Erlebnis mit einem Dieb in London an, der sich durch eine ungeschickte Frage verriet 23 . - Der bibl. Bericht, wie sich David ungewollt selber das Urteil sprach (2. Sam. 12), ist im Ecclesiastes (LB 5,927) mit einem ndl. Schwank ergänzt, wo sich ein Schulze selbst verurteilt (AaTh 1734*: Whose Cow was Gored)2".
Mündliches Erzählgut hat er mehrfach als erster aufgezeichnet, so im Convivium fabulosum der Colloquia (ASD l,3,438-449) 2 5 . Drei lustigen Betrugsfällen aus Holland folgen vier Schwänke von König Ludwig XI., die E. wohl in Frankreich zu hören bekam 26 , dann eine Anekdote über Kaiser Maximilian und zwei von einem schlauen Priester in Löwen. ,Lebensnah' wirkt die assoziative Verknüpfung dieser Geschichten, wie E. auch sonst den Erzählsituationen Aufmerksamkeit geschenkt hat 27 : Geistigen Leerlauf in Barbierstuben 28 tadelt er ebenso wie Unappetitlichkeiten, welche Ärzte zum besten geben 29 . Die zeitgenössischen Schwankbücher scheint er nie benützt zu haben; Poggio erwähnt er wegen der Obszönitäten mit Abscheu 30 . Schlüpfriges erlaubt er in Predigten so wenig wie Geschmackloses und Unglaubwürdiges. Spott über die Predigtweise der Bettelorden findet sich in allen Epochen seines Lebens: Im Lob der Torheit (ASD 4,3,66-195) polemisiert er gegen —» Vincent de Beauvais und die —» Gesta Romanorum (166); im Spätwerk Ecclesiastes formuliert er (LB 5,770sq.), zwischen einem ,pastor' und einem ,impostor' (Betrüger) dürfe es keine Gemeinsamkeit geben. ,Pfaffenbetrug' stellt er im Exorcismus der Colloquia (ASD 1,3,417-423) genüßlich dar; in diesen Rahmen gehört auch die von ihm zuerst bezeugte Geschichte vom Pfarrer, der mit Kerzen beklebte Krebse als unerlöste Seelen ausgab (Allen, num. 2037 [v. Ausg.n]; AaTh 1740: —> Lichterkrebse). Als abschreckende Kostproben notiert er geschmacklose Exempla; seinen bes. Zorn erregten die —» Ostermärlein 31 .
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ton, R. Η.: E. of Christendom. N.Y. 1969 (dt.: 6. W i r k u n g e n . Daß in der ,hohen' Lit., E., Reformer zwischen den Fronten. Göttingen und zwar nicht nur auf evangel. Seite 32 , das 1972). - 2 Zuerst 1516; definitive Fassung: Opus profane Werk des E. weiterwirkte, weiß epistolarum. Basel 1529. — 3 Huizinga 1958 (wie man 33 . Dagegen ist erst bruchstückhaft benot. 1) 164. Die erste Gesamtausg. erschien postum kannt, wie weit seine Erzählstoffe in populäre 1540; cf. auch Reedijk, C.: Tandem bona causa Slgen gelangt sind. Eine der holländ. Diebstriumphat. Zur Geschichte des Gesamtwerkes des geschichten aus dem Convivium fabulosum E. Basel/Stg. 1980. - 4 Bibliogr.n: Margolin, J.-C.: Quatorze Annees de bibliogr. erasmienne (1936kam in den erweiterten —» Eulenspiegel von 1949). P. 1959; id.: Douze Annees de bibliogr. 1532 (92. Historie) 34 . Aus dem Naufragium erasmienne (1950-1961). P. 1963; id.: Neuf der Colloquia ( A S D 1,3,325—332) übernahm Annees de bibliogr. erasmienne (1962-1970). P. Georg —» Wickram unter Angabe der Qu. die 1977; Basler Bibliogr. (Beilage zur Basler Zs. für Geschichte vom Seefahrer, der in Not eine Geschichte und Altertumskunde). Basel 1937 sqq. 5 riesige Kerze gelobte, sich aber gegebenencf. Trümpy, H.: Theorie und Praxis des volkstümlichen Erzählens bei E. v. R. In: Fabula 20 (1979) falls billiger aus der Affäre zu ziehen hoffte 239-248; cf. auch not. 25. - 6 Newald (wie not. 1) (AaTh 778: Geloben der großen —» Kerze), 99; cf. ibid., 260sq.; Philipps, Μ. Μ.: E. and the als num. 2 ins Rollwagenbüchlein. Zwei frz. Classics. In: Dorey, Τ. A. (ed.): E. L. 1970,1-30. Schwankbücher des 16. Jh.s verwerteten 7 Zahl nach T. Payr in der für die Entstehungsge35 Stücke aus verschiedenen Schriften des E. schichte der Slg wichtigen Einl. zu AW 7, XXIII (v. In Lodovico —> Domenichis Facezie, motti et Ausg.n). — 8 Eine Zusammenstellung der von E. selbst genannten Autoren bei Philipps, Μ. M.: The bvrle (Venedig 1548 und öfter) sind Stücke ,Adagia' of Ε. Cambridge 1964, 393-403. - 9 cf. des Ε. ζ. T. aus Gast, ζ. T. direkt übernomauch den Dialog Amicitia in den Colloquia familiamen. Die Londoner Diebsgeschichte figuriert ria (ASD 1,3, 700-709), wo nach antiken Autoren 1713, gekürzt und ohne Qu.nangabe, in den das Verhältnis zwischen den Menschen und verDoctae nugae des ,Gaudentius Iocosus' (num. schiedenen Tieren erörtert ist. — 10 cf. noch den 52). Grundsätzlich müßten vor allem antike Ciceronianus (ASD 1,2, 619), wo Ixion und Paris Stoffe in der Exempel- und Unterhaltungslit. nur Trugbilder ihrer Geliebten umarmen (Nachweise von T. Payr in: AW 7, 60 sq.). — seit dem 16. Jh. daraufhin geprüft werden, ob 11 Die antike Bezeichnung ,strategemata' verwensie aus den immer wieder aufgelegten Adagia det E. (LB 4, 88 = Einl. zu den Apophthegmata) 36 oder aus den Apophthegmata stammen . Es selbst, wobei er Frontin erwähnt. — 12 cf. Verist ζ. B. gewiß nicht belanglos, daß sich der weyen, T.: Apophthegma und Scherzrede. Bad Typus der —> Altentötung (AaTh 981) in den Homburg/B./Zürich 1970, bes. 96-100. - 13 Das Adagia (1,5,37) findet. notiert auch Bietenholz, P. G.: History and Biography in the Work of Ε. of R. Geneve 1966, 26. — 14 Der Einfluß des E. erstreckt sich aber über cf. Trümpy (wie not. 5) 242 und Ecclesiastes (LB die einzelnen Erzählinhalte hinaus: Seine 5, 860), wo „inepta, anilia, parumque verecunda" in Predigten getadelt werden. — 15 Die fehlerhafte Aufforderung, Erzählungen und Aussprüche Übers, einer Stelle aus Ratio seu methodus (LB 5, zu sammeln (ζ. B. LB 1,100), wurde verschie80) von G. B. Winkler (AW 3, 150) wäre entdentlich befolgt 3 7 ; seine Angriffe gegen Obszösprechend zu verbessern. — 16 cf. Bietenholz (wie nitäten haben zweifellos dazu beigetragen, not. 13) 18, 24. - 17 cf. LB 9,523 (Supputatio errodaß sich der Geschmack änderte und die Derbrum in censuris Beddae, 1527): „Quicquid enim heiten der Schwankliteratur zurückgedrängt vulgo circumfertur sermone populi, fabula dicitur". - 18 cf. auch die Vorrede zu den Apowurden 38 . Weitgehend auf seine Apophthegphthegmata (LB 4, 88): Sie drückten „breviter, mata dürfte es schließlich zurückzuführen sein, argute, salse et urbane" das Wesen eines Individaß die kurzen Witze, die mit der Pointe duums oder auch einer Nation aus, wobei sicher an enden 3 9 , so ungemein populär geworden sind, die oft erwähnte lakonische Kürze gedacht ist; cf. und zwar sicher nicht erst mit dem 19. Jh., auch Adagia 2, 10, 49 (,Laconismus'). — 19 cf. not. in dem sich der Terminus ,Witz' durchsetzte 40 . 40. - 20 cf. neben Verweyen (wie not. 12) Walser, E.: Die Theorie des Witzes und der Novelle nach 1 Von den vielen Darstellungen des Lebens und dem De sermone des Jovianus Pontanus. Straßburg 1908, wo auch die röm. Vorläufer genannt Wirkens seien nur einige Werke genannt, die auch sind. — die literar. Bedeutung würdigen: Huizinga, J.: E. 21 Basel 1928 (zuletzt unter dem Titel: Europ. HumaEine Zusammenstellung der in den Adagia genismus: E. Reinbek 1958); Newald, R.: E. Roteronannten Zeitgenossen gibt Philipps (wie not. 8) damus. Fbg 1947 (Nachdr. Darmstadt 1970); Bain391sq. - 22 cf. Trümpy (wie not. 5) 245sq.; das
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Stück ist auch in AW 7, 626sq. übers. (T. Payr). 23 cf. Trümpy (wie not. 5) 246. - 24 ibid. - 25 Mit mündlichen Qu.n rechnen auch Gutmann, E.: Die Colloquia familiaria desE. v. R. Basel 1968,60—63; Bataillon, M.: Erasme conteur (Folklore et invention narrative). In: Festschr. P. Le Gentil. Besan^on 1973, 85 — 104. - 26 In einer der Königsgeschichten (ASD 1, 3, 444) hofft ein Höfling, von Ludwig einen Schatz zu erhalten wie ein Bauer, der für eine große Rübe reich beschenkt wurde, bekommt aber für sein kostspieliges Geschenk nur die ausgetrocknete Rübe, wobei E., ein Märchenmotiv ironisierend, auf Adagia 1,9,30 (Kohle statt Gold) anspielt. Das Stück hat eine Märchenparallele im 1. Teil von KHM 146 (cf. AaTh 1689 A: Raparius). Grundlage für beide Fassungen ist das Gedicht Raparius (Text bei BP 3,170-187, gefolgt vom Text des E.). Bataillon (wie not. 25) 90 sq. nimmt an, erst E. habe den Schwank mit einer hist. Persönlichkeit verbunden. - 27 cf. noch Antibarbari (ASD 1, 1, 44): Im Spazieren entwickelt sich ein Gesprächsthema aus dem andern. - 28 cf. Trümpy (wie not. 5) 241; dazu noch Adagia 1,6,70 (nach Plutarch, Moralia, 508 f). - 29 cf. Trümpy (wie not. 5) 240. - 30 LB 9, 7, 92. 31
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Erbauung, Erbauungsliteratur
cf. Trümpy (wie not. 5) 243 sq. - 32 Verschiedene seiner Werke wurden auf den Index gesetzt; cf. ζ. B. Bainton (wie not. 1) 260, aber Bezzel, I.: E.drucke des 16. Jh.s in bayer. Bibl.en. Stg. 1979 weist nach, daß sie auch in Klöstern gelesen wurden. — 33 cf. Schmitt, H.: Die Satire des E. v. R. und ihre Ausstrahlung auf Francois Rabelais, Alfonso de Valdes und Cristobal Villadon. Diss. Ffm. 1969, 61: Rabelais übers, in der Vorrede zum Gargantua das lange Adagium Sileni Alcibiadis (3,3,1). Der Einfluß des E. auf Montaigne, Shakespeare, Cervantes und Moliere ist bei Newald (wie not. 1) 217 erwähnt; für die spätere Zeit cf. Kaegi, W.: E. im 18. Jh. In: Gedenkschr. zum 400. Todestag des E. v. R. Basel 1936, 205-227; Goethe empfahl Schiller am 16. 12. 1797 die Adagia (cf. AW 7, XXXII). - 34 Bataillon (wie not. 25) 100. - 35 ibid., 92. — 36 Nachdr.e und Übers.en verzeichnet: Bibliotheca Belgica. 2e serie. Gand/La Haye 1891 — 1923, t. 6—14. Wenn die auf fünf Bände geplante kommentierte Neuausg. der Adagia in ASD vorliegt, wird die Arbeit wesentlich erleichtert sein. Hinweise auf die Benützung antiker Stoffe aus E. bei Rehermann, Reg.; Brückner, 126, 614, 654, 688. - 37 cf. ibid., 112-114; Rehermann, 28sq.; Trümpy (wie not. 5) 244, wo die verdruckte not. 43 so lauten muß: „Johannes Gast hat offensichtlich mit einem Zettelkasten gearbeitet". — 38 cf. Trümpy (wie not. 5) 241. Bezeichnenderweise hat der mit E. befreundete Niederländer Adrianus Barlandus im Vorw. zu seinen Jocorum veterum ac recentium libri tres (Köln 1529) angekündigt, er wolle auf „lascivae et infacetae facetiae, quales Pogianae, quales et Bebelianae" verzichten. — 39 Vor E. wird nördl. der Alpen die Pointe gern erläutert; cf. ζ. B. Pauli/Bolte, num. 74; Bebel/Wesselski
1,53, num. 5; 2,82, num. 181. - 40 Auf den Erfolg des Wortes ,Witz' im 19. Jh. verweist Bausinger, 137 sq. Diese Tatsache darf nicht im Sinne von L. Weisgerber dahin interpretiert werden, daß es die Sache vorher nicht gegeben habe. Viele der antiken Apophthegmata sind schon ,Witze', bes. die vor und nach E. beliebten Aussprüche des Kynikers Diogenes bei Diogenes Laertios. (Der Philogelos wurde erst 1605 über den Druck zugänglich; E. hat ihn auch nicht aus einer Hs. gekannt.) A u s g . n : LB = Opera omnia 1 - 1 0 . ed. J. Clericus. Leiden 1703-06 (Repr. Hildesheim 1961/62); nur angeführt, wenn ASD noch nicht zur Verfügung stand. — Für die Adagia (= LB 2) erübrigt sich in der Regel eines Seitenangabe, es werden die Ordnungsnummern des E. zitiert. — ASD = Opera omnia 1, 1 - 9 . ed. C. Reedijk u. a.; t. 2, 5—6. ed. F. Heinimann/E. Kienzle. Amst. 1969 sqq. - AW = Ausgewählte Schr.en 1 - 8 (lat./dt.). ed. W. Welzig. Darmstadt 1968—80. - Allen = Opus epistolarum 1 - 1 2 . ed. P. S. und Η. M. Allen. Ox. 1906-58. Basel
Hans Trümpy
Erbauung, Erbauungsliteratur 1. Allg. Problematik - 2. Begriff und Sache 3. Gattungspoetische und wirkungsästhetische Überlegungen — 4. Versuch eines Systematisierungskonzeptes 1. A l l g . P r o b l e m a t i k . Die umgangssprachliche Begriffsvagheit von Erbauung (E.) läßt heute Wort und Sache außerhalb der engsten europ. Fachdiskussion von Theologie und Lit.wissenschaft in der Regel für einen Sammelbegriff aller religiösen Lektüre halten und mit Devotional- und Andachtslit. im weitesten Sinne identisch sein (cf. den engl. Begriff der ,devotional literature'), so daß im Zusammenhang der EM ein Titelüberblick zu möglichen erzählrelevanten Büchergattungen von E. erwartet werden dürfte. Solches leisten zum Teil andere Stichwörter des Hwb.s: Acta martyrum et sanctorum, Allegorie, Altes Testament, Apokryphen, Apophthegma, Aretalogie, Bänkelsang, Bibel, Bildquellen, -Zeugnisse, Christi. Züge, Emblem, Exempelsammlungen, Exemplum, Geistliche Hausmagd, Hagiographie, Hausväterliteratur, Heilige, Historienliteratur, Kompilationsliteratur, Legenda aurea, Legende, Mirakel, Mirakelliteratur, Neues Testament, Pietismus, Predigt, Predigtmärlein, Prophezeiungsliteratur, Religiöse Motive, Teufelsliteratur, Traktatlite-
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Erbauung, Erbauungsliteratur
ratur, Vision, Visionsliteratur, Vitae patrum, Wunder.
Hier soll vielmehr Grundsätzliches innerhalb der abendländ. Lit.tradition zu klären versucht werden, da einerseits die Erforschung der E.s-Lit. im weiteren wie im engeren Sinne als religiös-literar. Zweckform in den europ. Philologien lange brachlag und daher die Vagheit der allg. Vorstellungen herrührt, andererseits aber in jüngster Zeit bei Exegeten, Philologen und Historikern ein lebhaftes Interesse am Gegenstand eingesetzt hat, das von neuen poetologischen Erkenntnismöglichkeiten getragen wird, die darum für eine morphologisch arbeitende und sozialpsychol. reflektierte Erzählforschung nicht übersehen werden können. 2. B e g r i f f u n d S a c h e . Der heutige, spätestens seit Goethe auch säkularisierte Gebrauch von E., erbauen und zumal von erbaulich, stammt mit seiner starken Gefühlsaufladung aus dem Pietismus seit dem Ende des 17. Jh.s. E. ist innerhalb der Protestant. Pastoral Terminus technicus für die private Hauspraxis, zu der es von den Tagen der Orthodoxie bis zur Zeit des Rationalismus eine reiche, zum Teil an ma. Ordensmystik und Laienfrömmigkeit anknüpfende eigenständige und weitverbreitete Lit. gab, geradezu die Hauptlektüremöglichkeit evangel. Christen in Deutschland; hier kehrte sich das Verhältnis im Bücherangebot zum Anteil sog. schöngeistiger profaner Lit. in der 2. Hälfte des 18. Jh.s um: 1740 = 3 zu 1, 1770 = 2 zu 3,1800 = 1 zu 4 (cf. Schwetschke 1850; v. Lit. 1). Diese Katalogstatistik der Buchmessen für die gehobene Bücherproduktion des Bildungsbürgers sagt allerdings nichts über das Leseverhalten und den Besitz an geistlichen Druckschriften in ländlichen und kleinstädtischen Kreisen des 19. Jh.s aus, etwa unter Württemberg. Pietisten oder kathol. Vereinsmitgliedern. Im kathol. Bereich wirkt unter Theologen noch heute das Aufklärungsverdikt über die religiöse Volkslit. Oberdeutschlands bis in jüngste Zeit nach, unterstützt von der im Banne dieser Urteile großgewordenen dt. Lit.geschichtsschreibung einer preuß.-protestant. Germanistik, so daß in solchem Verständnis E. bisweilen vornehmlich „einseitig volks-
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tümliche Legenden, kitschige, leichtgläubige, abergläubische oder mystizistische Andachtsbücher" und „zweifelhafte Andachtsformen" umfaßt (Angermair 1959, 962; v. Lit. 1). Der positiv bewertete größere pastoral- und moraltheol. Rahmen heißt hier Aszetik. Auch Protestant. Barockbibliotheken verwendeten diesen gemeinsamen lat. Terminus noch ganz unbefangen. Der alte Katalog der Univ. Helmstedt in Wolfenbüttel z.B. besitzt eine Abteilung ,Theologia dogmatica et moralis' mit einer Sektion ,Theologia ascetica, mystica et casuistica', der Trostspiegel, Lastertraktate, Leichenpredigten, Ehebüchlein, Psalmen und Gesangbücher angehören. Askese und aszetische Lit. im Sinne von E. müssen also auseinandergehalten werden. In der kathol. Theologie meint Aszetik die Lehre und praktische Anleitung zur Tugendübung oder christl. Vollkommenheit, entsprechend der Etymologie von griech. askesis = Wettkampftraining. Die aszetische Lit. setzt bei den Wüstenvätern ein und mündet in die Schriften der mystischen Ordenstheologien des MA.s. Hier entstand in der Zubereitung für Laien auch eine volkssprachliche E.s-Lit., mit der dieser Begriff zu Ende des 14. Jh.s erstmals im mndd. Danziger Nonnenspiegel als büwinge begegnet. E. ist die Eindeutschung von aedificatio aus dem N.T., bei Paulus auf den Bau des geistlichen Hauses der Gemeinde bezogen im Sinne eines pneumatischen Dienstes ihrer Glieder; desgleichen auf Gott, der die Kirche als sein Volk in seinem Tempel erbaut: aedificatio ecclesiae, entsprechend dem gegenüber Jesus erhobenen Vorwurf, er habe den Tempel zu Jerusalem niederreißen wollen, um ihn in kurzer Frist wiederaufzubauen (als den messianischen Tempel). Aedificatio bedeutete der ma. Exegese einen Akt des Verstehens der hl. Texte, entfaltet nach der Hermeneutik des sensus spiritualis, dem vierfachen Sinn des Wortes (so daß ,aedificium spirituale vel mysticum' heißt, das Haus der Hl. Schrift im Herzen des Lesers zu errichten). Das exemplum virtutis erheischt dabei als fructus spiritualis die imitatio. Das berühmteste aller E.sbücher wurde darum die Imitatio Christi (1427 und öfter) unter dem Namen des Thomas von Kempen. .Legere scripturas ad asdificationem vitae suae' lautet die Parole. Für die religiöse Pra-
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xis gleichermaßen wichtig wurde die analoge bibl. Metapher vom zu bebauenden Acker des Herzens mit Frucht und Ernte der geistlichen Nahrung, vom ,Pflanzen', .Bessern', t a rnen des Wortes', Lieblingsbegriffen gleich den geläufigen Buchtiteln wie Hortus und Hortulus, Baum-, Palm-, Blumen-, Wein-, Wurz-, Lust-, Liebes- oder Paradiesgarten, worin sich die Seele ergeht. Alles wird ihr zum Spiegel: Speculum, zugleich der typischste aller ma. Buchtitel, vor allem für E.s-Lit. Im weitesten Sinne zählt darum alles zur E., was der Förderung und Pflege des geistlichen Lebens dient, beginnend im MA. mit der Hl. Schrift und den Märtyrerakten, Historienbibeln und Biblia pauperum, Postillen, Passionalien, Plenarien, Legendarien, Brevieren, Stundenbüchern, Marienpsaltern, Meß- und Sakramentsauslegungen, Beichtbüchern, Litaneien und Gebetsanleitungen, Sterbebüchlein (u. d. T. Ars moriendi, die Kunst zu sterben), die Lehre von den letzten Dingen, geistliche Allegorien und Traktate, Visionsberichte, Spruchsammlungen von den Apophthegmata patrum bis zum Geistlichen ABC, kurz alles, was die außerliturgische Privatandacht fördern soll. In nachreformator. Zeit lebten alle Formen wieder auf, im Protestant. Raum vor allem erweitert um Katechismus, Kirchenpostille, Gesangbuch und Hausbuch (oeconomia Christiana), Standesschriften, Moraltraktate, Losungen, Leichenpredigten, geistliche Briefe; im kathol. Bereich der jesuit. Katechismus in vielen Formen der Auf- und Zubereitung, die ignatianischen Exerzitien, dialogische Tugendbücher, erzählende Sakramentslehre, zu singende Verkündigung, geistliche Lotterie etc. Buchtitel wie Schatzkästlein, Hand- oder Hauspostille, Ergötzlichkeiten, Erquickstunden, Trostbüchlein leben in den säkularisierten Lit.gattungen der Breviere, Hausbücher, Aphorismensammlungen moderner Dichter, in anthologischen Schatzkästlein und bei zeitgenössischen Philosophen für Persiflage und diagnostizierende Kulturkritik nach (Rainer Maria Rilkes Stunden-Buch [1905], Bertolt Brechts Hauspostille [1927], Theodor W. Adornos Minima moralia [1951]). 3. G a t t u n g s p o e t i s c h e u n d w i r k u n g s ä s t h e t i s c h e Ü b e r l e g u n g e n . Der moder-
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ne Versuch, Texte der Vergangenheit mit der ihnen eigenen hist. Poetik und nicht mit inadäquaten heutigen Begriffskategorien zu messen, hat in der mediävistischen Lit.wiss. zu formgeschichtlichen und wirkungsästhetischen Analysen hagiographischer Lit. geführt. Danach ist E. als morphologisches Konstitutionsprinzip zu werten und stellt eine poetologische und nicht psychol. Kategorie dar, wie sie in der Regel mit dem Begriff der Erbaulichkeit assoziiert wird durch die pietist, geprägte subjektive Perspektive des 18. Jh.s. Dort wurde sie schließlich als Gegensatz zur hist. Wahrheit verstanden (Herder), somit in den gefühlsmäßigen Stimmungsbereich „gottseliger Empfindungen" (Adelung) abgedrängt. In dieser Form ist der Begriff säkularisiert worden als fromme oder schöngeistige Gemütserhebung und verstellt mit dieser inzwischen umgangssprachlichen Bedeutung das hist. Verständnis. Gegenüber dem sozusagen objektiven Aedificatio-Begriff bei Paulus als einem intellektuellen Glaubensakt läßt sich dennoch mit der erzählpraktisch verstandenen Kategorie des inhaltlich variabel gestaltbaren Erbaulichen philolog. erfolgreich arbeiten, wenn dabei E. ihres modern-subjektivistischen Verständnisses entkleidet ist. Aedificatio und imitatio sind nach R. Schulmeister (1971) causa finalis ma. Legenden und lassen sich auch mit dem Zweckbegriff der utilitas umschreiben: literar. Formung als sinndeutender Prozeß, reflektiert durch explicare oder deuten, das Werk als doctrina/eruditio etc. oder Lehre, der Heilige als exemplum/imago oder Vorbild; daraus fließt im metaphorisch umschriebenen Gang der Erkenntnis durch das Licht des Heiles vielfacher Nutzen (utilitas, profectus, fructus): die Tugend zu stärken (corroburare), zur Besserung (melioratio), zum Trost (consolatio), zur Erlösung (salus) — und dies alles als ein Akt des Erleuchtens (illuminare). Um diese erbaulichen Intentionen sprachlich vermitteln zu können, dominiert anschauliche Darbietungsweise. Sie gelingt bes. auf der narrativen Ebene und gewinnt darum im Erzählerischen deutliche Unterhaltungsabsichten, deren kompositorische Verwirklichung in Zukunft näherer literar. Analysen bedarf. In diesem Sinne geht schon die Literarisierung der frühen Mönchsviten, wie H.
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Kech (1977; v. Lit. 3) zeigt, über das hinaus, was man früher gerne „religiöse Fabulierkunst" (ibid., 120) genannt hat. Die hier zugrundegelegte E.s-Absicht besitzt ein auf das Imitatio-Denken ausgerichtetes Narrationskonzept mit entsprechendem Einsatz literar. Mittel, z.B. das wirkungsvolle Strukturprinzip der Isolierung einzelner Erzähleinheiten mit der Möglichkeit zu unterschiedlichen Darstellungsweisen und Ausdrucksformen. Zugleich besitzt nicht bloß die novellistische Erzählweise oder nur der spezifische Sprachgestus von religiöser Rede, Ermahnung, Kommentar etc. den Charakter des Erbaulichen, sondern als wesentlich muß der Erzählstil für die Formkraft der Erzählabsicht des Ganzen gelten, und „damit nimmt die erbauliche Ausdruckshaltung objektive Gestalt an" (Kech 1977, 16; v. Lit. 3). Τ. Wolpers (1964, 37; v. Lit. 3) begreift den „Verwendungszweck" des Erbaulichen der ma. Legende „als eine historisch wandelbare, die Formgeschichte bis in ihre Einzelbewegungen bestimmende Kraft". Er zeichnet den Stilwandel der lat. Hagiographie von Gregor dem Großen bis zu —»Jacobus de Voragine als einen vom Geschehnisbericht mit erbaulichen Gedanken, Gebeten und Lobreden über gelehrte Klosterviten zur andachtsbildartigen Erzählkomposition entsprechend dem frömmigkeitsgeschichtlichen Wandel des Bildes der Heiligen: die „Verbildlichung des Spirituellen" als formprägende Sprachgebärde. Für die nachma. Zeit gilt es, sich zum Verständnis des kathol. Frömmigkeitsstils der jesuit. Spiritualität zu vergewissern, die auf der aus spätma. Anregungen entwickelten Bildungsmethode der geistlichen Übungen, den exercitia spiritualia des hl. Ignatius, basiert. Die Fundamente der einzuübenden vita religiosa sind Gebet und Buße als Mittel zur Frucht des tätigen Apostolats für das Seelenheil (salus animarum). Die (E.s-)Formen des Besinnens, Betrachtens und der geistlichen Verrichtungen sollen das Wesen der Dinge sinnlich erfahrbar machen (sentire et gustare res internae), erreichbar in dem Dreischritt der applicatio sensuum (= Anwendung der Sinne auf ein Thema), der compositio loci (imaginative .Zurichtung des Schauplatzes') und der daran zu übenden Seelenkräfte von memoria, intellectus und voluntas; d. h., mit
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Hilfe gezielter sinnlicher Vorstellungskraft und schöpferischer Phantasie für Anschauliches soll eine Vergegenwärtigung des christl. Heilsgeschehens von der inneren Erfassung über die intellektuelle Verarbeitung zur praktischen Folgerung führen. Dem entspricht die homiletische Schrittfolge: propositio, explicatio, applicatio (Vergegenwärtigung, Erklärung, Anwendung; oder in katechetische Wirkung umgesetzt: Auffassen, Verstehen, Betätigen). Im ZA. des Konfessionalismus bedeutete Bildung Glaubensunterweisung. Die Protestant.-pietist. Herzensbildung des Erbauens ist von den sinnlichen Begreifbarkeiten der jesuit. Spiritualität zumindest qualitativ nicht weit entfernt, so daß entsprechend den gemeinsamen ma. Vorbildern parallele Lit.ausprägungen mit wechselseitiger Beeinflussung existieren. Hierzu gehört von Anbeginn die narrative Anleitung zur praxis pietatis im fleißigen Gebrauch von Beispielgeschichten (—» Exemplum), Gleichnissen (—> Parabel) und sonstigen Illustrationsmaterien aus Geschichte und Natur. Sie finden sich allerdings weniger, ja kaum in der klassischen E.s-Lit. im engeren Sinne, und dies gilt sowohl für das MA. wie für die Neuzeit. Darüber hinaus ist eine bestimmte Erzähltechnik als Stilprinzip des Erbaulichen bislang nur für ma. Heiligenviten untersucht worden und für das ,Gnadenleben' erbaulicher Biographien des 18. und 19. Jh.s. Doch gerade hier ließe sich die Systematik der ma. Wirkungslehre von aedificatio in der Stufenfolge legere, credere, docere, imitare (lesen, glauben, lehren, nachfolgen) nicht weniger deutlich ablesen als das von der gleichen Intention geprägte Bauprinzip. Für die geistesgeschichtlich orientierte theol. Pietismusforschung ist dies zur Zeit allerdings kein zentrales Problem. In der Lit.wiss. hat man im Zuge der Entdeckung des Barock vor einem halben Jh. schon auf konkurrierende Lit.gattungen aufmerksam gemacht, aber noch keineswegs die inneren Zusammenhänge und Wechselwirkungen zu sehen vermocht, zumindest jedoch zu ahnen begonnen, daß hier in der Neuzeit kein bloßer Ablösungsvorgang verschiedener ,Literaturen' zu beobachten ist, sondern die kontinuierliche und direkte Entwicklung des
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Erbauung, Erbauungsliteratur
Neuen aus dem Alten in Form eines zunächst nur scheinbaren Säkularisierungsprozesses. Von daher gesehen erweist sich die Auszählung in zwei hypothetische Bücherkategorien, nämlich geistlich und schöngeistig, als widersinniges Konstrukt und ist, bezogen auf Lesestatistiken, irreführend. Der E.scharakter moralischer Aufklärungstraktate und Erziehungsliteratur läßt sich dagegen als hervorstechendstes Funktionsäquivalent benennen, trifft aber wiederum nur die Sache im engsten Sinne. Zur Zeit ist die Forschung damit beschäftigt, innerhalb der Barockliteratur die engen Zusammenhänge von evangel. E.s-Lit. und zeitgenössischer Lit.doktrin des 17. Jh.s aufzuzeigen durch Aufweis verwandter Stilprinzipien, z.B. ,angewandter Emblematik' der konfessionsgemeinsamen, humanistisch vermittelten pictura poesis (cf. -» Emblem), sowie durch Darstellung der Wechselwirkungen von E.s-Lit. und gesellschaftlicher Gebrauchs- und Unterhaltungsliteratur des Polyhistorismus. Da die ,Herzensreligion' der ,Stillen im Lande' in der Form des Halleschen Pietismus sogar Stütze des preuß. Absolutismus, sozusagen dessen Staatsreligion wurde, interessiert heute auch den Historiker das Phänomen der E.s-Lit. im 17. Jh., und dies zumal in ihrer Trostfunktion für ,Gottesgnadentum und Kriegsnot' (Lehmann 1980; v. Lit. 4). Doch auch hier wird .erbauliche' Frömmigkeit lediglich auf ihre theol. und ethischen Inhalte geprüft, wobei die Kategorie des Erbaulichen bloßes Epitheton für geistliche Lit. bleibt, die eine Verinnerlichung des Christentums anstrebt und sich dafür u. a. des Sentiments bedient. Das Leben in dieser Welt ist für den christl. ,Pilgrim' nur eine vorübergehende Periode der Bewährung, woraus der ständige Aufruf zur Buße und zum Streben nach individuellem Seelenheil herrührt, so daß sich ein Weg zur Trennung von privater Frömmigkeit und Amtskirche anbahnt bis hin zur schließlichen Individualisierung des geistlich-geistigen Lebens überhaupt. „Auflagenziffern und Inhalte der erbaulichen Werke sind somit ein wichtiges Indiz dafür, wie sehr die Krise des 17. Jahrhunderts von den Zeitgenossen empfunden wurde" (Lehmann 1980, 123; v. Lit. 4). Noch fehlen für diese Zeit entsprechende Detailuntersuchungen, wie sie für den unter-
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schichtlichen Pietismus des 19. Jh.s auf volkskundlicher Seite durch M. Scharfe (1971) geleistet worden sind gerade in bezug auf die Erzählstruktur frommer ,Lebensläufle' mit typischen Rollenmodellen, topischen Denkwürdigkeiten, regelmäßig eingestreuten wunderbaren oder visionären Bestätigungsereignissen und der daraus abzuleitenden Nachfolge in wirkungsvoller kultureller Schablonierung des Daseins der Brüder und Schwestern. A. Spamer (1970) und R. Schenda (1970) haben für die sog. Volkslesestoffe den bibliogr. Umkreis erstmals abgesteckt; er wird ständig erweitert werden können, wie dies hier s. v. —»Exempelsammlungen für den kathol. Bereich des 19. Jh.s geschieht, wo vom Inhaltlichen her das zentrale Problem der Narrativität in deutlicherer Weise berührt wird als bei der Masse der Missionstraktate aus den letzten 150 Jahren, die der Erweckung im Sinne von Bekehrung innerhalb einer säkularisierten und darum für heidnisch ausgegebenen Gesellschaft dienen, nicht aber bloß dem ,Wahren Christentum', wie der frühe und nie verblassende Erfolgstitel Johann Arndts von 1606/10 lautet. Noch weniger haben die großen Missionierungsanstrengungen beider Kirchen seit der Mitte des vorigen Jh.s die Rückgewinnung der Massen vornehmlich durch tatsächliche E.s-Lit. versucht, sondern sie haben mit Predigtkampagnen und Bekehrungsschrifttum eher auf bewährte rhetorische Wirkungskonzepte vertraut. Da allerdings auch hier seit alters narrative Gattungen mit eingesetzt worden sind und zu bestimmten Zeiten noch oder wieder zumindest im gedr. Angebot dominieren konnten und können, entsteht bei oberflächlicher Betrachtung immer wieder der schiefe Eindruck, als sei E.s-Lit. allein damit verbunden oder gar religiöse Thematik des Erzählens stets auch zugleich erbaulichen Charakters. Dies hängt mit der Vermittlungsform des Lesens zusammen. Predigt und Andacht bedürfen seiner primär nicht, und ihre Verwirklichungsweisen treten für den mit aufgeschrieben-vorhandenen Texten arbeitenden Philologen daher quantitativ stark zurück, trotz des inzwischen wieder erweiterten Lit.begriffs der Forschung, der hinter die schöngeistige Kanonbildung der letzten zwei Jh.e zurückgreift auf die tatsächliche Lit.produktion der jeweiligen Epochen.
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Erbauung, Erbauungsliteratur
4. V e r s u c h eines Systematisier u n g s k o n z e p t e s . Die aus der Leseforschung stammende Dreiteilung des Lit.angebots nach den Funktionen Belehren, Erbauen, Unterhalten, sozusagen intentionale Charakterisierungen für Fachliteratur, religiöse Lit. und schöngeistige Lit., trifft nicht einmal annäherungsweise die Wirklichkeit, denn die gewählten Begriffe sind inkommensurabel. Auch Belehrung und E. können unterhaltsam sein, und Unterhaltung ist keine Kategorie des Profanen und schon gar keine von minderer Wertigkeit, sondern ein Wirkungsmittel, während E. eine Wirkungsabsicht darstellt gleich der Belehrung, die ebenso religiös sein kann, wie andererseits E. heutigentags in vielfältigen säkularisierten Formen existiert. Miteinander vergleichbar und aufeinander bezogen sind vielmehr die Intentionen der Verkündigung (Mission, propaganda fidei), der Belehrung (Katechese), der E. (aedificatio). Diesen Wirkungsabsichten stehen innerhalb der Vermittlungspraxis die literar. Vermittlungsformen von Lesung der Hl. Schrift als Botschaft (auch in den Formen Gesang, Prozession und Schauspiel möglich), von Predigt/Disputation/Lehrgespräch und von Andacht gegenüber, welchen drei Bereichen die Stilansprüche des Narrativen, des Rhetorischen und des Meditativ-Kontemplativen entsprechen. Die dazugehörigen geistigen Aktionsräume oder Denkebenen lassen sich benennen als Realitätsvermittlung in hist, wie fiktionalen Geschichten (erzählte Wirklichkeit), als Diskurs (argumentatives Abwägen) oder als Betrachtung (imaginative Innenschau). Dem entsprechen die mentalen Kategorien des Kognitiven im Nacherleben als begreifendem Verstehen (= Erfassen von Sinn durch Sensualität im sinnlichen Anschauungsvermögen), des Reflektiven im Erkennen durch Nachdenken (= ein intellektueller Akt des Verstandes) und des Affektiven im Nachahmen durch Erfahren (= eine spirituelle Leistung des Geistes). Ihre formale Aktualisierung geschieht im Erzählen wie Hören, im Reden, im Lesen und Schauen. Daraus folgen als intentionale Geistesbeschäftigung persuadere (überzeugen) und credere (glauben), docere (lehren) und conciliare (erwerben), permovere (erregen) und imitare (nachfolgen) samt delectare (sich erfreuen). Die dahinter-
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stehende soziale Wirklichkeit oder das anvisierte Bildungsziel lauten: conversio (Bekehrung zum Christsein), eloquentia (zielgerichtete scholastisch oder humanistisch gebildete Beredsamkeit), Askese (Seelenleben, Herzensbildung, praxis pietatis). Lit.: 1. Hb.-Art. Schwetschke, G.: Codex nundinarius Germaniae literatae. Halle 1850. - Pruner, J. E.: Ascese, Ascetik, Ascetische Sehr. In: Wetzer und Weite's Kirchenlex. 1. Fbg 2 1 8 8 6 , 1 4 6 0 - 1 4 6 9 . - Achelis, E. C.: E. In: Real-Enc. für Protestant. Theologie und Kirche 5. Lpz. H898, 4 4 6 - 4 4 8 . Niebergall, Ε.: E. In: RGG 2 (1910) 442. - Bornkamm, H.: E.slit., ev. In: Sachwb. der Deutschkunde 1. ed. W. Hofstätter/U. Peters. Lpz. "1930, 294sq. - Michel, O.: Oikodomeo. In: Theol. WB. zum N.T. 5. Stg. 1954, 1 3 9 - 1 5 1 . - Truhlar, K.: Aszetik. In: LThK 1 ( 2 1957) 9 6 8 - 9 7 3 . - Wodtke, F. W.: E.slit. In: RDL 1 ( 2 1958) 3 9 3 - 4 0 5 (wichtigster Beitr. im Zusammenhang mit diesem Art.). - Friedrich, G./Doerne, Μ.: E. In: RGG 2 ( 3 1958) 5 3 8 - 5 4 0 . - Heiler, F./Bartsch, F.: E.slit. ibid., 5 4 0 - 5 4 7 . - Schlier, H./Angermair, R.: E. In: LThK 3 ( 2 1959) 9 5 9 - 9 6 2 . - Kosnetter, J.: E. In: Bibeltheol. WB. 1. ed. J. B. Bauer. Graz/Wien/ Köln 2 1962, 2 5 8 - 2 6 7 . - Pohlmann, Η.: E. In: RAC 5 (1962) 1 0 4 3 - 1 0 7 0 . - Wulf, F.: Aszese. In: Hb. theol. Grundbegriffe 1. Mü. 1962, 1 1 1 - 1 2 0 . - id.: Aszese (Aszetik). In: Sacramentum mundi. Theol. Lex. für die Praxis 1. Fbg/Basel/Wien 1967, 3 5 8 - 3 7 1 . - Hiepe, R.: E.sbuch. In: RDK 5 (1967) 9 4 1 - 9 8 4 . - Rupprich, H.: Vom späten MA. bis zum Barock. 1. Teil (Geschichte der dt. Lit. 4,1). Mü. 1970, 7 6 3 - 7 6 7 (Lit.). - Krummacher, Η. Η.: E. In: Hist. WB. der Philosophie 2. ed. J. Ritter. Basel 1972, 6 0 1 - 6 0 4 . - Isermann, G.: E.slit. In: LKJ 1 (1975) 3 5 7 - 3 6 0 . 2. E x e g e s e und E r z ä h l f o r s c h u n g . Dibelius, M.: Die Formgeschichte des Evangeliums. Tübingen (1919) 6 1971, Index s.v. erbaulich. — Vielhauer, P.: Oikodome. Das Bild vom Bau in der christl. Lit. vom N.T. bis Clemens Alexandrinus. (Diss. Heidelberg 1939) Heidelberg 1940. - Brückner, W.: „Narrativistik". Versuch einer Kenntnisnahme theol. Erzählforschung. In: Fabula 20 (1979) 1 8 - 3 3 . - id.: Thesen zur literar. Struktur des sog. Erbaulichen. In: Lit. und Volk im 17. Jh. Wolfenbüttel 1982 [im Druck]. 3. M e d i ä v i s t i k . Windel, R.: Zur christl. E.slit. der vorreformatorischen Zeit. Halle 1925. — Ehrismann, G.: Geschichte der dt. Lit. 2,2,2. Mü. 1935, 3 5 7 - 4 2 3 , 5 8 5 - 6 2 8 . - Stammler, W.: Ma. Prosa in dt. Sprache. B: Geistliche Prosa. In: Dt. Philologie im Aufriß 2. ed. W. Stammler. B. 2 1960, 7 5 6 - 1 0 3 2 (von der Materialfülle grundlegend); von der Forschung in großer Breite und Vertiefung weitergeführt, z.B. durch: Qu.n und Forschungen zur E.slit. des späten MA.s und der frühen Neuzeit.
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Erben
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Würzburg
Wolfgang Brückner
Erben, Karel Jaromir, *Miletin (NordostBöhmen) 7. 11. 1811, f Prag 21. 11. 1870, tschech. Dichter und Folklorist, von Beruf Archivar und als solcher auch als Historiker tätig 1 . E.s Konzeption einer tschech. nationalen Wiedergeburt weckte sein allg. Interesse an der Welt der Slaven sowie seine Sympathien für den Illyrismus und das russ. Slavophilentum; mit vielen slav. Gelehrten stand er in persönlichem Kontakt 2 und war u. a. Mitglied der Petersburger Akad. der Wiss.en. Zur praktischen Unterstützung seiner Ideen publizierte E. eine repräsentative Anthologie von Märchen und Sagen, Sto prostonärodnich pohädek a povesti slovanskych ν närecich puvodnich. Citanka slovanskä s vysvetlenim slov ([100 slav. Volksmärchen und -sagen in den Originalsprachen. Slav. Lesebuch mit Erklärung der Wörter]. Praha 1865) 3 , in der E. die von ihm als typisch tschech. und slav. betrachteten Texte in einer von ihm erstellten ,idea-
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Erben
len Urform' wiedergab 4 . Die von E. verfaßten tschech. Texte aus diesem Band gelten sprachlich und stilistisch bis heute als musterhafte Beispiele der Erzählkunst 5 . 1869 publizierte E. eine tschech. Übers, der sog. Citanka slovanskä (Slav. Lesebuch) 6 , aus der später viele Texte als E.s eigene, d. h. tschech. Märchen rezipiert wurden 7 . E. sammelte und zeichnete selbst und mit Hilfe von Freunden Volkserzählungen auf, um ein tschech. Märchenbuch zu schaffen. Bis zu seinem Tode publizierte er allerdings nur 19 Texte 8 ; es handelt sich u. a. um Var.n folgender Märchentypen und Sagen: Neun Texte in der Citanka slovanskä: num. 1 = AaTh 930: - » Uriasbrief + 461: Drei Haare vom Bart des Teufels. — num. 2 = AaTh 513 A: —>Sechse kommen durch die Welt. - num. 3 = AaTh 673: —* Tiersprachenkundiger Mensch + 554: —> Dankbare (hilfreiche) Tiere. - num. 4 = AaTh 945: —» Glück und Verstand. — num. 5 = AaTh 406: The Cannibal bzw. 2028: —> Fressermärchen. — num. 6 = verschiedene Var.n von Sagen über die tschech. Koboldgestalt, cf. auch AaTh 1535 III: —» Unibos. — num. 7, II = AaTh 321: —> Augen der Blinden zurückgebracht. — num. 9 = AaTh 571: —» Klebezauber. — num. 14 = AaTh 330 A: —* Schmied und Teufel. Fünf Texte in verschiedenen Zss. 9 : AaTh 501: Die drei —> Spinnfrauen. — AaTh 330 A. - AaTh 565: -> Wundermühle. - AaTh 550: - » Vogel, Pferd und Königstochter. — cf. AaTh 277: Frösche bitten um einen König + 51A: —> Fuchs hat Schnupfen. Zwei Texte in E.s Volksliederslg 10 : cf. AaTh 1 9 6 0 D : Die ungewöhnliche —> Größe. — AaTh 2 0 2 1 A : —» Tod des Hühnchens.
Einige Märchen hat E. in seinem poetischen Werk Kytice ζ povesti närodnich ([Blumenstrauß von Volkssagen]. Praha 1853) dichterisch dargestellt, wie ζ. B. AaTh 365: —» Lenore, AaTh 403: Die schwarze und die weiße —> Braut, AaTh 756 Β: —> Räuber Madej11. Weitere Märchentexte bzw. -fragmente wurden aus E.s Nachlaß von A. Grund und R. Luzik kritisch ediert 12 . E.s Hauptwerk bildet die Slg tschech. Volkslieder und Sprüche Prostonärodni ceske pisne a rikadla13 mit 2.200 Texten und 811 Melodien, die E. als guter Musikkenner selbst notierte. Von seinen volkskundlichen theoretischen Arbeiten behalten ihre Bedeutung die Studien Vidy ci Sudice (Schicksalsrichterinnen) 14 , Obetoväni zemi (Opfergabe dem
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Lande) 15 , Ο dvojici a trojici ν bäjeslovi slovansk0m (Das Paar und die Triade in der slav. Mythologie) 16 , Bäje slovanskä ο stvoreni sveta (Der slav. Weltschöpfungsmythos) 17 und über 100 Beiträge, die E. für den Slovnik naucny18 zur Geschichte, zu slav. Realien und Institutionen, Bräuchen und bes. zu folkloristischen Sammelbegriffen, tschech. Dämonenwesen sowie zur Religion und Mythologie der Slaven, Germanen und anderer Völker verfaßte. E. war ein Anhänger der —» Sonnenmythologie 19 und meinte, in Liedern, Sagen und Bräuchen die mythischen Grundlagen des slav. Altertums zu erkennen. Die normative Gültigkeit seines Märchenstils und die Rezeption seines Werkes überhaupt sind mit jener der Brüder Grimm im dt.-sprachigen Gebiet zu vergleichen. Außerhalb des tschech. Sprachgebiets ist das Werk E.s, der bewußt seinen Ideen der tschech. nationalen Wiedergeburt gemäß nur in tschech. Sprache publizierte, wenig bekannt. Verhältnismäßig unbeachtet geblieben ist auch seine Rolle als Folklorist in der bisherigen E.-Forschung 20 . 1 Editor mehrerer alttschech. hist, sowie literar. Qu.n (ζ. B. Jan Hus), cf. Grund, Α.: Κ. J. Ε. Praha 1935, 247sq.; E.s hist. Hauptwerk: Regesta diplomatica nec non epistolaria Bohemiae et Moraviae 1. Annorum 6 0 0 - 1 2 5 3 . Pragae 1855. - 2 cf. Bechyfiovä, V./Jiräsek, J.: Slovanskä korespondence K. J. Erbena (Die slav. Korrespondenz Κ. J. E.s). Praha 1971. - 3 Seit 1862 zuerst in Heften erschienen; das Material ist geogr. geordnet: 43 westslav. (14 tschech., 7 slovak., 8 wend., 5 kaschub., 9 poln.), 27 ostslav. (3 weißruss., 11 ukr., 11 russ., 2 altruss.), 30 südslav. (5 bulg., 20 skr., 5 slov.) Texte. — 4 E.s Ausw. und Rekonstruktionen werden durch die neueren slav. Typenkataloge wie Krzyzanowski und SUS bestätigt. - 5 Klimovä, D.: Umeleckä transformace folklörnich vypravecskych postupü ν Erbenovych pohädkäch (Die künstlerische Transformation der Folkloreerzählformen in E.s Märchen). In: Ceskä literatura 19 (1971) 428—451. — 6 Vybrane bäje a povesti närodni jinych vetvi slovanskych (Ausgewählte Mythen und Sagen anderer slav. Stämme). Praha 1869 (57 Texte aus der Citanka slovanskä und 33 neue Texte). 7 ibid., bes. num. 20, 34, 76, 79. - 8 Grund, A. (ed.): Dflo K. J. E. t. 3: Ceske pohädky (Tschech. Märchen). Praha 4 1951; cf. auch Luzik, R. (ed.): K. J. E. Ceske pohädky (Tschech. Märchen). Praha 1958; in dt. Sprache sind 3 Texte publiziert in Wenzig, J.: Westslaw. Märchenschatz. Lpz. 1857 und 7 Texte in Waldau, Α.: Böhm. Märchenbuch. Prag 1860. - 9 In: Ceskä vcela 11 (1844) 109sq.; ibid.,
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Erbschaft: Die vorgetäuschte E.
153sq.; in: Zlate klasy 1 (1854) 3sq.; in: Mäj. ed. J. Barak. Praha 1858, 205-223 (unter Pseud. J. E. Miletinsky); ibid. (1862) 110-113. - 10 E„ K.J.: Prostonärodni ceske pisne a rikadla (Tschech. Volkslieder und Sprüche). Praha 4 1886, 12; ibid., 13; cf. Luzik (wie not. 8) 126, 128, 155. 11 cf. Grund (wie not. 1) 64-106, bes. 69sq., 76sq., 86sq. - 12 98 Texte und ca 350 Motive finden sich in E.s Nachlaß, cf. Luzik (wie not. 8) 153sq.; davon publiziert 31 vollständige Texte bei Luzik (wie not. 8), 56 Texte (vollständige, Versuche, Fragmente, Kommentare E.s) bei Grund (wie not. 8) 7 - 1 2 8 , 149-179, 185-215, 133-146, 221 sq., cf. auch 250sq. - 13 Erstausg.: Pisne närodni ν Cechäch 1 - 3 . Praha 1841-45 mit 550 Texten; dt. Ausw.: Düringsfeld, I. von: Böhm. Rosen. Breslau 1851. - 14 In: Grund (wie not. 8) t. 2: Proza a divadlo (Prosa und Theater). Praha 1939, 181-250 (Vorlesung von 1847). - 15 In: Casopis ceskeho musea 22 (1848) 33-52. - 16 ibid. 31 (1857) 268-286, 390-415. - 17 ibid. 40 (1866) 35—45. — 18 Slovnik naucny 1—9. ed. F. L. Rieger. Praha 1860-72 (unter der Abkürzung: aEn), ζ. B. s. v. Slovanske närodni bäsnictvi (Slav. Volksdichtung); Epicke bäsnictvi (Epische Dichtung); Popelka (Aschenputtel); Carodejnice (Hexe); Cert (Teufel); Dive zeny (wilde Frauen); Kfitek (Hauskobold bzw. Zwerg); cf. Grund (wie not. 1) 130, 227. - 19 cf. Horäk, J.: Närodopis ceskoslovensky (Tschechoslovak. Vk.). In: Ceskoslovenskä vlastiveda. t. 2: Clovek. ed. V. Dedina. Praha 1933, 344sq., bes. 346; cf. Grund (wie not. 8) 133-136; cf. Wenzig (wie not. 8) 312—315. - 20 Gesamtmonogr.: Grund (wie not. 1); Jech, J.: Pohädky Karla Jaromira Erbena ν ustnim podäni (Die Märchen K. J. E.s in der mündl. Überlieferung). In: Cesky Lid 58 (1971) 6 5 - 7 5 ; cf. Klimovä (wie not. 5); ead.: Romantickä koncepce a ceskä lidovä proza (Die romantische Konzeption und die tschech. Volksprosa). In: Ceskoslovenske prednäsky pro 7 mezinärodni sjezd slavistü (Varsava 1973). t. 2: Literatura-folklor-historie. Praha 1973, 273-280; Langer, G.: Das Märchen in der tschech. Lit. von 1790—1860. Studien zur Entwicklungsgeschichte des Märchens als literar. Gattung. Gießen 1979, bes. 195-238, 426-473. Prag
Josef R. Klima
Erbschaft: Die vorgetäuschte E. (AaTh 982), eine alte, weitverbreitete Erzählung aus dem Themenkomplex des Generationenkonflikts, die ähnlich den Exempeln vom undankbaren Sohn (AaTh 9 8 0 , 9 8 0 B - D ) und von Großvater und Enkel (AaTh 980 A ) die sprichwörtliche Erfahrung beweisen soll, daß ein Vater eher zehn Kinder ernähre, als eben
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diese ihren alten Vater zu versorgen gewillt seien 1 . Im Vertrauen darauf, im Alter gut betreut zu werden, überläßt ein betagter Mann seinen Kindern seine gesamte Habe. Die Jungen vergessen bald ihre guten Vorsätze und Versprechungen, empfinden den Alten nur noch als Last und vernachlässigen ihn schmählich. Dieser greift, oft auf Rat eines Freundes hin, zu einer List: Er beginnt, auffällig einige wenige zurückbehaltene oder geliehene Münzen zu zählen, oder verweist Söhne und Töchter auf eine gewichtige Truhe, die eine weitere beträchtliche E. enthalte, worauf die Erben ihr Verhalten ändern und sich in sorgsamer Betreuung des Alten gegenseitig zu übertrumpfen suchen. Beim Tode des Vaters müssen sie entdecken, daß die Kiste nichts als Sand und Steine enthält, nach manchen Varianten auch einen Kolben, mit dem einer beiliegenden schriftlichen Anweisung zufolge derjenige erschlagen werden solle, der so dumm sei, sein Erbgut vorzeitig zu verteilen. Den getäuschten Erben bleibt nur Ärger oder Scham. Aus dem letzten Motiv resultiert die vielfach gängige Typenbezeichnung Kolben im Kasten2. Nach nord- und mitteldt. Sagenüberlieferung wurden an Stadttoren oder Rathäusern als Rechtssymbol angebrachte Kolben oder Keulen im Stadtwappen 3 mit der Erzählung in Verbindung gebracht, und zwar durch Aufschriften wie: Wer da giebt seinen Kindern Brodt Und leidet selber Noth, Den schlag man mit dieser Keule todt 4 . Eine solche Interpretation eines in seiner ursprünglichen Bedeutung nicht mehr verstandenen Zeichens setzt einen hohen Bekanntheitsgrad des Typs AaTh 982 in alter Zeit voraus. Tatsächlich läßt sich die Erzählung bis zur Disciplina clericalis des —> Petrus Alphonsi (dort auf König Lear bezogen) zurückverfolgen; H. Schwarzbaum 5 sieht in der von J. Bolte u. a. nachgewiesenen weiten Verbreitung des Typs in der internat. Exempelliteratur 6 geradezu ein Musterbeispiel für die Wirkung dieses Werkes auf die ma. Überlieferung. Belege finden sich jedoch auch in anderen Lit.bereichen, so im verbreiteten Schachbuch des lombard. Dominikaners Jacobus de Cessolis und dessen dt. Übers.en 7 , in der Märendichtung 8 , in der ital. 9 und span. 10 Novellistik, in Luthers Tischredenn, bei Hans Sachs 12 , unter den Protestant. Predigtexem-
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Erbschaft: Die vorgetäuschte E.
peln des 16. und 17. Jh.s 13 , in H. W. Kirchhofs Wendunmuth14 und den nachfolgenden Schwank- und Unterhaltungsbüchlein des 17. und 18. Jh.s 15 oder etwa in ndl. Kalendern und Almanachen des gleichen Zeitraums 16 . Ebenso internat. ist die durch die literar. Überlieferung zweifellos immer wieder neu belebte und zugleich fixierte mündliche Tradition, soweit aus Aufzeichnungen des 19. und 20. Jh.s ersichtlich. Die Verbreitung reicht von Irland 17 , Großbritannien 18 und Flandern 19 bis ins Baltikum 20 und in den slav.-osteurop. Bereich 21 , von Portugal und Spanien 22 über die Inseln des Mittelmeers 23 und Italien 24 in den Vorderen Orient 25 ; es liegen auch Aufzeichnungen aus dem Fernen Osten, Indien, Ceylon und Indonesien vor 26 , andererseits, wohl von europ. Einwanderern übertragen, aus Nordamerika und Mexiko 2 7 . Der für ein so weites Verbreitungsgebiet erstaunlich stabile Typ variiert nur in eher nebensächlichen Details. So füllt etwa in mittelmeerischen Var.n der Alte seinen angeblichen Sparkrug mit unappetitlicher Materie, so daß die geldgierigen Erben sich beim Ausleeren beschmutzen 28 . D i e Konstanten der Erzählung sind die pietätlose Gewinnsucht der Nachkommen und ihre Täuschung durch die List des Alten, und das entspricht wohl so allg. Erfahrungen, daß man einzelne Versionen kaum auf spezielle örtliche Familienverhältnisse und erbrechtliche Gepflogenheiten beziehen kann, wie G. L. Gomme 2 9 dies anhand eines schott. Belegs und R. M. Dawkins 3 0 für eine Aufzeichnung aus dem Dodekanes versucht haben. Außer in Kulturen mit ausgeprägter Altenverehrung waren und sind die Probleme —» alter Leute und die Mißachtung ihrer Bedürfnisse wohl so augenfällig, daß ein solches Exempel krasser Undankbarkeit der Jugend gegenüber dem Alter über Jh.e hinweg weithin Aktualität behielt. Von der didaktisch-moralisierenden Funktion abgesehen konnte die Geschichte gerade bei älteren Erzählern und Zuhörern Identifikationsmöglichkeiten bieten und mit ihrer Konfliktlösung zugunsten des zuvor Benachteiligten Genugtuung hervorrufen. 1 Wander, K. F. W. (ed.): Dt. Sprichwörter-Lex. 4. Lpz. 1876, 1507, num. 72 (mit zahlreichen Nachweisen). - 2 cf. ζ. B. BP 4, 172; Köhler/Bolte 1,431 sq. - 3 HDA 4,1290. - 4 Inschrift am Bran-
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denburger Tor zu Woldegk nach Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1. Wien 1879, 458, num. 640; cf. auch: Kuhn, A./Schwartz, W.: Norddt. Sagen, Märchen und Gebräuche [. . .]. Lpz. 1848, num. 96 (Jüterbog); Gander, Κ.: Niederlausitzer Volkssagen. B. 1896, num. 309 (Gubener Rathaus); Schwartz, W.: Sagen und alte Geschichten der Mark Brandenburg. B. 1921, num. 51; ZfVk. 17 (1907) 246 sq. - 5 Schwarzbaum, H.: Internat. Folklore Motifs in Petrus Alphonsi's .Disciplina clericalis'. In: Sefarad 22 (1962) 342sq., num. 36. 6 Pauli/Bolte, num. 435; cf. auch die Nachweise zu Mot. Ρ 236.2 mit Hinweisen auf die Scala coeli des Johannes Gobii Junior etc.; Tubach und Dvorak, num. 965; György, num. 120. — 7 Vetter, F.: Das Schachzabelbuch Kunrats von Ammenhausen [. . .] nebst den Schachbüchern des Jakob von Cessole und des Jakob Mennel. Frauenfeld 1892, 705-715, V. 17.224-17.565; dazu: Mitzka, W.: Konrad von Ammenhausen, Schachzabelbuch 1337. In: Verflex. 2,892sq.; Schmidt, G. F.: Das Schachzabelbuch des Jacobus de Cessolis, Ο. P. in mhd. ProsaÜbers. B. 1961, 109-111. - 8 GA 2, num. 49. 9 cf. Rotunda Ρ 236.2. - 10 Childers Ρ 236.2. 11 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausg. Tischreden 4. Weimar 1916, 351 sq., num. 4.506. 12 Hans Sachs, ed. A. von Keller/E. Goetze. t. 25. Tübingen 1902 (BiblLitV 225) 119, num. 1055, 519, num. 5076. - 13 Rehermann, 146 (Var.nliste zu AaTh 982), Textbeispiele: 265, num. 13, 434, num. 28. — 14 Kirchhof, Wendunmuth 5, num. 109,111. - 15 Texte im EM-Archiv (mit num.): Melander 1604 (16.525, 16.686); Joco-Seria 1631 (7.981); Historien Schreiber 1729 (15.446); Kobolt 1747 (4.490). - 16 Kooi, J. van der: Almanakteljes en folksforhalen in stikmennich 17de en 18de ieuske texsten. In: It beaken 4 (1979) 83 sq. - 17 0 Süilleabhäin/Christiansen. - 18 DBF A 2,502; Gomme, H. L.: A Highland Folk-Tale Collected by the Late J. F. Campbell and Its Origin in Custom. In: FL 1 (1890) 197-206. - 19 Joos, Α.: Vertelsels van het vlaamsche volk 2. Gent 1890, num. 18; de Meyer, Conte. - 20 Aräjs/Medne; Balys 2452*; Loorits, O.: Estn. Volkserzählungen. Β. 1959, num. 184. 21 Krzyzanowski 946; Köhler/Bolte 1,432; Lintur, P. V.: Ukr. Volksmärchen. B. 1972,num. 117; Haralampieff, K.: Bulg. Volksmärchen. MdW 1971, num. 40. - 22 Braga,T.: Contos tradicionaes do povo portuguez 2. Porto 1883,108; Cabal, C.: Los cuentos tradicionales asturianos. Madrid s.a., 218-220; Serra i Boldü, V.: Rondalles populars 16. Barcelona 1933, 6 5 - 7 6 ; Amades, num. 490; Boggs 980 A. 23 Alcover, A.M.: Aplec de rondaies mallorquines 12. Palma de Mallorca 1954, 135-138; Massignon, G.: Contes corses. Aix-en-Provence 1963, num. 93; Ilg, B.: Maltes. Märchen und Schwänke 2. Lpz. 1906, num. 125; Dawkins, R. M.: Forty-Five Stories from the Dodekanese. Cambridge 1950, num. 18. — 24 Toschi, P./Fabi, Α.: Buonsangue romagnolo. Bologna 1960, num. 126; Cirese/Serafini; ein hist.
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Erbschaftsschwänke — Erbsensohn
Beleg im EM-Archiv: Casalicchio 1702 (3.036). — 25 Schmidt, J./Kahle, P.: Volkserzählungen aus Palästina 2. Göttingen 1930, num. 123; Jason; Jason, Types; Schwarzbaum, 236, 476 (mit weiterer Lit.). - 26 Thompson/Balys Ρ 236.2; Knowles, J. H.: Folk-Tales of Kashmir. L. 1888, 241; Parker, Η.: Village Folk-Tales of Ceylon 3. L. 1914, num. 234; Kähler, Η.: Die Insel der schönen Si Melu. Eisenach 1952, 1 6 9 - 1 7 3 ; weitere Nachweise bei Mot. Ρ 236.2. - 2 7 Baughman; Robe; Wheeler, Η. Τ.: Tales from Jalisco Mexico. Phil. 1943, num. 31. — 28 z . B . Ilg und Massignon (wie not. 23). — 29 Gomme (wie not. 18). - 3 0 Dawkins (wie not. 23).
Göttingen
Elfriede Moser-Rath
Erbschaftsschwänke —»Testamentsschwänke Erbsen: Gekochte E. säen Ad absurdum führen, —» Prozeß um die gekochten Eier Erbsenprobe —> Prinzessin auf der Erbse
Erbsensohn (AaTh 312 D), eine als selbständiger Typ und als Episode in anderen Typen auftretende Erzählung. (1) Ein Drache nimmt ein Mädchen gefangen (2) und tötet die Brüder, als sie es befreien wollen. (3) Die Mutter der Geschwister gebiert nach einer wunderbaren Empfängnis — oft durch Verschlukken einer Erbse — einen Sohn von großer Stärke. (4) Dieser E. tötet das Ungeheuer, erlöst seine Schwester und ruft die Brüder ins Leben zurück. (5) Jene wollen den Helden aus Neid umbringen, der sich jedoch mittels seiner Stärke befreit und die Brüder bestraft.
Die Erzählung ist zwar erst seit der 1. Hälfte des 19. Jh.s belegt, setzt sich aber aus sehr alten und auch in anderen Märchentypen vorkommenden Motiven zusammen, wie ζ. B. —» Drachenkampf, wunderbare —» Empfängnis, Rettung durch den —»Jüngsten1 und Neid der älteren —» Brüder. Bisher ist die Erzählung mit ca 160 Var.n belegt und begegnet am häufigsten in ostslav. (21 %) 2 , ung. (15%) 3 , südslav. (7%) 4 und rumän. (21%) s Fassungen. Bei den Balten ist sie ziemlich ungleichmäßig verbreitet: Während sie in Estland 6 und Litauen 7 nur in vier Hss. belegt ist, finden sich unter dem Einfluß des Ostslavischen in Lettland 8 13% der
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Var.n. Als nördlichstes Verbreitungsgebiet in Europa gilt Skandinavien 9 , als südlichstes Griechenland 10 . Bei Polen 11 und Slovaken 12 zeigt die Diffusionsstärke eine von Ost nach West abnehmende Tendenz. Die dt.sprachigen Erzählungen 13 aus dem Burgenland und Banat lassen sich unmittelbar auf ung. und rumän. Var.n zurückführen, der Erzählstoff überschreitet die mitteleurop. Sprachgrenzen nicht 14 . Syrjän. 15 , tscheremiss. 16 , georg. 17 , osset. 18 , dagestan. 19 und turktatar. 20 Var.n beweisen eine sich nach Osten abschwächende Vorkommensdichte des Typs. Die jap. 21 und chin. 22 Hss. stehen nicht in genetischer Verbindung mit den europ. Versionen. Vom Motiv der wunderbaren Empfängnis her lassen sich am deutlichsten die ostslav. E.und die rumän. Pfeffersohn-Redaktion voneinander unterscheiden. Die Struktur und die Hauptfiguren der ung. Var.n bei den Szeklern wurden durch die rumän. Redaktion entscheidend geprägt, deren Einfluß auch in ukr. Texten nachzuweisen ist23. Manchmal erscheint das Motiv der wunderbaren Empfängnis weniger deutlich: In der sog. Krebssohn-Redaktion (slovak., nordostung. und karpatoukr. 24 ) ζ. B. begegnet die Mutter — nach dem Verlust der Tochter und Söhne — einem Krebs, der nun zu ihrem Sohn wird. In einer ung. Var. wünscht die Mutter sich einen Sohn, wäre er auch nur so groß wie eine Bohne, und ein solcher springt ihr entgegen 25 . Dieses Motiv von der wunderbaren Empfängnis fehlt ganz, wenn einfach der jüngste — nicht nachgeborene — Sohn seine Geschwister befreit, wie in vielen südslav. Var.n. Mit der sich von Osten nach Westen ändernden Zahl der entführten Mädchen (statt einer Bauerntochter drei Königstöchter) wandeln sich auch die Charakteristika des entführenden Drachen (statt eines einköpfigen Drachen in bäuerlicher Umgebung mehrköpfige Drachen in höfischem Milieu). Zugleich erweitert sich der Kreis der kontaminierenden Märchentypen, und der Erzähltyp selbst wird — ζ. B. in der bes. häufigen Kontamination AaTh 312 D + 650 A + 301Α oder 301Β zu einer Märchenepisode. 1
Meletinskij, Ε. M.: Geroj volsebnoj skazki. M. 1958, 6 4 - 1 6 0 . - 2 SUS; v. auch Barag, L. G.: Beloruss. Volksmärchen. B. 1968, 596, not. zu num.
7. - 3 Berze Nagy 3011*; Kiss, G.: Α 301-es mesetipus magyar redakciöi. In: Ethnographia 70 (1959) 2 5 3 - 2 6 8 ; Degh, L.: Kakasdi nepmesek 2. Bud. 1960, num. 50; Koväcs, Α.: Kalotaszegi nepmesek 2. Bud. 1943, num. 93; Beres, Α.: Rozsälyi nepmesek. Bud. 1967, num. 5. - 4 Nach bibliogr. Aufzählung M. Boskovic-Stullis (Mittig vom 8. 5. 1962); Valjavec, M.: Närodne pripovedke. In: Kres 5 (1885) num. 69; Lesar, J.: Närodne pripovijetke iz Podgajaca. In: Zbornik za narodni zivot i obicaje juznih Slavena 12. Zagreb 1907, 139; Cajkanovic, V.: Srpske närodne pripovetke. Beograd 1927, num. 11 sq.; Boskovic-Stulli, M.: Drvo nasred svijeta. Hrvatsko-srpske närodne bajke. Zagreb 1961, 7 8 - 8 6 ; ead.: Närodne pripovijetke. Zagreb 1963, num. 14. - 5 Schullerus 327 D*; nach Mittig S. Stroescus vom 5. 2. 1963; §äinenu, L.: Basmeie romäne. Buk. 1895, 615sq., 618, 818; Sbiera, I.: Povejti popolare rominesci. CernäuJ 1886, num. 11; Costin, L.: Märgäritärele Banatului. Timijoara 1925, 128sq. - 6 Hss. im Eesti NSV Kirjandusmuuseum: ERA II 194, 510 (3) Se (1938); S 25543/7 (4) Se (1930); Ε 24555/8 (8) Viljandi (1896). - 7 Hs. des lit. Archivs für Folklore, Vilnius: LTR 953 (26). - 8 Aräjs/Medne. - "Berntsen, K.: Folkeaeventyr 1. Odense 1873, num. 13; t. 2 (1883) num. 4; Rausmaa, P. L.: Suomalaiset kansansadut. 1: Ihmesadut. Hels. 1972, num. 14. - 10 Volkskundliches Seminar Athen: Slg N. Agelis 5 - 7 ; Volkskundliches Archiv Athen: Hs. aufgenommen von D. Loukopulos, num. 977. 11 Krzyzanowski 312 A. - 12 Polivka 1, 289-303; t. 2, 1 - 1 0 , 6 9 - 7 1 . - 13 Bünker, R.: Schwänke, Sagen und Märchen in heanz. Mundart. Lpz. 1906, num. 94; Tietz, Α.: Zauberbründl. Märchen aus den Banater Bergen. Buk. 1958, num. 30; Henßen, G.: Ungardt. Volksüberlieferungen. Marburg 1959, num. 14. — 14 Das Problem der vom Kerngebiet weit entfernten Einzelfassungen (Jason; DBF A l , 180-184, 190sq.) muß durch die zukünftige Forschung geklärt werden. — l s Fokos, D.: Zürjen szövegek. In: Nyelvtudomänyi Közlemenyek 45 (1917-20) 4 0 7 - 4 2 0 , num. 2. - 16 Munkäcsi, B.: Volksbräuche und Volksdichtung der Wotjaken. Hels. 1952, num. 88; Beke, ö . : Tscheremiss. Märchen, Sagen und Erzählungen. Hels. 1938, num. 35 und 17. - 17 Istvänovits, Μ.: Α kiräly meg a pacsirta. Gruz nepmesek. Bud. 1958, 110-123; Dolidze, N.: Volsebnye skazki. Tbilisi 1960, num. 6. 18 Britaev, S./Kaloev, G.: Osetinskie narodnye skazki. M. 1959, 118-131. - 19 Chalilov, Ch.: Skazki narodov Dagestana. M. 1965, 183. - 20 Radlov, V.: Obrazcy narodnoj literatury tjurkskich piemen 10. St. Peterburg 1904, num. 47 sq. 21 Seki, num. 83. - 22 Wilhelm, R.: Chin. Volksmärchen. MdW 1927, num. 76; cf. Ting. - 23 Hs. (Migalka, I.: Sobranie ugrorusskich narodnych skazok. Peresuli 1892) im M. Ryl'skij Inst., Kiev: F 1 - 7 / 4 5 4 , fol. 3 0 - 3 7 ; Suchevic, V.: Hucul'scina 5. L'viv 1908, num. 69. - 24 Polivka 2, 9sq.; Berze Nagy 1, p. 246sq. (9. Var.); Lintur, P.: Zakarpat5
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Erbsenspur — Erdbeben
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Enzyklopädie des Märchens IV
skie skazki Andreja Kaiina. Uzgorod 1957, 81—86. - 25 Berze Nagy 1, p. 246. Lit.: BP 3, 429-431. - Barag, L. G.: Ob osobennostjach ukrainskoj geroiki sravnitel'no s belorusskoj i russkoj (Über die Besonderheiten ukr. Helden im Vergleich zu weißruss. und russ. Helden). In: RusF 11 (1968) 159, 165. - Dömötör, Ä.: Affinitäsvizsgälatok a Borsofiu-mese ukrän es magyar vältozataiban (Unters.en zur Affinität der ukr. und ung. Var.n des Märchens vom E.). (masch.) Bud. 1972. - Novikov, Ν. V.: Obrazy vostocno-slavjanskoj volsebnoj skazki (Figuren des ostslav. Zaubermärchens). Len. 1974, 3 0 - 4 3 . - Dömötör, Ä.: Russ. Redaktionen des Märchens vom E. In: Studia Slavica Hungarica 22 (1976) 387-399. Budapest
Äkos Dömötör
Erbsenspur —* W e g m a r k i e r u n g Erbsensucher
Prinzessin auf d e r E r b s e
Erbtheorie —> Indoeuropäische T h e o r i e
Erdbeben wirkten nachhaltig auf das B e wußtsein d e r ihnen meist hilflos ausgelieferten Menschen, so d a ß Erklärungsversuche dieser ständigen G e f a h r einen festen Platz in d e r Kultur- und Religionsgeschichte vieler Völker einnehmen1. E.katastrophen hatten wesentlichen E i n f l u ß auf die A b f o l g e d e r K u l t u r p e r i o d e n des A l t e r t u m s im von E . bes. b e t r o f f e n e n östl. M i t t e l m e e r r a u m und N a h e n Osten 2 . H i e r hatten die B e m ü h u n g e n um natürliche E r k l ä r u n g e n , A n f ä n g e einer wiss. Seismologie, ihren Ursprung. Schon Anaxim a n d e r und A n a x i m e n e s (6. Jh. v. u. Z. ) f ü h r t e n innere E r d b e w e g u n g e n auf anhaltende T r o c k e n h e i t und starke Regenfälle zurück. Die meistbeachtete E . t h e o r i e stammt allerdings von Aristoteles (4. Jh. v. u. Z . ) , d e r E . durch sich einen A u s w e g suchende E r d g a s e verursacht glaubte 3 . Naturwiss. Erklärungsversuche wurden jedoch i m m e r wieder mit astrologischen A n s c h a u u n g e n und E l e m e n t e n des Volksglaubens vermischt. So erklärte man - ganz in aristotelischer Tradition stehend — E. u. a. dadurch, „daz in der erden hölrn und allermeist in holem gepirge vil erdischer dünst gesament werdent, und daz der dünst also vil wirt, daz si niht dar inne beleiben mügent; [. . .] und daz wahsen pringt der stern kraft, iedoch aller maist
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Erdbeben
des streitgotes, der Mars haizt, und des helfvaters, der Jupiter haizt, und des Satjärs. wenne die in iren aigen häusern sint und wenn si gesament sint, so nu die dünst lang gevehtent in den hölrn, sö wirt ir stözen ze letst sö stark, daz si auz prechent mit gewalt und werfent ainen perg auf den andern" 4 .
Um der von E. ausgehenden Gefahr begegnen zu können, war man stets bemüht, ihren Zeitpunkt vorauszusagen. Die griech. Donner- und E.bücher z.B. versuchen, auf oriental. astrologische Anschauungen zurückgreifend, mit Hilfe des Sonnen- und Mondstandes die E. eines Jahres vorauszubestimmen 5 . Diese Bemühungen blieben nicht ohne Auswirkungen auch auf den Volksglauben der mitteleurop. Völker 6 . Solange es aber an einer hinreichenden naturwiss. Erklärung für das Entstehen von E. mangelte, haben die Menschen in populären Erzählungen immer wieder göttliche oder dämonische Wesen dafür verantwortlich gemacht. Als Ursache wird meist die Bewegung einer (zürnenden) Gottheit angesehen, deren Aufgabe es ist, die Erde zu tragen, und die sich schüttelt, wendet, fortbewegt oder tanzt, mit anderen kämpft, gegen die Erde hämmert, ihre Last von einer Schulter auf die andere verlagert, sich von ihren Ketten zu befreien sucht etc. Dabei wird sowohl an Wesen von menschlicher Gestalt (an einen Riesen etwa) als auch an Tiere (Schildkröten, Schlangen, Frösche, Fische, Krebse, Drachen, Elefanten, Eber, Büffel, Stiere, Kühe, Hunde u.a.) gedacht 7 . So führte man E. darauf zurück, daß sich einer der acht die Erde tragenden Elefanten, seiner Last müde, schüttelt (ind.; im alten China der Weltdrache Lung), ein Wal unter dem Lande hervorkriecht (jap.) oder ein Drache sich umdreht (pers.). Vereinzelt findet sich die Vorstellung, daß ein Insektenstich die Bewegung des Tieres veranlaßt 8 . Auch in Mitteleuropa wird davon erzählt, daß E. von einem im Wasser lebenden Wesen erzeugt werden. In Tirol ist recht unbestimmt von einem großen Tier die Rede, gelegentlich auch von einem Walfisch 9 oder dem Fisch Celebrant, der seinen Schwanz im Mund halte und mit jeder Bewegung die auf ihm ruhende Erde erbeben lasse 10 . Die Indianer Nordamerikas hingegen berichten von einer unterirdischen Säule, die von einer alten Frau bewacht wird. Wenn diese hungrig ist, gerät die Säule ins Schwanken und verursacht E. (Mot. A 843) 1 1 . In einer anderen Fassung handelt es sich um ,Mutter Erde', die einem Pfosten gleicht, auf dem
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die Erde ruht. Sie erklärt den Menschen, daß sie E. nicht zu fürchten hätten, da diese keineswegs den Weltuntergang bedeuteten, sondern nur anzeigten, daß .Mutter Erde' ihre Position verändere (Mot. A 1381.1) 1 2 .
Die germ. Mythologie sieht im Tod einzelner Helden (z.B. Heimirs; Mot. F 960.2.5) sowie in deren Rückkehr (Mot. F 960.9) E.ursachen 13 . Ferner wird an den in einer Höhle gefesselten —» Loki gedacht: Ein über ihm befestigter Wurm träufelt ihm beißendes Gift ins Gesicht. Seine Frau Sigyn fängt im allg. das Gift mit einer Schale ab; wenn diese aber voll ist und geleert werden muß, tropft das Gift ungehindert auf das Gesicht Lokis, dessen heftige Zuckungen die Erde erbeben lassen 14 . In der griech. Mythologie gilt Poseidon als E.erzeuger; wenn er vorüberschreitet, beben Berg und Wald 15 . Aber auch das Erscheinen anderer Götter (z.B. Ares, Apollon) kann von E. begleitet sein, selbst Zeus tritt — wohl, weil E. öfters mit —»Blitz und —* Donner verbunden sind — als Verursacher von E. auf 16 . Außer als typischer Begleitumstand der Götterepiphanie wurden E. als Prodigien angesehen, bes. in Verbindung mit anderen Vorzeichen (Sonnenfinsternis, Blutregen, Kometen etc.; cf. —»Prodigienliteratur). Während die Römer den Erscheinungen stets ominöse Bedeutung zusprachen, wurde von den Griechen meist nur ihr numinoser Charakter betont. E. galten allg. als Vorzeichen für Krieg; die Athener unterbrachen daher bereits begonnene Friedensverhandlungen aufgrund von E., die Spartaner verzichteten wegen zahlreicher E. auf geplante Feldzüge 17 , Saladin weigerte sich, nach einem E. Tyrus anzugreifen, mit den Worten: „Bene eis sufficit guerra Dei" 1S . Die germ. Mythologie kennt das E. als Vorbote der Götterdämmerung 19 ; der Tag des E.s ist ferner fester Bestandteil der pers. 20 , islam. 21 und israelit.-jüd. 22 —> Eschatologie. Die kirchliche Überlieferung des MA.s (auf der Grundlage von Mt. 24, Mk. 13 und Lk. 21) nennt 15 Zeichen, die das —> Jüngste Gericht ankündigen sollen 23 , darunter auch E. (Mot. A 1061.1). Den unterschiedlichen Erklärungen entsprechend differiert auch die Reaktion der von E. betroffenen Menschen:
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Erdbeben
Sie schreien, um den Urheber des E.s von ihrer Anwesenheit zu unterrichten, lärmen, trommeln, blasen oder lassen Hunde bellen, um ihn zu erschrecken, bedrohen ihn, schießen Pfeile ab oder versuchen, ihn durch Opfer und Kulthandlungen zu besänftigen etc. 24 . Ein typisches Beispiel bietet das Verhalten der peruan. Indios: Sie glauben, daß Gott sich von Zeit zu Zeit von seinem Himmelssitz erhebe, um die Menschen zu zählen; bei jedem seiner Schritte erbebe dann die Erde, und aus der Stärke der Klagerufe vermöge er die Zahl der Menschen zu schätzen. Um das Dahinschreiten Gottes zu verkürzen, schreien und stampfen die Indios beim ersten Anzeichen eines E.s so laut wie möglich25. In der christl. Vorstellung überwiegt die Auffassung, daß keine natürliche Ursache, sondern Gottes Zorn die Erde beben lasse, als Zeichen seiner Allmacht (cf. Ex. 19,18; 1. Kön. 19,11; cf. auch Mot. A 123.1.4) 2 6 oder als Strafe für die Sünden der Menschen (cf. Mot. Q 552.25). E., welche keine katastrophalen Folgen haben, werden als Ermahnung zur Gottesfurcht angesehen 27 . Eine große Rolle spielen E. in der christl. Hagiographie; häufig stehen Wunder der Märtyrer und Heiligen zu E. in Beziehung (ihr Martyrium oder Tod wird von E. begleitet 28 ; Mot. V 222.9), weshalb ihr Leichnam bzw. ihre Reliquien als Beschützer E.-bedrohter Städte galten 29 . Oft treten E. als Befreiungs- oder Gebetswunder auf; ein E. löst z.B. die Fesseln des hl. Thyrsus und läßt die Glieder seiner Peiniger erstarren 30 . Beim Gebet der hl. Marina erbebt die Erde, und die Fesseln fallen von ihr ab 31 . E. zerstören Tempel und Städte beim Tod von Agatha, Martina, Bonifatius, Vitus u. a.32, sie bringen die Zeugen des JuventiusMartyriums zur Erkenntnis 33 und bezeugen die Unschuld eines zu Unrecht angeklagten jungen Mannes: Dieser soll — in einen Sack eingenäht - im Fluß versenkt, der hl. Andreas, der sich seiner annahm, eingekerkert werden. Auf ein Gebet des Apostels hin wirft ein fürchterliches E. alle nieder, die Klägerin wird von einem Blitz erschlagen34. Als der Leichnam der hl. Katharina in eine andere Kirche überführt werden soll, wird dies durch ein E. verhindert 35 . Von bes. Bedeutung für die Frömmigkeit der Menschen im 18. Jh. war das große E. von Lissabon (1. Nov. 1755; ca 6 0 . 0 0 0 Tote), das wesentlich zur Zerstörung des aufklärerischen Optimismus beitrug (cf. Voltaires Poeme sur le desastre de Lisbonne) und erneut die Frage der Theodizee aufwarf 36 . 5·
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Im Märchen ist das E. ein wenig signifikantes Motiv. Es begegnet aber — zusammen mit Berichten über andere Katastrophen (Feuersbrünste, Pestepidemien etc.) - immer wieder in der Historien-, Reise- und Sensationsliteratur des späten 16. bis frühen 19. Jh.s 37 . Im allg. wird von E. berichtet, die — meist verstanden als Strafe für begangene Frevel — Schlösser, Kirchen oder ganze Städte in Schutt und Asche legen oder in der Erde (im Wasser) versinken lassen 38 . In diesen Unglücks-Chronica vieler grausamer und erschrecklicher E.39 vermischen sich dabei Tatsachenberichte zunehmend mit (oft frei erfundenen) Sensationsmeldungen, die den Verkauf der Heftchen und Flugblätter durch Kolporteure fördern sollten (cf. —» Flugblatt) 40 . Heute haben E.Schilderungen Eingang gefunden in die Kinder- und Jugendliteratur und sind fester Bestandteil der Berichterstattung von Massenpresse, Funk und Fernsehen sowie Gegenstand actiongeladener Erfolgsfilme geworden. Ausgezeichneter Überblick bei Hermann, Α.: Ε. In: RAC 5, 1070-1113; v. auch Bertholet, D.: E. In: RGG 2 ( 2 1928) 225sq.; Fehrle, Ε.: E. In: HDA 2, 890-892. - 2 cf. RAC 5, 1070sq. - 3 cf. ibid., 1079-1081. - "Das Buch der Natur von Konrad von Megenberg. ed. F. Pfeiffer. Stg. 1861, 107 sq., num. 33. — 5 cf. Boll, F.: Aus der Offenbarung Johannis (Stoicheia Η. 1). Lpz. 1914, 82. - 6 v. HDA 2, 891. - 'Lasch, R.: Die Ursache und Bedeutung der E. im Volksglauben und Volksbrauch. In: ARw. 5 (1902) 236-257, 369-383; Sebillot, P.: Les Tremblements de terre. In: RTP 2 (1887) 97-105; cf. RGG 2 ( 2 1928) 225; eine armen. Sage führt E. auf das Jammern und Klagen unter die Erde verstoßener Engel zurück (Dh. 1, 49, num. 7 a); von Salomo wird erzählt, daß er widerspenstige Geister zwischen Marmorblöcke einzwängen und mit ihnen den Grundstein seiner Bauten legen ließ; ihr Bemühen, sich zu befreien, verursache die E. (Günter 1949, 217). - 8 Grimm, J.: Dt. Mythologie 2. ed. Ε. H. Meyer. Gütersloh "[1875] 682; RGG 2 ( 2 1928) 225. - 9 Rehsener, M.: Tiroler Volksmeinungen über E. In: ZfVk. 19 (1909) 198sq. - 10 cf. Köhler, R.: Der Fisch Celebrant. In: Germania 13 (1868) 399sq.; Kretzenbacher, L.: Ein Fisch trägt die Erde. Von den E.mythen der Völker. In: Neue Chronik zur Geschichte und Vk. der innerösterr. Alpenländer 20 (28. 3. 1954) lsq.; zu Mot. A 1145: Cause of earthquakes cf. Schwarzbaum, 353, num. 491 (ind.). 11 Mot. A 843; dort ferner eine finn.-ugr. Var. — 12 Teit, J. Α.: Tahltan Tales. In: JAFL 32 (1919)
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Erdbeeren im Winter - Erde
198-250, hier 227, num. 2. - " G r i m m (wie not. 8) 681. - 14 Simrock, K.: Hb. der Dt. Mythologie [. . .]. Bonn 5 1878, 104sq. - 15 cf. RAC 5, 1082-1086; Ovid, Metamorphosen 12, 521. 16 cf. Cook, Α.: Zeus 2,1. Cambr. 1925, 1 - 7 ; ibid., t. 3,1 (1940) 1 - 2 9 . - 17 cf. Popp, H.: Die Einwirkung von Vorzeichen, Opfern und Festen auf die Kriegsführung der Griechen im 5. und 4. Jh. a. C. n. Diss. Erlangen 1959, 1 3 - 1 8 . - 18 Tubach, num. 1848. - 19 Grimm (wie not. 8) 681; cf. Olrik, Α.: Ragnarök. Die Sagen vom Weltuntergang. B./ Lpz. 1922, 278-290. - 20 cf. RGG 2 ( 2 1928) 226.
-
21
ibid. — 22 Bes. den Propheten galten E. als wesentliches Kennzeichen des Jüngsten Gerichts; cf. Jes. 2,19 und 24, 1 8 - 2 0 ; Jer. 4,24; 10,10; Ez. 38,19sq.; Am. 8,8; Sach. 14,5. - " S o z.B. Thomas von Aquin, v. Grimm (wie not. 8) 681, bes. not. 2. - 24 cf. RGG 2 ( 2 1928) 226. - 25 cf. Lasch (wie not. 7). - 26 cf. Brückner, 337. — 2 7 Rehsener (wie not. 9) 198. - 28 Dies z.T. in deutlicher Nachfolge des Ber.s von Jesu Tod (Mt. 27,51 sq.; cf. RAC 5,1099sq.). - 29 cf. ibid., 1101. - 30 cf. Günter 1949, 153. " c f . RAC 5, 1102. - 3 2 cf. Günter 1949, 142. 33 ibid., 144; v. auch Toldo 1902, 316 (über die hl. Jungfrau Serapia von Antiochien). - 34 Legenda aurea/Benz, 18 (Von St. Andreas dem Apostel); cf. Alsheimer, R.: Das Magnum speculum exemplorum als Ausgangspunkt populärer Erzähltraditionen. Bern/Ffm. 1971, 161, num. VZ 164. - " Assion, P.: Die Mirakel der Hl. Katharina von Alexandrien. Diss. Heidelberg 1969, 211-216. - 36 cf. Lütgert, W.: Die Erschütterung des Optimismus durch das E. von Lissabon 1755 (Beitr.e zur Förderung christl. Theologie 5,3). Gütersloh 1901; RGG 2 ( 2 1928) 226. - 37 cf. Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, 5 4 4 - 5 4 7 ; ferner Belege im Zentralarchiv der dt. Volkserzählung, Marburg, s.v. Katastrophen; Günther, S.: Münchner E.- und Prodigienlit. in älterer Zeit. In: Jb. für Münchner Geschichte 4 (1890) 233-256. 38 z.B. Berckenmeyer, P. L.: Vermehrter Curieuser Antiqvarius [. . .]. Hbg 5 1720, 443; Hammer, M.: Rosetum historiarum [. . .]. Zwickau 1654, Reg. s.v. E. (10 Historien); cf. ferner Belege im HDAArchiv, Seminar für Vk., Göttingen, s.v. E.; v. auch Tubach, num. 1847, 5014. - 39 So der Titel einer kurzgefaßten Chronik zahlreicher E. und Vulkanausbrüche. Hbg [um 1695]. - 40 cf. Schenda, R.: Volk ohne Buch. Mü. 1977, 262; v. auch Brückner, 337sq.; Rochholz, E. L.: Schweizersagen aus dem Aargau 2. Aarau 1856, 91 (über das E. von 1356, welches den Grafen von Froburg das Leben gekostet haben soll, der nachweislich aber erst neun Jahre später starb). O f f e n b a c h (Main)
Ulrich H u s e
Erdbeeren im Winter —> Wintergarten
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Erde 1. Kosmogonien — 1.1. Die E. als Urriese 1.2. E. und Himmel als göttliche Ureltern — 1.3. Die uranfängliche Trennung von E. und Himmel - 1.4. Der Erdtaucher - 2. Terra mater — 3. Entstehung des Menschen aus der E. — 3.1. Autochthoner Ursprung — 3.2. Erschaffung aus E. — 4. Heiligkeit der E. - 5. Die Kräfte der E. - 5.1. Erdberührung als Kraftquelle - 5.2. Heilkraft 5.3. Magische Eigenschaften — 5.4. Geomantie — 5.5. E. als Erhalterin toter Leiber — 5.6. E. als Spenderin von Reichtümern - 5.7. E. als Helferin — 6. Ursprung der Fruchtbarkeit der E. - 7. Verdorren der fruchtbaren E. — 8. Verschlingung von Menschen — 9. Verwandlung von E. in andere Stoffe — 10. Leben im Inneren der E. — 10.1. Dämonische Wesen — 10.2. Reisen ins Erdinnere 11. Reisen um die E. - 12. Abstieg zur E. - 13. E. in Rätselmärchen - 14. Zerstörung der E. Als eines d e r vier E l e m e n t e spielt die E . ein e b e h e r r s c h e n d e Rolle in den Kosmogonien, Riten, M y t h e n , E r z ä h l u n g e n und Sagen d e r ganzen Welt. D e r Begriff selbst hat vielfältige B e d e u t u n g e n ; er bezeichnet den Kosmos, die Welt in den verschiedenen Vorstellungen, die m a n sich von ihr m a c h t e (Planet, Scheibe, Insel, Schachtel etc.), ein Stück Land und den B o d e n in seiner stofflichen Beschaffenheit. 1. K o s m o g o n i e n . D i e S c h ö p f u n g d e r E. bildet den G r u n d s t e i n f ü r viele Mythologien d e r Welt. Z u den verbreitetsten Schöpfungsm y t h e n g e h ö r e n (1) die E r s c h a f f u n g d e r E . aus d e m K ö r p e r eines Urriesen, (2) E . und H i m m e l als göttliche U r e l t e r n der G ö t t e r , d e r Flora und F a u n a u n d d e r M e n s c h e n , die später (3) getrennt werden und d a d u r c h der E n t wicklung in d e r Welt R a u m geben, (4) das H e r a u f h o l e n d e r E. aus d e r Tiefe eines U r meers. 1.1. D i e E . a l s U r r i e s e . A k k a d . ( d . h . babylon. und assyr.) M y t h e n zufolge existierten zu A n b e g i n n n u r das U r m e e r , der Riese A p s u und seine Frau T i ' ä m a t . D a n n w u r d e n zu einer u n b e s t i m m t e n Zeit m e h r e r e G e n e r a tionen von G ö t t e r n geboren. E i n e m von ihnen, E a , gelang es, A p s u durch eine Z a u b e r f o r m e l zu t ö t e n ; darauf gebar E a s F r a u den H e l d e n M a r d u k , d e r die rachedurstige Ti'ämat erschlug u n d H i m m e l u n d E. aus Ti'ämats riesigem K ö r p e r erschuf, indem er ihn zweiteilte 1 .
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Erde
Die Erschaffung des Kosmos im skand. Mythos wird in der —» Edda ausführlich von Snorri Sturluson, der aus den Vafdrüdnismäl, den Grimnismäl, der Vqlospä und anderen, unbekannten Quellen schöpfte, geschildert (Gylfaginning, 4—9; Boberg A 642). Die ersten Götter, Odin, Vili und Ve, erschlagen den Riesen Ymir und bilden aus seinem Körper die Welt (Boberg A 831.2). Aus seinem Blut machen sie Meere und Seen, aus seinem Fleisch die E., aus seinem Schädel den Himmel und aus seinem Gehirn die Wolken. Im frühen Indien berichtet ein Hymnus des Rgveda (10, 90), daß die Götter den Kosmos aus dem Körper des Urwesens Purusa schufen (Thompson/Balys A 642). Eine Parallele dazu findet sich im Pahlavi-WfVäyai zum Dätastän i denlk, einem theol. Werk aus der zoroastr. Zeit des Iran, in dem erzählt wird, daß die Schöpfung in verschiedenen Entwicklungsstufen aus dem Körper eines toten Urriesen entstand: der Himmel aus dem Schädel, die E. aus den Füßen, die Gewässer aus den Tränen und die Pflanzen aus dem Haar. Gleiches berichtet im wesentlichen der manichä. Schöpfungsmythos: Mihryazd (Mithra), der Geist des Lebens, erschlägt die Dämonen der Finsternis und bildet aus ihrer Haut die Himmel, aus den Knochen die Berge, aus dem Fleisch und den Exkrementen die E.n, vier oder acht an der Zahl 2 . 1.2. E. u n d H i m m e l als g ö t t l i c h e U r e l t e r n . Weit verbreitet unter den kosmogonischen Mythen der Welt ist die Vorstellung von einem göttlichen Paar, Himmel und E., aus dessen Vereinigung Götter, Menschen und Flora und Fauna hervorgehen. Diese Urbindung wird in den Mythen der verschiedensten Völker als hieros gamos angesehen und dient als Muster aller menschlichen Ehebindungen2'1. Ein typisches Beispiel dafür bietet der griech. Mythos von Gaia, der E. (Hesiod, Theogonie, 1 0 5 - 1 0 7 und 117-138), die in Parthenogenese Uranos, den Himmel, die Berge und das Meer hervorbringt. Uranos zeugt dann mit Gaia die Titanen, Zyklopen und Hekatoncheiren. Später gebiert Gaia die Giganten Typhon, Tityos und —» Antaios. A. Dieterich kam in seiner ausführlichen Unters, dieser Überlieferung, bei der er sich auf weltweit verbreitete Var.n stützte, zu dem Schluß,
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daß der Mythos von Vater Himmel und Mutter E. einer der wirklich universellen Mythen der Menschheit sei3. Schwerwiegende Einwände dagegen wurden von O. Pettersson erhoben, der aufzuzeigen versuchte, daß diese Überlieferung wie auch die Vorstellung einer Mutter E. in ihrer Verbreitung weitaus begrenzter seien, als Dieterich angenommen hatte 4 . Doch obwohl Pettersson nachweisen konnte, daß die Materie solche weitgehenden Schlußfolgerungen nicht zuließ, vermochte er dessen Hauptargumente in keiner Weise zu entkräften, denn der Mythos von Vater Himmel und Mutter E. begegnet in der Tat in vielen Teilen der Welt. Mot. A 625: World parents: sky-father and earth-mother und A 702.5: Marriage of earth and sky finden sich in griech., isl., ind., indones., birman., ozean., nord- und südamerik. und afrik. Mythen. Die Maoris auf Neuseeland verehren den Himmelsvater Rangi und die Erdmutter Papa 5 . Die Yuma-Indianer Südkaliforniens erzählen, daß die E. vom Himmel Zwillingssöhne durch einen Regentropfen, der während des Schlafs auf sie niederfiel, empfangen habe 6 . Den Mythen der Zuni-Indianer des amerik. Südwestens zufolge zeugte Vater Himmel mit Mutter E. alles Leben auf der Welt 7 . M. Eliade, der Dieterichs Schlußfolgerungen beistimmt, hat „die Vereinigung von Himmel und Erde eines der Leitmotive der Mythologie der Welt" genannt 8 . Eine merkwürdige Vertauschung der Geschlechterrollen von Himmel und E. tritt im frühägypt. Mythos auf, wo der Himmel von der Göttin Nut und die E. vom Gott Geb verkörpert wird9. 1.3. D i e u r a n f ä n g l i c h e T r e n n u n g von E. u n d H i m m e l . Die Vorstellung, daß E. und Himmel sich einst eng umschlungen hielten, erfordert ätiologische Erklärungen der späteren Trennung des göttlichen Paares, die sich gewöhnlich in zwei mehr oder weniger unterschiedliche Gruppen unterteilen lassen. Nach der ersten ist die Trennung selbst ein Teil des Schöpfungsaktes, wodurch Licht, Feuer und Wachstum erstmals in der Welt Eingang finden. In der zweiten dagegen bildet die Trennung das Ende eines Goldenen Zeitalters, während dessen sich der Mensch ungehindert zwischen beiden Reichen bewegen und unter die Götter mischen konnte 10 . Zu
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den zahlreichen Mythen der ersten Gruppe gehören auch die der ved. Hymnen. Sie erzählen von Dyaus, dem Himmel, der mit Prthivi, der E., zusammenlag und Indra zeugte (Thompson/Balys A 625). Diesem wurde in seiner Kindheit ein Trunk von hl. Soma verabreicht, wodurch er zu so gewaltiger und erschreckender Größe anschwoll, daß E. und Himmel auseinanderflohen und fortan getrennt blieben, während er den Raum dazwischen, die Atmosphäre, einnahm. Eine Reihe ved. Hymnen (ζ. B. Rgveda 6,17,7) preist Indra für diese große Tat: „Du hast die Erde ausgebreitet, eine große, wunderbare Tat, den weitausgedehnten Himmel hast Du, ο Indra, als emporragender emporgestemmt" 11 . Bei den Maoris wird erzählt, daß die Kinder der E. und des Himmels die Fäden, die ihre Eltern zusammenhielten, durchschnitten und ihren Vater so weit emporschoben, daß er auf ewig von seiner geliebten Gattin getrennt wurde 12 . Ähnliche Vorstellungen und Erzählungen sind auf der ganzen Welt bekannt. In einem mongol. Hochzeitsgebet z.B. ist davon die Rede, daß das Feuer geschaffen wurde, „als Himmel und Erde sich voneinander trennten" 13 . Bei den Yuma-Indianern wird berichtet, daß die erste Tat der der Verbindung zwischen Himmel und E. entsprossenen Zwillingsgottheiten nach ihrer Geburt darin bestanden habe, das engumschlungene Paar zu trennen und den Himmel auf seine jetzige Höhe zu heben. Dann setzten sie die Himmelsrichtungen fest, grenzten das Land ab und schufen seine Bewohner 14 . Ebenfalls weitverbreitet sind die Mythen, in denen die Trennung von E. und Himmel das Ende des Goldenen Zeitalters bedeutet. Die Akwapim in Afrika erzählen z.B., daß die Menschen einst mit einem Stock an den Himmel stoßen konnten und darauf Fische wie Regentropfen auf die E. niederfielen. „Ein Weib stieß einst Fufu in einen Mörser. Aber es ging sehr schlecht, denn die Höhe (des Himmels) genügte nicht. Sie sagte daher zu Nyankupong (dem Himmel): .Erhebe Dich ein wenig, ich habe nicht Raum genug für einen Fufustößel'. Nyankupong gehorchte und fragte: ,Bis hierher?' ,Nein', sagte sie, ,noch weiter!' So that er dreimal; endlich hieß sie ihn Halt machen. Auf diese Weise kam es, daß Nyankupong dem Erdboden so fern kam, daß, wenn jemand ruft, er es kaum noch hört, und was die Fische betrifft, so sind sie jetzt sehr rar. Wäre jenes Weib nicht gewe-
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sen, so würde man heute noch die Fische umsonst bekommen" 15 .
Nach altchin. Uberlieferung betrachtete Shang Ti, der Herr in der Höhe, die Menschen und fand sie nicht tugendhaft genug. Er befahl daher Ch'ung und Lit, die Verbindung zwischen Himmel und E. zu durchtrennen, damit Geister und Menschen nicht mehr zwischen beiden Reichen auf- und niedersteigen konnten 16 . Bes. beachtenswert sind europ. Volkserzählungen, in denen sich der Mythos der Trennung von Himmel und E. erhalten hat, so z.B. folgende Geschichte, die im 19. Jh. in Griechenland aufgezeichnet wurde: „In alten Zeiten war der Himmel so nahe der Erde, daß die Rinder an ihm lecken konnten. Eines Tages nahm ein Mensch Ochsenmist und warf ihn auf den Mond; und der Mist ist seitdem am Monde kleben geblieben, woher die dunklen Flecken auf seiner Scheibe kommen. Darüber geriet der Himmel in Zorn und sprach zum Meere: ,Gib mir Höhe, und ich will dir Tiefe geben. [. . .] so trennten sie sich voneinander" 17 .
1.4. D e r E r d t a u c h e r . Bei der Betrachtung der Kosmogonien früher Völker oder zeitgenössischer schriftloser Volksstämme ist zu berücksichtigen, daß diese Gesellschaften in keiner Weise fähig sind, Beschaffenheit und Ausdehnung der E. zu begreifen. Dies wurde erst im ZA. weltweiter Entdeckungsreisen und der Entwicklung der Kartographie möglich. Es erstaunt daher nicht, daß viele Völker sich ihre E. als eine Art Floß vorstellten, das auf den Wassern schwimmt, oder als Scheibe, die von einem Tier oder einem Giganten getragen wird. Andere dachten sich die E. als eine Art Schachtel, die auf Säulen ruht. Zu den berühmtesten ätiologischen Mythen um die Gestalt der E. gehört der Mythos des Erdtauchers: Ein (gewöhnlich amphibisches) Tier wird dazu gebracht, auf den Grund des Urmeers hinabzutauchen und ein kleines Stück E. von dort mitzubringen, das dann auf dem Rücken des Tiers befestigt wird und sich zur lebensspendenden E. entwickelt. Berichte dieser Art finden sich weltweit; sie sind jedoch bes. häufig in Ostasien (z.B. Thompson/Balys A 811), bei den finn.-ugr. Völkern der Sowjetunion und den Indianern
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Nordamerikas anzutreffen. Α. B. Rooth hat in ihrer Monogr. über die Schöpfungsmythen nordamerik. Indianer festgestellt, daß der Erdtaucher-Mythos am meisten verbreitet ist 18 ; überdies bemerkte G. Hatt auffallende Parallelen zwischen den asiat. und den amerik. Versionen der Geschichte 19 . Die Rolle des kosmogonischen —»Tauchers wird einer ganzen Reihe von Tieren zugeschrieben (Bisamratte, Biber, Taucher, Krebs, Nerz und Schildkröte). Obwohl der Erdtaucher-Mythos nicht in europ. Erzählungen erhalten ist, wurden in vielen Gebieten Europas verwandte Geschichten aufgezeichnet, in denen berichtet wird, die E. befinde sich auf dem Rücken eines Fisches, eines Wals oder einer Schildkröte. So heißt es bei den Sarganen, die E. ruhe auf einer Kröte; in Polen wird von zwei gewaltigen Fischen erzählt, die sie tragen, in Rußland von drei Walen 20 , in Jugoslawien von einem riesigen Stier 21 , und ein dt. Weihnachtslied erwähnt einen Fisch 22 . Stets unverändert findet sich in solchen Berichten die Erklärung, daß Bewegungen des Tiers Erdbeben hervorriefen.
„In deiner Macht steht es, den Sterblichen das Leben zu geben und es von ihnen zu nehmen" 24 . Die Verehrung der Mutter E. bei den germ. Völkern ist durch den bekannten Abschnitt bei Tacitus belegt, in dem er den Kult der Fruchtbarkeitsgöttin Nerthus, die er mit der Terra mater identifiziert, ausführlich beschreibt 25 , und der Prolog zu Snorris Edda bestätigt deren Existenz in skand. Überlieferung (Boberg A 401). Eliade, der sich eingehend mit den universellen Aspekten der Verehrung der E. befaßt hat, hebt hervor, daß man zu einer Zeit, als die genaue genetische Verbindung der beiden Elternteile zu ihren Nachkommen noch unbekannt war, dachte, die Kinder seien lediglich mit der Mutter verwandt, da sie ihrem Schoß entstammten. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Vorstellung sei der Glaube, daß die Geister der Kinder aus der E. hervorkämen und in den Mutterleib eindrängen 26 . Der Aberglaube vom Kinderbrunnen, Kinderteich, von der Bubenquelle etc. steht nach Eliades Meinung mit dieser Idee in Zusammenhang:
2. T e r r a m a t e r . Da die E. in vielen Teilen der Welt als fruchtbares, anthropomorphes weibliches Wesen aufgefaßt wurde, ist es nur natürlich, daß man sie auch als Große Mutter, der alles Lebende seine Existenz unmittelbar verdankt, betrachtete. M. Eliade hat darauf hingewiesen, daß man sie sich oft als androgyn vorstellte, d. h. ihr die Fähigkeit zuschrieb, in Parthenogenese aus sich selbst Leben hervorzubringen. Seiner Ansicht nach ist dies weitgehend auf die Entwicklung des Ackerbaus zurückzuführen:
„Jede Mutter imitiert und wiederholt den Urakt der Hervorbringung des Lebens aus dem Schoß der Erde. Infolgedessen muß sich jede Mutter in unmittelbarer Verbindung mit der tellurischen Gebärerin befinden. Hier liegt der religiöse Grund für das Ritual der Niederkunft ,auf bloßer Erde' (humi positio), das man fast überall auf der Welt trifft" 27 .
„Obwohl man schon in den Mythen der Sammler- und Jagdvölker weiblichen Gestalten begegnet, von denen die Fruchtbarkeit der Tiere und Felder abhängt, so gewinnt die Erd-Mutter doch eine besondere Bedeutung bei den Pflanzervölkern, vor allem den ackerbauenden" 23 .
Daß die E. auch im alten Griechenland als Mutter allen Lebens galt, zeigt eine Stelle bei Äschylos (Choephoroi 5, 127sq.): „Gaia gebiert alle Wesen, ernährt sie und erhält von ihnen wieder die fruchtbare Saat". Berühmt ist auch der homerische Hymnus an die E.:
Ähnlich weitverbreitet ist der Brauch, das neugeborene Kind auf die nackte E. zu legen, wo es vom Vater aufgehoben wird (lat. de terra tollere). Die Universalität solcher Vorstellungen und Gepflogenheiten wird nicht nur in den Schriften Eliades und Dieterichs betont, sondern auch bei H. Sunden (1959), F. Heiler (1961), M. Granet (1953), J. Wach (1951), G. van der Leeuw (1933), J. G. Frazer (1926), C. Keeler (I960), O. Crawford (1958), Ε. Ο. James (1959), Ε. Neumann (1955) und vielen anderen 28 . Selbst in Gebieten, in denen es keinen festen Beweis für die Existenz eines ErdmutterKultes gibt, findet sich die Vorstellung, daß die E. ein anthropomorphes Wesen sei. Ζ. B. glauben die Ge-Indianer in Südamerika, die E. habe Venen und Arterien wie der Mensch,
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und erzählen von einer Sintflut, die dadurch entstand, daß sich ein Gürteltier tief in der E. eingrub und dabei eines ihrer Blutgefäße zum Platzen brachte 29 . Ähnliches Gedankengut behauptet sich selbst noch in der Neuzeit bei christl. Völkern, wie der aus den Vereinigten Staaten belegte Aberglaube zeigt, daß „die Erde blutet, wenn man am Karfreitag den Boden umgräbt" 30 . 3. E n t s t e h u n g d e s M e n s c h e n aus d e r E. 3.1. A u t o c h t h o n e r U r s p r u n g . Der Gedanke, daß der Mensch zu Anbeginn der E. entsprungen sei (Mot. A 1234) ist sehr verbreitet; Berichte darüber sind aus dem alten Griechenland 31 , aus Neuguinea, Australien und Indonesien 32 , von der Osterinsel 33 , den grönländ. Eskimos 34 , aus Afrika 35 , aus der hinduist. Überlieferung 36 und von den nordamerik. Indianern 37 bekannt.
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phet' auf die Frage der Regierungsbehörden, warum sein Volk den Ackerbau ablehne, antwortete: „Ihr wollt, daß ich den Boden pflüge? Soll ich ein Messer nehmen und meiner Mutter Brust zerfleischen? Wenn ich einst sterbe, wird sie mich nicht an ihrem Busen ruhen lassen. Ihr wollt, daß ich nach Steinen grabe? Soll ich unter ihrer Haut nach ihren Knochen wühlen? Wenn ich einst sterbe, kann ich nicht mehr in ihren Körper eingehen, damit ich wiedergeboren werde. Ihr wollt, daß ich Gras esse, Heu mache, es verkaufe und reich bin wie ein weißer Mann! Doch wie darf ich es wagen, meiner Mutter Haar zu schneiden?" 40
Sehr häufig findet sich auch die Vorstellung, daß beim Aushub des Fundaments für ein Gebäude die E. erst beschwichtigt werden muß 41 . Ähnlich war es in Indien an den Ruhetagen der E. verboten zu pflügen, und bevor ein Brunnen gegraben werden durfte, mußte ein Gebet über der E. gesprochen werden 42 . Eine der eingehendsten Untersuchungen von Erzählungen, die Aufschluß über die Ein3.2. E r s c h a f f u n g aus E. Die Schilde- stellung zur E. und ihrer Fruchtbarkeit geben, rungen der Erschaffung des Menschen aus E. stammt von dem dt. Ethnologen Α. E. Jen43 weisen Ähnlichkeiten zu den Erzählungen sen , der bei verschiedenen Völkern einen über seinen autochthonen Ursprung auf, sind im wesentlichen gleichen Mythos und das jedoch nicht mit ihnen identisch. In einem gleiche Ritual fand: Einst wurde die DemaMythos der südamerik. Selknam-Indianer Gottheit erschlagen und ihr Körper von der vollzieht sich die Schöpfungsgeschichte in E. aufgenommen. „Die Urzeitverhältnisse", 44 zwei Schritten: Kenos, eine Urgottheit, formt schreibt Jensen, „wurden damit beendet" . Die übrigen Demas wurden dann zu menschaus Erdklumpen männliche und weibliche Geschlechtsteile, aus deren Vereinigung die lichen Wesen; aus dem Leib des erschlagenen ersten Männer und Frauen hervorgehen 38 . Dema kamen die ersten eßbaren Pflanzen Berichte von - * Kulturheroen, die aus Lehm hervor. Wenn man Pflanzen verzehrte, glaub(—> Adam, —»Adam und Eva, —> Anthropo- te man daher, von der Gottheit zu essen. Als gonie) die ersten Menschen formten (Mot. „wiederholte Erinnerung an jenes göttliche A 1241), sind in vielen Teilen der Welt be- Geschehen, das am Anfang der Dinge steht, kannt. Bei den von nordamerik. Indianern von dem sich alles ableitet, was heute auf Er45 stammenden Erzählungen dieser Art vermu- den ist" , wurden periodisch Menschen und Tiere erschlagen. tete S. Thompson jedoch christl. Einflüsse 39 . 4. H e i l i g k e i t d e r E. Da man sich die E. häufig als Göttin vorstellte, in deren Adern Blut pulsiert, mußte man auch sorgsam und ehrfürchtig mit ihr umgehen. Vor allem beim Umgraben des Bodens war Achtsamkeit geboten. Solche Auffassungen haben so weit geführt, daß Jäger- und Sammlervölker sich der Einführung des Ackerbaus als neuer Nahrungsquelle widersetzten, wie im Falle des nordamerik. Umatilla-Stammes, dessen .Pro-
5. D i e K r ä f t e der E. 5.1. E r d b e r ü h r u n g als K r a f t q u e l l e . Da die E. entweder als Gottheit oder als auf andere Weise mit göttlichen Kräften verbunden betrachtet wurde, ist es natürlich, daß man auch weithin die E. als eine Quelle der Kraft ansah. Berühmt ist der Mythos vom Sohn Gaias, dem Giganten —» Antaios (Mot. Κ 12.3, D 1719.10.1, D 1778, D 1833), der seine Stärke aus der Berührung mit dem Bo-
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den zieht. Der Grundgedanke dieses Mythos begegnet auch in der neuzeitlichen Schweiz, wo erzählt wird, Hexen gewönnen ihre Kraft aus dem Kontakt mit der E. (Mot. G 222.2) 46 . Eine ind. Erzählung berichtet, daß ein Mann durch Berührung der E. von einem bösen Zauber erlöst worden sei47. 5.2. H e i l k r a f t . Aus dem Verständnis der E. als mächtige Kraft ergibt sich, daß man ihr ebenfalls Heilwirkung zuschreibt. Heilung von Krankheiten (Mot. D 1599.1.28sqq.) oder Wunden (Mot. D 1503.12) durch E. ist in einer Vielfalt von Erzählungen aus der ganzen Welt belegt. Eine türk. Geschichte mißt E. aus einem fernen Land die gleichen Heilkräfte bei, die in anderen Erzählungen das Wasser des Lebens besitzt 48 . Eliade machte in einer Reihe von Schriften auf den verbreiteten Brauch aufmerksam, einen Kranken in eine Höhle, die als Symbol des Mutterleibs gedeutet werden kann, zu legen. „Es besteht ein magisches sympathetisches Band zwischen der Erde und den organischen Formen, die sie hervorgebracht hat" 49 . 5.3. M a g i s c h e E i g e n s c h a f t e n . Motive, deren Gegenstand die magische Kraft der E. ist, finden sich in großer Zahl in der Volksüberlieferung der ganzen Welt. So sollen Dämonen durch E. vom Grab eines Heiligen abgewehrt werden 50 . Vielfach begegnet das Motiv von der Fähigkeit der E., zu sprechen oder sogar die Identität eines Mörders zu enthüllen (Kainsmotiv; cf. Mot. D 1318.16). Magische Kraft soll auch Steinen innewohnen, die fest in der E. verankert sind (Mot. D931.0.2) 5 1 . Denjenigen, der die Geistesgegenwart besitzt, sich flach auf den Boden zu werfen, kann die E. davor bewahren, daß er von der Wilden Jagd mitgerissen wird (Mot. Ε 501.17.5.4) 52 . In Indien heißt es, Erdkrumen aus einem trockenen Flußbett hätten die Macht, eine verdammte Seele zu retten (Thompson/Balys Ε 754.1.7)". 5.4. G e o m a n t i e . Das vielleicht bemerkenswerteste Zeugnis für die magische Kraft der E. in Volkserzählungen kommt aus China. Der Boden, auf dem eine Familie wohnt, vor allem aber die E., in der sie ihre Grabstätte hat, übt großen — entweder glücklichen
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oder unheilvollen — Einfluß auf das Geschick der gesamten Linie aus. Der Glaube daran war so tiefverwurzelt, daß professionelle Geomanten verpflichtet wurden, um Begräbnisplätze mit günstigen geogr. Eigenschaften ausfindig zu machen. Streitigkeiten um solche Grabplätze bildeten übrigens den weitaus häufigsten gerichtlichen Klagegrund in China. In einer Erzählung wird einem Mann von einem Geomanten mitgeteilt, daß ein bestimmter Berg ein außergewöhnlich vorteilhafter Begräbnisort sei. Er läßt daraufhin die Gebeine seiner Vorfahren ausgraben und am bezeichneten Platz beisetzen. Ihm und allen seinen Verwandten wird hiernach nur noch Glück und Reichtum zuteil, bis er sich später dazu überreden läßt, den Sarg wieder herauszuholen, und alles Glück ein Ende nimmt 54 .
5.5. E. als E r h a l t e r i n t o t e r L e i b e r . Nach christl. Vorstellungen können die Körper Verstorbener — bes. gemarterter Heiliger — in der E. konserviert werden (Bestätigungswunder). So heißt es in Legenden vom hl. Pamphilus, der hl. Bertha und der hl. Castora, sie seien 100 Jahre nach ihrem Begräbnis in völlig erhaltenem Zustand gefunden worden. Die Leiche des hl. Conrad soll 134 Jahre lang unzerstört erhalten geblieben sein, die des hl. Humbert 153 und die des hl. Nikolaus 336 Jahre 55 , am längsten jedoch der Körper des hl. Fulcrannus, den man angeblich nach 567 Jahren so auffand, als sei er eben begraben worden 56 . Ähnliches wird von der Leiche des hl. Eduard erzählt (Tubach, num. 1260). 5.6. Ε. als S p e n d e r i n von R e i c h t ü m e r n . Die E. ist nicht nur der Aufbewahrungsort wertvoller Güter wie Erze, Edelsteine und vergrabener Schätze, sondern verteilt auch Reichtümer. Der in vielen Teilen der Welt verbreitete Typ AaTh 834 A: Schatz des armen Bruders ist im Fernen Osten als ,Luck from Heaven and Luck from Earth' bekannt; hier spenden sowohl der Himmel als auch die E. Reichtümer 57 . 5.7. E. als H e l f e r i n . In bibl. Erzählungen und in Legenden erweist sich die E. als wunderbar helfende Kraft. Als David z.B. einmal an einem flachen Ort predigte, wo die meisten ihn nicht sehen konnten, wölbte sich der Boden unter ihm zu einem kleinen Hü-
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gel 58 . Ähnliches geschah einem König, den die E. auf ein Zeichen des hl. Endeus so weit hochhob, daß er eine Insel im Meer sehen konnte, die ihm versprochen worden war, und dem hl. Malo, der dadurch vor der Flut errettet wurde, daß das Land, auf dem er stand, sich zu einer Insel aufwarf 59 . 6. U r s p r u n g d e r F r u c h t b a r k e i t d e r E. In einer Reihe von Mythologien bleibt die E. nach ihrer Schöpfung so lange unfruchtbar, bis ein Kulturheros oder eine Gottheit die Kraft bringt, durch die ihr Reichtum und Fülle verschafft wird. Die Ge-Indianer erzählen z.B., daß die E. ganz dürr und karg war, als die Tochter des Regens zu ihr herniederstieg. Die Göttin wurde jedoch eine Zeitlang in einem Korb oder einer Flasche gefangengehalten. Als sie schließlich befreit zum Himmel zurückkehren konnte, brachte sie der E. aus Dankbarkeit dafür Regen und Nutzpflanzen. So hielt die Fruchtbarkeit auf der E. Einzug 60 . 7. V e r d o r r e n d e r f r u c h t b a r e n E. Die einst reiche E. kann jedoch auch unfruchtbar werden, gewöhnlich durch bösen Zauber oder wegen der Sünden der Menschen. In Neuengland wurden Hexen der Verwandlung fruchtbarer E. in dürres Ödland beschuldigt 61 . Ähnliches erzählt man in North Carolina 62 , Florida 63 , Irland 64 und Spanien 65 . Die E. kann auch durch den Schrei eines Drachen (Mot. Β 11.12.2), durch ein Zauberschwein (Mot. Β 16.1.4), den Bruch eines Tabus (Mot. C 934.2), den Tod eines Helden (Mot. F 960.2.1), ein absichtlich falsches Urteil (Mot. Η 243) oder durch einen Fluch (Mot. Μ 411.6.1) unfruchtbar gemacht werden. Sowohl Brot- und Käsefrevel als auch andere Sünden können die Verwandlung der fruchtbaren E. in dürres Ödland verursachen, wie viele Sagen zu berichten wissen66. 8. V e r s c h l i n g u n g von M e n s c h e n . Eine der beliebtesten und verbreitetsten Vorstellungen, die sich in Volkserzählungen über die E. finden, ist ihre Fähigkeit, sich plötzlich zu öffnen und als schreckliche Strafe Sünder zu verschlingen, bekannt auch als Selbstverfluchungsformel ,Die Erde soll mich verschlingen!' Dieses Motiv ist in Irland, Litauen, Indien und in der jüd. Überlieferung be-
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kannt (Mot. Q 552.2.3 sqq.). Das Mädchen, das Gott durch Tanzen in der Kirche lästert (Mot. ö 55 2.2.3.1) 67 , wird ebenso von der aufklaffenden E. verschluckt wie der Mann, der es wagt, sich einem Heiligen zu widersetzen (Mot. Q 552.2.3.l.l) 6 8 . Gleiches geschieht Menschen, die Gott trotzen (Mot. Q 221.4.3). Das Verschlingen von Menschen durch die E. kann aber auch deren Schutz dienen, so im Falle verlassener Kinder in der jüd. Überlieferung, die wieder ausgespuckt werden, als sie groß genug sind, um für sich selbst zu sorgen (cf. Neuman R 142), und in einer türk. Var. (Eberhard/Boratav, num. 185), in der eine von einem Leichnam bedrohte Jungfrau auf diese Weise gerettet wird 69 . C. G. Loomis wies auf die große Häufigkeit solcher Berichte in ir. Legenden hin und kommentierte: „Diese Art Wunder kommt bei kelt. Heiligen so oft vor, daß man sich fragen kann, ob es sich hier nicht um eine Verarbeitung der Strafe des Lebendigbegrabens handelt" 70 . Selbst von König Arthur wird erzählt, er sei bis zum Hals von der E. verschlungen worden, weil er es gewagt habe, einen Mantel, der dem hl. Padarn gehörte, zu begehren 71 . Auch in der dt. Legende ist das Motiv in zahlreichen Beispielen vertreten. So läßt der hl. Remigius die Mühle eines verstockten Müllers von der E. verschlingen 72 . Das gleiche Schicksal trifft Richter, die absichtlich ein falsches Urteil fällen 73 , Meineidige 74 , das Schloß eines Grafen, der seine Schwester, eine Nonne, vergewaltigt 75 , zwei junge Leute, die Brot mit Füßen treten 76 , einen Mann und eine Frau, die Käse beschmutzen 77 , und ein Mädchen, das aus Brot Schuhe macht 78 . 9. V e r w a n d l u n g von E. in a n d e r e S t o f f e . Ein weiteres auf der ganzen Welt beliebtes Sagenmotiv ist die Verwandlung der E. in eine andere Substanz. Zwerge oder ähnliche Naturgeister verschenken E. (oder andere scheinbar wertlose Dinge), die zu Gold wird, allerdings erst, nachdem der glücklose Empfänger fast alles weggeworfen hat 79 (cf. Mot. D 442.2, D 442.2.1, D 475.3.1 und D 475.1.8). In Afrika verwandelt sich ein aus der E. geborener Mann in diese Ursubstanz zurück (Mot. D 287.2); das gleiche wird in Indien von aus E. hergestellten Eisenwerkzeugen erzählt 80 .
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10. L e b e n im I n n e r e n d e r E. 10.1. D ä m o n i s c h e W e s e n . In einer Reihe von Überlieferungen wird berichtet, —> Fairies, die Seelen Verstorbener und andere Jenseitige lebten unter der E. In Deutschland 81 und Irland 82 erzählt man sich auch, daß Drachen dort überwintern sollen. Zu diesen Vorstellungen mag gelehrte Tradition beigetragen haben. Nach der Lehre der Hermeneutiker und Neuplatoniker, auf die sich alle ma. Wiss.en und die Medizin gründen, sind der Mensch und alle sterblichen Geschöpfe aus den vier Elementen erschaffen, von denen jedes durch übernatürliche Wesen repräsentiert wird. -^»Paracelsus {De nymphis, 1566 u. ö.) zufolge sind die Elementarwesen der E. die unterirdisch lebenden Gnome, die die —> Schätze hüten und sich in ihr so frei bewegen können, als wäre sie Luft. 10.2. R e i s e n ins E r d i n n e r e . Sehr bekannt ist in Schottland die Vorstellung, daß ein Schotte, der in einem fremden Land stirbt, auf unterirdischem Wege ganz schnell in seine Heimat zurückkehren kann. So heißt es in dem beliebten schott. Lied Loch Lomond: ,,Ye take the high road, and I'll take the low road,/ and I'll be in Scotland before ye" 83 . Aus China sind ähnliche Überlieferungen belegt 84 . Überall zu finden sind Berichte über die Reisen Sterblicher in die —> Unterwelt (—»Jenseitswanderungen; cf. Mot. F 80 — F 100). In christl. Legenden wird häufig davon erzählt, wie Gott den Teufel in das Innere der E. verbannte 8s .
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schen Grenzen zu überwinden, indem er sich ein Himmels-Seil oder eine Leiter aus Pfeilen macht oder auf einem himmelhohen —» Baum oder Weinstock hinaufklettert (cf. Mot. F 5 1 — F55; —»Bohnenranke). 13. E. in R ä t s e l m ä r c h e n . Sehr beliebt ist auch in Rätselmärchen der Gebrauch von E. als Lösungswort, so z.B. auf die Frage, was das stärkste, reichste, schönste, kostbarste oder fetteste Ding auf der Welt sei (Mot. H631.3) 9 0 . Bei anderen Rätseln — auch in Rätselballaden - , deren Gegenstand die E. ist, werden Trickfragen gestellt, etwa der Art: „Wie weit ists von einem Ende der Welt bis ans andre? [. . .] Ein tagereis, als die sonn bezeugt mit irem uffgang des morgens und nidergang des nachts" (cf. AaTh 922: —> Kaiser und Abt)91. „Wie tief ist die Erde? [. . .] ich hatte einen Grossvater [. . .], der ist vor vielen Jahren da hineingegangen und bis jetzt noch nicht zurückgekehrt [. . .]" 92 . 14. Z e r s t ö r u n g d e r E. Schließlich gibt es auf der ganzen Welt Volkserzählungen und Mythen, die die Vernichtung der E. in einer endzeitlichen Weltschlacht93, durch eine Flut (Mot. A 1010sqq.) oder durch einen Weltbrand (Mot. A 1010sqq.) schildern (—>Eschatologie).
11. R e i s e n um die E. Bestimmte dämonische Wesen sind dazu verdammt, ewig um die ganze E. reisen zu müssen, z.B. die wütend dahinfahrende —> Wilde Jagd 86 und der ruhelos wandernde —» Ewige Jude 87 . Dagegen gilt die Fähigkeit, die E. mit großer Geschwindigkeit zu umrunden, als wunderbare Gabe 88 .
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12. A b s t i e g zur E. Viele anthropogonische Mythen berichten, daß die E. sich bevölkerte, nachdem ein Jäger bei der Verfolgung eines Tiers durch ein Loch im Himmel gefallen war 89 . Andererseits gibt es zahlreiche weltweit verbreitete Mythen, die davon handeln, daß es einem Menschen gelingt, die irdi-
II ibid., 18. - 12 ibid., 35. - 13 Harva, U.: Die religiösen Vorstellungen der alta. Völker (FFC 125). Hels. 1958, 89. - 14 Alexander (wie not. 6) 179 sq. - 15 Frobenius, L.: Die Weltanschauung der Naturvölker. Weimar 1898, 354. - 16 Bodde, D.: Myths of Ancient China. In: Kramer (wie not. 1) 391. — 17 Schmidt, B.: Griech. Märchen, Sagen und Volkslieder. Lpz. 1877, 133. - 18 Rooth, Α. B.: The Creation Myths of North American Indians.
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Erdelyi
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Los Angeles
Donald Ward
Erdelyi, Jänos, *Kiskapos (Komitat Ung) 1. 4. 1814, f Särospatak 23. 1. 1868, ung.
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Dichter, Philosoph, Lit.historiker und Herausgeber von Volksdichtung. E. stammte aus einer in Leibeigenschaft lebenden Bauernfamilie, besuchte die Schule in Nagykapos (Komitat Ung) und Särospatak und mußte nach dem Tode seines Vaters seine Studien wiederholt unterbrechen, um als Hauslehrer Geld zu verdienen. 1839 wurde E. korrespondierendes Mitglied der Ung. Akad. der Wiss.en (UAW) und 1842 mit einer Vorlesung über Volksdichtung Mitglied der Kisfaludy-Gesellschaft, welche das Sammeln der Volksdichtung von der UAW übernommen hatte. Seit 1843 war E. als deren Sekretär tätig. Ein auf sein Betreibenund nach den von ihm entworfenen Richtlinien 1844 veröffentlicher Aufruf zum Sammeln von Volksdichtung fand ein großes Echo. Die eingesandten Volksliedtexte (einige tausend) und Märchen publizierte E. in Nepdalok es monddk 1—3 ([Volkslieder und Sagen] Pest 1846—48; das Wort monda [= Sage] bedeutet hier Märchen). Von den Volksliedern veröffentlichte E. nur eine Auswahl in überarbeiteten Texten; die Märchen gab er hingegen vollständig heraus und beließ sie, abgesehen von kleineren Eingriffen, in ihrer ursprünglichen Diktion. Dadurch blieben die Intentionen der Einsender erkennbar: Ein Teil der Texte nähert sich dem Erzählstil der bäuerlichen Erzähler an, der andere Teil ist dem literar. Geschmack des ZA.s verpflichtet. Im Unterschied zu dem ersten ung. Märchensammler G. von —• Gaal, der die ung. Märchen den Lesern Europas bekannt machen wollte (ζ. B. durch die Publ. in dt. Sprache: Mährchen der Magyaren. Wien 1822), und zur UAW, die bestrebt war, dem Volk seine dichterischen Werke .verbessert' zurückzugeben, betrachtete E. es als eine vorrangige Aufgabe, die Volksdichtung in möglichst vollständiger Form wiederzugeben. Damit wollte er der ung. Intelligenz die Werte der Volksdichtung nahebringen und die Schriftsteller davon überzeugen, daß Kunstdichtung nur aus Volksdichtung hervorgehe. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 mußte E. Pest verlassen und sich jahrelang versteckt halten. Als er 1851 nach Pest zurückkehrte, wurde er als Professor für Philosophie (später für Lit.) an die Hochschule in Särospatak berufen.
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Erdenwanderung der Götter
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1855 publizierte E. in Pest einen weiteren Band ung. Volksmärchen (Magyar nepmesek [Ung. Volksmärchen]). Dieser enthielt von E. stilistisch überarbeitete Märchen, welche seine Studenten in der Umgebung von Särospatak gesammelt hatten, sowie Märchen, die G. von Gaal ihm zur Veröffentlichung überlassen hatte. E.s theoretische Schriften zur Volksdichtung beeinflußten auch die Entwicklung der ,volkstümlichen Lit.', einer der in der 2. Hälfte des 19. Jh.s vorherrschenden literar. Richtungen, die erstmalig Volksdichtung als Basis und Ausgangspunkt der Hochliteratur ansah. Kurz nach ihrem Erscheinen wurden E.s Märchen auch ins Deutsche übersetzt (Stier, G.: Ung. Märchen und Sagen. B. 1850; id.: Ung. Volksmärchen. Lpz. 1857). In Ungarn selbst erlangten die Märchen E.s vor allem in der Slg E. —» Benedeks (Magyar mese-es mondaviläg 1—5 (Ung. Märchen- und Sagenwelt] Bud. 1894-96) große Verbreitung. Ein Teil der ung. Erzählforscher von heute betrachtet E.s Märcheneditionen als die erste Veröffentlichung von authentischen Texten ung. Volkserzählungen.
mittelbar benachbart und oft kaum trennbar von diesem sakralen Bereich ist die menschliche Erdenbegegnung mit den dämonischen Gestalten der Volkserzählung. In den weiteren Umkreis gehören die Geschichten über Herrscherpersönlichkeiten, welche ebenso wie die überirdischen Gestalten die Menschen oft verkleidet und zunächst unerkannt aufsuchen und je nach Verdienst belohnen oder bestrafen (—> Härün-ar-Rasid, —> Alter Fritz). Aufgrund des weltweiten Auftretens der E. von Göttern und Heiligen verbietet es sich, diese Erzählungen einengend auf die idg. Mythologie zurückzuführen 2 . Die bereits von J. —> Grimm 3 aufgestellte Behauptung, es bestehe Kontinuität zwischen der E. christl. Gestalten und derjenigen der idg. heidnischen Götter 4 (Jupiter und Merkur in Ovids phryg. Sage —> Philemon und Baucis [Metamorphosen 8, 620—724] kehren bei den Menschen ein und lohnen und strafen —> Gastlichkeit und Ungastlichkeit; —> Thor in der eddischen Erzählung setzt seine Begleittiere den Gastgebern zum Mahle vor und belebt sie später wieder 5 ), erscheint in ihrer Einseitigkeit anzweifelbar.
Lit.: Posonyi, Ε. Κ.: E. J. es a nepkölteszet (J. E. und die Volksdichtung). In: Ethnographie 38 (1927) 8 1 - 1 1 8 , 1 6 5 - 1 9 2 . - Ortutay, G. (ed.): A magyar folklör (Die ung. Folklore). Bud. 1979. - Erdelyi, I. Τ.: E. J. In: A mult magyar tudosai (im Druck).
2. Die KHM und vergleichbare Varianten vermitteln ein repräsentatives Bild von Wanderung und Einkehr christl. Protagonisten und lassen gleichzeitig die Unschärfe des aus der —» Mythol. Schule stammenden Begriffes ,E. der Götter' erkennen. Zwischen E. und bloßer Erscheinung der Heiligen ist nicht immer deutlich zu unterscheiden, so bei der Muttergottes in KHM 3 (AaTh 710: -> Marienkind) oder bei dem Engel Gottes in KHM 31 (AaTh 706: —»Mädchen ohne Hände). E. und zumeist Besuch bei den Menschen verzeichnen: KHM 44 (AaTh 332: -> Gevatter Tod) mit Gott, Teufel, Tod; KHM 81 (AaTh 785: -> Lammherz) mit Petrus; KHM 82 (AaTh 330: -> Schmied und Teufet) mit Christus und Petrus; KHM 87 (AaTh 750 A: Die drei -> Wünsche) und KHM 135 (AaTh 403: Die schwarze und die weiße Braut) mit Gott; KHM 147 (AaTh 753: —> Christus und der Schmied) mit Herrgott und Petrus; KHM 180 (AaTh 758: Die ungleichen Kindern Evas) und KHM 194 {Die Kornähre-, cf. —> Ährenfrevel) mit Gott; KHM 207 (Mutter Gottes-Gläschen\ cf. Marienlegenden) mit Maria; in KHM 201
Budapest
Agnes Koväcs
Erdenwanderang der Götter 1. Erzählungen von der E. göttlicher und heiliger Gestalten werden so alt sein wie die menschliche Vorstellung von der Existenz überirdischer Wesen, die das Leben auf dieser Welt beeinflussen und regeln. Erdenbegegnungen zwischen Göttern, Heiligen und Menschen sind in Volksdichtung und Hochliteratur 1 weltweit in unzählbaren Fassungen verbreitet. Das E.s- und Begegnungsmotiv entspricht einem polygenetisch erklärbaren Menschheitsgedanken, der das Handeln der übernatürlichen Gestalten in der nächsten Umgebung der Irdischen, zu deren Vor- und Nachteil es geschieht, sich abspielen läßt. Un-
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(AaTh 480: Das gute und das schlechte —» Mädchen) und KHM 202 (AaTh 766: Siebenschläfer) hingegen leben der hl. —» Joseph bzw. die zwölf Apostel mit Petrus als ihrem Anführer auf Erden. Es sind überwiegend die bekannten Namen des A.T.s (cf. Gen. 6 - 8 , 1 8 - 1 9 : Gottvater besucht Noah und Abraham, der seine Engel bewirtet 6 ) und bes. des N.T.s, in dem —> Christus und mit ihm seine Jünger durch das Hl. Land und später die Apostel, das Heilsgeschehen bezeugend, durch Israel und das Römische Reich ziehen. Es ist anzunehmen, daß —» Bibel, —> Apokryphen und christl. Religionen alle diese Geschichten entscheidend und unmittelbar geprägt haben. Neben Gottvater, Christus, den Jüngern, den Engeln als göttlichen Stellvertretern und den Heiligen stehen ihre Antagonisten, so ζ. B. in KHM 31 (AaTh 706), KHM 44 (AaTh 332) und KHM 148 (Mot. A 63.4: Devil and God create animals) vor allem der Teufel, der in KHM 101 (AaTh 361: -» Bärenhäuter), KHM 120 (AaTh 360, 1697: -> Handel mit dem Teufel), KHM 189 (AaTh 1030: -» Ernteteilung) und KHM 195 (AaTh 1130: Grabhügel) allein auftritt, vergleichbar dem personifizierten Tod in KHM 44 (AaTh 332) und KHM 177 (AaTh 335: —» Boten des Todes). Der Vergleich einiger KHM-Fassungen mit ihren internat. Varianten unterstreicht einerseits die getroffenen Feststellungen und bezeugt andererseits eine über den christl. Bereich hinausgehende Erweiterung und eine rege Fluktuation des die E. unternehmenden Personenkreises. In KHM 81 (AaTh 785) stehen Petrus und ein abgedankter Soldat, der Bruder Lustig, in einem deutlichen Kontrast, an deren Stelle im frühen literar. Beleg im Wegkürtzer (1557) des Martin —> Montanus der Herrgott bzw. ein Schwabe, in mündlichen Aufzeichnungen aus ganz Europa Christus, Petrus, der Teufel, der hl. Nikolaus, ein Greis (bzw. als Antipoden wiederum Petrus, Judas Ischariot, ein Kaufmann, der hl. Paulus, ein Bauer, ein Zigeuner) oder in der ältesten Variante im arab. Korankommentar des Tabari (gest. 923 p. Chr. n.) zu Sure 3, 25 Christus, seine Mutter bzw. ein Jude treten können 7 . In den verschiedenen Versionen von AaTh 750 Α kehren außer Christus und Aposteln
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der Prophet Elias, eine Fee, eine Glücksgöttin, eine Gottheit, Buddha, ein alter Bettler, ein Zauberer, ja selbst ein Tisch und ein Totenknochen auf E. bei den Menschen ein8. In AaTh 753 sind es wieder mit relativer Konstanz Christus und allg. Apostel oder Heilige wie Eligius oder aber ein Dämon und der Teufel 9 . Selbst in AaTh 1030 wandern die Heiligen Georg, Petrus, Johannes, Martin, Crispin, Michael, Sabbas, ferner ein Zigeuner und Till Eulenspiegel statt des Bauern der KHM-Fassung auf Erden und messen sich mit dem Teufel oder mit Tieren als negativen Helden 10 . Das Motiv der E. läßt sich folglich nicht allein auf Götter und Heilige beschränken, obwohl deren Auftreten primär mit ihm verbunden zu sein scheint. Begegnungen spielen sich auf der E. nicht nur zwischen heiligen Gestalten und Menschen ab, sondern ebenso zwischen Heiligen und dämonischen Wesen sowie nur zwischen den Heiligen selbst. Ebenso wie die heiligen Personen in einigen Varianten vollends gegen dämonische, tierische, menschliche und —» Kristallisationsgestalten der Volkserzählung 11 ausgetauscht sein können, kann das Motiv der E. und Begegnung auch mehr akzidentell bei der einen oder anderen fernerliegenden Erzählung sein, sei es, daß die Muttergottes als Warnerin der Geißlein in —» Wolf und Geißlein (AaTh 123) 12 , der hl. Nikolaus als Wundertäter in der —> Prinzessin im Sarg (AaTh 307) 13 , Heilige generell helfend in menschliche Sorgen eingreifen oder — in gewissem Kontrast hierzu — —» Kosmas und Damian als Gottesgesandte in der vorbestimmten —> Frau (AaTh 930 A) und Gott selbst als Tierherr der Wölfe den Menschen das unentrinnbare —> Schicksal künden (AaTh 934 B*: The Man Destined for the Jaws of a Wolf )14. Die für das Motiv der Ε. konstitutive Erdenbegegnung mit jenseitigen Gestalten ist ein tremendum et fascinosum, das je nach Gattungszugehörigkeit und funktionalen Aussagen der einzelnen Erzählungen sowie auch der Prädisposition von Erzählern, Hörern oder Lesern unterschiedlich intensiv ausgeprägt ist und erlebt wird. 3. Gattungen, Inhalte und Aussagen von traditionell mit der E. verbundenen Erzählungen variieren. Das E.s-Motiv vermag den
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Erzählungen von vornherein einen legendenartigen Charakter zu verleihen, selbst wenn es wie in AaTh 330, 330 Α und 332 nur als handlungsauslösende Eingangsepisode dient. Sehr häufig findet es sich in —> Legendenmärchen und —» Legendenschwänken 1 5 oder Religious Tales (AaTh 7 5 0 - 8 4 9 ) und kann dort eine zentrale Bedeutung für den Handlungsverlauf besitzen. Die E. verläuft nach wechselnden Schemata, jedoch so gut wie nie „ohne bestimmten Zweck" 1 6 , und hat unterschiedlich ausgeprägte Funktionen. Gelegentlich beabsichtigen die Himmlischen, inkognito bei den Menschen einzukehren, erfahren deren Gastlichkeit oder Ungastlichkeit und belohnen oder bestrafen sie mit magischen Gaben. Das Wunder besteht in der Erfüllung von sich nützlich oder schädlich auswirkenden Wünschen, die dem Lebenshorizont der auftretenden Menschen angepaßt sind (AaTh 750 A ; cf. AaTh 750 D = AaTh 550 A), in der —> Wiederbelebung (AaTh 750 B) des aus Gastfreundschaft geschlachteten und vorgesetzten Tieres 17 , in der Verwandlung der Habsüchtigen in Tiere (—» Brotlegenden; AaTh 751, AaTh 7 5 1 A : —> Bäuerin als Specht)18. Belohnung oder Bestrafung mit Regen oder Dürre widerfährt auch Bauern auf ihre fromme oder unbedachte Antwort auf Christi Frage nach dem Wetter (AaTh 830*: —> Gottes Segen). Bestraft werden in AaTh 753 und in —» Christus und Petrus im Nachtquartier (AaTh 752 A) die die wunderbaren Handlungen der heiligen Gestalten überheblich karikierenden Menschen durch schreckliches Mißlingen ihrer Nachahmung. Andererseits straft Gottes Gerechtigkeit auch einmal die gute Tat und lohnt die schlechte (AaTh 759: —» Engel und Eremit), unterstützt Maria die Rechtschaffenen ebenso wie die Leichtfertigen (AaTh 770: —> Nonne, die in die Welt ging; AaTh 1168 C: The Virgin Mary Saves a Woman Sold to the Devils), bestimmt Christus recht willkürlich nicht zusammenpassende Menschen zur Ehe (AaTh 822: —> Christus als Ehestifter) und läßt Gott gar aufgrund eines Fehlers der Mutter Eva ihre unschuldigen Kinder teils zu Reichen, teils zu Armen werden und begründet damit die menschliche Klassenteilung (AaTh 758). Bei allen diesen Erzählungen von der E. fällt die intendierte exempelhafte Belehrung
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mit der Zielsetzung einer Stabilisierung des christl. gedachten Normen- und Wertesystems auf, deren häufig fataler, wenn nicht Fatalismus hervorrufender Auswirkung selbst der absichtsvoll Gutes übende, jedoch stereotyp verurteilte Teufel nicht entgehen kann (AaTh 846: —> Gott und Teufel auf Wanderschaft). 4. Unter den Erzählungen von der E. nehmen die legendenartigen Schwänke vom ungleichen und a priori entschiedenen Wettstreit zwischen Christus und seinem Begleiter Petrus, die —> Petrusschwänke (cf. AaTh 774 A - P ) , einen gesonderten Platz ein. D e r , A p o stelfürst', erster Zeuge der Auferstehung Christi und Vorgänger der röm. Päpste, wird in vielen E.s-Schwänken zur komischen Figur 19 , steht in anderen Erzählungen mit gewandelter Zielsetzung aber auch als ernsthafte, positiv gezeichnete Gestalt 2 0 neben Christus, so überwiegend in Varianten von AaTh 753. Bereits in AaTh 785, wo es wie in AaTh 753 um die Bestrafung der unvollkommenen Nachahmung 2 1 magischer Handlungen geht, kann Petrus die Rolle des Unterlegenen einnehmen, die er traditionell beibehält beim erfolglosen Versuch, wie Christus die Welt zu regieren (AaTh 752 B: Der vergessene —» Wind', cf. AaTh 774 D), einen Menschen zu erschaffen (AaTh 774 A) oder korrigierend in die göttliche Schöpfung einzugreifen (AaTh 774 H, 774 P). Petrus agiert unbedacht und zornig (AaTh 1169: —> Köpfe vertauscht); er beschwindelt Christus (AaTh 774 G), will das für beide von den Menschen geschenkte Essen habgierig und gefräßig vor Christus verheimlichen (AaTh 774 N) und wird zur Strafe glatzköpfig (AaTh 774 J) oder muß die gestohlenen Bissen 22 , die zu Pilzen werden, wieder ausspucken (AaTh 774 L). In AaTh 791 wird seine Hinterlist und Unverschämtheit hervorgehoben, die ihm selbst zugedachten Schläge Christus erleiden zu lassen, und in weiteren Schwänken seine Trunksucht (AaTh 774 M), Faulheit (AaTh 774 C) und sein verwerflicher Hang zu weltlichen Festen (AaTh 774 E, 774 F) 2 3 . Anlaß und Wirklichkeitsgrund für diese einem Heiligen nicht wohlanstehende Charakterisierung werden die nt. Malchusszene (Joh. 18, lOsq.) und vor allem die dreimalige Verleugnung des Heilands (Mt. 26, 69—75; Mk.
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Erdenwanderung der Götter
14, 6 6 - 7 2 ; Lk. 22, 5 4 - 6 2 ; Joh. 18, 15-27) sein. Sicherlich haben ebenso Protestant., griech.- und russ.-orthodoxe und sonstige Konfessionen ihren gezielten Beitrag zu Entstehung und Ausbreitung der Petrusschwänke und damit des Petrusbildes geleistet 24 . Die Belegdichte gerade in kathol. Ländern läßt jedoch nicht ernsthaft an eine einseitige Beeinflussung von außen als einzige Erklärung des Phänomens denken. Befanden sich in vielen der früher erwähnten Erzählungen von der E. die heiligen Gestalten und die Menschen in einem kontrastreichen Spannungsverhältnis, so sind es jetzt Christus und Petrus; und die indirekt an die Menschen gerichtete Belehrung ergeht an den stets beschämten Jünger. Dessen Absichten werden vereitelt und bestraft, weil sie nicht nur mit dem christl. Normensystem nicht übereinstimmen, sondern auch überwiegend den Menschen zum Nachteil gereichen, auf deren Vorteil wiederum Christi Korrektur bedacht ist. Die zahlreichen —> Ätiologien unter den Petrusschwänken (cf. AaTh 774 A, G, H, J, L, M) setzen sich fort in den oft ebenfalls schwankhaften Erzählungen von der Erschaffung der Menschen und Tiere, an der Petrus als Stellvertreter Gottes oder als minder erfolgreicher, nachahmender —> Demiurg beteiligt sein kann 25 . Die in der Regel mit der — entweder zu Anfang der Zeiten oder aber in der Erzählgegenwart stattfindenden — E. der Schöpfer verbundenen dualistischen und nichtdualistischen Schöpfungserzählungen (cf. —» Dualismus) führen darüber hinaus außer dem hervorstechenden antipodischen Paar Christus und Teufel eine Anzahl von Heiligen oder — im nichtchristl. Bereich — anderen göttlichen Gestalten als Urheber des Bestehenden, d. h. der Erde und der leblosen Gegenstände, der Lebewesen und der Pflanzen auf 26 . Ziel ist die Naturerklärung, die aus der E. und dem den Menschen vorteilhaften oder nachteiligen Wirken der übernatürlichen Gestalten resultierende belehrende Intention, die sich im europ. Kulturkreis allerdings auch als Weiterleben nicht orthodox-christl. Vorstellungen herausstellt (—> Bogomilen). 5. Nebenlegendenartigen Märchen, Schwänken und Ätiologien hat das Motiv der E. und 6
Enzyklopädie des Märchens IV
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Erdenbegegnung Eingang in Sagen gefunden, ζ. B. von der Verkündigung des —» Schicksals bei der Geburt eines Kindes durch —> Schicksalsfrauen oder dämonische Schicksalskünder. Zeugen dieses Geschehens können, vornehmlich in Südosteuropa, bei den Kindeseltern eingekehrte Heilige oder Engel, Gott oder Christus auf E. sein27, die den Menschen zu helfen versuchen oder — seltener — selbst Schicksalskünder sind 28 — eine nach Ansicht R. W. Brednichs „volkstümliche Verchristlichung" der Sagen nichtchristl. Grundcharakters 29 durch Übernahme des naheliegenden Motivs von der E. In Untergangssagen bes. des südl. dt.sprachigen Raums (cf. —»Versinken) befinden sich Christus und Heilige, Gott und seine Engel — in der Regel einzeln, seltener zu zweit wie Christus und Petrus 30 — unerkannt auf E. und richten Freveltaten, belohnen Wohlverhalten der Menschen. Alpen, Schlösser, Häuser und ganze Ortschaften mit ungastlichen, reichen, hartherzigen Bewohnern werden verwünscht und gehen durch Wasserflut, Bergsturz, Erdbeben und Feuersbrunst unter, die Frevler mitreißend oder verarmt zurücklassend, während die Gott, Maria und Heilige in Gestalt elender Bettler beherbergenden Armen und Gerechten errettet und beschenkt werden 31 . Ungeachtet verschiedener Varianten mit adäquat handelnden dämonischen Sagengestalten 32 sind die das Richteramt ausübenden Himmlischen nicht dämonisiert worden. Ihre Einsetzung bot sich aufgrund des für die Motivik der E. passenden Handlungsrahmens an. Überdies enthält bereits der bibl. Bericht von —» Sodom und Gomorrha, den man sich als Vorbild solcher Untergangssagen denken könnte, die E. göttlicher Wesen, das Verbrechen und die Vernichtung der Stadtbewohner sowie Lots Gastfreundschaft und Errettung 33 . 6. Handlungs- und funktionsadäquate chin., jap. und altägypt. mythol. Untergangserzählungen 34 , afrik. und amerik. Bezeugungen der Erdenbegegnung zwischen göttlichen und menschlichen Wesen 35 lassen eine weltweite Verbreitung von Erzählungen mit dem polygenetisch entstandenen Motiv der E. (cf. Mot. Κ 1811: God [saintt] in disguise visit mortals) erkennen, die bei aller durch divergierende Kulturen bedingten Verschiedenheit doch
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Erdloch für Aushub graben
übereinstimmend die Regelung d e r irdischen O r d n u n g durch überirdische W e s e n zum Inhalt h a b e n und damit ü b e r die gesetzten N o r m e n des menschlichen Z u s a m m e n l e b e n s b e lehren wollen. I Frenzel, Motive, 2 8 5 - 2 9 7 ; Greene, Τ. M.: The Descent from Heaven. A Study in Epic Continuity. New Haven 1963. — 2 Landau, M.: Die E.en der Himmlischen und die Wünsche der Menschen. In: Zs. für vergleichende Lit.geschichte N. F. 14 (1901) 1—41, hier 3sq.; Lincke, W.: Götterwanderung. In: HDM 2, 652-655, bes. 654; Frenzel, Motive, 286. - 3 Grimm, J.: Dt. Mythologie 1. Gütersloh 4 1876, XXIX-XXXIII. - 4 cf. Rohde, E.: Der griech. Roman und seine Vorläufer. Lpz. 4 1960, 539-541, not. 2. - 5 cf. Petzoldt, L.: Dt. Volkssagen. Mü. 1970, num. 247. - 6 cf. Gunkel, H.: Genesis, übers, und erklärt (Handkommentar zum A.T. 1, 1). Göttingen 1917, 193sq., 200, 214; id.: Das Märchen im Α. T. Tübingen 1921, 7 7 - 8 1 . 7 Künzig, J./Werner, W./Lixfeld, H.: Schwänke aus mündlicher Uberlieferung [Schallplatte], Fbg 1973, Texth. 78sq.; Spies, Ο.: Das Grimmsche Märchen „Bruder Lustig" in arab. Überlieferung. In: Rhein. Jb. für Vk. 2 (1951) 4 8 - 6 0 ; BP 2, 149-163. 8 Künzig/Werner/Lixfeld (wie not. 7) 77sq.; BP 2, 210-229. - 9 Dh. 2, 154-171. - 10 cf. Karlinger, F./Mykytiuk, B.: Legendenmärchen aus Europa. MdW 1967, num. 19; BP 3, 355-364. II Schmidt, 306-308. - 12 Karlinger/Mykytiuk (wie not. 10) num. 11. - 13 ibid., num. 68. - 14 ibid., num. 65sq. — 15 ibid., pass.; cf. Neumann, S.: Plattdt. Legenden und Legendenschwänke. Volkserzählungen aus Mecklenburg. B. 1973. — 16 Landau (wie not. 2) 5; Lincke (wie not. 2) 653. - 17 v. Petzoldt (wie not. 5). - 18 cf. Dh. 2, 123-131. 19 cf. Künzig/Werner/Lixfeld (wie not. 7) 74—76. — 20 cf. Dh. 2, X I - X I V . 21 cf. Dundes, Α.: The Binary Structure of „Unsuccessful Repetition" in Lithuanian Folk Tales. In: WF 21 (1962) 165-174; Lüthi, Ästhetik, 111 — 120. - 22 cf. Peuckert, W.-E.: Schöpfung. In: HDA 9, 274-285, bes. 279sq.; Dh. 2, 107-111. - 23 cf. die Petrusschwänke bei Karlinger/Mykytiuk (wie not. 10) 38sq., 7 5 - 8 2 , 85sq„ 9 4 - 9 8 ; Neumann (wie not. 15) pass. — 24 cf. Barag, L. G.: Beloruss. Volksmärchen. Β. 3 1968, 5 6 9 - 5 7 6 ; Dh. 1, 205. 25 Lixfeld, Η.: Gott und Teufel als Weltschöpfer. Mü. 1971, 9 7 - 9 9 , 144-146; id.: Eine konfessionelle Satire des Reformationszeitalters. In: Alemann. Jb. 1971/72 (1973) 9 3 - 1 0 4 , bes. 103; Dh. 2, 180-193. - 26 cf. Dh. 1 - 4 , pass. - 27 Brednich, R. W.: Volkserzählungen und Volksglaube von den Schicksalsfrauen (FFC 193). Hels. 1964, 3 3 36, 98. - 28 ibid., 25, 87, 112. - 29 ibid., 223. 30 Zingerle, I. von: Sagen aus Tirol. (Nachdr. der 2. verm. Aufl. Innsbruck 1891) Graz 1969, num. 639, 1. 31 ibid., num. 639, 2; Alpenburg, J. N. von: Dt.
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Alpensagen. Wien 1861, num. 230; Vernaleken, T.: Alpensagen. Wien 1858, num. 43; Müller, J.: Sagen aus Uri 1. Basel 1926, num. I l l ; Pröhle, Η.: Dt. Sagen. B. 1879, num. 124; Kühnau, R.: Oberschles. Sagen geschichtlicher Art. Breslau 1926, num. 337; Müller, F.: Siebenbürg. Sagen. Wien/Hermannstadt 2 1885, num. 227; Beitl, R.: Im Sagenwald. Neue Sagen aus Vorarlberg. Feldkirch 1953, num. 392; Sann, H. von der: Sagen aus der grünen Mark. Graz 4 1952, 265—267; Lenggenhager, G.: Volkssagen aus dem Kanton Baselland. Basel 1874, 82sq.; Birlinger, Α.: Volksthümliches aus Schwaben 1. Fbg 1861, num. 357; Jahn, U.: Volkssagen aus Pommern und Rügen. Stettin 1886, num. 613; Wolf, J. W.: Ndl. Sagen. Lpz. 1843, num. 3 06. - 32 cf. Grimm DS 45; Petzoldt (wie not. 5) 168-170, num. 280-282. - 33 Gunkel 1921 (wie not. 6) 7 8 - 8 1 . 34 Jockel, R.: Götter und Dämonen. Mythen der Völker. Darmstadt/Genf 1953, num. 69, 89, 92; Brunner-Traut, E.: Altägypt. Märchen. MdW 4 1976, num. 14. - 35 Schild, U.: Westafrik. Märchen. MdW 1975, num. 76; cf. Okanlawon, T.: Volkserzählungen aus Nigeria. Ffm./Bern/Las Vegas 1977, 160; Karlinger, E./Espadinha, Μ. Α.: Märchen aus Mexiko. MdW 1978, num. 3; Jockel (wie not. 34) pass. Freiburg/Br.
H a n n j o s t Lixfeld
Erdloch für Aushub graben ( A a T h 1255). D i e schwankhafte Erzählung von den N a r r e n , die den A u s h u b eines B r u n n e n s in einem n e u e n Loch vergraben wollen ( M o t . J 1934), findet sich bereits 1603 im 2. Teil der als —> Grillenvertreiber bezeichneten Ü b e r a r b e i t u n g des —> Schildbürgerbuches: Während einer Ratssitzung über die Frage, was mit der beim Bau eines Brunnens ausgegrabenen Erde geschehen solle, macht schließlich ein Witzenburger den Vorschlag, gleich neben dem Aushub ein neues Loch zu graben, um diesen dann dort hineinzufüllen. Auf den Einwand, wohin man denn mit der Erde aus dem neuen Loch solle, entgegnet der närrische Ratgeber: „Ey bistu nicht ein Geck [. . .], man muß das Loch desto grösser machen, so gehet sie miteinander hineyn" 1 . In den Belegen aus d e m 17. Jh. tritt das didaktische M o m e n t stark in den V o r d e r grund, dergestalt, daß ein direkter Hinweis auf die U n d u r c h f ü h r b a r k e i t des Plans gegeben wird 2 . Die N o r m a l f o r m von A a T h 1255 endet hingegen allg. mit d e m u n k o m m e n t i e r t e n R a t schlag, ein neues Loch zu graben, welches n u r g r o ß genug sein müsse.
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A b w e i c h e n d e V a r . n . Während in der serb. Erzählung vom —> Hodscha Nasreddin das Ende offenbleibt, weil der Held sich weigert, an eine so ,ferne' Zukunft überhaupt zu denken 3 , fehlt in einigen anderen Var.n der Hinweis auf die bes. Größe des Loches 4 . Gerade diese Verkürzung bietet aber die Voraussetzung auch für andere Lösungsmöglichkeiten: So verteilen die Zanower die Erde aus dem neu gegrabenen Loch auf die Straßen des pommer. Ortes, weshalb es „heute noch bergauf und bergab geht in Zanow" 5 . — Eine österr. Var. bietet gleich zwei Schlüsse für die schwierige Angelegenheit an: „Für gewöhnlich behauptet man, die Grabenden haben die Erde jedesmal recht fest gestampft, jeder folgende Erdhügel sei kleiner geworden als der vorige, und so sei mit der Zeit die Erde doch vergraben worden". In der zweiten Fassung dient der Erdhügel den närrischen Bürgern als Fundament für ein Denkmal ihrer Weisheit6. — In einer mexikan. Fassung löst sich das Problem schließlich von selbst: Nachdem man eine ganze Reihe von Löchern gegraben hat, um Platz zu schaffen für den Aushub des jeweils vorausgehenden, erreicht der Erdhügel den Rand der Stadt, wo er nicht länger stört und einfach stehengelassen wird7. V e r b r e i t u n g . Die in weiten Teilen Europas bekannte Erzählung kennt Var.n aus Lettland 8 , Schweden 9 , Dänemark 1 0 , dem dt. 11 , fries. 12 und fläm. 1 3 Sprachraum, aus England 14 , Frankreich 15 , Spanien 16 , Italien 17 , Serbien 1 8 und Ungarn 19 , begegnet ferner im jüd. 20 und pers. 21 Kulturbereich sowie in Texas 2 2 und Mexiko 2 3 . In einigen Fällen findet sich zudem eine K o n t a m i n a t i o n von AaTh 1255 mit AaTh 1245: —* Sonnenlicht im Sack, AaTh 1250: —» Brunnenkette oder mit AaTh 1210: —» Kuh auf dem Dach. 1 Bahder, K. von (ed.): Das Lalebuch (1597) mit den Abweichungen und Erweiterungen der Schiltbürger (1598) und des Grillenvertreibers (1603) (NDL 236-239). Halle 1914,196-198; die Erzählung war im 17. Jh. auch in England (John Taylor's Wit and Mirth. In: Shakespeare Jestbooks 3. ed. W. C. Hazlitt. L. 1864, num. 12), Frankreich und Italien bekannt (cf. Hodscha Nasreddin 2, 227, not. zu num. 480). - 2 cf. Texte im EM-Archiv (mit num.): Exilium melancholiae 1643 (195); Wohlgemuth, Haupt-Pillen 1669 (14.130); ferner: Kirchhof, Wendunmuth 3, num. 83. - 3 Hodscha Nasreddin 2, num. 480. - 4 Christensen, Α.: Molboernes vise Gerninger (DF 47). Kop. 1939, 201; Selk, P.: 6'
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Volksschwänke und Anekdoten aus Angeln. Hbg 1949, num. 50. — 5 Rosenow, K.: Zanower Schwanke (Heimatkunde des Kreises Schlawe 2). Rügenwalde 1924,39sq. - 6 Lang-Reitstätter,M.: Lachendes Österreich. Salzburg 21948, 62. - 7 Robe, S. L.: Mexican Tales and Legends from Los Altos. Berk./L. A./L. 1970, num. 187. - 8 Aräjs/Medne. 9 Christensen (wie not. 4). - 10 Strandberg, J.: Molboerne. Fortsllinger om deres mange og vise Gjerninger [.. .]. Kop. 1866, 23; Christensen (wie not. 4) 134, num. 37. — 11 EM-Archiv: Gerlach, Eutrapeliarum 1656 (3.532); Strackerjan, L.: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 2. ed. K. Willoh. Oldenburg 21909, num. 615 e; Merkens, H.: Was sich das Volk erzählt 1. Jena 1892, num. 8 und 2 [1895] num. 23; Neuhaus, W.: Sagen und Schwanke aus dem Kreise Hersfeld [. . .]. Bad Hersfeld 3[1953] 94; Ranke, K.: Folktales of Germany. Chic. 1966, num. 71 d; ferner die bereits in den not. genannten Var.n. — 12 Poortinga, Y.: De ring fan it ljocht. Fryske folksforhalen. Ljouwert 1976,261 sq. — 13 de Meyer, Conte. — 14 John Taylor's Wit and Mirth (wie not. 1). - 15 RTP 2 (1887) 183-185, num. 6. 16 Amades, num. 1638. — 17 cf. Hodscha Nasreddin 2, 227, not. zu num. 480. - 18 ibid., num. 480. 19 Berze Nagy 1332*; MNK. - 20 Neuman J 1934. 21 cf. Christensen (wie not. 4) 201, not. zu num. 37. — 22 Baughman. — 23 Robe. Offenbach (Main)
Ulrich Huse
Erek 1. Name - 2. Chretiens Erec et Enide — 3. Bearbeitungen - 3.1. Der E.-Roman des Hartmann von Aue — 3.2. Die mittelkymr. Erzählung Gereint, Sohn des Erbin — 3.3. Die altnord. Erex saga — 4. Ε. in der sonstigen Artusliteratur 1. N a m e . Der Name Erec ist deutlich bret. Herkunft und läßt sich am besten aus der Bezeichnung Bro-Weroc (Land des Weroc) herleiten, die seit dem 11. Jh. als Broerec erscheint 1 . Es gibt allerdings keinen brauchbaren Hinweis, daß die Wahl dieses Namens in irgendeinem Zusammenhang mit den in den Romanen erzählten Begebenheiten stünde 2 . Die Herleitung des Namens von einem Guerec(h), der im 10. Jh. die Grafenwürde von Nantes an sich riß, oder gar von kymr. Gweir/ Gwri 3 bleibt weit weniger wahrscheinlich. 2. C h r e t i e n s E r e c et E n i d e . Der Roman Erec et Enide des —> Chretien de Troyes (ent-
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standen frühestens gegen 1165, eher um 1170; 6.958 Verse) stellt zugleich den ersten Artusroman (cf. —» Artustradition) dar und zeigt bereits eine erstaunliche Feinheit der Komposition. Im groben läßt sich das Werk gliedern in einen einleitenden Teil, der vor allem nach dem Prinzip der Umklammerung und Verschachtelung aufgebaut ist, einen Hauptteil, der die Bewährungsabenteuer des Helden nach den Prinzipien der Reihung und paralleler Wiederholung mit Steigerung anordnet, und schließlich eine Schlußteil, der von einem bes. schwierigen und wunderbaren Abenteuer und der anschließenden Krönung des Helden gebildet wird. Diese Gesamtkomposition kann man auch so interpretieren, daß ein simpler Minneroman (Gewinnung der Frau, Entzweiung und Versöhnung) durch ein von der neuen Ritterideologie bedingtes Schema: erster Erfolg, Krise des Helden und endgültige Bestätigung nach siegreich überstandenen Abenteuern überlagert wird, wobei Aufenthalte am Artushof als Gliederungspunkte der Ritterhandlung dienen. Aufbau und Hauptmotive: Am Artushof beschließt der König, die althergebrachte costume der ,Jagd auf den weißen Hirsch' (cf. Mot. F 989.15), verbunden mit der Kußauszeichnung für die schönste und edelste Dame am Hofe, zu erneuern. Erec selbst nimmt an der eigentlichen Jagd nicht teil, sondern schließt sich, im Festgewand, aber ohne Rüstung, der Königin an. Im Wald begegnet man einem stattlichen Ritter und seiner schönen amie, die von einem bösartigen Zwerg (cf. Mot. F 451.5.2) begleitet werden. Dieser verweigert dem von der Königin geschickten Edelfräulein und Erec jede Auskunft über den Ritter und traktiert sie stattdessen mit seiner Peitsche. Bei der Verfolgung des Ritters kommt Erec in einen Marktflecken, wo alljährlich der Brauch des ,Sperberpreises' für die schönste, von ihrem Ritter beschützte Dame geübt wird (Mot. Η 1596). Erec findet Unterkunft bei einem verarmten Vasallen (Motiv der ,Armen Herberge'), der eine wunderschöne Tochter, Enide, sein eigen nennt. Bei ihm erhält er auch die notwendigen Waffen, um gegen den ihm noch unbekannten Ritter antreten zu können, als Enide auf sein Geheiß den Sperber für sich fordert. Im erbitterten Kampf siegt Erec und wirbt anschließend um die Hand Enides (in Kombination mit Mot. Μ 223 bzw. Q 115). Das Paar reitet dann zum Artushof, wo König Artus, der den weißen Hirsch selbst erlegt hat, nunmehr Enide durch seinen Kuß auszeichnet.
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Der Hauptteil der Handlung wird eingeleitet durch Hochzeitsfest, Turniere und Rückkehr des Paares in Erecs Heimat. Jetzt erst ergibt sich die eigentliche Themenstellung des Werkes: Über dem Glück seiner jungen Liebe verabsäumt Erec seine Ritterpflichten, er ,verliegt' sich bei Enide (Motiv der recreantise = Feigheit, Schlaffheit, schimpfliche Untätigkeit), statt weiterhin am ritterlich-höfischen Leben teilzunehmen. Beschwerden darüber kommen ihr zu Ohren, und eines Nachts beklagt sie sich in einem Selbstgespräch laut über ihre unglückliche Situation. Erec, der nicht schläft, hört ihre Worte und befiehlt den sofortigen Aufbruch. Enide muß in ihrer besten Kleidung voranreiten, und ihr wird außerdem ein Schweigegebot (Mot. C 400) auferlegt 4 . In der demütigen Hinnahme der schroffen und ihr gegenüber nicht begründeten Befehle läßt Enide an die —» Griseldis-Gestalt denken (cf. AaTh 887); der ihr übertragene ,Pferdedienst' erinnert daran, daß nach christl. Auffassung das Pferd für Gehorsam und zahme Willfährigkeit steht5. Die erste Abenteuer-Serie (in der Enide jedes Mal bei Gefahr für den Helden das Schweigegebot übertritt) besteht aus Kämpfen gegen zunächst drei, dann fünf Räuber, der Begegnung mit dem treulosen Burggrafen Galoain, der Erec seine Dame abspenstig machen will, und schließlich dem ritterlichen Zweikampf gegen Guivret le petit, in dem zugleich ein Freund und Helfer gewonnen wird. Eine Zwischeneinkehr bei dem nahebei lagernden Artushof (eingeleitet durch die mehr burleske Szene eines Kampfes gegen den berüchtigten Spötter am Hofe, den Truchseß Keu) bildet den Übergang zur zweiten Serie der Bewährungsabenteuer Erecs, die bei aller Parallelität zur ersten Serie eine deutliche Steigerung der Schwierigkeiten bei wiedergewonnenem höfischen Selbstbewußtsein des Helden mit sich bringt. Zunächst muß Erec gegen zwei Riesen kämpfen, die einen edlen Ritter in ihre Gewalt gebracht haben, dann folgt das gefährliche Abenteuer auf der Burg Limors, wo wiederum ein treuloser Burggraf Enide mit Gewalt zu seiner Frau machen will; durch Enides Schrei noch rechtzeitig aus seinem Scheintod geweckt, kann Erec mit ihr entkommen. Der König Guivret, der den beiden als Helfer naht, wird nicht rechtzeitig erkannt, so daß es zunächst zu einem neuen, schwierigen Kampf kommt. Inzwischen hat aber die eigentliche Minnehandlung mit der Aussöhnung der beiden Liebenden ihren Abschluß gefunden. Außerhalb der eigentlichen Abenteuerreihe folgt jetzt, bei der Burg Brandigan, das gefährlichste und zugleich am meisten mit Elementen des Wunderbaren angereicherte Abenteuer Erecs (die sog. Joie de la Cort), das die Befreiung eines edlen, mächtigen Ritters und seiner Geliebten fordert. Diese beiden haben sich selbst in einem durch einen wunderbaren Wall aus Luft geschützten, herrlichen Garten (Mot. D 961, D 1664, Ν 741.5) von der höfischen Gesellschaft abgetrennt und können aus ihrer eige-
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nen, von der Frau erzwungenen Liebesverbannung nur erlöst werden, wenn ein anderer Held den Ritter besiegt. Auf zahlreichen Pfählen stecken schon die —» Köpfe der Ritter, die bisher in solchem Kampf ihren Tod gefunden haben (Mot. Η 901.1). Erec besteht auch dieses Abenteuer und gibt damit dieses Paar der höfischen Gesellschaft zurück, wodurch noch einmal der Sinn des ganzen Romans unter höfischem Gesichtspunkt zusammengefaßt wird. Der Wichtigkeit dieses krönenden Abenteuers entspricht die aufwendige Vorbereitung und die verstärkte Einbeziehung von wunderbar-magischen Motiven. Die Handlung führt dann zunächst an den Artushof zurück; der Roman schließt mit der feierlichen Königskrönung Erecs in Nantes.
Hauptprobleme für eine Interpretation des Werkes liegen, von der Grundthematik des Ausgleichs zwischen Minne und Ritterpflichten abgesehen, in der subtilen Minne versus Ehe-Problematik und in der Frage nach der eigentlichen ,Schuld' Enides, welche die Ursache für ihre so harsche Behandlung durch Erec sein könnte. Für den Roman hatte Chretien keine geschlossene Quelle als Vorlage zur Verfügung, wie schon aus der Eigenart der Themenstellung, die nur auf dem Hintergrund höfisch-ritterlicher Ideologie denkbar ist, aber auch aus den von Chretien verwendeten Mitteln in der Komposition, die prinzipiell auch für seine späteren Werke gleichbleiben, geschlossen werden kann. Im Prolog gibt er freilich an, daß die Geschichte von Erec, dem Sohne des Königs Lac, von berufsmäßigen Erzählern vor hoher Gesellschaft ,zerstückelt' und verdorben' erzählt zu werden pflege, er sie nun aber erst in ihrem richtigen inneren Zusammenhang als wohlgeordnete Erzählung der Nachwelt überliefern werde. Nirgendwo sonst hat freilich eine mit dem Namen Erec verbundene Geschichte ihre Spuren hinterlassen. Man muß annehmen, daß Chretien zwar Gebrauch von einzelnen, eher novellenartig knappen Geschichten mehr volkstümlicher Erzähler gemacht hat, aber die Gesamtkomposition, ihre Übertragung auf den Namen Erec und die eigentliche Themenstellung dürften allein sein Werk sein. Bestimmte Motive, wie ζ. B. die Jagd auf den weißen Hirsch 6 oder der Sperberpreis 7 , begegnen auch sonst, bis in die lat. Lit. seiner Zeit; überhaupt wird neben dem, was Chretien volkstümlichen Erzählern verdanken könnte, das nicht geringer
zu veranschlagen sein, was er seiner eigenen literar. Bildung entnehmen konnte 8 . In einzelnen Motiven und bes. im Atmosphärischen ergeben sich Berührungen zu den Lais der —> Marie de France. Es läßt sich aber auf keine Weise mehr feststellen, ob tatsächlich, trotz einzelner kelt. anmutender Motive, eine kelt. Feengeschichte (mit Mot. F 302.3.1, F 373 und F 162.1) das Vorbild für die Schlußepisode der Joie de la Cort gewesen ist. Die neuen Intentionen Chretiens hätten in jedem Fall den Charakter einer möglichen Vorlage völlig verändern müssen, und für die Ausgestaltung dieser Szene stand die ganze locus amoenusbzw. Paradieses-Topik zur Verfügung. 3. B e a r b e i t u n g e n 3.1. D e r E . - R o m a n des H a r t m a n n von Aue. Die Bearb. —> Hartmanns ist relativ frei — schon der Umfang ist beträchtlich größer, über 10.000 Verse —, jedoch ist äußerste Skepsis gegenüber allen früheren Versuchen der Forschung angebracht, neben Chretiens Werk noch verlorene andere Fassungen des Erec-Stoffes als Nebenquellen für Hartmann in Ansatz zu bringen. Leichte Änderungen gegenüber Chretien erklären sich aus dem bes. Charakter und der anderen Situation des dt. Dichters. Schon allein der Umstand, daß Hartmann sein Werk für ein anderes, mit den neuen höfischen Idealen und der spielerischen Behandlung von Wertkonflikten noch nicht so vertrautes Publikum schrieb, machte ein größeres Maß didaktischer Belehrung und Verdeutlichung nötig. Dem kam aber gewiß auch eine innere Neigung des dt. Dichters entgegen, der gern gemächlicher und breiter darstellt als der Franzose und sich seinem Publikum auch im Sinne einer stärkeren christl.-theol. Wertung verantwortlich weiß. 3.2. D i e m i t t e l k y m r . E r z ä h l u n g Ger e i n t , Sohn des E r b i n (Gereint vab Erbin). Diese Erzählung gehört zu der Gruppe der dem —» Mabinogi angehängten alten walis. Prosaerzählungen. Entstanden wohl um etwa 1200, liegt hier klar eine Bearb. von Chretiens Roman vor, auch wenn der Charakter der ganzen Erzählung sehr stark dadurch verändert wird, daß der (anonyme) Verfasser sich in der Tradition althergebrachter einheimi-
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Erek
scher Erzählkunst weiß und das frz. Werk einem anderen Publikum schmackhaft machen muß; trotzdem hebt sie sich noch immer deutlich von dem Mabinogi im strengeren Sinne ab. Gegen die gelegentlich noch vertretene These, Chretiens Erec und die walis. Erzählung gingen beide unabhängig auf eine gemeinsame (verlorene) Vorlage zurück, lassen sich gewichtige Gründe anführen. Viele Spekulationen der älteren Forschung basieren nur auf der trügerischen Voraussetzung, daß eine nach modernem Empfinden in manchen Punkten schlüssiger und widerspruchsfrei gestaltete Handlung notwendigerweise den ursprünglicheren Text bedeuten müsse. Der Name des frz. Titelhelden wird in Wales durch den einheimischen Namen Gereint ersetzt ( < Gerontios) 9 . Die Erzählung ist — im Vergleich zu anderen kymr. Erzählungen — geradlinig und einfach; charakteristisch ist ein rationalistisches Bemühen des Dichters um Motivationen, die seinem eigenem Publikum besser verständlich sind. Folgt das Werk zu Anfang dem Chretienschen Text noch ziemlich ausführlich, so kürzt der Bearbeiter gegen Ende hin immer mehr, so daß dann die Chretiensche Themenstellung und die bes. Rolle des Artushofes im kompositorischen Aufbau kaum noch zu erkennen sind.
4. E . in der sonstigen A r t u s l i t e r a t u r . Nachdem der Held durch Chretien in die neue Artusdichtung eingeführt worden war, wird sein Name auch in zahlreichen späteren Artusromanen (Bei Inconnu, Claris et Laris, Durmart, Fergus, Hunbaut, Perceva/-Fortsetzungen u. a.; im dt. Bereich ζ. B. Lanzelet, Wigalois, Diu Crone u. a.) erwähnt. Bes. charakteristische Handlungsstränge sind dann freilich mit dem Helden in der Regel nicht verbunden; die Vorliebe der späteren Autoren gilt Figuren wie Lancelot, Tristan bzw. den jeweils neu als Haupthelden erwählten Gestalten. Erst im Prosaroman des späteren MA.s gewinnt der Ritter E. erneut Profil, allerdings in merkwürdig veränderter Weise. Aus zwei zyklischen Hss. des 14. und 15. Jh.s hat C. E. Pickford einen E.-Prosaroman herausgelöst 10 , der seinem Hauptgeschehen nach aber schon den Autoren des Pseudo-Robert de Boron-Zyklus und des 7>wfa«-Prosaromans bekannt gewesen sein muß. Hier wird der Held als der Ritter charakterisiert, ,der niemals lügt' und der infolge eines einem Edelfräulein voreilig gewährten Versprechens sogar um seiner Ritterehre willen seine eigene Schwester enthauptet. Nichts erinnert mehr an den Helden aus Chretiens Roman: E. ist als düster-ernste Figur gezeichnet, ein durchaus tragischer Held, der schließlich durch Gauvain auf perfide Weise ums Leben gebracht wird.
3.3. D i e a l t n o r d . E r e x saga (Saga von Erex, dem Artushelden, und Evida). Diese — ebenfalls anonyme und noch freier gehaltene — Bearb. von Chretiens Roman ist etwa um 1230 entstanden, vollständig leider nur in isl. Abschriften des 17. Jh.s erhalten. Auch hier ist ein erheblicher Einfluß einheimischer Erzählkunst unverkennbar; die Proportionen des frz. Werkes sind im ganzen stark verändert; im Original wichtige Episoden werden ihrer Bedeutung fast völlig beraubt, dafür werden neue Abenteuer, u. a. ein Kampf gegen einen fliegenden Drachen, eingeführt. Im allg. wirkt der Erzählstil karg und knapp; bei Chretien wichtige Monologe und Dialoge sind gestrichen. Der neuen frz. Ritterideologie steht der Verf. eher fremd gegenüber, daher wird mitunter simpler motiviert (ζ. B. hält Erex, frisch verliebt, ohne weiteres um die Hand Evidas an, ehe überhaupt vom Sperberpreis die Rede gewesen ist).
Weit wichtiger als das Nachleben des Ritters Erec und seiner Abenteuer ist aber, daß Chretien mit seinem Erec et Enide-Roman ein Strukturmodell aufgestellt hat, dessen Nachwirkungen noch für Jh.e deutlich sind. Chretien selbst hat in seinen späteren Werken in Themenstellung, Einzelmotiven und Kompositionstechnik immer wieder an seinen ersten Artusroman angeknüpft, aber auch für viele Nachahmer hat er hier die charakteristischen Merkmale der neuen Gattung aufgestellt, die man „Typkonstanten des Artus-Aventure-Romans" nennen kann und die fortan in starkem Maße den Erwartungshorizont von Autoren und Lesern geprägt haben 11 . 1
Weroc (oder Waroch), Name zweier berühmter Stammesfürsten der Südostbretagne (heute Departement Morbihan) in der 1. Hälfte bzw. gegen Ende des 6. Jh.s. Die Herleitung Erec Jacques de Vitry belegt 10 , nimmt Menendez Pidal gleichfalls oriental. Ursprung an: (2) Einem Verbrecher wird bei der Beichte die Buße auferlegt, jedesmal ein —> Vaterunser zu beten, wenn er an einem Kruzifix vorbeikommt. Bei einer derartigen Gelegenheit wird er, anstatt zu fliehen, von den Verwandten eines seiner Opfer erschlagen. Der Eremit, der ihm die Beichte abgenommen hatte, sieht, daß der tote Verbrecher von Engeln in den Himmel getragen wird, und murrt gegen Gott; er beschließt, wieder weltlich zu werden und verläßt seine Zelle. Unterwegs bricht er sich das Genick, und der Teufel holt ihn.
Hier stellt sich die Frage, ob die katechetisch-didaktische Intention der Erzählung erfüllt wird, wenn die Uneinsichtigkeit mit dem Tod bestraft wird. Dasselbe Exempel ist auch noch in anderen Sammlungen vielfach belegt 11 ; mit dem —»Speculum exemplorum und dessen slav. Parallele (Velikoe zerkalo) gelangte viel Erzählgut westeurop. Prägung in den slav. Raum; das mag die Verbreitung und Beliebtheit der Motive im Osten erklären. Das Bußmotiv könnte allerdings auch die Entstehung
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Eremit: Der selbstgerechte E.
der damit verwandten Erzählungen AaTh 756 Β und C bedingt haben 12 . Die Predigtmärlein desselben Inhalts aus der Barockzeit 13 gehen möglicherweise auf die Geschichte vom beichtenden Einsiedler zurück14: Ein Mörder hört die Lebensbeichte eines Einsiedlers mit; in höchster Verzweiflung entringt sich dem Verbrecher ein Stoßgebet, in dem er bereut, nicht so gelebt zu haben wie der heiligmäßige Mann, dem er nacheifern möchte, um der ewigen Verdammnis zu entgehen. Der sterbende Einsiedler hört diesen Ruf, und er ist dem —»Räuber gegenüber hoffärtig im Augenblick des Todes, wodurch seine Seele vom Teufel geholt wird. Der Räuber eilt davon und stürzt in eine Grube. Engel führen ihn in den Himmel.
In einem frz. Volksmärchen, das auf Etienne de Bourbon zurückgeht15, gleitet der sündige Eremit von einer Brücke, um dann vom Teufel zur Hölle getragen zu werden, wodurch es zu einem funktionellen Rollenwechsel der beiden Kontrastfiguren kommt. Im gleichen Atemzug zu nennen ist noch die Var. in heanz. Mundart16, die aber überwiegend Kontaminationserscheinungen mit dem Untertypus 3 aufweist: Ein Engel bringt dem Eremiten täglich zu essen, solange er ohne Sünden lebt (Mot. Q 553.2); merkwürdigerweise sind der Eremit und der Räuberhauptmann Brüder, eine vor allem in den russ. Var.n enthaltene Situation der Madejlegende (die aber auch an anderen Orten vorkommt 17 ) als noch engere Kontraktion der Kontrastfiguren Einsiedler/Missetäter. (Andreev weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, daß büßende Räuber und andere Verbrecher tatsächlich Einsiedler geworden sind, um ihre Sünden zu büßen 18 .) In der heanz. Var. kommt aber auch das feurige Bett vor, das aus den Räuber Madej-Var.n bekannt ist (Mot. Q 561.1) und in der Kontamination AaTh 7 5 6 A + B 1 9 eine große Rolle als Strafwerkzeug spielt. (3) Im letzten Untertypus (AaTh folgend eigentlicher Bestimmungstypus von AaTh 756A) ist ein tröstliches Beispiel von der —> Barmherzigkeit Gottes als Schlußlösung eingebaut, was an eine Erzählung mit katechetischer Intention neueren Datums denken läßt. In den bisherigen, aus der Exempelliteratur herleitbaren Erzählungen gab es die
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Verdammung des zweifelnden und hadernden Einsiedlers, der durch ein hartes Wort oder einen einzigen bösen Gedanken sein heiligmäßiges Leben verwirkt. Der Engel erscheint dem Eremiten nicht mehr (Mot. Q 5 5 3 . 2 ) ; eine harte Buße wird ihm auferlegt, weil er sich abfällig über einen zum Galgen geführten Missetäter äußert (Mot. L 4 3 5 . 1 ) und es rechtens findet, daß dieser bestraft wird. In der Folge muß er als Bettler mit einem dürren Wanderstab umherziehen (Mot. Q 521.1). Im Hause einer Räuberbande erreicht er durch die Schilderung seiner Verfehlung die Sühnebereitschaft der Räuber. Am nächsten Morgen wird der Wandersmann tot aufgefunden: Der dürre Wanderstab, der ihm als Kopfkissen gedient hatte, trägt Triebe (Mot. F 9 7 1 . 1 ) 2 0 .
Es wird nicht, wie bisher, ein Rollenwechsel vollzogen, sondern sowohl der büßende Eremit als auch die sühnebereiten Räuber erlangen die ersehnte Seligkeit. Für diese Form der Var.n gibt es keinen Exempelbeleg oder irgendeine andere Quelle als KHM 206: Die drei grünen Zweige. Direkt davon abhängig sind Zug für Zug die span, und mexikan. Var.n sowie die aus der frz. Schweiz und Italien21. Als verderbt oder mißverstanden schätzt W. Liungman die schwed. Var.n ein 22 . Merkwürdige Motivkontaminationen, Verwechslungen, zersagte und bis auf ihre Rudimente zusammengeschmolzene Fassungen, in denen AaTh 756 Α oft nur noch ansatzweise zu erkennen ist, mögen noch aufgeführt werden: die lett. Var.n 23 , die eine Gemeinsamkeit haben mit einer Var. aus Westfalen24, da der Räuber als Buße trockene Äste solange begießen muß, bis sie grünen (Mot. Q 521.1.1 und Q 521.1.2) 2 5 . In einer ir. Fassung, die Übereinstimmungen mit der Madej-Legende aufweist, müssen sowohl der Eremit als auch ein Räuber so lange im reißenden Bach stehen, bis ihre Stäbe grünen 26 . In einer anderen ir. Var., die als lokalisierte Sage über das Leben eines Priesters aufgezeichnet wurde27, gibt es wieder gemeinsame Motive mit der Madej-Legende: Das abgewiesene Mädchen versteckt Wertsachen im Rucksack des eingekehrten Priesters, der ihrer Werbung nicht gefolgt ist und später des Diebstahls bezichtigt wird28; ferner kommt auch das qualvolle Bett vor (Mot. Q 561.1). Merkwürdigerweise gibt es bei dieser ir Var., in Abänderung des Motivs vom
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Erinnerung — Erkennungszeichen
Schlüssel, der ins Meer versenkt wird (Mot. Q 544), das der Versenkung von feinen Nadeln und deren anschließende Auffindung in einem Fisch als Zeichen der Gnade 29 . Die Fülle der Motivparallelen mit dem Räuber-Madej-Komplex würde eine Studie über das aufgezeichnete ir. Material zu AaTh 756 Α rechtfertigen. Leider sind von den bei AaTh verzeichneten ir. Var.n und deren Kontaminationen 30 nur zwei durch Publikationen zugänglich. 1 Andrejev, N. P.: Die Legende vom Räuber Madej (FFC 69). Hels. 1927. - 2 cf. BP 3,463sq.; Köhler/ Bolte 1, 147sq. - 3 Moser, D.-R.: Die TannhäuserLegende. B./N. Y. 1977. - 4 z.B. Zs. für rhein.westfäl. Vk. 29 (1932) 45, num. 7; cf. Moser (wie not. 3) 56, not. 124 und pass. — 5 cf. ibid., 43, not. 81. - 6 Espinosa 2, 326; (wie not. 1) 129, 134; Dh. 2, 2 6 5 - 2 6 8 ; BP 3, 471, not. 1. - 7 Menendez Pidal, R.: Estudios literarios. Madrid 1920, 94sq., 99; Espinosa 2, 323—326. — 8 Laoust, E.: Contes berberes du Maroc 2. P. 1949, num. CXXVI. 9 (wie not. 3) 5 5 - 5 8 , 60, 62, 64, 66, 70, 72. 10 Jacques de Vitry/Crane, 166sq., num. 72. — "Tubach, num.4777. — 12 Alsheimer, R.: Das Magnum speculum exemplorum als Ausgangspunkt populärer Erzähltraditionen. Ffm./Bern 1971, 125, num. 33. — 13 Moser-Rath, 140sq., num. 37. 14 Kirchhof, Wendunmuth 5, num. 81. - 1 5 Tegethoff, E.: Frz. Volksmärchen 1. MdW 1923, num. 11 d. — 16 Bünker, J. R.: Schwanke, Sagen und Märchen in heanz. Mundart. Lpz. 1906, num. 83. - 17 BP 3,464. - 18 (wie not. 1) 234, 253. - 19 Dobrovol'skij, V. N.: Smolenskij etnograficeskij sbornik 1. St. Peterburg 1891, num. 91. - 20 cf. not. 5 und 6. 21 KHM 206; Sanchez Perez, J. Α.: Cien cuentos populäres. Madrid 1942, num.52; Espinosa 1, num. 81.; Espinosa, A. M.: Cuentos populäres de Castilla. Buenos Aires 1946, num. 35.; Robe; Alcover, A. M.: Aplec de rondaies mallorquines [. . .] 2. Palma de Mallorca 1936, 163-166; Uffer, L./Wildhaber, R.: Schweizer Volksmärchen. MdW 1971, num. 39; Cirese/Serafini. — 22 Liungman 2, 184, not. 260; Liungman, Volksmärchen, num. 756 A, not. p. 368. - 23 Aräjs/Medne. - 24 Zs. für rhein.-westfäl. Vk. (wie not. 4). - 25 (wie not. 3 ) 72. - 26 (wie not. 1) 304; Beal. 3,1 (1931) num. 9. — 27 Hyde, D.: Legends of Saints & Sinners. L. 1915, 116-124. - 28 (wie not. 1) 45, pass. - 29 (wie not. 1) 248; (wie not. 3) 71 (Mot. J 1921). - 30 0 Smlleabhäin/Christiansen.
Kassel
Michael Belgrader
Erinnerung —» Vergessen und Erinnerung
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Erkennung —> Wiedererkennen
Erkennungszeichen 1. Allgemeines — 2. Wiedererkennen nach Trennung — 3. Herausfinden einer Person aus vielen gleichen - 4. Erkennen unbekannter Identität — 5. Zeichen der Besonderheit — 6. Erkennen und Markieren von Übeltätern — 7. Beweis einer Heldentat - 8. Orakel - 9. Magische Kenntnis vom Schicksal Getrennter — 10. Warnzeichen — 11. Zeichen zukünftiger Bestimmung — 12. Verständigung durch Zeichen bei räumlicher Getrenntheit — 13. Markierung eines Ortes - 14. Geburtsmal
1. A l l g e m e i n e s . E. sind vorrangig Dinge, aber auch Handlungen und Vorgänge, die das Feststellen der Identität einer Person oder die Klärung eines Sachverhalts ermöglichen. Als Zeichen haben sie verweisende —»Symbolfunktionen; ihre spezifische Bedeutung ist jedoch vorwiegend auf den Kontext einer einzigen Erzählsituation begrenzt. Das Phänomen E. scheint universell zu sein, ist bereits in der frühesten Überlieferung nachweisbar und betrifft Mythos, Heldensage, Ballade sowie sämtliche Gattungen der Volkserzählung unter Bevorzugung des Zaubermärchens. E. sind erzählerische Hilfsmittel, die sich aus dem Stil des Märchens als notwendig erweisen: Personen sind so wenig individuell gezeichnet, daß sie nicht an ihrem Aussehen wiedererkannt werden, sondern an einem Attribut. Abstrakte, individuelle Eigentümlichkeiten, innere Züge, Charaktereigenschaften etc. werden an und mit äußerlich erkennbaren, greifbaren Dingsymbolen, Gaben, .Markenzeichen', Kleidung (,Kleider machen Leute'), Tätowierungen, Verletzungen, Narben u. a. konkret sichtbar gemacht. Das Märchen schafft sich auch E., weil es das Bildhafte braucht. „Profane Zauberdinge (der Ofen, dem ein Mensch sein Leid anvertraut, der Fragen beantwortende Geduldstein, Erkennungszeichen und aus Jenseitsbereichen stammende Prachtkleider) verhelfen zur Gewinnung oder Rückgewinnung oder Offenbarung der Identität, sie sind besonders deutlich sprechende Repräsentanten der Wesentlichkeit der unbelebten Umwelt für den Menschen" Im Märchen dient das E. wesentlich zur Herbeiführung eines glückhaften Aus-
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Erkennungszeichen
gangs, ähnlich wie in Mythos und Heldensage, wo es jedoch auch häufig Symbol tragischer Verstrickung sein kann, in der Sage — zu spät oder nicht erkannt — eher als Vorzeichen der Katastrophe oder Omen für das Unabwendbare, wobei im Volksglauben geläufige Vorstellungen von E. oft den Kern bilden, um den herum eine Erzählung gestaltet wird. Die Legende gebraucht E. als Projektion über die irdische Wirklichkeit hinaus. In Schwank und Witz sind sie Mittel des —» Achtergewichts und ermöglichen eine Entlarvung, welche die Pointe auslöst. 2. W i e d e r e r k e n n e n n a c h T r e n n u n g . Grundsituation ist die von Partnern (Geliebte, Versprochene, Ehegatten, Eltern und Kinder, Geschwister, Freunde) nahezu immer ungewollte Trennung über einen längeren Zeitraum hinweg, die eine Identifikation nach dem Aussehen nicht mehr ermöglicht. Ist die Trennung vorhersehbar, so wird ein Gegenstand ausgetauscht, geteilt oder gegeben, der das —»Wiedererkennen ermöglichen soll, dem meist eine Suchwanderung (—> Suchen) oder Irrfahrt vorausgeht. Die umrissene Erzählstruktur, vorrangig von Mythos, Heldensage und Märchen verwendet, ist der klassische Hintergrund für den Gebrauch von E., die eine „Veräußerlichung (Projektion) der im echten Märchen anders nicht darstellbaren inneren Beziehung" 2 sind. „Daß [. . .] Erkennungszeichen [. . .] für die Identifizierung wichtiger sind als die Person selber, daß ein goldenes Kleid das eigentliche Wesen des Trägers zu offenbaren vermag, spiegelt die Wesentlichkeit der Dinge, der Requisiten im seelischen Haushalt des Menschen" 3 . Neben konkreten Requisiten oder körperlichen Kennzeichen (z.B. Narbe, Mal) dienen auch für eine Person charakteristische Handlungsweisen, Eigenarten oder Fähigkeiten, Gespräche (z.B. AaTh 533: Der sprechende —»Pferdekopf), gemeinsame Erinnerungen, zufällig erzählte Lebensgeschichten oder Träume (—» Apollonius von Tyrus), gelöste Rätsel sowie musikalische Erkennungsmotive (z.B. —» Richard Löwenherz; Mot. Η 12) als Ε. (cf. Mot. Η 0—Η 199: Identity tests: Recognition). Dem Erkennen geht häufig eine Prüfung voraus, in der ein Mensch seine Identität vermittels eines E.s beweisen muß.
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Märcheneigentümlich ist die Befreiung oder Entzauberung einer Prinzessin durch den Helden, der sich jedoch nach vollbrachter Tat von ihr trennt 4 . „Kein seelisches Gefühl, sondern ein äußeres Erkennungszeichen verbindet den Helden mit der erlösten Prinzessin"5. „Daß sie ihn [bei der Wiederbegegnung] nicht direkt erkennt, ist charakteristisch für die isolierende Darstellungsweise des Märchens. [. . .] Ein unmittelbares Wiedererkennen der Persönlichkeit des andern gibt der Märchengestalt schon ein Zuviel an seelischer Plastik. Wenn sich die Märchenfiguren voneinander trennen, dann .vergessen' sie einander, ohne daß, wie in mythischer Dichtung, ein Vergessenheitstrunk nötig wäre [. . .]; deshalb die Vorliebe des Märchens für Erkennungszeichen, die zwischen den Figuren ausgewechselt werden und ohne deren Vermittlung ein Wiedererkennen oft nicht möglich wäre" 6 .
Eine entscheidende Rolle spielt das E. bei der Rückkehr des lange verschollenen Gatten gerade zu dem Zeitpunkt, zu dem seine Frau eine zweite Ehe eingehen will. In allerletzter Minute kann er die Heirat durch einen konkreten Beweis seiner Identität verhindern (AaTh 400: —» Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau; —» Heimkehr des Gatten; Mot. Ν 681; —> Odysseus). Von den zum Wiedererkennen führenden Wahrzeichen kommt dem —» Ring die größte Bedeutung zu, da er über die Volkserzählung hinaus Symbol der Untrennbarkeit ist (Mot. Η 94—Η 94.6). In Heimkehrersagen und -balladen wird er in den Becher der Geliebten geworfen 7 , er wird sonstwie in Nahrungsmitteln versteckt (cf. AaTh 510A: —> Cinderella)8, geteilt (cf. AaTh 361: —»Bärenhäuter) oder zufällig erkannt 9 . Ein Unikat scheint die frz. Var. der —> Judaslegende, in der das Kind vor der —» Aussetzung durch —> Brandmarken gekennzeichnet wird 10 (cf. aber auch Mot. Η 56.2.41). Schöngeistige Lit. verwendet häufig das Requisit des E.s in gleicher Funktion wie die Volkserzählung, so hier z.B. Henry Fieldings Roman Joseph Andrewsn: Ein Geburtsmal führt zur Wiedererkennung des verlorenen Sohnes. 3. H e r a u s f i n d e n e i n e r P e r s o n aus vielen g l e i c h e n . Als „retardierendes Kleinmotiv" bezeichnet K. Ranke jenen Zug,
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Erkennungszeichen
der vor allem in AaTh 554: —» Dankbare (hilfreiche) Tiere begegnet: Der Held bekommt die nach Lösung der Aufgaben gewonnene Prinzessin nicht sofort, sondern muß sie erst aus einer Reihe gleich angezogener oder verkleideter Mädchen herausfinden, wobei sie oder die Tiere ihm durch ein Zeichen helfen 12 (Mot. Η 161.0.1, Η 162.3, Η 324)». L. Röhrich hat darauf hingewiesen, daß das Heraussuchen der Braut im Hochzeitsritual verschiedener Völker zu finden ist 14 . Er deutet diese Handlungen als einen apotropäischen Brauch, der die Gefahr durch dämonische Mächte von der wirklichen Braut ablenken soll (—> Archaische Züge im Märchen). Das Handlungsschema wird jedoch nicht nur bei der Brautsuche angewandt, sondern auch beim Herausfinden verzauberter oder übernatürlicher Wesen, die z.T. selbst hilfreiche Hinweise geben (Mot. Η 161, Η 162.1, Η 163) 15 . 4. E r k e n n e n u n b e k a n n t e r I d e n t i t ä t . Hier geht es darum, die wahre Identität eines bekannten Menschen oder höheren Wesens zu ergründen, die auf ersten Augenschein nicht feststellbar ist. Dazu reichen oft schon körperliche E. aus, z.B. fehlendes Haar (Mot. Η 75.6), eine Wunde (Mot. Η 56, Η 61.1), die kreisförmige rote Narbe am Hals eines wiederbelebten Enthaupteten (—> Enthauptung), fehlende Körperteile (Mot. Η 57—Η 57.5; cf. auch Η 79.8, Τ 563.4) u. a. mehr (Mot. Η 3 6 - Η 36.1.1, Η 62.3, Η 75.5, Η 79.7, Η 94.8, Η 162). Forciert wird das Erkennen durch dezidierte Suchaktionen wie etwa beim Anpassen des Schuhs in Cinderella oder durch absichtliche Markierung des Unbekannten: dem heimlichen Liebhaber, der sein Inkognito wahren möchte, streicht die Geliebte Farbe oder Kreide auf die Haut (Mot. Η 58, Η 58.1), sie kratzt ihn (Mot. Η 58.2) oder heftet ihm Nadel und Faden an seine Jacke 16 . Resultiert aus der Verbindung ein uneheliches Kind, so versucht man mittels E. den Vater festzustellen (Mot. Η 480) oder aber das Kind legitimiert sich dem Erzeuger gegenüber durch ein E. (Mot. Τ 645; cf. —» Bastard) 17 . Die unterschobene Braut oder Geliebte verrät sich durch verbale Schnitzer, körperliche Eigenheiten, mangelnde Fähigkeiten (Mot. Η 35.3.1, Η 38.2.3, Η 79.6)
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oder durch ein Schwert, das kalt bleibt 18 . Jemand, der eine nicht seinem Stand entsprechende Rolle vorspiegelt, Hoch- oder Tiefstapler verraten sich auf vielfältige Weise (Mot. Η 38.2—Η 38.2.5, Η 155) ebenso wie Tiere, die in Menschen verwandelt sind, durch Nichtablegenkönnen früherer Gewohnheiten (Mot. Η 4 8 - Η 48.2, Η 64.3sq.): Der Froschkönig des Bilderwitzes kann es auch in seiner neuen Königswürde nicht lassen, völlig unpassend nach Fliegen zu schnappen 19 . Intentional werden dagegen die E. von Aschenputtel, Allerleirauh (AaTh 510) oder ähnlich im Elend lebenden Heldinnen eingesetzt, um sich dem Mann ihrer Wahl erkennen zu geben und die Phase ihrer Unterdrückung zu beenden 20 . Wie in Menschen verwandelte Tiere Eigenheiten ihrer früheren Existenz nicht völlig ablegen, so auch in Tiere verwandelte Menschen; das Bemerken dieses E.s führt mittelbar zur -> Erlösung (Mot. Η 6 2 - H 64). Wo Zauber oder Dämonisches im Spiel ist, wird das Erkennen des wahren Sachverhalts für den Menschen, der mit dem Übersinnlichen in Berührung kommt, zur Überlebensfrage. Bes. der Aberglaube beschäftigt sich mit dem Problem, wie man die wahre Natur eines in Menschengestalt auftretenden Schädigers oder allg. übernatürlichen Wesens (z.B. —» Hexe, —> Teufel, Troll, —> Vampir, —> Wechselbalg) rechtzeitig herausfinden kann oder aber die des in einen —» Dämon verwandelten Menschen (Alp, Werwolf). Erzählerisch konkretisiert wird der Aberglaube durch die Gattung Sage (cf. Mot. Η 46 sq., Η 62.2, Η 64.1 sq., Η 79.1, J 1176.5) 21 . 5. Z e i c h e n d e r B e s o n d e r h e i t . Am bekanntesten sind die —» Zeichen edler Herkunft, die kgl. oder adlige Abstammung symbolisieren oder offenbaren (Mot. Η 36—Η 41.9.1, Η 7 1 - Η 75.4). Silbernen oder goldenen (—»Farben, Farbsymbolik) Sonnen, Monden und Sternen, vorzugsweise auf der Stirn, sowie goldenem Haar kommt die größte Bedeutung zu. Adel steht im Märchen jedoch stellvertretend für charakterliche Integrität und Schönheit 22 , deshalb sind die Abzeichen nicht als bloßer Abstammungsnachweis zu interpretieren, sie müssen auch nicht ererbt sein, sondern können für außerge-
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wohnliche, positive Leistungen (üble Taten cf. Kap. 6) wie ein Orden verliehen werden durch Wesen aus der jenseitigen Welt (cf. AaTh 480: Das gute und das schlechte —* Mädchen)23. Teilweise ist das E. auch nur Signum einer Begegnung mit dem Übernatürlichen, wie die leuchtendrote Stelle auf dem Kinn des Helden, die ein Kuß der Fee hinterläßt 24 . — Verstärkt handlungsbildend wirkt das E. in AaTh 510B: Dress of Gold, of Silver, and of Stars (Allerleirauh), wo der Mann seiner Frau auf dem Sterbebett verspricht, nur eine neue Ehe einzugehen, falls die Nachfolgerin die gleichen kgl. Abzeichen trüge. Da auf der ganzen Welt niemand als seine eigene Tochter die Bedingung erfüllt, kommt es zum Inzestversuch.
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(Mot. G 303.5.3) oder rotem Bart (Mot. G 303.4.1.3.1) etc. Zum Herausfinden eines unerlaubten oder gesetzwidrigen Verhaltens gehören verschiedene Modi: Untreue zwischen Verliebten wird durch das Zerbrechen eines Rings angezeigt (Mot. Ζ 151) und ist bes. eine Domäne des Volksliedes, aber auch der Sage und Legende 26 . Die heimliche Liebschaft wird unbeabsichtigt durch ein E. offenbar (Mot. Η 81—Η 81.3), ebenso wie Ehebruch (Mot. Η 94.0.1) 27 . Betrügerische Möchtegernliebhaber versetzen sich, z.T. nach einer Wette um die Treue der Gattin, in Besitz oder Kenntnis des E.s der Ehefrau und täuschen so Verführung vor (AaTh 882, 892: -> Cymbeline), worauf die Frau vom Mann verstoßen 28 wird . Ein Wildschweingeist schleicht sich in Neben herausgestellten Menschen sind menschlicher Gestalt mit Hilfe eines E.s in auch Gottheiten mit E. versehen (Mot. Η das eheliche Gemach; der echte Gatte wird 45—Η 45.5). - Der Liebesfleck auf Stirn 29 daraufhin hinausgeworfen . — Ist der Beweis oder Brust —> Diarmuids macht ihn entgegen eines Ehebruchs nicht anders zu erbringen, so seinem Willen für alle Frauen verführerisch. findet als E. eine Keuschheitsoder —» Wahr— In einem Märchen aus dem westafrik. Kasaibecken wirft die Mutter ihren aus Kürbis- heitsprobe statt (Mot. Η 430—Η 439.2, Η sen entstandenen 20 Kindern Eier an den 440, Η 451), die wie bei der —> Bocca della Kopf. Durch dieses E. werden sie als Men- veritä schwankhaft listig pervertiert und zuschen anerkannt 25 . — Ein König wird aus an- gunsten der Ehebrecher entschieden werden deren Bewerbern dadurch bestimmt, daß eine kann. Heuschrecke sich auf seiner Stirn niederläßt Anders geahndet wird die Durchbrechung (Mot. Η 162.2), einem ausgesetzten Kind ed- des Tabus, ein verbotenes Zimmer zu betreler Abstammung werden Zeichen seiner Her- ten (cf. AaTh 311, 312: —» Mädchenmörder, kunft mitgegeben (Mot. S 334). AaTh 314: Goldener): Untilgbare BlutHandlungen als E. begegnen bei auf be- spuren oder Vergoldungen von Körperteilen 30 stimmte praktische oder geistige Eignungen erzählen vom Ungehorsam und ziehen Strahin abhebende Tests wie —> Charaktereigen- fe oder Flucht nach sich. — Mord wird offenschaften und -proben oder —* Brautproben, bar etwa durch das Bluten einer Leiche, wenn bei denen es auf Beweise von Klugheit, Fleiß, der Mörder zu ihr tritt (cf. auch Mot. Η 75.7), Zuverlässigkeit, Sparsamkeit, Sauberkeit, durch die Weigerung der Erde, in der er bestattet werden soll (Mot. D 1318.16), oder das Ordnungssinn etc. ankommt. rational nicht erklärbare Erscheinen eines Mordsymbols auf dem Grabstein des Op31 6. E r k e n n e n u n d M a r k i e r e n von fers . — Das Spektrum der Möglichkeiten, Ü b e l t ä t e r n . D a s E. kommt auf dreierlei Ar- einen Übeltäter aufgrund eines E.s zu entlarten zur Anwendung: als Hinweis auf einen ven, ist sehr breit (cf. AaTh 1574: —> Schneipotentiellen Täter, als corpus delicti zum Her- der mit der Lappenfahne·, Mot. Η 41.10, Η ausfinden eines Vergehens und als Abstem- 57.2.1, J 1176.3, Τ 247; -» Salomonische Urpelung des Schuldigen. Weisend kann ζ. B. die teile). Farbe Rot in Fällen von Heimtücke und VerZudem ist der Gebrauch von E. in den rat sein: Ein treuloser Ritter z.B. ist rot ge- Rechtssagen und Schwänken fast aller Völker kleidet (Mot. Κ 2265), der Teufel zeigt sich bei der Schilderung eines Betrugs und der sich zuweilen mit blutrotem Haar (Mot. G daran knüpfenden Überführung des Betrü303.4.1.8.1; —»Rothaarig), rotem Gewand gers ein außerordentlich beliebtes und mit
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den vielfältigsten Variationen abgewandeltes Thema 32 . Mehr dem Rechtsbrauch als der Erzählüberlieferung zuzurechnen ist die Gepflogenheit des —» Brandmarkens (bes. von Dieben und Münzfälschern) als Sühne und Warnung für andere, Funktionen, die schon dem Kainszeichen zukamen. Die gleiche Funktion hat der scharlachrote Buchstabe in Nathaniel Hawthornes gleichnamigem Roman 33 . Aber schon die Begegnung mit dem Bösen, z.B. dem Teufel, kann zu schwer zu entfernenden E. führen 34 . 7. B e w e i s e i n e r H e l d e n t a t . Märchen, Schwänke und Rechtssagen kennen das vielfältig abgewandelte Thema vom —» Betrüger, der sich unverdient eine heroische Tat anmaßt, entlarvt und des Betruges überführt wird. „Während dieser Gedanke unter den Schwänken und Rechtssagen in selbständigen Erzählungen auftritt, dient er im Märchen nur als retardierendes Moment" 35 . Die zeitlich wie entwicklungsgeschichtlich älteste und auch häufigste Form findet sich im —» Drachentöter (AaTh 300): Der Held tötet den Drachen und schneidet ihm die Zunge (oder andere Körperteile) heraus. Nachdem ihm die befreite Prinzessin versprochen hat, allen gegenüber Schweigen zu bewahren, zieht er auf weitere Abenteuer aus. Ein Höfling zwingt sie zum Schwur, ihn als Befreier auszugeben, und nimmt als Beweise die Drachenköpfe mit. Am Tag der Hochzeit mit dem Betrüger erscheint der Drachentöter, zeigt die fehlenden E. vor und entlarvt den falschen Befreier.
Der ganze Komplex ist auch in Die zwei ^ Brüder (AaTh 303) und Rabe als Helfer (AaTh 553) übernommen worden. Das Motiv der ausgeschnittenen —> Zunge und des überführten Betrügers kommt, ohne das Motiv von der befreiten Jungfrau, sonst noch häufig in Heldensagen vor 36 . Zurückführen läßt es sich vermutlich auf den sehr alten Jägerbrauch, von erlegten Tieren einen Teil als Trophäe mitzunehmen. Eine andere Spielart des Komplexes begegnet in Der gelernte Jäger (AaTh 304; cf. Mot. Η 80.1) 37 . Hier tötet der Held Riesen oder Räuber und schneidet ihnen als E. Körperteile ab. Das Motiv der befreiten Jungfrau klingt in diesem Typ nur bisweilen an,
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wenn der Held nach der Tötung, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Befreiung stehen muß, eine (schlafende) Prinzessin trifft und von ihr zusätzlich E. erhält oder unbeobachtet mitnimmt. Entlarvung angemaßter Taten durch E. findet sich auch sonstwo, z.B. in Dat Erdmänneken (KHM 91, AaTh 301: Die drei geraubten -* Prinzessinnen) oder in Erzählungen vom Dankbaren Toten (AaTh 505-508) 3 8 . Jedoch auch ohne das Betrugselement dienen E. als Beweismittel für außergewöhnliche Taten (Mot. Η 84.4: bes. mutiger Diebstahl) oder wichtige Handlungen (z.B. Mot. Η 84 sq.). 8. O r a k e l . Aus Orakeln abgeleitete E. gehören zumeist dem Volksglauben an; sie können jedoch den Kristallisationspunkt von Erzählüberlieferungen bilden. Das gilt weniger für Wetterregeln (cf. Mot. D 1812.0.15) als für Bräuche ζ. B. an bestimmten Tagen des Jahres wie dem Andreas-, Barbara-, Nikolaus·, Lucien- und Thomastag sowie den Klopfnächten der Adventszeit 39 . Zu den mit E. verbundenen Orakeln gehören auch die Wahrheitsprobe (v. Kap. 6), das —» Gottesurteil oder Zeichen der Heiligkeit, wenn z.B. bei der —> Enthauptung des Apostels Paulus Milch statt Blut fließt 40 . Zuständige Gattung ist neben Sage und Legende bes. die Mythe (cf. Apk.; Mot. A 1002.2, F 4935). 9. M a g i s c h e K e n n t n i s vom Schicksal G e t r e n n t e r . Durch Familienbande oder Freundschaft verbundene Menschen hinterlassen bei Trennung einander häufig ein E., oder aber ein Gegenstand wird zum E. vom Schicksal des Entfernten. Es zeigt in einer den Naturgesetzen widersprechenden Weise an, wenn er in gefährliche Lagen gerät oder den Tod erleidet (Mot. D 1310.4, Ε 761). Der —* Sympathiezauber bevorzugt aus dem Bereich des Volksglaubens geläufige Gegenstände, die Leben oder Tod bedeuten oder aber durch ihr Verhalten ein Absterben symbolisieren. —»Blut (Mot. Ε 761.1 sqq.) — und in Opposition dazu Milch — ist bevorzugtes E. Es kann sieden 41 (Mot. Ε 761.1.5), die Farbe wechseln (Mot. Ε 761.1.6), rufen (Mot. Ε 761.1.4); ungewöhnliche Gegenstände wie z.B. Hörner (Mot. Ε 761.1.2),
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Regenrinnen (Mot. Ε 761.1.11), Fußspuren (Mot. Ε 761.1.3, Ε 761.1.3.1), Ställe (Mot. Ε 761.1.9) füllen sich mit Blut oder werden blutig (Mot. Ε 761.1.7 - Ε 7 6 1 . 1 . 1 2 ) . - Pflanzen und Früchte welken (Mot. Ε 761.3, Ε 7 6 1 . 3 . 2 ) " oder verhalten sich ungewöhnlich (Mot. Ε 7 6 1 . 2 - E 761.3.4, Ε 761.7.3). - Verfall anderer Dinge deutet ebenfalls auf Lebensgefahr 43 : Wein wird zu Essig, Brunnen trocknen aus, Gegenstände zerspringen (Mot. Ε 761.5 - Ε 761.7.13). Im Zweibrüdermärchen (AaTh 303) rostet das zurückgelassene Messer, anderswo ein Ring oder Schwert (Mot. Ε 761.4.4, Ε 761.4.7). Objekte werden trübe, dunkel oder schwarz (Mot. Ε 7 6 1 . 4 - E 761.4.9) 4 4 .
Weiteres Charakteristikum ist die Bewegung von Flüssigkeiten. Schon im ägyptischen —> Brüdermärchen schäumt Anups Bier, und der Wein trübt sich, um den Tod seines Bruders zu verkünden (cf. Mot. Ε 761.6—Ε 761.6.6). Darüber hinaus können die verschiedensten Dinge auf vielfältige Weise Schicksalsbotschaften übermitteln, die zu einer Aktivierung des zurückgebliebenen Helden führen. Die Erzählung blendet dann von dem Partner in Gefahr zu dem bis dahin untätigen über. Er zieht aus, um dem Bedrängten zur Seite zu stehen (Mot. Ε 761.4, Ε 761.4.8, Ε 761.5.5.1, Ε 761.5.6, Ε 7 6 1 . 7 - Ε 761.7.14).
10. W a r n z e i c h e n . Während die im letzten Kap. behandelte Ausprägung des E.s auf ein bereits begonnenes oder vollendetes Geschehen hinweist und in Kap. 8 eine Auskunft über das zukünftige Schicksal von möglicherweise Betroffenen gesucht wird, ist hier die Vorwarnung gemeint, die entweder ein drohendes Unglück verhindern soll oder auf es hindeutet (—> Prophezeiungen, —»Prophezeiungsliteratur). So warnt im Schwank die Frau ihren Liebhaber vor der Entdeckung des Verhältnisses durch einen Ring in der Trinkschale 45 , das Rot- und Purpurwerden eines zornigen Kriegers deutet auf unmittelbar bevorstehende Aggression (Mot. F 1041.16.6.5, cf. auch Η 82.5). Relevant für größere soziale Gruppen oder sogar die gesamte Menschheit sind die Erscheinungen von —>Prodigien (z.B. Mot. D 1812.5.1.1), die Prophezeiung der —»Pest (Mot. Μ 356.2) oder die den Weltuntergang ankündigenden Vorzeichen der Johannes-Apokalypse (—»Eschatologie).
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11. Z e i c h e n z u k ü n f t i g e r Bestimmung. E. dieser Art stehen in engem Zusammenhang mit Merkmalen der Besonderheit und des Herausgehobenseins (v. Kap. 5), sind jedoch keine Bezeichnung der gegenwärtigen Position, sondern bei Neugeborenen eine Projektion auf die Stellung im späteren Leben und bei Erwachsenen auf das Schicksal nach dem Tod. Der zukünftige Held ist schon -» erwachsen bei der Geburt, der hl. Rochus hat als Zeichen seiner außerordentlichen Bestimmung ein rotes Kreuz auf der Brust 46 , Luther dagegen — aus kathol. Sicht — an der gleichen Stelle ein schwarzes Mal 47 . — Buddha ist bei seiner Geburt markiert durch die 32 Zeichen eines ,großen Mannes' (mahäpurusa) 48 . — Die neugeborene Prinzessin, die Geld in den Mund nimmt, wird einen Prinzen heiraten, bei Habichtskraut dagegen einen Bauern (Mot. Η 41.6).
Ein Stirnmal als Erlösungszeichen findet sich in John Bunyans The Pilgrim's Progress49. Dieselbe Funktion haben das Weißwerden eines schwarzen Schafes oder der grünende —» Zweig für den reuigen Sünder (AaTh 756; cf. —> Tannhäuser; AaTh 710: -> Marienkind·, AaTh 788: Wiedergeburt des verbrannten Hl.n; AaTh 756 B: —>Räuber Madej; AaTh 756C: Die zwei —» Erzsünder). Das Stabwunder ist in enger Beziehung zur Katechese zu interpretieren. „Nach der Symbolsprache der Kirche war in dem Zeichen des später erblühenden Stabes die Aufforderung zu sehen, den durch die Sünde abgestorbenen natürlichen Leib zu einem neuen Leben aus der Kraft des Geistes zu erwecken" 50 . Eine dritte Gruppe von E. zukünftiger Bestimmung, die sich noch in diesem Leben erfüllt, tritt erst während des Lebenslaufes in Erscheinung, so z.B. durch die frühen Kraftbeweise eines zukünftigen Helden im —*Starken Hans (AaTh 650A) und aufs Göttliche deutende Zeichen in den —» Kindheitslegenden sowie bei der Taufe Christi. In der vorbestimmten —»Frau (AaTh 930 A) versucht ein Prinz, der Prophezeiung einer Heirat mit einer bestimmten Bauerstochter zu entgehen. Er versucht einen Mord an ihr, heiratet sie später unerkannt und muß an den Verletzungsmalen oder an einer in ihren Kopf gesteckten Nadel erkennen, daß sie die ihm zugesagte Frau ist.
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Erkennungszeichen
12. V e r s t ä n d i g u n g d u r c h Z e i c h e n b e i r ä u m l i c h e r G e t r e n n t h e i t . Eine wesentliche Funktion ist die Übermittlung von Nachrichten, welche heute durch Funk und Telefon weitergegeben werden. Seit der Antike bekannt ist das Aufziehen einer auf weite Entfernung sichtbaren Flagge 51 als Zeichen guter oder schlechter Neuigkeit (Mot. Ζ 140.1). Meist kommt es zur Vertauschung der verabredeten Zeichen, oder aber ihre Anbringung wird vergessen, was zu tragischen Folgen führt. Wind ändert die Richtung der Fahne, welche Begnadigung signalisieren soll: Der Gefangene wird hingerichtet (Mot. Ν 394.1). Da der Sohn vergißt, das weiße Segel zu hissen, glaubt der Vater, er sei tot, und begeht Selbstmord (Mot. Ν 344). Bewußt wird das lebensanzeigende weiße Segel doch auf den Ratschlag des sterbenden Ceatach aufgezogen, weil dessen Frau sonst durch magisches Blasen das Schiff vernichtet hätte 52 . In Var.n von AaTh 451: —> Mädchen sucht seine Brüder wollen die Brüder von zu Hause fortgehen, falls das letzte Kind kein Mädchen ist. Eine Schwester wird geboren, jedoch vertauscht die Hebamme die verabredeten Zeichen, und daraufhin verlassen die Brüder die Heimat.
Wie Geburt kann auch Tod angezeigt werden oder der bereits Tote eine Botschaft übermitteln. In —»Schneewittchen (AaTh 709) sollen Herz und Leber den Tod des Mädchens beweisen; der tote Mann sendet seiner Frau einen Ring (Mot. Ε 321.1); die mit schwarzem Flor verhängte Stadt in KHM 60 (AaTh 303) zeigt an, daß die Königstochter einem Drachen geopfert werden soll. — In Volkslied und Sage bedeuten selbstwachsende Blumen auf den Gräbern Liebender (—> Grabpflanzen) ihre Vereinigung im Tod und die Fortdauer der Liebe, bes. dann, wenn sich die Pflanzen ineinander verschlingen 53 . Die —> Lilie auf dem Grab eines Selbstmörders deutet göttliche Verzeihung an oder seinen Wunsch, zusammen mit der Geliebten begraben zu werden 54 .
Als Zeichen nicht bemerkter Anwesenheit, etwa bei einem Rendezvous, wird dem eingeschlafenen Liebhaber ein Ring oder ähnliches hinterlassen 55 (cf. auch Mot. Η 84.2). Die Beweiskraft von E. wird nie hinterfragt, deshalb öffnet ein entwendetes oder erlauschtes Zeichen Betrügern Tür und Tor (Mot. Κ 1839.2, Κ 1839.8), bes. wo es um das Einschieichen eines falschen Liebhabers geht
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(Mot. Κ 1311), für den oft schon die Kleidung des anderen Ausweis sein kann 56 . Neben der Verwendung von E. in den oben beschriebenen Gruppierungen finden sich auch viele singulare Beispiele, in denen E. eine Nachricht bedeuten, wie ζ. B. der Judaskuß (cf. Mot. Η 78.1, Η 8 2 - 8 5 , Τ 61.4.4). 13. M a r k i e r u n g e i n e s O r t e s . Menschen bezeichnen eine bestimmte Stelle (oder Person: v. Kap. 6), die wiedergefunden werden muß, etwa bei der Aufbewahrung von Gütern und Schätzen 57 , oder z.B. die Türen jener Familien der Kinder Israel in Ägypten, deren Erstgeborene getötet werden sollen. Übersinnliche Kräfte agieren im Falle des —> Gespannwunders oder erinnern durch untilgbare Blutspuren an einen Mord 58 . Parodiert wird diese Funktion des E.s in Witz und Schwank durch unsinnige Kennzeichnungen. Um einen ins Wasser gefallenen Gegenstand später wiederzufinden, markieren Schildbürgertypen die Stelle an der Wand ihres Bootes oder merken sich die Lage an einer darüberstehenden Wolke (Mot. J 1922—J 1922.3; AaTh 1278: Die merkwürdige —> Markierung). 14. G e b u r t s m a l . Derartige Kennzeichnungen dienen sehr häufig der Identifikation einer Person und sind oft gleichermaßen Zeichen edler Herkunft (v. Kap. 2—5). Volksglaubensvorstellungen der Gegenwart und Vergangenheit liegen Erzählungen von jenen Körperanomalien zugrunde, die auf pränatale Vorgänge zurückverweisen. Gelüste der werdenden Mutter nach bestimmten Nahrungsmitteln haben eine Kennzeichnung des Neugeborenen etwa durch Stachelbeeren in Form eines Muttermals und ähnliches zur Folge 59 . Gleichermaßen wirken sich Erlebnisse während der Schwangerschaft aus. Erschrickt die Mutter z.B. durch ein Tier, so trägt das Kind ein entsprechendes Mal 60 oder wird sogar mit offenem Gehirn geboren, wenn die Schwangere Zeugin eines Mordfalles mit zertrümmertem Kopf war 61 (cf. Mot. Τ 553.1, Τ 563—Τ 563.3). — Schwanke verwenden die Existenz derartiger Vorstellungen, um sie zu parodieren: Das durch Ehebruch gezeugte Kind deckt diesen oft erst auf und verweist auf den richtigen Erzeuger. Der Sohn dreier
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Erkennungszeichen
Väter wird mit drei Streifen geboren (Mot. Ε 563.1), das Kind eines Pfarrers mit Holzbein kommt mit einer Miniaturausgabe des künstlichen Gliedes zur Welt etc. 62 . I Lüthi, Ästhetik, 167. - 2 Lüthi, Europ. Volksmärchen, 95. — 3 wie not. 1, 165. — 4 Sutermeister, O.: Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz. Aarau 2 1873, num. 8; Wisser, W.: Plattdt. Volksmärchen. MdW 1919, 156, 171; Stroebe, K.: Nord. Volksmärchen. 1: Dänemark. MdW 1919, num. 10; Zaunert, P.: Märchen aus dem Donaulande. MdW 1926, 10, 80; Bundi, G.: Märchen aus dem Bündnerland. Basel 1935, 75, 86; Ziegler, M.: Die Frau im Märchen. Lpz. 1937, 23 sq. (zahlreiche Belege); Eberhard, W.: Folktales of China. Chic./ L. 1965, num. 67. - 5 Lüthi, Europ. Volksmärchen, 19. - 6 ibid., 127. - 7 BP 2, 348; DVldr, num. 11 — 13. - 8 Eberhard/Boratav, num. 215, III, 4. — 9 Hahn, num. 68; Littmann, E.: Arab. Märchen. Lpz. s.a., 2 6 - 4 2 , 9 1 - 1 0 9 ; Eberhard/Boratav, num. 95, IV; 98, III; 208, III; Spies, Ο.: Arab.islam. Erzählstoffe. In: E M 1, 6 8 5 - 7 1 8 , hier 690sq. — 10 Rank, O.: Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. Lpz./Wien 2 1926, 319. II The History of [. . .] Joseph Andrews 3,4,1. L. 1742. - 12 Ranke, K.: Braut, Bräutigam. In: E M 2, 7 0 0 - 7 2 6 , hier 723. - 13 Heiligendorff, W.: Erkennung der Heldin. In: H D Μ 1, 577 sq. - 14 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 112sq. — 15 Krickeberg, W.: Indianermärchen aus Nordamerika. MdW 1924, num. 2 3 a ; Heissig, W.: Mongol. Märchen. MdW 1963, num. 23. - 16 Eberhard (wie not. 4) num. 67. - 17 Eberhard/Boratav, num. 61, II; 192, III. - 18 Curtin, J.: Myths and Folk-lore of Ireland. L. 1890, 7 8 - 9 2 . - 19 Röhrich, L.: Der Froschkönig und seine Wandlungen. In: Fabula 20 (1979) 1 7 0 - 1 9 2 , hier 183 sq. - 2 0 Eberhard/Boratav, num. 157, III, 9; 189, III, 7. 21 Jegerlehner, ].: A m Herdfeuer der Sennen. Bern s.a., 159; Stroebe, K.: Nord. Volksmärchen. 2: Norwegen. MdW 1922, num. 31. - 22 Prato, S.: Sonne, Mond und Sterne als Schönheitssymbole in Volksmärchen und -Liedern. Ein kritischer Beitrag zur vergleichenden Völkerpsychologie. In: ZfVk. 5 (1895) 3 6 3 - 3 8 3 ; 6 (1896) 2 4 - 5 2 . - 2 3 Gardner, F./Newell, W. W.: Filipino (Tagalog) Versions of Cinderella. In: J A F L 19 (1906) 2 6 5 - 2 8 0 ; Lorimer, D. L. R. und E. O.: Persian Tales [. . .]. L. 1919, 79. - 2 4 Degh, L.: Folktales of Hungary. Chic./L. 1 9 6 5 , 4 5 . - 25 E M 3, 1112sq. - 26 Bolte, J.: Das Ringlein sprang entzwei. In: ZfVk. 20 (1910) 6 6 - 7 1 . - 27 Eberhard/Boratav, n u m . 2 6 7 . - 28 DVldr, n u m . 3 8 ; Wehse, R.: Flugblatt und Schwanklied in Großbritannien. Ffm./Bern/Las Vegas 1979, num. 3 08. - 29 Eberhard, W.: Erzählungsgut aus Südostasien. Β. 1966, num. 83. 30 Eberhard/Boratav, num. 157, III, 6; BoskovicStulli, M.: Kroat. Volksmärchen. MdW 1975,
208-211. 7
-
Enzyklopädie des Märchens IV
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31
Clements, W. M.: The Chain on the Tombstone (1969). In: Indiana Folklore, ed. L. Degh. Bloom. 1980, 2 5 8 - 2 6 4 . - 32 Goebel, F. M.: Betrüger überführt. In: H D M 1, 2 4 0 - 2 4 8 , hier 247sq. (zahlreiche Belege). — 3 3 The Scarlet Letter. Boston 1850. - 3 4 T u b a c h , n u m . 3 0 3 2 , 3167. 35 Goebel (wie not. 32) 240. - 36 ibid., 242. 37 Wentzel, L.-C.: Kurd. Märchen. MdW 1978, num. 4sq. - 3 8 Weitere Belege v. Goebel (wie not. 32) 245 sq. - 39 cf. H D A, s. v. der genannten Tage und Nächte sowie Ekstase, Gottesurteil, Omen, Opferschau, Orakel, Schicksalszeichen, Sortilegium, Zirkelwahrsagung. — 4 0 von Lemm, O.: Kopt. apokryphe Apostelakten 2 (Melanges asiatiques 10). St. Petersburg 1890, 368sq., 381. 41 H D M 2, 272. - 4 2 Rooth, Α. B.: The Cinderella Cycle. Lund 1951, 140sq.; Wentzel (wie not. 37) num. 5. - 4 3 Bolte (wie not. 26) 69sq. - 4 4 H D M 2, 272. - 45 Straparola 4,4. - « Toldo 1901, 328. - 4 7 Brückner, 2 8 3. - 4 8 Grünwedel, Α.: Buddhist. Kunst in Indien. B. 2 1920, 138 (Liste der Zeichen). — 4 9 Bunyan, J.: The Pilgrim's Progress (1678). ed. J. B. Wharey. Ox. 2 1960, 38, 41, 49. - 5 0 Moser, D.-R.: Die Tannhäuser-Legende. B./N. Y. 1977, 30. 51 Mackensen, L.: Fahne (oder Tuch) als E. In: H D M 2, 3sq.; Gottscheer Volkslieder 1. ed. R. W. Brednich/W. Suppan. Mainz 1969, num. 74. 52 O'Sullivan, S.: Folktales of Ireland. Chic./L. 1966, n u m . 2 3 . - 5 3 Erk/Böhme, num. 109b; Blümml, Ε. Κ.: Zur Motivengeschichte des dt. Volksliedes. In: Studien zur vergleichenden Lit.geschichte 6 (1906) 4 0 9 - 4 2 7 ) ; 7 (1907) 1 6 1 - 1 9 1 ; Long, E. R.: „Young Man, I Think You're Dyin'": The Twining Branches Theme in the Tristan Legend and in English Tradition. In: Fabula 21 (1980) 1 8 3 - 1 9 9 . - 5 4 DVldr 2, n u m . 4 8 . 55 Child, n u m . 4 ; Littmann (wie not. 9) 9 1 - 1 0 9 , hier 103. — 5 6 Geissler, F. (ed.): Die Beispiele der alten Weisen des Johann von Capua. B. 1960, 1 4 0 - 1 4 2 ; Wehse (wie not. 28) n u m . 3 5 5 . 57 Geissler (wie not. 56) 1 0 - 1 3 . - 58 Parodiert von Wilde, O.: The Canterville Ghost. L. 1887. 59 Fielding (wie not. 11) 3,4,1; Verdier, Y.: Fafons de dire, fagons de faire. P. 1979, 8 6 - 1 0 1 . 60 H D A , s.v. Empfängnis, Geburt, Schwangerschaft, Wöchnerin, Zeugung; Hoffmann Τ 576.1 sq.; Pentikäinen, J.: Oral History and World View (FFC 219). Hels. 1978,178; Bell, C. O.: „For a Bald-Headed Baby. . .". Food Customs Surrounding Pregnancy. In: Center for Southern Folklore [Magazine] 3,2 (1980) 9. 61 Hall, G.: The Big Tunnel. In: Degh (wie not. 31) 62 225-257, hier 227sq. Hoffmann X 721.3.1 sq.; Wehse (wie not. 28) 191, 299, 376, 513, 516; Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N. Υ. 1981, 102sq.
Göttingen
Rainer Wehse
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Erlebnisbericht — Erlösung
Erlebnisbericht —» Memorat Erlösung 1. Religionswiss. Grundlegung und Entwicklung des E.sbegriffes, E.sreligionen - 2. Der christl. E.sbegriff - 3. E. in Volkserzählungen - 4. E.smärchen - 5. E. als Entzauberung — 6. E. als Befreiung - 7. E.sarten und -mittel — 8. Gewaltsame Formen der E. — Ablegbarkeit der Tiergestalt 9. E. und Erotik - 10. Qualnächte und Schlangenkuß als Voraussetzung der E. - 11. Gelungene und mißlungene E. - 12. E. in der Sage — 13. Die Figur des Erlösers — 14. Der Erlöser in der Wiege - 15. Kunstmärchen und literar. Bearb.en — 16. Psychol. Interpretationen - 17. Kulturhist. Zuordnung. Zusammenfassung und Schlußfolgerungen
1. Religionswiss. G r u n d l e g u n g und E n t w i c k l u n g des E . s b e g r i f f e s , E . s r e l i g i o n e n . Jede Religion verheißt E., wenn dieser Begriff in einem weiteren Sinne verstanden wird als Rettung, Heil, Hilfe, Überwindung aller irdischen Spannungen, Befreiung von allem, was die menschliche Existenz gefährdet, hemmt und beschwert, als Befreiung namentlich von der Sünde und vom Tod 1 . Insbesondere die Hochreligionen bezeichnet man deshalb als ,E.sreligionen'. Das Vorhandensein und die Erkenntnis des Bösen schafft die Grundmotivation für das Verlangen nach E. von dem Grundübel einer unheilvollen Gesamtsituation und ist das gemeinsame Anliegen ind.-buddhist. und christl. Heilslehre2. In den E.sreligionen geht es — bei aller Verschiedenheit — darum, den Menschen aus seiner körperlichen Gebundenheit zu befreien und ihn in eine jenseitige, heile Wirklichkeit eingehen zu lassen. So ist E. immer mit Jenseitserwartungen verbunden, mit der Hoffnung auf eine Existenz in Gottesnähe und auf ein Eingehen in ewigen Frieden ohne Sünde, Leid und Tod 3 . Die prophetischen E.sreligionen erwarten einen eschatologischen Erlöser, Heiland, Heilbringer, Helfer, Retter, Messias, und dieser Erlöser kann Gott gleich sein (—> Eschatologie). In einem entfernteren Sinne sind aber auch etwa die Heilbringerfiguren der amerik. Indianer und anderer schriftloser Kulturen Erlöser (—» Kulturheros). 2. D e r christl. E . s b e g r i f f . Den Begriff des Erlösers kennt schon das Α. Τ. (ζ. Β. 1. Gen. 48,16; Jes. 44,23; Hi. 19,25; Ps. 19,15;
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„Ich weiß, daß mein Erlöser lebet"). Ebenso sind ,erlösen', ,E.' und ,Erlöser' als Übersetzung von lat. liberare, redimere, redemptio und redemptor häufig wiederkehrende Worte des N.T.s (ζ. B. Mt. 6,13; Mt. 20,28; Eph. 4,30; Rom. 7,24; 2. Kor. 1,10; „erlöse uns von dem Übel" [Bösen, Tod]). Nach den Vorstellungen des Christentums bedarf der Mensch eines Erlösers. In dieser Funktion stellt sich Christus schützend vor den sündigen Menschen. Seine göttlich-sündlose Natur befähigt ihn dazu, für die schuldbeladene Welt den Tod zu erleiden und den Menschen wieder mit Gott zu versöhnen 4 . Christus erlöst die Menschheit vom Fluch der Sünde, dem Tod; für den Christen ist er der Erlöser jedes einzelnen Menschen und der Erlöser der Welt. Seine Auferstehung bedeutet die E. jedes Menschen vom Tod. E.ssymbol ist darum das —» Kreuz.
3. E. in V o l k s e r z ä h l u n g e n . Der Begriff E. kann in Volkserzählungen sehr verschieden verwendet werden. E. bedeutet einerseits „Befreiung aus einer bösen Verzauberung, Lösung einer zauberischen Verwandlung, Aufhebung einer Verwünschung" 5 . Die angelsächs. Lit. spricht in diesem Sinne durchgängig von Disenchantment (Mot. D 700—799). Andererseits ist E. jede Befreiung aus Bedrängnis und Not, von Zwängen, von Gefangenschaft, von Leiden, Verwundung und Tod. E. meint die Aufhebung des Todes, Befreiung vom Körperlichen. Es hängt mit dem grundsätzlichen —» Dualismus jeder Folklore zusammen, daß allem Negativen, Dunklen, Bösen, Bedrückenden, Niederen, Kranken E. als Aufhebung und Befreiung gegenübergestellt wird. E. ist stets auch mit dem Sieg des Guten über das Böse verbunden (—* Gut und böse), und E. wird dabei oft verstanden als eine Art —» Wiedergeburt, d. h. als Anfang eines neuen, völlig verwandelten diesseitigen oder jenseitigen Lebens. Hierbei ergeben sich nun interessante Aspekte der verschiedenen Erzählgattungen hinsichtlich der Gründe, Ziele und Modalitäten der E., ihres Erfolgs oder Mißerfolgs. Innerhalb der verschiedenen Erzähl-Genres ist jeweils zu fragen: Wer erlöst wen, warum und wie? Wovon und wozu wird erlöst?
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Erlösung
4. E . s m ä r c h e n . Im Prinzip sind fast alle Märchen E.smärchen: Immer geht es irgendwie um Rettung oder Befreiung 6 . E. gehört jedenfalls zum Bauprinzip vieler Märchen, die den Strukturschemata ,Mangel/Behebung', ,Unordnung/Ordnung', ,Unglück/Rettung' folgen. Strukturell ist E. die Aufhebung eines vorangegangenen Negativzustandes, und alles Tragische wird im Märchen nur dargestellt, um später überwunden zu werden 7 . In diesem Sinne könnte man E. als eine Spannungsformel des Märchens verstehen. Die Struktur folgt dabei immer der biogr. Chronologie: Zuerst wird die Verzauberung geschildert, der Zustand im Unglück; dann berichtet der fortschreitende Verlauf der Erzählung von der langsam zu erkämpfenden und schließlich bewirkten E A Der Vorgang der E. hat dabei das beherrschende Achtergewicht. Das Märchen interessiert sich nämlich für die E. weit mehr als für die Verwünschung 9 . Aus dem Korpus der Grimm-Slg könnte man u. a. die folgenden Nummern zur Kategorie der ,E.smärchen' im engeren Sinn rechnen: KHM 1: Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich. - 6: Der treue Johannes. — 9: Die zwölf Bruder. - 11: Brüderchen und Schwesterchen. - 13: Die drei Männlein im Walde. — 25: Die sieben Raben. — 49: Die sechs Schwäne. — 50: Dornröschen. — 57: Der goldene Vogel. — 60: Die zwei Brüder. — 62: Die Bienenkönigin. — 63: Die drei Federn. — 88: Das singende springende Löweneckerchen. — 90: Der junge Riese. — 91: Dat Erdmänneken. — 92: Der König vom goldenen Berg. — 93: Die Rabe. — 96: De drei Vügelkens. - 97: Das Wasser des Lebens. — 106: Der arme Müllerbursch und das Kätzchen. - 108: Hans mein Igel. - 121: Der Königssohn, der sich vor nichts fürchtet. — 126: Ferenand getrü und Ferenand ungetrü. — 127: Der Eisenofen. — 130: Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein. — 133: Die zertanzten Schuhe. — 137: De drei schwatten Prinzessinnen. — 141: Das Lämmchen und Fischchen. — 144: Das Eselein. — 161: Schneeweißchen und Rosenrot. — 166: Der starke Hans. — 169: Das Waldhaus. — 197: Die Kristallkugel.
Rechnet man alle Grimm-Märchen, in denen nicht nur expressis verbis von E. die Rede ist, sondern in denen es de facto um E. geht, zusammen, kommt man auf etwa ein Drittel der Slg. In anderen Slgen ist der Anteil der E.smärchen ζ. T. noch größer. So hat man etwa für die ostpreuß. Slg von H. Grudde 10 ei7·
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nen Anteil der E.smärchen von zwei Dritteln errechnet 11 . Die E.sformel ist so dominierend geworden, daß sie sogar in einer Reihe von Märchen erscheint, die sie primär nicht enthält 12 . 5. E. als E n t z a u b e r u n g . Im engeren Sinne meint E. im Märchen Entzauberung, Zurückverwandlung, Wiederherstellung der ,wahren' menschlichen Gestalt, Rückkehr zum Leben, zu Schönheit und sexueller Partnerschaft. In diesen Fällen ist E. strukturell der Gegenpol zu —» Verwandlung und —> Verwünschung. Verwandlung und E. bedingen sich dabei gegenseitig als Spannungszustand im Zaubermärchen. Insbesondere bildet in den zahlreichen —» Tierbräutigam- und —> Tierbrautmärchen die E. des in ein Tier Verwandelten den Schluß und Höhepunkt der Erzählung (AaTh 400—449: Supernatural or Enchanted Husband [Wife]; —* Tierehe, —> Tierverwandlung), ebenso in den Erzählungen, in denen Geschwister einander von Verwünschung erlösen (AaTh 450—459: Brother or Sister). In diesen Fällen ist es meist die Schwester, die den Bruder zu erlösen hat (z.B. KHM 11, AaTh 450: -> Brüderchen und Schwesterchen-, KHM 9, 25, 49, AaTh 451: —» Mädchen sucht seine Brüder, KHM 47, AaTh 720: -> Totenvogel). Aus einer Verzauberung erlöst werden gelegentlich auch noch andere Figuren des Märchens, vor allem die —» Helfer des Helden. Oft wird ζ. B. das Tier, das dem Helden hilfreich beigestanden hat, von seiner Tierexistenz erlöst, in eine menschliche Gestalt zurückverwandelt und in das Happy-End einbezogen (ζ. B. KHM 57, AaTh 550: Vogel, Pferd und Königstochter; KHM 126, AaTh 531: —* Ferdinand der treue und Ferdinand der ungetreue; KHM 197, AaTh 302: —» Herz des Unholds im Ei)13. 6. E. als B e f r e i u n g . In einem weiteren Sinne ist jede Erzählung ein E.smärchen, deren Inhalt den Helden aus einem unfreien Zustand zum Glück führt 14 ; d. h., E. ist nicht nur Entzauberung, sondern meint jede Befreiung und Errettung aus der Gewalt feindlicher Mächte oder widriger Umstände, ζ. B. aus der Gewalt eines Drachen (KHM 60 15 , AaTh 300: -» Drachentöter; KHM 91, AaTh 301A:
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Quest for a Vanished Princess), Riesen, Dämons (KHM 55, AaTh 500: Name des Unholds), einer Wassernixe (KHM 79, AaTh 313 A: The Girl as Helper), Hexe (KHM 15, AaTh 327 A: —> Hansel und Gretel), eines Hexenmeisters (KHM 46, AaTh 311: Mädchenmörder), Blaubarts (AaTh 312: —> Mädchenmörder) oder des —> Räuberbräutigams (KHM 40, AaTh 955). Das gleiche meint die E. eines dem Teufel oder einem anderen Dämon überantworteten Kindes, E. aus der Teufelsverschreibung (KHM 101, AaTh 361: —> Bärenhäuter, cf. —> Teufelspakt). E. bedeutet im Märchen im weitesten Sinne jede Befreiung aus einem Zustand der Qual und des äußeren Zwanges 16 , auch die E. von einem —» Fluch, aus —» Krankheit, Verbannung (—> Genovefa), —> Gefangenschaft, ζ. B. des Geistes aus dem Glase (KHM 99, AaTh 331: —» Geist im Glas), aber auch E. aus einem —> Zauberschlaf (KHM 50, AaTh 410: —> Schlafende Schönheit', KHM 62, AaTh 554: -> Dankbare [hilfreiche] Tiere oder KHM 53, AaTh 709: -> Schneewittchen) oder aus —» Versteinerung (KHM 6, AaTh 516: Der treue —» Johannes). E. kann auch nur einfach als Befreiung von der Tortur durch übelwollende Geschwister oder (Stief-) Mütter, Befreiung von Hunger und Durst etc. verstanden werden (ζ. B. KHM 130, AaTh 511: —> Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein). Diese erweiterte Vorstellung von E. entspricht bereits in ma. Quellen dem Sprachgebrauch des Märchens. In einem der ersten vollständig erhaltenen dt.sprachigen Märchen, den Drei Wünschen (AaTh 750A) des —» Stricker (1. Hälfte 13. Jh.), wird der Begriff E. im Sinne einer Befreiung vom Übel des falsch angewandten Wunsches gebraucht (V. 169—171)17: „daz wolde got, unser tröst,/ daz si sanfte würde erlöst,/ daz si gesunt waere als e". In diesem allg. und weiten Sinn — E. = Befreiung — verwendet auch schon die spätma. Ballade den Begriff, insbesondere in dem Typ ,E. vom Galgen' 18 : Die Schwester fragt, ob sie den Bruder vom Galgen erlösen könne. Nur wenn sie dreimal (neunmal) nackt ums Hochgericht laufe, antworten die Richter. Das Mädchen erfüllt diese Aufgabe und erlöst den Bruder. Bei der dritten Umkreisung lacht alles, bei der sechsten weint alles,
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bei der neunten hat sie den Bruder erlöst. Verdeutlicht wird hier, daß Liebe zum Bruder größer ist als weibliche Scham. Eine ähnliche E. vom Galgen findet sich auch in den Var.n vom Spielmannssohn19. 7. E . s a r t e n u n d - m i t t e l . Der Verschiedenheit der E.svorstellungen entspricht die Mannigfaltigkeit der E.sarten und der zur E. führenden Mittel. Generell wird E. entweder durch Leistungen oder durch Leiden bewirkt 20 . Es gibt einerseits männlich-heroische E.staten, aktive Leistungen bei der Bekämpfung von Ungeheuern, bei der Vernichtung und Tötung von Drachen und Riesen und bei der Befreiung von E.sbedürftigen aus der Gewalt feindlicher Dämonen. Hier werden vom Erlöser Furchtlosigkeit, Mut, Einsatzbereitschaft und Entschlossenheit gefordert. Mitleid, Hilfsbereitschaft, unsagbare Treue und opfervolle Liebe, Entsagungskraft und Hingabe, Unbeugsamkeit in allem Leid, geduldiges und klagloses Ausharren bei Schmähungen und Verleumdungen, Erdulden von Martern etc. sind die Eigenschaften, die vorzugsweise von Frauen als Erlöserinnen gefordert werden. Die Dulderin vereint Kräfte in sich, die sie anderen zur Helferin, Retterin und Erlöserin werden läßt 21 . Die Einhaltung eines vieljährigen —> Schweigegebots ist das geforderte E.swerk, das bis zur völligen Selbstaufopferung führt, bes. in jenen Märchen, in denen die Schwester auszieht, um ihre Brüder zu erlösen (AaTh 451). Andere E.sleistungen bestehen in einer jahrelangen Suchwanderung, die bis ans Ende der Welt oder in die Unterwelt führen kann (KHM 88, AaTh 425: —» Amor und Psyche). Im Märchen Der treue Johannes (KHM 6, AaTh 516; cf. —» Amicus und Amelius) wird die Aufopferung der eigenen Kinder gefordert, um die E. des zu Stein verwandelten Freundes zu bewirken. In jedem Fall fordert E. übermenschliche Anstrengungen und bringt die Helden und Heldinnen an den Rand ihrer körperlichen und psychischen Belastbarkeit. Nach dem Prinzip, daß —» Zauber nur mit Gegenzauber bekämpft werden kann (—» Similia similibus), gibt es auch die E. mit Hilfe magischer Gegenstände, ζ. B. durch Bestreichen mit Salbe, durch Schlagen mit Birkenzweigen, durch ein Bad in der Hochzeitsnacht
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oder in einer zauberkräftigen Quelle, durch Bestreichen des Verwandelten mit Blut oder Tränen, durch die Mithilfe zauberkräftiger Tiere. Ebenso wie magische Praktiken (—> Magie) hat schließlich auch das gesungene oder gesprochene Wort E. bewirkende Funktionen (—» Zauberspruch). E.sversuche durch Wortmagie finden sich häufig ζ. B. in der Slg von Grudde 22 . Die genaue Einhaltung und Beobachtung der E.sbedingungen ist in jedem Fall unerläßlich. Diese sind ζ. T. recht merkwürdig und erscheinen auf den ersten Blick geradezu skurril. 8. G e w a l t s a m e F o r m e n d e r E. — Abl e g b a r k e i t d e r T i e r g e s t a l t . Es gibt Fälle gewaltsamer E.spraktiken, in denen der Verwandelte erst getötet werden muß, ζ. B. durch Erschießen, Kopfabhauen und andere Vernichtungsprozeduren (v. KHM 1, 57, 97, 135), um seine ursprüngliche Gestalt wieder zu erlangen 23 . In den von Grudde aufgezeichneten Märchen werden die Verzauberten durchstochen oder durchschossen und dadurch ,erlöst' (Mot. D 710-719) 2 4 . In anderen Fällen erfolgt die E. durch Entfernen oder Zerstören der Verwandlungshülle (Mot. D 720-723). In KHM 108 (AaTh 441: Hans mein Igel) bewirkt das Verbrennen der —» Tierhaut in der Hochzeitsnacht die E.; ähnlich in KHM 144 (AaTh 430: Asinarius). Dasselbe Motiv der gewaltsamen Vernichtung des Zauberkleides liegt vor, wenn der Tierbraut der Schwanz oder die vier Pfoten und der Kopf abgehauen werden müssen. Die —> Enthauptung eines Tieres wird zur E.stat, weil eine solche Enthauptung nicht als Zerstörung, sondern im wörtlichen Sinne als Entwandlung eines Tieres zum Menschen aufgefaßt wird. In diesen Fällen bedeutet Tod nicht Vernichtung, sondern Verwandlung und Wiedergeburt 25 . Die Rückverwandlung des Verzauberten durch Enthaupten, Verbrennen u. a. erinnert an Praktiken gegenüber den wiederkehrenden Toten, Vampiren und Nachzehrern. Doch sind in den entsprechenden Sagen diese Praktiken reine Vernichtungs-, keine E.smittel 26 . Die für die Sage gültige Formel ,E. durch nochmaliges Töten' paßt jedoch für das Märchen nicht. Diese E.sarten gehören kulturhist. noch zu einer älteren Form der Tierverwandlung, die von einer
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An- und Ablegbarkeit der Tiergestalt ausgeht. Hier handelt es sich um eine sehr ursprüngliche Vorstellung, nach der das Tier im wörtlichen Sinne einen menschlichen Kern hat, und wenn es seine Tierhaut ablegt, ist es auch ein Mensch. Die Rückverwandlung durch Fell-Ablegen spielt auch im lebendigen Glauben mancher Völker zuweilen noch eine Rolle. Eine Eskimofrau - so wird ζ. B. berichtet - läßt sich, obwohl ihr Mann solches verboten hat, mit einer alten Frau ein, die sich beim Weggehen in einen Fuchs verwandelt. In der Nacht wacht die junge Frau von fürchterlichen Kopfschmerzen gequält auf. Sie greift sich an den Kopf und fühlt, wie ein Geweih zu sprossen beginnt. Sie verläßt die Hütte und hat schon das Haupt eines Rentieres. Ihr Mann folgt ihr, findet sie in einer Herde und erlöst sie, indem er ihr das Fell abzieht, wie man ihm rät. Er muß sie auf den Rücken werfen und sehr achtgeben, damit er sie bei dieser Prozedur des Fellabziehens nicht umbringt 27 .
Erst von den späteren Entwicklungsformen des Märchens her gesehen, in denen die E. durch menschliche Gemeinschaft, erlösende Liebe in körperlicher und seelischer Beziehung bewirkt wird, erscheinen diese rein materiellen Entzauberungen überraschend: Der Held schreckt oft selbst vor diesem Schritt zurück; er kann es nicht übers Herz bringen, wenn das geliebte Tier ihn bittet, ihm den Kopf abzuschlagen. „Schieß mich tot und hau mir Kopf und Pfoten ab!" sagt der hilfreiche Fuchs in dem Märchen vom goldenen Vogel (KHM 57, AaTh 550). Der Held scheut sich davor (weil er selbst nicht mehr um das ursprüngliche Wesen der Verwandlung weiß) und sagt: „Das wäre eine schöne Dankbarkeit, das kann ich dir unmöglich gewähren". E. ist in solchen Fällen kein spiritueller, sondern ein sehr konkret-materiell gedachter Vorgang. E. ist im Märchen etwas nur den Körper Betreffendes; sie ist ursprünglich einfach Entwandlung, Ausziehen, Abstreifen der tierischen Hülle, die dann versteckt oder verbrannt werden muß. Damit ist die Verwandlung beendet (ζ. B. KHM 108, 144). Nur weil die Verwandlung äußerlich aufgefaßt wird, kann die Ε. ζ. B. durch Enthaupten, Durchstechen oder Erschlagen, in neueren Anpassungen auch durch Erschießen vor sich gehen. Dies ist die gewaltsamste Art der Entzauberung.
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So schlägt der König in KHM 135 (AaTh 403 A: Die schwarze und die weiße —> Braut) der zur Ente gewordenen richtigen Braut den Kopf in dem Augenblick ab, als sie durch die Gosse in die Küche hereinschwimmen will. In gleicher Weise vollzieht sich die Rückverwandlung der nächtlich in Tier-, meist Entengestalt zurückkommenden Königin auch in manchen Var.n des Märchens von Brüderchen und Schwesterchen (KHM 11, AaTh 450). Auch der Tierbräutigam wird gelegentlich durch Enthaupten entzaubert: So muß ζ. B. der Löwe als Tierbräutigam im ungarndt. Märchen durch Enthaupten mit einem Säbel erlöst werden, wobei nur dreimal zugeschlagen werden darf 28 . Der Held schlägt dem Verzauberten auf dessen Wunsch den Kopf oder die Pfoten ab oder ersticht ihn oder schlägt ihn mit einer Rute blutig 29 .
Auch das weltweit verbreitete Märchen von der —> Schwanjungfrau (AaTh 400*) zeigt noch die alte Vorstellung der willkürlichen Ablegbarkeit des Tiergewandes, d. h. noch keine eigentliche Verwandlung im Sinne der späteren Märchenentwicklung: Der Held beraubt eine badende Schwanenjungfrau ihres abgelegten Tiergewandes. Sie ist nun gezwungen, in menschlicher Gestalt zu bleiben, und heiratet den Helden 30 . Etwas von dem ursprünglichen Verwandlungsgedanken hat sich offenbar auch im Grimmschen Märchen von den sechs Schwänen erhalten, in dem die Hexenkönigin ihren Stiefkindern Hemden überwirft, worauf die Knaben als Schwäne davonfliegen. Ihre Schwanenhaut können sie nur eine Viertelstunde lang jeden Abend ablegen und haben dann menschliche Gestalt. Gebrochen wird der Zauber durch (Menschen-)Hemden, die die Schwester der Verwandelten ihren Brüdern überwirft (KHM 49, AaTh 451). Hier trifft noch deutlich die alte Vorstellung von der Verwandlungsgestalt als einer Hülle hervor. Die ,Entwandlung' ist dabei ein genaues Widerspiel der Verwandlung. Das Märchen kennt dieselbe Vorstellung ebenso bei nichttierischen Verwandlungsformen. Der Eisenofen ist nur die Verwandlungshülle des Königssohnes, nicht dieser selbst. Um den Königssohn daraus zu erlösen, muß ein Loch in den Ofen „geschrappt" werden, bis der Verwunschene heraus kann (KHM 127, AaTh 425 A: The Monster [Animal] as Bridegroom)31. 9. Ε. u n d E r o t i k . Von Heinrich Heine stammt das Wort: „Keine Verwünschung wi-
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dersteht der Liebe. Liebe ist ja selber der stärkste Zauber, jede andere Verzauberung muß ihr weichen" 32 . Dieser Satz hat seine Gültigkeit auch für die Volksdichtung. Der Gedanke der erlösenden Liebe, der sich in den Religionen als Liebe eines Erlösers oder in Form der Nächstenliebe sublimiert vollendet, erscheint im Märchen in der durchaus profan-diesseitigen Form der erlösenden Geschlechterliebe und des erotischen Begehrens, d. h. ein Mann erlöst eine Frau, oder umgekehrt: eine Frau erlöst einen Mann. In analoger Weise unternehmen in der Sage nur Männer den Versuch, Weiße Frauen, Schatzjungfrauen etc. zu erlösen. E.smittel sind in diesen Fällen erotische Handlungen, —> Kuß (Mot. D 735), Beilager (—> Koitus) und Vollzug der —> Ehe. Dornröschen ζ. B. wird durch einen Kuß vom Zauberschlaf erlöst (KHM 50). Gegenseitige Liebe führt im Rapunzelmärchen (KHM 12, AaTh 310: —» Jungfrau im Turm) die E. der beiden Liebenden herbei 33 . Vor allem aber in den Tierbraut- und Tierbräutigam-Märchen (AaTh 400—449) hat die sich selbst überwindende Liebe erlösende Macht. Vorzugsweise sind es die weiblichen Erlöser, die es mit Geduld, Entsagungskraft, Unerschrockenheit fertigbringen, durch Liebkosung, Kuß und Umarmung oder andere Liebeserweise (ζ. B. auch —» Lausen) gegenüber dem häßlichen tierischen Partner diesen zu seiner wahren menschlichen Gestalt zu erlösen. Die Bereitschaft, mit einem äußerlich abstoßenden Tier das Lager zu teilen, bricht den Zauberbann. Aus Mitleid läßt die Jungfrau den häßlichen Hund ein, der im kalten Winter um Einlaß bittet, und aus Mitleid küßt sie ihn auch 34 . Ebenfalls aus Mitleid nimmt das Mädchen die Schlange in ihr Bett: „Bist verfroren, wärm dich" 35 . Im pommerschen Märchen muß die Königin einen Frosch küssen und erlöst ihn dadurch 36 . Oft genügt schon die Aufnahme des Tieres in die menschliche Gemeinschaft oder auch das Heiratsversprechen 37 .
Erlöser und zu Erlösender sind fast durchweg unterschiedlichen Geschlechts. E. ist im Märchen vorwiegend ein partnerschaftliches Geschehen: Der Erlöser erlöst seinen Partner, und das E.sziel ist in den weitaus meisten Fällen die Heirat zwischen Erlöser und Erlöstem 38 . Schon darum werden in den Märchen
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nur junge Menschen verwünscht, die wiederum nur von jungen Menschen erlöst werden können 39 ; und aus demselben Grund sind Kinder in der Regel keine Erlöser. Obwohl die E.shandlung zuweilen sexueller Natur ist, vermeidet das Märchen gewöhnlich jede erotische Ausmalung (—» Erotik) 40 . Es gibt die E. zur Ehe und die E. d u r c h die Ehe. Ob allerdings im Einzelfall die E. erst durch die Heirat bewirkt wird oder ob sie die Voraussetzung der Eheschließung ist, wird nicht so streng geschieden: Jedenfalls gehören E. und E.sheirat zusammen und bedingen sich gegenseitig. E.sreif sein heißt im Märchen: im heiratsfähigen Alter sein. In einem schles. Märchen sagt die Prinzessin mit dem Pferdekopf, die in der Kirche alle acht Tage einen Mann fressen mußte, zu ihrem Erlöser: „Du host mich erlöst, dich wor ich ez heiertn" 41 . Und ebenso bestimmt erklärt eine erlöste Prinzessin aus Pommern ihrem Helden: „Du bist mein Erlöser, du hast mir einen Kuß gegeben, nun mußt du mich auch heiraten" 42 .
Es wäre völlig unmärchenhaft, wenn die Prinzessin mit ihrem Erlöser nicht die Ehe eingehen wollte und wenn dieser seinerseits nur zur E. und nicht zugleich zur Brautwerbung ausgezogen wäre. Die Vorstellung von der erlösenden Liebe ist wohl Lieblingsmotiv einer Spätzeit, und das Überhandnehmen der erotischen E.emotive erst eine Folge der Entwicklung des Märchens zur kunstvollen Liebesnovelle hin. Diese E.sart wird dadurch noch spannender gemacht, daß die E. im Augenblick des Kusses oder der Liebesumarmung erfolgt. So plötzlich der Zauber wirkt, so plötzlich gewinnt der Verwandelte seine menschliche Gestalt wieder. Hier steht das Märchen ganz im Gegensatz zur früheren Verwandlungsauffassung, wie sie zuweilen in Naturvölkererzählungen auftritt. Sehr altertümlich erscheint nämlich die Vorstellung, daß menschliche Gemeinschaft, worunter nicht die eheliche Gemeinschaft allein zu verstehen ist, die Menschwerdung eines Verwandelten herbeiführen könne. Nicht durch einen einmaligen Akt, sondern in allmählicher Angleichung an die umgebende menschliche Gesellschaft vollzieht sich die Menschwerdung. Dies ist sicher die Grundlage des Motivs der Liebeserlösung, die
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nur die novellenmäßige Ausgestaltung der Verwandlung durch menschliche Gesellschaft ist«. 10. Q u a l n ä c h t e u n d S c h l a n g e n k u ß als V o r a u s s e t z u n g d e r E. Eine merkwürdige Mittelstellung zwischen Sage und Märchen nimmt die E. im Erzähltyp —• Schlangenkuß (Mot. D 735.2) ein, der in vielen Var.n teils mit gutem, teils mit schlechtem Ausgang belegt ist44. Ein Held, der eine verwunschene Jungfrau erlösen will, soll diese in drei aufeinanderfolgenden Nächten küssen, wobei sie sich jedoch in eine Schlange verwandelt, die von Mal zu Mal größer, abstoßender, scheußlicher und schrecklicher wird und die Standhaftigkeit des Erlösers in der dritten Nacht auf die höchste Probe stellt. Der Erlöser muß die Schlangenjungfrau über sich wegkriechen oder sich von ihr umwinden lassen; er muß sie umarmen, mit ihr ringen, eine Nacht bei ihr bleiben etc. Nach der dritten Nacht erscheint die Jungfrau in strahlender Schönheit und ist erlöst. Die Entzauberung geht stufenweise vor sich, oder sie mißlingt 45 .
Das Motiv der drei —> Qualnächte, die der E. vorausgehen, kommt auch in manchen Märchen vor. Die E. durch standhaftes Erdulden von Marter und Qualen ist hier ausnahmsweise Sache des Mannes. So erlöst ζ. B. der Held in KHM 121 (Der Königssohn, der sich vor nichts fürchtet) eine schwarze Jungfrau, indem er die Schrecken und Marter eines dreinächtigen Spuks auszuhalten hat; ähnlich KHM 92 (AaTh 810: Fallstricke des Bösen). In den ma. Belegen für diesen Erzähltyp, den märchenhaften Artusepen —> Lancelot, Le bei Inconnu u. a., wird die Dame von ihrem Schlangendasein erlöst, die Entzauberung gelingt, und eine prächtige Hochzeit am Artushof krönt die E.stat (—> Artustradition) 46 . Die E. durch Schlangenkuß steht deutlich in der Nähe der Tierbrauterzählungen, in denen Selbstüberwindung und liebende Aktion die Schlange, Kröte, den Frosch oder Wurm aus ihrer häßlichen Tiergestalt zur menschlichen Daseinsform zurückbringen. Die Schlangenkuß-Erzählung verläuft jedoch strukturell fast immer als Sage von einer mißlungenen E. 47 . In den SagenVersionen übermannt den Erlöser die Furcht, er flieht vor der entsetzlichen Schlange, und
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die Ε. unterbleibt (ζ. Β. Grimm DS 13: Die Schlangenjungfrau). Widerwillen und Ekel hindern den Helden, das E.swerk zu Ende zu führen. Oft stirbt der Erlöser aus Gram und Angst; er wird wahnsinnig oder stirbt nach drei Tagen. Die E. ist wieder auf 7, 100 oder 300 Jahre etc. unmöglich gemacht, oder die Jungfrau klagt: ,Auf ewig verloren!' 11. G e l u n g e n e u n d m i ß l u n g e n e E. Mißlungene E.en rechnet man in der Regel der Sage, gelungene hingegen dem Märchen zu. Die Erwartung eines glücklichen Märchenausgangs setzt voraus, daß der Zustand der Verzauberung oder Verwünschung nicht den Charakter des Immerwährenden hat, daß vielmehr die Möglichkeit besteht, diesen Bann zu brechen 48 . Abgesehen von sehr seltenen Ausnahmen, die jedoch eben eher der Sage zuzurechnen sind (ζ. Β. KHM 137), gelingt das E.swerk immer. Die ganze Struktur des Märchens, bes. sein Endziel, die Erringung einer Braut und die glückliche Heirat des Helden, verlangt die E. zum diesseitigen Leben. Nichterlösung ist dem Märchen fremd 49 . Wo mißglückte E.sversuche im Märchen dennoch vorkommen, sind sie eher Steigerungs-, Spannungs-, Retardierungsmittel 50 , so ζ. B. wenn erst der dritte Bruder die E. schafft, nachdem sich die beiden älteren nicht als die richtigen Helden erwiesen haben. Das Märchen löst die positive Erwartung selbst dann noch ein, wenn die zu erlösenden Personen einmal nicht Verwunschene und Tierverwandelte sind, sondern — wie in der Sage — umgehende Tote und Spukgestalten, ζ. B. in KHM 4 (AaTh 326: Fürchtenlernen) oder in ähnlichen Erzählungen von verwünschten Schlössern 51 : Der unerschrockene Held muß drei Nächte in einem Schloß zubringen, wo er mit den Geistern Karten spielt oder kegelt und mit ihnen speist. Er setzt die Totengebeine zusammen, die durch den Schornstein herabfallen, läßt sich durch keinerlei Spuk einschüchtern und muß sich von einem Geist barbieren lassen etc. Meist ist ein absolutes Schweigegebot mit der E. verbunden. Auch darf der Held sich nicht umsehen und muß sich weigern zu tun, was die Geister wollen, sonst wäre er ihrer Macht verfallen. Mit der E. des Schlosses und Hebung des Schatzes sind auch die umgehenden Geister erlöst und ist der Spuk vertrieben.
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Das Märchen liebt es, die E. mit einem ,Knalleffekt' abzuschließen. Im Augenblick der Entwandlung geschieht ein furchtbarer Donnerschlag oder ein schreckliches Krachen. Mit dem Schloß werden zugleich der ganze Hofstaat und die Umgebung erlöst. Die häßlichen Tiere im Schloßgraben werden zu Dienern, die Tiere im Walde zu verschiedenen Gruppen von Untertanen. Mit dem Geschick der im Zentrum stehenden verwunschenen Person ist auch das Schicksal von Eltern, Geschwistern, von Land und Leuten verknüpft 52 . In der Sage gibt es zwar auch gelungene E.swerke, aber noch häufiger mißlingt die beabsichtigte E., weil der Erlöser den damit verbundenen Anstrengungen, Gefahren und Versuchungen nicht gewachsen ist. Fürchterliche Geräusche, Untiere, Drachen, Mühlsteine, die an einem Faden über ihm hängen, etc. erschrecken den Helden und machen ihm Angst. Zu den bes. Bedingungen gehört es, daß die E. nur zu bestimmten Zeiten erfolgen kann, ζ. B. nur alle 7, 50, 100, 300 Jahre etc. oder nur an bestimmten Tagen. Ist dieser Termin verpaßt, so schiebt sich die ersehnte E. wieder um lange Zeit hinaus. Für manche E.sbedürftige wird die Befreiung auf unbestimmte Zeit verschoben, die E. wird ihnen gelegentlich sogar bis in alle Ewigkeit vorenthalten. Der tote Frevler hat unendliche Sisyphusarbeiten zu vollbringen. Er wird ζ. B. erst erlöst, wenn er die eisernen Sohlen seiner Schuhe durchgelaufen hat. - Ein Hirte, der das Vieh schlecht behandelte, muß als Geist eine Kuh den Berg hinauftragen, aber sobald er oben ist, fällt sie ihm jedesmal wieder hinab. — Der betrügerische Knecht muß in der Kelter zählen, kommt aber niemals weiter als bis 99; und erst bei 100 wäre er erlöst. — Der Mörder muß noch in alle Ewigkeit den gellenden Todesschrei seines Opfers hinausschreien, die Kindsmörderin die Windeln vom Blut ihres Kindes reinwaschen, aber sie bekommt die Flecken nie heraus 53 .
Die Sage kennt auch die Unseligen, die niemals E. finden (—> Fliegender Holländer, —> Ewiger Jude, —> Judas Ischariot). Die unterschiedlichen E.serfolge von Sage und Märchen sind freilich nicht nur einfach gattungsbedingt, sondern beruhen vor allem darauf, daß die zu Erlösenden in beiden Erzählformen ganz unterschiedliche Personen
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sind. Das Schicksal eines Verwünschten oder Verzauberten trifft im Märchen einen Lebenden, in der Sage einen Toten, im Märchen zumeist einen Unschuldigen, in der Sage jedoch einen mit Schuld Beladenen, eine büßende Arme Seele oder einen Wiedergänger. Gerade weil der Verwandlungs- und E.sbegriff so stark an den Begriff der Schuld gebunden ist, sucht das Märchen seinen Helden schon vorbeugend von allen Vorwürfen frei zu halten: Hauptperson des Märchens ist darum fast immer der Erlöser, nicht der zu Erlösende. In der Regel wird der Märchenheld nicht selbst verwandelt, sondern der Verwandelte ist nur sein Partner 54 . 12. E. in d e r Sage. An kaum einem anderen gemeinsamen Motivkomplex können die Unterschiede von Märchen und Sage deutlicher aufgezeigt werden als an dem der E. In der Sage gehört der Begriff E. wesentlich zu den Erzählbereichen von umgehenden Toten, Armen Seelen und Spuk 55 , d. h. in den Zusammenhang des Totenglaubens. Die E. von Totengeistern gehört sogar zu den gewichtigsten und zentralen Inhalten von Sagen. „Als der schlechthin erlösungsbedürftige Dauerzustand erscheint in der Sage das Umgehen nach dem Tode. Dieser Zustand wird als qualvoll empfunden zunächst von den Lebenden, die durch den Umgehenden ständig beunruhigt und bedroht sind; sodann aber auch als Qual für den ruhelosen Toten selbst, und dies wahrscheinlich verstärkt durch den Einfluß der christlichen Vorstellung von der ,armen Seele'" 56 .
In der Sage ist das Ziel der E., den ,unseligen' Zustand der Ruhelosigkeit und des Umgehens nach dem Tode zu beenden und das Eingehen in die ,Seligkeit', die ,ewige Ruhe' zu ermöglichen. Während das Märchen zum diesseitigen Leben und zu Genüssen der Zeitlichkeit erlöst, bedeutet E. in der Sage ein endgültiges Ausscheiden aus der Zeitlichkeit. Während das Märchen E. als einen durchweg diesseitigen und profanen Vorgang versteht, ist E. in der Sage jenseitsbezogen und religiös. E. betrifft im Märchen den Körper, in der Sage die Seele. „Nur in der Sage gibt es die Erlösung durch christliche Heilsmittel wie Messelesen, Wallfahrt, fromme Dankes- oder Grußformeln. Auch die Sagenmotive der Wiedergutmachung als Voraussetzung zur
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Erlösung sind trotz ihrer primitiven Vergeltungsethik nicht denkbar ohne die Einwirkung des Christentums" 57 . E. durch Wiedergutmachung und christl. Werke sind die zwei Grundformen von E.smitteln in der Sage. Erfolgreiche E.en kommen zustande, wenn der Erlöser den vom Toten angerichteten Schaden ersetzt, seine Schulden bezahlt, unerfüllte Versprechen einlöst oder ihm die Verzeihung Lebender erwirkt (cf. —> Dankbarer Toter). Wiedergutmachung ist ferner ζ. B. die Rückgabe unrecht erworbener Güter, die Erfüllung nachlässig ausgeführter Pflichten. Ein Musterbeispiel für E. durch Wiedergutmachung bietet die weit verbreitete Sage von der E. des umgehenden Grenzfrevlers oder Marksteinversetzers, dem man auf seine Frage, wo er den von ihm versetzten Grenzstein hintun solle, antworten muß: „Setz ihn hin, wo du ihn hergenommen hast!" (cf. —> Grenze, —> Dialog). Auch Schatzhüter werden erst dann erlöst, wenn ihr Reichtum aus dem unterirdischen Versteck hervorgeholt und den Lebenden wieder zur Verfügung gestellt worden ist 58 . Das tote Kind findet erst E., wenn man das entwendete Almosen den Armen gibt (KHM 154: Der gestohlene Heller). Hirten, die ihren Bauern durch nachlässige Behandlung des Viehs Schaden verursachten, sind erlöst, wenn dafür Ersatz geleistet wird 59 . Die Schuld nicht gehaltener Wallfahrtsversprechen ist gesühnt, sobald sie in die Tat umgesetzt werden 60 .
Noch der Totenschädel muß siebenmal um die Kirche gerollt werden, um E. zu finden, weil der Tote zu Lebzeiten siebenmal den feierlichen Prozessionsumzug beim Gottesdienst versäumt hatte 61 . So pedantisch verlaufen die spiegelnden Strafen im Jenseits. Büßende Priester sind befreit, wenn sie ihre vergessenen Messen nachholen können 62 . Manche Arme Seelen können erst zur Ruhe gelangen, wenn sie für ihre zu Lebzeiten nicht gesühnten Untaten nachträglich Strafe erlitten haben 63 . Sie müssen die schlechte Behandlung, die sie anderen zugefügt haben, an sich selbst erleiden. E. durch Vergeltung zeigt auch die Sage von dem Geist, der zu Lebzeiten jemandem heißes Schmalz ins Gesicht geschüttet hatte; er ist erst erlöst, als ihm das gleiche widerfährt 64 . Das eigensinnige Kind streckt sein Ärmchen aus dem Grab, und die Mutter muß die im Leben versäumte Züchtigung nachho-
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len, damit es im Tode Ruhe hat (KHM 117: Das eigensinnige Kind). Neben der Wiedergutmachung werden christl. Handlungen in den Dienst der Entsühnung gestellt: Religiöse Werke wie Wallfahrten, Almosenspende und Seelenmessen, Besprengen mit Weihwasser, der Einsatz von Glocken, Kirchengeräten, Kruzifixen etc. 65 . Häufig erfolgt die E. durch fromme Formeln des Dankes, Wunsches oder Grußes, insbesondere durch die Formeln ,Helf dir Gott!', ,Vergelts Gott!', ,Gott schenke dir die ewige Ruhe'. In der Anrede der Armen Seelen sind sie das erlösende Wort. Vor allem Geister, die sich durch Niesen vernehmlich machen, bedürfen solcher Segensformeln, um E. zu finden 66 . Ebenso heilkräftig sind Gebete, insbesondere das Rosenkranzgebet und das —> Vaterunser. Irrlichter werden durch die —> Taufe erlöst. Viele Sagen heben die große Bedeutung der Primizmesse für die E. Abgeschiedener hervor. Sehr häufig mißlingt die E. in der Sage. Vor allem Schatzhüter oder auch niesende Geister müssen ergebnislose Bemühungen um ihre E. oft in Kauf nehmen. Der Grund für das Scheitern der E. ist menschliche Unzulänglichkeit. Zuweilen fehlt den Menschen der Mut, die Geister überhaupt anzusprechen, oder mangelnde Ausdauer, fehlende Anteilnahme, Verständnislosigkeit des Menschen beim Entsühnungswerk machen die Anstrengungen zunichte; oder es werden die bei der E. zu beachtenden Vorschriften, Tabus etc. verletzt und die Bedingungen nicht erfüllt 67 . Wichtig ist, daß sich umgehende Geister nicht selbst erlösen können, sondern auf die guten Worte und Werke der Lebenden angewiesen sind. Dies scheint ein ganz wesentlicher Zug der Totensagen zu sein: das Aufeinanderangewiesensein von Lebenden und Toten. Die Möglichkeiten der Hilfeleistungen sind unendlich groß 6 8 . Neben der reich entwickelten Skala christl. E.staten fallen einige E.sarten auf, die einem vor- oder außerchristl. Bereich anzugehören scheinen und den magischen E.sweisen des Märchens näher stehen. So werden auch in der Sage Verwandelte wie Alp 69 oder Werwolf 70 wieder ins menschlichnormale Leben zurückerlöst, ζ. B. dadurch, daß man ihnen freiwillig ein —» Opfer (ζ. B.
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ein bes. gutes Pferd) überläßt, das sie erdrükken bzw. zerreißen dürfen. In einigen Fällen wird die E. von Gespenstern dadurch herbeigeführt, daß man mit ihnen ringt oder sie doch wenigstens die ganze Gespensterstunde hindurch festhält 71 . Auch ein Händedruck oder das Tragen des Geistes kann als Mittel zur E. dienen. So muß ein Bauer ζ. B. seine eigene verstorbene Mutter erlösen, indem er sie als Spukgestalt trägt; doch hat der Geist ein solches Gewicht, daß es den Erlöser fast in den Boden drückt 72 . Auch die Weiße Frau, die verwunschene Schloßjungfrau und Schatzhüterin muß eine bestimmte Strecke weit getragen werden, wobei sie immer schwerer wird 73 .
Manchmal muß der Erlöser zwischen der Verwunschenen und ihren Schätzen wählen. Dann scheitert die E. meist daran, daß er nichts oder Dinge aus ihrem Schatz verlangt, anstatt sie selbst zu begehren, wobei ihm der ganze Schatz ohnehin zugefallen wäre 74 . In den Sagen von Weißen Frauen gibt es auch die E. durch nochmaliges Töten (Kopfabschlagen, Erschießen etc.). Dies ist sonst vor allem die Form der E. von Vampiren. Die als Vampir in der Grabkirche hausende verwünschte Prinzessin wird ebenfalls zur ewigen Ruhe erlöst: Sie kann noch einmal sterben und schläft jetzt ruhig im Grabe 75 . Ihr Erlöser wird später zum König gemacht; aber man fühlt, wie gezwungen und matt diese Lösung ist 76 . Solche E.sformen gehören eben in die Sage und nicht ins Märchen. 13. D i e Figur des E r l ö s e r s . Niemand kann sich aus eigener Kraft erlösen. Insofern ist E. immer auf einen Zweiten, einen erlösenden Partner angewiesen. Märchen und Sage kennen keinen jenseitigen, sondern nur einen diesseitigen Erlöser. Im Unterschied zur Sage, in deren Mittelpunkt der zu Erlösende steht, konzentriert sich das Interesse des Märchens ganz und gar auf den Erlöser 77 . Nicht selten gibt es den vom Schicksal vorherbestimmten Erlöser. Wie nur Sigurd allein den Flammenwall der Brünhild zu durchreiten vermag, so kann auch im Dornröschen-Märchen nur der dazu ausersehene Befreier die Rosenhecke durchdringen. Andere Beispiele vorbestimmter Erlöser bieten Der Froschkönig (KHM 1, AaTh 440: -> Froschkönig) und Der gläserne Sarg (KHM 163) 7 8 .
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Wie bereits erwähnt, vollzieht sich E. im Märchen in der Regel zwischen Mann und Frau. Viel seltener kommen daneben noch andere verwandtschaftliche Beziehungen vor: Die Schwester übernimmt die Erlöserrolle, wenn sie der unschuldige Anlaß zur Verwünschung ihrer Brüder gewesen ist (KHM 9, 25; AaTh 451), oder der Bruder (KHM 60, AaTh 300) oder ein naher Freund: Eine auf gegenseitiger Freundestreue und Opferbereitschaft beruhende Erlöserrolle übernehmen der treue Johannes und sein junger König füreinander (KHM 6, AaTh 516) 79 . In der Sage mit Ausnahme der Erzählungen von Weißen Frauen, Schatzhüterinnen etc. — kommt eine Heirat mit dem Erlöser schon deshalb nicht in Betracht, weil es sich um Spukgestalten, umgehende Tote und Arme Seelen handelt. So muß der Erlöser durchaus nicht einem anderen Geschlecht als der zu Erlösende angehören. Auch die Sage kennt gelegentlich den vorherbestimmten Erlöser. Oft sind es Verwandte, die mit dem E.swerk ihren toten Angehörigen einen solchen Liebesdienst erweisen: Kinder erlösen ihre Eltern, Eltern ihre Kinder oder ein Freund seinen Freund, Magd oder Knecht die ehemalige Dienstherrschaft 80 .
minosen Erschütterung, die die E. auch für den Erlösenden bedeutet. Die physischen Folgen dieser schweren seelischen Leistung sind oft Krankheit und Tod. Seinen Lohn findet der Erlöser erst im Himmel 83 . Ist aber die E. glücklich vor sich gegangen, so bedeutet dies endgültige Tilgung der Erdenschuld 84 .
Wie das Märchen interessiert sich auch die Sage für das Schicksal des Erlösers. Im Märchen zieht der erfolgreiche Erlöser in jedem Fall Nutzen und Vorteil aus seiner Tat. Die Sage jedoch teilt dem erfolgreichen wie dem erfolglosen Erlöser häufig ein tragisches Schicksal zu 81 . Oft endet die E. oder der E.sversuch mit Entrückung, Verwandlung, plötzlichem Tod, Krankheit, Schwermut, Irrsinn, Taubheit, Lähmung 82 . Die Belohnung für die gute Tat bedeutet vielfach das eigene Ende: ,Wer einen Geist erlöst, stirbt bald', heißt es gelegentlich. Entsprechend der Notwendigkeit und Anwendung christl. E.smittel sind die Erlöser der Sage oft fromme, gottesfürchtige Menschen. Daneben sind Mut, Beherztheit und Unerschrockenheit wichtige Charaktereigenschaften, die vom Erlöser gefordert werden. Das E.swerk des Menschen ist eine positive Tat, für die sich der Erlöste seinem Erlöser gegenüber dankbar erweisen und ihm Heil und Freude zukommen lassen sollte. So ist es aber nur ganz selten. Viele sterben an der nu-
Aus der religiös gewissen E.sverheißung der ma. Legende wird in der Sage ein Motiv, das sich in stereotyper Weise an die mißglückten E.sversuche angeschlossen hat. Aus dem Mund der trotz des Fegefeuers jauchzenden Seele ist es in den Mund der unerlöst jammernden Seele übergegangen. Ihr Klageruf „Wieder auf ewig unerlöst!" beschließt die Sagenerzählung. Der christl. Sinn ist profaniert worden: Es wird nicht mehr Christus als Erlöser, sondern irgendein menschlicher Erlöser, häufig ein Priester, erwartet. Dementsprechend wandelt sich das Motiv vom Kreuzholz der Legende zum Wiegenholz der Sage, von der Heilsgewißheit der Legende zum E.spessimismus der Volkssage. Als Zwischenglieder dürfen einige Sagenaufzeichnungen aus der Schweiz und aus Tirol gelten, die im traditionsbewahrenden Alpengebiet noch die Heilsgewißheit der alten Legende erhalten haben 86 .
14. D e r E r l ö s e r in d e r Wiege. Wie gründlich die Sage christl. E.svorstellungen aufgenommen, gestaltet und weiterentwickelt hat, zeigt deutlich ein Komplex der Totensage, der auf dem Weg über die Kloster- und Predigtlegende in die Volkssage gewandert ist, der Erzähltyp vom ,Erlöser in der Wiege' (Mot. D 791.1.3). Hier ist die E. eines umgehenden Toten oder einer Armen Seele an das Aufwachsen eines Baumes und dessen Verarbeitung zu einer Wiege gebunden, die meist für einen Knaben hergestellt werden muß, der später den Priesterberuf erwählen und den Büßer bei der ersten heiligen Messe erlösen wird. Die E. ist hier bis zu einem Zeitpunkt in der Zukunft verschoben, den die Arme Seele sehnsüchtig herbeiwünscht 85 . Der Erzähltyp vom ,Erlöser in der Wiege' gehört genetisch zur ma. —» Kreuzholzlegende (13. Jh.).
15. K u n s t m ä r c h e n u n d l i t e r a r . Bea r b . e n . Im romantischen Kunstmärchen
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oder auch in literar. Antimärchen des 20. Jh.s gibt es für die Tierverwandelten oft keinen Rückweg mehr in die Welt der Menschlichkeit (ζ. B. bei Ε. T. A. —> Hoffmann oder in Franz Kafkas Die Verwandlung [1915]). Eine entscheidende Weiterentwicklung erfahren die E.svorstellungen aus Sage und Märchen im Werk Richard Wagners, insbesondere der Gedanke der erlösenden Liebe 87 und die Mitleidsthematik. E. ist ein Leitmotiv im Werke Wagners 88 . Fast alle großen Figuren seiner Opern — Der fliegende Holländer, Tannhäuser, Parsifal und Tristan und Isolde — bedürfen der E. in der Liebe und durch die Liebe, die dabei immer zugleich Entsagung ist. Man hat daraus geschlossen, daß auch ihr Schöpfer ein an seinem Leben Leidender war 89 .
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dies an vielen Beispielen zu begründen versucht. Sie sieht in den E.smärchen psychol. Funktionen und Bewußtwerdungsvorgänge. Der Tierprinz ist in dieser Deutungssicht als das Selbst aufzufassen, als das männlich-geistige Seelenbild der Heldin 94 . Umgekehrt repräsentiert die verzauberte Tierprinzessin die Anima des Helden. Die Frau erfüllt als Trägerin des Geschehens an einer Tiergestalt oder an einer sonst irgendwie verzauberten Animusfigur das E.swerk; der Mann befreit seine im Zauberbann des Unbewußten befindliche Anima 95 . Während sich von Beit ganz auf die E.sprozesse des Märchens und bes. der Tierbräutigammärchen konzentriert, hat sich G. Isler der tiefenpsychol. Deutung der E. in den Sagen zugewandt und gelangt damit zu einem allgemeineren psychol. Verständnis von E. Im 16. P s y c h o l . I n t e r p r e t a t i o n e n . E. ist psychol. Sinne ist für Isler ein zu erlösender — wie bereits zu Beginn gezeigt — ein zutiefst büßender Totengeist einem störenden Komreligionswiss. und theol. Problem. Sie ent- plex zu vergleichen, der einen beengenden, spricht einem anthropol. Modell und einer bedrückenden Einfluß auf das Bewußtsein allg. menschlichen Notwendigkeit. Weil es hat. Ein Totengeist verbreitet im allg. immer das Böse, weil es Schuld und daraus resultie- auch einen Hauch des Todes um sich; er hat rend den Tod gibt, muß es auch E. geben 90 . etwas Tötendes, und seine E. bedeutet eben96 Der Mensch ist ein Erlösungsbedürftiger 91 . falls für den Lebenden eine Befreiung . Zur Auch die Psychoanalyse meint, daß E.sbe- psychol. Deutung des ,Erlösers in der Wiege' dürftigkeit ein bei allen Menschen zu finden- meint Isler: Der Erlöser in der Wiege symdes Phänomen sei 92 . Für den Psychologen hat bolisiert eine künftige, neue geistige EinstelE. immer Symbolcharakter. Was sie symboli- lung, die abhängt von einem seelischen siert, wird in den einzelnen Schulen unter- Wachstums- und Reifeprozeß, der eine Annäherung der Gegensätze in sich schließt97. E. schiedlich gedeutet und hängt mit der Verbedeutet für den Psychoanalytiker immer ein schiedenheit der jeweiligen E.svorgänge zuLos-von-etwas, von einer Fixierung, von eisammen. Insbesondere die erotischen Aspekte der E. haben Anlaß zu psychoanalytischer nem seelischen oder körperlichen Verhaftetsein, von einem Komplex. Oft beruht die VerDeutung gegeben. E. meint hier sicherlich auch die Lösung sexueller Spannungen. „In wandlung im Märchen auf dem Fluch einer der Erzählung vom Tierbräutigam, der in der bösen Mutter bzw. Stiefmutter. E. bedeutet dann auch Befreiung von einer negativen Hochzeitsnacht zum strahlenden Prinzen wird, von der Tierbraut, die sich in eine Prin- Mutterbindung und -abhängigkeit. Im psyzessin verwandelt, spiegelt sich ohne allen choanalytischen Prozeß geht es um die ErforZweifel auch das ambivalente Verhältnis der schung des E.sbedürfnisses, um die E. des In98 Geschlechter zueinander, der Umschlag der dividuums von einer seelischen Fixierung . 93 Wenn E. etwas mit dem Bösen, mit Schuld Abneigung in Zuneigung" . Männliche Impotenzängste, Erschrecken vor der Sexualität und Angst zu tun hat, hat sie auch psychol. etmögen den psychol. Hintergrund der miß- was mit der Befreiung von Schuldkomplexen lungenen E. einer Jungfrau im Schlangenkuß- zu tun. Im psychoanalytischen Prozeß wird darum gelegentlich der Analytiker in den AuTyp abgeben. Die Psychologie C. G. —» Jungs sieht in der gen des Analysanden selbst zum Erlöser; das Recht, die Erlöserrolle zu erlösenden Frau eine Anima-Projektion doch hat er nicht 99 anzunehmen . des Mannes. Vor allem hat H. von —> Beit
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17. K u l t u r h i s t . Z u o r d n u n g . Z u s a m m e n f a s s u n g und Schlußfolgerungen. In allen Religionen, in denen der Mensch von der Schuld her verstanden wird, bedeutet E. den zentralen Begriff in der Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Mensch. In den ,E.sreligionen' ist E. der dem Schuldproblem zugeordnete Korrelativbegriff 100 . Die E. des Guten aus der Gewalt des Bösen, die Notwendigkeit erlösender Liebe sind Grundbegriffe der Hochreligionen, zugleich aber auch ständig wiederkehrende Begriffe des Zaubermärchens wie der Sage. Die Happy-EndFunktion der E. in der Struktur des Zaubermärchens (keine E. ohne vorangegangene Verwandlung) teilt das Märchen durchaus mit religiösen E.shoffnungen (,No Easter without Good Friday'). Die Volksdichtung hat den Begriff Ε. in der mannigfaltigsten Weise übernommen, adaptiert und umgewandelt, im diesseitigen wie im jenseitigen, im religiösen wie im profanen Sinne. Da gibt es E. aus Armut und Niedrigkeit, aus bes. Häßlichkeit, aus Tiergestalt, E. durch Liebe und Heirat, E. zu einem himmlischen Dasein oder zu einem höchstirdischen Glück in Wohlstand und ohne Tod. Entscheidend ist, daß dieser eminent wichtige und primär religiöse Begriff der E. auch die Volksdichtung beherrscht. E. meint ein Grundbedürfnis des Menschen; sie meint eine Befreiung im weitesten Sinne. E. ist im allg. Sinne eine positive Veränderung der Existenzform 101 .
schichtliche Züge). Dabei bleibt zu berücksichtigen, daß der E.sbegriff selbst im Laufe seines Gebrauches vom religiös-theol. Funktionsbereich bis zum profanen und alltäglichen abgeflacht ist. E. ist im allg. Sprachgebrauch jede Befreiung von einem unerträglichen Zustand, E. von einem Leid, von einem Leiden, von Schuld, von Krankheit und Schmerzen. Noch immer heißt es etwa im Text von Todesanzeigen: ,Er wurde von einem schweren Leiden erlöst', ohne daß dies eine religiöse Aussage zu sein braucht. Auch ein Examenskandidat kann sich nach der Prüfung ,wie erlöst' fühlen. Die verschiedenen Arten von E. in Märchen und Sage entsprechen verschiedenen hist. Stufen des Wirklichkeitsbewußtseins:
Im Bereich der Volksdichtung taucht der Begriff E. praktisch immer nur in den beiden Gattungen Märchen und Sage auf. E. ist ζ. B. kein Thema für Schwank und Witz — dafür ist es zu ernst. Aber auch die Legende als fromme christl. Erzählung kennt den Begriff E. nicht 102 , weil im christl. Glauben nur —> Christus der Erlöser ist. Kein Heiliger tritt als Erlöser auf. Dies bedeutet zugleich, daß mindestens das Märchen, aber partiell auch die Sage, den Begriff E. nicht in einem streng dogmatischen Sinne bibl.-christl. Lehre auffassen. Die verschiedene Behandlung der E.smotivik in Märchen und Sage ist jedoch nicht nur eine Frage unterschiedlicher Gattungsstile (—> Gattungsprobleme). Vielmehr spiegeln sich in den Gattungen unterschiedliche kulturhist. Schichten (—» Altersbestimmung des Märchens, —> Archaische Züge, —> Kulturge-
„Das Erniedrigende der Tierverwandlung und der Heirat mit einem Tier, die Notwendigkeit der Befreiung aus dieser Gestalt und Rückkehr zur Menschlichkeit fehlt ganz. Schon den Begriff der ,Erlösung' gibt es in diesen einfachsten Märchen noch nicht. Er hängt zusammen mit dem Begriff der .Verwünschung', d. h. des wirksamen Schadenzaubers und mit dem der Strafe und der Schuld. Erst in späteren Kulturschichten, wenn der Mensch sich vom Tierischen emanzipiert, gilt die Tierverwandlung als Verwünschung und als Strafe. Aus einer ursprünglichen Ehe mit dem Tier wird dann im europäischen Märchen die Erlösung im Augenblick des Eheversprechens oder der Eheschließung" 104 .
„Am Anfang steht ein Verwandlungsglaube, der den Begriff der Erlösung noch nicht kennt, und erst allmählich vollzieht sich der Prozeß von der willkürlichen Rückverwandlung zur Entzauberung und schließlich zur Erlösung. Das fällt zusammen mit der allgemeinen religionsgeschichtlichen Entwicklung des Erlösungsbegriffes, denn ,Erlösung' gehört nur zur Terminologie der gestifteten Hochreligionen, während in der Frühreligion eine Erlösungsbedürftigkeit der Menschen noch nicht empfunden wird" 103 .
Die Naturvölkererzählungen von Tiermännern brauchen noch nicht das Motiv der E., da schon die Art der Verwandlung eine völlig andere ist:
So ergeben sich mannigfache Entwicklungsstufen der Glaubenswirklichkeit der E. von der Entzauberung durch Ablegen der Hülle, durch Töten oder Enthaupten bis zu einer rein spirituellen E. durch christl. Heilsmittel und durch Taten der Liebe.
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Seit wann das europ. Märchen ein E.s- und Glücksmärchen geworden ist, läßt sich aus heutiger Folklore nur aufgrund idealtypischer Schichten rekonstruieren. In den erhaltenen „Volkserzählungen ist das Primitive nicht immer [. . .] das zeitlich Frühere. Die geschilderten Einstellungen zu Verwandlung und E. sind vielmehr alle nebeneinander selbst noch in unserer heutigen Denkart nachvollziehbar und geben so den Märchen die [. . .] verschiedenen Akzente: In der einzelnen Erzählung tritt jeweils eines der Elemente mehr als die anderen in den Vordergrund" 105 . E. ist ursprünglich und in der älteren Schicht Entzauberung und Rückkehr ins diesseitige Leben. Darum haben christl. und jenseitsbezogene E.svorstellungen in das Märchen kaum Eingang gefunden 106 . E. bedeutet im Märchen nicht ein Versetztwerden in eine andere Welt 107 . Der christl. geprägte Begriff der E. paßt darum im Grunde gar nicht zum Märchen. Die angelsächs. Terminologie ist hier sehr viel präziser, wenn sie im Falle der Märchen-E. von ,disenchantment' (= Entzauberung) oder ,deliverance' (= Befreiung), im Falle der E. im christl. Sinne jedoch von redemption' spricht. Ein gewichtiger Unterschied zum christl. E.sgedanken liegt auch darin: Im Märchen wird der Mensch durch den Menschen erlöst, durch einen liebenden Menschen. Dies bringt die E.sidee im Märchen aber wiederum auch dem Christentum innerlich nahe. „Das Märchen sieht den Menschen als erlösungsbedürftig an sich an. Damit ist es, wie andersartig auch sein äußeres Gewand ist, gar nicht weit von christlicher Auffassung entfernt" 108 . Eine religiöse Idee des Märchens ist es schließlich auch, daß im Märchen der Erlöser für den zu Erlösenden sühnen und leiden muß. Ungleich mehr an christl. E.svorstellungen hat jedoch die Sage aufgenommen, vor allem schon deshalb, weil sie den Zustand der E. vorzugsweise auf das jenseitige Leben bezieht und weil es ihr bei der E. nicht um das Schicksal des Leibes, sondern der Seele geht, schließlich auch, weil Schuld und E. in einem unmittelbaren Bezug zueinander gesehen werden. Hand in Hand damit geht die ebenfalls christl. Vorstellung, daß E. nichts Automatisches oder Selbstverständliches ist, sondern auch mißlingen oder auf unbestimmte
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Zeit verschoben werden kann, daß E. nichts Gegenwärtiges, sondern immer etwas Zukünftiges ist. Eine religiöse Erfahrung der Sage ist es schließlich, daß E. auch für den Erlöser schlimme Folgen haben kann. Mit dieser ganz religiös aufgefaßten Funktion von E. repräsentiert die Sage die jüngste Stufe in der kulturgeschichtlichen Abfolge der E.svorstellungen, auch wenn sie die christl. Vorstellungen in mannigfacher Weise erweitert und umgestaltet hat und daneben auch ältere Vorstellungen weitertradiert, insbesondere in der Verbindung von E. mit dem Wiedergutmachungs- und Vergeltungsprinzip. I RGG 2, 599. - 2 RGG 2, 585. - 3 Anacker 1941, 2. — 4 Königslöw, E. von: Das religiöse Motiv als gestaltende Kraft der dt. Volkssage der Gegenwart. (Diss. Heidelberg 1935) Ffm. 1935, 122. — 5 Lüthi, M.: So leben sie noch heute. Betrachtungen zum Volksmärchen. Göttingen 2 1976, 85. — 6 ibid. - 7 Malthaner 1934, 29. - 8 c f . HD Μ 1, 590. - 9 Lüthi, Ästhetik, 69. - I 0 Grudde, H.: Plattdt. Volksmärchen aus Ostpreußen. Königsberg 1931. II cf. Anacker 1941, 1. - 12 Beispiele: H D Μ 1, 586sq. - 13 cf. HDM 1, 584. - 14 cf. HDM 1, 591. - 15 Dabei wird auch der Begriff E. verwendet: Nach dem Sieg „zeigte er den zerrissenen Drachen und sagte ihr, daß sie nun erlöst wäre". — 16 cf. Anacker 1941, 2. — 17 Röhrich, Erzählungen 1, 64. — 18 Meier, J.: Balladen 2. Lpz. 1936, num. 48. 19 DVldr 3, num. 6 2 . - 2 0 Anacker 1 9 4 1 , 7 7 . 21 Lüthi, Ästhetik, 160. - 2 2 Anacker 1941,121. 23 cf. ibid., 44. - 24 Grudde (wie not. 10) ζ. B. num. 12; Sareyko, H. U.: Das Weltbild eines ostpreußischen Volkserzählers. Diss. Marburg 1954, 1 5 8 - 1 6 8 . - 2 5 cf. Anacker 1941, 48. - 2 6 cf. Hegar 1929, 115. - 2 7 Jenness, D.: Myths and Traditions from Northern Alaska. The Mackenzie Delta and Coronation Gulf. Report of the Canadian Arctic Expedition 1 9 1 3 - 1 8 . Ottawa 1924, 57 A. 28 Zenker-Starzacher, E.: Eine dt. Märchenerzählerin aus Ungarn. Mü. 1941, 67. - 2 9 Beispiele für Entzauberung durch Enthauptung: HDM 2, 395sq.; cf. auch HDM 2, 286sq. - 3 0 ζ. Β. KHM 193 (Der Trommler); cf. BP 3, 4 0 6 - 4 1 7 . 31
Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 9 6 - 9 9 . Heine, H.: Elementargeister (1834). In: id.: Sämtliche Werke 4. ed. E. Elster. Lpz./Wien 2 1893 (Neudr. der Ausg. 1 8 8 7 - 9 0 ) 397. - 33 Anacker 1941, 57. - 34 Peuckert, W.-E.: Schlesiens dt. Märchen. Breslau 1932 (Nachdr. Darmstadt s. a.) num. 91. — 35 Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 4 1845, 383, num. 1. - 3 6 Jahn, U.: Volksmärchen aus Pommern und Rügen. Norden/Lpz. 1891, num. 5. - 3 7 cf. Malthaner 1934, 32
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Ernährungswunder - Ernst
79. - 38 Anacker 1941, 29. - 39 cf. ibid., 28. 40 cf. Malthaner 1934, 77. 41 Peuckert (wie not. 34) num. 51. — 42 Jahn (wie not. 36) 17. — 43 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 9 9 - 1 0 2 . - 44 cf. Frank 1928. - 45 Malthaner 1934, 70. - 46 cf. Frank 1928, 1 6 - 2 3 . - 47 Nachweise zahlreicher Var.n: ibid., 80—115. - 48 Anakker 1941, 27. - 49 cf. Malthaner 1934, 83. 50 HDM l,589;cf. Malthaner 1 9 3 4 , 8 5 - 8 8 . 51 ibid., 71 sq. - " i b i d . , 84sq. - 53 Röhrich, L.: Sage. Stg. 2 1971, 13. - 54 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 101. - 55 Sailer 1956, 112-122. 56 Königslöw (wie not. 4) 123. — S7 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 101. - S 8 cf. Sailer 1956, 116sq.- 5 9 ibid., 1 1 7 . - 6 0 ibid., 1 1 9 - 1 2 2 . 61 Graber, G.: Sagen und Märchen aus Kärnten. Graz 1944, 46. - 62 Sailer 1956, 121. - "ibid., 141, 144. - 64 ibid., 122. - «ibid., 123-141. 66 ibid., 131. - 67 ibid., 151-162. - 68 ibid., 170-193. - 69 cf. Lixfeld, G.: Der Alp. Analyse eines Sagentyps. Magisterarbeit Fbg 1980. — 70 Müller, K.: Die Werwolfsage. Diss. Marburg 1937; Odstedt, E.: Varulven i svensk folktradition. Uppsala/Kop. 1943; Tillhagen, C. H.: The Conception of Nightmare in Sweden. In: Festschr. Α. Taylor. Locust Valley, N.Y. I960, 317-329. 71 cf. Anacker 1941, 117sq. - 72 Müller, J.: Sagen aus Uri 2. Basel 1929 (Nachdr. Bonn 1969) num. 977. - 73 Wähler, M.: Die weiße Frau. Vom Glauben des Volkes an den lebenden Leichnam. Lpz. 1931; Röhrich, L.: Frauengestalten der schwäb. Sage. In: ÖZfVk. 5 (1951) 5 5 - 5 9 . 74 Boesebeck 1926, 87. - 75 Peuckert (wie not. 34) num. 53. - 76 Malthaner 1934, 83. - 77 cf. ibid., 93. - 78 Annacker 1941, 31. - 79 ibid., 29. - 80Sailer 1956, 199-203. 81 Malthaner 1934, 83. - 82 Boesebeck 1926, 115sq. - 83 Sailer 1956, 215-222. - 84 ibid., 193. - 85 cf. Ranke 1911; Sailer 1956, 126. - 86 cf. Ranke 1911; Kampers, F.: Ma. Sagen vom Paradiese und vom Holze des Kreuzes Christi [...]. Köln 1897; Peuckert, W.-E.: Die Legende vom Kreuzholz Christi im Volksmunde. In: Mittigen der Schles. Ges. für Vk. 28 (1927) 164-178; Röhrich (wie not. 53) 40sq.; id.: Adam und Eva. Das erste Menschenpaar in Volkskunst und Volksdichtung. Stg. 1968, 151-167. - 87 cf. Kluckhohn, P.: Die Auffassung der Liebe in der Lit. des 18. Jh.s und in der dt. Romantik. Tübingen 3 1 966. - 88 cf. Wapnewski, P.: Der traurige Gott. Richard Wagner in seinen Helden. Mü. 1978, 268. - " i b i d . , 18; cf. Dahlhaus, C. (ed.): Das Drama Richard Wagners als musikalisches Kunstwerk. Regensburg 1970. 90 Röhrich, L.: Das Bild des Menschen in der Volksdichtung. In: id.: Sage und Märchen. Fbg/Basel/Wien 1976, 9 - 2 1 , hier 19sq. 91 Lüthi, Ästhetik, 161. - 92 Daim 1954, 17. 93 Lüthi, M.: Volksmärchen und Volkssage. Zwei Grundformen erzählender Dichtung. Bern/Mü. 1961, 11. - 94 von Beit 2, 115. - 95 ibid., 11. 96 Isler 19 78 , 5. - 97 ibid., 17sq. - 98 Daim 1954,
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292. - 99 cf. ibid. - 100 Königslöw (wie not. 4) 119. 101 Röhrich (wie not. 90). - 102 cf. Günter 1910 und Günter 1949 (Reg.). - 103 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 101 sq. - 104 ibid., 95. - 105 ibid., 102. - 106 cf. Malthaner 1934, 91. - 107 Solle, D.: Die Hinreise. Zur religiösen Erfahrung. Stg. 1975, 74. - 108 Lüthi (wie not. 5) 85. Lit.: Ranke, F.: Der Erlöser in der Wiege. Mü. 1911 (= in: id.: Kl.re Sehr. Bern/Mü. 1971, 204-244). - Schomerus, H. W.: Ind. E.slehren. Lpz. 1919. — Wach, J.: Der E.sgedanke und seine Deutung. Tübingen 1922. — Boesebeck, H.: Verwünschung und E. des Menschen in der dt. Volkssage der Gegenwart. Diss. Ffm. 1926. — Frank, E.: Der Schlangenkuß. Die Geschichte eines E.smotivs in dt. Volksdichtung. Diss. Kiel 1928. - Hegar, W.: Die Verwandlung im Märchen. In: HessBllfVk. 28 (1929) 110-140. - Ranke, F.: E. In: HDA 2, 925-939. - Ittenbach, M./Diewerge, Η.: E. In: HDM 1, 578-590. - Malthaner, J.: Die E. im Märchen. Diss. Heidelberg 1934. - Fröbe-Kapteyn, O. (ed.): Gestaltung der E.sidee in Ost und West. (Eranos-Jb. 4 und 5) Zürich 1936/37. Glasenapp, H. von: Unsterblichkeit und E. in den ind. Religionen (Sehr, der Königsberger Gelehrten Ges. 14, 1). Königsberg 1938. - Anacker, T.: Verzauberung und E. im dt. Volksmärchen. Königsberg/B. 1941. - Braden, C. S.: Man's Quest for Salvation. Chic. 1941. — Schär, Η.: E.svorstellungen und ihre psychol. Aspekte. Zürich 1950. Daim, W.: Tiefenpsychologie und E. Wien/Mü. 1954. - Sailer, J.: Die Armen Seelen in der Volkssage. Diss. Mü. 1956. - Beit, Η. von: Das Problem der E. In: von Beit 2, 9 - 2 7 6 . — Bammel, F./Kraus, H.-J./Vielhauer, P./Andresen, C./Richter, L.: E. In: RGG 2, 584-599. - Sprockhoff, J. F.: Die Vorstellung von der E. bei Lebzeiten in den ind. Religionen. Diss. Tübingen 1960. — Moser-Rath, E.: Arme Seele. In: HDS 1, 628-641. - Müller, I./Röhrich, L.: [Dt. Sagenkatalog] X: Der Tod und die Toten. In: DJbfVk. 13 (1967) 3 4 6 - 3 9 7 (bes. Abschnitt J: Die E. ruheloser Toter, 372-376). Isler, G.: Zur E. des Weiblichen in den Alpensagen. Unveröff. Vortrags-Ms. 1978. — Papst Johannes Paul II.: Das Geheimnis der E. In: id.: Enzyklika ,Redemptor hominis'. In: Informatio 24 (1979) 122-124. - Röhrich, L.: Der Tod in Sage und Märchen. In: Stephenson, G. (ed.): Leben und Tod in den Religionen. Symbol und Wirklichkeit. Darmstadt 1980, 165-183.
Freiburg/Br.
Lutz Röhrich
Ernährungswunder —»Speisewunder Ernst, Jacob Daniel, *Rochlitz 3. 12. 1640, t Altenburg 15. 12. 1707 (bisweilen bibliogr.
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Ernst
als ,Ernesti' geführt), luther. Prediger und Erbauungsschriftsteller, typischer Vertreter erzählfreudiger ,Pastorenliteratur' des Barock und einschlägiger Theoretiker des ExemplaGebrauchs seiner Zeit. Sohn eines Schulrektors, Studienabschluß mit dem Magister artium in Leipzig 1662, darauf poeta laureatus, 1663 Pfarrer in Cribitsch, 1678 Rektor des Gymnasiums in Altenburg, 1683 Substitut des Stiftspredigers, 1685 Archidiakon, 1705 selbst Stiftsprediger und Konsistorialassessor; Vater von 18 Kindern aus drei Ehen. Neben vielen Predigten, Traktaten, Betrachtungen und Andachten bilden zahlreiche kompilatorische Werke rhetorischer MaterialSlgen sein schriftstellerisches Hauptwerk, das schon durch die Hinweisbegriffe in den Titeln charakterisiert wird: Flores; Selecta historica; Deliciae historiae; Hist. Bilderhaus; Hist. Tafelkonfekt; Hist. Blumenlese; Schauplatz curiöser Begebenheiten; Auserlesene Denkwürdigkeiten (—» Kompilationsliteratur). Drei mehrbändige Slgen hatten durch mehrere Aufl.η einen nachhaltigen Erfolg bis ins 18. Jh.: 1. Das Neu-auffgerichtete Hist. Bilder-Hauß / In dessen zweyen Gemächern / Als dem Laster- und Trauer-Zimmer / Ein ansehnlicher Vorrath außerlesener Geschichte und sonderlicher Begebenheiten / dergestalt vorgestellet wird / daß die beygebrachten schauwürdigen Exempel [. .. Thorheit, Sünden, Lebensunbestand] abmahlen1. Der erste Band enthält ein Laster- und ein Trauerzimmer, der zweite ein Tugend- und ein Lustzimmer, der dritte Band das Nebenzimmer in fünf Abt.en mit weiteren 600 Exempeln der vier Kategorien. Das Trauerzimmer des ersten Bandes umfaßt 25 ,Bildertitel', ζ. B.: Die betrogene Mannes-Mörderin; Der grausame KinderMord; Die Hellischen Beicht- Väter; Die grosse Sünderin; Die thörichte Liebes-Brunst; Die über-außgeschlagene Winckel-Ehe; Der sterbende WeltMann; Der grausame Soldaten-Teuffei; Der ermordete Polter-Geist; Der undankbare Erbe; Der gestrafte Trunkenbold; Der unzüchtige Selbst-Mörder; Der verarmte Reiche. — Auch das Lustzimmer umfaßt 25 ,Bildertitel', ζ. B.: Die listige Lebensrettung; Die denckwürdigen Testamente; Die verschmitzte Weiber-List; Etzliche Denckwürdigkeiten auß Japonien, Siam und America; Die Kunst-Cammer; Die alten Gebräuche und seltzamen Gewonheiten; Die ergetzende Jägerey; Die wunderlich-gefügte Ehe; Die notablen Maulschellen. 2. Die Neu-zugerichtete Hist. Confect-Taffel / Worauff in einhundert anmuthigen Schaalen / viel und mancherley außerlesene / sehr denckwürdige / und meistenteils neue Thrauer-, Lust- und Lehrgeschichte also auffgesetzet worden [. . .] Denen Ge-
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schichts-liebenden Gemüthern zu sonderbahren Nutz und Ergetzung verfertiget2. 3. Historiae Miscellae Amphitheatrum Curiosum, oder Der neuauffgerichtete Schauplatz / vieler Curiösen / sonder- und wunderbaren Laster-, Trauer-, Lehr- und Lust-Begebenheiten / Welche sich hin und wieder / zu unterschiedlichen Zeiten / in der Welt zugetragen / aus vielen alten und neuen glaubwürdigen Scribenten / mit sonderbarem Fleiß gesammelt3.
Quellen sind bei allen Werken die zeitgenössischen Geschichtenkompilationen, die Chroniken und einschlägigen Protestant. Exempel-Slgen des 16. und 17. Jh.s. Aus den jeweiligen Angaben des Autors ließe sich ein komplettes Verz. der Historienbücher jener Epoche zusammenstellen. Noch ist über E. nicht systematisch gearbeitet worden. Der Autor schreibt schon 1674, daß „die Wissenschaft der Historien der schönsten und fürnehmsten Stücken eines sey", und er fragt: „Was ist kräftiger die Gemüther der Sterblichen zu bewegen, als die nachdencklichen Exempel, welche sich in den gemeinen Leben zugetragen und noch zutragen?" 4 Darum fügt er ,Lehrsätze', ,Schlußreime' und Reg. bei, um ,delectare' und ,docere' zu verbinden mit — wie es 1681 heißt — „Erzählungen", die „bald lustig, bald traurig, bald blutig, bald friedlich, bald geist-, bald weltlich" sind für „geziemende Lust und auch sonderbaren Nutzen" und die „zu anderm Gebrauch in Discursen, Ehren-, Trauer- und FreudenReden, auch wohl gar, nach Gelegenheit, in denen Predigten dienen könnten" 5 . 1699 nennt der Autor drei Ziele für die ,Exempel der Alten': Nachfolge, Warnung und Trost 6 . 1 Ernst, J. D.: Das Neu-auffgerichtete Hist. BilderHauß [. . .] t. 1. Altenburg 1674; t. 2. ibid. 1675; t. 3. ibid. 1684; 2 1685/86; H691/92; "1693; 5 1702. - 2 id.: Die Neu-zugerichtete Hist. Confect-Taffel [. . . ] t. 1. Altenburg 1681; t. 2 - 3 . ibid. 1682; 2 1690; 3 1698; 4 1722. - 3 id.: Historiae miscellae amphitheatrum curiosum [. . .] 1 — 2. Lpz. 1696/ 1699. - 4 wie not. 1, t. 1, p . ) ( IV recto fol. sq. (Vorrede). - 5 wie not. 2, t. 1, f o l . ) ( I l l b - ) ( I V a (Vorbericht). - 6 wie not. 3, t. 2, fol. a 2 a - fol. a 5 a (Vorrede). -
Lit.: Zedier, J. Η.: Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wiss.en und Künste 8. Halle/Lpz. 1734 (Nachdr. Graz 1961) 1736. - Jöcher, C. G.: Allg. Gelehrten-Lex. 2. Lpz. 1750 (Nachdr. Hildesheim 1961) 385sq. - Hayn, H./Gotendorf, Α.:
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Ernte: Die erste E. — Ernteteilung
Bibliotheca Germanorum erotica et curiosa 2. Mü. 1913 (Nachdr. Hanau 1967) 1 6 9 - 1 7 5 . - Brückner, 50, 53, llOsq., 6 2 2 - 6 2 5 (Ε. H. Rehermann), 6 4 1 - 6 4 4 (Ε. H. Rehermann; Bibliogr.).
Würzburg
Wolfgang Brückner
Emte: Die erste E. -h» Eichelsaat Ernteteilung (AaTh 1030), eine als Schwankmärchen vom geprellten —»Teufel und als Tiermärchen weitverbreitete Erzählung 1 : Der Teufel (Bär) will mit dem Bauern (Fuchs) die Ernte teilen und beansprucht im ersten Jahr das, was ,über der Erde wächst'. Der Bauer pflanzt Rüben an, und der Teufel erhält nur die Rübenblätter. Im folgenden Jahr soll umgekehrt geteilt werden, da sät der Bauer Weizen. Der Teufel erntet, was ,unter der Erde ist', und geht wieder leer aus.
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über 50 schwed., lett. und frz. Var.n registriert worden, über 20 im lit., estn. und dt. Sprachgebiet und mehr als 10 dän., poln., russ., ukr. und ir. Var.n. Aus dem nichteurop. Mittelmeerraum sind eine neuaram. 4 , eine jüd. aus Libyen 5 , arab. und berber. 6 Var.n anzuführen. Nach Amerika haben vermutlich europ. Einflüsse gewirkt; es finden sich span.- 7 , franko- und angloamerik., schwarzamerik., westind. und nordamerik.indian. 8 Aufzeichnungen sowie eine aus poln. Erzählgut stammende 9 und dt.sprachige 10 Var.n. Aus Afghanistan ist ein jüd. Beleg überliefert 11 . Eine usbek. 12 und eine jakut. 13 Var. liegen aus der UdSSR vor. In Asien lassen sich ferner 1 ceylones. und 5 ind. 14 ,2 bengal. 15 , 1 jap. 16 und 8 chin. 17 Belege nachweisen.
Als E. vereinbarende Partner können die verschiedensten Figuren auftreten 18 . Da diese nur bestimmte Kontaminationen zulassen, ergeben sich daraus verschiedene Erzählgruppen. In der überwiegenden Anzahl der Var.n AaTh 1030 kommt als selbständige Erzähschließen B a u e r u n d T e u f e l den E.svertrag lung vor, öfter jedoch in Kontamination mit ab. Dabei kann der Bauer durch —Kristallianderen Erzähltypen. Bei Austauschbarkeit sationsgestalten der regionalen Volksüberliealler Elemente — der Handlungsträger und ferungen (Jack, Bobtail, Petit Jean, Pipette, Teilungsobjekte, der Erzähleingänge und Eulenspiegel, Spait, Makolbus) oder durch ei-ausgänge, manchmal auch der Art der Tätig- ne Frau (Frau des Bauern, alte Frau) ersetzt keit und des Teilungsprinzips — bleibt das werden. Die Figur des Teufels ist stabiler, für Strukturprinzip der Erzählung stabil: Der ihn werden manchmal —> Euphemismen (Old Kluge übervorteilt den Dummen zweimal, die Gentleman, Boggart, der Böse) gebraucht, zweite Übervorteilung ist eine einfache Um- oder er erscheint einige Male als Riese und kehrung der ersten. Diese Struktur grenzt Naturdämon (Troll, Berg- und Wassergeist). AaTh 1030 von anderen mit E.en oder allg. Nur in der Konstellation Bauer/Teufel ist eibetrügerischen Teilungen verbundenen Er- ne Forts, durch die sog. Kratzwette (AaTh zählungen ab, wie von AaTh 9 Β: In the Divi1095: cf. —> Wettstreit mit dem Unhold) mögsion of the Crop the Fox Takes the Corn (Der lich, und meist nur in dieser Konstellation unreelle —> Partner) und von Erzählungen, in wird mit AaTh 1091: —> Frau als unbekanntes denen ein Streit um die Ernte lediglich als Tier kontaminiert 19 . Eine zweite Gruppe bilAnlaß für eine Auseinandersetzung dient den die Var.n mit den Handlungsträgern (AaTh 275: -> Wettlauf der Tiere; AaTh 103, H e i l i g e r u n d T e u f e l (vor allem frz., auch 222: —> Krieg der Tiere), oder von Erzählun- ital., katalan., argentin., kroat., sorb., gen über eine einmalige Teilung (AaTh 1036: schwed.) oder G o t t u n d T e u f e l (bes. frz., —> Teilung der Schweine; AaTh 1037: —» Teu- auch lett., estn., ukr., georg.). Allein in dieser fel schert die Sau; Mot. Κ 171.7: Deceptive di- Gruppe findet sich die Kontamination mit vision of shared wife)2. AaTh 1097: The Ice Mill (cf. ^ Wettstreit mit Der Erzähltyp Ε. ist überall in Europa an- dem Unhold). B a u e r u n d B ä r sind bes. in zutreffen; aus fast jeder europ. Sprachgruppe nord- und osteurop. Var.n die Partner einer sind Belege vorhanden, einschließlich der weiteren Gruppe. Hier tritt die E. oft mit kleineren Sprachen wie kaschub. und karel., AaTh 154: —> Fuchs und Glieder kombiniert wot., wotjak. oder tschuwasch., tatar. und auf. In einer vierten Gruppe streiten zwei maltes. 3 . Bisher sind vom Typ AaTh 1030 T i e r e um die gemeinsam erwirtschaftete 8
Enzyklopädie des Märchens IV
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Ernteteilung
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stohlen (lothring., ital., sorb., bengal.) sein, bes. wenn die Akteure eigentlich nichts mit Ackerbau zu tun haben (z.B. Heilige). Für AaTh 1030 ist das Teilungsprinzip o b e n / u n t e n , in das, was .oberhalb und unterhalb der Erde wächst', charakteristisch. Diese Ausdrücke sind auch die in allen Sprachen am meisten verwendeten, z.T. variiert als Blätter und Wurzeln oder ähnlich. Anfang und Ende heißt es in einem drawid. Märchen 23 und in einer Eulenspiegelvariante 24 . In letzterer, in der zum einzigen Mal Bauern die Unterlegenen sind, wird versucht, die Übertölpelung als Mißverständnis zu erklären: Die Bauern hätten Anfang und Ende auf die Teilung des Feldes und nicht der Pflanze bezogen, was sie aber nicht vor dem zweiten Reinfall bewahrt. Zu erwähnen ist noch die Teilung nach grün/trocken und links/rechts 25 . In manchen Var.n wird das Oben/Unten-Prinzip mehrmals durchgespielt, so z.B. im 1. und 3. Jahr der Anbau von Knoblauch und KartofTeilungsobjekte sind in den europ. Var.n feln,26 im 2. und 4. von Kohl und Weizen (krovor allem Weizen und Rüben, die jeweils at.) . Als logische, nach dem gleichen Prinzip durch verwandte Arten (Hafer, Gerste, Rog- funktionierende Erweiterung wird in einigen gen, Hirse, Reis, Mais/Runkel-, Mohrrüben, Var.n ein Vertrag für ein 3. Jahr abgeschlosRettiche) ersetzt werden können 20 . Relativ sen, in dem der Unterlegene nun oben und häufig — so bereits im ältesten Beleg der E. unten beansprucht und dem Gegner die Mitte aus dem 14. Jh. 21 — findet sich Kohl für das läßt. Aber auch hier weiß sich der Schlaue zu über der Erde zu Erntende und — seit jünge- helfen: Er baut Mais an. Die Wurzeln und rer Zeit — die Kartoffel für das unter der Er- wertlosen Spitzen bekommt27 der Teufel, die Maiskolben behält er selbst . Ebenfalls eine de Wachsende. Zwiebeln (oder Knoblauch) 3. E., die allerdings das Prinzip wechselt, foranstelle von Rüben erscheinen manchmal in Var.n aus dem südlicheren Europa (bulg., ru- dert der Teufel in einer ostpreuß. und zwei män., kroat., georg., frz.), ausschließlich je- pommer. Var.n: Er verlangt beim Erbsenausoben fliegt, und bedoch in den berber., arab. und neuaram. Be- hülsen das, was nach 28 kommt die Spreu . legen sowie unter anderen Früchten in Asien (ind., ceylones.). Um Mohn statt Weizen hanSehr vereinzelt treten andere Teilungsprindelt es sich bes. in ukr., aber auch in poln. und zipien auf. In einer frz. Var. finden Wolf und tschech. Fassungen. Zahlreiche andere Bele- Fuchs Mandeln und Oliven, bei den Mandeln ge weisen noch alle möglichen nach dem wählt der Wolf das Äußere und erhält die Oben/Unten-Prinzip ausgewählten Pflanzen Schalen, bei den Oliven das Innere und muß auf, die oft für die jeweilige Region typisch mit den Kernen vorliebnehmen (cf. Mot. Κ sind. 171.3) 29 . Das I n n e n / A u ß e n - P r i n z i p findet In fast allen Var.n der E. treiben beide, zu- sich bereits in einer äsopischen Fabel, in der ein Wanderer von allem, was er findet, Hermindest aber einer der Vertragspartner Akkerbau. In einigen Belegen vom Balkan 22 mes die Hälfte zu opfern verspricht. Er findet Mandeln und Datteln und opfert Schalen und dreschen die Partner gemeinsam und teilen sich den Drusch. Doch muß das Ernteprodukt Kerne (Mot. Κ 171.3.1) 30 . Nur die frz. Erzählung hat das für AaTh 1030 typische Struknicht unbedingt Ergebnis eigener landwirtturprinzip der wiederholten Wahl und des schaftlicher Tätigkeit sein, die Teilungsobjekte können auch gefunden (ital., frz.) oder ge- zweiten Mißerfolgs des Dummen.
Ernte. Hierfür gibt es außer frz. (Ziege/Wolf; Fuchs/Wolf) im Vergleich zur sonstigen Anzahl der Var.n relativ wenige europ. Belege, hingegen arab. und berber. (Igel/Wolf, Schakal, Eber), schwarzamerik. (Brer Rabbit/ Fuchs, Bär) und asiat. (Schakal/Krokodil; Krebs, Kranich/Tiger; Fuchs/Bär). In dieser Gruppe kann mit AaTh 222, mit AaTh 41: —> Wolf im Keller + 30: —> Rettung aus dem Brunnen (frz.), mit AaTh 275 (maltes., arab.) oder AaTh 4 1 + 6 4 : —»Schwanzlose Tiere (arab.) kombiniert werden. Seltener sind M e n s c h e n die Partner, wie Eulenspiegel und Bauern oder Schöffen (dt.), Gevatterin Guilla und Gevatter Llop (katalan.), drei Brüder (span.), Barbier und Weber (bengal.), Wäscher und Gamaräla (ceylones.), Bauer und Gutsherr (chin.). Vereinzelt findet sich die Konstellation N a t u r d ä m o n u n d T i e r (wotjak.: Wassergeist/Bär) oder M e n s c h u n d —»Trickster (indian.: Franzose/^ Brer Rabbit).
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Die Wahl zwischen g r ο ß u η d k 1 e i η ist ein weiteres Teilungsprinzip (cf. Mot. Κ 171.2). Eigentlich typisch für AaTh 9B, wird es in einer siebenbürg, und zwei ung. Var.n analog dem Prinzip von AaTh 1030 durchgeführt: Im 1. Jahr wählt der Dumme nach dem Dreschen den großen Haufen und erhält die Weizenspreu, im 2. Jahr nimmt er den kleineren und ist wiederum betrogen, da Mais wenig Abfall hat 31 . Tritt die E. zusammen mit anderen Erzählungen auf, so ist sie bis auf wenige Ausnahmen der Anlaß für weitere Auseinandersetzungen und steht am Anfang der Erzählkette. Das Zustandekommen der E. wird verschieden motiviert. Der Teufel beansprucht oft ohne Erklärung die Hälfte der Ernte, ihm gehört der Acker, er hat einen Schatz auf dem Feld 32 , er möchte Landwirtschaft betreiben 33 , sucht einen Partner und arbeitet manchmal äußerst fleißig mit 34 , oder er wird aus Not herbeigerufen 35 . Handelt es sich um Bauer und Bär, so treffen sie im Wald zusammen, wo der Bauer sein Feld liegen hat bzw. neu rodet, oder es verbindet ihn bereits eine Freundschaft mit dem Bären. Ebenso geht der E. bei Tierpartnern oft schon eine Freundschaft voraus. Die E. als selbständige Fassung endet damit, daß der Teufel voller Wut verschwindet und sich nie wieder sehen läßt. Manchmal schließt AaTh 1030 mit einer Erklärung der Redensart ,dummer Teufel', z.B. „und seither nennt man die Leute, welche sich überlisten lassen, dumme Teufel" 36 . Handelt es sich um einen Tierpartner, erhält der Schluß oft ebenfalls einen ätiologischen Charakter: Seit dieser Zeit will der Bär nichts mehr vom Menschen wissen37. Oft jedoch gibt der Verlierer nicht auf und will das Ergebnis korrigieren, indem er zu einem oder mehreren Wettkämpfen auffordert, oder er will sich einfach rächen. Die Art und Anzahl der sich anschließenden Erzählungen variiert außerordentlich 38 . Sind Bauer und Teufel oder Heiliger und Teufel die Handlungsträger, folgen die verschiedensten Erzähltypen aus der Gruppe Tales of the Stupid Ogre (AaTh 1000-1199), bes. aus der Untergruppe Contest between Man and Ogre (AaTh 1060-1114). Ausgehend von der Zornwette (AaTh 1000) ist z.B. in einer 8·
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estn. Var. die E. einer unter 17 Erzähltypen 39 . Neben den bereits erwähnten Typen AaTh 1091,1095 und 1097 sind Kombinationen bes. häufig mit der —> Teilung der Schweine (AaTh 1036), einer Wurfwette (AaTh 1062, 1063), einer Prügelei (AaTh 1083), aber auch mit AaTh 1060, 1061, 1070, 1082, 1084, 1090 (-> Wettstreit mit dem Unhold). Die E. kann auch damit schließen, daß den Teufeln, die nun einer Hungersnot ausgesetzt sind, von Gott die Hölle als Bleibe eingerichtet wird 40 oder daß der Teufel dem Bauern obendrein Geld schenken will und von diesem mittels eines Stiefels ohne Sohle noch einmal betrogen wird (Mot. Κ 275) 41 . Auch die Erschaffung des Branntweins und seine Segnung durch Gott oder einen Heiligen kann als Folge der E. erzählt werden 42 . Typisch für solche Erzählketten wie auch für die E. mit anderen Vertragspartnern ist, daß der bei der E. Übertölpelte auch in den folgenden Erzählungen der Verlierer bleibt. Nur in zwei dt.sprachigen Var.n gewinnt am Ende der Teufel 43 . Eine Ausnahme bildet auch das Exempel Juan Manuels. Hier ist der Gute bei der E. zunächst der Verlierer und gewinnt erst in der Erzählung von der geteilten Frau (Mot. Κ 171.7) am Ende des Exempels die Oberhand über den Bösen 44 . Ebenfalls einen Sonderfall stellt die Trickstererzählung dar: Brer Rabbit verliert zwar gegen den Franzosen bei der E. und läßt sich beim Stehlen des Brunnenwassers ertappen, überlistet jedoch seinen Gegner, als dieser ihn töten will45. Als ältester Beleg des Erzähltyps gilt das Exempel De lo que contescio al Bien et al Mal [. . . ] Juan Manuels aus seinem El Conde Lucanor (um 1329) 46 . Da dieser vielfach aus arab. Quellen schöpfte, wird eine solche auch für dieses Exempel vermutet 47 . Der nächstältere Beleg findet sich im 16. Jh. bei Rabelais 48 und ist zugleich der älteste Nachweis für das gemeinsame Vorkommen der E. und der sog. Kratzwette. Dies bestärkte W. Liungman in seiner Annahme einer oriental. Quelle, da die Kratzwette bereits bei —» Somadeva belegt sei und Rabelais sich bei der Kratzwette auf pers. Gepflogenheiten berufe 49 . Allerdings ist nicht nachweisbar, ob diese Kombination eine Schöpfung Rabelais' ist oder von ihm bereits aus literar. oder mündl. Überlieferung über-
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nommen wurde. Aus dem 17. Jh. — ebenfalls in Verbindung mit der Kratzwette — stammen die ersten dt. und holländ. Belege: aus dem Zeit-Verkürtzer (Augsburg 1675), De geest van Jan Tamboer (Amst. 1656/64) und einer Nürnberger Bildergeschichte (2. Hälfte 17. Jh., hier mit einer Prügelei verbunden) 50 . Der ursprüngliche Sinn der E. wird mit Vorstellungen von der Aufteilung der Erde zwischen Göttern und ihren Widersachern in Zusammenhang gebracht (—> Dualismus). Dabei wird auf nordgerm. Bezüge (Elemente aus der heidnischen Riesen- und Götterwelt, Teufel als Substitut des Riesen) hingewiesen 51 . Der Anspruch des Teufels auf die halbe Erde habe sich dann in sein Verlangen nach den Früchten der Erde gewandelt, wofür auch das die E. behandelnde Gedicht Der betrogene Teufel von Friedrich Rückert herangezogen wird, der sich auf eine bisher nicht eruierte oriental. Quelle beruft 52 . Dualistische Tendenzen zeigen sich auch in der Auseinandersetzung zwischen dem Guten und dem Bösen im Exempel Juan Manuels 5 3 oder in einer estn. Var., in der die E. zusammen mit dem Schöpfungsschwank von Gottes und des Teufels Herde (Mot. Κ 483) auftritt 54 . Κ. Krohn nimmt an, daß die Var.n mit den Partnern Heiliger/Teufel zuerst entstanden seien, woraus sich dann später die E. als Tiermärchen entwickelt habe 55 . Auch Liungman geht für die europ. Überlieferung der E. von Erzählungen mit Heiligem und Teufel aus, und zwar von rom. Versionen, die sich auf zwei Wegen verbreitet haben: von Frankreich aus (1) über die Niederlande nach Norden und (2) über Deutschland nach Nord- und Südosten 56 . H. Mode spricht sich allg. für ein hohes Alter des Stoffes aus, da der inhaltliche Kern, die Fruchtunterscheidung, schon eine Erkenntnis der ältesten Pflanzerkulturen sei 57 . In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß die E. mit Bauer und Teufel sowie Heiligem oder Gott und Teufel als Handlungsträgern typisch für die europ. Var.n ist, die vorliegenden außereurop. Texte — ausgenommen die meisten amerik. Belege — jedoch fast ausschließlich jeweils zwei Tiere oder zwei Menschen als Partner aufweisen. Interpretationen der E. im Rahmen der Erzählungen vom geprellten Teufel 5 8 bleiben auf europ. oder europ. beeinflußtes Erzählgut beschränkt.
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I
BP 3, 355-364; Künzig, J.: Bauer und Teufel. In: HDM 1, 193-195; Heckscher, Κ.: E. In: HDM 1, 593-599; Hackman, O.: Sagan om skördedelningen. In: Folkloristika och etnografiska studier 3 (1922) 140—170. - 2 In einen solchen Zusammenhang jedoch gestellt bei Heckscher (wie not. 1) und in AaTh durch Angabe von Mot. Κ 171, AaTh 1030 entspricht jedoch Mot. Κ 171.1. - 3 Zusätzlich zu AaTh, BP und HDM v. für die europ. Verbreitung Aräjs/Medne; SUS; Kecskemeti/Paunonen; Krzyzanowski; Nedo, P.: Sorb. Volksmärchen. Bautzen 1956, 418, not. zu num. 83a und b; Baughman; 0 Suilleabhäin/Christiansen; de Meyer, Conte; de Meyer/Sinninghe; Cirese/Serafini; JAFL 56 (1943) 43; griech., alban., armen. Belege sind nicht nachzuweisen. — 4 BP 3, 362. — 5 Jason. — 6 BP 3, 362; Frobenius, L.: Volksmärchen der Kabylen 3. Jena 1921, num. 13; Laoust, E.: Contes berberes du Maroc 1 - 2 . P. 1949, num. XIIΒ (nur 1. Phase der E.). — 7 Chertudi, S.: Cuentos folkloricos de la Argentina 1. Buenos Aires 1960, num. 68, 78; Pino-Saavedra, num.166. — 8 Baughman; JAFL 56 (1943) 43. - 9 Coleman, Μ. Μ.: A World Remembered. Cheshire, Conn. 1965, 242sq. — 10 Brendle, T. R./Troxell, W. S.: Pennsylvania German Folk Tales [. . .]. Norriston 1944, 160sq. II Jason. — 12 Severdin, Μ. I. u.a.: Uzbekskie narodnye skazki 2. Taskent 21963, 243-245. 13 Ergis, G. U.: Jakutskie skazki 2. Jakutsk 1967, 231, num. 255. — 14 Bei AaTh ist die ceylones. Var. als ind. mitgezählt. — 15 Mode, H./Ray, Α.: Bengal. Märchen. Ffm. [1967] 114sq., 349-357. - 16 Ikeda. - 17 Ting; cf. Eberhard, W.: Folktales of China. Chic./L. 1965, num. 70. — 18 Die Handlungsträger sind aufgeführt bei BP 3, 357-362; HDM 1, 596sq. und z.T. in den Typenkatalogen Baughman; de Meyer, Conte; de Meyer/Sinninghe; Krzyzanowski; Ergis (wie not. 13); Thompson/Roberts; Ikeda. - 19 Bei Chertudi (wie not. 7) num. 78 verwandelt sich ein Hl. in das unbekannte Tier und erschreckt so den Teufel. — 20 Die Teilungsobjekte sind angegeben bei BP 3, 357—362 und HDM 1, 598 sq. 21 Juan Manuel. El libro de los enxiemplos del Conde Lucanor et de Patronio. ed. H. Knust/A. BirchHirschfeld. Lpz. 1900, num. 43; cf. Chauvin 2, 144-146, 159. - 22 Koväcs, Ä.: Kalotaszegi nepmesek 2. Bud. 1943, num.52; Gaäl, Κ.: Die Volksmärchen der Magyaren im südl. Burgenland. B. 1970, num. 55. - 23 Schulze, P.: Drawidamärchen der Kuwi-kond. Mü. 1922, num. 3. — 24 Schmitz, J. H.: Sitten und Bräuche, Lieder, Sprüchwörter und Räthsel des Eifler Volkes [. . .]. Trier 1856, 142. - 25 Keller, J. E./Johnson, J. H.: Motif-Index Classification of Fables and Tales of Ysopete Ystoriado. In: SFQ 18 (1954) Κ 171.1. 26 Von Prinzen, Trollen und Herrn Fro. ed. Ges. zur Pflege des Märchengutes der europ. Völker. Rheine 1962, 191-193. - 27 Perbosc, Α.: Contes de Gascogne. P. 1954, num. 38; cf. auch Eberhard
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Erntewunder — Erotik, Sexualität
(wie not. 17); Brendle/Troxell (wie not. 10); Amades, num. 1293; Serra i Boldü, V.: Rondalles populäre 16. Barcelona 1933, 5 5 - 6 4 . - 28 Lemke, E.: Volksthümliches in Ostpreußen 2. Mohrungen 1887, num. 26; Knoop, O.: Sagen und Erzählungen aus der Provinz Posen. Posen 1893, 107, num. 25; Asmus, F./Knoop, O.: Sagen und Erzählungen aus dem Kreise Kolberg-Körlin. Kolberg 1898, 24 sq. - 29 Basset, R.: Contes populaires herberes. P. 1887, 139 (Hinweis auf die Erzählung bei Laisnel de la Salle, Le Berry 1, 130, 134 und die Fabel „Pueri duo" von Desbillons, Fabulae aesopicae 1,6, num. 21). - 30 Antike Fabeln. Übers. J. Irmscher. B./Weimar 1978, 99, num. 188. 31 Korrespondenzblatt des Vereins für siebenbürg. Landeskunde 9 (1886) 58; Koväcs (wie not. 22); Gaäl (wie not. 22). - 32 KHM 189. - 33 Merkens, H.: Was sich das Volk erzählt 1. Jena 1892, num.103. - 34 Chase, R.: Grandfather Tales. Cambr., Mass. 1948, num. 9. - 35 Asmus/Knoop (wie not. 28); Knoop (wie not. 28); Schlosser, P.: Bachern-Sagen. Volksüberlieferungen aus der alten Untersteiermark. Wien 1956, num. 76. - 36 Alpenburg, J. N. Ritter von: Dt. Alpensagen. Wien 1861, num. 63; cf. auch Warker, N.: Wintergrün. Sagen, Geschichten, Legenden und Märchen aus der Provinz Luxemburg. Arlon 1890, num. 254. 37 Beke, Ö.: Tscheremiss. Märchen, Sagen und Erzählungen. Hels. 1938, num. 69. - 38 cf. hierzu BP 3, 3 5 7 - 3 6 2 ; HDM 1, 193sq.; oft sind die Kontaminationen auch in den Typenkatalogen angegeben. — 39 Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. B. 1980, num. 127. - 40 Sylwestrowicz, M. D.: Podania zmujdzkie 1. W. 1894, 210-213. 41 Lemke (wie not. 28); Asmus/Knoop (wie not. 28); Depiny, Α.: Oberösterr. Sagenbuch. Linz 1932, num. 193. - 42 wie not. 26. - 43 SAVk. 17 (1913) 95; Meyer, G. F.: Plattdt. Volksmärchen und Schwänke. Neumünster 1925, num. 32. 44 wie not. 21. - 45 JAFL 6 (1893) 48; cf. Dh. 4, 39sq. - 46 wie not. 21. - 4 7 Liungman 1030; cf. auch Spies, Ο.: Oriental. Stoffe in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Walldorf (Hessen) 1952, 38 sq. - 48 Rabelais, Gargantua 4, Kap. 4 5 - 4 7 ; nach Rabelais „Le Diable de Papefiguiere" von La Fontaine, Contes 4, num. 6. — 49 Liungman 1030. - 50 v. BP 3, 356. 51 Wünsche, Α.: Der Sagenkreis vom geprellten Teufel. Lpz./Wien 1905, 7 0 - 7 9 ; v. auch HDM 1, 194, 594. - 52 HDM 1, 594; cf. BP 3 , 3 62. - 53 cf. hierzu Schwarzbaum, Fox Fables, 194-196, 473. - 54 Kallas, O.: 80 Märchen der Ljutziner Esten. In: Verhandlungen der Gelehrten Estn. Ges. 20 (1900) 7 9 - 4 0 5 , hier num. 64; cf. Lixfeld, H.: Der dualistische Schöpfungsschwank von Gottes und des Teufels Herde. In: Volksüberlieferung. Festschr. K. Ranke. Göttingen 1968, 165-179. 5S Krohn, K.: Bär und Fuchs. In: JSFO 6 (1889) 104-111. - 56 Liungman 1030. - 57 Mode/Ray (wie not. 15) 473. - 58 v. Röhrich, L.: Teufelsmär-
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chen und Teufelssagen (1965). In: id.: Sage und Märchen. Fbg/Basel/Wien 1976, 252-272. Göttingen
Ines Köhler
Erntewunder —> K o r n l e g e n d e Erotik, Sexualität 1. Definitionsprobleme - 2. Geschichte der E. und die ,sexuelle Revolution' - 3. Erotische Folklore - 4. Wissenschaftsgeschichte und Forschungsstand - 5. E. im Märchen - 5.1. Das Märchen als nicht-erotische Erzählung — 5.2. Das Märchen als erotische Erzählung — 6. Grimm - Perrault - Basile - 7.1001 Nacht - 8. Erotische Märchendeutung - 9. Pornographische Märchen - 10. Erotischer Märchenfilm und Reklame - 11. Sage - 12. Ätiologische Erzählungen - 13. Schwank — 14. Witz - 15. Sprichwort - 16. Rätsel - 17. Psychol. und gesellschaftliche Funktion erotischer Folklore: Realität und Fiktion. 1. D e f i n i t i o n s p r o b l e m e . E. gehört zum griech. W o r t eros, das die Liebe u n d — personifiziert — den G o t t d e r Liebe meint. In A b g r e n z u n g zur —»Liebe, die auch Kindesliebe, Mutterliebe, Nächstenliebe, Gottesliebe etc. umschließt und als geistig-seelische V e r bindung von allem Körperlichen abstrahieren kann (ungeschlechtliche, platonische Liebe), zielt E . auf die geschlechtlichen Beziehungen. Im Unterschied zur Sexualität (Mot. Τ), d . h . d e m bloß geschlechtlichen Triebverhalten, hat E. j e d o c h etwas mit seelischer E m p f i n dung und ihrer b e w u ß t e n wechselseitigen Ä u ß e r u n g zu tun. In diesem Sinne ist E . ein spezifisch menschliches Verhalten. „ N u r der Mensch hat seine sexuelle Aktivität zu einer erotischen Aktivität g e m a c h t " 1 , Tiere h a b e n keine Ε . E . b e d e u t e t .Liebeskunst' in einem doppelten A s p e k t : als V e r f e i n e r u n g u n d Sublimierung bloßen Triebverhaltens f ü r das Individuum u n d als im weitesten Sinne künstlerische (spielerische, metaphorische o d e r symbolische) Umsetzung, Auswirkung, Beschreibung, Darstellung und Vermittlung von Sexualität, wie sie sich in Brauch, Geselligkeit, M o d e , Kunst, Lit., Folklore, R e k l a m e etc. manifestiert. F ü r den P r o z e ß der Zivilisation ist es charakteristisch, d a ß das W o r t erotisch im D e u t s c h e n erst am E n d e des 18. Jh.s nach frz. erotique a u f k o m m t u n d zunächst n u r zur Bezeichnung von Dichtwerken gebraucht w u r d e 2 . D i e V e r w e n d u n g des Begriffs E . in
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Erotik, Sexualität
den Kulturwissenschaften, z.B. in seiner Anwendung auf Kunst, Lit. oder Folklore, ist von Anfang an und bis heute nicht immer klar oder logisch. So spricht man beispielsweise von ,erotischer Kunst und Lit.' oder vom .erotischen Roman' oder ,Volkslied', nicht jedoch von einem .sexuellen Roman' oder ,sexuellen Sprichwörtern', wohl aber vom ,sexuellen (und nicht vom erotischen) Witz'. 2. G e s c h i c h t e d e r E. u n d die ,sexuelle R e v o l u t i o n ' . Sexualverhalten ist immer ein Sozialverhalten, das von kulturellen Normen bestimmt wird. Entsprechend ist auch E. hist, und gesellschaftlichem Wandel unterworfen. Die Erscheinungsform der Geschlechtlichkeit nimmt an den Wandlungen und Entwicklungen der jeweiligen Kultur teil und unterliegt zeitbedingtem und zeittypischem Verständnis 3 . Dabei hat die Einstellung gegenüber dem Erotischen oft gewechselt. Jede Epoche hat ihr eigenes Verhältnis zu ihm. Die Entwicklung verläuft nicht geradlinig, sondern geradezu in Wellenbewegungen oder Pendelausschlägen im Wechsel zwischen sinnesfreudigen und sexualfeindlichen Strömungen. Die Geschichte der Sexualität ist die Geschichte ihrer Unterdrückung bzw. ihres kulturellen Überbaus. Der Triebnatur entgegen stehen Religion und Arbeit. Vor allem das Christentum hat ein gebrochenes Verhältnis zur Sexualität und hat sich auch der E. widersetzt: Die bibl. Sündenfallgeschichte (—»Adam und Eva) ist bereits die Geburtsstunde der Scham. Was die ersten Menschen zunächst tun müssen, ist, ihre nackten Körper verhüllen. Fortan ist Sexualität nicht mehr bloßer Lustgewinn, sondern dient vorzugsweise der Kinderzeugung. In späterer, christl.ma. Interpretation gilt sogar jede eheliche Sexualbetätigung ohne Fortpflanzungsabsicht als Unzucht und schwere Sünde. Außereheliche Ausübung von Sex wird erst recht mit Schuldgefühlen beladen. Die Sündenfallgeschichte des A.T.s begründet außerdem die Identifizierung der —» Frau mit dem Bösen und ihre entsprechende Abwertung und Geringschätzung durch die Jh.e. Die mit der Vertreibung aus dem Paradies gleichzeitig notwendig gewordene menschliche Arbeit ist weiter die hist. Ursache für die Repression von Sexualität.
Auf diese at. Vorgänge stützt sich das traditionell antisexuelle Syndrom auch des Chri-
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stentums: die radikale Unterdrückung der gesamten nichtreproduktiven Sexualität. Insbesondere Pietismus und Protestant. Erwekkungsbewegungen im 18./19. Jh. ächteten jegliche Erotisierung. Zeitweilig sollte selbst der Geschlechtsverkehr entsinnlicht vollzogen werden (eheliche Pflicht) 4 . Hierauf beruht der vor allem das 19. Jh. beherrschende Widerspruch zwischen offizieller Moral und gelebter Wirklichkeit. Von E. wird dann nur noch mit schlechtem Gewissen gesprochen. Erst im 20. Jh. hat die .sexuelle Revolution' zu einem generellen Abbau sexueller Tabus geführt 5 . Sozioökonomische Ursachen dieses Prozesses liegen u.a. in der Urbanisierung, Säkularisierung, Emanzipation der Frauen und Jugendlichen. Auf dem Gebiet der Philosophie und Psychologie ist diese Bewegung verbunden mit den Namen von S. —» Freud, W. Reich, E. Fuchs, P. Englisch, H. Marcuse, E. Borneman und M. Foucault (v. auch Lit.). Die genannten Emanzipations- und Liberalisierungstendenzen haben allerdings nicht nur Befreiung gebracht. Sie haben die Kommerzialisierung, Mechanisierung und Entfremdung von Sexualität nicht verhindert. Befreiung von Konventionen bedeutet auch keine absolut ungezügelte Entfaltung von Sexualität. Vermutlich kann es in einer Welt, die von Leistungsdruck, Konkurrenz und Gewalt beherrscht wird, eine Freiheit der Sexualität nicht geben. Auch gibt es keine Kultur ohne —> Tabus. Die Verbote, mit denen jemand groß geworden ist, behalten Macht über ihn. Man kann sie nicht vergessen. Noch indem man sie übertritt, zollt man ihnen Tribut. So ist ein entspanntes, selbstverständliches, fragloses Verhältnis zum eigenen Körper und seiner Sexualität noch immer Utopie. Auch sind die Normen, Einstellungen, Verhaltensweisen und Bewußtseinsunterschiede auf sexuellem und erotischem Gebiet bes. groß, sowohl differenziert nach sozialen und ethnischen Gruppen als auch je nach Herkunft, Erziehung und Gewohnheit von Individuum zu Individuum. Was die einen als Signal neuer Freiheit sehen, sehen die anderen als anstößigen Schmutz. 3. E r o t i s c h e F o l k l o r e . Darunter versteht man jede Folklore, soweit sie inhaltlich zentral auf das Verhalten der Geschlechter
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zueinander Bezug nimmt, unabhängig davon, ob dabei Sexualvorgänge unverblümt oder verschlüsselt geschildert werden. Erotisches ist nahezu in allen Gattungen der mündl. Überlieferung zu finden, in Schwank, Witz, Märchen, Sage, Lied, Rätsel, Sprichwort, Redensart, Namen und Wortgut etc. Auch die Gefühls- und Handlungsskala reicht sehr weit: von Direktem zu Indirektem, von Sublimiertem zu Entsublimiertem und von der stärksten Brutalität bis zur größten Zärtlichkeit. Erotische Folklore entwickelt dabei meist einen stimulierenden Effekt. Indem sie den Hörer oder Leser zum Voyeur macht und zum Nachvollzug auffordert, hat erotische Folklore einen fiktiven Charakter. Sie bringt heimliche Wünsche und ihre Befriedigung zum Ausdruck. Dabei macht der Ruch des Verbotenen, Verborgenen und Geheimen oft erst den Reiz von E. aus. Erotisch wirkt vor allem das, was man selbst nicht tun will oder darf, aber doch gerne möchte. Analog zur erotischen Dichtung handelt auch erotische Folklore öffentlich von einem Privaten, das nicht öffentlich sein soll und darf 6 . Dies entspricht Freuds These, daß Kultur und Zivilisation auf der permanenten Unterjochung der menschlichen Triebe beruhen. Zur E. gehört demnach meist die Überschreitung von —»· Normen, Gesetzen, Regeln, Tabus. Sie ist oft verbunden mit der Auffassung des Unreinen, des Bösen und der Sünde und deren Bestrafung und ist dann mit Angst-, Schuld- und Inferioritätsgefühlen gekoppelt. Darum tauchen in Verbindung mit E. so häufig kritischmoralisierende Negativbemerkungen auf, wenn das Nicht-Sitten-Konforme, Normabweichende mit Etiketten wie unanständig, schmutzig, unflätig, unrein, unkeusch, anzüglich, obszön, schlüpfrig, geil, pikant, schamlos, lüstern, zotig und pornographisch versehen wird. Solche Be- und Verurteilungen haben E. im Bereich der Folklore zwar in den gesellschaftlichen Untergrund geführt, aber darum keineswegs zum Verschwinden gebracht — im Gegenteil: Sexualrepressionen haben in Lit. und Kunst im Bereich der Volkspoesie zu Ventildichtungen geführt, zum Ausweichen in die Sprache der —» Metaphern und Symbole einerseits, zur Illegalität unverblümter, derb-direkter Aussage andererseits. E. in der Volksliteratur bedeutet die
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Wiederkehr des Verdrängten in anderer Form. Immer hat es genügend Phantasie gegeben, um das Lustprinzip auch weiterhin zu realisieren. So verläuft erotische Folklore zwischen den Extremen äußerster Libertinage und völliger Unterdrückung. Beides hat seine individuell psychol. wie gesellschaftlichen und hist. Hintergründe, die es zu erhellen gilt. 4. W i s s e n s c h a f t s g e s c h i c h t e und Fors c h u n g s s t a n d . Erotische Folklore ist von der volkskundlichen Sammeltätigkeit der Romantik und des 19. Jh.s weitgehend ausgeklammert worden. Die Beschäftigung mit ihr setzt erst am Ende des 19. Jh.s ein, ist aber im wesentlichen und nicht zufällig erst eine Entdeckung des 20. Jh.s und eine Folge der s e xuellen Revolution'. Bis dahin gab es bei der Erforschung der sog. Volks-Ε. Barrieren sowohl in der Feldforschung wie bei der Qu.nveröffentlichung und auch bei den wiss. Analysen. Zensur, Verbote und Prozesse zur Unterdrückung erotischer Folklore reichen bis in die Gegenwart 7 . Zensur braucht dabei noch nicht einmal einen obrigkeitlichen Eingriff durch Verbote, Beschlagnahme und Bestrafung zu bedeuten. Sie kann auch in Form von Rezensionen erfolgen oder — weit häufiger — einfach in der allg. öffentlichen moralischen Entrüstung bestehen. Sammler und Erforscher erotischer Folklore sind sogar von ihren eigenen Gewährsleuten verdächtigt worden. R. Wossidlo wurde von einem alten Mecklenburger Schäfer charakterisiert als der Mann, „de hier de ollen Utdrück upschräwen hett un de Swinerien" 8 . Die meisten Forscher wagten es nicht, ihre Aufzeichnungen erotischer Folklore zu veröffentlichen, publizierten anonym oder unter einem Pseudonym und/oder kaschierten ihre Erhebungen vorsichtigerweise unter dem Deckmantel lat. oder griech. Umschreibungen als —» Kryptadia, —> Anthropophyteia, Futilitates, Latrinalia oder Maledicta. Sie wichen mit ihren Materialien in sexualwiss. Spezialorgane aus, die z.T. noch heute in den Bibliotheken zumeist unter Verschluß gehalten werden (wegen ihres anstoßerregenden Inhalts, aber auch wegen ihres bibliophilen Wertes). Berühmte Kollektionen erotischer Folklore, wie die von Α. N. —> Afanas'ev 9 und P. C. —> Asbj0rnsen 10 sind erst postum in Buchform veröffentlicht worden.
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Was J. R. —> Bünker an erotischen Erzählungen des Straßenkehrers Tobias Kern 11 vorenthalten hat, wurde separat in der Anthropophyteia (2 [1905] 173-194) veröffentlicht. W. —» Wisser publizierte seine Plattdt. Volksmärchen in einer Ausgabe für Erwachsene (1914—27), wobei er das Anstößigste noch weggelassen hat. Auch der hess. Sammler O. Stückrath vertraute 1911 die von ihm zusammengetragenen Lieder der Sinnlichkeit lieber den Beiwerken zur Anthropophyteia an. Vor allem weibliche Sammler übten vornehme Zurückhaltung. E. Zenker-Starzacher hat in ihrer Märchen-Slg alles vom Druck ausgeschlossen, was „zu derb und erotisch" war 12 . Symptomatisch ist auch das HDM, das zwar einen Artikel Ehe enthielt, aber keinen Artikel E. Auch das StandDict. bringt keinen Art. zum Thema. Es bestand aber auch lange Zeit hindurch kein Interesse an erotischer Folklore. Sowohl die ältere sog. Sittengeschichte wie sogar noch die moderne Sexualwissenschaft haben sich um E. in der Volksüberlieferung wenig gekümmert. Die Entdeckung der erotischen Folklore steht in zeitlichem und örtlichem Zusammenhang mit der Wiener psychoanalytischen Schule Freuds und ist vor allem mit dem Namen F. S. —» Krauss verbunden. Zwei Bände der von ihm seit 1904 herausgegebenen Zs. Anthropophyteia hat er zu einem guten Teil selbst mit den von ihm aufgezeichneten Südslav. Volksüberlieferungen, die sich auf den Geschlechtsverkehr beziehen bestritten. Nicht viel später erschienen Beiträge zur volkskundlichen E. unter dem Titel Futilitates13. Zu den Initiatoren dieser Serie gehört Ε. K. Blümml, der mit einer Slg erotischer Lieder aus Österreich und anderen Editionen (1907 sq.) maßgebend zur Entdeckung des erotischen Volksliedes beitrug. Ihm folgte L. Schidrowitz mit seiner Slg Das schamlose Volkslied (1921). Zu den Autoren dieses emanzipatorischen Aufbruchs nach dem Ersten Weltkrieg gehört auch E. Fuchs als Begründer der modernen Sittengeschichte. Diese Forschungen waren für die damalige Öffentlichkeit — wie Rezensionen, gerichtliche Nachspiele etc. beweisen - ein nicht geringer Schock. Selbst ein Forscher wie J. —> Bolte schrieb von den „Erzeugnissen städtischer Bordelle, von denen man sich mit Ekel abwendet" 14 . Es ist bemerkenswert,
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daß erotische Folklore systematisch vorzugsweise im Bereich des Liedes gesammelt worden ist; auf dem Gebiet des Märchens oder auch des Rätsels bedeutend seltener und auf dem Gebiet der Sage so gut wie überhaupt noch nicht. W.-E. —* Peuckerts Darstellung der Volksprosa von 1938 enthielt erstmalig auch einen Abschnitt über Das Märchen als erotische Erzählung15.
Seit der Mitte der 60er Jahre des 20. Jh.s ist das Interesse an den Formen des menschlichen Sexualverhaltens enorm gewachsen, insbesondere in den Disziplinen Psychologie, Soziologie und Anthropologie, aber auch im Bereich der Folkloristik. P. Rühmkorf (1959) und E. Borneman (1973—76) entdeckten den erotischen Kinderreim. Ein Sammelband des JAFL hat sich vorzugsweise der erotischen Folklore zugewandt 16 . Die von R. Aman herausgegebene Zs. Maledicta. The International Journal of Verbal Aggression (1977 sqq.) setzt alte abgebrochene Traditionen fort. Die Aufarbeitung und Analyse der Graffiti wird zu einem neuen Sammelgebiet der Volkskunde 17 . Man hat sich den obszön-erotischen —» Gebärden zugewandt (Rettenbeck 1955, Röhrich 1967 u.a.) und auch erotische Rituale in Bräuchen und Spielen bis zum Fußball (Dundes 1962) entdeckt. Die .Sexwelle' brachte ein neues Interesse für E. in der Werbung und ihre ,geheimen Verführer' 18 . Der sexuelle Witz wurde von mehreren Autoren aufgearbeitet. Unter den heutigen Folkloristen haben sich mit erotischer Folklore speziell befaßt: G. Legman, Η. —> Halpert, Α. —» Dundes, F. A. Hoffmann, L. -» Röhrich, R. W. -» Brednich, B. af Klintberg u.a. Slgen und Anthologien erotischer Folklore gibt es mittlerweile in beträchtlicher Anzahl. Dem steht aber noch immer ein Defizit an Abhandlungen, Unters.en, Darstellungen und Analysen dieses Genres gegenüber. 5. E. im M ä r c h e n 5.1. D a s M ä r c h e n als n i c h t - e r o t i s c h e E r z ä h l u n g . Die Frage nach der E. im Märchen findet höchst unterschiedliche Beantwortung. Geht man von einem wörtlichen Befund der Qu.η — etwa vom Korpus der KHM — aus, so könnte man zur Ansicht gelangen, das Märchen kenne keine erotische Darstellung. Glaubt man dagegen manchen Märchendeutern, insbesondere den Psychoanaly-
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tikern unter ihnen, so erscheint das Märchen sogar als eine hochgradig erotische Erzählung. Läßt sich dieser Widerspruch erklären oder auflösen? Obwohl die meisten aller Zauber- und Novellenmärchen von der Gewinnung eines Partners, einer Braut bzw. eines Bräutigams, handeln 19 und mit der —> Hochzeit schließen, ist das Märchen doch zumeist alles andere als eine erotische Erzählung. Als Werbungs(Brautwerbung; —> Freier, Freierproben) und Liebesgeschichte hätte das Märchen mannigfachen Anlaß zur Darstellung erotischer Szenen, aber es macht davon so gut wie keinen Gebrauch, und man wundert sich, daß erotisch-sexuelles Verlangen in ihm eine so geringe Rolle spielt. Erst recht kommen keine süßlichen oder kitschigen Schilderungen von Märchenliebe vor. Dabei gibt es zahlreiche Märchenszenen, die leicht erotisch ausgestaltet werden könnten, z.B. wenn sich der Liebhaber den Zutritt zur Kammer des Mädchens erkauft (AaTh 851: —> Rätselprinzessin; AaTh 900: König Drosselbart; Mot. Τ 45) oder wenn der Märchenheld durch List unbemerkt in das Gemach der Königstochter dringt oder wenn die Prinzessin, um die Lösung eines Rätsels zu erfahren, sich in das Schlafgemach des Freiers begibt 20 oder wenn sich ein Mädchen bei ihrer Rivalin drei Nächte bei ihrem Geliebten erkauft (—» Nächte erkauft) 21 . Das Märchen erzählt zwar von der Hochzeit als Happy-End des Geschehens, aber nie von —» Hochzeitsnächten; und wenn, dann haben die Hochzeitsnächte des Märchens mit Sex wenig zu tun. Die Keuschheits-Motive (Mot. Τ 3 0 0 - 3 9 9 ) , wie etwa die Einhaltung der Tobias-Nächte, schließen E. aus. Das Märchen kennt — wie schon die höfische und heroische Epik (Tristan, Siegfried) — das Motiv des blanken Schwertes, das zwischen Mann und Frau als Symbol der Keuschheit gelegt wird (z.B. K H M 60, AaTh 303: Die zwei -» Brüder; Mot. Τ 351; —> Symbolum castitatis). Aber von einer knisternden E. ist da nichts zu spüren; eher hat man das Gefühl, daß sich auch ohne Schwert nichts Aufregendes ereignen würde - die Frage, ob ein Mann seine richtige Braut im Bett hat oder eine falsche, wird nie aufgrund intim-erotischer Betterfahrungen entschieden, und niemals würde ein vergessener Partner an seinem individuellen Sexualverhalten wiedererkannt und identifiziert. —> Betten sind im Märchen offensichtlich nur zum Schlafen da, nicht zum Beischlaf. So auch im —» Froschkönig
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(KHM 1, AaTh 440). Nichts hört man von dem, was an Worten und Werken zwischen einem liebenden Paar sich abspielen könnte.
Das gilt für den gesamten Komplex der mit —» Erlösung verbundenen erotischen Handlungen, wie —» Kuß, Beilager (—> Koitus) und Vollzug der Ehe. Erlösungsbedürftiger und Erlöser sind zwar fast immer sexuelle Partner, doch werden solche Szenen nicht ausgebaut. Dornröschen wird durch einen Kuß vom Zauberschlaf erlöst, aber mehr geschieht — jedenfalls in KHM 50 - nicht. Durch Kuß oder Beilager wird der Zauberbann gebrochen. Aber der erotische Charakter dieser Szene wird nicht besonders betont. Der Vorgang interessiert nicht als solcher. Auf Sexuelles ansprechende Szenen schildert das romantische, literar. überarbeitete Märchen nur mit der größten Zurückhaltung, so ζ. B. nimmt der treue —> Johannes (KHM 6, AaTh 516) beim ersten Tanz auf der Hochzeit des Königs dessen Braut in eine Kammer beiseite und saugt drei Blutstropfen aus ihrer Brust. Von den sprechenden Raben weiß er, daß nur so die Königstochter am Leben erhalten werden kann. Es wird nicht gesagt, warum der treue Johannes zum Tod am Galgen verurteilt wird, aber seine Schuld besteht ja wohl darin, daß er sich der Braut seines Landesherrn in unsittlicher Weise genähert hat. Dennoch vermeidet das Märchen alles, um diese Szene als eine erotische oder gar lüsterne erscheinen zu lassen, obwohl sie dem König und den Richtern doch so erschienen sein muß; sonst hätten sie nicht zu einem derart harten Urteil gelangen können. In AaTh 850: —> Rätselprinzessin soll der Held die Merkmale der Prinzessin erraten, und es gelingt ihm, die Prinzessin entblößt zu sehen: Sie hat auf einer Brust die Sonne, auf der anderen den Mond. Aber wenn der Schweinejunge von der Königstochter verlangt, daß sie ihren Busen enthülle, und dann, daß sie das Knie aufdecke, regt sich weder bei ihm noch bei ihr das leiseste erotische Gefühl 2 2 . Das Märchen macht daraus keine Striptease-Szene, ebensowenig wie im Märchen von der klugen —» Bauerntochter (KHM 94, AaTh 875). Wenn sie „splinternackend", nur mit einem Netz bekleidet ankommt, geschieht das ohne Sensationslust. Der König heiratet sie nicht, weil ihn diese Kostümierung in Wallung gebracht hätte, sondern weil sie die Rätselaufgabe, „nicht nackt und nicht gekleidet" vor ihm zu erscheinen, erfüllt hat. Auf die Möglichkeit der erotischen Ausmalung verzichtet das Märchen. Die Beobachtung der badenden —» Schwanjungfrau (AaTh 400*), die ihr Gefieder abgelegt hat, erfolgt ohne exhibitionistisches Engagement. Nur der Diebstahl der Schwanengewänder ist wichtig. Wenn es einmal einen Anflug von Voyeurismus
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gibt, muß er hart gebüßt werden, wie z.B. in einem niedersächs. Märchen. Hier muß der Held eine sechsjährige Probe seiner Geduld ablegen, weil er, entgegen dem Verbot, die Prinzessin durch das Schlüsselloch im Bade beobachtet hat 23 .
Die Begegnung von Liebenden im Märchen (Mot. Τ 30 sqq.) kennt keine zärtlichen Worte der Liebe. Zur Bestimmung des Schönen gehört u. a. auch das, was sexuell erregt. Aber Darstellungen der Schönheit im Märchen (—» Schön und häßlich) sind konkretisiert oder materialisiert und haben mit erotischer Leidenschaft wenig zu tun. Wenn eine Prinzessin schön ist, so hat sie beispielsweise goldene Haare oder es springt ihr bei jedem Wort ein Goldstück aus dem Munde; aber das alles ist kaum dazu angetan, erotisches Begehren zu entfachen. Das Entstehen der Liebe (Mot. Τ lOsqq.: Falling in love) wird oft auf eine seltsame Weise entpersönlicht und dafür eher verdinglicht. Der Held verliebt sich aufgrund eines Bildes (AaTh 403, 516, 900, Mot. Τ 11.2; -> Bildzauber), aufgrund des —> Haares einer ihm unbekannten Prinzessin (Mot. Τ 11.4.1), nach einem magischen Liebestrank (Mot. Τ 21) etc. Der Werbende im Märchen ist Held und Eroberer, nicht Liebhaber. Analoges gilt auch für die weiblichen Rollen. Obwohl die Errettung einer Jungfrau den —» Drachenkampf zu einer Werbungs- und Liebesgeschichte macht und die Überwindung des Drachen für den Helden Liebeserfüllung bedeutet, obwohl sicher auch der Drache ein Sexualwesen ist, wenn er es vor allem auf ,reine Jungfrauen' abgesehen hat, werden Drachenkampfgeschichten in Märchen oder Sage niemals zu erotischen Abenteuern. Mädchen werden sorgfältig vor ihren Freiern bewacht, in einen Turm eingesperrt, um sie vor Männern und Schwangerschaften zu bewahren (Mot. Τ 381). Kein Satz handelt von ihrem Liebesverlangen oder ihren sexuellen Wunschphantasien. Liebe bleibt stets im Äußerlichen: wenn jemand krank vor Liebe ist (Mot. Τ 24), so bleiben Gefühle außer Betracht, oder sie werden unterkühlt. Der —> Wunsch nach einem —> Kind spielt im Märchen eine große Rolle. Allerdings wird keusch verschwiegen, wie Kinder entstehen, es sei dünn, es geschehe auf übernatürliche, magische Weise (wunderbare —> Empfängnis). Die Schwängerung einer Schlafenden geschieht öfters, aber nie käme dem Märchenerzähler in den Sinn, eine solche Tat zu beschreiben, und meist genügen schon nicht näher konkretisierte ,wünschliche Gedanken' für die Erfüllung eines solchen Tatbestandes (z.B. wenn
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der Dummling der Königstochter ein Kind anwünscht [AaTh 675: Der faule —> Junge]). In solchen Fällen kann das Märchen bis ins Obszöne gehen, ohne erotisch zu werden 24 .
Die kulturhist. Hintergründe sind vielfältig: Die Entsexualisierung des Märchens, die Verdrängung des Erotischen, die Sublimierung der körperlichen Liebe, die Umsetzung von Gefühlen in Handlung kann als allg. Stilprinzip des Märchens verstanden werden 25 . Dabei wäre allerdings noch sehr genau zu prüfen, wie weit dieser Stil den Gewährsleuten als Absicht selbst unterstellt werden darf oder wie weit er auf das Konto bewußter Bearbeitung und Verharmlosung der Texte durch die Bearbeiter und Herausgeber geht und — in beiden Fällen — einer bestimmten Zeitströmung, etwa der Prüderie des 19. Jh.s, anzulasten ist. Aber auch die realen gesellschaftlichen Verhältnisse der Märchenerzähler wären zu bedenken. Selbst wenn das Märchen von königlichen Verhältnissen redet, geht es im Grunde immer vom alltäglichen Milieu seiner Erzähler aus 26 . Und das gilt auch für die Sexualität. In primitiven Wohnverhältnissen, in kalten Schlafkammern, auf dem Ofen oder in engen Alkoven, in denen die ganze Familie schlief, mag sich wenig genug an E. abgespielt haben. Nach harter Tagesarbeit und bei karger Ernährung wird in den Nächten auch wenig Zeit und Lust gewesen sein, Geschlechtsleben zur E. weiterzuentwickeln. Wie das handlungsorientierte Märchen sich zu keiner Liebesszene Zeit läßt, so dürfte auch das Leben seinen Erzählern wenig Muße gelassen haben. Erotische Liebesspiele gehören sicher erst einer verfeinerten Gesellschaft zu. Eine solche Erklärung aus dem Prozeß der Zivilisation, der die Entdeckung der E. unter den ländlichen Bevölkerungsteilen erst als ein Phänomen beschreibt, das mit Kulturverspätung auftritt, ist aber nur bedingt richtig. Sie wird widerlegt durch massive E. in anderen Folklore-Genres (v. unten) und auch durch Aufzeichnungen erotischer Märchen selbst. 5 . 2 . D a s M ä r c h e n als e r o t i s c h e Erz ä h l u n g . Die latente E. des Märchens kann auch manifest werden. Gar nicht so selten sind es sogar dieselben Stoffe, Szenen und Episoden des Märchens, in denen das Eroti-
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Die Erzählung vom König, der nicht mehr lasehe teils verhüllt, teils aber auch ganz unverchen kann, wird in ihrer burgenländ. Var. 31 zu eihüllt zutage tritt. Im Prinzip kann sogar jedes nem erotischen Märchenschwank: Durch ein paar harmlos-naive Märchen auf eine erotische nackte Soldaten, die einige höchst perverse BeweWeise erzählt oder umerzählt werden. Dies gungen auszuführen haben, wird der König zum geschieht nicht nur bei pornographischen BeLachen gebracht. arbeitungen (v. Kap. 9), sondern durchaus im Dem Märchen ist nichts Menschliches fremd, Bereich der mündl. Überlieferung selbst. Beund seine E. reicht bis zu Fetischismus und Ersatzbefriedigung. In der Erzählung von Vater Strohstimmte Märchen fordern eine solche Umerwisch heißt es zu Beginn: „Es war einmal eine alte zählung geradezu heraus. In KHM 87, AaTh Frau, die hatte keinen Mann, hätte aber gern einen 750 A: Die drei —> Wünsche beziehen sich die gehabt. Da sagte sie: ,Das erste Bund Stroh, das törichten Wünsche, die nachher revidiert wervom Boden fällt, das soll mein Mann sein'; alsbald den müssen, meist auf gutes Essen oder schöfiel ein Bund Stroh vom Boden. Nun hatte sie einen ne Kleider. Es gibt aber auch Var.n, in denen Mann" 32 . sexuelle Wünsche ausgesprochen und — gar Sogar ausgesprochen sado-masochistische Züge nicht zur Freude der Beteiligten — prompt er- kommen im Märchen vor. In einer zigeuner. Version der —> Versteckwette (AaTh 329) läßt die Köfüllt werden. nigstochter alle Freier, die sie beim Werbungsversteckspiel findet, entmannen und zersägen. NachIn den Märchen von 1001 Nacht wünscht sich ei- dem der Held zweimal Pech gehabt hat, sagt die ne sexuell frustrierte törichte Frau, daß der Penis Prinzessin zu ihm: „Wenn ich dich zum dritten Maihres Mannes wesentlich größer werde. Als ihr le finde, dann will ich dir zwar das Leben schenken, Wunsch sich erfüllt, ergeben sich in ihrem Sexualle- dich aber entmannen lassen, denn ich will jenen ben zwangsläufig Schwierigkeiten. Da nun der Turm mit männlichen Gliedern ganz behängen, ehe Mann wünscht, von dieser Plage befreit zu sein, ich sterbe". Und sie zeigte ihm den Turm, der mitverschwindet sein Penis völlig, und so bleibt nach ten im Hofe stand und mit männlichen Gliedern zwei töricht vertanen Wünschen nur noch die Bitte beinahe ganz behängt war 33 . an Allah, den Mann wieder in seinen früheren Zu27 stand zu versetzen . Die Abwandlung der drei Solche Erzählungen beweisen, daß ganz ofWünsche ins Erotisch-Sexuelle kommt häufig auch fensichtlich manche Märchen-Slgen das Sexuin Märchenparodien vor28. Ebenso bekannt ist der ell-Anstößige haben unter den Tisch fallen Märchenwitz von der schönen Fee, die einem Mann drei Wünsche zu erfüllen bereit ist. Seine Antwort lassen und damit ein falsches oder einseitiges lautet: „Eigentlich habe ich nur einen einzigen Bild der Volkserzählung vermitteln. Die UrWunsch, aber den dann dreimal hintereinander". sache, daß die meisten Märchen-Slgen selbst Die schon oben erwähnte Erzählung vom Erraten ausgesprochen .kastriert' wirken, liegt sicher der Merkmale der Königstochter kann durchaus darin, daß das gesamte 19. Jh., dem sie zur erotisch-skatologischen Geschichte werden 29 . großenteils enstammen, solchen unkaschierDie Frage, ob der Mann oder die Frau beim Geten erotischen Erzählungen einen massiven schlechtsverkehr mehr Lust empfinden (Mot. Τ 2), gehört schon zu den ältesten Erzählungen. Sie ist in Riegel vorgeschoben hat und daß die KHM der Antike verbunden mit dem Seher Teiresias. Als der Brüder Grimm ein beständiges Vorbild er einmal durch den Wald ging, sah er ein Schlanspäterer Sammler waren. Unterschiedliche genpaar beim Geschlechtsakt. Er zertrat den Kopf Einstellungen gegenüber der E. hängen nades weiblichen Tieres mit dem Absatz und tötete türlich auch mit der Funktion der Erzählunes. Zur Strafe verwandelten die Götter ihn in eine gen und den Gewährsleuten zusammen. SiFrau. Viele Jahre später traf er wieder zwei Schlangen beim Geschlechtsakt an, und diesmal zertrat er, cher spielt dabei eine Rolle, daß Märchen weil er eine Frau war, den Kopf des männlichen überwiegend von Frauen tradiert worden sind Tieres. Nachdem er so sein früheres Verbrechen und sich gerade im 19. Jh. dazu noch zur gesühnt hatte, wurde er von Hermes in einen Mann Dichtung für Kinder entwickelt haben. Wo zurück verwandelt. Als später Zeus und Hera über Märchen in Männergesellschaften erzählt die Frage, welches Geschlecht, das männliche oder werden, was im Orient (Kap. 7) noch heute das weibliche, die Liebeslust intensiver genieße, in die Regel ist, sind derb-erotische Versionen einen erbitterten Streit gerieten, wurde Teiresias als Experte herbeigerufen. Ohne zu zögern antworhäufiger anzutreffen. Bünker verdankt seine tete der Seher, der als Mann wie als Frau gelebt Kollektion erotischer Märchen einem Mann, hatte, daß die Lust der Frau die des Mannes um das dem Ödenburger Straßenkehrer Tobias Kern. Zehnfache übertreffe. Erbost über die Preisgabe Es ist weiterhin bekannt, daß noch in der ihres Geheimnisses tötete Hera ihn auf der Stelle30.
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z w e i t e n H ä l f t e d e s 19. Jh.s M ä r c h e n sogar in T r u p p e n u n t e r k ü n f t e n und K a s e r n e n erzählt w u r d e n 3 4 u n d jedenfalls v o r w i e g e n d E r w a c h senenunterhaltung waren 3 5 . 6. G r i m m — P e r r a u l t — B a s i l e . D i e K H M der Brüder G r i m m scheinen — m i n d e stens vordergründig — jeder E . zu entbehren. D i e s ist auf der e i n e n Seite e i n e F o l g e ihrer Bearbeitungstechnik und der beabsichtigten Wirkung als Kinderbuch. Sicher m u ß aber auch in R e c h n u n g gestellt w e r d e n , daß die G e w ä h r s l e u t e der Brüder G r i m m z u m größten Teil d e m Bürgertum e n t s t a m m t e n . E s waren M ä d c h e n aus g u t e m H a u s e o d e r auch Frauen Protestant.-hugenott. H e r k u n f t , die sich der W i e d e r g a b e einer erotischen Erzählung g e w i ß g e s c h ä m t hätten. In ihrer V o r r e d e ( 1 8 1 9 ) zur G e s a m t a u s g a b e der Märchen schreiben die Brüder Grimm: „ D a b e i h a b e n wir j e d e n für das Kindesalter nicht p a s s e n d e n Ausdruck in dieser n e u e n A u f l a g e sorgfältig gelöscht". Sicher wollten die H e r a u s g e b e r das Märchen im „Stand der U n s c h u l d " erhalten, und s o h a b e n b e i d e Brüder (nicht nur Wilh e l m ) dazu beigetragen, d a ß die M ä r c h e n ein e naive Kindlichkeit und ausgesprochen unerotische Haltung zeigen. D e r B e a r b e i tungsstil der K H M tendiert zur vorsichtig mild e r n d e n u n d verhüllenden B e h a n d l u n g sexueller Verhältnisse 3 6 . D i e s läßt sich in vielen Fällen konkret n a c h w e i s e n . Deutlich eingegriffen haben die Brüder Grimm z.B. im Falle des Rapunzel-Märchens (KHM 12). Rapunzel bekommt plötzlich Zwillinge, obwohl niemand weiß, von wem, wann und wie sie geschwängert wurde. Jedenfalls ist die —> Jungfrau im Turm (AaTh 310) eben eines Tages keine Jungfrau mehr. Wie das zugeht, haben die Brüder Grimm zu sagen unterlassen. Noch die Erstausgabe war da sehr viel konkreter. Dort heißt es unmißverständlich: „So lebten sie lustig und in Freuden eine geraume Zeit, und die Fee kam nicht dahinter, bis eines Tages das Rapunzel anfing und zu ihr sagte: „Sag' sie mir doch, Frau Gothel, meine Kleiderchen werden mir so eng und wollen nicht mehr passen". Allerdings erscheint Rapunzel auch hier sehr unaufgeklärt und vermutet noch nicht einmal die Gründe ihrer immer enger werdenden Kleider. Aber Freuden und Gefahren vorehelicher sexueller Beziehungen sollten nach dem Willen der Brüder Grimm in einem Märchen für das dt. Bürgerhaus nicht vorkommen. Anstößige und frivole Stellen wurden deshalb ausgemerzt 3 7 . Bei dem —> Mädchen
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ohne Hände (KHM 31, AaTh 706) haben die Brüder Grimm das in der Urfassung vorhandene Inzestmotiv, nach dem der Vater seine Tochter begehrt, gestrichen. Gemildert haben sie es in Allerleirauh (KHM 65, AaTh 510 B: The Dress of Gold, of Silver, and of Stars), während andere Erzähler im Gegensatz dazu die Schuld des Vaters eher noch zu vergrößern suchten 3 8 . Volkserzählungen, in denen sexuelle Probleme eine Rolle spielen, ζ. B. —»Inzest-Märchen 3 9 , brauchen noch nicht notwendigerweise .erotische Erzählungen' zu sein. Aber die Grimmschen Märchen sind geradezu asexuell und anti-erotisch, was z.B. nichtgrimmsche Versionen von K H M 1 verdeutlichen 4 0 : Der Frosch darf drei Wochen im Bett der Königstochter schlafen. Als er zu ihr ins Bett kommt, legt sie ein Bettlaken, eine Windel oder ein Röckchen zwischen ihn und sich; oder der Großknecht muß sich zwischen beide legen, aber der Frosch springt über ihn hinweg, und sie muß ihn schließlich küssen 41 . „Wilhelminke, ick will in e Schoot", singt die Kröte im ostpreuß. Froschkönigmärchen 4 2 . D a ß es sich beim —> Amor und Psyche-Stoff (AaTh 425 sqq.) einmal um einen erotischen Roman gehandelt hat, merkt man seinem Grimmschen Nachfahren, dem Märchen Das singende springende Löweneckerchen (KHM 88, AaTh 425 A), nicht mehr an. Schon gar nicht sind Tierbräutigam-Märchen jemals sodomistische Erzählungen. D i e Brüder G r i m m h a b e n die Märchen nicht nur b e w u ß t in e i n e m kindertümlichen T o n gehalten u n d sie e i n e m entsexualisierend e n Purifizierungsprozeß unterzogen; z w e i fellos h a b e n sie selbst die M ä r c h e n auch ganz naiv aufgefaßt, w e n n sie im V o r w o r t ( 1 8 1 9 ) zu ihrer Slg schreiben: E s „geht innerlich durch diese D i c h t u n g e n j e n e Reinheit, u m derentwillen uns Kinder s o wunderbar u n d selig erscheinen; sie h a b e n gleichsam dieselb e n blaulich-weissen, m a k e l l o s e n , g l ä n z e n d e n Augen". D a ß dies nicht unbedingt auch die Auffassung der Zeitgenossen war, beweist die Debatte zwischen A. von —» Arnim, W. und J. Grimm über das Märchen —> Freier der Frau Füchsin (KHM 38, AaTh 65), der Erzählung vom Fuchs mit den neun Schwänzen, in denen Arnim ein Zeichen „frz. Muthwillens" sieht, während W. Grimm sich gegen eine „liederliche Auslegung" dieses Märchens wehrt und die Meinung vertritt, daß dieses Märchen „Kinder eben so unschuldig hören, als Frauen erzählen". Noch leidenschaftlicher ist J. Grimms Zurückweisung einer sexuellen Anspielung. E r möchte „schwören, dass es rein und unschuldig sei. Wer anderes hineinlegt, legt eine sündliche Ansicht hinein". Arnim rechtfertigt sich und meint, nur die dt. Version sei „ins Keusche umgesetzt" und für die
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frz. Fuchssage „ihre Unschuld schwer zu beweisen". Die Antwort Arnims zeigt vollauf, wie weit J. Grimm von der Kindlichkeit der Märchen überzeugt war. Und auch W. Grimm glaubte an die .Reinheit' und ,Unschuld' der Märchen 4 3 .
Einen völlig anderen Zeitstil zeigt das frz. Märchen der Aufklärungszeit. Im literar. Feenmärchen Conte de[s] fees) des 17./ 18. Jh.s herrscht eine galante Auffassung der Liebe. Insbesondere gibt es bei C. —» Perrault eine sehr viel erotischere Erzählweise, die vom kindlichen Grimm-Bearbeitungsstil stark abweicht und sich ausgesprochen an erwachsene und aufgeklärte Zuhörer und Leser wendet. Ein gutes Beispiel bietet der Vergleich von Perraults Petit Chaperon rouge und Grimms Rotkäppchen (KHM 26, AaTh 333). Schon in der Wortwahl kommt die E. in der frz. Fassung klar zum Ausdruck. Sexualität wird als animalisch dargestellt. Der Wolf hat die Großmutter aufgefressen und sich in ihr Bett gelegt. Nun betritt das kleine Mädchen das Zimmer der Großmutter. Unverblümt fordert der Wolf die Kleine auf, sich zu ihm ins Bett zu legen: „viens te coucher avec moi". „Rotkäppchen zog seine Kleider aus und legte sich ins Bett. Es staunte, wie seine Großmutter ohne Kleider aussah". Um solche Peinlichkeiten den dt. Kindern zu ersparen, muß sich der Wolf bei Grimm partout in die Kleider der Oma zwängen - sonst wäre er gegenüber Rotkäppchen ,nackt' gewesen. Das Kind fragt bei Grimm auch nicht nach den behaarten Armen oder Beinen des Wolfes unter der Bettdecke, sondern anständigerweise nur nach dem, was aus der Bettdecke herausragt, nach Ohren, Augen und Händen. Kurz: Das Grimmsche Märchen duldet keinen unbekleideten Wolf im Bett 4 4 . In Perraults Moral wird der Wolf deutlich mit den männlichen Verführern gleichgesetzt. Offen warnt der Autor vor den männlichen Wölfen, die die Mädchen schmeichlerisch verführen. Auch bei der Perraultschen Moralite der —> Schlafenden Schönheit (AaTh 410) wird erotisch gedeutet: Der Zauberschlaf wird als das Warten eines jungen Mädchens auf die Defloration verstanden: „Man findet keine Weibchen mehr, die so in Ruhe schlafen können!" und La Belle au bois dormant ist trotz ihres hundertjährigen Schlafes auch kein Mädchen mehr, das auf die Ehe noch länger warten will. Nach einem zwei Jahre andauernden geheimen Liebesverhältnis schenkt sie noch vor ihrer Ehe dem Prinzen zwei Kinder. Ganz im Gegensatz zum Grimmschen Dornröschen ist Perraults Version eine Erzählung später legitimierter vorehelicher Beziehungen, wie er denn auch in seinen Schlußversen nur scheinbar resignierend und mit
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Augenzwinkern meint, er habe nicht die Kraft und das Herz, diesem Geschlecht Moral zu predigen. Perrault hat aus —» Basile geschöpft, und es lohnt sich darum, auch diese Fassung auf den Zeitstil in der Darstellung erotischer Verhältnisse zu untersuchen. In der Dornröschen-Fassung des Pentamerone (Basile 5,5), Sole, Luna e Talia, wird die Heldin Talia durch eine Hanffaser in einen todähnlichen Zustand versetzt. Auf der Jagd findet ein König das Schloß und die Prinzessin. „Endlich gelangte er in das Zimmer, in welchem die bezauberte Prinzessin sich befand und rief sie, indem er glaubte, daß sie schliefe; da sie aber trotz alles seines Schreiens und Rütteins nicht erwachte, er aber von ihrer Schönheit durch und durch erglühte, so trug er sie in seinen Armen auf ein Lager und pflückte dort die Früchte der Liebe. Hierauf ließ er sie auf dem Bette liegen und kehrte in sein Königreich zurück, woselbst er eine lange Zeit an diesen Vorfall nicht mehr gedachte. Talia aber gebar nach neun Monaten ein Zwillingspaar, einen Knaben und ein Mädchen". Noch immer ist Talia nicht aus ihrem Zauberschlaf erwacht. Erst als die Zwillinge „nun einmal wieder saugen wollten und die Brustwarzen nicht fanden, so erfaßten sie einen Finger und saugten daran so lange, bis sie die Faser herauszogen, worauf Talia wie aus einem tiefen Schlaf zu erwachen schien, den kleinen Engeln, welche sie neben sich sah, die Brust darreichte und sie lieb gewann wie ihr eigenes Leben, während sie jedoch gar nicht wußte, was mit ihr vorgegangen war". Hier zeigt sich kreatürliche Natürlichkeit. Von den Brustwarzen eines im Schlafe deflorierten und geschwängerten Mädchens zu berichten, wäre den Brüdern Grimm wohl kaum in den Sinn gekommen. Geschlechtsverkehr, weibliche Fruchtbarkeit, Kinderwünsche wie männliche Impotenz werden in Basiles Märchen mit Bildern umschrieben. Die Erzählung Lo serpo (Basile 2,5) handelt von einer „Bäuerin, welche [. . .] danach verlangte, Kinder zu bekommen [. . .]. Wie fleißig aber auch ihr Mann das Feld bestellen mochte, so hatte sie doch nie die Freude, die gewünschte Fruchtbarkeit zu sehen". Angesichts einer Schlange, die aus einem Bündel dürrem Holz hervorkriecht, das ihr Mann heimbringt, stößt die Bäuerin einen tiefen Seufzer aus und ruft „[. . .] nur ich bin so unglücklich in der Welt, einen so untüchtigen Mann zu haben, daß er, obwohl ein Gärtner, dennoch nicht im Stande ist, einen Baum zu pflanzen!" Das Pflanzen eines Baumes ist eine von Basile gern gebrauchte erotische Metapher.
Mit barocken Metaphern werden in Basiles Pentamerone die Stadien der Liebe geschildert: Liebeswerbung wird mit dem Angeln nach einem schönen Goldfisch verglichen (Basile 2,2). Für Liebeserfüllung steht häufig das Bild der Ernte: „Er genoß die ersten Früchte seiner Liebe" (Basile 5,5) oder auch
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der merkantile Vergleich vom Bezahlen einer Ware: Sie „zahlten der Natur den Zoll, den sie ihr für die Ware des Lebens schuldeten" (Basile 2,5). Die Schilderung von Frauenschönheit vermischt realistisch-rustikale, nüchterne und barock-übersteigernde Vergleiche zu einem Feuerwerk erotischer Darstellung (Basile 5,9). Es zeigt sich, daß erotische Schilderungen, Unterdrückung wie Hervorkehrung sexueller Vorgänge wesentlich abhängig sind vom Zeitstil und der Moralauffassung der literar. Märchenbearbeiter und Herausgeber, was hier nur an den Beispielen Grimm, Perrault und Basile aufgezeigt werden konnte. 7. 1 0 0 1 N a c h t . Neben dem Zeitstil der E. sind auch Nationalstile, d.h. ethnische Unterschiede von Volk zu Volk zu berücksichtigen. Sie werden bes. deutlich bei einem Vergleich mitteleurop. Märchen mit den Erzählungen aus —» 1001 Nacht. Die Sinnlichkeit der oriental. Märchen ist immer wieder hervorgehoben worden. Hugo von Hofmannsthal spricht von der „erotischen Pantomime der Liebenden, die nach tausend Abenteuern endlich ein erleuchtetes, starkduftendes Gemach vereinigt" 45 . Entsprechend sind auch die Illustrationen Marc Chagalls zu den Märchen von 1001 Nacht erotische Kunstwerke 46 . In der Tat bringt die Slg Schilderungen von Frauenschönheit und Liebesszenen, die sie den großen oriental. Lehrbüchern der Liebe gleichwertig zur Seite stellen. Ein Beispiel für viele: „sie selbst trat auf mich zu, zog mich an ihren Busen und küßte mich. Auch ich küßte sie, und sie sog an meiner Oberlippe, während ich an ihrer Unterlippe sog. Dann legte ich meine Hand auf ihren Leib und streichelte sie. Und alsbald ruhten wir gemeinsam auf dem Boden; da band sie ihre Hose auf, die ihr bis zu den Knöcheln hinabglitt. Nun begannen wir zu tändeln und uns zu umschlingen, zu kosen und flüstern von zarten Dingen, zu beißen und Leib an Leib zu legen und im Umlauf um das heilige Haus und seine Pfeiler uns zu bewegen, bis ihre Glieder erschlafften und sie dahinsank und der Welt entrückt war. Fürwahr, jene Nacht war eine Freude47 für das Herz und ein Trost für das Auge [· · ·]" ·
Auch die Wiedergabe derb-umgangssprachlicher erotischer Metaphern hat eine erotisierende Wirkung. Sie setzen voraus, daß
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sexuelle Beziehungen auch zwischen sozial unterschiedlichen Partnern dargestellt werden, so in der Geschichte des Lastträgers und der drei Damen: Der einfache Lastenträger kommt in das Haus solcher schönen Damen, und er „begann mit ihnen zu tändeln; er küßte, biß, streichelte, befühlte, betastete sie und trieb allerlei Kurzweil [. . .]", die Pförtnerin „zog ihre Kleider aus, bis sie ganz nackt war [. . .], warf sich in das Bassin und spielte im Wasser, [.. .] dann wusch sie sich die Glieder und zwischen den Schenkeln. Nun sprang sie heraus aus dem Wasser und warf sich dem Träger auf den Schoß und sagte: ,Ο mein Herr, wie heißt dies?' indem sie auf ihren Schoß zeigte". In gleicher Weise verhalten sich auch die zweite und dritte Dame. Der Lastenträger nennt allerlei vulgäre Namen für das weibliche Genitale. Alle werden von den Damen verworfen, die statt dessen metaphorische Umschreibungen bringen: ,Die Krauseminze des Kühnen', ,der enthülste Sesam', ,die Herberge des Abu Mansür' 48 . Liebesspiele im Bade, das Auftreten von Freudenmädchen, Haremsszenen mit Lieblingsfrauen spielen in den Märchen von 1001 Nacht eine Rolle. Die Sexbereitschaft geht in ganz anderem Maße von der Frau aus, die ihren Körper darbietet, als dies in mitteleurop. Märchen möglich wäre. Dies hängt natürlich zunächst mit der —» Rahmenerzählung zusammen. —» Scheherezade erzählt allnächtlich dem Sultan Märchen, auf daß er sie nicht wie seine vorigen Frauen umbringen läßt. Die E. der Erzählungen hängt sicherlich auch mit den erzählerischen Funktionen zusammen: Eine Frau erzählt einem Mann, der dazu noch ein unumschränkter Herrscher ist. Aber das oriental. Märchen ist ja bis zum heutigen Tag alles andere als ein —> Frauenmärchen. Es wird von Männern und für Männer erzählt und schildert, was Männer sich von Frauen versprechen: oriental. Männerphantasien. Das Märchen hat dabei deutlich sexuelle Ventilfunktionen, und die sich entblößende Frauenschönheit der Erzählungen steht im krassen Gegensatz zu den tiefverschleierten Frauen und zu den realen Sexualpraktiken der islam. Welt 49 . 8. E r o t i s c h e M ä r c h e n d e u t u n g . Gerade weil das europ. und speziell das dt. Mär-
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chen so wenig offen von E. spricht, hat man versucht, hinter den manifesten Texten erotische Symbole in verschlüsselter Form zu suchen und zu finden (—» Symbolik). Solche meist der —» Psychoanalyse verpflichteten Märchendeutungen gehen davon aus, daß das aus der bewußten Welt verdrängte Tabu der Sexualität sich im Unbewußten Bahn breche. Das Aufspüren erotischer Symbole kann zu sehr subtilen psychol. —> Interpretationen führen (—> Psychologie), aber auch zu eher grobschlächtigen Deutungsversuchen. Noch relativ einfach nachzuvollziehen ist die Folgerung, daß den kranken Prinzessinnen oder denen, die nicht lachen können oder sich mit Rätseln verbarrikadieren, nichts fehlt, als eben nur ein Mann. Gewisse pansexualistische Deutungen stehen aber leicht in der Gefahr der Überinterpretation, hinter allem und jedem ein phallisches oder vaginales Symbol zu sehen. Aschenputtels verlorener Pantoffel (-» Schuh, Pantoffel) oder die zertanzten -» Schuhe (AaTh 306) werden zum Symbol verlorener Virginität ebenso wie der Spindelstich Dornröschens (KHM 50, AaTh 410) oder auch der blutige Schlüssel zur verbotenen —> Tür im Schlosse Blaubarts (AaTh 311, 312: —» Mädchenmörder). Im selben Sinne hat man Schneewittchen (KHM 53, AaTh 709) als Masturbationsmärchen bezeichnet493. Das Rotkäppchenmärchen wird dann — selbst wenn man von dem scheinbar harmlosen Grimm-Text ausgeht (KHM 26, AaTh 333) - zu einer Pubertäts- und Deflorationserzählung. Schon das signifikante und namensgebende rote Käppchen, das freilich nur bei Perrault und in den von ihm abhängigen Versionen (die Grimmsche gehört dazu) vorkommt, hat man als Menstruationszeichen eines geschlechtsreifen Mädchens interpretiert; und ebenso die Flasche Rotwein, die das Mädchen im Körbchen trägt. Die mütterliche Warnung, „nicht vom Pfade wegzulaufen", um „die Flasche nicht zu zerbrechen", sei eine deutliche Warnung vor den Gefahren der Sexualität und dem Verlust der Jungfräulichkeit. Dazu gehöre auch das Blumenpflücken abseits vom Wege oder die Frage des Wolfes, was Rotkäppchen unter der Schürze trage. Nachdem der Wolf Rotkäppchen aufgefressen hat, wird das bei Grimm mit den Worten wiedergegeben, daß er „sein Gelüsten gestillt hatte". Eine solche Formulierung läßt freilich den Verdacht aufkommen, daß sein „Gelüsten" nicht nur rein kulinarischer Art war. Das Auffressen erscheint als eine symbolische Vergewaltigung. Entsprechend hat man die Wackersteine im Leib des Wolfes als ein Kastrationssymbol gedeutet 50 .
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Bei seiner Deutung des RumpelstilzchenMärchens (KHM 55; AaTh 500: —» Name des Unholds) geht O. Graf Wittgenstein aus von der Formulierung ,Stroh zu Gold spinnen'. Stroh verbindet sich ihm mit der Assoziation eines einfachen Lagers, sprich Bett. Gold aus dem Stroh machen, das bedeutet: das Bestmögliche aus dem Bett zu machen. Das Mädchen selbst kennt diese Fähigkeit (noch) nicht — kein Wunder, da sie noch eine Jungfrau ist. In ihrer Ratlosigkeit hilft ihr Rumpelstilzchen. Das kleine Männchen, dessen Namen man nicht weiß und das auf einem Bein im dunklen Wald herumspringt, ist für Wittgenstein nichts anderes als das männliche Glied. Die Müllerstochter, eben noch ein unerfahrenes Mädchen, kennt den Namen dieses bes. hilfreichen, aber auch gefährlichen Männleins, das ein Kind von ihr haben will, nicht; sie ist noch unaufgeklärt 51 . 9. P o r n o g r a p h i s c h e M ä r c h e n . Die ,Sex- und Pornowelle' versprach auch für Märchen ein gutes Geschäft. Jedes Märchen kann pornographisch zur Phallus- oder Koitalgeschichte umfunktioniert werden. Inhaltlich handelt es sich durchweg um Bearbeitungen bekannter Märchen; vorzugsweise müssen die Grimmschen KHM herhalten — und die Slgen tarnen sich gelegentlich wiss. als ,erotische Urfassung'. Da gibt sich Daumesdick (KHM 37) als Penisprotz. Mit seiner ganzen Leibesfülle ersetzt er ein männliches Glied und beweist, daß auch ein kleiner Mann mit einer großen Frau fertig werden kann — der Knüppel aus dem Sack (KHM 36) ist selbstverständlich auch das männliche Glied. — Das tapfere Schneiderlein (KHM 20) stickt in seinen Gürtel die prahlerischen Worte: .Sieben Nummern in einer Nacht!' - Hänsel und Gretel (KHM 15) hören nicht nur das Bettgespräch ihrer Eltern, sondern sind auch sonst noch Voyeure in der elterlichen Schlafkammer und versuchen, es den Eltern gleichzutun. Die Knusperhexe testet auch nicht die Finger Hansels, sondern sein Genitale. - Ohne zuerst zu einem Symbol Zuflucht zu nehmen, prophezeit die böse Fee Dornröschen (KHM 50): „Die Königstochter soll in ihrem 15. Jahre entjungfert werden und dann sterben!" 52 Pornographische Märchen sind keine mündl. Überlieferung, sondern gedr. Erzeugnisse. Sie benützen keine metaphorische oder symbolische Bildhaftigkeit für sexuelle Vor-
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gänge, sondern bedienen sich einer sehr direkten Sprache. Damit verletzen sie das Schamgefühl. Sie bringen nur eine Scheinbefreiung, sind tatsächlich eher Ersatzbefriedigung und bewirken sexuelle Frustration. Wie alle für Männer gemachte Pornographie sind auch die pornographischen Märchen frauenfeindlich oder frauenverachtend. Ständig geht es um sexuelle Privilegien von Männern. In solchen Texten wollen und tun Frauen grundsätzlich nur das, was sich Männer in ihren kühnsten erotischen Phantasien wünschen. 10. E r o t i s c h e r Märchenfilm und R e k l a m e . Mehr Öffentlichkeitswirkung haben erotische Märchenfilme und die industrielle Werbung mit erotisierten Märchenmotiven. Im Sexfilm und ebenso in der Reklame wird das Märchen für die Erwachsenenwelt wieder aktuell gemacht. Es gibt eine ganze Filmwelle des Prototyps ,Grimms Märchen für lüsterne Pärchen'; und der Reim Märchen auf Pärchen findet sich in unendlich vielen Schlagerliedern zusammen mit der Illusion märchenhafter Liebe 53 . Moderne Karikatur und Illustration entdecken häufig den wirklichen oder vermeintlichen sexuellen Hintersinn einer Märchenszene. Schneewittchen mit den sieben Zwergen wird dabei zur Gruppensex-Story. Die Erzählung von Rotkäppchen und dem Wolf im Bett der Großmutter wird bewußt zu einer Liebesgeschichte gestaltet. Moderne Comics und Cartoons entdecken den Drachenkampf neu als ein erotisches Abenteuer, wenn z.B. der Drache als Rivale um dieselbe Frau aufgefaßt wird, wenn sich die Frau wehrt, als bloße Siegestrophäe dem erfolgreichen Ritter übereignet zu werden. Bes. betroffen von dieser Erotisierung des Märchens in der Moderne sind wiederum die Tierbräutigam-Erzählungen, allen voran das Froschkönigmärchen 54 . Es gibt einen eigenen Verfremdungsreiz, die alten Märchenstoffe in ihren modernen Ver- oder auch Entkleidungen darzustellen. Die Cartoonisten wetteifern geradezu darin, denselben vorgegebenen Stoffen immer wieder neue erotische Pointen abzugewinnen. 11. Sage. Von ihren Inhalten wie von ihrer Erzählstruktur her scheint die Sage sehr erotikfern zu sein. Sie ist mehr von Angst be-
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herrscht als von Wunschvorstellungen. Das Übernatürlich-Numinose ist ihr wichtiger als das Diesseitig-Menschliche. Dennoch läßt sich auch in der Sage eine ganze Reihe von sexuell-erotischen Motivationen aufzeigen, die nicht selten mit der Todesmotivik kombiniert sind. Das Motiv vom zu Tode Kitzeln oder vom —» Tod durch einen —> Kuß gehört in diesen Zusammenhang 55 . Erotisches Verhalten wird als Frevel aufgefaßt und gesühnt, so in den Erzählungen vom bestraften Nackttanz 56 (—» Nackt, —> Tanz) oder in den Berichten von Nonnenklöstern, die wegen der Unzucht ihrer Insassen untergegangen sind. Sicher entbehrt auch das Thema der Frauenjagd durch den wilden Jäger (—» Wilde Jagd) 57 ebensowenig erotischer Züge wie die Sage von der verfolgten Unschuld und vom Jungfernsprung (Mägdesprung etc.) 58 . Das Sagenmotiv vom schießenden Dämon mit seinem Krankheitsprojektil hängt mit dem erotischen Symbol von Amor mit seinem Liebespfeil in Dichtung und bildender Kunst zusammen 59 . Von E. kann man innerhalb der Sage am ehesten dort sprechen, wo es um sexuellen Verkehr zwischen Menschen und nichtmenschlichen Wesen geht, wie er den Sagen vieler Kulturen gemeinsam ist (—> Incubus und Succubus). Mit sexuellen Wunsch-, aber auch Angstvorstellungen haben z.B. die Sagen vom nächtlichen Alp zu tun. Fast immer ist das Verhältnis von Schläfer und Alpdämon (Mahr, Trud, Schrättel, nightmare) heterosexuell; d.h. einem männlichen Schläfer widerfährt ein derartiges supranormales Erlebnis durch einen weiblichen Alp und umgekehrt: Die Knechte glauben sich von der Bäuerin, der Liebsten, einer Nachbarin oder Magd gedrückt. Für die jungen Männer andererseits ist kennzeichnend, daß sie sich am häufigsten von jungen Mädchen, seltener von Frauen, gedrückt fühlen. Dabei muß berücksichtigt werden, daß der Alpdruck durchaus nicht immer als lustvoll empfunden wird; oft eher als quälend und beängstigend. Die sexuelle Komponente der Alpdrucksagen erweist sich jedoch dann, wenn der Alp sich als schönes, häufig nacktes, junges Mädchen entpuppt 60 . Man muß auch den Kontext der Erzählungen im Auge behalten, wem unter welchen Umständen ein solches Erlebnis widerfährt; wenn z.B. das Schräcksli einem Witwer
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ins Bett springt und sich nachher als ein nacktes junges Mädchen erweist, das bei ihm bleibt, ihn heiratet und ihm Kinder schenkt 61 . Die Weiterentwicklung nächtlicher AlpMemorate zu ausgesponnenen Fabulaten von —» Mahrtenehe ist nur folgerichtig. Auch wenn die ehelichen Verbindungen zwischen einem Menschen und einem übernatürlichen Wesen später in der Regel scheitern, so steht der Beginn dieser Liebesverhältnisse stets unter einer starken erotischen Spannung. Das gleiche gilt für die Motive der Feenliebe (—> Peter von Staufenberg, —» Melusine, —» Tannhäuser, —» Venus, —> Tom der Reimer), die vor allem in spätma. Dichtungen literar. bearbeitet worden sind 62 . Auch im Sagenkreis um die sog. Saligen Frauen spielt das sexuell-erotische Element eine verhältnismäßig große Rolle. Allg. werden die Saligen als schöne und begehrenswerte junge Frauen geschildert. Fast alle Liebesbeziehungen und Ehen Saliger Frauen mit Menschen scheitern jedoch am Unvermögen des menschlich-männlichen Partners, die zunächst so leicht erscheinende bes. Bedingung einhalten zu können. Meist geht es um mangelnde Zärtlichkeit: Ein böses Wort, Beschimpfen oder gar Schlagen der übernatürlichen Frau führt zum sofortigen Ende der Beziehung 63 .
Generell ist die Spannung zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt, menschlichen und übernatürlichen Figuren der Sage immer auch eine erotische Spannung, und fast immer sind Liebe und Tod in diesen Erzählungen miteinander verflochten. Es ist der Gesang der —> Sirenen oder der —» Lorelei, der zugleich erotisch verführerisch erscheint, für den, der ihm erliegt, aber tödlich endet. Die Verbindung mit einer verführerisch-übernatürlichen Frau scheint zunächst Wunschphantasien zu erregen und zu befriedigen. Doch ist das Ende immer negativ: Der übernatürliche Partner entschwindet für immer, oder es gibt für den menschlichen Partner kein Zurück mehr in die Wirklichkeit. In Sagen und Volksballaden nimmt sich der Wassermann eine Frau mit in sein Unterwasserreich. Gerade die Beziehungen zu —> Wassergeistern sind immer von erotischer Spannung geprägt: Seejungfrauen und Nixen stellen den Männern nach. Die Nixe hat einen verführerisch schönen nackten Oberkörper; 9
Enzyklopädie des Märchens IV
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man möchte in seiner Zurschaustellung fast von Exhibitionismus sprechen, aber sie hat keinen Schoß, keine Beine, die sich dem verführten Mann öffnen könnten; sie ist kalt wie ein Fisch — im wörtlichen Sinne unzugänglich, eine Frau ohne Unterleib. - Die —» Sphinx ist ein Wesen mit nackten weiblichen Brüsten, aber dem Unterleib einer Raubkatze, eine Bestie mit einem Menschenkopf 64 . — Ein Zentaur ist ein Mann mit einem tierischen Unterleib. Übernatürliche Mischwesen der Sage (cf. —» Fabelwesen) sind zwar nackt und verführerisch, aber sie haben irgendwo ein grundsätzliches Defizit, das menschliche Liebe und Dauerpartnerschaft unmöglich macht. In ihrer Tier-Menschlichkeit konkretisieren sie zugleich Wunsch- und Angstvorstellungen. Übernatürliche Frauen erscheinen als Ersatz oder Kompensation nicht erfüllter oder auch auf Dauer nicht realisierbarer männlicher Sexualität. Ein gutes Beispiel liefern die skand., insbesondere schwed. WaldfrauenSagen. In vielen Abwandlungen wird dabei erzählt, wie der Waldgeist in Gestalt einer schönen jungen Frau zu dem einsamen Köhler oder Waldarbeiter kommt und dabei versucht, ihn zu einem Liebesverhältnis zu verlocken. Gewöhnlich besteht die Vorstellung, daß man sich Jagdglück verschaffen könne, wenn man dem Geist in sexueller Hinsicht zu Willen sei. Waldfrauen sind von vorn verführerisch und schön (wie die ma. Frau Welt), von hinten aber von Würmern und Schlangen zerfressen. So zeigt die Sage beim Thema der erotischen Verlockung immer auch die sündhaft-negative Kehrseite 65 . Der liebeslüsterne Waldgeist ist sicher eine Kompensationsfigur einer männlichen Gesellschaft von Waldarbeitern und Köhlern, die sich in ihrer Einsamkeit, abseits ihrer Familien, in ihren erotischen Wunschträumen oder Wachphantasien eine solche Figur imaginieren 66 . Einen ähnlichen Hintergrund haben wohl auch die alpinen Sagen von der Sennenpuppe: In der Einsamkeit einer Alm, aus Langeweile, aus Ermangelung einer Frau oder aus Übermut machen sich die Sennen eine Puppe, füttern sie, treiben allerlei Unfug mit ihr. Sie befriedigen sich selbst, indem sie sich zu dieser Puppe ins Bett legen. Schließlich wird die Puppe lebendig und tötet den Senn auf grau-
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same Weise. In dieser Sage wird — verschieden von Var. zu Var. 6 7 — gegen mehrere Normen verstoßen: Lebensmittelfrevel, Sakramentenmißbrauch, Frauenfeindlichkeit, insbesondere aber gegen ein sexuelles Tabu, das der Selbstbefriedigung und des Gruppensex unter Männern. Wiederum sind E. und Tod Teilaspekte derselben Sache. Eine makabre E. gibt es schon in den Texten vom zurückkehrenden toten Bräutigam (AaTh 365: —> Lenore). Aber sie kulminiert in der Spätentwicklung der Vampirvorstellungen. Es ist weniger der Vampir der osteurop. volkstümlichen Sagenwelt als vor allem der Vampir in der phantastisch-realistischen Lit. des 19. Jh.s, in den psychol. Schauerromanen und in ihrer Folge in ungezählten Filmen (—» Dracula, Nosferatu), die dieses Bild geprägt haben. Reizvoll erwies sich auch noch für heutige Filmemacher und Schriftsteller die hier vorgegebene Paarung von Verbrechen, Tod und Sexus, wobei der Sex immer mehr die Oberhand gewann. Der Vampir des Films ist der Tote, der durch Menschenblut zu neuem Leben erweckt wird, wobei er sich vorzugsweise andersgeschlechtiger Opfer bedient. Die Frau, die den Geliebten ins Grab nachholt, die Liebesvereinigung im Tod, ja der Tod als deren einzige Form, das Grab als Ehebett, wurden zum Gemeinplatz einer realistisch-phantastischen Lit. In Lit., Film und Mode der 20er Jahre wird der Vampir weiterentwickelt zum Vamp, einem mondänen Frauentyp von kühler, raubtierhafter Schönheit, aber kalt und grausam den Männern gegenüber, die er ausbeutet, aussaugt und verschlingt 68 . Einen älteren Aspekt der Vermischung von E. und Sadismus zeigt die kulturhist. Entwicklung der —» Hexenvorstellungen. Noch relativ harmlos mag es erscheinen, wenn das ,Buttergebet' der Hexe, mit dessen Hilfe sie den Rahm der ganzen Gemeinde in ihr Butterfaß lenkt, den technischen Vorgang beim Buttern mit dem Stoßen ins Butterfaß in eine magische Analogie zum Geschlechtsverkehr setzt: „Butter, Butter, tu dich zusamm', / wie der Küchel in der Pfann', / Wie das Weib mit dem Mann, / Wie die Henne mit dem Hahn, / Wie der Knecht mit der Dirn; / Werd'n wir bald ein' Butter kriegn" 6 9 . Aber auch dieses
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,Gebet' richtet sich an den —» Teufel und spielt auf das zentrale Malefizium der Hexe an, ihre Teufelsbuhlschaft, d.h. den —> Teufelspakt, in dessen Verlauf sich die Hexe dem Teufel hingibt. Der Glaube an die Buhlschaft zwischen Hexe und Teufel ist ein wesentlicher Bestandteil des Hexenglaubens. Immer wieder ist in den Quellen die Rede von den orgiastischen und infernalistischen Hexentanzfesten, die heute noch unter Bezeichnungen wie Walpurgisnacht und Hexensabbat geläufig sind. In diesen Kontext gehört die Hexensalbe (—» Salbe) als Aphrodisiakum. Oft wird z.B. erwähnt, daß beim Einschmieren mit der Hexensalbe eine Art ritueller Nacktheit eine Rolle spielt. Auch Reiten und Flugtraum können als sexuelles Erlebnis interpretiert werden: Besenstiel, Bock, der Teufel als Reiter oder als Reittier — alles dies ermöglicht leicht eine sexualpsychol. Interpretation. Wenn in den Hexenprozeßakten zum weitaus größten Teil weibliche Personen als Angeklagte erscheinen, mag das seinen Hauptgrund darin haben, daß man sich den Teufel als Mann dachte, dessen ihm zugeschriebene Sexualpotenz sich dann natürlich gegen das weibliche Geschlecht wenden mußte. Häufig erscheint der Teufel als eine Art Supermann mit Behaarung, Schwanz und Hörnern als phallischen Symbolen. Sein erstes Auftreten geschieht meist bei einer Verführung, wenn er als Edelmann, Jäger, Student, Junggeselle, hübscher Jüngling etc. seine Opfer zu gewinnen sucht. Manchmal bezwingt er die Frau auch durch Drohungen oder durch Mißhandlungen, oder aber er verwirrt ihr den Sinn und erscheint in Gestalt ihres Ehemanns oder eines Bekannten, mit dem sie schon vorher Unzucht getrieben hat. So erreicht er fast immer sein Ziel 70 . Was sich in Hexenprozessen bei den Befragungen zum Teufel abspielte, war nicht selten reine Pornographie, bes. bei der Schilderung der Sexualität des Teufels, der Beschreibung seiner Geschlechtswerkzeuge und der Praxis des teuflischen Beischlafs.
Kinder von sieben und Greisinnen von fünfundachtzig Jahren wurden zum Geständnis der Teufelsbuhlschaft mit allen begleitenden Details gezwungen 71 . Die Hexenprozesse zeigen vor allem die pervertierte Sexualität der Hexenverfolger: männliche Minderwertigkeitsgefühle und Eifersucht, Impotenz-
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angst, Zölibatsverdrängungen etc., die sich in Frauenhaß niederschlugen. 12. Ä t i o l o g i s c h e E r z ä h l u n g e n . Erotische Züge enthalten nicht selten auch ätiologische Erzählungen, wie die vom Ursprung der Menstruation (Mot. A 1355.1) oder vom Ursprung der Geschlechtsorgane (Mot. A 1313). Als erotisch kann man auch die Erzählung von der Entstehung des —» Bartes und der Genitalbehaarung betrachten: Um Eva mehr Respekt einzuflößen, bekommt Adam von Gott einen Bart. Er muß sich an einem Bach das Gesicht waschen, und überall dort, wo er sich mit dem Wasser benetzt, wachsen ihm Haare; schließlich auch dort, wo er sich die nassen Hände am Körper und zwischen den Beinen abstreift. Eva sucht es ihm gleichzutun. Aber kaum hat sie die Hand naß gemacht, wird sie von einer Biene zwischen den Beinen gestochen. Sie greift mit der nassen Hand nach jener Stelle, und sofort wachsen ihr dort Haare 72 . Erotisch ist schließlich die noch heute sehr populäre Tierätiologie ,Warum der —» Esel i-ah schreit': Als der liebe Gott die Welt erschuf, da war der Esel das letzte Tier. Die vorhandenen Fertigteile reichten für ihn nicht mehr aus. So mußte sich der Esel mit einem Paar viel zu langer Ohren und einem Penis zufrieden geben, der für seine Gestalt viel zu groß schien. Als der neugeschaffene Esel an einem See zum ersten Mal sein Spiegelbild sah und seine langen Ohren entdeckte, rief er voller Ekel: „ii". Als er aber seinen Penis erblickte, tröstete er sich mit einem genüßlichen „ah". Seitdem sagt der Esel „ii-ah" 73 .
Insbesondere in Slgen aus Schwarzafrika gibt es zahlreiche Erzählungen, die z.B. die Herkunft bestimmter sexueller Verhaltensweisen und Praktiken, den Ursprung der Geschlechtsteile 74 erklären und über die anfängliche Unkenntnis ihrer Funktion berichten, über die Entdeckung des Beischlafs durch den Menschen, über das anfängliche Zusammenleben der Geschlechter oder über den Kampf der Geschlechtsorgane. In einem sudanes. Märchen wird z.B. von früher erzählt, „daß die Frauen, wenn ihre Männer Lust zum Beischlaf hatten, ihre Hambi (Geschlechtsteile) abbanden und den Männern hingaben und sie von diesen erst wieder zurücknahmen und umbanden, wenn die Männer ihre Lust gestillt hatten" 75 . Der Held eines afrik. Märchens aus Oberguinea bemühte sich um die ,Medizin', die Gedanken anderer Leute lesen zu können; aber die Medizin fiel ihm herab, und zwar gerade auf seinen Penis: „So 9*
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kam es, daß die Eigenschaft, die Gedanken anderer lesen zu können, nicht auf den Kopf des Jägers, sondern auf seinen Penis überging. Und seitdem weiß es der Penis zugleich, wenn eine Frau verliebt an den Mann denkt. Und seitdem geht der Penis in die Höhe" 76 .
Die Erzählungen, welche die Sexualsphäre betreffen, sind aber nicht etwa nur derbe Schwänke, sondern werden beherrscht von dem ätiologischen Denken, daß alles Erschaffene durch Kopulation entstanden gedacht wird. Wie das oriental, ist auch das afrik. Märchen vorwiegend Männermärchen. Beliebt ist darum auch die Verwirklichung männlicher Potenzwünsche, die bis ins Groteske reichen können: Drei Brüder bitten Gott um eine Gnade, die in Erfüllung geht. Zwei Brüder wünschen sich Geld. Der Dritte bittet Gott, ihm einen Penis zu geben, der viermal so lang ist wie er selber. Er erwacht und hat einen Penis, den er um Schultern und Lenden wickeln muß. Er verwendet ihn auch als Angelrute 77 . Erzählungen von Männern mit einem Riesengenitale sind aber nicht nur reine Potenzprahlerei oder Groteskschwänke, sondern zeigen durch ihren ätiologischen Charakter eine Verbindung mit Urzeitmythen: Ein westsudanes. Mythenmärchen vom Ursprung der Völker erzählt u.a. von einem Mann Sanguluba, der in das Land kam und die Heldin des Märchens heiraten wollte. „Sanguluba hatte einen riesengroßen Penis. Der Penis war über sechs Esel gebunden und von den sechs Eseln getragen. Er selbst ritt auf einem siebenten Esel. Die Leute [. . .] rissen ihn herunter und schlugen ihn, bis sein Glied ganz klein war". Das Mädchen wurde dann schwanger und gebar alle Völker; sie hatte alle Sorten von Menschen in ihrem Leibe 78 . Afrik. Erzählungen teilen mit den oriental, die Sinnesfreudigkeit. Allenthalben spiegelt sich in den Slgen von Volkserzählungen aus Schwarzafrika eine körperfreudige Kultur wider, in der aus der Sexualität kein Hehl gemacht wird und wo es darum keine Verdrängungserscheinungen gibt 79 . Obwohl schwarzafrik. Märchen sehr häufig die Sexualität betreffen, sind sie doch längst nicht immer als ,erotisch' zu bezeichnen. Mehr als im europ. Märchenschatz sind diese Erzählungen unter den —> Ätiologien, Kosmogonien (—>
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Schöpfung) und —» Anthropogonien zu finden. 13. S c h w a n k . Obwohl der Schwank häufig das Verhältnis der Geschlechter betrifft, insbesondere in der großen Zahl von —> Ehebruchschwänken, ist die direkte Schilderung erotischer Szenen verhältnismäßig selten. Dies liegt weniger an den Skrupeln der Herausgeber von Slgen, sondern im Erzählprinzip des Schwankes selbst, dessen Anliegen oft das einer moralischen Erzählung ist. In den von ihm untersuchten dt. und engl. Schwankballaden (und das gilt analog auch für den Prosaschwank) errechnet K. Roth nur etwa 9,5% sprachliche Darstellungen erotischer Vorgänge, Handlungen, Zustände, Fähigkeiten etc. 80 . Ein Schwank wie z.B. der vom —> Almosen der Minne zeigt, daß selbst pikante erotische Szenen nicht ausgebaut werden, wenn die didaktische Absicht des EhebruchSchwankes auf einem ganz anderen Gebiet liegt, wie hier z.B. in der Anprangerung des geizigen Ehemanns. Der Schwank von der —> Beichte der Ehefrau (AaTh 1410), der strukturell jede erotische Schilderung gestatten würde, ist primär eine Lehre gegen übertriebene Eifersucht. Die Didaxe fällt erst beim .apokryphen' erotischen Volksschwank weg. Eine reiche Ausbeute an erotischen Schwänken aus mündl. Überlieferung bringen die in der Anthropophyteia veröffentlichten Erhebungen bes. von Krauss 81 und Bünker 82 . Gegenstand dieser Erzählungen sind die männlichen und weiblichen —> Genitalien, die Ausübung des Geschlechtsakts, Verführung und Vergewaltigung, Geschlechtstrieb und Lüsternheit von Männern und Frauen, Impotenz, Sodomie, Verspottung unerfahrener oder törichter Mädchen und junger Männer, wobei Schwänke um schwangere Männer eine stets wiederkehrende Rolle spielen. Der erotische Schwank lebt insbesondere von der Situationskomik beim Geschlechtsverkehr (—» Koitus). Beim Geschlechtsakt wird der kohabitierende Mann (Pfarrer, Bauer) von hinten gestochen, damit er die Bewegungen lernt oder damit er tiefer in die Frau eindringt und es einen Prälaten (Papst, Offizier) gibt 83 . In einem Prozeß wegen gewaltsamer Schwängerung' vor Gericht wird die Klägerin gefragt, ob sie sich gewehrt habe. Sie verneint: Mit ei-
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ner Hand habe sie das Hemd halten, mit der anderen dem Mann hineinhelfen müssen. Sie habe also keine freie Hand gehabt 84 . Zwei Käfer (Mäuse) übernachten in der Scheide bzw. im After einer Frau und befragen sich am nächsten Morgen über ihre Erlebnisse: Der eine hat einen schrecklichen Gewittersturm über sich ergehen lassen müssen; der andere ist von einem angegriffen worden, der ihn von einer Ecke in die andere getrieben und ihm schließlich ins Gesicht gespritzt hat 85 .
In vielen anderen Fällen geht es um unkeusche oder ehebrecherische Geistliche (—» Pfarrer): Der Pfarrer predigt gegen den Lehrer, der in der Schule das Rätsel aufgegeben hat: „Oben Haar, unten Haar, in der Mitte wunderbar". Der Lehrer hat das Auge gemeint, der Pfarrer die Vulva 86 . Einige erotische Schwänke sind Schwundstufen von Märchen oder längeren Erzählungen, wie z.B. der Schwank vom Teufel, der angesichts gespreizter Frauenbeine entsetzt ausruft: „Ich will nicht mehr in den Schraubstock!" (AaTh 1159: —> Einklemmen unholder Wesen)87 oder die .Erstürmung Konstantinopels': Der Bauernbursche belauscht den Pfarrer, wie er mit der Köchin ,Konstantinopel' stürmt 88 . Ähnlicher erotischer Metaphern bedient sich auch der Märchenschwank vom —* Redekampf mit der Prinzessin (AaTh 852, 853). 14. Witz. Der sexuelle —> Witz bildet die bei weitem größte Gruppe dieses Genres (Mot. X 7 0 0 - 7 5 9 ; Hoffmann X 700-750). Wie keine andere humoristische Gattung durchbricht er Handlungs- und Worttabus, d.h. er erzählt von Dingen, über die man normalerweise nicht spricht oder die man nicht tut. Der Lustgewinn im Sinne Freuds 89 ist dabei um so höher, je stärker die Tabus sind, die dabei überwunden werden. Die Ehe selbst als der Rahmen erlaubter Sexualität steht selten in Zusammenhang mit E. und Witz. Durch die Schilderung des Normwidrigen greift der Witz auch die Norm selbst an. In immer neuen Variationen stellt er z.B. die Situation des in flagranti ertappten ehebrecherischen Paares dar. Die schlagfertige Ausrede des auf frischer Tat überraschten Ehebrechers bildet die Pointe vieler erotischer Witze, wobei der betrogene Partner selten die Lacher auf seiner Seite hat. In anderen Witzen dieser Art wird der Betrüger selbst zum Betrogenen (—» Be-
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trüger, —> Ehebruch, —> Eheschwänke und -witze). Vor allem ist der Moment der Eheschließung Anlaß für den Witz (Hochzeitsnacht-, Deflorations-, Flitterwochenwitze). Auch hierbei interessieren weniger das ,Normale' als vielmehr die Pannen, das Abnormale, Konflikte, unerwartete Überraschungen und Komplikationen. Elterliche Ratschläge vor oder nach der Hochzeit sind eine weitere häufige Thematik. Die Unerfahrenheit eines oder auch beider Partner oder auch die Dummheit oder sexuelle Unkenntnis sind ebenso eine ständige Quelle des Witzes. Belachenswert sind Mißverhältnisse von Paaren, seien es solche des Alters, der Intelligenz oder einfach der Körpergröße (Riesenbusen, MiniPenis). Um Norm verstoße geht es auch beim Kinderwitz, Storchenwitz oder den Fritzchengeschichten, wenn der kleine Junge aufgeklärter ist als seine Lehrerin. Wenn der sexuelle Witz so oft von Defekten in eroticis spricht, von Impotenz, Schüchternheit, Ehebruchsentdeckung, Kastration, unerwiderter oder enttäuschter Liebe, ungewollter Schwangerschaft etc., macht er damit den Zuhörer zum lachenden Dritten. Andere Witze beziehen sich auf das Tabu der Nacktheit (Nudistenwitze), auf normabweichende oder ungewöhnliche Positionen beim Geschlechtsverkehr, auf Homosexualität, Sodomie oder Inzest. Weitere Sex-Witze handeln von ungewöhnlichen oder erfolglosen Mitteln der Geburtenkontrolle und Empfängnisverhütung (Pillenwitze). Es gibt keine Form des sexuellen Verhaltens, die nicht auch Gegenstand des Witzes geworden wäre. Die fiktive Verletzung der Normen bestätigt aber im Grunde die Gültigkeit der Normen. Oft geht es um ein Quantitätsdenken in eroticis: um die Zahl der Geschlechtsakte oder der Eroberungen als höchsten Triumph. Potenzprahlereien und Impotenzwitze haben wahrscheinlich denselben psychol. Hintergrund: männliche Inferioritätsgefühle; und dies ist wohl auch der Anlaß vieler frauenfeindlicher erotischer Witze. Witze — ebenso wie Schwänke — vermitteln ein vorwiegend männliches Wunschdenken, wenn sie davon ausgehen, daß jede Frau grundsätzlich verführbar sei. Der Zuhörer lacht über Normabweichungen, weil er sie vielleicht im Innersten nicht verabscheut, sondern wünscht 90 . Obwohl es im Witz häufig um
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erotische Szenen geht und der Witz auch eine erotisierende Wirkung haben kann, spricht man beim Witz eher vom sexuellen als vom erotischen Witz. Es hängt damit zusammen, daß weniger das Schöne, sondern eher das Befürchtete gezeigt wird. 15. S p r i c h w o r t . Bei der Kategorie des erotischen —»• Sprichworts und der sprichwörtlichen —»• Redensarten gibt es einerseits die direkte unverblümte, meist äußerst derbe Aussage, andererseits die Verschiebung auf ein anderes Feld, die sexuelle Metaphorik. Häufiger sind die doppeldeutigen und verhüllenden Sprichwörter. Auf E. bezogene Sprichwörter können allg. Regeln im Zusammenleben von Mann und Frau beinhalten; z.B. ,sBett — macht alles wieder wett'. — ,Ein Weib ohne Mann ist wie ein Hinkel ohne Schwanz' (feministische Var.: ,Eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne Fahrrad'). Andere Sprichwörter beziehen sich auf sexuelle Intimitäten und sind z.T. sehr direkt, offen und unverblümt: ,Ein Kuß ohne Bart ist wie eine Suppe ohne Salz'. — .Frauen, die sich gerade bücken, kann man nur von hinten fikken'. — ,Wie die Nase des Mannes, so auch sein Johannes'. — ,Kurz und dick, der Frauen Glück - lang und schmal, der Frauen Qual'. - ,4000 Schuß - dann ist Schluß' 91 . Häufiger als die direkte Aussage gibt es jedoch die Verhüllung erotischer Vorgänge und erotische Anspielungen. Das Sprichwort verschiebt das Gemeinte auf ein anderes Feld. Oft zeigt erst der Kontext, die Performanz, die Verwendung des Sprichworts das in Wirklichkeit Gemeinte. Gerade das Verhältnis der Geschlechter wird gerne in Bilder umgesetzt 92 . Von einer kleinen Frau, die einen großen Mann heiratet, heißt es: „Es ist noch keine Maus unter einem Heuhaufen erstickt". - „Wenn ich zweimal in der Woche Milch trinken will, kaufe ich mir deshalb doch noch keine Kuh", umschreibt die Weigerung eines jungen Mannes, ein Mädchen zu heiraten. — „Groß das Haustor, groß auch der Türklopfer", d.h. in eine weite Vulva gehört ein dicker Penis. — Das Sprichwort „Man kauft keine Katze im Sack" begründet oft voreheliche Geschlechtsgemeinschaft. - „In der Nacht sind alle Katzen grau" heißt, es ist egal, bei welcher Frau man schläft. In allen diesen Fällen muß das Bild des Sprichworts erst wieder entschlüsselt werden, wenn man seinen Sinn verstehen will.
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16. R ä t s e l . Unter den Volksrätseln spielen die erotischen eine verhältnismäßig große Rolle. Dabei gibt es einerseits harmlos erscheinende Rätselfragen, deren Lösung aber einen sexuellen Hintergrund hat. Häufiger sind jedoch die zweideutigen Rätsel. Ihr Wortlaut klingt scheinbar sehr obszön, die Lösung scheint eindeutig sexuell, doch erfahren diese Rätsel dann eine überraschend harmlose Auflösung; z.B. ,Zwei liegen aufeinander und machen einen Dritten' (das Waffeleisen). — ,Bauch an Bauch, Haar an Haar, dazwischen eine Stange' (zwei Pferde an einer Deichsel). — ,Hat ein Loch, macht ein Loch und geht durch ein Loch' (Nähnadel) 93 . Der Lohn für das erfolgreiche Raten eines Rätsels war wohl nicht selten auch realiter die Liebeserfüllung. Manche Rätsel bringen das unmißverständlich zum Ausdruck: „De dat rödt, sali bi mi slapen", vornehmer: „Wer dies kann erdenken, dem will ich mein Herz schenken" oder „Wer dies kann wissen, der soll eine hübsche Jungfrau küssen" 94 . Erotische Rätsel spielen z.B. im —» Rätselmärchen eine Rolle 95 . Erotischer Natur sind auch oft die Antworten, die der kluge Bauernbursche vorbringt, der die Königstochter im Redewettkampf besiegt (AaTh 853: —» Redekampf
mit der
Prinzessin):
Der dumme Tölpel findet unterwegs einige wertlose oder verschmutzte Gegenstände (Nagel, Pfanne, Ei, toter Vogel etc.), die aber darüber hinaus noch eine sexuelle Nebenbedeutung haben. In einem zotenhaften Wettgespräch bringt er so die Prinzessin zum Erröten 96 . In den Var.n des Märchens von der klugen Bauerntochter (cf. AaTh 921: —> König und kluger Knabe) spricht die Heldin gelegentlich in einer Art Rätselsprache, die sich ausgesprochen obszön anhört. Z.B. fragt sie den König, der als Gast zu ihr kommt: „Womit soll ich Sie speisen, mit dem, was zwischen den Beinen ist, was aus dem Arsch kommt oder mit dem, was unter dem Schwanz hervorkommt?" Die harmlose Antwort ist: Käse und Butter, Würste oder Hühnereier 97 .
17. Psychol, u n d g e s e l l s c h a f t l i c h e F u n k t i o n erotischer Folklore: Realit ä t u n d F i k t i o n . Sicher ginge man zu weit, wenn man behaupten würde, alle Folklore sei erotische Folklore. Aber in der Tat gibt es keine Folklore-Gattung, in der E. nicht eine wesentliche Rolle spielen würde. Erotische Folklore ist sowohl Abbild wie Wunschbild,
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Ausdruck von erfülltem oder unbefriedigtem Sexualleben, wirkt sinnlich stimulierend und zeigt den Menschen als lustsuchendes und lustberechtigtes Wesen. Nicht selten spricht sie von Wünschen, die in praxi unerfüllbar sind. Insofern hat erotische Folklore mindestens teilweise die Funktion eines Tatersatzes oder einer Ersatzbefriedigung: sie hat Ventilfunktionen. Nicht zuletzt deshalb zeitigt sie häufig auch eine frustrierende Wirkung. In allen Gattungen zeigte sich eine auffallend ambivalente Einstellung: Folklore kennt hinsichtlich der E. und Sexualität sowohl die direkt-offene wie die indirekt-verhüllende Aussage. Von beiden Möglichkeiten machen alle Gattungen Gebrauch. Immer gibt es einerseits eine derbe und offenherzige Sprache, die selbst unappetitliche Beschreibungen geschlechtlicher Akte nicht ausklammert. Ihr gilt das Prinzip ,naturalia non sunt turpia'. Andererseits gibt es auch die verbergende Sprache der Liebe im Volksmund, die Tendenz zur umschreibenden Metapher und zum Symbol. Dieses sind Stilmittel und Formen der Tarnung. Aber darum brauchen sie nicht weniger erotisierend zu wirken. Das sprachliche Bild gibt dem Erzähler oder Sänger erst die Möglichkeit, die verborgensten Gedanken auszusprechen, insbesondere die Gedanken der Liebeserfüllung, die ihm in einer konkreten Sprache nicht formulierbar wären. Oft aber erhöht die Verhüllung noch die Anziehungskraft des Verborgenen 98 . „Die Entschleierung der Metaphorik geschieht im Verständnis des Hörers, ist seine eigene Leistung. Er wird belohnt durch die Lösung der Spannung und ein Erfolgserlebnis; so der psychol. Hintergrund. [. ..] neben der Spannungsvermehrung bietet die erotische Metapher aber auch eine Sicherung gegen jenes Publikum, das Anstoß nehmen könnte am Thema" 99 . Die Meta-Sprache der E. wird z.T. aus Rücksicht auf Sitte, Anstand und Schamgefühl gewählt, z.T. aber auch aus Rücksicht auf den geliebten Partner, der als empfindsames und verletzliches Du, als gleich- oder sogar höherwertig betrachtet wird, nicht als bloßes Lustobjekt der Sexualität. Als Abbild wie als Gegenbild sexueller Realität macht erotische Folklore auch Aussagen über die Gesellschaft, in der solche Erzählungen, Rätsel, Lieder etc. umlaufen: Wo
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sind ihre Schamgrenzen? Was gilt als .harmlos', was als ,unanständig' oder gar als o b szön'? Wie offen oder wie versteckt wird in Metaphern, Bildern und Symbolen über Sex gesprochen? Was ist in, was außerhalb einer Ehe erlaubt und legitim? Wie beurteilt man Außenseiter oder Normabweichler, wie unverheiratete Frauen und Männer (Alte Jungfer, Hagestolz), Nonnen, Homosexuelle, Prostituierte? Welche Auffassungen bestehen über Ehebruch, Jungfräulichkeit, Sodomie, Onanie, Inzest? Was gilt als sexuelle Perversion (Mot. Τ 4 6 0 - 4 6 9 ) ? Man weiß sehr wenig über die Performanz von erotischer Folklore, und nur selten haben Sammler Kontextstudien geliefert, d.h. die Begleitumstände notiert, in denen ihnen die entsprechenden Texte begegnet sind. Immerhin ist z.B. mehrfach bezeugt, daß ländliche Hochzeiten eine bevorzugte Erzähl- und Singgelegenheit für erotische Folklore waren. Da konnten ausgesprochene Zotenmärchen zum Besten gegeben werden 100 , und hier wurden zu vorgerückter Stunde auch jene Strophen von der Vogelhochzeit gesungen, die von Schul- oder Jugend-Singbuch gewöhnlich unterschlagen werden 101 . Daß auch die allerorten üblichen Spinn- oder Lichtstuben als gesellige Zusammenkunft gerade auch der jungen Leute eine Erzählgelegenheit für erotische Folklore waren, ist ebenfalls mehrfach bezeugt. Bestimmte Formen des erotischen Liedes sind mit spezifischen Sitten der Brautwerbung (Kiltgang, Gasslbrauch) und anderen brauchtümlichen Anlässen verbunden gewesen. Aber erotische Folklore gehört auch zu städtischen Gesellschaften, zu den wandernden Handwerksburschen wie zu den Studenten und Soldaten. Es ist keineswegs nur die „Hefe des Großstadtvolkes, die Stromer und Landstreicher oder die durch das Militärleben verrohten Soldaten" 102 , die ihre Freude an erotischen Schwänken bekundet haben. Wirtinnen-Verse haben ihre Sänger und Sammler wohl eher bei intellektuellen Männergesellschaften und insbesondere in Studentenkreisen gehabt. Doch wäre es völlig falsch, erotische Folklore auf bestimmte Erzähl- und Singgelegenheiten oder auf bestimmte soziale Schichten, Alters- oder Geschlechtsgruppen festlegen zu wollen. Allerdings gedeiht erotische Folklore — so darf
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man wohl zu Recht vermuten — bes. in Männergesellschaften: beim Militär, in den Zünften, Vereinen, im Wirtshaus, am Stammtisch etc. Die freiwillige oder unfreiwillige Abkapselung der Geschlechter, beispielsweise die Kasernierung, die Isolierung von Männern bei der Alm- oder Waldwirtschaft, in Schiffen auf hoher See oder auch bei anderen gesellschaftlichen Erscheinungen führen dazu, daß Männerphantasien erotische Folklore produzieren und reproduzieren. Auch nach ihrem Inhalt handelt es sich vorzugsweise um eine Männerangelegenheit, d.h. die herrschende E. ist eine Männer-Ε. In ihr ist die Rolle der Geschlechter als Abbild oder Gegenbild von gesellschaftlichen —» Normen festgelegt. Dabei kommt dem Mann vorwiegend der aktive Part zu. Trotzdem darf sich in den Volkserzählungen, speziell in den Märchen, auch die Frau einen Mann aussuchen, und auch Frauen sehen den Mann als Objekt ihrer Wünsche (Mahrtenehe, Feenliebe), doch ,normalerweise' muß die Frau erst durch den aktiven Mann sexuell erweckt werden (Dornröschensyndrom). Sowohl die Frau als höchstes erstrebenswertes Ziel wie auch das Gegenteil, die Frau als Lustobjekt des Mannes, sind aus der Perspektive des Mannes gesehen. In Zaubermärchen ist die Frau der Lohn des überstandenen Abenteuers und seiner Gefahren; in den Drachenkampferzählungen ist sie die Trophäe, die dem Sieger zufällt. Außereheliche sexuelle Betätigung von Männern wird anders beurteilt als die von Frauen. Frauenfeindlicher Weiberspott sichert die patriarchalische Herrschaft des Mannes. Es gibt fixe Vorstellungen über das ,starke' und das ,schwache' Geschlecht. Abschätzig beurteilt werden darum der Typus des Mannweibs (virago), das von keinem Mann bezwungen werden kann, oder auch die hochmütige Rätselprinzessin, die sich allen bisherigen Freiern auf intellektuellem Gebiet als überlegen erwiesen hat. Alle im Ansatz emanzipierten oder feministischen Frauentypen werden durch die Ehe und zur Ehe gedemütigt, wobei die Erzähler davon ausgehen, daß eine Frau letztlich doch einen stärkeren oder klügeren Mann braucht. 1 Bataille 1977, 11. - 2 cf. Borneman 1978, t. 1, 337. - 3 cf. Schelsky 1955, 102. - 4 Bioemhof, F.:
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Erotik, Sexualität
Sexualethik. In: R G G 5, 1 7 1 8 - 1 7 2 2 ; Gamm, H.J.: Sexualpädagogik, ibid., 1722—1726. - 5 c f . Kerscher 1977, 11. - 6 Schlaffer 1971, 142. 7 ζ. B. das Verbot des erotischen Schlagers ,Das kommt vom Rudern, das kommt vom Segeln' durch das Amtsgericht Hannover 1965; cf. Brednich 1979, 7 sq. - 8 Henssen, G.: Mecklenburger erzählen. Märchen, Schwänke und Schnurren aus der Slg Richard Wossidlos. B. 1958, VIII. - 9 [Afanas'ev, Α. N.:] Russkie zavetnye skazki. Genf [1872]; [id.:] Contes secrets traduits du russe. In: Kryptädia 1 (1883) 1 - 2 9 2 . - 10 [anonym:] Norw. Märchen und Schwänke. ibid., 2 9 3 - 3 2 9 ; Asbjörnsen, P. C. u.a.: Erotiske Folkeeventyr. Oslo 4 1978. 11 Bünker, J. R.: Schwänke, Sagen und Märchen in heanz. Mundart. Lpz. 1906; cf. Schmidt, L.: Johann Reinhard Bünker und die Erforschung des Volkserzählgutes im Burgenland. Wien 1979. — 12 Zenker-Starzacher, E: Eine dt. Märchenerzählerin aus Ungarn. Mü. 1941, 44. - 13 Futilitates. Beitr.e zur volkskundlichen E. 1 - 4 . Wien 1908. - 14 Bilger, F.: Einige Urteile über Blümmls schriftstellerische Arbeiten. In: Das dt. Volkslied 13 (1911) 35sq., 5 4 - 5 6 , 75sq. - 15 Peuckert, W.-E.: Dt. Volkstum in Märchen und Sage, Schwank und Rätsel. B. 1938, 5 7 - 6 1 . - " J A F L 75 (1962). - " cf. Read, A. W.: Graffiti as a Field of Folklore. In: Maledicta 2 (1978) 1 5 - 3 1 . - 18 cf. Röhrich, L.: Folklore and Advertising. In: Folklore Studies in the Twentieth Century. Proc. of the Centenary Conference of the Folklore Soc. ed. V. J. Newall. Woodbridge/Totowa 1980, 114sq.; Degh, L./Väzsonyi, Α.: Magic for Sale: Märchen and Legend in TV Advertising. In: Fabula 20 (1979) 4 7 - 6 8 . - 19 cf. z.B. von Löwis of Menar, Α.: Der Held im dt. und russ. Märchen. Jena 1912, 58 (70%). - 2 0 cf. Rosenbaum 1929, 34. 2)
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Erotik, Sexualität
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Freiburg/Br.
Lutz Röhrich
Erscheinung —»Vision Ersov, Petr Pavlovic, *Bezrukovo (bei Iäim) 22.2. (6.3.) 1815, t Tobol'sk 18. (30.) 8. 1869, russ. Schriftsteller sibir. Herkunft. Nach Abschluß der Studien an der Petersburger Univ. (1836) wurde er Lehrer, danach Direktor des Gymnasiums in Tobol'sk.
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1834 schrieb E. ein Märchen in Versen, Konek-gorbunok (K.-g.; Das bucklige Pferdchen), das sofort Aufmerksamkeit erregte und später zusammen mit den Märchen —» Puskins zu den beliebtesten russ. literar. Märchen zählte. Das in über 250 Aufl.n verbreitete K.-g. wurde zum Volksbuch sowie populärste Kinderlektüre und hatte einen ungewöhnlich großen Einfluß auf die russ., ukr. und weißruss. Märchentradition. Bekannt ist es auch in zahlreichen hs. Kopien und Holzschnittausgaben. Im 19. und 20. Jh. diente das K.-g. vielfach als Vorlage für Inszenierungen (Dramen, Opern, Ballette, Kinderstükke), Kinofilme (darunter auch Zeichentrickfilme), Fernsehfilme etc.; darüber hinaus ist es oft in westeurop. Sprachen übersetzt worden 1 . E. schuf das K.-g. auf der Grundlage russ. Märchen; es stellt eine Kontamination mehrerer Märchentypen dar (AaTh 531 + 536A + 536Β + 328 + 550), in Art und Aufbau ähnlich den bekannten Kontaminationen der russ. Märchentradition zumindest seit dem 18. Jh. Nach Auffassung einiger Forscher, ζ. Β. Μ. K. Azadovskijs, zeigte sich der Einfluß des Gesamttextes von K.-g. (1856) 2 auf die mündl. Tradition bereits in den 50/60er Jahren des 19. Jh.s. Später wurden sowohl Nacherzählungen des K.-g. in Prosa und Versen als auch einzelne Motive, die auf E.s Märchen zurückgehen, von den Sammlern kontinuierlich seit den 80er Jahren des 19. Jh.s bis heute festgehalten, einschließlich des Repertoires so bedeutender Märchenerzähler wie A. Novopol'cev, E. Sorokovikov (Magaj), F. Gospodarev, M. Korguev u. a. Der Wechselbeziehung von K.-g. und dem Volksmärchen wurde bedeutende Forschungsarbeit gewidmet3. In den 30er bis 50er Jahren des 19. Jh.s schrieb E. Gedichte, Lieder, ein Drama, Erzählungen — doch im Bewußtsein der russ. Leser und in der Geschichte der russ. Lit. blieb er homo unius libri: der Autor von K.-g. 1 v. Verz. von Ausg.n, Inszenierungen und Übers.en: Utkov, V. Α.: Grazdanin Tobol'ska. Ο zizni i tvorcestve P. P. Ersova, avtora skazki K.-g. (Ein Bürger von Tobol'sk. Leben und Werk P. P. E.s, des Autors vom Märchen K.-g.). Sverdlovsk 1972. - 2 Die 4. Aufl., bei der die Zensureingriffe weitgehend beseitigt sind, lag allen folgenden Ausg.n
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zugrunde. Die sorgfältigste zeitgenössische kritische Ausg.: P. P. E. K.-g. Stichotvorenija (P. P. E. K.-g. Gedichte). Einl. I. P. Lupanova, Zusammenstellung, Textbearb. und not. D. M. Klimova (Biblioteka poeta. Bol'saja serija. 2. Ausg.). Len. 1976. - 3 Wichtigste Unters.en: Jaroslavcev, Α. Κ.: E., avtor Kon'ka-gorbunka (E., Autor des K.-g.). St. Peterburg 1872; Putincev, Α. M.: Skazka P. P. Ersova K.-g. i ee istocniki (Das Märchen von P. P. E.s K.-g. und seine Qu.n). In: Trudy Voronezskogo gosudarstvennogo universiteta 1. Voronez 1925, 3 3 9 - 3 5 8 ; Azadovskij, Μ. K.: Avtor Kon'ka-gorbunka (Der Autor des K.-g.). In: id.: Literature i fol'klor. Len. 1938, 1 0 6 - 1 3 2 ; id.: P. P. E. In: P. P. E. K.-g. Stichotvorenija. ed. Μ. K. Azadovskij (Biblioteca poeta. Malaja serija). Len. 1961, 5—48; Lupanova, I. P.: Fol'klornye osnovy skazki P. P. Ersova K.-g. (Die folkloristischen Grundlagen des Märchens von P. P. E. K.-g.). In: Ucenye zapiski Petrozavodskogo universiteta. Istoriceskie i filologiceskie nauki 6, 1 (1956) 161 — 192; ead.: Ο dvuch izdanijach (pervom i cetvertom) skazki P. P. Ersova K.-g. (Über die 2 Aufl.n [1. und 4.] des Märchens von P. P. E. K.-g.). In: RusF 3 (1958) 3 3 4 - 3 4 2 ; ead.: Skazocnik E. i ego podrazateli (Der Erzähler E. und seine Nachahmer). In: ead.: Russkaja narodnaja skazka ν tvorcestve pisatelej pervoj poloviny XIX veka. Petrozavodsk 1959, 2 0 8 - 2 8 5 .
Leningrad
Kirill V. Cistov
Erster, Erstes, Zuerst 1. Allgemeines — 2. Neuer Zeitabschnitt — 3. Neuer Raum — 4. Sage - 5. Märchen
1. Allgemeines. Zahlreiche Glaubensvorstellungen, Sitten und Volkserzählungen zeigen, daß der Anfang, das Erste und Neue als etwas Bedeutungs- und Wirkungsvolles gesehen wird. Der Anfang ist voller guter und schlechter Möglichkeiten, ein Reservoir des noch ungeteilten Glücks. Der Mensch muß danach streben, sich einen Anteil am Glück zu sichern; er muß wachsam und aktiv sein, denn seine eigenen Taten beeinflussen sein Glück. Aber um ihn herum sind konkurrierende Mitmenschen, die für sich selbst einen möglichst großen Anteil vom selben Glück erobern wollen, dessen Umfang begrenzt ist. Über ihm sind die Götter, die Wächter des Glücks, von deren Geneigtheit viel abhängt. In seiner Reichweite befinden sich die materiellen Symbole des Glücks, auf die sich die supranormale Kraft des Ersten und Neuen
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konzentriert und womit man das Glück beeinflussen kann. Die Mythen berichten von einer großartigen Urzeit, in der die Götter und die Kulturheroen ihre entscheidenden Schöpfungstaten vollbrachten. Es waren erste, grundlegende Taten, dank derer die Weltordnung ihre heutige Form erhielt. Im Verhalten des Menschen zu den ersten Taten ist noch etwas von der Großartigkeit dieser Schöpfungstaten zu spüren. Die ersten Taten sind ein Miniaturmodell der Zukunft, sie erweisen sich als ominell. Aber die Periode der Schöpfung ist kurz, man muß beizeiten zugreifen. Eine Form der Rechtzeitigkeit, allerdings nicht die einzige, ist das Zuerstkommen; in manchen Situationen jedoch muß gerade dies vermieden werden.
dition über das Erste teilweise zugrunde liegen. Er spricht von externen und internen Dominanten 2 , die entscheiden, wann und wie der Mensch überhaupt das Erste als signifikant empfinden kann:
Das Erste und Neue ist nicht nur schöpferisch, ominell und kraftvoll, sondern auch unbekannt. Des Menschen Versuche, all jene Faktoren zu beherrschen, die in der Ausformung eines neuen Schicksals zusammenfließen, gelingen nie vollständig. Die ersten Taten enthalten deshalb stets auch ein Risiko und ein Gefahrenmoment. So herrscht in der Vorstellung über das Erste eine Spannung zwischen positiven und negativen Erwartungen. Die bisherige Forschung zeigt, daß die volkstümliche Glücksspekulation über die ersten Taten und Geschehnisse sich um die Begriffe neue Zeit und neuer Raum konzentriert. Die neue Zeit begreift man kalendarisch (neues Jahr, neuer Monat, neue Woche, neuer Sommer etc.), nach einer neuen Lebensphase (Kindheit, Ehe etc.) oder aufgrund einer neuen Wirtschaftsperiode wie Beginn des Fischfangs, der Ernte, des Beerenpflükkens u. a. Um einen neuen Raum handelt es sich bei Umzug, Reise, Einweisung der Braut in die Einzelheiten ihrer neuen Arbeitsumgebung oder Begräbnis des ersten Toten auf einem neuen Friedhof. Die mit dem Ersten verbundenen Vorstellungen und verschiedene Primitialopfer waren in der Forschung Gegenstand konstanten Interesses 1 . Weniger beachtet worden ist dagegen die Ritualisierung des Ersten, d. h. das ständige Neuentstehen von Primitialriten. C. W. von —» Sydow hat aufmerksam gemacht auf die psychol. Prozesse, die der Tra-
Von Sydow stützt sich hier auf die Unters, von A. Nilsson über den Anteil der —» Interessendominanz bei der Bildung der Volkstradition 4 . Von Sydows Idee vom mechanischen und zufälligen Charakter der ,emotionalen Assoziationen' entspricht nicht ganz den Auffassungen der modernen Wahrnehmungspsychologie5, doch ist sowohl ihm als auch Nilsson der Hinweis darauf zu verdanken, daß die Beachtung des Ersten nicht nur durch die Kenntnis der Tradition bestimmt wird, sondern auch durch die aktuelle Beobachtungsbereitschaft und die Wertvorstellungen. Von Sydow wählte seine Beispiele aus sehr verschiedenen Lebensbereichen und zeigte, wie das Erste leicht ominellen Charakter erhält, als kraftvoll (Orenda) oder als etwas Gefährliches oder Gefährdetes empfunden wird. Interessant ist seine Bemerkung, daß zur Empfindung des Ersten nicht immer das Gefühl der supranormalen Kraft oder eine Wunsch- oder Schreckdominante gehört: Es kann auch lediglich zur Hervorhebung einer Sage oder eines Scherzes dienen und „wird nur eine Art Denkmal für die Sage oder den Scherz" 6 . Vom Standpunkt der Erzählforschung ist die Frage angebracht, wie sich der Glaube an die Bedeutsamkeit des Ersten in den verschiedenen Erzählgattungen widerspiegelt. Es scheint, als gehöre dieser Vorstellungskomplex zunächst in den Bereich von Volksglauben und rituellem Verhalten. Nur Erzählformen wie Memorate und Glaubenssagen, die
„Das Ungewöhnliche [ζ. B. das Erste] ist etwas, das die Aufmerksamkeit nach aussen hin beherrscht und soll darum hier externe Dominante genannt werden. Diese externe Dominante verknüpft sich mit etwas, das das Interesse des Beobachters im Augenblicke beherrscht, seiner internen Dominante. Diese Assoziation zwischen einer externen und einer internen Dominante muss sich infolge der vom Zufall abhängigen Beschaffenheit beider Teile als etwas äusserst Regelloses erweisen. Was an einem Ort, zu einer Zeit oder für eine Person das Interesse beherrschen kann, kann unter anderen Umständen vollständig ohne Bedeutung sein" 3 .
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unmittelbar auf Volksglaube und Brauch basieren, vermitteln die Primitialideen als solche. In zahlreichen Sagen und vor allem in den Märchen begegnet dieser Vorstellungskreis kaum noch, oder aber es kommt zu einer überraschend starken Ausprägung eines Details. Für das Märchen breitet K. Heckscher Material in reicher Fülle aus, ζ. T. ohne Hinblick auf Volksglauben und -brauch 7 . Eine solche Aufreihung braucht hier nicht wiederholt zu werden. Hingegen sollen die Haupttypen der volkstümlichen Anschauungen, die das Phänomen Erstes betreffen, sichtbar gemacht werden. Sie sind, nicht im Speziellen, aber im Ganzen, der Wurzelgrund der entsprechenden Erzählmotive und -züge, auch dort, wo diese, wie so oft im Märchen, nur spielerisch verwendet werden. 2. N e u e r Z e i t a b s c h n i t t . Bei k a l e n d a r i s c h e n Glücksspekulationen, Glaubensvorstellungen, Memoraten und Bräuchen geht es am häufigsten um das Jahr. Weit verbreitet ist die in engl.sprachigen Ländern als first foot(ing) bekannte Vorstellung: Von der ersten Person, die im neuen Jahr das Haus betritt, wird darauf geschlossen, wie es mit dem Glück des Hauses und seiner Bewohner im beginnenden Jahr bestellt ist. Eine dunkelhaarige, männliche und unbekannte Person bedeutet Gutes, während eine blonde oder rothaarige Frau, eine Person, die schielt, Plattfüße oder zusammengewachsene Augenbrauen hat, als ungünstig gilt8. Um sich das Glück zu sichern, suchte man jemanden, der den Anforderungen entsprach. Der Ankömmling durfte nicht mit leeren Händen nahen, sondern sollte als Gabe ein Stück Kohle, Brot, etwas Salz, Obst, Zucker, Geld oder Whisky überreichen. In der Oberschicht waren wertvolle Geschenke üblich: Es wird die goldene Tasse erwähnt, die Heinrich VIII. von Kardinal Wolsley erhielt. Althergebracht ist die Sitte, in der Neujahrsnacht oder am Neujahrsmorgen einen grünenden Zweig als Gabe zu bringen; die Druiden der Kelten verteilten Mistelzweige9. Die ersten Tage des neuen Jahres sind eine Art Weltanfang und Übergangszeit, in der die alte Ordnung ausgelöscht ist. Erst die Ereignisse und Taten der ersten Tage schaffen Modelle dafür, wie sich die Weltordnung und die
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Zuteilung des Glücks im neuen Zeitabschnitt gestalten werden. In der finn. Tradition wird durch Beobachtung von Vorzeichen und anhand zukunftkündender Riten u. a. folgendes erforscht: Vom Tode Verschontbleiben (der Ritus zeigt, wer sterben muß), Gesundheitszustand, Vorankommen der Arbeiten, günstiges Wetter (zwölf Tage künden das Wetter von zwölf Monaten), Getreidesegen, Viehsegen, Glück bei Jagd und Fischfang, Sicherheit vor wilden Tieren, Vermögen, Finden des Ehepartners und dergleichen mehr 10 . Wenn man am Neujahrsmorgen lange schläft, ist man das ganze Jahr über müde. Die ersten Taten des Jahres wurden als System von Schöpfungstaten aufgefaßt: Der im Anfang verborgene Reichtum der Möglichkeiten nimmt mit den ersten Handlungen rasch ab, denn sie sind normativ, und da der Mensch an einem Tag einen Hauptteil der gleichen Beschäftigungen absolviert wie später an jedem Tag im Jahr, hat er den Kosmos bereits am ersten Tag im Jahr fast fertig erschaffen 11 . Andere kalendarisch festliegende Zeitperioden, zu deren Beginn Glücksspekulationen gehörten, sind u. a. der Monat 12 , der Neumond 13 , der Wochenanfang 14 und mitunter auch die Nacht. Ein wichtiger Grenzpunkt war der Sommeranfang: Symbolisiert wurde er ζ. B. durch den ersten Mairegen, der das Haar stärkt, den ganzen Sommer über vor Krankheiten bewahrt, die Sommersprossen verschwinden läßt etc. 15 . Der Beginn einer neuen L e b e η s ρ h a s e ist ebenfalls schöpferisch, ominös und heikel. So glaubt man, ein neugeborenes Kind erhalte die Charakterzüge desjenigen, der es nach der Mutter als erster küßt, ins Treppenhaus trägt oder vor die Tür bringt 16 . Die erste nasse Windel des Kindes schützt vor verschiedenem Ungemach, wenn Kind oder Mutter sich damit den Mund oder das Gesicht wischen; die ersten Haare des Kindes bringen Glück, einem Kahlköpfigen ζ. B. wachsen wieder Haare etc. 17 . Ins erste Badewasser des Kindes tat man Zwiebel, Eisen, Schwefel oder Eier; das Wasser selbst mußte man im Stall oder unter einem Stachelbeer- oder Rosenbusch ausgießen. Neben diesen apotropäischen Maßnahmen begegneten ominelle Deutungen der ersten Suppe des Kindes, seines ersten Wortes, dessen, wonach es zuerst greift, etc. 18 .
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Noch bedeutungsvoller als ein Neugeborenes ist der E r s t g e b o r e n e . Er hat nicht nur eine Sonderstellung und -rechte in der Familie, sondern auch außergewöhnliche Fähigkeiten; seine Ausscheidungen (Blut, Speichel, Urin), seine Nabelschnur u. a. werden in der Heilmagie angewandt' 1 '. In vielen Kulturen ist der Erstgeborene heilig, er wird mit Zeremonien und Taburegeln umgeben 2 0 . In Polynesien ζ. B. kamen dem Erstgeborenen (ariki) die Funktionen des Häuptlings wie des Priesters zu, eine Rolle, welche wesentlichen Einfluß auf die Entwicklung der Gesellschaft hatte 2 1 . Das Wort b e khör, das in der hebr. Tradition den Erstling beim Menschen und bei den Haustieren bezeichnet, hat etymol. die gleiche Wurzel wie bikkürim, womit man die erste Frucht benennt. Vor diesem Hintergrund wird die Opferung des Erstlings teilweise verständlich: Der erste Teil der Ernte gehört Gott, und in bes. Verhältnissen, nach langer Unfruchtbarkeit ζ. B., kann eine Frau ihr Erstgeborenes Gott zurückgeben und sich dadurch ihre spätere Fruchtbarkeit sichern. Das Erstgeborene eignete sich auch als Sühneopfer in schwierigen Situationen, wo das Schicksal seines Vaters, seiner Sippe, seiner Stadt etc. auf dem Spiel stand. Ein repräsentativeres Opfer allerdings kann man sich nicht denken 2 2 . Auch die Hochzeitszeremonie vertritt den Anfang einer neuen Lebensperiode; im Zusammenhang damit zieht man aus vielen Handlungen des Brautpaares (wer von den beiden den anderen zuerst sieht, zuerst aus dem Becher trinkt, zuerst ins Bett steigt etc.) ominelle Schlüsse auf seine Zukunft 2 3 . Apotropäische Maßnahmen, die Neid und bösen Einfluß abwenden von in der Entstehung begriffenen sozialen Beziehungen, wechseln ab mit Ereignissen, die zum Grundschema verschiedener Übergangsriten gehören, ζ. B. die symbolischen ersten Arbeiten der Braut im neuen Haus (Fegen des Fußbodens, Gang zum Brunnen u. a.) 24 . Wie bei der Hochzeit kann auch im Zusammenhang mit dem Tod das Glück gestaltet und die Zukunft erkundet werden. So läßt sich bei der Beerdigung das Schicksal des Verstorbenen und der Lebenden u. a. daraus erschließen, wer zuerst zum Trauerhaus kommt, dem Leichenzug begegnet etc. 25 .
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Eine neue P r o d u k t i o n s p h a s e , deren Anfangsmomente ein bestimmter kalendarischer Tag, Naturereignisse, die den Beginn der Periode signalisieren, die erste Beute, Verwendung der neuen Ernte etc. sind, wird mit schöpferischen, symbolischen Akten und ominellen Deutungen markiert. Der Beginn der Saison entscheidet über den späteren Erfolg: Wichtiger als das Ausmaß der ersten Ernte oder Umfang der Beute ist die Sicherung ihrer Fortdauer. Dieses Streben bringt verschiedene übernatürliche Spender auf den Plan, Götter, in deren Macht das Wachstum des Getreides und die Verfügbarkeit des Wildes stehen. Der erste Teil von Ernte und Beute gebührt dem Gott; erst wenn dieser bedacht worden ist, kann sich der Mensch die nun rituell eröffnete Quelle zunutze machen. Die Opferzeremonien der sog. E r s t l i n g s g a b e , die gleichzeitig auch jene Tabus entfernt, die bislang eine vorzeitige Verwendung der diesbezüglichen Quelle verhindert haben, finden sich in entwickelter Form sowohl in Hochkulturen als auch in schriftlosen Kulturen. Erstlingsgaben hat man nicht nur an Götter, Geister, Tote etc. abgetreten, sondern auch zeremoniell verzehrt, unter Betonung der Verbindung mit übernatürlichen Mächten 2 6 . Von Sydow, der allen Opfertheorien kritisch gegenüberstand, wollte auch in den Erstlingsgaben den Verzicht auf den als gefährlich empfundenen ersten Teil sehen: „Wird eine Sache weggeworfen aus Furcht, sie könne etwas Gefährliches enthalten, so bedeutet dies, dass man sie aufopfert, aber nicht, dass man sie opfert"27. So sind es nach ihm bloße apotropäische Handlungen, wenn der Säemann die drei ersten Handvoll im Namen der heiligen Dreieinigkeit auswirft oder sie Vögeln oder Mäusen übereignet, wenn das erste Stück vom ersten Brot dem Hund oder der Katze gegeben wird oder wenn man die erste Milch der Kuh nach dem Kalben weggießt oder den Armen gibt 28 . Obgleich zur Behandlung des Ersten mit Sicherheit auch die Schutzmagie gehört, geht von Sydow hier zu weit. Mit Gebeten und Opfern muß man sich an die Wesen wenden, die über jene Quellen und Vorräte herrschen, deren Ausreichen und Fortdauer man sich sichern will. Durch sein ,do ut des' meint der Mensch diese Ga-
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rantie zu erhalten. Im finn. Volksbrauch werden die Erstlingsgaben zu einem in der Nähe des Hauses wachsenden Opferbaum oder auf einen Opferstein gebracht. Als Empfänger sind je nach der Situation einmal die Toten, ein andermal die Geister gedacht; auch wo die Identität und Art der Empfänger unklar bleiben, handelt es sich stets um ein sakrales Ereignis, wenn der erste Teil vom neuen Getreide, vom neuen Bier, neuen Brei, von der Milch einer Frau, die geboren hat, oder einer Kuh, die gekalbt hat, von der ersten Schafwolle, den ersten Beeren, Fischen, der ersten Speise der im Haus eingezogenen Braut oder des neuen Knechtes gespendet wird. Erstlingsgaben konnten auch auf den Gräbern dargebracht werden, auf der Bodentreppe (für den Hausgeist), auf einem ,Tisch', den man auf den unteren Zweigen eines in der Nähe der Jagd- und Fangstelle wachsenden Baumes eingerichtet hatte (für den Waldgeist), auf einem Uferstein (für den Wassergeist) etc. 29 . Das Schneiden der ersten drei Halme durch ein Kind, die Bearbeitung der ersten Garbe, der erste Schuß des Jägers, der erste Fang des Fischers, der erste Kunde des Kaufmanns, das erste verdiente Geld etc. können je nach der Situation und in den Grenzen der Überlieferung als Vorzeichen aufgefaßt oder als Schutz vor Schadenzauber, Mittel aktiven Heilens etc., Opfergabe, Verheimlichung oder zeremonielle Kundgabe einer heiklen Situation gehandhabt werden. Immer aber wird dem Menschen bewußt gemacht, daß es um wichtige Grenzpunkte der Produktionsphasen geht und daß damit die Möglichkeit verbunden ist, sein Glück im Erwerbsleben positiv zu beeinflussen. 3. N e u e r R a u m . Das Betreten eines neuen Raumes ist auch eine Art Anfang. In Ingermanland nahm man Besitz von der Baustelle für ein neues Haus, indem man die erste Nacht auf dem gewählten Platz schlief (es war ein gutes Omen, wenn der Erdgeist einen nicht weckte), indem man zuerst den Schutzgeist des Gebiets begrüßte, den Hausplatz kreuzförmig umpflügte oder den Platz umkreiste und dabei Salz ausstreute 30 . In Ingermanland wird der Erdgeist zum Hausgeist, in Finnland der Hofgründer oder der als erster
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im Haus Verstorbene, der als erster am Hausplatz ein Feuer angezündet hat oder der als erster an der Baustelle vorbeikommt 31 . In und außerhalb von Europa sind Bauopferbräuche und -erzählungen weitbekannt: Ein Mensch, ζ. B. ein zufällig Vorbeikommender, oder ein Tier wird lebendig in den Grundstein eines Hauses eingemauert (cf. -> Einmauern) 32 . Um den ersten Menschen, der ein neues Haus betritt, nicht zu gefährden, wurde als erstes ζ. B. ein Hahn hineingeworfen 33 . Der Umzug in ein neues Haus verlangte eigene Vorkehrungen: So brachte man ζ. B. in den USA zuerst einen neuen Besen und Brot hinein, um sich Sauberkeit und Reichtum zu sichern 34 . In Ingermanland warf man ein Brot über die Schwelle, bevor man eintrat: Es war ein gutes Vorzeichen, wenn es bis in die hintere Ecke rollte 35 . In Schweden glaubt man, es sei gefährlich, als erster auf einem neuen Friedhof begraben zu werden 36 , in Finnland wiederum wird der zuerst Begrabene der Friedhofsgeist, bei dem der Zauberer sich nach dem Verbleib von gestohlenem Gut oder nach der Ursache einer Krankheit erkundigt 37 . Auch wenn man sich auf eine Reise begibt, erobert man einen neuen Raum. Kommt einem als erstes ein Hase, eine Frau oder ein Geistlicher entgegen, bedeutet das eine Unterbrechung: der Reisende begibt sich am besten wieder nach Hause und wartet einen geeigneteren Zeitpunkt ab 38 . Weit verbreitet ist die Regel, man müsse bei Beginn einer Reise zuerst mit dem rechten Fuß auftreten 39 . 4. Sage. Die genannten Auffassungen und Bräuche vermitteln ein Bild vom Erscheinungsreichtum des Ersten im Volksglauben. Wie bereits festgestellt, begegnen diese Motive oft in unmittelbar auf dem Volksglauben basierenden Memoraten, Sagen und Ritenschilderungen. Hier ein Beispiel für eine solche Glaubenssage aus Schonen in Schweden. Ein alter Bauer belauschte das Gespräch zweier Kallas (Schüttelfrostdämonen). Die eine sagte, sie warte auf den Augenblick, da der Bauer vor der Abendgrütze sein Tischgebet vergesse, worauf sie sich im ersten Löffel Grütze verstecken und den Bauern mit kaltem Fieber plagen könne. Der Bauer wußte sich zu helfen. Er ließ absichtlich das Tischgebet weg, aß jedoch den ersten Löffel Grütze
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Erster, Erstes, Zuerst
nicht, sondern tat ihn in seinen Tabaksbeutel, den er zuschnürte und an die Wand hängte. Dann verzehrte er in Ruhe seine Grütze, schlug aber den Tabaksbeutel jeden Tag mit dem Stock. Nach einem Monat war der Beutel defekt, und der Fieberdämon kam heraus. Der Bauer hörte dann die Kalla ihrer Gefährtin erzählen, sie habe einen ganzen Monat lang nicht mehr als einen Löffel Grütze bekommen, aber Schläge jeden Tag 40 .
Die Sage zeigt, wie das Motiv von der Gefährlichkeit des ersten Löffels dem Erzählganzen angepaßt werden kann, indem trotz Auslassung des Tischgebets der Verzicht auf den ersten Löffel eine in der Sicht des Volksglaubens adäquate Lösung darstellt. Dennoch hat die Sage Züge, die ζ. B. in Memoraten kaum begegnen (Dialog zweier Krankheitsdämonen, einen Monat Schläge auf den Beutel, Belauschen). 5. M ä r c h e n . Im Märchen begegnen Vorstellungs- und Brauchmotive nicht häufig. Es erscheint vor allem das Thema der orakelhaften Wahl des ersten Entgegenkommenden, ersten Vorübergehenden oder des erstbeliebigen Gegenstandes, die nicht vom Zufall abhängt, sondern vom Schicksal getroffen wird; das so gewählte Wesen oder der Gegenstand ist allg. mehr, als es anfangs erscheint, ein übernatürlicher Helfer, eine auf Erlösung wartende verzauberte Person u. a. Dagegen begegnet das Angangsmotiv in den Märchen nur ganz vereinzelt in der Funktion, die es in den Glaubensvorstellungen, Memoraten und in einigen Sagen hat, nämlich als gutes oder schlechtes Omen, als Hindernis für den Aufbruch (cf. immerhin das Umkehren des Helden, wenn er einem Rothaarigen, Bartlosen oder Buckligen begegnet in AaTh 531: —» Ferdinand der treue und Ferdinand der ungetreue). Das Märchen kann — das ist gattungsspezifisch — die mit dem Ersten zusammenhängenden Glaubensvorstellungen nicht als solche verwenden; wenn es aber einige davon benutzt, werden sie dem für das Märchen typischen Handlungsverlauf angepaßt und untergeordnet.
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ein alter Mann, der den Jungen heimlich in die Kirche bringt, ihn segnet und ihm die Fähigkeit gibt, alle Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen. Die Patenschaft kann auch als Bedingung auftreten: Dem kinderlosen König wird ein Sohn versprochen, wenn er zusagt, den ersten Bettler, den er auf der Straße trifft, als Paten zu wählen. Einen Paten suchen kann ein armer, kinderreicher Mann, ein Soldat in der Fremde, ein Graf, der früh all seine Kinder verloren hat, d. h. eine tragische und verzweifelte Figur. Der erste Entgegenkommende, der dann Pate wird, erweist sich stets als helfendes übernatürliches Wesen: Es kann der Tod selbst sein, von dem der Vater oder das Kind die Gabe erhält, an jedem Krankenbett zu erkennen, ob die Krankheit zum Tode führt oder nicht, oder es ist ein alter Mann, der die Wunschgabe vermittelt, oder der Teufel, der dem Vater ein Heilwasser gibt (cf. AaTh 332: —> Gevatter Tod).
In AaTh 560: —» Zauberring beschließt der Held, an drei aufeinanderfolgenden Tagen ein Drittel seines Geldes so auszugeben, daß er von der ersten Person, die ihm auf dem Wege begegnet, etwas kauft; auf diese Weise erhält er eine Katze, einen Hund und einen Zauberring. In einer norw. Fassung erweisen sich die gekauften Tiere als verzauberte Königskinder 42 . Von den zahlreichen anderen Angangsmotiven in Märchen sei hier u. a. der Streitschlichter in AaTh 613: Die beiden —> Wanderer erwähnt; es ist der zufällig zuerst Vorbeigehende. In einigen Balkanmärchen wird derjenige zum Thronfolger gewählt, der als erster am Palast vorbeigeht oder an die Stadtpforte gelangt (Mot. Ρ 17.1) 43 . In verschiedenen Teilen Europas kennt man die Weisung des sterbenden Vaters (Königs), seine Tochter dem Manne zu geben, der als erster vorbeikommt (cf. AaTh 552: -» Tierschwäger). Fraglich ist, ob Märchen wie AaTh 750 A: Die drei —» Wünsche, in denen das erste Tagewerk ein zentrales Strukturmerkmal ist (die Besegnung durch wandernde Jenseitige führt zu törichter Wahl), irgendeinen Bezug zum Zu den Märchen 41 , die das Angangsmotiv Volksglauben haben. Entfernte Beziehungen enthalten, gehört AaTh 652: —> Prinz, dessen könnten Motive haben, in denen der MärWünsche in Erfüllung gingen, wo der König in chenheld seinen übernatürlichen Gegner alder Einleitung den ersten Entgegenkommen- lein dadurch außer Kraft setzt, daß er ihn eher den zum Paten seines Sohnes bestimmt: Es ist erblickt als dieser ihn (so, wie der Jäger das 10
Enzyklopädie des Märchens IV
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Erster, Erstes, Zuerst
Wild als erster sieht). Als Zeitbestimmung kommen im Märchen rocht allg. der erste Hahnenschrei (die übernatürlichen Wesen müssen vor Sonnenaufgang rasch an ihre Aufenthaltsorte zurückkehren) 44 und der erste Sommertag vor. Eine eigenartige märchenhafte Seelenwanderung mit dem Erstenmotiv findet sich u. a. in einem poln. Märchen: Kurz bevor der Held getötet wird, bittet er seine Dienerin, es so einzurichten, daß das erste Blut sie bespritze; dann solle sie das bespritzte Kleidungsstück eingraben. Aus der vergrabenen Schürze werde ein Apfelbaum wachsen, dieser solle gefällt und verbrannt werden; sie solle den ersten Span auffangen und zu den Kanarienvögeln legen; sie tut es — und der Span wird zu einem goldenen Kanarienvogel (cf. AaTh 318: Das ägypt. —> Brüdermärchen)45. Schließlich läßt sich die Beliebtheit eines Motivs in Märchen feststellen, das an die Erstlingsopfer erinnert. Sehr häufig befindet sich der Held des Märchens, der König u. a., in einer schwierigen Situation, die er nur mittels übernatürlicher Helfer bewältigen kann, welche jedoch das erste Kind des Helden als Lohn verlangen (—» Kind dem Teufel verkauft oder versprochen). Ein entsprechendes Zugeständnis kann der Habgier entspringen: Hoffnung auf großen Fischfang, Reichtümer u. a. Meist wird das Versprechen schon vor der Geburt des Erstlings gegeben; erfüllt wird es erst nach der vereinbarten Zeit, nach mehreren Jahren. Mitunter kommt auch das Unfruchtbarkeitsmotiv ins Spiel: In einem drawid. Märchen verspricht der Brahmane dem in unfruchtbarer Ehe lebenden König vier Kinder gegen die Zusage des Erstgeborenen 46 . Oft wird das Versprechen von jemandem gegeben, der seinen wahren Inhalt gar nicht kennt: In einem poln. Märchen verspricht der König, den der Teufel gefangengenommen hat, was ihm im Hause unbekannt ist, womit er seinen noch ungeborenen ersten Sohn vergibt 47 . Entsprechendes ist auch als Angangsmotiv entwickelt und als solches gut bekannt. Der bekannteste literar. Beleg stammt aus dem A. T.: Es ist die Geschichte von —> Jephtha, der durch ein Versprechen seine Tochter verliert, weil sie ihm als erste bei der Rückkehr aus dem Krieg an seiner Haustür entgegen-
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kommt. In zahlreichen Märchen wird das Motiv variiert, u. a. in AaTh 441: —» Hans mein Igel, und zwar bes. in dt.sprachigen Gebieten und in Skandinavien. Schwankhaft u. a. ist die Behandlung des Bauopfermotivs in einer frz. Legende und in einem norw. Märchen 48 : Der Teufel baut eine Brücke gegen das Versprechen, daß er den ersten erhalte, der darüber geht, wird aber vom Helden übertölpelt (cf. —» Brückenopfer, —> Teufel). I v. MacCulloch, J. Α.: First-born (Introductory und Primitive), Strahan, J.: First-born (Hebrew), MacCulloch, J. Α.: Firstfruits (Introductory und Primitive), Rouse, W. H. D.: Firstfruits (Greek), Strahan, J.: Firstfruits (Hebrew). In: ERE 6, 3 1 - 3 6 , 4 1 - 4 7 ; Smith, W. R.: The Religion of the Semites. N.Y. 1956, 240sq., 4 5 8 - 4 6 5 ; Lüers, F.: Erstgeboren und Heckscher, K.: Erstling. In: H D A 2, 9 7 5 - 9 8 1 ; Koppers, W.: Primitialopfer. In: König, F. (ed.): Religionswiss. WB. Fbg 1956, 6 7 3 - 6 7 5 ; Ratschow, C. H./Wendel, Α.: Erstlinge. In: RGG 2, 6 0 8 - 6 1 0 ; Voegelin, E. W./Foster, G. M.: First-fruits. In: StandDict. 1, 391 und Jameson, R. D.: First Foot. In: StandDict. 1, 391. - 2 von Sydow, C. W.: Die Begriffe des Ersten und Letzten in der Volksüberlieferung mit bes. Berücksichtigung der Erntebräuche (1939). In: von Sydow, 1 4 6 - 1 6 5 . - 3 ibid., 148. - 4 Nilsson, Α.: Interessedominanz und Volksüberlieferung. Einige überlieferungspsychol. Gesichtspunkte. In: Acta Ethnologica 3 (1936) 1 6 5 - 1 8 6 . - 5 cf. Honko, L.: Geisterglaube in Ingermanland (FFC 185). Hels. 1962, 9 6 - 1 0 3 . - 6 von Sydow, 148sq. - 7 Heckscher, K.: erster, erstes, zuerst. In: HDM 1, 6 0 1 - 6 2 0 . 8 Encyclopedia of Superstitions. L. 2 1975, 161 — 163. — 9 Man, Myth and Magic. An Illustrated Enc. of the Supernatural, ed. R. Cavendish. L. 1971, 1997. - 10 Honko, L.: Vanhasta vuodesta uuteen. In: Kalevalaseuran Vuosikirja 59 (1979) 7 2 - 8 9 , hier 7 4 - 7 9 . II ibid., 8 0 - 8 2 . - 12 Archives of the Dictionary of American Popular Beliefs and Superstitions at the University of California (UCLA), Los Angeles; Clar, M.: Russian Folk Beliefs Collected in L. A. In: WF 17 (1958) 1 2 3 - 1 2 6 , hier 124; Fogel, E. M.: Beliefs and Superstitions of the Pennsylvania Germans. Phil. 1915, num. 1828; cf. JAFL 4 (1891) 322 und Hand, W. D. (ed.): The Frank G. Brown Collection of North Carolina Folklore 6. Durham 1961, num. 842. — 13 Archives (wie not. 12). - 14 Hyatt, Η. M.: Folk-lore from Adams County Illinois. N.Y. 1935, num. 8 2 1 9 - 8 1 2 5 ; Whitney, A. W./Bullock, C. C.: Folk-Lore from Maryland. N.Y. 1925, num. 2221, 2154. - 15 cf. Eckstein, F.: barhaupt. In: H D A 1, 924; Hyatt (wie not. 14) num. 2122; Hautala, J.: ,Käki tuo suven sanoman', Muuttolintujen ym. pilauksesta. In: Kalevalaseuran Vuosikirja 35 (1955) 1 2 3 - 1 4 7 . -
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Ertl
16 Hand (wie not. 12) num. 167; Man, Myth and Magic (wie not. 9) 976sq. — 17 Archives (wie not. 12). - 18 von Sydow, 155, 151. - 19 Bourke, J. G.: Popular Medicine, Customs, and Superstitions of the Rio Grande. In: JAFL 7 (1894) 1 1 9 - 1 4 6 , hier 126; Grimm, J.: Dt. Mythologie 2. Gütersloh 4 [1875] 964; Wuttke, Α.: Der dt. Aberglaube der Gegenwart. B. 1900, 345; ERE 6, 31; H D A 2, 975 sq. - 20 ERE 6, 31. 21 Koskinen, Α. Α.: Ariki the First-born. An Analysis of a Polynesian Chieftain Title (FFC 181). Hels. 1960. - 22 ERE 6, 35 sq. - 23 von Sydow, 151, cf. 152, 155. - 2 4 v. van Gennep, A.rLes Rites de passage. P. 1909; Honko, L.: Siirtymäriitit. In: Sananjalka 6 (1964) 1 3 4 - 1 3 7 ; cf. Honko, L. (ed.): Science of Religion. Studies in Methodology. The Hague 1979, 3 7 4 - 3 7 7 . - 25 von Sydow, 151. 26 ERE 6, 4 1 - 4 7 ; H D A 2, 9 7 5 - 9 8 1 . - 27 von Sydow, 158. - 28 ibid., 156sq. - 2 9 Honko, L.: Finn. Mythologie. In: Haussig, Η. W. (ed.): WB. der Mythologie 2. Stg. 1965, 279 (Ahnenkult), 303 (Hausgeist), 306 (Heiligtümer), 316 (Kekri), 328 (Maahiset), 363 (Waldgeist), 366 (Wassergeist). 30 Honko (wie not. 5) 1 8 8 - 1 9 2 . 31 ibid., 192—197; Haavio, M.: Suomalaiset kodinhaltiat. Porvoo 1942, 3 9 - 7 1 . - 32 Sartori, P.: Über das Bauopfer. In: ZfEthn. 30 (1898) 1 - 5 4 ; Stübe, R.: Bauopfer. In: H D A 1, 9 6 2 - 9 6 4 ; Eliade, M.: Bauopfer. In: RGG 1, 9 3 5. - 33 Honko (wie not. 5) 199. - 3 4 Archives (wie not. 12). — 35 Honko (wie not. 5) 199. — 3 6 von Sydow, 156. — 3 7 Simonsuuri, 62 sq. — 3 8 Archivslgen des ingermanländ. Volksglaubens an der Univ. Turku, Inst, für Kulturforschung, Folkloristik und Religionswiss. - 3 9 Archives (wie not. 12); cf. H D A 3, 227. - 4 0 von Sydow, 154. 41 Zu diesen und weiteren Beispielen cf. Heckscher (wie not. 7). - 4 2 Stroebe, K.: Nord. Volksmärchen 2. MdW 1922, num. 51. - 4 3 cf. EM 3, 709sq. 44 Honko, L.: Nopeuden mensuraaleja kansanrunossa. In: Kalevalaseuran Vuosikirja 38 (1958) 47—63; Talo§, I.: Baumeister. In: EM 1, 1 3 9 3 - 1 3 9 7 . - 45 Piprek, J.: Poln. Volksmärchen. Wien 1918, 9 4 - 1 0 3 , hier 101. - 4 6 Schulze, P.: Drawida-Märchen der Kuwi-Kond. Mü. 1922, num. 24. - 4 7 Piprek (wie not. 45) 1 7 4 - 1 7 9 , hier 175. - 4 8 cf. HDM 1, 617 und not. 266sq.
Turku
Lauri Honko
Ertl, Ignatius, »Ingolstadt 15. 8. 1645, f Schönthal (Oberpfalz) 20. 9. 1713, namhafter Prediger der Barockzeit. Als Sohn eines angesehenen Hofgerichtsadvokaten wuchs er in München auf, besuchte hier bis 1661 das Jesuitengymnasium; über weitere Studien und das Datum seines Eintritts in den Orden der Augustinereremiten ist nichts bekannt. Doch 10*
294 scheint er sich schon in jungen Jahren als Kanzelredner einen Namen gemacht zu haben, da er 1684 als Festprediger zum Jubiläum des Franziskanerklosters in München, seiner vornehmlichen Wirkungsstätte, und zu zahlreichen anderen feierlichen Anlässen in verschiedene oberbayer. Klöster berufen wurde. Seine Kanzelreden sind teils einzeln, meist jedoch in umfänglichen, ζ. T. mehrfach aufgelegten Zyklen von Dominical-, Festival-, Adventund Fastenpredigten in Druck erschienen und gehörten im 18. Jh. zum festen Bestand süddt. Klosterbibliotheken und Pfarrbüchereien. Erst die Aufklärer haben — in grundsätzlicher Ablehnung der Barockpredigt — E.s Werke für verderblich erklärt.
E. gehört neben —»Abraham a Sancta Clara, Andreas —* Strobl und anderen Predigern der Zeit zu den ungewöhnlich begabten Erzählern auf der Kanzel'. Er verwendete, vor allem in seinem Hauptwerk Sonn- und Feyer-Tägliches Tolle Lege, alle für die Exemplifizierung der kirchlichen Lehre nur einigermaßen brauchbaren Gattungen, in erster Linie Beispiele aus der bibl. Geschichte, Heiligen- und Märtyrerlegenden, Mirakelberichte und religiöse Exempel, aber auch antike Stoffe und andere geschichtliche Überlieferung, Herrscher·, Stadt- und Natursagen, gelegentlich auch äsopische Fabeln und, allerdings nur in den zur Anregung des —» Risus paschalis bestimmten Osterpredigten, durchaus deftig wiedergegebene Schwänke. Mit seiner an Sprichwörtern und Redensarten reichen Sprache, die jedoch nie in die für Abraham a Sancta Clara typische Wortspielerei verfällt, ist er um anschauliche Schilderung mit deutlicher Neigung zur kunstvollen Amplifikation bemüht. Bemerkenswert ist, wie er sich mit der Frage der Glaubwürdigkeit von Erzählstoffen auseinandersetzt: Während für ihn an der Wahrheit von Legenden, Mirakeln und religiösen Beispielen keinerlei Zweifel besteht und er auch — gleich vielen Amtsbrüdern — deutlich im Hexen- und Teufelsglauben der Zeit befangen ist, versucht er für die Entstehung von Unwettern oder für die Erscheinung von feurigen Männern und Irrlichtern naturkundliche Erkenntnisse in Betracht zu ziehen. Seine Lit.nachweise, die allerdings mehr Primärquellen ausweisen mögen als er tatsächlich benützen konnte, zeigen vielfältige Belesenheit im hist.-
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Ertränken, Ertrinken
chronikalischen, naturkundlichen und geogr.völkerkundlichen Schrifttum. Als lebendigem Vermittler des Bildungsguts seiner Zeit und geistlicher wie profaner Erzähltradition sollte man E. in der Erzählforschung den ihm gebührenden Platz einräumen. W e r k e (Ausw.): Sonn- und Feyer-Tägliches Tolle Lege, Das ist: Geist- und Lehr-reiche Predigen/ Auf alle Sonn- und Feyer-Täg des gantzen JahrLauffs eingerichtet. Dominical-Theil [. . .]. Nürnberg 1700; Festival-Theil. Nürnberg 1705 ( 3 1715). Rorantis Coeli et Amantis Dei Deliciae, Das ist: Auserlesene Rorate-Predigen [. ..]. Nürnberg 1700. — Promontorium Bonae Spei, Oder: Himmlisches Vorgebürg der guten Hoffnung [. . .]. Augsburg 1711. — Amara Dulcis, Das ist: Bitter-Süsses BußKraut, Durch sechs und dreyssig [. . ,]Fasten-Exempel [. . .] vorgestellt und ausgelegt [. . .]. Nürnberg 1712. — Miscellaneae Conciones [. . .]. Augsburg 1715. L i t . : Moser-Rath, E.: Münchener Volksprediger der Barockzeit. In: Bayer. Jb. für Vk. (1958) 8 5 102, hier 9 3 - 9 7 . - Moser-Rath, 2 8 5 - 3 0 5 , 4 7 3 480. - Brecht, P.: Der Barockprediger I. E. ( 1 6 4 5 1713). Ein Beitr. zur Geschichte der süddt. Barocklit. Diss. Mü. 1967 (mit Bibliogr.). - Wendland, V.: Ostermärchen und Ostergelächter. Brauchtümliche Kanzelrhetorik und ihre kulturkritische Würdigung seit dem ausgehenden MA. Ffm./Bern/Cirencester 1980, 2 4 4 - 2 5 2 . - Moser-Rath, E.: Die Fabel als rhetorisches Element in der kathol. Predigt der Barockzeit. In: Die Fabel. Theorie, Geschichte und Rezeption einer Gattung, ed. P. Hasubek. B. 1982, 59-75.
Göttingen
Elfriede Moser-Rath
Ertränken, Ertrinken 1. Allgemeines - 2. Märchen — 3. Andere Gattungen — 3.1. Mythos, Sage, Legende - 3.2. Schwank
1. A l l g e m e i n e s . Ertrinken (E.) ist eine Todesart, Ertränken eine Tötungs- oder Hinrichtungsart. Noch vor dem gewaltsamen Tod durch Feinde zählt neben dem Feuer- der Wassertod zu den gefürchtetsten Todesarten, weil Ertrunkene häufig erst nach Tagen, Wochen geborgen werden oder, bei E. auf See, oft unauffindbar bleiben und eine normgerechte Bestattung nicht möglich ist. Dieser Umstand verdient insofern Beachtung, als bereits in der Vorstellungswelt der antiken Kulturvölker des mediterranen Raums dem —>
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Tod, seinen Arten und Ursachen bes. Bedeutung zukam: Der Totenkult war auf eine Weiterführung des Lebens im Jenseits ausgerichtet, und ein dazu gehörendes Begräbnis konnte bei Wassertod eines Menschen nicht stattfinden, die partielle oder gänzliche Mutilation des Leichnams beeinträchtigte nach alter Anschauung das Weiterleben im Jenseits oder machte es unmöglich. Doch lassen sich daneben auch Vorstellungen finden, die der Schrecklichkeit des Wassertodes durch eine Scheinbeerdigung auf dem Meer gebliebener Seeleute (entsprechend der 'hölzernen Taufe' bei Kinderlosen) oder durch die Annahme seliger Auferstehung der Ertrunkenen entgegenzuwirken suchten und/oder Ertrunkene unter dem bes. Schutz von Gott(heiten) sahen — gleichsam eine Kompensation für den erlittenen Tod. Oder der Wassertod wird, ζ. B. in den —> Sintflutsagen, als Gottesstrafe angesehen, weil Gott nicht nur über das Leben, sondern auch über den Tod gebietet (Untergang Pharaos im Roten Meer: Ex. 6,8). Solche Vorstellungen begegnen nicht nur in Ägypten und Vorderasien, sondern auch bei Juden, Griechen, Römern, Germanen und haben Eingang in christl. beeinflußte Kulturen und andere Kulturräume gefunden 1 . Da E. als schrecklicher Tod empfunden wurde, lag es nahe, den Wassertod auch als Strafe für bes. schwerwiegende Verbrechen wie Ehebruch, Vater- oder Verwandtenmord vorzusehen 2 . Zwar war das Ertränken nicht so weit verbreitet wie andere Hinrichtungsmaßnahmen, aber nach Ausweis der Quellen ist es bis ins ausgehende MA. (.Strafe an Leben') und in die frühe Neuzeit vor allem an Frauen statt einer Hinrichtung durch Strang oder Schwert praktiziert worden 3 . Das Opfer wurde (z.T. mit zusammengebundenen Händen) in ein Faß gesperrt oder in einen Sack eingenäht und der Sack (Opfer) mit einem Stein beschwert und versenkt, um jede Rettung auszuschließen 4 . Der Strafcharakter als auch der Unglücksfall des Wassertodes haben sich gleichermaßen in Erzählungen niedergeschlagen, wobei die einzelnen Gattungen unterschiedliche Motivschwerpunkte ausgebildet haben, die primär vom Schutz vor E. und von der —> Rettung Ertrinkender handeln, Ertränken legitimieren, Ertrunkene verklären.
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Ertränken, Ertrinken
2. Märchen. Im Märchen kann der Wassertod sowohl Helden als auch Gegenspieler treffen. Jedoch lassen sich aufgrund der vom Märchen bevorzugten scharfen Konturierung und der Ausgestaltung ins —» Extreme 5 deutlich Unterscheidungen feststellen. Der —> Held als ein Auserwählter mag zwar, zumeist im Kindesalter, durch mißgünstige Verwandte oder Neider, von den eigenen Eltern aus Schande Bastard), infolge ungünstiger Prophezeiungen etc. für den Wassertod bestimmt sein, aber er wird stets gerettet. Charakteristisch für eine solche Situation sind etwa Var.n zu AaTh 707: Die drei goldenen —> Söhne6. Als konstitutive Motive begegnen die Vertauschung der neugeborenen Kinder der Königin durch Schwiegermutter, neidische Schwestern etc., die Ersetzung der Kinder durch Hunde und die —> Aussetzung der Kinder in einem Korb oder Faß auf dem Wasser7. Nach langen Jahren der Trennung begegnet der König den ohne sein Wissen geretteten und inzwischen zu Ansehen gelangten Söhnen und der Ehefrau wieder. Es folgt Wiedererkennung und Versöhnung.
Dieses Schema liegt ebenso den zahlreichen Erzählungen aus dem Zyklus der unschuldig verfolgten —> Frau (ζ. B. —> Crescentia, -» Genovefa, Hirlanda; AaTh 705, 706, 709, 710, 712 u.a.) 8 zugrunde, nur daß dort anstelle der Söhne die Frau im Vordergrund der Handlung steht. Auch in AaTh 461: Drei -* Haare vom Bart des Teufels gelingt es dem von einem König in einer Schachtel ausgesetzten Kind, dem Tod im nassen Element dank der Hilfe von Müllersleuten zu entfliehen. Die dem Herrscher bekannte Weissagung, daß das Kind eines Tages seine Tochter heiraten werde, erfüllt sich dennoch (KHM 29) 9 . In diesen Erzählungen ist, kennzeichnend im Grunde für alle Märchen, Bedürftigkeit Voraussetzung für die Hilfe 10 , wie denn auch die allg. Behinderung (-» Schädigung) des Helden und die Aufhebung der Schädigung zentrale Themen des Märchens sind 11 . Die Aussetzung schafft „die Ausgangsposition für den glücklichen Aufstieg des Helden" 12 . Daher gelangt er nur scheinbar in eine ausweglose Situation; zur rechten Zeit wird der Ertränkungsversuch mit Hilfe von Findern (Menschen, Tieren) vereitelt, und er entgeht dem
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zugedachten Tod. Es entspräche nicht der Märchenstruktur, wenn ein auf solche wunderbare Weise vor dem E. bewahrtes —»> Findelkind nicht auch im späteren Leben einen bes. Stand erreichte: „es muß ein Gott, ein Held, ein König oder ein Heiliger werden" 13 . Und in den Märchen sind offenkundig die vorerst letzten Motivausprägungen jener fast über die ganze Welt verbreiteten Aussetzungsmythen, -sagen und -legenden (ζ. B. —» Moses, —» Danae, —> Perseus, —> Romulus und Remus, cf. -» Odilia) zu finden. Selbst bereits Ertrunkene können durch wunderbare Helfer zum Leben wiedererweckt werden: Die Endgültigkeit des Todes ist hier aufgehoben. Eine liv. Var. zu AaTh 403: Die schwarze und die weiße —> Braut14 erzählt anschaulich von einer —> Waise, welche die böse —> Stiefmutter, beeinflußt von einem prophetischen Traum, in einen Brunnen stürzt, so daß der brautsuchende Prinz nunmehr die ,richtige' Tochter der Stiefmutter freien kann. Die Ertrunkene jedoch steigt bei jedem Vollmond aus dem Wasser herauf (mit einer Brautkrone auf dem Kopf), um zu singen. In der Nacht vor der Hochzeit schließlich erblickt der Prinz die ursprüngliche Braut und heiratet sie nach erfolgter Rettung. In den meisten Fassungen verzaubert die Alte/Hexe das ,mißliebige' Mädchen allerdings lediglich in ein (Wasser-)Tier. Doch auch dann gelingt dem Prinzen, ζ. B. durch -> Enthauptung, die Rückverwandlung 15 (cf. auch AaTh 450: -» Brüderchen und Schwesterchen).
Wie in der liv. Var. ist das Ertränken auch in bestimmten Fassungen von AaTh 612: Die drei —> Schlangenblätter durchgeführt und der Tod des Betreffenden schon eingetreten 16 : Die treulose Frau hatte die Tötung ihres Mannes in Auftrag gegeben oder ihn mit Unterstützung ihres Geliebten ertränkt. Doch der Ertrunkene wird wiederbelebt (ζ. B. durch —» Lebenskraut) und erhält die verschenkten -» Lebensjahre 17 zurück. In einer kurd. Var. 18 zu AaTh 590: Die treulose —» Mutter hingegen kann sich der augenlose Held am Brunnengrund auf einen Felsen retten und dort ausharren, bis ihn Kaufleute erretten. Der Brunnensturz verläuft also nicht immer tödlich, meistens ist der —» Brunnen nur ein vorübergehendes Gefängnis für den Helden, der dann wenig später, ζ. B. auch in Var.n zu AaTh 408: Die drei -> Orangen19, AaTh 550: —> Vogel, Pferd und Königstochter20 und
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Ertränken. Ertrinken
AaTh 560: —> Zauberring21, von Helfern (Tieren, Menschen) befreit wird. Dieses alte Josephsmotiv (mit Variationen) ist bes. in oriental. Fassungen nachzuweisen 22 . In allen Beispielen folgt die Strafe auf dem Fuß. Die Verursacher der Schädigung erhalten ihr gerechtes Urteil. Meistens wird die Ausschaltung des Gegenspielers durch Verhängung der Todesstrafe erreicht 23 , denn es kann „kein Mitleid mit dem Bösewicht geben, sondern nur dessen radikale Vernichtung" 24 . Mitunter schädigt der Gegenspieler sich auch selbst 25 , ζ. B. in AaTh 123: Wolf und Geißlein, wenn der Wolf sich durstig zum Trinken an den Brunnen begibt: „da zogen ihn die schweren Steine hinein, und er mußte jämmerlich ersaufen" (KHM 5) 26 . Oder in einem mongol. Märchen hängt sich der dumme Riese (Mangus) auf Anraten des Großväterchens einen Stein um den Hals, will damit das Meer durchschwimmen, das weiße Lasso des Herrn Ondei besorgen und ertrinkt im Meer 27 . Abgesehen von der Schlußepisode mit ihrem deutlichen Strafcharakter begegnet das Ertränken von Gegenspielern im Mittelteil der Handlung relativ selten, die Vernichtung der Unholde erfolgt auf andere Weise. Keineswegs symptomatisch ist deshalb das E. der Hexe in KHM 51: Fundevogel (cf. —> Magische Flucht), die den Zaubersee nicht leeren kann, im Verfolgungskampf unterliegt und ertrinkt 28 , oder die Tötung von Riesen, ζ. B. in türk. Märchen, wo die Jüngste ihre Schwestern aus der Gewalt des Riesen befreit und jenen ertränkt 29 . 3. A n d e r e G a t t u n g e n 3.1. Mythos, Sage, L e g e n d e . Diese Gattungen zeigen ein ganz anderes Bild als das Märchen. Überwand dort der Held den ihm zugedachten Wassertod und war Ertränken primär eine Strafe für die Schädiger, so interessieren hier die Ertrunkenen selbst, ihr Schicksal, die Gründe für ihr E., die Suche nach ihnen, die Verursacher des Wassertodes, schließlich Abwehrmittel gegen den Tod im nassen Element und, seltener, die Errettung. Als Verursacher gelten zumeist übernatürliche Wesen,vor allem —» Wassergeister. Sie stehen Menschen oft feindlich gegenüber und ziehen diese häufig in die Tiefe 30 . Aber
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auch der Teufel verlockt Menschen zum Sprung in den Fluß, zum Selbstmord oder ertränkt selbst ein kurz vor der Heilung stehendes besessenes Kind, suggerieren Teufelssagen des 16. Jh.s 31 . Doch nicht nur plötzlich und unerwartet erleiden die Menschen den Tod, er kann bereits schicksalhaft vorherbestimmt sein (—> Schicksalskind) und/oder zur Abwendung von Gefahren dienen 32 . So fordern Bäche alle 100 Jahre ein Menschenopfer (Mot. S 264, F 420.5.2.6.1), das auch gegen Überschwemmungen und Seuchen helfen soll: Es wird in den Brunnen, der das Land überflutet, gestoßen und ertränkt, oder in den See geworfen, von dem die Krankheit ausgeht 33 . In der Ballade begegnet ebenso die Opferung von Menschen, ζ. B. in Seenot, weil man sich davon eine günstige Wirkung für eine glückliche Weiterfahrt erhofft wie in der in Europa verbreiteten Ballade von Herrn Peters Seefahrt34: Ein Mensch (öfter der größte Sünder) wird über Bord geworfen (manchmal wunderbare Errettung des Opfers, cf. —> Jonas), und das Schiff kann unbehelligt seine Fahrt fortsetzen 35 . Zweifellos am verbreitetsten ist das Schicksalsmotiv Mot. D 1311.11.1: River says, „The time has come but not the man". Man thus induced to drown himself 36 , aber auch innerhalb des Zyklus .Gottes unbegreifliche Gerechtigkeit' (Mot. Μ 341.2) wird vom E. von Menschen erzählt, um die Bibelworte zu demonstrieren, daß das Menschenbild zu begrenzt ist, um Gottes Entscheidungen verstehen zu können (cf. Rom. 11, 33 sqq.). Folgerichtig heißt es etwa in estn. Erzählungen: Als der Priester ein Kind am Fluß tauft, fällt es ihm aus der Hand. Der Priester bleibt gelassen: „Gott hat gegeben, Gott hat genommen, Gottes Name sei gelobt!" 37 Der Mensch steht solchen Angriffen auf sein Leben schutzlos gegenüber; nichtmenschliche, d.h. jenseitige Gewalten bestimmen den Tod im Wasser, Unglücksfälle sind selten. Nicht immer ist der Tod begründet, insbesondere dann nicht, wenn Wassergeister einen Menschen in ihr Reich ziehen und nicht mehr herausgeben. Öfter erfolgt das (unfreiwillige) E. von Menschen als Strafe für Vergehen oder Verbrechen (Normverletzung), ohne daß die jenseitige Kraft eigens als Verursacher des E.s genannt ist — ein Vorgang, der gleichfalls bei
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anderen tödlichen und nicht-tödlichen Schädigungen beobachtet werden kann 38 . Seit alters gilt der Wassertod als schrecklicher Tod (v. oben) — ein plötzliches Ableben ohne Beichte und Kommunion zählt(e) zu den Schreckensbildern jedes sündigen Christen. Es verwundert nicht, daß man sich aus diesen Vorstellungen heraus bes. mit dem Verweilen von Ertrunkenen im Wasser, der Suche nach der Leiche und dem —» Wiedergänger-Motiv beschäftigte. Die spukenden und umhergehenden Ertrunkenen, die nur dann in Frieden ruhen können, wenn einer sie erlöst (Mot. Ε 414, Ε 750.0.1) 39 , sind in zahlreichen europ. Sagen thematisiert. Oft werden detaillierte Ratschläge für das Auffinden der ζ. T. tage-, wochenlang unentdeckten Wasserleiche (Mot. D 1816.4.1) gegeben 4 0 , am ehesten der, in Brot Quecksilber zu füllen, eine brennende Kerze im ausgehöhlten Brotlaib zu piazieren, etc. Das schwimmende Brot weise den Weg zum Ertrunkenen (Mot. D 1314.6) 4 1 . Eine weit verbreitete Sage hat der Schrecklichkeit des Wassertodes bes. Gewicht verliehen: Die Seelen Ertrunkener hält der Wassergeist in Töpfen gefangen, welche von Menschen als unbrauchbar ins Wasser geworfen worden waren (Mot. Ε 755.2.1, Q 562.2) 4 2 . Selten schließt eine solche Sage versöhnlich mit der —> Erlösung der Seelen (ζ. B. Grimm DS 52), sie bleiben gewöhnlich unerlöst. In einer böhm. Sage des ausgehenden 19. Jh.s heißt es ζ. B.: „Der Wassermann hofft, auf den jüngsten Tag so viele Seelen zu haben, als der liebe Gott" 4 3 .
In neueren Sagen des 20. Jh.s ist von solchen Vorstellungen kaum zu hören. Das Erzählgut hat sich gewandelt, der Erzähler betrachtet den Wassertod nüchterner. Die Erzählungen sind recht kurz und berichten nur die nötigsten Umstände: daß man den Betreffenden nicht mehr gesehen habe; ein Ertrinkender, der gerettet werden konnte, gibt nach der Wiederbelebung seine Gedanken wieder, die ihm vor dem E. durch den Kopf geschossen waren 44 . Werden ältere Vorstellungen aufgegriffen, äußert sich der Erzähler recht vorsichtig und läßt eine differenziertere Einstellung erkennen wie z.B. in einer Tessiner Sage, die von zwei Frauen handelt, welche beim Holzsammeln vom Bach ergriffen und weggetragen wurden. Die Erzählung schließt: „Sie [die Leute] sagten immer, alle hundert Jahre wolle der Bach ein Opfer haben. Ja, ob es aber wahr ist. . ," 45 .
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In der Legende, zumal der Heiligenlegende, kommt dem Vorgang des E.s und den Ertrunkenen eine geringe Bedeutung zu, nicht aber dem Ertränkungsversuch und der Bewahrung vor dem Wassertod. Dies geschieht insbesondere unter dem Aspekt des —»Wunders46. Den Hll.n zugeschriebene Mirakel (bes. miracula post mortem) künden von ihren Fähigkeiten, in den natürlichen Prozeß von Sterben und Vergehen einzugreifen, d. h. bereits Ertrunkene wiederzubeleben (—> Elisabeth von Thüringen 47 ), ζ. T. durch Fürsprache bei Gott (—» Maria) 48 oder durch persönliches Eingreifen (—» Katharina) 49 . Die Errettung ist zugleich als meritorisches Moment für menschliches Verhalten zu sehen (jeden Samstag Kerze gestiftet, Maria in Ehren gehalten, etc.). Doch auch Hll.n selbst wird Hilfe zuteil: Den Eremiten Martinianus von Palästina bewahren —> Delphine vor dem E. 50 , die hl. Eugenie entgeht dem Wassertod dadurch, daß der um ihren Hals gebundene Stein zersplittert 51 . Solche „Bestätigungswunder" 52 erweisen — wie auf anderen Gebieten — die Heiligkeit der Protagonisten, die natürlich auch selbst das Wasser überwinden: Statt zu ertrinken, wandeln sie auf dem Wasser (cf. AaTh 827: —> Heiligkeit geht über Wasser). Daß darüber hinaus Jungfrauen wegen der Bewahrung der geschlechtlichen Unversehrtheit freiwillig den Wassertod suchen, ist kaum belegt 53 , obwohl Suizid und Mutilation trotz Ablehnung in der christl. Ethik im für SpätMA. und frühe Neuzeit zentralen Thema ,Keuschheit und ihre Bewahrung' 54 als erlaubte Taten (heute: „vielleicht [. . .] Gewissensirrtum" 55 ) sanktioniert waren. 3.2. Schwank. Schwankhafte Erzählungen vom E./Ertränken entfallen auf die bevorzugten Handlungsträger Dummkopf (—» Dümmling, Dummling) und Schelm (—> Betrüger, —> Trickster) gleichermaßen, andere lassen sich bei den —» Ehebruchschwänken einordnen. Die Handlungen sind oftmals kurios und dienen nur dem einzigen Ziel, —» Lachen zu erzeugen durch —» Absurdität einer Sache, einer Person oder eines Tiers. Es überrascht daher nicht, wenn E./Ertränken zur Parodie gerät, ζ. B. durch Selbstschädigung. In bestimmten Versionen von AaTh 68 A,B: —> Kopf in der Kanne etwa steckt der Fuchs seinen
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Kopf in einen Krug und kann ihn nicht mehr herausziehen; er versucht, das Gefäß zu versenken und geht selbst unter 56 . Eine solche unbeabsichtigte Selbstschädigung führt auch zum Tod von Dummköpfen, die auf der Suche nach ihren entlaufenen Schafen im Fluß das Spiegelbild einer weidenden Herde erblicken, ins Wasser springen und ertrinken (poln.) 57 , ein Seitenstück zu der weit verbreiteten Schlußepisode aus dem —> Unibos-Zyklus (AaTh 15 3 5) 58 : Die tölpelhaften Bauern stürzen sich auf Anraten eines Schelms ins Wasser, weil dort angeblich Schätze (Schafe, Pferde, Schweine u.a.) verborgen seien, und gehen unter.
Die hier schon anklingende Listigkeit spielt auch in den Ehepaarschwänken bei der Schädigung des einen Partners eine Rolle. Der betrogene E h e m a n n entledigt sich auf diese Weise seiner Frau, z.B. in vielen neuzeitlichen Var.n von A a T h 1380: —> Blindfüttern59. Der vermeintlich Blinde, den die Ehefrau beiseitebringen wollte, zahlt ihr mit gleicher Münze heim und verweigert unter Berufung auf seinen ,Defekt' jegliche Hilfe, als sie zu ertrinken droht. Die Frau: „Hölep! Hölep! Leeve Mann treck mich erus! — Ich kann net seen, säht dä Mann, on de Frau es versöffe" 6 0 . In der ital. und frz. Novellistik ist eine ähnliche Geschichte sehr geläufig; dort setzt der E h e m a n n die untreue Frau auf einen durstigen Esel, den er zum Flußufer treibt. Der Esel schüttelt die Frau ab, sie fällt ins Wasser und ertrinkt 6 1 . Umgekehrt wird der Mann Opfer der listigen Frau in zahlreichen Fassungen von AaTh 1377: —» Putern, als sie ihm gegenüber einen Ertränkungsversuch vortäuscht. Die untreue Frau kommt nachts spät heim, und der verärgerte Mann weigert sich, sie hereinzulassen. Sie droht, sich in den Brunnen zu stürzen, und wirft einen Stein hinein. Ihr Mann rennt zum Brunnen, sie geht derweil schnell ins Haus und läßt ihn nicht hinein. Vollends zur Groteske gerät die Handlung, wenn ein Dummer einen Krebs, der ihn gekniffen hat, zur Strafe ins Wasser befördert, um ihn zu ertränken (AaTh 1310: Oer ertränkte —> Krebs), wenn D u m m k ö p f e einen gefangenen Aal mit einer Kette fesseln und ihn wieder ins nasse Element werfen (sie verdächtigten ihn, die marinierten Heringe gefressen zu haben, die sie zwecks Fortpflanzung im Wasser ausgesetzt haben; poln.) 6 2 oder wenn ein Mann die ihm unbekannte
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Sichel aus Verärgerung ins Meer wirft und ,ertränkt', weil er sich beim Ausprobieren verletzt hatte (AaTh 1202: Die unbekannte Sichel). F a z i t : Allg.gültige Aussagen zum Thema des Wassertodes in Volkserzählungen verbieten sich aufgrund der disparaten Materialien; weitergehende Vergleiche mit anderen Kulturräumen erscheinen verfrüht, die aus diesen Regionen registrierten Belege in Katalogen wirken eher zufällig und nicht repräsentativ genug. Heute wird der Wassertod weder mit übernatürlichen Wesen in Verbindung gebracht noch ihnen die Errettung Ertrunkener oder Ertrinkender zugeschrieben, wie in zahlreichen Erzählungen bis ins 19. Jh. zu beobachten war. Neuere Erzählungen berichten lediglich das Faktum des E.s. Sofern ältere Vorstellungen einfließen, werden sie vom Erzähler mit Skepsis reflektiert.
1 Umfassende Information cf. Hermann, Α.: Ε. In: RAC 6 , 3 7 0 - 4 0 9 ; v. auch Bächtold-Stäubli, Η.: E., Ertrunkener. In: H D A 2, 9 8 1 - 9 8 9 ; Strauß, C.: E. In: Lex. der Ägyptologie 2. Wiesbaden 1977, 1 7 - 1 9 ; zur Scheinbeerdigung cf. Die dt. Vk. 1. ed. A. Spamer. Lpz./B. (1934) 112. - 2 wie not. 1; ferner Quanter, R.: Die Leibes- und Lebensstrafen bei allen Völkern und zu allen Zeiten. Lpz. 2 1906 (Nachdr. Aalen 1970) 1 9 3 - 2 0 2 ; von Amira, K.: Die germ. Todesstrafen. Unters.en zur Rechts- und Religionsgeschichte (Abhdlgen der Bayer. Akad. der Wiss.en. Phil.-philolog. und hist. Kl. 31,3). Mü. 1922, bes. 1 4 0 - 1 4 3 , 167 sq., 1 9 8 - 2 0 0 , 3 9 0 - 3 9 2 ; zur Wasserprobe als Gottesurteil cf. H D A 3, 1 0 2 6 - 1 0 3 4 . - 3 Hermann (wie not. 1); Quanter (wie not. 2); Grimm, J.: Dt. Rechtsalterthümer 2. (Lpz 4 1899) Nachdr. Darmstadt 1955, 2 7 8 - 2 8 2 , num. 14; Schröder, R./von Künßberg, E.: Lehrbuch der dt. Rechtsgeschichte. B./Lpz. 7 1932, 370, 832. - 4 Quanter (wie not. 2) bes. 194sq.; von Amira (wie not. 2) 168; Goldschmidt, D.: Ertränken im Faß. In: ARw. 24 (1925/26) 3 8 - 5 2 . 5 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 149sq.; Lüthi, Ästhetik, Reg. s.v. Extrem(e). — 6 ζ. B. Barag; Lörincz. - 7 cf. BP 2, 3 8 0 - 3 9 4 , bes. 391; Liungman, Volksmärchen, 196—198. — 8 Dan, I.: The Innocent Persecuted Heroine: An Attempt at a Model for the Surface Level of the Narrative Structure of the Female Fairy Tale. In: Patterns in Oral Literature, ed. H. Jason/D. Segal. The Hague/P. 1977, 1 3 - 3 0 ; Zueva, T.V.: Sjuzet „cudesnye deti" kak tipologiceskoe fol'klornoe javlenie i samobytnaja skazka vostocnych slavjan (Das Sujet .Wunderkinder' als typol. Folkloreer-
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scheinung und eigenständiges Märchen der Ostslaven). In: Problemy prepodavanija i izucenija russkogo narodnogo poeticeskogo tvorcestva. Respublikanskij sbornik 3. M. 1976, 4 5 - 6 6 ; Frenzel, Motive, 2 3 9 - 2 5 4 . - 9 Schick, J.: Das Glückskind mit dem Todesbrief. Europ. Sagen des MA.s und ihr Verhältnis zum Orient. Lpz. 1932; Lüthi, M.: So leben sie noch heute. Göttingen 2 1976, 7 0 - 8 4 . 10 id.: Gebrechliche und Behinderte im Volksmärchen (1966). In: id.: Volkslit. und Hochlit. Bern/ Mü. 1970, 4 8 - 6 2 , hier 53,61. 11 Lüthi, Ästhetik, Reg. s.v. Mangel; Chang, ChinGill: Der Held im europ. und korean. Märchen. Basel 1981, 1 0 4 - 1 0 6 . - 12 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 149. — 13 Provokation eines Gottesurteils, cf. Eliade, M.: Die Religionen und das Hl. Salzburg 1954, 283; ferner E M 1, 1050; cf. Binder, G.: Die Aussetzung des Königskindes. Kyros und Romulus. Meisenheim 1964. - 14 Loorits 403 (11). — 15 Arfert, P.: Das Motiv von der unterschobenen Braut in der internat. Erzählungslitteratur [ . . .]. (Diss. Rostock) Schwerin 1897; Roberts, W.E.: The Tale of the Kind and the Unkind Girls: Aa-Th 480 and Related Tales. B. 1958, 1 2 3 - 1 2 5 et pass. - 16 BP 1, 1 2 6 - 1 3 1 . - 1 7 Wesselski, MMA, 1 8 8 - 1 9 2 . - 18 Wentzel, L.-C.: Kurd. Märchen. MdW 1978, num. 4. - 19 Eberhard/Boratav, num. 89 III. - 2 0 Köhler/Bolte 1,542. 21 Eberhard/Boratav 58 III. - 2 2 Priebatsch, H.: Die Josephsgeschichte in der Weltlit. Breslau 1937; Raeder, S.: Die Josephsgeschichte im Koran und im Α. Τ. In: Evangel. Theologie 26 (1966) 1 6 9 190; Schwarzbaum, Η.: Biblical and Extra-Biblical Legends in Islamic Folk-Literature. Walldorf 1982, 122, not. 19 (Lit.). - 23 Männersdörfer, Μ. C.: Schicksal und Wille in den Märchen der Brüder Grimm. Diss. Bonn 1965, hier 152sq.; Röhrich, L.: Der Tod in Sage und Märchen. In: Leben und Tod in den Religionen, ed. G. Stephenson. Darmstadt 1980, 1 6 5 - 1 8 3 . - 2 4 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 149. - 25 Erler, Α.: Sich selbst das Urteil sprechen. In: Oberdt. Zs. für Vk. 17 (1943) 1 4 3 155; Männersdörfer (wie not. 23) 1 4 2 - 1 4 4 , 156sq.; Lüthi, M.: Zur Präsenz des Themas Selbstschädigung in Volkserzählungen. In: Festgabe L. Schmidt. Wien 1 9 7 2 , 4 8 2 - 4 9 5 . - 26 cf. Merendino, Α.: La pecora zoppa. Analisi strutturale di una fiaba di magia del Salento. In: Lares 39 (1973) 163 — 172. — 2 7 Heissig, W.: Mongol. Märchen. MdW 1975, 47sq., hier 48; Taube, E.: Tuwin. Volksmärchen. B. 1978, num. 59 ( + AaTh 1098*); Lörincz 1117 B*. - 28 cf. BP 1, 442sq. - 29 Eberhard/Boratav, num. 157 III, 161 III. - 3 0 Die Ausführungen stützen sich auf Hinweise und Unterlagen des H D A - und Peuckert-Archivs (s.v. Spukgestalten 7) Göttingen; cf. auch H D A 2, 9 8 1 - 9 8 9 ; cf. auch von Amira (wie not. 2) 1 9 8 - 2 0 0 ; Krzyzanowski, num. 4060; cf. Röhrich, L.: Sagenballade. In: Hb. des Volksliedes 1. ed. R. W. Brednich/L. Röhrich/W. Suppan. Mü. 1973, 1 0 1 - 1 5 6 , bes. 106-116. -
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31 Brückner, 495, 489, 460. - 3 2 Brednich, R. W.: Volkserzählungen und Volksglaube von den Schicksalsfrauen (FFC 193). Hels. 1964, 9 4 - 1 1 5 . 33 Schmitt, G.: Das Menschenopfer in der Spätüberlieferung der dt. Volksdichtung. Diss. Mainz 1959, bes. 63. — 3 4 Röhrich, L.: Die Volksballade von ,Herrn Peters Seefahrt'. In Festschr. F. von der Leyen. Mü. 1963, 1 7 7 - 2 1 2 . - 35 Röhrich (wie not. 30) 114sq. - 3 6 Wildhaber, R.: „Die Stunde ist da, aber der Mann nicht". Ein europ. Sagenmotiv. In: Rhein. Jb. für Vk. 9 (195 8) 65 - 88. - 3 7 Raudsep, num. 48. - 38 cf. Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N.Y. 1981, 18 - 25. - 39 cf. Ranke, K.: Idg. Totenverehrung 1 (FFC 140). Hels. 1951, 2 0 9 - 2 1 2 ; H D A 2, 988; Müller/Röhrich G 6 (Der unbefriedigte Tote); cf. auch Brückner, 223 (Ertrunkene steigt drei Tage später aus dem Wasser, um zu beichten). - 4 0 H D A 2, 9 8 5 - 9 8 7 . 41 Mittigen der schles. Ges. für Vk. H. 9, 4 (1902) 53, 87sq. (Beispiele). - 42 BP 2,423sq.; BP 3, 487; H D A 2,984. - 4 3 Kühnau, R.: Schles. Sagen 2. Lpz. 1911, 356sq. - 4 4 Fischer, H.: Erzählgut der Gegenwart. Mündl. Texte aus dem Siegraum. Köln 1978,181, num. 791. - 45 Gerstner-Hirzel, E.: Aus der Volksüberlieferung von Bosco Gurin. Basel 1979, num. 222. - 46 von Bülow, G.: Hadithe über Wunder des Propheten Muhammad insbesondere in der Tradition des Buhäri. Diss. Bonn 1964, bes. 5 - 2 3 , 1 1 0 - 1 1 3 et pass."; Brühning, I.: Das Wunder in der ma. Legende. Diss. Ffm. 1952; Hieber, W.: Legende, Protestant. Bekennerhistorie, Legendenhistorie. Diss. Würzburg 1970, bes. 2 8 9 - 3 0 6 ; Ringler, S.: Zur Gattung Legende. In: Würzburger Prosastudien 2. ed. P. Kesting. Mü. 1975, 2 5 5 - 2 7 0 , bes. 259sq.; Loomis, C. G.: White Magic. Cambr., Mass. 1948. - 4 7 Maril, L.: Elisabeth von Thüringen. Die Zeugnisse ihrer Zeitgenossen. Einsiedeln/ Zürich 1961, 1 5 6 - 1 5 9 ; Brückner, 221. - 4 8 Tubach, num. 5122, 5139 (weit verbreitet); Toldo 1906, 325 (Marias Mantel bietet Schutz). 49 Tubach, num. 901. - 5 0 Toldo 1908,27; cf. E M 3,393. 51 Toldo 1906, 324. - 52 Mensching, G.: Das Wunder im Glauben und Aberglauben der Völker. Leiden 1957, hier 9 , 77. — 5 3 Tubach und Dvorak, num. 5160 ( = Mot. Τ 326.1). - 54 cf. Schmitt, J.-C.: Le Suicide au moyen äge. In: Annales E.S.C. (1976) 3 - 2 8 ; cf. Mot. S 160sqq., Τ 300 sqq.; Toldo 1902, 8 7 - 1 0 3 , 3 0 4 - 3 2 8 (Beispiele). - 55 LThK 9, 628. - 56 Amonov, R./UIug-Zade, K.: Tadzikskie narodnye skazki. Stalinabad 1957, 61 sq.; cf. Barag 68 B. - 5 7 Krzyzanowski, num. 1206. — 58 Müller, J.: Das Märchen vom Unibos. Jena 1934. - 5 9 Reinartz, M.: Genese, Struktur und Variabilität eines sog. Ehebruchschwanks (Blindfüttern aus Untreue. A T 1380). Mainz 1970. - 60 Dietz, J.: Lachende Heimat. Schwänke und Schnurren aus dem Bonner Land. Bonn 1951, num. 40. 61 Mot. Κ 1567. - 62 Krzyzanowski, num. 1207.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
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Erwachsen bei Geburt
Erwachsen bei Geburt. Das Motiv, einer Person sofort nach ihrer Geburt oder in der Kindheit Eigenschaften und Fähigkeiten zuzuschreiben, die weit über ihr Alter hinausweisen, findet sich ubiquitär zur Charakterisierung meist von —> Helden in Überlieferungen mit ,biogr.' Struktur wie Märchen, Heldensagen, Heiligenlegenden, Kindheitslegenden von Religionsstiftern bis hin zu Superhelden-Comics (cf. Mot. Τ 585: Precocious infant; Mot. Τ 615: Supernatural growth·, Mot. F 611.3.2: Hero's precocious strength)1. Beim M ä r c h e n h e l d e n handelt es sich fast immer um ein auf außergewöhnliche oder übernatürliche Weise zur Welt gekommenes Kind (cf. wunderbare —> Empfängnis; —»• Geburt; —> Kind; —> Tierkind), das sich durch schnelles Heranwachsen und außerordentliche Stärke auszeichnet. Der Held wächst,nicht in Jahren, nicht in Stunden, sondern in Minuten', ist eine in ostslav. Märchen zur Formel gewordene Aussage 2 . Sehr häufig wird anhand von —» Zahlen das schnelle Wachsen demonstriert: Der Held ist nach 17 bis 18 Stunden ein voll ausgewachsener Mensch (russ.) 3 ; während man zum Popen geht, ist er zu einem 17jährigen herangewachsen (russ.) 4 ; nach der Geburt wächst er jede Stunde um 6 Wochen (poln.) 5 ; mit einem Jahr ist er wie ein 15jähriger, mit zehn Jahren wie ein 25jähriger (georg.) 6 oder mit sieben Tagen wie ein 7jähriger (sudan.) 7 . Diese Helden zeichnen sich mitunter durch ein gewaltiges Brüllen sofort nach Geburt aus, so daß der Palast erzittert (russ.) 8 oder Bäume sowie Hütten einstürzen und Tiere sterben (sudan.) 9 . Die Wunderkinder können schon als Neugeborene oder im Alter von vier Monaten (frz.) laufen, reißen bald Bäume aus, sprechen sofort und essen oft unmäßig viel10. Exemplarisch sei Ivan Zor'kin angeführt, der ,aus dem Mutterschoß heraus' zum Fluß läuft, um zu baden oder zu jagen, und den die Mutter bereits am 4. Tag nicht mehr zu ernähren weiß 11 . Beim Spielen mit den Kindern ihrer Umgebung sind die früh erwachsenen Helden sehr ungebärdig und verletzen gelegentlich einen Mitspieler tödlich 12 . Ihre Biographie setzt sich mit der Schilderung der Suche nach einer für sie geeigneten Waffe und ihres ,Auszugs in die Welt' fort 13 .
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Zaubermärchen, in denen ausführlicher von der frühen Kindheit eines Protagonisten erzählt wird 14 , charakterisieren diesen, im Gegensatz zum unscheinbaren (—> Askeladden), als von Anfang an klar erkennbaren Helden oft durch das Motiv E.b.G. oder aber durch das der gefährdeten Kindheit (—» Aussetzung). Dabei können gelegentlich Kombinationen vorkommen 15 . Der früh erwachsene Held tritt meist in mit dem Motiv der wunderbaren Empfängnis verbundenen Erzähltypen auf wie AaTh 300 A: —»Drachenkampf auf der Brücke, AaTh 301: Die drei geraubten —> Prinzessinnen, AaTh 303: Die zwei —> Brüder, AaTh 312D: —> Erbsensohn und AaTh 650 A: —» Starker Hans. Dabei scheinen die Schwerpunkte der Verbreitung im nördl. und östl. Europa zu liegen. So stammen z.B. die Var.n zu AaTh 303, in denen die Protagonisten sofort erwachsen sind, aus Nordeuropa 16 , und die mit dem Motiv verbundenen ostslav. Helden Pokatigorosok, Medvez'e Usko (cf. —» Bärensohn), Ivan Zor'kin und Ivan Sucic sind charakteristisch für die genannten Erzähltypen 17 . In Kontrast zu dem bei Geburt erwachsenen Helden scheinen Protagonisten zu stehen, die erst durch langes —» Säugen (z.B. sieben Jahre lang) 18 unüberwindlich stark werden, was auch als abgeschwächte Form des Motivs gewertet werden kann 19 . Als völlige Reduktion sind vermutlich Formeln wie ,und er wuchs rasch heran' anzusehen. Eine Variation des körperlich schnell wachsenden Helden stellt der frühreife —» Däumling dar, der von Geburt an über außerordentliche geistige Fähigkeiten verfügt 20 . Bei —* Zwergen fällt ein paralleles Phänomen auf: Ihre kindhafte Kleinheit steht im Gegensatz zu ihrem alten Aussehen, ihrer Altersweisheit und ihrem Vorzeitwissen. Eine Art —» Schwundstufe ist in manchen —• Tall Tales zu finden; z.B. verlaufen die ersten Lebensjahre Davy —» Crocketts nach ähnlichem Muster wie im Zaubermärchen: Recht früh besteht seine Nahrung aus Bärenfleisch und Whisky, mit sechs Jahren tötet er vier Wölfe, und mit acht Jahren wiegt er „200 pounds an' 14 ounces" 21 . Aus europ. —» L ü g e n g e s c h i c h t e n sei ein ung. Beispiel angeführt, in dem der Protagonist — eine Parodie auf mit Waffen zur Welt kommende mythische Helden 22 — mit einem Regenschirm
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Erwachsen bei Geburt
geboren und im Alter von drei Monaten Minister wird 23 . In V o l k s e r z ä h l u n g e n m y t h i s c h e n Charakters ist der schnell erwachsene Held ebenfalls auf wunderbare Weise geboren, oder er ist ein übernatürliches Wesen. In indian. Erzählungen aus Nordamerika entsteht aus Blutstropfen ein Junge, der in der ersten Nacht so groß wie ein Finger und in der zweiten bereits ein Mann ist, oder es wird ein Baby gefunden, das nach der ersten Nacht wie ein Achtjähriger, nach der zweiten wie ein 16jähriger und nach der dritten voll erwachsen ist 24 . Ein Kulturmythos aus dem Kongo berichtet von einem Neugeborenen, das am ersten Tag sprechen konnte und am dritten Tag ,zum starken Mann' erwachsen war 25 . E p i s c h e Berichte konzentrieren sich auf rasches Wachstum, schnell erreichte Männlichkeit sowie sofort sichtbar werdende körperliche Überlegenheit des Helden — bisweilen ist auch von bes. geistigen Fähigkeiten die Rede — und weisen dabei eine große Nähe zu den schablonenhaften Kindheitsschilderungen der Märchen auf 26 . Als bes. typische Merkmale eines früh sich anzeigenden heldischen Lebenslaufes erscheinen das ungewöhnliche Verhalten in Wiege und Windeln, die übermäßige Nahrungsaufnahme und der nicht reibungslose Kontakt zu anderen Kindern, der oft als Anlaß zur Enthüllung unbekannter Herkunft dient. Säuglinge zerbrechen ihre eisernen Wiegen oder tragen solche weg, die Erwachsene nicht von der Stelle rücken können 27 , regelmäßig zerreißen sie Windeln 28 oder fordern statt Windeln eine Rüstung 29 . —> Roland läßt sich erst gar nicht in Windeln wickeln. Er muß von vier Ammen genährt werden 30 , der pers. Rustem von zehn 31 , —» Alexander der Große läßt sich nicht säugen 32 , manche trinken statt Milch geschmolzenes Metall 33 . Der arab. 'Antar verprügelt größere Kinder 34 , —> Cu Chulainn behauptet sich im Alter von fünf Jahren gegen ,dreimal 50 Knaben' 35 . Werden in der Epenforschung die vollständige Biographie des Helden als Ergebnis einer späteren Zyklisierung und die Schilderung der Geburt und heroischen Kindheit als auf eine spätere Epoche zurückgehende Episode, die Jugendabenteuer —» Siegfrieds z.B. als .sekundäre Anwucherungen', aufgefaßt, dann werden
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die epischen Schablonen ζ. T. in Abhängigkeit vom Märchen gesehen und als Beweis für diese These herangezogen 36 . Bekannte Beispiele des früherwachsenen Helden in der A n t i k e sind Apollon, Dionysos und —» Herakles. Apollon spricht vor und nach der Geburt (cf. —> Kind spricht im Mutterleib), er ist nicht nur imstande, sofort zu laufen, sondern spielt bereits die Leier und tötet in jugendlichem Alter einen Drachen 37 . Dionysos begeht noch als Wiegenkind den Diebstahl an Apollons Rindern 38 . Herakles tötet in der Wiege die zwei von Hera geschickten Schlangen 39 . Zwar wird auch hier überwiegend die körperliche Stärke männlicher Helden hervorgehoben, doch zeigt sich ein differenzierteres Bild. So heißt es von Asklepios, daß er bereits als Kind Kranke heilen und Tote erwecken konnte 40 , und von der Göttin Artemis, daß sie — kaum geboren — ihrer Mutter half, Apollon in die Welt zu bringen 41 . Die bei Geburt oder in früher Kindheit sichtbar werdenden Fähigkeiten müssen zum späteren Lebenslauf und die damit charakterisierten Personen wiederum zur jeweiligen Gattung passen, d.h. das Motiv wird gattungskonform adaptiert. Dies wird bei den Helden und ebenso zahlreichen Heldinnen der H e i l i g e n l e g e n d e deutlich, die im Kontrast zu den bisherigen Prototypen stehen. Hier treten geistige Fähigkeiten und moralische Qualitäten in den Vordergrund, die sich manchmal nicht unmittelbar nach der leiblichen Geburt, sondern erst nach der Taufe zeigen. Die Heiligen zeichnen sich durch frühes Sprechen — oft noch als Ungeborene — aus: Sie sagen nach der Predigt Amen, decken Verleumdungen bes. hinsichtlich falsch angegebener Vaterschaft auf oder erklären die Lehre Jesu Christi 42 . Sie stehen auf und laufen, um an bestimmten Orten zu beten 43 . Im Gegensatz zu den Helden, die sich durch unmäßiges Essen hervortun, üben sie früh Enthaltsamkeit. Sie fasten während der Vigilien oder nehmen mittwochs und freitags die Brust nur einmal, unmoralische Ammen lehnen sie ab 44 . Als Säuglinge können sie bereits Krankheiten heilen, und sehr früh verfügen sie über ein umfassendes Wissen 45 . Einige dieser Motive, z.B. sprechende Säuglinge, die warnen, vor Verleumdungen
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schützen oder vorhersagen, und kluge Kinder, die ihre sämtlichen Mitschüler übertreffen, finden sich auch in V o l k s l i e d e r n , Balladen und Sagen 4 6 . Sehr nahe stehen den Heiligenlegenden die G e b u r t s - und Kindh e i t s l e g e n d e n der Religionsstifter. In den apokryphen Evangelien spricht —» Christus bei Geburt und in der Wiege 47 . Der neugeborene —» Buddha macht sieben Schritte und ruft aus, daß er der Größte und dies seine letzte Geburt sei48. In den —»Jätakas wird berichtet, daß er bereits bei drei Inkarnationen sogleich nach der Geburt gesprochen habe 49 . Im Alter von sieben Jahren beherrscht er alle .kanonischen Bücher des Buddhismus' und die Laienwissenschaften, verleiht Kranken Gesundheit und ist im Gegensatz zu den unbeherrschten epischen Helden ein weiser Anführer seiner Spielgenossen50. Unterschiede in der Charakterisierung der Heldenkindheit ergeben sich nicht nur aus der Gattung, sondern auch aus der Kulturkreiszugehörigkeit und allg. aus dem Alter der jeweiligen Überlieferung. In jüd. Erzähltradition z.B. ist ein Kennzeichen des früh erwachsenen Helden, daß er bereits beschnitten geboren wird 51 . Soziokultureller Kontext und Alter der retrospektiven ,Biographien' lassen sich oft bes. gut an der dem Helden zugeschriebenen ,Schulbildung' erkennen: Alexander der Große lernt wie die bulg. Leser des Alexanderromans aus dem 19. Jh. die Psalmen in der Schule, oder ein russ. Held stellt sein Können im Synod unter Beweis 52 . In der heutigen Populärliteratur spielt das Motiv E.b.G. — durch die entsprechenden Requisiten des 20. Jh.s modifiziert — vor allem bei den Superhelden der —> Comics eine Rolle. Superman als der Prototyp ist von außerirdischer Herkunft (er stammt vom Planeten Krypton), sorgt bereits als Baby durch seine ungeheure Körperstärke im Waisenhaus für Unruhe, springt als Knabe über Hochhäuser, kann Autos in die Höhe stemmen und sich schneller als Eisenbahnzüge bewegen 53 . Überwiegend kennzeichnet das Motiv E. b. G. den positiven Helden. Eher ambivalent tritt es in mythischen Erzählungen auf 54 ; eindeutig negativ erscheint die Fähigkeit, sofort nach Geburt sprechen zu können, z.B. bei —» Merlin als Zeichen seiner teuflischen Abkunft väterlicherseits oder in einem Bericht
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von 1623 als Kennzeichen des soeben zur Welt gekommenen Antichrist 55 . In Zusammenhang hiermit sind jüd. Überlieferungen über die kommende Endzeit zu sehen, die sich u.a. durch Frühgeburten, die am Leben bleiben und umherlaufen, ankündige 56 . Abgesehen von den Hll.nviten bezieht sich das Motiv E.b.G. fast ausschließlich auf männliche Helden 57 . Die auffallenden Übereinstimmungen der Motive zu Geburt, Kindheit und weiterer Laufbahn des Helden führten immer wieder zu Versuchen, das Schema eines Heldenlebens, ein .biographical pattern', zu entwerfen 58 . Dabei fanden in der Forschung in bezug auf den ersten Lebensabschnitt des Helden die conceptio magica (auch unter völkerkundlichen Aspekten), die bes. durch Aussetzung gefährdete Kindheit (u. a. psychol. Interpretation, cf. —» Vater-Sohn-Motiv) und der zunächst unscheinbare Held und jüngste Sohn (strukturelle und hist. Gesichtspunkte) bei weitem größeres Interesse 59 als das Motiv E.b.G. Ohne Zweifel handelt es sich hier um ein sehr altes Motiv, dessen Herkunft — bes. im Kontext mit Motiven wie wunderbare Empfängnis, Kind spricht im Mutterleib, wunderbare Geburt - einer magisch-archaischen Wirklichkeitsauffassung zugeschrieben wird (cf. —• Archaische Züge). Das Motiv von den gesteigerten Lebenspotenzen des Neugeborenen habe Entsprechungen in Glaubensvorstellungen über magische Kräfte des Kindes, die sich noch in Bräuchen der sog. Naturvölker, z.B. Tabuvorschriften für Mutter und Kind, nachweisen ließen 60 . Tiefenpsychol. Forschungen, die bes. für die Mythologie den biogr. Interpretationsrahmen ablehnen, sehen in dem Motiv archetypisch bestimmte Vorstellungen. Das Kind personifiziere Lebensmächte jenseits des Bewußtseins, der —» Archetypus Kind drücke die .Ganzheit des Menschen' aus 61 . Textimmanent betrachtet, hat das Motiv die Funktion, von Anfang an die Auserwähltheit und Besonderheit der Person zu kennzeichnen (cf. —> Erkennungszeichen). Das Motiv ist also in der Erzählung ein in die Zukunft weisendes Element, das oft retrospektiv mit der Intention, Ahnen zu erhöhen, Repräsentanten der eigenen Religion oder Geschichte zu verherrlichen, eingesetzt wird 62 und das mit seinen
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Details den Erwartungen, die Rezipienten an Helden stellen, entgegenkommt.
1 cf. Scherb, H.: Das Motiv vom starken Knaben in den Märchen der Weltlit. Seine religionsgeschichtliche Bedeutung und Entwicklung. Stg. 1930 (das Motiv wird hier erweitert aufgefaßt, ζ. B. werden Taten von Ungeborenen, Figuren wie der Dummling und der über den T o d hinaus wirkende Knabe im Machandelboom miteinbezogen). 2 Novikov, Ν . V.: Obrazy vostocnoslavjanskoj volsebnoj skazki (Gestalten des ostslav. Zaubermärchens). Len. 1974, 32; Löwis of Menar, A . von: Der Held im dt. und russ. Märchen. Jena 1912, 71. - 3 Novikov (wie not. 2 ) 57. - 4 ibid., 32. - 5 Köhler/Bolte 1,405, cf. auch 544. - 6 Fähnrich, H.: Georg. Märchen. Lpz. 1980, 149. 7 Frobenius, L.: Dämonen des Sudan. Jena 1924, 208. - 8 Löwis of Menar (wie not. 2) 74. 9 wie not. 7. 10 cf. Delarue, p. 110; Frobenius, L.: Volksmärchen der Kabylen. Jena 1922, 57sq.; id.: Märchen aus Kordofan. Jena 1923, 278sq.; Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. B. 1979, 162; N o v i k o v (wie not. 2 ) 32sq., 45, 47, 54, 57 (zahlreiche russ., ukr., weißruss. Beispiele); Löwis of Menar (wie not. 2 ) 70 sq., 74. 11 Novikov (wie not. 2) 54. - 12 ibid., 47, 54; Frobenius 1922 (wie not. 10) 58. - 13 Novikov (wie not. 2 ) 33; Frobenius 1922 (wie not. 10) 58 ( P f e r d ) ; Delarue, p. 110. - 14 cf. Propp, 31, 85, 119sq. (zur Ausgangssituation als morphologisches Element). — 15 Schott, A . und Α . : Rumän. Volkserzählungen aus dem Banat. ed. R . W . Brednich/ I. Talo§. Buk. 3 1975, 207sq. - 16 Ranke, K.: Die zwei Brüder ( F F C 114). Hels. 1934, 156 (außer 1 zentralafrik. Var.). - 17 Novikov (wie not. 2 ) Kap. 1. - 18 Delarue 301B. - 19 cf. Scherb (wie not. 1) 7 4 - 7 7 . - 2 0 ibid., 8sq., 47. 21 Loomis, C. G.: T h e American Tall Tale and the Miraculous. In: California Folklore Quart. 4 (1945) 1 0 9 - 1 2 8 , hier 1 1 4 - 1 1 6 . - 22 cf. Mot. Τ 552.5. - 23 Koväcs, Ä . : Kalotaszegi nepmesek 1. Bud. 1943, num. 38. - 24 Publ.s of the Texas Folklore Soc. 6 (1927) 110; ibid. 21 (1946, 2 1975) 72. — 25 Frobenius, L.: Dichtkunst der Kassaiden. Jena 1928, 125, cf. auch 127; cf. Sicard, H. von: Perseus und Pygmalion in Afrika. In: Laogr. 22 (1965) 4 9 8 - 5 1 2 , hier 499; cf. auch Kirtley, bes. Τ 5 8 5 . 2 T 585.9, Τ 615.6. - 26 cf. die Beispiele in Bowra, C. M.: Heldendichtung. Stg. 1964, 1 0 2 - 1 0 4 ; Vries, J. de: Heldenlied und Heldensage. Bern/ Mü. 1961, 286sq.; Burkhart, D.: Unters.en zur Stratigraphie und Chronologie der südslav. Volksepik. Mü. 1968, 334sq.; Gautier, L.: Les Epopees franijaises 3. P. 1880, 69 (Roland besticht u.a. durch ,esprit'). — " N e k l j u d o v , S. Ju.: „ G e r o i ceskoe detstvo" ν eposach vostoka i zapada ( „ D i e heroische Kindheit" in Epen des Ostens und W e stens). In: Festschr. Ν . I. Konrad. M . 1974, 1 2 9 -
140, hier 133. - 28 Heller, B.: Die Bedeutung des arab. 'Antar-Romans für die vergleichende Litteraturkunde. Lpz. 1931, 57sq. - 29 wie not. 27. 30 Gautier (wie not. 26) 68, cf. 69 sq. 31 Heller (wie not. 28) 56. - 32 Meyer, P.: A l e x andre le Grand dans la litterature fran^aise du moyen äge 2. P. 1886, 141, 98 sq. - 33 wie not 27. - 34 Heller (wie not. 28) 54. - 35 de Vries (wie not. 26) 286. - 36 Schirmunski [Zirmunskij], V . : Vergleichende Epenforschung 1. B. 1961, 27; cf. auch Nekljudov (wie not. 27); See, K . von: Germ. Heldensage. Ffm. 1971, 25, 84. - 3 7 Pauly/Wissowa 2 (1896) 16, 22, 24. - 38 de Vries (wie not. 26) 286. - 39 The Mythology of all Races. 1: Greek and Roman, ed. W . S. Fox. N . Y . 1964, 79. 40
Günter 1910, 51.
-
Ranke-Graves, R. von: Griech. Mythologie 1. Reinbek 1960, 46; cf. Pauly/Wissowa 2 (1896) 22. - 42 A l l g . zu Kindheit der Hll.n und nichtchristl. Beispielen v. T o l d o 1901, 3 2 8 - 3 4 5 ; Günter 1949, 44, 9 6 - 9 9 ; zum Sprechen ibid., 329; Günter 1910, 89sq.; Loomis, C. G.: White Magic. Cambr., Mass. 1948, 24. - « T o l d o 1901, 329. - 44 ibid.; Loomis (wie not. 42) 23. - 45 ibid., 24; T o l d o 1901, 331 sq. - 46 Liebrecht, F.: Zur V k . Heilbronn 1879, 210sq.; Child, num. 90 (mit zahlreichen Lit.hinweisen); Röhrich, L.: Die Wechselbalg-Ballade. In: Festschr. B. Schier. Göttingen 1967, 1 7 7 - 1 8 5 , hier 177sq„ 184. - 47 T o l d o 1901, 3 44. - 48 E M 2, 989. - 49 Cowell, Ε. B.: The Jataka 6. L . 1957, num. 5 47. - 50 ibid., num. 546; Chavannes 1, num. 9, 66. — 41
Neuman Τ 585.1t· - 52 Köhler, I.: Der neubulg. Alexanderroman. Amst. 1973, 98; Löwis of Menar (wie not. 2) 71. - 53 Feiffer, J. (ed.): T h e Great Comic Book Heroes. N . Y . 1965, 57sq. - 54 cf. not. 24; cf. Görög, V./Platiel, S./Rey-Hulman, D./ Seydou, C.: Histoires d'enfants terribles ( A f r i q u e noire). Etudes et anthologie. P. 1980. - 55 Penzer, Ν . M.: T h e Ocean of Story 2. L . 1924, 39; John Dunlop's Geschichte der Prosadichtungen, ed. F. Liebrecht. B. 1851, 65; Baring-Gould, S.: Curious Myths of the Middle Ages. L./Ox./Cambr. 1872, 169 sq. - 56 4. Esr. 6,21 nach Scherb (wie not. 1) 27; ein anderer Aspekt ist hier die Projektion auf die Zukunft über den Erzählrahmen hinaus; cf. Verwendung des Motivs zur Umschreibung für etwas unerreichbar Fernes bei Shakespeare, T h e Tempest 2, 1, V . 244 sq. — 57 Eine Ausnahme ist z.B. die ind. Somaprabha, cf. Penzer (wie not. 55) 39. - 58 cf. das Modell eines Heldenlebens bei de Vries (wie not. 26) 2 8 1 - 3 0 1 ; cf. den Überblick bei Taylor, Α . : The Biographical Pattern in Traditional Narrative. In: JFI 1 (1964) 1 1 4 - 1 2 9 ; cf. See (wie not. 36) 83 sq. - S 9 c f . Rank, O.: Der Mythos von der Geburt des Helden. Versuch einer psychol. Mythendeutung. Lpz./Wien 2 1922; Meletinskij, E. M.: Geroj volsebnoj skazki ( D e r Held des Zaubermärchens). M . 195 8. - 60 Scherb (wie not. 1) bes. 103-116. 51
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Jung, C. G./Kerenyi, K.: Das göttliche Kind.
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Erweckung - Erzählen, Erzähler
Lpz. 1941, 120 sq. und pass. - 62 cf. Scherb (wie not. 1) 119, 1 2 7 - 1 3 1 ; Günter 1949, 94.
Göttingen
Ines Köhler
Erweckung —» Wiederbelebung
Erzählen, Erzähler 1. Hist. Überblick - 2. Ber.e über Erzählen und Erzähler (E.) vor der Zeit wiss. Unters.en — 3. Forschungsgeschichte — 4. Der E. und sein PerformanzMilieu - 4.1. Der E. - 4.2. Das Repertoire 4.2.1. Rollenverteilung Männer/Frauen - 4.3. Das Erzählen
1. Hist. Ü b e r b l i c k . Erzählen von Geschichten ist, ähnlich wie Spiel und Gesang, ein elementares Bedürfnis. Kraft und Wirkung der Erzählung liegen zu einem wesentlichen Teil in der miindl. Erzählungsweise begründet, in Klang, Rhythmus und Tempo, aber auch in begleitenden nichtverbalen Zeichen. Bei der Gestaltung der Erzählung während des Erzählprozesses kombiniert der E. überkommene inhaltliche und formale Elemente sowie Gesten und gibt Abwandlungen Raum, zu denen er durch die Reaktion der Zuhörer angeregt wird. Das Erzählen einer Geschichte ist daher immer ein nicht wiederholbares Ereignis; durch das Zusammenwirken von E., Zuhörern und Überlieferung entsteht eine einmalige .Erzählversion'. Obwohl parallel zum mündl. Erzählen Geschichten seit uralten Zeiten auch in literar. Versionen verbreitet waren, konnten Hss. und Drucke nicht aus Hörern Leser machen. Wie mächtige ma. Herrscher von der besänftigenden Stimme höfischer E. in den Schlaf gelullt und erschöpfte Landarbeiter nach ihrem Tagewerk von einem unter ihnen in eine Phantasiewelt entführt wurden, so warten heute mitunter Stadtkinder begierig auf das „Es war einmal" ihrer Mutter, die schöne Geschichte bezeugt den glücklichen Abschluß des Tages. „The telling is the tale" (Ben-Amos 1971, 10), und die jeweils entstehende Version ist dem E. zu verdanken. Zu ihrem Verständnis sind daher seine Persönlichkeit, soziale Stellung und —> Kreativität von wesentlicher Bedeutung. „For the art of the folk-tale is in its telling; it was never meant to be written nor to be read. It draws the breath of life from the lips of men
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and from the applause of the appreciative fireside audience" ( 0 Suilleabhäin 1973, 10). Unters.en über den E. und das Erzählen sind ein Teilgebiet des weiteren Bereichs, der als —> Biologie oder Soziologie des Erzählguts bekannt ist. 2. B e r i c h t e ü b e r E r z ä h l e n und E. vor der Zeit wiss. U n t e r s . e n . Vereinzelte frühe Erwähnungen von Motiven, E.n und Erzählanlässen (Bolte 1921, pass.) zeigen an, daß Geschichtenerzählen auf allen Ebenen gesellschaftlichen Lebens verbreitet war, bei formellen und informellen Anlässen, geplanten und spontanen Zusammenkünften, als professionelle und nichtprofessionelle Darbietung. Frühe Autoren der Mittelmeerländer und verschiedene nahöstl. Qu.n geben übereinstimmend Zeugnis von den Erzählungen berufsmäßiger Unterhalter, Schauspieler, Dichter und speziell ausgebildeter E. in Diensten von Herrschern, hochgestellten Familien, reichen Bürgern und öffentlichen Einrichtungen. Ihre Zahl wuchs während und kurz nach dem MA., als in ganz Europa Spaßmacher, Spielleute und Possenreißer Proben ihrer erzählerischen Fähigkeiten gaben. Während dieser Zeit entwikkelte sich das Geschichtenerzählen auch zu einer zusätzlichen Dienstleistung bei Angehörigen anderer Berufe. Sklaven, Kinder- und Dienstmädchen in den Haushalten von Adeligen und vornehmen Herren waren als E. hochgeschätzt und wurden teuer gehandelt. Fahrende, Schauspieler, Sänger, Kaufleute, Handwerker, Hausierer, Bettler, Soldaten, Heilkundige, Prediger, Schreiber verdienten ihren Lebensunterhalt ζ. T. mit Auftritten in Herbergen, Gastwirtschaften und Bauernhäusern (Delargy 1945, 25 sq.; Viidalepp 1969, 448; Asadowskij 1926, 2 6 - 3 5 ) . Der Klerus schätzte die unterhaltsamen Predigtmärlein als Mittel während des Gottesdienstes, das Interesse der Gläubigen für die religiöse Botschaft wachzuhalten (Moser-Rath, 28sq.). Zwangloses, nicht berufsmäßiges Erzählen bei der Arbeit oder zu Hause wird in den Berichten von Reisebüchern, Chroniken, Briefen, Tagebüchern, religiöser und unterhaltender Lit. bis zur 2. Hälfte des 19. Jh.s weniger deutlich hervorgehoben. Als Unterhalter von Kindern sind übereinstimmend Frauen — Mütter und Ammen (—> Ammenmärchen) — er-
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Erzählen, Erzähler
wähnt; die ,fabellae aniles', unter die Märchen, Schrecksagen, Tiererzählungen und Schwänke fallen, werden als kindlich und töricht gekennzeichnet (die Auflistung bei Bolte 1921 zeugt jedoch von deren Popularität). Daß frühe Qu.n außer den Frauen im Hause als naturgegebene E. der ,vanae vulgi fabulae' nur ,Lügner' und ,lying soldiers' erwähnen, zeugt von den zwiespältigen Gefühlen Erwachsener gegenüber der Erzählwelt, die nach der Meinung vieler Psychologen in früher Kindheit, wenn man ihr zum ersten Mal begegnet, natürliche Angstvorstellungen überwinden hilft. Während manche Erzählteile (Bilder) im Erwachsenen haften, verblaßt die Erzählung selbst, ζ. T. wohl wegen ihres versteckten Gefühlsgehalts. Erzählen fungiert als unentbehrliches Mittel der Entspannung, als Fluchtweg aus dem Einerlei und der oft trostlosen Realität des Alltags, als Brücke zwischen Wachen und Schlaf. Kein Wunder, daß die Gesellschaft es immer als eine kindlichnaive und träumerische Befriedigung unerfüllbarer Wünsche betrachtet hat.
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Die Allgegenwart der Erzählung könnte durch viele weitere Beispiele belegt werden. Offiziell und ideell blieben Geschichten jedoch als Erziehungsmittel von Müttern und Großmüttern in die Kinderstube oder als Zeitvertreib für geschwätzige alte Weiber, Dienstboten oder Spinnerinnen in die Haushalte verbannt (cf. BP 3, 6 4 - 8 3 ) . Immer wieder erscheinen Frauen als anerkannte Geschichten-Ε., v. die „AltweiberWinter-Geschichte", „um die Zeit zu vertreiben" in George Peeles Stück The Old Wives' Tale (1595), ferner Weibermärlein (1650), Contes de vieilles et de nourrices (1634) und andere Berichte über Erzählungen bei Zusammenkünften von Frauen.—*· Goethe bescheinigt seiner Mutter sprühende und anregende Erzählbegabung. Das Bild der geschichtenerzählenden Frau wird im 17.—18. Jh. noch verstärkt durch die frz. Autorinnen von Feenmärchen (-* Contes de[s] fees). Diese sind jedoch weniger als Unterhaltung für Kinder gedacht, sie wollen vielmehr kindliche, naive, natürliche und reine Dichtung sein. In kunstvoll stilisierter Form wurden Märchen beim Dennoch sind in literar. Werken DarstelAdel Mode und genossen große Wertschätlungen von Erzählvorgängen und E.n in unterzung in intellektuellen Kreisen, während Geschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenschichtenerzählen, wenn es vom Volk als Zeithängen recht häufig. —» Rahmenerzählungen vertreib gepflegt wurde, weiterhin Mißfallen geben durch Schilderung von Erzählsituatioerregte. Über Jh.e mußten sich Dorfbewohner nen den Erzählsammlungen künstlerischen den Tadel der kirchlichen und weltlichen Zusammenhalt (Woeller 1965, 2 1 8 - 2 2 8 ) . So erscheint im —> Pancatantra der Weise Visnu- Obrigkeit gefallen lassen, sie lauschten u n wahren Geschichten' und,Lügen'. Die symbosarman als Erzieher kgl. Kinder, denen er 86 lische Sprache der Volkserzählungen erregte Geschichten erzählt. In der Rahmenhandlung von —> 1001 Nacht wendet Scheherezade, um den Verdacht, Unzufriedenheit mit den sozialen Verhältnissen auszudrücken und eine poihren Kopf zu retten, den gleichen Trick an tentielle Bedrohung für die gesellschaftliche wie später Wanderer, die ihren Aufenthalt bei Ordnung darzustellen. Spinnstuben sowie angastfreundlichen Familien verlängern wollen: dere, Arbeit und Vergnügen verbindende Genämlich Nacht für Nacht in Fortsetzungen Märchen zu erzählen. In—» Boccaccios Decame- meinschaftstreffs wurden aufgelöst, E. mit Auspeitschung, Exkommunikation und Gerone tauschen sieben junge Damen und Herfängnis bestraft. Bes. taten sich die russ. Zaren ren ergötzliche Geschichten aus, um sich die hervor, die bäuerliche E. mit der Verbannung Langeweile des ereignislosen Landlebens zu nach Sibirien belegten (Degh 1969, 72). In vertreiben, ähnlich im Heptameron der—*· Marvielen europ. Ländern sprach man von der guerite de Navarre. Die 15 Erzählungen in den —> Sieben weisen Meistern sind in komplexer ,Sünde des Wortes', die als Übertretung von Gottes Geboten betrachtet wurde. Erst durch Weise als Argumente der weisen Männer zur die Würdigung und Idealisierung des BauernErrettung eines fälschlich angeklagten jungen standes als Gruppe mit hohem Ethos und als Mannes vom Galgen arrangiert. Die unter Verkörperung nationaler Tugenden zu Ende Reisegefährten übliche Unterhaltung mit abdes 18. Jh.s begriff man auch Volkserzählunwechselndem Geschichtenerzählen findet sich gen als bäuerliche Kunst. Diesem allg. Trend in —> Chaucers Canterbury Tales.
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Erzählen, Erzähler
folgend ließ der ung. Dichter Mihäly Csokonai Vitez (gest. 1805) in seiner Komödie Tempeföi (1793) den alten Leibeigenen Szuszmir auftreten. Die Wiedergabe von AaTh 506: The Rescued Princess (cf. Dankbarer Toter) scheint dem Stil mündl. E. erstaunlich treu nachgebildet; die zuhörenden Schwestern, Töchter kultivierter Landadeliger, diskutieren über den Wert des durch bäuerliche Erzählungen repräsentierten Traditionalismus gegenüber dem des Kosmopolitismus der europ. Aufklärung. Zur Zeit der Entdeckung des Erzählens als traditioneller Kunst tauchen zwei Muster auf: Geschichten von Frauen für Kinder und Geschichten alter Bauern für eine ländliche Zuhörerschaft. Beide verschmelzen in der Konzeption der B r ü d e r n Grimm, deren literar. Slg sich als —» Kinder- und Hausmärchen mit dem Anspruch darbot, dem hess. Bauernvolk zu entstammen. Die von den Grimms genannten E., deren Säuerlichkeit' ernsthaft in Frage gestellt worden ist (Rölleke 1975 a, 7 4 - 8 6 ; 1975 b, 395 sq.), sind in erster Linie Frauen. Die am höchsten geschätzte war Frau Viehmann, die als „eine Bäuerin" präsentiert wird, von der eine beträchtliche Anzahl von „echt hessischen Märchen" stammt. Die berühmte Schilderung Frau Viehmanns in der Einl. zum 2. Band der Ausg. von 1819 der KHM wird manchmal als erster Schritt zur Charakterisierung von E.n und ihren Erzählungen hin betrachtet. Die Erwähnung von Informanten und Sammlern (die oft mit Informanten identisch sind) bei den Brüdern Grimm schafft jedoch eher Verwirrung als Klarheit, insbesondere weil das ganze Ausmaß des Einflusses, den der von den Brüdern geschaffene literar. Stil auf die Vereinheitlichung des internat. Erzählkorpus hatte, bis jetzt noch nicht ausreichend erforscht worden ist. Während sich das Erzählrepertoire der Grimms als Erziehungs- und Unterhaltungsmaterial für Stadtkinder einen festen Platz eroberte (Psaar/ Klein 1976, 9 - 3 0 ; Zipes 1979/80), verlor die traditionelle mündl. Erzählung bei den gebildeten Schichten an Interesse und fand ihren fruchtbarsten Boden im bäuerlichen Europa; beide Erscheinungsformen des Erzählguts waren allerdings nie hermetisch voneinander getrennt. Die europ. Volkskundler versäumten es, die unter der Wirkung der Brüder Grimm
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stehenden städtischen E. zu beobachten und die schöpferischen Prozesse zu untersuchen, die unter dem Einfluß der Massenmedien heute vielfältig neue Erzählgemeinschaften entstehen lassen (Röhrich 1974, Vorwort; Mieder 1979; Degh 1979, 9 8 - 1 0 1 ; Röhrich 1979, 170-192; Degh 1982). Stattdessen betrauerten sie den raschen Verfall der altertümlichen bäuerlichen Lebensbedingungen und suchten typische Erzählrepertoires nachfeudalistischer ländlicher Gemeinden, in deren Erzählgemeinschaften sie klassische, prototypische Blütestätten des Austausches von Erzählungen vor sich zu haben glaubten. In der Sicht solcher Feldforscher ist die Volkserzählung identisch mit der bäuerlichen Erzählung. Durch Beobachtung bäuerlicher Gemeinschaften in einer Zeit der Veränderungen und industriellen Fortschritte, die zu einem Wandel des Lebensstils und schließlich zum Aussterben des traditionellen Erzählens führten, suchte man Aufschlüsse über die Gattung und ihre einstigen Lebensbedingungen zu gewinnen. 3. F o r s c h u n g s g e s c h i c h t e . Mehrere Sammler des 19. Jh.s erwähnten bereits die Namen ihrer E. und würdigten erzählerische Talente; von den Brüdern Grimm inspirierte Autoren von Märchenbüchern verzeichneten daneben noch Alter, Beruf und Wohnort ihrer Informanten. Bei einigen Sammlern findet sich sogar in der Einl. ein Abschnitt, in dem Begegnungen mit E.n und Erzählsituationen kurz beschrieben werden (z.B.Jahn 1891, Larminie 1893, Luzel 1887). Dies ist bis heute bei Veröff.en von Erzählsammlungen innerhalb und außerhalb Europas eine Routine geblieben, die keine größeren Verbesserungen erfahren hat und nicht wirkliches Interesse an den Informanten, ihrer Kreativität und den Reaktionen der Hörergemeinschaft bedeutet, sondern lediglich eine Pflichtübung den Menschen gegenüber, denen der Text, das Hauptziel der Wissenschaftler, zu verdanken ist (willkürlich gewählte Beispiele neuerer Slgen: Robe 1972; Roberts 1974; Wolkstein 1980. Selbst performanzorientierte Autoren wie P. Seitel [1980] und D. Ben-Amos [1975] übergehen entscheidende Daten, die die E. betreffen). Man sah in den Informanten nicht die Menschen, ohne die es keine Erzählungen
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Erzählen.ι, Erzähler
gäbe, sondern im besten Falle passive Traditionsempfänger, .Fundgruben', ,Überlieferungsträger', .getreue Bewahrer', die auf Grund der durch mangelhafte Lese- und Schreibkenntnisse bedingten bes. Leistungsfähigkeit ihres Gedächtnisses „das Erbe der Väter ohne Veränderungen erhielten" (Blinker 1906, 4 2 0 - 4 3 6 , mit Bezug auf das Gedächtnis des Straßenkehrers T. Kern u. a.; v. auch Degh 1969, 167; Labrie 1980, 2 8 6 292). Selbst heute neigen die Verfechter einer differenzierteren Richtung, denen Kontextforschung und Ereignisse der Kommunikation vor Textorientierung gehen, dazu, den Übermittlungsprozeß so stark in den Vordergrund zu stellen (Georges 1974, 1979, 1980, 1981), daß der E. wieder nur ein Element unter vielen ist (Köngäs-Maranda 1974, 253). Kurze statistische Angaben über die E. und impressionistische Skizzen des Erzählvorgangs sind indessen unzulänglich, wenn sinnvolle Forschungsarbeit geleistet werden soll. Gewöhnlich werden die Sizilianerin A. Messia, von der G. —» Pitre berichtet (Pitre 1870, XVII; v. auch Hartland 1891), und J. F. Campbells schott. E. als die ersten bemerkenswerten Persönlichkeiten genannt, denen im 19. Jh. genauere, informativere Beschreibungen gewidmet wurden. Mündl. gesammelte Erzählungen könnten nur von Wert sein, wenn sie unverändert wiedergegeben würden, bemerkte Campbell und gab die erste eingehende Schilderung von E.n und Erzählsituationen, darunter ein meisterhaftes Porträt des E.s D. MacPhie (Campbell 1860-62, 1, I X XXXII). E. S. Hartland bringt im 1. Kap. von The Art of Story-Telling (Hartland 1891) gedankenreiche Erläuterungen der Kunst dieser mündl. E. und eine sorgfältige Charakteristik der Situationen und Funktionen. Eine kurze Übersicht über Ergebnisse der Feldforschung und daraus entwickelte wiss. Konzepte zeigt die Verlagerung des Interesses von der Erzählung zum Akt des Erzählens hin (v. auch die Übersicht bei Degh 1969, 4 5 - 6 1 ) :
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tragender Künstler dar. Die russ. Schule wandte sich mit der Beschreibung der kreativen Methoden von E.n, die künstlerische Phantasie besaßen und ihre Lebenserfahrungen einfließen ließen, gegen die früher vertretene Theorie, das Folkloregut werde aus der—» Anonymität und aus einer mystischen Gemeinschaft geboren (—> Kollektives Bewußtsein), und wollte die Persönlichkeit des Volks-E.s neben professionellen Literaten anerkannt sehen. In seiner Kritik der von A. —»Aarne und K. —»Krohn innerhalb ihres geogr.-hist. Systems vertretenen Theorie der mechanischen Verbreitung mündl. Überlieferung führte C. W. von —» Sydow den Begriff der aktiven und passiven Traditionsträger ein, die für Weiterverbreitung oder Stillstand des Erzählumlaufs wesentlich mitverantwortlich seien (von Sydow 1948, 11-43). Innerhalb der 1935 gegründeten, an den Richtlinien und Grundsätzen von Sydows und R. T. —» Christiansens orientierten Irish Folklore Commission begann man, Erzählrepertoires systematisch zu sammeln; ferner wurde eine große Anzahl von E.n eingehenden Unters.en unterzogen. J. Schwietering initiierte mit seinen Schülern soziol. Unters.en der Performanz von Volkserzählungen bei bäuerlichen Gruppen. Im Gegensatz zu früheren Arbeiten war ihr Gegenstand nicht der schöpferische Künstler, sondern die soziale Funktion des Erzählvorgangs: „Volkskundliche Fragestellung nach Sinn und Bedeutung eines Volksgutes sieht die Volksgüter nicht als selbständige ablösbare Gebilde, die aus sich verständlich wären, sondern als Gerät, das nicht aus seiner Form, sondern aus seiner Funktion, aus der Ganzheit des Lebensvorgangs, dem es verhaftet ist, begriffen werden kann. Gegenstand einer derartigen Forschung ist [. . .] nicht die Erzählung, sondern das Erzählen oder Erzähltwerden [. . .]: nicht nur als äußere Erscheinung, sondern gleichzeitig als innerer Akt seelischen Erlebens und geistigen Besitzergreifens, nicht vonseiten des einzelnen, sondern der Gruppe" (Schwietering 1935, 68; Degh 1980, 324-327).
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s stellten Ν. E. —» Oncukov, die Brüder Β. M. und Ju. M. —» Sokolov und Μ. K. —* Azadovskij G. —• Ortutays Werk ist eine Synthese (,,a nach dem Beispiel von Wissenschaftlern, die sich mit den russ. Epensängern im traditions- symbiotic approach" [Ortutay 1963, 90]), die reichen nördl. Gebiet befaßt hatten, Volkser- sich auf die bis dahin erzielten Forschungszählungen als Werke individueller, mündl. vor- ergebnisse stützt. Seine Ideen sind verschie11
Enzyklopädie des Märchens IV
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Erzählen, Erzähler
denen Einflüssen verpflichtet: den dorfsoziol. Forschungen der rumän. Schule von D. Gusti (Arhiva 1932,572sq.; Ortutay 1972, 3 5 - 3 7 ) , C. Sharps (1907) Analyse des suggestiven Einflusses der Zuhörer auf die mündl. Vermittlung, den Erkenntnissen über lokale Kategorien, zu denen B. —> Malinowski (1926) an Hand sorgfältiger Materialaufzeichnungen kam, und K. Marots (1940, 2 2 4 - 2 3 5 ; 1947, 165) Theorie von den schöpferischen Prozessen in mündl. Dichtung. Azadovskijs Aufsatz über die sibir. Märchenerzählerin N. O. Vinokurova regte Ortutay zu seiner epochemachenden Studie über den des Schreibens und Lesens unkundigen Ε. M. Fedics an. Er betonte namentlich das fruchtbare Spannungsverhältnis zwischen dem talentierten E., der Inspiration braucht und sich dem Material innewohnenden Stil anpassen kann, und den Hörererwartungen, -forderungen und -reaktionen sowie zwischen dem kreativen Individuum und dem tradierten Material (Ortutay 1972, 268; -> Biologie des Erzählguts). Aufgrund von Feldforschungen stellte R. M. —* Dorson gattungseigentümliche Stilmerkmale fest, die spezifisch für bestimmte Rassen, Ethnien, Regionen oder Berufe sind. In seinen Aufzeichnungen von Repertoires einzelner E. beschrieb er individuelle Kreativität und individuelle Veränderungen vor dem Hintergrund verschiedener Erzähltraditionen (Dorson I960, 2 7 - 5 1 ) . Die anthropol. orientierten Erzählforscher (—> Anthropologische Theorie) wurden zu ihren Arbeiten hauptsächlich durch F. —» Boas angeregt, der sich mit Indianerkunst und der Persönlichkeit der Künstler befaßte. Es war jedoch R. Benedict, die durch ihre Beschreibung der literar. Probleme des Zuni-Erzählers das Interesse am Erzählen und den E.n weckte. Sie schreibt, eine lebendige Erzählüberlieferung, wie die der Zufii, spiegle zeitgemäße Interessen und Urteile ihrer E. wider und passe Ereignisse dem eigenen kulturellen Gebrauch an (Benedict 1935, t. 1, XXI). D. J. Crowleys Monogr. über die Erzähltradition auf den Bahamas bietet das anschaulichste Beispiel für die Verwendung traditioneller anthropol. Methoden; sein Bestreben ist, durch sorgfältige Unters, eines Korpus von Erzählungen herauszufinden, wie und von wem sie übermittelt werden und wo, wann, warum, wie
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und in welchem Maße sie Abwandlungen erfahren. Letztendliches Ziel sei eine für alle Kulturen gültige Beschreibung des Wesens ästhetischer Kreativität in ihrer Beziehung zur Tradition (Crowley 1966, 15). J. Pentikäinens Monogr. über eine Erzählerin und ihr Repertoire, die auf gründlicher Vertrautheit mit früheren Richtungen der Erzählforschung, der kulturanthropol. Methode und der Unters, von Persönlichkeit und Lebensgeschichte beruht, ist ein neuartiges Experiment. Seine Informantin war eine passive Überlieferungsträgerin, isoliert von ihrer Zuhörerschaft. Pentikäinen, der seine Befragung auf die Spanne eines Menschenlebens — auf die Lebensgeschichte als Kontext des schöpferischen Prozesses — beschränkt, während der nach und nach die Volksüberlieferung aufgenommen und modifiziert wird, will mit solcher Repertoireforschung Individuen als Glieder ihrer Kultur, Subkultur oder Mikrokultur erfassen, nicht als menschliche Typen oder individuelle bzw. ideale Persönlichkeiten (Pentikäinen 1978, 13 sq.). Aus der Arbeit einer Gruppe performanzorientierter amerik. Volkskundler ergab sich eine Reihe spekulativer Feststellungen mit bedeutenden Auswirkungen. Diese Wissenschaftler greifen Text-, Traditions- und Prozeßorientierung stark an und kritisieren märchenbiologische Ansätze; ihr Interesse konzentriert sich gewissermaßen auf die unmittelbare Kommunikation im Situationskontext der Erzählereignisse (,story-telling events') und geht dabei weit über das Märchen, wie es von Erzählforschern definiert wird, hinaus. Anthropologie, Linguistik, Verhaltenspsychologie, Literaturkritik und Erfahrungen bei der Feldforschung in schriftlosen Kulturen bildeten für die bedeutendsten Wegbereiter dieser Richtung, D. Ben-Amos, R. Bauman und R. A. Georges, die hauptsächlichen Impulse. Georges fordert eine Verlagerung der Aufmerksamkeit von der Erzählung und dem E. zum Erzählen (cf. Schwietering 1935, 13), vom Erzähltext zum Erzählkontext hin, da es nötig sei, eine neue begriffliche Grundlage für die Unters, der menschlichen Kommunikation zu schaffen, die er als einen in enger Beziehung zu elementaren psychol. und kognitiven Prozessen stehenden Vorgang definiert (Georges 1974, 161 sq., 165sq.). Nach Georges ver-
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Erzählen,ι, Erzähler
sucht diese wiss. Richtung herauszufinden, was das Erzählen, das Sprachverhalten überhaupt über die kulturelle Einzigartigkeit spezieller sozialer Gruppen aussage. Aufgrund der Beobachtung von ,face-to-face interactions' solle die Erzählforschung Kontinuitäten und Folgerichtigkeiten menschlichen Verhaltens untersuchen (Georges 1980, 39sq.). Andere Verhaltenselemente, die bei Georges diskutiert werden, sind: feedback' (1979, 1 0 4 110) und Abschweifung beim Erzählvorgang (1981, 2 4 5 - 2 5 2 ) . Bauman will den B e g r i f f e Performanz als roten Faden benützen, der die verschiedenen Erzählgattungen und andere Bereiche verbalen Verhaltens verbindet; von da aus gelte es zu einer allg. Theorie der v e r bal art' (d. h. dem Erzählen in einem relativ weiten Sinn) vorzustoßen, unter Beachtung von kultur- und gruppenspezifischen Unterschieden (Bauman 1 9 7 8 , 4 s q . ; Bascom 1955). Für Bauman hat Performanz einen doppelten Sinn: „Artistic a c t i o n — the doing of folklore - and artistic e v e n t — the performance situation, involving performer, art form, audience, and setting".
4. D e r Ε . und sein P e r f o r m a n z m i l i e u . In der Sicht von Ju. M. Sokolov kommt es bei der Unters, des Erzählens im wesentlichen auf die sozialen Bezüge an. Die Analyse einer Volkserzählung im Kontext weist auf ihre hochwichtige gesellschaftliche Funktion hin (Sokolov 1 9 6 6 , 4 4 0 ) . Von geringen Modifikationen abgesehen, wurde diese Erkenntnis in Theorie wie Praxis zum Leitprinzip der Forscher; in der Regel analysierte aber jeder jene Aspekte innerhalb des komplizierten Zusammenhangs von E., Zuhörer und Tradition, die für ihn am augenfälligsten oder am wichtigsten waren. Wissenschaftler, die es mit einzelnen E.n abseits vom Kreis ihrer früheren Zuhörer zu tun hatten, mußten sich auf monogr. Darstellungen von Persönlichkeit und Repertoire beschränken, während diejenigen, die mehr an der minutiösen Beschreibung des ,Ereignisses', d. h. am gemeinschaftlichen Verhalten und Zusammenspiel von Menschen in einer Erzählsituation interessiert waren, dazu neigten, den soziokulturellen und den persönlichen psychol. Hintergrund außer acht zu lassen. ii*
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4.1. D e r E . Innerhalb von Erzählgemeinschaften gibt es verschiedene Arten von E.n. Feldforscher sprechen häufig von einem unglaublich guten Gedächtnis, das sich in der getreuen Bewahrung einzelner Geschichten oder der Entstehung großer Repertoires zeigt. Sammler berichten von hervorragenden Unterhaltern, die sich bei der Auswahl ihrer Geschichten ganz auf ihre Zuhörer einzustellen vermögen, von weisen, humorvollen und launigen Charakteren, von passiven Traditionsträgern (Gwyndaf 1 9 7 4 , 2 8 3 - 2 9 3 ; 1981, 2 8 - 5 4 ) , von schlechten Nachahmern und selbst von ,unbegabten' E.n (Lehtipuro 1979, 12). Gemeinschaftsrepertoires bilden sich heute offensichtlich aus den individuellen Beständen einzelner Erzähltalente. Diese haben meist eine persönliche Vorliebe für bestimmte Arten von Erzählungen und verfügen über die Fähigkeit, eine große Anzahl von Geschichten und Motiven zu speichern, ferner über Erfindungsgabe oder Geschick beim Aufbau der Handlung; sie beherrschen Kunstgriffe wie Anwendung von Formeln, Anordnung von Episoden, Ausbau von Geschichten durch periodische Wiederholung, Beschreibungen und Dialoge oder durch Verlagerung des Schwergewichts; manche flechten auch persönliche Erfahrungen ein oder wissen Realität und Phantasie zu verbinden. Obwohl Gelegenheits-E., passive Traditionsträger und Leute, die nur einige Geschichten kennen, typischer für das allg. Bild gelten können als meisterhafte Künstler, so sind es doch gewöhnlich diese, denen Blüte und Fortbestand des Gemeinschaftsrepertoires direkt oder indirekt zu verdanken sind und durch deren Tod der Niedergang einer lokalen Erzähltradition verursacht wird. Eine Reihe von Wissenschaftlern versuchte, die verschiedenen E.typen zu klassifizieren, meist nach Gattungsspezialisierung, Erzählstil oder Begabungsgrad, wobei sowohl Methoden des ,oral literary criticism' (Dundes 1966, 505—516) als auch eigene Kriterien angewendet wurden. Recht anspruchslos unterscheidet Azadovskij den weitschweifig erzählenden Brodjaga-(Landstreicher-)Typ vom getreuen Wahrer traditioneller Regeln und vom Realisten (Asadowskij 1926, 2 5 - 3 2 , 36sq.). Sokolov kennzeichnet neun Arten von E.n: den Epiker, der ruhig und gemessen Heldenge-
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Erzählen, Erzähler
schichten darbietet; den Träumer und Phantasten; den Moralisten und Wahrheitssucher; den Realisten, dessen bes. Gebiet Lebensgeschichten sind; den Spaßmacher, Humoristen und E. harmloser Anekdoten; den bitteren, sarkastischen Satiriker; den Zotenreißer; den Dramatiker, der der Erzählung durch lebhafte Gestaltung des Dialogs Spannung und Unmittelbarkeit verleiht; den literar. Gebildeten und den Erzähler in der Kinderstube. Sokolov spricht außerdem von ,großen Meistern',,mittelmäßigen Künstlern' und ,Talentlosen' (Sokolov 1966, 404-406). V. I. -> Cicerov zählt vier Typen auf: den traditionsgetreuen Überlieferungsträger; den Darsteller, der seinen Vortrag durch Mimik und Gebärden dramatisiert; den Dichter, der traditionelle Themen umformt, und den Improvisator, der seine Erzählungen frei nach eigenen Ideen aufbaut (Ööerov 1946, 2 9 - 4 0 ) . Ortutay (1972, 226sq., 229sq.) und G. -> Henßen (1957,7685) unterscheiden die E. nach Traditionstreue und freier Kreativität, wobei sie einräumen, daß es in beiden Kategorien mehr oder minder Begabte geben könne. In anderen Zusammenhängen weist I. Bano (1939, 6—9; 1941, 17sq., 20—23) auf eine Spezialisierung von wohlhabenden und armen E.n hin und erwähnt Anekdoten-Ε., Spielleute, E. phantastischer Lügengeschichten im Stile Münchhausens, Bohemiens und literar. Bewanderte. L. -> Uffer (1945,10-18) trifft folgende Einordnung: passive Traditionsträger, die Märchen kennen, sie aber nur erzählen, wenn sie dazu genötigt werden; Gelegenheits-E., die aus ihrer Kindheit unterschiedliche Arten von Erzählungen kennen, die sie aber kunstlos immer wiederholen, wenn sie darum gebeten werden; und schließlich den bewußten E., der die Beliebtheit der Zuhörer genießt, ein gutes Gedächtnis besitzt, aber auch Neues bringt und sich auf eine bestimmte Gattung spezialisiert hat. Der die Formen brechende Neuerer mit seinen ungewöhnlich langen, sowohl von der Tradition als auch von literar. Reminiszenzen beeinflußten Märchen (eine typische Erscheinung der letzten Phase der nachfeudalen bäuerlichen Gesellschaft) wurde von L. -» Degh beschrieben (Degh 1960, 2 8 - 4 2 ) . Starke Begabungen finden sich bei E.n von Zaubermärchen, Sagen, Schwänken, Tiererzählungen, Novellenmärchen, obszönen Wit-
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zen, Erlebnisberichten und anderen Gattungen. Viele von ihnen sind von niedriger sozialer Stellung und genießen wenig Ansehen; Bewunderung finden sie nur, solange sie erzählen. Was sie zu Künstlern macht — Exzentrik, Beweglichkeit, mitreißende Sprache, Übertretung allg. anerkannter Regeln — macht sie auch zu Einsamen, zu ,wurzellosen Wanderern' (Honti 1942, 3 2 8 - 3 4 0 ; Degh 1969, 79). Künstlerische Entfaltung kann auch Kompensation körperlicher Gebrechen sein. 4.2. Das R e p e r t o i r e . „Those old tradition-bearers, like the old manuscripts, are libraries in themselves [. . .]. They have no living counterpart in western Christendom" (Delargy 1945, 8). Erzählforscher haben sich oft bewundernd über die großen Repertoires versierter E. geäußert. Man begann, das gesamte Repertoire eines E.s aufzuzeichnen und Erlernen, Überlieferung und die Momente der Entwicklung und des Verfalls der lebendigen Erzählung zu registrieren (Ortutay 1963, 90). Ein talentierter und geübter Traditionsträger reproduziert nicht nur das gehörte Material, wie Pentikäinen bemerkt hat, sondern verwandelt vertraute Elemente nach beherrschten Regeln in ein neues Ganzes (Pentikäinen 1978, 262). Eine neuere Bestandsaufnahme osteurop. E. mit großen Repertoires bietet neben Degh (1969, 168sq.) J. —> Faragös Verz. (Farago 1971, 439-443). Er stellt außergewöhnliche Persönlichkeiten heraus wie die Tschechin F. Hornychovä mit 500 Erzählungen, die Ungarn J. Bägyi mit über 110, L. -» Ami mit 262, K. Györi mit 450 und M. Denes mit 375, die Slovenin T. Wäjtava mit 224 und die Russin A. N. Korolkova mit über 100. Aus Estland berichtet R. Viidalepp (1969, 4 4 4 - 4 6 0 ) von noch ungewöhnlicheren Repertoires: P. Käär kannte 300, A. Schultz 450, J. Neublau insgesamt 600 und J. Sandra 1900 Geschichten. Solche großen Repertoires wurden in den meisten Fällen bei E.n festgestellt, die in einer Gemeinschaft wirkten und deren Erzählschatz eine mehr oder weniger breite Vielfalt von Prosaerzählungen unterschiedlicher Länge umfaßte, darunter sowohl traditionelle Erzählgattungen als auch improvisierte Anekdoten, Witze, aus Büchern nacherzählte Geschichten, alltägliche Erzählungen (—> Alltäg-
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Erzählen, Erzähler
Iiches Erzählen) und Lebensgeschichten. So enthält das Repertoire der im Dorf als Unterhalterin überaus beliebten K. Györi sieben Tiererzählungen, sechs Zaubermärchen, acht religiöse Erzählungen, 22 Novellenmärchen und 414 Witze und Alltagserzählungen, in denen, wie die Sammlerin verzeichnet, das ganze Dorf vertreten ist (Nagy 1978, 4 7 5 557). Eine homogenere Einheit bilden die 120 Erzählungen des analphabetischen Waldarbeiters A. Kalyn: Es sind Abenteuergeschichten der Art, wie sie bei den ukr. Wanderholzfällern in der Karpato-Ukraine Anklang fanden (Lintur 1978, 4 0 1 - 4 4 7 ) . Einen außergewöhnlichen Fall stellt M. Kocsis dar. Farago unterschied bei dem von ihm stammenden Material, das zwischen 1954 und 1967 auf 700 Bändern festgehalten und bis jetzt nicht numeriert wurde, ein .traditionelles' (natürliches) und ein .künstliches' Repertoire, das sich der erfolgreiche Dorferzähler aus Büchern angelesen und geflissentlich zusammengestellt hatte. Da der vom künstlerischen Ehrgeiz getriebene Kocsis damit Ansprüche befriedigen wollte, die der traditionellen bäuerlichen Erzählkunst fremd waren (Farago 1971, 441), wurden diese Erzählungen auch nicht weiter überliefert. E. rühmen sich oft ihres großen Vorrats an Geschichten und ihrer Fertigkeit, nach Wunsch und Laune neue zu erfinden. M. Borbely und Ε. M. Fedics stellten die fragwürdige Behauptung auf, jeder, der zehn Geschichten wisse, könne daraus beliebig viele andere entwikkeln, indem er die Regeln der Erzählkunst spielen ließe (Voigt 1974, 66; Ortutay 1972, 268). J. Zaicz (Degh 1969, 95 sq.) kannte angeblich für jeden Tag im Jahr eine, J. Schwill (Noy 1963, 19) .tausend', J. D. Suggs (Dorson 1956, 4) .eine Million' Erzählungen; und P. Pandur erklärte, eher würde dem Laden das Papier ausgehen als ihm die Geschichten (Degh 1942, 1, 31). Quantität ist jedoch oft nicht gleichbedeutend mit Qualität. Trotz seiner unbestreitbaren Begabung war L. Ami (Erdesz 1968) bei den anderen Bewohnern seines Dorfes herzlich unbeliebt, nicht nur, weil er der Nachtwächter war und ζ. T. von Zigeunern abstammte, sondern auch, weil er durch absurde Übertreibungen gegen die geltenden erzählerischen Normen verstieß. Andererseits können E., die nur ein paar bes. zugkräftige Märchen
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oder eine lustige Anekdote zu erzählen wissen, große Beliebtheit erlangen. .Gewohnheitsmäßige E.' kennen meist zwischen acht und zwanzig Geschichten (Fabre/Lacroix 1974, 1, 64). Die Einheimischen unterscheiden gewöhnlich zwischen durchschnittlichen E.n, die gelegentlich in der Familie, am Arbeitsplatz oder bei Freizeitveranstaltungen erzählen, und solchen, die speziell zum Erzählen eingeladen werden. Die E. der ersten Kategorie sind nicht an erzählerische Regeln gebunden, und es steht ihnen frei, alle Stoffe, die sie kennen, zu verwenden, von wem auch immer sie sie gehört haben mögen. E. von Rang dagegen haben ein eigenes anerkanntes Repertoire, das ihnen allein gehört. Jedes der Stücke wird mit Sorgfalt gewählt und erlernt; manche sind ererbt, andere großzügig überlassen, wieder andere sogar hinterrücks einem Rivalen gestohlen worden (Degh 1969, 8 8 - 9 0 ) . Ihren ungeschriebenen Gesetzen treu werden E. es ablehnen, die Geschichten eines anderen zu erzählen: „Das ist nicht meine Geschichte", hört man oft, „ich kenne sie zwar, aber ich erzähle sie nicht". Der E. lernt sein Fach ebenso bewußt wie andere traditionelle Künstler Lieder, Tänze oder Rituale. Der Lernprozeß beginnt als Teil der Enkulturation und Sozialisation in der Kindheit; erste Übungen finden im Familienkreis statt. Trotz strengen Ausschlusses aus den Erzählrunden der Älteren gelingt es den Kindern durch Tricks und Schliche, sich auch Geschichten Erwachsener anzueignen. Schulkinder und Heranwachsende erproben ihre Fähigkeiten untereinander; Ort des Austausches sind Schulpausen, Weide und Felder. Später bietet der Arbeitsplatz — in oder außerhalb der Gemeinschaft, in der Umgebung oder in der Fremde — Gelegenheit, neue Stoffe zu hören und aufzunehmen. Die meisten bedeutenden E. können sich daran erinnern, wann, wo und von wem sie die einzelnen Stücke ihres Repertoires gelernt haben. S. 0 Conaill sagte, er habe seine Geschichten schon beim ersten Mal behalten, und er wußte sie noch nach 20 Jahren der Passivität (Delargy 1945, 13; ähnliche Feststellungen finden sich bei Degh 1969, 1 9 2 - 1 9 4 und bei Birlea 1973, 459sq.). Viele künftige E. sind aktiv darum bemüht, immer neue Geschichten kennenzulernen, sie speichern sie oft jahrzehntelang
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in ihrem Gedächtnis, bis sie sich in der Lage fühlen, selbst das Wort zu nehmen; nicht selten machen sie eine Lehrzeit bei einem Meister durch. Passive Empfänger brauchen eine gewisse Reife, Bereitschaft und Autorität, bevor sie ihr Wissen aktivieren können und von einer Zuhörerschaft akzeptiert werden. Obwohl die meisten der großen Könner erst in ihren späten Jahren von Wissenschaftlern entdeckt wurden, als sie nicht mehr im lebendigen Zusammenspiel mit einem Kreis von Zuhörern zu beobachten waren, können die Äußerungen dieser Siebzig- bis Neunzigjährigen Aufschluß über ihre frühere Erzählpraxis geben. Aktive E., die an der Arbeit und an den Festen in der Gemeinschaft tätigen Anteil nehmen und deren Kunst einen wichtigen Faktor im Gemeinschaftsleben darstellt, stehen im Alter von 40 bis 60 oder 65 Jahren auf ihrem Höhepunkt. Spezialisierung und künstlerisches Niveau spielen eine Rolle bei der Auswahl, wenn sie zu einem bestimmten Anlaß herangezogen werden sollen — sei dieser nun rituellen Charakters wie Totenwachen, Hochzeiten und Taufen, gesellschaftlicher Art wie Zusammenkünfte an Winterabenden oder ein Treffen zu gemeinschaftlicher Arbeit wie Spinnen, Jäten, Maisschälen etc. Die E. bereiten ihren Auftritt sorgfältig vor; beim Hüten des Viehs (Delargy 1945, 13), auf der Rückkehr vom Markt, beim Warten auf das Mahlen des Getreides studieren sie ihren Vortrag ein und erproben die Wirkung ihrer Stimme draußen auf freiem Feld; einer erklärte, er übe das Spiel des Geschichtenerzählens vor dem Spiegel (Voigt 1974, 66). In hohem Alter zieht sich der E., der seine Generation überlebt hat und sein Publikum verliert, in die Passivität zurück; eine Ausnahme bilden bes. Anlässe oder Fälle, in denen der E. krampfhaft nach Zuhörern sucht und dabei auch Kinder einlädt. Der Besuch von Feldforschern ist den isolierten Traditionsträgern sehr willkommen, denn er bietet ihnen Gelegenheit, die Tage des Glanzes und der Bewunderung wieder aufleben zu lassen. Dabei beweisen sie ein erstaunliches Gedächtnis, gleichzeitig ist eine Erstarrung des Standardrepertoires zu beobachten, dem die durch die ständige anregende Einwirkung der Zuhörer bedingte hohe Flexibilität bei aktiven Künstlern gegenübersteht.
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4.2.1. R o l l e n v e r t e i l u n g M ä n n e r / F r a u en. Die Erzählforscher, die sich früher vor allem mit den komplexen Zaubermärchen und Abenteuergeschichten beschäftigten, fanden vorwiegend männliche E. Sie waren für Männer an entlegenen Arbeitsplätzen die einzige literar. Unterhaltung nach hartem Tagewerk. Der E. durfte seine Geschichte breit ausmalen, er konnte sie über Stunden oder in Fortsetzungen sogar über Abende hinweg ausdehnen. In Gehöften genossen Wanderer für die Unterhaltung der um den Kaminplatz versammelten gemischten Zuhörerschaft von Männern und Frauen Gastfreundschaft. Bei Haus- und Feldarbeiten der Frauen (Haiding 1967, 292-302) schätzte man Märchen mit weiblichen Heldinnen und lustig-lehrhafte Schwänke. Deren E.innen sind nicht unbedingt Meisterinnen ihres Fachs; irgendeine Anwesende, der eine passende Geschichte einfällt, darf zu Wort kommen; die Gruppe kann aber auch einen beliebten männlichen E. dazubitten, der die eintönige Arbeit mit seiner Unterhaltung auflockern und leichter von der Hand gehen lassen soll. Kinder hören die ersten Geschichten von ihren Eltern — vor allem von der Mutter und von den Großeltern. Betrachtet man die Zahlen, ohne dabei Gattungen zu berücksichtigen, so ist es schwer zu entscheiden, wer beim Erzählen die beherrschende Rolle einnimmt. Während einige Erzählforscher betonen, daß Erzählen ,Männersache' sei (Cammann 1961, 9sq.), vertreten andere die Meinung, daß die Frauen den Vorrang hätten oder männliche und weibliche E. sich die Waage hielten (Degh 1969, 91 sq.). D. Fabre und J. Lacroix fanden beim Vergleich ihrer Zahlen mit denen F. —> Arnaudins (1966-67) und J.-F. Blades (1886) heraus, daß bei okzitan. E.n von heute sowie bei E.n in der Gascogne und in den Pyrenäen im 19. Jh. die Frauen überwiegend auf Zaubermärchen und Tiergeschichten spezialisiert waren, die Männer hingegen mehr auf kurze erotische und satirische Schwänke (Fabre/ Lacroix 1974, 1, 64). Aus Ägypten berichtet H. El-Shamy, daß Märchen als ,Weibergerede' gelten und Männer sich mit den klassischen religiösen Erzählungen beschäftigen (El-Shamy 1980, 22). Frauen unterhalten hauptsächlich Kinder und weibliche Verwandte, selten Männer. Laut R. Finnegan
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Erzählen. Erzähler
(1967, 1969) ist es bei den Limba jedermann erlaubt, Geschichten zu erzählen; es sind aber doch meist die Männer, die sich nach der harten Arbeit diesem Vergnügen hingeben, während die Frauen kochen oder putzen. Als öffentliche E. treten bei den Mende Männer, Frauen und Kinder auf; Männer erzählen auch in privatem Kreis, das Repertoire ist jedoch das gleiche (Kilson 1 9 7 6 , 1 7 - 2 3 ) . Unter estn. E.n bemerkte R. Viidalepp keine geschlechtsspezifischen Unterschiede. Wie bei den Männern können spezielle äußere Bedingungen den Aufstieg zur anerkannten Meistererzählerin fördern. B. Tassel, eine der Bretoninnen, die F. M. —> Luzel schildert, war Telegrammbotin; die Spinnerin M. Philippe besuchte in fremdem Auftrag Wallfahrtsorte, um dort Bittgebete für Kranke zu sprechen — beide waren ständig unterwegs, trafen Fremde und hörten Erzählungen (Luzel 1887, 1, Xsq.). P. Sayers von den Blasket Islands (Sayers 1974) wurde durch ihr ungewöhnlich hartes und erfahrungsreiches Leben zur Erzählerin; ihr Repertoire umfaßte 375 Geschichten, darunter 40 lange Märchen. S. Palkö (Degh 1969, 100 sq.) übernahm die Rolle der Dorferzählerin mit über 70 Jahren, erst nach dem Tod des Vaters und des Bruders (der eigentlichen Meister) und nach sozialer Umschichtung infolge der Umsiedlung der Gemeinde aus der heimatlichen Bukowina nach Ungarn. J. Töth (Dobos 1962) und M. Fabian (Sebestyen 1979—81) wurden E. in Kindergärten nach Umsiedlung und Industrialisierung der bäuerlichen Umwelt. Für die verwitwete und verarmte T. Watanabe (Adams 1972) war die Aufrechterhaltung familiärer Beziehungen das Motiv für die Zusammenstellung eines Repertoires, das insbesondere europ. Märchen enthielt, die sie aus Büchern hatte. Bei der Sibirierin Vinokurova macht sich der Einfluß der Tradition der Deportierten bemerkbar, doch sie verstand es meisterhaft, den Sinngehalt auf den eigenen Standpunkt, den einer Frau innerhalb eines archaischen, patriarchalischen bäuerlichen Systems, zu übertragen (Asadowskij 1926). Das Beispiel eines Menschen, den ein unfreiwilliges Wanderdasein geprägt hat, ist Takalo, die ihren Wohnsitz 30mal gewechselt hat und in autobiogr. Abfolge Geschichten bewahrte, die sie sich auf die Befragung des Feldforschers
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hin ins Gedächtnis zurückrufen konnte (Pentikäinen 1978). Die Siebenbürgerin K. Györi wuchs als Unterhalterin in einer Spinnerei auf, sie trug selbsterdichtete Geschichten vor (Nagy 1978, 4 7 5 - 5 5 7 ) . Für F. Hornychovä (Jech 1959), die in einer tschech. Sprachinsel in Schlesien lebt, stellen Erzählungen ein bewußtes Mittel zur Wahrung der ethnischen Identität dar. Bei den dt. Umsiedlern aus dem Osten sind die E. in der Mehrzahl Frauen, was aber nicht unbedingt etwas über die Verhältnisse in ihrer alten Heimat aussagt. Diese älteren, meist verwitweten Frauen berichten über Dinge, die der Vergangenheit angehören und in einer städtisch-industriellen Umgebung nicht wieder aufleben können, wo die Männer nichts für Erzählungen übrig haben und nur die Frauen die Kinder mit Erinnerungen an das Erbe früherer Tage unterhalten. Eine Bewahrerin des klassischen Repertoires männlicher ostpreuß. E. ist die Witwe T. Janz, deren Geschichten auch das ergreifende Selbstporträt eines Flüchtlingsschicksals zeichnen (Tolksdorf 1980). 4.3. D a s E r z ä h l e n . Obwohl beschleunigte Industrialisierung und Modernisierung der Landwirtschaft zu schwerwiegenden Veränderungen der Arbeitsabläufe und dadurch — zusammen mit dem nivellierenden Massenmedien — auch zu Änderungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen führte, bleibt das Bedürfnis, Geschichten zu erzählen und zu hören, in einem gewissen Grade doch bestehen und wird in ähnlichem, wenn auch etwas verändertem Rahmen befriedigt. Viele klassische Erzählanlässe sind aus dem verstädterten Westeuropa verschwunden, dafür entstanden neue; die alten haben sich in Enklaven, Randgebieten und anderen Erdteilen erhalten. Aufgrund eines breiten Materials aus allen Teilen der Welt hat Degh die Erzählgelegenheiten nach drei Kategorien klassifiziert, welche für die 2. Hälfte des 19. Jh.s bis zum Ende des 2. Weltkriegs charakteristisch sind (Degh 1969, 1 6 7 - 1 8 1 ; Haiding 1967, 292-302): (1) Gemeinschaften unter Angehörigen von Wanderberufen in ländlichen Gebieten außerhalb der Städte: (a) nichtbäuerliche Gruppen: Handwerker, Soldaten, Hausierer, Krämer, Seeleute, Bettler, Wanderprediger, Fischer u.a.; (b) bäuerliche Grup-
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Erzählen, Erzähler
pen ohne Landbesitz: Gleisbauarbeiter, landwirtschaftliche Saisonkräfte, Lohnarbeiter, Holzfäller, Hirten, Jäger. (2) Zusammenkünfte innerhalb der Dorfgemeinschaft: (a) zu gemeinsamen Arbeiten; (b) in der Freizeit zu zwanglosen Winterabenden und formelleren festlichen Anlässen. (3) Unfreiwillige Gemeinschaften von relativ kurzer Dauer: (a) im Krankenhaus; (b) in Strafanstalten; (c) bei Reisen mit Bahn, Bus oder Flugzeug; (d) beim Militär (Wehrdienst, Krieg oder Gefangenschaft).
Es ist bemerkenswert, daß das Erlernen und Einüben von Erzählungen selten in den Dörfern oder Städten, sondern eher fern von ihnen stattfindet. Unter Leuten, die auf der Suche nach Arbeit weit umherziehen, kommt es zum Austausch von Geschichten, die sie bei ihrer Rückkehr ins Heimatdorf oder in die Heimatstadt mitbringen oder aber unterwegs weitererzählen. Allg. unbestritten ist, daß die E. nicht im begüterten Bauernstand, sondern in den ärmeren Schichten zu finden sind. Das Arbeitsethos der Bauern erlaubt es nicht, die Zeit mit langatmigen Phantasiegeschichten zu verschwenden, die sie auch als für sich belanglos ansehen; sie geben dafür gerne hist. Anekdoten, Sagen und Witze zum besten, die ihnen eher entsprechen. Mit Märchen vertreiben sich Landarbeiter, kleine Pächter, Holzfäller und Hirten in ihren Unterkünften, Schlafquartieren und entlegenen Berghütten die Zeit. Fischer spinnen Geschichten beim Netzeflicken und beim Warten auf die Ausfahrt. Die Angehörigen nichtbäuerlicher Wander-, bes. der Dienstleistungsberufe wie Schuster, Kurzwarenhändler, Kesselflicker, Schreiner, Tischler, Töpfer, Kürschner, Besenmacher, Weber, aber auch Bettler, Wanderprediger und entlassene Soldaten erzählen nicht nur untereinander, sondern sind auch den seßhaften Dorfbewohnern willkommen, da sie neue Geschichten mitbringen. Unfreiwillige Erzählgemeinschaften sind nicht nur für die Weiterverbreitung der Überlieferung wichtig, sondern dienen auch der Einübung in die Erzählkunst; die Rückkehr ins normale Leben kann mit einem Neuanfang, einer Entwicklung zum E. verbunden sein. Im Dorfleben unterliegt das Erzählen strengen Beschränkungen. In der bäuerlichen Gesellschaft dürfen Geschichten nur erzählt werden, wenn sie der Arbeit för-
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derlich sind oder sie wenigstens nicht behindern. Während der arbeitsreichen Zeit — im Sommer oder tagsüber — sind in ganz Europa Erzählungen verpönt. Wenn man sie dennoch auffordert, haben selbst routinierte Könner Schwierigkeiten, das Gedächtnis läßt sie im Stich; die Geschichten kehren erst wieder, wenn ein vertrauter Arbeitsrhythmus die E. stimuliert, ζ. B. Maisschälen oder Sortieren von Tabakblättern zur Winterszeit. Erzählen zur Unzeit kann nach dem Glauben mancher Völker sogar schädliche Auswirkungen haben (Röhrich 1974, 163 sq.) - so bei den Eskimos einen längeren Winter als gewöhnlich (Rooth 1976, 17); Indianer glauben, daß der Schuldige durch den Biß einer Schlange bestraft werde (Dorsey 1888, 78), und Zulus, daß ihm Hörner wüchsen (Du Toit 1976, 50sq.). Zur richtigen Zeit aber, im Herbst und Winter, vor Weihnachten oder zu Neujahr, gibt man sich gern dem Geschichtenerzählen hin, das sich nach Vorstellungen der Esten, Letten, Wotjaken, Weißrussen und Finnen auf das gesunde Wachstum des Viehs auswirkt (Viidalepp 1969, 457sq.). Bewohner Alaskas erwarten die Verkürzung des Winters von E.n. Zu den zeitlichen Einschränkungen kommt, daß Erzählen im Dorf mit verschiedenen Arten der Zerstreuung wie Gesellschaftsspielen, Tanzen, Singen, Rätselraten und — zur erlaubten Zeit — Mummenschanz konkurrieren muß. Wegen zahlreicher Ablenkungen ist häufig nicht genug Geduld vorhanden, einer überlangen Erzählung zu folgen. Leute kommen und gehen, Kinder platzen herein, das Interesse der Zuhörer ist geteilt, und oft wird der E. zugunsten eines allg. Geplauders über Belanglosigkeiten und Alltagsklatsch unterbrochen. Bei solchen Gelegenheiten kürzen E. bewußt ihre Märchen ab und greifen zu weniger langen, humorvollen Erzählungen oder Schreckgeschichten. Als natürlicher Rahmen des unterhaltenden Geschichtenerzählens werden übereinstimmend Dämmerung, Zwielicht, die Abendstunden, die Nacht und der dunkle Raum bezeichnet, in dem am besten nur die glimmende Asche des Kamins die Gesichtsumrisse des E.s beleuchtet. Während er spricht und gelegentlich das Feuer schürt, sind die anderen mit einer Arbeit beschäftigt, zu der
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Erzählen.ι, Erzähler
kein Licht benötigt wird, oder lehnen sich einfach zurück und entspannen sich. Sei es zu Hause, in der Küche, im Stall, in der Unterkunft der Dienstboten, auf einer Bank, im Schuppen, in der Hütte des Hirten oder Holzfällers, in einer Kaserne, in einem Versammlungsraum, bei einer Zusammenkunft im Freien oder in der Spinnstube — Licht soll dabei nicht angemacht werden (Rooth 1967, 17; cf. auch Viidalepp 1969, 452sq.; Voigt 1974, 62sq.). Ausgehend von der Annahme, daß für die Zuhörer gleichzeitig visuelle und auditive Eindrücke wichtig seien, meint V. E. Gusev (Voigt 1974, 1 9 - 2 3 ) , daß der Erzähler bei Dunkelheit die Modulation des Tonfalls und den emotionalen Gehalt der Wörter maximal ausschöpfen und andere Charakteristika des Vortrags zurücktreten lassen müsse. Nichtsdestoweniger gibt es bühnenmäßig agierende E. und Gruppen, die die Rollen der Personen unter sich aufteilen (Tillhagen 1948; Sändor 1964, 5 2 3 - 5 5 6 ; Crowley 1966, 27sq., 140sq.; Cammann 1961, 15). Aber Dramatik in Tonfall, Stimmlage, Rhythmus und stimmlicher Imitation sind offenbar wichtiger als die Körpersprache (Koväcs 1967, 169-243; ead. 1969, 1 8 3 242; ead. 1980, 7 5 - 1 2 4 ; Pentikäinen 1974, 132—174). Von den ersten Qu.η an findet sich gleichbleibend die Bemerkung, daß die Erzählung im Stillen wirke und ihre elementare, fast magische Macht über die Sinne am besten entfalte, wenn die Hörer sich nach geistigen und körperlichen Anstrengungen in einem Zustand der Mattigkeit befinden. Das Erzählen hat seine eigenen, zwischen E. und Publikum ausgemachten Spielregeln. Der Anfang einer Geschichte wird durch eine —» Eingangsformel markiert, die deutlich signalisiert, daß die Zuhörer in eine andere Welt, die Welt der Erzählung, entführt werden sollen (Degh 1981, 72). In bestimmten Regionen veranlassen die E. das Publikum zu einem Zeichen des Einvernehmens. So muß der Ausruf ,cric' mit ,crac' beantwortet werden (Frankreich, Haiti, Belize), ,Bunday' wieder mit ,Bunday' (Bahamas), und auf ,Suppe' muß .Knochen' folgen (Ungarn). Sobald die Ansprechbarkeit nachläßt und die meisten Zuhörer einschlummern, schweigt der E.; am nächsten Tag, nach dem Essen, knüpft er an demselben Punkt wieder an.
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Ein guter E. ist bei seinem Hörerkreis sehr geschätzt; man bittet ihn, bestimmte Stücke vorzutragen; aus Dankbarkeit für seine Unterhaltung nehmen ihm die anderen seinen Anteil an der Gruppenarbeit ab, damit er sich besser konzentrieren kann; er bekommt kleine Geschenke wie Tabak, Lebensmittel, oder es wird ihm ein Getränk spendiert. Andererseits wird der E. bestraft, wenn er den Wünschen der Anwesenden nicht Folge leistet. So wird er etwa in die kalte Nacht ausgesperrt, bis er nachgibt. Neben einem Meister-Ε. bleibt kaum Raum für andere. Bedeutende Künstler dulden keine Konkurrenz. Sie treten vor einem festen Kreis von Anhängern, an einem bestimmten Ort und zu bestimmten Gelegenheiten auf. Es kann zwischen ebenbürtigen E.n zu Rivalitäten kommen. Meist hält aber das Mißtrauen, man könnte ihnen eine Erzählung ,stehlen' (Delargy 1945, 26), die Meister davon ab, mit anderen zusammenzukommen; gewöhnlich wissen sie voneinander nur vom Hörensagen. Im seltenen Fall eines Erzählwettstreits versuchen die Konkurrenten einander auszustechen und benutzen auch die diesem Zweck entsprechende Einleitungs- und Schlußformel, die besagt, daß man ,versucht, den anderen in die Geschichte zu stecken und ihn dort zu lassen' (Degh 1969, 8 2 - 9 7 ) . In ländlichen Gebieten der U S A sind Lügenwettbewerbe auf der ,Lügenbank' recht verbreitet (Biebuyck 1976), und in vielen industrialisierten Ländern werden heute bei Festen Erzählwettkämpfe durchgeführt, bei denen Preise zu gewinnen sind. Eine andere, vielleicht gebräuchlichere Form der Erzählkultur erlaubt es jedem, zu Wort zu kommen. Unter Umständen wird erwartet oder gefordert, daß jeder erzählt. So mußten etwa Rekruten nach Lichterlöschen auf Befehl ihres Vorgesetzten in der Reihenfolge ihrer Betten etwas vortragen, und wer dazu unfähig war, wurde bestraft; der Unglückliche mußte in den Ofen rufen: „ A c h Mutter, zu was für einem Riesenesel hast du mich erzogen, daß ich nicht einmal eine Geschichte erzählen kann!" Erzählen der Reihe nach war auch typisch für Gefängnisse, Krankenhäuser, Unterkünfte von Landarbeitern und, mit weniger Zwang, bei
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Erzählen, Erzähler
allen Dorftreffen, auf denen die wirklich anerkannten Meister fehlten (Degh 1969, 81 — 89; Farago 1969, 1 4 - 2 0 ; Haiding 1967, 292-302). Lit.: Campbell, J. F.: Popular Tales of the West Highlands 1 - 4 . Edinburgh 1 8 6 0 - 1 8 6 2 . - Pitre, G.: Fiabe, novelle e racconti popolari siciliani 1 - 4 . Palermo 1 8 7 4 - 7 5 , XVII. - Blade, J. F.: Contes populaires de la Gascogne 1 — 3. P. 1886. — Luzel, F. M.: Contes populaires de Basse-Bretagne 1. P. 1887. - Dorsey, J. O.: Abstracts of Ponka and Omaha Myths. In: J A F L 1 (1888) 7 4 - 9 0 . - Hartland, Ε. S.: The Science of Fairy Tales. L. 1891. — Jahn, U.: Volksmärchen aus Pommern und Rügen. Norden 1891. - Larminie, W.: West Irish Folk-Tales and Romances. L. 1893. — Bünker, R.: Schwänke, Sagen und Märchen in heanz. Mundart. Lpz. 1906. — Sharp, C.: English Folk-Song. Some Conclusions. L. 1907. - Bolte, J.: Zeugnisse zur Geschichte des Märchens (FFC 39). Hels. 1921. - Asadowskij, M.: Eine sibir. Märchenerzählerin (FFC 68). Hels. 1926. — Malinowski, B.: Myth in Primitive Psychology. N.Y. 1926. — Arhiva pentru sjiinta §i reforma sociala. Buk. 1932. — Benedict, R.: Zuni Mythology 1 - 2 . N.Y. 1935. - Schwietering, J.: Volksmärchen und Volksglaube. In: Euphorion N.F. 36, 1 (1935) 6 8 - 7 8 . - Viidalepp, R.: Von einem großen estn. E. und seinem Repertoire. In: Acta Ethnologica 3 (1937) 1 5 8 - 1 7 3 . - Bano, I.: Ket szem magyaro. In: Ethnographia 50 (1939) 1 5 9 - 1 6 1 . — Marot, K.: Idios en koinoi - gondolatok Fedics Mihäly meseiröl. In: Egyetemes Philologiai Közlöny (1940) 2 2 4 - 2 3 5 . - Bano, I.: Baranyai nepmesek. Bud. 1941. — Degh, L.: Pandur Peter mesei 1 - 2 . Bud. 1942. - Honti, J.: Rez. von Degh, L.: Pandur Peter mesei. In: Ethnographia 53 (1942) 3 2 8 - 3 4 0 . - Delargy, J. H.: The Gaelic Story-Teller. L. 1945. - Cicerov, V. I.: Tradicija i avtorskoe nacalo ν fol'klore. In: SovE (1946) 2 9 - 4 0 . - Marot, K.: Mi a nepkölteszet? In: Ethnographia 58 (1947) 1 6 2 173. - Tillhagen, C.-H.: Taikon erzählt. Zürich 1948. - von Sydow, 1 1 - 4 3 . - Bascom, W. R.: Verbal Art. In: J A F L 68 (1955) 2 4 5 - 2 5 2 . Dorson, R. M.: Negro Folktales in Michigan. Cambr., Mass. 1956. — Henssen, G.: Erzählformen in volkskundlicher Sicht. In: HessBllfVk. 48 (1957) 76—85. - Jech, J.: Lidovä vypravini ζ Kladska. Prag 1959. — Degh, L.: Az egyenisegvizsgälat perspektiväi. In: Ethnographia 71 (1960) 2 8 - 4 2 . - Dorson, R. M.: Oral Styles of American Folk Narrators. In: Style and Language, ed. Τ. A. Sebeok. Cambr., Mass. 1960, 2 7 - 5 1 . - Cammann, Α.: Westpreuß. Märchen. B. 1961. — Dobos, I.: Egy somogyi parasztcsaläd mesei. Bud. 1962. - Noy, D.: Jefet Schwili erzählt. B. 1963. - Ortutay, G.: A magyar nepmesekutatäs eredmenyei es feladatai. In: A Magyar Tudomänyos Akademia Nyelv- es Irodalomtudomänyi Osztälyänak Közlemenyei 20
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Linda Degh
Erzählforschung. E s ist nicht d a s Z i e l d i e s e s A r t . s , e i n e n hist. A b r i ß d e r v o l k s k u n d l i c h e n E. zu bieten u n d ihre verschiedenen m e t h o d i s c h e n Z u g ä n g e zu c h a r a k t e r i s i e r e n . D i e E n t w i c k l u n g d e r F o r s c h u n g ist in d e n e i n z e l n e n L ä n d e r - , a b e r a u c h in E p o c h e n - u n d Personenartikeln behandelt und findet überd i e s i m m e r w i e d e r in G e s a m t d a r s t e l l u n g e n B e a c h t u n g 1 ; d i e M e t h o d e n f r a g e ist in z a h l reiche Stichwörter der E M ausdifferenziert und w u r d e z u d e m in e i n e m 1 9 7 9 / 8 0 e r s c h i e n e n e n Ü b e r b l i c k s a r t i k e l d a r g e s t e l l t 2 . H i e r soll d e r T a t s a c h e R e c h n u n g g e t r a g e n w e r d e n , d a ß sich d e r B e g r i f f d e r E . nicht auf die ü b e r w i e g e n d hist, u n d v e r g l e i c h e n d e P e r s p e k t i v e u n d nicht auf d a s G e b i e t d e r F o l k l o r e e i n g r e n z e n l ä ß t , d a ß sich v i e l m e h r in e i n e r R e i h e v o n N a c h bardisziplinen der Volkskunde Fragestellungen und Positionen der E . herausgebildet h a b e n , d i e teilweise a u c h f ü r d i e E r f o r s c h u n g der Volksliteratur von unmittelbarer Bedeut u n g sind, d i e a b e r j e d e n f a l l s a u c h in d e r Folkloristik zur Kenntnis g e n o m m e n werden sollten. D i e l i t e r a t u r w i s s . E . ü b e r s c h n e i d e t sich mit d e r v o l k s k u n d l i c h e n nicht n u r d e s h a l b , weil f ü r e i n e n w e i t e n B e r e i c h d e r V o l k s e r z ä h l u n g m i t literar. E i n f l ü s s e n u n d Z w i -
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Erzählforschung
schenstufen zu rechnen ist 3 , sondern auch deshalb, weil sie vielfach von einfach strukturierten Formen ausgeht, die eher in den Bereich der mündl. Traditionen als der Lit. gehören. So ist die Lehre von den —*· Einfachen Formen eine wichtige Basistheorie der Lit.Wissenschaft, die allerdings in den Gattungen heute weniger anthropol.-ästhetische Grundmuster als hist, entwickelte und veränderbare literar.soziale Institutionen sieht. Im Umkreis des literaturwiss. —» Strukturalismus wird häufig die morphologische Analyse des Märchens (—> Morphologie des Erzählguts) durch V.Ja. —> Propp als Modell bemüht. Dabei wird allerdings das ,reduktionistische' Verfahren kritisiert, das sich auf die Organisation der Abfolge der Motive, also weithin auf die stoffliche Seite konzentriert, die ästhetischen Werte' dagegen eher vernachlässigt 4 . Diese kommen in der Formbetrachtung M. —> Lüthis deutlicher zur Geltung, die ihrerseits — weit über den Bereich des Märchens hinaus — modellbildend in der Lit.Wissenschaft gewirkt hat 5 . Das bes. Interesse, das sich in jüngster Zeit in der Lit.wissenschaft an erzähltheoretischen Forschungen herausgebildet hat 6 , dürfte zusammenhängen mit der Krise des Erzählens in der Lit.: Die finale, eine Geschichte konsequent von einem Anfang zu einem plausiblen Ende entwickelnde Erzählweise ist fragwürdig geworden; eine Reihe moderner Autoren verwendet diese konventionelle Erzählform höchstens noch als Teilstück einer umfassenden Montage, in der das einlinige Erzählen von Vorgängen zurücktritt hinter den sich durchkreuzenden Linien differenter Perspektiven und Reflexionen. Diese Auflösung traditionellen Erzählens hat dazu beigetragen, daß intensiver nachgefragt wurde, was Erzählen und Erzählung heißt. Dabei wurden einerseits elementare Konzepte neu zur Geltung gebracht wie Aristoteles' Definition des Mythos als eines Ganzen, das „Anfang, Mitte und E n d e " hat, oder das von Lessing herausgearbeitete .Prinzip der Sukzession' 7 . Andererseits wurden, in kritischer Auseinandersetzung mit diesen allgemeineren Konzepten, Instrumente zur Feinanalyse der Erzählung entwickelt, indem beispielsweise die verschiedenen Möglichkeiten zeitlicher Raffung und Verknüpfung 8 oder die des
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Standpunkts und der Perspektive (was gibt der Erzähler zu wissen vor?) 9 systematisiert wurden. Diese Ausdifferenzierung übersteigt in vieler Hinsicht den Bereich der schlichter organisierten Volkserzählung; gleichwohl könnte sie der volkskundlichen E. neue Impulse vermitteln und in ihr neben den vorherrschenden Fragen der Geschichte und Organisation des Stoffes solchen der poetischen Gestaltung stärkeres Gewicht geben. Eine gewisse Annäherung zwischen folkloristischer und literaturwiss. E. scheint sich aus der rezeptionsästhetischen Wendung letzterer zu ergeben. Als „Analyseobjekt" wird „nicht der Text, sondern die Kommunikation über Texte" angesehen 1 0 . Dies erinnert an die wachsende Bedeutung des —> Kontexts in der Erforschung der Volkserzählung 11 . Gleichzeitig werden aber an diesem Beispiel die unterschiedlichen Voraussetzungen deutlich: Volkserzählung ist jeweils die Realisierung einer Variante, so daß den je unterschiedlichen Bedingungen der Realisation bes. Bedeutung zukommt 1 2 . Eine literar. Erzählung läßt sich zwar, soweit sie einen überlieferten Stoff behandelt, ebenfalls als Variation einer schon vorhandenen Geschichte verstehen 1 3 , aber der Text ist schriftl. fixiert und in dieser Form prinzipiell für beliebig viele kommunikative Prozesse verfügbar — die im Rezeptionsprozeß vorgenommene,Variation' schlägt letztlich nicht auf den Text durch. Dementsprechend wird der Leserbezug im allg. schnell wieder zurückgebogen durch die Konstruktion des impliziten Lesers 14 , durch die Annahme, „daß die Bedingungen und Folgen der Kommunikation von Texten über Eigenschaften von Texten formuliert werden können" 1 5 . In der G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t spielen Fragen der E. seit langem eine Rolle, werden allerdings erst in jüngster Zeit unter diesem Namen behandelt. Die wesentliche Problematik ist im Doppelsinn des Wortes Geschichte enthalten, das sowohl fabula wie historia bedeutet 1 6 . Früher wurden die beiden Bedeutungen in einem simplen Oppositionsverhältnis gesehen; Aufgabe des Historikers war es dementsprechend, die Überlieferung kritisch von allen fiktionalen Elementen zu reinigen, um so zum wirklichkeitsgetreuen geschichtlichen Einblick zu kommen. Inzwischen
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Erzählforschung
wird das Verhältnis dialektischer und komplexer verstanden. Man geht von der Voraussetzung aus, daß jede sprachliche Beschreibung bereits interpretierende Formung ist, daß also notwendigerweise die Grenzen zwischen objektiv verbürgter und subjektiv erfundener Geschichte fließend sind. In dieser Perspektive werden fiktionale Elemente oder die Anlehnung an literar. Erzählmuster dann auch nicht mehr nur negativ als Beschädigung oder Störung objektiver Wahrheit betrachtet, sondern auch als mögliches Mittel zur Schaffung plausibler hist. Traditionen 1 7 . Dieser Wendung entspricht die wachsende Bedeutung, die der mündl. tradierten Erinnerung (—» Oral History, —» Orale Tradition) zuerkannt wird 18 . Die vorsichtige Neubestimmung des Bezugs von ,Ereignis und Erzählung' berührt sich mit älteren t h e ο 1. Bemühungen. In einer gewissen Abhängigkeit von der volkskundlichen Erzählforschung 19 entwarfen Protestant. Theologen bald nach der Jh.wende eine bibl.exegetische ,Formgeschichte' 20 . Sie fragten nach der Funktion und dem Kontext der in die bibl. Überlieferung eingegangenen Erzählungen — nicht um Kommunikationsstile zu rekonstruieren, sondern um den Stellenwert einzelner Geschichten richtig einschätzen zu können. Nur wenn ihr ,Sitz im Leben' (H. —» Gunkel) erkannt werden konnte, waren auch Aussagen über ihren Wahrheitsgehalt, ihren Sinn und ihre Intention möglich 21 . In den letzten Jahren haben Wissenschaftler beider Konfessionen diesen Ansatz weiterverfolgt 2 2 und zu einer differenzierten ,narrativen Theologie' 2 3 ausgebaut. Auch in der T e x t l i n g u i s t i k ist eine Annäherung an die E. zu verzeichnen. Der linguistische Untersuchungsgegenstand wird nicht mehr auf den Satz oder kleinere Einheiten beschränkt, sondern in längeren Texten gesucht. Dies impliziert, daß solche Texte ihrerseits klassifizierbare Einheiten bilden — gewissermaßen Gattungen, die allerdings mit den literar. und volksliterar. Gattungen nicht identisch sein müssen. Die Schritte zur Verwirklichung dieser Einheiten, die Vorgehensweise des Sprechers wird nachgezeichnet; im Blick auf die Erzählung werden also Erzählstrategien festgestellt 24 . Dazu gehört beispielsweise die Anwendung bestimmter Signale für
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die Ankündigung einer Erzählung, die explizit sein können („Mensch, da fällt mir eine Geschichte ein . . ."), die aber oft auch in die Anfangssätze der Geschichte eingewoben werden („Das ist wie mit dem alten Huber, der hat auch einmal . . ."). Weiter gehören Methoden dazu, mit denen der Sprecher sein ,Rederecht' und damit seine Erzählchance aufrechterhält, aber auch sprachliche Mittel, mit denen er zu erkennen gibt, daß die Erzählung zu Ende ist 25 . Schon diese wenigen Andeutungen machen deutlich, daß derartige Unters.en nur zu leisten sind unter Einbezug der Pragmatik, daß die Sprechhandlung .Erzählen' also nicht aus dem jeweiligen Kommunikationsbezug herauszulösen ist 26 . Konsequenterweise wird dieser Typus der E. denn auch in enger Verbindung mit der K o m m u n i k a t i o n s s o z i o l o g i e gesehen. In einer kleinen Zahl von Fallanalysen und vergleichenden empirischen Unters.en wurde der Versuch gemacht, Regularitäten des Ablaufs und typische Bestandteile von Erzählungen herauszufinden. Exemplarische Bedeutung hat die Analyse von W. Labov, der in einer Art Erzählexperiment der Frage nachging, wie sich persönliche Erfahrungen in ,narrative Syntax' umsetzen, und der zu einer Reihe (und in der Regel: Reihenfolge) kommunikativer Funktionen kam, die eine Erzählung konstituieren: Orientierung (Exposition), Komplikation der Handlung, Lösung, Bewertung und Coda 2 7 . Solche Ansätze zu einer formalen und generalisierenden Betrachtung bieten sich als Kristallisationspunkt für die stofflich diffuse Welt —» alltäglichen Erzählens an, sind aber weithin auch für die traditionellen Erzählformen gültig und leisten so einen allg. Beitrag zur E. —» Erzählen, Erzähler, —» Experimentelle Erzählforschung, —» Folklore, Folkloristik, —> Funktion, —» Gattungsprobleme, —> Geographisch-historische Methode, —> Performanz, —» Philologische Methode, —» Struktur, —> Strukturalismus, —> Volksdichtung, —» Volkserzählung 1 cf. ζ. B. Lüthi, Märchen ( 7 1979) 6 2 - 8 2 ; Bausinger ( 2 1980) 1 1 - 6 9 ; Schräder, M.: Epische Kurzformen. Theorie und Didaktik. Königstein 1980, 2 0 - 2 7 . - 2 Honko, L.: Methods in Folk-Narrative Research. In: Ethnologia Europaea 11,1 (1979/80)
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Erzählgelegenheiten — Erzähltypen
6—27 (Unterscheidung von „evergreen historicalgeographical method", Genreanalyse, Strukturanalyse, performanzorientierter Forschung und Traditionsökologie). - 3 Zur Problematik der Bestimmung von Folklore als rein mündl. Erzählung cf. Boskovic-Stulli, M. (ed.): Folklore and Oral Communication. Zagreb 1981. - 4 c f . Haubrichs, W.: Einl.: Für ein Zwei-Phasen-Modell der Erzählanalyse. In: id.: Erzählforschung 1. Göttingen 1976, 7—28, hier 19. - 5 cf. Bausinger, H.: M a x L ü t h i z u m 70. Geburtstag. In: Fabula 20 (1979) 1 - 7 , hier 5. 6 Lämmert, E. (ed.): Erzählforschung. Ein Symposion. Stuttgart 1982; Kloepfer, R./Janetzke-Dillner, G. (edd.): Erzählung und Erzählforschung. Stg./B./Köln/Mainz 1981; Stanzel, F. K.: Theorie des Erzählens. Göttingen 2 1982; Paukstadt, B.: Paradigmen der Erzähltheorie. Fbg 1980. — 7 Aristoteles, Poetik, Kap. 7; Lämmert, E.: Bauformen des Erzählens. Stg. (1955) 7 1980, 19. - 8 ibid., 43—94, pass. - 9 c f . z.B. Todorov, T.: Les Categories du recit litteraire. In: Communications 8 (1966) 1 2 5 - 1 5 1 . - " S c h m i d t , S. J.: Lit.wissenschaft zwischen Linguistik und Sozialpsychologie: Einige Konzepte und Probleme einer theoretischempirischen Lit.wissenschaft. In: Zs. für germanistische Linguistik 2 (1974) 4 9 - 8 0 , hier 63. 11 cf. Bausinger, H.: On Contexts. In: Burlakoff, Ν./ Lindahl, C. (edd.): Folklore on Two Continents. Festschr. Linda Degh. Bloom. 1980, 2 7 3 - 2 7 9 ; Lixfeld, H.: Zur Kontextforschung in der Folklorewiss. der Vereinigten Staaten von Amerika. In: Jb. für Volksliedforschung 26 (1981) 1 1 - 1 4 ; BenArnos, D.: Zu einer Definition der Folklore im Kontext, ibid., 1 5 - 3 0 (übers, aus: J A F L 84 [1971] 3—15); Lüthi, M.: Lob der Autonomie und der Heteronomie. In: Jb. für Volksliedforschung 27/28 (1982/83) 1 7 - 2 7 . - 12 R. A. Georges hat neuerdings die These vertreten, daß es im mündl. Erzählen keine .Abweichungen' gebe, da ja kein festes und verbindliches Muster zugrunde liege; konsequenterweise rückt er vom Begriff ,story-telling' (im Sinne der Weitergabe identifizierbarer Wesenheiten) ab und benützt statt dessen .narrating': cf. Do Narrators Really Digress? A Reconsideration of „Audience Asides" in Narrating. In: W F 40 (1981) 2 4 5 - 2 5 2 . - 13 Haubrichs (wie not. 4) weist am Beispiel von Thomas Manns Gregorius-Roman „Der Erwählte" darauf hin, „daß es hier nicht nur um das Erzählen einer Geschichte geht, sondern um die Kommentierung, Interpretation und Ästhetisierung einer bereits erzählten Geschichte". - 14 cf. Iser, W.: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. Mü. 1972. - 15 Wienold, G.: Semiotik der Lit. Ffm. 1972, 71. - 16 cf. Brückner, W.: Historien und Historie. Erzähllit. des 16. und 17. Jh.s als Forschungsaufgabe. In: Brückner, 1 3 - 1 2 3 . - 17 cf. Koselleck, R./Stempel, W.-D. (edd.): Geschichte. Ereignis und Erzählung. Mü. 1973; Glessen, Β./ Schmid, M. (edd.): Theorie, Handeln und Geschichte. Hbg 1975; Schiffeis, W.: Geschichte(n)
erzählen. Über Geschichte, Funktionen und Formen hist. Erzählens. Kronberg 1975. — 18 cf. u.a. Dorson, R. M. (ed.): Folklore and Traditional History. Den Haag/P. 1973; Brednich, R. W./ Lixfeld, H. (edd.): Lebenslauf und Lebenszusammenhang. Autobiogr. Materialien in der volkskundlichen Forschung. Fbg 1982. - 19 cf. Brückner, W.: „Narrativistik". Versuch einer Kenntnisnahme theol. Erzählforschung. In: Fabula 20 (1979) 18—33 (Nachweis einer Orientierung theol. E. an A. Olrik). — 20 cf. Dibelius, M.: Die Formgeschichte des Evangeliums. Tübingen 6 1971. — 21 cf. Bausinger ( 2 1980) 66sq. - 2 2 cf. u.a. Koch, K.: Was ist Formgeschichte? Methoden der Bibelexegese. Neukirchen 3 1974; Lohfink, G.: Jetzt verstehe ich die Bibel. Ein Sachbuch zur Formkritik. Stg. 8 1977. - 2 3 cf. Weinrich, H.: Narrative Theologie. In: Concilium. Internat. Zs. für Theologie 9 (1973) 3 2 9 - 3 3 4 ; Brückner (wie not. 19). - 24 cf. Baum, R.: Narrativik und Sprachwiss. Zum Problem der Fundierung sprach- und literaturwiss. Forschung. In: Haubrichs, W. (ed.): Erzählforschung 2. Göttingen 1977, 1 6 - 4 5 ; Kanzog, K.: Erzählstrategie. Eine Einführung in die Normeinübung des Erzählens. Heidelberg 1976. — 25 cf. u.a. Dijk, Τ. A. van/Ihwe, J./Petöfi, J. S./Rieser, H.: Prolegomena zu einer Theorie des „Narrativen". In: Ihwe, J. (ed.): Lit.wiss. und Linguistik 2. Ffm. 1973, 5 1 - 7 7 ; Gülich, E.: Ansätze zu einer kommunikationsorientierten Erzähltextanalyse (am Beispiel mündl. und schriftl. Erzähltexte). In: Haubrichs (wie not. 4) 2 2 4 - 2 5 6 ; Klein, W. (ed.): Methoden der Textanalyse. Heidelberg 1977; Dittmar, N.: Zum Forschungsstand der Erzählanalyse. In: Linguistische Ber.e 58 (1978) 7 7 - 8 2 ; Ehlich, K. (ed.): Erzählen im Alltag. Ffm. 1980. - 2 6 Dittmar (wie not. 25) 78. - 2 7 L a b o v , W.: The Transformation of Experience in Narrative Syntax. In: id.: Language in the Inner City. Phil. 1972, 3 5 4 - 3 9 6 .
Tübingen
Hermann Bausinger
Erzählgelegenheiten, Erzählgemeinschaften —> Biologie des Erzählguts, —> Erzählen, Erzähler Erzählrahmen —» Rahmenerzählung
Erzähltypen. Als E. gelten Einzelmotive oder Motivverbindungen aus dem Bereich der Volkserzählung, die eine gewisse Kontinuität innerhalb größerer geogr. Räume aufweisen. Sie wurden im Typenkatalog AaTh nach einem Numerierungssystem angeordnet (cf. A. —» Aarne, —» Anordnungsprinzipien, —> Motif-Index, -> Motiv, S. -> Thompson, -> Ty-
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Erzähltypen
penkataloge, —» Typus). Für einen großen Teil dieser Typen ist in der EM ein monogr. Artikel vorgesehen, und zwar unter einem Kurztitel, der sich an den engl. Wortlaut bei AaTh anlehnt oder internat. Gepflogenheiten entspricht. Um dem Benutzer das Auffinden dieser Stichwörter zu erleichtern, folgt hier eine Aufstellung der bereits behandelten und vorgesehenen AaTh-Typen. Ein endgültiges Verzeichnis wird der Registerband enthalten. In manchen Fällen sind mehrere Typen unter dasselbe Stichwort gestellt worden; die mitbehandelten Typen werden dann in Klammern angegeben. AaTh-Typen, die in übergreifenden Artikeln exemplarisch herangezogen werden, sind als „behandelt unter" gekennzeichnet. 1 2 3 4 5 6 7 8, 8 A 9 9Α 15 20—20E* 21 30—33 34—34B* 34 Α 36 37 38 41 43 44
Fischdiebstahl Schwanzfischer behandelt unter: Scheinverletzungen Kranker trägt den Gesunden (72) Biß in die Wurzel Überreden zum Sprechen, Singen etc. (122C, 227*) Namen: Drei N. sagen Schönheitskur (152) Partner: Der unreelle P. Tausch von Pseudotätigkeiten (1530) Gevatter stehen Tiere fressen einander (231*) Eingeweide: Die eigenen E. fressen Rettung aus dem Brunnen (156C*) Spiegelbild im Wasser (92,1141, 1335 —1336 A) Hund verliert das Fleisch Fuchs vergewaltigt die Bärin Fuchs als Kindermagd Einklemmen unholder Wesen (151, 1159, 1160) Wolf im Keller Hausbau der Tiere (81, 130 A—D*) Eid aufs Eisen
47 A 47 Β 47 D 47 Ε 50 50 A 51 52 55 56-56C 57 59 60 61 61A 61Β 62 63 64 65 66 A 68 Α—Β 68** 70 71 72 73 75 75* 76 77 78, 78 A 80 81 85 91 92
93 100
350 Fuchs (Bär) am Pferdeschwanz Wolf und Pferd Hund imitiert den Wolf (101*, 117*, 119C*) Esels Urkunde Löwe: Der kranke L. Löwenhöhle: Fußspuren vor der L. Löwenanteil Eselherzfabel Tiere bauen einen Weg Fuchs und Vogeljunge Rabe und Käse Fuchs und saure Trauben Fuchs und Kranich Fuchs und Hahn Fuchs als Beichtvater Katze, Hahn und Füchsin Friedensfabel Fuchs und Flöhe Schwanzlose Tiere (157***) Freier der Frau Füchsin Hallo, Haus! Kopf in der Kanne (1294) Kinder: Die schönsten K. (219F*, 247) Hasen und Frösche Frost und Hase Kranker trägt den Gesunden (4) Wache blenden Hilfe des Schwachen Wolf und Amme Wolf und Kranich Tiere: Die eitlen T. (132) Tiere aneinandergebunden (278) Igel im Dachsbau Hausbau der Tiere (43, 130 A—D*) Maus, Vogel und Bratwurst Affenherz als Heilmittel Spiegelbild im Wasser (34-34B*, 1141, 1335 —1336 A) Worte des Herrn sind ernstzunehmen Wolf: Der singende W. (163)
351 101 101* 102 103, 104 105 106 110 111A 112 113 A 113B 117* 118 119C* 120 121 122 Α—Β 122 C 122F 123 123B 124 125
126 130 130A-D* 132 150 151 152 153 154 155 156 156 C* 157
Erzähltypen
Hund: Der alte Η. Hund imitiert den Wolf (47 D, 117*, 119C*) Hund als Schuhmacher Krieg der Tiere (222) Listensack des Fuchses Unterhaltung der Tiere Katze mit der Schelle Wolf und Lamm Feldmaus und Stadtmaus Pan ist tot Scheinbüßende Tiere Hund imitiert den Wolf (47 D, 101*, 119C*) Pferd erschreckt den Löwen Hund imitiert den Wolf (47 D, 101*, 117*) Sonnenaufgang zuerst sehen Wolfsturm Wolf verliert seine Beute Überreden zum Sprechen, Singen etc. (6, 227*) behandelt unter: Dick und fett Wolf und Geißlein Wolf im Schafspelz Wolf im Schornstein Kinder begehren das Fleisch des Unholds (1149) Schaf verjagt den Wolf Tiere auf Wanderschaft (210) Hausbau der Tiere (43, 81) Tiere: Die eitlen T. (77) Lehren: Die drei L. des Vogels Einklemmen unholder Wesen (38, 1159, 1160) Schönheitskur (8, 8A) Starkmachen (1133) Fuchs und Glieder Undank ist der Welt Lohn Androklus und der Löwe Rettung aus dem Brunnen (30-33) Furcht: Tiere lernen F. vor den Menschen Schwanzlose Tiere (64)
158 159, 159 A 159B 160 160 A 161 162 163 168 170 173 175 177 178 A 179
200 200 Β 201 202 204 207, 207 Α - B 207 C 210 211 212 214 214Β 214* 217 219F* 220, 220 A 221 222 222 Β* 224 225, 225 A, 226 227
352 Tiere auf dem Schlitten Lösegeld der Tiere Feindschaft zwischen Tieren und Mensch (285 D) Dankbare Tiere, undankbarer Mensch Musikant in der Wolfsgrube (168) Augenwinken Herr sieht mehr als der Knecht Wolf: Der singende W. (100) Musikant in der Wolfsgrube (160 A) Tausch: Der vorteilhafte T. (1655) Lebenszeiten des Menschen (828) Teerpuppe Dieb und Tiger Hundes Unschuld Bär: Was der B. dem sich Totstellenden ins Ohr flüstert Privileg der Hunde Hunde: Warum H. einander beriechen Wolf: Der freie W. (Hund Böcke auf der Brücke Tiere auf Seereise (289) Aufstand der Arbeitstiere Glocke der Gerechtigkeit Tiere auf Wanderschaft (130) Esel: Die Last des E.s Ziege: Die boshafte Z. Esel will den Herrn liebkosen Esel in der Löwenhaut Esel und Pferd Katze und Kerze Kinder: Die schönsten K. (68**, 247) Parlament der Vögel behandelt unter: Königswahl der Tiere Krieg der Tiere (103, 104) Sperling und Maus (313 B) Vogelhochzeit Fliegen lernen Fuchs und Gänse
353
Erzähltypen
227* 228 231 231* 233 234 235 236 237 238 240 242 243 A 244 244 C* 247 248 250 250A 275, 275 A 276 277 277 A 278 278 A 282 A* 282 C* 285 285 D
288B* 289 291 293 295 298 298 A 12
Überreden zum Sprechen, Singen etc. (6, 122 C) Frosch: Der aufgeblasene F. (277 A) Kranich und Fische Tiere fressen einander (20-20E*) Foge/ und Netz Blindschleiche und Nachtigall Tiere borgen voneinander (244) Nestbau der Vögel Elster (Papagei) und Sau Taube und Frosch streiten Eiertausch der Vögel Frosch und Krähe Ehebruch verraten (1422) Tiere borgen voneinander (235) Rabe und seine Jungen Kinder: Die schönsten K. (68**, 219 F*) Hund und Sperling Wettschwimmen der Fische Flunder Wettlauf der Tiere (1072, 1074) Krebs und seine Jungen Frösche bitten um einen König Frosch: Der aufgeblasene F. (228) Tiere aneinandergebunden (78, 78 A) Frosch: Der starrköpfige F. Fliege und Floh tauschen Laus und Floh (2019*) Kind und Schlange Feindschaft zwischen Tieren und Mensch (159B) Eile mit Weile Tiere auf Seereise (204) Seilziehen der Tiere Magen und Glieder Strohhalm, Kohle und Bohne Streit zwischen Sonne und Wind Frostgott und Sohn
Enzyklopädie des Märchens IV
298 A*—B* 298 C* 300
300 A 301 302 302 Β
303 303 A 304 305 306 307 310 311, 312 312D 313 sqq. 314 314 A 315 316 317 318
321 322* 325 326 327 A 327 Β 327 C 327 F 328 329 330, 330 A - B 331 332 333 333 A 334 335
354 Gruß an den Wind Baum und Rohr behandelt unter: Drache, Drachenkampf, Drachentöter Drachenkampf auf der Brücke Prinzessinnen: Die drei geraubten P. Herz des Unholds im Ei Brüdermärchen: Das ägyptische B. (318, 516B, 590 A, 870 C*) Brüder: Die zwei B. Brüder suchen Schwestern Jäger: Der gelernte J. Drachenblut als Heilmittel Schuhe: Die zertanzten S. Prinzessin im Sarg Jungfrau im Turm Mädchenmörder Erbsensohn Magische Flucht Goldener Hirt und die drei Riesen Schwester: Die treulose S. Nixe im Teich Baum: Der himmelhohe B. (468, 804 A, 1960G) Brüdermärchen: Das ägyptische B. (302 B, 516B, 590A, 870C*) Augen der Blinden zurückgebracht behandelt unter: Magnetberg, -insel Zauberer und Schüler Fürchtenlernen Hänsel und Gretel Däumling und Menschenfresser Junge im Sack der Hexe Hexe und Fischerjunge Corvetto Versteckwette Schmied und Teufel Geist im Glas Gevatter Tod Rotkäppchen Caterinella Haushalt der Hexe Boten des Todes
355 360 361 363 365 366 400 400* 401 402 403 405 407 408 409 410 425 sqq. 426 428 430 431 432 433 Α—Β 434 437 440 441 449 450 451 460Α-B 461 465 468 470 470 A 470B 471 471Α 475 480 500 501
Erzähltypen
Handel mit dem Teufel (1697) Bärenhäuter behandelt unter: Vampir Lenore Mann vom Galgen Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau behandelt unter: Schwanjungfrau Prinzessin als Hirschkuh Maus als Braut Braut: Die schwarze und die weiße B. Jorinde und Joringel Blumenmädchen Orangen: Die drei O. Wolfsmädchen Schlafende Schönheit Amor und Psyche Mädchen und Bär Prinz als Wolf Asinarius Haus im Walde Prinz als Vogel König Lindwurm Spiegel: Der gestohlene S. Nadelprinz Froschkönig Hans mein Igel Sidi Numan Brüderchen und Schwesterchen Mädchen sucht seine Brüder Reise zu Gott (zum Glück) Haare: Drei H. vom Bart des Teufels Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt Baum: Der himmelhohe Β. (317, 804 A, 1960 G) Freunde in Leben und Tod Don Juan Land der Unsterblichkeit Brücke zur anderen Welt Mönch und Vöglein Höllenheizer Mädchen: Das gute und das schlechte M. Name des Unholds Spinnfrauen: Die drei S.
•502 503 505-508 507 C 510 Α—Β 511 511A 513 A 513B 513C 514 515 516 516B
516C 517 518 519 530 531 532 533 537 540 545 A 545 Β 550 551 552 553 554 555 559 560 561 562 563
356 Mann: Der wilde M. Gaben des kleinen Volkes Dankbarer Toter Giftmädchen Cinderella Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein Ochse: Der rote O. Sechse kommen durch die Welt Schiff zu Wasser und zu Lande Sohn des Jägers behandelt unter: Frau in Männerkleidung Hirtenknabe Johannes: Der treue J. Brüdermärchen: Das ägyptische B. (302 B, 318, 590 A, 870 C*) Amicus und Amelius Prophezeiung künftiger Hoheit (725) Streit um Zaubergegenstände behandelt unter: Heldenjungfrau Prinzessin auf dem Glasberg Ferdinand der treue und F. der ungetreue Pferd: Das hilfreiche P. Pferdekopf: Der sprechende P. Etana Hund im Meer Katzenschloß Kater: Der gestiefelte K. Vogel, Pferd und Königstochter Wasser des Lebens Tierschwäger Rabe als Helfer behandelt unter: Dankbare (hilfreiche) Tiere Fischer und seine Frau Mistkäfer Zauberring Alad(d)in Geist im blauen Licht Tischleindeckdich
357 564 565 566 567 569 570 570 A 571 571 Α—Β 571C 575 577 580 590 590 A
591 592 593 610 611 612 613 621 650 A 652 652 A 653 654
Erzähltypen
358
675 676
Junge: Der faule J. Ali Baba und die vierzig Räuber (954) Ehemann: Der faule E. (986) behandelt unter: Seelentier Relativität der Zeit Däumling Riesenspielzeug Prinzessin auf der Erbse Fisch: Vom F. geboren Mädchen ohne Hände Nonne: Die keusche N. Söhne: Die drei goldenen S. Wunderkind Schneewittchen Marienkind Schwester: Die schöne und die häßliche S. Crescentia Brigitte Halbhähnchen Totenvogel Prophezeiung künftiger Hoheit (517) Alten: Die drei A. Axt: Die goldene A. des Meermannes Glück und Unglück (842, 947, 947 A) Polykrates: Ring des P. behandelt unter: Orakel Schatz hinter dem Nagel (910 D) Heckpfennig Wünsche: Die drei W. Bäuerin als Specht Christus und Petrus im Nachtquartier (791) Wind: Der vergessene W. Christus und der Schmied Glückliche Armut Sünde und Gnade Zweig: Der grünende Z. Eremit: Der selbstgerechte E. Räuber Madej Erzsünder: Die zwei E. Zeuge aus der Hölle Jovinian
Provianttasche Wundermühle Fortunatus Vogelherz: Das wunderbare V. Ranzen, Hütlein und Hörnlein Hasenhirt Prinzessin und die magische Fischhaut Klebezauber Liebhaber bloßgestellt (1730) Puppe: Die beißende P. Flügel des Königssohnes Aufgaben des Königs Beliebt bei den Frauen Mutter: Die treulose M. Brüdermärchen: Das ägyptische Β. (302B, 318, 516B, 870C*) Topf: Der stehlende T. Tanz in der Dornhecke Fiddevav Früchte: Die heilenden F. Geschenke der Zwerge Schlangenblätter: Die drei S. Wanderer: Die beiden W. Lausfell erraten Starker Hans Prinz, dessen Wünsche in Erfüllung gingen Myrthe Brüder: Die vier kunstreichen B. Brüder: Die vier behenden D U.
655, 655 A 660 665
666* 667 670, 670A, 671 672 sqq. 673 12*
Brüder: Die scharfsinnigen B. Doktoren: Die drei D. Mann, der wie ein Vogel flog und wie ein Fisch schwamm Hero und Leander Pflegesohn des Waldgeistes Tiersprachenkundiger Mensch (673) Schlangenkrone, -stein Tiersprachenkundiger Mensch (670, 670 A, 671)
677 678 681 700 701 704 705 706 706 Β 707 708 709 710 711 712 713 715 720 725 726 729 735, 735 A, 735B*, 736 736 A 737 740** 745, 745 A 750 A—D 751 A—Β 752 A 752B 753 754 755 756 756 A 756B 756C 756 C* 757
359 758 759 759 A 759 C 760 761 762 763 765 766 767 768 769 770 774 sqq. 774A 774 C 775 777 778 778* 780 781 782 785 785 A 788 791 795 800 801 802 803 804 804 A 804 Β 805 808, 808 A 810 810 A
Erzähltypen
360
811
Teufel: Der dem Τ. Versprochene wird Priester Rätsel des Teufels Schatz in der Totenhaut Teufel als Tagelöhner Teufel als Advokat Prozeß um die gekochten Eier (920 A) Christus als Ehestifter Gläubiger: Der mythische G. Teufel zeigt dem Herrn die Untreue seiner Frau Noah Sündenregister auf der Kuhhaut Heiligkeit geht über Wasser Lebenszeiten des Menschen (173) Gottes Segen Pfarrer als Teufel Schatz des armen Bruders Säufer kuriert Hochmut bestraft Brot des Bettlers Sohn am Galgen Sünden: Die drei S. des Eremiten Strafen im Jenseits Bettler: Die beiden B. Glück und Unglück (735, 735 A, 735 B*, 736, 947, 947 A) Hemd des Glücklichen Alte: Der A. und der Tod Gott und Teufel auf Wanderschaft Rätselprinzessin Redekampf mit der Prinzessin Bock: Der goldene B. Prahlerei des Freiers Rendezvous verschlafen Bitten: Wer bittet, wird bekommen Prinzessin in der Erdhöhle Gänsemagd Brüdermärchen: Das ägyptische B. (302 B, 318, 516B, 590 A)
Eva: Die ungleichen Kinder E.s Engel und Eremit Priester: Der sündige P. Mehl der Witwe Grab: Das unruhige G. Reicher Mann als des Teufels Roß Mehrlingsgeburten Schatzfinder morden einander Kindsmörderin (781) Siebenschläfer Kruzifix gefüttert Christopherus Tränenkrüglein Nonne, die in die Welt ging behandelt unter: Petrusschwänke Köpfe vertauscht (1169) Hufeisenlegende Midas (782) Ewiger Jude Kerze: Geloben der großen K. (1553 A*) Kerzen für den Heiligen und den Teufel Singender Knochen Kindsmörderin (765) Midas (775) Lammherz Einbeiniges Geflügel Wiedergeburt des verbrannten Heiligen Christus und Petrus im Nachtquartier (752 A) Engel: Der bestrafte E. Schneider im Himmel Meister Pfriem Bauer im Himmel Salome fesselt den Teufel Petrus' Mutter Baum: Der himmelhohe B. (317, 468, 1960G) Kirche in der Hölle Joseph und Maria drohen, den Himmel zu verlassen Teufel und Engel kämpfen um die Seele Fallstricke des Bösen Buße des Teufels
812 815 820 821 821Β 822 822* 824 825 826 827 828 830, 830 A—C 831 834, 834 A 835*, 835 A* 836 837 838 839 840 841 842
844 845 846 850, 851, 851A 852, 853, 853 A 854 859, 8 5 9 A - D 861 862 870 870 A 870 C*
361 873 874 874* 875 879 879A 880, 881 881* 882 882 Β* 883 A 883 Β 884, 884 A 885 885 A 886 887 888 889 890 891 891A 892 893 894 898 899 900 901 901B* 902* 905 A* 910 910C 910D 910E 910F 910G
Erzähltypen
König entdeckt seinen unbekannten Sohn König: Der stolze K. Ariadne-Faden Bauerntochter: Die kluge B. Basilikummädchen Fischer als Ehemann der Prinzessin behandelt unter: Frau in Männerkleidung Frau als Doktor Cymbeline (892) Klapperhannes Mädchen: Das unschuldig verleumdete M. Verführer: Der bestrafte V. behandelt unter: Frau in Männerkleidung Trauung: Die scherzhafte T. Scheintote Prinzessin Braut: Die geschwätzige B. Griseldis Frau: Die treue F. Diener: Der treue D. Fleischpfand Mann, der seine Frau verließ Kristallpalast Cymbeline (882) Freundesprobe Geduldstein Sonnentochter Alkestis König Drosselbart Zähmung der Widerspenstigen behandelt unter: Essen: Wie das E., so die Arbeit Frau: Die faule F. wird kuriert (1370) Vertauschung schlafender Ehepaare (1367) Ratschläge: Die klugen R. Barbier des Königs Schatz hinter dem Nagel (740**) Schatz im Weinberg Einigkeit macht stark Verstand für einen Pfennig
910K 915 920 920 A 920 Β 920 C 921 921A 921B 921 C 921D 921B* 921C* 921F* 922 922 A 922 Β 923 924 Α—Β 925 925* 926 927 927 A 927 A* 928 930 sqq. 930A 931 933 934-934E 935 935** 936* 938 938 Α—Β 939 A 940 945
362 Gang zum Eisenhammer (Kalkofen) Cum grano salis Sohn des Königs und Sohn des Schmieds Prozeß um die gekochten Eier (821B) Vogelwahl der Königssöhne Schuß auf den toten König König und kluger Knabe Focus: Teilung des Brotes und des Geldes Freund: Der beste F., der schlimmste Feind behandelt unter: Bart Bett: Im B. sterben Berufe: Die drei seltsamen B. der Söhne behandelt unter: Astrologe Gänserupfen Kaiser und Abt Achikar König auf der Münze Lieb wie das Salz Zeichendisput Neuigkeiten für den König Schönstes im Garten behandelt unter: Salomonische Urteile Halslöserätsel Wunsch: Der letzte W. Alten-Sattel Bäume für die nächste Generation Uriasbrief Frau: Die vorbestimmte F. ödipus Gregorius Todesprophezeiungen Heimkehr des verlorenen Sohnes Seilmacher: Der arme S. Hasan von Basra Placidos Besser in der Jugend Mordeltern Mädchen: Das hochmütige M. Glück und Verstand
363 947, 947 A 950 951 Α—Β 952 953 954 955 956Β 956 D 957 958 960, 960 Β 960 A 961, 961Β 967 970 973 974 976 980 A 980, 9 8 0 B - D 981 982 983 985 986 987 990 992 992 A 1000 1001 1002 1004 1006 1007, 1008 1009 1010 1010-1017
Erzähltypen
Glück und Unglück (735, 735 A, 735 Β*, 736, 842) Rhampsinit König und Räuber König und Soldat Räuber und Söhne Ali Baba und die vierzig Räuber (676) Räuberbräutigam Mädchen: Das tapfere M. und die Räuber Räuber unter dem Bett Bärenführer (1161) Hilferuf des Schäfers Sonne bringt es an den Tag Kraniche des Ibykus Geld im Stock Spinngewebe vor der Höhle behandelt unter: Grabpflanzen Mann als Sturmopfer Heimkehr des Gatten Handlung: Die vornehmste H. Großvater und Enkel Sohn: Der undankbare S. Altentötung Erbschaft: Die vorgetäuschte E. Essen: Das gleiche E. Bruder eher als Gatten oder Sohn gerettet Ehemann: Der faule E. (677) Augenverblendung Frau: Die tote F. kehrt zurück Herzmäre Buße der Ehebrecherin Zornwette (1002) Holzhacken Zornwette (1000) Schwänze in der Erde Augenwerfen behandelt unter: Wörtlich nehmen Tür bewacht Hausreparatur behandelt unter: Wörtlich nehmen
1029
364
Frau als unbekanntes Tier (1091, 1092) 1030 Ernteteilung 1036 Teilung der Schweine 1037 Teufel schert die Sau 1045, 1046 Seil: Das große S. (1053 A) 1048 Holzkauf 1049 Wettstreit mit dem Unhold (1060-1063 B, 1070, 1071, 1083-1090, 1095-1096) 1 0 5 0 - 1052 Baum biegen, fällen, tragen 1053 Tausend mit einem Schuß 1053 A Seil: Das große S. (1045, 1046) 1 0 6 0 - 1063 Β Wettstreit mit dem Unhold (1049, 1070, 1071, 1083-1090,1095-1096) 1066 Hängen spielen (1343) 1070, 1071 Wettstreit mit dem Unhold (1049, 1060-1063 B, 1083-1090,1095-1096) 1072 Wettlauf der Tiere (275, 275 A, 1074) 1073 Wettklettern, -schwimmen (1611, 1612) 1074 Wettlauf der Tiere (275, 275A, 1072) 1082 Pferd wird getragen (1201) 1082 A Soldat und Tod 1083- 1090 Wettstreit mit dem Unhold (1049, 1060-1063 B, 1070, 1071, 1095-1096) 1091, 1092 Frau als unbekanntes Tier (1029) 1095- 1096 Wettstreit mit dem Unhold (1049, 1060-1063 B, 1070, 1071, 1083-1090) 1115 Mordversuch mit dem Beil 1116 Verbrennen 1119- 1121 Teufel tötet Frau und Kinder 1130 Grabhügel 1131 Schlund des Unholds verbrannt 1133 Starkmachen (153) 1135- 1137 Polyphem 1141 Spiegelbild im Wasser (34-34B*, 92, 1335 —1336A) 1148, 1148 Α—Β behandelt unter: Donner
365 1149 1157, 1158 1159, 1160 1161 1162 1163 1164, 1164 Α—Β 1165 1166* 1169 1170 1172-1183 1174 1184 1185 1186 1187 1188 1191 1199 1199Α 1200 1201 1202-1203 A 1210 1215 1218 1225 1225 A 1227 1228 1230* 1231 1240 1241 1242 1242 A 1244 1245 1246 1248 1250 1255
Erzähltypen
Kinder begehren das Fleisch des Unholds (125) behandelt unter: Waffen Einklemmen unholder Wesen (38, 151) Bärenführer (957) Teufel und eiserner Mann Schmied lernt vom Teufel, Sand zu verwenden Belfagor Troll und Taufe Soldat und Teufel Köpfe vertauscht (774 A) Weib: Böses W. als schlechte Ware behandelt unter: Aufgaben, unlösbare Seil aus Sand Laub: Letztes L. Eichelsaat Advokat und Teufel Meleager Komm morgen! Brückenopfer Gebet ohne Ende Qual des Brotes (Flachses) Salzsaat Pferd wird getragen (1082) Sichel: Die gefährliche S. Kuh auf dem Dach Asinus vulgi Eierbrüter (1677) Mann ohne Kopf Kuhfladen auf dem Pfahl Eichhörnchenfang behandelt unter: Waffen behandelt unter: Wallfahrt Sieben Schwaben Ast absägen Baum tränken Holzladung Entlastung des Esels Balkenstrecken Sonnenlicht im Sack Imitation: Fatale und närrische I. (1694) Kreuzweis statt längsseits Brunnenkette Erdloch für Aushub graben
1260, 1260 A
366
Mahl der Einfältigen (1263) 1262 Feuer: Fern wirkung des F.s 1263 Mahl der Einfältigen (1260, 1260 A) 1268* Bürgermeisterwahl (1675*, 1861*) 1270 Kerzentrocknen auf dem Ofen 1275-1276 Richtung: Die verkehrte R. 1278 Markierung: Die merkwürdige M. 1281 Katze als unbekanntes Tier (1651) 1281A Kalb: Das menschenfressende K. 1284 Identität: Irrige I. (1314 sqq.) 1285 Hemd anziehen 1286 Sprung in die Hose 1287 Zählen: Sich nicht z. können 1288 Beinverschränkung 1289 Schlafen in der Mitte 1290 Schwimmen im Flachsfeld 1290B* Schlaf auf der Feder 1291 sqq. behandelt unter: Ausschicken von Gegenständen und Tieren 1293 Dauerpisser 1294 Kopf in der Kanne (68A-B) 1295 Kuchen: Der siebente K. 1296 A Wetter kaufen 1296B Tauben im Brief Krebs: 1310 Der ertränkte K. Verwechslung der Tiere 1311, 1312 1313, 1313 A—C Mann glaubt sich tot 1314 sqq. Identität: Irrige I. (1284) 1319 Eselsei ausbrüten 1324* Beter: Der gefoppte B. (1349M*, 1380 A*, 1388, 1462, 1476, 1476 A, 1575*, 1575**) 1324 A* Kruzifix bestraft 1326 Kirche verschieben Neidischer und Habsüch1331 tiger 1332 Narrensuche (1384) 1334 Mond: Der lokale M.
367 1335—1336A 1337 1339—1339E 1341 sqq. 1341Β 1342 1343 1347 1348 1349M*
1349 Ν* 1350 1351 1351 A* 1352 1352 A 1353 1354 1355B 1355 A, C 1358 A—C, 1358* 1359 sqq. 1360C 1361 1362 1362 A* 1363 1364 1365 A—C 1366 A* 1367 1370 1370 A* 1372 1373
Erzähltypen
Spiegelbild im Wasser (34—34B*, 92, 1141) Nacht: Die lange N. Speisen unbekannt behandelt unter: Dieb, Diebstahl Gott ist auferstanden Heiß und kalt aus einem Mund Hängen spielen (1066) Kruzifix: Lebendes K. gewünscht Junge: Der einfallsreiche J. Beter: Der gefoppte B. (1324*, 1380 A*, 1388, 1462, 1476, 1476A, 1575*, 1575**) Blutegelkur Witwe: Die rasch getröstete W. Schweigewette Zunge gesucht Teufel als Frauenwächter Sukasaptati Weib: Böses W. schlimmer als der Teufel Tod der Alten Ehebruch belauscht (1358 A - C , 1358*, 1725) Herr über uns Ehebruch belauscht (1355B, 1725) behandelt unter: Ehebruchschwänke und -witze Hildebrand: Der alte H. Flut vorgetäuscht Schneekind Dreimonatskind Wiege: Die Erzählung von der W. Blutsbruders Frau Ehefrau: Die widerspenstige E. Pantoffelhelden (1375) Vertauschung schlafender Ehepaare (905 A*) Frau: Die faule F. wird kuriert (902*) behandelt unter: Essen: Wie das E., so die Arbeit Ohrfeige als Heilmittel Katze: Die gewogene K.
1373 A 1375 1377 1380 1380 A*
1381A--D 1381E 1382 1383 1384 1385 1386—1387A 1388
1391 1405 1406 1408 1409 A - C 1410 1415 1416 1417 1418 1419 A 1419B 1419C 1419E 1420 A - F 1420G 1422 1423 1424 1426 1430 1431 1437 1440 1446
368 Esserin: Die schwache E. (1458) Pantoffelhelden (1366 A*) Puteus Blindfüttern Beter: Der gefoppte B. (1324*, 1349 M*, 1388, 1462, 1476, 1476 A, 1575*, 1575**) Frau: Die geschwätzige F. Mann: Der alte M. in der Schule (1644) Kuhhandel: Der törichte K. Teeren und federn (1681) Narrensuche (1332) Pfand der dummen Frau Kluge Else (1450) Beter: Der gefoppte B. (1324*, 1349 M*, 1380 A*, 1462, 1476, 1476 A, 1575*, 1575**) Bijoux: Les b. indiscrets Spinnerin: Die faule S. Wette der Frauen, wer den Mann am besten narrt Hausarbeit getauscht Ehemann: Der gehorsame E. Beichte der Ehefrau Hans im Glück Eva: Die neue E. Nase: Die abgeschnittene N. Isoldes Gottesurteil Mann im Hühnerhaus Bock im Schrank Ehemann: Der einäugige E. Inclusa Pfand des Liebhabers Anser venalis Ehebruch verraten (243 A) Birnbaum: Der verzauberte B. Nasenmacher Frau im Schrein Luftschlösser (1681*) Gähnen steckt an Süße Worte (1696 B*) Tier: Das unterschobene T. Kuchen: Laßt sie K. essen!
369 1447 1450
Erzähltypen
Trinken nach dem Handel Kluge Else (1386-1387 A) 1451-1461 Brautproben (1463) 1458 Esserin: Die schwache E. (1373 A) 1462 Beter: Der gefoppte B. (1324*, 1349M*, 1380 A*, 1388, 1476, 1476 A, 1575*, 1575**) 1463 Brautproben (1451-1461) 1476 sqq. behandelt unter: Alte Jungfer 1476, 1476 A Beter: Der gefoppte B. (1324*, 1349 M*, 1380 A*, 1388, 1462, 1575*, 1575**) 1479* Alte: Die A. auf dem Dach 1501 Aristoteles und Phyllis 1510 Witwe von Ephesus 1511* Rat der Glocken 1515 Hündin: Die weinende H. 1516*—1516D* behandelt unter: Eheschwänke und -witze 1525 sqq. Meisterdieb 1525Ε, Hi, Hz, Ν Diebswette Junge im Bienenkorb 1525 H4 1525 Μ Schaf in der Wiege 1525R Räuberbrüder 1526 Bettler als Pfand 1526 A behandelt unter: Zechpreller 1527, 1527 A Räuber betrogen 1528 Neidhart mit dem Veilchen 1529 Dieb als Esel 1530 Tausch von Pseudotätigkeiten (9A) 1531 Bauer wird König für einen Tag 1533 Teilung: Die sinnreiche T. des Huhns 1534 Schemjaka: Die Urteile des S. 1535 Unibos 1536 A Alte: Die A. in der Kiste 1536B Bucklige: Die drei B.n 1537 Leiche: Die mehrmals getötete L. 1538 Rache des Betrogenen 1539 List und Leichtgläubigkeit
1540 1541 1542 1543 1543* 1544 1544 A* 1545 1545 A 1545 Β 1546 1548 1551 1553 1553 A* 1556 1557 1558 1560 1560 sqq. 1562 1562 A 1562B 1563 1563* 1565 1567 sqq. 1567C 1567G 1568* 1565**—1571* 1572* 1572 A* 1574 1574 A—C
370 Student aus dem Paradies (Paris) Winter: Für den langen W. Peik Pfennig: Keinen P. weniger Penis: Der gekaufte P. Gast: Der schlaue G. im Nachtquartier General Gänsewitz Junge mit vielen Namen Schlafenlernen Junge weiß nichts von Frauen (1678) Goldklumpen: Besitz eines G.s vorgetäuscht Kieselsteinsuppe Wettbetrug Ochse für fünf Pfennig Kerze: Geloben der großen K. (778) Pension: Die doppelte P. Ohrfeige geht zurück Kleider machen Leute Essen: Wie das E., so die Arbeit behandelt unter: Gesinde „Denk dreimal, bevor du sprichst" „Scheune brennt!" Pflichtenzettel „Beide?" Drohung: Die schreckliche D. Kratzverbot behandelt unter: Hungrigenschwänke Fisch: Den großen F. befragen Essen: Gutes E. ändert den Gesang Schüssel: Die umgedrehte S. behandelt unter: Herr und Knecht Privileg des Herrn Heiliger: Der naschhafte Heilige (1829 A*) Schneider mit der Lappenfahne behandelt unter: Schneider
371 1575*, 1575**
1577, 1577* 1579 1585 1586 1587 1589 1590 1591 1592 1592B 1600 1610 1611, 1612 1613 1615 1617 1620 1620* 1624 sqq. 1624B* 1626 1628, 1628* 1631 1640 1641 1641A-B 1641C 1642 1643 1644 1645 1645 A 1645 Β 1650
Erzähltypen
Beter: Der gefoppte B. (1324*, 1349M*, 1380 A*, 1388, 1462, 1476, 1476 A) Blinde: Die getäuschten B.n Wolf, Ziege und Kohlkopf Patelin Fliege auf des Richters Nase Baum zum Hängen gesucht Hund des Richters Eid auf eigenem Grund und Boden Gläubiger: Die drei G. Mäuse fressen Eisen Topf hat ein Kind Schafskopf: Der begrabene S. Teilung von Geschenken und Schlägen Wettklettern, -schwimmen (1073) Kartenspiel (2340) Teilung des Geldes Kredit erschwindelt Kaisers neue Kleider behandelt unter: Buckel, Buckliger behandelt unter: Dieb, Diebstahl Speckdieb Traumbrot Bauernsohn: Der gelehrte B. Pferd geht nicht über Bäume Tapferes Schneiderlein Doktor Allwissend Scharlatan Bauernlatein Handel: Der gute H. Geld im Kruzifix Mann: Der alte M. in der Schule (1381E) Traum vom Schatz auf der Brücke Guntram Schatz: Der gesiegelte S. Brüder: Die drei glücklichen B.
1651
372
Katze als unbekanntes Tier (1281) 1653, 1653 A - F Räuber unter dem Baum 1654 Räuber in der Totenkammer 1655 Tausch: Der vorteilhafte T. (170) 1656 Juden aus dem Himmel gelockt 1660 Stein für den Richter 1661 Steuer: Die dreifache S. 1663 Teilung der Eier 1675 Ochse als Bürgermeister 1675* Bürgermeisterwahl (1268*, 1861*) 1676 Tot: Was tot ist, soll tot bleiben 1676B Tod durch Schrecken 1677 Eierbrüter (1218) 1678 Junge weiß nichts von Frauen (1545 B) 1681 Teeren und federn (1383) 1681 Α—Β behandelt unter: Mißverständnisse 1681* Luftschlösser (1430) 1682 Pferd fasten lehren 1685 Bräutigam: Der dumme B. 1687 Wort: Das vergessene W. Brautwerber: Der über1688 treibende B. Übel: Das kleinere Ü. 1689 1689 A Raparius 1689B Rezept gerettet Pfarrer: Der hungrige P. 1691 (1775) 1694 Imitation: Fatale und närrische /. (1246) 1695 Schuhe für Tiere 1696 „ Was hätte ich sagen (tun) sollen?" 1696B* Süße Worte (1437) 1697 Handel mit dem Teufel (360) 1698 sqq. behandelt unter: Schwerhöriger, Schwerhörigkeit 1699 Sprachmißverständnisse 1700 „Kann nicht verstehen!" 1701 behandelt unter: Echo 1702 behandelt unter: Stottererwitze
373 1725
Erzähltypen
Ehebruch belauscht (1355B, 1358 A—C, 1358*) Liebhaber bloßgestellt 1730 (571 Α - B ) 1731 Schuhe angeboten 1735 Vergeltung: Die zehnfache V. 1735 A Gesang: Der falsche G. 1736 Wiese: Die auferstandene W. 1736 A Säbel: Der hölzerne S. Pfarrer im Sack 1737 Priester: Alle P. in der 1738 Hölle Priester soll Kalb gebären 1739 1740 Lichterkrebse 1741 Priesters Gäste Tiere lernen sprechen 1750, 1750 A 1775 Pfarrer: Der hungrige P. (1691) 1777 A* Pfarrer und Küster beichten einander 1785 A Wurst in der Tasche des Pastors 1785B Nadel in der Kanzel behandelt unter: Küster 1785 C Pfarrer und Küster stehlen 1790 eine Kuh behandelt unter: Küster 1791 Pfarrer: Der geizige P. und 1792 sein Schwein Stehlen: Nur eine Kleinig1800 keit s. 1804, 1804 A - B Scheinbuße 1806 Mahlzeit im Himmel behandelt unter: Beicht1807 schwänke Eigentümer weist Gestoh1807 A lenes zurück behandelt unter: Kate1810—1810C* chismusschwänke behandelt unter: Tauf1823 schwänke behandelt unter: Predigt1824 sqq. schwänke 1825 C Kanzel: Die angesägte K. Weinen und Lachen bei 1828* der Predigt Heiligenbild: Das leben1829 dige H.
1829 A*
374
Heiliger: Der naschhafte Heilige (1572 A*) Wettermacher 1830 1831 Pfarrer und Küster beim Messelesen 1832D*, G*, K* behandelt unter: Katechismusschwänke behandelt unter: Brille des 1832M* Küsters 1832N* Hammel Gottes behandelt unter: Kate1833 sqq. chismusschwänke 1833 Ε Gott ist tot 1834 Pfarrer mit der feinen Stimme 1835 A* Schuß von der Kanzel Vaterunser beten, ohne an 1835 D* anderes zu denken 1837 Heiliger Geist in der Kirche 1838 Priester auf der Sau 1841 Tischgebet 1842 Testament des Hundes behandelt unter: Amulett 1845 Sündensteine 1848 1848 A Kalender des Pfarrers behandelt unter: Müller1853 schwänke 1855 A Messias: Jüdin verspricht, M. zu gebären 1860 Β Sterben wie Christus Bürgermeisterwahl 1861* (1268*, 1675*) behandelt unter: 1861A Bestechung Flohpulver 1862 A Diagnose: 1862 C Die einfältige D. 1875 Junge am Bären(Wolfs)schwanz (1900) 1876 Gänse an der Leine 1882, 1882 A Ausgraben: sich selbst a. behandelt unter: Münch1889 sqq. hausiaden 1889F Gefrorene Worte 1889H behandelt unter: Unterwasserwelt 1890 Schuß: Der gelungene S. 1891, 1893 Kaninchenfang 1896 Wolf: Der genagelte W. 1900 Junge am Bären(Wolfs)schwanz (1875) 1910 Bär (Wolf) im Gespann
375 1920 1930 1931 1935 1940 1948 1950 1950 A 1960—1960Z 1960 G 1965 2010 2012 2014 A 2015 2016 2018 2019 2019* 2021, 2022 2025 2027, 2027 A, 2028 2030 2031 2032, 2033 2034 2035 2039 2040 2340 2400 2401
Erziehung (in der Erzählung)
behandelt unter: Lügenwette Schlaraffenland Neuigkeiten von Haus zu Haus behandelt unter: Verkehrte Welt Namen: Die sonderbaren N. Schweigsame Leute Faulheitswettbewerb Hilfe beim Nichtstun Größe: Die ungewöhnliche G. Baum: Der himmelhohe Β. (317, 468, 804 A) Gesellen: Die schadhaften G. behandelt unter: Zwölf Woche: Die sonderbare W. Gut, nicht gut Ziege will nicht heim Wee Wee Woman Warenlager: Wo ist das W. ? Pif Paf Poltrie Laus und Floh (282 C*) Tod des Hühnchens Pfannkuchen: Der dicke, fette P. Fressermärchen Frau: Die alte F. und das Schwein Stärkste Dinge Heilung des Hähnchens Maus und ihr Schwanz Haus, das Jack baute Hufnagel Häufung des Schreckens Kartenspiel (1613) behandelt unter: Gründungssage Kinder spielen Schweineschlachten
Erziehung (in der Erzählung) 1. Allgemeines — 2. Anekdote - 3. Schwank — 4. Sage — 5. Ballade — 6. Legende — 7. Märchen
1. A l l g e m e i n e s . E. d u r c h Märchen und Sage (d.h. deren pädagogischer Wert oder
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Unwert in der Kindererziehung) wurde von Lit.wissenschaftlern, Psychologen und Pädagogen schon oft untersucht, aufgrund des heterogenen Materials wie auch der unterschiedlichen wiss. und weltanschaulichen Positionen mit kontroversen Ergebnissen 1 (—» Pädagogik, —» Didaktisches Erzählgut). Hier geht es jedoch um die E. in Märchen, Sage etc., also ob und wie in der Erzählung E. dargestellt wird. Beide Aspekte hängen freilich eng zusammen: Die Schilderung erzieherischer Akte innerhalb der Erzählung beeinflußt die pädagogische Wirkung auf die Zuhörer/Leser; und umgekehrt prägt der intendierte pädagogische Einfluß auf das Publikum die Darstellung des erzieherischen Handelns im Text. Wenn man E. in einem weiten, umfassenden Sinn so versteht, daß der als ein „Umwegwesen" definierte Mensch 2 auf seinem Lebensweg durch Begegnungen und Erfahrungen geformt wird, dann könnte man in jedem Märchen, in welchem der Held auf seiner Wanderung durch die weite Welt Stufe um Stufe emporschreitet 3 , eine Art Erziehungsoder Bildungsroman im kleinen sehen. Da Bildung eine Lebensaufgabe des Menschen ist, läßt sich E. nicht auf ein bestimmtes Alter einschränken, in der Regel erfolgt sie jedoch von der älteren zur jüngeren Generation. Im engeren Sinne, wie sie hier verstanden werden soll, meint E. ein dialogisches Geschehen, bewußte personale Akte, durch die ein Erzieher dem Zögling bei der Selbstverwirklichung, Weltorientierung und Sozialisation hilft; ihr Stellenwert im Text muß daher notwendigerweise mit dem Menschenbild und den typischen Personenkonstellationen der einzelnen Erzählformen zusammenhängen. 2. A n e k d o t e . In der Anekdote, die abgegrenzte Begebenheiten pointiert wiedergibt, können zur Zeichnung eines Charakter- oder Zeitbildes oder in belehrender Absicht gelegentlich E.saspekte mit angesprochen werden. Selten wird dagegen die E. selbst zum Thema einer Anekdote wie etwa in Protestgeschichten, in denen Minderheiten — Zigeuner 4 , amerik. Schwarze 5 — ihre eigene E.sweise gegenüber derjenigen der herrschenden Mehrheit als humaner und besser hervorheben.
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Erziehung (in der Erzählung)
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3. S c h w a n k . Der Schwank bevorzugt weitgehend Personenkonstellationen mit erotischer Spannung (cf. —» Ehebruchschwänke und -witze, —» Eheschwänke und -witze), die nicht zum Motiv E. hinführen. Falls die E. dennoch thematisiert wird, so geschieht dies typischerweise in einer komisch-erotischen Form, z.B. als ,Sexualunterricht' für einen völlig Unerfahrenen und Unwissenden, wie in Der schwangere Müller6 (cf. Hoffmann 1544 B*). — Zum weiteren Umkreis des Themas E. — im Sinne von Lernen und Bildung — gehören Schwanke, deren Komik vom sozialen Gegensatz lebt (—» Ständeordnung, —» Ständespott): etwa die Übertölpelung von Bauern und Bürgern durch den gebildeten Kleriker oder fahrenden Studenten (z.B. AaTh 1540: —» Student aus dem Paradies) oder umgekehrt die Übertölpelung des Privilegierten (Herr, Vorgesetzter, Gebildeter etc.) durch den Unterprivilegierten, sofern darin eine Zurechtweisung enthalten ist7. Oft wird der Fehlbare durch eulenspiegelhaftes Verhalten zurechtgewiesen. Zu den z.T. gelingenden E.sversuchen gehört es, wenn z.B. der Meister oder die Meisterin mittels fingierter Belehrung durch das Jesuskind oder eine andere geheiligte Figur vom Geiz kuriert wird 8 . Scheinbildung wird entlarvt, indem z.B. ein bei der Heimkehr mit seiner Bildung prahlender Bauernsohn vom Vater verspottet wird (AaTh 1628, 1628*: Der gelehrte -> Bauernsohn).
das vierte Gebot als unerhört harte Strafe eine Möglichkeit der —> Erlösung gibt es (im Gegensatz zum Märchen) meist nicht. Schläge sind als E.smittel offenbar so selbstverständlich, daß es als Besonderheit betont wird, wenn man einen Knaben wegen seiner ungewöhnlich zarten Haut „mit der Rute gänzlich verschonen mußte" 11 ; selbst Kaiser Otto III. wird als Kind von seinem Vormund mit einer scharfen Gerte „unziemlich geschlagen", rächt sich aber sofort dafür 12 . Gelegentlich soll eine grausame Kinder-Ε. zur Charakterisierung des hartherzigen Vaters oder der Mutter dienen. Die E.smethode der Erwachsenen kann aber auch angeprangert werden: So beißt z.B. der Sohn am Galgen (AaTh 838) seiner Mutter die Nase ab, weil sie ihn in der Jugend falsch erzogen hat. — Gerade aus dem für die Sage charakteristischen Verhältnis zwischen Diesseits und als bedrohlich empfundenem Jenseits ergibt sich der Zug, daß in manchen dieser Erzählungen die Furcht vor den jenseitigen Mächten als Druck- und Drohmittel in der E. der Kinder ausgenützt wird: Die Mutter droht dem faulen, unartigen Jungen mit dem Junker Hans, der auch tatsächlich erscheint 13 ; ebenso wird in einer sagenähnlichen ir. Erzählung ein ^ e r zogenes' Einzelkind durch schreckliche Geistererlebnisse gebessert 14 . Andererseits gibt es aber auch den Fall, daß ein guter Hauskobold in Abwesenheit der Mutter ein kleines Kind hütet und wiegt 15 .
4. Sage. Der Volkssage geht es weniger um zwischenmenschliche Beziehungen als um Begegnungen des Menschen mit übernatürlichen oder andern außerordentlichen Gestalten und Vorgängen. Sie stellt keine biogr. Zusammenhänge dar, sondern einzelne Ereignisse und Erfahrungen des Menschen, der dabei nicht als Handelnder, sondern als Erleidender erscheint. Aus diesen Gründen ist das Thema E. hier nur von untergeordneter Bedeutung, so daß die Sage vom —» Riesenspielzeug (AaTh 701) 9 — die in der Belehrung des Riesenkindes gipfelt — zu den Ausnahmen gehört. Wie in vielen Märchen werden auch in der Sage ungehorsame Kinder von ihren Eltern verwünscht; der Fluch, der wörtlich in Erfüllung geht, trifft z.B. in Zum Stehen verwünscht10 einen jugendlichen Sünder gegen
5. B a l l a d e . Das Erzählgerüst vieler Volksballaden und Zeitungslieder läßt sich auf die Struktur ,Normverletzung und ihre Sanktionierung' zurückführen. Daher bildet auch das Thema E., vor allem der mißlungenen E. einen Schwerpunkt der Thematik des Erzählliedes, bes. der durch Lieddrucke verbreiteten jüngeren Formen, die die Rezipienten in E.sproblemen durch Beispiele belehren sollten. So lehrt die Volksballade von der Wiedervergeltung 16 , daß man Eltern nicht schlecht behandeln soll, wenn man von seinen eigenen Kindern nicht auf die gleiche Weise behandelt werden will (AaTh 980: Der undankbare —» Sohn-, AaTh 980 A: —»• Großvater und Enkel). Im Zeitungslied 17 , das auf eine Sage zurückgeht, wächst einem Kind die Hand aus dem Grabe, weil es dieselbe gegen
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Erziehung (in der Erzählung)
seine Eltern erhoben hatte. Spezielle Kinderzucht-Lieder vermitteln Handlungsanweisungen für den rechten Gebrauch der Rute 1 8 . 6. L e g e n d e . Die Legende, charakterisiert durch ,imitatio' (cf. A . —> Jolles), präsentiert erzieherische Vorbilder in ihrem tugendhaften Leben. Insbesondere in den stereotypen Kindheitsgeschichten der Heiligen wird häufig die fromme christl. E. betont (cf. auch —> Kindheitslegenden Christi). Die E.svorgänge werden allerdings im allg. nicht ausführlich geschildert. Nur in Einzelfällen kommt es zu entsprechenden Hinweisen und einer Wertung vom Standpunkt christl. Ethik; so wird z.B. eine Mutter für die schlechte E. ihrer bösen Tochter bestraft (KHM 201: Der hl. Joseph im Walde). Zur Vermittlung christl. Werte und Normen dient auch das —» Exemplum; die pädagogische Funktion, die ganz allg. seinen Adressatenbezug bestimmt, kann auch direkt in vorbildlichen oder abschrekkenden Beispielen von Kindererziehung konkretisiert werden. 7. M ä r c h e n . Das Märchen berührt alle zwischenmenschlichen Beziehungen, und das Verhältnis Eltern/Kinder (—» Familie) gehört zu seinen bevorzugten Personenkonstellationen, so daß die Voraussetzung für das Darstellen von E.sakten gegeben ist. Die Auffassung, daß das Märchen zwar ganz allg. von hohem erzieherischem Wert ist, aber „in den Märchen nie von Erziehung die Rede ist, noch erzieherisches Handeln in besonderer Weise dargestellt wird" 19 , hält daher einer genauen Textüberprüfung nicht stand und wird auch durch Märchenkritiker widerlegt, die das Märchen gerade wegen seiner erzieherischen Handlungen angreifen 20 . Dabei stehen die Märchen aus dem christl.-europ. Bereich im Zentrum der Diskussion, für den Stellenwert der E. im einzelnen Märchen sind verschiedene Faktoren ausschlaggebend: (a) Märchentyp: Im Tiermärchen spielt E. kaum eine Rolle (cf. aber AaTh 244 C*: —» Rabe und seine Jungen), im Gegensatz zum eigentlichen Zaubermärchen, zum novellenartigen Märchen, Schwank- und Legendenmärchen. (b) Ethnische Herkunft: Das europ. Volksmärchen ist anthropozentrisch und daher für diese Thematik offener als die mythenähnlichen Tiermärchen der Naturvölker.
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(c) Adressaten: Da die E. im Märchen mit der E. d u r c h Märchen funktional verbunden ist, hängt die Ausgestaltung des Themas auch vom intendierten Adressatenkreis ab. In den verschiedenen Fassungen der KHM läßt sich beobachten, wie - im Blick auf das kindliche Publikum — in ursprünglichen Erwachsenenmärchen nicht nur die Verkindlichung der Sprache und der Figuren zunimmt, sondern auch die direkte Darstellung von E.svorgängen ausgeweitet wird. Um solche Zutaten W. —> Grimms handelt es sich z.B. im Froschkönig (KHM 1) bei den lehrhaften Ermahnungen des Königs an seine Tochter, die in Wirklichkeit an die märchenhörenden und -lesenden Kinder gerichtet sind. Die wahre Funktion des E.smotivs liegt hier also weniger innerhalb des Textes, sondern letztlich in seiner beabsichtigten erzieherischen Wirkung auf den Rezipienten. (d) Stilmerkmale: Die von M. Lüthi erarbeiteten Merkmale des europ. Volksmärchens lassen sich auch unmittelbar in der Darstellung erzieherischen Handelns nachweisen. Die Isolation des Märchenhelden, die von —» Psychologie freie Flächenhaftigkeit der Figuren, die Statik der Charaktere, die Schwarzweißmalerei stehen einer Schilderung von erzieherischen Entwicklungen und Sozialisationsprozessen entgegen. Dazu kommt die bes. Zeitstruktur im Märchen, das seinen Helden zwar durchaus ,biographisch' beschreibt, aber nicht im Zeitkontinuum, sondern in Zeitsprüngen, -raffungen, Segmenten: Häufig setzt die Handlung bereits mit dem heiratsfähigen Alter des Helden ein, oder sie überspringt die Jahre von seiner Geburt bis zu seiner Heirat oder einem andern zentralen Ereignis, wie etwa Dornröschens Schlaf seit dem 15. Lebensjahr (KHM 50, cf. AaTh 410: Schlafende Schönheit), oder das Kind wächst in wenigen Stunden zum Erwachsenen heran, wie in dem mongol. Märchen Das Königstigergewand21 (cf. —> Erwachsen bei der Geburt). Trotzdem finden sich erstaunlich viele Beispiele dafür, wie Kinder im Märchen erzogen werden. Neben der direkten Darstellung muß man dabei aber auch die märchenspezifischen, symbolisch verhüllenden Gestaltungsmittel beachten: Im Märchen, das innere Empfindungen und Beziehungen durch äußere Vorgänge und sichtbare Gaben zum Ausdruck bringt, sind auch in bildhafter Verknappung und Zeitraffung E.sprozesse erkennbar. Der treue Diener Johannes, den der sterbende König bittet, dem Prinzen ein Pflegevater zu sein und „ihn zu unterrichten in allem, was er wissen muß", erfüllt diesen E.sauftrag, indem er dem Kind das ganze Schloß mit allen Räumen und Schätzen zeigt, bis auf die verbotene Kammer (KHM 6, cf. AaTh 516: Der treue —> Johannes). Der Däumling
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Erziehung (in der Erzählung)
wird von dem Riesen, der ihn großzieht, gesäugt (KHM 90, AaTh 650 A: -> Starker Hans). Dornröschens Lebensweg begleiten die Gaben der zwölf weisen Frauen, ein Ausdruck der erwünschten E.swerte (KHM 50).
Der oft schmerzliche Verlauf des E.sprozesses wird sichtbar, wenn im russ. Märchen der Waldkönig Och (—> Ach) den ihm anvertrauten Burschen wiederholt verbrennt, bis ein schmucker und flinker Jüngling aus ihm geworden ist (cf. AaTh 325: —» Zauberer und Schüler), vergleichbar mit der Darstellung grausamer —» Initiationsriten in Erzählungen der Naturvölker 22 . — Die bes. Figurendarstellung im Märchen ist ebenfalls aufschlußreich: Nach C. G. —> Jung können die Gegengestalten nicht nur als selbständige Figuren, sondern auch als die andere Seite des —> Helden aufgefaßt werden. Für den Leser stellen sich dann positiver Held und negative Gegenfigur, Lohn und —• Strafe, Erfolg und Mißerfolg als komplexes Gesamtgeschehen mit Lern- und E.smöglichkeiten dar (im Märchen aufgeteilt auf mehrere Personen im Neben- oder Nacheinander). Die E.spraxis in den Märchen stößt — sofern sie überhaupt beachtet wird — häufig auf scharfe Kritik. Gemessen an heutigen liberalen bis antiautoritären Auffassungen wird sie als undemokratisch, autoritär, repressiv und inhuman bezeichnet 23 ; dieselben Vorwürfe äußern sich indirekt auch in der antiautoritären Tendenz mancher moderner Märchenbearbeitungen 24 . In Wirklichkeit sind jedoch die erzieherischen Maßnahmen und Handlungen im Märchen recht differenziert, vielfältig und keineswegs nur negativ. Zwar werden in der Tat in den Märchen vieler Völker Kinder geschlagen, wegen Faulheit z.B. in dt., tschech. und prov. Geschichten von der faulen Tochter 25 , wegen einer geringfügigen Unhöflichkeit in einem griech. 26 und fürs Schuleschwänzen in einem bret. Märchen 27 , ferner wegen Einfältigkeit 28 und Ungehorsams (KHM 164, cf. AaTh 1430: -> Luftschlösser) oder auch grundlos und bewußt ungerecht 29 . Aber daß — wie in dem legendenartigen und damit moralisierenden Märchen Das eigensinnige Kind (KHM 117) — Rutenschläge als E.smittel gefordert und bejaht werden, ist nicht märchentypisch. Das —» Prügeln ist viel-
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mehr in den meisten Märchen eine Tat böser Menschen und wird daher als böse und ungerecht dargestellt (als bildhafter Ausdruck von Haß und Bosheit) und in manchen Fällen wie in einem afrik. und in einem EskimoMärchen 30 — auch ausdrücklich mißbilligt. Weit verbreitet ist das Motiv, daß Eltern ihr unerwünschtes oder unartiges, ungehorsames Kind (KHM 9, 25, 49, 93) verfluchen 31 . In der Regel kann der Fluch, der sich auf der Stelle erfüllt, durch eine Erlösungstat aufgehoben werden; eine Schar von Eskimokindern wird jedoch durch die Verwünschung eines alten Mannes in einer Felsschlucht eingeschlossen und verhungert darin 32 . Weitere E.smittel sind Gebote und —» Verbote (KHM 5, AaTh 123: Wolf und Geißlein), sprichwörtliche Lebensregeln, Handlungsmaximen (KHM 21, AaTh 510 A: Cinderella·, KHM 157, cf. AaTh 157: Tiere lernen —> Furcht vor den Menschen·, KHM 188, AaTh 585: Spindle, Shuttle, and Needle), Anstands- und Verhaltensregeln (KHM 26, AaTh 333: Rotkäppchen). Auch die pädagogische Einsicht, daß es neben Schlagen und Schelten bessere, wirksamere E.smethoden gibt, fehlt nicht: Der faule Zapiecek reagiert nicht auf das Schimpfen der Mutter, wohl aber auf die Motivation durch eine versprochene Belohnung 33 ; und in einer Erzählung der Kabylen empfiehlt eine alte Frau dem ratlosen Vater, den bösen Sohn in der Fremde seine Erfahrungen sammeln zu lassen dieser bewährt sich dort und kommt als guter Mann zurück 34 . Der Konflikt zwischen den gegensätzlichen E.sstilen der strengen Mutter und des nachgiebigen Vaters führt in dem ukr. Märchen vom Räuber Tonas dazu, daß der Sohn auf die schiefe Bahn gerät und beide Eltern tötet 35 .
Die erzieherischen Maßnahmen sind oft mit einem bestimmten Kontext und typischen Situationen verknüpft: Prügel, ungerechte Strafen charakterisieren den bösen Erzieher und die negative Ausgangslage des Helden. Hilfreiche Ratschläge und Lebensregeln sind in Trennungs- und Übergangssituationen wichtig: Topos des väterlichen Rates beim Abschied des Helden vor seiner Fahrt in die Welt 36 , mütterlicher Rat für die Tochter am Sterbebett der Mutter (KHM 21, 188), daneben Ratschläge wissender Helferfiguren während der Wanderung (cf. AaTh 910—915: The Good Precepts). Ein gut Teil Wirklich-
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Erziehung (in der Erzählung)
keitsnähe des Märchens liegt indessen darin, daß die Kinder weniger durch moralische Unterweisung erzogen werden, sondern häufiger im Sinne von Weltorientierung, Lernen, Wissensvermittlung. Sie lernen bei einem Lehrherrn ein Handwerk (—» Meister und Geselle [Lehrling]; cf. AaTh 875 D*: The Prince's Seven Wise Teachers·, —> Arbeit), sie besuchen eine Schule37, studieren an einer „hohen Schule" (KHM 99, cf. AaTh 331: ^ Geist im Glas), an einer Handelsschule 38 , der „Hohen Schule für Seekapitäne" 39 , einem Priesterseminar 40 , werden durch die Mutter (KHM 166, cf. AaTh 301 B) oder einen treuen Diener (KHM 6) unterrichtet. Einige Erzähler weisen darauf hin, daß Lernen und Wissen den sozialen Status erhöhen 41 und eine größere Sicherheit des Lebens und der Altersversorgung bedeuten (KHM 99). Manchmal wird Lernen allerdings auf ganz ungewöhnliche und teilweise bewußt komische Art als kuriose E. geschildert: Märchenhelden lernen scheinbar nutzlose Tiersprachen (KHM 33, AaTh 671: —> Tiersprachenkundiger Mensch)42, das Diebshandwerk (KHM 68; KHM 129, AaTh 653: Die vier kunstreichen -> Brüder, KHM 192, AaTh 1525 A: -> Meisterdieb)43. In schwankhafter Weise erscheinen Lernen und Bildung in dem tschech. Märchen Von einem schlauen Schuster, der seiner Kuh die Fibel in die Krippe legt und dann Fleisch von einer studierten Kuh verkauft 44 . Um eine kuriose E. mit ernstem Hintergrund (denn die Angst gehört zu den Grundphänomenen des menschlichen Lebens) handelt es sich bei dem Märchen —» Fürchten lernen (KHM 4, AaTh 326). So unterschiedlich wie die E.smethoden sind auch die Zöglinge. Neben den ,guten' Kindern trifft man im Märchen das schwererziehbare Kind, das „den Teufel im Leib hat" 45 , ferner das geliebte, verwöhnte Kind, dem zuliebe man alles tut (KHM 26), sowie das ,verzogene' Einzelkind 46 ; in einem ir. Märchen will eine Frau aus übertriebener Mutterliebe ihren Sohn im dauernden Kleinkindstadium an sich binden, sie zieht ihn zwei Jahrzehnte lang wie einen Säugling an der Brust auf und schilt ihn, als er mit 21 Jahren dann „sein Körbchen" verläßt und selbständig wird 47 . Zu den allg. bekannten Motiven gehört, daß Geschwister ungleich behandelt
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und erzogen werden (Bevorzugung oder Vernachlässigung eines Kindes in vielen Dreibrüdermärchen [AaTh 300 A: —> Drachenkampf auf der Brücke], bei leiblichen und Stiefkindern, bei Bruder und Schwester) 48 . Versäumte E. ist das Thema der parabelartigen Einleitung zu Der Meisterdieb (KHM 192). In Var.n zu AaTh 901: —» Zähmung der Widerspenstigen gibt es eine E. durch absichtlich inszenierte harte Erfahrungen, die auffallenderweise sogar zur Wandlung einer Märchenfigur führen (KHM 52, AaTh 900: -» König Drosselbart). Einen kulturhistorisch interessanten Einblick in Familienstrukturen gewähren Erzählungen, in denen die Mutter nach der Geburt eines Mädchens dem Vater (der sich unbedingt einen männlichen Erben gewünscht hatte) und der Öffentlichkeit vortäuscht, einen Knaben geboren zu haben, und die Tochter wie einen Jungen aufwachsen und erziehen läßt 49 ; dieses vor allem im Orient verbreitete Motiv kann manchmal sogar mit einer wunderbaren Geschlechtsumwandlung (—» Geschlechtswechsel) enden 50 . Ein ir. Märchen dagegen berichtet von einem heimlichen Kindertausch Sohn gegen Tochter, weil in der einen Familie ein Mädchen, in der andern ein Junge erwünscht war 51 . Die verschiedensten Instanzen können im Märchen die E. der Kinder übernehmen. Meist sind es die Eltern, seien es die leiblichen oder Stiefeltern, bei Findelkindern Zieh- oder Pflegeeltern; ein Hinweis auf die Rollenverteilung in einer patriarchalischen Familie findet sich in einem ukr. Märchen, in dem der Mann seiner Frau die E.skompetenz abspricht: „Du hast deine Töpfe und die Küche, das ist das Deine. Bei der Kindererziehung hast du dich nicht einzumischen" 52 . Ein Waisenkind kann von der Großmutter erzogen werden, von der Patin (KHM 188); ein reicher Mann im Dorf wird — dies ein deutlich realistischer Zug — von der Obrigkeit als Pflegevater oder Vormund bestellt, er soll den Waisenjungen „ernähren und erziehen" und erhält eine richterliche Ermahnung, als er diese Pflicht vernachlässigt (KHM 185). Die E. wird aber auch außermenschlichen Wesen übertragen: einer Göttin 53 , Fee, Hexe, einem Riesen, Zauberer, wilden Mann, Dämon, dem Teufel (—» Dienst beim Dämon) oder
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auch einem Tier 54 . In Ländern, die stark vom Katholizismus geprägt sind, spielen in den Märchen auch Mönche, Nonnen, ferner die Jungfrau Maria (KHM 3, AaTh 710: -> Marienkind) und zahlreiche andere Heiligengestalten als Erzieher von Waisen oder armen Kindern eine wichtige Rolle 55 . Häufig tritt der Tod als Taufpate armer Kinder auf 56 . Daß auch eine ganze Gemeinschaft regulierend in die E. des einzelnen Kindes eingreifen kann, wird in einem brasilian. Märchen erzählt, in dem alle jungen Krieger des Dorfes einen Jungen wegen seiner bösartigen Streiche und Tabuverletzungen verprügeln 57 . Dabei zeigen sich die negativen Gestalten (böse Stiefmütter, Zauberer, Hexen) auch als schlechte Erzieher mit schlechten E.smitteln und -zielen. Das von einem bösen Wesen erzogene Kind ist im Märchen jedoch keinem deterministischen Mechanismus ausgeliefert; es wird in einigen Fällen zwar selbst böse 58 , kann aber auch gut bleiben 59 . Die Orte, an denen die E. stattfindet, richten sich nach diesen unterschiedlichen E.sinstanzen. Sie lassen sich nach den pädagogischen Prinzipien der ,Bewahrung' oder .Bewährung' des Zöglings in zwei Gruppen zusammenfassen: ,Bewahren' zu Hause oder gar wohlbehütet in einem Turm (cf. KHM 12, AaTh 310: —> Jungfrau im Turm), einer Höhle, in unterirdischen Gemächern, in der Einsamkeit; ,Sichbewähren' in der Fremde, sei es bei einem Lehrherrn, bei einem außermenschlichen Wesen oder auf der Fahrt durch die Welt. Wenn sich für die E.sziele im Märchen auch kein vollständiges System ermitteln läßt, so hebt sich doch deutlich eine Gruppe positiver, zu vermittelnder Werte von einer Gruppe negativer —* Normen ab. Häufig verlangen die Eltern (und zwar der König ebenso wie der Arme) von den Kindern —» Gehorsam (KHM 1, AaTh 440: Froschkönig), Artigkeit, Gutsein, Anstand und Frömmigkeit (KHM 21, 26, 188) - Werte, die von den Brüdern Grimm übernommen und biedermeierlich betont worden sind. Ungehorsam und Eigensinn werden bestraft (KHM 43, AaTh 334: Haushalt der Hexe; KHM 117) und mit dem Topos des Sittenverfalls in der Gegenwart beklagt (KHM 164). So gesehen trifft die Feststellung zu, daß der E.sstil in vie13
Enzyklopädie des Märchens IV
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len Märchen nach heutigen pädagogischen Kategorien als .autoritär' gelten muß. Dennoch ist es falsch zu sagen, der Wille des Kindes werde im Märchen moralisch abqualifiziert und gebrochen 60 . Den Gegenbeweis erbringt eines der wesentlichen Märchenmotive, die Fahrt des Helden in die Welt, wo er seine Aufgaben selbständig lösen muß. Verbote werden häufig übertreten, und gerade das hat weiterführende —> Abenteuer und Entwicklungen zur Folge 61 . Außerdem ist Gehorsam nicht immer gleichzusetzen mit blindem Gehorsam — es gibt auch (z.B. KHM 5) einen sinnvollen, für Kinder geradezu lebensnotwendigen Gehorsam gegenüber den erfahrenen Eltern, die drohende Gefahren erkennen und abwenden können. — Fleiß wird in vielen Märchen belohnt, Faulheit (außer in Schwankmärchen) bestraft (KHM 14; KHM 24, AaTh 480: Das gute und das schlechte —> Mädchen-, —» Fleiß und Faulheit), Hochmut und überheblicher Stolz werden gebrochen (KHM 52). Als Tugenden sind weiter gefordert Dankbarkeit, Treue und Zuverlässigkeit (KHM 1). In den meisten dieser E.snormen — allen voran Fleiß und Gehorsam — stimmen die Märchen der verschiedensten Völker im wesentlichen überein; darüber hinaus gibt es aber auch unterschiedliche erzieherische Auffassungen 62 , die aus Religion, jeweiliger Familienstruktur und Einschätzung der Geschlechterrollen resultieren. — In Der arme Junge im Grab (KHM 185) gilt als oberstes E.sziel — das die sonst nur einzeln genannten Werte übergreift - die Fähigkeit, —» gut und böse unterscheiden zu lernen (Gewissensbildung; —» Charaktereigenschaften und -proben). 1 cf. Bettelheim, B.: Kinder brauchen Märchen. Stg. 1977; Bastian, U.: Die „Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm in der lit.pädagogischen Diskussion des 19. und 20. Jh.s. Ffm. 1981; Bloch, E.: Zerstörung, Rettung des Mythos durch Licht. In: id.: Verfremdungen 1. Ffm. 1962, 152—162; Bürger, C.: Die soziale Funktion volkstümlicher Erzählformen - Sage und Märchen. In: Ide, H. (ed.): Projekt Deutschunterricht 1. Stg. 3 1973, 2 6 - 5 6 ; Dolle, B.: Märchen und E. In: Brackert, H. (ed.): Und wenn sie nicht gestorben sind . . . Ffm. 1980, 1 6 5 - 1 9 2 ; Ellwanger, W./ Grömminger, Α.: Märchen — E.shilfe oder Gefahr? Fbg 1977; Gerstl, Q.: Die Brüder Grimm als Erzieher. Mü. 1964; Gmelin, O. F.: Böses kommt
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aus Kinderbüchern. Mü. 1972; id.: Böses kommt aus Märchen. In: Die Grundschule 7, 3 (1975) 125 — 131; Gutter, Α.: Märchen und Märe. Solothurn 1968; Hartmann-Winkler, W.: Lebensbewältigung im Kinderbuch. Wien 1970; Kunz, R.: Erzieherische Potenzen im dt. Volksmärchen. In: Deutschunterricht 23, 12 (1970) 7 2 8 - 7 3 2 und 24, 1 (1971) 53—62; Meves, C.: Erziehen und Erzählen. Über Kinder und Märchen. Stg. 2 1976; Psaar, W./Klein, M.: Wer hat Angst vor der bösen Geiß? Braunschweig 1976; Richter, D./Merkel, J.: Märchen, Phantasie und soziales Lernen. B. 1974; Sauer, P. L.: Märchen und Sage. In: Wirkendes Wort 23 (1973) 228-246. - 2 cf. Lüthi, Ästhetik, 158sq. — 3 ibid., 158. - "Krauss, F. S.: Zigeunerhumor. Lpz. 1907, 133. - 5 Dorson, R. M.: Negro Tales from Pine Bluff, Arkansas, and Calvin, Michigan. Bloom. 1958, num. 70. - 6 Fischer, H.: Schwankerzählungen des dt. MA.s. Mü. 2 1968, num. 19. — 7 z.B. Volksschwänke aus Mecklenburg. Aus der Slg R. Wossidlos. ed. S. Neumann. B. 3 1965, num. 29, 33, 76 u.a. (Mot. J 1341, J 1562.1); cf. auch Neumann, S.: Der mecklenburg. Volksschwank. B. 1964, 3 2 - 3 4 . - 8 v. BP 2, 122sq.; Mecklenburger erzählen. Märchen, Schwänke und Schnurren aus der Slg R. Wossidlos. ed. G. Henssen. B. 1957, num. 128. - 9 Petzoldt, L.: Dt. Volkssagen. Mü. 1970, num. 448. - 10 Grimm DS, num. 231; weitere Beispiele ibid., num. 227, 229, 230. "ibid., num. 531. - 12 ibid., num. 477. - "Birlinger, Α.: Aus Schwaben 1. Wiesbaden 1874, num. 350. - 14 Hetmann, F.: Kelt. Märchen. Ffm. 1975, 40—49. - 15 Birlinger, Α.: Volksthümliches aus Schwaben 1. Fbg 1861, num. 62. - 16 DVldr, num. 123; cf. Rölleke, H.: Die Volksballade von der Wiedervergeltung (DVldr Nr. 123) bei Hans Michael Moscherosch. In: Jb. für Volksliedforschung 18 (1973) 7 1 - 7 6 . - 17 Schmidt, L.: Die Hand aus dem Grab. Die Kinderzucht-Sage in einem Flugblattlied. In: Schmidt, 225-234. - 18 Brednich, R. W.: E. durch Gesang. In: Jb. für Volksliedforschung 27/28 (1982/83) 109-133. - 19 Gerstl (wie not. 1) 89. — 20 cf. Doderer, K.: Das bedrückende Leben der Kindergestalten in den Grimmschen Märchen. In: id.: Klassische Kinder- und Jugendbücher. Weinheim/B./Basel 3 1975, 137-151. 21 Guter, J.: Chin. Märchen. Ffm. 1973, 8 4 - 9 3 . 22 von Beit 2, 470sq. - " D o d e r e r (wie not. 20); Bubenheimer, U.: Religion und E. im Spiegel von Kinder- und Jugendlit. In: Karst, T. (ed.): Kinderund Jugendlektüre im Unterricht 2. Bad Heilbrunn 1979, 13—35; Ellwanger/Grömminger (wie not. 1) 18sq., 75; Jalkotzky, Α.: Märchen und Gegenwart. Wien 1930; Psaar/Klein (wie not. 1) 28. - 2 4 cf. Kaiser, E.: „Ent-Grimm-te" Märchen? In: Westermanns Pädagogische Beiträge 27, 8 (1975) 448— 459. — 25 Sirovätka, O.: Tschech. Volksmärchen. MdW 1969, 2 2 1 - 2 2 3 ; Karlinger, F./Greciano, G.: Prov. Märchen. MdW 1974, 109-114; ebenso KHM 14. — 26 Kretschmer, P.: Neugriech. Märchen. MdW 3 1941, 297-305. - 27 Tegethoff, E.:
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Frz. Volksmärchen 2. MdW 1923, 131-141. 28 Zingerle, I. und J.: Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland. Regensburg 1854 (Regensburg/Rom 2 1916) lOsq. - 29 Müller-Lisowski, K.: Ir. Volksmärchen. MdW 3 1962, 232-243. 30 Meinhof, C.: Afrik. Märchen. MdW 1917, 62—65; Barüske, H.: Eskimo-Märchen. MdW 1969, 286-291. 31 Bukowska-Grosse, E./Koschmieder, E.: Poln. Volksmärchen. MdW 1967, 5 5 - 6 1 ; Karlinger, F.: Inselmärchen des Mittelmeeres. MdW 1960, 139-142; Meinhof (wie not. 30) 6 2 - 6 5 . - " B a rüske (wie not. 30) 18 sq. - 33 Bukowska-Grosse/ Koschmieder (wie not. 31) 165-172. - 3 4 Frobenius, L.: Märchen der Kabylen. MdW 1967, 185-189. - 35 Karlinger, F.: Märchen der Welt 1. Mü. 1978, 3 2 - 3 7 . - 36 Frobcnius (wie not. 34) 185-189. - 37 Mehdevi, Α.: Märchen aus Mallorca. Ffm. 1974, 5 2 - 6 3 . - 3 8 Zaunert, P.: Dt. Märchen aus dem Donauland. MdW 1958, 145-150. - 39 Boskovic-Stulli, M.: Kroat. Volksmärchen. MdW 1975, 195-198. - 40 Bukowska-Grosse/Koschmieder (wie not. 31) 181-191; Cox-Leick, A. M. A./Cox, H. L.: Märchen der Niederlande. MdW 1977, 135-138. "»Zingerle (wie not. 28) 2 1 3 - 2 1 9 ; BukowskaGrosse/Koschmieder (wie not. 31) 110-115. 42 Koväcs, Ä.: Ung. Volksmärchen. MdW 1966, 108-113. - 43 Boskovic-Stulli (wie not. 39) 2 2 9 - 2 3 3 ; von Löwis of Menar, A./Olesch, R.: Russ. Volksmärchen. MdW 1959, 261-266. 44 Sirovätka (wie not. 25) 196-203. - 45 Mehdevi (wie not. 37) 5 2 - 6 3 . - 46 Hetmann (wie not. 14) 4 0 - 4 9 ; Uffer, L.: Rätorom. Märchen. MdW 1973, 171-177. - 47 Müller-Lisowski (wie not. 29) 265-282. - 48 Bukowska-Grosse/Koschmieder (wie not. 31) 110-115; von Löwis of Menar/ Olesch (wie not. 43) 8 - 1 2 und 1 2 - 2 1 ; Frobenius (wie not. 34) 103-116; KHM 21, 24, 64. 49 Eschker, W.: Mazedon. Volksmärchen. MdW 1972, 180-186; Giese, F. R.: Türk. Märchen. MdW 1925, 3 5 - 4 9 ; Hertel, J.: Ind. Märchen. MdW 1959, 324-326. - 5 0 cf. Karlinger (wie not. 35) t. 4 (1979) 362, not. 1. 51 Müller-Lisowski (wie not. 29) 3 0 - 4 2 . - " K a r linger (wie not. 35) 3 2 - 3 7 ; cf. Bierhoff-Alfermann, D./Brandt, S./Dittel, Α.: Die Darstellung geschlechtstypischen Verhaltens im Märchen: Eine Inhaltsanalyse. In: Psychologie in E. und Unterricht 29,1 (1982) 129-139, hier 135-137. 53 Ozawa, T.: Jap. Märchen. Ffm. 1974, 9 5 - 9 8 . 54 cf. Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 108; Mot. F 345; Mot. A 511.3.2. - 55 Boskovic-Stulli (wie not. 39) 195-198; Karlinger (wie not. 31) 2 4 2 - 2 4 5 ; id. (wie not. 35) 4 8 5 - 4 8 7 ; id.: Ital. Volksmärchen. MdW 1973, 9 6 - 1 0 4 ; id./Mykytiuk, B.: Legendenmärchen aus Europa. MdW 1967, 5 - 1 1 und 1 7 - 2 1 ; Meier, H./Karlinger, F.: Span. Märchen. MdW 1961, 102-105. - 5 6 Boskovic-Stulli (wie not. 39) 4 8 - 5 0 . - "Karlinger, F./de Freitas, G.: Brasilian. Märchen. MdW 1972,
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74sq. - 58 Bechstein, L.: Dt. Märchenbuch. Mü. 1967, 9 1 - 1 0 0 . - 59 ibid., 2 0 8 - 2 1 3 ; Leskien, Α.: Balkanmärchen. MdW 1915, 3 - 5 . - 6 0 cf. Bubenheimer (wie not. 23) 14. 61 cf. Bierhoff-Alfermann/Brandt/Dittel (wie not. 52) 1 3 1 - 1 3 4 . - 6 2 Beispiele wie not. 39, 48, 51, 54.
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Abweichungen betreffen vor allem die letzte Tat, die die Lösung herbeiführt: Der büßende Räuber erschlägt einen Advokaten oder vernichtet den ,Gemeindefresser', der seine Buße verhöhnt; er tötet einige Tabakführer und vernichtet deren Waren; er erschlägt einen Verbrecher (Zauberer, Teufel, grausamen Gutsaufseher [Fronvogt]) oder aber die Personifikationsallegorie seiner eigenen Sünde.
land vor, ferner aus Armenien, Israel, Arabien, Mallorca sowie vereinzelt aus Deutschland (ζ. B. Franken), insgesamt also mit deutlichem Schwerpunkt im Einflußbereich der byzant. (griech.-orthodoxen) Kirche. Ihre „wunderbare Stabilität" 2 gilt nicht nur für die griech. Var.n, sondern für den Gesamtbestand. Wegen ihrer festen Fügung ist sie kaum Kontaminationen mit anderen Büßererzählungen eingegangen. Der Auffassung, daß ihr Inhalt auf reale Geschehnisse im Alten Orient zurückgehe 3 , steht der Exempelcharakter der Erzählung entgegen, der sich vornehmlich aus den beiden Hauptmotiven der 99 Totschläge und der „Gottgefälligkeit des hundertsten" ergibt 4 . Als Ausgangspunkt ihrer Handlung kommt das bibl. Gleichnis vom verlorenen Schaf in Betracht, das in der Aussage Jesu gipfelt: „Über einen Sünder, der Buße tut, wird im Himmel mehr Freude sein als über 99 Gerechte, die der Buße nicht bedürfen" (Lk. 15,7). Es war ein treffender Gedanke des (unbekannten) Autors der Geschichte, den einen Sünder, der Buße tut, zum Mörder der 99 Menschen zu machen, die nun, da sie tot sind, der eigenen Buße nicht mehr bedürfen. Nach traditioneller christl. Lehre ist jeder Mensch, solange er lebt, auf die Buße zur Wiedererlangung der im Lebenskampf verwirkten Taufunschuld angewiesen. Die „99 Gerechten, die der Buße nicht bedürfen", konnte man deshalb unter den Lebenden nicht finden. Sie waren am besten als Tote zu veranschaulichen, die gegen ihren Willen — nicht durch eigene Schuld - das Leben verloren hatten. Die Erzschuld des Räubers aber ließ sich kaum besser beschreiben als dadurch, daß man ihn zum Mörder der 99 Abgeschiedenen erklärte. Von hier aus bereitete es keine Schwierigkeit, den Grundgedanken der Bußlehre verständlich zu machen, daß selbst die schwersten Sünden — hier 99 Morde - durch das Sakrament der Buße (als das Mittel zur .Wiederherstellung des Einvernehmens mit Gott') getilgt werden könnten.
Die von Ν. P. —> Andreev in einer Monographie untersuchte Erzählung 1 liegt in zahlreichen mündl. und literar. überlieferten Var.n aus Groß- und Weißrußland sowie der Ukraine, aus Finnland, Litauen, Galizien, Bulgarien, Rumänien, Jugoslawien und Griechen-
Aus diesem Ansatz erklärt sich auch das Motiv der Suche nach dem zuständigen Beichtiger (Mot. V 29.1). Die christl. Bußlehre kennt den Gedanken der Reservation, daß bestimmte schwerste Sünden, wie Blutschande und Mord, zumal Eltern- oder Priestermord,
Freiburg/Br.
Erich Kaiser
Erzsünder: Die zwei E. (AaTh 756 C), bes. in Ost- und Südosteuropa verbreitete Büßererzählung, die in nur geringfügig voneinander abweichenden Versionen überliefert ist. (1) Ein —> Räuber, der (a) 99 Menschen oder (b) seine Eltern ermordet oder (c) eine Hostie geschändet hat, bekehrt sich und beschließt, —> Buße zu tun. — (2) Von mehreren Beichtigern wird er abgewiesen. Schließlich legt ihm ein Greis (Eremit) die Buße auf, (a) einen Feuerbrand (glühende Kohle, dürren Ast, Beil, Garten) zu .pflanzen' und zu warten, bis ein blühender (grünender) Baum entstanden sei, aus weiter Ferne in seinem Mund Wasser herbeizutragen und den Feuerbrand damit zu gießen, (b) einen Sack voll Steinen oder ein eisernes Stirnband zu tragen, bis sie von selbst abfielen, oder (c) schwarze Schafe zu hüten, bis sie weiß würden. (d) Ferner wird ihm geboten, Barmherzigkeit zu üben, Wanderer über einen Strom zu tragen (AaTh 768: -» Christopherus) oder jeden Fremden zu bewirten. — (3) (a) Lange müht sich der Büßer vergebens ab. (b) Da eilt einst ein Mann vorüber, der die angebotene Bewirtung ablehnt, weil er eine Hochzeit verhindern (Jungfrau schänden, andere Verbrechen begehen) will, (c) Der Büßer tötet den Mann und (d) bereut die vermeintlich böse Tat (seines hundertsten Mordes). — (4) (a) Das Wunder tritt ein und belegt damit die Gottgefälligkeit der letzten Handlung, (b) Der Beichtiger erklärt die Vergebung als Lohn für die Verhinderung des großen Verbrechens.
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Erzsünder: Die zwei E.
Zölibatsbruch etc., nicht von jedem Priester, sondern nur von solchen mit höherer Jurisdiktionsgewalt, d. h. letztlich dem Papst, vergeben werden dürfen. Verschiedene Var.n erwähnen deshalb solche Kapitalsünden (ukr. Redaktion: „Ein furchtbarer Räuber, der sogar seine eigenen Eltern ermordet hatte [. . .]") 5 , die es erklärlich werden lassen, warum der beichtwillige Räuber erst beim dritten, höheren Beichtiger zum Zuge kommt; die Stufenleiter der Ratgeber' ist theol. motiviert. Originell erscheint die Lösung der großruss. Redaktion und ihr nahestehender Var.n, den Räuber, der „100 Menschen weniger drei", also 97, ermordet hat, noch die beiden Priester, die er vergeblich um das Beichthören gebeten hat, erschlagen zu lassen, weil damit das Reservationsprinzip und die Zahl der 99 Gerechten bes. geschickt miteinander verbunden werden. Das Motiv kommt auch in anderen Büßererzählungen vor 6 . Das charakteristische Merkmal des ,gottgefälligen Totschlags' (Mot. Q 545) ist mehrfach diskutiert und als ,rätselhaft' bezeichnet oder mit Nekrophilie erklärt worden 7 . Im Zusammenhang des Erzählverlaufs ergibt es sich jedoch folgerichtig aus dem prozessualen Charakter der Buße, der vom Willen zur Wiedergutmachung der Schuld über verschiedene Guttaten bis hin zur Vernichtung des Gottesfeindes und damit des gottfeindlichen Tuns führt. Der Erzsünder begeht mit seiner letzten Tat keinen Mord, der den früheren gleichzusetzen wäre, sondern einen im Sinn der Lehre 8 erlaubten Totschlag. Indem er die ,Geschäfte des Fleisches' und deren Verursacher beseitigt, handelt er im Geist Gottes und damit gerecht. Dies jedenfalls meinte eine traditionelle Vorstellung, deren Quelle ein Wort des Paulus bildet: „Wenn ihr durch den Geist die Geschäfte des Fleisches tötet, so werdet ihr leben" (Rom. 8,13). Die Rettung des Büßers ergibt sich von daher als logische Folgerung. Wirklich zählen die einzelnen Ausprägungen der Erzählung verschiedene ,Geschäfte des Fleisches' auf, d. h. Handlungen, die dem .geistlichen' Menschen zuwider sind: Störung einer fremden Hochzeit, Verführung einer Jungfrau, Leichenschändung, Verhöhnung eines Büßenden, Förderung des Tabakgenusses, Grausamkeit gegen Abhängige, Zauberei und ähnliches. Dadurch, daß der büßende
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Räuber gegen solches Tun angeht, rechtfertigt er sich: „Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder" (Rom. 8,14). Nicht zufällig wird in den meisten Var.n auch der Schmerz des Büßers über seine vermeintliche neue Untat erwähnt. Denn dieser Schmerz ist nach christl. Denkweise Zeichen der wahren Reue (contritio caritate perfecta), die im Unterschied zur disponierenden Reue (contritio imperfecta oder attritio) — dem Anlaß zur Buße — die sofortige Rechtfertigung bewirkt. Als Reue wird der ,Schmerz über den Verlust der Gnade Gottes und der Unschuld' definiert, der sich gemäß der Regel ,contritio lacrymis testanda' oft in Tränen äußert 9 . Das Exempel von den zwei E.n schildert demnach die Buße eines Kapitalverbrechers, der dadurch Sündenvergebung erlangt, daß er sich bekehrt, Barmherzigkeit übt und die Untaten eines anderen Übeltäters — des ^weiten Erzsünders' — durch dessen Tötung verhindert. Da er damit seine eigene, ,fleischliche' Natur überwindet, wird ihm die erlangte Gnade durch eines der charakteristischen Zeichen der Übernatur (supernaturalitas) offenbart, ζ. B. das Ergrünen eines dürren Stabes (cf. AaTh 756: Der grünende —> Zweig) oder der Axt, auf der er die Zahl seiner Morde vermerkt hatte (—» Aaron). Im Hinblick auf das Stabwunder ist als Grundlage der Erzählung die seit dem 9. Jh. belegte apokryphe Legende von der Buße des Blutschänders Loth in Betracht gezogen worden: Loth habe auf Abrahams Geheiß drei Feuerbrände in die Erde eingepflanzt und sie täglich mit dem Wasser einer entfernten Quelle begossen, bis sie grüne Schößlinge hervorbrachten 10 . Die Verbindung zwischen Bußlehre und Legende könnte sich über die Schriftstelle ergeben haben, in der es von dem „gerechten Loth" heißt, daß es seine Seele gequält habe, das frevlerische Treiben derer, „die in schmutziger Gier dem Fleische sich hingeben", zu sehen und zu hören (2. Petr. 2,7-10). Vom Thema und seiner Ausgestaltung her stellt sich die Erzählung jedenfalls neben verbreitete Büßererzählungen, wie sie seit dem MA. sowohl im Einflußbereich der Ost- als auch in dem der Westkirche von Missionaren in Umlauf gesetzt wurden. Andreev vermutete zunächst, daß sie im 14. oder 15. Jh. in Bul-
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Esau
garien entstanden und dann nach d e m Norden g e w a n d e r t sei 1 1 . S p ä t e r hielt e r e i n e v o r d e r asiat. E n t s t e h u n g f ü r w a h r s c h e i n l i c h 1 2 . D e m gegenüber vertrat G. A. Megas den Standp u n k t , d a ß sie i h r e H e i m a t „in religiös-geistlichen K r e i s e n v o n B y z a n z " h a b e u n d „ i n d e r A b s i c h t " v e r f e r t i g t w o r d e n sei, „ d i e K r a f t der Buße klarzumachen"13. D.-R. Moser erinnerte an parallele Büßererzählungen aus d e m J e s u i t e n o r d e n 1 4 u n d an das Wirken der Jesuit e n in O s t - u n d S ü d o s t e u r o p a 1 5 . G e n a u e Z u w e i s u n g e n s t o ß e n auf d a s P r o b l e m , d a ß d i e der Erzählung zugrundeliegende Bußlehre gemeinsames E r b e der Ost- und der Westk i r c h e d a r s t e l l t u n d sie d e s h a l b a u c h K o n f e s s i o n s g r e n z e n in b e i d e n R i c h t u n g e n ü b e r s c h r e i t e n k o n n t e . N u r mit d e r e v a n g e l . - p r o t e s t a n t . B u ß a u f f a s s u n g h a t sie n i c h t s g e m e i n . Bes. n a h e steht die E r z ä h l u n g der G e schichte v o m Räuber Madej ( = M a t t h ä u s ; A a T h 7 5 6 B ) , einer breit ausgesponnenen Paraphrase des Gleichnisses v o m Pharisäer und Z ö l l n e r ( L k . 18, 9 - 1 4 ) 1 6 , in d e r e n V a r . n m e h r f a c h e b e n f a l l s d i e 9 9 M o r d e als S c h u l d des später geretteten R ä u b e r s auftauchen, d e s s e n U r b i l d d e r bibl. Z ö l l n e r M a t t h ä u s d a r stellt. W e g e n i h r e r g r ö ß e r e n B i b e l n ä h e w i r d m a n a n n e h m e n k ö n n e n , d a ß diese Parallelerzählung der vorliegenden vorausgegangen ist u n d sie a n g e r e g t h a t . B e m e r k e n s w e r t e r s c h e i n t j e d e n f a l l s i h r e t h e o l . s u b t i l e , allen w e sentlichen P u n k t e n der sakramentalen Bußlehre nachgehende Handlung, die ihre Funkt i o n als L e h r s t ü c k u n t e r s t r e i c h t . Der selbstgerechte —> Eremit ( A a T h 7 5 6 A ) 1 Andrejev 1924, 1927, 1929; weitere Var.n: Vekkenstedt, E.: Die Mythen, Sagen und Legenden der Zamaiten (Litauer) 2. Heidelberg 1883, 182sq.; Javorskij, Ju. Α.: Pamjatniki galicko-russkoj-slovesnosti. Kiev 1915, 284sq. (Lit.); Dawkins, R. M.: Modern Greek Folktales. Ox. 1953, num. 82; Miliopoulos, P.: Aus mazedon. Bauernstuben. Hbg 1955, 19—21; von Schönwerth, F. X.: Oberpfälz. Sagen, Legenden, Märchen und Schwänke. Kallmünz 2 1959, 164; Kabasnikaü, K. P.: Kazki i legendy rodnaga kraju. Minsk 1960, 1 4 9 - 1 5 1 ; Klaar, M. : Christos und das geschenkte Brot. Neugriech. Volkslegenden und Legendenmärchen. Kassel 1963, 1 8 4 - 1 8 6 ; Baharav, Z.: Sixty Folktales. Collected from Narrators in Ashkelon. ed. D. Noy. Haifa 1964, num. 42; Dietz, J.: Aus der Sagenwelt des Bonner Landes. Bonn 1965, num. 838; Lintur, P. V.: Ukr. Volksmärchen. B. 1972, num. 83; Barag; SUS. - 2 Megas 1975, 118. - 3 cf. Andrejev 1924,
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8 8 , 1 1 5 sq. - 4 ibid., 106. - 5 ibid., 66, cf. 41 sq. 6 ibid., 72. - 7 ibid., 91; cf. Wesselski 1930; Jahn, S. Al Azharia: Die Legende von den zwei E.n [. . .] in sudan-arab. Überlieferung. In: Fabula 19 (1978) 2 9 3 - 3 0 1 ; zur Nekrophilie cf. Krohn 1931,108 sq. 8 cf. Catechismus Romanus 3, 6, 5 („Es gibt Tötungen, die ausdrücklich auf Befehl Gottes geschehen. Die Söhne Levis sündigten nicht, als sie an einem Tag so viele Tausende von Menschen töteten"; zu Ex. 32, 2 8 - 2 9 ; cf. Ps. 101, 8). - 9 cf. Heynck, V.: Unters.en über die Reuelehre der tridentin. Zeit. In: Franziskan. Studien 29 (1942) 2 5 - 4 4 ; zu den ,Tränen der Buße' cf. Klapper, J.: Ma. Wandererzählungen in Oberschlesien. In: Mittigen der Schles. Ges. für Vk. 24 (1923) 8 5 - 9 4 , hier num. 1. - 10 cf. Andrejev 1924, 97sq.; Megas 1972; id. 1975,114; aus der Erzähltradition belegt: Bauer, L.: Das palästinens. Arabisch. Lpz. Ί 9 1 3 , 1 8 0 . 11 Andrejev 1924, 60, 113 sq., 116. - 12 id. 1929, 194; cf. Krohn 1931, 182. - " M e g a s 1975, 120. 14 Moser 1977, 62. - 15 cf. Alsheimer, R.: Das Magnum speculum exemplorum als Ausgangspunkt populärer Erzähl traditionen. Bern/Ffm. 1971; Kroess, Α.: Geschichte der böhm. Provinz der Ges. Jesu 1 - 2 . Wien 1 9 1 0 - 1 9 3 8 ; Rohwerder, M./Triller, A. (edd.): Historia residentiae Walcensis Societatis Jesu. Ab anno Domini 1618 avo. Köln/Graz 1967. - 16 cf. Moser 1980, 1 4 6 - 1 5 1 . L i t . : Andrejev, N. P.: Die Legende von den zwei E.n (FFC 54). Hels. 1924. - id.: Die Legende vom Räuber Madej (FFC 69). Hels. 1927,245 sq., pass. Andreev, N. P.: Legenda ο dvuch velikich gresnikach (Die Legende von den zwei E.n). In: Izvestija Leningradskogo pedagogiceskogo instituta imeni Α. I. Gercena, vypusk 1. Len. 1929, 1 8 5 - 1 9 8 (Nachträge). - Wesselski, Α.: Der gottgefällige Mord. In: Archiv Orientälni 2 (1930) 3 9 - 5 3 . Krohn, K.: Übersicht über einige Resultate der Märchenforschung (FFC 96). Hels. 1 9 3 1 , 1 0 7 - 1 1 1 , 182. - Kissling, H.-J.: Eine baktasit. Version der Legende von den zwei E.n. In: Z D M G 99 (1945 — 49) 181—201. — Megas, G. Α.: He peri metanoias tou Löt apokryphos paradosis kai hai schetikai me auten lai'kai diegesei's (ATh 756 C) (Die apokryphe Tradition zur Bekehrung Loths und die sie begleitenden Volkserzählungen). In: Laogr. 28 (1972) 3 3 7 - 3 5 2 . - id.: Die Legende von den zwei E.n in der griech. Volksüberlieferung. In: Fabula 16 (1975) 1 1 3 - 1 2 0 . - Moser, D.-R.: Die Tannhäuser-Legende. B./N. Y. 1977, 5 5 - 6 7 , pass. id.: Volkslieder und Volkserzählungen als Paraphrasen bibl. Geschichten. In: Festschr. K. Horak. Innsbruck 1980, 1 3 9 - 1 6 0 , bes. 1 4 1 - 1 4 6 . Freiburg/Br.
Dietz-Rüdiger Moser
Esau, I s a a k s u n d R e b e k k a s E r s t g e b o r e n e r und Jakobs Zwillingsbruder (Gen. 25,24—28;
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27,1; 32,4), wird als Urvater der Edomiter bezeichnet (Gen. 36, 43). Die bibl. Erzählungen behandeln vornehmlich das Verhältnis E.s zu —»Jakob. In der Geburtsgeschichte (Gen. 25,22—26) wird berichtet, wie sich die —> Zwillinge im Leibe Rebekkas stießen - Symbol für die Gegensätzlichkeit der beiden Brüder und der Völkerstämme, die sie später vertreten: E. wird ein tüchtiger Jäger, ein Mann der Steppe und Liebling seines Vaters. Ihn kennzeichnen Arglosigkeit und impulsives Handeln (cf. Gen. 25,26; 27,36). Dagegen wird Jakob, gedeutet als der Listige, ein seßhafter Mann und Lieblingssohn der Mutter. Er trachtet nach dem Erstgeburtsrecht, dessen Wert ihm wohl bekannt ist, und listet es dem Zwillingsbruder ab (Gen. 25, 29—34): Als E. hungrig von der Steppe kommt und zu essen verlangt, fordert Jakob von ihm das Erstgeburtsrecht als Gegengabe, auf welches E. bereitwillig verzichtet. Indem E. so leichtfertig das Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht verkauft, mißachtet er künftiges Erbe und Sippenstellung (Gen. 27, 29) sowie die Vorsehung Gottes. Der ,gottlose' Zug in E.s Charakter zeigt sich weiter in seiner Ehe mit zwei heidnischen Frauen (Gen. 26, 34sq.; 28,9). In Gen. 27 wird der Betrug um den Erstgeborenensegen beschrieben. Jakob verkleidet sich auf Rebekkas Rat hin als E. und bekommt so den Segen. Für E. bleibt nur ein geringer Segen, was diesen zu bitterer Reue und Racheschwüren gegen seinen Bruder treibt (Gen. 27, 34 und 41). Jakob flieht nach Haran zu seinem Onkel Laban, bei dem er sich für 20 Jahre verdingt. Die letzte Erzählung (Gen. 3 2 , 4 - 3 3 , 1 6 ) beschreibt das Zusammentreffen Jakobs, der mit seiner Familie auf dem Heimweg von Haran ist, und E.s, welcher den Vorhersagen seines Vaters gemäß (Gen. 27, 39 sq.) das karge Leben des kriegerischen Nomadenstammes der Edomiter teilt. Trotz gegenseitiger Furcht gehen die Brüder freundschaftlich aufeinander zu und versöhnen sich (Gen. 33,4).
Symptomatisch für die Jakob/E.-Erzählungen ist das ambivalente Verhalten der —> Brüder zueinander. Solche Überlieferungen sind in Mythen und Ätiologien vieler Kulturen geläufig und hängen wohl damit zusammen, daß Völker und Sippen ihre Ursprünge auf Brüderpaare zurückführen. H. Gunkel (1901) nimmt an, daß die Erzählungen über E. zunächst nicht mit der Geschichte der Edomiter verbunden waren. Erst später (cf. Jer. 4 9 , 8 - 1 0 ; Mal. 1 , 2 - 4 ) fand die Identifikation E.s mit Edom statt. M. Noth (1948) und V. Maag (1957) sehen in den Erzählungen ursprünglich israelit. Stam-
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mestraditionen des Gebietes von Gilead (östl. des Jordan), welche die Spannungen zwischen den Jägerfamilien einerseits und den Hirtenfamilien andererseits in diesem bewaldeten Gebiet widerspiegeln. Im Talmud und in den Midraschim findet sich eine Reihe von Erzählungen mit E. als Handlungsträger (Bin Gorion 1919). Dies dürfte vor allem mit der talmud. Gleichsetzung von E. und Edom mit dem Rom. Reich und dem damit verbundenen Christentum zusammenhängen. Diese Gleichsetzung hat ihren Grund in der Gegnerschaft E.s zu Jakob (Israel). Alle Untugenden des röm. Kaiserreiches werden auch ihm nachgesagt: Bereitschaft zu Mord und Vergewaltigung, Bestechlichkeit, Ablehnung und Verspottung der Beschneidung, Gottesleugnung, Leugnung der Auferstehung. Darüber hinaus werden ihm magische Kräfte zugesprochen (Mot. D 1711.1.2). Nur in einer Hinsicht wird E. positiv dargestellt: Es wird erzählt, daß seine Nachkommen, d.h. die Römer bzw. die Christen, die Herrschaft der Welt als Belohnung dafür erhielten, daß E. seinem Vater Ehre erwies. Daneben beschäftigt sich eine Anzahl von talmud. Erzählungen mit dem Verhalten der Zwillinge E. und Jakob im Mutterleib und bei ihrer Geburt, wobei sich bereits ihre zukünftigen Eigenschaften offenbaren. Auch bibl. Erzählungen über den Verkauf von E.s Erstgeburt und seine Benachteiligung beim väterlichen Segen werden in den nachbibl. Überlieferungen erweitert und ausgeschmückt. In weiteren Geschichten wird das Unbeschnittensein E.s (der Nichtjuden) verspottet. In der späteren Volksliteratur ist E. verhältnismäßig selten vertreten. So handelt von den über 13.000 in den Israel Folktale Archives (IFA) aufgezeichneten Geschichten nur eine Lokallegende von E., die mit dem Begräbnis Jakobs in Hebron verbunden ist (IFA, num. 4.297). Lit.: Gunkel, Η.: Genesis. Göttingen (1901) 8 1969, 2 9 1 - 3 9 5 . - Bin Gorion, M. J.: Die Sagen der Juden 2. Ffm. 1919, bes. 3 4 7 - 3 5 7 , 3 6 5 - 3 7 1 , 3 7 9 - 3 8 8 , 3 9 3 - 4 0 1 . - Moritz, B.: Edomit. Genealogien 1. In: Zs. für die at. Wiss. 44 (1926) 8 1 - 9 4 . - Heller, B.: Der Erbstreit E.s und Jakobs im Lichte verwandter Sagen. In: ibid., 317—320. — Ginzberg 1, 3 1 1 - 4 2 4 und 5, 2 7 0 - 3 2 3 . - Daube,
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D.: Studies in Biblical Law. Cambr. 1947 (Nachdr. Ν. Y. 1960) 190. - Noth, M.: Überlieferungsgeschichte des Pentateuch. Stg. 1948 ( 2 1960) 1 0 3 - 1 1 2 , 210. - Maag, V.: Jakob - E. - Edom. In: Theol. Zs. 13 (1957) 4 1 8 - 4 2 9 . - Rad, G. von: Das erste Buch Mose. Gen. Kap. 2 5 , 1 9 - 5 0 , 29. Göttingen (1958) 3 1961. - Graves, R./Patai, R.: Hebrew Myths. L. 1963, bes. Kap. 38, 4 0 - 4 2 , 48. - Schwarzbaum, 25, 144, 174. - Lüthi, M.: Bruder, Brüder. In: EM 2 (1979) 8 4 4 - 8 6 1 , bes. 855 sq.
Haifa
Aliza Shenhar
Eschatologie 1. Allgemeines — 2. E. und Märchen — 3. Erscheinungsformen e.er Vorstellungen — 3.1. Naturalistische E. - 3.2. E. des Zeitlosen — 3.3. Historisierende E. - 4. Motive — 4.1. Flutmythen — 4.2. Weltbrandmythen - 4.3. Weltalter - 4.4. Endschlacht - 4.5. E.e Vorzeichen - 4.6. Chiliasmus/ Millennium - 4.7. Weltgericht
1. A l l g e m e i n e s . E., dem Wort nach ,Lehre (oder Aussage) von den letzten Dingen' (griech. ta eschata [Sir. 7,36; Vulgata 40]), meint die Entwicklung des Weltganzen zu einem letzten Ende, die Hinordnung auf ein äußerstes Ziel. Die Grundfunktion jeder E. besteht in der Zusammenfügung mannigfaltigster Elemente der Welt und des menschlichen Daseins zu „inhaltsreichen Ganzheiten und Situationen" 1 . Wesentlich ist dabei deren Orientierung nach einem Absoluten, welches finalistisch als zeitliche Fixierung (Endzeit) und/oder axiologisch als wertbestimmende Sinngebung (Heils- und Unheilszeit) verstanden werden kann 2 . Der Begriff ist nicht nur religionswiss. und kulturhist. mehrdeutig — zumeist Synonym für Jenseitsvorstellungen 3 —, auch in der Theologie reicht sein Gebrauch von Distanzierungen zur Apokalyptik und einer Verbindung zu den Propheten 4 bis zur engeren Beziehung auf die ,Vier Letzten Dinge', d.h. —»Tod, —»Jüngstes Gericht, —> Jenseits, —> Himmel und —> Hölle 5 . 2. E. u n d M ä r c h e n . „Eschatologische Gedanken entstehen überall in der Menschheit. Es ist die Wirklichkeit des Menschen und der Welt selber, die sie hervortreibt" 6 . Dem Märchen im engeren Sinn (insbesondere Zaubermärchen) sind solche verschlossen,
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seine Schilderungen kennen keine absolute Grenze (—> Verwandlung, Wiederbelebung), den Sinnzusammenhang stiften nicht die Realkategorien Raum, Zeit und Kausalität 7 . Die entscheidende Funktion jeder Form von E. besteht aber gerade in der richtungweisenden Bestimmung des Gesamtverhältnisses Mensch und Welt von einem Ende/Ziel her. Deshalb sind für den e.en Stellenwert weniger die Inhalte (Sintflut, Weltbrand, Endschlacht etc.) ausschlaggebend, sondern vielmehr die bindende Ausrichtung, die alle anderen damit verbundenen Mythen und Motive bekommen. E. drängt auf Geschichtsmächtigkeit, indem eine kulturwirksame Ganzheit von religiösen, phil., moralischen und auch politischen Ideen hergestellt wird. E. ist vom Anspruch auf Glaubwürdigkeit, auf Deutung von Wirklichkeit, auf Legitimation des eigenen Daseins und auf Sinngebung von Welt getragen, im Gegensatz zum Märchen 8 .
3. E r s c h e i n u n g s f o r m e n e.er Vors t e l l u n g e n . In direkter Abhängigkeit von dem zugrundeliegenden Zeitverständnis und einem eventuellen Geschichtsbewußtsein lassen sich drei Grundhaltungen unterscheiden 9 . 3.1. N a t u r a l i s t i s c h e E. Sie reicht in vorgeschichtliche Zeit zurück, ist bei rezenten Naturvölkern fast ausschließlich in Geltung und im Aberglauben bis in die hochzivilisierte Gegenwart erhalten. Als wichtige Bekundung einer Naturreligion basiert sie auf der starken Verbundenheit des Menschen mit dem ihn umgebenden Lebensraum. Eigene Unzulänglichkeit wird als Entfremdung von der Natur erfahren, mit —» Magie und Ritual (—> Ritualistische Theorie) sucht der Mensch die natürliche Einheit wiederherzustellen, im —> Mythos möchte er sich den organischen Zusammenhang verdeutlichen. Seine Visionen der letzten Dinge sind dann Vorstellungen einer Einheit, die dem erlebbaren Jahreswechsel und beobachtbaren Zeitablauf übergeordnet sind. So gelangt man zu einem zyklischen Zeitverständnis, das hauptsächlich in biomorphen und anthropomorphen Bildern die Einheit der Welt zu erfassen sucht. Im Mythos der ewigen Wiederkehr bekommen diese
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wichtigsten Anliegen in angemessener Weise ihre geschlossenste Form: (a) als zeitliche Ordnung: Die Endzeit wiederholt, was in der Urzeit war 10 ; die Wirklichkeit wird zum Abbild überirdischer Urbilder; (b) als räumliche Ordnung: Symbolik des Mittelpunktes (etwa Himmelsstütze, Nabel der Welt), um den sich alles dreht; (c) als intentionale Ordnungsform: Der Mensch verhält sich richtig, sobald er (in den profanen und sakralen Handlungen, Riten) mit Vorbedacht Akte wiederholt, „die ab origine von Göttern, Heroen oder Ahnen gesetzt worden sind" 11 .
3.2. E. des Z e i t l o s e n . Sie gründet auf einer sehr abstrakten Spekulation: Der diesseitigen Welt der Erscheinungen, der Veränderung und des Todes wird ein jenseitiges Unwandelbares entgegengesetzt. Verfeinerte Kultur und differenziertes Denken sind Bedingung der individuellen E. Der einzelne kann diesen zyklischen Kreislauf durchschauen, sich durch Beachtung ritueller Praktiken, durch Opfer oder geistige Meditation davon distanzieren und so sich selber der gleichförmigen Wiederkehr entziehen. Am ehesten könnte man von einem disparaten Zeitverständnis sprechen, das aus Distanz zu aller inhaltlichen Veränderung gewonnen ist. Es liegen durchkomponierte Weltbilder, vorkonstruierte Verlaufsmodelle zugrunde, vorwiegend in technomorphen Bildern. Exemplarisch für die griech.-röm. Welt kann das Bild des gleichmütigen Stoikers stehen, die ind. Religion hat in der Gestalt des Arhat, der das Rad der —> Wiedergeburt hinter sich läßt und ins Nirväna eingeht (—»Buddha), einen verbreiteten Typus geschaffen. 3.3. H i s t o r i s i e r e n d e E. So kann jene Auffassung bezeichnet werden, wonach in raum-zeitlich koordinierbaren Bestimmungen ein wertender Bezug der geschichtlichen Realität zu wenigstens einem Absoluten hergestellt wird. Mit seiner Entscheidung ist jeder als Person in diese Totalität gestellt. Zarathustra, vom Leitmotiv der Bestrafung des Bösen geprägt, setzt alles auf die radikale Umgestaltung der Welt (fraso-kereti) im Feuerordal 12 , womit er „die archaische Ideologie des periodisch regenerierten kosmischen Zyklus aufheben wollte und statt dessen das unmittelbar bevorstehende und unwiderrufliche, von Ahura Mazda beschlossene und be-
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wirkte Eschaton verkündete" 13 . Dieses lineare Zeitverständnis führt im Einflußbereich des alten Israel zur Konstituierung des jüd. Geschichtsbewußtseins. In der Folge bildet sich in den großen monotheistischen Buchreligionen (Judentum, Christentum, Islam) der zentrale Gedanke der gottgewollten Heilsordnung heraus. Soziomorphe Bilder mit einer hierarchischen Ordnung herrschen vor (Auserwähltes Volk, Himmlisches Jerusalem, Civitas Dei), diese kulminiert in der Ausrichtung alles Irdischen auf das endgültige Urteil im Jüngsten Gericht. In der abendländ. Tradition haben immer wieder Aussagen der Bibel, —»• Prophezeiungen, —• Zahlensymbolik, Epochenspekulationen, Geheimlehren (z.B. —» Kabbala), unter gelegentlichem Rückgriff auf heidnisches Gedankengut, zur e.en Einordnung von Erscheinungen der realen Lebenswelt geführt (etwa als Vorzeichen des nahen Endes) und so politische Erwartungen (Erretter-Kaiser) und soziale Wunschbilder (Friedensreich) bestimmt. Der aus den chiliastischen Bewegungen bekannte Motivkreis war der Anstoß bes. populärer e.er Vorstellungen, die in zahlreichen Volkserzählungen und Sagen überliefert worden sind. 4. M o t i v e . Die Allgemeinheit von Weltuntergangsvorstellungen, durch ubiquitäre —> Katastrophenmotive belegt, kehrt bei aller Verschiedenheit der Teile ein derart grundlegendes Interesse hervor, daß jeder monokausale Erklärungsversuch fragwürdig bleiben muß. Um dennoch einen einheitlichen Überblick zu ermöglichen, bietet sich eine Darstellung an, welche die Bedürfnisse der Traditionsträger mitberücksichtigt. Zudem ist das Wie des geschilderten Weltendes untrennbar mit dem Weltbild, dem Kulturniveau und den realen Lebensbedingungen verknüpft 14 . Äußere, natürliche Ereignisse (geo-physikalisch nachweisbar) werden erst zusammen mit geistigen Dispositionen und sozialen Verhältnissen (überlieferungsgeschichtlich erschließbar) das Entstehen e.er Motive ermöglichen. 4.1. F l u t m y t h e n . Seit den vergleichenden Untersuchungen 15 von R. Andree, H. Usener und J. G. Frazer sind solche Mythen „auf allen Kontinenten (in Afrika aller-
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dings nur sehr selten) und auf verschiedenen Kulturstufen belegt" 16 (^Sintflut). Μ. ^ Eliade weist auf eine von Mesopotamien und dann Indien ausgehende Verbreitung sowie eine oder mehrere reale Überschwemmungskatastrophen als denkbare Entstehungsursache hin, ohne eine Anregung durch geologische Besonderheiten (—»Ätiologie) auszuschließen. C. Westermann sieht die wesentliche Gemeinsamkeit dieser Vorstellungen darin, „daß sie eine Grunderfahrung menschlichen Daseins wiedergeben, der Erfahrung eines Bedrohtseins, dessen der Mensch nicht Herr werden kann" 17 . H. Baumann möchte im Anschluß an W. —> Wundt 18 in den Mythen eine jüngere Schicht unterscheiden, in der der Mensch bereits in eine schuldhafte Verstrickung mit der Flut gebracht wird 19 . 4.2. W e l t b r a n d m y t h e n . Die kulturstiftende Bedeutung von —> Feuer steht außer Zweifel, die in den Mythen erkennbare Einstellung ist ambivalent. Der enormen Bedeutsamkeit (—> Feuerraub) treten das Unheimliche (—»Schmied) und die Furcht vor dem Wüten dieser Urgewalt (Weltbrand) zur Seite. Den Flutberichten vergleichbar weit verbreitet, bringen sie zusätzlich die Faszination eines elementaren Mitwirkens in Sicht. Das Thema erfreut sich in der Mythologie der südamerik. Völker bes. Beliebtheit. Die Varianten des Grundmotivs legen die Annahme einer aufkommenden Mitverantwortung des Menschen nahe. Die Auslösung des Brandes durch exogene (natürliche) Wirkzentren, wie den Sturz der Sonne (Mokovi), eines Teiles des Mondes, der vom Jaguar angegriffen wird (Toba), einen Himmelsfunken (Kaschinaua) oder Dämonen (Yurakäre), kann durch personal agierende Wesen, etwa den —»Trickster (Chiriguano) oder sogar durch einen —> Kulturheros, ersetzt werden 20 .
Am Weltbrandmotiv läßt sich beispielhaft zeigen, wie dasselbe Thema durch Einbettung in andere kulturelle Zusammenhänge seinen e.en Stellenwert ändern kann. In der Stoa wird die Kosmogonie systematisiert und der Weltbrand in den Dienst einer E. des Zeitlosen gestellt. Durch stete Umverteilung der Elemente einer ungewordenen Weltsubstanz kommt es zum periodischen Wechsel der Zustände des Kosmos: Der Diakosmesis (Einrichtung) folgt die Ekpyrosis (Weltbrand),
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in der Apokatastasis (Wiederherstellung) 21 kehrt dann die ganze Welt mit allen Individuen wieder. Der Mensch soll, auf diese ewige Wiederkehr ausgerichtet, das Ideal eines unerschütterlichen Weisen erreichen 22 . Das christl. Abendland sieht, unter heilsgeschichtlicher Orientierung, im Weltbrand das Zeichen für den Zorn Gottes 23 und überträgt dem Motiv — mit Berufung auf das N.T. (2. Petr. 3,7—13) — die Funktion, an das Strafgericht am Ende der Geschichte zu gemahnen; es handelt sich hier um historisierende E. 4.3. W e l t a l t e r . Dem Kosmos wird, analog den Altersstufen des Menschen — oft verknüpft mit einer Abfolge von Göttergeschlechtern (—» Theogonie) —, eine Entwicklung imputiert 24 . Die antike Tradition setzt ein Goldenes —> Zeitalter an den Anfang, dessen schrittweise Verschlechterung und Sittenverfall —> Ovid durch eine Metallreihe (Gold, Silber, Bronze, Eisen) symbolisiert (Metamorphosen 1,89-150). -» Vergil bahnt eine Historisierung des Motivs, gewiß unter Berücksichtigung sibyllinischer Orakel (cf. —»Sibyllen), durch Deutungen auf Rom und seine Zeit an (4. Ekloge), um „der Geschichte kosmische Valenz zu verleihen" 25 . Die jüd.christl. Tradition steuert aus dem A.T. (Dan. 7, bes. 2 - 8 ) die Idee der Ablösung der vier Weltreiche bei 26 . Augustinus endlich baut im engen Anschluß an das Sechstagewerk der —> Schöpfung diese Ansätze methodisch zur e.en Geschichtsspekulation von den sechs Weltzeitaltern in Ansehung des Reichs Gottes aus 27 . Das erste dauert vom Paradies bis zur Sintflut, das letzte, von Christus eingeleitet, endet mit dem Jüngsten Gericht. 4.4. E n d s c h l a c h t . Sowohl die wahrscheinlich ursprünglichere Gestalt des Zweikampfes (Gottheit/Held: Dämon/Ungeheuer) wie der universale Schlachtbericht unter Teilnahme der Menschen legen Zeugnis ab für wertendes und entscheidungsbewußtes Handeln. Eliade nimmt für den Mythos in seinen tragenden Momenten - (a) Kampf zwischen den Kräften des Guten und Bösen, (b) Zerstörung der kosmischen Proportionen durch Feuer und Wasser und (c) Aufkommen der neuen reinen Welt — einen archaischen Ursprung an. Gestützt auf .strukturelle Ana-
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logien' zwischen den drei großen e.en Kriegen (im —» Mahäbhärata; im Zoroastrismus Endkampf Ahura Mazda gegen Ahriman, —» Dualismus; im Ragnargk-Mythos, —• Edda), die S. Wikander und G. E. R. —» Dumezil herausgearbeitet haben, kommt er zu dem Schluß, „daß der Mythos vom Ende der Welt bei den Indoeuropäern bekannt war" 28 . A. —»OIrik unterscheidet im Ragnarijk viele heidnische Überlieferungen und — was andere bestreiten — christl. Einflüsse (z.B. Weltbrand) 29 . Jedenfalls vereinen sich in der überlieferten Form viele nichtchristl. Motive (z.B. —» Himmel fällt ein) zu einer gewaltigen Gesamtsicht des Weltunterganges. Weitverbreitete Motive, die auch in vielen Volkssagen erscheinen, sind vor allem: (a) Fimbulwinter. Bei den Lappen und Finnen 30 , im iran. Großwinter belegt, in Volkssagen oft Vorzeichen des Weltendes 31 . (b) Verschwinden der Sonne, die von einem Dämon (Wolf) verschlungen wird 32 . (c) Dämonische Ungeheuer brechen los (—» Loki, Fenriswolf). Derselbe Gedanke u.a. auch bei den Armeniern (Shidar), den Persern (Azdi-Dahäka), den Arabern (Khikk) und in der Bibel (—» Leviathan) 33 . Olrik versuchte eine Ableitung aus Mythen vom gefesselten Riesen (Kaukasus); R. Reitzenstein 34 , der schon manichä. Texte berücksichtigen kann, korrigiert diese These, die Dumezil zurückweist 35 . Die Midgardschlange wütet im Meer (Chaosdrache) - die Erde versinkt im Wasser. (d) Der Himmel fällt ein — die älteste Form des Weltunterganges bei den germ, und kelt. Völkern 36 . (e) Endkampf der Götter. Antagonistische Kontrahenten bringen sich gegenseitig zu Tode; Surtr entzündet den kosmischen Brand 37 .
4.5. E s c h a t o l o g i s c h e V o r z e i c h e n . Sobald man ein Weltende erwartet, muß man sich auf sein Kommen einstellen. „Bei fast allen eschatologisch denkenden Völkern werden dieselben Zeichen angegeben", sagt W.E. —> Peuckert 38 . Man darf verallgemeinern, was er speziell äußert: „Elementarkatastrophen, früher selbst eschatologische Vorgänge, werden zu Vorzeichen des Endes" 39 , wie (a) die Schöpfung altert, Naturzyklen nehmen ab, Lebenskraft schwindet, Monstren werden geboren 40 , (b) die Natur gerät in Unordnung 41 , und (c) parallel dazu werden Sitte und Moral zerrüttet, herrschen Übermut und Krieg 42 (cf. Prodigienlit., —> Prophezeiungslit.). In
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Furchterlebnissen gründende magische Praktiken und irrationale Vorstellungen sowie in tradiertem (oft heidnischem) Brauchtum wurzelnde Sittenbegriffe bekommen durch christl. Moral und heilsgeschichtliche Gewichtung eine Überhöhung, die eine Intensivierung des Weltendeproblems zur Folge hat. Lokale Begrenztheit verlangt nach Fixierung und führt zu einer „Umstilisierung" der Grundlagen und Motive, weil dadurch „die Unbegrenztheit und das Allumfassende des Mythos in die profaneren Bezirke der Volkssage eingeebnet" 43 , zugleich aber auch konkretisiert wird. (a) Terminierung: Bestimmungen von Zeit und Ewigkeit sinnfällig machen; (b) Lokalisierung: Besonderheiten an Landschaften, Merkmalen, Gegenständen und Erscheinungen mit einem endzeitlichen Gewicht versehen; (c) Individualisierung: dem Einzelmenschen (seinem Tun) durch Zuordnung in den Heilsplan unbedingte Bedeutsamkeit verleihen; Prophezeiungen sorgen zusätzlich noch für (d) Aktualisierung.
4.6. C h i l i a s m u s / M i l l e n n i u m . Reales Wunschdenken (-» Utopie) sucht immer wieder - am Motivkomplex eines 1000jährigen Friedensreichs vor dem endgültigen Ende dieser Welt —, die Erwartungen durch Legendenbildung um hist. Personen und Einrichtungen einer vorstellbaren Erfüllung näherzubringen. Wahrscheinlich auf Weltalterspekulationen über die Ankunft des Saosyant (Erretter) im Parsismus aufbauend 44 , hat die jüd. Apokalyptik zunächst nationale, später auch universale Enderwartungen in der Idee eines Zwischenreiches vor dem endgültigen Gericht und dem Anbruch des neuen Äons vereint 45 . A. Wikenhauser 46 leitet dies bibelimmanent aus dem Schema der Weltwoche her. Sowohl im Spätjudentum 47 wie im frühen Christentum 48 war die Auffassung verbreitet, das Sechstagewerk der Schöpfung (Gen. 1,1—2,4) sei in Verbindung mit der Aussage, vor Gott seien 1000 Jahre wie ein Tag (Ps. 90,4), als Hinweis auf die 6000 Jahre währende Geschichte der Welt zu begreifen, vermehrt um den 1000jährigen Weltsabbat, ein messianisches Reich paradiesischen Glückes. In der Offenbarung des Johannes hat dieser Gedanke seine einflußreichste christl. Gestalt bekommen:
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Eschatologie
Der Fall Babylons (Apk. 1 7 , 1 - 1 9 , 1 0 ) , der Sturz des Tieres und des falschen Propheten (Apk. 1 9 , 1 9 - 2 0 ) , das Binden des Drachen - „der alten Schlange, die Teufel und der Satan ist" (Apk. 20,2) — und sein Verschließen im Abgrund bilden Vorspiel und Auftakt zur Auferstehung der Blutzeugen, die mit Christus ein Jahrtausend friedvoll herrschen. Am Ende kommt nochmals auf kurze Zeit der Satan los, verführt — einer Überlieferung folgend (Ez. 38—39) > Gog und Magog zum Völkersturm von den vier Ecken der Erde auf die hl. Stadt Jerusalem, wo die entscheidende Endschlacht durch einen Feuerstrom vom Himmel endgültig mit Gott entschieden wird. Dann folgt das allg. Gericht (Apk. 2 0 , 1 1 - 1 5 ) .
Dieser von göttlicher Autorität getragene, modellhafte Weltverlauf in Symbolen gab vor allem in Krisenzeiten reichlich Anlaß zu hist. Belegung und erzählerischer Ausschmükkung. So wurde durch jüd. Vermittlung kosmologischer Mythen oriental. Herkunft der Antichrist (1. Joh. 2 , 1 8 - 2 0 ; 2. Joh. 7) 49 - im N.T. noch ein diffuses Feindbild 50 — zur apokalyptischen Chiffre für ,widergöttliche Mächte und Gestalten' 51 . Von Deutungen auf Herodes, Simon Magus, Nero, Domitian über die ma. Exegese der auf Abt Adso von Montier-en-Der zurückgehenden Vita De ortu et tempore Antichristi (um 950) sowie deren lehrhaft-propagandistische Ausgestaltungen in der Kunst 52 bis in die konfessionelle Polemik im Anschluß an Luthers Kontroverse mit dem Papsttum 53 reichen die geschichtlichen Aktualisierungen der dogmatischen Festlegung von .Vorzeichen der Parusie Christi' beim Weltende. Von der e.en Spannung aus Befürchtung und Erwartung getragen, hat diese Historisierungstendenz zu einer sehr umfänglichen Legendenbildung um das Auftreten des Antichrist 54 und seines Gegenspielers, eines Friedensfürsten (rex iustus) 55 , geführt. Diese Überlieferung wird von der durch Augustinus geprägten kirchengeschichtlichen Deutung der Enderwartungen getragen. Nach dem Ausbleiben der Parusie, der Anerkennung des Christentums durch Konstantin (311) und dem Aufrücken zur Staatsreligion unter Theodosius (380) war es notwendig geworden, das versprochene Reich mit —> Christus bereits angebrochen sein zu lassen und im Wirken der Kirche den irdischen Ausdruck
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des auf 1000 Jahre gebundenen Satan zu sehen 56 . Das Ausbleiben des Weltgerichtes zu Ende des 1. Jahrtausends hatte Umdeutungen und unbestimmte Ausweitungen zur Folge. Da haben dann Volksfrömmigkeit und Aberglauben, durch ideologische Propaganda ausgenützt, durch soziale Spannungen erregt, unter Einbeziehung der zahlreichen Kaisersagen 57 die beiden Antipoden immer wieder mit neuen Zügen ausgestattet und diesen vielschichtigen e.en Erzählkomplex schließlich mit der bilderreichen Schilderung einer letzten Schlacht abgeschlossen sein lassen. Einer verbreiteten sibyllinischen Weissagung zufolge sollte der letzte Kaiser, nachdem er die Heiden bekehrt und das Reich wiedervereint haben wird, nach Jerusalem ziehen und seine Krone am Kreuz (am ,dürren Baum') 58 niederlegen; danach kann der Antichrist bis zum Weltende ungehindert seine Herrschaft ausüben. Rettung in der Not erwartet man von einem schlafenden Helden oder Herrscher der Vergangenheit (auf —> Karl den Großen, Friedrich Barbarossa und viele andere gedeutet), der — mit seinem Heer in einen Berg entrückt 59 — dereinst wiedererwacht die widergöttlichen Mächte im Auftakt zum Weltgericht endgültig bezwingen werde (—» Entrückung). Seit dem 16. Jh. tritt die Kaisergestalt zugunsten eines ,weißen Fürsten' 60 und das mythisch eingefärbte Jerusalem (Himmelsstadt, Mittelpunkt der Welt) zugunsten anderer, zumeist durch einen ,Schlachtenbaum' 61 ausgezeichneter Austragungsorte (u.a. auf dem Walserfeld, am Untersberg) zurück. Die ursprünglichere und im eigentlichen Sinn ,chiliastische' Auffassung einer Zwischenzeit hatte mit der Lehre des Abtes Joachim von Fiore (gest. 1202) verstärkten Auftrieb erhalten: Dem Reich des Vaters und dem des Sohnes sollte das .Dritte Reich' im Zeichen des Hl. Geistes folgen - ein lOOOjähriges Goldenes Zeitalter. Die politische Sprengkraft dieser Ideen kann man an den sich um Kaiser Friedrich II. (gest. 1250) und sein Nachleben rankenden Erzählungen und Sagen ablesen; seine Rolle schwankt zwischen Friedenskaiser und Antichrist 62 . ,Joachitische Weissagungen' 63 wurden im Laufe der Geschichte des öfteren zur Rechtferti-
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Eschatologie
gung kritischer Gegeninstanzen aktualisiert, so hat diese Auslegung „mehr die Sozialrevolutionären Ideen beeinflußt" 64 . 4.7. W e l t g e r i c h t . Die Idee eines Gerichtes über die Toten ist eine Konzeption der Hochkulturen. Als individuelles Totengericht wird sie im ägypt. Totenbuch (Kap. 125) 65 bes. eindrucksvoll geschildert. Vor dem göttlichen Richterkollegium unter Osiris, dem Herrn des Gerichts, muß der Verstorbene Rechenschaft ablegen und sich einer Prüfung unterziehen. Anubis wiegt das Herz mit der Maat 66 aus, Thot zeichnet alles auf und verkündet den Spruch, der sofort vollzogen wird. „Aus der Norm der Maat und ihrer lebensumspannenden Geltung sowie aus der Vorstellung eines ins Totenreich verlängerten diesseitigen Prozeßgerichts formierte sich die Idee eines allgemeinen Totengerichts unter Gottes Leitung" 67 .
War dieses noch stark „magisch ausflankici't"" s , so wurde dann bei den Griechen, vor allem in der von Piaton gestalteten Form (Apologie 4 1 A - E ; Gorgias 5 2 3 A - 5 2 7 A ) , der Ruf nach unbedingter Gerechtigkeit zum beherrschenden Leitgedanken 69 , blieb jedoch auf das individuelle Geschick beschränkt. In Israel wieder trat, auf der Basis des Bundes mit Jahwe 70 , der einzelne hinter dem Kollektiv des Auserwählten Volkes (Dtn. 7,6 u. ö.) zurück. Sein Gott, der Herr, ist Richter und Rächer, zunächst mit dem innergeschichtlichen Endziel der „Aufrichtung der vollendeten Gottesherrschaft", mit der „Vernichtung aller ihm feindlichen Mächte" und der „Reinigung des Volkes von allem unheiligen Wesen" 71 (Jes. 65,11-16; Sach. 5 , 1 - 4 ; Mal. з,2—24). Allmählich gewinnt außer dem Gedanken individueller Vergeltung (Jer. 31,29; Ez. 18,2) seit Arnos (5,18-20) die endzeitliche Erwartung des Gerichtes am ,Tage Jahwes' immer mehr an Bedeutung, was im Spätjudentum unter pers. Einfluß 72 über ,messianische Wehen' zu einer kosmischen E. mit Weltuntergang, Auferstehung der Toten, Weltgericht und endgültigem Urteil über Gute und Böse ausgeweitet wurde 73 . Dazu erhält noch die aus alter israelit. Königsideologie stammende Hoffnung auf den Messias (z.B. Jes. 9,1—6; 11,1—9) durch Verbindung mit Prophetien vom Menschensohn (Dan. 7,13 и.ö.) endzeitlichen Stellenwert: Der Messias
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ist „kommender Herrscher, der die eschatologische Wende herbeiführen wird" 74 . Jesus nannte sich selbst gern so, seine Funktion als künftiger Richter betonend (z.B. Mk. 8,38; 14,62; Lk. 12,8sq.). Die damit verbundene Naherwartung (Mk. 1,15) der Vollendung im Reich Gottes (eindringlich Mt. 24 und 25) rückte — nach Auferstehung und Himmelfahrt Jesu — die Frage nach dem Sinn der Parusieverzögerung ins Zentrum, wodurch „einerseits die Besinnung über die Zwischenzeit Gegenstand des theologischen Interesses" und andererseits „ein neues Ausmalen der künftigen Ereignisse in Bildern möglich" wurde 75 . In der Folgezeit hat die heilsgeschichtliche Orientierung des ma. Menschen, von Bibelstellen (bes. Apk. 20,11 — 15) und Väterkommentaren (z.B. Augustinus, De civitate Dei 20—22) ausgehend, unter Einbeziehung von Visionsschilderungen und alten Legenden durch belehrende und warnende Prediger wachgehalten 76 , zu bes. populären Gestaltungen der Gerichtsidee geführt. Hier sind die auch außerhalb des dt. Sprachraumes in drei Typen belegten Weltgerichtsspiele 77 einzuordnen: die Spiele vom Jüngsten Gericht, die Antichristspiele sowie die Zehnjungfrauenspiele, in denen die Parabel von den klugen und törichten Jungfrauen (Mt. 25,1 — 13), in allen Details auf das Endgericht gedeutet, dramatisiert wird. —»Dante hat mit seiner Dreiteilung der Divina commedia (InfernoPurgatorio-Paradiso) diesen Vorstellungskomplex in eine für das Abendland auf Jh.e verbindliche dichterische Form gebracht. Die Volksfrömmigkeit rechnet mehr mit einem Strafgericht und gibt dem —»Fegefeuer verstärkte Bedeutung; der Aberglauben knüpft viel Hoffen auf Gerechtigkeit an den im A.T. (Ez. 39,11) prophezeiten Gerichtsort: das Tal Josaphat 78 bei Jerusalem. Weit verbreitet sind die lehrhaft-künstlerischen Darstellungen vom Jüngsten Gericht, „der figurenreichste und monumentalste Bildvorwurf der christl. Kunst" 79 in Kirchen mit den Hauptelementen: (a) Christus-Richter 80 mit Gefolge und Symbolen, des öfteren mit dem —• Buch des Lebens (Apk. 3,5; 20,12; 21,27) 81 , (b) Scheidung der Seligen mit dem Paradies (Pforte) und Verdammten mit der Hölle (Höllenrachen) 82 , in deren Mit-
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Eschatologie
te d e r E r z e n g e l M i c h a e l mit d e r W a a g e 8 3 , ( c ) A u f e r s t e h u n g der T o t e n 8 4 . B i s h e u t e sind diese K o m p o s i t i o n e n aus theol. P r o g r a m m und populärer Legende ungebrochen
beeindruk-
kend geblieben; a m einflußreichsten w a r die —» Legenda
aurea
des —> J a c o b u s de V o r a g i -
ne. D i e Ausgestaltung des e . e n T h e m a s kann das ganze M o t i v b e s t i m m e n und der E r z ä h lung heilsgeschichtliche B e d e u t s a m k e i t
ver-
leihen, wie in den Heiligenlegenden, die zur „ E i n k e h r und U m k e h r im H i e r und J e t z t d e r G e g e n w a r t " 8 5 m a h n e n , o d e r in m e h r spieleris c h e r P a r a p h r a s i e r u n g u . a . mit T i e r a k t e u r e n n u r das E i n g a n g s e l e m e n t des G e s c h e h e n s bilden. Z u e r w ä h n e n w ä r e hier: A a T h 2 0 C : cf. —> Tiere fressen
einander,
V a r . n zu A a T h 1 3 0 :
cf. - > Tiere auf Wanderschaft,
die scherzhafte
V e r a r b e i t u n g im K e t t e n m ä r c h e n A a T h 2 0 3 3 : cf. —» Heilung
des Hähnchens
und schließlich
d e r E r z ä h l s t o f f —» V o r l a d u n g v o r G o t t e s G e richt86. I R G G 2, 6 5 2 ; cf. dazu L T h K 3, 1 0 8 3 s q . - 2 R G G 2, 6 5 1 . - 3 R G G 2, 6 5 0 . - 4 Vriezen, T. C.: Prophetie und E. In: E. im A.T. ed. H. D. Preuss. Darmstadt 1978, 8 8 - 1 2 8 . - 5 Bildkünstlerische Motive v. R D K 4, 1 2 - 2 2 ; R D K 5, 1 4 5 6 - 1 4 6 6 ; v. E M 2, 1394sq. (mit Lit.). - 6 Althaus, P.: Die letzten Dinge. Gütersloh 1933, 6. - 7 Ranke, K.: B e trachtungen zum Wesen und zur Funktion des Märchens. In: Karlinger, 3 2 0 - 3 6 0 , hier 322. - 8 H D M 1, 5 3 2 - 5 3 5 , hier 5 3 4 . - 9 Ähnlich in Enc. Britannica 6. Chic./L. u.a. l s 1 9 7 4 , 9 5 8 - 9 6 2 . - 10 Die zum Verständnis von E. wichtige Formel des Zusammenhanges stammt von Gunkel, H.: Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit. Göttingen 1921. I I Eliade, M.: Der Mythos der ewigen Wiederkehr. Düsseldorf 1953, 16. - 12 Widengren, G.: Die Religionen Irans. Stg. 1965, 8 7 s q . ; Haussig, H. W. (ed.): W B . der Mythologie Abt. 1, t. 4. Stg. 1982, 3 3 3 - 3 4 0 . - 13 Eliade, M.: Geschichte der religiösen Ideen 1. Fbg/Basel/Wien 1978, 2 8 9 . 14 R G G 6, 1630. 15 Herrmann, F.: Symbolik in den Religionen der Naturvölker. Stg. 1961, 1 3 3 - 1 3 8 (Forschungsüberblick). - 16 Eliade (wie not. 13) 68. - 17 Westermann, C.: Genesis 1 - 1 1 . Darmstadt 1976, 81. - 18 Wundt, W.: Völkerpsychologie. 2: Mythus und Religion 3. Lpz. 1909, 4 5 3 - 4 6 4 . - 19 Baumann, H.: Schöpfung und Urzeit des Menschen im Mythus der afrik. Völker. B . 1936, 3 0 7 - 3 2 7 , hier 321. - 2 0 StandDict. 1, 345. 2 1 R A C 1, 5 1 0 - 5 1 6 . - 2 2 Pohlenz, M.: Stoa und Stoiker. Zürich/Stg. 2 1 9 6 4 , 1 0 5 - 1 1 2 , bes. 1 6 2 170. - 2 3 Jes. 1 , 2 4 - 2 6 ; 5 , 2 4 ; Jer. 5 , 1 4 ; 10,16; dazu allg. H D A 2, 9 9 5 ; von Gall, Α.: Basileia tou the-
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ou. Heidelberg 1926, 143sq., 224, 3 2 0 - 3 2 3 . 2 4 Roscher, W. H. (ed.): Ausführliches Lex. der griech. und röm. Mythologie 6. Lpz./B. 1 9 2 4 - 3 7 , 3 7 5 - 4 3 0 ; Pauly/Wissowa, Suppl.band 15 ( 1 9 7 8 ) 7 8 3 - 8 5 0 ; R A C 1, 1 4 4 - 1 5 0 (Aetas aurea). 2 5 Eliade (wie not. 13) t. 2 ( 1 9 7 9 ) 3 0 9 . - 2 6 Trieber, C.: Die Idee der vier Weltreiche. In: Hermes 27 ( 1 8 9 2 ) 3 2 1 - 3 4 4 . - 2 7 Augustinus, D e genesi contra Manichaeos 1, 2 3 ; De civitate Dei 22, 30; dazu Dempf, Α.: Sacrum imperium. Mü./Wien 41973, 1 1 7 - 1 2 2 . - 2 8 Eliade (wie not. 13) t. 2 ( 1 9 7 9 ) 2 0 3 s q . - 2 9 Olrik, Α.: Ragnarök. B./Lpz. 1922, 131 (Aufzählung der der Vglospä eigentümlichen Motive christl. Ursprungs: Verderbnis der Menschheit (?), das Gjallarhorn verkündet Ragnargk, die Sonne wird schwarz, die Sterne fallen herab, Weltbrand, die Glückseligkeitswohnung, das Kommen des Mächtigen). - 3 0 Haussig (wie not. 12) t. 2. Stg. 1973, 42, 78, 2 9 3 s q . ; von Gall (wie not. 2 3 ) 133 sq. 3 1 N ö t h , E . : Weltanfang und Weltende in der dt. Volkssage. Ffm. 1932, 34sq.; H D A 2, 9 8 9 - 9 9 8 , hier 9 9 2 . - 3 2 H D A 2, 99 3. - 3 3 H D A 2, 9 9 3 s q . ; Nöth (wie not. 3 1 ) 3 8 - 4 1 ; Haussig (wie not. 12) 2 9 4 ; Hiob 3,8; 4 0 , 2 5 - 3 2 ; L T h K 6, 9 9 5 ; R G G 4, 337 sq. - 3 4 Olrik (wie not. 2 9 ) 85; Reitzenstein, R . : Weltuntergangsvorstellungen. In: Kyrkohistorisk Ärsskrift 24 ( 1 9 2 5 ) 1 2 9 - 2 2 1 . - 3 5 Dumezil, G.: Loki. Darmstadt 1959, 1 1 5 - 1 2 1 . - 3 6 de Vries, J . : Kelt. Religion. Stg. 1961, 2 6 0 s q . ; Olrik (wie not. 2 9 ) 4 2 4 . - 3 7 Hoops Reall. 3 ( 1 9 1 5 - 1 6 ) 4 3 6 - 4 3 8 . - 3 8 H D A 4, 8 5 9 - 8 8 4 , hier 859. 3 9 H D A 4, 8 6 5 . - 4 0 H D A 4, 869. -
H D A 4, 8 7 1 ; Nöth (wie not. 3 1 ) 3 6 - 3 8 . H D A 4, 8 7 3 - 8 8 4 ; Nöth (wie not. 3 1 ) 4 6 - 5 1 . 4 3 Nöth (wie not. 3 1 ) 3 7 ; zum folgenden cf. ibid., 2 8 - 3 3 , 4 1 - 4 6 . - 4 4 von Gall (wie not. 2 3 ) 3 0 0 - 3 0 3 . - 4 5 Bietenhard, H.: Das tausendjährige Reich. Zürich 195 5. — 4 6 Wikenhauser, Α.: Die Herkunft der Idee des tausendjährigen Reiches [. . .]. In: Röm. Quartalschr. 4 5 ( 1 9 3 8 ) 1 - 2 4 ; ergänzend id.: Weltwoche und tausendjähriges Reich. In: Theol. Quartalschr. 127 ( 1 9 4 7 ) 3 9 9 - 4 1 7 . 4 7 äth. Hen. 9 1 , 1 2 - 1 7 , 93; Sib. 3, 6 5 2 - 8 2 8 ; 4. Esr. 7 , 2 6 - 4 4 ; Apk. Bar. (syr.) 2 7 , 1 - 4 0 , 3 . 4 8 Barn. 1 5 , 4 - 8 . - 4 9 Wadstein, E.: Antichrist Weltsabbat - Weltende und Weltgericht [. . .]. Lpz. 1896. - s o Theol. Realenzyklopädie 3. Β./ N . Y . 1978, 2 2 s q . 41
42
R A C 1, 4 5 2 . - 5 2 R D K 1, 7 2 0 - 7 2 9 ; LCI 1, 1 1 9 - 1 2 2 . - 5 3 Preuß, H.: Die Vorstellungen vom Antichrist [ . . . ] . Lpz. 1906. - 5 4 H D A 1, 4 7 9 5 0 2 ; Krzyzanowski 6 8 3 ; zum Ganzen Bernheim, E.: Ma. Zeitanschauungen in ihrem Einfluß auf Politik und Geschichtsschreibung. Tübingen 1918, 6 3 - 7 0 (allg.), 7 0 - 9 7 (Antichrist), 9 7 - 1 0 9 (Friedensfürst); Kursawa, H.-P.: Antichristsage, Weltende und Jüngstes Gericht in ma. dt. Dichtung. Diss. Köln 19 76. - 5 5 H D A 2, 2 6 - 3 5 , hier 28sq. - 5 6 R A C 2, 1077sq. - 5 7 Kampers, F.: Die dt. 51
411
Esel
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Kaiseridee in Prophetie und Sage. Mü. 1896; id.: Vom Werdegang der abendländ. Kaisermystik. Lpz./B. 1924 (Zusammenhänge Alexanderroman, Bezüge zu Kaiser Friedrich II.). — 5 8 H D A 2, 5 05 - 5 1 3. - 59 H D A 1, 1 0 5 6 - 1 0 7 1 . - 6 0 H D A 9, 449-458. 61 H D A 9 (Nachtragsband) 1 9 9 - 2 1 5 ; Nöth (wie not. 31) 5 2 - 5 5 ; Brepohl, W.: Die Überlieferung von der Schlacht am Birkenbaum - heute. In: Festschr. J. Dünninger. B. 1970, 4 8 4 - 5 0 3 . - 6 2 Cohn, H.: Das Ringen um das tausendjährige Reich. Bern/Mü. 1961, bes. 9 4 - 1 1 3 . - 6 3 H D A 9, 3 9 3 - 4 3 4 . - 6 4 RGG 1, 1652. - 65 Roscher (wie not. 24) t. 5 (Lpz. 1 9 1 6 - 2 4 ) 1 0 7 2 - 1 0 8 4 ; Eliade (wie not. 13) 1 0 8 - 1 1 2 , 366 (Lit.). - 6 6 Zentraler Begriff mit komplexem Bedeutungsfeld: richtige Ordnung, Recht und Gerechtigkeit, Wahrheit; dazu: Morenz, S.: Ägypt. Religion. Stg. 1960, 1 2 0 - 1 4 3 . - 6 7 ibid., 137. - 6 8 ibid., 220. - 6 9 Lex. der Alten Welt. Zürich/Stg. 1965, 1 3 6 4 - 1 3 6 7 , 3103. - 70 Ringgren, H.: Israelit. Religion. Stg. 1963, 1 0 2 - 1 0 7 ; cf. RGG 2, 1417sq. 71 LThK 4, 727. - 72 von Gall (wie not. 23) 2 8 5 287; Ringgren (wie not. 70) 306. - " H e i l e r , F.: Erscheinungsformen und Wesen der Religion. Stg. 1961 ( 2 1979) 530 sq. - 74 Ringgren (wie not. 70) 310. - 75 RGG 2, 1421. - 76 Albert, F. R.: Geschichte der Predigt in Deutschland 1—2. Gütersloh 1 8 9 2 - 9 3 , bes. t. 1, 41, 1 3 2 - 1 3 4 ; H D A 4, 8 8 4 - 8 9 6 , hier 8 8 5 - 8 9 6 . - 77 KLL 24, 1 1 0 6 3 11076. - 78 von Gall (wie not. 23) 224; H D A 4, 7 7 0 - 7 7 4 ; cf. Müller, I./Röhrich, L.: [Dt. Sagenkatalog] X.: Der Tod und die Toten. In: DJbfVk. 13 (1967) 3 4 6 - 3 9 7 (F 14, F 30). - 79 LThK 4, 736; RDK 4, 5 1 3 - 5 2 3 . - 80 v. EM 2, 1420sq. 81 RDK 2, 1339; von Gall (wie not. 23) 3 1 3 - 3 1 5 . - 8 2 Kretzenbacher, L.: E.es Erzählgut in Bildkunst und Dichtung. In: Festschr. K. Ranke. Göttingen 1968, 1 3 3 - 1 5 0 . - 8 3 Pauly/Wissowa 23/2 (1959) 1 4 3 9 - 1 4 5 8 ; Kretzenbacher, L.: Die Seelenwaage. Klagenfurt 1958. - 84 von Gall (wie not. 23) 3 0 3 - 3 0 5 , 426sq. - 85 Dorn, E.: Der sündige Hl. in der Legende des MA.s. Mü. 1967, 144. - 8 6 Hardung, S.: Vorladung vor Gottes Gericht. Bühl (Baden) 1934.
Zug-, Saum- und Dreschtier bekannt 1 . Irrtümlicherweise wurden auch der weniger bekannte Wildesel (Onager, eigentlich equus Przewalski) und das Maultier (equus mulus) als E. bezeichnet2. Das Tier wurde in der sumer. Kultur hoch verehrt. Hethit. Tontafeln preisen den edlen, gewaltigen E.shengst, der kraftvoll galoppierend dahineilt3. Ein Tonmodel aus Kültepe (18. Jh. a. Chr. n.) stellt ein Götterpaar mit E. dar 4 . In Palästina dagegen erhielt das Tier das sog. ,E.begräbnis\ man ließ es liegen wie Aas in der Wildnis5. Im ind. Mythos besitzt der E. göttliche, dämonische und menschliche Natur. Entsprechende doppelsinnige Bezeichnungen führten zur Bildung kontrastreicher Mythen6. Der tägliche Umgang mit dem weit verbreiteten und überaus nützlichen Tier, sein Charakter und die ungewöhnlich proportionierte Gestalt haben die menschliche Phantasie stark zum Fabulieren angeregt.
1. A l l g e m e i n e s . Der E. (equus asinus) ist seit dem 3. Jahrtausend a. Chr. n. als Reit-,
3. Z o o l o g i s c h e s . Die E.in versteckt sich beim Werfen wegen der ,blöden Augen' ihrer
2. Ä t i o l o g i s c h e s . Der E. ist in den Volkserzählungen, die die Erschaffung der Tiere behandeln, eine beliebte Figur bei der Gabenverteilung Gottes (Mot. A 2300; A 2400): Gott gab dem E. normale Ohren und den schönsten Namen. Als der E. diesen schon am nächsten Tag vergessen hatte, zog ihn der Herr erbost an den Ohren und sprach: „Esel, der du bist, daß du so schnell vergißt" (Mot. A 2325.3). Seinem Zögern beim Einstieg in die Arche verdankt er die dreikantige Form seines Kots (Mot. A 2385.1): Noah nämlich trat ihm voll Ungeduld in das Hinterteil. Hierbei schlich sich auch der Teufel ein, ausgerechnet unter dem Schwanz des E.s 7 . Von Maria und Christus wurde das fromme, geduldige Fluchttier mit Genügsamkeit belohnt 8 . Dagegen verdammte es Gott zu GeKlagenfurt Wolfgang Kottinger schrei (Mot. A 2239.3) 9 . Der E. aber verstummt, wenn man ihm einen Stein an den Schwanz hängt 10 . Die von Gott verfluchte Esel rachsüchtige Schlange drohte, die Wasserläu1. Allgemeines — 2. Ätiologisches — 3. Zoologi- fe mit ihrem Gift zu verseuchen, weil sie das sches - 4. Das dämonische Tier - 5. Das wundermenschliche Geschlecht vernichten wollte. bare Tier - 6. Das fromme Tier — 7. Das tolpatDa gebot Gott den E.n, ihr Gegengift zu verschige Tier — 8. Beziehung zu Mensch und Tier — spritzen. Seitdem urinieren die E. ins Was9. Das gelehrige Tier — 10. Verschiedene Eigenser 11 . schaften - 11. Rezeption und Tradierung
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Jungen, erklärt ein Enzyklopädist Mitte des 18. Jh.s 12 . Die Perser lernten vom Wildesel, wie man Eunuchen macht: Er beißt nämlich den männlichen Jungtieren aus Eifersucht die Testikel ab 13 . Der Pferdestute, mit der sich der wollüstige E. außerdem paaren kann, müssen erst die Haare geschoren werden, ehe sie sich vom E. bespringen läßt 14 . 4. D a s d ä m o n i s c h e T i e r . Abergläubische Vorstellungen verleihen dem Tier magische und heilsame Kräfte 15 . Wenn eine Frau gegen ihren Willen empfangen soll, empfiehlt Plinius d. Ä. den Männern, während des Koitus Haare aus dem Schwanz einer mula zusammenzubinden 16 . In England wollte eine Mutter ihr Kind statt durch Medizin lieber dadurch heilen, daß sie es dreimal unter dem Bauch eines E.s hindurchzog 17 . Wer im Traum auf einem mit E.n bespannten Wagen fährt, dem steht der Tod bevor, überliefert ind. Glaube 18 . Der Feldherr Marius nahm einen E. als Omen: Als dieser nicht fressen, sondern zuerst saufen wollte, begab Marius sich unmittelbar aufs Meer und entkam so dem siegreichen Sulla19. Bei der Belagerung von Suessa wurde ein E. mit der konsekrierten Hostie gefüttert und lebendig begraben, um das Wetter günstig zu stimmen (Mot. V 1248) 20 . In der altind. Versdichtung Rigveda führt das Tier in dämonischer Gestalt die Helden in die Hölle, es dient den Ungeheuern und bewacht die Schätze der Unterwelt 21 . In dualistischen Schöpfungssagen Westeuropas formt der Teufel die Gestalt des E.s, aber beleben kann ihn nur Gott 22 . Ein im Jahre 572 in Reate geborener dreibeiniger E. wird von Livius als Prodigium gedeutet 23 . In Leipzig spukt um 1700 ein dreibeiniges Langohr 24 . Ein Holzschnitt von 1498 zeigt u. a. eine Hexe mit E.skopf auf der Fahrt zum Sabbat 25 . In Dresden stiehlt ein Mann, der sich im Ohr seines Kumpanen, eines hinkenden Teufeisbündners in E.sgestalt, versteckt, von dort aus Wertsachen und Geld 26 . Im Pustertal wird eine Pfaffenköchin in einen E. verwandelt (Mot. D 130) und bekommt Hufeisen aufgeschlagen, mit denen eine Wöchnerin vom Kindbettfieber geheilt werden kann 27 . Im Böhmerwald ist ein Mann durch einen E. mit goldenen ,Ohrwascheln' im Bergwerk zu großem Vermögen gelangt 28 .
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5. D a s w u n d e r b a r e T i e r . Der E. ist, wie im ind. Mythos, nicht nur von goldener Farbe 29 , sondern kann auch seine Exkremente in Gold verwandeln (Mot. Β 103.1.1). Umstritten jedoch ist seine Musikalität. Ein altägypt. satirischer Papyrus stellt eine Tierkapelle dar, die ein —» E. als Lautenspieler anführt 30 . Die verbrauchten, ausgestoßenen —> Tiere auf Wanderschaft (AaTh 130, 210) sind bes. durch die Bremer Stadtmusikanten (KHM 146) popularisiert worden 31 . In Chartres ging ein E. mit großem Vergnügen in das Chateau d'Quarville, um die dort gepflegte Hausmusik mit einem lauten I-ah zu begleiten 32 . Im Volkslied vom Kuckuck und der Nachtigall tritt das Tier als Musikkritiker auf 33 ; eine Fabel mit dem gleichen Motiv überliefert Heinrich —» Bebel 34 . Das Geheimnis, das dem —* Tiersprachenkundigen Menschen (AaTh 670, 670 A, 671) den Tod bringt, ist bereits aus arab.-islam. Erzählstoffen bekannt. Hier rät der listige E. dem Ochsen, sich krank zu stellen, und wird nun selbst unter das Joch gespannt, weil sein Herr seine Sprache versteht 35 . Das Motiv erstreckt sich von Ungarn bis Afrika 36 . Ein verzauberter Königssohn wird von seiner E.sgestalt erlöst, weil er eine blinde Prinzessin mit seinem Kot heilt 37 ; ein anderer wird durch die Lösung schwerer Aufgaben befreit 38 . Die theriomorphe Verwandlung (Mot. Κ 130) und Entzauberung (AaTh 430: —» Asinarius) durch Verbrennen der E.shaut stammt aus der ind. Mythologie 39 , ist bereits bei Lukian und Apuleius belegt und u. a. in den Krautesel der Brüder Grimm (KHM 122) eingegangen. 6. D a s f r o m m e T i e r . Die Darstellung des E.s in der Legende, vor allem als Flucht-, Krippen- und weisendes Tier, verdankt bes. den Apokryphen des N.T.s starke Impulse. Die Motive zeigen die enge Verbindung zwischen Mensch und Tier. In der Christnacht antwortet der E. auf die Frage der anderen Tiere, ob sie nach Bethlehem gehen wollten, mit einem lauten I-ah 40 . In Ungarn wendet sich das rücksichtsvolle Tier sogar von der Krippe ab, um das Christuskind nicht mit seinem Speichel zu benetzen, und beschimpft den tolpatschigen Ochsen mit „Du Esel" 41 . In Turin hat ein E., der Diebesgut tragen mußte, ein Hostienwunder bewirkt, das zur Grün-
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dung der Wallfahrt Corpus Domini führte 42 . Spontane Frömmigkeit zeigen die Tiere des hl. Antonius von Padua und des hl. Franz von Assisi. Das eine senkt die Knie vor der Hostie, die es trotz drei Tagen Hungerns als Futter ablehnt 43 , das andere vertreibt den Teufel, der in es einfahren will, durch ein Kreuz, das es mit seinen Hufen auf dem Boden schlägt44. Den Leichnam des Bischofs Adelphus von Metz brachte sein E. nach Neuweiler im Elsaß, in seine alte Heimat (Mot. Β 151.1.1.2) 45 . 7. D a s t o l p a t s c h i g e T i e r beschwört durch seine Ungeschicklichkeit die komischsten und peinlichsten Situationen herauf. Von einer Ente in das Hinterteil gebissen, rennt in Wimpfen ein E. am Feuer vorbei in eine Scheune und setzt den ganzen Ort in Brand (W Brandstiftung durch Tiere) 46 . Der E., der „zur Unzeit schrie", verrät seinen Herrn, der ihn gegenüber seinem Nachbarn verleugnen will (Mot. J 1552.l.l) 4 7 . Die dem Tier nachgesagte Dummheit führt zur Identifizierung von Mensch und Tier ebenso in der Physiognomie wie auch im Verhalten 48 . 8. B e z i e h u n g zu M e n s c h u n d Tier. Dem sterbenden Löwen versetzt der E. einen Tritt (AaTh 50C; Mot. W 121.21) 49 , und groben Undank erntet der Wolf, der ihm einen Dorn aus dem Huf zieht 50 . Das Dornausziehen ist in der Besetzung von Fuchs und Pferd (KHM 132; cf. AaTh 47B: —> Wolf und Pferd) in die europ. Märchen eingegangen. Feindschaft kennzeichnet sein Verhältnis zum Raben, der ihm die Augen aushackt 51 . Eine Münze von Mende auf Chalkidike zeigt eine Krähe (?) auf dem Rücken eines E.s 52 . Freundschaft dagegen verbindet ihn mit der Ratte, die sein Futter fressen darf 53 . In seiner Beziehung zum Menschen überwiegt die Gleichgültigkeit gegen Freund und Feind, weil er für jeden nur eine Last tragen kann (Mot. U 151), dennoch ist für ihn in der Fremde der erste Herr der beste (Mot. Ν 25 5.2) 54 . Aus Treue zu seinem Herrn verrät er in den Metamorphosen des Apuleius den Liebhaber der Frau (AaTh 571A, 571B, 1730: —> Liebhaber bloßgestellt); er tritt ihm kräftig auf die Zehen (Mot. Κ 1555.1). Das Motiv, das bereits bei Alian von Hund und
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StOTch getragen wird, ist im Decamerone Boccaccios (5,10) wieder aufgegriffen 55 . In einem span. Märchen erschlägt ein E. einen Drachen, um seine Reiterin vor ihm zu retten 56 . Der E. eines in Compiegne tödlich verunglückten Fuhrmannes verwandelte sich von einem sanftmütigen Tier in eine wilde Bestie 57 . Die kluge E.in einer Milchfrau in St. Maur pflegte den Dornstock zu verstecken, mit dem sie geschlagen wurde 58 . 9. D a s g e l e h r i g e T i e r . Eine weitverbreitete, aus dem Orient stammende Geschichte handelt vom E. als Amtsperson: Ein Wäscher übergab seinen E. einem Schulmeister, der aus ihm einen ,gescheiten Menschen' machen sollte. Nach einem Jahr gab der Meister an, der E. sei inzwischen Bürgermeister (AaTh 1675: —> Ochse als Bürgermeister)59. Der Amtsesel und der E. als Lehrer (Motive der Verkehrten Welt)60, Spott und Parodie von Gelehrsamkeit ebenso wie Anekdoten über Gelehrte waren beliebte humanistische Stoffe 61 . Bei den Fellachen erbrachte ein Greis den Beweis, daß der Omda (Dorfbürgermeister) nicht klüger sei als sein E. Er legte Hirsekörner zwischen die Buchblätter, und das kluge Tier blätterte die Seiten so lange um, bis das Buch ausgelesen war 62 . Zirkus und Jahrmarkt zeigen das anstellige Tier als vielseitigen Akrobaten 63 . Der zögernde E., der sich nicht zwischen zwei Heuhaufen entscheiden kann und verhungert, ist mit,Buridans Esel' in den Äquilibrismusstreit der Philosophen eingegangen 64 . 10. V e r s c h i e d e n e E i g e n s c h a f t e n . Im Krieg des Persers Darius (522—486) scheuten die Pferde der Skythen nach Überlieferung von Herodot (4,129) vor dem Geschrei der ihnen unbekannten Tiere. Als Kriegstier wurde der E. zum Schutzpatron der Artilleristen und Wappentier der hl. Barbara 65 . Mit der Strafe des E.sritts geht der E. als Schandtier aus der Rechtsgeschichte in das festliche Brauchtum ein. Das Reittier des Silen und Gefolgstier des Bacchus liebt nicht nur Weib und Gesang, sondern auch Wein und wird zum Symbol der Trunkenheit, die den Weisen in einen Narren mit E.sohren verwandelt 66 . Ein E., der eine Weinrebe abfrißt, ist in Nau-
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plia in eine Felswand eingemeißelt 67 . Als Kultivator des Weines charakterisiert ihn auch ein ung. Rätsel: „Wer beschnitt den ersten Rebenstock?" „Noahs E., der ihm die Spitzen abnagte" 68 . Laut Plinius schlagen Maultiere nicht aus, wenn sie betrunken sind 69 . 11. R e z e p t i o n und T r a d i e r u n g . Zahlreiche Erzählmotive vom E. entstammen dem Fabelkreis um —» Äsop. Phantastische und wunderbare Geschichten lassen sich überwiegend aus der ind. Mythologie, drastische und komische eher von arab.-islam. Erzählstoffen ableiten. In der antiken Tierfabel gilt der E. im metaphorischen Sinne als beispielhaft für den Menschen. Er liefert als Beweisträger Verhaltensmuster für Norm und Normverletzung. Dabei verleiht ihm der Zufall oft scheinbare Überlegenheit — ein Beispiel für die geringe Spanne zwischen Erhabenheit und Lächerlichkeit. In dieser Funktion ist der E. als marianisches Tier wie auch als Sinnbild der Tugend, des Leidens und der Geduld in die Patristik und Exempelliteratur eingegangen 70 . Andere Vermittlungsinstanzen für antike Tiergeschichten vom E. sind Bestiarien, Naturmythologie, naturwiss. Werke, Historienliteratur, Arznei- und Kräuterbücher, Dämonologien, Zauberbücher, Teufels- und Hexenliteratur und Chroniken sowie bildliche Darstellungen 71 . Je nach Natur des Erzählstoffes haben sich daraus bei Durchdringung oraler und literar. Tradition die verschiedensten Gattungen herausgebildet. Einzelne Tradierungswege zeigen die speziell behandelten Typenmonographien zum E. Die Bedeutung des E.s, Einwirken und Nachwirken auf den gesamten Lebensbereich — das Verhältnis Mensch und Tier — dokumentiert auch überzeugend das Sprichwort72. Der im Verhältnis zu seiner Nützlichkeit durchweg verkannte und lieblos behandelte E. darf auf eine ebenso lange wie lebendige Erzähltradition zurückblicken, von der keine Erzählgattung unberührt blieb. 1 Hoops Reall. 1, 270sq.; Lurker, M. (ed.): Beitr.e zu Geschichte, Kultur und Religion des alten Orients. Baden-Baden 1971, 1 3 1 - 1 4 5 . - B r ü c k ner, Α.: Qu.nstudien zu Konrad von Megenberg. Thomas Cantipratanus' „ D e animalibus quadrupedibus" als Vorlage zum „Buch der Natur". Diss. Ffm. 1959. — 3 Heimpel, W.: Tierbilder in der su-
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mer. Lit. Rom 1968, 2 6 6 - 2 7 7 . - 4 Meyers Enzyklopädisches Lex. 11. Mannheim/Wien/Zürich «1974, 815. - 5 Forstner, D.: Die Welt der Symbole. Innsbruck/Wien/Mü. 2 1967, 275. - 6 De Gubernatis, Α.: Die Thiere in der idg. Mythologie. Lpz. 2 1874, 287. - 7 Dh. 1, 266sq. - 8 Dh. 2, 24sq., 273. - 9 ibid., 56. - 10 Zedier, J. H.: Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wiss.en und Künste 2. Halle/Lpz. 1732 (Repr. Graz 1961) 1 8 5 0 - 1 8 5 2 , hier 1851. 11 Dh. 1, 222. - 12 Zedier (wie not. 10). - 13 Der Physiologus. ed. O. Seel. Zürich/Stg. 1960, num. 9. - 14 Claudius Aelianus: Werke. Thiergeschichten, ed. F. Jacobs. Stg. 1839, t. 2, num. 10. - 15 Bächtold-Stäubli, Η.: E. In: H D A 2, 1 0 0 3 - 1 0 1 7 . 16 Pauly/Wissowa 6, 664. - 17 Zedier (wie not. 10). - 18 De Gubernatis (wie not. 6) 291. - 19 Schlieben, Α.: Der E. und der Mensch. Wiesbaden s. a. [ca 1895] 88. - 2 0 Fischer, E.: Die „Disquisitionum magicarum libri sex" von Martin Delrio als gegenreformatorische Exempel-Qu. Diss. Ffm. 1975, 239, num. 18 (nach J. Pontanus und J. Bodinus). — 21 De Gubernatis (wie not. 6) 282, 290 sq. - 22 Lixfeld, H.: Gott und Teufel als Weltschöpfer. Mü. 1971, 129. - 2 3 Pauly/Wissowa 6, 664. - 24 Pauliini, C. F.: De asino. Liber historico-physico. Ffm. 1695, 281. - 25 Seligmann, K : Das Weltreich der Magie. Stg. 1958, 197, Abb. 94. - 26 Peuckert, W.E. (ed.): Die monathlichen Unterredungen Otto Grabens zum Stein. B. 1961, 72. - 27 id.: Ostalpensagen. B. 1963, num. 130. - 28 Jungbauer, G.: Böhmerwald-Sagen. Jena 1924, num. 217. - 29 D e Gubernatis (wie not. 6) 291 sq. - 3 0 BrunnerTraut, E.: Altägypt. Tiergeschichte und Fabel. Darmstadt 5 1977, 2sq., Abb. 4. 31 E M 2, 364, 370. - 32 Bingley, W.: Biogr.n der Thiere 1. Lpz. 1804, 302sq.; D e Gubernatis (wie not. 6) 2 9 9. - 3 3 Erk/Böhme, num. 1783: Die Kunstrichter; cf. Hb. des Volksliedes 1. ed. R. W. Brednich/L. Röhrich/W. Suppan. Mü. 1973, 189. - 3 4 E M 2, 11. - 35 1 001 Nacht, 1, 2 7 - 3 2 . 36 H e n ß e n , G. (ed.): Ungardt. Volksüberlieferungen. Marburg 1959, 170, num. 37; Kosovä, M.: Afrik. Märchen. Hanau 1975, 1 2 8 - 1 3 0 . - 37 Schlieben (wie not. 19). - 3 8 D e Gubernatis (wie not. 6) 284sq.; Hb. des Volksliedes (wie not. 33). - 39 cf. BP 2,240. - 4 0 Peeters, K. C.: Fläm. Volkstum. Jena 1943, 71. 41 Henßen (wie not. 36). - 4 2 D e Gubernatis (wie not. 6) 281, not. 1. - 4 3 Brückner, 233 sq. - 4 4 ibid. - 45 Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des Preuß. Staates 2. Glogau 1871, num. 94. - 4 6 Neuer Bienenkorb voller ernsthaften und lächerlichen Erzählungen 6. Köln 1771, 47sq.; Köhler/Bolte 1,491; Haralampieff, K. (ed.): Bulg. Volksmärchen. MdW 1971, num. 68 (Motivträger ist Hodscha Nasreddin). — 47 Seligmann (wie not. 25) 262 (Wesensverwandtschaft zwischen Mensch und Tier bei Giambattista della Porta). — 4 8 Neuer Bienenkorb (wie not. 46) 2 (1770) 35, num. 63. - 4 9 Der kranke Löwe in ei-
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nem Ms. des 12. Jh.s, cf. Thiele, G.: Der ill. lat. Aesop in der Hs. des Ademar. Leiden 1905, 45sq., Tafel V; Jean de La Fontaine: Die Fabeln, ed. R. Mayr. Düsseldorf/Köln 1964, Kap. 3, num. 14; Wienert, ET 166, ST 233'; Perry, 116-123,216sq. - 50 Wienert, ET 115, ST 244'; BP 3, 77. 51 Pauly/Wissowa 6, 634. - 52 ibid., 67 5. - 53 Dh. 4, 124. - 54 Moser-Rath, num. 146; Wienert, ET 435, ST 214', 390'; Perry, 130sq.; La Fontaine (wie not. 49) Kap. 6, num. 11; Fabeln und Mären von dem Stricker, ed. H. Wolf/H. Mettke. Halle (Saale) 1959, 44, num. 13. - 55 Die hundert alten Erzählungen, ed. J. Ulrich. Lpz. 1905, 49. 56 Märchen aus aller Welt. Spanien (Heyne Bücher 7). Mü. 1978, 21. - S7 Bingley (wie not. 32) 306. 58 ibid., 304sq. - S9 cf. BP 1, 59, num. 7; Bolte, J.: Der Schwank vom Esel als Bürgermeister bei Thomas Murner. In: ZfVk. 7 (1897) 9 3 - 9 6 . - 60 cf. EM 2, 334; Mackensen, L.: E. In: HDM 2, 6 2 5 - 6 2 8 , hier 626. 61 Satirische Darstellungen und Spottbilder in Kupferstichen und Holzschnitten cf. Reicke, E.: Magister und Scholaren. Lpz. 1901 (Repr. Düsseldorf/ Köln 1971) 48, Abb. 39; 50, Abb. 41. - 62 Saad, J.: Der Omda und Scheich Soliman. Märchen und Volkserzählungen der Fellachen. B. 1967, 118-123. - 63 Schlieben (wie not. 19) 7sq. 64 Meyer (wie not. 4) 5 (1972) 172. - 65 Schlieben (wie not. 19) 32sq. - 6 6 D h . 1, 303, 306sq. 67 Pauly/Wissowa 6, 645. - 68 Dh. 1, 307. 69 Keller, O.: Die antike Tierwelt 1. Lpz. 1909, 263. - 70 cf. Tubach, num. 3 7 1 - 3 9 8 , 402sq.; Schwarzbaum, Fox Fables, Reg. s. v. ass (zahlreiche Nachweise); Schmidtke, D.: Geistliche Tierinterpretationen in der dt.sprachigen Lit. des MA.s (1100-1500). 1: Text. Diss. Β. 1968. 71 Tervarent, G. de: Attributs et symboles dans l'art profane. Geneve 1958, 2 8 - 3 0 , 415; Emblemata. ed. A. Henkel/A. Schöne. Stg. 2 1976, Reg. 72 cf. Röhrich, Redensarten, 2 4 0 - 2 4 7 ; cf. Wander, K. F. W.: Dt. Sprichwörter-Lex. 1 - 5 . Lpz. 1867-80. Celle
E d d a Fischer
Esel will den Herrn liebkosen ( A a T h 214), äsopische Fabel, bei der sich im Verlauf ihrer Überlieferungsgeschichte lediglich V e r ä n d e rungen in den Details der E r z ä h l u n g und eine Akzentverschiebung in der D e u t u n g beobachten lassen: Ein E. sieht, wie sein Herr mit dem —» Hund spielt und ihm die besten Bissen zuwirft. Voller Neid vergleicht er das leichte, müßige Leben des Hundes mit seinem eigenen harten Arbeitsalltag. Der E. beschließt daher, ähnlich wie der Hund dem Herrn in Zukunft höflich und schmeichelnd
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zu begegnen. Er begrüßt ihn mit lautem IahGeschrei, springt an ihm hoch und legt ihm die Hufe auf die Schultern, wobei er ihm die Kleider beschmutzt, leckt ihm über das Gesicht und vollführt weitere Tolpatschigkeiten, gebärdet sich bisweilen auch wie rasend, richtet im Haus Verwüstungen an oder bringt seinen Herrn in ernsthafte Gefahr, indem er ihn zu Boden wirft, ihn bei der Umarmung zu erdrücken droht etc. Der Besitzer muß befreit werden, oder er ruft die Knechte zu Hilfe, die den E. verprügeln, z.T. auch mit Steinen bewerfen, oder er greift in seinem Zorn selbst zum Stock, und der E. wird oft so lange geschlagen, bis er wie tot zusammenbricht 1 . Die Fabel findet sich bei —> Ä s o p (num. 331), —» Babrios (num. 129), in den —> P h ä d r u s - P r o s a p a r a p h r a s e n 2 und gelangte über das —» R o m u l u s - C o r p u s 3 in die zahlreichen lat. Romulus-Slgen des WJYl. Jh.s ( u . a . Romulus Nilantinus 1,16; Walter Anglicus, n u m . 17; A l e x a n d e r —> N e c k a m , Novus Aesopus, n u m . 5), in den volkssprachlichen Esope der —> Marie de F r a n c e (num. 15), die lat. Predigtliteratur des 13. Jh.s (—» Vincent de B e a u vais, n u m . 8; —» Jacques de Vitry, n u m . 15; —» O d o of Cheriton, n u m . 69; Johannis d e Schepeya, n u m . 31), in die —> Gesta Romanorum (num. 79) und den —• Dialogus creaturarum (num. 55). In der dt.sprachigen Tradition des M A . s erscheint sie u . a . bei d e m Spruchdichter —> K o n r a d von Würzburg 4 , bei Heinrich von Mügeln (num. 57), im Edelstein des Ulrich —> B o n e r (num. 20), in der ndd. Slg —» G e r h a r d s von Minden (num. 15) sowie in Heinrich —> Steinhöwels Esopus (num. 17) 5 . In der span. Lit. begegnet die internat. weit verbreitete F a b e l 6 innerhalb dichterischer W e r k e ( L i b r o del Cavallero —> Cifar, n u m . 53; Libro de buen amor [Juan —> Ruiz], Strophe 1401 —1409 7 ; in einem S c h e l m e n r o m a n 8 ) . E i n e n Überblick ü b e r die jüd. Tradition gibt H . Schwarzbaum 9 . Die Fabel bringt die E r f a h r u n g zum A u s druck, d a ß m a n nichts u n t e r n e h m e n solle, was der eigenen N a t u r widerspricht 1 0 . Diese E r k e n n t n i s e r f u h r sehr häufig eine A u s d e u tung, die weniger auf eine Naturanlage, sondern auf Naturgesetzlichkeit und Gottgewolltheit d e r Gesellschaftsordnung a b h e b t . Ausdrücklich wird die Devise ,Ein jeder bleibe bei seinem Stande', die sich schon bei Babrios andeutet 11 , bei Romulus formuliert („fabula monstrat ne indigni se offerat ut melior officium faciunt" 12 ) und erscheint dann ähnlich immer wieder.
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Esel will den Herrn liebkosen
Im 16. Jh. heißt es z.B. bei Hans —» Sachs: „Vnderwind er sich doch nicht hoher ding, / Das im sein vngeschickligkeit / Nicht schand vnd schaden bring" 1 3 . Deutlicher Bezug auf sozialrevolutionäre Bestrebungen der Reformationszeit nehmen Protestant. Fabeldichter mit ihrem Rat, die Ständeordnung in ihrer Unabänderlichkeit zu akzeptieren. „Ein jeder bleib bey seinem standt, / So steht es wol im gantzen Landt" schließt Burkart Waldis seine Belehrung, läßt den E. aber auch über ungerechte Behandlung klagen und zu der Einsicht kommen: „Ich sihe wol, wer viel Schmeicheln kan, / Der ist im Korb der beste Han" 1 4 . Erasmus —> Alberus warnt in der Moral vor Auflehnung gegen den Adel („Ein Bawer sey kein Edelman, / Der Adel steht jhm vbel an") und prangert in reformatorischem Geist die kathol. Kirche, vor allem den Papst, an; in der langen Einleitungspassage, die mit der Fabel nur in losem Zusammenhang steht, geißelt er die Geldgier und Prasserei der Mönche 1 5 .
Als Anknüpfungspunkt für weitergehende Interpretationen zur christl. Unterweisung dient die Fabel vor allem in der kathol. Predigtliteratur. Ein barockes Predigtmärlein stellt einen Bezug zu dem Sünder her, „dessen gute Werke nichts gelten, so lange er in Sünden lebt" 16 ; —» Abraham a Sancta Clara vergleicht das plumpe Betragen des „Arcadischen Trampel[s]" mit den Verfehlungen Luzifers, Evas und des Jüngers Petrus 17 . Eine Gleichsetzung des wider die Natur handelnden E.s mit dem Sünder, der das Gebot Gottes mißachtet, legt auch ein lat. Ostermärlein (15. Jh.) nahe 18 . Vor Müßiggang warnt eine süddt. Hs. aus dieser Zeit 19 . In der mündl. Überlieferung folgen dem üblichen Handlungsverlauf der literar. Tradition die vier griech. Var.n 20 , in denen der E. zum Schluß in den Stall eingesperrt wird, und die ukr. Version 21 . In der frz.-kreol. Erzählung aus Trinidad 22 greift der Herr statt zum Knüppel zur Pistole, der E. wird aber durch den Schuß nicht getötet. In dieser Geschichte und in den beiden ung. Belegen 23 tritt an die Stelle der Überlegungen des E.s ein Gespräch mit dem Hund, den der E. nach dem Grund für seine Bevorzugung fragt und dem er es daraufhin gleichzutun versucht. Dieser ungewöhnliche Zug findet sich auch in hebr. literar. Versionen 24 und in der ind. Überlieferung 25 . Die in L. Bodkers Katalog 26 unter num. 9 2 5 - 9 2 8 erfaßten ind. Var.n 27 nehmen eine 14*
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Sonderstellung ein. Der europ. Tradition entsprechen num. 927 (statt E.: Ochse) und num. 926. Das Motiv, daß der E. aus Spaß nachts den Wachhund imitiert (num. 928; Strafe: Brandmarkung), könnte ebenso wie das der Liebkosung des schlafenden Herrn (num. 926) auf Einfluß von Typ 925 schließen lassen, von dem es vier mündl. Belege gibt: Ein E. bemerkt einen Einbrecher und will seinen Herrn warnen, da der Hund aus verschiedenen Gründen diese Aufgabe nicht wahrnehmen kann oder will. Der aus dem Schlaf aufgeschreckte Herr mißversteht jedoch das E.sgeschrei und verprügelt das Tier. Moral: Schuster, bleib bei deinem Leisten. Diese Geschichte begegnet bereits in zwei berühmten Erzählungssammlungen der ind. Lit., dem —> Hitopadesa28 und dem —» Kathäratnäkara29, und könnte auch unabhängig von der äsopischen Fabel entstanden sein 30 . I Die unzutreffende Beschreibung des Ausgangs bei AaTh 214 und Mot. J 2413.1 (He is driven off) wurde in eine Reihe von Katalogen übernommen. Getötet wird der E. in dem bei Schwarzbaum, Fox Fables, 84 erwähnten Beispiel aus dem Sepher ha-Musar. - 2 Hervieux 2, 137, 170; cf. Grubmüller, K.: Meister Esopus. Mü. 1977, 64. 3 Thiele, G.: Der lat. Äsop des Romulus und die Prosa-Fassungen des Phädrus. Heidelberg 1910, 6 4 - 6 9 , cf. LVIIsq.; Hervieux 2, 201 sq., 250. 4 c f . Grubmüller (wie not. 2) 247 sq. - 5 Weitere ma. dt. Fassungen verzeichnet Grubmüller (wie not. 2) 198, not. 213. - 6 Nachweise: Aesop/Holbek 2, 163sq., num. 50; ferner Tubach und Dvofäk, num. 372; Gesta Romanorum, zu num. 79; Chauvin 3 , 5 0 , num. 3; Grubmüller (wie not. 2) Fabelregister s. v. E., schmeichelnder; Warnke, K.: Die Qu.n des Esope der Marie de France. Halle 1900, 17; Babrius/Perry, app., 438sq., num. 91; Mombello, G.: Le raccolte francesi di favole esopiane dal 1480 alia fine del secolo XVI. Geneve/P. 1981, 42, 91, 125, 147; Martinez J 2413; Benfey 1, 110; ibid. 2 , 5 2 9 . - 7 cf. Keller J 2413.1. - 8 cf. Childers, Tales, J 2413.1; zum Beleg in einer span. Fabelsig v. Keller/Johnson J 2413.1. — 9 Schwarzbaum, Fox Fables, 8 1 - 8 7 , bes. 84; cf. BP 4, 359sq. - 10 cf. z.B. Hausrath, Α.: Aesopische Fabeln. Mü. 1940, 47; Hervieux 2, 324; Grubmüller (wie not. 2) 354; La Fontaine 4,5; Texte im EM-Archiv (mit num.): Conlin III, 1708 (10.205); Vademecum III, 1786 (5.529). II Babrius/Perry, num. 129. - 12 Thiele (wie not. 3) 68; zur Interpretation v. Schütze, G.: Gesellschaftskritische Tendenzen in dt. Tierfabeln des 13. bis 15. Jh.s. Bern/Ffm. 1973, 117sq. - 13 Sämtliche Fabeln und Schwanke von Hans Sachs 3. ed. E.
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Esel: Die Last des E.s
Goetze/C. Drescher. Halle 1900, 378sq., num. 199; ähnlich Chytraeus, N.: Hundert Fabeln aus Esopo [. . .]. Rostock 1571, num. 21. — 1 4 Esopus von Burkhard Waldis 1. ed. H. Kurz. Lpz. 1862, num. 13. — 15 Die Fabeln des Erasmus Alberus. ed. W. Braune. Halle 1892, num. 30, cf. p. LH. 16 Moser-Rath, num. 73. - 17 EM-Archiv: Abraham a S. Clara, Huy und Pfuy 1707 (4.450). 18 Wendland, V.: Ostermärchen und Ostergelächter. Ffm./Bern/Cirencester 1980, 128 sq. Sonderbar erscheint allerdings die von der üblichen Deutung abweichende Gleichsetzung des Hundes mit dem Teufel und der Herrin mit Frau Welt; eine Herrin erscheint nicht nur hier, sondern auch im Libro de buen amor, 1 4 0 1 - 1 4 0 9 und bei Koväcs 202*. 19 cf. Grubmüller (wie not. 2) 403 sq., allg. zur Hs.: 389—396; vollständiger Text in: Erzählungen aus altdt. Hss. gesammelt durch A. von Keller (BiblLitV 35). Stg. 1855, 5 2 8 - 5 3 0 . - 20 Megas. 21 SUS. - 22 Flowers J 24 1 3.1. - 23 Koväcs 202*. 24 cf. Schwarzbaum, Fox Fables, 84. - 25 cf. ζ. B. Fritze, L.: Hitopadega. Lpz. 1888, 43sq.; Kathäratnäkara 2. Übers. J. Hertel. Mü. 1920, 150sq.; Grierson, G. Α.: Linguistic Survey of India 5,1. Calcutta 1903, 173 ( = Bedker, Indian Animal Tales, num. 925). — 26 Bodker, Indian Animal Tales. - 2 7 Entspricht Thompson/Roberts 214; Thompson/Balys J 2413.1.1 ( = Bedker, Indian Animal Tales, num. 925, 927sq.); Angabe bei Thompson/Balys zu Pantulu, num. 15 ist falsch (recte num. 14). - 28 Fritze (wie not. 25). 29 Kathäratnäkara (wie not. 25). - 3 0 Benfey 1, 110.
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Christine Schmidt
Esel: Die Last des E.s (AaTh 211), eine dem äsopischen Fabelkreis entstammende Erzählung, die bei AaTh, wo lediglich drei Belege aus neuerer mündl. Überlieferung aufgeführt sind, als The Two Asses bezeichnet wird. Der früheste Beleg für eine Fassung mit zwei E.n scheint sich jedoch erst bei dem ital. Humanisten Gabriele Faerno (1520—61) zu finden, dessen Fabeln auch in einer Übers, von —> Perrault vorliegen, und Faernos Fabel dürfte —» La Fontaine und vielleicht auch Nathanael —* Chytraeus als Vorlage gedient haben 1 . Meist tritt, der älteren äsopischen Tradition entsprechend, aber nur ein E. als Protagonist der Erzählung auf: Ein mit Salz beladener E. entdeckt beim Durchqueren eines Flusses, daß seine Last leichter wird, wenn er sich ins Wasser legt. Um ihm eine Lehre zu erteilen, da er nun jedesmal die Gelegenheit benutzt (oder zufällig, beim nächsten Mal), bepackt
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ihn sein Herr mit Schwämmen (Federn, Wolle, Baumwolle), die sich beim Untertauchen vollsaugen und die Last des E.s schwerer machen (oder ihn hinunterziehen, so daß er ertrinkt). In den Var.n mit zwei E.n ahmt der zweite E., der mit Schwämmen (oder ähnlichem) beladen ist, das Beispiel seines salztragenden Kameraden nach, was ihm jedoch nicht zum Vorteil gereicht.
Die Fabel zeigt, daß man oft durch eigene Schliche selbst zu Fall kommt; sie will also vor falschem, hinterlistigem Verhalten warnen und lehren, daß der Betrüger am Ende doch selbst betrogen werde 2 bzw. daß es sich nicht lohne, dem Beispiel anderer blind zu folgen3. Gleichzeitig wird der E. als dummes Tier gezeichnet, das zwar meint, klug zu handeln, aber nicht in der Lage ist, sich einer veränderten Situation anzupassen. Die Geschichte erscheint erstmals bei Äsop 4 und wurde übernommen von Babrios5, Ignatios Diakonos (Anfang 9. Jh.) 6 sowie von einem anonymen Enzyklopädisten in das auf das Jahr 1326 datierte Multifarium1. Auch aus späterer Zeit sind nur wenige Belege bekannt, so vor allem die von Faerno beeinflußte Bearb. La Fontaines (ν. oben), die auch in eine jüd. Fabelsig des 19. Jh.s übernommen wurde 8 . In Deutschland finden sich Beispiele bei Chytraeus9, im barocken Predigtmärlein 10 und im Erzählgut des 17./18. Jh.s 11 . Die Versionen aus neuerer mündl. Überlieferung sind ebenfalls nicht sehr zahlreich, jedoch über ein weites Gebiet verstreut: In Griechenland kennt man 15 Var.n 12 ; weiter sind 2 ung. 13 und 2 jüd.-oriental. Var.n 14 , je eine flandr. 15 und ukr. 16 Var. sowie vier chin. Fassungen und ein Beleg aus dem Pandschab 17 vorhanden. Die bei Kecskemeti/Paunonen verzeichnete syrjän. Version 18 weist keine Entsprechungen zu AaTh 211 auf. In einer Erzählung aus dem Iran 19 tritt anstelle eines E.s ein Kamel auf, dem ein Fuchs den Ratschlag gibt, es solle im Fluß untertauchen, um sich die Last zu erleichtern. Diese Geschichte warnt davor, auf die Ratschläge anderer Leute zu hören. Ein Kamel übernimmt auch die Rolle des zweiten, mit Schwämmen beladenen E.s in der jüd.-syr. Var. 20 ; die einleitende Episode dazu bildet AaTh 214 A: Camel and Ajs Together Captured because of Ass's Singing. Eine spezielle Ausformung von AaTh 211 stellt Mot. Κ 25.2: Contest in flying with load
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Esel als Lautenspieler
dar, das ebenfalls die Erleichterung bzw. Erschwerung einer Last zum Thema hat: Eine Krähe und ein Drongo (dem Star verwandter tropischer Vogel) wetten, wer mit einem Gewicht beladen am höchsten fliegen könne. Die Krähe entscheidet sich für Baumwolle, der Drongo, der Regenwolken nahen sieht, für Salz. Die Baumwolle der Krähe wird im Regen schwerer, das Salz hingegen löst sich auf: Der Drongo gewinnt.
In dieser Form ist die Geschichte nur in einer singhales. Erzählung aus Ceylon belegt 21 , und es gibt lediglich eine weitere Var. aus Barbados 2 2 . Hierbei handelt es sich um einen Witz zum Thema Nachbarschaftsspott, in dem statt der Tiere ein Barbadier und ein Jamaikaner auftreten, die sich auf dem Weg zum Himmel befinden, wobei der Jamaikaner ins Hintertreffen gerät. I
Faerno, G.: Centum fabulae ex antiquis auctoribus delectae. 1564, 1569, 1585, 1744 u. ö., hier zitiert nach der Ausg. Antw. 1585, 15sq.; Lettres choisies [. . .] avec la tradvction des fables de Faerne. Par Monsieur Perrault. Suivant la copie de Paris. [. . .] Hanovre 1709, 527; La Fontaine, Fables, 2,10; Chytraeus, N.: Hundert Fabeln aus Esopo [. . .]. Rostock 1571, num. 57; cf. Hervieux 4, 159sq.; v. auch H. Schwarzbaums Rez. von AaTh. In: Fabula 6 (1964) 1 8 2 - 1 9 4 , hier 192. - 2 cf. Mot. Κ 1600; Wienert, ST 126', ET 372. - 3 cf. Chytraeus (wie not. 1); La Fontaine (wie not. 1). — 4 Halm, K.: Fabulae Aesopicae collectae. Lpz. 1875, num.322. - 5 Babrius/Perry, num.111. 6 Antike Fabeln. Übers. J. Irmscher. B./Weimar 1978, 451, num. 57. - 7 Ms. Gude lat. 200 (Bibl. Wolfenbüttel); cf. Hervieux 4, 54 und 1 5 4 - 1 6 0 . 8 Gordon, J. L.: Mishle Jehuda. Wilna 1859, Buch 3, num. 18; cf. Schwarzbaum (wie not. 1); BP 4, 360. - 9 Chytraeus (wie not. 1). - 10 Moser-Rath, num.227. II Text im EM-Archiv (mit num.): Plener, Acerra philologica 1687 (4.358). - 12 Megas. - 13 Koväcs. — 14 Noy (1 syr., 1 palästinens.-sephard.). — 15 de Meyer, Conte. - 16 SUS. - 17 Ting; Sheikh-Dilthey, H. (ed.): Märchen aus dem Pandschab. Köln 1976, num. 29. - 18 Typ 211 entspricht lediglich AaTh 43; es liegt nicht, wie angegeben, eine Kontamination von AaTh 43 und AaTh 211 vor. — 19 Mittig von Houshang Shojaei-Kavan, Göttingen, 16. 2. 1982. - 20 Noy. 21 Dh. 3, 142 ( = Bedker, Indian Animal Tales, num.3 89). - 2 2 Flowers.
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Christine Schmidt
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Esel als Lautenspieler (Mot. J 512.4), eine dem Phädrus zugeschriebene Fabel 1 , in der unter dem Titel Asinus ad lyram folgendes berichtet wird: Ein E. findet auf einer Wiese eine Leier; er versucht, mit seinen Hufen auf den Saiten zu spielen, kann dem schönen Instrument jedoch mangels Sachverstand nur Mißtöne entlocken. Die Fabel will lehren, daß oft durch Mißgeschick große Leistungen scheitern („Sic saepe ingenia calamitate intercidunt"). Bereits bei den Griechen war der musizierende E. als onos lyras sprichwörtlich für ,mangelnden Kunstverstand' 2 . Durch das Werk De consolatione philosophiae des Boethius 3 (ca 4 8 0 - 5 2 4 p.Chr.n.) ist diese Vorstellung in das MA. weitervermittelt worden. Das antike Erbe wird auch noch sichtbar in jüngeren dt.sprachigen Sprichwörtern wie „Der Esel soll nicht Lauten schlagen, er soll die Säcke zur Mühle tragen" 4 oder „einen Esel zum Lautenschläger machen" 5 . Die Zeile „Der Esel wird die Laute schlagen" in dem Volkslied von den unmöglichen Dingen 6 (—> Verkehrte Welt) ist ihrerseits wieder sprichwörtlich geworden 7 . Ein E. als Lautenspieler erscheint auch in dem lat. Gedicht Asinarius des 15. Jh.s, aus welchem J. Grimm das Märchen Das Eselein (KHM 144, AaTh 430: —> Asinarius) formte. Schließlich ist auch in vielen Var.η des Typs AaTh 130: —» Tiere auf Wanderschaft der Anführer der Tiere ein E., der in Bremen oder Amsterdam Musikant werden will8. Die Kenntnis des Fabelstoffes ist endlich auch noch bei Heinrich Heine zu vermuten, in dessen Zeitgedicht König Langohr I. sich ein eingebildeter E. mit seinem angeblichen Talent als Lautenspieler großtut 9 . Trotz der in dieser Fabel und ihren Ausläufern zum Ausdruck kommenden Zweifel an den künstlerischen Fähigkeiten des E.s wurde der E. in der bildenden Kunst häufig als Musikant dargestellt. Die ältesten Bildbelege für den E. mit einer Harfe reichen in die sumer. Kunst der Mitte des 3. Jahrtausends zurück 10 . Auch die altägypt. Kunst kennt den musizierenden E. 1 1 . Im MA. bezeugen zahlreiche Steinreliefe an Kapitellen rom. Kathedralen in Frankreich und Spanien das Weiterleben der Vorstellung vom E. mit dem Saitenspiel 12 . Auch ma. Chorgestühle und Miniaturen sind hier zu nennen 1 3 . Über die Ab-
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Esel in der Löwenhaut
hängigkeit dieser Zeugnisse voneinander, ihre Beziehungen zur Erzählüberlieferung und ihre Deutung gehen die Meinungen in der Forschung z.T. weit auseinander. Während M. Wegner einen Zusammenhang zwischen dem ma. E. mit dem Saitenspiel und den oriental. Gegenstücken verneint und L. Wehrhahn-Strauch die musizierenden E. im Abendland ausschließlich aus dem christl. Symbolgehalt von Weltlust und Luxuria erklärt 14 , ist W. Stauder 15 der Meinung, das Abendland habe vom Morgenland zusammen mit dem Bildmotiv auch den Bildgedanken übernommen, demzufolge der musizierende E. der Fürst der Unterwelt und entsprechende Bilddarstellungen als Mahnung vor dem Bösen und an die Vergänglichkeit alles Irdischen zu interpretieren seien. Auch H. Adolf 16 rechnet mit einer gemeinsamen Grundlage von Fabel und Bilddarstellungen in der Antike und deutet den E. als Lautenspieler im MA. als Allegorie des in heidnischer Unwissenheit Befangenen, der im Gegensatz stehe zu König David mit der Harfe als Präfiguration Christi. M. Vogel 17 ordnet alle Zeugnisse für den musizierenden E. in Lit. und Kunst als Nachfahren altoriental. E.skulte um die sog. E.smänner ein. I Phaedri Augusti liberti fabulae Aesopiae. ed. C. Zell. Stg. 1928, 117sq. (App. XII); Wienert, ET 26, ST 373. - 2 Belege bei Vogel, M.: Onos lyras. Der E. mit der Leier 1 - 2 . Düsseldorf 1973, hier t. 1, 360; BP 3, 166, not. 3. - 3 Boethius, De consolatione 1,4. - "Wander, Κ. F. W.: Dt. Sprichwörter-Lex. 1. (Lpz. 1867) Nachdr. Darmstadt 1964, s.v.E., num. 97, cf. auch 90, 110, 524, 562, 568 sq., 577, 593; weitere Nachweise BP 3, 166, not. 4. - 5 Röhrich, Redensarten 1, 242. 6 Erk/Böhme 3, num. 1108, Ζ. 7. - 7 Eyering, Ε.: Proverbiorum copia. Eisleben 1601, 282, 446. — 8 BP 1, 257. - 9 Heine, H.: Sämtliche Werke. 1: Gedichte. Mü. 1969, 8 0 4 - 8 0 8 . - 10 Wegner, M.: Der E. mit dem Saitenspiel. In: Der Cicerone 1 (1949) 1 3 3 - 1 4 1 , hier 1 3 6 - 1 3 9 , Abb. 11 sq.; Stauder, W.: Asinus ad lyram. In: Festschr. H. Osthoff. Tutzing 1969, 2 5 - 3 2 , hier Abb. 5sq.; Vogel (wie not. 2) t. 1, 354sq., Abb. 1 2 3 - 1 2 5 . II Brunner-Traut, E.: Altägypt. Tiergeschichte und Fabel. Darmstadt 6 1980, 9sq.; Vogel (wie not. 2) t. 1, 352, Abb. 120sq. - 12 Wegner (wie not. 10) 137, Abb. 1 sq.; Vogel (wie not. 2) t. 1, 3 5 6 - 3 6 3 , Abb. 1 2 6 - 1 4 1 ; Stauder (wie not. 10) Abb. 1 - 3 . - 13 Wehrhahn-Strauch, L.: E. In: LCI 1, 683. 14 ibid. - 15 Stauder (wie not. 10) 31 sq. - 16 Adolf, H.: The Ass and the Harp. In: Speculum 25
(1950) 4 9 - 5 7 . 351-364.
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Vogel (wie not. 2) t. 1,
Rolf Wilhelm Brednich
Esel in der Löwenhaut (AaTh 214B), eine der bekanntesten Fabeln europ. wie oriental. Überlieferung, in der ein -> Esel, in abendländ. Tradition Prototyp der —> Dummheit und Tölpelhaftigkeit, die Rolle des —> Löwen, eines Sinnbilds für Mut, Kraft und Königtum, spielen will, zuletzt aber fast immer entlarvt wird: Ein E., der sich ein Löwenfell übergestreift hat, verbreitet Furcht und Schrecken, verrät sich jedoch dem Fuchs durch seinen Schrei (in der —> Äsop zugeschriebenen Version 1 ), oder ein Windstoß reißt ihm das Fell vom Leib, und er bekommt Prügel (-> Babrios, num. 139), oder er wird, nachdem er die Felder zertrampelt und das Vieh verscheucht hat, vom Bauern an den langen Ohren erkannt und bestraft (—> Avianus, num. 5). Bei —» Lukian durchschaut erst ein Fremder den sprichwörtlichen E. von Cumae 2 .
Fraglich ist, ob ältere, häufig als Beleg herangezogene Hinweise mit dieser Fabel in direktem Zusammenhang stehen. Dies gilt vor allem für die Anspielungen bei —> Horaz (Satiren 1,6,22: „quoniam in propria non pelle quiessem"; 2,1,64: „detrahere et pellem"). Die Bemerkung bei Piaton (Kratylos, 411a: „Indes, da ich einmal die Löwenhaut umgetan habe, darf ich ja keine Furcht zeigen") 3 könnte eher in Verbindung mit den Fröschen des —» Aristophanes gesehen werden, dem frühesten Beleg für das Motiv der —> Verkleidung in eine Löwenhaut: Dionysos legt zu seiner Unterweltsfahrt diese typische Gewandung des Herakles an. Anknüpfend an die Auseinandersetzung um das Alter der Fabel und die Frage, ob Griechenland oder Indien als ihr Ursprungsland anzunehmen sei4, verweist S. Luria jedoch darauf, daß der E. ein Attribut oder auch Symbol des Dionysos war und daß die für die Pancatantra-Versionen bezeichnende Lüsternheit des E.s (die in ind. Folklore als eines seiner Wesensmerkmale gilt s ) ihre Entsprechung in Vorstellungen des antiken Griechenland hat, was sowohl Dionysos als auch den E. betrifft 6 . A. Wagener dagegen nimmt als Indiz einer Ver-
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Esel in der Löwenhaut
breitung der Fabel von Indien her u. a. einen Zusammenhang mit der phryg. —» MidasSage (AaTh 775, 782) an; die Tiara, unter der Midas seine E.sohren versteckt, sieht er als Entsprechung der Löwenhaut, die ebenfalls ein Insigne kgl. Würde sei7. Ob aber ein direkter Bezug dieser Mythen zu der Fabel besteht, bleibt letztlich ebenso ungeklärt wie die Frage ihrer Herkunft. Die ind. Versionen zeichnen sich dadurch aus, daß sie Grund und Hergang der E.skostümierung erklären. Der älteste Beleg findet sich in —>· Jätaka, num. 189: Ein wandernder Händler erspart sich das Futter für seinen E. durch einen Trick: Er pflegt ihm zur Tarnung ein Löwenfell überzuwerfen, und der E. wird von den Wächtern nicht behelligt, während er sich auf den Feldern gütlich tut. In dem Ort endlich, an dem der als Bauernsohn wiedergeborene Bodhisattva lebt, alarmieren die Feldhüter die Dorfbewohner. Von dem Ansturm erschreckt, entfährt dem E. ein I-ah-Schrei; der Bodhisattva macht die Leute darauf aufmerksam, und sie prügeln den E. tot.
Daß der E. hier als Bodhisattvas Gegner Kokälika interpretiert wird, entspricht der ind. Auffassung, der E. sei ein „dämonisches mit den Mächten des Todes in Verbindung stehendes Wesen" 8 . In der Erzählung der birman. Buddhalegende 9 , von A. de —» Cock als eine aus dem Volksmund stammende Var. bezeichnet 10 , erkennt Phralaong (birman. Bezeichnung des Bodhisattva) an den Hufen, daß der Dieb in seinem Reisfeld ein Fohlen in einer Löwenhaut ist. Ein Tiger- oder Pantherfell trägt der häufig als dumm bezeichnete E. in den Fassungen der verschiedenen —> Pancatantra-Rezensionen und davon abgeleiteter Werke (z.B. —• Hitopadesa)1'; an seiner Demaskierung ist fast immer seine Lüsternheit schuld: Er hält den davonschleichenden Wächter wegen seiner gebückten Haltung oder seines grauen Mantels für eine E.in und will sich ihr durch sein Geschrei zu erkennen geben, oder er antwortet einer E.in, die er in der Ferne hört, und wird daraufhin totgeschlagen oder mit einem Pfeilschuß erlegt. Bei —> Somadeva allerdings, in einer mündl. ind. Erzählung mit der Devise „Schweigen ist Gold" 12 sowie in der türk. Fassung des —> Tüti-Nämeh13, wo dem im Weinberg grasenden E. wieder ein Löwenfell übergeworfen wurde, ist nicht von einer
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E.in, sondern schlicht von einem oder mehreren Artgenossen die Rede.
Motivverwandt ist eine demselben Erzählkreis entstammende Geschichte: Der vom Fall in ein Indigofaß blaugefärbte Schakal wird so lange als König der Tiere anerkannt, bis er in das Geheul der anderen Schakale einstimmt 14 . Eine Kontamination mit AaTh 214A: Camel and A « Together Captured because of Ass's Singing15 findet sich in einer pers. Hitopadesa-Übers., dem Mufarrih alqulüb, wo Hirschkuh und Ε. in Löwenfelle gekleidet sind 16 . Eher Ähnlichkeit mit der griech. Fabel hat die Form in den buddhist.-chin. Avadänas ind. Ursprungs: Die Motivation für Verkleidung des E.s (Löwenhaut) und verräterisches I-ah-Geschrei fehlt 17 . In einer anderen chin. Fabel aus dem Fa-yen des Yang Hsiung (53 a. Chr. n. - 18 p.Chr.n.) läßt der Anblick des Wolfs das Lamm trotz seiner Tigerhaut erzittern 18 . Singulär ist die arab. Var., die in einigen Ausg.η von —» 1001 Nacht begegnet: Ein Dieb überlistet mit Hilfe eines ausgestopften Löwen einen Hirten und erbeutet nach und nach die ganze Herde 19 . In Europa hatte die griech.-röm. Fabel eine überaus starke Nachwirkung 20 . Sie wurde in die meisten wichtigen Fabelsammlungen und zahlreiche andere literar. Werke aufgenommen; den größten Einfluß auf die Überlieferung nahm die Version des Avianus. Die Handlung wurde häufig breit ausgemalt, wegen des hohen Bekanntheitsgrades der Geschichte begnügte man sich aber oft auch mit Anspielungen, Hinweisen oder Vergleichen. Vereinzelt haben sich Sonderformen gebildet; beim —> Stricker und bei Thomasin von Zerklaere (um 1185-um 1235) z.B. ist der E. nicht verkleidet, sondern erscheint in der Fremde als exotisches Wesen 21 ; im Magdeburger Äsop (num. 93) wird der E. nach dem Tod des Löwen als Viehhüter eingesetzt, vom Fuchs erkannt und von den anderen Tieren getötet 22 . Daß es noch andere Fassungen mit diesem Hüte-Motiv gegeben hat, legt sein Weiterwirken in einer mündl. katalan. Parallele nahe: Ein mutiger Hammel schlüpft in die Rolle des toten Hirtenhundes und kann den Wolf so lange in Schach halten, bis dieser eines Tages, vom Hunger über-
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mannt, doch ein Schaf stiehlt, seinen Verfolger erkennt und zur Strafe frißt 2 3 . AaTh 214 Β gehört zu der großen Gruppe von Fabeln aus dem äsopischen Kreis, die Einsicht in naturgegebene Grenzen vermitteln wollen: Wer in Anspruch nimmt, was ihm nicht gebührt, wird verlacht (Avianus, Babrios); in der Äsop zugeschriebenen Fassung äußert sich die Kritik gezielter über Ungebildete, die sich den Anschein von Gelehrsamkeit geben. Warnung, Tadel und Spott gelten dem Hochmut, der Vermessenheit und der Aneignung ,fremden Lobes' (z.B. Ulrich —> Boner, num. 67; Heinrich Steinhöwel, num. 118), dem falschen Schein (so mokiert sich ein span. Schelmenroman über Leute, die ihre Haare färben 2 4 ), der Prahlerei und Überheblichkeit der Narren 2 5 oder denen, die auf sie hereinfallen 26 . Mit der generellen Aussage, die den Menschen in seine natürlichen Schranken verweist, geht häufig eine oft davon nicht deutlich zu trennende Rechtfertigung der Ständeordnung einher; explizit ist sie z.B. formuliert bei Hans —> Sachs (1,21) oder Nathanael —» Chytraeus (num. 46). Andererseits werden auch Mißstände thematisiert und bestimmte gesellschaftliche Gruppen attackiert, etwa bei —> La Fontaine (5,21) die Adeligen: „Un equipage cavalier/ Fait les trois quarts de leur vaillance" 27 . Vielfach ergibt sich die Ausdeutung nicht aus dem Erzähltext selbst, sondern wird in ihn hineininterpretiert, insbesondere wenn die Fabel zur Kritik an Politik, Kirche oder Gesellschaft eingesetzt wird. So wettert der mlat. Prediger —» Odo of Cheriton in der Allegorese einer seiner beiden Bearb.en (num. 26; in der span. Übers. Libro de los gatos num. 22) gegen die Falschheit, Faulheit und Genußsucht der Benediktiner, die man an ihren Reden als E. des Teufels erkenne. Erasmus -» Alberus (num. 33) dient die Geschichte als Vorwand zu einem heftigen Angriff auf den Papst und den Katholizismus, nebenbei auch auf Thomas Münzer und die Münsterer; der von Martin —* Luther als „Widderchrist" offenbarte „Bapstesel" wurde so sehr ein Begriff des militanten Protestantismus, daß die Fabel danach von kathol. Autoren nicht mehr verwendet wurde 2 8 . Die aus mündl. Überlieferung gesammelten Var.n 2 9 sind meist der literar. Tradition ver-
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pflichtet; nur vereinzelt finden sich eigenständigere Fassungen wie z.B. die katalan. Erzählung (v. oben). In der russ.-jüd. Version erscheint ein Hund im Wolfspelz; in der ind.jüd. wird der E. von seinem Herrn zum Dank für treue Dienste mit einem kostbaren Gewand aufgeputzt und zunächst von den Tieren zum König gemacht 3 0 . Organischer Bestandteil des mündl. Erzählguts und mit den typischen Merkmalen afrik. Tiermärchen ausgestattet ist AaTh 214 Β bei den Bantus, wie verschiedene Aufzeichnungen 3 1 bezeugen. Die Geschichte ist eine Episode unter den zahlreichen Abenteuern des Hasen, der hier an die Stelle des E.s tritt. Η. A. Junod bezeichnet seine bei den Tonga gesammelten Hasen-Erzählungen analog zum —> Roman de Renart als .Romance of the Hare' 3 2 , denn der Hase, eine der afrik. —» Trickster-Gestalten, spielt bei den Bantus Südafrikas eine ähnliche Rolle wie der —> Fuchs in europ. Überlieferung 3 3 . Somit tragen diese Bantu-Redaktionen von AaTh 214Β einen völlig anderen Akzent: Das gewitzte Häschen spielt den anderen, meist stärkeren Tieren oft recht übel oder grausam mit und kommt, auch wenn es unvorsichtig handelt, am Ende mit dem Schrekken davon. Die einzelnen Versionen 3 4 weisen in den Details große Variabilität auf:
Der in das Fell des durch List getöteten Löwen (oder ein Leopardenfell) gekleidete Hase läßt sich von den anderen Tieren huldigen, beschenken und bewirten; oder er tyrannisiert die Hyänen (martert sie nacheinander in einem Topf voll kochendem Wasser zu Tode; belagert sie, so daß sie einander vor Hunger auffressen; zwingt eine Hyäne, zum Umrühren im Kochtopf ihre Pfote zu nehmen); oder er begibt sich zur Löwin, läßt das Vieh des Löwen schlachten und macht sich unter dem Vorwand, er müsse einen Arzt aufsuchen (denn das Löwenfell beginnt zu stinken), mit dem ihm ausgehändigten Vermögen davon. Meist wird er aber beim heimlichen Verlassen der Löwenhaut beobachtet oder rühmt sich sogar offen seiner List und muß vor dem Zorn der Betrogenen fliehen und sich dabei z.T. unkenntlich machen (durch Abschneiden der Ohren oder Wälzen im Schlamm). In einer Var. wird mit der hinterlassenen Löwenhaut der Verkleidungstrick des Hasen wiederholt: Der König der zuvor düpierten Affen verscheucht so einen Tiger; er wird zwar von einem kleinen Affen verraten, verhilft aber dem Tiger zu Beute und darf das Löwenfell behalten.
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Esel in der Löwenhaut
Nicht AaTh 214 Β zuzuordnen sind zwei Bantu-Erzählungen 35 von der Antilope, die ihren Jungen Leopardenfelle verschafft und ein anderes Tier zur mißlingenden Nachahmung verleitet (Mot. J 2401, J 2413), denn die wesentlichen Züge des Typs sind nicht vorhanden: die Anmaßung einer falschen Rolle und die Entlarvung bzw. Flucht.
•Aesop, num. 336. — 2 Lukian: Der Fischer oder die wieder auferstandenen Philosophen. In: id.: Werke 1 - 3 . ed. J. Werner/H. Greiner-Mai. Β./ Weimar 1974, t. 1, 2 3 0 - 2 6 0 , hier 248; id.: Die entlaufnen Sklaven, ibid. 2, 4 9 - 6 4 , hier 55, 64; cf. id.: Der Lügenfreund oder der Ungläubige, ibid. 1, 8 5 - 1 1 2 , hier 8 8 - 9 1 ; zu griech. Sprichwörtern cf. Pauly/Wissowa 6, 649; zum Fortleben der Fabel in dt. Redensarten cf. Wander, K. F. W.: Dt. Sprichwörter-Lex. 1. Lpz. 1867, 877, num. *605, *608; Röhrich, Redensarten 1,242. - 3 Piaton. Sämtliche Werke 2. ed. W. F. Otto/E. Grassi/G. Plamböck. Hbg 1957, 153; zu damit in Zusammenhang stehenden Sprichwörtern cf. R T P 18 (1903) 39. — 4 Wagener, Α.: Essai sur les rapports qui existent entre les apologues de l'Inde et les apologues de la Grece. In: Memoires couronnes et memoires des savants etrangers publies par l'Academie Royale des Sciences, des Lettres et des Beaux-Arts de Belgique 25 (1854) 126p., hier 6 3 - 6 6 ; Weber, Α.: Ueber den Zusammenhang ind. Fabeln mit griech. B. 1855, 11 sq.; Benfey 1, 4 6 2 - 4 6 4 , 225; Ribezzo, F.: Nuovi studi sulla origine e la propagazione delle favole indo-elleniche comunemente dette esopiche. Napoli 1901, 1 2 5 - 1 2 9 ; Forke, Α.: Die ind. Märchen und ihre Bedeutung für die vergleichende Märchenforschung. B. 1911, 67sq.; Cock, Α. de: Volkssage, volksgeloof en volksgebruik. Antw. 1918, 1 8 4 - 1 9 4 ; Günter, H.: Buddha in der abendländ. Legende? Lpz. 1922, 50; Perry, Β. Ε.: The Origin of the Book of Sindbad. In: Fabula 3 (1960) 1 - 9 4 , hier 17; Schwarzbaum, Fox Fables, 266 und 268, not. 13. - 5 cf. ibid., 266; Weber (wie not. 4) 10sq.; De Gubernatis, Α.: Die Thiere in der idg. Mythologie. Lpz. 1874, 283, 288sq., 293sq.; Geib, R.: Zur Frage der Urfassung des Pancatantra. Diss. Fbg 1969, 104. — 6 Luria, S.: L'asino nella pelle del leone. In: Rivista di filologia e d'istruzione classica 62, N.S. 12 (1934) 4 4 7 - 4 7 3 , bes. 4 4 7 - 4 4 9 , 4 6 3 - 4 7 3 . 7 Wagener (wie not. 4) 65. — 8 Weber (wie not. 4) 10; cf. De Gubernatis (wie not. 5) 282, 291 sq. 9 Bigandet, P.: Vie ou legende de Gaudama. P. 1878, 386. - 10 de Cock (wie not. 4) 190. 11 Nachweise bei Bedker, Indian Animal Tales, num. 991; cf. Geib (wie not. 5) 104 sq. - 12 The Indian Antiquary 29 (1900) 250. - 13 Tuti-Nameh. Das Papageienbuch. Nach der türk. Fassung übers, von G. Rosen. Lpz. 0 1 8 5 8 ) s.a., 301 sq.; zu wei-
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teren türk. Belegen v. R T P 18 (1903) 39. 14 Nachweise bei Bodker, Indian Animal Tales, num. 830; ergänzend: Touti Nameh. Eine Slg Pers. Mahrchen von Nechschebi. Ubers. C. J. L. Iken. Stg. 1822, 77sq.; Rosen (wie not. 13) 2 9 8 300. - 15 Auch in AaTh 214 Α ist an der Entdeckung der gemeinsam ausgerissenen Tiere das Geschrei des E.s schuld; meist folgt in einer 2. Episode die Rache des Kamels. Ergänzend zu AaTh: Schwarzbaum, Fox Fables, 268, not. 11; Marzolph 214; Noy; Megas; Cirese/Serafini; Benfey 2, 3 3 9 341; cf. 1,463sq.; Iken (wie not. 14) 139sq.; Rosen (wie not. 13) 349sq.; Jahn, S. al Azharia: Arab. Volksmärchen. B. 1970, 2 1 - 2 7 , 499sq.; Dirr, Α.: Kaukas. Märchen. MdW 1920, 158sq.; SulchanSaba Orbeliani: Die Weisheit der Lüge. B.-Wilmersdorf 1933, 123 sq. - 16 cf. Benfey 1, 464; Hertel, J.: Das Pancatantra. Lpz./B. 1914, 6 2 - 6 4 . - 17 Julien, S.: Les Avadänas. Contes et apologues indiens 2. P. 1859, 59sq. - 18 Altchin. Fabeln. Übers. K. Zhao/S. Lewin. Nachwort E. Müller. Lpz. 1976, 25. - 19 Chauvin 3, 66; 2, 223 sq., num. 22; zur Rahmenerzählung ibid., 216—218. — 20 Nachweise bei: R T P 18 (1903) 38sq. (statt Piaton fälschlich Plutarch); Aesop/Holbek 2, 188sq., num. 157; Dvorak und Tubach, num. 386; Schwarzbaum, Fox Fables, 264—269; Grubmüller, K.: Meister Esopus. Mü. 1977, Reg. s.v. E. in der Löwenhaut und bes. 197sq., not. 212; Kirchhof, Wendunmuth 5, 43 (zu 1, 165; Hinweis auf Nicolaus Pergamenus unzutreffend); Sobel, E.: Alte Newe Ztg. Berk./L.A. 1958, 56 (zu num. 34); Rehermann, 134; Childers, Tales J 951.1.1*, J 951.1.2*; Keller J 951.1; Keller/Johnson J 951.1; Noy; ergänzend: Chytraeus, N.: Hundert Fabeln aus Esopo [. . .]. Rostock 1571, num. 46; Texte im EM-Archiv (mit num.): Plener, Acerra philologica 1687 (4.334); Narren-Nest III 1707 (9.862); moderne Bearb.en von Arntzen, H.: Kurzer Prozeß. Mü. 1966,43, 5 5 , 6 3 . 21 Grubmüller (wie not. 20) 254. - 22 Schütze, G.: Gesellschaftskritische Tendenzen in dt. Tierfabeln des 13. bis 15. Jh.s. Bern/Ffm. 1973, 110. 23 Amades, num. 283. - 24 Espinel, V.: Vida del escudero Marcos de Obregön 1. ed. M. S. Carrasco Urgoiti. Madrid 1972, 1 3 2 - 1 3 4 . - 25 z.B. Sobel (wie not. 20) num. 34. — 2 6 ζ. Β. Plener (wie not. 20). — 27 ν. ζ. B. auch die Beispiele von Gesellschaftskritik im ma. Deutschland bei Grubmüller (wie not. 20) 254sq.; Schütze (wie not. 22) 1 1 0 - 1 1 2 . - 28 cf. Sobel (wie not. 20) 8. - 29 SUS (1 ukr.); Amades, num. 283 (1 katalan.); Megas (7 griech.); Noy (4 jüd.: 1 palästinens.-sephard., 1 aus Buchara, 1 ind., 1 russ.); Klipple J 951.1 (1 westsudanes.); The Indian Antiquary (wie not. 12) (1 ind.). Von den zwei chin. Belegen (Ting) bezieht sich einer (Dennys) auf die AvadänaVersion (wie not. 17), der andere, ähnliche (Chiang Chieh-shih), in der der E. am Ende vom Tiger getötet wird, scheint ebenfalls ziemlich sicher aus einer literar. Qu. zu stammen (Mittig von Nai-tung Ting,
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Esel und Pferd
2.3.83). Der bei AaTh aufgeführte lapp. Beleg findet sich nicht bei Qvigstad. - 3 0 Noy. — 31 Bleek, W. Η. I.: Reineke Fuchs in Afrika. Weimar 1870, 7 5 - 8 0 , hier 79sq.; RTP 10 (1895) 3 7 9 - 3 8 2 , hier 381 sq. ( = de Cock [wie not. 4] 192sq.); Jacottet, E.: Contes populaires des Bassoutos. P. 1895, 2 2 - 2 6 ( = de Cock [wie not. 4] 191 sq.); Junod, H.A.: The Life of a South African Tribe 2. Neuchätel 1913, 211 (Mot. Κ 362.5); Klipple J 951.1 (kaffer.); Arewa 1592. 32 Junod (wie not. 31) 193sq„ 198. - 33 de Cock (wie not. 4) 190sq.; Junod (wie not. 31) 193sq., 198, 2 0 4 - 2 0 6 ; cf. Klipple, p. 6. - 3 4 wie not. 31. - 35 Lambrecht 1408, 1408 A.
Göttingen
Christine Schmidt
Esel und Pferd (AaTh 214*), eine äsopische Fabel vom Neid eines Tieres auf das scheinbar leichte Leben eines anderen (Mot. L 452.2; Wienert, ET 191): Der hartarbeitende und schlechtgenährte E. beneidet das gutgepflegte und nicht zur Arbeit herangezogene P.; als dieses jedoch mit seinem Herrn in den Krieg ziehen muß und tödlich verwundet wird, bedauert der E. es und ist mit seinem eigenen Schicksal zufrieden. Die ältesten Belege stammen aus der griech. Überlieferung, der sog. Collectio Accursiana1 und den Prosaparaphrasen zu —» Babrios 2 . Die Fabel ist ferner in einer vermutlich auf dem griech. Äsop-Korpus basierenden syr. Fabelsammlung und ihrer griech. Rückübersetzung, den sog. Fabeln des Syntipas, vertreten 3 . Erst wieder im 16. Jh. verbreitet sie sich durch die vor allem von den Humanisten besorgten Textausgaben der äsopischen Fabeln. Sie findet sich in den im 16. und 17. Jh. zahlreich aufgelegten lat. Fabelkompilationen 4 , bei Burkhart —> Waldis5, in erw. Form bei Erasmus —» Alberus 6 , bei Joachim —» Camerarius 7 , in der Alten Newen Zeitung8 und der Mythologia Aesopica von Isaacus N. —» Neveletus, der zwei Fassungen präsentiert (griech. Text mit lat. Übers, als Fabel des Äsop und lat. als Fabel des Laurentius —> Abstemius) 9 . Die Fabel läßt sich noch bei Carlo —* Casalicchio10 und in erw. Form (z.T. ähnlich wie Alberus) im Schertz und Ernst von Willibald Kobolt 11 nachweisen. In die mündl. Überlieferung scheint sie kaum Eingang gefunden zu haben 12 . Modifiziert, z.B. bei —» Abraham a Sancta Clara, kommt diese
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Fabel als Bericht vom anfänglichen Neid des E.s auf das Schwein vor, das gut gefüttert, aber dann geschlachtet wird 13 . Die Fabel, die das Sichabfinden mit gegebenen sozialen Rängen lehrt, wird bes. im 16. Jh. zur Rechtfertigung der Ständeordnung benutzt. Alberus z.B. weist im Epimythion auf die von Gott schon seit Adams Zeiten eingerichteten Stände (Nehrampt, Lehrampt, Oberkeit) hin 14 . In einigen Texten wird die Fabelaussage noch einmal in einer sprichwörtlichen Redensart zusammengefaßt, z.B. „Es ist nit alles Goldt/ was gleisset von aussen" 15 . Zusammengestellt und z.T. nicht unterschieden oder verwechselt wird diese StändeFabel in der Forschung oft mit der Fabel vom Pferd und Esel, die vom Hochmut eines Tieres gegenüber einem anderen erzählt (Mot. L 452.1; Wienert, ET 171): Ein prächtig aufgezäumtes P. trifft an einer Wegenge mit einem schwerbeladenen E. zusammen und weist diesen herrisch an, ihm als dem Würdigeren den Weg freizugeben; bei einer späteren Begegnung — das P. hat sich verletzt oder ist alt geworden und wird zu niedrigsten Arbeiten verwendet — fragt der E. hämisch nach der früheren Pracht. Im Unterschied zur Stände-Fabel läßt diese sich nicht im griech. Äsop-Korpus nachweisen, hat aber aufgrund der vielfältigen Überlieferungsstränge des sog. —> Romulus, der den frühesten Beleg liefert 16 , eine große Verbreitung im MA. gefunden 17 . So bringt sie der für die ma. Tradierung wichtige Anonymus Neveleti18, auf den u.a. die Fassungen im afrz. Lyoner Ysopet19, im Libro de buen amor des Juan —> Ruiz 20 und im Exemplarius auctorum des —» Klaret 21 zurückgehen. Sie ist bei Alexander —» Neckam 22 , —> Vincent de Beauvais 23 und später in der Scala celi des —> Johannes Gobii Junior 24 vertreten. Dt.sprachige Fassungen liegen bereits bei Gerhard von Minden 25 und dann bei Ulrich —» Boner 26 vor. Mit Heinrich - * Steinhöwels Slg27 wird die Fabel in viele volkssprachliche Äsopausgaben übernommen, z.B. in die engl, von William Caxton 28 und in die dän. von Christiern Pedersen 29 . Sie findet sich in lat. Fabelkompilationen des 16. und 17. Jh.s 30 . Dichterisch bearbeitet haben sie Waldis 31 , Alberus 32 und Hans -> Sachs33. Im 18. Jh. läßt die Fabel
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Esel und Pferd
sich im Schertz und Ernst34 und im 19. Jh. noch bei Friederich Haug 35 belegen. Auch sie scheint miindl. kaum tradiert worden zu sein 36 . Schon im ältesten Beleg 37 wird die im Erzählteil bereits klar zum Ausdruck kommende Warnung vor der Wandelbarkeit des Glücks und damit der Vergänglichkeit des Herrschaftsanspruchs durch ein Pro- und Epimythion nochmals verdeutlicht. Wer in der Macht stehe, so lautet die Warnung, solle nicht andere terrorisieren, denn auf das —> Glück sei kein Verlaß, wobei öfters auf das alte Bild vom Glücksrad zurückgegriffen wird 38 . Einige Fassungen gehen im Epimythion erneut auf die Schadenfreude des E.s ein, indem sie auf den zusätzlichen Nachteil bei Mißachtung der Lehre hinweisen: „Und müst den spott zum schaden han" 39 . Zutreffender und die Klassifizierung erleichternd 40 hätte S. Thompson für diese Fabel in Mot. L 452.1: Ass is jealous of the horse, but sees horse later working in a mill nicht den neidischen Ε., sondern das hochmütige P. herausstellen sollen. Die Subsumierung dieser Fabel unter AaTh 214* und damit eine Zusammenstellung mit der StändeFabel erscheint nicht zweckmäßig. Thompson selbst gibt unter AaTh 214* nur einen Hinweis auf Mot. J 212.1, nicht jedoch auf das die beiden Fabeln spezifizierende Mot. L 452. Beispiele für eine Verbindung oder Vermischung der beiden Fabeltypen gibt es im vorliegenden Material kaum 41 . Nur bei der Fassung in Hans Wilhelm —> Kirchhofs Wendunmuth kann man von einer Kontamination sprechen: Die Erzählung vom Zusammenstoß der Tiere an der Wegenge dient als Einleitung zur Stände-Fabel 42 . Eher als eine Variation der Stände-Fabel ist eine Fassung im Speculum sapientiae des Cyrillus anzusehen, die unter der Rubrik ,Contra audaces' von einem in den Krieg ziehenden P., das sich gegenüber einem vor Kriegsgefahren warnenden Maulesel hochmütig verhält, berichtet und zu Vorsicht und Mäßigkeit im Leben rät 43 . Ebenfalls in die Nähe der Stände-Fabel kann ein weiteres Beispiel der Scala celi gestellt werden, allerdings inhaltlich am Ende des Erzählteils und in der Intention sehr verändert. Hier wird der auf das P. neidische E. vom Herrn unter Hinweis auf
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die größeren Verdienste des P.s (rettete dem Herrn im Krieg das Leben) zurechtgewiesen 44 . Die beiden Fabeln weisen gesonderte Überlieferungsstränge auf. Die Stände-Fabel ist durch den Neid des E.s, die Fabel von der Wandelbarkeit des Glücks durch den Hochmut des P.s bestimmt. Diese mit den Protagonisten verbundenen Grundgedanken demonstrieren auch die durch Kompilatoren, Dichter und Herausgeber tradierten Titel, die den Protagonisten meist an erster Stelle nennen oder nur ihn allein4S. Die Intentionen und damit die Ansprechpartner der beiden Fabeln sind verschieden: Die eine stellt eher eine ,Trostfabel' 46 für Arme dar, die andere eine Warnfabel an die Mächtigen dieser Welt. I Aesop, num. 328; Crusius, O.: Babrii fabulae Aesopeae. Lpz. 1897, num. 160a; Hausrath, Α.: Corpus fabularum Aesopicarum 1 - 2 . Lpz. 1 9 5 7 59, num. 272; Chambry, Α.: Aesopi fabulae 2. P. 1926, num. 269, Text 2; auch sog. Rez. III oder Planudes-Rez. - 2 Crusius (wie not. 1) num. 160; Perry, num. 357; Babrius/Perry, num. 357; Chambry (wie not. 1) num. 269, Text 3; auch sog. Rez. IV. - 3 Griech.: Hausrath (wie not. 1) t. 2, p. 166sq. (num. 29); Perry, p. 538; syr.: Landsberger, I.: Die Fabeln des Sophos. Syr. Original der griech. Fabeln des Syntipas. Posen 1859, num. 32; Vergleichstabelle der Hss. v. Perry, p. 524. — 4 ζ. Β. Fabularum quae hoc libro continentur interpretes, atque authores sunt hi [. . .]. s.l. 1519, p. D II; Dorpius, M. (ed.): Fabularum quae hoc libro continentur interpretes, atque authores sunt hi [. . .]. [Lpz. 1532] p. 42 (num. 77; identisch mit Text in Ausg. 1519), p. 186sq. (num. 349 aus Rimicius). — 5 Kurz, Η.: Esopus von Burkhard Waldis 1 - 2 . Lpz. 1862, hier 1.1, p. 118 - 1 2 0 (1,77). - 6 Braune, W.: Die Fabeln des Erasmus Alberus. Halle 1892, num. 47. — 7 Camerarius, J.: Fabulae Aesopicae [. . .]. Lpz. [1564], p. 105sq. - 8 Sobel, E.: Alte Newe Ztg. Berk./L.A. 1958, num. 47. - 9 Neveletus, I. N.: Mythologia Aesopica. Ffm. 1610, 138 (num. 58; Text wie not. 1), 553 sq. (num. 47). 10 Text im EM-Archiv (mit num.): Casalicchio 1702 (3.089). II EM-Archiv: Kobolt, Schertz und Ernst 1747 (4.504). - 12 Koväcs, num. 215* (1 Var.); Cirese/ Serafini (5 Var.n, Motivzuordnung nicht eindeutig); Thompson/Balys J 212.1 (1 Var. aus Kaschmir). — 13 EM-Archiv: Abraham a S. Clara, Kam voller Narrn 1704 (9.821); zu thematisch verwandten Fassungen in Jätakas und Midrasch cf. Schwarzbaum, Fox Fables, 315sq.; bei Alberus (wie not. 6) und Kobolt (wie not. 11) dient diese Modifikation unter Hinzuziehung noch anderer beneideter Tiere als Erweiterung. — 14 wie not. 6. — 15 wie not. 8; cf. Wander, K. F. W.: Dt. Sprich-
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Esels Schatten — Esels Urkunde
wörter-Lex. 1. Lpz. 1867, 1789, num. 47. 16 Perry, num. 565; Babrius/Perry, num. 565; Thiele, G.: Der lat. Äsop des Romulus und die Prosa-Fassungen des Phädrus. Heidelberg 1910, num. 53 ( = Romulus 3,3). - 17 cf. allein schon die bei Hervieux ed. Texte: Hervieux 2, 765, num. 55. - 18 Hervieux 2, 337sq. (num. 43). - 19 Foerster, W.: Lyoner Yzopet. Heilbronn 1882, 6 1 - 6 3 , num. 45. - 2 0 Arcipreste de Hita: Libro de buen amor. ed. M. Criado de Val/E. W. Naylor. Madrid 1965, 6 5 - 6 7 ; Tacke, O.: Die Fabeln des Erzpriesters von Hita im Rahmen der ma. Fabellit. Diss. Breslau 1911, 18sq. -
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[ . . . ] . [Basel] 1520, X X V I I I b s q . - 44 Gobius (wie not. 24) 135 a. - 45 Equus superbus etc. 46 cf. Antike Fabeln, ed. J. Irmscher. B./Weimar 1978, XI; cf. auch die in dieser Fabel von Alberus (wie not. 6) und Waldis (wie not. 5) gegebenen Querverweise auf das Morale anderer Fabeln ihres Werks, die ebenfalls Aussagen wie ,Reiche leben gefährlich' oder Zufriedenheit mit dem von Gott Gegebenen' beinhalten.
Göttingen
Ines Köhler
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Wesselski, Α.: Klaret und sein Glossator. Brünn/ Prag/Lpz./Wien 1936, 30, 111 (num. 147; Ermahnung an Kleriker, die sie ernährenden Laien nicht zu verachten); cf. Dvorak, num. 371*. 22 Hervieux 2, 409 (num. 32). - 2 3 Hervieux 2, 240 (num. 17). - 24 Johannes Gobius: Scala celi. Ulm 1480, 18b. - 25 Gerhard von Minden, ed. W. Seelmann. Halle 1878, num. 59. - 2 6 Der Edelstein von Ulrich Boner. ed. F. Pfeiffer. Lpz. 1844, num. 51. - 27 Steinhöwels Äsop. ed. H. österley. Tübingen 1873, num. 43. - 28 Jacobs, J.: The Fables of Aesop as First Printed by W. Caxton in 1484 [. . .] 1 - 2 . L. 1889, t. 2, 6 7 - 6 9 ( = 3,3). 29 Ä s o p / H o l b e k 1, p. 6 8 b - 6 9 b . - 3 0 Fabularum [. . .] interpretes 1519 (wie not. 4) p. Β IV; Dorpius 1532 (wie not. 4) 19, num. 33; Neveletus (wie not. 9) 517sq., num. 43. 31 Waldis (wie not. 5) t. 1, 65 sq. (1,33). - 3 2 A l b e rus (wie not. 6) num. 26. — 3 3 Sämtliche Fabeln und Schwanke von Hans Sachs 2. ed. E. Goetze. Halle 1894, num. 299. - 3 4 EM-Archiv (wie not. 11) (4.5 92). - 35 Haug, F.: 200 Fabeln für die gebildete Jugend. Ulm 182 3 , 76. - 36 cf. Äsop/ Holbek 2, 171. - 3 7 w i e not. 16. - 3 8 z . B . bei Vincent de Beauvais (wie not. 23), in den lat. Ausg.n des 16. Jh.s (wie not. 30), bei W. Caxton (wie not. 28) und Kobolt (wie not. 34). - 3 9 z . B . Alberus (wie not. 32); Waldis (wie not. 31). - 4 0 Überblick über Kataloge und Angaben von Parallelstellen: Kurz (wie not. 5) t. 2, 48 und 69 trennt die Fabeln präzis; H. österley in Kirchhof, Wendunmuth 5, 164 (Kommentar zu 7,54) unterscheidet nicht, ebenso Jacobs (wie not. 28) t. 1, 243, Chauvin 3, 50 und Sobel (wie not. 8); Holbek (wie not. 29) t. 2, 170 sq., num. 76 und Dvorak, num. 371* geben nur Belege zu Mot. L 452.1 an, Holbek subsumiert jedoch unter AaTh 214*; Schwarzbaum, Fox Fables, 321 gibt Hinweise auf beide Fabeln; Keller gibt irrtümlich die Ruiz-Fassung (wie not. 20) als einzigen Beleg für Mot. L 452.2, was wiederum von Mot. übernommen wird. 41
Zwar kann das P. in Mot. L 452.1 auch als Kriegspferd apostrophiert werden, das ändert aber nichts am Fabeltyp; cf. hierzu auch Tacke (wie not. 20) 1 9 - 2 1 . - 4 2 Kirchhof, Wendunmuth 7,54. 43 Grässe, J. G. T.: Die beiden ältesten lat. Fabelbücher des MA.s. Tübingen 1880, 40sq. ( = 2,5); cf. auch die Ubers.en, z.B. Spiegel der wyszheit
Esels Schatten —> Scheinbuße
Esels Urkunde (AaTh 47 E), eine Fabel, die den gemeinhin wegen seiner Einfalt und Unterwürfigkeit benachteiligten, von anderen Tieren düpierten Esel als letztlich durch List dominierend hinstellt. Die Inhaltsangabe bei AaTh entspricht genauer Mot. J 1608 und nicht, wie angegeben, Mot. Κ 551.18. Der Löwe schickt seine Trabanten, meist Fuchs und Wolf, zum Esel, um zu prüfen, ob dieser sich erlaubterweise vom Parlament der Tiere entfernt habe. Der Esel beruft sich auf eine in seinem Huf verborgene Urkunde, fordert den Fuchs zum Lesen auf und versetzt ihm (oder dem vom Fuchs vorgeschickten Wolf) einen meist tödlichen Tritt. Der solchermaßen mißglückte Leseversuch begegnet jedoch auch in Versionen, wonach ein Maultier nach seinen Eltern befragt wird, dabei mit seiner Abkunft väterlicherseits von einem Pferd des span. Königs prahlt, die despektierliche Abkunft mütterlicherseits von einer Eselin zu verschweigen sucht (Mot. J 954.1) 1 .
Wiewohl schon T. F. Crane 2 in seinem Kommentar zu einem Exempel des —» Jacques de Vitry und später P. F. Baum 3 in einer Notiz zu dieser Thematik darauf aufmerksam gemacht haben, daß es sich hier um die Kontamination zweier verschiedener Fabeltypen handelt, sind die Nachweise bei Tubach, num. 3432 (zu Mot. J 954.1 und J 1608) wiederum zusammengeworfen. Überschneidungen ergeben sich auch mit AaTh 47 Β (—» Wolf und Pferd), wo jedoch nicht nur andere Tiere agieren, sondern meist auch die für AaTh 47 Ε charakteristische Aufforderung fehlt, die besagte Urkunde, Herkunft, Name oder Alter vom Huf des betreffenden Tiers abzulesen, vielmehr die Gelegenheit, dem
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Eselherzfabel
Widersacher einen Tritt zu versetzen, anders motiviert ist. Auf die gemeinsame Abkunft der Typen aus äsopischer Tradition 4 hat R. Besthorn 5 anhand zahlreicher Belege hingewiesen. Das Lesemotiv begegnet bei Jacques de Vitry, in einem von F. J. Mone mitgeteilten lat. Predigtmärlein aus einer Hs. des Klosters Himmelrode vom Ende des 14. oder Anfang des 15. Jh.s 6 , im Alter Aesopus des Baldo 7 , in einer von J. Grimm 8 wiedergegebenen undatierten lat. Version und in der von Besthorn kommentierten Fassung im —» Novellino9, und zwar mit der Moral, daß nicht jeder, der lesen könne, auch weise sei. Damit dürften die Wege literar. Überlieferung von den antiken Fabelsammlungen in die ma. Exempelliteratur und in die ital. Novellistik gekennzeichnet sein. Aus einem dieser Quellenbereiche bezog wohl —» La Fontaine 10 seine Fassung, desgleichen der ital. Jesuit C. —> Casalicchio11 seine nach barocker Predigermanier breit ausgesponnene Version; er hat die Prahlerei des Wolfes mit angeblichen Lesekünsten auf die Hoffart des Menschen ausgelegt. Das Verbreitungsgebiet der neueren Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung 12 hat nur geringen Bezug zur literar. Tradition des MA.s und wirkt insgesamt diffus. Von isolierten Belegen aus Irland 13 und Schottland 14 abgesehen, liegen Var.n aus Rumänien 15 , dem Kaukasus 16 und von den Ostjaken in Westsibirien 17 vor, weiter aus dem kurd. Bereich 18 , aus Israel 19 , von Berberstämmen in Algerien und Marokko 20 und aus Tunesien 21 . Die handlungstragenden Tiere (Fuchs, Wolf oder Schakal als Herausforderer, Esel, Pferd oder Kamel als mit dem Hufschlag Reagierende) wechseln je nach Landschaft. Für eine eingehendere Monographie, die allerdings nur bei Vermehrung der Belege aus mündlicher Überlieferung lohnend wäre, bleiben noch manche Fragen offen. 1
Wesselski, Α.: Mönchslatein. Lpz. 1909, num. 130 (nach Etienne de Bourbon); Pauli/Bolte, num. 170; Schwarzbaum, H.: Internat. Folklore Motifs in Petrus Alphonsi's „Disciplina clericalis". In: Sefarad 21 (1961) 295sq. (mit Lit.); id.: The Mishle Shu'alim (Fox Fables) of Rabbi Berechiah Ha-Nakdan. Kiron 1979, 338sq. (mit Hinweisen auf die diversen Motivverbindungen); span.: Keller J 954.1; ind.: Thompson/Balys J 954.1. - 2 Crane,
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num. 33. - 3 Baum, P. F.: The Mare and the Wolf. In: Modern Language Notes 37 (1922) 3 5 0 - 3 5 3 . — 4 Babrii fabulae aesopeae. ed. O. Crusius. Lpz. 1897, num. 122; Wienert, ST 244'; Steinhöwels Äsop. ed. H. Österley. Tübingen 1873, 192; cf. auch: Holbek, B. (ed.): /Esops levned og fabler. Christiern Pedersens overs Löwe (—> Tiger, Panther oder —» Wolf) verlangt einen —»Esel (—> Hirsch, Wildschwein, Widder, Stier oder —* Kamel) zu seiner Stärkung (Genesung). Der —> Fuchs (—> Schakal, —> Igel) überredet einen Esel, mit ihm zum Löwen zu gehen oder beim König der Tiere in den Dienst zu treten.
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Eselherzfabel
Als der Esel das mächtige Raubtier zum ersten Mal erblickt, erschrickt er und rennt davon. Der Fuchs vermag den Esel ein zweites Mal herbeizulocken, und der Löwe zerreißt ihn. Der Fuchs verzehrt heimlich das Eselherz (und die Ohren) oder das Gehirn und erklärt dem Löwen, daß der Esel kein Herz besessen habe, sonst hätte sich dieser nicht zweimal täuschen lassen.
Im AaTh-Typenkatalog ist eine abweichende, bes. auf hebr. Var.n zutreffende Einleitungspassage angegeben: Der Esel will vom Löwen Zoll erheben und wird daraufhin von diesem getötet. Bei AaTh werden nur vier ind. Belege aus der mündl. Überlieferung zusammen mit literar. ind. 1 , arab., althebr. und span. Texten aufgeführt. Bekannt sind außerdem marokkan. 2 , ceylones. 3 und afghan. 4 Var.n aus der oralen Tradition. Eine andere Version liegt in Märchen der Kasachen 5 , Kirgisen6, Karakalpaken 7 , Kalmücken 8 , Awaren 9 , Lesginer 10 , Baschkiren 11 und Tataren vor 12 : Wolf, —> Bär (seltener Dachs) und Fuchs begegnen einem gutgläubigen Kamel und führen es mit sich, oder sie organisieren' dank der Schläue des Fuchses ein Schaf. Bär und Fuchs säubern die Eingeweide des zerrissenen Schafs oder Kamels (gewöhnlich ist es mit dem Vorschlag des Fuchses, gefressen zu werden, einverstanden). Der Fuchs frißt heimlich Herz und Gehirn (Speck, Nieren), oder er verzehrt irgendwelche Eingeweide zusammen mit dem Bär; danach denunziert er den Bären beim Wolf. Da dieser keinen schmackhaften Bissen mehr vorfindet, beginnt er, mit dem Bären zu streiten. Alles Fleisch fällt dem Fuchs zu, und dieser macht sich davon.
Nicht selten kontaminiert AaTh 52 in dieser Version mit anderen Typen (AaTh 20 A, 122 Α oder 20D, z.B. in den tatar. Märchen) und wird durch Episoden über das Mißgeschick des vom Fuchs betrogenen Wolfs erweitert: Der Fuchs lockt den Wolf in einen Korb und flicht diesen oben zu, oder er lockt den Wolf zu einem Mühlgraben und setzt den Mühlstein in Gang. Die schriftl. Überlieferung von AaTh 52 läßt sich seit den ersten Jh.en n. u. Z. an den Denkmälern der östl. und antiken Schriftzeugnisse verfolgen: Entsprechende Erzählungen liegen im —> Pancatantra (4,2) 13 und in —> Kaiila und Dimna vor, weitere Belege sind die Fabeln von —> Babrios (num. 95), —>
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Avianus (num. 30) u. a. Die östl. Tradition stand mit der antiken in einer Wechselbeziehung; beide überkreuzten sich in zahlreichen literar. Nacherzählungen und Bearbeitungen der E. im westeurop. MA. (bei den antiken Autoren wird sie Hirschherzfabel genannt, bei den meisten westeurop. ma. Autoren Eberfabel). Eine Entwicklungsstufe zwischen griech. und ind. Versionen bildet nach Β. E. Perry möglicherweise die armen. Fabel des Vardan 14 . Die Mehrheit der westeurop. ma. Werke über dieses Thema lehnt sich klar an die östl. Lit.tradition an. Auf sie beziehen sich z.B. die Erzählungen in althebr. Sprache im Midrasch des Rabbi Joel und in anderen Midraschim (hier tötet der Löwe den Esel, da dieser von ihm Zoll erheben will)15, in —> Johannes' von Capua Directorium vitae humanae und in den Contes moralises des Nicole Bozon (13. Jh.). Hauptsächlich der antiken Lit.tradition verpflichtet sind beispielsweise die Erzählungen über das vom Fuchs gestohlene Hirschherz in den lat. Chroniken von Fredegarius (7. Jh.) und Aimoin (10. Jh.), in Historia fundationis monasteri Tegernseensis (num. 5; Bär/Fuchs) des Froumund von Tegernsee (10. Jh.), die Fabel der —> Marie de France (13. Jh.) sowie die Erzählung in den —> Gesta Romanorum (num. 83). Unter den späteren europ. literar. Bearbeitungen der E. wurde der Schwank Ein Fuchs betreuget einen Esel und Löwen aus der Ende 16. Jh./Anfang 17. Jh. entstandenen Slg Wendunmuth des Hans Wilhelm —»Kirchhof bes. bekannt 16 . Diesem Schwank sehr ähnlich sind die Eselherzschwänke und -fabeln der Barockzeit (17. Jh.—Anfang 18. Jh.), von denen einige sozialkritische Züge aufweisen und in literar. Breite erzählt sind 17 . 1 Zusätzlich zu AaTh: Mayedo, N./Brown, W. N.: Tawi Tales: Folk Tales from Jamrau. New Haven 1974, num. 27 (p. 3 7 9 - 3 8 4 Kommentar); zur literar. Überlieferung Bedker, Indian Animal Tales, num.347. — 2 Socin, A./Stumme, H.: Der arab. Dialekt der Hoijwära des Wäd Süs in Marokko. Lpz. 1894, num. 18; Laoust, E.: Contes herberes du Maroc 1 - 2 . P. 1949, num. 29. - 3 Thompson/ Roberts. — 4 Afganskie skazki i legendy. Perevod s pustu. ed. K. A. Lebedev. M. 1972, num. 36. — 5 Kazachskie skazki 1. ed. V. M. Sidel'nikov. AlmaAta 1958, 143; Zivaja starina 2 - 3 (1916) 152sq. ( = Kazachskij fol'klor ν sobranii G. N. Potanina. ed. B. Kaskabasov/N. Smirnova/E. Tursunov. Al-
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Eselmensch
ma-Ata 1972, 7 7 - 7 9 . - 6 Kirgizskie skazki. ed. D. Brudnyj/K. Esambetov. Frunse 1962, 2 8 - 3 0 . 7 Dikovinnyj Amu. Karakalpakskie narodnye skazki. ed. M. Severdin. Nukus 1960, 1 3 5 - 1 3 7 . 8 Mednovolosaja devuska. Kalmyckie narodnye skazki. ed. M. Vatagin. M. 1964, 2 5 6 - 2 5 8 . 9 Chalilov, Ch.: Skazki narodov Dagestana. M. 1965, num. 12. - 10 ibid., num. 16. 11 Baskort chalyk izady 1. ed. N.T. Saripov. Ufa 1974, num. 12. - 12 Tatar chalyk izaty 1. ed. N. G. Gambarov. Kazan' 1977, num. 5sq.; cf. Reinisch, L.: Die Saho-Sprache 1. Wien 1889, num. 7 (dieses afrik. Märchen erinnert an die oben angeführten Märchen der Völker der UdSSR und bezieht sich teilweise auf die erste grundlegende Version von AaTh 52). - 13 v. dazu Bodker, Indian Animal Tales, num. 347. - 14 Perry, Β. Ε.: The Origin of the Book of Sindbad. In: Fabula 3 (1960) 1 - 9 4 , hier 18, not. 38; Marr, N.: Sborniki pritc Vardana 2. St. Peterburg 1899, num. 5. - 15 Gaster, M.: The Exempla of the Rabbis 1 - 2 . L./Lpz. 1924, num. 244; Schwarzbaum, Fox Fables, XVII, 504—511, v. hier auch die Verwendung einer E.Version (Midrasch Haggadol) zur Veranschaulichung Ex. 5,2; Noy. - 16 Kirchhof, Wendunmuth 1, num. 84. - 1 7 Moser-Rath, 336sq., num. 189; weitere Texte im EM-Archiv (mit num.): Exilium melancholiae 1643 (706); Cocay 1650 (3.595); Casalicchio 1702 (3.100). L i t . : Chauvin 2, num. 58; t. 3, 66. - Rochholz, E. L.: Das thiermärchen vom gegessnen herzen. In: Zs. für dt. Philologie 1 (1869) 1 8 1 - 1 9 8 . - Keidel, G.: Die Eselherz- (Hirschherz-, Eberherz-) Fabel. In: Zs. für vergleichende Lit.geschichte 7,9 (1894) 264—267. — Barag, L. G.: Κ sravnitel'nomu izuceniju sjuzetnogo repertuara tatarskich skazok ο zivotnych (Zur vergleichenden Erforschung des Typenrepertoires der tatar. Tiermärchen). In: Fol'klor narodov RSFSR. Baskirskij universitet. Ufa 1978, 119sq.
Ufa
Lev G. Barag
Eselmensch. Menschen, die ganz oder teilweise in Esel verwandelt werden (Mot. D 132.1; Β 22.1), kommen im mündlich und schriftlich überlieferten Erzählgut Europas, Asiens und Nordafrikas vor. Obwohl E.geschichten von den Folkloristen bisher ohne Differenzierung behandelt worden sind1, ist es doch möglich, sieben verschiedene Traditionsstränge zu unterscheiden. 1. P s e u d o - L u k i a n , Apuleius. Die Wundergeschichten des Pseudo-Lukian (Onos) und —» Apuleius (Metamorphosen)
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aus dem 2. Jh. p. Chr. n., die unabhängig voneinander von einem verschollenen griech. Original derselben Periode abstammen, enthalten folgende Haupthandlung: Ein junger Mann (Lucius) sucht das Haus einer Hexe auf. Unbemerkt beobachtet er, wie sie sich in eine Eule verwandelt (Mot. D 153.2), um zu ihrem Liebhaber zu fliegen. Der junge Mann versucht, es ihr nachzumachen. E r entkleidet sich, reibt sich mit Hexensalbe ein und wird in einen Esel verwandelt. Diese unerwünschte —» Tierverwandlung geschah, weil ihm die Magd der Hexe die falsche Salbenschachtel gegeben hatte (Mot. J 2411). In Eselsgestalt erlebt der junge Mann viele für ihn unangenehme Abenteuer. E r erhält seine menschliche Gestalt erst wieder, als er Rosen(blätter) ißt, die ihm (nach Apuleius, nicht nach Pseudo-Lukian) Isis, die Göttin der Rettung, besorgt hatte.
Viele ikonographische Belege von menschlichen Gestalten mit Eselsköpfen gibt es aus der myken. Periode 2 . Während dieser Zeit scheint die Funktion solcher Gestalten ritueller Art gewesen zu sein 3 . In der griech.-röm. Welt kam die Figur des E.en in Possen vor 4 , die auch andere Elemente der Tradition, in der Pseudo-Lukian und Apuleius stehen, enthalten haben dürften. In der nachhomerischen Zeit findet sich die Verwandlung eines Menschen in einen Esel in plastischen und literar. Darstellungen der Episode von Odysseus und Circe5. Bei Überlegungen zu einer Entstehungstheorie des sog. Luciad (womit in der klassischen Philologie allg. die LuciusGeschichte sowohl im Onos als auch in den Metamorphosen bezeichnet wird) spielt die Sage von —» Midas mit den Eselsohren (AaTh 775, 782) eine gewisse Rolle, da der Rosengarten 6 des Midas die Mittel zu einer partiellen Rückverwandlung 7 des zuvor verzauberten Königs geliefert haben dürfte. Der Luciad ist zum größten Teil eine Zusammenstellung von ursprünglich selbständig vorkommenden Sprichwörtern, Fabeln und Schwänken über Esel 8 . Insofern ist das Werk mit den späteren europ. Schelmenzyklen um Läzaro (—> Lazarillo de Tormes) und —» Eulenspiegel vergleichbar, wo zuerst einzeln, manchmal mündlich vorkommende Geschichten um eine zentrale Figur herum zusammenwuchsen (cf. —» Kristallisationsgestalten). Diese Überlieferung fehlt in der ma. Lit. — wahrscheinlich, weil man in dieser Zeit den
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Eselmensch
Onos und die Metamorphosen nicht kannte. Mit dem Erscheinen volkssprachlicher Übersetzungen im Europa des 16. Jh.s erlangte die Erzählung wieder größere Popularität. Dies galt bes. für den dt.sprachigen Teil Europas, wo Elemente zeitgenössischer religiöser Vorstellungen und des Hexenglaubens (—» Sabbat, Blocksbergfahrt) in die Geschichte einflossen. W. Anderson stellte zwei literar. Fassungen des 17. Jh.s (Sebaldus 1655; Zeiller 1656) und 22 neuere Fassungen zusammen (12 dt., 2 tschech., 1 fläm., 1 frz., 1 Schweiz., 5 katalan.) 9 ; hinzuzufügen sind inzwischen eine österr. 10 , ung. 11 , chilen. 12 und peruan. (Quechua) Variante 13 . Alle Geschichten vom E.en folgen eindeutig der Pseudo-Lukian- und Apuleius-Überlieferung. Die Richtigkeit von Andersons Behauptung, daß die katalan. Fassungen im 30jährigen Krieg mit den Söldnern nach Spanien gebracht wurden, ist fraglich, wenn man die Veröffentlichung von D. Lopez de Corteganas Asno de oro (s. 1. ca 1525) und das Vorhandensein von Spuren der Erzählung in Andalusien berücksichtigt 14 . Viele Varianten 15 dieser Tradition existieren in beiden Teilen Amerikas, allerdings mit dem grundlegenden Unterschied, daß der Held in eine Eule und nicht in einen Esel verwandelt wird. In einigen dieser Erzählungen kommen Motive vor, die für amerik. Varianten charakteristisch zu sein scheinen, etwa Mot. G 249.10.1 (Witches use eyes of animals to travel at night). Die peruan. Variante enthält auch das nicht-europ. Mot. G 361.2 (Great head as ogre), das häufig in den Geschichten der amerik. Indianer, in Südostasien und in Ozeanien begegnet. Es gibt nur sehr wenige europ. Fassungen der Überlieferung mit einer Verwandlung der Hexe (des Helden) in eine Eule (schweiz.15, frz. 17 , span. 18 ). Die Verbreitung ist in Amerika auf span.sprechende Gebiete begrenzt: auf den Südwesten der USA, auf Mexiko, Honduras und Peru. Vermutlich existieren noch weitere Varianten der Geschichte in anderen lateinamerik. Ländern 19 . 2. A u g u s t i n u s , o r i e n t a l . Q u e l l e n . Der Kern der Handlung dieser Überlieferung lautet folgendermaßen: Ein Reisender gerät in das Haus einer Hexe, welche ihre ahnungslosen Gäste in Lasttiere ver-
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wandelt (nicht immer Esel), indem sie ihnen mit Drogen versetzte Speisen auftischt. Die Zubereitung des Essens ist in allen Einzelheiten genau beschrieben. Der Reisende ist jedoch schlauer als die Hexe und bringt sie dazu, ihr eigenes Zaubermahl zu essen, wodurch sie in einen Vierbeiner verwandelt wird. Er reitet auf dem Tier davon oder beseitigt es auf irgendeine Weise.
Augustinus {De civitate Dei 18, 18) gibt eine stark gekürzte Fassung dieser Geschichte wieder, die eine oberflächliche Ähnlichkeit mit der Begegnung von Odysseus und Circe und der Geschichte von Sokrates bei Apuleius 1,7 hat; diese ist wahrscheinlich Augustinus' Quelle, trotz seiner Behauptung, er habe die Geschichte in Italien gehört 20 . In ihrer vollständigen Form findet sie sich in 1001 Nacht, im Kathäsaritsägara, Sun Wei und in einer neueren mündlich überlieferten kirgis. Erzählung 21 . Da das Alter der arab., Sanskritund chin. Quellen nur schwer bestimmbar ist, erscheint eine zeitliche und örtliche Fixierung der Erzählung unmöglich. Sie könnte sehr alt sein, falls sie der frühen nahöstl. Quelle entstammt, welche Homer für seine Circe-Episode benutzt hat 22 . Es ist denkbar, daß sie sich von Osten nach Westen (oder umgekehrt) entlang der Seidenstraße verbreitete, die seit Urzeiten China mit dem östl. Mittelmeer verbindet. Die Sun Wei-Fassung (T'angzeit) spielt in Pien, dem heutigen Kaifeng in Honan, wo die Seidenstraße begann 23 . Auf dieser Tradition beruhen acht jap. Fassungen 24 . 3. W i l l i a m of M a l m e s b u r y . In De gestis regum Anglorum 2, 171 (12. Jh.) erscheint zum ersten Male die folgende Geschichte, die angeblich aus einer mündlichen Quelle stammt 25 : Zwei in der Nähe von Rom lebende Hexen verwandeln Reisende in Vierbeiner, um sie an Händler zu verkaufen. Sie verzaubern auch einen wandernden Schauspieler und verdienen mit seinen Kunststücken Geld. Ein reicher Mann, der den Esel kauft, mißachtet die Warnung, diesen vom Wasser fernzuhalten. Das Tier springt in einen Teich und gewinnt seine menschliche Gestalt wieder. Der Besitzer meldet Papst Leo IX. den Vorfall. Die Hexen kommen vor Gericht und werden verurteilt.
Von dieser Geschichte sind keine neueren mündlichen Fassungen bekannt. Mit einigen kleinen Abänderungen erfreute sie sich je-
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doch bei Autoren des MA.s und der Renaissance großer Beliebtheit und konnte sich bis zur Mitte des 17. Jh.s behaupten, ζ. B. bei Roger von Wendover, Matthaeus Parisiensis, Radulfus Niger, Vincent von Beauvais, Jean Bodin, Reginald Scot, Henri Boguet und Thomas Heywood 26 . Von den ma. Enzyklopädisten und Chronisten ging die Erzählung in die Hexenbücher über, wurde aber — im Gegensatz zu den Überlieferungen 1 und 2 — wahrscheinlich nicht mündlich tradiert. 4. M a l l e u s m a l e f i c a r u m . Eine vierte Uberlieferung erscheint zum erstenmal im —» Malleus maleficarum (2,2,4; ca 1486): In Salamis (Zypern) geht ein Seemann an Land, um dort in einem Haus Eier zu kaufen. Als er an Bord zurückkehren will, verscheuchen ihn seine Kameraden und rufen, daß sie keinen Esel an Bord haben wollen. Der Seemann begibt sich erneut in das Haus, in dem eine Hexe wohnt, der er nun drei Jahre lang dient. Im vierten Jahr sehen Kaufleute aus Genua, wie der Esel vor einer Kirche kniet, wo gerade die Messe gelesen wird. Sie schöpfen Verdacht und führen den Esel und die Hexe vor einen Richter. Die Hexe gesteht ihr Vergehen, gibt dem Seemann seine menschliche Gestalt zurück und wird bestraft.
Auch diese Geschichte ist, kaum verändert, in die Hexenbücher des 16. und 17. Jh.s eingegangen (ζ. B. bei B. de Las Casas, A. Caesalpinus) und auch neben der MalmesburyVariante bei Bodin, Boguet, Scot und Heywood zu finden 27 . Neuere mündliche Fassungen dieser Geschichte sind nicht bekannt. Die Autoren des Malleus, H. Institoris und J. Sprenger, geben keine literar. Quelle an, sondern schreiben die Geschichte den Johannitern von Rhodos zu. Möglicherweise handelt es sich auch hier um eine Uberlieferung aus dem Nahen Osten, die von Kreuzfahrern nach Europa gebracht wurde. 5. J a s o n 8 7 3 * A : D a s M ä d c h e n mit d e m T i e r g e s i c h t . Diese noch wenig untersuchte Geschichte, die man im jüd. Kulturkreis findet, verläuft wie folgt: Die Tochter eines Rabbiners hat das Gesicht und den Oberkörper eines Tieres (Esels) und lebt in Verborgenheit. Sie spricht mit niemandem. Schwierige Fragen beantwortet sie schriftlich. Ein Gelehrter findet ihre Antworten ausgezeichnet und 15
Enzyklopädie des Märchens IV
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will sie heiraten. Als er in der Hochzeitsnacht ihr Gesicht sieht, verläßt er sie. Ein Sohn wird geboren, der den Vater sucht, findet und dazu überredet, zu seiner Frau zurückzukehren, die auf wunderbare Weise ihre menschliche Gestalt wiedererlangt hat. Sie benutzte dazu ein bes. Heilmittel (Wasser, Salbe, Öl), welches sie von —» Elias (oder einem Engel) erhalten hatte.
In den Israel Folktale Archives (IFA) sind zehn Fassungen dieses jüd. ökotyps festgehalten 28 , die von Einwanderern nach Israel gebracht wurden und aus folgenden Herkunftsbereichen stammen: Marokko (3) 29 , sephard. Israelis, Jemen (2), Irak, Iran, Afghanistan, Polen. Eine weitere jüd. Fassung ist aus dem pers. Aserbaidschan bekannt 30 . 6. A a T h 4 2 5 : —> A m o r u n d P s y c h e ; AaTh 430: —> Asinarius. E.-Gestalten erscheinen in einigen Fassungen der beiden weitverbreiteten Erzähltypen. Darin erhält der E. seine menschliche Gestalt zurück, nachdem seine Tierhaut zerstört worden ist (Mot. D 721.3). Der ma. Asinarius (ca 1200) wie auch die Geschichte von Vikramas Geburt (13. Jh. oder später) weisen gewisse Ähnlichkeiten auf, die noch nicht ganz ausgewertet wurden 31 . Die ma. ind. Erzählung ist vielleicht der entfernteste Vorläufer anderer neuerer ind. Eselsgeschichten 32 . Ähnliche Erzählungen sind in Tunis, im nördl. Sudan und in arab. Gebieten aufgezeichnet worden 33 . 7. A a T h 5 6 7 : D a s w u n d e r b a r e —> V o g e l h e r z . In einigen Fassungen dieses Erzähltyps (ζ. B. The Transformation Donkey34; cf. Saiyid and Said35) wird einer der beiden Helden nach dem Genuß bestimmter Kräuter in einen Esel verwandelt, wobei er jedoch seine menschliche Intelligenz behält (Mot. Β 22.2; cf. Pseudo-Lukian, Apuleius). Als er Gras frißt, gewinnt er seine menschliche Gestalt zurück. 8. Z u s a m m e n f a s s u n g . Die Überlieferungen 1—4 weisen dieselbe Ausgangssituation auf: Ein junger Mann besucht das Haus einer Hexe. Außer in Überlieferung 2 wird das Opfer in ein Tier verwandelt (gewöhnlich in einen Esel; amerik. Fassung von 1: in eine Eule). Die Rückverwandlung des Opfers ist in einigen Geschichten religiös motiviert. Sonst
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Eselsei ausbrüten
unterscheiden sich die Einzelheiten d e r H a n d l u n g in den vier Überlieferungszweigen stark v o n e i n a n d e r und h a b e n wenig G e m e i n sames. E s gibt keine A n h a l t s p u n k t e , d a ß die Ü b e r l i e f e r u n g e n 1—4 z u s a m m e n h ä n g e n , andererseits war die Vorstellung weitverbreitet, d a ß H e x e n sich selbst und a n d e r e in Tiere verwandeln k ö n n t e n . D a ß in d e n meisten E r zählungen von einem Esel die R e d e ist, verw u n d e r t nicht, da er seit alters das Lasttier schlechthin in S ü d e u r o p a , N o r d a f r i k a u n d d e m N a h e n Osten war. D i e Ü b e r l i e f e r u n g e n 5, 6 u n d 7 sind n u r insofern von Belang, als sie das Motiv d e r Eselverwandlung enthalten (Mot. D 132.1 bzw. Β 22.1). A n d e r e Ähnlichkeiten bzw. A f f i n i t ä t e n mit den Ü b e r l i e f e r u n g e n 1—4 sind nicht festzustellen. 1 Weinhold, K.: Über das Märchen vom E. In: SB.e der Akad. der Wiss.en zu Berlin 2 (1893) 4 7 5 - 4 8 8 ; Vliet, J. van der: Ezelssproken. In: De Gids (1894) 4 5 2 - 4 7 1 ; Anderson, W.: Roman Apuleja i narodnaja skazka (Der Roman Apuleius' und das Volksmärchen). Kazan' 1914; id.: Das sog. Märchen vom E.en. In: ZfVk. 51 (1954) 2 1 5 - 2 3 6 und ibid. 54 (1958) 121-125; Avanzin, Α. V.: Zum Märchen von E.en. In: Der Schiern 36 (1962) 101 sq.; Scobie, Α.: Notes on Walter Anderson's „Märchen vom E.en". In: Fabula 15 (1974) 2 2 2 - 2 3 1 ; id.: Apuleius Metamorphoses 1. A Commentary. Meisenheim (Glan) 1975, 26—46; id.: Ass-Men in Middle, Central, and Far Eastern Folktales. In: Fabula 16 (1975) 3 1 7 - 3 2 3 ; id.: A Chilean Ass-Tale. In: ibid. 17 (1976) 2 7 5 - 2 7 7 ; id.: Some Folktales in Graeco-Roman and Far Eastern Sources. In: Philologus 121 (1977) 4 - 7 ; id.: Strigiform Witches in Roman and Other Cultures. In: Fabula 19 (1978) 7 4 - 1 0 1 . - 2 Illustrationen von Vogel, M.: Onos Lyras 1. Düsseldorf 1973, 2 1 7 - 2 2 1 ; zu ägypt. Belegen cf. ibid., 2 6 5 - 2 7 2 . - 3 Scobie 1975 (wie not. 1) 27; b i scher, L.: Le pretendu „Culte de l'äne" dans l'Eglise primitive. In: Revue de l'histoire des religions 139 (1951) 1 4 - 3 5 ; Stricker, Β. H.: Asinarii 1 - 3 . In: Oudheidkundige mededelingen uit het Rijksmuseum van het oudheden te Leiden 46 (1965) 5 2 - 7 5 ; 48 (1967) 2 3 - 4 3 ; 52 (1971) 2 2 - 5 3 . 4 Scobie 1975 (wie not. 1) 28: Diese Überlieferungen waren evtl im verlorenen „Onos" des Archippus (5. Jh. a. Chr. n.) vorhanden. — 5 TouchefeuMaynier, I.: Themes odysseens dans Γ art antique. P. 1968, 8 1 - 1 3 1 ; Plutarch, Bruta animalia ratione uti, 986 Β; Apollodorus, 7, 15. - 6 Scobie 1975 (wie not. 1) 29. — 7 Boskovic-Stulli, M.: Narodna predaja ο vladarevoj tajni (Die Volkssage von dem Geheimnis des Herrschers). Zagreb 1967, 93—95. - 8 Scobie 1975 (wie not. 1) 2 9 - 3 3 . - 9 Anderson
1954, 1958 (wie not. 1). -
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Avanzin (wie not. 1).
11 Loschdorfer, Α.: Babonäk es babonäs törtenetek Tökröl (Aberglauben und Abergläubisches aus Tök). In: Ethnographia 46 (1935) 6 5 - 6 7 , hier 66. - 12 Scobie 1976 (wie not. 1). - 13 Lauriault, J.: Textos Quechuas. In: Tradiciön 21 (1958) 121-125. - 14 Scobie 1974 (wie not. 1) 231. 15 id. 1978 (wie not. 1). - 16 SAVk. 2 (1898) 3 0 - 3 4 . - 17 Hamel, F.: Human Animals. Wellingborough 1973, 202-206. - 18 Fray Martin de Castanega: Tratado de las supersticiones y hechicerias. Logrono 1529, 49; Givry, G. de: The Illustrated Anthology of Sorcery, Magic and Alchemy. Ν. Y. 1973, 69. - 19 cf. Wilbert, J.: Folkliterature of the Selknam Indians. L. A. 1975, 99. - 20 Moine, N.: Augustine et Apulee sur la magie des femmes d'auberge. In: Latomus 34 (1975) 3 5 0 361. 21 Scobie 1975 (wie not. 1) 3 1 7 - 3 2 3 ; id. 1977 (wie not. 1) 4 - 7 . - 22 Page, D.: Folktales in Homer's Odyssey. Harvard 1973, 59 sq. - 23 Scobie 1974 (wie not. 1) 228sq. - 24 Ikeda 567; cf. auch Ting 449 A. Eine mongol. Var. bei Heissig, W.: Geser Khan als Ε. In: Fabula 21 (1980) 8 8 - 9 3 . - 25 Ein Mönch aus Aquitanien, v. Stubbs, W.: Wilhelmi Malmesbiriensis monachi De gestis regum Anglorum libri V. L. 1887, 201 sq. - 26 Kittredge, G. L.: Witchcraft in Old and New England. Cambr. 1929, not. 93. - 27 ibid. - 28 Hinweis von E. Cheichel und Ο. Schnitzler (IFA). - 29 Nur eine von ihnen enthält das Motiv vom Tierkopf, v. Noy, D.: Moroccan Jewish Folktales. Ν. Υ. 1966, 6 4 - 6 6 . 30 Garbell, I.: The Jewish Neo-Aramaic Dialect of Persian Azerbaijan. The Hague 1965,158—163; cf. auch Stumme, Η.: Märchen und Gedichte aus der Stadt Tripolis in Nordafrika. Lpz. 1898, 142; cf. auch Jason, Types 873*Α. 31 Scobie 1975 (wie not. 1) 37; Frazer, J. G.: The Dying God. L. 1911, 124-126. - 32 Scobie 1975 (wie not. 1) 38. - 33 Jahn, S. al Azharia: Männliche und weibliche Gestalten mit Eselsbeinen in Volkserzählungen aus dem Nordsudan. In: Fabula 19 (1978) 102-113. - 34 Busk, R. H.: The Folklore of Rome. L. 1874, 146-155. - 35 Knowles, J. H.: Folk-Tales of Kashmir. L. 1888, 7 5 - 9 7 .
Wellington
Alex Scobie
Eselsei ausbrüten ( A a T h 1319), internat. v e r b r e i t e t e r 1 Einfältigenschwank, thematisch verwandt mit -> Eierbrüter ( A a T h 1218, 1677), Priester soll Kalb gebären ( A a T h 1739) und Irrige Identität ( A a T h 1284, 1314-1320). Der Dumme (Schildbürger) findet eine ihm unbekannte Frucht (Kürbis, Melone, Kokosnuß, Runkelrübe etc.; auch Kanonen- oder Kegelkugel, Stein,
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Käse, Storchenei, Pferdeäpfel) oder erwirbt sie für teures Geld. Der Käufer (Finder) nimmt an bzw. ihm wird eingeredet, es handle sich um das Ei eines Esels (Pferd, Kamel, Maultier, Elefant, Hase, Kuh, Ei für 12 Gänse gleichzeitig, Schreiber etc.). Hochbefriedigt transportiert er den .günstigen' Kauf nach Hause. Unglücklicherweise fällt er ihm jedoch dabei herunter und scheucht einen versteckten Hasen (Kaninchen, Fuchs, Maus etc.) auf. Der Dummkopf hält den Flüchtling für das junge Tier aus dem Ei, verfolgt es oder versucht vergeblich, es durch Zuruf wieder anzulocken. Die ausführlicheren Redaktionen lassen das E. unbeschadet an den Wohnort des Käufers gelangen. Dort versucht er zu brüten. In Schildbürgerorten wird durch Gemeindeberatung ein Bebrüter, meist der Bürgermeister, erkoren. Brutzeit und -modus verlaufen zumeist vorschriftsmäßig nach den Anweisungen des Verkäufers. Der Brüter wird von Verwandten oder der Gemeinde mit Essen und Trinken versorgt. Jedoch will sich unbegreiflicherweise kein Erfolg einstellen - trotz der großen Anstrengungen der ,Glucke', die Aufgabe möglichst artgetreu durchzuführen, was biszum—> Teeren und Federn gehen kann. Entweder verliert man jetzt die Geduld und schmettert das Ei vor Wut in die Gegend, oder aber es zerbricht durch Unachtsamkeiten (in den meisten Fällen rollt es einen Berg hinunter). Wie bei der kurzen Redaktion scheucht es einen Hasen auf, der davonläuft und für das Produkt des Brütens gehalten wird. Groß ist der Schmerz über den Verlust just zu dem Zeitpunkt, an dem sich der Erfolg eingestellt hat, und verzweifelt ruft die ,Glucke' der entfleuchenden Kreatur nach: „Komm zurück, komm zurück, ich bin doch dein Vater (deine Mutter)!" - Seltener verfault das Ei ohne Ergebnis, oder es findet nach dem Debakel des ersten Brutversuchs ein zweiter Eierkauf statt.
Der Schwank ist aus der anglo-, schwarzund indian.-amerik., argentin., armen., bengal., berber., bulg., chilen., chin., dän., engl., estn., finn., fläm., frz., griech., ind., iran., ir., ital., kabyl., kanad., kasach., katalan., korean., lett., lit., ndl., norw., österr., poln., puertorican., rumän., klein-, groß- und weißruss., schwed., Schweiz., skr., slovak., slov., span., südafrik., syrjän., tschech., türk., udmurt., ung., wallon., westind. Überlieferung aufgezeichnet worden sowie aus Trinidad. Die Erzählüberlieferung vom E. ist erst in der 2. Hälfte des 19. Jh.s ganz unvermittelt und massiv nachweisbar und wird bis in die Gegenwart fortgeführt. Wegen mangelnder hist. Qu.n sind nach dem derzeitigen Forschungsstand Verbreitungswege nicht zu ermitteln. Ökotypische Ausprägungen scheinen wenig charakteristisch, Kontaminationen unwichtig, 15·
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weil beliebige Dummenschwänke voraufgehen oder angehängt sein können, bes. wenn der Typ — wie sehr häufig — Episode eines Schildbürger- oder Narrenzyklus ist. Feste Verbindungen mit speziellen anderen Erzählungen bestehen also nicht. Die Personenkonstellation in der anfänglichen Verkaufsepisode ist polar und demonstriert klassische Unter-/Überlegenheitsverhältnisse. Dem gewieften Verkäufer wird der Unbedarfte par excellence gegenübergestellt: Schildbürger, Dummer, Mann vom Lande in der Stadt (oder umgekehrt), —» Eulenspiegel. Auch Minderheiten können diskreditiert werden, so wenn der Protagonist Jude oder Zigeuner ist. Verulkt werden auch Stände, ζ. B. Geistliche oder Bauern. Der Schwank wird vorwiegend in der Funktion von Minderheiten-, Ethnien- und Ortsspott erzählt. Er findet sich deshalb häufig zur —> Ortsneckerei reduziert und kann im Einzelfall auch Verbindungen mit Ätiologien eingehen: Von Rottweil etwa wird erzählt, daß die Bürger eine Stadtfahne in Auftrag gaben, auf der die Flucht Christi nach Ägypten dargestellt werden sollte. Der Maler gebrauchte nur für die Darstellung des Esels Ölfarbe, für den Rest der Szene aber Tusche. Der Regen wäscht diese aus, und zurück bleibt lediglich der Esel, der zum Symbol der Stadt wird — zurückführbar auf die Ortsneckerei von den Rottweilern als E.brütern 2 . Das offene, wertneutrale, internat. außerordentlich einheitliche Inhaltsgerüst der Geschichte läßt Raum für vielfältige erzählerische Ausmalung der Details sowie funktionale Akzentuierungen (Spott, Neckerei, Sozialkritik, Lachen über die Dummheit an sich etc.). Feste Versatzstücke sind lediglich der Erwerb des Eis durch einen Dummkopf, dessen Verlust oder Bebrüten und die falsche Interpretation des davonspringenden Hasen. Stilistisch dominiert — entsprechend der polaren Personengegenüberstellung — der Dialog. Eine doppelte Pointe charakterisiert den Schluß: Die inhaltliche Pointe, entstanden durch Gleichsetzung von scheinbar ausgebrütetem, in Wirklichkeit aber zufällig am Ort des Geschehens vorhandenem Tier, wird verstärkt durch eine zweite, verbale Pointe: Das Anflehen des Tiers, doch zurück zu seinem ,Vater' oder seiner ,Mutter' zu kommen —
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Eselsei ausbrüten
e i n e die Mehrzahl der T e x t e k e n n z e i c h n e n d e Ausgangsformel. Griech. Var.n und e i n e kaukas. A u f z e i c h nung bringen als N a c h k l a p p e i n e dritte Pointe: A l s der Mann, d e m das ,Ei' unterwegs zu Schaden g e k o m m e n ist, dies seiner Frau erzählt, bedauert sie den Verlust, weil sie sonst zu ihrer V e r g n ü g u n g hätte reiten k ö n n e n . D i e s e s unerhört luxuriöse G e h a b e — auch w e n n es nur in der Phantasie stattgefunden hat — erbost den E h e m a n n so sehr, daß er sie deshalb verprügelt 3 . E i n e Forts, findet der Schwank auch in einer dt. Fassung aus der G o t t s c h e e : D e r Schildbürger untersucht nach der Flucht d e s H a s e n d e n zerplatzten Kürbis, findet d e s s e n K e r n e und tröstet sich, da er sie für ,junge' Pferdeeier hält 4 . D a s Schlußmotiv v o n A a T h 1 3 1 9 , nämlich die Z u o r d n u n g e i n e s a u f g e s c h e u c h t e n Tiers zu einer falschen Mutter, kann für sich selbst n e u e Erzählungen bilden, die möglicherweise genetisch v o n E. ausbrüten abhängig sind: Ein Jäger schießt auf einen Hasen, der jedoch entkommt. Ein in der Nähe pflügender Knecht nimmt an, seine Stute habe plötzlich ein Fohlen bekommen, und ruft dem Hasen nach: „Hiß, Hiß, kennst Du Deine Mutter nicht!" 5 Oder ein Mann, neidisch auf die gute Behandlung von Wöchnerinnen, möchte wegen der ,Extras' nun selbst ein Kind zur Welt bringen. Der pfiffige Apotheker, den er um Rat fragt, verabreicht ihm ein starkes Abführmittel. „Unterwegs mußte der Bauer mal, und er setzte sich hinter einen Strauch und tat sein Geschäft machen. Da sprang auf einmal ein Has aus dem Strauch und lief übers Feld. ,Lauf nur!' rief der Bauer, ,ich bin (sen) doch deine M u t t e r ! ' " 6 !cf. Mel. 3 ( 1 8 8 6 - 8 7 ) 68; Frey/Bolte, 214sq.; Hodscha Nasreddin 1, num. 163; BP 1, 317sq.; Christensen, Α.: Molboernes vise gerninger ( D F 47). Kop. 1939, 2 0 8 - 2 1 0 ; de Meyer, Conte; 0 Suilleabhäin/Christiansen; Aräjs/Medne; Cirese/ Serafini; Baughman; Rausmaa; MNK; Choi; Ting; Coetzee; Flowers; Kecskemeti/ Paunonen; Barag; Marzolph; SUS. - 2 Künzig, J.: Schwarzwald Sagen. Düsseldorf 2 1965, 288; Moser, H.: Schwäb. Volkshumor. Stg. 2 1981, 36sq., 40sq. (andere Lokalisation). - 3 Dirr, Α.: Kaukas. Märchen. MdW 1920, num. 83; HessBllfVk. 18 (1919) 108 (griech.); Loukatos, D. S.: Neoellenika laographika keimena. Athen 1957, num. 7. - 4 Hauffen, Α.: Die dt. Sprachinsel Gottschee. Graz 1895, 118, num. 7. 5 Bit. für Pommersche Vk. 5 (1897) 7 sq. - 6 Dittmaier, H.: Sagen und Schwänke von der unteren Sieg. Bonn 1950, num. 484.
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V a r . n (soweit in den in not. 1 aufgeführten Werken nicht angegeben; Ausw.): S C H W E D I S C H : Hackman, Ο.: Finlands svenska folkdiktning 2. Hels. 1920, num. 305a. - ENGLISCH: D B F A 2 , 120, 175 sq. - F R A N Z Ö S I S C H : Perbosc, Μ. Α.: Contes populaires (Vallee du Lambon). Montauban 1914, num. 1319. — Seignolle, C.: Contes populaires de Guyenne 2. P. 1946, num. 72. - Perbosc, Μ. Α.: Contes de Gascogne. P. 1954, num. 49 (p. 292 Hinweise auf 45 frz. Var.n). - Thibault, C.: Contes de Champagne. P. 1960, num. 2. — Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine 2. Grenoble 1971, num. 195, 1 - 4 . - KATALANISCH: Serra i Boldü, V.: Rondalles populars 12. Barcelona 2 1932, 73sq. - Aleover, A . M . : Aplec de rondaies mallorquines 4. Palma de Mallorca s. a., 32—38. — Amades, num. 363. - D E U T S C H : Kuhn, Α.: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen und [. . .] Norddeutschland. Teil 1: Sagen. Lpz. 1859, num. 258 (p. 226sq. Angabe weiterer Var.n). — Birlinger, Α.: Volksthümliches aus Schwaben 1. Fbg 1861, num. 663, 11; 664, 2; 669. - A m Ur-Quell 2 (1891) 170. - Merkens, H.: Was sich das Volk erzählt 1. Jena 1892, num. 9, 18, 30. - Bll. für Pommersche Vk. 7 (1899) 164. - ibid. 9 (1901) 50. - Anthropophyteia 3 (1906) 97. - ibid. 7 (1910) 300. - Jegerlehner, J.: Sagen und Märchen aus dem Oberwallis. Basel 1913, num. 159. — [Spiegel, K.:] Märchen aus Bayern. Würzburg 1914, num. 28. — Lang, P.: Schnurren und Schwänke aus Bayern. Bamberg 1916, 5 sq., 1 1 0 - 1 1 4 . - HessBllfVk. 18 (1919) 107 sq. (Angabe weiterer Var.n). Kubitschek, R.: Böhmerwäldler Bauernschwänke [. . .]. Wien/Prag/Lpz. 1920, 52sq. - Rosenow, K.: Zanower Schwänke. Rügenwalde 1924, 8 8 - 9 1 . — Meyer, G. F.: Amt Rendsborger Sagen. Rendsburg 1925, num. 59. - id.: Plattdt. Volksmärchen und Schwänke. Neumünster 1925, 217. — Heimatkalender für den Kreis Kolberg-Körlin (1930) 85. Zender, M: Volksmärchen und Schwänke aus der Westeifel. B. 1935, num. 112. — Zentralarchiv der dt. Volkserzählung, Marburg, num. 111.036. — Bodens, W.: Sage, Märchen und Schwank am Niederrhein. Bonn 1937, num. 1. 166. — Neuhaus, W.: Sagen und Schwänke aus dem Kreise Hersfeld und den angrenzenden Gebieten. Hersfeld s. a., 99. Beckmann, P.: Kreuzbube Knud und andere mecklenburg. Märchen. Aus der Slg R. Wossidlos. B. s. a., 1 2 8 - 1 3 0 . - Brendle, T. R./Troxell, W. S.: Pennsylvania German Folk Tales [. . .]. Norristown 1944, 169sq. - Lang-Reitstätter, M.: Lachendes Österreich. Salzburg 2 1948, 21 sq. - Alpers, Ρ./ Breling, G.: Celler Sagen. Celle 2 1949, 94. - Tietz, Α.: Sagen und Märchen aus den Banater Bergen. Buk. 1956, 58. - Henßen, G.: Ungardt. Volksüberlieferungen. Marburg 1959, num. 91. — Grannas, G.: Volk aus dem Ordenslande Preußen erzählt [. . .]. Marburg 1960, num. 80. - Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg, ed. S. Neumann. B. 1963, num. 488. - Grüner, G.: Waldeck. Volkserzählungen. Marburg 1964, num. 574sq. - Benzel,
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Eselsohr — Eskimos
U.: Volkserzählungen aus dem oberpfälz.-böhm. Grenzgebiet. Münster 1965, num. 134. - Cammann, Α.: Dt. Volksmärchen aus Rußland und Rumänien [. . .]. Göttingen 1967, num. 91 (Bessarabien). — Tietz, Α.: Wo in den Tälern die Schlote rauchen. Buk. 1967, 399. - Neumann, S.: Plattdt. Schwanke. Rostock 1968, 12. — Gerstner-Hirzel, E.: Aus der Volksüberlieferung von Bosco Gurin. Basel 1979, num. 251. - ITALIENISCH: Hörstel, W.: Aus dem sonnigen Süden. Nürnberg 1904, 9 - 1 7 . - Toschi, P./Fabi, Α.: Buonsangue romagnolo. Bologna 1960, num. 81. - RUMÄNISCH: Schott, A. und Α.: Rumän. Volkserzählungen aus dem Banat. Erw. Neuausg. der Walach. Märchen. (Stg. 1845). ed. R. W. Brednich/I. Talo§. Buk. 1971, num. 51. - UNGARISCH: Ortutay, G.: Ung. Volksmärchen. B. 1957, num. 42. - SYRJÄNISCH: Redei, K.: Zyrian Folklore Texts. Bud. 1978, num. 230. - BULGARISCH: Haralampieff, Κ.: Bulg. Volksmärchen. MdW 1971, num. 46. RUSSISCH: Javorskij, Ju. Α.: Pamjatniki galickorusskoj narodnoj slovesnosti. Kiev 1915, num. 79. KASACHISCH: Sidel'nikov, V. M.: Kazachskie narodnye skazki. M. 1952, 8 9 - 9 1 , 304, 3 5 4 - 3 5 7 . - UDMURTISCH: Kralina, N.: Sto skazok udmurtskogo naroda. Izevsk 1961, num. 96. - BENGALISCH: Mode, H./Ray, Α.: Bengal. Märchen. Ffm. s. a., 3 4 7 - 3 4 9 . - INDISCH: Swynnerton, C.: Romantic Tales from the Panjäb with Indian Night's Entertainment. Neuausg. L. 1908, num. 57. - KOREANISCH: Zaborowski, H.-J.: Märchen aus Korea. MdW 1975, num. 40. FRANKOKANADISCH: [Barbeau, C.-M./] Lanctot, G.: Contes populaires canadiens 6. In: JAFL 44 (1931) num. 139. - CHILENISCH: Pino Saavedra, num. 174, 200. - BERBERISCH: Laoust, D.: Contes berberes du Maroc 1. P. 1949, num. 46; t. 2, 50sq. - KABYLISCH: Riviere, J.: Recueil de contes populaires de la Kabylie du Djurdjura. P. 1922, 173sq.
Göttingen
Rainer Wehse
Eselsohr —» Midas
Eskimos (in ihrer eigenen Sprache: Inuit u. a.) leben über ein ungeheuer großes Gebiet verstreut: ca 1.500 in Sibirien, ca 30.000 in Alaska, ca 25.000 in Kanada und ca 41.000 in Grönland. Das Eskimoische gehört der eskimo.-aleut. Sprachfamilie an, und die Dialekte in Nordalaska, Kanada und Grönland werden untereinander weitgehend verstanden. Früher lebte der Eskimo (E.) vom Fisch- und Tierfang, aber fast überall haben sich seine Lebensbedingungen jetzt sehr verändert.
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Im Verhältnis zur Anzahl der Bevölkerung liegt, wie die folgende Lit.-Auswahl zeigt, eine sehr große Menge von Slgen mündlicher Überlieferung gedruckt vor: Aufzeichnungen aus der Mitte des 18. Jh.s finden sich in den Werken des ersten Grönlandmissionars H. Egede (1686—1758) und seiner Söhne 1 . Die erste größere Slg wurde von H. Rink, einem dän. Beamten in Südwestgrönland, durchgeführt, der 1858 eine gedruckte Aufforderung verschickte, ihm Niederschriften mündlich überlieferter Geschichten und Lieder zu senden, damit diese zur Unterhaltung für andere Grönländer gedruckt werden könnten. Das führte dazu, daß 1859—63 vier kleine Bände mit dän. und grönländ. Text erschienen, die von Grönländern illustriert waren 2 . 1866 gab Rink dann eine große Slg auf Dänisch heraus, gefolgt von einer Ergänzung im Jahre 1871 3 . In die Ausg. von 1866 wurden auch einige von dt. Missionaren in Labrador aufgezeichnete Texte aufgenommen und weitere Texte aus Ostgrönland. Einige Geschichten werden lediglich referiert, und in anderen Fällen hat Rink mehrere Var.n zu einer einzigen Geschichte vereinigt. Im Jahre 1888 erschienen dann eine Slg aus Ostgrönland von G. Holm 4 und eine andere aus Baffinland (Kanada) von F. Boas 5 , die beide ihr Material in Verbindung mit einer ethnogr. Unters, gewonnen hatten. Von 1901—07 gab Boas eine größere Slg heraus, die von zwei Walfangkapitänen in Baffinland und in der Umgebung der Hudson Bay zusammengetragen worden war 6 , und von L. M. Turner erschienen 1894 Aufzeichnungen aus der Ungava Bay 7 . 1899 lag das erste größere Konvolut von den E.s in Alaska vor, das in einer Reihe von Texten in E. W. Nelsons ethnogr. Beschreibung der Stämme an der Beringstraße erschien 8 ; 1913 wurde dann erstmals Material von den asiat. E.s durch W. Bogoras herausgegeben 9 . 1905 begann K. Rasmussen seine außerordentlich wirkungsvolle Tätigkeit als Vermittler der E.-Kultur mit seiner Edition von Erzählungen der Polar-E.s 10 . Rasmussen bot bes. gute Voraussetzungen, denn er war in Grönland aufgewachsen und mütterlicherseits grönländ. Abstammung. Von 1921—25 gab er Texte heraus, die von den Polar-E.s und
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Eskimos
auch von West- und Ostgrönländern stammten, während eine größere Ausg. seines ostgrönländ. Materials erst postum veröffentlicht wurde 11 . Ein Teil seiner westgrönländ. Texte wurde zusammen mit Aufzeichnungen aus Rinks Slg später auch in der Originalsprache ediert 12 . 1921—24 unternahm Rasmussen eine Schlittenexpedition quer durch das arkt. Kanada und Alaska, wobei er umfangreiches Material von verschiedenen E.-Gruppen zusammentrug 13 ; einige Texte sind auch in der E.-Sprache wiedergegeben, die meisten aber nur übersetzt. Für mehrere dieser Stämme sind dies die ersten oder bis heute die umfassendsten Slgen. Von den Kupfer-E.s in Kanada sind Aufzeichnungen in diesem Jh. von D. Jenness 14 und von M. Metayer 15 veröffentlicht worden, aus Labrador existiert eine Slg von E. W. Hawkes 16 und von der Ostseite der Hudson Bay von E. Nungak und E. Arima 17 . Unter den Slgen des 20. Jh.s aus Grönland verdient die Ausg. von E. Holtved aus Nordgrönland 18 (Veröff. auch auf Eskimoisch) hervorgehoben zu werden. Aus Westgrönland gibt es Aufzeichnungen von W. Thalbitzer 19 und H. Lynge 20 , aus Ostgrönland von Thalbitzer 21 und J. Rosing 22 . Eine größere Slg aus Alaska wurde von E. S. Curtis veröffentlicht 23 , K. Birket-Smith hat Material bei den E.s am Stillen Ozean gesammelt 24 , M. Lantis 25 und H. Himmelheber 26 haben Texte aus Nunivak herausgegeben. Aus der Umgebung der Beringstraße können die Slgen von C. M. Garber 27 und E. L. Keithan 28 genannt werden, vom Kobuk River die Slg von L. K. Oman 29 und J. L. Giddings 30 , und vom Noatak River liegt eine große Slg von Ε. H. Hall 31 vor; Hall hat sich auf nur zwei Informanten gestützt, von denen der eine, P. Monroe, 176 Geschichten beigetragen hat. Von den InlandE.s in Alaska, den Nunamiut, ist u. a. Material von N. J. Gubser 32 veröffentlicht worden, aus Barrow an der Nordküste Alaskas von R. F. Spencer 33 . Bei nahezu allen Slgen haben sich die Erzähler der E.-Sprache bedient, und die Sammler haben mit Dolmetschern gearbeitet oder konnten die Sprache der betreffenden E.s selbst, aber auch Texte von englischsprechenden Erzählern sind inzwischen gesammelt worden; das gilt ζ. B. für einen Teil der
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Texte Α. B. Rooths 34 und W. A. Oquilluks 35 . — In Südwestalaska ist eine Form von Illustrationskunst bekannt, bei der junge Mädchen beim Erzählen mit einem Knochenmesser Zeichnungen in die Erde ritzen36. Auch die kleine Gruppe asiat. E.s ist mit umfangreichen Slgen vertreten. Ein Teil des Materials wurde in eine von Μ. A. Sergeev edierte Slg von Erzählungen der nördlichsten Volksstämme in der UdSSR aufgenommen 37 , während bes. E. S. Rubcova 38 und G. A. Menovscikov 39 größere Slgen speziell von den E.s herausgegeben haben; bei Rubcova ist auch der eskimo. Text mitabgedruckt. K. S. Sergeevas Slg40 enthält u. a. 60 Geschichten, die über eine Reihe von Jahren von einem einzigen Informanten erzählt worden sind. — Eine Ausw. der mündlich tradierten Lit. der E.s verschiedener Gruppen in Sibirien, Alaska, Kanada und Grönland findet sich bei H. Barüske 41 mit sorgfältigen Lit.Angaben. Die E.s selbst unterscheiden nicht scharf zwischen verschiedenen Gattungen von Erzählungen. Es gibt Geschichten von Helden, wie Kivioq, der im Kajak davonfährt und große Gefahren überwindet, und zahlreiche Geschichten von Schamanen und ihren wunderbaren Taten. Eine bekannte Gestalt des E.märchens ist der elternlose Junge, der von fast allen schlecht behandelt wird, aber insgeheim seine Kräfte stählt, um sich eines Tages rächen zu können. Die Märchen sind kein Spiegel der Wirklichkeit, reflektieren jedoch die Probleme, die die Menschen beschäftigen. Es gibt zahlreiche Geschichten, die Totschlag und Rache zum Hauptthema haben. Einige davon handeln von Begegnungen mit fremden Wesen, die in Aussehen und Lebensweise den E.s ähneln, ζ. B. Zwerge und Riesen, und die ihnen meistens feindlich gesonnen sind. Im östl. Gebiet tritt hauptsächlich das sagenhafte Volk der tornit in Erscheinung. Die Erzählung von Sonne und Mond, die ursprünglich Schwester und Bruder waren und während des ,Lampenlöschspiels' miteinander schliefen, gehört ebenfalls zu den bekanntesten 42 . — Eine der am weitesten verbreiteten Erzählungen handelt von einem blinden Jungen und einem Eistaucher, der ihm das Augenlicht wiedergibt (Mot. Β 516) 43 . Aufgezeichnet sind auch viele Var.n
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Eskimos
von Berichten über Ehen zwischen Menschen und Tieren, ζ. B. vom Hund als Stammvater, von der Fuchsfrau oder der geheimnisvollen Haushälterin und dem —> Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau (AaTh 400) (bei den E.s fast ausnahmslos eine Gänse- oder Entenjungfrau). Diese Tierehepartner erscheinen meist in Menschengestalt, behalten aber jeweils eine Eigenschaft, die ihre wahre Natur verrät. Die Fuchsfrau ζ. B. stinkt und die Gänse- bzw. Entenfrau ißt Gras. Wenn Tiere, ζ. B. —> Raupe und -» Bär, in der Rolle von Pflegekindern auftreten, behalten sie stets ihre Tiergestalt, und die Geschichte endet damit, daß die Pflegemütter ihre Pflegekinder verlieren. Der Bär tritt am häufigsten als Mensch auf, weil er ihm am ähnlichsten ist. Das enge Verhältnis zwischen Mensch und Tier kommt auch zum Ausdruck in der bekannten Geschichte, in der eine menschliche Seele den Versuch macht, in verschiedenen Tierleibern zu leben (—» External Soul). Es gibt auch eine Reihe kurzer Tiererzählungen, die oft eine humoristische Pointe haben, ζ. B. vom Raben, der sich mit Gänsen verheiratete. Der Rabe tritt im westl. Gebiet oft als Schöpfer und Kulturbringer in Erscheinung und bringt u. a. das Licht zu den Menschen, aber meistens spielt er eine komische Rolle. Einige Motive der E.-Erzählungen sind Grönland und Kanada gemeinsam und bis zu einem gewissen Grad auch noch Nordalaska, wohingegen die mündliche Überlieferung in Südalaska und bei den asiat. E.s wenig Ubereinstimmungen mit dem östl. Gebiet aufweist. Für die E.s, die einen Großteil des Winters drinnen verbringen mußten, war das Geschichtenerzählen eine sehr geschätzte Form der Unterhaltung. In Ostgrönland war es ζ. B. Brauch, eine Geschichte mit den Worten „Nun ist der Winter um so viel kürzer" zu beenden. Darüber hinaus eignen sich einige der Geschichten gut dazu, vor dem Zubettgehen erzählt zu werden, denn sie wirken einschläfernd. Selbst wenn die Funktion des Märchens in erster Linie die Unterhaltung war, stellten sie doch auch ein Glied im Sozialisationsprozeß dar. Es gab ζ. B. Märchen, in denen die Folgen der Nichteinhaltung von Tabus zur Sprache kommen. Magie stellte in den Märchen, ebenso wie im wirklichen Leben, eine wichtige Alternative zu Handlung dar.
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Die Erforschung der E.-Erzählungen begann mit Rink, der die ersten vergleichenden Unters.en anstellte 44 . Frühe kurze Übersichten über Material von den E.s finden sich auch in A. L. Kroebers Abhdlg über Tiergeschichten 45 und bei Boas 46 . Mehrere Ausg.n von E.-Geschichten enthalten vergleichende Hinweise auf Material von anderen E.-Gruppen und benachbarten Stämmen in Amerika und Asien, so ζ. B. die Arbeit von Lantis 47 ; eine neuere Übersicht liegt nicht vor. Monographische Unters.en zur Diskussion um Ursprung und Verbreitung etc. liegen vor in E. Holtveds Arbeit über die Geschichte von Navaranäq 48 und in I. Kleivans Abhdlg über die Erzählung von der Schwanjungfrau 49 . Versuche, den hist. Hintergrund für Geschichten über die Begegnungen von E.s mit anderen Ethnien angehörenden Stämmen festzulegen, sind u. a. von Thalbitzer 50 unternommen worden. Psychoanalytische und psychol. Unters.en von E.-Geschichten führten ζ. B. G. Röheim 51 , Lantis 52 und L. Hennigh 53 durch. Strukturelle Unters.en unternahmen u. a. Holtved 54 , der sich dabei auf das Modell von A. —» Olrik stützt, P. Maranda 55 , Kleivan in einer Monogr. der Erzählung von den beiden Vögeln, die einander malen 56 , J. G. Oosten 57 und B. N. Colby 58 . Die soziale Bedeutung des Erzählens ist u. a. von Rooth erörtert worden 59 . Die Begegnung mit den Europäern hat den E.s Gelegenheit gegeben, neue Geschichten zu hören und auch zu lesen, die in einigen Fällen in ihr Erzählrepertoire eingegangen sind. 1976 gab Rosing eine Slg von Erzählungen dieser Art heraus 60 , niedergeschrieben nach dem mündlichen Vortrag eines einzigen Informanten in Westgrönland. Obwohl die E.s neue Möglichkeiten zur Beschäftigung und Unterhaltung gefunden haben, hat der Druck von außen andererseits zu einem wachsenden ethnischen Bewußtsein geführt und bei vielen eine Erneuerung des Interesses an den Erzählungen bewirkt, welche ihre Vorfahren durch viele Generationen hindurch überliefert haben. Diese Stoffe dienen den E.s zunehmend als Inspirationsquelle für moderne Lit., Kunst und Theater. 1 Egede, H.: Det gamle Grönlands nye perlustration. Kop. 1741; Egede, P.: Continuation af rela-
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Eskimos
tionerne. Kop. 1741; Egede, N.: Beskrivelse over Grönland, ed. Η. Ostermann (Meddelelser om Grönland 120). Kop. 1939. - 2 Rink, H.: Kaladlit okalluktualliait — Gronlandske folkesagn 1 - 4 . Godthaab 1859—63. — 3 id.: Eskimoiske eventyr og sagn. Kop. 1866; Suppl.-Band Kop. 1871. — 4 Holm, G.: Sagn og fortacllinger fra Angmagssalik (Meddelelser om Grönland 10). Kop. 1888. 5 Boas, F.: The Central E. (6th Annual Report of the Bureau of Ethnology). Wash. 1888. - 6 id.: The Ε. of Baffin Land and Hudson Bay (Bulletin of the American Museum of Natural History 15, 1 - 2 ) . Ν. Y. 1 9 0 1 - 0 7 . - 7 Turner, L. M.: Ethnology of the Ungava District, Hudson Bay Territory (11th Annual Report of the Bureau of Ethnology). Wash. 1894. - 8 Nelson, E. W.: The E. about Bering Strait (18th Annual Report of the Bureau of Ethnology). Wash. 1899. - 9 Bogoras, W.: The E. of Siberia (Memoirs of the American Museum of Natural History 12). Ν. Y. 1913. - 10 Rasmussen, K.: Nye mennesker. Kop. 1905. — 11
id.: Myter og sagn fra Grönland 1 - 3 . Kop. 1921—25; id.: Posthumous Notes on East Greenland Legends and Myths, ed. H. Ostermann (Meddelelser om Grönland 109,3). Kop. 1939. - 1 2 Lynge, K.: Kalätdlit oqalugtuait oqalualävilo 1—3. Nüngme 1 9 3 8 - 3 9 . - 13 In der Serie Reports of the 5th Thüle Expedition 1921—24 erschienen von K. Rasmussen: Intellectual Culture of the Iglulik E.s (Kop. 1929); Observations on the Intellectual Culture of the Caribou E.s (Kop. 1930); Iglulik and Caribou E. Texts (Kop. 1930); The Netsilik E.s (Kop. 1931); Intellectual Culture of the Copper E.s (Kop. 1932); The Mackenzie E.s. ed. H. Ostermann (Kop. 1942); The Alaskan E.s. ed. id./ E. Holtved (Kop. 1952). - 15 Jenness, D.: E. Folklore. Teil A (Report of the Canadian Arctic Expedition 1 9 1 3 - 1 8 . t. 13). Ottawa 1924. - " M e tayer, M.: Tales from the Igloo. Edmonton 1972. — 16 Hawkes, E. W.: The Labrador E. (Canada Department of Mines 91. Anthropological Series 14). Ottawa 1916. - 17 Nungak, Z./Arima, E.: Unikkaatuat-E. Stories from Povungnituk, Quebec (The National Museums of Canada 235. Anthropological Series 90). Ottawa 1969 (eskimo./engl.). - 18 Holtved, E.: The Polar E.s 1—2 (Meddelelser om Grönland 152, 1 - 2 ) . Kop. 1951. - 19 Thalbitzer, W.: A Phonetical Study of the E. Language (ibid. 31). Kop. 1904. - 2 0 Lynge, H.: Inegpait (ibid. 90,2). Kop. 1955. 21 Thalbitzer, W.: Language and Folklore. The Ammassalik E. (ibid. 40). Kop. 1923. - 22 Rosing, J.: Sagn og saga fra Angmagssalik. Kop. 1963. " C u r t i s , E. S.: The North American Indian 20. Cambr. 1930. - 24 Birket-Smith, K.: The Chugach E. (Nationalmuseets skrifter etnografisk. R. 6). Kop. 1953. - 25 Lantis, M.: The Social Culture of the Nunivak E. (Transactions of the American Philosophical Soc. 35,3). Phil. 1946. - 2 6 Himmelheber, H.: Der gefrorene Pfad. Volksdichtung der Ε. Eisenach 1951. — 27 Garber, C. Μ.: Stories and
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Legends of the Bering Strait E.s. Boston 1940. 28 Keithan, E. L.: Alaskan Igloo Tales. Lawrence, Kans. 1945. — 29 Oman, L. Κ.: E. Legends. Nome 195 9. - 3 0 Giddings, J. L.: Kobuk River People (University of Alaska Studies of Northern Peoples 1). College, Alas. 1961. 31 Hall, Ε. H.: The E. Storyteller. Folktales from Noatak, Alaska. Knoxville 1975 (mit Typisierung nach Mot.). - 3 2 Gubser, Ν. J.: The Nunamiut E.s. New Haven/L. 1965. - 3 3 Spencer, R. F.: The North Alaskan E. (Smithsonian Institution Bureau of American Ethnology 171). Wash. 1959. — 34 Rooth, A. B.: The Alaska Expedition 1966 (Acta Universitatis Lundensis 1,14). Lund 1971. — 35 Oquilluk, W. Α.: People of Kauwerak. Legends of the Northern E. Anchorage 19 73. - 3 6 Oswalt, W. H.: Traditional Storyknife Tales of Yuk Girls (Proc. of the American Philosophical Soc. 108,4). Phil. 1964, 3 1 0 - 336. - 3 7 Sergeev, Μ. Α.: Skazki narodov severa. M./Len. 1951. — 3 8 Rubcova, E. S.: Materialy po jazyku i fol'kloru eskimosov. M./ Len. 19 54. — 3 9 Menovscikov, G. Α.: Eskimosskie skazki. Magadan 1958; id. (ed.): Skazki i mify narodov Cukotki i Kamcatki (aziatskie Eskimosy, Cukci, Kereki, Korjaki i Itel'meny) (Märchen und Mythen der Tschuktschen- und Kamtschatkavölker [asiat. Eskimos, Tschuktschen, Kereker, Korjaken und Itelmenen]). M. 1974. - 4 0 Sergeeva, K. S.: Skazocnik Kivagme. Magadan 1962. 41 Barüske, H.: E.-Märchen. MdW 1969; id.: Märchen der E.s. Ffm. 1975. — 42 Thalbitzer (wie not. 21) 3 9 6 - 4 0 3 . - 4 3 Spencer, R. F./ Carter, W. K.: The Blind Man and the Loon. Barrow Ε. Variants. In: J A F L 67 (1954) 6 5 - 7 2 . - 4 4 Rink, H.: The E. Tribes (Meddelelser om Grönland 11). Kop. 1 8 8 7 - 9 1 . - 4 5 Kroeber, A. L.: Animal Tales of the E. In: J A F L 12 (1899) 17 - 23. - 4 6 Boas, F.: The Folklore of the E. In: J A F L 17 (1904) 1 - 1 3 . - 4 7 Lantis, M.: The Mythology of Kodiak Island, Alaska. In: J A F L 51 (1938) 1 2 3 - 1 7 2 . - 4 8 Holtved, E.: The E. Legend of Navaranäq (Acta Arctica 1). Kop. 1943. - 4 9 Kleivan, I.: Swan Maiden Myth among the E. (ibid. 13). Kop. 1962. - 50 Thalbitzer, W.: Gronlandske sagn om eskimoernes fortid (Populära etnologiska skrifter 11). Sth. 1913. 51 Roheim, G.: Die Sedna-Sage. In: Imago 10 (1924) 1 5 9 - 1 7 7 . - 5 2 Lantis, M.: Nunivak E. Personality as Revealed in the Mythology (Anthropological Papers of the University of Alaska 2,1). College, Alas. 1953, 1 0 9 - 1 7 4 . - 5 3 Hennigh, L.: Control of Incest in E. Folktales. In: J A F L 79 (1966) 3 5 6 - 3 6 9 . - 5 4 Holtved, E.: D e eskimoiske sagns opbygning belyst ved Axel Olriks episke love. In: DSt. (1943) 2 0 - 6 1 . - 55 Maranda, P.: Of Bears and Spouses. Transformational Analysis of a Myth. In: Köngäs Maranda, E./id.: Structural Models in Folklore and Transformational Essays. The Hague/ P. 1971, 9 5 - 1 1 5 . - S6 Kleivan, I.: Why is the Raven Black? An Analysis of an E. Myth (Acta Arctica 17). Kop. 1971. - 5 7 Oosten, J. G.: The Theoretical Structure of the Religion of the Netsilik and
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Esoterisch /Exoterisch
Iglulik. Groningen 1976. - 58 Colby, Β. Ν.: A Partial Grammar of E. Folktales. In: American Anthropologist 75 (1973) 6 4 5 - 6 6 2 . - 59 Rooth, A. B.: The Importance of Storytelling. A Study Based on Field Work in Northern Alaska (Studia Etnologica Upsaliensia 1). Uppsala 197 6. — 6 0 Rosing, J.: De store konger. Holstebro 1976.
Kopenhagen
Inge Kleivan
Esoterisch/Exoterisch. Die Konzeption esoteric-exoteric factor in der Folklore wurde von W. H. Jansen (gest. 1979) 1 im Jahre 1959 eingeführt 2 . Seine Definition lautet: „The esoteric applies to what one group thinks of itself and what it supposes others think of it. The exoteric is what one group thinks of another and what it thinks that other group thinks it thinks" 3 . Exoterische Folklore (z.B. Erzählungen von schlauen Advokaten oder diebischen Zigeunern) überwiegt innerhalb großer und selbstbewußter Gruppen, esoterische dagegen bei kleinen und relativ schwachen (Beispiele: der private Jargon von Teenagern, Musikern, Verbrechern). Jansens Konzeption entspricht recht genau jener P. R. Hofstätters, welcher 1954 die Begriffe Autostereotype und Heterotype in die psychol. und soziol. Diskussion einführte 4 . Das von Jansen festgestellte und benannte Phänomen ist ein bes. jener Folklore innewohnender Faktor oder Aspekt, welcher der Wechselwirkung zwischen zwei oder mehr Gruppen entspringt oder sich damit befaßt 5 . Hinweise auf Anschauungen esoterischer oder exoterischer Art finden sich in verschiedenen folkloristischen Ausdrucksformen, die ζ. B. von der Anspielung bis zum krassen blason populaire oder zu der offen sexistischen Bemerkung, von falscher Bescheidenheit bis zu unverhüllter Prahlerei oder chauvinistischen Aussagen reichen. Überdies scheint es, daß in fast jeder volkstümlichen Gattung manche Versionen ohne weiteres Aufschluß über esoterische oder exoterische Aspekte geben können, und zwar nicht nur in bezug auf die Gruppen, um deren folkloristische Äußerungen es sich handelt, sondern auch über diejenigen, von denen darin die Rede ist oder an die sie sich richten. Dabei erstreckt sich der Bereich der Gruppen und Gattungen, für die dies zutrifft, von Kindern, die sich necken 6 , bis hin zu Nationen, in
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deren Sagen, Mythen und anderen Volkserzählungen das Bild erscheint, das sie sich von sich selbst oder von anderen Nationen machen, so etwa das recht typische, von Angst geprägte Chinabild, das sich in den Erzählungen vieler südostasiat. Länder findet 7 . Allg. hat die Unterscheidung esoterischexoterisch dazu gedient, Wissenschaftler, die sich mit populärer Kultur und Gruppendynamik beschäftigen, auf soziale, politische, ethnische und psychol. Faktoren ebenso wie auf ästhetische und unterhaltende Werte bei der Untersuchung volkstümlicher kultureller Ausdrucksformen aufmerksam zu machen. Zahlreiche volkskundliche Studien haben Jansens Anregung aufgenommen 8 ; das halb scherzhaft gemeinte Sigel für esoteric-exoteric factor ist SX(= Es-Ex)factor. Volkserzählforscher und Volkskundler überhaupt werden auch weiterhin auf solche Phänomene achten. Zu prüfen ist, ob nicht statt der von Jansen gewählten Bezeichnungen besser die Hofstätter-Termini Autostereotype und Heterostereotype verwendet werden sollten, da die Begriffe esoterisch und exoterisch im allg. Sprachgebrauch eine andere Bedeutung haben. 1 Nachrufe in: Fabula 21 (1980) 291sq.; JAFL 93 (1980) 5 7 - 5 9 . - 2 Jansen, W. H.: The Esoteric-Exoteric Factor in Folklore. In: Fabula 2 (1959) 2 0 5 - 2 1 1 ( = In: The Study of Folklore, ed. A. Dundes. Englewood Cliffs, N.J. 1965, 4 3 - 5 1 ) . 3 ibid., 206sq. - 4 Hofstätter, P. R.: Gruppendynamik. Reinbek bei Hbg 1954 (u.ö.), v. Reg. s.v. Autostereotype, Heterostereotype. - 5 v. den Kommentar von Dundes (wie not. 2) 43sq. - 6 z.B. Dundes, A./ Leach, J. W./Özkök, Β.: The Strategy of Turkish Boys' Dueling Rhymes. In: JAFL 83 (1970) 3 2 5 - 3 4 9 ; Winslow, D. J.: Children's Derogatory Epithets. In: JAFL 82 (1969) 2 5 5 - 2 6 3 . — 7 v . z.B. Alvey, R. G.: An In and Out View of the Vietnamese People. In: SFQ 33 (1968) 3 2 8 - 3 3 2 . - 8 Jason, H.: The Jewish Joke. In: SFQ 31 (1967) 4 8 - 5 4 ; Brunvand, J. H.: As the Saints Go Marching by: Modern Jokelore Concerning Mormons. In: JAFL 83 (1970) 5 3 - 6 0 ; Abrahams, R.: The Negro Stereotype: Negro Folklore and the Riots. In: JAFL 83 (1970) 2 2 9 - 2 5 8 ; Bauman, R.: Differential Identity and the Social Base of Folklore. In: JAFL 84 (1971) 3 1 - 4 1 ; Dundes, Α.: A Study of Ethnic Slurs: The Jew and the Polack in the United States. In: JAFL 84 (1971) 1 8 6 - 2 0 3 ; Cohen, D. S.: The Origin of the ,Jackson Whites'. In: JAFL 85 (1972) 2 6 0 - 2 6 6 ; Leary, J. P.: Fists and Foul Mouths: Fights and Fight Stories in Contem-
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Espinosa, Aurelio Macedonio senior
porary Rural American Bars. In: JAFL 89 (1976) 27—39; Uziel, R.: Joking in Ethnic Stereotypes. The Jewish Turkish Usurer Case. In: The Sepharadi and Oriental Jewish Heritage. Studies, ed. I. Ben-Ami. Jerusalem 1982, 5 5 1 - 5 6 2 , bes. 554-556.
Lexington, Ky
R. Gerald Alvey
Espinosa, Aurelio Macedonio senior, *Carnero, Colo. 12. 9. 1880, t Stanford, Calif. 4. 9. 1958, nordamerik. Mundartforscher und Volkskundler. An der Univ. von Chicago erwarb er den Dr. phil. (1909), die Univ.en San Francisco und Neu Mexiko verliehen ihm den Litt.D. (1930) und L.L.D. (1934). 36 der insgesamt 47 Jahre seiner Laufbahn als Univ.slehrer verbrachte er an der Univ. Stanford (1910-47), seit 1933 als Direktor des rom. Seminars. E. wirkte beim Aufbau der American Assoc. of Teachers of Spanish mit und war der erste Herausgeber von Hispania (1918—26). Für JAFL, WF und Language war er als Mitherausgeber tätig und jahrelang der span. Editor der Oxford University Press. E. erhielt frühe Anerkennung für seine bahnbrechenden Studies in New Mexican Spanish (In: Revue de dialectologie romane 1 [1909] - 6 [1914]; Übers. Teil 1 - 2 : Estudios sobre el espanol de Nuevo Mejico. Buenos Aires 1930/46). Neben der Dialektologie wurde E. für seine Forschungsarbeiten bes. über Volkserzählungen, aber auch Sprichwort, Rätsel und Mythos bekannt. Er war der erste Balladensammler Neu Mexikos. Sein Romancero de Nuevo Mejico (Madrid 1953), der 248 Texte enthält, ist eine der bedeutendsten Sammlungen archaischer mündl. Überlieferung des span.sprachigen Raums. E. verfaßte und edierte zwölf Bücher über Lit.geschichte, Philologie und Volkskunde, darunter die in der Tradition von BP komparatistisch annotierten, auf Feldforschung basierenden 280 Texte der Cuentos populäres espanoles 1—3 (Stanford 1923/24/26 [Madrid 2 1946/47]) sowie über 20 Studienbücher für Spanischstudenten. Die Anzahl seiner wiss. Artikel beträgt mehr als 175. Unter seinen bedeutenden volkskundlichen Artikeln befindet sich die elfteilige Serie New Mexican Spanish Folklore (In: JAFL 23
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[ 1 9 1 0 ] - 2 9 [1916]). Er verfaßte zahlreiche Beiträge zur Überlieferung Spaniens, Puerto Ricos, Mexikos und Kaliforniens. In Notes on the Origin and History of the Tar-Baby Story (In: JAFL 42 [1930] 129-209) und A New Classification of the Fundamental Elements of the Tar-Baby Story on the Basis of 267 Versions (In: JAFL 56 [1943] 3 1 - 3 7 ) ging er der Verbreitung dieser Erzählung von Indien aus durch Afrika, Europa, Westindien bis zur —»Uncle Remus-Geschichte der südl. USA hin nach. V e r ö f f . e n (Ausw.): Romancero nuevomejicano. In: Revue hispanique 33 (1915) 446-560. - (mit Radin, P.:) Folk-Tales from Oaxaca. In: JAFL 28 (1915) 390-408. - Traditional Ballads from Andalucia. In: Flügel Memorial Volume. Stanford 1916, 9 2 - 1 0 7 . - (mit Radin, P.:) El Folk-Lore de Oaxaca. Habana 1917. - (mit Mason, J. A.:) Porto-Rican Folklore: Decimas, Christmas Carols, Nursery Rhymes and Other Songs. In: JAFL 31 (1918) 289-450. - Romances de Puerto Rico. In: Revue hispanique 42 (1918) 309-364. - (mit Mason, J. A.:) Porto-Rican Folklore: Folktales. In: JAFL 35 (1922)—40 (1927). - La transmisiön de los cuentos populäres. In: Archivos del folklore cubano 4 (1929) 3 9 - 5 2 . - Origen oriental y desarrollo historico del cuento de las doce palabras retorneadas. In: Revista de filologia espanola 17 (1930) 390—413. — Romances espanoles tradicionales que cantan y relatan los indios de los pueblos de Nuevo Mejico. In: Boletin de la Biblioteca Menendez y Pelayo 14 (1932) 9 8 - 1 0 9 . - La clasificacion de los cuentos populäres, un capitulo de metodologia folklorica. In: Boletin de la Academia Espanola 21 (1934) 175-208. - Las fuentes orientales del cuento de la Matrona de Efeso. In: Boletin de la Biblioteca Menendez y Pelayo 16 (1934) 489-502. - New Mexican Spanish Coplas Populäres. In: Hispania 18 (1935) 135-150. Pueblo Indian Folk Tales. In: JAFL 49 (1936) 69—133. — Hispanic Versions of the Tale of the Corpse Many Times .Killed'. In: ibid., 181-193. Spanish Folktales from California. In: Hispania 23 (1940) 121-144. - Spanish Folklore. In: StandDiet. 2, 1061-1073. Lit.: StandDict. 1, VII. - Ε., A. M. In: Directory of American Scholars 3. Lancaster, Pa 3 1957, 221. - Rael, J. Β.: Α. Μ. E., Sr., 1880-1958. In: JAFL 72 (1959) 347sq. - McSpadden, G. Ε.: Α. Μ. E. (1880-1958). In: Hispania 42 (1959) 20sq. - E., J. M.: Spanish Folklore in the Southwest. The Pioneer Studies of Α. Μ. E. In: The American 35,2 (1978) 219-237.
Castleton, N.Y.
James Wesley Childers
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Espinosa, Aurelio Macedonio junior - Essen: Das gleiche Ε.
Espinosa, Aurelio Macedonio junior, * Albuquerque, N. Mex. 3. 5. 1907, nordamerik. Romanist und Volkskundler. Wie sein Vater Α. Μ. —»Espinosa senior widmet er sich hauptsächlich der span. Folklore, bes. der kastil. Volkserzählung. An der Univ. Stanford erwarb E. 1928 den M.A. und promovierte 1932 an der Univ. Madrid zum Dr. phil. Bis zu seiner Emeritierung 1972 lehrte er 28 Jahre lang an der Univ. Stanford, ferner an der Univ. Harvard (1936-42) und der Militärakad. West Point, N.Y. (1942-46). 1929—32 arbeitete er in Madrid am linguistischen Atlas der iber. Halbinsel (t. 1: Fonetica. Madrid 1962). Während seiner Forschungsaufenthalte in Spanien sammelte E. aus der mündl. Überlieferung Rätsel, Balladen und bes. 400 bisher unveröffentlichte Volkserzählungen, die zur Kommentierung der Cuentos populäres espafioles (Madrid 1946—47) seines Vaters mit herangezogen wurden. 1942— 47 war er Mitherausgeber von Hispania und 1958—70 Regionalherausgeber von WF. Unter seinen volkskundlichen Veröffentlichungen befinden sich die Bücher: Cuentos castellanos (Ox./N.Y./u. a. 1937); Cuentitos fäciles (OX./N.Y./u. a. 1939); Cuentos populäres de Castilla (Buenos Aires 1946). Drei seiner zahlreichen Artikel sind für die Volkskunde von bes. Interesse: More Spanish FolkTales (Hispania 22 [1939] 103-114); Three More Peninsular Spanish Folktales that Contain the Tar-Baby Story (FL 50,4 [1939] 366—377); The Field of Spanish Folklore in America (SFQ 5 [1941] 2 9 - 3 5 ) . Seit seiner Emeritierung ist Ε. Mitarbeiter an Studienbüchern für Spanischstudenten an High Schools und Colleges. Lit.: Ε., Α. Μ. In: Directory of American Scholars
3. N.Y. 61974, 136.
Castleton, N.Y.
James Wesley Childers
Essen: Das gleiche Ε. (AaTh 983), eine aus dem Vorderen Orient stammende Erzählung, die S. Thompson unter Mot. J 81 in die Kategorie Wisdom (knowledge) taught by parable (Mot. J 80sqq.) eingeordnet hat. Eine auf ihre Tugend bedachte Frau (Jungfrau, Ehefrau, Witwe) sucht dem Liebeswerben eines
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mächtigen Mannes (Königs, Sultans) zu entgehen. Sie setzt ihm verschieden aussehende, aber gleich schmeckende Speisen (verschieden gefärbte Eier, dasselbe Getränk in verschiedenen Gläsern) vor. Auf die Frage, was dies zu bedeuten habe, vergleicht die Umworbene die gleichartigen Speisen mit den Frauen: Auch wenn diese verschieden aussähen, so seien sie ihrer Natur nach alle gleich, also lohne sich der häufige Wechsel von Liebschaften nicht. Der Mann nimmt die Belehrung der Frau an, läßt von ihr ab und gibt sich mit der eigenen Frau zufrieden.
Die Erzählung gehört zum arab. Zyklus der —> Sieben weisen Meister bzw. des SindbadBuches 1 und hat sich — gemessen an den zahlreichen Zeugnissen in der klassischen arab. Volksliteratur — im Vorderen Orient großer Beliebtheit erfreut 2 . Ihre kontinuierliche Popularität in diesem Raum erweist sich auch an neueren Belegen aus arab. und jüd. mündl. Tradition 3 . Vereinzelte Aufzeichnungen liegen aus Indien 4 und nach Aufnahmen aus der Zeit nach 1970 auch aus dem Iran 5 vor. Aus oriental. Überlieferung bezog wohl auch —» Boccaccio diesen Stoff für die 5. Erzählung des 1. Tages im Decamerone6; aus dem 15. Jh. stammt ein Beleg in einer frz. Hs. des Brit. Museums 7 . In der ital. Novellistik des 16. Jh.s ist die Erzählung in den erstmals 1523 erschienenen Proverbii in facetiae von Antonio Comazano (1429-84) und in den Cento novelle scelte von Francesco Sansovino (1521—83) aus dem Jahre 1556 nachzuweisen 8 . Die Verbreitung in der neueren mündl. Tradition Europas ist nur sporadisch und nach dem derzeitigen Forschungsstand sicherlich unvollständig dokumentiert. Jeweils mehrere Belege verzeichnen Typenkataloge aus Litauen 9 und Rußland 10 , vereinzelte, nur in Grundzügen sinngemäß übereinstimmende, in Begleitumständen aber recht unterschiedliche Fassungen liegen aus Ostpreußen 11 , Albanien 12 und Portugal 13 vor. In ihrer Einstellung zur Frau kann die Erzählung als ambivalent bezeichnet werden. Einerseits liegt der Behauptung, daß alle Frauen gleich seien, eine eher misogyne Tendenz zugrunde, da sie weibliche Persönlichkeitswerte negiert und die Frau zum Sexualobjekt degradiert. Andrerseits wird ihr Gelegenheit gegeben, mit Hilfe des im Grunde männlichen Vorurteils ihre Klugheit auszu-
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Essen: Wie das E., so die Arbeit
spielen und so ihre Tugend zu bewahren bzw. den Mann an den Wert seiner eigenen Frau zu erinnern. I Clouston, W. Α.: The Book of Sindibäd. Glasgow 1884, 8 0 - 8 3 , 1 4 4 - 1 4 7 , 2 5 6 - 2 5 8 ; Chauvin 8, 35; Wesselski, MMA, 209 sq. - 2 Schwarzbaum, 64, 123, mit Ergänzungen p. 455, 464. - 3 Basset 2, num. 13 (mit weiteren Nachweisen); Jason 891 B*, 983; Jason, Types 983; Noy, D.: Jefet Schwill erzählt. B. 1963, num. 81. - 4 Thompson/Balys J 81; Sheikh-Dilthey, H. (ed.): Märchen aus dem Pandschab. MdW 1976, num. 56. - 5 Marzolph, U.: Typologie des pers. Volksmärchens. Diss, (masch.) Köln 1980, 140, num. 983. - 6 c f . Lee, C. Α.: The Decameron, Its Sources and Analogues. L. 1909, 19 (mit weiterer Lit.). - 7 Wesselski, MMA, 210. - 8 Rotunda J 81. - 9 Balys *981; Aräjs/Medne 983. - 10 SUS 983. II Grannas, G.: Volk aus dem Ordenslande Preußen erzählt Sagen, Märchen und Schwänke. Marburg 1960, num. 76. — 12 Zs. für Vk. in Sage und Mär [. . .] 3 (1891) 296sq. - 13 RE 4 (1965) 444, num. 47.
Göttingen
Elfriede Moser-Rath
Essen: Wie das E., so die Arbeit (AaTh 1560), Schwank von einem Knecht, der seinen geizigen Arbeitgeber durch Fehlverhalten bei der —> Arbeit straft. Die Affinität der Begriffe E. und Arbeiten kommt in vielen Sprichwörtern und Redensarten zum Tragen 1 . —» Speise und Trank gehören zu den Voraussetzungen menschlicher Existenz, sie erwirbt man durch Arbeit („Erst die Arbeit, dann der Lohn"), nicht aber durch Müßiggang. Diese Vorstellungen sind seit alters geläufig. So heißt es etwa im N.T.: „so jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen" (2. Thess. 3,10; cf. auch Gen. 3,19) 2 oder im span. Sprichwort: „Nicht kann der Sohn Adams ohne Arbeit Brot essen" 3 etc. Thematisiert ist dieses Sprichwort in neueren Volkserzählungen (AaTh 901B* = 1370A*). So heißt es in Fassungen aus Irland4, Italien 5 , der Sowjetunion 6 , aus dem pers. Aserbaidschan 7 und der Türkei 8 , daß die faule (Schwieger-)Tochter zur Arbeit erzogen wird und erst dann etwas zu essen erhält, nachdem sie eine Arbeitsleistung vollbracht hat. Die Intensität der Arbeit wird durch gutes E. gesteigert, am Verhalten des Essenden erkennt man den ,guten' Arbeiter:
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„Wie einer ißt, so arbeitet er" 9 , „Ein Drescher, ein Wächter und ein Hund mögen essen alle Stund" 10 . Der Arbeitgeber ist auch gehalten, eine Arbeitsleistung in angemessener Weise zu entgelten (—»Belohnung, Lohn). Dies ist zwar eine freiwillige, aber bindende Verpflichtung, die sich etwa in der antiken und ma. Vorstellung vom gerechten Lohn' niederschlägt 11 . Daß die Entlohnung nicht immer den Vorstellungen der Arbeitenden entspricht, kommt in verschiedenen Schwänken neuerer Zeit aus dem ländlichen Milieu zum Ausdruck, in denen Gutsherren oder ihre Frauen den von ihnen beschäftigten Landarbeitern die Entlohnung vorenthalten oder Kost und Logis als feste Bestandteile des Entgelts schmälern wollen (—> Gesinde, —> Herr und Knecht) 12 . In AaTh 1560 dürfte die wohl verbreitetste Erzählung zum Thema E. und Arbeiten vorliegen. Herr (Bauer) und Knecht arbeiten auf dem Felde. Zur Mittagszeit legen die auf den benachbarten Feldern arbeitenden Bauern mit ihren Knechten eine Pause ein und stärken sich am mitgebrachten Proviant. Der Bauer unterbricht ebenfalls die Arbeit und schlägt seinem Knecht vor, sie wollten nur so tun, als ob sie äßen. Nachdem die Feldarbeit wieder aufgenommen ist, schwingt der Knecht den Sensenstiel ohne Sense hin und her. Als der vor ihm arbeitende Bauer sich umdreht und erstaunt nach dem Grund fragt, erwidert dieser, er wolle jetzt auch so tun, als ob er arbeite.
Der Schwank ist in Norwegen, Schweden, Finnland und den bait. Ländern bekannt, aber auch aus Deutschland, Belgien, Frankreich, Italien, Spanien, aus der Tschechoslowakei, aus Jugoslawien sowie aus dem span.sprachigen Mittelamerika 13 . Unterschiede bestehen insbesondere in der Beschreibung des Arbeitsvorgangs. So schildert die Variantengruppe aus Mittel- und Nordeuropa die Heuernte, bei der der Knecht als Rache für die vorgetäuschte Brotzeit mit dem bloßen Sensenstiel mäht. In den rom. Ländern hingegen ist vom Pflügen die Rede: Der Knecht zieht nur eine Furche. Die Aufzeichnungen datieren fast ausschließlich aus dem 19. und beginnenden 20. Jh., die meisten Versionen stammen aus dem Ostseeraum 14 . Alle Erzählungen basieren auf dem Gedanken, daß die Verpflichtung
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Essen: Wie das E., so die Arbeit
zur Arbeit entfällt, wenn sie nicht entlohnt wird. Eine frühe dt.sprachige Fassung des kathol. Pfarrers J. A. —»Conlin dokumentiert die Arbeitsfehlleistung recht anschaulich15: Die geizige Bäuerin hindert den Knecht daran, sich ein ordentliches Stück Brot abzuschneiden. Der Knecht rächt sich und nimmt den Auftrag der Bäuerin wörtlich, Bäume zu fällen und dabei „die Hacken [= Axt] fein starck in das Holz [zu] werffen" 16 . Er schleudert die Axt weit in den Wald hinein 17 . Der Schwank endet gewöhnlich mit einem geistreichen —» Wortspiel des Knechts, der durch die Scheinarbeit die vorgetäuschte Mahlzeit pariert, die Anstiftung zu absurdem Handeln mit ebensolcher —* Absurdität kontert (Mot. J 1511, J 1530). Der —> Geiz des Bauern (der Bäuerin) wird als schlechtes Beispiel hingestellt. Statt der vorgetäuschten Brotzeit kann auch zu wenig Essen für den Knecht vorgesehen sein, so daß er eine entsprechend niedrige Arbeitsleistung oder gar keine erbringt. In einer Fassung von den Ägä. Inseln ζ. B. soll ein Arbeiter die ganze Feldarbeit erledigen, erhält aber nur schmale Kost: Statt zu arbeiten, ruht er sich aus. Erst als ihm der Bauer auf Anraten eines Nachbarn gute Verpflegung zukommen läßt, steigert dies seine Arbeitsfreude: „Wie die Verpflegung, so die Bewegung!" 18 Singular ist eine Erzählung aus dem Dauphine zu betrachten, die die Situation umkehrt. Dort wird einem faulen Knecht, der nur eine Furche gepflügt hat, bei der anschließenden Rast aus eben diesem Grunde der Käse vorenthalten 19 .
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Nacht 1, 3 9 6 - 4 0 2 ) 2 2 , in welcher der Reiche einem Bettler scheinbar Speise und Trank gewährt, in Wahrheit aber nur vorgaukelt (Mot. Ρ 327) und der Bettler, scheinbar trunken, dem Reichen eine Ohrfeige verpaßt, erscheint zu spekulativ und ist zurückzuweisen.
I Wander, K. F. W. (ed.): Dt. Sprichwörter-Lex. 1. Lpz. 1867, 1 1 5 - 1 2 5 , 8 8 6 - 8 9 9 ; Walther, H. (ed.): Proverbia sententiaeque Latinitatis medii aevi. Teil 4. Göttingen 1966, num. 24.404; Seiler, F.: Dt. Sprichwörterkunde. Mü. 1922, Reg. s.v. Arbeiten, Essen. — 2 Häufig in europ. Sprichwortslgen, z.B. Eyring, E.: Dritter vnd letzter Theil copiae proverbiorum. Eisleben 1604, 514sq.; cf. auch Wander (wie not. 1) 122, num. 55. — 3 Lipperheide, F. von: Spruchwb. B. 1907, 27. - 4 0 Smlleabhäin/Christiansen 1370 A*. - 5 Cirese/Serafini 901B*, 1370 A*. - 6 Aräjs/Medne 901B*, 1370 A*; Balys *1370A (der Eintrag bei AaTh geht auf den Klassifizierungsvorschlag von J. Balys zurück); SUS. 7 Marzolph, U.: Typologie des pers. Volksmärchens. Diss. Köln 1980, 130 (901B*). - 8 Eberhard/Boratav, num. 304. — 9 Wander (wie not. 1) 896, num. 194; cf. ferner Röhrich, L./Mieder, W.: Sprichwort. Stg. 1977, 2 3 - 2 5 (Sprichwörtliche Vergleiche). 10 Celakovsky, F. L.: Mudroslovi närodu slovanskeho ν prislovich. Praha 1852, V. 145 sq.; Zaorälek, J.: Lidovä rceni. Praha 1963, 561; cf. Klimovä, D.: Soudobä tradice jako poklad rekonstrukce slovesnych zänrü starsich epoch. In: Slovensky närodopis 28,1 (1981) 4 2 - 4 9 . II cf. E M 2,92. - 12 cf. auch AaTh 1561 sqq. 13 Außer den Belegen bei AaTh 1560 cf. Aräjs/ Medne; Raudsep; Rausmaa; SUS; Kecskemeti/ Paunonen; 0 Süilleabhäin/Christiansen; de Meyer, Conte; Cirese/Serafini; Klimovä (wie not. 10); Var.n: Segerstedt, Α.: Svenska folksagor och äfventyr. Sth. 1884, 1 2 9 - 1 3 1 ; Hackman, O.: Finlands svenska folkdiktning 1,2. Hels. 1920, num. 319; Allardt, A./Perklen, S.: Nyländska folkInsgesamt zählt AaTh 1560 zu den sagor och -sägner. Hels. 1896, num. 144; SimonSchwänken mit dem dominanten Motiv der suuri, L./Rausmaa, P.-L.: Finn. Volkserzählungen. Arbeitsfehlleistung/-Verweigerung 20 , die vor B. 1968, num. 106; Danner, E.: Die Tanne und ihallem auf —»Mißverständnissen oder dem re Kinder. Märchen aus Litauen. B. 2 1961, 60; —» Wörtlichnehmen von Aufträgen beruhen, Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. B. 1979, num. 114; Selk, P.: Schwänke aus Schleswig-Holwenn etwa der Mann die Weisungen seiner stein. Hbg 1961, 29; Ruppel, H./Häger, Α.: Einige Frau allzu wörtlich nimmt und Hausarbeiten Schock Schwänke, Schnurren und Schelmereien, ungenügend erledigt (z.B. AaTh 1218: dem Volksmunde nacherzählt. Kassel 3 1952, Eierbrüter, AaTh 1685: Der dumme 61 sq.; Perbosc, Α.: Contes populaires. 1: Contes —> Bräutigam, AaTh 1408: —> Hausarbeit ge- de la vallee du Lambon. Montauban 1914, 51—55; Aleover, Α. M.: Aplec de rondaies mallorquines tauscht) oder wenn die Frau ungewollt ihre eid'en lordi des Reco 5. Palma de Mallorca 1950, gene Tolpatschigkeit im Haushalt bloßstellt 8 1 - 8 5 . - 14 137 Var.n z.B. nennt Rausmaa (z.B. AaTh 1387: -> Kluge Else, AaTh (finn.), 37 Raudsep (estn.). — 15 Text im E M - A r 1451 sqq.: —> Brautproben). Die Vermutung chiv (mit num.): Conlin VI 1710 (10.443). 21 16 W. —• Liungmans , der Grundgedanke von ibid. — 17 Ähnlich eine mündl. Aufzeichnung von AaTh 1560 fände sich bereits in Des Barbiers 1951: Benzel, U.: Volkserzählungen aus dem oberErzählung von seinem sechsten Bruder (1001 pfälz.-böhm. Grenzgebiet. Münster 1965, num.
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Essen: Gutes Ε. ändert den Gesang — Esserin: Die schwache E.
159; cf. auch Tille 2, 294. - 18 Karlinger, F.: Inselmärchen des Mittelmeeres. MdW 1960, num. 5; cf. auch DBF A 2,81. - 19 Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine 2. [Grenoble 1971] num. 208; Skazki narodov vostoka. ed. Ja. A. Orbeli. M. 1962, 1 2 1 - 1 2 3 . - 2 0 EM 1, 730. 21 Liungman, Volksmärchen, num. 1560. — "Chauvin 5, 163, num. 86.
Prag
Josef R. Klima
Essen: Gutes E. ändert den Gesang (AaTh 1567G), Beispiel für ein Singemärchen (—> Cante fable), bei dem die Erzählung in Prosa gesprochen, die metrische Einlage jedoch gesungen wird. Tagelöhner, die beim Dreschen, Mähen oder bei der Holzarbeit von der Herrschaft nur dürftig verpflegt werden, beklagen sich darüber in getragenem Singsang (etwa: SO-O-OUP, SO-O-OUP, SO-OOUP) und arbeiten dementsprechend langsam. Am folgenden Tag bekommen sie kräftigere Kost, ändern daraufhin den Rhythmus ihrer Singweise ( B R E A D - M E A T - A N D - P U D D I N G - T O O , Β R E A D - M E A T - A N D - P U D D I N G - T O O ) und beschleunigen zugleich ihr Arbeitstempo.
Es handelt sich in den meisten Fällen nicht um Lieder oder gesungene Reime, sondern um einen einfachen, skandierenden Sprechgesang (weitere engl. Beispiele v. Mot. J 1341.11 und J 1341.12), wie er de facto zur Rhythmisierung mechanischer Arbeiten vielfach in Gebrauch war 1 . Die Moral dieser zu den —» Hungrigenschwänken gehörigen Erzählung liegt auf der Hand: Wenn die Herrschaft gute Arbeit fordert, sollte sie am E. nicht sparen. Das Verbreitungsbild nach den Angaben bei AaTh 1567 G mit Belegen aus Finnland 2 , England und den USA 3 läßt sich um einige aus dem Baltikum 4 , aus Norddeutschland 5 und Frankreich 6 vermehren, doch dürfte der Typ über den derzeitigen Stand der Aufzeichnung hinaus noch anderwärts bekannt gewesen sein, da die zugrundeliegende Arbeitssituation häufig gegeben war und die sozialkritische Tendenz zweifellos weite Bevölkerungskreise ansprechen konnte. 1
Bücher, K.: Arbeit und Rhythmus. Lpz./B. 1924; cf. auch Klüsen, E.: Musik zur Arbeit heute. In: Arbeit und Volksleben. Dt. Vk.kongreß 1965 in Marburg, ed. G. Heilfurth/I. Weber-Kellermann. Göttingen 1967, 3 0 6 - 3 1 7 . - 2 Ergänzend dazu: 6
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Rausmaa. - 3 Ergänzend dazu: Briggs, Κ. M./ Tongue, R. L. (edd.): Folktales of England. L. 1966, num. 83; Dorson, R. M. (ed.): Negro Folktales in Michigan. Cambr., Mass. 1956, 67sq., not. p. 213 zu num. 37. — 4 Aräjs/Medne. — 5 Selk, P. (ed.): Volksschwänke und Anekdoten aus Angeln. Hbg 1949, num. 32; Neumann, S. (ed.): Volksschwänke aus Mecklenburg. Aus der Slg R. Wossidlos. B. 1963, num. 41. - 6 Fabre, D./Lacroix, J.: Histoires et legendes du Languedoc mysterieux. P. 1970, 254 sq.
Göttingen
Elfriede Moser-Rath
Esserin: Die schwache E. (AaTh 1373 A, 1458), schwankhafte Erzählungen von Mädchen oder Frauen, die behaupten, aus angeborener Sparsamkeit wenig zu essen, oder, sich krank stellend, in Gegenwart des Mannes die Nahrung verweigern, in Wahrheit aber heimlich nach Herzenslust tafeln, dabei schließlich beobachtet und ihrer Schwäche überführt werden. In dem bei AaTh unter die —> Brautproben eingereihten, vor allem in Skandinavien, Irland, Flandern, Deutschland, aber auch weiter südl. in Slovenien, Italien, in der Türkei und Israel bekannten Typ AaTh 1458 1 preist die Mutter ihre angeblich so bescheidene Tochter als schwache E., doch kann sich der Freier vom Gegenteil überzeugen, als er seiner Zukünftigen heimlich bei der Küchenarbeit oder beim Backen zusieht. Nach einer Var. in dt. Schwankbüchern des 17. und 18. Jh.s behauptet die Braut, kaum Brot zu essen, doch stellt sich hernach heraus, daß sie um so mehr Wein trinkt 2 . Im gleichen Quellenbereich und als Predigtmärlein der Barockzeit begegnet auch eine Erzählung von einer scheinbar appetitlosen Ehefrau: Sie nennt die tagsüber allein verzehrten Speisen ,Kummer', Bier oder Wein .Trübseligkeit' und gibt bei der Heimkehr des Mannes vor, sie habe nichts als Kummer und Trübseligkeit gehabt 3 . Hier mag scherzhaft auf die Ursachen heimlicher Gefräßigkeit angespielt worden sein, da Vereinsamung und andere Formen der Deprivation bekanntlich nicht selten mit gesteigerter Eßlust abreagiert werden, wie ja auch deren sichtbare Folge umgangssprachlich als ,Kummerbauch' oder ,Kummerspeck' 4 bezeichnet wird, vom allzeit bewährten, in den Konse-
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Esserin: Die schwache E.
quenzen allerdings fatalen Trost im Alkohol ganz zu schweigen. Krankheit schützt die Frau zumeist in dem vor allem in Italien, auf der iber. Halbinsel, in Lateinamerika und in Japan verbreiteten Typ AaTh 1373 A 5 vor: Sie will bei der gemeinsamen Mahlzeit nichts zu sich nehmen; da sie aber auffallend wohlgenährt aussieht, wird der Mann mißtrauisch und kann auch sehr bald feststellen, daß sie sich in seiner Abwesenheit eines regen Appetits erfreut. In einer bei Hans Sachs, Burkhard Waldis und Martin Montanus bezeugten Version 6 endet dies in Prügelszenen. Nach span, und lateinamerik. mündlicher Überlieferung kleidet der Mann seine Beobachtungen in scherzhafte Vergleichsbilder: Auf die Frage der Frau, wieso er beim herrschenden Regenwetter nicht naß geworden sei, meint er, es habe nur so fein geregnet, wie sie morgens Krumen in die Suppe eingekocht habe; auch habe er sich unter einen Felsen gestellt, der so groß wie ihr Pfannkuchen zu Mittag gewesen sei, sonst wäre er wohl so naß geworden wie das Hühnchen, das sie am Abend verzehrte etc. 7 Zu diesem Typ stellte Α. M. Espinosa 8 eine weitere Erzählung, die im Eingangsmotiv Verwandtschaft mit AaTh 1373 (Die gewogene —* Katze) aufweist: Der Mann bringt Fleisch nach Hause, das die Frau allein verzehrt, danach aber behauptet, die Katze habe den Braten gefressen. Er beklagt sich bei einer Hexe, die ihm zauberkräftige Bohnen, Nüsse oder Steine mitgibt. Im Hause verteilt, fangen diese an zu sprechen und warnen die Frau vor ihrer selbstsüchtigen Gefräßigkeit (AaTh 1373 A*) 9 . Blutrünstige Züge weist eine andere, im gleichen Verbreitungsgebiet bekannte Var. auf, wonach die naschhafte Tochter ihrem Vater anstelle des zuvor verzehrten Hühnchens die eigene Brust oder Stücke aus ihrem Hinterteil vorsetzt, sich jedoch verraten sieht, als er mehr von solchem zarten Fleisch verlangt (AaTh 1373 B*) 1 0 . In allen diesen Erzählungen wird — wie übrigens auch die Köchin in AaTh 1741: —> Priesters Gäste — die Frau als die heimlicherweise Gefräßige hingestellt. Doch scheint auch ihre aus —> Geiz des Mannes gelegentlich ungenügende Versorgung als Unrecht empfunden zu werden. Nach dem in Skandi-
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navien, Irland, im Baltikum, in Deutschland, Rußland, Italien und Lateinamerika belegten Typ AaTh 1407 1 1 will ein mißtrauischer Geizhals beobachten, ob seine Frau nicht zu viel esse, und wird dabei in seinem Versteck im Kamin verbrannt, unter dem Bett verprügelt etc. Auch in der verwandten Erzählung AaTh 1407 A 1 2 , die in Skandinavien und im Baltikum, in der Tschechoslowakei, in Italien, Rumänien und in der Türkei aufgezeichnet wurde, rächt sich der Geiz eines oder einer im Sterben liegenden Alten: Seine (ihre) undeutlich gemurmelten Klagen, die Magd esse ja ,alles', bezieht diese listig auf das Testament, daß eben,alles' ihr gehören solle, was zweifellos nicht den Absichten des (der) Alten entspricht. I In Ergänzung zu AaTh: Rausmaa; Liungman, Volksmärchen, num. 1458; Kvideland, R. (ed.): Norske eventyr. Bergen/Oslo/Tromso 1972, num. 50; id.: Glunten og riddar rev. Eventyr frä NordNorge. Oslo 1977, 126sq.; 0 Süilleabhäin/Christiansen; de Meyer, Conte; Cirese/Serafini; Jason. - 2 cf. Art. Brautproben. In: EM 2, 748, not. 10. 3 Texte im EM-Archiv (mit num.): Talitz, Reyßgespan 1663 (2.673); Scheer-Geiger 1673 (8.178); Hanß-Wurst 1712 (7.723); Polyhistor 1729 (9.663); Bienenkorb 1768 (11.194); Moser-Rath, num. 61. - 4 Fischer, H.: Schwäb. WB. 4. Tübingen 1914, 833. - 5 In Ergänzung zu AaTh: Cirese/ Serafini; Finamore, G.: Tradizioni popolari abruzzesi 1. Lanciano 1882, num. 51 sq.; Toschi, P./Fabi, A. (edd.): Buonsangue romagnolo. Bologna 1960, num. 59; Espinosa 1, num. 45; weitere Lit. ibid. 2, 238sq.; Serra i Boldu, V. (ed.): Rondalles populars 14. Barcelona 1933, 2 1 - 3 2 ; Robe; Romero, S.: Folclore brasileiro 2. Contos populäres do Brasil. (Lisboa 1885) Rio de Janeiro 3 1954, num. 42; Ikeda. - 6 Montanus/Bolte, 12-16, not. 559sq. (mit weiterer Lit.). - 7 Espinosa 1, num. 45; cf. Llano Roza de Ampudia, A. de (ed.): Cuentos asturianos. Madrid 1925, num. 40; Cascudo, L. da Cämara (ed.): Contos tradicionais do Brasil. Bahia 21955, 309sq.; Boggs *1374; Rael, J. B. (ed.): Cuentos espanoles de Colorado y Nuevo Mejico 1. Stanford [1957], num. 52 (not. in t. 2, 627sq.); Mason, J. Α.: Porto Rican Folk-Lore. Folk-Tales, ed. Α. M. Espinosa. In: JAFL 37 (1924) 306; Robe. - 8 Espinosa 1, num. 46. — 9 In Ergänzung zu AaTh: Cirese/Serafini. — 10 Espinosa 1, num. 47; cf. Robe. — II In Ergänzung zu AaTh: 0 Süilleabhäin/Christiansen; Aräjs/Medne; Cirese/Serafini; Flowers. 12 In Ergänzung zu AaTh: Rausmaa; Aräjs/Medne; Cirese/Serafini.
Göttingen
Elfriede Moser-Rath
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Esten
Esten 1. Einleitung — 2. Sammlungs- und Forschungsgeschichte — 3. Internat. Stellung der estn. Märchen und die häufigsten Typen — 4. Formale und stilistische Eigenarten - 5. Hauptzüge des Weltverständnisses — 6. Ausblick
1. E i n l e i t u n g . Von den zum ostseefinn. Zweig der finn.-ugr. Sprachfamilie gehörenden E. (Bevölkerungszahl über 1 Million) leben ca 91% in der Estn. SSR, der Rest in anderen Regionen der UdSSR und ein kleiner Teil in Schweden, Kanada, den USA etc. 1 . Von der Schriftsprache, die auf dem Norddialekt (mehrere Mundarten) basiert, unterscheidet sich der Süddialekt morphologisch und lexikalisch so weit, daß angenommen wird, er habe sich (allein oder gemeinsam mit den Liven) am frühesten von der ostseefinn. Grundsprache abgetrennt. Um 500 p. Chr. n. (vor der Ausbreitung der Slaven nach Norden und der Balten nach Westen) bewohnten die Süd-Ε. ein Gebiet bis Daugava im Süden und die östl. Küste des Peipus-Sees, deren Nachfahren außerhalb der Estn. SSR die Setus (Setukesen) und Kraasnaer E. im Pskovschen Bezirk sowie die Leivus (an der Gauja) und die Ludza-E. innerhalb der Lett. SSR sind. Nach anderer Auffassung ist diese folkloristisch interessante Gruppe der E. um 1600 dort angesiedelt worden (gehörte bis 1772 zu Polen).
1 2 0 6 - 2 7 wurde Estland (mit Ausnahme des setukes. Gebiets) von Deutschen und Dänen (bis 1346) erobert und christianisiert. Seit 1561 gehörte Estland zu Schweden, seit 1721 zu Rußland, wurde jedoch von den dt. Feudalherren dominiert, die 1739 die Leibeigenschaft durchsetzten. Das erste estn. Buch erschien 1535, kirchliche Lit. bildete sich im 17./18. Jh. aus (1686: südestn. N . T . ; 1739: nordestn. Bibel). Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft ( 1 8 1 6 - 1 9 ) und dem Recht auf Landrückkauf (erst seit 1868) entwickelte sich die Allgemeinbildung sehr rasch. Nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs (1917) konsolidierte sich die bürgerliche Republik Estland (1918), die 1940 als Estn. SSR der UdSSR angegliedert wurde. 2. S a m m l u n g s - u n d F o r s c h u n g s g e s c h i c h t e . Die Sammeltätigkeit begann bereits im 17. Jh. mit der Aufzeichnung estn. Volkslieder. Estn. Sagen erschienen zuerst in dt. Sprache 1764 2 (häufig auch in dt.sprachi-
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gen estn. Zss.artikeln des 19. Jh.s), in estn. Sprache erst 1 8 1 6 - 1 8 von J. H. Rosenplänter (1782-1846) 3 . Die größere Slg Eesti rahva ennemuistesed jutud (Die vormaligen Erzählungen des estn. Volkes) von F. R. —> Kreutzwald erschien in Helsinki 1866 4 , deren Erzählungen zwar dem Inhalt nach teilweise volkstümlich, stilistisch jedoch von den dt. Romantikern, auch von Johann Karl August —» Musäus und Ludwig —> Bechstein beeinflußt sind. Auf die Volkstradition haben sie nur sporadisch eingewirkt (z.B. AaTh 1148 B: The Ogre Steals the Thunder's Instruments', cf. —> Donner), möglicherweise noch auf die wenigen Märchensammlungen des 19. Jh.s, die aber zumeist volkstümlicher sind 5 . Von den Pastoren (der höchsten Stufe der Intelligenz im 19. Jh.) J. Hurt und M. J. Eisen aufgerufen, Folklore zu sammeln, reagierten alle Schichten des Volkes (Landhandwerker, Bauern, Lehrer, Fabrikarbeiter, Schüler etc.). Die eifrigsten waren die Schneider J. Sandra (ca 1.900 Erzählungen, oft weitschweifig im Stil der Dorfromane) und J. Saalvärk (ca 1.000 Erzählungen). Ungeachtet der zaristischen Russifizierungspolitik und der balt.-dt. Opposition wuchsen die Slgen Hurts (114.696 Seiten, darunter 17.117 Erzählungen aus den Jahren 1860—1906) und Eisens (100.090 Seiten, darunter 27.786 Erzählungen aus den Jahren 1869-1934). Volkslieder wurden beim Sammeln (bes. von Hurt) dem Märchen vorgezogen, da die estn. und finn. Lieder sich grundlegend von denen anderen Sprachgruppen zugehöriger Nachbarvölker unterscheiden. Volkserzählungen, mit Ausnahme von Lokalsagen, hingegen haben Internat. Charakter und sind als nationale Denkmäler bedeutungsloser. Die darauffolgenden Publikationen Eisens (ca 3.000 Texte) regten weiteres Sammeln von Volksprosa an, beeinflußten aber auch den Stil der Erzähler und Sammler. Hervorzuheben ist die Sammeltätigkeit der Ges. der Estn. Studenten, in deren Auftrag O. - » Kallas (erster estn. Doktor der Folkloristik) hauptsächlich Volkslieder (von 1 8 7 8 - 1 9 1 6 : 20.902 Seiten) und in den Exklaven (Ludza-Lutsi, Kraasna) Märchen sammelte. Nachdem in der Zeit der bürgerlichen Republik an der Univ. Tartu Lehrstühle für allg. (W. —> Anderson) und estn. Folkloristik (Eisen) eingerichtet wurden, entstand
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1 9 2 7 das Archiv der Estn. Folklore (Eesti Rahvaluule Arhiiv [ E R A ] ) unter Leitung v o n O. —»Loorits. Die bis dahin in Finnland aufbewahrte Slg Hurts wurde im E R A mit der von Eisen, anderen kleineren Slgen und mit der von S. Sommer angeregten Slg setukes. Folklore (von 1 9 2 3 - 3 6 : 124.648 Seiten) vereinigt. Ein Netz von Korrespondenten wurde organisiert, und die Sammeltätigkeit dauert bis heute an (100 Korrespondenten). Wichtige Sammler waren u. a. R. Viidalepp (über 15.000 Seiten), der die Erzählerpersönlichkeit K. Jürjenson entdeckt hat (256 Texte, 550 Seiten), R. Pöldmäe (ca 9.000 Seiten) und die in den Exklaven und bei nächsten Verwandten arbeitenden P. Ariste (—> Woten), O. Loorits (Liven), V. Niilus (Leivu), P. Voolaine (Ludza) 6 sowie die örtlichen Korrespondenten E. Poom (6.193 Seiten), M. Mäesalu, M. Sarv, T. Saar. Uber die Sammeltätigkeit hinaus (die Materialien von 1800 an und von 1 9 2 7 - 4 4 umfassen 265.098 Seiten) hat das E R A - vor allem durch Loorits — auch wiss. Arbeiten und einige Textbände herausgegeben ( E R A toimetused [ERA Verhandlungen] 1 - 1 5 . Tartu 1 9 3 5 - 4 1 ) . Die Arbeit des E R A wurde 1947 von der Folkloristischen Abteilung des Kreutzwaldschen Lit.museums der Estn. Akad. der Wiss.en fortgesetzt und zugleich auf andere ostseefinn. Völker (Izhoren, Wepsen) ausgedehnt und umfaßt 1.134.020 Seiten und 33.995 Stücke in der Phonothek (1981). Trotz Vulgärsoziologie und Antinationalismus der 50er Jahre hat das Staatliche Lit.museum bis 1969noch 165.800 Seiten gesammelt 7 . Seit 1947 entstand auch am Lehrstuhl für estn. Lit. und Folklore der Univ. Tartu (unter E. Laugaste) eine Slg von ca 34.000 Seiten (1969) und seit 1950 im Institut für Lit. und Sprache der Akad. der Estn. SSR eine Slg von ca 23.500 Seiten (1969). Mit A u s n a h m e der V o l k s b ü c h e r Eisens, der A n t h o l o g i e n für den Schulgebrauch (bes. J. Jögever) und der Märchenbearbeitungen als Kinderbücher wurden im 1. Viertel d e s 2 0 . Jh.s nur w e n i g e V o l k s e r z ä h l u n g e n v e r ö f f e n t licht, die L a g e besserte sich im 2. und 3. Viertel 8 . A . A a r n e s Klassifizierung d e s Hurtschen Materials ( A a r n e , Est.) ermöglichte die wiss. Arbeit. U n t e r Leitung v o n Loorits, dann H. T a m p e r e ( 1 9 5 1 - 1 9 6 7 ) , Ο. Köiva ( 1 9 6 8 - 7 6 ) u n d E. Liiv (seit 1 9 7 7 ) wurde die Typisierung anderer Slgen unter Berücksichtigung der Typ e n k a t a l o g e v o n A n d r e e v , Balys, M e d n e fortgeführt. D i e S c h w ä n k e und A n e k d o t e n wurden katalogisiert und in einer Kartothek thematisch geordnet, v o n der nur ein kleiner Teil v o n L. R a u d s e p bearbeitet und veröffentlicht vorliegt. Zuerst benutzten A n d e r s o n und 16
Enzyklopädie des Märchens IV
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Loorits das estn. Material für T y p e n m o n o graphien 9 . 3. I n t e r n a t . S t e l l u n g d e r e s t n . M ä r c h e n u n d d i e h ä u f i g s t e n T y p e n . Estland kann seiner Sprache w e g e n Märchen aufn e h m e n , aber kaum w e i t e r g e b e n . E s gibt ca 2 . 9 0 0 T y p e n in 1 0 5 . 6 5 4 Var.n, v o n d e n e n etwa ein Viertel A n e k d o t e n und S c h w ä n k e sind (ca 1 . 1 0 0 T y p e n ) 1 0 . Verglichen mit d e m Erzählgut der Finnen und L e t t e n sind die legendenartigen Märchen häufiger, die Tierund N o v e l l e n m ä r c h e n seltener. D i e meisten in E u r o p a b e k a n n t e n T y p e n finden sich auch in Estland. Infolge der geogr. und kulturellen Situation m ü ß t e n auch Märchen b e k a n n t sein, die sonst nur westl. o d e r nur (süd.-)östl. b e g e g nen. O b die in ganz E u r o p a b e k a n n t e n Märchen v o n W e s t e n o d e r Osten nach Estland g e k o m m e n sind, ist nur selten sicher feststellbar. Zweifellos stammt ζ. B. AaTh 757: —> Jovinian aus dem Westen (Zitat eines luther. Kirchenliedes) ebenso wie AaTh 441, 470 A, 517, 886, die im Osten nicht vorkommen, wahrscheinlich auch AaTh 654, 801, 852, da es nach SUS nur wenige russ. Belege gibt. Diese Märchen können in Finnland oder Lettland variieren oder fehlen. Sicher sind AaTh 465: —> Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt und AaTh 531: —> Ferdinand der treue und Ferdinand der ungetreue (schon um 1834 aufgezeichnet) wegen des Namens des Helden östl. Ursprungs, manche Erzähltypen aber sowohl östl. als auch westl. Herkunft (ζ. B. AaTh 480: Das gute und das schlechte -> Mädchen). Viele im Westen sehr verbreitete und durch Übers.en den E. bekannte Märchen fehlen in der Volkstradition (wie AaTh 310, 316, 408, 503, 533, 778, 887, 931). Von den in Estland bekannten Märchen östl. Herkunft (genauer südöstl., vermittelt durch die Weißrussen im russ. [ehemalig lit.-poln.] Grenzgebiet) sind in der eigenen Uberlieferung ζ. B. AaTh 465A* ( = Andreev 612), 485 unbekannt, vorhanden sind jedoch ζ. B. AaTh 300A, 5 1 9 , 5 3 7 , 8 2 4 , 8 4 6 * , 887A*, 902*. Da die im MA. von armen. Emigranten mitgebrachten Märchen in Lettland und Litauen weitererzählt werden (wenigstens 6 Typen), ist es möglich, daß es auch Flüchtlinge aus dem Balkan gegeben hat, deren Märchen direkt übernommen wurden. Eine kleine Gruppe von Erzählungen ist vielleicht von Seeleuten aus europ. Küstengebieten mitgebracht worden, da diese im Inland fehlt. Einige davon sind auch den Finnen (F), Letten (Le) und Liven (Liv) bekannt, ζ. B. AaTh 244** (bzw. 1927), 466**, 655, 737 (F, Le, Liv), 750C, 830A (Le), 853A, 925*, 934A 1 , 1190*, 1547* (Le), 1614* (Le). Eine kleinere Gruppe (AaTh 772*, 775*, 797* [F], 796* [Le], 823*) stammt sehr wahrschein-
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lieh von den Herrnhutern, die im 18./19. Jh. eine religiöse Volksbewegung entfachten und denen wohl auch viel von dem sonstigen legendenhaften Material zugeschrieben werden kann. Die Anzahl der nur bei den E. bekannten Typen reduziert sich beim Vergleich mit dem neu erschienenen lett. Typenkatalog (Aräjs/Medne). Es handelt sich jetzt nur noch um die Typen AaTh 247A*, 276*, 434* (cf. 590A), 772*, 775*, 823*, 835*, 888*, 1192*, 1293**, 1339A, 1569*, 1578*, 1699*, 1890B*. Bes. aus setukes. Material sind aus mehr oder weniger bekannten Motiven aufgebaute — Erzählungen hinzugekommen, die sich keinem Typ zuordnen lassen 11 . Nach Ansicht des V e r l s gibt es eine Reihe von Märchen, die als südestn. Substratmärchen anzusehen sind. Sie finden sich nur in Estland, Lettland (Le), Litauen (Li), manchmal bei den Liven (Liv) und in Finnland (F). Da die estn. Var.n vollständiger sind als die anderen, ist die Möglichkeit einer Wanderung in diesen Gebieten ausgeschlossen. Wahrscheinlich sind sie aber noch weiter verbreitet. Es handelt sich um AaTh 65* (Le), 130A (F, Le, Li?), 130C (F, Le, Li?), 150A* (F, Le, Li) 12 , 168 (Le, Li), 240* (Le), 243* (F, Liv, Le?), 403C (Le, Li?), 530B* (Le, Li), 572* (Le, Li unklarer), 650B (F, aber Le, Li offensichtlich verdorben, sonst im Kaukasus, in Sibirien und zufällig Nordrußland), 751B* (Le, Li), 796* (Le?), 832 (F, Liv, Le, zweifelhaft, weil auch lapp. und jakut.), 843* (Le), 962* (F, Le?), 963* (Le, sicher auch anderswo), 1048 (F). Hierher scheinen auch ca 20 Anekdoten zu gehören, die aber nicht bes. bedeutsam und häufig lokalisierte Formen sind (ζ. B. AaTh 1847*: Biblical Repartee, in Estland von einem bestimmten Pastor um 1850 als Tatsache erzählt; AaTh 1571*: The Servants Punish their Master, cf. —> Herr und Knecht, ist nur auf estn. ein Wortwitz). Jedenfalls waren viele neuere Schwänke und Anekdoten schon Ende des 19. Jh.s weitverbreitet, ζ. B. ist AaTh 1379*: False Members in Estland schon 1891 bekannt, AaTh 1710: Boots Sent by Telegraph ist um die gleiche Zeit in England, bei den Ukrainern in Ungarn und bei den E. aufgezeichnet und demzufolge nicht mehr beweiskräftig.
Die häufigsten estn. Märchentypen in über 100 Var.n sind AaTh 243*, 300 A, 301 A - B , 313 Α - B (C selten), 327 A, 400 (zusammen mit Aarne, Est., p. 126, num. 59 [+AaTh 826]: Der Alp als Frau), 403C+409,480 (bes. Andreev 480*C und *D= AaTh 1441, über 200 Var.n), 530, 613, 650A, 1131, 1135, 1150, 1525A, 1535, 1685, 1775 (und Aarne, Est., p. 124sq., num. 53: Die Rache des Kobolds). Typen in 50—100 Var.n gibt es etwa 50, dann noch etwa 15 Schwänke und 6 Sagen. Folgerungen aus diesen Angaben bleiben fraglich, jedenfalls scheint es zwei beliebte The-
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men zu geben: ,Die mißhandelten Waisen' (auch AaTh 720: —> Totenvogel hat 77 Var.n) und ,Die übernatürlichen Ehefrauen' (AaTh 400: —> Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau u.a.), nicht aber ,Ehemänner' (AaTh 425: —» Amor und Psyche). Vielleicht gab es mehr Tiermärchen, die von den Sammlern jedoch nicht notiert wurden. Natürlich waren viele Schwänke und Anekdoten allg. bekannt, wurden aber für wertlos gehalten und nur sporadisch aufgezeichnet. Wahrscheinlich hat die romantische Begeisterung für die altestn. Religion neben vielen pseudomythol. Texten auch die Seltenheit der Belege mancher für kirchlich gehaltener legendenhafter Märchen bedingt. Da es keine erwähnenswerte literar. Tradition gegeben hat, waren die novellenartigen Märchen im allg. wenig bekannt. 4. F o r m a l e und stilistische E i g e n a r ten. Es hat nur zwei Arten von Termini gegeben: für ,Märchen, Sage' muinasjutt bzw. muistejutt (vorzeitliche Erzählung, oder mit -lugu: Geschichte), älter noch ennemuist(e)ne jutt (ur-urzeitliche Erzählung), bei den Setukesen jutus (Erzählung) und für ,Anekdote, Schwank' nali (Scherz, Spaß bzw. naljajutt, -lugu). In der Wiss. gebraucht man noch künstliche Bildungen: muistend (Mythe, Sage), naljand (Schwank), pajatus (Memorat). Es gibt mehrere abschätzige Benennungen, die alle etwa ,Geschwätz' bedeuten. Die Var.n eines Märchens unterscheiden sich sehr in der Länge (etwa 1:10), was wohl meistens von den Sammlern abhängt, die zuerst nur die in ihrem Familienkreis erzählten Märchen kurz notiert haben. Die von ihnen als wörtliche Niederschriften ausgegebenen Texte (dann meistens außerhalb der Familie gesammelt) sind dennoch nicht selten entsprechend der von ihnen bevorzugten Lit. (ζ. Β. sentimentalromantische oder realistische Dorfromane, Zeitungsfeuilletons) stilisiert, enthalten ζ. B. nur Verben aus einer für einen hochstehenden Personenkreis reservierten Sprache, und manchmal wird sogar Kanzleisprache verwendet. Meistens erzählten ältere Männer — daher auch die Häufigkeit des Komplexes AaTh 400 —, während die Volkspoesie fast ausschließlich den Frauen gehörte. Etwa zwei Drittel der Märchen (und
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ein Drittel der Schwanke) ist einfach präterital erzählt, wobei in spannenden Momenten die Rede aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinüberwechselt. In den übrigen Märchen und Schwänken — sogar in Dialogen — herrscht die indirekte Rede vor. Oft gibt es Märchen, die beide Redeweisen gebrauchen. In der Alltagssprache weist die indirekte Rede darauf hin, daß der Erzähler nur das Gehörte mehr oder weniger genau wiedergibt, selbst kein Augenzeuge gewesen ist. Trotzdem sind viele Schwänke in der Ich-Form erzählt, manchmal sogar Märchen wie AaTh 518, 559, 5 7 1 , 5 7 2 * , 840.
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werfliche Haltungen und Taten, man drohte mit grauenvollen Zufällen und/oder überraschenden Glücksfällen (ζ. B. Schatzsagen). Diese Erzählungen ähneln eher Theaterstükken, weil sie fast gänzlich aus Dialogen bestehen.
5. H a u p t z ü g e d e s W e l t v e r s t ä n d n i s s e s . Das Weltbild der charakteristischen Märchen ist im allg. synkretistisch: Schamanistische Vorstellungen sind mit christl. verwoben oder stehen gleichwertig nebeneinander. Die Naturgeister und der Teufel sind Beamten Gottes (bzw. des ,Altvaters'), die für die Einhaltung der christl. Vorschriften sorgten. Sie handeln Eine bestimmte —» Schlußformel gab es aber auch selbständig und oft menschenfeindwohl nicht, ,wenn sie nicht gestorben sind [ . . . ] ' ist sicher literar. Auch eine —» Eingangsformel lich. Das Schicksal des Menschen, bes. seine Todesart, ist vorbestimmt und unveränderbar gibt es eigentlich nicht, doch wird öfter mit (AaTh 934: cf. —» Todesprophezeiungen hat ,einmal' ([üksjkord, korra) oder ,ur-urzeitlich' immer einen schlechten Ausgang). —> Schick([ennejmuiste, ,enne' kann sowohl temporal salsmärchen entstehen noch heutzutage. Neals verstärkend sein) begonnen. Es ist fraglich, ob alle Erzähler ihre Zuhörer während des ben der anderen Welt, von der die Hölle und das Paradies nicht klar getrennt sind, gibt es Erzählens angeredet haben, manchmal finden noch eine dritte symbolische Ebene, auf der sich solche Floskeln wie ,seht nun [. ..]'. Ländie verbotenen Verhaltensweisen des Mengere Beschreibungen kommen nur in literarischen bildhaft belehrend existieren und die sierten Texten vor. Sonst werden die Ortschafmanchmal von einigen Menschen erlebt wird ten und die Personen durch ziemlich stereotype Attribute und Vergleiche charakterisiert, (bes. AaTh 840, 470, 471). Im Diesseits muß hauptsächlich aber durch die Sprechweise also jedes Lebewesen (auch Bäume) und jedes in —» Dialogen und den Wortschatz. Manche Ding (Feuer, Quellen, Seen, Arbeitsgeräte Erzähler flechten fortwährend Sprichwörter etc.) in einer von alters her bestimmten Weise und Redensarten ein. In vielen Fällen (bes. respektvoll behandelt werden, damit sie den Tiermärchen, aber auch AaTh 403: Die Menschen nicht gefährlich werden (cf. —> Anischwarze und die weiße —> Braut, 450: —» Brü- mismus). Krankheiten wie Malaria und Pest derchen und Schwesterchen u. a.) benutzen die werden als böse und selbständig handelnde Personen (auch der Drache, der erweckte (halb)dämonische Wesen betrachtet. Auch die Tote etc.) formelhafte Aussagen, die von den Zauberer sind meistens böse: Man glaubt, daß setukes. (früher vielleicht auch von anderen) sie die Gestalt bestimmter Menschen annehmen, um diese selbst zu verdrängen (AaTh Erzählern gesungen wurden. 403, 4 5 1 A : The Sister Seeking her Nine Falls es überhaupt Angaben über ErzählBrothers etc., allg. nordeuras.), als Alp oder —» tabus gibt, sind sie sehr allg. Art, ζ. B. konnte Werwolf auftreten oder andere Menschen man im Wald nicht dasselbe erzählen wie auf in diese verwandeln können. Jeder Mensch See. Gewöhnlich wurde an Winterabenden besitzt aber ein ererbtes Wissen: Er kann erzählt (,Zwielicht halten bzw. feiern'), im die dämonischen Wesen überwinden, selbst Sommer hatte man fast nur beim Nachthüten als Alp oder Werwolf handeln oder sol(bes. der Pferde) Muße, aber auch bei geleche Wesen unschädlich machen. Nur in schwegentlichen Arbeiten wie in der Schmiede, ren Fällen benötigt er die Hilfe der (dann Wassermühle etc. Die Unterhaltung der Zuguten) Zauberer. Viele der Werwolfserzähhörer ist dabei ein Nebenprodukt gewesen, lungen sind allg. nordeurop., andere sind lokal Hauptabsicht war die Ausbildung und Belehverbreitet, denn Estland (bzw. Livland) ist für rung der jüngeren Leute. Man vermittelte die Nachbarvölker das klassische Land der Kenntnisse, schilderte vorbildliche und ver16*
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Werwölfe gewesen (finn. viron susi: Werwolf, eigentlich der estn. Wolf) 13 . Die Rettung des Werwolfs durch Brotstückchen oder ähnliches ist die häufigste Art der —> Erlösung. Methoden wie Mot. D 711: Disenchantment by decapitation etc. sind hierbei und auch in anderen Märchen fast unbekannt (cf. —> Enthauptung). Die handelnden Personen sind vorzugsweise Bauern (Königskinder heiraten meistens Bauernkinder). Reiche Kaufleute kommen fast nur in den russ. beeinflußten Märchen vor. Da im 19. Jh. die Bauern auch noch meist handwerklich tätig waren (Schuster, Schreiner etc.), treten als Handwerker nur Schmiede (und ausgediente Soldaten) auf, und zwar als angesehene Personen, dagegen Wanderschneider als mißachtete, obwohl sie wichtige Märchenvermittler waren. Gewandte Diebe, denen märchenhafte Fähigkeiten zugeschrieben wurden, sind noch um 1900 in den Erzählungen als ,Nationalhelden' betrachtet worden, da die Bestohlenen fast immer dt. Gutsbesitzer waren. Gegen diese Gutsbesitzer sind meistens Anekdoten, aber auch manche Märchen und Sagen (AaTh 475: -> Höllenheizer, 761: —> Reicher Mann als des Teufels Roß; Aarne, Est., p. 118, num. 25, p. 120, num. 33) gerichtet. Die Anekdoten über die dt. Pastoren (bis 1870 gab es in den etwa 150 Kirchspielen nur dt. Pastoren) sind meistens — bes. solche über buhlerische Pastoren und ihre Küster — westl. bzw. kathol. Herkunft, da sie die Ehelosigkeit des Priesters und die diesem gleiche soziale Stellung des Küsters (in Estland aber nicht zutreffend) voraussetzen. Die originalen Anekdoten erzählen vor allem von den skurrilen, geistreichen oder adelsfeindlichen Eigenarten der Pastoren. Der Antagonismus zwischen Bauer und Knecht ist erst im Entstehen begriffen, da bis etwa 1850 der Knecht die Arbeitsnorm des Bauern auf dem Gutshof zu erfüllen hatte und deshalb möglichst gut versorgt werden mußte. Bei den Erzählungen AaTh 1 0 0 0 - 1 1 9 9 und sonstigen Riesenmärchen lassen sich drei Gruppen unterscheiden, die aber fast alle vom ,alten Heiden' (Vanapagan), d. h. dem Teufel, erzählen. In der ersten Gruppe ist er ein Naturgeist oder ein vorchristl. Bewohner des Landes, der mit Steinen gegen Kirchen kämpft, unvollendet gebliebene Bauten errichtet etc. und keine Gegner hat. Die zweite Gruppe sind die internat. Märchen vom dummen
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Riesen (Naturgeist) bzw. geprellten -> Teufel, der von einem Burschen getäuscht und seines Reichtums beraubt oder getötet wird. Unter dem Einfluß des Komplexes der Zornwettemärchen (AaTh lOOOsqq.: —> Zornwette, in Estland wohl südl. Herkunft), in denen der seine Brüder rächende Bursche gegen den grausamen Herrn das Recht auf seiner Seite hat, werden in dieser zweiten Gruppe alle böswilligen Handlungen des Burschen gerechtfertigt, auch dann, wenn der Riese ihm nichts Böses angetan hat. In der dritten Gruppe, in die immer mehr Märchen der zweiten Gruppe eingearbeitet werden, ist der Teufel ein alteingesessener reicher, ziemlich einfältiger und freundlicher in Krähwinkel lebender Bauer, der sich einen Knecht dingt, oft nur, um den anderen Bauern zu gleichen. Dieser Knecht, der ,schlaue Ants' (kaval Ants), ist ein schwächlicher Gauner, der aus Geldgier und Grausamkeit den Bauern und seine Familie vernichtet.
Eisen hat diese Figur unter die Helden der Vorzeit eingereiht, aber diese Deutung ist bislang umstritten 14 . Solche Bauern (Gutsherren werden nie erwähnt) konnte es in einigen Gegenden erst um 1880 geben, aber aus derselben Zeit sind schon Zyklen derartiger Märchen aufgezeichnet. ,Der alte Heide' kann also kein Deckname für Gutsherren sein, und kein Landarbeiter hätte damals einen Bauern zu einem dummen Teufel erhöht. Wahrscheinlich taten dies dann die progressiven halbstädtisch gebildeten Handwerker, vielleicht in einer bestimmten Gegend (,antvärk' war in einigen Gegenden Schimpfwort). Danach kamen diese Anekdoten plötzlich in Mode und wurden ebenso gern von Bauern wie anderen Ständen weiter gesponnen. Kaum sind sie aber nur ein Ausdruck der Grausamkeit des Volkes. Möglicherweise hat es früher Erzählungen über —» Trickster (wie das obugr. ,Neffchen der Alten') gegeben, die meistens nur Böses bewirken. Da nun der im Familienverband lebende Naturgeist zu einem Teufel wurde - die Herrnhuter beschleunigten diesen Prozeß sehr —, durfte dessen christl. getünchter Tricksterknecht ihn erlaubterweise peinigen und ausrotten. 6. Ausblick. Heutzutage sind die Märchen tot, denn ihr sozialer Hintergrund gehört der Vergangenheit an. Die Methode, sie als einen sozialen Protest des ärmsten Volkes (Waisen, Witwen, Invaliden), als eine Art von Fabeln zu erklären und in dieser Weise wenigstens ihr Vorhandensein zu rechtfertigen, hat keine
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weiteren Früchte eingebracht. Eine kaum zu leistende Arbeit wäre es, nur etwa 10% der archivierten Prosatexte zu publizieren. Interessenten für Märchenausgaben hat es immer nur in beschränktem Maße gegeben, weil Märchen vom ästhetischen Standpunkt her niedriger eingestuft werden als die Volkslieder. Volksmusik, Volkslieder, manche Hochzeitsbräuche und viele Lokalsagen werden auch jetzt noch am Leben erhalten, sei es für Touristen oder für festliche Gelegenheiten. 1 Narodonaselenie stran mira (Bevölkerung der Länder der Welt). M. 1978, 395. - 2 In: Gelehrte Beyträge zu den Rigischen Anzeigen. 22. Stück (1764) 1 7 1 - 1 7 6 ( = Bienemann, F.: Livländ. Sagenbuch. Reval 1897, num. 104, 218, 351). - 3 In: Beitr.e zur genaueren Kenntnisz der ehstn. Sprache 6 (1816) 5 7 - 8 2 ; 8 (1817) 1 2 0 - 1 4 2 ; 11 (1818) 6 5 72 (zusammen 5 Sagen und 19 Märchen); 6Tiermärchen als parallele Var.n hatte J. Grimm übers. (Reinhart Fuchs. B. 1834, C C L X X X I V - C C X C ) ; davon in finn. Übers. 4 Märchen in: Wiron satuja. St. Mikkeli 1847 ( 2 1849) (und 3 Mythen von F. R. Faehlmann). Zu den Mss. einer von J. H. Rosenplänter angeregten Slg (um 1832—36, 69 volkstümliche Märchen) v. Anderson, W.: J. H. Rosenplänteri eesti muinasjutud. In: Suomi 5, 16 (1933) 15 — 37 (mit Typenverz.). — 4 Dt. Übers.: Löwe, F.: Ehstn. Märchen. Halle 1869, 2. Hälfte. Dorpat 1881; zu seinen Märchen cf. Annist, Α.: F. R. Kreutzwaldi muinasjuttude algupära ja kunstiline laad (Ursprung und künstlerische Form der Märchen F.R.K.s). Tallinn 1966. - 5 Sohberg, M.: Jututooja 1 - 1 0 (Geschichtenbringer). 1 8 7 4 - 8 1 (mehrere H.e wiederholt an verschiedenen Orten gedruckt); Käär, P.: Eesti rahva vanad jutud (Die alten Erzählungen des estn. Volkes). Rakvere 1881; id.: Eesti vanad jutud (Die alten Erzählungen Estlands). Tallinn 1882 (meistens aus seinem eigenen Repertoire, von dem er erblindet noch 302 Erzählungen aufzeichnen ließ); Kunder, J.: Eesti muinasjutud. Rakvere 1885 (Tartu 2 1924) (87 Texte; die beste Slg); bedeutungsloser sind die von M. Tönnison, M. Jaakson und J. Körv ed. kleineren Slgen. — 6 Kallas, O.: 80 Märchen der Ljutziner Esten (Verhandlungen der Gelehrten Estn. Ges. 20,2). Dorpat 1900 (dt. und estn.); Niilus, V.: Choix de textes dialectaux Leivu. In: SB.e der Gelehrten Estn. Ges. 1936 (1938) 9 3 - 1 6 3 (mit Bibliogr.). 7 F. R. Kreutzwaldi nim. Kirjandusmuuseumi teatmik. Tartu 1960, 27 ( = Nachschlagewerk des Museums für Lit.). Angaben über hier nicht angeführte Slgen v. Kolk, U./Laugaste, E.: Rähvaluule välipraktika (Feldpraxis der Folklore). Tartu 2 1969. - 8 Viidebaum, R.: Valimik rahvajutte E R A kogudest (Anthologie von Volkserzählungen aus den Slgen des E R A ) . Tartu 1935; Loorits, O.:
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Vanarahva pärimusi (Aus den Überlieferungen der Vorväter). Tartu 1934 ( 2 1936) (115 Texte); id.: Endis-Eesti elu-olu (Leben und Treiben im alten Estland), t . l : Kaluri ja meremehe elust (Aus dem Leben der Fischer und Seeleute). Tallinn 1939 (182 Texte mit Var.n), t.2: Metsaelust ja jahindusest (Von dem Waldleben und der Jägerei). Tallinn 1941 (243 Texte mit Var.n); Pöldmäe, R.: Eesti rahvanaljandid. t. 1: Inimese eluperioodid (Estn. Volksschwänke. 1.1: Die Lebensperioden des Menschen). Tallinn 1941 (678 Typen mit Var.n); Lätt, S.: Eesti rahvanaljandid. Möis ja kirik (Gutshof und Kirche). Tallinn 1957 (482 Typen); Normann, E./Tampere, Η.: Marjakobar ja teisi setu muinasjutte (Beerentraube u. a. setukes. Märchen). Tallinn 1959 (28 Typen); Laugaste, E./Normann, E.: Muistendid Kalevipojast (Sagen über Kalevipoeg). Tallinn 1959 (mit allen Var.n zu AaTh 650B); Laugaste, Ε./ Liiv, E./Normann, E.: Muistendid Suurest Töllust ja teistest (Sagen über den Großen Toll u. a.). Tallinn 1963; Laugaste, E./Liiv, E.: Muistendid Vanapaganast (Sagen über Vanapagan). Tallinn 1970 (Riesensagen, keine Teufelsmärchen der Typen AaTh 1 0 0 0 - 1 1 9 9 ) ; Viidalepp, R./Mälk, V./ Sarv, I.: Eesti muinasjutud (Estn. Märchen). Tallinn 1967 (140 Texte); Kippar, P.: Tere, tere, Tiipajalga (Heil dir, heil dir, Schleppfuß). Tallinn 1976 (46 Typen der selteneren Tiermärchen). — 9 Loorits, O.: Contributions to the Material Concerning Baltic-Byzantine Cultural Relations. Tartu 1934; id.: Some Notes on the Repertoire of the Estonian Folklore. Tartu 1937; Viidalepp, R.: Ühest suurjutustajast ja tema toodangust (D'un grand Conteur et de sa production). In: Verhandlungen der Gelehrten Estn. Ges. 30,2 (1938) 8 3 0 - 8 4 5 ; id.: Eesti rahvajuttude iseloomust, funktsioonist ja jutustajatest (Von der Wesensart, der Funktion und den Erzählern der estn. Volkserzählungen). Tallinn 1965 (Diss, mit russ. Autorenreferat); id.: Rahvajuttude tootmismaagilisest funktsioonist (Von der produktionsmagischen Funktion der Volkserzählungen). In: Etnograafiamuuseumi Aastaraamat 20 (1965) 6 7 - 7 5 ; Raudsep (Var.nreg. von 427 Typen, darunter entsprechen 40 den AaTh-Typen zwischen 8 0 2 - 1 6 9 8 M und 52 Typen denen zwischen 1 7 2 5 - 1 8 4 9 ; 335 Typen außerhalb AaTh, davon etwa 30 Wortwitze); Kippar, P.: Konna öpetused ( A T 150 A*). Muinasjututüübi A T 150 läänemeresoome-balti redaktsioon (Die Lehren des Frosches [AT 150A*]. Die ostseefinn.-balt. Redaktion des Märchentyps AT 150). In: Emakeele Seltsi Aastaraamat 19/20 (1973/74) 2 6 3 - 2 8 9 (erste und gute Monogr. eines Märchens, das in die vermutete Gruppe der südestn. Substratmärchen eingeordnet ist). - 10 Viidalepp [Diss.] 1965 (wie not. 9) 7. 11 ζ. B. Normann/Tampere (wie not. 8) 4 3 - 4 6 , 7 9 - 8 1 . - 12 Kippar (wie not. 9). - 13 Oinas, F. J.: Kalevipoeg kütkeis (Kalevipoeg in Fesseln). Alexandria, Va 1979, 9 6 - 9 8 , 2 3 1 sq. (engl.). - 14 Darüber de Sivers, F.: Un Diable peu diabolique ou la naivete
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Esther
punie. In: Lacito-documents. Eurasie 5 (1980) 76-92. Lit. (soweit nicht in den not. aufgeführt): BP 5, 166-171. - StandDict. 1, 348-351. - Jannsen, H.: Sagen und Märchen des estn. Volkes 1. Dorpat 1881; t. 2 Riga/Lpz. 1888. - Dido, Α.: Litterature orale des Estoniens. In: RTP 8 (1893) 3 5 3 - 3 6 5 , 4 2 4 - 4 2 8 , 485-495. - id.: Kalewipoeg, Epopee nationale estonienne. In: RTP 9 (1894) 137-155. Kirby, W. F.: The Hero of Esthonia and other Studies in the Romantic Literature of that Country 1 - 2 . L. 1895. - von Löwis of Menar, Α.: Märchen und Sagen. Β. 1916. — id.: Finn, und estn. Volksmärchen. MdW 1922. — von Stern, C.: Estn. Sagen. Riga 1928. — Kallas, O.: Estonian Folklore. In: FL 34(1923) 100-116. - Loorits, O.tEstn. Volksdichtung und Mythologie. Tartu 1932. — id.: Estonian Folklore of Today. In: Acta Ethnologica 1 (1936) 3 4 - 5 2 . - id.: Grundzüge des estn. Volksglaubens 1 - 3 . Lund 1949-60. - id.: Estn. Volkserzählungen. B. 1959 (216 Texte). - Gehnert, H.: Bait. Märchen, t. 2: Estn. Volksmärchen und Sagen. Hannover 1964. — Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. B. 1980.
Tartu
Uku Masing
Esther, zentrale Gestalt des gleichnamigen bibl. Buches, das zu den jüngsten Bestandteilen des A.T.s gehört und in der jüd. Überlieferung zu den fünf ,Rollen' (hebr. Megilloth) gezählt wird. Das E.buch gibt eine nachträglich hist, fixierte Ätiologie für das jüd. Purim(Los)fest wieder. Die Geschichte spielt in Susa am Hofe —> Ahasvers (Xerxes, 485—465), des Königs von Persien und Medien. Bei einem Festmahl des Königs weigert sich die Königin Vasti, vor den Gästen zu erscheinen und ihre Schönheit zu zeigen. Daraufhin wird sie vom König verstoßen. Auf den Rat der Weisen hin befiehlt der König, alle jungen Mädchen an seinen Hof zu bringen, damit er sich eine neue Frau suche. Unter ihnen ist die Waise E., die auch Hadassa (Myrte) genannt wird, die Tochter des Juden Abihajil und Pflegetochter ihres Onkels Mardochai. E. verheimlicht ihre jüd. Herkunft und wird zur Königin gewählt. Im Fortgang der Handlung wird der den Juden feindlich gesinnte Haman vom König zum ersten Minister ernannt, und alle müssen sich — zum Zeichen seiner Anerkenntnis vor ihm verneigen. Als Mardochai sich weigert, will Haman ihn wie auch alle anderen Juden in den Ländern des Königs vernichten. Mardochai fordert von E., sich als Jüdin für ihr Volk einzusetzen. Indem sie unangemeldet in die Gemächer des Königs eintritt, begibt sie sich nach pers. Sitte in Lebensgefahr. Doch der König verstößt sie nicht. E. bittet
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den König zweimal, mit Haman zu von ihr vorbereiteten Gastmählern zu kommen. Bei dem letzten Mahl fragt der König, ob sie etwas von ihm wünsche. Darauf deckt E. die Absicht Hamans auf. Der König begibt sich zornentbrannt in den Garten. Haman wirft sich vor die Liegestatt E.s und bittet um Gnade. Der ins Zimmer zurückkehrende König glaubt jedoch, daß Haman der Königin nachstellt, und befiehlt, ihn zu töten. Haman wird an dem Pfahl hingerichtet, den er selbst für Mardochai vorbereitet hatte.
Der Einfluß der Josephsgeschichte (Gen. 37) ist unschwer festzustellen. Einige Züge der E.-Geschichte ähneln denen der b e schichten' Herodots, so etwa das Verhalten der Königin Vasti vor der Festgesellschaft (Est. 1,9—22), dessen Parallele sich in der Geschichte von Kandaules und —> Gyges findet (Herodot 1,8-13). Verschiedene Forscher vermuten, daß die Erzählung im E.buch eine Bearbeitung des babylon. Mythos vom Sieg der Götter Babylons über die Götter Elams sei. Das ließe sich z.B. aus den Namen der Helden (v. oben) ersehen: ,E.' wäre demnach ein verkürzter theophorischer Name, der mit dem Namen der babylon. Göttin Ischtar zusammenhängt. Möglicherweise handelt es sich hier um den Namen der Heldin vor ihrer Vermählung mit dem König, während Hadassa ein Beiname der Ischtar ist, die den akkad. Titel Hadschat (Braut) erhielt. Mardochai wird dem babylon. Hauptgott Marduk, Haman der elamit. Gottheit Hoyman und Seresch, Hamans Gattin, der elamit. Göttin Siris gleichgestellt. Die hauptsächlichen Erzählmotive des E.buches (Aufstieg eines einfachen, aus niedrigen Verhältnissen stammenden Mädchens zur Königin, Bestrafung des verleumderischen Bösewichts) haben ihre Parallelen in den entsprechenden internat. Motiven, von denen einige, vor allen diejenigen, die von der Bestrafung der Judenhasser und dem Scheitern ihrer Pläne handeln, bes. in jüd. Varianten (cf. Jason *730C, 922 *E, 980*-*A) auch in der Gegenwart häufig anzutreffen sind. Die Rollen der beiden Hofleute, die sich um die Gunst des über den Parteien stehenden Königs bemühen, spielen im E.buch auf der einen Seite der rechtschaffene Jude Mardochai und auf der anderen Seite der nichtjüd. Bösewicht Haman. Wie bei vielen jüd. Ökotypen ist auch hier die Konfrontation im
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Grunde auf eine religiöse bzw. nationale Haltung zugespitzt. Den Juden gelingt es, über den schuldigen Minister, der das judenfeindliche Gesetz veranlaßte, die Oberhand zu gewinnen. Die Erzählung des E.buches endet in einer Vergeltungsaktion der Juden: Ihre Gegner werden getötet (ohne daß deren Eigentum angetastet wird), und ein Freudenmahl wird veranstaltet. Die Historizität der E.-Erzählung wird allg. bestritten. Dabei stützt man sich nicht nur auf den literar. Aufbau des Buches (z.B. Betonung der Polarität), sondern auch auf viele hist. Ungenauigkeiten und Unrichtigkeiten. Zur Darstellung, die sich nicht mit den Gebräuchen der Perser vereinbaren läßt, gehört z.B. die Heirat Ahasvers mit einer Jüdin im Gegensatz zu der Tatsache, daß der pers. König seine Gattin nur aus den vornehmsten Familien seines Volkes auswählen konnte. Der Umstand, daß der Name Gottes weder in seiner vollen Form noch mit einem seiner Beinamen erwähnt wird, zeigt, daß das E.buch ursprünglich eine reine Volkserzählung gewesen ist. Seine Eingliederung in den Kanon der bibl. Schriften erfolgte erst, als das Purimfest von den Juden selbst übernommen und gefeiert wurde (vermutlich seit 1. Jh. a. Chr. n.). Dabei entstand der Brauch, das E.buch öffentlich vorzulesen. Von allen weiblichen Gestalten des A.T.s erfreute sich E. der größten Beliebtheit bei Schriftstellern, darstellenden Künstlern und Musikern, wobei sie als Sinnbild weiblicher Zucht, der Selbstaufopferung und des Mutes angesehen wurde. In volkstümlichen jüd. Darstellungen (z.B. in Illuminationen der die E.geschichte enthaltenden E.rollen und auf zinnernen Purimtellern) erscheinen auch populäre Erweiterungen der E.geschichte. So wird öfters dargestellt, wie Haman bei seiner Ehrung von seiner Frau oder Tochter — in der Meinung, er sei Mardochai — mit Schmutzwasser überschüttet wird. Auch die Darstellung der Erwürgung (oder Hinrichtung) der Königin Vasti, die im E.buch nicht erwähnt wird, erscheint in manchen Bildern von E.rollen. Paraphrasen des E.buches reichen von der des Josephus Flavius (Jüd. Altertümer 11,6) über die der Gesta Romanorum (Kap. 177) bis zu der des 1845 — 1871 erschienenen hebr.
Sammelwerks von Wundergeschichten des J. S. Farhi, Oseh-Fele, das noch heute viele Leser findet. Lit.: Jampel, S.: Das Buch E. auf seine Geschichtlichkeit kritisch untersucht. Breslau 1907. - Gunkel, Η.: E. Tübingen 1916. - Hoschander, J.: The Book of Ε. in the Light of History. Phil. 1923. Ginzberg 4, 3 6 5 - 4 4 8 und 6, 4 5 1 - 4 8 1 . - Mayr, Η.: Die E.dramen, ihre dramaturgische Entwicklung und ihre Bühnengeschichte von der Renaissance bis zur Gegenwart. Diss. Wien 1955. — Frazer, J. G.: The Golden Bough 12: Bibliography and General Index. L. (1915) 1963, 260. - Dommershausen, W.: Die E.rolle. Stg. 1968. - Roston, M.: Biblical Drama in England from Middle Ages to Present Day. L. 1968, bes. 7 2 - 7 4 . - Schwarzbaum, Reg. s.v. Ε. - Gerleman, G.: Ε. Neukirchen-Vluyn 1970/73. - The Chronicles of Jerahmeel. Übers. M. Gaster. Vorw. H. Schwarzbaum. N.Y. 1971, 8 2 - 8 4 (Lit.). - Lebram, J. H. C.: Purimfest und E.buch. In: Vetus Testamentum 22 (1972) 2 0 8 - 2 2 2 .
Haifa
Aliza Shenhar
Estienne, Henri - * Novellistik
Etana (AaTh 537). Der babylon. ,Mythos' von E. enthält - selbst nach der bis jetzt recht unvollständigen Überlieferung — mehrere Erzählmotive, die kunstvoll miteinander verknüpft sind. Er beginnt in der Urzeit, als es noch keine Stadt gibt, die Götter selbst die Stadt Kisch gründen und den E. als König einsetzen. Nach einer Lücke, die wahrscheinlich von der Herrschaft E.s und seiner Hoffnung auf einen Sohn berichtete, wird die Fabel von der durch feierliche Eide beim Sonnengott begründeten Freundschaft zwischen Adler und Schlange eingeschoben, die gemeinsam in einer Euphratpappel nisten (cf. —»Dankbare Tiere). Die Schlange ernährt den Adler, der schließlich gegen den Rat seines jüngsten, bes. klugen Jungen die gemeinsame Vereinbarung bricht und die Jungen der Schlange frißt. Diese ruft den Sonnengott als Rächer an, der ihr einen Wildstier als Versteck anbietet, auf den der Adler, wieder gegen den Rat seines Jüngsten, niederstößt. Die Schlange kommt heraus, zerzaust den Adler, wirft ihn in eine Grube, aus der er nun seinerseits den Sonnengott um Hilfe anfleht. Hier wird die Tierfabel mit der eigentlichen E.-Erzählung verbunden, denn der König wird, nachdem
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Etana
er den Sonnengott Schamasch ständig um das ,Gebärkraut' gebeten hatte, zu der Grube des Adlers geschickt. Er fordert den Adler auf, ihm das Gebärkraut zu beschaffen, was dieser verspricht. Daraufhin holt E. den Vogel aus der Grube und füttert ihn. Sie schließen Freundschaft und, bevor sie zum Himmel der Großen Götter aufbrechen, träumt E. drei Träume, die der Adler offenbar positiv deutet. Er lädt sich E. auf, der Brust an Brust mit ihm zum Himmel aufsteigt. Nach jeder Doppelstunde fordert der Adler E. auf, nach unten zu blicken: Nach der ersten erscheint die Erde als Berg, das Meer als ein Fluß; nach der zweiten (dritten) gleicht das Land einem Garten, das Meer einem Trog; nach der dritten sind Erde und Meer nicht mehr zu sehen. E. beschwört den Adler umzukehren. Der läßt ihn eine erste Doppelstunde fallen, stößt selbst hinunter und fängt ihn auf, ebenso eine zweite und dritte Doppelstunde und zum Schluß von einer Höhe von drei Ellen — dann bricht der erhaltene Text ab.
Die Ü b e r l i e f e r u n g ist kompliziert: Zwei altbabylon. Fragmente (18./17. Jh. a. Chr. n.) sind erste Textzeugen. Ein mittelassyr. Text (13./12. Jh.) führt die Überlieferung fort, ist aber so schlecht erhalten, daß seine Textabweichungen nicht im einzelnen rekonstruiert werden können. Die Hauptmasse der Texte (aus Assur und Ninive) stammt aus dem 7./ 6. Jh., wo die kanonische Version mindestens vier Tafeln umfaßte. Als Verf. wird in einem späten Text Lu-Nanna genannt, doch besagt das bei der grundsätzlichen Anonymität der altoriental. Lit. nicht viel. Lu-Nanna wird in die Ur-III-Zeit (Zeit Schulgis 2 0 2 9 - 1 9 8 1 a. Chr. n.) gesetzt. E. ist nach der sumer. Königsliste, einer literar. Komposition, des beginnenden 2. Jahrtausends a. Chr. n., der 13. König der 1. Dynastie von Kisch nach der Flut. Es heißt dort von ihm: „Ein Hirte, Mensch, der zum Himmel aufstieg, Mensch, der die Länder alle fest macht. Er wurde König und regierte 1560 [1500] Jahre". Es ist nicht auszumachen, wo die Ätiologie ansetzte, da der Name sumer. als ,der zum Himmel Aufsteigende' gedeutet werden kann. Die Erzählung ist nach Ausweis der bildlichen Darstellung auf Rollsiegeln (v. unten) spätestens in der Akkadezeit (um 2250 a. Chr. n.) im Grundzug bekannt. Im E.-Mythos sind zahlreiche E r z ä h l m o t i v e erstmals nachweisbar, die unabhängig voneinander weite Verbreitung gefunden haben: Die Erzählung beginnt als Grün-
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dungssage für eine Stadt, hier Kisch, und hat darin Ähnlichkeit mit dem Adapa-Myihos, der Eridu, und dem —» Gilgamesch-Rpos, das Uruk in den Mittelpunkt stellt. Die Fabel vom Freundschaftspakt von —> Adler und —»Schlange, der von einer Seite gebrochen wird, ist weit verbreitet (AaTh 231*: Animals Eat Each Other, cf. AaTh 222 Β: War between Mouse and Sparrow + AaTh 222B*: The Sparrow and the Mouse), allerdings in der charakteristisch veränderten Version, daß die Bedrohung von der Schlange ausgeht, vor der der Adler zu schützen ist. Daß der Vertragsbrüchige von seinem Partner auch noch gefüttert wird, ist als Mot. Β 322.1 wohlbekannt. Hinzu tritt - auch dies hier zum ersten Male literar. nachweisbar — das Märchenmotiv des bes. klugen Jungtiers (cf. Mot. J 120), dessen Warnung der starke Adler mißachtet. Die Überlistung des Adlers durch die Schlange vermittels eines Kadavers ist ebenfalls als Motiv mehrfach bezeugt (Mot. J 2136.6). Der Adler wird schließlich gerettet (Mot. Ν 836; cf. AaTh 313 B), und das Gebärkraut ist das Motiv, das zur Himmelfahrt veranlaßt (Mot. Τ 511.2; Τ 548.1). Der Flug des Helden mit dem dankbaren Adler ist der Erzählstrang, der die weiteste Verbreitung gefunden hat (AaTh 537). Wieweit das Hauptmotiv bereits in frühere sumer. Vorstellungen zurückreicht, ist nicht klar. Eine Inschrift des Stadtfürsten Gudea von Lagasch (um 2060 a. Chr. n.) sagt von Emblemen, daß sie dem Sturmvogel/Adler glichen, der sich vom ,Berg der Schlange' entfernt, spielt also auf einen verwandten, sonst nicht erhaltenen Mythos an. Ob alle Erzählungen von der H i m m e l fahrt' auf E. zurückgehen, ist durchaus zweifelhaft, zumal die üblichen Begleitumstände (feuriger Wagen und ähnliches) aus dem Mythos nicht abzuleiten sind. Wohl aber sind die Berichte von einem Flug zum Himmel mit einem Vogel wahrscheinlich alle auf E. zurückzuführen, wobei eindeutige Verbreitungsgebiete nachzuweisen sind. Das eine liegt in Südarabien 1 und reichte wohl bis zum Atlas 2 . Das zweite erstreckt sich über den Balkan 3 und das dritte über Süd- und Nordrußland nach Skandinavien. Hierfür sind usbek. und osset., mordwin. und sibir., schwed. und vor allem finn. Versionen bes. instruktiv 4 . Es gibt einige charakteristische V a r i a n t e n :
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D e r V o g e l — e s kann auch ein Greif oder ein A u e r h a h n sein - wird v o m M e n s c h e n dreimal mit d e m T o d e bedroht und rächt sich mit d e m dreimalig e n Sturz. Oder: D e r V o g e l steigt nach seiner R e t tung und P f l e g e zunächst zu e i n e m kupfernen, dann z u m silbernen und schließlich zu e i n e m g o l d e n e n Schloß auf, w o der Retter durch Schätze entlohnt wird. D e r W a n d e r w e g der Erzählung, bei der meist charakteristische M o t i v e (Gebärkraut) oder ganze Partien ( S c h l a n g e n - A d l e r - F a b e l ) nicht w e i t e r g e g e ben sind, ist nicht auszumachen.
Die D e u t u n g der vielschichtigen babylon. Erzählung ist wegen des schlechten Erhaltungszustandes des Textes schwierig. Vordergründig wird sie mit dem Wunsche des E. nach Nachkommen („setze mir einen Namen!") motiviert. Dieser Wunsch scheint auch in Erfüllung gegangen zu sein, da die sumer. Königsliste einen Sohn E.s namens Balih kennt. Wenn E. in der jüngeren Tradition als ein Unterweltsgott erscheint, so sicher wegen seines — gleich Gilgamesch — vergeblichen Eindringens in die göttliche Sphäre, weshalb er letztlich entrückt wurde. Wenn außerdem im Anfang des Mythos eine Kulturmythe, die Schaffung von Stadt und Thron, steht, so weist das über das rein Episodenhafte ins Allgemeine, die Bedeutung der Kontinuität des Königtums kann u . U . durch göttliche Hilfe erhalten werden. Die Himmelfahrtsgeschichte schamanistisch zu deuten, wie es I. Levin getan hat 5 , wird durch altoriental. Parallelen nicht gestützt. Beachtung verdient dagegen der Vorschlag H. Freydanks 6 , in der Tierfabel alte jägerische Stammestotems zu erblicken. Der Mythos ist im Bergland angesiedelt, das vor der mesopotam. Tiefebene bewohnbar war. Die Auseinandersetzung der Tiere kann mit einer Verletzung eines Tabus (Essen eines Totemtieres) erklärt werden, deren sich der eine der exogamen Clans schuldig gemacht hat. Die Himmelfahrt schließlich, die aus ganz menschlicher Furcht mißlingt, soll — vergleichbar dem Adapa-MyXhos und dem Gilgamesch-Epos — die Vergeblichkeit menschlicher Bemühungen um die den Göttern vorbehaltenen Güter zeigen. Die B i l d k u n s t des Zweistromlandes scheint sich des E.-Stoffes ebenfalls angenommen zu haben, aber lediglich in der Steinschneidekunst und nur in einer bestimmten Periode. Eine Anzahl von Rollsiegeln zeigt
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als Hauptdarstellung (11 Stück) oder als Nebenszene (2 Stück) einen Mann, der zwischen den Flügeln eines Vogels sitzend zum Himmel auffliegt. Meist hocken unter ihm - einander zugekehrt — zwei Hunde, ferner tauchen mehrfach Schafherden mit Hirten und Hürde, gelegentlich auch Männer beim Buttern (Töpfern) auf, ferner Kreise oder Punkte als Symbol des Siebengestirns. Eine Beziehung der Himmelfahrt zur Welt des Bauern und Hirten ist unverkennbar. Nur einmal ist eine Jagdszene im Gebirge damit kombiniert. Die Darstellung ist auf Siegel der späten Akkadezeit seit Naräm-Sin (um 2250 a. Chr. n.) beschränkt, kehrt später nicht wieder. Aus dieser Zeit fehlt bisher jede schriftliche Überlieferung des Mythos. Die dargestellten Details legen es nahe, daß — falls überhaupt eine Beziehung herzustellen ist — die Erzählung Einzelheiten enthielt, die später weggelassen oder modifiziert wurden 7 . 1 Müller, D . H.: D i e Mehri- und Soqotri-Sprache 3. W i e n 1 9 0 7 , 1 3 s q . ; N o y , D . : Jefet Schwill erzählt. B. 1 9 6 3 , num. 2 6 . - 2 Frobenius, L. (ed.): V o l k s märchen der Kabylen 3. Jena 1 9 2 1 , num. 1. 3 Miliopoulos, P. J.: M a z e d o n . Märchen. Übertragen von B. V o n d e r l a g e . H b g 1 9 5 1 , 3 5 — 6 2 ; Sväbe, Α . : Latvju tautas pasakas 3. Riga 1 9 2 4 , 9 6 - 1 1 9 ; Polivka, J.: Süpis slovenskych rozprävok 3. Turciansky sv. Martin 1 9 2 7 , 4 5 0 - 4 5 4 . - 4 cf. bes. Haavio, M.: D e r E . m y t h o s in Finnland ( F F C 154). Hels. 1 9 5 5 ; zuvor — mit zahlreichen russ. A n a l o gien — A n d e r s o n , W.: Ü b e r P. Jensens M e t h o d e der vergleichenden Sagenforschung ( A c t a et c o m m e n t a t i o n e s universitatis Tartuensis Β 3 0 , 3 ) . D o r pat 1 9 3 0 . — 5 Levin, I.: Ε. D i e keilschriftlichen B e lege einer Erzählung. In: Fabula 8 ( 1 9 6 6 ) 1—63. 6 Freydank, H.: D i e Tierfabel im E . - M y t h u s . In: Mittigen des Inst.s für Orientforschung 17 ( 1 9 7 1 ) 1 — 13. — 7 cf. B o e h m e r , R. M.: D i e Entwicklung der Glyptik während der A k k a d e - Z e i t . B. 1 9 6 5 , 122sq., Abb.en 6 9 3 - 7 0 3 a .
B i b l i o g r . : Ä l t e r e T e x t e d i t i o n e n sind z u s a m m e n gestellt bei Langdon, S.: T h e L e g e n d of Ε. and the Eagle. In: Babyloniaca 12 ( 1 9 3 1 ) 1 - 5 6 und Tafel I - X I V (diese Edition ist veraltet). - Ergänzend dazu: Ebeling, E.: Ein mittelassyr. Bruchstück des E.-Mythus. In: Archiv für Orientforschung 14 ( 1 9 4 1 / 4 4 ) 2 9 8 - 3 0 7 . - Kinnier Wilson, J. V.: S o m e Contributions to the L e g e n d of E. In: Iraq 31 ( 1 9 6 9 ) 8 - 1 7 . - id.: Further Contributions t o the L e g e n d of E. In: J. of N e a r Eastern Studies 3 3 (1974) 2 3 7 - 2 4 9 . L i t . (soweit nicht in den not. aufgeführt): Spieß, Κ.: D a s N a c h l e b e n d e s „ E . - M y t h o s " . In: Ö Z f V k .
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Ethik
60 (1957) 1 7 9 - 1 9 3 . - Soden, W. von: Der Sturz E.s und des Adlers im Mythus. In: Zs. für Assyriologie 45 (1939) 77sq. — id.: Der Anfang des E.Mythus. In: Wiener Zs. für die Kunde des Morgenlandes 55 (1959) 5 9 - 6 1 . - Komoroczy, G.: Zur Deutung der altbabylon. Epen Adapa und E. In: Neue Beitr.e zur Geschichte der Alten Welt 1. ed. C. Welskopf. B. 1964, 3 1 - 5 0 .
Tübingen
Wolfgang Röllig
Ethik 1. Allgemeines — 2. Sage - 3. Märchen 4. Andere Gattungen — 5. Schluß
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1. A l l g e m e i n e s . Die Ausdrücke E. und —» Moral werden oft nicht unterschieden. Beide bezeichnen —» Normen oder Normsysteme, die das menschliche Verhalten im Hinblick auf eine als übergeordnet anerkannte oder angenommene Instanz zu regeln suchen. Diese Instanz kann Gott sein, die Natur oder ein Ideal, die Allgemeinheit oder eine Gruppe von Mitmenschen oder auch einfach das individuelle Gewissen (unabhängig davon, wie dieses zustandekommt und was es aussagt). Der entscheidende ethische Wert, ,das Gute', fordert in der Regel ein Übersteigen des individuellen, nicht unbedingt auch des kollektiven Egoismus. Wenn zwischen E. und Moral unterschieden wird, gilt E. entweder als übergeordneter Begriff, der den Begriff Moral in sich schließt, oder es eignet ihr ein höherer Abstraktionsgrad oder eine subtilere Würde; darauf weist schon der umgangssprachliche Wortgebrauch hin: Mit ,Moral' verbindet man handfeste Vorstellungen, wie die Formeln öffentliche Moral', ,doppelte Moral', .schlechte Moral', ,die Moral von der Geschieht" bezeugen — von einer E. der Geschieht' spricht man nicht, sowenig wie von einer schlechten oder doppelten E.; unter Umständen bezeichnet die Formel ,gute Moral' bloß ein gefestigtes Selbstvertrauen. Bei E. hingegen denkt man stärker an ein phil. System wie auch an freiwillige Anerkennung und Übernahme von Verantwortung (E. im engeren Sinn, ,höhere E.', Ethos), während bei Moral die Vorstellung einer nur partiell freiwilligen Anpassung an ,gängige Moralvorstellungen' mit ins Spiel
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kommt. Etymol. weisen sowohl E. als Moral auf Sitte, Brauch, Gewohnheit hin (griech. ethos, lat. mos), und auch faktisch gibt es mannigfache Überschneidungen. Die Rücksicht auf das Urteil der Mitmenschen, auf das, was ,die Leute' sagen oder denken (griech. doxa tön pollön, die Meinung der Vielen), spielt nicht nur in der moralischen Praxis und in der Vulgärethik eine bedeutende Rolle, sie ist auch eine der Wurzeln der höheren E., die nicht erst seit Kant auf das allg. Beste, auf den Nutzen der Gesamtheit zielt. Im Bereich der Volkserzählung wirkt sich, wie nicht anders zu erwarten, die sog. Vulgärethik kräftig aus: Gleiches mit Gleichem vergelten, —> Talion, do ut des (give and take), Lohn (—> Belohnung) und —> Strafe. Da E. im weiteren Sinn das, was man Moral nennt, mit umfaßt, wird im vorliegenden Zusammenhang stellenweise auch von ihr die Rede sein. Dagegen bleiben explizit ausgesprochene Morallehren in —> didaktischem Erzählgut (—> Fabel, —*· Exempel u.a.) dem Artikel —> Moral vorbehalten. Das gleiche gilt für Kinder- wie auch für Erwachsenenschreckund -warngeschichten (—» Schreckmärchen), die im Sinne einer Gehorsams-, Sakral- oder sonstwie festgelegten Moral Verbote untermauern, z.B. das des nächtlichen Umherstreichens oder der Arbeit an Feiertagen. Als Sammelbecken menschlichen Erfahrungswissens und zugleich menschlicher Seinsollensvorstellungen gilt mit Recht die —> Spruchdichtung, und das heißt innerhalb der Volksliteratur der Bereich der —> Sprichwörter. Das Sprichwort ist, von Grenzfällen (,Erzählsprichwort', —»Wellerismus) abgesehen, ein nicht erzählendes Wortkunstwerk. Es ist zu fragen, ob und in welcher Art ethische Werte, Erfahrungen und Appelle auch in den beim ,Volk' — bei ,den Vielen' — zirkulierenden Erzählungen präsent sind, sei es direkt oder indirekt. 2. Sage. In die Augen stechen die gelegentlichen Darstellungen ausgeprägt ethischen Verhaltens in der Sage. Man kann neben den im Sinne der gängigen Moral wirkenden Warnsagen eine Gruppe von Leitbildsagen 1 erkennen, die zeigen, wie einzelne freiwillig verantwortungsbewußt handeln, im Extremfall sich aufopfern.
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Die Mutter, die im Gespräch mit einem weißen Weibl (der Tödin) vor die Wahl gestellt wird, ob sie selber oder ihr Kind sterben solle, wählt den eigenen Tod und wächst so über sich hinaus 2 . Der Eidgenosse, der in der Schlacht die Hilflosigkeit seiner Mitkämpfer sieht, bohrt sich ein Bündel feindlicher Lanzen in die Brust und bahnt so den Seinen die Gasse, nicht ohne sie aufzufordern, für seine Familie zu sorgen (Winkelried) 3 . Der gefangene Bandenführer erbittet sich, als erster enthauptet zu werden; jeder Knecht, an dem er nach der Enthauptung noch Kraft habe vorbeizulaufen, solle begnadigt werden - so rettet Diez Schwinburg allen vier Knechten das Leben 4 . Ähnlich erwirkt ein unschuldig zum Tode verurteilter Familienvater, daß für seine Familie so viele Jahre gesorgt werde, als er nach der Enthauptung noch Schritte tun werde - sein Leib tut dann „an dreihundert Schritt"5.
In beiden Fällen wird das Übersichselbsthinauswachsen drastisch veranschaulicht: Der sich verantwortlich Fühlende agiert selbstlos, über seinen eigenen Tod hinaus zu einer gewaltigen Anstrengung sich zwingend. Selbstaufopferung für die eigene Heimat zeigen Grenzstreitsagen: Der benachteiligte Läufer trägt, damit die Grenze nicht gar zu ungünstig verlaufe, den gegnerischen unter Aufbietung seiner ganzen Kraft noch eine Strecke zurück, bis er unter der Last tot zusammenbricht 6 . Wenn hier Verantwortung gegenüber Zeitgenossen dominiert, so steht bei Erlösungssagen Verantwortung gegenüber Verstorbenen im Vordergrund. Während die Menschen bei der Bannung lästiger Geister oder Gespenster nur darauf aus sind, solche loszuwerden, auch wenn sie ihnen weh tun müssen, ist es bei der —> Erlösung das Hauptanliegen, ihnen wohlzutun. Obwohl in der Sage im allg. eine strenge Ahndung von Schuld durch Strafe herrscht 7 , obwohl also in ihr große, kleine und kleinste Vergehen (—» Extreme), die von der offiziellen Gerichtsbarkeit nicht erfaßt wurden, nach dem Tode gebüßt werden und obwohl schließlich auch Erlösungsversuche einen stark egoistischen Einschlag haben können (Gewinn eines Schatzes als Anreiz), gibt es doch eine Reihe von Erlösungssagen, die sich durch reines Mitleid, durch selbstlose Zuwendung zum Leidenden kennzeichnen. Bes. sprechend sind Verzichtleistungen Geschädigter, die der büßenden Armen Seele helfen. Ein Küher, der Beeren gesammelt hat, statt auf das Vieh achtzugeben, so daß die Kuh
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eines gewissen Martin über einen Felsen zu Tode stürzte, muß nach seinem Tod umgehen und Beeren sammeln (spiegelnde Strafe), schließlich ruft er jedesmal verzweifelt: „Martins Gescheckte ist abgestürzt!" Bis dahin wäre es eine Warnsage, die nachlässige Hirten warnen soll. Aber es geht weiter: Als der Besitzer selber einmal den Verzweiflungsschrei hört, antwortet er ruhig kraftvoll: „Ja, ich weiß schon; es soll dir geschenkt sein". Von da an hört und sieht man den büßenden Geist nicht mehr, er ist erlöst. Der Akzent hat sich vom schuldigen Hirten auf den verzeihenden, auf Schadenersatz verzichtenden Besitzer verlagert, aus einer Warnsage ist eine Vorbild-, eine Leitbildsage geworden 8 . Ein anderer Besitzer, dem ein gewissenloser Hirt alle Schuld ableugnet und jeden Schadenersatz verweigert, beteuert: „Dem werde ich's nie schenken". Als er aber dann den Schuldigen nach dessen Tod samt dem abgestürzten Rind den Berg hinunter rollen sieht, wird er doch weich und ,schenkt' dem Armen die Schuld9. Wo der Geschädigte hartherzig bleibt, steuern .mildherzige' Personen zusammen, begleichen die Schuld des Toten und erlösen ihn dadurch 10 : vorbildliche Kollektiv-Leistung. Auch die oft recht eigennützig handelnden Korporationen können einem umgehenden Verstorbenen, von dem sie vermuten, daß er sich am Korporationswald vergangen habe (Überholzen), durch Beschluß der Genossengemeinde alles nachlassen, damit er „der Anschauung Gottes ferner nicht müsse beraubt sein" 11 . In anderer Art helfen Lebende den Armen Seelen, indem sie sie auf ihr Flehen hin („Nur nicht von Feuer und Licht weg!") ins neu gebaute Haus mitnehmen 12 . Den in der Eiseskälte des Aletschgletschers büßenden Armen Seelen bietet eine alte Witwe in ihrem Häuschen, das nahe dem Gletscher steht, Wärme und Licht 13 . Selbst beim Hinausbannen eines Geistes ins Unwirtliche wird meist Rücksicht genommen auf seine Bitte, ihn in Sicht- und Hörweite seines Dorfes zu belassen 14 . Was man den Toten, auch wenn es Frevler sind, Gutes tut, kann als Signal wirken, überhaupt Gutes zu tun. Ins Legendenhafte stoßen die Geschichten von aufrechten und frommen Menschen, welche für Arme Seelen beten, selbst unter Lebensgefahr, — um dieser Ar-
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men Seelen willen, nicht weil sie Lohn für sich erwarten; zum Dank kommen ihnen die Armen Seelen in gefährlichen Lagen zu Hilfe; eindrücklich ist der Gewissenskampf eines Ritters, der über einen Kirchhof fliehen muß und trotz der Nähe der Verfolger sich die Zeit nimmt, nach seiner Gewohnheit ein Paternoster für die Toten zu beten, worauf diese für ihn aufstehen und die erschreckten Verfolger zur Flucht veranlassen 15 . Ohne zu moralisieren, stellen solche Sagen in wirksamen, durch die Projizierung der Hilfsbedürftigkeit der Menschen auf Jenseitige verschärften Bildern selbstlose Mitmenschlichkeit dar. Ihre Figuren helfen nicht, weil sie auf Lohn hoffen, do ut des steht ihnen ferne — daß sie dennoch belohnt werden, bringt dieses Prinzip durch die Hintertür wieder in die Erzählung hinein: Für den naiven Hörer stellt sich der Nexus gut handeln — dafür belohnt werden, der den Handelnden fern lag, wie von selbst wieder ein. 3. M ä r c h e n . Wenn in Sagen da, wo sie ethisch Position beziehen, weithin eine E. des Verzichts, der Opferbereitschaft vorherrscht, so bietet das Märchen in erster Linie eine E. der Selbstentfaltung — Individualethik also: Wuchern mit den anvertrauten Pfunden. Das europ. Märchen ist ein Aufgabenlösungsmärchen, es führt in zahllosen Fällen den Helden, die Heldin weg von zu Hause, weg aus der Geborgenheit hinaus ins Unbekannte, wo die Figuren, gleichsam freigesetzt, in Abenteuern und Aufgaben versagen oder sich bewähren (—» Bewährungsprobe) und dabei sich selber finden wie auch die Welt der andern. Die E. der Entfaltung, der Selbstverwirklichung, der Pflicht gegenüber sich selbst (und gegenüber der Macht, die alles Bestehende geschaffen hat und noch schafft) führt durch die Art der Aufgaben wie von selbst zur Sozialethik: Es gilt, höchste Werte im Dienste von Mitmenschen zu finden und herbeizuschaffen (Lebenswasser und andere Heilelixiere); es gilt zu erlösen, zu retten, Drachen zu bekämpfen. Der Weg zu den Zielen fordert wechselweise Mitleid, Hilfsbereitschaft, Wahrhaftigkeit, Mut, Ausdauer, Härte, Verzicht auf Wohlbefinden etc. Wenn E. in den Fragen „Wer bin ich?" und „Wozu bin ich bestimmt?" wurzelt, so gibt das Märchen die Antwort:
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Du bist einer, der sich zu entfalten bestimmt ist, der sich dabei helfen lassen muß und der seinerseits Helfer zu sein berufen ist. Das Übersichselberhinauswachsen, das in den Sagen gern als Verzicht erscheint, hat im Märchen die Grundform des Königwerdens, das durchaus in den Zusammenhang der Individualethik zu stellen ist. Ähnlich wie in der Sage regiert im Großen das Prinzip des Gebens und Nehmens: Die positiv gezeichneten Figuren werden belohnt, die negativ gesehenen bestraft. Es herrscht —» Gerechtigkeit im Geschehen, die nach A. —» Jolles von der ,naiven Moral' der Rezipienten gefordert wird: Die „Ethik des Geschehens" zeige, „wie es eigentlich in der Welt zugehen müßte" 1 6 . Sie gibt indessen nur den Rahmen, innerhalb dessen sowohl unmoralisches Handeln als auch ethisches Verhalten im höheren Sinne, im Sinne Kants und Lessings auftaucht: Zahlreiche Märchenhelden tun „das Gute [. . .], weil es das Gute ist" 17 , nicht in der Hoffnung auf Belohnung oder aus Furcht vor Strafe. Zwar wird das Prinzip des Gebens und Nehmens in K H M 60 (AaTh 303: Die zwei —» Brüder) ausdrücklich, eindrücklich und nachdrücklich (fünfmal dieselben Verse) formuliert: „Lieber Jäger, laß mich leben, / ich will dir auch zwei Junge geben". Aber eine große Zahl von Märchenhelden steht Tieren in Not bei, ohne an Belohnung zu denken, so z.B. in K H M 17 (AaTh 673: —> Tiersprachenkundiger Mensch + 554: The Grateful Animals·, cf. —> Dankbare [hilfreiche] Tiere), ähnlich in K H M 62 (AaTh 554). Der Märchenheld kann sich oft gar nicht vorstellen, daß das Tier, dem er geholfen hat, etwas für ihn tun könnte; als es ihn nach einem Wunsch fragt, antwortet er überrascht: „Was kann schon von euch Ameisen kommen?" (griech.) 18 . Dies ist eine Formel, die ebenso sinnfällig frei schenkende Tugend signalisiert wie jene andere in KHM 60 das give and take. Im Tierbräutigammärchen (AaTh 425: —> Amor und Psyche) entscheidet sich, im Gegensatz zu ihren älteren Schwestern, die jüngste Tochter freiwillig, den schweren Gang zu dem häßlichen oder erschreckenden Tier anzutreten. Daß sie es dann durch Zuneigung (Kuß, Tränen) zu erlösen vermag, ist ein weiterer Schritt in Richtung E. In den Bereich
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Ethik
Ε. fällt auch der Triebverzicht, der Verzicht auf unmittelbare Wunscherfüllung, wie er in K H M 11 (AaTh 450: -> Brüderchen und Schwesterchen) zuletzt nicht mehr gelingt, so daß Brüderchen, weil es die Warnung Schwesterchens vor dem Durstlöschen am Ende nicht mehr beachtet, in ein Tier verwandelt wird. Durchhalten, Aushalten, Strapazen und Qualen auf sich nehmen um eines höheren Zieles willen wird vor allem in den vielen mühevollen Suchwanderungen demonstriert, wo ζ. B. vor Erreichen des Ziels eiserne Schuhe verbraucht werden müssen (—» Abtragen der Schuhe). Ohne Rücksicht auf sich selber handelt der treue —> Johannes (KHM 6, AaTh 516), und sein Herr ist bereit, seine Kinder zum Opfer zu bringen, um den versteinerten Diener wieder zu beleben. Noch klarer als beim Motiv Dankbare Tiere kommt die Selbstlosigkeit des Helden in AaTh 505 — 508: —» Dankbarer Toter zum Ausdruck: Wer für das Begräbnis eines ihm unbekannten Leichnams seine ganze Barschaft hingibt, ahnt nicht, daß er sich damit den für die Aufgabenlösung unentbehrlichen Helfer erwirbt; deutlich ist auch hier das Paradox, daß ein Märchenheld ohne Schielen nach Belohnung wohltätig handelt, daß er aber eben deswegen doch belohnt wird. Im Sinne eines Verzichts auf Wohlbefinden ist auch das Ertragen von Qualnächten durch männliche Helden als Erlösungswerk zu nennen (AaTh 401: —* Prinzessin als Hirschkuh)19. So ist die Welt der Märchen von mannigfachen ethischen Verhaltensweisen durchspielt; die wenigen Beispiele müssen genügen. Im ganzen aber ist bedeutsam, daß das Märchen sehr viel mehr Interesse bezeigt für die Durchführung von Erlösungshandlungen als für den Akt der Verwünschung, so wie es auch mit stärkerem Nachdruck von Belohnung spricht als von Bestrafung. Wesentlich ist die Entscheidungsfreiheit, die es seinen Figuren verleiht — die älteren Geschwister oder Stiefgeschwister, die sich anders verhalten, wirken als Kontrastparallelen, ihr Vorhandensein im Rahmen des Märchens demonstriert, daß man sich auch anders verhalten kann, daß die Freiheit der Wahl besteht. Als letztes sei die grundlegende Bedeutung genannt, die im Märchen die Auflösung des falschen Scheins, die Herstellung
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des wahren Seins hat 2 0 ; sie gehört zur E. im weiteren Sinn. Wer von künstlerischem bzw. erzählerischem Gewissen spricht (Ethizismus), wird feststellen, daß die hochgradige Geformtheit der Märchenerzählung, ihre klare Strukturierung und Stilisierung und die Ausgewogenheit der Elemente Extrem und Maß, das Bemühen der Erzähler, jede einzelne Erzählung möglichst vollkommen auszuarbeiten, das Prädikat ethisch verdienen. Die Reinheit und Strenge der Märchenform, aber auch ihr Spielraum für individuelle Freiheiten kann eine ethisierende Wirkung haben. 4. A n d e r e G a t t u n g e n . Von den direkt auf moralische Belehrung ausgehenden Gattungen Fabel, Exemplum und Legende, die zwar teilweise einer höheren E. verpflichtet sind, im wesentlichen aber auf direkte und vordergründige moralische Belehrung ausgehen, sei hier nicht die Rede. Schwank, Schwankmärchen und Witz, ihrer Grundanlage nach ethisch indifferent oder sogar amoralisch, antiethisch, haben gerade als Antiutopien, als Ventile, als Entlastungsmöglichkeiten, als Hilfen in der Selbstverwirklichung ihre Bedeutung im ethischen System, das die Menschen erstellt haben. Inhaltlich ist in ihnen Hilfsbereitschaft quasi inexistent; die Schwankund Witzfiguren leisten in der Regel alles aus eigener Kraft. Gestalten wie der —> Meisterdieb (cf. AaTh 1525 etc.) und der Meisterlügner zeugen davon, daß im Schwankmärchen das Streben nach Höchstleistung lebendig ist; auf anderer Ebene spiegelt sich hier die Forderung der Individualethik, sich selber möglichst hochgradig zu entfalten. Der Meisterdieb ist nicht nur eine Karikatur des allverbundenen Märchenhelden (—» Allverbundenheit), sondern im Gefüge des Schwanke sein Pendant, seine sehr konkrete Verwirklichung. 5. S c h l u ß : Weder Sagen und Märchen noch Balladen, Schwänke, Witze haben primär ethische Absichten und Ziele. Dennoch stellen sich wie von selber ethische Einsichten und damit auch ethische Impulse ein, die gerade deshalb stark wirken, weil keinerlei Tendenz spürbar ist. In Sagen und Märchen äußern sich vor allem zwei sozialethische
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Postulate: die Forderung nach Gerechtigkeit und die Bereitschaft zur Hilfe. Wenn Vergehen nach dem Tod abgebüßt werden müssen, so bedeutet das keineswegs nur Warnung, sondern es betont die persönliche Verantwortung und ruft zu richtigem, gerechtem Verhalten auf. Mit bloßen Warnsagen wäre die Andeutung der Erlösungsmöglichkeit unvereinbar. In Sagen, Märchen und Balladen ist ein breites Netz von Hilfsversuchen und Hilfeleistungen eingeknüpft, das sich vom Ratgeben bis zum Erlösen spannt. Der Weg zur Rettung, zur Erlösung fordert Mut, Fähigkeit zu verzichten und Entschlossenheit zur Leistung, zur Mitmenschlichkeit, zum Lösen der auftauchenden Aufgaben. Die Selbstverwirklichung stellt sich als Selbstexpansion und Selbstbeschränkung dar, Individualethik und Sozialethik gehen zusammen. Dabei ist das Augenmerk auf den Menschen gerichtet, Verantwortung gegenüber der Pflanzenwelt kommt gar nicht, gegenüber der Tierwelt nur sporadisch zum Ausdruck, so etwa, wenn in der Weihnachtsnacht die Stalltiere sich über die schlechte Behandlung beklagen und so ihren Herrn zu einer Änderung seiner Haltung veranlassen 21 , oder wenn der —» Herr oder die Herrin der Tiere vor maßloser Jagd warnt oder sie verhindert in Sagen, die auf den alten Tiertöter-Skrupulantismus zurückweisen22. Im Märchen ist die freiwillige Schonung der Tiere (ζ. B. der Ameisen in KHM 17 und 62) eindrücklich und ebenso die Hilfe an hilflose oder sonstwie in Not geratene Tiere. Die Erlösung von zu Tieren verzauberten Menschen weist auf den im allg. herrschenden Anthropozentrismus. Eine nachdenkliche äsopische Fabel stellt diesen in Frage: Als der Wolf Hirten im Zelt ein Schaf verzehren sah, ging er hin und sagte: „Was würdet ihr für einen Lärm machen, wenn ich das täte" 2 3 (cf. AaTh 129 A*: Sheep Licks her Newlyborn).
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1. Lpz. 1865, num. 34). - 4 ibid., 42 (nach Grimm DS 500). - 5 ibid., 41 sq. (nach Rochholz, E. L.: Schweizer Sagen aus dem Aargau 2. Aarau 1856, num. 355). - 6 ν. Röhrich, L.: Eine antike Grenzsage und ihre neuzeitlichen Parallelen. In: id.: Sage und Märchen. Fbg 1976, 2 1 0 - 2 3 4 . - 7 von Goez, E.: Der Schuldbegriff in der dt. Sage der Gegenwart. In: Ndd. Zs. für Vk. 6 (1928) 1 2 9 - 1 5 9 , 2 2 2 - 2 4 4 und 7 (1929) 3 - 1 6 , 1 5 2 - 1 6 8 , 2 4 4 - 2 5 2 . Goez unterscheidet moralische Schuld (Gesinnungsschuld) von formaler Schuld (Verstoß gegen magische oder religiöse Regeln und Vorschriften). — 8 Müller, J.: Sagen aus Uri 2. Basel 2 1969, num. 985. - 9 ibid., num. 981,2, cf. num. 979. 10 ibid., num. 984. n S t a n s 4.4.1725; analoge Genossenschaftsbeschlüsse noch bis ca 1900; Niderberger, F.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Unterwaiden 2. Samen 1910,3sq. (Nachdr. Zürich 1978,173 sq.). 12 Müller (wie not. 8) num. 1015, cf. 1013. 13 Tscheinen, M./Ruppen, P. J.: Walliser Sagen 1. Sitten 1872 (Nachdr. Zürich 1979) num. 18 ( = Guntern, J.: Walliser Sagen. Olten/Fbg 1963, num. 97). - 14 Büchli, Α.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 2. Aarau 1966, 278, 290, 614 („ihre Wohnung müssen sie sehen"), 738. — 15 Hain, M.: Arme Seelen und helfende Tote. In: Rhein. Jb. für Vk. 9 (1958) 5 4 - 6 4 , hier 61 (Geiler von Kaysersberg, 1508). - 16 Jolles, 2 3 9 - 2 4 5 . - 17 Lessing, G. E.: Die Erziehung des Menschengeschlechts. B. 1780, § 85. - 18 Megas, G. Α.: Griech. Volksmärchen. MdW 1965, 85. - 1 9 v. z.B. Uffer, L.: Las tarablas da Guarda (Märchen aus Guarda). Basel 1 9 7 0 , 7 6 - 7 9 ; cf. Scherf, W.: Lex. der Zaubermärchen. Stg. 1982, s.v. Qualnächte. - 20 v. Lüthi, Ästhetik, 1 4 2 - 1 4 5 . 21 Büchli (wie not. 14) 20. - 22 v. Röhrich, L.: Europ. Wildgeistersagen. In: id.: Sage und Märchen. Fbg 1976, 1 4 2 - 1 9 5 . - 23 Aesop, num. 282.
Zürich
Max Lüthi
Ethnologische Theorie ist eng verwandt und teilweise deckungsgleich mit —»anthropol. Theorie. Die beiden Begriffe stehen jedoch in unterschiedlichen wiss.sgeschichtlichen Traditionen, die jeweils andere Akzente erlauben und fordern. So ist die anthropol. Theorie —» Bosheit, —> Dankbarkeit, —» Erlösung, weitgehend durch den ags. Empirismus geprägt, die e.T. dagegen durch die dt. Romantik —»Extreme, —»Grausamkeit, —»Gut und böse, —» Moral, —> Schuld und Sühne, —» Tugenden und die aus ihr erwachsene (kultur-)hist. Schule. - Im folgenden soll sowohl die Frage und Laster nach der Relevanz und Kompetenz der Völ1 v. Lüthi, M.: Volkslit. und Hochlit. Bern/Mü. kerkunde für das Märchen (externer Aspekt) 1970, 3 8 - 4 7 (Warnbild und Leitbild in der Volkswie die nach der Bedeutung des Märchens 2 sage). ibid., 28 (nach Peuckert, W.-E.: Hochfür die Völkerkunde (interner Aspekt) bewies. Göttingen 1959, 79). - 3 ibid., 41 (nach handelt werden, wobei diese beiden ThemenLiliencron, R.: Die hist. Volkslieder der Deutschen
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kreise vielfach durchaus ineinander übergehen mögen. Eine eigentliche e. (Märchen-)T. gibt es bis jetzt noch nicht. Dagegen wurde seit dem späten 19. Jh. eine erhebliche Zahl einzelner Theoreme entwickelt, und zwar nur zum kleinen Teil durch Völkerkundler, vorwiegend jedoch durch die Vertreter anderer Wiss.en und durch Laien, die für ihre Materialien und Konzeptionen Anleihen bei der Ethnologie — insbesondere der Religionsethnologie — machten. Diese Ansätze einer,ethnologischen' Theorienbildung erfolgten somit auf Kosten und auch zum Nachteil der Völkerkunde. Das von ihr mühsam erschlossene Material wurde als Beweisspender für vielfach fragwürdige Lehrmeinungen und Weltanschauungen ,herangezogen' und mißbraucht. Von den älteren Theorieansätzen sind hier —» Naturmythologie (E. Siecke, G. —> Hüsing, H. Leßmann, E. Stucken), —» Psychoanalyse (O. Rank, F. Riklin, G. Roheim), Tiefenpsychologie (H. von —> Beit, M.-L. von —> Franz) und —> anthroposophische Theorie (R. Karutz) zu nennen, von den jüngeren —» Strukturalismus (V. Ja. —» Propp, C. —» LeviStrauss, E. M. —> Meletinskij, P. Maranda, H. —»Jason) und hist. —> Verhaltensforschung (A. Nitschke). — Auf Nachbarfächer und darüber hinaus auf interessierte Laien übten diese ,Strömungen' eine große Anziehungskraft aus. Die irrige Annahme, man habe es jeweils mit der ethnol. Märchentheorie reinsten Wassers und offizieller Observanz zu tun, spielte dabei eine wesentliche Rolle; Begriffe wie —» Animismus, —> Präanimismus, Manismus, Dynamismus, —» Fetischismus, in gewisser Weise aber auch —» Schamanismus oder —» Totemismus wurden oft aus ihrem spezifischen Kontext herausgelöst und machten gerade dadurch im wahrsten Sinne des Wortes Schule. Mitverantwortlich für diese Wirkungen war, daß die Etablierung der Völkerkunde als eigenständige Wissenschaft erst verhältnismäßig spät einsetzte, daß die Völkerkundler sich nur in wenigen Fällen auch als Erzählforscher verstanden und daß sie selbst dann ihr Interesse im allg. stärker auf Mythen als auf Märchen und andere Erzählformen konzentrierten. In den Märchen außereurop. Völker sah man vielfach eine unerhebliche
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Kleinform von begrenzter Aussagekraft im Schatten des,hohen', allein erforschenswerten Mythos. Ungeachtet dieser Einstellung, die ζ. T. freilich auch in dem für die meisten Naturvölker charakteristischen Fehlen einer deutlichen Trennlinie zwischen Mythen und Märchen begründet sein mochte, kam es gleichwohl in sehr vielen Gebieten zu einer weitreichenden Erfassung und Erschließung des einheimischen Erzählguts. In den meisten Fällen blieb es indessen bei der deskriptiven Slg und Ed.; die Beschäftigung mit der theoretischen Dimension und damit die Arbeit an einer fundierten e.T. erfolgte sehr viel seltener. Für diese Seite der Forschung kann exemplarisch H. —» Baumann genannt werden, der nicht nur die von ,Schöpfung und Urzeit' handelnden Mythen und Märchen der Afrikaner analysierte, sondern auch Überlegungen grundsätzlicher Art zum Märchen der Naturvölker und seinem Verhältnis zu den anderen Gattungen der oralen Lit. angestellt hat. Von jenen dt.sprachigen Ethnologen, die sich um eine kulturhist. orientierte Märchenforschung bes. Verdienste erworben haben, seien hier vor allem L. —» Frobenius, C. Meinhof und H. Baumann für Afrika, K. von den Steinen, T. Koch-Grünberg, R. LehmannNitsche, C. Nimuendajü und W. —» Krickeberg für die beiden Amerika sowie A. Krämer, R. Thurnwald, P. Hambruch, E. Sarfert, W. Müller-Wismar, L. Kohl-Larsen, H. Nevermann und H. Kahler für Ozeanien und Indonesien hervorgehoben. Aber auch die zahlreichen kommentierten Textausgaben — beispielsweise in Frobenius' zwölfbändiger Atlantis-Reihe, in den Märchen der Weltliteratur des Diederichs-Verlags und, nach dem Zweiten Weltkrieg, in der vom Roth-Verlag herausgegebenen Serie Das Gesicht der Völker — könnten wichtige Grundlagen einer künftigen e.T. bilden. Dies gilt allein schon im Hinblick auf die Slg und Ausbreitung des Materials, bei der die Völkerkunde in einem dramatischen Wettlauf mit der zunehmenden Kulturzerstörung in vielen Weltteilen steht. Es gilt aber auch in bezug auf die in derartigen Veröff.en implizierten Ansätze hinsichtlich der Ausw., Anordnung und Interpretation des Materials. Ein dringendes Desiderat ist dessen weitere Aufschlüsse-
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Etienne de Bourbon
lung durch engmaschige Motiv- und Typenkataloge: Die vermeintliche kanonisch-normative Gültigkeit der entsprechenden Nachschlagewerke (AaTh, Mot.) ist allein schon für den Bereich der euras. und ide. (Hoch-)Kulturen seit längerem nicht unbestritten, und für das Erzählgut der eigentlichen Naturvölker trifft dies in noch ungleich stärkerem Maße zu. Der rapide angewachsene positive Wissensbestand hat die Forscher bescheidener, vorsichtiger und zurückhaltender gegenüber allzu verheißungsvollen Patentlösungen gemacht, sämtliche offenen Fragen ein für allemal auf einen einzigen Generalnenner bringen zu wollen. Die meisten der erwähnten Globaltheorien sind inzwischen stillschweigend veraltet oder auch lautstark zusammengebrochen. Eine umfassende ,Theorie des Märchens auf völkerkundlicher Grundlage', die zugleich auch der ständig zunehmenden Materialfülle gebührend Rechnung trägt, ist heute mehr denn je eine gebieterische Forderung. Der Verzicht der Fachwelt auf eine kompetente Theorienbildung würde nur erneut den Dilettantismus der Außenseiter — auch in den Nachbarfächern und in den eigenen Reihen — ermöglichen und ermutigen. München
Nikolaus Mikoletzky
Etienne de Bourbon (Stephanus de Borbone oder de Bellavilla), *Belleville-sur-Saöne (Diözese Lyon) um 1190/95, f Lyon um 1261, frz. Dominikaner. Er besuchte die Schule in Mäcon, studierte um 1220 an der Univ. Paris, trat 1223 zu Lyon in den (1216 gegründeten) Predigerorden ein, wirkte rund 30 Jahre als Kanzelredner in verschiedenen frz. Provinzen (er nennt insbesondere die Stationen Reims, Vezelay [wo er 1226, als Ludwig VIII. den Kreuzzug gegen die Albigenser führte, gegen diese Ketzer predigte], Valence, Dijon, Auxonne, Lyon, Cluny, Chälon-surSaöne, Besangon etc.) und in späteren Jahren als Inquisitor in Sachen Ketzerei und Aberglauben (im Forez, in Clermont, Villeneuve -en-Dombes etc.), gelangte bis ins Piemont und war mit vielen geistlichen Persönlichkeiten seiner Zeit (Jacques de Vitry, Erzbischof Nicolas de Flavigny von Besan9on, Erzbischof
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Renaud von Lyon etc.) und selbstverständlich zahlreichen Predigern seines Ordens bekannt 1 . Im Interesse des Dominikanerordens und seiner Mitbrüder, denen er „geeignete literarische Hilfsmittel für die Vorbereitung und Ausübung des Predigtamtes an die Hand geben" wollte2, kompilierte E. —> Exempla und moralische Reflexionen zu einem theol. Lehrbuch mit dem Titel Tractatus de diversis materiis praedicabilibus (Abhdlg von verschiedenen Gegenständen zum Kanzelgebrauch), dem er als Ordnungsprinzip die Sieben Gaben des Heiligen Geistes (Furcht, Frömmigkeit, Wissenschaft, Stärke, Klugheit, Verstand, Weisheit) 3 unterlegte (daher auch der spätere Titel De Septem donis spiritus sancti). Der Traktat sollte der Seelen-Erbauung („ad aedificationem [. . .] animarum") dienen, sollte die Menschen „unterrichten, ermahnen, erregen und dazu bewegen, daß sie zukünftiges Böses fürchten und meiden, dadurch die Sünde fliehen und das Gute erstreben, die begangenen Untaten wahrhaft bereuen, die Versuchungen mannhaft zurückweisen und dem Guten verhaftet bleiben" 4 . Solches zu erreichen, seien, wie schon —» Gregor in seinen Dialogen bewiesen habe, Taten lehrreicher als Worte und Beispiele bewegender als langes theoretisches Predigen (praedicamenta). Das zwischen 1256/61 entstandene, in Alltagslatein verfaßte, unvollständig gebliebene Werk (es bricht bei der Gabe der Klugheit ab) wurde nie gedruckt; die 25 oder mehr erhaltenen Mss.5 stellen oftmals stark (auf die erste Gabe) verkürzte Auszüge dar; aus der besterhaltenen (aber nicht originalen) Hs. 6 hat A. Lecoy de la Marche 1877 vor allem die erzählenden Exempla (519 num.) exzerpiert; einen besseren Einblick in den Charakter des Werkes, das mit zahllosen Zitaten aus Bibel und Kirchenvätern durchwirkt ist, gewährte 1913 H. Crohns 7 ; eine kritische, den hist. Kontext berücksichtigende Gesamtausgabe fehlt. Die Quellen E.s sind einmal in der mündl. Überlieferung nicht nur des Ordens, sondern auch von Laien zu suchen, denen er auf seinen Wanderungen und bei seinen antihäretischen Untersuchungen begegnete; so nennt er z.B. als Gewährspersonen nicht nur den „Meister Jacques de Vitry" 8 , nicht nur den
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Etienne de Bourbon
Bruder Stephanus de Firmitate, „der es von den Reimser Brüdern gehört hat, bei denen das, ihrer Versicherung nach, passierte" 9 , sondern etwa auch den Minoritenbruder Wilhelm von Poitou, „den ich das in einer Stadt predigen hörte" 10 , oder eine verlassene Braut und deren Nachbarn 11 . Wenn E. de B. in seinem Traktat des weiteren rund 90 verschiedene Schriften aus griech.-röm. Antike, früher Kirchengeschichte und MA. nennt, so zitiert er sicherlich viele von diesen aus zweiter Hand; doch darf man annehmen, daß ihm Werke wie die —> Vitae patrum, Heiligenleben aller Art, Legenden- und Mirakelsammlungen, apokryphe Evangelien, Bestiarien, die Hauptwerke von Beda Venerabiiis, vom hl. —» Bernhard, von —> Gregor dem Großen, —> Gregor von Tours, Hugo von St. Victor, —> Gervasius von Tilbury, —> Isidor von Sevilla, —»Jacques de Vitry 12 , Johannes Damascenus (—» Barlaam und Josaphat), Petrus Comestor, —» Petrus Alphonsi und auch Abenteuer-Epen über König —»Artus oder den Karlsritter —» Roland in Abschriften in der Klosterbibliothek von Lyon zur Verfügung standen 13 . Seine Kompilation ist jedenfalls ein getreuer Spiegel sowohl des mündl. wie des schriftl. Erzählwissens des 12. und frühen 13. Jh.s. Der Einfluß E.s auf spätere Kompilatoren, Prediger, Fabeldichter, Novellisten, Schwanksammler und Märchenerzähler und damit auf die mündl. Überlieferung ist schwieriger abzuschätzen. Ohne Zweifel darf man bei jedem nach 1260 wirkenden Predigerbruder, etwa Arnold de Liege (—»Alphabetum narrationum), Johannes —»Herolt (Discipulus), —> Johannes Gobii Junior oder Johannes —> Nider, insbesondere auch im —> Speculum morale14 (Pseudo-Vincent de Beauvais), den Rückgriff auf diesen ProtoDominikaner-Erzähler erwarten. Nachgewiesen ist das direkte oder indirekte Einwirken E.s auf den Dominikaner Ulrich -> Boner 15 , auf das Viaticum narrationum des —>• Henmannus Bononiensis 16 , auf das Manuel des piches17 und das Magnum —» speculum exemplorum18. Die frz. Novellensammlungen tragen kräftige Spuren dominikanischer Tradition 19 ; die Prediger der Barockzeit tradieren zahlreiche Geschichten E.s 20 . Die Anmerkungen zur Märchenliteratur des 19. Jh.s 17
Enzyklopädie des Märchens IV
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stecken noch voll von Reminiszenzen an den alten Prediger 21 . Die Abhängigkeiten sind jedoch im einzelnen nicht genügend erforscht. E.s Erzählungen zeugen von seiner beruflichen Tätigkeit und von den religiösen und politischen Strömungen seiner Zeit ebenso wie von seinerzeit verbreiteten, oftmals konfliktträchtigen Meinungen und Einstellungen: Immer wieder unterstreicht er den Nutzen des Predigerordens und der Kanzelrede, berichtet er von den Niederlagen der Häretiker (Albigenser, Waldenser, Zauberer, Hexen) und von Siegen über die Sarazenen; er erzählt von der Überwindung teuflischer Machenschaften, von der Bosheit und Tücke der Frauen 22 , vom Laster des Wuchers, von den Schlichen der Advokaten, von der Bestrafung aller Bösewichter durch Gottes Einwirken. Bei der hier folgenden Auswahl etwa eines Zehntels der von A. Lecoy de la Marche ausgezogenen Exempla ist zu bedenken, daß durch diese Zusammenstellung nach folkloristischen Interessen der hist. Kontext der Erzählungen noch weiter zurückgedrängt wird. Tractatus, num. 9 2 3 : Ein Schüler erscheint seinem Pariser Lehrer [Silo oder Serion] und zeigt ihm, welche Qualen er wegen seiner Sophismen in der Hölle zu erdulden hat; ein Schweißtropfen durchbohrt die Hand des Meisters 24 . - 10: Kuh und Kalb dem hl. Michael gelobt; als die Flut vom Mont-Saint-Michel zurückweicht, nimmt der Bauer das Gelübde zurück (AaTh 778: Geloben der großen -»Kerze). - 25: Einer gerät, auf der Suche nach dem Pferd seines Herrn, beim Ätna in eine ihm unbekannte Stadt, der Torwächter rät ihm, keinerlei Nahrung anzunehmen. An einem Fürstenhof verweigert er die ihm angebotenen Speisen, da zeigt man ihm vier Betten: für seinen Herrn und drei Wucherer, die seien auf einen bestimmten Tag geladen. Der Fürst gibt ihm einen goldenen Becher mit dem Verbot, den Deckel zu heben: sein Herr solle davon trinken. Dann bekommt der Mann das Pferd zurück, er führt die Befehle aus, öffnet jedoch den Becher; eine Flamme stürzt ihn ins Meer, welches brennt. Die vier Geladenen werden am festgesetzten Tag von vier Rappen geholt 25 . — 26: Der selbstgerechte —> Eremit (AaTh 756 A). — 37: Sündiger Ritter betet in einer Kapelle eine Nacht hindurch; trotz teuflischer Versuchungen wird er gerettet (Tubach, num. 3477) 2 6 . - 68 (auch 401, 444 und 488): Ein Bischof will einem Nepoten nicht einen Korb Birnen zum Aufheben überlassen, obwohl er ihm doch ein Erzdiakonat anvertraut hat (Tubach, num. 3459). — 81: —» Barbier des Königs (AaTh 910C) 2 7 . - 82: Alte Frau hält nach der
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Palmsonntags-Predigt den auf sein Roß steigenden Prediger an: Ob das der Esel sei, auf dem Christus nach Jerusalem ritt? (Tubach, num.391). — 86: — Kaiser und Abt (AaTh 922). - 95: Am Hofe Arthurs langt ein Schiff mit einem Toten an, der in einem Brief die Ritter auffordert, ihn zu rächen (Tubach, num. 4329). - 97: Ein Priester aus Genf fliegt nackt zu einem Hexensabbat und findet sich morgens in der Lombardei wieder. - 119: —»Jakobspilger, Sohn vom Galgen errettet (Tubach und Dvorak, num. 2236). — 136: —> Crescentia (AaTh 712). - 154: Bettler im Bett, Mann hält ihn für den Geliebten der Frau, aber Christus erscheint (Tubach, num.3020) 2 8 . — 161: Junge verlangt vom Vater zwei Ellen Wolldecke (AaTh 980 A: —» Großvater und Enkel). — 163: Sohn versteckt fetten Kapaun vor dem Vater; der Braten springt ihm als Kröte ins Gesicht (AaTh 980 D: Der undankbare —» Sohn). - 168: —> Robert der Teufel (Tubach, num. 4119). - 178: Teufel will beweisen, daß eine fromme Frau mit ihrem Sohn ein Kind gezeugt hat; die Frau beichtet, und die Schrift verschwindet von den Beweispapieren (Tubach, num. 2730). — 203: Prediger verschenkt seinen Esel, um nicht immer beim Gebet in der Kirche an das Tier denken zu müssen (Tubach, num. 381). — 230: Einer Frau erscheint Christus und beschläft sie; der Liebhaber erscheint dann immer minder als Ritter, Kleriker, Bauer, Mönch, fahrender Schüler. Die Frau beichtet, und der Besucher muß sich als Teufel zu erkennen geben (Tubach, num. 1536). 233: —> Augenverblendung (AaTh 987). — 236: Beim Sturm sagen die Matrosen einem Mann, er solle ,graviore' über Bord werfen; er zeigt seine Frau: etwas Schwereres sei auf dem Schiff nicht zu finden (Mot. Τ 251.1.5; Tubach, num.5289). 237: Junge Frau beklagt sich über Mann; alte Wahrsagerin rät ihr, sie solle ihren Mund halten (Tubach, num.5290). - 242: Zänkische Frau macht Geste des Läuse-Knackens (AaTh 1365 C: Die widerspenstige —> Ehefrau). — 244 (auch 299): Widerspenstige Frau stromaufwärts suchen (AaTh 1365A: Die widerspenstige —>Ehefrau). — 258: Abt bekehrt Räuber (Tubach, num. 4798). - 271: —> Luftschlösser: Milchmädchen-Rechnung (AaTh 1430). — 282: Teufel auf Schleppe einer eitlen Frau 29 . - 2 9 7: Fledermaus will, je nach Umständen, Vogel oder Maus sein (AaTh 222 A: Bat in War of Birds and Quadrupeds). — 298: Die neue Eva (AaTh 1416) 30 . - 303: Ein von Gregor IX. exkommunizierter Stadtpolitiker verachtet den Bann, da ziehen die Störche, die auf seinem Dach nisteten, auf das Haus seines Gegners um (Tubach, num. 4556b). - 306: Ein Bischof, unschuldig der Unzucht bezichtigt, zieht sich heimlich in eine Klause zurück, deren Schlüssel er in einen Teich werfen läßt. Nach sieben Jahren wird der Schlüssel in einem Hecht gefunden, der Bischof lebt noch und ist gesund (Mot. Β 548.2.2; Tubach, num. 913) 31 . - 317: Hostie im Bienenstock (Mot. Β 259.4). - 339: Einem Bauern wird weisgemacht,
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das Lamm, das er zu Markte trägt, sei ein Hund (Tubach, num. 2975). - 358: Eine Frau läßt ihren Sohn Kühe hüten und im Wald verstecken; sie gibt sich als Wahrsagerin aus, sagt dem Bauern, wo die Kühe seien, und wird so berühmt. - 370: —> Hundes Unschuld (AaTh 178 A); der Hund wird später als Saint Guinefort (Kinderheiler) verehrt 32 . — 373: —> Gang zum Eisenhammer (Kalkofen) (AaTh 910 K) 33 . - 3 74 (und 482): Viele Hunde töten sich gegenseitig in einer Schlacht (Tubach, num. 1713). - 375: Schmeichler im Affenland: Veridicus wird zerkratzt, Falsidicus vom Affenkönig belohnt (Tubach, num. 304). - 386: Gotteslästerer schießt Pfeil zum Himmel, muß in die Hölle fahren (Tubach, num. 324). - 409 (auch 506): Glücklicher Armer gibt den ihm geschenkten Geldbeutel zurück, Johann der muntere Seifensieder (AaTh 754: —> Glückliche Armut). — 419: In Besan^on wird ein jäh verstorbener Wucherer in der Kirche beigesetzt; am nächsten Morgen findet man ihn aus dem Grab geschleudert (cf. Tubach, num. 5031). — 429: Marienstatue schlägt den Dieb zu Boden, der ihr das Jesuskind rauben will (Tubach, num. 4796). — 433: Wirt verschüttet Wein und behauptet, das bringe Glück; da er das Verschüttete dem Gast nicht ersetzt, zieht ihm dieser mit gleichem Trostwort den Zapfen aus dem Weinfaß (Tubach, num. 5316). - 434: „Und du lebst noch!" sagt der Fleischer einem Kunden, der schon zehn Jahre bei ihm gekauft hat (Tubach, num. 819). — 436: Eine Frau salbt dem Richter die Hand, weil sie schmieren' mißversteht (Tubach, num. 2421). - 443: Ritter wird Mönch. Als er Esel verkaufen soll, hat er kein Interesse an Gewinn, sondern denkt nur an sein Seelenheil (Tubach, num.403). — 451: Altes und junges Weib ziehen altem Mann die Haare aus: die Alte die schwarzen, damit er grau aussehe, die Junge umgekehrt (Tubach, num. 2401). — 453: Ein Lüstling wird beim Sterben schwarz wie Kohle und hat so starke Schmerzen in den Genitalien, daß er sich dieselben abschneiden will (Tubach, num. 2269). — 460: —> Witwe von Ephesus (AaTh 1510). — 463: Graf Gui de Forez veranstaltet an einem Weihnachtsabend ein großes Tanzfest, dabei bricht der Fußboden ein, und viele Tänzer werden schwer verletzt (Tubach, num. 1421) 34 . - 465: Papagei verrät Ehebruch (cf. AaTh 243A, 1422: —> Ehebruch verraten). - 470: Ehebrecher in der Truhe auf dem Markt verkauft (AaTh 1358B: —> Ehebruch belauscht). — 474: Ein gewisser Walter stürzt sich aus Liebe von einer hohen Klippe des Mont-Saint-Michel ins Meer; die Stelle wird Walterssprung genannt. — 487: Katzen sollen den Käse vor Mäusen schützen: sie fressen beide (Tubach, num. 886). — 500: Nonne reißt sich Augen aus, weil König Richard sie begehrt (AaTh 706 Β: Die keusche —»Nonne)35. — 501: Versteckte Nonne ruft .Kuckuck', um gefunden zu werden, und verliert ihre Virginität (Tubach, num. 3497). - 502: Vergewaltigte Frau kann sich doch wehren, als einer ihr Geld stehlen will (Tubach, num. 4035) 36 .
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Der Erzählforscher, der das Werk E.s de B. als Steinbruch für Untersuchungen über langfristig literar. tradierte und zum Teil populär gewordene Erzählungen benützt, sollte nicht vergessen, in welchem religionspolitischen Klima sie im 13. Jh. zusammengetragen wurden: E.s Jugend fällt in die Zeit blutiger Verfolgungen der neomanichä. Häresien der Katharer im Languedoc unter Papst Innozenz III. 37 ; Gregor IX. setzte 1232/33 den Dominikanerorden zu Untersuchungsprozessen und Predigtfeldzügen gegen Albigenser und Waldenser 38 ein. Als Zeitgenosse Ludwigs IX., des Heiligen, kämpft E. für die Ausbreitung der reinen christl. Lehre, als Zeitgenosse großer Enzyklopädisten wie Bartholomaeus Anglicus oder —» Vincent de Beauvais besitzt er breite Kenntnisse in didaktischer Lit. 39 , als Wanderprediger hat er engsten Kontakt zu erzählfreudigen Klerikern, zu den semiliterar. Produktionen der Jahrmarkts-Spielleute, zu den Sagen und abergläubischen Meinungen der Landbewohner. Sein Tractatus ist eine unersetzliche Quelle für ein Erzählerbe, das weder in seinen Einzelheiten noch in seinen Zusammenhängen genügend erforscht ist. I Zur Biogr. cf. Quetif, J./ßchard, J.: Scriptores ordinis praedicatorum 1. P. 1719, 76, 184-194; Lecoy de la Marche, A. (ed.): Anecdotes historiques, legendes et apologues tires du recueil inedit d'E. de B., dominicain du XIII e siecle. P. 1877; Dictionnaire d' histoire et de geographie ecclesiastiques 15. P. 1963, 1211 sq. - 2 Altaner, B.: Der hl. Dominikus. Unters.en und Texte. Breslau 1922, 122-127, bes. 122. - 3 lat. timor, pietas, scientia, fortitudo, consilium, intellectus, sapientia; cf. dazu LThK 4, 478—480. — 4 Text nach Lecoy de la Marche (wie not. 1) 3. — 5 Das für die hist. Erzählforschung bedeutende Werk von Kaeppeli, T.: Scriptores ordinis praedicatorum medii aevi (bisher erschienen: 1 - 2 [ A - F , G - I ] , Rom 1970-75) ist (1981) noch nicht bis zu Stephanus gelangt. — 6 Bibliotheque Nationale, Paris, ms. lat. 15970. - 7 Crohns, H.: Die Bewertung der Frau unter dem Einfluß der CölibatsIdee in MS lat. 15.970 der Bibliotheque Nationale. Hels. 1913. Gegen das Klischee des frauenfeindlichen MA.s wendet sich Pernoud, R.: Pour en finir avec le moyen äge. P. 1977, 8 4 - 9 8 . - 8 Lecoy de la Marche (wie not. 1) 74, num. 77; zum Verhältnis zwischen Jacques de Vitry und E. de B. cf.Jacques de Vitry/Crane, XCV-XCVII und Reg., 296. 9 Lecoy de la Marche (wie not. 1) 62, num. 56. — 10 ibid., 25, num. 17. II ibid., 62, num. 55. Die Belege lassen sich leicht vermehren, sie bezeugen die Bedeutung mündl. Er-
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zählens im Spät-MA. - 12 Die Ubereinstimmungen mit bzw. Abweichungen von den Exempeln des Jacques de Vitry wurden untersucht von Schönbach, Α. E.: Studien zur Erzählungslit. des MA.s. 8: Über Caesarius von Heisterbach 3. In: SB.e der Kaiserlichen Akad. der Wiss.en in Wien. Phil.-Hist. Klasse 163,1. Wien 1909, 3 3 - 8 9 . - 13 cf. die Qu.n-Liste bei Lecoy de la Marche (wie not. 1) XIII-XVI. - 14 cf. Crohns (wie not. 7) 28. 15 Waas, C.: Die Qu.n der Beispiele Boners. (Diss. Gießen) Dortmund 1897, 74 (und dazu 65-70), Fabeln num. 95 und 98, evtl auch 87 und 94; Grubmüller, K.: Meister Esopus. Unters.en zu Geschichte und Funktion der Fabel im MA. Mü. 1977, 313-319. - 16 Hilka, Α.: Beitr.e zur lat. Erzählungslit. des MA.s. 3: Das Viaticum narrationum des Henmannus Bononiensis. B. 1935, 5 7 - 5 9 (num. 37: Innocencia [Crescentia-Sage]) = Lecoy de la Marche (wie not. 1) num. 136. - 17 Arnould, E. J.: Le Manuel des peches. Etude de litterature religieuse anglo-normande (XIII e siecle). P. 1940, 185 — 192. — 18 Alsheimer, R.: Das Magnum speculum exemplorum als Ausgangspunkt populärer Erzähltraditionen. Ffm./Bern 1971, 115, 132 (Herz in der Geldschatulle) = Lecoy de la Marche (wie not. 1) num. 413. - 19 Kasprzyk, K.: Nicolas de Troyes et le genre narratif en France au XVI e siecle. W./P. 1963, s.v. E. de B. - 20 cf. MoserRath. 21 cf. BP zu KHM 78, 98, 102, 128, 136, 145, 149, 152, 164, 206: Hinweise auf E. de B. (ed. Lecoy de la Marche) num. 163, 233, 86, 271, 26 und not. 166. — 22 Zur Misogynie bei E. de B. und seinen Epigonen cf. Crohns (wie not. 7) 9—22. — 23 Die Nummern entsprechen der Ausg. von Lecoy de la Marche (wie not. 1). - 24 Schenda, R.: Hieronymus Rauscher und die protestant.-kathol. Legendenpolemik. In: Brückner, 179-259, hier 229. 25 cf. Correnti, S.: Leggende di Sicilia e loro genesi storica. Milano 1975, 124-128 (auf den Bischof von Catania und König Artus im Ätna bezogen). 26 Eis, G.: Prager Fragment der mhd. Dichtung Vom Ritter in der Kapelle. In: Studia neophilologica 37 (1965) 100-111 (= id.: Altgerm. Beitr.e zur geistlichen Gebrauchslit. Bern 1974, 53-64). 27 cf. Kasprzyk (wie not. 19) 140-146. - 28 cf. EM 2,246 und 255, not. 17. - 29 cf. Schenda (wie not. 24) 239. - 30 cf. Schönbach (wie not. 12) 33-35. 31 Das Motiv erscheint auch in der Gregorius-Legende; cf. Gesta Romanorum, cap. 81, bes. p. 407. - 32 Schmitt, J.-C.: Le Saint Levrier. Guinefort, guerisseur d'enfants depuis le XIII e siecle. P. 1979. — 33 cf. Heller, B.: Eisenhammer, Gang nach dem. In: HDM 1, 509-515, bes. 510. - 34 Thomas, G.: The Tall Tale and Philippe dAlcripe. St. John's 1977, 9 9 - 1 0 1 und 186 (zu num. 29). Diese Version geht jedoch auf eine hist. Tatsache zurück, die vielleicht durch ein Flugblatt bekannt wurde: 1527 stürzte in Palermo eine Hochzeitsgesellschaft in den Keller; La Rosa, G. B.: Alcune cose degne di
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Etymologie
memoria ( 1 3 3 0 - 1 6 3 2 ) . In: Biblioteca storica e letteraria siciliana 2 (1881) 184. - 35 cf. Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N.Y. 1981, 38. - 36 Zum Weiterleben bei M. Luther und A. Hondorff cf. Schade, H.: Andreas Hondorffs Promptuarium exemplorum. In: Brückner, 6 4 7 703, hier 685 sq. Der Typus ,Forcee de gre' findet sich aber schon früher in den Cent nouvelles nouvelles (num. 25) und in Beroalde de Verville: Le Moyen de parvenir [um 1610]. P. 1874, cap. 71 (Anspielung). - 3 7 c f . Guiraud, J.: Histoire de l'Inquisition au moyen äge 1—2. P. 1935—38 (gekürzt u. d. T.: id.: L'Inquisition medievale. P. 19 78). - 3 8 Manselli, R./Dossat, J.: Albigenser. In: Lex. des MA.s 1. Mü./Zürich 1980, 3 0 2 - 3 0 7 ; zu E.s Aktivitäten in diesem Zusammenhang cf. Quetif/Echard (wie not. 1) 190 sq. - 39 Zur literar. Welt im 13. Jh. cf. Zumthor, P.: Histoire litteraire de la France medievale ( V I e - X I V e siecles). P. 1954, 2 6 1 - 2 8 2 (cap. 4: Le Triomphe du didactisme [environ 1 2 4 0 - 7 5 ] ) ; Le Goff, J.: Les Intellectuels au moyen äge. P. 1957, 7 3 - 1 3 3 .
Zürich
Rudolf Schenda
Etymologie 1. Begriff. E. (von griech. etymos: wahr, und logos: Wort; lat. etymologia: Lehre vom wahrhaften Ursprung eines Wortes) ist zu einem Begriff der ma. wie der modernen Wiss. geworden. Dahinter steht die alte Vorstellung, daß der Name einer Person oder einer Sache deren Wesen ausdrückt. Diese Ansicht gründet nach —Isidor von Sevilla (gest. 636) in der antiken Rhetorik, nicht in der Erkenntnistheorie. Aristoteles gebrauche den Begriff symbolon, Cicero spreche von notatio (Kennzeichnung), deren sich der Redner bediene, um die Kraft des Wortes oder des Namens dem Hörer zu vermitteln 1 . 2. Ma. D e n k e n . Alle ma. Überlegungen zur E. beginnen in der Tat mit Isidors Werk Etymologiarum libri2. „Es hat nicht nur den Wissensbestand für acht Jahrhunderte gültig festgelegt, sondern auch deren Denkform geprägt" 3 . Die gegenwärtige Diskussion über den Erkenntniswert der E. im MA. hat zu weiteren Klärungen beigetragen. Danach fand Isidor die E. eines Wortes nicht aus willkürlicher Setzung, sondern „secundum qualitatem" 4 . Die enge Verbindung zwischen Wort und Sache erlaubte dennoch nicht, die E. als
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Instrument von Wesenserkenntnis einzusetzen; sie konnte allenfalls als Hilfsmittel zur Sachkenntnis und nur zur graduellen Verbesserung der Bestimmungsgenauigkeit beitragen. Hierbei vermittelt die Eigenschaft einer Sache (proprietas rei) zwischen Bedeutung und Benennung. Im Namen seien Eigenschaften der Dinge berücksichtigt und könnten daher als geistiger Sinn erschlossen werden 5 . Schon die antiken Grammatiker kannten Systematisierungen der E. „nach Gliederungsgesichtspunkten der similitudo, vicinitas, abusio und des contrarium"6. Zur „similitudo rerum et sonorum" gehören bei Augustinus (De dialectica) lautmalerische und lautsymbolische Begriffe, ζ. B.: „crux, bei dem die Härte (asperitas) des Klangs mit der Härte des Schmerzes, den das Kreuz bewirkt, übereinstimmt. In der zweiten Kategorie bildet die similitudo rerum Ubereinstimmung im Sachbereich, als Benennungsmotiv; solches liegt etwa vor in dem mit crux verwandten crura ,Schienbeine', die in ihrer Erscheinung und Härte dem Kreuzesholz ähnlich sind"7. Nach stoischer Terminologie führt solches Etymologisieren zur bloßen sprachlichen Nachbarschaft (vicinitas) und über die uneigentliche Bedeutung (abusio) zum Prinzip der Verwendung des bedeutungsmäßigen Gegenteils (contrarium oder antiphrasis), ζ. B. bellum: Krieg, ist keine res bella, sondern das Gegenteil einer angenehmen Sache. Entgegensetzungen werden als Entsprechungen behandelt.
Diese ,beliebige' Auswahl aus einer unbekannten, aber begrenzten Zahl von Eigenschaften einer Sache handhabte der ma. Grammatiker mit großer Sicherheit. Die Begrenzung der jeweiligen Etymologisierungsmöglichkeit war hist, bedingt, weil abhängig von einem bestimmten literar. Quellenfundus, der wiederum dem gemeinsamen Grundkonzept des Denkens, d. h. dem Bezug zur Hl. Schrift, entsprach 8 . Bis zum 12. Jh. waren die Autoren vornehmlich Mönche. Sie machten sich — anders als die späteren Scholastiker — das Erbe von Antike und Christentum in meditativer Weise zu eigen durch Auslegung der Bibel, der Väter, der antiken Dichter und Historiker. Die Hl. Schrift wurde mit der HI. Schrift erklärt, so daß Assoziationen üblich und methodisch legitimiert waren. Das ma. Denken in E.n ist daher hist., weil der Tradition verpflichtet, und zugleich poetisch, aber nicht arbiträr oder gar phantastisch. Es ist vielmehr das Bemühen, sich der Wahrheit eines Wortes durch das Wort selbst zu nähern und
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Etymologie
zwar nicht durch Anderssagen wie in der —» Allegorie, sondern durch assoziativ-betrachtendes Umkreisen innerhalb eines festen Verständigungshorizontes. Die WB.er der Zeit waren konsequenterweise nicht nach dem Alphabet geordnet, sondern zunächst in Sachgebiete eingeteilt wie Isidors Etymologiarum libri. Die Reihenfolge entsprach dem Weltbild. Eine Kumulierung von Deutungen brachten erst die volkssprachlichen Quellen des SpätMA.s. Doch es wurden weiterhin .irgendwelche Eigenschaften' von Personen und Sachen beachtet. Die Scholastik hingegen sah E. als arbiträre Setzung an, und so schrumpfte hier ihre Bedeutung zum reinen Wortsinn als erster Kategorie der verschiedenen Auslegungsschritte der Schrift vor dem zweiten Sinn, dem allegorischen, gefolgt vom moralischen und anagogischen. Allerdings lassen sich mönchische und scholastische Tradition nicht immer streng voneinander scheiden. 3. S p r a c h w i s s e n s c h a f t . Die heutige Wiss. der E. ist ein Zweig der vergleichenden Sprachgeschichte. Sie untersucht die Entstehung des einzelnen Wortes unter Berücksichtigung des hist. Wortbedeutungswandels 9 . Dabei wendet sich die allg. E. den generellen Problemen, die spezielle dem konkreten Einzelfall im Rahmen der lexikalischen Quellenbasis zu, um Entstehung und Geschichte der Lexeme einer bestimmten Sprache zu rekonstruieren 10 . Das Erkenntnisziel lautet, die unterschiedliche Lösung von Bezeichnungsproblemen und deren aktuellen Gebrauchswert aufzudecken und damit zu zeigen, wie der Mensch seine Welt erfaßt, denn „Wortgeschichte ist der Niederschlag von Gebrauchsgewohnheiten, die ihrerseits Reaktionen auf Gebrauchsbedingungen sind" 11 . Begriffe spiegeln daher nicht das ,Wesen' des Bezeichneten, und in der E. ist nicht die .eigentliche' Bedeutung des Wortes zu finden. In der Wiss.sgeschichte des Etymologisierens ist man jedoch unter Vernachlässigung der semantischen Komponente von der gegenteiligen Ansicht ausgegangen, hielt zumindest zeitlich frühere Bedeutungen für unterschwellig weiter wirksam und leitete daraus eigentliche' Bedeutungssysteme ab. Der Griff zum gängigen etymol. WB. 12 statt zu terminologischen
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Fachlexika (am besten der jeweiligen Zeit selbst) stellt für die Nachbarwissenschaften eine gefährliche Verführung dar. Auch die ,sekundäre Etymologisierung' — wie bei Martin Heidegger als „pointierter Gag oder Vehikel der philosophischen Gedankenführung" — wird von den Linguisten in den vorwiss. Bereich der sog. Volks-Ε. verwiesen 13 . 4. V o l k s - Ε . Der Begriff stammt von dem Germanisten E. W. Förstemann (1852) und hat sich weltweit durchgesetzt für .sprachspielerische' Phänomene gelehrter wie naiver Art von allerdings weitreichenden Folgen. Schon das HDA hat deshalb die kult- und brauchwirksam werdenden homophonen Namensdeutungen von Heiligen, Pflanzen und Orten ausführlich behandelt 14 : Valentin hilft gegen die fallende Sucht, Augustin gilt als Patron der Augenkranken, Lambert hilft bei Lahmheit, Blasius bei Blasenleiden, Bonifatius wird mit dem Bohneniegen in Verbindung gebracht etc. Die „Volksetymologie ist eine pathologische Erscheinung", meinte F. de Saussure 15 , für die vergleichenden Sprachhistoriker bedeutet sie dennoch „ein Fenster zur psychologischen Realität sprachlicher Veränderungen" 16 . „Volksetymologie ist ein Sammelbegriff für die Heuristik des naiven, linguistisch ungebildeten Sprechers, sich spröde, fremdartige, undurchsichtige Wörter durch assoziative Verknüpfungen oder lautliche Adaptierungen transparent zu machen, neu zu motivieren und dem Regelwerk seiner Grammatik einzugliedern" 17 . E. „ist Worterklärung, Volksetymologie ist Wortumbildung und Wortumdeutung [...], gehört grammatisch unter die sprachlichen Analogie- und Assimilationserscheinungen" 18 . Aber dieses „schöpferische Mißverständnis" 19 vermag „mythenbildend" 20 zu sein und besitzt deshalb für das volkstümliche Erzählen große Bedeutung. 5. L e g e n d e . Von der volksetymol. Erklärung der Heiligennamen sind die E.n der christl. —> Legende als literar. Gattung zu unterscheiden. Analog zu den naturkundlichen Enz.n des HochMA.s bildete die einleitende, vielfältig ausgebreitete Namenserklärung ein konsequent durchgeführtes Bauelement, das sich nur im Zusammenhang des gelehrten
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Etymologie
Etymologisierens der Zeit verstehen und adäquat bewerten läßt. Wie sehr man schon zu Beginn des 17. Jh.s die E. der —> Legenda aurea vom Ende des 13. Jh.s mißverstand, bezeugt das Calendarium etymologicum papisticum ex Lombardica historia des Erasmus Schmidt (Wittenberg 1604). Der evangel. Theologe zog die geistliche Namensauslegung der Heiligen aus, um kommentarlos allen humanistisch Gebildeten zu demonstrieren, was es mit den Wiss.en der vorreformator. Zeit auf sich hatte 21 . Das Werk des Dominikanerbischofs —> Jacobus de Voragine ist jedoch ganz der mönchischen Tradition verpflichtet. Es sind keine „lächerlichen Spielereien" 22 , sondern „mystische Umschreibungen im Anschluß an den Wortklang", denn Jacobus „ordnet auch die E. seiner Mystik unter, aber es ist nicht so, wie zu vermuten naheläge, daß seine Deutungen das (legendäre) Lebensbild beeinflußten; sie sind aus der Überlieferung herausgeholt" 23 . R. Benz urteilte zuvor schon ähnlich: „Das Historische, das jeder Legende als ein eigentümlicher Hintergrund dient, ist für den ganzen Zusammenhang aufgehoben in einer höheren Ordnung" 24 . Den grundsätzlichen Unterschied zu den bekannten volksetymol. Namensableitungen belegen Vergleiche mit der Legenda aurea25. Dennoch gibt es auch kultwirksam gewordene Weitervermittlungen ma. Namens-E.n von Heiligen, vornehmlich für die Ausprägung ihrer Attribute bei bildlichen Darstellungen: der Hund des hl. Dominikus (domini canis), das Lamm der hl. Agnes (agnus), die Rose der hl. Rosalia etc. 26 . Ikonographische Attribute wiederum sind optische Erzählstützen der Legendentradierung, wollen erklärt und gedeutet sein. E. und Ätiologie reichen sich hier die Hand. Dies ist auch der Punkt, an dem —» Luther die Allegorese im Dienst der Verkündigung zuließ und darum manche Legende nicht als Lügende bezeichnete (was schließlich selbst zum rhetorischen Etymologisieren gehört) oder platte Volks-Ε. wie die des Valentin verwarf, sondern als gute ,Gedichte' (im Gegensatz zur wahren ,Geschichte') wegen ihrer inneren Wahrheit weiterempfahl, ζ. B. die von —» Christopherus und von —> Georg 27 . Christopherus solle man als den interpretieren, der Christus im Herzen trägt. Das aber ist genau der theol. Kern und Ausgangspunkt seiner
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Legende 28 , die über das konkretistische Mißverstehen bildlicher Darstellungen zur ätiologischen Erfindung vom Christkind tragenden Riesen geführt hat: E. als Auslöser von erzählend erläuternder Heiligengeschichte. Dieses Phänomen gehört in den weiteren Umkreis metaphorischer Rede, deren Bilder erzählte Wirklichkeit werden können, sozusagen etymol. Denken entspringen und dadurch oft genug ätiologischen Sinn erhalten, wie auch in der Legendenüberlieferung allg.: „Milstatt in Kärnten ist ,Tausend'stadt von den 1000 Götzen, die Herzog Domitianus-Tuitianus dort zerstörte [ . . . ] . Blühnbach bei Salzburg hat seinen Namen davon, daß Erzbischof Hartwig dort am Andreastag [. . .] einen Zweig von einem Baum brach, der sogleich zu blühen anfing. Der Basilianermönch Petrus de Ciano wurde von einem Grafen im Wald beim Kloster in einem brennenden Dornbusch stehend im Gebet gefunden; daher sein Name Petrus Spina" 29 etc.
6. Sage. Die folkloristische Forschung kennt seit J. Folkers den Begriff der etymol. Sage als Haupttypus ätiologischer oder Erklärungssagen (—» Ätiologie) 30 . Sie werden von L. Mackensen Namenssagen genannt und als Sprachmythen bezeichnet 31 . Es gibt dafür zahllose Beispiele, die sich in der Mehrzahl an Plätze, Ortschaften, Gebäude, Brücken, Straßen, Gehölze, Berge, Felsen, Seen (cf. —> Denkmalerzählungen) und Menschennamen heften. Letztere Erklärungsgeschichten werden bisweilen auch genealogische oder Geschlechtersagen genannt. Mackensen unterscheidet sechs Typen 32 : Der Name wird (1) mit dem Namen des (mythischen und zu diesem Zweck erfundenen) Gründers oder eines früheren Siedlers, (2) mit einem Zustand vor oder bei der Gründung, (3) einem Ausspruch kurz vor oder bei der Gründung, (4) einem Ereignis, (5) der Lage des Ortes, dem Beruf oder der Gesittung der Bewohner, (6) dem Wappenschild in Zusammenhang gebracht.
Reiches Material aus der Flurnamenforschung hat W. Schoof zusammengetragen und dabei Natursagen, geschichtliche Sagen und religiöse Sagen unterschieden 33 : „Besonders zahlreich wuchern solche Sagen in romantischen, überhaupt in wald- und wasserreichen Gegenden empor. Hier werden falsch verstandene Namen von steilen Abhängen und Felsen, einsamen Waldschluchten, stillen Weihern und Quellen, erratischen Blöcken und uralten Bäumen
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Etymologie
Gegenstand der schöpferischen Volksphantasie. Kriegslegenden, mythologische und kirchliche Gestalten, geheimnisvolles Treiben von Hexen und Dämonen (Teufelssagen) spielen eine große Rolle. So entstanden durch volkstümliche Entstellung alter, unverständlich gewordener Namen die Sagen von den Kinderteichen und Ammenbornen, den Mordeichen und Teufelskammern, von den Taufsteinen, Höllentälern, Donnerkauten, Hexentanzplätzen, von den Wichtelhäusern, versunkenen Goldschätzen usw." 34 .
Pflanzennamen-E.n hingegen bieten kaum erzählerischen Ertrag 3 5 . Erzählerisch folgenreicher sind komplexere Erklärungsfelder wie das geheimnisvolle —» Freimaurerwesen. In etymologisierenden Sagen erwächst, unterstützt vom gegnerischen Fremdstereotyp, ein vollständiger Antimythos dieser Gesellschaften 3 6 . Auslöser sind die deutbaren Begriffe bauen, frei, Meister, Logen. Es ließen sich weitere Themenbereiche der Sage ausmachen, bei denen die E. eine bes. Rolle spielt, u. a. die verkaufsfördernden Biermythen mit König Gambrinus (aus Jan Primus), dem Bockbier (aus Einbeckisch Bier) samt Steigerung zum Doppelbock mit entsprechenden Sagen 37 . In einigen der weitverbreiteten Rheinsagen spiegelt sich bes. deutlich das Verortungsprinzip von Wandermotiven mit Hilfe etymol. Aufhänger. Aus einem Mautturm wird der —> Mäuseturm von Bingen, dem auf diese Weise das Motiv der rächenden Verfolgung zuwachsen kann, und die Sagengestalt der —» Lorelei verdankt wohl der Volks-Ε. ihren Ursprung. Der erste Bestandteil des alten rhein. Felsnamens wurde an den Mädchennamen Lore angelehnt. Gelegentlich schrieb man den Namen Lore Ley 38 . In der Heldensage gelten hingegen von der antiken Epik an die ,redenden Namen' 3 9 , wie sie auch im Märchen begegnen 4 0 . 7. M ä r c h e n . „Personen und Dinge des Märchens sind im allgemeinen nicht individuell gezeichnet", weshalb Personennamen oft genug fehlen und auch einer wie Hans „fast zum Gattungsnamen" geworden ist 41 . Der -> Name besitzt im Märchen jedoch auch signifikante Bedeutung, wenn Helden mit redenden Namen auftreten, die ein wesentliches Erzählmotiv anklingen lassen. Doch handelt es sich hier keineswegs um etymol.
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Ableitungen wie etwa bei Legende und Sage, sondern eher um — genetisch gesprochen — nachträgliche Benennungen, die den Stilprinzipien der erzählerisch verwirklichten fiktiven Märchenwelt entsprechen. In ihr geht es nicht um erklärendes Argumentieren, sondern um hinweisende Setzungen. Die Namen der handelnden Figuren sind Rollennamen. Sie sagen kaum oder selten etwas über das Wesen der Personen aus, schon eher etwas über ihr zeitweises Äußeres: Eiserner Heinrich, Aschenputtel, Dornröschen, Schneewittchen, Hans Dumm etc. Personennamen dienen zugleich der kontrastierenden Typisierung, ζ. B. Grindkopf und Goldener. Ortsnamen finden sich im Märchen noch seltener, weil es im Gegensatz zu der lokalisierenden Sage in einer abgeschlossenen fernen Welt spielt. Eine weiße Taube, die zum Roten Meer fliegt, verweist nicht auf eine geogr. Region, sondern auf eine Wundergegend, auf ein Fabelland. Wenn dennoch Namen wie Engelland, Heiligeland (Helgoland), Rhein und Mosel (für reines und mosiges, dunkles Wasser) gebraucht werden, dann im volksetymol. Sinne des Anklangs an überörtliche Bedeutungen 4 2 . Im Märchen sind die Dinge selbst schon etymol. aufgeladen. Bei der Nennung von Wasser oder Gold schwingt zugleich alles mit, was die Erzähltraditionen damit stets verbunden haben. Den splendor auri ζ. B. umgibt eine ganze Vorstellungswelt: Gold bedeutet Vermögen, Schatz, Tribut, Belohnung, Geld, Münze, Unterstützung, aber auch Fluch etc. Wasser ist,Wasser des Lebens', denn es belebt, erhält Leben etc.; Eisen macht stark, kündigt Stärke an etc. In den Dingen steckt eine Vielfalt von Möglichkeiten für Erzähler und Hörer. Sie erschauen über signifikante Begriffe eine Welt, welche die Dimension der Alltagswirklichkeit erweitert. Im Kunstmärchen ist dies noch bewußter formuliert worden. Goethe verlangt im Rahmengespräch zu seinem Märchen (1795), daß die Phantasie sich von den Gegenständen nicht einengen läßt. Sie soll vielmehr „uns in uns selbst bewegen, und zwar so, daß wir vergessen, daß etwas außer uns sei, das diese Bewegung hervorbringt" 4 3 . 1 Isidori Hispalensis episcopi etymologiarum sive originum libri XX. t. 1 - 2 . ed. W. M. Lindsay. Ox.
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Euhemerismus
1911 [u. ö.], hier 1, 29, 1 (auch MPL 82). - 2 Curtius, E. R.: Europ. Lit. und lat. MA. Mii. 3 1961, 4 4 7 - 4 5 2 ; Sanders, W.: Grundzüge und Wandlungen der Ε. In: Ε. ed. R. Schmitt. Darmstadt 1977, 7 - 4 9 , hier 21 sq. (mit Lit.). - 3 Curtius (wie not. 2) 4 8 6 - 4 9 0 , hier 487. - 4 Grubmüller, Κ.: E. als Schlüssel zur Welt? Bemerkungen zur Sprachtheorie des MA.s. In: Verbum et signum 1. Festschr. F. Ohly. Mü. 1975, 2 0 9 - 2 3 0 , hier 219. - 5 ibid., 2 2 8 - 2 3 0 . - 6 Sanders (wie not. 2) 17. - 7 ibid., 18. - 8 Leclercq, J.: Wiss. und Gottvertrauen. Zur Mönchstheologie des MA.s. Düsseldorf 1963,124. — 9 Seebold, Ε.: E. Eine Einführung am Beispiel der dt. Sprache. Mü. 1981, § 45 - 5 0 . - 10 Panagl, O.: Aspekte der Volksetymologie. Innsbruck 1982, 6. 11 Seebold (wie not. 9) § 342. - 12 ζ. B. Kluge, F.: Etymol. WB. der dt. Sprache. B. 1883 (zahlreiche Neubearb.en). - 13 cf. Panagl (wie not. 10) 16sq. - 14 Pfister, Ε.: E. In: H D A 2, 1 0 6 4 - 1 0 6 9 (vornehmlich nach Andresen, K. G.: Über dt. Volks-Ε. Heilbronn 1876 [Lpz. 7 1919]); Schoof, W.: Volksetymologie und Sagenbildung. In: ZfVk. 27 (1917) 2 1 6 - 2 3 2 (mehr nicht erschienen); Mackensen, L.: Name und Mythos. Sprachliche Unters, zur Religionsgeschichte und Vk. Lpz. 1927. - 15 cf. Panagl (wie not. 10) 20. - 16 ibid., 21. - 17 ibid., 18. - 18 Sanders, W.: Zur dt. Volksetymologie. In: Ndd. Wort 11 (1971) 4, zitiert nach Panagl (wie not. 10) not. 18. - 19 cf. Assmann, D.: Volksetymologie und Heiligenverehrung. In: Festschr. K. Finsterwalder. Innsbruck 1971, 405 — 413, hier not. 2. - 20 Bach, Α.: Die dt. Personennamen. B. 1943, 575. 21 Brückner, 556. — 22 Realenc. für Protestant. Theologie und Kirche 8. Lpz. 3 1900,561. - 23 Günter 1949, 17 sq. - 24 Legenda aurea/Benz, XIII. 25 ζ. B. für Augustinus (28. 8.) und Valentinus (14. 2.), cf. Legenda aurea/Benz, 634 sq. und 205 sq. 26 Assmann (wie not. 19) 409—411; Mackensen (wie not. 14) 2 6 - 3 6 . - " B r ü c k n e r , 528; zu Valentin cf. Mackensen (wie not. 14) 26 sq. - 2 8 Rosenfeld, H. F.: Der hl. Christophorus. Lpz. 1937. 29 Günter 1949, 18sq. - 3 0 Folkers, J.: Zur Stilkritik der dt. Volkssage. Diss. Kiel 1910, 3 3 - 3 8 ; Bodker, Folk Literature, 90. — 31 Mackensen (wie not. 14) 9; danach Bach (wie not. 20) 575 sq. - 32 Mackensen (wie not. 14) 9 - 1 9 ; danach Pfister (wie not. 14) 1069. - 33 Schoof (wie not. 14) 2 1 6 - 2 3 2 . - 34 ibid., 218. - 35 Pfister (wie not. 14) 1066 sq. — 36 Mackensen (wie not. 14) 4 1 - 4 3 . - 37 ibid., 43 sq. - 3 8 Bach (wie not. 20) 5 67. - 39 Curtius (wie not. 2) 486. - 40 Bach (wie not. 20) 5 5 7 - 6 0 4 . 41 Lüthi, Märchen ( 7 1979) 27sq. - 4 2 Thimme, Α.: Das Märchen. Lpz. 1909,147. - 43 Goethes Sämmtliche Werke 5. Mit Einl.en von K. Goedeke. Stg. 1885, 561 sq. (Zitat p. 562).
Würzburg
Annemarie Brückner
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Euhemerismus ist ein Terminus, der sowohl ein Prinzip rationalisierender Mythenerklärung als auch die mythische Entwicklungsgeschichte der Götter- und Heldengestalten bezeichnet; er ist deshalb für die Forschungsgeschichte der Mythologie und der Religionswiss. e b e n s o wie für die Märchenforschung von Wichtigkeit. D a s Wort bezieht sich auf den hist. E u ( h ) e m e r o s (ca 3 4 0 — 2 6 0 a. Chr. n.), einen griech. Schriftsteller, der den b e deutenden phantastisch-utopischen R e i s e b e richt Hiera anagraphe (Hl. Aufzeichnung) verfaßt hat, welcher nur fragmentarisch in den Schriften des Eusebius (ca 3 0 0 p. Chr. n.) erhalten ist. Eusebius hat seinerseits das M a terial einem inzwischen verlorengegangenen B u c h des D i o d o r o s (1. Jh. p. Chr. n.) e n t n o m men 1 . Euhemeros erzählt, er sei bei einer Seereise nach Osten auf eine Gruppe von Inseln gestoßen, die von den Panchaiern bewohnt gewesen seien. Dort habe er im Zeustempel eine Goldsäule gefunden, auf der, eingeschnitten von Zeus selbst, dessen Taten sowie die seines Vaters Kronos und seines Großvaters Uranos zu lesen waren. Nach diesem Zeugnis sei Zeus ebenso wie sein Vater und Großvater einst König des von Menschen bewohnten Teiles der Erde gewesen. Alle drei seien wegen ihrer zahlreichen Verdienste um die Menschheit in den Rang von Göttern erhoben worden. E u h e m e r o s wurde von späteren Generationen und bes. von den christl. R ö m e r n und den Gelehrten der europ. Aufklärung als Gotteslästerer und Atheist angesehen. D i e s e A u f fassung ist jedoch nicht berechtigt, denn E u hemeros bestritt weder die Existenz noch die Göttlichkeit der olympischen Götter 2 . Er hat sogar, indem er Uranos als den ersten König und als Erfinder der A s t r o n o m i e und der Gottesopfer feierte, reine, w e n n auch anthropomorphisierte Mythen erzählt. Trotzdem ist sein N a m e stets mit der Entgöttlichung der Gottheiten verbunden geblieben. B e i der V e r w e n d u n g des Begriffs E. zeigt sich eine gewisse terminologische Verwirrung. Zunächst muß man eine Trennungslinie zwischen den Euhemeristen selber und denjenigen ziehen, die einen Euhemerisierungsvorgang in alten Texten vermuten. D i e E u h e m e risten lassen sich ihrerseits in zwei Hauptgruppen teilen. E s sind die sog. ,naiven' 3 und
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Euhemerismus
die meist christl., rationalisierenden Euhemeristen. Zu der ersten Gruppe gehört z.B. —» Saxo Grammaticus, der die Geschichte der skand. Götter nacherzählt hat, als seien die Gottheiten hist. Gestalten, die in Verbindung mit dem dän. Königshaus standen. Zu den ,naiven' gehört auch Snorri Sturluson, der in seiner Vorrede zur Prosa-Edda (—> Edda) glaubhaft machen wollte, daß die Aesir sterbliche Abkömmlinge des trojan. Königshauses in Asien gewesen seien. Die rationalisierenden Euhemeristen dagegen bestehen hauptsächlich aus den zum Christentum bekehrten Römern, die den heidn. Göttern ihre Heiligkeit bestreiten wollten 4 , und aus den von jenen Römern beeinflußten Philosophen und Theologen der europ. Aufklärung, die diese Gottheiten als hist. Menschen betrachteten. Der Franzose A. Banier (1675-1741) 5 und der Engländer S. Shuckford (1694-1754) 6 z.B. haben diesem Thema Bücher gewidmet, und selbst D. Hume (1711—76) versuchte, die polytheistischen Religionen durch E. zu erklären 7 . Bes. wichtig für die Erzählforschung sind jene Gelehrten aus dem 19. und 20. Jh., die Euhemerisierungsvorgänge in Epen, Historien, Sagen und Märchen vermutet haben. Für sie enthalten diese frühen Texte verklungene Mythen, ihre Helden seien vermenschlichte Götter. Obwohl sie den Begriff E. nicht verwendeten, haben die Brüder Grimm, die in Märchen und Sagen Überreste alter Mythen zu finden glaubten, den Anstoß zu dieser Interpretationsmöglichkeit gegeben. W. —» Grimm z.B. behauptet 1850 in dem Kommentarband zu den KHM, daß das Mythische die Grundlage der Märchen gewesen sei; anderswo schreibt er, „in diesen Volksmärchen liegt lauter urdeutscher Mythos, den man für verloren gehalten" hat 8 . Ähnlich war J. —> Grimm davon überzeugt, daß „aller sage grund mythus" sei9. Diese Art von romantischem E. wurde von den sog. Naturmythologen übernommen, die in den Märchen- und Sagenhelden vergessene Gottheiten der Sonne (—»Sonnenmythologie), des Mondes (—> Mondmythologie), des Sturmes, der —> Pflanzen etc. vermuteten. F. M. —> Müller, G. W. ->· Cox, A. Kuhn, A. De Gubernatis und O. Henne am Rhyn sind hier bes. zu erwähnen 10 .
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Die Erzählforschung — bes. in Deutschland — hat auch später die Stimme der germ. Götter in den ,dt.' Märchen zu hören versucht 11 , und die Zahl solcher Untersuchungen nahm im Dritten Reich noch erheblich zu 12 . Obwohl diese Untersuchungen einer ideologisierten Germanistik abzulehnen sind, verdienen andere Versuche, euhemerisierte Mythen in Epen, Historien, Sagen und Märchen festzustellen, durchaus Beachtung. Bes. erwähnenswert ist in dieser Hinsicht S. Wikanders Deutung des —» Mahäbhärata als euhemerisierter Mythologie 13 sowie sein Nachweis eines idg. eschatologischen Themas in einer Episode bei Saxo14. Erwähnenswert ist auch G. —> Dumezils Deutung der ersten sieben Bücher der Geschichte Roms des Livius als euhemerisierter Mythologie 15 . Andere Forscher, die euhemerisierte Mythologie in Epen, Historien und Erzählungen festgestellt zu haben glauben, sind C. S. Littleton 16 , D. —> Ward 17 und L. Gerschel 18 . Zusammenfassend hat Dumezil solche Versuche dargestellt, diskutiert und erläutert 19 . Auch das Märchen wird heute noch als euhemerisierte Mythologie gedeutet. Die weitaus beste dieser neueren Studien ist zweifellos H. Gehrts gründliche Untersuchung des Märchens Die zwei —»Brüder (AaTh 303), dem ein idg. Zwillingsritus (lat. devotio etc.) zugrunde liegen soll20. —> Anthropomorphisierung, —> Mythologie, —»Mythol. Schule, —> Survivaltheorie I Für eine Zusammenstellung der fragmentarischen Texte v. Jacoby, F.: Die Fragmente der griech. Historiker 2. B. 1923, 3 0 0 - 3 1 3 . - 2 Bolle, K.: In Defense of Euhemeros. In: Puhvel, J. (ed.): Myth and Law among the Indo-Europeans. Berkeley/L. Α./ L. 1970, 1 9 - 3 8 . - 3 Begriff von Bolle (ibid.). 4 Schippers, J. W.: De ontwikkeling der euhemeristische godencritiek in de christelijke latijnse literatuur. Groningen 1952. - 5 Banier, Α.: La Mythologie et les fables expliquees par l'histoire 1 - 3 . P. 1 7 3 8 - 4 0 . - 6 Shuckford, F.: The Sacred and the Profane 1 - 2 . L. 1 7 2 8 - 3 0 . - 7 Hume, D.: The Natural History of Religion (1757). ed. H. Root. L. 1956, 39. - 8 Grimm, W.: Kl.re Sehr. 1. B. 1881, 330. - 9 Grimm, J.: Kl.re Sehr. 8. B. 1890, 148. 10 Dorson, R.: Peasant Customs and Savage Myths 1 - 2 . Chic. 1968. II Funke, U.: Enthalten die dt. Märchen Reste germ. Götterlehre? Diss. Bonn 1932. - 12 Emmerich, W.: Germanistische Volkstumsideologie. Genese und Kritik der Volksforschung im Dritten
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Eule
Reich. Tübingen 1968; Moser-Rath, E.: Art. Deutschland, Kap. 2.14. In: E M 3, 5 5 1 - 5 5 3 . 13 Wikander, S.: Pändava-sagan och Mahäbhäratas mytiska förutsättningar. In: Religion och Bibel 6 (1947) 2 7 - 3 9 ; Gehrts, H.: Mahäbhärata. Das Geschehen und seine Bedeutung. Bonn 1975. — 14 Wikander, S.: Germ, und indo-iran. Eschatologie. In: Kairos 2 (1960) 8 3 - 8 8 . - 15 Dumezil, G.: Jupiter Mars Quirinus. t. 1: Essai sur la conception indo-europeenne de la societe et sur les origines de Rome. P. 1941. - 16 Littleton, C. S.: Some Possible Indo-European Themes in the Iliad. In: Puhvel (wie not. 2) 2 2 9 - 2 4 6 . - 17 Ward, D.: The Divine Twins. An Indo-European Myth in Germanic Tradition. Berk./L. A. 1968. - 18 Gerschel, L.: Sur un Scheme trifonctionnel dans une famille de legendes germaniques. In: Revue de l'histoire des religions 150 (1956) 5 5 - 9 2 . - 19 Dumezil, G.: Mythe et epopee. L'ideologie des trois fonctions dans les epopees des peuples indo-europeens. P. 2 1973. 20 Gehrts, H.: Das Märchen und das Opfer. Unters.en zum europ. Brüdermärchen. Bonn 1967. L i t . (soweit nicht in den not. genannt): Cox, G. W.: Tales of Gods and Heroes. L. 1862. — Sieroka, O.: De Euhemero. Diss. Königsberg 1869. - Kuhn, Α.: Über die Entwicklungsstufen der Mythenbildung. B. 1873. - Henne am Rhyn, O.: Die dt. Volkssage im Verhältnis zu den Mythen aller Zeiten und Völker. Lpz. (1874) 2 1879. - Block, R. de: Evhemere: Son livre & sa doctrine. Diss. Möns 1876. - Kuhn, Α.: Mythol. Studien 1 - 2 . Gütersloh 1 8 8 6 - 1 9 1 2 . - Cox, G. W.: An Introduction to the Science of Comparative Mythologie and Folklore. L. 1887. — Jacoby, F.: Euemeros. In: Pauly/ Wissowa 6,1 (1907) 9 5 2 - 9 7 2 . - Geffcken, J.: Euhemerism. In: E R E 5 (1912) 572sq. - Nilsson, M. P.: Geschichte der griech. Religion 1—2. Mü. 1 9 4 1 - 1 9 5 0 . - Brown, T. S.: Euhemeros and the Historian. In: Harvard Theological Review 39 (1946) 2 5 9 - 2 7 4 . - Goldammer, Κ.: Ε. In: R G G 2 ( 3 1958) 731. — de Vries, J.: Forschungsgeschichte der Mythologie. Mü. 1961.
Los Angeles
Donald Ward
Eule. Mehrere Eigenschaften der E.n (strigiformes) 1 wie hervorragende Nachtsicht und guter Gehörsinn haben magische, religiöse oder symbolische Deutungen ausgelöst, die in der Regel auf alle E.narten bezogen werden; nur ζ. T. wird unterschieden zwischen kleineren E.n (u. a. noctua, strix) und dem Uhu (bubo). Die E. wird dämonisch aufgefaßt, sie zieht in der —» Wilden Jagd Hackelbergs mit 2 ; ein Uhu, der sich tagsüber in eine Scheune geflüchtet hat, wird für ein Ungeheuer gehal-
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ten 3 . Hexen und Teufel treten als E.n auf 4 ; oft werden mit der E. Zauber und Gegenzauber verbunden 5 . Liebes- und Glückszauber sowie Verwandlungen sind vielfältig belegt 6 . Mehrfach tritt die E. als —> Seelentier auf 7 . Teile der E. werden seit der Antike auch medizinisch verwandt 8 . Die bis zur Gegenwart geglaubte apotropäische Wirkung einer an ein Gebäude genagelten E. gegen Feuer und Blitz9 wird bereits von Columella (De re rustica 10, 3 4 8 - 3 5 0 ; um 60 p. Chr. n.) erwähnt 10 . Die Lebensweise der E. in der Dämmerung bzw. Nacht ist frühzeitig (Pseudo-Aristoteles, Historia animalium 9, 619 b, 18) festgestellt worden und, ausgehend u. a. von —»Isidor von Sevilla (Etymologiae 12,7,40), im MA. und darüber hinaus reich belegt 11 . Sie wird auch verbunden mit der — naturwiss. falschen 12 — Annahme, die E. sei tagblind 13 . Dies wird oft auf Blindheit dem Wahren und Guten, insbesondere dem göttlichen Heil gegenüber 14 , gedeutet. Späte lat. Rezensionen des —> Physiologus deuten, ausgehend von Ps. 101,7, das Käuzchen (nocticorax) auf die Juden, die das Licht des Heils verschmäht hätten 1 5 . Die erste griech. Rezension und die lat. Fassungen y und c hingegen legen das Käuzchen auf Christus aus, der die in der Finsternis lebenden Heiden mehr geliebt habe als das erwählte Volk 1 6 . Die negative Deutung hält sich in verschiedenen Werken der Tierauslegung bis weit in die Neuzeit 1 7 . Auf die Blindheit derer, die sich der Welt zuwenden und denen ein Spiegel vorgehalten werden müsse, wird auch der Name —» Eulenspiegel gedeutet 1 8 . Die Scheu der E. vor dem Tag begründet Ovid (Metamorphosen 2, 589—595) in einer Verwandlungserzählung: Nyktimene trieb Unzucht mit ihrem Vater Epopeus, König von Lesbos. Athene verwandelt sie in eine E., doch verbirgt sich diese vor Scham im Dunkel der Nacht 1 9 . — Die Scheu der E. vor dem Licht ist Ausgangspunkt für die zum Sinntypus ,Wer nicht hören will, muß fühlen' gehörende äsopische Fabel von Grille und E. (Phädrus 3,16): Die Grille stört die tagsüber in einem hohlen Baum ruhende E. durch ihr Zirpen. Als sie damit trotz Bitten nicht aufhört, wird sie von der E. getötet (Wienert, 118, ST 280). - In einem Märchen der Selknam Indianer (Feuerland) verbirgt sich ein Mörder aus Furcht vor Rache in einem hohen Baum und nimmt, je länger er sich verbirgt, das Aussehen eines Vogels (E.) mit grünen Augen an 2 0 .
Öfter wird die Scheu der E. vor dem Tag ätiologisch verknüpft mit der Feindschaft der
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Tagvögel gegenüber der E. 2 1 . D a ß andere V ö g e l , insbesondere Krähen und Greifvögel, die E. bei Tag umflattern, auf sie ,hassen', ist frühzeitig festgestellt 2 2 und im Sinne einer Feindschaft dieser Vögel mit der E. gedeutet worden. Begründet wird diese auch sprichwörtlich reich belegte 2 3 Feindschaft auf verschiedene Weise. (a) Die Vögel setzen als Preis für den Schönsten ihrer Art eine Rose aus, die von der E., die sich selbst für den schönsten Vogel hält, über Nacht gestohlen wird. Die E. wird durch Schiedsspruch dazu verurteilt, nachts zu fliegen; tagsüber soll sie von den anderen Vögeln angefeindet werden (Tubach, num. 3555); —» Odo of Cheriton (12. Jh.) bezieht in einer hieran anschließenden geistlichen Auslegung die Rose auf die menschliche Seele, die E. (hier: Uhu) auf den ihr nachstellenden Teufel 24 . (b) Der Zaunkönig, der bei der Königswahl die Vögel betrogen und sich der Verfolgung durch sie, in ein Erdloch flüchtend, entzogen hatte, soll von der E. bewacht werden. Diese schläft jedoch ein, der Zaunkönig entkommt, und die E. zieht sich so die Feindschaft der übrigen Vögel zu (AaTh 221: —> Königswahl der Vögel)25. (c) Feindschaft hat die E. mit der Nachtigall, weil diese in der Nacht schöner singt 26 . Um vor den Nachstellungen der E. sicher zu sein, sitzt die Nachtigall stets in dornigem Gestrüpp. Die beigegebene geistliche Auslegung bezieht dies auf die menschliche Seele, die sich vor den Nachstellungen des Teufels durch ein rauhes, bußfertiges Leben rettet (Gesta Romanorum, cap. 228). (d) Die Feindschaft zwischen Krähe und E. begründet ein jap. Märchen: Die E. hat als Färbermeister allen Vögeln ihre Farbe verliehen. Nun kommt der Rabe und bittet um eine Farbe, die noch kein anderer Vogel habe. Er wird gänzlich schwarz gefärbt, weswegen er der E. bis heute gram ist. Diese verbirgt sich tagsüber vor ihm 27 . (e) Ein ind. Märchen führt die Feindschaft darauf zurück, daß die Krähe die Wahl der E. zum König der Vögel verhindert habe 2 8 . Gleich anderen mit d e m L e b e n in D u n k e l heit verbundenen Tieren wie —» Fledermaus, —> Spinne, —> Kröte ist auch die E. vielfach mit d e m N i m b u s des Unheimlichen umgeben. Ihrem Auftreten und insbesondere ihrem R u f 2 9 wird prodigienhafter Charakter beigelegt. So leitet Isidor ( E t y m o l o g i a e 1 2 , 7 , 3 8 ) die Bezeichnung ulula ,Eule' v o n griech. o l o lyzein ,heulen, wehklagen' ab, weil die E. Trauer ankündige. Als Todesbote erscheint die E. in der Antike öfter 30 , so vor Cäsars Ermordung bei Ovid (Meta-
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morphosen 15, 7 9 1 - 7 9 3 ) oder vor dem Tod der Dido bei Vergil (Aeneis 4,462 sq. mit dem Kommentar des Servius zur Stelle). In scherzhafter Weise spielt Ovid (Amores l,12,19sq. und 3,12,1 sq.) auf die E. als Unglücksbote an. In späteren Sagen und Erzählungen ist die E. oft Künderin von Unheil und Tod 3 1 . Mit negativen Eigenschaften wird die E. mehrfach verbunden 3 2 . Älterer Überlieferung folgend, hebt Isidor (Etymologiae 12,7,39) die pigritia des Uhus bes. hervor. In der ma. Predigtliteratur wird die E. als Bild der ignorantia oder accedia benutzt 3 3 und taucht auch in Laster-Darstellungen auf 3 4 . Vielfach gilt die E. als törichter und eitler Vogel. Sprichwörtlich ist geworden, daß die E. gerne ein Adler (Falke) sein möchte 35 . Dem Sinntypus ,Der Zufriedene und der Unzufriedene' ist die Fabel von E. und Habicht zuzuordnen: Die E. lobt den Habicht wegen seiner scharfen Klauen, seines Schnabels und Gefieders. Dieser rät ihr, sich bei Jupiter die gleichen Gaben zu erbitten. Der kommt dem Wunsche auch nach, doch muß die E. sich von nun an auch mausern und verkriecht sich aus Scham über den Verlust ihres Gefieders in einer finsteren Höhle. Der —» Stricker (13. Jh.) benutzt diese Fabel, um das Verhalten eines Aufsteigers in der feudalen Gesellschaft zu kennzeichnen 36 . — Der eitle Stolz der E. auf ihre Jungen wird in der Fabel von E. und Falke behandelt 37 : Die E. bittet den Falken, ihre Kinder zu schonen. Auf dessen Frage, wie sie aussähen, antwortet die E., es seien die schönsten. Der Falke sieht die unförmigen jungen E.n und frißt sie (AaTh 247: Die schönsten -* Kinder). Ein Schweizer Anonymus des 15.Jh.s zieht die Moral: „So sind Leute, die ihre ungeratenen Kinder für vortrefflich halten" 3 8 . Ein Muster weiblicher Unzuverlässigkeit ist die E. in einem mhd. Bispel: Der Adler bietet der E. Minnedienst an, den diese auch annimmt. Bald kommt ein Falke, den sie gleichfalls erhört. Wegen ihrer Unbeständigkeit wird die E. von allen Vögeln gehaßt. Frauen sollen sich dies zur Warnung gereichen lassen 39 . Kalt berechnender Utilitarismus kennzeichnet die E. bei La Fontaine (11,9): Sie fängt Mäuse und beißt ihnen die Beine ab, um sie an der Flucht zu hindern. Dann mästet die E. sie mit eigens herbeigeschafftem Korn, um sie später verzehren zu können. Eine Reihe der angeführten negativen Eigenschaften der E. taucht in The Owl and the Nightingale auf, einem um 1200 entstandenen mittelengl. Streitgedicht 40 . Die Nachtigall — in dornigem Gestrüpp sitzend (cf. Gesta Romanorum, cap. 228) wirft der E. u.a. mißtönenden Gesang, häßliches Aussehen, Falschheit gegenüber anderen Vögeln, ein böses und deshalb lichtscheues Wesen 4 1 vor.
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Bei den Menschen sei sie unbeliebt, da sie ihnen nur Unglück verkündige.
Als Sinnbild der Klugheit wurde der Steinkauz (Athene noctua) Attribut der Athene/ Minerva und Wahrzeichen der Stadt Athen 42 . Die Wendung ,Ε·η nach Athen tragen' ist bereits bei Aristophanes (Aves, 301) Ende 5. Jh. a. Chr. n. sprichwörtlich gebraucht. Klugheit und Weisheit 43 werden der E. nachgesagt: In weiser Voraussicht rät die E. den anderen Vögeln, die Eiche zu vernichten, da auf ihr die ihnen später verderbliche Mistel wachse, und den Leinsamen zu vertilgen, damit später keine Fangnetze geflochten werden könnten; auch vor dem Menschen mit Pfeil und Bogen warnt sie. Die Vögel verlachen die E. und erkennen zu spät, daß sie recht hatte (Aesop, 105) 44 . - In einer Fabel Lessings wirft ein Schatzgräber, der in der Ruine eines Schlosses sucht, der E. vor, daß sie, der Vogel Minervas, unschicklicherweise Mäuse verzehre. Die E. entgegnet, sie könne nicht von Luft leben, und schließt: „Ich weiß zwar wohl, daß ihr Menschen es von euren Gelehrten verlanget — — 1 Clark, R. J./Smith, D. G./Kelso, L. H.: Working Bibliography of the Owls in the World. Wash. 1978. Allg. zu E.n: Glutz von Blotzheim, U. N. (ed.): Hb. der Vögel Mitteleuropas. 9: Columbiformes-Piciformes. Wiesbaden 1980, 2 2 7 - 6 4 0 (mit Bibliogr.; zur Nachtsicht: 2 2 7 - 2 2 9 ) ; Grzimeks Tierleben 8,2. [Zürich 1969] 3 7 7 - 4 0 6 , 4 9 3 - 4 9 5 . - 2 Pröhle, H.: Harzsagen, ed. W.-E. Peuckert. Göttingen 1957, 10sq.; cf. auch Grohmann, J. V.: Sagenbuch von Böhmen und Mähren. Prag 1863, 78; Grimm DS 311. - 3 Scobie, Α.: Strigiform Witches in Roman and Other Cultures. In: Fabula 19 (1978) 7 4 - 1 0 1 (Lit.); H D A 2 , 1 0 7 3 s q . ; Sieber, F.: Sächs. Sagen. Jena 1926, 212sq.; Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1. Wien 1880, 154; Schell, O.: Berg. Sagen. Elberfeld 2 1922, 300. - 4 R A C 6, 893sq.; StandDict. 2, 839; H D A 2, 1 0 7 3 - 1 0 7 5 ; Schmidt-Ebhausen, F. H.: Die E. im Volksglauben. In: Schwäb. Heimat 1 (1950) 211 sq.; Garza, H.: Owl-Bewitchment in the Lower Rio Grande Valley. In: Publ.s of the Texas Folklore Soc. 30 (1961) 2 1 8 - 2 2 5 ; zur E. als Orakeltier cf. Haussig, H. W. (ed.): WB. der Mythologie 1,2. Stg. 1973, 429. - 5 Pauly/Wissowa 12. Halbband (1909) 1067sq.; R A C 6, 893; H D A 2, 1074sq. - 6 Keller, O.: Die antike Tierwelt 2. Lpz. 1913 (Nachdr. Hildesheim 1963) 38; Pauly/Wissowa (wie not. 5) 1065; H D M 1, 632; H D A 2, 1076; Scobie (wie not. 3). - 7 H D M 1, 632; Haussig (wie not. 4) 1 (1965) 472 (Zentralasien), 557 sq. (Äthiopien). - 8 Pauly/Wissowa (wie not. 5) 1066, 1069; H D A 2, 1075sq.; H D A 4, 1196sq. - 9 Jahn, U.:
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Die dt. Opfergebräuche bei Ackerbau und Viehzucht. Breslau 1884, 62, 186 (mit Nachweisen zur Sagenüberlieferung). - 10 Weitere Nachweise: Keller (wie not. 6) 3 6 - 4 5 ; H D A 2, 1074; Jahn, U.: Volkssagen aus Pommern und Rügen. Stettin 1886, 587. 11 Henkel, N.: Studien zum Physiologus im MA. Tübingen 1976, 196 sq. Die Vorliebe der E. für die Nacht ist sprichwörtlich: Waither, H. (ed.): Proverbia sententiaeque latinitatis medii aevi. Göttingen 1967, num. 11.499, 24.551a; Wander, K. F. W.: Dt. Sprichwörter-Lex. 1. Lpz. 1867, 903sq., num. 33, 53—58. - 12 Grzimeks Tierleben (wie not. 1) 378. — 13 z.B. Pseudo-Aristoteles, Historia animalium 619b, 18; Plinius, Naturalis historia 10, 34; Isidor, Etymologiae 12, 7, 40; cf. auch Schwarzbaum, Fox Fables, 277. Die Tradition dieser A n sicht geht bis in die Neuzeit: cf. Gesner, C.: Vollkommenes Vogel-Buch. (Ffm. 1669) Nachdr. H a n nover 1981, 2. Teil, Bl. 193 rb. Erklärungen dieser Tagblindheit: Dh. 3, 270sq. (Mot. A 2233.3, A 2332.6.6 und A 2491.2 [Nigeria]). - 14 R A C 6, 8 9 6 - 8 9 8 (zur exegetischen Tradition der Patristik, die z.T. bis in die Gegenwart reicht). — 15 cf. Henkel (wie not. 11) 196. — 16 So auch u.a. Hugo von Folieto (12. Jh.), De avibus, cap. 34 (MPL 177,30). - 17 Lauretus, H.: Silva allegoriarum. (Köln 1681) Nachdr. ed. F. Ohly. Mü. 1971, 718; Frey, Η. H.: Therobiblia. Biblisch Thierbuch-Vogelbuch-Fischbuch. (Lpz. 1595) Nachdr. ed. H. Reinitzer. Graz 1978, Teil 3, 1 2 4 - 1 2 6 . - 18 So von J. Fischart in seiner Eulenspiegelbearb. (1573): „Derhalben mag es die Eulenzunfft also zu danck auffnemmen [. . .] und [sich] darvon abmanen lassen, allen fleiß anwenden, von den Nachteulen, zu den einfeltigen Dauben vnnd Kindern deß Liechts zu tretten" (J. Fischarts Werke 2. ed. A. Hauffen. Stg. [1895]); die Verbindung der E. mit der Narrheit ist auch in der Emblematik belegt, cf. Henkel, A./Schöne, A. (edd.): Emblemata. Stg. 1967, 889sq. (E. als Sinnbild der fatuitas). — 19 Auch in den Fabeln des Hyginus überliefert (ed. H. J. Rose. Leiden 2 1963, num. 2 0 4 , 2 5 3 mit weiteren Belegen). — 2 0 Wilbert, J.: Folk Literature of the Selknam Indians. L.A. 1975, num. 51. Auch sonst ist hier die Verwandlung eines Menschen in eine E. belegt, cf. num. 2, 5, 19, 34 sowie id.: Folk Literature of the Warao Indians. L.A. 1970, num. 172. 21 cf. Schmidtke, D.: Geistliche Tierinterpretation in der dt.sprachigen Lit. des MA.s. Diss. B. 1968, 285; Belege aus der Emblematik: Henkel/Schöne (wie not. 18) 8 9 5 - 8 9 7 . Freundschaft besteht jedoch zwischen der E. und der ihr wesensverwandten Fledermaus, cf. Wilbert 1970 (wie not. 20) num. 36. — 2 2 Pseudo-Aristoteles, Historia animalium 609a, 8sqq.; Plinius, Naturalis historia 10, 39 und 203. Die moderne Naturwiss. bestätigt das, cf. Glutz von Blotzheim (wie not. 1) 344sq. Die E., insbesondere der Uhu, wird deshalb bis zur Gegenwart zu Vogeljagd bzw. -fang benutzt; cf. Vogt, H. H.: Hüttenjagd - das Todesurteil für den Uhu. In:
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Vogelkosmos 2 (1965) 3 2 3 - 3 2 5 . Bildliche Darstellungen der Vogeljagd in der ndl. Malerei des 1 5 . - 1 8 . Jh.s bespricht Blöte-Obbes, M. C.: De uil als lokvogel. In: Neerlands volksleven 22 (1972) 66—71; id.: D e symboliek van de uil bij Jeroen Bosch. In: Vk. 65 (1964) 2 4 - 2 6 . - 23 Walther (wie not. 11) num. 13.413, 19.234, 31.923; Wander (wie not. 11) 903 sq., num. 34, 38, 63, 65, 74, 82; Röhrich, Redensarten, 249sq. - 2 4 Hervieux4, 226sq.; Schwarzbaum, Fox Fables, 276, 279, not. 9; cf. Mot. A 2491.2, A 2494.13, Β 263.5. 25 BP 3, 2 7 8 - 2 8 3 ; Dh. 4, 1 6 0 - 1 8 4 ; Schwarzbaum, Fox Fables, 237, not. 7; cf. auch H D M 1, 634 sq. — 26 Zum häßlichen Gesang der Ε. cf. Schmidtke (wie not. 21) 284; er ist sprichwörtlich verbreitet: Wander (wie not. 11) 902sq., num. 10, 13 , 27, 36, 49. - 2 7 Jap. Volksmärchen. Übers. F. Rumpf. MdW 1938, 26sq. - 28 Lüders, E.: Buddhist. Märchen aus dem alten Indien. MdW 1921, 357—359; Benfey 1, 347 sq. - 29 Zur onomatopoetischen Deutung des Rufs von E., Käuzchen und Uhu cf. Keller (wie not. 6) 36. - 3 0 Für Ovid (Metamorphosen 5, 549) ist die E. „venturi nuntia luctus"; cf. weiter: Keller (wie not. 6) 42sq.; Pauly/ Wissowa (wie not. 5) 1065sq.; Lex. der Ägyptologie 2. Wiesbaden 1977, 39sq.; E. als Unglücksbote im Sprichwort: Walther (wie not. 11) num. 11.378, 17.078, 29.621a. 31 Scobie (wie not. 3) 96 (China); H D M 1, 632; BP 3, 365; Mot. Β 147.2.2.4; Wilbert 1970 (wie not. 20) num. 48; cf. von Beit 1, 301, 713. 32 Dem Judentum galt die E. nach Aussage des A.T.s (Lev. 11, 16; Deut. 14, 17) als unrein. Unsauberkeit wird der E. und dem Uhu sprichwörtlich nachgesagt: Walther (wie not. 11) num. 17.079, 31.977. - 3 3 So in einer Hugo von St. Viktor (gest. 1141) zugeschriebenen Predigt (MPL 177, 1090 sq.), ebenso bei Hugo von Folieto (wie not. 16) cap. 44 (MPL 177, 45). - 3 4 Schmidtke, D.: Lastervögelserien. Ein Beitr. zur spätma. Tiersymbolik. In: ArchfNSprLit. 212 (1975) 2 4 1 - 2 6 4 . - 35 Walther (wie not. 11) num. 23.890; Wander (wie not. 11) 902, num. 8. - 3 6 Schwab, U. (ed.): Der Stricker. Tierbispel. Tübingen 2 1968, 7 2 - 7 8 und Xsq.; Grubmüller, K.: Meister Esopus. Mü. 1977, 209sq.. - 3 7 Inhalt der Geschichte als Sprichwort belegt: Wander (wie not. 11) 902, num. 26. — 3 8 Fischer, H. (ed.): Eine Schweizer Kleinepikslg des 15. Jh.s. Tübingen 1965, num. 3. - 3 9 Pfeiffer, F. (ed.): Altdt. Beispiele. In: Z f d A 7 (1849) 3 3 3 - 3 3 6 . - 4 0 Gadow, W. (ed.): Das mittelengl. Gedicht E. und Nachtigall. B. 1909 (Nachdr. L./N.Y. 1970). 41 Diese Verbindung von bösem Wesen und Scheu vor dem Tage ist häufiger belegt, so etwa bei Hildegard von Bingen: Physica 6, 35 (MPL 197, 1301). - 4 2 Pauly/Wissowa 13. Halbband (1912) 1 4 0 4 1407; R A C 6, 891sq. - 4 3 cf. Mot. Β 122.0.3, Β 569.1, Β 569.2; außerdem C. F. Drollingers Fabel von Elster und E.: Die Elster verhöhnt die E., weil sie tagsüber in ihrer dunklen Höhle sitze. Der Ad-
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ler kommt und packt die ungeschützte Elster. Die E. hingegen sitzt in Sicherheit; cf. Drollinger, C. F.: Gedichte (Basel 1743). Kommentiert von U.-K. Ketelsen. Stg. 1972, 140sq. - 4 4 Zu den verschiedenen Formen dieser Fabel, in der anstelle der E. auch die Schwalbe auftreten kann, v. Perry, Β. Ε.: Demetrius of Phalerum and the Aesopic Fables. In: Transactions and Proc. of the American Philological Assoc. 93 (1962) 2 8 7 - 3 4 6 , hier 3 1 5 - 3 1 8 und Schwarzbaum, Fox Fables, 95 — 101; cf. Mot. Β 521.3.5 (Indien), anders: Mot. Β 521.5, Β 569.2: Ε. hilft dem Menschen. Emblematik: Henkel/Schöne (wie not. 18) 8 94. - 45 Lachmann, K./Muncker, F.: G. E. Lessings Sämtliche Sehr. 1. Stg. 1886, 203. Berlin
Nikolaus Henkel
Eulenspiegel 1. Forschung - 2. Hist. Ursprünge der E.sage — 3. Die Entwicklung der E.sage - 4. Populäre Erzählformen — 5. E.kult — 6. Das E.buch von 1500 — 7. Erzählmotive im E.buch 1. F o r s c h u n g . D a s sachliche Interesse an E.erzählstoffen ist sehr alt. Eigentliche wiss. B e m ü h u n g e n setzten erst z . Z t . der A u f k l ä rung ein: U . F . C . M a n e c k e ( 1 7 4 5 - 1 8 2 7 ) b e schrieb erstmals das E.lied (v. Kap. 4 ) 1 , K. F. Flögel m a c h t e 1 7 8 9 auf das E.,erbe' in Mölln aufmerksam und edierte das ndl. E.bild des 17. Jh.s 2 . In der Folgezeit ü b e r w o g das literarhist. Interesse am E.; ein Versuch, die mündl. E.Überlieferung in g r ö ß e r e m U m f a n g zusammenzutragen, erfolgte nicht. D i e Slgen v o n L. —» Aurbacher, Κ. V. —> M ü l l e n h o f f , A . —> Kuhn u n d F. L. W. —> Schwartz, Η. Biernatzki, E. D e e c k e und L. —> B e c h s t e i n 3 teilen nur einzelne Stücke mit. D e n n o c h gab es u m die Mitte d e s 19. Jh.s wertvolle Einzeluntersuchungen: H o f f m a n n v o n Fallersleben, der auch die ndd. Bearb. des E . b u c h e s in F o r m des Kölner D r u c k e s v o n Servais Kruffter (ca 1 5 3 3 ) auffand, untersuchte den E.grabstein 4 . B e c h s t e i n erklärte d e n E.stein z u m wichtigen Z e u g e n der E . s a g e 5 , u n d Ludwig —» U h l a n d äußerte sich dahingehend, daß E . unhistorisch und die E . s a g e erst aus d e m Buch entstanden sei 6 . L o k a l e Ü b e r l i e f e r u n g e n wurden v o n d e m Historiker J. M. L a p p e n b e r g und d e m Braunschweiger Sammler C. Sack aufgezeichnet 7 . Fast o h n e R e s o n a n z blieb eine wichtige E n t deckung, die der Kulturhistoriker J. v o n H e f -
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Eulenspiegel
ner-Alteneck machte: Er fand in einem Reisebericht von 1607/10 die farbige Wiedergabe des heute verschollenen ältesten E.bildes (ca 1480) im Möllner Rathaus 8 . E.wellerismen (cf. —» Wellerismus) wurden von E. Hoefer in größerer Zahl zusammengetragen 9 . Die bisher größte Gruppe von E.wellerismen — wenn auch landschaftlich begrenzt — legte W. Hofmann 1 0 vor. E.schwänke und -sagen in nennenswertem Umfang wurden erst von G. —> Henßen, R. —> Wossidlo und L. Frahm seit dem Ende des vorigen Jh.s publiziert 11 . Ein Korpus der mündl. E.erzählstoffe ist nach wie vor ein Desiderat 12 . Als Forschungsstätten sind zu nennen: Die E.abt. des Heimatmuseums Mölln (mit hist. Slg der E.hinterlassenschaft und Büchersammlung zum Thema E.); das E.museum Schöppenstedt (mit großer Büchersammlung und Dokumentation fast sämtlicher künstlerischer Äußerungen zum Stoff) 13 ; die systematisch wiss. E.-Lit. sammelnde Stadtbibliothek Braunschweig 14 ; die 1978 neugegründete Arbeitsstelle für Hermen-Bote- und E.forschung in Berlin (Spezialisierung auf E.Überlieferung in literar. und mündl. Zeugnissen und Dokumentation zum volkstümlichen E.bild und -erzählgut in dem seit 1977 vollständigen Pressearchiv) 15 . 2. Hist. U r s p r ü n g e der E.sage. Die Existenz eines hist. Vorbildes der E.sage ist für das 14. Jh. gesichert durch einen zeitgenössischen Merkvers über Tiel Ulenspegels Tod in Mölln 1350 (v. Kap. 4) und durch das Vorkommen eines Ritters Tilo dictus Ulenspegel in Zeugenlisten westfäl. Urkunden aus der 1. Hälfte des 14. Jh.s. Die ungedr. Urkunden wurden von dem Rechtshistoriker E. P. J. Spangenberg (1784-1833) gefunden, den jedoch der Tod an der Edition der Urkunden und Mittig der heute nicht mehr feststellbaren Fundorte hinderte 16 . Eine Auswertung der Lokalsagen (v. Kap. 4), der Tradition um das E.grab, des Bildes von ca 1480 und der Hinterlassenschaft E.s (v. Kap. 5) ergibt, daß sämtliche Überlieferungszweige übereinstimmend auf eine Standesperson mit Hofnarrenfunktion zurückführen. Die hist. Verläßlichkeit der lokalen Tradition wird durch die Tatsache gestützt, daß sie trotz der übermächtigen literar. E.figur bösartig-ver-
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werflicher Ausprägung (v. Kap. 6) an ihrem hl.mäßigen Stadtpatron (Tutela Molnae) festgehalten hat. Die ursprüngliche Funktion E.s als höfischer Spaßmacher wird durch die Beobachtungen bestätigt, die H. Lixfeld an oralen Schwanküberlieferungen gemacht hat. Danach hat sich die Sozialfunktion der Fürstenkritik durch den Hofnarren, die sich in verschmitzten, aber als dumm getarnten Streichen verbarg, nur hinsichtlich des sozialen Milieus verschoben 17 . Der Wechsel des Publikums (höfische Gesellschaft — Bürger und Bauern) findet in dem Wandel der E.figur seine Entsprechung: Der vornehme Hofmann sinkt zum Bürgergenossen bzw. Bauernknecht herab. Die Zugehörigkeit von professionellen Hofnarren (im Gegensatz zu natürlichen' —» Narren) zu den höheren Gesellschaftsschichten ist für das Spät-MA. gut bezeugt (—»Pfaffe vom Ka[h]lenberg, Ritter —> Neidhart Fuchs). Vielfach waren sie Inhaber wichtiger Ämter an den Höfen der Landesherren 18 . In diese Richtung weist die Bezeichnung des Tilo Ulenspegel als advocatus ducis durch Spangenberg. Der in Mölln verstorbene Tiel Ulenspegel paßt sowohl von seiner Soziallage als auch von seinem Vornamen her in die westfäl. Familie von Lünen, genannt Ulenspegel, die schildberechtigt war und in deren Stammfolgen die Namen Gerhard, Arnold, Dietrich und Johann regelmäßig miteinander abwechselten 19 . Daß die Form Thileman für Dietrich in der Familie von Lünen möglich war, zeigt ein Beleg für 1354 20 . Die ausgedehnte wiss. Diskussion über die Bedeutung des Namens Ulenspegel (Eule + Spiegel; Schleiereule; ul den spegel, d.h. wisch den Hintern 21 ) bleibt relevant für die Interpretation des E.buches. Die Familie Ulenspegel trägt ihren Namen eher nach einer Hausbezeichnung, wie sie für mehrere Hansestädte bezeugt ist 22 . Eine klare hist. Bestimmung wird erschwert durch den Verschmelzungsprozeß mit einer zweiten hist, bezeugten Person, auf die offensichtlich ein Teil der E.Überlieferung zurückgeht: Till von Kneitlingen (Tile bzw. Diderik van Cletlinge, nachweisbar 1339-51) 2 3 . 1351 heißt ein Dietrich von Kneitlingen in einer Urkunde ndd. Diderik, während er sich in seiner dazugehörigen Besiegelung Tileke nennt. Damit ist Tile für diese Person als Kurzform des Namens Dietrich ausgewiesen.
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3. Die E n t w i c k l u n g der E.sage. Daß zwei hist. Personen in der Sage zu einer zusammenwachsen, ist nicht ungewöhnlich (—> Herzog Ernst, Kaiser Friedrich) 24 . Die Elemente im E.buch, die auf die Erinnerung an den hist. Till von Kneitlingen zurückgehen, sind mit Händen zu greifen: Tills Geburt in Kneitlingen (Historie [Η.] 1 und Vorrede); sein Taufpate Thyl von vtzen (= von Uetze, H. 1); Verarmung der Familie (H. 2,3,5,6); Fortzug der Familie nach Osten (H. 2,3) und Anspielungen auf Raubritter ebenfalls zu Beginn des Buches (H. 1,10). Schwierigkeiten bereitet die Frage, warum gerade die Kontamination zweier Personen stattgefunden hat, die zwar denselben Vornamen trugen und beide um 1350 starben, sich aber in einer von Grund auf verschiedenen Sozial- und Interessenlage befanden. Während Status und Herkunft dem Möllner Till bei der Ausübung sozialkritischer Funktionen gegenüber dem Fürsten Rückhalt im Bürgertum gaben, repräsentierte der Kneitlinger den landsässigen Adligen in der Krise: Auswege wurden in antibürgerlichen Aktionen (so die in Braunschweig gesäte Schalkssaat; cf. Kap. 4) und Anpassungsbemühungen an die Territorialherren gesucht. Wahrscheinlich muß deshalb bei der Herausbildung des Sagenzyklus um E. eine Zwischenstufe angenommen werden, die erst die zwanglose Verknüpfung ermöglichte. Eine solche Zwischenform läßt sich in der Tat nachweisen, da am Kneitlinger E.hof —» Koboldsagen hafteten 25 , die leicht eine Verschmelzung mit der Koboldsage vom Bernburger E. ermöglichten 26 . In einem Turm, der E.turm hieß, hat E. nach der Haller Erzähltradition seine Seilkunststücke vorgeführt 27 , und in Marienthal hauste E. in derselben Weise, wie es auch andere Klosterkobolde taten 28 . Den Namen hat diese ostfäl. Sagengestalt offenbar von ihrem markantesten Wohnsitz erhalten, dem Bernburger E., einem der zahlreichen Turmnamen mit dem Bestimmungswort Eule (mlat. specula: Warte, Turm) 29 . Durch die Verknüpfung lokaler Kobolderzählungen zu einer überregionalen Sage erlangte diese E.koboldsage eine ähnliche biogr. Ausformung wie die Erzählung vom Pumphut, dem wandernden Müller- und Handwerkerknecht (ursprünglich Mühlenkobold), sowie von —»Bruder Rausch, dem
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dienstbaren Küchenknecht (ursprünglich Klosterkobold). Die Verbindung lokal verschiedener Stoffe wurde durch die Ausbildung des E.koboldes zum wandernden und Dienste annehmenden Knecht ermöglicht. Seine Bewertung erhielt durch die im 15. Jh. einsetzende Diabolisierung der —> Hausgeister 30 eine negative Komponente. Für die entwickelte E.koboldsage ist das E.buch eine wichtige Quelle. Der Kneitlinger E. wird wie Pumphut als —» Wechselbalg eingeführt (Η. 1), dient als Schabernack treibender Knecht in Küche und Keller (H. 10,11 und die ursprünglich nach 10 folgende H. 64), stiftet wie Bruder Rausch Streit (H. 4,9, 13), kocht wie dieser ein Lebewesen (H. 47), läßt wie der Kobold Hödeken einen Wagen während der Fahrt zu Bruch gehen, nachdem er ihn ,geschmiert' hat, und ,räumt' das Haus seines Dienstherren (H. 64). Diese Stoffe verraten sowohl durch ihre Lokalisierung sämtlich im ostfäl. Raum als auch durch ihre Häufung zu Beginn des Buches deutlich ihre Abhängigkeit von der E.koboldsage. 1411 haftete der Name E. bereits an dem Schalkssaatmotiv, wie aus dem Briefwechsel zwischen dem späteren Erfurter Propst J. Stalberg und dem Konziliaren D. von Nieheim hervorgeht 31 . Wenigstens der Schalkssäer Till von Kneitlingen war nun mit dem Kobold E. verschmolzen, was über den gemeinsamen Wohnsitz in Kneitlingen geschehen konnte. Um 1480 erscheint auch der Möllner E. mit einer abgewandelten Schalkssaat auf dem Rathausbild. 4. P o p u l ä r e E r z ä h l f o r m e n . Das einzige volksläufige Lied zum E.stoff ist durch einen späten, wohl Wolfenbütteler Druck von 1606 überliefert (Ein schoenes gedenckwirdigs Lied von Tilen E.n / der vor hundert vnd mehr Jahren in einem Dorff / Knedtling genannt / am Elm /[...] geborn [. . ,]) 32 . Es behandelt in 30 Strophen die Saat von Schälken auf dem Altstadtmarkt in Braunschweig (ähnlich H. 73) als vom Herzog von BraunschweigWolfenbüttel im publizistischen Kampf gegen die Stadt aktualisierte Fassung eines älteren Textes wohl des 15. Jh.s. Als G l o c k e n s p r a c h e sind mehrfach und in Var.n den Kirchenglocken der Möllner Stadtpfarrkirche St. Nikolai beim ,Beiern'
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(nicht Läuten) unterlegte Texte überliefert 3 3 (—> Glocke). Die Reime wurden zwar zum Glockenbeiern intoniert (.gesungen'), existieren aber nicht unabhängig davon als Lied. Historiographische M e r k v e r s e — im MA. entstanden und mündl., seltener schriftl. tradiert 3 4 — wurden in Mölln Anfang des 18. Jh.s aufgezeichnet 35 . Die hist. Gedenkverse entstanden unmittelbar nach den Ereignissen. Merkverse in ndd. Sprache sind nach dem 14. Jh. nicht mehr neu verfaßt worden, so daß die Entstehung des E.merkverses bald nach 1350 angesetzt werden kann. Zeugnisse für sein Vorhandensein um 1500 bieten die Grabschrift auf dem E.stein 352 und die Eintragung Botes ( „ D o suluest sterff vlenspeygel to molen") in seine Weltchronik 3 6 . Da sich eine chronikalische Vorlage dieser Notiz nirgends findet und Bote gebundene Rede seiner Quellen stets auflöste, wird ihm für diese Nachricht der Merkvers zur Verfügung gestanden haben. E . - S p r ü c h e sind im Gegensatz zum Sagwort nur vereinzelt als E. in den Mund gelegt nachweisbar 37 . E . - W e l l e r i s m e n (Sagwörter, Schwanksprüche) sind regional gesammelt worden von Hofmann, Henßen, Wossidlo und W. Flechsig; überregional, aber unvollständig, zusammengestellt bei O. Debus 3 8 . Die S c h w ä n k e des E.buches von 1500 entstammen laut W. Virmond sowohl schriftl. als auch mündl. Überlieferung 3 9 . Was vom Verf. an Lesestoffen aus literar. Vorlagen entnommen ist, war mindestens ebenso populär wie die eigentlichen, bis dahin mündl. tradierten Stoffe (v. Kap. 3). Die Benutzung gängiger Fazetienliteratur läßt sich sicher nachweisen. Motive und z.T. ganze Erzählungen sind entnommen aus den Werken Heinrich —> Bebels, Gian Francesco —> Poggio Bracciolinis, Franco —Sacchettis, Girolamo Morlinis, des —» Pfaffen vom Ka(h)lenberg, aus —* Salomon und Markolf, aus —> Strickers Pfaffen Amis und aus der —> Mensa philosophical. Dabei hat der Verf. diese Stoffe erstmals mit dem Namen E. verbunden, ihnen das passende landschaftliche Gewand verliehen, sie zuweilen mit aktuellen politischen Anspielungen versehen und sie gemäß seiner literar. Absicht umgearbeitet (v. Kap. 6). E. blieb auch weiterhin eine —» Kristallisa-
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tionsgestalt, ähnlich wie ihm verwandte Figuren (cf. —> Schelmentypen, —•> Claus Narr, Die beiden —» Gonnella, —> Hodscha Nasreddin). Die E.historien tauchen dann in der Folgezeit — oft noch mit den Spuren dieser literar. Bearb. behaftet — als mündl. Volkserzählstoffe in großer geogr. und nuancenreicher Breite im gesamten dt. Sprachraum wieder auf 4 1 . Vielfach dürften sie auch zu Neubildung nach dem Muster mißverstandener, wörtlich genommener Anweisungen angeregt haben. Im E.buch findet sich erstmals eine außerordentliche Häufung von Wortwitzen, während die sonstige Schwankliteratur der Zeit eher Handlpngs- und Situationskomik aufweist. Die Erzähltradition ist von der reichhaltigen Rezeption des E.stoffes seit dem 16. Jh. (Johannes —» Pauli, Hans —> Sachs, Johann —> Fischart bis hin zu Johann —» Nestroy, Julius Wolff, Günther Weisenborn, Bertolt Brecht, Christa und Gerhard Wolf) 4 2 und den unübersehbaren, z.T. erheblich veränderten Neudrucken des alten E.buches (—> Flugblatt, Flugschrift, ,Volks'buchsammlungen von G. O. Marbach, F. H. von der —» Hagen, J. Scheible, Η. A. O. Reichard und K. —* Simrock; cf. —> Volksbuch) stets aufs neue gespeist worden. Überdies haben E.schwänke nachweislich seit dem 16. Jh. als Predigtstoff gedient 4 3 . Für die Verbreitung unter Gelehrten und Geistlichen sorgten lat. Bearb.en 4 4 . Noch am wenigsten literar. beeinflußt erscheinen die zahlreichen Schwänke, die E. und seine Mutter zum Thema haben. E. mißversteht aus —> Dummheit, nicht aus List (cf. —> Mißverständnisse; —> Wörtlich nehmen) Anweisungen der Mutter. Diese E.schwankgruppe hat keine Entsprechung im E.buch, wohl aber in einem stark ausgeprägten Zug in der Möllner Überlieferung, der wiederum auf das Motiv ,der Narr und seine Mutter' zurückführen könnte. An S a g e n existiert neben der Gruppe der E.koboldsagen (v. Kap. 3) ein umfangreicher Kreis von Möllner E.sagen: E. verschafft den Möllner Bürgern die Stadtmark, indem er sich vom Herzog von Lauenburg so viel Land ausbittet, wie er an einem Tag umpflügen kann. Er pflügt dann eine Furche rund um die
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Mark 45 (AaTh 2400: cf. -> Gründungssage). E. hat sich einen bes. engen Becher anfertigen lassen, weil seine Mutter ihm geraten hat, die Nase nicht zu tief in den Becher zu stecken. — Wenn man nachts am E.grab ruft, erscheint E. gewappnet. — E. vermachte der Stadt Mölln (nach anderen dem Kloster Marienwohlde) sein Erbe, das jedoch aus der Kiste gestohlen und durch Steine ersetzt wurde. Mit diesen ist der Marktplatz gepflastert worden. - Auf E.s Grab wurde sein Wanderstab (ein Pappelstock, Ellhornbusch) gesteckt; wenn er wüchse, würde E. Gnade bei Gott finden. Aus dem Stab wuchs ein Baum (cf. AaTh 756: Der grünende —> Zweig)46.
E.erzählmotive kommen ferner in Gestalt von Wanderanekdoten 4 7 , Memoraten 4 8 , Redensarten (,Er spielt E.s Stück') 49 , Grabgedichten 5 0 und Scherzgedichten 51 vor. 5. E . k u l t . Unklar ist, ob die E.bilder in Kneitlingen und Marienthal auf eine lokale E.verehrung zurückgehen oder lediglich durch die Sage zu Abbildungen E.s erklärt worden sind. Stark ausgeprägt und gut bezeugt ist die E.verehrung in Mölln. Schon in der Mitte des 16. Jh.s vergleicht der lübeck. Chronist Reimar Kock sie mit der Verehrung eines Heiligen. Bereits Fischart beobachtete den Kult am E.grab in Mölln; Reisende machten darüber vom 16. Jh. an Aufzeichnungen. Anfang des 18.Jh.s ging Zacharias Konrad Uffenbach den Spuren E.s in Mölln nach und fügte seiner Slg ein handgemaltes E.blatt bei. Außer einer allg. Hochschätzung des ,olen Herrn' E. als Schutzpatron der Stadt (1685/99 Tutela Molnae) läßt sich ein E.kult in zwei Ausformungen feststellen: als jährliche Memorienfeier, bei der E.s Hinterlassenschaft prozessionsähnlich umhergetragen wurde (hat noch 1591 stattgefunden) 5 2 , und als Wallfahrt zum E.grab und E.stein. Ein Epitaph von 1513 setzt bereits den massenhaften Besuch der Grabstätte voraus 53 . 6. D a s E . b u c h v o n 1 5 0 0 . Als Verf. suchten 1892 C. Walther und L. Hänselmann nach einer glaubhaften Bemerkung in der Vorrede der Ausgabe von 1500 (abgeschlossen 1501 oder 1502) einen Braunschweiger Autor, den Zoll- und Akziseschreiber Hermen Bote, nachzuweisen 54 . E. Schröder hat die Verf.schaft Botes ausgeschlossen 55 , doch ist sie ohne Kenntnis der Argumente Schröders 18
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später aufs neue in Betracht gezogen worden 56 . Ob ein Akrostichon E R M A N B , das die Anfangsbuchstaben der Historien 90—95 in den Texten ab 1515 bilden, den Namen Hermen Bote mitteilen sollte, ist unsicher. Schon der bisher älteste, 1975 gefundene E.druck von 1510/11 ist in den vorhergehenden Akrosticha (vier Alphabete) bis H. 83 (die restlichen Bll. fehlen) stark gestört 57 . Selbst eine ungestört tradierte Folge E R M A N B besäße keine entscheidende Beweiskraft für die Verf.schaft Botes, da die Ordnung des E.buches nicht vom Verf. stammt 5 8 . Die Absicht des Verf.s war, zu belehren und zu unterhalten. Die Erzählstoffe des Buches (v. Kap. 7) sind nicht einfach zusammengetragen, sondern zu einem erstrangigen literar. Kunstwerk gestaltet worden. Die E.figur erscheint als Anti-Held, dessen anrüchiger Charakter konsequent durch Ausübung unehrlicher Funktionen und Umgang mit den Angehörigen anrüchiger Berufe zum Ausdruck gebracht wird. Die Unehrlichkeit E.s erfährt Steigerungen bis ins Kriminelle und Diabolische (H. 58,95) 5 9 . Der offenbar nicht nur literar. gebildete Verf. verbindet das Auftreten E.s mit aktuellen Anspielungen auf Politik und Wirtschaftsleben im Hanseraum vor 1500. Die Komposition des Buches wird bestimmt durch die biogr. Entwicklung des Helden, durch eine geogr. und ständische Ordnung wie auch in der äußeren Form durch Historienpaare und -gruppen (H 3,7; übergeordnet 12). Der komplizierte ständische und zahlensymbolische Aufbau des E.buches ist dem gelehrten Leser des 16. Jh.s noch bewußt gewesen, da er sich neben stofflichen, lokalen und biogr. Anspielungen („eines Bauwern Sohn") ganz ähnlich in der Historie von Dr. Johann — F a u s t wiederfindet. Auch B. Krügers Hans Ciawert (1587) und der span. Schelmenroman -> Lazarillode Tormes (1554) sind vom E.buch beeinflußt. In den Niederlanden 6 0 und in Polen 6 1 beeinflußten die Übers.en des E.buches eigenständige nationale Erzählstoffe, die ihrerseits wieder literar. Niederschlag gefunden haben. 7. E r z ä h l m o t i v e im E . b u c h Historie 1 = ^ Taufschwänke (AaTh 1823). 2 = E. macht beim Reiten unanständige Gebärden (Coetzee 1635.2). - 3,4 = E. als Seiltänzer,
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wirft Schuhe durcheinander. - 5 = E. will kein Handwerk lernen und rechtfertigt sich mit einem Sprichwort. — 6 = E. betrügt um Brot mittels löchrigem Brotsack (Mot. Κ 343.1.1). - 7,8 = Ε. wird von Bauern gezwungen, Metzelsuppe zu essen, und läßt dessen Hühner das „Luder ziehen". — 9 = —» Junge im Bienenkorb (AaTh 1525 H4). — 10 = Edelleute als Straßenräuber (cf. Mot. J 1179.4). 11 = E. tut halbe Arbeit. - 12 = E. läßt Pfarrer mitten in die Kirche scheißen. — 13 = E. verspottet einäugige Pfaffenköchin während des Osterspiels. — 14 = E. will fliegen (Coetzee 1635. 20). — 15 = E. macht einen Arzt durch Gestank und Kot krank. - 16 = E. verschafft krankem Kind durch Kot Stuhlgang. - 17 = E. heilt alle Kranken im Spital (Mot. Κ 1955.1). - 18 = Ε. will Brot nach dem Sprichwort ,Wer Brot hat, dem gibt man Brot' verkaufen. — 19 = E. backt Eulen und Meerkatzen. - 20 = E. beutelt Mehl in den Mondschein, geht zum Galgen, ,holt Dieb herein' und sieht zu, wie er verklagt wird. — 21 = Drei Segnungen (vor großem Glück, gesunden Speisen, starkem Trank), drei zu vermeidende Dinge: E. reitet kein graues, sondern ein fahles Pferd, meidet freigebige Wirte und Kinder. 22 = E. als Turmbläser. - 23 = E. wählt allerbesten Hufschlag. — 24 = E. ißt eigenen Kot im Wettstreit mit Hofnarren. — 25 = cf. —* Eid auf eigenem Grund und Boden (AaTh 1590). — 26 = —» Eid auf eigenem Grund und Boden (AaTh 1590). - 27 = - » Kaisers neue Kleider (AaTh 1620). - 28 = -> Kaiser und Abt (AaTh 922). 29 = —> Ochse als Bürgermeister (AaTh 1675). 30 = E. verspottet schielende Wirtin (AaTh 1691 B*: Too Much Truth) und läßt Pelze in Milch waschen. 31 = E. stellt Keuschheitsprobe durch Gaben für eine Reliquie an (Mot. Κ 1976). - 32 = Ε. läßt die Scharwache ins Wasser fallen. - 33 = E. ißt ,um Geld'. — 34 = E. erreicht durch einen Trick, daß der Papst mit ihm spricht (Mot. Κ 477.1). 35 = Ε. verkauft Kot als Prophetenbeeren an Juden (Mot. Κ 143). - 36 = cf. - » Pfand der dummen Frau (AaTh 1385). - 37 = E. gibt Pfarrer Abdeckerwurst zu essen. — 38 = E. macht einem Pfarrer dessen Pferd und Köchin abspenstig (Mot. Κ 443.8). - 39 = Ε. folgt Schmied mit den Bälgen. 40 = E. rächt sich an einem Schmied durch Zusammenschmieden des Werkzeugs. 41 = E. sagt drei Wahrheiten (Mot. Η 505.1). 42 fehlt. - 43 = -> Schuhe für Tiere (AaTh 1695). - 44 = E. gibt Bauern Fischschmalz zu essen. — 45 = Stiefelmacher spickt E.s Stiefel im wörtlichen Sinne, E . rächt sich (Mot. J 1631). — 46 = E. verkauft Kot als Talg. — 47 = Der dumme -» Bräutigam (AaTh 1685). - 48 = E. näht unter einer Bütte, näht einen ,Wolf' und wirft Ärmel an den Rock (Krzyzanowski 1635 G). - 49 = E. läßt Schneider fortwehen (Mot. Κ 1431). - 50 = Ε. beruft eine Tagfahrt der Schneider ein. —
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51 = E. schlägt Wolle. - 52 = E. vertreibt beim Kürschner den Gestank durch seinen eigenen Gestank. — 53 = E. schläft bei den Pelzen. — 54 = E. näht beim Kürschner ,Wölfe'. - 55 = E. verkauft Katze als Hasen (Krzyzanowski 1635 H). 56 = E. verheizt beim Gerber Stühle und Bänke. — 57 = E. betrügt durch Wasser statt Wein. — 58 = cf. Der letzte -» Wunsch (AaTh 927 A). 59 = E. will Tasche haben, in der stets Geld ist. — 60,61 = E. gewinnt Braten vom Metzger. 62 = E. bringt Bretter zusammen. — 63 = E. als Brillenmacher, führt Rückgang des Gewerbes auf die allg. Bestechlichkeit zurück (Mot. J 1263.5). 64 = E. als Küchenjunge, —> Wörtlich nehmen (AaTh 1017), fährt unter den Galgen und ,räumt das Haus' (Mot. J 2465.5). - 65 = E. macht, daß einem Pferd der Schwanz abfällt. - 66 = Wettstreit der Landfahrer: Einer schließt den anderen vom Essen aus. — 67 = E. verliert seine Tasche, will die ,alte Tasche' der alten Frau nicht haben. 68 = —> Wettbetrug (AaTh 1551). - 69 = E. verschmutzt Badestube. — 70 = E. kauft sämtliche Milch auf und kann sie dann nicht bezahlen. 71 = Die getäuschten —> Blinden (AaTh 1577). 72 = E. vertreibt Gäste durch unappetitlichen Braten. - 73 = E. sät Schälke (—» Gründungssage). — 74 = E. geht beim Barbier zum Fenster hinein (Krzyzanowski 1635 J). - 75,76 = E. gewinnt Speisen durch Verunreinigung. - 77 = E. vertreibt Gäste durch Gestank. — 78 = Prahlerischer Wirt wird von E. mit ausgestopftem Wolf erschreckt. — 79 = E. scheißt Wirt auf den Tisch. — 80 = —> Scheinbuße (AaTh 1804 B). 81 = E. verspottet unsauberen Wirt. - 82 = E. zieht Hund das Fell ab, weil dieser nicht die Zeche zahlen kann. — 83 = E. liegt auf dem ,Rad'. 84 = E. setzt Wirtin in heiße Asche. — 85 = E. scheißt Wirtin ins Bett. - 86 = E. bestraft Gier von Gästen. — 87 = E. lehrt den Erzbischof und dieser dann seine Ritter, wie eine Töpfersfrau ohne schwarze Kunst ihre Ware zerschlägt. - 88 = E. bescheißt Bauern die Pflaumen. - 89 = E. läßt nicht jeden ins Kloster ein und zählt die Mönche dadurch, daß er die Treppe ansägt. - 90 = E. scheißt dem Apotheker in die Büchse und verspottet seine Mutter. — 91 = E. bereut, drei Schalkheiten nicht getan zu haben. - 92 = Habgieriger Pfaffe greift zu tief in den Kot (Mot. U 61). - 93 = E.s Testament. 94,95 = E.s Begräbnis. - 96 = Grabschrift. Zusatzhistorie I = Drei kluge Antworten des Kindes Ε. — II = —» Pferd geht nicht über Bäume (AaTh 1631). - III = E. bleibt Geld schuldig. IV = Jedes Amt bringt etwas ein. — V = Schuhdiebstahl durch Anprobieren (Mot. Κ 351). — VI = —> Advokat und Teufel (AaTh 1186), Teufel als Advokat (AaTh 821). - VII = Pfarrer versucht alle Frauen, auch die E.s. — VIII = Wolf bringt ,Glück', frißt jedoch das Pferd des Bauern (Krzyzanowski 1312). — IX = E. verwirrt Universitätsgelehrte durch die Frage, ob man tun solle, was man
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wisse, oder ob man erst lernen solle, was man noch nicht wisse. I Manecke, U. F. C.: Hat je wirklich ein Mann gelebt, dessen Tauf- und Geschlechtsname Tyl E. gewesen ist? In: Neues Hannoversches Magazin (1812) num. 46sq., 729-744, 745-754, hier 747sq. — 2 Flögel, K. F.: Geschichte der Hofnarren. Liegnitz/Lpz. 1789 (Nachdr. Hildesheim/N.Y. 1977) 462 sq. und Titelbild. - 3 Aurbacher, L.: Ein Volksbüchlein 1 - 2 . Mü. 1827/29 (Nachdr. Lpz. 1878); Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 4 1845 (Neuausg. ed. O. Mensing. Schleswig 1921); Kuhn, A./Schwartz, W.: Norddt. Sagen, Märchen und Gebräuche. Lpz. 1848 (Nachdr. Hildesheim 1972); Biernatzki, H.: E.s Geburtshaus. In: Volksbuch auf das Schaltjahr 1844 für Schleswig, Holstein und Lauenburg [. . .] 6 (1843) 137; Deecke, E.: Lüb. Geschichten und Sagen. Lübeck 1852 ( 8 1963); Bechstein, L.: Mythe, Sage, Märe und Fabel im Leben und Bewußtsein des dt. Volkes 2. Lpz. 1855. — 4 Spangenberg, E.: Hist.-topographischstatistische Beschreibung der Stadt Celle im Königreich Hannover. Celle 1826,299; Schlüter, E. W. G.: Neueste Vaterländische Lit. Celle 1829, 237; Hoffmann von Fallersleben schenkte das Exemplar K. Meusebach, aus dessen Besitz es an die Kgl. Bibl. B. gelangte, worauf deren Direktor G. H. Pertz es 1865 faksimilieren ließ (v. Ausg.n zu ca 1533); Hoffmann von Fallersleben, H.: Mein Leben 3. Hannover 1868, 219sq. — 5 Bechstein (wie not. 3) 132. — 6 Uhland, L.: Geschichte der altdt. Poesie. Vorlesungen, an der Univ. Tübingen gehalten in den Jahren 1830 und 1831. In: id.: Sehr, zur Geschichte der Dichtung und Sage 2. Stg. 1866, 561 sq. und not. 2. - 7 Lappenberg, J. M. (ed.): Dr. Thomas Murners Ulenspiegel. Lpz. 1854 (Nachdr. 1975); Sack, C. W.: E. oder Ulenspeigel. Dessen Leben, Schwänke und Monumente. 1866 (Hs. Stadtarchiv Braunschweig); id.: E. oder Ulenspeigel und sein Geburtsort Kneitlingen. In: [Braunschweiger] Calender auf das Jahr 1867, Bl. D2 ν — E 2 r. - 8 Die farbige Reproduktion in: Die Hanse. Eine Kulturgeschichte, ed. J. Schildhauer. Lpz. 1983 (im Druck); die E.-Lit. folgt einer schwarzweißen Holzschnittnachbildung bei Lappenberg (wie not. 7) 470. - 9 Hoefer, E.: Wie das Volk spricht. Sprichwörtliche Redensarten. Stg. 7 1873, 4 5 - 4 7 . - 10 Hofmann, W.: Das rhein. Sagwort. Siegburg 1959. II Henßen, G.: Till E. in westfäl. Volkserzählungen. In: Zs. des Vereins für rhein. und westfäl. Vk. 27 (1930) 9 7 - 1 1 1 ; id.: Rhein. Volksüberlieferung in Märchen, Sage und Schwank. Düsseldorf 1934; id.: Volk erzählt. Münsterländ. Sagen, Märchen und Schwänke. Münster 1935; id.: Schelme und Narren im Volksmund. Mü. 1938; id.: In de Uhlenflucht. Plattdt. Schwänke und Märchen aus Westfalen. Münster 3 1952; id.: Ungardt. Volksüberlieferungen. Marburg 1959; id.: Berg. Märchen und Sagen.
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Münster 1961; id.: Volkserzählungen aus dem westl. Niedersachsen. Münster 1963; Wossidlo, R.: Mecklenburg. Volksüberlieferungen 1—4. Wismar/ Rostock 1897-1931; id.: Aus dem Lande Fritz Reuters. Lpz. 1910; Henssen, G. (ed.): Mecklenburger erzählen. Märchen, Schwänke und Schnurren aus der Slg R. Wossidlos. B. 2 1958; Neumann, S. (ed.): Volksschwänke aus Mecklenburg. Aus der Slg R. Wossidlos. B. 4 1967; id.: Eine mecklenburg. Märchenfrau. B. 1974; Frahm, L.: Norddt. Sagen von Schleswig-Holstein bis zum Harz. Altona/Lpz. 1890, 3 5 - 4 3 (Kap. E.); id.: Auf den Pfaden Till E.s (Ztgsausschnitte s.l. s.a., Stadtarchiv Mölln); id.: De nedderdütsche Ulenspeegel (Ztgsausschnitte s.l. s.a., ibid.). - 12 Debus, Ο.: Till Ε. in der dt. Volksüberlieferung. Diss, (masch.) Marburg 1951, 160—348 (unvollständige Übersicht des Materials, großenteils ohne Texte); eine vorbereitende Slg in der Arbeitsstelle für E.forschung in Bamberg mit Hilfe des EM-Archivs zusammengetragen. — 13 Das seit 1960 dort erscheinende E.-Jb. des Freundeskreises Till E.' dient vorrangig als Vereinsorgan, publiziert auch wiss. Beitr.e. — 14 cf. Camerer, L./Hucker, B. U.: Führer durch die [E.^Ausstellung. In: Till E. Beitr.e zur Forschung und Katalog der Ausstellung [. . .]. Bearb. B. U. Hücker. Braunschweig 1980, 18—31. — 15 In der Reihe Facetiae. Sehr, der Arbeitsstelle für Hermen-Bote- und E.forschung (Berlin, Freie Univ., Fachbereich 13). ed. B. U. Hucker erschienen bisher 2 Bände: Knabe, W.: Till E. im fächerübergreifenden Unterricht der Sekundarstufe I (Dt./Geschichte). B. 1979; Virmond, W.: E. und seine Interpreten. B. 1981 ( 2 1982); in der Reihe Narragonia. Nachdr.e der Arbeitsstelle für Hermen-Bote- und E.forschung erschien Virmond, W. (ed.): Aerdig leven. B. 1981. — 16 Heuer, W./Hartmeyer, Α.: Malerische Ansichten von Schleswig, Holstein und Lauenburg. Hbg 1847, 17, not.; cf. Lappenberg (wie not. 7) 333 (mit irreführendem bibliogr. Nachweis); Hucker, B. U.: Till E. - Zur Geschichte eines Nationalhelden. In: Till E. (wie not. 14) 5 - 1 4 , hier 13, not. 17. - 17 Lixfeld, H.: Die E.figur in ostdt. Dummen- und Schelmengeschichten. In: Jb. für ostdt. Vk. 18 (1975) 198-211, hier 201 sq. 18 Doran, J.: The History of Court Fools. L. 1858, 201 (Hofnarren als Knappen und Ritter am Hof: p. 102, 122sq.; als reiche Lehnsträger: p. 99, 101, 111, 125). - 19 Hucker, B. U.: Der Köln-Soester Fernhändler Johann von Lünen (1415—43). In: Soest. Stadt — Territorium — Reich. Festschr. zum 100 jährigen Bestehen des Vereins für Geschichte, Soest. Soest 1981, 383-421, hier 3 8 3 - 4 0 4 ; 110 Regesten der westfäl. Familie Ulenspegel künftig in Huckers Unters.en zum hist. Ε. - 20 Hücker 1981 (wie not. 19) 387sq., 412, not. 11. 21 Lappenberg (wie not. 7) 343; Krogmann, W.: Ulenspeigel. In: Jb. des Vereins für ndd. Sprachforschung 58/59 (1932/33) 104-114; Jeep, Ε.: E. In: Thomas Murner - Die Gäuchmatt. ed. W. Uhl. Lpz. 1896, 268-288. - 22 Lübeck, Braunschweig,
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Eulenspiegel
Warburg (in Westfalen), Köln; cf. Hucker (wie not. 19) 384sq., 412, not. 14. - 2 3 Hucker (wie not. 16) 10 hat auf die unveröff. Urkunden, die diese hist. Personen bezeugen, erstmals hingewiesen und sie vollständig ed. in: Braunschweig. Jb. 64 (1983) (im Druck). — 24 cf. zur Kontamination einer braunschweig. Sagengestalt Zimmermann, P.: Georg Thyms Dichtung und die Sage von Thedel von Wallmoden. In: Zs. des Harzvereins für Geschichte und Altertumskunde 20 (1887) 3 2 9 - 3 8 2 . - 25 E. haust in einem Keller des Hofes, wo nach der noch 1751 lebendigen Sage Kobolde mit Namen Tempelherren wohnten (v. Hager, J. G.: Ausführliche Geographie 2. Chemnitz 1751, 772; Dorfbeschreibungen des Herzogtums Braunschweig 1753: Kneitlingen, cf. Staatsarchiv Wolfenbüttel), und hinterließ dort seinen großen Hut, ein typisches Koboldattribut (Kuhn/Schwartz [wie not. 3] num. 171), das sogar pars pro toto für die ganze Gestalt stehen konnte (Jung, L.: Pumphut. Ein Beitr. zur dt. Volkssagenforschung. Diss. Marburg 1960, 102; cf. auch Ranke, K.: Pompa Diaboli [1954]. In: id.: Die Welt der Einfachen Formen. B./N.Y. 1978, 3 3 4 - 3 6 2 , hier 354, 361; cf. PeuckertArchiv, Seminar für Vk., Göttingen, s.v. Kobolde). — 26 Unklar bleibt, ob der Kneitlinger Kobold gleich dem Bernburger von Anfang an mit dem Namen E. in Verbindung gebracht wurde. — 27 Debus (wie not. 12) 165. — 28 In einem noch heute gezeigten uralten Mauerwinkel, der E.küche: Knoll, F./Bode, R.: Heimatskunde des Herzogtums Braunschweig. Braunschweig 1881, 303; Schulz, E.: Aus Marienthals Vergangenheit. In: Braunschweig. Kalender (1936) 41; Brückmann, F. E.: De signis vrbivm mnemonicis. Wolfenbüttel 1735, 22; id.: Memorabilia vallis divae Mariae. Wolfenbüttel 1745, 383 sq. - 29 Der auf dem Turm hausende Kobold erhält dort seine Speise und foppt die Burgbewohner, wenn sie ihn vergessen. Seine 1854 noch vorhandenen Attribute waren Miniaturtrompete, -wams und -krug sowie ein schwarzes Plüschkäppchen; Lappenberg (wie not. 7) 242; H. 22 des E.buches führt die Handlung weiter, doch kennt der entsprechende lokale Erzählstoff stets nur den ersten Teil, der mit dem Fortgang E.s endet: Stieler, F.: Turmbläser Till E. im Volksbuch und in der Bernburger Überlieferung. In: E.-Jb. 9 (1969) 12sq.; id.: Bernburgs E. einst und jetzt, ibid. 10 (1970) 18 (Fassung der lokalen Sage von 1831); auch A. W. Schlegel kannte den Stoff eingliedrig, mit „Zeterlärm" verabschiedet E. sich hier (1832; Stieler, F.: A. W. Schlegel und E. ibid. 14 [1974] 22); die lokale Sage ist erstmals 1640 bezeugt; zum Turmnamen cf. Hucker (wie not. 16) 11, 14. - 3 0 Peuckert, W.-E.: Dt. Volksglaube des Spät-MA.s. Stg. 1942, 1 3 9 151. 31 Heimpel, H.: Dietrich von Niem. Münster 1932, 325, 331 sq.; ob die Briefpartner sich auf eine scriptura über E. beziehen, ist nicht ganz eindeutig, cf. Virmond, E. (wie not. 15) 174, not. 4. —
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32 Exemplare in Lüneburg (Stadtbibl.), Wolfenbüttel (Staatsarchiv und Bibl.), Braunschweig (Stadtarchiv und -bibl.); abgedr. bei Hassebrauk, G.: Die geschichtliche Volksdichtung Braunschweigs. In: Zs. des Harzvereins für Geschichte 35 (1902) 67— 72 und bei Hinz, W.: Till E. in einer Flugschrift aus dem Jahre 1606. In: E.-Jb. 15 (1975) 1 4 - 1 7 (beide ungenau); cf. Camerer/Hucker (wie not. 14) 19sq. — 3 3 Meyer, G. F.: Lo'nbörger Dönken. Garding 1922, 15; id.: Schleswig-Holsteiner Sagen. Jena 1929, 214; Var.n bei Debus (wie not. 12) 121 sq. — 3 4 B e n k e r t , L.: Der historiographische Merkvers. (Diss. Würzburg 1961) Neustadt (Aisch) 1960. — 35 Der Möllner Merkvers auf einem handgemalten E.bl. um 1710 eingetragen, Abb. bei Thöne, F./Poensgen, Ε.: E. In: R D K 6 (1970) 3 4 1 - 3 6 0 , hier 350 und Lehmann, S.: Till E. arglistiger Schalk - der Narren Richter. In: Sprache und Brauchtum. Festschr. B. Martin. Marburg 1980, 3 0 4 - 3 2 6 , hier 3 20. - 3 5 a v. not. 50. 36 Camerer/Hucker (wie not. 14) 18 sq. - 3 7 So „eten, freten, supen, sachte gan un pupen — dat sleit an": Spruch ehemals in Remmers Bierstuben (bis 1945) in Bremen und im Barmer Fährhaus bei Verden; mündl. auch aus Abbenrode am Elm. — 38 Hofmann (wie not. 10); Henßen 1935 (wie not. 11); Wossidlo 1906 (wie not. 11) t.3; Flechsig, W.: Ostfälische Sprichwörter. Braunschweig 1974; Debus (wie not. 12) 3 1 3 - 3 3 9 . - 3 9 Virmond, E. (wie not. 15) 1 2 - 1 4 . - 4 0 Kadlec, Ε.: Unters.en zum Volksbuch von Ulenspiegel. Prag 1916 (Nachdr. Hildesheim 1973) 7 - 1 0 0 ; Virmond, E. (wie not. 15) 1 5 8 - 1 7 0 . 41
Lixfeld (wie not. 17) 2 0 5 - 2 0 7 ; Materialslg bei Debus (wie not. 12) 1 6 0 - 2 2 3 . - 4 2 Virmond, E. (wie not. 15) 9 4 - 1 2 8 (Lit.); id.: Hans Sachsens E.dichtungen. In: E.-Jb. 19 (1979) 1 7 - 2 0 ; id.: Till E. in Flandern. De Costers Roman und seine Vorlage, ibid. 20 (1980) 8 - 1 1 ; Frenzel, Stoffe, 1 9 9 - 2 0 2 ; cf. zur Entwicklung der E.geschichten als Jugendlektüre LKJ 1 (1975) 363 und Ivatiw, P.: Ε. im Jugendbuch um 1900. Magisterarbeit FU Berlin 1981. - 4 3 Brückner, Reg.; Moser-Rath, 27, 29sq., 76sq., 489, 494; Hucker, B . U . : Neue E.forschungen. In: E.-Jb. 17 (1977) 3 - 2 9 ; MoserRath, E.: ,Calembourg'. Zur Mobilität populärer Lesestoffe. In: Festschr. L. Schmidt. Wien 1972, 471—481, hier 474 (macht sogar wahrscheinlich, daß Geiler von Kaysersberg 1510 einen E.schwank in der Art der Dümmlingserzählungen für eine Predigt verwendet hat). - 4 4 Virmond, E. (wie not. 15) 89, 180, 211. - 4 5 Meyer 1929 (wie not. 33) 213; cf. Var. bei Wossidlo/Neumann (wie not. 11) num. 3 7 3. - 4 6 ibid., num. 379; Meyer 1929 (wie not. 33 ) 2 1 3. - 4 7 B e r g a u f bergab: Um 1700 (Moser-Rath, 368); als Gedicht .Till' (1748) bei Geliert, C. F.: Poetische Sehr. 2. Wien 1792, 24sq. und Erwähnung bei Heine, H.: Reisebilder 1. Hbg 1826, 223; E.s Fuhrmannsrat: bei Athanasius von Dillingen 1689 (MoserRath, 449); E. schläft auf der Feder: Debus
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Eulenspiegel
(wie not. 12) Anh. D 2 a - 2 k . - 4 8 „ E . ist in Kneitlingen begraben" u.a. Möllner und Kneitlinger Traditionen bei Kuhn/Schwartz (wie not. 3) 144; Sack 1867 (wie not. 7) Bl. E , r; Arbeitsstelle für E.forschung nach mündl. und älteren unveröff. hs. Aufzeichnungen. - 4 9 Debus (wie not. 12) Anh. D 5 a - e , Ε 1 2 a - d , Ε 58, Ε 5 9 a , b, Ε 77, Ε 7 8 a , b, F 3 k ; Wander, K. F. W.: Dt. Sprichwörter-Lex. 1. Lpz. 1867, 9 0 6 (num. 3,4). - 5 0 Eines der ältesten Epitaphien bereits am Schluß der ndl. Übers, des E.buchs; ein Epitaph des Thileman Conradi 1513 veröff., v. Virmond, E . (wie not. 15) 4 5 und 180, not. 37 (mit Belegen); weitere Epitaphien cf. Krogmann, W.: Zwei Grabschriften auf Ulenspegel aus dem Jahre 1513. In: Jb. des Vereins für ndd. Sprachforschung 6 9 / 7 0 ( 1 9 4 3 / 4 7 ) 174sq., hier 175 (Texte: 174); Lappenberg (wie not. 7) 3 2 9 (17. Jh.); Inschrift unter einem E.bild im „Lübecker Hof" Mölln von ca 1830 (Ansichtskarten im Stadtarchiv Mölln); Bildunterschrift eines Kupfers von Coenrad Waumans (Abb. v. Thöne/Poensgen [wie not. 35] 3 4 9 ) ; hierher gehört auch die Inschrift des E.steins in Mölln, nach neuaufgefundenen Belegen wohl 1544 errichtet, hierzu und zur Rekonstruktion der heutigen (defekten) und einer früheren Inschrift cf. Hucker, B. U.: Unters.en zum hist. Ε . (in Vorbereitung). 5 1 So auf einem Nürnberger E.kupferportrait des 18. Jh.s, Arbeitsstelle für E.forschung. — 5 2 Zu den dabei gezeigten Gegenständen aus E.s ,Erbe' cf. Hucker (wie not. 16) 10; zur Heilwirkung der Graberde cf. J . Fischarts Werke 2. ed. A. Hauffen. Stg. 1895, 4 6 0 , V. 133 1 5. - 5 3 Virmond, E . (wie not. 15) 4 5 , 180, not. 37 (mit Belegen). - 5 4 ibid., 173, not. 1; zur Datierung des E.buches v. Hucker (wie not. 4 3 ) 15 sq. — 5 5 Schröder, E . : Der ndd. E . ( 1 9 3 5 / 3 6 ) . Aus dem Nachlaß ed. B. U. Hücker/ W. Virmond (in Vorbereitung). - 5 6 Honegger, P.: Ulenspiegel. Ein Beitr. zur Druckgeschichte und zur Verf.frage. Neumünster 1973; Hucker (wie not. 4 3 ) ; kritisch jedoch Virmond, E . (wie not. 15) 8. - 5 7 Hucker (wie not. 4 3 ) 23. - 5 8 id.: Hermen Bote — Das Bild eines Chronisten. In: Brunswiek 1031 — Braunschweig 1981. Festschr. zur Ausstellung. Braunschweig 1981, 151 — 160 (mit Verz. der Hss. und weiterer Lit.), hier 155, not. 3; cf. auch Blume, H./Wunderlich, W. (edd.): Hermen Bote. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Göppingen 19 82. - 5 9 Bereits Lefebvre, J.: Les Fols et la folie. P. 1968, 2 7 9 sq. arbeitet den Helden des E.buches als Sinnbild des Bösen, vorweggenommene Verkörperung sowohl Fausts als auch Mephistopheles' heraus, blieb unbeachtet wie Wiswe, H.: Sozialgeschichtliches um Till E. In: Braunschweig. Jb. 52 ( 1 9 7 1 ) 6 2 - 7 9 und id.: Sozialgeschichtliches um Till Ε . II. Eine Nachlese. In: Braunschweig. Jb. 57 ( 1 9 7 6 ) 2 3 - 2 9 (Hinweis auf E . als bösartigen Landfahrer); zu Huckers (wie not. 43) neuer Deutung auf dem E.symposium Bremen cf. Zöller, S.: Der Schalk in der entfremdeten Gesellschaft. Dil Ulenspiegel als ana-
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chronistische Figur. In: Till E. in Geschichte und Gegenwart, ed. T. Cramer. Bern/Ffm./Las Vegas 1978, 7—28, hier 24—28; Einzelunters.en vorerst Hucker, B. U.: Das hans. Lübeck und Thyl Ulenspiegel. In: E . - J b . 18 ( 1 9 7 8 ) 1 6 - 2 5 , hier 2 2 - 2 5 ; ablehnend (unter stillschweigender Übernahme einzelner Ergebnisse wie warnende Exempel, Absicht der negativen Didaxe) Röcke, W.: Der Schwankroman des SpätMA.s: Hermann Botes Ulenspiegel. In: Einführung in die dt. Lit. des 12. bis 16. Jh.s 3. ed. W. Frey u.a. Opladen 1981, 92—113; zustimmend und materialreich ausbauend Ortenau, E.: Till E. - Ein Mythenspiegel des MA.s. In: Köhl, G./König, H./id.: E.-Hofnarren und Zwerge. Mü. 1982, Bl. 18 - 28. - 6 0 Virmond, Aerdig leven (wie not. 15) Nachwort, p. 49—57 (Lit.). 6 1 Grzeszczuk, S.: Cyganeria Sowizdrzalska. Krakow 1980. A u s g . n des E . b u c h e s : Straßburg 1 5 1 0 / 1 1 : Faks. von 16 Bll. bei Honegger, P.: Ulenspiegel. Ein Beitr. zur Druckgeschichte und zur Verf.frage. Neumünster 1973, 151 sq.; hist.-kritische Ausg. ed. Arbeitsstelle für Hermen-Bote- und E.forschung (in Vorbereitung). — Straßburg 1515: Faks. ed. E. Schröder. Lpz. 1911 (retuschiert); Faks. ed. J . L. Flood (in Vorbereitung als Band 2 der Reihe Narragonia. Nachdr.e der Arbeitsstelle für Hermen-Bote- und E.forschung); kritische Ausg. ed. H. Knust. Halle 1884 u.ö.; grundlegend, mit den Abweichungen von 1519: ed. G. Jäckel. Lpz. 1955; ed. W. Lindow. Stg. 1966 (fehlerhaft); ed. E. Weber. B./Weimar 1968 ( 2 1 9 7 5 ) ; übers. G. Steiner. B. 1955 ( 4 1 9 7 4 ) ; H. Wiemken. Bremen 1962; S. H. Sichtermann. Ffm. 1978 ( 2 1 9 8 1 ) (folgt meist Lindow). Straßburg 1519: Faks. ed. A. Schmitt. Lpz. 1979; kritische Ausg.: ed. J . M. Lappenberg. Lpz. 1854 (Nachdr. Lpz. 1 9 7 5 ) ; übers. K. Simrock. Ffm. 1878; K. Pannier. Lpz. 1882 (später von G. Steiner [v. Ausg.n zu 1531] u.a. ζ. T. mitberücksichtigt). — Straßburg 1531: unveröff.; ed. princeps von 6 Zusatzhistorien, davon 2 (2,4) ed. E . Schröder. In: ZfdA 70 ( 1 9 3 3 ) 2 7 5 ; bei J . M. Lappenberg (v. Ausg.n zu 1519) sind die Zusatzhistorien nach Erfurt 1532 und Köln ca 1533 publiziert, danach übers. K. Pannier (ν. Ausg.n zu 1519); W. Vesper. Oldenburg 1925; G. Steiner. B. 1955. Antw. ca 1518 (engl.): Brie, E . (ed.): E. in England. B. 1903, 1 2 6 - 1 3 8 . L. vor 1557: unveröff.; cf. Honegger (v. Ausg.n zu 1 5 1 0 / 1 1 ) 50 sq. L. 1 5 6 2 / 6 9 : Faks. ed. F. Ouvry. L. 1867 (Nachdr. Amst./N. Y . 1971) (erg. a u s L . 1 5 5 8 / 6 1 ) . Antw. 1 5 1 9 / 4 6 (ndl.): Faks. ed. M. Nijhoff. s' Gravenhage 1898; kritische Ausg.: ed. W. Krogmann. Neumünster 1952 (z.T. mit den Abweichungen der engl., frz. und hochdt. Straßburger Texte); ed. T. Enklar. Utrecht 1943; übers. E . W. Bredt, in: Bramer, L.: Zeichnungen zum Tyl Ulenspiegel.
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Euphemismus
Lpz. 1924, 1* —109*; übers, (neundl.) A. van Nimwegen. Utrecht/Antw. 1979 (kombiniert mit den in den ndl. Drucken fehlenden Historien aus Straßburg 1515, fehlerhaft). Köln ca 1533 (ripuar.): Faks. ed. G. H. Pertz. B. 1865 (u.d.T. Tyel Ulenspiegel in niedersächs. Mundart); übers. E. Fuchs. Wien 1948; H. Schaffstein. Köln (1906); drei Zusatzhistorien ed. Lappenberg (v. Ausg.n zu 1519) 139 sq. Die übrigen Frühdrucke sind unveröff., nur Straßburg 1551 übers, von K. Simrock. B. 1841. — Von den zahllosen Jahrmarktsdrucken sind veröff. ein dt. wohl des 18.Jh.s. ed. G. O. Marbach. Lpz. 1839 u.ö.; ein ndl. von ca 1850. ed. W. Virmond. B. 1981 (u.d.T. Aerdig leven) und ein dän. vom Ende des 17.Jh.s. ed. A. R. Pauli. Kop. 1930; J. H. Rambergs Tyll E. mit Text nach der Jahrmarktsausg. Hannover 1863 (Nachdr. ed. G. Bollenbeck. Dortmund 1980) bietet entgegen der Behauptung des ed. nur 51 Historien einer gereinigten und romantisierenden Bearb. - Wiss. Kommentare in den Ausg.n von J. M. Lappenberg (immer noch der beste), A. R. Pauli, W. Lindow und L. Tacconelli (ital. Übers. Rom 1979); philolog. kommentiert E. Schröder die Einzelhistorien (wie not. 55); weitgehend nach Sekundärlit. in den Übers.en von K. Pannier, F. von Zobeltitz. Hbg 1924, G. Jäckel, G. Steiner und S. H. Sichtermann.
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Euphemismus. Euphemismen (von griech. euphemein, schönreden, Worte guter Vorbedeutung gebrauchen) sind beschönigende, verhüllende Bezeichnungen für Objekte, deren direkte Benennung man für gefährlich oder anstößig hält. So verwendet man Euphemismen (E.en), um nicht die —»Namen von Gottheiten oder anderen übernatürlichen Wesen aussprechen zu müssen, da diese dadurch herbeigezogen werden und dem Sprecher Schaden zufügen könnten. Aus ähnlichen Gründen gibt es euphemistische Umschreibungen für den Tod und die Toten, für Krankheiten und bestimmte Tiere; weiter werden E.en bei religiösen Riten und Berufsritualen gebraucht 1 . Aber auch die alltägliche Kommunikation kennt E.en; gesellschaftliche Konventionen fordern die Vermeidung anstößiger Vokabeln, und in der Sprache der Politik sucht man mit E.en negative Assoziationen zu verhindern 2 .
Die dem E. zugrundeliegende Idee ist die Vorstellung, daß die Substanz eines Wesens in seinem Namen enthalten sei, ein Gedanke, der vermutlich so alt wie die Menschheit selbst Lit. (soweit in den not. nicht aufgeführt): Goedeke, Κ.: E. In: Archiv für Litteraturgeschichte ist. Da nach solchem Glauben die Kenntnis 10 (1881) 1 - 5 . - Schröder, E.: E.s Grabstein. des Namens Dämonen, Geistern, Hexen u. a. In: Jb. des Vereins für ndd. Sprachforschung 16 den Zugang zum Seinskern ihres Opfers er(1890) 110sq. - Walther, C.: Zur Geschichte des schließt, hielten die Menschen früher Zeiten Volksbuches vom E. ibid. 19 (1893) 1 - 7 9 . oft ihren Namen geheim oder legten sich einen Schröder, E.: Ein unbekannter E.druck. In: ZfdA 70 (1933) 273-279. - Mackensen, L.: Zur EntDecknamen zu, um sich vor bösen Einflüssen stehung des Volksbuches vom E. In: GRM 24 zu schützen3. Die Vorstellung von der unteil(1936) 241-269. - Roloff, Ε. Α.: Ewiger E. baren Verbundenheit einer Entität mit ihrem Braunschweig 1940 (nationalsozialistische AdapNamen bewirkte auch, daß sich der frühe tion E.s, aber materialreich). - Krogmann, W.: Mensch davor hütete, die Namen gefürchteE.s Grabstein. Hbg 1950. - Ude, R.: E.s Grabter, bes. übernatürlicher Wesen auszusprestein. In: Lauenburg. Heimat N.F. 65 (1969) 5 4 - 5 8 . - id.: E.-Gedenkstein. ibid. 72 (1971) chen, um damit nicht ihre Aufmerksamkeit zu 6 7 - 7 4 . — id.: Das ,Ulenspiegel-Klocken'-Lied. In: erregen oder ihr Erscheinen herbeizuführen. E.-Jb. 13 (1973) 3 7 - 3 9 . - Arndt, F.: Till E. auf Ein Beispiel ist die sprichwörtliche Warnung der dt. Puppenbühne. Oststeinbek 1976. — Flood, davor, den Teufel durch die Nennung seines J. L.: Der Prosaroman ,Wigoleis vom Rade' und die Namens zu beschwören. Um unerwünschter Entstehung des ,Ulenspiegel'. In: ZfdA 105 (1976) 151 — 165. — Hucker, B. U.: Eine neuentdeckte Beachtung und Heimsuchung zu entgehen Erstausg. des E.s von 1510/11. Zur Geschichte oder um übernatürlichen Zuhörern zu schmeieines verschollenen Frühdrucks. In: Philobiblon 20 cheln oder sie zu beschwichtigen, wich der (1976) 7 7 - 1 2 0 . - Virmond, W.: Materialismus Mensch dem Gebrauch ihrer eigentlichen Naaus der Alchemistenküche. In: Berliner Hefte 2 men aus und fand als Ersatz dafür E.en, die als (1977) 8 0 - 8 7 . - van Biervliet, L.: Ulenspiegel en Namen oder Wörter von guter Vorbedeutung de vlaamse romantiek. Brügge 1979. — Hucker, B. galten und es ermöglichten, potentiell schädU.: Bote, Hermen. In: Lex. des MA.s 2. Mü. 1982, liche oder bedrohliche Wesen ohne Gefahr zu 482-484. - id.: War Tile von Kneitlingen ( 1 3 3 9 1351) der hist. Ε.? In: Braunschweig. Jb. 64 (1983) erwähnen. Diesem Denken entsprechend wür(im Druck). den die solchermaßen euphemistisch BenannBamberg Bernd Ulrich Hucker ten entweder gar nicht bemerken, wenn von
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ihnen die Rede war, oder, durch die ihnen beigelegten vorteilhaften Titel gefällig gestimmt, sich versöhnlich zeigen 4 . Die gleiche Einstellung führte zur Herausbildung von E.en für verschiedene Leiden und Plagen, von denen sich der Mensch bedrängt sah; so sprach man etwa von der —» Pest nur in verschleiernden Worten, aus Angst, selbst von der Krankheit befallen zu werden 5 . Auch bei den euphemistischen Ausdrücken für das Sterben — verscheiden, entschlafen, abieben, abberufen werden etc. — dürfte diese Einstellung neben dem gesellschaftlichen Gebot der Dezenz eine Rolle spielen. Der Tod und alles, was damit in Zusammenhang steht, wird mithin durch Worte beschrieben, die offensichtlich seine Endgültigkeit leugnen wollen oder ihn so darstellen, daß er nicht als Feind und die von ihm Betroffenen nicht als Opfer erscheinen 6 . Der Glaube an die Wirksamkeit des E . — und an die Kraft des Namens, den er ersetzt — kommt weltweit in der volkstümlichen Überlieferung zum Ausdruck, so ζ. B. bei den Namen von Gottheiten oder Göttern, die man auszusprechen vermeidet, um nicht zu lästern oder den Zorn des besagten Gottes auf sich zu ziehen 7 . Die volkstümliche Sprache kennt ebenfalls E.en für den Namen Gottes, die in bestimmten Ausdrücken, wie Flüchen oder Ausrufen, erscheinen; Beispiele sind das amerik. aye Gad (by God), das engl, 'od's wie in 'od's bones oder 'od's wounds, das dt. potz oder kotz wie in potz Blitz, kotz Wunder oder potztausend, das frz. bieu oder guieu wie in sangbieu, vertuguieu, ventrebleu oder ventre-saintgris 8 . Der Hauptgegner des jüd.-christl. Gottes, Luzifer, gebräuchlicher Satan oder der Teufel genannt, ist Gegenstand unzähliger, oft sehr farbiger E.en. Viele Erzählungen warnen davor, ihn durch unbedachtes Aussprechen seines Namens herbeizubeschwören. Z u r Vermeidung solch verhängnisvoller Folgen steht eine reiche Auswahl an E . e n zur V e r fügung, ζ. B . Auld Hornie, Sandy oder Clootie (Schottland), Old Nick, Old Davy oder the Old Gentleman (England), Alt Erik oder Alt J e r k e r (westl. Skandinavien), Gottseibeiuns, Geier, Henker, der böse Feind, Meister Peter, Peterchen oder Deichel (Deutschland), diacre (Frankreich), ceteratojo (Italien), Old Scratch, Old Ned, booger man
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oder the Old B o y Himself (südl. Appalachen) 9 . Viele euphemistische Benennungen des Teufels bringen direkt oder indirekt sein böses Wesen zum Ausdruck, ζ. B . da sorrow oder da illhealt (Shetland-Inseln) und Meister Sieh-dich-für (Deutschland) 1 0 . Andere beziehen sich auf sein Äußeres. Man stellt ihn sich gewöhnlich schwarz vor, daher die Namen Black Donald (Schottland) und da black tief (Shetland-Inseln). Einige Volkserzählungen schildern ihn als Reiter eines schwarzen Pferdes, andere wieder als grayman oder graymanikin, er wird aber auch Greencoat genannt oder erscheint als grüner J ä g e r 1 1 . Auf den Hebriden heißt man ihn the black one oder the brindled o n e 1 2 . Sein lahmes Bein, das von seinem Sturz aus dem Himmel in den Abgrund der Hölle herrühren soll, führte zur Entstehung von E . e n wie Hinkebein 1 3 . Ein schott. E . für den Teufel, good oder guid man, ist gleichbedeutend mit Bewohner und bezieht sich vermutlich auf die Hölle als Wohnort. Dieser E . wird ζ. B . in dem Ausdruck the guid man's croft verwendet, mit dem ein dem Teufel zugeeignetes Stück Land gemeint ist, das nicht bebaut wird, offenbar um sicherzustellen, daß er auf die Bestellung der übrigen Felder, die zum Hof gehören, keinen störenden Einfluß nehmen kann 1 4 .
In vielen Kulturen begegnet der Glaube an Feen, Fairies, Elfen oder ähnliche Geister. Auch ihnen gibt man gewöhnlich euphemistische Namen, um sie günstig zu stimmen. So heißen die Fairies in Irland the good people, the gentry oder the gentlemen, im schott. Tiefland u. a. the good neighbours, the honest folk, the little folk oder the men of peace und in Wales the fair family oder the pretty little folk. In isl. Volkserzählungen werden die Elfen (älfar) euphemistisch als verborgenes Volk (huldu-folk) oder Lieblinge (liuflingar) bezeichnet, in der färö. Tradition als die Grauen oder Schattenhaften (huldumaöur). Dt. Elfen werden das stille Volk oder die guten Holden genannt. Den arab. Dschinnen, die starke Ähnlichkeiten zu Fairies aufweisen, hat man den Titel die Gnadenvollen (mubarakfn) beigegeben; für die Nereiden neugriech. Erzählungen, die ebenfalls den Fairies entsprechen, gibt es verschiedene Namen wie unsere guten Frauen, die Königinnen, die Gütigen und die Glücksbringerinnen 15 . Um die unerwünschte Aufmerksamkeit der Fairies oder ähnlich gearteter Wesen vom Menschen abzulenken, reicht es jedoch nicht aus, ihre Namen mit Hilfe von E.en zu umgehen; auch bestimmte Gegenstände müssen euphemistisch umschrieben werden, wenn
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man sie in ihrer Gegenwart erwähnt: ζ. B. den: Die schmeichelhaften sollen gehört werwarnen färö. Volkserzählungen davor, Wörter den und das so bezeichnete Wesen geneigt wie Messer, Schwert, Haken oder Imbiß offen stimmen; verschleiernde E.en dagegen gevor dem huldu-folk zu gebrauchen, und schlabraucht man, weil sie nicht verstanden werden gen als Ersatz E.en wie scharfschenkelig, sollen 22 . 16 Krümmung und Biß vor . E.en sind in der Volkserzählung, bes. im Märchen, bei weitem nicht so verbreitet wie Ähnliche euphemistische Praktiken sind bei in der volkstümlichen Sprache. Meistens tauFischern, Jägern, Seeleuten, Bergarbeitern chen sie im Zusammenhang mit einem Tabu und Männern, die andere gefahrvolle Tätigauf. Ein frühes Beispiel ist das Verbot der keiten ausüben, zu beobachten 1 7 . EuphemistiGriechen, den Namen der Erinnyen auszusche Bezeichnungen für Tiere, bes. für diesprechen; sie wurden statt dessen Eumeniden jenigen, die eine potentielle Bedrohung für genannt 2 3 . Zahlreiche Sagenmotive handeln den Menschen darstellen, werden nicht nur von Tabus, die den Gebrauch der Namen von von Jägern, sondern auch von der BevölkeSchädigern (ζ. B. Mot. C 433) 2 4 oder das rung allg. verwendet. Der Wolf etwa wird Aussprechen hl. Namen (ζ. B. Mot. F 455.7. bei manchen Nordeuropäern vielfach Gold3) 2 5 verbieten. Einige Forscher sehen in zahn, Graubein oder der Stille, der Bär Großbestimmten Erzählungen eine Art .euphemivater, schöne Honigtatze oder der alte Mann stischer Handlung', ζ. B. wenn in —» Amor und mit dem Pelzmantel genannt 1 8 , wobei sicher strenge —> Tabu-Vorschriften teilweise in eher Psyche (AaTh 425) mit dem Tier zärtlich umgegangen wird 26 , wenn im Rumpelstilzchen spielerische Metaphorik übergehen. In ver(KHM 55; AaTh 500: Name des Unholds)21 schiedenen Gegenden Deutschlands galten dem eigentlich böswilligen Wesen Höflichkeit die Tage zwischen Weihnachten und dem entgegengebracht wird, um seine Gunst zu erDreikönigsabend als gefahrbringende Zeit, in langen, oder wenn schließlich in ir. Sagen die der selbst für kleinere und weniger furchtWiesel (in Irland oft mit Wundern in Zusamerregende, aber dennoch möglicherweise zermenhang gebracht und sehr geachtet) von den störerische Tiere nicht die gebräuchlichen Menschen nicht nur euphemistisch benannt, Namen benutzt werden durften; man sagte sondern auch absichtlich gemieden werden, dann ζ. B. statt Mäuse Dinger oder Boenlowas anschließend belohnt wird 28 . Vermutlich per, damit sie sich nicht übermäßig vermehr19 sind E.en in der Volkserzählung seltener zu ten . In Nordindien wurde die Schlange als finden, weil diese sich hauptsächlich auf die Wurm oder Insekt, als Onkel mütterlicherseits Handlung konzentriert und weniger als im oder Seil und ein Schlangenbiß durch den Satz wirklichen Leben Werte, Sitten, Gebräuche, „ein Seil hat mich berührt" apostrophiert 2 0 . Ähnlich beschrieben die Cherokesen, die die 'Tabus etc. beachtet werden. Besteht ζ. B. ein Sprech- oder Namenstabu, so kann der Held Klapperschlange als höheres Wesen ansahen des Märchens dieses Tabu brechen, und die und deshalb darauf bedacht waren, nicht ihr Erzählung endet trotzdem glücklich, selbst Ärgernis zu erregen, den Schlangenbiß als wenn er irgendwelche Folgen zu tragen hat; Kratzer eines Dornstrauchs 2 1 . d. h., der Held wird gerettet oder erlöst, Dem Gebrauch der beschriebenen E.en obwohl er ein Tabu überschritten hat 2 9 . liegt entweder der Wunsch zugrunde, Wesen, Besteht jedoch im wirklichen Leben ein die man mit Geist und Intelligenz begabt Sprech- oder Namenstabu, so wird es eher glaubt, zu besänftigen und versöhnlich zu umgangen, als daß es gebrochen wird, indem stimmen, indem man gut von ihnen spricht, man auf einen E. zurückgreift. Tabus können oder die Befürchtung, sie könnten die menschhier nicht offen und furchtlos mißachtet werliche Sprache verstehen und in bestimmten den. Für Figuren des Märchens dagegen ist Situationen, wie beim Fischfang oder auf der es unnötig, sich auf einen E. zu berufen. Sie Jagd, die Absichten des Menschen entdecken unterstehen quasi dem Schutz der künstleriund dadurch verscheucht werden oder in Zorn schen Erzählform, die mit ihren Wundern und geraten. E.en treten daher gewöhnlich in zwei glücklichen Ausgängen selbst die schlimmsten Formen auf, die den jeweiligen Umständen Zuwiderhandlungen rechtfertigt. und dem Zweck entsprechend eingesetzt wer-
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In neuerer Zeit d i e n e n E . e n meist der Wahrung der Schicklichkeit in Z u s a m m e n hang mit T h e m e n , die als vulgär, o b s z ö n o d e r in irgendeiner W e i s e als heikel gelten. E i n e schwangere Frau ist ζ. B. in anderen U m s t ä n den, guter H o f f n u n g , sie sieht Mutterfreuden e n t g e g e n . Prostituierte nennt man F r e u d e n mädchen30. D i e V e r ä n d e r u n g e n , d e n e n E . e n unterliegen, spiegeln allg. kulturelle E n t w i c k l u n g e n wider; bes. deutlich wird dies, w e n n man d e n Sprachgebrauch verschiedener E p o c h e n in B e z u g auf den sexuellen B e r e i c h betrachtet. In der wilhelminischen Zeit sprach man ζ. B. nicht v o n den A r m e n und B e i n e n o d e r der Brust einer D a m e , sondern von ihren Gliedm a ß e n o d e r ihrem Busen. D i e Genitalien wurd e n bei b e i d e n G e s c h l e c h t e r n g e w ö h n l i c h als Schamteile, bei der Frau als Schoß, b e i m Mann als Glied bezeichnet, um nur einige aus der großen Anzahl solcher E . e n zu n e n n e n 3 1 . D i e Prüderie ging im viktorianischen Z A . s o weit, d a ß man es für angebracht hielt, Tiere, die als bes. ausgeprägte Verkörperung vulgärer S e x u altriebe erschienen, mit e u p h e m i s t i s c h e n B e z e i c h n u n g e n zu belegen. E . e n spiegeln also, w i e viele andere Form e n der Folklore, den W a n d e l soziokultureller Werte, Sitten, Glaubensvorstellungen, N o r m e n und Verhaltensmuster. 'Allg. Darstellungen: Schulz, H.: Frühnhd. E.en. Diss. Straßburg 1908; Zelenin, D. K.: Das Worttabu bei den Völkern Osteuropas und Nordasiens. Len. 1930; Havers, W.: Neuere Lit. zum Sprachtabu. Wien 1946; Partridge, Ε.: Euphemism and Euphemisms. In: id.: Here, there and everywhere. Essays upon Language. L. 1950, 3 9 - 4 9 ; Estrich, R./Sperber, H.: Three Keys to Language. Ν. Y. 1952; Mencken, H.: Euphemisms. In: Dean, L./Wilson, K.: Essays on Language and Usage. Ν. Y. 1963, 4 0 - 5 0 ; Pei, M.: Words in Sheep's Clothing. N. Y. 1969; Spears, R.: Slang and Euphemism. Ν. Y. 1981; Noble, V.: Speak Softly. Euphemisms and Such. Sheffield 1982. - 2 Leinfellner, E.: Der Ε. in der politischen Sprache. Β. 1971. - 3 H D A 2, 1080sq.; Röhrich, L.: Der Dämon und sein Name. In: Paul und Braunes Beitr.e zur Geschichte der dt. Sprache und Lit. 7 3 ( 1 9 5 1 ) 4 5 6 - 4 6 8 . - "Singer, I.: Euphemism. In: The Jewish Enc. 5. Ν. Y. 1906, 267sq.; MacCulloch, J.: Euphemism. In: E R E 5, 585; Frazer, J.: The Golden Bough 3. Ν. Υ. 1935, 416sq.; Wilkinson, L.: Classical Approaches: Nudism in Deed and Word. In: Encounter 51 (1978) 26. - 5 H D A 2 , 1 0 8 0 s q . - 6 Narr, D.: Zum Ε. in der Volkssprache. Redensarten und Wendungen um
„tot", „ T o d " und „Sterben". In: Württemberg. Jb. für Vk. 2 (1956) 1 1 2 - 1 1 9 ; Leinfellner (wie not. 2) 112sq.,pass.; Dornseiff, F.: Der dt. Wortschatz nach Sachgruppen. B. 5 1959, 147sq.; Röhrich, Redensarten, 1 1 7 5 - 1 1 7 9 . - 7 Briggs, K.: The Vanishing People. Ν. Υ. 1978,154; Clodd, Ε.: Tom Tit Tot. L. 1898, 173-191; Grimm, J.: Teutonic Mythology 1 - 4 . N.Y. 1966, t. 1, 15sq.; H D A 2, 1080sq.; MacCulloch (wie not. 4) 585sq.; Tylor, E.: Researches into the Early History of Mankind. N.Y. 1870, 124sq., 143sq. - 8 MacCulloch (wie not. 4) 586; Grimm 1 (wie not. 7) 15; Röhrich, Redensarten, 742. - 9 Chase, R.: Grandfather Tales. Cambr., Mass. 1948, 34; Christiansen, R.: Folktales of Norway. Chic./L. 1964, 261; FL 10 (1899) 263; The Frank C. Brown Collection of North Carolina Folklore 1. ed. Ν. I. White. Durham 1 9 5 2 , 5 2 1 , 5 7 1 , 5 8 8 ; Grimm 3 (wie not. 7) 987,989, 1004; t. 4 , 1 6 0 6 ; MacCulloch (wie not. 4) 586; Röhrich, L.: Sage und Märchen. Fbg/Basel/Wien 1976, 328 (Lit.). - 10 Grimm 4 (wie not. 7) 1606; Rogers, C.: Social Life in Scotland 3. Edinburgh 1886, 218.
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Campbell, J.: Superstitions of the Highlands and Islands of Scotland. Glasgow 1900, 291, 303; Grimm 4 (wie not. 7) 1606; t. 3, 993, 1006; Rogers (wie not. 10) 218. - 12 FL 10 (1899) 263; Wünsche, Α.: Der Sagenkreis vom geprellten Teufel. Lpz./Wien 1905, 51 sq. - 13 Grimm 3 (wie not. 7) 993. - 14 FL 10 (1899) 263; Grimm 3 (wie not. 7) 1 0 0 0 - 1 0 0 5 . - 15 ibid. 2 (wie not. 7) 452, 456; t. 4, 1416; Jackson, Α.: Faroese Folk-Tales. In: FL 87 (1976) 56; Keightley, T.: The Fairy Mythology. L. 1850, 164, 351, 363, 397; MacCulloch (wie not. 4) 586; Simpson, E.: Folk Lore in Lowland Scotland. L. 1908, 14, 40, 93. - 16 Craigie, W.: Scandinavian Folk-Lore. L. 1896, 165; Jackson (wie not. 15) 56. - 17 Rogers (wie not. 10) 218; Certeux, A./ Carnoy, E.: L'Algerie traditionnelle. P./Alger 1884, 172, 175. — 18 Castren, M.: Vorlesungen über die finn. Mythologie. St. Petersburg 1853, 201; Leemius, C.: De Lapponibus Finmarchiae eorumque lingua, vita, et religione pristina commentatio. Kop. 1767, 502; Lloyd, L.: Peasant Life in Sweden. L. 1870, 251; Thorpe, Β.: Northern Mythology 2. L. 1851/52, 83sq. - 19 Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg 2. Wien 1879, 246,1273sq.; Kuhn, Α.: Märkische Sagen und Märchen. B. 1843, 14, 378. - 2 0 Crooke, W.: Popular Religion and Folklore of Northern India 2. Westminster 1896, 142. 21 Mooney, J.: Sacred Formulas of the Cherokees. In: Seventh Annual Report of the Bureau of Ethnology. Wash. 1892, 352. - 22 Frazer (wie not. 4) 416 sq. - 23 Röhrich, L.: Sage und Märchen. Erzählforschung heute. Fbg 1976, 126, 2 5 2 - 2 7 2 . 24 ζ. Β. Güntert, Η.: Von der Sprache der Götter und Geister. Halle 1921, 16; Lüthi, Ästhetik, 38, 45, 60, 195; Briggs, K. (ed.): Folktales of England. Chic./L. 1965, 4sq. - 25 ζ. B. Hartmann, E.: Die Trollvorstellungen in den Sagen und Märchen der
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Euphrasia — Eva: Die neue Ε.
skand. Völker. Stg. 1936, 70. - 26 Lüthi, Ästhetik, 45. - 27 cf. ζ. B. Röhrich (wie not. 23) 2 7 2 - 2 9 1 . 28 0'Sullivan,S.: Folktales of Ireland. Chic./L. 1966, 2 5 9. - 2 9 v. Ranke, Κ.: Folktales of Germany. Chic./ L. 1966, 78sq. - 3 0 cf. auch Leinfellner (wie not. 2) 1 1 2 - 1 1 6 ; Steadman, J.: A Study of Verbal Taboos. In: American Speech 10 (1935) 9 3 - 1 0 3 . 31 Weitere Beispiele v. Mencken, Partridge, Pei, Estrich/Sperber, Spears (wie not. 1), Steadman (wie not. 30).
Lexington
R. Gerald Alvey
Euphrasia —> Nonne: Die keusche Ν. Eustachius -»Placidas Eva —• Adam und Eva Eva: Die neue Ε. (AaTh 1416). Der Typus, der bei AaTh einseitig als Erzählung von der neuen Eva (E.) bezeichnet wird, obwohl in den meisten volkstümlichen Varianten 1 Adam (A.) und E. gemeinsam fungieren, gehört mit seinen Einzelmotiven von der Gehorsamsprobe (-* Gehorsam und Ungehorsam) und der verbotenen —> Neugier zum größeren Kreis der Tabu-Erzählungen. Doch handelt es sich bei dieser Geschichte mit ihrem A. und E.-Bezug um eine in sich abgeschlossene und gegen andere Erzählkomplexe deutlich abgrenzbare Erzähleinheit literar. und mündlicher Tradition, die über 850 Jahre bis in die Gegenwart reicht und ein Paradigma für die Beharrlichkeit des —» Sündenfallthemas darstellt. In der neuzeitlichen Überlieferung besitzt die Erzählung eine Normalform, welche die Typenbeschreibung bei AaTh um einige wesentliche Elemente erweitert: Ein Ehepaar beklagt sein hartes Leben und gibt dafür A. und E. die Schuld, weil diese durch Ungehorsam und Neugier die Sünde in die Welt gebracht haben. Der König oder ein anderer vornehmer, reicher Herr hört den Jammer und lädt die armen Leute in sein Haus. Hier leben Mann und Frau in paradiesischer Fülle, jedoch mit der Bedingung, auf keinen Fall ein verdecktes Gefäß zu öffnen. Sie können der Versuchung nicht widerstehen und decken die verbotene Schüssel auf; eine Maus entwischt, oder ein Vogel fliegt davon. Der Herr belehrt das ungehorsame Paar und schickt es in sein beklagenswertes Leben zurück.
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Im literar. Stoffkreis des Erzähltypus zeichnen sich drei voneinander verschiedene Traditionszweige ab: Die älteste Redaktion handelt vom ungehorsamen Mönch oder Diener. Den frühesten Beleg dieser Überlieferungsgruppe bietet der Esope der frz. Dichterin —> Marie de France aus dem 12. Jh. Darin findet sich eine Fabel in gebundener Sprache mit dem Titel D'un Reclus e d'un vilein. Ein Bauer fragt den Einsiedler, warum A. die Frucht gegessen und damit das ganze Menschengeschlecht geschädigt habe und warum, als er den Apfel aß, Gott ihm nicht verziehen habe. Da diese Fragen dem Einsiedler lästig sind, entschließt er sich zur Probe mit der Schüssel und der Maus. Der Bauer übertritt das Verbot. Der Einsiedler macht ihm Vorhaltungen und mahnt ihn, A. nicht mehr zu schmähen. „Jeder tadle sich selbst" 2 .
Nach E. Mall 3 und K. Warnke 4 benutzte Marie vermutlich eine engl. Sammlung von Erzählungen aus „sehr verschiedenen, oft schwer zu bestimmenden Quellen" 5 . Über den ägypt. Mystiker Du'u-Nün al Misri (gest. 860 p. Chr. n.) gibt es eine suf. Erzählung, in welcher er mit einem Gefäß und einer Maus die Zuverlässigkeit eines Schülers prüft 6 . Es ist nicht auszuschließen, daß mit dem ersten Kreuzzug in den Orient (1096—99), an dem bes. auch normann. Ritter teilnahmen, diese Prüfungsgeschichte von dort nach England gelangte und christl. verändert, d.h. die profane Erzählung mit dem bibl. Sündenfall verquickt wurde. Diese Mönchsredaktion erscheint in den folgenden Jh.en als Exempel oder als Fabel in Predigt und christl. Belehrung; die relativ hohe Zahl der Hss. bezeugt die breite Wirkung der Erzählung und ihre Beliebtheit. Deutlich fallen zwei Versionen auseinander: die Maus- und Vogelversion. In den Fassungen von Marie de France und —* Jacques de Vitry 7 entkommt das Erdtier, bei —» Caesarius von Heisterbach 8 , —» Etienne de Bourbon 9 und im Codex Gudanus10 sowie in dem Ms. 16499 11 der Bibliotheque Nationale (P.) das Flugtier. Letzteres bildet das corpus delicti in 16 literar. Varianten, während die entfliehende Maus nur in sechs Erzählungen den neugierigen Mönch überrascht. Im Gegensatz zur mündlichen Volksüberlieferung der Neuzeit, wo in acht von neun Fällen die Maus genannt wird, konnte
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Eva: Die neue Ε.
sich im literar. Bereich die Maus-Version also nicht durchsetzen. Die 2. Überlieferungsgruppe beginnt mit Caesarius von Heisterbach. An die bereits bekannte Version vom ungehorsamen Diener schließt sich in seinem Dialogus miraculorum eine Geschichte an, in der zum ersten Mal überhaupt eine Fassung von der neuen E. — A. ist nicht mehr erwähnt — überliefert wird 12 : Eine adlige Dame schmäht die bibl. Urmutter wegen ihres Leichtsinns und ihrer Ausschweifungen, durch die sie Elend über die Menschen gebracht habe; die neue E. - selbst auf die Probe gestellt — erliegt ebenso der Versuchung wie die alte. Das Motiv von der eingeschlossenen Maus bzw. dem Vogel fehlt dieser Redaktion. Der Ehemann, Heinrich von Weida, bekehrt seine tugendstolze Frau, indem er ihr verbietet, nach dem Bad eine schmutzige Wasserlache zu betreten 13 .
Diese Beispielerzählung wurde in der Folgezeit fast unverändert in den einschlägigen Exempelsammlungen und Predigtwerken tradiert 14 . Sie demonstriert den Ungehorsam der Frau und möchte beweisen, daß das weibliche Geschlecht seit E. mit Schwächen und Lastern behaftet sei. Die Erzählung trägt anekdotisches Gepräge, der Vorgang wird als hist, ausgegeben und die Geschichte lokalisiert 15 . Wie viele seiner Beispiele entnahm der Heisterbacher Mönch wahrscheinlich auch das vorliegende der mündlichen Tradition, die bis in die Mitte des 12. Jh.s zurückreichen dürfte, wo jener Heinrich von Weida gelebt hat. Mit der literar. Übernahme des ursprünglichen Predigtbeispiels im 17. und 18. Jh. 16 läuft die Heinrich von Weida-Redaktion aus; sie wird von einer anderen Überlieferung, der sog. Ehepaar-Redaktion, abgelöst, welche die älteste Redaktion wieder aufnimmt und verändert weiterführt. Diese Überlieferung ist in ihren frühesten Fassungen in Sachsen angesiedelt und anekdotisch mit einem Fürsten Johann verbunden. Gedruckt wurde eine Version der Ehepaar-Redaktion erstmals 1656 in Johann Peter de Memels Lustiger Gesellschaft17. Im Mittelpunkt stehen der Fürst und ein altes Paar, das über seine schwere Arbeit jammert und A. und E. dafür verantwortlich macht. Der Fürst
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möchte die Stammeltern entlasten und stellt deshalb die alten Untertanen auf eine Probe. Die nicht bestandene Prüfung mit der Schüssel und der Maus führt Mann und Frau aus dem vorübergehend angenehmen Leben am Fürstenhof wieder zurück ins alte Elend, für das sie nun selbst die Schuld tragen. Die fürstliche Belehrung parallelisiert den Erzählvorgang mit dem bibl. Sündenfall. Wie die alte Frau ihren Mann zur Gebotsübertretung gedrängt habe, so habe auch E. ihren Mann zum Apfelgenuß verführt. Wie A. und E. daraufhin im ,Schweiße ihres Angesichts' arbeiten mußten, so steht auch heute dem neuen Sünderpaar die Arbeit zu 18 .
In der nachfolgenden Zeit taucht die Fassung von dem alten Paar und dem Fürsten (möglicherweise Johannes Friedrich der Großmütige, Kurfürst 1532-47) allenthalben in der Schwankliteratur des 17. und 18. Jh.s auf 19 . Die über das neue Sünderpaar gesammelten barocken Predigtbeispiele zeichnen kein wesentlich anderes Bild als die Unterhaltungsliteratur 20 . Wie beliebt der Stoff bes. seit dem 17. Jh. gewesen sein muß, beweist auch seine sonstige Bearbeitung, vor allem als Zwischenspiel in protestant. Schulstücken über Paradies, Sündenfall und Vertreibung 21 . Von den drei literar. Redaktionen erweist sich in der mündlichen Überlieferung die Erzählung von Heinrich von Weida und seiner ungehorsamen Gemahlin als nicht lebensfähig. Ebenso kann die älteste Version vom ungehorsamen Mönch/Diener ihre spezifische exempelhafte Gestalt in der oralen Tradition nicht behaupten; sie geht in der Ehepaar-Redaktion auf, die sich seit dem 17. Jh. als unverändert traditionsfest zeigt; ihr hervorstechendstes Merkmal ist die soziale Akzentuierung des neuen Sündenfalls. Die EhepaarVarianten machen unter den mündlichen Aufzeichnungen mehr als 80% aus; sie weisen auch das größte Verbreitungsgebiet auf. Die Mehrzahl der mündlichen Belege stammt aus Nord- und Mitteldeutschland, Skandinavien, Finnland und den bait. Ländern, wo das Schwergewicht dieser Variation liegt. Den Ausgangspunkt und das Zentrum der Verbreitung könnte man im Gebiet des früheren Preußen und der Ostsee annehmen, denn je weiter man sich aus diesem protestant. Kulturraum in Richtung Süden und Osten entfernt, desto mehr nimmt die Zahl der Belege ab. Die jüngste ungedruckte Fassung kommt
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aus Friesland und stammt aus dem Jahre 196 9 22 . Entscheidend für die Motivation des Erzählgeschehens wird in der mündlichen Überlieferung der Neuzeit die soziale Lage von Mann und Frau und ihre Unzufriedenheit mit den eigenen Lebensverhältnissen. Am Ende erfolgt jedoch durch den Fürsten/Gutsbesitzer mit Hilfe des bibl. Sündenfalls die mythische Rechtfertigung der Arbeit, der allg. Not und der sozialen Ungleichheit. Nach der nicht bestandenen Probe kehrt die Erzählhandlung aller Varianten in die Normallage zurück; geändert hat sich am äußeren Zustand der armen Leute nichts; was sich aber einstellt, sind neue Einsichten. Das übertretene Verbot, der ,neue Sündenfall', führt Mann und Frau zur demutsvollen Selbsterkenntnis, die schweren Bürden des eigenen Standes geduldig tragen zu müssen. Dies tröstet, läßt den Schimpf auf die Reichen nicht aufkommen und unterdrückt die Unzufriedenheit mit der eigenen Situation bei den Zuhörern. Hauptaussage des Erzähltyps AaTh 1416 in seiner jüngsten und verbreitetsten Redaktion ist die gottgewollte Fügung der Sozialordnung und ihre Herleitung aus einer prähistorischen Zeit. Die Absicherung der gesellschaftlichen und politischen Zustände erfolgt durch die Inanspruchnahme göttlicher Autorität. In der Form des Mythos ist es dem Menschen verboten, vom Baum der Erkenntnis zu essen und damit wie Gott zu werden, in den Erzählungen vom neuen Sünderpaar ist es dem Menschen verboten, aus seinem Stand auszubrechen, wissend eine bestimmte Grenze zu überschreiten; reicher zu werden, unabhängig zu werden von Fürst/Gutsbesitzer ist Hybris und ,Sündenfair. Die Bibel bzw. die von der Kirche vermittelte Interpretation der Paradiesgeschichte hilft dabei, Elemente eines falschen Gesellschaftsbewußtseins zu fixieren und das „Arbeitsethos vom Religiösen" 23 her zu stützen. Die Beispielerzählungen von der neuen E. und dem neuen A. ordneten sich im Verlauf ihrer jahrhundertelangen Erzähltradition religiösen, moralischen und sozialpädagogischen Zwecken unter. Die oberschichtlich geprägten, Protestant. Lehr-Erzählungen der Neuzeit 24 führten die Zuhörer zur Erkenntnis, die vorgefundenen Normen und Lebensverhältnisse nun einmal so annehmen zu müs-
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sen, wie sie gottgewollt von Anfang an bestanden hätten; sie halfen, in den Köpfen der Leser und Hörer der vorwiegend agrarischen Verbreitungsgebiete das bestehende Gesellschaftsgefüge und die von der Obrigkeit vertretene Moral zu bestätigen. Seine Verwendung in Schule und Religionsunterricht bestätigt den lehrhaften, beispielgebenden Charakter des Erzähltyps bis zum heutigen Tag. I cf. Baughman; 0 Süilleabhäin/Christiansen; de Meyer, Conte; Tubach und Dvorak, num.3427; Robe; Rausmaa; Aräjs/Medne; György, num. 39; SUS. — 2 Aus dem Esope der Marie de France, ed. K. Warnke. Halle 1926, 4 4 - 4 6 , num. 28. - 3 Mall, E.: Zur Geschichte der ma. Fabellit. und insbesondere des Esope der Marie de France. In: Zs. für rom. Philologie 9 (1885) 1 6 1 - 2 0 3 , hier 200. 4 Warnke, K.: Die Fabeln der Marie de France. Halle 1898, 46. - 5 Mall (wie not. 3) 203. - 6 Das Kitäb el-adkijä' des Ibn el-Gauzi nach dem Druck Cairo 1306 und der Hs. Umumijje 5341 aus dem Arabischen übers, von O. Rescher. Galata 1925, 118. - 7 Jacques de Vitry/Crane, num. 13. — 8 Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum. ed. J. Strange. Köln/Bonn/Brüssel 1851, 4,75. 9 Lecoy de la Marche, A. (ed.): Anecdotes historiques, legendes et apologues tires du recueil inedit d'Etienne de Bourbon, dominicain du XHIe siecle. P. 1877, num.298. - 10 Hervieux 2, 706. II Notices et extraits de quelques manuscrits latins de la Bibliotheque Nationale 5/6. ed. B. Hureau. P. 1892, 149 sq. — 12 Caesarius von Heisterbach (wie not. 8) 4,76. - 13 cf. den Ovidschen Satz „Nitimur in vetitum et negata cupimus" (Amores 3, 4, . 17 sq.), der in unzähligen Geschichten der Exem' pla- und Schwanklit. belegt ist. — 14 cf. An Alphabet of Tales. An English 15th Century Translation of the Alphabetum narrationum [. . .] 2. ed. Μ. M. Banks. L. 1905, num. 575; Recull de eximplis e miracles, gestes e faules e altres ligendes ordinades per A — B - C . Barcelona 1881, num. 506; Aegidius Aurifaber [?]: Speculum exemplorum. Argentinae 1487, 6,45; Gotschalci Holen: Sermones dominicales super epistolas Pauli partis estivalis. Hagenau 1517 (De tentatione diaboli); Johannes Herolt: Sermones discipuli de tempore. De sanctis cum exemplorum promptuario ac miraculis B. Virginis. Venetiis 1598, num. 13; Johannes Maior: Magnum speculum exemplorum. Coloniae 1611, num. 7. 15 Caesarius von Heisterbach (wie not. 8). — 16 du Cerceau, P.: Recueil de poesies diverses. P. 1720, 1 9 5 - 2 0 3 ; Der Mahler der Sitten 2. Zürich 1746, 4 3 7 - 4 7 2 ; Pia hilaria oder Legenden und Erzählungen von Angelinus Gazäus. Übers. C. B. Schlüter. Münster 1847, num. 35; Des Herrn Friedrich von Hagedorns poetische Werke. 2. Theil. Hbg 1757, 2 7 3 - 2 9 2 ; Grecourt, M. de: (Euvres diverses 1. s.l. 1780, 2 3 8 - 2 4 4 ; Ramler, C. W.: Fabellese 1.
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Lpz. [1783], num. 46; Parnaso lusitano ou poesias selectas dos auctores portuguezes [. . .] 4. P. 1827, 3 7 4 - 3 8 1 ; Gotthelf, J.: Sämtliche Werke in 24 Bänden 1. ed. R. Hunziker/H. Bioesch. ErlenbachZürich 1921, 3 0 7 - 3 1 0 . - 17 Text im EM-Archiv (mit num.): Joh. Peter de Memel (1656) (5.621). 18 ibid. - 19 EM-Archiv: Talitz, Kurtzweiliger Reyßgespan (1663) (2.532); Burger-Lust (1663) (13.705); Conlin II (1706) (10.114) u.a. - 2 0 cf. Schwarz, P.: Die neue E. Göppingen 1973, 133-135. 21 ibid., 1 3 7 - 1 4 0 . - "Aufzeichnung Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, Amst. - 23 Moser-Rath, E.: Das Thema .Arbeit' in der Volkserzählung. In: Arbeit und Volksleben. Dt. Vk.kongreß 1965 in Marburg, ed. G. Heilfurth/ I. Weber-Kellermann. Göttingen 1967, 2 6 2 - 2 7 3 , hier 263. - 24 Die Lehrtendenzen von AaTh 1416 (cf. auch AaTh 758) decken sich in erstaunlichem Maße mit der Soziallehre des Protestantismus, genauerhin mit der des Reformators Martin Luther und dem Obrigkeitsbegriff, den Philipp Melanchthon für die Zeit nach Luther systematisch ausbaute; cf. Schwarz (wie not. 20) 1 9 7 - 2 0 0 .
Nagoya
Paul Schwarz
Eva: Die ungleichen Kinder E.s (AaTh 758), eine bes. in der Reformationsliteratur verwendete Erzählung zur Rechtfertigung der —» Ständeordnung; auch als ätiologische Erzählung über die Herkunft der Unterirdischen und verschiedener Tiere verbreitet. Erst in der 5. Aufl. der Grimmschen K H M von 1843 taucht als num. 180 die Erzählung Die ungleichen Kinder E.s auf: Nach der Vertreibung aus dem Paradies bringt E. jedes Jahr ein Kind zur Welt. Doch die Kinder sind ungleich: einige schön, andere häßlich. Eines Tages will Gottvater das Hauswesen visitieren. E. badet ihre schönen Kinder und zieht ihnen frisch gewaschene Hemden an, die häßlichen hingegen versteckt sie. Gottvater kommt, segnet die vorgeführten schönen Kinder und bestimmt sie zum König, Grafen, Bürger, Kaufmann etc. Als E. sieht, daß der Herr so gnädig ist, will sie ihre weniger schönen Kinder auch segnen lassen und holt sie aus dem Heu, Stroh, Ofen etc. hervor. Diese jedoch bestimmt Gottvater zum Bauern, Fischer, Schmied, Lohgerber, Schuhmacher und Hausknecht. E.s Protest weist Gott zurück, da alle Stände ihre Berechtigung und Notwendigkeit zum Funktionieren der Gesellschaft hätten. E. gibt sich zufrieden: „Dein göttlicher Wille geschehe auch an meinen Kindern".
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Die Erzählung gehört zu jenen KHMNummern, die nicht aus mündl. Überlieferung stammen. Die literar. Vorlage ist der 1558 verfaßte Schwank des Hans —> Sachs Die ungleichen Kinder Evä1. Sachs hat diesen im 16. Jh. sehr beliebten Stoff innerhalb weniger Jahre noch drei weitere Male bearbeitet, und zwar 1547 als Meisterlied, 1553 als Fastnachtspiel und als Komödie. In den Grundzügen der Handlung — Einteilung des Sozialgefüges durch Gott — stimmen alle vier Bearb.en überein, weichen aber in der Ausdeutung und Begründung des göttlichen Ratschlusses z.T. erheblich voneinander ab 2 . Die Erzählung von der Entstehung der Stände taucht zuerst in einem lat. Hirtengedicht des Karmelitermönchs Baptista Spagnuoli (geb. 1448), nach seiner Heimat Baptista Mantuanus genannt, auf. In der 6. Ekloge seiner Bucolica3 reden zwei Hirten, Fulica und Cornix, von der Ungleichheit der Bauern und Städter und deren Ursprung. Hier sind die von der ersten Frau des Menschengeschlechts geborenen Kinder alle gleich. Bei einem Besuch des Schöpfers versteckt die Frau einige von ihnen, da sie der vielen Kinder halber den Vorwurf der Wollust fürchtet 4 . Die Fassung zeigt ein antikes Gewand: Der Schöpfer des Himmels und der Stifter der Ehe zwischen Mann und Frau entspricht antiker, nicht christl. Vorstellung; er heißt caeli opifex, deus, pater omnipotens, er grüßt die Penaten, verteilt röm. Würden und kehrt in den Olymp zurück 5 . Daß Mantuanus aus einer Volkserzählung schöpfte, behauptete bereits der gelehrte Buchdrucker Jodocus Badius Ascensius 1502 in seinem Kommentar zu diesem Gedicht. Er führt eine ähnliche Erzählung an, in der die versteckten und von der Frau verleugneten Kinder von Gott zu Affen, Fröschen und Kröten verwandelt werden 6 . In seinem Sprichwörterbuch von 1529 hat Johannes Agricola den Stoff verdeutscht und verchristlicht. Er benutzt die Erzählung zur Erläuterung der Reime „Da Adam reutte und Eva span, wer was do ein edelman?" und schließt, obwohl er die Geschichte nur .schertzweyse' angeführt haben will, mit einer Verteidigung der Ständeordnung 7 . Agricolas Fassung nutzten 1541 Sebastian —» Franck zur Erklärung des Sprichworts „Du bist zu spat
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kommen, biß du ein Baur" 8 und 1559 Valentin —» Schumann in seinem Nachtbüchlein zu einer breit ausgemalten Nacherzählung 9 . Von entscheidender Bedeutung für die weitere literar. Bearb. der Erzählung ist ihre Verwendung im Brief Philipp —» Melanchthons an den Grafen Johann von Weida vom 23. März 1539 10 . Er sollte den jungen Edelmann zur Erkenntnis des wahren Adels und zur Betätigung in seinem Geist anspornen. In der Fassung Melanchthons wird zunächst nur in gewaschene und ungewaschene Kinder unterteilt. Als Gott jedoch das Credo abfragt, können die schmutzigen und vorher versteckten Kinder im Gegensatz zu den sauberen nicht zufriedenstellend antworten. Melanchthon hat den Stoff — durch gleichzeitige Veröff. des Briefes in Druckform — bekannt gemacht und ihm die Form gegeben, die für die späteren Dichtungen maßgebend wurde. Noch im selben Jahr 1539 schrieb Johannes Stigelius auf die Hochzeit König Heinrichs VIII. von England mit Anna von Cleve ein Epithalamium, in dem er die Geschichte von den ungleichen Kindern E.s behandelte 11 . Auch er benutzt das Examen durch Gottvater als pädagogisches Motiv und läßt von dessen Ergebnis die Ämterverteilung abhängen. 1541 gab Stephan Vigilius in seinem Gedenckbuch12 eine dt. Übers, des Melanchthonschen Briefes, 1544 folgte eine weitere von Caspar Brusch 13 . Etwas freier ist die Übers, des Nathanael —» Chytraeus in seinem Fabelwerk von 1571 14 . Und schließlich erzählt das gleiche auch Georg Rudolf Widmann in seiner Umarbeitung des Volksbuches von -> Faust (Hbg 1599). Der Stoff taucht von nun an mehrfach in Slgen Protestant. Predigtexempel auf 15 . Die didaktische Anlage der Geschichte forderte geradezu zur Verwendung bei der Katechisierung der Kinder heraus, so zuerst bei Lucas Lossius in seinem Katechismus von 1545 16 ; bald darauf bei Johann Baumgart (Pomarius) in seinem Katechismus von 1559 17 ; schließlich bei Johannes —» Mathesius (1597) 18 . Mit ausgesprochener Vorliebe wurde der Stoff auch in zahlreichen, vorzugsweise geistlichen Dichtungen dramatisiert. An erster Stelle zu nennen ist hier Heinrich Knausts Bearbeitung von 1539 19 . 1547 erschien in Basel Sixt Bircks Dramatisierung des Stoffes
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u.d.T. Eva. Nach der Bearb. Baumgarts versuchte Arnold Quiting in seiner Kinderzucht (Dörtmünd 1591) eine neue Dramatisierung. 1560 gestaltete Nicolaus Selneccer den Stoff in seiner Theophania. Weitere dramatische Bearb.en bieten: Johann Stricker (1570, gedr. 1602) 20 , Balthasar Schnurr (1597) 21 und Wolfgang Ketzel (1613) 22 . AaTh 758 gehört zu den volkstümlichen Erweiterungen des bibl. Sündenfallberichts und wird insofern zu Recht unter die sog. ,legendenartigen Märchen' gerechnet (—» Adam, —» Adam und E.). Der Erzähltyp hat aber auch den Charakter einer Kultur-Ätiologie, da er den Ursprung der Stände und Berufe begründet. Schließlich hat die Erzählung exemplarischen Charakter: Sie lehrt, daß Kritik an Besitz- und Standesunterschieden nicht am Platz ist, da diese gottgewollt und/ oder letztlich vom Menschen selbst verschuldet sind. Apokryphe Berichte von weiteren Kindern Adams und E.s als den bibl. erwähnten Kain und Abel schließen an Gen. 4 an. Dabei hat es immer wieder Spekulationen über die Zahl der Kinder von Adam und E. gegeben. —> Luther 23 berechnet die Anzahl der ersten Kinder auf mehrere hundert. Erzählungen dieser Art stammen durchaus aus dem Geist des Gen.-Berichts, wenn die nachparadiesische Arbeit als Strafe für den Sündenfall in ätiologischen Erzählungen noch weiter ausgemalt wird. Wie der bibl. Bericht zeigt AaTh 758 eine gewisse Frauenfeindlichkeit: Die Schuld, daß es ungleiche Menschen und Stände gibt, wird hier ebenso wie in der Sündenfallerzählung einseitig der Frau zugeschoben. Auch ist immer nur von den Söhnen E.s die Rede, während weibliche Berufe ausgeklammert bleiben. Ganz ähnlich wie AaTh 1416: Die neue —*E. betont auch AaTh 758 die moralische Inferiorität des weiblichen Geschlechts. Die Erzählung folgt damit mehr theol. Traditionen und Tendenzen als den Gesetzen der Verhaltenspsychologie, denn die reale Erfahrung zeigt, daß Mütter gerade mißgebildeten oder auch sonst vom Schicksal benachteiligten Kindern eher mehr Zuwendung geben als den gesunden und schönen. Von Anfang an gehört die Erzählung in den homiletischen und didaktischen Anwendungsbereich und in den Rahmen christl. Verkündigung und Erziehung. Wie bei AaTh
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1416 handelt es sich um eine oberschichtlich bestimmte, Protestant. Lehr-Erzählung. Reformatorischer Geist wird darin sehr deutlich: Der bibl. Vorgang ist in das bürgerliche Familienleben des 16. Jh.s gestellt: Gott erscheint dem Menschen in vertrauter Nähe und nimmt väterlichen Anteil am Leben und den Sorgen der Menschen. Der Herr hält eine Visitation ab, wie sie Luther angeordnet und selbst mit durchgeführt hat; er fragt nach den Katechismusstücken und bekommt dabei Luthers Erklärungen zu hören. Es hängt sicher auch mit dem puritanisch-protestant. Prinzip der Prädestination zusammen, wonach Reichtum, hoher Stand eben auch eine von Gott gewollte und vorbestimmte Eigenschaft ist 24 . Die Erzählung erklärt den unterprivilegierten Klassen exemplarisch die Ungleichheit der Ständeordnung, die gottgewollte Fügung der sozialen Unterschiede und ihre Herleitung aus einer Urzeit 2S . Die Absicherung der gesellschaftlichen Zustände erfolgt durch Inanspruchnahme göttlicher Autorität 26 . So gesehen ist AaTh 758 das Gegenteil einer sozialkritischen Erzählung. Niemand ist jedenfalls auf die Idee gekommen, darüber nachzudenken, daß die betreffenden Berufe in einem Urzustand der menschlichen Gesellschaft wohl noch nicht existierten und Adam und E. noch nicht bekannt sein konnten. Der Ursprung der Geschichte, auf den sich Agricola ausdrücklich beruft, hängt mit einer sozialpolitischen Parole zusammen, die zuerst in England anläßlich des Bauernaufstandes von 1381 auftritt. Ein Priester namens John Ball prägte damals den Spruch „When Adam delved and Eve span / Who was then the gentleman?" als Text seiner Predigt. Von da an taucht der Vers bald als Spruch, bald als Liedstrophe immer wieder auf. Vor allem während der Bauernkriege berief sich der Bauernstand auf einen sozialen Urzustand der Gleichheit aller Menschen: „Als Adam grub und Eva spann, / Wo war denn da der Edelmann?" 2 7 . Der Erzähltyp AaTh 758 gibt nun die oberschichtlich geprägte Antwort auf diese rhetorische Frage von unten. Derartige ätiologische Erzählungen zur Legitimierung der Standesunterschiede und Differenzierung der —> Arbeit sind kein Einzelfall. Bereits im altnord. Schrifttum stößt man auf das Merkgedicht von Rig (etwa Mitte
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12. Jh.; —> Edda) 2 8 , das vom Besuch des Gottes Rig in drei Familien aus verschiedenen sozialen Schichten berichtet. Die Folge des göttlichen Besuchs ist jeweils die Geburt eines Sohnes. Von den drei Söhnen stammen Knechte, Bauern und Adlige ab. Auch hier ist von einer gottgewollten Hierarchie der gesellschaftlichen Verhältnisse die Rede. Die Menschen sind zwar insgesamt Abkömmlinge eines Gottes, doch auch die strenge Scheidung der Stände ist gottgewollt. Ebenso wie die Erzählung von den ungleichen Kindern E.s schildert diese Geschichte die Einteilung und Rechte der Stände aus der Sicht des obersten Standes. Die einfache Arbeitswelt wird von oben und von außen gesehen. Die Zurückführung der Arbeitsteilung in die Schöpfungszeit und die Gottgewolltheit differenzierter Arbeitsleistungen, Berufe und Stände, wie sie diese Erzählungen bieten, gehen nicht von der realen Entwicklung der Arbeit und des Handwerks aus. Sie sind insofern tendenziös, als sie eine bereits bestehende Ordnung in eine Urzeit zurückverlegen 29 . J. Grimm nahm einen genetischen Zusammenhang zwischen dem nordgerm. Mythos und der Erzählung von E.s ungleichen Kindern an; doch bleibt dies Spekulation, nachdem bereits dargestellt wurde, wie sehr AaTh 758 aus den religiösen und sozialen Strömungen des 15. und 16. Jh.s erwachsen ist. AaTh 758 lebt indessen auch in mündl. Versionen, die nur z.T. auf literar. Einfluß zurückgehen. J. Winzer, der die Forschungsgeschichte des Stoffes erstmalig dargestellt hat, und — auf ihm fußend - J. Bolte und G. Polivka weisen Var.n nach aus der Steiermark, aus Graubünden (rätorom.), Südtirol, Sizilien, Malta, Spanien, Bulgarien, aus der Tschechoslowakei; außerdem skr., wotjak., armen, und wallis. Var.n, bes. aber — ganz analog zur geogr. Verbreitung der Erzählung von der neuen E. — aus den Protestant. Ländern um die Ostsee und aus Skandinavien: Pommern, Schleswig-Holstein, Dänemark, Schweden, Norwegen, Island sowie bait. Versionen aus Litauen und Livland 30 . Einen mohammedan. Text führt W. Menzel an, in dem Bettler und Fakire von den versteckten Kindern abstammen 31 . Der Stoff kommt auch noch in neuzeitlichen nordafrik. mohammedan. Versionen vor 32 . D. Dondore 3 3 hat ge-
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zeigt, w i e die Erzählung auch nach A m e r i k a gelangt ist und dort — bes. in den Südstaaten — zur Erklärung der ,Black Genesis' herangez o g e n w o r d e n ist. Im Laufe der mündl. Ü b e r lieferung hat sich die Erzählung auch i m m e r mehr die gattungsspezifische Schönheitsvorstellung des Märchens zu eigen gemacht: W e r niedrig ist, m u ß auch häßlich sein; wer h o c h steht, ist schön. Die meisten Volkserzählungen geben als Grund für das Verbergen der Kinder deren übergroße Anzahl an bzw. die Scham Adams und E.s über ihre allzugroße Wollust, die daraus gefolgert werden könnte. In manchen Volkserzählungen ist die Zahl der Kinder nicht bestimmt, sondern es wird nur gesagt ,einige', ,eine Menge', ,sehr viele'; in anderen ist sie angegeben: es sind 8 in maltes., 10 in schleswig-holstein., 20 in Wallis., 24 in sizilian., 60 in slav., 900 in steiermärk. Var.n. Im tirol. Märchen verrechnet sich E. in der Zahl der versteckten Kinder um einige tausend. Während die Eltern in einigen Var.n einen Teil der Kinder wegen ihrer zu großen Anzahl verstecken, so in anderen, weil die Kinder noch nicht gewaschen oder noch nicht angezogen, oder einfach, weil sie häßlich sind. Überhaupt tritt in der mündl. Überlieferung das Schicksal der Kinder, die nicht gezeigt worden sind, mehr hervor als das der gezeigten 34 . In den neueren mündl. Fassungen wird manchmal Gottvater durch Christus und E. durch eine namenlose Frau ersetzt 3 5 . Statt d e s aus K H M 1 8 0 b e k a n n t e n Schlusses, worin die U n g l e i c h h e i t der Stände v o n E . s V e r h a l t e n abgeleitet wird, wird in anderen Fassungen der Ursprung der A f f e n (Mot. A 1 8 6 1 . 1 ) erklärt 3 6 . D i e versteckten Kinder läßt das isl. Märchen zu E l b e n , das dän., schleswig-holstein. zu geisterhaften W e sen, zu Huldren und Unterirdischen (Mot. F 2 5 1 . 4 ) , das wallis. und frz. zu E l f e n o d e r auch zu Fröschen o d e r Kröten w e r d e n . In einer nordfries. Var. verwünscht Christus die im Keller versteckten häßlichen und von der Frau v e r l e u g n e t e n Kinder zu Unterirdischen 3 7 . D i e Variationsbreite dieser ätiologischen Erzählungen von der E n t s t e h u n g der U n t e r irdischen, Huldren, F e e n , A f f e n , Frösche ist groß, und sie befriedigen sehr unterschiedliche Kausalitätsbedürfnisse. Sie h a b e n j e d o c h — w i e der bereits g e n a n n t e K o m m e n t a r v o n J o d o c u s B a d i u s A s c e n s i u s gezeigt hat — ein h ö h e r e s Alter als die spätma. S t ä n d e - Ä t i o logien. Sie sind v o n d e n reformatorischen E x e m p e l n relativ unbeeinflußt o d e r haben
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sich v o n deren bibl.-theol. T e n d e n z e n weit wegentwickelt. I
Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs 1. ed. E. Goetze. Halle 1893, num. 194; cf. Hamann, H.: Die literar. Vorlagen der KHM und ihre Bearb. durch die Brüder Grimm. B. 1906, 92—94. — 2 cf. Könneker, B.: Die Ehemoral in den Fastnachtsspielen von Hans Sachs. In: Hans Sachs und Nürnberg, ed. H. Brunner/G. Hirschmann/F. Schnelbögl. Nürnberg 1976, 2 1 9 - 2 4 4 , bes. 2 3 3 - 2 3 6 . - 3 Mantuanus, B.: Bucolica. Mantuae 1498 (auch engl, und frz. Übers.en). 4 BP 3, 309sq. - 5 Winzer 1908, 12. - 6 BP 3, 310. — 7 Agricola, J.: Drey hundert Gemeyner Sprichwörter [. . .]. Hagenau 1529, 160; cf. Winzer 1908, 13. - 8 F r a n c k , S.: Sprüchwörter Gemeiner Tütscher nation [. . .] 1. Zürich 1545, 48. - 9 Schumann, V.: Nachtbüchlein (1559). Nachdr. Hildesheim/N.Y. 1976, 198; cf. BP 3, 313. - 10 BP 3, 314 sq. II Stigelius, J.: De ordinatione magistratus et subditorum elegia. In: Poemata 2. ed. A. Siber. Jenae 1577, 337 a. — 12 Vigilius, S.: De rebus memorandis. Gedenckbuch [ . . . ] . Augsburg 1541. - 1 3 Brusch, C.: Von Heva und jren Kindern Ein schöne liebliche Narration [. . .]. Lpz. 1544. - 14 Chytraeus, N.: Hundert Fabeln a u s E s o p o [. . .]. Rostock 1571, fol. Ν Γ - Ο ν ί Γ . - 15 cf. Rehermann, 495 sq. 16 Lossius, L.: Quaestiunculae methodicae de christiano catechismo [. . .]. Wittembergae 1545. 17 Baumgart, J. (Pomarius): Catechismus [ . . . ] . Magdeburg 1559. - 18 cf. Winzer 1908, 41. 19 Cnostinus, H.: Tragedia von Verordnung der Stende oder Regiment. Wittemberg 1539; cf. Michel, H.: Heinrich Knaust. Ein Beitr. zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland um die Mitte des 16.Jh.s. Diss. Β. 190 3. - 2 0 ν. Winzer 1908,73. 21 Schnurr, Β.: Ein Spil, darinnen von dem Zustand vnserer ersten Eltern [. . .]. Nürnberg 1597. 22 Ketzel, W.: Lapsus et reparatio hominis. Schmalkalden 1613. — 2 3 Tischreden in der Mathesischen Slg. ed. E. Kroker. Lpz. 1901. - 24 cf. zur theol. Rechtfertigung der Verteilung von sozialen Rechten und Pflichten an die Stände durch Gott Könnecker (wie not. 2) 234 sq. — 25 cf. Röhrich, L.: Einführung in den Themenkreis. In: Arbeit und Volksleben. Dt. Vk.kongreß 1965 in Marburg. Göttingen 1967, 2 5 4 - 2 6 1 . - 26 Schwarz 1973, 196. - 27 cf. Röhrich, Redensarten, 46sq.; Schmidt, L.: Wiener Redensarten. In: Das dt. Volkslied 46 (1944) 3 6 - 4 0 ; Steinitz, W.: Dt. Volkslieder demokratischen Charakters 1. B. 1954, 9 - 1 1 . 28 Genzmer, F. (Übers.): Edda. 2: Götterdichtung und Spruchdichtung. Jena 1922, 1 1 2 - 1 2 0 . 29 Röhrich (wie not. 25) 255. - 3 0 Winzer 1908, 7 - 1 0 ; BP 3, 320sq. 31 Menzel, W.: Mythol. Forschungen und Slgen 1. Stg./Tübingen 1842, 40 (leider ohne Qu.nangabe);
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Evangelien - Ewiger Jude
BP 3 , 3 20. - 3 2 z . B . Dwyer, D. H.: Images and Self-Images. Male and Female in Morocco. N.Y. 1978, 45 sq. - 3 3 Dondore 1939, 2 2 3 - 2 2 9 . 34 Winzer 1908, lOsq. - 35 BP 3 , 3 20. - 3 6 Dh. 1, 246sq., 354sq.; Dh. 2, 98sq. - 3 7 Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 4 1845, num. 379. Lit.: Grimm, J.: Die ungleichen Kinder E.s (1842). In: id.: Kl.re Sehr. 7. (B. 1884) Nachdr. Hildesheim 1966, 1 0 6 - 1 1 4 . - Ilwof, F.: Die ungleichen Kinder Adams und E.s. In: Germania 10 (1895) 4 2 9 - 4 3 1 . - Winzer, J.: Die ungleichen Kinder E.s in der Lit. des lö.Jh.s. Diss. Greifswald 1908. Schwer, W.: Stand und Ständeordnung im Weltbild des MA.s. Paderborn 1934 ( 2 1970). - Dondore, D.: The Children of Eve in America; Migration of an Ancient Legend. In: SFQ 3 (1939) 223 - 229. Miksch, G.: Der Adam- und E.stoff in der dt. Lit. Diss. Wien 1954. - Hillerdal, G.: Gehorsam gegen Gott und Menschen. Luthers Lehre von der Obrigkeit und die moderne evangel. Sozialethik. Göttingen 1955. - Bienert, W.: Die Arbeit nach der Lehre der Bibel. Ein Beitr. zur evangel. Sozialethik. Stg. 2 1956. - Reik, T.: Myth and Guilt. The Crime and Punishment of Mankind. L. 1958. - Albrecht, Β.: Stand und Stände. Eine theol. Unters. Diss. Münster 1963. — Armour, R.: It All Started with Eve. N.Y. 1966. - Moser-Rath, E.: Das Thema ,Arbeit' in der Volkserzählung. In: Arbeit und Volksleben. Dt. Vk.kongreß 1965 in Marburg. Göttingen 1967, 2 6 2 - 2 7 3 . - Röhrich, L.: Adam und E. Das erste Menschenpaar in Volkskunst und Volksdichtung. Stg. 1968. - Schwarz, P.: Die neue E. Der Sündenfall in Volksglaube und Volkserzählung. Göppingen 1973. — Görög-Karady, V.: Retelling Genesis. The Children of Eve and the Origin of Inequality. In: ead. (ed.): Genres, Forms, Meanings. Essays in African Oral Literature. Ox. 1982, 3 1 - 4 4 .
Freiburg/Br.
Evangelien Testament
Lutz Röhrich
—> Apokryphen,
—> Neues
Ewenken —» Tungusen Ewiger Jude 1. Thema, Form und Gattung der Erzählung — 2. Quellen — 2.1. Die Bibel und ihre Textauslegung im späten Altertum - 2.2. Schriftliche Zeugnisse des MA.s bis zur Mitte des 13. Jh.s - 2.3. Die Flores historiarum und weitere Berichte bis zur Kurtzen Beschreibung — 2.4. Die Kurtze Beschreibung 19
Enzyklopädie des.Märchens IV
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- 3. Verwandte Themen - 4. Scheinbar verwandte Stoffe - 5. Varianten der Erzählung - 6. Symbolik - 7. Dichtung - 8. Darstellende Kunst
1. T h e m a , F o r m u n d G a t t u n g d e r E r z ä h l u n g . Der E. J. ist eine ausschließlich der christl. (nicht der jüd.) Vorstellungswelt weithin bekannte Gestalt. Die Erzählungen berichten von der Begegnung eines Menschen mit einem Juden, der bis zum Jüngsten Tag ruhelos umherwandern muß, weil er sich geweigert hatte, den kreuztragenden Christus vor seinem Hause ruhen zu lassen, und deswegen von diesem verdammt wurde (AaTh 777, Mot. Q 502). Die Bezeichnung E. J. ist fast nur in dt.sprachigen Gebieten gebräuchlich, wo sie nach den bisherigen Unters.en erstmals 1694 erscheint 1 ; von dort wurde sie viel später in die slav. Sprachen übernommen 2 . In Frankreich trägt der E. J. den Namen le Juif errant, in England the Wandering Jew, in den Niederlanden de wandelende jood, in Flandern Isaac Laquedem 3 und in Schweden Jerusalems Skomakare 4 . In Italien ist er als Giovanni Buttadeo 5 , in der Bretagne als Boudedo, in Spanien als Juan de vota a dios und in Portugal als Joäo-espera-em-dios bekannt 6 . Der Name —»Ahasver ist weniger volkstümlich und findet sich vor allem in Balladen und in der Hochliteratur. Dort erhält der E. J. noch andere Namen, die häufig die Tendenz des Werkes widerspiegeln 7 . Die meisten Erzähler der Geschichte behaupten, daß ihnen oder ihren Gewährsleuten der E. J. persönlich begegnet sei. Häufig werden die Gründe für dessen rastlose Wanderung als bekannt vorausgesetzt. Oft gibt sich der E. J. auch selbst zu erkennen. Er spricht die jeweilige Landessprache, kennt oft noch weitere Sprachen und zeichnet sich durch Wissen, bes. über Vergangenes, aus. Sein Alter variiert. Zur Erklärung nimmt man an, daß er sich von Zeit zu Zeit verjünge. Der E.J. ist eine ,Begegnungsgestalt' 8 , da der Kern der meisten Erzählungen aus einem Bericht über ein Zusammentreffen mit ihm besteht; diese Erzählungen sind demnach als —»Memorate zu betrachten. Bes. Formen sind die complaintes, die im wallon. Raum üblichen Bänkelsänger-Balladen. Auch in Dänemark und in der Bretagne hat die Erzählung oft die Form eines Liedes 9 .
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Ihrem Inhalt nach sind die Geschichten zumeist Legenden, was sich vor allem aus ihrer Entstehungsgeschichte erklären läßt. Ihren Ursprung verdanken sie dem schon früh einsetzenden Bestreben der christl. Kirche, die Wahrheit des in den Evangelien berichteten Geschehens durch weitere außerbibl. Zeugnisse zu stützen. Dies konnte nicht überzeugender erfolgen als durch das Zeugnis eines Menschen, der bei der Kreuzigung anwesend war und bis zur Gegenwart weitergelebt hatte 10 . 2. Q u e l l e n 2.1. D i e B i b e l u n d i h r e T e x t a u s l e g u n g im s p ä t e n A l t e r t u m . Anknüpfungspunkte für die Entstehung der E. J.-Erzählungen sind in den Bemerkungen Christi über seinen Lieblingsjünger Johannes zu sehen: Dieser werde seine Wiederkunft erleben (Joh. 21,20—23). Die anderen Jünger entnahmen daraus, daß Johannes nicht sterben würde. Obwohl Christus diese Auslegung der Jünger ausdrücklich ablehnte, wird sie später allg. übernommen. Ebenso wurde die von Christus durchaus realistisch gemeinte Bemerkung, einige seiner Anhänger würden nicht sterben, bis des Menschen Sohn in sein Reich gekommen sei (Mt. 16,28; Mk. 9,1; Lk. 9,27), später eschatologisch gedeutet. Ein weiterer Ausgangspunkt mag darin zu sehen sein, daß sich die Volksphantasie mit dem Schicksal der Knechte des Hohepriesters und des Pontius Pilatus beschäftigte 11 . Der erstere, Malchus (Joh. 18,10), gehörte zu denen, die Christus in Gethsemane verhafteten, während letzterer, ein Türhüter des Pontius Pilatus, Christus eine Ohrfeige versetzte, weil jener dem Hohepriester eine Antwort gegeben hatte, die dem Diener unschicklich erschienen war (Joh. 18,22). Die beiden Diener wurden schon seit dem 4. Jh. als e i n e Person betrachtet. Das allg. Empfinden erforderte, daß die schimpfliche Behandlung Christi ihre entsprechende Sühne erfahre. Wegen der Verfehlung — der Täter hatte sich an der Person des Heilands vergangen — hatte die Strafe nach den damaligen Maßstäben, vor allem des griech. Kulturkreises, eine ewige zu sein (cf. —> Prometheus, —> Danaiden). Eine alte ital. Legende erzählt in Ergänzung des bibl. Textes, der nichts von einer
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derartigen Strafe berichtet, daß der Frevler, der hier Marcus genannt wird, verurteilt war, ständig um die Säule herumzulaufen, an die Christus während seiner Geißelung gebunden war. Die Gleichsetzung des Namens Marcus mit dem des Johannes in der Apg. (12,12 und 25; 15,37), wonach der hebr. Name des Apostels Markus ursprünglich Johannes war, erleichterte evtl die Verschmelzung der Legende über den zu ewiger Ruhelosigkeit verurteilten Malchus-Marcus mit der Legende vom ewiglebenden Johannes; für die Sühne dient dabei wohl Kains Strafe — das „Unstet- und Flüchtigsein" — und der in Deut. 28,65 ausgesprochene Fluch als Vorbild. Was für Johannes Kartaphilos, Christi Lieblingsjünger, als Bevorzugung gedacht war, wurde so zur Strafe für den Frevler Malchus-Marcus-Johannes. Hierin mag auch der Grund zu sehen sein, daß der Sünder (der in den meisten frühen Überlieferungen nicht als Jude bezeichnet wird) zunächst Johannes Kartaphilos oder nach seiner Taufe Joseph Kartaphilos (v. Gen. 37,3: Joseph der Vielgeliebte) hieß und wie der Jünger Christi ewig lebte. Später wurde er — im Unterschied zum Apostel Johannes — .Schlage Gott' oder ,der von Gott geschlagene' Johannes (Johannes Buttadeus) genannt und sein Vergehen in Umkehrung von Mot. Q 580 (Punishment fitted to crime) der Strafe angepaßt: Da in allen Fällen von Mot. Q 580 der Täter die seiner Tat entsprechende Strafe erleidet (cf. AaTh 780 Β: The Speaking Hair, Mot. Q 588 und die Legende vom Tod der Herodias 12 ), muß in dieser Erzählung gemäß der hohen Strafe (der ruhelosen Wanderung) die Tat des Sünders eine entsprechend schwerwiegende sein: Er verweigert Christus auf seinem Gang nach Golgatha die Rast vor seinem Hause. Die Worte Christi: „Ich will ruhen, du aber sollst gehen bis auf den Jüngsten Tag" geben der Strafe die entsprechende Begründung. 2.2. S c h r i f t l i c h e Z e u g n i s s e des MA.s bis zur M i t t e des 13. Jh. s. Die Aufzeichnungen, aus denen sich die Entwicklung der E. J.-Erzählung entnehmen läßt, gehen bis ins 6. und 7. Jh. p. Chr. n. zurück. Zunächst bestanden zwei voneinander unabhängige Überlieferungen: die über Malchus-Marcus und die über den Türhüter des Pilatus. Beide
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Stränge lassen sich im einzelnen bis in die neueste Zeit verfolgen 13 . Die älteste Überlieferung findet sich im Leimön (Geistliche Weide; im MA. bekannt als Pratum spirituale) des Johannes Moschos (6. Jh.). Darin bekennt ein namentlich nicht genannter Äthiopier, daß er dauernd weinen müsse, weil er Christus auf die Wange geschlagen habe 14 . Die nächste wichtige Nachricht stammt aus dem Anfang des 13. Jh.s: In der Chronik eines nicht näher bekannten Zisterziensermönchs aus Ferraria (Unteritalien) wird 1223 berichtet, daß einige Pilger in Armenien einen gewissen Juden gesehen hätten, der bei der Passion seinerzeit zugegen gewesen sein soll und Christus auf dessen Weg zur Kreuzigung zugerufen habe: „Geh, du Verführer, damit du das empfängst, was du verdient hast", worauf Christus geantwortet habe: „Ich gehe, und du sollst warten, bis ich wiederkomme" l s . 2.3. D i e F l o r e s h i s t o r i a r u m u n d weit e r e B e r i c h t e bis z u r K u r t z e n Bes c h r e i b u n g . In seiner Weltgeschichte Flores historiarum (1228) gibt der Benediktinermönch Roger von Wendover die Erzählung eines zu Besuch im Kloster weilenden armen. Erzbischofs wieder: Dieser habe einst einen Mann bei sich zu Tisch gehabt, der Pförtner bei Pontius Pilatus gewesen sei. Als Christus auf seinem Weg nach Golgatha am Haus des Pilatus vorbeigekommen sei, habe der Pförtner ihm einen Schlag versetzt und zugerufen: „Geh schneller". Darauf habe ihm Christus geantwortet: „Ich gehe, und du sollst warten, bis ich wiederkomme". Der Gast (ursprünglicher Name Kartaphilos) sei später getauft worden, habe den Namen Joseph erhalten und warte nun auf die Wiederkunft des Herrn. Alle 100 Jahre verjünge er sich bis auf das Alter, das er z. Zt. seiner Untat gehabt habe.
Diese Geschichte übernahm der wie Roger aus der Abtei St. Albans (bei London) stammende Matthaeus Parisiensis 1259 mit geringen Änderungen in die Chronica maiora16. Von einem Besuch des armen. Erzbischofs berichtet ebenfalls der Erzbischof von Tournai, Philipp Mouskes (Mousket), in seiner Chronique rimie (1243). Auch in der Abhandlung De astronomia tractatus X (Augsburg 1491) des Astrologen G. Bonatti steht 19*
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eine Notiz über den E. J. Er (hier Johannes Buttadeus) soll 1267 auf einer Wallfahrt durch Bonattis Heimatstadt Forli gekommen sein. In einem anonymen ital. Gedicht von 1274 wird das Verhalten des E. J. zu Christus anders als in den früheren Berichten begründet: Er soll Christus zu schnellerem Gehen angetrieben haben, damit er weniger unter den Schlägen der ihn verfolgenden Juden zu leiden habe 17 . Um 1450 erscheint der E. J. in einer Erzählung des A. di Francesca di Andrea aus Florenz in der Gestalt eines Franziskanermönchs, rettet Kinder aus einem Schneesturm und deckt Lügen und verborgene Dinge auf 18 . Weitere Berichte über den E. J. finden sich in Hss. und Flugblättern des 16. und 17. Jh.s, die in bezug auf die Begründung der Strafe deutlich von der ital. Tradition beeinflußt sind 19 . 2.4. D i e K u r t z e B e s c h r e i b u n g (KB). In dem achtseitigen Pamphlet Kurtze Beschreibung und Erzehlung von einem Juden mit Namen Ahasverus (1602) hat die Geschichte vom E. J. ihre letzte Form bekommen. Danach hat der Schleswiger Bischof P. von Eitzen ( 1 5 2 1 - 9 1 ) als junger Student im Hamburger Dom einen Besucher bemerkt (1542), der ihm durch sein Äußeres und Benehmen auffiel. Auf seine Frage habe dieser ihm mitgeteilt, er sei der E. J., heiße Ahasverus, sei Schuhmacher und stamme aus Jerusalem. Zur Strafe für seine Weigerung, Christus vor seinem Hause ausruhen zu lassen, müsse er ewig umherwandern.
Der Verf. der KB ist unbekannt; der Name des nach der ersten (anonym erschienenen) Auflage angegebenen Autors (Chrisostomus Dudulaeus Westphalus) sowie die Namen der Verleger (C. Creutzer, W. Suchnach) und die Angaben über Verlagsorte (Leyden, Bautzen) sind wohl fingiert. G. K. Anderson 2 0 sucht mit Recht den Autor in den Kreisen des Marquis d'Oria 2 1 , eines literar. gebildeten Protestant. Flüchtlings aus Neapel, der sich z. Zt. der Veröff. der KB in Danzig niedergelassen hatte. Aus Danzig stammt auch eine Aufl. der Schrift, deren Verlagsort und Verleger sich erstmals mit Sicherheit feststellen lassen. Anderson vermutet, daß durch den Marquis diese Kreise mit der Hauptquelle der
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KB, der Chronica maiora, bekannt wurden, die 1571 in London und 1582 in Zürich im Druck erschien. Ursprünglich war die KB als lokale Tendenzschrift gedacht und richtete sich dagegen, daß den aus Spanien geflüchteten Juden Ansiedlungsrechte in H a m b u r g und U m g e b u n g gewährt wurden. Infolge der religiösen U n r u h e n der damaligen Zeit (zwischen Reformation und 30jährigem Krieg) und des damit verbundenen lebhaften Interesses an religiösen Fragen trat jedoch diese Tendenz der Schrift zurück. Das Buch erlebte schon in den beiden ersten Jahren seines Erscheinens über ein Dutzend Aufl.η und wurde bald in weitere, hauptsächlich westeurop. Sprachen übersetzt. Dementsprechend ist die Verbreitung auf diesen R a u m beschränkt 2 2 , in slav. Ländern und in Ungarn ist die Erzählung selten 2 3 . Auch in den U S A ist die Geschichte nachweisbar: Einer der letzten Berichte stammt aus Utah (1868), wo der E. J. einem M o r m o n e n erschienen sein soll 24 . Eine chilen. Variante, wahrscheinlich von einer lokalen Sage beeinflußt, zeigt, d a ß die E.J.-Legende auch nach Südamerika gelangte 2 5 . Erscheinung, N a m e und Beruf des E . J. nach der KB-Schilderung wurden beispielhaft für seine Gestaltung in den meisten späteren Volkserzählungen. Zwar wird der Schusterberuf des E. J. bereits in einem um 1557 auf der iber. Halbinsel entstandenen satirischen Theaterstück erwähnt 2 6 , zur allg. Verbreitung jedoch gelangt die Berufsbezeichnung erst nach dem Erscheinen der KB, deren Popularität so groß war, d a ß der E. J. z.B. in Schweden nur als Schuhmacher von Jerusalem bekannt ist; auch in Süddeutschland und den Alpenländern ist dieser N a m e geläufig. Die Kennzeichnung des E. J. als Schuhmacher rührt wohl daher, daß man dessen unverständlichen Beinamen Buttadeus (Schlagegott) mit span, bota (Stiefel) oder frz. botte in Verbindung brachte 2 7 und ihn in Analogie zu entsprechenden anderen H a n d w e r k s n a m e n zu botador bzw. bottier umformte. Die KB unterstreicht diese Volksetymologie, indem sie den E. J. in der H a m b u r g e r Kirche und anderorts gemäß dem Sprichwort „Alle Schuster gehen b a r f u ß " mit bloßen Füßen erscheinen läßt. D a n e b e n dürfte die Geringschätzung des Schusterhandwerks und die Ähnlichkeit von
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griech. söter (Heiland, Retter) mit lat. sutor (Schuster) die Bezeichnung des E. J. als Schusters gefördert haben 2 8 , obwohl die Ausübung dieses Handwerks f ü r Juden atypisch ist. Das unverständliche Buttadeus wurde auf der iber. Halbinsel zu Juan de vota a Dios (v = b), aus dem sich vielleicht port. Joäo-espera-em-dios entwickelt hat. D e r N a m e Ahasver als Bezeichnung des E. J. kommt zum erstenmal in der KB vor. E s erscheint sonderbar, d a ß der (pers.) N a m e des pers. Königs aus dem bibl. Buch Esther f ü r einen Juden gewählt wurde. Versuche, diese ungewöhnliche Namenswahl zu erklären (wie z.B. von D. D a u b e 2 9 ) , haben bisher zu keinem überzeugenden Ergebnis geführt.
3. V e r w a n d t e T h e m e n . A u ß e r der bibl. Kainsgeschichte ist die Geschichte über al-Samlri aus dem Koran als verwandtes T h e m a zu betrachten. Nach Sure 20 wurde al-Samlri von Moses verflucht, lebenslang „rührt mich nicht a n " zu rufen, weil er (nach Ex. 32: A a ron) das goldene Kalb angefertigt hatte. Eine spätere Tradition scheint aus al-Samlri einen ewigen W a n d e r e r gemacht zu haben, dessen Erscheinen die Malaria mit sich bringt 3 0 . Ähnliche Motive wie in der Legende vom E. J. finden sich in der Geschichte des Buddhaschülers Pindola, die von manchen als U r sprung der E . J . - L e g e n d e betrachtet wird. E b e n s o haben die Sagen vom —»Fliegenden Holländer und von der —> Wilden Jagd sowie die Legende vom Antichrist manches mit der vom E. J. gemein. Während in der PindolaErzählung das Nichtsterbenkönnen des Buddhaschülers Hauptmotiv ist — ihm wird wegen seiner Hybris das Nirväna verwehrt 3 1 —, steht in den erwähnten Sagen und in der Legende 3 2 das Nichtruhenkönnen der Protagonisten im Z e n t r u m des Geschehens.
4. S c h e i n b a r v e r w a n d t e S t o f f e . Die nachbibl. Geschichten über den Propheten —» Elias, dem im Christentum vor allem im östl. Mittelmeerraum der hl. —» G e o r g und im Islam al-Hidr (—> Chadir) entsprechen, sind dagegen nicht von demselben Charakter wie die E. J.-Geschichten. Während bei den letzteren dessen Person und die Ereignisse, die in der Vergangenheit zu seiner Bestrafung f ü h r -
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ten, den Kern der Erzählungen darstellen, sind in den Elias-, St. Georg-, al-Hidr-Erzählungen die Taten der Gegenwart thematisch erfaßt. Diese Gestalten sind im Gegensatz zum E . J. unsterbliche Jenseitige, die von Zeit zu Zeit den Sterblichen erscheinen. Es ist jedoch nicht auszuschließen, daß in Einzelfällen Kontaminationen zwischen E. J.- und Elias-, St. Georg- und al-Hidr-Erzählungen stattgefunden haben. 5. V a r i a n t e n d e r E r z ä h l u n g . E r h e b lich abweichende Fassungen der E. J.-Erzählungen sind verhältnismäßig selten. Abgesehen von vier neugriech. Varianten 3 3 , die völlig von den im übrigen E u r o p a gängigen differieren, handelt es sich fast immer um Lokalsagen 3 4 . L. N e u b a u r 3 5 führt zwei Varianten aus d e m Protestant. Berg. Land an, wonach Christus einen Juden, den er am Karfreitag (Weihnachten) mit einem Bündel Trödlerwaren auf dem Rücken trifft, zu ewigem Wandern (bzw. Handeltreiben) verurteilt. Hier ist der E. J. nicht mehr Augenzeuge der Kreuzigung, sondern dient als ätiologische Begründung für den Juden als Trödler. In einer fläm. Erzählung 3 6 ist Christus vom Herumziehen als Wanderprediger erschöpft und bittet, im Hause eines Juden rasten zu dürfen, was die Vertrautheit des Volkes mit dem in den Niederlanden häufigen wandernden Prädikanten zeigt. Nach einer schwed. Version wurde der Jerusalemer Schuhmacher wegen seiner Weigerung, f ü r Christus Schuhe anzufertigen, zum ewigen Wandern verurteilt: Er hatte geglaubt, kein Entgelt zu b e k o m m e n . In einer anderen Variante wird der E . J. verflucht, weil die für Petrus gemachten Stiefel nicht wasserdicht waren 3 7 . In Schweden, aber auch in Teilen Deutschlands ist die Vorstellung verbreitet, daß der E. J. nur unter zwei gegeneinander gestellten Eggen oder auf einer Pflugschar ruhen kann 3 8 . Typisch f ü r die schwed. Fassungen ist ferner, daß die Bekleidung des E. J. mit Moos überwachsen ist 39 . In einer chilen. Var. 4 0 hat eine Kontamination mit A a T h 750 Α (Die drei —> Wünsche) stattgefunden: D e r ungastliche Reiche wird zum E. J. Dagegen ist eine vereinzelte schwed. Version insofern mit A a T h 750 Α kontaminiert, als diejenigen, die mit d e m E. J. in Berührung kommen, ihre Tätigkeit (nützlich,
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unnütz oder schädlich) bis zum A b e n d fortsetzen müssen 4 1 . In einigen Erzählungen wird der E . J. als Helfer in der Not dargestellt 4 2 und gleicht damit dem Propheten Elias, während er in anderen, bes. frz. Fassungen, als V o r b o t e von Unglücksfällen und Naturkatastrophen gilt 43 . 6. S y m b o l i k . Mit dem A u f k o m m e n einer realistischen Weltauffassung wird der E . J., vor allem in gelehrten Kreisen, nicht mehr als reale Einzelgestalt verstanden, sondern als Symbol des heimatlosen jüd. Volkes. Als erster hat diesen G e d a n k e n J. J. Schudt in seinen Jüd. Merkwürdigkeiten ausgesprochen und die den E. J. verkörpernden Gestalten in den Erzählungen als anormale Menschen oder Betrüger betrachtet 4 4 . Die Auffassung E. Königs, daß bereits die KB eine symbolische Gestalt im E. J. gesehen habe, ist jedoch abzulehnen 4 5 . 7. D i c h t u n g . Die dichterische Gestaltung des Stoffes beginnt, von wenigen früheren Ausnahmen abgesehen, im letzten Drittel des 18. Jh.s. Als erster plante G o e t h e 1773 eine Bearb., kam jedoch über ein 1774 veröffentlichtes Knittelversfragment nicht hinaus. Die Dichter der Romantik beschäftigten sich in erhöhtem M a ß e mit der Gestalt des E. J. Seine Erlösung durch ein „seliges Sterben" 4 6 , die Gegenüberstellung mit Personen der Vorzeit und die Beschreibung unbekannter und ferner Länder, die er durchzogen hatte, bildeten hauptsächlich den Inhalt der mit der E. J.-Gestalt verbundenen literar. Schöpfungen. Auch das A u f t a u c h e n der sozialen Frage im 19. Jh. beeinflußte die literar. Bearb. des Stoffes. Hier ist insbesondere auf den zehnbändigen R o m a n des Franzosen Eugene Sue Le Juif errant (P. 1844) hinzuweisen. Einmal von seiner religiösen Bindung gelöst, beschäftigte der E. J. die Hochliteratur bis in die neueste Zeit 4 7 , wobei die Gestalt der Sichtbarmachung antijüd. Tendenzen (cf. —> Antisemitismus) und des Schicksals der Juden in der Zeit des Nationalsozialismus diente. 8. D a r s t e l l e n d e K u n s t . E s war üblich, die vom E. J. handelnden Volksbücher mit Holzschnitten zu versehen. Hier ist vor allem auf frz. Bilder hinzuweisen, die auf ein und
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demselben Blatt das Verjagen Christi vom Hause des E. J., dessen ruheloses Wandern und eine in dem betr. Heft geschilderte Begegnung mit den Bürgern einer Stadt darstellen. J. J. Gielen waren etwa 60 Holzschnitte mit dem E. J. bekannt 48 . B. af Klintberg hat 12 Holzschnitte zu schwed. Volksbüchern aus den Jahren 1734-1845 veröffentlicht 49 . Auch bekannte Künstler wie Gustave Dore mit seinen 12 Illustrationen zu den Gedichten von Pierre Dupont und Pierre-Jean de Beranger sowie Franz Masereel mit Holzschnitten zu der dt. Ausgabe von August Vermeylens De wandelende jood haben das Thema gestaltet. I
Zirus, W.: Ahasverus, der E. J. B./Lpz. 1930, 2. - 2 cf. Heller, B.: Ahasverus, der E. J. In: Enc. Judaica 1 (1928) 1148. - 3 Anderson, G. K.: The Legend of the Wandering Jew. Providence 1965, 59. - 4 Klintberg, Β. af: The Swedish Wanderings of the Eternal Jew. In: IVth World Congress of Jewish Studies. Reports. Jerusalem 1 9 6 5 , 1 1 5 - 1 1 9 . — 5 Perusini, G.: La leggenda dell'ebreo errante in Friuli. In: Alpes orientales. Acta primi conventus de ethnographia Alpium Orientalium tractantis, Labaci 1956. Ljubljana 1959, 9 9 - 1 0 4 . - 6 Z u den internat. gebräuchlichen Namen v. insgesamt Anderson (wie not. 3) 11—70. - 7 c f . Knecht, Ε.: Le Mythe du Juif errant. Essai de mythologie litteraire et de sociologie religieuse. These Nancy 1977, 103—269. — 8 Dietrich, K.: Aus neugriech. Sagen. In: ZfVk. 15 (1905) 3 8 0 - 3 9 8 , hier 3 8 3 - 3 8 5 ; Anderson (wie not. 3) 72, num. 1—3. — 9 cf. Dal, E.: Ahasverus in Dänemark. In: Jb. für Volksliedforschung 9 (1964) 1 4 4 - 1 7 0 . - 10 Neubaur, L.: Die Sage vom Ε. J. Lpz. 2 1893, 6sq. II Zum ganzen Komplex v. Anderson (wie not. 3) Kap. 2. - 12 cf. Kloss, W.: Herodias the Wild Huntress in the Legend of the Middle Ages. In: Modern Language Notes 23 (1908) 8 2 - 8 5 , 1 0 0 - 1 0 2 . 13 Anderson (wie not. 3) Kap. 2 und 4. — 14 ibid., 13. — 15 Neubaur (wie not. 10) 37sq. - 16 Zu den spätma. Zeugnissen ν. Anderson (wie not. 3) Kap. 2. - 17 cf. ibid., 23. - 18 ibid., 25. - 19 cf. Brückner, Α.: Volkstümliche Erzählstoffe auf Einblattdrucken der Gustav Freytag-Slg. In: ZfVk. 57 (1961) 2 3 0 - 2 3 8 , hier 230sq. - 2 0 Analyse der KB v. Anderson (wie not. 3) 38—53. — 21 Nach Knecht (wie not. 7) 27 (d'Oriola). - 22 Ergänzend zu Anderson (wie not. 3) v. Schenda, R.: 1.000 dt. populäre Drucke aus dem 19. Jh. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 11 (1971) num. 117sq., 747; id.: 1.000 frz. Volksbücher, ibid. 9 (1968) num. 4 9 8 - 5 0 4 ; Kooi, J. van der: Almanakteljes en folksverhalen; in stikmennich 17de- en 18de ieuske teksten. In: It Beaken 4 1 , 1 - 2 (1979) 7 0 - 1 1 4 , hier 8 0 - 8 3 . - 2 3 Anderson (wie not. 3)
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67sq. - 2 4 Neubaur (wie not. 10). — 25 Pino-Saavedra 2, num. 101. - 26 Anderson (wie not. 3) 28. — 27 cf. Lewinsky, J.-T.: Pourquoi le Juif errant est-il cordonnier? Vortrag auf dem VII. internat. Kongreß für anthropol. und ethnogr. Unters.en. M. 1964. - 2 8 ibid. - 2 9 Daube, D.: Ahasver. In: Jewish Quart. Review 45 (1955) 243 sq. - 3 0 Kanner, I. Z. (ed.): Jüd. Märchen. Ffm. 1976, 62sq. 31 cf. Heller (wie not. 2) 1151sq. - 3 2 Liefmann, E.: Die Legende vom Antichrist und die Sage vom E. J. In: Judaica 3 , 1 - 4 (1947) 1 2 2 - 1 3 6 . 33 Dietrich (wie not. 8). - 34 Ergänzend zu den Angaben bei AaTh v.: Aräjs/Medne; Cirese/Serafini; Baughman; Rokala, K. (ed.): A Catalogue of Religious Legends in the Folklore Archives of the Finnish Literature Soc. In: NIF Publ.s 3 (1973) 117; György, num. 1; Krzyzanowski 754*; SUS. Neuere Var.n: Poortinga, Y.: D e ring fan it ljocht. Ljouwert (1976) 193; Fischer, H.: Erzählgut der Gegenwart. Köln 1978, num. 1414; Gerstner-Hirzel, Ε.: Aus der Volksüberlieferung von Bosco Gurin. Basel 1979, num. 124sq. - 35 Neubaur, L.: Zur Geschichte der Sage vom E. J. In: ZfVk. 22 (1912) 33—54, hier 45. — 36 Joos, Α.: Vertelsels van het vlaamsche volk 1. Brügge 1889, num. 38. 37 Klintberg (wie not. 4) 118. - 3 8 ibid., 117; Anderson (wie not. 3) 76sq., num. 14; cf. EM 3, 205. - 39 Klintberg (wie not. 4) 117. - 4 0 Pino-Saavedra 2, num. 101. — 41 Klintberg (wie not. 4) 117. - 42 z.B. Amades, 345sq. - 4 3 Knecht (wie not. 7). - 4 4 Schudt, J. J.: Jüd. Merckwürdigkeiten 1. Ffm./Lpz. 1714, 490sq. — 45 König, E.: Zur Idee von Ahasver, dem E. J. In: ZfVk. 22 (1912) 300sq.; cf. auch Neubaur, L.: Noch einmal die Sage von Ahasver. In: ZfVk. 22 (1912) 411 sq. - 4 6 Leschnitzer, Α.: Der Gestaltwandel Ahasvers. In: In zwei Welten. Festschr. S. Moses. Tel-Aviv 1962, 4 7 0 - 5 0 5 , hier 479. - 4 7 cf. Frenzel, Stoffe, 1 5 - 2 1 . - 48 Gielen, J. J.: De wandelende jood in Volkskunde en letterkunde. Amst. 1931; cf. auch E M 2, 349, 358. - 4 9 Klintberg (wie not. 4) Abb. 1 8 - 2 9 .
Kiryat-Bialik
Otto Schnitzler
Ewigkeit, Terminus für überzeitliche Dauer ohne Anfang und Ende. Wie andere Hochreligionen schreibt die christl. Dogmatik Gott allein E. zu, während die menschliche Seele nur im Sinn der Unsterblichkeit als zeitüberdauernd gilt und die übrige Schöpfung von Anfang, Veränderung und Ende bestimmt ist. Der in Philosophie und Religionswissenschaft1 vieldiskutierte, dem Vorstellungsvermögen letztlich unzugängliche Begriff wurde den Gläubigen unter positivem und negativem
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Ewigkeit
Aspekt nahegebracht, positiv mit dem Hinweis auf die Erreichbarkeit ewiger Seligkeit für die Frommen, negativ unter Androhung ewiger Höllenpein für notorische, unbußfertige Sünder. Ohne Bezug zu solchem religiösen Gedankengut ist das Märchen von Zeitlosigkeit gekennzeichnet, zumindest von einem sehr vagen —> Zeitbegriff 2 , wie dies etwa an manchen —» Eingangs- und —> Schlußformeln deutlich wird. Märchenhelden altern nicht, sie verfügen, ohne daß dies ausdrücklich gesagt wird, über ewige Jugend 3 . E. im eigentlichen Sinn spielt im Märchen keine Rolle. Es war wohl auch nur eine Konzession an kindliche Zuhörer, wenn Johannes —» Mathesius in einer Predigt, ähnlich wie —» Luther in einem Brief an seinen Sohn Hans, die E. als wahres —» Schlaraffenland schilderte: Er verglich den Himmel mit einem schönen, lustigen Garten, in dem Zucker und Mandelkerne auf den Bäumen wüchsen, Brunnen Wein spendeten und Häuser mit Fladen gedeckt seien etc., allerdings mit dem Nachsatz, daß man so „mit den Kindern vom ewigen Leben lallen" müsse 4 . D a ß im äußerst knapp geratenen Art. E. im H D M 5 auf das alte Märlein vom Mönch von Heisterbach (AaTh 4 7 1 A : —» Mönch und Vöglein) verwiesen wird, ist nur insofern berechtigt, als der fromme Mann in Gedanken an die ewige Seligkeit versunken dem Vogelgesang lauscht; seine —* Entrückung währt zwar lang, ist aber doch eindeutig zeitlich begrenzt. Die beglückende Verheißung ewigen Lebens ist in der Exempelliteratur noch auf andere Weise thematisiert: Ein Edelmann hört eine Predigt über die E. und entschließt sich auf der Stelle, Mönch zu werden, ohne Frau und Kinder zu benachrichtigen (Tubach, num. 1911). Auf den bedrohlichen Aspekt von E. in der Legende von —» Brandans Seefahrt hat L. —> Kretzenbacher 6 anhand einer Illustration zum Krumauer Bilder-Codex aus der Mitte des 14. Jh.s hingewiesen, und zwar im Motiv der ,Sabbatrast' des —> Judas Ischariot: In einer visionären Begegnung erfährt Brandan, daß dieser ewig Verdammte jeden Samstag auf einem Eisberg von den Höllenqualen ausruhen darf, eine Vorstellung, die zweifellos dem dogmatischen E.sbegriff widersprach, jedoch eine menschlich naheliegende Hoffnung
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auf letztlich mögliche göttliche Gnade im Jenseits zum Ausdruck brachte. In der an sich pessimistisch geprägten Sagentradition wurden deutlich Ängste vor den kirchlicherseits angedrohten lange oder ewig währenden —» Strafen abreagiert. So muß der Ewige Jäger (Hackelberg, der Rodensteiner u. a.; cf. —> Wilde Jagd) mit Ruhelosigkeit nach dem Tod dafür büßen, daß er an Sonn- und Feiertagen seiner Jagdleidenschaft frönte 7 . Schon von der Anschauung her als ewig mahnendes Beispiel ist wohl auch der —> Mann im Mond anzusehen, der nach verbreiteter Ätiologie der Mondflecken wegen eines relativ geringen Frevels auf den fernen Himmelskörper verbannt worden sein soll (cf. Mot. A 751.1) 8 . Keine Ruhe findet der wegen Mordbrennerei verdammte ewige Krieger 9 , kein Ende ist für die Wanderung des —> Ewigen Juden (AaTh 777) abzusehen. An die gleichfalls nie endenden —» Tantalusqualen erinnern etwa Sagen vom ewigen Durst einer Wiedergängerin, die, so oft sie auch an einer Quelle erscheint, das Wasser mit der Hand nie erreichen kann, wiewohl nicht sie sich versündigt hat, sondern vielmehr die Hebamme ihr bei der Niederkunft das Trinken verweigert haben soll 10 . Wenn für büßende Seelen —> Erlösung in Aussicht gestellt wird, so erst in sehr ferner Zeit. Ein anschauliches Bild dafür liefert das bekannte Motiv vom Erlöser in der Wiege (Mot. D 791.1.3) 1 1 , obgleich das Aufwachsen eines Baumes, aus dessen Holz die Wiege des einstigen Erlösers gefertigt werden soll, immerhin noch absehbar ist. Die Verzauberung der —> Melusine soll aufgehoben sein, wenn ein Hemd, an dem sie alle sieben Jahre einen Stich tun darf, fertig ist (Mot. D 791.1.2) 1 2 . Ähnlich aussichtslos wirkt die Zeitbestimmung in der Kyffhäusersage: Der in den Berg entrückte Herrscher soll erst dann wiederkehren, wenn sein Bart durch den steinernen Tisch gewachsen ist (Mot. D I960) 1 3 . Doch auch für die Unmöglichkeit, E. zu messen, hat man eindrückliche Bilder gesucht. J. —*> Bolte zitiert dazu einen Liedanfang aus einem jesuit. Psälterlein von 1742: „Ins Feld geh, zähle alles Gras, die Zahl wirst finden ohne Maß; zur E. doch was ist das? Im Meer die Tropfen häufig zwar, im Himmel viel der Sterne klar; die E. hat viel mehr Jahr" 1 4 . Ein
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Exekution — Exempelsammlungen
unendlich langer Zeitraum kommt auch im folgenden, in buddhist. Überlieferung bezeugten Vergleich zum Ausdruck: Der Aufenthalt eines Verdammten in der ersten von 21 Höllen dauere so lange, bis ein Gefäß mit Hanfsamen, dem man alle 100 Jahre ein Körnchen entnehme, geleert sei; der Aufenthalt in der nächsten Hölle währe 20 mal so lange, und so gehe es weiter, stets mit 20 multipliziert 15 . Eine ganz ähnliche Beschreibung, daß nämlich ein Vöglein im Abstand von hundert oder tausend Jahren jeweils ein Körnlein aus einem Berg von Sand oder Hirse picke und der Sünder auf seine Erlösung von Höllenpein warten müsse, bis der Berg abgetragen sei, begegnet auch in europ. Tradition, so bei —» Pelbärt von Temesvär 1 6 und im 14. Jh. bei dem Mystiker Heinrich Seuse 17 . Dieses einprägsame Motiv (Mot. Η 701.1) 1 8 wurde als Bild der E. in der Erbauungsliteratur, im geistlichen Liedgut und im Volksschauspiel, vor allem in Spielen vom —> Jüngsten Gericht und vom Reichen Prasser und dem armen Lazarus19, bis ins 19. Jh. vielfältig tradiert. Außerhalb der religiösen Sphäre taucht das Motiv im Erzähltyp AaTh 922: —> Kaiser und Abt auf. Nach der Grimmschen Version (KHM 152) lautet eine Rätselfrage des Königs: „Wieviel Sekunden hat die E . ? " und die Antwort des Hirtenbübleins: „In Hinterpommern liegt der Demantberg, der hat eine Stunde in die Höhe, eine Stunde in die Breite und eine Stunde in die Tiefe; dahin kommt alle hundert Jahre ein Vögelein und wetzt sein Schnäblein daran, und wenn der ganze Berg abgewetzt ist, dann ist die erste Sekunde von der E. vorbei" 2 0 . W. —> Anderson bezeichnet alle ihm bekannten Var.n aus Flandern, Dänemark, Norwegen, Finnland und Estland mit übereinstimmenden Antworten auf die Rätselfrage als Entlehnung aus der Grimmschen Fassung 21 . Der Diamantberg (Mot. F 73 2.3.2) 22 , märchentypisch wie andere —> Berge aus Gold, Silber, Kristall, Edelstein oder Glas, stellt eindeutig eine Amplifikation gegenüber jenen älteren Versionen mit Bergen aus Sand oder Körnern dar, weil der Schnabel eines Vögleins der härtesten aller Materien de facto nichts anhaben kann. Im Grunde münden alle diese Bilder der E. in der Aussichtslosigkeit des „Niemals", einem in der Überlieferung gleichfalls formelhaft-an-
schaulich umschriebenen Zeitbegriff (Mot. V 61) 2 3 . Dazu gehört auch die Erzählung von —> Augustinus und dem Knäblein (Mot. Η 1113.1). Obzwar es hier um die Unfaßlichkeit der Trinität geht, bietet der Versuch des Knaben, das Meer mit einem Löffel auszuschöpfen, ein eindrückliches Bild für endloses Tun (cf. ferner —» Danaiden, —> Sisyphus). I cf. LThK 3, 1 2 6 7 - 1 2 7 0 ; R G G 2, 8 1 0 - 8 1 5 ; zur Entwicklung des abendländ. Zeitbegriffs cf. auch Maurice, K./Mayr, O. (edd.): Die Welt als Uhr. Dt. Uhren und Automaten 1 5 5 0 - 1 6 5 0 . Mü. 1980 (mit Lit.). - 2 Nicolaisen, W. F. H.: Time in FolkNarrative. In: Newall, V. J. (ed.): Folklore Studies in the Twentieth Century. Woodbridge/Totowa 1980, 3 1 4 - 3 1 9 ; cf. auch E M 3, 1237. - 3 Lüthi, Europ. Volksmärchen, 20sq.; E M 1, 4 0 4 - 4 0 7 . 4 Brückner, 743. - 5 H D M 1, 636. - 6 Kretzenbacher, L.: Wie „Ewig" ist die E.? Zu einem Motiv der Brandanslegende im „Krumauer Bildercodex". In: Adeva-Mittlgen 18 ( 1 9 6 9 ) 1 - 1 7 . 7 Röhrich, L.: Sage und Märchen. Erzählforschung heute. Fbg/Basel/Wien 1976, 47, 97, 132. 8 H D A 6, 5 1 0 - 5 1 4 . - 9 H D A 2, 1095. - 10 ibid., 1094 s q . II Ranke, F.: D e r Erlöser in der Wiege. In: id.: Kl.re Sehr. ed. H. Rupp/E. Studer. Bern/Mü. 1971, 2 0 4 - 2 4 4 ; cf. E M 4, 214. - 1 2 Hartland, E. S.: The Science of Fairy Tales. L. 1891, 240. 13 cf. E M 4, 53 sq. (mit Lit.). - 14 BP 3, 232; Haxthausen, A . von: Geistliche Volkslieder mit ihren ursprünglichen Weisen. Paderborn 1850, 57. 15 Mit anderen Beispielen von der ,E. der Höllenpein' bei Landau, M.: Hölle und Fegfeuer in Volksglaube, Dichtung und Kirchenlehre. Heidelberg 1909, 1 7 2 - 1 8 0 , hier 172 sq. - 16 Tubach, num. 1910; BP 3, 232. - 17 Wackernagel, H. W.: Altdt. Lesebuch 1. Basel 2 1893, 880. 18 Köhler/Bolte 2, 3 7 - 4 7 . - 19 cf. z . B . Bünker, J. R.: Volksschauspiele aus Obersteiermark. Wien 1915, 157. - 2 0 K H M 2. ed. H. Rölleke. Stg. 1980, 268; cf. Röhrich, Erzählungen 1, 1 4 6 - 1 7 2 , 2 8 1 288. 21 Anderson, W.: Kaiser und Abt. D i e Geschichte eines Schwanks (FFC 42). Hels. 1923, 232. 22 H D M 1, 3 8 6 s q . - 2 3 H D M 2, 163.
Göttingen
Elfriede Moser-Rath
Exekution —> Hinrichtung Exempelsammlungen 1. E.sammlungen im MA. - 1.1. E. in Bibliotheken und Klöstern - 1.2. E. auf der Kanzel 1.3. Das allegorische E. - 1.4. E.handbücher -
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Exempelsammlungen
1.4.1. Systematisch aufgebaute E.bücher - 1.4.2. Alphabetisch angeordnete E.bücher - 1.5. E. in der Volkssprache - 2. Protestant. E.sammlungen — 2.1. Voraussetzungen und Grundlagen - 2.2. Qu.η und erste Ausprägungen - 2.3. D i e großen Slgen des 16. und 17. Jh.s - 3. Nachma. kathol. E.sammlungen — 3.1. Forschungsstand und Problemlage — 3.2. Voraussetzungen und Grundlagen — 3.3. Rückgriffe und Weiterentwicklungen — 3.4. N e u e Büchergattungen — 3.5. Volkssprachigkeit, Volksliteratur, Volksaufklärung - 3.6. Wiederbelebung und Wandel im 19. Jh.
1. E . s a m m l u n g e n im M A . 1.1. E. in B i b l i o t h e k e n u n d K l ö s t e r n . Im Spät-MA. (12. —15. Jh.) gibt es kaum Lit., in der nicht E. (—> Exemplum) vorkommen. Ein bes. Phänomen dieser Zeit ist die Aufnahme von E.n in Bücher für Lehrer und Prediger. Unter den aus dem 12. Jh. stammenden Qu.η dieser Art scheinen einerseits von Gelehrten benützte Chroniken und Traktate, andererseits speziell zur Erbauung der Mitglieder religiöser Orden kompilierte Slgen vorzuherrschen. Zur ersten Kategorie gehören hist. Werke wie die Gesta regum Anglorum des William of Malmesbury (1140) und das Pantheon des Gottfried von Viterbo (ca 1190), moralische und politische Abhdlgen wie der Uber moralium dogmatis philosophorum des Guillaume de Conches (ca 1150) und der Policraticus des John of Salisbury (vor 1170), die Gemma ecclesiastica des —»GiraldusCambrensis, eine kirchenrechtliche Schrift aus dem letzten Jahrzehnt des Jh.s, deren Beispielmaterial nicht zuletzt aus der persönlichen Erfahrung des Autors stammt, und Alexander Neckams De naturis rerum (vor 1200), ein bes. wegen seiner moralischen Betrachtungen und seiner Tiergeschichten bemerkenswertes naturgeschichtliches Werk 1 . Zur zweiten Kategorie zählen die Mirakelbücher des kluniazens. Abtes Petrus Venerabiiis (gest. 1156) und des Zisterziensers Herbert von Clairvaux; das Werk Herberts, dessen erste Fassung von 1178 stammt, wurde später in Konrads von Eberbach Exordium magnum cisterciense (ca 1200) weiter ausgearbeitet 2 . Spätere Generationen folgten dem Beispiel der Chroniken und Traktate des 12. Jh.s. So enthalten die Chronik des Zisterziensers Helinand de Froidmont (Anfang 13. Jh.) und bes. die des Dominikaners —> Vincent de Beauvais (Speculum historiale, 1244/50) und des Fran-
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ziskaners Fra Salimbene (vor 1290) eine große Anzahl von E.n 3 . Auch für die vom Geist des Reformprogramms des 4. Laterankonzils inspirierten moralischen Abhdlgen ist der Gebrauch von Beispielmaterial charakteristisch: Dies zeigen etwa die Summa de vitiis et virtutibus des Dominikaners Guillaume Peraud (vor 1250) und das anonyme anglo-normann. Manuel despechiez (ca 1270), das später von dem gilbertin. Kanonikus Robert Mannyng of Brunne (Handlyng synne, begonnen 1303) in engl. Sprache umgearbeitet wurde 4 . Auf dem Gebiet der Naturgeschichte sind das Werk De proprietatibus rerum des Franziskaners Bartholomaeus Anglicus und der Liber de natura rerum des Dominikaners —» Thomas Cantipratanus(beide2. Viertel 13. Jh.) ebenso erwähnenswert wie die Summa de exemplis et similitudinibus rerum des Dominikaners Giovanni di San Geminiano (ca 1300) 5 ; sie enthalten alle moralische Betrachtungen, die in derselben Tradition stehen wie das Werk Alexander Neckams 6 . Die genannten kluniazens. und zisterziens. Sehr, können ebenfalls in bezug auf einen hist. Evolutionsprozeß gesehen werden. Während die von den zisterziens. Kompilatoren des 12. Jh.s begründete Tradition in den Mirakelbüchern des —» Caesarius von Heisterbach (Dialogus miraculorum, 1219/23; Libri VIII miraculorum, 1225/26) fortgeführt und weiterentwickelt wurde, spiegelt das Werk von Petrus Venerabiiis möglicherweise auch kulturelle Impulse wider, die außerhalb des Ordens, dem der Autor angehörte, zu suchen sind. Interessant ist, daß dieser während seiner Spanienreise (1142), auf der er das erste christl. Lehrprogramm zum Studium des Islam zusammenstellte, Stoff für seinen Liber de miraculis gesammelt haben soll 7 . Schon zu Beginn des 12. Jh.s hatte in Spanien —> Petrus Alphonsi, ein konvertierter Jude, der die jüd.arab. Tradition der E.didaktik für seine christl. Moralbetrachtungen ausschöpfte, die Disciplina clericalis zusammengestellt. Die zahlreichen Abschriften und Übers.en der Disciplina bilden nur einen der Wege, über welche die oriental. Gedanken- und Vorstellungswelt das ma. europ. E. beeinflußte. 1.2. E. auf d e r K a n z e l . Aus den Predigten des Abaelard oder dem Speculum ecclesiae
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Exempelsammlungen
des Honorius Augustodunensis 8 ist ersichtlich, daß einige Prediger des 12. Jh.s auf der Kanzel bereits mehr oder weniger regelmäßigen Gebrauch von E.n machten; die Entstehung einer bewußter formulierten Predigttheorie im Laufe des Jh.s hatte jedoch zur Folge, daß sich nach etwa 1200 diese Praxis in viel breiterem Maße einbürgerte. E. nehmen einen wichtigen Platz in den Predigten des Helinand und des Caesarius ein 9 und finden sich ebenfalls zahlreich in den Sermones vulgares und Sermones communes des Augustiners —> Jacques de Vitry (gest. 1240), dessen reichhaltiges Beispielmaterial nicht nur aus literar. Qu.η stammt, sondern auch Stoffe enthält, die auf eigene Erlebnisse und Erfahrungen des Autors als Prediger und kreuzfahrender Bischofzurückgehen. Die Rolle Jacques' als Vermittler oriental. Geschichten, die er angeblich von seinem Aufenthalt in Palästina mitbrachte, ist umstritten 10 . Zwischen einigen der E. Jacques' de Vitry und des engl. Predigers —» Odo of Cheriton (gest. 1246/47) scheint eine genetische Verwandtschaft zu bestehen, doch während Odos Predigt- und Fabel-Slgen große Bedeutung für die Entwicklung des allegorischen E.s haben (cf. Kap. 1.3.), findet sich die Allegorisierung in den Predigten Jacques' de Vitry nur in Ausnahmefällen. Für die Kanzelredner der im frühen 13. Jh. gegründeten großen Bettelorden war die Benutzung von E.n in ihren Predigten ,ad eruditionem rudium' eine Selbstverständlichkeit. Die Bettelorden waren auch für die Kompilation von E.handbüchern für den praktischen Gebrauch verantwortlich (cf. Kap. 1.4.). Als bedeutende Prediger des 13. und 14. Jh.s sind die beiden Ordensgründer Dominikus (gest. 1221) und — F r a n z von Assisi (gest. 1226) und einige ihrer Nachfolger wie Guibert de Tournai (Franziskaner, gest. 1270), Humbert de Romans (Dominikaner, gest. 1277), —» Martin von Troppau (Dominikaner, gest. 1279) und Frater Peregrinus (Dominikaner, gest. 1332) 1 1 zu erwähnen. Die homiletische Praxis dieser und anderer Männer wurde von europ. Predigern aller Nationalitäten bis in die Zeit der Reformation weitergeübt und aufrecht erhalten, was sich ζ. B. an den Predigten des Engländers John Mirk (Festial, frühes 15. Jh.), des Spaniers Vincentius Ferrer (gest. 1419), des Italieners Bernardino da Siena (gest.
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1444) 12 , des Ungarn —» Pelbärt von Temesvär (spätes 15. Jh.) und nicht zuletzt der Deutschen Gottschalk Hollen (gest. 1481) und Geiler von Kaysersberg (gest. 1510) zeigt. Das gesamte Predigtschaffen des Spät-MA.s enthält eine schier unerschöpfliche Zahl von E.n, die bis jetzt nur zu einem kleinen Teil für Forschungszwecke erfaßt und klassifiziert worden sind 13 . 1.3. D a s a l l e g o r i s c h e E. Die Tendenz zu allegorischer Behandlung (—> Allegorie) des E.s ist vom geistesgeschichtlichen Standpunkt aus folgendermaßen erklärt worden: In einem ZA., in dem der Mensch und seine Umwelt nicht mehr als rein zufällige Äußerungen der göttlichen Ordnung verstanden wurden, ergab sich die Notwendigkeit, die religiöse Bedeutung von Ereignissen oder Naturphänomenen dadurch zu bestimmen, daß man ein auf äußerlicher Symbolik beruhendes Interpretationssystem auf sie anwandte 1 4 . Diese Tendenz deutet sich in den Schriften der Naturhistoriker (cf. Kap. 1.1.) und in den Predigten Odos of Cheriton (cf. Kap. 1.2.) an, obschon ihr hist. Ursprung in der christl. Tradition bedeutend älter ist, und gipfelt im systematisch moralisierenden E.repertoire des 14. Jh.s. Ein Zwischenstadium in dieser Entwicklung stellen Werke wie das Bonum universale de apibus des —»· Thomas Cantipratanus (Mitte 13. Jh.) und der Liber de moribus hominum [. . .] sive super ludum scachorum des Jacobus de Cessolis (dominikan., vor 1325) 1 5 dar, in denen eine Anzahl von E.n im Rahmen der allegorischen Darstellung des Hauptthemas eingebaut sind. Im Bonum universale hat der Autor einen Teil seiner eigenen naturgeschichtlichen Abhdlg neu bearbeitet; dem Werk des Jacobus de Cessolis liegt ein bei Predigten für eine gemischte Zuhörerschaft von Adeligen und einfachem Volk bewährtes Muster zugrunde. Voll entwickelt findet sich das allegorische E. in den Schriften des engl. Dominikaners Robert Holkot, vor allem in seinen Moralitates (ca 1330), wo die allegorische Interpretation die E., auf die sie angewandt wird, oft stark überschattet 1 6 . Es wurde die Ansicht vertreten, daß Holkots Werk, dessen Stoffe u.a. auf klassische Autoren wie Cicero, Ovid, Livius und Valerius Maximus zurückgehen, eine Inspirationsquelle für den Kompilator der —>
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Gesta Romanorum gewesen sei. Die Nacherzählung von Anekdoten aus der Geschichte des alten Rom war im frühen 14. Jh. feste Tradition; ein wichtiges Beispiel ist der angeblich 1326 in Bologna verfaßte Tractatus de diversis historiis Romanorum, der verstreute moralische Auslegungen enthält und manchmal Übereinstimmungen mit den Gesta aufweist 17 . Es wird jedoch angenommen, daß die vorhandenen Fassungen der Gesta nicht in Abhängigkeit zum Tractatus stehen, sondern auf ein engl. Original zurückgehen, das nicht viel älter als das Innsbrucker Ms. (Univ. Bibl. Ms. lat. 310) ist, dessen Niederschrift in das Jahr 1342 fällt. Die E. der Gesta Romanorum zeugen vom universellen Geschmack des Kompilators, der sowohl Materialien der klassischen wie auch der ma. Lit. verwertete 18 ; auf sie folgt regelmäßig eine moralische Auslegung, die — wie bei Holkots Moralitates — manchmal länger als das E. selbst ist. Dem Kolophon des Innsbrucker Ms.s zufolge wurden die moralischen Auslegungen ,,a quodam fratre de Ordine Minorum" bereitgestellt 19 . Ein anderer Franziskaner dieser Zeit, der sich zum Zwecke der Belehrung der allegorischen Methode bediente, war Nicole Bozon, dessen Metaphorae in anglo-normann. Prosa (2. Viertel 14. Jh.) wegen der Vermischung von Fabeln und Anekdoten mit Passagen moralisch ausgelegter Naturgeschichte bemerkenswert sind 20 ; ähnlich verfuhr der anonyme ital. Autor des —> Fiore di virtü (ca 1320) 21 . Diese volkssprachlichen Schriften gehören jedoch nicht so sehr der streng symbolistischen Schule Holkots und der Gesta an als vielmehr demselben Zwischenstadium der hist. Entwicklung wie die schon genannten Werke des Thomas Cantipratanus und Jacobus de Cessolis. 1.4. E . h a n d b ü c h e r . Den Predigern des Spät-MA.s stand somit potentiell ein breites Spektrum von E.quellen zur Verfügung. Zusätzlich zu den in Kap. 1.1.—1.3. erwähnten Arten der Lit. sind noch die berühmten Legendarien des 13./14. Jh.s anzuführen, wie die —» Legenda aurea des ital. Dominikaners —» Jacobus de Voragine und das metrische South English Legendary (möglicherweise franziskan. Ursprungs) 22 sowie die Lebensbeschreibungen frommer Männer und Frauen
aus neuerer Zeit und die Slgen von —» Marienlegenden 23 . Angesichts der ungeheuren Fülle des umlaufenden Materials und der Vielfalt der Bücher, in denen dieses verstreut war, überrascht es kaum, daß man bald dazu überging, E.handbücher herzustellen, nicht zuletzt für den Gebrauch derjenigen Prediger, denen es aus praktischen oder wirtschaftlichen Gründen nicht möglich war, sich das Repertoire auf direkterem Wege zugänglich zu machen. Diese Neuerung ist in erster Linie auf die Mönche der Bettelorden zurückzuführen, woran sich zeigt, wie sehr sie um Qualität und Quantität der Belehrung des Volks in den Prinzipien christl. Glaubens bemüht waren. Die berufs- und zweckgebundene Ausrichtung dieser Handbücher ist schon aus ihrer Anordnung ersichtlich, bei der im allg. mit zwei verschiedenen Methoden gearbeitet wurde, um das Auffinden der Qu.η zu erleichtern: Die E. waren entweder innerhalb eines systematischen Rahmens zu thematischen Gruppen oder aber unter alphabetisch geordneten Stichwörtern zusammengefaßt. Manchmal wurden die E. von theol. Erklärungen oder anderen sachdienlichen Erläuterungen begleitet, so daß die Bücher den Charakter von Predigerenzyklopädien annahmen. Zu den bedeutenderen und bekannteren Slgen gehören die folgenden Werke. 1.4.1. Systematisch cher
aufgebaute
E.bü-
—> Etienne de Bourbon: Tractatus de diversis materiispraedicabilibus (dominikan., Mitte 13. Jh.). Dieses enzyklopädische Werk, das ein ungemein großes Repertoire von E.n aus literar. Qu.n und aus der persönlichen Erfahrung des Autors enthält, war das unmittelbare Vorbild für zwei andere dominikan. Kompilationen dieser Zeit, nämlich den Humbert de Romans zugeschriebenen Tractatus de abundantia exemplorum und Martins von Troppau Promptuarium exemplorum2'1. -» Liber exemplorum (franziskan., vor 1280), Teil 1: De rebus superioribus, Slg eines engl. Mönchs, der einen Teil seines Klosterdaseins in Irland verbrachte. Der 2. Teil ist alphabetisch angeordnet (v. Kap. 1.4.2.). British Library Ms. Roy. 7 D. I (dominikan., vor 1280), eine unveröff. engl. Slg, deren E. vorwiegend aus der persönlichen Erfahrung des Kompilators stammen; dieser scheint Frankreich und die Brit. Inseln bereist zu haben und mit Jacques de Vitry zusammengetroffen zu sein. E. aus dieser Slg begegnen in verschiedenen späteren Qu.n wie-
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der, ζ. Β. dem —> Speculum laicorum, John —> Bromyards Summa predicantium und den British Library Mss. Harl. 2385 und 2316 (beide 14. Jh.) 25 . Compilatio singularis exemplorum (dominikan., spätes 13. Jh.), frz. Slg, von der nur einige Auszüge veröff. wurden 2 6 . Die Ms.abschrift von Tours (Bibliotheque de la ville Ms. 468) ist gekürzt, bewahrt aber die ursprünglichere Struktur des Werks. Dieses ist vor allem bemerkenswert wegen der Gesellschaftstypologie, nach welcher drei der neun Teile aufgebaut sind, und wegen des bewußten Interesses des Kompilators an erzählerischer Kunst um ihrer selbst willen (cf. Ms. Tours, fol. 192 v : „In isto libello exempla plurima sunt redacta super variis materiis quarum quaedam sunt ad edificationem, quaedam ad solatium [. . .]") 2 7 · Die E. entstammen sowohl literar. als auch mündl. Qu.n; eine beträchtliche Anzahl von ihnen erscheint wieder im letzten Teil der —> Mensa philosophica, und einige davon finden sich in der Scala celi des —> Johannes Gobii Junior. British Library Ms. Add. 33956 (franziskan., frühes 14. Jh.). Diese unveröff. Slg von 7 0 0 - 8 0 0 E.n ist vermutlich Werk eines Mönchs, der in Südfrankreich und später in England lebte. Es vereinigt E. aus der engl, dominikan. Tradition von Ms. Roy. 7 D. I und Materialien von (frz.) franziskan. Herkunft 2 8 . British Library Ms. Add. 27336 (franziskan., frühes 15. Jh.), unveröff. Slg von etwa 350 E.n offensichtlich nordital. Ursprungs 2 9 . —» Speculum exemplorum (spätes 15. Jh., gedr. Deventer 1481), umfangreiche Slg von über 1200 E.n, die speziell in Hinblick auf eine Veröff. in gedr. Form zusammengetragen worden war und früher fälschlich dem holländ. Kartäuser Aegidius -> Aurifaber zugeschrieben wurde. Der neunte der zehn Abschnitte des Buches ist alphabetisch aufgebaut (v. Kap. 1.4.2.), die große Mehrzahl der E. ist jedoch nach der Art der Qu., aus der sie exzerpiert wurden, geordnet.
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Auxerre, Bibliotheque municipale Ms. 35 (letztes Viertel 13. Jh.) 3 1 . —> Speculum laicorum (Ende 13. Jh.), engl. Kompilation, die trotz ihres routinehaften, mechanischen Erzählstils und ihres hauptsächlich derivativen Charakters eine gewisse internat. Beliebtheit genossen zu haben scheint. Arnold de Liege: —> Alphabetum narrationum (dominikan., ca 1300), eine Kompilation älterer Qu.n, die von hauptsächlich dogmatischer Zielsetzung ist. Sie fand weite Verbreitung und beeinflußte eine Reihe späterer Kompilatoren. —> Johannes Gobii Junior: Scala celi (dominikan., frühes 14. Jh.). Dieses berühmte Buch ist durch 125 alphabetisch geordnete Überschriften, die wiederum nach logischen Gesichtspunkten unterteilt sind, gegliedert. Ungefähr ein Zehntel der 1000 E. wird von einer kurzen moralischen Auslegung begleitet. John —> Bromyard: Summa predicantium (dominikan., spätes 14. Jh.). Die bedeutendste engl. Slg ihrer Art enthält ca 1200 E. innerhalb eines enzyklopädischen Rahmens mit nahezu 200 alphabetischen Titeln. —> Henmannus Bononiensis: Viaticum narrationum (dominikan., 1. Hälfte 15. Jh.), eine kleine Slg, die in zwei Hss., die unterschiedliche Fassungen vorstellen, erhalten ist. Die E., die von beachtlicher erzählerischer Dichte sind, stammen aus so bekannten Qu.n wie Caesarius von Heisterbach, Vincent de Beauvais und der Scala celi. Johannes —> Herolt (Discipulus): Promptuarium exemplorum (dominikan., 2. Viertel 15. Jh.), als Ergänzung zum Text der Predigten des Autors gedachte E.sammlung. Unter den häufig zitierten Qu.n befinden sich Caesarius, Thomas Cantipratanus und das Alphabetum narrationum. —> Speculum exemplorum, Teil 9: Exempla ex diversorum auctorum scriptis collecta enthält über 200 E. aus vielfältigen antiken und ma. Qu.n; die späteste bilden die Predigten des ital. Franziskaners Robertus de Licio (gest. 1495).
Hist, weniger bedeutsam als die oben aufgeführten E.bücher, ihrem Wert an sich nach jedoch ebenso interessant, sind die von nicht —> Liber exemplorum, Teil 2: De rebus inferi- den Bettelorden angehörenden Mönchen zum oribus. Von diesem Teil der Slg haben etwa 150 E. internen Gebrauch in den jeweiligen Klöstern überlebt; das vorhandene Ms. bricht beim Buchverfaßten Kompendien. Beispiele dafür sind staben Μ ab. Da der 1. Teil (der im Ms. volldie systematisch gegliederte zisterziens. Slg in ständig ist) nur aus 60 E.n besteht, ist anzunehmen, Paris (Bibliotheque Nationale Ms. lat. 15912; daß in der ursprünglichen Kompilation die alphabefrz., ca 1200) und der Manipulus exemplotische Anordnung dominierte. —» Tabula exemplorum (franziskan., ca 1270/80), rum in Lüttich (Bibliotheque universitaire eine frz. Kompilation, die deswegen beachtenswert Ms. 391[54], Mitte 15. Jh.); letzterer bietet ist, weil sie E. enthält, die Bezug auf die zeitein reichhaltiges, alphabetisch geordnetes Regenössische — bes. die bäuerliche - Gesellschaft pertoire von ca 2000 E.n, das offenbar für nehmen. Das Werk gilt heute als die gekürzte die Mitglieder des Ordre des Freres de SainteFassung des älteren Liber de similitudinibus et Croix in Huy (Belgien) angelegt worden exemplis30. Der alphabetische Rahmen und ca 50 der E. erscheinen wieder in der unveröff. Slg von war 32 . 1.4.2. A l p h a b e t i s c h a n g e o r d n e t e E.bücher
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1.5. Ε. in d e r V o l k s s p r a c h e . Der Gebrauch von E.n in Predigten und in der christl. didaktischen Lit. fand in breitem Maße Nachahmung bei weltlichen Autoren, die in der Volkssprache schrieben; in der Tat weisen einige profane Werke des Spät-MA.s einen solchen Reichtum an Stoffen dieser Art auf, daß man sie als eigenständige E.biicher betrachten kann. Der Einfluß von Predigt-E.n ist schon in der Dichtung des —> Stricker (dt., 1. Hälfte 13. Jh.) zu erkennen. In den Castigos e documentos para bien vivir (span., 2. Hälfte 13. Jh.) - traditionell mit dem Namen König Sanchos IV. in Verbindung gebracht, was aber zweifelhaft ist - finden sich E. oriental, wie auch patrist. und ma. europ. Ursprungs im vertrauten Kontext eines Fürstenspiegels 33 . Als bekannte nicht-geistliche Werke solcher Art aus dem 14. Jh. sollen in diesem Zusammenhang der Libro de buen amor des Juan —> Ruiz (span., ca 1330/45), der Conde Lucanor des Infanten Don —> Juan Manuel (span., ca 1335) und die Confessio amantis des John Gower (engl., ca 1390) 3 4 genannt werden. Der Dominikaner Ulrich —> Boner wandte im Edelstein (dt.sprachig, Versform, ca 1350) die religiöse Konvention moralischer Auslegung bei der Wiedergabe von Fabeln, E.n und Schwänken an. Außerdem wurden lat. E.bücher in die Volkssprachen übersetzt und neue volkssprachliche Slgen geschaffen, in beiden Fällen sowohl für Priester als auch für Laien mit mangelhaften Lateinkenntnissen. So wurden die E. von Petrus Alphonsi, Odo of Cheriton, Arnold de Liege und die anonymen Werke Speculum laicorum und Gesta Romanorum übersetzt; nicht weniger bemerkenswert ist eine aus dem 15. Jh. stammende isl. Wiedergabe von Teilen einer engl. Übers, der Gesta in Verbindung mit Stoffen aus Robert Mannyngs Handlyng synne3S. Weitere erwähnenswerte volkssprachliche Slgen sind das British Library Ms. Add. 22557 (1. Hälfte 14. Jh.) mit E.n in einem nordital. Dialekt 3 6 , Der große —> Seelentrost, ein ndd. dominikan. Werk, das durch seine schwed. und dän. Fassungen die skand. E.tradition beeinflußte 3 7 , und der —> Libro de los e(n)xemplos des Archidiakons von Valderas, d e m e n t e Sanchez de Vercial (span., frühes 15. Jh.). In die Zeit des ausgehenden MA.s fällt das Er-
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scheinen des berühmten Schimpff und Ernst (1522) von Johannes —> Pauli, einem elsäss. Franziskaner, in dem E. aus der ζ. B. von der Scala celi und Bromyards Summa predicantium verkörperten Tradition mit Schwänken des neueren novellistischen Typs vermischt sind. In diesem Werk finden sich charakteristische Beispiele für die weltliche Tendenz, die das E. bei Predigern der alten wie der neuen Lehre in zeitweiligen Mißkredit brachte. Zum Weiterleben der ma. E.bücher in Protestant, und kathol. Lit. ν. Kap. 2.2., 3.2. und 3.3. I Stubbs, W. (ed.): Willelmi Malmesbiriensis monachi D e gestis regum Anglorum. L. 1 8 8 7 / 8 9 ; MPL 1 9 8 ( 1 8 5 5 ) 8 7 1 - 1 0 4 4 (Pantheon); ibid. 171 ( 1 8 5 4 ) 1003 — 1056 (Liber moralium dogmatis philosophorum; zur Autorenschaft cf. Welter 1927, 47, not. 32); Webb, C. C. I. (ed.): Joannis Saresberiensis [. . .] Policratici sive D e nugis curialium et vestigiis philosophorum libri VIII. Ox. 1909; Brewer, J. S. (ed.): Giraldi Cambrensis Gemma ecclesiastica. L. 1862; Wright, Τ. (ed.): Alexandri Neckam D e naturis rerum libri duo. L. 1863 (im folgenden werden in der Regel keine bibliogr. Angaben zu Werken und Autoren mit eigenen EM-Art.η gemacht). - 2 MPL 189 ( 1 8 5 4 ) 8 5 1 - 9 5 4 (Petri V e nerabilis D e miraculis); ibid. 185 ( 1 8 5 5 ) 1 2 7 1 1384 (Herberti D e miraculis); Griesser, B. (ed.): Exordium magnum cisterciense [. . .]. R o m a 1961. 3 MPL 2 1 2 ( 1 8 5 5 ) 7 7 1 - 1 0 8 2 (Helinandi Chronicon); Holder-Egger, O. (ed.): Cronica fratris Salimbene de A d a m Ordinis Minorum. Hannover/Lpz./ B. 1 9 0 5 - 1 3 . - 4 Furnivall, F. J. (ed.): Robert of Brunne's „Handlyng synne" [. . .]. L. 1901; cf. Arnould, E. J.: Le Manuel des peches [. . .]. P. 1940. Zur „Summa" von Guillaume Peraud v. Welter 1927, 1 6 6 - 1 6 8 . - s cf. ibid., 3 3 7 - 3 4 1 . 6 • F ü r weitere Informationen über E. in Chroniken und Traktaten des 13. Jh.s und später v. ibid., 1 5 0 - 2 0 9 , 3 3 6 - 3 4 9 , 4 2 5 - 4 4 9 . - 7 Kritzeck, J.: Peter the Venerable and Islam. Princeton, Ν. J. 1964, 35. - 8 MPL 178 ( 1 8 5 5 ) 3 7 9 - 6 1 0 (Petri A b s l a r d i Sermones); ibid. 172 ( 1 8 5 4 ) 8 0 7 - 1 1 0 8 (Speculum ecclesi^). - 9 cf. Welter 1927, 1 1 1 118. - 10 Frenken 1914, 6 1 - 6 7 ; Whitesell, F. R.: Fables in Mediaeval Exempla. In: J. of English and Germanic Philology 46 ( 1 9 4 7 ) 3 4 8 - 3 6 6 , hier 352. II cf. Welter 1927, 1 3 3 - 1 4 0 , 144sq. - 1 2 Erbe, Τ. (ed.): Mirk's Festial. A Collection of Homilies [. . .] 1. L. 1905; Fages, H. (ed.): (Euvres de Saint Vincent Ferrier. P. 1909; Cannarozzi, C. (ed.): San Bernardino. Prediche volgari 1—3. Pistoia 1940. — 13 Zum Ε. in Predigt-Slgen: Jacques de Vitry/Crane, L I I I - L X X ; Welter 1927, 1 1 0 - 1 4 9 , 4 1 0 - 4 2 4 ; cf. die Unters.en zu nationalen Predigttraditionen von Cruel 1879, Lecoy de la Marche
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1886, Owst 1926 und 1933; v. auch Schenda 1969. - 1 4 Tubach, F. C.: Exempla in the Decline. In: Traditio 18 (1962) 4 0 7 - 4 1 7 . - 15 cf. Welter 1927, 1 7 4 - 1 7 6 , 3 5 1 - 3 5 4 . - 16 ibid., 3 6 0 - 3 6 6 . 17 Herzstein, S. (ed.): Tractatus de diversis historiis Romanorum [. . .]. Erlangen/Lpz. 1893. - 18 cf. Qu.n-Verz. bei Welter 1927, 372, not. 74. 19 Dick, W. (ed.): Die Gesta Romanorum [. . .]. Erlangen/Lpz. 1890, 237. - 2 0 Smith, L. T./Meyer, P. (edd.): Les Contes moralises de Nicole Bozon. P. 1889. 21 Zambrini, F./Fabricatore, B. (edd.): Fiore di virtu. Napoli 1870. - 2 2 Horstmann, C. (ed.): The Early South-English Legendary [. . .] 1. L. 1887; D'Evelyn, C./Mill, A. J. (edd.): The South English Legendary [. . .]. L. 1956/59; Görlach, Μ. (ed.): An East Midland Revision of the South English Legendary [. . .]. Heidelberg 1976. — 2 3 cf. Welter 1927, 8 8 - 9 1 , 1 5 8 - 1 6 4 . - 24 cf. Welter 1927, 2 2 4 - 2 3 0 . - 25 Herbert, 4 7 7 - 5 0 3 ; Welter 1927, 2 4 4 - 2 4 8 . - 2 6 Hilka, Α.: Neue Beitr.e zur Erzählungslit. des MA.s. In: 90. Jahrber. der schles. Ges. für vaterländische Cultur (1912) (4. Abt., c. Sektion für neuere Philologie). Breslau 1913, 1 - 2 4 . 27 Welter 1927, 240, not. 41. - 28 Herbert, 6 2 2 637; Welter 1927, 2 6 5 - 2 7 2 . - 29 Herbert, 6 4 7 673; Welter 1927, 3 8 0 - 3 8 3 . - 3 0 cf. Thorndike, L.: Liber de similitudinibus et exemplis (MS. Berne 293, fols. lr—75v). In: Speculum 32 (1957) 7 8 0 791. 31
Welter 1927, 3 0 1 - 3 0 4 . - 3 2 ibid., 2 5 1 - 2 5 4 , 4 0 2 - 4 0 5 ; cf. McGuire, B. P.: The Cistercians and the Rise of the Exemplum. In: Classica et Mediaevalia (1982) [im Druck]. - 3 3 Rey, Α. (ed.): Castigos e documentos para bien vivir ordenados por el rey don Sancho IV. Bloom. 195 2. - 3 4 Macaulay, G. C. (ed.): The English Works of John Gower. L. 1900/01. - 35 Petursson, E. G. (ed.): Miöaldaaevintyri fiydd ür ensku. Reykjavik 1976. — 36 Ulrich, J. (ed.): Recueil d'exemples en ancien italien. In: Romania 13 (1884) 2 7 - 5 9 . - 3 7 cf. Ronge, Η. H.: Siaelinna throst. In: Kulturhistorisk leksikon for nordisk middelalder 15. Kop. 1970, 3 0 7 - 3 1 0 . Zum Ε. in Skandinavien v. auch Gering, Η. (ed.): Islendzk seventyri. Isl. Legenden, Novellen und Märchen 1 - 2 . Halle 1882/83 [recte 84]; Odenius, O./Holtsmark, Α.: Ε. In: Kulturhistorisk leksikon for nordisk middelalder 4. Kop. 1959, 9 0 - 9 8 . Lit.: Cruel, R.: Geschichte der dt. Predigt im MA. Detmold 1879. - Crane, Τ. F.: Mediaeval SermonBooks and Stories. In: Proc. of the American Philosophical Soc. 21 (1883/84) 4 9 - 7 8 . - Lecoy de la Marche, Α.: La Chaire frangaise au moyen age. P. 2 1886. - Jacques de Vitry/Crane. - D e Vooys, C. G. N.: Middelnederlandse legenden en exempelen. Bijdrage tot de kennis van de prozalitteratuur in het volksgeloof der middeleeuwen. (Diss. Leiden) 's Gravenhage 1900 (Groningen/ Den Haag 2 1926). - Herbert. - Mosher, J. Α.: The Exemplum in the Early Religious and Didactic
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Literature of England. Ν. Y. 1911. - Frenken, G.: Die Exempla des Jacob von Vitry [. . .]. Mü. 1914. - Crane, T. F.: Mediaeval Sermon-Books and Stories and Their Study since 1883. In: Proc. of the American Philosophical Soc. 56 (1917) 3 6 9 402. — Owst, G. R.: Preaching in Medieval England. Cambr. 1926. - Welter, J.-T.: L'Exemplum dans la litterature religieuse et didactique du moyen age. P./Toulouse 1927. - Owst, G. R.: Literature and Pulpit in Medieval England. Cambr. 1933 (Ox. 2 1961). - Neumann, E./Klapper, J.: E. In: R D L 1 ( 2 1955/58) 4 1 3 - 4 1 8 . - Petre, H./Cantel, R./ Ricard, R.: Exemplum. In: Dictionnaire de spiritualite, ascetique et mystique, doctrine et histoire 4,2 (1960/61) 1 8 8 5 - 1 9 0 2 . - Schenda, R.: Stand und Aufgaben der Exemplaforschung. In: Fabula 10 (1969) 6 9 - 8 5 . - Tubach. - Bremond, C./Le Goff, J./Schmitt, J.-C.: L'„Exemplum". Turnhout 1982. Kopenhagen
Michael Chesnutt
2. P r o t e s t a n t . E . S a m m l u n g e n 2.1. V o r a u s s e t z u n g e n und Grundl a g e n . D e r G e b r a u c h des E . s in der h o m i l e tischen Lit. des Protestantismus hat im letzten Jahrzehnt z u n e h m e n d e A u f m e r k s a m k e i t in der Forschung erfahren. —> Predigtmärlein sind keine Erzählformen allein des kathol. B a r o c k . In der evangel. Kirche existieren ebenfalls e n t s p r e c h e n d e Thesauri als F u n d gruben und N a c h s c h l a g e w e r k e für die .Erzähler auf der Kanzel'. Ihre schon frühe A u s p r ä g u n g im Jh. der R e f o r m a t i o n hängt mit der humanistischen —> Kompilationsliteratur z u s a m m e n und mit der M e t h o d e des Exzerpierens v o n Beispielgeschichten, die im T h e o l o g i e s t u d i u m eingeübt wurde und im n e u verfestigten theol. Geschichtsverständnis Philipp —» M e l a n c h t h o n s seine B e g r ü n d u n g fand (—» Loci c o m m u n e s ) . ,Geschieht' steht g e g e n ,Gedicht', hist. Ereignis als O f f e n b a r u n g göttlichen Willens g e g e n fiktives erzählerisches G e s c h e h e n und ist darum als Z e u g n i s der Wahrheit d e n k und merkwürdig (—> M e m o r a b i l e ) . .Historia' wird z u m S y n o n y m für E. D i e G e s c h i c h t e insgesamt dient als Steinbruch für moralische Geschichten Historienliteratur). Der Volkslehrer Martin —> Luther sah zugleich die praktische Seite. Ü b e r Tisch hat er sich deutlich dazu geäußert: „ D e m g e m e i n e n M a n n und H a u f e n gefällt nichts besser, ihm ist auch nichts nützers d e n n das G e s e t z und E x e m p e l predigen" ( W e i m a r e r A u s g . , Tisch-
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reden 2, num. 1334) und: „Wenn man vom Artikel der Rechtfertigung prediget, so schläft das Volk und hustet; wenn man aber anfähet Historien und Exempel zu sagen, da reckts beide Ohren auf, ist still und höret fleißig zu" (ibid., num. 2408b). 2.2. Q u . η u n d e r s t e A u s p r ä g u n g e n . Die Qu.η der protestant. E.Sammlungen sind vielfältig und doch klar ausgrenzbar gegenüber den nicht mehr zitierten, dennoch im 16. Jh. durchaus noch bekannten und indirekt weitervermittelten ma. Slgen. Bes. geschätzt war der Dominikaner Johannes —» Herolt mit seinem Promptuarium Discipuli, das sogar den Namen für das älteste und wirksamste Protestant. E.buch abgegeben hat. Zu Ende des Jh.s hat man sich auch nicht mehr gescheut, den alten Zisterzienser —» Caesarius von Heisterbach oder den kritischen Johannes —> Pauli zu zitieren. Von Anfang an spielte eine zentrale Rolle die ohnehin typisch Protestant. —> Prodigienliteratur, voran die frühesten luther. Slgen von Job —» Fincelius und Caspar —> Goltwurm. Hier war schließlich der Finger Gottes am sichtbarsten auf Erden und am Firmament erschienen und hatte mahnend und strafend das Ende der Zeiten angekündigt. Das protestant. Endzeitbewußtsein des 16. Jh.s fand darin bes. Nahrung, aber auch in den speziellen Ausprägungen eigener Traktatgattungen mit weiterwirkenden Beispielgeschichten in der sog. —* Teufelsliteratur und in der —> Hexenliteratur und ihren Sammelkompendien. Auch die Magica und Tragica der späteren Kompilationsliteratur lieferten immer wieder neue Stoffe (Heinrich —» Kornmann, Martin —> Zeiller). Weniger eschatologisch in die Zukunft gerichtet als vielmehr abwehrend und polemisch-apologetisch in die Zeitgeschichte und Vergangenheit ging der Blick evangel, geprägter Landeschroniken des 17. Jh.s, aus denen E.kompilatoren eifrig schöpften (—» Chronikliteratur). Im 16. Jh. waren es vor allem die revidierten Kirchengeschichten, die Sammelakten evangel. Märtyrer etwa von Ludwig Rabus, die gereinigten Väterleben (—> Vitae patrum, Georg —> Major) und die sich in —» Kalendergeschichten formierende Historiographie der neuen Konfession, all dies zugleich angeregt und beflügelt von den
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Geschichtenkompilationen der wieder aufgelegten antiken Memorabilienautoren, voran die personalbezogenen Auszüge des —» Valerius Maximus und die neue Mode der ,Dicta et facta virorum illustrium' in den —> Apophthegmata. Später trat das Ausschöpfen erzählfreudiger Postillen der evangel. Predigtliteratur (—» Predigt) hinzu (Johannes —> Mathesius, Johann Balthasar —» Schupp). Obenan aber standen zunächst die ,Historien' der bibl. Geschichte, die darum in Beispielhandbücher durch Zergliedern der Hl. Schrift gewonnen wurden, alphabetisch nach loci communes, also nach praktisch-moralischen Schlagworten oder E.lemmata entsprechend dem humanistischen Ordnungsschema sortiert. So ordnete man schließlich auch die Aussprüche Luthers aus den Tischreden. Man faßte seine Colloquia erstmals 1566 nach Sachgruppen zusammen und schuf mithin ein Nachschlagewerk, das wegen der vielen erzählenden Passagen fast eine Art E.buch genannt werden darf (Johannes —>Aurifaber). Noch stärker schlug das System für Melanchthons Spruchüberlieferung durch. Angeblich nach Vorlesungen gab sein Schüler Johannes —» Manlius Collectanea locorum communium (Basel 1563) heraus, bestehend aus Beispielen zu den Zehn Geboten (cf. —> Dekalog), aus einem Calendarium historicum und einem Libellus medicus mit HausRatschlägen. Damit waren die strukturellen Grundmuster protestant. E.sortierungen für das 16. Jh. vorgegeben. Die Qu.η werden darin nicht genannt, stammen aber ζ. T. aus Fincelius und Goltwurm, jenen typischen luther. Wunderzeichenautoren der Frühzeit. Den humanistisch geprägten Ursprung und das intendierte akademische Lesepublikum spiegelt die lat. Abfassung. Eine alsbaldige dt. Übers, durch den Schweizer Huldreich Ragor von 1566 erreichte nur zwei Aufl.η gegenüber den zehn lat. bis 1624. 2.3. D i e g r o ß e n S l g e n d e s 16. u n d 17. Jh.s. Noch im gleichen Jahrzehnt kam die erste und über das 16. Jh. hinaus am wirksamsten gebliebene protestant. Slg auf den Markt: Andreas —> Hondorffs Promptuarium exemplorum. Historien und E.buch (Lpz. 1568) mit 30 mehrfach erw. Aufl.η in den
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folgenden 100 Jahren, einer Übers, ins Lat., Theatrum historicum (Ffm. 1575), mit bis 1633 nochmals 13 Aufl.η samt einer ndl. Übertragung von 1685. Das Aufbauschema nach den Zehn Geboten mit darin jeweils acht bis zwölf Loci-communes-Abteilungen sollte dem Prediger durch die Ordnung von Sachkomplexen hilfreich sein. 65 Autoren werden vorab als Qu.η für das Promptuarium genannt, so „das es auch für eine Chronicken kan geachtet und gelesen werden" (Vorrede von 2 1570). An diesen umfangreichen Erfolgsfolianten hängte sich ein weiterer luther. Pfarrer aus Sachsen, Zacharias —> Rivander, mit einem Ander Theil Promptuarii (Ffm. 1581; 3 1607), dem er eine Fest Chronica (Lpz. 1591) aus Geschichten und ein kleines E.büchlein Promptuarium exemplorum (Eisleben 1591/1592) folgen ließ, auch darin nur ein Epigone Hondorffs, der schon vorher ein Calendarium sanctorum et historiarum (Lpz. 1573; n 1 6 1 0 ) , also ein E.buch in Kalenderform, hatte erscheinen lassen. Davon setzten sich im Titel die großen Epitome historiarum, christl. ausgelesener Historien und Geschichten aus alten und bewerten Scribenten (s. 1. 1576) des durch den —> Claus Narr bekannten sächs. Pfarrers Wolfgang —» Bütner ab, nicht aber vom Hondorffschen Aufbauschema. Über diesen hinaus verwertete er allerdings Predigt- und Schwanksammlungen und ist überhaupt der bessere Erzähler, ein wirklicher Literat. Dennoch hat sein Werk nur eine zweite, völlig umgearbeitete Aufl. durch Georg Steinhart (Lpz. 1596; 2 1615) erfahren, die jene Vorteile ζ. T. tilgte und durch theol. Erörterungen ersetzte, indem nun die Einteilung nach den fünf Hauptstücken des kleinen Katechismus von Luther erfolgte. Aus einem zugleich intendierten Volkslesebuch wurde wiederum ein reines Nachschlagewerk für Prediger. Ein letztes Werk des 16. Jh.s besaß größere Wirkungen auf die folgende Zeit: die dreiteilige Slg des holstein. Pfarrers Samuel —» Meiger Nucleus historiarum. Außerlesene liebliche denckwürdige und warhaffte Historien in gewisse Classes und Locos communes zusammengezogen (Hbg 1598/99 mit 6 Aufl.η in 50 Jahren). Bütners Epitome wird darin allerdings eifrig benutzt, aber der Titel bietet nun wieder exakt die Programmatik des
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16. Jh.s, und der innere Aufbau dieses ,Nußkerns in Geschichten' als einer Art didaktischem Grundlehrbuch folgt nicht dem Katechismus, sondern alphabetischen Schlagworten. Es dominiert weiterhin der moralische Aspekt mit einem Katalog von acht Nutzanwendungsmöglichkeiten der E. Diese Wirkungslehre beruft sich auf Cicero: „Die Historia sey ein liecht der warheit [. . .] ein lob der Tugendt und eine verechterinne der Laster" (1598, fol. allr). Auf dieses Konzept bauten von nun an die eigentlichen großen E.sammlungen des 17. Jh.s mit umfangreichem Schlagwortsystem: Caspar —> Titius: Loci theologiae historici oder theol. E.buch (Wittenberg 1633; 6 1 6 8 4 ) und Loci theologiae allegorici oder Gleichniskästlein (Wittenberg 1663; Lpz. 2 1 6 8 5 ) . - Johannes —> Mollerus: Allegoriae profano-sacrae: Das ist geistliche Deutungen allerhand weltlicher außerlesener Historien (Königsberg 1646; Lpz. 8 1 6 8 8 ) und Similitudines physico-theologicae: Das ist; mancherley schöne, nützliche und geistliche Gleichnüsse (Lübeck 1658; 4 Lpz. 1 6 9 6 ) . - Johann —> Stieffler: Loci theologiae historici. Das ist: Geistlicher Historien-Schatz. Worinnen über 4100 heilsame und sehr erbauliche E. (Breslau 1668; 3 1 6 7 9 ) ; Continuatio locorum (Hallerwerden 1679; Ffm./Lpz. 2 1 6 8 6 ) und Loci theologici allegorici oder geistlicher Gleichnüß-Schatz (Hallerwerden 1668; Jena 3 1 6 8 2 ) . - Daniel -> Schneider: Titius continuatus et illustratus: Das ist loci theologici, historici et practici oder theol. E.Buch (Wittenberg 1669).
Schon aus den Titeln geht die rhetorische Systematisierung in zwei Gruppen von Stoffhandbüchern hervor, in sich wiederum streng nach dem Loci-Prinzip gegliedert: Es sind die Historien (also Geschichten im eigentlichen Sinne) und die —> Allegorien (hier also die Gleichnisse als Erzählungen fiktiver Geschichte). So ließ die eifrige Benutzung profaner Historien um der ,Wahrhaftigkeit' willen vom polyhistorischen Zeitinteresse her entweder ein unterhaltsames Kuriositätenkabinett ausbreiten — und das führte dann zu sich nicht mehr an Prediger wendenden Hist. Bilderhaus- und Schauplatz-Büchcrn wie denen des Pfarrers Jacob Daniel —» Ernst von 1674 an —, oder aber es wurden Bildungsinhalte formalisiert wie in Christian Weidlings Gelehrtem Kirchenredner oder excerpta homiletica (Lpz. 1700), wo schon im Titel von ,gelehrter Erbauung' die Rede ist, während sich die pietistische Reaktion auf bloß trocke-
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ne Gelehrsamkeit in Erbaulichkeiten nach engl. Vorbild findet bei Johann Christoph Gerstäckers Amoenitates Anglicanae, das ist engeländ. Ergötzlichkeiten. Oder anmuthige und erbauliche Gleichnüße aus denen geistreichen Schrifften derer engeländ. Lehrer (Magdeburg/Lpz. 1717). Das enzyklopädische Nachschlagewerk des Christian Stock hingegen markiert den Endpunkt einer Entwicklung, die von der Beispielsammlung erzählender Geschichten zum Homiletischen Real-Lexicon (Jena 1725) führt, so der Titel des Stock mit der näheren Erklärung: Oder reicher Vorrath zur Oratoria sacra. In sich enthaltend der Sachen kurtzen Entwurff, die nötigen Beweißthümer und Motiven, die außerlesensten Gleichnüsse, geschickte E. und nachdenkliche Testimonia so wohl der Lehrer der Kirchen, als auch heydnischer Scribenten, deren sich ein Prediger bey Ausarbeitung einer erbaulichen Predigt bedienen kan. Eine 2. Aufl. folgte 1734. Das 18. Jh. hat weder weitere Kompilationen hervorgebracht noch die alten länger aufgelegt. Somit konzentriert sich die Geschichte des protestant. E.buchs auf einen Zeitraum von höchstens 180 Jahren. Wirksam weitergelebt bis ins 19. Jh. haben nur bestimmte Formen erbaulicher —» Hausväterliteratur mit systematischer Beispielanreicherung. Für Südwestdeutschland ist hier bes. der Evangel. Krankentrost des Johann Jacob —> Otho zu nennen, von 1665 bis 1851 in 17 Aufl.η erschienen und zu einem wahren Volksbuch geworden. Lit.: Wolf, H.: Das Predigtexempel im frühen Protestantismus. In: HessBllfVk. 5 1 / 5 2 ( 1 9 6 0 ) 349—369. - Brückner, W.: Historien und Historie. In: Brückner, 13 — 123. — Rehermann, Ε . H.: Die Protestant. E.sammlungen des 16. und 17. Jh.s. ibid., 5 7 9 - 6 4 5 . - Schade, H.: Andreas Hondorffs Promptuarium exemplorum. ibid., 646—703. Rehermann. — Beck, W.: Protestant. E.gebrauch am Beispiel der Erbauungsbücher Johann Jacob Othos. In: Jb. für Vk. N. F. 3 ( 1 9 8 0 ) 7 5 - 8 8 .
3. Nachma. kathol. E.sammlungen 3.1. Forschungsstand und P r o b l e m lage. Zwar hat in den letzten beiden Jahrzehnten der nachma. E.gebrauch mit Studien zur barocken Homiletik (—> Predigtmärlein) bes. Aufmerksamkeit erfahren, und von daher sind die wichtigsten, immer wieder zitierten 20
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Beispielsammlungen bekannt, doch es fehlt an jeglicher Bibliogr. Das Gesamtfeld ist so gut wie unerforscht. Die nationalen Philologien hielten sich bislang für lat. Texte nicht zuständig, die Latinistik aber endet traditionellerweise mit der Renaissance. Volkskunde und Folkloristik hingegen haben die literar. Vermittlungsfunktion erzählender Kurzprosa in Druckwerken meist nur als indirekte hist. Belegorte sog. Volksüberlieferung gelten lassen. Allein was J. —» Bolte, R. —» Köhler und A. —> Wesselski darüber publizierten, ist für Motiv- und Typenindizes registriert worden, kaum aber sind die originalen Qu.nkompendien selbst von der Erzählforschung genauer berücksichtigt oder untersucht und damit in ihrer hist. Bedeutung und jeweiligen Wirkungsgeschichte erkannt worden. Dies hängt u. a. auch zusammen mit der von den Philologien ererbten Fixierung auf Urformen. Die Bibelforschung, die Rekonstruktionsprinzipien klassischer Altertumswiss.en, der moderne lit.wiss. Werk- und Autorenbegriff sowie das entwicklungsgeschichtliche Denken haben die modernen Geisteswiss.en insgesamt auf ein Textverständnis verpflichtet, das Namen und Titel an Lebensdaten und Erstausgaben festmacht: jedes nur Baustein seiner Zeit. Ma. Werke ζ. B. werden daher bis auf den heutigen Tag allein im MA. rubriziert, Übers.en nicht als kulturschöpferische Leistungen gewertet und deshalb kaum registriert, Bearb.en nicht recht ernst genommen und darum ebenfalls vergessen. Dementsprechend fehlt es unter den wiss. Disziplinen an einer Zuständigkeitserklärung für die sog. Gebrauchsliteratur, zu der nachma. E.sammlungen zählen. Inzwischen sind zumindest Materialien am ehesten bei den Erforschern des sog. Buchwesens zu finden, wo im Zusammenhang von Drucker- und Verlagsgeschichten Offizin-Kataloge entstehen und einen Einblick in die Breite des tatsächlichen literar. Lebens, das heißt seiner Textproduktion und damit der einstigen Kommunikationsmöglichkeiten leisten. Hier aber muß das Interesse des Erzählforschers einsetzen, der allein für das MA. annimmt, daß vornehmlich die Kirche eine soziokulturelle Vermittlungsinstanz von Gewicht war. In der frühen Neuzeit ist es jedoch nicht anders gewesen; alle Konfessionen haben sich vielmehr um eine breite ,Volksbil-
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dung' bemüht und darum die Katechesierung der Massen großgeschrieben. 3.2. V o r a u s s e t z u n g e n und Grundlagen. Die blühende altkirchliche Bücherproduktion des ausgehenden MA.s kam in Mitteleuropa mit dem Auftreten Luthers nach 1520 so gut wie völlig zum Erliegen und damit auch die seit den 80er Jahren des 15. Jh.s immer neuen Auflagen der großen E.sammlungen und Kompilationsexzerpte wie —» Speculum exemplorum oder Scala celi (—> Johannes Gobii Junior) und das Promptuarium Discipuli (Johannes —> Herolt). Der dt.sprachige Schimpffund Ernst des Johannes —> Pauli von 1522 war die in gängiger Manier nach Stichworten der Denkwürdigkeit im moralischen Sinne geordnete E.Sammlung eines Reformpredigers und ist mit dieser Schreibabsicht in den Wirren der Reformation regelrecht untergegangen und zum ,Schwankbuch' gestutzt und vermarktet worden, so daß der Titel kirchlicherseits auf dem späteren Index landete, weil er inzwischen auf seiten der literar. Sittenrichter als Synonym für Schmutz und Schund stand und eine modische Profanbüchergattung meinte. - Der im 3. Viertel des 16. Jh.s einsetzenden breiten Protestant. Lit.produktion erzählender Kurzprosa katechetisch-erbaulichen Charakters mit hist.moralischen Inhalten vermochte die im Jahrzehnt nach dem Abschluß des Konzils von Trient (1545—63) wirksam werdende kathol. Reform eigene Bücher erst spät entgegenzustellen. Sie wurden zunächst in den span. Niederlanden gedruckt (Antw., Douai, später vor allem Lyon) und kamen gegen Ende des Jh.s vornehmlich aus Mainz und Köln, im 17. und 18. Jh. vor allem mit großem Erfolg aus Dillingen und Augsburg und wurden sowohl über den von der kaiserlichen Zensur erzwungenen Zugang zur Frankfurter Buchmesse und ihre Kataloge verkauft wie — von München aus — über interne Informationsund Vertriebssysteme der Jesuiten. Wichtige neue Titel stammten im Verlaufe des 17. Jh.s bes. aus Italien, in der Regel über lat. Textfassungen vermittelt. Übers.en größeren Stils und Umfangs ins Dt. sind für die Jesuiten erst um und nach 1700 zu verzeichnen. Sie behielten bis zur Aufhebung des Ordens 1773 einen wesentlichen Einfluß auf die kathol.
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Bücherproduktion, welche zu fördern von Anfang an eine ihrer vordringlichsten Aufgaben war: Reform durch Bildung als Gegengewicht zur Protestant. Schule. In solcher Konkurrenz um Inhalte und Ziele von organisiertem Geistesleben mit dem Blick auf Vermittelbarkeit in alle Schichten der Bevölkerung liegt die Bedeutung dieser typisch neuzeitlichen Entwicklung für eine systematischere Erforschung der Bedingungen von Volkskultur in ihren sprachlichen Überlieferungsmöglichkeiten, zumal dies in allen konfessionellen Lagern auf der humanistischen Grundlage der antiken Rhetoriklehre und Wirkungsästhetik geschah. 3.3. R ü c k g r i f f e und W e i t e r e n t w i c k lungen. Der früheste nachhaltige, weil Innovationen möglich machende kathol. Vorstoß bestand in der Wiedergewinnung der ma. Tradition durch Neudrucke einst bewährter E.autoren. Am Ort der 1559 für die kathol. Reform gegründeten Univ. Douai entwickelte sich voran mit der Offizin Balthazar Beller (ab 1590) ein kathol. Druckzentrum, das unter dem kirchlichen Zensor und späteren Kanzler der Univ. Georg Colvener (1564—1649) und z.T. unter dessen aktiver Herausgeberschaft jene schmale, aber gewichtige Auswahl an Neudrucken traf, die bis hoch ins 18. Jh. weiterwirken sollte, weil diese Bücher von nun an vielerorts nachgedruckt werden konnten, nachdem sie aus Manuskripten und schwer lesbaren Inkunabeldrucken in eine moderne Typographie ohne Abbreviaturen gebracht worden waren. Zu nennen sind: Petrus Venerabiiis: Libri miraculorum (1595); —> Thomas Cantipratanus: Liber apum (1597); Franciscus Schottus: Thesaurus exemplorum (1597); Johannes —» Nider: Liber de formicariis (1602); —» Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum (1601); Johannes —» Bromyard: Summa praedicantium (1614); Johannes Faius: Manipulus exemplorum (1614); Gerardus Lemovicensis: Vitae fratrum ordines praedicatorum (1619);—» Vincent de Beauvais: Speculum quadruplex (1624). Außerhalb von Douai geschah so gut wie nichts, allein in Mainz kamen 1612 die Predigten und das Promptuarium des Johannes Herolt wieder auf den Markt, die allerdings
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zuvor schon in Venedig 1598/99 in handlichem Quartformat und moderner Ausschreibung aufgelegt worden waren und 1728 nochmals als Discipulus redivivus in Augsburg durch den Dominikaner Bonaventura Elers herauskommen sollten. In Douai erschien aber zugleich auch Neues, das dem Alten einverleibt werden konnte und somit gewichtige Fortentwicklungen brachte. 1603 kamen am selben Ort parallel zwei in der Folge aufeinander zugeordnete Werke der beiden Jesuiten Antoine d' —> Averoult (oder Antonius Davroltius) und —» Johannes Maior heraus, ersterer mit seinen Fleurs des exemples ou catechisme historial, vom Autor selbst 1614 als Flores exemplorum dem internat. Markt für viele Aufl.η zugeführt und damit zugleich ausschreibbar gemacht, z.B. für die ständigen Erweiterungen des zunächst nur als Nachdruck mit Stichwortregister von Maior edierten Speculum exemplorum von 1481, das auf diese Weise in der 6. Aufl. von 1618 ein wahrhaftes Magnum speculum werden konnte. Es ist bis zum jüngsten Druck in Köln 1747 in 27 verschiedenen Ausg.n nachgedruckt worden und besaß Wirkungen bis nach Polen (über Krakau 1612, 5 1690), von da aus bis in russ. Hss. und fand im 19. Jh. selbst in Mitteleuropa nochmals Aufmerksamkeit. D'Averoult schöpfte aus allerneuesten zeitgenössischen Autoren, voran den Annales ecclesiastici des Caesar Baronius und aus den Vitae sanctorum des Laurentius —> Surius. Maior hingegen baute einen ungeordneten spätma. Auszugsdruck aus bewährten Slgen entsprechend dem humanistischen —> Locicommunes-Prinzip um in eine nach alphabetischen Stichworten wohlsortierte E.sammlung. 3.4. N e u e B ü c h e r g a t t u n g e n . D'Averoults Anordnung der Geschichten nach den Hauptstücken des canisianischen Katechismus stellte wie dieser selbst die jesuit. Antwort auf die reformator. Katechismen und nachfolgenden E.Sammlungen ähnlicher Anordnung dar. Sein Prinzip griff der ebenfalls frz. schreibende Jesuit Philippe d' —>· Outreman im Paedagogus christianus von 1625 auf (40 Aufl.n in sechs Sprachen, dt.: Köln 1664). Für den dt. Sprachraum setzte ebenfalls 1625 die Reihe ausgesprochener E.katechismen 20·
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mit Georg Voglers Würzburger Erstauflage des Catechismus in außerlesenen E.n ein, gefolgt von dem Luzerner Jesuiten und Predigttheoretiker Tobias Lohner: Allgemainer Hauß-Catechismus mit außerleßnen Historien (Mü. 1685) und dem Karlstädter Landdechanten Caspar Höpffner: Cathol. Catechismus in fünf Oktavbänden (erstmals Würzburg 1739). Vom Kurztitel her nicht als Katechismus erkennbar war das bes. erfolgreiche Lehr- und E.buch, worinnen vorgetragen der völlige Catechismus oder Christ Cathol. Lehr (Augsburg 1724) des bayer. Landgeistlichen Martin —» Prugger, das 1768 in Augsburg zum 12. Mal erschien und in der 1. Hälfte des 19. Jh.s — wenn auch verändert — oftmals wieder aufgelegt werden sollte. E.katechismen und Katechismen mit Beispielgeschichten sind schwerlich nach quantifizierendem Seitenverhältnis in verschiedene Buchkategorien zu unterteilen; ebensowenig lassen sich feste Grenzen ziehen zwischen apologetisch-kontroversistischen Traktaten in oder mit E.n; aber auch Predigtwerke, die in bes. Weise das ausführliche und häufige E.zitat pflegen, verstehen sich von der Buchanlage her als Fundgrube für Beispielerzählungen und sind durch entsprechende Register und Marginalverweisungen aufgeschlüsselt und schnell benutzbar gemacht. — Diese herausragende Betonung und Benutzung der E. hat mit der in der gegenreformator. kathol. Katechese zugespitzten Funktion der Historien als bes. Beweismittel zu tun: nicht bloß narrative Verdeutlichung wird gesucht, sondern der argumentative Wahrheitsbeleg, weil durch übernatürlichen Eingriff besiegelt. Als E. dienen darum vornehmlich Bestätigungsund Strafwunder, mirakulöse Gnadenerweise, merkwürdige Geschichtsdaten und vorbildhafte Glaubenstaten. Dementsprechend gibt es — mit Überschneidungen — eigene Büchergattungen: Beispielkatechismen, apologetische Traktate, Kontroverspredigten, Wunderwerkkompendien, Mirakelbücher, Sakralatlanten und Geschichtenkalendarien. Zeitlich noch vor der Abhandlung des gesamten Katechismus in E.n liegen apologetische Spezialsammlungen ausgesprochen gegenreformator. Geschichten, die zur Tradition fester Themenbücher führten. Am Beginn einer fruchtbaren Wirkungsgeschichte
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für Mitteleuropa steht wiederum der Nordwesten mit dem Kölner Kanonikus Tilmann —» Bredenbach, der aus ndl. Qu.η und Anregungen für seine reine E.Sammlung schöpfte, die unkommentiert, aber klar kontroversistisch ausgewählt und strukturiert ist. Seine 1584 erstmals aufgelegten Collationum sacrarum libri octo sind in acht Bücher (= Kap.) eingeteilt: 1. Eucharistie, 2. Maria, 3. Bilderverehrung, 4. Heiligenkult, 5. Kirche und Priestertum, 6. Almosen, 7. Alte und neue Häresien, 8. Selige und schreckliche Visionen. - Damit waren die klassischen Bereiche der Auseinandersetzungen in Glaubens- und Kirchenfragen auf die öffentlich demonstrierten Kontroverspunkte im zeitgenössischen Verständnis der Diskussionen gebracht. Zuvor schon und parallel dazu erschienen zur seit Jh.en umkämpften kirchlichen Lehre von der Transsubstantiation im Kanon Missae und der Realpräsenz Christi in der Eucharistie Spezialsammlungen und Traktate mit Beispielen über Hostienwunder, Korporalemirakel und dergleichen legendarische Erzählungen: Joannes Garetius: De vera praesentia corporis Christi in sacramento eucharistiae (Antw. 1561 u.ö.); Guilelmus a Gent: Exempla illustrium aliquot miraculorum dei beneficio in sacrosancta eucharistia (Köln 1584); Nicola Laghi: I miracoli del santissimo sacramento (Venedig 1597). Die ma. Tradition der Sammlung von Marienmirakeln (—> Maria, —> Marienlegenden) lebte erst im 17. Jh. mit neuen Büchergattungen wieder auf, und zwar durch die Jesuiten im Zusammenhang der Betreuung ihrer Marianischen Kongregationen. Frühe Beispiele sind die Jesuiten Johannes Bonifatius: De Divae Virginis Mariae vita et miraculi libri quinque (P. 1605; Köln 1610, 1628) und Petro Antonio Spinelli: Maria Deipara Thronus Dei (Köln 1619 aus dem Ital., darin: Exemplorum et miraculorum Deiparae)·, Benedikt Gononus: Chronicon (Lyon 1637, dessen erster von drei Teilen über Vita et miracula Deiparae handelt). Die Bilderverehrung konzentrierte sich von nun an auf das systematische Erfassen der Wallfahrtslegenden und geschah im 17. Jh. vornehmlich in den marianischen Atlanten (—> Wallfahrt). Die Heiligenleben boten den unerschöpflichen Fundus für Beispielgeschichten in
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neuer Sortierung und Ausw.; sie wurden zu den eigentlichen E.n im Sinne von Vorbildhaftigkeit, etwa in Kaiendarien der Eucharistiebezeuger, Marienverehrer, der Almosengeber, der hl. Dienstboten etc. Dieser Hinweis soll lediglich der Ausgrenzung aus dem hier zu behandelnden engeren Bereich sozusagen reiner E.sammlung dienen, da schon bei den Protestanten (v. Kap. 2) zu sehen war, daß auch dort E.buch, Kalendarium und Postille in Überschneidungen konkurrieren. Hier wäre für die Katholiken entsprechend Bredenbachs 5. und 7. Buch noch die Kirchengeschichte als Feld der E.anhäufung zu nennen, weil auch hier das für hist, verbürgt erachtete Beispiel als Beweisstück dient und deshalb reihenweise dokumentiert wird. Darum ziehen die Kompilatoren der Spezialsammlungen zuvorderst die neuen — damals als modern-kritisch geltenden — Werke des Caesar Baronius und des Laurentius —• Surius aus. Der Ordensbruder des Kardinal Baronius, der Oratorianer Thomas Bozius, ließ zu Köln in 2 Bänden 1592/93 De signis ecclesiae Dei libri XXIII erscheinen, voller Belegexempel zu allen dogmatischen Fragen gleich dem Jülicher Kanonikus Jodocus Coccius in seinen beiden Kölner Bänden von 1600/01: Thesaurus catholicus. Manches davon ist dann 1631 in die kathol. Bearb. der umfangreichen humanistischen Enz. Magnum theatrum vitae humanae des ndl. Kanonikers Laurentius —» Beyerlinck eingegangen. In Italien versammelte Giovanni Bonifazio —» Bagatta 1680 die Admiranda orbis christiani zu einem auch in Deutschland sogleich 1695 nachgedruckten Nachschlagewerk aller nur möglichen Wundererscheinungen, die als Beispiele für das Wirken Gottes und als Erweis des wahren Glaubens dienen sollten. Solche lat. Gelehrsamkeit erstmals für weitere Bevölkerungskreise aufgearbeitet zu haben, war das Verdienst des kathol. Bücherkommissars der Frankfurter Buchmessen Valentin —» Leucht vor und nach 1600. Er formte die Kapitel des Bredenbach zu selbständigen Oktavbändchen in dt. Sprache um, aktualisierte, ergänzte, ordnete neu, alles mit dem bezeichnenden ma. Titel Speculum historicum miraculorum versehen und zu Mainz gedruckt: Wunder zum Sakrament (1590 u.ö.), Wunder zu den christl. Bildnissen
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(1591 u.ö.), Wunderbare Gesichter und Erscheinungen (1597), Mirakel der Freigebigkeit (1598 u.ö.), Hist. Spiegel denkwürdiger Schlachten und wunderbarer Siege (1598 u. ö.). Leucht vermehrte die Werke von Auflage zu Auflage und zog die Bücher mit drei Traktaten zu einem achtteiligen dickleibigen Folianten zusammen: Viridarium regium illustrium miraculorum et historiarum. Daß ist, Königlicher Lustgart, Darin die aller vortrefflichsten Miraculn und Historien (Mainz 1614), bis zum Ende des Jh.s noch dreimal aufgelegt (auch in Köln), oft zitiert und in bes. Maße wirksam geworden auf —»• Martin von Cochem (v. Kap. 3.5.). Ein beliebtes Ordnungsprinzip von Kompilationen beispielhafter Geschichten bot die Zuweisung an bestimmte Tage des Jahres. Dieser sozusagen hist. Aufhänger kam dem Bestreben nach authentischem Quellenbeleg mit genauem Orts- und Zeitbezug nahe. Dahinter steht das bewährte Heiligenkalendarium des Kirchenjahres, seit dem Konzil von Trient im Martyrologium Romanum für alle Diözesen verbindlich geworden. Dahinter steht aber auch die jahrhundertealte Praxis des mönchischen Chorgebets mit seinen Lesepartien der Tagzeiten. Die erwähnten Marianischen Kongregationen schufen sich im Verlaufe des 17. Jh.s entsprechende Laienbreviere. Dem voraus gingen — wiederum in Douai — gelehrte Slgen; 1629 durch den Jesuiten Antonius de Balinghem: Ephemeris seu Kalendarium Sanctissimae Virginis Genitricis Dei Mariae, worin an jedem Tag des Jahres bestimmter Marienverehrer gedacht wird, hinzu treten alle nur erdenklichen Hinweise auf passende hist. Ereignisse, marianische Feste, Kirchen etc. Sie wiederum geben Anlaß zur Erzählung von ,Historiae' in Form von Wunderberichten, doch alles nur kurz und hinweisartig aufgelistet. Der 2. Auflage von 1633 folgte am selben Ort durch den Univ.kanzler Georg Colvener Calendarium Sacratissimae Virginis Mariae Novissimum (Douai 1638), das jedoch kaum Erzählerisches bietet, sondern eine liturgiewiss. und theologiegeschichtliche Materialiensammlung darstellt, allerdings in der nun beliebt werdenden Kalenderanordnung. Der Jesuit Toussaint Bridoul ließ zu Lille 1640 erscheinen Gloria mirabilium Deiparae per singulos anni dies
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recurrantium (zuvor frz.), worin vor allem von dem Schutz Mariens über die Ges. Jesu berichtet wird. Breitenwirkung gewannen jedoch erst zwei Werke, die aus dem Kalenderprinzip wirkliche Tageslektüre machten: der Neuburger Landdechant Leonard Mayr mit seinem oft aufgelegten Mariae-Stammen-Buch oder täglicher immerwährender unser Lieben Frauen Calender, Das ist: Denckwürdige Historien von der /. . .] Jungfrauen Maria (Dillingen 1641) in drei Oktavbänden, eine reine Geschichtensammlung, und des Jesuiten Johannes Nadasi Annus coelestis Jesu Regi et Mariae Reginae (Wien 1663), bis in die Mitte des 18. Jh.s an vielen Orten oft und in vielen Fassungen für die Kongregationen in Kleinformaten und vielbändig als Taschenbrevier für den täglichen Gebrauch gedruckt und z.T. als Jahresgaben verschenkt. Hier werden Beispiele nicht breit erzählt, sondern ihre Kenntnis in den Gebetsanrufungen durch direkten Bezug vorausgesetzt, mithin das Motivrepertoire ständig wachgehalten, das bei anderer Gelegenheit, für die schließlich auch eigene Slgen entstanden, im Mittelpunkt von geistlichen Betrachtungen stand, z.B. die marianischen Samstagserzählungen (v. Kap. 3.5.). Ebenfalls für den Gebrauch der akademischen Kongregationen angefertigt worden ist das Calendarium eucharisticum sive perpetuus ss. eucharistiae cultus. Per quotidiana sanctorum exempla et monita propositus (Wien 1709, 2 1714) durch den Jesuiten Gabriel Hevenesi. In gleicher Tradition, aber für ein anderes Publikum steht das Werk des rhein. Pfarrers Johann Gottfried Roetz: Täglich eröffnete Schul der Liebe im hochw. Sakrament des Altars. Das ist Sacramentalisch Jahr-Buch, Worin die auff alle Tag des Jahres einfallende Heilige, Seelige oder sonst andächtige Verehrer deß hochwürdigen Sacraments durch ein aus dero Leben gezogenes Lehr-Stück zur täglichen Nachahmung vorgestellt werden (Köln 1726, 2 1751). Für die exempelreiche Traktat- und Predigtliteratur des 17. Jh.s mögen vier Werke stehen (drei davon bezeichnenderweise von Jesuiten), die wie E.Sammlungen benutzt werden konnten. Die kanonistischen Disquisitiones magicarum libri sex des Martin —»
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Delrio von 1599/1600 sind mit ihren vielen Auflagen der am meisten zitierte Hexentraktat gewesen, dessen 265 Beispielgeschichten aller Art als Tatsachenbeweise weitergereicht wurden. Des Jesuiten Georg —» Stengel Hauptwerk Opus de iudiciis divinis, quae Deus in hoc mundo exercet (Ingolstadt 1651 u.ö.) faßt seine schon früher erschienenen aszetischen Traktate zusammen, die allesamt narrative Anleitungen zur praktischen Frömmigkeit sein wollten und für die studierende Jugend gedacht waren. Sie enthalten fast 2000 Beispielgeschichten mit exakten Fundstellennachweisen. Stengel hatte gleichzeitig in drei Büchern sozusagen reine E.Sammlungen vorgelegt: Exemplorum libri tres (Ingolstadt 1650). Sein Ordensbruder Benignus —> Kybler gab in München 1678 einen Folianten mit Hunderten von E.n heraus und einem Register: Alle geistlichen und weltlichen Historien, so sich in diesem Werk befinden, das nicht bloß Predigthilfe, sondern auch ein ,angenem Hauß- und Leßbuch sein wollte und die katechetische Themenskala der kathol. Apologetik wiedergibt: Wunder-Spiegl Oder Göttliche Wunderwerck Auß dem Alt- und Neuen Testament zu einem beyhülfflichen Vorrath allerhand Predigen, So wohl für Sonntäg als andere Fest, Bevorab von dem H. Leyden Christ, dem Hochwürdigsten Sacrament, der Muetter Gottes, der Seelen in dem Fegfeur und den Abgestorbnen /. . ./. Schließlich sei noch eine marianische Predigtanleitung dieser Zeit mit gesondertem E.auszug erwähnt, Laurentius Lemmers Lauretanum Mariale, 42 Marienpredigten, beschrieben in alle Ehren-Titul, so die ohnfehlbare, wahre Cathol. Kirch der /. . .] Jungfrauen und Mutter Mariae gibt /. . .] worin fast über 200 E. von Maria (Würzburg 1687, Mergentheim 2 1690). 3.5. V o l k s s p r a c h i g k e i t , V o l k s l i t e r a t u r , V o l k s a u f k l ä r u n g . Die beiden letztgenannten Werke des späten 17. Jh.s deuten mit ihrer bewußten Hinwendung zu einem breiteren Lesepublikum eine Tendenz an, die jetzt erst wirksam werden sollte, trotz der frühen und zu ihrer Zeit erfolgreichen Ansätze des oben erwähnten Valentin Leucht um 1600. Die gewichtigen Standardwerke sei-
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ner Epoche, aber auch noch Späteres fanden erst im 18. Jh. Übersetzungen ins Dt., so Antoine d' —> Averoult (Hist. Catechismus. Augsburg 1730) und Georg Stengeis Judicia (Augsburg/Dillingen 1712, 2 1731), Philippe d' —> Outreman zwar schon Köln 1664, aber nur in einer einzigen Auflage. Nun aber wurden sogar die umfänglichen ital. SIgen jesuit. Marienexempel ins Dt. übertragen, nachdem im 17. Jh. lediglich der Schutzmantel Mariens in 52 Wundergeschichten mit sittlichen Bedenken seinem lieben Volk andachtsweis vorgetragen von dem Bischof von Gubbio Alessandro Sperelli (1671) schon 1679 zu Regensburg übersetzt worden war. Es sind dies die Marianische Schaubühne des Thomas Auriemma (Neapel 1657 u. ö., dt. von Dominik Bissel Augsburg 1707 und 1721), mit marianischen Samstagserzählungen zur Kongregationsandacht in 60 Kap.η geordnet mit Hunderten von Beispielverweisen und meist knapp erzählten Geschichten. Noch umfangreicher und handbuchartiger ist das Werk der beiden Jesuiten Giovanni Rho und Carolo Bovio mit je 100 und 200 Erzählungen der ital. Erstausgaben Rom 1655 und 1692, nun in Augsburg 1737 vereinigt unter dem Titel Marianischer Gnaden- und Wunderschatz. An handlicheren Büchern für jedermann kamen jetzt auch alle Wunderwerk-Slgen des ital. Jesuiten Carlo Gregorio —» Rosignoli auf den dt. Büchermarkt, und zwar in unmittelbarer Folge von nur einem bis zwei Jahrzehnten Abstand zu den Originalausgaben der Maraviglie di Dio, die um die bekannten Themenkomplexe Heiligenverehrung, Altarssakrament, Fegefeuer und Arme Seelen kreisen, in Centurien, also zu je hundert ausgelegt sind und einem festen Aufbauschema folgen: Bibelbezug, katechetische Exposition, Wundererzählung, Applicatio moralis: Wunderwerck Gottes in seinen Heiligen, auß ihrem Leben herausgezogen (ital. 1691, 1696, 1698, Augsburg/Dillingen 1705); Wunderwerck Gottes in dem Heiligsten Sacrament des Altars (ital. 1701, Augsburg 1725); Wunderwerck Gottes in dem Allerheiligsten Meßopfer (ital. 1701, Augsburg 1727); Wunderwerck Gottes in denen Seelen deß Fegfeuers 1 - 2 (ital. 1703, Augsburg 1722/24). In diese Zusammenhänge muß man das aszetische und erzählerische Lebenswerk des
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Martin von Cochem stellen. Darunter befinden sich zwei einschlägige Titel, die gerne miteinander verwechselt werden, in einzelnen Bänden schwer greifbar geworden sind und ζ. T. falsche Vorstellungen erwecken. Direkt Leuchts Viridarium regium von 1614 nachgebildet ist der 1. Band von: Außerlesenes History-Buch, oder ausführliche, anmuthige und bewegliche Beschreibung Geistlicher Geschichten und Historien (Dillingen 1687) mit den Kap.n: Von den wunderbarlichen Urtheilen Gottes, Von dem hochwürdigen Sacrament deß Altars, Von der allerseeligsten Jungfrauen Maria, Von der grossen Krafft deß hl. Rosenkrantzes, Von Verehrung der Bildnussen der Heiligen, Von der kräfftigen Fürbitt der Auserwöhlten, Von einigen unschuldig-verfolgten Gerechten, Von underschidlichen Exemplarisch Gedultigen, Und von vielen sonderbarer Weiß Freygebigen. In späteren Ausgaben kommen noch ein Kap. Arme Seelen, eines über Zauberei und eines ,Von trübseligen Manns- und Weibs-Personen' (das zeittypische Melancholie-Thema) dazu. Der 2. Band enthält einen Auszug aus der Kirchengeschichte des Baronius, darin keinerlei E. von der Art wie im 1. Band, die folgenden Teile, im Verlaufe des 18. Jh.s einzeln neu aufgelegt und bearb., bieten Heiligenviten nach Surius. Martin von Cochems 2., mehrbändige Geschichtensammlung ist hingegen ein durchgängiges nach Sachschlagworten aufgebautes Beispielbuch mit leicht verwechselbarem Titel: Lehrreiches History und E.buch, nach dem Alphabet beschrieben (Dillingen 1696—1700), in vier ungleich bearb. Bänden und trotz mehrerer Auflagen heute in öffentlichen Bibl.en vollständig nirgends mehr vorhanden, so sehr traf gerade diesen Namen und diese Gattung die Verachtung der Aufklärer. Sein wahrer Schreiberfolg waren aber seine Andachtsbücher, und so sticht Martin Pruggers E.katechismus im 18. Jh. und darüber hinaus deutlicher hervor als ein Erfolgsbuch mit offensichtlicher Breitenwirkung. Hieran schließen sich nur noch die beiden sehr selten gewordenen E.slgen des regulierten Chorherren Dominicus —> Wenz: Christi. Jugend Nutzlicher Zeitvertreib. Das ist: Lehrreiches E.-Buch (Konstanz 1726—30) und vermehrt als Lehrreiches E.-Buch, Das ist: Auserlesene /. . .] lehrreiche Fabeln zur
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Aufmunterung Christ-Cathol. Jugend, wie auch denen Erwachsenen zu ihrer Seelen-Heil, ein nutzlicher Zeitvertreib als ein Haus- und Les-Buch (Augsburg 1757, 4 1793). Diese Art Volksschriftstellerei war zu Ende des Jh.s endgültig verpönt. Nur bei Martin von Cochem aber läßt sich ein solcher Begriff auch vom literar. Gestaltungswillen her mit gutem Recht anwenden, so sehr auch die übrigen Autoren wirklich ins Volk gewirkt haben dürften, jedoch nur indirekt über ihre Beispielsammlungen. Allein bei dem Kapuziner findet sich das Anliegen nicht bloß in der Titel- und Vorreden-Topik, sondern er versucht darstellend und gestaltend Leser und Hörer zu gewinnen. Er weiß um Eigenheiten und Wirkungsmöglichkeiten für sein spezielles Publikum. Er möchte statt Frontalunterricht ,Recreation' bieten und dies gegen die auf dem Dorfe übliche ,Wirtshauskurzweil' setzen. Er schreibt nicht für ,Lateiner und Gelehrte', sondern für ,Teutsche und Unstudierte', für ,Burgers- und Bauersleut', und er bestimmt seine dicken Quartbände zugleich ausdrücklich zum Vorlesen für die Analphabeten auf dem Lande, wo er selbst lange genug als Missionsprediger tätig war. Die kirchliche —> Aufklärung hat diese Bücher allesamt in die Ecke gestellt, nicht aber das narrationsdidaktische Konzept der Volksbelehrung, vielmehr eigene ,nützliche' oder moralische Erzählungen zusammenzutragen, zu erfinden und zu popularisieren gesucht. Von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jh.s fehlt es daher an neuen Titeln und insgesamt an Aufmerksamkeit und Pflege der hier vorgestellten Lit.gattungen und ihrer katechetischen E.praxis. 3.6. W i e d e r b e l e b u n g u n d W a n d e l im 19. Jh. In allen Bereichen des volkswirksamen Lebens der kathol. Kirche in Mitteleuropa setzt das, was mit dem Epochenbegriff ,19. Jh.' bezeichnet wird, kurz nach 1840 als eine Konsolidierungsbewegung ein, und dies läßt sich vor allem auf dem Felde des Buchwesens ablesen. An direkten Rückgriffen oder bewußten Anknüpfungen an Vergangenes ist für die nun wieder eifrig gepflegte lehrhafterbauliche Geschichtenliteratur nur auf wenige, oben schon erwähnte Autoren und Titel zu verweisen, wenngleich die geistliche Kurz-
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erzählprosa des Barock insgesamt ein gewichtiger Qu.nfundus blieb. Ziemlich am Anfang steht der niederösterr. Weltpriester Joseph Gabler mit seinem zu Regensburg 1852 aufgelegten Der große Spiegel. Ein kathol. Beispiellexikon. Aus alten und neuen Qu.η bearb. 1—2 nach Johannes Maiors Magnum Speculum (von Gabler verwendete Ausg. 1701), mit nur 541 übernommenen Geschichten auf ein gutes Drittel gekürzt und durch 136 neue Beispiele des 17. bis 19. Jh.s ergänzt. — Um diese Zeit erlebte in der Diözese Brixen Martin Pruggers Lehr- und E.buch, mehrfach bearb., zu Innsbruck 1854 seine 22. Aufl. seit dem 18. Jh., hier herausgegeben von Nikolaus Schönherr, ohne allerdings nach Mitteleuropa neuerlich bes. wirksam zu werden. Aber mit ihm war die Tradition der E.katechismen nicht abgerissen, und nachdem sie nun von der Katechetik allerorten wieder empfohlen wurde, gab es neue Zusammenstellungen. Der Salzburger geistliche Schulmann Johann Evangelist Schmid gab in 6. Aufl. zu Schaffhausen 1851/55 drei Bände heraus: Hist. Katechismus oder der ganze Katechismus in hist.-wahren E.n für Kirche, Schule und Haus ( 1 1848) und der Jesuit Joseph Deharbe: Populäres Lehrbuch der Religion oder der kathol. Katechismus durch Gleichnisse und Beispiele erläutert mit steter Berücksichtigung unserer Zeit. Ein Lesebuch für christl. Familien und ein Hb. für Katecheten (Münster [Westfalen] 1851). — Ein groß angelegtes systematisches Nachschlagewerk stellte der Regensburger Geistliche und Herausgeber der Zs. Prediger und Katechet (1851 sqq.), Ludwig Mehler, zusammen: Beispiele zur gesammten christkathol. Lehre. Nach der Ordnung des Katechismus von P. Canisius. Eine Materialien-Slg für Religionslehrer, Katecheten und Prediger, und ein Hausbuch für christl. Familien 1-5 (Regensburg 1847, 6 1871). Ihm folgte später das große Kompendium innerhalb der Herderschen Bibl. für Prediger (ed. A. Scherer): E.lexikon für Prediger und Katecheten, der Hl. Schrift, dem Leben der Heiligen und anderen bewährten Geschichtsquellen entnommen, einst begonnen von dem Brixener Fürstbischof Bernard Galura und von Augustin Scherer, dem Benediktiner des Stiftes Fiecht in Tirol, in Fbg 1871 erstmals publiziert (2. verm. Aufl., t. 1 - 4 , Fbg 1 9 0 6 -
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09, von seinem Ordensbruder Johann Baptist Lampert betreut). Noch länger überlebte das einbändige Werk aus der Feder des Prager Schulrates Franz Spirago: Beispiel-Slg für das christl. Volk insbesondere für Prediger und Katecheten (Lingen [Ems] 5 1918, 6 1926), mit Übers.en ins Frz., Engl., Poln., Tschech., Ital., Span, und Ung. Es ist dies ein fast 2000 Geschichten umfassender Beispielband zu dem erfolgreichen Kathol. Volks-Katechismus desselben Autors, erstmals 1893 in Trautenau erschienen, als er dort Religionsprofessor an der Lehrerbildungsanstalt war, bis in die Mitte der 20er Jahre des 20.Jh.s in 13 Sprachen übers, und in 10 dt. Aufl.η erschienen. Die Beispiel-Slg folgt ihm Kapitel für Kapitel mit Erzählungen aus der nachreformator. Kirchen· und Frömmigkeitsgeschichte einschließlich des 19. Jh.s und der Gegenwart. — Es waren immer wieder Religionslehrer, die derartige Kompilation für nützlich hielten und um deren Markt wußten. Hermann Rolfus, Pfarrer am Kaiserstuhl, ist einer der literar.pädagogischen Wortführer seiner Zeit auf dem Felde der Jugendlektüre und des kathol. Leseangebots gewesen. Von ihm stammt u. a. ein Kathol. Hauskatechismus. Zugleich ein Christenlehrbuch für Religionslehrer und Seelsorger (Einsiedeln 1891). Hierher gehört schließlich noch aus Österreich Vital Humann: Katechetisches Lehr- und Lesebuch. Erklärungen und Beispiele zu den einzelnen Passagen des kathol. Katechismus. Zum Gebrauche beim Religionsunterrichte (Graz 1913). Als Jüngster in der Büchergattung bleibt zu erwähnen Josef Fattinger: Der Katechet erzählt. Beispielsammlung für Schule, Haus, Kanzel und Beichtstuhl in Anlehnung an den neuen österr. Katechismus (t. 1 Ried 1934 [ 6 1936], t. 2 1935, t. 3 1937). Neben den vielbändigen Handbüchern gab es im 19. Jh. wiederum auch thematische Erzählkompendien, weshalb die oben besprochenen Wunderwercke des Italieners Carlo Gregorio Rosignoli aus der Zeit um 1700 eine ital. Gesamtausgabe zu Neapel 1859 erfuhren, nach denen in Frankreich ab 1860 zu Tournai, Montauban und Bordeaux neuerliche Übers.en in Einzelausgaben stattfanden: Les Merveilles divines. Eine eigene Lit. dieser Art rankt sich um Maria und steht im Zu-
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s a m m e n h a n g mit d e m D o g m a der u n b e f l e c k ten E m p f ä n g n i s v o n 1 8 5 4 . B e s . zu n e n n e n ist der 7 5 0 Seiten u m f a s s e n d e , a n o n y m ers c h i e n e n e Foliant mit e i n e m V o r w . d e s schon erwähnten Ludwig Mehler: Liebfrauengarten. Geschichtliche Beispiele, Legenden, Sagen, Parabeln und Gleichnisse von der Macht und Güte der allerseligsten Jungfrau und Gottesmutter Maria und ihrer Verehrung (Regensburg 1 8 6 4 ) . D a s B u c h bietet unter den fast 2 0 0 0 Erzählungen sehr viele zeitgenössische G e s c h i c h t e n , die aus den seit e i n e m Vierteljahrhundert florierenden kirchlichen Zeitschriften und erbaulichen —> Kalendern g e zielter kathol. Verlagsarbeit g e z o g e n w o r d e n sind. Breitenwirksamer wurden allerdings der L e s e t y p u s d e s repräsentativ ill. H a u s b u c h e s und die Lektürebüchlein im T a s c h e n f o r m a t nach d e m Prinzip der R e i h e n e d i t i o n zu ganz speziellen T h e m e n . Für b e i d e Bucharten gab es Erfolgsautoren. Es s e i e n hier allein die b e i d e n fruchtbarsten für j e d e Gattung beispielhaft genannt: G e o r g Ott und Joseph A n t o n Keller. Der Oberpfälzer Pfarrer Georg Ott ( 1 8 1 1 - 8 5 ) schrieb für den Verlag Pustet in Regensburg u. a. eine über 30mal aufgelegte Heiligen-Legende (U855); das frömmigkeitsgeschichtlich hochinteressante Marianum (1859): eine große Slg von Marienexempeln; sehr viel später dazu erst ein zeittypisches Josephibuch /. . .] in sehr vielen Geschichten und Beispielen aus alter und neuer Zeit. Ein Hausbuch für jede christl. Familie (1873); dann ein Eucharistiebuch. Wunderbare Begebenheiten und Erzählungen (1869, 5 1906). Sein letzter und 14.Titel lautet: Leidensblume aus dem Garten der Heiligen. Ein E.- und Erbauungsbuch für alle Betrübten und Leidenden (posthum 1888). Der Verlag Pustet stattete all diese großformatigen und dickleibigen Werke mit Xylographien aus und ließ sie in großen Gebetbuchlettern setzen, damit vor allem Junge und Alte darin blättern und lesen sollten. Von anderer Art sind die Büchlein des eine Generation jüngeren bad. Pfarrers und Schulmannes Joseph Anton Keller (1840—1916), der vor allem für den Verlag Kirchheim in Mainz schrieb, obgleich er in Fbg von 1 8 8 0 - 1 9 0 2 das Magazin für Pädagogik herausgab. Darum kannte er bes. gut die kathol. Presse, aus der er u. a. seine Beispielreihen zusammentrug und sozusagen je hundertweise zu speziellen Themen publizierte. Aus seiner ca 150 Originaltitel umfassenden Bibliogr. seien von diesen Mainzer Büchlein genannt: 150 Armenseelen-Geschichten. Ernster Spiegel für jeden Christen (1885, 5 1906). - 210 (letzte Aufl.: 220)
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Engelgeschichten zur Belebung des Vertrauens (1885, 3 1901). - 150 Marien-Geschichten ( 2 1886, 3 1889). — 280 Beispiele zu den sieben Werken der leiblichen Barmherzigkeit (1889). — 370 Beispiele zu den sieben Werken der geistlichen Barmherzigkeit (1890). - 300 (320) Strafgerichte Gottes (1886, 2 1891, 3 1913). - 180 lehrreiche und erbauliche Beispiele zum hl. Sakrament der Ehe (1896). 140 merkwürdige und ergreifende Beispiele von Helden und Märtyrern der Keuschheit aus allen Jh.en. Ein Spiegel für Ledige und Verheiratete (1896). - 72 (200) (240) Erzählungen zum Lob und Preis des heiligsten Altarssakraments (1885, 3 1898, 4 1905). - 70 (130) Beweise von den Segnungen des hl. Bußsakramentes und Märtyrer des Beichtsiegels. Eine Verteidigungsschrift dieses hl. 2 Sakramtes in Beispielen (1887, 1899). - 100 Höllengeschichten (1889, 3 1908). - 50 (56) (150) merkwürdige Geschichten von der Macht und Fülle des hl. Joseph (1885, 2 1886, 7 1911). - 223 ausgewählte Beispiele zum 8. Gebote Gottes (1912). Lit.: Brückner, W.: Der kaiserliche Bücherkommissar Valentin Leucht. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 3 (1960) 9 7 - 1 8 0 . - Schenda, R.: Dominicus Wenz, ein Öhninger Erzähler des 18. Jh.s. In: Dorf und Stift Öhningen. ed. H. Berner. Singen 1966, 2 3 2 - 2 4 0 . - id.: Stand und Aufgaben der Exemplaforschung. In: Fabula 10 (1969) 6 9 85. - Alsheimer, R.: Das Magnum speculum exemplorum als Ausgangspunkt populärer Erzähltraditionen. Ffm./Bern 1971. - Hebenstreit-Wilfert, H.: Wunder und Legende. Studien zu Leben und Werk des Laurentius Surius. (Diss. Tübingen 1972) Tübingen 1975. - Fischer, E.: Die „Disquisitionum magicarum libri sex" von Martin Delrio als gegenreformator. E.-Qu. Diss. Ffm. 1975. - Brückner, W.: Geistliche Erzähllit. der Gegenreformation im Rheinland. In: Rhein. Vierteljahresbll. 40 (1976) 1 5 0 - 1 6 9 . - Hinten, W. von: Wundererzählungen als E. bei dem Jesuiten C. G. Rosignoli. In: Jb. für Vk. N. F. 3 (1980) 65—74. — Brunold-Bigler, U.: Das Lektüreangebot für Katholiken des 19. Jh.s dargestellt am Beispiel der Schweiz. Kirchenzeitung. In: Jb. für Vk. N. F. 5 (1982) 1 6 9 - 2 1 2 . - Metzger, W.: Beispielkatechese der Gegenreformation. Georg Voglers „Catechismus in Außerlesenen E . n " Würzburg 1625. Würzburg 1982. - Schneider, Α.: Narrative Anleitungen zur praxis pietatis im Barock. Dargelegt am E.gebrauch in den „Iudicia divina" des Jesuiten Georg Stengel. Mit einem E.katalog 1 - 2 . Würzburg 1982. - Brückner, W.: Erzählende Kurzprosa des geistlichen Barock. Aufriß eines Forschungsprojektes am Beispiel der Marienlit. des 1 6 . - 1 8 . Jh.s. In: Ö Z f V k . N. S. 37, 3 (1983) (im Druck). — Hahner, G.: E.gebrauch im Lauretanum Mariale des Laurentius Lemmer. Würzburg 1687. Würzburg 1983. Würzburg
W o l f g a n g Brückner
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Exemplum
Exemplum 1. Begriff, Forschungsansätze und -problerae — 2. Ε. in der Wiss.smethodik — 3. E. in der Rhetorik seit der Antike — 4. Inhaltliche Abgrenzung des E.s — 5. Ende des E.s
1. B e g r i f f , F o r s c h u n g s a n s ä t z e u n d - p r o b l e m e . E., wörtlich .Beispiel', wird von der mediävistischen, literaturhist., theol. und folkloristischen Erzählforschung einseitig als narrative Minimalform definiert, die einen abstrakten, theoretischen oder thesenhaften Textsinn konkret beleuchtet (illustrare), die in diesem enthaltene Aussage induktiv beweist (demonstrare) und damit sowohl eine dogmatische oder didaktische Interpretationshilfe schafft als auch — je nach dem das E. bestimmenden Kontext — mit moralisierender Implikation zur Belehrung, Erbauung oder Unterhaltung des Rezipienten (Lesers, Hörers) beiträgt (delectare) 1 . Ziel des E.gebrauche ist die auf seiner Überzeugungskraft (persuasio) beruhende Aufforderung, sich am beispielhaften Vorbild zu orientieren (imitatio). Das E. begegnet in verschiedenen Anwendungsebenen und Funktionsbereichen. Es ist keine eigene, für sich lebensfähige literar. Gattung — als solche fehlt es darum bei A. Jolles' —> Einfachen Formen —, sondern seit der Antike Teil einer aus der Gerichtsrede hervorgegangenen Argumentationstechnik, die sich grundsätzlich — im Gegensatz zu den Auffassungen von A. —» Wesselski oder H.-J. Neuschäfer 2 — nicht nur auf den religiös-erbaulichen, sondern auch auf den von der Narrativistik bislang weitgehend unerschlossenen wiss. Textzusammenhang bezieht 3 . Die Priorität des E.s als .religiöser Beispielerzählung' wurde vornehmlich geprägt durch die seit der Edition der Disciplina clericalis (F. W. V. Schmidt. B. 1827) und die in der Nachfolge J. T. —>• Welters 4 und A. Wesselskis5 erschlossene und inzwischen teilweise in Monographien und Katalogen aufgearbeitete theol. Predigt- und E.literatur (—» Exempelsammlungen), die moralischen Wegweiser und populären Erbauungsbücher (—> Erbauungsliteratur, —> Predigt, —> Predigtmärlein) 6 . Unter der Prämisse des literar. fixierten Frühbelegs für seit dem 19. Jh. als volksläufig
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erachtete Erzählstoffe und -inhalte, der mündl. und schriftl. Weitergabe an einen breiteren Rezipientenkreis und der Rekonstruktion von Konstanz und Traditionswegen 7 vollzog man dies allein mit der religiösen Lit. des MA.s, der Reformation und Gegenreformation, allerdings am begrenzten Objekt. Schon vor Schmidt hatten J. und W. —» Grimm die barocken Predigten —» Abrahams a Sancta Clara (Grimm DS 142: Jungfrausprung), reformatorische E.sammlungen wie Andreas —> Hondorffs Promptuarium exemplorum (Lpz. 1568; Grimm DS 245: Die Kinder zu Hameln) oder ma. Naturgeschichten wie -» Thomas Cantipratanus' Miraculorum et exemplorum memorabilium sui temporis libri duo (Douai 1597; Grimm DS 354: Das von den Juden getötete Mägdlein) als Quellen .populären' Erzählgutes erkannt und durch Einbeziehung in ihre Sagensammlung für spätere Unters.en gattungsmorphologische Weichen gestellt. So brachte die Erfassung religiöser Beispielmaterien der E.forschung nicht nur den Vorwurf ein, Teilgebiet der Frömmigkeitsgeschichte zu sein8, sondern zwang immer wieder zu einem definitorischen Zirkelschluß. R. —»• Schenda lehnte zwar 1969 in seinem Zwischenbericht zur Forschungsgeschichte die Einengung des E.begriffs auf die Predigt entschieden ab 9 , gewann aber auf der Grundlage der kontroverstheol., unterweisenden und erbauenden religiösen Lit. nur geringen neuen Spielraum für eine umfassendere Gattungs- und Funktionsbestimmung: das E. sei eine „didaktische Proposition mit moralisierender Tendenz", die zu „allen Zeiten moralisch aufbauen" wolle, und „ein unterhaltsam vorgetragenes Lehrstück" zur Hebung der Sittlichkeit 10 . Ähnlich ordnete P. Assion 1978 das E. der „Sprachintention .Belehrung'" zu 11 . Diese einseitige Definitorik resultiert vorrangig aus der forschungsgeschichtlichen Erschließung der E.literatur: Seit F. Pfeiffer 1858 erstmals den Zusammenhang des E.s mit der Predigt aufgezeigt hatte 12 , folgten zahlreiche Arbeiten von T. F. —> Crane 13 und J. Bolte 14 über J. A. Mosher 15 und G. Frenken 16 bis hin zu E. —> MoserRath 17 , H. Wolf 18 , A. Riising19, H. Schade 20 , Ε. H. Rehermann 21 und W. Beck 22 zum E.gebrauch in der homiletischen und didaktischen Lit. des MA.s und NachMA.s.
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Exemplum
1962 versuchte F. C. —» Tubach in der Nachfolge Cranes, die religiöse Beispielerzählung des MA.s als ,protoexemplum' zu isolieren und für die Zeit vom 13. bis zum 15. Jh. den inhaltlichen Wandel des E.s vom Moralisch-Erbaulichen zum Humoresken festzustellen 23 . 1968 untersuchte er das E. erneut unter den Aspekten „Erzähldominante" und „Bezugsrahmen" 24 . Im gleichen Jahr nahm H. —» Bausinger die von Tubach beobachtete Veränderung auf, verwies aber auf die Kontinuität der Erzählelemente des E.s, die zwar durch veränderte Realität und Realitätsauffassung beeinflußt, deren Grundstruktur aber beibehalten worden sei 25 . Andererseits war die folkloristische Erzählforschung darum bemüht, das E. sowohl nach Gattung (Märchen, Sage, Legende, Schwank, Fazetie, Anekdote) wie nach Inhalt (dämonologisches Erzählgut, Wunderberichte etc.) zu erfassen. Dabei trat die heute als sensationell empfundene, früher aber als Teil der Wirklichkeit erfahrene Sphäre des Wunderbaren (miracula, mirabilia, admiranda) unverhältnismäßig stark in den Vordergrund des Interesses. Unter dieser Voraussetzung befaßte sich H. D. Oppel mit E. und Mirakel26, während Assion auf der Grundlage von —» Mirakelliteratur der bildhaften Überzeugungskraft des E.s „agitatorische Absichten" zuschrieb 27 und W. von Hinten anhand der Wundergeschichten des Jesuiten Carlo Gregorio —> Rosignoli den E.gebrauch zu einer Spätform sensationellen Denkens in gegenreformatorischem Missions- und Überzeugungszusammenhang verabsolutierte 28 . Gegen solche auf einseitiger Materialbasis beruhende E.forschung hatten schon zuvor etwa R. Alsheimer 29 und C. Gerhardt 30 den Vorwurf erhoben, das E. werde aus seinem Kontext isoliert und weder die strukturelle Integration noch die ,applicatio moralis', der entscheidende Ansatzpunkt für Ausw. und Benutzung, berücksichtigt. Ohne ganzheitliche Interpretation aber kann weder die „Konstitution des narrativen Textes" noch die Funktion, der durch das E. erzielte pragmatische Konnex, erklärt werden 31 . Zwar wurden schon im ausgehenden MA. die ,moralisationes' gekürzt oder fielen gelegentlich ganz weg; doch erst die erbaulichen Appendices machen das E. als zweckgebundene Gat-
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tung offenkundig, was ein Beispiel ma. Verwendungspraxis erweist: Während einige Hss. der —» Gestα Romanorum die Erzählung von Alexander dem Großen, der einen die Stadt bewachenden —> Basilisken durch einen vorgehaltenen Spiegel tötete (cap. 139), mit De basilisco et speculo thematisch überschreiben, tun dies andere funktional mit De superbia oder De humilitate32. Schon 1971 aber hatte H. Breitkreuz auf der Basis einer ganzheitlichen Textanalyse die Unters, der Strukturwirksamkeit und erzählerischen Leistungsfähigkeit des E.s innerhalb eines Romangefüges gefordert 33 . Ähnlich schlug W. —»• Brückner 1974 vor, die verengende Kategorisierung von E. als religiöser Beispielgeschichte aufzugeben und den Charakter des Exemplarischen aus dem Erzählzusammenhang zu bestimmen 34 . Zum anderen fixierte sich die Utilitätsbeschreibung unter Berufung auf die gregorianische Doktrin von der größeren Wirksamkeit der konkreten Beispielerzählung eindimensional an der persuasiven moralischen Funktion: Das E. religiösen Inhalts muß eine intellektuelle Unterschicht durch Affektion überzeugen 35 . Dabei erweist sich die von diesem E.verständnis abgeleitete Unterscheidung von E. und anderen Erzählformen moralisierender Intention wie Fabel, Parabel und Anekdote 36 als überflüssig, da alle diese Gattungen nach der sich differenzierenden, in den Vorworten der Exempelsammlungen und Predigtwerke von den einzelnen Verf.n gegebenen Rechtfertigung als E. Anwendung finden können. Neue Anregungen zur E.forschung sind allerdings von einer intensiveren Unters, des Ordnungsprinzips der —> loci communes 37 , der praktischen Exzerpiertechnik 38 und der theol. Narrativistik zu erwarten 39 . Neuansätze und Probleme eines Katalogisierungsprinzips des E.s zeigte anhand der Beispielmaterien des Protestant. Predigers Johann Jacob Otho (1629-69) W. Beck auf 40 . Eine umfassende E.definition darf sich daher nicht nur auf den konkreten Anwendungsbereich eines bestimmten Autors, eines konfessionellen oder zeitlichen Zusammenhangs beschränken, sondern enthält eine Vielzahl verschiedener Verwendungsmöglichkeiten und Bedeutungsebenen, die nicht
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nur die religiöse Beispielliteratur, sondern auch das wiss. Schrifttum sowie das Bildungswesen generell einbeziehen. 2. E. in d e r W i s s . s m e t h o d i k . In Analogie zur —> Etymologie und zu den loci communes als ,Denkform' 41 kann der literar. Umgang mit Exempla prinzipiell als eine Methodik interpretiert werden, durch die eine bestimmte Denk- und Ordnungsform von argumentativer und beweisender Funktion in die Praxis übertragen wird. Was aber als religiöse Beispielmaterie von der hist. Erzählforschung erfaßt wurde, war letztlich Objektivation wiss. Theozentrik und einer Gott als Ausgangsund Mittelpunkt erfahrenden Welt- und Natursicht. Dieses statische Wiss.sverständnis sowohl des MA.s wie der beginnenden Neuzeit argumentierte nämlich retrovers: Wiss. vollzog sich nicht im Streben nach der Entdeckung neuer Kausalzusammenhänge, wie es später im ,curiositas'-Begriff angestrebt wurde, sondern in der Tradierung und Kommentierung kanonisierter Texte jeglicher Art (auctoritates) 42 . Sie zielte primär nicht auf Änderung eines Axioms, sondern auf dessen Bestätigung durch das Schaffen einer breiteren Interpretationsbasis und durch Auffinden bestätigender neuer Quellen. So wird etwa in der Vita Severini (511) des Eugippius die Glaubwürdigkeit der Geschichte von drei Mönchen, die der hl. Severin dem Teufel übergab, um ihre Seele zu retten, durch zwei ähnlich gelagerte Fälle aus der Patristik vertieft 43 . Innerhalb dieser Verfahrensweise diente das E. als Traditionsträger konkreten Wissens um hist. Fakten und allg.gültige Wahrheiten, verbunden mit der Theorie vom Exemplarischen im Menschen und den von ihm berichteten Taten; die Geschichte war das moralische Leitbild (historia magistra vitae; Cicero, De oratore 2, 9, 36). Daraus erklärt sich nicht nur die persuasive, sondern auch und vor allem die imitative Funktion des E.s. Die Konstanz des ma. Bildungshorizontes wird durch diese Tradierung des Beispielhaften verständlich, das sich allerdings nicht nur auf die Moralität der Geschichte, sondern auch auf die konkreten Vorzüge der sich anzueignenden Sache bezog. Damit tritt das E. aus dem ausschließlich narrativen Bereich und wird zum
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Bildungssystem schlechthin: nicht nur als Mittel der handelnden (ethischen), sondern auch der sprachlich-stilistisch-rhetorischen Nachahmung (imitatio) 44 . Die nach literar. Vorzügen (virtutes) ausgewählten Autoren (Quintilian 10, 1, 37) 45 geben durch ihre Werke ein ,lectionis exemplum' für grammatische Sprachrichtigkeit, Stil und literar. Gestaltung (Quintilian 10, 1, 2 - 3 ) 4 6 . Noch im 17. Jh. bestimmten Lehre (praecepta, doctrina), Beleg (exemplum) und Nachahmung (imitatio) als Dreigespann das Wiss.s- und Lehrsystem 47 . Dem ist die weitgehend konstante Überlieferung autorisierter und damit kanonisierter Lehrmeinungen durch das illustrierende E. über das Medium des sprachlichen Vorbildes zu verdanken. Daß in diesem Traditionsdenken die sich in Latein äußernde Wiss., vermittelte Inhalte und ethische Implikationen fest miteinander verwoben sind, zeigt Lorenzo Vallas Oratio [. . .] habita in principio sui studii die XVHI Octobris MCCCCL K48: In dem von der lat. Sprache geschaffenen konkreten Raum des Handelns entwickle sich das geschichtliche Bewußtsein, die Bedeutung der geschehenen Handlungen im Hinblick auf das jetzige Handeln, das ,E.' des Menschlichen; „es gibt keinen anderen Grund für dieses Werk der Geschichtsschreibung, als daß es uns durch Beispiele lehrt" (2, 6). Geschichtsschreibung sei daher die Summe menschlicher Weisheit sowohl für die Theorie wie für die Praxis der civitas, die ihrerseits Ursprung der Ethik sei (1, 63 3) 49 .
Wie die religiös-erbauliche bedient sich auch die wiss. Lit. des E.s als Argumentationshilfe. Dennoch sind juristische Hbb. wie die des Martin —> Delrio 50 oder des Johannes —» Weyer 51 , naturphil. Kompilationen wie die des Bonifatius Bagatta S2 , Athanasius —» 53 Kircher oder Kaspar Schott 54 keine E.Sammlungen, sondern mit Autorität verfaßte Sehr., aus denen sich die Praktiker der Predigt- und Erbauungsliteratur nicht nur die Beispiele, sondern auch die Rechtfertigung der ,Veritas' (ν. unten) holten 55 . Hier lassen sich mehrere Methoden der E.anwendung unterscheiden; wie in der religiös-erbaulichen Lit. steht das E. adhäsiv im Kontext, dient aber vorrangig nicht der moralischen, sondern der wiss. Applikation. Es vermag z.B. innerhalb von Arzneibüchern promulgatorischen 56 oder — wie bei Johannes Coler (1566—1639)
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- demonstrativen Zwecken zu dienen: Um z.B. Kraft und Wirkung des Essigs zu untermauern, verweist er auf Hannibal, der während seines Zuges über die Alpen Felsgestein dadurch sprengte, daß er es erhitzte und mit Essig übergoß 57 . Andererseits kann das E. inhäsiv selbst zur Diskussionsmaterie (causa) werden. Dies trifft vorwiegend auf wiss.-monographische Sehr, zu, die einen als existent und real erachteten Fall nicht als Beweis innerhalb einer rhetorischen Argumentation, sondern als Grundlage zur Theorienbildung für eine wiss. Ableitung aufgreifen 58 . Solche Fallberichte können durch ähnlich gelagerte andere Ereignisse gestützt oder durch Gegenbeispiele widerlegt werden. Die Mikroelemente der Erzählstruktur verschieben sich, und die moralische Applikation entfällt: 1570 verkleideten sich auf dem hohenlohischen Schloß Waidenberg drei Edelleute als Satyrn, indem sie sich Werg und anderes leicht brennbares Material auf die Haut klebten; sie verbrannten bei lebendigem Leibe. Während der Prediger Wolfgang —» Rauscher diesen berühmt gewordenen Fall der Waldenberger Fasnacht als abschreckendes Beispiel für die bösen Folgen exzessiver „Mummereyen in der Faßnacht" erzählt, zieht der Kuriositätensammler Johann Petrus Schmidt ihn als bloßen Brauchbeleg für Maskeraden heran 59 . Dieser Vergleich der Verwendung desselben Beispiels in zwei funktional und strukturell unterschiedlichen Gebrauchssituationen verdeutlicht, daß — anders als bisweilen angenommen — eine Moral des E.s nicht in der Geschichte selbst, sondern in der spezifisch auslegenden Anwendung (Moralisation) liegt 60 . 3. E. in d e r R h e t o r i k seit d e r A n t i ke. Solange das Bildungssystem durch eine Rhetorik beherrscht wurde, deren Funktion in der persuasio bestand 61 , wurde die bereits in der Antike voll ausgebildete E.theorie im wesentlichen unverändert tradiert und nur auf neue Anwendungsbereiche hin unwesentlich modifiziert 62 . Zum E. in der antiken Rhetorik liegt eine Reihe wichtiger Einzelunters.en vor 63 , während das Problem der Rezeption antiker E.theorien durch die Kirchenväter, den Juristen Gratian (4./5. Jh. p. Chr. n.) und
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das MA. noch nicht die ihm gebührende Beachtung erlangte 64 . Weder J. T. Welter noch T. F. Crane füllen diese Lücke 65 . Die poetischen und rhetorischen Schriften des Aristoteles (384/83-322/21 a. Chr. n.) 66 blieben durch die Hb.tradition der Antike und die lat. Autoren 67 für die ma. Figurenlehre ähnlich wirksam wie die Cicero (106—43 a. Chr. n.) zugeschriebene Rhetorica ad Herennium68 sowie Ciceros Schriften De inventione69 und Rhetorica10, die über Augustinus (354—430 p. Chr. n.) die ma. Rhetorik nachhaltig beeinflußten. Von überragender Bedeutung vor allem für das NachMA. wurde jedoch die Institutio oratoria des Marcus Fabius Quintilian (ca 35—ca 96 p. Chr. n.) 71 , die von verschiedenen Rhetorikern, etwa Chirius Fortunatian (475. Jh. p. Chr. n.) oder Julius Victor (4. Jh. p. Chr. n.), benutzt und damit dem MA. bekannt gemacht 72 , von —> Poggio erwähnt 73 und erstmals 1470 in Rom gedruckt wurde 74 . Aber nicht nur die zahlreichen QuintilianAusg.n bis ins 18. Jh. sprechen für deren Bedeutung; auf die E.theorie der Institutio oratoria bezogen sich die rhetorischen Werke sowohl des Leidener Rhetorikprofessors Gerhard Johannes Vossius (1577—1649) 75 , die als vorgeschriebene Lehrbücher an Protestant. Gymnasien von der Mehrzahl der Protestant. Barockautoren gelesen wurden, als auch des port. Jesuiten Cyprianus Soarez (gest. 1593) 76 und seines Ordensbruders Jakob Masen (1606—81), die eine ähnliche Stellung im jesuitischen Bildungswesen einnahmen 77 . Die Tradierung antiker Rhetoriklehren bis ins späte 18. Jh. garantierte eine weitgehende Konstanz des E.begriffs. Unterschiedliche Bedeutungsverschiebungen bei der Anwendung des E.s durch ma. und nachma. Autoren entsprangen daher nicht nur den geänderten hist. Erfordernissen, sondern ließen sich auch mit der Komplexität antiker E.theorie begründen, die mit exemplum zuerst das hervorragende Beispiel eines Menschen sowohl im positiven (virtutes) wie negativen Sinn (vitia) meinte. Nicht die Personen, sondern deren Eigenschaften (qualitates) waren zuvorderst Gegenstand des Interesses und wurden als solche gesammelt, so etwa von —» Valerius Maximus in der meistbenutzten Exemplasammlung der Antike, den im 1. Jh. p. Chr. n.
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enstandenen Factorum ac dictorum memorabilium libri IX18. Im Zuge der röm. Auseinandersetzung mit der griech. Ethik übernahm die phil. Disputation solche ,virtutis exempla' (Quintilian 12, 2, 29sq.) 79 , die damit zum allg.gültigen ethischen Beispiel wurden, das sich nun sowohl auf die Tat wie auf den Bericht davon bezog 80 . Bedeutsam für die E.theorie von MA. und NachMA. ist bereits die antike Identifikation des ,virtutis exemplum' mit dem Menschen selbst, der zum Beispiel einer Eigenschaft wird (imago, eikön; ζ. B. Cicero, De oratore 1, 229) 81 . So bezeichnet für den in der Tradition von Donatus und Diomedes stehenden —»Isidor von Sevilla (gest. 636) Paradigma die beispielhafte Tat oder Aussage eines Menschen 82 . Tugendhaftes Verhalten, so der Jesuit Georg —> Stengel (1585-1651), sei über den Weg des E.s leichter zu erzielen als über regelhafte Lehre (praecepta); werde nämlich das, was nahezubringen ist, in der beispielhaften Tat sichtbar, so fände die in dieser Form dargebotene Lehre sehr viel schneller Anwendung und Nachvollzug. Jesus selbst sei gleichsam das Urbild für diese Verbindung von Wort und Tat, Lehre und Beispiel83. Dahinter wird zugleich ein die gesamte Geschichte der Anwendung des E.s als rhetorischer Kunstfigur prägendes psychol. Moment deutlich. Die Vorbildhaftigkeit des Beispiels zielt nicht nur auf die Vernunft, sondern auch auf den Affekt; seine Wirkung beruht daher auf dem über die ,ratio' erfolgten Zutritt zur ,emotio' (cf. z.B. Augustinus, De doctrina christiana 4, 6). G. J. Vossius benutzt die Begriffe exemplum und ratio sogar antithetisch; beim einfachen Volk vermöchten die exempla mehr zu erreichen als das, was über die Vernunft Eingang findet 84 . Auf der Kongruenz von vorbildhaftem Menschen und exemplarischer Tat beruhen nicht nur die Tugend- und Lasterkataloge, die sowohl Lit.typus 85 wie inneres Sammel- und Anordnungsprinzip für das E. bilden (A. —> Hondorff ordnete etwa sein Promptuarium exemplorum nach dem —* Dekalog 86 ), sondern auch die melanchthonische Vorstellung von der Geschichte als einer Akkumulation exemplarischer Geschichten, durch die — ähnlich wie bei Quintilian — der Mensch erzogen werden soll; auf der Rhetorik beruhten sittliche pädagogische Unterwei-
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sung wie die Geschichte selbst 87 . Noch 1764 befassen sich die in der Tradition antiker Rhetorik stehenden C. F. Schott und C. D. Christmann mit dieser Psychologie moralischer Vorbildhaftigkeit des E.s 88 . Semantisch trat hingegen anfangs die Bedeutung von E. als erklärendem oder veranschaulichendem Beispiel in der Unterrichtung noch in den Hintergrund. Laut Cicero konnte auf diese inhaltlich dem griech. paradeigma entsprechende Art von E. in der Rede verzichtet werden (De republica 2, 66) 89 . Wurde das E. als Beispiel oder Fall einer Kategorie verwandt, erhielt es dadurch die Funktion einer Beweiskette, wobei die Beschaffenheit einer gesamten Kategorie durch das E. abgelesen werden kann 90 . Es steht damit als illustratives lehrreiches Geschehnis oder als praktische Einzelerfahrung in Verbindung mit dem ,documentum' 91 . Die Kirchenväter übernahmen nicht nur die röm. rhetorischen Techniken des E.s, um gelesen zu werden 92 , sondern erweiterten auch unter Einfluß des griech. ,paradeigma'Begriffs den E.gebrauch dahingehend, daß die bibl. Gleichnisse ebenfalls als Exempla bezeichnet werden konnten 93 . So unterschied Hieronymus (ca 3 4 0 - 4 2 0 ) Beispiele aus dem täglichen Leben, der heidnischen Antike, dem Christentum und der Hl. Schrift 94 . Trotzdem darf die Begrifflichkeit der Kirchenväter wie des MA.s nicht mit der antiken rhetorischen und grammatischen Tradition allein begründet, sondern muß auch und vor allem aus der theol. Hermeneutik, der Vorstellung von der zeichenhaften Bedeutung der Dinge in der Schöpfung (.zweite Sprache') abgeleitet werden. E. ist neben imago, speculum, figura, typus und signum die sinnbildliche Deutung, Wasser etwa ,Vorbild des Gehorsams' (Ambrosius, Hexaemeron 3, 1, 2) 95 . Die rhetorische E.theorie rechnet das E. neben den Zeichen (signa) und Beweisen (argumenta) zum Bestandteil der persuasiven Beweisführung (argumentatio) 96 . Aufgrund eines Ähnlichkeitsverhältnisses (similitudo) kann es ein Theorem verdeutlichen oder — in inhäsiver Verwendung — bisweilen sogar stellvertretend aussagen, da es, im Gegensatz zum Sachverhalt (causa) leicht faßlich, eine abstrakte Aussage begreiflich macht. Das E. bildet damit im Gesamtzusammenhang eine
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kommunikative Größe, die einen unterschiedlichen Wissensstand von Sprecher und Hörer, Autor und Leser voraussetzt. Die durch das E. von außen geholte Bestätigung (probatio, Quintilian 5, 11, 1) mit einer außerhalb der ,causa' liegenden Quelle ist von dem in der ,causa' behandelten Sachverhalt unabhängig (cf. z.B. Cicero, De oratore 2, 40, 173), die Verbindung von E. und ,causa' daher eine eigenschöpferische Leistung des Verf.s, die allerdings nicht willkürlich erfolgt, sondern bestimmten rhetorischen Regeln unterliegt 97 . Diese intentionale Beteiligung des Autors an der Ausw. aus einem E.fundus im Rahmen eines bestimmten Sachverhaltes (inductio) macht Exempla zu kunstgemäßen Beweisen (probationes artificiales) 98 . Voraussetzung hierfür ist allerdings ein unbezweifelbarer Sachverhalt. Erst dann kann zur ,causa', die selbst als zweifelhaft (dubium) betrachtet wird, eine auf der ,similitudo' beruhende Beziehung hergestellt werden; die drei Grade des Ähnlichkeitsverhältnisses stufen sich in ,E. simile', ,E. dissimile' und ,E. contrarium' 99 . Seit der Antike wird das E. nicht als Gattungs-, sondern als Funktionsbegriff definiert (z.B. Quintilian 5, 11, 6) 100 . Demzufolge besteht es aus einer inhaltlichen Quelle (res gesta), der Utilität (utilis ad persuadendum) und der diese gestaltenden literar. Form (commemoratio) 101 . Letztere kann die längere Form der ,narratio' als Exkurs oder die kürzere Form der zitierenden Anspielung annehmen (Quintilian 5, 11, 15) 102 . Die Wahl für eine der beiden Formen hängt dabei vom Bildungsstand des jeweiligen Rezipientenkreises oder vom Bekanntheitsgrad der ,res gesta' ab 103 . 4. I n h a l t l i c h e A b g r e n z u n g des E.s. Seit es volkskundliche E.forschung gibt, hat es an gattungsgeschichtlichen, motivorientierten und inhaltlichen Beschreibungsversuchen nicht gemangelt. Unter der Prämisse popularisierten Erzählgutes und der einmal erschlossenen Überzeugungsfunktion des E.s richtete sich dabei das Interesse nicht selten einseitig auf die wunderbaren Inhalte von Heiligenlegenden, Mirakelberichten, prodigiöser Lit. (—» Prodigienliteratur) oder dämonologischen Stoffen und schränkte dadurch vom Blick-
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punkt eines säkularisierten Naturbegriffs die Utilität des E.s ein 104 . Moderne Exzerpte ließen allerdings außer acht, daß einst das ,miraculum' als integrierte Äußerung eines theozentrisch geprägten Weltbildes und damit als zu jeder Zeit mögliches wie selbstverständliches Zeichen verstanden wurde und daß sich spätestens seit der luther. Polemik der f ü gende' 105 , den sich emanzipierenden Naturwiss.en und dem Edikt Papst Urbans VIII. vom 13.3. 1625 die Entwicklung vom ,miraculum' zum ,admirandum' vollzog und somit eine im einzelnen noch zu untersuchende Verschiebung im Argumentationsvorrat des E.s mit sich führte 106 . Ebenso unzulässig wie motivgeschichtliche Kategorisierungen sind für eine inhaltliche Beschreibung des E.s folkloristische Zuweisungen des 19. und 20. Jh.s nach populären Erzählgenres (Märchen, Sage, Legende, Schwank, Anekdote). Auch die systematische Einteilung J. T. Welters nach Quellen in: Bibel und Apokryphen, Vitae patrum, Heiligenlegenden, Visionen und Erscheinungen, antike Lit., Chroniken, epische Dichtung, Märchen, Tierfabeln, naturhist. Exempla, Geographie sowie persönliche Erlebnisse und Erfahrungen gehen über antikes, ma. und nachma. E.verständnis hinaus 107 . Vielmehr umfaßt das E. als „Konservierungs- und Transportform" 108 nicht nur für Stoffe, die heute als Sage, Legende, Mirakel etc. zu bezeichnen sifid, weit mehr, als es die Beschränkung der Erzählforschung auf narrative Genres glauben macht, nämlich auch Reduktionsformen wie das Zitat, ferner Allegorien, Metaphern, Sentenzen oder Bildvorstellungen. So dienen etwa nach —» Erasmus von Rotterdam auch literar. Stilmittel wie ,parabolae', .imagines', ,iudicia', ,sententiae' und die ,allegoriae theologicae' als E. 109 . Nur so ist es zu erklären, daß in den ma. und nachma. Slgen Exempla unterschiedlichen Inhalts und unterschiedlicher Form meist ohne auf den ersten Blick erkennbare innere Systematik nebeneinanderstehen 110. Andererseits gibt die Einteilung Welters eine in etwa korrekte Reihenfolge einer in sich gestuften, antikem rhetorischen Konzept folgenden Wahrhaftigkeit (veritas) wieder, die für Benutzung wie Wirkung eines E.s im Kontext ausschlaggebend war. Dies läßt das
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Ε. auf lediglich drei, später zwei Klassen reduzieren: ,historia', .argumentum' und tabula'. Erstere ist nach der Rhetorica ad Herennium wahr, letztere wahrscheinlich, während die „fabula [. ..] neque veras neque verisimiles continet res" (1, 8, 13). Erasmus von Rotterdam unterscheidet hingegen nur noch zwischen den ,exempla historica' und den ,exempla fabulosa' 111 . Das am häufigsten in den E.sammlungen belegte ist daher das hist., da auf Wahrheit beruhende E., zu dem die novellistische Historiographie den Stoff liefert. Über seine Anwendung diskutieren die ma. und nachma. Verf. kaum, wohl aber darüber, was als ,res gesta' und damit als hist, verbürgt angesehen werden kann. Die Glaubwürdigkeit beruht dabei nicht nur auf realen Vorkommnissen, sondern auch auf der durch die kanonisierte und daher tradierte ,auctoritas' erfolgten Literarisierung und Notorietät 112 . Ein solchermaßen legitimierter Autor ist der beste Zeuge für die Wahrhaftigkeit (cf. z.B. Cicero, Rhetorica 1, 2); je älter aber die Autorität ist, um so glaubwürdiger wird sie. Trotzdem stellte sich die Diskussion um die Wahrhaftigkeit der auszuwählenden Exempla immer wieder von neuem und bezog sich dabei vor allem auf die dem Gesamtzusammenhang adäquate Seriosität des E.s, sei es zur Verdeutlichung einer komplizierten heilsgeschichtlichen Aussage in der homiletischen Lit., sei es als Argument im wiss. Bereich. Seit der Zeit der Kirchenväter wurde vor effekthaschenden ,fabulae otiosae' gewarnt — wie z.B. auf dem Konzil von Narbonne (589) 113 . Thomas von Aquin (1225-74) wandte sich gegen legendarische, hist, nicht nachprüfbare Erzählungen in der Predigt, etwa gegen die Legende, daß der Stern von Bethlehem ein Kreuz oder Bild in sich getragen habe 114 . Mit strengen Worten geißelte die Bulla de modo praedicandi 1516 die Benutzung unwahrer oder gar erfundener Wundergeschichten 115 . In seiner Vorrede zum Magnum —> speculum exemplorum sprach sich —»• Johannes Maior gegen alles „incredibilia, vel fabulosa" aus, gegen all diejenigen, offenbar wirklich populären Geschichten, die man sich zur Unterhaltung auf Reisen, beim Essen oder bei fröhlichen Gesellschaften erzählte 116 .
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Diese strengen Ansprüche an die Wahrhaftigkeit des hist. E.s begünstigten einerseits die lange Überlieferungsdauer einzelner Stoffe 117 , führten andererseits aber, was tradierungsgeschichtliche Unters.en und Ausg.nvergleiche einzelner E.autoren wie —* Martin von Cochem belegen 118 , dazu, daß Wunder- und Sensationsberichte, die nicht mehr mit den naturwiss. Erkenntnissen der Zeit vereinbar waren oder neuen theol. Bestrebungen widersprachen, bei Neuauflagen von den Autoren selbst oder späteren Bearbeitern getilgt wurden 119 . Als bedeutsam erweist sich in diesem Rahmen die Begrifflichkeit: Man spricht von t a bulae', ,fabulae aniles' (—» Altweibermärchen), ohne dadurch fiktive Geschichten etwa der Gattung Tierfabel mit treffen zu wollen; hier wird ausschließlich der Anspruch an die ,historia', das sich als real und wahr ausgebende E. wirksam. Denn hinter dem ,exemplum historicum' tritt das ,exemplum fabulosum' zurück, da es weniger Wirkung hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit ausübt und nur bei einem entsprechenden Bildungsgrad des Rezipienten angewandt werden soll. An dieser Verschiebung von der Historizität des E.s zur unhist., nur symbolhaft wahrscheinlichen Aussage durch die —» Fabel entzündete sich seit der Antike immer wieder die Diskussion um die Benutzung als E.; bereits in der antiken Rhetorik, etwa bei Fortunatian, herrschte Unklarheit, ob die Fabel einschließlich der Tierfabel (apologus) dem hist. Ε. zugerechnet werden dürfe. Cicero und Quintilian empfahlen ,apologi' lediglich zur Vermeidung von Ermüdungserscheinungen beim Zuhörer und zur Erregung von Heiterkeit. Isidor von Sevilla trennt zwischen ,historia', argumentum' und ,fabula', weist letzterer aber exemplarische Funktion hinsichtlich der Ergötzung (delectare), als Hilfsmittel zur Darstellung von Naturvorgängen und -Objekten sowie zur ethischen Belehrung durch die Tierfabel zu 120 . Von den hochma. Poetikern entwickelten nur —> Gervasius von Tilbury (ca 1140-ca 1220) und Johannes de Garlandia (ca 1195-1272) theoretische Gedanken über die Tierfabel als eigene Erzähleinheit im Rahmen eines größeren Werkes 121 . Aus den ma. Begriffsdiskussionen um das ,exemplum fabulosum' kristallisierte sich, ohne anfänglich zum Gattungsbegriff zu werden,
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ein Bedeutungsverständnis heraus, das die Fabel zu einem Fachterminus für lehrhafte, wahre und moralfördernde Dichtung macht und ihr seit dem 12. Jh. einen Platz neben dem E. einräumt. Darin äußert sich wie schon bei Isidor von Sevilla die ma. Denkweise von der Theologie als einziger ausgearbeiteter Theorie und dem Bispel (Beispiel), das von Tieren und Dingen erzählt, indem es die Natur als ein Spiegelbild göttlicher Ordnung betrachtet 122 . Zu einer Gattungsbezeichnung wird die Fabel erst bei humanistisch gebildeten Übersetzern des späten 15. Jh.s, etwa bei Anton von —» Pforr und dem Äsop-Übersetzer Heinrich —» Steinhöwel 123 , der auch eine traditionelle Definition der Wahrhaftigkeitsgrade von ,Hystorie' als ,beschechene ding', Argumenta' als diejenigen, „ob sie nit beschechen sint, so ist doch müglich, daz sie beschechen" und ,Fabel' als „die nicht beschechen synt noch müglich sint zu beschechen, wann sy synt wider die natur" gibt 124 . 5. E n d e des E.s. Gegen Ende des 18. Jh.s wandelte sich die Einstellung zum E.gebrauch. Solange sich Geschichte und Geschichtswissenschaft im System einer kompilierenden Aneinanderreihung moralisch-paradigmatischer Geschichten vollzog, war das hist. Ε. Traditionsmedium und Methode zugleich. Die neue Erfahrung eines Kontinuums des Geschehens aber löste Geschichte aus dem moralphil. Zusammenhang und schuf dadurch die moderne Geschichtswissenschaft als ein in sich verflochtenes Netz von Ursachen, Äußerungen und zeitüberschreitenden Vorgängen 125 . Diese Wandlung äußert sich im Versuch der Aufklärung, konkretistisches durch abstrahierendes Denken zu ersetzen. Dies bezog sich nicht allein auf die Beispielmaterien in der Gebrauchsliteratur der Predigt- und Erbauungswerke, sondern generell auf „sinnliche Darstellungen gewisser Religionsbegebenheiten" wie Weihnachtskrippen 126 oder eine dramatisch gestaltete Ölbergandacht, die der Priester J. B. C. Luttenhofer als E. beschrieb 127 . Dahinter verbirgt sich zwar noch die Auffassung von pädagogischer Verbildlichung: Das E. wird zum Beispiel, das ausschließlich wegen seines moralischen Gehalts 21
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tradiert wird 128 ; die einst regestenhafte ,narratio', die das E. strukturell prägte, wurde jedoch zur Kurzgeschichte, was sich bereits bei Martin von Cochem andeutete 129 . Ende des 18. Jh.s stehen Homileten vor der Situation, die Anwendung von Exempla generell rechtfertigen zu müssen. Während sich, so R. Glaser, an den „Parabel- und Historienpredigten", dem Einbezug der Gleichnisse und hist. Ereignisse zu Lebzeiten Christi, und an den als „eine gewisse Sittenlehre" darlegenden „Moralreden" nichts ändert 130 , muß der Autor die „Exempelpredigten" vor einem anonymen Kritiker verteidigen, der sie getilgt sehen will, damit sie nicht „zu neuen Fabelpredigten Anlaß geben. Ein Autor mag es noch so gut meynen: so wird es dennoch allezeit leichtsinnige Leute geben, die sich seiner Vorschriften übel gebrauchen: und man wird, nach der Zeit, wiederum Predigten hören, darinn die Lehren zwar christlich, die Geschichten aber entweder zweifelhaft oder wohl gar erlogen seyn werden" 131 . Glaser erwidert darauf, daß der Gebrauch von E., „um christliche Zuhörer zu unterrichten, zu überreden, zu bewegen, zu erbauen", dennoch gerechtfertigt sei, vorausgesetzt, man wähle keine „unvernünftigen, unwahrscheinlichen" oder „widersprechenden" Beispiele, benutze nur „bewährte Schriftsteller" und verzichte auf solch „läppische Mährchen", „die Kindsweiber predigen", oder wie Paulus (1. Tim. 4, 7) sage, „ineptas et aniles fabulas" wie etwa die Geschichte von Dr. Faust 132 . Von hier aus setzt sich der E.gebrauch im 19. Jh. bis in die Gegenwart unter dem Terminus des Beispiels fort, was eine neue Beispielliteratur hervorbrachte und nicht nur in der Homiletik, sondern auch im Bereich populärer Kalender, religiöser Zss. und katechetischer Unterweisungen — auch im jüd. Umkreis 133 — bei aller nachaufklärerischen Vorsicht wirksam wurde. L. Mehler begründet z.B. die Berechtigung dieser Lit. damit, „daß die Jugend, selbst auch die leichtsinnigere und den Zerstreuungen sehr ergebene Jugend mit gespannter Aufmerksamkeit zuhört, wenn ihr diese heilige Nahrung hin und wieder auch unter der angenehmen Form von Erzählungen und Gleichnissen dargereicht wird. Ich sage ausdrücklich hin und wieder; denn die wichtigen und ernsten Lehren der Religion
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durch lauter Erzählungen g e b e n w o l l e n , wäre w e n i g s t e n s sonderbar und g e w i ß auch erfolglos, bei vielen G e h e i m n i s s e n d e s G l a u b e n s aber sogar u n m ö g l i c h " 1 3 4 . D a f ü r greifen die Verf. b e w u ß t auf ma. und nachma. E.autoren zurück, es entsteht aber auch e i n e z e i t g e m ä ß e N e u b e a r b e i t u n g d e s Magnum speculum exemplorum13S. W e n n die m o d e r n e R e l i g i o n s p ä d a g o g i k auf narrative E l e m e n t e im Unterricht zurückgreift, dann z e i g e n die B e g r ü n d u n g e n hierfür e i n e überraschende inhaltliche Ü b e r e i n s t i m m u n g mit der traditionellen Rhetorik: „Welche unschätzbaren Dienste leisten demgegenüber Geschichten und Beispiele aus der Welt und dem Interessengebiet der Jugendlichen. Mit ihrer Hilfe kommen beide, Bibel und moderne Zeit, unverfälscht und doch glücklich verbunden zu Wort. Die biblischen Wahrheiten und Beispiele werden dann eingeblendet, wenn der Schüler durch eine moderne Geschichte ,schußreif' gemacht ist. So wird die Heilsbotschaft tatsächlich neu erlebt und aus der heutigen Welt heraus verständlich gemacht" 1 3 6 . D a s E. hat daher in seiner Funktion als konkretisierendes, moralisch w i e substantiell beispielhaftes E l e m e n t veranschaulichenden D e n k e n s überlebt. E s ist B e w e i s eines A x i o m s w i e A x i o m selbst, A u s d r u c k einer analogalen Wirklichkeitsauffassung u n d - b e schreibung, traditorisch, w a s seine Inhalte anbelangt, zugleich m o b i l u n d damit Z e i c h e n einer sich ändernden Weltsicht. E s zielt i m m e r u n d beruht stets auf Wahrhaftigkeit in ihrer unterschiedlichen intellektuellen, k o n f e s s i o n e l l e n o d e r sozialen Gradation. I m m e r aber stellt seine A n w e n d u n g e i n e M e t h o d e der Wirklichkeitsbewältigung dar, die einen abstrakten Z u s a m m e n h a n g in verständliche Bilder übersetzt, sei diese Wirklichkeit die Sphäre d e s Jenseitigen und d e s s e n B e z u g zum Diesseits, o d e r sei es die v e r b o r g e n e Wirklichkeit der Natur, in die menschlicher V e r stand einzudringen versucht und V o r g ä n g e in M o d e l l e n visualisiert. D a s D e n k e n in E x e m pla war nicht nur ein formal u n d funktionell konkret determinierbarer Faktor innerhalb einer b e s t i m m t e n k o m m u n i k a t i v e n E b e n e , sondern stellte e i n e abendländ. M e t h o d e wissensmäßiger Welterfassung dar 1 3 7 . 1 Bausinger, 1 9 9 - 2 1 2 ; Bödker, Folk Literature. 92; Dörrer, Α.: Ε. In: LThK 3, 1293sq.; Dornseiff,
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Assion (wie not. 3) 227. - 12 Pfeiffer, F. (ed.): Predigtmärlein. In: Germania 3 (1858) 4 0 7 - 4 4 4 . - 13 Crane (wie not. 6). - 14 Bolte, J.: Predigtmärlein Johannes Paulis. In: Alemannia 16 (1888) 3 4 - 5 3 . - 15 Mosher, J. Α.: The E. in the Early Religious and Didactic Literature. Ν. Y. 1911. "· Frenken, G.: Die Exempla des Jacob von Vitry. Mü. 1914. - 17 Moser-Rath; ferner: ead.: Predigtmärlein der Barockzeit. Qu.n zur Volkserzählung des 17. und 18. Jh.s. In: Bayer. Jb. für Vk. (1957) 1 2 9 - 1 4 3 ; ead.: Erzähler auf der Kanzel. Zu Form
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Rehermann. - 22 Beck, W.: Beispielerzählungen und Illustrationsmaterien im Werk des Protestant. Predigers Johann Jacob Otho ( 1 6 2 9 - 6 9 ) aus Schwäbisch Hall. Magisterarbeit Würzburg 1977. - 2 3 Tubach, F. C.: Exempla in the Decline. In: Traditio 18 (1962) 4 0 7 - 4 1 7 ; cf. Ranke, K.: Schwank und Witz als Schwundstufe. In: Festschr. W.-E. Peuckert. Göttingen 1955, 4 1 - 5 9 . - 24 Tubach, F. C.: Strukturanalytische Probleme — das ma. E. In: HessBllfVk. 59 (1968) 2 5 - 2 9 . 25 Bausinger, Η.: E. und Beispiel. In: HessBllfVk. 59 (1968) 3 1 - 4 3 . - 26 Oppel, H. D.: E. und Mirakel. Versuch einer Begriffsbestimmung. In: ArchfKultg. 58 (1976) 9 6 - 1 1 4 . - 27 Assion (wie not. 3). - 2 8 von Hinten, W.: Wundererzählungen als Exempel bei dem Jesuiten C. G. Rosignoli. In: Jb. für Vk. 3 (1980) 6 5 - 7 4 . - 29 Alsheimer, R.: Das Magnum speculum exemplorum als Ausgangspunkt populärer Erzähltraditionen. Bern/Ffm. 1971, 1 2 - 1 6 . - 30 Gerhardt, C.: Die Metamorphosen des Pelikans. E. und Auslegung in ma. Lit. Ffm./ Bern/Las Vegas 1979, 7 - 9 . 31 Stierle, K.: Geschichte als Ε. - E. als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte. In: Koselleck, R./Stempel, W. D. (edd.): Geschichte Ereignis und Erzählung. Mü. 1973, 3 4 7 - 3 7 5 , hier 355. - 32 Gerhardt (wie not. 30) 8sq. - 33 Breitkreuz, H.: Literar. Zitatanalyse und Exemplaforschung. In: Fabula 12 (1971) 1 - 7 . - 34 Brückner, 22. - 35 Bausinger, 1 9 9 - 2 0 1 . - 36 ibid., 2 0 2 - 2 1 1 . - 37 cf. Brückner, 53 - 63. - 38 ibid., 6 3 - 7 5 ; cf. z.B. Ludovici, G.: Collegium excerptorium oder Begebene Nachricht wie und was ein Studiosus oratoriae sacrae bey seiner homiletischen Arbeit aus guten Büchern excerpiren könne. Lpz. [1697]. — 39 cf. Brückner, W.: „Narrativistik". Versuch einer Kenntnisnahme theol. Erzählforschung. In: Fabula 20 (1979) 1 8 - 3 3 ; Metz, J. B.: Kleine Apologie des Erzählens. In: Concilium 9 (1973) 3 3 4 - 3 4 1 ; Mieth, D.: Narrative Ethik. In: Freiburger Zs. für Philosophie und Theologie 22 (1975) 2 9 7 - 3 2 6 . 40 Beck, W.: Protestant. Exempelgebrauch am Beispiel der Erbauungsbücher Johann Jacob Othos. In: Jb. für Vk. 3 (1980) 7 5 - 8 8 . 41 Brückner, 53—63; id.: Loci communes als Denkform. Literar. Bildung und Volkstradition zwischen Humanismus und Historismus. In: Daphnis 4 (1975) 1 - 1 2 . - 42 Dyck, J.: Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung 21'
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Weier, J.: De praestigiis daemonum. Basel 1563 (u.ö.). - 52 Bagatta, B.: Admiranda orbis christiani. Venedig 1680. - 53 z.B. Kircher, Α.: Magiae naturalis centuriae tres. Würzburg 1659. 54 Schott, K.: Physica curiosa, sive mirabilia naturae et artis libris XII. Würzburg 1662. - 55 Fischer, E.: Die „Disquisitionum magicarum libri sex" von Martin Delrio als gegenreformatorische ExempelQu. Diss. Ffm. 1975. - 56 Assion (wie not. 3) 230. - 57 Coler, J.: Oeconomia ruralis et domestica. 1: Oeconomiae Oder Vom Haußhalten. Ffm. 1680, 35. - 5 8 Daxelmüller 1982 (wie not. 3). - 59 Rauscher, W.: Marek Der Cederbäum 1. Dillingen 1689, 222sq.; cf. Moser-Rath, 181 sq., num. 71 (mit Lit.); Schmidt, J. P.: Geschichtsmäßige Unters. der Fastel-Abends-Gebräuche in Deutschland. Rostock 2 1752, 145sq., not. 103. - 60 Bausinger, H.: Zum Beispiel. In: Festschr. K. Ranke. Göttingen 1968, 9 - 1 8 , hier 11. 61 Dyck (wie not. 42) 49sq. - 62 Lausberg (wie not. 44) 2 2 7 - 2 3 6 , § 4 1 0 - 4 3 0 ; Reiff, Α.: Interpretatio, imitatio, aemulatio. Begriff und Vorstellung literar. Abhängigkeit bei den Römern. Diss. Würzburg 1959; Ueding, G.: Einführung in die Rhetorik. Stg. 1976, 2 1 4 - 2 2 0 . - 6 3 Albertini, E.: La Composition dans les ouvrages philosophiques de Seneque. P. 1923, 2 1 6 - 2 2 3 ; Alewell, K.: Ueber das rhetorische paradeigma. Theorie, Beispielslgen. Verwendung in der röm. Lit. der Kaiserzeit. Lpz. 1913; Fuhrmann, M.: Das E. in der antiken Rhetorik. In: Koselleck/Stempel (wie not. 31) 4 4 9 - 4 5 2 ; Klotz, Α.: Zur Lit. der Exempla und zur Epitoma Livii. In: Hermes 44 (1909) 1 9 8 - 2 1 4 ; Kornhardt, Η.: E. Eine bedeutungsgeschichtliche Studie. Diss. Göttingen 1936; Oehler, R.: Mythol. Exempla in der älteren griech. Dichtung. Aarau 1925; Petre, H.: L'Exemplum chez Tertullien. P. 1939 (Dijon 1940); Streich, F.: De exemplis atque comparationibus quae exstant apud Senecam, Lucanum, Valerium Flaccum, Statium, Silium Italicum. Diss. Breslau 1913. - 64 Battaglia, S.: L'esempio medievale. 1: L'esempio nella retorica antica. In: Filologia Romana 6 (1959) 4 5 - 8 2 ; id.: Dall'esempio alia novella. In: ibid. 7 (1960) 2 1 - 8 2 ; Buisson, L.: E. und Geschichte im MA. Konstanzer Arbeitskreis
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für ma. Geschichte. Reichenau 1960; Caplan, Η.: Classical Rhetoric and the Medieval T h e o r y of Preaching. In: Speculum 4 (1929) 2 8 2 - 2 9 0 ; Curtius, E . R.: E u r o p . Lit. und lat. M A . B c r n / M ü . 5 1 9 6 5 , 6 7 - 7 0 ; Q u a d l b a u e r , F.: Die antike T h e o r i e der genera dicendi im lat. M A . ( ö s t e r r . A k a d . der Wiss.en. Philolog.-hist. Kl., SB.e 241,2). Wien 1962; Schneiderhan, Α.: Die exempla bei Hieronymus. Diss. Mü. 1916. — 6 S Welter (wie not. 4) 1 0 - 3 3 ; Jacques de Vitry/Crane, X V I I - X X I . 66 Aristotelis rhetorica. ed. L. Sprengel. Lpz. 1867; Aristotelis d e arte poetica. ed. I. Bywater. Ox. 2 1911. - " K r e w i t t , U.: M e t a p h e r und tropische R e d e in der Auffassung des MA.s. R a t i n g e n / K a stellaun/Wuppertal 1971, 14. - 6 8 Incerti auctoris de ratione dicendi ad C. H e r e n n i u m libri IV. ed. F. Marx. Lpz. 1894; cf. Krewitt (wie not. 67) 29 sq. 69 Cicero: D e inventione — D e optimo genere oratorum - Topica. ed. Η. M. Hubbell. L. 1960. 70 M. Tulli Ciceronis rhetorica. ed. A. S. Wilkins. Ox. 1902/03. 71
M. Fabii Quintiliani Institutionis oratoriae libri XII. t. 1 - 2 . ed. L. R a d e r m a c h e r . Lpz. 1907/35; cf. R a h n (wie not. 45). — 7 2 cf. L e h m a n n , P.: Die Institutio oratoria des Quintiiianus im M A . In: Philologus 89 (1934) 3 4 9 - 3 8 3 . - 7 3 Poggio, 3. - 7 4 A d a mietz, J.: M. F. Quintiliani Institutionis oratoriae liber III. Mü. 1966, 223. - 75 Vossius, G. J.: R h e t o rices contractae, sive partitionum oratoriarum libri quinque. Leiden 1606 (u.ö.); id.: C o m m e n t a r i o rum rhetoricorum sive oratoriarum institutionum libri sex. Leiden 1630 (Nachdr. K r o n b e r g 1974). — 76 Soarez, C.: D e arte rhetorica libri tres. Augsburg 1734 (1. Aufl. Coimbra ca 1560); cf. B a r n e r (wie not. 47) 2 6 5 - 2 7 4 , 3 3 6 - 3 3 9 . - 7 7 Masen, J.: Palaestra oratoria. Köln 1659; cf. Brückner, W.: Geistliche Erzähllit. der G e g e n r e f o r m a t i o n im Rheinland. In: Rhein. Vierteljahrsbll. 4 0 (1976) 1 5 0 - 1 6 9 . - 7 8 K o r n h a r d t (wie not. 63) 13sq.; Curtius (wie not. 64) 69; cf. Bosch, C.: Die Q u . η des Valerius Maximus. Ein Beitr. zur Erforschung der Litteratur der hist. Exempla. Stg. 1929. — 79 Rahn (wie not. 45) 7 1 6 - 7 1 8 . - 8 0 Kornhardt (wie not. 63) 2 0 - 3 4 , 77. 81
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Exemplum
ibid., 2 4 - 2 6 . - 8 2 Krewitt (wie not. 67) 155sq. — 8 3 Stengel, G.: Vis et virtus exemplorum. Ingolstadt 1634, 65; cf. Schneider, Α.: Narrative Anleitungen zur praxis pietatis im Barock. Dargelegt am E.gebrauch in den „Iudicia divina" des Jesuiten G e o r g Stengel ( 1 5 8 4 - 1 6 5 1 ) . Diss. Würzburg 1981, 117. - 8 4 Vossius (wie not. 75) lib. 3, 377. 85 z.B. Exempla virtutum et vitiorum, a t q u e etiam aliarum r e r u m maxime memorabilium. Basel 1555; cf. Brückner, 90sq. — 8 6 Schade, H.: A n d r e a s H o n dorffs P r o m p t u a r i u m exemplorum. In: Brückner, 6 4 7 - 7 0 3 , hier 647. - 8 7 Brückner, 3 5 - 5 3 ; Stierle (wie not. 31) 3 5 7. - 8 8 Schott, C. F. (Präses) Christmann, C. D. (Auetor): Dissertatio ethica de efficacia exemplorum. Tübingen 1764, 12sq.; cf. Daxelmüller 1982 (wie not. 3) 158sq. - 8 9 Korn-
hardt (wie not. 63) 34sq., 55 - 59. sq. -
90
i b i d . , 50
91
ibid., 59sq. - 9 2 Schneiderhan (wie not. 64) 2. Weiter (wie not. 4) 10, not. 1; Knapp, F. P.: Similitudo. Stil- und Erzählfunktion von Vergleich und E . in der lat., frz. und dt. G r o ß e p i k des H o c h M A . s 1. W i e n / M ü . 1975, 7 7 s q . - 9 4 Schneiderhan (wie not. 64) 13. - 9 5 M P L 14, 167; Krewitt (wie not. 67) 115sq. - 9 6 Lausberg (wie not. 4 4 ) 194, § 3 5 7 ; Ueding (wie not. 62) 2 1 4. - 9 7 Lausberg (wie not. 44) 228, § 411. - 9 8 Vossius (wie not. 75) lib. 3, 377; ähnlich Soarez (wie not. 76) lib. 2, 69. 99 Lausberg (wie not. 4 4 ) 230sq., § 4 1 9 s q . - 1 0 0 cf. z . B . Schenda (wie not. 1) 81. 101 Lausberg (wie not. 44) 227 sq., § 410. - 1 0 2 ibid., 229, § 4 1 5 . - 1 0 3 ibid., 230, § 4 1 7 ; Ueding (wie not. 62) 220. - 104 cf. Assion (wie not. 3); O p pel (wie not. 26); von Hinten (wie not. 28). — 105 cf. Schenda, R.: Die Protestant.-kathol. L e g e n d e n p o lemik im 16. Jh. In: ArchfKultg. 52 (1970) 2 8 - 4 8 . 93
— 106 Bagatta (wie not. 52) t. 1, Protestatio auctoris (unnumeriert). - 107 Welter (wie not. 4) 8 3 - 1 0 8 . - 1 0 8 G e r h a r d t (wie not. 30) 8. - 109 E r a s m u s von R o t t e r d a m : D e duplici copia v e r b o r u m ac rerum. Straßburg 1516, lib. 2, Bl. 6 1 a - 6 5 a ; cf. R e h e r m a n n , 28. - 110 cf. z . B . Owst, G. R.: Pulpit and L i t e r a t u r e i n Medieval E n g l a n d . O x . 2 1 9 6 1 , 1 5 1 . 1,1 E r a s m u s von R o t t e r d a m (wie not. 109) Bl. 5 7 a - 6 0 b . - 112 Lausberg (wie not. 4 4 ) 228, § 4 1 1 sq.; K n a p p (wie not. 93) 79. - 1 1 3 M P L 85, 611; cf. Welter (wie not. 4) 102sq., not. 70. 114 cf. Riising (wie not. 19) 131. - 115 Coleti, N.: Sacrosancta consilia 19. ed. P. Labbei. Venedig 1732, 944—947. — 1 1 6 Magnum speculum exemplorum. D o u a i 6 1618, V o r r e d e . — 1 , 7 M o s e r - R a t h , 45—47. — 118 z.B. Martin von Cochem: Außerlesenes History-Buch 1—4. Dillingen 1667—1692; id.: Lehrreiches Histori- und Exempelbuch 1 —4. Augsburg/Dillingen 1 6 9 6 - 1 7 0 0 . - 119 Daxelmüller 1982 (wie not. 3) 157sq. - 120 K n a p p (wie not. 93) 79-82. 121 Krewitt (wie not. 67) 4 0 6 s q . ; cf. H e r m a n i u k , M.: La Parabole evangelique. E n q u e t e exegetique et critique. Löwen 1947. - 122 Briegel-Florig, W.: Geschichte der Fabelforschung in Deutschland. Fbg 1965, 18sq.; H e r b r a n d , E.: D i e Entwicklung der Fabel im 18. Jh. Wiesbaden 1975, 47; MoserR a t h , E.: Die Fabel als rhetorisches Element in der kathol. Predigt der Barockzeit. In: Hasubek, P. (ed.): Die Fabel. B. 1982, 5 9 - 7 5 . - 123 de Boor, Η.: U b e r Fabel und Bispel (Bayer. A k a d . der Wiss.en. Philolog.-hist. Kl., SB.e 1966, 1). Mü. 1966, 5 - 7 . - 1 2 4 Steinhöwels Äsop. ed. H. Österley. Tübingen 1873, 6; cf. auch Whitesell, F. R.: Fables in Mediaeval Exempla. In: T h e J. of English and Germanic Philology 46 (1947) 3 4 8 - 3 6 6 . 125 cf. Koselleck, R.: Historia magistra vitae. Ü b e r die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Natur und Geschichte. Fcstschr. K. Löwith. Stg. 1967, 1 9 6 - 2 1 8 . - 126 Regie-
649
Exilium melancholiae - Exkremente
rungsblatt für die Churpfalz-baier. Fiirstenthiimer in Franken 44 (1803) 277. - 127 Schwarz, G.: Das „E." als dramatisch gestaltete Ölbergandacht in der Pfarrkirche zu Gerzen. Ein Beitr. zur Passionsverehrung während der 2. Hälfte des 18. Jh.s in Niederbayern. In: Der Storchenturm 29 (1980) 68 - 73. - 128 Bausinger (wie not. 60). - 129 Martin von Cochem (wie not. 118) Bl. 3 (Vorrede). — 130 Glaser, R.: Praktische Beredsamkeit der christl. Kanzel. Augsburg 2 1 7 7 4 , 4 9 3 - 5 6 0 , hier 493. 131 ibid., 5 6 1 - 5 6 8 , hier 561. - 132 ibid., 561 sq. 133 z.B. Kohn, J. H.: Bibel- und Talmudschatz. Ein Familienbuch. Budapest 7 18 83. - 134 Mehler, L.: Beispiele zur gesammten christkathol. Lehre, nebst Schrift- und Väterstellen, nach der Ordnung des Katechismus von P. Canisius 1. Regensburg 1851, VI. - 135 Gabler, J.: Der große Spiegel. Ein kathol. Beispiel-Lex. Regensburg 185 2. — 136 Getto, E.: Alltag in Kurzgeschichten. Vorlese- und Erzählstoffe für Katechese und Gruppenstunde 1. Mü. 1960,9sq. - 137 cf. Koller, W.: Semiotik und Metapher. Unters.en zur grammatischen Sprache und kommunikativen Funktion von Metaphern. Stg. 1975.
Göttingen
Christoph Daxelmüller
Exilium melancholiae —> Lehmann, C.
Exkremente 1. Allgemeines - 2. Zur Forschungsgeschichte — 3. Deutungsversuche - 4. E. in Naturvölkererzählungen — 5. E. in anderen Erzählungsgattungen — 6. Zusammenfassung
1. A l l g e m e i n e s . Unter E.n versteht man die Ausscheidungen des menschlichen oder tierischen Körpers, insbesondere Kot und —> Urin. Sie zählen zu den Alltäglichkeiten des Lebens und haben in vieler Hinsicht seit Urzeiten die menschliche Phantasie und Realität beeinflußt. Die —> Skatologie versucht dies zu konstatieren und zu erforschen. In allen Formen mündl. Volksüberlieferungen werden E. erwähnt, so in Mythologien, Sagen, Märchen, Legenden, Liedern, Sprichwörtern, Rätseln, Abzählreimen, Schwänken, Witzen etc. Der Begriff der E. oder der Vergleich mit E.n wurde bes. in Fastnachtspielen und in Polemiken gegen das Papsttum im 16. Jh. öfters benützt 1 . In der Lit. waren es bes. Rabelais (—> Gargantua) und Swift, die die E. teilweise zu Themen ihrer Werke machten. Ma. Darstel-
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lungen der Hölle zeigen den Teufel, wie er Sünder verschlingt und sie durch das Ohr oder als E. wieder von sich gibt2. Trotz der offensichtlichen Beliebtheit und Verbreitung des Themas der E. ist die schriftl. Überlieferung und wiss. Auswertung nicht allzu groß. Zwar beschreiben humorvolle und grundlegende Arbeiten die Kulturgeschichte der Toilette 3 , aber an zusammenfassenden Darstellungen über E. in kulturanthropol. Hinsicht mangelt es. 2. Z u r F o r s c h u n g s g e s c h i c h t e . Im frühen 18. Jh. erschienen zwei Sehr., die sich mit E.n befassen, allerdings vorwiegend unter medizinischen und therapeutischen Gesichtspunkten. In der öfters aufgelegten Heylsamen Dreck-Apothecke4 schildert K. F. Pauliini ausführlich ,Historien' und ,Denkwürdigkeiten' von ,Koth' und ,Urin'. Auf mehr als 100 Seiten handelt der Dresdner Arzt M. Schurig in seiner Chylologia historico-medica5 in typisch scholastischer Manier über E. Abgesehen von wenigen Ausnahmen 6 , einer skatologischen ,Bibliothek' sowie einer Anthologie 7 , beginnt die Sammel- und Forschungstätigkeit erst Ende des 19. Jh.s, nachdem die Prüderie der viktorianisch-wilhelminischen Epoche überwunden war und die Moralauffassungen des Bürgertums sich änderten. Eine nicht zu unterschätzende negative Rolle dürften auch die Vertreter der Naturdeutungsmethode gespielt haben, die bestrebt waren, gewisse anstößige Motive auszuklammern und eine andere Realität zugrunde zu legen (cf. —> Naturmythologie). F. M. —» Müller gibt offen zu, daß „durch dieses Verfahren nicht bloß bedeutungslose Sagen eine eigene Schönheit erhielten, sondern daß man dadurch einige der empörendsten Züge der klassischen Mythologie beseitige und ihren wahren Sinn ausmache" 8 . J. G. Bourke illustriert und dokumentiert in seinem Pionierwerk Scatologic Rites of All Nations (1891) 9 mit vielfältigen ethnol. Materialien die kulturanthropol. Bedeutung der E.; sein Kap. Myths (p. 266—271) ist allerdings nicht sehr umfangreich. W. Rudeck (1897) 1 0 weist anhand von Beispielen darauf hin, daß E. in Sprichwörtern, Theaterspielen, Flugschriften und in der Lit. als Thema oder Motiv zu finden sind. E. Stucken ( 1 8 9 6 - 1 9 0 7 ) 1 1 behandelt u.a. das Motiv der Nothdurft und mißt ihm gewisse Bedeutung bei. In der —> Anthropo-
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Exkremente
phyteia und in den 12 Bänden der —> Kryptädia (1883 —1911) 12 fanden viele Forscher Gelegenheit, einschlägiges Material zu veröffentlichen, wie z.B. Ε. H. —» Carnoy, dessen Sammlung von Volksüberlieferungen aus der Picardie in Kryptädia 11 (1907) immerhin 65 skatologische Erzählungen enthält. E. K. Blümml und J. Polsterer (1908) 1 3 haben in ihre Futilitates ebenfalls skatologische Folklore aufgenommen. W. - » Wundt (1920) 1 4 hat zwar in seiner Völkerpsychologie ein Kap. über Ausscheidungen und Wachstumsprodukte des Körpers (Haare, Nägel) als Seelenträger, bringt aber wenig über E. und begnügt sich mit der Feststellung, daß in E.n keine direkten Seelenvorstellungen nachzuweisen seien. P. Englisch stellte Das skatologische Element in Lit., Kunst und Volksleben (1928) 1 5 dar, ohne es jedoch zu interpretieren oder in einen Kontext zu stellen. Über die mit E.n verbundenen Glaubensvorstellungen hat E. Bargheer (1933) 1 6 unter dem Stichwort Kot viel Material zusammengetragen. Nach 1945 begann man sich in den USA dem tabuierten Bereich der E. innerhalb der Folklore zuzuwenden. Vorwiegend (kultur)psychol. sind die entsprechenden Kap. in N. O. Browns Neuinterpretation Freudscher Theorien (1959) 1 1 . G. Legman forderte (1964) 1 8 eine intensivere Erforschung des Erotischen und Skatologischen, wobei er hilfreiche und nützliche Anregungen gab. A. —» Dundes (1966) 1 9 untersuchte Graffiti nicht nur als isolierte Form, sondern auch die Defäkation und Graffiti-Erzeugung in psychol. und kultureller Hinsicht. F. Hoffmann (1973) 2 0 hat in seinen Typenund Motiv-Index Skatologisches und Exkrementelles einbezogen. M. Fleming (1977) 2 1 fragt in ihrer sprachhist. Analyse provokativ „Why study shit? Well, why not?". Die umfassendste Arbeit zum Thema der E. dürfte das Werk von D. Sabbath und M. Hall (1977) 2 2 sein, da es die unterschiedlichsten Aspekte beleuchtet. R. Aman (ed.) hat es sich zur Aufgabe gemacht, in Maledicta (1977 sqq.) 2 3 regelmäßig ,kakademische' Beiträge zu publizieren.
Von volkskundlicher Seite gab es nur wenige Versuche, entsprechendes Material zu sammeln und zu analysieren. Es war bestimmt nicht Unkenntnis, daß bei AaTh das Stichwort E. fehlt, sondern hier zeigt sich die Tabuierung des Gegenstandes auch innerhalb der Forschung. Brown vertritt die Ansicht, daß die Verdrängung im allg. schwerer auf der Analität als auf der Sexualität laste 24 ; die daraus resultierende Angst vor Regression könnte zumindest z.T. die Vernachlässigung dieser Materialien erklären. 3. D e u t u n g s v e r s u c h e . Deutungsversuche, manchmal nur im Ansatz, erfolgten unter ethnol., animistischen, astralmythol. und psy-
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chol. Gesichtspunkten, wobei der psychol. bes. nachhaltig betrieben wurde. 1906 stellte S. —» Freud 25 einen Zusammenhang zwischen E.n und Geldinteresse her und zeigte auf, welche Funktion E. in der volkstümlichen Überlieferung beim Auffinden von Schätzen hätten und wie der ,Dukatenscheißer' zu verstehen wäre. O. Rank (1912) 2 6 untermauerte die Gleichung von —»• Geld und E.n durch weitere Beispiele aus der Folklore. S. Ferenczi (1914) 2 7 versuchte, diese Beziehung detaillierter zu erklären. Sehr differenziert wurde der Sachverhalt von N.O. Brown 28 als ,schmutzige Habgier' dargelegt. D. F. Haight 29 kam zu ähnlichen Ergebnissen. Andere Argumentationen laufen darauf hinaus, daß das Kind den Wert seiner E. nicht zuletzt dadurch erkenne, daß es mit ihnen die Erwachsenen ärgern oder erpressen kann 30 . Ein anderer psychol. Ansatz fußt ebenfalls auf Freud, der 1908 feststellte: „Die Unkenntnis der Vagina ermöglicht dem Kinde auch die Überzeugung von der zweiten seiner Sexualtheorien. Wenn das Kind im Leibe der Mutter wächst und aus diesem entfernt wird, so kann dies nur auf dem einzig möglichen Wege der Darmöffnung geschehen. D a s Kind m u ß e n t l e e r t w e r d e n wie ein E x k r e m e n t , e i n S t u h l g a n g . [. . .] Wenn die Kinder durch den After geboren werden, so kann der Mann ebensogut gebären wie das Weib" 3 1 . (An anderer Stelle spricht Freud davon, daß nach kindlicher Vorstellung „das Kind also zum Vorschein komme wie ein Kotballen" 3 2 .)
Für die Vorstellung, die diese ,Kloakentheorie' beinhaltet, finden sich zahlreiche Beispiele bei Naturvölkern und in der Psychopathologie 33 . Ontogenetisch und phylogenetisch kristallisiert sich ein Antagonismus zwischen Mann und Frau heraus. Die Frau hat die Befähigung, Natürliches zu erschaffen, Kinder zu gebären; der Mann dagegen nicht, wobei oft nicht einmal der Kausalzusammenhang zwischen Befruchtung und Geburt erkannt wurde 34 . Folgerichtig kam nicht nur E. Fromm 35 zu dem Schluß, daß es einen Gebärneid der Männer gegeben haben muß und noch gibt. Dies impliziert, daß einerseits E. im männlichen Unterbewußtsein mehr als nur körperliche Abfallprodukte sind (man denke an das verbreitete männliche Ritual, das dem Vorgang der Defäkation viel Bedeutung beilegt, indem man sich lesend und rauchend auf die Toilette zurückzieht), daß andererseits
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Exkremente
aber der Mann außer E . n nur etwas durch den Mund, mit W o r t e n und G e d a n k e n erschaffen kann. Diese männlichen Eigenschaften und das Verlangen, Kinder zu gebären, lassen sich sowohl durch ethnol. Material (Erzählungen, Rituale, C o u v a d e u. a . ) als auch durch B e o b achtungen an Neurotikern illustrieren 3 6 . G. R o h e i m gelangte aufgrund der Kinderanalysen von M. Klein zu einer extremen A n sicht, die er in Volksüberlieferungen bestätigt fand: „In einer sehr frühen Phase sind diese Eltern-Imagines eher Genitalien oder andere Körperteile als vollständige Persönlichkeiten (Penis, Vagina, E x k r e m e n t e u s w . ) " 3 7 . 4. E. in Naturvölkererzählungen. D e r Glaube an die „ A l l m a c h t der Blasenund D a r m f u n k t i o n " 3 8 und die Beziehung zwischen O n t o g e n e s e und Phylogenese bewirkten, daß sich die Psychoanalytiker intensiv mit Mythen und volkstümlichen Überlieferungen auseinandersetzten, denn „der Mythos ist ein Stück überwundenen Seelenlebens des V o l kes. E r enthält (in verschleierter F o r m ) die Kindheitswünsche eines V o l k e s " 3 9 . Manche Kosmogonie beschreibt, wie die Welt aus E.n entstanden ist. Nach einer ind. Entstehungsgeschichte defäkiert der Gott Bhimo auf Ramahs Kopf. Die E . werden ins Wasser geworfen und bilden das Land. Ebenfalls im südostasiat. Raum erzählte man sich, daß Larang die Welt verschlungen habe. Mahaprabhu fing ihn und preßte ihn. Durch den Druck formten sich die E. zu den Kontinenten 40 . Eine sibir. Mythe berichtet, daß ,Rabe' auf Geheiß seiner Frau die Welt erschaffen sollte. E r zweifelte, ob er das könne. Als er dann beobachtete, wie der Bauch seiner Frau anschwoll und sie mühelos Zwillinge gebar, flog er über das Wasser und defäkierte. Jedes Stück seiner E., das auf das Wasser fiel, wurde zu Land 4 1 . Etliche Belege enthalten die Vorstellung, daß die ersten Menschen sich in den E.n der göttlichen Wesen befunden hätten oder daraus geformt worden seien (—> Anthropogonie). Nach den Mythen der Dusun (Nord-Borneo) wurden die Menschen aus göttlichen E.n gebildet 42 . H. Schwarzbaum stellte fest, daß jüd. und hinduist. Mythen dadurch oft die niedere Abstammung der Sterblichen betonen 4 3 . So sind bei den Brahmanas die Menschen aus dem dem Hinterteil des Schöpfungsherrn Prajäpati entfahrenden ,untern Hauch', die Götter aus dem ,obern Hauch' entstanden 44 . Nach der Vorstellung der Basonge (Kongo) gebar Kawillewille die Menschen durch den After 4 5 . A. R. Radcliffe-Brown berichtete von den Adamane-
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sen, daß nach dem Glauben der Akar-Bo der erste Mensch Jutpu im Knoten einer großen Bambuspflanze geboren sei wie ein Vogel in einem Ei. Er lebte allein und war sehr einsam. Deshalb nahm er etwas Lehm (Kot) aus dem Bau der weißen Ameise und formte sich eine Frau, die Kot hieß. Eine Var. findet sich bei den Aka-Jeru, wo der erste Mensch ebenfalls keine Frau hatte. E r kohabitierte mit einem Ameisenbau (Kot) und zeugte viele Kinder. In einer anderen Version, die vom gleichen Stamm erzählt wurde, heißt es, daß der Tarai (Südwestmonsun) der erste Mensch war. Seine Frau war Kot (Lehmfrau), und ihre Kinder waren Himmel, Wind und Schaum 46 . D e n Anthropogonien verwandt sind E r zählungen, in denen aus E . n bestimmte Individuen geschaffen o d e r in denen E . beseelt werden, wie sie vor allem bei den Indianern bekannt sind. Bei den sibir. Koriaken ist der —» Rabe einerseits der erste Mensch, andererseits eine lächerliche und unwürdige Gestalt, die sich von Hundekadavern und E.n ernährt und nichts mit dem Kult gemeinsam hat. Das Erhabene und das Lächerliche sind jedoch nur zwei Aspekte des gleichen Bildes. Der Große Rabe und seine Frau Miti spielen, um sich zu unterhalten, alle möglichen unfeinen Streiche. Sie verwandeln ihre Sexualorgane in Hunde oder Menschen und versetzen sie wieder an ihren Platz zurück. Miti piaziert ihren Anus an die Stelle ihrer Vulva und umgekehrt. Der Rabe steckt seinen Kopf in den After und stellt sich vor, während er sich so von E.n ernährt, er würde Fische fangen. Einmal fährt er in den Wald, um Erlenrinde zu schälen. Nachdem er einige Zeit gearbeitet hat, muß er defäkieren. Als er seine E. sieht, sagt er: „Ich gebar eine schöne junge Frau. Ich will sie heiraten". E r setzt sie auf seinen Schlitten, und auf dem Weg nach Hause liebkost er sie. Zu Hause angekommen, beschwert er sich über den Gestank im Haus und wirft seiner Frau Miti vor, ihre Kinder seien schmutzig, sie solle sie fortschicken. Miti sieht, daß die neue Frau aus E.n besteht und ist ärgerlich, sagt aber nichts und wartet. In der Nacht schmilzt sie zu einem Haufen Dreck. Der Rabe ist angeekelt und erkennt seine Braut nicht mehr darin 47 . Noch deutlicher kommen männlicher Gebärneid und Frauenfeindlichkeit in einer Geschichte der Ojibwa zum Ausdruck: In einem Dorf wies ein heiratsfähiges Mädchen alle Männer ab, die daraufhin beschlossen, sich zu rächen. Sie gruben ein Loch und füllten es mit E.n, aus denen sie einen Menschen formten, den sie hübsch kleideten und zum Leben erweckten. Sie nannten ihn ,Kot-Wesen'. Das Mädchen verliebte sich in dieses Wesen und folgte ihm. Als es über einen gefrorenen See lief, begann es sich aufzulösen. Sie ging seiner verfaulten Spur nach und fand nur einen Haufen
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Exkremente
Dreck. Gedemütigt heiratete sie einen Hund und bekam ein Junges 4 8 . Bei den Indianern der Nordwestküste tötete der Nerz vorsätzlich seinen Freund Otter. „Darauf kehrte er ans Ufer zurück, verrichtete seine Notdurft und verwandelte seinen Kot in einen jungen Mann" 4 9 . In einigen Indianererzählungen treten s p r e c h e n d e E. auf und h a b e n in e t w a die Funktion e i n e s A l t e r e g o . S o läßt sich —» C o y o t e v o n seinen E . n i n f o r m i e r e n 5 0 , o d e r er berät sich, wie bei d e n Maidu, mit ihnen vor e i n e m K a m p f 5 1 . E. k ö n n e n aber auch stellvertretend für ihren P r o d u z e n t e n sprechen 5 2 . In d e m S c h e l m e n z y k l u s der W i n n e b a g o d a g e g e n h a b e n E . nur n o c h u n a n g e n e h m e E i g e n s c h a f ten53. Wie schlimm es Menschen ergeht, die keine E. von sich geben können, illustriert eine Geschichte aus Ostsibirien. Dort erzählte man sich von Leuten, die ursprünglich keinen After hatten und somit weder essen noch defäkieren konnten. Sie ernährten sich vom Dampf der Speisen, den sie durch die Achselhöhlen aufnahmen. Als einmal einer dieser Menschen doch Fleisch aß und nahe am Platzen war, schnitt ihm der Priester einen Anus. Nun wollten alle eine solche Öffnung 5 4 . Eine Geschichte aus der Mongolei erklärt, warum der Kater seine E. verscharrt. In früheren Zeiten tat er dies nicht, wurde dann aber durch seine E. der Lüge überführt 5 5 . Bei den Arapesch ähneln E. einem Fetisch. Besitzt man etwas von den E.n einer Person und übergibt diese dem Zauberer, so besitzt man Macht über diese Person 5 6 . Bei den Schamanen der Tschuktschen dienen E. als Hilfsmittel oder Hilfsgeister 57 . Im Sudan zwingt der Djama (eine Art Schamane) die Vampirgeister, ein Stück Fleisch durch den Anus auszuscheiden, woran sie dann erkannt werden 5 8 . Ind. Hexen, so wird geglaubt, lernen ihr Handwerk durch das Essen von Schmutz und E.n. Beachtenswert dabei ist, daß diese Frauen immer sauber und liebenswert sein sollen 59 . Die Watchandie in Westaustralien betrachten den Anus als Hauptquelle magischer Kräfte 6 0 . N e b e n der B e d e u t u n g der E. als A u s g a n g s material zur Schaffung n e u e n L e b e n s o d e r ihrer B e s e e l u n g k ö n n e n E . auch etwas materiell W e r t v o l l e s w i e G e l d , G o l d , Perlen, E d e l s t e i ne symbolisieren o d e r dazu verwandelt werden. Eine seltsame Geschichte, die sozusagen zwischen einer mythischen Erzählung und dem Märchen oder der Sage steht, ist von den Seneca-Indianern überliefert: Ein junger, tapferer Mann kehrte von der Jagd zurück und fand seine Mutter im Bett
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liegend, aber es fehlte ihr der untere Teil ihres Körpers. Sie erzählte ihm folgende Geschichte: Als ich noch jung war, defäkierten meine sechs Schwestern und ich wertvollen Muschelschmuck (WampumPerlen). Nachdem ich deinen Vater geheiratet hatte, verlor ich diese Fähigkeit. Meine Schwestern, die nie heirateten, wurden sehr reich. Seit dein Vater weg ist, begann ich wieder Perlen zu defäkieren. Deshalb kamen heute zwei Männer, die mir, während ich kochte, den unteren Teil meines Körpers abschnitten, ihn mitnahmen und ihn im Vorraum der Versammlungshalle aufhängten 6 1 . Auch Hainuwele, eine weibliche Gestalt aus der ind. Mythologie, besaß die Fähigkeit, wertvolle E. wie chin. Teller und Gongs zu produzieren, wodurch ihr Vater Ameta sehr reich wurde 6 2 . H ä u f i g e r sind es Tiere, bes. der Esel, das H u h n o d e r ein V o g e l , deren E. G e l d o d e r andere wertvolle G e g e n s t ä n d e darstellen (cf. A a T h 5 6 3 : —• Tischleindeckdich). In einer kaschmir. V e r s i o n v o n A a T h 3 0 3 : Die zwei —» Brüder w e r d e n zwei V ö g e l erwähnt. W e r d e n e i n e n ißt, wird K ö n i g w e r d e n , w e r d e n a n d e ren verspeist, wird der reichste Mann, weil er j e d e n M o r g e n unter sich sieben J u w e l e n find e n wird 6 3 . D i e s e s Motiv ist bereits in der frühen ind. Ü b e r l i e f e r u n g bekannt, w o ein K ö n i g zwei V ö g e l hatte, die G o l d a u s s c h i e d e n 6 4 . Vereinzelt werden auch anderen Tieren solche Eigenschaften zugeschrieben. In einer afrik. Geschichte ist es die Zecke Dango, die aus ihrem Mund Schmuck und Edelsteine ziehen kann, und aus ihren E.n, mit denen sie drei Speicher füllte, wurden die „schönsten Kleider und auch andere feine Sachen" 6 5 . Die Bewohner von Guinea sprachen der Regenbogenschlange Aidowedo ähnliche Eigenschaften zu. Wer ihre E. fand, war für immer reich, weil er damit Maiskörner in Muscheln verwandeln konnte, die so gut wie Geld waren 6 6 .
5. E. i n a n d e r e n E r z ä h l u n g s g a t t u n g e n . In der S a g e w e r d e n E. hauptsächlich im Z u s a m m e n h a n g mit —> Schätzen erwähnt. Jed o c h k ö n n e n M o t i v e , w i e die bereits erwähnten, ebenfalls a u f g e n o m m e n w e r d e n : S o erhielt z . B . ein Bauer, der d e m christl. G l a u b e n abschwor, v o m T e u f e l ein Tier, das jeweils über N a c h t e i n e n ganzen H a u f e n M ü n z e n produzierte 6 7 . In der L e g e n d e sind E. v o n untergeordneter B e d e u t u n g , o b w o h l sie nicht ganz f e h len. D e r hl. Patricius etwa soll e i n e Kirche aus Straßenkot erbaut h a b e n ; auf B e f e h l d e s hl.
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Exkremente
Petrus von Burgund gibt eine Kuh statt Milch nur E. 68 Sowohl außereurop. als auch europ. S c h w a n k e r z ä h l u n g e n sind voll derber Komik, die auf der abstoßenden Eigenschaft der E. beruht. Eine einzelne, nicht typische Schnurre aus Melanesien erschöpft sich darin, daß ein Mann beim Defäkieren an einem Baum kleben bleibt 69 . Bei den Winnebago erzählte man sich, wie ein Schelm den Nerz hereinlegte, so daß dieser in der Hochzeitsnacht die Königstochter mit E.n besudelte 70 . In einer mongol. Geschichte wird berichtet, wie der junge Tasi seinen Fürsten überlistete und ihm Hundekot zu essen gab 71 . Skatologische Schwänke unterschiedlichster Ausprägung hat W. Eberhard 72 nachgewiesen, z.B. wie sich ein Mann an zwei vorlauten Bauern rächte, indem er sie E. essen ließ. Ähnliches wird vom Erdgott Pi berichtet. In beiden Fällen sollten die E. angeblich eingenommenes Gift neutralisieren. Nahezu infantilen Charakter hat die Geschichte, in der Pi dem Lehrer E. auf den Stuhl schmierte. Für den türk. Bereich sind eine ganze Reihe Erzählungen aufgelistet, in denen E. eine Rolle spielen, sei es, daß man einen Sack voller E. eintauschte oder als Geschenk machte oder daß man E. in den Schuh füllte 73 . Der Hodscha Nasreddin erwirkte sich durch Defäkieren auf die Soldaten die Freiheit 74 . Daß man früher in Europa ebenfalls nicht zimperlich war, zeigen die verschiedenen Schwanksammlungen und Schelmengestalten. Der ital. Schelm —» Gonnella, der einmal Maronen mit Hundekot vertauschte oder in Dantes Mütze defäkierte 75 , hatte an der Manipulation mit E.n ebensolchen Spaß wie —» Eulenspiegel, der u. a. Senf durch E. ersetzte (Historie II) 7 6 . Allerdings wurden die Eulenspiegelausgaben der neueren Zeit stark gereinigt, so daß von der koprophilen Neigung Eulenspiegels nicht mehr viel übrig blieb. Als Beispiele für Schwanksammlungen, die Skatologisches enthalten, seien die von Heinrich —» Bebel und Georg —> Wickram genannt, und auch die vielfach aufgelegte Slg Schimpff und Ernst des Franziskaners Johannes —» Pauli enthält viele solcher ,Exempla'. Bebel erzählt z.B. von einer Bäurin, die als Antwort auf eine Verspottung ihre E. als Geschenk an-
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bietet. - Ein Bauer entgegnet dem Pfarrer „Es kann denn keiner mehr scheißen, ohn daß du dein Nas hineinsteckest" 77 . — Als Dank für genossene Gastfreundschaft werden E. auf dem Tisch zurückgelassen. - Bei der Suche nach dem ehrlichsten Körperteil des Menschen hat man sich fast schon auf den After geeinigt, als dieser sich durch E. die Ehre vermasselt 78 . - Wie ein pfaffenmagt im bauernkrieg in einen hunighafen hofiert ist die Überschrift einer Geschichte bei Wickram (1557), die zum Inhalt hat, wie eine Magd über einen Topf voll E. Honig schmiert und so plündernde Bauern hereinlegt 79 .
Ein bekanntes, in Varianten immer wieder auftauchendes Motiv findet sich in —»Neidhart mit dem Veilchen (AaTh 1528). Neidhart stülpte schützend seinen Hut über das erste Veilchen auf der Wiese, um es seiner Herrin zu zeigen. Bauern bedeckten es dann mit E.n und blamierten auf diese Weise Neidhart 80 . Das Motiv, daß man E. für genossene Gastfreundschaft zurückläßt, hat auch J. Polsterer 81 aufgezeichnet: Ein Mann übernachtet bei einer Familie, die nachts furchtbar furzt. Auf seine Beschwerde erhält er die Antwort: „Wir spinnen". Am nächsten Morgen sagt er zum Bauern, nachdem er in das Bett defäkiert hatte: „Ich habe nur aufgewickelt, was ihr gesponnen habt" (cf. AaTh 1562 G*: Strange Names). In neueren Sammlungen fehlen meist Geschichten mit solchen skatologischen Ausschmückungen, obwohl sich doch hin und wieder Entsprechendes findet (z.B. daß ein Gespenst die Mütze eines Försters mit E.n füllte) 82 . Am Übergang vom Schwank zur Zote oder zum Witz stehen einige südslav. Erzählungen, die F. S. —» Krauss gesammelt hat 83 . Interessant an diesen Geschichten ist, daß nahezu jedes Motiv der Mythologie, des Märchens und der Sage in parodierter oder pervertierter Form vertreten ist. Als ,blason populaire' (wohl auch als Anthropogonie oder Ätiologie) und natürlich aus herabsetzender Einschätzung der Nachbarn erzählten sich die Südslaven, daß die Rumänen aus Bärendreck gemacht worden seien (p. 341). - Zur Strafe laufen einem Menschen seine E. nach und sprechen (p. 390—392). - Das Essen von E.n soll helfen, an einen Schatz heranzukommen (p. 332—335). — Jemand ißt E., aber dann ekelt ihn ein Haar (p. 3 6 9 - 3 7 1 ) . - E. als Heilmittel (p. 3 3 7 - 3 3 9 ) . Verwandlung von E.n (p. 3 9 3 - 3 9 8 ) . - Eine Var.
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beschreibt den Traum vom Schatz (AaTh 1645 B: Der gesiegelte —> Schatz): Der Erwachende stellt fest, daß er nicht den Baum gekennzeichnet, sondern sein eigenes Bett beschmutzt hat (p. 3 4 2 - 3 4 5 ) . - Man versteckt E. unter einem Hut oder einer Kanne und behauptet, es sei ein Schatz oder ein Goldvogel (p. 398sq.). - Dem Esel wird Geld in den After gesteckt, um so einen anderen zu betrügen (p. 350 sq.).
Skatologische Witze sind, soweit ersichtlich, in allen Kulturen vorhanden, da dem Vorgang der Defäkation überall bes. Bedeutung, vor allem bei der Erziehung, beigemessen wird und die daraus resultierenden Verdrängungen (Tabus) Bestandteil der kulturellen Charakterstruktur sind. (So sollen z.B. die Deutschen einen ausgeprägten Hang zur Analität und zum skatologischen Humor haben) 84 . Freud hat in seiner grundlegenden Studie nicht viel über diese Witze gesagt, er stellte allerdings fest: „Das Sexuelle, welches den Inhalt der Zote bildet, umfaßt mehr als das bei beiden Geschlechtern Besondere, nämlich noch überdies das bei beiden Geschlechtern Gemeinsame, auf das die Scham sich erstreckt, also das Exkrementelle in seinem ganzen Umfang. Dies ist aber der Umfang, den das Sexuelle im Kindesalter hat, wo für die Vorstellung gleichsam eine Kloake existiert, innerhalb deren Sexuelles und Exkrementelles schlecht oder gar nicht gesondert werden" 8S .
Die Mechanik des skatologischen Witzes beruht darauf, daß man Tabus, deren Verschleierungsgrad unterschiedlich sein kann, verbal übertritt, wobei der Witz als Vehikel dient. Gelingt die Überschreitung, d.h. wird der Witz verstanden, so wird das durch befreiendes Lachen quittiert, ansonsten durch peinliches Schweigen oder Scham. In vielen Witzsammlungen sind skatologische Witze oft nicht als eigene Kategorie aufgenommen, da das exkrementelle Element als Ausdrucksform für Mißachtung, Beleidigung, Protest, Kritik etc. benützt werden kann. Manchmal besteht der Witz aber auch nur aus der infantilen Freude am Exkrementellen, die unverhüllt zum Ausdruck gebracht wird. G. Legman befaßt sich in seinem umfangreichen Werk über den obszönen Witz mit der Skatologie, jedoch sind in anderen Kap.η ebenfalls Witze angeführt, die sich um E. drehen, z.B. Male Motherhood86. Η. H. Holste 87
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würdigt den exkrementeilen Witz relativ kurz. Wie wenig beachtet und wie unterrepräsentiert der skatologische Witz bis heute in den wiss. Erörterungen ist, wird daran deutlich, daß sowohl W. Schweizer88 als auch L. Röhrich 89 in ihren Ausführungen der Darstellung dieser Witze weniger als drei Seiten widmen, was in keiner Weise ihrer Verbreitung gerecht wird. Man sollte nicht vergessen, daß gerade diese Witze bei adäquater Interpretation Schlüsse auf kulturelle Persönlichkeitskonstellationen ermöglichen und Einstellungen und Wertvorstellungen der ethnogr. Realität beleuchten. 6. Z u s a m m e n f a s s u n g . Zur Funktion und Bedeutung der E. in der Folklore läßt sich zusammenfassend sagen: E. finden sich in fast allen Formen der Folklore bei fast allen Völkern und in fast allen Kulturen. In der Mythologie stellen E. eine zu beseelende Urmaterie, ein Alter ego dar oder stehen als Pars pro toto. Sie besitzen magische Eigenschaften. Sie können in Lebewesen verwandelt werden, was hauptsächlich auf menschliche E. zutrifft. In Erzählungen und Märchen repräsentieren E. materielle Werte oder können in solche verwandelt werden, vorwiegend handelt es sich dabei um tierische E. Im Schwank werden die Eigenschaften der E., die sie in der Mythologie oder im Märchen haben, parodiert und pervertiert. E. sind kein ernstzunehmendes Element mehr, sondern sollen Nachdenken und Lachen hervorrufen, wobei oft eine aggressive Tendenz (Beleidigung, Ekel, Kritik) vorhanden ist. Im Witz haben die E. außerdem eine noch stärkere tabuüberschreitende Funktion, wobei oft bereits die Nennung und die damit verbundene Vorstellung ausreicht, um Verdrängtes zu aktivieren, was sich dann in Lachen auflösen sollte. —» Aggression, —> Arsch, wunderbare —> Empfängnis, —> Furz, —> Geburt, —> Lachen, —»• Obszönität, —> Tabuvorstellungen 1 cf. Rudeck, W.: Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in Deutschland. Jena 1897; Rühmkorf, P.: Über das Volksvermögen. Reinbek 1967; Borneman, E.: Studien zur Befreiung des Kindes 1—3. Fbg 1973, 1974, 1976; Merkel, J.: Form und Funktion der Komik im Nürnberger Fastnachtsspiel. Fbg 1971. - 2 Jones, E.: Die Empfängnis der Jungfrau
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Uli Kutter
Exorzismus 1. Begriff und religionssoziol. Voraussetzungen - 2. Geschichte und exorzistische Techniken 3. Kulturelle Determinanz des E. — 4. Sensationsliteratur 1. B e g r i f f u n d r e l i g i o n s s o z i o l . V o r a u s s e t z u n g e n . E. b e z e i c h n e t generell sow o h l die rituelle A b w e h r w i e Vertreibung von D ä m o n e n aus M e n s c h e n , Plätzen, G e b ä u d e n und Tieren ( A a T h 1 1 6 8 : Various Ways of Expelling Devils; M o t . D 2 1 7 6 , G 2 7 1 ; - > B a n n , —> B e s e s s e n h e i t , —> D ä m o n , —> D ä m o n o l o g i e ) 1 . D i e nicht i m m e r exakt v o n der D ä m o n e n b a n n u n g zu t r e n n e n d e Therapie durch E . beruht auf der den m e i s t e n hist. Kulturen g e m e i n s a m e n Ü b e r z e u g u n g v o n der Präsenz dämonischer M ä c h t e und der V e r f ü g barkeit der Materie, aus der heraus sich die D ä m o n e n manifestieren k ö n n e n . Ä h n l i c h konkret w i e die Vorstellung v o m m e n s c h lichen Körper als H a u s o d e r Behältnis für D ä m o n e n e i n w o h n u n g (cf. ζ. B. vas electionis, A p g . 9 , 1 5 ) , die sich etwa in der R e d e w e n d u n g „ D e r T e u f e l spricht aus j e m a n d e m " äußert, ist die D i a g n o s e , daß krankhafte V e r ä n d e r u n g e n v o n Psyche und Physis auf dämonischer V e r ursachung b e r u h t e n 2 o d e r als Eindringen dämonischer Fremdkörper zu d e u t e n seien; letzterem entsprach die Krankenheilung durch Aussaugen, Ausspucken, Auspressen oder Massieren ζ. B. bei sibir. V ö l k e r n 3 . D e r E. wurde daher i m m e r als Purgation, als sinnvolle, meist v o n charismatischen P e r s o n e n (Priester, S c h a m a n e , M e d i z i n m a n n , Heiliger)
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vollzogene therapeutische Handlung oder als —» Wunderheilung am Heiligengrab oder am Wallfahrtsort ohne Beteiligung eines Exorzisten betrachtet (cf. ζ. B. Wallfahrtsbuch von Wartha 1711; zahlreiche Darstellungen von Exorzismen auf Votivbildern 4 ). Dieses Verständnis des E. als Heilverfahren unterscheidet ihn grundsätzlich von der ma. und nachma. Haltung gegenüber der Hexerei und Teufelsbuhlschaft verdächtigten Personen. Auch wenn in den einzelnen Kulturen und religiösen Systemen die Grenze zwischen Dämonenschutz, E. und Bannung, zwischen prophylaktischen, apotropäischen und exorzistischen Ritualen nicht immer klar zu ziehen und die Dominanz der dabei angewandten Techniken (Befehl unter Berufung auf Gott oder Jesus [AaTh 817*: Devil Leaves at Mention of God's Name], Gebet, Beschwörung [Mot. D 2176.3.2, V 254.4], Handauflegung) und magischen Hilfsmittel (—» Amulett, Weihrauch, Weihwasser [Mot. G 271.2.2] etc.) 5 veränderbar ist, zeugt die Praxis des E. von einer „Grundform religiösen Weltverständnisses" 6 zur Bewältigung des „namenlosen Unheils der schrecklichen Gottheit" 7 . Vergleicht man nämlich die exorzistischen Rituale und Wirkmechanismen und ihre oft abstrahierte Widerspiegelung in populärem Erzählgut, so läßt sich in vielen Religionen 8 eine weitreichende Konstanz von Typen und Mitteln über große zeitliche, kulturelle und räumliche Distanz feststellen 9 . Dies braucht nicht archetypisch erklärt zu werden; vielmehr müssen auch Deskriptionsschwierigkeiten europ. Ethnologen des 19. Jh.s im Umgang mit fremden Kulturen, aber auch späte Akkulturationsprozesse hierfür namhaft gemacht werden 10 . Volkstümliche Erzählungen reflektieren dies etwa als Unterlegenheit eines nichtchristl. Dämons gegenüber christl. Exorzierkunst: In einem paraguay. Märchen wird ein Waldgeist mit Appetit auf Christenfleisch durch den in eine Schlange verwandelten Stock eines alten Mannes vertrieben 11 . 2. G e s c h i c h t e und e x o r z i s t i s c h e T e c h niken. Abendländ. —» Dämonologie und damit verbunden der Glaube an den Besessenheit heilenden E. läßt sich auf vorderasiat. antike Tradition und den mediterranen Synkretismus der Zeitenwende zurückführen.
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Dies äußert sich etwa in der Form des Rituals, das sich sowohl in den mesopotam. Beschwörungen des 1. Jahrtausends a. Chr. n. 12 , in der griech. Zauberliteratur 13 und im christl. E.Gebet — dort aber unter Berufung auf den Auftrag und die Autorität Christi — einer imperativen Struktur bedient 14 . Während dem bibl. Judentum Besessenheit und E. fremd sind13, wird unter Einfluß spätantiker Dämonologie und mystischer Strömungen der jüd. Exorzist in rabbin, und nachbibl. Zeit zu einer vertrauten Gestalt, so ζ. B. in der Erzählung vom Teufelsaustreiber Eleazar bei —» Josephus Flavius (Antiquitates judaicae 8,25). Auch Jesus von Nazareth blieb davon nicht ausgespart (cf. ζ. Β. Τ Chulflin] 2,22 sq.) 16 . Eine schier unerschöpfliche Quelle für den exorzistischen Umgang mit Besessenheits- und Krankheitsdämonen ist die rabbin. Lit. 17 . Auch im osteurop. Chassidismus des 18. und 19. Jh.s spielten Wundertäter mit dem Beinamen Baalschem eine zentrale Rolle bei der magischen Heilung von Krankheiten, die man dem Wirken des Dibbuk (,Exorzist') zuschrieb 18 . Im —» chassid. Erzählgut sind Wunderberichte über solche Dibbukim häufig (cf. Mot. Κ 2385, Ε 728). In einer jemenit. Erzählung fährt eine Scheda-Dämonin nach langer Weigerung und anfangs erfolglosen analogiezauberischen Praktiken des Exorzisten schließlich aus dem Finger des besessenen Dieners aus 19 . Von grundlegender Bedeutung für das abendländ. E.verständnis wurden jedoch die Teufelsaustreibungen Christi, die im N.T. einen nicht geringen Teil der Wunder ausmachen (ζ. B. Mk. 9, 1 4 - 2 9 ; Mt. 4, 24; Lk. 13, 32). Sie folgen zwar ζ. T. der zeitgenössischen Tradition (ζ. B. Gebrauch fremdartiger Worte, Handauflegung, Berührung mit Speichel) 20 , unterscheiden sich aber dennoch von den exorzistischen Praktiken ihrer Umwelt durch weitgehenden Verzicht auf magischokkultes Beiwerk 21 . Unter Berufung auf dieses Vorbild systematisierte die christl. Theologie eine Reihe exorzistischer Anwendungsbereiche und -praktiken: den seit dem 3. Jh. belegbaren, immer umstritten gebliebenen Tauf-E., der allerdings in populären Erzählstoffen nur geringe Spuren hinterließ 22 , und den kleinen, bei Umsessenheit und der kultischen Reini-
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gung von Sachen (Weihwasser-, Salz-, Katechumenenölweihe etc.) angewandten E. 23 In seiner erweiterten Wortbedeutung umspannt E. hier auch Gebete etwa gegen Unwetter oder Mäuseplage24. Der große, nur mit bischöflicher Erlaubnis zu vollziehende E. wird hingegen nur bei dämonischer Besessenheit gesprochen (Rituale Romanum 11, 1—3: Ritus exorcizandi obsessos a daemonio). Das Ritual für die einzelnen Exorzismen sowie die erforderlichen Gebetsbeschwörungen wurden erstmals unter Papst Paul V. 1614 im Rituale Romanum systematisch zusammengestellt, in das Leo XIII. 1890 den aus einer Anrufung des Erzengels Michael nach dem Gottesdienst bestehenden E. Leonis einfügte (Rituale Romanum 12, 3). Pius XII. paßte schließlich 1952 den E. den Vorschriften des Codex iuris canonici an; in dieser Form ist das Rituale Romanum weitgehend noch bis heute gültig25. Diese Systematisierung steht vor dem Hintergrund einer bedeutenden Zahl theoretischer Abhandlungen des späten 16. und des 17. Jh.s zum Thema (ζ. B. Julio Brognoli, Martin —» Delrio, Maximilian von Eynatten, Girolamo Menghi, Petrus Thyraeus) 26 , die zum Ausgangspunkt von durch Prediger und Katecheten weitervermittelten Erzählungen wurden 27 . 3. K u l t u r e l l e D e t e r m i n a n z des E. Solche Berichte über Besessenheit und deren Heilung durch einen E. setzen eine allg. akzeptierte kommunikative Ebene voraus, in der sowohl über die dämonologische Realität wie über die soziale Funktion des E. Einverständnis herrscht (zu den dämonologischen Hintergründen v. —> Dämonologie, zu den Indikationen —»Besessenheit). Dennoch dokumentiert sich in der Entfernung vom real durchgeführten E., dem authentischen Fallbericht nicht selten durch die Exorzisten selbst, der Veröffentlichung in häufig sensationeller Aufmachung (v. Kap. 4), der literar. und mündl. Verbreitung und dem Niederschlag im Volksglauben sowohl ein erzählerischer Entwicklungs- wie vor allem ein inhaltlicher Bearbeitungs- und letztlich Abstraktionsprozeß, der auf einer individuellen, oft durch ein Theologem bestimmten Intention beruhte, sich dabei aber immer noch im Rahmen allg. Verständigungsmöglichkeiten
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bewegte. In der populären Tradierung verlor der E.-Bericht durch den Charakter des Sensationellen überwiegend seinen eindeutig bestimmten pastoralen und liturgischen Rahmen. Es lassen sich daher in der Erzählvermittlung mehrere Anwendungs- und Funktionsbereiche erkennen und Motive analysieren, welche die Handhabung des E. zu einem kulturell wie zeitlich deut- und kategorisierbaren Phänomen machen. Eine dermaßen zeichenhafte Bedeutung bezieht sich zum einen auf die herausragende Gestalt des Exorzisten selbst, die noch in der Nachwirkung populärer Erzählstoffe zum sozialen Indiz wird. In allen Kulturen hängt die Dämonenvertreibung von außergewöhnlichen empirisch-diagnostischen Fähigkeiten ab 28 . Diese für das Gelingen des E. grundlegende Voraussetzung der genauen Kenntnis um Wesen und Macht der Dämonen wurde durch Ausbildung, Initiation oder eigene Erfahrung erzielt (cf. —> Versuchung Christi, Mt. 4, 1 — 11; —» Antonius Eremita). Von ausschlaggebender Bedeutung für die erfolgreiche Durchführung des E. war ferner die persönliche Integrität des Exorzisten 29 und damit letztlich eine charismatische Begabung durch eine Gottheit 30 . Christi. Exorzierpraxis beruht auf dem Auftrag und der Vollmacht Christi (ζ. B. Mt. 10, 8; Mk. 16, 17-18). Ursprünglich konnte daher zwar jeder Christ exorzieren; im 3. Jh. führte die röm. Kirche jedoch mit dem Exorzistat eine eigene Weihe für Kleriker ein31. So nimmt es nicht wunder, daß dieses Charisma des hl. Menschen den E. zu einem festen Bestandteil der hagiographischen Lit. werden ließ (Mot. G 303.16.II) 32 . Hieran knüpft sich nun eine Reihe von Erzählungen, die den spektakulären Vorgang des E. zeichenhaft transponieren. Die Evangelisten interpretieren die Dämonenaustreibungen Christi als Zeichen seiner Göttlichkeit (ζ. B. Mt. 12, 28) 33 . In der Heiligenlegende wird die Macht, den Teufel zu vertreiben, zum Nachweis der bes., von Gott verliehenen Gabe: Den Bericht über einen vom hl. —> Benedikt von Nursia vollzogenen E. schließt —> Gregor von Tours mit den Worten, daß sich dadurch zeigen sollte, welch große Gnade in Benedikt war (Dialogi 2,16). Schließlich aber wird das Gelingen des E. zum konfessionellen Machtbeweis schlechthin: Viele Christen heil-
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ten Besessene im Namen Jesu, an denen sich alle anderen Beschwörer vergeblich versucht hätten (Justinus, Apologia 2, 6). Die reformator. Auseinandersetzung greift nach dem Motto Haereticus numquam eiiciet daemonem 34 diese demonstrative Funktion des E. von neuem auf; laut Johannes —»Weyer bleibt der papist. Ε. wirkungslos, die Exorzisten werden vom Teufel ausgelacht 35 . Dem begegnet die antiluther. Legendenpolemik mit einem angeblich mißlungenen E.versuch Martin —» Luthers in Wittenberg 36 . Auch die chassid. Legende kennt dieses Motiv 37 . Parallel zu dieser letztlich außerhalb des eigentlichen E.vorganges liegenden Beweisund Zeichenintention verläuft ein Abstraktionsprozeß, der statt des im Rituale Romanum geforderten beschwörenden Gebetes vor dem Hintergrund der nachreformator. Auseinandersetzung die Kraft der als Hilfs- und Schutzmittel empfohlenen sakralen und geweihten Gegenstände (Reliquien, Amulette, Heiligenfiguren) verabsolutiert. Der Dämon fährt nicht mehr auf das Gebet des Exorzisten hin aus, sondern beugt sich der Macht des Weihwassers (Mot. G 271.2), der Erde vom Grab eines Heiligen (Mot. D. 1385.1) oder im Rahmen der Kultpropaganda - einer Marienfigur (cf. auch Mot. V 254.4) 38 . Die von schwunghaftem Handel mit Segenszetteln, Devotionalien u.a. begleitete, im 17. Jh. einsetzende Volksmission durch die Bettelorden, vor allem durch die Kapuziner (—> Martin von Cochem), bildete sicherlich den Ausschlag dafür, im populären Erzählgut etwa die Gestalt des Exorzisten mit den Ordensangehörigen zu typisieren. Die Betonung des Sensationellen gipfelt schließlich in der vom Dämon während des E. gemachten Aussage, der man Kenntnisse über den ansonsten dem Menschen verborgenen Zustand des Jenseits entnehmen zu können glaubte, i.e. ein Theologem bestätigt sah. Einen frühen Beleg für diesen Anwendungsbereich stellt die Heilung des Besessenen von Gerasa dar, eine ursprünglich volkstümliche, von den Evangelisten jedoch als Christusgeschichte reflektierte Erzählung (Mt. 8, 29) 39 . Solche Bekenntnisse beziehen sich auch auf Namen und Zahl der bösen Geister; so berichtet der Jesuit Georg Scherer von einem E., bei dem nicht weniger als 12.652 Teufel ausge-
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fahren seien 40 . Nur zu oft werden dabei zeitgenössische Axiome sichtbar; der durch den Mund eines Besessenen geäußerte Wunsch, in den Himmel zu kommen, steht im Zusammenhang mit ma. eschatologischen Erlösungsspekulationen. Ähnlich eindeutig läßt ein Dämon namens Hitler beim E.skandal von Klingenberg 1976 den zeitlichen Bezug erkennen 41 . 4. S e n s a t i o n s l i t e r a t u r . Ausgangspunkt wie Traditionsträger solcher Überlieferungen ist im wesentlichen eine seit dem späten 16. Jh. weit verbreitete, wiss. verbrämte —> Sensationsliteratur, die auffallenderweise durchwegs volkssprachlich abgefaßt auf einen breiteren Rezipientenkreis zielt 42 . In allen Fällen, von Nicole Obri aus Laon 1565/66 bis zu der 1976 während des E. verstorbenen Anneliese Michel aus Klingenberg 43 , knüpft sich an das als paranormal betrachtete Ereignis eine große Anzahl populärer Lit. im kritisch-wiss. Gewände, die — wie im Fall Klingenberg — objektive Tatsachen, etwa den Obduktionsbericht der Leiche 44 , verschweigt, statt dessen aber trotz gegenteiliger Aussagen der an der Exhumierung Beteiligten die Legende vom unverwesten Körper aufrechterhält 45 . Die kulturelle Faszination des E. verhalf dem Thema aber auch durch seriöse literar. und dramatische Bearbeitungen der Gegenwart zu einem gewissen Grad von Bewußtmachung in der Öffentlichkeit. Der Sammler jidd. Volkserzählungen S. Z. Ansky (1863— 1920) verarbeitete eine Teufelsaustreibung in seinem Bühnenstück Dibbuk, das eines der populärsten Repertoirestücke des HabimahTheaters wurde und das R. Nossig ins Deutsche übertrug 46 . Der Fall der Massenbesessenheit im Ursulinerinnenkloster von Loudun 1634 wurde nicht nur durch zeitgenössische Lit. bekannt gemacht 47 , sondern erneut in dem Roman The Devils of Loudun von Aldous Huxley (L. 1952) aufgegriffen und 1969 von Krzysztof Penderecki mit der Oper Die Teufel von Loudun vertont. Schließlich zeigt der angeblich auf einen Besessenheitsfall von 1949 zurückgehende Roman The Exorcist von William Peter Blatty, 1974 unter dem gleichen Titel von W. Friedkin verfilmt, sowohl die Spannbreite moderner Vermittlungsmechanismen als auch jenen Freiraum zwischen ra-
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tionalistischer Ablehnung und magisch-okkultistischer Sehnsucht auf, der die Voraussetzung für die Tradierung nicht nur von Besessenheits- und E.fällen ist 48 . 1 Balducci, C.: Gli indemoniati. Roma 1959; id.: Priester, Magier, Psychopathen. Aschaffenburg 1976; Bonner, C.: The Technique of Exorcism. In: The Harvard Theological Review 34 (1943) 39—49; van Dam, W. C.: Dämonen und Besessene. Aschaffenburg 1970; Dieckhöfer, K./Lungershausen, E./Vliegen, J.: Zum Problem der Besessenheit. In: Confinia psychiatrica 14 (1971) 2 0 3 - 2 2 5 ; Ernst, C.: Teufelsaustreibungen. Die Praxis der kathol. Kirche im 16. und 17. Jh. Bern/Stg./Wien 1972; von Görres, J.: Die christl. Mystik 4. Regensburg 1880, 1 - 4 1 2 ; von Petersdorff, E.: Daemonologie 1. Mü. 1956, 3 3 2 - 3 6 4 ; Petrocchi, M.: Esorcismi e magia nell'Italia del Cinquecento e del Seicento. Napoli 1957; Prokop, H.: Beitr. zur Psychopathologie von „Besessenheit und E.". In: Kriminalistik und forensische Wiss.en 16 (1974) 187—207; Prokop, O.: Medizinischer Okkultismus. Jena 1962; Rodewyk, Α.: Ε. In: LThK 3, 1314sq.; id.: Die dämonische Besessenheit in der Sicht des Rituale Romanum. Aschaffenburg 1963; id.: Dämonische Besessenheit heute. Aschaffenburg 4 1976; Taczak, T.: Dämonische Besessenheit. Diss. Münster 1903; Thraede, Κ.: E. In: R A C 7, 4 4 - 1 1 7 ; Wolf, H.-J.: Hexenwahn und E. Kriftel 1980. 2 Stemplinger, E.: Antike und moderne Volksmedizin. Lpz. 1 9 2 5 , 5 - 1 8 . - 3 Paulson, I.: Die Religionen der nordasiat. (sibir.) Völker. In: id./HuItkrantz, A./Jettmar, K.: Die Religionen Nordeurasiens und der amerik. Arktis. Stg. 1962, 136. — 4 Schreiber, G.: Dt. Mirakelbücher. Düsseldorf 1938, 60; Kriss-Rettenbeck, L.: Das Votivbild. Mü. 1958, ζ. B. 60, Abb. 67sq. - 5 Böcher, O.: Dämonenfurcht und Dämonenabwehr. Ein Beitr. zur Vorgeschichte der christl. Taufe. Stg./B./Köln/ Mainz 1970, 1 5 3 , 1 6 4 - 1 6 7 . - 6 ibid., 168. - ' R a t schow, C. Η.: Ε. 1. Religionsgeschichtlich. In: R G G 2, 832sq., hier 833. - 8 Zum Fehlen des E. bei Pygmäen und einigen Indianerkulturen cf. Pfeiffer, W. M.: Transkulturelle Psychiatrie. Stg. 1971, 105. - 9 cf. Böcher (wie not. 5) 1 6 1 - 3 1 9 ; Daxelmüller, C./Thomsen, M.-L.: Bildzauber im alten Mesopotamien. In: Anthropos 77 (1982) 2 7 - 6 4 ; Heissig, W.: Die Religionen der Mongolei. In: id./ Tucci, G.: Die Religionen Tibets und der Mongolei. Stg./B./Köln/ Mainz 1970, 2 9 7 - 4 2 8 , hier 311 sq. 10
Dammann, E.: Die Religionen Afrikas. Stg. 1963, 115; cf. Kriss, R./Kriss-Heinrich, H.: Volksglaube im Bereich des Islam 1. Wiesbaden 1960, 339; Haberland, E.: Besessenheitskulte in Süd-Äthiopien. In: Paideuma 7 ( 1 9 5 9 - 6 1 ) 1 4 2 - 1 5 0 , hier 149. 11 Karlinger, F.: Südamerik. Märchen. Ffm. 1973, 8 9 - 9 2 . - 12 cf. ζ. B. Reiner, E.: Surpu. A Col-
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lection of Sumerian and Akkadian Incantations. Graz 1958, pass.; Weber, O.: Die Dämonenbeschwörung bei den Babyloniern und Assyrern. Β. 1906. — 13 Nilsson, Μ. P.: Geschichte der griech. Religion 2. Mü. 2 1961, 541. - 1 4 cf. Hampp, I.: Beschwörung — Segen - Gebet. Unters.en zum Zauberspruch aus dem Bereich der Volksheilkunde. Stg. 1961, passim; Harmening, D.: Superstitio. Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Unters.en zur kirchlich-theol. Aberglaubenslit. des MA.s. B. 1979,224. - 15 cf. Jirku, Α.: Die Dämonen und ihre Abwehr im A.T. Lpz. 1912; cf. ferner Dupont-Sommer, Α.: Exorcismes et guerisons dans les ecrits de Qoumrän. In: Supplements to Vetus Testamentum 7 (1960) 2 4 6 - 2 6 1 ; Friedmann, D.: E. In: Jüd. Lex. 2. B. 1928, 565sq.; Knox, W. L.: Jewish Liturgical Exorcism. In: The Harvard Theological Review 31 (1938) 1 9 1 - 2 0 3 . - 16 Billerbeck, P./Strack, H. L.: Kommentar zum Ν. T. aus Talmud und Midrasch 1. Mü. (1922) 3 1961, 36; cf. Böcher, O.: Christus exorcista. Stg./B./Köln/Mainz 1972. - 17 Böcher (wie not. 5) 170sq. - 1 8 Dubnow, S.: Geschichte des Chassidismus 1. (B. 1931) Nachdr. Jerusalem 1969, 59sq. - 19 Noy, D. (ed.): Jefet Schwill erzählt. B. 1963, 337, num. 160; cf. id.: The First Thousand Folktales in the Israel Folktale Archives. In: Fabula 4 (1960) 9 9 - 1 1 0 . - 2 0 Angenendt, Α.: Der Tauf-E. und seine Kritik in der Theologie des 12. und 13. Jh.s. In: Zimmermann, A. (ed.): Die Mächte des Guten und Bösen. B./N. Y. 1977, 3 8 8 - 4 0 9 , hier 390. 21 Rodewyk 1963 (wie not. 1) 27 - 33. - 22 Angenendt (wie not. 20); Dölger, F. J.: Der E. im altchristl. Taufritual. Paderborn 1909. - 2 3 Bartsch, E.: Die Sachbeschwörungen der röm. Liturgie. Münster 1967. — 24 ζ. B. Martin von Cochem: Libellus benedictionum et exorcismorum. Mainz/Ffm. 5 1736, 2 4 0 - 2 4 4 , 2 5 6 - 2 6 0 . - 25 cf. Rodewyk 1963 (wie not. 1). — 26 Brognoli, C.: Alexicacon, hoc est malorum expulsiuum medium. Venezia 1668; Delrio, M.: Disquisitionum magicarum libri sex. Löwen 1 5 9 9 - 1 6 0 0 ; Maximilian von Eynatten: Manuale exorcismorum. Antw. 1619; Menghi, G.: Flagellum demonum. Bologna 1586; Thyraeus, P.: Daemoniaci, hoc est de obsessis a spiritibus daemoniorum hominibus liber unus. Köln 15 94. — 2 7 ζ. B. Fischer, E.: Die „Disquisitionum magicarum libri sex" von Martin Delrio als gegenreformator. Exempel-Qu. Diss. Ffm. 1975, 60 sq. - 28 Eliade, M.: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Zürich/Stg. [1954] 353; cf. ferner Metraux, Α.: Handbook of South American Indians. 5: Boys' Initiation Rites. Religion and Shamanism. Wash. 1949, 595. — 29 Pizzurnus, G.: Enchiridion exorcisticum. Leiden 1668, 103. - 30 T'ai-p'ing kuang-chi. Peking 1959, 56; cf. Eichhorn, W.: Die Religionen Chinas. Stg./B./Köln/Mainz 1973, 148; zum Niederschlag der Vorstellung von den taoist. Himmelsmeistern als bes. begabten Exorzisten in populären Erzählstoffen v. Eberhard, W.: Erzählungsgut aus SüdostChina. B. 1966, 223. -
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Rodewyk 1963 (wie not. 1) 48. - 3 2 T o l d o 1905, 337; Hebenstreit-Wilfert, H.: Wunder und Legende. Diss. Tübingen 1975, 190sq. - 3 3 Rodewyk 1963 (wie not. 1) 32. - 34 Pizzurnus (wie not. 29) 103. - 35 Weyer, J.: De praestigiis daemonum. Von Teuffelsgespenst. Ffm. 1586, 363; cf. Alsheimer, R.: Katalog Protestant. Teufelserzählungen des 16. Jh.s. In: Brückner, 446sq., num. 162; Deneke, B.: Kaspar Goltwurm. ibid., 164sq. - 3 6 Brückner, W.: Ausprägungen und Nachwirkungen von Legende und Antilegende der Orthodoxie und der Kontroversesten. In: Brückner, 289. - 3 7 Kaidanover, Z . H . : Qaw hajjäsar. Frankfurt (Oder) 1786, cap. 69. — 3 8 Rho, J./Bovio, C.: Marianischer Gnadenund Wunder-Schatz. Augsburg 1737, Teil 4, 1 1 14. - 3 9 Angenendt (wie not. 20) 390; Pesch, R.: Der Besessene von Gerasa. Stg. 1972, 56. — 40 Scherer, G.: Christi. Erinnerung bey der Historien von jüngst beschehener Erledigung einer Junckfrawen, die mit 12.652 Teufeln besessen gewesen. Ingolstadt 1584. 41 Goodman, F. D.: Anneliese Michel und ihre Dämonen. Der Fall Klingenberg in wiss. Sicht. Stein am Rhein 1980, 164. - 42 cf. ζ. B. Schenda, R.: Die frz. Prodigienlit. in der 2. Hälfte des 16. Jh.s. Mü. 1961, 121 sq. - 4 3 Boulaeze, J.: Le Thresor et entiere histoire de la triomphante victoire du Corps de Dieu sur l'esprit maling Beelzebub obtenu ä Laon 1566. P. 1578; Blendec, C.: Cinq Histoires admirables esquelles est montre comme [. . .] a este chasse Beelzebub hors des corps de quatre diverses personnes [. . .]. P. 1582; Agricola, S./Witmerus, G.: Erschröckliche, gantz wahrhafftige Geschieht welche sich mit Apolonia [. . .] so den 20 Octobris, Anno 82 von dem bösen Feind gar hart besessen [. . .] verlauffen hat. Ingolstadt 1584; [anonym:] Histoire admirable et veritable des choses advenues ä l'endroict d'une religieuse professe du couvent des Soeurs Noires en la ville de Möns en Hainault. P. 1586; Michaelis, S.: Histoire admirable de la possession et conversion d'une penitente, seduite par un magicien, la faisant sorciere et princesse des sorciers au pays de Provence, conduite ä la Scte. Baume pour y estre exoreizee l'an 1610. P. 2 1613; Schöbitz, W.: Gibt's auch heute noch Teufel? Reimlingen 5 1925; Sutter, P.: Satans Macht und Wirken in den zwei Besessenen von Illfurt. Straßburg "1927; [anonym:] Geschichte eines vom Teufel besessenen Klosterbruders zu Rom anno 1886. Von einem Augenzeugen. Sarrebourg s.a.; [anonym:] Authentischer Bericht über die Teufel-Austreibung, welche am 13. und 14. Juli 1891 im Wemdinger Kapuzinerkloster stattgefunden. Wemding s.a.; Goodman (wie not. 41); cf. auch Adler, M. u.a.: Tod und Teufel in Klingenberg. Eine Dokumentation. Aschaffenburg 1977; Exorzismen sind ferner Gegenstand der Flugblattlit.; cf. ζ. B. den an Maria Bühler vollzogenen E. auf einem Augsburger Flugblatt des Elias Wöllhöfer (um 1620?). - 4 4 Schulz, E.: „Besessenheit" und E. im Jahre 1976. In: Zs. für Rechtsmedizin 82 (1979) 3 1 3 - 3 2 1 . - 45 Goodman
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(wie not. 41) 223sq. - 4 6 Schwarzbaum, 81. ζ. B. Histoire des Diables de Loudun ou de la possession de religieuses Ursulines. Amst. 1693. 48 Gupta, M./Brandon, F.: A Treasury of Witchcraft and Devilry. Middle Village 1975, 63sq. 47
Göttingen
Christoph D a x e l m ü l l e r
Exotik, Exotismus 1. Allgemeines — 2. Vielfalt und Relativität des Exotismus — 3. Exotische Motive in Märchen und anderen Erzählformen 1. A l l g e m e i n e s . E x o t i k , E x o t i s m u s ( E . ) , v o n e x o t i s c h = fremdländisch, fremdartig (griech. exotikos, ausländisch; lat. exoticus); in der dt. Sprache seit d e m 18. Jh. gebraucht 1 . E x o t i k b e z e i c h n e t die E i g e n s c h a f t v o n f r e m d ländischen, meist mit d e n tropischen G e g e n d e n in V e r b i n d u n g gebrachten D i n g e n , Pflanzen, T i e r e n o d e r M e n s c h e n . E. m e i n t das G e fallen a m Fremdartigen 2 , die psychol. und soziol. erklärbare N e i g u n g z u m E x o t i s c h e n 3 o d e r allg. e i n e sehnsüchtige H i n w e n d u n g z u m Fremden4. D e r Begriff E. w u r d e im Französischen geprägt (wahrscheinlich 1 8 6 3 v o n T. G a u t i e r ) 5 und seit A n f a n g d e s 2 0 . Jh.s auch im D e u t schen v e r w e n d e t und zwar s o w o h l zur K e n n zeichnung einer Stimmung, e i n e s S e e l e n - und G e i s t e s z u s t a n d e s w i e auch zur B e s c h r e i b u n g v o n eingrenzbaren T e n d e n z e n in Lit. und bild e n d e r Kunst. Im erstgenannten W o r t g e brauch findet gelegentlich e i n e Ineinssetzung v o n e x o t i s c h mit bizarr/beunruhigend 6 o d e r sinnlich/triebhaft 7 statt. D a b e i wird der B e griff zu n a h e an W o r t f e l d e r der R o m a n t i k , bes. der schwarzen R o m a n t i k 8 gerückt und droht, s e i n e n e i g e n t ü m l i c h e n A u s s a g e w e r t zu verlieren. M a n sollte ihn nur v e r w e n d e n zur B e z e i c h n u n g v o n literar. M o t i v e n o d e r T h e m e n , die ( 1 ) sich in irgendeiner F o r m auf d e n geogr. Ort der E x o t i k b e z i e h e n und die ( 2 ) in der Darstellung ein M o m e n t v o n Sehnsucht o d e r Faszination e r k e n n e n lassen; gerade das letztere prägt den E., unabhängig davon, o b m a n ihn erklärt als universales Bedürfnis nach e i n e m A u s b r u c h aus d e m Alltag 9 , als p o s i t i v e s Wunschbild in der F e r n e ' 1 0 o d e r als .Projektion e i n e s sozial b e s t i m m t e n B e w u ß t s e i n s in e i n e n e x o t i s c h e n R a u m ' 1 1 . W i e v o m R o -
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mantischen 12 ist der E. auch vom Phantastischen und Wunderbaren 13 zu trennen. Zu zusätzlicher Begriffsverwirrung beigetragen hat, daß in der ags. Forschung (die ebenso wie die frz. ihre Aufmerksamkeit dem exotischen Themenkreis schon früher und systematischer zugewendet hatte) 14 oft der Begriff Primitivismus mit E. gleichgesetzt wurde 15 . Im Interesse begrifflicher Eindeutigkeit sollte man Primitivismus (Vorstellung, das Leben in einer einfacheren Kultur sei vorzuziehen) und E. voneinander trennen 16 . 2. V i e l f a l t u n d R e l a t i v i t ä t des E. In der Lit.wiss. wird der Begriff vor allem in der komparatistischen Forschungsrichtung gebraucht 17 ; weniger gängig, aber nicht ungebräuchlich ist er in der Kunstwissenschaft 18 und in der Ethnologie und Kulturanthropologie. In den letzten beiden Wiss.en werden die betr. Probleme selbstkritisch in Hinblick auf eine mögliche ethnozentrische Perspektive reflektiert 19 . Ist E. in der frz. und ags. Forschung ein fest etablierter Begriff, so hat er sich in der dt. Lit.wiss. erst in den letzten Jahren eingebürgert. Konstitutiv für seine Verwendung ist dabei seine Beziehung auf einen jeweiligen kulturellen oder personellen Identitätskern (z.B. im Begriff Heimat, wie problematisch immer er sein mag, erfaßt) 20 . Gegenwärtig wird in der Forschung versucht, das vom europ.-amerik. Standpunkt aus Exotische jeweils in seiner hist. Funktion zu beschreiben und zu verstehen und zwar bis zur Infragestellung der eigenen Position, indem diese als exotisch aus dem Gesichtswinkel der ,Exoten' beschrieben wird und das Streben der armen Länder der Dritten Welt, sich technischen Komfort anzueignen, sogar als ,Eurozentrismus der Unterentwickelten' bezeichnet wird 21 . Exotische Gegenstände in Lit. und Kunst werden in bezug auf ihre Eigentümlichkeit und die dafür verantwortlichen Ursachen untersucht. So wurde im Bereich der bildenden Kunst festgestellt, daß die ma. Darstellung von Monstren seit den Reiseberichten des 13. Jh.s, bes. aber seit dem ZA. der Entdekkungen mehr und mehr durch die Darstellung realer exotischer Pflanzen, Tiere und Menschen abgelöst wurde, wobei es lange Zeit noch zu Kontaminationen kam; in einer
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Zeichnung von Dürer (1515) z.B. ist das Nashorn mit einem an Drachenbilder erinnernden Panzer ausgestattet 22 . Gerade im Bereich der Populärkultur gab es immer wieder solche Vermischungen von Exotischem und Phantastischem: so wenn Drachen, Einhörner oder Seejungfrauen aus Skeletten exotischer Tiere und aus fremdem Material phantasiereich für Jahrmärkte zusammengesetzt wurden 23 . Ferner wird das Bild untersucht, das die Berichte über die exotische Welt von dieser zeichnen 24 , wobei bes. Wert darauf gelegt wird, herauszuarbeiten, welche Interessen und Ideologien die jeweilige Vorstellung vom Exotischen bestimmt haben 25 . Speziell im Bereich der Lit. wird in der frz. Lit.wiss. der E. als Phänomen gesehen, das chronologisch durch die gesamte Lit.geschichte zu beobachten sei und bes. auch Werke des literar. anerkannten Kanons präge, von Montaigne über Diderot und Chateaubriand zu Malraux und Levi-Strauss 26 . Wird E. hier als existentielles, zeitloses Phänomen gesehen, so wird er in der dt. Lit.wiss. eher als Reaktion auf die zivilisatorischen Zwänge des bürgerlichen ZA.s seit dem 18. Jh. beschrieben und vorwiegend in populärer Lit. gefunden und analysiert 27 . Diese Art des Interesses setzt in Deutschland auf breiterer Ebene erst in den 70er Jahren dieses Jh.s ein. Der späte Zeitpunkt ist sicher auch aus der Kürze der dt. Kolonialepoche zu erklären, die keine schwerwiegenden literar. Spuren hinterlassen hat 28 . Andererseits hat sich in der Zeit nach dem Ende des offenen Kolonialismus seit ca 1960 das Bewußtsein dafür geschärft, daß die Dritte Welt nicht naiv als exotisch bezeichnet werden kann 29 . Es ist geradezu ein Hauptmotiv der literaturwiss. und anthropol. Forschung der letzten Jahre, herauszuarbeiten, wie sehr das dargestellte Exotische, auf welchem literar. Niveau, in welcher Erzählgattung immer, durch den Darstellenden und damit durch hist., psychol. und soziale Faktoren bestimmt sei. Das Exotische wird weniger als Beschreibung denn als fiktionaler Wirklichkeitsentwurf gesehen, sei es als ,geogr. Utopie' (E. Bloch) 30 , als ,Wunschraum' (W. Reif) 31 oder als .nostalgische Projektion' (T. Lange). Dies geht so weit, daß der Ethnologe F. Kramer die in der Ethnographie des 19. Jh.s beschriebene exotische Welt als .verkehrte Welt' bestimmt, in
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deren Schilderung der Europäer die ,tabuisierte Wahrheit' über die eigene Kultur ausspricht 32 . Im Zuge der Entdeckung kultureller Grenzen innerhalb der jeweiligen (dt., frz. etc.) Nationalkultur, im Laufe der Bewußtwerdung verschiedener Subkulturen hat man auch von ,Binnenexotik' gesprochen 33 . Diesen Ansatz ins Grundsätzliche vertiefend arbeitet Η. P. Duerr für die europ. Kultur in einer Analyse des volkstümlichen Hexen- und Dämonenglaubens heraus: Die ,Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation', zwischen archaisierenden Traum- und Allmachtsphantasien einerseits und rationaler Ordnung andererseits verlaufe innerhalb des je eigenen Bewußtseins. Die Hexen, Zauberer und Schamanen, die sich vorübergehend (in Rausch oder Ekstase) in eine ,Wildnis' eigener Vorstellung begaben, gewannen so mehr Bewußtsein von der Kultur, in der sie jeweils lebten 34 . Das gegenwärtig letzte Stadium des E. ist gekennzeichnet durch die Hoffnung, in den politischen Modellen oder den einfachen, anschaulichen Tugenden der Dritten Welt das ländlich-positive Gegenbild zur politisch und ökologisch kränkelnden Industriegesellschaft zu finden. Aber die Realität, „der Westen, der sich in alle Himmelsrichtungen ausbreitet" 35 , wird heute nicht mehr nur von anthropol. Reisenden als Desillusionierung ihres Berufsfeldes wahrgenommen (wie von C. Levi-Strauss in Tristes Tropiques [P. 1955]), sondern geht auch in der Subkultur in die Erfahrungsberichte nichtwiss. ,Abhautouristen' ein 36 . Die Relativität dessen, was exotisch zu nennen ist, wird im Bereich der Lit. nachdrücklich deutlich gemacht dadurch, daß ,Exoten' im 20. Jh. sich selbst zum Gegenstand von Lit. machten. Die Schriftsteller der bis dahin schriftlosen Kulturen Afrikas und Lateinamerikas gelangten über die Phase der Selbstidentifikation mit den exotischen Klischees der europ. Lit. (in den 30er Jahren: Indigenismus in Lateinamerika, Negritude in Afrika) 37 schließlich zu größerer kultureller Eigenständigkeit und kräftigerem Selbstbewußtsein 38 . Die europ. Forschung widmete ihre Aufmerksamkeit nunmehr auch den literar. und künstlerischen Zeugnissen, in denen die ,Exoten' auch früherer Jh.e ihrerseits die Abendländer als exotisch-fremdartige Gestalten abbildeten — meist allerdings mehr sati22*
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risch als sehnsüchtig39. Zu weiterer Relativierung des Exotischen tragen die synkretistischen Kulte Lateinamerikas bei, in deren Riten und Mythen Elemente autochthon-primitiver und europ. Kultur sich vermischen 40 . 3. E x o t i s c h e M o t i v e in M ä r c h e n u n d a n d e r e n E r z ä h l f o r m e n . Unterscheidet man Groteskes, Monströses, Phantastisches, Wunderbares, Häßliches und ähnliches auf der einen Seite vom Exotischen im engeren Sinne auf der anderen, so fällt es sehr schwer, in diesem Sinn Züge des E. oder auch nur exotische Motive oder Requisiten in Märchen systematisch auszusondern und zu ordnen: So wie dem peruan. Indio das europ. Märchen, das er im Spanischunterricht seiner Schule lesen muß, exotisch erscheinen dürfte 41 , so wirken für den Europäer die Märchen der Naturvölker oder des Orients wegen ihres andersartigen kulturellen Hintergrundes ebenfalls exotisch. Sie beziehen ja gerade einen Teil ihres Reizes eben aus ihrer kulturellen Andersartigkeit: Durch diese wirken die Texte zugleich märchenhaft, während sie nach Maßstäben der Erzählforschung eher anderen Gattungen wie z.B. dem Schwank zuzurechnen wären 42 . Die Autoren vieler Kunstmärchen stellen durch solch ein (oriental., ind. etc.) Lokalkolorit märchenhafte Atmosphäre bewußt her 43 . Einzelne exotische Motive in europ. Märchen (Löwe, Palme etc.) lassen sich als —> Requisiten oder noch eher als —> dekorative Züge betrachten, wobei bes. Ortsangaben, die große Ferne andeuten sollen, oft exotische Namen erhalten 44 . Eine nennenswerte Rolle im europ. Märchen spielen solche exotischen Motive aber nicht. So taucht die Figur des Negers im europ. Kulturkreis nur äußerst selten und dann z.B. eher mit bibl. Assoziationen auf (etwa die Verfluchung der Nachkommen Hams, schwarz zu sein; Mot. A 1614.1). Der Indianer bleibt dem indian. Märchen vorbehalten. ,Schwarz' als Assoziation zu ,Teufel' (z.B. Mot. G 303.2.2) ist dagegen nicht so selten; ob Figuren wie der ,schwarze Mann' 45 oder die schwarze Prinzessin 46 ihre Farbe der Nähe zum Teufel oder zum Neger verdanken, ist unklar. Jedenfalls: „Als Unhold, als Verkörperung des bösen Prinzips begegnet der Mohr, der Schwarze schon früh-
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zeitig. Bei den Römern galt die Begegnung mit einem Neger (obvius Aethiops Flor. IV, 7,7) als böses Omen. Vom ,Wilden Mann' sagt Hartmann von Aue im Iwein 425: er was eim Möre gelich. Als Versucher an Stelle des Teufels setzt die mittelalterliche Legende [. . .] öfter einen häßlichen Mohren (Ethyopem teterrimum)"47.
Im griech. Märchen taucht als dämonischer Gegner des Helden der Aräpes auf, i.e. die aus dem türk. (aräb = Neger) übernommene Figur eines schwarzen Unholds, die ihrerseits wieder auf die arab. Märchen zurückgeht; in ihnen ist der Schwarze böser Dämon, aber auch hilfreicher Geist, was die doppelte Rolle widerspiegelt, „die der Neger als dienstfertiger Sklave und als unheimlicher Henker und Soldat im Orient spielte" 48 . Zusammenfassend kann man sagen, daß E. im eigentlichen Sinn, als Ausdruck der Sehnsucht nach geogr. und kulturell Fremdem mit dem Märchen strukturell wohl insofern wenig zu schaffen hat, als hier am Ende eine Sehnsucht stets naiv erfüllt und in (Märchen-) Realität übersetzt wird 49 . Gleichwohl gibt es an vielen Stellen der literar. Tradition Berührungen zwischen Märchen und Exotik. So etwa, als 1704—17 die Mille et une Nuits erschienen und eine Mode literar. Exotik auslösten 50 , die allerdings als Maske literar. und satirisch verkleideter Kritik an politischen und kulturellen Zuständen diente 51 . Diese vor allem durch Montesquieus Lettres persanes (1721) initiierte satirische Brief-Lit. im exotischen Gewand spielt auch heute noch eine Rolle; so wird von manchen zivilisationsflüchtigen jungen Aussteigern die selbst märchenhafte (im Sinn extremer Kontraste) 52 literar. Zivilisationskritik in E. Scheurmanns Der Papalagi (1920) als Reiselektüre benutzt 53 . Von der europ. Reiselit. läßt sich sagen, daß in ihr, die ja als populärer Lesestoff weit verbreitet war, unter bestimmten Umständen die Reiseberichte den Charakter des Märchenhaften annahmen. „Geographie ist das Gebiet, wo schlechthin alles für möglich gehalten wurde" (Bloch) 54 . Hoffnungen und Ängste des europ. Kulturkreises spiegeln sich seit Herodot in Reiseberichten von märchenhaft glücklichen Staaten oder erschreckenden halbtierischen Zwitterwesen. Ebenso gehen in die exotischen Klischeebilder vom grausa-
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men oder edlen Indianer, vom kannibalischen oder kindlichen Neger, vom heimtückischen oder weisen Asiaten aber auch ideologische Interessen der Autoren ein. Das Klischee ändert sich, je nachdem, ob es zur Rechtfertigung des Kolonialismus oder aber zur Verdammung der Sklaverei diente 55 . Gelegentlich findet eine Verschiebung von bestimmten Klischees auf andere Figuren statt, etwa wenn in bestimmten populären Mythen der weißen US-amerik. Volkskultur und Lit. Figuren aus dem Arsenal europ. Märchen (Elfen, Kobolde etc.) durch exotische Figuren (Farbige, Indianer) ersetzt werden (z.B. die erlöste und zugleich ihren Erlöser beschützende Jungfrau in der Erzählung vom Indianermädchen Pocahontas) 56 . Teilweise wird dabei auch auf ältere Klischeefiguren wie den edlen —> Wilden zurückgegriffen 5 7. Insbesondere die Kinder- und Jugendlit. zeichnet sich in einigen Gattungen durch die Tradierung von exotischen Klischees aus (z.B. der edle Indianer Chingachgook bei J. F. Cooper oder Winnetou bei Karl May); das geht teilweise aber auch über in die bewußte Propagierung negativer Klischees in der Kolonialerzählung des 19. Jh.s (A. Niemann, G. Frenssen) 58 . Andererseits gibt es aber gerade hier (seit J. H. Campes Bearb.en von Reisebeschreibungen für die Jugend vom Ende des 18. Jh.s) auch Versuche, bewußt Vorurteile aufzulösen, z.B. in der Form, daß ältere Kinderbücher umgeschrieben werden. So soll der in H. Hoffmanns Struwelpeter (1845) gegen Kinderspott mitleidsvoll in Schutz genommene ,kohlpechrabenschwarze Mohr' in einer Neubearb. (1973) durch eine positive Identifikation zu höherem Selbstbewußtsein aufgewertet werden (das bei Hoffmann noch strafweise geschwärzte Kind singt 1973: „,Weil ich jetzt wie die Mohren bin, / lauf ich zu meinen Freunden hin'. / Sie tats und hat es nie bereut [. . .])" 59 . — In den verschiedenen Bereichen der mündlichen europ. Volkslit. gehören einzelne exotische Motive (z.B. die Fremdenlegion im Bänkelsang, der Neger in der Traktatslit. oder im Kannibalenwitz) aber nur zum nebensächlichen Repertoire, zur Staffage 60 . 1 Pochat, G.: Der E. während des MA.s und der Renaissance. Voraussetzungen, Entwicklung und
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Exotik, Exotismus
Wandel eines bildnerischen Vokabulars. Sth. 1970, 13. - 2 Mathe, R.: L'Exotisme d'Homere ä Le Clezio. P. 1972, 14. - 3 Reif, W.: Zivilisationsflucht und literar. Wunschträume. Der exotistische Roman im ersten Viertel des 20. Jh.s. Stg. 1975, 10. — 4 Lange, T.: Idyllische und exotische Sehnsucht. Formen bürgerlicher Nostalgie in der dt. Lit. des 18. Jh.s. Kronberg 1976, 25. - 5 Reif (wie not. 3) 2; cf. Mathe (wie not. 2) 14sq. - 6 Chinard, G.: Exotisme et primitivisme. In: IX e Congres internat. des sciences historiques 1. Rapports. P. 1951, 6 3 1 - 6 4 4 , hier 632. - 7 Praz, M.: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik. Mü. (1930) 1970, 178sq. - 8 cf. Praz (wie not. 7) sowie die bei Reif (wie not. 3) 5 sq. und Lange (wie not. 4) 20 sq. genannte Lit. — 9 Mathe (wie not. 2) 14. — 10 Reif (wie not. 3) 13. 11 Lange (wie not. 4) 25. - 12 ibid., 20sq. - 13 Reif (wie not. 3) 17 sq. - 14 Einschlägige Lit. bei Mathe (wie not. 2) 217sq., Chinard (wie not. 6) und Lange (wie not. 4) 20 sq. - 15 cf. Lovejoy, A. O./Boas, G.: Primitivism and Related Ideas in Antiquity. Baltimore 1935, 8; Chinard (wie not. 6). - 16 Zur Abgrenzung cf. Lange (wie not. 4) 20sq. - 17 Zur Auseinandersetzung damit cf. Reif (wie not. 3) 3sq.; Lange (wie not. 4) 28sq. - 18 cf. Pochat (wie not. 1). - 19 cf. Greverus, I.-M.: Kultur und Alltagswelt. Mü. 1978,16 sq. - 2 0 c f . e a d . : Auf der Suche nach Heimat. Mü. 1979, 35 sq. 21 cf. Kramer, F.: Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jh.s. Ffm. 1977; Enzensberger, Η. M.: Eurozentrismus wider Willen. In: Transatlantik (1980) (zitiert nach epd - Entwicklungspolitik 21 [1980] Dokumentation, e). - 22 Pochat (wie not. 1) 75sq., 145sq., 155sq. (zu Dürer); zu ähnlichen Vorgängen cf. Adams, Ρ. Α.: Traveller and Travel Liars 1 6 6 0 - 1 8 0 0 . Berk./L. A. 1962. - 2 3 Hall, Α.: Bestien, Scheusale und Monster. Ffm./B./Wien (1975) 1979, 14, 23sq.; ähnlich werden auch heute noch auf Jahrmärkten Gorillafrauen, Affenmenschen und ähnliches einem amüsierten und gruselnden Publikum vorgeführt. — 2 4 Bitterli, U.: Die „Wilden" und die „Zivilisierten". Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europ.-überseeischen Begegnung. Mü. 1976. 25 Duchet, M.: Anthropologie et histoire au siecle des lumieres. P. 1971; Lange (wie not. 4) 87 sq. — 26 Einen repräsentativen Überblick gibt die Anthologie von Mathe (wie not. 2). — 2 7 cf. Motivund Stilunters.en für das 18. Jh. bei Lange (wie not. 4) 193sq.; für das 19. Jh. bei Maler, Α.: Exotische Hütten. Im Paradies des Populärromans zwischen Restauration und Revolution. In: Ueding, G. (ed.): Lit. ist Utopie. Ffm. 1978, 1 8 9 - 2 1 9 ; für das 20. Jh. bei Reif (wie not. 3). - 28 cf. Bold, D./Heller, P. u.a.: Die Liebe zum Imperium. Deutschlands dunkle Vergangenheit in Afrika. [Katalog] Übersee-Museum Bremen 1978; Becker, J.: „Es ging spazieren vor dem Tor ein kohlpechrabenschwarzer Mohr". Die „Dritte Welt" im Spiegel
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von Kinder- und Jugendbüchern. Fachübergreifende Unterrichtsmaterialien für die Sekundarstufe I. Bonn 1976; Reif (wie not. 3). - 29 An einem frühen Beispiel ist diese Bewußtseinsveränderung zu verfolgen bei dem Kunstkritiker C. Einstein, der, einst der Faszination durch exotische Kunst selbst erlegen (z.B. Afrik. Plastik. B. 1922), in den 30er Jahren gegen die Flucht der Intellektuellen ins Exotische polemisierte: Die Fabrikation der Fiktionen ( 1 9 3 5 - 3 7 ) . Reinbek 1973, 93sq., 114. - 3 0 Bloch, E.: Das Prinzip Hoffnung 1 - 3 . Ffm. 1959, hier t. 2, 874 sq. 31
Reif (wie not. 3) 14. - 32 Kramer (wie not. 21) 8. - 3 3 Bausinger, H.: Volkskultur in der technischen Welt. Stg. 1961, 93; cf. Greverus (wie not. 19) 26; zu Subkulturen allg.: Schwendter, R.: Theorie der Subkultur. Ffm. 1978 (zu exotisierenden Elementen darin: p. 22 9). - 3 4 Duerr, H. P.: Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation. Ffm. 197 8, 83. - 35 Enzensberger (wie not. 21). 36 cf. Bergmann, K./Hammann, W./Ockenfuß, S. (edd.): Abhauen. Flucht ins Glück. Reinbek 1981; Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten 353 (1980): Vom Mythos der Indianer (Themenheft). — 3 7 Jahn, J.: Geschichte der neoafrik. Lit. Düsseldorf/Köln 1966, 202 sq., 221 sq. - 38 cf. Tibi, B.: Romantische Entwicklungsideologien in Afrika. In: Bll. für dt. und internat. Politik 18 (1973) 5 3 8 - 5 5 2 , 6 4 5 - 6 5 6 ; Strausfeld, M. (ed.): Materialien zur lateinamerik. Lit. Ffm. 1976. - 39 In Japan begann dies schon im 16. Jh.: cf. Pochat (wie not. 1) 168sq.; Kramer (wie not. 21) 111 sq.; Blackburn, J.: The White Men. L. 1980. 40 Fichte, H.: Xango. Die afroamerik. Religionen. Bahia, Haiti, Trinidad. Ffm. 1976; Kunst aus Haiti. Katalog zur Ausstellung im Rahmen des 1. Festivals der Weltkultur, Horizonte '79. B. 1979. 41 cf. Keim, H./Münzel, M.: Herrscher und Untertanen. Indianer in Peru 1000 v. Chr. - heute. Ausstellung des Museums für Völkerkunde. [Katalog] Ffm. 1974, 274. - 42 cf. Lüthi, Märchen, 33sq. 43 z.B. Die Geschichte von Kalif Storch (1826) von W. Hauff (Sämtliche Werke. 2: Märchen. Novellen. Mü. [1970] 12 - 25).— 4 4 Lüthi, Märchen, 27sq.; Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 102, 202; Bausinger, Η.: ,Historisierende' Tendenzen im dt. Märchen seit der Romantik. Requisitenverschiebung und Requisitenerstarrung. In: Wirkendes Wort 10 (1960) 2 7 9 - 2 8 6 ; Karlinger, 89 (F. Panzer). - 45 Brackert, I. (ed.): Das große dt. Märchenbuch. Königstein 1979, 316 (österr.). 46 ibid., 369sq. (westfäl.). - 4 7 Kretschmer, P. (ed.): Neugriech. Märchen. MdW 1941, VHIsq. 48 ibid., IX. - 49 Lüthi, Märchen, 3,25 sq. 50 ibid., 50. 51 Lange (wie not. 4) 198sq. — 5 2 Lüthi, Europ. Volksmärchen, 34sq. — 5 3 Lange (wie not. 4) 2sq.; Ockenfuß, S.: Von einer, die auszog, das Fürchten zu lernen. In: Bergmann (wie not. 36) 60—72, hier
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Experimentelle Erzählforschung
60. - 54 Bloch (wie not. 30) 881 sq. - 55 cf. Kulturmagazin 8 (1978) mit mehreren Beiträgen zum Thema Exoten, Barbaren und Kolonialisten; Seeßlen, G./Klinger, B. (edd.): Unterhaltung. Lex. zur populären Kultur 1. Reinbek 1977, 243sq., s.v. Abenteuer; cf. Adams (wie not. 22); Bitterli (wie not. 24) 26, 239sq., 332sq.; Lange (wie not. 4) 87sq.; Jahn, J. (ed.): Wir nannten sie Wilde. Abenteuer in alten und neuen Reisebeschreibungen. Mü. 1964 (gibt zahlreiche Beispiele). - 56 Fiedler, L. Α.: Die Rückkehr des verschwundenen Amerikaners. Ffm. 1970, 56, 72 sq. — 57 Lange (wie not. 4) 114sq., 193sq. - 58 cf. LKJ 3, 157-160 (Art. Reiselit.); 1, 7 - 1 0 (Art. Abenteuerbuch); 2, 6 - 9 (Art. Indianerbuch); 2,15 — 17 (Art. Inselmotiv). 59 Waechter, F. K.: Der Anti-Struwelpeter. Darmstadt 1973; cf. Vogt, E. und J.: Und höre nur, wie bös er war. Randbemerkungen zu einem Klassiker für Kinder. In: Richter, D./Vogt, J. (edd.): Die heimlichen Erzieher. Kinderbücher und politisches Lernen. Reinbek 1974, 11-30; Becker (wie not. 28) listet solche Klischees auf und bietet eine Textausw., die klischeehafte und aufklärende Texte kontrastiert, 18 sq., 39 sq. - 60 Petzoldt, L.: Bänkelsang. Stg. 1974, 76sq.; Schenda, R.: Volk ohne Buch. Ffm. 1970, 318sq.; Röhrich, Witz, 144sq., 285 sq. Lit.: Chinard, G.: L'Exotisme americain dans la l i terature franchise au XVI e siecle. P. 1911. - id.: L'Amerique et le reve exotique dans la litterature fran?aise au XVII e et au XVIII e siecle. P. 1913. Brie, F.: E. der Sinne. Eine Studie zur Psychologie der Romantik. Heidelberg 1920. - Baudet, H.: Paradise on Earth. Some Thoughts on European Image of Non-European Man. New Haven 1959. Smith, B.: European Vision of the South Pacific. Ox. 1960. — Mercier, R.: Les Debuts de l'exotisme africain en France. In: Revue de litterature comparee 36 (1962) 191-209. - Bitterli, U.: Die Entdeckung des schwarzen Afrikaners. Versuch einer Geistesgeschichte der europ.-afrik. Beziehungen an der Guineaküste im 17. und 18. Jh. Zürich 1970. — Lange, T.: Leo Frobenius und die Neger. In: Afrika heute 13 (1. 7. 1971) Kulturbeilage, p. 6 - 9 . Steins, M.: Das Bild des Schwarzen in der europ. Koloniallit. 1870-1918. Ffm. 1972. - Boulanger, P.: Le Cinema colonial. P. 1975. - Höllerer, W./ Miller, N. (edd.): Amerika-Bilder. Sprache im technischen ZA. Stg. 1975. - Maler, Α.: Der exotische Roman. Bürgerliche Gesellschaft kflucht und Gesellschaftskritik zwischen Romantik und Realismus. Stg. 1975. - Duala-M'Bedy, N.: Xenologie. Die Wiss. vom Fremden und die Verdrängung der Humanität in der Anthropologie. Fbg 1977. Kohl, Κ. H.: Exotik als Beruf. Zum Begriff der ethnogr. Erfahrung bei B. Malinowski, Ε. E. EvansPritchard und C. Levi-Strauss. Wiesbaden 1979. Leiris, M.: Das Auge des Ethnographen. Ffm. 1979. - Weißhaupt, W.: Europa sieht sich mit fremdem Blick. Werke nach dem Schema der
„Lettres persanes" in der europ., insbesondere in der dt. Lit. des 18. Jh.s 1 - 3 . Ffm./Bern/Las Vegas 1979. - Newall, V.: The Black Outsider. Racist Images in Britain. In: Folklore Studies in the Twentieth Century. Proc. of the Centenary Conference of the Folklore Soc. ed. V. J. Newall. Woodbridge/ Totowa 1980, 308-313. - Fohrbeck, K./Wiesand, A. J.: Wir Eingeborenen - Magie und Aufklärung im Kulturvergleich. Opladen 1981. - Kohl, Κ. H.: Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation. B. 1981. — id. (ed.): Mythen der Neuen Welt. Zur Entdeckungsgeschichte Lateinamerikas. Ausstellungskatalog. Berliner Festspiele, Horizonte '82. B. 1982. Darmstadt
Thomas Lange
Experimentelle Erzählforschung 1. Experiment - 2. Mündl. Überlieferung 3. Die Wechselbeziehungen zwischen Erzähler und Erzähltem 1. E x p e r i m e n t (E.). Das E. kann als planmäßige, kontrollierte und systematische Beobachtung definiert werden. In diesem weiten Sinn ist ein E. nur eine bes. Art der wiss. Beobachtung. Viele astronomische Beobachtungen können z.B. als E.e betrachtet werden, obwohl der Astronom bei den von ihm beobachteten Prozessen nicht interveniert. Das E. im engeren Sinn dagegen ist durch ein hohes Maß an aktivem Eingreifen von Seiten des Beobachters gekennzeichnet. Eine mit äußerster Sorgfalt geplante astronomische Beobachtung wäre noch kein E. in diesem engeren Sinn 1 . Der von Kulturanthropologen angewandte ,geogr. kontrollierte Vergleich' kann als E. im weiteren Sinn betrachtet werden, z.B. Beobachtungen wie die W. Goldschmidts u. a. bei vier kulturellen Gruppen in Ostafrika, deren jede sich sowohl aus Ackerbauern als auch aus Viehzüchtern zusammensetzte 2 ; A. Holmbergs Versuch, die technologische Effizienz der Siriono (Ostbolivien) durch Einführung von Stahläxten und Macheten zu steigern, geht in Richtung eines E.s im engeren Sinne 3 . Unter den Versuchen, die auf den der Erzählforschung benachbarten Gebieten durchgeführt wurden, tendieren A. Väzsonyis Beobachtungen der Nachrichtenverbreitung in einer Arbeitskompanie des ung. Heeres 4 zum E. im weiteren Sinn, während die von K. Goldstein
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zur Unters, der Wirkungsweise von W. —» Andersons Gesetz der —» Selbstberichtigung kontrollierte Situation 5 als E. im engeren Sinn gesehen werden kann. Unterscheidungen zwischen E.en im weiteren und E.en im engeren Sinn sind also nicht einfach. Hier sollen nur E.e Beachtung finden, die einen hohen Grad an Interventionen in die beobachteten Erzählvorgänge aufweisen. Die E.e, für die dies zutrifft, konzentrieren sich auf zwei Hauptpunkte: (1) den Prozeß der mündl. Überlieferung, (2) die Wechselbeziehungen zwischen Erzähler und Erzähltem. 2. M ü n d l . Ü b e r l i e f e r u n g . Das bisher größte Interesse und die meisten Anstrengungen der Folkloristen galten E.en, die das Wesen der mündl. Überlieferung und die —» Stabilität von Texten betrafen. Große Wirkung hatte eine von dem Psychologen F. C. Bartlett durchgeführte E.reihe mit Volkserzählungen, die 1920 in der Zs. Folk-Lore beschrieben wurde 6 . Bartlett wollte die Prinzipien herausfinden, welche die Richtung und Art der Konventionalisierung erzählerischer (und anderer) Formen im Alltagsleben bestimmen. Bei seiner Unters, wandte er zwei experimentelle (e.e) Verfahren an: (1) wiederholte Reproduktion einer Erzählung durch eine Einzelperson, die in unterschiedlichen Zeitabständen auf die Konfrontation mit dem Text erfolgt; (2) Serienreproduktion eines Textes, wobei die Erzählung in einer Überlieferungskette von einer Person zur nächsten weitergegeben wird. Zu seinen E.en benutzte Bartlett zwei Erzählungen: The War of Ghosts, eine etwas veränderte Version von F. —» Boas' Übers, einer Chinook-Erzählung, und die kongoles. Erzählung The Son Who Tried to Outwit His Father7. Bei beiden Verfahren ergaben sich starke Tendenzen zu Veränderungen. Die wichtigen Prinzipien bei der wiederholten Reproduktion durch denselben Erzähler charakterisierte Bartlett als (1) Beständigkeit des Trivialen, (2) Einfluß vorhergehender Versionen, (3) Wirkung visueller Bilder, (4) Intensivierung struktureller Beziehungen und (5) Rationalisierung. Bei der Serienreproduktion vermerkte er Auslassung, Umgestaltung und Transposition. Es gibt drei Arten von Auslassungen: die des Belanglosen, des Fremdartigen und des Anstößigen. Als Um-
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gestaltungen beobachtet Bartlett Familiarisierung, Rationalisierung und Änderung der Dominanz. Transpositionen beziehen sich hauptsächlich auf Änderungen in der Anordnung der übermittelten Materialien. Bartletts E.e mit Volkserzählungen zielten auf eine Analyse der Verarbeitung und des Abrufs von Informationen und bildeten nur einen Teil der e.en Unters.en, auf denen sein Werk Remembering beruht 8 . Er wollte lediglich eine Kontrollsituation schaffen, in der er die Änderungen, die sich bei der Wiederholung und Übermittlung von Textmaterial ergaben, untersuchen konnte, und war weder einer bestimmten Auffassung in Hinblick auf die Stabilität von Volkserzählungen verpflichtet, noch verstand er die beobachteten Veränderungen durch die Versuchspersonen als Degeneration und Verfall. Häufig spricht er vielmehr von Ausarbeitung und Verbesserungen im Verlauf des Übermittlungsprozesses und vom Streben nach erzählerischer Logik. Seine Beobachtungen bekommen noch zusätzliche Bedeutsamkeit, wenn man sich vor Augen hält, daß Boas The War of Ghosts bei einem der drei letzten noch lebenden Sprecher des Kathlamet Chinook-Dialekts gesammelt hatte und daß dieser Erzähler Boas als einziger überhaupt noch einen zusammenhängenden Text liefern konnte 9 . Anders ausgedrückt: Es ist sehr wahrscheinlich, daß sich die von Bartlett zu seinem E. benutzte Erzählung von Anfang an in struktureller Unordnung befand. W. Anderson mißverstand die Absicht von Bartletts E.en. Er meinte, Bartlett wolle die bei der mündl. Überlieferung einer Erzählung entstehenden extremen Veränderungen und Verfallserscheinungen aufzeigen, und versuchte, Bartletts Modell zu ,überbieten', indem er sich bemühte, den Nachweis für die Gültigkeit seines Gesetzes der Selbstberichtigung zu erbringen. Anderson war der Ansicht, die außerordentliche Stabilität von Volkserzählungen über Zeit und Raum hinweg könne nur dadurch erklärt werden, daß jeder Erzähler eine Geschichte (1) nicht bloß einmal, sondern öfter und (2) aus mehreren Qu.n gehört habe. Dieses mehrfache Hören bewirkt laut Anderson die Berichtigung individueller Veränderungen, die der einzelne Erzähler von Mal zu Mal einführt, und der Abweichungen, die der einen oder anderen der vorhandenen Qu.n der Erzählung
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eigen sind. Anderson dachte, daß die Gültigkeit seines Gesetzes durch ein E. ähnlich dem Bartletts nachzuweisen sei. In den 20er Jahren ließ er an der Univ. Dorpat von Studenten parallele Traditionsketten von je zehn Gliedern zur serienmäßigen Übermittlung einer Erzählung bilden. Der Abstand zwischen den einzelnen Übermittlungen betrug drei Tage. Wie bei Bartletts E. legten die Versuchspersonen ihre Wiedergabe der Erzählung schriftl. nieder. Das E. ergab eine zunehmende Divergenz der parallelen Ketten im Verlaufe des Übermittlungsprozesses. Da die Mss. des Dorpater E.s verlorengingen, wiederholte Anderson das E. 1947 an der Univ. Kiel. Er bildete drei parallele Traditionsketten von je zwölf Gliedern; als Text nahm er eine pommersche Teufelssage aus Swinemünde, bei der es unwahrscheinlich war, daß die Versuchspersonen sie kannten. Auch hier wichen die Endversionen der drei Ketten stark voneinander ab 10 .
1953 führte G. -> Ortutay das Kieler E. noch einmal an der Univ. Budapest mit demselben Text und derselben Methode durch und erhielt analoge Resultate 11 . Anderson glaubte, der allmähliche Verfall und die bedeutenden Abweichungen der Erzählüberlieferungen seien dadurch bedingt, daß seine Versuchspersonen die Geschichte nicht mehrfach und aus verschiedenen Qu.n gehört hatten. A. —» Wesselski machte eine ähnliche Feststellung anhand eines von ihm durchgeführten einfachen E.s; er schrieb den Verfall jedoch der fehlenden Stabilisierung des mündl. Überlieferungsprozesses durch eine literar. Tradition zu 12 . Andersons wie auch Wesselskis Argumentation stützte sich hauptsächlich auf negative Befunde. Beide versuchten weder, Kontroll-E.e zu konzipieren, bei denen die Berichtigungsprinzipien wirksam geworden wären, noch zogen sie andere Hypothesen zur Erklärung der erzielten Ergebnisse in Betracht. 1955 nahm K. —» Schier ein ähnliches E. vor, wobei er seiner Meinung nach die Untersuchungsanordnung verbesserte 13 . Schier kritisierte an der Anordnung von Andersons E.en (1) die Auswahlkriterien für die Versuchspersonen, (2) die Umstände der Übermittlung, (3) die Auswahl des Texts, (4) die Anwendung eher psychol. als volkskundlicher Methoden und (5) die Verwendung schriftl. Wiedergaben bei der Übermittlung. Ähnlich kritisch bewertete A. —» Dundes Bartletts E. 14 Schier siedelte bei seinem Versuch die pommersche Teufelssage in der Starnberger
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Gegend an; als Versuchspersonen wählte er 26 Volksschulkinder. Er baute seine Erzählerketten gemäß deren erzählerischer Fähigkeiten auf; schriftl. Übermittlungen wurden durch Verwendung eines Tonbands überflüssig. Leider ergab sich aufgrund der Versuchspersonen (Schulkinder mit dem Durchschnittsalter 8 Jahre, 11 Monate) eine neue problematische Variable innerhalb der e.en Anordnung Schiers, die die Bedeutung seines E.s stark herabsetzte. Es überrascht nicht, daß die Texte, die er als Endprodukt erzielte, sogar noch stärker voneinander abwichen als die Andersons. In seiner Antwort auf Schiers E. unternahm es Anderson, dessen Kritik Punkt für Punkt zu widerlegen; dabei erkannte er einen weiteren Faktor der Stabilität mündl. übermittelter Erzählungen: das wiederholte Erzählen der Geschichte durch denselben Erzähler 15 . 1968 erweiterte D. Glade diese Gruppe potentiell stabilisierender Faktoren auf zwölf 16 . K. Goldsteins interessantes Feldforschungsexperiment zur Unters, von Andersons Gesetz bestand in bedachtsamer Imitation einer natürlichen Erzählsituation: Einer Erzählerin wurde von ihrer Schwester die Version einer Sage mitgeteilt. Beide Frauen hatten diese vor Jahren von ihrer Mutter gelernt, aber nie in Gegenwart der jeweils anderen erzählt. Danach baute die Erzählerin Elemente der Version ihrer Schwester in die eigene Normalform ein, da sie glaubte, damit der Originalversion der Mutter näherzukommen. Goldstein zog den Schluß, daß der Berichtigungsprozeß sich Andersons Aussagen gemäß vollziehe, obwohl dies vielleicht nicht in allen Erzählsituationen solcher Art zutreffe 17 . Jedoch wollte Goldstein mit seinem E. nicht demonstrieren, daß sich bei Fehlen der von Anderson angenommenen Stabilisierungsfaktoren im Laufe der mündl. Überlieferung notwendigerweise ein Verfall der Erzählung einstellt. V. Labrie-Bouthillier 18 und E. Oring 19 kritisierten diese nach dem Einkettenprinzip angeordneten E.e zur Überlieferung von Erzählungen und postulierten, daß die Stabilität einer Erzählung in der mündl. Tradition im wesentlichen von der Anzahl der begabten Erzähler, denen sie übermittelt wird, abhängt, weniger davon, ob ein und derselbe Erzähler
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sie mehrmals gehört hat. Bartlett, Anderson, Ortutay und Schier 20 hatten sich bei ihren E.en der Einkettenübermittlung bedient; Labrie-Bouthillier und Oring führten aus, eine Kette sei nicht stärker als ihr schwächstes Glied. Wie oft ein Erzähler eine spezielle Erzählung gehört haben muß, um sie richtig darbieten zu können, bleibt eine offene Frage; die meisten Erzähler O. -» Birleas versicherten, ihre Geschichten nach einmaligem Hören behalten zu haben, „ein zweites Hören verwirrt das Gedächtnis" 21 . Übereinstimmung besteht hingegen darin, daß der Erzähler eine Geschichte, die er gut beherrscht, vielen Menschen vortragen wird, und dies ist die Grundbedingung für die Weitergabe an andere talentierte Erzähler. Die —» Conduit-Theorie von L. Degh und A. Väzsonyi betont, daß die korrekte Wiedergabe einer Erzählung nicht nur von der Begabung, sondern auch von den Vorlieben des Erzählers abhänge, daß diesem daher in E.en Wahlmöglichkeiten (free choice) geboten werden müßten; Einkettenübermittlung sei nicht beweiskräftig, nur das Multi-Conduit-E. entspreche der Wirklichkeit 22 . Oring zeigte, daß sich bei Anwendung der multi-chain-transmission in e.er Übermittlung von Witzen die Versuchsergebnisse mit den in einer natürlichen mündl. Tradierungssituation gemachten Beobachtungen deckten 23 . Auch Labrie-Bouthillier führte ein E. zur Unters, verschiedener Faktoren, die den Abruf und die Weitergabe von Volkserzählungen beeinflussen können, durch. Sie stellte drei Hypothesen auf: (1) Es bestehe ein Zusammenhang zwischen dem Niveau der kognitiven Entwicklung der Versuchspersonen und ihrer Fähigkeit zu Wiedergabe und Zusammenfassung einer Erzählung. (2) Eine Geschichte werde besser behalten, wenn bei ihrer Vermittlung sowohl visuelle als auch auditive Reize ausgeübt werden und wenn sie in lebendigem Ton vorgetragen werde. (3) Eine bei den Versuchspersonen bewirkte positive, negative oder neutrale Erwartung übe keine bedeutende Wirkung auf den späteren Abruf der Geschichte aus. Alle drei Hypothesen wurden durch faktorenanalytisch angeordnete E.e bestätigt 24 . Die e.e Unters, mündl. Überlieferung war niemals ausschließlich Domäne der Folklori-
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sten. Der Psychologe Bartlett lieferte ihnen als erster e.e Modelle. Psychologen und Soziologen haben an dem Problem selbst spezielles Interesse. G. Allport und L. Postman beschrieben auf Grundlage ihrer E.e mit —> Gerüchten die Vorgänge der Nivellierung (leveling), Schärfung (sharpening) und Assimilation (assimilation), die in vieler Hinsicht den von Bartlett dargestellten Prozessen bei der Übermittlung von Erzählungen entsprechen, und führten aus, daß das Wuchern und die Ausbreitung von Gerüchten in Funktion zur Mehrdeutigkeit und Wichtigkeit der vermittelten Informationen stünden 25 . Nachfolgende E.e mit den Variablen Mehrdeutigkeit, Angst und Wichtigkeit haben ihre Feststellungen bestätigt, wobei die ersten beiden Variablen den höchsten Bestätigungsgrad erreichten 26 . Obwohl Gerüchte oft in erzählerischer Form erscheinen können, waren die in E.en verwendeten Materialien meist Informationseinheiten oder Komplexe von Informationseinheiten, denen eine fest umrissene Erzählstruktur fehlte 27 . Der von Bartlett begründeten Tradition folgend bemühen sich Wahrnehmungspsychologen weiter um die Erforschung der Kodierung und Dekodierung von Erzählungen. J. M. Mandler und N. S. Johnson haben Bartletts E. überprüft und gezeigt, daß die Auslassungen und Umgestaltungen, die sich im Laufe der Übermittlung der Erzählung The War of Ghosts ergaben, aufgrund einer von ihnen entwickelten Erzählgrammatik voraussagbar sind. Die aus dieser Grammatik entwickelten Hypothesen wurden durch nachfolgende E.e größtenteils bestätigt 28 . Dies stützt die Position der Folkloristen, die sich der Tendenz widersetzen, daß Änderungen im Verlaufe der Überlieferung mit Degeneration und Verfall gleichzusetzen seien 29 . E.e anderer Psychologen über die Auswirkungen der Länge einer Geschichte 30 , der Struktur der Informationseinheiten 31 und der Handlungsstruktur 32 auf den Abruf der Erzählung sollten zur Orientierung künftiger E.e dienen, die sich mit Überlieferung und Veränderung von Volkserzählungen befassen. 3. D i e W e c h s e l b e z i e h u n g e n zwis c h e n E r z ä h l e r u n d E r z ä h l t e m . Das Interesse der Folkloristen an den Beziehungen
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zwischen dem Erzähler und seiner Erzählung ist schon alt und hat wesentliche Bedeutung. Fragen der kulturalen und personalen Wechselwirkungen im Erzählgut wurden bereits im 19. Jh. in den Werken von Ν. A. Dobroljubov, P. N. Rybnikov und A. F. Hilferding 33 formuliert, und bis heute widmen ihnen Folkloristen sehr viel Aufmerksamkeit. Sie konzipieren jedoch ihre Unters.en dieser Zusammenhänge selten in Form eines geplanten E.s. Die e.e Erforschung der kulturalen und personalen Wechselwirkungen im Erzählten durch andere Wissenschaftler war viel umfassender. Der von C. D. Morgan und Η. A. Murray entwickelte Thematische Apperzeptions-Test (TAT) 34 beruht auf der Auswertung von Erzählungen, die Klinikpatienten zu einer ihnen vorgeführten Serie scharf eingestellter, aber in ihrer Aussage mehrdeutiger Bilder erfanden. Ergebnisse des TAT sind zur Erhärtung psychol. Analysen von Volkserzählungen benutzt worden 35 . J. W. Atkinson und D. C. McClelland haben die Auswirkungen von Nahrungsentzug auf die Produktion kurzer Phantasiegeschichten untersucht und so einen Index der ,Hungermotivation' ihrer Versuchspersonen erarbeitet 36 . In ähnlichen E.en wurde ein Index der Leistungsmotivation entwickelt 37 , der bei einer Analyse nordamerik. Indianererzählungen angewandt wurde 38 . Psychologen führten eine Anzahl von E.en durch, die die Motivationsbasis von Humorpräferenzen erklären sollten. Dabei richteten sie ihr Hauptaugenmerk speziell auf die Variablen Sexualität, Aggression und Angst 39 . Als Testmaterial verwendete man jedoch eher Witzzeichnungen als Witzerzählungen. Bei einem neueren E. des Folkloristen T. Burns wurden zwölf Personen, die häufig den gleichen Witz erzählten, als Versuchsobjekte gewählt. Um festzustellen, ob die Erzähler dieses Witzes die gleiche Persönlichkeitsstruktur aufwiesen, wurden sie einer intensiven tiefenpsychol. Befragung und Projektionstests unterzogen. Burns entdeckte große Unterschiede in der Persönlichkeit dieser Erzähler und zog daraus den Schluß, daß die psychol. Funktionen der Erzählung für jeden einzelnen recht verschieden seien 40 . Anhand interkulturaler Wechselbeziehungen hat man sich bemüht, die elementaren
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Determinanten der Ausbildung und Veränderung von Volkserzählungen festzustellen, die durch Persönlichkeit vermittelt werden. Diese Unters.en konzentrierten sich auf Faktoren wie Leistung oder Aggressivität und ihren statistischen Zusammenhang mit Praktiken der Kindererziehung 41 . Die Untersuchungsanordnungen zeigen nur im weiteren Sinn eine Tendenz zum E., da keine Eingriffe vorgenommen werden und die Unters.en auf der Analyse zuvor gesammelter Materialien beruhen. S. F. Nadel stellte dagegen Korrelationen nicht-statistischer Art zwischen erzählerischen und kulturalen Strukturen fest. Mit Hilfe von Bartletts Verfahren der wiederholten Reproduktion untersuchte er die Veränderungen, die Versuchspersonen aus zwei verschiedenen westafrik. Völkern — Nupe und Yoruba — bei der Wiedergabe einer in beiden Kulturen geläufigen Erzählung einführten. Nadel zeigte, daß diese Veränderungen mit den Unterschieden übereinstimmen, die zwischen der Religion und Kunst der Yoruba und Nupe zu beobachten sind42. E.e können auch nicht alle grundlegenden theoretischen Kontroversen klären. Aber kontrolliertes, systematisches Experimentieren kann und soll Beiträge zur Lösung vieler Probleme der Erzählforschung leisten; es liegt bei den Folkloristen, die ganze Breite der e.en Möglichkeiten zu erschließen. Walter —» Anderson, —> Biologie des Erzählguts, —> Erzählen, Erzähler, —> Feldforschung, —» Gesunkenes Kulturgut, —> Selbstberichtigung, —» Stabilitätsprobleme, —» Vergessen und Erinnerung, Albert —> Wesselski 1 Kaplan, Α.: The Conduct of Inquiry. San Francisco 1964, 1 4 4 - 1 7 0 . - 2 Goldschmidt, W. u.a.: Variation and Adaptability of Culture: A Symposium. In: American Anthropologist 67 (1965) 400—447. - 3 Holmberg, Α.: Adventures in Culture Change. In: Method and Perspective in Anthropology. ed. R. F. Spencer. Minneapolis 1954, 1 0 3 - 1 1 6 . - 4 D e g h , L./Väzsonyi, Α.: The Hypothesis of Multi-Conduit Transmission in Folklore. In: Folklore, Communication, and Performance, ed. D. Ben-Amos/K. Goldstein. The Hague 1974, 2 1 6 - 2 2 3 . - 5 Goldstein, K.: Experimental Folklore Laboratory versus Field. In: Folklore International. Essays in Traditional Literature, Belief, and Custom. Festschr. W. D. Hand. Hatboro, Pa 1967, 72 — 84. — 6 Bartlett, F. C.: Some Experiments on the Reproduction of Folk Stories. In: FL 31 (1920) 3 0 - 4 7 . - 7 Boas, F.: Kathlamet Texts (Bureau of
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Expressionistische Märchen
American Ethnology. Bulletin 26). Wash. 1901, 1 8 2 - 1 8 4 ; Weeks, J. Η.: Congo Life and Folklore. L. 1911, 462. - 8 Bartlett, F. C.: Remembering. Cambr. 1932. - 9 Boas (wie not. 7) 5sq. - 10 Anderson, W.: Ein volkskundliches Ε. (FFC 141). Hels. 1951. 11 id.: Eine neue Arbeit zur e.en Vk. (FFC 168). Hels. 1956, 5. - 12 Wesselski, Theorie, 1 2 7 - 1 3 1 . - 13 Schier, K.: Praktische Unters.en zur mündl. Weitergabe von Volkserzählungen. Diss, (masch.) Mü. 1955. - 14 Dundes, Α.: The Study of Folklore. Englewood Cliffs, N.J. 1965, 244sq. - 15 Anderson (wie not. 11) 23. - 16 Glade, D.: Zum Anderson'schen Gesetz der Selbstberichtigung. In: Fabula 8 (1966) 2 2 4 - 2 3 6 . - 17 Goldstein (wie not. 5) 80. 18 Labrie-Bouthillier, V.: Les Experiences sur la transmission orale: d'un modele individuel ä un modele collectif. In: Fabula 18 (1977) 1 - 1 7 . " O r i n g , E.: Transmission and Degeneration. In: Fabula 19 (1978) 1 9 3 - 2 1 0 . - 20 v. auch Ramnoux, C.: Experience sur la transmission des legendes. In: Psyche 33 (1948) 3 1 0 - 3 2 3 ; Clements, W. M.: Unintentional Substitution in Folklore Transmission. A Devolutionary Instance. In: N.Y. Folklore Quart. 29 (1973) 2 4 3 - 2 5 3 . 21 Birlea, O.: Über das Sammeln volkstümlichen Prosaerzählens in Rumänien. In: Karlinger, 4 4 4 - 4 6 6 , bes. 4 5 9 - 4 6 1 ; cf. Gaechter, P.: Die Gedächtniskultur in Irland. Innsbruck 1970, 54 sq. 22 Degh/Väzsonyi (wie not. 4). - 2 3 Oring (wie not. 19). - 24 Labrie-Bouthillier (wie not. 18). 25 Allport, G./Postman, L.: The Psychology of Rumor. N.Y. 1947, 4 3 - 1 3 3 . - 26 Rosnow, R. L./ Fine, G. Α.: Rumor and Gossip. The Social Psychology of Hearsay. N . Y . 1976, 6 3 - 7 1 . - 2 7 ζ . Β . wie not. 25 , 77. - 2 8 Mandler, J. M./Johnson, Ν. S.: Remembrance of Things Parsed. Story Structure and Recall. In: Cognitive Psychology 9 (1977) 1 1 1 - 1 5 1 . - 29 Oring, E.: The Devolutionary Premise. A Definitional Delusion. In: W F 34 (1975) 3 6 - 4 4 ; cf. M. Lüthis Zielformtheorie: id.: Urform und Zielform in Sage und Märchen. In: Fabula 9 (1967) 4 1 - 5 4 (Nachdr. in id.: Volkslit. und Hochlit. Bern/Mü. 1970, 1 9 8 - 2 1 0 ) ; id.: GoalOrientation in Storytelling. In: Festschr. R. M. Dorson. Bloom. 1976, 3 5 6 - 3 6 6 . - 3 0 Glenn, C.: The Role of Episodic Structure and Story Length in Children's Recall of Simple Stories. In: J. of Verbal Learning and Verbal Behavior 17 (1978) 229-247. 31 Kintsch, W./Kozminsky, E./Streby, W. J./ McKoon, G./Keenan, J. M.: Comprehension and Recall of Text as a Function of Content Variables, ibid. 14 (1975) 1 9 6 - 2 1 4 . - 3 2 Thorndyke, P. W.: Cognitive Structures in Comprehension and Memory of Narrative Discourse. In: Cognitive Psychology 9 (1977) 7 7 - 1 1 0 ; Mandler/Johnson (wie not. 28). - 3 3 Sokolov, Υ. M.: Russian Folklore. N.Y. 1950, 1 2 4 - 1 2 8 . - 34 Morgan, C . D . / M u r ray, Η. Α.: A Method for Investigating Phantasies. The Thematic Apperception Test. In: Archives of
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Neurology and Psychiatry 34 (1935) 2 8 9 - 3 0 6 . 35 Lantis, M.: Nunivak Eskimo Personality as Revealed in the Mythology. In: Anthropological Papers of the Univ. of Alaska 2 (1954) 1 0 9 - 1 7 4 . - 36 Atkinson, J. W./McClelland, D. C.: The Projective Expression of Needs. 2: The Effect of Different Intensities of the Hunger Drive on Thematic Apperception. In: J. of Experimental Psychology 38 (1948) 643 - 65 8. - 3 7 McClelland, D. C./Clark, R. A./Roby, T. B./Atkinson, J. W.: The Projective Expression of Needs 4. The Effect of the Need for Achievement on Thematic Apperception, ibid. 39 (1949) 2 4 2 - 2 5 5 . - 38 McClelland, D. C./Friedman, G. Α.: A Cross-Cultural Study of the Relationship between Child-Training Practices and Achievement Motivation Appearing in Folk Tales. In: Readings in Social Psychology, ed. G. Swanson/ Τ. M. Newcomb/E. L. Hartley. N.Y. 1952, 2 4 3 - 2 4 9 . - 39 Levine, J. (ed.): Motivation in Humor. N.Y. 1969; Goldstein, J. H./McGhee, P. E.: The Psychology of Humor. N.Y. 1972. - 4 0 Burns, T. A./Burns, I. H.: Doing the Wash. An Expressive Culture and Personality Study of a Joke and Its Tellers. Norwood, Pa 1976. 41 Child, I. L./Storm, T./Veroff, J.: Achievement Themes in Folktales Related to Socialization Practice. In: Motives in Fantasy, Action, and Soc. ed. J. W. Atkinson. N.Y. 1958, 4 7 9 - 4 9 2 ; Wright, G. O.: Projection and Displacement. A Cross-Cultural Study of Folktale Aggression. In: J. of Abnormal and Social Psychology 49 (1954) 5 2 3 - 5 2 8 ; wie not. 38. - 42 Nadel, S. F.: A Field E. in Racial Psychology. In: British J. of Psychology 28 (1937) 1 9 5 - 2 1 1 ; v. auch Bastide, R.: Transmission de legendes et groupes sociaux. In: Psyche 34 (1949) 746-756.
Los Angeles
Elliott Oring
Expressionistische Märchen. Unter e.n Μ. versteht man —»Kunstmärchen aus der Zeit des Expressionismus (einschließlich Vorformen, Dadaismus, Spätexpressionismus), die zwischen 1900 und 1930 hauptsächlich in Zss. erschienen sind. Zu den bedeutendsten Vertretern des e.n M.s zählen: Hans Flesch von Brunningen (geb. 1895), Albert Ehrenstein (1886-1950) sowie Victor Hadwiger (1878-1911), Franz Held (1862-1908), Jakob van Hoddis (geb. 1887, deportiert, verschollen), Mynona (i.e. Salomo Friedlaender; 1871-1946), Paul Scheerbart (1863-1915), Kurt Schwitters (1887-1948). Vom romantischen Kunstmärchen unterscheiden sich e. M. in vieler Hinsicht, es gibt aber auch Gemeinsamkeiten: Zaubersprü-
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Expressionistische Märchen
che 1 , Verwandlungen (Mynona: Die betrunkenen Blumen und der geflügelte Ottokar2), das paradiesische Verhältnis zwischen Mensch und Tier (Hadwiger: Die Geschichte vom seidenen Kardinal3), poetisierte Personennamen (Schwitters: August Bolte4) sind in der —» Romantik wie im Expressionismus nötig, um die für das Märchen charakteristischen motivationslosen Wendungen zu bewirken. Formal unterscheidet sich das e. M. sowohl vom Volksmärchen als auch vom Kunstmärchen früherer Epochen. Ein ,Es war einmal' ist im e.n M. nicht mehr denkbar („Ich übertölpelte, Kind in einer alten Zeit, ein ,Es war einmal' und sagte laut vor mich hin ,Es wird sein'" 5 ). Der e. M.-Dichter blickt nicht mehr zurück, er stürzt nach vorn in utopische Räume hinein. Oft setzen e. M. mit einer wörtlichen Rede ein, die Texte sind also bereits im Anfang novellenartig 6 . Ähnlich wie bei der Short story blitzt am Anfang ein Scheinwerfer auf und blendet mitten in das Geschehen hinein, das vor unbestimmter Zeit schon begonnen hatte, und genauso endet das e. M., der Scheinwerfer wird ausgeschaltet, ein Fragezeichen steht am Schluß. Das e. M. hat vieles von den ,Halbmärchen' (Ernst Bloch) Edgar Allan —> Poes und Robert L. Β. —» Stevensons in sich aufgenommen. Schauerroman, Abenteuergeschichte, Utopie, Kolportage bestimmen seine Form. Der Erzählstil des e.n M.s ist entweder schlicht, fast nüchtern, oder aber mit zahlreichen ekstatischen Lyrismen durchsetzt 7 . Nirgends findet sich die treuherzig-zutrauliche Erzählweise des Volksmärchens. Die Form des e.n M.s ist das Ergebnis tiefgreifender Umwandlungen, wenn auch kein Motiv, kein Beweggrund, keine Situation des e.n M.s vollständig neu ist. Alles versteht sich aus der Tradition expressiver Daseinsgestaltung. Der Mensch handelt im e.n M. als Marionette im Kleistschen Sinne. Die alten moralischen Wertungen sind aufgegeben, die Grenzen zwischen Gut und Böse werden fließend; die Figuren der e.n M. sind gut und böse zugleich und sind auf sich selbst gestellt. Der Vorstoß zur Tiefenperson, der in den Märchen von Ludwig —»Tieck unternommen wurde, kommt im e.n M. extrem zur Geltung. Die persönliche Problematik wird zum allg. onto-
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logischen Thema erweitert. Die zentralen Fragen, die im e.n M. immer wieder aufgeworfen werden, sind religiös-philosophischer Natur. Die Frage nach Gott wird häufig im Sinne Nietzsches beantwortet: Gott ist tot 8 . Mynona verkündet nicht den Tod Gottes, er läßt ihn leben und macht ihn unmöglich lächerlich und dadurch vielleicht wieder möglich: „Der Groteskenmacher peitscht auf alle menschlichen Heiligtümer ein, um die göttlichen wenigstens unsichtbar an deren Stelle zu setzen" 9 . Auffallend am e.n M. ist, daß die Probleme ohne viel Verkleidung abgehandelt werden. Dadurch nähert es sich dem phil. Essay10. Im e.n M. führen die Personen selbst Situationen herbei, die im Volksmärchen von außenstehenden Mächten bewirkt werden. Die Magie des herkömmlichen Märchens hat im e.n M. die Tendenz zur Medizin und Paramykologie 11 . Da die übernatürlichen Kräfte durch natürliche Tiefen ersetzt sind, wird die Neurose zu einem wichtigen Thema des e.n M.s. Die oft daraus resultierende schizophrene Symbolik läßt sich nur in Verbindung mit psychopathologischen Maßstäben messen. Diesen Exkursen liegen nicht immer rein klinische Fälle zugrunde. Der Dichter verfremdet sich und seine Umgebung auch freiwillig. In jeder Dämmerung, in jedem Schritt, den er hinter sich hört, in jedem Wort, das er von irgendwoher vernimmt, ist das Unerhörte und lauert auf seine Freilassung in der dichterischen Sprache. Die Unwirklichkeit des Märchens kommt diesen tiefenpsychol. Reaktionen entgegen, Psychologie und Psychopathologie sind neue Bereiche, die mit dem Märchen Verbindungen eingehen. Hier liegen die Anfänge des schwarzen Humors und der Entwicklung zum Surrealismus. Diese „Menschenfresserei der Vegetarier" 12 liegt zwar ganz in der Tradition des Kunstmärchens, wurde aber nie vorher in solcher Schärfe formuliert wie im e.n M. Die Groteske wird erst im Expressionismus eine eigenständige literar. Form. D a s Groteske hingegen blickt auf eine lange Tradition zurück (Pieter Bruegel d. Ä., Commedia dell'arte, der ,Geist der Groteske' im Sturm und Drang, das Groteske in der Romantik). Schon Ε. Τ. A. —» Hoffmann gewinnt, indem er das Groteske bewußt einführt, Distanz zum her-
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Expressionistische Märchen
kömmlichen Märchen. Als Erfinder der literar. Gattung der Groteske gilt Mynona 13 . „Der groteske Humorist speziell hat den Willen, die Erinnerung an das göttlich geheimnisvolle Urbild des echten Lebens dadurch aufzufrischen, daß er das Zerrbild dieses verschlossenen Paradieses bis ins Unmögliche absichtlich übertreibt" 14 . Die Überzeichnungen sollen auf eine bessere Welt hinweisen, in der der Mensch endlich sein Gleichgewicht finden wird. Scheerbart, ein Freund Mynonas, schreibt: „Die Erde hat die Harmonie noch nicht errungen [. . .] Die Erde ist noch nicht so weit [. . .] Wo derartig das gegenseitige Auffressen an der Tagesordnung ist, da herrscht keine Harmonie [. . .] Das ganze Leben auf dieser Erdrinde ist eine einzige große lächerliche Schweinerei" 15 . Mynona und Scheerbart sind optimistische Utopisten. Sie hoffen und wollen, daß die ganze Erde einmal einen „goldenen Klang" 16 tue, und sie versuchen, dieser Endzeitsituation mit dem Mittel der Groteske näherzukommen. Bei beiden Autoren gibt es weder den eschatologischen Gedanken noch die Alternative Himmel/Hölle. Für sie ist die Welt, so wie sie jetzt ist, schlecht genug. Die Erde ist bis heute im „Zeitalter der Verwesung", wie es in Mynonas Märchen Der zarte Riese17 heißt. Es kann, wenn es eine Zukunft gibt, nur eine gute Zukunft geben, denn bis jetzt ist es Nacht gewesen, und auf die Nacht m u ß der Tag folgen. Das einzig würdige Ergebnis der menschlichen Entwicklung kann nur der ,Himmel in uns' sein. Im romantischen Kunstmärchen spielen technische Erfindungen eine verhältnismäßig geringe Rolle (cf. aber auch Ε. T. A. Hoffmanns Die Automate [1819—21]). Mit der ersten industriellen Revolution aber findet die Technik auch Eingang ins Märchen. Auffallend an den technisch orientierten e.n M. ist ihre Exaktheit. Die Schaltpläne werden gewissermaßen als Anlage beigefügt. Scheerbart ist der große Ingenieur der Technik im e.n M. Er hatte einen sicheren Blick für die möglichen technischen Entwicklungslinien (Satelliten, organische und submarine Architektur, Atomspaltung, Unterseeboote, Preßluft 18 ). Scheerbart sah seine Märchen in die reale Welt hinein. Das Phantastische seiner Utopien ist nur Ausdruck erster tastender Versu-
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che, die Welt zu verändern. Er versetzte die Wirklichkeit in einen Zustand der Verzauberung, weil er glaubte, nur so eine Veränderung erreichen zu können. Man findet ähnliche Spekulationen in dem Roman Peter Lebrecht (1795) von Tieck, der mit der Verzauberung der ganzen Welt endet. Daß Tieck an eine Verwirklichung dieses Zustandes gedacht hat, ist unwahrscheinlich. Im e.n M. dagegen sind die Grenzen zur Wirklichkeit überschritten. Die Hoffnung des Autors auf eine Realisierung des Guten ist das spezifisch Neue. Kritik im Märchen ist kein bes. Charakteristikum des e.n M.s. Sozialkritisches gab es schon in Schlaraffenland- und Tischleindeckdich-Geschichten. Aber die industrielle Revolution nahm ihr das Traute und Verspielte. So zeigt die Kritik im e.n M. die blanken Waffen. Die herkömmliche, noch heile soziale Ordnung, die in fast jedem Volksmärchen gewährleistet ist, wird im e.n M. gebrochen, die Einfriedungen werden gesprengt. Ziel sozialer Umwandlungen ist nun die absolute Freiheit und Unantastbarkeit des einzelnen auf der Grundlage der Gedanken von Max Stirner, Friedrich Nietzsche, Karl Marx u.a. Rudolf Leonhard bringt das Märchen in Verbindung mit der Revolution. Eine Revolution könne nur aus dem ältesten Glauben der Menschheit, aus dem auch das Märchen seine Kraft nehme, heraufkommen. Nur mit chthonischer Leidenschaft könne eine Revolution erfolgreich sein. Auch für Leonhard sind die Zustände im Märchen nicht irreal und märchenhaft in sich geschlossen. Die Märchen vertreten geradezu den Endzustand, den anzustreben höchstes Ziel eines Revolutionärs ist: „Das Älteste kommt wieder, der Mythos wacht auf. Wir sind reif für das Märchen. Revolutionen wollen nicht irgend einem neuen, sondern immer dem ältesten Glauben der Menschheit genügen" 19 . Das e. M. geht also neue Verbindungen ein: Der Tod Gottes, Medizin, Psychopathologie, Technik, Revolution, Sozialkritik werden verarbeitet. Was im romantischen Märchen keimte, ist im e.n M. aufgegangen. Wenn im romantischen Kunstmärchen die Menschen das Gleichgewicht verloren haben, im e.n M. verloren sie den Boden unter den Füßen. Es ist nicht mehr möglich, zwischen
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External soul
Gut und Böse zu unterscheiden. Der schöpferische Mensch ist beides. In der Umwertung aller Werte ist der in den abendländ. Traditionen stehende Mensch eine fragwürdige Existenz geworden. Doch das e. M. zeigt Wege auf, die in der Überwindung dieses Zustandes zu einem Ziel führen können. Dieses Ziel ist ein Paradies, ein Himmel im Menschen selber, und das e. M. ist insofern kein Märchen mehr, weil diese .Heimat' im Sinne —> Blochs durchaus als ein realisierbarer Zustand gedacht wird. 1 Flesch von Brunningen, H.: Der metaphysische Kanarienvogel. In: Aktion 4 (1914) 1 9 4 - 1 9 7 . 2 Mynona: Die betrunkenen Blumen und der geflügelte Ottokar. In: Aktion 1 (1911) 1044-1047. 3 Hadwiger, V.: Die Geschichte vom seidenen Kardinal. In: id.: Abraham Abt. B. 1911, 163-170 und in: Aktion 1 (1911) 3 7 - 4 2 . - 4 Schwitters, K.: August Bolte. B. 1923 (= in: Akzente. Sonderheft I [1963] 113-137); häufig auch bei Mynona: Pastor Biotegel, Witwe Trockendock, Fürst Hurraiski, Rentner Lebehoch. — 5 Kronberg, S.: Chamlam. Potsdam 1921 (= in: Prosa jüd. Dichter, ed. K. Otten. Stg. 1959, 203-247, hier 225). - 6 z.B. Mynona (wie not. 2); id.: Von der Wollust über Brükken zu gehen. In: Aktion 1 (1911) 950-953; id.: Das Wunder-Ei. In: id.: Schwarz-weiß-rot. Lpz. 1916, 2 5 - 3 1 . - 7 Huelsenbeck, R.: Phantastische Gebete. Zürich (1916) 1960. - 8 Hadwiger, V.: Der Sarg des Riesen. In: id.: Abraham Abt. B. 1911, 163-170 und in: Aktion 1 (1911) 175-179. — 9 Friedlaender, S. [i.e. Mynona]: Mynona. In: Der Einzige 1 (1919) Heft 27/28, 326sq. 10 Hoddis, J. van: Trilogie der Leidenschaftslosen. In: De Stijl 7,77 (1926/27) (= in Pörtner, P. [ed.]: Weltende. Zürich 1958, 83-86). II Held, F.: Die goldene Bombe. In: Aktion 4 (1914) 527-532; cf. Itallie, L. van: Soma-Haoma, de heilige plant der Indiers en der Perzen II. In: Natuurwetenschappelijk tijdschrift 21 (1938) 24 (dt. Ubers, in: Paramykologische Rundschau 2,2 [1980] 19); cf. den Genuß von aus Pilzen wie Amanita muscaria gewonnenen Rauschmitteln neben anderen Drogen in Dichterkreisen in Deutschland zwischen 1900 und 1930, z.B. belegt in den Tagebüchern von Mynona, dessen Märchen oft literar. Umsetzungen der typischen durch Amanita muscaria hervorgerufenen Halluzinationen sind. 12 Scheerbart, P.: Die große Revolution. Ein Mondroman. Lpz. 1902, 144. - 13 Mynona: Prosa 1. Ich verlange ein Reiterstandbild, ed. H. Geerken. Mü. 1980; id.: Prosa 2. Der Schöpfer. Phantasie. Tarzianade. Parodie. Der antibabylonische Turm. Utopie. ed. H. Geerken. Mü. 1980. - 14 Mynona (wie not. 9). — 15 Scheerbart, P.: Die Seeschlange. Minden 1901 (= in: Dichterische Hauptwerke, ed. H. Draws-Tychsen/E. Harke. Stg. 1962, 304sq.,
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321). - 16 Mynona, Wollust (wie not. 6) 952. 17 id.: Rosa, die schöne Schutzmannsfrau und andere Grotesken, ed. E. Otten. Zürich 1965, 9sq., hier 10. - 18 Scheerbart, P.: Das Paradies. Die Heimat der Kunst. B. 1889. - 19 Leonhard, R.: Die Ewigkeit dieser Zeit. B. 1924, 130. Lit.: Geerken, H.: Das Märchen in der Lit. des Expressionismus. In: Das Wort, literar. Beilage zu DU 9,9 (1968) 694sq. - id. (ed.): Die goldene Bombe. E. M.dichtungen und Grotesken. Darmstadt 1970 (u.d.T.: Märchen des Expressionismus. Darmstadt 2 1974 und Ffm. 1979 [unbedeutend geänderte Taschenbuchausg.]). Athen
Hartmut Geerken
External soul 1. Allgemeines — 2. Terminologische Probleme — 3. Verbreitung des Motivs — 4. Klassifizierungsversuche — 5. Hermeneutik 1. A l l g e m e i n e s . J. G. —» Frazer 1 bezeichnet mit dem Begriff e.s. (äußere —» Seele) die Vorstellung, das Lebensprinzip könne zu seinem Schutz an einem geheimen Ort (Pflanze, Tier, bes. Vogel, Insekt, Wurm, Ei, Berg, Stein, Holzscheit) außerhalb des Körpers eines Menschen oder übernatürlichen Wesens oder sogar in einem seiner Körperteile verwahrt werden. Für diese bei den Naturvölkern verbreiteten Gedanken finden sich zahlreiche Beispiele im Märchen, in dem die e.s. bes. eindrucksvoll in AaTh 302: —> Herz des Unholds im Ei in Verschachtelungen 2 auftritt. Die Beschaffenheit der ,Hüllen' ist in den einzelnen Versionen unterschiedlich, ebenso ihre Anzahl, die mindestens drei, in der Regel aber nicht sehr viel mehr beträgt: 13 (14) Behältnisse wie bei P. Delarue (Typ 302, p. 138) bilden eine Ausnahme. Mot. Ε 713: Soul hidden in a series of coverings ist das Kernmotiv des in zahlreichen Var.n weitverbreiteten Märchens AaTh 302. 2. T e r m i n o l o g i s c h e P r o b l e m e . Für den Begriff e.s. sind zahlreiche Bezeichnungen vorgeschlagen worden: life-principle, seat of life, life-index, life-token, bush-soul, Freiseele, gebundene Seele, Seele außerhalb, Schachtelseele, geborgenes Leben, verborgenes Leben, zweiter Leib, alter ego etc. Unter Mot. Ε 710—718 erscheint neben e.s. auch
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External soul
der Terminus separable soul. Die verschiedenen Begriffe spiegeln vor allem die Forschungen über —> Seelenvorstellungen bes. im Glauben der Naturvölker wider (—> Animismus, —> Partizipation, —> pars pro toto, —» Schamanismus, —> Schutzgeister, —• Totemismus). Die erste systematische Unters, des Komplexes e.s. im Märchen reduziert das Terminologieproblem auf die vier synonym genommenen Begriffe Leben, Seele, —> Herz und Kraft 3 . Vor der Verwendung des Begriffs Seele warnt E.S. —» Hartland 4 , da dieser nur zur Verdunkelung der Sachverhalte beitrage, indem man einem anderen kulturellen Kontext abendländ. Vorstellungen aufpfropfe. A. —»Koväcss zieht aufgrund des in MNK vorliegenden Materials die Bezeichnung Kraft vor.
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befinden sich in fünf schwarzen Bienen auf einem Berg 11 . Im —*· Mahäbhärata (Vana parva 135) wird erzählt, daß das Leben Medhävis von einem Berg abhängig ist12. Auch die Lokalisierung der e.s. in den —> Haaren (Stoff der Seele, lebenserzeugender Stoff) ist in Indien bekannt 13 . Mehrere Hymnen des Rgveda besingen Indra, der die Eier Susnas, eines Dämons mit einer verwundbaren Körperstelle, zerbricht, ihn dadurch tötet und so die Sonne und die Gewässer befreit 14 . Sehr bekannt ist der Schwank —»Affenherz als Heilmittel (AaTh 91), in dem der Affe vortäuscht, er habe sein Herz in einem Baum versteckt (—> Pancatantra 4,1) 15 . Einige Forscher, die den Begriff e.s. sehr weit fassen — bes. A. Lods 16 und G. van der Leeuw 17 —, meinen, es seien auch bei den alten Israeliten Vorstellungen einer e.s. verbreitet gewesen. Beispiele dafür seien:
Der Terminus Kraft ist charakteristisch für Südosteuropa, begegnet aber auch in Frankreich, wo er wie im Rumän. (hier auch für positive Helden 6 ) bes. im Plural (forces) verwendet wird. Die Pluralform ist — wegen ihrer Entsprechung zur mehrfachen Verschachtelung und in Anbetracht des archaischen Charakters der Texte — wohl der dem Märchen am ehesten angemessene Ausdruck. Isoliert erscheint der ostslav. Begriff -> Tod. Für das dt.sprachige Gebiet ist der Terminus Herz gebräuchlich.
mal'ak 18 , der mit Gott mehr oder weniger identische Engel Jahwes; die wunderwirkende Kraft von Gegenständen, wie Moses', Aarons und Elisas Stab, Josuas Speer, Elias' Mantel; die —> Bilokation Ezechiels, der nach Jerusalem entrückt wird; die Bindung der Seele an ein anderes Wesen (Jakobs Leben hängt vom Leben Benjamins ab); die Haare —> Simeons („un heros ,sans äme'" 1 9 ); das Einschlagen eines Nagels in die Tempelmauer, durch das die e.s. göttlicher Aufsicht unterstellt wird u. a.
3. V e r b r e i t u n g des Motivs. Als ältester Vertreter der Vorstellung einer e.s. gilt Das ägypt. —> Brüdermärchen1. Nach C. W. von —> Sydow8 soll AaTh 302 das ägypt. Märchen beeinflußt haben, zumindest enthält dieses aber bestimmte Motive von AaTh 302 9 . Der Terminus BA, der den vom Helden Bata in einer Akazienblüte magisch verwahrten Gegenstand bezeichnet, wird allg. mit Herz oder auch Herz-Seele übersetzt. Als der Baum gefällt wird und die Blüte zu Boden fällt, stirbt Bata. H. W. F. Saggs meint bereits im sumer. Mythos von Inannas Gang zur Unterwelt (Anfang 2. Jahrtausend a. Chr. n.) einen deutlichen Hinweis auf eine e.s. zu sehen 10 . In der ind. Lit. findet sich schon in der Telugu-Version des —» Rämäyana (1,38) ein Beispiel für eine verschachtelte e.s.: Das Leben oder genauer die fünf Lebenswinde (präna) des Dämons oder Riesen Mairävana
In der modernen Forschung werden Frazers 20 neuerdings von Saggs21 unterstützte Interpretationen von bet-ha-nefes als Haus der Seele (Jes. 3,18—23) und nefes als e.s. (1. Sam. 25,29) stark angefochten. Wie im A.T. sehen van der Leeuw und Lods 22 auch im N.T. e.s.-Vorstellungen: Wenn Petrus für seinen eigenen Engel gehalten wird (Apg. 12, 15), so beruhe das auf einer Anschauung, „nach welcher der Engel eigentlich der Doppelgänger, die Seele außerhalb des Körpers, dann auch der Schutzgeist ist" (—» Doppelgänger); desgleichen Mt. 18,10, wo von den Engeln der Kinder die Rede ist. Bei griech. und röm. Autoren findet sich häufig das Motiv des Haars als Sitz des Lebens (Mot. Κ 976, Ε 714.12, D 1831, cf. D 991) in den Versionen der beiden im Grunde identischen Erzählungen von Nisos und Pterelaos 23 . Ebenso weit verbreitet in der griech. und röm. Lit. ist die Sage von —» Meleager
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(AaTh 1187), dessen Leben an einem Holzscheit hängt 24 . Für die germ. Lit. deutete Frazer den Mistelzweig als Versteck von Baldrs e.s., andere Forscher sahen darin ein Mißverständnis für den Namen des verhängnisvollen Schwertes Mistelteinn 25 oder meinten, die Stelle in der Jüngeren —» Edda (Vqlospä 31) sei fälschlich mit Leben statt Schicksal übersetzt worden 26 . Als eine Art von e.s. hat man Odins Fähigkeit, im Schlaf seinen Körper in Tiergestalt verlassen zu können (seidr), und andere —»Tierverwandlungen sowie die Vorstellung einer Tierfylgie in der nord. Lit. betrachtet (cf. —»Seelentier)27. Ein e.s.-Motiv ist auch in der Älteren Edda (Hymisqvida) gesehen worden, wo Thor die Kraft seines Gegners vernichtet, indem er einen gläsernen Becher an dessen Stirn zerschmettert 28 . Die Idee der e.s. in den altir. Heldensagen kann kelt. Ursprungs oder aber eingewandert sein. —» Cü Chulainn befreit die geraubte Blaithine aus der Gewalt Cü Rois, der zwar heroische Züge trägt, aber wie das Ungeheuer des Märchens seine e.s. in einer Verschachtelung (Quelle, Lachs und Apfel) verborgen hält 29 . Bei den sog. Naturvölkern finden sich häufig Beispiele für das e.s.-Motiv, die nicht mit AaTh 302 verbunden sind 30 . So legen in einer indian. Erzählung Cherokesen-Häuptlinge ihr Herz in einen Baumwipfel, um ihr Leben zu schützen 31 . In einem kabyl. Märchen 32 sagt ein menschenfressender Dämon: „Meine Seele ist gut aufgehoben [. . .]. Meine Seele ist ein Haar, das ruht in einem Ei, das ein Rebhuhn im Leibe trägt. Das Rebhuhn wohnt im Bauch einer Kamelstute, und die Kamelstute liegt unter einem Felsblocke im Meere". Der Tritonmann in einer sibir. Koryakengeschichte stirbt, als sein in einer Schachtel aufbewahrtes Herz ins Feuer geworfen wird 33 . In einem anderen sibir. Märchen 34 hängen sieben Samojeden ihre Herzen auf Zeltstangen, bevor sie schlafen gehen. Ähnlich verfahren die Brüder in einer altai. Erzählung 35 . Den noch heute in Mittel- und Nordamerika verbreiteten Glauben, daß das Leben eines Menschen eng mit dem eines Tieres (nagual oder tonal) verbunden sei, rechnet Frazer 36 zu den e.s.Vorstellungen. Ursprünglich wurde bei den Azteken nur bestimmten Auserwählten ein
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alter ego (nagual) zugeschrieben; die Ausdehnung auf die Allgemeinheit erfolgte erst später 37 . 4. K l a s s i f i z i e r u n g s v e r s u c h e . Die Notwendigkeit einer Eingrenzung des Begriffs e.s. ist offensichtlich. Ν. M. —> Penzer 38 fordert eine klare Unterscheidung zwischen e.s. und der Seele, die den Körper verlassen und frei umherwandern kann (Mot. Ε 720) 39 , gebraucht aber e.s. und life-index fälschlich als Synonyme 40 . Nach C. Tuczay 41 muß alles nicht Außerleibliche - also Körperteile, namentlich die Haare - als Sitz der e.s. ausscheiden. Allg. herrscht Unsicherheit bei der Definition, wie sich schon in der Terminologie zeigte. Die Volkserzählungen in Verbindung mit der e.s. teilt K. Hadjioannou nach verschiedenen Ausformungen des Motivs in vier Erzählgruppen ein 42 . Am besten geht man bei Volkserzählungen vom Wesensunterschied zwischen positiver und negativer Figur, i.e. zwischen Held und Antagonist aus. Bei der positiv gesehenen Figur bewirkt der Verlust bzw. die Zerstörung des magischen Gegenstandes nicht deren Vernichtung (AaTh 302 B: Hero with Life Dependent on his Sword), wohl aber beim Antagonisten (dem Widersacher, dem Ungeheuer), dessen e.s. stets mehrfach eingeschachtelt ist (Mot. Ε 713) 43 . Zahlreiche Wissenschaftler sind der Meinung, daß das einfache Versteck (in einem einzigen Tier, Gegenstand etc.) das in direkter Verbindung zu primitiven Glaubensvorstellungen stehende Urmotiv bilde und daß es erst durch die Phantasie der Erzähler, die durch Ausschmückungen die Handlung komplizieren wollten, zu einer Aufeinanderfolge von Verstecken ausgestaltet worden sei 44 . Penzer 45 , der darin den typischen Hang oriental. Erzählungen zur Übertreibung sieht, führt als ältestes Beispiel einer Verschachtelung — allerdings unabhängig von der e.s.-Vorstellung — eine jüngere ägypt. Erzählung aus ptolemä. Zeit, Le Conte de Satni-Khämo'is46, an; hier ist der versteckte Gegen-
stand das Buch Toth. In Verbindung mit der e.s. sei das Motiv erstmals in Indien verwendet worden 47 . Das Verschachtelungsmotiv ist weit verbreitet und zudem für das Märchen gattungsspezifisch (v. Kap. 1), was ein Zeichen für seine von einer gewissen inneren Logik diktierte Notwendigkeit sein könnte.
5. H e r m e n e u t i k . Eine detaillierte Unters. des Motivschatzes der Märchen könnte
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Licht auf ein erstaunlich gut ausgeformtes Weltbild werfen 48 . Für Frazer sind Märchen ein treues Spiegelbild der Sitten und Glaubensvorstellungen ,,of a primitive age" 49 . Der Glaube an eine e.s. spiegele sich in einer Gruppe von Märchen wider, als deren bekanntestes Beispiel er aus seinem umfangreichen ethnol. Material zu diesem Thema die norw. Var. zu AaTh 302 Der Riese ohne Seele anführt 50 . E. —> Clodd 51 stellt — anhand der Geschichte vom Zauberer Punchkin (ind. Var. zu AaTh 302) - das Motiv e.s. in ein Denksystem, in dem Illusion und Realität miteinander vermengt seien. TuczayS2, die Berührungspunkte der Volkserzählungen, die das e.s.-Motiv enthalten, mit den primitiven Seelenvorstellungen, der Magie und dem Individualtotemismus aufzeigt, greift auf vorhandene ethnol. Materialien zurück. Während sie im Ägypt. Brüdermärchen allenfalls einen Reflex eines im alten Ägypten existierenden Königsinitiationsritus sieht 53 , spricht sie sich bei AaTh 302 für eine —» Initiationsstruktur aus 54 . So erfahre der Märchenheld in vielen Var.η von AaTh 302 das Geheimnis des Unholds erst, nachdem er getötet und wiederbelebt wurde, also eine Einweihung in das Geheimnis der Trennung von Körper und Seele erfahren habe 55 . Übereinstimmend mit V. Ja. —> Propp 56 hebt sie den Unterweltsbezug hierbei hervor (—> Jenseitswanderungen). Von der Lehre C. G. —> Jungs ausgehend ist H. von —> Beit der Auffassung 57 , Märchen von der e.s. gingen über Glaubensvorstellungen der Naturvölker hinaus. Die Verschachtelung sei Symbol der in einer Einheit erfaßten Vielheit, die Aufdeckung des Geheimnisses der Verschachtelung leite einen —> Erlösungsvorgang ein. Von Beit weist auch darauf hin, daß sich in anderen Märchen dem Komplex e.s. verwandte Motive fänden, wie Verstecken und Finden (so in AaTh 329: —» Versteckwette), Werfen eines Balls oder anderen Gegenstands, die ein ganzes Netz von Vorstellungen bildeten, eine innere Logik sei erkennbar. Nach von Beits 58 Interpretation symbolisiere das auf der Stirn des Gegners zerbrochene —» Ei die Befreiung der in der materia prima gefangenen Weltseele; es handle sich also um ein Aufsteigen des Bewußten 59 . Nach M.-L. von —» Franz stellen Verschachtelungen der 23
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e.s. Ganzheitsbilder dar. „Die Teilexistenz des Bösen ist [. . .] in der Entfernung des Riesen von seinem Herz symbolisiert" 60 . Doch ist der Keim des Guten (Herz auf Insel) zu schwach und muß daher „zusammen mit der Finsternismacht sterben" 61 . Bei einer phänomenologischen Betrachtungsweise der charakteristischen Märchenzüge um das Motiv der Verschachtelung der e.s. sind zahlreiche Aspekte zu berücksichtigen. Der Versuch eines Überblicks muß sich auf weniges beschränken. Buddha benützt das Gleichnis des zerbrochenen Eis (Mot. Ε 711.1: Soul in egg, Ε 713 und Κ 956: Murderby destroying e.s.), um zu verkünden, daß er das Rad der Existenzen (samsara) durchbrochen habe 62 . Tuczay 63 weist u. a. auf einen Zusammenhang des Zerbrechens des Lebenseis an der Stirn des Unholds mit slav. Totenriten hin. Für H. Gaidoz 64 und Hadjioannou 65 berührt die Idee der e.s. die Metempsychose (—» Seelenwanderung). Daß in manchen Var.n zu AaTh 302 das Ei gegen die Stirn des Unholds geschleudert werden muß, stellt M. Lüthi in den Zusammenhang des in der Volks- wie in der Hochliteratur bekannten Themas des an sich selber Zugrundegehens (—» Selbstschädigung, Selbstzerstörung). Für ihn ist diese spezielle Ausformung des Motivs eine —» Zielform, in der das genannte Thema (das in AaTh 302 ja schon darin zur Geltung kommt, daß der Unhold das Mittel zu seiner Vernichtung selbst verrät) spektakulär verbildlicht wird. Dazu existiert folgende Sagenparallele: Einem Bauarbeiter springt, als er selber den Pfropfen entfernt, sein jahrelang verkeilt gewesener Pestdaumen an die Stirn, darauf stirbt er „in wenigen Stunden" 66 . Die charakteristischen Kontaminationen von AaTh 302 mit Erzähltypen, in denen Metamorphosen auftreten (AaTh 318: cf. Das ägypt. Brüdermärchen, AaTh 408: Die drei —> Orangen etc.), sind kaum zufällig. Eine Art e.s. erblickt Penzer 67 bei AaTh 325: —» Zauberer und Schüler im Zaumzeug; T. Benfey sieht einen Zusammenhang zwischen diesem Typ und buddhist. Legenden 68 . Die Idee einer Evolution in den aufeinanderfolgenden, mit Verwandlungen oder Substituten für Verwandlungen verbundenen Wettkämpfen, die der Held gegen die Hüllen der e.s. seines Gegners führt, schimmert durch. Noch erstaunlichere Entsprechungen zum Bild des zerbrochenen Eis als in dem präbuddhist. Rgveda (10,13) 6 9 finden sich in der Puräna-Lit., insbesondere innerhalb eines kosmogonischen Rahmens. Das Visnu Puräna70 spricht davon, daß aus den vor der Schöpfung chaotisch ungeordneten Kräften und Elementen ein von sieben Hüllen umgebenes Ei entsteht. Am Ende einer mythischen kosmischen Zeit (kalpa) verschlingt Rudra das Uni-
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versum, zerstört also das Ei. In einer anderen Version wird dieses Weltei als Hülle beschrieben, die manas (Verstand), präna (Lebenswinde) und die fünf Elemente enthält 71 . Kosmische und andere Verschachtelungen sind in der ind. Lit. überhaupt häufig. Zum Bild des Aufstiegs durch verschiedene Hüllen hindurch besitzt das Märchen als Gegenstück den Abstieg durch verschiedene Sphären, und zwar in AaTh 409 B*: cf. -»· Kind spricht (weint) im Mutterleib, wo das Kind erst dann bereit ist, zur Welt zu kommen, als man ihm eine wunderbare Gemahlin verspricht, deren suprakosmischer Charakter sich aus der Erzählung ergibt 72 . Das Doppelthema des stufenweisen Auf- und Abstiegs bildete eines der grundlegenden Prinzipien der Kosmologie und Soteriologie der christl. —> Gnosis: „Die Gewißheit, daß sich die Erlösung der Seele als Rückkehr zu Gott ebenso stufenweise vollzieht, wie sich einst die Trennung der Seele von Gott stufenweise vollzogen hat, bis sie in dies Jammertal gelangt ist" 73 . I Frazer, J. G.: The Golden Bough. 7,2: Balder the Beautiful. L. (1913) 3 1951, 9 5 - 1 5 2 . - 2 Zum volkstümlichen Ursprung des Verschachtelungsmotivs v. Norton, R.: The Life-Index: Α Hindu Fiction-Motif. In: Festschr. M. Bloomfield. New Haven 1920, 211-224, hier 224; Smirnov, B. L.: ChoZdenie po krinicam (Vana parva). Aächabad 1962, 536. - 3 Tuczay, C.: Der Unhold ohne Seele. Eine motivgeschichtliche Unters. Wien 1982, 73, 260. - 4 Hartland, E. S.: Life Token. In: ERE 8 (1915) 4 4 - 4 7 , hier 45 sq. - s Brief vom 19. 7. 1979. - 6 Birlea, O.: Micä enciclopedie a pove§tilor romäne§ti. Buk. 1976, 324-407. - 7 Ranke, K.: Die zwei Brüder (FFC 114). Hels. 1934, 282; Frazer (wie not. 1) 134; Penzer Ν. M. (ed.): The Ocean of Story Being C. Η. Tawney's Translation of Somadeva's Kathä Sarit Sägara 1. Delhi 2 1968, 129. - 8 von Sydow, 56. - 9 Speranskiy D. Α.: Iz literatury drevnego Egipta 1. St. Peterburg 1906 (nach Novikov, Ν. V.: Ο specifike obraza ν vostoCnoslavjanskoj skazke [Kasöej Bessmertnyj], In: RusF 10 [1966] 149-175, hier 171). - 10 Saggs, H. W. F.: „E.S.s" in the Old Testament. In: J. of Semitic Studies 19 (1974) 1 - 1 2 , hier 8. II
cf. Tuczay (wie not. 3) 144. — 12 ibid., 143 sq. — cf. Heestermann, J. C.: The Ancient Indian Royal Consecration. (Diss. Utrecht 1957) 's Gravenhage 1957. - 14 cf. Tuczay (wie not. 3) 143. — 15 cf. Bodker, Indian Animal Tales, num. 678; zu internat. Parallelen cf. Penzer (wie not. 7) t. 5, 128, not. 2; Schwarzbaum, Fox Fables, 433. — 16 Lods, Α.: L'Ange de Yahve et l'„äme exterieure". In: Festschr. J. Wellhausen (Beih.e zur Zs. für die at. Wiss. 27). Gießen 1914, 265-278. - 17 van der Leeuw, G.: Phänomenologie der Religion. Tübingen "1977, § 46. - 18 Ähnlich der Vorstellung vom mal'ak sind nach G. van der Leeuw (E.S., Schutzgeist und der ägypt. Ka. In: Zs. für ägypt. Sprache und Altertumskunde 54 [1918] 5 6 - 6 4 , hier 60sq.) 13
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die pers. fravashis der zoroastr. Texte; cf. auch Eliade, M.: Histoire des croyances et des idees religieuses 1. P. 1976, 347, not. 67; t. 2 (1978) 303 sq. - 19 Lods (wie not. 16) 272. - 20 Frazer, J. G.: Folklore in the Old Testament 2. L. 1919,480516. 21 v. Saggs (wie not. 10) 10. — 22 van der Leeuw (wie not. 18) 60; cf. Lods (wie not. 16) 277, not. 3. - 23 Hadjioannou, K.: Four Types of E.S. in Greek and Other Folk-Narratives. In: Laogr. 22 (1965) 140-150, hier 146sq.; Tuczay (wie not. 3) 141 sq.; zu griech. und röm. Seelenvorstellungen cf. van der Leeuw (wie not. 18) 58 und Lods (wie not. 16) 276. — 24 Hadjioannou (wie not. 23) 144 sq. - 25 cf. BP 3,441, not. 1. - 26 v. Tuczay (wie not. 3) 155sq. - 27 v. ibid., 160-165; cf. auch Seaton, Μ. E.: Life and Death (Teutonic). In: ERE 8 (1915) 4 2 - 4 4 , hier 43. - 28 bes. von F. von der Leyen und W. Liungman, cf. Tuczay (wie not. 3) 158sq. - 29 cf. ibid., 149sq., 152sq.; Thurneysen, R.: Die Sage von CuRoi. In: Zs. für celt. Philologie 9 (1913) 189-234, hier 190-198. - 30 cf. auch Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 7 3 - 7 5 . 31 Mooney, J.: Myths of the Cherokee. In: Annual Reports of the Bureau of American Ethnology 19 (1900) 394. - 32 Frobenius, L.: Volksmärchen der Kabylen 2. Jena 1922, 99. - 33 Kunicke, H.: Märchen aus Sibirien. MdW 1940, num. 57. - 34 ibid., 30. - 35 BP 3, 440. - 36 Frazer (wie not. 1) 2 1 2 214; cf. auch Lehmann, W.: Die Geschichte der Königreiche von Colhuacan und Mexico. Qu.nwerke zur alten Geschichte Amerikas, t. 1: Text mit Übers. Stg. 1938, 3 3 0 - 338. - 37 Tuczay (wie not. 3) 104. - 38 Penzer (wie not. 7) 37. - 39 cf. auch Arbmann, E.: Unters.en zur primitiven Seelenvorstellung mit bes. Rücksicht auf Indien. In: Le Monde oriental 20 (1926) 8 5 - 2 2 6 , hier 132; Tuczay (wie not. 3) 174 ist gegenteiliger Ansicht. - 40 cf. ibid., 127. 41
ibid., 142. - 42 Hadjioannou (wie not. 23). Tuczay (wie not. 3) 62; von Beit, Η.: Ein Beitr. zum Motiv der „Seele außerhalb". In: Kongreß Kiel/Kopenhagen 1959, 1 6 - 2 0 , hier 18; Hadjioannou (wie not. 23) 140, 150. - 44 Norton (wie not. 2) 224; von Sydow, 56; Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 73. - 45 Penzer (wie not. 7) 129sq. — 46 Maspero, G.: Les Contes populaires de l'Egypte ancienne. P. 1967, 4 7 - 8 2 . - 47 Penzer (wie not. 7) 132. - 48 Koväcs, Ä.: The Literary Genres of Folktales and the Hungarian Folktale Catalogue. In: SF 26 (1981) 105-128, hier 126. 49 Frazer (wie not. 1) t. 5,2: Spirits of the Corn and of the Wild. L. ( 3 1912) Nachdr. 1951,269. - 50 ibid., t. 7,2, 96. 51 Clodd, E.: The Philosophy of Punchkin. In: FLJ 2 (1884) 289-303, hier 301. - "Tuczay (wie not. 3) 127. - 53 ibid., 139, 267. - 54 ibid., 2 5 1 - 2 5 4 , 267. — 55 cf. auch Saintyves, P.: Les Contes de Perrault et les recits paralleles. P. 1923, 452. 56 Propp, V. Ja.: Leradici dei raccontidifate. Torino 1949, 225 sq. - 57 von Beit (wie not. 43) 19 sq. 43
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cf. von Beit 2, 637. - S9 cf. Tuczay (wie not. 3) 239-242 (hier auch Vordringen zu höherer Seinsstufe in Analogie zur Erlangung des Steins der Weisen bei den Alchemisten gesetzt); cf. auch Cordun, V.: Terminologie alchimique dans le conte populaire roumain (im Druck). — 60 von Franz, M.-L.: Das Problem des Bösen im Märchen. In: Das Böse. Studien aus dem C. G. Jung-Inst. 13. Zürich/Stg. 1961,91-126, hier 113 sq. 61 ibid., 114. - 62 Eliade (wie not. 18) t. 2, 106. 63 Tuczay (wie not. 3) 214 sq. - 64 Gaidoz, H.: L'Äme hors du corps et le „double". In: Mel. 11 (1912) 263-266, hier 264. - 65 Hadjioannou (wie not. 23) 141. - 66 Lüthi, M.: Volkslit. und Hochlit. Bern/Mü. 1970, 201 sq.; anders Tuczay (wie not. 3) 5 7 - 6 1 . - 67 Penzer (wie not. 7) t. 3, 203; cf. Hartland, E.S.: The Legend of Perseus 2. L. 1895, 56sq. - 68 Benfey 1, 411-413. - 69 Tuczay (wie not. 3) 143. - 70 cf. Wilson, Η. H.: The Vishnu Purana. Calcutta "1972, 17 sq. 71 cf. Stutley, M. und J.: A Dictionary of Hinduism. L. 1977, s.v. Anda. - 72 cf. Cordun, V.: Le Merveilleux pneumatique dans le conte roumain. In: Zs. für Balkanologie 17,2 (1981) 155-176, hier 157sq. — 73 von Harnack, Α.: Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jh.en 1. Lpz. "1924, 35. Lit. (soweit nicht bereits in den not. erwähnt): Bastian, Α.: Beitr.e zur vergleichenden Psychologie. Die Seele und ihre Erscheinungsweisen in der Ethnographie. B. 1868. - Dal', V.: Tolkovyj slovar' zivogo velikorusskogo jazyka 1 - 4 . M. 1880-82 (Nachdr. 1956). - Steele, F. A./Temple, R. C.: Wide-Awake Stories. L. 1884, 404 sq. - Castren, Μ. Α.: Ethnol. Vorlesungen über die altai. Völkerschaften. St. Peterburg 1887. - Rez. von A. Gittee zu Poestion, J. C.: Lappla;nd. Märchen [. . .]. Wien 1886. In: RTP 2 (1897) 283 sq. - Kingsley, Μ. H.: Travels in West Africa. L. 1897. - Köhler/Bolte 1, 158-163, 515. - Wundt, W.: Mythos und Religion (Völkerpsychologie 4). Lpz. 2 1910. - Stein, A./ Grierson, G. Α.: Hatim'sTales. L. 1923, XXXIsq. Arbman, E.: Unters.en zur primitiven Seelenvorstellungmit bes. Rücksicht auf Indien. In: Le Monde Oriental 20 (1926) 85-226; 21 (1927) 1 - 1 8 5 . id.: Seele und Mana. In: ARw. 29 (1931) 2 9 3 394. - Frazer, J. G.: Aftermath. A Suppl. to the Golden Bough. L. 1936 (Nachdr. 1951), 4 6 0 477. - Haeckel, J.: Zum Problem des Individualtotems in Nordamerika. In: Internat. Archiv für Ethnographie 35 (1938) 14-22. - Hultkrantz, Α.: The Concept of the Soul Held by the Wind River Shoshone. In: Ethnos 16 (1951) 18-44. - id.: Conception of Soul among North American Indians. Sth. 1953. - Delarue, 146sq. - Paulson, I.: Die primitiven Seelenvorstellungen der nordeuras. Völker. Eine religionsphänomenologische Unters. Sth. 1958. - Anikin, V. P.: Russkaja narodnaja skazka. M. 1959. — Preobrazenskij, A. G.: Etimologiöeskij slovar' russkogo jazyka 1. M. 1959. — Liungman, 23'
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Val Cordun
Extreme 1. Allgemeines - 2. Märchen - 3. Andere Gattungen - 3.1. Sage - 3.2. Mythos, Legende, Schwank, Witz — 4. Theorie 1. A l l g e m e i n e s . Alles menschliche Verhalten und Denken trägt den Keim zum E.n, zum Superlativ, zur Höchstform und sogar zur Grenzüberschreitung in sich. In der Kunst, zu der auch die Volkserzählung zu rechnen ist, sind schon Auswahl, Weglassen, Zuspitzung und Übertreibung Schritte in Richtung einer extremen (e.n) Stilisierung; in der Volkskunst (die zur Drastik neigt) treten diese Züge unverhüllter hervor als in der Hochkunst. Inhaltlich zeugen schon manche der von Volks-
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erzählungen bevorzugten Figuren vom Hang zum E.n: Riese und Zwerg, Held und Märtyrer, Tyrann und Dulder(in), Unhold und Heilbringer(in), Hexe und gütige Fee, Räuber und Meisterdieb. Gegenpol zum Extremismus ist der Wille zum Maß, das Streben nach dem Mittleren, dem meson (Aristoteles). Beide Tendenzen, zentrifugale und zentripetale, sind in Volkserzählungen am Werk. 2. M ä r c h e n . Am reichsten, differenziertesten und bedeutsamsten entfalten sich die E. im Märchen. Die diesseitigen Figuren sind mit Vorliebe Könige, Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen oder dann Gänsemagd und Schweinehüter, d. h. sie gehören nicht der Mitte, sondern den äußersten Enden der Gesellschaft an, dem Höchsten, Glänzenden oder dem Niedrigsten, dem Schmutzigen, Verachteten. Held und Heldin verkörpern oft beide E.: Sie tun niedrigen Dienst, scheinen Grindköpfe zu sein und stehen unvermittelt als Goldener, als glänzender Schlachtensieger oder als Prinzgemahlin, als Königin da. Held und Heldin werden also vom Märchen mit Vorliebe an den äußersten Rand der Gesellschaft gestellt; sie sind oft auch innerhalb der Familie die äußersten Glieder: lang ersehntes einziges Kind, Jüngster oder Stiefkind. Noch e.r ist die Sonderstellung da, wo das Kind als Tierkind oder als Däumling geboren wird oder als Dummkopf oder e.r Faulpelz erscheint, der jedoch eines Tages zu höchsten Ehren kommt. Im gleichen Sinn sind auch Tierbraut und -bräutigam, Tiergemahlin und -gemahl e. Ausprägungen des Andersseins. Eine andere Erscheinungsweise solchen Andersseins ist einzigartige Schönheit: Der Schönste geht auf die Suche nach der Schönsten, mit einer anderen möchte er nicht leben 1 ; manche Schöne ist so schön, daß man sie gar nicht ansehen kann 2 oder daß der sie Anstarrende sich nicht mehr von der Stelle rührt: Die Schönheit löst einen Schock aus3. E. Vergleiche heben die Schönheit superlativisch hervor („schön wie [. . .] die Sonne", KHM 135)4. Auch Dinge (Brücken, Treppen, Schiffe etc.) und Lebewesen (Pferde, Blumen, eine Wiese etc.) können so schön sein, „daß man eher in die Sonne hätte schauen können, aber nicht auf die Wiese" 5 , oder daß man sie gar nicht beschreiben kann 6 .
Unter den Selbstverwandlungen stechen die Verwandlungen zu winzig kleinen Tieren hervor, des Helden zu einer —> Ameise (so daß er durch ein Schlüsselloch zu kriechen vermag), des Ogers in eine Maus (so daß ihn, bei Grimm wie bei Perrault, der gestiefelte —» Kater [AaTh 545 B] leicht fressen kann). Schon Verwandlungen als solche, Wunder überhaupt, sind e. Phänomene. Zauberdinge wie Siebenmeilenstiefel und Tische, die sich selber decken, Hirtenpfeifen, die alle weidenden Tiere, und seien sie noch so weit entfernt, auf einen Schlag zurückholen, Flöten, die alle Zuhörer tanzen lassen, sind extrem gesteigerte Repräsentanten ihrer jeweiligen Gattung, sie zeigen das Äußerste an Leistung, sie sind vollkommen, sind phantastische Schuhe, Eßtische, Lockpfeifen. Das Spiel, die letztmögliche Spitze zu erreichen, findet sich in anderer, noch e.rer Form in —> Fischer und seine Frau (AaTh 555, KHM 19): Die Fischersfrau will nicht nur König, Kaiser, Papst, sondern schließlich gar Gott werden 7 . Es liegt im Wesen solchen Spiels, daß es auch schwankhafte Formen annimmt: Während in den meisten Versionen von AaTh 570 der—> Hasenhirt den ihm abgeschmeichelten Hasen schon aus kurzer Entfernung zurückpfeift, wartet er in einzelnen Erzählungen bis zum letzten Augenblick, ja über diesen hinaus: Der Hase ist schon getötet und zerstückelt worden und kocht nun im Königsschloß in einem fest verschlossenen Topf; da pfeift der Bursch. „Im Augenblick sprang der Deckel auf, die Fleischtrümmer flogen durch das offene Fenster auf die Straße, fügten sich zusammen, und schon rannte der Hase davon" 8 . Groteske Formen nehmen die Spitzenkräfte und -leistungen der großen Esser, Trinker, Späher, Horcher und kunstreichen Handwerker, Jäger, Diebe im Helfermärchen an (AaTh 653: Die vier kunstreichen
—» Brüder,
6 5 4 : Die
bebenden
—>
Brüder). So ist das Erzählfeld der Märchen durchdrungen von unzähligen scharf sichtbaren Partikeln des E.n. Dazu kommt, daß die entscheidenden Handlungen oft in weiten Entfernungen vom Ausgangspunkt abrollen: am äußersten Rande der Erde oder in einem fernen Jenseitsland, in einer Unterwelt oder einer Überwelt. Aber nicht nur Figuren und Orte werden gern ins E. gesteigert (die Hochzeit von Prinz
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und Prinzessin ist ein höchstes Bild für Hochzeit überhaupt, das Jenseitsland neben anderem ein Bild für das Überall), es gibt darüber hinaus, wie ζ. T. schon sichtbar geworden ist, e. Abläufe und Phänomene: e. Situationen, Auswirkungen, Anforderungen, e. Fähigkeiten, Leistungen, Verhaltensweisen und andere e. Erscheinungen. Häufig steht ein Märchenheld vor der Wahl: Prinzessin (und halbes Königreich) - oder Kopf ab. Tötungsbefehle werden in vielen Erzählungen gegeben (in e.m Affekt in AaTh 923: —» Lieb wie das Salz [König-Lear-Typ], z.B. KHM 71 [Ausg. 1812]: Prinzessin Mäusehauf, aus e.r Bosheit, e.m Neid in AaTh 709: —» Schneewittchen)·, Morde und Mordanschläge sind nicht selten. Helden und Heldinnen sehen sich oft entsetzlicher Verleumdung ausgesetzt: Sie werden gezwungen, ihre Identität zu verleugnen (ζ. B. AaTh 531: —> Ferdinand der treue und Ferdinand der ungetreue, AaTh 870 A: —> Gänsemagd - aber auch schon die Annahme niedriger Dienste durch Hochgeborene, ζ. B. —> Goldener/Grindkopf [AaTh 314] oder ,Lear'-Tochter, bedeutet Identitätsverlust) oder zuzulassen, daß sie fälschlich abscheulichster Verbrechen, ζ. B. des wiederholten Kindsmords, bezichtigt werden (AaTh 710: Marienkind). Jahrelanges Schweigen muß durchgehalten werden, oft unter erschwerenden Umständen: schweigendes Knüpfen von auf dem Kirchhof gepflückten Nesseln zu Hemden für die Erlösung der Schwanenbrüder, schweigendes Erdulden des Kinderdiebstahls und des Vorwurfs, die Kinder gefressen zu haben (das Bett oder der Mund der Heldin wird mit Blut beschmiert), schweigende Bereitschaft, sich verbrennen zu lassen 9 (Siebenraben-Typ, AaTh 451: —> Mädchen sucht seine Brüder). Solche e.n Situationen können als e. Tests bezeichnet werden. Im Märchen spielen Tests (im engeren und im weiteren Sinn genommen) eine bedeutsamere Rolle als in andern Erzählgattungen, sie können leicht zu äußerster Schärfe gesteigert werden, so etwa im Erzähltyp Treuer —> Johannes (AaTh 516), wo zuerst Johannes e. Entscheide in e.n Situationen treffen und dann der König bereit sein muß, seine Kinder zu morden, um den versteinerten Johannes zu erlösen. Daß die Aufgabe, Verwunschene zu erlösen, schon an sich eine e. Situa-
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tion darstellt, ist evident, und daß ihre Bewältigung e. Kräfte und Leistungen erfordert, liegt nahe. Dazu kommen die scheinbar unlösbaren —» Aufgaben (Stroh zu Gold spinnen [KHM 55], einen Berg in einer Nacht abtragen 10 , einen Wald mit einer bleiernen oder gar gläsernen Axt abholzen 11 , in einer Nacht einen Garten mit allen Baumarten der Erde anlegen 12 etc.), vor die sich der Held gestellt sieht und die er dann doch löst, mitunter aus eigener Zaubermacht, meist aber dank der Hilfe jenseitiger Wesen; bei mehreren Aufgaben ist gewöhnlich die letzte die schwerste (—» Achtergewicht): Potenzierung des E.n (im Schwankmärchen KHM 124 gilt es, einen Hasen in vollem Lauf einzuseifen und zu rasieren, einem Pferd im Galopp alle Hufeisen abzunehmen und es neu zu beschlagen, schließlich den Regen durch schnelles Degenschwenken von sich abzuhalten). E. Armut oder Einsamkeit (hilflos im Wald verirrt) bringt manche Märchengestalten dazu, unvorsichtig und ahnungslos dem Teufel oder einer andern Jenseitsfigur das eigene Kind zu versprechen (—> Kind dem Teufel verkauft oder versprochen, —> Jephtha-Motiv). Die zahllosen Extreminhalte (hier konnten nur ausgewählte Beispiele gegeben werden) tragen zur e.n Stilisierung des Märchens bei. Der Extremstil des Märchens kennzeichnet sich aber außerdem durch die scharfe Ausformung, die alles durchdringt: Trotz realistischer Einsprengsel tendiert das Märchen zur Sublimierung des Konkreten, zum Linienhaften (im Material wie in der Handlungsführung), zur klaren Farbe, zu Gold und Edelsteinen, zum Figuralen, zur Isolierung (—»Isolation), zur Reihung, zur Polarisierung (die als solche zur Wahl e.r Pole drängt: höchste Belohnung — grausame Strafe, schön — häßlich oder unscheinbar, gut — böse etc.), so daß man von extrem sublimierendem, abstrahierendem Stil sprechen kann (—» Abstraktheit); der klar strukturierende Märchenstil in seiner nichts verwischenden Reinheit ist, verglichen mit der komplexeren Hochliteratur, in sich selber ein Extrem, eine e. dichterische Möglichkeit. Merkzeichen dieses Extremstils sind die Strukturierung durch scharfe Gelenke (Verbote, Bedingungen, Aufgaben) und die e. Ausnützung oder auch ganz knappe Verfehlung von Fristen: Die erlösenden Hemden sind
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erst fertig geknüpft, als die unschuldig verleumdete Erlöserin schon den Scheiterhaufen hat besteigen müssen, oder noch nicht ganz fertig, so daß der eine Schwanenbruder einen Flügel behält statt eines Arms (AaTh 451); die Prinzessin, die monatelang schlaflos bei dem schlafenden Königssohn ausgeharrt hat, um ihn zu erlösen und zu gewinnen, schläft in der letzten Viertelstunde ein (AaTh 425 G: cf. —» Amor und Psyche); der Junge, der die Fohlen der Hexe hütet, bringt sie erst im letzten Augenblick zurück, „die Flügel des Tores [. . .] hätten ihm beinahe die Fersen abgeschlagen" 13 . Formeln wie ,gerade noch', ,kaum hatte er' sind märchen-charakteristisch. Dennoch kennt das Märchen auch den Gegenpol, die Neigung zum Maß. Märchenheld und Märchenheldin haben menschliches Maß; im Gegensatz zu den Gestalten des Mythos sind sie Menschen, nicht Übermenschen. Eigeninitiative und Angewiesenheit auf Helfer halten sich bei ihnen die Waage. Die —> Dreizahl, ein wichtiges Element der wirklichkeitsfernen Stilisierung14, ist zugleich eine Zahl des Maßes, sie hält die Mitte zwischen Singularität und Pluralität, was sich bes. bei der Gliederung des Märchens auswirkt (—» Dreigliedrigkeit). Neben solcher Mäßigung trägt auch der ganze Extremstil zur Entschärfung der einzelnen E. bei: Gerade weil es nicht akzentuierte Einzelphänomene sind (wie etwa in Shakespeares King Lear die Güte Cordelias und die Bösartigkeit Gonerils und Regans), sondern Stilelemente innerhalb eines konsequenten Stilganzen, sind sie menschlich erträglich und künstlerisch faszinierend. 3. A n d e r e G a t t u n g e n 3.1. Sage. Daß in der Gattung Sage die Extremgruppe der dämonologischen (numinosen) Sagen als Kerngruppe gilt, ähnlich wie innerhalb der Märchen die Zaubermärchen gern als eigentliche' Märchen bezeichnet werden, weist auf die Neigung der Rezipienten wie auch der Forscher hin, im E.n Wesentliches zu sehen. Der Einbruch jenseitiger Mächte (Naturdämonen, Tote) in den Alltag ist schon an sich eine e. Situation, auf welche die Lebenden mit Betroffenheit, Angst, Flucht, Krankheit, Tod oder mit energischem Handeln reagieren: Erlösung, Bann, Ände-
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rung des eigenen Verhaltens. E. Epochen und Zustände sind bevorzugte Gegenstände der Sage: Pest, Krieg, Notzeiten, Unglücksfälle (ζ. B. Bergwerkskatastrophen; Parallelerscheinungen: Die Ballade erzählt gern von Familienkatastrophen, der Bänkelsang von Unglücksfällen und Morden). Die Auswirkung der Pest wird ins E. getrieben: Nicht einzelne bleiben verschont, sondern in einem Dorf oder einer ganzen Landschaft nur gerade eine(r) oder drei oder ein Knabe und ein Mädchen 15 (—> Exzeptionsprinzip). In der Blümlisalpsage werden Lieblosigkeit und Verliebtheit ins E. gesteigert: Der Mutter wird höhnisch verunreinigte Speise dargereicht, der Geliebten wird ein Weg von Käselaiben bereitet, damit sie ihren Fuß im Umfeld der Alphütte nicht beschmutze 16 . Beim Bannen wie auch bei Schatzhebungen werden die körperlichen und seelischen Kräfte des bannenden Priesters bzw. des Schatzhebers aufs äußerste angestrengt, ebenso bei manchen Erlösungsbemühungen; Erlösung und Schatzhebung mißlingen oft im letzten Augenblick. Intensivierung, Vertiefung ist die sagenspezifische Form des E.n. Für den Drang zum Grenzwert zeugt eindrücklich der ethische Perfektionismus: Nur ein ganz untadeliger Priester vermag einen bösen Geist zu bannen. Wenn der Geist oder Teufel ihm vorwerfen kann, er habe als Bub oder Student einmal seiner Mutter ein Ei oder sonst eine Kleinigkeit gestohlen, muß er sich rechtfertigen, oder die Erlösung mißlingt 17 . Noch weiter ins E. getrieben wird der Rigorismus da, wo der Priester deshalb machtlos ist, weil, ohne daß er es weiß, eine Kornähre oder auch nur Gras von fremden Alpen in seiner Schuhspange haftengeblieben ist; wo dem Pater nur allg. vorgehalten wird, er sei ein Dieb, so daß er selber herausfinden muß, daß sich dieser Vorwurf auf den Grashalm an seinen Schuhen bezieht, erfährt der Extremismus nochmals eine Steigerung 18 . Streng verfahren die Sagenerzähler mit schönen jungen Damen: Nur weil sie mit dem Wetter nie recht zufrieden waren, müssen sie nach dem Tod im Gletscher büßen (,Die schöne Pariserin' u. a.) 19 . Noch minimaler, also noch e.r ist die Verfehlung eines Kühers im urner. Maderanertal: „Jedesmal, wenn ich allen Tieren zu lecken gegeben hatte, habe ich meine Hand,
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statt sie im Gras abzuwischen [was allein unparteiisch gewesen wäre], meiner Lieblingskuh zum Abschlecken hingehalten"; dafür muß er nach seinem Tod viele Jahre umgehen und dabei seine „rechte Hand im Grase abwischen", bis heilige Messen ihn erlösen; daß hier eine Extremform erreicht ist, sieht man auch daran, daß in einer Var. der Hirt sich deutlicher verfehlt, er gibt der „Lieblingskuh je eine Handvoll Salz mehr als den andern" — die e. Minimalverschuldung erweist sich als —» Zielform 2 0 .
3.2. M y t h o s , L e g e n d e , S c h w a n k , Witz. Der Mythos befaßt sich mit Urzeiten und Endzeiten, mit ersten und letzten Dingen, mit Schöpfung und Weltuntergang, ist also schon in seiner Grundanlage extremistisch. Bes. der erstmalige Vollzug einer Handlung wird als entscheidend erlebt. Lieblingsgestalten sind Götter und Gegengötter, Halbgötter, Heroen, Übermenschen und Kulturbringer; e.s Geschehen, so etwa Mord, Untergang eines ganzen Götter- oder Königsgeschlechts, erregt, neben der Beschaffung oder Wiederbeschaffung von Natur- und Kulturgütern (Sonne, Erde, Feuer etc.) bes. Interesse. Für die Legende bzw. die Mirakelgeschichte gilt mutatis mutandis das gleiche wie für die Sage: Das Hereinscheinen des ,Ganz Anderen', in diesem Falle Gottes oder eines Engels, in die Profanwelt ist eine e. Situation. Gern wird sie durch ein Paradox veranschaulicht: Der heilige Mel ackert beim Pflügen zum Beweis seiner Unschuld lebende Fische aus dem Ackerboden auf - wiederum eine e. Zielform (ein anderer Hl. bekommt, auch das schon ein Wunder, aus einem fischlosen Bach einen Fisch) 21 . Ein korean. Buddhist erbricht sich nach dem Genuß von Fischsuppe und macht reumütig die Fische wieder lebendig 22 . Wunder und Paradoxe der verschiedensten Art durchspielen die Welt der Legende 2 3 . Der Stärkste liefert sich freiwillig den Häschern aus (in der literar. wie in der Volkslegende: Christopherus, Fridli Bucher 2 4 ); Christus, der sich freiwillig und demütig kreuzigen läßt, ist hier Vorbild. Die Volkslegende stilisiert gern unscheinbare Landgeistliche zu heiligen, nicht selten schalkhaft heiligen Wundertätern empor.
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Schwank und Witz sind insofern extremistisch, als sie normales Geschehen und normale Gestalt zu verzerren lieben; von den Mitteln Übertreibung, Sprung ins Groteske, Absurde oder Paradoxe machen sie ausgiebig Gebrauch. Bei S. Thompson trägt eine ganze Motivgruppe den Titel Foolish e. (Mot. J 2 5 0 0 - 2 5 4 9 ; z. B. J 2516.4: Do not leave my side. The youth obeys the command to such an absurd extent that he is a nuisance to his master; Analoges praktiziert Eulenspiegel, aber auch Klein Erna, die ihren viel kleineren Bruder immer an der Hand halten soll: Sie watet ins Meer hinaus, bis nur noch ihr Kopf zu sehen ist, und behält dabei Klein Bubi an der Hand 2 5 ). Als Superlativ eines schon bei der Geburt körperlich defekten Kindes liegt im Bett nur ein Auge, das überdies blind ist 26 : e. Steigerung der Verkrüppelung ins total Absurde. 4. T h e o r i e . Die Wurzeln des E.n in Volkserzählungen sind mannigfaltig. Schon rein logisch liegt es nahe, den höchstmöglichen Grad einer Erscheinung oder eines Geschehens zu ermitteln und zu vermitteln: Maximalisierung und Minimalisierung. Auch die Kontrastierung eines Extrems durch das entgegenstehende ist ein logisches wie auch ein erzählerisches Bedürfnis (—> Dichotomie), sie ist zudem schon in der Natur vorgebildet (Tag und Nacht, Sommer und Winter, in der Sprache Stimmhaftigkeit und Stimmlosigkeit). Die Lerntheorie empfiehlt neben Wiederholung auch Verstärkung der einzelnen Elemente: Beide Methoden finden sich in der Volkserzählung verwirklicht. Natürlich sind auch Wünsche und Ängste mit im Spiel: der Wunsch nach dem Vollkommenen, Besten und die Angst vor Zerstörendem. Dazu kommt der spezifisch menschliche Wunsch, Grenzen zu erreichen und zu überschreiten, über sich selber hinauszuwachsen. Die Bewährung in einer Extremsituation hat Symbolbedeutung, sie ist ein Signal, sie garantiert gleichsam die Möglichkeit der Bewährung überhaupt, kann aber auch (in Schwänken und Schwankmärchen) ironisiert werden. E.s Vergessen (der oder des Geliebten: Mot. D 2003, D 2004.2; cf. Braut, Bräutigam, Kap. 6) symbolisiert signalhaft Vergessen an sich. Die Wahl der Königsfigur hat nicht nur stilistische
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und Symbol-Bedeutung, sie wirkt sich auch praktisch aus: In AaTh 410: —> Schlafende Schönheit kann der König die Spindeln aus dem ganzen Reich verbannen (Perrault, KHM), der Signore nur aus seinem Palast (Basile). E.s kann ein Streßfaktor, ein Blickfang sein, aber auch ein Motor des Geschehens (e. Bosheit und e. Schönheit). Stilistisch ist es ein Teil der Straffheit, der Präzision des Erzählens. Beteiligt sind aber auch die Neigung der Volkskunst zur Drastik und die Spielfreude der Erzähler und der Menschen ganz allg. Im Volksmärchen kommt das E. auf dem Hintergrund von Alltagselementen und im Zusammenspiel mit Klarheit und Maß bes. eindrücklich zur Wirkung. I
Lüthi, Ästhetik, 23. - 2 ibid., 23, 29. - 3 ibid., 12sq., cf. 11—52 (Kap. Schönheit und Schönheitsschock). - "ibid., 21. - 5 ibid.,29sq. - 6 i b i d . , 3 1 36. - 7 cf. Rölleke, H.: Der wahre Butt. Düsseldorf/ Köln 1978, pass. — 8 Haiding, K.: Märchen und Schwanke aus Oberösterreich. B. 1969, 10; cf. Lüthi, M.: Goal Orientation in Storytelling. In: Folklore Today. Festschr. R. M. Dorson. Bloom. 1976, 3 5 7 - 3 6 8 , hier 3 6 1 - 3 6 3 . - 9 Ranke 2, 72—75. — 10 Megas, G. Α.: Begegnung der Völker im Märchen. 3: Griechenland—Deutschland. Münster 1968, 190. II
KHM 113; ferner Siuts, H.: Jenseitsmotive im dt. Volksmärchen. Lpz. 1911, 2 2 6 - 2 2 9 , 299sq. 12 Megas (wie not. 10) 163, 174. - 13 Zaunert, P.: Dt. Märchen seit Grimm. MdW 1964, num. 1 (AaTh 317). — 14 v. Lüthi, M.: Fantastik und Realistik im europ. Volksmärchen. In: Internat. Jugendbuchtagung 1982 in Gwatt. Bern/Mü. 1982, 3 8 - 5 4 , hier 43sq. - 15 v.z. B. Müller, Josef: Sagen aus Uri 1 - 3 . Basel 1926, 1929, 1945 (Nachdr. 1969,1978) num. 81; cf. HDS 1 - 3 ( 1 9 6 1 - 6 3 ) 3 4 2 - 3 4 6 . - 16 v. Lüthi, M.: Aspekte der Blümlisalpsage. In: SAVk. 76 (1980) 2 2 9 - 2 4 3 , bes. 230, 232, 235, 239. 17 Kapfhammer, G.: Bayer. Sagen. Düsseldorf/Köln 1 9 7 1 , 1 1 9 , 1 6 0 , 1 7 3 , 1 8 1 . - 18 Schambach, G./Müller, W.: Niedersächs. Sagen und Märchen. (Göttingen 1855, 229sq.) Nachdr. Stuttgart 1948, 227sq.; Lütolf, Α.: Sagen, Bräuche, Legenden aus Lucern, Uri, Schwiz, Ünterwalden und Zug. Lucern 1862 (Nachdr. Zürich 1976) 247; Niderberger, F.: Sagen und Gebräuche aus Ünterwalden. (Sarnen 1909, 1910, 1914) Nachdr. Zürich 1978, 63, 233. - 19 Jegerlehner, J.: Sagen aus dem Oberwallis. Basel 1913, 167 sq. - 20 Müller (wie not. 15) num. 982. 21 Günter 1949, 106, 129. - 22 Yang, Ze U: Strukturen und Elemente korean. Volkserzählungen. Ffm./Bern 1981,189. - 23 Lüthi, M.: Das Paradoxe in der Volksdichtung. In: id.: Volkslit. und Hochlit. Bern/Mü. 1970, 1 8 1 - 1 9 8 , hier bes. 192. - ^ M ü l ler (wie not. 15) num. 28. - 25 ν. ζ. Β. Millowitsch,
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W.: Da bleibt kein Auge trocken. Mü. 1966, 450. 26 Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N.Y. 1981, 102.
Zürich
Max Lüthi
Exzeptionsprinzip. In vielen populären Erzählungen begegnet ein Darstellungsmittel, das die —» Dynamik einer Geschichte steigern oder die Einmaligkeit eines Vorgangs bes. betonen soll: Alles ist erlaubt bis auf eine Sache (—> Tabu); alle Mittel versagen, nur eines hilft; oder personenbezogen: Alle Brüder scheitern, nur der —> Jüngste nicht; alle sterben, aber einer überlebt etc. W.-E. Peuckert 1 wollte in seinem Art. Alle außer. . . dieses Ausschließ-Schema nicht nur auf eine Person (Sache) begrenzt sehen, er gibt auch Beispiele für das E. mit Zahlen zwischen zwei und vierzehn. Seiner Meinung nach handelt es sich um ein altes Prinzip, das auch öfter in Mythen der Naturvölker auftaucht: Kriege, Sintfluten oder Seuchen raffen alle bis auf ein Paar dahin, von dem dann die späteren Geschlechter abstammen. In Sagen erscheint das E. „als ein Zug, der strenges Gericht, Furchtbarkeit und Not andeutet" 2 (—> Extreme). So kann nur ein einziger einem Schiffsunglück entgehen 3 , beim Untergang der Stadt Vineta kommen alle außer einem um 4 , nur ein Dorfbewohner übersteht die Pest 5 , nur einer kommt im Türkenkrieg mit seinem Leben davon 6 . Häufig ist auch eine Zweier-Konstellation anzutreffen: Nur zwei entgehen beim Einfall der Tataren dem Tod 7 , nur zwei Kinder, so die Rattenfängersage (Mot. D 1427.1), ziehen nicht mit und kehren in die Stadt Hameln zurück etc. Die Überlebenden bezeugen das Geschehen; das E. erhöht die —> Glaubwürdigkeit des Berichteten. Im M ä r c h e n hat das E. eine andere Funktion und ist ein bes. wichtiges Strukturelement. Die Handlungsträger befinden sich in einer Ausnahmesituation, in der alle sich nicht bewähren — bis auf einen. So heißt es z.B. in vielen Var.n des Blaubart-Märchens (AaTh 311, 312: —> Mädchenmörder), daß die im Gewahrsam des Unholds Befindliche alle Zimmer bis auf eines öffnen dürfe: Sie übertritt jedoch das Verbot und wird mit dem
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Ey
Tode bestraft (cf. auch Mot. C 611; Das verbotene —» Zimmer). Erst die jüngste Schwester vermag den Unhold zu überlisten und ihre Schwestern wiederzubeleben. Hier wird das E. gleich auf zweierlei Weise angewendet: Einmal findet sich das Verbot, eine bestimmte Tür zu öffnen, zum anderen versagen die älteren Schwestern in der Gefangenschaft des Unholds, nur die jüngste nicht. Gerade das letzte Schema ist für viele Zaubermärchen charakteristisch: Alle scheitern, nur der oder die eine nicht (cf. z.B. AaTh 303 A: —» Brüder suchen Schwestern; AaTh 710: —> Schlafende Schönheit; AaTh 851 A: —»• Rätselprinzessin)8. Mit diesem Strukturelement ist zugleich eine positive Aussage verbunden, denn der Held (die Heldin) löst nicht nur die unmöglich scheinenden —» Aufgaben, übersteht —»Bewährungsproben und —»Abenteuer, sondern befreit obendrein wie in vielen Var.n des Sieben-Raben-Typus (KHM 25, AaTh 451: —» Mädchen sucht seine Brüder) die Verwandelten und erlöst sie. Ebenso gängig ist das E. auf eine Sache bezogen. So heißt es in vielen —> Aussatz-Erzählungen, daß kein Mittel gegen Lepra helfe außer Kinderblut (Mot. F 955.1; cf. auch Blut; AaTh 516 C: —» Amicus und Amelius). Oder bei der Heilung des Königs versagt alle ärztliche Kunst: Nur durch ein Mittel, z.B. -h> Lebenswasser, kann die Gesundheit wiedererlangt werden (AaTh 550: —» Vogel, Pferd und Königstochter; AaTh 551: —» Wasser des Lebens).
num. *148. - 4 Temrae, J.D.H.: Die Volkssagen von Pommern und Rügen. (B. 1840) Nachdr. Hildesheim/N.Y. 1976, num. 14. - 5 Böck, E.: Sagen aus Niederbayern. Regensburg (1977) num. 327. - 6 Mailly, A. (ed.): Niederösterr. Sagen. Lpz.-Gohlis 1926, num. 191. - 7 Kühnau, R.: Mittelschles. Sagen geschichtlicher Art. Breslau 1929, num. 547. - 8 cf. auch die EM-Art. Brautproben; Freier, Freierproben; Rätselmärchen.
Göttingen
Kurt Ranke
Ey, Karl August Eduard, »Clausthal 23. 3. 1810, f Zellerfeld 21. 8. 1870, Lehrer und Mundartdichter im Oberharz. E., Sohn eines Bergmanns, arbeitete 1836—44 als Privatlehrer in Zellerfeld und von 1844 bis zu seinem Tod als Lehrer an der dortigen Bürgerschule. Wenn ihm auch seine drei Veröffentlichungen eine gewisse Anerkennung einbrachten, so hatte er doch stets mit erheblichen Einschränkungen seiner Wirksamkeit - auch seitens der geistlichen Schulaufsicht - und mit allzu engen wirtschaftlichen Verhältnissen zu kämpfen. Für die Erzählforschung ist seine Sammlung Harzmärchenbuch (1862) von bes. Interesse. Die darin enthaltenen 66 Aufzeichnungen seien den Alten „abgehorcht", kein „Märchenwerk" sei benutzt worden, wie er in der Vorrede schreibt. E. hat weder versucht, aus verschiedenen Varianten eine ,Normalfassung' zu konstruieren, noch den vorgefunIn der L e g e n d e begegnet das Ausnahme- denen Stoff zu literarisieren (vielleicht von prinzip ständig, heiligmäßiges Leben ist die einigen Versen abgesehen). Seine Aussage „aus dem Munde des Volks niedergeschrieexceptio schlechthin: Alle müssen Torturen mit ihrem Tod büßen, nur der Hl. übersteht ben" ist auf die Erzählinhalte zu beziehen, alle möglichen Martyrien unbeschadet (z.B. denn die Texte lassen eine sprachliche Glät—* Erasmus, —» Katharina, —> Sebastian); alle tung erkennen. Der größte Teil besteht aus sind den Naturgesetzen unterworfen, nur der Teufels-, Toten-, Hexen- und Zauberersagen, Hl. nicht: Er vermag über das Wasser zu aus Glaubensvorstellungen, wie E. sie bestänwandeln (cf. AaTh 827: —> Heiligkeit geht dig in seiner nächsten Familienumgebung im über Wasser) oder hängt seine Kleidung am Bergbaugebiet erlebte, wohl auch selbst für —» Sonnenstrahl auf. Für die Gläubigen wie- wahr gehalten und oft mit realistischen Einderum gilt das E. auch in der Weise, daß zelheiten dieser vorindustriellen Arbeitswelt in bestimmten Nöten und Gefahren nur von aufgezeichnet hat — ohne kritischen, geeinem bestimmten Hl.n Beistand zu erwarten schweige denn ironischen Abstand. Auch die Märchen und Märchenbruchstücke weisen ist. häufiger sagenhafte Prägung auf. Schwänke hingegen sind nicht vertreten. Einige Texte 1 2 3 HDS, 6 4 2 - 6 4 6 . ibid., 643. Depiny, A. lassen frz. Herkunft vermuten. (ed.): Oberösterr. Sagenbuch. Linz 1932, 138,
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Ey(e)ring
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nutz vnd kurtzweilich zu lesen3. Der Verleger hält es in seiner Vorrede an Leipziger Ratsherren für notwendig, „durch Sprichworter [. . .] Vermahnung und Erinnerung den Menp. 1 - 3 = AaTh 307: —> Prinzessin im Sarg. — schen beyzubringen"; die Mitglieder der hö4 8 - 5 5 = AaTh 853: -> Redekampf mit der Prinheren Stände könnten „durch Gleichnüsse zessin + 566: —»Fortunatus. — 55—63 = cf. AaTh und Sprichwörter gantz leichtlich gewonnen 401 A: Enchanted Princesses and their Castles. — werden"; Sprichwörter dienten also der Per6 4 - 7 4 = AaTh 507 A: cf. -H> Dankbarer Toter. 7 4 - 8 0 = AaTh 326: -> Fürchtenlernen. - 8 0 - 9 1 suasion 4 in gemeindepolitischen Diskussionen = AaTh 401 A. - 9 1 - 9 7 = AaTh 425: -> Amor und der Entpersönlichung von Kritik: Der zu und Psyche. - 1 0 0 - 1 0 6 = AaTh 402: -> Maus als Tadelnde habe „demnach auch keine Ursach, Braut. - 1 1 3 - 1 1 8 = AaTh 506: cf. Dankbarer Toeinigen Zorn zu fassen" 5 . ter + 513 A: —> Sechse kommen durch die Welt. — Die Slg von rund 1.500 unterschiedlichen 1 1 8 - 1 2 0 = AaTh 330: — Schmied und Teufel. 120sq. = AaTh 7 5 2 B : Der vergessene —> Wind. — Sprichwörtern und Redensarten (durch Wie1 2 2 - 1 2 8 = AaTh 562: - » Geistim blauen Licht. derholungen und die lat. Parallelen kommt es 128sq. = AaTh 567: Das wunderbare —> Vogelzu einer Verdoppelung dieser Zahl), von deherz. - 1 4 4 - 1 4 7 = AaTh 759: -> Engel und Erenen rund 900 in dt. Versen erklärt werden, ist mit. - 1 5 4 - 1 5 9 = AaTh 590: Die treulose -> Mut6 ter. - 165 — 172 = AaTh 665: —» Mann, der wie ein alphabetisch geordnet ; 1.1 beginnt mit Vogel flog und wie ein Fisch schwamm. — 173 — 176 „Aber doch", „Acht und veracht keinen Ort ohn ein Ohr", „Ach wer doheimen wer", = —»Melusine. - 1 7 6 - 1 8 0 = AaTh 710: - » M a rienkind. - 1 8 5 - 1 8 8 = cf. AaTh 834: - * Schatz „Adam iss", „Adam muss ein Evam han" etc. des armen Bruders. - 1 8 8 - 1 9 3 = AaTh 613: Die In Knittelversen bringt E. Erläuterungen des beiden —> Wanderer. — 193 sq. = —» Frau Holle. Sprichworts (der Redensart) mit oftmals anti215—219 = AaTh 403: Die schwarze und die weiße papistischer und misogyner Tendenz, er zi—»Braut. tiert dt. und lat. Sprichwörter mit gleicher V e r ö f f . e n : Harzbuch oder Geleitsmann durch oder ähnlicher Bedeutung und bringt zur weiden Harz. Goslar 1854. - Harzmärchenbuch oder teren Exemplifizierung eine oder mehrere ErSagen und Märchen aus dem Oberharze. Stade zählungen: Fabeln, Bibelhistorien, Sagen und 1862 (Nachdr. Hildesheim/N.Y. 1971). Schwänke, so z.B.: Harzschtreitzel oder Harzgedichte. Clausthal 1863. Insgesamt können ca 20 Texte zu den Märchen gerechnet und folgenden Erzähltypen zugeordnet werden:
Q u . n : Niedersächs. Hauptstaatsarchiv Hannover. - Niedersächs. Staatsarchiv Wolfenbüttel. Bibl. des Oberbergamtes Clausthal-Zellerfeld. Auszug aus dem Kirchenbuch Zellerfeld Jg 1857/ 54 B. - Autobiogr. von Α. E. (Ms.) und biogr. Entwurf von Hildegard E. (Ms.), beide Mss. bei der Urgroßnichte E.s, Η. E., Wiesbaden.
München
Walter Scherf
Ey(e)ring, Eucharius, Königshofen im Grabfeld (Mainfranken) um 1520, t Streufdorf (bei Hildburghausen) 1597, Protestant. Geistlicher, Sprichwortsammler 1 . 1601—04 erschienen postum in Eisleben bei Henning Gross (1553—1621) 2 drei Bände mit dem Titel Proverbiorum Copia. Etlich viel Hundert hat. und Teutscher schöner vnd lieblicher Sprichworter, wie die Teutschen auff Latein vnd die Lateinischen auff Teutsch außgesprochen. Mit schönen Historien, Apologis, Fabeln vnd gedichten geziert, menniglichen
Proverbiorum copia t. 1, 212sq.: Toter erhält Begräbnis, wenn etwas Gutes gesagt werden kann. Nur der Barbier preist den Wucherer: Sein Bart ließ sich gut scheren (Mot. X 511). - 1, 3 2 1 - 3 3 2 (zu: „Das Kind thuts der Stieffmutter klagen"): Fuchs, Esel und Wolf wallfahren nach Rom und hören sich gegenseitig Beichte; der Esel wird zerrissen (Tubach, n u m . 3 0 5 3 ) . - 1, 4 0 6 - 4 0 9 („Den Meister und Eltern in Ehren haben"): Der alte Fechtmeister, von seinem Schüler herausgefordert, gebraucht eine Finte und siegt (Mot. Κ 832.2). — 1, 462: —> Fuchs und saure Trauben (AaTh 59). — 1, 6 2 9 - 6 3 6 : —»Androklus und der Löwe (AaTh 156). 2, 159 („Ein Pferd verschont eins Menschen"): Pferd rächt seinen Herrn, der im Kampf gefallen ist, und tötet seinen Gegner (cf. Mot. Β 591.2). — 2, 160sq.: Hund beißt und verrät den Mörder seines Herrn (Mot. J 1145.1). - 2, 1 8 0 - 1 8 2 : Bauer stellt sich tot, damit das Gesinde eine Mahlzeit überspringt; der Knecht schlägt ihn tot, als er sich rührt: den müsse der Teufel bewegt haben (Mot. J 2188). - 2, 208sq.: -> Kraniche des Ibykus (AaTh 9 6 0 A ) . - 2, 2 3 6 - 2 3 8 („Er forcht sich vor jm selbst"): Die —> Sieben Schwaben greifen einen Hasen an (AaTh 1231). - 2, 578sq.: The Horse is
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Ey(e)ring
Cleverer than the Priest (AaTh 1621*). - 2, 6 1 4 - 6 1 6 : - » Faulheitswettbewerb (AaTh 1950). 2, 6 5 4 - 6 5 6 : Bauer berichtet dem Pfarrer von der Nottaufe an seinem Kind: „Im Namen des Vaters und des hl. Geistes". — „ W o bleibt der Sohn?" — „ D a kommt er und bringt Ihnen ein Kalb mit". (AaTh 1833B: cf. —» Katechismusschwänke). - 2, 661 - 6 6 6 : Gast prellt die Zeche, der Wirt kauft seine eigene Kuh (Mot. Κ 258.1). 3 , 1 6 2 - 1 6 4 : —> Wettlauf der Tiere (AaTh 275 A; hier Hase und Schnecke). - 3, 1 7 2 - 1 7 4 : Eulenspiegel macht die Kranken gesund (Mot. Κ 1955.1; Tubach, num. 1323). - 3, 1 7 5 - 1 7 7 : Eulenspiegel als Gespenst auf dem Kirchhof. - 3, 1 7 2 - 1 7 4 („Lepsch, laß nicht schnappen"): Der Hund Lepich soll Clausens Federbett-Streich nicht verraten (Mot. J 2191; - » Claus Narr). - 3, 207sq.: Kaiser Ottos ,Pädagoge' ersticht einen Speisen-Aufträger, der Ottos Söhnlein schlug, und bedroht den Herrscher selbst. Dieser verzeiht ihm und mahnt zu mäßigem Verhalten (Mot. Μ 13). - 3, 2 3 4 - 2 3 8 : Sechs Säufer (in Böhmen, 1551) lästern Gott und den Teufel und sterben alle in einer Nacht (nach einer Neuen Zeitung). — 3, 270sq.: Nachbarn wünschen Reis von dem Baum, an dem sich drei Frauen erhängt haben (Mot. J 1442.11; Tubach, n u m . 4 9 7 8 ; —> Baum der Frauen). — 3, 304sq. („Sich an dem Seinen genügen lassen"): Hund läßt Fleisch fallen, als er sein Spiegelbild im Wasser sieht (AaTh 34 A: —> Spiegelbild im Wasser). - 3, 340sq.: Esel wird auch nach dem Tode noch geprügelt - als Trommelfell. - 3, 4 3 1 - 4 3 5 : Das hochmütige —» Mädchen (AaTh 940). — Zu erwähnen sind auch noch die Verse von den Altersstufen („Zehn Jahre ein Kind [. . .]"; 2,204), eine —» Erdbeben-Liste („Das Wetter schlegt gern in hohe Beum und Bew [Gebäude]"; 1, 353—360) und ein Tierstimmen-Katalog (2, 1 2 9 - 1 3 1 ) .
Johann Agricolas Dreyhundert gemeyner Sprichwörter, der wir Deutschen uns gebrauchen ( 1 5 2 9 ) 7 waren, w e n n auch nicht ausschließlich 8 , s o d o c h die hauptsächliche Q u e l le für die Proverbiorum copia. O h n e Z w e i f e l hat E. auch zeitgenössische Unterhaltungs-
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schriften v e r w e n d e t ; J. —> Paulis Schimpf und Ernst war ihm sicher bekannt. Seinerseits wird er i n s b e s o n d e r e im Unterricht V e r w e n dung g e f u n d e n haben: Christian Gryphius arbeitete mit der Proverbiorum copia in e i n e m Schultheaterstück für die Breslauer G y m n a sien 9 . K. F. W. W a n d e r hat E . s Sprichwörter k e i n e s w e g s alle a u f g e n o m m e n 1 0 . E i n e G e s a m t - A n a l y s e der mit Sprichwort und R e densart v e r k n ü p f t e n V o l k s e r z ä h l u n g e n fehlt. 1 Nopitsch, C. C.: Lit. der Sprichwörter. Ein Hb. für Literarhistoriker, Bibliographen und Bibliothekare. Nürnberg 2 1833, 34sq.; A D B 6 (1887) 4 6 0 - 4 6 2 (J. Franck). - 2 cf. A D B 9 (1879) 748sq.: Der Verleger aus Halberstadt ist nicht identisch mit dem Juristen H. Grosse aus Wittenberg. - 31. 1 (1601), 8 fol.n.n., 817 p.; t. 2 (1601), 8 fol.n.n., 721 p.; t. 3 (1604), 8 fol.n.n., 615 p., 4 fol.n.n. (Index). Benütztes Exemplar: Niedersächs. Staats- und Univ.sbibl. Göttingen: 8° Adagia 3211; Angaben bei Moll, Ο. E.: Sprichwörter-Bibliogr. Ffm. 1958, n u m . 3 7 2 9 fehlerhaft. - 4 c f . Gizelis, G.: Narrative Rhetorical Devices of Persuasion. Folklore Communication in a Greek-American Community. Athen 1974. — 5 Proverbiorum copia 1 (1601) fol. 2v°sq., fol. 3r°. - 6 1. 1: A - D , 2: E - G , 3: Η—Z. Die 267 Sprichwörter des 3. Bandes sind durchnumeriert. - 7 Nopitsch (wie not. 1) 1 3 - 2 0 ; Grau, H.: Die Leistung Johannes Agricolas als Sprichwortsammler. Ein Beitr. zur Sprichwortforschung. Diss. Tübingen 1968; Gilman, S. L. (ed.): Johannes Agricola: Die Sprichwörter-Slgen 1 - 2 . B./N. Y. 1971. - 8 So behauptet von Schulze, C.: Johann Agricola und Sebastian Franck und ihre Plagiatoren. In: ArchfNSprLit. 17, 32 (1862) 1 5 3 - 1 6 0 , bes. 1 5 7 - 1 6 0 . - 9 Eggers, D.: Das Breslauer Schultheater unter Christian Gryphius: Lit.geschichte als Bildungsauftrag. In: Schöne, A. (ed.): Stadt — Schule - Universität - Buchwesen und die dt. Lit. im 17. Jh. Mü. 1976, 2 1 0 - 2 2 4 , bes. 2 1 8 - 2 2 1 . - 10 Wander, K. F. W.: Dt. Sprichwörter-Lex. 1 - 5 . Lpz. 1 8 6 7 - 8 0 (nach Stichproben).
Zürich
R u d o l f Schenda
F Fabel 1. Begriff - 2. Ursprung - 3. Strukturmerkmale - 4. Akteure (Tiere) - 5. Theorie
1. Begriff. F. (lat. fabula: das Erdichtete), der Handlungsverlauf eines epischen oder dramatischen Werkes — mit dem Zusatz,äsopisch' (,fabulae Aesopicae'; —» Äsopika) bereits von —» Phädrus als Gattungsbezeichnung für beispielhafte Tiergeschichten und ähnliches verwendet und durch Heinrich —> Steinhöwels Äsop-Übersetzung ins Deutsche eingeführt. Die ältesten F.n erscheinen in der ionischen Poesie, die auch für das Tiermärchen wichtig ist, unter der Bezeichnung ainos, einem Begriff, der Gleichnis ebenso wie Sprichwort und Rätsel umfaßt. Am häufigsten gebraucht werden die Bezeichnungen mythos und logos, um jeweils das phantastisch Märchenhafte und das rationale Element der F. zu betonen. Aristoteles unterscheidet in der Rhetorik (2,20) zwei Arten von allg. Überzeugungsmitteln: Beispiel (paradigma) und Gedankenkette. Beispiele sind, sofern es sich nicht um Erzählungen hist. Begebenheiten, sondern um eigene Erfindungen handelt, Gleichnisse (parabole) wie die des Sokrates und Erzählungen (logoi) nach Art der F.n —» Äsops. Das MA. wählt die Bezeichnung bispel oder bischaft. Beide Benennungen zeigen, daß es sich um eine belehrende Erzählung handelt. Das Wort bispel weist außerdem auf den Zusammenhang zwischen F., Gleichnis und Sprichwort. Es meint eine Erzählung, die nicht für sich, sondern für etwas anderes steht, deren Sinn nicht im Erzählten selbst liegt. Bereits im 13. Jh. wird der Begriff spei (Erzählung, Bericht) abgewertet zur nicht verbürgten, somit unwahren oder gar lügenhaften Erzählung, während bispel als die (von einer unterhaltsamen Hülle umgebene) Wahrheit erscheint. Auch das bibl. Gleichnis wird bispel
genannt (z.B. Hugo von Trimberg). Thomasin von Zerklaere übersetzt fabula mit bispel. In der ma. Spruchdichtung werden die äsopischen F.n als bispel bezeichnet (ζ. B. Der Marner, Bruder Wernher, Reinmar von Zweter). Das Lehnwort fabel (frz. fable, mhd. fabele) bezeichnet im MA. eine Geschichte, deren Wahrheit nicht verbürgt werden kann oder die nur unterhaltsam ist. Als Gattungsbezeichnung erscheint das Wort erst bei Steinhöwel (1476) und Anton von —> Pforr (Das Buch der Beispiele der alten Weisen, 1480). Diese Doppelbedeutung — Gattungsbezeichnung und Ausdruck für erdichtete, unwahre Rede — hat bis ins 20. Jh. immer wieder zu Mißverständnissen geführt, durch welche die äsopische F. zu Unrecht in Mißkredit geriet; cf. etwa die immer noch in der F.diskussion falsch zitierte Bibelstelle 2. Tim. 4,4: Luther übersetzte mythos und fabula mit F.; gemeint sind gnostische Geheimlehren, d.h. phantastische Aussagen über die Welt und ihre Entstehung, wie sie die gnostischen Irrlehrer vertraten; cf. auch die oft und meist falsch zitierte Stelle aus Nathan und Jotham (Harsdörffer 1650, Vorrede): „Die Fabel und gemeinen Mährlein lassen wir den Kindern und alten Mütterlein [. . .]". Hier meint Georg Philipp —> Harsdörffer nicht die Gattung, wie nicht nur der Kontext, sondern bereits die Forts, der meist aus dem Zusammenhang gerissenen Stelle zeigt: „ [ . . .] welche sich von wichtigen Lehrgedichten selbsten unterscheiden".
Seit dem 18. Jh. wird der Begriff F. auch für den Handlungsverlauf eines epischen und dramatischen Werkes gebraucht, eine Bedeutung, die bis in die Gegenwart neben der Gattungsbezeichnung gilt; diese Doppelspurigkeit gab ebenso Anlaß zu Mißverständnissen. 2. U r s p r u n g . Der Streit um das Ursprungsland der F. wurde nicht entschieden, und es bleibt weiterhin umstritten, ob die griech. oder die ind. F. die ursprüngliche war. Um 1860 entbrannte ein heftiger Streit, nachdem der Orientalist T. —> Benfey 1859 den ind. Anspruch auf die Herkunft der Tiersage vertreten hatte
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Fabel
(Benfey 1862). - Ebenfalls 1859 veröffentlichte der Rabbiner J. Landsberger Die F.n des Sophos, eine Slg hebr. F.n vorwiegend aus dem Talmud und den Midrasim, und versuchte, Judäa als das „Vaterland der Fabel" und die Hebräer als die „Erfinder der Fabel" zu erweisen. In seiner Rez. wandte sich Benfey nicht nur gegen diese Theorie, sondern lehnte den Ausdruck „Erfindung der Fabel" grundsätzlich ab mit der Begründung, daß F.n oder fabelartige Texte gleichzeitig bei den verschiedensten Völkern zu finden seien, ohne daß man einen Einfluß feststellen könne. — A. Hausrath (1898, 306) stellte fest, daß die Forschung der letzten 50 Jahre zur Frage nach Ursprung und Heimat der F. nichts Neues erbracht habe und daß es sich um eine müßige Frage handle.
Nachdem die mesopotam. F. entdeckt worden war, glaubte man aufgrund der Parallelen zu den griech. und ind. F.n in vielen Fällen den mesopotam. Ursprung erweisen zu können und sah im antiken Mesopotamien die Quelle der F. (cf. Adrados 1981, 36). Bedeutsamer in diesem Zusammenhang sind die Unters.en der Ägyptologie, die bisher kaum beachtet wurden, obwohl die Lit. Ägyptens ihre Strahlkraft auf Babylonien, Griechenland und Indien ausübte (cf. BrunnerTraut 1968, 43—67). Inwieweit sich „griechische Fabeln als säkularisierte ägyptische Mythen enthüllen" (Brunner-Traut 1968, 59), ist schwer nachweisbar, zumal es sich bei den ägypt. Funden um Bilder ohne Texte handelt (die zugehörigen Geschichten müssen erschlossen werden) oder aber um nur bruchstückhaft überlieferte Texte — abgesehen davon, daß der F.begriff von E. BrunnerTraut sehr weit gefaßt ist und die Grenzen zwischen F., Märchen und Mythos verschwimmen. Versteht man die F. als „eine Urform unserer Geistesbetätigung" (Crusius 2 1920, IV), so erscheint es sinnlos, nach der Heimat der F. zu forschen. Feststellbar ist allenfalls der Ursprung einzelner Motive. Zwei der bekanntesten F.motive könnten (in ihrer Vorform) aus Ägypten stammen: der Streit zwischen Kopf und Leib (um 1100 a. Chr. n. ), als —> Magen und Glieder (AaTh 293) durch die Rom. Geschichte (2,32) des Titus Livius berühmt geworden, und der Rangstreit der Pflanzen, der „genuin ägyptisch ist" (BrunnerTraut 1968, 43). Der vielleicht älteste literar. Beleg für die F. Magen und Glieder ist nur
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bruchstückhaft überliefert und steht — bezeichnend für die Bedeutung der F. in der Schule — auf einer Schülertafel (BrunnerTraut 1968, 40 sq.). Äsop (6. Jh. a. Chr. n.) war nicht der Erfinder' und auch nicht der erste Erzähler, von dem F.n überliefert sind, obwohl sich der Name des sagenumwobenen phryg. Sklaven untrennbar mit der literar. Gattung verbunden hat. Es ist denkbar, daß Äsop überhaupt keine hist. Gestalt ist, sondern nur eine „Verkörperung des fabulierenden Volksgeistes" (Hausrath 1940, 114). Im Volksbuch vom Philosophen Xanthos und seinem weisen Sklaven Aisopos und in dem später aus dem Volksbuch entstandenen Äsop-Roman (einem Vorläufer des Schelmenromans) wird die Lebensgeschichte dieses phryg. Sklaven ausführlich erzählt. Die legendäre Vita Aesopi und die F.n des Äsop gehören zusammen, da Äsop seine F.n jeweils in einer konkreten Situation erzählt, als ein literar. Kampfmittel für sich und andere nutzt. In der Antike war die F. ein Gegenstand der Rhetorik, nicht der Poetik. Die Beispiele in der Rhetorik des Aristoteles zeigen, daß der antike Redner die F. nutzte, um eine konkrete Situation durch eine bildhafte Geschichte, ein analoges Modell zu veranschaulichen und die Zuhörer zu beeinflussen. Den Bezug von der erzählten Geschichte zur betreffenden Situation stellt der Redner (Stesichoros bzw. Äsop) mit den Worten: „So seht also auch ihr [. . .]" bzw. „Ebenso tut auch ihr [. . .]" selbst her. Auf die „lebendige Funktion der Fabel bei konkreten Begebenheiten" (Briegel-Florig 1965, 99), die in den letzten Jahrzehnten der F.forschung wieder stärker beachtet wird (cf. —» F.bücher, Kap. 9), haben bereits kaum bekannt gewordene Theoretiker des 18. Jh.s wie C. Meiners (1781/82), Gebhard (1784), L. H. Jacob (1785), C. G. Bardiii (1791) u. a. hingewiesen, im 19. Jh. dann vor allem der Theologe A. Jülicher, dessen komparatistische Sichtweise auch noch für die moderne F.forschung wichtig ist und bisher zu wenig beachtet wurde. „Je mehr die Redekunst sank und die paränetische Rede, die Mutter der Gleichnisse und Fabeln, hinter der enkomiastischen verschwand, desto mehr wurde die Fabel ihrem Ursprung entfremdet und konnte bald ganz für sich (genauer: ihre ,bildliche' Hälfte) gepflegt werden als selbständige Rede- oder Dichtgattung" (Jülicher 1963, 99).
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Fabel
3. S t r u k t u r m e r k m a l e . Eine allg.gültige Definition der F. von Äsop bis zur Gegenwart gibt es nicht, da sich jede definitorische Bestimmung an einzelnen Autoren, Epochen oder Typen der F. orientiert. Als Charakteristika der F.n Äsops nennt Hausrath (1940, 140) den klaren Aufbau, das anschauliche Erfassen der Szene und die wirkungsvolle Plastik. — Seine Auffassung, daß die F. knapp, gezielt und pointiert sein müsse, um die gewünschte Wirkung zu erreichen, hat —» Lessing (1886, 219) an der Geschichte vom Besitzer des Bogens veranschaulicht und die „lustige Schwatzhaftigkeit" (Lessing 1891, 468) —» La Fontaines und seiner dt. Nachahmer kritisiert. Die Kürze gilt ihm als „Seele der Fabel" und die Schmucklosigkeit als ihr „vornehmster Schmuck" (Lessing 1891, 467). Ausschmückungen als „leere Verlängerungen" (Lessing 1891, 470) führen von der Intention der F. ab. — Zu diesen „leeren Verlängerungen" gehören die Zeit- und Ortsangaben, die J. Grimm bes. schätzt und die man beispielsweise bei Erasmus —» Alberus und Hans —» Sachs findet. Durch diese Tendenz zur Episierung gerät die F. in die Nähe des Tierepos und des Schwanke. Wie die Erzählfreude, vor allem die liebevolle Ausschmükkung der (für die Intention der F. unwichtigen) Details die F. zum Märchen umgestaltet, kann man beispielhaft an vielen oriental. Texten erkennen (cf. etwa das F.motiv von Löwe und Maus [AaTh 75: —> Hilfe des Schwachen]). „Die Fabel wird aber im Gegensatz zum Märchen von ihrem Schöpfer wie vom Zuhörer oder Leser als eine um der Nutzanwendung willen erfundene Geschichte empfunden, die Vorgänge und Figuren werden also nicht als solche wichtig genommen, sondern auf ihre praktische Bedeutung abgetastet und vom Dichter von vornherein daraufhin angelegt" (Lüthi 7 1979, 13).
Die F. ist (ebenso wie die Parabel und das Gleichnis) eine bildhafte Redeweise. Man unterscheidet zwischen Grundbereich und Vergleichsbereich - mit den Termini der antiken Rhetorik: comparatum und comparandum — oder spricht von Sach- und Bildhälfte. Eine Sache soll in einer bildhaften Geschichte eindringlich und überzeugend dargestellt werden. Mit Hilfe des Analogieschlusses überträgt der Hörer oder Leser vom Bild auf die Sache. Entscheidend für das Verständnis sind weniger
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die Einzelheiten als die entscheidende Aussage, der eine Vergleichspunkt (tertium comparationis). Von wenigen unbedeutenden Ansätzen anderer Theologen abgesehen hat erstmals 1888 Jülicher die nt. Gleichnisse mit den äsopischen F.n vergleichend untersucht — mit dem Ergebnis: „Die Mehrzahl der παραβολαί Jesu, die erzählende Form tragen, sind Fabeln wie die des Stesichoros und des Aesop" (Jülicher 1963, 98). Die drei Grundelemente sind nach Jülicher: ein vollständiger Gedanke, eine Rede von vergleichendem Charakter mit einem tieferen Sinn. Jülicher (1963,80) unterscheidet zwischen Gleichnis, —> Parabel (im engeren Sinn) und Beispielerzählung. Das Gleichnis definiert er in Anlehnung an Aristoteles (Rhetorik 2,20) als „diejenige Redefigur, in welcher die Wirkung eines Satzes (Gedankens) gesichert werden soll durch Nebenstellung eines ähnlichen, einem andern Gebiet angehörigen, seiner Wirkung gewissen Satzes". Jülicher (1963, cf. 100 u. ö.) setzt die erzählenden parabolai Jesu mit den F.n gleich und definiert die F. als „die Redefigur, in welcher die Wirkung eines Satzes (Gedankens) gesichert werden soll durch Nebenstellung einer auf anderm Gebiet ablaufenden, ihrer Wirkung gewissen erdichteten Geschichte, deren Gedankengerippe dem jenes Satzes ähnlich ist" (Jülicher 1963, 98). Lessings Unterscheidung zwischen F. und Parabel — daß das Geschehen in der F. als wirklich, in der Parabel dagegen nur als möglich dargestellt wird - hat Jülicher (1963,100) mit Recht verworfen. Hier sprechen gerade die nt. Texte gegen Lessings Theorie. Sie sprechen auch gegen die öfter vertretene Meinung (cf. u. a. Windfuhr 1977, 127), daß das ,fabulöse' oder unrealistische' Element die F. von der Parabel trennt. Denn unwahrscheinliche und unnatürliche Züge, das Groteske und Absurde findet man auch in den Parabeln Jesu. Ebensowenig zutreffend ist die Ansicht, die F. sei symbolisch, die Parabel dagegen allegorisch (Leibfried 3 1976,18). Das Verhältnis von Parabel und Gleichnis im N.T. läßt sich nach grundlegenden theol. Unters.en von R. Bultmann, E. Fuchs, E. Linnemann u. a. — stark vereinfacht und von fließenden Übergängen abgesehen — folgendermaßen bestimmen: Das Gleichnis zeigt im
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Bild etwas Alltägliches; die Parabel stellt in bildhafter Erzählung einen interessanten Einzelfall dar (cf. Dithmar 4 1980, 9 3 - 9 8 ) . Zusammenfassend schreibt Fuchs (1954, 222): „Gleichnisse unterscheiden sich von den Parabeln also lediglich durch den Wechsel der Parabel vom Typischen, Regelhaften zum prägnanten Einzelfall, der natürlich erzählt werden muß". Im Unterschied zu den nt. Gleichnissen und Parabeln fehlt den Beispielerzählungen aus dem Sondergut des Lukas (Lk. 10,29-37; Lk. 12,16-21; Lk. 16,19-31; Lk. 18,10-14) das Element des Bildlichen, an die Stelle der Analogie tritt das —> Exemplum. Die Beispielerzählung erfordert keine Übertragung von einem Bereich auf den anderen, weil sie das Allgemeine an einem bes. Fall zeigt, den der Leser oder Hörer nur zu verallgemeinern (und gegebenenfalls auf sich zu beziehen) braucht. Der letzte Vers der vier Perikopen enthält jeweils die durch das Exemplum zu beweisende Sentenz oder (in der 1. Perikope) die Aufforderung: „Geh auch du hin, tue desgleichen!" Hier gewinnt die Beispielgeschichte über den erläuternden Charakter hinaus Vorbildcharakter. Die polemisch-abstrakt gestellte Frage des Pharisäers „Wer ist mein Nächster?" beantwortet Jesus narrativ mit einer Gegenfrage, die sich auf den konkreten Fall bezieht und deren Beantwortung sich zwangsläufig aus dem vorweg erzählten Exemplum der Nächstenliebe ergibt. F. und Exemplum als „narrative Minimalformen" (Stierle 1973, 354) haben eine unterschiedliche Intention. Das Exemplum als „die narrative Transposition eines moralischen Satzes" (Stierle 1973, 365) ist paradigmatisch (cf. Stierle 1973, 359 u. ö.); die F. dagegen ist parabolisch. G. Couton (1957, 8), der die F.n La Fontaines edierte (Couton 1962), hat auf die ,,liens de cousinage" zwischen F. und —> Emblem hingewiesen. Diese Verwandtschaft wird im 17. Jh. (etwa bei Jean Baudoin 1659), vor allem aber bereits im Jh. vor La Fontaine deutlich. Von Gilles Corrozet erschien 1540 eine Emblem-Slg (Corrozet 1905) und zwei Jahre später eine F.-Slg (Corrozet 1542), beide nach dem centurio-Prinzip aufgebaut und gegenseitig beeinflußt (cf. Tiemann 1974, Hueck 1975). Beim Emblem mit seinen drei Teilen inscriptio, pictura, subscriptio hat das
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Bild Priorität und ist untrennbarer Bestandteil. Bei der F. dagegen mit ihren zwei Teilen, dem comparatum und comparandum, d. h. dem bildhaften Vergleichs- und dem Grundbereich, der gemeinten Sache, ist die Illustration eine bisweilen sehr beliebte, aber keineswegs notwendige Ergänzung des narrativen Bildteils. Insofern gehört die Emblematik zentral, die F.dichtung dagegen nur am Rande zur Pictura Poesis-Lit. Weniger durch das Inventar (Leibfried 3 1976, 17 sq., 21) als durch die Intention unterscheidet sich die F. vom Märchen. Sie will belehren, auch wenn sie unterhält, besser gesagt, indem sie unterhält. „Erzählung nur zum Spaß, das ist noch nicht genug" meint (der in Deutschland von Lessing bis K. Vossler wegen seiner „Schwatzhaftigkeit" geschmähte) La Fontaine in dem für seine F.theorie grundlegenden Gedicht Der Hirt und der Löwe (Dithmar 1982, 105). Während das Märchen ein „Geschehen unter dem Prinzip des Wunderbaren" (Jauß 1977, 47) schildert, will die F. überzeugen; sie wendet sich an die Ratio. Ihrer „Welt des zweckrationalen Handelns" steht im Märchen eine „Welt traumhafter Wunscherfüllung" (cf. die tabellarische Übersicht: Jauß 1977, 47) gegenüber. Vor allem aber ist es der gleichnishafte Charakter, der die F. vom Märchen und von der ätiologischen Tiergeschichte (cf. —» Tierepos, —» Tiermärchen, —> Tierschwänke) trennt. Von den drei für die Tiervolkserzählung (cf. Harkort 1967 und 1970) wesentlichen Merkmalen — Tierakteure, —> Anthropomorphisierung und eine auf Tierbeobachtung zurückgehende Erlebnisform (und „Tieraitiologien, in denen wahre Tiermerkmale phantasievoll erklärt werden" [Harkort 1967, 91]) - gilt für die F. allenfalls (d. h. für die spezielle Form der Tierfabel) das erste Merkmal. Denn die Tiere als Akteure der F. wurden vom Menschen zur Belehrung für Menschen erschaffen. Es sind ,Tierwänste' (Luther); ihre etwaige Übereinstimmung mit der Natur ist didaktisch bedingt. Eine bes. kurze und präzise Definition gibt — in Anlehnung an Theon von Alexandria (1. Jh. p. Chr. n.) und orientiert an der griech.-lat. ebenso wie der alten oriental. F. — Β. E. Perry, einer der besten Kenner der antiken F.: „a fictitious story picturing
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a t r u t h " (Perry 1959, 22; Perry 1965, XX). E r k o m m e n t i e r t diese D e f i n i t i o n einerseits im Blick auf die W a h r h e i t d e r F.: „ t h e t r u t h p i c t u r e d by a f a b l e m u s t always b e a g e n e r a l o n e " ( P e r r y 1 9 5 9 , 2 2 ) . Z u g l e i c h stellt er a p o diktisch fest: „ A f a b l e is a s t o r y " ( P e r r y 1959, 17), u n d g r e n z t d e n n a r r a t i v e n C h a r a k t e r d e r F. ein: „ t h e n a r r a t i v e [. . .] n e v e r t a k e s t h e f o r m of a story t o l d f o r its o w n s a k e " ( P e r r y 1 9 5 9 , 28). U n d z u r bildlichen G e s t a l t u n g d e r W a h r h e i t in e i n e r F. h e i ß t es schließlich ( P e r r y 1965, X X ) : „ a n d b e c a u s e a f a b l e .pictures' a t r u t h it is, theoretically, only a m e t a p h o r in t h e f o r m of a p a s t n a r r a t i v e " . D a mit sind drei wesentliche, a u s d e r G e s c h i c h t e der F.theorie b e k a n n t e und unterschiedlich akzentuierte Gattungskriterien benannt. D i e d i d a k t i s c h e A b s i c h t d e r F. p r ä g t d i e Textstruktur, bewirkt eine Reduktion der S p r a c h e u n d setzt d e r E r z ä h l f r e u d e G r e n z e n . „ E s ist e i n e b e k a n n t e R e g e l , d a ß d e r Fabulist a u f h ö r e n soll, sobald e r seine A b s i c h t e r r e i c h t h a t " ( L i c h t w e r 4 1 7 7 5 , X I ) . D i e g u t e , i.e. die wirkungsvolle F. ist v o m E n d e h e r k o n z i p i e r t u n d zielt auf e i n e n p o i n t i e r t e n Schluß. I n n e r h a l b d e r m o d e r n e n Lit.wiss. u m s t r i t t e n ist d i e Stellung d e r F. zwischen „ A n p a s s u n g u n d W i d e r s t a n d " (cf. D o d e r e r 1 9 7 7 , 1 1 5 - 1 2 9 ) , d i e F r a g e , o b die F. v o r w i e g e n d pessimistisch-resignativ ist u n d e i n e systemstabilisierende F u n k t i o n h a t o d e r o b sie i h r e m W e s e n n a c h existenz- u n d gesellschaftskritisch ist; cf. zu dieser nicht i m m e r sachlich g e f ü h r t e n D i s k u s s i o n zuletzt die P o l e m i k v o n Κ. A . O t t ( H a s u b e k 1982, 83, 9 0 s q . ) u n d d a g e g e n das d i f f e r e n z i e r t e r e U r t e i l v o n C. Siegrist ( H a s u bek 1982, 109sq.). U m s t r i t t e n ist a u c h die T h e s e v o m ,Sitz im L e b e n ' d e r F. (cf. D i t h m a r 4 1 9 8 0 , 1 1 5 - 1 2 3 ) . E b e n s o wie die F.n d e s A . T . s ( R i . 9 , 7 - 1 5 ; 2. K ö n . 14,9; 2. S a m . 12, 1 - 4 ; J e s . 5 , 1 - 6 ) u n d d i e Gleichnisse J e s u h a t t e n a u c h die F.n Ä s o p s u r s p r ü n g l i c h e i n e n ,Sitz im L e b e n ' , d e r v o n d e n S a m m l e r n nicht m i t ü b e r l i e f e r t w u r de, s o n d e r n z u m P r o - o d e r E p i m y t h i o n v e r kümmerte. Daraus erklärt sich auch die Tatsache, daß bei manchen alten F.n der Bildteil und der zum Epimythion verkürzte Sachteil nicht zusammenpassen. Zu den wenigen Beispielen, in denen der ursprüngliche ,Sitz im Leben' mitüberliefert ist, gehört die bekannte F. Magen und Glieder, die als Gleichnis
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des Menenius Agrippa von Titus Livius in der Rom. Geschichte (2, 32) aufgezeichnet ist. D i e F. ist episch u n d d r a m a t i s c h zugleich. D a s G e s c h e h e n spielt sich a n e i n e m einzigen O r t a b , in e i n e r Z e i t s p a n n e , d i e meist nicht läng e r w ä h r t , als ein k u r z e r D i a l o g ( g e g e b e n e n falls mit d e r a n s c h l i e ß e n d e n schnellen T a t ) d a u e r t ; es gibt n u r e i n e einzige H a n d l u n g , k e i n e N e b e n h a n d l u n g e n . D i e F. in i h r e r s t r e n g e n Form beschränkt das dramatische Geschehen auf e i n e n D i a l o g als e i n m a l i g e R e d e u n d G e g e n r e d e o d e r auf e i n e e i n m a l i g e H a n d l u n g u n d G e g e n h a n d l u n g . D e s h a l b spricht m a n b e s s e r allg. v o n actio u n d reactio. D a s A u f b a u p r i n z i p ist (schematisch v e r e i n f a c h t ) vierteilig: k n a p p e Skizzierung d e r Situation - actio ( R e d e / Handlung) — reactio ( G e g e n r e d e / G e g e n h a n d l u n g ) — H i n w e i s auf d a s E r g e b n i s . S t e i n h ö w e l s Esopus ( U l m 1 4 7 6 ) e n t h ä l t k n a p p 2 0 0 H o l z s c h n i t t e , die d a s T y p i s c h e d e r u r s p r ü n g l i c h e n F. in bisher u n ü b e r t r o f f e n e r Weise zum Ausdruck bringen durch die einf a c h e G e s t a l t u n g , die lineare C h a r a k t e r i s t i k , die B e s c h r ä n k u n g auf das N o t w e n d i g s t e u n d d e n Verzicht auf jegliche A u s s c h m ü c k u n g . D i e s e ( d u r c h d a s M a t e r i a l u n d die T e c h n i k b e d i n g t e ) K a r g h e i t s a m m e l t d e n Blick auf d a s Wesentliche, vermeidet jede A b l e n k u n g und k o n z e n t r i e r t die W i r k u n g . Z u g l e i c h wird d e r antithetische A u f b a u , den bereits die Ü b e r s c h r i f t e n d e r F.n zeigen, deutlich, d a o f t zwei E r z ä h l s i t u a t i o n e n — actio u n d r e a c t i o — in d e m s e l b e n Bild gezeigt w e r d e n . So sieht m a n beispielsweise e i n e n f u r c h t e r r e g e n d e n L ö w e n , d e r e i n e M a u s in d e n K r a l l e n hält, u n d d a h i n t e r n o c h m a l s dieselbe M a u s , die a m Strick n a g t , d e r d e m L ö w e n u m d e n H a l s gelegt ist ( A a T h 75). 4. A k t e u r e ( T i e r e ) . D i e F. als T i e r - F . verstehen bedeutet eine unstatthafte Vereng u n g ; d e n n d e r V e r g l e i c h s b e r e i c h , d e r Bildteil d e r F., u m f a ß t d i e g e s a m t e b e l e b t e u n d u n b e l e b t e N a t u r , die M e n s c h e n - u n d G ö t t e r w e l t . D a ß d e r F . e r z ä h l e r T i e r e als A k t e u r e b e v o r zugt, wird unterschiedlich b e g r ü n d e t . N a t u r k u n d l i c h e B e t r a c h t u n g e n , wie sie e t w a J. —» G r i m m ( 1 8 3 4 ) ü b e r F u c h s u n d Wolf anstellt, f ü h r e n zu T i e r g e s c h i c h t e , T i e r e p o s u n d - m ä r c h e n u n d v o n d e r F. weg. E i n e gewisse B e r e c h t i g u n g d a g e g e n h a b e n Ü b e r l e g u n g e n , die auf das f a b u l ö s e M o m e n t , auf das „ W u n d e r -
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bare" (Breitinger) oder das „Unglaubliche" (Triller) weisen. J. J. Breitinger (Critische Dichtkunst 1740, 186) sieht im Auftreten von Tieren einen bes. Reiz, weil durch dieses „Wunderbare" die Aufmerksamkeit des Lesers mehr geweckt werde, als wenn Menschen auftreten würden. Daniel Wilhelm Triller (1737, 573) bezeichnet das „Unglaubliche", daß Tiere miteinander reden, als wesentliches Element der F. — Gegen Breitingers Theorie hat Lessing mit Recht eingewandt, daß das Wunderbare durch das häufige Vorkommen seine Wirkung verliert. Nur bei den ersten F.n, die man kennenlerne, wirke das Auftreten von Tieren, die reden können, sonderbar, später nicht mehr. Lessing (1891, 450) vertritt dagegen die Ansicht, daß es „die allgemein bekannte Bestandheit der Charaktere" ist, die den F.erzähler Tiere bevorzugen läßt. Es gibt in der Tat bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen, die den F.tieren eigen sind und die man auch in Sprichwörtern, Redensarten und in der Heraldik findet. Mit den naturkundlichen Erkenntnissen stimmen sie nicht unbedingt überein. Außerdem weist Lessing darauf hin, daß durch die Darstellung von Tieren Mitleid in geringerem Maße geweckt wird, als es bei Menschen der Fall wäre. — Nach —> Herders (1885, 261) Meinung treten die Tiere deshalb so häufig in der F. auf, weil die Tiercharaktere ein unveränderlicher Bestandteil der Naturordnung sind. — Ebenso wie Herder lehnt auch Hegel Breitingers und Lessings Begründungen ab. Das „Ankleiden eines Menschen als Tier" erscheint Hegel trivial wie eine „Affen- und Hundekomödie" (Hegel 2 1965, 377). Trotzdem ist es vielfach gerade das Animalische, das die Vorliebe des F.erzählers für Tiere erklärt. „Das Animalische ist keine Verkleidung, sondern Substanz. [. . .] Es gibt kein besseres Mittel, den Menschen aus seinem Größenwahn herunterzuholen, als dadurch, daß man ihn an seine Animalität erinnert" (Spoerri 1965, 251).
Das einzelne F.tier ist jedoch nicht (wie vielfach behauptet wird) auf eine bestimmte menschliche Eigenschaft festgelegt; und auch die sprichwörtlichen Redewendungen orientieren sich meist nur an einem — dem bekanntesten — F.motiv. Dasselbe Tier kann in verschiedenen F.n für ganz verschiedene menschliche Eigenschaften und Ver24
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haltensweisen stehen. So erscheint der Wolf als der Mächtige, der den unschuldigen Schwachen vernichtet und sich dabei noch den Schein des Rechts gibt (AaTh III Α.: » Wolf und Lamm), als der Freiheitsliebende, der eher Entbehrungen auf sich nimmt, als im Wohlstand unter dem Joch zu leben (Wolf und Hund, AaTh 201: Der freie -> Wolf), als töricht und plump (Wolf und Fuchs, AaTh 31: —» Rettung aus dem Brunnen), als undankbar (AaTh 76: —> Wolf und Kranich) etc.
Es wird kein Charakter gezeigt, kein Typus, sondern das Abbild einer bestimmten menschlichen Verhaltensweise. Nur so ist es möglich, daß sich der Hörer und Leser in den verschiedensten F.n wiedererkennen kann. Einer Typisierung der Figuren im Bildteil müßte die Unveränderbarkeit der Charaktere im Sachteil entsprechen. Das aber würde die F. ad absurdum führen. Denn wenn sie nicht mehr zu sagen hätte als die Sprichwortweisheit, daß der Mensch listig ist wie ein Fuchs, gierig wie ein Wolf, machthungrig wie ein Löwe und dumm wie ein Esel, dann hätte die F. nichts mehr zu sagen. Wenn aber in der F. der Mensch mit einem Esel verglichen wird, so immer in der Absicht, daß der Leser sein Verhalten als „eselhaft" erkennt und ändert. Denn die F. ist nicht statisch, sondern dynamisch; sie konstatiert nicht, sondern provoziert und drängt auf Veränderung. „Die Behauptung von der Unveränderlichkeit menschlicher Eigenschaften erweist die Tierfabel, die sie verifizieren soll, als falsch. Zwar haben darin die Tiere bestimmte Charaktere, aber als bedeutsam wird der erst fixiert durch das Sprechen, das gleichzeitig die Fixierung potentiell aufhebt. Der Esel ist nicht seiner Eselhaftigkeit wegen dumm, er wird zum asinus in fabula erst als der immer wieder Dummes Sprechende" (Arntzen 1966, 77).
5. T h e o r i e . Obwohl eine systematische F.theorie erst im 18. Jh. entsteht, findet man mindestens zwei Jh.e vorher bedeutsame Dokumente zur Theorie der F. Die parabolischen Texte (F.n, Parabeln, Gleichnisse) des A.T.s und N.T.s und vor allem der Umstand, daß Jesus selbst in Gleichnissen sprach, dienen im 16. Jh. als Rechtfertigung für die Verwendung der äsopischen F. im reformatorischen Kampf. Da jedoch auch der religiöse Gegner diese literar. Waffe nutzt, weist man im Glauben an die rechte Lehre auf den Unterschied zwischen den eigenen F.n und denen der Gegner, die des Teufels seien (Alberus u. a.). Martin —» Luther hat nicht nur in der Vorrede zu seiner F.sammlung, sondern u. a. auch in den Tischreden auf die Bedeutung der äsopischen F.
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gewiesen und sie erstaunlich nahe an die Bibel gerückt. Als Lebenslehre nütze sie sowohl den Kindern, denen der Hausvater bei Tisch F.n erzählen soll, wie auch den Fürsten, denen man die Wahrheit nur im Tierwanst, im Narrengewand sagen darf. Da die Menschen die Wahrheit nicht hören wollen, muß man sie „betriegen zur warheit" (Luther 1888, Vorrede); man muß „des menschen verderbten natur und Unverstand [. . .] mit fabeln und bildern betriegen und fangen" (Alberus 1892, Vorrede von 1550). — Ebenso wie Luther (1888, X), der meint, daß es für die Schule außer der Bibel keine besseren Bücher gebe als „des Catonis scripta und die fabulas Aesopi", urteilt auch Philipp —» Melanchthon in seiner Schrift De utilitate fabularum (1526) und räumt ihr im Unterricht der Visitatoren (1528) eine bevorzugte Stellung ein. In den Schulordnungen für Eisleben und Herzberg (1525 und 1538) nennt der Praeceptor Germaniae als Gründe für die Notwendigkeit einer Behandlung der F. im Unterricht: Sie fördert die Charaktererziehung, schärft das Urteilsvermögen des Schülers und dient dem Verständnis der Bibel. - Als einziger Poetiker des 17. Jh.s mißt Harsdörffer der F., die er im Poetischen Trichter verschiedentlich kurz erwähnt und in systematischer Einordnung im Vorwort zu Nathan und Jotham, größere Bedeutung bei und weist zugleich auf das 18. Jh. voraus. Im Jh. der Aufklärung sind nicht nur die meisten F.n geschrieben worden; es wurde auch am intensivsten über das Wesen der Gattung nachgedacht. Die Poetiken und Vorreden finden eine bezeichnende Ergänzung in den zahlreichen Illustrationen, den allegorischen Darstellungen, die (wie beispielsweise der Kupfertitel zu Trillers Neuen Aesopischen Fabeln [1740]) die F. als die eingekleidete Wahrheit zeigen. Antoine Houdar de La Motte (1719) wirkt bahnbrechend und wird zum vielzitierten Theoretiker, da er die meisten Vorstellungen, die im 18. Jh. diskutiert werden, und die Begriffe, um die gestritten wird, darlegt. - J. C. Gottsched (1730) verwendet den Begriff F. in erster Linie für den Handlungsverlauf einer Dichtung; die literar. Gattung spielt eine nur untergeordnete Rolle. Breitinger dagegen widmet der äsopischen F. als einziger Gattung ein Kap. seiner
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Critischen Dichtkunst (1740). Hier (1740, 182) schreibt er: „Da nun die Erzehlung die Fabel angenehm, und das Lehrreiche dieselbe nützlich und erbaulich machet, so ist hiemit in der Fabel das Angenehme und das Nützliche, und also die höchste Kraft der Schönheit eines Vortrages vereiniget, welches Horatius in der Anmerckung haben will". Die Ansicht, daß die vollkommene Dichtung sowohl Unterhaltung wie Nutzen verlangt, hat Horaz (Ars poetica, V. 333 sq.) von Neptolemos von Parion (3. Jh. a. Chr. n.) übernommen, der sich damit gegen die Ansicht des Eratosthenes (um 295/280 bis Ende des 3. Jh.s a. Chr. n.), daß die Dichtung Unterhaltung und nicht Belehrung bezwecke, wandte. Analog zu Horaz sieht Cicero {De oratore 2, 115 sq., cf. 121, 128 sq. u.ö.) die Aufgabe des Redners im Belehren, Erfreuen und Erregen des Zuhörers.
Der Berufung auf die Ars poetica des Horaz (V. 333 sq.) folgt in Breitingers Critischer Dichtkunst (1740, 182) übergangslos der Bezug auf Äsop: „Weil nun Esopus die Fabel zum Unterrichte des gemeinen bürgerlichen Lebens angewendet, so waren seine Lehren meistens gantz bekannte Sätze und LebensRegeln [. . .]". Auf die Frage „Was eine Fabel sey?" antwortet Christian Fürchtegott —> Geliert (1966, t. 2, 11) in seiner lat. Habilitationsschrift von 1744: „Eine kurze auf einen gewissen Gegenstand anspielende Erdichtung, die so eingerichtet ist, daß sie zugleich ergötzet und zugleich nutzet [ut delectando prosit], nennt man eine Fabel". Breitinger sieht in der Erzählung und dem Wunderbaren die beiden Mittel, die moralischen Lehren angenehm zu machen und die Aufmerksamkeit des Lesers zu gewinnen. Die F. hat die Absicht, „zu belustigen und zu erklären oder auf eine angenehme Weise zu unterrichten und für solche Leute zu dienen, deren Verstand zur Einsicht philosophischer Erweise viel zu träge und schwach ist" (Breitinger, Critische Dichtkunst 1740, 213). - Geliert (1966,1.1, 53), der sich in seiner Habilitationsschrift auf La Motte und Breitinger beruft, vertritt die Absicht: „Dem, der nicht viel Verstand besitzt, die Wahrheit, durch ein Bild, zu sagen". Mit dieser vielzitierten und meist falsch verstandenen vermeintlichen F.definition (cf. u. a. Doderer 1977, 95) wird ebensowenig wie mit der vorhergehend
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zitierten Äußerung Breitingers die F. zur „Kost der Unaufgeklärten deklassiert" (Doderer 1977, 95). Denn diese Pointe der F. von Biene und Henne (Geliert 1966, t. 1, 52sq.) ist an sich überhaupt kein Beitr. zur F.theorie. Sie beantwortet vielmehr die allg. Frage nach dem Nutzen der Poesie und konfrontiert im Bild von der trägen Henne den Leser mit seiner eigenen Verständnislosigkeit („nicht viel Verstand") gegenüber der Dichtung und gegenüber dem Dichter, der — im Gegensatz zum Geschrei der Henne nach jedem gelegtem Ei — wie eine Biene wirkt und auf den Bienenstock als Beweis des in Frage gestellten stillen Fleißes verweisen kann, notfalls aber auch auf den Stachel, um den zu bestrafen, der verachtet, was er nicht versteht. Breitinger (Critische Abhdlg 1740, 1) bezeichnet zu Beginn seiner speziellen Unters, über die Gleichnisse diese als eine „besondere Quelle des Ergötzens in der Beredtsamkeit und Poesie" und spricht auch in seiner Critischen Dichtkunst von der angenehm-ergötzenden Art der F. Damit zeichnet sich eine neue Richtung ab, die von der Linie Äsop-LutherLessing grundsätzlich abweicht. Nicht nur Daniel Stoppe (1745), dessen Texte vielfach in die Trivialität absinken, sondern auch Johann Wilhelm Ludwig -> Gleim (1758, 1. F.) bezeichnet die F. als „Zeitvertreiberin" und ein Vergnügen für Kinder, versteht sie aber trotzdem als Lehrdichtung, da Ergötzen und Nutzen für ihn ebensowenig ein Gegensatz sind wie für Geliert (1966, t. 2, 17), der aus dem „doppelten Endzweck", daß die F. ergötzt und nützt, alle weiteren Bestimmungen ableitet. Als „älteste Spur des menschlichen Witzes" vertrat die F. im vorwiss. ZA. „allein die Stelle des Witzes und der Moral" (Geliert 1746, Vorw.), um sich dann im ZA. der Wiss.en zu verfeinern und zugleich ihre alte Beliebtheit zu erhalten. Lessing (1891, 443) versteht die F. als ein „Exempel der praktischen Sittenlehre". Der Fabulist will von einer moralischen Wahrheit lebendig überzeugen, indem er einen allg. moralischen Satz auf einen einzelnen Fall zurückführt und in Form einer Handlung darstellt. Nicht die gleichnishafte Handlung, sondern erst ihre Erzählung kann eine F. sein. Die Reduktion auf das Besondere ist notwendig, weil das Allgemeine im Besonderen an24*
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schauend erkannt wird. Das Exempel (i.e. das Besondere, in dem man das Allgemeine anschauend erkennt) dient in allen Wiss.en der Klarheit, der Erläuterung. In der Sittenlehre muß darüber hinaus der Wille beeinflußt werden. Je größer die Lebhaftigkeit der anschauenden Erkenntnis ist, um so stärker ist auch die Überzeugungskraft, der Einfluß auf den Willen. Der erste und grundlegende Teil der Abhandlungen, der in Auseinandersetzung mit La Motte, David Henri Richer, Breitinger, C. Batteux die wichtigsten Gedanken Lessings über die F. enthält, endet mit der vielzitierten Zusammenfassung: „Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besonderen Fall zurückführen, diesem besonderen Falle die Wirklichkeit ertheilen, und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt: So heißt diese Erdichtung eine Fabel" (Lessing 1891, 446). Lessings Theorie, die bes. in der Didaktik starke Wirkung hatte, wird trotz vieler treffender Einzel· urteile der F. in ihrer ganzen Fülle und Anschaulichkeit nicht gerecht. Lessing -hat wesentliche Grundzüge nicht erkannt oder bewußt verworfen, wie vor allem die Auseinandersetzung mit La Fontaine und seinen dt. Nachahmern zeigt. Lessings Prinzip der Reduktion als Mittel zum Erfinden von F.n bedeutet eine rationalistische Verengung. Daß seine eigenen F.n im Widerspruch zu seiner Theorie stehen, hat Lessing selbst gesehen.
Herder vermißt in Lessings Definition den Hinweis auf die Naturordnung, die in seinem eigenen Verständnis der äsopischen F. eine entscheidende Rolle spielt. Die F. soll den Verstand und die Sitten gemäß der bestehenden Naturordnung bilden. Für die Belehrung des Menschen ist die Natur bes. geeignet, da sie nach ewigen Gesetzen geordnet ist. Lessings Ansicht, daß in der Fabel ein allg. moralischer Satz erscheint, lehnt Herder ab. Vielmehr handele es sich um eine Erfahrungslehre für bestimmte Situationen des Lebens. Herder (1877,197) kritisiert, daß Lessing die F. in das Gebiet der Philosophie gerückt habe, während er sie als „moralisierte Dichtung" (Herder 1888, 539) versteht. Ebenso wie für Herder ist auch für J. Grimm (1834) die F. ein Teil urmenschlicher Dichtung, ein Stück Ur- und Naturpoesie. Im Gegensatz zu Herder aber, der am zweckhaften Charakter der F. festhält, bestreitet J. Grimm die ursprüngliche Lehrhaftigkeit der F. und versteht sie — im Gegensatz zu allen Theoretikern vor ihm — nicht als
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eigenständige Gattung, sondern als eine verkümmerte Form der Tiersage. Damit verschiebt sich der Forschungsaspekt grundsätzlich; denn in Anlehnung an J. Grimm wird künftig die F. nicht mehr als parabolische Redeweise, sondern als spezielle Form der Tierdichtung verstanden und untersucht. Hegel, dessen Vorlesungen über die Ästhetik (1835) den Höhepunkt und das Ende der klassischen dt. Ästhetik markieren, vermißt in der äsopischen F. die Substantialität und geistige Tiefe. Sie ist für ihn nur eine „Grübelei im kleinen", nicht freie Gestaltung aus freiem Geist: „Im Sklaven fängt die Prosa an, und so ist auch diese ganze Gattung prosaisch" (Hegel 2 1965, 376). Bibliogr.n: Port, W.: Griech. und röm. F. Ber. über das Schrifttum der Jahre 1932—37. In: Bursinischer Jahresber. 65,2 (1939) 1 - 3 9 . - Lindner, H.: Bibliogr. zur Gattungspoetik. 5: Theorie und Geschichte der F. (1900-74). In: Zs. für frz. Sprache und Lit. 85 (1975) 247-259. Lit.: Corrozet, G.: Les Fables du tresancien Esope phrygien. P. 1542. — Harsdörffer, G. P.: Poetischer Trichter 1. Nürnberg 1647. — id.: Nathan und Jotham. Nürnberg 1650. — Baudoin, J.: Les Fables d'Esope phrygien. P. 1659. - de la Motte, Α. H.: Fables nouvelles avec un discours sur la fable. P. 1719. - Gottsched, J. C.: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Lpz. 1730, Teil 1, Kap. 4. - Triller, D. W.: Poetische Betrachtungen 2. Hbg 1737. - Breitinger, J. J.: Critische Dichtkunst 1. Zürich 1740 (Faks. Stg. 1966) Kap. 7. - id.: Critische Abhdlg von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse. Zürich 1740 (Faks. Stg. 1966). - Triller, D. W.: Neue Aesopische F.n. Hbg 1740. — Stoppe, D.: Neue F.n oder Moralische Gedichte, der dt. Jugend zu einem erbaulichen Zeitvertreib aufgesetzt 1—2. Breslau 1745. — Geliert, C. F.: F.n und Erzählungen 1. Lpz. 1746. - Gleim, J. W. L.: F.n. B. 1758. - id.: F.n. 2. Buch. B. 1757. — Lichtwer, M. G.: F.n in vier Büchern. B. 4 1775. - Meiners, C.: Geschichte des Ursprungs, Fortgangs und Verfalls der Wiss.en in Griechenland und Rom. Lemgo 1781/82. - Gebhard: Über den Ursprung der äsopischen F. In: Dt. Museum 2 (1784) 553-563. - Jacob, L. H.: Über die äsopische F. der Alten. In: Berlin. Monatsschr. 5 (1785) 300-316. - Bardiii, C. G.: Was ist das Eigenthümliche der Aesopischen F.? In: Berlin. Monatsschr. 18 (1791) 5 4 - 6 1 . - Grimm, J.: Reinhart Fuchs. B. 1834. - Melanchthon, P.: De utilitate fabularum (1526). In: Corpus Reformatorum 11. ed. C. G. Bretschneider/H. E. Bindseil. Halle 1843 (Nachdr. N.Y. 1963) 116-120. - id.: [Vorrede zu Fabellae Aesopicae quaedam notiores. ed. J. Came-
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rarius. Lpz. 1545]. In: ibid., 561-564. - Landsberger, J.: Die F.n des Sophos. Posen 1859. — Benfey, T.: Zum Ursprung der F. In: Orient und Occident 1 (1862) 354-365. - Herder, J. G.: Aesop und Leßing (1768). In: id.: Sämmtliche Werke 2. ed. B. Suphan. B. 1877, 188-199. - id.: F. (1801). In: ibid. t. 23 (1885) 252-273. - Lessing, G. E.: Sämtliche Sehr. 1. ed. K. Lachmann/F. Muncker. Stg./B./Lpz. 3 1886. - Herder, J. G.: Über Bild, Dichtung und F. (1787). In: id.: Sämmtliche Werke 15. ed. B. Suphan. B. 1888, 523-568. - Luthers F.n. ed. E. Thiele. Halle 1888. - Lessing, G. E.: Sämtliche Sehr. 7. ed. K. Lachmann/F. Muncker. Stg./B./Lpz. 3 1891, 418-479 (Abhdlgen). - Die F.n des Erasmus Alberus. ed. W. Braune. Halle 1892. — Weddigen, O.: Das Wesen und die Theorie der F. und ihre Hauptvertreter in Deutschland. Lpz. 1893. — Hausrath, Α.: Unters.en zur Überlieferung der äsopischen F.n. In: Jbb. für elsäss. Philologie. Suppl. 21 (1894) 247-311. - id.: Das Problem der äsopischen F. In: Neue Jbb. für das klassische Altertum, Geschichte und dt. Lit. und Pädagogik 1 (1898) 305-322. - Corrozet, G.: Hecatongraphie (1540). P. 1905. - Wünsche, Α.: Die Pflanzen-F. in der Weltlit. Lpz./Wien 1905. Hausrath, Α.: F. In: Pauly/Wissowa 6,2 (1909) 1704—1736. — Crusius, O.: Aus der Geschichte der F. In: Das Buch der F.n. ed. C. H. Kleukens. Lpz. (1913) 2 1920,1-LXIII. - Wienert, W.: Die Typen der griech.-röm. F. (FFC 56). Hels. 1925. - Staege, M.: Die Geschichte der dt. F.theorie. Bern 1929. Hausrath, A. (ed.): Äsopische F.n. Mü. 1940. Melanchthons Werke in Ausw. 1. ed. R. Stupperich. Gütersloh 1951. - Fuchs, E.: Hermeneutik. Bad Cannstatt 1954 ( 3 1963). - Meuli, K.: Herkunft und Wesen der F. In: SAVk. 50 (1954) 6 5 - 8 8 . Amend, Α.: Dt. volkstümliche Tiermärchen und ihre Zyklenbildung. Diss. Marburg 1955. - Couton, G.: La Poetique de La Fontaine. P. 1957, 5 - 2 1 (La Fontaine et l'art des emblemes). - Jauß, H. R.: Unters.en zur ma. Tierdichtung. Tübingen 1959. Perry, Β. Ε.: Fable. In: Studium generale 12 (1959) 17—37. — de La Fontaine, J.: Fables, ed. G. Couton. P. 1962. — Jülicher, Α.: Die Gleichnisreden Jesu. (Fbg 1888; Tübingen 21910) Nachdr. Darmstadt 1963. - Briegel-Florig, W.: Geschichte der F.forschung in Deutschland. Diss. Fbg 1965. — Hegel, G. W. F.: Ästhetik, ed. F. Bassenge. Ffm. 2 1965. Perry, Β. E. (ed.): Babrius andPhaedrus. L./Cambr., Mass. 1965. — Spoerri, T.: Der Aufstand der F. (1942). In: de La Fontaine, J.: 100 F.n. ed. H. Hinderberger/N. O. Scarpi. Zürich 1965 (Nachwort). Arntzen, H.: Kurzer Prozeß. Aphorismen und F.n. Mü. 1966. - de Boor, Η.: Über F. und Bispel. Mü. 1966. - Geliert, C. F.: Hist.-kritische Ausg. 1 - 2 . ed. S. Scheibe. Tübingen 1966 (t. 1: F.n; t. 2: F.theorie, darin Synopse von Gellerts Habilitationsschr. „De poesi apologorum eorumque scriptoribus" [1744] und der anonymen Übers. „Abhdlgen von den F.n und Deren Verf.n" [1772]). - Harkort, F.: Tiervolkserzählungen. In:
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der ,äsopischen' Tierfabel galt ( V o m Adler und dem Fuchs', Mot. Κ 2295.2). Diese Texte beginnen mit der Bemerkung, daß ein Märchen erzählt werden soll: Die Begriffe sind nicht säuberlich getrennt, und die großen F.-Slgen der Griechen und Römer, der Inder und des abendländ. MA.s enthalten auch märchenartige oder legendenhafte Erzählungen.
Obwohl also die äsopischen F.n schon zur Zeit des Hesiod (um 700 a. Chr. n.) und des Archilochos (um 650 a. Chr. n.) in Griechenland bekannt waren und möglicherweise bereits um 600 a. Chr. n. in Slgen schriftl. fixiert wurden, ist die Mehrzahl der griech. äsopischen F.n erst durch verhältnismäßig späte Schriften überliefert (—» Äsopika): die F.bücher von —» Babrios und —> Phädrus. Durch das Sammeln in Büchern wird die F. von ihrem konkreten Bezug gelöst; der Sachteil erscheint teilweise als Pro- oder Epimythion. Diese Adfabulationes können bisweilen hilfreich sein, um den ursprünglichen ,Sitz im Leben' zu erschließen.
1. Antike - 2. Orient - 3. MA. - 4. Reformation - 5. La Fontaine (Wirkung und Rezeption) - 6. Barock — 7. Aufklärung - 8. Zwischen Aufklärung und Moderne - 9. 20. Jh.
Babrios (2. Jh. p. Chr. n.), von —> Herder als der einzige mustergültige F.dichter des Altertums gepriesen, schrieb in Versform und verwendete den für eine F. ungewöhnlich wirkenden Choliambus, den ,Hink-Jambus', i.e. ein sechshebiger jambischer Vers, bei dem an die Stelle des sechsten Jambus ein Trochäus tritt. Daß dem Dichter Babrios die Erzählung wichtiger ist als die Lehre der F., zeigt außer der dichterischen Gestaltung auch die Art, wie die Belehrung in die Erzählung verwoben wird. Daß das selten erscheinende Epimythion ein späterer Zusatz ist, erweist die Formanalyse. Durch Phädrus (1. Jh. p. Chr. n.) wurde die F. in Rom eingeführt. Im Gegensatz zu Babrios wählt er — nach seinen eigenen Worten — „die glatte Form von JambenTrimetern" (Recke 1864, 1), schreibt bewußt knapp und stellt die Lehre meist als zweiteilige Sentenz an den Anfang.
1. A n t i k e . Die mündl. Überlieferung der —> Fabel (F.) reicht mindestens bis ins 7. Jh. a. Chr. n. zurück. Die vermutlich ältesten europ. F.n stammen von —» Hesiod, der nach einer Anekdote —> Äsops Lehrer gewesen sein soll (Von Habicht und Nachtigall·, Mot. J 321.1; U 30), und Archilochos, der bereits bei den alten Grammatikern als Vater
Wenn man nicht sein Talent loben könne, müsse man wenigstens die Kürze loben, schreibt er in einem seiner Briefe an den Freund Particulus (Siebeiis 3 s.a., 58; cf. 39). Seine doppelte Absicht — er will zum Lachen reizen und klugen Rat fürs Leben geben — ist zur grundlegenden Intention der F.schreiber bis in die Gegenwart geworden. Zugleich aber ist eine dritte Zielsetzung erkennbar. Phädrus weiß, daß ebenso wie für den „bedrängten Sklaven" Äsop (Siebeiis 3 s.a., 25) auch für ihn
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Reinhard Dithmar
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Spaß und Lachen zugleich bitterer Ernst sind. Denn der Augusti Libertus, der Freigelassene des Augustus, wie er sich selbst nannte (Siebeiis 3s.a., VII), brauchte die F. als Schutz, da ein Sklave noch weniger als ein Plebejer offene Kritik wagen durfte (Siebeiis 3s.a., 40). Phädrus wurde von Sejanus, dem Günstling des Kaisers, wegen der vermeintlichen Anspielungen auf ihn und den Kaiser angeklagt und (vermutlich mit Verbannung) bestraft — ebenso wie Äsop wegen und trotz seiner F.n vom Felsen gestürzt worden sein soll. Der röm. F.dichter —> Avianus (4. Jh. p. Chr. n.) schrieb in Distichen, was der F. ein übertriebenes Pathos verleiht. Die einzige größere F.-Slg in lat. Prosa ist der sog. —» Romulus (ca 400 p. Chr. n.). Bei dem Romulus-Corpus handelt es sich teilweise um eine Bearb. des Phädrus; die bedeutendere Quelle aber ist ein lat. Prosa-Äsop, dessen griech. Original aus dem 1. Jh. p. Chr. n. stammt. Lit.: Hertzberg, W. (Ubers.): Babrios' F.n. Halle 1846. - Recke, F.: Probe einer metrischen Übers, einiger F.n des Phaedrus. Mühlhausen 1864. — Binder, W. (Übers.): Die Aesopischen F.n. Stg. 1866. — Hervieux, L.: Les Fabulistes latins 1 - 5 . P. 1893-99. - Crusius, Ο. (ed.): Babrii fabulae Aesopeae. Lpz. 1897. — Thiele, G.: Der lat. Äsop des Romulus und die Prosa-Fassungen des Phädrus. Heidelberg 1910. - Worringen W./Benz, R. (edd.): Buch und Leben des hochberühmten F.dichters Aesopi. Mü. 1925. — Perry, Β. Ε.: Studies in the Text History of the Life and Fables of Aesop. Haverford, Pa 1936. - Hausrath, Α. (Übers.): Äsopische F.n. Mü. 1940. — Mader, L. (Übers.): Antike F.n. Zürich 1951. - Perry, Β. Ε. (ed.): Aesopica 1. Urbana, III. 1952. — Guaglianone, A. (ed.): Aviani fabulae. Turin 1958. — Hausrath, A. (ed.): Corpus fabularum Aesopicarum 1—2. Lpz. (1940-56) 21959—70. - Chambry, E.: Esope. Fables. P. 1960. - Perry, Β. Ε. (ed.): Babrius and Phaedrus. L./Cambr., Mass. 1965. - Siebelis, J. (Übers.): Phädrus' des Freigelassenen des Augustus Äsopische F.n. B. 3s.a. 2. O r i e n t . Die beiden wichtigsten oriental. F.bücher —> Pancatantra und —> Kaiila und Dimna beruhen auf einem ind. Grundwerk, das spätestens bereits um 500 p. Chr. n. existierte und von einem Verfasser stammt, der sich zum Buddhismus bekannte. Das Werk ist als Fürstenspiegel geschrieben, und zwar um des Schutzes willen in der Form von F.n. Während der Regierungszeit Anosarwäns (531 — 579) wurde das Werk aus dem Sanskrit in die damalige Kultursprache Persiens, das Pahlawi, übersetzt. Es hatte mindestens 11, höchstens
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13 Abschnitte. Jeder veranschaulichte durch eine Erzählung eine für Fürsten beherzigenswerte Lehre. Das ind. Grundwerk wurde vermutlich stark verändert und erhielt später den Titel Pancatantra, d. h. die fünf Bücher. — Etwa 100 Jahre nach der Eroberung Persiens durch die Mohammedaner wurde die PahlawiÜbers. in das Arabische übertragen und schnell zu einem bes. geschätzten und beliebten Buch. Es wurde viel gelesen und abgeschrieben, dabei zwar im einzelnen verändert, im ganzen jedoch wesentlich so erhalten, wie es aus Indien gekommen war. — Das Verhältnis des sanskrit. Pancatantra einerseits und des arab. Kaiila und Dimna andererseits zu dem sanskrit. Grundwerk, auf dem beide beruhen, zeigt, daß das arab. Werk im allg. ein viel treuerer Spiegel des alten sanskrit. Grundwerkes ist als das in Indien selbst daraus erwachsene Pancatantra. Die arab. Übers. (8. Jh.) ist bes. wichtig, weil das ind. Grundwerk und die Übersetzung ins Pahlawi nicht erhalten sind. Wichtige Kenntnisse und quellenkritische Einsichten in die oriental. F.bücher sind den epochemachenden Unters.en von T. —> Benfey zu verdanken. Die 1862 von ihm gegründete Vierteljahrsschrift Orient und Occident enthält auffallend viele Aufsätze über die oriental. F. (insbesondere zu Kaiila und Dimna), die grundlegend und anregend wirkten. — 1859 erschien die von Benfey herausgegebene zweibändige Ausgabe des Pantschatantra (mit ausführlicher Darstellung der Quellenverhältnisse). Ein Jahr später wurde die alte span. Übersetzung des Kaiila und Dimna, die 1251 im Auftrag des span. Infanten Alfonso (des späteren Königs Alfons des Weisen) entstanden und bisher fast unbekannt geblieben war, veröffentlicht (was Benfey begeistert begrüßte). Im selben Jahr (1860) gab W. L. Holland unter dem Titel Das Buch der Beispiele der alten Weisen die alte, 1480 auf Veranlassung des Grafen Eberhard von Württemberg verfaßte dt. Übersetzung des arab. Kaiila und Dimna heraus (und erhielt von Benfey, K. —> Goedeke u. a. enthusiastische Kritiken). Jedes der fünf Bücher des Pancatantra steht unter einem Thema, zu dem (meist sehr umfangreiche und mit märchenhaften Zügen versehene fabelartige) Geschichten erzählt werden, ergänzt durch angehängte und eingefügte Lebensweisheiten im Sprichwortstil. Auch F.n, die offensichtlich griech. Ursprungs sind (wie beispielsweise Die Elefanten und die Mäuse, cf. AaTh 75: —» Hilfe des Schwachen)
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werden so ausgeschmückt, daß sie in die Nähe des Märchens geraten. - Aus dem Paücatantra und einem zweiten Werk entstand das ind. F.buch —> Hitopadesa (i.e. freundlicher Rat). Die Slg umfaßt vier Bücher mit insgesamt 43 Fabeln (Erzählungen) und mehr als fünfzehnmal soviel Sprichwörter, die an den jeweils passenden Stellen einer F. eingefügt werden. — Der eigenartige Titel des F.buchs Calila und Dimna oder die F.n Bidpais ergibt sich aus der doppelten Rahmenhandlung: Der Philosoph BTdbä, das Haupt der Brahmanen, erzählt dem König Dabäalim die Geschichte von den beiden Schakalen. Der Schakal Dimna steht im Dienst des Königs der Tiere, des Löwen, und erzählt ihm und seinem Bruder Calila Gleichnisse. Später wird er seiner vermeintlichen Treulosigkeit wegen von dem Löwen umgebracht. Ähnlich wie im Pancatantra und Hitopadesa handelt es sich vielfach um Kettengleichnisse, d. h. F. wird an F. gehängt, indem jeweils eins der F.tiere die Funktion des erzählenden Tieres übernimmt und das folgende Gleichnis vorträgt. Die Verknüpfungen erfolgen durch das bereits vertraute Frage-Antwort-Spiel („Wie war das? fragte Dimna. Calila erwiderte: . . ."). Am Ende wird — auch bei den in eine F. eingefügten Gleichnissen — vielfach die Lehre direkt ausgesprochen. — Im Vergleich mit der lockeren Fügung des Hitopadesa und vor allem des Pancatantra sind die F.n Bidbäs sowohl einzeln wie in der Gesamtgestaltung des Werkes von größerer Geschlossenheit und Konzentration. P. Wolff bezeichnet das Buch mit Recht als „eine Philosophie des Lebens, dargestellt in dem anmutigen Gewände von Fabeln und Parabeln. Die in dem Buch enthaltenen, mehr denn 60, Fabeln und Parabeln sind durch ein engeres oder loseres Band aneinander geknüpft, kunstreich und dennoch natürlich" (Wolff 1837, VIII). Über die Entstehung des Buches wird in der Rahmenhandlung erzählt: König Dabsalim ließ den weisen Brahmanen BIdbä, der ihm seine ungerechten Taten vorhielt, verurteilen. Dann begnadigte er ihn, übergab ihm die Regierung des Reiches und ließ ihn ein Buch verfassen über die wichtigsten Regeln der Weisheit.
Lit.: Wolff, P. (Übers.): Calila und Dimna oder die F.n Bidpais 1 - 2 . Stg. 1837. - Müller, M. (Übers.): Hitopadesa. Eine alte ind. F.slg. Lpz. 1844. Holland, W. L. (ed.): Das Buch der Beispiele der alten Weisen. Stg. 1860. - Geißler, F.: Anton von Pforr. Das Buch der Beispiele der alten Weisen. B. 1964 (Teil 2. B. 1974). - Benfey, T.: Pantschatantra. (Lpz. 1859) Nachdr. Hildesheim 1966.
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3. MA. Der Esope der —» Marie de France ist die erste volkssprachliche F.-Slg des MA.s. Vorlage war der Romulus Nilantinus (RN), eine lat. —> /?omw/ws-Bearbeitung des 11. Jh.s. Im Gegensatz zum RN schreibt Marie de France nicht in Prosa, sondern im gepaarten Achtsilber, dem klassischen Versmaß der höfischen Lit. Die These, daß sich die F. der ,Verritterlichung' widersetzt (Schirokauer 1953, 130 u.ö.) wird durch den Esope der Marie de France nur scheinbar widerlegt (gegen Jauß 1959,28 u.ö.). Denn Marie de France schreibt zwar vermutlich für ihre eigene Schicht, sie muß jedoch die Texte grundlegend verändern und die F.tradition verfälschen, um diese ,niedere' Gattung literar. hoffähig zu machen. Der Löwe wird zum Idealbild des guten Herrschers erhoben und an seiner Stelle der Wolf zur Figur der Tyrannenfabel. Die Weltklugheit des Fuchses verliert an Bedeutung oder wird sogar negiert, da sie mit dem Ethos der Feudalgesellschaft nur schwer vereinbar ist. Der RN bildet auch die wichtigste Quelle für die Misle süalim (Fuchsfabeln) des Rabbi —> Berechja ha-Nakdan (erschienen Ende 12./Anfang 13. Jh.). Er wendet sich mit seiner Slg von 119 F.n an jüd. Leser und vertritt (trotz gemeinsamer Quellen und gelegentlicher textlicher Übereinstimmung) eine grundsätzlich andere Intention als Marie de France. H. Schwarzbaum (1979) hat nach zahlreichen Einzeluntersuchungen über Berechja eine grundlegende Studie über dieses F.buch vorgelegt, die auch der Diskussion über den Ursprung der F. neue Impulse geben wird. Die F.-Slg Der Edelstein des Dominikaners Ulrich —> Boner aus Bern (zwischen 1340/50 entstanden) erschien 1461 bei A. Pfister in Bamberg als erstes dt. F.buch und eines der ersten Druckwerke in dt. Sprache. Die Slg enthält 100 F.n, die der Predigermönch aus dem Lateinischen (u.a. von Avianus) übernommen und in Versform (vierhebiger Jambus, paariger Reim) gestaltet hat. Aus dem Mittelhochdeutschen klingt die hochalemann. Mundart. Das Werk wurde nicht nur von den Zeitgenossen hoch geschätzt. —> Lessing hat diesem F.buch bes. Aufmerksamkeit gewidmet und sich auch quellenund textkritisch intensiv mit ihm beschäftigt; und
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der bedeutende Literarhistoriker des 19. Jh.s, G. G. Gervinus, sah in Boners F.n ein Musterbeispiel der Gattung.
Im Auftrag von Graf Eberhard von Württemberg übersetzte Anton von —> Pforr 1480 die oriental. F.n ins Deutsche. Auch hier erzählen die beiden Tiere Calila und Dimna gleichnishafte Geschichten, während aus Dabsalim der König Dibles, aus dem Philosophen Bfdbä der Weise Sendebar geworden ist. Der Übersetzer nennt sein Werk buch der byspel der alten wysen von geschlechten der weit (d. h. das Buch der Beispiele der alten heidnischen, im Gegensatz zu den jüd. Weisen). — Bereits vier Jahre vorher erschien die Übers, der griech.-röm. F.n: der Esopus des Ulmer Arztes Heinrich —» Steinhöwel wurde als zweisprachige (lat./dt.) und mit Holzschnitten ill. Ausg. 1476 bei J. Zainer in Ulm verlegt. Ebenso wie das Buch der Beispiele erregte auch Steinhöwels Esopus über Deutschlands Grenzen hinaus großes Aufsehen und wurde immer wieder nachgedruckt. Lit.: Pfeiffer, F. (ed.): Der Edelstein von Ulrich Boner. Lpz. 1844. - Oesterley, H. (ed.): Steinhöwels Äsop. Tübingen 1873. — Grässe, J. G. T.: Die beiden ältesten lat. F.bücher des MA.s. Tübingen 1880 (Nachdr. Hildesheim 1965). - Warnke, K. (ed.): Esope. F.n. Halle 1898. - Sparnberg, P.: Zur Geschichte der dt. F. in der mhd. Spruchdichtung. Diss. Marburg 1918. - Schirokauer, Α.: Die Stellung Äsops in der Lit. des MA.s. In: Festschr. W. Stammler. Bielefeld/B. 1953, 1 7 9 - 1 9 1 . - Jauß, H. R.: Unters.en zur ma. Tierdichtung. Tübingen 1959. - de Boor, Η.: Über F. und Bispel. Mü. 1966. - Gumbrecht, H. U. (Übers.): Marie de France. Äsop. Mü. 1973. — Grubmüller, K.: Meister Esopus. Mü. 1977. - Schwarzbaum, H.: The Mishle Shu'alim (Fox Fables) of Rabbi Berechiah haNakdan. Kiron 1979.
4. R e f o r m a t i o n . Der von ihm als „deutscher Äsop" geschätzte und zugleich der angeblichen Unzüchtigkeiten wegen kritisierte Esopus Steinhöwels regte Martin —» Luther zur Neubearbeitung der äsopischen F.n an. Abgeschlossen wurde diese während des Augsburger Reichstags von 1530 auf der Coburg begonnene Arbeit nicht. Uberliefert sind nur 14 F.n, die nicht zu Lebzeiten Luthers, sondern erstmalig durch Johannes —» Mathesius 1557 an die Öffentlichkeit gelangten. — Zwei der berühmtesten F.bücher stammen aus der Zeit Luthers. Der Esopus (1548) von Bur-
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kart —» Waldis ist mit seinen 400 F.n die umfangreichste F.-Slg des 16. Jh.s. Die F.n sind paarig gereimt und meist 30—40 Zeilen lang. Die Lehre steht immer am Ende und nimmt etwa ein Viertel des Umfangs ein. — Zwei Jahre später erschien Das buch von der Tugent und Weißheit (1550) von Erasmus —> Alberus. Die Erzählfreude zeigt sich nicht nur im Umfang der F.n (zwischen 50 und 300 Zeilen, meist mehr als 100), sondern vor allem in den geogr. Details. Vielfach spielen die F.n in der Wetterau, der Heimat von Alberus. Bei Hans —» Sachs, dessen Erstausgabe der F.n 1558 erschien, gerät die F. in die Nähe des Schwanks; die Formgrenzen zwischen den beiden Gattungen werden fließend. Wie sich das auf Intention und Gehalt der F. auswirkt, kann man beispielhaft am Motiv von —»• Wolf und Lamm (AaTh 111 A) sehen. Die Pointe der F., daß der Wolf das Lamm frißt, obwohl es alle seine Argumente widerlegt hat, ist zwangsläufig das Ende des erzählten Geschehens. Das gilt selbst für so zur Episierung neigende Autoren wie Waldis und Alberus. Bei Sachs ( 2 1953, num. 14) dagegen folgen weitere 17 Zeilen über den „vollen schlamp" des Wolfs, der sich noch mehr Lämmer wünscht, um das Leben zu genießen, bis dereinst die „garauß glocken" läuten. Der Wolf stirbt, und Sachs läßt diesem Ende einen Vierzeiler folgen über den Menschen, der sich auf Kosten anderer bereichert. Mit diesem Epimythion gerät Sachs durch die schwankhafte Ausweitung der F. in Widerspruch zu seinem eigenen Promythion, das traditionsgemäß lautet: „Gewalt der geht gar offt fur recht". Lit.: Kurz, H. (ed.): Esopus von Burkhard Waldis 1 - 2 . Lpz. 1862. - Thiele, E. (ed.): Luthers F.n nach seiner wiedergefundenen Hs. Halle 1888. — Braune, W. (ed.): Die F.n des Erasmus Alberus. Abdruck der Ausg. von 1550 mit den Abweichungen der ursprünglichen Fassung. Halle 1892. — Goetze, E./Markschies, L. (edd.): Sämtliche F.n und Schwänke von Hans Sachs 1. Halle 2 1953. — Steinberg, W. (ed.): Martin Luthers F.n. Nach seiner Hs. und den Drucken mit einem vergleichenden Teil von Boner bis Krylow. Halle 1961.
5. La F o n t a i n e (Wirkung und R e z e p tion). Die zwölf Bücher des berühmten F.dichters Jean de —> La Fontaine ( 1 6 2 1 - 9 5 ) mit insgesamt 240 F.n erschienen 1668 (1—6), 1678 ( 7 - 1 1 ) und 1694(12). La Fontaines F.n zeichnen sich vor allem durch die vollendete Form und die humoristische Tonlage aus. Den grundsätzlichen Unterschied zwischen
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Äsop, La Fontaine und Lessing kann man gut an der F. von Fuchs und Rabe (AaTh 57: —* Rabe und Käse) erkennen, die in Lessings Abhandlungen (B. 1759) eine beispielhafte Rolle spielt. Lessing machte aus der knappen und nüchtern-trockenen Fassung des Äsop eine moralistische F. mit bewußt verändertem Schluß und giftiger Lehre. La Fontaine hatte dagegen eine humoristische und elegante F. vorgelegt, vornehm und höflich auch in der Entlarvung menschlicher und gesellschaftliche^ Schwächen, ein echtes Spiegelbild der vornehmen Gesellschaft. Die dem Fuchs als einem Mann von Welt in den Mund gelegte Lehre wird schmunzelnd und dezent vorgetragen. Die menschlichen Schwächen werden nicht so bitter ernst genommen wie etwa bei Lessing. Humor relativiert.
Ein Jh. nach La Fontaine erschienen die von ihm beeinflußten liebenswürdigen F.n von Jean-Pierre Claris de Florian (1792). Ebenfalls unter dem Einfluß La Fontaines stehen die F.n der Italiener Tommaso Crudeli (1798), Gian Carlo Passeroni (1779—88), Lorenzo Pignotti (1782), Aurelio Bertola de'Giorgi (1788), Luigi Fiacchi (1795, 1802, 1807), während die Spanier Felix Maria de Samaniego (1781—84) und Tomas de Iriarte (1782) zugleich von dem engl. Dichter John Gay (Fables 1 - 2 . L. 1 7 2 7 - 3 8 ) beeinflußt wurden. Die dt.sprachige Lit. über La Fontaine ist, gemessen an dessen Bedeutung, spärlich. Die La Fontaine-Rezeption in Deutschland wurde wesentlich durch K. Vossler geprägt, der 1919 ein sehr eigenwilliges Bild des frz. Dichters zeichnete. La Fontaine erscheint als ein bon homme (i.e. für Vossler frz. Oberflächlichkeit im Gegensatz zu dt. Gedankentiefe), bei dem sich „auch der deutscheste G e r m a n e " erfreuen und erholen kann, „ohne eine gallische Vergiftung befürchten zu müssen" (Vossler 1919, V). Im scheinbaren Bemühen um einen Brückenschlag zwischen Frankreich und Deutschland verfälscht Vossler La Fontaine zu einem unpolitischen Dichter, obwohl sein F.werk ein kritisches Spiegelbild der Epoche Ludwigs XIV. ist. Viele seiner F.n beziehen sich auf die Kriege und allg. die Außenpolitik Ludwigs XIV. oder die Innenpolitik, auf soziale Fragen, Machtmißbrauch, Ausbeutung der Provinzen, Verhältnis der Stände etc. Lit.: Passeroni, G. C.: Favole esopiane 1—7. Milano 1779—88. - de Samaniego, F. M.: Fäbulas en verso castellano 1 - 2 . s.l. 1 7 8 1 - 8 4 . - de Iriarte, T.: Fäbulas literarias. Madrid 1782 ( 3 1965). Pignotti, L.: Favole e novelle. s.l. 1782. - Bertola de'Giorgi, Α.: Favole. Pavia 1788. - Fiacchi, L.: Favole 1 - 3 . s.l. 1795, 1802, 1807. - Pignotti, L.: Poesie. Pisa 1798. - Fables de Florian. P. 1846. Vossler, K.: La Fontaine und sein F.werk. Heidel-
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berg 1919. - Lirici del Settecento. ed. B. Maier u. a. Milano/Napoli 1959. - Jean de la Fontaine. Die F.n. Gesamtausg. Übers. R. Mayr. Düsseldorf/Köln 1964. - Spoerri, T.: Der Aufstand der F. (1942). In: de La Fontaine, J.: 100 F.n. ed. H. Hinderberger/N. O. Scarpi. Zürich 1965 (Nachwort). Gay, J.: The Poetical Works, ed. G. C. Faber. N.Y. 1969. — de Samaniego, F. M.: Fäbulas. Madrid 1969. - Grimm, J.: La Fontaines F.n. Darmstadt 1976 (mit umfassender Bibliogr.).
6. Barock. Trotz der Kritik an den ,FabulHannsen' — eine Kritik, die vielfach auf den Sprachgebrauch von F. als unglaubwürdige Erzählung zurückzuführen ist — blühte die F. in der Predigt der Barockzeit ( ^ Predigtmärlein). Sie hatte bereits in der Volkspredigt des MA.s einen festen Platz, eine Tradition, an die auch die Gegenreformation anknüpfte, und sie kam der Erzählfreude, die in der 2. Hälfte des 17. Jh.s wuchs, entgegen. Sie zog — wie es in zahlreichen Dokumenten heißt — die Leute in die Kirche und vertrieb den Kirchenschlaf. — Ebenso wie bereits im ZA. der Reformation war auch in der Barockzeit die Berufung auf die Bibel, außerdem auf kirchliche Autoritäten, eines der beliebtesten Argumente für die Verwendung von F.n in den Predigten, insbesondere den Osterpredigten (cf. —> Ostermärlein). — Auf die Kirchenväter berief sich —> Abraham a Sancta Clara, der beliebteste Kanzelredner der Barockzeit, u. a. im Vorw. zu Judas der Ertz-Schelm 1—4 (Salzburg 1 6 8 8 - 9 5 ) . Daß der ,Pater F.-Hanns' und Johann Balthasar —> Schupp, der berühmteste Prediger der Protestanten (der vor allem seiner F.n wegen von der Orthodoxie heftig angegriffen wurde), keineswegs die einzigen Prediger der Barockzeit waren, die F.n in ihre Predigten flochten (Ignatius —» Ertl, Wolfgang —> Rauscher, Andreas —> Strobl u. a.), zeigt u.a. die umfangreiche (und ausführlich eingeleitete) Slg Predigtmärlein der Barockzeit von E. Moser-Rath. Dem in der kathol. Homiletik zwar umstrittenen, aber dennoch häufigen F.gebrauch in der Predigt kommt insofern bes. Bedeutung zu, als hier — vielfach in rhetorisch hochstilisierter und höchst anschaulicher Wiedergabe — literar. Tradition in gesprochenes Wort übertragen und so der nicht lesenden Bevölkerung vermittelt wurde. Gelegentliche nur beiläufige Erwähnungen von F.motiven
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sprechen für den Bekanntheitsgrad der Gattung. Lit.: Schupp, J. B.: Sehr. Hanau 1663. — Abraham a Sancta Clara: Blütenlese aus seinen Werken 1 - 2 . ed. K. Bertsche. Fbg 2 1911. - Moser-Rath, E.: Predigtmärlein der Barockzeit. B. 1964. - Rehermann, Ε. H.: Das Predigtexempel bei Protestant. Theologen des 16. und 17. Jh.s. Göttingen 1977. — Moser-Rath, E.: Die F. als rhetorisches Element in der kathol. Predigt der Barockzeit. In: Hasubek, P. (ed.): Die F. B. 1982, 5 9 - 7 5 .
7. A u f k l ä r u n g . Während in der Zeit von 1600 bis 1730 in Deutschland fast keine neuen F.bücher erschienen, erreichte die Gattung im ZA. der Aufklärung ihren zweiten und eigentlichen Höhepunkt. Daß die „besten Köpfe" dieser Zeit nach reiflicher Prüfung die äsopische F. für die „erste und oberste Dichtungsart" erklärten, hat Goethe in Dichtung und Wahrheit (2. Teil, 7. Buch) mit Erstaunen notiert. In den drei Jahrzehnten zwischen J. C. Gottscheds Critischer Dichtkunst (Lpz. 1730) und Lessings Abhandlungen (B. 1759) erschienen die F.-Slgen und -theorien von J. J. Breitinger, J. J. Bodmer, Triller, Stoppe, Hagedorn, Geliert, Gleim, Lichtwer, Pfeffel — um nur die bekanntesten zu nennen. Die (meist verkürzt als ,docere et delectare' wiedergegebene) berühmte Maxime des Horaz „aut prodesse volunt aut delectare poetae / aut simul et iueunda et idonea dicere vitae" (Ars poetica, V. 333sq.), die bereits Phädrus in leicht abgewandelter Form übernimmt („Duplex libelli dos est: quod risum movet/ et quod prudentis vitam consilio monet", Liber fabularum, V. 3 sq.), wird im Jh. der Aufklärung zum bestimmenden Prinzip und somit zugleich zur Begründung für die Wertschätzung der F. in dieser Zeit. Wie die Gattung belustigen und erfreuen kann, zeigen vor allem die Texte von Gleim, Geliert und Hagedorn, die bereits bei den Zeitgenossen sehr beliebt waren, und zwar nicht nur bei den literar. Gebildeten. Das spiegelt sich in der Anekdote von dem Bauern, der Geliert eine Fuhre Holz schenkte, „als Anerkennung für die schönen Fabeln des Herrn Professors" (Badstüber 1924, 37). Johann Wilhelm Ludwig Gleim (F.n. B. 1757/58) lehnt den hohen Anspruch der Belehrung und Unterweisung in humorvoller Bescheidenheit ab und verweist ihn in den Bereich der Theologie und Philoso-
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phie. Die meisterhafte Gestaltung seiner F.n, die auch Lessings Lob erhielten, zeigt jedoch, daß „Menschenlehrerin" und „Zeitvertreiberin" keine Gegensätze sein müssen, daß die F. auch in unterhaltsamer und humorvoller Weise belehren kann (Gleim 1758,1. F.). Der „doppelte Endzweck" — zu ergötzen und zu nutzen - erfordert, daß die F. „etwas Seltnes, Neues und Wunderbares" (Geliert 1966, 17) zeigt. Bes. Wert auf gute Erfindungen legt Christian Fürchtegott —> Geliert, der die F. als die „älteste Spur des menschlichen Witzes" versteht (F.n und Erzählungen 1 - 2 . Lpz. 1746—48, Vorw.). Daß das Erzählerische bei Friedrich von Hagedorn an Bedeutung gewinnt, zeigt bereits der Titel seines F.buches Versuch in poetischen F.n und Erzehlungen (Hbg 1738). Der belehrende Charakter fehlt fast ganz. Das Interesse an ungewöhnlichen Dingen, an fremden Ländern etc. überwiegt. Die Erzählfreude ist gewichtiger als die parabolische Aussage. Die F.dichtung des 18. Jh.s steht nicht mehr so stark in der älteren Tradition wie die der Reformationszeit. Die Titel der neuentstehenden literar. F.bücher (statt,äsopische F.n' wird jetzt ,F.n und Erzählungen' bevorzugt) deuten bereits darauf hin, daß weniger die alten F.motive als neue, freie Erfindungen dominieren. Das verleitet bisweilen dazu, daß die Texte ins banale Moralisieren abgleiten, wie man es vielfach bei Daniel Stoppe feststellen kann. Er läßt in den 200 F.n seiner Slg Neue F.n oder Moralische Gedichte, der dt. Jugend zu einem erbaulichen Zeitvertreib aufgesetzt 1—2 (Breslau 1745) nicht nur Tiere reden und handeln oder Bäume und Pflanzen, sondern auch Fenster und Ofen, Harnisch und Fingerhut, Fernglas und Auge, Degen und Bratspieß, Spiegel und Pinsel, Bratenwender und Wanduhr etc. Dieser übermäßig weit gespannte Bildbereich steht in einem Mißverhältnis zu dem Grundbereich, den auf belanglose Kleinigkeiten des Alltags begrenzten Lehren, die sich mit Anreden wie ,Ihr Kinder, merkt's Euch hier [...]' an einen begrenzten Adressatenbereich wenden. Die F.n von Magnus Gottfried Lichtwer erschienen zunächst 1748 anonym, in 2. Ausg. (B. 1758) mit Namen und vollem Amtstitel, aber ohne die Verbesserungen, die nicht nur von den Zeitgenossen, sondern auch von
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Lichtwer selbst als notwendig erkannt wurden (cf. das gleichlautende Vorw. Lichtwers zur 3. und 4. — zu Lichtwers Lebzeiten letzten — Aufl., B. 1762 und 1775, XI). Die 4 Bücher Aesopischer F.n in gebundener Schreib-Art (Lpz. 1748) enthalten jeweils 25 F.n. Im 4. Buch werden bei den folgenden Ausg.η einige Texte ergänzt, unter ihnen als wichtigster Der Springer (Pott 1828, 154sq.). Diese fabelartige Erzählung, in der es am Ende heißt, daß der Dichter aufhören soll, wenn es Zeit ist, sandte Lichtwer an Gottsched als spöttischablehnende Antwort auf dessen Angebot zur weiteren Arbeit auf dem Gebiet der F. (cf. Pott 1828, XXIII). Lichtwers F.n sind von unterschiedlichem Wert. Einige haben erhebliche sprachliche Mängel, sind langatmig, abstoßend in der Moral und trivial wie die F.n Stoppes. Deshalb gab K. W. Ramler eine „auserlesene, verbesserte" Slg von nur 65 Texten heraus, die er ζ. T. selbst verbessert hatte. Bereits die Titeländerung — statt ,aesopische F.n' heißt es bei ihm F.n und Erzählungen (Greifswald/Lpz. 1761) — ist bezeichnend und durchaus treffend; denn Lichtwer schreibt nicht mehr im strengen (äsopischen) Sinn, sondern wie Hagedorn, Geliert, Gleim und in der Nachfolge La Fontaines. Einige der Versfabeln Lichtwers zeichnen sich aus durch originelle Ideen, bedeutsame Erkenntnisse und Lehren, die unaufdringlich vorgetragen werden, durch lebendige, meist dialogische Sprache und eine geistvoll-witzige Diktion. Sie sind denen Gellerts ebenbürtig und gehören zu den besten F.n des 18. Jh.s. Sie erhielten bereits von den Zeitgenossen, von Gottsched ebenso wie Lessing u. a. höchstes Lob. In seiner Rezension von 1751 schrieb Gottsched, „daß sie zu den schönsten zu zählen sind, die unser Deutschland aufzuweisen hat" (Pott 1828, XXI). - Eine Übers, ins Französische erschien bereits 1762, und zwar von Gottlieb Konrad —» Pfeffel, dessen eigene F.n und poetische Erzählungen 1—2 (ed. H. Hauff. Stg. /Tübingen 1840) sich vor allem mit der Macht und ihrem Mißbrauch beschäftigen. Die ungerechtfertigt scharfe zeitgenössische Kritik durch Bodmer und Breitinger hat die Einschätzung der F.n von Daniel Wilhelm Triller (Poetische Betrachtungen 2. Hbg 1737; Neue Aesopische F.n. Hbg 1740) bis ins 20. Jh. beeinflußt. Man kann Triller jedoch weder als „geistesarmen Dich-
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ter" (Badstüber 1924 [v. Lit. Kap. 9] 34) abtun, noch ist seine Abhandlung über die F. „so unbedeutend und kleinlich, daß sie füglich übergangen werden kann" (Staege 1929 [v. Lit. Kap. 9] 25).
Lessings drei F.bücher enthalten je 30 F.n. Einige wurden bereits 1753 gedruckt; gesammelt erschienen sie erstmalig 1759 und in 2. Auflage 1777. Von wenigen Ausnahmen aus der frühen Zeit abgesehen sind Lessings F.n kurz, sparsam in den dichterischen Mitteln, schmucklos und ohne Rankenwerk. Im Vergleich mit La Fontaine und seinen dt. ,Nachahmern' wirken Lessings Prosafabeln nüchtern und trocken. Das Unterhaltsame und Gefällige, das von Geliert und anderen Zeitgenossen als ein wesentliches Kennzeichen der Gattung hervorgehoben wird, fehlt. Aus der humoristischen F. ist wieder die ernsthafte geworden — mit einem bisweilen auffallend scharfen Ton, wenn der Moralist zu stark hervortritt (cf. Fuchs und Rabe). — Der dialektische Grundzug der Gattung kommt bei Lessing bes. deutlich zum Ausdruck, ebenso der andere Grundzug, daß sie episch und dramatisch zugleich ist. Meisterhaft an Lessings F.n aber sind vor allem die Treffsicherheit und die gedankliche Klarheit, die epigrammatische Kürze mit dem pointierten Ende der F. und die ausgefeilte sprachliche Diktion. Am Ende des 18. Jh.s erreichte die aufklärerische Prosafabel, die mit Lessing 1759 begonnen hatte, nochmals einen Höhepunkt. Als Ergebnis einer Sammelarbeit von mehr als 15 Jahren erschienen Johann Heinrich Pestalozzis Figuren zu meinem ABC-Buch oder zu den Anfangsgründen meines Denkens (Basel 1797; unveränderter Nachdr. u. d. T. F.n. Basel 1803). Der Doppeltitel dieser Erstausgabe und der 2. erw. Ausg. (1823) weist auf die beiden Werke Pestalozzis Lienhard und Gertrud (B./Ffm./Lpz. 1781-87, in der Vorrede zum 3. Teil ABC-Buch der Menschheit genannt) und Meine Nachforschungen (Zürich 1797) hin und zeigt bereits, daß er hier seine Pädagogik veranschaulichen will. Pestalozzis Interesse an der F. wurde durch seine Lehrer Bodmer und Breitinger geweckt und durch die Bekanntschaft mit Pfeffel verstärkt. Er schätzt dessen Versfabel und wählt teilweise ähnliche oder gleiche Motive. Die .Figuren' oder,figürlichen Darstellungen' entstanden unter dem Eindruck der herannahenden Frz. Revolution
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und deren Einfluß auf die Schweiz; sie bieten in einzelnen Fällen einen konkreten hist. Bezug und dadurch die Möglichkeit der Datierung (cf. Pestalozzi 1977, 783). Pestalozzi zeigt in den 233 Texten den noch im Tierischen befangenen Menschen, um ihn zum sittlichen zu erheben. Er will das Tierische im Menschen „als dem Heil des Menschengeschlechts und seiner hohen Bestimmung entgegenwirkend" (Vorrede zur 2. Ausg.) aufzeigen. Lit.: Triller, D. W.: Poetische Betrachtungen 2. Hbg 1737. - von Hagedorn, F.: Versuch in poetischen F.n und Erzehlungen. Hbg 1738. — Triller, D. W.: Neue Aesopische F.n. Hbg 1740. - Stoppe, D.: Neue F.n oder Moralische Gedichte, der dt. Jugend zu einem erbaulichen Zeitvertreib aufgesetzt 1 - 2 . Breslau 1745. - Geliert, C. F.: F.n und Erzählungen 1—2. Lpz. 1746—1748. — Lichtwer, M. G.: 4 Bücher Aesopischer F.n in gebundener Schreib-Art. Lpz. 1748. - Gleim, J. W. L.: F.n. 2. Buch. B. 1757. - id.: F.n. B. 1758. - Lichtwer, M. G.: F.n in 4 Büchern. B. "1775. - von Pott, M. (ed.): Magnus Gottfried Lichtwers Sehr. Halberstadt 1828. - Pfeffel, G. C.: F.n und Erzählungen 1 - 2 . ed. H. Hauff. Stg./Tübingen 1840. - Minor, J. (ed.): F.dichter, Satiriker und Popularphilosophen des 18. Jh.s. B. 1 8 8 3 - 8 6 . - Lessing, G. E.: Sämtliche Sehr. 1. ed. K. Lachmann/F. Muncker. Stg./B./ Lpz. 3 1886, 1 9 5 - 2 3 0 (F.n. Drey Bücher). - Badstüber, H.: Die dt. F. von ihren Anfängen bis auf die Gegenwart. Wien 1924. — Pestalozzi, H.: Werke 5. ed. P. Baumgartner. Zürich 1946. — Geliert, C. F.: Hist.-kritische Ausg. 1—2. ed. S. Scheibe. Tübingen 1966 (t. 1: F.n, t. 2: F.theorie). - Pestalozzi, J. H.: Werke 2. ed. G. Cepl-Kaufmann/M. Windfuhr. Mü. 1977. - Windfuhr, M. (ed.): Dt. F.n des 18. Jh.s. Stg. 1977.
8. Zwischen A u f k l ä r u n g und Mod e r n e . In der Zeit des Sturm und Drang, der Klassik und der Romantik, des Vormärz und des Biedermeier ist die F. als eigenständige Gattung von geringer Bedeutung. Es erscheinen kaum noch wichtige F.bücher oder theoretische Schriften, und die einzelnen F.n sind vielfach in ein Werk gefügt wie die berühmte F. von der —> Königswahl der Tiere in Schillers Fiesco. — Während die Gattung im ZA. der Aufklärung trotz des Unterschieds zwischen Lessing und den Nachfolgern von La Fontaine in mancher Beziehung Einheitlichkeit zeigt und auf einer eindeutigen theoretischen Grundlage fußt, ist die Spannweite im 19. Jh. extrem groß. Das zeigt sich bereits, wenn man die F.n so verschiedenartiger Dich-
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ter wie etwa Franz Grillparzer, Heinrich Heine und Marie von Ebner-Eschenbach vergleicht, vor allem aber, wenn man neben die einfältigen Kinderfabeln von Wilhelm Hey die phil. F.n von Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche stellt und zugleich an die meisterhaften F.gedichte von Wilhelm —> Busch denkt, die einen Höhepunkt der Gattung in diesem Jh. bedeuten. Intention und Adressatenbezug der dt. F.bücher wandeln sich. Die ursprünglich gesellschaftskritische Intention wird durch moralisierende Tendenz ersetzt und der Adressatenkreis auf das Kind verengt. Speziell für Kinder geschriebene F.bücher treten verstärkt hervor und gewinnen an Interesse, wie die in der Tradition von Stoppe und Lichtwer stehenden F.n von Friedrich Haug (200 F.n für die gebildete Jugend. Ulm 1823; F.n für Jung und Alt. Heidelberg 1828) und die anthropomorphen Tiergedichte von Hey (Fünfzig F.n für Kinder. Hbg [1833]; Noch fünfzig F.n. Gotha [1837]). Die von Otto Speckter ill. Kinderfabeln Heys, in denen Tiere in naiver, pseudokindlicher und anthropomorpher Weise dargestellt werden, den Kindern zum Vorbild oder als Warnung, erfreuten sich großer Beliebtheit noch im 20. Jh., erschienen in ständig neuen Auflagen und wurden in den Lesebüchern nachgedruckt. Sie paßten in die Konzeption des Gesinnungslesebuchs, da sich Hey mit seinen F.n — im Gegensatz zur F.theorie Lessings - bewußt an die Affekte wendet, die Welt verklärt darstellt, Mensch und Tier verniedlicht und das Mitleid des Kindes in rührseliger Weise hervorzulocken sucht.
Im 19. Jh. erschienen mehrere dt. Übersetzungen der F.n des russ. Dichters Ivan A. —> Krylov (u.a. Übers.en F. Torney, 1842; F. Löwe, 1874; C. von Gernet, 1881), der durch Übersetzungen und Nachdichtungen der F.n La Fontaines zur eigenen Gestaltung angeregt wurde. In seinen F.n verbindet er Ideen der Aufklärung mit der russ. Folklore. Krylovs erstes F.buch erschien 1809, erregte großes Aufsehen und wurde in viele Sprachen übersetzt. Die folgenden, jeweils vermehrten Ausgaben der F.n begründeten seinen Ruhm als bedeutendster russ. F.dichter. Er schrieb insgesamt mehr als 300 F.n. Lit.: Haug, F.: 200 F.n für die gebildete Jugend. Ulm 1823. - Hey, W.: Fünfzig F.n für Kinder.
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Hbg [1833] (Nachdr. Dortmund 1978, 2 1980). id.: Noch fünfzig F.n. Gotha [1837] (Nachdr. Dortmund 1978). - Krylov, I. Α.: Basni 1 - 9 . St. Peterburg 1843. - Schopenhauer, Α.: Parerga und Paralipomena 1 - 2 . B. 1851. - von Ebner-Eschenbach, M.: Gesammelte Sehr. 1. B. 1893. - Heine, H.: Sämtliche Werke 2—3. ed. E. Elster. Lpz./Wien 2 1925. - Nietzsche, F.: Also sprach Zarathustra. Lpz. 1927. - Busch, W.: Sämtliche Werke 6 - 7 . ed. O. Nöldeke. Mü. 1943. - Grillparzer, F.: Sämtliche Werke 1 und 3. ed. P. Frank/K. Pörnbacher. Mü. 1961/64.
9. 20. Jh. Der Wunsch, „daß die Fabeldichtung, dieser kräftige und köstliche Zweig am Baume der deutschen Poesie, ihre ehemalige Stellung wiedergewinnt und nicht nur als Aschenbrödel auf das Gebiet der Kinderliteratur verwiesen wird" (Weddigen 1893, 34), erfüllt sich auch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s nicht, obwohl sich die literar. Produktivität der sog. goldenen 20er Jahre auch auf die F.dichtung auswirkt. Bes. produktiv sind jetzt diejenigen Autoren, die sich gleichzeitig wiss. mit der F. beschäftigen, vor allem Otto Weddigen, dessen F.buch zuerst in der Kaiserzeit und dann unwesentlich verändert im Dritten Reich erschien, und Theodor Etzel, der auch im Team (gemeinsam vor allem mit Hanns Heinz Ewers) produziert. Die F.dichtung zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus läßt sich am ehesten am Rande der Tierdichtung ansiedeln, einer Tierdichtung, die vor allem nach dem verlorenen Krieg als Bereich einer vermeintlich heilen Welt eine kompensatorische Funktion gewinnt. Die F. wird weitgehend als anthropomorphe Tiergeschichte verstanden (cf. Zeuch 1924; Winkler 1922). — Die Versuche, das satirische Moment der F. wieder zu entdecken und neu zu gestalten (Ernst Leixner, Ludwig Fulda, Otto Ernst, Otto Julius Bierbaum, Theodor Etzel, Hanns Heinz Ewers, Friedrich Werner von Oesteren), bleiben traditionell und im Ansatz stecken. Während die moralische F. bereits in den 20er Jahren verpönt war (cf. ζ. B. Lisa Wengers Amoralische F.n. Jena 1920) und die sozialistisch-gesellschaftskritische (Edwin Hoernle, Erich Weinert, Friedrich Wolf) in den literar. Untergrund getrieben wurde, vereinnahmte der Faschismus die anthropomorph-naturkundliche und die mythol.-legendäre Ausprägung der F. des Kaiserreichs und der Weimarer Republik.
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Beispiele für die legendäre F. findet man etwa bei Karl Gjellerup, der seine Tierlegenden unter Titeln wie Das heiligste Tier (Lpz. 1919) erscheinen läßt und mit der Widmung „im Zeichen des germanischen Gedankens [. . .] dies heitere Buch in den trübsten Zeiten" versieht.
Bei den wiss. konzipierten Anthologien ist das Interesse sowohl auf spezielle Bereiche oder Aspekte der F.tradition — wie etwa MA. und Reformation (Stammler 1926) oder die oriental. F. (Wegener 1926) oder auf die Illustration von Meistern wie Grandville (Daffis 1920) etc. — gerichtet als auch auf die Gesamtschau. Während sich national gesinnte Herausgeber wie S. Rüttgers bewußt auf „volkseigen gewordenes Gut" (Rüttgers [1932] 102) beschränken, hatten andere Sammler längst den Blick über das vermeintlich nationale Eigentum der Deutschen hinaus geweitet. Das umfassendste Werk dieser Art blieb die Anthologie F.n und Parabeln der Weltliteratur (Lpz. 1907) von T. Etzel. Erheblich zahlreicher als die wiss. sind die volkstümlichen, die für Kinder und Jugendliche bestimmten Anthologien. Vielfach deuten hier bereits die Titel Mein liebes F.buch (Stg. 1923), F.büchlein für unsere kleinen Leute (Donauwörth 1931), Der ewige Garten (B. 1928), Der dt. Spielmann. Eine Ausw. aus dem Schatz dt. Dichtung für Jugend und Volk (ed. E. Weber. Mü. 1910 u. ö.) auf den gewünschten Adressaten und die Art der Rezeption. Aber auch hinter Titeln wie Das F.buch (Mü. 1919), Das große F.buch (ed. W. Heichen. B. 1911 u. ö.), Aesops F.buch (ed. M. Stora. Mü. [1913]) verbirgt sich vielfach eine Slg ohne Quellenangabe und in kindlicher Erzählweise (Stora) und eine unkritische Auswahl der F.n von Äsop bis Robert Reinick und Wilhelm Hey (Heichen). - Erst in den 20er Jahren erscheint eine Geschichte der F. (Badstüber 1924) und ihrer Theorie (Staege 1929).
In den 50er und 60er Jahren war die Ansicht dominierend, daß die F. für das 20. Jh. nicht mehr relevant sei und allenfalls noch von Kindern rezipiert werde. Im Gegensatz dazu zeigt sich seit etwa 1970 — bedingt vor allem durch komparatistische und soziol. Sichtweise — ein neues Interesse an der zu Unrecht als moralische Geschichte für Kinder diskreditierten Gattung. Die moderne F. trägt vielfach satirische und karikaturhafte Züge, ist epigrammatisch knapp und pointiert und steht in der Nähe des Aphorismus (Wolfdietrich Schnurre; Helmut
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Arntzen). Neben traditioneller Gestaltung (Rudolf Kirsten) kommt jetzt eine Auseinandersetzung mit der F.tradition zum Ausdruck, die in die Texte selbst einbezogen wird, indem sich die F.tiere auf ihre Tradition berufen, die alten F.weisheiten prüfen und glossieren. In dem Epimythion — das auf diese Weise eine neue Bedeutung gewinnt — stellt der amerik. Karikaturist und F.dichter James Thurber das .Früher' durch das ,Heute' in Frage und versieht alte Sprichwortweisheiten mit dem ironischen Fragezeichen des modernen Lesers, der die F.tradition kennt und kritisch prüft. Angesichts der parabolischen Texte von Franz Kafka, Bertolt Brecht, Max Frisch, Emst Bloch, Martin Buber und vielen anderen modernen Dichtern wird die Unterscheidung zwischen F. und Parabel fragwürdig, zumal die parabolische Redeweise ein Grundzug der modernen Lit. überhaupt ist. Lit.: Weddigen, O.: Das Wesen und die Theorie der F. und ihre Hauptvertreter in Deutschland. Lpz. 1893. - Etzel, T./Ewers, Η. H.: Ein F.buch. Mü. 1901. — Weddigen, O.: Gesammelte poetische Werke 3. B. [1905], - Etzel, T. (ed.): F.n und Parabeln der Weltlit. Lpz. 1907. - id.: Der Rohrspatz. Ein neues F.buch. Mü. 1907. - Daffis, H. (ed.): F.n mit neunundsiebzig Illustrationen von J. J. Grandville. Mü. 1920. - Gurk, P.: F.n. Trier 1922. — Winkler, E.: Das Kunstproblem der Tierdichtung. In: Festschr. P. A. Becker. Heidelberg 1922, 280-306. - Etzel, T.: F.n. Gesamtausg. Stg./Heilbronn 1923. - Ewers, H. H./Etzel, T./ Ewers, M.: Singwald. Märchen und F.n für große und kleine Leute. B. s.a. — Badstüber 1924 (v. Kap. 7). - Zeuch, J.: Die moderne Tierdichtung. Diss. Gießen 1924. - Stammler, W. und H. (edd.): Alte dt. Tierfabeln. Jena 1926. - Wegener, Η. (ed.): Bidpai. Das Buch der Beispiele der alten Weisen. B. 1926. — Staege, M.: Die Geschichte der dt. F.theorie. Bern 1929. - Rüttgers, S. (ed.): Dt. F.n aus sechs Jh.en. Breslau 1932. - Weddigen, O.: G. W. 3. B. 1933. - Gurk, P.: F.n, Märchen und Legenden. B. 1934. - Thurber, J.: Fables for Our Time. N.Y. 1939. - Kirsten, R.: Getarnte Wahrheit. Hbg 1947. - id.: Im Spiegel der Wahrheit. Zwickau 1948. - Sternberger, D.: Figuren der F. B./Ffm. 1950. - Meuli, K.: Herkunft und Wesen der F. In: SAVk. 50 (1954) 65-88. - Thurber, J.: Further Fables for Our Time. N.Y. 1956. Weinert, E.: Das Zwischenspiel 1 - 2 . B. 1956. Schnurre, W.: Protest im Parterre. Mü. 1957. Markschies, H. L.: F. In: RDL 1,433-441. - Wolf, F.: Frühe Romane und kleine Prosa, ed. E. Wolf/ W. Pollatschek. B. 1959. - Kirsten, R.: 105 F.n. Zürich 1960. — Lehmann, W. R.: F. und Parabel als
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Reinhard Dithmar
Fabelwesen 1. Definition — 2. Antike Quellen und Tradierungswege — 3. F. in populären Lesestoffen — 4. F. in Legenden, Sagen und Märchen — 5. F. im Kinderbuch — 6. Bedeutung der F. 1. D e f i n i t i o n . F. sind nichtexistente, aber unter bestimmten hist, und kulturalen Bedingungen für real gehaltene, physisch deformierte, ,korrupte' oder hypertrophe Menschen oder Tiere oder Mischungen aus menschlichen und tierischen Körperteilen, die dem Bereich der „nicht geschaffenen und nicht erschaffbaren, weil widernatürlichen" 1 ,fabulae' zuzurechnen sind: phantastischen Vorstellungen, bildlichen Darstellungen und abenteuerlichen Erzählungen 2 . Von der Betrachtung ausgeschlossen bleiben hier Mischwesen, die ausschließlich der darstellenden Kunst angehören (Arabesken, Drolerien, Grillen, Grotesken, Höllenvisionen, .Versuchungen', Karikaturen, mnemotechnische Figuren, Propaganda-Monster etc.) 3 , —> Monstren im Sinne von real gegebenen Erscheinungen aus dem Bereich der Teratologie 4 einschließlich der Riesenwüchsigen (—> Riese,
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Riesin) und Zwergwüchsigen (—> Zwerg), ferner die Protagonisten der Tierfabel (—» Affe, —»Bär, —» Fuchs etc.; cf. —> Fabel) sowie Menschen und Tiere, die sich primär durch wunderbare Handlungen, nicht aber durch irreale physische Abnormitäten auszeichnen (—> Fairy 5 , —> Fee, —> Hexe, Oger, —> Zauberer). Auch —> Halbwesen (halber Hahn, halber Mensch) werden hier nicht berücksichtigt. Überschneidungen ergeben sich auf den Gebieten der Mythologie 6 (ζ. B. Faun [Satyr], Harpyie, —» Sirene, —» Sphinx, Zentaur, Zyklop), des —> Physiologus und der —> Bestiarien, der —» Prodigienliteratur 7 , der älteren naturwiss. Kompilationen 8 (z. B. U. —» Aldrovandi) 9 sowie der Rekonstruktionen prähist. Lebewesen 10 . 2. A n t i k e Q u e l l e n und T r a d i e r u n g s wege. Die frühesten Berichte über die Entdeckung Indiens enthalten wunderbare Nachrichten über die dort lebenden Menschen und Tiere 11 . Ktesias (Indika, Anfang 4. Jh. a. Chr. n.) bzw. dessen Überlieferer Photios (Patriarch von Konstantinopel, 9. Jh. p. Chr. n.) erzählte von Pygmäen, Schattenfüßlern, —> Hundsköpfigen, kopflosen, vielfingrigen, großohrigen und langschwänzigen Menschen, ferner von dem Martikhora-Tier mit Menschengesicht, Löwenrumpf und Skorpionschwanz, dem —» Einhorn und goldhütenden Greifen (—> Vogel Greif) 12 . Durch —> Alexanders des Großen Feldzug nach Indien und spätere Indien-Reisende wie Megasthenes (um 300— 290 a. Chr. n.) 13 gelangten weitere Wunderberichte in die Reiseliteratur 14 (mundlose und nasenlose Menschen, langschwänzige Affen, geflügelte Skorpione) und von dort in die griech. Romanliteratur, vor allem in die Apollonios-Biogr. (3. Jh. p. Chr. n.; cf. —> Apollonius von Tyrus)15 und in den Alexanderroman des Pseudo-Kallisthenes 16 , sowie in die apokryphen Briefe Alexanders an seine Mutter Olympias und an Aristoteles 17 . In die Alexander-Tradition gehören der Odontotyrannus (der König mit dem Zahn), Riesenfledermäuse, gehörnte Jägerinnen etc. 18 Solche Berichte fanden zwar schon in den ersten Jh.en unserer Zeitrechnung Kritiker und Spötter 19 , doch gelangten sie über Vermittler der lat. Antike (—» Plinius, Gaius Julius Solinus) in die mittellat. Lit. Aurelius Augusti-
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nus behandelte in der Civitas dei (16,8) die Frage, ob die monströsen Menschen von Adams Geschlecht oder von Noahs Söhnen stammten 20 . Auf dieser Qu. und dem sog. Brief an Hadrian beruht ein De monstris et belluis oder Liber monstrorum de diversis generibus genannter Text aus dem 6./7. Jh., der in einem Fabel-Ms. des 10. Jh.s überliefert ist21. Hier werden u. a. Sirenen, Hippozentauren, Zyklopen, Ichthyophagen (Fischfresser), Schattenfüßler, Langbärtige, Zwitterwesen, Mund- und Kopflose abgehandelt. Die apokryphe Alexander-Lit. einerseits und das Buch De monstris et belvis bilden dann schon um das Jahr 1000 die Grundlage zu einem volkssprachlichen, nämlich ags. Prosatext 22 (Die Wunder des Ostens oder Marvels of the East genannt), dessen ags. und lat. Prototyp nicht mehr existiert 23 . Ein anderer Traditionsstrang, der einerseits auf der Alexander-Lit., anderseits auf den naturwiss. Werken der lat. Spätantike beruht, läuft durch die mittellat. enzyklopädische Lit., von —» Isidor von Sevilla (7. Jh.) und Hrabanus Maurus (9. Jh.) zu Honorius Augustodunensis, —» Gervasius von Tilbury, Bartholomäus Anglicus, —» Vincent de Beauvais und —> Thomas Cantipratanus 24 . Das 3. Buch De monstruosis hominibus orientis25 aus Thomas' De natura rerum (um 1228—44)26 wurde um 1300 in 1812 altfrz. Achtsilblern moralisierend umgedichtet 27 ; über Konrad von Megenbergs stark verbreitetes Buch der Natur (1350 vollendet) sind diese Berichte von F. in die dt. Lit. gedrungen 28 . 3. F. in p o p u l ä r e n L e s e s t o f f e n . Trotz wichtiger Vorstudien 29 und Zusammenfassungen und trotz zahlreicher kunsthist. Arbeiten 30 ist das Weiterleben der ma. F. in populären Lesestoffen und vor allem in der mündl. Uberlieferung wenig geklärt. Tatsache ist, daß sich die,Wunder des Ostens' ebenso wie die,Wundermenschen des Orients' auf breiter Ebene in die Volksliteratur gedrängt haben: Sie finden sich in den —> Gesta Romanorum31 ebenso wie im Volksbuch vom —»> Herzog Ernst (Schattenfüßler, Kranichleute etc.) 32 ; in dem fiktiven Reisebuch des Jean de —> Mandeville 33 ebenso wie in dem Bericht über die Reise ins Heilige Land des Bernhard von Breydenbach 34 ; in der dickleibigen kosmographischen Lit. (Se-
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bastian Münster) 35 ebenso wie in der kosmographischen Heftchenliteratur des Elucidarius 36 ; ferner in den Prodigien-Slgen 37 in Deutschland, Frankreich und England. Das Weiterleben der F. in miindl. überlieferten Erzählungen ist sicher großenteils auf die hohe Verbreitung dieser populären Lesestoffe des 15. und 16. Jh.s zurückzuführen.
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Sirenen 51 . Der Aberglaube von möglichen fruchtbaren Vermischungen zwischen Mensch und Tier förderte Vorstellungen von F. wie dem —> Bärensohn und von Tierbraut und —»• Tierbräutigam 52 , die man sich teilweise als Mischwesen vorstellte 53 .
5. F. im K i n d e r b u c h . Trotz des Eindringens älterer literar. F. in die mündl. Uberlie4. F. in L e g e n d e n , Sagen und M ä r c h e n . ferung sind die nichtexistenten Menschen, Der christl. Heiligenlegende sind F. nicht un- Tiere und Mischwesen hauptsächlich Elebekannt; in der kelt. Sage und Legende waren. mente der literar. Produktion geblieben 54 ; Mischwesen bes. beliebt 38 . In den Einsiedler- eine Verlagerung hat allerdings von der Erleben tauchen seltsame Waldbewohner auf; wachsenen· zur Kinder- und Jugendliteratur ein —> Werwolf erscheint in der Cuthbert- stattgefunden 55 . F. gehören zum ErzählreperLegende 39 , und —> Drachen waren oftmals toire vieler Kinderbuchautoren (—» Alice im Opponenten frommer Heiliger (hl. —» Georg, Wunderland)·, dabei sind heute die F. häufig hl. —> Michael). —» Christopherus wurde, wie Personifizierungen von Vorurteilen, die in der andere Götter und Heilige, die Tierköpfe tru- Erzählung widerlegt werden, oder Verbündete gen, als Hundsköpfler (Kynokephalos) darge- der Kinder gegen die Welt der Erwachsenen 56 . stellt 40 . Papst Benedikt soll nach seinem Tode Einzelne Künstler haben jedoch auch spezielle mit Eselskopf und Bärenkörper erschienen F.-Slgen vorgelegt 57 . Selbstverständlich hat sein (Tubach, num. 575). inzwischen auch die populäre Presse die F. 58 Volkssagen berichten von Meerungeheuern vereinnahmt , ohne daß dabei neue Bilder 41 und Sirenen , von fischgeschwänzten schönen entworfen, neue Fragen angerührt oder neue Frauen wie der —» Lorelei oder der —» Melu- Kenntnisse gefördert worden wären. sine42, von —» Basilisken, Einhörnern, Greifen und Werwölfen 43 . In Frankreich hat die 6. B e d e u t u n g der F. Eine eindeutige, schreckliche Bete du Gevaudan, eine Mi- Zeit und Raum übergreifende Sinngebung schung aus Waldmensch- und Werwolf-Vor- oder eine —» Archetypen-Theorie für solche stellungen, weiteste Berühmtheit erlangt 44 . ,fabulae' von polymorphen und polyvalenten Auch in den Zeitungssagen tauchen hie und Phantasie-Wesen läßt sich kaum finden. F. da F. auf 45 . In Palermo wurde noch 1978 von haben einmal zu tun mit der Suche nach und einem verzauberten Löwenmenschen er- dem Kontakt mit unbekannten Ländern und zählt 46 . deren fremd 59 erscheinenden Bewohnern, also Einige F. erscheinen auch in Märchen, ins- mit dem Wunsch der Erweiterung des physibesondere schatzhütende oder Prinzessinnen schen und kognitiven Horizonts ebenso wie bewachende Drachen, die vom Märchenhel- mit der Sicherheit verleihenden Abgrenzung 60 den besiegt werden. Der bibl. Behemoth (Hi. des heimatlichen Normalbereichs . Umge40,15 sqq.) hat volkstümliche Drachenvor- kehrt spielt die Lust an der Verdrehung des stellungen beeinflußt 47 . In Frankreich gehörte allzu Bekannten, an der Revolte gegen die insbesondere La Bete ά sept tetes (eine Var. starren Naturgesetze und die festen gesellvon AaTh 300) zu den beliebtesten Märchen; schaftlichen Normen sicherlich eine große 61 heute finden sich nur noch verstümmelte Fas- Rolle . Kinder zumal lieben Monstren, weil 48 sungen dieser Erzählung . In Armenien, der diese den oftmals gehaßten Zwängen der Türkei, ganz Südeuropa sowie Dänemark und Realität entschlüpfen dürfen; die F. sind ein Schonen war das Märchen von —» König Lind- Mittel, um, wenigstens in der Phantasie, der 62 zu leisten. Die wurm (AaTh 433 A, B) bekannt 49 . Flügel- Anpassung Widerstand pferde (—»· Haimonskinder und ihr Roß ,Quatschwesen' und ,Ungetüme' der KinderBayard; cf. —> Pferd) tauchen in den Märchen buchautoren können freilich auch als Mittel verschiedener Völker auf 50 . Seefahrende Völ- zur Verharmlosung des realen Bösen inter63 ker erzählten in ihren Märchen häufig von pretiert werden . In einem anderen kultu-
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ralen Beziehungsgeflecht sind F. wiederum ein Mittel, um ein duales Weltbild plausibel darzustellen; sie repräsentieren dabei die gottlose Anders-Welt, die Nachkommen Kains, die Erzeugnisse Satans. F. symbolisieren schließlich, in wieder anderem Kontext, die dualistische Natur des Menschen selbst, deuten auf das .Ungeheuer' in ihm und fordern auf zur Besinnung auf seine naturgegebene Güte und Schönheit. 1 Isidori Hispalensis episcopi etymologiarum sive originum libri XX. t. 1 - 2 . ed. W. M. Lindsay. Ox. 1911 [u.ö.] hier lib. 1, X L I V , 5. - 2 Z u r Definition cf. den bes. wichtigen kunsthist. Art. von ZajadaczHastenrath, S.: F. In: R D K 6 (1973) 7 3 9 - 8 1 6 , bes. 7 3 9 - 7 4 1 . Z u r oriental. Tradition cf. auch die Art. Unger, E.: Mischwesen. In: Reall. der Vorgeschichte 8 (1927) 1 9 5 - 2 1 6 und R a n k e , H.: Fabeltier, ibid. 3 (1925) 164. Bibliogr. wertvoll ist Robinson, M. W.: Fictitious Beasts. L. 1961. — 3 Baltrusaitis, J.: L e Moyen Äge fantastique. Antiquites et exotismes dans l'art gothique. P. 1955; id.: Reveils et prodiges. Le Gothique fantastique. P. 1960; Rowland, Β.: Animals with H u m a n Faces. A G u i d e to Animal Symbolism. Knoxville 1975; cf. auch E M 1, 619 und E M 2,329sq., 1289sq. - 4 Taruffi, C.: Storia della teratologia 1 - 8 . Bologna 1 8 8 1 - 9 4 . Der Begriff Monstrum wird jedoch häufig auch f ü r F. gebraucht, so etwa von Wittkower, R.: Marvels of the East. A Study in the History of Monsters. In: J. of the Warburg and Courtauld Institutes 5 (1942) 1 5 9 - 1 9 7 ; Pfister, F.: Von den W u n d e r n des Morgenlandes. In: D J b f V k . 1 (1955) 1 2 7 - 1 5 6 ; Lecouteux, C.: Les Monstres dans la litterature allemande du moyen äge 1 - 3 . Göppingen 1982. - 5 cf. D B F A , B. 6 c f . Comotti, Α.: Faunus. In: Enciclopedia dell'arte antica, classica e Orientale 3. R o m a 1960, 5 9 8 s q . ; Palmer, R.: Centaurs, Sirens, and O t h e r Classical Creatures. A Dictionary. Tales and Verse f r o m G r e e k and R o m a n Mythology. N.Y. 1969; Baur, P.: Centaurs in Ancient Art. B. 1912; Dessenne, Α.: L e Sphinx, etude iconographique. P. 1957; Baer, E.: Sphinxes and Harpies in Medieval Islamic Art. Jerusalem 1965. — 7 Schenda, R.: Das M o n strum von Ravenna. In: Z f V k . 56 (1960) 2 0 9 - 2 2 5 ; id.: Die dt. Prodigien-Slgen des 16. und 17. Jh.s. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 4 (1962) 6 3 7 - 7 1 0 . - 8 cf. auch den A u f k l ä r e r Richter, C.: U e b e r die fabelhaften Thiere. G o t h a 1797 ( U n t e r scheidung von „fabelhaften T h i e r e n " , die sich, nach seiner Ansicht, auf naturwiss. erklärbare L e b e wesen zurückführen lassen [Sphinx, Chimäre, Z e n taur, Greif, Basilisk etc.] und „Fabelgeschöpfen, welche lediglich G e b u r t e n der Dichter-Phantasie sind" [10sq.]). — 9 N e u e r e zoologische K o m m e n tare zu F. bei Ley, W.: T h e Lungfish, the D o d o , and the Unicorn. A n Excursion into R o m a n t i c Zoology. Neuausg. N.Y. 1948. - 10 cf. Verrill, H.: Strange
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Enzyklopädie des Märchens IV
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Prehistoric Animals and Their Stories. Boston 1948; Carrington, R.: Mermaids and Mastodons. L. 1957. 11 Reese, W.: Die griech. Nachrichten über Indien bis zum Feldzuge Alexanders des G r o ß e n . Lpz. 1914; Pfister (wie not. 4) bes. 130sq. (zu Hesiod und H e r o d o t ) ; weitere Lit. bei Wittkower (wie not. 4). - 12 Wittkower (wie not. 4) 160sq.; Jacoby, F.: Ktesias. In: Pauly/Wissowa 22 (1922) 2 0 3 2 - 2 0 7 3 , bes. 2 0 3 7 - 2 0 3 9 . - 13 Wittkower (wie not. 4) 1 6 1 164 (dort auch zu den möglichen ind. Qu.η des Megasthenes). - 14 Pfister (wie not. 4) 1 3 2 - 1 3 5 . 15 cf. Pauly/Wissowa 39 (1941) 1 3 6 - 1 7 4 , bes. 1 3 9 - 1 5 4 . - 16 Der Alexanderroman. Mit einer Ausw. aus den verwandten Texten. Übers. F. Pfister. Meisenheim (Glan) 1978; Merkelbach, R.: Die Qu.n des griech. Alexanderromans. Mü. 1954 (2. neubearb. Aufl. unter Mitwirkung von J. Trumpf. Mü. 1977); Pfister, F.: Kl. Sehr, zum A l e x a n d e r r o m a n . Meisenheim (Glan) 1976. 17 Berger de Xivrey, J.: Traditions teratologiques ou recits de l'Antiquite et du moyen äge en Occident sur quelques points de la fable, du merveilleux et de l'histoire naturelle [. . .]. P. 1836, X X X V I I - X L I V (Prolegomena) und 3 3 1 - 3 7 6 (Text); Kübler, B. (ed.): Julius Valerius, Res gestae Alexandri Macedonis. Lpz. 1888, 190—221 (Epistola Alexandri ad Aristotelem); Rypins, S.: T h r e e Old English Prose Texts in MS Cotton Vitellius A X V . L. 1924, 7 9 - 1 0 0 . - 1 6 E M 1, 285; Pfister (wie not. 4) 137; cf. auch B r u m m a c k , J.: Die Darstellung des Orients in den dt. Alexandergeschichten des MA.s. Β. 1966, 1 1 5 - 1 4 8 . - 19 Wittkower (wie not. 4) 165sq. 20 ibid., 167 sq. (Paraphrase des Augustin-Textes). 21 Berger de Xivrey (wie not. 17) X X X I I (Prolegomena) und 1 - 3 3 0 (Text und A n m e r k u n g e n ) ; Faral, E.: La Q u e u e de poisson des sirenes. In: R o m a n i a 74 (1953) 4 3 3 - 5 0 6 , bes. 4 4 1 - 4 7 0 . Z u r Lettre ä Adrien cf. Faral, E.: U n e Source latine de l'Histoire d'Alexandre: La Lettre sur les merveilles de l'Inde. In: R o m a n i a 43 (1914) 1 9 9 - 2 1 5 , 3 5 3 - 3 7 0 . 22 Krappe, F.: D a s ags. Prosastück Die W u n d e r des Ostens. Überlieferung, Qu.n, Sprache und Text nach beiden Hss. (Diss. Greifswald 1906) B. 1906. Gemeint sind die Mss. Cotton Vitellius A X V (frühes 11. Jh.) und Cotton Tiberius Β V (11./12. Jh.); abgedr. sind der ags. und der lat. Text. 23 Rypins (wie not. 17) X L V . D e r ags. Text (nach Cotton Vitellius A XV) findet sich bei Rypins 5 1 - 6 7 , der lat. 1 0 1 - 1 0 7 . - 2 4 Lit. bei Wittkower (wie not. 4) 1 6 9 - 1 7 1 ; Pfister (wie not. 4) 1 4 0 142; cf. auch Cazenave, Α.: Monstres et merveilles. In: Ethnologie frangaise 9,3 (1979) 2 3 5 - 2 5 6 . 25 Hilka, Α.: Liber de monstruosis hominibus orientis aus T h o m a s von Cantimpre: De natura rerum. Erstausg. aus der Bilder-Hs. der Breslauer Stadtbibl. In: Festschr. zur Jh.feier der Univ. Breslau [. . .] überreicht vom Schles. Philologenverein. Breslau 1911, 1 5 1 - 1 6 5 . - 2 6 cf. Ferckel, C.: Die
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Fabelwesen
Gynäkologie des Thomas von Brabant. Mü. 1912. - 27 Hilka, Α.: Eine altfrz. moralisierende Bearb. des Liber de monstruosis hominibus orientis aus Thomas von Cantimpre, De naturis rerum nach der einzigen Hs. (Paris, Bibl. Nat. fr. 15 106) herausgegeben. B. 1933 (= Abhdlgen der Ges. der Wiss.en zu Göttingen, philolog.-hist. KI. 3, 7); cf. Baltrusaitis (wie not. 3) 259-264. - 28 Ibach, H.: Leben und Sehr, des Konrad von Megenberg. (Diss. Lpz. 1938) Würzburg 1938, 5 8 - 8 1 ; cf. Lecouteux, C.: Das bauchlose Ungeheuer. Des Strickers Daniel vom blühenden Tal, 1879ff. In: Euphorion 71 (1977) 272-276. - 29 Gould, C.: Mythical Monsters. L. 1886; von Blankenburg, W.: Hll. und dämonische Tiere. Lpz. 1943; Baltrusaitis (wie not. 3); Lehner, E. und J.: A Fantastic Bestiary. Beasts and Monsters in Myth and Folklore. N.Y. 1969; Kappler, C.: Monstres, demons et merveilles ä la fin du moyen-äge. P. 1980. - 30 Mode, H.: Fabeltiere und Dämonen. Die phantastische Welt der Mischwesen. Lpz. 2 1972 (Bibliogr. 2 6 7 - 2 7 9 , mit Lücken und Ungenauigkeiten); Zajadacz-Hastenrath (wie not. 2). 31 Gesta Romanorum, cap. 175 (De diversitate et mirabilibus mundi). — 32 Lecouteux, C.: Herzog Ernst, les monstres dits „sciapodes" et le probleme des sources. In: Etudes Germaniques 34 (1979) 1—21. Zu den älteren Ausg.n des Volksbuchs cf. Geck, E.: Buchkundlicher Exkurs zu Herzog Ernst, St. Brandans Seefahrt, Hans Schiltbergers Reisebuch. Wiesbaden 19 69. - 33 Hamelius, P. (ed.): Mandeville's Travels. L. 1919-1923; cf. Bovenschen, Α.: Johann von Mandeville und die Qu.n seiner Reisebeschreibung. In: Zs. der Ges. für Erdkunde in Berlin 23 (1888) 177-306. - 34 von Breydenbach, B.: Die Reise ins Heilige Land. ed. E. Geck. Wiesbaden 1961, 34sq. - 35 Wittkower (wie not. 4) 182-185. — 36 M. Elucidarius von allerhand Geschöpfen Gottes [. . .]. Basel 1579, fol. D3v°Elr° (Hundsköpfige, Einäugige, Zwitter; Mund-, Nasen-, Sprachlose; Menschen mit Riesenohren, Hörnern, Pferdefüßen; Schattenfüßler, Sechshänder, Vieräuger; Leute im Kampf mit Kranichen). - 37 Wittkower (wie not. 4) 185-188; Schenda, R.: Die frz. Prodigienlit. in der 2. Hälfte des 16. Jh.s. Mü. 1961; Ceard, J.: La Nature et les prodiges. Geneve 1977. — 38 Donahue, C.: Grendel and the Clana Cain. In: The J. of Celtic Studies 1 (1949/50) 167-175 (über Kains monströse Nachkommenschaft); cf. Carney, J.: Studies in Irish Literature and History. Dublin 1955, bes. 1 0 2 114. - 39 Loomis, C. G.: White Magic. An Introduction to the Folklore of Christian Legend. Cambr., Mass. 1948, 64sq. — 40 Ameisenowa, Z.: Animal-headed Gods, Evangelists, Saints and Righteous Men. In: J. of the Warburg and Courtauld Institutes 12 (1949) 2 1 - 4 5 ; Kretzenbacher, L.: Kynokephale Dämonen südosteurop. Volksdichtung. Mü. 1968; id.: Hagios Christophoros Kynokephalos. Der Hl. mit dem Hundskopf. In: SAVk. 71 (1975) 4 8 - 5 8 . -
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41 Faral (wie not. 21); Benwell, G./Waugh, Α.: Töchter des Meeres. Von Nixen, Nereiden, Sirenen und Tritonen. Hbg 1962; Holbek, Β./ Pie, J.: Fabeldyr og sagnfolk. Kop. 1967, 5 5 - 9 9 (Havfolk og Molk), 4 3 3 - 4 4 0 (Ksmpefisken); Heinisch, K. J.: Der Wassermensch. Entwicklungsgeschichte eines Sagenmotivs. Stg. 1981. — 42 Lecouteux, C.: Melusine et le Chevalier au Cygne. P. 1982. - 43 Roeck, Α.: Der Werwolf als dämonisches Wesen im Zusammenhang mit den Plagegeistern. In: Probleme der Sagenforschung, ed. L. Röhrich. Fbg 1973, 139-148; cf. auch Erikson, K./Lövkrona, I./Peterson, P.: „Varulven finns, gör den inte?" En Studie i ryktesspridning. In: Tradisjon 3 (1973) 1 3 - 3 0 . — 44 Seguin, Elise J. P.: Exposition sur la Bete du Gevaudan du 18 juillet au 1 er septembre 1958. Mairie de Marvejols. Catalogue sommaire (als Ms. gedr., 107 num.); cf. Ragache, C.-C. und G.: Les Loups en France. Legendes et realite. P. 1981. — 45 Am bekanntesten ist die Seeschlange von Loch Ness; cf. Holbek/Pie (wie not. 41) 4 2 8 432, auch 449; Kappler (wie not. 29) 148. 46 Guggino, E.: La magia in Sicilia. Palermo 1978, 30. - 47 HDA 1, 1002; cf. Borges, J. L./Guerrero, M.: Einhorn, Sphinx und Salamander. Mü. 1964, 36 sq. - 48 Delarue, 101-108; Fabre, D./Lacroix, J.: La Tradition orale du conte occitan 1. P. 1974, 313—329; Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine 1. Grenoble 1971, 8 1 - 8 4 ; Bouvier, J.-C.: La Memoire partagee. Grenoble 1980, 168 — 170. 49 Liungman, Volksmärchen, 100sq.; Holbek/Pie (wie not. 41) 4 0 7 - 4 0 9 . - s o Howey, M. O.: The Horse in Magic and Myth. L. 1923; Peeters, K. C.: Het vlaamse volksleven. Hasselt 1962, 121 sq; cf. auch EM 1, 777. 51 Coelho, F. Α.: Tradi^öes relativas as sereias e mithos similares. In: Archivio per lo studio delle tradizioni popolari 4 (1885) 3 2 5 - 3 6 0 (port., span., bask., frz., engl., ital., ir., südamerik.); Simiani, C.: La sirena del mare. ibid. 8 (1889) 4 8 4 - 4 8 8 (Trapani, Sizilien); Gella Iturriaga, J.: La sirena en la literature oral espafiola. In: Festschr. Carmelina Naselli 1. Catania 1968, 117-128. - 52 Bes. häufig in Ozawa, T.: Jap. Märchen. Ffm. 1974, pass. — "Kappler (wie not. 29) 147-157. - 54 Zum Thema Tiermensch in der modernen Lit. cf. Carlsson, Α.: Teufel, Tod und Tiermensch. Kronberg 1978, 33 - 51. - 55 Blount, Μ.: Animal Land. The Creatures of Children's Fiction. L. 1974 (cf. vor allem die cap. Mythical Beasts and Magic, 9 5 - 1 1 5 und Dragons, 116-130). — 56 z.B. Nöstlinger, C./Maurer, W.: Der schwarze Mann und der große Hund. Weinheim/Basel 1973; Lastrego, C./ Testa, F.: Julia im Drachenwald. Zürich 1980; Schmögner, W.: Das Drachenbuch. Ffm. 1969; id.: Das neue Drachenbuch. Ffm. 1981; Sendak, M.: Wo die wilden Kerle wohnen. Zürich 1967; Ungerer, T.: Das Biest des Monsieur Racine. Zürich 1972; Velthuis, M.: Das gutherzige Ungeheuer. Ravensburg 1973. — 57 Brembs, D.: Brembs' Tierleben. 427 und einige mehr unmögliche Tiere [. . .]. Weinheim/Basel
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Fabliau
1974; Loosli, Α.: Zoologische Findlinge. Ein Tierbuch mit sieben Kurzgeschichten von F. Hohler. Bern 197 8. - 5 8 Buehr, W.: Sea Monsters. N.Y. 1966 (1970); Hopf, A. und Α.: F. Mü. 1980; Schildkamp, T.: Das große Buch der Wunderwesen. Oldenburg/Hbg/Mü. 1981. - 59 Zum kulturwiss. Problem der Fremdheit cf. Gyr, U.: Die Fremdthematik im Werk von C.-F. Ramuz. Zur Bedeutsamkeit interkulturell-reflektierter Ethnozentrik in der Lit. Bern 1978, bes. 2 4 - 8 1 . - 6 0 Greverus, I.-M.: Der territoriale Mensch. Ein lit.anthropol. Versuch zum Heimatphänomen. Ffm. 1972. — 61 Zur Thematik der Verkehrten Welt cf. Tristan, F./Lever, M.: Le Monde ä l'envers. P. 1980, bes. 52sq. (Refus et revolution). - 6 2 Zu Anpassung und Widerstand in der Pädagogik cf. Mollenhauer, K.: Anpassung. In: Zs. für Pädagogik 7 (1961) 3 4 7 362. - 63 Hunscha, C.: Struwwelpeter und Krümelmonster. Ffm. 1974, 8 7 - 9 7 .
Zürich
Rudolf Schenda
Fabliau 1. B e g r i f f , allg. B e s c h r e i b u n g . Das F. (altfrz. fablel = fable + Diminutivsuffix -el) gehört in den Rahmen der frz. Kurzerzählung des MA.s und ist gegenüber den anderen Gattungen innerhalb dieser Dichtungsform nicht scharf abzugrenzen. Die Hss. selbst verwenden Bezeichnungen wie fablel, lai, aventure, roman, dit, essemple, proverbe, fable, rime, merveille u. a. teilweise unterschiedslos. Eine Definition kann daher nur recht allg. Art sein und muß die Möglichkeit zahlreicher Ubergangsfälle einschließen, für die eine Entscheidung, ob es sich um ein F. handelt oder nicht, ebenso schwierig wie sinnlos wäre. Dies vorausgeschickt, kann man das F. als eine kurze Erzählung (durchschnittlich ca 300 Verse) in paarweise gereimten Achtsilblern bestimmen, die das unprätentiöse Ziel hat, angenehm zu unterhalten. Dies geschieht meist auf lustige Weise: Die F.x umfassen „vom zarten, humoristischen, weltklugen Lächeln bis zur dreckigen Lachsalve klobiger Schweinspelze alle Modulationen der Heiterkeit [. . .]. Diese meist tolldreisten Geschichten von betrogenen Ehemännern und tückischen Frauen, von gefoppten Kaufleuten und geilen Priestern, von frechen Rittern und dummen Bauern, von einfältigen Gelehrten und verschlagenen Dirnen, von schwärmerischen Pagen und energischen Mädchen, von Freveltaten, Diebesstreichen, Schändungen, 25'
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Betrügereien und Narrenpossen spielen alle auf der Bühne des Alltags [. . .]" (Olschki 1932, 131).
Sehr oft geht mit der Erheiterung die Belehrung einher, die am Anfang oder am Ende als ,Moral' oder Sentenz gegeben wird; auch satirische oder parodistische Elemente können vertreten sein. Entsprechend dem Inhalt ist der Satzbau kürzer und einfacher als in den höheren Gattungen, der Stil überhaupt weniger anspruchsvoll, aber anschaulich und lebendig, bes. in den Dialogen. Doch gibt es auch hier erhebliche Unterschiede von F. zu F., und die Wortwahl bewegt sich von dezenter Andeutung bis zu derber und obszöner Ausdrucksweise, wobei freilich die letztere überwiegt. Die Zahl der überlieferten F.x ist wegen der Schwierigkeiten der Definition nicht genau anzugeben: Man kann zwar von denjenigen Texten ausgehen, die in den Hss. F. genannt werden (Jodogne 1975), doch wird der Terminus hier in einigen Fällen irrtümlich verwendet (Kiesow 1976), während umgekehrt zahlreiche andere Texte hinzuzuzählen sind. Insgesamt kommt man auf ca 150 F.x. Sie sind zwischen dem Ende des 12. und der Mitte des 14. Jh.s entstanden und stammen meist aus Nordfrankreich, bes. aus der Picardie (picard. ist auch die in den Texten meist begegnende Pluralform fabliaus, die als f a bliaux', zusammen mit der analogischen Singularform .Fabliau', in der wiss. Lit. vorzugsweise gebraucht wird). An Verf.n der ansonsten meist anonymen F.x sind Jean Bodel, Rutebeuf, Gautier le Leu zu nennen. Erhalten sind die F.x, untermischt mit Dichtungen anderer Gattungen, in großen Sammelhandschriften. 2. D i e ä l t e r e F o r s c h u n g bis zum End e d e s 19. Jh.s. Ein konkretes Bild der F.x auf Grund eigener Anschauung entwarf zuerst der Comte de Caylus 1753; eine ausführliche Darstellung lieferte V. Le Clerc 1856. Die Forschung der Folgezeit konzentrierte ihr Interesse auf die Herkunft der Stoffe und entwickelte dabei die —»Ind. Theorie, nach der nahezu alle europ. Erzählungen und Märchen, also auch die F.stoffe, auf ind. Ursprung zurückgehen (T. —> Benfey, R. —> Köhler, G. —»Paris).
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3. D i e . k l a s s i s c h e n ' A r b e i t e n J. —» B e d i e r s und P. N y k r o g s . Es ist das bleibende Verdienst des Buches von Bedier (1893), die F.forschung dem Bann des Historismus entzogen zu haben, indem er die F.x als Kunstwerke betrachten und aus dem frz. 13. Jh. heraus erklären, die Frage nach den Ursprungsländern der Stoffe hingegen als unbeantwortbar und sinnlos erweisen wollte (mit dieser gänzlich ablehnenden Haltung tat er freilich der Erzählforschung Unrecht; cf. —• Agnostische Theorie). Ergebnis seiner ,synchronischen' Untersuchungen war, daß er die F.x mit dem Erstarken des Bürgertums in Verbindung brachte: Sie seien, zusammen mit dem Roman de la Rose und dem —> Roman de Renart, die realistische Poesie der kleinen Leute, der Bürger und Bauern, im Gegensatz zur idealistischen Lit. der ritterlichen Welt, der ,Poesie der Schlösser'. Mit dem ,synchronischen' Ansatz Bediers prinzipiell einig, interpretierte Nykrog (1957) in fast diametralem Gegensatz zu ihm das F. als (oft parodistisches),genre courtois burlesque', das in das höfische Milieu gehöre, wobei der Unterschied zur .ernsthaften' höfischen Lit. nicht sozialer und grundsätzlicher Art, sondern eben gattungsbedingt sei: hier hoher, dort niederer Stil. 4. E r g e b n i s s e d e r m o d e r n e n Fors c h u n g n a c h B e d i e r bzw. N y k r o g . Die moderne Forschung ist weitgehend als Auseinandersetzung mit Bedier und Nykrog zu charakterisieren, im Sinn einer Milderung und Differenzierung ihrer jeweils recht einseitigen Thesen. 4.1. V e r f a s s e r u n d Ü b e r l i e f e r u n g . Die Verf. der F.x gehörten nicht einer einzelnen, sondern ganz verschiedenen Gesellschaftsschichten an. Dementsprechend zeigt auch die Betrachtung des Spielmannsstandes bedeutende soziale und bildungsmäßige Abstufungen, vom einfachen, bei Volksbelustigungen auftretenden jongleur bis zum gebildeten, am Hof eines hohen Herrn eine angesehene Stellung bekleidenden menestrel (Faral 1910, Menendez Pidal 1957). Die verschiedenen Fassungen einzelner F.x spiegeln diese Situation: Es gibt Texte, die, von einer höfischen Version ausgehend, sich in ihren
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schriftlich oder mündlich tradierten remaniements immer mehr von höfischem Milieu und Stil entfernen (Rychner 1960). Doch muß Überlieferung nicht Degradation oder Korruption bedeuten, sondern ,bessere' und schlechtere', feinere und derbere, kreative und stümperhafte Fassungen können sich auf vielfältige Weise überkreuzen (Eichmann 1976). 4.2. P u b l i k u m . Noch gemischter als die Verf. hat man sich das Publikum der F.x vorzustellen; eine Beschränkung auf die bürgerliche Sphäre ist ebensowenig angängig wie auf die aristokratische (Olschki 1932, Tiemann 1960, Värvaro 1960, Muscatine 1976). Vor allem aber sind gesellschaftliches Milieu und literar. Stil ganz verschiedene Dinge, zwischen denen man keine einfache Korrelation herstellen kann (Togeby 1957, Guiette 1978, Kiesow 1976). 4.3. Stil, I n h a l t , S t r u k t u r . Auch ausschließlich auf den literar. Stil bezogen ist Nykrogs Charakterisierung des F. als ,genre courtois burlesque' zu einseitig, weil sie der Breite und Vielfalt der Gattung nicht gerecht wird, zumal es ja die — recht verschiedene — Gattung des burlesken —» Lai gibt. Andererseits kann man die F.x durchaus als Quelle des gesellschaftlichen, familiären, beruflichen Lebens der Zeit benutzen (Kasprzyk 1976, Roth 1978, Lorcin 1980), wenn man die starke Typisierung und bes. den Primat der komischen Wirkung berücksichtigt. Daß die Komik im F. eine entscheidende Rolle spielt, liegt auf der Hand, doch macht ihre genauere Bestimmung große Schwierigkeiten (Cooke/ Honeycutt 1974): die Problematik, ob und wann Parodie vorliegt (Lee 1976, Chenerie 1976); die Indienstnahme der ,Obszönität' (und ihre Ästhetisierung) durch die Komik (Beyer 1969, Stempel 1968); die Möglichkeit einer Relativierung oder gar Aufhebung der ,Moral' durch die Komik (Beyer 1969); die ,komische Klimax' als Strukturprinzip des F. (Cooke 1978). Auch hat es Versuche der Ermittlung einer inhaltlichen Grundstruktur des F. gegeben. F. Lecoy (1973) erstellt ein (exemplarisches) Schema eines F. auf Grund typol.-vergleichender Untersuchung verschiedener Versio-
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nen. Ο. Jodogne (1975) inventarisiert die F.x nach ihrem Hauptmotiv. Μ. J. Schenck (1976) findet nach der Methode V. Ja. —» Propps im F. eine narrative Grundstruktur (Morphologie), bestehend aus zehn Bausegmenten (Funktionen) in einer bestimmten Reihenfolge (Sequenz), allerdings mit zahlreichen Variationen. R. J. Pearcy (1976) möchte die Handlung der F.x auf einige wenige Typen von Kommunikationssituationen (mit Sender und Empfänger) zurückführen und zeigen, daß hier aus logischen Beziehungen komische Effekte erzielt werden. 4.4. U r s p r ü n g e . Als literar. Ausgangspunkt für das F. kommt eine ganze Reihe von Gattungen in Frage: die mlat. comoedia (Faral 1924), der burleske Lai, die großen Rahmenerzählungen, der Kloster- bzw. Schulschwank und das Exemplum (Tiemann 1960) sowie die Fabel (Nykrog 1957, Rychner 1960). Nur wenn man diese und andere Texte, wie das —> Novellino, samt und sonders als F.x klassifiziert, wird die Frage nach den Ursprüngen sinnlos (Dronke 1973), nicht dagegen, wenn man im F. eine auch durch die Form bestimmte literar. Gattung sieht (Beyer 1969, Bergerfurth 1979). 5. E n g l a n d u n d D e u t s c h l a n d . F.x gibt es — in viel geringerer Zahl — auch im Mittelenglischen, zunächst als Übersetzungen, dann als Adaptationen, schließlich mit immer mehr eigenständigen Zügen, wie bes. einige Geschichten der Canterbury Tales —* Chaucers. In der mhd. Lit. entspricht dem F. das schwankhafte —»Märe. 6. D i e F . s t o f f e sind häufig internat. weit verbreitet, wie folgende Auswahl erkennen läßt: Le Lai d'Aristote: —> Aristoteles und Phyllis (AaTh 1501). — Auberee, la vielle maquerelle: —> Kupplerin. — Les trois Aveugles de Compiegne: Die getäuschten —> Blinden (AaTh 1577). - Les trois Bogus: Die drei —> Buckligen (AaTh 1536B). — Le Chevalier qui fist les cons parier: Les —> Bijoux indiscrets (AaTh 1391). - La Dame excoillee: —> Zähmung der Widerspenstigen (AaTh 901). — La Dame qui fist batre son mari (La Borgoise d'Orliens): —> Frauenlist. — Les trois Dames qui troverent l'anel: —> Wette der Frauen, wer den Mann am besten narrt (AaTh 1406). — L'Enfant qui fu remis
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au soleil: Schneekind (AaTh 1362). - Gombert et les deus clers: Die Erzählung von der —* Wiege (AaTh 1363). - Les Perdriz: -> Priesters Gäste (AaTh 1741). — Le ΡΙιςοη: Der einäugige —> Ehemann (AaTh 1419C). — Le Prestre qui abevete: Der verzauberte —> Birnbaum (AaTh 1423). - Le Testament de l'asne: —> Testament des Hundes (AaTh 1842). — Les Tresces: —» Bock im Schrank (AaTh 1419B). - Le Vilain mire: ->Scharlatan (AaTh 1641A). Ausg.η: de Montaiglon, A./Raynaud, G. (edd.): Recueil general et complet des f.x des XIII e et XIVC siecles 1 - 6 . P. 1872-90 (Nachdr. N.Y. [1963]). Johnston, R. C./Owen, D. D. R. (edd.): F.x. Ox. 1957. - Reid, Τ. B. W. (ed.): Twelve F.x. Manchester 21968. - Levy, Β. J./Pickford, C. Ε. (edd.): Selected F.x. Hull 1976. - Menard, P. (ed.): F.x fran^ais du moyen äge 1. Geneve 1979 (2 in Vorbereitung). — Noomen, W./Geschiere, L./van den Boogaard, N. (edd.): Nouveau Recueil complet des f.x. Amst. (in Vorbereitung; v. Neophil. 61 [1977] 333-346). Bibliogr. der Ausg.n e i n z e l n e r F.x: Diekmann, Ε.: Die Substantivbildung mit Suffixen in den F.x. Tübingen 1969, 3—33. Faks.-Ausg. der w i c h t i g s t e n Sammelhs.: Gmont, H. (ed.): F.x, dits et contes en vers frangais du XIII e siecle. P. 1932. Frz. V e r s ü b e r s . e n : F.x et contes. Übers. R. Guiette. P. 1960. Frz. P r o s a ü b e r s . e n : Contes pour rire. F.x des XIII e et XIVe siecles. Übers. N. Scott. P. 1977. F.x. Übers. G. Rouger. P. 1978. Dt. P r o s a ü b e r s . e n : Bahner, W. (ed.): Frz. Geschichten aus MA. und Renaissance. Mü. [1962]. — Widmer, W. (ed.): Ein frz. Hexameron. Köln 1964. N e u e r e B i b l i o g r . : Christmann, Η. H. (ed.): Zwei altfrz. Fablels. Tübingen 21974, 9 - 1 3 . Lit.: Caylus, Comte de: Memoire sur les F.x. In: Memoires de litterature de l'Academie royale des inscriptions et belles-lettres 20 (1753, 2 1934) 352-376. - Le Clerc, V.: F.x. In: id.: Histoire litteraire de la France 23. P. 1856, 69-215. - Benfey 1—2. — Bedier. — Köhler, R.: Über die europ. Volksmärchen. In: id.: Aufsätze über Märchen und Volkslieder. B. 1894, 13-35. - Canby, H. S.: The English F. In: PMLA 21 (1906) 200-214. - Paris, G.: Les Contes orientaux dans la litterature fran^aise du moyen äge. In: id.: La Poesie du moyen äge 2. P. 3 1906, 75-108. - Faral, E.: Les Jongleurs en France au moyen äge. P. 1910 (Nachdr. 1964). — id.: Le F. latin au moyen äge. In: Rom. 50 (1924) 321—385. — Olschki, L.: Die rom. Lit.en des
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H a n s H e l m u t Christmann
Fabulat, eine Begriffsschöpfung C. W. von —» Sydows 1 , konzipiert als G e g e n - und K o m plementärbegriff zu —> M e m o r a t . I m F. b e r u f t sich d e r Erzähler nicht auf persönliche E r fahrungen, Erlebnisse, B e o b a c h t u n g e n . F.e sind auf der G r u n d l a g e der Vorstellungen des Volksglaubens „von der Fabulierkunst des Volkes g e f o r m t " 2 . V o n Sydow geht bei der Bezeichnung von lat. f a b u l a r e (bzw. fabulari), r e d e n , plaudern, sich unterhalten, aus, orientiert sich aber auch an der V e r w a n d t s c h a f t mit d e r —» Fabel. Viele Tiergeschichten mit F.charakter zeichnen die Tiere weithin realistisch; es fehlt ihnen aber das analogische M o m e n t der Fabel 3 . Von Sydow unterschied m e h r e r e Subtypen des F.s, vor allem G l a u bens-, Scherz-, P e r s o n e n - und Aitionfabulat (—> Ätiologie). D e r Begriff F. wird — e b e n s o wie die U n t e r begriffe — gelegentlich verwendet, hat sich aber als Klassifikationsinstrument nicht durchgesetzt. D a f ü r gibt es G r ü n d e : D a s W o r t erinnert einerseits an Fabulierlust im Sinne u n g e b u n d e n e r Phantasie, bezieht sich aber andererseits auch auf „Wahrheits-Berichte in d e r mythischen [. . .] W e l t " 4 . D e r Begriff u m f a ß t bei von Sydow eine weite Skala von d e r Bezeugung traditioneller G l a u b e n s v o r stellungen bis zu der ( d e m M ä r c h e n n ä h e r s t e h e n d e n ) Unterhaltungssage, wobei die U n sicherheit in d e r V e r w e n d u n g des Begriffs F. noch dadurch e r h ö h t wird, d a ß ein und dieselbe Geschichte j e nach der H a l t u n g von Erzähler und H ö r e r n an sehr verschiedenen Stellen der Skala angesiedelt werden kann. Versuche zur Präzisierung des Begriffs f ü h r e n in drei Richtungen: (1) G. Granberg will ihn begrenzt wissen auf eine kleine Gruppe von Geschichten, die individueller Fabulierfreude entstammen, die nicht den Erinnerungscharakter der Memorate haben und sich nicht an gemeinsamen Traditionen orientieren 5 . (2) F. wird als Stufe im Prozeß der Sagenbildung betrachtet. So sieht L. Röhrich eine Entwicklung vom Erlebnisbericht über das Glau-
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Facetie — Faden
bensfabulat zum F.: „Während der Glaube an die eine Sagengestalt noch lebendig ist, ist der an eine andere schon in den Bereich des Fabulats übergegangen". Als Beispiele für „solche nicht mehr geglaubten Fabulatsagen" stellt Röhrich „Zwergenund Riesensagen" heraus 6 . (3) Faßt man Glaubensfabulat und F. zusammen, so deckt man einen großen Bereich der Sage ab. Konsequenterweise wurde F. daher auch als — internat. akzeptables — Synonym für —> Sage vorgeschlagen: „Ein F. ist eine von der Volksphantasie erschaffene, überlieferte Schilderung, die ein fixiertes motivisches Muster aufweist. Der Inhalt gehört, oder hat zum Volksglauben gehört, oder hat sonst irgendwelche Anknüpfung an die Wirklichkeit, und wird gewöhnlich berichtet, um als Beweis für eine traditionelle Glaubensvorstellung zu dienen" 7 . In dieser Auffassung wird das doppelte Sein der Sage zwischen Erlebnis und Dichtung hervorgehoben 8 . Sie steht von Sydows sehr weitem Konzept durchaus nahe.
Ob sich der Begriff F. als Ersatz für Sage durchzusetzen vermag, bleibt abzuwarten. Entgegen stehen dem nicht nur die dichten Traditionen anderer Bezeichnungen wie Sage, legend etc., sondern auch die spezifischeren, engeren Auffassungen von F. 1 Sydow, C. W. von: Kategorien der Prosa-Volksdichtung. In: Volkskundliche Gaben. Festschr. John Meier. B./Lpz. 1934, 2 5 3 - 2 6 8 , cf. 2 6 1 263. - 2 ibid., 261. - 3 von Sydow, 1 3 8 - 1 4 1 . — 4 Peuckert, W.-E.: Dt. Volkstum in Märchen und Sage, Schwank und Rätsel. B. 1938, 139. 5 Granberg, G.: Memorat und Sage. In: Saga och sed (1935) 1 2 0 - 1 2 7 . - 6 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 11. - 7 Tillhagen, C.-H.: Was ist eine Sage? Eine Definition und ein Vorschlag für ein europ. Sagensystem. In: Acta Ethnographica 13 (1964) 9 - 1 7 (Nachdr. in: Vergleichende Sagenforschung. ed. L. Petzoldt. Darmstadt 1969, 3 0 7 318, hier 309). - 8 c f . Peuckert (wie not. 4) 115.
Tübingen
Hermann Bausinger
Facetie —» Fazetie Faden. Die m a g i s c h - k u l t i s c h e F u n k tion des F.s 1 wird bereits im A.T. deutlich bei der Kennzeichnung des Erstgeborenen bei Zwillingen (Gen. 38,28, 30) und im alten Rechtsgebrauch: Der Gefangene wurde durch Binden mit einem F. gebannt, ebenso gebannte Grundstücke durch einen darum gezogenen Seidenfaden gehegt 2 . Das
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Gedinge wurde durch die Darstellung von mit einem F. umbundenen Ähren symbolisch dargestellt. Vorchristi, und christl. Kultstätten, heute noch als umgürtete Kirchen in vielen Kulturen nachweisbare F.- und Kettenkirchen, setzen diese Überlieferung fort 3 . Der an frühe Rechtsbräuche erinnernde, an einen F. gereihte, über den Baum geworfene Knochen erscheint in KHM 3, AaTh 710: - » Marienkind". Eine magische Verbindung entsteht, wenn ein F. geknüpft wird 5 .
Die Vorstellung, daß das L e b e n an e i n e m F. hängt, dessen Riß den Tod bedeutet, ist schon im A.T. belegt (Jos. 38,12; ferner Hi. 4,21; 7,6; —» Leben am seidenen F.). Dasselbe Motiv findet sich im Volkslied Es ist kein schöneres Leben6. Der gesponnene F. der Moiren (—» Schicksalsfrauen) entspricht der Länge des menschlichen Lebens. Die älteste der Moiren schneidet mit ihrer Schere den F. ab und spricht dadurch dem Menschen seine Lebensjahre zu 7 . Als Götterstrafe zum Anzeigen des Lebensendes dient der brechende F. 8 . Das Abwickeln eines Garnknäuels führt zur Erlösung (Aufhebung eines Bannes) 9 , deshalb darf der abzuwickelnde F. von einem Knäuel nicht reißen (cf. AaTh 311, 312: -> Mädchenmörder, AaTh 710) 10 . Im Zusammenhang mit der Damoklessage (Mot. F 833.2) ist das Motiv von dem am F. hängenden Schwert oder Mühlstein in verschiedenen Kulturen bekannt (Mot. F 451. 5.4.2) 11 . Es gibt auch die Vorstellung einer ganzen Stadt, Erdkugel, eines Schlosses an einem F. und von Rom und/oder einer anderen Stadt, die von der Hand Gottes an einem F. gehalten wird (Mot. Χ 1561) 12 . Die aus der Ariadnesage (—» Ariadne-F.) bekannte O r i e n t i e r u n g s h i l f e durch einen abrollenden F. und dessen Funktion als Wegweiser (Mot. D 1313.1.1) ist vielfach nachweisbar 13 . In lockerem Zusammenhang damit steht wohl auch die möglicherweise in Indien beheimatete, ζ. B. auf den einfallsreichen —» Dädalus übertragene Fertigkeit, die schwierige —»Aufgabe zu lösen, einen F. durch ein Schneckenhaus zu ziehen (mit Hilfe einer —» Ameise; Mot. Η 506.4) 1 4 . Ameisen sind es auch, die einem Gefangenen Silberfäden zuführen, mit deren Hilfe er ausbrechen kann, indem er sich am daraus gewirkten Seil herabläßt (Mot. R 121.4). Der verurteilte Zauberer zieht sich an einem F. empor 1 5 , ebenso die auf dem Scheiterhaufen stehende Hexe 1 6 . Ähnliche Motive finden sich in ital. Texten 1 7 ; im arab. Märchen
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Faden
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führt der F. den Ersehnten dem erwartungsvollen Mädchen zu 18 .
(Mot. Η 38.2.1; K H M 20, AaTh 1640: Schneiderlein)33.
D i e u n l ö s b a r e A u f g a b e , ein Tuch aus nur zwei F ä d e n zu w e b e n ( M o t . Η 1 0 2 2 . 1 ) wird in K H M 9 4 , A a T h 8 7 5 : Die kluge Bauerntochter gestellt 1 9 , e b e n s o die des A u f haspelns e i n e s Spinnennetzes, d e s s e n F. zu e i n e m Knäuel gewickelt w e r d e n m u ß 2 0 . In e i n e m siebenbürg. M ä r c h e n m u ß die A u f g a b e gelöst w e r d e n , e i n e Wildsau mit e i n e m F. zu f a n g e n (Relikt der magischen B i n d u n g ? ) 2 1 .
E i n e Ä t i o l o g i e berichtet, daß die Spinne ihren F. v o n G o t t geschenkt erhalten h a b e 3 4 . In e i n e m Schweiz. S c h w a n k w e r d e n naive L e u t e v o n Mißgünstigen dazu angehalten, e i n e n F. u m die n e u e G l o c k e im Kirchturm zu spannen; der G l o c k e n t o n würde dadurch heller. Z u m Schaden der R e i n g e f a l l e n e n zeigt die G l o c k e aber an der Stelle e i n e n Riß, wodurch sie nicht mehr klingt 3 5 .
Ein vom Goldknäuel abgewickelter F. läßt eine Brücke entstehen 2 2 . Durch Sinnestäuschung erscheint ein F. als schwerer Baumstamm, der von einem Gockel herumgetragen wird (Mot. D 2031. 2) 2 3 . Die Verwandlung durch das Umbinden mit einem F. ist vor allem aus ind. Qu.η bekannt 2 4 . Auf ein ind. Märchen, das stofflich den —> Salomonischen Urteilen nahesteht, geht auch das von —> Etienne de Bourbon in seinen Exempeln verbreitete Märlein vom Streit zweier Frauen um den Besitz eines Garnknäuels zurück: Diejenige, die weiß, was sich im Kern des Knäuels befindet, ist die wahre Besitzerin (Mot. J 1179.6) 2 5 . Der als Entrückungsinstrument dienende Schicksalsfaden und ein graues Wollknäuel sind Werkzeuge der Trolle im norw. Märchen 2 6 . Aus Indien stammt eine Zaubergeschichte, in der Fäden sich in dienstbare Geister verwandeln 2 7 . Nach einer Sage der Reformationszeit wird eine Besessene, die Fäden in Geld verwandelt und gegessen hatte, durch die Fürbitte der christl. Gemeinde befreit 2 8 . In einer Dominikus-Legende umwindet ein Dahinsiechender seine erkrankten Körperteile mit Fäden, wodurch er gesundet 2 9 . E i n blutiger F. als —* E r k e n n u n g s z e i c h e n für L ü g e und V e r l e u m d u n g erscheint den verleumderischen Frauen, die w ä h r e n d des Spinnens das Mirakel des Hl. —» Petrus verspotten30. Der rote (blutige) F. in den Zähnen eines Mannes identifiziert den Täter, der als Werwolf gemordet hat (Mot. Η 64.1), so wie der blutige F. um den Hals eines Wiederbelebten erscheint, um anzudeuten, daß der Kopf abgetrennt war; dieses alte Motiv (Mot. Ε 21.1; cf. auch Mot. F 662.1.1: Birds hatched from broken eggs repaired by skillful tailor have red line around necks) ist schon im Sagenkreis um —» Amicus und Amelius (AaTh 516 C) und aus K H M 126, AaTh 531: -> Ferdinand der treue und F. der ungetreue bekannt 3 1 . Um die göttliche Vergebung anzuzeigen, erscheint ein roter F. am Fuß eines Einsiedlers, der ehedem, als Ritter, einem Widersacher im Zorn ein Bein abgehauen hatte 3 2 . Der als Prinz auftretende Schneider verrät seinen Beruf, wenn er um Nadel und F. bittet
Tapferes
E i n e vielfältige R o l l e spielt der F. in R e d e n s a r t e n , vor allem in der W e n d u n g ,Es geht durch w i e ein roter F.', die aus der praktischen V e r w e n d u n g e i n e s roten F.s stammt, der sich durch das g e s a m t e T a u w e r k der brit. Marine als B e s i t z k e n n z e i c h n u n g der K r o n e zieht 3 6 . E i n e Fülle v o n A b e r g l a u b e n s v o r s t e l l u n g e n über den F. wird v e r b u n d e n mit d e m A g a t h e n w u n d e r , Zauber, d e m b ö s e n Blick, T o t e n b r a u c h t u m 3 7 , der Entbindung, apotropäischen Kraft, W i e d e r b e l e b u n g und V o l k s medizin 3 8 . A u c h im V o l k s l i e d ist der F. gegenwärtig: im Stände- und Handwerkslied, im Arbeitsreim und im Kinderlied 3 9 . I Aly, W.: F. In: H D A 2, 1 1 1 4 - 1 1 2 0 . - 2 Grimm, J.: Dt. Rechtsalterthümer 1 - 2 . Darmstadt "1955, t. 1, 251 sq., 280; t. 2, 434, 516. - 3 Kretzenbacher, L.: Kettenkirchen in Bayern und in Österreich. Vergleichend-volkskundliche Studien zur Devotionalienform der „cinctura" an Sakralobjekten als kultisches Hegen und magisches Binden. In: Abhdlgen der Bayer. Akad. der Wiss.en, philolog.hist. Kl. N. F. 76 (1973) 109; Liebrecht, F.: Zur Vk. Heilbronn 1879, 3 0 5 - 3 1 0 . - 4 Grimm (wie not. 2) t. 1, 1 0 9 - 1 1 1 . - 5 von Beit 2, 179; H D A 2, 1114 sq. - 6 Scheftelowitz, I.: Das Schlingen- und Netzmotiv im Glauben und Brauch der Völker. Gießen 1912, num. 9; Dt. Volksliedarchiv, Fbg, Gr. Xld. - 7 Brednich, R. W.: Volkserzählungen und Volksglaube von den Schicksalsfrauen (FFC 193). Hels. 1964, 159. - 8 von Beit 1,507. - ' v o n Beit 2,123; BP 3 , 3 7 - 4 0 . - 1 0 v o n Beit 2,62; Hünnerkopf, R.: Garn. In: H D A 3 , 2 9 9 304. II Köhler/Bolte 2,558,565; BP 1,148; SAVk. 17 (1913) 89sq.; Röhrich, Redensarten 1, 252. 12 Emblemata. ed. A. Schöne/A. Henkel. Stg. 2 1 9 7 6 , 4 6 , 9 5 4 , 1 1 5 6 , 1 2 0 4 ; von Beit 2,37; Röhrich, Redensarten 1, 252. - 13 Eberhard, W.: Erzählungsgut aus Südost-China. B. 1966, num. 45; Leyen, F. von der: Die Welt der Märchen 1. Düsseldorf 1954, 53, 56, 93; Köhler/Bolte 1,407; Felsötiszai nepmesek. ed. A. Koväcs. Debrecen
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Fahne - Fährmann
1956, 2 0 4 - 2 0 8 ; BP 1,434; von Beit 1,502, 571, 679; t. 2,37, 134, 146, 179, 233, 239; HDM 2,39. - 14 Zachariae, T.: Kl. Sehr. Bonn/Lpz. 1920, 1 0 8 - 1 1 3 ; von Beit 1,507; BP 4,114. - 15 Boskovic-Stulli, M.: Kroat. Volksmärchen. MdW 1975, num. 53; Tubach, num. 3131; BP 2,539. - 16 von Beit 1,507, not. 3. - 17 Karlinger, F.: Ital. Volksmärchen. MdW 1973, num. 35, 50. - 18 Assaf, U. und Y. (edd.): Märchen aus dem Libanon. MdW 1978, num. 1. - 19 BP 2 , 3 4 9 - 3 7 3 , 368; Köhler/ Bolte 1,459, 566; HDM 2,151, not. 5 0 3 - 5 2 1 . 20 von Beit 1,120. 21 BP 1, 261 sq. - 22 Stroebe, Κ./ Christiansen, R. T. (edd.): Norw. Volksmärchen. MdW 1980, num. 7. - 23 BP 3,203. - 24 Zachariae, T.: Verwandlung durch Umbinden eines F.s. In: Wiener Zs. für die Kunde des Morgenlandes 19 (1905) 2 4 0 - 2 4 3 . 25 Tubach, num. 4849; Zachariae (wie not. 14) 84. - 2 6 v o n Beit 1,507; t. 2,194. - " M o d e , Η./ Ray, A. (edd.): Bengal. Märchen. Ffm. [1967] 408. - 28 Brückner, 318, num. 213. - 29 Legenda aurea/Benz, 5 5 5. - 3 0 ibid., 331; Günter 1949, 280.
-
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BP 3,19; Wesselski, Α.: Mönchslatein. Lpz. 1909, 241. - 32 Tubach, num. 4850. - 3 3 BP 1,149. 34 Dh. 3,1, 38, 41; SAVk. 26 (1926) 129. - 35 SAVk. 3 (1899) 186. - 36 Röhrich, Redensarten 1, 252sq.; Schmidt, P.: Volkskundliche Plaudereien. Bonn 1937 , 2 2 1 - 2 2 4 . - 3 7 H D A 2 , 1 1 1 4 - 1 1 2 0 ; SAVk. 4 (1900) 2, 228; 5 (1901) 174; 10 (1906) 40, 279; 12 (1908) 100, 149, 229; 13 (1909) 42, 64; 16 (1912) 216; 18 (1914) 181; 20 (1916) 157, 158sq., 180, 182, 3 0 1 - 3 1 1 ; 24 (1923) 63, 169; 25 (1924) 3, 154; 26 (1926) 79; 32 (1933) 2 9 - 3 6 ; 43 (1946) 292; 44 (1947) 80, 203. - 3 8 Grabner, E. (ed.): Volksmedizin. Darmstadt 1967, Reg.s.v.F. — 39 Dt. Volksliedarchiv, Fbg, Gr. XI d, Gr. VIII, Κ und pass.
Kassel
Michael Belgrader
Fahne —> Erkennungszeichen
Fährmann. Meere und Flüsse bildeten lange Zeit so schwer überwindbare Hindernisse, daß das andere Ufer, Inseln oder nur erahnte Länder einer fremden, jenseitigen Welt zugerechnet werden konnten. Ein Reich der Toten (Mot. Ε 481.2 sq.) oder der Seligen (Mot. A 692) hinter dem Wasser, oft in widersprüchlicher Verbindung mit einem unterirdischen —•Jenseits (Mot. Ε 481.1) ist eine weltweite Vorstellung 1 . Dem F. kommt daher im Diesseits2 wie im Jenseits eine wichtige Rolle zu (Mot. A 672.1, F 93.0.l.l) 3 , doch gewinnt er
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als mythische Gestalt nur selten klare Konturen. So kennen zwar Kelten und Germanen neben anderen Aufenthaltsorten für die Toten auch ein Jenseits hinter dem Wasser, wie schon bronzezeitliche Schiffsbestattungen zeigen 4 , doch haben sich Mythen — das Totenreich der Hei, Odin als F. 5 , das Totenschiff Naglfar (Mot. F 841.1.5) 6 — spät, wohl erst in Konkurrenz zum christl. Jenseits gebildet7. Einen mit Namen und festen Attributen versehenen mythischen F. kannten nur Babylonier, Ägypter und Griechen. Den babylon. —»• Gilgamesch bringt der F. Urschanabi in einem (Stein?-)Boot (Mot. F 531.4.8, F 841.1.1) über die Wasser des Todes hinweg in das Land der Unsterblichen zu seinem Ahnen Utnapischtim (Mot. F 116) und wird dafür mit Verbannung bestraft 8 . Der aus den Pyramidentexten bekannte ägypt. F. Maa-ha-f, „der sieht, was hinter ihm ist" 9 , fährt den Pharao nach dem irdischen Tod wieder zu den Ahnen, in den viel späteren Jenseitsführern examiniert der F. die Seelen der Toten vor der Überfahrt, oft muß er durch Drohungen oder Magie zum Dienst gezwungen werden 10 . Der g r i e c h . M y t h o s bietet eine genaue und relativ konstante Unterweltsbeschreibung; Züge eines Jenseits hinter dem Wasser mischen sich hier mit dem eines unterirdischen Totenreichs 11 . Über Unterweltsströme, auch Seen (Mot. A 671.2.2.6, F 162.2), setzt der F. Charon die von Hermes empfangenen Seelen in den inneren Bezirk des Reichs. Name und Gestalt sind recht spät bezeugt 12 . —> Homer erwähnt nur die Gewässer (Ilias 8, 369), Aischylos nur ein Totenschiff (Sieben gegen Theben, 8 5 4 - 8 6 0 ; Mot. A 676, A 678), erst das verlorene theban. Epos Minyas aus dem 5. Jh. a. Chr.n. auch den F. Danach malte, wie —»Pausanias (10, 28,2) berichtet, Polygnot eine Unterweltsszene mit Charon als menschengestaltigem, greisem F. So zeigt ihn schon ein schwarzfiguriges att. Vasenfragment aus dem 6. Jh. a. Chr. n. 13 : Charon sitzt schimpfend im Heck des Bootes, in dem sich geflügelte Seelen drängen und an den Rudern arbeiten. In dieser Gestalt konnte er sich behaupten, noch —»Lukian führt ihn ähnlich in seinen Totengesprächen vor. In den Fröschen (1, 139-143) des —»Aristophanes, die die Volkstümlichkeit Charons voraussetzen, wohl auch zu seiner Verbreitung beigetragen ha-
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Fährmann
ben, ist die Rede vom Charonsgroschen, dem Fährgeld, das jeder Tote entrichten muß (Mot. A 672.1.1, Ε 489.3, Ρ 613). Seit dem 5. Jh. a. Chr.n. und bis zum 6. Jh. p. Chr.n. bestätigen Grabfunde diese Sitte 14 . Charon als F. ist eine vor allem literar. bezeugte Gestalt; Name, Herkunft und Funktion sind nicht völlig geklärt 15 . Schon in der röm. Kaiserzeit wird auf den Fährdienst kaum noch Bezug genommen 16 , und den Worten des Pausanias (10, 28, 2) kann man entnehmen, daß es mehrere konkurrierende Vorstellungen von Charon gegeben hat. Vermutlich ein ursprünglich tiergestaltiger oriental. Todesdämon, sank er im griech. Mythos zum F. herab, blieb aber für das Volk der Herr der Toten. Deshalb konnten die Etrusker ihrem Todesdämonen, der kein F. ist, sondern mit Fackel, Schwert und Hammer bewaffnet ist und tierische Züge trägt, den Namen Charun geben 17 . Die lat. Lit. übernahm den griech. F. 18 , das Volk aber glaubte an Charun: In dieser Maskierung zog ein Sklave die Leichen der Gladiatoren aus der Arena 19 . Das Fortleben Charons in dem neugriech. Charos unterstreicht das. Dieser ist nur noch ganz selten, wohl auf Grund sekundärer Einflüsse, F., sonst Herrscher der —> Unterwelt mit Mutter, Frau, Sohn und Hund (Mot. A 3ΙΟ) 20 . In der außergriech. Volkserzählung spiegelt sich der F. Charon nur selten. Eine märk. Sage macht ihn zum Teufel, der die Toten in einem Kahn in die Hölle zu seiner Großmutter fährt 21 , in einem pommer. Märchen fährt ein Riese den Helden über ein breites Wasser (Mot. F 93.0.1.1) und fordert dafür auf Leben und Tod „drei Finanzgroschen" (Mot. A 672.l.l) 2 2 . Ein Beispiel dafür, wie sich die Volksdichtung den griech. Mythos assimilieren kann, ist das in ganz Nordosteuropa verbreitete Volkslied vom Schipmann, das auf den Mythos der Alkestis (AaTh 899) zurückgeht 23 . Allein die frühchristl. L e g e n d e hat den mythischen Toten-F. bewahrt 24 . Christus selbst fährt unerkannt die Apostel Andreas und Matthias ins Land der Menschenfresser, Paulus wird in einem ägypt. Legendenmärchen aufs Meer gefahren, um in die Unterwelt zu gelangen 25 , —»Johannes Baptista setzt Seelen über den Feuerstrom (Mot. A 671.2.2.3) 26 , in einem südslav. Volkslied
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bringen der hl. —> Nikolaus und —> Elias die Seelen mit Kähnen ins Jenseits 27 . Bei dem bekanntesten christl. F., —»Christopherus (AaTh 768), wird der Fährdienst zu einem Zeichen menschlicher Bewährung 28 . In S a g e n spielt dagegen der irdische F. eine Rolle. Er gehört insbesondere zu den Berichten von der Zwergenüberfahrt (Mot. F 451.9.5). Auswandernde Zwerge (Mot. F 451.9), meist bis auf die Führer unsichtbar (Mot. F 451.9.6), lassen sich über einen Fluß setzen 29 und bezahlen mit scheinbar wertlosen Dingen, die sich später in Gold verwandeln (Mot. F 451.5.1.4) 30 . Der Name des F.s, Zeit und Ort des Geschehens werden meistens genannt. Die Überfahrt ist ein außergewöhnliches Ereignis, die Gäste fahren nicht in ein Totenland, sondern an das andere Ufer eines ihnen im Wege stehenden Gewässers. Nicht das Motiv der Jenseitsfahrt (Mot. F 80), sondern der Glaube, daß Überirdische zur Überwindung mancher Schwierigkeiten menschlicher Hilfe bedürfen und sich dabei zeigen müssen 31 , steht hinter diesen Erzählungen. Unbestritten bleibt, daß Zwerge in Beziehung zur Unterwelt stehen (Mot. F 167.2) 32 und daß vereinzelt — die meisten Überfahrtssagen sind Zwergensagen 33 — Totenüberfahrten gleichen Handlungsgefüges geschildert werden. Das älteste Zeugnis dafür ist ein Bericht des byzant. Historikers Prokop von Caesarea (Gotenkriege 4, 20, 4 8 - 5 8 ) , nach dem die bret. Küstenbewohner die Pflicht hatten, die Seelen der Toten in geheimnisvollen Schiffen ins Totenland Britannia zu bringen. In Sagen des 18. und 19. Jh.s lassen sich auch die Wilde Jagd, Frau Perchta mit ihrem Volk, unterseeische Wesen, die Seelen toter Mönche oder Tote überhaupt 34 , selten auch der Tod selbst 35 oder ein todbringendes Wesen wie die Pest 36 übersetzen. Auf der Suche nach mythischen Elementen im dt. E p o s wurde auch — wenig überzeugend - der dort vorkommende F. als mythischer Totenführer gedeutet, insbesondere der Ferge des —> Nibelungenliedes (25. Aventiure) 37 und seine Doublette im Wormser Rosengarten36, letzterer unter Verweis auf den seltsamen Tribut von Hand oder Fuß, den er für die Rheinüberfahrt zu fordern pflegt, und auf die Beziehung des Rosengartens zum germ. Totenkult 39 .
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Fährmann
Im M ä r c h e n sind Jenseitswelten und -fahrten recht häufig, wenn sie auch nur aufgrund mythischer Parallelen als solche zu erkennen sind. Bes. das nordeurop. Märchen kennt das Jenseits hinter dem Wasser 40 . Dennoch ist der F. dieser Märchen kein uraltes mythisches Gut, sondern spät eingefügtes, dem Märchen angeglichenes Mythologem 41 . Dafür spricht, daß der Toten-F. im Süden wohl nie recht volkstümlich war, der Norden ihn erst gar nicht kennt, vor allem aber, daß er an den Märchentyp AaTh 461: Drei —> Haare vom Bart des Teufels42 gebunden ist, in den er erst spät geraten sein kann. Nach A. Aarne und W. Liungman 43 verschmolzen, wahrscheinlich in Europa und in byzant.-christl. Zeit, zu diesem Typ das ind. Märchen AaTh 460 Α und B: —» Reise zu Gott und das kleinasiat. Märchen AaTh 930: —> Uriasbrief. Auf dem Weg zu Gott, dem er eine Frage nach seinem Schicksal stellen will, stößt der Held meist auch auf ein Wassertier, das leidet, dieses Leiden, mitunter auch die Tiergestalt, als Buße auffaßt und den Helden bittet, Gott nach einem Weg zur Erlösung zu fragen. Bei seiner Rückkehr überbringt der Held die erlösende Antwort 44 . In Verbindung mit AaTh 930 wird aus der Reise ein gefährliches Abenteuer. Das leidende und büßende Tier wird durch ein Wesen ersetzt, das dem Helden zwar hilft, ihn aber auch verderben muß, wenn es selbst erlöst werden will. Solche gefährlichen Helfer sind Fische, hexenhafte Frauen oder der F. Der Ansatz zur Umformung liegt weniger in einem alten mythischen Motiv als in einem erzähltechnischen Kunstgriff. Die früheste greifbare europ. Fassung bei —»Basile (4,8), hier noch in Verbindung mit AaTh 451: Mädchen sucht seine Brüder, hat kaum Einfluß auf die Volksdichtung gehabt 45 . Der Ersatz des exotischen Tieres durch den vertrauteren —»Wal46 muß nicht auf sie zurückgeführt werden. Der Wal des Märchens klagt — im Gegensatz zur BasileErzählung —, nicht richtig schwimmen zu können 47 , setzt jedoch den Helden regelmäßig über ein Wasser und muß, um erlöst zu werden, einen Menschen töten. Er mag, obwohl der Volksglaube Menschenopfer fordernde Fische kennt (Mot. Β 16.4) 48 , in dieser Rolle fremd gewirkt haben und wurde
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durch einen weiblichen oder männlichen F. ersetzt, die regelrechte Fährdienste ausüben. Der weibliche F. weist noch deutliche Bezüge zu seinem tierischen Vorgänger auf. Wie dieser wird er durch die Tötung eines ,Christenmenschen' erlöst, und sein Leiden erinnert manchmal noch an das der Fische49. Meist ist es aber schon der Fährdienst, der ihm zur Last wird 50 . Zugleich verstärken sich die Hinweise, daß die Fahrt des Helden eine —» Jenseitswanderung ist51. Ging der Held in Indien, Westasien und Osteuropa zu Gott oder dem Schicksal, fuhr er in Osteuropa mit Hilfe des Fisches zur Sonne, so ist das Ziel der Reise in Mittel- und Nordeuropa ein menschenfeindliches Wesen, der Teufel und seine Stellvertreter, der Riese, der Drache, ein dämonischer Vogel, dem Haare oder Federn ausgerissen und die Antworten entlockt werden müssen 52 . Unter Einfluß der Gestalt Charons und des F.s der Sage wird dann wohl die Hexe durch den dem Mythos angenäherten Fischer oder F. ersetzt worden sein 53 . Er leidet an der langen Dauer seines Amtes (Mot. Η 1292.8), das er ohne Lohn versehen muß und als Strafe für ein ungenanntes Vergehen (Mot. Q 521.5) oder als Gefangenschaft auffaßt. Erlöst wird er durch einen symbolischen Akt wie die Übergabe des Ruders an einen Nachfolger (Mot. Ρ 413.1.1). Seine Gestalt bleibt meist blaß, einmal trägt er einen Schlegel auf der Schulter 54 , ein andermal eine Kette 55 ; oft ist er bes. groß, ein Riese 56 oder ein alter Mann 57 ; in einem russ. Märchen erinnert seine Gestalt an den Tod nach christl. Vorstellung 58 . Meistens steht ihm ein Boot zur Verfügung, mitunter trägt er die Reisenden auch über das Wasser 59 . Die so entstandene europ. Version des Märchens hat wieder auf afrik., chin, und indon. Märchen zurückgewirkt 60 . Eine spätere Version zeigt den F. als auf Wache stehenden Posten 61 . Außerhalb von AaTh 461 spielt der F. nur eine bescheidene Rolle. Übertragen wird er einmal auf den Typ AaTh 551: —> Wasser des Lebens62', in einer Var. von AaTh 451 trägt eine Fischerin das Mädchen in ein Totenreich und wieder zurück und wird dafür erlöst 63 . Auf der Suche nach ihrem ans —»Ende der Welt verwünschten Gemahl (AaTh 425: —» Amor und Psyche) wird die Königstochter vom Abendstern übergesetzt 64 , von Schafen
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Fährmann
der Held auf der Suche nach seiner vom Sonnenprinzen entführten Schwester 65 . An den furchterregenden F. des Epos erinnern die Riesen, die den Fährdienst über drei Meere nach ,Neuholland' versehen und ihre Gäste zu zerreißen drohen 66 . I
Zemmrich, J.: Toteninseln und verwandte geogr. Mythen. Leiden 1891, 6 - 1 1 . - 2 Zur rechtlichen und sozialen Stellung des F.s v. Jungwirth, H.: F. In: HDA 2, 1149-1155, hier 1149-1151. 3 Zemmrich (wie not. 1) 18-20. - 4 Grimm, J.: Dt. Mythologie 2. Göttingen 1844, 790-794; id.: Kl.re Sehr. B. 1865, 290sq.; Helm, K.: Altgerm. Religionsgeschichte 2,2. Heidelberg 1953, 5 3 - 5 7 . — 5 MacCulloch, J. Α.: Eddie Mythology. Boston 1930, 45. - 6 Detter, F.: Naharnavali. In: ZfdA 31 (1887) 207sq. - 7 Derolez, R. L. M.: Götter und Mythen der Germanen. Wiesbaden 1976, 202-205. - 8 RAC 2, 1048; wegen verbotener Uberfahrten werden auch der ägypt. Gott Anti und Charon bestraft: Lex. der Ägyptologie 1. Wiesbaden 1975, 318sq.; Servius, Commentarius in Vergilii Aeneidos, 6, 392. - 9 RAC 2, 1048-1051. 10 Kees, H.: Totenglauben und Jenseitsvorstellungen der alten Ägypter. Grundlagen und Entwicklung bis zum Ende des Mittleren Reiches. B. 2 1956, 63, 100, 117, 189sq., 298. II Radermacher, L.: Das Jenseits im Mythos der Hellenen. Bonn 1903; id.: Das Meer und die Toten. In: Anzeigen der österr. Akad. der Wiss.en 86 12 (1949) 307-315, hier 315. RAC 2, 1040-1061; Waser, O.: Charon, Charun, Charos. Mythol.-archäologische Monogr. B. 1898. 13 Furtwängler, Α.: Charon, eine altatt. Malerei. In: 14 ARw. 8 (1905) 191-202. RAC 2, 1056-1060; Waser (wie not. 12) 3 0 - 3 9 . Neben Charon gelten in der Mythenforschung nahezu alle Seeleute der griech. Sage als Toten-F.: Radermacher (wie not. 11) 42; Usener, H.: Sintfluthsagen. Bonn 1899, 215; Fontenrose, J. E.: Python. A Study of Delphic Myth and Its Origins. Berk. 1959, 447—487; Zender, M.: Die Grabbeigaben im heutigen dt. Volksbrauch. In: ZfVk. 55 (1959) 3 2 - 5 1 , hier 4 3 - 4 9 ; id. (ed.): Atlas der dt. Vk. N.F. 13-14b. Marburg 1959-64. - 15 RAC 2, 1040sq.; Lawson, J.: Modern Greek Folklore and Ancient Greek Religion: Α Study in Survivals. Cambr. 1910, 106,114sq.; van Hoorn, G.: Charon, Charu, Kerberos. In: Nederlands kunsthistorisch jaarboek 5 (1954) 141-150. - 16 Heinemann, K.: Thanatos in Poesie und Kunst der Griechen. Mü. 1913, 48sq. - 17 de Ruyt, F.: Charun. Demon etrusque de la mort. Rome 1934, 222-229, 233sq.; RAC 2, 1051-1053. - 18 z.B. Vergil, Aeneis 6, 298-304. Der mythenreiche Ovid erwähnt Charon nicht. - 19 Latte, K.: Rom. Religionsgeschichte. Mü. 1960, 155; RAC 2, 1052-1054. 20 Schmidt, B.: Das Volksleben der Neugriechen und das hellen. Altertum. Lpz. 1871,236-238; id.:
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Griech. Märchen, Sagen und Volkslieder. Lpz. 1877, num. 21 sq. 21 Mannhardt, W.: Germ. Mythen. B. 1858, 364. 22 Volksmärchen aus Pommern und Rügen, ed. U. Jahn. Norden/Lpz. 1891, num. 57. - 23 F.rk/Böhme 1, num. 78; dazu Lesky, Α.: Alkestis. Der Mythos und das Drama. Wien/Lpz. 1925, 20—26. 24 R A C 2, 1053-1056. - 25 Brunner-Traut, E.: Altägypt. Märchen. MdW 5 1977, num. 37. 26 Burmester, Ο. Η. E.: Egyptian Mythology in the Coptic Apogrypha. In: Orientalia 7 (1938) 355-367, hier 361 sq. - "Krauss, F. S.: Sitte und Brauch der Südslawen. Wien 18 85, 191. - 28 Radermacher, L.: Mythos und Sage bei den Griechen. Wien 3 1968, 185sq. (mit griech. Parallelen); Benker, G.: Christopherus. Patron der Schiffer, Fuhrleute und Kraftfahrer. Legende, Verehrung, Symbol. Mü. 1975. - 29 HDA 9, 1102-1106, 1568-1572. - 30 HDA 9, 1079-1081. 31 HDA 9, 1074sq. - 32 HDA 9, 1115-1119. 33 Röhrich, L.: Das Verz. der dt. Totensagen. In: Fabula 9 (1967) 270-284, hier 2 8 3. - 34 Müller, J./Röhrich, L.: X. Der Tod und die Toten [Dt. Sagenkatalog]. In: DJbfVk. 13 (1967) 385 (N 20); HDA 2, 1152-1154. - 35 Depiny, Α.: Oberösterr. Sagenbuch. Linz 1932, num. 32; Kuhn, Α.: Märk. Sagen und Märchen. B. 1843, num. 15. - 36 Grimm 1865 (wie not. 4) 294; cf. Soupault, R.: Bret. Märchen. MdW 1959, num. 2. - 37 HDM 2, 5; HDA 7, 15 69. — 38 Grimm, W.: Der Rosengarten. Göttingen 1836, 809-886; Simrock, K.: Hb. der dt. Mythologie mit Einschluß der nord. 5. Bonn 1878, 255sq.; HDA 2, 1152. - 39 Ranke, K.: Brautstein und Rosengarten. Ein Beitr. zur dt. Flurnamen-, Volks- und Altertumskunde. In: id.: Die Welt der Einfachen Formen. B./N.Y. 1978, 320-333. 40 Stroebe, K.: Nord. Volksmärchen 1 - 2 . MdW 1922, t. 1, num. 12; t. 2, num. 21, 24, 37, 46; Isl. Märchen, ed. J. C. Poestion. Wien 1884, num. 35. 41 cf. Mannhardt (wie not. 21) 203; HDM 2,5. 42 Aarne, Α.: Der reiche Mann und sein Schwiegersohn (FFC 23). Hamina 1916; Tille, V.: Das Märchen vom Schicksalskind. In: ZfVk. 29 (1919) 2 2 - 4 0 ; BP 1, 276-293; Nagy, I.: Die Figur des Charon in den ung. Volksmärchen. In: Griech. Mythos - europ. Märchen, ed. W. Siegmund. Kassel (im Druck). - 43 Aarne (wie not. 42) 181; Liungman, Volksmärchen, 112. — 44 Mitra, S. C.: A Folk-tale of a New Type from North-Bihar and Its Variants. In: J. of the Bihar and Orissa Research Soc. 3 (1917) 378-405. - 45 Eine Ausnahme macht ein Märchen aus Schleswig-Holstein (Ranke 2, 82-84), wo ein gestrandeter Wal fragen läßt, wie er wieder ins Wasser komme. - 46 Der Wal war durch die Lit. (cf. HDA 2,46) und Berichte von gestrandeten Tieren (cf. HDA 9,66) vertraut. — 47 Plenzat, 26sq.; Bukowska-Grosse, E./Koschmieder, E.: Poln. Märchen. MdW 1967, num. 23; Wenzig, J.: Westslav. Märchenschatz. Lpz. 1857, 36—40; Mason, J. A./Espinosa, Α. M.: Porto Rican
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Fairy
Folklore. Folk-Tales. In: JAFL 39 (1926) 2 2 5 - 3 7 0 , hier num. 21 d. - 48 H D A 2, 1543. 49 Dan. Volksmärchen [. . .] von S. Grundtvig. Lpz. 1878, 9 5 - 1 0 9 . - 5 °Folksagor landskap. ed. A. Bondeson. Sth. 1882, num.42. 51 wie not. 49. - 5 2 Aarne (wie not. 42) 1 2 2 - 1 3 3 ; Liungman, Volksmärchen, 1 1 0 - 1 1 2 ; Röhrich, L.: Teufelsmärchen und Teufelssagen. In: id.: Sage und Märchen. Fbg 1976, 268. - " D e r F. taucht zuerst im KHM 29 (1819) auf, die Ausg. 1812 brachte eine Var. mit einem Fischer. - S4 Tietz, Α.: Märchen und Sagen aus dem Banater Bergland. Buk. 1974, num. 32. - 55 de Llano Roza de Ampudia, Α.: Cuentos asturianos recogidos de la tradicion oral. Madrid 1925, num. 25. - 56 KHM 165. 57 Stroebe (wie not. 40) t. 2, num. 10. — 5 8 von Löwis of Menar, Α.: Russ. Volksmärchen. MdW 1927, num. 35. - 5 9 Stroebe (wie not. 40) t. 2, num. 10; Moser-Rath, E.: Dt. Volksmärchen. MdW 1966, num. 78. - 6 0 Liungman, Volksmärchen, llOsq. 61 Ranke 2, 78—82 (Fährdienst von der Ehefrau des Postens versehen). - 6 2 Cosquin 1, num. 21. « K H M 96. - 6 4 Haltrich, J.: Dt. Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen (1856). ed. H. Markel. Buk. 1956, num. 44. - 65 Wildhaber, R./Uffer, L.: Schweizer Volksmärchen. MdW 1971, num. 50. — 6 6 Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland, ed. I. und J. Zingerle. Regensburg 1854, 3 5 6 - 3 8 5 ; v. Zaunert, P.: Dt. Märchen seit Grimm. MdW 1964, num. 44. -
Köln
Joachim Kühn
Fairy 1. Die im Mittelengl. geläufigen Bedeutungen von F., hauptsächlich als Partizip oder Adjektiv im Sinne von seltsam, magisch, verzaubert gebraucht, stammen höchstwahrscheinlich aus dem Altfrz. (—> Fee, Feenland, Kap. 2). Das Wort F. erscheint im Engl, erstmals im Ms. Auchinleck (ca 1320) 1 und wird fast ausschließlich in romance und lay, vor allem in Sir Orfeo2 — einer Version des Orpheus-Mythos, die zu den bedeutendsten Beispielen der Gattung romance gehört —, verwendet. Anfangs ist der Begriff F. eher mit relativ hochentwickelter Lit. als mit mündl. Tradition verbunden, in die er erst im 15. Jh. eingeht. Daß er die altengl. Wörter für das Übernatürliche, von denen viele nur in Dialekten erhalten geblieben sind, verdrängen konnte, erklärt sich aus der Dominanz des Frz. als höfische Sprache des ma. Westeuropa. So
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wurde F. im Norden und Westen Englands und vor allem in Schottland erst viel später in der Lit. und in mündl. Erzählformen geläufig. Die Geschichte des Begriffs ist in hohem Maße von der Rivalität zwischen beiden gezeichnet, wobei er nach und nach ältere und mundartliche Bezeichnungen für das Übernatürliche ersetzte, verschiedene Traditionen kontaminierte und eine allg. Bedeutung erhielt, in der zahlreiche vormals unterschiedliche Glaubensvorstellungen und Überlieferungen zusammengefaßt und miteinander vermischt wurden. Die Geschichte der Fairies (F.s) ist stark von der gegenseitigen Befruchtung zwischen volkstümlicher und literar. Kultur, die bes. in drei mehr oder weniger fest umrissenen Perioden stattfand, geprägt. Obwohl die mittelengl. romances äußerst hochentwickelte literar. Kunstwerke sind, enthalten sie doch viele traditionelle Motive der Volkserzählung, darunter zahlreiche, die offensichtlich früherem —> kelt. Erzählgut entstammen 3 . Vor allem die F. als übernatürliche Geliebte eines Helden ist sowohl in romances als auch in der kelt. Überlieferung ein häufiges Thema 4 . Die zweite Periode gegenseitiger Befruchtung war die Renaissance. Obwohl beide Dichter selbst nur geringfügig aus der mündl. Überlieferung schöpften, riefen Edmund Spensers Faerie Queene (1590—96) und Shakespeares Midsummer Night's Dream (1595?) eine Tradition literar. Interesses an F.s hervor: Edmund Spenser verbindet in der Faerie Queene die arthurischen Motive zu einer breiten politischen und persönlichen Allegorie, in der die F. Gloriana von dem Ritter Arthur in einem langen Läuterungsprozeß umworben wird. Die Faerie Queene, von allen negativen Attributen gereinigt, repräsentiert einen Gipfel des Renaissancehumanismus. Im Midsummer Night's Dream ist die F.königin Titania, deren Name sich auf die von —> Ovid (Metamorphosen 3, 173) berichtete Geburt Dianas bezieht, die unterlegene Gegenspielerin Oberons. Entsprechend der Oberontradition befindet sich das F.reich im Osten. Eigentlicher Held ist jedoch jetzt der Eros, dem auch die F. unterworfen ist und dessen Macht durch die Integrierung auch der folkloristischen engl. Tradition zum Ausdruck gebracht wird.
Dieses neue Interesse an F.s hatte verschiedene Auswirkungen: Erstens begünstigte es
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Fairy
die Aufgeschlossenheit für altererbte mündl. Erzählungen und Vorstellungen des Übernatürlichen, die schließlich im 19. Jh. in der Vk. als wiss. Fach gipfelte; zweitens erzeugte es eine Tradition literar. Dichtung, die einen (vorher seltenen 5 ) Zug des F.glaubens, nämlich den kleinen Wuchs dieser Wesen 6 , betonte und weiterentwickelte und die ihrerseits auf mündl. überlieferte Vorstellungen einwirkte, so daß sich nach 1620 in Volkserzählungen über F.s die Anschauung, daß diese klein von Gestalt seien, viel häufiger findet; drittens verlieh es den F.s eine Vorrangstellung unter den übernatürlichen Wesen im engl.sprachigen Bereich. Die dritte Hauptperiode der F.s in der Lit. fällt in die Entstehungszeit der Vk. als komplexes Studiengebiet, in die Romantik des frühen 19. Jh.s. Die romantische Dichtung konzentrierte sich auf die unheilvollen und erotischen Seiten der F.s, was den ,gothischen' Schauerroman mit den ma. romances verbindet 7 , die Übersetzungen frz. —> Contes de fees setzen aber die Tendenz zur Verniedlichung der F.s fort. Diese Entwicklung fand in der viktorianischen Tradition von F.geschichten für Kinder ihren Höhepunkt. Frühe Interpreten der Shakespeareschen F.s brachten, bes. durch ihr Bemühen, alle ihre Charakteristika aus der mündl. Tradition herzuleiten 8 , den Literaten viele Züge oraler Erzählkunst nahe. Im 19. Jh. - und bereits vorher — kann deshalb von einer nahezu identischen F.-Überlieferung in der mündl. wie schriftl. Tradition gesprochen werden.
2. F.s erscheinen in zwei verschiedenen Arten volkstümlicher Texte: in langen Erzählungen und in kurzen, in ein oder zwei Sätzen zum Ausdruck gebrachten Glaubensvorstellungen, den —» Dits. In beiden Fällen werden sie mit vielen Zügen ausgestattet, die man auch anderen übernatürlichen Wesen wie Hexen, Engeln, Riesen, Teufeln, Geistern und Toten zuschreibt 9 (cf. auch -» Elf, Elfen). Diese Überschneidungen ergeben sich teils aus den Kontaminationen der oben beschriebenen Erzähltraditionen, teils sind sie ein charakteristischer Zug des von Wechselbeziehungen geprägten Wesens aller mündl. Traditionen 10 .
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Das Aussehen der F.s ist im allg. menschenähnlich, mit Ausnahme von ein oder zwei Anomalitäten als Unterscheidungsmerkmal, z.B. grüne Haut, hohler Rücken, ungewöhnliche Schönheit oder Körpergröße 11 . In einigen Erzählungen jedoch sind die F.s entweder nicht beschrieben oder werden nicht von den Menschen unterschieden, so daß ihr übernatürlicher Charakter aus ihrem Verhalten geschlossen werden muß. Ihre wichtigsten Erscheinungsmerkmale sind: Farbe, im allg. grün, aber auch weiß, schwarz, rot oder gelb; Schönheit oder Häßlichkeit; sehr hohes Alter; kleiner Wuchs; ungewöhnliche Kleidung, die meist in einer einzigen Farbe gehalten ist; Lichthaftigkeit; königliches oder vornehmes Wesen und die entsprechenden äußeren Attribute; Anmut und Lustigkeit; Unsichtbarkeit 12 . Gemeinhin betonen Volkserzählungen die dunkleren und häßlicheren Seiten der F.s, während die Lit. dazu neigt, sich mit den günstigeren Aspekten zu befassen. Wie auch bei anderen übernatürlichen Wesen wird die äußerlich anziehende Erscheinung mit Wohltaten und die Häßlichkeit mit dem Bösen in Verbindung gebracht; diese beiden Stränge finden sich in beiden Traditionen. 3. Es besteht auch im Verhalten der F.s eine Polarität, wobei die boshafte Seite stärker hervortritt. Sie werden als gut wie auch als böse beschrieben; sie erscheinen und verschwinden wieder und bringen manchmal ungewöhnliche —» Gaben (Geld, Heilmittel, Geistesgaben, Speisen). Dagegen können sie auch wertvolle Gegenstände mitnehmen oder verbergen, bes. Nahrungsmittel (die, wie vor allem Schalen voll Milch, als Opfergaben für sie aufgestellt sein oder auf natürliche oder magische Weise gestohlen werden können), Vieh (das verschwinden oder dem die Nahrung entzogen werden kann) und Kinder. Eines der häufigsten Motive, bes. in kelt. Überlieferungen, ist das des gestohlenen oder vertauschten Kindes (—» Wechselbalg). Die Stelle des Kindes kann ein F.kind einnehmen, das meist schwach und widerspenstig ist (und durch Mißhandlungen, Feuerproben oder bes. Praktiken, wie das Kochen von Wasser in Eierschalen, identifiziert werden kann), ein Stock oder eine andere Attrappe für das menschliche Kind 13 . Die Kinder werden als
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Opfergabe für den Satan 14 oder zur Auffrischung des Bluts der F.rasse geraubt 15 . F.s helfen oder belohnen (vor allem Sauberkeit und harte Arbeit), aber sie schaden den Menschen auch (indem sie sie in die Irre führen, täuschen oder ihnen Hindernisse aufrichten) oder bestrafen sie (gewöhnlich für Unsauberkeit und Unordentlichkeit oder egoistisches Verhalten) 16 . Obwohl sowohl von guten als auch von bösen F.s berichtet wird, scheinen nur die guten menschliche Handlungen zu bestrafen oder zu belohnen, während sich schlechte F.s unabhängig von einem ethischen System verhalten. Dies bestärkt in der Annahme, das F.erzählungen dazu dienen, die ethischen Normen zu stützen. Die am häufigsten geschilderte Strafe besteht in Kneifen oder —» Einklemmen; bezeichnenderweise ist dies aber nicht vor der Zeit der Renaissance belegt, sondern erst in einer Zeit, in der die Vorstellungen von bösen übernatürlichen Wesen durch den aufkommenden Skeptizismus und einen gewissen Grad an religiöser Freiheit im Rückgang begriffen waren 17 . F.erzählungen können ganz grob in Berichte über einzelne F.s oder F.s als Gruppenwesen unterteilt werden 18 . Die ersteren besitzen meist große übernatürliche Kräfte, die letzteren sind gewöhnlich schwächer als die Einzelwesen, als Gruppe aber machtvoll, wobei die Körpergröße oft ein Gradmesser für diese Macht ist. Daher werden F.s auch euphemistisch als ,the little people' bezeichnet (—» Euphemismen sind sowohl in kelt. wie auch in engl. Überlieferung zur Abwendung des Zorns der Jenseitigen sehr gebräuchlich). Im Singular findet sich diese Bezeichnung nur selten. Als Gruppenwesen auftretende F.s ahmen Aktivitäten der menschlichen Gesellschaft nach, jagen, tafeln, singen, tanzen, spielen gern und haben eine Vorliebe für mutwillige Streiche und die Herstellung ungewöhnlicher Gegenstände 19 . Einem großen Teil der Erzählungen liegen ätiologische Erklärungen von Phänomenen wie merkwürdige Geräusche (darunter auch Vogelrufe), Pilzringe (fairy rings [dt. Hexenringe] an ihren Tanzplätzen), Pilze (F.butter), seltsame Steine (F.brote, F.pflaster), Pfeilspitzen aus Feuerstein (F.pfeile), Blumen (Sauerklee: F.kraut, Fingerhut: F.glocken) zugrunde 20 . Ätiologien
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dieser Erscheinungen liefern Erzählmotive und können zur Bildung ganzer Geschichten beitragen, wie im Falle des übernatürlichen Zeitsprungs, den Personen, die einem F.tanz an einem F.ring begegnen, erleben können 21 (cf. —» Entrückung). 4. Das dritte Strukturmerkmal von F.erzählungen sind die Vorstellungen vom Aufenthaltsort der F.s. In seiner umfassendsten Ausprägung wird dieser als ein ganzes Reich, ein F.land gedacht, das unter der Erde, auf einer Zauberinsel oder einfach an einem nicht näher bezeichneten fernen Ort liegen kann 22 . Das F.land ist immer unvorstellbar schön und prächtig, besitzt im allg. ein prunkvolles Schloß oder eine Burg und ist oft durch ein Gewässer geschützt. Da F.s hinterlistig oder böse sein können, wird das F.land oft für ein Trugbild gehalten, wie die Schönheit der Wesen selbst (Sinnestäuschung ist eine der frühen Bedeutungen von fairy 23 ). Der Wohnort kann jedoch auch irdischer sein; häufig wird ein auffallendes lokales Merkmal (vereinzelter Hügel, Höhle, Grabhügel, einzelstehender Stein, dunkler Wald, Ruine) oder eine für die Lokalgeschichte bedeutsame Stelle (der Ort eines Todes oder eines Verschwindens oder ein Platz von hist. Bedeutung, z.B. ein Tempel) gewählt 24 . Die feenhaften sidhe werden von der ir. Volksüberlieferung in einem westl. ,Land der Verheißung', der ,ewigen Jugend', auf den ,Inseln der Seligen', im ,Land der Jungfrauen' oder im ,Land unter der See' angesiedelt. Sie wohnen auch in Hügeln oder Hügelgräbern und lieben bes. das Harfenspiel, womit sie Besucher in seliges Vergessen wiegen (cf. Mot. F 262). Da F.s ein Reich und eine Rasse bilden, haben sie gewöhnlich einen Herrscher, meist einen König oder eine Königin. Eine Königin findet sich häufig in der Zeit nach Spenser, da weibliche F.s seitdem etwas öfter als männliche auftreten, während vor der Renaissance das Gegenteil der Fall war. Das Geschlecht des Herrschers ist vielfach vom Geschlecht des Protagonisten der Erzählung abhängig; besteht ein Konflikt zwischen dem Protagonisten und dem Übernatürlichen, haben beide häufig das gleiche Geschlecht, wie beim körperlichen Kampf des Helden gegen
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Fakelore
den Bösewicht 25 oder bei dem Zwiespalt, in den Mütter durch einen Wechselbalg 26 gebracht werden; ist die Rolle des Protagonisten hingegen komplementär, so sind sie verschiedenen Geschlechts, wie dies in Erzählungen von der F. als Geliebter 27 der Fall ist. Neben Wesen, die spezifisch als F.s be-· zeichnet werden, gibt es viele andere Geschöpfe (Elfen und verschiedene, Goblins, Pixies oder Boggarts genannte Kobolde), die von Volkskundlern und in einigen regionalen Traditionen als F.wesen im Sinne der allg. Bedeutung des Wortes F. betrachtet werden. Die für F.s charakteristischen Eigenschaften sind magischer Art: Die Fähigkeit zu fliegen 28 , sich unsichtbar zu machen 29 , den Zeitablauf zu ändern 30 , ihre Gestalt zu verwandeln 31 , magisch zu verwunden oder zu heilen 32 , die Zukunft zu sehen oder Sinnestäuschungen hervorzurufen sind typische Merkmale der F.s 33 , durch die sich auch Elfen und Pixies der Gruppe der F.s zuordnen, viele andere koboldhafte oder dämonische Wesen jedoch davon abgrenzen lassen. —> Oberon, —> Robin Goodfellow I
cf. Ward 1, 172. - 2 Bliss, A. J.: Sir Orfeo. Ox. 1954. - 3 Loomis, R. S.: Wales and the Arthurian Legend. Cardiff 1956; id.: Morgain la Fee in Oral Tradition. In: Romania 80,3 (1959) 3 3 7 - 3 6 7 . 4 Paton, L. Α.: Studies in the F. Mythology of Arthurian Romance. Ν. Y. 1903, 1, 4 - 6 , 195. 5 Der einzig explizite Hinweis auf kleine übernatürliche Wesen vor 1530 findet sich in Gervasius von Tilbury: Otia Imperialia (Ausw.). ed. F. Liebrecht. Hannover 1856, 980. - 6 de Lattre, F.: English F. Poetry. L. 1912, 13sq.; Latham, Μ. W.: The Elizabethan F.s. Columbia 1930, pass.; Briggs, K.: The Anatomy of Puck. L. 1959,pass. - 7 D u f f y , M . : The Erotic World of F.s. L. 1972, pass. — 8 Douce, F.: Illustrations of Shakespeare. L. 1809, Kap. 1—3, pass.; Keightley, T.: The F. Mythology. L. 1828 (Nachdr. Wildwood House 1981), 3 2 5 - 3 3 4 . 9 MacCulloch, J. Α.: The Mingling of F. and Witch Beliefs. In: FL 32 (1921) 2 2 8 - 2 4 3 ; Kirk, R.: The Secret Commonwealth, ed. S. Sanderson. Cambr. 1976, pass.; Webb, J.: Folklore in Monmouthshire. In: Notes and Queries 12, Series 1 (1855) 54sq. — 10 Briggs, Κ.: A Dictionary of F.s. L. 1976, 4 6 3 481. II Douglas, G.: Scottish F. and Folk Tales. L. 1896, 103sq.; Murray, M.: The Witch-Cult in Western Europe. Ox. 1921, 2 3 8 - 2 4 6 . - 12 Brand, J.: Observations on Popular Antiquities. L. 1853, pass.; v. Latham (wie not. 6); Keightley (wie not. 8) pass.; Kirk (wie not. 9) pass.; Briggs (wie not.
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10); Wentz, W. Υ. E.: The F. Faith in Celtic Lands. Gerrards Cross 1981, pass. - 13 ibid. 14 G. M.: F.s and Christening. In: Notes and Queries 3, Series 11 (1911) 85sq. - 15 Spence, L.: British F. Origins. L. 1946, 41. - 16 Briggs, Κ.: The F.s in Tradition and Literature. L. 1977, 1 0 8 114. - 17 Nutt, Α.: The F. Mythology of Shakespeare. L. 1900, pass.; de Lattre und Latham (wie not. 6) pass. - 18 Yeats, W. B.: F. and FolkTales of Ireland. Gerrards Cross 1973, pass.; Briggs (wie not. 16) pass. - 19 Wimberly, L. C.: Folklore in the English and Scottish Ballads. N.Y. 1965, 1 8 9 - 1 9 7 . - 2 0 F. In: The Oxford English Dictionary 4. ed. J. A. H. Murray u.a. Ox. 1933, 30. 21 Hartland, Ε. S.: The Science of F. Tales. L. 1891, 1 9 0 - 1 9 3 . - 22 Patch, H. R.: The Other World. Cambr., Mass. 1950, pass. - 23 z.B. Piers Plowman (Early English Text Soc. 1,6, Old Series 17). ed. W. W. Skeat. L. 18 67. - 2 4 Simpson, J.: Sussex Local Legends. In: FL 83 (1972) 2 0 6 223, hier 207sq. - 25 Reinbrun (Early English Text Soc. 42, 49, 59). ed. J. Zupitza. L. 1883. 26 Briggs (wie not. 16) Vorw., 116sq. - 27 Sir Launfal. ed. A. Bliss. L. 1960, pass. - 2 8 MacCulloch (wie not. 9) Vorw., 229. - 29 Spence (wie not. 15) Vorw., 18sq. - 3 0 Briggs (wie not. 10) Vorw., 1 0 4 - 1 0 7 . 31 MacCulloch (wie not. 9) Vorw., 229. - 3 2 Briggs (wie not. 10) Vorw., 25sq. - 3 3 Hunt, R.: Popular Romances of the West of England. L. 1916, 1 0 9 111.
Sheffield
Noel Williams
Fakelore. Den Begriff F. (wörtlich gefälschte Folklore) prägte R. M. —»Dorson 1950 in seinem Art. Folklore and F.1. Sinn der Neuschöpfung war es, authentische mündl. Überlieferung deutlich von jenen Erzeugnissen abzugrenzen, die gezielt fabriziert und als ,Folklore' präsentiert werden, um so von dem Mythos, der dem Wort anhaftet, profitieren zu können. Insbesondere waren es Erzählungen über —> Paul Bunyan u. a. Teufelskerle nach seinem Vorbild sowie die sog. treasuries', aus journalistischen und literar. Qu.η zusammengestellte Anthologien, mit denen das Publikum getäuscht wurde und Verleger sowie Autoren Geld machten. Das Schalkhafte, Schnurrige, Niedliche und Wunderliche wurde dabei in den Vordergrund gestellt; häßliche, derbe und obszöne Elemente kamen nie vor. Obwohl der Terminus F. noch
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k e i n e n E i n g a n g in die W B . e r g e f u n d e n hat, ist er d o c h e i n i g e r m a ß e n gebräuchlich g e w o r den. N e b e n D o r s o n , der sich seiner in vers c h i e d e n e n A r t . n 2 und in e i n e m 1 9 7 6 erschien e n e n B u c h 3 b e d i e n t hat, h a b e n ihn auch and e r e V o l k s k u n d l e r v e r w e n d e t , w i e z . B . G. Legman4. Τ. P. Coffin 5 fordert, Volkskundler sollten F. gegenüber eine differenziertere Haltung einnehmen, da sich in einer von Büchern, Massenmedien und schnellen Verkehrsverbindungen beherrschten Zeit die alten ethnischen, regionalen und berufsständichen Uberlieferungen im städtisch-industriellen Leben verlören. Er weist auch auf Parallelen zwischen Folklore und F. hin, die sich etwa in ihrer gemeinsamen Neigung zur Entlehnung von Motiven und zur Wiederholung von Formeln zeigten, und stellt fest, es sei angebracht, Folk- und FakeHelden wiss. auf gleiche Weise zu untersuchen. Abschließend erklärt Coffin, daß die Überlieferung unter dem Druck von Bildungssystem und Kommunikationswesen mehr und mehr verschwände und nun die künstliche Fertigware F. die Überlieferung des Kulturbestands von einer Generation zur anderen übernehme 6 . Diese Argumentation findet sich teilweise bei dem Soziologen W. Fox wieder, dessen 1980 veröff. Beitr. Folklore and F.: Some Sociological Considerations die bisher eingehendste Analyse der F. darstellt. Er vertritt darin die Ansicht, daß die Träger des Establishments in der Folklore mit ihrer Verherrlichung von Randgruppen eine Bedrohung des Status quo sähen, daß ihnen daher die F., die ihre eigenen Wertvorstellungen widerspiegele, sehr gelegen komme 7 . Für Fox bedeutet dieser Prozeß eine Verarmung der traditionellen Kultur: „bad fakelore drives out good folkore". F. imitiere die Volksüberlieferung in einigen ihrer Wesenszüge, standardisiere sie aber zu einem platten Massenmedienartikel, der die Vergangenheit übertünche und Geschichte zerstöre. Solche Nivellierung schwäche die Lebenskraft der Volksüberlieferung, deren Grundlagen fest umrissene Regionen, Berufsstände, Altersgruppen, ethnische und religiöse Zugehörigkeit seien. Der F. falle es daher leichter,,oppositionelle' Kultur anzugreifen und die gesellschaftliche Kontrolle zu verstärken. D a ß die Volkskundler ihr Interesse auf Formen populärer Kultur wie die Bürofolklore ausgedehnt haben, hält Fox für ein stillschweigendes Eingeständnis der Schwächung traditioneller Uberlieferung. Einig sind sich Coffin und Fox darin, daß die Folklore-Tradition der Überflutung durch die Medienkultur schwer standhalten könne und infolgedessen von der F. verdrängt werde. Doch während Coffin diesem Prozeß neutral gegenübersteht, ist Fox der Ansicht, daß die Phantasie dadurch erstickt und kulturelle Vielfältigkeit zerstört werde. 26
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Faktizität
Enzyklopädie des Märchens IV
N e u e r d i n g s wird der Begriff F. auch auf G e g e n s t ä n d e angewandt: In s e i n e m A u f s a t z Tourist Archeofolklore in Greece katalogisiert D . L o u k a t o s Souvenir-Artikel, die M y t h e n m o t i v e mißbrauchen (mit P o s e i d o n s Dreizack bestickter B a d e a n z u g , mit A t h e n e s H a u p t g e zierter B r i e f b e s c h w e r e r etc.) 8 . D a s Wort F. ist also zu e i n e m Bestandteil der volkskundlichen T e r m i n o l o g i e g e w o r d e n und hat sich hier als nützlich und hilfreich erwiesen. Für m a n c h e Wissenschaftler impliziert e s m e h r als nur e i n e U n t e r s c h e i d u n g zwischen V e r m i t t lern authentischer V o l k s ü b e r l i e f e r u n g u n d d e n e n , die sie professionell auswerten; sie seh e n in der F. e i n e Kraft mit v e r d u m m e n d e r Wirkung, die die Entfaltung der schöpferischen Phantasie h e m m t und die kulturelle Vielfalt unterdrückt. —> Folklorismus 1 Dorson, R. M.: Folklore and F. In: American Mercury 70 (1950) 3 3 5 - 3 4 3 . - 2 cf. id.: F. In: ZfVk. 65 (1969) 5 6 - 6 4 . - 3 id.: Folklore and F. Essay Toward a Discipline of Folk Studies. Cambr., Mass./L. 1976. - "Legman, G.: The Horn Book. New Hide Park, Ν. Y. 2 1966, 4 9 4 - 5 0 4 und Reg. 5 Coffin, T. P.: Uncertain Glory. Folklore and the American Revolution. Detroit 1971. — 6 ibid., 260. - 7 Fox, W.: Folklore and F.: Some Sociological Considerations. In: JFI 17 (1980) 2 4 4 - 2 6 1 , hier 259, not. 14 (mit Hinweisen auf die Rezeption). — 8 Dorson, R. Μ.: Folklore in the Modern World. In: id. (ed.): Folklore in the Modern World. P. 1978, 1 1 - 5 4 ; Loukatos, D.: Tourist Archeofolklore in Greece, ibid., 1 7 5 - 1 8 2 (Kritische Rez. v. C. L. Perdue jr. In: J A F L 93 [1980] 367sq.).
Bloomington
Richard M. D o r s o n
Faktizität 1. F., die Tatsächlichkeit e i n e s G e g e b e nen, spezieller: G e s c h e h e n e n (lat. factum), hat ihre h ö c h s t e logische G e l t u n g in d e r , K o r r e s p o n d e n z t h e o r i e der Wahrheit', w o sie — w i e in Bertrand Russells , L o g i s c h e m A t o m i s mus' 1 — über die Wahrheit v o n A u s s a g e n entscheidet; e i n e A b k e h r v o m Wahrheitsbegriff der P h ä n o m e n o l o g i e , die das W a h r e nur im G a n z e n v o n , D a s e i n ' u n d , W e s e n ' und in der K o h ä r e n z d e s systematisierten W i s s e n s darüber sieht 2 . D e r G e g e n s a t z der Logiker spiegelt sich im Streit u m d e n hier wichtigen Ereignisbegriff: das factum wird ja erst v o m
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Faktizität
,eventum' (lat. Ausgang, Ergebnis; Ereignis) her erzählbar. Seine F. aber kann im Bericht allenfalls durch Indikatoren oder Signale (Daten, Namen, Beteuerungen etc.) angezeigt, niemals aber aus dem Text allein bewiesen werden. Die reinen Textwissenschaften spielen darum das Ereigniskorrelat gegenüber dem sinngebenden sprachlichen Akt des Abbildens gern als .bedeutungslos', ,erratisch', ,Konsistenzmüll' herab 3 . Zu Unrecht, denn gerade das Zufällige, Nichtvorhersehbare, die „jeweils überraschende Novität" 4 der Wirklichkeit hat eigene Dignität, und das Ereignis bleibt ein „gemeinsames Produkt von Sprache und Realität" (Karl Popper) 5 .
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des) System versteht sich das TatsachenEthos moderner Bericht- und Dokumentarformen von Henri Barbusses ,Tatsachen' bis zu Egon Erwin Kischs und Günter Wallraffs Reportagen.
3. Als Gattungskriterium dient F. schon bei Aristoteles (Poetik, 9) zur Unterscheidung von Dichtung und Geschichtsschreibung, sie wirkt dann aber vielfältig (und noch weithin unerforscht) im Feld poetischer Erzählformen selbst (Historie — Fabel), wird im Verlauf langer Entwicklungen immer wieder aufgegeben und wiedergewonnen, wie der neue und später wieder verlorene F.sanspruch an das Exemplum in Montaignes Essais in12 2. In der literar. Theorie sollte F. einen . struktiv zeigt . Da Erzählungen ihr faktisches Korrelat oft lange überleben und kaum spezielleren und strengeren Realitätsbezug mehr verifizierbar sind, behilft sich die konbezeichnen als die verschiedenen Realismuskrete Klassifikation zuletzt mit der Feststelbegriffe. Realistisches Erzählen definiert sich lung eines „Glauben heischenden" Textes 13 durch Strukturanalogien zu den abgebildeten oder, eine andere Formulierung für dieselbe Verhältnissen', maximal durch Entsprechung Verlegenheit: der Leser wähle die ,Konstituvon Totalität (des Werks) zu Totalität (des tionshinsicht' ,nichtfiktionaler Text' aufgrund Wirklichkeitskonzepts). Das ,Besondere', das gewisser,Momente' und Signale von Text und jeder Erzähler zu erzählen hat, repräsentiert Kontext 14 . Zu beachten ist, daß F. wie alle redabei die Realität symbolisch', ,wesenhaft', ferentiellen Gattungskriterien mit anderen exemplarisch', ,parabolisch' etc.; sein RealiKriterien der ,Rede' zusammenspielt und tätsgehalt vereinbart sich mit Fiktionalität, nicht immer dominant sein muß. die auch von einmontierten ,Realitätspartikeln' 6 , ,Realitätsvokabeln' 7 nicht prinzipiell aufgehoben wird. Das gilt sogar für die Satire 4. Im Bereich der Vk. wurde F. vor allem bis hin zur Einsicht, die Wirklichkeit durch von A. —» Jolles für die —» Einfache Form Phantasie nicht mehr überbieten zu können —» Memorabile geltend gemacht und dazu ei(Karl Kraus: „die grellsten Erfindungen sind ne eigene, auf das Tatsächliche gerichtete Zitate" 8 ); und es gilt für die Simulation des —> Geistesbeschäftigung unterstellt, die im Zufalls zur Demonstration des Absurden: Tatsachenmaterial den merkenswerten Sinn auch hierbei wird eine „Kategorie der Wirkerkenne. Auch für die mit dem Memorabile lichkeit" nur stellvertretend abgebildet 9 . F. weitgehend kongruente —> Anekdote ist F. als als literaturwiss. Terminus sollte hingegen das entscheidendes Merkmal festzuhalten 15 ; statt bare „an-factum-sit" 10 berichteter Sachvervon Geistesbeschäftigung läßt sich vielleicht halte u n d ihre Valenz im Text (nicht nur ihr von Empfänglichkeit, von der „Disposition bloßes Vorkommen) umfassen, das Vorgefalfür Erlebnis und Deutung des Zufalls" 16 sprelen- u n d Gemeintsein des individuellen Erchen. Was H. Bausinger als „übergreifende eignisses, das im übrigen mehrfach deutbar Geisteshaltung" einer „Hinwendung zum sein und sowohl f ü r einen Zusammenhang Tatsächlichen" sieht, läßt diese „heutige zeugen kann („auf daß du gewissen Grund erWirklichkeit, die Welt des Tatsächlichen" alfahrest der Lehre" [Lk. 1,4]; „auf daß die lerdings nur als Stoff in jene Erzählstrukturen Schrift erfüllet werde" [Mk. 14,49] etc.) als fließen, die er, Jolles weiterführend, als fortauch d a g e g e n : so Ivan Karamazovs Sammdauernde Konstanten im —»Alltäglichen Erlung von Geschichten gegen Gott und die zählen aufzeigt (Märchen, Sage, Schwank) 17 . 11 Harmonie der Welt . Aus ähnlichem GegenDer theoretische Status des Faktischen ist satz einzelner,Evidenz' gegen ein (herrschen- hier noch jeweils zu bestimmen, zumal auch
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Falkennovelle - Fallstricke des Bösen
die offenbar ganz tatsachengebundenen Alltagserzählungen den Umformungsprozessen miindl. Erzählens unterliegen, wie es am Beispiel des ,Wanderns' von Arbeitserinnerungen belegt ist 18 . Es ist augenfällig, daß auch solche Geschichten um ihrer Form, ihres Witzes, ihrer ,Bedeutung' willen aus dem ursprünglichen Bezugsrahmen herausgelöst werden und sich dieses ,Eidos' unter der Voraussetzung gleichförmiger Verhältnisse leicht in einer neuen Adaption realisiert. Das F.skriterium kann aber wohl nur dann gattungsentscheidend werden, wenn der ursprüngliche Bezugsrahmen (wie im Fall der Anekdote von der Geschichtsschreibung) mittradiert wird. 1 Die Philosophie des Logischen Atomismus. Aufsätze zur Logik und Erkenntnistheorie 1908—18. Ausw., Übers., Einl. J. Sinnreich. Mü. 1976; cf. auch Prior, A. N.: Correspondence Theory of Truth. In: Edwards, P. (ed.): The Enc. of Philosophy 2. N.Y./L. 1967, 2 2 3 - 2 3 2 ; Eley, L.: Faktum. In: Krings, Η. u.a. (edd.): Hb. phil. Grundbegriffe 1. Mü. 1973, 4 3 6 - 4 4 2 . - 2 Begrifflich angelehnt an Hegels Phänomenologie des Geistes, aber auch E. Husserl und die Existenzialphilosophie mitmeinend; cf. Liebrucks, B.: Reflexionen über den Satz Hegels „Das Wahre ist das Ganze". In: Horkheimer, M. (ed.): Zeugnisse. T. W. Adorno zum 60. Geburtstag. Ffm. 1963, 7 4 - 1 1 4 . - 3 c f . Koselleck, R./Stempel, W.-D. (edd.): Geschichte - Ereignis und Erzählung. Mü. 1973; bes. Stempel, W.-D.: Erzählung, Beschreibung und der hist. Diskurs. In: ibid., 3 2 5 - 3 4 6 , hier 338; F. konsequent auslöschend: Weinrich, H.: Narrative Strukturen in der Geschichtsschreibung. In: ibid., 5 1 9 - 5 2 3 , hier 521; aus der entgegengesetzten Skepsis des Historikers angesichts der Fülle nicht aufgezeichneter Wirklichkeit formuliert ähnlich Borst, Α.: Das hist. „Ereignis". In: ibid., 5 3 6 - 5 4 0 , hier 540 („literarische ,Ereignisse' gibt es, geschichtliche nicht [. . .]"); die wichtigsten Gegenargumente bei Jauß, H. R.: Versuch einer Ehrenrettung des Ereignisbegriffs. In: ibid., 554—560 und Koselleck, R.: Ereignis und Struktur. In: ibid., 560—571; cf. auch die neuerliche Diskussion des Begriffs in derselben Forschungsgruppe: Weinrich, H. (ed.): Positionen der Negativität. Mü. 1975; vor allem einschlägig Stierle, K.: D e r Gebrauch der Negation in fiktionalen Texten. In: ibid., 235—262 und die Diskussionsbeitr.e p. 5 1 9 - 5 4 0 . - 4 Koselleck (wie not. 3) 566. - 5 c f . Keuth, H.: Realität und Wahrheit. Zur Kritik des Kritischen Rationalismus. Tübingen 1978, 11. — 6 c f . Eykman, C.: Erfunden oder vorgefunden? Zur Integration des Außerfiktionalen in der epischen Fiktion. In: Neophil. 62 (1978) 3 1 9 - 3 3 4 , bes. 319sq., 330; ähnlich schon und
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wertvoll durch Vielfalt der Analysen Plessen, E.: Fakten und Erfindungen. Zeitgenössische Epik im Grenzgebiet von fiction und nonfiction. Mü. 1971. - 7 Broch, H.: Das Weltbild des Romans (1933). In: id.: Kommentierte Werkausg. 9,2. ed. P. M. Lützeler. Ffm. 1975, 105 und 115, wo die Spannweite dieses Begriffs bei Broch bes. deutlich wird. - 8 Vorbemerkung zu Die letzten Tage der Menschheit (1918/19), cf. Kraus, K.: Werke 5. ed. H. Fischer. Mü. 1957, 9. - 9 c f . Köhler, E.: D e r l i terar. Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit. Mü. 1973, 103. — 10 Quintilian, Institutio oratoria 3, 11,2. 11 Dostojewskij, F. M.: Die Brüder Karamasoff 5,4. Übers. Ε. K. Rahsin. Mü. 1952; cf. Neureuter, H. P.: Zur Theorie der Anekdote. In: Jb. des Freien Dt. Hochstifts (1973) 4 5 8 - 4 8 0 , hier 479. - 12 cf. Stierle, K.: Geschichte als Exemplum — Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte. In: Koselleck/Stempel (wie not. 3) 3 4 7 - 3 7 5 , hier bes. 3 7 2 - 3 7 5 . - "Wesselski, Α.: Die Formen des volkstümlichen Erzählguts. In: Spamer, A. (ed.): Die dt. Vk. 1. Lpz. 1934, 216—248, hier 221; cf. auch Bausinger, 216sq. 14 Lüthe, R.: Fiktionalität als konstitutives Element literar. Rezeption. In: Orbis litterarum 29 (1974) 1 - 1 5 ; zur Nonfiktionalitäts-Diskussion cf. auch Wiener, O.: Subjekt, Semantik, Abbildungsbeziehungen. In: Schmidt, S. J. (ed.): Text, Bedeutung, Ästhetik. Mü. 1970, 1 —14; cf. ferner als Trendzeichen: Jb. für Internat. Germanistik 3 (1971) und Riha, K.: Ein Beitr. zur Diskussion um FictionNonfiction-Lit. [. . .]. In: Kolbe, J. (ed.): Neue Ansichten einer künftigen Germanistik. Mü. 1973, 2 7 2 - 2 8 9 . - 15 cf. Neureuter (wie not. 11) 4 5 8 - 4 8 0 . - 16 Köhler (wie not. 9) 12; hierher gehört auch das Kriterium .Nachdenklichkeit', cf. Neureuter (wie not. 11) 477—480. — 17 Bausinger, H.: Strukturen des alltäglichen Erzählens. In: Fabula 1 (1958) 2 3 9 - 2 5 4 , hier 242. - " N e u m a n n , S.: Arbeitserinnerungen als Erzählinhalt. In: DJbfVk. 12 (1966) 1 7 7 - 1 9 0 , hier 1 8 2 - 1 8 7 .
Regensburg
Hans Peter Neureuter
Falkennovelle —* Novelle
Fallstricke des Bösen 1. D e r E r z ä h l u n g s t y p A a T h 810. Unter der Überschrift The Snares of the Evil One verzeichnen AaTh eine Erzählung, der es um die Darstellung der Grenzen teuflischer Macht geht. Ihre Normalform besteht aus drei Abschnitten: (1) Ein Ungeborener wird in einer Notlage dem —» Teufel verschrieben. (2) Als der Verschriebene Jahre später vom
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Fallstricke des Bösen
Teufel geholt werden soll, setzt er sich an heiligem Ort in einen —> Zauberkreis und liest die —» Bibel. (3) Der Teufel scheitert bei dem Versuch, ihn aus dem Kreis herauszulocken oder den Kreis zu durchbrechen, und der Pakt ist nichtig. Zu den Abweichungen, die häufiger begegnen, gehört, daß der Verschriebene Geistlicher wird oder daß er den Rat, in einer Kirche oder vor dem Altar, auf dem Friedhof oder an anderer, zumeist geweihter Stätte auf den Bösen zu warten, von einem Priester oder Pfarrer erhält. Gelegentlich endet die Geschichte damit, daß der Teufel gezwungen wird, den Vertrag wieder herauszugeben. Jedenfalls charakterisiert den Handlungsverlauf der Gedanke, daß selbst ein Teufelsbund durch Vertrauen in die Institution der Kirche überwunden werden könne (—» Teufelspakt). Die wesentlichen Motive der Erzählung betreffen die Verschreibung an den Teufel (Mot. S 2 4 1 , S 2 1 1 , M 2 1 1 ; — » Erster, Erstes, Zuerst, —» Jephtha, —> Kind dem Teufel verkauft oder versprochen), die Rettung im magischen Kreis (Mot. D 1381.11, G 303. 16.19.15, cf. D 1272) und die Niederlage des Teufels (Mot. Κ 218.1: Devil cheated by having priest draw a sacred circle about the intended victim). Die Frage, ob es sich bei ihr um einen selbständigen Märchentyp und nicht nur um ein eher zufälliges Motivkonglomerat handelt1, läßt sich nur unter der Voraussetzung positiv beantworten, daß die formale Übereinstimmung von Var.n mit gleichem Motivbestand für die Typenbestimmung ausreicht. Da die Geschichte zuerst als Einl. und im Kontext größerer Erzähleinheiten begegnet, wie im Märchen Der König vom goldenen Berg (KHM 92, AaTh 400: Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau), ist ihre Entstehung durch Loslösung und Bindungsverlust mindestens ebenso wahrscheinlich wie ihr Hervorgang aus einem bewußt gestaltenden schöpferischen Akt. Selbst ob den aus der Erzähltradition aufgezeichneten Belegen eine Sage, ein Exempel oder ein Märchen zugrunde liegt, bleibt unsicher. Der schlechte Ausgang einzelner Var.n, die z.B. den im Teufelskreis Sitzenden vor Angst sterben lassen2, und das gelegentliche Vorkommen von Personennamen (Sir Robert Gordon) 3 , Ortsnamen (Padua, Spanbeck,
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Prangli)4 und Zeitangaben („in einer wilden Novembernacht des Jahres 1704") s weisen auf einen sagenhaften Hintergrund hin. Andere Fassungen, die z.B. dem in der Kirche Betenden die Verschreibung durch die Gottesmutter zurückbringen lassen6, zeigen dagegen die Nähe zum Mirakel und Exempel. Das gilt auch für die Var.n, die den Verschriebenen Priester werden lassen, denn in ihnen wird in der Regel die Primizfeier zum Zeitpunkt der versuchten Einlösung der Verschreibung und damit der Niederlage des Teufels 7 . Immerhin bleibt unbestritten, daß sich die Geschichte in ihrer ,Normalform' über ganz Europa verbreitet hat, mit deutlichem Schwerpunkt in der Fennoskandia. Sie ist auch für Irland, Schottland, Frankreich, den dt. Sprachraum sowie vereinzelt für südl. Länder (Italien, Griechenland) belegt und darüber hinaus bis nach Mexiko vorgedrungen8. Die in einigen Aufzeichnungen des 19. Jh.s bezeugte metaphorische Umschreibung des Teufelsbundes als ,Teufelsschlinge' veranlaßte S. Grundtvig 1861, ihr den Titel Den Ondes snarer zu geben9, der nicht auf alle Var.n des Typs zutrifft. A. Aarne (FFC 3) und S. —> Thompson (FFC 184), die diese Benennung übernahmen, ordneten die Erzählung der Gruppe der Teufelsverschreibungen zu, obwohl sie von ihrem Kerngedanken her eher zum Themenkreis vom geprellten Teufel (AaTh 1170sqq.) gehört hätte. Uber das Alter der Geschichte lassen sich nur Vermutungen anstellen. W. —» Liungman hielt einen oriental. Ursprung für möglich10, trennte dabei aber nicht ihre Gesamtgestalt von den Einzelmotiven. In den ma. Exempelsammlungen fehlt sie, obwohl ähnliche Erzählungen, auch über den magischen Kreis, dem MA. durchaus bekannt waren (cf. Tubach, num. 1068sqq.). Näher steht sie den Büßererzählungen der kathol. Restaurationszeit, vor allem dem Typ AaTh 7 5 6 B : - » Räuber Madej, mit dem sie (ebenso wie mit anderen Erzählungstypen) häufiger verbunden erscheint (-> Buße, Bußaufgaben) 11 , belegt ist sie jedoch erst für das 19. Jh. Auffällig erscheint demgegenüber ihre konfessionelle Ambivalenz. Kathol. Fassungen, in denen Priester, Kapuziner oder der Papst als Ratgeber und Weihwasser als Schutzmittel er-
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scheinen, stehen neben evangel. Ausprägungen, die den Pastor oder den Superintendenten, die Bibel oder das Gesangbuch, den Abendmahlskelch oder die Abendmahlsbrote nennen (—> Abwehrzauber) und die in einem Fall sogar den Helden das Kirchenlied Wach auf, mein Herz und singe (von Paul Gerhardt, 1647) dichten lassen 12 . Welcher der Ausprägungen dabei die Priorität zukommt, läßt sich nicht entscheiden. Eine frz. Fassung, die von einem Gymnasiasten die Fähigkeit zur Abfassung eines lat. Distichons verlangt, deren Mangel zum Anlaß der Teufelsverschreibung nimmt und dem Verschriebenen schließlich durch lehrende Patres zu Hilfe kommen läßt 13 , könnte aus einem Jesuitengymnasium hervorgegangen sein, doch handelt es sich bei den Aufzeichnungen mit so deutlicher konfessioneller Tendenz gewöhnlich um ökotypische Anpassungen. Die Nähe der Geschichte zu den Teufelsbeschwörungen und zum Blutpakt des (protestant.) —» Faust-Buches (Ffm. 1587 u.ö.) ist jedenfalls nicht zu übersehen. 2. Die J a g d m e t a p h e r . Der aus der Jägersprache übernommene Begriff F. selbst bildet seit der Antike einen in Lit. und Kunst des Abendlandes weit verbreiteten Topos 14 . Als ,Fallstricke' werden die Angel (Angelhaken) des Fischers und das Netz des Vogelstellers genannt, daneben auch das Netz des Fischers und die Schlinge des Jägers, ohne daß sich die entsprechenden Bilder immer scharf voneinander trennen lassen. Die antiken Philosophen benutzen die Metapher zunächst, um die Verlockungen der Philosophie zu beschreiben: Nach Demetrios Lakon zieht der auf den Höhen der Weisheit wandelnde Sophos den lernbegierigen Neos mit den Verheißungen der Philosophie in seine Netze 15 . Piaton dagegen glaubt an die unselige ,Verstrickung' des Menschen zum Bösen und sieht die Mittel zu seinem Unglück in ihm selbst angelegt. Sein prägnantes Wort von der Leidenschaft als dem „Köder zum Bösen" (voluptas esca malorum), das Plutarch 16 und Cicero 17 überliefern, wirkte lange nach. Auch die Bibel zeichnet mit dieser Metapher den Menschen als das Opfer einer ihm feindlich nachstellenden Macht. Er ist der Fisch oder der Vogel, der (im Augenblick des Todes) gefangen wird (Pred. 9,12; cf. Jer. 5,
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26), eine Vorstellung, die sich auch, mit direktem Bezug zum ,Teufel als Fallensteller', u.a. bei Hieronymus nachweisen läßt 18 . Die griech. und lat. Kirchenväter bauen diesen Gedanken aus 19 . Ihre Meinung, daß der Teufel den Menschen durch die Laster zum Abfall von Gott verführe, läßt die Todsünden, vor allem Avaritia und Luxuria, zu F.n werden 20 . Fulco von Beauvais (um 1170) vertritt die Ansicht, daß die Verleugnung des Petrus diesen an die ,Angel des Bösen' gebracht habe 21 . Das Bild vom Fischfang erfährt eine Aufwertung durch die Metapher vom ,Meer der Welt' 22 : In ihm schwärmen die Sünder den Fischen gleich umher, bis sie dem ,Fischer' in die Netze gehen. John Lydgates Ubers, von Guillaume de Deguilevilles Pilgrimage of the Life of Man (vor 1425) erzählt, daß Satan im wogenden und trügerischen Meer der Welt die ,Angel der Versuchung' auswerfe 23 . —»• Berthold von Regensburg läßt die ,leidigen tiuvele' vier Stricke legen, deren erste drei er verschiedenen Bevölkerungsgruppen zuordnet: die Unkeuschheit der Jugend, den Stolz und die Eitelkeit den Frauen und den Geiz den alten Leuten. Die Neigung zum Aufschub der Buße, der vierte Strick, sei allen Christen gemeinsam 24 . Daß sich die F. zu einem ganzen Netz von Haupt-, Dekalog- und Ständesünden verdichten können, lehrt die in vier (z.T. bebilderten) Hss. des 15. Jh.s überlieferte alemann. Dichtung Des Teufels Netz, die die Vielfalt möglichen Fehlverhaltens ebenfalls zu einzelnen Standes- und Berufsgruppen in Beziehung setzt 25 . Petrus Berchorius bezieht die F. auf Versuchung, Pein und Verdammnis und sieht ihre Ursache im Stolz des Menschen 26 . 1494 erscheint der Teufel als Fallensteller auf der Illustration zum 92. Kap. (Überhebung der hochfart) in Sebastian —> Brants NarrenschifP1. 1521 wird ein Vogelherd, „auf dem man Narren fing", als ,Hölle' im Nürnberger Schembartlauf gezeigt 28 . Die Darstellung des Themas im Fastnachtbrauch war sinnvoll, weil das Meßformular des folgenden Sonntages die Befreiung aus dem ,Fallstrick des Jägers' besang 29 . Auch der Emblematik war das stets negativ konnotierte Thema bekannt. Die Illustration eines Einblattdruckes Miles christianus (1609) führt den Teufel und Frau Welt mit einem
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Netz für die in Sünden sterbenden Menschen vor 30 . Johann Christoph Kolb erklärt 1708 die ,Verzweifflung Judae' durch das Bild des in der Schlinge des Voglers erstickten Vogels 31 , wie überhaupt die Welt als Vogelfalle oder -käfig — mit einem Bild des hl. Augustinus auch als Mausefalle 3 2 — gezeigt wird 33 . Anthonius Ginther läßt Maria als Taube dem ,Vogelherd dieser Welt' entgehen 3 4 . Die Erbauungsliteratur greift den Topos ebenfalls auf. Aegidius —» Albertinus beschreibt 1616 den Teufel als Jäger, Vogelsteller oder Fischer: „Etlichen spannet er die Garn für, andere überzieht er mit dem Netz, andern legt er heimliche verborgene Fallstrick, andern machet er Gruben, darein sie fallen" 35 . Daß die Polemik des konfessionellen ZA.s dazu führte, Jesuiten als teuflische Fallensteller zu zeigen, belegt ein Kupferstich (Der Rom. Vogelherd, 1623) 3 6 . Entsprechende Bilder gehen von der homiletischen Tradition, die die Frau als wirksamste Lockspeise des Teufels beschreibt, auf die weltliche Liebesmetaphorik über 37 . Dabei wird der teuflische Versucher, der die F. auswirft, in der Regel durch die verführerische Frau ersetzt 38 . Mit dem Rückgang der Vogelstellerei, wie überhaupt der Zurückdrängung oder Ablösung herkömmlicher Jagdmethoden im Z A . der Industrialisierung, verliert der Topos seine reale Vergleichsgrundlage, so daß er rasch verschwindet. I Liungman, Volksmärchen, 218. — 2 Henßen, G.: Volk erzählt. Münster 1935, num. 42; cf. Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meyenburg 1. Wien 1879, num. 113. - 3 DBF Β 1, 132sq. - "ibid.; cf. Schambach, G./Müller, W.: Niedersächs. Sagen und Märchen. Göttingen 1855, num. 169; Loorits, O. (ed.): Estn. Volkserzählungen. B. 1959, num. 161. - 5 (wie not. 3) 133. 6 Loukatos, D. S.: Neoellenika laographika keimena. Athen 1957, num. 13. - 7 cf. Pfeifer, V.: Spessart-Märchen 3. Aschaffenburg 1920, 5 — 9; Kosch, M.: Volksmärchen aus Mähren. Kremster 1899, num. 13. — 8 Ergänzend zu AaTh cf. 0 Suilleabhäin/Christiansen, Aräjs/Medne, Cirese/Serafini, Kecskemeti/Paunonen, SUS, Flowers, Robe. — 9 cf. Lunding, num. 59; Grundtvig, S.: Gamle Danske Minder 3. Kop. 1861, 7. - 10 Liungman, Volksmärchen, 218. II cf. z.B. Pröhle, H. (ed.): Märchen für die Jugend. Halle 1854, num. 63 (Barrabas). - 12 Schambach/Müller (wie not. 4). — 13 Teneze, M.-L./ Hüllen, G.: Begegnung der Völker im Märchen. 1:
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Frankreich-Deutschland. Münster 1961, num. 14. - 14 Röhrich/Meinel 1971. - 15 Schmid 1955, 445. - 16 Plutarch: Große Griechen und Römer 1. ed. K. Ziegler. Zürich/Mü. 21979, 323 (Marcus Cato, 2); cf. Koppenfels 1973, 33. - 1 7 Cicero: Scripta quae manserunt omnia 47. ed. K. Simbeck. Stg. 1971, 23 (Cato Maior de senectute liber, 13, 44). — 18 Eusebius Hieronymus: Commentariorum in Amos prophetam 1, 3. In: MPL 25,1015sq., num. 254; [anonym:] Enarratio in Arnos prophetam 3. In: MPL 117, 111 (früher Heimo von Halberstadt zugeschrieben). - 19 Basilius Magnus: Regulae Fusius Tractatae, Interrogatio/Responsio 17,2. In: MPG 31, 964 B, num. 360; Gregorius Episcopus Nysseni: De vita Moysis. In: MPG 44, 421 sq. — 20 Ambrosius: In psalmum CXVIII expositio. In: MPL 15, 1405sq., num. 3 5 - 3 7 ; Augustinus: Sermo CCCXI, cap. 3. In: MPL 38, 1415; Pitra, J. B.: Spicilegium Solesmense 3. P. 1855, 470 sq. 21 Fulcoi'us Beluacensis: Utriusque de nuptiis Christi et ecclesiae libri septem. ed. Μ. I. J. Rousseau. Wash. 1960, V. 11.129; cf. Koppenfels 1973, 45. - 22 cf. Rahner, H.: Symbole der Kirche. Salzburg 1964, 272-303; Schmidtke, D.: Geistliche Schiffahrt. In: Beitr.e zur Geschichte der dt. Sprache und Lit. 91 (1969) 357-398; 92 (1970) 115-177. - 23 Deguileville, G. de: The Pilgrimage of the Life of Man 2. English by J. Lydgate, a.d. 1426. ed. F. J. Furnivall. L. 1901, V. 11.239; cf. Kroonce 1959, 180-182. - 24 Berthold von Regensburg: Vollständige Ausg. seiner [dt.] Predigten 1. ed. F. Pfeiffer. Wien 1862, 408-423, num. 26; 474-487, num. 30; t. 2. ed. J. Strobl. Wien 1880, 137-144, num. 50. - 25 Barack, Κ. A. (ed.): Des Teufels Netz. Stg. 1863; cf. Ehlers 1973, 133-146.
- 26 Berchorius, P.: Opera omnia, sive reductorium, repertorium et dictionarium morale 3. Köln 1731, 230. - 2 7 Brant, S.: Das Narrenschiff, ed. M. Lemmer. Tübingen 21968, 240. Weitere Darstellungen: Die Welt des Hans Sachs. 400 Holzschnitte des 16. Jh.s. Nürnberg 1976, num. 143; Brednich 1978, 18; Mauquoy-Hendrickx, M.: Les Estampes des Wierix 2. Catalogue raisonne. Bruxelles 1979, num. 1472; ein undatiertes gedr. Heiligenbildchen zur „Decollatio S. Joannis Baptistae", das den Teufel mit F.n zeigt, besitzt die Univ.-Bibl. Fbg (Signatur: Μ 2883, m). - 28 cf. Roller, H.-U.: Der Nürnberger Schembartlauf. Tübingen 1965, 133sq.; Küster, J.: Spectaculum vitiorum. Studien zur Intentionalität und Funktion des Nürnberger Schembartlaufes. Diss. Fbg 1983 [im Druck]. — 29 cf. z.B. Liber usualis missae et officii. Rom/Tournai 1923, 476sq. - 30 cf. Wang 1975, 156sq. und Abb. 16. 31 Kolb, J. C.: Cor laetificans Castrum doloris Christo redemptori. Oder: Hertzerquickende Trauer-Bühne. Augsburg 1708, Emblem num. 13; cf. Schilling 1979, 151 und Abb. 18. - 32 cf. Riviere 1929; Picinelli, F.: Mundus symbolicus in emble-
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matum universitate formatus [. . .]. Köln 1729, VIII, num. 232, 235 (Die Welt ist eine Mausefalle, in die der Teufel die Menschen mit dem Köder irdischer Ehren und Genüsse lockt). - 3 3 cf. Schilling 1979, 1 4 6 - 1 5 3 , 2 0 0 - 2 0 7 . - 3 4 G i n t h e r , Α.: Mater amoris et doloris. Augsburg 1726, Emblem 61; cf. Schilling 1979, 152, 284, num. 19. - 35 Albertinus, Α.: Lucifers Königreich vnd Seelengejaidt (Mü. 1616). ed. R. von Liliencron. B./Stg. s.a., 22sq. - 3 6 c f . Coupe 1966, Tafel 81, num. 108; Brednich 1978, 17sq. und Abb. 2; Schilling 1981. - 37 cf. Koppenfels 197 3. - 3 8 cf. Brednich 1978, 22. Lit.: Riviere, J.: „Muscipula diaboli". Origine et sens d'une image augustinienne. In: Recherches de theologie ancienne et medievale 1 (1929) 4 8 4 496. - Robertson, D. W.: Why the Devil Wears Green. In: Modern Language Notes 69 (1954) 4 7 0 - 4 7 2 . - Schmid, W.: Die Netze des Seelenfängers. Zur Jagdmetaphorik im phil. Protreptikos des Demetrius Lacon. In: La Parola del Passato 10 (1955) 4 4 0 - 4 4 7 . - Courcelle, P.: La Colle et le clou de l'äme dans la tradition neo-platonicienne et chretienne. In: Revue Beige de Philologie et d'Histoire 36 (1958) 7 2 - 9 5 . - Kroonce, B. G.: Satan the Fowler. In: Medieval Studies 21 (1959) 1 7 6 184. - Classen, C. J.: Unters.en zu Platons Jagdbildern. B. 1960. - Courcelle, P.: Escae malorum. In: Festschr. L. Hermann. Brüssel 1960, 2 4 4 - 2 5 2 . — Sieber, F.: Volk und volkstümliche Motivik im Festwerk des Barocks. B. 1960, 1 1 4 - 1 2 0 . Appuhn, H.: Die Jagd als Sinnbild in der norddt. Kunst des MA.s. Hbg/B. 1964. - Coupe, W. Α.: The German Illustrated Broadsheet in the 17th Century 1 - 2 . Baden-Baden 1 9 6 6 - 6 7 . - Röhrich, L./Meinel, G.: Redensarten aus dem Bereich der Jagd und der Vogelstellerei. In: Festgabe K. Lindner. B./N.Y. 1971, 3 1 3 - 3 2 3 . - Ehlers, Α.: Des Teufels Netz. Stg./B./Köln/Mainz 1973. Koppenfels, W. von: Esca et hamus. Beitr. zu einer hist. Liebesmetaphorik. In: SB.e der phil.-hist. Kl. der Bayer. Akad. der Wiss.en (1973) H. 3, 3 9 52. - Röhrich, Redensarten, 255, 305 sq., 682sq. Wang, Α.: Der ,miles christianus' im 16. und 17. Jh. und seine ma. Tradition. Bern/Ffm. 1975. - Brednich, R. W.: Der Vogelherd. Flugbll. als Qu.n zur Ikonograhie der Jagd. In: Rhein.-westfäl. Zs. für Vk. 24 (1978) 1 4 - 2 9 . - Schilling, M.: Imagines mundi. Metaphorische Darstellungen der Welt in der Emblematik. Ffm./Bern/Cirencester 1979. — id.: „Der Rom. Vogelherdt" und „Gustavus Adolphvs". Neue Funde zur politischen Publizistik J. W. Zincgrefs. In: G R M 62, N.F. 31 (1981) 2 8 3 - 3 0 3 .
Münster
Fama —» Gerücht
Dietz-Rüdiger Moser
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Familie 1. Grundsätzliches - 2. Märchen - 2.1. Darstellung der F. im Märchen - 2.2. Deutungen - 2.3. Struktur — 3. Ballade - 4. Sage - 5. Schwank und Witz - 6. Wahre Geschichten - 7. Zusammenfassung
1. G r u n d s ä t z l i c h e s . Innerhalb menschlicher Gemeinschaften ist die F. die wichtigste und natürlichste Primärgruppe. Dies spiegelt sich in Religions- und Rechtssystemen, in Sitte und Brauch aller Kulturen: Einheit der F., Sorgepflicht den Kindern, Gehorsam und Achtung den Eltern gegenüber sind grundlegende Ideen, welche weithin die stammesmäßigen und staatlichen Organisationen bestimmen 1 . Da die F. jedoch naturgemäß reich an gegenseitigen Abhängigkeiten und an starken Emotionen ist, liegt in ihr der Kern unendlich vieler —> Konflikte. Zu den geläufigen Motiven der Lit. und der Volkspoesie gehören daher nicht nur Liebe und Opferbereitschaft, sondern auch F.nkonflikte. Ferner sind Gemeinschaftshaftung für die einzelnen F.nmitglieder und Blutrache wichtige Themen der Überlieferung 2 . Die Untersuchung mußte auf vornehmlich europ. Material beschränkt bleiben. Da in den behandelten Gattungen zudem meistens nicht die Groß-F., die Sippe oder der Stamm erscheint, ergibt sich eine zweite Abgrenzung: Im Mittelpunkt steht vor allem die Klein-F.
2. M ä r c h e n 2.1. D a r s t e l l u n g d e r F. im M ä r c h e n . Im europ. Zaubermärchen spielt die F. sowohl thematisch als auch strukturell eine beherrschende Rolle 3 . Im Elternhaus nimmt die Handlung meistens ihren Anfang 4 , oder es dient dem —»Helden als Hintergrund, von dem er sich dreimal entfernt, bevor er endgültig seine eigene F. gründet (AaTh 510A: —> Cinderella·, 530: —> Prinzessin auf dem Glasberg). Als Königssohn löst der Held oft den alten Königsvater ab (z.B. AaTh 402: —> Maus als Braut·, 550: —> Vogel, Pferd und Königstochter, 551: Wasser des Lebens), als aufgestiegener Held kehrt er zu seiner F. noch einmal zurück, um Anerkennung zu finden 5 .
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Familie
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Bei sog. Naturvölkern (z.B. Hottentotten), die einzelnen haben keine selbständigen Rol14 für welche die sie umgebende Wildnis eine ' len . feindliche Welt ist, bedeutet die F. nicht AusEs wird oft die (meist außergewöhnliche) gangspunkt, sondern Ziel der Märchenhand- —> Empfängnis und/oder —• Geburt, weniger lung: Die Flucht vor dem Dämon endet in der jedoch die Kindheit des Helden geschildert. Schutzsphäre der F. 6 ; cf. die europ. Varianten Der typische Held des Volksmärchens ist der von —> Rotkäppchen (AaTh 333), Hansel junge Mensch, dessen Schicksal bis zur und Gretel (AaTh 327 A) und —» Mädchen- —»Hochzeit verfolgt wird 15 . In Märchen mit mörder (AaTh 311), in denen die Flucht aus zwei Sequenzen hingegen wird auch von der dem Wald ebenfalls in der F. endet. Umher- Heirat des Helden, öfter jedoch von jener der ziehende Hirten- und Viehzüchtervölker hin- Heldin erzählt. Ehe und Elternschaft der Helgegen erzählen — ähnlich den europ. Völkern dengeneration interessieren im Volksmär— gerne von Aufbruch und Wanderung des chen indessen nur, wenn sie mit retardierenHelden 7 . In der Märcheneinleitung wird oft den Motiven verbunden werden können 16 : gezeigt, wie der Held innerhalb der F. Vor der endgültigen Erfüllung wird die Helschlecht behandelt wird, sogar gefährdet ist. din, samt ihren neugeborenen Kindern, erAuch auf sein weiteres Schicksal wirken oft neut tödlich bedroht: Ihre Stiefmutter und F.nmitglieder ein: Aufopfernde Unterstüt- Stiefschwester verfolgen sie in ihrer neuen F. zung, noch öfter jedoch böswillige —> Schädi- (AaTh 403: Die schwarze und die weiße gung, beeinflussen seinen Weg. So beobachtet —* Braut·, 450: —> Brüderchen und SchwesterM. Lüthi, daß der Märchenheld in der —> Au- chen; cf. —> Braut, Bräutigam), die feindlißenwelt und in der Natur im wesentlichen gut chen Schwestern und die eifersüchtige aufgehoben, in der F· hingegen bedroht ist8. Schwiegermutter zerstören vorübergehend Die Möglichkeit eines glücklichen F.nlebens ihr Glück (AaTh 707: Die drei goldenen wird für den Helden in die Zukunft verlegt: Söhne; 451: —> Mädchen sucht seine BrüSeine —»Ehe ist zwar Ziel, jedoch kein Ge- der, 706: —> Mädchen ohne Hände). In den 9 genstand des Märchens . In Märchen der is- Märchentypen AaTh 303: Die zwei —> Brülam. Länder (und auch bei polygamen Natur- der, 400: —> Mann auf der Suche nach der vervölkern) geht der Held mitunter mehrere lorenen Frau, 313 C: Girl as Helper, 425 A: Ehen ein 10 . Die F. des europ. Märchens ist die —> Amor und Psyche erwachsen nach der Kern-F., —> Großeltern und übrige Verwand- Hochzeit ebenfalls neue Schwierigkeiten: Der te spielen kaum eine Rolle, Tanten, Onkel, siegreiche Bräutigam wird verzaubert, der —» Schwager und Schwägerin treten selten, mühsam gewonnene Partner entschwindet dann aber fast immer als Feinde auf. Die (cf. auch Mot. D 2003). wichtigste Ausnahme bilden die —»TierDer Märchenheld ist der —> Jüngste in der schwäger (AaTh 552). Im Gegensatz zum euF., oft auch scheinbar ein —> Dummling, und rop. spielen Schwager und Schwägerin der doch wird gerade er den alten —» König ablöBraut z.B. im nordind. Märchen eine wichtisen oder im fremden Reich Herrscher wer11 ge, z.T. positive Rolle . In europ. Erzählun- den, im Gegensatz zum realen Brauch, nach gen bringt der verwitwete —» Vater oft eine dem in der Regel der Älteste die Leitung in feindliche —»Stiefmutter ins Haus (z.B. in der F. übernimmt 17 (cf. —»Achtergewicht). KHM 13, 21,47,49, 53). Andere Formen der Die Sympathie für die Jüngsten in der F. verkünstlichen Verwandtschaft sind —» Adop- liert jedoch ihre Vorherrschaft außerhalb der tion, —> Blutsbrüderschaft, Gevatterschaft europ. Erzählungen. In den chin. Aschenput(-» Pate) 12 . ie/-Redaktionen z.B. ist die Älteste die gute Heldin 18 . Der Lieblingsheld der korean. MärDen Aktionen der feindlichen Stiefmütter chen ist nicht der jüngste, sondern der älteste entsprechen bei polygamen Völkern oft die Bruder 19 . Die Eigenschaften des Märchenhelbösen Taten der Konkubinen 13 . In Europa handelt es sich meist um kleine den und sein Schicksal werden oft erst im ZuF.n mit einem einzigen, mit zwei oder drei sammenspiel mit seinen Geschwistern oder —> Kindern. Sechs, sieben, zwölf und sehr vie- im Kontrast zu ihnen richtig erfahrbar: Der le Kinder erscheinen als geschlossene Einheit, Heldin stehen neidische —* Schwestern oder
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Familie
—>Stiefschwestern gegenüber, geliebte Brüder, die sie erlöst und von denen sie später gerettet wird (AaTh 451). Bei kindlichem Bruder-Schwester-Paar dominieren aufopfernde Hilfe und gegenseitige Unterstützung (AaTh 450; 327 A). Im Zweibrüder-Märchen wird der Held von seinem Bruder erlöst (AaTh 303), im Dreibrüder-Märchen stehen ihm dagegen zwei erfolglose, oft zwei ihm feindliche Brüder (cf. —» Bruder, Brüder), im Typ AaTh 315 eine treulose —> Schwester gegenüber 20 . Das feindliche geschwisterliche Verhalten dem Helden gegenüber äußert sich in Hochmut (—> Demut und Hochmut), mißgünstiger Nachahmung (AaTh 676, 954: ^ Ali Baba und die vierzig Räuber, 480: Das gute und das schlechte —> Mädchen·, Frau Holle), —» Verleumdung und kann bis zum —> Mord (AaTh 780: —> Singender Knochen) und Mordanschlag gehen. Die Formen der elterlichen Schädigung sind noch mannigfaltiger. Vater, Mutter und Stiefmutter schaden dem Helden und liefern ihn großer Gefahr aus, weil sie schwach, ratlos und unachtsam sind oder weil sie sich in einer —» Mangelsituation befinden. Oft genug bedrohen und verfolgen sie ihn jedoch aus —>Bosheit. Die Schädigung kann schon vor der Geburt stattfinden: Ein übermäßiger Wunsch nach einem Kind hat zur Folge, daß der Nachkomme ein Tier, ein Däumling oder gar ein teuflisches Wesen ist (AaTh 430: —> Asinarius; 441: —> Hans mein Igel·, 700: —> Däumling·, 307: —» Prinzessin im Sarg). Der Vater (seltener die Mutter), in Not geraten, verspricht sein Kind einem Dämon, dem Teufel (cf. —> Kind dem Teufel verkauft oder versprochen; —> Jephtha) oder dem ->Tierbräutigam (AaTh 310; 313A; 314; 316; 400; 425 A; 500; 706; 756B; 811; Mot. S 211; S 222; S 240) 21 . Verzweiflung und —>Affekt spielen auch bei unüberlegter —> Verwünschung (AaTh 451; 400), -* Inzest (AaTh 510B; 706; 870; 931; 933) oder Prahlsucht (AaTh 500) eine Rolle 22 . Auch Schäden wie —» Krankheit (AaTh 551), Raub (AaTh 530; 550), Armut (AaTh 710: Marienkind ; 327 A) haben zur Folge, daß Eltern ihre Kinder großer Gefahr aussetzen 23 . Absichtliche Schädigungen sind —» Aussetzung und Vertreibung der Kinder (AaTh 403; 450; 480; 502; 706), Demütigung, Entzug von Nahrung, schlechte Behandlung (AaTh
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510A; 511: —»Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein·, 530) und kaltblütige Verwünschung (AaTh 450; 451) 24 . Die extreme Form elterlicher Schädigung ist der (stiefmütterliche und väterliche —» Mord oder Mordversuch (AaTh 450; 451; 480; 590; 671; 709; 720 u.a.) 25 . Auch Schwiegereltern sind für den Helden gefährlich: Eifersüchtige Schwiegermütter verleumden ihre Schwiegertöchter, hochmütige Schwiegerväter stellen dem unerwünschten —»Freier oft lebensgefährliche Aufgaben (AaTh 313; 461; 513). Die - * Strafe für boshafte F.nangehörige ist oft extrem grausam (cf. —»Grausamkeit), das Urteil wird meistens nicht von den Opfern selbst ausgesprochen 26 : Der König oder sein Gericht bestraft die böse Stiefmutter und Schwiegermutter der Heldin 27 oder erreicht es, daß jene sich ihr eigenes Urteil sprechen 28 . Die falschen Brüder werden vom Königvater 29 , die falschen Schwestern von übernatürlichen Wesen bestraft 30 . Den extremen Schädigungen und Strafen stehen im Märchen die —» Erlösung 31 und die jenseitige Hilfe (—» Helfer) gegenüber. So erlöst die Schwester ihre Brüder, die Heldin ihren Bräutigam, der Held seine Braut aus Tiergestalt. In Erzählungen der Naturvölker wird der Tierpartner nicht erlöst; die F. besteht aus menschlichen und aus tierischen Partnern, wobei letzterer oft seine Gestalt wechseln kann. Auch die Kinder gehören zur Grenzwelt zwischen Mensch und Tier, und das Märchen endet oft tragisch mit einer ewigen Trennung 32 . Die verzauberte Gestalt ist auch im europ. Märchen nicht immer erlösungsbedürftig: Die sorgende Mutter (seltener der Vater) kehrt aus dem Jenseits als Tier oder Baum zurück, um ihrem bedrängten Kind beizustehen (z.B. in AaTh 403; 510A; 511; 511A) 3 3 . 2.2. D e u t u n g e n . Die konsequente thematische Gegenwart der F. im Märchen, die tödlichen Spannungen, die in ihr herrschen, sowie die Jugend des Helden und seine erfolgreiche Lösung aus der elterlichen Bindung (oder aber seine Machtübernahme) haben die Tiefenpsychologie verschiedener Richtungen veranlaßt, im Märchen Allegorien von Entwicklungsprozessen und symbolische Abbildungen realer F.nkonflikte zu erblicken 34 (cf.
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—» Psychoanalyse). In der psychoanalytischen und religionswiss. Rezeption des Märchens lassen sich fünf Richtungen beobachten: (1) Die Märchen zeigen Möglichkeiten von Projektionen: eigene Ängste, Haßgefühle und vor allem ödipale Konflikte werden in Eltern und Geschwister hineingelegt. (2) Die böse Mutter, die Hexe, der dämonische oder grausame Vater sind effektiv die dunklen Seiten oder dunklen Träume der wirklichen Eltern; deren Doppelgesichtigkeit erlaubt es, sie gleichzeitig als böse (Hexe) und gut (tote Mutter) zu erleben. (3) F.nmitglieder im Märchen sind archetypische Bilder für innerseelische Komponenten. (4) Märchen entwerfen Initiationsmuster. (5) Nach der praktischen Anwendbarkeit des Märchens als Identifikationsmuster im diagnostischen und therapeutischen Geschehen fragt der Psychologe, der Psychiater, der Psychotherapeut 35 .
2.3. S t r u k t u r . Neben der thematischen Bedeutung haben die extrem polarisierten familiären Beziehungen vor allem in der Morphologie des Märchens wichtige Funktionen. Die Spannungen zwischen (Stief-)Eltern und Kindern, die Feindseligkeiten unter Geschwistern, die Nöte der Elterngeneration bilden oft die für das Schema des Zaubermärchens unentbehrliche Schädigung oder Mangelsituation 36 . Stiefverwandte stellen nicht selten die nötigen Gegner im Märchen 37 . Darüber hinaus leiht die F. dem Märchen ihre eigene Strukturierung: Lüthi spricht hier von ElternKinder-Schema, Geschwister-Schema, Brautwerbungsschema 38 . Auch die paradigmatische —> Isolation des Helden zeigt sich bereits innerhalb seiner F.: Er ist der Jüngste, der Ausgestoßene, der Andersartige 39 . 3. B a l l a d e . Die Vorherrschaft familiärer Grundkonflikte bestimmt das Gesicht der größten Balladengruppe, der sog. F.nballaden 40 . Während die F.nkonflikte im Märchen oft nur den Rahmen der Handlung bilden, konzentriert sich die Ballade auf das F.ndrama 41 . F.nkonflikte entspringen in der Ballade - unmittelbarer als im Märchen - dem realen Leben: Standesdenken, soziale Probleme, seelische Konflikte, Gefühle, Gewohnheitsund F.nrecht, Sippenzwang gehören zu ihren wichtigsten Themen, während das Märchen diese weitgehend stilisiert und sublimiert hat 42 . Vor allem zeigt die Ballade den Menschen als einen im engen F.nraum eingesperr-
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ten und selbstbezogenen. Dies wird schon aus der großen Verbreitung des —» Inzestthemas ersichtlich: Die Ballade thematisiert alle möglichen Verstrickungen verschiedener F.nmitglieder in tragische Liebesbeziehungen 43 . Eine zweite Gruppe tödlicher F.nkonflikte dreht sich um die Ehe: Grausame Eltern verstoßen, verfluchen und ermorden ihre Kinder oder deren Geliebte, um eine nicht standesgemäße Ehe zu verhindern 44 . In anderen Balladentypen erzwingt die F. eine reiche Hochzeit. Eltern verkaufen sogar zu diesem Zwekke ihre Tochter an Fremde, an Räuber oder an den Teufel 45 . Nicht weniger unerbittlich sind Mütter, die lieber ihre Kinder verfluchen oder vergiften, als daß sie sie heiraten lassen (Prince Robert·, Der Mutter Fluch)46. Mit vereinten Kräften ermordet die F. die Tochter wegen ihres unehelichen Kindes, töten Eltern den unerkannten Sohn um seines Geldes willen (Lady Maisry; Die Mordeltern)47; nicht seine zur Hilfe gerufene F., sondern der Geliebte erlöst das tödlich bedrohte Mädchen (Die Losgekaufte)48. Zu unvorstellbarer Grausamkeit ihrer Schwiegertochter gegenüber ist auch die Schwiegermutter fähig (Die grausame Schwiegermutter)*9. Die ledige Mutter tötet ihre Neugeborenen aus Angst vor Schande (Die Rabenmutter)50, die selbstsüchtige liefert ihre Kleinen wilden Tieren und dem sicheren Tod aus (Die verführte Frau und grausame Mutter)51·, ohne ersichtliche Gründe lassen Eltern ihr Kind verhungern (Das hungernde Kind)52. Die Sünden der mittleren Generation gegen die Eltern reichen von Undankbarkeit bis zum Mord (Der undankbare Sohn; Mord für die Geliebte·, Der Elternmörder)53. Auch geschwisterliche Konflikte enden meistens tragisch: Schande (Der grausame Bruder), Inzest (Lady Jean), verletzter Stolz (The Cruel Brother), Neid und Eifersucht (Der singende Knochen; The Twa Sisters), Wildheit (The Twa Brothers) führen zum Mord oder Selbstmord 54 (cf. —» Bruder, Brüder; —» Schwester). Unter den F.ntragödien sei schließlich der Gattenmord erwähnt (Der ehebrecherische Gatte·, Die Gattenmörderin)55. Neben feindlichen F.nmitgliedern gibt es in der Ballade auch die Retter und Rächer: Brüder finden ihre verlorene Schwester und führen sie heim (Die wiedergefundene Schwe-
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ster)56, befreien die entführte Schwester oder nehmen Rache an ihrem Mörder (Ulinger/Ulrieh)57. Blutrache auch für Vater, Brüder und Sohn ist schwere Pflicht des in seiner F. verwurzelten Balladenhelden. Auch die Heldin nimmt schreckliche Rache für ihre Brüder 58 . Die gute Schwester opfert für den zum Tod verurteilten Bruder ihre Keuschheit (Anna Fehir) oder menschliche Würde (Die treue Schwester)59, Heldenhaftigkeit zeichnet die Königstochter aus, die für ihren Vater Soldat wird (Die Königstochter im Heeresdienst)60. Wie im Märchen, so sind die gute Mutter und die böse Stiefmutter auch in der Ballade beliebt (Waise und Stiefmutter)61, diese kennt allerdings auch die gute Stiefmutter (Die brave Stiefmutter)62. Die F. spielt in der Ballade auch in formaler Hinsicht eine bedeutende Rolle: Zahlreichen Liedern leiht sie ihre Struktur. Dies ist vor allem im Gerüststrophenlied (incremental repetition) der Fall, wo verschiedene F.nmitglieder angerufen, beerbt, verflucht oder gesegnet werden, wobei die letzte Strophe den Grundkonflikt oder das Schicksal des Helden enthüllt 63 . 4. Sage. Präsenz und Wichtigkeit der F. in der Sage werden in der Forschung unterschiedlich eingeschätzt. Die Positionen reichen von der Auffassung, daß die Sage der Welt der Sippe entspringe, daß sogar im Naturgeschehen die Toten der F. fortwirken, bis zu der Feststellung, daß in der Sage die Rolle der F. gering sei 64 . Märchen und Balladen zeigen ihren Helden im Geflecht der F.nbeziehungen, in der Sage wird meistens von einem unerhörten Ereignis zwischen zwei isolierten F.nmitgliedern oder zwischen einem Toten und einer nicht näher gegliederten F. erzählt. Dies entspricht der Eigenschaft der Sage, in der vornehmlich von einem .Einsamkeitserlebnis' berichtet wird. Nicht nur das Märchen, auch die Sage isoliert nämlich ihren Helden, und zwar durch das außerordentliche Erlebnis 65 . Sie isoliert jedoch auch das außerordentliche Ereignis durch ihre Neigung zur einepisodischen Kurzerzählung 66 . Was im Märchen oft nur Aufbaustein ist, erscheint, weil ungewöhnlich und daher bemerkenswert, in der Sage um seiner selbst willen, so ζ. B. das —» Kind dem Teufel verkauft oder verspro-
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chen, die sorgende tote —* Mutter, der Mord an F.nmitgliedern, die Erlösung etc. In Sagenerzählungen von lebenden F.nmitgliedern ist das Hauptthema eine tragische, ja tödliche Verschuldung, ein schwerer Konflikt, der oft genug in Mord endet: Kinder werden unbedacht verwünscht 67 , an ein dämonisches Wesen verkauft oder versprochen 68 , es wird ihnen der elterliche Segen verwehrt 69 , sie werden ermordet 70 . Der frevelhafte Sohn mißhandelt und verspottet seine alte Mutter, seinen Vater 71 . Bruder-, Schwester- und Gattenmord, Mord an der unerwünschten Schwiegertochter sind wiederkehrende Motive 72 . In der Teufels-Lit. der Reformationszeit wird vor allem der Teufel für tragische F.nkonflikte verantwortlich gemacht: Zwietracht, Pflichtvergessenheit, Mord, Selbstmord, sogar Kannibalismus in der F. sind nicht selten sein Werk 73 . Die meisten Sagen jedoch, die eine außergewöhnliche Begebenheit zwischen F.nmitgliedern schildern, handeln von Beziehungen zwischen Toten und Lebenden (cf. —»Lebender Leichnam, —» Wiedergänger). Dies entspricht dem Wesen der Sage, in der sich zwei Ebenen, die des „täglichen Menschen" und die des mythischen oder zauberischen Bewußtseins schneiden 74 . In seinem Erlebnis ist der Sagenmensch zwar isoliert, durch die F.nbande ist er jedoch mit seinen Verwandten schicksalhaft verbunden: Die Fürsorgepflicht, die Liebe, die Schuldigkeit brechen nicht mit dem Tod ab, F.nmitglieder sind über das Grab hinweg voneinander abhängig. Tote Mütter kehren zu ihren Säuglingen, zu ihren Kindern zurück, um sie zu pflegen 75 , um die böse Stiefmutter, den sorglosen Vater zu strafen und zu bessern 76 . Auch der tote Vater sorgt für seine Kinder und schützt sie vor Gefahr 77 . Die Pflichten der Kinder hören mit dem Tod der Eltern ebenfalls nicht auf: Zu ihren Lebzeiten gemachte Schulden müssen von ihren Kindern beglichen, ihre Pflichten übernommen, ihre Frevel und Sünden gutgemacht 78 , ihre Seelen erlöst werden 79 , nur so finden sie die ewige Ruhe. In anderen Sagen können sich Tote nicht von ihrer F. trennen, nehmen am F.nleben teil, essen am Tisch, sitzen in der Zimmerecke 80 . —> Hausgeister oder —» Schutzgeister sind auch oft tote F.nmitglieder 81 . Überstarke
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F.nbande sind jedoch gefährlich: Die Toten finden ihre Ruhe nicht, die Mutter holt ihr Kind, die Frau ihren Mann ins Jenseits (Nachzehrer), Kinder und Eltern, um die man allzusehr trauert, müssen umgehen und die um sie geweinten —»Tränen sammeln 82 (cf. AaTh 769: —* Tränenkrüglein). Auch das negative Verhältnis zwischen toten und lebendigen F.nmitgliedern ist wichtiges Thema der Sage: Die Pietätlosigkeit toten Eltern gegenüber wird bestraft 83 , tote Eltern bedrohen ihre frevelhaften Söhne aus dem Jenseits 84 , das tote Kind, das man allzusehr verwöhnt hatte, muß am Grabe gezüchtigt werden 85 , der grausame Verwandte nach seinem Tode ruhelos umgehen 86 . In einer zweiten Sagengruppe wird vom Schicksal einer ganzen F. erzählt (—»F.nschicksale): Die Geschlechtersagen berichten über Namen, Ursprung, Geschichte und Niedergang aristokratischer F.n 87 , über wiederkehrende Ahnfrauen 88 etc. In dörflichen Gemeinschaften werden Sippensagen aus umgehenden kurzen Erzählungen zusammengefügt 89 . Innerhalb einzelner F.n werden außerordentliche Erlebnisse von Generation zu Generation weitergegeben (—> F.ntradition), bis richtige F.nsagen, sogar schriftl. F.nchroniken entstehen 90 . Auch von großen hist. Ereignissen, von Seuchen und Kriegen wird über mehrere Generationen hinweg berichtet 91 . —» Unterirdische leben in der Sagenvorstellung meistens als F. Von ihrer Beziehung zur menschlichen Welt handelt die dritte Gruppe von Sagen mit F.n-thematik: Die elbischen Wesen suchen ihr Geschlecht zu verbessern, indem sie ihre Kinder gegen Menschenkinder vertauschen (Mot. F 321.1; —»Wechselbalg)92, sie verlangen von den Menschen Hebammendienst (Mot. F 372.1; —» Hebamme) für ihre Frauen 93 und Patendienst für ihre Neugeborenen 94 (—»Dienst beim Dämon). 5. S c h w a n k u n d Witz. Der Schwank ist, im Gegensatz zum Märchen, keine F.ngeschichte 95 . Er besitzt Spiel- und Wettkampfcharakter 96 und bevorzugt das Momentbild im menschlichen Leben, anders als das große Zeitspannen umfassende Märchen 97 . Im Schwank stehen meistens zwei Parteien einander gegenüber 98 , die oft als Träger mensch-
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licher Schwächen typisiert sind 99 . Wenn daher in Schwanktypologien und in Schwankliedoder Prosaschwanksammlungen etwa die Kategorien „Lebenslauf, Familienleben" 100 , „Ehe und Familie" 101 auftreten, dann handelt es sich meistens um Hochzeits- und Eheschwänke, denn es ist vor allem der Ehekrieg, der unter den F.nthemen die volkstümlichen Prediger 102 , die Kompilatoren von Schwankbüchern, die Verfasser von Flugblättern und das dörfliche Volksschwankpublikum interessierte (—» Eheschwänke und -witze; —> Ehebruchschwänke und -witze) 103 . Da die F. als Ganzes kein Thema für den Schwank ist, leiht sie ihm auch ihre Struktur nicht 104 . Ein anderer Unterschied zwischen den Gattungen besteht darin, daß die Eheschließung keinen Abschluß der Schwankhandlung bedeuten muß 105 . Der Ehe ist offenbar bes. viel Komik abzugewinnen, da hier zwischen vereinbarter Norm und Wirklichkeit häufig Widerspruch besteht 106 . Im Humor erschöpft sich indessen die Funktion dieser Schwänke nicht: Sie dienten vielmehr schon in Predigtmärlein und dienen auch im heutigen Dorf oft als Beispielerzählungen mit didaktischen Zügen 107 . Der Schwank entwirft ein erschreckendes Bild von F.nmitgliedern: Die Ehefrauen sind dumm und faul, geschwätzig, sie benützen ihre Schlauheit gegen den Ehemann, sind zänkisch, widerspenstig und arbeitsscheu und müssen teilweise mit brutalen Mitteln gezähmt werden. Ihre Treue und Liebe ist geheuchelt, sie trachten gar nach Gesundheit und Leben des Ehemannes (cf. AaTh 1354; 1365; 1370; 1380; 1 3 8 1 A - D ; 1383; 1405; 1430). Diese Frauenfeindlichkeit wird damit begründet, daß der Schwank vor allem Männerdichtung sei 108 . Doch der Ehemann steht auch nicht besser da: Er ist ein —» Pantoffelheld, oft faul, ungeschickt und dumm sowie trunk- und eifersüchtig (cf. AaTh 1381A; 1408; 1410). Trotz aller Kritik geht es jedoch im Schwank nicht um die Infragestellung von Ehe und F. 109 , sondern in erster Linie ums Lachen. Darum bleiben auch die seltenen Konflikte zwischen Eltern und Kindern im Bereich des Lächerlichen: Die Dummheit, im Märchen nur Maske des Helden, ist im Schwank harte Realität für die geplagte Mutter (AaTh 1696: —» Was hätte ich sagen [tun] sollen?110; 1685: Der dumme —> Bräutigam).
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Der dringende Wunsch nach Kindern wird durch Seitensprung, nicht durch magische Geburt erfüllt 111 (cf. die Verhöhnung der wunderbaren Empfängnis in AaTh 1362: —» Schneekind), und an zu großem Kindersegen ist nicht Gott, sondern nur die Unerfahrenheit der Eheleute schuld 112 . Viele Eheschwänke leben als Witze weiter, so auch der letztgenannte 113 oder der ma. Schwank vom —> Almosen der Minne 114 . Mit Vorliebe greift der Witz die Ehe als Institution an 115 . Zu den Männer verspottenden und frauenfeindlichen Witzen kommen noch die Schwiegermutter-Witze 116 . Verglichen mit dem Schwank berücksichtigt der Witz mehr die ganze F. Die Kritik an ihr wird gerne in Kindermund gelegt: Ausnützung und Übervorteilung unter Geschwistern, Verbote und Funktionen der Eltern und anderer Verwandter, Abhängigkeit und Pietätlosigkeit zwischen F.nmitgliedern werden mehr oder weniger gehässig belacht, im makabren Witz wird feindseliger Wunsch gar in Gattenmord umgesetzt 117 . 6. W a h r e G e s c h i c h t e n . In Erinnerungserzählungen unter den sog. wahren Geschichten spielt die F. als Thema, als psychischer und sozialer Auslösungsfaktor 118 und als Erzählkreis 119 eine Rolle 120 (cf. -> Alltägliches Erzählen; —»• Autobiographie). I. S. Dobos teilt die ,wahren Geschichten' in zwei Gruppen ein: in persönliche Erlebnisse und in Geschichten, welche schon tradiert werden 121 . Zu der ersten Gruppe gehören Kindheits- und Jugenderinnerungen 122 , Geschichten über lange zurückliegende Erlebnisse mit den seither heranwachsenden eigenen Kindern 123 und Erzählungen über Vorfahren 124 . Großeltern erzählen ihren Enkeln heldenhaft aufpolierte .Großvater- und Großmuttergeschichten' 125 , Frauen berichten über Liebesund F.nleben 126 . Höhepunkte der F.ngeschichte, bemerkenswerte Episoden des F.nlebens werden auf einer weiteren Stufe von Generation zu Generation weitergegeben 127 , sie nähern sich den traditionellen Gattungen, schließlich wandern sie von Ort zu Ort 128 . Die wichtigsten Funktionen der F.ngeschichten sind nostalgische Wunscherfül-
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lung 129 , Verständigung zwischen den Generationen, Pflege des F.nzusammengehörigkeitsgefühls und Hilfe im Sozialisationsprozeß der Kinder, ferner Unterhaltung, Belehrung und Untermauerung oder Widerlegung einer Behauptung 130 . In F.ngeschichten werden auch oft Vorbilder für die Jungen entworfen 131 und F.nkonflikte oder sozioökonomische Frustrationen bearbeitet 132 . In unerhörten ,wahren Geschichten' wird u.a. von F.nkatastrophen berichtet, welche als letzte Neuigkeit erzählt werden, obwohl sie teilweise auf lange literar. oder mündl. Tradition zurückblicken 133 . 7. Z u s a m m e n f a s s u n g . Gemäß ihrer jeweiligen Art von Geistesbeschäftigung (—> Einfache Formen) und Thematik betrachtet jede Gattung die F. aus verschiedenen Blickwinkeln: Das Märchen interessiert sich für die F. als Hintergrund des biogr. Geschehens, welches mit seinen Bedrohungen und Siegen immer wieder Bilder für menschliche Entwicklungsprozesse und Entfaltung schafft. In der Ballade dagegen ist die F. als Konfliktfeld etwas Verhängnisvolles: An ihr gehen die Balladenhelden zugrunde. In der Sage liegt der Schwerpunkt auf der Auseinandersetzung mit der Totenwelt, in den komischen Volksdichtungen auf den Schwierigkeiten des ehelichen Zusammenlebens. So entsteht in jeder Gattung ein Bild der F., das nicht selten ein Gegengewicht zu den hohen ethisch-sittlichen Forderungen liefert, welche von Recht und Religion an die F. gestellt werden. Die Erzähler wissen viel von den großen Schwierigkeiten in der realen F. und leisten durch ihre Geschichten u.a. psychol. Hilfe zu deren Bewältigung. 1 Gaudemet, J.: F. I (F.nrecht). In: R A C 7, 2 8 6 - 3 5 8 ; Allam, S.: F. (soziale Funktion). In: Lex. der Ägyptologie 2. Wiesbaden 1977, 1 0 1 - 1 0 3 ; id.: F.(Struktur), ibid., 1 0 4 - 1 1 3 ; Beth, Μ.: F. In: H D A 2, 1 1 8 1 - 1 1 8 3 ; ead.: Eltern, ibid., 8 0 2 - 8 0 4 ; Tellenbach, H. (ed.): Das Vaterbild in Mythos und Geschichte. Stg. 1976; Schmitz, C. Α.: Grundformen der Verwandtschaft. Basel 1964, 33 sq. und pass.; Fohrer, G.: Die Familiengemeinschaft. In: id.: Studien zu at. Texten und Themen ( 1 9 6 6 - 7 2 ) . B./N.Y. 1981, 1 6 1 - 1 6 7 ; Mat'e, Μ. E.: The Myth and Folktale of Ancient Egypt as a Source for Studying the History of the Family. In: Soviet Anthropology and Archeology 3,2 (1964) 3 5 - 4 2 . -
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Frenzel, Motive, s.v. Blutrache, Vater-Sohn-Konflikt, Inzest u.a.; Petropoulos, D. Α.: Kampf zwischen Vater und Sohn in griech. Heldenliedern. In: Kongreß Kiel/Kopenhagen 1959, 2 6 5 - 2 7 0 , hier 269sq.; Andersson, Τ. M.: The Icelandic Family Saga. Cambr., Mass. 1967, 1 8 - 2 3 ; Fohrer (wie not. 1) 165. - 3 HDM 2, 47; Lüthi, M.: F. und Natur im Märchen. In: id.: Volkslit. und Hochlit. Bern/Mü. 1970, 6 3 - 7 8 , hier 63; von Löwis of Menar, Α.: Der Held im dt. und russ. Märchen. Jena 1912, 3 0 - 3 7 , 9 0 - 9 7 ; Leclercq, Α.: F.nkonflikte im Märchen. Schriftl. Hausarbeit für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen. Göttingen 1981. — 4 von Löwis of Menar (wie not. 3) 30; HDM 1, 527. - 5 Woeller, W.: Die Triumphszene im dt. Märchen. In: Letopis, R. C 6 - 7 (1963-64) 3 0 8 - 3 2 2 ; Haiding, K.: Burgenländ. Spielformen zur Heimkehr des Helden in erbärmlichem Aufzuge. In: Rhein. Jb. für Vk. 10 (1959) 5 1 - 7 8 ; Wisser, W.: Das Märchen im Volksmund. Hbg 1925. — 6 Schmidt, S.: Europ. Volkserzählungen bei den Nama und Bergdama. In: Fabula 11 (1970) 3 2 - 5 3 , hier 46. - 7 Okanlawon, T.: Volkserzählungen aus Nigeria. Ffm./Bern/Las Vegas 1977,206. - 8 Lüthi (wie not. 3) 63; HDM 1, 5 2 7 - 5 3 1 ; HDM 2, 4 7 - 5 0 . - 9 Lüthi (wie not. 3) 67. - 10 Spies, Ο.: Das Märchen von den 40 Mädchen. In: Fabula 4 (1961) 1 - 1 9 , hier 2. n Upadhyaya, K.: Interaction among the Affinal Relatives in the Hindu Patrilocal Household: As Manifested in the North Indian Folktales. In: Fabula 11 (1970) 2 7 1 - 2 7 4 , hier 271. - 12 Lüthi (wie not. 3) 63; Weber, L. F.: Märchen und Schwank. Diss. Kiel 1904, 37, 47sq.; HDM 2, 4 9 - 5 1 ; Beres, C.: Α mürokonsäg a magyar nepmeseben (Künstliche Verwandtschaft im ung. Volksmärchen). In: Müveltseg es hagyomäny 3 (1961) 177-184. 13 Upadhyaya (wie not. 11) 271; cf. z.B. Görög, V.: Contes bambara du Mali. P. 1979, 58 (Le Figuier de l'orpheline). — 14 Lüthi (wie not. 3) 74; Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 210sq. Im oriental. Märchen spielt die Zahl 40 eine wichtige Rolle: cf. Spies (wie not. 10) 3 sq. — 15 Lüthi (wie not. 3) 65; Löwis of Menar (wie not. 3) 3 4 - 3 6 ; Propp, 91; Fischer, J. L.: The Sociopsychological Analysis of Folktales. In: CA 4 (1963) 2 3 5 - 2 9 5 , hier 262. 16 Lüthi (wie not. 3) 67; Malthaner, J.: Die Erlösung im Märchen. Diss. Heidelberg 1934, 8 5 - 9 0 . Eine Ausnahme bilden die Märchen von der untreuen Ehefrau: AaTh 449, 612. - 1 7 Dtn. 21, 1 5 - 1 7 ; HDA 2, 1181. Belege für das Jüngstenrecht: Frazer, J. G.: Folk-Lore in the Old Testament 1. L. 1918, 4 2 9 - 5 6 6 ; Gen. 27, 5sqq.; Gen. 37; Dunn, S. P.: The Family as Reflected in Russian Folklore. In: Ransel, D. L. (ed.): The Family in Imperial Russia. Urbana/Chic./L. 1978, 153-170, hier 159sq. - 18 Ting, Nai-tung: The Cinderella Cycle in China and Indochina (FFC 213). Hels. 1974, 10sq. - " C h a n g , Chin-Gill: Der Held im europ. und korean. Märchen. Basel 1981, 155. — 20 Lüthi (wie not. 3) 6 4 - 6 7 . -
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Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 116—123; Lüthi (wie not. 3) 63sq. - 22 ibid., 64; Karlinger, F.: Verwandlung auf der Flucht vor drohendem Inzest. In: SAVk. 77 (1981) 178-184; Bühler, C./ Bilz, J.: Das Märchen und die Phantasie des Kindes. Mü. 3 1971 (Nachdr. B./Heidelberg/N. Y. 1977), 53. - 23 HDM 1, 5 2 8 - 5 3 1 . - 24 HDM 2, 47—50; Horn, K.: Motivationen und Funktionen der tödlichen Bedrohung in den KHM der Brüder Grimm. In: SAVk. 74 (1978) 2 0 - 4 0 , hier 23 sq. 25 ibid., 25 sq.; über die Austauschbarkeit der Stiefmutter mit der Mutter cf. ibid., 23sq., not. 13. 26 Lüthi (wie not. 3) 75; HDM 1, 532. - 2 7 z.B. KHM 11, 49. - 2 8 z.B. KHM 135; cf. Erler, Α.: Sich selbst das Urteil sprechen. In: Oberdt. Zs. für Vk. 17, 1 - 3 (1943) 143-155. - 2 9 z.B. KHM 57. - 3 0 z.B. KHM 21, 24. 31 HDM 1, 5 7 8 - 5 9 3 ; cf. über Kontraste, Polaritäten, Extreme, Grausamkeit: Lüthi, Ästhetik, 109-112, 1 7 0 - 1 7 3 und pass. - 3 2 z.B. Barüske, H.: Eskimo-Märchen. MdW 1969, num. 29,49; Konitzky, G. Α.: Nordamerik. Indianermärchen. MdW 1963, num. 29; Keim, A. und H.: Ein Pfeilschuß für die Braut. Mythen und Erzählungen aus Kwieftim und Abrau. Wiesbaden 1975, num. 22sq.; cf. von Beit 1, 2 5 2 - 2 6 0 ; von Beit 2, 131, pass. - 33 Lüthi (wie not. 3) 68sq.; Horn, K.: L'Arbre secourable dans le conte populaire allemand. In: Ethnologie franfaise 4 (1974) 333-348, hier 335, 338-341. 34 Lüthi (wie not. 3) 76sq.; Fischer (wie not. 15) 2 4 5 - 2 4 8 , 263; Tucker, Ν.: The Child and the Book: A Psychological and Literary Exploration. Cambr. 1981, 8 3 - 9 6 . - 35 Lit. zu diesem Thema in: Lüthi, Märchen ( 7 1979) 113-115; id.: Psychologie des Märchens und der Sage. In: Die Psychologie des 20. Jh.s 15. ed. G. Condrau. Zürich 1979, 9 3 5 - 9 4 7 (Bibliogr. 945-947); hier nur einige Ergänzungen: Girardot, N. J.: Initiation and Meaning in the Tale of Snow White and the Seven Dwarfs. In: JAFL 90 (1977) 2 7 4 - 3 0 0 ; Eliade, M.: Wiss. und Märchen. In: Karlinger, 311—319; Rosenman, S.: Family Pathology, Identity-Sculpting and MateSelection. In: American Imago 35 (1978) 3 7 5 - 3 9 6 ; Jones, E.: Psychoanalysis and Folklore. In: Dundes, A. (ed.): The Study of Folklore. Englewood Cliffs, N. J. 1965, 8 8 - 1 0 2 ; Brackert, H.: Hansel und Gretel oder Möglichkeiten und Grenzen der Märchendeutung. In: id. (ed.): Und wenn sie nicht gestorben sind . . . Perspektiven auf das Märchen. Ffm. 1980, 2 2 3 - 2 3 9 . - 36 Propp, 36 - 40, 91. — 37 von Löwis of Menar (wie not. 3) 33. - 38 Lüthi (wie not. 3) 74. - 39 Lüthi, Europ. Volksmärchen, 37sq., 60sq. - 4 0 Lüthi, M.: Der Familiarismus der Volksballade. In: id. (wie not. 3) 7 9 - 8 9 , hier 79 (= id.: Familienballade. In: Brednich, R. W./Röhrich, L./Suppan, W. [edd.]: Hb. des Volksliedes 1. Mü. 1973, 8 9 - 1 0 0 ) ; Arbeitstagung über Fragen des Typenindex der europ. Volksballaden vom 2 8 . - 3 0 . Sept. 1966 im Dt. Volksliedarchiv in Fbg. Protokoll von R. W. Brednich, Aufgliederung der Gruppe IV: Familie; Ortu-
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Familie
tay, G./Kriza, I.: Magyar nepballadäk (Ung. Volksballaden). Bud. 1968, 67; Vargyas, L.: Researches into the Mediaeval History of Folk Ballad. Bud. 1967, 236sq.; Shuldiner, D.: The Content and Structure of English Ballads and Tales. In: W F 37 (1978) 2 6 7 - 2 8 0 , hier 268, 273. 41 Lüthi (wie not. 40) 87 sq. - 4 2 Sirovatka, O.: Stoff und Gattung - Volksballade und Volkserzählung. In: Fabula 9 (1967) 1 6 2 - 1 6 8 , hier 163sq.; Vargyas (wie not. 40) 242sq.; Siuts, H.: Die Ballade von der Rabenmutter und ähnliche Liedtypen in Europa. In: ZfVk. 58 (1962) 250sq.; Meier, J.: Die Ballade vom „Grausamen Bruder". In: Jb. für Volksliedforschung 8 (1951) 1 - 3 0 , hier 22sq., 30; Pohl, E.: Die dt. Volksballade von der „Losgekauft e n " (FFC 105). Hels. 1934, 345sq.; über Sublimation im Volksmärchen cf. Lüthi, Europ. Volksmärchen, 6 3 - 7 5 . - 4 3 Lüthi (wie not. 40) 8 6 - 8 8 ; Brewster, P. G.: The Incest Theme in Folk-song (FFC 212). Hels. 1972; Kostov, K.: Ein Inzestmotiv in Volkserzählungen der Zigeuner Bulgariens. In: Balkansko ezikoznanie 18,3 (1975) 7 1 - 7 4 , hier 71. - 4 4 Child, n u m . 9 9 , 216; Erk/Böhme, num. 193; Ortutay/Kriza (wie not. 40) num. 6, 223. — 45 Beispiele: Fair Janet, Lord Thomas and Fair Annet, Des Räubers Frau, Die verkaufte Tochter, cf. Child, num. 64, 73; Schmidt, W.: Gemeinsame Themen dt., engl, und schott. Volksballaden. In: Die neueren Sprachen 47 (1939) 2 3 8 - 2 5 1 ; Ortutay/Kriza (wie not. 40) num. 27, 3 7 - 4 8 . 46 Child, n u m . 8 7 ; Erk/Böhme, num. 194a; Ortutay/Kriza (wie not. 40) num. 61. - 4 7 Child, n u m . 6 5 ; DVldr 4, n u m . 8 5 . - 4 8 Child, n u m . 9 5 ; Erk/Böhme, num. 78; Ortutay/Kriza (wie not. 40) num. 88; cf. Pohl (wie not. 42); Megas, G. Α.: Die Ballade von der Losgekauften. In: Jb. für Volksliedforschung 3 (1932) 5 4 - 7 3 . - 4 9 Ortutay/Kriza (wie not. 40) num. 34; cf. Stein, H.: Zur Herkunft und Altersbestimmung einer Novellenballade (DVldr Nr. 76 und Nr. 77). Die Schwiegermutter beseitigt die ihr anvertraute Schwiegertochter (FFC 224). Hels. 1979. - 5 0 Child, n u m . 2 0 ; DVldr 5, num. 114; Ortutay/Kriza (wie not. 40) n u m . 2 3 2 ; cf. Siuts (wie not. 42) 2 3 8 - 2 5 4 ; Kretzenbacher, L.: Zur „Rabenmutter"-Ballade bei Deutschen und Slowenen in Innerösterreich. In: Balladenforschung. ed. W. Müller-Seidel. Königstein (Taunus) 1980, 1 0 7 - 1 1 7 . 51
Ortutay/Kriza (wie not. 40) num. 10, 11, 13; Child, n u m . 2 4 3 . - " D V l d r 5, n u m . 1 1 5 . 53 ibid., n u m . 1 2 3 ; cf. Röhrich, Erzählungen 1, 9 3 - 1 1 2 ; Ortutay/Kriza (wie not. 40) 239; Brednich, R. W.: Die Legende vom Elternmörder in Volkserzählung und Volksballade. In: Jb. für Volksliedforschung 9 (1964) 116-143. 54 Grundtvig, S.: Danmarks gamle folkeviser 1 - 3 . Kop. 1 8 5 3 - 6 2 , t. 3, num. 126; cf. Tuschke, L.: „Fair J a n e t " und „Kong Valdemar og hans söster". B. 1940; Meier (wie not. 42) 1 - 3 0 ; Child, n u m . 5 2 , 11; Ortutay/Kriza (wie not. 40) 112; Child, num. 10; cf. Brewster, P. G.: The Two
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Sisters (FFC 147). Hels. 1953; Child, n u m . 4 9 . 55 D V l d r 5, n u m . 9 3 ; Ortutay/Kriza (wie not. 40) 236, 256. - 56 Erk/Böhme, num. 1 7 8 - 1 8 1 . 57 Lüthi (wie not. 40) 79sq. - 58 Liestel, K./Moe, M.: Norske folkevisor 3. Kristiania 1924, num. 106; Grundtvig 1 (wie not. 54) num. 18 A, 4 B ; Doncieux, G.: Le Romancero populaire de la France. P. 1904, num. 14; DVldr 1, num. 28, 24 (2b, 3, 7); cf. Greverus, I.-M.: Skand. Balladen des MA.s. Reinbek 1963, 9sq. und pass. - 59 Erk/Böhme, num. 1 8 5 A ; Ortutay/Kriza (wie not. 40) num. 63. — 6 0 ibid., num. 97; cf. Seemann, Ε.: Die Gestalt des kriegerischen Mädchens in den europ. Volksballaden. In: Rhein. Jb. für Vk. 10 (1959) 1 9 2 - 2 1 2 , hier 202sq. 61 DVldr 5, num. 1 1 6 - 1 1 8 ; über Beziehungen zwischen toten und lebendigen F.nmitgliedern cf. Röhrich, L.: Sagenballade. In: Brednich u.a. (wie not. 40) 1 4 2 - 1 5 2 . - 6 2 D V l d r 5, num. 121. - " L ü t h i (wie not. 40) 8 0 - 8 2 ; Oinas, F. J.: The Mistreated Bride. In: id.: Studies in Finnic-Slavic Folklore Relations (FFC 205). Hels. 1969, 5 0 - 6 4 ; Pohl, M.: Gemeinsame Themen engl.-schott. und frz. Volksballaden. B. 1940, 3 5 - 4 0 . - 6 4 cf. Zaunert, P.: F. und Sage. In: Germanien 3 (1937) 7 6 - 8 3 ; Peukkert, W.-E.: Die Welt der Sage. In: Petzoldt, L. (ed.): Vergleichende Sagenforschung. Darmstadt 1969, 1 3 5 - 1 8 8 , hier 146; Jolles, 74; Beyschlag, S.: Weltbild der Volkssage, ibid., 212sq. und pass.; Lüthi (wie not. 3) 74 sq. — 65 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 17. - 6 6 Lüthi M.: Gehalt und Erzählweise der Volkssage. In: id. (wie not. 63) 2 6 - 3 7 , hier 34. - 6 7 Grimm DS 231; Müller, J.: Sagen aus Uri 2. Basel 2 1978, num. 73 5. - 6 8 Guntern, J.: Volkserzählungen aus dem Oberwallis. Basel 1978, num. 2.089; Peuckert, W.-E.: Dt. Sagen 2. B. 1962, n u m . 3 0 4 ; Zaunert (wie not. 64) 81; Boberg, I. M.: Baumeistersagen (FFC 151). Hels. 1955, 5, 14sq.; Wünsche, Α.: Der Sagenkreis vom geprellten Teufel. Lpz./Wien 1905, lOOsq. 69 Guntern (wie not. 68) num. 388. - 70 Müller, I./ Röhrich, L.: [Dt. Sagenkatalog] X: Der Tod und die Toten. In: DJbfVk. 13 (1967) 3 4 6 - 3 9 7 , hier D 9; Grimm DS 585; cf. DVldr 5, num. 114. 71 Guntern (wie not. 68) n u m . 1 8 9 ; Müller (wie not. 67) t. 1, num. 1 0 0 - 1 0 2 ; cf. Lüthi, M.: Aspekte der Blümlisalpsage. In: SAVk. 76 (1980) 2 2 9 - 2 4 3 . - 7 2 Peuckert (wie not. 68) n u m . 4 8 6 , 488; id.: Dt. Sagen 1. B. 1961, num. 146; Guntern (wie not. 68) num. 193; Gerstner-Hirzel, E.: Aus der Volksüberlieferung von Bosco Gurin. Basel 1979, num. 211 sq. - " B r ü c k n e r , 674. - 7 4 cf. Peuckert, W.-E.: Sagen, Geburt und Antwort der mythischen Welt. B. 1965, 80; Degh, L.: Märchen, Erzähler und Erzählgemeinschaft. B. 1962, 125. — 75 Müller/Röhrich (wie not. 70) F 11, F 12; Mot. Ε 323.1.2; Ε 323.1.1. - 76 Agricola, C.: Schott. Sagen. B. 1967, num. 68—70; cf. Zaunert (wie not. 64) 77; Müller/Röhrich (wie not. 70) F 11. 77 ibid., F 13; Rochholz, E. L.: Schweizersagen aus dem Aargau 2. (Aarau 1856) Nachdr. Zürich 1980,
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Familie
n u m . 3 5 5 ; Büchli, Α.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 2. Aarau 1966, 247. - 78 Mot. Ε 451.5; Guntern (wie not. 68) num. 1.220, 1.222; Degh (wie not. 74) 136; Niderberger, F.: Sagen und Gebräuche aus Unterwaiden. (Samen 1924) Nachdr. Zürich 1978, 228 (Die March von Innenbach); cf. Zaunert (wie not. 64) 77; Müller/Röhrich (wie not. 70) J 15, J 17. - 7 9 z . B . ibid., J 25, J 36 u.a.; Müller (wie not. 67) t. 3 ( 2 1969) num. 977, 1.108 e ; Huber, H.: Die Totensagen im Kanton Uri. In: Kantonsbibl. Uri. 9. Jahresgabe. Altdorf 1962, 40; Büchli (wie not. 77) 390. - 8 0 Müller/Röhrich (wie not. 70) F 1; Ranke, K.: Allerheiligen und Allerseelen in der Sagenüberlieferung. In: Rhein. Jb. für Vk. 9 (1958) 2 8 - 5 3 , hier 41; Agricola (wie not. 76) num. 65. — 81
Grimm DS 72; Rochholz (wie not. 77) t. 1, 353; cf. Zaunert (wie not. 64) 77sq.; Arnaudov, M.: Der Familienschutzgeist im Volksglauben der Bulgaren. In: Zs. für Balkanologie 5 (1967) 1 2 9 - 1 3 7 ; Huber (wie not. 79) 20sq.; H D A 1, 2 2 7 - 2 3 0 ; H D A 3, 1 5 6 8 - 1 5 7 0 ; Röhrich, L.: Sage. Stg. 2 1971, 21sq. — 82 Zum Tränenkrüglein und Totenhemdchen cf. BP 2, 485; Meuli, K.: Vom Tränenkrüglein, von Predigerbrüdern und vom Trösten. In: Festschr. J. Jud. Zürich 1943, 7 6 3 - 8 0 7 ; Müller/Röhrich (wie not. 70) F 41, F 42 (Mot. Ε 324, Ε 361), Μ 4. 83 R a n k e (wie not. 80) 42. - 8 4 Guntern (wie not. 68) n u m . 4 6 4 ; Müller (wie not. 67) t. 3 ( 2 1969) num. 1.535; Müller/Röhrich (wie not. 70) F 9. 85 ibid., Η 18; Mot. Ε 411.0.1. - 86 Müller (wie not. 67) t. 3 ( 2 1969) num. 1.056; Peuckert (wie not. 72) num. 146. - 8 7 G r i m m DS 68, 521, 527, 575 u.a.; cf. Zaunert (wie not. 64) 76, 81 sq. - 8 8 Müller/ Röhrich (wie not. 70) F 1; cf. Zaunert (wie not. 64) 77; HDS, 181 sq. - 89 cf. Peuckert, W.-E.: Dt. Volkstum in Märchen und Sage, Schwank und Rätsel. B. 1938, 1 3 0 - 1 3 5 . - 9 0 cf. Zaunert (wie not. 64) 76; Eichhorn, Α.: Zwei Sagen aus der Familienchronik des Geschlechtes Aulhorn. In: Mitteidt. Β11. für Vk. 3 (1928) 5 5 - 5 9 ; Grüner, G.: Waldeck. Volkserzählungen. Arolsen 1963, 136. — 91
Fischer, H.: Erzählgut der Gegenwart. Köln 1978, num. 149, 242 und pass. — 9 2 Agricola (wie not. 76) n u m . 3 0 0 ; cf. H D A 9, 8 3 5 - 8 6 4 ; Piaschewski, G.: Der Wechselbalg. Breslau 1935, 64sq., 1 1 8 - 1 2 2 . - " P e u c k e r t (wie not. 72) n u m . 2 6 3 ; cf. Peuckert (wie not. 74) 6 6 - 6 8 . — 94 Peuckert (wie not. 68) num. 342; cf. Zaunert (wie not. 64) 80sq. - 95 Weber (wie not. 12) 39. 96 Bausinger, H.: Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen. In: Fabula 9 (1967) 1 1 8 - 1 3 6 , hier 125. - 9 7 Weber (wie not. 12) 27. - 9 8 Bausinger (wie not. 96) 135. - 9 9 Berendsohn, W. Α.: Grundformen volkstümlicher Erzählerkunst in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Hbg (1921) 2 1968, 80. - 100 Moser-Rath, E.: Schwank, Witz, Anekdote. Entwurf zu einer Katalogisierung nach Typen und Motiven. Göttingen 1969. -
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101 Wehse, R.: Schwanklied und Flugblatt in Großbritannien. Ffm./Bern/Las Vegas 1979, 1 0 5 - 1 3 1 . 102 Moser-Rath, E.: Das streitsüchtige Eheweib. In: Rhein. Jb. für Vk. 10 (1959) 4 0 - 5 0 , hier 42. 103 Wehse (wie not. 101) 1 0 9 - 1 3 1 ; Roth, K.: Ehebruchschwänke in Liedform. Mü. 1977. — 104 Weber (wie not. 12) 21 sq. - 105 Wehse (wie not. 101) 105. — 106 Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg. ed. S. Neumann. B. 1963, XXI; Moser, D.-R.: Schwänke um Pantoffelhelden. In: Fabula 13 (1972) 2 0 5 - 2 9 2 , hier 207. - 107 Moser-Rath (wie not. 102) 42; Wossidlo (wie not. 106) XXI. 108 ibid., XXII; Weber (wie not. 12) 67; Berendsohn (wie not. 99) 8 2 - 8 4 ; cf. Moser-Rath, E.: Frauenfeindliche Tendenzen im Witz. In: ZfVk. 74 (1978) 4 0 - 5 7 . - ' ° 9 R o t h (wie not. 103) 248. 110 Henßen, G.: Der dt. Volksschwank. Lpz. 1934, 35—44. Daß es hier vor allem um den T y p , d u m m e r Mensch' geht, zeigt die Austauschbarkeit der Personen (Sohn oder Ehemann) in diesem Schwanktyp. -
' » W e h s e (wie not. 101) num. 2 6 5 - 2 6 7 . 112 Cammann, A./Karasek, K.: Donauschwaben er113 zählen 3. Marburg 1978, 311 sq. Röhrich, Witz, 168. - 114 ibid., 2 2 - 2 4 ; Ranke, K.: Schwank und Witz als Schwundstufe. In: Festschr. W.-E. Peuckert. B. 1 9 5 5 , 4 1 - 5 9 , hier 43. - 115 Freud, S.: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (G. W. 6). Ffm. (1940) 3 1961, 122; Röhrich, Witz, 1 5 3 - 1 5 8 und pass.; Benedek, Κ.: Α csaläd megjelenese rövid prözaepikai müfajokban. In: Ethnographia 87 (1976) 5 8 7 - 5 9 2 . - 116 Röhrich, Witz, 104, 107; Lixfeld, H.: Witz. Stg. 1978, 10. 117 Röhrich, Witz, 8 3 - 8 6 , 1 4 3 . - 118 Lehmann, Α.: Erzählen eigener Erlebnisse im Alltag. In: ZfVk. 74 (1978) 1 9 8 - 2 1 5 , hier 214; Bösel, M.: Lebenswelt Familie. Ffm./N.Y. 1980, 1 0 9 - 1 1 1 . 119 Lehmann (wie not. 118) 200, 203 sq., 212; Jech, J.: Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung der Volksprosa. In: Festschr. K. C. Peeters. Antw. 1975, 363. - 120 Auch im Memorat spielt die F. eine bes. Rolle, cf. Röhrich (wie not. 81) 4. 121 Dobos, I.: True Stories. In: Degh, L. (ed.): Studies in East European Folk Narrative. Bloomington 1978, 1 7 3 - 1 9 1 . - 122 ibid., 174sq.; cf. hier die mitgeteilte Geschichte des J. Bendek sowie die Geschichte der L. K. Dolby in: Stahl, S.: The Personal Narrative as Folklore. In: JFI 14 (1977) 9 - 3 0 , hier 23; Hall, J. M.: Homer Spriggs: Chronicler of Brummetts Creek, ibid., 3 1 - 4 9 , hier 32 sq. 123 Lehmann (wie not. 118) 210. - 124 Dobos (wie not. 121) 170sq.; cf. die Geschichten des H. Spriggs in: Hall (wie not. 122) 33, 48sq.; Schenda, R.: Autobiographen erzählen Geschichten. In: ZfVk. 77 (1981) 6 7 - 8 7 , hier 67sq., 8 2 - 8 4 . t25 Woeller, W.: Einige Beobachtungen zum Erzählen in der Gegenwart. In: Letopis. R. C 11 — 12 ( 1 9 6 8 - 6 9 ) 310sq. - 126 Dobos (wie not. 121) 176; Lehmann (wie not. 118) 209. - 127 Boatright, M. C.: The Family Saga as a Form of Folklore. In: Boatright, M. C./Downs, R. B./Flanagan, J. T.:
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Familiengeschichten
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Selektion aus Gerüchten, Vermutungen, Erinnerungen und Beobachtungen. Er erlebte es noch mit, daß Erzählungen dieses Typs bei Festlichkeiten in skand. Dörfern von ausgewählten Erzählern vorgetragen wurden. Derartige Geschichten werden aber auch Bestandteil des Erzählens in den F.n und Gruppen des Dorfes gewesen sein (—»Familie, —• Familientradition). In beiden Fällen kann man ihre Funktion nicht allein in der Unterhaltung sehen, sondern ebenso in der Legitimation und Erklärung bestehender sozialer Verhältnisse in den engen Kommunikationsbeziehungen des dörflichen Lebens traditionaler Gesellschaften. Gegenwärtige, auf die Situation unserer Zeit bezogene Forschungen richten sich zunehmend auf das Erzählen innerhalb der F. und auf die beabsichtigte und erreichte Wirkung der Schilderungen der eigenen F.nschicksale bei F.nmitgliedern und AußensteBasel Katalin Horn henden. Gewiß begegnet man auch heute F.nerzählungen, die wie die F.nsaga von den außerordentlichen Leistungen und vom Ruhm der eigenen F. künden. Doch die Forschungen Familiengeschichten. Geschichte und Ge- zum Bereich des biogr. Erzählens in F.n haben sich insbesondere auf die erzählerische genwart der eigenen Familie (F.) — Jugenderinnerungen, Wohnort- und Wohnungswech- Bewältigung unangenehmer Entwicklungen sel, berufliche Entwicklungen, die tägliche bezogen, auf das Genre der Family Misfortune Story3, der —> Rechtfertigungsgeschichte 4 . Arbeit, Nachbarschafts- und SchulangelegenSolche Darstellungen von F.nschicksalen und heiten — sind wichtige Themen des —» all,F.nthemen' 5 sind sowohl vor dem Hintertäglichen Erzählens. Das ist früher kaum grund der dem F.nhandeln übergeordneten anders gewesen als heute. Aber das Forkulturellen und teilkulturellen Normen als schungsinteresse der Folkloristen hat sich erst auch unter dem Einfluß der bes. Wertungen, neuerdings auf diesen Bereich der erzählten Wünsche und Hoffnungen der einzelnen F. Geschichte von Einzelmenschen oder Grupzu sehen. Darüber hinaus sind die aktuellen pen — Erinnerungserzählungen — gerichtet Anlässe der Erzählsituation 6 in die wiss. Er(—> Lebenserinnerungen, —> Oral History). klärungen einzubeziehen. Funktionale AnaAls ein Vorläufer kann C. W. von —» Sydow lysen deuten das Erzählen von F.nschicksalen gelten. Er hat bei der Formulierung seiner als Hilfe bei der Bewältigung unerwünschter Kategorie F.nsaga nicht nur an die isl. literar. 7 Uberlieferungen gedacht (cf. —» Saga), sondern Erfahrungen und Entwicklungen . Diese Er1 auch mündl. erzählte — ,rein volksmäßige' — zählungen können einerseits dem einzelnen F.nmitglied beim Aufbau einer persönlichen Berichte über die Schicksale berühmter GeIdentität 8 helfen, andererseits können sie die schlechter oder über die Lebensläufe von Ein2 F. als Gruppe stabilisieren. Letzteres wirkt zelpersonen einbezogen . Der Traditionsvorsich gleichermaßen auf die innere Festigung gang ist dabei auf den eng begrenzten Raum der F. wie auf die Sicherung in ihrem sozialen einzelner Dörfer und Gehöfte beschränkt. 9 Wie andere F.nüberlieferungen mit —> Memo- Umfeld aus. R. M. —> Dorson hat den Fall einer griech. Einwandererfamilie dokumenratcharakter steht die F.nsaga im Schnittpunkt von individuellem und kollektivem Erzählbe- tiert. Der Erzählung zufolge war diese nur deswegen nicht zu Reichtum gekommen, weil sitz. Von Sydow sah in ihr das Ergebnis einer The Family Saga and Other Phases of American Folklore. Urbana 1958, 1 - 1 9 ; Woeller (wie not. 125) 310sq.; Dobos (wie not. 121) 1 8 0 - 1 8 2 ; Hall (wie not. 122) 36sq.; cf. die Geschichten von Spriggs in: Hall (wie not. 122) 33, 4 0 - 4 2 ; Sirovätka, O.: Die Alltagserzählung als Gattung der heutigen Überlieferung. In: Festschr. Peeters (wie not. 119) 6 6 2 - 6 6 9 , hier 666. - 128 Bausinger, H.: Strukturen des alltäglichen Erzählens. In: Fabula 1 (1958) 2 3 9 - 2 5 4 ; Dobos (wie not. 121) 181; Boatright (wie not. 127) 8, 18sq. - 129 Dobos (wie not. 121) 174, 196; Woeller (wie not. 125) 309; Hall (wie not. 122) 32sq. - "»Woeller (wie not. 125) 309; Lehmann (wie not. 118) 210; Bösel (wie not. 118); Garrett, Κ. S.: Family Stories and Sayings. In: Publ.s of the Texas Folklore Soc. 30 (1961) 2 7 3 - 2 8 1 , hier 273; Stahl, S.: The Oral Personal Narrative in Its Generic Context. In: Fabula 18 (1977) 1 8 - 3 9 , hier 34. 131 Woeller (wie not. 125) 309. - 132 Lehmann (wie not. 118) 214; Brandes, S. H.: Family Misfortune Stories in American Folklore. In: JFI 12 (1975) 5 - 1 7 . - 133 Bausinger, 2 1 7 - 2 2 0 .
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Enzyklopädie des Märchens IV
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Familientradition
ein Mitglied das Angebot ausgeschlagen hatte, mit einem später zum Millionär gewordenen Landsmann ein Kino zu eröffnen. Diese Family Misfortune Story 10 erhält als erzählerische Verarbeitung des unerfreulichen Schicksals einer typischen, an Erfolg und Reichtum orientierten Amerika-Einwanderer-F. ihre Bedeutung für die F.nangehörigen und das soziale Umfeld der F. Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt solcher Geschichten ist im allg. für die Erzählforschung sekundär. — Autobiographisches und familienbiographisches Erzählen geschieht im Modus der Betroffenheit, nicht im Modus der Wahrheit 11 (cf. —» Autobiographie). Bisher haben die Forschungen zum Erzählen in F.n aber, wie die meisten wiss. Arbeiten zum alltäglichen Erzählen, beinahe ausschließlich die ,Laborbedingungen' der vom Wissenschaftler organisierten Erhebungssituation reflektiert (—»Experimentelle Erzählforschung). Künftige Forschungen müssen mehr als bisher auf Beobachtungen tatsächlicher Alltagssituationen beruhen. Dabei wird sich zeigen, welche familialen Lebensbereiche in den verschiedenen Gruppen einer Gesellschaft der Legitimation 12 durch Erzählungen bedürfen und welcher Art die Anstöße sind, die den Erzählvorgang auslösen. Von Interesse sind überdies Fragen nach Erzähltabus, d.h. nach ,nicht erzählbaren' - unterdrückten - Erfahrungen der F. Wenn es um das ,Leben' von Erzählungen in ihrem soziokulturellen Kontext geht (—> Biologie des Erzählguts), ist noch zu klären, wie gemeinsame Erlebnisse in F.n und anderen Gruppen in Situationen des täglichen Lebens von den am Erlebnis beteiligten oder mit dem Verlauf des entsprechenden Ereignisses vertrauten F.nmitgliedem gemeinsam erzählt werden 13 , welche typischen Konflikte und Anpassungsmechanismen dabei zu bemerken sind und welche Wirkungen solche gemeinsamen Erzählungen auf Zuhörer haben. Schließlich ist der Zusammenhang von Ereignis und gemeinsamer Erzählung zu erforschen: Unter welchen Bedingungen führt gemeinsames Erzählen — ähnlich dem individuellen Erzählbesitz — zu formalen und inhaltlichen Verfestigungen? Erzählen die beteiligten Erzähler tatsächlich .dieselbe Geschichte' oder nur dasselbe Geschehen 14 ?
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I Sydow, C. W. von: Kategorien der Prosa-Volksdichtung. In: Volkskundliche Gaben. Festschr. J. Meier. B./Lpz. 1934, 2 5 3 - 2 6 8 , hier 263; dazu auch: Boatright, M. C.: The Family Saga as a Form of Folklore. In: The Family Saga and Other Phases of American Folklore, ed. id./R. B. Downs/J. I. Flanagan. Urbana 1958, 1 - 1 9 . - 2 Eichhorn, Α.: Zwei Sagen aus der F.nchronik des Geschlechtes Aulhorn. In: Mitteidt. Bll. für Vk. 3 (1928) 5 5 59. - 3 Brandes, S. H.: Family Misfortune Stories in American Folklore. In: JFI 12 (1975) 5 - 1 7 ; Stahl, S. K.: The Oral Personal Narrative in Its Generic Context. In: Fabula 18 (1977) 1 8 - 3 9 , hier 3 2 - 3 4 . - "Lehmann, Α.: Rechtfertigungsgeschichten. In: Fabula 21 (1980) 5 6 - 6 9 . - 5 Hess, R. D./Handel, G.: Family Worlds. A Psychosocial Approach to Family Life. Chic./L. s 1974; Lewis, O.: Anthropological Approach to Family Studies. In: American J. of Sociology 55,5 (1950) 4 6 8 - 4 7 5 ; id.: The Children of Sanchez. Autobiography of a Mexican Family. L. 1962 (dt. Düsseldorf 1963). - 6 Lehmann, Α.: Erzählen eigener Erlebnisse im Alltag. In: ZfVk. 74 (1978) 1 9 8 - 2 1 5 ; Schenda, R.: Autobiographen erzählen Geschichten. In: ZfVk. 77 (1981) 6 7 - 8 7 . - 7 Brandes (wie not. 3); Lehmann (wie not. 4) 6 5 - 6 8 . 8 Erikson, Ε. H.: Life History and the Historical Moment. N.Y. 1975; Bausinger, H.: Identität. In: id./Jeggle, U./Korff, G./Scharfe, M. (edd.): Grundzüge der Vk. Darmstadt 1978, 2 0 4 - 2 6 3 . 9 Dorson, R. M.: Tales on a Greek-American Family on Tape. In: Fabula 1 (1958) 1 1 4 - 1 4 3 , hier 117. - 10 Brandes (wie not. 3). II Brückner, W.: „Narrativistik". Versuch einer Kenntnisnahme theol. Erzählforschung. In: Fabula 20 (1979) 1 8 - 3 3 ; Weinrich, H.: Narrative Theologie. In: Concilium 9 (1973) 3 2 9 - 3 3 4 , hier 333. 12 Lehmann (wie not. 4). - 13 Quasthoff, U. M.: Gemeinsames Erzählen als Form und Mittel im sozialen Konflikt. In: Ehlich, K. (ed.): Erzählen im Alltag. Ffm. 1980, 1 0 9 - 1 4 2 ; cf. auch Yokom, M. R.: Family Folklore and Oral History Interviews: Strategies for Introducing a Project to One's Own Relatives. In: W F 4 1 , 4 ( 1 9 8 2 ) 2 5 1 - 2 7 4 . - 14 Quasthoff (wie not. 13) 114.
Hamburg
Albrecht Lehmann
Familientradition. Die Tradition, in der —» Familie (F.) zu —>erzählen, lebt vom Interesse der F.nmitglieder an den erzählten Stoffen. Sie umfassen alle traditionellen Gattungen der Volkserzählung, aber auch die —> einfachen Formen des —» alltäglichen, aktuellen Erzählens (Bausinger 1977, 3 2 5 - 3 2 7 ; Cammann 1980, 13sq.). Im Traditionsgefüge ist das F.nerzählen gleichrangig dem Erzählen in der
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Familientradition
Nachbarschaft sowie in Arbeits- und Berufsgruppen u. a. (Cammann 1961, 10—15; Degh 1962, 107). In der F. besteht ein bes. Interesse, den Seinen Freude zu machen, beim Unterhalten Wissen weiterzugeben, sie auch auf Sitte und Brauch festzulegen. Der Fluß der Überlieferung verläuft im allg. von oben nach unten, vom Großvater zum Enkel, vom F.nvater zu allen Angehörigen, von Großmutter und Mutter zu den Kindern; aber auch Quergänge sind zu bemerken von Onkeln und Tanten, von Verschwägerten und Angeheirateten. Neue Stoffe wurden oder werden zugetragen von Burschen und Mädchen aus der Spinnstube, von Soldaten aus der Kaserne, von Kindern aus der Schule, dem Kreis der Altersgefährten, von F.nfreunden und Nachbarn (Cammann 1976-80, t. 1 [1976] 4 2 1 - 4 2 9 ; t. 2 [1977] 314-348; Degh 1962, 191), oder Bücher, Hefte und Massenmedien liefern Vorlagen (Cammann 1967, 216sq., not. 63). Die Tochter hat meist vom Vater eine Geschichte gehört, oft auch vom Großvater, weniger von der Mutter, vielleicht weil die Männer mehr echten Feierabend, die Frauen aber immer noch im Haus zu tun hatten. Diese Töchter sind heute oft Träger der F.ntradition. Merkwürdig wenig wird von den Großmüttern als Erzählerinnen gesprochen (Koväcs 1966,330; Wisser 1927, XIV, XXV). Die Anziehungskraft des Märchens in der familiären Überlieferung beruht darauf, daß es Gefahren und Konflikte — auch der F. — anspricht; indem man das Unheil ,bespricht', verliert es seine Gewalt (Ranke 1978, 80; Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 233; Degh 1962, 223). Erzähler in der F. sind oft bedeutende Persönlichkeiten. Veranlagung und Vererbung spielen eine Rolle, so daß regelrechte Dynastien entstehen, die auch über die F.nrunde hinaus in Dorf und Nachbarschaft bekannt und beliebt sind (Cammann 1976—80, t. 1 [1976] 4 3 7 - 4 4 2 ; Henßen 1959, 4; Degh 1962, 165; Oberfeld 1962, 9 7 - 1 0 8 ) . F.n bauen aus den verschiedensten mündl. oder literar. Qu.η ein eigenes Repertoire auf (Cammann 1976-80, t. 1 [1976] 4 2 9 - 4 3 6 , 4 4 0 445). Oft sind das Haus oder eine Stube feste Standorte solcher Erzählerdynastien und damit Orte der Erzählgemeinschaft (Langstroff 1953, 72sq.). Die Tradition läßt sich nur selten über die Großelterngeneration zu27'
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rückverfolgen. Das gilt jedoch nicht für langlebige F.nsagen oder etwa altisl. —> Sagas, welche eine F.nüberlieferung darstellen. Die Intensität des Erzählens im F.nverband erklärt sich durch die persönliche Nähe und Verbundenheit, auch durch die Unbefangenheit. Der gewohnte Tonfall, Frage, Antwort, Wiederholung verstärken die Wirkung (von der Leyen 1954, 271-294). Nicht nur der Feierabend, die Dämmerstunde, die Arbeitsruhe erlauben das Erzählen; gerade beim Arbeitsbrauch wird erzählt: beim Schlachtfest, dem Maisschälen, Federlesen, Kartoffelroden und Viehhüten hilft es gegen die Müdigkeit. In alten Erzählgemeinschaften wird bei diesen Gelegenheiten kein Blatt vor den Mund genommen, Kinder bekommen oft zu hören, was nicht immer für ihre Ohren bestimmt ist (Cammann 1967,43 sq., not. 53 sq., 195). Auch daß im Erwachsenenkreis Männer und Frauen voreinander Hemmungen hätten, ist kaum zu beobachten (Wisser 1927, XXII; Langstroff 1953,12). Die 60er und 70er Jahre des 20. Jh.s sind gekennzeichnet durch ein Wiederaufleben der familiären Erzähltradition. Stärkere Kritik gegenüber den Massenmedien nimmt zu, die F. schirmt sich in einer Art Igelstellung' gegen den Zeitgeist ab (Bausinger 1961, 88). „Die erste Station für das Märchenlernen ist [wieder — oder immer noch] das Elternhaus" (Degh 1962, 168). —> Familiengeschichten Lit.: Wisser, W.: Plattdt. Volksmärchen 1. Jena 1927. — Brinkmann, O.: Erzählen in einer Dorfgemeinschaft. Münster 1933. — Zenker-Starzacher, E.: Eine dt. Märchenerzählerin aus Ungarn. Mü. 1941. - Langstroff, Κ. H.: Lothringer Volksart. Marburg 1953. — von der Leyen, F.: Neue Beitr.e zur Märchenforschung (1954). In: Karlinger, 2 7 1 - 2 9 4 . - Ranke, K.: Der Einfluß der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen auf das volkstümliche dt. Erzählgut (1955). In: id.: Die Welt der Einfachen Formen. B. 1978, 7 9 - 8 6 . - Henßen, G.: Ungardt. Volksüberlieferungen. Marburg 1959. — Bausinger, H.: Vk. Darmstadt 1961. - Cammann, Α.: Westpreuß. Märchen. B. 1961. - id.: Am Herdfeuer eines Westfalenhofes. In: Die Nachbarn 3 (1962) 6 7 - 8 5 . - id.: Artländer Parallelen, ibid., 8 6 - 9 3 . — Degh, L.: Märchen, Erzähler und Erzählgemeinschaft. B. 1962. - Oberfeld, C.: Volksmärchen aus Hessen. Marburg 1962. - Röhrich, Märchen und Wirklichkeit. — Koväcs, Α.: Ung. Volksmärchen. MdW 1966. — Cammann, Α.: Dt. Volksmärchen aus Rußland und Rumänien. Göttin-
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Farago - Farben, Farbsymbolik
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Bremen
Alfred Cammann
Farago, Joszef, *Kronstadt (Bra§ov, Rumänien) 22. 2. 1922, ung. Folklorist. Promovierte in ung. Vk. und Philologie. 1943—54 Assistent an der Ung. Univ. Klausenburg, ab 1950 wiss. Mitarbeiter an der volkskundlichen Abt. der Babe§-Bolyai-Univ. ebendort, anschließend an der Rumän. Akad. Zahlreiche Feldforschungen (über 10.000 Aufnahmen, davon 1.800 zur Volksprosa) bilden die Grundlage der Unters.en über Volkserzählungen und -balladen, z.B. Minya Kurcsi, ein Märchenerzähler aus den Bergen1·, Dines Matyäs, ein blinder Märchenerzähler2. Monogr. Charakter haben Arbeiten wie A Contribution to the Tale Motif of the Bird Concealed in the Vessel. The First Revenge of the Poor Man of Nippur3; Story-Tellers with Rich Repertoire4 sowie der Sammelband Im Reich der Ballade. Ausgewählte Aufsätze und Artikel5. Von der bes. Situation Siebenbürgens ausgehend, beschäftigt sich F. mit den interethnischen Beziehungen in Südosteuropa und gibt Übers.en rumän. und ung. Folklore heraus: Zweisprachige Märchenerzähler in Siebenbürgen6; Auf Mißverstehen fremder Worte beruhende Schwänke7; Sur la Repartition linguisti-
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que des conteurs bilingues8; Die Brüder mit den goldenen Haaren. Volkserzählungen aus Rumänien9 und zusammen mit J. Jagamas Ung. Volkslieder in Rumänien10. Die Geschichte ung. Folkloristik in Rumänien betreffen Aufsätze über L. Arany, J. Kriza, J. Ösz, E. Benedek, S. Konsza, Bela Bartok 11 . Die natürlichen Veränderungen im Volksleben und den Einfluß organisierter Folklore beobachtet F. in Die Volksballaden im heutigen Bewußtsein eines ung. Dorfes in RumänienΛ2, Folklore und Nationalität13 und Organische und organisierte Folklore14. 'Kurcsi Minya havasi mesemondo. Buk. 1969. — In: Acta Ethnographica 22 (1973) 2 1 5 - 2 2 2 . 3 ibid. 19 (1970) 1 4 7 - 1 5 9 . - 4 ibid. 20 (1971) 4 3 9 - 4 4 3 . - 5 Balladäk fölfjen. Välogatott tanulmänyok, cikkek. Buk. 1977. - 6 In: Forschungen zur Volks- und Landeskunde 13 (1970) 5 7 - 6 9 . 7 Idegen szavak felreertesen alapulo nepi trefäk. In: Nyelves irodalomtudomänyi közlemenyek 15 (1971) 1 0 1 - 1 1 2 . - 8 In: Le Folklor macedonien 6, 13 (1974) 1 5 - 2 0 . - 9 Aranyhajü testverek. Romäniai nepmesek. Buk. 1964. - , 0 R o m ä n i a i magyar nepdalok. Buk. 1974. 11 Bibliogr. v. Acta Ethnographica 25 (1976) 107—118. - 12 Zusammen mit Räduly, J. In: Jb. für Volksliedforschung 16 (1971) 5 4 - 6 3 . - " Nemzetiseg es folklor. In: Korunk evkönyv. Kolosvär 1973, 135 — 146. — , 4 A szerves es a szervezett folklor. In: Korunk 38 (1979) 4 9 - 5 2 . 2
L i t . : Magyar irodalmi lexikon 1. Bud. 1963, 329. — Ki kicsoda? eletrajzi lexikon magyar es külföldi szemelyisegekröl, kortärsainkröl. Bud. 1975, 163. — Magyar nepajzi lexikon 2. Bud. 1979, 49. — Dic{ionarul folclori§tilor. Folclor literar romänesc. Buk. 1979, 4 5 7 - 4 5 9 .
Göttingen
Helga Stein
Farben, Farbsymbolik 1. Allgemeines - 2. Farben und ihre Symbolik - 2.1. Rot - 2.2. Schwarz - 2.3. Weiß - 2.4. Blau — 2.5. Grün — 2.6. Gelb — 3. Zusammenfassung
1. A l l g e m e i n e s . Zur bes. Eigenart der Volkserzählung tragen Farben (F.n) als dekorative und symbolische Züge wesentlich bei. Die Bedeutung einzelner F.n und F.nkombinationen kann an Hand von Textanalysen und durch Zurückführung auf Bräuche, Glaubensvorstellungen und kulturgeschichtliche Zusammenhänge untersucht werden. Neben
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Farben, Farbsymbolik
sehr begrenzten Gemeinsamkeiten, die als universell-archetypisch interpretiert wurden 1 , gibt es zahlreiche kulturspezifische Ausprägungen. Die folgende Darstellung konzentriert sich im wesentlichen auf den ide. Bereich, vor allem auf das europ. Volksmärchen, und beschäftigt sich vorwiegend mit der Symbolik; doch wird beiläufig auch auf die überall mitspielende ästhetische und strukturierende Wirkung der F.n verwiesen. Eine gemeinsame ide. Auffassung der F. gibt es nicht, obwohl die meisten dieser Sprachen F. als eine Art Überzug oder Haut beschreiben. Oft ist F. kein unabhängiger Begriff, sondern wird mit verschiedenen Lebewesen oder Dingen in Zusammenhang gebracht; im Ahd. z.B. gibt es verschiedene Bezeichnungen für die F.n von Pferden 2 . Die Menschen der Frühzeit scheinen als erstes Hell und Dunkel bewußt wahrgenommen zu haben, dann Weiß und Schwarz und danach Rot als magische und schützende F. 3 In Goethes Farbenlehre findet sich die Erklärung, daß der Mensch zunächst eine starke Neigung zu den leuchtendsten F.n faßte, bes. zu GelbRot, das als F. des Feuers und der untergehenden Sonne Wärme und Freude ausdrückte, während die dunklere F. Blau mit Kälte und Schatten verbunden wurde 4 .
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christl. Formen und Symbolen kann verfolgt werden 7 . Im ma. Europa unterschied man vier Temperamentstypen, mit denen jeweils eine F. in Zusammenhang gebracht wurde: sanguinisch (Rot), cholerisch (Gelb), melancholisch (Schwarz) und phlegmatisch (Weiß) 8 . In mhd. Gedichten wurden oft die sechs F.n Rot, Weiß, Schwarz, Blau, Grün und Gelb in ihrer Bedeutung beschrieben 9 . Durch den im MA. sehr beliebten Gebrauch vergleichender Farbwörter erweiterten sich die Möglichkeiten formelhafter Beschreibung (cf. Namen wie Schneeweißchen und Rosenrot in KHM 161) 10 .
M. Lüthi hat bemerkt, daß sich das Märchen durch eine Vorliebe für kräftige F.n, bes. Rot, Schwarz und Weiß, und für harte, metallische Töne wie Gold, Silber und Kupfer auszeichnet 11 . Misch-F.n und Schattierungen fehlen im Märchen völlig, anders als im realistischeren Volkslied, das gern Braun und Grün, die in der Natur vorherrschenden F.n, nennt: ein feins brauns Mädchen, schwarzbraune Äugelein, in braun will ich mich kleiden — der grüne Wald, der grüne Klee, das grüne Feld etc. Lüthis Beobachtung ermöglicht ein besseres Verständnis der ästhetischen Qualitäten der Märchen-F.n und leistet einen Beitrag zur Charakteristik der verschieVerfechter der —»Sonnenmythologie wie denen Gattungen: Reinheit/Bestimmtheit, F. M. —» Müller und G. W. —» Cox vertraten Extremismus, Leuchtkraft und Kontraste prägen sich im Märchen bes. kräftig aus. Die die Ansicht, die Sonne, die dunkle Nacht und F.nsymbolik der Volkserzählung und die die Sterne hätten die Grundlage der frühen farbliche Gestaltung überhaupt variiert mit Symbolik der Menschheit gebildet. Der Geder Persönlichkeit des jeweiligen Erzählers. brauch von Sonnenmetaphern führte danach zu so augenfälligen Farbsinnbildern wie Zsuzsänna Palko, eine außergewöhnliche ErLeuchtendrot als F. der aufgehenden Sonne, zählerin, mit der sich Linda —> Degh befaßt hat, erzählt am liebsten Geschichten, die reich Rotgold als F. der Morgendämmerung, matan poetischen Bildern und dramatischen Konteres Rot für die untergehende Sonne und trastierungen von Arm und Reich sind. Die Schwarz und Silber für den sternenbedeckten Betonung der tiefschwarzen F. von Pferden, Nachthimmel. Müller und Cox zufolge stam„schwarz wie Schwarzdorn", verstärkt sich men diese Bilder aus einer gemeinsamen ide. noch durch die formelhafte Beschreibung von Vergangenheit, in der sich erstmals mythenGold, Diamanten und Glas, mit deren Hilfe bildendes Bewußtsein entwickelte 5 . sie die Reichen charakterisiert 12 . Eine StilEindeutige Zeugnisse für ein zusammenanalyse von F.nmustern in den Repertoires hängendes System einer F.nsymbolik hintereinzelner Erzähler kann wichtige Einsichten ließen die alten Ägypter. Weiß war die F. des über ästhetisches und gesellschaftliches EmpTages und der Oberwelt, während Schwarz finden vermitteln. der Nacht, der Unterwelt und der Totentrauer entsprach. Heilige F.n waren Weiß, Grün, Die Haupt-F.n der Volkserzählung sollen Hell- und Dunkelrot 6 . Auch der Übergang hier einzeln in ihren Symbolbezügen unter von bedeutungsvollen F.n des Altertums zu Berücksichtigung ihrer Verbindung mit ande-
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Farben, Farbsymbolik
ren F.n betrachtet werden. Dabei lassen sich verschiedene Intensitätsstufen der F.nsymbolik unterscheiden: Einmal handelt es sich um ein magisches Verhältnis; eine F. löst unmittelbar eine Wirkung aus. In anderen Fällen .bedeutet' eine F. etwas Bestimmtes, weist also in eine bestimmte Richtung, ohne jedoch direkt entsprechende Wirkungen auszulösen. Schließlich gibt es allegorische F.nzuordnungen und auch eine nur-spielerische F.nmetaphorik, eine Schmuckfunktion der F.n. Die wichtigsten F.n sind: Rot, Schwarz, Weiß, Blau, Grün, Gelb/Gold. 2. F a r b e n u n d i h r e S y m b o l i k 2.1. Rot. Rot ist in der Volkserzählung eine vielseitige F.: Es symbolisiert sowohl Leben wie Tod, Freude und Glanz wie Zorn und Verrat. Da es die F. des —» Blutes, des Lebenssaftes der Menschen, ist, erklärt sich zumindest teilweise, daß Rot oft mit Gesundheit und Schönheit in Zusammenhang gebracht wird. Die Mutter in der Grimmschen Version (KHM 53) zu AaTh 709: Schneewittchen wünscht sich ein Kind „so weiß wie Schnee, so rot wie Blut, und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen"; ähnlich ersehnt die Frau des reichen Mannes (KHM 47, AaTh 720: 7otenvogel) ein Kind „so rood as Blood un so witt as Snee". Die Wahl der Vergleichswerte entspricht dem quasi surrealen Extremismus des Märchens (—» Extreme); in der Wirklichkeit könnte und dürfte die Gesichts-F. weder blutrot noch schneeweiß sein. Die „vollen roten Backen" der Kinder in KHM 15: —> Hansel und Gretel (AaTh 327 A) sind Zeichen robuster Gesundheit; die roten Augen der Hexe in demselben Märchen dagegen haben genau entgegengesetzte Bedeutung: Sie drücken die menschenfresserische Begierde und ihren Vorsatz aus, die unschuldigen Kinder zu töten. In diesem wie auch in anderen Märchen läßt sich also gegensätzlicher Gebrauch einer F. beobachten. Rot ist auch Spender von Gesundheit bei Kranken, Sterbenden oder Verzauberten. In Child Rowland erweckt der Elfenkönig zwei junge Männer mit Hilfe eines leuchtendroten Saftes wieder zum Leben (Mot. D 1242) 13 . Rot kann Gefahr abwenden (Mot. D 1381.15) oder, nach jüd. Tradition, Dämonen
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abwehren (Mot. D 1385.26) 14 . In einigen frühen isl. Erzählungen wirkt ein roter Stein als Schutz gegen Gift (Mot. D 1383.6). All diese protektiven Eigenschaften machen Rot zu einer wirkungsvollen magischen F. (Mot. D 1293.1) 15 . Rot wird mit Prunk und Königtum, mit einer glanzvollen Umgebung und prächtigen Dekorationen (—» Dekorative Züge) in Verbindung gebracht. In südafrik. Erzählungen sind rote Zähne ein Zeichen kgl. Geblüts (Mot. Η 71.9) 16 ; in westeurop. übernehmen andere Gegenstände diese symbolische Funktion. Ζ. B. kommt der Königssohn in der Grimmschen Version De drei Vügelkens (KHM 96, AaTh 707: Die drei goldenen —» Söhne) mit einem leuchtendroten Stern zur Welt, und der König vom goldenen Berg (KHM 92, AaTh 400: -> Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau) hat als Mal eine Himbeere unter dem rechten Arm. Durch solche bes. Geburtsmale können kgl. Kinder ihre Herkunft nachweisen (—»Zeichen edler Herkunft). Nicht nur als Bezeichnung kgl. Rangs haben rote Male bleibende Wirksamkeit: In der ung. Erzählung Der schöne Andräs hinterläßt der Kuß des Helden eine leuchtendrote Stelle auf dem Kinn der Fee Rozsa 17 . Rote Dekorationen sind lebhafter Ausdruck für Freude und Festlichkeiten. In KHM 60: Die zwei Brüder (AaTh 303) ist die Stadt mit schwarzem Flor verhängt, als die Königstochter einem Drachen geopfert werden soll, vor der Feier ihrer Hochzeit hingegen mit rotem Scharlach als Zeichen der Freude geschmückt. Schwarz und Rot bilden hier als F.n des Todes und des Lebens einen wirkungsvollen Kontrast. Rot in Zusammenhang mit Hochzeitsfeierlichkeiten begegnet auch in KHM 80: Von dem Tode des Hühnchens (AaTh 2021), in dem das Hähnchen die Braut um rote Seide bitten soll. L. Schmidt weist darauf hin, daß sich die Frauen in Süddeutschland und in anderen Gegenden bei Hochzeiten traditionell rot kleiden; der Symbolgehalt der F. sei eng mit Brauchtum und Volksglauben verwoben 18 . In der Grimmschen Version (KHM 9) von AaTh 451: —> Mädchen sucht seine Brüder erscheint Rot wiederum als Komponente eines Symbolpaars, das Leben und Tod versinnbild-
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Farben, Farbsymbolik
licht, diesmal aber unter negativen Vorzeichen. Das Aufstecken einer roten Fahne ist das Signal dafür, daß die Königin eine Tochter geboren hat und ihre zwölf Söhne in Todesgefahr sind; eine weiße Fahne hätte die Geburt eines Sohnes und damit Sicherheit bedeutet (cf. —• Erkennungszeichen). Als Zeichen von Gefahr ist Rot also mit Tod und auch mit Krieg verknüpft. Ein zorniger Krieger kann rot und purpurn werden (Mot. F 1041.16.6.5); Soldatentruppen können rot, weiß und schwarz sein (Mot. F 873.1). Ein Strom roten Blutes signalisiert Tod oder Verwundung, und ein roter Gegenstand kann den Tod oder einen todesähnlichen Zustand verursachen. Die böse Königin schenkt Sneewittchen einen schönen Apfel, der auf einer Seite rot und auf der anderen weiß ist; als Sneewittchen von der roten Hälfte abbeißt, fällt es sogleich wie tot nieder. „Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz!" ruft die böse Königin, als sie geht (KHM 53). Wie hier in Sneewittchen erscheint Rot öfters als F. der Heimtücke und des Verrats: Ein treuloser Ritter ist z.B. rot gekleidet (Mot. Κ 2265); der Teufel zeigt sich zuweilen mit blutrotem Haar (Mot. G 303.4.1.8.1; —»Rothaarig), rotem Gewand (Mot. G 303.5.3) oder rotem Bart (Mot. G 303.4.1.3.1). Bei anderen übernatürlichen Wesen dagegen ist Rot nicht unbedingt ein Zeichen böser Absicht. Zwerge haben rote Köpfe und rote Mützen (Mot. F 451.2.7.1), Fairies tragen rote Kleider (Mot. F 236.1.1), ein Geist tritt mit roter Mütze (Mot. Ε 422.4.6), eine Riesin mit rotem Gewand auf (Mot. F 531.4.7.3), Elfen führen rote Kühe hinter sich her (Mot. F 241.2.1.1). So ist Rot eine der wichtigsten F.n in der magischen Welt der Volkserzählung. 2.2. Schwarz. Schwarz besitzt in geringerem Maße als Rot symbolische Ambivalenz, es drückt gewöhnlich Bosheit, Gefahr und Zerstörung in unterschiedlich hohem Grade aus. Positive Bedeutungen fehlen aber nicht ganz. Ein schwarzer Hund, in Sagen meist ein schuldbeladener oder sonstwie unheimlicher Spukgeist, kann auch ein gutes Omen sein (Mot. D 1812.5.2.10), und Schwarz kann vor dem bösen Blick schützen (Mot. D
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2071.1.4) 19 . Helden tragen zwar meist helle oder leuchtende F.n, begegnen aber auch manchmal in der Gestalt eines schwarzen Ritters (Mot. R 169.1). In dem schott. Märchen Ashpitel (AaTh 510A: —> Cinderella) hilft ein schwarzes Lämmchen der benachteiligten Heldin bei ihrer Vorbereitung auf die Begegnung mit dem Prinzen 20 . Schwarzgesichtige Madonnenfiguren genießen (Paradoxeffekt) hohe Verehrung (Czenstochau, Einsiedeln u.a.). Nach einem alten, weitverbreiteten Volksglauben ist einer der drei Hähne, die die dämonischen Geister der Nacht mit ihrem Schrei verjagen, schwarz; die anderen sind weiß und rot 21 . Die rot-schwarz-weiße Triade findet sich noch in vielen anderen Erzählkonstellationen, also nicht nur im Märchen. Als Gegenpart zu einer anderen F. ist Schwarz oft die F. des Todes. In der ir. Erzählung Ciatach soll eine schwarze Flagge auf dem Schiff den Tod des Kriegers anzeigen, eine weiße dagegen, daß er lebt 22 . Menschen, die einem Drachen zur Opferung bestimmt sind, tragen zum Zeichen der Nähe ihres Todes manchmal schwarze Kleidung 23 . Für die, die nicht selbst dem Tod entgegensehen, ist Schwarz die F. der Trauer und der Achtung den Toten gegenüber; sie wird weithin als Zeichen von Schmerz und Verlust verstanden (Mot. Ζ 143.1). Schwarz gilt auch als F. der Unterwelt, der Verdammnis und der Verführung durch den Teufel. Dieser wird ,der Schwarze' genannt (Mot. G 303.2.2); er ist manchmal schwarz gekleidet (Mot. G 303.5.1) oder hat schwarze Pferde (Mot. G 303.7.1.1); in Schwanksagen wird dem Teufel gern die unlösbare Aufgabe gestellt, schwarze Wolle weiß zu waschen 24 (AaTh 1183: Washing Black Cloth White: Task for Devil). Schwarz ist das Wasser der Höllenflüsse (Mot. A 671.2.2.4) 25 - ein Bild, das sich auf die dunklen Wasser der Styx in der griech. Mythologie zurückführen läßt. Auf Erden können Geschöpfe der Unterwelt die Gestalt schwarzer Vögel, Hunde und anderer Tiere von dunkler F. annehmen. Es gibt eine große Vielfalt böser schwarzer, übernatürlicher wie auch menschlicher Wesen. So wird die F. Schwarz oft mit Hexen (Mot. G 219.7), ihren Kleidern, Werkzeugen und ihren Vertrauten verbunden. In türk., griech. und anderen Balkanmärchen ist der Mohr
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(Arap) meist ein Bösewicht 26 . Gespenster sind zwar gewöhnlich weiß, gelegentlich begegnen aber auch schwarze Geister (Mot. Ε 422.2.4), bes. häufig, auch noch in heutiger Tradition, schwarze Hunde 27 . Weiter gehören Dämonen, Trolle und andere gefährliche Kreaturen zur Vielzahl der schwarzgefärbten Wesen. Unter den Menschen ist die schwarze F. ein Merkmal für Bosheit oder Falschheit. Sie hat dabei häufig Kontrastwirkung wie in AaTh 403: Die schwarze und die weiße —» Braut, wo das kohlschwarze, häßliche Mädchen die falsche Bewerberin ist. Schlechte Menschen können lernen, sich des Schwarzen Buches zu bedienen; Unerfahrene gebrauchen es mitunter falsch 28 . Es gibt eine Schwarze Schule, deren Schüler das Risiko eingehen, derjenige zu sein, der zum Zurückbleiben bestimmt und vom Teufel geholt wird 29 . Einer der interessantesten Aspekte der F. Schwarz ist ihre Rolle bei negativen Verwandlungen, die im Zusammenhang mit christl. Glaubensvorstellungen sichtbarer Ausdruck von Übertretungen physischer oder geistiger Art sind. Die Brustwarzen einer Frau, die ihre Jungfräulichkeit verloren hat, werden schwarz (Mot. Τ 494); ähnlich schwärzt sich ein hl. Bild in Gegenwart einer unkeuschen Frau (Mot. Η 411.9.1) oder die Hostie bei einem Exkommunizierten (Mot. V 84.2). Jeder dieser Vorfälle besteht in einer dramatischen Veränderung, die den Verlust der Reinheit jedem Beobachter offenkundig werden läßt. 2.3. Weiß. Weiß ist wie Schwarz und Rot eine magische F. Weiße Tiere besitzen oft übernatürliche Kräfte, so z.B. eine Kuh (Mot. Β 184.2.0.1). Eine weiße Ente bringt Hänsel und Gretel über das Wasser. Der Schimmer weißer Steine im Dunkel zeigt ihnen den Heimweg. In einer livländ. Erzählung dient ein weißes Schaffell als wunderbare Lichtquelle (Mot. J 1961; AaTh 1245*: White Sheep-skin as Source of Light). Der glänzende Schein solch weißer Lebewesen und Dinge erhellt die Landschaft der Volkserzählung und verleiht Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang. Übernatürliche Wesen treten oft in Weiß auf: z.B. Fairies in weißen Gewändern und auf weißen Pferden (Mot. F 236.1.3, F
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241.1.1.1), der Teufel als weißer Hengst oder Stier (Mot. G 303.3.3.5.3, G 303.3.3.12) und Zwerge in weißer Kleidung oder mit silberweißem Haar (Mot. F 451.2.7.4, F 451.2.4.2). Auch Wilde Jäger sind bei ihrem rasenden Sturm durch den Wald weiß angetan 30 . Vielleicht am wichtigsten unter den weißen Wesen sind Gespenster, die einen dramatischen Kontrast zu der Dunkelheit bilden, in der sie erscheinen. Der Held von KHM 4 (AaTh 326: Fürchten lernen) trifft auf dem Kirchturm auf eine weiße Gestalt; ein weißer Geist mit einer Mütze über dem Gesicht springt hinter einem erschreckten Reisenden auf ein Pferd (Mot. Ε 422.4.3) 31 , ein weibliches Gespenst in Weiß erhebt sich aus einem Teich oder Fluß und bedroht Vorübergehende (Mot. Ε 422.4.4). Diese Erscheinungen sind stets furchterregend und beunruhigen die Augenzeugen in der Regel stark. Mehr als die verschiedenen weißen Gespenster ist die Seele ein spezifisch religiöses Phänomen. Sie kann als schwarzer oder weißer Geist über einem Sarg schweben und manchmal sichtbar werden, wenn man zwischen den Ohren eines Pferdes hindurchspäht (Mot. Ε 722.1.1). Die reine Seele ist weiß, die verdammte schwarz — eine scharfe symbolische Trennung des Guten und des Bösen im Menschen. Bei der Erlösung Verdammter oder Verwunschener wird nicht selten Schwarz zu Weiß. In einer Urner Sage wird ein schwarzer Alpgeist „allmählich von Jahr zu Jahr heller", zuletzt ist er fast ganz weiß. In einem rätorom. Märchen geschieht die Erlösung etappenweise: Zuerst werden die Füße der drei schwarzen Frauen weiß, dann die Hände, endlich sind die Schwarzen (las nairas) zu Weißen geworden (las treis albas) 32 . In beiden Fällen entspricht der Vorgang (hier stufenweise, dort kontinuierlich) dem Gesamtstil der Gattung. Wichtig ist Weiß als Sinnbild der Schönheit und Unschuld. In Legenden ist die weiße —* Lilie (—» Blume) ein gebräuchliches Symbol für Reinheit und göttliche Gnade. In KHM 135 ist die hilfsbereite Stieftochter „so schön und rein [.. .] wie die Sonne" und „weiß und schön wie der Tag". Die Unschuld kann freilich mit Weiß auch vorgetäuscht werden wie in KHM 5 (AaTh 123: Wolf
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und Geißlein). Nachdem der Wolf seine Pfoten mit Mehl weiß gemacht hat, halten ihn die Geißlein für ihre Mutter und werden bis auf eines aufgefressen. Eine —» Freierprobe besteht darin, daß derjenige die Braut bekommt, der die weißesten Hände besitzt (Mot. Η 312.4). In isl. Volkserzählungen sind auffallend hübsche weiße Hände ein Symbol der Schönheit (Mot. F 552.3) 33 . Das Volkslied, auch das erzählende, kennt Stereotypformeln: „Mit ihren schneeweißen Händen / Macht sie dem Reiter ein Grab", „Sie ergreift ihn bei seiner schneeweißen Hand" 3 4 . Neben außergewöhnlicher Schönheit oder bes. Eignung kann Weiß auch Güte versinnbildlichen: In der ir. Mythologie haben alle Kühe während der Herrschaft eines guten Königs weiße Köpfe (Mot. Q 153.1) 35 . Da Weiß so positive Züge trägt, überrascht es nicht, daß man die F. auch mit vorteilhaften oder hilfreichen Verwandlungen oder Veränderungen in Zusammenhang bringt. Ein Bad in der Milch einer weißen, hörnerlosen Kuh kann als Mittel gegen Gift wirken (Mot. D 1515.3) 36 .
2.4. Blau. Blau ist bekannt als eine F., die Erscheinungen von Geistern oder Seelen begleitet. Die verlorenen oder verbannten Geister der Schlechten oder Unglücklichen zeigen sich als blaue Irrlichter; ein Berggeist trägt graue Kleidung, die in einem bläulichen Licht schimmert; blaue Lichter folgen Hexen (Mot. G 229.7), und die norw. Nisse trägt nachts ein blaues Licht 37 . Diese Beispiele zeigen, daß die F. Blau in engem Zusammenhang mit Licht steht, wohl deshalb, weil sie eine der F.n der Flamme ist. Oft sind blaue Phänomene gefährlich: So bringt eine blaue Flamme bei der Wilden Jagd den Tod. Eine lokale Bezeichnung für den Wilden Jäger in einer Lausitzer Sage ist ,Blauhütel' 38 . Wer zu einem Schatz vordringt, der von einer blauen Flamme bewacht wird, zieht sich den Zorn des Teufels oder Armer Seelen zu 39 . Manchmal bildet nicht eine blaue Flamme, sondern eine Blume dieser F. die schützende Grenze. Die Romantiker wählten die geheimnisvolle, sehnsüchtig gesuchte Blaue Blume als Symbol der Freude, Reinheit und Heiligkeit; lange vorher schon versinnbildlichte der blaue
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Mantel der Jungfrau Maria die Reinheit im religiösen Sinne 40 . Bei einigen Tieren, dem Meer und dem Himmel ist Blau eine natürliche und reizvolle F., höchst befremdend aber bei Absonderlichkeiten wie blauem Schnee (Baughman X 1653.2). Hilfreiche Tiere wie Fische, Stiere oder Störche sind bisweilen blau 41 . Für Verliebte kann Blau eine Glücksfarbe sein (Mot. Τ 3.1), und zum Ausdruck des Glücks wird es bei Hochzeiten getragen 42 . Als Haut- oder Haarfarbe eines Menschen ist Blau unnatürlich und bedrohlich: Blaubart (AaTh 312: —» Mädchenmörder) tötet seine Frauen eine nach der anderen (Mot. S 62.1). Blaue Kleidung bringt man bes. mit Seejungfrauen und Meermännern in Zusammenhang. Der Teufel, der viele verschiedene F.n trägt, erscheint manchmal in Blau (Mot. G 303.5.4) wie auch Elfen, und es gibt blaue, rote und gelbe Pferde im Reich der Fairies (Mot. F 241.1.1.3). 2.5. G r ü n . Grün bedeutet wie Rot Freude und Glanz — aber nicht nur die Pracht des kgl. Saals, sondern auch die der Natur. Es ist die F. der Wälder und Gärten. In ihnen wirken bisweilen magische Kräfte wie im Falle des Baums im Garten des Jenseits, der zur Hälfte grünt und zur anderen in Flammen steht (Mot. F 162.1.2.4). Der Held kann in einem grünen Hügel auf eine Kapelle oder eine Höhle stoßen (Mot. F 773.1), in der er der magischen Welt begegnet. Dieser Zusammenhang zwischen Pflanzenwuchs und Zaubermacht, die enge Wechselwirkung zwischen natürlichen und übernatürlichen Kräften findet sich sehr häufig. J. G. —> Frazer machte auf die enge Beziehung von Mensch und Natur und die symbolische Wirksamkeit der F. Grün aufmerksam 43 . In der Volkserzählung wird Grün mit bes. Fähigkeiten und Phänomenen in Verbindung gebracht: Eine grüngekleidete Frau lehrt geheime Heilmittel (Mot. Ν 455.5) 44 , ein Jäger in grünem Gewand verschenkt einen Zaubergegenstand (AaTh 304: Der gelernte —> Jäger; Mot. D 823.1), der Ort des Martyriums eines Heiligen bleibt forthin immer begrünt (Mot. V 229.2.5). In diesem letzten Beispiel und in AaTh 756: Der grünende —> Zweig ist Grün ein Zeichen für Unschuld und Reinheit.
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Auch Fairies, Zwerge und Heinzelmännchen tragen manchmal grüne Kleidung. Die eindrucksvollste grüngekleidete Gestalt ist jedoch der Teufel, der mitunter als Jäger mit grünem Hut oder leuchtendgrünem Mantel erscheint (Mot. G 303.5.2) 45 . Des Teufels Großmutter soll, hierin dem Wassernix ähnlich, grüne Zähne haben 46 . Im Vergleich zu den anderen F.n, die gewöhnlich mit dem Teufel assoziiert werden, nämlich Schwarz und Rot, scheint Grün insbesondere die Verbindung mit der Natur und die Herrschaft über sie darzustellen. Der Waldkönig hat einen grünen Bart und grüne Kinder 47 ; ähnlich ist der Teufel im Wald, eine außerordentlich mächtige Gestalt, grün gewandet. Grün ist eine Zauberfarbe, die sowohl Schutz als auch Verwandlung bewirkt. Ein grüner Haselzweig kann den Träger vor Schlangen und Nattern bewahren (KHM 210: Die Haselrute-, Mot. A 2711.4.1); ein Mann wird in einen grünen Ritter verwandelt (Mot. D 57.1). Ein ermordetes Kind kehrt als Vogel mit grünen und roten Federn wieder ins Leben zurück (KHM 47, AaTh 720: -> Totenvogel). Rot ist hier in Zusammenhang mit den roten und weißen Farben des Kindes und den Flammen im Wachholderbaum zu sehen, während Grün als erneuernde Lebenskraft aufgefaßt werden kann. 2.6. G e l b . Gelb ist im Märchen nicht so sehr eine hervorstechende F., sondern vielmehr der strahlende, metallische Ton von Gold. Während Gelb eine Glücksfarbe sein kann (Mot. Ζ 148), kann goldgelber Wein wunderbaren Erfolg und phantastisches Glück bringen 48 . Manche Heldinnen haben blondgelbe, häufiger aber noch goldene Haare. Goldene Flechten sind schön und sehr begehrenswert — ein interessanter Zusammenhang zwischen kostbarem Metall und dem Wert einer Frau (—» Geld). Zu einer Intensivierung der F. Gelb kommt es, wenn sich eine gelbe Schlüsselblume in der Hand des Helden in einen goldenen Schlüssel verwandelt. Bei einer Folge mehrerer metallischer F.n stellt Gold gewöhnlich den höchsten Wert dar (-> Kupfer, Silber, —> Gold). Es verkörpert die größte Herausforderung oder Schwierigkeit, das Höchstmaß an dramatischer Spannung und die glänzendste Belohnung.
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Mit Grün gepaart ist Gelb von mehrdeutigem Charakter: Obwohl diese Farbkombination bisweilen auf eine positive Weise mit der Natur in Zusammenhang steht, kann sie auch ein Anzeichen von Kränklichkeit oder Mißgunst sein. Bei der ersten Bitte der habgierigen Frau in —> Fischer und seine Frau (KHM 19, AaTh 555) wird das Meer grün und gelb und verliert an Klarheit; in KHM 53 wird Sneewittchens Stiefmutter gelb und grün vor Neid, als sie ihren Spiegel befragt hat. Die Verbindung der F. Gelb mit Neid findet sich in Gedichten des 15. Jh.s ebenso wie in späteren Bräuchen und Vorstellungen 49 . 3. Z u s a m m e n f a s s u n g . Im Ganzen gesehen läßt sich bei den Hauptfarben der Volkserzählung ein Hang zur Bildung ständig wiederkehrender Muster — der scharfen Kontrastierung von Leben und Tod, Freude und Leid, Wahrhaftigkeit und Falschheit, großer Schönheit und abgrundtiefer Häßlichkeit — beobachten 50 . Wegen dieser starken Vorliebe für Kontraste gibt es zahlreiche Farbpaare und auch recht viele Dreierkombinationen. Die F.n Rot, Schwarz, Weiß, Blau 51 , Grün, Gelb und Gold stehen alle in Zusammenhang mit magischen Kräften, Verwandlungen und übernatürlichen Wesen, sind insofern F.n der jenseitigen Welt, die in der Volkserzählung so lebendig dargestellt wird. Sie sind leuchtender, schärfer und geheimnisvoller als die F.n der Alltagswelt, und darin liegt ihr dauerhafter Reiz (—> Hell und dunkel). 'von Beit 1, 5 5 2 - 5 5 4 . - 2 Mengis, C.: F. In: H D A 2, 1 1 9 0 - 1 2 1 5 , hier 1190. - 3 ibid., 1191. - "von Goethe, J. W.: Zur F.nlehre. In: Goethes Werke 13. Hbg 1955, 4 9 4 - 5 2 1 ( = 6. Abt.: Sinnlich-sittliche Wirkung der F.), hier 4 9 5 - 5 0 0 . - 5 Müller, M.: Chips from a German Workshop. N.Y. 1881; Cox, G. W.: Mythology of the Aryan Nations. L. 1870. - 6 Mengis (wie not. 2) 1198; cf. F. In: Lex. der Ägyptologie 2. Wiesbaden 1977, 1 1 7 - 1 2 8 . 7 Haeberlein, G.: Grundzüge einer nachantiken F.nikonographie. In: Rom. Jb. für Kunstgeschichte 3 (1939) 7 6 - 1 2 6 . - 8 Mengis (wie not. 2) 1191. 'Niewöhner, H.: Die sechs F.n. In: Verflex. 1 (1933) 6 0 2 - 6 0 6 . - 10 Marty, Α.: Die Frage nach der geschichtlichen Entwicklung des F.nsinnes. Wien 1979, 79. 11 Lüthi, Europ. Volksmärchen, 28sq.; id.: Aspects of the Märchen and the Legend. In: Genre 2 (1969) 166; cf. Taylor, Α.: Proverbial Comparisons and Similes from California. Berk./L. A. 1954, 6sq.
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- 1 2 Degh, L.: Folktales and Soc. Bloom. 1969, 1 8 3 - 2 2 4 . - 13 D B F 2, 183. - 1 4 Neuman. ,5 N e u m a n ; Thompson/Balys; Cross. - 1 6 Junod, Η. Α.: The Life of a South African Tribe 2. Neuchätel 1913, 231. - 17 Degh, L.: Folktales of Hungary. Chic. 1965, 45. - 18 Schmidt, L.: Rot und Blau. Zur Symbolik eines Farbenpaares (1962). In: id.: Volksglaube und Volksbrauch. B. 1966; cf. auch Lauffer, O.: F.nsymbolik im dt. Volksbrauch. Hbg 1948. - 19 Jijena Sanchez, R.: El negro. Buenos Aires 1952, 121; Penzer, Ν. M.: The Ocean of Story 1. L. 1923. 212, 217. - 20 D B F 2, 138-140. 21 Köhler/Bolte 3, 5 8 1 - 5 8 9 ; cf. auch den Sagentyp .Dreierlei Milch': Müller, J.: Sagen aus Uri 2. Basel 1945 (Nachdr. 1978), num. 9 1 6 - 9 2 2 . - 2 2 0 ' S u l livan, S.: Folktales of Ireland. Chic. 1966, 3 8 - 5 6 . - 2 3 Kahlo, G.: F. im Märchen. In: H D M 2, 52sq. - 2 4 v. z.B. Müller, J.: Sagen aus Uri 3. Basel 1945 (Nachdr. 1969) n u m . 1 2 6 1 . - " C r o s s . - 2 6 v . Kretschmer, P.: Neugriech. Märchen. MdW 1919, VIIIsq. — 2 7 v . z.B. Müller (wie not. 24) Reg. s.v. Hund, schwarz. — 2 8 Christiansen, num. 3020. — 29 ibid., n u m . 3 0 0 0 . - 3 0 Schweda, V.: Die Sagen vom wilden Jäger und vom schlafenden Heer in der Provinz Posen. (Diss. Greifswald 1915) Gnesen 1915. 31 Frank C. Brown Collection of North Carolina Folklore 1. ed. Ν. I. White. Durham, Ν. C. 1952, 682. - 32 Uffer, L.: Las Tarablas da Guarda. Basel 1970, 7 6 - 8 1 ; cf. auch Hanika, J.: Der Wandel Schwarz-Weiß als Erzähl- und Brauchmotiv. In: Bayer. Jb. für Vk. (1961) 4 6 - 6 0 . - 3 3 Boberg. 34 Pinck, L.: Verklingende Weisen 1. Kassel 1926 (Nachdr. 1963) 111, 121; auch andere F.n werden im Volkslied formelhaft gebraucht, cf. Massny, D.: Die Formel „Das braune Mägdelein" im alten dt. Volkslied. In: Ndd. Zs. für Vk. 15 (1937) 2 6 - 6 5 . 35 Cross. - 36 ibid. - 3 7 Schewe, H.: Blau. In: H D A 1, 1 3 6 7 - 1 3 6 9 . - 38 ibid., 1367, 1386. - 39 ibid., 1369. — 4 0 Z a u n e r t , P.: Dt. Märchen seit Grimm. MdW 1922, 257. 41 H D M 2, 53. - 4 2 Wossidlo, R.: Aus dem Lande Fritz Reuters. Lpz. 1910, 197. - 4 3 Frazer, J.: The Golden Bough. L. 1915. - 4 4 Basile 1, 2. 45 Wünsche, Α.: Der Sagenkreis vom geprellten Teufel. Lpz./Wien 1905, 53, 90. - 4 6 H D M 2, 55. - 4 7 ibid. - 48 ibid. - 49 H D A 2, 1198. - 5 0 cf. Brückner, W.: Farbe als Zeichen. In: ZfVk. 78 (1982) 1 4 - 2 7 . 51 Ganz andere Symbolgehalte kennt dagegen die Redensart, cf. Röhrich, Redensarten 1, 1 3 5 - 1 3 7 .
Binghamton
Elizabeth Tucker
Farce 1. Gattungsbezeichnung — 2. Geschichte und Verhältnis zu umgebenden Gattungen - 3. Über-
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lieferung, Sprache und Struktur - 4. Thematik und Funktion - 5. F. und Volkserzählung
1. G a t t u n g s b e z e i c h n u n g . Das frz. Substantiv farce ist vom lat. Verb farcire (vollstopfen) abgeleitet und hat bis heute die konkrete Bedeutung .gemischte Hackfleischfüllung'. Zur Übertragung in die Lit., 1389 und 1398 urkundlich belegt, hat weniger die Sinnkomponente .Mischung, Kleingehacktes' beigetragen als .Füllung': ein kurzes komisches Zwischenspiel. In Analogie zum Theaterstück wird die Bezeichnung auch für Alltagshandlungen verwendet. Bei der Definition der F. als Theaterstück hat man zu unterscheiden zwischen der frz. komischen Gattung im 15. und 16. Jh. und der heutigen oft überhist. Verwendung der Bezeichnung für einen Typus komischen Theaters. Im hist. Sinn ist die F. ein Einakter von verbaler und situationeller Komik mit der allg. Thematik von List und Betrug, aber auch satirischem Bezug zur sozialen Wirklichkeit der ma. Standesgesellschaft. Überhist. wird die Bezeichnung für realistische, derbkomische oder satirische Stücke von —» Aristophanes über die Mimustradition bis zur —> Commedia dell'arte im Gegensatz zur Charakterkomödie oder zur Romanze verwendet. In dieser Bedeutung ist die Bezeichnung F. auch in die anderen europ. Sprachen eingegangen, tritt im Deutschen fast synonym neben —> Posse. Im folgenden ist F. im Sinne des frz. Spät-MA.s gemeint. 2. G e s c h i c h t e und Verhältnis zu umg e b e n d e n Gattungen. Die Theorien über die Entstehung der F. sind im wesentlichen dieselben wie für das Aufkommen eines profanen Theaters im MA. insgesamt: die selbständige Weiterentwicklung heidn. Brauchtums; die Ausgliederung des profanen aus dem geistlichen Drama; das Vorbild der lat. Komödien des 12. Jh.s (Elegienkomödien); Stoff- und Motivtradition über —» Fabliau und —» Novelle. Die dramatisch-komische Form hat sie vom komischen Theater des 13. Jh.s und dieses wohl aus den Vorführungen der Jongleurs (Joculatores) übernommen, ihr Auftreten und ihr Verfall stehen in engem Zusammenhang mit der Entwicklung des städtischen Lebens. Als erste erhal-
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tene F., ohne noch diese Bezeichnung zu tragen, kann das kurze anonyme Stück Le Gargon et l'aveugle (ca 1266, 265 V.e) gelten. Die große Mehrzahl der F.-Texte stammt aus der Zeit zwischen der Mitte des 15. und der Mitte des 16. Jh.s. Zu Beginn des 17. Jh.s hat sich die Tradition der frz. F., etwa bei Tabarin, mit jener der Commedia dell'arte vermischt. Neben ihrer vielleicht ursprünglichen Stellung als Zwischenspiel in einem geistlichen Drama wie Le Brigand, le vilain, le sergent in dem Mirakelspiel La Vie de Monseigneur Saint Fiacre (Anfang 15. Jh.?) tritt die F. selbständig für öffentliche oder private Aufführung oder als komischer Schlußteil einer komplexeren Aufführung, in der die Belehrung durch die Unterhaltung eingerahmt ist, auf. So bei Pierre Gringore (1515) in der Kombination cri (Aufruf), sottie, moralite, farce. Obwohl die Bezeichnungen in den vorliegenden Texten und Slgen sehr uneinheitlich verwendet werden, kann man allg. Abgrenzungen suchen: Die F. als Hauptgattung des komischen Theaters des frz. Spät-MA.s ist dramatischer als der aus dem Eselsfest hervorgegangene sermon joyeux (Predigtparodie); sie ist kompletter als der dramatische Monolog eines einzigen Darstellers, stärker wirklichkeitsbezogen als die (geistliche oder profane) didaktisch-allegorische moralite, sie ist weniger stilisiert als die aus den Narrengesellschaften hervorgehende sottie (Narrenspiel).
3. Ü b e r l i e f e r u n g , S p r a c h e und S t r u k tur. Wegen der literar. Anspruchslosigkeit der Gattung sind die F.n größtenteils anonym überliefert. Man darf daraus nicht auf Entstehung im Volk schließen: Die wenigen namentlich bekannten Verf. sind vielmehr Dichter wie Andre de la Vigne oder Pierre Gringore. Für die berühmteste F. Maitre Pathelin (1464; AaTh 1585: -> Patelin) hat man denn auch hypothetisch die verschiedensten bekannten Schriftsteller bis hin zu Villon als Verf. angesetzt. Die Überlieferung ist dem Interesse einzelner Sammler des 16. Jh.s zu verdanken: Die überwiegende Zahl der Texte der F. (wie auch der Sottien und Monologe) findet sich in drei Sammelbänden von Drukken aus der 1. Hälfte des 16. Jh.s, dem Recueil Trepperei, dem Recueil Cohen und dem Re-
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cueil du British Museum, sowie einem Ms. vom Ende des 16. Jh.s, dem Ms. La Valliere, zu denen noch zwei Sammelbände aus dem 17. Jh. und gelegentliche Einzelüberlieferungen treten. Je nach Zuordnung einzelner Texte zu der einen oder anderen Gattung sind zwischen 140 und 200 F.n aus dem frz. Spät-MA. erhalten, manche existieren in mehreren Versionen, andere sind Weiterbildungen eines beliebten Stücks. Die durchschnittliche F. besteht aus kaum 400 meist paarweise gereimten Achtsilbern, die gelegentlich, vor allem am Anfang oder am Schluß, durch Liedchen ergänzt werden. Maitre Pathelin mit fast 1600 V.en ist schon allein vom Umfang her eine Ausnahme. In den Mss. und Drucken finden sich so gut wie keine Regieanweisungen, aber aus eingelegten Holzschnitten läßt sich entnehmen, daß keine festen Kostüme für die F. verwendet werden, sondern real-zeitgenössische Standesgewänder. Gestik und szenische Spiele können nur aus dem Text selbst erschlossen werden. Die Dingwelt ist ζ. T. sehr konkret und konstitutiv notwendig wie etwa der Waschzuber im Cuvier (Ende 15. Jh.). Das Personal der F. ist sehr beschränkt, besteht in einer ihrer typischen Strukturen, die H. Lewicka (1974) untersucht hat, nur aus Mann, Frau und dem Dritten, der entweder als Störenfried oder als Liebhaber auftritt. Die Personen tragen selten individuelle Namen, häufiger Berufs- oder Standesbezeichnungen: le meunier, le gentilhomme, oder auch Typenbezeichnungen wie Jean, Jouhan (der Hahnrei) oder Mimin (der törichte Schüler). Die einfachsten F.n sind als parades (Aufzüge) ganz geradlinige Wiedergaben von Streichen oder Streitigkeiten wie L'Obstination des femmes (Ende 15. Jh.). Komplexer sind schon die Dramatisierungen eines Sprichworts (Les Femmes qui font accroire ά leurs maris de vecies que ce sont lanternes) oder einer obszönen Metapher (Les Femmes qui font rembourrer leur bas) (Cohen 1949, num. 15 und 36). Erst durch ein stärkeres Hereinnehmen des Illusionsspiels, durch Umkehrung der Situation, entsteht ein vollständiges Stück mit einer Intrige. Die Wirkung der F., ihre Komik, beruht auf sprachlichen Elementen vom einfachen Wortstreit über das —» Wörtlich nehmen von übertragenen Wendungen bis zum Pseudolatein.
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Farce
Daneben treten Handgreiflichkeiten und Spielelemente wie Verstellung, Verkleidung. 4. T h e m a t i k u n d F u n k t i o n . Auch bei gelegentlicher Übernahme von Stoffen, die in erzählenden Gattungen (Fabliau) schon literarisiert sind, stellt die F. doch alltägliche, jederzeit mögliche Wirklichkeit dar. Diese wird kritisch-moralistisch gesehen in wichtigen Punkten der menschlichen Auseinandersetzung: Die ma. Frauenfeindschaft, die Angst der Männer vor Aktivitäten der Frauen schlägt sich im Thema Ehestreit und Ehebruch nieder (—> Ehebruchschwänke und -witze, —» Eheschwänke und -witze). Seitenhiebe treffen Vertreter der Kirche, die als Liebhaber bereitwillig zur Verfügung stehen (Martin de Cambray, ca 1500). Auch im sonstigen Zusammenleben herrschen List und Betrug, aus Übermut, Not oder Rache. Das generelle Thema ist die Auseinandersetzung zwischen Schlau und Dumm, das oft spezifiziert wird als Auseinandersetzung zwischen Vertretern der verschiedenen Stände, wo im Spiel der sozial Unterlegene der Schlauere ist, der Lehrling dem Meister eine Ungerechtigkeit heimzahlt (Le Couturier et Esopet, ca 1500), der Müller den Edelmann mit derselben Waffe schlägt (Un Centilhomme, Naudet [. . .], Anfang 16. Jh.), der Schafhirt den Tuchhändler und den Advokaten hereinlegt (Maitre Pathelin, 1464).
In Frage gestellt wird dadurch die Anmaßung der einzelnen Person; am gesellschaftlichen System wird nicht gerüttelt. Solche Beispiele einer kritischen Wirklichkeitssicht sind nicht sehr zahlreich, sprechen aber zumindest für die satirisch-kritische Potenz der Gattung. Ihre realistische Einstellung ist unbestritten. Aber dieser Realismus ist nicht einfach Abklatsch der Wirklichkeit, sondern auswählende, strukturierende, aufs Amüsierende oder aufs Satirische zuordnende Wiedergabe. Umstritten ist die Frage der Volkstümlichkeit der Gattung F. Sie kann sinnvoll nur im Hinblick auf Intentionen und Publikum gestellt werden. Es wäre auch sinnlos, die ganze Gattung einem bestimmten Stand zuordnen zu wollen: Sie ist Unterhaltung und Aufforderung zur Kritik für ein breites städtisches Publikum, in dem das Bürgertum die Führungsrolle hat, die untergeordneten Stände und deren Forderungen aber auch gehört werden.
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5. F. u n d V o l k s e r z ä h l u n g . Stoffe und Motive der F. finden sich in den Volkserzählungen in weiten Teilen Europas wieder und sind an einzelnen Beispielen von A. de Feiice (1964) in der Vendee, von anderen Forschern in dt.sprachigen, slav., katalan., umbr. mündl. Überlieferungen aufgezeichnet worden (v. Lit.). Die verbreitetste Hypothese besagt, daß die F.-Verfasser aus einem traditionellen oralen Fundus geschöpft und durch Kontamination und dramatische Zuspitzung sowie eigene Zutaten ihre Stücke gebildet haben. Aber es ist umgekehrt auch nicht auszuschließen — und stark auf Gestik, Mimik oder Verkleidung beruhende Motive legen die Vermutung nahe —, daß einzelne Motive aus ihrer verbreiteten und beliebten Fassung in der F. in die volkstümliche Tradition (zurück-)gewandert sind. Die Motivkreise, die F. und Volkserzählung gemeinsam haben, konzentrieren sich auf bestimmte Figuren wie den törichten Bauernjungen in der Stadt (Jean le sot, etwa in Mahuet Badin, natif de Bagnolet, 1520) oder den schlau gewordenen, sich dumm stellenden Angeklagten (Maitre Pathelin). Leichter als im Mot. wären sie für die F., wie H. Lewicka (1973) begründet, in einem Verzeichnis der Situationen zu erfassen. Bibliogr.n: Stratman, C. J.: Bibliography of Medieval Drama. Berk./L.A. 1954. - Klapp, O.: Bibliogr. der frz. Lit.wiss. Ffm. 1960sqq. - Lewicka, H.: Bibliogr. du theatre profane frangais des XVe et XVIe siecles. P. 1972. Ausg.n(Ausw.): LeRoux deLincy, A. J. V./Michel, F.: Recueil de f.s, moralites et sermons joyeux 1 - 4 . P. 1837. - de Montaiglon, Α.: Ancien Theatre fran^ais 1 - 3 . P. 1 8 5 4 - 5 7 . - Cohen, G.: Recueil de f.s frangaises inedites du X V e siecle. Cambr., Mass. 1949. - Droz, E./Lewicka, H.: Le Recueil Trepperei 2. Les f.s. Genf 1961. - Droz, E.: Le Recueil Trepperei, facsimile. Genf [1966]. — Lewicka, H.: Le Recueil du British Museum, facsimile. Genf 1970. Lit.: Petit de Julleville, L.: Repertoire du theatre comique en France au moyen äge. P. 1886. — Toldo, P.: Etudes sur le theatre comique fran^ais du moyen äge et sur le röle de la nouvelle dans les f.s et dans les comedies. In: Studi di filologia romanza 9 (1903) 1 8 1 - 3 6 9 . - Beneke, Α.: Das Repertoire und die Qu.n der frz. F. Weimar 1910. - Faral, E.: Les Jongleurs en France au moyen äge. P. 1910. Wiedenhofen, Α.: Beitr.e zur Entwicklungsgeschichte der frz. F. Münster 1913. - Hankiss, J.:
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Farn
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Kassel
Konrad Schoell
Farn, eine der ältesten einheimischen Pflanzen überhaupt, gehört zu den Kryptogamen. Seine Vermehrung durch Sporen, die nur schwer in der freien Natur zu beobachten ist, erscheint äußerst rätselhaft und umgibt ihn mit einem Geheimnis. Seit Jh.en gilt der in verschiedenen Arten verbreitete F. daher als eine der begehrtesten und bekanntesten Zauberpflanzen Europas 1 . Sein bevorzugtes Wachstum im Waldesdickicht und an einsamen und verrufenen Plätzen, bei Felsblöcken und verfallenden Burgen läßt ihn zum Wohnort dämonischer Wesen und Verwünschter werden2. Der Teufel selbst kann in Gestalt dieser Pflanze erscheinen (Mot. G 303.3.4.3). Man sieht im F. auch das berüchtigte und gefürchtete Irrkraut 3 : Ein Wanderer, der zufällig darauf tritt, verliert den rechten Weg im Wald und muß die ganze Nacht vergebens darin umherirren. Erst wenn er die Schuhe wechselt, ist der Bann gebrochen4. Uberwiegend werden dem F. jedoch positive zauberische Eigenschaften zugeschrieben, und die fremdartige Schönheit des F.s, dessen Wedel an Palmen erinnern, erweist seine Verbindung zum Feenreich. In einem Märchen aus Cornwall eröffnet der F. einem schönen Mädchen den Zugang zur jenseitigen Welt 5 .
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Farn
Im allg. bringen die magischen Kräfte der Pflanze, die nicht im Schadenzauber genutzt werden, hauptsächlich persönliche Vorteile: Die Blätter und die Wurzel des F.s, die für die berühmte Springwurzel gehalten werden kann 6 , mit der sich alle Schlösser und Türen öffnen lassen, vor allem aber seine glückbringende unsichtbare Blüte 7 , die sich nur zu gewissen Zeiten entfalten soll, und sein von Dämonen gehüteter wundertätiger Same8, der nur unter großen Gefahren für Leib und Seele zu erlangen ist, sind angeblich von unschätzbarem Wert. Sie spielen im Volksglauben, Brauchtum, in der Volksmedizin und den verschiedenen Gattungen der Volkserzählung unter Bezeichnungen wie Teufelsfedern, Teufelsleiter, Hexenkraut, Drudafeddera, Walpurgiskraut, Schlangenkraut, Krotenleiter etc. eine große Rolle 9 . Die älteste Überlieferung von den übernatürlichen Eigenschaften des F.s, der sich bes. im Gegenzauber als wirksam und hilfreich erweisen soll, findet sich in der Physica der hl. Hildegard von Bingen 10 (gest. 1179). Sie preist die Pflanze als Schutzmittel gegen mancherlei Bedrohungen. Offensichtlich aus der volkstümlichen Überlieferung ihrer Heimat schöpft sie, wenn sie berichtet, der F. habe so große Kraft in sich, daß ihn sogar der Teufel fliehe. Dort, wo der F. wachse, übe der Teufel seine höllischen Künste nur selten aus, und das Haus, wo er aufbewahrt werde, sei vor Blitzschlag sicher. Auch der Mensch, der den F. bei sich trage, sei vor Verzauberung geschützt. Sie empfiehlt außerdem, die Pflanze ins Bett der Wöchnerin und in die Wiege des Neugeborenen zu legen 11 . Dieser aus dem 12. Jh. bezeugte Glaube an die apotropäische Wirkung des F.s, der seinen Niederschlag im Brauchtum gefunden hat, ist bis in die neuere Zeit verbreitet 12 . Auch die Sage kennt den F. als dämonenabwehrend. In einer oberösterr. Erzählung rät ein erlösungsbedürftiges Burgfräulein einem Holzknecht, einen Schutzkreis aus F.kräutern um sich zu ziehen, da sie in furchterregender Drachengestalt erscheinen werde 13 . Der Wassermann wird in böhm. Sagen von seiner Geliebten vertrieben, als diese auf Rat einer alten Frau oder des Pfarrers 14 F.kraut vor ihr Fenster stellt. Sie büßt ihre Untreue jedoch mit baldigem Tod.
Im Mittelpunkt der meisten Volkserzählungen, die vom F. handeln, stehen vor allem seine geheimnisvolle Blüte (Mot. D 965.14) und sein zauberkräftiger Same (Mot. D 971.3) 15 . So soll der Besitz des F.samens Vorteile bringen: Er dient der Vermehrung des vorhandenen Reichtums, wenn man ihn ähnlich wie einen Heckpfennig zum Geld legt 16 , er macht hellsichtig, so daß man alle verborgenen Schätze im Boden erblicken kann 1 7 , dient alchimistischen Zwecken bei der Umwandlung und Veredelung von Metallen 1 8 , verleiht Allwissenheit und Kenntnis des Zukünftigen 1 9 , läßt Tiersprachen verständlich werden 2 0 , macht hieb- und stichfest 21 , dient als Zaubermittel beim Herstellen von Freikugeln 22 , schenkt Ausdauer und Kraft bei schwierigen Arbeiten und mühevollen Wanderungen 2 3 , bewirkt Erfolg im Spiel 2 4 und läßt in einer Art Analogiezauber, da man ihn ja selbst nicht sehen kann, sogar unsichtbar werden (Mot. D 1361.5.1) 2 5 . Bes. die letztgenannte Vorstellung, mit Hilfe des F.samens unbeobachtet bleiben zu können, ist weit verbreitet 26 (cf. auch Shakespeare, The Historie of Henrie the Fourth,
1,2, 1). Volkserzählungen aus Sachsen, Schwaben, Westfalen und aus Österreich versichern, daß der F.same nur unter schwierigsten Bedingungen vom Teufel selbst, der ihn hütet, erlangt werden kann 27 . Trotz dämonischen Blendwerks ist das Schweigegebot dabei unbedingt einzuhalten. In Schottland, wo der F.same angeblich in der Christnacht reifen soll, gilt das gleiche Tabu (Mot. C 401.5) 28 . Auch zufällig kann jemand in den Besitz des kostbaren Samens geraten, ohne es zu ahnen. Er ist dann von der Wirkung dieses Zaubermittels höchst verblüfft, z.B., wenn andere seine Stimme hören und erschrecken, weil sie ihn nicht mehr sehen können 29 , oder wenn er plötzlich überall im Erdreich Schätze zu erblicken vermag 30 . Zieht er jedoch die Schuhe aus, in die der Same in der Johannisnacht unbemerkt gefallen ist, verschwindet das ,Wunder' sogleich, was sich der Betreffende dann wiederum nicht zu erklären weiß 31 . Solche schwankhaften Erzählungen erhalten ihren bes. Reiz durch ihre Situationskomik. Schon die Verf. der Kräuterbücher des 16.Jh.s haben sich mehrfach mit diesem bis in die Neuzeit bestehenden .Aberglauben' auseinandergesetzt und bezweifelt, daß der F.same nur zu bestimmten Zeiten reife und unter Einhaltung umständlicher magischer
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Farn
Praktiken 32 errungen werden müsse. Aber selbst Paracelsus soll im Besitz des Zaubersamens gewesen sein, den er auf Blättern des Wüllkrauts (Königskerze) aufgefangen habe, wie eine Sage aus Schwaben 33 erzählt. Die gleiche Praktik erwähnt noch Pierandrea Matthiolus in seinem Kräuterbuch von 1626, das während des ganzen 17. und 18.Jh.s höchstes Ansehen genießt 34 . Überhaupt muß der Glaube an die Kraft des F.samens im 17. Jh. wieder stark zugenommen haben, in den unsicheren Not- und Kriegszeiten kein Wunder. In Verordnungen und Verboten, in Hexenprozeß- und Kriminalakten dieser Zeit wird der F.same ausdrücklich erwähnt, und allein der Verdacht, ihn zu besitzen oder damit Handel zu treiben, wird manchem Angeklagten zum Verhängnis35. Die Erzählungen über Seltenheit und Kostbarkeit des Samens und die Gefahren bei seiner Gewinnung werden in der Folgezeit immer abenteuerlicher, nicht zuletzt, um die Kauflust anzuregen und hohe Preise zu erzielen 36 . Der Erfolg bleibt nicht aus, das Geschäft mit dem Aberglauben blüht: In ganz Europa wird der F.same zum begehrten Wundermittel, das vor allem Reichtum, Glück und Liebe verheißt. Im 19. und 20. Jh. wird der Same kaum mehr gehandelt 37 ; die schwäb. Redensart: „Der hat de[n] Fahrsamefn] g[e]holt" (er hat bei allen seinen Unternehmungen eine glückliche Hand, ihm gelingt alles38) ist eher singular zu sehen. Ähnliche Bedeutung wie der Same besitzt die F.blüte, in den Erzählungen ist sie mit fast den gleichen Motiven verbunden: Sie bringt dem Finder Glück 39 , läßt ihn alle Schätze der Welt und die Zukunft sehen 40 , macht unsichtbar, wenn sie unwissentlich abgestreift wird 41 , und ist nur unter Gefahren von Geistern oder dem Teufel zu erlangen 42 . Bes. in Osteuropa waren sehr viele Volkserzählungen darüber verbreitet. Mit Hilfe der F.blüte soll man auch die Tiersprache verstehen können 43 , die Blüte selbst in der Johannisnacht sprechen hören 44 und Wasser in Wein verwandeln können 45 . Beim Glauben an die zu bes. heiligen Nächten kurz erblühenden F.e haben sich vermutlich Verwechslungen mit dem gelbblühenden Rainfarn ergeben, einem Korbblütler, der noch heute mancherorts im Kräuterbuschl am 15.8.
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geweiht wird 46 und nur den Namen mit dem F. gemein hat. Ein Legendentyp erklärt, warum der F. keine Blüten besitzt: Zusammen mit dem Labkraut diente er der Jungfrau Maria im Stall von Bethlehem als Lager. Das Labkraut trieb vor Freude über die Christgeburt mitten im Winter in dieser hl. Nacht Blüten, doch der F. zeigte keinerlei Verehrung für das göttliche Kind. Zur Strafe darf er nicht mehr blühen und ist ein Mahner vor allem Hochmut 47 . I Zimmerer 1896, 438; Kronfeld 1898, 1 8 - 2 0 ; Hovorka/Kronfeld 1908, 131; H D A 2, 1215sq. 2 I n F.krautwedeln wohnen z.B. verfluchte Mädchen und Knaben, die von Geistern entführt wurden, weil sie nicht mit Taufwasser gewaschen waren, wie in Podolien (Ukraine) erzählt wird, cf. Zbior wiadomosci do antropologii krajowej wydawany staraniem Komisyi antropologicznej Akademii Umiejetnosci w Krakowie (ZWAK) 6,3 (1882) 254. - 3 Hovorka/Kronfeld 1908, 131; H D A 2, 1223; Marzeil 1943, 483; Witzschel, Α.: Sagen aus Thüringen 1. Wien 1866, num. 179; Stöber, Α.: Die Sagen des Elsasses 2. Straßburg 1896, num. 194. - 4 Marzeil, H.: Bayer. Volksbotanik. Nürnberg 1925, 225. 5 Massenbach, S. von: (ed.): Es war einmal. . . Märchen der Völker. Baden-Baden 1958, num. 13. 6 Grimm DS 9; H D A 8, 3 1 4 - 3 2 0 , bes. 315. 7 Hovorka/Kronfeld 1908,130; Marzeil 1922,30. 8 Marzell 1922, 3 0 - 3 3 ; H D A 2, 1221 sq. - ' P e r ger 1864, 2 1 1 - 2 1 4 ; H D A 2, 1 2 1 9 - 1 2 2 2 ; Engel 1978, 40; Marzell 1 9 4 3 , 4 7 9 - 4 8 2 ; zu F. als Wurmmittel und Abortivum cf. Marzell 2 1938, 34sq.; Aigremont: Volkserotik und Pflanzenwelt 2. (Lpz. 1919) Nachdr. Darmstadt s.a., 20. - 10 Hildegard von Bingen, Physica 9,1,47; cf. auch H D A 2, 1216sq. II Engel 1978, 38. - 12 H D A 2, 1227sq. - 13 Depiny, Α.: Oberösterr. Sagenbuch. Linz 1932, num. 164. - 14 CL 11 (1902) 443 (südböhm.). - 15 Ein wichtiges literar. Zeugnis für die Zauberkraft des F.samens bei Konrad von Würzburg: Minnesinger 3. ed. F. H. von der Hagen. Lpz. 1838, 453 a; cf. auch Grimm, J.: Dt. Mythologie 2. Gütersloh 4 1876, 1012sq. und t. 3: Nachträge und Anhang. Gütersloh 1876, 355 sq. - 1 6 Depiny (wie not. 13) num. 88. - 17 Vernaleken,T.: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Wien 1859, num. 64; Peuckert, W.-E.: Schles. Sagen. Düsseldorf 2 1966, 77. — 18 Schneller, C.: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck 1867, 237. - 19 KarasekLanger, A./Strzygowski, E.: Sagen der Deutschen in Wolhynien und Polesien. Posen 1938, 741. — 20 Graber, G.: Sagen aus Kärnten. Lpz. 1914, num. 265; cf. auch Zimmerer 1896, 438sq. 21 Birlinger, Α.: Volksthümliches aus Schwaben 1. Fbg 1861, num. 5 76. - 22 Panzer, F.: Beitr. zur
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dt. Mythologie 2. Mü. 1855,73; cf. HDA 2,1218. 23 Meier, E.: Dt. Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben 1. Stg. 1852, 242sq. - 24 SAVk. 15 (1911) 9. - 25 Heyl, J. Α.: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol. Brixen 1897, 388; Kroher, Α.: Im Bannkreis der großen Ache vom Chiemsee bis zur bayer. Grenze. Grassau 1913, 181-183; Künzig, J.: Schwarzwald-Sagen. Düsseldorf/Köln 21965, 176. - 26 HDA 2, 1223sq. 27 Birlinger (wie not. 21) num. 558,1; Mailly, A./ Parr, A./Löger, Ε.: Sagen aus dem Burgenland. Wien/Lpz. 1931, num. 61. - 28 Baader, B.: Neugesammelte Volkssagen aus dem Lande Baden. Karlsruhe 1859, num. 139; FLJ 1 (1883) 26. 29 Meiche, Α.: Sagenbuch des Königreichs Sachsen. Lpz. 1903, num. 815. - 30 Peuckert (wie not. 17) 77; Mailly/Parr/Löger (wie not. 27) 103sq.; ÖL 11 (1902) 271. 31 Meiche (wie not. 29) 658. - 32 Brunfels, O.: Kreuterbuch. Straßburg 1532, Kap. 307; Bock, H.: New Kreutterbuch 1. Straßburg 1539, 161 v.; cf. HDA 2, 1217sq. - 33 Meier (wie not. 23) 267,2. 34 Matthiolus, P.: Kräuterbuch. Ffm. 1626, 432. 35 Engel 1978, 39. - 36 HDA 2, 1219sq. - 37 Anthropophyteia 7 (1910) 289. - 38 Fischer, H. /Pfleiderer, W.: Schwäb. WB. 2. Tübingen 1904, 957. 39 CL 28 (1927/28) 338. - 40 Karasek-Langer/ Strzygowsky (wie not. 19) 739sq., 873; Krzyzanowski, num. 3100. 41 Kuhn, Α.: Märk. Sagen und Märchen. B. 1937, num. 191. — 42 Rauch, K. (ed.): Märchen aus Finnland und dem Baltikum. Hbg s.a., 280sq. (lit.); Lud 30 (1931) 49 (Krakauer Gegend); CL 6 (1896/ 97) 147 (westslovak.); Bukowska-Grosse, E./Koschmieder, E. (edd.): Poln. Volksmärchen. MdW 1981, num. 66. - 43 Schulenburg, W.: Wend. Volksthum in Sage, Brauch und Sitte. B. 1882, 82, 164; Sieber, F.: Harzland-Sagen. Jena 1926, 260. - 44 Lud 13 (1907) 122. - 45 CL 21 (1911/12) 351. - 46 Die Kräuterweihe am Fest Mariae Himmelfahrt wird im Schwarzwald noch immer am 15. 8. gefeiert, bes. festlich in Gengenbach. — 47 Erb, J.: Blumenlegenden. Kassel 3 1954, 35. Lit.: Perger, A. Ritter von: Dt. Pflanzensagen. Stg./ Oehringen 1864. — Zimmerer, Ε. M.: Kräutersegen. Die Bedeutung unserer vorzüglichsten heimischen Heilkräuter. Donauwörth 1896. - Kronfeld, M.: Donnerwurz und Mäuseaugen. Zauberpflanzen und Amulette in der Volksmedizin. Wien 1898 (Nachdr. mit Einl. von C. Zerling. B. 1981) 18-20. - Hovorka, O. von / Kronfeld, Α.: Vergleichende Volksmedizin 1. Stg. 1908, 129-132. Kronfeld, Ε. M.: Sagenpflanzen — Pflanzensagen. Lpz. 1919. — Marzell, H.: Die heimische Pflanzenwelt im Volksbrauch und Volksglauben. Lpz. 1922. — id.: Unsere Heilpflanzen, ihre Geschichte und ihre Stellung in der Vk. (Fbg 1922) Stg. 2 1938 (Nachdr. der 2. Aufl. u.d.T.: Geschichte und Vk. der dt. Heilpflanzen. Darmstadt 1967) 34—41. - id.: Die Pflanzen im dt. Volksleben. 28
Enzyklopädie des Märchens IV
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Gertraud Meinel
Färöer 1. Bevölkerung und Sprache - 2. Ältere Qu.n 3. Sammeltätigkeit und Forschung — 4. Märchen 1. B e v ö l k e r u n g u n d S p r a c h e . Die Inselgruppe der F., im Nordatlantik zwischen Island und den Shetlandinseln gelegen und aus 18 bewohnten sowie einigen kleineren Inselchen bestehend, wurde am Anfang des 9. Jh.s entweder direkt von Norwegen oder den damaligen norw. Kolonien (schott. Inselgruppen) aus bevölkert. Um 1035 verloren die F. ihre Selbständigkeit und wurden der norw. Krone unterstellt. 1380 kamen sie zusammen mit Norwegen in Personalunion zu Dänemark und behielten sowohl kirchlich als auch ökonomisch lange ihre Verbindung mit Norwegen, selbst noch unter immer stärker werdendem dän. Einfluß, bes. als die F. 1620 ein dän. Bistum und der Handel 1709 dän. Monopol wurden. Nach der Trennung Norwegens von Dänemark 1814 blieben die F. bei Dänemark und sind heute ein selbstverwalteter Landesteil. Im Gefolge der Reformation trat Dänisch als Kirchen-, Amts- und Unterrichtssprache an die Stelle der mit dem Isl. und Westnorw. verwandten färö. Sprache. Erst 1948 wurde Färöisch gesetzlich die Hauptsprache der F. Als Schriftsprache gewann es im Laufe der 2. Hälfte des 19. Jh.s an Bedeutung, aber erst im 20. Jh. entstand eine eigene Lit. 1 2. Ä l t e r e Qu.n. Im Gegensatz zu —> Island, das gleichfalls im 9. Jh. von Normannen bevölkert wurde, besitzen die F. keine ma. Lit., die die mündl. Erzähltradition widerspiegelt. Als einzigen möglichen Hinweis zur Erzählüberlieferung enthält eine isl. Saga von dem norw., auf den F.n geborenen und erzogenen König Sverrir Siguröarson (1184—
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1202) eine von Märchenforschern oft angeführte Episode über Königskinder, die von ihrer —> Stiefmutter verwünscht werden 2 . Da diese Saga schon zu Lebzeiten des Königs geschrieben wurde, könnte es sich um das älteste dokumentierte färö. Märchen handeln. Jedoch begegnen ma. Motive in den bis heute mündl. tradierten Balladen (kvasöir) 3 . Zwar sind sie in der Neuzeit aufgezeichnet und oft Nachdichtungen, der größte Teil ist jedoch schon im MA. entstanden. Die Balladen haben ihre ursprüngliche Funktion als Tanzlied bewahrt, nicht selten mit Melodien in ma. Tonarten 4 . Dieser Kettentanz nach Gesang ist eine noch heute lebende Tradition, hauptsächlich während der Tanzperiode zwischen Weihnachten und Fastnacht sowie bei Familienfesten und größeren Ereignissen. Die Balladen wurden auch des Winterabends vorgetragen, wenn die Familienmitglieder versammelt waren, um sich mit leichteren Arbeiten, Singen und Erzählen zu beschäftigen (kvöldseta). In Inhalt, Stil und Komposition stehen die Balladen den norw. Volksliedern nahe 5 , haben auch Berührung mit dt. Volksdichtung gehabt 6 , zeigen aber spezielle färö. Züge. Auffallend ist ihre Länge, die durch Parallelund Wanderstrophen zustande kommt. Da dieselben Balladen auch als Nichttanzlieder in Kurzform vorgetragen wurden, ist zu fragen, welche der beiden Formen die ma. ist7 und ob es sich um zwei verschiedene Funktionsformen handelt 8 oder ob die Differenzierung auf der individuellen Improvisationskunst der Vorsänger beruht 9 . Sämtliche Balladentypen sind auf den F.n vertreten 10 , vor allem aber Heldenlieder. Ihr Inhalt steht in engem Zusammenhang mit der altnorw. —» Saga-Lit., bes. der sog. fornaldarsggur 11 , kann aber auch auf literar. Qu.η wie norw. Prosaübersetzungen von ausländischen Romanzen zurückgeführt werden. Es lassen sich daher keine sicheren Schlüsse über mündl. Prosaerzählungen ziehen, die im MA. auf den F.n kursierten. Der Inhalt der Balladen ist meistens phantastischer Art. Sie enthalten Sagen- und Märchenmotive sowie Züge des Volksglaubens (z.B. Kämpfe mit übernatürlichen Wesen, magische Gegenstände, Verwandlungen, von Trollen und Riesen entführte Menschen). Seltener begegnen
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ganze Motivketten, die mit der Handlung bekannter Volksmärchen typen übereinstimmen. In genetischem Zusammenhang mit Märchen dürften aber die beiden Balladen Fipan fagra (AaTh 313 C: Magische Flucht)12 und Lokka tättur (AaTh 329: Versteckwette)13 stehen. Bestimmte Sagenstoffe, die wie die Balladen erst in neuer Zeit aufgezeichnet worden sind14, können durch archivalische Qu.η auf das MA. zurückgeführt werden. Die meisten der hist. Sagen entstammen aber dem 17. und 18. Jh. 15 Um zwei nachweislich während des MA.s existierende Gestalten — einen Priester Kälvur Litli und eine reiche Frau, Gasa oder yEsa, die ihr Vermögen wegen Verstoßes gegen die Fastenregeln an die Kirche verlor — haben sich sowohl Sagen als auch sagenartige Märchen gebildet. Den Sagen vom Priester, der boshaft und geizig dargestellt wird, ist das Scherzmärchen vom Pfarrer, der mit seinem —» Zehnten nicht zufrieden war (AaTh 1741*: The Parson is Dissatisfied with his Share)16, hinzugefügt worden und zu den Sagen von der reichen und hochmütigen Frau das Märchen vom Ring des —> Polykrates (AaTh 736 A) 17 . Anders verhält es sich z.B. mit der Sage von Summaldur und dem nach ihm genannten Platz auf der Insel Mykines, Summaldahüs. Sie ist ein Ausläufer der früh von Norwegen nach Island eingewanderten Erzählung Sögupättr af Häkoni Härakssynils, die in den übrigen nord. Ländern meistens als Volksmärchen auftritt (AaTh 910: Die klugen —» Ratschläge). Schwerer läßt sich das Alter der naturmythischen Sagen feststellen. Sie spiegeln Volksglauben und alte mündl. Tradition; ma. Belege liegen jedoch nicht vor. Die frühesten schriftl. Qu.η stammen aus den ersten Jh.en der Neuzeit und enthalten Schilderungen vom färö. Land und Volk. Sie wurden von Dänen, Norwegern und Isländern, die sich kürzere oder längere Zeit auf den F.n aufhielten, geschrieben. Unter den Verf.n sind vor allem zu erwähnen ein norw. Geistlicher und Geschichtsschreiber, Peder Claussön-Friis, zwei dän. Geistliche, Thomas Jacobsen Tarnovius und Lucas Jacobson Debes, und ein isl. Historiker, Thormod Torfasus19. Sie liefern hier und da volkskundliche Stoffe, beschreiben aber dabei hauptsächlich
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Sitten und übernatürliche Ereignisse, die manchmal als Werk des Teufels erklärt werden. 3. S a m m e l t ä t i g k e i t u n d F o r s c h u n g . Erst am Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jh.s wurde auf den F.n Volkskundematerial in größerem Umfang und nach wiss. Gesichtspunkten gesammelt, teilweise auf Initiative der Konglike Oldskriftselskab in Kopenhagen. Dabei standen vor allem die Balladen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Einer der Pioniere, der färö. Pfarrerssohn J. C. Svabo ( 1 7 4 6 - 1 8 2 4 ) , der in den 80 er Jahren des 18. Jh.s eine bedeutende Sammelarbeit betrieb, gewährt einen guten Einblick in färö. Volksleben, Balladentradition und Sprache, bringt aber keine Angaben über Volksmärchen. Sein färö. WB., das wie die übrigen von ihm gesammelten Materialien erst in diesem Jh. veröffentlicht wurde 20 , enthält nicht das heutige Wort für Märchen, aevintyr, sondern nur das Wort sega, das Erzählung im weiteren Sinne bedeutet. Der Pfarrer J. H. Schröter ( 1 7 7 1 - 1 8 5 1 ) sammelte außer Balladen auch viele, bes. hist. Sagen 21 , jedoch keine Märchen. Erst Probst V. U. Hammershaimb ( 1 8 1 9 - 1 9 0 9 ) , der mit seinen Slgen und Veröff.en den Grundstein zu einer färö. Schriftsprache und Prosa-Lit. legte, sind die ersten .eigentlichen' Belege färö. Märchen zu verdanken. In enger Verbindung mit dem namhaftesten Volkskundler Dänemarks dieser Zeit, S. —» Grundtvig, sammelte er färö. Volkslieder, Sagen, Sprichwörter, Rätsel, Märchen und andere mündl. Uberlieferungen. Die ersten Märchenaufzeichnungen auf den F.n machte er 1847—48, möglicherweise schon 1841 22 , und setzte die Aufzeichnungsarbeit 1853—78 neben seiner Tätigkeit als Geistlicher fort. Mit Ausnahme eines Bruchstückes von AaTh 1655: Der vorteilhafte —* Tausch, das sich unter seinem Nachlaß im Arnamagnasan Institut zu Kopenhagen befindet, und zwei Märchen (AaTh 120: —» Sonnenaufgang zuerst sehen und AaTh 451: —» Mädchen sucht seine Brüder), die den Slgen von J. —* Jakobsen in der Landesbibliothek zu Torshavn beigegeben sind, existieren die Originalaufzeichnungen nicht mehr. Die von ihm gesammelten Märchen, Sagen und Balladen publizierte er in der Mitte des 19. Jh.s 23 und 28·
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1891 in der von ihm selbst ed. Fcemsk Anthologi24, deren Mitarbeiter Jakobsen war. Darunter finden sich AaTh 120 und AaTh 511: —> Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein sowie eine Reihe von Schildbürgerschwänken. Vier Märchen (AaTh 451: —» Mädchen sucht seine Brüder, 531: —» Ferdinand der treue und Ferdinand der ungetreue-, AaTh 531 + 301: Die drei geraubten —» Prinzessinnen; AaTh 956 B: Das tapfere —» Mädchen und die Räuber) wurden erst in Jakobsens Publikation Fceroske Folkesagn og JEventyr ( 1 8 9 8 - 1 9 0 1 ) veröff., die 90 Sagen und 80 Märchen enthält 25 . Zwar entsprach das Sammeln von Märchen der nationalen Bewegung, doch wurde Jakobsens Arbeit nicht fortgesetzt. Als im Laufe dieses Jh.s eine eigene färö. Lit. aufkam, wurden auch Märchen von Hammershaimb und Jakobsen in Ztgen und kulturgeschichtlich ausgerichteten Sehr., vor allem aber in den Schullesebüchern für die Unterstufe abgedruckt, dagegen keine neu aufgezeichneten Märchen. Die meisten darin abgedr. Märchen sind jedoch Übers.en aus fremden Sprachen 26 . Der vom Lehrerverein mit der Slg von Märchen beauftragte Schriftsteller Hedin Brü hat Märchen aus allen Ländern zu langen Erzählungen in einer zwar einwandfreien färö. Sprache, aber ohne spezielle Verankerung in der färö. Erzähltradition zusammengestellt 27 . In den Schilderungen von Land und Volk der F., die im Laufe des 20. Jh.s öfter auftauchen, hat eigentlich nur J.-F. Jacobsen die spezifisch färö. Erzählkunst der Sagen, Märchen und Balladen behandelt 28 . Auch C. Matras, erster Leiter der Abt. für färö. Sprache und Lit. an der 1965 gegründeten Akademie zu Torshavn, hat Märchen bei seinen Forschungen außer acht gelassen und hält Sagen und Balladen für die wichtigsten Kategorien färö. Volksdichtung 29 . Märchen haben augenscheinlich unter den Färingern selbst nur eine bescheidene Rolle gespielt und sind deshalb auch in der Forschung im großen und ganzen nur wenig beachtet worden. Wiss. Übersichtsarbeiten bieten eigentlich nur die Einleitung der Märchensammlung von Jakobsen 3 0 und ein kurzer Artikel des norw. Märchenforschers R. T. —> Christiansen 31 . BP erwähnt färö. Märchen 32 , dagegen nicht AaTh 3 3 . In Märchen-
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monographien sind sie bisweilen enthalten, aber dabei nicht selten unter norw. oder isl. Provenienz registriert worden. So stellen O. —» Hackman die färö. Belege für AaTh 1030: —» Ernteteilung zu dem norw. Material 34 , A. —> Aarne 35 und K. —> Ranke 36 zum isl. Auch Christiansen führt anfangs das färö. Material mit dem isl. zusammen 37 , berücksichtigt aber später seine Eigenart 38 . Α. B. —» Rooth 39 registriert das färö. Märchen zusammen mit isl. Material 40 . J.-ö. —* Swahn 41 untersucht in —> Amor und Psyche (AaTh 425) Jakobsens Beleg und gibt einen Hinweis auf A. —» Ritterhaus' 42 kurze Zusammenfassung eines färö. Märchens. B. Kahle 43 untersucht einen in Fceroske folkesagn og ceventyr von Jakobsen in dän. Zusammenfassung angeführten Text (AaTh 755: —» Sünde und Gnade). Nur vereinzelt sind färö. Märchen in andere Sprachen übersetzt worden. O. Jiriczek 44 hat einige der von Hammershaimb veröff. Aufzeichnungen ins Deutsche übersetzt. Diese Übertragungen wurden später von I. und H. —» Naumann 45 in der Anthologie isl. Volksmärchen benutzt. Unter den acht färö. Belegen sind jedoch nur zwei als Märchen zu betrachten. Ins Engl, wurden färö. Sagen und Märchen 1896 von W. A. Craigie 46 und 1980 von J. F. West 47 übertragen und ins Frz. 1895 von R. Pilet lediglich ein Text 48 . Eine dt.-schwed. Anthologie färö. Märchen bereitet Ä. —> Nyman vor 49 . In den 50er Jahren unternahm sie eine systematische Bestandsaufnahme der Lit. und Hss.-Slgen, die möglicherweise Märchenstoffe enthalten oder wenigstens ein Licht auf diese vernachlässigte Gattung der färö. Volksdichtung werfen könnten. Am ergiebigsten dabei war die Durchsicht von Jakobsens Originalaufzeichnungen, die viele unpublizierte Typen enthielten. Nyman ergriff auch die Initiative zur Slg von Volksmärchen der Gegenwart und zur Erforschung der Funktion des Märchenerzählens im gesellschaftlichen Leben der Färinger. In den 60er und 70er Jahren erwuchs auf den F.n eine Sammeltätigkeit, die heute zentral von der färö. Akad. geleitet wird. 4. M ä r c h e n . Zwar ist das in letzter Zeit aufgezeichnete Material nicht sehr umfassend, stellt aber eine wertvolle Ergänzung von
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Jakobsens bekannter Märchensammlung dar. Zusammen bieten diese älteren und jüngeren Aufzeichnungen ein Bild von Form und Inhalt der färö. Märchen innerhalb eines Zeitraums von fast 150 Jahren, und sie spiegeln nicht selten die Berührung der F. mit Umwelt und Lit. wider. Im färö. Märchenmaterial sind etwa 150 AaTh-Typen vertreten 50 , ζ. T. als Kontaminationen. Im Gegensatz zur isl. Tradition wurden auf den F.n mehr Tiermärchen erzählt, unter denen AaTh 15 und AaTh 120 bes. beliebt waren. Von den Zaubermärchen sind AaTh 301, 311, 327 A, 400, 480, 530, 531 und 675 am besten belegt, Legenden und Novellenmärchen dagegen nur vereinzelt dokumentiert. Märchen vom dummen —» Riesen (AaTh 1000-1199) sind allg. verbreitet. Schildbürgerschwänke (AaTh 1200-1349) treten in vielen Var.n auf. Andere häufige Schwanktypen sind AaTh 1535, 1536A und 1737. Unter den färö. Märchen findet man die meisten der im übrigen Norden bekannten Typen wieder, wenn auch in anderer Ausgestaltung und in freieren Kombinationen. Aber man vermißt viele der Märchen, die vor allem während des 19. Jh.s von der Lit. in die mündl. Überlieferung hätten aufgenommen werden können, ζ. B. —> Schneewittchen (AaTh 709), -> Schlafende Schönheit (AaTh 410), -» Däumling (AaTh 700), -> Rotkäppchen (AaTh 333) u. a. Das könnte darauf hindeuten, daß die F. mit den literar. Strömungen des Kontinents Ende des 18. Jh.s und während des 19. Jh.s nicht in Berührung kamen. Doch sind einige Aufzeichnungen vorhanden, die unzweideutig literar. Einfluß verraten. Beispielsweise kontaminieren Katze und Maus in Gesellschaft (KHM 2; AaTh 15: —» Gevatter stehen) mit der nord. Redaktion von Der unreelle —> Partner (AaTh 9). Einige Var.n von AaTh 327A beginnen wie in den KHM und anderen wichtigen europ. Slgen damit, daß die Kinder ein Pfannkuchenhaus im Walde finden. Die Forts, des Märchens macht deutlich, daß diese Einl. ein loser Zusatz zu einer wahrscheinlich alten färö. Erzählung ist, worin zwei Kinder gefangen genommen werden, als sie Mehl im Haus einer Riesin stehlen. Die färö. Version von AaTh 425 zeigt im ganzen Handlungsverlauf
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einen nahen Zusammenhang mit dem literar. Märchen La Belle et la bete. Es wurde am Anfang des 19. Jh.s ins Dän. übers, und ist wahrscheinlich auf diesem Weg nach den F.n gekommen. Dän. Volksbücher waren sowohl in Norwegen als auch auf Island im Umlauf, und einige dürften auch den Weg zu den F.n gefunden haben. Gestalten wie —> Fortunatus (AaTh 566), Markolf (cf. —• Salomon und Markolf), —> Eulenspiegel, —> Faust, Skytten Bryde u.a. haben unübersehbare Spuren in der mündl. Überlieferung hinterlassen. Auch Erzählungen aus dän. Fabel- und Exempelsammlungen des 16. und 17. Jh.s sind in die färö. Tradition eingegangen, ζ. B. AaTh 838: —> Sohn am Galgen, das der mündl. Märchentradition der übrigen nord. Länder sonst nicht angehört. Den Färingern können auch nicht die umfassenden Märchenpublikationen des 19. Jh.s ganz unbekannt gewesen sein, waren aber kaum jedem zugänglich, zumindest nicht im 19. Jh. Eine biogr. Unters, der Informanten Hammershaimbs und Jakobsens zeigt, daß die meisten Analphabeten waren 51 . Die Bevölkerung älterer Zeiten dagegen soll wesentlich gebildeter gewesen sein52. Einzelne färö. Märchen verraten eine nahe Berührung mit den Nachbarländern. Beispielsweise zeigen alle Aufzeichnungen von AaTh 311: —> Mädchenmörder dieselbe Handlungskette und dieselben Benennungen wie die isl. Ausgestaltung dieses Märchens 53 . Andere färö. Märchen geben Dialoge und Redensarten auf Dänisch wieder. Im ganzen hat aber die färö. Erzähltradition ein deutlich anderes Gepräge als die der Nachbarländer. Man kann zwei Hauptgruppen klar unterscheiden: eine größere, stark von der färö. Kultur geprägte Gruppe, und eine kleinere, ohne oder mit nur wenig hervortretenden ethnischen Zügen. Die erste Gruppe muß ein verhältnismäßig hohes Alter haben, da Umschmelzungsprozesse erst nach einer gewissen Zeit sichtbar werden. Diese Erzählungen spiegeln die Lebensverhältnisse der färö. Bauernfamilie wider, ζ. B. Fischen, Schafzucht und Vogelfang in steilen Gebirgen 54 .
Bes. bekannt sind die Märchen vom dummen Riesen. Die Riesengestalt war in der Erzähltradition so beliebt, daß sie sogar in den Zaubermärchen an die Stelle des Drachens
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und anderer übernatürlicher Gegner getreten ist. Die färö. Var.n dieser Märchen weisen manchmal Nähe zum Schwank auf. Häufig ist der Polyphem-Stofi (AaTh 1135-1137), der als selbständiges Märchen und auch als Abschluß anderer Märchen auftreten kann; sehr populär ist das Märchen vom jüngsten Bruder oder vom Elternlosen, der die Prinzessin rettet. Die Kampfszenen werden jedoch nicht geschildert, obwohl Stärketrunk oder hilfreiches Schwert als Requisiten aufgeführt sind. Eine bemerkenswerte Gestalt ist —» Loki, der in Liedern, Sagen, Märchen und Redensarten vorkommt, wobei nicht nur mythische Vorstellungen, sondern auch reine Märchenmotive auftreten 55 . Der Stil der färö. Märchen ist nüchtern und undramatisch, mit Neigung zu realistischen Erklärungen. Beim abenteuerlichen Abstieg im Gebirge benutzt der Held Seile wie die färö. Vogelfänger, beim Aufstieg schlägt er mit dem großen Schwert Tritte in die Felswand oder findet ganz einfach eine Leiter. Dieser wirklichkeitsnahe Erzählstil ist so durchgängig, daß man darin ein Kennzeichen einer bes. färö. Erzähltradition sehen kann 56 . Die Funktion, die das Märchenerzählen im färö. Gesellschaftsleben bis heute gehabt hat, beeinflußte wahrscheinlich die Wahl des Stoffes und den Erzählstil. Das Überwiegen weibl. Erzähler in älterer wie auch jüngerer Zeit ist auffallend. Die Frauen haben die Märchen bes. Kindern erzählt; Erwachsene bevorzugten Balladen und Kettentanz. Zwar haben viele Balladen denselben märchenhaften Inhalt wie Volksmärchen, mit ihrer streng gebundenen Form sind sie aber offenbar als eine wichtigere Vortragsart als Märchen betrachtet worden. 1 Von den Überblicken sind bes. zu erwähnen: Fasroerne 1—2. ed. Dansk-Faeresk Samfund. Kop. 1958; West, J. E.: Faroe. The Emergence of a Nation. L. 1972; Joensen, J. P.: Färöisk folkkultur. Lund 1980 (mit Bibliogr.). - 2 Sverris saga. ed. G. Indrebo. Kristiania 1920, 7. - 3 Liestel, K.: Faeroyske visor. In: Nordisk Kultur 9 (1931) 7 8 83; Matras, C.: Folkedigtning. In:Faer0erne 2 (wie not. 1) 8 3 - 9 9 . - 4 Thuren, H.: Folkesangen pä Fasroerne. Kop. 1908; Grüner-Nielsen, H.: Dans paa Faeroerne. In: Nordisk Kultur 24 (1933) 1 5 0 155; id.: De faeroske kvadmelodiers tonalitet i
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middelalderen (Faeroensia l).Kop. 1945. - 5 Liestol, K.: Faeroiske og norske folkeviser. In: Maal og Minne (1917) 8 1 - 1 1 0 ; Solheim, S.: Faeroysk-norsk i folkevisediktinga. In: Froöskaparrit 18 (1970) 2 9 7 - 3 0 6 ; Nolsee, M.: The Faroese Heroic Ballad and Its Relations to Other Genres. In: The European Medieval Ballad. A Symposium, ed. O. Holzapfel. Odense 1978, 6 1 - 6 6 . - 6 Vries, J. de: Studien over Faerösche Balladen. Haarlem 1915; Boor, Η. de: Die färö. Lieder des Nibelungencyklus. Heidelberg 1918. - 7 Nolsoe, M.: Some Problems Concerning the Development of the Faroese Heroic Ballad. In: Jb. für Volksliedforschung 17 (1972) 8 7 - 9 3 ; id.: Noen betragtninger om forholdet mellom bailade og sagaforlegg. In: Sumlen. Ärsbok för vis- och folkmusikforskning (1976) 11 — 19, hier 17. — 8 Knudsen, T.: Arbejdsvise og dansevise. In: Nordisk Seminar i folkedigtning. ed. L. Bodker. Kop. 1961. - 9 O'Neil, W. Α.: The Oral-Formulaic Structure of the Faroese kvaedi. In: Froöskaparrit 18 (1970) 5 9 - 6 8 ; Conroy, P.: Faroese Ballads and Oral-Formulaic Composition. Diss. Berkeley 1974; ead.: Oral Composition in Faroese Ballads. In: Jb. für Volksliedforschung 25 (1980) 3 4 - 5 0 . - 10 Foroya kvaeöi. Corpus carminum Faeroensium (CCF). A. S. Grundtvig et J. Bloch comparatum. ed. N. Djurhuus/C. Matras. Kop. 1951-68. 11 Lies toi, K.: Norske trollviser og norrone sogor. Kristiania 1915, 2 0 9 - 2 2 5 , bes. 211; id.: Det norrone folkeviseumrädet. In: Maal og Minne (1937) 8 1 - 1 2 9 , bes. 94; Nolsoe 1976 (wie not. 7) 11. 12 Grambo, R.: Fipan fagra. En faeröysk trollvise. In: Arv 17 (1961) 171-179. - " O l r i k , Α.: Loke i nyere folkeoverlevering. In: DSt. (1908) 1 9 3 207; Naumann, I. und H.: Isl. Volksmärchen. MdW 1923, 2 9 5 - 3 0 7 ; Liungman, Volksmärchen, 329. 14 Lies toi, K.: Fsroyske segner. In: Nordisk Kultur 9 (1931) 181-184; Matras (wie not. 3). - 15 Jakobsen, J.: Faerosk sagnhistorie. Törshavn/Kop. 1904; id.: Faeröske folkesagn og aeventyr. Kop. 1898-1901 (Ein!.)· - 16 ibid., 58; Jakobsen 1904 (wie not. 15) 29. - 17 Schröter, J. H.: Faeroiske folkesagn. In: Antiquarisk Tidsskrift (1849-52) 142-208, hier 147; Jakobsen 1904 (wie not. 15) 27. - " Jakobsen 1898-1901 (wie not. 15) 199, 584. - 19 Claussön-Friis, P.: Norriges og omliggende Oers sandfaerdige Bescriffuelse (1592). Kop. 1632; Tarnovius, T. J.: Faeroers Bescriffuelser (1669). ed. H. Hamre (Fa:roensia 2). Kop. 1950; Debes, L. J.: Faeroe et Faeroa reserata, det er Faeröernes og faeroiske Indbyggeres Beskrifvelse. Kop. 1673 (Faks. Kop. 1963 [Kommentare J. Rischel]). Zu den 2 letzteren cf. Loth, Α.: Lucas Debes og Torfasus. In: Froöskaparrit 18 (1970) 129-132. - 20 Svabo, J. C.: Föroyaferöin. s. 1. 1781-82. Ausw.: Torshavn 1924 (Vorw. A. Jacobsen); id.: Indberetninger fra en Reise i Faere 1781 og 1782. ed. N. Djurhuus. Kop. 1959; id.: Dictionarium Faeroense 1. Faerösk-dansk-latinsk ordbog. ed. C. Matras (Faeroensia 7). Kop. 1966;
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Matras, C.: Svabos faeröske Visehaandskrifter. Kop. 1939. 21 Die färö. Lieder von Sigurd Drachentöter, die im Vergleich zu den dt. Liedern von Siegfried großes Interesse erregt haben, wurden erstmalig 1818 von J. H. Schroter aufgezeichnet; abgedr. bei Lyngby, H. C.: Quaeder om Sigurd Fofnersbane og Hans /Ett. 1822 (dt.: Vogler, M. [ed.]: Sjüröar kvaeöi. Die färö. Lieder von Sigurd. Paderborn 1877); cf. Matras, C. (ed.): J. H. Schroters Optegnelser af Sjuröars Kvaeöi (Faeroensia 3). Kop. 1951-53; als erster sammelte Schroter auch Sagen, z.T. publ. in Antiquarisk Tidsskrift 1949-51, hauptsächlich unveröff. in der Kgl. Bibl. in Kop. (Balladen) oder in der Landes-Bibl. in Torshavn. 22 Hammershaimb's Diary 6 . 7 . - 1 6 . 8 . 1 8 4 1 . ed. C. Matras. Kop. 1941. - 23 Hammershaimb, V. U.: Faeröske Sagn. In: Annaler for Nordisk Oldkyndighed og Historie (1846) 3 5 8 - 3 6 3 ; id.: Olufas Kvad. In: Antiquarisk Tidsskrift (1846-48) 2 7 9 304; id.: Faeröske Kvaeder, henhörende til Hervarar Saga: Sigmundar Kvaedi. Nogle Faeröske Talemäder. Barneviser og remser. Faeröske gäder. In: Antiquarisk Tidsskrift (1849-51) 170-208; id.: Faeroiske Kvaeder 1 - 2 . Kop. 1851-55. 24 id.: Faerosk Anthologi 1 - 2 . Kop. 1891. - 25 Jakobsen 1898-1901 (wie not. 15) 259, 386, 402, 607. — 2 6 Nyman, Ä.: Faroese Folktale Tradition. In: The Northern and Western Isles in the Viking World, ed. A. Fenton/H. Pälsson. Edinburgh (im Druck). — 2 7 Brii, H.: /Eventyr 1—4. Torshavn 1959—70. - 28 Jacobsen, J.-F.: Faeröeme. Natur og folk. Torshavn 1936, 39. - 29 Matras (wie not. 3). - 30 Jakobsen 1898-1901 (wie not. 15). 31 Christiansen, R. T.: De faeroyske eventyr. In: Nordisk Kultur 9 (1931) 282-284. - 32 BP 5, 40 u. ö. - 33 Mit Ausnahme von AaTh 327 (recte: Jakobsen, 277). - 34 Hackman, O.: Sagan om skördedelningen. Till cykeln om „den bedragne djävulen". In: Folkloristika och etnografiska Studier 3 (1922) 140-170. - 35 Aarne, Α.: Der tiersprachenkundige Mann (FFC 15). Hamina 1914, 20; id.: Die magische Flucht (FFC 92). Hels. 1930, 158. - 36 Ranke, K.: Die zwei Brüder (FFC 114). Hels. 1934, 81. - 37 Christiansen, R. T.: The Tale of the Two Travellers or the Blinded Man (FFC 24). Hamina 1916, 13. - 38 id.: Studies in Irish and Scandinavian Folktales. Kop./Dublin 195 9. - 39 Rooth, A. B.: The Cinderella Cycle. Lund 1951, app. 16 und 2 5 0. - 40 cf. auch Cox, M. R.: Cinderella. L. 1893. 41 Swahn, J.-Ö.: The Tale of Cupid and Psyche (AaTh 425 & 428). Lund 1955, 80. - 42 Rittershaus, Α.: Die neuisl. Volksmärchen. Halle (Saale) 1902, 2 1 - 3 1 . - 43 Kahle, Β.: Die freiwillig kinderlose Frau. In: ZfVk. 16 (1906) 311-314. 44 Jiriczek, O.: Färö. Märchen. In: ZfVk. 2 (1892) 143-165, hier 160. - 45 Naumann (wie not. 13) 295-307. - 46 Craigie, W.: Scandinavian FolkLore. Paisley 1896. - 47 West, J. F.: Faroese Folk-Tales and Legends. Lerwick 1980. - 4 8 RTP
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Faß - Fasten
10 (1895) 363. - 4 9 Nyman, Α.: Färö. Volksmärchen. B. (im Druck). - 5 0 Nyman (wie not. 26). 51 Teilveröff. Nyman, Ä.: Färöiska sagoberättare. In: Froöskaparrit 13 (1964) 62—77; ead.: Färöiska folksagor upptecknade efter 1950. In: Froöskaparrit 2 8 ( 1 9 8 1 ) 1 1 0 - 1 3 1 ; ead. (wie not. 26). - 52 Hammershaimb (wie not. 24) xxiii. - 53 Nyman 1981 (wie not. 51) 128. - 54 ead.: Etniska särdrag i den färöiska folksagotraditionen. In: Froöskaparrit 18 (1970) 3 6 9 - 3 8 5 . - 55 Olrik (wie not. 13). 56 Schon von A. Olrik in einem unveröff. Ms. notiert (Dansk Folkemindesamling, Signatur 1917/ 93).
Uppsala
Äsa Nyman
Faß -» Nagelfaß
Fassung
Variante
Fasten. Mit dem Begriff F. bezeichnet man einerseits eine zeitlich begrenzte, willensmäßig geübte, d.h. freiwillige oder ärztlich verordnete Enthaltung von Nahrung zum Zweck der Askese, als Reinigungsritus, zur Kraftgewinnung, als ritualisierte Diätkur (Ernährungstherapie) — im Gegensatz zum Hungern, das auf andere Einflüsse (Kriegs-, Notzeit etc.) zurückgeht. Andererseits bedeutet F. einen vorübergehenden oder sogar ständigen Verzicht auf bestimmte Speisen (bes. Fleisch) einzelner oder der Gemeinschaft aufgrund eines Speiseverbots 1 . Beim F. handelt es sich um einen alten, primär religiösen Brauch, der bei den großen Weltreligionen meistens an bestimmte Tage oder Zeiten gebunden ist (40tägiges F. der Christen von Aschermittwoch bis Karsamstag, F. der Mohammedaner während des Monats Ramadan, F. der Juden an festgelegten F.tagen etc.) 2 . In christl. beeinflußten Kulturen hat sich die bereits in der Bibel anklingende Bedeutung des F.s als frommer Leistung (z.B. Tob. 12,8; Mt. 6,2,18) 3 eingebürgert, in der Trias der guten Werke (Gebet, F., Almosengeben) ist F. als meritorisches Moment aufgeführt 4 : F. im Sinne von Buße und Selbsterniedrigung soll demnach zu Gottgefälligkeit (Sündenvergebung, Krankenheilung, Dämonenaustreibung) beitragen können.
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Wie bei den meisten Formen des Kasteiens und der Enthaltsamkeit (cf. Keuschheit) ist auch in Volkserzählung (bes. Exemplum, Legende, Sage; ferner —> Fastenschwänke) und Volkslied 5 das Ziel des F.s darin zu sehen, dem einzelnen oder der Gemeinschaft geistige oder materielle Vorteile zu verschaffen. Das bedeutet für Rezipienten solcher Erzählungen nicht nur, daß sie mit den jeweiligen kulturspezifischen Normen vertraut gemacht werden, die es einzuhalten gilt, sondern auch, daß Abweichungen von der Norm negativ sanktioniert werden. Jedoch müssen Volkserzählungen aus dem thematischen Umkreis von F. entsprechend der Vielfalt kultureller Gegebenheiten und Möglichkeiten, über die enzyklopädisch-vereinfachenden Hinweise in diesem Artikel hinaus, nach ihrem jeweiligen geogr.-hist., brauchbestimmten und sozialen Umfeld interpretiert werden 6 . F.-Erzählungen werden durch Zielgerichtetheit 7 mit der Aussicht auf —» Belohnung oder —> Strafe bestimmt. Dabei kann das teleologische Prinzip auf abergläubischen Vorstellungen beruhen oder moralischreligiös motiviert sein. F.Vorschriften (im Sinne eines Speiseverbots) als —> Abwehrzauber kennt bes. die Sage. Diese Vorstellungen dürften ζ. T. auf antike Religionsanschauungen zurückgehen, ohne daß daraus eine kontinuierliche Tradition abgeleitet werden kann 8 . Die Nahrungsenthaltung gilt vor allem bei Angelegenheiten, die mit dem —» Tod zu tun haben: Während des Sterbeläutens oder während der Dauer eines Begräbnisses soll man nichts essen, bei Todesfällen ist für den Verstorbenen 30 Tage zu fasten etc. 9 Darüber hinaus sind feste Termine, etwa der Tag vor Weihnachten oder der Christtag selbst, für F. vorgesehen 10 , und von dem Gebot können nicht nur Menschen, sondern auch Vieh (Mot. Β 251.5) betroffen sein. Die Einhaltung der F.gebote führt auf jeden Fall zu Gutem 11 . F. bewirkt ferner, daß Naturereignisse wie Sonnenfinsternis oder Gewitter verhütet werden 12 , dient zur Reinkarnation (Mot. Ε 607.4), zur Unterdrückung sexueller Wünsche (Mot. Τ 317.4; Tubach, num. 1992), trägt zur Verschönerung bei (Mot. D 1866.3), verhilft umgehenden Toten zur Erlösung 13 , führt zur Überwindung übernatürlicher Gegner (Geister-
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Fasten
bannung, Dämonenaustreibung) 14 , kurzum: F. bewirkt Außergewöhnliches 15 . F.wunder sind in bes. Weise heiligmäßigen Personen der verschiedenen Religionen übertragen, sie gehören vielfach zur griech.-röm. Überlieferung, sind ebenso Bestandteile älterer buddhist. Legenden wie der patristischen Lit. und der darauf gründenden Legenden und Exempla 16 . Brahmanen, Hll. u.a. vermögen eine beliebige Anzahl von Tagen zu fasten, ihre Nahrungsenthaltung kennt keine Grenzen. Über Jahre hinaus kommen z.B. Brahmanen ohne Essen aus 17 ; einer nimmt 12 Jahre lang außer Erde keine Speise zu sich18. Ein Asket treibt seine Selbstzucht so weit, daß er während des F.s eine Flasche Wein vor sich piaziert, allerdings nicht daraus trinkt (Tubach, num. 1993). Das F. geschieht zum einen zur —> Buße, zum anderen zur Demonstration des Glaubens, der solche Kräfte verleiht: Hll. beenden Epidemien durch F. (Mot. D 2162.1, cf. V 73.1), Engel eilen Fastenden zu Hilfe (Mot. V 235.0.2), der hl. Michael verhilft den Sypontern zum Sieg über die feindliche Heeresmacht, nachdem jene drei Tage gefastet hatten 19 . Der Hang zum Übernatürlichen und zu Wundern, der für das 16. und 17. Jh. charakteristisch ist, begünstigte aber auch das Auftreten von F.schwindlern, die vorgaben, längere Zeit ohne Nahrung auskommen zu können. Diese R u n der' wurden nach dem Brauch der Zeit auf Flugblättern verbreitet. Größtenteils geschieht F. als seelisch-moralische Läuterung, die äußerlich nicht dokumentiert zu werden braucht — ganz im Gegensatz etwa zu at. Büßererzählungen, in denen der Körper bewußt vernachlässigt wird (Büßen in Sack und Asche) 20 . Wenn jüd. Erzählungen solches erwähnen (Neuman Q 522), gehört dies eher zu den seltenen Ausnahmen. Nicht unerwähnt bleiben kann die Verwandlung von Fleisch (Kapaun) in Fisch, damit der Hl. die F. nicht zu brechen braucht (zugeschrieben dem hl. Rodanus von Irland, der hl. Berlendis von Brabant u.a. 21 ). Dieses Mirakel geschieht auch ohne Zutun des Hl.n. —» Antonius von Padua z.B. bekommt an einem Freitag, von einem Feind eingeladen, einen Kapaun vorgesetzt, den er wegen körperlicher Schwäche verzehrt. Als der vermeintliche Gastfreund die Knochen dem Bi-
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schof als corpus delicti vorweisen will, muß er sehen, daß sie sich in Fischgräten verwandelt haben 22 . Auf solche Exempla von seltsamen Verwandlungen der Vögel griffen bes. gern die Legendenpolemiker der Reformationszeit wie z.B. Hieronymus —> Rauscher zurück, um die Abstrusität der Wundertaten Hll.r sichtbar zu machen 23 . Während heiligmäßige Personen bei der Übertretung des F.gebots straflos ausgehen oder dank wunderbarer Verwandlungskräfte das Verbot des Fleischessens umgehen, wird das gleiche Delikt bei anderen streng geahndet: Ein während der F. heimlich essender Mönch hat auf dem Totenbett die schreckliche Vision, daß ein Drache ihn verzehrt 24 ; aus einem Huhn, das Menschen während der Fastenzeit verzehren, kriecht ein riesiger Wurm, so daß sie von ihrem Essen ablassen etc. 25 Märchen neuerer Zeit tadeln ebenso die Übertretung des F.gebots, wie z.B. aus verschiedenen Versionen von AaTh 333 A: —> Caterinella hervorgeht: In der F.zeit begibt sich Caterinella mit von der Mutter gebackenen Fritellen (Schmalzgebäck) auf den Weg zum Unhold; das naschhafte Kind probiert davon und wird zur Strafe von jenem gefressen 26 . Doch getreu dem märchenhaften Happy-End-Charakter gelingt meistens die Befreiung Caterinellas, und solches gilt auch für die Legendenmärchen AaTh 839: Die drei —> Sünden des Eremiten27 und AaTh 788: Die —* Wiedergeburt des verbrannten Heiligen28. Obwohl die Handlungsträger schwerste Verbrechen begehen und bewußt das F.gebot verletzen, erreichen sie durch ihre Sühne (Selbstmord, Selbstanzeige, Reue) Absolution. Es wird ihnen ein Ende ihrer Leidenszeit angezeigt (AaTh 839), oder es erfolgt ihre wunderbare Wiederbelebung aus einem Körperteil (AaTh 788). 1 Gertitz, P.: Das F. im religionsgeschichtlichen Vergleich. Diss, (masch.) Erlangen 1954; Pauly/ Wissowa 33, 8 8 - 1 0 7 ; RAC 7, 4 4 8 - 4 9 3 . - 2 cf. van Gandsever, J.: Biblical Calendars. Leiden 1959, 4 5 - 4 8 ; RAC 7, 5 0 0 - 5 2 4 . - 3 RAC 7, 455. - 4 cf. auch Catechismus Romanus 2,5,59,2. — 5 Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, Reg., s.v. F., F.zeit. - 6 c f . not. 1 sq.; Buechler, Α.: Studies in Sin and Atonement. L. 1928; Pichler, T.: Das F. bei Basileios dem
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Fastenschwänke
Großen und im antiken Heidentum. Innsbruck 1955; Wagtendonk, K.: Fasting in the Koran. Diss. Leiden 1968; Brandes, S.: Gender Distinctions in Monteros Mortuary Ritual. In: Bible Ethnology 20 (1981) 1 7 7 - 1 9 0 . - 7 Lüthi, Μ.: Goal-Orientation in Storytelling. In: Folklore Today: Festschr. R. M. Dorson. Bloom. (1976) 3 5 7 - 3 6 8 . - 8 c f . H D A 2, 1 2 3 4 - 1 2 4 4 ; R A C 7, 4 4 8 - 5 2 4 . - 9 ibid.; bes. H D A 2, 1236. - 10 H D A 2, 1 2 3 8 - 1 2 4 0 . 11 Mot. Ρ 623, Q 26; Tubach, num. 1984sq. 12 H D A 2, 1235 sq. - 13 Müller/Röhrich, J 26 (6 Var.n). - 14 Mot. Ε 443.7; Tubach, num. 1987; cf. Maclean, Α. Ζ.: Fasting and Abstinence. In: Clarke, W. K. L. (ed.): Liturgy and Worship. L. 1932, 2 4 5 - 2 5 6 . - 15 Mot. D 1733.3.1, D 1766.8. - 16 Beispiele bei Toldo 1902, 8 7 - 1 0 3 , bes. 90sq., 102sq.; cf. Tubach, num. 1 9 8 0 - 1 9 8 4 . 17 18 Toldo 1902, 102 sq. Thompson/Balys F611.3.0.1,cf. auchF561.0.1. - 19 Legendaaurea/ Benz (St. Michael). - 2 0 RAC 7, 454sq. 21 Frenken, G.: Wunder und Taten der Hll.n. Mü. 1925, 220sq.; Brückner, 247. - 22 Frenken (wie not. 21) 221. - 23 Brückner, 246sq. - 24 Mot. Q 223.9.1; Tubach, num. 1850 (weit verbreitet). 25 Tubach, num. 2167; cf. auch Fischer, E.: Die „Disquisitionum magicarum libri sex" von Martin Delrio als gegenreformator. Exempel-Qu. Diss. Ffm. 1975, 279; Mot. Q 223.9. - 26 CoronediBerti, C.: Novelle popolari bolognesi. Bologna 2 1883, 178; Toschi, P./Fabi, Α.: Buonsangue romagnolo [. . .]. Bologna 1960, 114. — 2 7 Moser, D.-R.: Die Tannhäuser-Legende. B./N.Y. 1977, 88sq., cf. 43. — 28 Maticctov, M.: Sezgani in prerojeni clovek. Ljubljana 1961.
Haifa
Aliza Shenhar
Fastenschwänke. Wie andere religiöse Übungen, Ausdrucksformen der Frömmigkeit und die kirchliche Didaxe (Der gefoppte —> Beter, —> Beichtschwänke, —» Katechismusschwänke, —> Predigtschwänke) wurden auch Fastenzeit und Fastengebot zum Gegenstand humoristischer Erzählungen, die im Sinn von K. Ranke als —> Schwundstufen oder Kontrafakturen ernsthafter, zur Einhaltung der —> Fasten (F.) mahnender Überlieferung bezeichnet werden können 1 . Wie —> Fastnachtspiele des 15. Jh.s, z.B. Von der Vasnacht und der Vasten Recht2, oder etwa die bildliche Darstellung vom Streit zwischen Fastnacht und F. von Pieter Bruegel 3 mit ihren die F. verkörpernden grämlich-dürren Figuren zeigen, wurden vor allem die 40tägigen, mit Abstinenzverpflichtung verbundenen Bußübun-
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gen zwischen der genußfrohen Fastnacht und dem Osterfest von vielen als unerfreulich und lästig empfunden, zumal die Einhaltung des F.gebots nicht nur kirchlicherseits, sondern auch von der weltlichen Obrigkeit überprüft und Übertretungen geahndet werden konnten. So mögen Schwänke und Witze über Verstöße gegen die befohlene Enthaltsamkeit bei Essen und Trinken und anderen Formen irdischer Lebensfreuden dem Abbau aufgestauter Aggressionen gedient, somit eine Ventilfunktion gehabt haben. Aus älterer frz. und ital. Novellistik stammen Witze über die Ignoranz bezüglich Beginn und Dauer der F.zeit. Eine Familie bemerkt erst am Palmsonntag, daß sie die gebotene Bußübung größtenteils versäumt hat, und begründet dies damit, daß der Winter in diesem Jahr kurz gewesen sei, also auch die F. sich entsprechend verkürzen (Mot. J 1743. 2) 4 . Dieser Witz gewinnt einen bes. Akzent, wenn es gar einem Pfarrer erst beim Umfragen der Palmstangen auffällt, daß er die F.zeit übersehen hat 5 . Mangels eines Kalenders wirft ein Mann (ein Pfarrer) während der F. täglich einen Kieselstein in einen Topf, ein anderer zählt die 40 Tage, indem er Bohnen von einer Tasche in die andere tut; in beiden Fällen bringen Tochter oder Frau die Rechnung durch eine zusätzliche Handvoll Steine oder Bohnen durcheinander (AaTh 1848 B: Beans in Pocket)6. Dies erinnert an den .Besenkalender' eines Pfarrers, der an jedem Wochentag einen Besen fertigt, um daran abzählen zu können, wann wiederum Sonntag sei7. F.schwänke glossieren, allerdings in vereinzelten Belegen, unsinniges Verhalten bei der Enthaltsamkeit. So fastet ein Einfältiger auf dem Dach, bis er vor Schwäche herunterfällt (Thompson/Balys J 565.1), ein anderer Dummkopf will innerhalb eines Monats das F. für ein ganzes Jahr absolvieren und verhungert, obwohl er genügend Nahrungsvorräte im Hause hat (AaTh 1295 A: Fasting the First Month)8. Hierher gehört auch der unsinnige Versuch, einem Pferd das F. beizubringen (AaTh 1682: —> Pferd fasten lehren): Ein Einfältiger versagt seinem Reittier das Futter, bis es tot umfällt, und bedauert, daß es nicht durchgehalten habe, wiewohl es das F. doch schon beinahe erlernt habe.
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Fastenschwänke
G e m e i n s a m Fastende betrügen sich gegenseitig. Nach dän. und lit. Überlieferung ißt der D i e n e r heimlich, während sein geiziger Herr Hungers stirbt ( A a T h 1 5 6 2 A * : Deceptive Bargain: Fasting Together)9. In Tiererzählungen der negriden Bevölkerung Nord- und Mittelamerikas und in Indonesien hintergehen sich die Konkurrenten in e i n e m F.wettbewerb (Mot. Κ 5 3 ) 1 0 . N a c h ir. Tradition wird ein F.williger zum Fleischessen verführt, indem man ihm das Fleisch in Butter verborgen vorsetzt (Cross Κ 4 9 8 ) . Hauptthema der F.schwänke in der älteren dt. Schwanküberlieferung ist die schlaue U m gehung des F.gebots. Als Entschuldigung, sich in dieser Hinsicht versündigt zu haben, werden etwa Bibelworte herangezogen. So behauptet ein Bauer, nur Heu gegessen zu haben, denn es stehe geschrieben, Fleisch sei Heu 1 1 . Ein anderer beruft sich auf Mt. 15, wonach dasjenige, was in den Bauch eingehe und natürlicherweise wieder ausgeworfen werde, den Menschen nicht verunreinige; sündhaft sei hingegen, was mit der Rede aus dem Herzen zum Mund herauskomme 12 . Der Hofnarr Peter von Düsseldorf verlangte Absolution für ein Stück Fleisch, das am Fasttag an einem Zahn hängengeblieben sei; nachdem ihm dies verziehen worden, zeigte er einen Schinken vor, der am Zahn eines Wildschweins steckte 13 . Ein Mann fragt seinen Priester, wie lange die F.zeit währe; die Angabe „40 Tage" legt er so aus, daß er nachts Fleisch essen dürfe 1 4 . Eine Frau gibt in der Beichte zu, während der F. Fleisch und Eier gegessen zu haben; auf die Frage, „ob sie es vom Papst erkaufft" (d. h. vom Papst Genehmigung eingeholt) habe, antwortet sie: „Ich wüste nicht, daß der H. Vatter Fleisch und Eier feil hätte, ich wolt ihm sonst das Geld vor andern gegönnet haben" 1 5 . Ein Mann gibt in der Beichte unbedenklich zu, nur einen Tag gefastet zu haben, und zwar nur deshalb, weil er sich in der Fastnacht so überessen habe, daß er am Aschermittwoch beim besten Willen nichts habe zu sich nehmen können 16 . In einer Qu. des 17.Jh.s ist dazu ein Sprichwort zitiert: Eine poln. Brücke, eine Schwab. Nonne, dt. F. und welsche Andacht seien keine drei Heller wert 17 . Wie sehr kirchliche Kontrolle als ärgerlich e m p f u n d e n wurde, beweist eine Begebenheit, wonach ein Pfaffe am Fasttag die Kochtöpfe inspiziert und die Köchin ihm die kochende Brühe über die F ü ß e schüttet 1 8 . Eine schlaue A u s r e d e beim Verstoß gegen das F.gebot überliefert auch ein neuerer dt. Witz: Ein Pfarrer droht einem Bauern, den er am Freitag b e i m Verzehren einer Schweinshaxe erwischt,
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es werde ihn der Teufel holen, doch der meint, er esse ja zuvor einen Fisch und hernach Käse; o b der Teufel nun von vorn oder v o n hinten in ihn fahre, so sehe er in jedem Fall eine F.speise 1 9 . F.schwänke verbinden sich häufig mit Kritik am höheren Klerus, d e m — de facto nicht zu Unrecht — eine üppige Lebensführung nachgesagt wurde. So meinte ein Mönch, die Kardinäle würden wohl an der Himmelstür abgewiesen werden, weil sie nicht Mönchsspeise wie Mus, Bohnen und Erbsen, sondern viel Köstlicheres in ihren Mägen hätten 2 0 . Als ein Fleischhauerssohn Kardinal wird, freut sich der Hofnarr: Wie der hl. Petrus, seiner Herkunft nach Fischer, das Fleischessen verboten habe, um den Fischhandel zu fördern, so sei wohl von dem neuen Kardinal zu erwarten, daß er das Fleischverbot zur F.zeit lockern werde 21 . Ein Armer fragt einen Abt, wie er in seinem Kloster für die F.zeit vorgesorgt habe, worauf dieser vielerlei Fischsorten aufzählt; dazu meint der Arme, er sei viel besser auf die F. vorbereitet, weil er nämlich nichts eingekauft habe 2 2 . Auf - » Poggio und die frz. Novellistik geht die Erzählung von dem Bischof zurück, der in der F.zeit Rebhühner geschenkt bekommt und diese unbedenklich zubereiten läßt; deshalb gemaßregelt, meint er, wenn er doch Brot in den Leib Christi verwandeln könne, dürfe man ihm wohl auch zutrauen, Rebhühner zu Fisch werden zu lassen (Mot. 1 1269.5) 23 . Nach jüd. Überlieferung beruft sich ein konvertierter Jude beim Hühneressen am Fasttag auf seine Taufe: Wie er durch Besprengen mit Wasser zum Christen geworden sei, so habe er eben das Huhn getauft und damit in Fisch verwandelt 24 . Nach tschech. Exempeltradition bricht der Wolf das F.gebot und behauptet, das Lämmchen sei ein Fisch 25 . Eine Anzüglichkeit in anderer Richtung enthält der folgende Witz in dt. Qu.n des 17. und 18.Jh.s: Auf die Frage, ob Schnecken Fleisch oder Fisch seien und in der F.zeit gegessen werden dürften, antwortet der Pfarrer, Schnecken hätten kein Blut, seien also weder Fleisch noch Fisch, doch solle man sich vor den Hörnern hüten 2 6 (cf. —> Hahnrei). D a ß derlei spitze B e m e r k u n g e n aus d e m Munde der Geistlichkeit und vor allem ihre Verstöße gegen das F.gebot als gravierend und gleichzeitig als bes. komisch e m p f u n d e n wurden, ist naheliegend, da der Klerus ja v o n A m t s w e g e n Enthaltsamkeit hätte vorleben sollen. E s m u ß jedoch auffallen, daß ungeachtet weit verbreiteter und wohl überall als unliebsam empfundener F.bräuche zu diesbezüglichen Schwänken und Witzen vorwiegend ältere literar. Zeugnisse vorliegen. In
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Fastnachtspiel
der neueren mündl. Überlieferung scheinen sie nach bisherigem Befund nicht populär zu sein, da das F.gebot weithin seine Verbindlichkeit eingebüßt hat. 1
Ranke, K.: Schwank und Witz als Schwundstufe. In: Festschr. W.-E. Peuckert. B. 1955, 4 1 - 5 9 . 2 Keller, A. von (ed.): Fastnachtspiele aus dem 15.Jh. t. 2. Nachdr. Darmstadt 1965, 624-627, 628-631; cf. Moser, H.: Kritisches zu neuen Hypothesen der Fastnachtforschung. In: Jb. für Vk. 5 (1982) 9 - 5 0 , hier 27sq. - 3 Grossmann, F.: Bruegel. Die Gemälde. Köln 1955, Tafel 9; SchuttKehm, E.-M.: Pieter Bruegels d.Ä. „Kampf des Karnevals gegen die F." als Qu. volkskundlicher Forschung. Ffm. 1983. - 4 Semerau, A. (ed.): Die 100 neuen Novellen. Nachdr. Mü. 1965, num. 89; Rotunda J 1743.2. - 5 Text im EM-Archiv (mit num.): Zincgref/Weidner 1655 (1.760). - 6 H o dscha Nasreddin 1, num. 9 (weitere Nachweise p. 207); Köhler/Bolte 1,484; Cirese/Serafini. 7 Wickram, G.: Werke. 3: Rollwagenbüchlein, ed. J. Bolte. Tübingen 1903, num. 47; Frey/Bolte, num. 14 (mit Lit.). - β Clouston, W. Α.: The Book of Noodles. L. 1888, 89; Thompson/Balys J 2135.1. - 9 Kristensen, Ε. T. (ed.): /Eventyr fra Jylland [. . .]. Kop. 1884, num. 30; Balys *1568 A; cf. auch Rausmaa und Lambrecht 1165. - 10 Fortier, A. (ed.): Louisiana Folk-Tales. Boston/N.Y. 1895, 34-37, num. 14; Parsons, Ε. C. (ed.): Folk-Tales of Andros Island, Bahamas. In: Memoirs of the American Folk-Lore Soc. 13 (1918) 97-99, num. 51; Beckwith, M. W. (ed.): Jamaica Anansi Stories, ibid. 17 (1924) 67, num. 61 (not. p. 261 sq.); de Vries, num. 133. 11 EM-Archiv: Jan Tambaur, um 1660 (12.973); Heer-Paucker 1663 (13.107); Zeitvertreib 1693 (18.007); Bienenkorb 1768 (11.203); Vademecum 1786 (5.498). - 12 EM-Archiv: Zincgref/Weidner 1655 (1.794). - 13 EM-Archiv: Zincgref/Weidner 1653 (1.516); Lexicon apophthegmaticum 1718 (3.980); cf. Aräjs/Medne 1565***. - " E M Archiv: Wolgemuth 1669 (14.065). - 15 EMArchiv: Gerlach 1647 (2.478); Zincgref/Weidner 1653 (1.470); Lexicon apophthegmaticum 1718 (4.120); cf. auch Wickram (wie not. 7) num. 49. 16 Bebel/Wesselski 1/1, num. 87. - 17 EM-Archiv: Zincgref/Weidner 1655 (1.648). - I8 Zincgref/ Weidner 1653 (1.454). - 19 Bemmann, H.: Der klerikale Witz. Mü. 1976, 93. - 20 EM-Archiv: Zincgref/Weidner 1653 (1.251); Gerlach 1656 (3.392). 21 Kirchhof, Wendunmuth 4, num. 263; EM-Archiv: Zincgref/Weidner 1655 (1.774); Zeitvertreib 1693 (18.112). - 22 EM-Archiv: Exilium melancholiae 1643 (229); Zincgref/Weidner 1653 (922, 1.515); Lyrum larum lyrissimum 1700 (15.621); Abraham a S. Clara, Huy und Pfuy 1707 (4.468); Hanß-Wurst 1712 (7.764). — 23 Poggio, num. 216; Semerau (wie not. 4) num. 100; Rotunda J 1269.5; Frey/Bolte,
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num. 85 (mit Lit.); EM-Archiv: Zincgref/Weidner 1655 (1.834, 1.868); Gerlach 1656 (3.500). 24 Schwarzbaum, 59 (mit Lit.); zu weiteren jüd. Witzen zur Übertretung des F.gebots cf. Landmann, S.: Jüd. Witze. Mü. 1964, 96; ead.: Jüd. Witze. Nachlese. Mü. 1978, 29sq. - "Dvorak, num. 5354***. — 26 EM-Archiv: Exilium melancholiae 1643 (567); Sinnersberg 1747 (11.007); Vademecum 1786 (5.334). Göttingen
Elfriede Moser-Rath
Fastnachtspiel 1. Begriff - 2. Gegenstand - 2.1. Ursprung 2.2. Überlieferung - 2.3. Gestalt - 2.4. Inhalt 2.5. Figuren — 2.6. Quellen — 2.7. Motive, Stoffe 3. Räumliche Verbreitung, Verfasser - 4. Gattung - 5. Ähnlichkeiten und Nachwirkungen 1. B e g r i f f . Der mutmaßlich erste Hinweis auf den Begriff F. findet sich in einer archivalischen Nachricht aus Hall in Tirol (1426), in der von „zwein spiln ze vasnacht" die Rede ist. Ob hier allerdings eigentliche' F.e gemeint sind, ist insofern fraglich, als das in SpätMA. und Frühneuzeit in unterschiedlicher Schreibung begegnende Wort F. in seiner zeitgenössischen Verwendung weder auf die dramatische Gattung noch den Bereich des Fastnächtlichen beschränkt ist. Als F. werden vielmehr die verschiedensten der Volksbelustigung dienenden Vorführungen und Vergnügungen bezeichnet; darüber hinaus taucht das Wort F. — vor allem im 16. Jh. — wiederholt auch in metaphorischen Wendungen auf. Neben der begrifflichen Unfestigkeit des Wortes F. besteht ein weiteres terminologisches Problem: Die zeitgenössische Benennung der Gattung F. erschöpft sich nämlich nicht in dem Begriff vasnachtspil, sondern kennt verschiedene weitere Termini wie vor allem spil und paurenspil. 2. G e g e n s t a n d . Die ersten überlieferten F.e, kurze,,episch' angelegte Spieltexte (Habel 1978, pass.), die für Aufführungen durch kleine, nicht-professionelle Spieltrupps bestimmt waren, entstanden ab etwa 1430 im Rahmen der vom spätma. Stadtbürgertum gepflegten Fastnachtsbräuche und -belustigungen. Die aufgrund ihrer Anlaß- und Kontextgebundenheit vorwiegend (aber keineswegs
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ausschließlich) heiteren, oft burlesk-grobianischen Spiele wurden — ζ. T. unter Einsatz von Musik und Tanz — auf .neutralen' Spielflächen in Wirtsstuben und Privathäusern, manchmal auch im Freien aufgeführt (cf. zu Bühne und Aufführung Catholy 1966, pass.; Michael 1963, 56—66; authentische Beschreibung in Κ num. 1, V. 5 - 1 8 ) . Wie das Entstehen fester lokaler Spieltraditionen belegt, erfreuten sich die F.e schnell großer Beliebtheit. Mit ihnen und dem geringen Bestand an Jahreszeiten- und Neidhartspielen bildete sich — erstmalig in der Geschichte des dt. Dramas — ein wesentliches, formal und inhaltlich aber durchaus nicht einheitliches Gegenstück zur Gattung des geistlichen Spiels. 2.1. U r s p r u n g . Die für die F.-Forschung lange Zeit zentrale Frage nach dem Ursprung der Spiele gilt heute als eher sekundär. Alle vorliegenden Ansätze, die das F. monokausal etwa aus germ. Kultspielen (Rudwin 1920; Stumpfl 1936), aus weltlichen Szenen, namentlich Salbenkrämerszenen, des geistlichen Dramas (Bäschlin 1929) oder aus Einzelformen des Fastnachtsbrauchtums (Holl 1923) herleiten wollten, haben sich als wenig tragfähig erwiesen. Die in jüngster Zeit entwickelte — weit über genetische Erörterungen hinausgehende — Theorie vom F. als ursprünglich geistlich-katechetischem Drama (Moser 1976) ist umstritten (cf. Kritik: Moser 1982; Bastian 1983, 58—61) und bedarf weiterer Klärung. Bei der Herkunftsbestimmung ist weniger von e i n e m Ursprung als von einer Summe möglicher Einflüsse auszugehen. Als gesichert kann aber gelten, daß die F.e seit Beginn ihrer Überlieferung einerseits im Bereich städtischer Lebensformen angesiedelt waren und andererseits unter deutlich literar. Einfluß standen (Lenk 1966, pass.). In welchem Umfang das F. traditionelle brauchtümliche (und gegebenenfalls mimische) Elemente aufnahm und sodann zur literar. Fiktion umgestaltete, ist aufgrund der schwierigen Qu.nverhältnisse kaum endgültig zu entscheiden. 2.2. Ü b e r l i e f e r u n g . Die aus Überlieferungsgründen fast ausschließlich durch die frühe Nürnberger Spieltradition repräsentierten F.e des 15. Jh.s liegen — bis auf einige gedr. Spiele des Hans Folz — nur als Hss. (in z.T.
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unterschiedlichen Versionen) vor (cf. genauere Angaben zu den Hss. bei Simon 1970, 12-22, 91-118). Die heute bekannten F.e des 15. Jh.s sind durch A. von Kellers (1853/ 58) revisionsbedürftige Ausg. sowie F. Schnorr von Carolsfelds (1874) ergänzende Edition zugänglich. Von der ebenfalls reichen Lübecker Spieltradition ist allein ein von C. Wehrmann (1880) ed. Titelverzeichnis erhalten. Die auf verschiedene regionale Räume verteilten F.e des 16. Jh.s sind — der zunehmenden Literarisierung der Gattung entsprechend — normalerweise als zeitgenössische Drucke überliefert. Ausnahmen bilden die F.e des Südtirolers Vigil Raber und des Nürnbergers Peter Probst, deren hs. Spielaufzeichnungen durch O. Zingerles (1886), neuerdings W. M. Bauers (1982), und E. Kreislers (1907) Ausg.n verfügbar sind. 2.3. Gestalt. Die F.e nicht nur des 15., sondern auch des 16. Jh.s weisen von ihrem Aufbau her zwei grundsätzlich zu unterscheidende Spieltypen auf: einerseits sog. Reihen- oder Revuespiele, in denen nur thematisch verknüpfte, aber sonst unverbundene Einzelvorträge additiv gereiht sind, und andererseits sog. Handlungsspiele, in denen durch eine planmäßig gesetzte Interaktion eine Spielwirklichkeit geschaffen ist. Ähnlich verbreitet war als weiterer Spieltyp die Mischform von Reihen- und Handlungsspiel. Eingerahmt ist das eigentliche (Binnen-) Spiel von formelhaften, sich bis zur Austauschbarkeit wiederholenden Eingangs- und Schlußredeteilen, in denen durch eine Mittlerfigur, meist den Praecursor oder Herold, die Verbindung zwischen Darstellern und Zuschauern bzw. Spiel und Fastnachtsfeier hergestellt wird. Erst als sich die Spiele im 16. Jh. in zunehmendem Maße von ihrem ursprünglich fastnächtlichen Anlaß lösten, begannen die Rahmenteile immer häufiger zu entfallen. Die Länge der im 15. Jh. noch durchschnittlich 200—300 V.e umfassenden Spiele nahm dagegen z.T. erheblich zu und erreichte in Einzelfällen mehr als 2000 V.e. Metrum ist der vierhebige, paarweise reimende Knittelvers, der im F. häufig durch den verstärkten Zeilensprung des sog. Stichreims ,gebrochen' wird.
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2.4. I n h a l t . Die aufgrund einer rein quantitativ begründeten Kategorienbildung entstandene herkömmliche Vorstellung vom F. als der Gattung des in exemplarischer Weise Derb-Komischen und Unflätigen entspricht der hist. Wirklichkeit nur z.T. Denn neben den numerisch deutlich dominierenden heiteren hatten auch etliche schon im 15. Jh., vor allem aber im 16. Jh. verbreitete ernste Spiele ihren Platz innerhalb der Gattung (cf. Wuttke 2 1978, 4 2 4 - 4 3 5 ; Linke 1979,756,758). Da sich in verschiedenen F.en heitere und ernste Elemente unauflösbar vermischen, bleibt die Abgrenzung beider Inhaltsdimensionen im Einzelfall problematisch. Das Gesichtsfeld der heiteren F.e ist weitgehend auf die Vitalsphäre beschränkt. Ausgangspunkt sind in der Regel verbal oder handgreiflich ausgetragene Konflikt- oder Wettstreitsituationen, in deren Zentrum die Bereiche des Sexuellen und Fäkalen stehen. Bevorzugte Themenkomplexe sind entsprechend das in zumeist obszöner Weise stilisierte (mit Vorliebe in der Form von Gerichtsspielen wiedergegebene) Verhältnis der Geschlechter sowie das äußerst detailfreudig behandelte (vornehmlich durch Arztspiele repräsentierte) Sujet des Skatologischen (—> Skatologie). Die Blickrichtung der ernsten F.e ist nur schwer auf einen Begriff zu bringen. Sie nehmen religiöse und konfessionelle, aber auch soziale und politische Fragestellungen auf und widmen sich moralisch-didaktischen Themen unterschiedlichen Zuschnitts. 2.5. F i g u r e n . Das Figurenarsenal des F.s ist — abgesehen von Modifikationen des Typenbestands und der Personengestaltung im 16. Jh. — verhältnismäßig eingeengt und festgelegt. Neben dem Praecursor, der das F. — durch Begrüßung des Publikums, Bitte um Ruhe und Einführung in die Spielsituation sowie durch Verabschiedung, Bitte um Nachsicht und Aufforderung zu Bewirtung und Schlußtanz — in die allg. Fastnachtsfeier einbindet, ist es vor allem der —> Bauer, der geradezu Signalcharakter für die Gattung hat (v. auch,Gattungsbegriff' paurenspil). Sowohl die Bauern-Gestalten als auch andere zum Standardpersonal gehörende Figuren wie Ärzte (—> Arzt) oder Quacksalber (—» Scharlatan), Kleriker (—» Klerus, —> Mönch, —>
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Pfarrer), —» Richter, (böse) Ehefrauen, (schwache, tölpelhafte) Ehemänner, Ehebrecher, (Venus-)Narren und Völler sind dabei weniger reale Abbilder der zeitgenössischen Wirklichkeit als typisierte und funktionalisierte Abstraktionen. Augenfälligstes Indiz dieser Art von Figurentypisierung ist die häufige Verwendung von (zumeist pejorativ eingesetzten) sprechenden Namen. 2.6. Q u e l l e n . Seine Stoffe fand das F. sowohl in der Alltagswirklichkeit als auch — in hohem Maße — in der literar. Überlieferung (Lenk 1966, 37sq., 4 4 - 8 5 ) . Zwar sind die Vorlagen für die F.e des 15. Jh.s häufig im nicht näher bestimmbaren übernationalen ma. Erzählgut zu suchen, aber es lassen sich aufgrund direkter textlicher Abhängigkeiten und stofflicher Parallelen schon für das frühe F. auch andere, genau festlegbare Qu.nbereiche benennen; so z.B.: Heldenepik (K num. 62 [cf. Ζ num. 9]). - Höfischer Roman (Κ num. 80sq., 127, SvCnum. 2,4). Spruch- und bes. Minnedichtung (K num. 63, 103 [cf. Ζ num. 14], Κ num. 11, 1 3 - 1 5 , 40sq., 96). Schwank-Maere (Κ num. 37 [cf. G num. 57, KA num. 45], Κ num. 17, 128 [cf. Ζ num. 7]). - Legende (Κ num. 106). — Antichrist-Spiel (K num. 20, 68). - Neidhart-Spiel (K num. 21, 53 [cf. Ζ num. 26, G num. 75]). — Salbenkrämerszenen des geistlichen Spiels (Κ num. 6, 48, 82, 85, 98, 101, 120 [cf. Ζ num. 4, 6, 19, 21 sq., 24, G num. 79sq., Kr num. 6]).
Für die F.e des 16. Jh.s lassen sich zwei dominante Qu.nbereiche nachweisen (cf. Lier 1889, 1 2 3 - 1 6 0 ; Stiefel 1891, 1 - 6 0 ; Pistl 1893, 430—432): einerseits die Spiele des 15. Jh.s, auf die vor allem die Nürnberger Hans —» Sachs und Peter Probst wiederholt zurückgriffen, und andererseits die favorisierte Erzähl-Lit. der Zeit - bes. in der Form von Novellen-, Schwank- und Exempla-Slgen —; so ζ. B.: —> Gesta Romanorum, Kap. 45 (Z num. 3). — —> Boccaccio 1, 6 (G num. 53); 2, 5 (ΚΑ num. 31); 3, 8 (G num. 42); 4,2 (ΚΑ num. 57); 7, 4 (G num. 46); 8, 6 (G num. 41); 8, 9 (KA num. 32); 8, 10 (G num. 23); 9,3 (G num. 16); 9, 5 (G num. 62); 10, 2 (G num. 27). - Heinrich -> Steinhöwel 1873, 4 2 - 6 1 (Ζ num. 10). > Bebel/Wesselski 1, 26 (G num. 34). - Ulenspiegel 1884, num. 30 (G num. 72); num. 38 (G num. 58); num. 64, 66 (KA num. 66); num. 68 (G num. 77); num. 71 (G num.
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51). - —> Pauli/Bolte, num. 4 1 (G num. 83); num. 144 (G num. 60); num. 463 (G num. 22); num. 522 (G num. 19); num. 646 (G num. 51); num. 650 (G num. 58). - Burkart -H. Waldis 1862, 6 4 - 7 0 (Kr num. 3); 1 5 5 - 1 6 2 (Kr num. 2). - Valentin Schumann 1893, num. 20 (KA num. 63). - —> Kirchhof, Wendunmuth 1 , 1 2 5 - 1 2 7 (KA num. 59); 1, 137sq. (KA num. 61); 1, 139 (KA num. 64); 1, 142 (KA num. 50); 1, 363, 371, 377 (KA num. 60). 2.7. M o t i v e , S t o f f e . Ein Überblick über den M o t i v - und Stoffbestand d e s F.s liegt bisher nicht vor (cf. aber den aufgrund seiner Prämissen h e u t e nicht mehr tragfähigen V e r such bei A b b e 1 9 6 0 , 5 9 - 7 2 für Κ num. 1 132). D a b e i ist die Beschäftigung mit d e n zentralen Inhaltseinheiten der jeweiligen Spiele nicht nur motiv- und stoffgeschichtlich ergiebig, sie ist vor allem auch g r u n d l e g e n d e Voraussetzung für das , D i m e n s i o n s v e r s t ä n d nis' der h e t e r o g e n e n Textsorte F. D e r f o l g e n d e Katalog bietet anhand ausgewählter Inhaltsnennungen e i n e repräsentative Übersicht. B e i der Rubrizierung der F.e nach Inhaltseinheiten sind E n t s p r e c h u n g e n und Ä h n l i c h k e i t e n gleich behandelt. A b l a ß k r ä m e r (betrügerischer) wird entlarvt (Bä 1 1 2 - 1 3 2 ) , cf. Kleriker. Ä s o p übertrumpft seinen Herrn ( Z num. 10, G num. 85). A n t i c h r i s t erringt die Macht (K num. 68); wird als falscher Messias entlarvt (K num. 20). -> A r i s t o t e l e s u n d P h y l l i s (Κ num. 17, 128, Ζ num. 7; AaTh 1501). A r z t betrügt (bäuerliche) Patienten mit wirkungslosen/gefährlichen Behandlungsmethoden (K num. 6, 48, 82, 120, Ζ num. 19, 21 sq., 24, G num. 79sq., Kr num. 6); betrügt den Tod (KA num. 36; AaTh 332: —> Gevatter Tod)', preist marktschreierisch seine Künste (K num. 82, 98, 101); therapiert Laster ( Z num. 22, G num. 11, 16sq.). B a u e r prahlt mit Potenz (K num. 28, 45); tritt als dünkelhafter Unflat auf (K num. 28); übertrifft Kleriker an Bibelkenntnis ( Z num. 25); übervorteilt (städtische) Käufer (K num. 35, S 7 1 - 7 9 ) ; will Kalb aus altem Käse ausbrüten (G num. 34); wird von geistig Überlegenen hereingelegt (K num. 55, G num. 22, 25, 37), cf. Student, cf. Arzt, Ehebruch, Ehestreit, Gerichtsverhandlung, Salomon und Markolf. B a u e r n tragen Streit handgreiflich aus (K num. 67, G num. 20), cf. Ehestreit; vor Gericht aus (K num. 69, 112, Ζ num. 20), cf. Gerichtsverhandlung; treten als tölpelhafte Liebhaber (K num. 13), cf. Buhlschaftsnarren; als törichte Grobiane auf (K num. 3, 23, 51). cf. Brauthandel, Rockenstube.
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B e l f a g o r ( G n u m . 76; AaTh 1164),cf.Teufel. B r a u t h a n d e l (—> Braut und Bräutigam werden diffamiert) und/oder Hochzeit in bäuerlich-derbem Milieu (K num. 7, 58, 65 sq., 104, G num. 36, Kr num. 5), cf. Bauern. B u h l s c h a f t s n a r r e n erleben derb-komische Liebesabenteuer (K num. 13sq., 26, 32, 38, 43sq., Gö num. 8, G num. 2), cf. Liebesabenteuer, -wettstreit, Männer, Werbung. —» D i e t r i c h v o n B e r n rettet Jungfrau vor Riesen (K num. 62), cf. Frauenjagd; bestraft Kriemhilds Hoffart (Z num. 9). D i s p u t a t i o n über Vor- und Nachteile der —» Ehe (G num. 71), cf. Eheunterweisungen; zwischen Christen und Juden über den rechten Glauben (K num. 1,20, 106), cf. Juden. D o m h e r r wird von Kupplerin zu Liebesabenteuer verleitet (K num. 37, G num. 57, KA num. 45), cf. Kupplerin, Mönch/Pfaffe. E c k h a r t (der treue) tritt als Mahner auf (G num. 2, 8, 68, Bo num. 3), cf. Einsiedler. —> E h e b r u c h wird vor Gericht verhandelt (K num. 10, 27, 40, 42, 61, 88; Ζ num. 2), cf. Ehefrau, Gerichtsverhandlung, Keuschheitsproben. E h e f r a u (böse) tyrannisiert Ehemann (K num. 3 - 5 , 56, Ζ num. 13, S 5 1 - 7 0 , G num. 4, 28, 34, 49, Kr num. 5), cf. Ehestreit, Kampf, Weib; (buhlerische) bereitet Ehebruch vor (K num. 19, 46, G num. 43, KA num. 42), cf. Ehebruch, Kupplerin; (unbefriedigte) klagt über Seitensprünge des Ehemannes (K num. 19, 40, 42), cf. Gerichtsverhandlung. E h e s t r e i t wird handgreiflich ausgetragen (K num. 3—5, 55, Ζ num. 13, G ö num. 8, G num. 4, 21, 49, 64, 66, Kr num. 7), cf. Ehefrau, Kampf, Weib. E h e u n t e r w e i s u n g e n werden durch Artes/ Richter erteilt (K num. 41, 96, Ζ num. 5). —» E i n s i e d l e r tritt als Mahner/Weissager auf (Gö num. 6sq., Bo num. 2, G num. 70), cf. Eckhart. E r b s c h a f t s s t r e i t i g k e i t e n dreier Brüder werden verhandelt (K num. 8, Ζ num. 3, G num. 5). —> E u l e n s p i e g e l treibt mit Vertretern verschiedener Stände seinen Schabernack (G num. 51, 58, 72, 77, KA num. 66; AaTh 1635*). —> E v a : D i e u n g l e i c h e n K i n d e r E . s ( G n u m . 52; AaTh 758). F r a u e n (mannstolle) erstreben Verheiratung (K num. 12, 97), cf. Ehefrau. F r a u e n j a g d (K num. 62; Mot. Ε 501. 5. 1), cf. Dietrich von Bern. F r a u e n l o b wird von Männern persifliert (K num. 11, 16, 33, 74), cf. Preis. F r e i e r (ständisch gekennzeichnete) preisen ihre Vorzüge (K num. 70, Ζ num. 15), cf. Werbung; —» Brautwerbung. — » G a u k l e r erweist sich als gewitzter Rätsellöser (K num. 63), cf. Müller. G e r i c h t s v e r h a n d l u n g findet statt gegen todbringende Seuche (K num. 54); wegen ehelicher Verfehlungen (K num. 2 7 , 2 9 , 4 2 , 61, 102), cf. Ehe-
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bruch; wegen fäkaler Vergehen (K num. 24); wegen gebrochenen Eheversprechens (K num. 115, 130, Ζ num. 1, 8, Bä 2 5 5 - 2 9 8 ) ; wegen sexueller Verfehlungen (K num. 18, 24, 29, 108). cf. Bauern. —> H a n d w e r k e r machen obszöne Späße über ihre Gewerbe (K num. 50, 105). H e i r a t / - » H o c h z e i t in bäuerlichem Milieu (K num. 58, 66, 104, Kr num. 5), cf. Brauthandel, Gerichtsverhandlung. —> J u d e n mißlingt ein Geschäft mit Diebesgut (KA num. 34); werden durch Wunder bekehrt (K num. 106); werden in entwürdigender Weise (Judensau) gestraft (K num. 20), cf. Antichrist, Messias. J u n g f e r n (sitzengebliebene) müssen Egge/Pflug ziehen (K num. 30); werden eingesalzen (K num. 76 sq., 91), cf. —> Alte Jungfer. K ä l b e r b r ü t e n (G num. 34), cf. Bauer. -> K a i s e r u n d A b t (K num. 22; AaTh 922), cf. Müller. K a m p f um Vorherrschaft im Haus wird handgreiflich ausgetragen (K num. 4, S 51—70, G num. 28, 49, ΚΑ num. 51), cf. Ehefrau, -streit, Weib, Eheschwänke und -witze. —» K e u s c h h e i t s p r o b e n am Artushof gehen für fürstliche Beteiligte schlecht aus (K num. 80 sq., 127; Mot. Η 400). K l a g e über die kommende —» Fastenzeit (K num. 71), cf. Streit Fastnacht - Fastenzeit. K l e r i k e r (höhere Geistliche) treten als Betrüger (G num. 41, Κ Α num. 41, 49, 56sq.), cf. Ablaßkrämer; als Buhler und/oder Völler (K num. 66, 68, 112, G num. 9, 54, ΚΑ num. 4 1 , 4 4 , 57, 63), cf. Mönch; als ungerechte/unwürdige Autoritäten auf (K num. 39, 68, 78, Ζ num. 25, G num. 53, Bä 2 9 102, 1 0 3 - 1 1 1 ) , cf. Zeitklage. Kothaufen (bäuerlicher) wird monströse Sehenswürdigkeit (K num. 23), cf. Gerichtsverhandlung; ersetzt Veilchen (K num. 21, 53, Ζ num. 26, G num. 75), cf. Neidhart mit dem Veilchen. K u p p l e r i n erfindet List zur Täuschung des betrogenen Ehemannes (G num. 54), cf. Ehefrau; mißlingt Kuppelversuch (K num. 19, 37, G num. 57, ΚΑ num. 45), cf. Domherr. K u ß (fehlgeleiteter) wird auf Hintern piaziert (K num. 69; AaTh 1361: —» Flut vorgetäuscht). L i e b e s a b e n t e u e r (derb-komische) werden vorgetragen (K num. 45, 94), cf. Buhlschaftsnarren. L i e b e s w e t t s t r e i t zwischen Männern um Preis/ Urteilsspruch von Frau —> Venus/Frauen (K num. 14, 16, 32sq., 38, 43sq.), cf. Buhlschaftsnarren, Werbung. M ä n n e r erliegen Macht der Minne (K num. 14, 26, 32, 38, Gö num. 8, G num. 2), cf. Buhlschaftsnarren, Liebeswettstreit. M e s s i a s (falscher) wird durch Weissagerin entlarvt (K num. 20), cf. Antichrist. M i n n e l e h r e n werden durch Farballegorien verdeutlicht (K num. 103, Ζ num. 14); werden persifliert (Κ num. 15, 41, 96), cf. Eheunterweisungen. M ö n c h / P f a f f e (niederer Geistlicher) gibt sich als —* Franz von Assisi aus, um Witwe gefügig zu
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machen (KA num. 57); wird von Ehemann überrascht (G num. 37, Kr num. 2), cf. Student; wird von vermeintlich ums Augenlicht gebrachtem Ehemann bestraft (G num. 69; AaTh 1380: -> Blindfüttern)·, zeichnet sich als guter Liebhaber aus (K num. 66, 70, 112), cf. Kleriker. M o r i s k e n t a n z (K num. 14), cf. Buhlschaftsnarren, Liebeswettstreit, Werbung. —> M ü l l e r erweist sich als gewitzter Rätsellöser (K num. 22), cf. Kaiser und Abt. N a r r e n werden wegen ihrer Torheiten vor dem Narrenpflug/im Narrenseil vorgeführt (K num. 14, 26, 32, 38, 116), cf. Buhlschaftsnarren, Männer. —> N e i d h a r t m i t d e m V e i l c h e n (K num. 21, 53, Ζ num. 26, G num. 75; AaTh 1528), cf. Kothaufen. P a r i s u r t e i l (SvC num. 2, 4; Mot. Η 1596.1). Hl. —> P e t r u s täuscht sich über Landsknechte und läßt sie in den Himmel (KA num. 55; cf. Mot. J 1616). P r e i s weiblicher Schönheit wird von Männern persifliert (K num. 7, 58, 74), cf. Frauenlob. P r e i s t a n z (bäuerlicher) endet mit Handgreiflichkeiten (K num. 67, G num. 20), cf. Bauern, Werbung. R i t t e r werden als Feiglinge (K num. 75); als unwürdige Vertreter ihres Standes attackiert (K num. 47, 79). cf. Zeitklage. R o c k e n s t u b e als Schauplatz bäuerlichen Amüsements und Streits (K num. 4, 9, 34, G num. 10), cf. Bauern, Ehefrau. —» S a l o m o entscheidet, welcher Frau das Kind gehört (SvC num. 3; AaTh 926: —» Salomonische Urteile). —» S a l o m o n u n d M a r k o l f (K num. 60, G num. 26; Mot. Η 561.3), cf. Bauer. S t r e i t zwischen Leben und Tod (S 81—93); zwischen Fastnacht und Fastenzeit (K num. 51, 72sq., Ζ num. 12), cf. Klage; zwischen Mai und Herbst ( Z num. 16). —> S t u d e n t a u s d e m P a r a d i e s (G num. 22, KA num. 61; AaTh 1540); übertölpelt Bauern mit vorgegebener Teufelsbeschwörung (G num. 37, Kr num. 2), cf. Teufel, Bauer. T e u f e l stiftet mit Hilfe eines alten Weibes Mißtrauen und Unfrieden (K num. 57, G num. 18, 39, 76), cf. Belfagor, Weib; wird bei Pakt geprellt (G num. 19); wird von Kleriker/Studenten gebannt (G num. 34, 37, Kr num. 2, KA num. 43), cf. Student. T o d steckt in Form eines Schatzes in einem Baumstumpf (G num. 70); (vorgegebener) wird als Liebesprobe eingesetzt (G num. 60; Mot. Η 466). T r e u e p r o b e wird mit glühendem Eisen durchgeführt (G num. 38; Mot. Η 412.4.1), cf. Ehefrau, —» Gottesurteil. T ü r k e wird (im Gegensatz zu christl. Obrigkeiten) als Idealherrscher dargestellt (K num. 39), cf. Zeitklage. T ü r k e n k l a g e als Zeitkritik ( Z num. 25), cf. Zeitklage.
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W a l l f a h r e r wird als Betrüger entlarvt (K num. 2), cf. Wallfahrt. W e i b (böses, altes) unterdrückt Ehemann und/ oder sorgt für Unfrieden (K num. 3 - 5 , 5 6 , S 51—70, G num. 4 , 1 9 , 2 8 , 4 9 , Kr num. 8), cf. Ehefrau, -streit, Kampf; verjagt den Teufel (G num. 18sq., 76), cf. Teufel. W e i b e r l i s t läßt Männer unterlegen sein (K num. 46), cf. Aristoteles und Phyllis, Buhlschaftsnarren, Männer; rettet heikle Situation (G num. 46, 54), cf. Kupplerin. W e r b u n g um eine Jungfrau (K num. 70, Ζ num. 11, 15, 18); um Frau Minne/Venus ( K n u m . 14, 32, 38, 43, 128, G ö num. 8, G num. 2), cf. Buhlschaftsnarren, Liebeswettstreit, Moriskentanz. Z e i t k l a g e über Zustände und Obrigkeiten (K num. 39, 78, 100, Ζ num. 25), cf. Kleriker, Ritter, Türkenklage.
3. R ä u m l i c h e V e r b r e i t u n g , V e r f a s s e r . Obwohl das F. im 15. und 16. Jh. über weite Teile vor allem des oberdt. Sprachraums verbreitet war (cf. Linke 1979, 759, mit Verweis auf derzeit 57 bekannte F.orte), hat es nur einige wenige lokale Zentren mit nachweislicher F.-Tradition gegeben. Der früheste bekannte Beleg stammt aus dem n d d . R a u m und verweist auf die ab 1430 mit ziemlicher Regelmäßigkeit stattfindenden Aufführungen in L ü b e c k . Da außer einem Verzeichnis mit 73 Spieltiteln (Wehrmann 1880, 3 - 5 ) nur das um 1500 gedruckte Lesedrama Henselyn überliefert ist, bleibt die Vorstellung von Form und Inhalt dieser F.e vage. Mythol., hist, und ethisch akzentuierte Titelformulierungen lassen aber immerhin den Schluß zu, daß die von der patrizischen Zirkelgesellschaft veranstalteten Spiele moraldidaktische Züge aufgewiesen haben. Auch bei den wenigen ndd. F.en, die nicht aus Lübeck stammen, fällt die Tendenz zur didaktischen Zweckgerichtetheit auf (cf. S 9 9 - 1 1 2 , 8 1 93 sowie M. Bados Claws Bur [Magdeburg um 1525]). Seit Beginn der wiss. Beschäftigung mit F.en gilt N ü r n b e r g aufgrund seiner reichen, gut überlieferten Spieltradition als das Zentrum der Gattung schlechthin. Für die über 100 ab etwa 1 4 3 5 - 4 0 belegbaren F.e des 15. Jh.s sind mit den Handwerksmeistern Hans Rosenplüt und Hans Folz immerhin zwei F.-Verf. namentlich bekannt. Generell fungierten — ganz im Gegensatz zu Lübeck — Handwerker als Träger der Nürnberger F.e: Meister als
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Textautoren und Spielrottenführer, Gesellen als Akteure. Die ständisch-enge Welt der die Lizenzen der Fastnacht nutzenden Handwerker war es also, die den Nährboden für jene berühmt-berüchtigten obszönen F.e (cf. für viele andere Κ num. 18, 23) bildete. Doch auch für einige ernstere Spiele vornehmlich zeitkritischen (cf. Κ num. 39, 78) und religionspolemischen (cf. Κ num. 1, 20, 106) Zuschnitts blieb Raum. Mit den 85 durch ein maßvolles Moralisieren gekennzeichneten Spielen des Hans Sachs erlebte die Nürnberger F.-Tradition, die sich im 16. Jh. dramaturgisch und aufführungstechnisch kontinuierlich weiterentwickelte, eine zweite Blüte, ehe sie mit den vermutlich nicht mehr gespielten F.en Peter Probsts und Jakob —» Ayrers ihr Ende fand. Im s ü d o s t d t . - ö s t e r r . R a u m sind bereits für das 15. Jh. verstreute F.e gesichert (cf. Κ num. 53sq., 56sq.); eine eigentliche F.-Tradition hat es jedoch — abgesehen von der Stadt Eger, deren Spiele belegt, aber nicht überliefert sind — erst mit der um 1510 einsetzenden Sammel-, Aufzeichnungs- und Bearbeitungstätigkeit des Sterzinger Malers und Spielleiters Vigil Raber gegeben. Ähnlich wie in Nürnberg wurden die Südtiroler F.e vornehmlich von Handwerkergruppen aufgeführt. Trotz erheblicher textlicher Abhängigkeiten von den Nürnberger F.en des 15. Jh.s (Catholy 1966, 66 sq.) weisen sie dramaturgisch und aufführungstechnisch deutlich eigenständige Züge auf (Catholy 1976, pass.; Schuhladen 1977, 3 9 8 - 4 2 1 ) . Dies gilt auch in stofflicher Hinsicht: Neben konventionellen Ehegerichts-, Werbungs- und Arztspielen finden sich etwa ein agitatorisches Zeitstück (cf. Ζ num. 25), eine Art von Moralität (cf. Ζ num. 3) und sogar bibl. Exempelstücke (cf. Dörrer 1943, 986). Mit den Spielen des Basler Buchdruckers Pamphilus Gengenbach wird das F. im alem a n n . S p r a c h g e b i e t zwar ab 1515 faßbar, die Ausbildung einer einheitlichen regionalen Spieltradition läßt sich aber nicht beobachten; denn die in verschiedenen Städten zumeist vom Patriziat vor einem breiten Publikum veranstalteten F.e sind formal und inhaltlich disparat. Gemeinsam ist den meisten dieser F.e aber die von Gengenbach (cf. Gö num. 6) begründete und bes. von Nikiaus Manuel (cf.
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Fastnachtspiel
Bä 2 9 - 1 0 2 , 1 0 3 - 1 1 1 , 1 1 2 - 1 3 2 ) und Georg —» Wickram (cf. Bo num. 2 sq.) fortgeführte Tendenz zum moralkritisch oder konfessionspolemisch ausgerichteten Kampfdrama. Außerhalb der Schweiz und des Elsaß tritt diese bes. Spielart des F.s nur singulär auf. 4. Gattung. Die nicht nur zeitlich und räumlich verstreuten, sondern auch formal, inhaltlich und aufführungssoziologisch disparaten F.e sind gattungsmäßig faßbar nur durch eine hist.-phänomenologische Betrachtungsweise, die das zugleich enge und weite Gattungs- bzw. Textsorten-Verständnis der ma. Lit., das von soziol. wie literar. festumrissenen konkreten Erscheinungen ausgeht (Catholy 1966, 6), berücksichtigt. Ein so verstandener Begriff ,Gattung' läßt alle literar.-theatralischen Formen, die als Entwicklungszustände der ,konkreten Erscheinung' F. erkennbar bleiben, F.e — wenn nicht im engeren, so im weiteren Sinne — sein. Abgrenzungen sind im Einzelfall schwierig, doch generell gilt, daß die Zugehörigkeit zur Gattung F. erst dort aufhört, wo die Überformung durch eine andere Gattung dominant wird. 5. Ä h n l i c h k e i t e n und N a c h w i r k u n gen. Verschiedene frühe Formen vor allem ital., frz. und ndl. weltlicher Spiele (—» Volksschauspiel) weisen nach Gestalt und Inhalt Ähnlichkeiten zum F. auf. Von einer eigentlichen literar. Verwandtschaft ist jedoch nicht auszugehen. Außerhalb des dt. Sprachraums hat es - bis auf die Ausnahme des nicht näher bekannten frühen ndl. F.s (cf. Linke 1979, 760) — zu keiner Zeit eine dem F. entsprechende Gattung profaner Spiele gegeben. Im späten 16. und frühen 17. Jh. löste sich die Gattung F. auf. Direkte Nachwirkungen sind spärlich: Nach Johann Christoph Gottscheds Wiederentdeckung des F.s um die Mitte des 18. Jh.s erlebte es in einigen durch die Mode der Lit.farce angeregten Spielen der Stürmer und Dränger und Früh-Romantiker eine erste, allerdings von deutlichen Veränderungen gekennzeichnete Wiedergeburt (Autoren und Titel cf. Catholy 1966, 83 sq.). Mit der von der Jugendbewegung aufgenommenen Hans-Sachs-Renaissance eroberte vor allem das Sachssche F. seinen — bis heute nicht verlorenen — Platz im Bereich des 29
Enzyklopädie des Märchens IV
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Laienspiels. Ein in der Regel außerliterar. tradiertes brauchorientiertes F. schließlich hat sich im Rahmen vorwiegend ortsfester ländlicher Fastnachtstraditionen z.T. bis ins 19. und 20. Jh. erhalten (cf. Brednich 1979). S i g l e n : Bä = Baechtold, J. (ed.): Nikiaus Manuel. Frauenfeld 1878. - Bo = Bolte, J. (ed.): Georg Wickrams Werke 5. Tübingen 1903. - G = Goetze, E. (ed.): Sämtliche F.e von Hans Sachs 1 - 7 . Halle (Saale) 1 8 8 0 - 8 7 . - Gö = Goedeke, K. (ed.): Pamphilus Gengenbach. Hannover 1856 (Nachdr. 1966). - Κ = Keller, A. von (ed.): F.e aus dem 15. Jh. 1 - 3 und Nachlese. Stg. 1853/58 (Nachdr. 1965/66). - KA = Keller, A. von (ed.): Ayrers Dramen 1 - 5 . Stg. 1865. - Kr = Kreisler, E. (ed.): Die dramatischen Werke des Peter Probst (1553 — 56). Halle (Saale) 1907. - S = Seelmann, W. (ed.): Mittelndd. F.e. Norden 1885 (Neumünster 2 1931). — SvC = Schnorr von Carolsfeld, F.: Vier ungedr. F.e des 15. Jh.s. In: Archiv für Lit.geschichte 3 (1874) 1 - 2 5 . - Ζ = Zingerle, O. (ed.): Sterzinger Spiele nach den Aufzeichnungen des Vigil Raber 1 - 2 . Wien 1886. A u s g . n : Gottsched, J. C.: Nöthiger Vorrath zur Geschichte der dt. dramatischen Dichtkunst [. . .]. Teil 1 - 2 . Lpz. 1757/65. - Waldis, B.: Esopus. ed. H. Kurz. Lpz. 1862. — Steinhöwels Äsop. ed. H. Österley. Tübingen 1873. - Walther, C.: Das F. ,Henselin oder Von der Rechtfertigkeit'. In: Jb. des Vereins für ndd. Sprachforschung 3 (1877) 9 - 3 6 . — Ulenspiegel. ed. H. Knust. Halle (Saale) 1884. Valentin Schumanns Nachtbüchlein, ed. J. Bolte. Tübingen 1893 (Nachdr. Hildesheim/N.Y. 1976). — Steiner, E. (ed.): Die dramatischen Werke des Luzerners Zacharias Bletz. Frauenfeld 1926. — Schafferus, E. (ed.): Zwei ndd. Dramen der Reformationszeit: Das Spiel ,Claus Bur'. Liborius Hoppes ,Interim-Spiel'. Hbg [1938], — Spriewald, I. (ed.): Hans Folz. Ausw. B. 1960. - Zinsli, P. (ed.): Nikiaus Manuel. ,Der Ablaßkrämer'. Bern 1960. - Christ-Kutter, F. (ed.): Frühe Schweizerspiele. Bern 1963. - Wuttke, D.: Die Druckfassung des F.s ,Von König Salomon und Markolf'. In: Z f d A 94 (1965) 1 4 1 - 1 7 0 . - id. (ed.): F.e des 15. und 16. Jh.s. Stg. 1973 ( 2 1978). - Uffer, V. (ed.): Pamphilus Gengenbach. ,Der Nollhart'. Bern 1977. — Bauer, W. M. (ed.): Sterzinger Spiele. Die weltlichen Spiele des Sterzinger Spielarchivs nach der Originalhs. (1510—1535) von Vigil Raber und nach der Ausw. O. Zingerles (1886). Wien 1982. - Im Gegensatz zu den F.en des 15. Jh.s, deren bekannter Bestand im wesentlichen durch die oben genannten Ausg.n leicht zugänglich ist, liegen etliche F.e des 16. Jh.s nur in schwer greifbaren zeitgenössischen Drucken vor. L i t . : Haueis, E.: Das dt. F. im 15. Jh. In: 11. Jahrber. des niederösterr. Landes-Realgymnasiums [. . .]. Baden bei Wien 1874, 1 - 2 4 . - Walther, C.:
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Fastrada - Faulheitswettbewerb
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Göttingen
Thomas Habel
Fastrada —> Nekrophilie Fata Morgana —» Fee, Feenland Fatalismus —> Schicksal Fauler bekommt fleißige Frau —» Christus als Ehestifter Faulheit
Fleiß und Faulheit
Faulheitswettbewerb (AaTh 1950), ein früh bezeugter, weit verbreiteter, der Gattung der Lügengeschichte verwandter Schwank, in dem Faulheit im Gegensatz zur sonst meist nega-
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Faulheitswettbewerb
tiven Bewertung (—» Fleiß und Faulheit) ins Absurde übersteigert und sogar belohnt wird. Es ist keine alltägliche Arbeitsverweigerung, sondern „eine großartige, philosophische, ekstatische Faulheit, die hier dominiert, eine Faulheit aus Prinzip", wie sie in KHM 158 (AaTh 1930: Schlaraffenland) oder im Schwank von den Zwölf faulen Knechten (KHM 151a, cf. AaTh 1950) herrscht. Der Spaß ergibt sich aus „erfinderischer Genialität" in der Beschreibung der Faulheitsproben 1 . Nach K H M 151: Die drei Faulen will ein König sein Reich dem faulsten seiner drei Söhne vererben. D a rühmt sich der eine: Wenn ihm im Liegen Wasser in die A u g e n tropfe, so sei er zu faul, sie zu schließen. Der zweite gibt vor, beim Wärmen am Feuer eher die Fersen verbrennen zu lassen als die Füße zurückzuziehen. Der dritte behauptet: Wenn er gehenkt werden sollte, den Strick schon um den Hals und ein Messer in der Hand hätte, so wollte er doch den Strick nicht abschneiden. D e r Vater erkennt dem dritten den Preis zu.
Diese Version des F.s haben die Brüder Grimm aus Johannes Paulis Schimpff und Ernst von 1522 übernommen 2 ; sie basiert vermutlich auf der nach bisherigem Erkenntnisstand ältesten Fassung in den —> Gesta Romanorum3, die allerdings eine andere Reihenfolge der Faulheitsproben aufweist: Die Söhne des babylon. Herrschers Polemis wollen eher verbrennen, lieber hängen oder das Wasser in die Augen tropfen lassen. Der König sieht — nach Meinung B. Hellers 4 weniger überzeugend als in Paulis Version — letzteren als den Faulsten an. Die Fassung der Gesta Romanorum wurde bestimmend für zahlreiche Belege in der ma. Exempelliteratur, so bei Robert Holkot, John —> Bromyard, Johannes Pithsanus oder Alexander ab Ales 5 . In der Scala celi des —> Johannes Gobii Junior handelt es sich um fünf Erben einer Grafschaft: Der erste ist zu faul, um beim Essen den Mund aufzutun, so daß ihm die Vögel das Brot wegreißen; der zweite zieht das Bein vom Feuer nicht zurück, der dritte läßt die Ohren von Mäusen benagen, der vierte will sich nicht vom Strang befreien, dem fünften schlagen Regentropfen die Augen aus6. Das letzte Beispiel findet sich auch in der span. Exempeltradition, dazu noch die Version, daß einer zu faul sei, sich 29*
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die rinnende Nase zu wischen, obwohl er dadurch die Braut verliert; ein anderer treibt im Fluß und ist doch zu faul zu trinken, so daß er verdurstet 7 . Ähnliche Motive von hungernden Faulen unterm Pflaumenbaum und Durstenden am Gewässer begegnen auch im böhm. Mönchsmärlein 8 . In der ital. Novellistik ist der F. ebenfalls bekannt: Giovanni —» Sercambi überliefert das Verbrennungsmotiv in zwei Versionen, wobei in einem Fall der Faule selbst, im anderen seine Habe zugrunde geht 9 ; ein Herrscher ist zu faul, einen Streit zu schlichten, und nimmt dabei den Tod in Kauf 10 . Bei -> Straparola (8,1) läßt sich ein Mann mit einer gestohlenen Feige im Mund eher die Backe aufschlitzen, als daß er den Mund auftut 11 , dies in Verbindung mit dem Motiv vom Faulen unter der Dachtraufe und dem Schwank von der —> Schweigewette eines Ehepaars (AaTh 1351) 12 . Für die ältere dt. Tradition wurde eine Erzählung in Heinrich —» Steinhöwels Äsop13 bedeutsam. Danach hinterläßt ein Mann seinen Söhnen einen Birnbaum, einen Bock und eine Mühle; den Baum sollen sie in gleiche Teile schneiden, den Bock soll haben, wer den besten Wunsch formulieren kann, im Wettstreit um die Mühle kommt der F. zum Tragen: D a will der eine jahrelang unter der Dachtraufe geschlafen haben, wobei ihm die Tropfen zu einem Ohr hinein und zum andern herausgeflossen sein sollen; der zweite will nach vierzehntägigem Fasten nur essen, wenn ihm zwei den Mund aufhielten und ein dritter die Speisen einschübe; der letzte würde im Wasser stehend verdursten, sofern ihn nicht einer untertauchte.
Diesen Stoff verwendeten Hans Folz in einem Fastnachtspiel 14 und Hans —» Sachs für sein Meisterlied Die drey faulen Brüder von 155115. Er erwähnte den F. auch in seiner Beschreibung des Schlaraffenlands 16 . Wiederum auf der Version in den Gesta Romanorum basieren das Meisterlied Wolf Wagners Die drey Söhn im Rosenton Hans Sachsens und eine Sprichwortgeschichte bei Eucharius —» Eyring 17 . Noch —> Abraham a Sancta Clara und andere Prediger der Barockzeit kannten diese Fassung 18 . Der Reihung der Faulheitsproben bei Pauli folgten zwei Erzählungen von drei Schwaben in Schwanksammlungen des 18. Jh.s 19 . Ein anderer Uberlieferungsstrang geht von einem erstmals 1474 von Michael Beheim ge-
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Faulheitswettbewerb
reimten Beispiel dreier extrem Fauler unterm Birn- oder Pflaumenbaum aus, wobei einer darauf wartet, daß ihm die Früchte in den Mund fallen, der zweite meint, er sei zu faul zum Kauen, den dritten verdrießt es, überhaupt davon zu reden 20 . Diese Var. flocht Valentin —» Schumann in AaTh 822: —> Christus als Ehestifter ein 21 , sie findet sich auch in der lat. Slg des Johann —> Hulsbusch 22 , unter den Historien des —» Claus Narr 23 , mehrfach in dt. Schwankbüchern des 17.Jh.s 24 und bei Abraham a Sancta Clara25. Dazu gehört auch eine von den Brüdern Grimm 1822 aufgezeichnete Fassung von drei Mädchen unterm Nußbaum: Die erste will den Baum nicht schütteln, die zweite die herabgefallenen Nüsse nicht aufklauben, die dritte weigert sich zu reden 26 . Mehrfach ist in älteren literar. Zeugnissen auch der Zug bezeugt, daß der Gewinner des F.s zu träge ist, für den ausgesetzten Gewinn (Ring, Geld etc.) die Hand auszustrecken, und bittet, ihm diesen in die Tasche zu stecken 27 . Die Beliebtheit der Erzählung spiegelt sich auch in der Vielzahl der Belege aus neuerer mündl. Überlieferung (finn., lapp., lit., schwed., norweg., ir., frz., span., fläm., ital., ung., skr., syrjän., tatar., türk., jüd., ind., jap., chin., zigeuner.) 28 . Allerdings handelt es sich nicht bei allen Katalogbelegen um die Var.n des Typs mit dem Wettbewerb mehrerer Fauler, sondern vielfach um Einzelbeispiele grotesker Trägheit. Nach dem Material im Archiv der EM sind in der mündl. Überlieferung folgende Motive am häufigsten nachweisbar: Lieber verbrennen als dem Feuer weichen 29 , lieber verhungern oder verdursten, als den Mund aufzutun oder zu schlucken 30 , zu faul sein zum Reden 31 oder die Hand nach der Belohnung auszustrecken 32 . Angesichts der Ubiquität von Faulheit, der allg. verbreiteten Lust an Übertreibungen (—* Aufschneider) und der leicht möglichen Austauschbarkeit der Motive lassen sich etwaige Wanderwege oder ausgeprägte Regionalredaktionen nicht eruieren. Es ist bei diesem Erzähltyp, vor allem auch bei Einzelbeispielen absurder Faulheit, durchaus an polygenetische Entstehung zu denken. 1 2
Thimme, Α.: Das Märchen. Lpz. 1909, 59. Pauli/Bolte, num. 261 (mit Lit.). - 3 Gesta Ro-
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manorum, num. 91; Wesselski, M M A , num. 21 (mit Lit.). - 4 Heller, B.: Faulheitsproben. In: H D M 2, 70. - 5 BP 3, 207; cf. auch Tubach, num. 2.896, 3.005. - 6 Johannes Gobii Junior: Scala celi [. . .]. Lübeck 1476, Bl. 5 b . - 7 Keller W 111.1.3—5. - 8 Wesselski, Α.: Klaret und sein Glossator. Brünn/Prag/Lpz./Wien 1936, 97sq.; cf. auch Dvorak, num. 2.896 (mit Lit.). - 9 Rotunda W 111.1.1.1 sq. - 10 Rotunda W 111.6. 11 Rotunda W 111.7. - 12 Straparola: Die Novellen und Märchen der Ergötzlichen Nächte 2. Ubers. H. Floerke. Mü. 1920, 1 3 9 - 1 4 7 ; cf. Köhler/Bolte 2,576. — 13 Steinhöwels Äsop. ed. H. Österley. Stg. 1873, 223; cf. Äsop/Holbek 2, num. 82 (mit Lit.). — 14 Keller, A. von (ed.): Fastnachtspiele aus dem 15. Jh. 1. Stg. 1853 (Nachdr. Darmstadt 1965) 75. - 15 Goetze, E./Drescher, C. (edd.): Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs 5. Halle 1904, num. 760. - 16 ibid. 1 (1893) num. 4. 17 cf. BP 3,208. - 18 Moser-Rath, num. 191 (mit Lit.). - 19 Texte im EM-Archiv (mit num.): HanßWurst 1712 (7.863); Polyhistor 1729 (9.604). 20
Unters.en und Qu.η zur Germ, und Rom. Philologie 1. Festschr. J. von Kelle (Prager Studien 8). Prag 1908, 408; Text auch bei Wesselski (wie not. 8) 98 sq. 21 Valentin Schumanns Nachtbüchlein (1559). ed. J. Bolte. Tübingen 1893, num. 43 (mit Lit.). 22 Hulsbusch, J.: Sylva sermonvm ivcundissimorum [. . .]. Basel 1568, 265. - 2 3 Bütner, W.: 627 Historien von Claus Narren [. . .]. Eisleben 1572, num. 48. - 2 4 EM-Archiv: Gerlach 1656 (3.219); BurgerLust 1663 (13.774); Conlin 1706 (9.948). - 25 A b raham a Sancta Clara: Judas der Ertz-Schelm [. . .] I. Salzburg 1688, 375. - 26 BP 3, 210. - 2 7 Bütner, W.: Epitome historiarum. Verm. durch G. Steinhart. Lpz. 1596, num. 110; Zannach, J.: Hist. Erquickstunden [. . .] 4. Lpz. 1612, 416; cf. BP 3, 210 sq. - 2 8 cf. Heller (wie not. 4); cf. auch Gaäl, K : Die Volksmärchen der Magyaren im südl. Burgenland. B. 1970, num. 89; György; Balys; Keller/Johnson; Lo Nigro; zur jüd. Tradition cf. auch Schwarzbaum, 238sq. zu num. 280; Thompson/ Balys W l l l . l s q q . ; cf. auch BP 3 , 2 1 2 s q . ; 0 Suilleabhäin/Christiansen; de Meyer, Conte; Ikeda; Rausmaa; Cirese/Serafini; Kecskemeti/Paunonen; Ting; Choi, num. 517. - 29 cf. ζ. Β. Peuckert, W.-E.: Schlesiens dt. Märchen. Breslau 1932, num. 2 9 3 295; Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 1961, num. 59; Boskovic-Stulli, M.: Narodne pripovijetke. Zagreb 1963, num. 108; Suvorov, I. I. (ed.): Evenkijskie skazki (Tungus. Märchen). Krasnojarsk 1960, 66; Fokos-Fuchs, D. R.: Volksdichtung der Komi (Syrjänen). Bud. 1951, num. 19; Schewerdin, Μ. I. (ed.): Die Märchenkarawane. B. 1959,100sq.; Makeev, L.: Kazachskie i ujgurskie skazki. AlmaAta 1952, 1 0 0 - 1 0 2 ; Amonov, R. (ed.): Tadzikskie skazki. M. 1961, 574sq.; Lebedev, Κ. Α.: Afganskie skazki. M. 1955, 135; Hallgarten, P. (ed.): Rhodos. Die Märchen und Schwänke der Insel. Ffm. 1929, 1 9 5 - 1 9 7 . - 3 0 Jech (wie not. 29); Suvorov (wie
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not. 29) 65; Zong in-Söb: Folk Tales from Korea. L. 1952, num. 85; Markova, V./Bejko, B.: Japonskie skazki. M. 1958, 180. 31 cf. z.B.: Dietz, J.: Lachende Heimat. Schwanke und Schnurren aus dem Bonner Land. Bonn 1951, num. 272; Joos, A. (ed.): Vertelsels van het vlaamsche volk 2. Gent 1890, num. 52; Amades, num. 362; Alcover, Α. M.: Aplec de rondaies mallorquines 6. Palma de Mallorca 1953, 5 1 - 5 3 ; FokosFuchs (wie not. 29). - 32 Dieser Zug und die Aufforderung des Faulen, ihm den Gewinn in die Tasche zu stecken, begegnet vor allem in fläm. und dt. Fassungen: Joos (wie not. 31) t. 3 (1891) num. 39; Mont, P. de/Cock, Α. de: Dit zijn vlaamsche vertelsels. Deventer 1898, num. 30; Meyere, V. de: De vlaamsche vertelselschat 2. Antw./Sandpoort 1927, num. 169; Kooi, J. van der (ed.): Volksverhalen uit Friesland. Utrecht/Antw. 1979, num. 34; Wisser, W.: Plattdt. Volksmärchen 2. MdW 1927, 234; Neumann, S. (ed.): Volksschwänke aus Mecklenburg. Aus der Slg R. Wossidlos. B. 1963, num. 20; Merkens, H.: Was sich das Volk erzählt. Jena [ 2 1895] num. 119; Henßen, G.: Volk erzählt. Münster 1935, num. 288; Kubitschek, R.: Böhmerwäldler Bauernschwänke. Wien/Prag/Lpz. 1920, 65; Schönwerth, F. X. von: Oberpfälz. Sagen, Legenden, Märchen und Schwänke. Kallmünz 1959, 293; cf. auch Sheikh-Dilthey, H. (ed.): Märchen aus dem Pandschab. MdW 1976, num. 75.
anschaulichen Grenzen und die Absicht, zusätzliche Kräfte zur Erhöhung des Daseins (Magie, Teufelspakt, auch Ausnutzen natürlicher Möglichkeiten) zu gewinnen. Das Entstehen der bürgerlichen Klasse hat zur Formierung des Stoffes beigetragen. Insofern können faustähnliche Gestalten des Altertums und des MA.s wie Koheleth, —> Ahasver, —» Hiob, —> Cyprianus, Militarius und —> Theophilus oder —» Simon Magus, Gerbert und —> Merlin nur als Vorformen des F.-Stoffes bezeichnet werden. Die häufige Bindung der F.-Gestalt an Zauber und Teufel gilt bis ins 19. und ζ. T. ins 20. Jh. zumeist als selbstverständlich. Zum F.-Stoff gehören dt. und ausländische Volkspoesie und Dichtung seit dem 16. Jh., ferner F.-Gestalten anderer Völker und Lit.en wie der poln. —» Twardowski, der frz. —> Robert der Teufel und der engl. —> Bruder Rausch 1 . Eine Identität des F. mit dem Mitbegründer der Buchdruckerkunst, Johann Fust, ist zwar in der Vergangenheit verschiedentlich angenommen worden, hat aber keinerlei Berechtigung.
Göttingen
2. D e r hist. F. Das früheste Datum aus dem Leben des hist. Georg F. 2 hat Johannes Trithemius in den Epistolae familiares (Haganoae 1536) überliefert; danach hat sich F. im Jahre 1506 in Gelnhausen aufgehalten. Durch die Annahme, er sei zu diesem Zeitpunkt etwa 25 Jahre alt gewesen, ist bisher die Geburt der hist. Gestalt in das Jahr 1480 verlegt worden. Mit einer neueren Hypothese 3 wird 1478 als Geburtsjahr möglich. Als Geburtsort kommt — nach Melanchthon 4 — Knittlingen (Landkreis Bretten) in Betracht; daneben ist Helmstatt (bei Heidelberg) oder sogar Heidelberg selbst aufgrund anderer Angaben vorgeschlagen worden 5 . Der ausführliche Ber. des Trithemius nennt einen „Magister Georg Sabellicus, Faust der Jüngere, Quellbrunn der Nekromanten [. ..]", der sich in Kreuznach als Schulmeister und in Würzburg aufgehalten habe. Urkundliche Qu.η bezeugen F.s Auftreten 1520 in Bamberg, 1528 in Ingolstadt und 1532 in der Nürnberger Gegend. Sichtbar wird eine Gestalt, die als Philosoph, —» Astrologe und Nigromant zu bezeichnen ist. Aus den unmittelbaren Zeugnissen wird erweislich, daß der Name der hist. Gestalt Georg F. lautet.
Elfriede Moser-Rath
Faust 1. Einführung — 2. Der hist. F. — 3. F.-Anekdoten und -Erzählungen — 4. Das F.-Buch von 1587 - 4.1. Entstehung - 4.2. Inhalt - 4.3. Wirkung - 5. Christopher Marlowe - 6. Die F.-Tradition des 17./18. Jh.s — 6.1. Berichte über F. - 6.2. Fortführung des F.-Buches — 6.3. Das F.-Spiel 6.4. Das F.-Lied - 6.5. F. zugeschriebene magische Schriften — 7. F.-Dichtung der Aufklärung, Klassik und Romantik - 8. Wichtige ausländische F.-Dichtungen des 19. Jh.s - 9. F.-Dichtungen des 20. Jh.s - 10. F.-Slgen und F.-Stätten
1. E i n f ü h r u n g . Der Ursprung des F.-Stoffes liegt im 16. Jh.; erste Anfänge stellen der hist. F. und das F.-Buch von 1587 dar. Im Laufe der Ausbildung und Ausbreitung des Stoffes bis zur Gegenwart erhält F. eine weltliterar. Dimension; vor allem die F.-Dichtung —> Goethes hat dieses Ergebnis beeinflußt. Hauptinhalt des Stoffes ist die Stellung des Menschen in der Welt, sein Selbstverständnis und sein Streben nach Wissen und Erkenntnis. Wichtige Aspekte sind das Überschreiten von gesellschaftlichen oder welt-
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Zeitgenössischen Ber.en zufolge hat sich F. 1513 in Erfurt, nach 1532 in der Kölner Gegend, 1534 in Nürnberg und 1536 in Würzburg aufgehalten. Erzählungen, die auf Erfurt, Nürnberg, Leipzig und Wittenberg lokalisiert sind, deuten auf Besuche F.s in diesen Städten hin. Möglicherweise hat er sich auch in den damaligen Zentren der Kultur, d. h. in Prag, Krakau, Wien, Paris und Venedig, betätigt. Zwei voneinander unabhängige Qu.n berichten von F.s Tod; Johannes —> Gast spricht in den Convivales Sermones (Basel 1548) von dem „schrecklichen Ende" F.s. Die im allg. zuverlässige —» Zimmerische Chronik (zwischen 1564/66 entstanden) enthält zwei Stellen über F. Die zweite Erwähnung besagt, F. sei „zu oder doch nit weit von Staufen, dem stetlin im Breisgew, gestorben", und zwar um 1540/41. Bereits in dieser wie in anderen zeitgenössischen Nachrichten (z.B. in De praestigiis daemonum. Basileae 1568 von Johannes —» Weyer) ist die Rede von einem ,bösen Geist', mit dem F. umgegangen sei, oder von Zauberei, die er geübt habe (ζ. B. mit den Mönchen im Kloster Lüxheim). Die Bemerkung in der Zimmerischen Chronik, F. sei „ellengclichen gestorben", läßt auf einen unnatürlichen (vielleicht durch chemische Experimente verursachten) Tod schließen. Ohne Zweifel trägt F. Charakterzüge eines Menschen, der dem Jh. der Renaissance und der Reformation angehört. Die freiere Stellung in der Gesellschaft und der Umgang mit naturwiss. Kenntnissen, die noch nicht allg. erklärt sind, haben ihm Bewunderung eingetragen. In F. ist das Bild eines besseren Daseins des Menschen verkörpert. Ohne standesmäßige Vorurteile und Reichtümer zu besitzen, wächst F. aus der Enge und Gebundenheit weiter Teile des ma. Denkens heraus. Dies ist die Ursache dafür, daß sein Leben und Treiben im Volke lebendig bleibt und sich an seine Gestalt zahlreiche Anekdoten und Erzählungen anschließen und sogar von —» Paracelsus, Trithemius und Agrippa von Nettesheim auf ihn übertragen werden (cf. —>Kristallisationsgestalten) . 3. F . - A n e k d o t e n und - E r z ä h l u n g e n . Nach 1540 werden die Nachrichten über den hist. F. weitergegeben und in anekdotischer Form ausgeschmückt. Eine zu belegende Be-
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gebenheit findet nach verschiedenen Verwandlungen Eingang in das F.-Buch von 1587. Der bereits genannte Trithemius hielt sich 1508 in der Umgebung des Kaisers Maximilian auf, und Unterhaltungen zwischen beiden drangen in die Öffentlichkeit. Der Kaiser stellte Trithemius die Aufgabe, auf acht wichtige Fragen, darunter über die Magie, schriftl. Erklärungen abzugeben. Dazu erschien der Liberocto quaestionum (Coloniae 1534). Nun wurde angenommen, Trithemius habe Zaubereien vorgeführt und Geister zitiert. Das Gerücht hierüber veranlaßte die Vertreibung des Trithemius von seinem Abtstuhl in Sponheim. —> Luther erwähnte in einem Tischgespräch (29. 3. 1539) 6 die Geisterbeschwörung als eine Tatsache. Hans —» Sachs formte auf dieser Grundlage und nach einer bereits schriftl. fixierten Anekdote seine Historia: Ein wunderbarlich gesteht Keyser Maximiliani, löblicher gedechtnuß, von einem nigromanten (entstanden 1564)7. Sachs verlegte die Begebenheit in das Jahr 1518 und lokalisierte sie auf Innsbruck; dafür unterdrückte er den Namen, so daß jetzt die Beschwörung durchaus als von F. vorgenommen gedacht werden konnte. Wolfgang —»• Bütner vollzog die Verbindung mit F.s Gestalt in Epitome historiarum (s.l. 1576). Lercheimer von Steinfelden erzählte dies, vermutlich unabhängig von Bütner, in seinem Buch Christlich bedencken vnd erjnnerung von Zauberey (Heidelberg 1585), also zwei Jahre vor Erscheinen des F.Buches. Als Kap. 33 fand die anekdotische Erzählung Aufnahme in das F.-Buch 8 . Dieser Vorgang demonstriert die allmähliche Ausbreitung des F.-Stoffes. Vor allem mündl. Überlieferung erzeugt an Orten, wo F. aufgetreten ist, literar. Vorstufen. Um 1570 zeichnet der Nürnberger Christoph Roßhirt Erzählungen unter dem Titel Zauberer F. auf 9 . Basierend auf einem zu vermutenden zweiten Aufenthalt F.s in Erfurt nach 1520 wird hier eine ähnliche Überlieferung geschaffen 10 . Die sog. Erfurter Erzählungen bzw. Kapitel des verm. F.-Buches folgen der lokalen Tradition 11 . Die Hogelsche Chronik von Erfurt (17. Jh.) kennt die nämlichen Erzählungen in einem noch nicht ganz abgerundeten Zustand. Beide Entwicklungslinien gehen also zurück auf die in Erfurt ausgebildeten mündl., dann schriftl. fixierten F.-Erzählungen.
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Mit der Weitergabe der Nachrichten über F., mit der Ausbildung der Anekdoten und Erzählungen wird das magische und geheimnisvolle Wesen F.s übertrieben. Es entsteht das Wunschbild eines Menschen, der sich über das gewöhnliche Dasein erheben kann. Die fortschreitende Literarisierung des F.-Stoffes ist mit der Wandlung der hist. Gestalt verbunden. F. erscheint mehr und mehr als ein mit magisch-naturwiss. Kenntnissen ausgestatteter Mensch, dem große und bes. geheimnisvolle Fähigkeiten zugesprochen werden. 4. D a s F . - B u c h v o n 1 5 8 7 4.1. E n t s t e h u n g . Unter dem Titel Historia Von D. Johann Fausten erscheint das F.Buch von 1587 12 bei dem Verleger J. Spies in Frankfurt (Main). Der Verf. hat zwar umlaufende Erzählungen und Anekdoten über Johann F. berücksichtigt, doch wird das Leben F.s frei gestaltet. Zahlreiche Schriften über weltanschauliche, religiöse, naturwiss. und geogr. Fragen hat der unbekannte Autor ebenso benutzt wie literar. Werke 1 3 . Das Zusammentragen des Materials und die Verarbeitung des Rohstoffs erfolgen mit der Absicht, das Schicksal eines Menschen, der sich dem Teufel verbunden hat, und das nicht aufzuhaltende böse Ende darzustellen. F.s gefahrvolles Streben nach Wissen und Macht, seine Verbindung mit dem Teufel, um an die Grenzen der Erkenntnis vorzudringen, muß der Vermessenheit wegen zur Höllenfahrt führen. Mundartliche Besonderheiten des F.-Buches deuten auf eine Entstehung am Oberrhein hin. Neben dem Erstdruck existiert eine in Wolfenbüttel entdeckte Hs. 1 4 Beide Fassungen 1 5 stimmen weitgehend überein; der Wolfenbütteler Text stammt wohl aus Süddeutschland. Vermutlich ist über zwei Vorstadien die für den Druck benutzte Vorlage entstanden. 4.2. I n h a l t Die Historia erzählt von F.s Geburt, vom Studium in Wittenberg, ärztlicher Tätigkeit, Beschwörung des Teufels, Disputation mit dem Geist Mephistopheles und der Verschreibung auf 24 Jahre. Die Pflichten des Zauberers, Astrologen und Kalendermachers werden dargestellt. Auf einer Höllenund Himmelfahrt erlebt F. die Umstände des Welt-
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ganzen. Über das Treiben des Schwarzkünstlers mit der Beschwörung der schönen —> Helena und der —» Verzauberung von Rittern, Studenten und Bauern wird ausführlich berichtet. Das 24. und letzte Jahr ist Gegenstand der Kap. 60—68. Der Diener Wagner wird das Erbe antreten. Klagen F.s über das herannahende Ende steigern sich, bis F. - nach einer Vermahnung der Studenten - vom Teufel geholt wird.
Die Begebenheiten aus J o h a n n F.s Leben werden lose aneinandergereiht. Die Gestaltung ist einfach, doch hält das F.-Buch einem Vergleich mit den Schwankbüchern, Anekdotensammlungen und Geschichtenbüchern stand. Aus lutherischem Geist und mit der Absicht der Warnung wird das böse Beispiel F.s behandelt. Die Warnung bezieht sich auf den Teufelsbündner und Naturforscher. Auf beiden Wegen gerät der Mensch schließlich in einen Gegensatz zur Theologie und zu grundsätzlichen Glaubensfragen. Trotz der gegebenen Volksüberlieferung im 16. Jh. wird die F.-Gestalt im Sinne der Kirche umgewandelt, um die Wirkung des bewunderten F. einzugrenzen. Damit läßt sich der hist. Ort des F.Buches bestimmen; es hat seinen Ursprung in den großen gesellschaftlichen Bewegungen des frühen 16. Jh.s, wird aber erst in der Phase relativer Stabilisierung und Stagnation gegen Ende des Jh.s abgefaßt, als das Luthertum schon nicht mehr Träger des gesellschaftlichen Fortschritts gewesen ist. Die Historia ist demnach das Ergebnis einer Umbiegung der Volkstradition. Im übrigen werden alle wichtigen Themen dieser Zeit — Renaissance, Humanismus und Reformation bzw. Glaube, Wissen und Überschreiten gesetzter Grenzen — berührt 1 6 . Den Zusammenhang des F.-Buches mit Motiven der Volkserzählung bezeugen Elemente wie —» Hölle, —> Luftreisen, —> Magie, Schatzhebung (—» Schatz), Teufelswelt (—> Teufel, —» Teufelspakt), —» Wahrsagen und Zauberei (-* Zauber, —> Zauberbuch, —> Zauberer, —» Zauberer und Schüler [AaTh 325], —» Zauberspruch). Die in Anlehnung an ähnliche Geschichtenbücher benutzte Bezeichnung —» Volksbuch ist — soweit es Inhalt und Bedeutung des F.-Buches anbelangt — nur bedingt zutreffend; zieht man allerdings die Wirkung in Betracht, so kann die genannte Bezeichnung ohne Einschränkung gelten.
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4.3. W i r k u n g . Wie sehr die Menschen des 16. Jh.s ihre eigenen Probleme und Fragen in dem F.-Buch wiedergefunden haben, läßt sich an dem Erfolg der Historia ablesen 17 . 22 Drucke mit zum Teil abgewandelter Form (Reihe Α und B) sowie eine verm. Fassung mit den Erfurter und einem Leipziger Kap. (Reihe C) 18 , eine Versbearbeitung 1 9 und eine ndd. Übertragung 2 0 — innerhalb weniger Jahre publiziert — beweisen dies. Mit Übers.en ins Engl. 21 , Frz. 22 , Holländ. 2 3 und Tschech. 24 erhält das F.-Buch bereits vor 1600 einen übernationalen Rang — und damit der F.-Stoff überhaupt. Die Verbreitung des F.-Buches wird mit zwei weiteren Schriften, dem Wagner-Buch (erstmalig s.l. 1593) 25 und D. Johan Fausten Gauckeltasche (ältester bekannter Druck: Ffm. 1607) 26 zu einer Trilogie erweitert. Das Wagner-Buch, das ebenfalls mehrere Aufl.η und Übers.en erlebt, ist in ähnlicher Weise wie das F.-Buch abgefaßt; nun werden die Erlebnisse und die Zauberkunststücke des F.-Nachfolgers Wagner dargestellt. Die Gauckeltasche prunkt mit naturwiss. Dingen und mit magischem Wissen, doch zugleich werden Magie und Zauberei verspottet. Damit liegt ein satirisches Nachspiel in der F.-Trilogie des 16. Jh.s vor. Gegen das F.-Buch werden auch manche Einwände erhoben. Bearbeiter und Drucker der Versfassung werden bestraft. Lercheimer von Steinfelden stellt in der 3. Aufl. von Christlich bedencken vnd erjnnerung von Zauberey (Speier 1597) nicht nur absichtliche Verdrehungen und ungewollte Fehler des Historia-Verf.s richtig, sondern er sieht die von ihm besuchte Wittenberger Universität beschimpft, Luther und Melanchthon verunglimpft und die Gefahr einer Verführung der Jugend als gegeben an. Dabei merkt er gar nicht, daß die Historia in einer vorreformatorischen Zeit angesiedelt ist. Für das Interesse am Stoff zeugen ferner zwei Lieder des Nürnberger Meistersingers Friedrich Beer (1588) 2 7 .
und damit eine literar. Hebung dieser Folge von Geschichten erreicht. Davon gehen eine engl. Volksballade (1588) und Marlowes Tragicall History of D. Faustus (1588 oder 1589, ältester erhaltener Druck: L. 1604) 28 aus. Mit Marlowes dramatischer Fassung gerät der F.-Stoff erstmalig auf die Bühne. Die früheste Aufführung hat wohl schon 1590 oder 1594 stattgefunden.
5. C h r i s t o p h e r M a r l o w e . Die engl. Übers, des F.-Buches (vermutlich L. 1588) hat in weltliterar. Hinsicht die größte Bedeutung erlangt. Der Bearbeiter, ein ,Gentleman', hat bereits in stilistischer Hinsicht Neuerungen
6. D i e F . - T r a d i t i o n d e s 1 7 . / 1 8 . Jh.s
Marlowe gibt dem F.-Stoff eine künstlerische Form, die erst im 18. Jh. wieder weitergeführt wird. Die F.-Gestalt bildet den Mittelpunkt eines Menschheitsdramas. In dem Werk erhält der Typus eines Forschers der Renaissance und eines nach Lebensgenuß strebenden Menschen größeren Spielraum. Die Beengung, die noch die Gestalt des F.Buches hemmt, wird überwunden. Zugleich entfallen die Exempelabsicht und die Festlegung auf ein warnendes Beispiel. Marlowe bildet F. als eine suchende, in ihrem Wissensdrang fast maßlos zu nennende Gestalt aus. Dabei erhält F. sogar titanische Züge, wenngleich die Fabel noch sehr an die Historia erinnert. So bleibt der Untergang des Helden verbindlich. F. erscheint als ein weiser Mann, dessen Sturz zu bedauern ist, denn „Gebrochen ist der Zweig, der nach den Wolken strebte, Verbrannt Appollo's grüner Lorbeersproß [. . ,]" 29 . Marlowe hat mit seinem F.-Drama — als Vorläufer Shakespeares — den Weg zur Charaktertragödie beschritten. Dennoch gibt es mythische Figuren wie ,Gute Engel', ,Böse Engel', Teufel etc. Und zugleich lockern Szenen, in denen Wagner auftritt, und Clownsfiguren wie Robin und Dick das Geschehen auf. Mit Helena wird wiederum das Figurenensemble vervollständigt. Die Heranführung dieser antiken Frauengestalt kann nunmehr dramatisch dargestellt werden.
Mit Marlowes dramatisierter Geschichte vom Doktor F. wird eine bes. Entwicklungslinie des F.-Stoffes begründet. In England folgen Abwandlungen in märchenhafter bzw. satirischer Form (William Mountford, John Rieh, Thomas Merrivale, John Thurmond; auch Antoine d'Hamilton) bis ins 18. Jh. Andererseits bringen engl. Schauspielertruppen Marlowes Stück nach Deutschland (erste Aufführung 1608 in Graz), nach Holland 3 0 und — wenn ein Beleg richtig gedeutet wird — nach Frankreich 31 .
6.1. B e r i c h t e ü b e r F. Die F.-Dichtungen des 16. Jh.s bilden die Grundlage für die Entwicklung des Stoffes im 17./18. Jh. 32 An die Existenz des hist. F. schließen sich rund 400
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Erwähnungen in der Lit. an. Die erste Diss, zu F. stellt die Disquisitio historica prior de Fausto Praestigiatore (Wittenbergae 1683) von J. G. Neumann und C. C. Kirchner dar; die Qu.η werden kritisch geprüft. Einerseits meinen die Verf., nicht alle Erscheinungen, Teufeleien und Gespenster seien bloße Phantasie, andererseits sei es F. nicht wert, daß „man so viel Wesens von ihm mache". Eine noch nüchternere Betrachtungsweise läßt J. F. Köhler in der Hist.-kritischen Unters, über das Leben und die Thaten des als Schwarzkünstler verschrieenen Landfahrers Doctor Johann F.s (Lpz. 1791) erkennen; Köhler versucht, natürliche Erklärungen für F.s Zauberkünste zu geben. Dieses Überdenken der Nachrichten über F. ist eine Sache der Gelehrten; auf diesem Wege gehen die Kenntnisse von der F.-Gestalt nicht verloren. 6.2. F o r t f ü h r u n g d e s F . - B u c h e s . Bereits 1599 legt Georg Rudolf Widmann eine in Hamburg erschienene Neubearbeitung des F.-Buches vor 31 . Das nun dreiteilige Buch Warhafftige Historien knüpft an die einzelnen Geschichten moralische Belehrungen und Betrachtungen. 1674 folgt eine neue Fassung durch Johann Nicolaus Pfitzer, die mit mehreren Aufl.η für fünf Jahrzehnte den Markt beherrscht 34 . Die stark kürzende Darstellung des Christlich Meynenden (Ffm./Lpz. 1725) zieht magische Künste in Zweifel 35 . Die überaus weite Verbreitung 3 6 dieser Fassung kann mit der Suche nach einer Gestalt, die dem gelehrten 18. Jh. entspricht, erklärt werden. 6.3. D a s F.-Spiel. Die fortwährende Aufführung des von Marlowe ausgehenden F.Spiels stellt einen weiteren Beitrag zur Bewahrung des Stoffes vom 16. zum 18. Jh. dar 3 7 . Das Stück ist ζ. B. 1626 in Dresden, 1669 in Danzig und 1688 in Bremen zu sehen gewesen, bis es allmählich in allen Gegenden Deutschlands gespielt wird. Neben dem F.Spiel, das als ein typisches —» Volksschauspiel zu bewerten ist, steht das Puppenspiel (—» Puppentheater). Die früheste Aufführung mit Marionetten ist 1666 für Lüneburg überliefert. Beide Formen kennen ein Vordringen phantastischer Elemente. Zauberkunststücke gehören zur Hauptaktion, auch Feuerwerk, Geister und Musik. Am Ende gerät F. in die
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Hölle; nur Figuren wie Hanswurst oder Kasper entgehen diesem Schicksal. Entsprechend der Bühne und dem Spielbereich sind verschiedene Fassungen entstanden, die zunehmend volkstümliche und humoristische Elemente aufweisen. Eine Einschätzung der F.-Spiele ist von der Entstehungszeit abhängig, d. h. ältere Fassungen weisen mehr oder weniger auf den Charakter des MarloweDramas zurück. D e n ursprünglichen Inhalt bewahrt u. a. das Ulmer Spiel 3 8 . D i e Verse sind ζ. T. noch erhalten, und die Sprachform deutet auf das frühe 17. Jh. D a s Stück spielt noch in Wittenberg. In anderen, jüngeren Fassungen wird die Handlung nach Parma verlegt. Im übrigen ergibt sich im Laufe der Zeit eine Zerspielung des Inhalts durch Kürzungen und Ergänzungen, durch mundartliche Angleichungen oder durch die veränderte Lokalisierung der Szenen. So lassen sich über ein Dutzend Grundfassungen nebst Abwandlungen als Ballett, Pantomime oder Farce feststellen. In Berlin und anderen Städten wird das F.-Spiel vorübergehend verboten, weil angeblich Verstöße gegen Glaubenssätze vorliegen.
Soweit die bisher aufgefundenen Ber.e und die erhalten gebliebenen Theaterzettel ein richtiges Bild vermitteln, häufen sich die F.Aufführungen nach 1730. Es handelt sich zumeist um neue Formen, denn diQ Fabel ist beträchtlich erweitert und ausgeschmückt worden. Eine Veräußerlichung der Spielhandlung ist schließlich festzustellen. Die aus Niederösterreich bzw. aus Wien stammenden Texte sind hier zu nennen. Das Tiroler Spiel kennt die stärkere Einführung volkstümlicher Elemente. Bes. verbreitet sind die Engeische, Geißelbrechtsche und Simrocksche bzw. die Augsburger, Leipziger und Straßburger Version. Originale Hss. des F.-Spiels aus dem 17. oder 18. Jh. gelten als selten 39 . Die Theaterleiter und bes. die Puppenspieler haben den Text mündlich weitergegeben. Die Aufzeichnung der Texte erfolgt in der Regel erst im 19./20. Jh. Aus der span.-kathol. Umwelt kommt eine dramatische Dichtung, die auf eine eigene Weise und indirekt einen Beitrag zur F.-Lit. liefert: —» Calderon de la Barcas El mägico prodigioso (entstanden 1637) 40 . Als Hauptgestalt wird Cipriano (Cyprianus) eingeführt, der die Schuld des Zauberers, Versuchers und Verführers trägt, bis er durch den Übertritt zum Christentum entsühnt wird 41 . So ist Er-
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lösung möglich; diese Idee antizipiert Goethes Lösung, der die Handlung bis zu F.s Errettung führt 4 2 .
gischen Schriften, die unter F.s Namen oder auch unter der Bezeichnung Dreifacher Höllenzwang, Miracul-, Kunst- und Wunderbuch, Praxis magica etc. erscheinen 47 .
6.4. D a s F.-Lied. Die F.-Spieltradition wird von den F.-Liedern begleitet, von denen es mindestens zwölf gegeben hat. Bisher existieren kaum Unters.en über die Entstehung dieses bes. Zweiges der F.-Lit. 41 . Es ist unbekannt, welche Anzahl von Drucken es gegeben haben mag. Eine ungefähre Einschätzung führt zu der Vermutung, daß die Lieder in ganz Deutschland verbreitet gewesen sind. Ausg.η mit den Erscheinungsorten Köln und Steyr in Österreich sind bekannt. Das einzig datierte Exemplar stammt aus dem Jahre 1790. Zehn Ausg.n der tschech. Übers, wurden bisher registriert 44 .
Obwohl die Herkunft dieser Erzeugnisse noch nicht völlig geklärt ist, ist anzunehmen, daß sie auf Rezeptbüchern des 15. und 16. Jh.s beruhen, wie sie von den ersten Vertretern der modernen Naturwissenschaft, Medizin, Chemie bzw. Alchimie und Arzneikunst zusammengestellt wurden. Eine Beziehung zu F. ist sicherlich erst später hergestellt worden, da sich wohl kaum die in der Zimmerischen Chronik erwähnten Hss. F.s erhalten haben werden. Den sog. magischen Schriften wird man nur gerecht, wenn diese Qu.n nicht überbewertet werden, da Aberglaube, Halbwissen und Tatsachen durcheinandergehen. Es wird gerade mit den ,Höllenzwängen' eine eigene F.-Tradition erzeugt 48 . Diese Schriften sind ursprünglich hs. verbreitet worden, denn es ging ja immer um die ganz und gar einmaligen Schätze, die zu heben waren. Der Druck dieser Dinge drängt ihren Nimbus bereits zurück.
Die dt. Lieder dürften von den Bühnenaufführungen ausgehen. Das läßt sich nachweisen, da auf dem Hamburger Theaterzettel der Neuberschen Truppe vom Juli 1738 und der Ankündigung der Schröderschen Truppe vom August 1742 das Lied Fauste, was ist dein Beginnen wiedergegeben ist. Diese Verse und solche anderer Spiele werden im Volke verbreitet gewesen und zu gegebener Zeit publiziert worden sein. Für welchen Zeitpunkt der erste Druck festgelegt werden kann, ist unklar45. Nach den ältesten tschech. Editionen, die aus der Zeit zwischen 1720 und 1730 stammen, ist anzunehmen, daß die Verbreitung bis ins beginnende 18. Jh. zurückgeht. Seit etwa 1780 ist das Lied dann an mehreren Orten und in großer Zahl vervielfältigt worden. Sicherlich finden die Lieder auch Aufnahme ins Repertoire des Bänkelsangs. In die Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1, 214 [1806]) von Achim von —> Arnim und Clemens —» Brentano wird das F.-Lied aufgenommen.
In den Liedern reduziert sich das magische Denken auf das Vorhandensein der Teufel Mephisto, Auerhahn und Ulysses sowie der Geister; sie alle kann man .praktisch' benutzen, um schnell von einem Ort zum anderen zu kommen, ungewöhnliche Dinge zu erhalten, Komödien aufgeführt und Schätze besorgt zu sehen. Das Unvermögen des Teufels bezieht sich auf das Schreiben des Namens Jesus' 4 6 . Diese Form des Warnens vor dem Bösen erfolgt vor dem Hintergrund der Zeitprobleme; ein Lied führt sogar an den türk. Hof. 6.5. F. z u g e s c h r i e b e n e magische S c h r i f t e n . Zur F.-Tradition im 17./18. Jh. gehört schließlich die Verbreitung von ma-
Besitz und Verkauf von magischen Schriften haben verschiedentlich zu Bestrafungen geführt. Das Vertrauen in F.s Künste oder in den Wert dieser Bücher hat 1715 in Jena (Christnachtstragödie) die praktische Erprobung veranlaßt 49 . Noch im Jahre 1827 oder 1828 ist in Neustadt (Thüringen) ein „Nest von Schatzgräbern" ausgehoben und dabei eine solche „Wunderschrift" gefunden worden (v. Goethes Brief an Zelter vom 20. 11. 182 9 5 0 ). 7. F . - D i c h t u n g d e r A u f k l ä r u n g , K l a s sik u n d R o m a n t i k . In mehreren Jh.en prägt sich der F.-Stoff in das literar. Bewußtsein des Volkes ein. 1792 spricht das J. von und für Deutschland von der dt. „Nationallegende". Zwar sind die Kenntnisse vom hist. F., von der Historia und von Marlowes Drama geschwunden, doch die über die Tradition im 17. und 18. Jh. vermittelte Vorstellung von dem um Erkenntnis ringenden Gelehrten wird nun als aktuelles Problem des Bürgers verstanden; die Befreiung von feudalabsolutistischer und kirchlicher Bevormundung setzt Können und wirtschaftliche Macht und nicht zuletzt ein beträchtlich erweitertes Wissen voraus. Hier liegen die Ursachen für die Aktualität des F.Stoffes in der Zeit zwischen 1750 und 1850; er nimmt die Sehnsüchte und Wünsche der bürgerlichen Klasse nach geistiger Selbständigkeit und gesellschaftlicher Freiheit auf. Die Ent-
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wicklung des F.-Stoffes und damit einer F.D i c h t u n g vollzieht sich in der Aufklärung, Klassik und Romantik 5 1 . Den ersten Ansatz zu einer bürgerlichen F.Dichtung findet Gotthold Ephraim —> Lessing mit einem 1755—81 entstandenen Fragment, das der Aufklärung und ihren Zielen verbunden ist 52 . Es folgen Bearb.en im Sinne des Sturm und Drang, die den gegen soziale Schranken aufbegehrenden Selbsthelfer in den Mittelpunkt stellen, so Friedrich Müller mit Situation aus F.s Leben (Mannheim 1776) und F.s Leben dramatisiert. 1. Teil (Mannheim 1778)". Daneben ist Friedrich Maximilian Klingers Roman F.s Leben, Taten und Höllenfahrt (St. Petersburg 1791) zu nennen 5 4 . Dem Sturm und Drang sind auch Goethes UrfaustSzenen (1769—75 niedergeschrieben) zuzurechnen; dies gilt bes. für die Eingangs- und die Gretchen-Handlung 5 5 . Über Goethes Fragment (Lpz. 1790) zum ersten Teil der Tragödie (Tübingen 1808) und zur Vollendung im zweiten Teil (Stg./Tübingen 1832) vollzieht sich der Wandel des F.-Stoffes bzw. der F.-Dichtung zur Position der Klassik. Es entsteht eine grundsätzlich neue, sowohl von der Tradition des 16. bis 18. Jh.s als auch vom Selbsthelfer des Sturm und Drang abgegrenzte Behandlung des Stoffes. Ins Zentrum rückt die Ausprägung eines bürgerlichen Weltbildes; der Mensch kann bis zu einer höchsten Stufe der Selbstverwirklichung gelangen. In diesem Sinne ist von einer Neukonzeption des F.-Stoffes zu sprechen 5 6 . Sie bezieht sich auf das Figurenensemble Mephisto, Wagner und Helena sowie auf die Ausarbeitung der Gretchen-Tragödie. Als Widerspiegelung der bürgerlichen Emanzipation, in der Entfaltung der Kraft des Menschen gegenüber dem Schicksal wird Goethes F. zur Epochendichtung. Mit dieser Entwicklung ist keineswegs ein Schwinden volkstümlicher Elemente verbunden. Vielmehr werden alte Zaubermotive wie —> Geistererscheinungen, Beschwörungen, Teufelspakt, —> Wette und die aufgewertete Mephisto-Gestalt beibehalten. Hinzu treten Motive aus der griech. Dichtung wie Helena, Euphorion und —» Philemon und Baucis. Als Märchenmotive werden der Zauberhund, der unheimliche Schmuck, die Walpurgisnacht, die Absage an den Teufel, das Eindringen in die Geschichte und in die
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antike Welt, das Entschwinden von Zaubergestalten, der Kampf zwischen —> Gut und Böse, das—> Rosenwunder und die Verklärung zum Unsterblichen (—> Unsterblichkeit) eingebracht und abgewandelt. Die nachgoethesche F.-Dichtung ist zwiespältig. Sie steht einerseits unter dem Einfluß Goethes, andererseits wird die klassische Lösung verworfen. Das Anknüpfen an die ältere F.-Tradition wird vorherrschend 57 . Gleichzeitig sind in der ersten Hälfte des 19. Jh.s romantische Einflüsse sichtbar. Von Bedeutung sind Christian Dietrich Grabbes Drama Don Juan und F. (Ffm. 1829) 58 , Nikolaus Lenaus Versdichtung F. (Stg./Tübingen 1836) 59 und Heinrich Heines Tanzpoem Der Doktor F. (Hbg 1851) 60 . Nach 1850 kann nicht mehr von einer nennenswerten dt. F.Dichtung gesprochen werden 6 1 . Es ergibt sich eine Anreicherung des F.-Stoffes mit betont ,nationalen' und konservativen Tendenzen 6 2 . 8. W i c h t i g e a u s l ä n d i s c h e F . - D i c h t u n g e n d e s 19. Jh.s. Der F.-Stoff, offen für weltanschauliche und phil. Grundfragen, erfährt in der Folgezeit zahlreiche Abwandlungen, auch in der Auseinandersetzung mit Goethe. Der engl. Dichter Byron behandelt in Manfred (L. 1817) Verzweiflung und Selbstzerstörung eines unbefriedigten Menschen 6 3 . Der russ. Dichter Ivan S. Turgenev wandelt in einer F.-Novelle das Motiv der Liebe in kunstvollen Charakterisierungen ab 64 . Sein Landsmann Fedor M. Dostoevskij zeichnet in seinem F.-Roman Brat'ja Karamazovy ([Die Brüder Karamazov], St. Peterburg 1881) den moralischen Verfall einer Gesellschaft 65 . Seine Az ember tragediäja ([Die Tragödie des Menschen]. Pest 1861) legt der Ungar Imre Madäch als Mysterienspiel an; das symbolische Ringen des Menschen stellt Beziehungen zu —» Adam, —» Luzifer, —> Adam und Eva her, und auf —> Himmel und Hölle wird als moralische Institution zurückgegriffen 66 . Mit den immer unübersehbarer werdenden F.-Dichtungen erhalten nationalliterar. Motive und volkstümlich-märchenhafte Elemente Eingang in den Stoffkreis 67 . Hinzu kommt ein Überwechseln in die musikalischen Formen der Oper und des Oratoriums (Charles Gounod, 1859; Hector Berlioz, 1846; Franz Liszt, 1862; Arrigo Boito, 1868).
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9. F . - D i c h t u n g e n d e s 20. Jh.s. In der F.Dichtung der letzten acht Jahrzehnte entwickeln sich zahlreiche volkstümliche Abwandlungen des Stoffes mit häufig humoristisch-parodistischen Zügen parallel zu einer auf poetischer Höhe gehaltenen Kunstdichtung 68 . In der dramatischen, epischen und lyrischen Lit. spiegeln sich die Existenzprobleme des Menschen und Lebensfragen der Menschheit wider. Aus der Zahl der mehr als 70 beachtenswerten F.-Bearb.en können nur wenige hervorgehoben werden. Der frz. Dichter Paul Valery neigt in Μon F. (P. 1946) zu einer Umkehrung des F.-Stoffes und bes. des Goetheschen Werkes 6 9 . In Thomas Manns Romanwerk Doktor Faustus (Sth./N.Y. 1947) findet in der F.-Gestalt die Auseinandersetzung mit dem Gegensatz von Kunst und Welt statt. In der Beschreibung der Gefährdung des Genies durch das Böse, symbolisiert im Teufelspakt, findet zugleich eine Auseinandersetzung mit dem dt. Faschismus statt. An die alte F.-Tradition erinnern zahlreiche Einzelheiten, vor allem das 25. Kap. mit Teufelsvision und Verschreibung 70 . Es entsteht auch eine bedeutende sozialistische F.-Dichtung. Anatolij V. Lunacarskij verfolgt in F. i gorod ([F. und die Stadt]. M. 1918) das Schicksal der Goetheschen Figur nach der Gründung eines freien Gemeinwesens 71 . Die Romanepopöe Maksim —> Gor'kijs Zizri Klima Samgina ([Das Leben Klim Samgins]. M./Len. 1 9 2 7 - 3 1 ) ist als sozialkritische Auflösung und Neugestaltung des Stoffes angelegt 72 . Der Komponist Hanns Eisler hat für sein Textbuch einer Nationaloper Johann F. (B. 1952) auf Elemente des alten F.-Spiels, auf Kenntnisse vom hist. F. und auf zahlreiche Motive der F.-Tradition zurückgegriffen. Die Handlung ist im 16. Jh. (Reformation, Bauernkrieg) angesiedelt 73 . Wiederum entstehen Opernfassungen. Rainer Kunad geht in Sabellicus (B. 1974) 74 auf die Gestalt von F. und Marcantonio —» Coccio ein. Aus den Ballettbearbeitungen ragt Werner Egks Abraxas (Mainz 1950) hervor. Der F.Stoff ist nun auch Gegenstand von Filmversionen geworden (Wilhelm Murnau: F., 1926; Rene Clair: La Beauti du Diable, 1949; Claude Autant-Lara: Marguerite de la Nuit, 1956 etc.) 75 .
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10. F.-Slgen u n d F . - S t ä t t e n . Bereits im 19. Jh. hat es mehrere F.-Slgen gegeben (J. Bode, K. Engel, R. Musiol, A. Tille u.a.). Um die Jh.wende ist die bis in die 50er Jahre fortgeführte Slg des Leipziger Arztes G. Stumme 7 6 entstanden (heute in Weimar). Die Slg von K. Theens (Stuttgart) ist ebenfalls in mehreren Jahrzehnten gewachsen (heute in Knittlingen) 77 . Gegenwärtig sind als große Slgen diejenigen im Knittlinger F.-Museum 7 8 , im Düsseldorfer Goethe-Museum, im Frankfurter GoetheMuseum (Freies Dt. Hochstift) und in der Speck Collection of Goetheana in New Haven (USA) zu erwähnen. Die zweifellos umfangreichste F.-Slg wird in Weimar verwahrt (13000 Bände) 7 9 . An den hist. F. erinnern in Knittlingen ein Denkmal und das 1980 neueingerichtete F.Museum. In Leipzig befinden sich Skulpturen in der Mädler-Passage. .Auerbachs Keller' weist die F.-Räume und die zugehörigen Wandgemälde auf 8 0 , die im Zusammenhang mit Erzählungen des F.-Buches und der Szene in Goethes Dichtung stehen. Kleine F.-Stätten sind in Krakau, Leningrad, Prag und Staufen entstanden. Die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen dt. Lit. in Weimar besitzen mit den Slgen im Goethe- und Schiller-Archiv, im Goethe-Nationalmuseum und in der Zentralbibliothek der dt. Klassik (hier wird die Weimarer F.-Slg betreut) bedeutende Bestände zum F.-Stoff und natürlich zu Goethes Dichtung. Weiter hat die ,F.-Gesellschaft', 1967 gegründet, ihren Sitz in Knittlingen 81 ; sie gibt die F.-Blätter heraus. 1 Ferner: Grabancijas dijak bei slav. Völkern cf. Bittner, K.: Die F.sage bei den slaw. Völkern. In: Bll. der Knittlinger F.-Gedenkstätte 9 (1959) 3 1 0 312; Hatvani bei den Ungarn cf. Heinrich, G.: Der ung. F. In: Ung. Revue 6 (1886) 7 8 0 - 8 0 4 ; Huisile in Tirol cf. Holzmann, H.: Pfeifer Huisile. Innsbruck 1954; Kittel in Nordböhmen cf. Ohorn, Α.: Doktor Kittel. Gablonz 1924; Marieke von Nymwegen cf. Wolthuis, G. W.: De F. van het Volksboek en Mariken van Nieumeghen. In: Levende Talen (1940) 3 3 5 - 3 4 1 ; Savva Grucyn im alten Rußland cf. Bittner, K.: Die F.sage im russ. Schrifttum. Reichenberg 1925; Toralba in Spanien cf. d'Ardeschah, J. P.: Don Eugenio Toralba, der span. F. In: Hamburger Nachrichten, 26. 8.1906, Beilage. - 2 Witkowski, G.: Der hist. F. In: Dt. Zs.
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für Geschichtswiss. N.F. 1 (1896/97) 2 9 8 - 3 5 0 ; Petsch, R.: Der hist. Doctor F. In: G R M 2 (1910) 9 9 - 1 1 5 ; Henning, H.: F. als hist. Gestalt. In: Goethe-Jb. 21 (1959) 1 0 7 - 1 3 9 ; Mahal, G.: F. Die Spuren eines geheimnisvollen Lebens. Mü. 1980. — 3 id.: F.s Geburtstag. Knittlingen 1979. - 4 Manlius, J.: Locorum communium collectanea. Basilea 1563, 4 2 - 4 4 . - 5 Baron, F.: Doctor Faustus; from History to Legend. Mix. 1978, 1 1 - 6 6 . - 6 Luther, Μ.: Werke. Abt. Tischreden 4. Weimar 1916, num. 4450. - 7 Sachs, H.: Werke 20. ed. A. von Keller/E. Goetze. Tübingen 1893, 4 8 3 - 4 8 7 . - 8 Henning, H.: Zur Geschichte eines F.-Motivs. In: Festschr. W. Vulpius. Weimar 1957, 5 3 - 6 2 . - 9 Meyer, W.: Nürnberger F.geschichten. In: Abhdlgen der kgl. bayer. Akad. der Wiss.en. Kl. 1, 20, 2. Mü. 1895, 3 2 5 - 4 0 2 . - 1 0 Henning, H.: DasF.-Buch von 1587. In: Weimarer Beitr.e 6 (1960) 2 6 - 5 7 , hier 4 1 45. 11 Szamatolski, S.: F. in Erfurt. In: Euphorion 2 (1895) 3 9 - 5 7 . - 12 Weitere Lit. zur Anekdotenbildung: Weiser, L.: Faustus. In: H D A 2, 1 2 6 9 - 1 2 7 4 ; Mot. Μ 211; Brückner, W./Alsheimer, R.: Das Wirken des Teufels. Theologie und Sage im 16. Jh. In: Brückner, 3 9 3 - 5 1 9 ; Das älteste F.-Buch. Einl. von W. Scherer. Faks.-Ausg. B. 1884; Das Volksbuch vom Doctor F. ed. R. Petsch. Halle 2 1911; Historia von D. Johann Fausten, ed. H. Henning. Lpz 3 1982. - 13 Das Volksbuch von Doktor F. mit Materialien, ed. L. Petzoldt. Stg. 1981; Petsch, R.: Die Entstehung des Volksbuches vom Doktor F. In: G R M 3 (1911) 2 0 7 - 2 0 4 ; Henning (wie not. 10) 3 5 - 4 0 . - 14 Historia D. Johannis Fausti. ed. G. Milchsack. Wolfenbüttel 1892; Das F.buch nach der Wolfenbütteler Hs. ed. H. G. Haile. B. 1963; Milchsack, G.: F.buch und F.sage. In: id.: Gesammelte Aufsätze. Wolfenbüttel 1922, 1 1 3 - 1 5 2 . 15 Müller, H.: Historia Doctor Johannis Fausti. Unters, der beiden ältesten Fassungen des F.buches nach der darin zur Geltung kommenden Mundart. Diss. Rostock 1923. - 16 Henning (wie not. 10) 26—57; Spiewald, I.: Historien und Schwänke. In: Realismus in der Renaissance, ed. R. Weimann. B./Weimar 1977, 3 5 9 - 4 3 6 . - " H e n n i n g , H.: Beitr.e zur Druckgeschichte der F.- und WagnerBücher des 16. und 18. Jh.s. Weimar 1963. - 18 Das Volksbuch vom Doktor F. Nach der um die Erfurter Geschichten verm. Fassung, ed. J. Fritz. Halle 1914 (kennt noch nicht die entscheidende Ausg. der C-Reihe von 1587; v. not. 17, 9 - 5 2 ) . - 19 Der Tübinger Reim-F. von 1587/1588. ed. G. Mahal. Kirchheim 19 77. - 2 0 Historia Van D. Johan Fausten. Lübeck 1588. — 21 1. erhaltener Druck: L. 1592; Neuausg.: The English F.-Book of 1592. ed. H. Logeman. Gent/ Amst. 1900; The History of the Damnable Life and Deserved Death of Doctor John Faustus. ed. W. Rose. L./N.Y. 1925; jüngere und verkürzte Fassungen auch als Chapbooks. — 22 1. Druck: P. 1598; Neuausg.: La Legende du Docteur F. ed. P. Saintyves. P. 1926. - 23 1. Druck: Dordrecht 1592; van
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t'Hooft, Β. H.: Das holländ. Volksbuch vom Doktor F. Den Haag 1926; v. hierzu Rez. von E. F. Koßmann in: Euphorion 29 (1928) 2 7 4 - 2 8 2 . - 24 1. Druck: Praha 1611; Neuausg.: Historia ο zivotu Doktora Jana Fausta. ed. C. Zibrt. Praha 1903. — 25 Ander theil D. Johan Fausti Historien, ed. J. Fritz. Halle 1910; v. auch not. 17, 5 3 - 7 3 . - 26 Henning, H.: Johann Faustens Gaukeltasche. In: Studien zur Goethezeit. Festschr. L. Blumenthal. Weimar 1966, 1 4 3 - 1 6 4 . - 2 7 v. Bolte, J.: Zeugnisse zur F.sage. In: Euphorion 6 (1899) 6 7 9 - 6 8 2 . - 28 Doctor Faustus. ed. H. Breymann. Heilbronn 1889; Tragedy of Doctor Faustus. ed. W. Wagner. L. 5 1907; The Tragicall History of Doctor Faustus. ed. F. S. Boas. L. 2 1949; Doctor Faustus 1 6 0 4 - 1 6 1 6 . Parallel Texts, ed. W. W. Greg. Ox. 1950; The Tragical History of the Life and Death of Doctor Faustus. ed. J. D. Jump. L./Cambr. 1962; Ubers.en liegen in allen wichtigen Sprachen vor; 1. reguläre dt. Ubers, von W. Müller: Doktor Faustus. B. 1818. - 29 Doctor Faustus. Lpz. 1879, 71; Buehner, V.: Marlowe's Doctor Faustus. Diss. L. Α. 1911; Ogburn, J.: An Elizabethan Production of Marlowe's Doctor Faustus. Diss. New Haven 1932; Kleinstück, J.: Unters.en zu Marlowes F. Iserlohn 1947; Brockbank, J. P.: Marlowe, Dr. Faustus. L./Great Neck 1962; Henning, H.: Von F. zu Marlowe. In: ShakespeareJb. 114 (1978) 5 7 - 6 4 . - 30 Das ndl. F.spiel des 17. Jh.s. ed. E. F. Kossmann. Den Haag 1910. 31 Panard: Le Docteur Faustus, pant.[omime]anglaise, 1740. Ms. (nachgewiesen in: Jacob, P. L.: Bibliotheque dramatique de Monsieur de Soleinne. Catalogue 3. P. 1844, num. 34 1 8). - 32 Henning, Η.: Die F.-Tradition im 17. und 18. Jh. In: GoetheAlmanach 1967 (1966) 1 6 4 - 2 0 2 . - 3 3 D. Johannes Faustus. Faks. Schwäbisch Hall 197 8. - 34 F.'s Leben, ed. A. von Keller. Tübingen 1888 (Repr. Hildesheim/N.Y. 1976). - 35 Das F.buch des Christlich Meynenden. ed. S. Szamatolski. Stg. 1891. — 36 wie not. 17, 7 5 - 1 0 4 . - 3 7 Texte vom F.-Spiel u. a. in: Scheible, J.: Das Kloster 5. Stg./Lpz. 1847; cf. Henning, Teil 1, num. 2 3 8 7 - 2 6 5 4 a (v. Bibliogr.); Creizenach, W.: Versuch einer Geschichte des Volksschauspiels vom Doctor F. Halle 1878 (fehlerhaft); Kraus, E.: Das böhm. Puppenspiel vom Doktor F. Breslau 1891; Bruinier, J. W.: Unters.en zur Entwicklungsgeschichte des Volksschauspiels vom Dr. F. In: Zs. für dt. Philologie 29 (1897) 1 8 0 - 1 9 5 , 3 4 5 - 3 7 2 ; 30 (1898) 3 2 4 - 3 5 9 ; 31 (1899) 6 0 - 8 9 , 1 9 4 - 2 3 1 ; Mertching, R. A. G.: Some Points of Similarity and Difference between Marlowe's Doctor Faustus and the Geiselbrecht, Ulm, Weimar, Simrock, and Engel German Puppetplays. Diss. N.Y. 1918; Bittner, K.: Beitr.e zur Geschichte des Volksschauspiels vom Doctor F. Reichenberg 1922. - 38 Das Puppenspiel vom Doktor Johannes F. ed. C. Höfer. Lpz. 1914. — 39 Verz.se von Hss.: Niessen, C.: Katalog der Ausstellungen F. auf der Bühne, F. in der bildenden Kunst. Braunschweig 1929, 5 7 - 6 0 ; Sahlin, N. G.: The F. Puppet Play. Mss. in the W. A. Speck Col-
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lection of Goetheana. Diss. New Haven 1937. — 40 Ausg.n u. a. von I. Montiel. Madrid 1948; erste dt. Übers, von J. D. Gries. Β. 1816; neue Übers, von E. Gürster. Stg. 1962. 41 Parker, Α. Α.: The Theology of the Devil in the Drama of Calderon. L. 1958. — 42 Sanchez y Moguel, Α.: El mägico prodigioso de Calderon y en especial sobre las relaciones de este drama con el Fausto, de Goethe. Madrid 1881 (dt. Lpz. 1882; frz. P. 1883). - 43 Tille, Α.: Die dt. Volkslieder vom Doktor F. Halle 1890; Meier, J.: Die älteste Volksballade vom Dr. F. In: Jb. für Volksliedforschung 6 (1938) 1 - 2 9 ; Kretzenbacher 1968 (v. Lit.) 1 5 3 169. - 44 Kraus, Α.: Ο ceske pisni faustovske. In: C L 7 (1898) 265-272. - 45 Ältester bisher bekannter Druck: Eine neue ausführliche Beschreibung [. . .]. s.l. [um 1720], - 46 Vidossi, G.: Zur Legende vom Teufelskruzifix. In: Jb. für Volksliedforschung 7 (1941) 197-198. - 47 Texte vom Höllenzwang etc. in: Scheible (wie not. 37); cf. Henning, Teil 1, num. 3145 - 3283 (v. Bibliogr.); Neudr.e u. a. 1927, 1930 und: D. F.s Orig. Geister Commando der Höllen. ed. H. Henning. Lpz. 197 9. - 48 Gräbner, K.: Bilder der Wunderkunst und des Aberglaubens. Weimar 1834; Wuttke, Α.: Der dt. Volksaberglaube der Gegenwart. Lpz. 4 1925, 188-192; Peuckert, W.-E.: Pansophie. B. 2 1956, 127-184; Henning, H.: Ein Exemplar von F.s magischen Sehr. In: Marginalien 13 (1963) 5 8 - 6 2 . - 49 Rosenkranz, H.: Die Jenaer Teufelsbeschwörung am Christabend 1715. In: Jena. Kultur und Heimat (1960) 517-519. - 50 Goethe, J. W.: Werke 46 (= Abt. 4: Briefe). Weimar 1908, 157-164. 51
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Hans Henning
Fazetie (lat. facetiae: witzige Einfälle, Witz; von facetus: zierlich), scherzhaft-ironische, auf Wortwitz und Witzwort basierende pointierte Kurzgeschichte in stilistisch geschliffener lat. Prosa. D e r weltoffene Daseinsfreude widerspiegelnden Lebens- und Kunstauffassung der ital. Renaissance erwachsen, nach 1450 durch den ,pater facetiarum' 1 , den Florentiner —» Poggio, mit seinem Liber facetiarum in die Weltliteratur eingeführt, diente sie — in gesprochener wie schriftlicher Form — der Unterhaltung im Kreise gepflegter U r banität. ,Imitatio' nennt der Begründer der Renaissance-F. seine Schöpfung und beruft sich damit — unter Umgehung der in ma. Exempelsammlungen und rhetorischen Übungsstücken versteinerten Traditionsrelikte — unmittelbar auf die Wurzeln der antiken F., wie sie bei Cicero (De oratore 2, 2 1 6 - 2 9 0 ) faßbar werden. Doch gelingt ihm hinsichtlich Motivation, Gestaltung und Stoffwahl Eigenständiges: losgelöst einerseits von der rhetorischen Zielsetzung der Antike, die nach Cicero und Quintilian auch dann dominant blieb, als sich die von der Bindung an die
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Faze tie
Witztheorie getrennte F. mit anderen literar. Formen (—» Apophthegma, Apomnemoneumata, Chria, Gnome) in größeren Sammlungen wiederfand; unabhängig andererseits von der letzten antiken Ausprägung (unter Macrobius) 2 im Traditionsrahmen der Symposionliteratur. Die Poggio-F. verbreitete sich rasch über Europa: Der Autor selbst stellt (noch vor Einführung der Druckkunst) 1452 fest, daß sein Werk überall in Latein sprechenden Kreisen (ζ. B. Italiens, Frankreichs, Spaniens, Deutschlands und Englands) weit bekannt ist 3 . In Italien aber löste sie sich, noch ehe die neue Gattung in Jovianus Pontanus {De sermone, um 1500) ihren Theoretiker gefunden hatte, vom Humanistenlatein: mit Lodovico Carbones Cento trenta novelle ο facetie (1471) hatte sich das Volgare als Sprache der Geselligkeit durchgesetzt. Das 16. Jh. — vertreten bes. durch Baidassare Castigliones Libro del Cortegiano (1528), Lodovico —» Domenichi und Lodovico —> Guicciardini ( L ' H o r e di recreazione, 1583) — nähert die um die Figur des Narren und die Sondergattung Streiche erweiterte, in die Bildung des Hofmannes einbezogene nunmehr volkssprachliche F. dem —» Schwank an. Im 17. Jh. gerät die F. in Italien, untergetaucht in volkstümliche Witzesammlungen, eingegangen in den Schwank, aufgesogen von der Novelle 4 in die gattungslose Anonymität. In Frankreich werden die F.n Poggios bereits auf der frühesten Stufe der (Teil-)Rezeption (15. Jh.) zugleich der Nationalsprache und der zeittypischen Nationalliteratur angepaßt: einmal — durch die Übersetzung Guillaume Tardifs 5 — dem Exempel, in dessen Einflußsphäre die F. eine ihrer Struktur und Intention widersprechende Umprägung erfuhr, die durch einseitige Auswahl unterstützt und durch den Einfluß Heinrich —> Steinhöwels (v. unten) zusätzlich gefördert wurde; zum andern aber mündete die F. gleichzeitig in das adäquatere Medium der frz. Novelle und bewirkte - unterstützt durch die RenaissanceNovelle — deren Lösung aus dem kirchlichdidaktischen Rahmen. Die —> Cent nouvelles nouvelles (abgefaßt zwischen 1456 und 1467, erste datierte Ausg. 1486) spiegeln diese Wechselwirkung zwischen Altem und Neuem. Im 16. Jh. bezieht die von der F. beeinflußte
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Novelle die Weiterentwicklungen der F. in Italien und Deutschland (Castiglione, H. —» Bebel) ein (ζ. B. Le Paragon des nouvelles honnestes et delectables, 1531); darüber hinaus bahnt sich Neues, Zukunftweisendes an: Bonaventure —> Des Periers (Les nouvelles Ricriations et joyeux devis, 1538) greift durch seine auf Erheiterung und recreatio zielende Programmatik, durch in Frankreich erstmalige Aufnahme der auf dem facete dictum beruhenden Poggio-Beispiele, durch bewußte Hinwendung an ein gelehrtes Lesepublikum humanistische Ideale auf; dabei rückt er durch gezielte Intensivierung komischer Stilelemente die F. nahe an die —» Farce. In der 2. Hälfte des 16. Jh.s findet die F. auch Aufnahme in die der Essay-Lit. zugeordneten Sammlungen, wo ihr — bis zur endgültigen Anpassung — die Funktion der Exemplifizierung und Autorisierung von Ansichten und Sachverhalten zukommt. Am Ende des 17. Jh.s (1697) steht eine für Frankreich einmalige F.n-Sammlung (Franςοίβ de Callieres' Recueil des bon mots et des bons contes), die auf für die nationale Rezeption signalhaft-symptomatische Weise den nie etablierten Terminus facecie zugunsten von —> bon mot ( = facete dictum) und bon conte ( = facete factum) aufgibt. Generell aber findet die F. im 17. und 18. Jh. ihren Platz einmal im Bereich der —> Anekdote, wo sie — über landschaftsgebundene Sammlungen wie die Casconiana ( 2 1802) — in das breite Repertoire des mündlich tradierten Witzes mündet. Zum andern prägt sich der literar. Tradierungssektor entscheidend aus: F. und Epigramm bilden, über den Katalysator des conte en vers, eine die verschiedenen AnpassungsAusformungen beendende und summierende perfekte Legierung. In Deutschland stellten die — im Gegensatz zu Frankreich — noch präsenten ma. verformten Traditionsausläufer der antiken F. ein zunächst nur schwer überwindbares Bollwerk dar. Bekanntester Vertreter dieser von ma. weitabgewandtem Pessimismus getragenen, von pedantisch-moralisierender Motivation geprägten Gattung ist das als Schullektüre fungierende, vielfach (u. a. von Sebastian —» Brant) übersetzte Gedicht Cum nihil utilius humanae credo saluti. Die ersten Versuche in der neuen Gattung durch Steinhöwel (im Rah-
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men seiner kombinierten Fabelsammlung Esopus, um 1475) und Augustin —> Tiinger (Kompendium dt. und lat. F.n, 1486) sind von moraldidaktischen, jede Pointierung zerstörenden Funktionsprinzipien beherrscht. Dennoch wird Steinhöwel zur Kristallisationsfigur einer frühen und indirekten PoggioRezeption, die auch das nur der jeweiligen Landessprache kundige Publikum erreichte: 1480 übersetzte Julien Macho den Esopus ins Französische; diese Fassung wurde zur Vorlage für William Caxtons (erweiternde) Übertragung ins Englische (1484) 6 sowie für Übersetzungen ins Holländische (1485) und Spanische (1489) 7 . Zum Durchbruch der Gattung führt erst die erfolgreiche Bündelung zweier, der ital. Renaissance-F. nach Stoff und Form verwandter, (noch) nicht gattungsfixierter Erzählstränge: die der —> Predigtmärlein (aus den in Predigten eingestreuten ernstmildernden Schwankepisoden erwachsen) und der universitätsinternen Quodlibet-Quästionen (nach langatmigen Diskussionen zugelassene, vom Moment der Ironie geprägte, auf wortspielerischen Elementen basierende Erörterungen witziger Fragen). Bebel gelingt es, in kühnem Wurf nach Formgebung, Prägnanz und Pointierung das Vorbild Poggios zu erreichen, die Gattung auf dt. Boden zu etablieren und zugleich deren Höhepunkt zu markieren. Seine in drei Büchern herausgegebenen Facetiae (Straßburg 1508—12), eine gelungene Synthese von lat. Form und schwäb. Inhalt, werden in europ. Humanistenkreisen spontan und tiefgreifend rezipiert. Ihre grundlegende Bedeutung für die gesamte Erzählliteratur wurde von einzelnen schon früh erkannt, wie die wortspielerische, formelhaft verkürzte Einschätzung Johann —> Fischarts: .Bebels Bibel' (Gargantua. [Straßburg] 1575, cap. 23) belegt. Der Weg der elitär-humanistischen F. zum breitflächig ausgreifenden dt.sprachigen Schwank wird wesentlich durch Bebels Gestaltung zumeist volkstümlicher Stoffe bestimmt: Geschichten und Sprüche von und über namhafte und namenlose Zeitgenossen aus deren Alltagsperspektive, die als unterhaltsame Pointen in geselliger Runde fungieren konnten. Während die Bebeischen F.-Stoffe als durch den Erfolg autorisierte Inhaltsmuster intensiv tradiert werden (die Schwanksammler 30
Enzyklopädie des Märchens IV
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des 16. und 17. Jh.s auf dt., ital., frz. Boden sind ihm ebenso verpflichtet wie Volksbuchautoren), verfällt die Gattung als solche unmittelbar nach ihrem markanten inhaltlichen und formalen Gipfelpunkt. Neue Motivationen verändern die gattungsimmanenten Strukturprinzipien gravierend und höhlen sie aus. Die Scommata —> Geilers von Kaysersberg (in der Margarita facetiarum des Johannes Adelphus Muling, 1508) sind von der dominierenden Intention gezielter und intensiver Kritik am Klerus geprägt. —»Erasmus von Rotterdam weist in seinen Colloquia (1524) der F. die ästhetische Aufgabe zu, die Kunst gepflegter Konversation zu fördern, wodurch der gattungsgebotene knappe Aufbau zugunsten breit ausmalender Detailschilderung aufgegeben wird. Ottmar Nachtigall (Luscinius) (1524), Johannes -> Gastius (1541/49), Joachim —» Camerarius (1564) reklamieren für ihre gelehrt-kompilierenden Schwank- und Fabelsammlungen den Namen der F., ohne deren funktionalen und strukturellen Ansprüchen gerecht zu werden. Johann —> Hulsbusch sieht das dominierende gattungsbildende Element in der lat. Sprache; in seiner Slg Sylva sermonum iucundissimorum (1568) übersetzt er aus dt. Schwankbüchern gegriffene handlungsintensive Erzählungen wortwörtlich ins Lateinische. Polar gegengerichtet ist der Versuch Michael —> Lindeners (Verf. von Rastbüchlein und Katzipori, 1558), die humanistische F. in dt. Sprache nachzubilden, wobei es ihm gelingt, die besten seiner Schwänke auf knappe Pointierung einzustellen und moral-didaktische Motivationen zu meiden. Diese dt.sprachige F. aber bleibt eine isolierte Leistung: Sie wird vom Trend zur wortreichen Handlungsdarstellung überrollt. Die echte F. überlebt in mündlicher Tradierung durch humanistische Zirkel bis zum Ende des 16. Jh.s und manifestiert sich in der 1600 postum erschienenen Slg Nicodemus—»Frischlins. Gekonnte Pointierung kennzeichnet seinen Stil, moralisierende Tendenzen fehlen, der —> Wortwitz dominiert, die Anekdote liefert nur die nötige situative Umrahmung. Theoretisch sind F. und Schwank durch divergierende Erzählstruktur formal exakt abgrenzbar: In der F. dominiert das Wort, das Dictum, der Schwank lebt von der Handlung, vom Factum. In der Praxis werden diese
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Formungsprinzipien nicht konsequent durchgehalten: In der F. finden sich Elemente aller volkstümlichen Gattungen, die F. wirkt breitflächig auf den Gesamtbereich der Volkserzählung. F.n, die die unvermeidliche Situationsbildung nicht auf ein Minimum beschränken und Handlungsatmosphäre zeigen, nähern sich dem Schwank; gewinnt das personencharakterisierende Moment Dominanz, ist der Übergang zur Anekdote gegeben, ein Faktum, das schon in der vom jeweiligen Autor gesetzten charakterisierenden Zuweisung zum Ausdruck kommen kann. Die gattungsrepräsentativen F.n Bebels werden von ihm zwar mehrheitlich als facetia oder dictum bezeichnet, doch auch factum, fabula, historia, proverbium genannt. Hinsichtlich ihrer Stoff- und Motivwahl zeigt die F. keine streng gattungsfixiert-typischen Perspektiven. Die ,klassischen' F.n Bebels sind aufgrund inhaltlicher Kategorien mühelos nach dem Schema des für die Volkserzählung entworfenen Typisierungsmodells zu katalogisieren. Im Mittelpunkt stehen dabei die den Berufs- und Standesschwänken zuzuordnenden Motive; im Detail ranken die —» Pointen primär um Priester, Bauern, Frauen. Über den Typus des —» Dummlings bestehen enge Beziehungen zum Märchen. Die von einer dünnen Bildungsschicht getragene F. greift ins breitgefächerte Arsenal mündlich und schriftlich tradierter Erzählstoffe, deren Inhalte alle Bereiche des Menschlichen und Allzumenschlichen erfassen. In ihrer idealtypischen, knapp-pointierenden Fassung liefert sie gewissermaßen auf Reduktionsformeln verkürzte Schwänke, die von der sich breit entwickelnden dt.sprachigen Schwankliteratur als vorgefertigte, ausmalbare, umfassend variierbare Inhalts- und Handlungsschablonen genutzt werden. Der ,Witz' der Humanisten wird popularisiert, die literar. Form der F. zerbricht, die Stoffe bleiben als autorisierte autoritative Quellen in allen Sparten der Volkserzählung in vielfachen Abwandlungen lebendig. Soweit im Rahmen der F. neue, bis dahin nicht schriftlich fixierte Motive gestaltet wurden (in hohem Maße bei Bebel), wirken sie traditionsbildend. Exemplarisches Beispiel sind die im Gesamtbereiche der Volkserzählung Akzente setzenden, eng mit Lügenschwänken und Lügen-
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märchen verwobenen —» Lügengeschichten Bebels. Die um den Schmied von Cannstatt, einen eigens erfundenen Lügentypus, rankenden, Schwank-, Märchen-, Anekdoten-, Sagen-Elemente vereinenden Erzählungen leben über die —» Münchhausiaden des 18. Jh.s bis heute in eigenständigem Traditionsrahmen weiter. 1
Peplus Italiae Jo. M. Toscani Opus [. . .]. Lutetiae 1578, 7. - 2 Saturnalia, zwischen 384 und 386. Poggio Bracciolini: Opera omnia, s.l. s.a., 219. 4 Die bekannteste Slg dieses Jh.s, die Arcadia in Brenta des Giovanni Sagredo (unter dem Pseudonym Ginnesio Gavardo Vacalerio), enthält eine Reihe auf Novellenformat gedehnter F.n. — 5 Les Facecies de Poge, um 1490. - 6 Wilson, R. H.: The Poggiana in Caxton's Esope. In: Philological Quart. 30 (1951) 3 4 8 - 3 5 2 . - 7 Steinhöwels Äsop. ed. H. österley (BiblLitV 117). Tübingen 1873,3. 1
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Fecunda ratis - Feder
In: Revue des sciences humaines 32 (1967) 5 2 3 544. - Neumann, S.: Volksprosa mit komischem Inhalt. In: Fabula 9 (1967) 1 4 0 - 1 4 8 . - Koj, P.: Die Frau im Feigenbaum. Zur Geschichte einer F. Ciceros. In: Romanist. Jb. 19 (1968) 5 3 - 6 6 . id.: Die frühe Rezeption der F.n Poggios in Frankreich. Diss. Hbg 1969. - Weber, H.: La Facetie et le bon mot du Pogge ä Des Periers. In: Humanism in France at the End of the Middle Ages and the Early Renaissance. Manchester/N.Y. 1970, 8 2 105. - Soons, Α.: The Facetia in the Works of Etienne Tabourot des Accords. In: Fabula 12 (1971) 1 7 9 - 1 8 8 . - Antony, P.: Studien zu Bebels „Facetiae" und ihren Übers.en. In: Sprache und Sprachhandeln. Festschr. G. Bebermeyer. Hildesheim/N.Y. 1974, 8 9 - 1 1 4 . - Nawrath, W.-K.: Facetie und Schwank - ein Vergleich. In: ibid., 115-129.
Tübingen
Renate Bebermeyer
Fecunda ratis —» Egbert von Lüttich
Feder. Die F. spielt außer in emblematischen Darstellungen 1 , in sprichwörtlichen Redensarten 2 und im Volksglauben 3 vor allem im Erzählgut eine Rolle. Sie besitzt magische Kraft, steht für eine verwandelte Gestalt und kennzeichnet bes. Eigenschaften. Die F. weist verschiedene Farben auf, die wiederum unterschiedliche Bedeutung haben. Der Wundervogel tritt durch alle Farben in seinen F.n hervor 4 . Die F.n des Vogels Phönix sind von Gold und Purpur 5 . Der bunte Junge hat „Federn und Haare schwarz und weiß, gries und grau, rot und grün, gelb und blau" 6 . Der König erhält je eine kupferne, silberne und goldene F. 7 Die weiße F. der Taube ist ein schönes Mädchen 8 , ein verzauberter Königssohn9 oder ein Hausgeist 10 . Die F.tante, die den Tod ankündigt, hat eine weiße F. am Hut 11 . Aus einem Büschel schwarzer F.n entstehen zwei Knaben 12 . Das schwarze Haar des Kriegers schmücken weiße Daunenfedern 13 . Rostrote F.n trägt der Geist des Maises 14 . Der Vogel Simurg zeigt silberne F.n 15 . Bes. häufig erscheint die goldene F., die den Helden in schwierige Aufgaben hineinführt. So wünscht der König die Herbeischaffung des Goldvogels 16 oder der Schönen, deren Bild auf der F. zu sehen ist17. Sie besitzt Wunschkraft, bringt Glück 18 und läßt Diebe 30*
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ankleben 19 . W. Liungman deutet goldene F.n als Lebenssymbole und erblickt im goldenen Vogel Phönix ein Sinnbild der aufgehenden Sonne 20 . In der F. liegt magische Kraft, die dem Besitzer (Greif, Pfau, Drache, Popanz) mit dem Verlust entzogen wird 21 . Die F. bringt aber auch dem, der sie erhält, findet oder raubt, Glück, Kenntnis und Reichtum 22 . Sie ist ein Mittel der Erlösung 23 . Durch ihre Berührung gewinnt der in einen Stein verzauberte Mann seine menschliche Gestalt zurück 24 . Weit verbreitet ist das Motiv des Herbeirufens von Helfern dadurch, daß F.n aneinandergeschlagen, geblasen, gedreht, auf die Erde geworfen 25 oder über dem Kopf geschwungen werden 26 . In arab. und pers. Texten geschieht dies meistens durch Anbrennen oder Verbrennen 27 . Die F. hat auch eine hinweisende Funktion. Sie bezeichnet (u. a. als Orakel) die Wegrichtung 28 , erteilt Bescheid 29 , zeigt einen Schuldigen 30 und den Tod an 31 . Abgeworfene F.n bedeuten Verzauberung und Erlösungsbedürftigkeit 32 . Als Heilmittel 33 verleiht die F. durch Bestreichen das Augenlicht 34 . Eine schädigende Wirkung haben F.n in Gestalt des sog. F.kranzes, der von Hexen im Kopfkissen verursacht wird und bei Kindern Krankheit und Tod hervorruft 35 . Der Hahnenritter der Totenprozession sticht dem Spötter oder Vorlauten mit einer F. ins Bein bzw. Auge und straft mit Schmerz und Blindheit 36 . Die F. verbirgt oft eine verwandelte Gestalt, z.B. eine Seele 37 , einen Hausgeist 38 , einen Menschen 39 . Aus einer F. entstehen zwei Knaben 40 oder ein Baum 41 . Mit der Zauber-F. kann man sich verzaubern 42 , etwa in einen Adler 43 . Die F. setzt eine Verwandlungskette in Gang: Die Wahl der weißen F. bewirkt die Metamorphose der weißen Taube in eine schöne Frau 44 . Der schnelle Soldat verwandelt sich in eine Taube, bittet die Prinzessin, ihm drei F.n auszurupfen. Er verwandelt sich in einen Fisch, dem drei Schuppen abgenommen werden, in einen Hasen, dem der Schwanz abgeschnitten wird, und zurück in seine frühere Gestalt, in der er die Prinzessin heiratet 45 . Die F. als pars pro toto erweckt das Verlangen nach dem ganzen Vogel 46 .
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Feder
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dianermärchen. MdW 1963, num. 12. - 15 Jungbauer, G.: Märchen aus Turkestan und Tibet. MdW 1923, num. 7. - 16 KHM 57,126; Liungman, Volksmärchen, num. 531, 550; Zaunert (wie not. 6) num. 35. - 17 BP 3,33. - 18 Siuts, H.: Jenseitsmotive im dt. Volksmärchen. Lpz. 1911, 105, 131, 225, 274. - 19 KHM 64; BP 2,39sq.; BoskovicStulli, M.: Kroat. Volksmärchen. MdW 1975, 7 3 77. - 20 Liungman, Volksmärchen, num. 551. 21 KHM 165; cf. Siuts (wie not. 18) 142sq., 275. 22 cf. ibid., 105, 113, 131sq., 143, 225, 274; Robe 550. - 21 cf. Siuts (wie not. 18) 107, 183, 225. 24 Aichele, W./Block, M.: Zigeunermärchen. MdW 1964, num. 24. - 25 HDM 2,341-344 (Gebotszauber); BP 2,190sq.; Wesselski, Theorie, 70sq. 26 Krauß, F. S.: Sagen und Märchen der Südslaven in ihrem Verhältnis zu den Sagen und Märchen der übrigen idg. Völkergruppen 2. Lpz. 1884, num. 84. - 27 HDM 2,71. - 28 KHM 63,88; BP 2,37 sq., 23 0. - 29 BP 1,286, 289. - 30 HDM 2,72; Robe 1825 E. 31 Grohmann (wie not. 11) 70; Leskien, Α.: Balkanmärchen. MdW 1919, num. 52. - 32 Afanas'ev, num. 104; Stroebe, K.: Nord. Volksmärchen 1. MdW 1915, num. 4; Aichele/Block (wie not. 24) num. 12; Eberhard/Boratav, p. 107. - 33 Eberhard/Boratav, p. 120; Robe 610. - 34 HDM 2,72; Meier, H./Karlinger, F.: Span. Märchen. MdW 1961, num. 5; Aichele/Block (wie not. 24) num. Weit verbreitet ist die Fabel von Dohle, 12. - 35 HD A 2,1285; Schell, O.: Berg. Sagen. Krähe oder Rabe, die sich mit fremden F.n Elberfeld 1897, num. 22; Henßen, G.: Neue Sagen schmücken (AaTh 244: —> Tiere borgen vonaus Berg und Mark. Elberfeld 1927, 2 5 - 2 7 , 41sq.; Dietz, J.: Aus der Sagenwelt des Bonner Landes. einander)60. Im Schwank erfolgt die listige Bonn 1965, num. 562sq. — 36 Walliser Sagen 2. ed. Errettung der verschriebenen Seele (cf. —> Hist. Verein von Oberwallis. Brig 1907, num. 169; Teufelspakt) dadurch, daß die mit Sirup oder Gerstner-Hirzel, Ε.: Aus der Volksüberlieferung Teer bestrichene Frau sich in F.n wälzt und von Bosco Gurin. Basel 1979, num. 176. — 37 Witzder Teufel vor dem seltsamen Geschöpf erschel, Α.: Sagen, Sitten und Bräuche aus Thüringen. schrickt 61 oder die Rätselfrage nach dessen Wien 1878, num. 27. - 38 Grimm DS 76. 39 HDM 2,71; Hambruch, P.: Malai. Märchen. Namen nicht lösen kann (cf. AaTh 1029, MdW 1922, num. 27sq.; Krickeberg (wie not. 12) 1091, 1092: —> Frau als unbekanntes Tier)62. num. 14. - 40 ibid., num. 14. — —> Federhemd, -kleid, —» Schlaf auf der Feder 41 HDM 1,212; Liungman, Volksmärchen, num. (AaTh 1290 B*), -> Teeren und federn 408. - 42 Eberhard/Boratav, p. 244,312. - 43 Zau(AaTh 1383, 1681). nert (wie not. 6) num. 11. — 44 Robe (wie not. 8) num. 29. — 45 Zaunert (wie not. 6) num. 28. — 46 KHM 57, 60, 126; Wesselski, Theorie, 120sq.; I Henkel, A./Schöne, A. (edd.): Emblemata. Stg. Zaunert (wie not. 6) num. 35; Liungman, Volks2 1976, 1354, 1430sq., 1435, 1449. - 2 Röhrich, märchen, num. 550; Haralampieff, K.: Bulg. VolksRedensarten, 258sq. - 3 HD A 2, 1282-1285. märchen. MdW. 1971, num. 12. - 47 Lex. der 4 Wentzel, L.-C.: Kurd. Märchen. MdW 1978, Ägyptologie 2. Wiesbaden 1977, 142-145. 5 num. 9. — Liungman, Volksmärchen, num. 550. — 48 Levy-Bruhl, L.: Das Denken der Naturvölker. 6 Zaunert, P.: Dt. Märchen seit Grimm. MdW Wien/Lpz. 21926, 24,100 sq. - 49 Koch-Grünberg, 1964, num. 4. - 7 ibid., num. 35. - 8 Robe, S. L.: T.: Indianermärchen aus Südamerika. MdW 1921, Hispanic Folktales from New Mexico. Berk./L. A./ num. 79. — 50 Karlinger/Zacherl (wie not. 13) L. 1977, num. 29. - 9 KHM 88; BP 2,229sq. num. 8. 10 Grimm DS 76. II 51 Grohmann, J. V.: Sagen aus Böhmen. Prag 1863, Tscheinen, M./Ruppen, P. J.: Walliser Sagen 2. 70. - 12 Krickeberg, W.: Indianermärchen aus Sitten 1872, num. 146; Konitzky (wie not. 14) 13 Nordamerika. MdW 1924, num. 37. Karlinger, num. 12. - 52 Walliser Sagen (wie not. 36) num. 8. — 53 F./Zacherl, E.: Südamerik. Märchen. MdW 1976, Schmidt, 33 9. - 54 Guntern, J.: Volkserzählunnum. 8. - 14 Konitzky, G. Α.: Nordamerik. Ingen aus dem Oberwallis. Basel 1978, num. 580. — Ebenso verleiht die F. bes. Eigenschaften und Fähigkeiten. Sie ist Symbol kosmischer Mächte und hat kultische Bedeutung 4 7 . F.n, bes. von Adler und Falke, befähigen dazu, alles zu hören und zu sehen, Kranke zu heilen, Tote zu verwandeln, die Sonne sinken zu lassen 48 . Die Krone aus roten Arara- und Tukan-F.n verleiht Weisheit 49 . Weiße Daunen-F.n im Haar des Kriegers geben ihm Macht und versetzen die Feinde in Schrecken 50 . F.n am Hut kennzeichnen den Dämon 5 1 oder sind Sinnbild für prächtige Kleidung 52 , keckes Auftreten 5 1 und die Herausforderung des hochnäsigen Schwingers 54 . Die Lösung der Aufgabe, F.n einzusammeln 55 und auf einen Wagen zu füllen oder wegzutragen 56 , bewahrt vor Tod, bewirkt eine richterliche Entscheidung sowie Erlösung des Verzauberten. Mit der F. kann man Geld und Schönheit erwerben oder sich an einen beliebigen Ort versetzen lassen 57 . Ratsherren müssen im Jenseits mit feurigen Kielen schreiben, um ihre bösen Taten zu büßen 58 . Die F. zerbricht beim Schreiben eines ungerechten Urteils 59 .
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Federhemd, -kleid
55 Naumann, H. und I.: Isl. Märchen. MdW 1923, num. 35; Wesselski, MMA, num. 20; Tubach, num. 3638. - 5 6 Eberhard/Boratav, num. 113 sq., 120. 57 Siuts (wie not. 18) 113. - 58 Guntern (wie not. 54) num. 972 sq. - 59 Legenda aurea/Graesse, cap. 26 (De sancto Basilio episcopo). - 6 0 Fuchs, M.: Die Fabel von der Krähe, die sich mit fremden Federn schmückt, betrachtet in ihren verschiedenen Gestaltungen in der abendländ. Litteratur. Diss. Β. 1886; Tubach, num. 1360; Robe 244; Ting 244. 61 Grannas, G.: Plattdt. Volkserzählungen aus Ostpreußen. Marburg 1957, 5 0 - 5 3 . - 6 2 cf. BP 1,411 und 3,158; Fischer, H.: Erzählgut der Gegenwart. Köln 1978, num. 995.
Lit.: H D A 2 , 1 2 8 2 - 1 2 8 5 . - Wesselski, Theorie, 7 0 - 7 3 , 1 2 0 - 1 2 3 . - HDM 2,71 sq. - von Beit, Reg.-Band s.v. F. - Spieß, K.: Der Vogel. Bedeutung und Gestalt in sagtümlicher und bildlicher Überlieferung. Klagenfurt 1969. - Taylor, Α.: As Light as a Feather. In: Folklore Research Center Studies 1 (1970) 95 sq.
Hennef
Helmut Fischer
Federhemd, -kleid, ein anscheinend nicht nur in idg. Mythen und Märchen weitverbreitetes —» Verwandlungsmittel und —» Fluggerät (cf. auch —» Tierverwandlung) 1 . 1. A n t i k e . Ovid erzählt in den Metamorphosen (15,356—360): Nach neunmaligem Baden in einem bestimmten Teich können sich bei den Hyperboreern (HyperboreerLand = antikes Utopia) Männer in ein leichtes Gefieder hüllen. Ebenso vermögen skyth. Frauen durch Bestreichen mit Gift sich ein Federkleid (Fk.) anzulegen (cf. Mot. D 1375. 6). Mit den Hyperboreer-Versen Ovids und anderen Belegen stützt G. Weicker 2 die Auffassung, daß der Vogel als theriomorphe Erscheinungsform der Menschenseele weitgehend Geltung habe (—» Theriomorphisierung, —> Seelentier). Ob die Verzauberung den hyperboreischen Männern und skyth. Frauen nur vorübergehend ein Fk. (als Mittel zur Fortbewegung durch die Luft) und damit Vogelgestalt und -wesen verleiht, ob und wann eine Rückverwandlung erfolgt, bleibt im Ungewissen. Die übrigen von Ovid beschriebenen Metamorphosen in —» Vögel (Mot. D 150; z.B. Metamorphosen 1 1 , 4 7 0 748 et pass.) bewirken dagegen eine Ver-
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wandlung für immer und bleiben hier außer Betracht: Sie erfolgen wegen allzu heftiger Trauer oder als Strafe für eine Freveltat und bedeuten den Tod als menschliches Wesen, gleichwohl das Fortleben der Seele in Vogelgestalt. Überhaupt war der antiken Mythologie der Gedanke an den Übergang in die Vogelgestalt geläufig; Beispiele für den Vergleich von Göttern mit Vögeln oder für ihre Verwandlung in geflügelte Tiere finden sich schon in den Dichtungen Homers 3 . 2. G e r m . M y t h o l o g i e . In der Prymsqvida der —» Edda wird das Federhemd (Fh.) der Göttin Freyja erwähnt (Mot. F 821.1.6), das der Gott —» Loki sich borgt: „Muntu mer, Freyia, fiaörhams liä?" 4 Ob dieses Gewand, das anscheinend wie eine Mantille um- und abgelegt werden kann, nur ein Flugmittel ist oder ob es die menschliche Gestalt in einen Vogel ändert, wird nicht deutlich. J. Grimm verweist auf die alte Vorstellung, daß die Götter die großen Welträume wie Vögel durcheilen. Auch H. Schneider 5 bemerkt, daß die germ. Götter (Loki, Odin) gern Tiergestalt annehmen. In den Skäldskaparmäl der Jüngeren Edda (Kap. 18) wird erzählt, wie Loki, der in Freyjas Fh. herumfliegt, für einen Vogel gehalten und gefangen wird 6 . Hier vollzieht sich der Wechsel zwischen Menschenund Tiergestalt sehr einfach, der ebenso bei den Walküren und —> Schwanjungfrauen deutlich wird 7 . Schon J. Grimm sieht Freyja in Verbindung mit den Walküren, den Kampfmädchen, die wohl wie die Göttin mit einem Fluggewand ausgestattet waren 8 . In ihre Nähe scheint der Mythos die drei mit ihren Schwanengefiedern am Seeufer sitzenden Frauen in der Vqlundarqvida (Wielandslied) 9 und Brunhilde 10 , die —> Heldenjungfrau, zu rücken. Sie alle werden durch die Fk.er wahrscheinlich nicht nur als zum Fliegen befähigte Mythengestalten, sondern auch als Vogel(=Seelen)wesen, evtl als Wunsch- und Gedankenwesen charakterisiert 11 . 3. M ä r c h e n . In vielen Var.n zu KHM 47, AaTh 720: —> Totenvogel·2 wird der von der Stiefmutter getötete Junge in einen Vogel verwandelt (Mot. Ε 613.0.1), lebt also in einem Fk. weiter und wird nach der Bestrafung der Stiefmutter wieder Mensch. Hier ist
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Federhemd, -kleid
nicht nur die Vorstellung von der Seele in Vogelgestalt, sondern auch nach L. Röhrich „die willkürliche Ablegbarkeit des Tiergewandes"' 3 deutlich. In dem ähnlich aufgebauten Märchen Die Taube bleibt der getötete Junge eine Taube: „so schön wie diese Taube! graublau mit dichtem Federkleid" 1 4 . Noch augenfälliger wird das beliebige Anund Ausziehen des Fk.s im Indianermärchen Der Besuch im Himmel·5: Ein Mann (Zauberer) träumt von einem schönen Mädchen und heiratet dann die Tochter des Königsgeiers, ein Wesen, das beliebig Menschenund Vogelgestalt austauschen kann. Nach einer der Jungschen Lehre folgenden (cf. C. G. —> Jung) und für die Märchenforschung nur sehr vorsichtig anzuwendenden Erklärung H. von — B e i t s verbindet sich der menschliche Zauberer hier mit dem weiblichen Wunschbild seiner Seele, das in der Vogelgestalt erscheint 16 . Für einen Besuch bei den Königsgeiern im Himmel erhält er als Flugmittel und Verwandlungshülle ebenfalls ein Fk. Doch die Verbindung mit der GeierFrau zerbricht (cf. Die gestörte —» Mahrtenehe), der Zauberer-Mensch fliegt allein in einem von einer Nachtigall geschenkten Fk. zur Erde zurück (Mot. Κ 1041.1). Nur von begrenzter Dauer ist auch das Zusammenleben mit der ,Vogel-Mensch-Frau' im nordamerik. Indianermärchen Ititaujang, der Mann, der die Wildgans heiratete17, in welchem die Rückverwandlung der Frau und ihres Kindes in Wildgänse bes. anschaulich beschrieben wird. Zu einer dauerhaften und glücklichen Verbindung des Helden mit der magischen Frau kommt es dagegen im verwandten südamerik. Märchen Die Tochter des Königsgeiers18. In den meisten dieser Beispiele wird die Bindung durch die Initiative des Mannes erreicht, dessen Aufgabe bes. kunstvoll verwickelt dargestellt wird in einem malai. Märchen 1 9 : Ein schwarzer Vogel zeigt dem Helden den Weg zur gesuchten geflügelten Frau, die den heilenden Vogel besitzt (cf. AaTh 550: —> Vogel, Pferd und Königstochter). Die Gestalt der Zauber-Frau im Fk. erscheint also weit verbreitet, mannigfach variiert und doch im Kern in gleicher Weise wirkend in die Erzählungen eingebettet. Aber nicht nur weibliche Zauberwesen in einem Fk. zwingen einen Mann zu Kampf und Bemühen,
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sondern auch umgekehrt kann ein männliches Wesen in einer Federhülle oder als Vogel für eine Frau die Anregung zur Leistung, zur Rettung ihres Glückes werden: In dem Märchen Hans Wunderlich20 wirkt der bunte Junge, dem die „Federn und Haare, schwarz und weiß, gries und grau, rot und grün, gelb und blau" eine Art Vogelnatur verleihen 21 , als tatkräftiger und schlauer Helfer seiner Mutter (AaTh 708: -> Wunderkind). Zentrales Motiv in der weitverbreiteten Erzählung AaTh 432: —» Prinz als Vogel ist der Besuch des Helden bei seiner Geliebten in einem Fk. (als Taube o.ä.) 2 2 . Solche zeitweiligen Verwandlungen des Helden gehören auch in den Märchenzyklus von der —> Magischen Flucht (AaTh 313, 314 etc.), in dem der Verzauberte bald als Taube, bald als Gans erscheint 2 · 1 . Noch deutlicher wird der Wechsel zwischen Menschengestalt ( = Diesseitswelt) und Tierwesen ( = magische Jenseitswelt) in vielen Var.n zu KHM 49, AaTh 451: -> Mädchen sucht seine Brüder2*: Die Verzauberung der sechs Prinzen durch die Stiefmutter mittels weißseidener Hemdchen bewirkt Verwandlung in Schwäne; aber sie erhalten jeden Abend eine Viertelstunde lang Menschengestalt: „und bliesen einander an und bliesen sich alle Federn ab, und ihre Schwanenhaut streifte sich ab wie ein Hemd". Nach langer Zeit erfolgt dann die Rückverwandlung durch von der Schwester (die eine qualvolle Erlösungszeit für die Brüder durchlitten hat) genähte Sternenblumenhemden.
4. S c h w a n k , T h e a t e r , Fastnachtsb r a u c h . Während das Fk. im Mythos und im Märchen (symbolisches) Flugmittel in eine jenseitige Welt und zu einer tieferen Geistigkeit sein kann, dient es im Schwank — künstlich angezogen durch vorheriges Bestreichen mit Teer (AaTh 1383, 1681: —» Teeren und federn) — ausschließlich zur entstellenden und gefährdenden —» Verkleidung (Frau als Kukkuck im Baum; cf. AaTh 1029, 1091, 1092: —> Frau als unbekanntes Tier) oder zur Verächtlichmachung und Bestrafung: So wird ζ. B. der verhinderte, überlistete oder ertappte Ehebrecher in ein Faß mit klebriger Flüssigkeit gesteckt, danach in Federn gewälzt und dadurch der Lächerlichkeit und dem Spott preisgegeben (AaTh 1358 A: —> Ehebruch belauscht)15.
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Federn
—> A r i s t o p h a n e s h a t in s e i n e r K o m ö d i e Die Vögel ( 4 1 4 a . C h r . n . ) d a s F k . , Z a u b e r m i t t e l aus Mythos und Märchen, wahrscheinlich e r s t m a l s auf d e r B ü h n e v e r w e n d e t : F ü r d i e M e n s c h e n , d i e in d e m n e u z u g r ü n d e n d e n V o gelstaat leben möchten, stehen ganze K ö r b e voll F e d e r n u n d F k . e r b e r e i t , f ü r j e d e V o g e l art b e s o n d e r e (V. 1 3 0 5 - 1 4 2 0 ) . O b Aristop h a n e s f ü r sein Spiel i h m b e k a n n t e M ä r c h e n motive verarbeitet oder ganz aus seiner Phantasie e i n e , z a u b e r ' h a f t e M ä r c h e n k o m ö d i e g e s c h a f f e n h a t , läßt sich nicht s i c h e r e n t s c h e i den26. ledenfalls hat er nach M e i n u n g d e r I n t e r p r e t e n „ e i n e n V o r s t o ß in e i n e U r w e l t " g e w a g t 2 7 . In s e i n e m Ü b e r b l i c k ü b e r die G e s c h i c h t e d e s B ü h n e n k o s t ü m s s i e h t J. G r e g o r d e n P a p a g e n o im F k . in M o z a r t s Zauberflöte als „ d e n e n t f e r n t e s t e n E n k e l d e r T i e r v e r k l e i d u n g e n " 2 8 , w ä h r e n d O . R o m m e l diese Gestalt als V o g e l m e n s c h e n , „ a l s m y t h i s c h e V e r k ö r p e r u n g p r i m i t i v e n T r i e b l e b e n s " zu d e u t e n v e r sucht29. A u c h im F a s t n a c h t s b r a u c h spielt d a s F k . e i n e R o l l e : In R o t t w e i l z . B . t r ä g t d e r F e d e r a h a n n e s zu e i n e r F r a t z e n m a s k e ein G e w a n d , d a s d i c h t mit s p a n n e n l a n g e n G ä n s e f e d e r n b e setzt ist 3 0 . In T r i b e r g existiert als E i n z e l m a s k e d i e F i g u r d e s sog. F e d e r e s c h n a b e l s , e i n e V o g e l m a s k e mit b u n t e m , d i c h t e m F k . H e r k u n f t u n d Sinn d i e s e r V e r m u m m u n g sind nicht gek l ä r t . D a d e r F e d e r a h a n n e s sich mit H i l f e e i n e r l a n g e n S t a n g e in g r o ß e n S p r ü n g e n gleichsam fliegend vorwärtsbewegt, erinnert e r a n e i n e n V o g e l m e n s c h e n u n d ist so, gleichs a m typol., d e m P a p a g e n o v e r w a n d t 3 1 . A u f die verwandten Vogel ( = Geier)-Masken der süddt. Frühlingsbräuche hat W. Liungman hingewiesen32. 1 H D M 1, 538; ibid. 2, 23. - 2 Weicker, G.: Der Seelenvogel in der Alten Litteratur und Kunst. Lpz. 1902; cf. auch Spieß, K.: Der Vogel. Klagenfurt 1969. - 3 cf. Ilias 5, 778; 7, 59; 14, 290; 24, 340; Odyssee 1, 320; 3, 372; 5, 51; 5, 353; 22, 240; 24, 5; cf. Ovid, Heroides 8, 68 (Zeus als Schwan). 4 Edda. 1: Text. ed. G. Neckel/H. Kuhn. Heidelberg 4 1962, 111; cf. Grimm, J. und W.: Dt. WB. 3. Lpz. 1862, 1401; Grimm, J.: Dt. Mythologie 1. Gütersloh 4 1875, 272. - 5 Schneider, H.: Die Götter der Germanen. Tübingen 1938, bes. 6, 39, 103, 121, 178, 230; Hertz, W.: Aus Dichtung und Sage. Stg./B. 1907, 4 3 - 4 5 . - 6 Neckel, G./ Niedner, F.: Die jüngere Edda (Thüle 20). Jena 1925, 151. — 7 Für das Nebeneinander von Menschen- und Tierwesen cf. Röhrich, L.: Mensch und
Tier - Verwandlung und Erlösung. In: id., Märchen und Wirklichkeit, 8 1 - 1 0 2 ( = Karlinger, 2 2 0 253). - 8 Hertz (wie not. 5). - 9 Neckel/Kuhn (wie not. 4) 117; Genzmer, F.: Edda 1 (Thüle 1). Düsseldorf/Köln 1963, 20sq. (v. not. zu Strophe 1, Z. 4); Betz, E.-M.: Wieland der Schmied. Erlangen 1937, 7 6 - 8 5 . - 10 Genzmer (wie not. 9) 106. 11 von Beit 1, 236, 241. - 12 Belgrader, M.: Das Märchen von dem Machandelboom. Ffm./Bern/Las Vegas 1980, 42. - 13 Karlinger, 247. - 14 Löwis of Menar, A. von: Russ. Volksmärchen. MdW 1977, num. 3. - 15 Koch-Grünberg, T.: Indianermärchen aus Südamerika. MdW 1921, num. 38. — 16 von Beit 1, 242, 247, 254 et pass.; cf. Hartland, E. S.: The Science of Fairy Tales. L. 1891, 298. 17 Krickeberg, W.: Indianermärchen aus Nordamerika. MdW 1924, num. 7. — 18 wie not. 15, num. 64; weitere Beispiele: Stroebe, K.: Nord. Volksmärchen 2. MdW 1922, num. 45; Aichele, W./Block, M.: Zigeunermärchen. MdW 1962, num. 27; Böhm, H./Specht, F.: Lett.-lit. Volksmärchen. Md\V 1927, num. 8, 21; Hambruch, P.: Südseemärchen. MdW 1921, num. 37. - 19 id.: Malai. Märchen aus Madagaskar und Insulinde. MdW 1922, num. 43. - 20 Zaunert, P.: Dt. Märchen seit Grimm. MdW 1976, num. 4. — 21 von Beit 1, 750sq. - 22 cf. Wetzel, Η. Η.: Märchen in den frz. Novellenslgen der Renaissance. B. 1974, 1 0 3 - 1 0 5 . - 2 3 BP 2, 5 1 6 - 5 2 7 . 24 Lüthi, M.: So leben sie noch heute. Göttingen 2 1976, 39—55; an C. G. Jung orientierte Deutung bei Franz, M.-L. von: Das Weibliche im Märchen. Stg. 1977, 1 1 1 - 1 3 9 . - 25 cf. Prinz, J.: A Tale of a Prioress and Her Three Wooers. In: Literar.hist. Forschungen 47 (1912) 6 5 - 1 6 0 , bes. 65, 109, 113 (mit weiteren Hinweisen auf das Feder-Motiv in Schwänken). - 26 cf. dazu EM 1, 7 8 3 - 7 8 6 . 27 Kock, T.: Ausgewählte Komödien des Aristophanes 4. Β. 3 1894, 43; Schadewaldt, W.: Griech. Theater. Ffm. 1964, 518sq.; cf. Weinreich, O.: Aristophanes. Komödien 2. Zürich (1953) 2 1968, V I I - X I I , L I I - L V I I I , bes. LV. - 28 Gregor, J.: Wiener Szenische Kunst. 2: Das Bühnenkostüm. Wien 1925, bes. 9sq„ 31sq., 39, 65, 85, 101, 103, 132; Abb.en 18, 99, 110; id.: Weltgeschichte des Theaters. Wien 1938, 514. - 29 Rommel, O.: Die Altwiener Volkskomödie. Wien 1952,503 (Abb.en), 518, wichtig 1003sq.; cf. Weinreich (wie not. 27) LV. — 3 0 Kutter, W.: Schwab, alemann. Fasnacht. Künzelsau/Thalwil/Salzburg 1976, 98. 31 Lambrecht, K : Die Rottweiler Narrenfibel. Rottweil 1974; id.: Masken unserer Stadt Rottweil. Stg. 197 5. - 32 Liungman, W.: Traditionswanderungen Euphrat—Rhein 1. Studien zur Geschichte der Volksbräuche (FFC 118). Hels. 1937, Reg. s.v. Federn. Osnabrück
Gertrud Werber
F e d e r n —> T e e r e n u n d f e d e r n
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Federowski, Micha!
Federowski, Michal, *Warschau 1. 9. 1853, t ebenda 10. 6. 1923, poln. und weißruss. Folklorist und Ethnograph, studierte bis 1875 an der Petrovsk-Razumovsken landwirtschaftlichen Akad. in Moskau, war 1875—77 als Agronom in Polen, 1 8 7 7 - 1 9 0 4 als Gutsverwalter im westl. Weißrußland tätig und lebte nach 1904 in Warschau. In Polen sammelte er Materialien über poln. Brauchleben und Volksglauben sowie mündl. Prosa, Lieder, Sprichwörter und Rätsel, die in seine Monogr. Lud okolic Zarek, Siewierza i Pilicy ([Das Volk aus dem Gebiet von Zarki, Siewierz und Pilica] Krakow 1888/89) eingingen. Weit umfassender sind seine Slgen weißruss. Folklore. Während seines 27 Jahre langen Aufenthalts im westl. Weißrußland bereiste F. als Gutsverwalter abgelegene Gegenden dieses Gebietes und zeichnete dort größtenteils selbst Märchen und andere Gattungen in den Dialekten der weißruss. Sprache auf. 125 der 148 Erzähler F.s und seiner Korrespondenten waren weißruss. Bauern, unter ihnen hervorragende Märchenerzähler wie Pavlina Krasnovskaja und Tadeus Matvejcuk aus dem Gebiet Volkovysk, Jan Dezko aus dem Gebiet Sokal'. F.s dreibändige Slg Lud biatoruski na Rusi litewskiej ([Das weißruss. Volk in Russ.-Litauen] Krakow 1897/ 1902/1903) enthält etwa 1300 Prosatexte, darunter ca ein Drittel Märchen. Ein bedeutender Teil der Aufzeichnungen blieb unveröffentlicht 1 . Auch von Warschau aus ließ F. die Verbindung mit Weißrußland nicht abreißen, veröffentlichte mehrere Aufsätze über dessen Ethnographie 2 und beschäftigte sich mit der Vorbereitung zum Druck weiterer Bände seiner Slg weißruss. Folklore; posthum erschienen in Warschau die Bände mit Sprichwörtern (t. 4: 1935), Liedern (t. 5 - 6 : 1 9 5 8 60) und Hochzeitspoesie (t. 7: 1969). Die ersten drei Bände der Slg (mit Sachregister als Beilage) erschlossen bereits den ungewöhnlichen Reichtum der westweißruss. Volksprosa und gaben Aufschluß über Themen-Repertoire, Stil und Beziehung zur mündl. Überlieferung anderer Völker. Nicht nur für Folkloristen, sondern auch für Ethnographen und Linguisten waren diese Materialien von nicht geringer Bedeutung. F. war einer der ersten Sammler weißruss. Märchen, der in den Vorworten seiner Veröff.en die Aufmerksamkeit auf die Erzähler und lokalen Lebensbedingungen der Märchen richtete. Die Slg war allerdings nicht frei
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von Mängeln, die den Stand der damaligen Folkloristik spiegeln: F. klassifizierte die Texte nach dem unnötig komplizierten System von J. Karlowicz, vermengte daher Märchen mit Erzählungen aus dem Bereich des Aberglaubens; unvollständig sind die Angaben über die Erzähler in den Anmerkungen, und fast völlig fehlen Hinweise auf ostslav. Var.n der Märchen.
Die von F. ed. Bände weißruss. Volksprosa fanden große Beachtung bei J. —» Polivka 1 , E. Karskij 4 , V. - » Hnatjuk 5 , S. Ediarskij 6 und L. Krivickij 7 . Die beiden letzteren betrachteten die Folklore des westl. Weißrußlands als einen Bestandteil westslav. Folklore. Inzwischen ist aber aufgrund von neuveröffentlichtem Material die Einheit der Folklore des westl. und östl. Weißrußlands belegt worden. Die Bedeutung F.s zeigen zahlreiche neuere wiss. Unters.en seines Werks. 1 Aufbewahrt im Hss.-Archiv F.s in der Hss.-Abt. der Univ.-Bibl. Warschau, Signatur 1 3 3 - I V , 155 — IV. — 2 Pruzana i jej okolice (Pruzana und seine Umgebung). In: Ziemia 2 (1911); Witebsk i Witebszyzna (Witebsk und sein Umland). In: Ziema 3 (1912) etc. - 3 Rez. in: Archiv für slav. Philologie 21 (1899) 2 5 9 - 2 6 1 ; 29 (1907) 4 4 5 - 4 5 4 ; v. auch ZfVk. 13 (1903) 243 und 14 (1904) 342sq. 4 Rez. in: Izvestija otdelenija russkogo jazyka i slovesnosti Akademii Nauk 4,1. St. Peterburg 1899, 349—353; in: Z u m a l Ministerstva narodnogo prosvescenija 343, 10 (St. Peterburg 1902) 4 2 6 433. - 5 Rez. in: Zapiski Naukovoho tovarystva imja Sevcenka 27 (Lwow 1899) Teil 1, Jg 8, p. 4 4 - 4 8 . 6 Rez. in: Ksi?zka 2 (1902) 146sq. - 7 Rez. in: Ksigzka 7 (1903) 236sq.; v. auch die Rez.en von A. Radic in: Zbornik za narodni zivot i obicaje juznih slavena 2 (1897) 470; A. Grigor'ev in: Etnograficeskoe obozrenie 43, 4 (1899) 1 3 7 - 1 4 0 ; A. Brückner in: ZfVk. 13 (1903) 233 und 14 (1904) 331 sq.
Lit. (Ausw.): Kozerska, Η.: M. F., etnograf i zbieracz dokumentow na Bialorusi Zachodniej ( 1 8 5 3 - 1 9 2 3 ) (M. F., Ethnograph und Sammler von Dokumenten im westl. Weißrußland). In: Slavia Orientalis 6 (1957) 2 1 2 - 2 3 2 . - Damrosz, J.: Na marginesie edycji materialow njkopismiennych Michala Federowskiego (Zur Edition der hs. Materialien M. F.s). In: Etnografia polska 6 (1962) 281—289. — id.: Naukowy obraz Michala Federowskiego (Das wiss. Bild M.F.s). In: Zeszyty etnograficzne Muzeum kultury i sztuki ludowej 3 (W. 1963) 1 3 3 - 1 5 0 . - Bandarcyk, V. K.: Historyja belaruskaj etnahrafii 19 st. (Geschichte der weißruss. Ethnographie des 19. Jh.s). Minsk 1964, 2 7 0 - 2 7 2 . - Vlasova, Ζ. I.: M. Federovskij kak fol'klorist (M. F. als Folklorist). In: RusF 11
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Fee, Feenland
(1968) 2 7 7 - 2 9 6 . - Barag, L.: Belaruskaja kazka (Das weißruss. Märchen). Minsk 1969, 17sq. — Bandarcyk, V. K.: Historyja belaruskaj etnahrafii 20 st. (Geschichte der weißruss. Ethnographie des 20 Jh.s). Minsk 1970, 116sq. - Salamevic, Ja.: Michal Fedaroüski. Minsk 1972.
Ufa
Lev G. Barag
Fee, Feenland 1. Verbreitung und Abgrenzung der F.nmythologie - 2. Wort- und Begriffsgeschichte - 3. Mütterliche' F.n - 4. Elbische F.n - 5. F.nglaube und Dianakult — 6. F.nliebe, Tabu, F.nreich 7. Fata Morgana - 8. Literar. Synkretismus in Spät-MA. und Renaissance
1. V e r b r e i t u n g u n d A b g r e n z u n g d e r F . n m y t h o l o g i e . Die (kelto-)rom. F.nmythologie entstand aus der Verschmelzung unterschiedlicher Traditionen, des antiken und ide. Schicksalsglaubens, einer volkstümlichen Natur- und Elementargeistermythologie, Fruchtbarkeitskulten und des Kults weiser, wahrsagender Frauen (Priesterinnen). Die These irokelt. Herkunft ist daher mit A. Jeanroy (1885—1902) ebenso abzulehnen wie die Interpretation der F.n als „idealisierte Weiblichkeit nach frz. Geschmack" (Kummer 1929— 30, 1289), die durch die gemeinrom. Märchentradition widerlegt wird. Andererseits machen die Parallelen in der germ, und slav., ja sogar semit. Folklore eine begriffs- und wortgeschichtliche Abgrenzung notwendig, welche die ältere Lit. oft unterlassen hat. Die Geschichte der z.T. mündl., z.T. literar. geförderten Übernahme der irokelt. F.nmythologie der Sidhe in Verbindung mit der Verbreitung des Artusstoffs seit dem 12. Jh. zeigt deutlich, daß ein bereits vorhandener F.nglaube die Verschmelzung der neuen Inhalte erleichterte. E. MacLeach (1949) unterscheidet deshalb zwischen den in Gemeinschaft lebenden F.n der ir. Tradition (Herkunft von prähist. Lichtgöttern) und den mit Haus und Hof bzw. mit natürlichen Orten verbundenen, individuellen F.n der engl, und kontinentalen Tradition, wobei er überdies in der engl. F.nmythologie eine Mischung kelt. und germ. Elemente annimmt. Aber auch die Zwischenstellung der ir. F.n zwischen Elbinnen und weisen Frauen entspricht der doppelten Ab-
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stammung der verwandten germ. Nornen von Göttern und Elben sowie der antiken Verbindung von Parzen und weissagenden Nymphen. Ε. H. Meyer (1903, Kap. 6) betont daher in der germ. Mythologie die Überschneidungen zwischen den —> Elementargeistern der niederen Mythologie und den sog. höheren —> Dämonen, zu denen die —> Schicksalsfrauen ursprünglich gehören. Die vereinzelte Ausbildung männlicher F.nwesen (feetauds) in der frz. Folklore und durchgehend im ir. Bereich sowie die Kontaminationen mit der germ. Vorstellung des ^ E l f e n Königs (Alberich, —> Oberon) in der Lit. scheinen dies zu bezeugen. 2. W o r t - u n d B e g r i f f s g e s c h i c h t e . Die (außer rumän.) gemeinrom. Wortgeschichte von fata (mittellat. fata, altfrz. fae, feie, daraus engl, fay, mhd. feie, feine, neufrz. fee etc.) spiegelt die semantische Breite; die Ableitungen betonen einmal allg. Zauber, verzau• bern (mittellat. fatare, mittelengl. faerie, woraus die engl. Gattungsbezeichnung —> Fairy für Wesen der niederen Mythologie abgeleitet ist), zum andern schicksalhaft bestimmen, feien. Im dt.sprachigen Raum ist der F.nbegriff außer in Grenzbereichen (Rheinland, Westschweiz, Südtirol) nicht verbreitet; sein Vorkommen ist literar. Ursprungs. Frühnhd. ist nur das Kompositum Meer- bzw. Waldfei erhalten geblieben, bis sich seit 1741 unter dem Einfluß des frz. —> Conte de(s) fees das Fremdwort F. durchsetzte (F.nland, F.nmärchen seit 1767 durch Wieland). In den K H M sind bekanntlich die rom. F.n durch einheimische Bezeichnungen Frau Holle, Drei Spinnerinnen, weise Frauen) ersetzt. Das rom. (bes. frz. und ital.) Märchen belegt, daß die meist zu dritt auftretenden Schicksals- und Gaben-F.n eine zentrale Komponente des ursprünglichen F.nglaubens darstellen. Etymol. liegt metonymische Personifizierung von fatum vor, dessen Pluralform fata als Fem. begriffen wurde (Schröder 1966—69); die Verehrung der Tria Fata als parzen- und moirenähnliche, weibliche Schicksalsgottheiten in der Spätantike ist durch Prokop (De bello Gothico, 1,25), Ausonius (Gryphus ternarii numeri, 2, 19) und —> Isidor von Sevilla (Etymologiae, 8, § 92) bezeugt. Die Spinnerinnenattribute (Wollsieb, Faden,
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Fee, Feenland
Spindel) tauchen im Volksglauben und Märchen wieder auf. Die Umwandlung der Fata zu Fatae, denen die männlichen Schicksalsdämonen Fati entsprechen, ist im cisalpin. Gallien nachgewiesen. Unter Bezeichnungen wie Göttinnen (deesses), weise Frauen (sapaudes, franches puceles senees), Drei Schwestern („tres illae sorores, quas antiqua posteritas et antiqua stultitia parcas nominavit" bei Burchard von Worms, Decretorum libri 20, 19, 5, PL 140,971) oder selige Jungfrauen (puceles bien eurees) — letzteres verweist auf die germ. Vorstellung der Saligen oder Seligen Fräulein (felices dominae; Meyer 1903, 196) und die irokelt. Jungfrauen der Seligen Inseln — erwähnt das frz. MA. die Fatae (z.T. auch in der romanisierten mlat. Form Fadae); die neuere frz. Vk. spricht meist von Dames Blanches, Bonnes Dames u. a. Als eine F.ntrias im ursprünglichen Sinn (im Zeichen der Sommersonnwende und des Schicksalsrads der Fortuna) treten Morgue, Maglore und Arsile im Jeu de la Feuillee (ca 1277) des Adam de la Haie auf. In Italien wurden die Fate offensichtlich schon sehr früh mit dem —> Sibyllenkult identifiziert. Der Glaube an die schicksalsbestimmende Macht der F.n (z.T. unter dämonologischen, z.T. unter christl. Vorzeichen; cf. Brednich 1964) steht außer Frage und spiegelt sich z.B. noch in den Prozeßakten der Jeanne d'Arc. 3. . M ü t t e r l i c h e ' F.n. Die Fata(e) trugen mütterliche Züge und wurden ähnlich wie ihre germ, und slav. Entsprechungen bes. als Geburtshelferinnen bemüht (Beziehungen zu den mütterlichen Junon'es, den Nymphen und dem Fruchtbarkeitskult der Diana). Die Ausweitung der Schicksalsdämonen zur mütterlichen Gaben-F. wurde wohl durch den kelt. (auch im Rheinland verbreiteten) Kult der Matres oder Mätronae begünstigt, Mutterund Wassergottheiten (cf. Flußnamen wie Marne), die meist als Dreieinheit mit Fruchtkörben dargestellt wurden (de Vries 1957, 2, 288-302). Die Parallelen zur -> Frau Holle (Hulda), zur Frühlings- und Erdgöttin Nerthus (—> Berta, —> Percht), zu den germ. Nornen sowie zu der Dreiheit der nord. Göttin Freyja mit ihren Begleiterinnen Fulla (Füllespenderin) und Gefjon (Landspenderin, cf. die lit. Gabiae oder kelt. Ollogabiae)
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sind offensichtlich (Meyer 1903, 213, 2 5 1 262, 420-433). Das Motiv des F.nfußes im Volksaberglauben verweist noch auf den idg. Mythos. Im übrigen wird eine ähnliche Doppelung schicksalsbestimmender und mütterlicher Funktion auch den ir. Töchtern des Meeres zugeschrieben (cf. Pokorny 1944, 113). Die Überlagerung des indifferenten Schicksalsbegriffs durch Fruchtbarkeitskonnotationen erklärt wohl auch die vorwiegend positive Rolle der F., doch darf darüber die dunkle, hexenähnliche Seite nicht vergessen werden. Die Gaben-F.n (Mot. F 340-349) sind mit allen wichtigen Ereignissen des menschlichen Lebens: Geburt, Taufe, Hochzeit, Kindbett, Tod verbunden. Sie ,weben' das Schicksal des Menschen in seinen Träumen, weissagen die Zukunft des Kindes,,feien' oder .bedenken' dieses in einer taufeähnlichen Zeremonie und übernehmen —» Hebammen-, Ammen-, Ziehmutter- und Patinnenfunktion (das Hebammenmotiv ist in der Volksüberlieferung jedoch auch umgekehrt [menschliche Frau bei der Entbindung einer F. und deren Dank] zu finden [Mot. F 310-339]). In der volkstümlichen Frömmigkeit kann die F. daher auch durch die Jungfrau Maria ersetzt werden, und in der Provence vertreten die Drei Marien (Les Saintes Marie de la Mer) die F.n oder Gevatterinnen (Süddeutschland, Alpen). Die Paten-F.(n) sowie deren Eifersucht und Rivalität (meist zwei gute und eine böse F.) wurden zu einem zentralen Motiv des rom. Märchens bis zum höfischen Conte de(s) fees des 18. Jh.s, und auch die Figur der belohnenden (oder bestrafenden) und helfenden F. ist als Variante der mütterlichen Schicksalsund Gaben-F. zu verstehen. Die Ambivalenz, Kennzeichen mythischen Denkens, ergibt sich in psychoanalytischer Sicht aus der mütterlichen Funktion, in tiefenpsychol. Perspektive aus dem Anima-Charakter der Märchen-F. (Jung 1955, 78-120). So ist das helfende (und rächende) F.nkätzchen im ir. Märchen Motrin (Müller-Lisowski 1962, num. 20) tatsächlich die getötete Mutter. Daher kommen auch alle positiven Eigenschaften in ihrer Umkehrung vor. Negatives Pendant des Ammenmotivs sind Kindesraub- und —» Wechselbalgmotive (Hartland 1891, 93-134), weshalb zahlreiche Volksbräuche darauf abzielen,
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Fee, Feenland
die F.n günstig zu stimmen oder sie durch Gegenzauber (Drudenfuß, Salz, Nagel, Klinge, Knoblauch, Rosmarin etc.) am Betreten des Hauses zu hindern (cf. Müller-Lisowski 1962, num. 30; cf. Mot. F 3 8 0 - 3 8 9 ) . Auch erscheint die F. bald als gütige Zieh- und Ersatzmutter (mhd. Lanzelet, Wigalois, afrz. Lancelot en prose, Floriant et Florete, Tristan de Nanteuil, Auberon, Brun de la montagne etc.), bald — wie offenbar vor allem im Volksmärchen — als böse oder eifersüchtige Stiefmutter (Tegethoff 1923, 2, num. 13 und 20). Fülle und Weisheit stehen im Zusammenhang mit weiteren Konnotationen des Reichtums, der Kunstfertigkeit, der Heil- und Verwandlungskunst. In der ir. Sage von —» Diarmuid und Gräinne (Müller-Lisowski 1962, num. 8) hat der Mantel des einfältigen Weibes zugleich Entlarvungs- und Tischleindeckdich-Funktion. Im Roman d'Auberon (2. Hälfte 13. Jh.) schenkt die Mutter und F. Morgue Auberon ein Zauberhorn, in dem die kelt. Füllhornvorstellung zu erkennen ist (cf. Loomis/Lindsay 1931). In der ir. Heldensage schenkt die F. Connla einen Apfel, der nie weniger wird und die Sehnsucht nach dem F.nparadies weckt. Im 2. Teil des Rosenromans (1277; V. 18.457-18.468) verweist die Dame Abonde (Überfluß) auf eine der Frau Holle verwandte, mythische Funktion. Im rom. Volksglauben bringt die F. Glück und Gedeihen in das Haus, wo sie als G e vatterin' einkehrt oder als Frau eines irdischen Mannes weilt. Daneben sind aber — gerade in der ir. Mythologie — kostbare Materialien und artifizielle Kunstgegenstände ein F.nattribut. Im afrz. Roman d'Eneas (1160) ist die Rede von einem erlesenen Gewand aus den Händen der trois faees serors; im Erec —» Chretiens de Troyes stammen das Meßgewand von der F. Morgain (V. 2.353 — 2.380) und der Krönungsmantel von vier weisen F.n, die der Autor mit den vier höheren Künsten des Quadriviums identifiziert (V. 6 . 6 8 2 - 6 . 7 4 7 ) . Geläufig ist daher in literar. Tradition die Verbindung der F.n mit den Musen und Chariten, „les neuf belles Fees", wie sie noch A. Furetiere im Dictionnaire universel (1727) nennt. Das Herbeizaubern prachtvoller Ausrüstung oder Verarbeiten edler Stoffe (Goldfaden u.a.) gehört im Mär-
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chen zu den wichtigsten Aufgaben der ZauberF. (cf. Tegethoff 1923, 1, num. 27; MüllerLisowski 1962, num. 20). So ist der Ausdruck F.nfinger für Geschicklichkeit gemeinrom. verbreitet. Die magische Fähigkeit zu heilen schließlich verbindet die F. mit zahlreichen weiblichen Gestalten der ide. Mythologie, bes. Elfen, Nymphen, Waldfrauen (cf. Mannhardt 1874, 1 , 7 4 - 8 7 ; cf. Pokorny 1944, 115). Die F. der —» Artustradition tritt zunächst als Heilende hervor; die F. Morgain heilt, wärmt, nährt und verleiht ewiges Leben. Der Verf. des Lancelot en prose (ca 1220) macht die Nähe zum ma. Hexenglauben deutlich.
4. E l b i s c h e F.n. Indessen wird der mütterliche Sinnbezirk der Vielfalt der F.nüberlieferung nicht gerecht, wie sie seit dem frühen MA. bezeugt ist. Die naturmythische Lokalisierung der F.n, ihr Kleinwuchs und auch das Motiv der erotischen Verlockung sprechen für die schon von J. Grimm (1875) angedeutete und von A. Maury (1896) vertretene These begrifflicher und lexikalischer Kontamination von Fata/Fatus mit dem italischen Naturgottpaar Faunus (Fatuus)/Fauna (Fatua), dessen dämonische Weissagungen in der Antike als Anlaß zu Geistesverwirrung begriffen wurden. Die männlichen Wald- und Herdendämonen und die mit den Nymphen verwandten Fatuae tragen offensichtlich elbische Charakterzüge. Die Bezeichnung nympha ist der lat. Lit. des MA.s seit Burchard von Worms geläufig; als Nymphen erscheinen auch die arthurischen F.n, und noch A. Furetiere (1727) meint: „Les Fees ont succede aux Nymphes des Anciens". Im frz. (und z.T. auch anderen rom.) Volksmärchen, das sich durch die Beschränkung der Wesen niederer Mythologie auszeichnet, haben die F.n daher viele Funktionen der ide. Geister (cf. Mot. F 200—399) übernommen (cf. Delarue, 3 6 - 4 7 ) . Die ursprünglich aus meteorologischen Erscheinungen abgeleiteten und sodann topographisch differenzierten elbischen F.n (cf. Meyer 1903, Kap. 4, 1 4 4 - 2 2 5 ) treten oft in Gemeinschaft, zuweilen auch in F.nreichen auf und zeichnen sich durch ihre engen, wenngleich ambivalenten Beziehungen zur menschlichen Umwelt aus.
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Nicht nur die ir., auch die frz. Überlieferung kennt die Gestalt der F.nkönigin. Die Zauberkraft der F.n wechselt mit den Jahreszeiten (so galt etwa im Berry der 1. Mai als Höhepunkt), und dementsprechend ist für den Menschen je nach Ort und Zeit bes. Vorsicht geboten. Unter sich, zuweilen auch als Sippenschutzgeister, verrichten die F.n einfache Tätigkeiten wie Backen, Waschen, Putzen, Spinnen, die dem Alltag des Volkes entgegenkommen (Mot. F 271). Da auch die Elfen Glück bringen, weissagen, schenken, belohnen oder bestrafen, sind die Übergänge zu den Schicksals-F.n überall fließend. Wie die Elfen sind F.n für das menschliche Auge gewöhnlich unsichtbar, und ihr Anblick kann gefährlich sein. Sie wohnen im Verborgenen (Wald, Baumwurzel, Erde, Berginneres, Fluß- und Meeresgrund oder Insel) und kommen nachts zum Baden, Waschen, Kochen und Tanzen hervor; sie brauchen spezielle F.nnahrung (fairy food) und hinterlassen beim Gehen, Tanzen und Kochen Spuren. In Zentralfrankreich u.a. haben die F.n auch die Eigenart, den Nachttau mit ihren Schleppen zu verwischen und den Boden dadurch unfruchtbar zu machen (rousiner). Die ir. Volksüberlieferung siedelt die feenhaften Sidhe in einem westl. ,Land der Verheißung', der ,ewigen Jugend', auf den ,Inseln der Seligen', im ,Land der Jungfrauen' oder im ,Land unter der See' an. Ähnliches gilt für die Unterwasserpaläste der bret. fees des houles und Meer-F.n (Morganes oder Mari Morgans) sowie die bret. Brunnen-F.n (Margots-les-fees), deren Jenseitsreich durch einen Brunnenschacht erreicht wird (cf. auch den altfrz. Yvain und den altprov. Jaufre sowie AaTh 480: Das gute und das schlechte —> Mädchen). Insgesamt überwiegt im inselkelt. und normann.-bret. Bereich die Wassersymbolik, die auch die F.ngestalten der arthurischen Lais und Romane prägt. Baum-, Wald-, Schlucht- und Berg-F.n verweisen nach P. Sebillot (1904, 1, 226-230, 262-268, 4 3 6 455) dagegen eher auf kontinentale Tradition. Bei letzteren tritt das Motiv der Schatzgrotte oder des kristallenen Bergpalasts (cf. Sebillot [1904] 1, 226-230, 436-455, 4 7 2 - 4 7 6 ; Rhys 1901, 2, 4 5 6 - 4 9 7 [Welsh Cave Legends]; Saintyves 1918) an die Stelle der Unterwasserreiche (cf. elbische Bergwerks-
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mythen) und erklärt die Kontamination mit Venusbergmotiven im mittelmeer. Raum. Von alters her wurden auch bes. Gesteinsformationen, Felsen, Bergkämme, prähist. Monumente, aber auch ma. Burgen und Burgruinen mit F.n in Verbindung gebracht. Die sard. Dolmen und Nuraghen gelten als Wohnstätten der kleinwüchsigen j(y)änas (ital. giane), ähnlich wie auch die brit. und bret. Beispiele (Stonehenge, Carnac) zu volkstümlichen Fruchtbarkeitskulten im Zusammenhang mit dem F.nglauben Anlaß gegeben haben. Die Burgsagen nähern sich zuweilen der genealogischen Ahnfrausage (so sind im Poitou mehrere Orte mit der F. —» Melusine verknüpft). 5. F . n g l a u b e und D i a n a k u l t . Seit dem frühen MA. ist eine synkretistische Vermischung antiker und nordeurop. Mythologie sowohl im literar. wie im folkloristischen Bereich anzunehmen. Der Kult der italischen Mondgöttin Diana, der bis nach Nordeuropa verbreitet war, dürfte daher, wie L. A. Paton (1903, 275—279) annimmt, auch auf den F.nglauben eingewirkt haben, mit dem ihn zahlreiche Gemeinsamkeiten verbinden: Fruchtbarkeits- und Kindbettzauber, Heilkraft, aber auch Mondverehrung (der Endymionmythos mit seinen Elementen: Zauberschlaf, Zauberberg, F.nliebe), Wald- und Jagdmotiv (der weiße Eber des —» kelt. Erzählguts). Von einem „Mondkult des kelt. Weibes" spricht H. Schreiber (1842, 75), und schon in der Spätantike geriet Diana in die Nähe der nächtlichen Hekate und wurde wie jene mit F.nzauber und Bewußtseinsstörungen assoziiert (cf. Hunger 1959). Gemeinsamkeiten bestehen ferner in der naturmythischen Lokalisierung: Wald, Grotte (Ariciagrotte), See (Nemisee), die in zahlreichen Ortsbezeichnungen wie Foret de Diane, Lac de Diane weiterlebt. Die seit der Renaissance geläufige Gleichsetzung Dianas mit der F.nkönigin und umgekehrt geht bereits auf die ma. Lit. zurück. In der Vulgate Estoire de Merlin (Anfang 13. Jh.) erscheint Diana als Gaben-F., die dem ersten Kind des Dyonas die Liebe eines der weisesten Männer (—» Merlin) prophezeit. Dieses Mädchen Niviene ( = Viviane, Niniane) tritt im Huth-Merlin (Ende 13. Jh.) in der Tracht der Diana (grünes kurzes Kleid, Bogen) als demoiselle chasseresse am Artushof auf; am Lac Dyane erzählt Merlin ihr die Geschichte der grausamen Liebestäuschung des röm. Faunus durch Diana und antizipiert damit sein eigenes Unglück. (Zur naturmythischen Farbe Grün bei arthurischen F.n cf. Mauritz 1974, 6 2 -
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65). Die Verlegung des enserrement Merlin, der Einschließung des Zauberers durch die F. in einem Turm, Felsen oder Blütenbusch, in den F.nwald von Broceliande (Bretagne; cf. Markale 1976) entspricht einer folkloristischen Tradition, die schon Wace im Roman de Rou (V. 6 . 3 9 5 - 6 . 4 1 2 ) erwähnt. Den Glauben an Wald-F.n (?) bezeugt im 10. Jh. Burchard von Worms (Decretorum libri 20, 19,5, PL 140, 971); in Nordfrankreich und in der Franche-Comte spricht man von dem Dames Vertes (Sebillot 1904, 1, 2 6 2 - 2 6 8 ; Mannhardt 1904, 1, 117—120). In einem Zaubersee erzieht Viviane, die Dame du Lac, den jungen —> Lancelot (im dt. Lanzelet ist von einer meerfeie die Rede). Die Ableitung des Namens der neben Morgane berühmtesten arthurischen F. von der Dianasage ist sehr wahrscheinlich, denn nicht nur gehen wohl die Grottenund Nuraghen-F.n Sardiniens (yänas) auf die Göttin zurück, auch die elbischen Wald-F.n Welschtirols, die (Belle) Vivane oder Enguane (Mannhardt 1904, 1 , 9 9 - 1 0 8 ; 115 sq.) dürften der Umwandlung des Eigennamens zur Gattungsbezeichnung zu verdanken sein, wie er insgesamt für den rom. F.nbegriff charakteristisch ist.
6. F.nliebe, T a b u , F.nreich. Ebenfalls mit dem Elfenglauben verwandt und in literar. und volkstümlicher F.nmythologie zentral ist das Motiv der F.nliebe (Verbindung eines mythischen Wesens mit einem irdischen Mann [Mot. F 301.6]), zu dem die umgekehrte Konstellation des F.nraubs verbreitet ist (Mot. F 302.4sqq.; cf. Müller-Lisowski 1962, num. 29). Aus theol. Sicht erörtert das Problem zuerst Burchard von Worms (Decretorum libri 20, 19, 5) in bezug auf die „agrestes feminae [. . .] quas dicunt esse corporeas et quando voluerint ostendant se suis amatoribus et cum eis dicunt se oblectasse"; das wichtigste Zeugnis stammt jedoch von —» Gervasius von Tilbury (Oda imperialia [ca 1211] 3, 86): „Hoc equidem a viris omni exceptione maioribus quotidie scimus probatum, quod quosdam huiusmodi larvarum, quas Fadas nominant, amatores audivimus et cum ad aliarum feminarum matrimonia se transtulerunt, ante mortuos quam cum super inductis carnali se copula immiscuerunt; plurimosque in summa temporali felicitate vidimus stetisse, qui cum ab huius modi Fadarum se abstraxerunt amplexibus aut illas publicaverunt elogio, non tantum temporales successus, sed etiam miserae vitae solatium amiserunt".
Die wesentlichen Komponenten des Motivs (Mot. F 300), irdisches Wohlergehen (erotische Seligkeit) und Tabuierung der Beziehung, sind ausdrücklich verbunden. Das Tabu
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äußert sich als Verbot des Redens und Rühmens (Var.n der Lanvalsage), der Neugier, des Fragens und des Nennens des Namens (Lai de Tyolet, —>Lohengrin) und des Schauens (—* Melusine, —» Undine); zu der zweiten Möglichkeit, die bes. in der Volksüberlieferung verbreitet scheint, kommen hier noch seltenere Var.n hinzu (cf. Röhrich 1976, 125-142). Bes. das Redetabu (-> Schweigen als Voraussetzung für Glück oder Erlösung) scheint in umgekehrtem Verhältnis zum Motiv der stummen, schweigenden F. zu stehen (Roloff 1973, Kap. 4). Die Folgen der unstatthaften Neugier, Verlust des Glücks, Verstümmelung, Tod, Entführung, scheinen austauschbar und beziehen sich auf alle Möglichkeiten der Grenzbegegnung (cf. das Motiv der gestörten —> Mahrtenehe). Zu unterscheiden wären freilich die einander entgegengesetzten Motive der Verlockung und der Erlösung. Während ersteres vorzugsweise in der literar. Artustradition auftritt, findet sich letzteres (wie die gestörte Mahrtenehe) mehr in Erzählungen mündl. Ursprungs. Den Wunsch der F. nach Aufgabe ihrer F.nnatur und/oder Eingliederung in den menschlichen Bereich deutet man hier meist als Ausdruck der Sehnsucht nach (christl.) —» Erlösung. Zahlreich sind ja die Lokalüberlieferungen, in denen F.n oder Elfen als gefallene Engel (Südtirol, Island, England, Provence; cf. Mot. F 251.6), Seelen Verstorbener (Mot. F 251.2; Hartland 1891, 132sq.) oder ungetaufter Kinder (Mot. F 251. 3) u.a. begriffen werden. Als literarisierter Prototyp erscheint die Melusinensage, die möglicherweise prov. Ursprungs ist und von Gervasius (Otia imperialia, 1,15; Liebrecht 1856, 4 sq.) erwähnt wird. Das Schautabu bezieht sich hier auf den Schlangenleib der F. beim Bad. Als Var. des Tierbrautmotivs erscheint die —» Schwanjungfrau, das u.a. der mlat. Roman Dolopathos des —» Johannes de Alta Silva überliefert (zur Vk. v. Hartland 1891, Kap. 10sq.; Markale 1981, 163-168). In der bret. und ital. Folklore ist die Geschichte der Melusine, die in Zusammenhang mit dem verbreiteten Typus der Liebe zu Nixen oder Meerjungfrauen steht, auf die Tochter der F. Morgane übertragen worden (Loomis 1960, 287 sq.). Als Wasser-F. erscheint auch die Heldin der bad. Staufenberg-
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sage (—> Peter von Staufenberg), die das Erlösungs- mit dem Schlangenkußmotiv verbindet, das in der altfrz. Lit. als Fier Baiser geläufig ist. Die verbreitetsten Var.n repräsentieren die Versionen des Romantypus Le Bei Inconnu (Drachen-F.) und die mhd. Wolfdietrichsage (Erlösung des Waldweibs, der Rauhen Else; cf. Frank 1928; Loomis 1951; Ackerman, English Romances, 1959). Das Verlockungsmotiv, vor allem in der ir. Sagentradition beheimatet, wurde durch die Verbreitung des Artusstoffs literar. dominant. Wohl auch deshalb bezeichnet der zum Lanval-Graelent-Typus gehörige Lai de Mellon (V. 1 0 5 - 1 1 6 ) Irland als Herkunftsland der F.n (cf. Grimes 1928; O'HaraTobin 1976). Deutlich ist der aktive, herausfordernde Charakter der F. in der Sage, die sich von jener der Brautsuche- und Bewährungsmärchen unterscheidet (Müller-Lisowski 1962, num. 28; cf. Delarue 301). Dem Sidhe-Mythos entsprechend erscheint die Wonne-F. als herrscherliche Gestalt und prägt damit einen Typus, auf den die Zauber-F.n und F.nköniginnen der Renaissance-Lit. zurückgehen. Typische Var.n: (1) Die F. begegnet dem Helden als Werbende (z.B. bei der Jagd) und lockt ihn in ihr Reich (Mot. F 302.3.1). Prototypen sind die ir. Sage von Oisin im Land ewiger Jugend und die von Connla mit dem roten Haar. Der Sänger und Krieger Oisin (—> Ossian) wird von Niamh auf einem weißen Pferd in das Reich ihres Vaters entführt und kehrt erst nach 300 Jahren zurück (—» Entrückung; zum F.nmotiv der Zeitlosigkeit v. Hartland 1891, 161— 234). In der nordmittelengl. Romanze Thomas of Erceldoune (ca 1400), dem Vorbild der späteren Balladen über Tom the Rhymer (—»Tom der Reimer) ist die Werbung freilich in höfischem Sinn auf den Spielmann übergegangen, und die F. ist verheiratet (Flasdieck 1934). Eine offene Entführungsgeschichte ohne Rückkehr ähnlich der Lanvalsage ist die Sage von Connla, der von der F. nach Magh Meli (Ebene der Lüste) gelockt wird (Joyce 1961). (2) In der zentralen —> Cu Chulainn-Sage schickt die F.nkönigin Fand ihre Botin, die Wasser-F. Liban, die den Helden zur Hilfeleistung für die bedrängte Herrin auffordert (Thurneysen 1901, 2, Kap. 34, 4 1 3 - 4 2 6 ) , eine Konstellation, die zum Standardmotiv des arthurischen Romans wurde. Das Motiv der Hilfeleistung (Kampf mit Drachen, Riesen oder Werber) verbindet diese Version mit der Oisinsage, das Motiv des Verliegens im F.nparadies hat - abgesehen von den ma. Ritterromanen — sein Pendant in der Entrückung des
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verwundeten oder schlafenden Helden; die Fahrt ins Jenseitsreich schließlich ist Teil auch der ir. Imrama. Es ist deutlich, daß dabei heilende und erotisch versklavende Funktion der arthurischen F. austauschbar sind, wie u.a. die Übertragung des Motivs der Entrückung (Artus) auf epische Helden (Rainouart in La Bataille Loquifer, Ende 12.Jh.; Ogier in der Alexandriner Suite d'Ogier le Danois, 14. Jh.) zeigt. Die Umgestaltung des F.nreiches zu einer Walhalla der toten Helden ist, wie die Erwähnung der Montgibelsage bei Gervasius (Otia imperialia 2, 15; Liebrecht 1856, 12) bezeugt, um 1200 bereits abgeschlossen. (3) Die Umkehrung des Motivs, die Rückholung der F. aus dem irdischen Bereich durch den eifersüchtigen F.nkönig (Mot. F 301.6), scheint für die ir. Mythologie charakteristisch und bildet die Grundlage zahlreicher Entführungsgeschichten, deren Muster nach T. P. Cross und W. A. Nitze (1930) noch im Lancelotstoff durchscheint. Var.n des Typus finden sich im Lai de Tydorel (Mot. F 301.2) und im mittelengl. Sir Orfeo; im Lai di Yonec folgt die Frau dem sterbenden F.nkönig freiwillig in sein Reich.
7. Fata Morgana. Ihre herausragende Funktion in der kelt. Sage von der Wiederkunft Arthurs machte Morgane (frz. Morgue, Morgain) zur zentralen F.ngestalt des MA.s. Dabei entwickelte sich die ursprüngliche Herrin des kelt. Jenseits- und Totenreiches immer mehr zur Verkörperung der Luxuria (Venusberg) und — als Schwester Arthurs (seit der 2. Hälfte des 12.Jh.s) — auch zu dessen Gegenspielerin, die am Untergang des Artusreiches mitschuldig wird. Diese Entwicklung ist im einzelnen nicht geklärt, doch kann die Ambivalenz des irokelt. F.nlands (Totenreich und irdisches Paradies) als eine Ursache der Widersprüche begriffen werden. Als mythol. Grundmuster wird meist die eifersüchtige Beziehung der F.ngöttin Fand zu Cü Chulainn genannt. Dem entspräche das erste Auftreten der F. als eifersüchtige Helferin Hectors im antikisierenden Roman de Troie (Mitte 12. Jh.; V. 7.989); der Name Orva ist wohl aus Morva= Morgua abgeleitet. In Verbindung mit der Artussage erwähnt erstmals Geoffrey of Monmouth in der Vita Merlini (ca 1150; V. 9 0 8 940) eine Zauberin Morgen, die als berühmteste von neun Schwestern die Apfelinsel oder Insel der Seligen bewohnt. Das Motiv der kelt. Jungfraueninsel findet sich schon bei Pomponius Mela (ca 50 p.Chr.n.), der in De situ orbis (3, 16) die bret. Ile de Sein als
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Ort von neun heiligen Jungfrauen und Priesterinnen nennt. Apfelgarten (-insel) sind gemeinkeit. Symbole der Fruchtbarkeit und Unsterblichkeit (zum Motiv des Apfelbaums cf. auch Mannhardt 1905, pass.); im Gegensatz zu den meisten rom. F.n gelten die ir., von Göttern abstammenden F.n daher als unsterblich. Das walis. Gedicht Avallenau (Apfelgarten) aus dem späten 12. Jh. erwähnt in ähnlicher Weise eine Nymphe (chimleian) als Herrin und Schutzgöttin des Apfelgartens Wales (gegen England), ebenso die Prophetia Merlini (4,145; San-Marte 1853, 6 2 - 9 7 ) . Die Nymphe hat die Eigenschaften der F.n: Sie ist glowy, d.h. hell, strahlend, durchsichtig, kann sich unsichtbar machen und die Zukunft weissagen. In bezug auf die spätere Verbindung der Apfelinsel Avalon mit Glastonbury (Glas und Kristall als kelt. Jenseits- und Totenmotive) spricht —»Giraldus Cambrensis von „Morganis, nobilis matrona et partium illarum dominatrix atque patrona" (Chambers 1964, 270); als regia virgo bezeichnen sie Geoffrey und Pseudo-Wilhelm von Malmesbury (Chambers 1964, 264,266), während Etienne de Rouen Morgane im Draco Normannicus (1167—68) bereits als Schwester Arthurs und als ,nympha perennis' apostrophiert.
Im Anschluß an die afrz. Romantradition erwähnt erstmals Gervasius (Otia imperialia 2) eine ,Morganda fatata' (Chambers 1964, 276). Die Etymologie des Namens ist nicht abschließend geklärt. Ältere Hypothesen gingen von der Bedeutung Meerfrau (Grimm 1875, 1,342: bret. mor, Meer und gwen, strahlende Frau) oder Meergeborene (Rhys 1901, t. 1 , 1 7 1 , 3 7 3 - 3 7 5 : ir. murigena) aus oder identifizierten Morgane mit der ir. Meerjungfrau Liban Muirgen (Lot 1899,323—326). R. S. Loomis (1959, 345) hat Morgane mit der kelt. Wasser- und Muttergottheit Modron (Matrona) identifiziert und die najadische Natur der F. als ältestes Merkmal betont. L. A. Paton (1960, 1 1 24) dagegen nimmt eine Kreuzung zwischen der Meer-F. und der ir. Schlacht- und Leichendämonin Morrigan (Mahrenkönigin) an, eine Auffassung, der sich auch Loomis (1967) angeschlossen hat. W. Fauth (1977) hat neuerdings die Herleitung aus der gemeinkeit. Wurzel morg-/murg- (zum Grenzbereich gehörig, d.h. Berghänge, Küsten, Inseln etc.) vorgeschlagen.
Auffällig ist die geringe Rolle der F. im klassischen Artusroman (als Gaben-F. im Erec und Jaufre) und ihre wachsende Bedeutung in der romanesken Tradition des 13. und 14. Jh.s. Die von Geoffrey genannten Fähigkeiten Morganes (Kräuterkunde und Heilkunst, Fliegen und Verwandlung, magische Zahlenkunst) tauchen z.B. erst bei —>
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Hartmann von Aue, nicht jedoch bei Chretien auf. Die Verbindung der F. mit der sizilian. Venusbergsage (bei Gervasius) setzt nach Loomis (1959) eine mündl. Spielmannstradition voraus. Im Lancelot en prose erscheint Morgain als erotische Verführerin des Helden und Herrin des Val sans retor. Dabei tendieren die Prosazyklen dazu, die arthurischen F.n zu euhemerisieren. Entgegen der ir. F.ntradition (mit den Farben weiß, grün, gold) stellt z.B. die Vulgate Estoire de Merlin die junge Morgain als dunkelhaariges, sinnliches und wißbegieriges Mädchen vor, das sich für die Störung ihrer Liebe zu Guiomar (cf. Lai de Guigemar; der Held ist ursprünglich ein F.nkönig) an der Königin rächen will. Trotzdem übernimmt Morgain im Roman d'Auberon und in Floriant et Florete auch mütterliche Funktion, in letzterem Werk zugleich als Ziehmutter und spätere Geliebte. Diese Rollenambivalenz scheint für die Artustradition insgesamt charakteristisch (Mauritz 1974, 130sq.; Mela 1979, 5 2 - 5 8 ) . Entgegen den Thesen von Paton sah Loomis (1960) daher Morgain als Prototyp der arthurischen F., auch wo diese anonym oder unter anderem Namen erscheint. Ihre mythische Überhöhung erfährt Morgane weniger durch die Artus-Lit. als durch die romanesken —> Chansons de geste seit dem 13. Jh., welche die Voraussetzung für die synkretistische F.n-Lit. der Renaissance schaffen. Dabei fällt die ,Orientalisierung' der kelt. Insel-F. auf. Bereits erwähnt wurde die volkstümliche Montgibelsage, die wohl im Zusammenhang mit der Bedeutungsentwicklung der Fata Morgana als illusionistische Meeresspiegelung in der Meerenge von Messina steht (cf. Fauth 1977, 417sq.). La Chanson d'Antioche, La Conquete de Jerusalem, Le Bätard de Bouillon sind Kreuzzugslieder, Esclarmonde hat oriental. Kolorit, in Italien und Spanien spielt das mit der Karls- und Wilhelmssage verknüpfte, späte Epos Galiens Ii Restores, Floriant et Florete schließlich ist in Sizilien angesiedelt. Jean d'Outremeuse verlegt im Myreur des Histors (vor 1400) die schon genannte Ogiersage nach Zypern, wo Morgain als Nachfolgerin der zypr. Venus in einem Zauberpalast residiert; eine dän. Version setzt hierfür sogar das Wunderland Indien ein, das bes. durch die Alexandersage mit dem F.nland verbunden werden konnte (Loomis 1959, 6 5 - 6 8 ) . Im Bätard de Bouillon (ca 1350) liegt das
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F.nland östl. des Roten Meeres, und in dem katalan. Roman La Faula (1360—70) des Guillem Torrella sind F.nreich und irdisches Paradies im Zweistromland identisch geworden. Die Zauberin des vom Meer umspülten Felsens im span. Amadis-Roman ist wahrscheinlich auf Kreta angesiedelt (mythische —» Topographie).
Irokelt. Vorstellungen unterirdischer F.npaläste (cf. Patch 1956, Kap. 2) und mittelmeer. Berg- und Grottenmythen dürften sich spätestens seit dem 12. Jh. wechselseitig beeinflußt haben. In dem genannten Bericht des Gervasius ist das Reich der F. Morganda durch einen engen Spalt des Ätna zu erreichen; ähnliches berichten —» Etienne de Bourbon im Tractatus de diversis materiis praedicabilibus (1251—60; Chambers 1964, 278) und —» Caesarius von Heisterbach im Liber miraculorum (ca 1240; Chambers 1964, 277). Die Lokalisierung des F.nlands im Berginnern steht wahrscheinlich im Zusammenhang mit der ungewöhnlichen Verbreitung dieses Typus in der walis. Uberlieferung (Chambers 1964, 2 2 2 - 2 3 2 ; Rhys 1901, t. 2, 456—497). Wolfram von Eschenbach spricht im —> Parzival (vor 1210) von einem berc ze Fämurgän, dem Land Feimurgän und dem irdischen Paradies Terdelaschoye (wohl in Sizilien). Beziehungen bestehen ferner zur Venusberg- und —» Tannhäuser-Sage. In der Beschreibung des Venusbergs im Architrenius (1184) des Johannes de Alta Silva (Kap. 6) nimmt z.B. Aphrodite mit ihren Chariten die Motive des F.nreigens und des im Artusroman geläufigen Mädchenschlosses (Chastel as Dames, Chastel as Pucelles, Maidencastle etc.) auf. Früh anzusetzen ist auch die Identifizierung Morganes mit der —» Sibylle, der Yblis (Iblis) des mhd. Lanzelet und Reine Sebile der altfrz. Tradition (Dreiergruppe Morgue, Sebile und Reine de Norestan im Lancelot en prose; Morgue und Sebile l'enchanteresse im Tristan en prose; Sebile als Herrin des F.nlandes im Livre d'Artus; die F.n Morgue, Oriande, Sebile und Marse in Esclarmonde etc.; Marse oder Marte ist noch heute ein in Zentralfrankreich gebrauchtes Wort für F.). Die Sibyllensage von Norcia wurde in einheimischer Folklore offensichtlich mit dem F.nglauben (Rocca delle Fate, Motiv des Schlangenleibs der Berg-F.n von Freitag bis Samstag, erotisches Paradies) ver-
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bunden (cf. Desonay 1930: Einl.). Bei Andrea da Barberino (II Guerrino detto il meschino, ca 1391) ist die F. Alcina in den Monti Sibillini identisch mit der antiken Sibylle; im Wartburgkrieg (Ende 13. Jh.) lebt die Tochter der Sibylle, Felicia (!), zusammen mit Junon und Artus. Die Beschreibung des Paradis de la Reine Sibylle (1422) von Antoine de la Sale stützt sich auf Barberino und Lokalsagen. Felix Faber verlegt in seinem Evagatorium (1483) den Zauberberg nach Zypern, während Dietrich von Nieheim in De Schismate (1410) an die Sibyllentradition der Kumäischen Grotte anknüpft (zu Venusberg- und Sibyllentradition v. Pabst 1955). 8. L i t e r a r . S y n k r e t i s m u s in S p ä t - M A . und R e n a i s s a n c e . Die Renaissanceepik nimmt von dieser synkretistisch antikisierenden F.ntradition ihren Ausgangspunkt. Nach dem Vorbild des Andrea gesellt Matteo Maria —* Boiardo im Orlando innamorato (1487) der F. Morgana neben Angelica auch Alcina zu, die in —> Ariostos Orlando furioso (1516) Morganas Rolle übernimmt und zur Inkarnation der dämonischen Femme fatale wird. Der Name der F. Urganda in Bernardo di Tassos Amadigi di Francia (ca 1545) verweist auf die span. Tradition. Vielleicht unter dem Einfluß von arab. margan/murgan (Perle, Koralle) macht Giangiorgio Trissino in L'Italia liberata dai Goti (1548) die F. Margena zur dämonischen Nymphe und Menschenfischerin am Pilatussee von Norcia (cf. Fauth 1977, 429sq.). Bei Tasso ist Morgana durch die Zauberin Armida ersetzt, die über das erotische Paradies der Isola Fortuna herrscht. Die Verschmelzung verschiedenartiger Einflüsse ist auch für die nicht-ital. Lit. kennzeichnend. Die Gestalt des F.nkönigs wird vor allem durch den —» Oberon-Stoff weitervermittelt, die der F.nkönigin bes. durch Edmund Spenser und Shakespeare (cf. —» Fairy). Die Wiederannäherung an volkstümliche Formen des F.nglaubens erfolgt bes. in Italien, wo literar. und folkloristische Einflüsse sich überkreuzen. Die frühen Cantari in Strophenform (14. bis frühes 16. Jh.) überliefern ζ. T. Rittermärchen (z.B. Keller/Rüdiger 1959, num. 7), z.T. Volksmärchen wie die Istoria di tre giovani disperati e di tre fate, wo die F.n die typische Helferfunktion innehaben (v. Levi 1914).
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Fee, Feenland
Folkloristische, arthurische und oriental. Einflüsse verarbeitet —» Straparola in Le piacevoli notti ( 1 5 5 0 - 5 3 ) , wo die F.n eine Rolle spielen (z.B. num. 2: als Gaben-F.n., die weissagen; num. 3: als verführerische Sirene). Noch wichtiger ist hier das Pentamerone des —> Basile. Die F.n erscheinen als GabenF.n (1,6; 3,10), als Helferinnen (4,4), als Gevatterinnen (5,5) und nur einmal als Liebende in Verbindung mit dem Inselmotiv (5,9); F.nfluch und -bosheit thematisiert 2,8, den Typus des Erlösungsmärchens 1,10, den Dank von F.nsöhnen 1,3. Eine Reliterarisierung folkloristischer Grundmotive (u.a. beeinflußt von Italien) erfolgt kurz darauf in der Mode des Conte de(s) fees seit —> Perrault, Marie Catherine d' —> Aulnoy und Marie-Jeanne —» L'Heritier de Villandon in Frankreich (cf. auch —» Cabinet des fees). A u s g . η : Brewer, J. S./Dimock, J. F.: Giraldus Cambrensis: Itinerarium Kambriae 6. L. 1840 (Nachdr. 1964). — Liebrecht, F.: Gervasius von Tilbury: Otia imperialia (Ausw.). Hannover 1856. Sand, G.: Les Legendes rustiques. P. 1858. — Nutt, D.: Celtic Tales. L. 1891. - id.: More Celtic Tales. L. 1893. - Thurneysen, R.: Die ir. Helden- und Königssagen bis zum 17. Jh. 1. Halle 1901. Sommer, O.: The Vulgate Version of the Arthurian Romances 1. Wash. 1909 (Nachdr. N.Y. 1969). Levi, E.: Fiore di leggende 1. Bari 1914. - Tegethoff, E.: Frz. Volksmärchen 1 - 2 . MdW 1923. Valmigere, P.: Les sept Filles du Canigou. Contes et legendes du Languedoc et du Roussillon. P. 1935. - Mühlhausen, L.: Zehn ir. Volkserzählungen aus Süd-Donegal. Halle 1939. - Pokorny, J.: Altkelt. Dichtungen. Bern 1944. - O'Faolain, E.: Irish Sagas and Folk-Tales. L. 1954. — Calvino, I.: Fiabe italiane 1 - 2 . Torino 1956. - Keller, W./ Rüdiger, H.: Ital. Märchen. MdW 1959. - Soupault, R.: Bret. Märchen. MdW 1959. - Karlinger, F.: Inselmärchen des Mittelmeeres. MdW 1960. Joyce, P. W.: Old Celtic Romances. Dublin 1961. Meier, H./Karlinger, F.: Span. Märchen. MdW 1961. - Merkelbach-Pinck, Α.: Lothringer Volksmärchen. MdW 1961. — Müller-Lisowski, K.: Ir. Volksmärchen. MdW 1962. - Röhrich, Erzählungen 1. - Soupault, R.: Frz. Märchen. MdW 1963. - Chambers, Ε. K.: Arthur of Britain. Cambr./N. Υ. 2 1964. - Peuckert, W.-E.: Westalpensagen. Β. 1965. - Valera, S.: Fairy Tales of Ireland. L. 1967. - Staudt, G./Peuckert, W.-E.: Nordfrz. Sagen. Β. 1968. - Hetmann, F.: Ir. Märchen. Ffm. 1971. - Seignolle, C.: Contes populaires et legendes du Berry. P. 1976. - O ' H a r a Tobin, P. M.: Les Lais anonymes des X I P et XIII C sidcles. Geneve 1976. — Markale, J.: Contes populaires de toutes les Bretagne. Rennes 1977( 2 1978). — 31
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Gießen
Friedrich Wolfzettel
Feenmärchen —> Contes de(s) fees Fegefeuer 1. Wortbedeutung - 2. Religions- und Kirchengeschichtliches - 3. Erzähltradition - 3.1. Szenarium - 3.2. Strafe und Läuterung - 3.3. Dauer -
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Fegefeuer
3.4. Begegnungen mit Armen Seelen - 3.5. Erlösung — 4. Formen der Erzählüberlieferungen und ihre Intentionen
1. W o r t b e d e u t u n g . F. ist eine Bezeichnung für die in der röm.-kathol. Kirche ausgeformten Vorstellungskreise von einer postmortalen Seelenläuterung (lat. purgatorium). Das dt. Wort setzte sich durch, als man allg. der Auffassung war, die Läuterung erfolge durch ,Feuer'; ,fegen' war eine ausdrucksstarke Bezeichnung für ,ganz sauber, schön, glänzend machen'. Der Begriff Arme Seelen für die im F. Leidenden und auf ihre Erlösung wartenden Verstorbenen stammt nicht aus der offiziellen Kirchensprache 1 . Man braucht ihn auch gelegentlich als Sammelbegriff für alle Verstorbenen. 2. R e l i g i o n s - und K i r c h e n g e s c h i c h t liches. In vielen alten Religionen und Philosophien wird bei der Aufteilung des —»Jenseits nach dem Schema Gut-Böse noch ein mittlerer Zustand oder Ort eingeschoben. Dieser kann einerseits mehr Absonderungs- als Läuterungsort, wie „der Schleier zwischen dem Paradies und der Hölle" im islam. Glauben (Sure 7,46), andererseits mehr zeitlicher Strafort sein. Bei den Gnostikern, bei Plato und Vergil, den Orphikern und Stoikern ist er mehr Läuterungsweg, eine entmaterialisierende Katharsis beim Aufstieg der Seele. In Israel verlagerte sich der Aufenthaltsort der Toten vom Familiengrab in ein allg. Schattenreich (Scheol), „die Sammelstätte aller Lebenden" (Hi. 30,23). Die volkstümliche Scheolvorstellung dachte sich diese Zusammenfassung aller Toten im Inneren der Erde. Im Buch Daniel ist Scheol der vorläufige Aufenthaltsort bis zum Gericht.
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nicht mehr gesichert. Durch Modifizierung des griech.-heidnischen Elysiums wurde das christl. Purgatorium (= F.) als Reinigungsort für die noch nicht vollkommen Erlösten 2 geschaffen und als außerordentlich wirksames Instrument kirchlichen Einflusses auf die Gemüter der Glaubenswilligen und Erlösungsbedürftigen gehandhabt. Auf dem Boden vulgär-kathol. Vergeltungsmetaphysik gedieh die Lust an der Steigerung und realistischen Ausgestaltung der Jenseitsqualen. Der kirchliche Universalismus umfaßte Lebende und Tote, Zeit und Ewigkeit und war im Modell der dreigeteilten Gemeinschaft aller Getauften, der streitenden Kirche auf Erden, der leidenden Kirche im F. und der triumphierenden Kirche im Himmel, überall gegenwärtig. Die Markierungspunkte der ma. Jenseitsvorstellungen hatte Papst —» Gregor der Große (gest. 604) abgesteckt. Das 4. Buch seiner Dialogi mit Berichten von Totenerscheinungen sollte zeigen, daß ein Beweis „per experimentum" für die Existenz eines Jenseits und den Glauben an das Fortleben nach dem Tode möglich sei (cf. Dialogi 4,1,185).
Die propagandistische Ausgestaltung des Jenseitsszenariums in der kirchlichen Predigt, Liturgie und Bildkunst stützte sich auf archaische Vorstellungen und auf die Bilder der griech. Mythenwelt und des germ. Sagenkreises. Aus der cluniazens. Reformbewegung übernahm die Kirche den Tag nach Allerheiligen als Tag des offiziellen Gedächtnisses und der konzentrierten Hilfe für die leidenden Toten (Allerseelen). So sicher wie der Tod stand dem ma. Menschen die postmortale Läuterung vor Augen. Er griff nach allen Mitteln, die zu erwartenden Sanktionen zu mildern. Der alte Volksglaube an das Leben der Toten erhielt durch die kirchliche F.lehre zwar starke Impulse und neue Elemente, Die autoritative Entwicklung der dualistiblieb aber weiter wesentlich bestimmt durch schen Prinzipien Gott und Teufel zum verdie nichtchristl. Überlieferungen von wiederfestigten dogmatischen System in der christl. kehrenden Toten und ruhelos umgehenden Theologie (—» Dualismus) ließ für das endTotengeistern (—> Gespenst, —> Spuk, —» Wiegültige Schicksal der Menschen zunächst nur die Alternative —» Himmel oder —> Hölle zu. dergänger). Die volkstümliche Ausgestaltung der knappen kirchenamtlichen F.lehre überDie Hölle drohte den vielen Ungetauften und lebte bis heute überall dort, wo der Auseinwenigen verdammten Getauften, der Himmel andersetzung mit modernen Weltbildern auswar der kleineren Schar der Märtyrer und gewichen und an alten Brauchtumsformen Heiligen vorbehalten. Für die Masse der Genaiv festgehalten wurde 3 . Noch das 19.Jh. tauften war nach Verschiebungen in der Taufverzeichnete die Gründung zahlreicher reliund Bußpraxis die Straflosigkeit im Jenseits 3Γ
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Fegefeuer
giöser Bruderschaften, die sich nach dem Dienst an den Armen Seelen benannten und bis in die heutige Zeit bestehen 4 . Auch das bis in die 30er Jahre dieses Jh.s umfangreiche populär-religiöse Schrifttum zum Arme Seelen-Kult weist auf eine späte Blüte des Arme Seelen-Glaubens hin.
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mehr vergeistigten Auffassung besteht die Qual des F.s nur in einem Zustand der Beklemmung und Angst 20 . Das Feuer bestraft die Sünder nicht nur, es reinigt sie auch 21 . Von den Klerikern wurden dem realistisch aufgefaßten Feuer gern noch bes. unangenehme Seiten zugefügt: „Ob es zwar ein unserem gantz gleiches Elementar-Feuer, hat es doch keinen Schein, sonder ein schwartzer, dicker, mit Schwefel und Rauch, verfinstert, grausam stinckender und grösste Schmertzen verursachenter Rauch. Wegen des erschröcklichen Getös, Sausen und Brausen des schweflichten Feuers, ein solcher Wind und Anwähen, daß es das innerste Marek durchdringet, und unglaublich schmertzet" 22 .
3. E r z ä h l t r a d i t i o n . Die —» Jenseitsvisionen als ein Ausdrucksmedium der theol. F.lehre waren eine wichtige Quelle für Predigt und Erbauungsliteratur. In Volkserzählungen — Legende, Exemplum, Sage, Märchen u. a. — erscheint der religiöse Gehalt der F.lehre In den Volkserzählungen herrschen F. als stark abgeschwächt (Mot. V 511.3). irdische Läuterungsorte vor, die in der theol. Lehre als „außergewöhnliche Reinigungsstät3.1. Szenarium. Die Anschauungen über ten" eingestuft werden 23 . Dt. Sagen nennen den Aufenthaltsort der Seelen nach dem Tode brennende Kalköfen, Feuer im Wald, brenschwanken. Das F. ist in den Visionsberichten nende Häuser, Kohlenmeiler 24 , das Innere entweder im Erdinnern — neben der Hölle 5 — eines Berges 25 , Vulkane 26 . In einigen Versiooder in der Sphäre zwischen Erde und Himmel nen von —> Brandans Seefahrt stoßen die lokalisiert6. In einem für den Volksgebrauch Mönche auf neun verschiedene F. 27 Nach bestimmten Arme Seelen-Buch des ausge- einer weiteren Version wurden am Ufer eines henden 17. Jh.s heißt es, daß „ein Straff- Sees viele leidende Seelen gesichtet, die über ein Pein- und Zucht-Haus, oder Purgier- Hunger, Durst und Hitze klagten und nicht Gebäu abscheulich und erschröcklich sein ans erquickende Wasser gelangen konnten 28 . muß, vorderist wegen der so weiten Ent- Als lokalen Abstieg ins F. kennt eine Sage legenheit [ . . . ] über 1000 Meil von unserer aus Kärnten den Ortsfriedhof 29 . Die seit dem oberen Erde entfernet" 7 . 12. Jh. weit verbreitete Legende von St. PatDie Darstellung des Szenariums enthält ricks Purgatorium erzählt von einem Eingang ins F., der sich auf einer Insel im Lough unterschiedliche Motive. Derg in der Grafschaft Donegal (Irland) beIm Walewein aus dem 13. Jh. wird das „vagefier" fand 30 . als feuriger Fluß geschildert. Die „areme seelen" tauchen als schwarze Vögel hinein und kommen heraus „vele wittre dan de snee" 8 . Die Jenseitsbrücke (—> Brücke) kann der Katharsis dienen, wenn der Absturz zum Reinigungsbad führt. Sie wird ausdrücklich „purgatorium" genannt 9 . Es gibt das Tal mit glühender Hitze und Kälte 10 oder mehrere Seen und Täler für verschiedene Arten von Sündern 11 . Auf einem Berg sind die Seelen Sturm und Regen ausgesetzt 12 , oder ein großer Sturm wirft alles vom Berg in einen eiskalten Fluß 13 . Andere bleiben in einem raucherfüllten Turm 14 oder in mit glühendem Metall angefüllten Gräben 15 . Henker verstümmeln in einem Flammenmeer Schlemmer und Hurer 16 . In einem feurigen Brunnen klettern Seelen in Gestalt schwarzer Vögel nach oben und fallen, am Rand angekommen, wieder herunter 17 . Ein Ungeheuer sitzt auf einem zugefrorenen Sumpf, verschlingt die Seelen und gebiert im Sumpf wieder 18 . Einem Visionär macht der Schlamm die Umarmung der verstorbenen Mutter unmöglich 19 . Die Finsternis verursacht einen Zustand, der dem Ersticken nahekommt. In einer
3.2. S t r a f e und L ä u t e r u n g . Die an Intensität und Dauer mit irdischen Erfahrungen kaum zu vergleichenden F.qualen bleiben immer unter dem Gesetz der zugesicherten Erlösung. Die Qualen sind weder ewig wie in der Hölle noch vernichtend wie der Zugriff jener Un-Wesen, die von Grund auf böse sind und einer anderen kulturhist. Schicht angehören (Nachzehrer, Vampire etc.). Das zwar schmerzliche, aber schließlich vorübergehende Festgehaltenwerden kommt in der Wahl der Strafart häufig zum Ausdruck. Ein Büßerleben auf Erden von der Schöpfung bis zum Jüngsten Tag ist einem kurzen Aufenthalt im F. vorzuziehen (Tubach, num. 3994, 3996). Im menschlichen Empfinden entspricht ein Augenblick im F. dem Ablauf von 1000 Jahren auf Erden (Tubach, num.
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Fegefeuer
3997, 4004). Verstöße, die ins F. führen, sind entweder rechtlicher, sittlicher und sozialer Art oder richten sich gegen religiöse und kirchliche Gesetze. Die Zuordnung der Strafarten zu den Vergehen ist wesensgleich, antithetisch oder nicht spezifisch. In ma. Visionsberichten werden Geizige und Habsüchtige bis zum Jüngsten Gericht in eine bleierne Kiste eingesperrt 31 oder von einem Ungetüm verschlungen und ausgestoßen 32 . Unzüchtige werden an Pfähle gebunden und gegeißelt 33 , Diebe und Räuber an Händen und Füßen mit Ketten gefesselt und am Hals mit Eisen beschwert 34 oder in einen großen Sumpf gestoßen, wo Ungeheuer Feuer speien 35 . Mörder landen in einem Tal mit glühenden Kohlen und Habsüchtige in einem schwefligen Fluß, über dem Schwefelgeruch und Gestank von Leichen die Luft erfüllt. Hinterlistige werden auf einem hohen Berg mit glühenden Gabeln zwischen einem Feuerschlund und schneidender Kälte hin und her befördert 36 , Schlemmer und Hurer in einem riesigen brennenden Haus von Henkersknechten gequält 37 . Friedenstörer, die das Friedenswerk eines Herrschers gefährdet hatten, sind in einem aus glühendem Metall gebauten Haus ohne Fenster eingeschlossen3®, Verleumder werden in einen von Schlangen und Skorpionen angefüllten See geworfen und von Dämonen mit Schlangen gegeißelt 39 . Ein Bischof, der von Visionen nichts hielt, wird zur Strafe für seinen Unglauben ins F. versetzt 40 .
Die F.strafen in Sagen gehen vorwiegend auf Verstöße religiös-kirchlicher Art zurück. Ein Hostienfrevler hat den Leib Christi siebenmal höhnisch an einen Baum genagelt oder ihn an eine Wand geschleudert 41 . Ein Fuhrmann transportiert am Heiligen Abend Bretter über einen Berg, stürzt und wird in eine Arme Seele verwandelt 42 . Ein Meineidiger wird an den zwei Schwurfingern gequält, die glühend rot brennen 43 . Zahlreiche Sagen und Legenden sprechen von der Ahndung wegen der Unterlassung versprochener Wallfahrten, frommer Gaben und Werke 44 . Überhaupt geht der Glaube an die Ruhelosigkeit der Armen Seelen im F. und ihr Wiedererscheinen oft von der Voraussetzung aus, daß ein Vergehen nicht gebeichtet oder nicht gesühnt ist45. Eine religiös gleichgültige Frau, die sich vor dem ihr vorausgesagten F. nicht fürchtet, wird plötzlich von Flammen verschlungen 46 . 3.3. D a u e r . Die unverhältnismäßig lange Dauer der Bußzeit wird in Jh.en und Jahr-
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tausenden gemessen, formelhaft umschrieben oder bildlich ausgedrückt. Ein Grenzfrevler muß 2000 Jahre den versetzten Grenzstein tragen 47 . Das Vergehen eines Senns wird mit 90 Kronen geahndet, die sich pro Jahr nur um einen halben Batzen mindern, so daß die Strafe 4500 Jahre dauert 48 . Eine einzige Stunde im F. kann dem Bestraften vorkommen wie 400 Jahre 49 . In einer Predigt von 1613 heißt es: „Stellen Sie sich vor, meine zarten Damen, ein Jahrhundert auf den brennenden Scheitern in ihrem Kamin zu liegen, das ist nichts im Vergleich mit einem Augenblick im Fegefeuer" 50 . Ein Einsiedler macht wegen der unerträglichen Qualen die Wahl von drei Tagen F. rückgängig und zieht doch 30 Jahre irdischer Leiden vor 51 .
Die kirchliche Auffassung, daß die Leidenden im F. Hoffnung haben, wird im Erzählgut in szenische Darstellung umgesetzt: Die Armen Seelen können .Urlaub' erhalten und ,Besuch' bekommen. In der Walpurgisnacht und in der Christnacht dürfen sie, in Fische verwandelt, auf dem Wasserspiegel tanzen, öfter beginnt die Vakanz am Allerheiligenabend und endet um Mitternacht des Allerseelenfestes. Der Besuch bei den Lebenden kann auf die Oktav oder den ganzen Monat November ausgedehnt werden 52 . Nach einer ma. frz. Erzählung findet am Allerheiligentag im Himmel ein lustiges Fest statt, von dem die Armen Seelen hören. Sie bitten um Erbarmen, und Christus gewährt ihnen für den Allerheiligen- und Allerseelentag Freiheit 53 . Ein neueres Gedicht aus Tirol überliefert den Volksglauben, daß am Allerseelentag für die leidenden Toten Schuld und Sühne ausgesetzt werden 54 . Auch der jährliche Todestag ist als Zeitpunkt der Wiederkehr zu den Verwandten bekannt 55 . Zugrunde liegt die alte jüd. Vorstellung von der Sabbatruhe der Verdammten (Mot. Q 560.2.1). Im kathol. Bereich wurde sie auf die im F. Leidenden umgedeutet. Die Qualen werden so lange ausgesetzt, wie die Lebenden die Sonntagsruhe genießen. Ausführliche Wunderberichte stützen diese Vorstellung56. Die Besuche durch Engel einmal wöchentlich oder durch die Muttergottes freitags, samstags oder sonntags sind analog zum Motiv der Sonntagsruhe zu sehen 57 . 3.4. B e g e g n u n g e n mit A r m e n Seelen. Mit der kirchlichen Lehre vom F. hängen eng die Armen Seelen-Erzählungen zusammen.
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Neben dem religiös-phil. Seelen- und Unsterblichkeitsglauben, nach dem sich die Seelen der Verstorbenen im Jenseits aufhalten, hat das Volksbewußtsein den älteren Glauben von weiterlebenden Toten festgehalten: Der ganze Mensch lebt weiter, nicht ein Teil von ihm (Totengeist). In seinem jenseitigen Zustand besteht der Körper des Toten aus einem dünnen, immateriellen Stoff; daher das ständige Schwanken der Erscheinungen zwischen der ganzen Körpererscheinung und einem Schemen, ihre Flüchtigkeit und Verwandlungsfähigkeit. Im christl. Volksglauben sind die wiederkehrenden Toten erlösungsbedürftige Schuldige: Arme Seelen. Sie bleiben Glieder des göttlichen Kosmos und grenzen sich damit ab von Naturgeistern und Gespenstern. Der Glaube an Arme SeelenErscheinungen wurzelt häufig in Erlebnisund Erzählsituationen, d. h. in vorübergehend gültigen bzw. assoziativ wirksamen Vorstellungen. Das Herdfeuer und andere Feuerphänomene konnten z.B. Vorstellungen ans F. wachrufen. Ihrem Status als erlösungsbedürftige Wesen entspricht die anthropomorphe und theriomorphe Erscheinungsweise, in der sie sich äußern können über ihr Vergehen und die Art ihrer Strafe und Erlösung. In ihrer anthropomorphen Gestalt sind sie häufig als Individuen oder Typen erkennbar, als Pfarrer 58 , Mönch und Nonne 59 , Mutter 60 , Schwester61, Wanderer, Knabe, alter Mann 62 , Schloßfräulein 63 . Häufig bezeugt ist die feurige Gestalt der büßenden Geister, bes. oft bei Grenzsteinfrevlern. Sie begegnen als Feuermann, feuriges Gerippe, auf feurigem oder rotem Roß oder Bock, als feuriger Kopf oder feuriges Rad 64 . Nach urtümlichem Glauben wurden Tote in Tiere verwandelt oder verzaubert. In dt. Sagen begegnet vor allem die Kröte als alt überliefertes Seelentier und der Frosch als vielleicht fehlgedeutete Kröte. Arme Seelen erscheinen aber auch als Fisch im Bergsee, kleine Schlange, schwarzer Vogel, weiße Taube (christl. Motiv der begnadeten Seele). Mit schwindendem Verständnis für die ursprüngliche Herkunft wurde die Vorstellung von größeren Seelentieren möglich: Hase, Katze, Hund, Wolf, Schwein, Kuh, Pferd, Stier 65 . Die Entmaterialisierung ist fortgeschritten, wenn eine Arme Seele erscheint als durchsichtige Gestalt, „wie ein
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Spinnweben" 66 , als Schatten, Licht, Hauch, Wind, Rauch- und Nebelschwaden und Wolke 67 . Die akustische Darstellung gilt als letzte Stufe der Spiritualisierung. Der mangelhaften Körperlichkeit entspricht die Dürftigkeit der Stimme. Sie wird als Wispern von Grillen 68 oder als Ruf von Kröten 69 apperzipiert. Das Leiden wird hörbar durch Wimmern, Seufzen, Stöhnen und Winseln, Jammern und Klagen, Weinen und Heulen 70 . Zuweilen sprechen Arme Seelen nur ihre Verwandten an oder sind nur von diesen zu hören 71 . Ungetaufte Kinder sitzen nach russ. Volksglauben auf Rohr und Weiden, klagen und lachen laut auf 72 . Häufig machen sich die Armen Seelen bemerkbar durch Niesen, Klopfen, Schritte, Arbeitslärm oder lautes Getöse 73 . Die Büßenden werden hauptsächlich in Bezirken ihrer heimatlichen Welt angetroffen, selten fest angesiedelt, meistens unstet: am Ort des Vergehens oder an der verletzten Grenze, auf Gräbern und Gletschern, an der Kirchhofmauer, in der Nähe von Feldkreuzen, am Berg und Weiher. Im häuslichen Bereich machen sie sich bemerkbar in der Kammer, im Feuer des Ofens, auf Türangeln, im Kehrichtwinkel, im Keller unter dem Krautfaß. Bevorzugte Zeiten der Arme Seelen-Erscheinungen sind der jährliche Todestag, um sich bei Verwandten nach deren Wohlergehen zu erkundigen 74 , das Frühjahr beim Alpsegen, die Nacht, bes. die Mitternacht, aber auch die helle Mittagsstunde 75 . Der Glaube an die hilfreiche Tätigkeit der Armen Seelen vermischt sich mit dem Motivkreis von den dankbaren und helfenden Toten (Mot. Ε 755.3.1; —» Dankbarer Toter). Familiäre Fürsorge praktiziert die verstorbene Mutter, die sich weiter um ihr Kind kümmert 76 . In der Rolle dienstbarer Geister öffnen Arme Seelen das Weggatter, agieren als Fährleute, leuchten den Fahrenden im finsteren Wald voraus, helfen in der Haus- und Almwirtschaft, schützen vor Dieben und Räubern. Die Sage von dem frommen Ritter, der sich vor seinen Feinden auf den Friedhof rettet und von dankbaren Armen Seelen in Schutz genommen wird, wird seit dem MA. in Lit. und Kunst, in der Barockzeit als Predigtexempel bezeugt 77 . Waffenhilfe in Kriegszeiten sollen die Armen Seelen bei der Verteidigung von Wehrstedt bei Halberstadt 78 ,
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Landsberg am Lech im 30 jährigen Krieg und Lenggries (Oberbayern) 1742 geleistet haben 79 . Fromme Dienstleistungen der Verstorbenen für die Lebenden, wie Fürbitte und Gebet, kannte schon die jüd. Überlieferung 80 . Die Meßfeier der Armen Seelen für ihre Wohltäter kann dem Motivkreis —> Geistermesse zugeordnet werden. Volkserzählungen, in denen Arme Seelen Menschen schaden, könnten beeinflußt sein durch vorchristl. Vorstellungen vom Recht der Toten. Der Charakter der hilfsbedürftigen, leidenden Seele verblaßt, Rechte werden geltend gemacht, und Schaden wird zugefügt. Wer in Bayern der Verstorbenen nicht gedachte, mußte damit rechnen, daß der Allerseelenwind die Fenster einschlug, den Putz vom Hause löste und die Totenbretter von der Scheune riß81. Rache für gewaltsamen Tod üben ein erschlagener Mönch 82 und ein verlassener Liebhaber, der nachts im Allerseelenwind der Braut den Tod bringt83. Eine Frau hört Tote darüber verhandeln, ob die Stadt durch Brand oder Seuche bestraft werden soll 84 . Die Unseligen rächen sich auch für Ruhestörung, Herausforderung oder mißlungene Erlösung. Sie geben Ohrfeigen, raufen sich mit Lebenden, weisen falsche Wege, hocken auf, werfen mit Steinen, drohen mit Zerreißen. Mehr mutwillig als bösartig zeigen sich Arme Seelen, wenn sie allerlei Schabernack treiben, den ins Wasser Gefallenen auslachen und ihm Gesichter schneiden oder das Vieh im Stall zusammenbinden oder loslassen 85 .
3.5. E r l ö s u n g . Häufiges Leitmotiv der Arme Seelen-Erscheinungen ist Hilfeleistung durch die Lebenden. Die Armen Seelen werden aktiv, damit sie Messen gelesen bekommen. Seit den Wunderberichten Gregors des Großen über den Diener von Centumcellae und den Mönch Justus 86 galt die Messe als bes. wirksame Hilfe. Vom 11. Jh. an häuften sich Erzählungen von der Erscheinung Armer Seelen, die um Messen baten 87 . Hilfreich erweisen sich kindlich einfältige Gebetsformeln 88 , magische Formeln wie „So helfe Dir Gott", „Gott vergelts", „Bezahle Dirs Gott" 8 9 und bibl. Gebetstexte. Weitere Hilfen sind Almosen und Kollekten 90 , Kapellenbau, Wallfahrten, kühlendes Weihwasser 91 , Brot-, Wein- und Kerzenopfer (Mot. V 4.1) 92 und andere fromme Werke 93 . Hilfen profaner Art sind Wiedergutmachungsleistungen 94 und erlösende Worte. Manchmal genügt schon die Anrede oder ein Zuruf.
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—» Engel im F. symbolisieren die Hoffnung auf Erlösung. Sie vermitteln Strafnachlaß und geben Zuspruch 95 . Nach einer kopt. Legende vermag der Erzengel Michael einmal im Jahr die Tür zum F. zu öffnen und so viele Seelen mit sich zu führen, wie er auf seinen Flügeln tragen kann 96 . Heilige haben Einfluß auf das Schicksal der Armen Seelen im F. Petrus befreit seine Mutter (AaTh 804: —> Petrus' Mutter)97 und —» Franz von Assisi seine Ordensbrüder 98 . Weit öfter wird in Wundererzählungen Maria als Retterin von Armen Seelen genannt 99 . Symbol der nahenden oder eingetretenen Erlösung ist die weiße Farbe der Seele 100 , auch dort noch, wo der christl. Erlösungsgedanke verblaßt ist 101 . 4. F o r m e n der E r z ä h l ü b e r l i e f e r u n g e n und ihre I n t e n t i o n e n . Die Darstellung der drei großen Jenseitsreiche in sinnlich faßbarer Weise und Berichte von Erscheinungen ihrer Bewohner wurden zum Mittel, den Glauben an das Weiterleben nach dem Tode im Lohnoder Strafzustand zu festigen. Die Visionserzählungen ermöglichten eine einprägsame Popularisierung der kirchlichen F.lehre und bewährten sich als pädagogisches Instrument der Abschreckung, Verhaltensregulierung oder Ermutigung. Visionäre Einkleidung erlaubte Kritik an Herrschern: Gregor der Große brachte die Vision vom Sturz Theoderichs in einen Vulkan in Umlauf 102 , Wahlafrid Strabo (gest. 849) die Vision Wettins vom Aufenthalt Karls des Großen im F. 103 , und Mechthild von Magdeburg (gest. 1282 oder 1294) sah im F. „bischöfe, vögte und große Herren in langer not mit unzellicher sere" 104 . Noch größere Breitenwirkung kam dem F.und dem Arme Seelen-Motiv in Legenden und Exempeln zu. Für die Jenseitskenntnisse berief man sich gern auf Visionen 105 oder Belehrungen durch Engel 106 (Mot. J 225.0.1). Die Erzählungen von Tundalus, Oenus und St. Patricks Purgatorium gingen in verkürzter Fassung und mit deutlicher moralisch-paränetischer Intention in die Erbauungs- und Exempelliteratur ein 107 . In Heiligenlegenden und katechetischen Erzählungen dient das F.Motiv auch der Manifestation persönlicher Heiligkeit und Wunderkraft 108 . Das Allerseelenfest wurde legendär motiviert 109 und in
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Legendensammlungen zum Anlaß, diverse F.und Arme Seelen-Geschichten auszubreiten110. Allzu durchsichtige politische und kirchenpolitische Akzente in F.berichten riefen kritische Stimmen in Parodie und Satire auf den Plan 111 . Im Schwank verschaffte man sich Distanz zum bedrohlichen F.gedanken. Hier mußten bes. die Figuren des hl. Petrus und des zänkischen Weibes herhalten (cf. —»Altefr] im F.). Hinweise auf das F. kommen im Märchen selten vor. Es bevorzugt das einfache Gegensatzpaar Himmel — Hölle. Wie eine Verlegenheitslösung mutet an, daß der Spielhansel in KHM 82 das F. aufsucht: Er war im Himmel abgewiesen worden. Ersatz für das F. ist das Herumwandern zwischen Himmel und Hölle 1 1 2 und das durch Spielen überbrückte Warten der vor dem Himmel und der Hölle abgewiesenen Landsknechte im Dorf Beiteinweil (Warteinweil) 113 . Die Vorstellungen einiger frz. Märchen vom F. haben Ähnlichkeit mit denen der Visionsberichte 114 .
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verschiedenartigen Seelenvorstellungen in den F.erzählungen können als Versuch angesehen werden, das Unbegreifliche begreiflich zu machen. I Koren, H.: Die Spende. Eine volkskundliche Studie über die Beziehung ,Arme Seelen — arme Leute'. Graz/Wien/Köln 1 9 5 4 , 1 5 7 - 1 6 0 . - 2 Maas, G.: Orpheus. Mü. 1895 (Nachdr. Aalen 1974) 2 3 0 - 2 3 4 . - 3 T h o m a n n , G.: Die Armen Seelen im Volksglauben und Volksbrauch des altbayer. und oberpfälz. Raumes. In: Verhandlungen des Hist. Vereins für Oberpfalz und Regensburg 110 (1970) 1 1 5 - 1 7 9 ; 111 (1971) 9 5 - 1 6 7 ; 112 (1972) 1 9 8 - 2 6 1 ; Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, Reg. - 4 LThK 1 (1957) 876 sq. - 5 Noch 1883 heißt es in einer mit dem kirchlichen Imprimatur versehenen Monogr., nach allg. Lehre der Theologen befinde sich das F. „im Inneren unserer E r d e " ; cf. Bautz, J.: Das F. Mainz 1883, 185. - 6 Bauer, K.: Zu Augustins Anschauung von F. und Teufel. In: Zs. für Kirchengeschichte 43 (1924) 3 5 1 - 3 5 5 ; Hildegard von Bingen: Welt und Mensch. Das Buch ,De operatione Dei'. Salzburg 1965, 192sq.; Bauer, E.: Die Armen Seelen- und Fegfeuer-Vorstellungen der altdt. Mystik. Diss, (masch.) Würzburg 1960. - 7 Geistliches Lieb- und Mitleydens-Perspectiv oder: Inbrünstiges Erbauungs-Gemüth gegen denen armen und strengist, doch gerechtigst gestrafften Seelen im F. Mü. 1699, Teil 1, 128. — 8 „Roman von Walewein" von P. und P. Vostaert 2. ed. W. J. A. Jonckbloet. Leiden 1848, 194. Das gleiche Motiv begegnet im ir. Imram Maelduin (cf. Stokes, W.: The Voyage of Maelduin. In: Revue celtique 9 [1888] 483) und in der Vision des Mönches von Wenlock (cf. Fritzsche, C.: Die lat. Visionen des MA.s bis zur Mitte des 12. Jh.s. In: Rom. Forschungen 2 [1885/ 86] 2 7 4 - 2 7 7 ; 3 [1887] 356). - 9 Guido von Montecassino: Visio Alberici (Bibliotheca Casinensis 5). Montecassino 1894, 199, zitiert nach Spilling,
Mit zunehmender Lösung des Lebensgefühls von der jenseitigen Welt und stärkerer Verwurzelung in dieser Welt verschiebt sich das Schwergewicht von der visionären F.beschreibung zu Erzählungen von Visionen über die Erscheinung Armer Seelen auf Erden. In Legende, Märchen und Schwank verblaßt die jenseitige Szenerie zum Wesenlosen. F.und Arme Seelen-Erzählungen enthalten, wenn sie nicht — wie Exempel und Mirakel — den Stempel kirchlicher Tendenzdichtung tragen und aus dem Volksglauben hervorgegangen sind, eine Mischung aus kirchlicher F.lehre, volkstümlichem Vergeltungsbedürfnis H.: Die Visio Tnugdali. Mü. 1975, 113. - 10 Fritzund Glauben an die Wiederkehr der Toten. sche (wie not. 8) 2, 271. Von der Sage wird das F. ins Diesseits verII ibid. 3, 357. - 12 ibid., 338. - 13 ibid., 359. legt und an einem lokalen Ort festgemacht. 14 ibid., 338. - 15 ibid., 359. - 16 ibid., 364. 17 Das Thema Arme Seelen verbindet sich häuibid. 2, 275. - 18 ibid. 3, 359. - 19 ibid., 342. 20 fig mit Spuk- und Totenglauben und entibid., 344. 21 sprechenden weitverbreiteten Motiven. ErWard, A. C. D. (ed.): The Vision of Thurcill. In: J. of the British Archeological Assoc. 31 (1875) lebnisberichte über Begegnungen mit Armen 446; Klapper, MA., num. 96. - 22 wie not. 7. Seelen hängen zusammen mit einem wie 23 Bautz (wie not. 5) 187. - 2 4 Sailer, J.: Die immer motivierten Wunsch von Menschen, Armen Seelen in der Volkssage. Diss, (masch.) Mü. das Leben über den Tod hinaus verlängert 1956, 239sq. - 25 z.B. Luttenberg bei Büren zu sehen (—» Tod, —> Todeszeit wissen, —> (Westfalen), cf. Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des preuß. Staates 1. Glogau 1868 (Nachdr. Hildesheim Wiederbelebung). Beziehungen zwischen Le1977) num. 786; Engelswand (ötztal), cf. Zingerle, benden und Toten, wie Liebe oder Haß, I. V.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Tirol. Schuldgefühle oder Angst vor der WiederInnsbruck 1859, 501. - 2 6 HDS, 1 4 7 - 1 4 9 . kehr, bestehen über das Grab hinaus fort 27 Benz, R.: Sanct Brandans Meerfahrt. Jena 1927, und werden erzählerisch ausgestaltet. Die 5sq., 1 0 - 1 2 , 16, 19, 45. - 2 8 Selmer, C.: Nävi-
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gatio Sancti Brendani Abbatis from Early Latin Manuscripts. Notre Dame, Ind. 1959, 2 2 - 2 4 , 86sq. - 29 Graber, G.: Sagen aus Kärnten 1. Lpz. "1927, num. 109. - 3 0 Legenda aurea/Benz, 2 4 6 249; Dorson, R. M.: The British Folklorists. L. 1968, 65sq.; Schmitt, M.: Der große Seelentrost. Köln/Graz 1959, 451; Voigt, M.: Beitr.e zur Geschichte der Visionenlit. im MA. Lpz. 1924, 121 — 245. Weitere Lokalisierungen von Läuterungsorten nennen Freudenthal, H.: Das Feuer im dt. Glauben und Brauch. B./Lpz. 1931, 453 et pass, und Meyer, C.: Der Aberglaube des MA.s. Basel 1884, 352-358. 31 Fritzsche (wie not. 8) 3 , 3 3 8. - 32 ibid., 365; cf. Spilling (wie not. 9). — 3 3 Fritzsche (wie not. 8) 3, 338. - 34 ibid., 3 5 6. - 35 ibid., 364. - 3 6 ibid., 3 6 3. - 3 7 ibid., 3 64. - 38 ibid., 350. - 39 ibid., 3 5 6. - 4 0 ibid., 338. 41 Kühnau, R.: Schles. Sagen 1. Lpz. 1910, num. 196sq. - 42 Graber (wie not. 29) num. 213. 43 Zingerle (wie not. 25) num. 362. — 4 4 Rumpf, M.: Religiöse Vk. Stg. 1933, 220sq.; Rölleke, H.: Westfäl. Sagen. Düsseldorf/Köln 1981, 102. 45 Meyer (wie not. 30) 353. - 4 6 Szöverffy, J.: Ir. Erzählgut im Abendland. B. 1957, 1 5 6 - 1 5 9 . 47 Kühnau (wie not. 41) num. 21. — 48 Jegerlehner, J.: Sagen und Märchen aus dem Oberwallis. Basel 1913, 252. - 4 9 Rumpf (wie not. 44) 447. - 50 Landau, M.: Hölle und F. in Volksglaube, Dichtung und Kirchenlehre. Heidelberg 1909, 198. 51 Zs. für rom. Philologie 1 (1877) 363; cf. Tubach, num. 3994, 3996. - 52 Klapper, MA., num. 88; Ranke, K.: Allerheiligen und Allerseelen in der Sagenüberlieferung. In: Rhein. Jb. für Vk. 9 (1958) 2 8 - 5 3 ; Schönwerth, F. von: Aus der Oberpfalz 1—3. Augsburg 1857, t. 1,189, t. 2,231; Heyl, J. Α.: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol. Brixen 1897, 478; Thomann (wie not. 3) 1972, 225; Veit, L. Α.: Volksfrommes Brauchtum und Kirche im MA. Fbg 1936, 205. - 5 3 Landau (wie not. 50) 261. - 54 Dörrer, Α.: Wie einst im Mai. Erinnerungen an Gilen. Innsbruck 1939, 13—15. — 55 Schönwerth (wie not. 52) 1.1,281. - 5 6 Franz, Α.: Die Messe im dt. MA. Fbg 1902, 148sq. In alten ir. Erzählungen erweisen sich schwarze Vögel auf einem Baum als Seelen oder auch als sog. neutrale Engel, die am Sonntag Gott loben dürfen, cf. Stokes, W. (ed.): Iomrah Churraig. In: Revue celtique 14 (1893) 49; Schröder, C.: Sanct Brandan. Erlangen 1871, 129. - 5 7 Voigt (wie not. 30) 166; Veit (wie not. 52) 205. Zur Frage der erzählten Qualenunterbrechung cf. Kretzenbacher, L.: Versöhnung im Jenseits (SB.e der Bayer. Akad. der Wiss.en, phil.-hist. Kl., Jg 1971, H. 7). Mü. 1971. ss Meyer (wie not. 30) 352. - 5 9 Wucke, C. L.: Sagen der mittleren Werra. Eisenach 1891, 222, 3 9 5. - 60 Schönwerth (wie not. 52) t. 1 , 1 9 2 194. 61 Rosignoli, C. G.: Wunderwerck Gottes in den Seelen des Fegfeuers. Augsburg 1725, 133. — 62 Schönwerth (wie not. 52) t. 1, 299, 302, 492. -
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Panzer, F.: Bayer. Sagen und Bräuche 2. Mü. 1855 (Nachdr. Göttingen 1956) num. 330d; weitere Belege bei Sailer (wie not. 24) 4 2 - 4 7 . - 6 4 ibid., 5 3 - 5 5 ; Hartinger, W.: . . . denen Gott genad! Totenbrauchtum und Armen-Seele-Glaube in der Oberpfalz. Regensburg 1979, 145 sq. - 65 Sailer (wie not. 24) 3 7 - 4 1 . - 6 6 Jungbauer, G.: Böhmerwald-Sagen. Jena 1924, 230. - 6 7 Sailer (wie not. 24) 22—56. — 6 8 Hoerner, G.: Allerseelengeister. In: Das Bayerland 4 (1921) 60. - 6 9 Zingerle (wie not. 25) 176. Homer vergleicht die Stimme der Toten mit dem Piepsen kleiner Vögel, cf. Otto, W. F.: Die Manen. Darmstadt 4 1981, 97. - 70 Sailer (wie not. 24) 7 2 - 7 4 . 71 Peuckert, W. E.: Schles. Sagen. Jena 1924, 113. - 72 Meyer (wie not. 30) 351. - 73 Sailer (wie not. 24) 7 9 - 8 3 . - 74 Schönwerth (wie not. 52) 1.1,281. — 75 Strackerjan, L.: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogthum Oldenburg. Oldenburg 1867, § 182. — 76 Benzel, U.: Volkserzählungen aus dem oberpfälz.-böhm. Grenzgebiet. Münster 1965,47. — 77 Hain, M.: A r m e Seelen und helfende Tote. In: Rhein. Jb. für Vk. 9 (1958) 5 4 - 6 4 ; Moser-Rath, num. 259. — 78 Grimm DS 328. — 79 Schweizer, B.: Volkssagen aus dem Ammerseegebiet. Dießen 1950, 159 sq. - 80 Landau (wie not. 50) 226. 81 Hoerner (wie not. 68). - 82 Thuriet, C.: Traditions populaires de la Haute-Saöne et du Jura. P. 1892, 320 sq. - 8 3 Hoerner (wie not. 68). 84 Landau (wie not. 50) 227. - 85 Sailer (wie not. 24) 9 3 - 9 5 ; Rölleke (wie not. 44) 192. - 86 Franz (wie not. 56) 244sq. - 87 Beispiele ibid., 230sq.; Klapper, MA., num. 94. - 88 ZfVk. 1 (1891) 427. 89 Diederichs, U.: Hess. Sagen. Düsseldorf/Köln 1978, 350; Ranke, F.: Volkssagenforschung. Breslau 1935, 103; Birlinger, Α.: Volksthümliches aus Schwaben. Fbg 1861 (Nachdr. Hildesheim 1974) num. 455 sq. — 9 0 Zingerle (wie not. 25) 338. — 91 Schönwerth (wie not. 52) t. 1,292sq., 296, § 182a. - 92 Moser-Rath, num. 261. - 9 3 Kretzenbacher, L.: Es reisen drei Seelen wohl aus von der Pein. In: Jb. des österr. Volksliedwerkes 2 (1953) 4 8 - 5 8 , hier 56; id.: Legendenbilder aus dem Feuerjenseits. Zum Motiv des ,Losbetens' zwischen Kirchenlehre und erzählendem Volksglauben (österr. Akad. der Wiss.en, Phil.-hist. Kl., t. 370). Wien 1980. - 9 4 Schönwerth (wie not. 52) t. l , 2 8 1 s q . ; Büchli, Α.: Schweizer Sagen. Lpz./Aarau 1928, 204. - 95 Voigt (wie not. 30) 166. - 96 Butler, A. J.: The Ancient Coptic Churches of Egypt 2. Ox. 1902, 262, nach Veit (wie not. 52) 205. - 97 BP 3 , 3 5 8 s q . ; Schneller, C.: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck 1867 (Nachdr. Hildesheim 1976) num. 4. - 9 8 Landau (wie not. 50) 283; Veit (wie not. 52) 206. - 9 9 Fritzsche (wie not. 8) 2, 338; Kretzenbacher (wie not. 93) 56sq.; Klapper, MA., num. 191. - 100 Rosignoli (wie not. 61) 131. 101 Zingerle (wie not. 25) num. 421; Strackerjan (wie not. 75) § 179, § 182 n. - 102 Gregor der Große, Dialogi 4, 30, 225sq. - 103 Dünninger, E.: Politische und geschichtliche Elemente in ma. Jen-
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Feiertagsentheiligung — Feige, Feigenbaum
seitsvisionen bis zum Ende des 13. Jh.s. Diss. Würzburg 1962, 64. - 104 Offenbarungen der Schwester Mechthild von Magdeburg oder Das fließende Licht der Gottheit, ed. G. Morel. (1869) Nachdr. Darmstadt 1980, 85. - 105 Alsheimer, R.: Das Magnum speculum exemplorum als Ausgangspunkt populärer Erzähltraditionen. Ffm. 1971, 138, 180. 106 Pauli/Bolte 1, num. 682. - 107 Schmitt (wie not. 30) 45; Thomann (wie not. 3) 1970, 122. 108 Herbrand-Nuelen, Α.: Der Heiland klopft an. Kevelaer 121962, 184-200. - 109 Klapper, MA., num. 96. - l 1 0 Legenda aurea/Benz, 839— 853. 1.1 Fleischhack, E.: F. Tübingen 1969, 57. 1.2 BP 2, 178, 188; Henne am Rhyn, O.: Die dt. Volkssage im Verhältniß zu den Mythen aller Zeiten und Völker. Wien 2 1879, num. 687. - 113 BP 2, 178. - 114 Tegethoff, E.: Frz. Volksmärchen 2. MdW 1923, num. 8, 40, 47, 53.
Siegen
Leonhard Intorp
Feiertagsentheiligung -> Frevel
Feige, Feigenbaum. Die Frucht des im Orient, in Nordafrika und Südeuropa wachsenden Feigenbaums (Fb.s) ist seit alters in populären Überlieferungen aus jener Region bezeugt 1 und spielt auch im Abwehrzauber (cf. bes. —» Gebärde) eine bedeutende Rolle. Die Form der F.nfrucht und ihrer Blätter verschafften ihr den Charakter eines erotischen Symbols2. Als Zeichen der Fruchtbarkeit und Fortpflanzung gilt der Fb. vielen Völkern als heilig. Er übernimmt öfter als Baum der Erkenntnis 3 die Funktion des Apfelbaums, wie überhaupt die Mythologien des mediterranen Gebiets beiden Bäumen und ihren Früchten (cf. —> Apfel, Apfelbaum; —> Baum) ähnliche Bedeutungen zuschreiben. Im A.T. wird erzählt, daß —> Adam und Eva nach dem Sündenfall ihre Blößen mit F.nblättern bedeckten (Gen. 3,7). Siddhärtha Gautama (—> Buddha), der Begründer des Buddhismus, wurde mit höchster Weisheit begnadet, als er unter einem Fb. weilte 4 ; in der buddhist. Symbolik ist der Fb. (BodhiBaum) daher Sinnbild der Erleuchtung (cf. Mot. A 2711.7). Die Bewegung seiner Blätter gilt Brahmanen als Signum göttlicher Präsenz5. Die Funktion eines lebenden Fb.s kommt dem vom Himmel herabwachsenden Asratta-Baum zu, von dem alles Sein kommt
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(Bhagavadgitä 15; cf. Mot. A 652.2; F 811.15). Ursprungssagen bieten nicht nur Erklärungen für das Aussehen des Fb.s und seiner Früchte, sondern weisen dem Fb., wie anderen Bäumen auch, magische Qualitäten zu. Bei der Flucht nach Ägypten soll Maria einen hohlen Fb. als Versteck benutzt haben (arab. Kindheitsevangelium, cap. 24); dieses weitverbreitete Motiv (Mot. F 811.10; R 311; D 1393.1) 6 kennen ebenso die afrik. Karanga 7 . ö f t e r wird der Fb. aber auch mit dem Kreuz Christi gleichgesetzt; zugrunde liegt die Vorstellung, daß „der eine Baum in realem, der andere in übertragenem Sinn Frucht bringe" 8 . In Var.n internat. Erzählungstypen des mediterranen Gebiets, in denen Bäume und —» Früchte eine Rolle spielen, kommt F. und Fb. folgende Funktion zu: In griech. Var.n zu AaTh 566: —» Fortunatus z.B. wachsen dem Helden nach dem Genuß von schwarzen F.n Hörner aus der Stirn, beim Essen von weißen F.n fallen sie ab 9 . Auch in einer griech. Version zu AaTh 675: Der faule —> Junge verhilft der Genuß von F.n einem Halbmenschen zur Erfüllung noch so ausgefallener Wünsche 10 . — In jüd. Var.n des Legendenmärchens AaTh 928: —» Bäume für die nächste Generation ist statt des Oliven- oder Johannisbrotbaums vom Pflanzen eines Fb.s die Rede, der erst nach Jahrzehnten Früchte trägt, d. h. das Pflanzen geschieht als Vorsorge für nachfolgende Generationen. - In oriental. Fassungen des Schwanks AaTh 1689 A: —» Raparius erhält ein Alter, der dem Kaiser Hadrian einmal F.n als Geschenk überbracht hat, nach Jahren seinen Korb mit Goldmünzen gefüllt zurück. Als ein habgieriger Nachbar in Erwartung der Belohnung die gleichen Früchte offeriert, läßt ihn der Herrscher damit bewerfen. Ein ähnliches Mißgeschick liegt AaTh 1689: Das kleinere —> Übel zugrunde. Dort bietet der Alte aus Versehen grüne F.n dar. Der Herrscher fühlt sich düpiert und ordnet an, dem Spender die Früchte ins Gesicht zu werfen. Der Alte tröstet sich, daß er keine Zitronen als Gabe ausgewählt hat. — In der alten und weitverbreiteten Anekdote vom —» Baum der Frauen (Mot. J 1442.11; Tubach, num. 4978) kommt dem Fb. die Funktion eines Galgenbaums zu, an dem sich eine Ehefrau erhängte. Ein Freund des Ehemanns und Baumbesitzers erbittet einen Ableger für seinen Garten.
Schließlich ist noch auf die Rolle des Fb.s und seiner Früchte in Parabeln hinzuweisen 1 '. In der Jotham-Fabel etwa (Ri. 9, 7 - 1 5 ; Mot. J 956) beruft sich der Fb. auf die Süße seiner Früchte, die er lieber hervorbringen wolle, als
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Feigheit - Feindschaft zwischen Tieren und Mensch
König zu sein 12 , und in der bekannten Rangstreitfabel zwischen ölbaum und Fb. obsiegt der Fb.: Der ölbaum brüstet sich damit, daß seine Blätter nicht abfielen, während der Fb. im Winter nackt dastünde. Aber der Schnee (Blitz o. ä.) richtet den ölbaum wegen seiner Aufschneiderei zugrunde, der Fb. hingegen nimmt keinen Schaden (cf. Mot. J 242.2) 13 . I H D A 2,1304sq.; StandDict. 1,377; RAC 7, 6 4 0 - 6 8 2 . - 2 Aigremont: Volkserotik und Pflanzenwelt 1. (Lpz. 1919) Nachdr. Darmstadt s. a., 74—78; Bilder-Lex. der Erotik. 1: Kulturgeschichte. Wien/Lpz. 1928, 358; H D A 2 , 1 3 0 5 - 1 3 1 0 ; Hansmann, L./Kriss-Rettenbeck, L.: Amulett und Talisman. Mü. 1966, 2 0 3 - 2 0 7 ; Röhrich, Redensarten, 262sq.; Gaignebet, C.: Le Folklore obscene des enfants. P. (1974) 2 1980, 243. - 3 Ginzberg 1, 75,96; ibid. 5 , 9 6 , 9 8 , 1 1 5 ; cf. RAC 7,658sq., 667. - 4 StandDict. l,377sq.; cf. Thomas, E. J.: The Life of Buddha as Legend and History. L. 1927. - 5 James, E. O.: The Tree of Life. Leiden 1966, 24. - 6 Dh. 2, 25, 34sq., 46sq. - 7 Sicard, H. von: Karangamärchen. Lund 1965, Reg. 8 Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, 371. - 9 Hahn, num. 44. - 10 Hahn, num. 8. — II cf. auch RAC 7,649sq„ 6 5 9 - 6 6 2 . - 12 EM 3, 778; Simon, U.: The Fable of Jotham, Its Application and Narrative Framework. In: Tarbiz 34 (1964) 1 - 3 4 . - 13 Schwarzbaum, Fox Fables, 144, 150, not. 26 (Lit.).
Haifa
Aliza Shenhar
Feigheit—» Tapferkeit und Feigheit
wofür er u.a. alle bisher erschienenen Veröffentlichungen der dän. Volksdichtung auswertete. Im Anschluß daran legte er eine ebenso große Stichwörtersammlung zur vergleichenden Volksglaubensforschung an, die H. Ellekilde posthum in den FFC herausgab 1 . Nach seiner Pensionierung widmete sich F. Fragen des Volksglaubens. Er veröffentlichte u.a. die Arbeiten Jul 1—2 ([Weihnachten]. Kop. 1904—05), Nissens Historie ([Geschichte des Kobolds], Kop. 1910), Sjxletro ([Seelenglaube]. Kolding 1914) und Skabelsessagn og Flodsagn ([Schöpfungs- und Sintflutsagen]. Kop. 1915). Methodisch war er bes. von den engl. Anthropologen beeinflußt (cf. —> Anthropol. Theorie). Seine Forschungsergebnisse sind zwar weitgehend überholt (cf. B. Alvers Bewertung 2 ), aber er hat ein außerordentlich reichhaltiges Material zur Volksglaubensforschung zusammengetragen, das immer noch als wertvoll gelten muß. Zusammen mit A. —> Olrik veranlaßte er 1904 die Einrichtung der Dansk Folkemindesamling in Kopenhagen, wo sich jetzt seine umfangreiche Bibliothek sowie seine Kollektaneen befinden. 1 Ellekilde, H.: Nachschlagereg. zu H. F. F.s ungedr. WB. über Volksglauben (FFC 85). Hels. 1929 (Biogr. und Verweise auf biogr. Qu.n, Bibliogr. der gedr. Arbeiten). - 2 Alver, Β.: H. F. F. In: Arv 25-26 (1969-70) 225-238.
Fakse Feilberg, Henning Frederik, *Hiller0d 6. 8. 1831, f Askov 8. 10. 1921, dän. Pfarrer und Volkskundler. 1855 cand. theol. an der Univ. Kopenhagen, 1856 Kaplan, 1859 Pfarrer in Schleswig; nach der Abtretung Schleswigs (1864) Pfarrer in Südjütland, 1891 pensioniert. Seine erste volkskundliche Arbeit Fra Heden ([Auf der Heide], Haderslev 1863) enthielt eine auf eigenen Beobachtungen fußende Beschreibung des Volkslebens in der Schleswiger Heide. Ihr folgte sein monumentales Werk, die heute noch unübertroffene Schilderung Dansk Bondeliv 1—2 ([Dän. Bauernleben]. Kop. 1 8 8 9 - 9 9 ) . 1877 begann F. sein Hauptwerk Bidrag til en ordbog over jyske almuesmäl 1—4 ([Beitr. zu einem WB. über jütländ. Mundarten], Kop. 1886-1914),
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Bengt Holbek
Feind: Der schlimmste F. —> Freund: Der beste F., der schlimmste Feind Feindschaft —> Freundschaft und Feindschaft Feindschaft zwischen den Tieren ^ F r e u n d schaft und Feindschaft Feindschaft zwischen Tieren und Mensch (AaTh 159 B, 285 D) 1. AaTh 285 D - 1.1. Redaktionen - 1.2. Alter und Urform - 1.3. Verbreitung - 2. AaTh 159 Β — 3. Verwandte Erzählungen - 4. Funktion und Deutungen
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Feindschaft zwischen Tieren und Mensch
1. A a T h 285 D 1.1. R e d a k t i o n e n . Feindschaft (F.) zwischen Tieren und Mensch bezeichnet eine Gruppe verwandter Erzählungen, die bei AaTh 285 D und AaTh 285 A: The Dead Child and the Snake's Tail abgehandelt werden. Der Bezug dieser Subtypen zueinander läßt sich nur schwer exakt bestimmen. Bei dem bekannteren und offenbar älteren Typ AaTh 285 D: Serpent (bird) Refuses Reconciliation können vier Teile unterschieden werden: (1) EinarmerMannfindetinseinem Haus (Feld) eine —» Schlange; er stellt ihr eine Schale Milch hin; die Schlange trinkt sie aus und hinterläßt eine Goldmünze. Der Mann bringt der Schlange weiterhin täglich Milch und wird reich. (2) Der Sohn des Mannes sucht die Schlange zu töten und sich so statt des einen täglichen Goldstücks den vermuteten Schatz auf einmal zu verschaffen. Sein Schlag mit einer Axt (Knüppel) tötet aber die Schlange nicht. (3) Die Schlange beißt den Jungen, und er stirbt. (4) Der um die Wiederherstellung seines Wohlstands bemühte Vater bittet die Schlange um Versöhnung, sie lehnt jedoch ab, da er stets an den Tod seines Sohnes und sie an den Anschlag auf ihr Leben denken würde.
In dieser Form erscheint die Erzählung in einigen der ältesten literar. Versionen: im —» Pancatantra (3, 5) mit der Abweichung, daß die nicht zu versöhnende Schlange dem Vater zum Abschied einen Edelstein hinterläßt; im Codex Bruxellensis (num. 636), in den —> Gesta Romanorum und bei—> Marie de France 1 mit der Änderung, daß nicht der Sohn die Schlange töten will, sondern der Mann auf Anstiftung seiner Frau. Nach einer anderen, ebenfalls sehr alten Version, die sich in lat. Fassung bei —» Odo of Cheriton findet und letztlich auf den Griechen Phylarchos zurückgeht 2 , ist es nicht die als Freundin behandelte Schlange, sondern ihr ,wildes' Kind, das ohne Anlaß den Sohn des Mannes tötet; die Schlange bringt daraufhin ihr frevelhaftes Junges um und verschwindet für immer. Neben diesen relativ komplexen Erzählungen gibt es mehrere kürzere Versionen, im allg. unter AaTh 285 Α klassifiziert. Eine äsopische Fabel beginnt mit dem Tod des Kindes durch den Biß der Schlange·1. Der erzürnte Vater will sie mit einer Axt töten, verfehlt sie und spaltet statt dessen einen Felsen. Später versucht er, mit ihr Frieden zu schließen, doch das Tier weist dies zurück, da sich ihre
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Feindschaft jedesmal neu entzünden werde, so oft der Mann das Grab seines Sohnes und die Schlange den gespaltenen Stein sehe. In den Fabeln des —» Johannes von Capua und Hans —> Sachs begeht ebenfalls die Schlange die erste Übeltat: Sie spritzt ihr Gift in das Essen des friedliebenden Mannes 4 . Nach seinem mißlungenen Versuch, sie zu erschlagen, bewegt ihn seine Frau dazu, die Schlange wieder zu versöhnen; diese aber sagt, eine Freundschaft zwischen ihnen sei nun unmöglich. Umgekehrt ist in der Fabel der Prosaparaphrasen des —> Phädrus und in davon abhängigen —> Romulus-Texten meist die Schlange unschuldig: Eine Schlange wird im Haus eines Mannes ernährt, der sehr reich wird. Der Mann verwundet die Schlange. Als sein Reichtum plötzlich schwindet, erkennt er den Zusammenhang und bittet die Schlange um Versöhnung, die diese ablehnt 5 . 1.2. A l t e r und U r f o r m . Die angeführten Beispiele zeigen, daß die Erzählung bis in die Antike zurückverfolgt werden kann und eine lange literar. Tradition in Europa, Indien und im Nahen Osten aufweist 6 . Die langandauernden Kontroversen um ihre Geschichte sind hauptsächlich auf das nicht geklärte Verhältnis zwischen AaTh 285 Α und AaTh 285 D zurückzuführen. In der Annahme, daß die beiden Typen direkt miteinander verwandt sind, postulierte T. —* Benfey Indien als Ausgangspunkt für alle Versionen 7 (cf. —» Ind. Theorie). Dafür spräche, daß die frühesten griech. Belege Fragmente längerer Erzählungen zu sein scheinen, da die Handlung der Fabeln nicht genügend motiviert ist8. Ohne Erwähnung der Goldgeschenke der Schlange beginnen die antiken Qu.η mit dem Tod des Kindes durch den Schlangenbiß, unmotiviert erscheint also der Versöhnungsversuch des Vaters. Jedoch werden als vermutete Qu.n zumeist frühere mündl. griech. und nicht ind. Versionen angenommen, da die älteste ind. Version im Pancatantra — wie auch Benfey bereits zeigte — ein sehr später Zusatz ist9. G. A. —» Megas nahm deshalb an, daß AaTh 285 Α seinen Ursprung in AaTh 285 D habe, zog jedoch im Gegensatz zu Benfey den Schluß, daß der Ursprung in der griech. mündl. Überlieferung zu sehen sei, die AaTh 285 D vollständig tradiert habe 10 . B. Waugh
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Feindschaft zwischen Tieren und Mensch
ist ebenfalls der Ansicht, daß mündl. Überlieferung allen schriftl. Versionen vorausgegangen sei, legt sich jedoch auf keinen spezifischen Ursprungsort fest 11 . H. —> Schwarzbaum behauptet demgegenüber, daß moderne Erzähler eine antike Erzählung ausgebaut hätten: Die ursprünglich schriftl. Versionen ähnelten AaTh 285 A, und AaTh 285 D repräsentiere die nachträglichen Verfeinerungen durch Träger der mündl. Überlieferung. Schwarzbaum weist auch auf zahlreiche jüd. und bisher übersehene ältere und neuere ind. Var.n hin; diese Texte zeigten, daß Indien als möglicher Ursprungsort immer noch nicht außer acht gelassen werden könne 1 2 . 1.3. V e r b r e i t u n g . Die gegenwärtige mündl. Verbreitung der Erzählung ist hauptsächlich auf ein Gebiet beschränkt, dessen äußere Grenzen Indien und Griechenland bilden — die beiden am häufigsten als Ausgangspunkt angesehenen Länder. Die meisten mündl. Versionen finden sich in Albanien, Bulgarien, Jugoslawien, in der Türkei, in Syrien, auf der arab. Halbinsel, im Irak, Iran und in Afghanistan 1 3 . Die reiche literar. Fabeltradition des ma. Europa scheint von geringer Wirkung auf die nachfolgende mündl. Tradition gewesen zu sein: So ist nur eine Var. von AaTh 285 D bekannt, die aus dem Raum nördl. des Balkans stammt 1 4 . In der großen Mehrzahl der Fälle ist der Tierprotagonist eine Schlange, manchmal übernimmt aber auch ein Löwe (Albanien, Naher Osten), Bär (Naher Osten) oder böser Geist (ma. Europa, zeitgenössisch: Naher Osten) ihre Rolle. 2. A a T h 1 5 9 B . In AaTh 159 B: Zsnmi'ryo/ Lion and Man wird ebenfalls zunächst von der Freundschaft und dann von der F. zwischen einem Tier und einem Menschen erzählt: (1) Ein Löwe (anderes Tier) hilft einem armen Holzfäller täglich bei der Arbeit. (2) Als das Tier einmal ausruhen und gelobt werden möchte, (3) rühmt der Holzfäller die Tugenden des Löwen, macht aber eine Bemerkung über seinen übelriechenden Atem. (4) Daraufhin befiehlt der Löwe dem Mann, ihn mit seiner Axt zu verwunden. (5) Als der Löwe nach einiger Zeit wieder auftaucht, fordert er den Mann auf, sich seinen Nacken anzusehen. „Die Wunde ist verheilt", stellt der Holzfäller fest. „Aber die Beleidigung schmerzt noch
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immer", sagt der Löwe. „Geh oder ich werde dich fressen". Seitdem sind sich Menschen und Löwen feind.
Oft wird das entsprechende Tier in das Haus des Mannes eingeladen, und die Frau spricht die beleidigenden Worte aus. Im Unterschied zu AaTh 285 D wird hier verdeutlicht, daß harte Worte noch schlimmer als sichtbare Folgen des Geschehens sind. Das Verbreitungsgebiet scheint bes. im südöstl. Europa, in Nordafrika, im Nahen Osten und im georg. und pers. Sprachraum zu liegen; einzelne Belege stammen aus Litauen 1 5 . 3. V e r w a n d t e E r z ä h l u n g e n . Mehrere Handlungselemente der F.s-Erzählungen finden sich in ind. Märchen und Mythen, in denen jedoch, ζ. B. im Mythos von der Schlangenmutter 1 6 , der Mensch (immer eine Frau) die dauernde Freundschaft der Schlange gewinnt. Die Funktion dieser Erzählungen besteht in der Erklärung des Ursprungs der Freundschaft zwischen Mensch und Schlange, die Funktion der griech. dagegen in der Erklärung der F. zwischen den beiden Arten 1 7 . Obwohl sich innerhalb solcher Erzählungen oder in Verbindung mit ihnen keine Beweise zur Widerlegung der These finden lassen, nach der AaTh 285 D seinen Ursprung westlich von Indien haben soll, wäre es dennoch möglich, daß AaTh 285 D und AaTh 159 Β Ökotypen sind, die sich aus altind. Schlangenmythen herleiten, aber deren Wertvorstellungen ins Gegenteil verkehrt haben. Auffallend sind die Parallelen zwischen AaTh 285 D und AaTh 285: Kind und Schlange (KHM 105: Märchen von der Unke, Teil 1; cf. auch —> Dankbarkeit und Undankbarkeit, AaTh 160: —> Dankbare Tiere, undankbarer Mensch, AaTh 207 C: —> Glocke der Gerechtigkeit). Wie ähnlich beide Typen einander sein können, zeigt eine Var., die von nordamerik. Schwarzen stammt: Ein Kind hat die Gewohnheit, mit einer Klapperschlange in Buttermilch getränktes Brot zu teilen. Als die Eltern dies entdecken, locken sie das Kind aus dem Hof und erschießen die Schlange. Das Kind hört den Schuß, läuft zu der Schlange hin, wird von dieser in ihrem Todeskampf gebissen und stirbt 18 . In anderen Versionen (auch K H M 105) stirbt das Kind nicht an einem Schlangenbiß, sondern aus Kummer, da Kind
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Feindschaft zwischen Tieren und Mensch
und Tier durch eine geheimnisvolle Lebenskraft miteinander verbunden zu sein scheinen. Wahrscheinlich aufgrund der Tatsache, daß AaTh 285 in Nord- und Westeuropa — wo AaTh 285 D nur selten auftritt — bes. populär ist, nahm man das Bestehen einer direkten Verbindung zwischen AaTh 285 und AaTh 285 D an 19 . Waugh hingegen postuliert für Kind und Schlange eine unabhängige Herkunft aus dem England des 14. Jh.s 20 . Allerdings wird Kind und Schlange meist als Sage erzählt, während F. zwischen Tieren und Mensch fast unveränderlich als fiktive Fabel erscheint. Weiter besteht in einem wichtigen Detail ein Unterschied zwischen AaTh 285 und AaTh 285 D: In Kind und Schlange ist das Kind, nicht der Vater, mit der Schlange befreundet, und der Vater, nicht das Kind, ermordet das Tier. Eine solche Umkehrung entspräche Vorstellungen der europ. Frühromantik, nach denen Kinder unschuldig, der Natur näher und somit geeignete Lehrer der Erwachsenen seien 21 und die u.a. durch die Brüder Grimm so große Wirkung erlangten, daß sie auch auf volkstümliche Wertvorstellungen Einfluß gewannen. Den gleichen Motivkern wie AaTh 285 D besitzt auch der Erzähltyp AaTh 672 C: cf. Schlangenkrone, -stein (Grimm DS 220), der wie die oben erwähnten ind. Mythen anstatt mit F. mit der Freundschaft zwischen Mensch und Schlange endet. Hier wie in den ind. Erzählungen ist die Schlange, die ein jungverheiratetes Mädchen mit Reichtümern beschenkt, deutlich ein Fruchtbarkeitssymbol. 4. F u n k t i o n und D e u t u n g e n . In ihrer langen Geschichte wurden AaTh 285 D und AaTh 159 Β fast immer als Fabeln gebraucht, die in literar. und mündl. Form zur Veranschaulichung bestimmter Moral- und Verhaltensregeln dienten. Im Pahcatantra ist die Geschichte einem Ratgeber in den Mund gelegt, der seinem König rät, einen verwundeten Feind zu töten. Sie wird vom Standpunkt der Schlange aus erzählt, die dem Vater des toten Kindes die Versöhnung abschlägt, daher die Moral: Ein Streit, in dem der Gegner schmerzlich verwundet wurde, kann nicht geschlichtet werden. Dem entspricht auch die Moral in A. —> Dozons alban. Var. 22 und in einer der äsopischen Erzählungen 23 .
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Die solchen Erzählungen, in denen der Mann die unschuldige Schlange angreift, angehängten Lehren lauten: „Wer versucht, andere zu verletzen, darf sich selbst nicht sicher glauben", und „Der Mensch sollte niemanden beleidigen, von dem er Gaben empfangen hat, noch seinen guten treuen Freunden mißtrauen" 24 . Eine ähnliche an die Handlungsweise des Mannes anknüpfende Warnung wird in einer neugriech. Var. von AaTh 159 Β ausgesprochen. Nachdem der hilfsbereite Löwe den Holzfäller, der ihn beleidigte, fortgejagt hat, schließt der Erzähler mit einer gereimten Moral: „Messerstich heilt, böse Rede verweilt" 25 . Im Pahcatantra, in neueren ind. Mythen und Volkserzählungen sowie in verwandten europ. Märchen und Sagen ist die Schlange eindeutig ein Symbol chthonischer Fruchtbarkeit, manchmal auch menschlicher Sexualität 26 . Manche ma. europ. Fassungen geben der Erzählung eine christl.-religiöse Färbung, die oft der Symbolik der Genesis zuwiderläuft. Zwar ist in den Gesta Romanorum anstatt des Sohns die Frau des Ritters Urheberin des Zerwürfnisses, doch stellt die Schlange hier eher das Gute als das Böse dar; daher führt der Text weiter aus: „Die Schlange verkörpert Christus, der kraft der Taufe im menschlichen Herzen gehalten wird". Die europ. Erzählungen sind auch die Religiosität betreffend abstrakter als die östl. Die Schlange der Gesta Romanorum gibt keine Geschenke, beißt auch kein Kind; statt dessen wird der Mann wie durch Glück reich, solange er sie füttert; aber in dem Augenblick, in dem er sie erschlagen will, zerrinnt sein Reichtum, und seine Kinder sterben wie durch einen Zauber. Dieser abstraktere Zusammenhang der freundlichen Behandlung der Schlange mit dem Wohlstand des Menschen, ja mit dem Leben selbst, findet sich häufiger in AaTh 285 als in AaTh 285 D. Einige spätma. Versionen zeigen die Schlange in ihrer dem orthodoxen Christentum mehr entsprechenden Rolle des bösen Verführers. Die Tatsache, daß in der Genesis (Gen. 3, 15) die F. zwischen Mensch und Schlange mit der Verführung Evas durch Satan in Verbindung gebracht wird, spiegelt sich in den Erzählungen von Hans Sachs und Johannes von Capua 27 . Die Unvereinbarkeit der beiden
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symbolischen Rollen der Schlange — als guter Geist, der zum Reichtum verhilft (AaTh 285 D), und als Vertreter Satans (Genesis) — mag dazu beigetragen haben, daß die Popularität von AaTh 285 D im kathol. und Protestant. Europa nicht sehr groß gewesen ist. Der Symbolgehalt dieser Erzählungen ist jedoch seit dem alten Griechenland bis heute nicht in erster Linie von übernatürlicher Art. Schlange, Löwe und Bär, die häufigsten Protagonisten, sind traditionelle Widersacher des Menschen. Manchmal trägt die Geschichte ätiologische Züge, wie in den griech. und alban. Var.n: Sie will die Gründe der F. zwischen den Menschen und bestimmten gefährlichen Tierarten erklären. A n den diesen Fabeln angehängten moralischen Belehrungen zeigt sich jedoch deutlich, daß diese Geschöpfe meist nicht als Tiere gemeint sind, sondern für einen menschlichen Charaktertypus stehen. Die Wahl von für den Menschen so gefährlichen Tieren hebt die Ernsthaftigkeit des Streits hervor und verstärkt die Analogie der Moral: Es ist für einen Menschen ebenso schwierig, eine unbesonnene Tat wieder rückgängig zu machen wie zu einer Schlange (einem Löwen oder Bären) freundlich zu sein. Dieser Leitgedanke ist vermutlich der Grund dafür, daß anders als in der oriental. Überlieferung die Schlange der äsopischen Tradition den Menschen niemals beschenkt; der wesentliche Punkt in den äsopischen Fabeln ist es, die Tiefe der F. zu veranschaulichen, nicht den Verlust der Freundschaft. Das wirkungsvollste und typischste Darstellungsmittel der Tiererzählung wird also auch in F. zwischen Tieren und Mensch verwendet: die Erklärung zwischenmenschlicher Beziehungen durch die stereotypen Eigenschaften von Tieren. 1
Bedker, Indian Animal Tales, num. 220; Hervieux 2, 636; Gesta Romanorum, num. 141; Warnke, K.: Die Fabeln der Marie de France. Halle 1898, num. 72; cf. Babrius/Perry, app., num. 573a; cf. Schwarzbaum, Fox Fables, 124—126. — 2 Plinius, Naturalis historia 10,208; Hervieux 4,363 sq.; Babrius/Perry, app., num. 637; cf. Schwarzbaum, Fox Fables, 133 sq., not. 7. - 3 Wienert, ET 331; Äsop/Halm 96, 96b; Babrius/Perry, app., num. 51. — "Beispiele der Alten Weisen des Johann von Capua. ed. F. Geissler. B. 1960, 178, 191; Hans Sachs: Sämtliche Fabeln und Schwanke 2. ed. E. Goetze. Halle 1894, num. 245; cf. auch Benfey 1, 362, 309. -
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cf. Babrius/Perry, app., num. 573; BP 2, 461. Zur arab. literar. Tradition cf. Chauvin 2, 94, num. 43. - 7 Benfey 1, 359-365; BP 2, 462. 8 cf. Megas, G. Α.: Folktales of Greece. Chic./L. 1970, 218sq.; id.: Some Oral Greek Parallels to j£sop's Fables. In: Festschr. A. Taylor. Locust Valley, N.Y. 1960, 195-207, hier 198-206. 9 Benfey 1, 359; Warnke, K.: Die Qu.η des Esope der Marie de France. In: Festschr. H. Suchier. Halle 1900, 161-284, hier 221-226; BP 2, 462; Marx, Α.: Griech. Märchen von dankbaren Tieren. Stg. 1889, 104-108. - 10 Megas 1960 (wie not. 8) 198-205, 207; id. 1970 (wie not. 8) 218sq. 11 Waugh, B.: The Child and the Snake. Diss. Bloom. 1959, 367-402 (gründet sich allerdings auf ein unvollkommenes Verständnis der Handlung der Pancatantra-Version). - 12 cf. Schwarzbaum, Fox Fables, 126-130, pass. — 13 Zusätzlich zu den bei BP 2, 462 und AaTh angegebenen Var.n v. Jason; Waugh (wie not. 11) 379-396, 402; Äsop/Holbek, num. 63; Megas; Fadel, Α.: Beitr.e zur Kenntnis des arab. Märchen und seiner Sonderart. Diss. Bonn 1978, num. 16 (Flötenspiel); Noy; Marzolph; cf. auch Nowak, num. 203 (Flötenspiel/Fisch); Jahn, S. al Azharia: Arab. Volksmärchen. B. 1970, num. 5 (Trommeln); Barag 285 Α (Geigenspiel/Eidechse); Eschker, W.: Mazedon. Volksmärchen. MdW 1972, num. 19; Stebleva, I.V.: Turkmenskie narodnye skazki. M. 1969, num. 18; Chalilov, Ch.: Skazki narodov Dagestana. M. 1965, num. 85; Schwarzbaum, Fox Fables, 123-137. - 14 Jason. — 15 cf. Megas 1970 (wie not. 8) 14-16, 215; STF 1; SUS; Jason; Marzolph; Schwarzbaum, Fox Fables, 135, not. 30; Brandt, Ε. V.: 69 tunesiske eventyr. Kop. s.a., 19sq.; Megas, G. Α.: Griech. Volksmärchen. MdW 1965, num. 13; Loukatos, D.S.: Neoellenika laographika keimena. Athen 1957, 33sq., num. 17; Krauss, F.S.: Tausend Sagen und Märchen der Südslaven 1. Lpz. 1914, num. 50; Reinisch, L.: Die Saho-Sprache 1. Wien 1889, 178-180; Scheu, H./Kurschat, Α.: Pasakos apie paukscius. Zemait. Tierfabeln [. . .]. Heidelberg 1913, num. 80; Mazon, Α.: Documents, contes et chansons slaves de l'Albanie du Sud. P. 1936, num. 85; Orbeliani, S.-S.: Die Weisheit der Lüge. B.Wilmersdorf 1933, num. 21; Tosev, K.: Makedonske narodne pripoviietke. Sarajevo 1954, 173sq.; Aleksynas, K.: Siaures lietuvos pasakos. Vilnius 1974, num. 14; cf. zu Mot. W 185.6 auch Bechstein, L.: Sämtliche Märchen, ed. W. Scherf. Mü. 1965, 660-664, 862; Armistead, S.G./Haboucha, R./Silverman, J. H.: Words Worse than Wounds: A Judeo-Spanish Version of a Near Eastern Folktale. In: Fabula 23 (1982) 9 5 - 9 8 . - 16 Goswami, P.: The Mother Serpent. In: Folktales Told around the World, ed. R. M. Dorson. Chic. 1975, 181187. — 17 Zur Verbindung von Schlangen und Wohlstand in ind. Erzählungen cf. Frere, M.: Old Deccan Days. L. 2 1870,16-22; cf. Thompson/ Balys Β 103.0.4.1. - 18 Dorson, R. M.: American Negro Folktales. Greenwich, Conn. 1967,274, num. 6
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Feldforschung
145 a. - 19 cf. BP 2,461. - 2 0 Waugh (wie not. 11) 317, 355. 21 cf. Doderer, K.: Romantik und Kinder- und Jugendlit.In: L K J 3 , 2 0 4 - 2 0 8 , h i e r 205 sq. - 2 2 Dozon, Α.: Contes albanais. P. 1881, num. 17. — 23 Babrius/ Perry, app., num. 51. - 24 Hervieux 2, 155, num. 65; cf. Babrius/Perry, app., num. 573. — 25 Megas 1965 (wie not. 15) 25. - 26 cf. Ward, D. (ed.): The German Legends of the Brothers Grimm 1. Phil. 1981, 3 86. - 27 v. not. 4.
Houston
Carl Lindahl
Feldforschung 1. Definition - 2. Entwicklung und Theorie 3. Methode, Praxis
1. D e f i n i t i o n . F. ist die Aufnahme wiss. relevanter Materialien und Daten an Ort und Stelle ihres Vorkommens, vorzugsweise im natürlichen Kontext, oder zumindest bei den Trägern der zu dokumentierenden Überlieferung. Diese Art der Erhebung bildet für verschiedene Teilbereiche anthropol. orientierter Disziplinen eine unabdingbare Voraussetzung, auf der weitere wiss. Arbeit aufbaut. Die —» Dokumentationsmethode wird deshalb nicht nur von der Vk., sondern auch etwa von Völkerkunde, Sozialanthropologie, Soziologie, Psychologie, Sprach-, Religionswissenschaft etc. angewandt. F., wie sie gegenwärtig verstanden wird, hat nicht nur nach isolierten Objekten und Objektivationen zu fragen, sondern gleichzeitig ihre Einbettung in die Lebenszusammenhänge der Gewährsleute (—» Informanten), die sozialen und kulturalen Kontexte sowie deren vielfältige Verflechtungen und gegenseitigen Abhängigkeiten zu berücksichtigen. 2. E n t w i c k l u n g u n d T h e o r i e . Zu Beginn der Neuzeit richtete sich der Blick zunehmend auf ,Land und Leute', so etwa in dem auf Johannes Boemus basierenden Weltbuch des Sebastian —> Franck von 1534, doch liegen diesen Werken wie auch frühen —» Reiseberichten lediglich subjektive Beobachtungen zugrunde. Erst in der —> Aufklärung setzen im Zeichen der Statistik 1 aus staatspolitischen Interessen Vorformen der F. mit systematischen Erhebungen ein, so zur Topographie, zu ökonomischen Gegebenheiten, überlieferten Gewohnheiten der Bevölkerung beim Arbeiten und Feiern, wobei gelegentlich auch Formen sprachlicher Tradition mitbe-
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rücksichtigt wurden. Zunehmende Bedeutung für die F. gewinnen auch die Reisebeschreibungen dieser Zeit. Zur Methode der Statistik gehört u.a. die Anwendung von Fragebogen. Einzelne Aktionen dieser Art mit speziellem Interesse für Volkserzählungen sind bemerkenswerterweise im 17. Jh. aus europ. Randgebieten zu verzeichnen. 1630 z.B. unterzeichnet Gustav II. Adolf von Schweden ein Memorial zur Erhebung von Erzählüberlieferung, das bereits sehr differenziert nach Gattungen und Typen spezifiziert ist 2 . Für Ostfinnland liegt 1674 ein Bericht des Propstes von Paltamo, Juhana Cajanus, vor 3 . Zu erwähnen sind weiterhin A. Niemann 4 und der Fragebogen Erzherzog Johanns von 1810 5 und die 1815 in verschiedene Länder verschickten Wiener Rundschreiben J. —» Grimms mit dem Ziel, „alles, was unter dem gemeinen deutschen Landvolke von Lied und Sage vorhanden ist, zu retten und zu sammeln" 6 , die allerdings keinen Erfolg hatten. Eine erste groß angelegte Befragung wird 1864/65 von W. —> Mannhardt durchgeführt. 150000 Exemplare eines Fragebogens, der sich in erster Linie auf Erntebräuche bezog (Rücklauf 1, 7%), gingen, wie häufig, nicht an die Gewährsleute selbst, sondern an Lehrer, Geistliche etc. in Europa, denen — ebenso wie Missionaren für den außereurop. Bereich — auch nach dem Entstehen der Vk. als wiss. Disziplin bis heute eine entscheidende Rolle als Sammler zukommt. Die Angeschriebenen wurden „zu räumlich verteilt wohnenden Interviewern, das Unternehmen demnach in heutigen Begriffen zu einer Mischung von schriftlicher Befragung und Interview" 7 . Der Fragebogen als alleiniges oder unterstützendes Prinzip der F. — obwohl er zeitweilig eher vom ,Feld' weg- als zu ihm hinführt — hat bis in die Gegenwart nicht an Bedeutung verloren, bes. dort, wo es um raumdeckende Erhebungen geht, wie etwa bei volkskundlichen Atlanten. Die Systematiken wurden verfeinert und auf die genauen Ansprüche der untersuchten Objektivationen zugeschnitten 8 . Bes. Erwähnung verdient S. —> 0 Süilleabhäins Handbook of Irish Folklore als bisher umfangreichster Fragenkatalog für den Gesamtbereich der Vk. 9 . Obwohl die quellengetreue Dokumentation von Überlieferungen heute nahezu ein Axiom
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Feldforschung
ist, gilt dieses Prinzip doch erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit. Noch bis in das 19. Jh. hinein waren Volkserzählungen lediglich der Rahmen, innerhalb dessen Autoren nach dichterischen, didaktischen oder anderen Gesichtspunkten Stoffe frei umgestalten konnten 1 0 . Selbst die Brüder Grimm und ihre Zeitgenossen, obwohl ihrem Selbstverständnis und der Methode nach durchaus als Feldforscher zu bezeichnen, nahmen, idealtypischen Vorstellungen entsprechend, gravierende textliche Eingriffe vor (—> Authentizität, —» Bearbeitung). — In der Folgezeit werden archivierte und gedr. Texte authentischer, der miterhobene Kontext von der anfänglichen bloßen Namens- und Ortsnennung zunehmend umfassender und komplexer. Als erste wirkliche Feldforscher um die Mitte des 19. Jh.s haben u. a. zu gelten Α. N. —> Afanas'ev in Rußland, G. O. —» Hylten-Cavallius in Schweden, P. C. —» Asbjornsen und M. —» Moe in Norwegen, S. —» Grundtvig und Ε. T. —» Kristensen in Dänemark, J. F. —» Campbell of Islay in Schottland, P. Kennedy in Irland 1 ', P. —» Sebillot und E. - » Cosquin in Frankreich, G. —» Pitre und L. Gonzenbach in Italien und W. —» Radioff in Sibirien. Ihre Slgen sind zwar philolog. ausgerichtet, berücksichtigen jedoch Lebensdaten und -umstände der Erzähler (—» Erzählen, Erzähler). Daneben existiert bereits die hauptsächlich auf Ε. B. —> Tylor zurückgehende brit. anthropol. Schule (—> Anthropol. Theorie), die Volksüberlieferung lediglich als Mittel zur Erforschung der Gemeinschaft betrachtete und dementsprechend ihre Forschungsschwerpunkte im soziol. Bereich setzte. In den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jh.s folgen u. a. Ν. E. —» Oncukov, die Brüder Β. M. und Ju. M. —» Sokolov sowie Μ. K. —» Azadovskij dem Beispiel jener russ. Forscher, welche zuvor —> Bylinen untersucht hatten. Sie beschreiben die eigenständig schöpferische Leistung der Erzähler und die Beeinflussung ihrer Geschichten durch individuelle Erfahrungen. Die russ. Schule wandte sich gegen die Theorie vom kollektiven Ursprung der Volkserzählung (—> Kollektivbewußtsein). Als weitere wichtige Sammler der Zeit sind zu nennen U. —» Jahn, der als erster die Berufe der Erzähler, Erzählgelegenheit und Größe des —» Repertoires erwähnt 1 2 , und J. R. —> 32
Enzyklopädie des Märchens IV
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Bünker, dessen Slg dadurch Aufsehen erregte, daß sie als erste den Stoff nur eines einzigen Erzählers veröffentlicht 13 , worin ihm später, in den 30er Jahren bes. die Forscher der UdSSR, G. -> Henßen, C.-H. - » Tillhagen, S. —> Neumann, R. Gwyndaf u.a. folgten 1 4 . Mit C. W. von —>Sydows gegen die —> geogr. hist. Methode gerichteten Abkehr von der —» philolog. Methode beginnt die volkskundliche F. sich zunächst zögernd, dann aber allg. sozialwiss. zu orientieren. „It is not enough to study folk-tales only, it is also necessary to make oneself familiar with the use of folktales, their life in tradition, their transmission and spread." 1 5 (cf. —» Biologie des Erzählguts). Dieser Neuansatz führte zur Belebung der F. bei Sammlern sowie bes. durch die nun zahlreichen europ. Erzählarchive, welche aufgrund der Initiative des 1907 gegründeten Bundes der Folklore Fellows ins Leben gerufen worden waren 1 6 (cf. auch —» Folklore Fellows Communications). Die 1935 nach den Richtlinien von Sydows und R. T. —» Christiansens eingesetzte Irish Folklore Commission 17 z.B. hatte bis zum Ende der 70er Jahre ca 34000 Märchentexte aufgenommen (noch unausgewertet). Seit den 30er Jahren werden dann auch Tonfall, Tonlage, Geschwindigkeit, Gestik, Mimik und dramatisches Spiel des Erzählens bzw. der Erzähler mit in die Unters, des —» Kontexts einbezogen 18 , dokumentiert durch Schallplatte 19 , —> Tonbandaufnahme 2 0 , Photo 2 1 und Film 22 . Zur gleichen Zeit etwa setzen, durch gesteigerte Reflexionen über Technik und Vorgehen bei der F., die ersten selbständigen Publikationen zu diesem Thema ein 23 , ähnliche frühere Arbeiten verstanden sich eher als Anleitung für Sammler 24 . Nach L. —> Degh bestimmen drei Faktoren, deren gemeinsames Vorhandensein zur Existenz der Volkserzählungen notwendig ist, und deren Beziehung zueinander den erzählforscherischen Schwerpunkt: Tradition, Individuum, Erzählgemeinschaft 25 . Im wesentlichen unterscheidet die F. des 20. Jh.s immer diese drei Bereiche, wobei einzelne Forscher, Schulen oder Trends sich nur dadurch unterscheiden, daß die Akzente innerhalb der Triade jeweils anders gesetzt sind. — Am Anfang stand das E r z ä h l t e im Zentrum des
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Feldforschung
Interesses, es folgte die Hinwendung zum E r z ä h l e r , jetzt ist es das E r z ä h l e n in Hinblick auf—> Performanz 2 6 , Situation, Funktion, Prozeß und Lebenszusammenhang 2 7 . Eine derartige Akzentsetzung nimmt in den 30er Jahren des 20. Jh.s z.B. die Schule von J. Schwietering vor, nach der nicht mehr der Volkserzähler als schöpferischer Künstler, sondern die gesellschaftliche Funktion des Erz ä h l - A k t s im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen hat. „Volkskundliche Fragestellungen nach Sinn und Bedeutung eines Volksguts sieht die Volksgüter nicht als selbständig ablösbare Gebilde, die aus sich verständlich wären, sondern als Gerät, das nicht aus seiner Form, sondern aus seiner Funktion, aus der Ganzheit des Lebensvorgangs, dem es verhaftet ist, begriffen werden kann. Gegenstand einer derartigen Forschung ist [ . . .] nicht die Erzählung, sondern das Erzähltwerden, [. . .] alles das nicht nur als äußere Erscheinung, sondern gleichzeitig als innerer Akt seelischen Erlebnis' und geistigen Besitzergreifens, nicht vonseiten des einzelnen, sondern der Gruppe." 2 8 . In der Schwietering-Nachfolge stehen M. Bringemeier 2 9 ,0. Brinkmann 3 0 , M. Hain 3 1 und Henßen. Die sich immer mehr durchsetzende Unters, der —» Funktion volkskundlicher Phänomene erfolgte zunächst nach den Prinzipien der frz. soziol. oder der engl, anthropol. Schule, wobei für die Märchenforscher bes. die theoretischen Überlegungen von L. —» Levy-Bruhl und die methodischen Hinweise von B. —>• Malinowski von Bedeutung waren. Völkerkundliche Erzähl-F. wurde vor allem durch F. —» Boas stimuliert, der die Unters, von Erzählungen in sein Prinzip der ,ganzheitlichen' Betrachtung der Kultur einband. Für ihn war der Erzähler nur eine Komponente des jeweiligen soziokulturalen Systemgefüges. Eine ähnliche Auffassung vertritt J. Pentikäinen 3 2 , der mit 1592 Einzelstücken auf 100 Stunden Tonband exemplarisch eine Überlieferungsträgerin untersucht hat, als Einzelperson, als Vertreterin ihrer Kultur, unter Berücksichtigung der persönlichen Rolle, die sie in der Gemeinschaft spielt. Ihr Repertoire wird im Anwendungszusammenhang gesehen, ihre Einstellung gegenüber dem Repertoire betrachtet; die Methode ist u.a. eine Verbindung aus biogr., strukturellen,
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typol. und interaktioneilen (—> Interaktion) Gesichtspunkten. Forschungsgegenstand ist also hier nicht mehr das vom Kontext isolierte .Produkt', sondern der Mensch selbst, seine Einbindung in eine Kultur und seine Lebensäußerungen, zu denen auch die Volkserzählung gehört. Für den Kontext hat R. Bauman 3 3 eine Klassifizierung vorgenommen: (1.) Bedeutungskontext (was ist die durchschnittliche Deutung, die einem Item von den Mitgliedern einer Gemeinschaft gegeben wird?); (2.) institutioneller Kontext (welchen Platz und Rang nimmt es innerhalb der Kultur ein?); (3.) Kontext des kommunikativen Systems (welches Verhältnis besteht zu anderen Teilen der Überlieferung?); (4.) soziale Basis (von welchen Menschen stammt es?); (5.) individueller Kontext (wie und wo paßt es in das Leben des Gewährsmanns?); (6.) Situationskontext (Gebrauchswert in Bezug auf die soziale Situation). — Neben einer verstärkten Betonung der kontextorientierten F. ist eine Problematisierung der F. allg. und bes. im Hinblick auf ethische Implikationen bei der Gewährsleutebefragung zu beobachten, die bisherige, akzeptierte Praktiken in Frage stellt 34 . Das Gebiet der F. hat sich zunehmend ausgeweitet. Gesammelt werden nicht mehr nur Texte, sondern als Begleitmaterial auch Dinge zum Lebensumkreis der Gewährsleute wie Photos und andere Bilddokumente, Schallplatten, Dias, Zeitungsausschnitte etc. 35 . Die sehr grundsätzliche Frage ,Was soll der Folklorist sammeln?' wird heute anders beantwortet. Wenn man früher das zu retten versuchte, was vom Aussterben bedroht war, berücksichtigt man jetzt die Gegenwartsüberlieferung. Dementsprechend werden nicht nur die klassischen Gattungen gesammelt, von denen bisher Märchen und traditionellen Sagen die größte Aufmerksamkeit gewidmet worden war, sondern auch —»Autobiographie, —> Lebensgeschichte 36 , ,moderne' —> Sage, —> alltägliches Erzählen, —> Legende 3 7 , —> Sprichwort 38 , Witz 39 , -> Vers und Spruch 40 , 41 -> Rätsel , Xeroxlore 42 , -> Gerücht 4 3 44 u.a. . Mittlerweile hat die F. zur Volkserzählung weltweit allg. eine derartige Multiplikation erfahren (cf. bes. -> Reliktgebiete), daß selbst
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eine exemplarische Behandlung relevanter Werke in diesem Rahmen nicht mehr möglich scheint (cf. die EM-Artikel zu den einzelnen Sammlern). Differenzierte, umfassende F. und deren Beschreibung ist zur conditio sine qua non geworden für jede moderne Archivierung und Publikation der Volkserzählung. Die hier aufgezeigte Entwicklung und Theorie der F. hat schematischen Charakter. In der individuellen Forschungsgeschichte einzelner Länder kann es zu gravierenden Phasenverschiebungen kommen (cf. EM-Länderund Regionenartikel) wie etwa in Polen, wo eigentliche Erzähler-F. erst Mitte des 20. Jh.s einsetzt 45 . Desiderate sind bes. F.en zu bisher wenig berücksichtigten Gattungen sowie langfristige 46 und flächendeckende 47 Unters.en etwa zu einzelnen Räumen, Ethnien, Altersoder Sozialgruppen. 3. M e t h o d e , Praxis. Die Vk., obwohl schwerpunktmäßig mit F. befaßt, hat im eigentlichen Sinn kaum eigenständige Methoden entwickelt, sondern greift weitgehend auf das in den Nachbardisziplinen wie der Völkerkunde oder Soziologie entwickelte Instrumentarium zurück 48 . — F. vollzieht sich gemeinhin in folgenden Schritten: (1.) Formulierung eines Vorhabens, (2.) dessen Analyse, die Ableitungen von Fragestellungen (Hypothesen) und die Bestimmung relevanter Fakten und der geeigneten Methoden, um zu Antworten zu gelangen, (3.) eigentliche Forschung im Feld, (4.) Auswertung, Veröffentlichung oder Archivierung des Materials. Die Vorbereitungen erfordern eine Kenntnis der Gegend, ihrer Kultur 49 und wiss. Lit. darüber, den Kontakt mit anderen Feldforschern, die über das Gebiet gearbeitet haben, mit Schlüsselfiguren aus der betr. Gemeinschaft sowie eine den Umständen angepaßte technische Ausrüstung. Bei der Sammeltätigkeit selbst muß die Absicht und Fähigkeit des Feldforschers sich mit den Erwartungen der Gewährsleute (cf. auch —» Entmythisierung, Kap. 6) decken, wobei er u. U. gezwungen ist, eine für das Projekt geeignetere Rolle als die des Volkskundlers anzunehmen 50 . Präzise und gemeinverständliche Erklärung des Vorhabens gegenüber den Gewährsleuten ist notwendig. Der Forscher muß allg. anerkannt sein und am besten durch Personen mit hohem 32*
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Sozialprestige aus der betr. Gemeinschaft eingeführt werden, bleibt in der Regel jedoch immer Außenseiter. Notwendig ist eine Beschäftigung auch mit Gewährsleuten nahestehenden Personen (z.B. —Zuhörer), Beobachtung von räumlichen und sozialen Gegebenheiten, Interaktion, Zeit, Dauer und Gefühlen 51 sowie Teilnahme am Leben der Gruppe unter Respektierung der Intimsphäre 52 . Bei dem Prinzip der teilnehmenden Beobachtung gilt es, das Gleichgewicht zwischen gefühlsmäßigem Engagement und objektiver Beobachtung zu wahren. Der Feldforscher ist Wissenschaftler, Detektiv, Spion, Freund und objektiver Beobachter gleichzeitig, seine Extremrollen sind die des Experten oder des naiv Lernenden 53 . — Als technisch beste Aufnahmemöglichkeiten stehen Tonund Videofilm zur Verfügung, praktisch angewandt dagegen werden in der Mehrzahl aller Fälle nur Notizbuch, Kamera oder Tonband. Um funktionale, prozessuale und kontextuale Aspekte der Überlieferung neben der reinen Materialaufnahme nicht zu vernachlässigen, ist es wichtig, Informationen über die Lebensgeschichte, die ästhetischen Maßstäbe des Informanten, die Art des Überlieferungsvorgangs, das Repertoire u. a. festzuhalten. Zwei Interviewmethoden 54 werden grundsätzlich unterschieden: Die indirekte (zu Beginn; ohne Fragebogen oder feststehenden Plan) und die direkte. Die Methoden sind abhängig von dem Material und den zu befragenden Personen. Darüber hinaus ist es notwendig, die Informationen einzelner Gewährsleute auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen 55 und gegeneinander abzuwägen, bes. wenn es sich um intime Angelegenheiten oder Erotika handelt, deren Preisgabe vom Verhältnis zum Interviewer und von der Art der Gesellschaft, in der sie vorgetragen werden, abhängig ist. Bei Gebieten, die tiefe Emotionen oder starke Tabus berühren, kann nur die indirekte Befragungsmethode angewandt werden. Die Dauer der Arbeit mit dem Informanten ist auf dessen Durchhaltevermögen abzustimmen. Das Sammeln von volkskundlichem Material sollte aus der Interviewsituation heraus begonnen werden. Anreiz kann vom Sammler vorgetragenes Material sein, jedoch muß dabei seine Rolle als Wissenschaftler und Vortragender streng ausein-
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a n d e r g e h a l t e n w e r d e n . E s ist zu unterscheiden zwischen T i e f e n - und Flächeninterviews, zwischen standardisierten und nicht standardisierten Interviews. D e r standardisierte
Typ
ist verläßlicher, ermöglicht rationelleres F r a g e n und A n t w o r t e n sowie einen Vergleich mit a n d e r e n U n t e r s . e n . L e t z t e r e r ergibt beim Inkaufnehmen
von
Lückenhaftigkeit
lebens-
e c h t e r e A n t w o r t e n und erlaubt g r ö ß e r e F l e x i bilität. A n F r a g e t y p e n lassen sich grobrastig unterscheiden ( 1 . ) offene F r a g e ( k e i n e A n l e i tung zur A n t w o r t ) , ( 2 . ) geschlossene
Frage
( B e g r e n z u n g der A n t w o r t auf A l t e r n a t i v e n ) , ( 3 . ) direkte und
( 4 . ) indirekte F r a g e .
Die
W a h l d e r a d ä q u a t e n T e c h n i k richtet sich nach der Situation und d e m S a m m e l o b j e k t . Spezielle
Forschungsvorhaben
erfordern
spezielle T e c h n i k e n , s o z . B . die —* e x p e r i mentelle
Erzählforschung
oder
Re-Studies,
die folgende Möglichkeiten zulassen:
Über-
prüfung früherer Ergebnisse,
Kulturwandel-
untersuchungen,
zunächst
Nachholen
ver-
s ä u m t e r A s p e k t e , eine n e u e Orientierung der U n t e r s , sowie R e - I n t e r p r e t a t i o n der ursprünglichen E r g e b n i s s e 5 6 . F . wird z u n e h m e n d in T e a m a r b e i t 5 7 betrieben. „ U n a b h ä n g i g d a v o n kann es [. . .] eine F e l d f o r s c h u n g dessen geben, d e r n a c h H e r k u n f t , Vorbildung,
Erfahrung
und Erfülltheit von seiner selbst
gestellten
Aufgabe
bewußten
dazu
drängt,
in
Alleingang-Feldforschung
einer
Schichten
des
volkskundlich R e l e v a n t e n aufzuspüren, [. . .] die für eine g r ö ß e r e F e l d f o r s c h e r - G r u p p e zumeist unzugänglich b l e i b e n . " 5 8 . 1 Möller, H.: Aus den Anfängen der Vk. als Wiss. In: ZfVk. 60 ( 1 9 6 4 ) 2 1 8 - 2 3 2 . - 2 Schück, H.: Kgl. vitterhets-, historie- och antikvitetsakademien 1. Sth. 1932, 141. - 3 Haavio, M./Vallinkoski, J . : Johannes Messeniuksen papereissa säilyneitä varhaishistoriamme aineksia. In: Turun Historiallinen Arkisto 11 ( 1 9 5 2 ) 5 9 - 8 2 . - "Niemann, Α.: Abris der Statistik und der Staatenkunde [ . . . ] . Altona 1807. - 5 Katschnig-Fasch, E.: Der Fragebogen Erzherzog Johanns von 1810. Ein frühes .volkskundliches' Wagnis. In: ÖZfVk. 36 ( 1 9 8 2 ) 3 6 2 383. — 6 Steig, R . : Grimms Plan zu einem Altdt. Sammler.In: ZfVk. 1 2 ( 1 9 0 2 ) 1 2 9 - 1 3 8 ; G r i m m , J . : Circular wegen Aufslg der Volkspoesie. ed. L. Denecke. Kassel 1968, 5. - 7 Wiegelmann, G . : Theorien und Methoden. In: id./Zender, M./Heilfurth,
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1000
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1001
Feldforschung
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Feldforschung
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Feldmaus und Stadtmaus
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Göttingen
Rainer Wehse
Feldmaus und Stadtmaus (AaTh 112) 1. Die äsopische Fabel - 2. Die mündlichen Fassungen — 2.1. Der südeurop.-südamerik. Kreis — 2.2. Der nord- und osteurop. Kreis — 2.3. Weitere Var.n
1. D i e ä s o p i s c h e F a b e l . Schon in ihrer frühesten greifbaren Fassung hat die Fabel von der armen F., die als Gast bei der reichen S. deren üppiges, aber gefährliches Leben erfährt und sich wieder in die Sicherheit ihres einfachen Daseins flüchtet 1 , vollendete Gestalt gewonnen: In einer seiner Satiren (Sermones 2, 6, 79—117) preist der röm. Dichter—» Horaz ( 6 5 - 8 a.Chr.n.) das Glück des Landlebens gegenüber der Unruhe der Stadt und insbesondere die abendlichen Gespräche und ,anilis fabellas' im Kreise der Freunde und Nachbarn. Dabei wird, als man einen Reichen beneidet, seine Sorgen aber unerwähnt läßt, auch die Fabel von der F. und S. erzählt. Die F. nimmt die S. in ihrem Loch auf, diese kann ihren Ekel angesichts des kärglichen Mahls kaum verbergen und lädt die F. zu sich ein — ironischerweise mit der Begründung, das Leben sei zu kurz, um in solcher Armut verbracht zu werden. Die F. nimmt dankbar an, wird im Hause eines Reichen herrlich bewirtet, bald aber durch knal-
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lende Türen und bellende Hunde gestört. Sie kommt zur Einsicht, daß Sicherheit mehr bedeutet als ein Leben in Luxus.
Horaz bezieht sich, zumindest fiktiv, auf eine mündliche Tradition, mit Sicherheit ist er nicht der Erfinder der Fabel. Er liefert zugleich mit dem Erzählanlaß auch die moralische Deutung, die Warnung vor einem gedankenlosen Preis des Reichtums und die Einsicht in die Vorzüge der Armut. Sein Eigentum ist die liebevolle Ausgestaltung der Details — so etwa, wenn sich die Hausmaus zur Bewirtung ihres Gastes eine Schürze umbindet —, die glücklich der Erzählsituation angepaßt sind und die aufdringliche Fabelmoral vergessen lassen. Zur Bearbeitung des Horaz kommen die von ihm unabhängigen Fabeln im äsopischen Korpus 2 (cf. —>Äsopika). Auf diese dichterisch anspruchslosen Versionen der schon im MA. weitverbreiteten Fabel gehen die meisten späteren europ. nationalsprachlichen Fassungen (Fabelübersetzungen, Predigtbücher, Schulbücher) zurück 3 . Eine gegenüber Horaz oder den lat. Fabelsammlungen eigenständige nationalsprachliche Tradition gibt es nicht, daher auch keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Bearbeitungen in verschiedenen Sprachen. Die Beliebtheit der Fabel beruht darauf, daß sie Arm und Reich gleichermaßen befriedigen mußte, daß sie den Reichtum rechtfertigte und die Armut pries und daß in ihr in seltener Weise Lehre und Handlung zwanglos zusammenklingen. Ihre Popularität ist noch heute ungebrochen, wie z.B. eine satirische Reduktion in einem Comic Robert Gernhardts 4 oder die gereimte Nacherzählung einer Schülerin 5 beweisen. 2. D i e m ü n d l i c h e n F a s s u n g e n . Die überdeutliche Moral, die kaum noch entwicklungsfähige Idealgestalt und die weite literar. Verbreitung ließen eine eigenständige mündliche Tradition nur schwer aufkommen. Die mündlichen Erzähler, die sich durch das stets gegenwärtige literar. Vorbild kontrolliert und eingeengt fühlen mußten, variierten vor allem die Form (maximale Komprimierung bis zu ausladender Dialogisierung), die handelnden Tiere, das Erlebnis der Gefahr und den Schluß.
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Feldmaus und Stadtmaus
Die mündlichen Fassungen lassen sich — abgesehen von einigen Sonderformen — zwei Erzählkreisen, einem südeurop.-südamerik. und einem nord- und osteurop., zuordnen; von ihnen sind die meisten außereurop. Var.n abhängig. Gemeinsam ist allen, daß die Bedrohung der Mäuse nicht vom Menschen, sondern von einer Katze ausgeht. 2.1. D e r s ü d e u r o p . - s ü d a m e r i k . Kreis. Diese Erzählungen weisen die größte Selbständigkeit gegenüber der äsopischen Fabel auf. Die Figuren werden vervielfacht 6 , der Schluß ist grausamer (Verstümmelung oder Tod einer Maus), und die gerettete Maus äußert sich häufig in sarkastischer Weise über den Tod oder die Verletzung ihrer Gefährtin 7 . Der Rahmen der Handlung bleibt jedoch fest: Begegnung, Einladung, Überfluß und Gefahr, Flucht und Einsicht. Die Erzählfreude verdrängt mitunter die Didaxe. Seltener treten andere Tiere bei Umgestaltung der Handlung auf. In einem Märchen aus Mallorca 8 werden eine Garten- und eine Wildnachtigall einander gegenübergestellt (cf. AaTh 245: Tarne Bird and Wild Bird), in einem griech.9 bereut ein Krebs, sein sicheres Loch verlassen zu haben, um Schwiegersohn eines gefahrvoll und räuberisch lebenden Steinmarders zu werden. In Mexiko verleitet eine Füchsin den Vorstadtesel, eine fette Bergwiese zu besuchen, um ihn dort dem Löwen auszuliefern. Der Esel kommt mit einer Kopfverletzung davon, wie sie sonst die Mäuse durch die Katze erleiden 10 . 2.2. D e r n o r d - und o s t e u r o p . Kreis. Diese Erzählungen sind meist unmittelbare Wiedergaben der äsopischen Fabel. Wie diese enden sie mit der mehr oder weniger breit ausgeführten Einsicht der F. Auf zwei Sätze reduziert findet sich die Fabel in der Erzählung eines schott. Jungen 11 ; dialogisch breit ausgestaltet ist dagegen die lett. Var. 12 Größere Selbständigkeit zeigt eine Erzählung aus Mecklenburg 13 , in der sich die F. vor der Katze, dem .scharfen Gendarmen', nicht warnen läßt und, von dieser gepackt, es mit der Ausrede versucht, sie sei nur zu Gast. Unbeeindruckt verschlingt sie die Katze. Hier wird auf eine ausformulierte Moral verzichtet. Anders motiviert ist die Einladung in rumän.
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Var.n 14 . Da möchte sich die durch die Stadt moralisch verdorbene S. in den Besitz der reichen Vorräte der F. setzen und stellt deshalb dem einfältigen Gast die Hauskatze als ,Popen' vor; diese verschlingt die F. Hier ist der Einfluß eines in Ungarn erzählten Märchens spürbar 15 , in dem die Hausmaus der F. aus Geiz keine Unterkunft gewähren will und sie deshalb zum .Herzog' (der Katze) schickt. Diese Fassungen berühren sich mit den Erzählungen vom „geplanten oder vollzogenen Wohnortwechsel" 16 . Breit ausgestaltet und um das Motiv einer geplanten, aber gescheiterten Heirat zwischen den Kindern der beiden Mäuse bereichert ist eine Var. in süddän. Mundart 17 . 2.3. W e i t e r e Var.n. Das Gros der Erzählungen aus Afrika und Asien bilden Nacherzählungen der äsopischen Fabel und übernehmen von dieser auch den menschlichen Störenfried. Mit anderen Motiven und Fabeltypen verbunden ist eine Erzählung aus dem ind. Jeyporeland 18 , deren europ. Herkunft dennoch deutlich ist. Die Hausmäuse werden von einer neu angeschafften Katze bedroht, ziehen aufs Land und überreden die F.e, in die reiche Stadt zu ziehen. Als sich diese der dort drohenden Gefahr bewußt werden, fliehen sie, die Katze aber folgt ihnen, gibt sich als fastender Pilger aus und überredet die Mäuse zu einer Bußfahrt, die keine überlebt (cf. AaTh 113 B: —> Scheinbüßende Tiere). Nur wenige Var.n weisen Abweichungen bei den beteiligten Tieren und deshalb auch im Handlungsverlauf auf. In einer Erzählung des Pancatantra19 verläßt ein Hund seine Heimat wegen einer Hungersnot, kehrt aber zurück, als er in der Fremde zwar Überfluß findet, von anderen Hunden aber böse bedrängt wird. In einem türk. Märchen 20 ist die Katze mit dem ärmlichen Leben in der Hütte eines alten Ehepaars nicht mehr zufrieden, schleicht sich in den Garten eines Palastes und muß dort vor den Soldaten auf einen Baum fliehen. Das arme Heim erscheint ihr jetzt als Paradies. Moral und Grundstruktur der äsopischen Fabel bleiben auch in diesen Var.n weitgehend erhalten, und es ist zu vermuten, daß sie ein bewußter Versuch sind, sich von dem übermächtigen Vorbild abzuheben.
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Felice, Ariane de
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Joachim K ü h n
Feiice, Ariane de, »Paris 23. 7. 1920, von 1 9 4 1 - 6 6 Mitarbeiterin am M u s e e national des arts et traditions populaires, von 1942 bis heute auch am Centre national de la Recherche scientifique. These Ecole d u L o u v r e 1945: Enquete sür quelques traditions orales de la region de Monsireigne (Vendee), T h e s e d ' E t a t 1957: Essai sur quelques techniques de l'art verbal traditionnel (beides unveröffentlicht). 1946 untersuchte sie in den U S A die m ü n d liche Ü b e r l i e f e r u n g der dort noch b e s t e h e n den frz. Sprachinseln in Louisiana, Michigan und Neuengland. Seit 1942 f ü h r t e sie zahlreiche E r h e b u n g e n in Frankreich, bes. im Bas-Poitou, im Berry, in d e r M a r c h e und der H a u t e - B r e t a g n e durch, die noch größtenteils unveröffentlicht sind. Von A n b e g i n n schenkte sie ü b e r die eigentliche Sammeltätigkeit hinaus den bes. P r o b l e m e n der mündlichen Ü b e r lieferung A u f m e r k s a m k e i t : den Einwirkungen auf die F o r m der Erzählung, der Rolle des Erzählers u n d der Rolle des Milieus. Seit etwa 15 J a h r e n interessiert sie sich auch speziell f ü r die Z u s a m m e n h ä n g e zwischen der ma. K o m ö d i e und mündlichen Ü b e r l i e f e r u n g e n .
V e r ö f f . e n : Influence du milieu americain sur les traditions orales fran^aises aux Etats-Unis. In: Actes du 28e Congres internat. des americanistes 1947. P. 1948, 247-254. - Contes traditionnels Var.n (soweit nicht in not. und bei AaTh aufgedes vanniers de Mayun (Loire-Inferieure). In: Nouführt): Knudsen, S./Berntsen, L. M./Johnsson, Α.: velle RTP 2 (1950) 442-466. - Contes de HauteUtvalgte eventyr og sagn [. . .]. Christiania 1864, Bretagne. P. 1954. - Essai sur quelques techniques 226. - Asbjörnsen, P. C.: Norske folke-eventyr. de l'art verbal traditionnel. In: Arts et traditions Christiania 2 1873, num. 32. - Liungman, Volkspopulaires 6 (1958) 4 1 - 5 0 (Zusammenfassung der märchen, num. 112. — Liungman, W.: Weißbär am These d'Etat). - Etude comparative d'un motif See. Kassel 1965, 157 sq. - 0 Süilleabhäin/Christistylistique internat. intervenant dans des contes ansen. — Smits, P.: Latviesu tautas teikas un populaires de types differents. In: Kongreß Kiel/ pasakas 1. Waverly, Iowa 2 1962, num. 49. Kopenhagen, 8 4 - 9 7 . - Un Type traditionnel dans Krzyzanowski. — Bukowska-Grosse, E./Koschmie- une farce frangaise du moyen-äge. Le personnage der, E.: Poln. Volksmärchen. MdW 1967, num. 4. — de l'ecervele tel qu'on peut l'expliquer ä l'aide du Berze Nagy. — Koväcs. — Calvino, I.: Fiabe italiane cycle folklorique de Jean le Sot. In: Die Freundes[. . .]. Torino 2 1959, num. 120. - Rapallo, C.: Folkgabe (1964) 94—111. - Les Joutes de mensonges narrative in Sardinia: State of Unpublished Docuet les concours de vantardises dans le theatre
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Ferdinand der treue und F. der ungetreue
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Paris
Marie-Louise Teneze
Ferdinand der treue und F. der ungetreue (AaTh 531) 1. Motivbestand — 2. D o k u m e n t a t i o n - 3. Var.n und Verbreitung — 4. H e r k u n f t und D e u t u n g
1. M o t i v b e s t a n d . Unter diesem Typus, der bisher noch nie gründlich untersucht worden ist1, werden ursprünglich wohl verschiedene, nur ζ. T. analoge Typen zusammengefaßt, die gemeinsame Motivkomplexe und Handlungsträger haben. Der Name bei AaTh ist KHM 126 entlehnt und bezeichnet nur e i n e Gruppe; K. Ranke nennt den Typ Das kluge Pferd2, und bei Delarue/Teneze heißt er La Belle aux cheveux d'or3. Alle drei Bezeichnungen heben jeweils nur auf einen Aspekt ab. Obwohl es nur sehr wenige Var.n dieses auch sonst „stark gemischten" 4 Märchens gibt, die in den genannten Motiven vollständig sind, kann der Motivbestand (in Anlehnung an AaTh und Delarue/Teneze) als heuristisches Instrument dienen; eine Ausw. der europ. Var.n 5 stellt sich in ihren Hauptmotiven wie folgt dar: (1.) D e r Held, sein Pate, das w u n d e r b a r e Pferd und der glänzende Gegenstand. (1.1.) Ein Junge wird bei a r m e n Eltern geboren; (1.1.1.) da niemand —> Pate sein will, bittet der Vater einen U n b e k a n n t e n ; (1.1.2.) es ist der König, Gott, Maria, eine F e e ; oder (1.2.) der Held ist der illegitime Sohn oder Patensohn eines Königs und auf der Suche nach ihm oder (1.2.1.) auf einer anderen Suche. (1.3.) Später kehrt der Pate zurück, um das Kind zu holen, oder (1.3.1.) es soll sich zu ihm begeben, versehen mit einem Pfand oder Brief. (1.4.) D e r H e l d bricht mit seinem Reittier auf, das ihm sein
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Vater gegeben hat, das er durch seinen Paten erlangt oder das sich ihm selbst anbietet. (1.4.1.) D a s Pferd (Maulesel, Esel; von prächtigem A n blick; von schmächtigem Aussehen) spricht und rät dem Helden. (1.5.) Trotz der Warnung durch sein Reittier (oder durch j e m a n d anderen) nimmt der Held (1.5.1.) eine leuchtende (goldene) Feder, (1.5.2.) ein goldenes Haar, (1.5.3.) ein goldenes Hufeisen oder (1.5.4.) ein anderes (glänzendes) Ding auf (beim dritten Mal). (2.) D e r untreue Begleiter (Rollentausch). (2.1.) D e m Helden schließt sich unterwegs ein Begleiter (—> G e f ä h r t e ) an (obwohl ihm befohlen wurde, sich nicht begleiten zu lassen), oder der Held wird bereits von einem Diener begleitet, der ihn, oft in der N ä h e eines Brunnens oder einer Wasserstelle, zwingt, die Rollen zu tauschen (cf. —» G e stalttausch) und (2.1.1.) Stillschweigen zu schwören. (2.1.2.) Nach der A n k u n f t am Hof des Königs läßt der Held sich als Bedienter anstellen, (2.1.3.) um für die P f e r d e zu sorgen; (2.1.4.) dabei schafft er sich mit seinem leuchtenden Gegenstand Licht. (3.) Die —> d a n k b a r e n Tiere. (3.1.) D e r Held zeigt sich hilfreich gegenüber Tieren (Fisch, Vögel, Ameisen, Löwen etc.) oder anderen Wesen auf dem Weg, der ihn zum König führt (cf. 1./2.) oder (3.1.1.) später bei den A u f g a b e n , die ihm vom König auferlegt werden (cf. 4.). (3.2.) Diese versprechen, d e m Helden zu helfen. (4.) Die A u f g a b e n . (4.1.) Auf Veranlassung neidischer Diener oder Berater am H o f e , (4.1.1.) des falschen Patenkindes oder (4.1.2.) des eigenen Bruders (der eigenen Brüder) (4.1.3.) erlegt der König dem H e l d e n eine oder m e h r e r e schwierige A u f g a b e n auf (bei Todesstrafe): (4.2.) den Vogel zur Feder (1.5.1.), (4.2.1.) das Pferd zum Hufeisen (1.5.3.) oder ein anderes Pferd, (4.2.2.) die (goldhaarige) Jungfrau oder Prinzessin, (4.2.3.) dem König seine Tochter herbeizuschaffen, (4.2.4.) andere A u f g a b e n zu lösen. (4.3.) D e r Held hat Erfolg, dank des Rates, den ihm sein Reittier oder ein anderes Wesen gibt. (4.4.) D e r Held löst die A u f gaben u. a. dadurch, daß sein Pferd siegreich gegen andere Pferde kämpft, (4.4.1.) er vom König Schiffe (Pferde, Wagen) beladen mit Nahrungsmitteln (oft f ü r die Tiere oder die anderen Wesen in 3.), W a r e n oder einer anderen L a d u n g erbittet und erhält, (4.4.2.) und er entführt die Prinzessin, die Waren, Pferd oder Schiff bewundert. (4.5.) D a s Wesen, das die Prinzessin gefangenhält, oder (4.5.1.) die Prinzessin selbst erlegt dem H e l d e n neue A u f gaben auf, o d e r (4.5.2.) die Prinzessin will den König nur heiraten, wenn der Held neue A u f g a b e n löst. (4.6.) Die A u f g a b e n gleichen denen in A a T h 313 (cf. -* Magische Flucht; unlösbare —> A u f gaben), der Held soll u.a. (4.6.1.) eine e n o r m e Anzahl von Körnern auslesen, (4.6.2.) vom Meeresb o d e n die Schlüssel der Prinzessin, (4.6.3.) ihren Ring vom G r u n d des Wassers, (4.6.4.) das Schloß der Prinzessin, (4.6.5.) das Wasser des Lebens (—> Lebenswasser) u n d / o d e r des Todes (des Para-
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dieses, der Hölle), das Wasser, das verschönt oder verjüngt, holen oder (4.6.6.) andere Aufgaben vollbringen. (4.7.) Ihm helfen jeweils die verschiedenen dankbaren Tiere (Wesen). (5.) Der Ausgang. (5.1.) Als letzte Bedingung für die —> Hochzeit erzwingt die Prinzessin, daß der Held verbrannt wird, ein —> Bad in siedender (Stuten-)Milch (oder ö l ) nimmt, durch das Wasser des Todes oder sonstwie getötet wird, oder (5.1.1.) sie enthauptet oder zerstückelt ihn selbst (—> Enthauptung, —» Zerstückelung); (5.1.2.) der König fordert den Tod des Helden; (5.1.3.) der untreue Begleiter tötet den Helden. (5.1.4.) Der Held wird gerettet, denn (5.1.5.) auf den Rat seines Reittiers werden er, seine Kleidung oder ein Tuch, in das er eingerollt ist, mit dem Blut oder Schweiß des Reittieres oder einer anderen Flüssigkeit benetzt, oder (5.1.6.) das Pferd bläst die siedende Flüssigkeit kalt, oder (5.1.7.) die Prinzessin belebt den Helden durch das Wasser des Lebens (—> Wiederbelebung). (5.2.) Der König sieht, daß der Held unverletzt oder sogar verschönt ist, und verlangt, daß mit ihm dasselbe geschehe (die Prinzessin verlangt es), stirbt aber. (5.3.) Der Betrüger wird entlarvt und getötet, denn der Held, vom Tode erweckt, ist seines Eides entbunden (cf. 2.1.— 2.1.1.). (5.4.) Das Pferd verwandelt sich (durch Enthauptung) in einen jungen Mann oder ein junges Mädchen. (5.5.) Der Held heiratet die Prinzessin, (5.5.1.) das Mädchen, das ihm in der Gestalt des Pferdes geholfen hat.
Überblickt man die Ausw. von Var.n, so schälen sich drei Grundformen mit verschiedenen Motivschwerpunkten heraus: ,Der Patensohn des Königs und der untreue Begleiter', ,Die goldhaarige Jungfrau' und ,Das kluge Pferd' 6 . Kern der drei Grundformen ist die Episode 4 und hier das Holen der Prinzessin. Bei der ersten Form fehlen fast regelmäßig das sprechende Pferd und die glänzenden Gegenstände (1.4.1.; 1.5.; 1.5.1.-1.5.4.), die zweite kommt oft ohne die Episoden 1. und 2. aus, und der dritten schließlich fehlt meist der treulose Begleiter. Nicht nur das Hauptmotiv, auch die Funktion der Patenschaft für die erste und letzte Form erklären Verbindungen untereinander wie mit anderen Typen; außerdem neigen Märchen mit hilfreichen Pferden allg. zur Vermischung 7 (z.B. AaTh 314: —> Goldener). Eine ,Maximalform' wie das frz. Petit Louis, fils d'un charbonnier et filleul du roi de France ist jedoch die Ausnahme 8 . 2. D o k u m e n t a t i o n . Einzelne Motive lassen sich sehr weit zurückverfolgen, so Mot. Τ 11.4.1: Love through sight of hair of un-
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known princess (4.2.2.), wenn es auch in den Var.n von AaTh 531 recht selten ist. Man hat auf das ägypt. —> Brüdermärchen (13. Jh. a.Chr.n.) verwiesen9, wo eine schwimmende Haarflechte die Suche nach der Besitzerin auslöst. Auch die Tristan-Sage (—» Tristan und Isolde) kennt dieses Motiv (+ Mot. Η 1213.1), die Gqngu-Hrölfs saga (14. Jh.) verbindet diese Motive mit einer Var. von Mot. Κ 1931.3: Impostors kill hero; ein Rollentausch findet aber nicht statt 10 . Die Geschichte des Rollentausch-Motivs auch dieses Märchens ist sehr alt (—> Doppelgänger). Ähnliches gilt von der Verjüngung und Trugheilung (Mot. Ε 15.1 + J 2411.1; 5.1.1.; 5.1.4.; 5.1.7.; 5.2.): —> Medea zeigt den Töchtern des alten Pelias die Verjüngung eines alten Widders, den sie zerstückelt und in Zauberkräutern kocht; als die Töchter Pelias in Stücke schneiden, wendet Medea ihren Zauber nicht an. Eine Kombination der einzelnen Motive zu AaTh 531 aber scheint jünger zu sein. Die zweite Grundform, ,Die goldhaarige Jungfrau', taucht zum erstenmal relativ vollständig in einer hebr. Hs. (vor 1200, engl, oder frz.) auf: die Geschichte des Rabbi Jochanan 11 , deren erste gedr. Fassung sich in einem jüd.dt. Volksbuch, dem —» Ma'assebuch von 1602 findet 12 (Motive: 4.2.2.; 3.1.1.: Hund, Rabe; 3.2.; 4.5.1.; 4.6.5.; 4.7.; 4.6.3.; 4.4.; 5.1.3.: Neider, 5.1.7.; 5.2.: der König zieht in den Kampf, stirbt; 5.5.). Bereits ein halbes Jh. früher erzählt Straparolas Livoretto13 diese Form in wesentlichen Zügen schon so, wie sie in der Volksüberlieferung begegnet: Das hilfreiche Zauberroß ist hinzugekommen, die Neider stehen am Beginn der Erzählung (4. 1.), die Trugheilung ähnelt der in der MedeaSage. Wohl auf Straparola wie auf die mündl. Überlieferung geht Marie Catherine d'Aulnoys La Belle aux cheveux d'or zurück 14 . Das hilfreiche Roß fehlt, an seine Stelle ist ein ratendes Hündchen getreten, die Trugheilung ist ersetzt durch die Gefangenschaft des Helden und die versehentliche Selbsttötung des Königs: Er benutzt das Todeswasser anstatt des Schönheitswassers. Einige Motive von AaTh 531 begegnen auch in einem dän. Volksbuch von 1710, Airens Fornevej for en Skytte navnlig Bryde1S: 1.4.; 1.4.1.: Esel; 3.: Troll; 4.2.2.; 5.: vom Troll gerettet.
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turkmen., sibir., beloruss.). In den frz. Var.n ist der untreue Begleiter meist ein Buckliger (in 6 Var.n bei Delarue/Teneze) 25 , sonst Behinderter oder Ausgestoßener, in den osteurop., bes. den griech. ein Bartloser 26 . Jenen Fassungen, die die Motive 1. und 2. nicht kennen, dienen als Einleitung und zur Auslösung der Aufgaben des Helden — auch hier helfen dankbare Tiere — meist neidische Diener am Hofe des Königs, ein Wesir oder die neidischen Brüder des Helden; in letzteren Fällen handelt es sich bis auf wenige Ausnahmen (ζ. B. dt., kors., ital., poln., mexikan., syr.) 27 um eine Kombination von AaTh 327B II bzw. 303A (ökotyp M): —> Brüder suchen Schwestern mit AaTh 53 1 28 (slovak., ung., rumän., poln., galiz.-russ.). Als Einleitung zur dritten Grundform, in der das hilfreiche Pferd dem Helden beigegeben ist, gehören Pate und Patengeschenk sicher zur Normalform, fehlen aber in vielen Var.n entweder ganz oder sind, 3. Var.n und V e r b r e i t u n g . Die folgenwie in den obigen Beispielen, durch andere den Beispiele geben einen Einblick in die Einleitungen ersetzt. Neben AaTh 327B/ „wenig geschlossene Überlieferung der Er303A finden sich u.a. frz.: AaTh 461: Drei zählung in Westeuropa" 18 , aber auch im son—» Haare vom Bart des Teufels·, osteurop.: stigen Verbreitungsgebiet, das vom Kaukasus vor allem AaTh 530 I(a)(c): —» Prinzessin bis zu den Philippinen reicht, aber auch das frz. auf dem Glasberg (Mot. G 346, Η 1471), und span. Amerika sowie Afrika mit einζ. Β. poln., slovak., großruss., beloruss.; griech. schließt. Jene Fassungen, die vom Sohn oder und armen.: AaTh 513 C: —> Sohn des Patensohn eines Königs erzählen, „der, als er 29 sich zu dem Könige begeben will, unterwegs Jägers. — Das kluge Pferd rät in der Eingangsepisode dem Helden bisweilen, sich hilfvon seinem Diener oder Gefährten gezwungen reich gegenüber Tieren zu erweisen, oder der wird, die Rolle zu tauschen" 19 (Motive der Held tut es von selbst (Episode 3.); die Einleitung: 1.2.; 2.1.1.; 2.1.2.), sind im dt. Variationsmöglichkeiten, die sich hier erSprachgebiet relativ selten; wo Patenschaft geben, sind vielfältig und entsprechen den zu und Rollentausch handlungsmotivierend sind, leistenden Aufgaben. Am häufigsten helfen handelt es sich wohl um frz. 20 oder osteurop. 21 Fische, Vögel, Ameisen und Riesen. Eng zuEinfluß . Fast unbekannt ist diese Form in sammen gehören das ratende Pferd und die Nordeuropa — die Niederlande kennen den magischen, leuchtenden Gegenstände (1.5.; Typ AaTh 531 offenbar überhaupt nicht —, 1.5.1. —1.5.4.). In manchen Var.n (slovak., eine schwed. Var. weist auf russ. Einfluß alban., awar., rumän. u.a.) warnt das Pferd (der uneheliche Sohn eines Zaren sucht seinen mit einer stehenden Formel: ,Wenn du es Vater) 22 , eine lit. hat nur das Motiv vom aufhebst, wird es dir schlecht ergehn, wenn Rollentausch und endet mit AaTh 502 V a: wird es dir auch schlecht Der wilde —> Mann23. Ebenso selten bzw. du es nicht aufhebst, 30 (schlechter) gehn' . In der Ausw. der unternicht belegt sind Fassungen mit dem untreuen suchten Var.n ist das Motiv vom gefundenen Gefährten im westl. Mittelmeerraum 24 , in der Haar (1.5.2.) am seltensten 31 , viel häufiger Türkei sowie in allen außereurop. Sprachgeist die goldene Feder 32 , ebenso das goldene bieten. Frankreich, und hier vor allem die Hufeisen. In Fassungen mit dieser Einleitung Bretagne, sowie die ost- und südosteurop. lösen solche Dinge die Aufgaben des Helden Sprachräume (u.a. rumän., bulg., slovak., aus (4.). Oft beginnt diese Episode mit der alban., griech.) sind die HauptverbreitungsSuche nach dem Vogel, von dem die goldene gebiete (gelegentlich auch ukr.; sehr gemischt:
Ferenand getrü und Ferenand ungetrü (KHM 126) steht in keinem Abhängigkeitsverhältnis zu den genannten schriftl. Überlieferungen 16 . Als Eingang dient das Motiv der Patensuche; das Märchen kennt das ratende Pferd, macht aber aus der goldenen Feder eine Schreibfeder (1.5.; 1.5.1.). Auch die Episode mit dem untreuen Begleiter ist entstellt, ein Rollentausch findet nicht statt. Die Grimmsche Fassung endet mit einer sonst im Typus kaum belegten Var. der Trugheilung: Mot. D 1865.1: Beautification by decapitation and replacement of head. — L. Bechsteins Die drei Federn verwendet nur wenige Motive (1.1.; 1.1.1.; 1.1.2.: Christus; 1.4.1.; 1.5.; 1.5.1.: beim dritten Mal; wird König, hätte er erst die vierte Feder aufgenommen, wäre er Kaiser geworden); Vorbild für Bechstein ist ein 15 strophiges Volkslied, Das Patengeschenk11.
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Feder stammt (Mot. Η 1331.1.3). Im Mittelpunkt aller drei Grundformen steht natürlich meist die Suche nach der goldhaarigen oder sonst einzigartigen Jungfrau (Mot. Η 1301, Η 1301.1, Η 1301.1.2, Η 1381.3-Η 1381. 3.1.1.1 u.a.). Sie erscheint einmal als Meerjungfrau (siebenbürg., slovak., poln., dagestan., tatar., ukr.), dann als Schönste der Welt (ital., alban.), als vom Troll entführte Prinzessin (schwed., norw.), einfach als Braut des Königs (finn., dt., alban., ung., dagestan.), als seine Tochter (Motiv 4.2.3.) etc. Entführt der Held die Prinzessin mit List, findet sich bes. osteurop. die sog. Kaufmannsformel (Mot. Κ 1332: Seduction by taking aboard ship to inspect wares·, —•> Brautraub), die u.a. auch Bestandteil von AaTh 516: Der treue —> Johannes ist. Bei Kontaminationen mit AaTh 327 B/303 Α ist die zu Holende bisweilen noch bei der ,Hexe'. Es liegt nahe, daß die weiteren Aufgaben (cf. die Fülle bei Mot. Η 1200-1399), wie sie oben in der Motivübersicht beschrieben wurden (4.), die Erzählung in die Nähe oder Verbindung mit anderen Typen bringen, vor allem mit AaTh 328: CorvettoM, aber auch mit AaTh 550: —> Vogel, Pferd und Königstochter sowie AaTh 551: —> Wasser des Lebens. Von den Aufgaben, die die Prinzessin dem Helden stellt (4.6.; 4.6.1.—4.6.6.), sind am weitesten verbreitet: 4.6.2.; 4.6.3.; 4.6.5. Erst eine umfassende Monographie könnte hier ökotypische Besonderheiten herausarbeiten; so weichen z.B. alle isl. Varianten vom Normaltyp hierin ab 34 . Schluß und Auflösung (5.) gestalten manche Erzähler sehr frei; es lassen sich aber grundsätzlich zwei verschiedene Ausgänge unterscheiden: Wenn der untreue Begleiter fehlt, enden die Erzählungen meist mit der Tötung und Wiederbelebung/Verschönerung des Helden und der anschließenden Trugheilung des Königs (5.1.; 5.1.1.; 5.1.2.; 5.1.4. —5.1.7.; 5.2.) sowie der Verwandlung des Pferdes und endlichen Heirat des Helden. In den frz., span, und ital. Var.n rettet den Helden oft der Schweiß oder das Blut seines Pferdes vor dem Verbrennen (span.: in siedendem öl) (5.1.4.; 5.1.5.), österr. und osteurop. Var.n schließen meist mit einem Bad in siedender (Stuten-)Milch (auch Wasser oder öl). Das kluge Pferd wird durch Ent-
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hauptung erlöst und verwandelt sich in eine Prinzessin (auch: Jungfrau Maria 35 , Geist des Vaters 36 ), manchmal verschwindet es einfach 37 , oder es wird erschossen und zerfällt zu Staub 38 . Wo der untreue Gefährte die Handlung bestimmt, endet die Erzählung fast regelmäßig mit den Motiven 5.1.3.; 5.1.7.; 5.3. Entweder heiratet dann der König seine Braut, die der Held geholt hatte, oder der Held vermählt sich mit der Prinzessin oder der Tochter des Königs. Einzelne frz. Erzähler mischen die beiden Schlußvarianten und lassen auch im letzteren Fall den König sterben 39 . 4. H e r k u n f t und D e u t u n g . Überblickt man die Dokumentation (v. Kap. 2), so kann am großen Alter der einzelnen Motive und Motivkomplexe, aber auch an der zentralen Grundform von der ,Goldhaarigen Jungfrau' kein Zweifel bestehen; W. Liungman vermutet die ,Ahnen' dieses Märchens in der homerisch-myken. Zeit (vor 700 a. Chr. n.) 40 . Das kann freilich nur für einzelne Motive gelten; bis jetzt ist keine frühere Fassung als die Geschichte vom Rabbi Jochanan bekannt. Der Überblick über die Var.n andererseits zeigt, daß eine geschlossene Überlieferung oder gar eine Urform bei einem so komplexen Typ gar nicht zu erwarten ist, in dem als handlungsmotivierendes Element „ein Allerweltsmotiv" 41 wie die Verleumdung des Helden durch seinen Gegenspieler fungiert und die Hauptaufgabe das ebenfalls verbreitete Motiv vom Herbeiholen einer unbekannten, gefangenen oder verschwundenen Jungfrau ist. Gerade die Komplexität verbietet eine Festlegung des Ursprungs, doch legen die Var.n eine Herkunft aus dem östl. Mittelmeerraum nahe, wie schon Liungman vermutete 42 , wenn auch Polygenese nicht von der Hand zu weisen ist. Eine vor allem an einer Version (KHM 126) orientierte psychoanalytische Deutung wie die Hedwig von Beits 43 kann höchstens allg. Aussagen über die erste Grundform machen: Danach sind der untreue Begleiter, das Pferd und der König Erscheinungsformen des Schattens des Heldens 44 (—» Doppelgänger). Da es sich bei KHM 126 um eine manches mißverstehende Fassung handelt, muß eine Deutung zweifelhaft bleiben, die
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Ferdinand der treue und F. der ungetreue
den Grund für die Berufung des Helden in der angeblich die Patenschaft erst ermöglichenden Armut der Eltern sieht 45 ; denn in der wohl ursprünglicheren Form des Märchens mit dem untreuen Gefährten ist der Held ein unehelicher Sohn des Königs. Bei der Fülle der Motive von AaTh 531 kann eine Deutung nur in Verbindung mit einer Analyse der Biologie der jeweiligen Erzählung und ihrer ö k o t y p e n geleistet werden, liegt doch der Sinn vieler Var.n des Typs in der je verschiedenen Verknüpfung der Elemente. 1
Thompson, Folktale, 62sq.; BP 3, 18-37; lediglich für die frz., span, und griech. Var.n liegen erste Übersichten vor: cf. Delarue/Teneze 2, 316— 337; Cosquin 1, 4 4 - 4 9 , 351sq.; t. 2, 294-303, 365; Espinosa 3, 26—33; Megas, G.: Der Bartlose im neugriech. Märchen (FFC 157). Hels. 1955. — 2 Ranke 2, 177. - 3 Delarue/Teneze 2, 321. 4 HDM 1, 368. - 5 300 Var.n im EM-Archiv; cf. ferner Ranke 2, 177—186; cf. not. 1. — 6 cf. auch die klaren Unterscheidungen hinsichtlich dieser Formen bei Köhler/Bolte 1,394-398: Der Jüngling und der Bartlose bzw. ibid. 2, 328—346: Tristan und Isolde und das Märchen von der goldhaarigen Jungfrau und von den Wassern des Todes und des Lebens; ferner bei Cosquin (wie not. 1); ähnlich Megas (wie not. 1) 10 sq. — 7 Thompson, Folktale, 61. - 8 Luzel, F. M.: Veillees bretonnes. P. 1879, 148-180; Resümee bei Delarue/Teneze 2, 3 1 6 321. - 9 Köhler/Bolte 1, 345; cf. auch Golther, W.: Die Jungfrau mit den goldenen Haaren. In: Studien zur Literaturgeschichte. M. Bernays gewidmet. Hbg/Lpz. 1893, 167-177. - 10 BP 3, 31. 11 BP 3, 32; hebr. und frz. Text cf. Levi, J.: Un Receuil de contes juifs inedits. In: Revue des etudes juives 33 (1896) 239-254. - 12 BP 3, 32; ferner Köhler/Bolte 2, 333-335; Meitlis, J.: Das Ma'assebuch, seine Entstehung und Qu.ngeschichte [. . .]. (Diss. Jena) B. 1933. - 13 Straparola 3, 2. 14 Krüger, K.: Die Märchen der Baronin Aulnoy. Diss. Lpz. 1914, 9. - 15 BP 3, 19; cf. auch Liungman, Volksmärchen, 149. — 16 Zu einem mit der niederdt. Druckfassung weithin übereinstimmenden hochdt. Ms. cf. Hennig, D.: Ein Märchenms. im Brüder Grimm-Museum Kassel. In: Heimatbrief. Heimatverein Dorothea Viehmann 19, 4 (1975) 13-21. - 17 Bechstein, L.: Sämtliche Märchen, ed. W. Scherf. Mü. 1965, 122-124, 796 sq. Das Volkslied ist abgedruckt bei Kretzschmer, Α.: Dt. Volkslieder mit ihren OriginalWeisen 1. B. 1840, num. 20. - 18 Ranke 2, 177. 19 Köhler/Bolte 1, 394. - 20 Vielleicht in den schleswig-holstein. Var.n: Ranke 2, 177-186, num. 1, 2. — 21 Bei Franzisci, F.: Cultur-Studien über Volksleben, Sitten und Gebräuche in Kärnten. Wien
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1879, 9 9 - 1 0 3 (= Haiding, K.: Österreichs Märchenschatz. Graz 1969, num. 9); vielleicht auch Bünker, J. R.: Schwänke, Sagen und Märchen in heanz. Mundart. Lpz. 1906, num. 72, obwohl hier auch Einfluß durch KHM 126 vorliegen könnte: Der Kammerdiener hat den sonst seltenen Namen Ungetrai. — 22 Aberg, G. Α.: Nyländska folksagor. Hels. 1887, num. 201. - 23 Böhm, M./Specht, F.: Lett.-lit. Volksmärchen. MdW 1924, num. 15. 24 Je eine andalus. und ital. Fassung cf. Espinosa 3, 30 bzw. Köhler/Bolte 1, 394. - 25 Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N.Y. 1981, 62, not. 121 nennt Cosquin 1, num. 3 als den einzigen Beleg. - 26 cf. Megas (wie not. 1). 27 Henssen, G.: Überlieferung und Persönlichkeit. Münster 1951, num. 13; cf. Delarue/Teneze 2, 334, num. 44; Gonzenbach 1, num. 30 (AaTh 328+531 +566); Piprek, J.: Poln. Volksmärchen. Wien 1918, 142-146; Paredes, Α.: Folktales of Mexico. Chic./L. 1970, num. 35 (AaTh 550+531); Parsons, E. C.: Zapoteca and Spanish Folktales of Mitla, Oaxaca. In: JAFL 45 (1932) 310-312; Oestrup, J.: Contes de Damas. Leiden 1897, 7 2 - 8 1 . 28 Bisweilen ist die Verbindung von AaTh 303A, ökotyp Μ (cf. EM 2, 887-902) und 531 sehr lose: In ukr. Var.n zieht der Held einfach allein weiter; cf. auch Köhler/Bolte 1, 411sq., 467. - 29 In vielen russ. Var.n mischen sich Elemente von AaTh 531 mit solchen aus dem sehr verbreiteten Buchmärchen Konek-gorbunek (1834) von P. P. Ersov, cf. Pomeranzewa, E.: Russ. Volksmärchen. B. 1964, not. zu num. 21. - 30 cf. dazu auch Köhler/ Bolte 1, 468 sq. 31 z.B. Haiding (wie not. 21) num. 39; MüllerLisowski, K.: Ir. Volksmärchen. MdW 1957, num. 35; Curtin, J . / 0 Duilearga, S.: Irish Folk-Tales. Dublin 3 1956, 5 5 - 6 4 (AaTh 531+507A+922); cf. Delarue/Teneze 2, 327, num. 13 (bret.); böhm. cf. Tille, num. 3 - 5 , 7; Polivka 2,317-360; Javorskij, Ju. Α.: Pamjatniki galicko-russkoj narodnoj slovesnosti. Kiev 1915, 3 7 - 4 2 ; Cendej, I.: Skazki Verchoviny. Zakarpatskie ukrainskie narodnye skazki. Uzgorod 1959, 202-208, 342-346. 32 Grundtvig, S.: Danske folkesventyr. Ny samling. Kop. 1878, 1 - 1 9 (drei goldene Federn); Von Prinzen, Trollen und Herrn Fro (Märchen der europ. Völker 4). ed. K. Schulte Kemminghausen/ G. Hüllen. Münster 1963, 192-198 (schwed.: Drei goldene Federn). Die Verbindung, die Liungman (Volksmärchen, 148 sq.) von der goldenen Feder zum goldenen Vlies zieht, ist äußerlich. — 33 cf. EM 3, 149-156, hier 152, 155, not. 27. - 34 cf. Sveinsson, 6 6 - 6 9 . - 35 Delarue/Teneze 2, 32sq., num. 15. - 36 Rael, J. B.: Cuentos espanoles de Colorado y Nuevo Mejico 2. Stanford [1957] 104—115; cf. auch die Variationen bei Delarue/ Teneze 2, 321-336. - 37 z.B. Michel, R.: Slowak. Märchen. Wien 1944, 7 - 1 4 ; cf. Delarue/Teneze 2, 334, num. 42 (Esel). - 38 Javorskij (wie not. 31) 37-42. - 39 cf. Delarue/Teneze 2, 328, 330. 40 Liungman, Volksmärchen, 148. -
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Fernliebe
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Ranke 2, 177. - 4 2 wie not. 40. - 4 3 von Beit 1, 2 1 3 - 2 2 1 . - 4 4 ibid., 2 2 1 . - 4 5 ibid., 214.
Köln
Walter Pape
Fernliebe. Das dem Märchen adäquate, der Kunstdichtung romantischen Charakter verleihende Motiv der —> Liebe zu einer fernen, nie gesehenen Person dürfte mit dem, bes. für Eliten wichtigen, bei vielen Völkern gültig gewesenen Exogamie-Gebot zusammenhängen, das den heiratsfähigen Männern früher Kulturen weite und gefährliche Brautfahrten aufnötigte. Die Motivierung solcher Fahrten durch unstillbare Sehnsucht vergeistigte und veredelte eine in Wirklichkeit pflichtmäßig vollzogene, auf Besitz, Macht und die Zeugung standesgemäßer Nachkommen abgestellte Ehebindung. Gerade Indien, das sich als Herkunftsland vieler Dichtungen um F. erweist, hatte strenge Heiratsverbote auch für weitläufige Verwandte. Die ferne Geliebte — denn in der überwiegenden Zahl der Fälle ist der Mann derjenige, der unter dem F.-Zwang handelt — oder auch der ferne Geliebte können dem Liebenden durch Schilderungen Dritter (Mot. Τ 11.1) nahegebracht worden sein, oder ein Gegenstand aus dem intimen Bereich des Entfernten (Mot. Τ 11.4) kann bestrickend wirken, auch kann ein Bild (Mot. Τ 11.2) den bezwingenden Eindruck gemacht und schließlich die begehrte Person sich als Traumbild (Mot. Τ 11.3) genähert haben (—> Liebeszauber). Berückenden Zauber üben in altind., pers. und arab. Erzählungen die Lobeserhebungen von Dienern, Mägden, Freunden, Ministern und Wesiren aus, durch die sie den von ihnen Beratenen schöne und liebenswerte, fern lebende Menschen zum Ziel ihrer Wünsche machen. Frauen wie Damayanti (—> Mahäbhärata), die Kurtisane Väsavadattä (Divyävadäna, nicht vor 4. Jh.) oder die Frau des Potiphar (Djämi, Jüsufö Zuleichä, 15. Jh.), Prinzen und Könige (—> Somadeva, Kathäsaritsägara, 1063/81; Nahsabi, —» Tüti-Nämeh, 1330) fühlen sich zu der fernen Person ihrer Neigung hingezogen und harren ihrer Ankunft oder scheuen keine Opfer, sie zu erreichen. Das Sähnäma (1010) des —» Firdausi
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enthält auch ein Beispiel für beiderseitige F. Als sich die oriental. Spiritualisierung des Gefühls sowohl von Arab.-Spanien her wie als Frucht der Kreuzzüge in Frankreich ausbreitete, wurde F., ,amor de lonh', durch den Troubadour Jaufre Rudel (Mitte 12. Jh.) in die Minnedichtung, deren umworbenes Idol ja dem Minnenden unerreichbar bleiben mußte, eingeführt. Aus seinen Liedern um die Prinzessin von Tripoli, die er aus der Ferne besang, entstand eine ,Vida' über Rudel, nach der er endlich seine Geliebte auch sehen wollte, auf der Fahrt in den Orient erkrankte und in den Armen der an sein Lager geeilten Angebeteten starb 1 . Das F.-Motiv wurde vom höfischen Roman als movierende Komponente übernommen (Partonopeus de Blois, 12. Jh.; Huon de Rotelande, Ipomedon, 12. Jh.; Reinfried von Braunschweig, um 1300; Johann von Würzburg, Wilhelm von Österreich, 1314). Das späte MA. erfuhr dann durch Übertragungen oriental. Lit., vor allem des Erzählzyklus —> Sieben weise Meister, eine direkte Zufuhr von Stoffen um das F.Motiv, so daß es an so entscheidenden Grenzmarken spätma.-frühneuzeitlicher Lit. wie in den Werken Geoffrey —> Chaucers, der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken, dem —» Amadis-Roman und in der Rahmenerzählung von Giovanni Fiorentinos Novellenzyklus II pecorone (1378/90) anzutreffen ist. Wo ein intimer Gegenstand oder ein körperliches Merkmal der Entfernten in die Hand oder zur Kenntnis des bisher nicht von Liebe Ergriffenen gelangen, können sie als Zeichen des Schicksals, das eine Verbindung knüpfen will, empfunden werden. Der Schuh, der im Märchen des Strabon (um 63 a. Chr. n . - 1 9 p. Chr. n.; cf. AaTh 510 A: —> Cinderella) dem König in den Schoß fällt, das Haar der Frau des Bata im altägypt. —> Brüdermärchen 2 , das Haar Isoldes in verschiedenen Fassungen des —> TristanStoffes und das der vorbestimmten Gattin in der Gqngu-Hrolfs saga (13./14. Jh.) sind solche auslösenden Momente. Noch sinnfälliger ist die Wirkung eines Porträts (—> Bild, Bildzauber), das in dem Betrachter den Wunsch erregt, das lebende Original zu suchen und zu besitzen. Der einem Menschen vorbestimmte Zauber eines
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Fernliebe
Bildes erscheint mehrfach in 1001 Nacht {Ibrahim und Djamila; Geschichte des Saif-alMouloük), in den Sieben weisen Meistern, bei Nezämi (Haft paikar, 1198), in —> Tausendundeintag (Turandoterzählung, cf. —> Rätselprinzessin), bei Kälidäsa (Malavika und Agnimitra, Anfang 15. Jh.), in Der treue —» Johannes (AaTh 516), in Die schwarze und die weiße —> Braut (AaTh 403), —» König Drosselbart (AaTh 900), in —> Boccaccios Decamerone (7,7), im Amadis und in Edmund Spensers The Faerie Queene 1—6 (L. 1590— 96). F., durch ein Bild ausgelöst, spielt weit öfter als die durch Hörensagen ausgelöste eine Rolle im Barockroman. Die meist oriental. Handlungsschemata regten sowohl die frz. Schöpfer dieser Gattung — Sieur de Gomberville, Sieur de la Calprenede, Madeleine de Scudery — wie die dt. Nachahmer — Philipp von Zesen, Daniel Casper von Lohenstein, Andreas Heinrich Buchholz, Herzog Anton Ulrich von Braunschweig, Heinrich Anselm von Zigler und Klipphausen — zur Verwendung des F.-Motivs an, und selbst Charles Sorel nahm sie in seine antihöfische La vraye Histoire comique de Francion (P. 1623) auf. Dem span. Drama des Goldenen ZA.s war das Motiv ein Vehikel zur Einfädelung von Intrigen, Verwechslungen und Enthüllungen. Wo Barockes im 18. Jh. nachwirkte, blieb auch die Bildnis-Variante des F.-Motivs erhalten: in Christoph Martin —» Wielands Der Sieg der Natur über die Schwärmerei (Ulm 1764) oder in J. E. Schikaneders Libretto für Mozarts Oper Die Zauberflöte (1791). Das augenscheinlich gottgesandte Traumbild eines Menschen knüpft ein magisches Band zwischen Träumendem und Geträumtem (cf. —» Traum). Auch gibt es bereits in der Frühzeit der Motiventwicklung, in der Geschichte von Aniruddha und Usa (Mahäbhärata), korrespondierende Träume und wechselseitige Verliebtheit, die dann durch die Gestaltung in der —> /nc/i«a-Geschichte (AaTh 1419 E) des Zyklus Sieben weise Meister auch die europ. Lit. beeinflußte. Andere durch Traumbilder Entflammte finden sich in der oriental. Lit. z.B. bei Firdausi, Kälidäsa, Dandin und Nezämi, in der europ. bei Heinrich Anselm von Zigler und Klipphausen, in Wielands —> Oberen (Weimar 1780) sowie in
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Michael Reinhold Lenz' Romanfragment Der Waldbruder (1797) 3 . Schon früh wurde die Traumbild-Variante durch die Bildnis-Variante gewissermaßen verstärkt, wenn in Nahsabis Tüti-Nämeh das dem Kaiser von China erschienene Traumbild, vom Wesir in ein Bildnis umgesetzt und wie ein Steckbrief an den Toren der Stadt ausgehängt, als Porträt der Prinzessin von Griechenland identifiziert wird und wenn sich in der buddhist. —> Jätaka-Slg (seit 3. Jh. a. Chr. n.) Bodhisattva (—» Buddha) von seinem Traumbild ein plastisches Abbild formt und dessen Realisierung von seinen Eltern verlangt. Im spätma. arab. Volksbuch vom König Zahrziä Baibars 4 bringt der Vertraute des Sultanssohns Ahmad, der sein Traumgesicht nach langer Suche in einer fernen Stadt wiedererkennt, diesen und die infolge eines korrespondierenden Traums vor Sehnsucht erkrankte Königstochter dadurch in ersten Kontakt, daß er ihr eine Wachsnachbildung Ahmads schickt, die jedoch bald durch ihre Berührungen schmilzt. Diese Beziehung zwischen Traum, Abbild und Wirklichkeit wurde in der europ. Romantik virulent, die das alte märchenhafte Motiv mit neuem Glauben an übersinnliche Mächte, zugleich beschwert durch eine neue Wirklichkeitsproblematik, wiederbelebte. So verpflichtet das Traumbild bei Clemens —» Brentano (Ponce de Leon. Göttingen 1804; der Slg Marie-Catherine d' —» Aulnoys entnommen) und bei Heinrich von Kleist (Das Käthchen von Heilbronn. Dresden 1808; aus einer Volkssage 5 ) noch die Helden, es entgegen aller Wahrscheinlichkeit in Realität umzusetzen. Richard Wagner nutzt in der gleichfalls von Motiven der Volksdichtung zehrenden Oper Der fliegende Holländer (1843) Sentas von einem Bild gesteigerte Bestrickung durch die Holländer-Ballade lediglich als stimmunggebendes Element. Bei Ε. Τ. A. —» Hoffmann jedoch und seinen um die Problematik des Künstlertums kreisenden Erzählungen muß der Traum Traum bleiben, wenn der Künstler, der seine Idole in die Umwelt hineinsieht, nicht seinen inneren Reichtum verlieren soll. Realisierung des Traums bringt keine Erfüllung (Der Artushofb\ Die Jesuiterkirche in G. 7 ; Der Doppeltgänger8), nur die Rückverwandlung in Kunst bewahrt Träumer und Traumbild (Die Elixiere
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Fernsehen - Fernzauber
des Teufels 1 - 2 . B. 1 8 1 5 - 1 6 ; Meister Martin der Küfner und seine Gesellen9), das im Augenblick der Greifbarkeit dem Liebenden verloren ist (Die Automate10). 1
Zade 1920 (v. Lit.). - 2 HDM 2, 1 0 3 - 1 0 5 . In: Die Hören 10/11 (1797). - 4 Wangelin, H.: Das arab. Volksbuch vom König Zahrziä Baibars. Stg. 1936, 168sq., 273. - 5 Einzelne Anregungen für „Das Käthchen von Heilbronn" gab die engl. Volksballade „Child Waters" (Child, num. 63) in der Nachdichtung „Graf Walter" von G. A. Bürger. Die von Κ. A. Böttiger überlieferte Nachricht, Kleist habe den Stoff als Volkssage in Schwaben gefunden und auf einem Jahrmarkt ein Flugblatt gekauft und aufbewahrt, ließ sich nicht verifizieren. Nach dem Ber. E. von Bülows hat Kleist den Märchencharakter des Werkes auf eine Bemerkung L. Tiecks hin wesentlich zurückgenommen, was er später bereute; cf. Sembdner, H. (ed.): H. von Kleists Lebensspuren. Bremen 1957, 187—192 (Kleists Brief an Marie von Kleist, Sommer 1811). - 6 In: Urania auf das Jahr 1817. Lpz./ Altenburg 1817, 1 7 9 - 2 2 6 . - 7 In: Hoffmann, Ε. Τ. Α.: Nachtstücke 1. B. 1817, 2 1 2 - 2 7 8 . - 8 In: Feierstunden 2. ed. F. Freiherr von Biedenfeld/C. Kuffner. Brünn 1822, 2 1 5 - 3 2 8 . - 9 In: Taschenbuch zum geselligen Vergnügen auf das Jahr 1819. Lpz. 1818. - 10 In: Allg. Musikalische Ztg 16,6 (1814) 9 3 - 1 0 2 . 3
Lit.: Zade, L.: Der Troubadour Jaufre Rudel und das Motiv der F. in der Weltlit. Diss. Greifswald 1920. - Geissler, F.: Brautwerbung in der Weltlit. Halle 1955. - Frenzel, Motive, 1 4 9 - 1 6 0 .
Berlin
Elisabeth Frenzel
Fernsehen —> Television
Fernzauber 1. Definition und Abgrenzung — 2. Soziale Situation - 3. Zauberkraft — 4. Funktionale Ebenen — 5. Rituelle Ebenen — 6. Raum- und Zeitdimension
1. D e f i n i t i o n u n d A b g r e n z u n g . F. ist Einflußnahme auf Mensch, Tier, Naturobjekte und -phänomene über nähere und weitere räumliche und zeitliche Distanz mittels performativer (ritueller) —» Magie oder durch Willenszauber. Ziel des F.s wie des Zaubers schlechthin ist die physische oder psychische Beeinträchtigung und Veränderung eines 33
Enzyklopädie des Märchens IV
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außerhalb des eigenen Ichs stehenden Wesens unter die Diktatur eigener Wunschvorstellungen. Daher ist F. streng von der Wahrnehmung außerhalb des natürlichen Bewußtseinsfeldes liegender, jedoch ohne zauberische Praktik zustande gekommener zeichenhafter Äußerungen zu trennen (ζ. B. Telepathie, zweites Gesicht, Todesvorahnungen, —»Vision; cf. auch —> Divination). Das im Märchen, aber auch in der Legende häufig erscheinende Fernzeichen (z.B. AaTh 780: —> Singender Knochen·, AaTh 756: Der grünende —» Zweig·, blutschwitzender Stein des hl. —» Januarius; —» Erkennungszeichen), das in der paranormalen Veränderung der Substanz eines Dinges etwa Aufschlüsse über den ansonsten unbekannt bleibenden Zustand einer weit entfernten Person gibt, kommt ohne magisches Ritual zustande; es kann im Märchen als Vorstellung von der magischen Partizipation des Teils am Ganzen (—> Pars pro toto), aber auch als Äußerung der ma. und nachma. Zeichen- und Signaturenlehre (Tannhäuser: Sündenvergebung; hl. Januarius: Nachweis des hist. Hinrichtungsortes) gedeutet werden und ist heute wieder Gegenstand sowohl okkulter Lehren wie parapsychol. Forschung 1 . 2. S o z i a l e S i t u a t i o n . Die Vorstellung, daß die sich im Verhältnis zwischen dem — meist anonym bleibenden - Hexer und der bezauberten Person wirkungsvoll konkretisierende Handlung raumzeitliche Dimensionen aufhebe, muß mit dem Rechtssystem der zivilisierten' Welt, aber auch mit den sozialen und ethischen Normen der meisten nichtliterar. Kulturen in Zusammenhang gebracht werden; wo Zauber unter Strafe oder Diskriminierung gestellt ist, ergibt sich zwingend der Glaube an die aus dem Schutz sicherer Entfernung ausgeübte Hexerei. Daraus lassen sich wiederum divinatorische Rituale zur Identifizierung des Magiers und die Gegenreaktion mit gleichfalls fernzauberischen Mitteln herleiten. Somit sind die funktionalen Ebenen (—* Schaden- und —> Abwehrzauber) letztlich nicht als Kriterien für F. speziell, sondern grundsätzlich für Zaubervorstellungen (—» Zauber) anzusehen. 3. Z a u b e r k r a f t . Für regelmäßig eintreffendes biologisches Unglück (Krankheiten
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Fernzauber
von Mensch und Tier, Impotenz, Unfruchtbarkeit, Mißernten, Unwetter, Tod) wurde in Unkenntnis der wahren Verursachung in zahlreichen hist. Kulturen Zauber verantwortlich gemacht und damit nicht nur die zauberische Effizienz, sondern auch der Zauber selbst verkörperlicht: als innerhalb oder außerhalb des Körpers existierende Zauberkraft 2 , als —» Partizipation an einer Macht. Diese umschreibt die religionswiss. Terminologie mit dem melanes. Begriff mana, dem orenda der Irokesen und Huron-Indianer, dem wakanda der Sioux oder dem manitu der Algonkin 3 , oder - wie bei den afrik. Zande — als Teil des menschlichen Organismus (mangu), wobei die den Abstand zwischen Hexer und Opfer überbrückende Wirkung seelischer Natur ist (mbisimo mangu). Diese Seele der Hexerei kann ihre körperliche Behausung jederzeit, bevorzugt aber nachts verlassen und bewegt sich dann als helles Licht zu ihrem Ziel, um den seelischen Teil (mbisimo pasio: Seele seines Fleisches) zu entfernen 4 . Ähnliches Denken repräsentiert die ,Traumzeit' (u.a. tukura nangani: ,den Djugura habe ich gesehen') der austral. Ureinwohner (—» Australien): Die ,Traumseele' oder der ,Traumgeist' bevorzugt alter weiser Männer und Zauberdoktoren kann sich vom ruhenden oder schlafenden Körper lösen und dabei ansonsten unmögliche Taten vollbringen 5 .
Von der Forschung als Märchen apostrophierte Erzählungen spiegeln diese kulturelle Situation minutiös: Der Traumgeist verläßt den Körper des schlafenden Medizinmannes, besänftigt mit Zaubergesängen die Regenbogenschlange und holt Honig für die Menschen 6 . Die auf antiker —> Dämonologie fußende abendländische Magie kennt die allerdings sublimierte Stufe einer körperlichen Substanz der Zauberkraft mit den durch Anrufung oder Pakt gezwungenen medialen Geistwesen (—* Dämon); so gab ein des Wetterzaubers Beschuldigter zu Protokoll, man müsse den Fürsten aller Dämonen mit bestimmten Formeln beschwören, einen Dämon zu schicken. An einem Scheideweg werde dann ein schwarzes Küken hoch in die Luft geschleudert; nehme der Dämon das Opfer an, dann errege er auch sofort die Luft 7 . Ähnlich wird—> Bildzauber nicht durch die analoge Handlung von Bild qua Bild, sondern dadurch wirksam, daß ein Dämon den zu behexenden Menschen in der gleichen Weise verletzt, die der Hexer mittels des Bildes zeichenhaft verdeutlicht 8 .
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Wo ma. und nachma. Dämonologen diesen Sachverhalt erklärend ihren Beispielmaterien hinzufügen, wird deutlich, daß nicht etwa mechanistisch-sympathetische Zauberei u.a. Viehkrankheiten auslöst, sondern die —» Hexe selbst, die sich mittels magischer Prozeduren unsichtbar macht, um in den Stall zu gelangen und den Tieren Gift einzublasen 9 . Auch populäres Erzählgut kennt noch diese körperliche Erfahrbarkeit des F.s: Durch das Kochen von Zauberkräutern erreicht es eine Magd, ihren Buhlen durch einen zottigen Bock herbeischaffen zu lassen10. Ein Mann schießt nach einer Hagelwolke, die er über seinem Feld aufziehen sieht; am folgenden Tag wird bekannt, daß der Pfarrer sich ein Bein gebrochen habe, als er vom Himmel auf die Erde fiel 11 . Noch in der zwischen monströser Natursicht und früher naturwiss. Kritik angesiedelten Lit. des 16. und 17. Jh.s behauptet sich die Idee vom medialen Helfer in nun pseudozoologisch konkretisierter Form: Zauberer halten sich entenähnliche Vögel, die den Kühen die Milch aussaugen. Einmal spaltete ein Soldat ein solches Wesen mit dem Schwert in zwei Hälften, worauf die Straße mit Milch überschwemmt wurde (cf. auch Mot. D 2083.2: Cows made to give bad milky2. 4. F u n k t i o n a l e E b e n e n . Die Überzeugung von der Einheit der makro- und mikrokosmischen Welt und der Verzahnung der in ihr waltenden Geist- und Naturkräfte bildet zusammen mit den funktionalen und rituellen Axiomen hochschichtlicher Magiologie die Voraussetzung für das den F. je nach Form und Intention vereinfachende oder gar bis zur Unkenntlichkeit abstrahierende populäre Erzählgut. Hierzu gehören der Wetterzauber (cf. Mot. D 2143.1.9: Witch draws rain or snow from clouds with wave of his hand) und die magische Beeinträchtigung von Mensch und Tier (cf. Mot. A 1337.0.3). Stereotype Anschuldigungen bezogen sich u.a. auf den Schwellenzauber; so vermerkt Johann Jakob Wiek in seinen Zürcher Kollektaneen, daß am 14.10.1555 eine Hexe verbrannt worden sei, die mit der Absicht, einen Mann zu lähmen, eine Kröte unter der Schwelle vergraben habe 13 . Weitere Beispiele für okkulte Fernwirkung sind die Vorstellung von Krankheitsprojektilen als Verursacher von Erkrankun-
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gen 14 oder der Glaube, man könne mit den am Fest des Philippus Jacobus geschnittenen Ruten anderen Menschen aus der Ferne die Augen ausschlagen15. Wie real F. erfahren wurde, belegen zahlreiche Berichte von magisch verursachter Penetration: Ein Bauer, dem ein Hexer seltsame Gegenstände in den Leib gezaubert hatte, nahm sich wegen der unerträglichen Schmerzen das Leben 16 . Auch Ehezwistigkeiten betrachtete man u. a. als Folge von F. 17 . Die Überzeugung, bezaubert zu sein, schafft das Bedürfnis, sich mit gleichen Mitteln gegen den anonymen Auslöser zu wehren: Als ein Pfarrer Stecknadeln in ein Wollknäuel stößt, bohren sich im gleichen Augenblick Nadeln in den Rücken einer Zauberin 18 . Ferndiagnostische Praktiken konnten u. a. J. Favret-Saada im westfrz. Hainland, wo man bei Verdacht der Verhexung Stecknadeln in ein gekochtes Rinderherz stößt und dadurch den Hexer zum Kommen zwingt (cf. Mot. D 2061.2.2.8.1), und Ε. E. EvansPritchard bei den Zande beobachten 19 . Eine wichtige Funktion erfüllt der F. bei Potenz- und Liebesangelegenheiten (Mot. D 1900). Eine Hure, die verjagt wird, als der Graf heiratet, versenkt im Burgbrunnen einen Topf, weswegen ihr ehemaliger Geliebter impotent wird 20 . Ein —» Zauberring läßt einen jungen Mann in Liebe zu einer Frau entbrennen 21 . Im Todeszauber findet schließlich der Glaube an die Wirksamkeit des F.s seinen makabren Höhepunkt (cf. Mot. D 2061.2.2.). Ob ein Zauberer einer auf dem Tisch wachsenden Lilie die Blüte abschlägt und man eine Stunde später in einem Stall die Leiche eines enthaupteten Mannes auffindet 22 oder eine austral. Erzählung berichtet, daß jedesmal, wenn der Adlermann Walja einen Zweig vom Wardabaum abbricht, ein Knabe der Willilambi stirbt 23 , in beiden Fällen wird die kulturelle Wirklichkeit deutlich: die christl. Furcht vor jähem, unvorbereitetem Tod einerseits, das von Ethnologen häufig beschriebene magische Ritual der austral. Aborigines andererseits. In letzterem dienen Schwirrhölzer (tjurunga) zur Steigerung der Geistkräfte (djalu), zur Herbeirufung von Regen, —> Bilokation und Erfüllung von Straf- und Rachewünschen. Der Träger der Todesspitzen (djurun, mangir) ist im bugari-Zustand ange33·
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strengten Denkens und Wünschens befähigt, u.a. begehrte Frauen anzulocken und weit entfernte Gegner zu schädigen oder zu töten 24 . Im nordwestl. Südaustralien wurde beobachtet, wie ein zauberkundiger Mann über die beiden knöchernen Todesspitzen den Namen des Opfers sang und sie dann in dessen Richtung warf. Ein Haarseil sollte die Spitzen unfehlbar in den Rücken des Feindes steuern, das angeklebte Harz sich in dessen Rücken einbrennen 25 . 5. R i t u e l l e E b e n e n . F. beruht infolge der Anwendung einer medialen Zauberkraft (v. oben) rituell weitgehend auf der Ausübung bildhafter Handlungsweisen, mit denen dem beschworenen Geistwesen die Verfahrensweise signalisiert oder die Willenskraft des Zauberers dramatisch stabilisiert wird. Dies gilt für das Ritual des Bildzaubers ähnlich wie für Festnageln, Knotenzauber und Nestelknüpfen 26 oder die Bannung und Defixion unbekannter Diebe: Wird ein Nagel in ein gemaltes Auge getrieben, so gibt sich der Dieb durch Geschrei zu erkennen (cf. auch Mot. D 2061.2.2.3; -> Festbannen) 27 . Was daher mit imitativer Magie (—» Similia similibus: Imitationsakt besitzt die gleiche Mächtigkeit wie der ursprüngliche Vorgang), kontagiöser Magie (Vollzug des Rituals am Abbild oder Gegenstand ermöglicht die Fernwirkung auf das Urbild oder den Besitzer des Objekts) und der Vorstellung der magischen Kraft des pars pro toto (z.B. Zauber mit Haaren, Fingernägeln, Menstruationsblut, Exkrementen, Kleiderfetzen etc.) terminologisch unterschieden wird 28 , sind letztlich magische Verfahrensvarianten, die ihren gemeinsamen Ursprung in der Erfahrung der Natur als einem komplexen System von Bildern und Kräften besitzen. Dies verdeutlicht der Akt des Jagdzaubers: Die Jäger der Wapischana in Guayana verbrennen Teile oder Substitute des Tieres, das sie zu töten wünschen, und reiben sich die mit Honig vermischte Mixtur in Einschnitte an den Armen 29 . Die Pilagä des Gran Chaco verwenden als Jagdamulett ein Halsband mit Ledersäckchen, die mit Federn, Haaren und Kot der Tiere gefüllt sind. Damit streichen sie sich beim Anblick der Beute um den Mund, um dem Tier die Kraft zu rauben 30 .
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Fernzauber
Populäre Erzählungen, vor allem aber deren späte Aufzeichnungen als Sagen ignorieren häufig den ursprünglichen magischen Zusammenhang und reduzieren F. auf ein Handlungsskelett von Ursache und Wirkung. Wenn ein Bauer drei Katzen verletzt und daraufhin drei Frauen im Dorf todkrank werden 31 , dann mag dahinter noch das von der Wiss. der Magie geprägte Theorem von der magischen —> Verwandlung stehen. Wenn jedoch in der von Georg Philipp —> Harsdörffer vermittelten Geschichte einer Frau, die einen Mann an sich binden will, dafür aber nicht dessen Haare, sondern die des als Bettvorlegers dienenden Bärenfelles einer Hexe verschafft und daraufhin nachts nicht die zu bezaubernde Person, sondern das Fell zum Fenster hinausfliegt 32 , dann handelt es sich hier um eine ebenso schwankhafte wie auf sensationelle Sachverhalte ausgerichtete erzählerische Reduktionsform, in der Magie zum Handlungsrequisit verfällt.
6. R a u m - und Z e i t d i m e n s i o n . Gleiches gilt für die Ungültigkeit realer Raum- und Zeitdimensionen im F., die in der erzählerischen Wiedergabe keine Rolle spielen: Diodorus Siculus kann mit Hilfe zauberischer Beschwörungen Gegenstände über weiteste Entfernung an sich bannen 33 , ein Chemnitzer Mönch mit teuflischem Beistand mehr als 20 Meilen entfernte Kranke heilen 34 , und schließlich wird die magische Handlung zum F.wettbewerb (cf. Mot. Η 1109.1: Task: bringing water from distant fountain more quickly than a witch). Doch schon die Beschränkung des machtvollen magischen Wortes auf bestimmte Orte oder Personen etwa im —» Fluch zeigt die räumliche und zeitliche Begrenzung der Fernwirkung auf das Kommunikationsgefüge eines Dorfes, einer Gruppe oder eines Stammesverbandes; so ist bei den Zande die Wirksamkeit der Hexerei durch die Grenzen der Siedlung gebunden, F. über diese hinaus unwirksam35. Schließlich aber zeigen psychiatrische Unters.en die Auswirkungen von Zaubervorstellungen als Verhexungswahn in einem durch soziale, konfessionelle oder regionale Identität bestimmbaren Raum, wo Zauberglaube zuvorderst ein Bestandteil alltäglicher Wirklichkeit ist
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und als F. seine erzählerische Bewältigung erfährt36. ι Heckscher, K.: F. In: H D M 2, 8 7 - 9 2 ; Aly, W.: F. In: H D A 2, 1 3 4 0 - 1 3 4 4 ; Bender, H.: Das „Blutwunder" des hl. Januarius in Neapel. In: Zs. für Parapsychologie 8 (1965) 1 7 6 - 1 9 7 ; cf. Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 7 1 - 7 5 . - 2 cf. FavretSaada, J.: Die Wörter, der Zauber, der Tod. Der Hexenglaube im Hainland von Westfrankreich. Ffm. 1979, 1 6 0 - 1 6 4 (u.ö.). - 3 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen der Religion. Stg. 1961, 29—33; cf. ferner Baaren, Τ. P. von: Menschen wie wir. Religion und Kult der schriftlosen Völker. Gütersloh 1964; Frazer, J. G.: Taboo and the Perils of the Soul. L. 1911; Hewitt, J. Ν. B.: Orenda and a Definition of Religion. In: American Anthropologist N.S. 4 (1902) 3 3 - 4 6 ; Lehmann, F.: Mana. Der Begriff des „außerordentlich Wirkungsvollen" bei Südseevölkern. Lpz. 1922; Saintyves, P.: La Force magique. Du mana des primitifs au dynamisme scientifique. P. 1914; Thurnwald, R.: Neue Forschungen zum Manabegriff. In: ARw. 27 (1929) 9 3 - 1 1 2 ; Webster, H.: Taboo. A Sociological Study. L. 1942. - 4 Evans-Pritchard, Ε. E.: Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande. Ffm. 1978, 5 1 - 5 3 (ed. prima L. 1937). - 5 Löffler, A. (ed.): Märchen aus Australien. MdW 1981, 249; Petri, Η.: Traum und Trance bei den Australiden. In: Welt der Wiss. 4 (1965) 2 7 7 - 2 8 5 . - 6 Mountford, C. P.: Records of the American Scientific Expedition to Arnhem Land 1. Melbourne 1956, 205. - 7 Sprenger, J./Institoris, H.: Malleus maleficarum 2. ed. J. W. R. Schmidt. B. 1906 (Nachdr. Darmstadt 1980; Mü. 1982) 156. - 8 cf. ibid., 122; Brückner, W.: Überlegungen zur Magietheorie. Vom Zauber mit Bildern. In: Petzoldt, L. (ed.): Magie und Religion. Darmstadt 1978, 4 0 4 - 4 1 9 . 9 Lavater, L.: Von Gespensten, ungehewren Fällen oder Poltern. In: Theatrum de veneficis. Ffm. 1586, 211 sq. - 10 Grimm DS 120. 11 Staudt, G./Peuckert, W.-E. (edd.): Nordfrz. Sagen. B. 1968, num. 40; cf. Grimm, J.: Dt. Mythologie 3. Nachdr. Ffm./B./Wien 1981, 314. 12 Delrio, M.: Disquisitionum magicarum libri sex. Köln 1633, 9 5 2 a sq. - 13 Senn, M. (ed.): Die Wickiana. Johann Jakob Wieks Nachrichten-Slg aus dem 16. Jh. Küsnacht/Zürich 1975, 80. - 14 Honko, L.: Krankheitsprojektile (FFC 178). Hels. 1959. 15 Milichius, L.: Der Zauber Teuffei. In: Theatrum diabolorum. Ffm. 1575, 206. - 16 Bütner, W.: Epitome historiarum. s. 1. 1576, 61 sq.; cf. Weyer, J.: D e praestigiis daemonum. Von Teuffelsgespenst [. . .]. Ffm. 1586 (Nachdr. Darmstadt s.a.) 29sq. 17 Delrio (wie not. 12) 421 sq. - 16 Staudt/Peuckert (wie not. 11) num. 33. - 19 Favret-Saada (wie not. 2) 98; Evans-Pritchard (wie not. 4) pass. — 20 Bütner (wie not. 16) 62 sq. 21 Harsdörffer, G. P.: Der Grosse Schauplatz Lustund Lehrreicher Geschichte. Hbg 1664 (Nachdr.
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Fersenklemmen
Hildesheim/N.Y. 1978) num. XXXVII. - "Bütner (wie not. 16) 155. - 23 Bates, D.: Tales Told to Kabbarli. Sydney 1972, 98. - 24 Worms, Ε. A./ Petri, Η.: Austral. Eingeborenen-Religionen. In: Nevermann, H./Worms, E. A./Petri, H.: Die Religionen der Südsee und Australiens. Stg./B./Köln/ Mainz 1968, 147sq. - 25 Elkin, A. P.: The Australian Aborigines. Sydney (1938) 4 1961, 271 sq. 26 cf. Zischka, U.: Zur sakralen und profanen Anwendung des Knotenmotivs als magisches Mittel, Symbol und Dekor. Diss. Mü. 197 7. - 27 Weyer (wie not. 16) 317. - 2 8 c f . z.B. Dammann, E.: Die Religionen Afrikas. Stg. 1963, 99. - 29 Farabee, W. C.: The Central Arawak. Phil. 1918, 49; Zerries, O.: Die Religionen der Naturvölker Südamerikas und Westindiens. In: Krickeberg, W./ Trimborn, H./Müller, W./Zerries, O.: Die Religionen des alten Amerika. Stg. 1961, 323. - 3 0 Palavecino, E.: Von den Pilagä-Indianern im Norden Argentiniens. In: Anthropos 28 (1933) 318. 31 Bütner (wie not. 16) 64. — 32 Harsdörffer (wie not. 21) num. CXI. - 33 Delrio (wie not. 12) 33. 34 Gödelmann, G.: De magis. Von Zäuberern, Hexen und Unholden. Ffm. 1592, 100. - 35 EvansPritchard (wie not. 4) 53. - 3 6 Risso, M./Böker, W.: Verhexungswahn. Ein Beitr. zum Verständnis von Wahnerkrankungen südital. Arbeiter in der Schweiz. Basel/N.Y. 1964.
Göttingen
Christoph Daxelmüller
Fersenklemmen. Das Motiv F. oder auch Abschlagen der Ferse 1 (Mot. F 91.1) kennzeichnet eine für den Märchen- oder Sagenhelden lebensgefährliche Situation, die zumeist zum Zeitpunkt des Übergangs aus einer jenseitigen Welt ins Diesseits eintritt und der er ganz knapp, nicht ohne einen vergleichsweise geringen Schaden zu nehmen, entgeht. F. gehört damit in die Motivgruppe vom —> kleinen Verlust, von der es sich durch zwei charakteristische Züge 2 abgrenzen läßt: (1) die Vorstellung eines sich öffnenden und wieder schließenden schweren Tores als Eingang zur —> Unterwelt, (2) die durch das Zufallen dieses Tores verursachte spezifische Art der Verletzung. In Zaubermärchen begegnet das Motiv F. häufiger in AaTh 551: —» Wasser des Lebens3 und AaTh 550: —> Vogel, Pferd und Königstochter4. Die Gefahrensituation tritt hier ein, nachdem der Held seine Jenseitsaufgabe, die —> Suche nach einem wunderbaren Heilmittel, einem kostbaren Kleinod etc. (Mot. Η 1320—
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Η 1359)5, gelöst hat und ins Diesseits zurückkehrt. Das Auftreten des Motivs in einer Var. zu AaTh 311, 312: —» Mädchenmörder6 ist wahrscheinlich singulär. Über das Märchen hinaus gilt F. als ein charakteristisches Motiv der Schatz- und Schlüsseljungfrausage7, in der es zumeist in folgender Form auftritt: Der durch eine Springwurzel oder eine Schlüsseljungfrau in den —> Schatzberg gelangte Sagenheld versäumt beim Anblick der Schätze beinahe den Zeitpunkt, zu dem sich der Berg wieder schließt, erreicht den Ausgang in letzter Sekunde, so daß ihm das zufallende Tor (fast) die Ferse abschlägt (verletzt). Der Schatzberg bleibt von da an verschlossen, weil die Springwurzel im Berg vergessen wurde oder die Erlösung der Schlüsseljungfrau mißglückt ist.
Das Motiv F. begegnet auch in einigen Var.n 8 des Sagentypus —> Geistermesse (Christiansen, M. L., num. 4015). Es gehört jedoch, ebenso wie der Zug des vom Lebenden zurückgelassenen, von den Toten zerfetzten Mantels, offenbar nicht zum Motivbestand der frühen Formen dieser Erzählung 9 , der die Vorstellung vom gefährlichen Toten noch fremd war 10 . W.-E. —> Peuckert weist 43 Sagenbelege zu F. nach, die zumeist aus dem dt.sprachigmitteleurop. Raum stammen 11 . Vermutlich besteht hier jedoch eine Forschungs- oder Informationslücke. Man wird für die Sage, bes. aber auch für das Märchen, allein vom Alter des Motivs her eine stärkere Verbreitung erwarten dürfen 12 . F. findet sich in der eddischen Überlieferung (Siguröarqviöa, cap. 69), in der es heißt, daß dem in Hei einziehenden —> Sigurd eine Gefolgschaft beigegeben wird, damit ihm das Heitor nicht auf die Ferse falle 13 . Im altfrz. Yvain des —> Chretien de Troyes 14 , dem auch —» Hartmanns von Aue mhd. —> Iwein folgt 15 , trennt ein Fallgitter bei einem jenseitigen Schloß dem Ritter die Sporen ab und schneidet sein Pferd entzwei. Das sich zu rasch schließende Tor der Unterwelt schlägt in einem mexikan. Mythos dem Gott Tezcatlipoca die Ferse ab 16 . Die Vorstellung eines engen Tors, das die Unterwelt abschließt, ist seit der Antike bezeugt und überdies weltweit verbreitet 17 . Hier bestehen auch zu den aus der Sage von
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Fest
den —> Argonauten bekannten —» Symplegaden (Mot. D 1553) enge Beziehungen 18 . Ähnlich wie bei —» Achillesferse ist auch bei F. von einem — allerdings unterschiedlichen — Völkergedanken (cf. —» Elementargedanke) auszugehen, der eine global verbreitete Glaubensüberzeugung ausdrückt: die Vorstellung einer vom Diesseits scharf getrennten jenseitigen Welt, deren Betreten aufgrund ihrer totalen Andersartigkeit für den im Diesseits lebenden Menschen gefahrvoll ist. I HDM 2 , 9 2 - 1 0 4 . - 2 HDS, 6 0 - 6 2 . - 3 BP 2, 3 9 4 - 4 0 1 ; Köhler/Bolte 1,572. - 4 BP 1 , 5 0 3 515, hier 513sq. - 5 HDM 2 , 6 - 8 . - 6 HDM 2, 92sq.; BP l , 3 9 8 s q . - 7 HDS, 60; Krzyzanowski, num. 8016. — 8 cf. Peuckert, W.-E.: Niedersächs. Sagen 3. Göttingen 1969, num. 2060, 2066; Agricola, C.: Schott. Sagen. B. 1967, num. 56 (I). 9 Röhrich, L.: Der Tod in Sage und Märchen. In: Stephenson, G. (ed.): Leben und Tod in den Religionen. Symbol und Wirklichkeit. Darmstadt 1980, 1 4 4 - 1 8 3 , hier 176. - 10 Hain, M.: Arme Seelen und helfende Tote. In: Rhein. Jb. für Vk. 9 (1958) 5 4 - 6 4 , hier 63 sq. II Peuckert, W.-E.: Das zufallende Tor. In: ZfVk. 53 (1956/57) 1 3 0 - 1 3 6 , hier 131 ( = id.: Verborgenes Niedersachsen. Göttingen 1969, 37—43, hier 38sq.; ergänzt in HDS, 60sq.). — 12 Krappe, Α. H.: Balor with the Evil Eye. Studies in Celtic and French Literature. N.Y. 1927, 1 0 6 - 1 1 3 , hier 113. - 13 Genzmer, F. (ed.): Edda 1. Bearb. Neuausg. Düsseldorf/Köln 1963, 72. - 14 Le Chevalier au lion. Yvain. ed. M. Roques. P. 1960, V. 1287. 1S Hartmann von Aue. Iwein. ed. G. F. Benecke/ K. Lachmann. Bearb. L. Wolff. Β. 7 1968, V. 1111. — 16 König, F.: Christus und die Religionen der Erde 2. Wien 3 1961, 757. - 17 Landau, M.: Hölle und Fegfeuer in Volksglaube, Dichtung und Kirchenlehre. Heidelberg 1909, 6 6 - 7 7 ; Kuhn, Α.: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen 1. Lpz. 1859, 64sq.; Rüegg, Α.: Die Jenseitsvorstellungen vor Dante und die übrigen Voraussetzungen der ,Divina Commedia' 2. Einsiedeln/ Köln 1945, 1 3 1 - 1 3 6 . - 18 Vries, J. de: Betrachtungen zum Märchen (FFC 150). Hels. 1954, 96 sq.; id.: Altgerm. Religionsgeschichte 2. B. 2 1956, 376 sq.
Rotenburg (Wümme)
Günter Petschel
Fest 1. Funktion und Bedeutung von F.en - 1.1. Allgemeines — 1.2. Vorchristi, und christl. F.e — 1.3. Weltliche und weltlich-religiöse F.e — 2. Das F. in der Volkserzählung — 2.1. Verbote und
1036 Aberglauben — 2.2. Funktion des F.mahls — 2.3. Das ,gestörte' F. - 3. F.realität und Volkserzählung
1. F u n k t i o n und B e d e u t u n g von F.en 1.1. A l l g e m e i n e s . Ein F. ist eine Zeit des Feierns, ein Ereignis von bes. Bedeutung für die Gruppe oder Gemeinschaft, in der es stattfindet, ein komplexer Vorgang mit erzieherischen, gesellschaftlichen, religiösen und symbolischen Aspekten, bei dem verschiedene psychische Bedürfnisse befriedigt werden: Es bietet Erholung von den Mühen des Alltags und Abwechslung im Einerlei, fördert Zusammenhalt und Einigkeit in Familie und Gemeinschaft, gibt Gelegenheit zu gesellschaftlich sanktionierten Exzessen und hat damit Ventilwirkung; es verleiht den Schlüsselereignissen des Lebenslaufs - —> Geburt, —> Hochzeit und —> Tod - bes. Würde und hebt ihre Einmaligkeit hervor. Das F. hat eine weite zeitliche Dimension, es umgreift Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das F. eines Hl.n erinnert an dessen vergangenes gottesfürchtiges Leben und seine frommen Taten; Hochzeit und —> Taufe bringen freudige Zukunftserwartung zum Ausdruck. Eine große Anzahl von F.en, und nicht nur die speziellen Erinnerungsfeste, stellt ein Bindeglied, ein Band der Kontinuität zwischen den Lebenden und den Toten dar. Der Mensch als symbolschaffendes Wesen errichtet Bedeutungssysteme, in deren Rahmen die menschliche Existenz erlebt wird. Das F. ist ein von mehreren geteilter Akt, der ein auf gemeinsamen Werten beruhendes Streben zum Ausdruck bringt; diese Werte werden durch Wiederholungen der Performanz verstärkt. 1.2. Vorchristi, und christl. F.e. Früher waren F.e naturgebunden. Bevorzugt gefeiert wurden die Wendepunkte des Jahres. Die christl. Kirche legte ihre F.e auf die gleichen Termine, um heidnische Riten zu verdrängen und zu assimilieren. Als Sanktifizierung der Jahreszeiten zum Zweck christl. Gottesverehrung wurde das Kirchenjahr eingeführt. In ihm sind in ewiger Wiederkehr die heiligen Ereignisse der Vergangenheit verkörpert. Dazu treten weltweit oder örtlich begangene F.e von Heiligen.
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Fest
1.3. W e l t l i c h e u n d w e l t l i c h - r e l i g i ö s e F.e. Weltliche Feiertage sind in vielen Ländern Erinnerungen an hist. Ereignisse, z.B. der 4. Juli (amerik. Unabhängigkeitstag), der 14. Juli (Erstürmung der Bastille) und die Geburtstage von Nationalhelden. Die modernen Nationalstaaten versuchen, ihrer Bevölkerung ein Gefühl nationaler Identität zu geben, und verschiedene Mittel dazu sind F.e, feierliche Anlässe und Zeremonielle. Bei bestimmten Kategorien von F.en ist es nicht möglich, zwischen religiös und weltlich zu unterscheiden. So gab es im alten Athen keine rein weltlichen F.e, alle Feiertage waren heilig und einem bestimmten Gott oder einer bestimmten Göttin geweiht. Feiern wurde als angemessener Akt der Gottesverehrung verstanden, Sport und Spiele als feiertagsgemäße Tätigkeiten angesehen. 2. D a s F. in d e r V o l k s e r z ä h l u n g . In die Volkserzählung hat nicht die ganze Realität der populären F.e Eingang gefunden; sie setzt ihre eigenen Akzente, betont aber jedenfalls die große Bedeutung des F.es — nicht zuletzt in Motiven, welche die Verletzung von Feiertagsangeboten behandeln. 2.1. V e r b o t e u n d A b e r g l a u b e n . Sowohl im röm.-kathol. als auch im Protestant. Glauben ist die Nichtachtung der Feiertagsruhe eine Sünde, die schwer bestraft wird (cf. Mot. Q 559.4; C 58; A 2231.3). In einer ital. Novelle (Poggio, num. 94) sind die Bauern einige Tage lang nicht in der Lage, das Feld zu verlassen. Häufig muß jemand, der an einem Feiertag verbotene Arbeit verrichtet, sie auch nach seinem Tode weiterführen und kann nur durch eine mitleidige, unschuldige Seele davon befreit werden. Die Geschichte vom —» Mann im Mond (Mot. A 751.1.1) gehört ebenfalls zu dieser Kategorie; die nordeurop. Überlieferung scheint auf den bibl. Bericht (Num. 15, 3 2 - 3 6 ) von einem Mann zurückzugehen, der am Sabbattage Holz las und von den Kindern Israel gesteinigt wurde.
Die Verbote betreffen oft bes. Tätigkeiten wie Pflügen, —» Spinnen, Weben, Stricken (cf. Mot. C 631.2). Nach dt. Volksglauben bekommt Läuse, wer seine Stiefel an Weihnachten, Ostern oder Pfingsten wichst; blutbespritzt wird am Karfreitag gewaschene Wäsche (engl.); Fenster, die zu hohen Feier-
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tagen nicht geputzt sind, zerbrechen oder bringen schlechtes Wetter (österr.). Wie schon erwähnt, galten ähnliche Vorstellungen auch der Arbeit an Sonn- oder Sabbattagen (z.B. Mot. C 631; V 71.2). Gräber, die über einen Sonn- oder Feiertag geöffnet blieben, sollten einen weiteren Todesfall verursachen (dt.). Die Sage von der —» Wilden lagd enthält oft ein stark moralisches Element. Sie kann von einem Jagdherrn der Gegend angeführt werden, der zu ewigem Jagen verdammt wurde, weil er den Sonntag dadurch entweiht hatte (z.B. Mot. Ε 501.3.6). Wer den Sonntag nicht heiligte, wurde in das Reich der bösen Geister verbannt. Die Wilde Jagd trieb ihr Unwesen zu verschiedenen Anlässen, so an F.tagen (z.B. Mot. Ε 501.11.2.3). Dies galt auch für Hexen, böse Geister und Gespenster; und in vielen Ländern besuchten die Verstorbenen dann ihre Familien und baten um Essen.
Bergbewohner glaubten an das Eintreten von Unglücksfällen vor hohen Feiertagen (dt.). Kirchenfeste bildeten die Grundlage für verschiedene Arten von Zauberei und Prophezeiung. Viele abergläubische Handlungen zum Schutz von Mensch und Tier, Haus und Hof wirkten nur, wenn sie an Feiertagen begangen wurden. In England glaubte man, am Karfreitag oder am Weihnachtstag gebackenes Brot habe Zauber- und Heilkräfte. Wenn es das Jahr über im Hause aufbewahrt wurde, sollte es Heim und Familie vor Feuer, Unfällen und Mißgeschick schützen, in Stall und Scheune Getreidekäfer, Ratten und Mäuse abwehren, in der Hausapotheke galt es als verläßliches Mittel gegen Ruhr und Durchfall. Zu den wunderbaren Erscheinungen, die mit Feiertagen in Zusammenhang stehen, zählen auch der Brunnen, aus dem Wein sprudelt (Mot. F 716.1), und Tiere, die in der Weihnachtszeit anthropomorphes Betragen verschiedener Art zeigen (ζ. B. Mot. Β 251.1.2: Animals speak to one another at Christmas', Mot. Β 211.0.1: Animals speak, praising God, on the night of Christ's Nativity·, Mot. Β 251.1.2.1: Cock crows, „Christus natus est"; Mot. Β 251.1.2.3: Cows kneel in stable at midnight of Eve of Old Christmas).
2.2. F u n k t i o n d e s F . m a h l s . Das F., im engeren Sinne von ,F.mahl', steht im Mittelpunkt vieler Volkserzählungen. Es bildete eine wichtige Klasse unter den altir. Erzählungen (Prim-sceil), wovon eine Reihe von Motiven zeugt: Mot. Ν 770.0.1: Feast as occasion for the beginning of adventures or the arrival of questors. —
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Mot. Ρ 541.2: Laws made at yearly feast. - Mot. Ρ 541.2.1: Laws made at feast every seven years. — Mot. Ρ 531.1: Tribe failing to attend yearly feast to send gift as sign of submission. — Mot. Ζ 72.3: Seven (three) years between feasts. — Mot. Ρ 338: Sitting in a circle of feasts. - Mot. F 173.3: Perpetual feasts in otherworld. — Mot. D 1812.5. 0.7.1: First to partake of certain feast will be first to disobey the king (etc.). — Mot. A 1541.2: Origin of feasts in honour of certain god (goddess). - Mot. Β 253.2: Wolves have annual (church) feast. — Mot. C 286: Tabu: partaking of certain feast. — Mot. C 237: Tabu: feasting by night at beginning of harvest. — Mot. C 230.1: Tabu: feasting for a week. — Mot. C 616: Tabu: feasting visitor at certain place. — Mot. C 752.1.4: Tabu: allowing person to come to feast after sunset. — Mot. C 287: Tabu: consuming feast without discovering a new wonder. — Mot. C 282.1: Tabu: leaving a feast before it is ended. - Mot. C 282: Tabu: refusing a feast. D a s F.mahl wird auch z u m Z w e c k moralischer B e l e h r u n g in didaktischem Erzählgut eingesetzt: Völlerei, eine der sieben Todsünden, wird bestraft (Tubach, num. 2011). Satan, nicht Gott, wohnt einem F. bei, zu dem nur Reiche geladen sind (Mot. G 303.15.6). Die Aufteilung von Hähnen bei einem F.essen wird dazu benutzt, einen Unterschied zwischen Arm und Reich zu machen (Tubach, num. 2012). Der Geizige bessert sich, nachdem er irrtümlich dafür geehrt worden ist, daß er die Kinder in seiner Abwesenheit hätte feiern lassen (Mot. J 1522.2). In einem Bxempel wird klargemacht, daß Priester nicht mit einem Exkommunizierten speisen dürfen (Tubach, num. 2016). A n dere theol. Themen werden behandelt in den Exempeln Tubach, num. 2018: Feasts in future life und Tubach, num. 2017: Feast, three men vanish from: Hier gibt ein reicher Mann ein Essen für die Armen, bei dem drei Männer weder essen noch trinken, aber sich am Ende mit den Worten „fidelium animae requiescant in pace" erheben, ihrem Gastgeber danken und entschwinden. Die Seelen der Verstorbenen können nun in Frieden ruhen. Es scheint darum zu gehen, die Menschen zu lehren, realistischer in Bezug auf die wichtigen Dinge des Lebens zu sein oder richtige Unterscheidungen zu treffen. - Es kommt keiner zum F., das für diejenigen abgehalten wird, welche noch nie Sorgen kannten (Mot. Ν 135.3.1). Auch zum F. für diejenigen, deren Haushalt noch nie vom Tod heimgesucht wurde, erscheint keiner (Mot. J 1577.1).
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Frau für ihren Geliebten gibt. Man macht ihn glauben, dies geschehe zu Ehren eines neuvermählten Paares. Ein kluger Bauer vertreibt tafelnde Mönche durch List und behält Essen und Wein (Tubach, num. 2015). Zu Mot. Κ 815.4: Cat invites hens to a feast and kills them finden sich Entsprechungen in der menschlichen Welt bei Mot. Κ 913: Disguised hero attacks enemy at feast, Mot. S 113.2.3: Murder by luring to feast and suffocating und Mot. Κ 811.1: Enemies invited to banquet and killed. Das F.mahl kann den Vorwand dazu bieten, daß jemand seinem Ärger Luft macht (ζ. B. Mot. J 1564.2: Revenge by interrupting feast), kann aber auch Ärger verursachen, so bei Mot. J 1564.1: Trickster's interrupted feast revenged, ferner bei AaTh 60: —> Fuchs und Kranich und bei Mot. J 1565.2: Bugs unable to eat honey at banquet of bees, and bees unable to eat dung at bug's dinner (Exempel). D a s F.mahl erscheint auch häufig im Mittelpunkt v o n Witzen, R ä t s e l n o d e r Narrenstücken: Mot. Η 881.1: Riddle: how many dead mice go to a feast? (None.). - Mot. J 1905.1: Fool does not milk cow for a month so that she will give plenty for a feast. - Mot. J 2173.1: Sleeping trickster's feast stolen. - Mot. J 2178: No room left for the feast, wobei ein Bauer, der zu einem F.mahl unterwegs ist, so viel Grabenwasser trinkt, daß er für das Mahl keinen Platz mehr hat. E i n e andere wichtige Kategorie bildet die V e r b i n d u n g des F.mahls mit der Welt des Übernatürlichen: So wird das magische Verstreichen der Zeit hervorgehoben: Bei einem kaiserlichen F. führen drei in schwarzer Magie bewanderte Weise Zauberkunststücke vor; als sie nach vielen Jahren wieder zurückkommen, feiert der Kaiser noch immer, als wäre inzwischen keine Zeit vergangen (cf. —> Entrückung). Weitere Beispiele dieser Kategorie sind Mot. D 1472.2.4: Charm prepares feast und Mot. C 682: Compulsion to invite singer to feast: Das Bier hört nicht auf zu schäumen, bevor nicht der Sänger eingeladen wird.
In n e g a t i v e m Sinne kann das F.mahl als Mittel der Täuschung benutzt w e r d e n ( z . B . in M o t . Κ 1527: The feigned wedding-feast):
Für zahlreiche übernatürliche W e s e n w i e H e x e n , Fairies, Nachtgeister, T e u f e l und Z w e r g e ist das Feiern e i n e wichtige Tätigkeit. D a s gesellige L e b e n des —> F a i r y - V o l k e s wird sehr ähnlich d e m der M e n s c h e n gezeichnet. Sie essen, trinken und singen in e i n e m g r o ß e n Saal, der sich o f t in e i n e m natürlichen H ü g e l o d e r in e i n e m Grabhügel b e f i n d e t (cf. M o t . F 263; F 451.6.3.1).
Als der Ehemann unerwartet zurückkehrt, findet er ein verschwenderisches Mahl vor, das seine
In m a n c h e n Erzählungen ist das F.mahl recht widerwärtig, s o in Mot. G 3 0 3 . 2 5 . 1 4 . 1 :
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Fest
Hideous food and drink at the night-spirit's (devil's) feast; hier wäre ein Vergleich mit der Anthropophagie in M o t . G 11.6.3: Oldwoman calls beasts together to join her in feast on human flesh (afrik.) zu ziehen. Hexen feiern ebenfalls F.gelage, denen auch Menschen beiwohnen können (cf. z.B. Mot. G 248; G 248.1). Mot. G 303.25.17: The devils' dances and feasts bildet eine eigene Kategorie. Teufel haben oft Anteil an F.en, die Übergangsriten darstellen (cf. Mot. G 303.25.17.1: Devil as gentleman invites a traveler to the feast [wedding]·, Mot. G 303.25.17.3: Devils arrange a wedding feast for a woman who hanged herself). In Zusammenhang mit den Übergangsriten finden sich als vergleichbare Motive Mot. Η 362: Bride chosen from girls assembled at feast. — Mot. Τ 136.1: Wedding feast. — Mot. F 451.5.17: Dwarfs invisibly attend wedding or christening feasts of mortals. — Mot. F 451.5.17.1: Invisible dwarfs at christening feast made to speak by brewing beer in an egg-shell. — Mot. F 451.6.3.2: Dwarfs celebrate weddings and christenings of their own. — Mot. F 361.1.1: Fairy takes revenge for not being invited to feast (Taufe) bildet ein Hauptelement der Handlung von AaTh 410: —> Schlafende Schönheit.
2.3. D a s . g e s t ö r t e ' F. Auffallend ist, daß in Volkserzählungen verschiedener Art der aus der Hochliteratur vertraute Topos des gestörten F.s (interrupted feast, interrupted meal, z.B. in Shakespeares Romeo and Juliet 4,5; Macbeth 3,4; The Tempest 3.3) 1 auftaucht, nicht nur in der Fabel, im Exempel und in der Sage (beim Einschreiben heiliger Zeichen oder Namen endet mit einem Schlag der schöne Spuk des Teufelsfests, des Hexensabbats, die köstlichen Speisen erweisen sich als Pferdemist 2 ; Mot. D 476), sondern auch im Märchen: Dornröschens Tauffest wird zum Unheilsfest (wie Julias Hochzeitsfest), Aschenputtel verläßt unvermittelt den Ballsaal und nimmt dem F. des Prinzen damit allen Glanz (v. z.B. K H M 21, AaTh 510A: — Cinderella). Das Hochzeitsfest am Schluß des Märchens, an dem der Erzähler teilgenommen haben will (—> Schlußformeln), ist für ihn unergiebig: Weder Wein noch Bier kommt in seinen Mund, am Ende erhält er gar einen Fußtritt, der ihn weit wegschleudert, eben dahin, wo er nun das Märchen erzählt. Es ist, als ob mit der Vorstellung des F.s auch das Bewußtsein oder Gefühl des unvermeidlichen Endes
1042 wie auch des Schein-Charakters des F.s sich einstellte. Daß der Umschlag oft plötzlich und extrem erfolgt, entspricht dem Stil vor allem des Märchens, aber auch anderer Volkserzählungsgattungen. 3. F . r e a l i t ä t u n d V o l k s e r z ä h l u n g . Die Vielfalt der realen F.e dringt, entsprechend dem erzählerischen Stil der Gattung, ins Märchen noch weniger ein als in Sagen, Legenden und Exempel. In AaTh 410 findet ein Tauffest statt, anderwärts etwa ein Ball, ein Dorffest oder ein Gottesdienst (AaTh 510A), sonst fast immer nur eine —> Hochzeit, die, auch wenn sie drei oder mehr Tage dauert (was nur erwähnt, nicht geschildert wird), den prägnanten Schlußpunkt der Märchenerzählung abgibt. Das F. ist nicht nur ein Element innerhalb von Erzählungen, diese können ihrerseits Bestandteile realer F.e sein: Bei Gelagen, Dorfund Hochzeitsfesten, aber auch bei Totenwachen, Leichenmahlen etc. wurden oft Märchen und andere Geschichten erzählt.
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London
Venetia Newall
Festbannen 1. Definition und Struktur - 2. Verbildlichung analogen Denkens — 3. F. durch magische Rituale - 4. Diebsbann — 5. Festgebannte Dämonen 6. F. und Erzählintention
1. D e f i n i t i o n und S t r u k t u r . F., streng vom ,Festmachen' (—> Hieb- und stichfest), dem Unverwundbarmachen durch —> Amulette und magische Formeln 1 zu trennen, bezeichnet eine zur Bewegungshemmung oder Bewegungslosigkeit führende Handlung 2 . Dabei lassen sich zwei Inhalts- und Anwendungsbereiche unterscheiden. Zum einen ist das F. eine aktive Tat, in der ein Subjekt, die mit magischem Wissen vertraute Person, zu schadenszauberischen, apotropäischen oder therapeutischen Zwecken ein Objekt (Mensch, Dämon, Tier, konkretisierte Krankheitsursache) mittels magischer Gegenstände, Worte und Rituale zeitweise bewegungsunfähig macht. Diesem aktiven Gefüge steht zum an-
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deren das passive Festgebanntsein gegenüber, dem die bewußte zauberische Dimension fehlt. Auch wenn daher beiden Ebenen das körperliche Phänomen gemeinsam ist, beruhen der Glaube an die reale Erfahrbarkeit wie die erzählerische Schilderung auf verschiedenen Ausgangspunkten. F. ist die sich willentlich zwischen Subjekt und Objekt vollziehende Aktion mit klar erkennbaren kausalen Strukturen, das Festgebanntsein hingegen bei Fehlen eines personalen Verursachers und dessen Ersatz durch eine anonyme Macht eine subjektive körperliche Erfahrung. In der narrativen Realisierung wird dieser Zustand zum Medium einer intentiösen Aussage und erhält damit deiktischen Wert, während die das F. schildernden Erzählungen am aktiven Handlungsverlauf selbst interessiert sind. Diese Trennung von aktiver und passiver Struktur, die Feststellung des Erzählstandpunktes und die Zuordnung der Handlungsträger als aktiv oder passiv agierend können als Grobraster zur Kategorisierung der Erzählmaterien dienen. Die hist, magiologische Diskussion betrachtete das F. als Werk medialer —> Dämonen. Aufschlußreich ist hierbei die antithetische Zuordnung, die der Coburger Arzt Johann Christian Frommann in seiner Unters, zur Physiologie des —» Zaubers vornahm: So wie der Dämon die Macht besitze, den menschlichen Körper zu außernatürlicher Bewegung zu zwingen (ζ. B. bei der Translokation zum Hexensabbat), so könne er auch dessen Bewegungsfähigkeit einschränken 3 . Die subjektiv-psychische Dimension des F.s durch Faszination läßt sich noch heute im populären Sprachgebrauch erkennen („man ist wie festgebannt" etc.). 2. V e r b i l d l i c h u n g a n a l o g e n D e n k e n s . Seinen konkreten Ausdruck findet das F. in der weitverbreiteten Vorstellung des magischen Bindens und dessen Symbolisierung durch Bänder, Fesseln, Knoten u. a.4. Im altbabylon. Schöpfungsmythos Enüma elis umschließt der Gott Marduk den personifizierten Salzwasserozean Ti'ämat mit einem Netz 5 . Im ind. Rgveda (2, 30, 2) bindet Indra die Gottheit Vrtra mit einem Band. Das Atharvaveda (2, 12, 2) überliefert den Zauberspruch: „Er möge, in die Schlinge verwickelt, in Not ge-
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raten" 6 . In zahlreichen Sprachen ist das Wort Binden identisch mit Bannen und Zaubern; auch A.T. (Sam. 22, 6) und N.T. (Lk. 13, 16) belegen diesen Bedeutungszusammenhang. Ähnlich überliefern antike Fluchtafeln die griech. Bezeichnungen katadeseis oder katadesmoi (Bindezauber) als feststehende Fachtermini 7 . Schwarze Magie war nach Olaus Magnus der Grund dafür, daß der Hexer Gilbert, an Händen und Füßen durch die Runenstäbe seines Zauberlehrers Ketill gefesselt, in Visingso (Schweden) sitzt8 (—> Bann). 3. F. durch magische R i t u a l e . Ältester bislang bekannt gewordener Beleg für F. ist eine mesopotam. Beschwörung, die mit Hilfe eines Bildes einen entlaufenen Sklaven festbannt und zur Rückkehr zwingt9. Gleiches vermögen nach Plinius die Vestalinnen (Naturalis historia, 28, 3). Solche aktiv mittels Zauber- und bestimmten Wortformeln, Bildern (—• Bildzauber) und an magischen Objekten bildhaft ausgeführten Bannungen beruhen auf dem Glauben von der konkreten Körperlichkeit des zu bannenden Wesens. Dies wird vor allem in der reichen apotropäischen Bannliteratur zur Behandlung von Krankheiten deutlich, deren Erreger man sich u. a. als Dämonen oder Tiere dachte. Um sie unschädlich zu machen, wurden sie in einem Gegenstand festgebannt, nicht aber existentiell vernichtet; so wird in dem oberdt., in einer Tegernseer Hs. des 9. Jh.s überlieferten Wurmsegen Pro nessia (Gang üz nesso) der Wurm in eine Speerspitze (tulli) gebannt 10 . In einem Bannspruch aus einer Heidelberger Hs. des 16. Jh.s werden 15 Fieberdämonen (ritten) vom hl. Johannes an einem Baum festgebunden 11 . Solche von der Ethnomedizin angewandten Behandlungsweisen stellen die Praxis des F.s in die Nachbarschaft der magischen Übertragung von Krankheiten (lat. transire, transplantatio morborum) 12 . Ebenso ist die Bewegungshemmung im Jagdzauber bekannt; ein im 17. Jh. aufgezeichneter Spruch lautet: „Haas stehe still etc. um dreyer Wort willen / die Christus der HErr sprach etc. daß du weder weichest noch wanckest / bis du erst geschossen etc. das zehl etc." 13 . Mögen sich diese Bannformeln sekundär mit dem Bibelspruch „Was du auf Erden binden wirst, wird auch im Himmel gebunden
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sein, was du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein" (Mt. 16, 19) legitimieren, so muß andererseits die umfangreiche, geläufige Therapiemethoden reflektierende Bannliteratur in ihrem Zusammenhang mit dem F. als Erzählmotiv analysiert werden. Hier hat zur erzählerischen Ausformung von Bannritualen sicherlich auch die epische Struktur der Formeln selbst, die sich aus ätiologischen und zeremoniellen Teilen zusammensetzen, beigetragen. Zum einen enthält nämlich die Imperativische Anlage der Anweisung alle Ansatzpunkte zur Transponierung in ein narratives Präteritum. Dies wird ζ. B. aus einer um 1770 im norw. Bö (Vesterälen) aufgezeichneten Beschwörung zum F. von —»Hexen deutlich: „Geh zum Galgen und nimm einen der kleineren Knochen des Diebes, von dem das Fleisch abgefallen ist. Leg diesen Knochen unter die Kirchentür. Befinden sich dort Hexen, während das Volk am Sonntag in der Kirche ist, so kann die Hexe nicht herauskommen, bevor der Diebsknochen entfernt ist" 14 . Eine Chronikerzählung des Enoch Widmann (1551—1615) setzt dabei die magische Vorstellung vom F. in einen realistischen Erklärungsversuch um: Eine Frau, die einen gehenkten Dieb verschneiden will, wird von dessen Beinen festgehalten, „welches dann furwitzigen losen leuten, welche noch heutigs tags bisweilen mit solchen bösen stucken umbgehen, den dieben ihre finger, daumen, zehen abschneiden und in die väßer hengen, zur treuen warnung dienen soll" 15 . Zum anderen kann die epische Ätiologie des Segens selbst erzählbildend sein. Ein im norw. Seljord aufgezeichneter Bannspruch zum F. wilder Tiere operiert mit der legendenähnlichen Materie, die Jungfrau Maria sei mit neun Schlüsseln in den Wald gegangen und habe dort alle wilden Tiere eingeschlossen16. 4. D i e b s b a n n . Die ursächliche Interferenz zwischen Bannspruch und Erzählmotiv zeigen Rituale gegen Diebe, die neben deren Abwehr, Verletzung oder Tötung sie auch zwingen, gestohlenes Gut zurückzubringen, sie aber vor allem am Tatort festbannen sollen (cf. —» Dieb, Diebstahl). Einen frühen Beleg enthält der Londoner Zauberpapyrus Anastasy 46, 70—95 (4. Jh.p. Chr.n.). In der ma. und nachma. Lit. findet sich eine große Anzahl von
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Diebssegen, so „Für dy diepstal" (Heidelberger Hs. Cod. germ. pal. 229, fol. 58v) oder die erstmals in einem Ms. aus dem Benediktinerstift St. Paul im Lavanttal von 1347 belegte Diebsbeschwörung „Maria in der Kindbett lag" 17 . Daher erscheint es nur als folgerichtig, wenn das F. von Dieben seinen Niederschlag auch in allen Erzählgattungen findet, sei es in der frühkirchlichen Heiligenlegende (hl. Spiridion bannt Schafsdiebe fest 18 ), sei es in den Sageneditionen des 19. und 20. Jh.s: Senner beten über den zurückzulassenden Kessel den Diebssegen. Als ein Dieb diesen entwenden will, wird er festgebannt und zerfällt nach Lösung des Bannes zu Asche 19 . Neben dem Wort als zwingendem Faktor bedient man sich des magischen Gestus (Geistlicher bindet zwei Räuber durch Auflegen der Hände an sich 20 ; cf. auch Mot. D 2171) oder der zauberischen Analogie: Ein entflohener Edelmann wird dadurch festgebannt, daß ein kathol. Priester die Bilder in seiner Kirche umdreht 21 . Auch das Märchen kennt die Diebsbannung: Ein Soldat läßt Räuber während eines Zechgelages zur Bewegungslosigkeit erstarren (KHM 199, AaTh 952: König und Soldat).
5. F e s t g e b a n n t e D ä m o n e n . Ein sowohl in der neuzeitlichen Magiologie wie in Exempel- und Erzähl-Sammlungen beliebtes Motiv ist der in einem Gegenstand festgebannte Dämon (spiritus familiaris; —» Einklemmen unholder Wesen; —» Hausgeister). Nach Johannes Clodius und Johann Christoph Rudinger kommen hierfür Kristallgefäße, Ringe u. a. in Frage, in denen der Hausgeist zumeist in Gestalt einer Fliege sichtbar und seinem Herren etwa bei der —» Divination, aber auch bei zauberischen Handlungen behilflich sei. Unter Berufung auf Johannes —» Weyer führen sie als Belegmaterial den Fall eines Mannes an, der 1548 in Arnheim einen solchen, durch einen —» Exorzismus in einen Ring eingeschlossenen Dämon besessen habe (cf. auch AaTh 561: ^ Alad[d]in)22. Grundvoraussetzung ist wiederum das aktiv ausgeführte magische Ritual: Durch einen Zauberspruch wird ein Hilfsgeist immer wieder zur Rückkehr in eine Flasche gezwungen 23 . Ebenso wie Vorstellungen von der als dienstbarer Dämon betrachteten Alraune 24 basieren diese Erzählungen auf dem Glauben, daß man sich, um nicht der ewigen Verdammnis anheimzufallen, solcher Gegenstände vor dem Tod zu entledigen habe.
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Schließlich dient das F. auch dazu, feindlich auftretende Geistwesen unschädlich zu machen. Dieses häufig belegte Motiv kann bisweilen schwankhafte Züge annehmen, wenn etwa ein Student den nach seinem Tode spukenden Pastor im Schnupftuch festbannt und ihn im freien Feld wieder aussetzt, wo er Reisende in Gestalt eines Ziegenbocks irreführt 25 . 6. F. und E r z ä h l i n t e n t i o n . Mit den oben behandelten Beispielen hat eine Reihe anderer Erzählungen nur das Phänomen der Bewegungshemmung gemein. Ausgangspunkt der zur Festbannung führenden Macht ist nicht mehr die handelnde Person, sondern ein Ort oder ein an diesem vorhandenes (Kult-) Objekt. Lag bei der ersten Gruppe die Erzählintention außerhalb der Handlungsschilderung und konnte erst dem relevanten Erzählzusammenhang entnommen werden, ist bei letzterer die moralische Aussage oder die konkrete Funktion in den Bericht integriert. Die Handlungsstruktur verschiebt sich daher von der — magischen — Aktion zur im Festgebanntsein körperlich erfahrbaren Reaktion, die nicht durch ein Ritual erzielt, sondern durch eine in dem Augenblick erfühlbare Macht bedingt ist, wo ein bestimmtes (Fehl-) Verhalten vorliegt: Festgebanntsein wird zur Folge eines Vergehens (Strafwunder; —» Strafe) oder zum Nachweis der Bedeutung eines Ortes (z.B. AaTh 1910: Bär im Gespann; —> Gespannwunder). Damit äußert sich die demonstrative oder exemplifizierende Funktion ohne zusätzliche moralische Applikation. Eine zentrale Rolle spielt hierbei das Tremendum des heiligen Ortes. So entstammt etwa das hebr. Wort für Bann (heräm) einem semantischen Bereich, der im Westsemitischen zur Bezeichnung für den heiligen Platz schlechthin wurde (ζ. B. arab. haram: Geheiligtes, heiliger Besitz) und damit die Verbindung von kultischer Bedeutung und dem Schutz durch Bann umschreibt 26 . Im Märchen reduziert sich diese Vorstellung vom Bann, mit dem etwa eine Zauberin ihr Schloß umgibt und weswegen sich niemand von der Stelle wegbewegen kann, bis er losgesprochen ist, auf das abstrakte Handlungselement (KHM 69, AaTh 405: -> Jorin-
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de und Joringel)27. Ist hier das verbotene Eindringen in den magischen Kreis (cf. —» Zauberkreis) als Normverstoß nur erschließbar, so wird in anderen Erzählformen das Fehlverhalten zum integrierten, deiktischen Bestandteil, sei es, daß es sich um Falschaussage vor Gericht (Meineidiger kann seine Hand nicht mehr vom Grab des hl. Pankratius wegbewegen 28 ) oder auch nur um unberechtigten Zweifel handelt: Nach Auffindung des Hauptes des —» Johannes Baptista erstarrt die Hand eines Zweiflers und bleibt am Reliquiar haften 29 (cf. Mot. Q 551.2.6). Das bannende Faszinosum des heiligen Ortes beschreibt u. a. auch —» Abraham a Sancta Clara: Als schwed. Soldaten in die Wallfahrtskirche Maria Stern zu Taxa reiten wollen, verspüren sie „unsichtbaren Wiederstand / ja daß sie auch mit vielen Streichen / und starcken Ziehen die Roß wolte hinein zwingen / ware doch alle dero Mühe umbsonst / und wolten [. . .] die vernunfftlose Pferdt ein Lehr geben / wie daß diese unser lieben Frauen Kirchen GOtt selbst mit einer Salve quardia begnadet habe" 30 ; cf. auch das verwandte Motiv des ,Feiertagsfrevlers' (—> Bildquellen). Solche Strafwunder sind seit der Antike überliefert: Ein Sklave, der die als Weiheund Dankgaben an der Statue des korinth. Strategen Pelichos niedergelegten Münzen stiehlt, kann den Fluchtweg nicht mehr finden, wird am folgenden Tag ertappt und verprügelt (Lukian, Philopseudes, 18; cf. auch Mot. Q 551.2.3) 31 . Ähnlich werden Räuber ζ. B. am Grab des hl. Helpidius in Lyon festgehalten (cf. Mot. Q 551.2.1) 32 . Erst der Vorsatz, das Vergehen rückgängig zu machen, löst den Bann: Ein Dieb, der den Schmuck eines Marienbildes gestohlen hatte, kommt erst wieder von der Stelle, als er sich entschließt, das entwendete Gut zurückzubringen 33 . Das Märchen vereinfacht dieses Festgebanntsein auf die Formel der magischen Anhaftung; so bleibt die diebische Hand an den goldenen Federn der Gans hängen (KHM 64, AaTh 571: -> Klebezauber). F. dient schließlich dem Schutz hl. Menschen: Als die hl. Lucia ins Frauenhaus gebracht werden soll, wird sie so schwer, daß weder 1000 Männer noch 1000 Ochsen sie fortbewegen können und auch zauberische Macht versagt 34 . Auf den hl. —> Christopherus
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abgeschossene Pfeile halten im Flug inne 35 . Reiter, die den hl. -H> Martin mißhandeln, bleiben mit ihren Pferden wie angewurzelt, bis sie ihr Unrecht eingestehen 36 . Im Motivumkreis des Gespannwunders tritt die intentionale Funktion des Festgebanntseins wohl am klarsten zutage. Häufig führen sich Wallfahrts- und Kultorte auf solches Ursprungsgeschehen zurück. Gleiches gilt für den endgültigen Bestattungsort eines Heiligen (cf. —» Begräbnis, —» Sarg). Doch über den legendarischen Erweis des Wunderbaren hinaus reflektieren solche Berichte auch den realen kulturellen Hintergrund. Wenn Ochsen den Leichnam der hl. Stilla nicht zum Kloster Heilsbrunn, wo die Verwandten ihn bestattet sehen wollen, ziehen, sondern zu dem Platz, den sie durch das Handschuhwunder selbst bezeichnet hatte 37 , dann wird dahinter auch die zeitgenössische Bedeutung sichtbar, die der letzte Wille des Verstorbenen besitzt. Wo aber Tiere vernünftiger sind als der Mensch (cf. oben), offenbart sich letztlich die menschliche Dummheit, jene von den ma. und nachma. Theologen nur zu oft angeprangerte Sünde wider besseren Wissens. Dafür jedoch ist das Motiv des F.s, das den Erzählkern gestaltet, nur eine von vielen möglichen Beschreibungsweisen. 1
Peuckert, W.-E.: Festmachen. In: H D A 2, 1 3 5 2 1368; unterschiedslos mit F. gebraucht in Beitl, R.: WB. der Vk. Stg. 3 1974, 212. - 2 HDM 2, 1 0 5 - 1 0 7 ; Adam, K.: Zum außerkanonischen und kanonischen Sprachgebrauch von Binden und Lösen. In: Gesammelte Aufsätze, ed. F. Hofmann. Augsburg 1936, 17—52. — 3 Frommann, J. C.: Tractatus de fascinatione novus et singularis. Nürnberg 1675, 601. — 4 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen der Religion. Stg. 1961, 179 sq.; Byloff, F.: Nestelknüpfen und -lösen. In: Archiv für Geschichte der Medizin 19 (1927) 2 0 3 - 2 0 8 ; Scheftelowitz, I.: Das Schlingen- und Netzmotiv im Glauben und Brauch der Völker. Gießen 1912; Schmidt, P.: Der Knoten. Ein uraltes Kultursymbol. In: Stimmen der Zeit 151 (1952/53) 3 0 2 - 3 0 6 ; Wolters, P.: Faden und Knoten als Amulett. In: ARw. 8 (1905) 1 - 2 3 ; Zischka, U.: Zur sakralen und profanen Anwendung des Knotenmotivs als magisches Mittel, Symbol oder Dekor. Eine vergleichend-volkskundliche Unters. Mü. 1977. 5 Kramer, S. N. (ed.): Mythologies of the Ancient World. N.Y. 1961, 120 sq.; Qu.n des Alten Orients. Die Schöpfungsmythen. Ägypter, Sumerer, Hurriter, Hethiter, Kanaaniter und Israeliten. Einsie-
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Fetischismus
dein/Zürich/Köln 1964, 141; weitere Belege bei Scheftelowitz (wie not. 4) 3—5. — 6 Scheftelowitz (wie not. 4) 1. - 7 Nilsson, M. P.: Geschichte der griech. Religion 1. Mü. 2 1955, 114. - 8 Olaus Magnus: Historie om de nordiska folken 1. [Rom 1555] s.l. 1976, 165 (3, 20). - 9 Ebeling, E.: Eine assyr. Beschwörung, um einen entflohenen Sklaven zurückzubringen. In: Orientalia N. S. 23 (1954) 5 2 - 5 6 ; Daxelmüller, C./Thomsen, M.-L.: Bildzauber im alten Mesopotamien. In: Anthropos 77 (1982) 2 7 - 6 4 , hier 38 sq. - 10 Hampp, I.: Beschwörung, Segen, Gebet. Unters.en zum Zauberspruch aus dem Bereich der Volksheilkunde. Stg. 1961, 81; cf. auch Ström, Ä. V.: Germ. Religion. In: id./Biezais, H.: Germ, und bait. Religion. Stg./B./Köln/Mainz 1975, 255sq. 11 Heilig, O.: Eine Ausw. altdt. Segen aus Heidelberger Hss. In: Alemannia 25 (1898) 262-268, hier 267; cf. Hampp (wie not. 10) 56. - 12 Frommann (wie not. 3) 1002-1048; Hand, W. D.: Magical Medicine. Berk./L.A./L. 1980, 1 3 3 185. - 13 Frommann (wie not. 3) 703. - 14 Grambo, R.: Norske trollformler og magiske ritualer. Oslo/Bergen/Tromse 1979, 15. - 15 Dünninger, J. (ed.): Fränk. Sagen vom 15. bis zum Ende des 18. Jh.s. Kulmbach 1964, num. 20. - 16 Grambo (wie not. 14) 69. - 17 Preisendanz, K.: Zwei Diebszauber. In: HessBllfVk. 12 (1913) 139-143; Spamer, Α.: Romanusbüchlein, ed. J. Nickel. B. 1958, 1 6 7 276; Taylor, Α.: Ein Diebszauber. In: HessBllfVk. 22 (1924) 5 9 - 6 3 . Günter 1949, 172. 19 Zingerle, I. V.: Sagen aus Tirol. Innsbruck 1891 (Nachdr. Graz 1969) num. 765. - 20 ibid., num. 816. -
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Antiquitates Nordgavienses 2. Ffm./Lpz. 1733, 376 sq.
Göttingen
Christoph Daxelmüller
Fetischismus. Das Wort Fetisch geht zurück auf die Entdeckungsfahrten der Portugiesen etwa ab 1470 an die westafrik. Küste, wo sie Gegenstände aus Holz, Ton, Lehm, Leder, Stoff, Knochen etc. sahen, von denen Hilfe und Unterstützung ausgehen sollten: „[. . .] und so, unter den Negern Guinea's, fanden die portugiesischen Entdecker, was sie selbst in Amuletten oder Talismanen [. . .] angehängt trugen" 1 . Diese Gegenstände nannten sie feitiio (von lat. factitius: künstlich gemacht), und ,Fetische' waren ihnen Hauptkennzeichen des .Heidentums' und ,Teufelsdienstes' 2 . Das Wort feitifo taucht in mehreren Varianten auf, z.B. als fytysi3. Im Vergleich fetischistischer' Erscheinungen aus Westafrika mit solchen im alten Ägypten und bei anderen Völkern begründete C. de Brasses4 den Begriff F. im Sinne von Kult und Verehrung künstlich hergestellter oder natürlicher Objekte (Fetische), die mit übernatürlichen Kräften begabt sind5. In den religionsethnol. Theorien des unilinearen Evolutionismus wurde dem F. von den verschiedenen 21 Gräße, J. G. T.: Der Sagenschatz des Königreichs Autoren eine unterschiedliche Stellung zugeSachsen 1. Dresden 2 1874 (Nachdr. Lpz. 1980) wiesen: nach Animismus, Toten- und Ahnen22 num. 3 75. — Clodius, J. (Präses) — Rudinger, J. kult als Zwischenstufe zu Polytheismus und C. (Respondent): De spiritibus familiaribus. Wit23 Monotheismus bei Ε. B. —> Tylor 6 , nach Anitenberg 1674, § IX, 2 2 - 2 4 . Kühnau, R.: Gemismus, Totemismus folgen F. und Manismus fangene Geister. In: Mittigen der schles. Ges. für Vk. 1 3 - 1 4 (1911/12) 9 8 - 1 2 0 , hier 100; cf. bei W. -> Wundt 7 etc.
Grimm DS 85. - 24 cf. Hävernick, W.: Wunderwurzeln, Alraunen und Hausgeister im dt. Volksglauben. In: Beitr.e zur dt. Volks- und Altertumskunde 10 (1966) 1 7 - 3 4 . - 25 Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 4 1845, 196 sq., num. 267. - 26 Ringgren, H.: Israelit. Religion. Stg. 1963, 49; cf. ferner Siuts, H.: Bann und Acht und ihre Grundlagen im Totenglauben. B. 195 9. - 27 cf. Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 230. - 28 Günter 1949, 174. - 29 ibid., 172. 30 Abraham a Sancta Clara: Gack, Gack, Gack, Gack [. . .]. Eine ausführliche und umbständige Beschreibung der berühmbten Wallfahrt Maria-Stern in Taxa. Mü. 1687, 43. 31
Nilsson (wie not. 7) 2 (1950) 502 sq. - 32 Günter 1949, 172. - 33 Zingerle (wie not. 19) num. 903. 34 Günter 1949, 148. - 35 Legenda aurea/Benz, 502. - 36 ibid., 866. - 37 Falckenstein, J. H. von:
Die ethnogr. Befunde und damit die in zahlreichen Varianten in der Lit. zu findenden Definitionen des F. als Glaube an natürliche oder künstlich hergestellte, leblose oder von einem Geistwesen bewohnt gedachte Gegenstände, denen ihr Träger/Eigentümer schützende oder Übel abwehrende Kräfte zuschreibt, führen insgesamt den Begriff F. so nah an die hinter Amulett, Talisman (z.B. —» Aladins Wunderlampe und Ringe in Märchen und Sagen), —> Bild, Bildzauber und —» Zauber stehenden Vorstellungen und Handlungen heran, daß er für die Vk. und Kulturanthropologie entbehrlich wird. „Im Schauer des Unbekannten, das ihn umgiebt, bedrängt von unsichtbaren Mächten, [. . .] sucht,
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Fett werden - Feudalismus
wer in Nöthen ist, sich irgendwo .anzulehnen'" 6 . „Das Wort Fetisch bezeichnet nur recht unvollkommen den Begriff und die Vorstellung, die ursprünglich mit ihm verbunden waren. Denn man meint mit ihm jedes beliebige Ding, dem zauberische Kraft zugeschrieben wird" 9 . Bes. wenn Talisman und Glücksbringer wie vierblättriges Kleeblatt, Fischschuppen in der Geldbörse 10 etc. mit F. in Zusammenhang gebracht werden, zeigt sich die sowohl individual-psychol. als auch kulturgebundene Vorstellung von stärkender, Schutz gebender und abwehrender Magie einschließlich der auf sie bezogenen Handlungen.
Aus diesem Grunde wird der Begriff F. teils religions-ethnol. nicht mehr verwendet 11 , teils grundsätzlich in Frage gestellt: „Later scholars extended its use so widely that it has rather lost its value as a definition" 12 . „Heute wird der Begriff F. in der Ethnologie sehr selten verwendet, da man bemerkt hat, daß unter diesem Begriff je nach der betreffenden Gesellschaft sehr verschiedenartige Phänomene zusammengefaßt worden sind, die, aus ihrem kulturellen Zusammenhang herausgelöst, keine brauchbare Kategorie bilden" 13 ,
teils nur noch auf sein Herkunftsgebiet Westafrika und damit auf eine typische Merkmalskombination des F. mit starken rechtsethnol. Zügen oder auf die psychol. Kategorie des Sexual-F. (—> Sexualität) begrenzt 14 . Die mit dem Begriff F. verbundenen Vorstellungen und Handlungen können mit den Kategorien der —> Magie-Theorie (cf. dazu mana 15 und —> Tabuvorstellungen) analysiert und interpretiert werden; der Begriff selbst hat nur noch wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung 16 . 1 Bastian, Α.: Über Fetische und Zugehöriges. Controversen in der Ethnologie 3. B. 1894,1; Kingsley, Μ. H.: West African Studies. L. 3 1964, 97. 2 Hirschberg, W.: Religionsethnologie und ethnohist. Religionsforschung: eine Gegenüberstellung (Wiener Ethnohist. BU. Beih. 1). Wien 1972, 1 2 - 1 4 . - 3 Braun, S.: Schiffahrten. Basel 1624, 73. - 4 Brosses, C. de: Du Culte des dieux fetiches. [P.] 1760 (dt. 1785). - 5 Schultze, F.: Der F. Lpz. 1871. - 6 Tylor, Ε. B.: Primitive Culture. L. 1871. 7 Wundt, W.: Elemente der Völkerpsychologie. Lpz. 1912. - 8 Bastian (wie not. 1) 11. - 9 Beth, Κ.: F. In: HDA 2, 1368-1372, hier 1368. 10 ibid., 1371. 11 Asmussen, J. P./Ljessee, J. (edd.): Hb. der Religionsgeschichte 1—3. Göttingen 1971—75. — 12 Brandon, S. G. F. (ed.): A Dictionary of Comparative Religion. Ν. Υ. 1970,286. - 13 Panoff, Μ./
Perrin, Μ.: Taschenwb. der Ethnologie. Mü. 1975, 103. - 14 Garnier, C./Fralon, J.: Le Fetichisme en Afrique Noire (Togo-Cameroun). P. 1951; Hunter, D. E./Whitten, P. (edd.): Enc. of Anthropology. N.Y. 1976, 167. - 15 Lehmann, F. R.: Mana. Der Begriff des .außerordentlich Wirkungsvollen' bei Südsee Völkern. Lpz. 1922. — 16 cf. Baal, J. van: Symbols for Communication. Assen 1971.
Göttingen
Erhard Schlesier
Fett werden —> Dick und fett
Feudalismus 1. Hist.-sozialwiss. Begriffsbildung — 2. Volkssprachliche Lit. im MA. — 3. Feudale Formen der Kommunikation — 4. Geschichtlichkeit von ,Volkspoesie'
1. Hist.-sozialwiss. B e g r i f f s b i l d u n g . Im Unterschied zu literar. Epochenbegriffen wurde F. im 19. Jh. als politischer Kampfbegriff für die Kennzeichnung der vorrevolutionären Ges. und ihrer Herrschaftsformen geprägt. Die damals neu entstehenden hist, und systematischen Wiss.en (Rechts- und Verfassungsgeschichte, Staatswiss., Soziologie) haben F. als terminus technicus für ihre jeweiligen Arbeitsgebiete und Fragestellungen weiterentwickelt. Aufgrund des breiten Bedeutungsspektrums und seiner Ideologiehaltigkeit ist die analytische Brauchbarkeit des F.-Begriffs umstritten 1 . F. (lat. feudum = Lehn) im engeren Sinn bezeichnet das im 9. Jh. voll ausgebildete Lehnswesen (Lw.)2, das den kelto-rom. Dienst- mit dem germ. Treuebegriff in der gegenseitigen Verpflichtung von Herr und Mann verband. Innerhalb der Herrenschicht symbolisierten Annahme von Lehen und Übergabe von Allod Unterordnung und Loyalität. Der .Staat des hohen MA.s' 3 war ein Lehnsstaat mit dem König als oberstem Lehnsherrn an der Spitze der Lehnspyramide (Personenverbandstaat). Seit dem 13. Jh. entsprach dem administrativen Ausbau der kgl. und landesherrlichen Macht auf der Lehnsträgerseite die Institutionalisierung ihrer Verpflichtung zu ,Rat und Tat' im politischen Ständetum (institutioneller Flächenstaat). Die aus der wirtschaftlich-sozialen Differenzierung
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des hohen MA.s hervorgegangenen Städte gehörten zu den Ständen der reichs- und landständischen Verfassung. F. im weiteren Sinn bezeichnet das MA. (5.—15. Jh.) als strukturellen Zusammenhang von Lw., Grundherrschaft und Universalkirche. Grundherrschaft meint die lokale Herrschafts-, Wirtschafts- und Sozialform vom frühen MA. bis zur ,Bauernbefreiung' im 19. Jh. 4 . Seit dem 11. Jh. erstritten die Bauern bessere Besitzrechte, festgelegte Abgaben und eigenständige lokale Gemeinden 5 . Die Kirche war die größte Grundherrin und durch die geistlichen Fürsten in das Lw. eingebunden. Es gibt zwei Konzepte, F. als Allgemeinbegriff der Weltgeschichte zu fassen: (1) Der hist. Materialismus versteht F. als sozio-ökonomische Ges.sformation, die dem Kapitalismus vorausgeht und entweder auf die Ur- oder die Sklavenhaltergesellschaft folgt 6 . Der Klassengegensatz zwischen Landbesitzern und Landbearbeitern bestimmte die feudalen (f.en) Produktionsverhältnisse. Die Antagonismen zwischen fortschrittlichen Produktivkräften und konservativen Produktionsverhältnissen führten zum Aufstieg des Bürgertums von einer f.en Neben- zur kapitalistischen Hauptklasse. Die Kirche sicherte die f.e Klassenherrschaft durch den „Mißbrauch religiöser Gefühle" 7 der ausgebeuteten Klassen. (2) Im Konzept der vergleichenden Weltgeschichtsschreibung 8 entsteht F. durch die Synthese von Elementen eines untergegangenen Weltreichs mit denen aufsteigender Stammesgesellschaften (in Europa: röm. Weltreich und germ. Stämme). Der europ. F. zeichnete sich durch die Konkurrenz von ,Staat' und Kirche aus, die einen Cäsaropapismus verhinderte und eine Vorbedingung moderner Staatlichkeit darstellte. Der kleinste gemeinsame Nenner dieser F.Begriffe ist das Lehns(kriegs)wesen. Für den europ. F. läßt sich, ausgehend von dem im Lw. beherrschenden Prinzip der Reziprozität, ein komplexeres Modell entwickeln. Unter den Bedingungen unvollkommener Naturbeherrschung führte die Abhängigkeit aller von den Erträgen der Land- und Viehwirtschaft zu spezifisch f.en Formen des Umgangs mit Mangel: Es gab kein Landeigentum, sondern nur Nutzungsrechte, die an die bewirtschaftenden, besitzenden und verwaltenden Personen verliehen wurden. Die Leihe bestimmte alle wirt-
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schaftlich nutzbaren Bereiche 9 . Abhängigkeiten wurden ebenfalls nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit gedacht: .Schutz und Schirm' gegen ,Rat und Tat'. Die kirchlichen Heilsgüter waren in dieses Tauschsystem einbezogen. Die f.e Ges. strebte nach Immunität, d. h. nach Räumen ohne oder mit wenig legalen Eingriffsmöglichkeiten (,f.e Anarchie'), deren Binnenstruktur jedoch durch starke vertikale Abhängigkeiten und/oder horizontale Loyalitäten geprägt war. Ihre lokalen Formen waren das Haus und die Hausherrschaft (erw. zur Grundherrschaft), personale Formen die Familie (familia) und Gemeinde. Da die ma. Städte räumliche und personale Immunitäten bildeten, gehören sie zur f.en Form der Vergesellschaftung 10 . Die Kirche war Immunität par excellence und insgesamt von weltlichem Recht und weltlicher Herrschaft ausgenommen. Dieses F.-Modell basiert auf lenz der wirtschaftlich-sozialen ihrer rechtlichen Absicherung kirchlichen Legitimierung sowie horizontalen Gewaltenteilung.
der AmbivaBeziehungen, und religiösder dominant
2. V o l k s s p r a c h l i c h e Lit. im M A . Die bisherigen F.-Begriffe sind hist.-sozialwiss. geprägt. Kultur bildet zwar ein wichtiges Element, aber nur in der sehr allg. Form der .Kultursynthese' zwischen antiker und germ. Welt. Genuin kulturelle Aspekte, wie Lit. und Kunst, wurden kaum berücksichtigt, ebensowenig die kognitiven Aspekte von Schriftlichkeit in einer teilalphabetisierten Ges. Die fachwiss. Begrenztheit und theoretische Allgemeinheit des F.-Begriffs erschweren seine Nutzung für die Erzählforschung, die für die Altersbestimmung der erst im 18. Jh. einsetzenden schriftl. Überlieferung der ,Volkspoesie'/,Volksdichtung' auch auf außerliterar. Methoden angewiesen ist. Welche Erkenntnismöglichkeiten sich dennoch eröffnen, soll zunächst an der volkssprachlichen ma. Lit., die eindeutig in der als f. bezeichneten Epoche entstand, untersucht werden. In der Volkssprache wurden, abgesehen von Rechtsdokumenten und Rechtsbüchern, zunächst die germ., kelt. und klassischen ,res gestae' tradiert. Obwohl die weltliche Lit. Konflikte behandelt, die aus der rechts- und verfassungsgeschichtlichen Erforschung des
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Feudalismus
Lw.s bekannt sind, ist damit noch nicht klar, worin ihre f.e Qualität besteht. Die gegenseitige Stützung von höfisch-ritterlicher Lit. und Lehnsrecht beruht darauf, daß beide sich auf Normen und Lebensformen derselben sozialen Gruppe beziehen. Diese fach- und interdisziplinäre Immanenz, die auf Bestätigung aus ist, verhindert Erkenntniserweiterung und hat zur Abhängigkeit der Lit.wiss. von hist.-sozialwiss. Begriffsbildung und Theoretisierung geführt, so daß sich die Kontroversen über die Periodisierungsbegriffe MA. — F. als Gegeneinander von ,höfischer Dichtung' und ,Lit. im F.' wiederfinden 1 1 . Inzwischen hat die Diskussion gezeigt, daß es weniger um den direkten gegenständlichen Bezug von Lit. zu hist. Faktizität geht, als vielmehr um „Literatur als einem Medium der Verständigung über Handlungen, Werte und Normen" 1 2 , mithin um ein gemeinsames Drittes von hist.-sozialer Vergesellschaftung und literar. Verständigung. Neuere Forschungsrichtungen beider Disziplinen wie Mentalitätsgeschichte 13 , hist. Verhaltensforschung 1 4 , Lit.Soziologie 15 und Literarisierungsforschung 16 zielen daher auf die Rekonstruktion des kulturellen Prozesses in einer teilalphabetisierten Ges., der sich nicht auf die Verständigung und Selbstverständigung einer gesellschaftlichen Gruppe reduzieren läßt und nicht ausschließlich an Alphabetisierung gebunden war 1 7 ; symbolische Verständigung durch Sprache fand vielmehr in einem breiten Kommunikationsfeld statt. 3. F e u d a l e F o r m e n d e r K o m m u n i k a t i o n . Bei der Identifizierung von Systemen und Räumen f.er Kommunikation hilft der Rekurs auf das F.-Modell. Haus, Familie und Gemeinde waren nicht nur herrschaftliche, wirtschaftliche und soziale Institutionen, sondern Formen personaler, lokaler und gesellschaftlicher Kommunikation, in deren Rahmen sich die schriftl. abstrakte Kommunikation entfaltete. Es gab noch keine Trennung von Eliten- und Volkskultur im Sinne des Trennungsdenkens des 19. Jh.s, das vom Gegensatz zwischen absolutistisch-höfischer Kultur und der Kultur der ,kleinen Leute'ausging. Die kulturellen Trennungslinien in der f.en Ges. verliefen zunächst zwischen der von 34
Enzyklopädie des Märchens IV
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der Kirche getragenen gelehrten Schriftkultur in lat. Sprache und der mündl. Kultur in der Volkssprache, zwischen einer christl.-friedlich-asketischen und einer diesseitig-kriegerischen Orientierung der ,Laien'. Während die clerici durchaus weltliche Dichtung tradierten und dabei zugleich zu ihrer Umkodierung beitrugen, wehrte sich die Kirche entschieden gegen die Infragestellung ihres Bildungs- und damit Tradierungsmonopols durch den Anspruch städtischer Räte auf eigene Schulen. Den ältesten gesellschaftlichen Korpmunikationszusammenhang stellte zweifellos das .ganze Haus' (O. Brunner) 1 8 dar, in dem die familia an der volkssprachlichen literar. Unterhaltung des Herrn und seiner Gefolgschaft/ Mannschaft teilnahm, was die innergesellschaftliche Wanderung von Erzählstoffen z. T. erklärt. Die höfische Dichtung wurde zuerst in die abstrakte literar. Kommunikation einbezogen, doch blieb weiterhin der mündl. Vortrag die dominierende Form der Vermittlung, weil der Adel ebenso illiterat wie seine Bauern war. Freilich verselbständigte sich die höfische Dichtung durch ihre Literarisierung und gewann an Eigengewicht gegenüber der unfesten mündl. Tradition von Liedern und Erzählungen. Die schriftl. Tradierung begründet ihren Vorbildcharakter für die spätma. städtische Lit. Mit der Auflösung der älteren Grundherrschaft im 11./12. Jh. entstanden neue spezifischere und zugleich allgemeinere Öffentlichkeiten: neben den Herrschaftszentren der Höfe die Wirtschaftszentren der Städte und die Bewegungs- und Kontakträume in Gassen und Plätzen sowie die gemeindlich/korporative Organisation in Stadt, Dorf und Kirche, in Zunft und Bruderschaft. Die neuen Kommunikationsformen einer wachsenden, sich verdichtenden und differenzierenden Ges. zeigt exemplarisch die Multivalenz des städtischen Marktplatzes: Er diente nicht nur dem wirtschaftlichen Tausch und dem Umschlag von Nachrichten, sondern ebenso als Versammlungsort der politischen Bürgergemeinde und als Festplatz. Als komplementärer Kommunikationsraum erscheinen die Wirtshäuser, in denen sich die Nachbarn trafen, Einheimische und Fremde einander begegneten. Zusammentreffen, Mit- und Nebeneinander der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen als
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Pilger bei einer Wallfahrt hat —» Chaucer sicherlich nicht zufällig als Erzählrahmen gewählt, um in den Geschichten der einzelnen Wallfahrer die jeweiligen Möglichkeiten der Selbstverständigung durch Lit., hier durch literar. Gattungen, zu dokumentieren 19 , nachdem er sie im Prolog bereits durch die Beschreibung ihrer Kleidung charakterisiert hatte. Die ostentativen Abgrenzungen in der Selbstdarstellung deuten auf räumliche, soziale und kulturelle Nähe/Annäherung, die trotz großer rechtlicher Unterschiede und sichtbarer Distanzen zwischen Dorf und Burg, Dorf und Stadt die horizontal und vertikal äußerst mobile Ges. des SpätMA.s kennzeichnete. Die kulturellen Gemeinsamkeiten einer stark gegliederten und sich ständig weiter differenzierenden Laiengesellschaft blieben bis ins 16./17. Jh. erhalten und bieten eine weitere Teilerklärung dafür, daß die höfische Dichtung in den Städten, zunächst beim Patriziat, das sich zudem aus Ministerialen und Großkaufleuten zusammensetzte, und dann bei den Handwerkern ein Publikum fand 20 . Wehrhaftigkeit, das Rechtsprinzip, die Vorstellung von Gegenseitigkeit und der Volksglaube verbanden die Laiengesellschaft. Die kulturellen Gemeinsamkeiten sind nicht etwa als archaisches Relikt zu betrachten, sie wurden vielmehr im Prozeß der f.en Verständigung neu hergestellt. So gehörten —> .Ammenmärchen', Lieder und Erzählungen zur gemeinsamen gesellschaftlichen Erfahrung, die weniger sozial als regional gegliedert war. Sie wurden ζ. T. in die literar. Tradition aufgenommen, ζ. B. in den —»Predigtmärlein. Ebenso wanderten literar. Erzählstoffe in die mündl. Überlieferung. Der Buchdruck brachte im 15. Jh. den folgenschwersten Einschnitt in den Verständigungsformen, allerdings vorbereitet durch die Ausweitung der Hss.produktion seit dem 14. Jh. 21 Die Literarisierung kurzer volkssprachlicher Erzählformen (—> Flugblatt, Flugschrift) zielte nicht nur auf ein breiteres Publikum, sondern veränderte auch die Relationen zwischen schriftl. und mündl. Vermittlung und Tradierung. Neben der direkten Beziehung Leser — Buch fanden in den Städten, aber auch in dörflichen —> Spinnstuben die Lese- und Vorlesegruppen größere Verbreitung. Die Rekonstruktion f.er Öffentlichkeiten zeigt die sich ändernden Dimensionen mündl.
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—» Erzählens im Prozeß gesellschaftlicher Kommunikation und gibt damit wertvolle Anhaltspunkte für die Bedeutung nichtliterarisierter Formen symbolischer Verständigung durch Sprache. Der Buchdruck erweiterte zwar die volkssprachliche Lit., gleichzeitig durchbrach er den f.en zyklischen Prozeß gesellschaftlicher Kommunikation und etablierte den linearen Strang literar. Verständigung. 4. G e s c h i c h t l i c h k e i t von ,Volkspoesie'. Seit der 2. Hälfte des 18. Jh.s wurden Erzählungen systematisch gesammelt und — sprachlich bearbeitet — veröffentlicht. Die nachträgliche Gattungsdifferenzierung (Märchen, Sage, Legende, Schwank) hat paradoxerweise dazu geführt, ihre —> Geschichtlichkeit als literar. Gattungen zu rekonstruieren 22 . Bes. schwierig ist die —» Altersbestimmung des Märchens 23 . Die Verbindung von literatur- und kunstgeschichtlichen Forschungen hat in letzter Zeit neue Wege eröffnet 24 . Eine erste Dimension von Geschichtlichkeit ist mit dem Überlieferungszeitraum gegeben, auf den Indizien am Rande (ζ. B. die Erwähnung von Kartoffeln) und bestimmte soziale Probleme deuten, die durch die Literarisierung nicht verlorengegangen sind. Eindeutig zeitbezogen sind die im 19. Jh. aufgezeichneten mecklenburg. Volksschwänke 25 . Eine zweite hist. Dimension hat D.-R. Moser 26 mit spezifisch philolog. Methoden eröffnet: Eine Reihe Grimmscher Märchen fußt auf der Exempelliteratur der gegenreformator. Mission und wurde von den Kanzeln wie in den Spinnstuben verbreitet. Das ,Volk' hat also im 18. Jh. seinen Kindern erzählt, was ihm im 17. Jh. gepredigt wurde. Der Gattungswechsel der Erzählstoffe, die .volkstümliche' Aneignung, bedarf der Erklärung, weil kirchlich-obrigkeitlicher Zwang nicht ausreicht, diesen Wandel zu bewirken. Die Themen lassen sich in drei Gruppen gliedern, die allerdings häufig miteinander kombiniert werden: (a) Armut und ihre Überwindung; (b) innerfamiliale Probleme wie Kinderlosigkeit, zu viele Kinder, Stiefmutter — Stiefkinder, Schwiegermutter — Schwiegertochter, Geschwisterreihe, Eltern — Kinder; (c) erwünschtes — unerwünschtes Verhalten wie Gehorsam - Ungehorsam, Fleiß — Faulheit, Demut — Hochmut. Diese Themen und
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die Art ihrer Behandlung werden von Märchenforschern als zeitlos oder überzeitlich angesehen. Mit Hilfe des F.-Modells läßt sich ihre Geschichtlichkeit vielfach nachweisen. Armut ist von Mangel zu unterscheiden. Während Mangel für alle vorindustriellen Ges.en potentiell gegeben war, ist Armut Ergebnis von gesellschaftlichen Konstellationen in Hochkulturen und im bes. ein Problem der europ. Ges. seit dem 15. Jh., in dem ein langfristiger Prozeß der Pauperisierung einsetzte 27 . Wie die f.e Ges. mit Mangel fertig wurde, welche Umverteilungsmechanismen sie entwickelte, stellt eine ihrer Eigentümlichkeiten dar und ergibt Kriterien dafür, ob die Darstellung von Armut im Märchen für eine Altersbestimmung zu nutzen ist. Gleiches gilt für die Behandlung innerfamilialer Konflikte. Kinderlosigkeit oder die Konstellation Stiefmutter — Stiefkinder wurden dann problematisch, wenn es um die Verteilung eines Erbes ging, d. h. sowohl um die Altersversorgung der Eltern wie die Existenzsicherung der Kinder. Uberlebensstrategien dieser Art setzen Familie als gesonderten Verband mit Entscheidungskompetenz über Landbesitz voraus und schränken damit den Zeitraum, in dem derartige Thematisierungen ein Publikum finden konnten, wiederum auf hochkulturelle Ges.en ein. Die näheren Umstände, ζ. B. Hinweise auf bes. Erbrechtsformen 28 , verweisen auf die Spätphase der f.en Ges. Gelegentlich ist eine weitere Eingrenzung des Entstehungszeitraumes der überlieferten Märchenfassungen möglich. Da die bösen Stiefmütter/Schwiegermütter oft als Schadenzauber übende Hexen gezeichnet werden, liegt die Verbindung zu den Hexenprozessen des 16. und 17. Jh.s nahe. Dafür sprechen auch die Strafen, mit denen diese Frauen zu Tode gebracht werden. Die Protokolle der Hexenprozesse berichten zudem über bestimmte Requisiten, ζ. B. Spiegel, welche die der Zauberei bezichtigten Frauen benutzten, um Verborgenes zu erfahren — genauso, wie dies die Stiefmutter in —> Schneewittchen (AaTh 709) tut.
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ähnliche Thematisierungen von Leben/Uberleben hervor und geben interkulturelle Rezeptionsbedingungen ab. Insofern ist die interkulturelle Verbreitung von Motiven kein Argument für die Überzeitlichkeit von Märchen, ebensowenig die vorherrschende Ausgestaltung mit Elementen der symbolischen und magischen Vorstellungswelt. Magisches Denken war keineswegs auf die Beziehung von Mensch und Natur in der ,Vorzeit' der Jäger und Sammler beschränkt, die in dem als f. zu bezeichnenden Zeitraum als unverstandene Relikte tradiert wurden. Denn die unvollkommene Naturbeherrschung als Voraussetzung für magisches Denken verschwand nicht mit der ,neolithischen Revolution'. Sie wurde sogar bedrohlicher, weil die Naturabhängigkeit der Ackerbauern sich nicht verringerte, sondern zunahm und sich in dem Maße steigerte, wie sie nicht nur sich selbst, sondern eine arbeitsfreie Schicht zeitweise (Tribut) oder ständig (ζ. B. Grundherrschaft) unterhalten mußten. Die fundamentalen Funktionen des —> magischen Weltbildes für die Existenzsicherung konnten vom Christentum nicht ersetzt werden. Die christl. Kirche hat es mehr als tausend Jahre lang als Aberglauben bekämpft, zugleich eine Reihe von Praktiken in den eigenen Kultus aufgenommen oder umgestaltet 29 . Märchen sind dafür ein gutes Beispiel. So findet sich die Polarisierung von zauberischer Hexe und frommer Frau, deren Gebet die Erlösung bringt (ζ. B. AaTh 450: —» Brüderchen und Schwesterchen). Im —> Marienkind (AaTh 710) werden bekannte Zaubermotive durch einen christl. Rahmen umgemünzt und damit ,unschädlich' gemacht.
Die dritte Themengruppe steht in engem Zusammenhang mit den vereinten Bemühungen von Kirche und frühmodernem Staat, die Gläubigen/Untertanen zu disziplinieren30. Der von Moser beschriebene Gattungswechsel fand gerade bei diesen Themen statt (ζ. B. AaTh 900: —> König Drosselbart), deren gelehrte Tradition bis in die Antike zurückreicht und die bes. Rolle der Tierfabel erklärt. Das für Märchen bezeichnende Happy-End wird als Diese immer noch groben zeitlichen Zuord- Argument gegen seine —» Glaubwürdigkeit nungen von Themen geben eine zusätzliche angeführt. Das F.-Modell bietet eine andere Erklärung für die Theorien der Themenwan- Interpretation an. Unter den Bedingungen eiderung und —> Polygenese: Ähnliche Konstel- ner zyklischen Wirtschaft und ihrer Rationa31 lationen von Menschen zueinander bringen lisierung als ,image of limited good' waren 34*
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Feudalismus
Armut und die daraus entstehenden familialen Konflikte nur durch Glück oder Wunder zu überwinden. Hierin trafen sich christl. und weltliches Denken mit dem Unterschied, daß Gott nur Tugendhaftigkeit wunderbar belohnte, während im Volksglauben auch Magie wirkte. Wunder sind also systemimmanente Lösungen: Held/Heldin kommen ans Ziel, das System bleibt unverändert. Gesellschaftlicher Wandel als Fortschritt oder Entwicklung wurde nicht vorgestellt, es sei denn als totale Umkehrung in einer —>,Verkehrten Welt'. Das F.-Modell gibt ebenfalls Hinweise zur Einordnung der Sagen- und Schwankthemen. Im Schwank werden bes. das Verhältnis von Mann und Frau sowie der verschiedenen Stände zueinander behandelt, und zwar mit Motiven und Topoi, die in der Tradition der Antike stehen; d.h. das Abgrenzungsthema ist hochkulturell — nicht spezifisch f. —, die literar. Gestaltung jedoch f. im Sinne der Kultursynthese. Dies erklärt die Motiv- und Topoiwanderung von der Antike in die Neuzeit. Die im 19. Jh. aufgezeichneten mecklenburg. Volksschwänke, die das Verhältnis Gutsherr/Bauer — Knecht thematisieren (cf. —> Herr und Knecht), sind ebenfalls nicht f., sondern beziehen sich auf die typisch kapitalistische Konstellation Arbeitgeber — Lohnabhängiger. — Viele Sagen kreisen um im Märchen ausgesparte —» Konflikte, die die Dynamik der f.en Ges. hervorbrachte, ζ. B. Auseinandersetzungen zwischen Herrschaft und Bauern/Bürgern und Verstöße gegen die gemeindliche Ordnung, ζ. B. das Versetzen von Grenzsteinen (cf. —» Grenze) 32 . Märchen, Sage und Schwank thematisieren also verschiedene Bereiche von Alltag, was auf die Erzählpersonen und die Erzählorte zurückgehen könnte. Märchen wurden häufiger wohl von Frauen in der Familie erzählt, Sage und Schwank von Männern in einer größeren Öffentlichkeit (Wirtshaus, Markt), vielleicht auch in den Spinnstuben (—» Erzählen, Erzähler). Läßt sich diese These bestätigen, würde ein Grund erkennbar, warum Märchen als ,entwirklicht' erscheinen. Nicht alles, was zum Verstehen notwendig ist und dem Historiker aus Verwaltungs- und Gerichtsakten vertraut ist, wird im Märchen erwähnt. Erzählern und Zuhörern waren die Kompetenzen der dörflichen Gemeinde 33 , die den Rahmen für —»
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Tischleindeckdich (AaTh 563) abgeben, geläufig. Die Lage des —> Schneiders wird klar, wenn man weiß, daß er keine Nutzungsrechte an der dörflichen Allmende besaß und seine Ziege, die ,Kuh des armen Mannes', nur an den Wegrändern weiden durfte. Daß sie davon nicht satt wurde, ist keine Ubertreibung, wenn man bedenkt, daß es im 18. Jh. im Dorf viele arme Leute gab, die nur Ziegen halten konnten. Ebenso klar ist, daß die drei Söhne des Schneiders im Dorf keinen Lebensraum fanden und ihr Glück in der Fremde suchen mußten. Diese Situation erscheint nur deshalb entwirklicht, weil die fundamentalen Zusammenhänge nicht mehr geläufig sind. Offensichtlich behandeln literar. Kurzformen Themen in einem als bekannt vorausgesetzten Lebenskreis, der deshalb nicht mehr ausdrücklich dargestellt wird. Mit Hilfe des F.-Modells lassen sich Themen und Behandlungsweisen als f. klassifizieren und von anderen hoch- und frühkulturellen 34 Formen abgrenzen. Die Ausgestaltung durch Requisiten dagegen ist ζ. T. geprägt durch das zum Zeitpunkt der Aufzeichnung verfügbare Inventar, ζ. T. durch literar. Vorlagen des 16. und 17. Jh.s. Die auffallende Bevorzugung von Königen/ Königinnen und Königskindern als Helden entspricht nicht eigentlich f.en Konstellationen und Konfigurationen 35 , sondern läßt sich besser mit absolutistischen Herrschaftsformen verbinden. 1 Kuchenbuch, L./Michael, B.: F. — Materialien zur Theorie und Geschichte. B. 1977; Wunder, H.: F. Mü. 1974. - 2 Spieß, K.-H.: Lehn(s)recht, Lw. In: Hwb. zur dt. Rechtsgeschichte 2. B. 1978, 1 7 2 5 1741; Kuhn, H./Wenskus, R.: Adel. In: Hoops Reall. 1 ( 2 1968) 5 8 - 7 5 ; Scheyhing, R.: Adel. In: Hwb. zur dt. Rechtsgeschichte 1. B. 1971, 4 1 - 5 1 ; cf. auch Lex. des MA.s 1. Mü./Zürich 1980, s. v. Adel, Bauer. - 3 Mitteis, H.: Der Staat des hohen MA.s. (Weimar 1940) Zürich "1980. - 4 Schulze, H.-K.: Grundherrschaft. In: Hwb. zur dt. Rechtsgeschichte 1. B. 1971, 1 8 2 4 - 1 8 4 2 ; Patze, H. (ed.): Die Grundherrschaft im späten MA. 1 - 2 . Sigmaringen 1983; Wenskus, R. (ed.): Wort und Begriff ,Bauer'. Göttingen 1975. - 5 Mayer, T. (ed.): Die Anfänge der Landgemeinde und ihr Wesen 1 - 2 . Konstanz/Stg. 1964. - 6 Zur empirischen F.-Forschung in der D D R v.: Probleme der F.forschung in der D D R ( 1 9 7 0 - 1 9 7 5 ) . In: Jb. für Geschichte des F. 1 (1977) 1 2 - 6 4 ; F. Entstehung und Wesen, ed. E. Müller-Mertens. B. 1984 (im Druck). -
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Feuer
7 Mohr, Η.: F.e Kultursynthese — f.e Kulturrevolution - kultureller Fortschritt im F. In: Jb. für Vk. und Kulturgeschichte N. F. 10 (1982) 1 3 4 - 1 4 9 . 8 Hintze, O.: Wesen und Verbreitung des F. [1929]. In: id.: Gesammelte Abhdlgen 1. Göttingen 2 1962, 8 4 - 1 1 9 ; Coulborn, R. (ed.): Feudalism in History. Princeton 1956. — 9 Ebel, W.: Über die Leihe in der dt. Rechtsgeschichte. In: id.: Probleme der dt. Rechtsgeschichte. Göttingen 1978, 4 7 - 7 2 . - 10 So auch Müller-Mertens, E.: Bürgerlich-städtische Autonomie in der Feudalgesellschaft. In: Zs. für Geschichtswiss. 29 (1981) 2 0 5 - 2 2 5 . 11 Haubrichs, W. (ed.): Höfische Dichtung oder Lit. im F.? In: Zs. für Lit.wiss. und Linguistik 26 (1977) 7 - 1 8 . - 12 Brail, H.: Zur sozialgeschichtlichen Interpretation ma. Lit. ibid., 21—38, hier 22; Kleinschmidt, E.: Z u m Erkenntniswert literar. Texte für die Historie. In: Rupp, H. (ed.): Philologie und Geschichtswiss. Heidelberg 1977, 1 11. — 13 Le Goff, J.: Les Mentalites: une histoire ambigue. In: Faire de l'histoire 3. ed. J. Le Goff/P. Nora. P. 1974, 7 6 - 9 4 . - 1 4 Nitschke, Α.: Hist. Verhaltensforschung. Stg. 1981; Thum, Β.:,Elementarformen'. Grundlagen und Leistungen geschichtlicher Verhaltensforschung in der Mediaevistik. In: Kaiser, G. (ed.): Gesellschaftliche Sinnangebote ma. Lit. Mü. 1980, 1 1 3 - 1 3 1 . - 15 Zs. für Lit.wiss. und Linguistik 11 (1973) mit dem Thema: Soziologie ma. Lit. - 16 Engelsing, R.: Analphabetentum und Lektüre. Stg. 1973; Giesecke, Μ.: ,Volkssprache' und Verschriftlichung des Lebens' im SpätMA. - am Beispiel der Genese der gedr. Fachprosa in Deutschland. In: Gumbrecht, FI. U. (ed.): Lit. in der Ges. des SpätMA.s. Heidelberg 1980, 3 9 - 7 0 ; Goody, J. (ed.): Literacy in Traditional Societies. L. 2 1975. — 17 Schubert, E.: ,bauerngeschrey'. Zum Problem der öffentlichen Meinung im spätma. Franken. In: Jb. für Fränk. Landesforschung 34/35 (1974/75) 8 8 3 - 9 0 7 ; anders Sprandel, R.: Ges. und Lit. im MA. Paderborn 1982, 15. - 1 8 Brunner, O.: Das ,ganze Haus' und die alteurop. ,Ökonomik'. In: id.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. G ö t t i n g e n 2 1 9 6 8 , 1 0 3 - 1 2 7 . - 19 Janota, J.: Städter und Bauer in literar. Qu.η des SpätMA.s. In: Die alte Stadt 6 (1979) 2 2 5 - 2 4 2 . - 20 Brunner, O.: Die ritterlich-höfische Kultur. In: Borst, A. (ed.): Das Rittertum im MA. Darmstadt 1976, 1 4 2 - 1 7 1 , hier 151; Fleckenstein, J./Stackmann, K. (edd.): Über Bürger, Stadt und städtische Lit. im SpätMA. Göttingen 1980; Maschke, E.: Bürgerliche und adlige Welt in den Städten der Stauferzeit. In: Maschke, E./Sydow, J. (edd.): Südwestdt. Städte im Z A . der Staufer. Sigmaringen 1980, 9 - 2 7 ; Peters, U.: Stadt, ,Bürgertum' und Lit. im 13. Jh. In: Zs. für Lit.wiss. und Linguistik 26 (1977) 1 0 9 126; Cramer, Τ.: Minnesang in der Stadt. In: R u p p (wie not. 12) 63—73; Engelsing (wie not. 16); Heinzle, J.: Vom MA. zum Humanismus. In: Polheim, Κ. K. (ed.): Hb. der dt. Erzählung. Düsseldorf 1981, 1 7 - 2 7 ; Kleinschmidt, E.: Stadt und Lit. in der Frühen Neuzeit. Köln/Wien 1982. -
21
Köhler, H.-J. (ed.): Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Stg. 1981. - 22 Bausinger. Reg. s.v. Geschichte, Geschichtlichkeit; Bentzin, U. u.a.: Dt. Volksdichtung. Ffm. 1979. 21 Moser, D.-R.: Theorie- und Methodenprobleme der Märchenforschung. Zugleich der Versuch einer Definition des ,Märchens'. In: Jb. für Vk. N. F. 3 (1980) 4 7 - 6 4 . - 2 4 Penkert, S. (ed.): Emblem und Emblemrezeption. Darmstadt 1978; cf. Köhler (wie not. 21); Moser, D.-R.: Exempel - Paraphrase — Märchen. In: Hinrichs, E./Wiegelmann, G. (edd.): Sozialer und kultureller Wandel in der ländlichen Welt des 18. Jh.s. Wolfenbüttel 1982, 1 1 7 - 1 4 8 , hier 138, 147. - 25 Taylor, P./Rebel, H.: Hessian Peasant Women, Their Families, and the Draft: A Social-Historical Interpretation of Four Tales from the Grimm Collection. In: J. of Family History 6 (1981) 3 4 7 - 3 7 8 ; Neumann, S.: Der mecklenburg. Volksschwank. Β. 1964, 90. — 26 Moser (wie not. 24). — 2 7 Abel, W.: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Hbg/B. 1974; Kriedte, P.: Spätma. Agrarkrise oder Krise des F.? In: Geschichte und Gesellschaft 7 (1981) 4 2 - 6 7 . 28 Allg. Goody, J. u.a.: Family and Inheritance. Rural Soc. in Western Europe, 1 2 0 0 - 1 8 0 0 . Cambr. u.a. 1976; für Hessen v. Taylor/Rebel (wie not. 25). — 29 Thomas, K.: Religion and the Decline of Magic. L. 1971. - 3 0 Oestreich, G.: Policey und Prudentia civilis in der barocken Ges. von Stadt und Staat. In: Schöne, A. (ed.): Stadt, Schule, Univ., Buchwesen und die dt. Lit. im 17. Jh. Mü. 1976, 1 0 - 2 1 ; Brückner. 31 Foster, G. M.: Peasant Soc. and the Image of Limited Good. In: American Anthropologist 67 (1965) 2 9 3 - 3 1 5 . - 32 Bürger, C.: Die soziale Funktion volkstümlicher Erzählformen — Sage und Märchen. In: Ide, H. (ed.): Projekt Deutschunterricht 1. Stg. 2 1 97 3 , 26 - 56. - 3 3 Kramer, K.-S.: Grundriß einer rechtlichen Vk. Göttingen 1974; Bader, K. S.: Studien zur Rechtsgeschichte des ma. Dorfes, t. 1. Weimar 1957; t. 2. Köln 1962; t. 3. Köln/Wien/Graz 1973. - 3 4 Hampl, F.: Vergleichende Sagenforschung. In: id. u.a.: Vergleichende Geschichtswiss. Darmstadt 1978, 132— 169. — 35 Adler, Α.: Epische Spekulanten. Mü. 1975.
Kassel
Heide Wunder
Feuer 1. Allgemeines - 2. Ursprung des F.s — 3. F. in Kosmogonien und anderen Ursprungsmythen 4. F. als Lebenslicht — 5. Empfängnis durch F. - 6. Christi. F.wunder - 7. Schadenfeuer: Ursachen und Abwehr - 8. F. als dämonische oder teuflische Eigenschaft — 9. F. in Sage, Märchen und Schwank
1. A l l g e m e i n e s . Als eines der vier Elemente steht F. von Anfang an im Mittelpunkt
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Feuer
des menschlichen Daseins. Schon immer haben die Menschen in Mythen, Märchen, Sagen und anderen Erzählformen erklären wollen, was F. eigentlich sei, woher es komme, wie die Menschheit gelernt habe, mit F. umzugehen, und wie es zu erzeugen sei. Viele Vorstellungen über das F. sind durch Millennien auf empirischen Beobachtungen aufgebaut worden. F. bedeutet Licht und Wärme, aber auch Verletzung und Vernichtung. Außerdem dient es den Menschen in verschiedener Hinsicht: Es macht Speisen verdaulich und genießbar, hilft gegen Kälte und Finsternis, härtet Ton und bringt Erz zum Schmelzen. Mit F. kann man Metalle schmieden, es vernichtet Krankheitserreger, aber auch alles Vergängliche und Überflüssige, gibt den Menschen die für den Fortschritt der Technik erforderliche Energie und ermöglicht die Erfindung von Gewehren, Granaten und Bomben. Man erblickte F. am Himmel in Gestalt von Sonne und Sternen und erkannte die Verwandtschaft mit irdischen F.n. Diese „zwingende Analogie [. . .] von himmlischem und irdischem F. legte den Gedanken an einen übernatürlichen Ursprung dieser Naturkraft nahe [. ..]. Diese auf sinnlichen und seelischen Erfahrungen beruhenden Uranschauungen vom außerirdischen Ursprung, von der dämonabwehrenden Leucht- und Brennkraft und dem freundlich-feindlichen Dualismus des Feuers dürfen bei den meisten Völkern als autochthon vorauszusetzen sein" 1 . Die Ambivalenz der F.Vorstellungen findet Ausdruck in Kulthandlungen, im Glauben, Brauch und in Erzählungen aller Art 2 . F. gilt als personifizierte Gottheit, ist aber auch Attribut dämonischer und teuflischer Mächte. F. ist allmächtig, kann der Menschheit nutzen, aber ihr ebenso Vernichtung und Zerstörung bringen. Als reinigende Kraft bewahrt es die Menschen vor Schaden, und in vielen Gegenden wird F. zu einem Symbol der heilkräftigen Wirkung und des ewigen Lebens (Notfeuer etc.) 3 . Es gilt aber ebenso als Schadenbringer, bes. wenn bestimmte Vorschriften und Tabus verletzt werden, wie O. Loorits anhand der Erzählungen finn.-ugr. Völker und deren Nachbarn festgestellt hat 4 . Doch sind ähnliche Grundvorstellungen auch bei anderen Völkern beobachtet worden 5 . (Das F. rächt sich ζ. B., wenn es nachlässig gepflegt, nicht or-
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dentlich mit Asche bedeckt wird etc.6) Solche Vorstellungen und Bräuche sind praktisch ubiquitär. 2. U r s p r u n g des F.s. Es gibt kaum eine Mythologie, in der die Frage nach der Herkunft des F.s nicht behandelt worden ist7. Viele Mythen berichten, wie ein Mensch oder Gott zwei Holzstücke gerieben habe, bis F. erzeugt worden sei (Mot. A 1414.1) 8 . In Südamerika erzählen die Yupa, daß der Herr des F.s einem Mann beigebracht hat, Funken zu erzeugen, indem man einen Stein auf einen zweiten schlägt (Mot. A 1414.4 sq.) 9 . Man berichtet auch von der Erfindung des F.bohrers (Mot. A 1414.1.1) 10 . Andere Mythen erzählen, wie F. von einem menschlichen Körper gewonnen worden ist (Mot. A 1414.2) 11 . Verwandt damit ist wohl die bekannte Vorstellung einer F.seele, von der die Lebenswärme abhängig ist. Weitverbreitet ist der Bericht, daß das F. Geschenk eines Gottes sei (Mot. A 1414.4) 12 . Geläufig ist auch die Vorstellung, daß F. vom Himmel auf die Erde herabfiel (Mot. F 962.2) 13 . In China wird erzählt, wie F. entstand, als ein Fuchs den Schwanz auf den Erdboden schlug (Mot. D 2158.1.1) 14 . Nach ind. Überlieferung hat der Mond F. von der Sonne geholt und zur Erde gebracht (Mot. A 741.2) 15 . Die Mythen vom Ursprung des F.s, von den F.britigern und F.entdeckern sind selbstverständlich von der Art der F.technik der jeweiligen Kultur abhängig. Nomadische Völker ζ. B. tragen meistens keinen F.brand mit auf ihren Wanderungen, das F. wird bei Bedarf mit Hilfe von Werkzeugen stets neu erzeugt. Diese Situation herrscht freilich auch bei isoliert lebenden Ackerbauern vor, die keine Gelegenheit haben, F. von Nachbarn zu entlehnen. Dementsprechend sind es nomadische oder isoliert wohnende Völker, die gern erzählen, wie die F.werkzeuge und F.stoffe entdeckt, er- oder gefunden worden sind. Ein typisches Beispiel bietet ein Mythos der am Orinoco-Delta wohnenden Warao 16 : Die Kröte-Frau verschluckt das einzige F. der Erde. Zwillingsbrüder lassen dann Früchte hoch von einem Baum auf die Kröte fallen, das Tier platzt, und das F. bricht aus dessen Körper heraus und fährt in einige umstehende Bäume hinein. Seitdem gibt es gewisse Holz-
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arten, die F. enthalten und deshalb zum F.machen geeignet sind. Anders die seßhaften Viehzüchter und Ackerbauern: Sie bewahren das F. über lange Zeit und entfachen es auch bei Erlöschen nicht neu, sondern holen es als F.glut vom Nachbarn. Dementsprechend erzählen seßhafte Völker lieber vom F.holen und von der erneuten Beschaffung im Fall des Erlöschens, oft auf Diebstahl beruhend (—» Feuerraub). Der bekannteste Mythos dieser Art ist die Geschichte von Prometheus, die in den verschiedensten Versionen überliefert ist 17 . Bei den Erzählungen vom Herbeischaffen des F.s muß man unterscheiden zwischen den Ätiologien von der Entstehung des F.s und den Erzählungen, die mit dem Erlöschen des F.s zusammenhängen.
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einer Var. von KHM 116 (Das blaue Licht)22. Ebenso läßt es sich auf der Erde besorgen (Mot. Η 1264), in Bäumen, Steinen und in Höhlen (Mot. A 1414.7 sqq.) und selbst in einer Muschel (Mot. S 352.1). 3. F. in K o s m o g o n i e n und a n d e r e n U r s p r u n g s m y t h e n . In Mythen wird nicht nur von der Urentdeckung, von Raub und Wiedergewinnung des F.s erzählt, sondern das F. spielt auch eine Rolle in den verschiedensten Kosmogonien, Theriogonien, Anthropogonien etc.
Nach Snorri Sturluson (4—9) und der Vqlospä (1,3) geschah die Schöpfung, nachdem Kälte, Nebel und Eis von Niflheimr und F. und Funken von Müspell in das große Nichts des Ginnungagaps eingedrungen waren; aus deren Mischung entstanden die Welt, die Götter, die Riesen und schließlich die Vielfach wird erzählt, daß nach dem Erlöschen Menschen (Böberg A 622). — In Afrika wird erdes F.s neue Materie aus einer anderen Welt oder zählt, wie die ganze Menschheit geboren wurde aus einem anderen Bereich geholt werden muß (Mot. der Paarung eines Frosches mit der Tochter des F.s Η 264). Häufig ist es nur von einer häßlichen alten (Mot. A 1221.5). - In Sibirien wird erzählt, daß die F.hexe zu erlangen oder von einer unheilvollen Sonne entstand, nachdem ein Mensch F. in den schwarzen Frau (Mot. Κ 2260.6). F.holen ist bes. in Himmel geworfen hatte (Mot. A 714.3). - Gegeneinigen geogr. weit auseinanderliegenden Var.n des teiliges erzählen kaliforn. Indianer: Ein ZA. von Frau Holle-Märchens (AaTh 480: Das gute und das Finsternis und regnerischer Kälte entstand, nachschlechte —» Mädchen) zu finden. In einer Var. aus dem ein Bösewicht die Sonne ins F. geworfen hatte Turkestan ζ. Β. kommt eine Hexe in Katzengestalt (Mot. A 1068). - Die ind. Khasi erzählen, daß und löscht das F. durch Harnlassen. Die junge Berge und Täler aus F. erschaffen worden seien Tochter geht dann zum F.holen in die Unterwelt, (Mot. A 969.3) 23 ; andere führen ihre Abstammung wo ihr die F.hexe begegnet. Sie bekommt die auf sakrales F. zurück (Mot. A 1268.1)24. - Die glühenden Kohlen als Belohnung für das Lausen afrik. Fang meinen, Sonne, Mond und Sterne müßder Hexe 18 . Eine isl. Var. erzählt, wie drei Töchter ten stets vom F. ernährt werden (Mot. A 700.7). — ausziehen, F. zu holen. Die ersten beiden begegnen Die argentin. Chiriguano behaupten, daß die Neger drei schwer arbeitenden Frauen, und jede wünscht entstanden, weil eine Frau angezündet und verden Frauen nur Böses bei ihren Aufgaben. Die kohlt wurde (Mot. A 1614.8)25. - In Südamerika Töchter kehren ohne F. und zudem an Augen und ist der Glaube weitverbreitet, daß es einst zwei Nase verunstaltet nach Hause zurück. Die jüngste Sonnen gab; da die eine aufstieg, wenn die zweite hingegen wünscht den Frauen nur Gutes und erunterging, habe es keine Nacht gegeben, bis einreicht — unwissend — dadurch deren Erlösung von mal die zweite Sonne von einer tanzenden Frau verder Arbeit. Das Mädchen erhält als Dank nicht nur führt worden und ins Wasser gefallen sei. Beim F., sondern auch großen Reichtum19. Gleiches geAuftauchen habe sie weiß geglüht, sei zum Himmel schieht in einer heanz. Var., in der das Mädchen die zurückgekehrt und zum Mond geworden (Mot. Holle-Gestalt in der Katzenmühle findet, von ihr F. A 711.3, A 1068)26. und auch viel Gold bekommt 20 . In einer russ. Var. Iäßt eine böse Stiefmutter, die sich ihrer Stief4. F. als L e b e n s l i c h t . Die Lebenswärme tochter entledigen will, alle F. des Hauses ausvon lebendigen Wesen wird fast überall auf löschen. Dann schickt sie die nichtsahnende Tochter zur Baba Jaga zum F.holen, was den sicheren der Welt mit der Wärme einer Flamme in Tod bedeutet. Doch die Baba Jaga belohnt das Verbindung gesehen, häufig als Manifestation hilfreiche Mädchen mit einem Schädel voll F. Als der menschlichen Seele. Obwohl diese Gesie nach Hause kommt, schlägt das F. aus dem dankengänge durch christl. F.vorstellungen Schädel: Stiefmutter und beide Stiefschwestern ver(ζ. B. sakrale Seelenkerzen, Arme Seelen als brennen 21 . Lichterscheinungen) beeinflußt sein dürften, beruhen sie vermutlich auf älteren KulturMan findet F. in der anderen Welt auch schichten 27 . K. Ranke ζ. B. hat überzeugend manchmal ohne Hüter, wie ζ. B. der Held in
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zeigen können, daß die Vorstellung von Lebenslichtern ein bedeutender Teil des ide. Glaubens gewesen ist28. Das Totenlicht ist auch als Licht des Lebens zu denken, weil es symbolisch die noch lebendige Seele der Abgeschiedenen darstellen soll29. Die schon in der Antike wie auch später aufgezeichneten Überlieferungen bieten deutliche Beispiele für diese Glaubensvorstellungen. Am bekanntesten ist die Erzählung von —> Meleager (AaTh 1187), bei dessen Geburt drei Moiren zugegen sind. Zwei segnen das Kind, während die dritte verkündet, das Kind werde nur so lange leben, bis das Holzscheit im Herde abgebrannt sei. Althaia, die Mutter, löscht das Scheit daraufhin und verwahrt es sorgfältig in einer Truhe. Als Meleager dann anläßlich der Schlacht bei Kalydon seine Brüder töten muß, holt sie voll Ingrimm über ihren Sohn das angekohlte Holz aus der Truhe, läßt es zu Ende brennen, und die Prophezeiung erfüllt sich: Meleager verliert sein Leben 30 .
Verwandt mit diesen Vorstellungen ist das Motiv des sich im Jenseits befindlichen Lebenslichts derjenigen, die noch in dieser Welt leben, ein beliebtes Motiv sowohl in Volksmärchen als auch in der Volkssage. Am bekanntesten ist wohl die Episode in —» Gevatter Tod (AaTh 332, KHM 44): Der Tod führt einen Arzt in eine unterirdische Höhle und zeigt ihm die Lebenslichter der Menschen, die auf Erden weilen: Es gibt große und kleine. Der Tod, der schon zweimal um sein Anrecht vom Arzt geprellt wurde, bringt auf hinterlistige Weise das fast heruntergebrannte Lebenslicht des Arztes zum vorzeitigen Verlöschen (Mot. Ε 765.1.3) 31 . 5. E m p f ä n g n i s durch F. Da F. und Flamme fast überall mit Lebenskräften identifiziert werden, überrascht es nicht, daß dem F. selbst Zeugungskraft zugeschrieben wird (Mot. Τ 535; F 611.1.10). Die Tatsache, daß das F.bohren bei verschiedenen Völkern als Symbol für den Koitus aufgefaßt wird, hat zweifellos auch zu solchen Vorstellungen beigetragen (cf. wunderbare —» Empfängnis) 32 . Erzählungen von der Zeugung durch Funken des Herdfeuers reichen in älteste Zeit zurück. Romulus, Caeculus und Servius Tullius sind röm. Helden, die der Sage nach von Funken gezeugt wurden 33 . Das Motiv der Zeugung durch F. ist ebenso im Märchen nachweisbar,
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ζ. B. in Var.n zu AaTh 403: Die schwarze und die weiße —> Braut, AaTh 303: Die zwei —> Brüder oder AaTh 302: Die drei geraubten —> Prinzessinnen34. Die Vorstellung von der Entstehung von Kindern aus F. kennt auch Vergil35. Eine Gottheit zündet ein großes F. an, und alle Kinder, die von einem Unhold verschlungen wurden, kommen hervor. Ähnliches wird auch in einem unter den Chenchu in Indien aufgezeichneten Märchen erzählt 36 . Verwandt mit dem Motiv der Zeugung durch F. ist auch das vor allem in Europa verbreitete Märchen AaTh 788: —> Wiedergeburt des verbrannten Hl.n. Ein Sünder (Feiertagsfrevler, Elternmörder etc.) wird zum F.tod verurteilt oder entschließt sich selbst dazu. Ein Körperteil bleibt übrig, der von Christus (einer Person) aufgehoben wird. Eine Jungfrau kommt damit in Berührung, wird schwanger und gebiert den Helden, der in seinem zweiten Leben rasch heranwächst 37 . 6. Christi. F.wunder. Die Ambivalenz der F.vorstellungen wird auch in europ. Sagen- und Legendenüberlieferung deutlich. Einerseits ist F. Charakteristikum der —> Hölle, Besitz des —> Teufels und Merkmal der sündhaften Wiedergänger und der Armen Seelen (cf. —» Fegefeuer). Andererseits hat F. mit seinen Eigenschaften von —> Licht, Wärme und Reinheit sakrale Bedeutung für die christl. Kirche 38 . Deshalb überrascht nicht, daß F. in christl. Wundergeschichten eine große Rolle zukommt. Ihm wird sogar die Fähigkeit zugeschrieben, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können. Eine in Exempelkompendien oft aufgezeichnete Geschichte erzählt ζ. B., wie der Mörder eines Goldschmieds und seine mitschuldige Schwester zum F.tod verurteilt werden. Die Schwester zeigt Reue und beichtet. Die Flammen verbrennen den Bruder, verschonen aber das Mädchen (cf. —» Gottesurteil) 39 . Mehrmals belegt ist die Wundersage von dem Porträt Luthers, das einen Brand in seinem Geburtshaus (1689) überlebte 40 , vermutlich ein Nachhall jener vielfach belegten Erzählungen von der Unzerstörbarkeit von Hll.nbildern 41 . Hl. Männer und Frauen werden auch vor dem Flammentod bewahrt und erweisen damit ihre Widerstandskraft gegenüber der Materie.
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St. Agnes ζ. Β. war zum F.tod verurteilt, aber das F. teilte sich, und sie blieb unversehrt 42 . Die Hll.n von Brescia, Faustin und Jovita, standen, wie eine frühe Legende berichtet, Psalmen singend unbeweglich in den Flammen und verließen den Scheiterhaufen unverletzt 43 , ganz ähnlich die Jungfrau Lucia von Syrakus, die man im F. mit Pech, Harz und Öl überschüttete, was ihr jedoch nichts anhaben konnte 44 . Als man die syr. Ärzte Kosmas und Damian ins F. warf, spaltete sich die Erde und barg die beiden. Das F. sprang auf die Umstehenden über, und erst dann tat die Erde sich wieder auf und gab die Hll.n zurück 45 . Doch Hll. widerstehen nicht nur dem F., sondern vermögen es auch zu bannen, wie etwa St. Remigius, der die Stadt Reims vor einem vernichtenden Brand bewahrt haben soll46. Bes. —» Kreuzzeichen und —> Gebet, aber auch —» Reliquien, die obendrein als feuersicher gelten 47 , selbst —> Tränen eines Hl.n 48 sind häufig benutzte Abwehrmittel 49 . Aber Hll. verfügen auch über die Gabe der F.erzeugung (Mot. F 552.1.1) aus Wasser (hl. Michael), Stein (hl. Claranus), Eiszapfen (hl. Sebaldus) und Schnee (hl. Berachius) 50 . Die Ambivalenz der F.vorstellungen wird deutlich aus Legenden, die Hll. ganz umschlungen von F. und Flammen schildern. Eine solche Erscheinung wird meistens verdammten Sündern und Armen Seelen zugeschrieben, die Höllenpein erdulden müssen. Aber die Flammen um den Körper eines Hl.n sind offenbar ein bestätigendes Zeichen seiner Heiligmäßigkeit 51 . F. als Signum der Macht oder Zuweisung von Herrschergewalt begegnet außerdem in verschiedenen Fassungen von AaTh 671: —> Tiersprachenkundiger Mensch und AaTh 517: —> Prophezeiung künftiger Hoheit. So heißt es z.B. in einer Var. aus der Basse-Bretagne 52 , daß derjenige Papst werden soll, dessen Kerze sich von selbst entzündet. An drei Tagen werden Prozessionen abgehalten, und jedes Mal fängt die Haselrute Christies, der kein Geld hat, um eine Kerze zu kaufen, F. In einem russ. Märchen wird derjenige zum König erwählt, dessen Licht sich neu selbst entzündet (Mot. Η 41.3) 53 . Bei alledem handelt es sich jedoch lediglich um eine Variation des Kernmotivs von der bei vielen Völkern bekannten Königswahl durch Tiere (Mot. Η 171.2), die auch in der Über-
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lieferung über die Papstwahlen von Silvester II. und Innozenz III. eine Rolle spielt 54 : F. als auch Tiere symbolisieren die rechtmäßige Übertragung der Herrschaft. 7. S c h a d e n f e u e r : U r s a c h e n und A b wehr. Die Angst vor F.sbrünsten war im MA. und in der frühen Neuzeit sehr groß. Da die Ursachen solcher F.sbrünste 55 häufig ungeklärt blieben, überrascht es nicht, daß man sie meistens in übernatürlichen Dingen gesucht hat. Oft wurden dämonische Wesen der Brandstiftung beschuldigt. Johannes Jacob Vogel ζ. B. berichtete in seinem Leipzigischen Geschicht-Buch von einem am 23. 11.1606 in Leipzig ausgebrochenen Großbrand, der angeblich durch einen feuerspeienden Drachen verursacht worden sei 56 . Ebenso wurden gewisse Tiere — oft als Teufelsdiener aufgefaßt — der Brandstiftung bezichtigt (cf. —» Brandstiftung durch Tiere). Eine Sage aus Sachsen ζ. B. erzählt, wie schwarze Raben aus Bosheit F. gelegt hätten, indem sie glühende Kohlen auf Häuser- und Scheunendächer fallen ließen. Man nannte sie deshalb fliegende Höllengeister' 57 . Ebenso wurden Hirschkäfer und Krebse verdächtigt, Häuser angesteckt zu haben 58 . Tiere, die von Menschen mißhandelt oder geplagt werden, sollen sich rächen, indem sie F. anzünden, wie einige Sagen zu berichten wissen. Wer etwa die Nester der Störche oder Schwalben stört, sie vertreibt, tötet oder ihrer Jungen beraubt, bei dem, so heißt es in einer Sage aus dem Erzgebirge, „schlägt der Blitz ein", oder es bricht auf andere Weise in seinem Haus F. aus: „nimmst du mir mein Nestchen aus, brenn ich dir das ganze Haus" 59 .
Am häufigsten jedoch taucht in F.sagen der —> Teufel in mannigfacher Gestalt auf. Selbst die Figur des feurigen Drachen wird unter christl. Einfluß als Teufelserscheinung gedeutet 60 . Der Teufel erscheint aber auch als feurige Henne 61 , Katze 62 , Hahn mit glühenden Augen 63 , feuriger Besen 6 4 und als feuriger Mensch, der immerfort glühende Kohlen ausspeit 65 . Die heiße Lohe fährt ihm aus dem Hintern 66 , und diejenigen, die sich ihm mit Worten oder Taten verschrieben haben, werden am Fälligkeitstag verkohlt aufgefunden 67 . Nachts erscheint der Teufel auch als feuriger Hund 68 . Dementsprechend wurde ein vernichtender Brand am häufigsten dem Teufel und seinen Helfern, die auch manchmal als feurige Geisterheere auftraten (—> Wilde Jagd), zugeschrieben. Schon Gregor von Tours schrieb von einem „incendium inmissum invidia temptatoris" 69 . Flodoardus von Reims berichtet, daß teuflische Mächte den
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Großbrand von Reims verursacht hätten 70 . Eine Sage aus der Lausitz erzählt, daß ein Teufel die Klosterkirche zu Sittau, die 1458 niederbrannte, angesteckt habe 71 . Bei Erasmus von Rotterdam heißt es, daß auf Befehl des Teufels eine Hexe den Ort Schiltach in der Schweiz am 10. April 1533 in Brand gesteckt und so vernichtet habe 72 .
Wie die Ursache wird oft auch das Löschen von F. übernatürlichen Kräften zugeschrieben, bes. Teufelslehrlingen und Zigeunern (cf. auch —> F.segen der Zigeuner). Ebenso verschonen Zwerge Häuser vor F. (Mot. F 451.5.1.21), wie eine ndl. 73 und eine dt. 74 Sage zu berichten wissen. Selbst Tieren (bes. dem Storch) wurde die Eigenschaft zugeschrieben, F. löschen zu können. So heißt es ζ. B. in einer Sage aus Oberhessen, daß 1597 ein Schadenfeuer die Stadt Homberg an der Ohre zur Erntezeit großenteils eingeäschert habe, wobei Störche ein Haus, worauf sie ihr Nest hatten, mit Wasser abgespeit und gerettet haben sollen 75 . Ähnlich sind zwei Sagen aus Südhessen 76 und aus der Oberpfalz 77 , wo der auf dem Dach nistende Storch beim Löschen geholfen haben soll, indem er unermüdlich Wasser herbeitrug und in die Flammen goß. In Griechenland sollen magische Tränke 78 , in Irland magische Lieder (Mot. D 1382.7) 79 und in Island magische und feuersichere Kleidungsstücke (Boberg D 1382.6 und D 1382.10) gegen F. schützen (cf. —» Abwehrzauber) 80 . Zu all diesen Bekämpfungsmitteln gehören auch Zaubersprüche und -segen gegen F. 81 Viele dieser Sprüche haben einen erzählerischen und einen magischen Teil. Typisch in dieser Hinsicht ist der in Goethes Nachlaß überlieferte F.segen 82 : „Es ging ein Knäblein wohl über das Land, / Ein gülden Buch trug es in seiner Hand, / Es konnte lesen, es konnte schreiben, / Alle schwere Gewitter könnt' es vertreiben. / Es sähe wohl einen Haushalt abbrinnen, / Ach, wieviel arme Leute wohnen darinnen! / Ach, ich bitte dich du allerhöchste Feuersglut / Dass du nicht weiter Schaden tust, / Dass stille stehest / Und auch nicht weiter gehest. / Er ging wohl um das Haus / Das Feuer war aus".
In der Volksüberlieferung überhaupt wird immer wieder erzählt, wie große Ereignisse sich schon vorher ankündigen, und es ist im Fall von Großbränden nicht anders (—• Prodigien). 1684 wütete zu Sorau in der märk. Lausitz eine F.sbrunst, die sich durch allerlei Zei-
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chen im voraus angesagt habe. Verschiedene Landleute ζ. B. erlebten auf ihrem Weg zur Stadt Erscheinungen, als ob die Häuser in Flammen stünden 83 . Nach einer Grimmschen Sage sollen sich Häuser, die abbrennen werden, „bei Nachtzeit wie dunkle Luftgebilde" einige Tage vorher den Bürgern zeigen 84 . Ein ungeborenes Kind soll am Morgen vor einer großen F.sbrunst im Mutterleibe laut geweint haben 85 (—> Kind spricht im Mutterleib). 8. F. als d ä m o n i s c h e o d e r t e u f l i s c h e E i g e n s c h a f t . Daß F. mit höllischen Mächten sowohl im Jenseits als auch auf dieser Welt zusammenhängt, ist seit dem MA. ein zentraler Bestandteil der Erzählüberlieferung des Okzidents. Aber die Anfänge dieser Tradition reichen noch weiter in die Geschichte zurück. Vorstellungen von einer Art Höllenfeuer finden sich schon bei den Indern und Iranern 86 , aber auch in Alt-Ägypten 87 . Doch kommt das Bild von einem ausschließlich feurigen Qualort für die Abgeschiedenen erst im Christentum auf. Den größten Einfluß auf die Erzählüberlieferung des Abendlandes hatten jedoch nicht so sehr die Bilder des Höllenfeuers, als vielmehr eine noch spätere Entwicklung, nämlich die des —» Fegefeuers 88 , was sich bes. in Legenden, Exempeln und Sagen niedergeschlagen hat 89 . 9. F. in Sage, M ä r c h e n und Schwank. Ein weitverbreitetes Motiv beruht auf dem Glauben, daß F. und Licht einen Schatzort anzeigen (Mot. Ν 532) 90 . Der Zugang zu einem Schatz wird aber auch durch einen großen F.ball unmöglich gemacht 91 . Nach vielen Sagen wird F. verwendet, um einen Wechselbalg zu erkennen: Man wirft das Kind ins F. (Mot. F 321.1.4.3) oder droht, es zu tun, damit die Dämonen das richtige Kind zurückbringen (Mot. F 321.1.1.5) 92 . In manchen Ländern werden Sagen erzählt, in denen Dämonen verschiedener Art mittels F. vertrieben werden (Mot. F 389.1) 93 . Viele hist. Sagen aus Europa erzählen von den verschiedenen Arten der F.probe (cf. —> Gottesurteil), die auf tatsächlichen Rechtsvorgängen beruhen (Mot. Η 221 sqq., Η 412.4) 94 . Da die Todesstrafe durch F. eine universelle Form der Hinrichtung ist, erstaunt es nicht, diese Strafe auch als Erzählmotiv zu finden. Ζ. B.
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muß ein Sünder in einer Erzählung aus Indien 1000 Jahre mit dem Kopf nach unten über einem F. schmoren (Mot. Q 522.6) 95 . Die Idee einer göttlichen F.strafe, wie sie die Städte Sodom und Gomorrha ereilte, als Gott einen F.regen auf sie niederfallen ließ (Gen. 19, 24), wird in vielen europ. Sagen erzählt. Eine Frau und ihre Kinder z.B., die am Sonntag spinnen, werden durch ein F. verbrannt 96 . Ein Kobold, der beleidigt wird, verwandelt sich in einen feurigen Drak und zündet den Palast an, in dem er bis dahin gelebt hat 97 . Hll., die von heidnischen Feinden bedroht werden, beten zum Himmel, der mit feuriger Vernichtung des Feindes antwortet. So hat sich ζ. B. der hl. Angelais vor 70 Sarazenen retten können 98 . Ähnlich werden heidnische Abbilder und Tempel auf die Bitten eines Hl.n hin durch F. vernichtet (Mot. V 356.2) 99 . Die Bestrafung durch F. ist auch ein in christl. Exempla häufig vorkommendes Motiv 100 . Obwohl F. oft genug in Märchen erwähnt wird, erstaunt es, daß im Zaubermärchen praktisch keine christl. Vorstellungen und kaum reale, geglaubte Motive vom F. auftreten, sondern nur in der europ. Sagen- und Legendenüberlieferung. Dieses Fehlen heißt keineswegs, daß Märchen sich nicht für reale, geglaubte Motive interessieren. Allerdings gibt es selten Belege für Schilderungen, die auf wirklichen Ereignissen beruhen. In einem bret. Märchen ζ. B. holt eine Frau, deren Herdfeuer erloschen ist, etwas Glut von ihrer Nachbarin, ein internat. oft belegter Brauch aus der Zeit vor Erfindung des Streichholzes 101 . Häufiger jedoch sind Wundermotive, wie etwa ein Ofen, der ohne F. heizt (Mot. D 1601.6) 102 . Ebenso finden Vorstellungen von der heilenden Kraft des F.s Ausdruck in Märchenmotiven, wie etwa in Var.n zu —> Tod des Hühnchens (AaTh 2021, 2022), in dem das Hähnchen F. aus der Hölle holt, doch mit seinem Heilmittel zu spät kommt, um das Hühnchen retten zu können 103 . Die reinigende Kraft des F.s vermag auch Verjüngung zu bewirken und ist ein bekannter Bestandteil der Mythen der griech. Antike. Thetis ζ. Β. soll den Säugling —> Achilleus nachts ins F. gelegt und am Tage mit Ambrosia gesalbt haben, um das vom Vater herrührende Sterbliche an ihm zu tilgen (Mot. D 1846.1). Doch einmal sei sie nachts von Peleus belauscht worden, der das
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Kind in den Flammen zappeln sah und durch sein Dazwischentreten das Werk unterbrochen und Thetis verscheucht habe 104 . Ein solcher Bericht findet sich ebenfalls im sog. homerischen —» Demeter-Hymnos. In der Gestalt einer alten Frau weilte sie am Hofe des eleus. Königs Keleos und pflegte dessen Sohn Demophoon. Nachts hielt sie ihn heimlich ins F., um ihm —> Unsterblichkeit zu verleihen (Mot. D 1 8 5 l . l ) 1 0 5 . Dieser Mythos wurde auch im alten Iran erzählt. Um ihren Sohn unsterblich zu machen, wirft die Prinzessin Scharistani ihn ins F. 106 . Und nach Plutarch verdingt sich Isis auf der Suche nach Osiris bei der Königin von Byblos als Amme und verbrennt nachts das Sterbliche an deren Kind. Da sie dabei überrascht wird, verpaßt das Kind die Gelegenheit, Unsterblichkeit zu erlangen 107 . Ein Nachklang dieses Motivs findet sich in der europ. Sagenüberlieferung. An die Stelle von Thetis-Demeter-Scharistani-Isis tritt Frau Holle. Sie sitzt mit dem Kind der schlafenden Wöchnerin am F. Die Mutter wacht auf und erschrickt. Da wirft Frau Holle das Kind ins F. und verschwindet 108 .
Die Verjüngung durch F. ist auch in zahlreichen europ. Märchen und Schwänken thematisiert. Neben —» Altweibermühlen gibt es Backöfen, von denen man sich die gleiche Wirkung verspricht. Bes. bekannt ist der Legendenschwank von dem junggeglühten Männlein (KHM 147; AaTh 753: ->• Christus und der Schmied), in dem ein mit übernatürlichen Kräften Begabter (oft Christus, Teufel) einen Menschen über dem Schmiedefeuer verjüngt, was einem Nachahmer (zumeist ein Schmied) mißglückt. Sein Verjüngungsversuch endet für die Betroffenen tödlich oder mit körperlicher Verunstaltung. Obwohl diese Erzählung als Schwank nicht ernst zu nehmen ist, ist der Glaube, daß man zerstückelt, gebraten bzw. gekocht werden und verjüngt wieder auferstehen kann, ein wichtiger Bestandteil weitverbreiteter Schamanenüberlieferungen, wobei der Schamanenkandidat in einer Art Selbsthypnose einen solchen Vorgang ,erlebt' 109 (cf. —> Schamanismus). Mit diesem rituell-religiösen Vorgang verwandte Motive finden sich auch in den Sagen um —> Medea und Jason (—> Argonauten) und um —» Tristan 110 . Sie sind auch deutlich erkennbar in einem ung. Märchen 111 . Der Schweinehirt Jänos hat nach drei Wochen den Goldkirschenbaum erstiegen und erhält die Prinzessin, die das Schloß im höchsten Wipfel bewohnt, zur Frau. Nun folgt der Drachenkampf; dabei wird der Held vom Drachen zerstückelt. Die
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Gänsehirten wollen ein F. anzünden und suchen nach etwas Brennbarem. Sie klauben allerlei Dornen und Äste zusammen, und an einer Stelle in der Nähe finden sie auch das Herz des Schweinehirten. Sie werfen es ins F. Plötzlich springt ein wunderschöner Jüngling daraus hervor. Es ist Jänos, nun schöner als zuvor 112 . Verwandt mit diesem Vorstellungskreis ist der hinduist. Glaube an agnipravesha, die .freiwillige Selbstverbrennung', durch die man unsterblich werden soll113. Obwohl Märchen wie Sage F.berge kennen (Mot. F 753), ist in der Sage ein solcher Ort oft Qualbereich für Arme Seelen, während er im Märchen eher als magisches Hindernis gilt, ähnlich dem Glasberg. Das Motiv der Hinrichtung durch F.tod kennt sowohl die Sage als auch das Märchen. In der Sage aber, falls man gerettet wird, geschieht dies durch christl. Wunder, im Märchen dagegen durch dankbare Tiere (Mot. D 712.2.1) 1 1 4 . F. findet sich im Märchen auch im Zusammenhang mit schwierigen —> Aufgaben, wie etwa das Gebot an den Helden eines sizilian. Märchens, ein F. anzuzünden, aber auch nicht anzuzünden (Mot. Η 1 0 6 7 ) l l s . F. ist ferner ein Erlösungsmittel im Märchen. Der Bannzauber wird gebrochen, wenn der Held (Mot. D 712.2.1) 1 1 6 oder seine Tierhaut ins F. geworfen wird (Mot. C 4 2 1 , L 1 6 2 ) 1 1 7 .
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langen 121 . In verschiedenen ma. Slgen begegnet man dem Motiv des Narren, der noch mehr Brennstoff über das bereits brennende Haus schüttet: Er möchte erreichen, daß man sich an seine schlechten, nicht an seine guten Taten erinnert (Mot. J 2162.2) 1 2 2 . Im europ. MA. ist der Schwank mehrmals belegt, in dem der Ehemann sein eigenes Haus ansteckt, um einen vermeintlichen Nebenbuhler loszuwerden (AaTh 1359 A) 1 2 3 . Aus Indien kommt die Geschichte von den Narren, die sich darüber streiten, wer den Brand löschen soll, während der Palast niederbrennt (Mot. J 25 32) 1 2 4 . Ebenfalls aus Indien überliefert ist der Schwank von dem Narren, der sich — unwissend, daß sein Vorgänger einen Sprung ins F. nur vortäuschte — bei einem Nachahmungsversuch schwer verbrennt (Mot. J 24.11.6) 1 2 5 . I
Freudenthal, H.: Das F. im dt. Glauben und Brauch. B./Lpz. 1931, 3. - 2 HDA 2, 1389-1402; HDM 2, 108-120; Crawley, Α.: Fire, Fire Gods. In: ERE 6, 2 6 - 3 0 ; Helck, W.: F. In: Lex. der Ägyptologie 2. Wiesbaden 1977, 205sq.; Edsman, C.-M.: Ignis divinus. Lund 1949; Frazer, J. G.: The Myths of the Origin of Fire. L. 1930; Freudenthal (wie not. 1); Schippmann, Κ.: Die iran. F.heiligtümer. B./N.Y. 1971; Levi-Strauss, C.: Mythologica. 4,1—2: Der nackte Mensch. Ffm. 1975; Kuusi, Μ.: Beitr.e zur F.mythologie. In: Festschr. K. C. In verschiedenen Märchentypen, aber hauptsächlich in AaTh 425 Β (cf. —> Amor und Psyche), Peeters. Antw. 1975, 384-389; Greimas, A. J.: Vulcanus Jagaubis. Ugnis szwenta, F.-Gott. In: wird die untergeschobene Braut zu Asche verMetmenys 32 (1976) 5 8 - 8 3 ; Grimm, J.: Dt. brannt, wenn ihr eine für die Heldin bestimmte Mythologie 1. ed. Ε. Η. Meyer. Gütersloh 4 1875 Fackel gereicht wird118. Auch böse Stiefmütter (cf. Kap. 20). - 3 Vassits, M.: Die Fackel in Kult werden nicht selten durch F.tod bestraft (ζ. B. Böund Kunst der Griechen. Mü. 1900; Nilsson, M.: berg Μ 431.6, Ν 384.3). Die beiden bösen Brüder in Var.n zu AaTh 531: —> Ferdinand der treue und Große Feste von religiöser Bedeutung. Lpz. 1906; F. der ungetreue werden zu Asche verbrannt, als der Loorits, O.: Das mißhandelte und sich rächende F. Tartu 1935, 8 sq.; Weiss, R.: Nebelheilen, TeuHeld ihnen den Rat gibt, ein F. mit ihren Hüten zu löschen119. In Var.n zu AaTh 303: Die zwei —> Brü- felheilen. Notfeuerbereitung und Wetterzauber als Hirtenbrauch. In: SAVk. 45 (1948) 225-268; der, aber auch in anderen Märchen wird der Held Edsman (wie not. 2). - 4 Loorits (wie not. 3). — von einer kleinen Flamme zu einem ihm noch unbe5 Wilbert, J.: Secular and Sacred Functions of the kannten Ziel gelockt, meistens zu einem JenseitsFire among the Warao. In: Antropologica 19 bereich 120 . (1967) 3 - 2 3 ; cf. auch not. 2. - 6 Loorits (wie not. 3) 6, 8 - 1 9 ; HDA 2, 1398-1400. - 7 Mot. A 1414 sqq.; cf. auch Frazer (wie not. 2). — 8 ErgänIn Schwankmärchen tritt F. noch häufiger zend zu den Belegen bei Mot.: Waterman, num. auf als im Zaubermärchen. Diese Tatsache ist 1220 (1), 1242 (1), 1256 (2)+(3). - 9 Wilbert, J.: wohl dadurch zu erklären, daß die unbeYupa Folktales. L. A. 1974, 79; cf. auch Waterrechenbare Natur des F.s für komische Situaman, num. 350 (1), 1240 (1), 1244 ( l ) - ( 4 ) . 10 tionen sehr geeignet ist. Das schon besproWaterman, num. 1258 (3). chene Motiv vom F.holen wurde bereits im II ζ. B. in Neuguinea und Australien: Dixon, R.: klass. Altertum als Schwankmotiv verwendet. Oceanic Mythology. Boston 1916, 115. - 12 WaterEin junger Mann benutzt das F.borgen als man (wie not. 8). — 13 cf. ferner Legenda aurea/ Ausrede, um zur Frau des Nachbarn zu geBenz, 396, 398 (Georg); Toldo 1906, 299, 305,
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309; als Prodigium auch bei Hammer, M.: Rosetum historiarum. Zwickau 1654, 353, 359, 379, 386, 496, 504-506. - 14 Weaver, Ε.: Myths and Legends of China. L. 1922, 370. - 15 Elwin, V.: Tribal Myths of the Orissa. Bombay 1953, 185. 16 Wilbert (wie not. 5). - 17 Platon, Protagoras, 321D; Cicero, Tusculanae disputationes 2, 2; Aischylos, Prometheus, 7; cf. Trousson, R.: Le Theme de Promethee dans la litterature europeenne. Genf 1964. — 18 Jungbauer, G.: Märchen aus Turkestan und Tibet. MdW 1923, num. 7. 19 Rittershaus, Α.: Die neuisl. Volksmärchen. Halle 1902, num. 67. - 2 0 Bünker, J. R. Schwänke, Sagen und Märchen in heanz. Mundart. Lpz. 1906, num. 62. 21 Meyer, Α.: Russ. Volksmärchen 1. Gesammelt von Α. N. Afanaßjew. Wien 1906, num. 19. 22 BP 2, 535-537. - 23 Rafy, K.: Folk-Tales of Khasis. L. 2 1920, 25. - 24 Elwin, V.: The Agaria. Bombay 1942, 92. - 25 Revista del Museo de la Plata 35 (1932) 75. - 26 Wilbert (wie not. 9). 27 HDA 5, 9 6 7 - 9 7 0 ; Moser, D.-R.: Werte Fakten — Symbolik und normative Kultur. Ζ. B.: Die ,Freiheitskerze'. In: ZfVk. 69 (1973) 1 6 1 188. - 28 Ranke, K.: Idg. Totenverehrung. 1: Der 30. und 40. Tag im Totenkult der Germanen (FFC 140). Hels. 1951, 254 et pass. - 29 ibid.; Hartmann, H.: Der Totenkult in Irland. Heidelberg 1952, 77 sq. - 30 cf. Brednich, R. W.: Der Teufel und die Kerze. In: Fabula 6 (1964) 141-161; id.: Volkserzählungen und Volksglaube von den Schicksalsfrauen (FFC 193). Hels. 1964, 1 7 - 3 1 . 31 cf. HDM 2, 614-620; Goebel, F. M.: Jüd. Motive im märchenhaften Erzählungsgut. (Diss. Greifswald) Gleiwitz 1932, 148-153; Schwarzbaum, Reg., bes. 108-111. - 32 HDM 2, 112. - 33 ibid. 34 ibid. - 35 Vergilius, Aeneis 2, 680, 525; 7, 74. 36 von Fürer-Haimendorf, C.: The Chenchus. L. 1943, 224. — 37 Maticetov, M.: Sezgani in prerojeni clovek (Der verbrannte und wiedergeborene Mensch). Ljubljana 1961. — 38 Edsman (wie not. 2); Loomis, G.: White Magic. An Introduction to the Folklore of the Christian Legend. Cambr., Mass. 1948, bes. 2 7 - 3 7 ; Blasius, Τ.: „Das himmlische F.". Eine motivgeschichtliche Studie. Diss, (masch.) Bonn 1949; Dendy, D.: The Use of Lights in the Christian Worship. L. 19 5 9. - 39 Brückner, 251. - 40 ibid., 306 (5 Belege). 41 cf. Tubach, num. 1054, 2039, 3814; Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, 504. - 42 Legenda aurea/Benz, 135. - 43 Günter, H.: Legenden-Studien. Köln 1906, 20. - 44 ibid., 20 sq. - 45 ibid.; Tubach, num. 1278; Wittmann, Α.: Kosmas und Damian. Kultausbreitung und Volksdevotion. B. 1967. - 46 Flodoardi historia Remensis ecclesi® 1. Reims 1854, cap. 12; Aßmann, D.: Hl. Florian bitte für uns. Innsbruck/ Wien/Mü. 197 7. - 47 Loomis (wie not. 38) 148 sq.; Günter (wie not. 43) 138-140; Toldo 1906, 303 sq. - 48 Loomis (wie not. 38) 148. - 49 ibid., 30 (zahlreiche Belege). - 50 ibid., 27. -
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ibid., 27—37; cf. auch Edsman (wie not. 2). — Mel. 1 (1878) 300-308; cf. Delarue/Teneze 2, 572-582; v. auch HDM 2, 118. - 53 cf. HDM 2, 118; BP 1, 322-325. - 54 Mudrak, E.: Die Berufung durch überirdische Mächte in sagtümlicher Überlieferung. In: Fabula 2 (1959) 122-138. 55 Crusius, J. C.: Pyrologia physico-historico-theologica [. . .]. Guben (1673); Glaser, J.: Nützliche [. . .] Vorschläge bei heftigen und geschwinden F.sbrünsten Häuser und Mobilien sicher zu retten [. . .]. Hildburghausen 3 1764; cf. HDA 2, 14151434. - 56 Vogel, J. J.: Leipzigisches GeschichtBuch. Lpz. 1714, 357; cf. auch Freudenthal (wie not. 1) 357 sq. (weitere Beispiele). - 57 Meiche, Α.: Sagenbuch des Königreichs Sachsen. Lpz. 1903, 636 sq. - 58 Freudenthal (wie not. 1) 356-359. 59 John, E.: Aberglaube, Sitte und Brauch im sächs. Erzgebirge. Annaberg 1903, 235. - 60 Schönbach, Α.: Altdt. Predigten 2. Graz 1888, 510 sq. 52
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Vernaleken, T.: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Wien 1859, 368. - 62 Graber, G.: Sagen aus Kärnten. Lpz. 1912, 279. - 63 ibid., 145. - 64 Drechsler, P.: Sitte, Brauch und Volksglaube in Schlesien 2. Lpz. 1904, 123. — 65 Schambach, G./Müller, W.: Niedersächs. Sagen und Märchen. Göttingen 185 5, 161. - 66 Kuhn, Α.: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen 1. Lpz. 1859, 255. - 67 Graber (wie not. 62) 304. 68 Woods, Β. Α.: The Devil in Dog-Form. Berk./L. A. 19 5 8. - 69 Gregor der Große, Liber de virtutibus S. Martini 1, 2. - 70 Flodoardus (wie not. 46). 71 Haupt, K.: Sagenbuch der Lausitz 1. Lpz. 1862, 113. - 72 Grimm DS 207. - 73 Sinninghe, num. 83. - 74 Grimm DS 40. - 75 Bindewald, J.: Oberhess. Sagenbuch. Neue verm. Ausg. Ffm. 1873, 208 sq. - 76 Wolf, J. W.: Hess. Sagen. Lpz. 1853, 128. - 77 Freudenthal (wie not. 1) 361. - 78 Fox, W.: Greek and Roman Mythology. Boston 1916, 112. — 79 Plummer, C.: Vitae sanctorum Hiberniae 1. Ox. 1910, 179; Cross D 1566.1.4.2, D 2158. 80 Weitere Belege: HDA 2, 1422-1434. 81 Harmjanz, H.: Die dt. F.segen und ihre Var.n in Nord- und Osteuropa (FFC 103). Hels. 1932. 82 Goethes Werke 1, 4. ed. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1891, 168. - 83 Freudenthal (wie not. 1) 361. — 84 Grimm DS 281. - 8S Haupt (wie not. 71) 265 sq. 86 Freudenthal (wie not. 1) 8. — 87 Zandee, J.: Death as an Enemy According to Ancient Egyptian Conceptions. In: Studies in the History of Religions 5 (1960) 133-140. - 88 Landau, M.: Hölle und Fegfeuer in Volksglaube, Dichtung und Kirchenlehre. Heidelberg 1909. - 89 Assion, P.: Weiße, Schwarze, Feurige. Neugesammelte Sagen aus dem Frankenland. Karlsruhe 1972. — 90 Sinninghe, num. 183; Robe, S. L.: Hispanic Legends from New Mexico. Berk./L.A. 1980, num. 635-638. 91 ibid., num. 646, 650. - 92 Baughman F 321.1. 4.5. — 93 ζ. B. in Indien: Bompas, C.: Folktales of the Santal Parganas. L. 1909, num. 177. - 94 ζ. Β.
1083
Feuer: Fernwirkung des F.s
Rehermann, Reg.; Schenda, R.: Die frz. Prodigienlit. in der 2. Hälfte des 16. Jh.s. Mü. 1961, 114; Notarp, H.: Gottesurteile. Bamberg 1949. 95 Keith, Α. Β.: Indian Mythology. Boston 1917, 168. - 96 Grimm DS 233. - 97 Grimm DS 77. 99 AS (2. Mai) 824, col. 1. - 99 St. Maurilias, AS (4. Sept.) 72, col. 2. - 100 z.B. Tubach, num. 2036 sq., 2040, 2043, 3671. 101 Tegethoff, E.: Frz. Volksmärchen 2. MdW 1923, num. 30. - 102 Feilberg, H. F.: Bidrag til en ordbog over jyske almuesmal 2. Kop. 1894—1904, 774a. - 103 z.B. Grundtvig, S.: Gamle danske minder i folkemunde 1. Kop. 1854, num. 79. 104 Apollodoros 3, 13,6. - 105 ibid. 1, 5, 2 - 4 ; Richardson, N.J. (ed.): The Homeric Hymn to Demeter. Ox. 1974. - 106 HDM 2, 115. 107 Plutarchos, Peri Isidos kai Osiridos, Kap. 15 sq. - 108 cf. HDM 2, 115 sq. - 109 Findeisen, Η.: Schamanentum. Stg. 1957, 5 0 - 6 0 . - 110 HDM 2, 118. 111
cf. Dioszegi, V.: A honfoglalö magyarsäg hitvilägänak törteneti retegei. Α vilägfa (Die hist. Schichten der Glaubenswelt der Ungarn zur Landnahmezeit. Der Weltenbaum). In: Nepi kultüra — nepi tärsadalom 2 - 3 (1969) 295-326. - 112 RonaSklarek, E.: Ung. Volksmärchen 2. Lpz. 1909, num. 2. - 1 , 3 Monier-Williams, C.: Brahmanism and Hinduism. L. 4 1891, 11. - 114 Dh. 1, 315. 115 Gonzenbach 2, 215. - 116 z.B. Twente, T.: Folktales of the Chattisgarh. N.Y. 1938, 27. 117 In Var.n von AaTh 425: Amor und Psyche; AaTh 440: Froschkönig. - 118 Swahn, J.-ö.: The Tale of Cupid and Psyche. Lund 1955, pass. — 1,9 Robe, 9 3 - 9 5 (17 Var.n mit diesem Motiv). 120 Siuts, Η.: Jenseitsmotive im dt. Volksmärchen. Lpz. 1911, 48 sq. 121 Plank, M.: Das F.zeug der Griechen und Römer. Progr. Stg. 1884, 3. - 122 Tubach, num. 4726. 123 GA 2, num. 41. - 124 Shyama-Shankar, P.: Wit and Wisdom of India. N.Y. 1934, 157. - 125 Emeneau, M.: Kota Texts 1. Berk./L.A. 1944, 45. Los Angeles
Donald Ward
Feuer: Fernwirkung des F.s ( A a T h 1262). Die zweiteilige Erzählung gehört zum U m kreis der Scheinbußen ( A a T h 1804, 1804 A—B) u n d verbindet in ihrer N o r m a l f o r m Mot. J 1945: Warming hands across the river mit Mot. J 1191.7: Rice pot on pole, fire far away. Sie ist vor allem im V o r d e r e n Orient und in Mittelasien, in N o r d - und Ostafrika sowie den einstmals arab. bzw. osman. Teilen E u r o p a s verbreitet und nimmt in den G r u n d zügen folgenden Verlauf: (1) Ein reicher und/oder mächtiger Herr (im Arab, meist der Kalif —> Härün-ar-Rasid) bietet demjenigen, der eine Nacht unbekleidet auf dem
1084
Dach des Palastes (des Minaretts, auf einem Berg oder im Wasser eines Flusses) verbringt und nicht erfriert, einen hohen materiellen Lohn. (2) Ein armer oder fremder Mann (ein Untergebener, in Verbindung mit Härün-ar-Rasid im allg. der Dichter —> Abu Nuwäs oder der Narr Bahalul) erklärt sich dazu bereit (muß dem Befehl seines Herrn Folge leisten) und überlebt die Nacht in eisiger Kälte. (3) Am Morgen verweigert der Herr den versprochenen Lohn mit dem Hinweis auf ein in der Ferne brennendes F., an dem sich der Mann während der Nacht gewärmt haben soll. (4) Der um seinen Lohn Betrogene lädt - in einigen Var.n auf den Rat eines weisen Mannes hin - seinen Herrn wenig später zum Essen ein (oder der Herr kommt zufällig zu Besuch) und stellt das zu Kochende so weit vom F. entfernt auf, daß es nicht gar (heiß) werden kann. (5) Die ungeduldig gewordenen Gäste fordern Rechenschaft über die Handlungsweise des Mannes, der auf die Worte des Herrn verweist und erklärt, das Essen werde sich gewiß ebenso erwärmen, wie ihn in der Nacht der Schein des in der Ferne brennenden F.s erwärmt habe. (6) Der Herr muß daraufhin den verweigerten Lohn zahlen (sich beschämt zurückziehen). Die Var.n, die d e r N o r m a l f o r m von A a T h 1262 folgen, weichen allerdings in einem zentralen P u n k t teils erheblich voneinander ab: D e r K e r n der Erzählung — d e r G e d a n k e von der Fernwirkung des F.s — ist u n t e r schiedlich motiviert. D e r U r f o r m am nächsten stehen vermutlich j e n e Var.n, in d e n e n das F. von einer V e r w a n d t e n (einem um Hilfe geb e t e n e n weisen M a n n ) b e w u ß t zur psychol. U n t e r s t ü t z u n g des nackt auf d e m Berg o d e r im Wasser A u s h a r r e n d e n angezündet wird. Nicht ganz zu U n r e c h t spricht der H e r r also von einer (wenn auch nur indirekten) F e r n wirkung des F.s, zumal d e r M a n n den R a t befolgt hat: „ A s you watch my fire, think of its warmth, and think of me, your friend, sitting there, tending it for you. If you do this you will survive, n o m a t t e r how bitter the night w i n d " (äthiop.) 1 . F. H a r k o r t bezeichnet es als „sehr n a h e liegend, d a ß auch schon in der Urfassung eine V e r w a n d t e das F e u e r f ü r den a r m e n M a n n unterhalten h a b e " 2 . F e r n e r folgen die ältesten Belege zu A a T h 1262 ebenfalls dieser vornehmlich in Ostafrika verbreiteten Fassung 3 . Ein Ansatz zur E r k l ä r u n g der außergewöhnlichen körperlichen Leistung in der
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Feuer: Fernwirkung des F.s
afrik. Version ist vor allem in den usbek.tadschik. Var.n zu finden und wird um ein neues Motiv erweitert: Der auf das Palastdach (in einen ummauerten Hof) Gesperrte hält sich dadurch warm, daß er die ganze Nacht über einen schweren Stein hin und her wälzt4. In anderen Var.n fehlt ein solcher Erklärungsansatz; in ihnen wird der Gedanke von der Hilfe durch ein fernab brennendes F. (das Licht eines vorbeifahrenden Schiffes) erst durch den Herrn eingebracht, der sich auf diese Weise einer Zahlung des zugesagten Lohnes entziehen will5. Voraussetzung für das Gelingen dieses mehr oder weniger offenen Betrugsmanövers ist die höhere soziale Stellung des Herrn, die einen Protest des Betrogenen von vornherein aussichtslos erscheinen läßt. Seine Chance besteht allein darin, den Herrn mit dessen eigenen Mitteln zu übertrumpfen. Witz und Wirkung der Erzählung entstehen somit erst mit der Zusammenfügung beider Teile und der daraus entstehenden Motivdoppelung. Mit Recht spricht F. Harkort von „zwei selbständigen und abgeschlossenen Teilen", die nur „zusammen eine vollständige Scheinbuße mit dem Motiv der ,Fernwirkung des Feuers' bilden" 6 . Im Tiermärchen von der Füchsin und ihrem Kind wird Mot. J 1945 isoliert: Die frierende Füchsin streckt ihre Pfoten in die Richtung eines im Tal brennenden F.s, um sich — wie sie ihrem Kleinen sagt — daran zu wärmen. Kurze Zeit später stößt das Fuchskind einen Klagelaut aus und erklärt der überraschten Mutter, ein Funke des F.s, an dem sie sich wärme, habe es am Ohr verbrannt 7 . - Ein kaukas. Märchen hingegen erzählt die auf Mot. J 1191.7 beschränkte Geschichte eines Gastmahls bei dem Schelm Puschkin, die ohne den ersten Teil von AaTh 1262 wie ein mühsam konstruierter Streich wirkt 8 . — Der Normalform näher steht das pers. Volksmärchen von der klugen Frau, die ihrem Bruder mit Kessel und F. die Unsinnigkeit der Behauptung nachweist, ihr Furzen habe das gute Mehl im weit entfernten Haus des Bruders davongeweht (cf. AaTh 875 B: Die kluge -> Bauerntochter)9. Eine in Europa verbreitete Erzählung greift das Motiv von der Fernwirkung des F.s in gänzlich anderem Zusammenhang auf: Der Käufer eines Aals (Herings etc.) mißversteht den Hinweis, das Tier sei eßbar, „sobald es nur Feuer gesehen hat", und hält den Aal in den Mondschein (das Licht eines fernen F.s) 10 .
Geogr. aus dem Rahmen fallen zwei Var.n von der Antilleninsel Guadeloupe bzw. aus Birma. Für die lateinamerik. Fassung gibt E.
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C. Parsons eine einfache Erklärung: Bei dem Erzähler handelt es sich um einen syr. Kaufmann, die Handlung folgt daher auch der Normalform von AaTh 1262 11 . Zu der birman. Var. bemerkt Harkort, sie scheine „aus einem juristischen Glossenwerk zu stammen", verweist allerdings auch auf die Möglichkeit, „daß die Geschichte [aus dem Ind.] übernommen worden ist" 12 . Vor allem im zweiten Teil zeigt die birman. Fassung große Eigenständigkeit: Der von seinem Bootsherrn in bekannter Weise um seinen Lohn betrogene Seemann bietet seinerseits eine Wette an, indem er behauptet, der Bootsherr könne gewiß keine Schweinefüße braten. Der siegessichere Herr geht sofort darauf ein, doch der Seemann übergibt ihm die Schweinefüße mit dem Hinweis auf ein fernes F., in dessen Schein er nun die Füße zu braten versuchen solle' 3 . In einigen asiat. Var.n erhält der Betrogene unerwartete Hilfe durch die Tochter des Herrn, die ihres Vaters Ungerechtigkeit dadurch offenkundig macht, daß sie das Essen weit entfernt vom F. zu erhitzen sucht und dem väterlichen Vorwurf entgegenhält, daß es ebenso warm werden müsse, wie sich auch der Mann allein am Licht des fernab brennenden F.s erwärmt haben soll 14 .
Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß ein Vergleich der Motivstruktur aller vorliegenden Var.n zu AaTh 1262 die Herkunft der Erzählung aus dem arab.-afrik. Raum nahelegt, auch stammt die älteste und mit der vermutlichen Normalform weitgehend übereinstimmende Fassung (1778 von C. Niebuhr aufgezeichnet) aus diesem Raum 15 . Das Gros der bei AaTh genannten europ. Var.n hingegen greift das Motiv von der Fernwirkung des F.s in einem neuen Kontext auf, der kaum mehr an den Typ 1262 erinnert und deshalb sinnvollerweise davon getrennt werden sollte. 1 Courlander, H./Leslau, W.: The Fire on the Mountain and Other Ethiopian Stories. N.Y. 1950, 7—13, hier 9. — 2 Harkort, F.: Die Schein- und Schattenbußen im Erzählgut. Diss. Kiel 1956, 2 1 - 3 0 d , hier 30b. - 3 Niebuhr, C.: Reisebeschreibung nach Arabien 2. Kop. 1778, 195; Reinisch, L.: Die 'Afar-Sprache 1 (SB.e der Akad. der Wiss.en zu Wien, phil.-hist. Kl. 110). Wien 1885, 14; Büttner, C. G.: Anthologie aus der Suaheli-Litteratur 1. B. 1894, 90; Velten, C.: Märchen und Erzählungen der Suaheli. Stg./B. 1898, 27; Meissner, B.: Neuarab. Geschichten aus dem Iraq. Lpz. 1903, 7 7 - 7 9 ; Littmann, E.: Publ.s of the Princeton Expedition to Abyssinia 2. Leyden 1910, 34—37;
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Feuerprobe -
Larrea Palacin, A. de: Cuentos populäres de los judios del norte de Marruecos 2. Tetuän 1953, 6 4 67, 1 2 0 - 1 2 2 . - 4 Dechoti, A. P.: Tadzikskij narodnyj jumor. Stalinabad 1958, 12 sq.; Die Märchenkarawane. Aus dem usbek. Märchenschatz. Übers. M. Spady. B. 1959, 1 5 3 - 1 5 7 ; Cammann, Α.: Dt. Volksmärchen aus Rußland und Rumänien. Göttingen 1967, 402 sq. (usbek.). - 5 Pitre, G.: Fiabe, novelle e racconti popolari siciliani 3. Palermo 1875, 369 sq. ( = Hodscha Nasreddin 2, 1 1 2 - 1 1 4 ) ; Jahn, Α.: Die Mehri-Sprache in Südarabien. Wien 1902, num. 2; Bauer, L.: Das palästin. Arab. Lpz. 3 1913, 166 sq.; Finger, S.: Märchen aus Lasistan. Wien 1939, 1 7 4 - 2 2 4 , hier 198; Walker, W.S./ Uysal, Α. E.: Tales Alive in Turkey. Cambr., Mass. 1966, 2 3 9 - 2 4 1 ; Scelles-Millie, J.: Contes arabes du Maghreb. P. 1970, 1 0 3 - 1 0 5 ; Schwarzbaum, 101; Nowak, num. 377. - 6 Harkort (wie not. 2) 21. - 7 Loukatos, D. S.: Neoellenika laographika keimena. Athen 1957, num. 24; Bjazyrov, A. Ch.: Osetinskie narodnye skazki. Stalinir 1960, 349. 8 Benzel, U.: Kaukas. Märchen. Regensburg 1963, 124 sq. - 9 Marzolph, num. 1262. - 10 Kuhn, A./ Schwartz, W.: Norddt. Sagen. Lpz. 1848, 274 sq.; Jegerlehner, J.: Sagen aus dem Unterwallis. Basel 1909, 19 sq.; Perbosc, Α.: Contes de Gascogne. P. 1954, num. 46 und not. p. 290. 11 Parsons, Ε. C.: Folk-Lore of the Antilles 2. N.Y. 1936, 175; die bei Rael, J.B.: Cuentos espanoles de Colorado y Nuevo Mejico 2. Stanford, Cal. [1957] 540 sq. verzeichnete Var. folgt überraschenderweise der asiat. Fassung (cf. not. 14). - 12 Harkort (wie not. 2) 30a. - 13 Htin Aung, M.: Burmese Folk-Tales. Ox. 2 1954, 2 1 1 - 2 1 4 . - 14 FL 3 (1892) 519 sq.; cf. Tauscher, R.: Volksmärchen aus dem Jeyporeland. Β. 1959, num. 32 und not. 15 Niebuhr (wie not. 3).
Offenbach (Main)
Ulrich Huse
Feuerprobe —> Gottesurteil Feuerraub 1. Allgemeines — 2. F.raub durch Kulturheroen - 3. Weiterentwicklungen des Motivs - 4. Griech. Mythos
1. A l l g e m e i n e s . Der F.raub ist ein Erzählmotiv antiker Herkunft (Mot. A 1415; cf. Mot. A 1414-1414.7.3, A 1415.1-1415.3). Es kommt in der Überlieferung vieler Völker in unterschiedlichen Genres vor: in Mythen und Ätiologien, in Märchen und Epen 1 . 2. F.raub durch K u l t u r h e r o e n . In der Erzählüberlieferung kann das Motiv des F.raubs genetisch mit der Weltsicht der urgesell-
Feuerraub
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schaftlichen Stämme verbunden sein (Zoomorphismus, Glaube an mythische Vorfahren etc.). In Mythen und Ätiologien nimmt es bei vielen Naturvölkern einen zentralen Platz ein und gehört von Anfang an zu den Taten des —* Kulturheros. So erscheint der Raub des F.s durch halbmythische Vorfahren als zentrales Motiv ζ. B. in Ätiologien der Einwohner Mittel- und Südamerikas. Bei den Bokairen (Indianerstamm Zentralbrasiliens) kriechen Keri und Käme in einen Fisch und eine Schnecke und rauben das F., nachdem sie den flinken Fuchs, den Herrn des F.s, überlistet haben 2 . In den mythol. Ätiologien des Stammes der Karaiben wird erzählt, wie der Häuptling des Stammes, Baira, das F. dem schwarzen Greifvogel Urubu stahl, indem er ihn überlistete und es dann auf dem Rücken einer großen Kröte über den Fluß zu den Menschen schaffte 3 . Die Indianer des Gran Chaco erzählen in einer Ätiologie, wie ein Kaninchen das F. dem Jaguar entwendete, der in alten Zeiten sein einziger Besitzer war. Der Jaguar ist der Hüter des F.s auch in den Märchen und Ätiologien des Stammes der Kuna in Mittelamerika 4 : Das F. wird ihm von der Eidechse gestohlen, die in seine Behausung eindringt. Häufig kommt der F.raub auch bei den Indianern Nordamerikas vor. Hier stiehlt meistens der Hirsch oder Rabe. Das F. befindet sich hinter einer selbstschließenden Tür, die den Unvorsichtigen erschlägt. Manchmal bildet eine lange Kette von Tieren eine Brücke von einer Welt zur anderen, und das F. wird von einem Tier zum nächsten gegeben 5 . Sehr häufig raubt der Held das F. in Gestalt eines Vogels, oder er fliegt mit Hilfe eines Vogels in die andere Welt, wie ζ. B. bei den Papuas in Neuguinea; im kamerun. Märchen versucht ein Hahn den F.raub 6 . Auf Hawaii 7 wird berichtet, wie der starke und gewandte Maui das F. bei den Hühnern stiehlt, die es bewachten und Bananen darin buken, und es den Menschen bringt, die kein F. besaßen. Auf Neuseeland 8 ist der Raub des F.s zweimalige Tat des halbmythischen Maui: Erst löscht er das F., das im Besitz der Menschen war, indem er nachts alle in den Herdstellen schwelenden Hölzer fortträgt; sodann bricht er auf in die Unterwelt zu seiner Urmutter, der Göttin Mahu-ika, um erneut F. zu holen. In den mythol. Vorstellungen der Pygmäen im Nordosten des Kongo stehlen Menschen das F. dem Vater der höchsten Gottheit Tore, Orbu Oro 9 . Bei den sudanes. Dongonen gibt es viele Mythen, die den Ursprung des F.s und seinen Raub mit Schmieden in Zusammenhang bringen. In einer dieser Mythen entführt ein Hirte Schmiede aus der Geisterwelt Jeban, wobei er deren Herdstelle und Geräte mitnimmt. Seit der Zeit gibt es in seiner Familie eine Herdstelle und Eisen 1 0 . In alten ukr. Erzählungen holt der hl. Petrus mit Hilfe eines weißglühenden Eisenstabes den Menschen das F. vom T e u f e l " .
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Feuerraub
3 . W e i t e r e n t w i c k l u n g e n des Motivs. In Mythen, Märchen, Ätiologien und Epen unterliegt das Motiv des F.raubs einer künstlerischen Umgestaltung, wobei es häufig seine ursprüngliche Bedeutung verliert. In modifizierter Form ist dieses Motiv oft in ein (im Vergleich zu denen der Naturvölker) komplizierteres narratives Kompositionsgefüge eingeschlossen. Es erfährt in Abhängigkeit vom semantischen Kontext unterschiedliche ästhetische Interpretation und verliert häufig seine ihm eignende handlungsbildende Funktion. Im altisl. Epos ist —> Loki der Räuber des Brisingamen, was - möglicherweise - eine Beziehung zum F.raub hat, wenn man den ersten Teil der Bezeichnung dieses Kleinods in Verbindung mit der Benennung des F.s sieht (altisl. brisingr, norw. brising) 12 . Der griech. Räuber des F.s, Prometheus, hat im Kaukasus seine Doppelgänger, Amiran in —» Georgien, Abriskil bei den —> Abchasen etc. 13 . Der Raub des himmlischen F.s bildet auch die Grundlage der gor. Überlieferung von Amiran 1 4 , in der der mächtige Riese Amiran in einer Höhle eingekerkert und mit dicken Ketten an die Erde geschmiedet ist, „nur deshalb, weil er Gutes tat und den Menschen das Feuer brachte". Das svanet. Märchen über Amiran 1 5 enthält verschiedene Zaubermotive sowie den F.raub bei den zehn —> DevBrüdern. Er wird dadurch ausgelöst, daß bei Amirans Vater Iamani das F. in der Herdstelle erlosch, als die Söhne des Alten sein Auge suchten, das ein Dev gestohlen hatte. — Der Raub des F.s vom Himmel oder bei der Macht des Bösen wird in der georg. Überlieferung häufig durch den Raub des schönen Mädchen Kamar 1 6 ersetzt.
In der Struktur der —> Heldensage kann das Motiv des F.raubs entweder zentral sein, handlungsauslösend wirken oder zweitrangig werden, häufig ein Puffermotiv im allg. Erzählgefüge. Das Motiv des F.raubs ist auch im Nartenepos verschiedener Völker des Kaukasus (cf. G. —> Dumezil) verbreitet: bei den —> Adygeern 17 , Abchasen 18 , —> Osseten 19 , BalkaroKaratschaiern20 u. a. Der F.raub ist fast immer (außer bei den Osseten) verbunden mit dem Namen des berühmten Narten Sosryko, wobei es sich um eine seiner Heldentaten handelt. Die Ausgangssituation der F.raubepisoden ist in den verschiedenen Versionen des Nartenepos ungefähr gleich: Die —> Narten, die zum Feldzug aufgebrochen sind, werden von starkem Frost überrascht und er35
Enzyklopädie des Märchens IV
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starren vor Kälte. Sie bitten Sosryko, F. zu holen. In einigen Var.n (svanet., abchas.) 2 1 schlägt der Held einen Stern herab, doch das F. brennt nur schlecht, und so stiehlt der Held F. bei einem Riesen; in der kabardin. Var. entzündet Sosryko zunächst selbständig ein Lager-F., dann aber löscht er es aus Zorn über die Narten, die hergestürzt waren, um sich zu wärmen; erst nach zweimaliger Bitte der Narten entwendet Sosryko einem Riesen das F.
Hüter des F.s ist im Nartenepos der Balkaren und —> Karatschaier Emegen, ein Riese, der schläft und sich als Ring um das F. zusammengerollt hat. In der Heldensage wird immer der Ausführung des F.raubs durch den Helden Aufmerksamkeit geschenkt: In der kabardin. Var. fragt Sosryko sein legendäres Pferd Tchozeja, wie er das F. dem Riesen stehlen kann, und das Pferd belehrt ihn 22 . In den abchas. Var.n wendet er sich an sein Pferd mit den Worten: „Sei flink wie ein Eichhörnchen, und ich werde leicht werden wie eine Flaumfeder" 2 3 . Der Held sammelt glühende Kohlen, verliert jedoch eine von ihnen und wird deswegen von einem Ungeheuer gefangengenommen. In der balkar. Var. steigt Sosryko während des F.raubs nicht von seinem Pferd, als er das brennende Holzscheit aus dem Lager-F. des schlafenden Riesen Emegen ergreift; wegen eines Stückchens Kohle, das in das Auge des Emegen gerät, fängt dieser Sosryko und sein Pferd, wirft beide in sein Auge und schläft weiter 24 .
Hierauf folgt meist ein Wettkampf des Helden mit dem Riesen, in dem Sosryko, der sich als Hirte ausgibt, den an Kraft ihm überlegenen Riesen durch List besiegt. Manchmal verschwindet das Motiv des F.raubs völlig, und dann überwiegt in der Heldensage das Thema des Wettstreits zwischen Helden und Riesen 25 . Eine Modifikation dieses in der Heldenepik der Kaukasusvölker beständigen Motivs zeigt sich in der Nartensage der Osseten, bei denen der F.raub in Zusammenhang steht mit den abenteuerlichen Untaten des Syrdon (Pendant zu Loki): Während des Balca-Feldzuges der Narten stiehlt er allen Narten den Stahl zum F.schlagen als Rache für ihren Spott, so daß sie den erlegten Hirsch nicht braten können. Auf Syrdons Anstiftung begeben sich alle Narten zur Behausung der Riesen, wo sie gefangen werden. Nachdem Syrdon ein Lager-F. entfacht, den Hirsch gebraten und verspeist hat, befreit er sie aus ihrer Gefangenschaft, indem er den Riesen ein Rätsel aufgibt, während dessen Lösung sie sich gegenseitig töten.
Es ist anzunehmen, daß dem F.raubmotiv im Epos der Kaukasusvölker eine Vorstellung
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Feuerraub
zugrunde liegt, die durch einen bis ins 20. Jh. hinein ausgeübten Brauch geprägt ist. Nach diesem Brauch, der offensichtlich mit dem antiken F.kult in Zusammenhang steht, war es nicht immer möglich, jemandem F. aus der Herdstelle zu geben. So hielt man es bei den Inguschen 26 für eine große Sünde, am Tage, der dem Donnergott Seli (in gewissem Maße der hinduist. Gottheit des F.s Agni verwandt) geweiht war, auch nur ein einziges Stückchen Kohle herauszugeben oder F. und Asche aus der Herdstelle zu entnehmen. Ähnliche Bräuche, die mit der Bewahrung des F.s in Verbindung stehen, gab es in Georgien 2 7 , Ossetien 2 8 und bei anderen Kaukasusvölkern.
I HDM 2, 1 0 8 - 1 1 1 ; Frazer, J. G.: Myths of the Origin of Fire. L. 1930; Keith, A.B.: Indian Mythology. Boston 1917,36; Dixon, R. B.: Oceanic Mythology. Boston 1916, num. 31, 34; Thompson, S.: Tales of the North American Indians. Cambr., Mass. 1929, num. 63; Frobenius, L.: Atlantis 1 — 12. Jena 1921—28; Levi-Strauss, C.: Das Rohe und das Gekochte. Ffm. 1971, Reg. s.v. Ursprung des F.s; allg. zum F. cf. Edsman, C.-M.: F. In: RGG 2,927 sq. — 2 von den Steinen, K.: Unter den Naturvölkern Central-Brasiliens [. . .]. B. 1894, 377. - 3 Brazil'skie skazki (Brasilian. Märchen). M. 1962,143. — 4 Legendy i skazki indejcev Latinskoj Ameriki (Legenden und Märchen der Indianer Lateinamerikas). M./Len. 1962, 37. - 5 Dh. 3, 9 7 - 9 9 . 6 Landtmann, G.: The Folk-tales of the Kiwai Papuans. Hels. 1919; Ndong, N.: Kamerun. Märchen. Ffm./Bern/N. Υ. 1983, 98-127. - 7 Westervelt, W. D.: Maui the Demi-God. Honolulo 1910. 8 Grey, G.: Polynesian Mythology and Ancient Traditional History of the Maori [. . .]. ed. W. W. Bird. Neudr. Christchurch 1956, 3 4 - 3 8 . - 9 Baumann, H.: Schöpfung und Urzeit des Menschen im Mythos der afrik. Völker. B. 1936, 354. - 10 Kotljar, E. S.: Mif i skazka Afriki (Mythos und Märchen Afrikas). M. 1975, 67. II Dh. 1, 142. - 12 HDM 2, 109. - 13 Cikovani, M. J.: Narodnyj gruzinskij epos ο prikovannom Amirani (Das georg. Volksepos über den angeschmiedeten Amiran). M. 1966, 29, 63 u. ö. — 14 Sbornik materialov dlja opisanija mestnostej i piemen Kavkaza 21. Tbilisi 1896,91-95. 15 tikovani (wie not. 13) 236. - 16 ibid., 26, 36 u. ö. — 17 Sbornik svedenij ο kavkazskich gorcach 5. Tiflis 1871, 53sq.; Sbornik materialov (wie not. 14) 12 (1891) 15-19; Narty. Adygskij geroiceskij epos (Die Narten. Das adyge. Heldenepos). M. 1974, 200. — 18 Prikljucenija Narta Sasrykvy i ego devjanosta devjati brat'ev. Abchazskij narodnyj epos (Die Abenteuer des Narten Sasrykva und seiner 99 Brüder. Abchas. Volksepos). M. 1962, 140 sq. -
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Sbornik svedenij (wie not. 17) 7 (1873) 11; Sbornik materialov (wie not. 14) 7 (1889) 30sq. 20 Sbornik „Nartla". Nal'cik 1966, 84sq.; Antologija balkarskoj poezii. Nal'cik 1959, 34; Karacaevskie narodnye skazanija. Cerkessk 1966, 32; Archiv Kabardino-balkarskogo instituta istorii, filologii, ekonomikij, f.f., papka num. 1 „b" (Überlieferungen über den Narten Sosruk). 21 Mikaev, N.: Skazki i legendy (Märchen und Sagen). M. 1960, 49; id.: Abchazskij narodnyj epos (Abchas. Volksepos). M. 1962, 136. - 22 Sbornik materialov (wie not. 14) 12 (1891) 15. - 23 Prikljucenija Narta Sasrykvy (wie not. 18) 141. 24 Sbornik „Nartla" (wie not. 20) 84. - 25 Sbornik materialov (wie not. 14) 25 (1898) 73sq.; Sbornik svedenij (wie not. 17) 7 (1873) lsq. - 26 Dalgat, B.: Pervobytnaja religija cecencev (Urreligion der Cecenen). Vladikavkaz 1893, 86. — 27 Cikovani (wie not. 13) 107. - 28 Kuznecov, V. Α.: Alanskijkul'tsolncai ognja. 10—e Krupnovskie ctenija po archeologii Severnogo Kavkaza (tezisy dokladov) (Alan. Sonnen· und Feuerkult. 10. Krupnover Lesungen über die Archäologie des Nordkaukasus [Thesen der Vorträge]). M. 1980, 53sq. Moskau
Uzdiat B. Dalgat
4. G r i e c h . M y t h o s . Der griech. Mythos betrachtet die erste Beschaffung des F.s und — nach dem Verlust — seine Wiedererlangung als Werk eines Gottes oder Helden. Die Bewohner von Argos ζ. B. schrieben den ersten Teil dieser Tat dem alten König Phoroneus zu 1 , den zweiten Teil — die Wiedererlangung durch List und Raub — dem Prometheus. S. Reinach 2 vertrat die Meinung, daß die bei anderen Völkern bekannte ,legende primitive', nach welcher die Beschaffung des F.s ζ. T. durch Tiere und Vögel vorgenommen wird, auch in Griechenland zu finden sei, so ζ. B. durch den Adler, der als einziger Vogel fähig ist, die Sonne festen Blickes anzusehen, und über eine so große Flugkraft verfügt, daß er bis zu den Sternen fliegen kann, von wo er sich das F. holt. Er ist als ursprünglicher F.bringer sowohl aus den Veden als auch aus der altgriech. Dichtung bekannt, in der er sehr früh mit dem Blitz assoziiert worden ist. So heißen ζ. B. bei Äschylos die Blitzschläge, welche das Schloß von Amphion in Brand stecken, pyrphoroi aietoi (feuertragende Adler). Die neuere Forschung schließt nicht aus, daß die Tat in Griechenland manchmal dem Adler zugeschrieben wurde, hält jedoch die Meinung der älteren Forschung für übertrie-
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ben, nach der Prometheus die anthropologiSowohl die Herkunftsbestimmung als auch sche Metamorphose' des Adlers darstellt 3 . eine später hinzugefügte Einleitung des seit In der griech. Tradition ist die Entdeckung dem 17. Jh. bes. im dt. Sprachgebiet sehr verdes F.s von jeher mit dem Gott und Helden breiteten F.segens ,Biß willkommen du feuri1 Prometheus verbunden. Bei Äschylos, der den ger Gast' stellen den Bezug zu Z.n her: In Stoff von Hesiod übernommen und neuge- Var.n dieses Sammelsegens — auch im bisher formt hatte, wird er zum Symbol des Be- ältesten Beleg von 1617 — heißt es, der Segen schützers der Menschheit vor Zeus, der diese stamme von einem Z., einem ,Christi. Zigeu2 vernichten wollte. Als ihr Wohltäter bringt er nischen König aus Egypten', aus ,India' etc. , den Menschen als erster das F. Im Gegensatz und die Einleitung berichtet u.a., wie 1714 dazu raubt er es bei Hesiod in einem Narthex in Königsberg, nachdem bereits sechs Z. hin(Rohrbinse; Mot. A 1415. I) 4 , nachdem Zeus gerichtet worden waren und die Reihe an den es den Menschen wegen eines Betruges des siebten kam, ein Brand ausbrach, den der Z. Prometheus an den Göttern entzogen hatte 5 . erfolgreich .versprach', worauf er die Freiheit 1 Die griech. Überlieferung weist Beziehun- erhielt· . Der F.segen der Z. wurde mündl. und schriftl. oft mit Herkunftsbestimmung und gen zu der des Kaukasus sowie zu altnord. 6 Einleitung durch —> Flugblätter und —»ZauberSagen und zum —* Kalevala auf . Der F.raub bücher des 18. und 19. Jh.s — wie das Romaist ein fest abgegrenztes mythol. Motiv gebliedie Egyptischen Geheimnisse ben, hat aber keinen Eingang ins eigentliche nusbüchlein und 4 — verbreitet . Achim von —» Arnim griff bei Märchen gefunden. Möglicherweise war der seiner Bearb. Das F.besprechen in Des Knaben ursprüngliche F.räuber ein Mensch, was dem Wunderhorn auf einen solchen Einblattdruck Stoff der Heldensage angemessen wäre. Da 5 zurück . Vermutlich wurde aus .Werbungsjedoch der Ort, an dem sich das F. befindet, oft der Himmel und die vom Helden geraubte gründen' der Segen einem Z. zugeschrieben, und Ägypten — damals konkurrierend mit ,neue Flamme' ein,Sonnenfunke' ist, erscheint die Gestalt eines Vogels, bes. die des Adlers, Indien als Urheimat der Z. angesehen — spielte dabei eine verstärkende Rolle. Als zugverständlich. Wenn statt dessen ein kleiner Vogel auftritt, kann mit K. von —> Spieß von kräftiger Begriff auf dem Titelblatt läßt sich der magiekundige Z. aus Ägypten auch an ,abgeblaßten Erzählungen' gesprochen weranderer Stelle in der magischen —» Hausväterden 7 , wobei es sich meist um europ. Märchen literatur belegen 6 . Oberschichtliche Tradihandelt. tionen standen Vorstellungen nicht im Wege 7 , 1 die bei F.bekämpfung neben F.heiligen, GeistPausanias 2, 20, 3; 2, 19, 5; weitere Beispiele bei lichen (Luther 8 ), Fürsten und Landesherren Sechant, L.: Le Mythe de Promethee. P. 1951,10. 2 Reinach, S.: Aetos Prometheus. In: id. (ed.): auch —> Juden und Z. als bes. hilfreich ansahen Cultes, mythes et religions 3. P. 1908, 6 8 - 9 1 . und Z.n gegenständliche Schutzmittel (F.3 4 Sechant (wie not. 1) 9 - 1 3 . — Hesiod, Theogonie, kugel, F.wurzel, weiße Wegwarte) und allg. V. 567; cf. Äschylos, Prometheus, V. 109sq.; eine magische Macht über das F. zuschrieben 9 . Sechant (wie not. 1) 100, not. 40 (Bibliogr. zum Narthex). - 5 Hesiod, Theogonie, V. 537sqq.; cf. Nilsson, M.: Geschichte der griech. Religion 1. Mü. 3 1957,27,143. - 6 H D M 2 , 1 0 9 ; Sechant (wie not. 1) 1 0 - 1 2 (ind. Parallelen). - 7 HDM 2, 109.
Jannina
Michael Meraklis
Feuersegen der Zigeuner, ein -> Segen, der vor —> Feuer (F.) schützen oder bei F.sbrünsten helfen soll, und gleichzeitig eine Sage, die von der magischen Gewalt der —» Zigeuner (Z.; Eigenbezeichnung: Roma) über das F. und ihrer Fähigkeit, Häuser feuerfest zu machen, erzählt. 35'
Zum Ausdruck kommen diese Vorstellungen in der meist aus zwei Teilen bestehenden Sage über den F.zauber der Z.: (1) Z. erhielten Quartier in einer Scheune und entzündeten dort zum Entsetzen ihrer Gastgeber ein F. Der Aufforderung, es sofort zu löschen, begegneten sie mit der Demonstration eines F.zaubers: Anhand von Stroh zeigten sie, daß, wenn sie es wollten, Gegenstände auch im F. unversehrt blieben. (2) Als Dank für die Beherbergung (Zusage eines christl. Begräbnisses) machten sie das Haus feuerfest (durch F.segen, -kugel, -stab). Oft folgen Berichte über die Wirksamkeit des Zaubers: Das Haus sei als einziges bei einem großen Brand verschont geblieben etc.
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Die Erzählung scheint charakteristisch für das dt. Sprachgebiet zu sein (bes. für den Süden, den Niederrhein, Mitteldeutschland, Schlesien und Böhmen) 10 . Aus Böhmen stammen auch einige tschech.-sprachige Belege 11 , weitere Var.n sind aus den Niederlanden nachzuweisen12. Der F.zauber im Stroh als spezifische Z.kunst erweist sich als sehr stabiles Motiv. Er wird weder üblichen F.bannern noch — bis auf isolierte Einzelfälle 13 — der Schwarzkünstlerszene zuzurechnenden Personen nachgesagt. Jedoch finden sich anstelle der Z. in manchen Schweiz., rheinländ., westfäl., ndl. und norddt. Var.n —> Heiden, Tatern, Heidenzwerge, —» Zwerge und Witte Wieven 14 . Zum einen liegt hier, wie bereits einige Sammler selbst anmerken, in vielen Fällen eine andere, jeweils regional geläufige Namengebung für Z. vor l s . So beschreibt eine Teil 1 enthaltende Fassung aus der Eifel, die von einer etwa 20köpfigen heidnischen Familie, ihrer seltsamen Sprache und bes. Gebräuchen berichtet, ganz offensichtlich die ethnische Gruppe der Z. 16 . Zum anderen verschmolzen die Vorstellungen über Z., Heiden und Zwerge 17 . Entweder wurden sie direkt gleichgesetzt, oder es wurden Motive übertragen, wie der F.zauber im Stroh von den Z.n auf die Zwerge 18 . Nicht als Zauberdemonstration oder alltägliche Gewohnheit, sondern als nutzbringende Fähigkeit wird der F.zauber der Z. in tschech. Var.n beim Decken von Strohdächern geschildert, meist mit der Darstellung einer mißlungenen Nachahmung: Aus Kostengründen wollte ein Bauer (geiziger Nachbar) das Stroh der anderen Dachseite (des gesamten Daches) nach dem gleichen Verfahren selbst zurechtschneiden und brannte dabei sein eigenes Haus ab 19 . Vereinzelt belegt ist das Korndreschen mittels F.zaubers 20 . Die Ausübung des Dreschzaubers durch Jesus findet sich, kombiniert mit der fatalen Imitation, bereits bei Hans —» Sachs im Schwank über —» Christus und Petrus im Nachtquartier (AaTh 752 A, 791) 21 . Nur in einigen österr. Var.n wird der F.zauber der Z. vom Gastgeber mit einem Gegenzauber beantwortet: Er bringt Wasser im Sieb (cf. —»Danaiden) zum Löschen herbei, da wissen die Z., daß „er mehr konnte als sie" 22 . Mit den Zeilen „Kochen's Wildpret in dem Hut / und der Hut nicht brennen thut"
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wird der F.zauber der Z. auch im Volkslied gewürdigt 23 . Ein realer Hintergrund dieser Erzählungen ist in der beständigen Bedrohung der Häuser durch Brandgefahr und in den unzureichenden Abwehrmaßnahmen früherer Zeiten zu sehen 24 . Vielleicht kamen Beobachtungen über das geschickte alltägliche Hantieren der Z. mit dem F. den ohnehin schon vorhandenen Zuschreibungen magischer Fähigkeiten entgegen. Entsprechungen zeigen die gegenüber Z.n über Jh.e hinweg praktizierte Vertreibungspolitik 25 und in diesen Sagen enthaltene Berichte von ihrem Verschwinden, ihrer gewaltsamen Vertreibung oder sogar von einem Befehl zur ,Ausrottung' 26 . Geschichten über den F.zauber der Z. scheinen schon relativ früh tradiert worden zu sein. Bereits 1616 — fast gleichzeitig mit dem bisher frühesten Beleg für den F.segen der Z. (1617) — beschrieb H. F. Mosemann in der Geographia historica27 den F.zauber als Kunst der Z. Verschiedenste Werke des 18. Jh.s — wie der Vollkommene Teutsche Jäger (1724) oder der Schau—Platz Tharsanders (1739) — berichten ebenfalls davon, letzterer als von einer ,gemeinen Sage' 28 . Der Glaube an die Macht der Z. über das F. als unter Landbewohnern herrschende Meinung wurde im 19. Jh. auch von Kriminalisten überliefert 29 . Vorwiegend stammen die Erzählbelege — 1838 mit L. —» Bechsteins Var. aus Thüringen beginnend 30 — aus der Mitte des 19. Jh.s, was als eine Folge der sehr zahlreichen Sageneditionen dieser Zeit anzusehen ist31. Den vor allem dem dt. und germ. Altertum verpflichteten Sammlern ist sicher nicht eine bes. Suche nach Erzählungen über Z. zu unterstellen 32 . Die Tradierung der Erzählung vom F.zauber der Z. steht in einem engen Verhältnis zur Popularität der F.segen allg. und speziell des F.segens der Z. 33 . Für die neutrale bzw. positive Darstellung des F.zaubers in der Sage nur ausnahmsweise wird er als schwarze —> Magie 34 gewertet — ist ein Einfluß des vor allem dem kirchlichen Bereich zugeordneten F.banns und F.segens in Betracht zu ziehen. 1 Harmjanz, H.: Die dt. F.segen und ihre Var.n in Nord- und Osteuropa (FFC 103). Hels. 1932, bes. 3 5 - 1 0 4 ; Ohrt, F.: F.segen. In: H D A 2, 1 4 3 4 1437; Freudenthal, H.: Das F. im dt. Glauben und Brauch. B./Lpz. 1931, 4 0 4 - 4 1 0 ; Trümpy, H.: Ein
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Feuersegen der Zigeuner
neuer Schweiz. Beleg für einen bekannten F.segen. In: Schweizer Vk. 68 (1978) 9 - 1 1 . - 2 cf. Harmjanz (wie not. 1) 41; Freudenthal (wie not. 1) 407, 552; Eis, G.: Zu dem F.bann des Z.königs. In: Zs. für dt. Philologie 80 (1961) 206-211. - 3 Harmjanz (wie not. 1) 3 (Faks.), 57 sq. (Einleitung als ,Reklamemäntelchen' des Segens). - 4 cf. HDA 2, 1436; Albertus Magnus [. . .] egypt. Geheimnisse [. . .]. (Reutlingen s.a.) Nachdr. Fbg 1979, 1. Theil,. 47 sq., 2. Theil, 58; cf. allg. Spamer, Α.: Romanusbüchlein. ed. J. Nickel. B. 1958, 5 - 2 2 ; Wanderer, K.-P.: Gedr. Aberglaube. Studien zur volkstümlichen Beschwörungslit. Diss. Ffm. 1976. — 5 Arnim, L. A. von/Brentano, C.: Des Knaben Wunderhorn 1 - 9 . ed. H. Rölleke. Stg./B./Köln/Mainz 1979, t. 1, 18—20, t. 4, 88—92. — 6 Ein schön=neu erfundenes Kunst=Büchlein [. . .] von D. Pleinhorati, Königlichen Leib=Medico in Egypten, als einem gebohrnen Z. Ffm./Lpz. s. a. (mehrere Drucke 18. Jh.); cf. Eis (wie not. 2) 209—211 (erwägt zigeuner. Ursprung); zur Beliebtheit Ägyptens in Titeln von Zauberbüchern cf. Gräße, J. G. T.: Bibliotheca magica et pneumatica [. . .]. (Lpz. 1843) Nachdr. Hildesheim 1960, 27; Wanderer (wie not. 4) 77sq., 83, 101; zur nachma. Wertung von Kabbala, Moses und Ägypten cf. Peuckert, W.-E.: Das 6. und 7. Buch Mosis. In: Zs. für dt. Philologie 76 (1957) 163 — 187, bes. 163-167; zur Bezeichnung des Romanusbüchleins als ,Z.büchlein' cf. Kehr, K./Stewart, J.: Dt. Zaubersprüche in Virginia und West Virginia (U.S.A.). In: Hess. Bll. für Volks- und KulturforschungN. F. 14/15 (1982/83) 3 1 - 5 0 , hier 36, 38. - 7 Zur ,unterschichtigen' Formulierung ,einst gelehrten Gutes' cf. Peuckert, W.-E.: Die egypt. Geheimnisse. In: Arv 10 (1954) 4 0 - 9 6 , bes. 79, 93; zum Interesse an Magie und zur Kenntnis magischer Vorstellungen in Diss.en im Barock cf. Daxelmüller, C.: Disputationes curiosae. Würzburg 1979. - 8 Brückner, 302sq. - 9 cf. HDA 2, 14291431; HDA 9, 231. - 10 Allg. v. Peuckert, W.-E.: Abendfeuer der Z. In: HDS, 30—32; außer den ca 25 bei Freudenthal (wie not. 1) 446 sq., not. 11 genannten Belegen: Wolf, J. W.: Dt. Märchen und Sagen. Lpz. 1845, num. 69; Rochholz, E. L.: Schweizersagen aus dem Aargau 1—2. Aarau 1856, num. 223 sq., 426; Schmitz, J. H.: Sagen und Legenden des Eifler Volkes. Trier 1858, 50; Alpenburg, J. N. Ritter von: Dt. Alpensagen. Wien 1861, num. 172, 381; Wucke, C. L.: Sagen der mittleren Werra [. . .] (1864). ed. H. Ullrich. Eisenach 2 1891, num. 143; Endt, J.: Sagen und Schwanke aus dem Erzgebirge. Prag 1909, num. 69; Watzlik, H.: BöhmerwaldSagen. Budweis 1921, 71; Depiny, Α.: Oberösterr. Sagenbuch. Linz 1932, num. 2 4 7 - 2 5 0 , 263, 285, 287, 292. 11 CL 8 (1899) 279; 12 (1903) 61sq. (3 Var.n); 30 (1930) 287. - 12 Sinninghe, 58, num. 86 (8 Var.n); cf. für Belgien Wolf, J. W.: Ndl. Sagen. Lpz. 1843, num. 408. - 13 Endt (wie not. 10) (Zauberer Hahn); Kühnau, R.: Schles. Sagen 3. Lpz. 1913, num. 1559 (Handwerksbursche); Depiny (wie not. 10) num.
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285 (magiekundiger Bauer). - 14 Kuhn, Α.: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen [. . .] 1—2. Lpz. 1859, num. 120 (Heiden); Schell, O.: Berg. Sagen. Elberfeld 1897, 47, num. 70; 232, num. 210 (Heiden); 296, num. 9 (Zwerge); Wolf (wie not. 10) (Kabautermännchen, Lappländer); HessBllfVk. 3 (1904) 56 (Heiden); Schmitz (wie not. 10) (Heiden); Strackerjan, L.: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 1. Oldenburg (1867) 2 1909, num. 246 c (Tater); Rochholz (wie not. 10) (Heidenzwerge); Sinninghe 58, num. 86 (4 Var.n für Erddämonen, je 2 für Z. und Witte Wieven); Wolf, J. W.: Hess. Sagen. Lpz. 1853, 53 (Wildweiberchen); cf. Meertens, P. J.: Witte wieven in Holland. In: Rhein. Jb. für Vk. 10 (1959) 213-221, hier 217sq., 220sq. - 15 ζ. B. Strackerjan (wie not. 14) 448sq.; Kuhn (wie not. 14) 113; cf. Wuttke, Α.: Der dt. Volksaberglaube der Gegenwart, ed. Ε. H. Meyer. B. 1900, 149. - ,f ' Schmitz (wie not. 10). 17 cf. Zaunert, P.: Rheinland Sagen 2. Jena 1924, 169sq. - 18 Winkler, K.: Heiden. In: HDA 3, 1634-1653, bes. 1635, 1650-1653; Müller-Bergstrom, W.: Zwerge und Riesen. In: HDA 9 (Nachträge) 1008-1138, bes. 1119sq. - 19 CL 12(1903) 61 sq. - 20 Schönwerth, F.: Aus der Oberpfalz [. . .] 3. Augsburg 1859, 161. 21 Rochholz 2 (wie not. 10) 313 sq. - 22 Depiny (wie not. 10) num. 263, 285, 287, 292. - 23 Meier, E.: Schwäb. Volkslieder. B. 1855 (Kirchheim [Teck] 1977), num. 71. - 24 Lindner, G.: Das F. Brünn 1881, bes. 169-183 (F.löschwesen); durch F.festmachen entlarvter Versicherungsbetrug bei Leoprechting, K. von: Aus dem Lechrain [. . .] 1. Mü. 1855, 23. - 25 cf. Kenrick, D./Puxon, G.: Sinti und Roma — die Vernichtung eines Volkes im NS-Staat. Göttingen 1981, 3 9 - 5 2 (Orig.: The Destiny of Europe's Gypsies. L. 1972); Mode, H./Wölffling, S.: Z. Lpz. 1968, 154-162. - 2 6 z . B . Reiser, K.: Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus 1. Kempten 1894, num. 248; Kuhn (wie not. 14). 27 Moseman[n], H. F.: Geographie historica [. . .]. Schmalkalden 3 1616, 466; cf. auch Gabler, Α.: Altfränk. Dorf- und Pfarrhausleben 1559—1601. Nürnberg 1952, 63 (Beleg für F. von Z.n mitten in der Scheune von 15 73). — 28 Fleming, H. F. von: Des Vollkommenen Teutschen Jägers Anderer Haupt=Theil [. . .]. Lpz. 1724, 44; Tharsander [i. e. G. W. Wegener]: Schau=Platz Vieler Ungereimten Meynungen und Erzehlungen 2. B. 1739, 256sq.; cf. auch Hönn, G. P.: Betrugs=Lexicon [. . .]. Coburg 2 1 761, 5 1 8. - 29 Liebich, R.: Die Z. in ihrem Wesen und in ihrer Sprache. Lpz. 1863, 63 sq. (Brand in Gera von 1780; gleiche Qu. wie ζ. B. Köhler, J. Α. E.: Volksbrauch, Aberglauben, Sagen und andre alte Ueberlieferungen im Voigtlande. Lpz. 1867, 551). - 30 Bechstein, L.: Der Sagenschatz und die Sagenkreise des Thüringerlandes 4. Meiningen/Hildburghausen 1838, 175-178. 31 cf. Schenda, R.: Mären von dt. Sagen. Bemerkungen zur Produktion von „Volkserzählungen" zwischen 1850 und 1870. In: Geschichte und Ges. 9
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Feuerzeug — Fierabras
(1983) 2 6 - 4 8 . - 3 2 Bereits Kuhn (wie not. 14) relativiert Rochholzsche Heideninterpretationen und weist trotz des Wortes Heiden auf die Z. für den F.zauber hin; zur Tendenz, bei Sagen Parallelen zum germ. Altertum zu ziehen, cf. auch „An die Feuerbeschwörung, die schon Wuotan übte, wagten sich auch die Zigeuner" in Gradl, H.: Sagenbuch des Egergaues. Eger (1893) 2 1913, not. zu num. 134 (Königsberger Hinrichtungsszene des F.segens als Sage, lokalisiert in Eger; zur Entwicklung neuer Sagen aus Zauberbüchern cf. Peuckert [wie not. 7] 81). — 33 Z. als Zauberbuchbesitzer bei Schönwerth (wie not. 20) 160; zur Beliebtheit der Zauberbücher wegen des F.segens cf. Spamer (wie not. 4) 34. - 34 cf. not. 13 und 22; Beleg für F.zauber der Z. als zu verurteilende Magie bei Birlinger, Α.: Sagen, Legenden, Volksaberglauben 1. Wiesbaden 1874, num. 359.
Göttingen
Ines Köhler
Feuerzeug —» Geist im blauen Licht Fibel —» Lesebuch Fiddevav (AaTh 593), ein Schwankmärchen, in dem die handelnden Personen durch —» Zauberwirkung zu zwanghaftem Hervorbringen einer Silbe (prrr-prrr-prrr, put-putput), eines Wortes (Danke!) oder eines merkwürdigen Wortgebildes (eben ζ. B. Fiddevav, Fiddehau oder ähnliches) genötigt werden. In einigen Var.n müssen die Verzauberten bei jedem Wort furzen (—» Furz), ein Motiv, das in anderem Zusammenhang, nämlich als Strafe für die freventlich spottende Ehebrecherin, in der von Roswitha von Gandersheim episierten Gangolf-Legende (10. Jh.) erstmals belegt ist1. Beides, die unsinnige Wortwiederholung wie auch die Vorstellung unentwegten Furzens, mag bei entsprechend drastischer Wiedergabe Erzähler und Zuhörer ungemein belustigen, wie ja auch in der verwandten Erzählung vom —> Klebezauber (AaTh 571) das eindrückliche Bild einer Kette unfreiwillig aneinanderhaftender Personen nicht nur die schwermütige Prinzessin, sondern sicherlich auch die Rezipienten zum Lachen bringt. In der geläufigsten Form von AaTh 593 geht es um den Heiratswunsch eines armen Kerls, dem der Vater des Mädchens (oder auch dieses selbst) eine Absage erteilt. Eine zauberkundige Person (Hexe, Priester, Teufel) gibt dem abgewiesenen
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Freier einen Stein, der - in die Asche gelegt beim Feueranblasen durch Bauer, Bäuerin, Knecht, Magd etc. die zwanghafte Redeweise hervorruft, oder eine Zauberwurzel unter der Türschwelle bewirkt den Furzzwang. Der Freier kann durch Entfernung des magischen Gegenstands den Zauber lösen und erhält zum Dank dafür die Hand des Mädchens 2 .
Die nach bisherigem Befund nicht eben häufig aufgezeichnete Erzählung weist gleichwohl eine weite Verbreitung auf. Sie findet sich nach den Angaben bei AaTh in Finnland, Norwegen und Dänemark, in Litauen 3 , relativ zahlreich (wohl aufgrund dort bes. intensiver Sammeltätigkeit) in Irland 4 , nur vereinzelt im dt. Sprachgebiet 5 , mehrfach in Frankreich 6 , in Katalonien, Italien 7 , Ungarn 8 , Griechenland, desgleichen in Polen und Rußland 9 . Europ. Auswanderer mögen sie in den nordund mittelamerik. Bereich übertragen haben 10 . Kontaminationen, etwa mit AaTh 592: —» Tanz in der Dornhecke'1'1, wo ja auch ein auf Zauber beruhendes zwanghaftes Verhalten geschildert wird, sind selten. Hist. Zeugnisse wurden, von dem erwähnten Motiv in der Gangolf-Legende abgesehen, bisher nicht bekannt. I cf. EM 1,824; 3,453 (mit Lit.). - 2 cf. die Inhaltsangabe bei Delarue/Teneze 2, 506 sq. — 3 Zusätzlich zu AaTh: Aräjs/Medne. - 4 0 Stiilleabhäin/ Christiansen. — 5 cf. Ranke 2 , 3 4 6 . - 6 wie not. 2. — 7 Toschi, P./Fabi, Α.: Buonsangue romagnolo. Bologna 1960, num. 116. - 8 Kecskemeti/Paunonen. - 9 SUS; cf. auch Hnatjuk, V.: Das Geschlechtleben des ukr. Bauernvolkes 2. Lpz. 1912, num. 237. - 10 Ergänzend zu AaTh: Flowers; Robe. II Arnaudin, F.: Contes populaires de la GrandeLande 1. Bordeaux 1966, num. 57.
Göttingen
Elfriede Moser-Rath
Fiedeln lernen —» Einklemmen unholder Wesen Fierabras, frz. —» chanson de geste aus dem Zyklus der Königsgeste, Ende des 12. Jh.s entstanden und in zahlreichen Hss. erhalten, z.T. mit einer erw. Einleitung (La Destruction de Rome). Die epische Dichtung erfreute sich im MA. großer Beliebtheit; es sind in Versform eine prov. Version sowie mehrfache mittelengl. und ital. Bearb.en überliefert, dazu
1101
Figurenstil — Fiktion, Fiktionsmärchen
kommen lat., frz., engl., altir., dt., ndl. und span. Prosafassungen, die z.T. in der Form von Volksbüchern* weit über das MA. hinaus populär waren. Die Titelgestalt steht vor allem im ersten Teil der chanson im Vordergrund; im weiteren Handlungsverlauf spielt F. nur eine marginale Rolle. I n h a l t . Nachdem die Sarazenen die Passionsreliquien aus Rom geraubt und nach Spanien entführt hatten — diese Begebenheiten werden ausführlich in der Destruction de Rome erzählt - , fordert der riesenhafte Sohn des Emirs, F., der sich bereits bei dem Zug gegen Rom an Tapferkeit hervorgetan hatte, die Ritter des verfolgenden Heeres —> Karls des Großen zum Zweikampf heraus. Olivier, obwohl bereits schwer verwundet, stellt sich der Herausforderung und überwindet F. nach einem heldenhaften und ritterlichen Kampf, in dessen Verlauf die Kämpfer ihre Wunden mit dem Balsam Christi heilen (Mot. D 1500.1.19.2). F. schwört den heidnischen Göttern ab und will sich taufen lassen (cf. Mot. V 331.1.3). Olivier und vier weitere pairs de France geraten jedoch in sarazen. Gefangenschaft und werden zusammen mit den verbleibenden Rittern der douze pairs, die Karl als Gesandte zum Emir geschickt hatte, in einem Turm in Aigremore eingesperrt. Doch Floripas, die Tochter des Emirs, verpflegt aus Liebe zu Gui de Bourgogne die Gefangenen mit Hilfe eines Zaubergürtels (Mot. D 1472.2.1) und stärkt sie bei der Verteidigung des Turms mit den von ihr verwahrten Passionsreliquien (cf. Mot. V 144.1). Nach zahlreichen Kämpfen gelingt es schließlich Richard de Normandie, als Bote zu Karl durchzustoßen - ein weißer Hirsch trägt ihn über den Fluß und rettet ihn vor dem Riesen Agolaffre (cf. Mot. Β 551) - und Verstärkung herbeizuholen. Das Heer Karls erobert die Grenzfestung, wo Agolaffre und sein häßliches Riesenweib getötet werden (cf. Mot. F 531.1.0.2), gelangt nach Aigremore und besiegt schließlich die Sarazenen. Floripas läßt sich taufen (Mot. V 331.5), wird mit Gui vermählt und herrscht zusammen mit F. über das Reich ihres Vaters. Die Reliquien, die durch Wunderzeichen ihre Echtheit bewiesen haben (Mot. V 140.4), werden nach St. Denis überführt, woran, so beginnt und schließt die Dichtung, heute noch die Foire du Lendit erinnere.
Dieser Hinweis auf den Jahrmarkt von St. Denis und die zentrale Rolle, die die Passionsreliquien in der Fabel der Dichtung einnehmen, machen einen Ursprung der chanson im Umkreis der Abtei von St. Denis sehr wahrscheinlich (Bedier 1913, 156-164). Wie die reiche Überlieferung zeigt, hat die Dichtung durch die Verschmelzung von epischen (Kampfschilderungen, Rüstungs- und Pferde-
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beschreibungen u. a.) und romantischen (Liebe der Floripas), märchenhaften (weißer Hirsch, häßliches Riesenpaar u. a.) und legendenhaften Zügen (Engelserscheinungen, Reliquienwunder u.a.) sowie durch die spannungsreiche Erzählweise, die auch des gelegentlichen satirischen Untertons nicht entbehrt, den Geschmack des zeitgenössischen Publikums sehr gut getroffen. A u s g . n : Kroeber, A./ Servois, G. (edd.): F. P. 1860. - Gröber, G.: La Destruction de Rome, premiere branche de la chanson de geste de F. In: Rom. 2 (1873) 1 - 4 8 . - Brandin, L.: La „Destruction de R o m e " et „F." Ms. Egerton 3028, Musee Britannique, Londres. In: Rom. 64 (1938) 1 8 100. - Bekker, I. (ed.): Der Roman von F., prov. B. 1829. - Stengel, Ε. (ed.): El cantare di Fierabraccia et Uliuieri. Marburg 1881. - Herrtage, S. J. (ed.): Sir Ferumbras (EETS, ES 34). L. 1879. Hausknecht, E. (ed.): The Romaunce of the Sowdone of Babylone and of Ferumbras (EETS, ES 38). L. 1881. - O'Sullivan, Μ. I. (ed.): Firumbras and Otuel and Roland (EETS, OS 198). L. 1935. Lit.: Jarnik, H.: Studie über die Komposition der F.dichtungen. Halle 1903. - Bedier, J.: Les Legendes epiques 4. P. 1913. - Jauss, H. R.: Chanson de geste et roman courtois. Analyse comparative du „ F . " et du „Bei Inconnu" (1963). In: Altfrz. Epik (Wege der Forschung 354). ed. H. Krauss. Darmstadt 1978, 3 1 4 - 3 3 7 (mit einem „Nachtrag 1974"). - Severs, J. B. (ed.): Α Manual of the Writings of Middle English 1 0 5 0 - 1 5 0 0 . 1: Romances. New Haven, Conn. 1967, 8 1 - 8 7 , 2 5 9 262.
Bonn Figurenstil haftigkeit
Karl Reichl Abstraktheit, —> Flächen-
Fiktion, Fiktionsmärchen. Als F.en (schwed. fikt, engl, fict) bezeichnete C. W. von —» Sydow 1934 kurze dichterische „Einfälle [des Volkes] in Prosa, die genau so wie der Volksglaube die Form der Behauptung besitzen". Er nannte sie F.en, „da sie Glauben nur fingieren, ohne solcher zu sein", und stellte sie als eine Kategorie der Prosa-Volksdichtung neben Märchen- und Sagenkategorien 1 . Von Sydow unterteilte die F.en im wesentlichen nach funktionalen Kriterien in drei Gruppen 2 : (1) S c h e r z f i k t i o n e n (jocular ficts) sind meist mit Naturphänomenen verbundene Redensarten
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Fiktion, Fiktionsmärchen
(ζ. Β. bei Abendrot: der liebe Gott brate die Kindlein, bei Nebel: das Moosweib braue). (2) E r z i e h e r i s c h e F.en (pedagogical ficts, Kinderfiktionen, imperative ficts, Schreckfiktionen) gelten vor allem Kindern und enthalten Pseudoerklärungen (der —> Storch hole die Kinder aus einem Tümpel) oder Warnungen (Kinder sollen nicht an den Brunnen, ins Kornfeld gehen, sonst hole sie der Brunnen-, Korngeist). (3) —> K a u s a l f i k t i o n e n (causal fictions, motival ficts, aetoficts) sind pseudomythol. Erklärungen für nicht mehr verstandene Sitten (als Opfer für einen Geist die drei letzten Halme auf dem Kornfeld stehenlassen), bilden eine Gruppe der Ursprungssagen (—» Ätiologie) und können geglaubt werden. Unter F . s m ä r c h e n verstand von Sydow Märchen, die sich aus Kinderfiktionen entwickelt hätten, wie AaTh 327 A: —> Hansel und Gretel und AaTh 333: —> Rotkäppchen3. Diesen verwandt, da ebenfalls auf Kinderfiktionen aufbauend, seien einige Tiermärchen, ζ. B. AaTh 123: —* Wolf und Geißlein und AaTh 124: Wolf im Schornstein4. Der Terminus F.smärchen hat sich in der Forschung nicht durchgesetzt, er wird von den Begriffen Warn- oder —> Schreckmärchen abgedeckt. Die Kategorie F. überlappt sich mit der späteren von Sydowschen Gattung —» Dit: Zwar bilde F. keine homogene Untergruppe des Dit, sei aber in fast allen Dit-Gruppen zu finden 5 . F.en charakterisierte von Sydow u. a. durch die in ihnen auftretenden, meist fiktiven und nicht in Glaubensfabulaten (—» Fabulat) vorkommenden Wesen. L. —> Honko schlug vor, den Terminus F. „auf jene Quasiwesen zu beschränken, für die im eigentlichen Volksglauben keine Deckung vorhanden ist" und die als nicht ortsgebunden in beliebigem Zusammenhang nach Bedarf verwendet werden 6 . Für die Volksglaubensforschung wurden die Kategorien Glaubensvorstellung und F. von A. Eskeröd durch die des dichterischen Bildes, der —> Metapher, ergänzt 7 . Mit Hilfe der Kategorie F. griff von Sydow die Theorien W. —» Mannhardts und seiner Nachfolger (—» Mythol. Schule) wie auch Arbeiten zeitgenössischer Religionswissenschaftler an: Er warf ihnen vor, Redensarten für Volksglauben zu halten und daraus survivals (—> Survivaltheorie) zu konstruieren 8 . Diskutiert und verwendet wurde der Begriff F. vor allem in Arbeiten nord. Volkskundler zur
1104
Tradition des Supranormalen 9 , die als Kritik vermerkten, daß von Sydow den Anteil der - » Phantasie ζ. T. überschätzt und bei der Zuschreibung von —> Fiktionalität nicht genügend differenziert habe 10 . Unbestritten bleibt von Sydows Verdienst, mit Hilfe der Kategorie F. die quellenkritische Bedeutung einer Gattungsanalyse bes. für die Volksglaubensforschung herausgestellt zu haben. 1 Sydow, C. W. von: Kategorien der Prosa-Volksdichtung. In: Festschr. J. Meier. B./Lpz. 1934, 253-268, hier 265 (= von Sydow, 60-88, hier 79sq.). - 2 von Sydow, 80—84; zu den durch seine späteren Ergänzungen und engl. Übers.en sehr zahlreich gewordenen Untergruppen und ihren Termini cf. Bodker, Folk Literature, 100 und pass. — 3 von Sydow, 85; id.: Popular Prose Traditions and Their Classification. In: Saga och sed (1938) 17-32 (= von Sydow, 127-145, hier 143, 145). - 4 von Sydow, 142sq. - 5 id.: Folklig dit-tradition. Ett terminologiskt utkast. In: Folkminnen och folktankar 24 (1937) 216-232 (engl, in: von Sydow, 106—126, hier 126). - 6 Honko, L.: Geisterglaube in Ingermanland 1 (FFC 185). Hels. 1962, 137. 7 Eskeröd, Α.: Ärets äring. Sth. 1947, 41 sq.; cf. Honko (wie not. 6) 137-139; Alver, B.: Category and Function. In: Fabula 9 (1967) 64-69. 8 Bereits in Arbeiten der 20er Jahre kommt von Sydows neue, kritische Position in der Volksglaubensforschung zum Ausdruck, cf. Berg, G.: C. W. von Sydow (1878-1952). In: Arv 2 5 - 2 6 (1969-70) 171-188, hier 178-181; Bibliogr.: von Sydow, 249-251; mit der F. beschäftigte sich von Sydow ausführlicher außer in den Beitr.en (wie not. 1 und 5) in: The Mannhardtian Theories about the Last Sheaf and the Fertility Demons from a Modern Critical Point of View. In: FL 45 (1934) 291-309 (= von Sydow, 89-105) und in: Religionsforskning och folktradition. In: Folkminnen och folktankar 28(1941)3-21 (engl, in: von Sydow, 166-188, 170sq. [Kritik an HDA-Beispielen]); eine ähnliche Kritik Mannhardtscher Thesen und eine Differenzierung zwischen Volksglaube und -dichtung brachte Mackensen, L.: Tierdämonen? Kornmetaphern! In: Mitteidt. BU. für Vk. 8 (1933) 109—121; cf. Honko, L.: Genre Analysis in Folkloristics and Comparative Religion. In: Temenos 3 (1968) 48-66, bes. 56sq. - 9 Hinweise auf entsprechende Arbeiten bei Berg (wie not. 8) 179—182; Honko (wie not. 6) 137, not. 9; Pentikäinen, J.: The Nordic Dead-Child Tradition (FFC 202). Hels. 1968,123 sq. - 10 cf. Kuusi, M.: Regen bei Sonnenschein (FFC 171). Hels. 1957, 371-375; Hultkrantz, Α.: „Miscellaneous Beliefs". Some Points of View Concerning Informal Religious Sayings. In: Temenos 3 (1968) 68-82, hier 70sq.; Honko (wie not. 6) 136 sq.
Göttingen
Ines Köhler
1105
Fiktionalität
Fiktionalität 1. Begriffsgeschichte - 2. Wahrheitsproblem und F. - 3. Konstituierung von F. im Kommunikationsprozeß — 3.1. Kommunikationsteilnehmer - 3.2. Zeit und Ort - 3.3. Intentionalität - 3.4. F.sindikatoren im Text — 4. Fiktionskritik und Legitimation von F.
1. B e g r i f f s g e s c h i c h t e . Der Begriff Fiktion ist aus lat. fingere (formen, künstlerisch schaffen; sich vorstellen, erdichten; sich verstellen, fälschlich vorgeben) abgeleitet. Engl, fiction und frz. fiction bezeichnen erfundene Erzählliteratur in Prosa. Für dt. Fiktion blieb der Gebrauch auf die Dichtungstheorie beschränkt. Fiktion wurde als Gattungsbegriff von C. W. von —» Sydow in die Volkskunde eingeführt (—> Fiktion, Fiktionsmärchen). In der neueren Diskussion wird mehr von F. gesprochen, nachdem sich die Erkenntnis durchsetzt, daß es sich nicht um einen ontologisch bestimmbaren Status eines Textes, sondern um eine jeweils zugeschriebene Eigenschaft handelt. Die dabei entwickelten Beschreibungskriterien haben für Hochliteratur und Volksliteratur gleichermaßen Relevanz. 2. W a h r h e i t s p r o b l e m u n d F. Fiktionales ist erfunden, ohne zweckorientierte Lüge zu sein 1 . Das Verhältnis von F. zu Wirklichkeit und Wahrheit läßt sich aussagelogisch präzisieren: F. ist mit dem Kriterium wahr/ falsch nicht zu beurteilen 2 . Die semantischlogische Unterscheidung zwischen Äußerungen, die nur ,Sinn' (Prädikation) konstituieren (Einhorn, Drache), und solchen, die auf empirische Wirklichkeit beziehbar sind und damit ,Bedeutung' (Referenz) haben 3 , zeigt, daß Fiktionen faktizitäts-/wahrheitsindifferent und doch sinnvoll sein können. Damit sind —» Phantasietätigkeit 4 und Illusionsbildung 5 jenseits von ontologischer Kontroverse linguistisch erklärt und legitimiert. Fehlende Referenz als Bestimmung von F. 6 ergibt sich nicht allein aus eindeutig nicht referentialisierbaren (,phantastischen') Textkomponenten, sondern auch oder allein (bei ,mimetischen' Komponenten) durch den Gebrauch in einer bestimmten Situation, die eine Bezugnahme auf empirische Personen oder Sachverhalte aufgrund des Vorwissens der Kommunikationsteilnehmer nicht möglich macht (z.B. Till —> Eulenspiegel) 7 .
1106
Die Grundlage für die Vororientierung über —> Faktizität (wahr/falsch), d. h. für eine mögliche Referentialisierbarkeit, bildet die Weltvorstellung jedes einzelnen Kommunikationsteilnehmers. Das relativ hohe Maß an kultureller Einheitlichkeit solcher Wirklichkeitsmodelle 8 beruht auf Sozialisation, Kooperation und Kommunikation. Die hist., soziale und individuelle Variabilität in der Zuschreibung von F. ist in der Unterschiedlichkeit von Wirklichkeitsmodellen begründet, von denen manche, insbesondere in frühhist. Zeit und in sog. Primitivkulturen eine Ausgrenzung von Fiktionen überhaupt nicht kennen. Fiktionsbewußtsein entwickelt sich erst im Kontext der Konkurrenz zwischen magischen/metaphysischen und naturwiss. Wirklichkeitsmodellen etwa seit Aristoteles (Mimesis) und ist von Widerständen in der Fiktionskritik einerseits und von Legitimationsbestrebungen andererseits begleitet. Gleichzeitig wird fiktionsloses Bewußtsein in Volksglauben und Brauch weiterhin tradiert. Die Variabilität in der Zuschreibung von F. zeigt sich vielfach: Ein —» Mythos kann als wahre Geschichte, als fiktionale Erzählung und als symbolische Welterklärung aufgefaßt werden. Eine Sage verliert im Laufe ihrer Tradierung ihre Referenz auf eine konkrete Person oder einen bestimmten Ort (cf. —> Kristallisationsgestalten). Ein magischer Vorgang wird rationalisiert 9 . —» Prodigienliteratur verändert ihren Wahrheitsgehalt. Ursprünglich geglaubte bibl. Stoffe geben sich als fiktionales —» Exemplum zu erkennen 10 . Bestandteile von —> Science fiction erhalten später einen faktischen Bezug. F. erweist sich daher auch als Kriterium zur Gattungsbestimmung als unzuverlässig, etwa in der Unterscheidung von —> Märchen und —» Sage, —» Fabulat und —» Memorat. Unbeschadet der jeweils zugeschriebenen und akzeptierten F. eines Textes, d.h. der mangelnden Referenz auf konkrete raumzeitlich und personell bestimmbare Komponenten des Wirklichkeitsmodells eines Kommunikationsteilnehmers, ist eine mittelbare Beziehbarkeit auf ein Wirklichkeitsmodell über den Modus der Verallgemeinerung (ζ. B. ,menschliche Erfahrung'), der Allegorisierung oder Symbolisierung, begleitet von anteilnehmender Identifikation (cf. —> Identifi-
1107
Fiktionalität
kationswert), möglich. Die sprachlich evozierte ,fiktionale Welt' ist niemals eine völlig andere 11 . Über die Konstituierung solcher zusätzlicher Bedeutungsebenen im Umgang mit Fiktionen gibt es theoretische Konzeptionen 12 , die der empirischen Überprüfung von Textverarbeitungsprozessen bedürfen. 3. K o n s t i t u i e r u n g von F. im K o m m u n i k a t i o n s p r o z e ß ist beschreibbar unter Berücksichtigung aller Komponenten der Kommunikationssituation 13 . Die einander fakultativ unterstützenden Bedingungen fiktionaler Kommunikation können als spezifische Handlungskonvention zusammengefaßt werden 14 , deren allmähliche Erlernbarkeit (z.B. bei Kindern) bei unterschiedlicher inhaltlicher Zusammensetzung (z.B. nach Bildungsvoraussetzungen) empirisch nachweisbar ist 15 . 3.1. K o m m u n i k a t i o n s t e i l n e h m e r sind 16 : der anonyme oder biographisch faßbare Produzent des Textes (Autor), der mündl. (z.B. Erzähler) oder schriftl. (Distributionsinstanzen) Vermittler, der Rezipient (Zuschauer, Hörer, Leser) und der Verarbeiter (z.B. Kunstmärchen als Nachdichtung). Die Entscheidung jedes Kommunikationsteilnehmers über Faktizität oder F. wird von Ort und Zeit der Kommunikation beeinflußt, bestimmt die Intention der fiktionalen Äußerung und kann von textuellen F.sindikatoren gesteuert werden. 3.2. Z e i t und O r t der Kommunikation werden sowohl als konkrete Bedingungen der jeweiligen Situation wie in der umfassenderen hist, und kulturellen Situierung (Sozialisation) wirksam für die Einschätzung von F. In einem Gesprächszusammenhang kann die Gebrauchsfunktion einer Erzählung entweder als Beweis für Volksglauben oder als fiktionale Exemplifizierung einer Lebensweisheit signalisiert werden 17 . Märchenerzählung in der Dämmerung kann Ausblenden von Erfahrungswirklichkeit suggerieren 18 . Die hist, und kulturell bedingte Variabilität von Fiktionsbewußtsein und Wirklichkeitsmodellen mit entsprechend unterschiedlicher Zuschreibung von F. ist bedingt rekonstruierbar als Bezugnahme auf magische Vorstellungen und
1108
Brauchtumspraxis, tatsächliche Vorkommnisse, Rechtsverhältnisse, Lokalkolorit, soziales Milieu und ähnliches 19 . 3.3. I n t e n t i o n a l i t ä t . Die von jedem Teilnehmer prinzipiell akzeptierte Intention fiktionaler Kommunikation besteht in dem Verzicht auf Referenz und direkte Handlungsaufforderungen bzw. -Verpflichtungen 20 . Der Text wird nicht als Information über die persönlichen Gefühle, Meinungen und Bedürfnisse des Produzenten, nicht als Instruktion über die Umwelt des Rezipienten und zu seinem unmittelbaren Handeln aufgefaßt 21 (im Gegensatz etwa zur rituellen Gebrauchssituation). Diese Situationsabstraktheit 22 (nicht -Unabhängigkeit) bildet die Voraussetzung für die Konstituierung zusätzlicher Bedeutungsebenen, deren Handlungsrelevanz allenfalls mittelbar sein kann. 3.4. F . s i n d i k a t o r e n im T e x t müssen in mehrfacher Hinsicht als fakultativ gelten 23 : Sie können in unterschiedlicher Häufung auftreten und müssen nicht eindeutig interpretierbar sein; sie können vom Produzenten nicht intendiert sein oder vom Rezipienten nicht wahrgenommen oder nicht akzeptiert (,Lüge') werden; auch ein Text ohne erkennbare F.sindikatoren kann als fiktional aufgefaßt werden. Allen F.sindikatoren ist gemeinsam (Fiktionsbewußtsein vorausgesetzt), daß sie direkte Referenz erschweren oder verhindern. —» Eingangs- und —> Schlußformeln können die Authentizität einer Erzählung offenlassen oder in Frage stellen und damit eine fiktionale Lesart nahelegen. Andererseits bieten expliziter Wahrheitsanspruch oder Hinweis auf Gewährsleute keine Garantie für Faktizität. Nicht referentialisierbare Textkomponenten (Fabelwesen, menschlich handelnde Tiere, wunderbare Ereignisse) verweisen auf F. und können zugleich ästhetische Funktion haben (z.B. Spannungserzeugung, Aufwertung des Helden) 24 . Vage, nicht konkret referentialisierbare Angaben über Personen, Ort und Zeit ( „ E s war einmal ein König in einem fernen Lande") und entsprechend elementare Handlungsverläufe 25 können situationsabstrakte Verallgemeinerungen nahelegen. Andererseits erleichtert Detailrealismus zwar die Vorstellbarkeit, garantiert jedoch nicht Faktizität. Ein hohes Maß an Mehrdeutigkeit 26 (z.B. Symbole; Widersprüchlichkeit von Sprecherperspekti-
ven, Handlungen und impliziten Normen) erschwert die Referenzbildung und kann zum Verzicht auf den gebrauchssprachlich üblichen Versuch zur Vereindeutigung führen, der seinerseits (entgegen der F.skonvention) nur unter Zuhilfenahme der konkreten außersprachlichen Situation möglich ist. Scheinbar sprachlogische Widersprüche indizieren, daß Angaben über Ort, Zeit und Personen sich nicht auf die Sprechsituation der Kommunikationsteilnehmer, sondern auf die (fiktionale) des Erzählers oder einer Figur beziehen 2 7 : „Der Berg war hoch" (wurde er inzwischen abgetragen?), „Morgen wollte er reisen". Literar. Konventionen (rhetorische Figuren, Formeln, Motive, gattungstypische Figurenkonstellationen und Handlungsverläufe und ähnliches) verweisen auf Zugehörigkeit zur Lit., in der F. eine verbreitete, aber nicht allein maßgebliche Konvention ist. Verfahren, die graduell von einem Wirklichkeitsmodell abweichen (Idealisierung, Hyperbolisierung, eindeutige Sympathielenkung, poetische Gerechtigkeit), legen F. nahe. Insgesamt sind Interdependenz und Wirkung von F.sindikatoren einerseits und ,Realitätspartikeln' andererseits nur fallweise bestimmbar 28 . 4. F i k t i o n s k r i t i k von
F.
Die
und
Legitimation
literaturtheoretische
kritik 2 9 erhebt bis E n d e
des
Fiktions-
1 8 . Jh.s
theol. o d e r moralisch b e g r ü n d e t e n
den
Vorwurf
der L ü g e . D i e B e r u f u n g auf göttliche Inspiration {Bibel,
geistliche E r z ä h l u n g 3 0 ,
Musen-
anruf) erlaubt n o c h lange einen W a h r h e i t s anspruch
unter
Abwertung
menschlicher
P h a n t a s i e p r o d u k t e . E i n i g e N e o m a r x i s t e n halten
fiktionale
pistisch.
Die
Lit.
grundsätzlich
radikal-feministische
für
eska-
Kritik31
richtet sich grundsätzlich g e g e n die A u s g r e n zung eines durch F . g e k e n n z e i c h n e t e n K u n s t bereichs aus d e r gesellschaftlichen Praxis und stellt
dem
ein
einheitlich
matriarchalisch-
magisches Wirklichkeitsmodell entgegen. D i e L e g i t i m a t i o n v o n F . stützt sich auf ihre Funktionen:
D e r E n t w u r f von nicht fak-
tizitätsverpflichteten ohne
unmittelbare
Wirklichkeitsmodellen Handlungsverpflichtung
und handlungspraktischen Nutzen ermöglicht ein quasi probeweises Durchspielen von M ö g lichkeiten d e r W a h r n e h m u n g , des D e n k e n s , Fühlens und H a n d e l n s in e i n e m eigengesetzlichen R a u m 3 2 . D i e s bildet die V o r a u s s e t z u n g für mögliche W i r k u n g e n , ü b e r die es intuitive Annahmen gibt:
1110
Fiktionali tät
1109
und poetologische
Vergnügen
am
Forderungen
spielerischen
Als-Ob;
psychol. E n t l a s t u n g (Katharsis, Ausgleich von Erfahrungs-
und
Sinndefiziten);
indirekte
Kritik an der Erfahrungswirklichkeit (—> Satire, —» U t o p i e , —» F a b e l , —> W i t z ) ; e x e m p l a r i sche B e l e h r u n g . F . hat ihre bes. Funktion in post-metaphysischen sellschaftsformen
mit
(post-magischen) entsprechend
Ge-
ausge-
p r ä g t e m Individualitätsbewußtsein. Gabriel 1975, 20sq., 4 9 - 5 2 u. ö.; Hamburger 1968, 4 3 - 5 2 , 5 4 s q . ; Landwehr 1975, Kap. 3; Ohmann 1971, 5, 13sq. - 2 Gabriel 1975, 20sq., 4 9 - 5 2 u. ö.; Hoops 1979, 2 8 4 - 3 0 0 ; Ihwe/Rieser 1979, 7 0 s q . ; Lühte 1974, 6sq.; Ohmann 1971, 5, 13sq.; Searle 1974/75, 3 2 6 s q . ; Stierle, Gebrauch der Negation, 1975, 2 3 7 - 2 4 1 . - 3 Frege 1966, 4 0 - 6 5 . - 4 Keller 1980, 1 0 - 1 6 u. ö. - 5 Lobsien 1975. - 6 Gabriel 1975, 27sq.; Schmidt 1975, 175sq.; id., Fictionality, 1980, 5 3 4 - 5 3 7 ; Wildenkamp u. a. 1980, 549, 5 5 6 - 5 5 9 . - 7 Bruck 1978, 293 sq., 2 9 8 sq. - 8 Schmidt, Fictionality, 1980, 5 2 9 - 5 3 1 u. ö. - 9 Röhrich 1974, 1 8 2 - 1 9 9 u. ö. 10 Moser 1979, 1 9 4 - 1 9 9 . I I Bruck 1978, 2 9 0 - 2 9 2 . 12 Anderegg 1973, bes. Teil B ; Gabriel 1975, bes. Teil II; Iser 1975; Lobsien 1975; Stierle, Was heißt Rezeption, 1975. - 13 Landwehr 1975, Kap. l s q . ; Lüthe 1974, 8 11; Ohmann 1971; Schmidt 1975, 181sq.; id., Fictionality, 1980, 5 2 6 ; Wildenkamp u. a. 1980, 5 5 0 - 5 5 2 . - 1 4 Schmidt, Fictionality, 1980, 5 3 8 s q . ; Wildenkamp u. a. 1980, 554sq. - 15 ibid., 5 5 5 566. - 16 Schmidt, Grundriß, 1980, Kap. 5; id. 1982, 667. - 17 Röhrich 1958, 667. - 18 id. 1974, 180. - 19 ibid., 6 3 - 1 8 1 . - 2 0 Iser 1975, 2 8 4 s q . ; Ohmann 1971, 13sq.; Searle 1974/75, 3 2 5 - 3 2 8 ; Schmidt, Fictionality, 1980, 534540. 21 ibid., 5 3 8 ; Wildenkamp u. a. 1980, 549, 554sq. - 22 Schmidt 1972, 71 u. ö.; Stierle, Gebrauch der Negation, 1975; id., Was heißt Rezeption, 1975. - 2 3 Hoops 1979, 2 9 8 ; Schmidt, Fictionality, 1980, 537sq.; Wildenkamp u. a. 1980, 5 5 2 - 5 5 4 . 2 4 Röhrich 1974, 8 1 , 1 2 8 , 1 3 5 u. ö. - 2 5 Ihwe/Rieser 1979, 65sq., 68; Iser 1975, 2 8 5 s q . u. ö.; Lobsien 1975, 30 u. ö.; Ohmann 1971, 12 sq. - 2 6 Iser 1975, 285 sq. u. ö.; Stierle, Gebrauch der Negation, 1975, 2 4 0 s q . u. ö.; Schmidt 1972, 66sq., 7 0 : 2 7 Hamburger 1968, 5 6 - 1 1 1 ; Landwehr 1975, 158sq., 167sq. u. ö.; Winkler 1976. — 2 8 Eykmann 1978; Hoops 1979, 2 8 4 - 2 8 9 ; Ihwe/Rieser 1979, 73sq.; Wildenkamp u. a. 1980, 557sq. - 2 9 Assmann 1980, bes. Teil III; Sauder 1976. - 3 0 Moser 1979, pass. 31 Göttner-Abendroth 1982, 6 2 - 8 8 u.ö. - 3 2 Iser 1975, 2 9 8 - 3 0 6 u. ö.; Landwehr 1975, 1 8 0 - 1 9 9 ; Lobsien 1975, 3 9 - 7 6 ; Schmidt 1972, 67sq., 71. I
L i t . : Röhrich, L.: Die dt. Volkssage. In: Studium Generale 11 ( 1 9 5 8 ) 6 6 4 - 6 9 1 . - Frege, G.: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien.
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Film
Göttingen 1966. - Hamburger, Κ.: Die Logik der Dichtung. Stg. 2 1968. - Ohmann, R.: Speech Acts and the Definition of Literature. In: Philosophy and Rhetoric 4 (1971) 1 - 1 9 . - Schmidt, S. J.: Ist F. eine linguistische oder texttheoretische Kategorie? In: Gülich, E./Raible, W. (edd.): Textsorten. Ffm. 1972, 5 9 - 7 1 . - Anderegg, J.: Fiktion und Kommunikation. Göttingen 1973. - Lüthe, R.: F. als konstitutives Element literar. Rezeption. In: Orbis litterarum 29 (1974) 1 - 1 5 . - Röhrich, Märchen und Wirklichkeit. — Searle, J. R.: The Logical Status of Fictional Discourse. In: New Literary History 6 (1974/75) 3 1 9 - 3 3 3 . - Gabriel, G.: Fiktion und Wahrheit. Stg. 1975. - Iser, W.: Die Wirklichkeit der Fiktion. In: Warning, R. (ed.): Rezeptionsästhetik. Mü. 1975, 2 7 7 - 3 2 1 . Landwehr, J.: Text und Fiktion. Mü. 1975. — Lobsien, E.: Theorie literar. Illusionsbildung. Stg. 1975. — Schmidt, S. J.: Versuch einer pragmatischen Interpretation des Ausdrucks ,F.'. In: id.: Lit.wiss. als argumentierende Wiss. Mü. 1975, 1 7 0 - 1 9 0 . - Stierle, K.: Der Gebrauch der Negation in fiktionalen Texten. In: Weinrich, H. (ed.): Positionen der Negativität. Mü. 1975, 2 3 5 - 2 6 2 . Stierle, K.: Was heißt Rezeption bei fiktionalen Texten? In: Poetica 7 (1975) 3 4 5 - 3 8 7 . - Sauder, G.: Argumente der Fiktionskritik 1680—1730 und 1 9 6 0 - 1 9 7 0 . In: G R M 76 (1976) 1 2 9 - 1 4 0 . Winkler, R.: Über Deixis und Wirklichkeitsbezug in fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten. In: Haubrichs, W. (ed.): Erzählforschung 1. Göttingen 1976, 1 5 6 - 1 7 4 . - Bruck, J.: Zum Begriff literar. Fiktion. In: Zs. für germanistische Linguistik 6 (1978) 2 8 3 - 3 0 3 . - Eykmann, O.: Erfunden oder vorgefunden? Zur Integration des Außerfiktionalen in der epischen Fiktion. In: Neophilologus 62 (1978) 3 1 9 - 3 3 4 . - Hoops, W.: Fiktion als pragmatische Kategorie. In: Poetica 11 (1979) 2 8 1 317. — Ihwe, J. F./Rieser, H.: Normative and Descriptive Theory of Fiction. In: Poetics 8 (1979) 6 3 - 8 4 . - Moser, D.-R.: Veritas und fictio als Problem volkstümlicher Bibeldichtung. In: ZfVk. 75 (1979) 1 8 1 - 2 0 0 . - Assmann, Α.: Die Legitimation der Fiktion. Mü. 1980. - Keller, U.: F. als lit.wiss. Kategorie. Heidelberg 1980. - Schmidt, S. J.: Fictionality in Literary and Non-literary Discourse. In: Poetics 9 (1980) 5 2 5 - 5 4 6 . - Wildenkamp, A. u.a.: Fictionality and Convention, ibid., 5 4 7 - 5 6 7 . - Schmidt, S. J.: Grundriß der empirischen Lit.wiss. 1—2. Braunschweig 1980— 82. - Göttner-Abendroth, Η.: Die tanzende Göttin. Prinzipien einer matriarchalen Ästhetik. Mü. 1982.
Köln
Natascha Würzbach
Film 1. Forschungsstand — 2. Schwerpunkte der Märchenverfilmung — 3. F.beispiele - 4. Die Situation
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des Märchenfilms heute — 4.1. Deutschland und Bundesrepublik Deutschland — 4.2. Tschechoslowakei - 4.3. UdSSR - 4.4. Dt. Demokratische Republik - 4.5. Großbritannien — 5. Volkserzählungsmotive im Spielfilm für Erwachsene
1. Forschungsstand. Die Beziehung von F. und Volkserzählung, Gegenstand publizistischer, literaturwiss., pädagogischer und volkskundlicher Überlegungen, steht nur ausnahmsweise im Mittelpunkt des jeweiligen Fachinteresses. K. Ranke fragte 1958: „Wie steht es mit dem Märchen von heute, dem Film?"1 H. Bausinger verweist andererseits auf die Inflation des Märchenbegriffes im heutigen Sprachgebrauch. Er verleite dazu, auch dort Beziehungen zu vermuten, wo sich bestenfalls eine vage Analogie feststellen ließe. Bausinger warnt davor, auf die „kokette und kurzschlüssige Gleichsetzung des Märchens mit dem Strandgut des Kitsches" zu verfallen2. Doch könnten in den „märchenhaften" Daten der Gegenwart „Mutationen" des Märchens vorliegen. „Similarities between oral folk traditions and mass media" konstatiert R. M. Dorson 3 nicht nur in der Struktur, sondern auch im Hinblick auf die Funktion. R. Patai4 stellt die Verbindung von Mythos und Massenkommunikation her; seine Analogien zwischen Herakles und Micky-Maus, Theseus und James Bond stießen eher auf Widerstand. Gegen die Gleichsetzung von Märchen und F. spricht sich entschieden M. Lüthi aus. Der Sprachgebrauch gestehe den Trivialromanen und F.en, die „in manchem" an die Stelle der alten Märchen getreten seien, keineswegs den Namen ,Märchen' zu. Es bedürfe erst noch der Unters., wieweit sich Wirkung und Funktion von Trivialroman und F. mit der des in mündl. Tradition lebenden Volksmärchens deckten, wieweit sie als dessen Nachfolger anzusehen seien und wieweit nicht5. Die Dichotomie der Zielgruppen, in die das Märchen seit den KHM der Brüder Grimm eingespannt ist, gilt auch für den Märchenfilm: Einerseits werden Märchenfilme in Theorie und Praxis als Teil des Kinderfilms betrachtet und unter pädagogischen, kinder- und jugendpsychol. Gesichtspunkten gewertet, andererseits wird das inhaltliche Grundmaterial des Spielfilms für Erwachsene oft aus Motivbereichen der Volkserzählung entnommen, und zwar unabhängig
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Film
von der ästhetischen und dramaturgischen Qualität des F.s. Seit der ersten öffentlichen F.vorführung 1895 gehören Märchen und Märchenmotive zu den Stofflieferanten des F.s. Eine Auszählung durch W. Höfig von 250 märchenähnlichen Spielfilmen, die in den europ. Ländern und Nordamerika 1895 —1975 zur Vorführung kamen, ergab: Verfilmungen von Märchen mit erkennbarer Zuordnung nach AaTh 39% (allein nach KHM 32%); geschehensbestimmende Motive und Motivbündel nach Mot. 13%; andere Erzählstoffe 2 4 % ; Verfilmungen literar. (22%) und musikalischer (2%) Werke mit Volkserzählungselementen. Vier Fünftel der seit Beginn öffentlicher F.vorführungen zur Aufführung gelangten Märchenfilme wurden nach Märchen des Grimm-Kanons gedreht. 2. S c h w e r p u n k t e d e r M ä r c h e n v e r f i l m u n g . Die verfilmten Stoffe sind nicht gleichmäßig über den AaTh-Katalog verteilt, sondern bilden Schwerpunkte. 8% der Märchenfilme sind verfilmte Tiergeschichten (AaTh 1 - 2 9 9 ) , 81% basieren stofflich auf AaTh 3 0 0 - 1 1 9 9 . D e n Normalfall des Märchenfilms stellen die verfilmten Zaubermärchen AaTh 3 0 0 - 7 4 9 dar. Dazu kommt, wenn hier der Begriff des Märchens weit gefaßt wird, die Gruppe der Witze und Anekdoten (AaTh 1 2 0 0 - 1 9 9 9 , weitere 11%). Die Anzahl der Mehrfachverfilmungen ist im Bereich der Zaubermärchen bes. hoch und kann in den anderen Gruppen vernachlässigt werden, wenn man von den ebenfalls oft mehrfach verfilmten Lügenmärchen AaTh 1 8 7 5 - 1 9 9 9 absieht: Auf die Gruppe der Zaubermärchen entfallen 74% aller verfilmten Märchenstoffe. Das am häufigsten verfilmte Märchen ist Aschenputtel (AaTh 510A: —> Cinderella), das zwischen 1899 und 1974 zehn nachweisbare Verfilmungen erfuhr. Ihm folgen Dornröschen (AaTh 410: —> Schlafende Schönheit) mit acht Verfilmungen ( 1 9 1 7 - 7 0 ) sowie —> Schneewittchen (AaTh 709) mit acht F.en ( 1 9 0 7 - 5 5 ) , - » Hansel und Gretel (AaTh 327 A ) mit sechs F.en ( 1 9 0 7 - 5 6 ) , - » Tischleindeckdich (AaTh 563) mit fünf ( 1 9 2 1 - 5 6 ) . A n dieser Stelle folgt der erste nicht bei den Grimms vorkommende Held: Münchhausen (AaTh 1889 sqq.: —> Münchhausiaden) mit vier F.en ( 1 9 2 2 - 6 1 ) . - > Rotkäppchen (AaTh 333), Die Bremer Stadtmusikanten (AaTh 130: —> Tiere auf Wanderschaft), Die Wichtelmänner (KHM 39) und Schneeweißchen und Rosenrot (AaTh 426: —> Mädchen und Bär) sind dreimal verfilmt worden.
3. F . b e i s p i e l e . Der erste Märchenfilm überhaupt ist die Aschenputtel-Verfilmung
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von Georges Melies (Cendrillon, 1899), durch die im selben Jahr uraufgeführte Oper von Jules Massenet angeregt. Im F. überwiegen wie in der Oper Ballettszenen. Die erhaltenen Szenenfotos zeigen opernhaftes Dekor und Theatergebärden 6 . Eine Reihe weiterer Aschenputtel-Verfilmungen orientierte sich an Gioacchino Rossinis Oper La Cenerentola, so zwei ital. von 1951 und 1960/61 7 . Auch die dt. Verfilmungen von 1932 (Alf Zengerling) und 1955 (Fritz Genschow) enthalten Balletteinlagen 8 . Die bekannteste Fassung des Stoffes ist der Zeichenfilm Walt —> Disneys (Cinderella, 1950). Der Geschehensablauf gestattet die sentimentalisierende Umsetzung in den Bereich der Trivialliteratur und wiederum deren Satire. Die sentimentale Var. vertreten die Stummfilmstars Dorrit Weixler (1915) und Asta Nielsen (1916), die Satire, die gleichzeitig die Realität und die von der Kulturindustrie verzerrte und sentimentalisierte Realität ins Lächerliche zieht, Jerry Lewis (Cinderfella, dt. Aschenblödel, 1959) 9 . Die zeitgenössische Kritik hat zwischen Melies' Cendrillon und seinem Le Voyage dans la lune (1902) keinen großen Unterschied gesehen. Melies' Ballettmädchen führten direkt zu den Bathing Beauties Mack Sennetts, und Melies selbst, dessen Interesse dem Trick, dem Dekor und der Verwirklichung des Phantastischen galt, sah ohnehin zwischen Märchen und Science fiction keinen Unterschied 1 0 . 1907 lassen sich die ersten dt. Grimm-Verfilmungen nachweisen. Hansel und Gretel wurde ausdrücklich wegen seiner bes. Beliebtheit verfilmt 11 . Der Geschehensablauf lehnt sich nicht direkt an die KHM, sondern an Engelbert Humperdincks Oper an (Uraufführung 1893). Der F. stellt das religiöse Element, das Humperdinck gegenüber der KHM-Fassung neu eingeführt hatte, in den Vordergrund und paßt das Geschehen noch stärker den Erfordernissen gängiger Moral an als das Operntextbuch. Die Schuld der Eltern wird ersetzt durch Fahrlässigkeit und Unfall, der Tod der Hexe wird zu einem gottgefälligen Akt der Notwehr. — Der US-amerik. Puppenfilm Hansel and Gretel (1955/56) hält sich dann ausdrücklich an Humperdincks Oper und übernimmt auch die Musik, während dt. Verfilmungen von 1921, 1940 und 1954 den Grimmschen Text zugrundelegen 12 . Die
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Fassung von 1921 (von Hanns W. Kornblum, sonst Regisseur populärwiss. F.e) 13 wollte insbesondere „den deutschen Wald, zu dem gerade dieses Märchen in besonderer Beziehung steht", erfassen: Die idyllisch-sentimentalische Grundhaltung verbindet sich mit der Groteske, zwei Bereiche mit unterschiedlichem Wirklichkeitsbezug, aber gleichermaßen starker emotionaler Aufladung 14 . Der F. wurde in bes. Vorführungen vor Kindern ,gegen den Schundfilm' eingesetzt. 1907 erscheint der erste Schneewittchen-F. Er hält sich in 12 Bildern eng an die KHMFassung 15 . Die Zwerge werden durch kostümierte Kinder dargestellt wie auch in den frühen amerik. Streifen von 1916 und 191716. Acht Verfilmungen dt. und US-amerik. Provenienz sind zwischen 1907 und 1955 in Deutschland zur Aufführung gekommen, der berühmteste — Disneys Snow White and the Seven Dwarfs (1937) — ist der erste abendfüllende Zeichenfilm 17 . Nach zeitgenössischer Kritik stellte der F. eine höchst komplizierte Paraphrase des Märchentextes dar 18 . Er bietet ein gutes Beispiel für die Veränderung eines Märchenbildes durch die Kulturindustrie. Die Personen und Geschehensabläufe sind durch den F. kodifiziert worden. Sie sind in weit eindringlicherer Weise festgelegt als durch die schriftl. Aufzeichnung der mündl. Überlieferung; die mündl. Wiedergabe eines Märchens ist seit der Uraufführung des F.s gleichzeitig Nacherzählung des F.s und wird an ihm gemessen. Die F.wirkung wird durch die parallele Produktion von Büchern, Puppen, Bildern und Schallplatten verstärkt, die die Figuren und Lieder des F.s weiter popularisieren. Die Domröschen- Verfilmungen zeigen die Stoffverwandlungen im hist. Kontext bes. deutlich. Die Verfilmung 1917 war von der marktbeherrschenden Nord. F. Company als Prestigefilm mit bes. Aufwand produziert und mit einer über das Normalmaß hinausgehenden Werbekampagne gestartet worden. Rudolf Presber hatte die Verse für die Zwischentitel geschrieben; Paul Leni (1885-1929), Bühnenbildner bei Max Reinhardt und Leopold Jessner und 1924 Regisseur des expressionistischen Anthologiefilms Das Wachsfigurenkabinett, erhielt mit Dornröschen eine seiner ersten Regieaufgaben; das Schwerge-
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wicht liegt auf der sorgfältigen Komposition des Milieus19. Der F. war ausdrücklich für ein erwachsenes Publikum bestimmt. — Mit dem für die Dt. Lehrfilm GmbH (DELFI) hergestellten Silhouettenfilm Dornröschen (1922) von Lotte Reiniger wurde die Problematik des realistischen Abfilmens gestellter Märchenszenen deutlich: Die Darstellung durch lebendige Menschen, schrieb die zeitgenössische Kritik, verschiebe die ganze Idee des Märchens als einer Unwirklichkeit, drücke es in eine Sphäre hinab, in der von seinem Schmelz nichts übrig bleibe; bei den Silhouetten bleibe hingegen gerade der Ansporn für die Phantasie des Zuschauers, während das Geschehen auch in dieser Form fest umrissen würde 20 . Reiniger hat dasselbe Thema 1954 im Rahmen ihrer für das US-Fernsehen hergestellten Märchen-Kurzfilme erneut behandelt. Der F. wurde zwar in den USA für die Arbeit mit Kindern empfohlen, doch mit weniger Nachdruck als der etwa gleichzeitige dt. Puppenfilm (US-Titel: Sleeping Beauty, Brier Rose)21. Die unterschiedliche Einschätzung spiegelt das dem Märchen eigene Zielgruppenproblem: Während Reiniger Kinder und Erwachsene ansprechen möchte, richtet sich der Puppenfilm ausschließlich an Kinder und kann deshalb für pädagogische Zwecke auch besser ausgewertet werden. In der Tradition der .realistischen' Märchenverfilmung steht ein finn. DornröschenF. (Prinsessa Ruusunen, 1951), der Mitte der 50er Jahre auch in der Bundesrepublik gezeigt worden ist. Die Schwierigkeiten liegen vor allem in dem Mangel an Handlungsdichte beim episodischen Märchen. Der F. erfindet deshalb zusätzliche Episoden, die für den Ablauf des Geschehens überflüssig sind und zuwenig Eigenwert besitzen: „Womit [. ..] die Überlegenheit der Großmütter gegenüber der Kamera erwiesen wäre" 22 , „Immer noch kein vollgültiger Ersatz für die Worterzählung" 23 . In der Tradition von Snow White and the Seven Dwarfs (1937) und Cinderella (1950) steht Disneys Sleeping Beauty (1959), in dem das Technirama-Format für den Zeichenfilm genutzt wird. Die Erzählung nimmt nicht die Grimms, sondern Charles —»Perrault zum Vorbild und wandelt das Geschehen durch zusätzliche Figuren und Elemente ab, ζ. B. einen Drachenkampf.
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4. Die S i t u a t i o n des M ä r c h e n f i l m s h e u t e . Kontinuierliche Kinderfilm-Produktionen finden sich in Großbritannien, der Bundesrepublik, Indien und Japan sowie der Tschechoslowakei, UdSSR und Dt. Demokratischen Republik 24 . Einzelne Kinderfilme werden ζ. B. in Polen, Rumänien, Ungarn und Jugoslawien hergestellt. 1966 führte das Centre Internat, du Film pour l'Enfance et la Jeunesse in Brüssel eine Umfrage zur Kinderfilmproduktion durch 25 . Die älteste kontinuierliche Kinderfilmproduktion besitzt danach die UdSSR (seit 1919), gefolgt von Japan (seit 1924). Anfang der 30er Jahre beginnt auch die dt. Produktion (in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1948 und 1957 kontinuierlich fortgesetzt). Alle übrigen Nationen, soweit ihre Kinderfilm-Produktion nicht ohnehin nur sporadischen Charakter trägt, begannen nach dem Zweiten Weltkrieg und führten sie seit Anfang der 50er Jahre kontinuierlich (Tschechoslowakei, Dt. Demokratische Republik, Polen) oder sporadisch fort (Dänemark, Finnland, Norwegen, Schweden). Staatlich finanziert oder teilsubventioniert wird oder wurde der Kinderfilm in der Tschechoslowakei, der Dt. Demokratischen Republik, in Polen und in der UdSSR sowie in Großbritannien und Norwegen. Die Produzenten der übrigen Länder sind auf private Mittel angewiesen. Japan und die UdSSR verfügen über spezielle Kinderfilmstudios. Für die Bundesrepublik, die Tschechoslowakei, die Dt. Demokratische Republik und Großbritannien hat S. Wolf die Nachkriegsproduktion nach inhaltlichen und formalen Kriterien aufgegliedert 26 . Der Anteil der Märchenfilme an der Kinderfilmproduktion beträgt danach in der Bundesrepublik Deutschland 98%, in der Dt. Demokratischen Republik 38%, in der Tschechoslowakei 24% und in Großbritannien 9%. Hingegen nahmen F.e über alltägliche Erlebnisse und Ereignisse — als Gegenentwurf zum Märchenfilm — in der Tschechoslowakei 46%, in der Dt. Demokratischen Republik 25% und in Großbritannien 11% der Kinderfilmproduktion ein, während sie in der Bundesrepublik fast nicht vorkommen. Die für die brit. Produktion charakteristischen abenteuerlich-phantastischen Stoffe (60% bzw. 54% der nationalen Produktion einschließlich Doppelzählungen) sind in der
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Tschechoslowakei und der Dt. Demokratischen Republik weniger oft (ca 10% bzw. ca 20%) und in der Bundesrepublik praktisch überhaupt nicht verfilmt worden. 69% der tschechoslowak. F.e und 61% der F.e aus der Dt. Demokratischen Republik für Kinder spielen zu einem konkret faßbaren Zeitpunkt in der Vergangenheit oder Gegenwart, während das nur für ein Viertel der engl, und ein Fünftel der westdt. F.e zutrifft, von denen 87% keinen direkten Zeitbezug haben. In ihnen wird das Märchen nicht auf die gesellschaftliche Realität der Gegenwart oder Vergangenheit bezogen, sondern besitzt seinen autonomen Umraum, der für den Rezipienten einen Vergleich mit der Wirklichkeit des Hier und Heute nicht zuläßt. Die für den dt. F. charakteristische Bevorzugung traditioneller Märchenstoffe wird schließlich aus der Beantwortung der Frage deutlich, welche F.e in der Geschichte der Kinderfilmproduktion des betr. Landes am erfolgreichsten gewesen seien. Die Schätzung der befragten nationalen Institutionen führt nur ausnahmsweise überhaupt Märchenfilme an: Die UdSSR nennt drei Märchen unter 43 F.en (Les Diablotins rouges, 1923; Cendrillon, 1947; Le Kachtchei immortel, 1945), Finnland einen (Prinsessa Ruusunen, 1951), und nur die Dt. Demokratische Republik drei von sieben (Das Feuerzeug, 1959 [cf. AaTh 562: —> Geist im blauen Licht]·, -» Frau Holle, 1963 [AaTh 480]; König Drosselbart, 1965 [AaTh 900]). Daß hier nicht nur unterschiedliche Definitionskriterien, sondern auch tatsächliche nationale Eigentümlichkeiten das Bild bestimmen, zeigt die Tatsache, daß die UdSSR zu den wichtigsten Kinderfilmen die —> Gor'kij-Trilogie (1938 —40; Detstvo [Kindheit], Moi universiteti [Meine Universitäten], Vljudjach [Unter fremden Menschen]) rechnet, deren Einstufung als F. für Erwachsene in der Lit. die Regel ist27. 4.1. D e u t s c h l a n d und B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d . Der erste Märchenfilm mit filmkünstlerischem Anspruch für ein erwachsenes Publikum in Deutschland war Rübezahls Hochzeit von Paul Wegener (1916), der den F. produzierte, Regie führte und auch selbst als —» Rübezahl auftrat. Weitere Märchen- und Sagenadaptionen Wegeners sind Der Student von Prag (1913), Der —* Golem
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(1914) 2 8 , Hans Trutz im —> Schlaraffenland (1917), Der —> Rattenfänger von Hameln (1918). Es folgte 1918 Das kalte Herz frei nach Wilhelm —> Hauff (Regie: Sauer). Die Gebrüder Diehl nahmen mit dem Scherenschnittfilm Kalif Storch ( 1 9 2 8 - 3 1 ) nach Hauff ihre Trickfilmproduktion auf. Der erste programmfüllende Puppenfilm, Die sieben Raben (AaTh 451: —> Mädchen sucht seine Brüder), entstand 1937. Zwischen 1935 und 1944 wurden acht Puppenfilme von je maximal 35 Minuten im Auftrag der reichseigenen Anstalt für F. und Bild (RWU) hergestellt, die mindestens zwei Jahrzehnte lang in fast jeder dt. Schule und jeder Generation von Schülern gezeigt wurden. Die Firma Diehl hat ihre Produktion bis in die Gegenwart hinein fortgeführt 2 9 . Einen eigenständigen Beitr. zum Märchenfilm hat Lotte Reiniger ( 1 8 9 9 - 1 9 8 1 ) durch die Entwicklung des Silhouettenfilms geleistet 30 . Für Paul Wegeners F.e Rübezahls Hochzeit und Der Rattenfänger von Hameln schnitt Reiniger die Silhouetten der Zwischentitel; verfilmte Märchen entstanden von 1921 an (Der fliegende Koffer). Es folgten Aschenputtel und Dornröschen (1922) sowie ihr Hauptwerk Die Geschichte des Prinzen Achmed (1923—26); alle F.e sind in Zusammenarbeit mit ihrem Ehemann Carl Koch entstanden. Reiniger arbeitete von 1936 bis 1944 in England und Italien und seit 1949 wieder in England, wo sie ein Schattentheater betrieb und Märchenfilme für das Fernsehen herstellte 31 . Die Beziehung zum Märchen wird bei diesen F.en nicht erst über den Stoff, sondern bereits über die Form vermittelt. Die zeitgenössische Kritik erkannte, daß die Stärke des Silhouettenfilms in der Gestaltung des Wunderbaren liegt, bei der der übliche F., d.h. die realistische Photographie, versagen muß 3 2 . Der Geist des Märchens sei in der filmischen Bilderfolge aufs glücklichste neu geboren und die Welt oriental. Wunder, fabelhafter Verwandlungen, traumhafter Vorgänge mit den Mitteln einer an türk. und jap. Vorbildern geschulten Silhouettenkunst neu geschaffen 33 . Es sei dies eine künstliche Welt, aber für das Märchen scheine es die einzige Möglichkeit der F.Verwirklichung 34 . Gegen die künstlerische Verwirklichung wird gelegentlich der Vorwurf des Kunstgewerbes er-
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hoben 3 5 . Neben Reinigers Silhouettenfilmen gab es die anderer Hersteller (ζ. B. Toni Raboldt). ökonomisch konnte sich diese ,Kleinkunst', die auf ein Publikum von g e bildeten' — nicht auf Kinder — abgestellt war, nicht durchsetzen. 1926 stellte H. Cürlis, der Produzent Reinigers, den letzten Scherenschnittfilm her 3 6 . Eine wichtige Klammer für die Kontinuität des dt. Märchenfilms über Jahrzehnte hinweg bildete der 1934 von dem Pädagogen W. Wohlrabe in Berlin außerhalb des UFA-Konzerns gegründete JugendfilmVerleih. Wohlrabe widmete sich der Förderung des Märchenfilms. Er wurde von den Produzenten und Regisseuren Alf Zengerling und Hubert Schonger dabei unterstützt. Beide spezialisierten sich auf die Märchenfilm-Herstellung. Zengerling wurde zum führenden und teilweise einzigen Märchenfilmhersteller der Vorkriegs- und Kriegsjahre, Schonger hielt vor allem in der Nachkriegszeit einen beträchtlichen Marktanteil. Der nationalsozialistische Staat schenkte diesem Spezialzweig der F.branche praktisch keine Aufmerksamkeit. Der Märchenfilm gehörte zu den wenigen Bereichen, die politisch unverdächtig waren. Einerseits erlaubte das eine kontinuierliche Arbeit vom Beginn der 30er bis zum Ende der 50er Jahre; andererseits wurde ein inhaltliches und stilistisches Konzept einschließlich der inhärenten technischen und pädagogischen Vorstellungen für fast drei Jahrzehnte festgeschrieben und die Weiterentwicklung des Kinderfilms, ζ. B. in England und in Osteuropa, nicht zur Kenntnis genommen. — 55% der langen Kinderfilme der westdt. Nachkriegsproduktion gehen auf die K H M zurück, weitere 23% legen Hans Christian —> Andersen, Hauff und Ludwig —> Bechstein zugrunde oder verwenden Bearb.en von weniger populären Autoren. Nur sechs F.e sind ohne erkennbare literar. Vorlage gestaltet. Die Popularität der Grimmschen Märchen wird durch eine Umfrage des Allensbacher Inst.s von 1959 erhärtet. Mehr als die Hälfte der Befragten erinnerten sich danach an die Märchen Rotkäppchen (91%), Schneewittchen (87%), Frau Holle (86%), Der Wolf und die sieben jungen Geißlein (84%), Aschenputtel (78%), Die Bremer Stadtmusikanten (75%), Das tapfere Schneiderlein (67%), Rumpelstilzchen (63%), Der
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Hase und der Igel (62%), Die Sterntaler (51%). Auf diese populären Stoffe entfallen zehn der 26 Grimm-Verfilmungen der Nachkriegszeit, wobei Frau Holle mit vier F.en an der Spitze steht 37 . Die populärsten Stoffe wurden in kurzen Abständen durch verschiedene Produzenten mehrfach verfilmt, ein im Hinblick auf die lange Amortisationsdauer von Märchenfilmen wirtschaftlich nicht vertretbares Verfahren. Die geringe Finanzkraft der Produktionsfirmen führte im Hinblick auf die Qualität des Märchenfilms in der Bundesrepublik Deutschland zu unvorteilhaften Ergebnissen 38 . Neben dem Zwang, mit möglichst geringem technischen, personellen und vor allen Dingen finanziellen Aufwand zu produzieren, stehen die Hersteller noch dem materialimmanenten Problem gegenüber, daß die meisten Märchen nur Stoff für einen etwa halbstündigen F. abgeben. Da programmfüllende F.e aber eine Laufzeit von 70 bis 90 Minuten brauchen, müssen sie entsprechend gedehnt werden. Sie werden deshalb durch Einlagen angereichert: Landschafts- und Tieraufnahmen, Rahmenhandlungen, zusätzliche Rollen. Der Berliner Produzent, Autor und Regisseur Fritz Genschow erzählte in Rotkäppchen (1953) zwar das Märchen, fügte aber zwei Rahmenhandlungen hinzu: In der ersten verläuft sich ein kleines Mädchen, nachdem es das Märchen vom Rotkäppchen erzählt bekommen hat, und schläft schließlich auf einem Rummelplatz ein, wobei es im Traum das Märchen vom Rotkäppchen erlebt. Das Mädchen wird wiedergefunden, erhält zum Geburtstag eine Rotkäppchenpuppe geschenkt und muß danach in einer weiteren Rahmenhandlung noch eine Art Verkehrserziehung über sich ergehen lassen.
Viele der von Genschow hergestellten F.e enden mit Gebrauchsanweisungen für gutes Verhalten (Der —» Struwwelpeter, 1954) oder machen Gebrauch von klamaukhaften Gags (Dornröschen 1955). Elemente, die in Richtung auf eine realistischere Gestaltung deuten, zeigen Genschows Bemühung um die Modernisierung der übernommenen F.form. Er führt turbulente Massenszenen wie z.B. Kindergeburtstage ein (Aschenputtel, 1955; Tischlein deck dich, 1956; Die—> Gänsemagd, 1957). Für die F.e der Produzenten Hubert Schonger und Alfred Foerster gelten mutatis mutandis dieselben Gesichtspunkte. Einige 36
Enzyklopädie des Märchens IV
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Titel hielten sich eng an die Vorlage: Der gestiefelte —> Kater (Herbert W. Fredersdorf, 1955); Schneewittchen (Erich Kobler, 1955); Tischlein deck' dich (Jürgen von Alten, 1956) — F.e von Regisseuren, die auch bei Unterhaltungsfilmen für Erwachsene Regie führten. Die werkgerechte, wenn auch anspruchslose Verfilmung der Vorlage stellt nicht die Regel dar. Oft wurde der Vorwurf wesentlich verändert, so ζ. B. in Rumpelstilzchen (1955). Hier verband sich mit der Absicht, die Hauptrollen einer eindeutigen Typisierung zu unterwerfen, der Wunsch, ihnen auch eine neue Funktion zu geben. So wird aus dem häßlichen und lächerlich wirkenden, vor allem aber mehrdeutigen Rumpelstilzchen ein guter Waldgeist, der seine Zaubermacht in den Dienst der Tiere stellt und zur Bestrafung böser Menschen benutzt. Aus dem König, der ursprünglich aus Gewinnsucht die Müllerstochter heiratet, wird ein alter, schwacher und ein wenig vertrottelter Mann, der von seinen geldgierigen Beratern ausgenutzt wird. Nicht er, sondern ein junger Prinz heiratet die Müllerstochter.
Ähnlich verhält es sich beim —> Froschkönig (1954; Buch: Emil Surmann, Regie: Otto Meyer): Die ursprünglich unerzogene und launenhafte Prinzessin ist hier ein fröhliches, gutes und tierliebendes Mädchen, kontrastiert von zwei neidischen und eitlen Schwestern. An der Figur des Königs lassen sich charakteristische Unterschiede in der Interpretation der Märchenvorlage unter gesellschaftlichen und ideologischen Gesichtspunkten aufzeigen: In F.en aus der sozialistischen Produktion erscheinen Könige als Personifizierung von Feudalismus, Ausbeutung, Dekadenz und eines überwundenen gesellschaftlichen Systems entweder dumm oder böse; in westl. F.en werden sie oft als einfältig und hilfsbedürftig gezeigt 39 . Zu den hervorstechendsten Eigenschaften des westdt. Kinderfilms gehören die Flucht vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit und der Rückzug auf die märchenhafte und unverbindliche Idylle 40 — eine Feststellung, die für den Unterhaltungsfilm der Bundesrepublik Deutschland in den 50er Jahren generell gilt 41 . Für die westdt. F.wirtschaft begann der wirtschaftliche Abstieg mit der Konkurrenz des Fernsehens (—> Television), zu dem sie kein Alternativkonzept entwickelt hatte. Der Mär-
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chenfilmproduktion war bereits 1957 dadurch die Existenzgrundlage entzogen worden, daß eine Novelle zum Jugendschutzgesetz u. a. ein generelles F.verbot für Kinder unter sechs Jahren festlegte: 5 0 % - 7 0 % der bisherigen Besucher. Die Amortisation von Märchenfilmen im Inland wurde unmöglich gemacht, der Produktionszweig starb aus. Die Situation in der Bundesrepublik Deutschland stellt insofern einen bes. Fall dar, als die Popularität der Grimmschen Märchen es ermöglichte, trotz vergleichsweise bescheidenem Werbeaufwand und trotz teilweise niedriger Qualität dem Märchenfilm eine Abspielbasis zu verschaffen. Ausländ. Kinderfilme wurden in der Bundesrepublik deswegen keine kommerziellen Erfolge, weil ihnen in der Regel die werbewirksame Beziehung zum Kanon der Grimm-Titel fehlte 42 . In den Kinderprogrammen des dt. Fernsehens spielten Märchenverfilmungen bis zum Ende der 60er Jahre eine bedeutende Rolle; 1958 belegten Märchensendungen ein Fünftel der entsprechenden Sendezeit 43 . Eine bisher kaum untersuchte Entwicklungslinie führt daneben die Tradition von Feerie und Märchenoperette des 19. Jh.s weiter zu FernsehUnterhaltungssendungen der 70er Jahre. ,Märchen' wird dabei reduziert auf Schauwerte (Ballett, Exotik), sekundäre Geschehenselemente (Verwandlung), übernatürliche Personen. Als Anfang der 70er Jahre neue, pädagogisch bestimmte Formen von Kinderund Vorschulprogrammen entwickelt worden waren, wurden die Märchensendungen zunächst integriert 44 . Der dt. Märchenfilm-Typ widersprach jedoch den Bedingungen des kommerziellen Kindermedienverbunds, der in der Bundesrepublik seit der Sesamstraße (ab 1973) das Medienangebot für Kinder bestimmt 45 . Das gleichzeitige Angebot desselben Stoffes als Fernsehserie und im Kino, als Schallplatte, Kassette und —> Comic und mit zahlreichen Nebenprodukten des Spielwarenund Konsumbereichs erlaubt eine für den Produzenten lukrative Nutzung, für die sich die kindgemäß getrimmte Kunstfigur ä la Biene Maja besser eignet als das Volksmärchen, das sich auch in der Grimmschen Reduktion nicht nahtlos dem kindlichen Konsum einpassen läßt. Magazinsendungen für Vorschulkinder bedienen sich daher ζ. B.
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einer Märchenfigur, um ein Verhaltensmuster zu demonstrieren, oder verfolgen pädagogische Zielsetzungen vermittels Märchenformen. Einerseits wird das Märchen so zum Medium der —» Pädagogik. Andererseits führt der Kindermedienverbund zu einer Reduktion des Stoffes, weil er aus ökonomischen Gründen auf die internat. Verständlichkeit des Produktes und die speziellen Anforderungen der beteiligten Medien Rücksicht nehmen muß und deshalb die Geschichte auf die Figur reduziert, die als Träger von Gestik und Mimik oder als bloßer Rollenträger erscheint. Hintergründe und Handlungsmotivationen verschwinden, Action und Höhepunktdramaturgie treten in den Vordergrund 46 . Märchen im Fernsehen bedeutet fast ausschließlich Kinderfernsehen. Das gilt auch für die reichhaltige Lit.; Märchenstoffe und -formen werden in ihr als Vehikel der Pädagogik verstanden und bewertet. In medienpolitischen und -kritischen Auseinandersetzungen am Beispiel von Kinder- und Jugendsendungen wird der Begriff Märchen nicht anders als in den Medien selbst Undefiniert zur Bezeichnung von Inhalten und Formen verwandt, die von der Alltagsrealität abweichen. 4.2. T s c h e c h o s l o w a k e i . Die bedeutendsten europ. Kinderfilme der Nachkriegszeit wurden in der Tschechoslowakei produziert. Zwischen 1945 und 1965 machten Kinderfilme 13,8% der Gesamtproduktion aus (68 Titel von 492); z. Zt. sind es etwa 10%. Außer in der UdSSR gibt es nur in der Tschechoslowakei ein eigenes Kinderfilmstudio (Filmove Studio Gottwaldov, seit 1960; 1955/56 Kinderfilmstudio Prag). Seit 1924 hatte sich Hermina Tyrlovä mit dem Werbeund Puppenfilm beschäftigt und wandte sich nach dem Kriege ausschließlich dem Kinderfilm zu. Ab 1943 arbeitete Karel Zeman als Drehbuchautor und Regisseur für Kinderfilme; sein F. Vänocni sen (Weihnachtstraum, 1945) wurde 1946 in Cannes als bester Puppenfilm ausgezeichnet. Weltberühmtheit erlangte Zeman später durch seine programmfüllenden Spielfilme, eine Mischung aus Realund Zeichenfilm. Jiri Trnka begann die Herstellung abendfüllender Puppenfilme mit einer mit folkloristischen und legendenhaften Elementen ausgestatteten Darstellung der
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Jahreszeiten (Spalicek [Das tschech. Jahr], 1947). Die von den drei Genannten begonnene Zeichen- und Puppenfilmproduktion für Kinder wurde in der Tschechoslowakei seither kontinuierlich fortgesetzt. Daneben entstanden seit 1948 realistische' Spielfilme für Kinder. Der erste Märchenfilm war Pysny Princezna (Die stolze Prinzessin, 1952) von Borivoj Zeman nach Bozena —> Nemcovä. — Wolf 47 ist der Meinung, daß die Entwicklung der Kinderfilmproduktion der Tschechoslowakei in auffälliger Weise die politischen Verhältnisse in diesem Land widerspiegle. In den Jahren, in denen der Einfluß der Partei und der von ihr gelenkten Kontrolleinrichtungen auf den F. bes. stark gewesen sei, sei die Kinderfilmproduktion sprunghaft angestiegen. Mit zunehmender Liberalisierung habe sich das Interesse der Autoren und Regisseure am Kinderfilm wieder verloren. Der Anteil der Märchen an der Kinderfilmproduktion der Tschechoslowakei (24,7%) ist im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland (97,8%) und zur Dt. Demokratischen Republik (37,5%) relativ gering. Sie spielt eine untergeordnete Rolle, obwohl es nicht an nationalen Märchensammlungen fehlt (cf. —> Tschechoslowakei (23,5%) ist im Vergleich ken gegen die Verfilmung von Märchen mit realen Personen haben ζ. B. das künstlerische Kollektiv des Studios Gottwaldov dazu bewogen, die Bearbeitung,klassischer' Märchen abzulehnen und sich ausschließlich der Gegenwartsthematik zuzuwenden 48 . Dennoch sind zwei Märchenfilme die erfolgreichsten Kinderfilme der Tschechoslowakei: Pysny Princezna (Die stolze Prinzessin, 1952) von Zeman; Princezna se zlatou hvezdo (Die Prinzessin mit dem goldenen Stern, 1959) von Martin Fric, beide nach Märchen von Nemcovä. Aus den Märchenverfilmungen der 50er und 60er Jahre, die oft in die Nähe des Kitsches oder der Karikatur gerieten, ragen zwei Titel heraus: Labakan (Der falsche Prinz, 1956) von Vaclav Krska nach Hauff, der durch Handlung, Farbe, Landschaft und Bauten das Schaubedürfnis des Zuschauers befriedigt und den gleichnishaften Charakter des Märchens unauffällig betont, und Tri zlati vlasy deda Vsebeda (Die drei goldenen Haare des Alleswissers, 1963) von Jan Valäsek nach Karel Jaromir —> Erben. Der Regisseur ver36·
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zichtete auf reale Landschaften und Bauten und ließ das Geschehen in konsequent stilisierten Dekorationen ablaufen, wobei die zahlreichen Handlungsorte nur angedeutet wurden. Wesentliche dramaturgische Funktion kommt dem Licht und der Farbe zu, die die märchenhafte Stimmung hervorrufen und zur Charakterisierung von Milieu und Personen beitragen. Der tschechoslovak. F. verdankt seine Berühmtheit jedoch nicht den Verfilmungen von Volksmärchen, sondern den Kinderfilmen, die man ,moderne Märchen' nennen könnte und die Elemente des Volksmärchens (Typisierung, Polarisierung, Irrealität) als dramaturgische und stilistische Mittel mit Rücksicht auf die Zielgruppe der 5—15jährigen bei der Realisierung eines unabhängig von den Bindungen der Volkserzählung gestalteten Drehbuchs einsetzen, das zum Volksmärchen nicht mehr Beziehungen hat als der Unterhaltungsfilm für Erwachsene (Ota Hofman, Vojtech Jasny, Pavel Hobl). 4.3. UdSSR. Eine Darstellung des Märchenfilms der UdSSR wäre wünschenswert, doch fehlen die Vorarbeiten. Der Sowjet. Kinder- und Märchenfilm erfüllt eine Vorbildfunktion für die Produktion einiger sozialistischer Länder, insbesondere die der Dt. Demokratischen Republik 49 . Speziell für Kinder produzierte F.e gibt es in der UdSSR seit 1919; das Gor'kij-Studio für Kinder- und Jugendfilme wurde 1936 als erstes und sehr lange einziges ausschließlich dem Kinderfilm vorbehaltenes Studio der Welt gegründet, unterbrach seine Arbeit im Zweiten Weltkrieg und nahm sie 1963 wieder auf. Die Märchenfilme Kamennyj cvetok (Die steinerne Blume, 1946) und Sadko (1952) von Aleksandr Ptusko haben internat. Anerkennung gefunden. Unterstützt wird die Kinderfilmarbeit durch den Künstlerischen Rat für Kinder- und Jugendfilme beim Ministerium für Kultur der UdSSR. 4.4. Dt. D e m o k r a t i s c h e R e p u b l i k . Kinderfilme machten in der 1. Hälfte der 60er Jahre zwischen 20 und 30% der Gesamtproduktion aus; davon waren 26,5% Märchenfilme. 1961 wurde das Nationale Zentrum für Kinderfilm der Dt. Demokratischen Republik gegründet, das Mitglied des Centre
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Internat, du F. pour l'Enfance et la Jeunesse ist. Von 17 Märchenverfilmungen zwischen 1960 und 1965 gehen neun auf die Grimms, zwei auf Hauff und eine auf Andersen zurück; fünf F.en dienten Sagen und Volksmärchen anderer Provenienz als Grundlage. Wichtig sind Das kalte Herz (1950) von Paul Verhoeven, Die Geschichte vom kleinen Muck (1950) von Wolfgang Staudte, beide nach Hauff, und Der Teufel vom Mühlenberg (1954) von Herbert Ballmann nach einer Harzsage. Hier hatte der Dramaturg des F.s nicht nur die „Elemente revolutionärer Romantik" unterstrichen, sondern auch den konkreten, aktuellen Bezug: „Zu allen Zeiten [. . . ] kämpften die einfachen Menschen gegen Unterdrückung und Ausbeutung. Und immer werden sie den zeitlich und örtlich begrenzten Sieg nur erringen können, wenn sie klug und mutig sind und einig zusammenhalten. So sind [. . .] (die guten Geister) in unserem Film keineswegs übersinnliche Kräfte, sondern nichts als übersinnliche Verkörperungen, Versinnbildlichungen dieser alten Weisheit des Volkes" 50 .
Die 2. Hälfte der 50er Jahre ist durch ausführliche Diskussionen über die gesellschaftliche Funktion und den ideologischen Standort des Märchenfilms gekennzeichnet. Helmut Spieß verwandelte Das tapfere Schneiderlein in eine Geschichte mit klassenkämpferischer Tendenz und ersann dramaturgische Lösungen, die den König und alle Adligen dumm und lächerlich zeigten 51 . Ging die sozialistische Überinterpretation des Grimmschen Märchens durch Spieß sogar dem Neuen Deutschland zu weit, so war andererseits die werkgetreue Verfilmung Das singende klingende Bäumchen (nach KHMMotiven, 1957) von Francesco Stefani Gegenstand der Kritik, weil das in den Mittelpunkt gestellte Geschehen, die Wandlung einer eitlen und hochmütigen Prinzessin, als ein Thema angesehen wurde, für das es keinen Platz in der sozialistischen Jugenderziehung gebe 52 . Auch der Versuch Gerhard Kleins, Motive eines uigur. Volksmärchens in seiner Geschichte vom armen Hassan (1958) den Kategorien des Brechtschen Theaters anzunähern, wurde weder von Publikum noch Kritik honoriert. Klein verzichtete auf prunkvolle Dekorationen und begnügte sich mit einem stilisier-
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ten Hintergrund. Der F. erwies sich als ungeeignet für ein jugendliches Publikum 53 . — Die Märchenfilme der folgenden Jahre blieben im Rahmen einer gemäßigt interpretierenden Werkverfilmung: Das Feuerzeug (1959) nach Andersen von Siegfried Hartmann, dessen Verfilmung (1960) des Kinderbuches Hatifa von Willi Meinck großen Erfolg hatte, und Schneewittchen (nach KHM 53, 1961) von Gottfried Kolditz. Nach der phantasievollen, durch das exotische Milieu herausgehobenen Koproduktion mit der Mongol. Volksrepublik Die goldene Jurte (1961) kehrte die DEFA mit Rotkäppchen (verfilmte Theaterinszenierung, 1962), Frau Holle (1963) und Die goldene Gans (1964; AaTh 571: -> Klebezauber) zum Grimmschen Märchen zurück. Neue Formen suchte Walter Beck mit der Grimm-Verfilmung König Drosselbart (1965), indem er die Schauwerte reduzierte und die Personen in den Mittelpunkt rückte; das grundsätzliche Problem, wieweit das authentische Märchen der Psychologisierung zugänglich ist, wurde mittelbar dadurch beantwortet, daß die Produktion sich immer wieder dem ,modernen Märchen' zuwandte, das sich nicht mehr auf tradierte Texte stützt, sondern die Realität der jugendlichen Zuschauer .märchenhaft' verfremdet, wobei moderne Texte der Kinder- und Jugendliteratur oder Originalexposes verfilmt werden 54 . 4.5. G r o ß b r i t a n n i e n . Die im wesentlichen von der F.produzentin und Pädagogin M. Field bestimmte engl. Kinderfilmproduktion der Rank-Organisation seit 1944 galt als vorbildlich und hat die Produktion in anderen Ländern beeinflußt. Sie bestimmte in den 50er und 60er Jahren das Gesicht der Mostra Internazionale del F. per Ragazzi (seit 1948 in Venedig zusammen mit der Biennale). Im Gegensatz zu anderen Ländern mit kontinuierlicher Spielfilmproduktion für Kinder gibt es in Großbritannien keine Verfilmungen von Volksmärchen 55 . Es bildete sich für die Story ein gewisses Raster heraus: Äußerlich sichtbare Unterscheidung in ,Gute' und ,Böse', Sieg des Guten; die optimistische Grundstimmung und das Happy-End; die Bevorzugung abenteuerlicher, bes. kriminalistischer Stoffe. ,Moderne Märchen' 56 , stilistisch
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an der Realität orientierte Kinderfilme, in denen Märchenmotive als konstitutive Elemente des Geschehens benutzt werden, machen ca 9% der engl. Kinderfilmproduktion aus. Doch bricht bei ihnen das Phantastische abrupt und oft unzureichend motiviert in eine fast alltägliche Welt ein, wie in The Dragon of Pendragon Castle (1950) von John Bexter, wo ein junger Drache eine verarmte Aristokratenfamilie vor dem Ruin bewahrt. Er ersetzt die Zentralheizung im Schloß und hilft einigen Kindern, den vermißten Familienschatz zu finden. One Wish too Many (1956) von John Durst erzählt von dem neunjährigen Peter und seiner Zaubermurmel, mit der er sich jeden Wunsch erfüllen kann, bis er sie mißbraucht und verliert. Das angerichtete Unheil wird durch Erwachsene wieder bereinigt. 5. V o l k s e r z ä h l u n g s m o t i v e im S p i e l f i l m f ü r E r w a c h s e n e . Für den Trivialfilm schlechthin gilt, daß er nicht in seiner gesamten Geschehensstruktur auf ein Märchen zurückgreift, sondern daß dem Drehbuch geschehensbestimmende Motive oder Motivbündel zugrunde liegen, die als Motive der Volkserzählung erfaßt werden können. Am meisten kommen dabei magische Kräfte und Gegenstände, Wunder, Zauberer, Verstellung und Betrug vor, die der F. als eine Art Märchenextrakt behandelt, indem er — ohne die tatsächlich vorkommenden Motivverbindungen der Volkserzählung zu berücksichtigen — fast beliebige wunderbare Geschehenseinheiten in einen Ablauf zwingt. F.e dieser Art, unter ihnen Spielereien mit der —> Unsichtbarkeit (Die Zaubermütze, 1909, von Thomas Alva Edison; Der Yoghi, 1916, von Paul Wegener), sind frühe Versuche, verblüffende Motive der Volkserzählung als Geschehenselemente des Unterhaltungsfilms zu nutzen. Aber F.geschichte ist nicht eingleisig. Technisch, auch erzähltechnisch überholte Lösungen werden ,aufgehoben' und bestehen neben fortgeschrittenen: Alberto Lattuadas Agent Matchless kann sich im gleichnamigen F. (1967) mittels eines Wunderringes alle 10 Stunden 20 Minuten lang unsichtbar machen. „Eine Primitivutopie, ziemlich flüssig, nach Gebrauch wegwerfen", kommentiert die Kritik 57 . Der Held
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wendet seine Gabe zur Verunsicherung von Militärs und Wissenschaftlern an und verschafft sich erotische Vorteile damit; die Grundhaltung ist die derbkomische des Klamauks, nicht anders als in Des Teufels Stiefel (1908) 5 8 . Die Entwicklung ist in zwei Strängen von diesen Versuchen aus weitergegangen: zur Märchen Verfilmung für Kinder und zur ,Übersetzung' von Märchenmotiven in den Spielfilm für ein erwachsenes Publikum; beide Rezipientengruppen lassen sich nur in Ausnahmefällen mit demselben F. erreichen. So entstehen einerseits Umsetzungen mythischer Vorwürfe in ein traumhaft expressives Alltagsmilieu (etwa Jean Cocteaus Orphee, 1950; Marcel Camus' Orfeo Negro, 1959), wobei gesellschaftliche Randgruppen (bei Cocteau) oder exotisches Milieu (bei Camus) den ,Einstieg' in die jenseitige Welt vermitteln; andererseits — im selben Motivbereich der ,otherworld journeys' — textgetreue Märchenverfilmungen (ζ. B. Jack and. the Beanstalk, Großbritannien um 1970; Mot. F 54.2, cf. —> Bohnenranke). Die Motive bleiben im übrigen bei einer Veränderung des Milieus im F. erhalten; F.e mit demselben Stoff lassen sich analog der Var.nmasse einer Volkserzählung betrachten. Der jap. Pfirsich-Knabe (Edison, USA 1909, Spielfilm mit realen Darstellern) und Momotaro, a Boy of Old Japan (Puppenfilm, Japan 1973; beide Mot. Τ 5 4 3 . 3: Birth from fruit) gehen auf zwei verschiedene Var.n derselben Erzählung zurück 59 . Deutlich wird außerdem als medienspezifisch das Bemühen um eine Rationalisierung des Geschehensablaufs durch Einfügen von Passagen, die der psychol. oder hist. Erklärung dienen, die nicht zum Kernbestand der Erzählung gehören und in den aufgezeichneten Fassungen fehlen.
1 Ranke, K.: Betrachtungen zum Wesen und zur Funktion des Märchens. In: Studium Generale 11 (1958) 6 4 7 - 6 6 4 (abgedr. in: Karlinger, 3 2 0 - 3 6 0 , hier 327); zur Frage der Stilwandlung verfilmter Märchen unter dem Blickwinkel der Behandlung von Grausamkeit cf. Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 155 sq. - 2 Bausinger, H.: Möglichkeiten des Märchens in der Gegenwart. In: Märchen, Mythos, Dichtung. Festschr. F. von der Leyen. Mü. 1973, 16 sq. - 3 Folklore in the Modern World, ed. R. M. Dorson. The Hague/P. 1978, 7. - 4 Patai, R.: Myth and Modern Man. Englewood Cliffs 1972. —
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Fincelfius;), Job(us)
5 Lüthi, Märchen, 5; cf. auch Höfig, W.: Der dt. Heimatfilm 1 9 4 7 - 1 9 6 0 . Stg. 1973, 2 4 6 - 2 6 2 (mit einer Aufarbeitung der Diskussion). - 6 Sadoul, G.: Georges Melies. P. 1961, 184 sq. - 7 cf. F.Echo Verleihkatalog. Wiesbaden 1 9 5 0 - 6 0 , 224, 979, 1013. - 8 ibid., 434, 1013; Telegraf (B., 2. 9. 1955). - 9 Zu D. Weixler v. Der Kinematograph 467 (Düsseldorf, 8. 12. 1915); zu A. Nielsen v. Der F. 43 (B. 1916) 37; Lewis, J.: Wie ich F.e mache. Mü. 1974, 183. - 10 Fuzellier, E.: Dictionnaire des ceuvres et des themes du cinema mondial. P. 1976, 260 sq. 11
cf. Der Kinematograph 34 (Düsseldorf, 21. 8. 1907). - 12 cf. not. 7, p. 39, 366, 381, 446, 1014; Der Lehrfilm. Beilage zu: Kinematographische Monatshefte 2, 10 (1921) 20; 2, 11 (1921) 17. 11 cf. ibid. 4, 1 (1923) 25. - 14 ibid. - 15 Inhaltsangabe in: Der Kinematograph 41 (Düsseldorf, 1907). - 16 cf. Motion Pictures 1 9 1 2 - 1 9 3 9 . Catalog of Copyright Entries (Cumulative Series). Wash. 1951, s.v. Snow White. - 17 (wie not. 10) 32. 18
Nugent, F. S.: Snow White and the Seven Dwarfs. In: N.Y. Times (14. 1. 1938); Garbicz, A./Klinowski, J.: Cinema, the Magic Vehicle. Journey 1. The Cinema through 1949. Metuchen, N. J. 1975,276. 19 cf. Der Kinematograph (Düsseldorf, 2 . 1 . 1 9 1 8 ) . 20 cf. Lotte Reiniger. Eine Dokumentation (Dt. Kinemathek 14). B. 1969, 22; Der Lehrfilm (wie not. 12) 4,1 (1923) 25; 4,5 (1923) 17. 21 F.s Kids Like. ed. S. Rice. Chic. 1973, 119 sq. 22 Evangel. F.beobachter (7. 1. 1955) (zitiert nach: Um den Märchenfilm. Heft 3. ed. Jugendfilm-Verleih. B. 1958, 9 - 1 0 ) . - 2 3 F.-Dienst (1. 10. 1954) (zitiert nach: Märchenfilm [wie not. 22]). - 24 Wolf, S.: Kinderfilm in Europa. Mü. 1969, 174 und pass. - 25 ibid., 264—287, erg. um die Daten der Bundesrepublik Deutschland (Teilveröff.). - 26 ibid., 288 - 308. - 2 7 ibid., 279 sq. - 28 Weitere GolemVerfilmungen: 1917, 1920, 1936, 1951, 1966; cf. Mayer, S.: Golem. Bern/Ffm. 1975, 239. - 29 Über Diehl ausführlich: Grunsky-Peper, K.: Dt. Vk. im F. (Diss. Marburg 1978) Mü. 1978, 2 8 3 - 2 9 8 . 30 cf. Reiniger (wie not. 20). 31 cf. The Internat. Enc. of F. ed. R. Manvell. L. 1972 (Nachdr. N.Y. 1975) s.v. Reiniger. - 32 cf. auch Bälasz, B.: Der Geist des F.s. Halle 1930, 122 sq.; F.kurier 102 (3. 5. 1926). - 3 3 Vorwärts 216 (9. 5. 1926). - 3 4 ibid. 418 (5. 9. 1926). 35 ζ. B. Stern, L. in: Sozialistische Monatshefte (12. 7. 1926), zitiert nach Reiniger (wie not. 20) 56sq. - 3 6 cf. not. 29, 282. - 37 Zitiert bei Wolf (wie not. 24) 64 (nach: Abendpost [Ffm., 19. 4. 1959]). - 3 8 Wolf (wie not. 24) 65 sq. - 3 9 ibid., 68 sq. - 4 0 ibid., 70. 41 cf. Höfig (wie not. 5). — 4 2 Silbermann, Α.: Vorw. In: Wolf (wie not. 24) 5. - 4 3 cf. Lipp, C.: Das Kinderfernsehen in der B R D . In: Jensen, K./ Rogge, J.-U. (edd.): Der Medienmarkt für Kinder in der Bundesrepublik. Tübingen 1 9 8 0 , 4 9 - 7 2 , hier 52 sq. - 4 4 cf. ibid., 54 sq. - 45 Dargestellt bei Rogge, J.-U./Jensen, K.: Anmerkungen zum kom-
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merziellen Kindermedienverbund. In: Der Medienmarkt (wie not. 43) 1 3 - 4 8 . - 4 6 ibid., 31; cf. auch Fernsehvorschule. ed. W. Geisler/P. E. Kalb. Weinheim/Basel 1975. - 4 7 Wolf (wie not. 24) 115 sq. 48 ibid., 125 (unter Berufung auf A. Bosäk). — 49 ibid., 166. - 5 0 Schmitt, W. in: Beitr. zu Fragen der F.kunst (Dt. F.kunst 1954) Anh. 5, 3. S1 cf. Knietzsch, H. in: Neues Deutschland (3. 10. 195 6). - 52 cf. Dt. F.kunst 195 8, 2. - 5 3 cf. Wolf (wie not. 24) 183. - 5 4 cf. dazu im einzelnen ibid., 184 sq. ibid., 250. - 5 Luther. Somit stellen die Wunderzeichen keine manieristische Sensationsanhäufung dar, sondern sie wurden als geschiehtstheol. Offenbarungswerke gelesen, gedeutet und lange weitergegeben. Vieles davon nennen wir heute ,Sage' und sehen ganze Motivbündel überliefert, weitererzählt und ins Volk gepredigt, weil theol. deutbar geworden. Es finden sich allein 47 Teufelsgeschichten oder Ereignisse, die auf Teufelsmachenschaften hin interpretiert werden, darunter so bekannte wie die Erzählung vom —> Teufel als Advokat (t. 1, Μ 8 v; AaTh 821), vom —> Rattenfänger von Hameln (t. 1, C 4r; Mot. D 1427.1), von den Spielern von Willisau (t. 1, Q 4r; cf. Kirchhof, Wendunmuth 1, 1, num. 220). Lit.: Zedier, J. H.: Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wiss.en und Künste 9. Halle/Lpz. 1735 (Nachdr. Graz 1961) 928. - Jöcher, C. G.: Allg. Gelehrten-Lex. 2. Lpz./Delmenhorst 1750 (Nachdr. Hildesheim 1960/61) 613. - Schenda, R.: Die dt. Prodigienslgen des 16. und 17. Jh.s. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 4 (1963) 6 3 8 710, hier 652 sq. - Alsheimer, R.: Katalog Protestant. Teufelserzählungen des 1^. Jh.s. In: Brückner, 4 1 7 - 5 1 9 , hier 437—440 (Zusammenstellung der 47 Teufelsgeschichten F.s). - Schilling, H.: F. und die Zeichen der Endzeit. In: Brückner, 3 2 6 392 (mit Gesamtbibliogr. und bibliogr. Nachweisen). — Ecker, G.: Einblattdrucke von den Anfängen bis 1555. Unters.en zu einer Publ.sform literar. Texte 1—2. Göppingen 1981.
Würzburg
Wolfgang Brückner
Findelkind. Eine Vielzahl von Mythen und Legenden, Märchen und Sagen der ganzen Welt hat das F. zum Thema (Mot. L 111. 2);
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nicht minder hat sich die Hochliteratur mit ihm beschäftigt 1 . Das Interesse an diesem Thema kann, sehr bedingt, als ein Spiegel der Wirklichkeit angesehen werden; gab es doch ζ. B. in Österreich noch um 1900 acht Findelanstalten mit 9.000 internen und 30.000 externen Kindern 2 . Fast alle Erzählungen beginnen mit dem Aussetzungsmotiv 3 , jedoch sind die Anlässe für die —> Aussetzung wie auch die Schicksale der F.er sehr unterschiedlicher Natur. Die Anlässe können nach inneren (Miß- und Mehrlingsgeburten) und äußeren (Inzest, Familienrivalität, uneheliche Geburt) Bedingungen unterschieden werden. —» M i ß g e b u r t e n wurden früher bei den meisten Völkern getötet oder ausgesetzt, vielfach war dies sogar gesetzlich bestimmt (ζ. B. im röm. Zwölftafelgesetz 4 ). Das Märchen jedoch findet zuweilen optimistischere Lösungen: Ein armes Ehepaar, das nur eine Tochter hat, wünscht sich einen Sohn. Als dieser endlich geboren wird, zeigt sich, daß ihm Hörner auf dem Kopf wachsen. Die Eltern legen das Kind in eine Kiste und setzen diese im Fluß aus. Die Schwester geht ihrem Brüderchen ,Langhorn' nach, gibt ihm zu essen unci holt ihn nach Wochen aus dem Wasser. Der Junge ist jetzt groß und stattlich und hat keine Horner mehr. Nach langer Zeit gelangen die Geschwister wieder in ihre Heimat, dort wollen die Eltern den Jungen aber nicht mehr anerkennen 5 .
Bei —» M e h r l i n g s g e b u r t e n wurde vielfach angenommen, sie könnten nur von mehreren Vätern gezeugt sein. So heißt es bei dem Geschichtsschreiber Paulus Diaconus (Historia Langobardorum 1, 15): Zur Zeit des Langobardenkönigs Angelmund gebiert eine Frau sieben Knaben an einem Tag. Um der Schande zu entgehen, wirft sie die Knaben in einen Fischteich. Als der König vorbeireitet, ergreift eines der Kinder den königlichen Spieß und erweist so seine Lebensfähigkeit 6 . Dieses Kind nimmt der König zu sich, und nach seinem Tod wird es dessen Nachfolger.
Das Mehrlingsmotiv geht in der Weifensage (Grimm DS 521) eine Verbindung mit dem Namengebungs- und Herkunftsmotiv ein: Die Gräfin zu Altdorf läßt elf der von ihr an einem Tag geborenen zwölf Kinder aussetzen. Die alte Frau, die dies besorgt, sagt dem Grafen, in dem Sack befänden sich Weifen ( = junge Hunde); der Graf läßt die Knaben aufziehen. Zum ewigen Gedächtnis sollen die Nachkom-
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men des Grafen zu Altdorf daher Weifen heißen. Diese Sage hat zugleich eine didaktische Tendenz, denn die Gräfin zu Altdorf hatte einer Frau, die drei Kinder gebar, befohlen, diese auszusetzen, und nun bekofnmt sie selbst Mehrlinge. — Auch die Furcht vor einem nicht standesgemäßen Erben kann zur Aussetzung führen, wodurch der spätere Held zum F. wird, wie ζ. B. in KHM 29 (AaTh 461: Drei —> Haare vom Bart des Teufels)·. Einem Neugeborenen wird geweissagt, es werde mit 14 Jahren die Tochter des Königs heiraten. Als der König dies erfährt, läßt er den Knaben aussetzen. Der aber wird gerettet und heiratet die Prinzessin, als dieser nicht anwesend ist. Der König will seine Tochter behalten und stellt dem Jüngling die schier unmöglich zu lösende —> Aufgabe, drei goldene Haare aus der Hölle zu holen. Dem Helden gelingt dies, und er behält die Königstochter.
Da die verwandtschaftliche Beziehung zwischen Adoptiveltern und F. höchst ungewiß ist, besteht latent immer die Gefahr inzestuöser Beziehungen. Das wohl bekannteste Beispiel ist der - » Odipus-Mythos (AaTh 931), der immer wieder dramatisiert wurde 7 . Doch kann dieser Mythos nicht nur unter dem Aspekt S. —> Freuds betrachtet werden, der im Vatermord die älteste aller menschlichen Untaten sieht. Denn dabei berücksichtigte Freud zuwenig, daß gerade in dem von ihm zitierten öd/pwi-Mythos der Sohnesmord vorangeht Aussetzung verstanden als Mord auf Raten. Ödipus heiratet seine Mutter, ohne sie als solche zu erkennen, vollzieht also keinen bewußten —> Inzest 8 . Zumeist allerdings wurden F.er abgelehnt und getötet. Im Fundevogel (KHM 51)9 ζ. B. will die Köchin des Försters das von diesem auf einem Baum gefundene Kind umbringen. Fundevogel flieht mit der Tochter des Försters. Die Köchin folgt den Kindern, diesen gelingt es aber, nachdem sie sich verwandelt haben, die Köchin zu töten. Für die ablehnende Haltung gegenüber F.ern sind vor allem zwei Gründe zu nennen: F.er waren meist unehelicher Herkunft und galten deshalb von vornherein als minderwertig (—> Bastard); die Großfamilien von einst waren geschlossene Körperschaften, so daß F.er nur sehr schwer Aufnahme fanden, und wenn, dann als Sklaven 10 . Unter bestimmten Bedingungen mußten F.er dennoch akzeptiert werden: Ein Kind ζ. B., das Essen zu sich
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genommen hatte, durfte nicht mehr getötet werden: So wird in der fries. Vita Liudgeri von einer hochgeborenen Frau berichtet, die das Kind ihres Sohnes aus Zorn darüber aussetzen ließ, daß ihm nur Töchter geboren wurden. Als sie erfuhr, daß eine Frau das F. an sich genommen hatte, schickte sie Männer aus, die es töten sollten. Doch die Männer kamen zu spät, denn das Kind leckte sich schon die Lippen nach der Mahlzeit, und so mußten die Männer wieder abziehen".
Die angeführten Beispiele spiegeln zu einem Teil die Wirklichkeit wider, etwa was die Aussetzung von Mißgeburten, Mehrlingen und unehelichen Kindern betrifft. Ein völlig falsches Bild vermitteln jedoch die Erzählungen, wenn sie immer wieder nicht nur von der Errettung der Ausgesetzten, sondern von deren späterem glücklichen Leben berichten 12 . Nicht minder wird das Bild verfälscht, wenn fast ausschließlich von männlichen F.ern erzählt wird. Tatsächlich waren in erster Linie Mädchen von der Aussetzung betroffen. Hier nur zwei Beispiele, die für viele stehen. Thorstein sagt zu seiner Frau vor der Fahrt zum Thing: „Es steht so, daß du ein Kind von mir trägst. Bringst du ein Mädchen zur Welt, dann soll es ausgesetzt werden, wird es aber ein Knabe, dann magst du ihn aufziehen" 1 3 . Aus Griechenland berichtet Stobaios (Sermones 77, 7): „Den Sohn zieht mancher auf, auch wenn er arm ist, die Tochter setzt er aus, auch wenn er reich ist". Erzählungen von F.ern, die berühmte Geschlechter begründeten oder Religionsund Staatengründer wurden, sollen auf das Einmalige und Besondere dieses Geschlechts etc. hinweisen; mit der Wirklichkeit haben sie nichts zu tun. Im 19. Jh. erfuhr das Thema F. im Schauerroman, der zu der beliebtesten Lektüre zählte, bes. Beachtung 1 4 . In den Leihbibliotheken waren Bücher wie Der Findling in der Löwengrube oder die mitternächtliche Schauderthat, Der böse Findling oder der Schreckenturm, Der Findling von Granada oder die Vorsehung wacht zu haben. „In den sozialkritischen Romanen entpuppen sich die besonders armen aber anständigen Teufel stets als Findelkinder [ . . .]. Hauptsächliche Funktion dieses populären Stereotyps ist es, den sozialen Aufstieg braver, arbeitsamer, gottgefälliger Menschen zu zeigen" 1 5 . Ferner diente das
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Thema F. der pädagogischen Erzählung, so etwa in dem Roman von F. W. Held Der Findling. Eine lehrreiche Erzählung für die reife Jugend (1837) oder in dem Buch von Gustav Nieritz Der Findling oder Die Schule des Lebens. Eine nützliche und unterhaltsame Erzählung für die Jugend (Lpz. 1842). Auch in den sozialkritischen Werken von Charles Dickens spielen F.er eine Rolle (ζ. B. Our Mutual Friend. L. 1864/65). Im 20. Jh. hat das Thema F. nur noch wenig Interesse gefunden. Wenn, dann allerdings meist mit den auch schon früher verwendeten Motiven (hohe Geburt, Aufstieg zu bes. Stellung etc.; cf. auch —> Zeichen edler Herkunft). So etwa stellte Ernst Barlach in seinem Schauspiel Der Findling (B. 1922) den Heiland als F. dar 1 6 . In der Ballade Graf Egisheim von Börries von Münchhausen ist Papst Leo IX. (1049—54) ein vor dem Kindesmord gerettetes F. 17 . Wie stark das Begehren ist, diese ,armen' Kinder mit der Aura des Geheimnisses auszustatten, wird vor allem deutlich an dem wohl ,berühmtesten' F., Kaspar —» Hauser. Als dieser 1828 (etwa 1812 geb.) in Nürnberg auftauchte, wurde er innerhalb kurzer Zeit zum Mittelpunkt gefühlvoller Salons und zum bevorzugten Objekt der Sensationspresse. „Das Interesse des ganzen gebildeten Europa heftete sich an den merkwürdigen Findling [. . .]. Daß H. von vornehmer Abkunft, vielleicht ein beiseite geschafftes Fürstenkind, vielleicht der natürliche Sohn eines hohen katholischen Prälaten, war die gewöhnliche Annahme" 1 8 . Der Strafrechtler und Kriminologe A. Ritter von Feuerbach, der sich Hausers annahm, glaubte, dieser sei ein von der Reichsgräfin Hochberg beiseite geschaffter Erbprinz von Baden 1 9 . Durch den plötzlichen Tod (Mord, Selbstmord?) 1833 gelangte der schon beinahe in Vergessenheit geratene Hauser wieder in den Mittelpunkt des Interesses. Bis in die Gegenwart haben sich Schriftsteller und Wissenschaftler mit Hauser beschäftigt 20 . Der Psychologe A. Mitscherlich bezeichnete die zur Gemütsarmut und Kontaktschwierigkeiten durch Vereinsamung führenden Entwicklungsstörungen als,Kaspar-Hauser-Komplex'. Der Verhaltensforschung dient Hauser zur Kennzeichnung des Phänomens der Aufzucht unter Erfahrungsentzug 2 1 .
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H e u t e wird den F.ern, wenn man sich bei ihrer geringen Zahl überhaupt mit ihnen beschäftigt, der Schein des Geheimnisvollen und Besonderen genommen. A n die Stelle des Schauerromans tritt die nüchterne Fernsehreportage, in der F.er über ihr Leben berichten 2 2 , cf. —» Waise I Frenzel, Motive, 342—360 (Die unbekannte Herkunft), 4 0 1 - 4 2 1 (Inzest). - 2 Conrad, J.: Findelhäuser. In: Hwb. der Staatswiss.en 4. Jena 3 1909, 315; Pfeil, S. Graf von: Das Kind als Objekt der Planung. Eine kulturhist. Unters, über Abtreibung, Kindestötung und Aussetzung. Göttingen 1979, 212-326. - 3 cf. auch HDM 2, 120sq., dieser Art. von F. Herzfeld ist jedoch hauptsächlich aus psychoanalytischer Sicht geschrieben, Inzest- bzw. Ödipusmotiv sind in den Vordergrund gestellt und allein Werke von Freud genannt. — 4 cf. Dulckeit, G.: Rom. Rechtsgeschichte. Mü. 1952, 47. — 5 Kratz, E. U.: Indon. Märchen. MdW 1973, 8 - 1 2 . 6 Ähnlich Grimm DS 406*; cf. auch Lex Alamannorum 94, 1: Danach mußte das Neugeborene eine Stunde lang die Augen aufschlagen und die vier Wände des Hauses betrachten. - 7 cf. Dirlmeier, F.: Der Mythos von König Oedipus. Mainz 2 1964. — 8 cf. Conrad, K.: Die neurotischen Züge unserer Zeit. In: Göttinger Universitätsreden 33 (1961) 7—24, hier 13 sq. — 9 Zum Begriff Fundevogel cf. Grimm, J.: Dt. Rechtsalterthümer 1. Lpz. "1899, 634. - 10 cf. Mitteis, H.: Der Rechtsschutz Minderjähriger im MA. In: id.: Die Rechtsidee in der Geschichte. Weimar 1957, 621-635. II
Grimm (wie not. 9) 630; MGH SS 2, 406. ζ. B. Text im EM-Archiv (mit num.): Arlequin 1691 (13.377); Berckenmeyer, P.L.: Vermehrter Curieuser Antiqvarius [. . .]. Hbg 5 1720, 94. — 13 Vier Skaldengeschichten. Übertragen von F. Niedner (Thüle 9). Jena 1914, 28 (Die Geschichte von Gunnlaug Schlangenzunge). — 14 Schenda, R.: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte populärer Lesestoffe 1770-1910. Ffm. 1970, 210. - 15 ibid., 403sq. - 16Meier, H.: Der verborgene Gott. Studien zu den Dramen Ernst Barlachs. Nürnberg 1963. - 17 Münchhausen, B. von: Balladenbuch. Stg. 1950, 84 sq. — 18 Brockhaus' Konversationslexikon 8. Lpz. 1908, 871. - 19 Feuerbach, A. von: Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen. Ansbach 1832. 20 Aus der kaum übersehbaren Lit. einige Beispiele der letzten Jahrzehnte: Scholz, H.: Der Prinz Kaspar Hauser. Protokoll einer modernen Sage. Homberg 1964; Mistler, I.: Gaspard Hauser. Un drame de la personnalite. P. 1971; Pies, Η.: Kaspar Häuser. Fälschungen, Falschmeldungen und Tendenzberichte. Ansbach 1973. 21 Eibl-Eibesfeldt, I.: Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung. Mü. 1967. — 22 „Ich weiß 12
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nicht, wer ich bin". F.er sprechen über ihr Leben. Fernsehsendung Hessen 3 (9. 1.1981). Göttingen
Sigurd Graf von Pfeil
Finger. Die Benennung des F.s in den ide. Sprachen ist unterschiedlich, möglicherweise handelt es sich ζ. T. um tabuierte oder repressive E r s a t z n a m e n S l a v . Sprachen machen keinen Unterschied zwischen dem F. und der Zehe 2 . Die Benennung der einzelnen F., welche bei den meisten Sprachen identisch konstruiert ist, richtet sich nach funktionalen Kriterien. In der Folklore unterscheidet man jedoch die F.arten kaum voneinander; nur bei Verstümmelung kommt meistens der am ehesten entbehrliche kleine F. vor. D e r D a u men wird als Motiv relativ selten benützt, am häufigsten noch in Redewendungen, ζ. B. „ D e n D a u m e n drücken" (schon bei Plinius bezeugt) 3 , „Etwas unter dem D a u m e n [d. h. dem größten der F.] halten" 4 . O f t wird eine Person wegen der kleinen Gestalt mit dem D a u m e n verglichen (AaTh 700: —> Däumling·, 3 2 7 B : —» Däumling und Menschenfresser)5. So heißt es ζ. B. in einer tschech. R e d e wendung über ein ungleiches Ehepaar: T f e b a muzicek jako palecek, jen kdyz je muzicek (Wenn auch das Männchen nur wie ein Däumchen, ist es doch ein E h e m ä n n c h e n ) . Berühmt ist z.B. der H o f n a r r Palecek ( D ä u m ling) des böhm. Königs Wenzel IV. als H a n d lungsträger verschiedener —» Hungrigenschwänke (u. a. A a T h 1567). Bei F.erzählungen tritt der D a u m e n in verschiedenen Rollen auf. Die H a n d mit den F.n bietet die intensivste körpersprachliche Ausdrucksmöglichkeit der menschlichen Persönlichkeit. Die Symbolik 6 der Bewegung und die Position der F. gehören zu den ältesten Verständigungsmitteln, die im Ritus, im Aberglauben 7 und im gesellschaftlichen Verkehr bis heute ihre Bedeutung beibehalten haben. Bekannt ist die F.sprache der Taubstummen und der Jäger 8 , die an das Schattenspiel für Kinder erinnert, wobei die Tiere mit verschieden ausgestreckten F.n dargestellt werden. Die F.symbolik ist jedoch ethnisch gebunden, und daher müssen identische Symbole
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nicht immer identische Bedeutung haben. L. Röhrich 9 unterscheidet den Zeit-, Sozial-, National- und Personalstil der Gebärdensprache und demonstriert das mit Frangois Rabelais' Version vom —> Zeichendisput (AaTh 924 A—B), in der zwei Nationen und zugleich zwei Sozialschichten konfrontiert werden. Trotz der Vielfältigkeit der F.geste, die zum Mißverständnis führen kann, wie der Schwank in vielen Typen belegt, bleibt die Deutung oft über Jahrtausende unverändert. So ζ. B. benutzt Hammurabi (Gesetz 127) für die öffentliche Beschuldigung einer vornehmen Frau den Ausdruck ,Wenn jemand mit dem F. (auf sie) zeigt . . .' 10 . Sehr vielfältig und meistens schon seit der Antike allg. bekannt sind apotropäische —> Gebärden wie ζ. B. F. kreuzen, Daumen drücken u.a.; aus manchen haben sich Spottgesten entwickelt (Feige, Rübenschaben, Hörner, Gähnmaul u. a.) 11 . F.gebärden können in Erzählungen, vor allem im Schwank, eine wichtige Stellung innehaben; in mancher Version hat die F.geste die gleiche Funktion wie das Wort oder ersetzt es sogar. In einer tschech. Version von —» Patelin (AaTh 1585) stellt sich der Held verrückt: Statt einer Antwort zieht er jedesmal> den ausgestreckten F. unter der Nase hin und her. Gesten, die das Wort ersetzen, hat A. Satke 1 2 parallel zum Text veröffentlicht, ζ. B. das Läusesuchen in Die widerspenstige —> Ehefrau (AaTh 1365 C). Ähnlich deutet eine Frau kurz vor dem Ertrinken mit den F.n an, daß die Wiese ,beschnitten', nicht ,gemäht' wird (AaTh 1365 B) 1 3 . Die Situation des Mißverstehens einer F.geste bietet zahlreiche Möglichkeiten. Im mähr, und poln. Schwank zeigt der Mann in Wien mit dem F. in den Mund (Geste des Hungers); irrtümlich wird ihm ein Zahn gezogen 14 . In Hans heiratet (KHM 84, AaTh 859 D: —> Prahlereien des Freiers) besteht die Pointe darin, daß Hans auf die ,Placken' (Grundstücke oder Flicken) seines Kittels statt auf die Felder zeigt und so Vermögen vortäuscht. Bekanntester Typ dieser Art ist der Zeichendisput, wo zwei Verwendungsbereiche der Gebärden, der geistliche und der profane, zu Mißverständnissen Anlaß geben. In einer mähr. Version interpretiert der Knecht die bibl. Symbole des Rabbiners (ein
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F. = Gott; zwei F. = Adam und Eva) als das Ausstechen von einem bzw. zwei Augen 1 5 . Seit dem Altertum überliefert ist das Motiv der Göttin, die ein Kind aus dem F. ernährt (cf. Mot. F 552.1.5, Τ 611.1; cf. -> Säugen) 1 6 . Häufig kommt das F.motiv im Predigtmärlein des MA.s vor: Eine der Untreue verdächtige Frau, die durch Abschneiden der F. gebrandmarkt werden soll, schickt die Magd zu ihrem Liebhaber, und diese wird irrtümlich verstümmelt 17 . Dieses Motiv kann als Relikt alten Strafrechts betrachtet werden. Das Abschneiden des F.s wird ζ. B. in mittelassyr. Gesetzen vorgeschrieben, und zwar bei dem Mann, der eine verheiratete Frau unzüchtig berührt hat 1 8 . F. begegnen auch als —> Reliquie der Hll.n (hl. Antonius 1 9 , hl. Adalbert 2 0 , hl. Katharina 21 [Tubach, num. 2080]); in der Legende, die das Dogma der Umwandlung von Brot in den Leib Christi demonstriert, erscheint statt der Hostie ein Teil des F.s 22 . Das Gesetz der naiven Kausalität spielt eine große Rolle, bes. wo es um angeborene Deformation und Verstümmelung geht: Schreckgestalten, Feen u. a. haben oft eine markante Form der F. Baba Jaga hat lange, knochige F. mit Krallen 23 ; Riesen, Feen u. a. haben sechs oder vier F. (Mot. F 552.1.1, cf. F499.3.1) 2 4 bzw. F. sowie Zehen, die umgekehrt wachsen (Mot. F 441.4.4). Der jüd. Mythos kennt das Motiv der zusammengewachsenen F. (Mot. F515.1.1, F552.1.4). In einer schles. Ätiologie fehlt allen Nachkommen eines Menschen, der die Vögel verkrüppelte, von Geburt an ein Teil der F. 2 5 Eine der —» Spinnfrauen (KHM 14, AaTh 501) hat einen abschreckend breiten Daumen 2 6 . Der verwundete, gebissene, weggebissene, abgeschnittene oder abgehackte F. kommt als Motiv in allen Gattungen vor: im Märchen ebenso wie im Schwank, in der Ballade (die Identifizierung der Frau in der Gefangenschaft nach dem in der Jugend abgeschnittenen F. [cf. Mot. Η 57.2]) 27 , in der Legende (v. oben die ma. Exempel), in Ätiologie, Mythos und Sage (dem Wassermann ζ. B. wird der F. von einem Metzger abgehackt 2 8 ). Ein Stich in den F. ist das Einleitungsmotiv bei Schneewittchen (AaTh 709). Der Held verwundet sich absichtlich den F., um nicht einzuschlafen 29 . Das Beißen in den F. dient
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als Schlafprobe (Mot. F 1041.13). In einem türk. Märchen beißt ein Schädel die Heldin in den F. 30 ; bei der —• Magischen Flucht (AaTh 313, 314) brechen die —» Devs einen Ast (= kleinen F. der Heldin) ab 31 . Oft geht dem Helden oder seiner Helferin bei der Lösung einer schwierigen Aufgabe ein F. (Zeh) verloren. Dieses Motiv vom —> kleinen Verlust 32 ist häufig mit dem Motiv der —*· Wiederbelebung verbunden: Der Held bzw. die Heldin wird in kleine Stücke zerlegt, dabei geht ein kleiner Teil verloren, und als Folge fehlt ihm bzw. ihr ein F. oder eine Zehe 33 . Viele Motive von abgeschnittenen oder abgehackten F.n sind mit dem Menschenfressermotiv (cf. Mot. G 86.1, G 332.1) 34 verknüpft: Durch Abschneiden des F.s überzeugt sich der Kannibale, ob das Opfer fett genug ist (AaTh 327, cf. —» Hansel und Gretel); in der lit. Version dieses Typs erkennen die sumpurni (Hundeschnauzen) an dem F. mit dem Ring in der Suppe den Tausch der Opfer 35 . Im Blaubarttypus (AaTh 3 1 2 : - » Mädchenmörder) zwingt der Mann seine Frau, seinen abgeschnittenen F. zu essen 36 . Die Hexe beißt den F. eines Mädchens, das sich im Apfelbaum verbirgt und dessen kleiner F. herausschaut, ab und ißt ihn 37 .
Selbstschädigung zur Erreichung eines höheren Ziels liegt ζ. B. in der Legende von dem frommen Eremiten vor, welcher der Reihe nach seine F. verbrennt, um den Verführungskünsten einer Frau nicht zu erliegen 38 , oder bei der Heldin, die sich einen F. abschneidet, um ihn als letzte Stufe zur Ersteigung des —> Glasbergs zu verwenden 39 . Das Abhauen des F.s in dieser Motivgruppe gilt oft als die letzte Möglichkeit zur Rettung des eigenen Lebens. In der —> Polyphem-Erzählung (cf. AaTh 1137) beißt sich der Held den F. mit dem verräterischen Ring ab; der Hirt in einer slovak. Erzählung, der aus Übermut in einen vom Schlangengift angeschwollenen Stein stach, wobei ein F. vergiftet wurde, rettete sich das Leben durch sofortiges Abhauen des F.s 40 . Ein Mädchen schneidet sich in die F., weil es durch den Blick auf einen Freier abgelenkt war (Mot. Τ 26.1). In russ. Var.n zu AaTh 530 A: The Pig with the Golden Bristles tauscht der jüngste, als Dummkopf geltende Schwiegersohn die Ente mit den goldenen Federn gegen den kleinen F. seiner Rivalen 41 .
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Der abgeschnittene F. der Opfer wird zum Corpus delicti gegen den —> Räuberbräutigam (AaTh 955; Mot. H 57.2.1) 42 . Der abgeschnittene F. wächst bei Erprobung des Schlangenkrautes wieder an (cf. Mot. D 1500. 1.4, B512) 4 3 . Die Übertretung von Verboten wird durch Markierung der F. bestraft: In Varianten zur Magischen Flucht (cf. AaTh 314) 44 wird der F. vergoldet, als der Held ihn verbotenerweise in einen Brunnen taucht; gleiches geschieht im verbotenen —> Zimmer dem —> Marienkind (AaTh 710). Der Blitzpadischah bestreicht alle F. des Mädchens mit Henna, und es wird von ihren Herrinnen verprügelt, die ihr verboten hatten, ihn zu besuchen 45 . Die Frau, die gegen das Verbot ihres Gemahls in ein Loch greift, schneidet sich in die F. (Mot. Η 473.1). Sehr variabel ist das Thema der F.verletzungen beim —> Einklemmen unholder Wesen 46 im Märchen wie auch in der Sage. Die Stärke eines Mannes wird versinnbildlicht durch Aussagen wie „Eine schwere Last nur mit zwei F.n 47 bzw. mit dem kleinen F. aufheben" (cf. Mot. F 614.2.3). Häufig ist das F.motiv im Schwank: Das Mädchen, das als erstes die F. trocken haben wird, soll heiraten - am schnellsten trocknen die F. derjenigen, die ablehnend winkt (Mot. Κ 95; cf. AaTh 1463: —> Brautproben). — Eine Frau beantwortet die Frage, wie viele Liebhaber sie hatte, mit zehn F.n, in der Vermutung, daß sie nach der Zahl der Mitarbeiter gefragt wurde (Mot. Η 582.3). Ein Mann, der vorgibt, eine Statue zu sein, flieht, weil die Leute an seinen Zehen brennende Kerzen ankleben 48 (cf. AaTh 1359 C: Husband Prepares to Castrate the Crucifix). — Der witzige Diener, der seinem Herrn den schmutzigen F. saubermachen soll, bewegt ihn durch Anbrennen dazu, daß er sich den F. in den Mund steckt und so reinigt (AaTh 1698 A*: To Strike F.). - In einem mähr. Schwank vermutet der pflichtvergessene Taufpate, der das Kind am Wege zur Taufe verliert und später tot findet, aus ihm könne ein guter Musikant werden, weil es lange F. habe 49 . — Der alten Frau wird vor der Verlobung durch Reiben in heißer Milch jener F. verjüngt, den sie dem Bräutigam beim Austausch der Ringe zeigen soll (cf. AaTh 1476 sqq.: —> Alte Jungfer) 50 . - Ein tschech. Schwank schildert, als Parodie der Ratschläge des Vaters an den Sohn, die Bedeutung der einzelnen F.: den mittleren könnte man erst nach der Hochzeit gebrauchen — man klopft sich damit an die Stirn wegen der Dummheit, geheiratet zu haben 51 . — In einem slovak. Schwank stopft der von Studenten betrogene Wirt Löcher im Weinfaß mit F.n 52 .
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Finger: Der säugende F. -
In Mythen — vor allem außereurop. — können F. ätiologische Funktionen haben: Adam schafft aus den F.n fünf Teufel (Mot. G 303. 1.5); ein Fluß entsteht aus dem F. eines Mannes (Mot. F 715.1.3); Land vertrocknet, nachdem der ersten Frau ein F. abgehauen worden ist (Mot. A 856.2); Tiere wachsen aus dem F. einer Frau (Mot. A 1724.1.1). Diesem Motiv liegt ein türk. Märchentypus nahe: Eine —» Peri schafft Gurken und Fische zur Bewirtung der Nebenfrau aus den abgeschnittenen bzw. gebackenen fünf F.n 53 . F. kommen auch häufig in der Sage vor: F. abdrücke auf dem Opfer des Wassermannes; eingebrannte F.spuren durch Geisterhand (Mot. Ε 542.1, G 221.3.1); F.abdrücke von Teufeln, Hll.n u.a. im Stein (Mot. A 972.3; cf. -> Fußspuren). Seit dem 17. Jh. ist in Böhmen und anderswo das Motiv von den F.n eines ungetauften Kindes belegt, die der Dieb wie eine Kerze anzündet (Diebskerze), um festzustellen, ob alle schlafen 54 . Von den F.motiven in anderen Gattungen sind bes. die der sprichwörtlichen Redensarten umfangreich dokumentiert 55 . -> Hand I Machek, V.: Etymologicky slovnik jazyka ceskeho a slovenskeho. Praha 1957, 396, s.v. prst; cf. 350, s.v. palec. - 2 Zaorälek, J.: Lidovä rceni. Praha 2 1963, 548. - 3 Röhrich, Redensarten, 194. 4 Zaorälek (wie not. 2) 659. - 5 E M 3, 3 4 9 - 3 6 5 . 6 Jobes, G.: Dictionary of Mythology, Folklore, and Symbols 1. N.Y. 1962, 568 (Art. F.), 648 (Art. Gesture). - 7 H D A 2, 1478 (Art. F.). - 8 Röhrich, L.: Gebärde — Metapher — Parodie. Düsseldorf 1967, Abb. 1. - 9 ibid., 8 - 1 3 . - 10 Röhrich, Redensarten, 275; cf. auch id. (wie not. 8) 30 (Verbot, mit dem nackten F. zum Himmel bzw. auf ein Gewitter zu zeigen). — II ibid., 2 3 - 2 7 . - 12 Satke, Α.: Hlucinsky podhädkär Josef Smolka. Ostrava 1958, num. 26, Abb. 59, cf. auch Abb. 13, 29. - 13 cf. auch Bülgarsko narodno tvorcestvo. ed. P. Dinekov/S. Stojkova. Sofija 1963, 122; Moser-Rath, E.: Das streitsüchtige Eheweib. In: Rhein. Jb. für Vk. 10 (1959) 4 0 50. - 14 Krzyzanowski 1724 A ; Klimovä, D.: Katalog horhäckych lidovych vypräveni. In: Hornäcko. ed. V. Frolec/D. Holy/R. Jeräbek. Brno 1966, 5 4 9 - 5 8 4 , hier num. 85. - 15 Tille, Soupis 2, 249 sq. - 16 H D A 2, 1489 sq.; H D M 2, 122, not. 14; cf. Wesselski, Α.: Der säugende F. In: Sudetendt. Zs. für Vk. 1 (1928) 1 2 - 1 7 . - 17 Tubach, num. 2028. - 18 Haase, R.: Die keilschriftl. Rechtsslgen in dt. Sprache. Wiesbaden 2 1979, 94, § 9, cf. § 8. - 19 Tubach, num. 2029. - 20 H D A 2, 1481, not. 28; cf. Mot. F 552.1.2. -
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Fingererzählungen
21 Tubach, num. 2030; Assion, P.: Die Mirakel der Hl. Katharina von Alexandrien. Diss. Heidelberg 1969. — 22 Alsheimer, R.: Das Magnum speculum exemplorum als Ausgangspunkt populärer Erzähltraditionen. Bern/Ffm. 1971, 144, V Z 102; cf. Tubach, num. 3227. - 2 1 Polivka, J.: Slovanske pohädky 1. Praha 1932, 185; Mednovolosaja devuska. Kalmyckie narodnye skazki. ed. M. Vatalin. M. 1964, 112. - 2 4 cf. 2. Sam. 21,20. - 25 H D A 2, 1481, not. 29. - 26 Jolles, Α.: Neues vom abgeschnittenen F. In: Mitteidt. Bll. für Vk. 5 (1930) 9 1 - 9 3 . - 2 7 Närodopisny vestnik ceskoslovansky 32 (1953) 59. - 28 H D A 2, 1481, not. 25. 29 Eberhard/Boratav, num. 72. - 30 ibid., num. 151. 31 Boratav, P. N.: Türk. Volksmärchen. B. 1967, 65; Eberhard/Boratav, num. 98, III, a. - 32 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 54, 70, 135, 238. - 33 ibid., 71; Grimm DS 62. - 3 4 Eberhard/ Boratav, num. 98, 107, 166. - 35 Smits, P.: Latviesu tautas teikas un pasakas 3. Waverly 2 1964, 486. - 36 Eberhard/Boratav, num. 157. - 3 7 Indijskie narodnye skazki. Bearb. S. F. Ol'denburg. M. 1956, 6 5 - 6 7 . - 3 8 Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N.Y. 1981, 36. 39 Tille, Soupis 2, 50; cf. H D M 2, 121, not. 4; K H M 25; cf. Lüthi, M.: Zur Präsenz des Themas Selbstschädigung in Volkserzählungen. In: Festschr. L. Schmidt. Wien 1972, 4 8 2 - 4 9 5 . - 40 Nemcovä, B.: Närodopisne a cestopisne obrazy ze Slovenska. Praha 1955, 237. 41 SUS 530 A (russ., ukr., beloruss.); cf. Polivka (wie not. 23) 211 sq. — 42 Krzyzanowski und SUS 955. - 4 3 Tille, Soupis 2, 458 sq. ( = Mot. D 1500. 1.4; Β 512). - 4 4 ibid., 264. - 45 Boratav (wie not. 31) 111. - 46 cf. bes. Krzyzanowski 331 A. 47 Tille, Soupis 2, 134; cf. K H M 90; Sagenmotive , cf. Klimovä, D.: Sloväckä verze lätky „Silny Ctibor". In: Sloväcko 1 2 - 1 3 ( 1 9 7 0 - 7 1 ) 3 1 - 3 7 . 48 Tille, Soupis 2, 456. - 4 9 Klimovä (wie not. 14) num. 219. - 5 0 Boratav (wie not. 31) 256. 51 Mündl. Soldatenüberlieferung. - 52 Polivka 5, 93. - 5 3 Boratav (wie not. 31) 38 sq.; Eberhard/ Boratav, num. 91, III. - 5 4 Pribehy Jindricha Hyzrla ζ Chodfi. ed. V. Peträckovä/J. Vogeltanz/A. Simeckovä. Praha 1979, 75 (Feldzug aus dem Jahre 1603); cf. H D A 2, 229 sq. - 55 Röhrich, Redensarten, 275; Zaorälek (wie not. 2) 659.
Prag
Josef R. Klima
Finger: Der säugende F. —» Säugen Fingererzählungen 1. Definition - 2. Fingernamen — 3. Personifizierung der Finger — 4. Fingererzählungen — 4.1. Pflaumen schütteln — 4.2. Hunger und Essen (steh-
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Fingererzählungen
len) — 4.3. Tiere jagen, Tiere fangen - 4.4. Sturz in den Graben (ins Wasser) — 4.5. Sonstige, Parodien - 5. Fingertheater — 6. Erklärungen - 7. Pädagogische Bedeutung und Anwendung
1. D e f i n i t i o n . Mehrfach betonen schon die antiken Schriftsteller, daß Finger (F.) sprechen können 1 ; im ganzen ma. Recht wird den F.n bes. symbolische Bedeutung zugeschrieben 2 . Im SpätMA. und in der frühen Neuzeit dienen Hand/F.-Darstellungen didaktischen Zwecken: Sie werden zu mnemotechnischen Hilfsmitteln für Rechenübung, Datenbestimmung, Tonsysteme 3 , aber auch für die Katechese der Heilslehren 4 . Die Auffassung, daß „digiti significant mores hominum", wird im Barockzeitalter weiter propagiert und in populären Darstellungen sinnfällig gemacht; die F. sind dabei einzelnen Figuren der Heilsordnung zugeordnet 5 . Aus all diesen älteren Sinngebungen der Hand und der F. entstehen, wahrscheinlich im Laufe des 18., des pädagogischen' Jh.s 6 , unterschiedliche Arten von spielerischen Beschäftigungen Erwachsener mit den Händen von Kleinkindern: Dabei ergreift etwa die (meist weibliche) erwachsene Person die (meist linke) Hand des Kindes, nimmt dessen F. der Reihe nach in die Hand und gibt diesen fünf Elementen Namen oder schreibt ihnen Handlungen zu, die im Zusammenhang eine Geschichte ergeben können. Solche Geschichten, die oftmals mehr von der Performanz als vom Text her leben, werden hier F.erzählungen genannt 7 . 2. F i n g e r n a m e n . Eine Vorstufe der F.erzählungen ist die Namengebung für die fünf F., die hier, vom Daumen an, mit 1 bis 5 beziffert sind; die populären Bezeichnungen, seit der Antike bekannt 8 , erregen Vorstellungen von handelnden Menschen. Der Elucidarius nennt den 4. und 5. F. Gold-F. und Ohren-F. 9 ; in der Gegend um Potsdam nannte man 1, 2 und 3: Luseknecker, Potlecker und Langer Dietrich 10 ; teilweise ähnlich in der Rätoromania (1): mazza plugls (Laustöter), (2): letga gromma (Rahmschlecker), (3): porta ani (Ringträger), (4): manzaser (Lügner) und (5): quel che di ο tut (Ausplauderer) 11 . Ähnliche, aber auch noch andere Bezeichnungen finden sich in Belgien 12 , Finnland 13 , Frankreich 14 , Katalonien 15 , Italien 16 und Portugal 17 . Die dt.
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Früchtenamen-Serie ist durch den Reim Däumchen-Pfläumchen bedingt, sie fährt dann fort: (3) Äpfelchen, (4) Birnchen, (5) Nüßchen 18 . Den leichten Übergang vom F.namenkatalog zum agierenden Personal zeigt jedoch ein Text der 70er Jahre: „Voici ma main, eile a cinq doigts, / En voici deux, en voici trois, / Celui-lä, le petit bonhomme, / C'est mon gros pouce qu'il se nomme. / L'index montre le chemin, / C'est le second doigt de ma main / [. . .] Le majeur parait un grand frere, / L'annulaire porte un anneau, / Avec sa bague il fait le beau, / Le minuscule auriculaire / Marche ä cöte de son grand frere" 19 . 3. P e r s o n i f i z i e r u n g der Finger. Ein Flugblatt des 16. Jh.s zeigt eine Schwurhand und benennt dabei die F. als (1) Gott Vater, (2) Gott Sohn, (3) Gott Hl. Geist, (4) Seele und (5) Leib des Menschen 20 . Von hier aus läßt sich eine Säkularisierung und Übertragung auf die menschliche Familie leicht vollziehen: „Vada, Muida, Knecht, Dirn, / WuziWuzi in da Wiagn" 21 , oder: „Voici le pere, / Voici la mere, / Voici la petite fille, / Voici le fils, / Et voici le petit rincouincouin" 22 . Im Katalanischen wird dieser Familien-Typus mit dem Typus ,Hunger und Essen' vermischt23. Eine soziale Hierarchie wird im Burgenland aufgezählt 24 . Giovanni Verga spricht das volkstümliche Gleichungs-Schema Familie = Hand/F. in seinen Romanen mehrfach an 25 . In einer weiteren Entwicklungsform können die personifizierten F., nicht zuletzt der kleine, in Aktion treten. 4. F i n g e r e r z ä h l u n g e n 4.1. P f l a u m e n schütteln. A. —» Kuhn veröffentlichte 1848 folgendes ,Kinderlied' aus Berlin: „Das ist der daumen, / der schüttelt die pflaumen, / der räpt sie auf, / der steckt sie in 'nen sack, / und der frißt sie alle alle auf / — oder: der ißt sie auf, / und der kleine schelm sagt alles wieder" 26 . 1851 folgte E. —> Meier mit ganz ähnlichen F.erzählungen 27 , die im gesamten dt. Sprachraum verbreitet sind28. Der Typus ist wegen des ersten Reims spezifisch dt., eine ital. Parallele ,schmeckt' deshalb ,nach Lit.' 29 . Das Ende mit dem verräterischen kleinen F., dem ,Ausplauderer', läßt ahnen, daß mit dem Pflaumenschütteln nicht eine normale Obst-
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ernte angesprochen ist. Die Frage, ob diese F.erzählung nicht mit Hunger und Mundraub zu tun hat, wird durch den folgenden Typus beantwortet. 4.2. H u n g e r und E s s e n ( s t e h l e n ) . Man darf annehmen, daß die verbreitetste, später aber aus ethischen Gründen von den LehrerMoralisten expurgierte Daumen/PflaumenErzählung etwa so gelautet hat: „Dümeli, / Frümeli, / Wo näh [nehmen]? / Stälä. / Wills dem Ätti und Müeti sägä" 30 . In Tübingen wollten die F. die Pflaumen in Pfarrers Garten stehlen, „Und das klein Krüppele sagt's dem Pfarrer" 31 . Die Stehl-Var. ist auch mehrfach in der Schweiz belegt 32 . Sie läßt sich einem in der Romania weitverbreiteten Typus zur Seite stellen: „(5) Chisto vo' pane, / (4) Chisto dice nun ce n'e, / (3) Chisto dice va arrobä. / (2) Chisto dice i' t'accuso, / (1) Chisto dice 'mpizz *a capa 'into ö pertuso" 33 . (Der kleine F. will Brot, der sagt: es hat keins, der sagt: geh' stehlen, der sagt: ich zeig dich an — der Daumen wird dann „ins Loch gesteckt", d. h. von den F.n umschlossen.) G. —» Pitre hat schon 1883 die ital. Var.n zusammengetragen 34 . Diese F.erzählung kann auch beim Daumen beginnen, der kleine F. droht dann zuletzt den Dieben mit dem Aufhängen 35 . In einer modernen Fassung (vom Diebstahl gesäubert) findet sich ein Stück Brot für den hungrigen Kleinen 36 . Der StehlTypus ist auch im Rätischen 37 , im Tessin 38 , in der Provence 39 und in Katalonien 40 belegt. Eine andere Gruppe von F.erzählungen des Hunger-Typus beschafft auf verschiedene Weise etwas zu essen; am Ende ißt der Kleine entweder alles auf, oder er bekommt gar nichts: In der Tschechoslowakei stiehlt das Mäuschen (1) Käse, gibt allen F.n davon, aber nicht dem kleinsten, der mit Verpetzen droht 41 ; bei den Flamen wird ein Ochse geschlachtet, der kleinste bekommt alles42; in Frankreich geht es um Suppe oder Getreide und Brot 43 ; im Burgenland haben die F. alle außer dem kleinen eine Mahlzeit 44 . Entsprechend der großen Bedeutung des Schweineschlachtens wird dieses Ereignis an vielen Orten in die F.erzählungen von Hunger und Essen eingebaut, so in Belgien 45 , Deutschland 46 , Finnland 47 und Katalonien 48 . Schließlich geht es in vielen F.erzählungen um ein Ei,
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so etwa auch in Spanien: „(5) Este puso un huevo, / (4) este lo puso a asar, / (3) este le echo la sal, / (2) este lo meneo, / (1) y este picaro gordo se lo comio [der legte ein Ei, der briet es, der salzte es, der rührte es, und dieser fette Schelm aß es auf]" 49 . Ähnliche F.erzählungen kursierten ζ. B. in Frankreich 50 , Katalonien 51 , Italien 52 und Marokko 53 . Festzuhalten ist, daß Hunger und Essen die Hauptelemente der meisten F.erzählungen darstellen. Das zeigt sich auch an dem im angloamerik. Bereich verbreiteten Ökotypus von den kleinen Schweinchen 54 . 4.3. T i e r e j a g e n , T i e r e fangen. Das Thema der Essens-Suche wird fortgesetzt in F.erzählungen vom Hasenfang, wie ζ. B. aus dem Elsaß: „Do isch's Wäghli [Weglein], / Do isch's Häsli! / (1) Dä g'sieht's, / (2) Dä fangt's, / (3) Dä chocht's, / (4) Dä ißt's, / (5) Un dä chlei Stinkerli het nit üebercho [hat nichts gekriegt]" 55 . Var.n sind aus Deutschland 56 , Frankreich 57 , Katalonien 58 , Italien 59 , Österreich 60 und der Schweiz61 bekannt. J. —» Haltrich nennt die Geschichte Die Mär von den fünf Zehen62. Var.n mit Fisch- und Mäusefang stammen aus Frankreich 63 . Dort und in Italien erzählt man auch von einer Taube (Vöglein), die an einem Brunnen (Handfläche) trinkt, gefangen und gegessen wird 64 , so z.B. in Monreale: „Rintra sta funtanedda / Ci sta 'na palumedda: / (5) Chistu la vidi, / (4) Chistu ci spara, / (3) Chistu la pigghia, / (2) Chistu la coci, / (1) Chistu si la mancia" 65 . 4.4. Sturz in den G r a b e n (ins Wasser). Eine sächs. F.erzählung lautet: „(1) Dar is as Wasser gefleun, / (2) Dar hatt'n widder rausgehult, / (3) Dar hatt'n as Bette gelegt, / (4) Dar hatt'n zugedeckt, / (5) Und dar klenne Schelm hatt'n widder uffgeweckt" 66 . Der Typus kommt im dt.sprachigen Raum häufig vor 67 . Der kleine F. spielt dabei jedoch nicht selten die Rolle des Verräters: „Und das klein klein Männle hat's der Mamme gsagt" 68 . Auch in Italien fällt der Daumen in den Graben, er wird herausgezogen (2) und getrocknet (3), der Ringfinger kocht ihm etwas, aber der kleine ißt alles auf 69 . 4.5. Sonstige, P a r o d i e n . Zu erwähnen sind F.erzählungen, die seltener belegt und
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daher schwierig einzuordnen sind. Ein rom. Typus, der die F. Feldarbeit verrichten läßt — (1) geht pflügen, (2) trägt den Pflug, (3) trägt den Pflugstock, (4) führt die Ochsen, (5) sagt: „Gibt es nichts für mich?" 7 0 —, hat sich mehrfach mit der Suppenkoch-Var. vermischt 71 . Eine belg. F.erzählung läßt den Kleinen auf dem Feld einen Wolf sehen, Angst haben, weglaufen und „kwik, kwik" schreien 72 . Eine größere Verbreitung hatte wohl ein F.spiel, bei dem der kleine F. mit unterschiedlichen Worten gesucht und zuletzt gefunden wird 73 . Parodien der F.erzählungen sind erst aus jüngster Zeit belegt. H. C. Artmann bringt eine James Bond-Fassung 7 4 , R. Malikowski kommt durch Modernisierung der Requisiten zu einer neuen Sozial-Hierarchie 75 . 5. F i n g e r t h e a t e r . Die Phantasie der Erzähler von F.erzählungen ist bei der einfachen Aufzählung der einzelnen F. nicht stehengeblieben. Aus den in Dialogform aufgebauten Arten von enumerativen F.erzählungen (v. Kap. 4.2.) entwickeln sich konsequenterweise größere Formen, die sich Puppentheaterstücken annähern. Die älteste überlieferte Fassung (1883) 7 6 zeugt von antiklerikalem Zeitgeist, sie stellt dem Beichtvater Francois die Schwester Jacqueline gegenüber; nach der dialogisierten Beichte besteht die Buße aus drei Küssen. Diese F.erzählung ist auch in England 7 7 , Wallonien und Flandern verbreitet 7 8 . Während .Sünderin und Beichtvater' mit zwei Händen gespielt wird, lassen sich andere Theaterstückchen mit e i n e r Hand aufführen. In Spanien tritt der Pater Andreas (3) auf, der Kleine fragt nach seinem Begehr, nach einigem Hin und Her wird der Pater zur Mutter (1) vorgelassen 79 . In Portugal begehrt einer Einlaß und will mit dem Vater sprechen 80 , oder der Herr ,Pä Ze' tritt ein und verspricht der Frau einen Rock, aber sie weist den Pater zurück 81 . In Wallonien spielen der Gast Fleron (3), der Hausknecht (5) und der Wirt (1) zusammen Theater; Fleron darf eintreten, weil er bezahlen kann 8 2 . R. Pinon hat in Wallonien weitere Var.n zu diesem F.spiel gesammelt 8 1 . Heidi Britz-Crecelius vermutet mit guten Gründen, daß hinter KHM 131 (AaTh 2019: Pif Paf Poltrie) ein p o l l e n spiel' mit sechs F.n (rechte Hand und linker Daumen) steckt 84 .
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6. E r k l ä r u n g e n . W. —> Grimm hat 1846 F.erzählungstypen von einigen altdt. F.-Bedeutungen her interpretiert 8 5 . In Zusammenschau mit der Redensart „mein kleiner F. hat mirs gesagt" 8 6 kommt er zu dem Schluß: „Also sind wir auch hier zu einem persönlichen alpartigen Wesen gelangt" 8 7 . Diesen geistigen Sprung ins Mythologische hat E. L. Rochholz mehrfach nachvollzogen 88 . Spätere Sammler haben überhaupt von einer Erklärung Abstand genommen; nur J. —> Amades wies auf den Zusammenhang zwischen F.n und primitiven Zählweisen (nach Fünfern und Zwanzigern) hin 89 . Zu bedenken wäre aber doch auch die sozialhist. Bedeutung solcher F.erzählungen. Nicht ohne einen realen Hintergrund wird dabei mehrheitlich das Thema Hunger, Stehlen und Essen angesprochen, vordergründig wohl, weil die F.erzählung die Wartezeit vor den Mahlzeiten verkürzen sollte, hintergründig aber auch, weil diese Spiele in einem Milieu performiert wurden, in welchem das tägliche Brot keine selbstverständliche Gottesgabe war. Sozialhist. lassen sich auch andere Elemente der F.erzählung deuten: Mehrfach wird dabei eine soziale Hierarchie angesprochen; der Kleinste und Schwächste arbeitet dabei wie die Großen 9 0 , oder er zieht den kürzeren (bekommt nichts), oder er gewinnt, im Sinne des epischen Gesetzes vom —> Achtergewicht, die Oberhand, oder aber er rächt sich für seine niedere Position 91 durch Denunziation. Einige F.erzählungen lassen sich so als Abbilder realer Familienkonstellationen oder Geschwisterkonfigurationen 9 2 begreifen. Auf jeden Fall zeugt das ungewöhnlich reiche Typen- und Var.nmaterial von einer erstaunlich regen Phantasietätigkeit von Menschen vieler Länder, die mit dem „Werkzeug aller Werkzeuge" 9 3 auch Theater zu spielen vermögen. 7. P ä d a g o g i s c h e B e d e u t u n g u n d A n w e n d u n g . Die Hand ist nicht nur „das Symbol der Menschheit in ihrer ganzen Entwicklung und Geschichte" 9 4 , sie ist auch ontogenetisch von stärkster Bedeutung; insbesondere muß das Kleinkind lernen, die F. zu individualisieren, zu benennen und zu bewegen; F.tätigkeit und Spracherwerb hängen eng zusammen 9 5 . F. Fröbel hat daher schon
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1844 die volkstümlichen F.erzählungen in seine praktische Pädagogik eingebaut 96 . Seine Auffassung von der Rolle des Kleinsten („Du kleiner duck dich, / Ja, ja! füge dich") ist zwar fragwürdig geworden 97 , doch sind sich heutige Pädagogen einig in der Auffassung, daß F.erzählungen wieder verstärkt in die spielerischen Beschäftigungen mit Kleinkindern einbezogen werden müssen 98 . 1
ζ. B. Spr. 6, 13; Cassiodor, Variae 4, 51, 8. Grimm, J.: Dt. Rechtsalterthümer 1 — 2. Göttingen 1828, t. 2, 1 3 7 - 1 4 2 ; cf. auch Schamberg, C. F . / Einsiedel, H. von: D e iure digitorum: Von F.Rechte. Diss. Lpz. 1715. - 3 Brückner, W.: Hand und Heil im ,Schatzbehalter' und auf volkstümlicher Graphik. In: Anzeiger des Germ. Nationalmuseums (1965) 6 0 - 1 0 9 , bes. 7 5 - 8 5 . - 4 ibid., 8 5 - 8 9 ; Coupe, W. Α.: The German Illustrated Broadsheet in the Seventeenth Century 1. BadenBaden 1966, 163 sq. — 5 Bei der ,Mano poderosa' gehören zusammen: Daumen=Jesuskind, Zeigefinger=Maria, Mittelfinger=Josef, Ringfinger= Anna, kleiner F . = Joachim; cf. Brückner, W.: Bildkatechese und Seelentraining. In: Anzeiger des Germ. Nationalmuseums (1978) 3 5 - 7 0 , bes. 49 sq. — 6 Die ältesten Textüberlieferungen, Aufzeichnungen von Volkskundlern, stammen aus dem frühen 19. Jh.! - 7 Geläufig, aber unzutreffend, ist auch der Begriff F.märchen; so bei Böhme, F. M.: Dt. Kinderlied und Kinderspiel. Lpz. 1897, 50 oder bei Wehrhan, K.: Kinderlied und Kinderspiel. Lpz. 1909, 18; cf. dagegen Die Mär von den fünf F.n bei Haltrich, J.: Dt. Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen. Mü. 1956, num. 75; Grimm, J. und W.: Dt. WB. 3. Lpz. 1862 nennt weder F.märchen noch F.erzählungen, ebensowenig das Ox. English Dictionary 4 (1933) fingertale. — 8 Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive originum libri XX. t. 2. ed. W. M. Lindsay. Ox. 1911 (Nachdr. 1962) 11, 1, 70sq.: salutaris ( = Zeigefinger, Heiler) wird als Grußfinger, auricularis ( = kleiner F.) richtig als Ohrengräber erklärt. - 9 Elucidarius. Basel 1579, fol. J3r°. 10 Engelien, A./Lahn, W.: Der Volksmund in der Mark Brandenburg 1. B. 1868, num. 19. 2
n Decurtins, C.: Rätorom. Chrestomathie 2. In: Rom. Forschungen 9 (1896) num. 48sq. — 12 Colson, O./Wilmotte, M.: Jeux d'enfants dans la Belgique. Rimes des doigts. In: Archivio per lo studio delle tradizioni popolari 21 (1902) 104 sq., num. 1 - 4 . - 1 3 Niemi, A. R. (ed.): Suomen kansan vanhat runot (Alte finn. Volkslieder). 7 , 3 : Raja- ja PohjoisKarjalan runot (Lieder aus Grenz- und Nordkarelien). Hels. 1931, num. 3 8 8 9 - 3 8 9 4 . - 14 Älteste Belege in: RTP 7 (1892) 58sq., 93sq., 292; Rolland, E.: Rimes et jeux de l'enfance. P. 1883, num. II,
3 o—v; Fabre, D./Lacroix, J.: La Tradition orale du conte occitan 1. P. 1974, 1 1 5 - 1 1 8 . - 15 Amades, J.: Folklore de Catalunya. 2: Canconer. Barcelona 37
Enzyklopädie des Märchens IV
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2 1979, num. 1 5 1 - 1 5 3 . - 16 Finamore, G.: Venti giuochi fanciulleschi abruzzesi. In: Archivio per lo studio delle tradizioni popolari 2 (1883) 544, num. 20b; Santeramo, S.: Folklore barlettano. In: Lares 2, 2 (1931) 43; Tassoni, G.: Tradizioni popolari del Mantovano. Firenze 1964, 28; Leydi, R./Pianta, B.: Brescia e il suo territorio. Milano 1976, num. 11; Leydi, R./Bertolotti, G.: Cremona e il suo territorio. Milano 1979, 46sq., 289. - 17 Leite de Vasconcellos, J.: Rimas infantils portuguezas. In: Archivio per lo studio delle tradizioni popolari 1 (1882) 583, num. 39 a—b. - 18 Böhme (wie not. 7) num. 195 c; Lewalter, J.: Dt. Kinderlied und Kinderspiel. Kassel 1911, num. 42. — 19 Bouvier, J.-C.: La Memoire partagee - Lus-la-Croix-Haute. Grenoble 1980, 159; vollständige Fassung bei Mathieu, G.: Recits et contes populaires de Provence 2. P. 1979, 84. — 20 Alexander, D./Strauss, W. L.: The German Single-Leaf Woodcut 1 6 0 0 - 1 7 0 0 . t. 2. N.Y. 1977, num. 26. — 21 Riedl, A./Klier, Κ. M.: Lieder, Reime und Spiele der Kinder im Burgenland. Eisenstadt 1957, num. 1 8 1 - 1 8 3 . - 22 Rolland (wie not. 14) num. II, 3 n; der dt. Kinderreim ,Das ist der Vater lieb und gut [. . .]' ist wohl eher pädagogischer Herkunft, Text in: Hartmann, W. u.a. (edd.): Buch, Partner des Kindes. Ravensburg 1979, 111. 23 Maspons y Labros, F.: Jochs de la infancia. Barcelona 1874, 16; Amades (wie not. 15) 26, num. 1 3 6 - 1 4 0 . - 2 4 Riedl/Klier (wie not. 21) num. 185. — 25 Bronzini, G. B.: Componente siciliana e popolare in Verga. In: Lares 41 (1975) 266. 26 Kuhn, Α.: Kinderlieder. Zumeist in Berlin gesammelt [. . .]. In: Germania. Neues Jb. der Berlin. Ges. für Dt. Sprache und Alterthumskunde 8 (1848) 235, num. 50. - 2 7 Meier, E.: Dt. KinderReime und Kinder-Spiele aus Schwaben. (Tübingen 1851) Nachdr. Kirchheim (Teck) 1981, num. 32. - 28 Stöber, Α.: Elsäss. Volksbüchlein. Mülhausen 2 1859, num. 41sq.; Heinecke, H.: Les Noms des doigts. In: R T P 7 (1892) 290; Versenyi, G.: Dt. Kinderreime aus der Gegend von Körmöczbänya. In: Ethnol. Mittigen aus Ungarn 3 (1893) 101; Böhme (wie not. 7) 50, num. 1 9 6 - 1 9 9 ; Dähnhardt, O.: Volkstümliches aus dem Königreich Sachsen [. . .] H. 2. Lpz. 1898, num. 28; Wehrhan (wie not. 7) 18; Lewalter (wie not. 18) num. 43; Züricher, G.: Kinderlieder der dt. Schweiz. Basel 1926, num. 809, 813; Zindel-Kressig, Α.: Kinderlieder, Reimsprüche, Volksspott, Redensarten und Formeln aus Sargans. In: SAVk. 27 (1927) 42; Riedl/Klier (wie not. 21) num. 188, 190sq.; Tolksdorf, U.: Eine ostpreuß. Volkserzählerin. Marburg 1980, 259. - 29 Rondini, D.: Canti popolari marchigiani. In: Archivio per lo studio delle tradizioni popolari 8 (1889) 407, num. 18 („sa di letterario"). - 3 0 Züricher, G.: Kinderlied und Kinderspiel im Kanton Bern. Zürich 1902, num. 136. 31 Meier (wie not. 27) num. 32. — 3 2 Züricher (wie not. 28) num. 8 0 5 - 8 1 5 ; cf. Weidmann, Α.: Alte
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Kinderreime aus Einsiedeln. In: Schweizer Vk. 70 (1980) 71: hier reimt Tuume (Daumen) auf Ruume (Kruste in der Pfanne). - 33 Molinaro del Chiaro, L.: Canti popolari napoletani. Napoli 1880, 24; cf. die Rez. von A. Machado y Alvarez über Gianandrea, Α.: Saggio di giuochi e canti fanciulleschi. Roma 1878. In: El Museo Canario 3 (1881) 8 1 84, 111-115, 138-142 (span, und port. Var.n). 34 Pitre, G.: Giuochi fanciulleschi siciliani. Palermo 1883, 55sq. — 35 Finamore (wie not. 16) num. 19a; Rondini (wie not. 29) 407; Ungarelli, G.: De' giuochi popolari e fanciulleschi in Bologna. In: Archivio per lo studio delle tradizioni popolari 12 (1893) 464. — 36 Civiltä rurale di una valle veneta. ed. Accademia Olimpica. Vicenza 1976, 620. 37 Decurtins (wie not. 11) num. 50 sq. — 38 Keller, W.: Indovinelli, proverbi, filastrocche e canti popolari ticinesi. In: SAVk. 28 (1928) 212, num. 1. -
num. II, 3 g—i. — 64 ibid., num. II, 3 k; Pitre (wie not. 34). — 65 Schenda, R. und S.: Eine sizilian. Straße. Tübingen 1965, 36. - 66 Mittigen des Vereins für Sächs. Vk. 3 (1904) 2 19. - 67 Dähnhardt (wie not. 28) num. 29; Böhme (wie not. 7) num. 201; Züricher (wie not. 28) num. 817sq.; Riedl/ Klier (wie not. 21) num. 192-196. - 68 Meier (wie not. 27) num. 31; Stöber (wie not. 28) num. 43; Böhme (wie not. 7) num. 202-204; Lewalter (wie not. 18) num. 44 (Vater); Züricher (wie not. 28) num. 816, 820; Zindel-Kressig (wie not. 28) (Vater und Mutter). - 69 Belladoro, Α.: Folk-lore Veronese. Venticinque giuochi fanciulleschi. Torino 1899, num. 5; Tassoni (wie not. 16); Bassi, G./Milanesi, Α.: Le parole dei contadini. Ricerca a Casalpusterlengo. Milano 1976, 219; Leydi/Bertolotti (wie not. 16) num. 2 (weitere Nachweise). -
39
71
Lacroix, J./Lamblard, J.-M. (edd.): Recits et contes populaires de Provence 1. P. 1979, 144: mit dem zivilisierten Ende „coma farem? - coma podrem!" (Was tun? - Es wird schon gehen!). 40 Amades (wie not. 15) 26, num. 141. 41 Petr, J.: Poesie na skole närodni. Velkä t e r m ä / Borohrädek 1907, 32sq. - 42 Peeters, K. C.: Het vlaamse volksleven. Hasselt 1962, 45; cf. Böhme (wie not. 7) num. 205. - 43 Rolland (wie not. 14) num. II, 3 j und 1; Bouvier (wie not. 19) 159; Mathieu (wie not. 19) 82 sq. - 44 Riedl/Klier (wie not. 21) num. 210. - 45 Colson/Wilmotte (wie not. 12) 106 sq. — 46 Böhme (wie not. 7) num. 207. — 47 Niemi (wie not. 13). — 48 Amades (wie not. 15) 26, num. 142. - 49 Machado y Älvarez, Α.: Juegos infantiles espafioles. In: Giornale di filologia romanza 4, 8 (1882) 55. - 50 Colson/ Wilmotte (wie not. 12) 107, num. 3; Rolland (wie not. 14) num. II, 3 a . 51 Amades (wie not. 15) 27, num. 144. - 52 Bernoni, D. G.: Giuochi popolari veneziani. Venezia 1874, num. 10. — 53 Doctoresse Legey: Essai de folklore marocain. P. 1926, 118sq.; eine F.-Kettenerzählung auch bei Böhme (wie not. 7) num. 214. - 54 Baring-Gould, W. S. und C.: The Annotated Mother Goose. N.Y. 1962, num. 577 und p. 235; eine Bibliogr. amerik. F.erzählungen findet sich in North Carolina Folklore 1 (1948) 188; eine dt. Adaptation des Little Pig-Typus versucht Baur, Α.: Die F. tanzen. F.spiele für Kinder von 3 bis 9 Jahren. Schaffhausen 1981, 16, 25. 55 Stöber (wie not. 28) num. 44. - 56 Dähnhardt (wie not. 28) num. 30; Böhme (wie not. 7) num. 209, 211; Lewalter (wie not. 18) num. 45. 57 Rolland (wie not. 14) num. II, 3 b - f . - 58 Amades (wie not. 15) 27, num. 149. — 59 Canzonette e giuochi infantili di Firenze e Pratovecchio, raccolti dall'aw. G. Siciliano e da G. Pitre. In: Archivio per lo studio delle tradizioni popolari 5 (1886) 383 sq. - 60 Riedl/Klier (wie not. 21) num. 1 9 7 209. 61
Züricher (wie not. 28) num. 821 sq. - 62 Haltrich (wie not. 7) num. 74. — 63 Rolland (wie not. 14)
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Amades (wie not. 15) 27, num. 145. — ibid., num. 146-148; Mathieu (wie not. 19). 72 Colson/Wilmotte (wie not. 12) 107, num. 5. 73 ibid., num. 1; Monseur, E.: Le Folklore wallon. Bruxelles 1892, 97sq. (10F.); Amades (wie not. 15) 27, num. 154 (10F.); Civiltä rurale (wie not. 36) 620. - 74 Artmann, H. C.: Ein lilienweißer Brief aus Lincolnshire. Ffm. 1969, 460. - 75 Zitiert nach Franz, K.: Kinderlyrik. Struktur, Rezeption, Dialektik. Mü. 1979, 99. - 76 Rolland (wie not. 14) num. 72. - 77 Opie, I. und P.: The Ox. Dictionary of Nursery Rhymes. Ox. 1951, num. 159 (mit Anmerkungen). — 78 Pinon, R.: Theatre des doigts, theatre de marionettes. In: Bulletin „Le Vieux-Liege" 7, 155 (1966) 9 9 - 1 0 5 , hier 102 sq. (mit Anmerkungen). - 79 Machado y Älvarez (wie not. 49) 55sq. — 80 Coelho, F. Α.: Os jogos e as rimas infantils de Portugal. In: Boletim da Sociedade de Geografia de Lisboa, Serie 4a, 12 [1883?] num. IIa. — 81
ibid., num. IIb. — 82 Monseur (wie not. 73) 99sq.; Pinon (wie not. 78) 99. - 83 ibid. - 84 BritzCrecelius, H.: Das F.theater der Brüder Grimm. In: Der Elternbrief 25 (1982) 3 2 - 3 4 . - 85 Grimm, W.: Uber die Bedeutung der dt. F.namen (1846). In: id.: Kl.re Sehr. 3. ed. G. Hinrichs. B. 1883, 4 2 5 - 4 5 0 , bes. 449. - 86 cf. Röhrich, Redensarten, 27 5. - 87 Grimm (wie not. 85) 450. - 88 Rochholz, E. L.: Alemann. Kinderlied und Kinderspiel aus der Schweiz. Lpz. 1857, 9 9 - 1 0 9 und Nachtrag 544; zur Bedeutung der einzelnen F. cf. bes. Bächtold-Stäubli, H.: F. In: H D A 2, 1478-1496; Stemplinger, E.: Daumen. In: HDA 2, 174-176. 89 Amades (wie not. 15) 26. Der Aufsatz von Amades, J.: Joes de dits. In: Festschr. D. L. de Hoyos Säinz. Madrid 1950 war nicht zu erreichen. - 90 cf. Riedl/Klier (wie not. 21) num. 186. 91 Sprechend für die Lebensunsicherheit des Kleinsten ist die F.erzählung ibid., num. 184 („[. . .] Und da Kloani schreit: Hauts ma nit den Kopf weg!"). 92 Toman, W.: Familienkonstellationen. Ihr Einfluß auf den Menschen und sein soziales Verhalten. Mü. 2 1974, z.B. 149. - 93 Aristoteles, Die Lehr-
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Finn — Finnland
sehr. 8, 2: Uber die Glieder der Geschöpfe, ed. P. Gohlke. Paderborn 1959, 157sq. - 9 4 Revesz, G.: Die menschliche Hand. Eine psychol. Studie. Basel/N.Y. 1944, 9. - 9 5 Über Daktylzeichen als Kommunikationsmittel cf. Becker, K.-P./Soväk, M.: Lehrbuch der Logopädie. Köln 2 1975, 9 2 - 9 9 ; zum Zusammenhang von Handmotorik und Sprache cf. Borstel, M.: Training der Wahrnehmung und Motorik. In: Knura, G./Neumann, B. (edd.): Pädagogik der Sprachbehinderten. B. 1980, 3 2 4 337 (mit Lit.). - 9 6 Fröbel, F.: Mutter- und KoseLieder, wie auch Lieder zu Körper-, Glieder- und Sinnenspielen. Blankenburg 1844, fol. 67 sq. und Tafeln 2 2 - 2 5 ; cf. dazu Baader, U.: Kinderspiele und Spiellieder 1. Tübingen 1979, 6 2 - 6 8 . - 9 7 cf. Rutschky, K. (ed.): Schwarze Pädagogik. Qu.n zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung. Ffm./ B./Wien 1977, 337sq. - 9 8 Stöcklin-Meier, S.: Spielen und Sprechen. Alte und neue Wortspiele mit F.n, Händen, Füßen, Schatten, Requisiten. Zürich 1975, 9 - 1 6 ; Baur (wie not. 54).
Zürich
Rudolf Schenda
Finn —> Baumeister
Finnische Schule —> Geographisch-historische Methode
Finnland 1. Quellen - 1.1. Vorbemerkung - 1.2. Nachweise von Märchen und Sagen 1500—1700 1.3. Erste Märchenaufzeichnungen - 1.4. Systematisches Sammeln und Typisieren 1880—1900 1.5. Gründung der FFC und Höhepunkt der Internat. Zusammenarbeit - 1.6. Sammel- und Publ.stätigkeit im 20. Jh. - 1.7. Archivbestände 2. Forschung - 2.1. Forschungsziele und Gattungschronologie - 2.2. Geogr.-hist. Methode und Märchenmonographien - 2.3. Neue Ansätze der finn. Erzählforschung - 2.4. Heutige Märchenforschung
1. Q u e l l e n 1.1. V o r b e m e r k u n g . Die Qu.ngrundlage für die finn. Märchenforschung reicht von Miniaturen mit Fabelthematik im Codex f.d. Kalmar (15. Jh.) bis zu heute noch auf Tonband aufgenommenen Märchenvarianten. Entscheidend ist jedoch das 19. Jh. Vorher haben sich kaum eigentliche Volksmärchentexte herausgebildet; das Genre selbst war, mit Ausnahme halbliterar. Fabeln und Exem37*
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pel, wenig bekannt und nicht sehr geschätzt. Höher eingestuft wurden u.a. die Volksdichtung im —> Kalevala-Versmaß (epische, lyrische, Brauchlieder), hist, erinnertes Wissen und Sagen, Glaubensvorstellungen, Legenden, Mythen und ätiologische Erzählungen. Erst die sog. Turkuer Romantik (um 1810) schuf die Voraussetzungen für das Sammeln und Erforschen von Märchen. Wichtiger als die Romantik erscheint jedoch M. —» Haavio die „Fabel-Manie der Aufklärung, die auch Finnland erreichte und bewirkte, daß man auch mit dem Aufzeichnen von Volksfabeln begann. Darin liegt der primäre Grund für den Beginn des Sammeins von Volksmärchen in unserem Land." 1 1.2. N a c h w e i s e von M ä r c h e n und Sagen 1500—1700. Sechs Miniaturen des aus dem 15. Jh. stammenden schwed. Landesgesetzes, die finn. Herkunft sein sollen2, weisen auf Fabeln hin, zwei davon stellen AaTh 60: —> Fuchs und Kranich dar. Das Gefäß, aus dem nur der Kranich zu trinken vermag, ist ein Butterfaß. Dieses Merkmal begegnet ausschließlich in der finn. Redaktion des Tiermärchens, woraus auf eine finn. Qu. geschlossen werden kann 3 . Somit würde es sich hier um den ältesten Beleg für die Existenz des Märchens handeln. Der finn. Reformator Bischof Mikael Agricola veröffentlichte 1551 ein metrisches Verz. über die Götter der Bewohner von Häme und Karelien 4 , die wichtigste Qu. der finn. Mythologie und Volksüberlieferung im 16. Jh. Darin finden sich u.a. Mythen über —» Kulturheroen (z.B. Väinämöinen und Ilmarinen) 5 sowie Hinweise auf AaTh 780: —• Singender Knochen und —» Orpheusmotive 6 . Von den Göttern aus Häme gehören der Glaubenssage zumindest Tapio (Waldgeist), Achti (Wassergeist), Tontu (Hausgeist), Cratti (Vermögensmehrer) und Lieckiö (ungetauft verstorbenes Kind) an, der Ätiologie Capeet, mythische Tiere, die „den Mond aßen", Rachkoi, der „den Mond schwarz teilte", und die Caleuanpoiat, Riesen, die als erste die großen Wiesen mähten 7 . Zu den karel. Göttern gehören u.a. Gestalten aus Glaubenssagen wie Hijsi (Waldgeist) und Wedhen Eme (Wassergeist), der überwiegende Teil ist nach Haavio jedoch über Zaubersprüche und Gebete zu-
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Finnland
rückzuführen auf zahlreiche Legenden und Epitheta der Beschützer bzw. Schutzheiligen für die verschiedenen Bereiche der Landwirtschaft 8 . Von seinem Lehrer Martin —» Luther übernahm Agricola das Interesse für Sprichwörter 9 . Neben Geistlichen waren Geschichtsschreiber an Volksdichtung interessiert. Die Geschichte der nördl. Völker von Olaus Magnus enthält viel Überlieferungsmaterial; manche Elemente stammen deutlich aus F., wie ζ. B. die Erzählung vom Spiel des Wassergeistes, das einen Mann veranlaßt, sich von der Mauer der Burg Savonlinna in den Fluß darunter zu stürzen 10 . S. A. Forsius hat als erster Sagen über den Tod von Bischof Henrik, den Apostel F.s, und das Schicksal seines Mörders aufgezeichnet. Neben einem Ende des 13. Jh.s im Kalevala-Versmaß abgefaßten Legendenlied sind in den Aufzeichnungen eine große Anzahl von Themen aus mitteleurop. Legenden und Volkserzählungen enthalten (ζ. B. -> Gespannwunder, —*· Mäuseturm von Bingen), wie Haavio nachgewiesen hat 11 . Von anderen frühen Geschichtsschreibern sei Johannes Messenius genannt, der um 1610 die ersten Umfragen zur Volksüberlieferung an finn. Pfarrer schickte12. Das wichtigste Ereignis in der ersten Hälfte des 17. Jh.s war ein von Gustav II. Adolf 1630 unterzeichnetes Memorial, das eine genau differenzierte Anordnung zur Aufzeichnung alter Überlieferungen enthielt. In § 4 wird zu Fragen aufgefordert nach „allerlei Chroniken und Erzählungen, uralten Sagen und Liedern von Drachen, Lindwürmern, Zwergen und Riesen - desgleichen nach Sagen von berühmten Personen, alten Klöstern, Burgen, den Wohnsitzen der Könige und den Städten, aus denen man erfahren kann, was es seinerzeit gegeben hat, nach alten Heldenliedern und Zauberliedern, wobei man auch deren Melodien nicht vergessen darf." 13 Hinter diesem Aufruf, der als .Charta der Slg von Volksdichtung' in Schweden und F. bezeichnet worden ist, stand der Wunsch nach Festigung der nationalen Identität, wie aus dem von Johannes Bureus ausgearbeiteten Entwurf hervorgeht 14 . Das Memorial'war eine Reaktion auf die Aufforderung zum Sammeln von Altertümern, die der dän. König Christian IV.
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1622 an die Bischöfe von Dänemark und Norwegen gesandt hatte 15 . Es folgte eine Phase der Rechtgläubigkeit, in der man der Volksüberlieferung ablehnend gegenüberstand; diese Einstellung wurde jedoch allmählich wieder positiver. Das Interesse für die Muttersprache ließ WB.er entstehen, die auf die Existenz einer Erzähltradition hinwiesen 16 . Die Erzählung von auf Steinplatten segelnden Wesen und Sagen von Riesen, die die Kirche von Raisio bauten, von einem durch einen Riesen vor Ruissalo in Turku hingeworfenen Stein, über den Namen der Kirche von Nummi in Turku (Hl. Katri, die von einem als Adligen verkleideten Knecht geschändet wurde) sowie von einem Geist, der zwischen Turku und Naantali die Boote vom Ufer losmacht, zeugen davon, daß die Ortssagen Mitte des 17. Jh.s in den Interessenbereich der Sammler gelangten 17 . Eine neue Phase in der Sammlung von Volksdichtung leitete die Gründung des Schwed. Antiquitätenkollegiums 1666 ein, durch dessen an Pfarrer versandte Rundschreiben in F. zahlreiche Berichte zustande kamen, hauptsächlich über alte Erinnerungen aus den Gemeinden von Äland und Ostbottnien. Folkloristisch am wertvollsten ist jedoch der einzige ostfinn. Report, den 1674 Juhana Cajanus, der Propst von Paltamo, verfaßte 18 . Auch Sprichwörter wurden gesammelt und publiziert 19 . Eine eigene Qu.ngruppe, die noch nicht zur Genüge ausgewertet ist, bilden die Protokolle der Hexenprozesse. In F. beginnen sie später als im restlichen Europa und erreichen ihren Höhepunkt in der 2. Hälfte des 17. Jh.s. Bei den Anklagen lassen sich zwei Überlieferungsstränge unterscheiden: Der Teufelspakt und die Fahrten nach Blokulla vertreten eine Tradition, die durch die Lit. und 10 die Gelehrten vermittelt wurde. Eine zweite Kategorie bilden Naturmagie und —» Schadenzauber (Heilkundige, Aufdecken von Diebstahl, Viehsegen, Glaubensvorstellungen über Vermögensmehrung etc.). Beide Traditionen sind reich an Memoraten und Erlebnisberichten mit skand. Sagenparallelen. In der ersten Hälfte des 18. Jh.s kamen keine nennenswerten neuen Qu.n für die Volksdichtung hinzu. Das Forschungsziel wurde jedoch erweitert auf Zauberspruch-
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Finnland
lieder, Glaubensvorstellungen über Lichterscheinungen, Schilderungen der Bärenfeste und Riten zum Jahreswechsel 20 . Die zweite Hälfte des 18. Jh.s ist die Zeit des großen Humanisten der Aufklärung, Henrik Gabriel Porthans (Akad. Turku), seiner Mitarbeiter und Schüler. Erst jetzt kann von systematischer Volksdichtungsforschung gesprochen werden und von einem Interesse an der Volksdichtung um ihrer selbst willen. Das Hauptwerk Porthans, De poesi fennica (Äbo 1766—78), enthält einen fachkundigen Überblick über die bisher bekannten Gattungen der Volksdichtung, über Lieder und Forschungsmethoden 2 1 . Porthan plädierte für authentische Aufzeichnungen. Er nahm die —> geogr.-hist. Methode vorweg, indem er feststellte, daß man „durch einen Vergleich mehrerer Aufzeichnungen sie in gewissem Maße auf eine einheitlichere und passendere Form zurückführen kann", und indem er in der Volksdichtung deutliche Entlehnungen aus der entsprechenden Überlieferung der Nachbarn nachwies und erkannte, daß christl. Elemente in der Überlieferung sekundär heidnische Formen erhalten haben 2 2 . Porthan übte einen großen Einfluß auf seine Zeitgenossen aus. Es werden nun die vielseitigsten Darstellungen der finn. Mythologie seit Agricola geschrieben, C. Lencqvists Diss. De superstitione veterum Fennorum theoretica et practica (1782) und C. Gananders Mythologia Fennica (Äbo 1789). Lencqvists Diss., die auf Materialien und Vorarbeiten von Porthan und vor allem von seinem Vater E. Lencqvist basiert, enthält neue Angaben u.a. über Zauberei, Volksmedizin und Sagenüberlieferung; zum ersten Mal wird auch die Megäre Syöjätär erwähnt, eine Figur, die sowohl in Märchen als auch in Zaubersprüchen begegnet 2 3 . Gananders umfangreiches Ms. Nytt Finskt Lexikon24 und die als Anh. gemeinte Mythologia Fennica sind Fundgruben für die Erzählforschung; sie enthalten — wie es im Untertitel der Mythologia heißt — Angaben „über Götter, Idole, Stelen, Männer, männliche und weibliche Götzen, bedeutende Personen der Vorzeit, Opfer und Opferplätze, alte Sitten, Riesen, Hexen, Wald-, Wasser- und Berggeister" 2 5 , aber keine zusammenhängenden Erzähltexte.
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1784 veröffentlichte Ganander eine primär auf literar. Fabeln beruhende Slg 26 mit eindeutig didaktischer Tendenz, welche die ersten echten Volksmärchen (AaTh 120: —> Sonnenaufgang zuerst sehen, 250: —• Wettschwimmen der Fische) enthielt. 1.3. E r s t e Märchenaufzeichnungen. Porthan und Ganander waren keine Romantiker, sondern Gelehrte der Aufklärung. De poesi Fennica wurde u.a. beeinflußt durch die Werke von Voltaire und Aurivillius. Herder erschien in den Qu.nverzeichnissen Porthans und seiner Schüler erst in den 90er Jahren des 18. Jh.s 27 . Mit Porthans Tod erlosch auch das Interesse an der Volksdichtung. Der 1 8 0 8 - 0 9 in F. geführte schwed.-russ. Krieg veränderte die politische und kulturelle Situation. Durch den Frieden von Hamina wurde F. von Schweden gelöst und gelangte als autonomes Großfürstentum an Rußland. Dies bedeutete den Aufbau einer neuen nationalen Identität, ausgehend von der finn. Sprache, deren Position während der schwed. Herrschaft geschwächt worden war. J. G. —* Herders Ideen und Porthans Erbe wurden um 1814 von den jungen Studenten in Turku wiederentdeckt 2 8 . Das Sammeln und Veröffentlichen von Volksdichtung wurde eine wichtige Aufgabe, da es nur auf diese Weise möglich schien, eine finn.sprachige Lit. im europ. Sinne zu schaffen. Die Entwicklung führte dazu, daß 1835 das Nationalepos erschien, das von E. Lönnrot aus Volksliedern kompilierte —> Kalevala. Zu den jungen Vertretern der Turkuer Romantik gehörte C. A. Gottlund, der in Ostfinnland (Savo) gesammelt hatte. Er stellte die Verbindung von Volksliedern zur Lit. her und formulierte als erster jene Epos-Idee, die sich dann im Kalevala verwirklichte 29 . 1815 traf Gottlund in Savo auf den Fuchsfänger Pentti Väisänen und war von dessen Märchenerzählen so begeistert, daß er beschloß, Lieder, Sprichwörter, Rätsel, Zaubersprüche und Märchen aufzuzeichnen 3 0 und damit vor dem Vergessen zu bewahren. Durch diesen ersten namentlich bekannten finn. Märchenerzähler wird auch die Liste der zu berücksichtigenden Überlieferungsgattungen um das Märchen erweitert. Gottlund ergänzte seine Märchensammlung unter den im schwed. Värmland ansässigen Waldfinnen
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Finnland
und veröffentlichte einige Märchen in seiner Diss, über finn. Sprichwörter (1818); Die bis 1929 im Archiv aufbewahrten Märchenaufzeichnungen wurden erst 1966 von Haavio herausgegeben 31 . Der Hauptteil dieser ältesten finn. Märchensammlung besteht aus Tiermärchen (AaTh 9, 47A, 103, 155, 242 u.a. sowie drei Typen, die nicht in AaTh belegt sind) und aus Deutungen von Tierstimmen (6 Texte). Die Tiermärchen stellte Gottlund den literar. Fabeln gleich. Die Slg enthält auch ein Zaubermärchen (AaTh 480), zwei Legendenmärchen mit religiösen Themen (AaTh 753, 822) sowie vier Schwänke (AaTh 1227, 1408, 1698 und ein nicht bei AaTh belegter) und zwei Var.n der Sage vom Schwarzen Ochsen. — Es ist ungeklärt, inwieweit die Ausbreitung von Märchen durch Bilderbogen und Flugblätter beeinflußt wurde 32 . Lönnrots Interesse an den Märchen erwachte erst 1833 auf seiner 7. Sammelfahrt in Weißmeerkarelien. Drei Jahre später betont er die Bedeutung des Märchensammelns und sieht in der Rettung der Märchen eine „Pflicht der jetzigen Generation gegen die künftigen" 33 . Seine 1836 mit J. F. Cajan unternommene Feldforschung brachte eine Ausbeute von 80 Märchen 34 . Μ. A. —» Castren, später der erste Professor für finn. Sprache an der Univ. Helsinki, sammelte 1839 in Savo und Karelien Märchen und plante eine Märchenanthologie, die 1852—66 von E. Salmelainen ediert wurde 3S und immer noch einen repräsentativen Überblick bietet 36 . Die sprachliche Form der für die damalige Zeit nur geringfügig überarbeiteten Märchen diente als Vorbild für die sich gerade stabilisierende Schriftsprache 37 . 1.4. S y s t e m a t i s c h e s Sammeln und Typ i s i e r e n 1 8 8 0 - 1 9 0 0 . In dieser Zeit trat das Märchensammeln zunächst in den Hintergrund 38 . Erst die Neuauflagen von Salmelainens Anthologie brachten frische Ideen. 1879 entwickelte E. Aspelin ein ausführliches Konzept zur Vorbereitung einer neuen Märchensammlung und der Weiterführung des Sammeins nach auch heute noch üblichen wiss. Prinzipien 39 . J. —» Krohn äußerte gleichzeitig ähnliche Gedanken, die dann zur geogr.-hist. Methode führten. Die Finn. Lit.gesellschaft
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verwirklichte Aspelins Konzept mit Hilfe von Reisestipendien. Der erfolgreichste Stipendiat war K. —» Krohn, der ca. 8500 Märchen aus Ostbottnien, Savo, Ladoga- und Nordkarelien, Olonetz und dem schwed. Värmland zusammentrug. Er plädierte für die Schaffung eines Netzes ortsansässiger Laiensammler. In Gefängnissen und bei Reserveübungen sollte ebenfalls gesammelt werden. 1885 legte Krohn drei Verzeichnisse vor: eine Liste der Sammler mit Daten zu den Aufzeichnungen (Anzahl, Jahr, Ort); ein Typenregister mit Angabe der geogr. Var.n; ein topographisches Verzeichnis mit Angabe der in den jeweiligen Orten registrierten Typen. Im Typenregister sind die Märchen in acht Hauptgruppen eingeteilt: (1) Tiermärchen (101 Typen); (2) Königsmärchen (107); (3) Teufels-, Riesenund Geistermärchen (168 Typen, die heute zu den Sagen gerechnet werden); (4) Legenden (10); (5) Geschichten von Königen, Doktoren, Geistlichen (46); (6) Schildbürgerschwänke (38); (7) Geschichten von Heuchlern, Dummköpfen, Verliebten (48); (8) Lügen und Kinderreime (15). Das Reg. enthält einen Hinweis auf 2.500 Märchenaufzeichnungen 40 . Zweifellos handelt es sich hier um die Urform des AaTh. Ein Teil des neuen Materials, 467 Var.n von Tiermärchen und Ätiologien, erschien 1866. Trotz einiger Mängel konnte Aspelin feststellen, das Werk stehe an der Spitze der wiss. Märcheneditionen der Welt 41 . Ein 2., bedeutend kleinerer Band mit den Königsmärchen erschien sowohl als Volksausgabe nur mit den Hauptvarianten wie auch als wiss. Edition mit allen Var.n 42 . Ein 3. Band wurde nicht mehr publiziert; man vermutete, die internat. Märchenforschung habe wenig Nutzen von einer Veröff. in finn. Sprache. Die Sammelaktivität dagegen ging weiter, und K. Krohns Bemühungen, alle Bürger daran zu beteiligen, trugen reiche Früchte. Gegen Ende des Jh.s war die Anzahl der Märchen im Archiv der Finn. Lit.gesellschaft auf 23000 gestiegen 43 . Auch die Entwicklung der Klassifizierung von Märchen machte Fortschritte. Krohn erhielt zwei Mitarbeiter: A. —> Aarne, der in seiner Diss, auf die Notwendigkeit einer internat. Typenklassifizierung hingewiesen hatte, und O. —» Hackman, der nach seiner Diss.
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Finnland
über Polyphem (AaTh 1 1 3 5 - 1 1 3 7 ) zunächst die Märchen vom dummen Teufel klassifizierte und danach das finnlandschwed. Märchengut 4 4 . Die Reg. wurden überprüft von A. —> Olrik, J. -H> Bolte und C. W. von Sydow. Das nationale Märchensammeln trat gegenüber internat. Zusammenarbeit und vergleichender Forschung immer mehr zurück. 1.5. G r ü n d u n g d e r F F C u n d H ö h e punkt der internat. Z u s a m m e n a r b e i t . Die Stärke der finn. vergleichenden Märchenforschung lag in der Beschränkung auf die geogr.-hist. Methode und in der komparatistischen Arbeitsweise. Zu einer Zeit, da man angesichts der gesellschaftlichen und hist. Situation von den Forschern eher eine konzentrierte Erforschung der nationalen Eigenheiten erwartet hätte, kam es zu einer raschen und intensiven Internationalisierung der Vk. Das Bemühen um die Klärung der Entstehungsgeschichte und der Verbreitungswege der Märchen mittels eines möglichst dichten und umfassenden Var.nnetzes mußte natürlich zu einer immer besseren Organisation der Materialgrundlage führen. Olrik, K. Krohn und von Sydow gründeten den Bund der Folklore Fellows, um dadurch das Forschungsmaterial besser zugänglich zu machen. Zu diesem Zweck sollten, ausgehend von der nationalen Grundlage, Märchenkataloge geschaffen werden, die der internat. Typenklassifizierung angepaßt waren, es sollten kurze Märchenabhandlungen in allg. bekannten Sprachen veröffentlicht und ein internat. Tausch von Archivmaterial sowie Lit. durchgeführt werden. Zur Verwirklichung dieses Zieles wurden zwei Instrumente geschaffen, die —» Folklore Fellows Communications sowie ein Netz von nationalen oder regionalen Mitgliederorganisationen, -Institutionen und persönlichen Mitgliedern 45 . Binnen kurzem hatten sich mehrere Dutzend Forscher und Institutionen aus über 20 Ländern angeschlossen 46 . Bes. aktiv war man außer in Skandinavien in Deutschland und Ungarn 4 7 , doch reichten die Verbindungen bis nach USA und Südamerika. Der Erste Weltkrieg unterbrach die günstige Entwicklung; ein früher Tod ereilte die ersten Mitarbeiter von K. Krohn und seine engsten Kolle-
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gen: O. —> Dähnhardt, Olrik und Aarne 4 8 . Obgleich die Entwicklung der Zusammenarbeit hinsichtlich des Materials vielfach, u. a. in Norwegen 4 9 , positiv schien, enthält Krohns 5. und letzter Tätigkeitsbericht des Folklore Fellows-Forscherbundes 1919 Hinweise auf die Gründe, weshalb das Programm nicht in seiner ursprünglichen Form durchgeführt werden konnte 5 0 . Die Tiefenlotung in die Kulturgeschichte der Menschheit ausschließlich mit den Mitteln der vergleichenden Märchenforschung war als Programm anspruchsvoll und eng; eine Ausweitung bedeutete jedoch auch eine Verwässerung: Die damit verbundenen Probleme der Koordination und der Materialvermittlung konnten bis heute noch nicht gelöst werden.
1.6. S a m m e l - u n d P u b l . s t ä t i g k e i t im 2 0 . J h . Obwohl der Beginn des 20. Jh.s die große Zeit der vergleichenden Märchenforschung darstellt, ging von ihr kein Anreiz mehr zum Sammeln von Märchen aus. Teilweise richtete sich das Interesse der Forscher nun auf neue, erst jetzt deutlicher zum Vorschein kommende Uberlieferungsgattungen. Der entscheidende Grund aber lag in Rückgang und Aussterben des Volksmärchens 51 . Die Entwicklung von Schwank und Witz verlief genau entgegengesetzt: Sie wurden allmählich zu den dominanten Erzählgattungen des modernen Lebensstils. In einigen Gegenden, wie in Ladoga-Karelien und in den karel. Gebieten jenseits der Ostgrenze, erhielt sich jedoch das überlieferte Märchenerzählen. Die wiss. Publ. finn. Märchenmaterials, die K. Krohn eingeleitet hatte, stagnierte 75 Jahre. In dieser Zeit erschien nur eine kleinere Slg finn. und estn. Märchen 5 2 . Erst 1968 wurde auf K. —• Rankes Initiative wieder eine repräsentative Slg von Märchen, Schwänken, Ätiologien und Sagen 53 publiziert. Bald darauf begann man mit der Veröff. einer umfangreichen wiss. Märchenedition in finn. Sprache. Die von P.-L. —*· Rausmaa aus Archivmaterial ausgewählten 176 Texte vermitteln ein zuverlässiges Bild der in F. begegnenden Typen von AaTh 3 0 0 - 7 4 9 (t. I) 5 4 und AaTh 7 5 0 - 9 9 9 (t. 2) 55 . In knappen Kommentaren finden sich Angaben über Verbreitung, Kontaminationen, Sammler, Erzähler und Sammelorte.
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Mit der Publ. von Legenden hatte M. Haavio bereits 1946 begonnen 56 . In der letzten Zeit sind mehrere authentische Slgen von Ätiologien und Legenden erschienen 57 . Für Märchenforscher interessanter sind die von P. Virtaranta und R. Koponen herausgegebenen Märchenpublikationen mit dem Repertoire der besten westfinn. Märchenerzählerin 58 sowie dem Märchengut in den letzten östl. Reliktgebieten des Märchenerzählens, LadogaKarelien 59 und Weißmeer-Karelien 60 . Das Sammeln der finnlandschwed. Märchen begann etwas später als das der finn., doch wurden sie bedeutend rascher publiziert. Um die Jh.wende lagen mehr als 700 Var.n vor, 1920 fast 1700 61 . Die wiss. Edition erschien 1917-20 in vier Bänden 62 . Das Märchengut der —> Lappen enthält sowohl an den arktischen Lebensraum angepaßte als auch internat. gut bekannte Motive. Am besten erschlossen sind sie in dem von J. K. —» Qvigstad herausgegebenen Typenverzeichnis63; allerdings waren nicht alle darin genannten Märchen bei den Lappen in F. bekannt 64 . 1.7. A r c h i v b e s t ä n d e . Fast das gesamte Archivmaterial finn. Märchen befindet sich im Volksdichtungsarchiv der Finn. Lit.gesellschaft 65 , das schwed.sprachige Material F.s entsprechend im Volksüberlieferungsarchiv der Schwed. Lit.gesellschaft. Die Gesamtzahl der bereits um die Jh.wende gesammelten finn.sprachigen Märchen wird mit 23000 angegeben, worunter sich allerdings auch Sagen und Entstehungsgeschichten befinden. Im Volksdichtungsarchiv der Finn. Lit.gesellschaft liegen ca 20000 Märchentexte 66 (davon ca 7000 Zaubermärchen) 67 und über 100000 Schwänke und Witze vor. Im Tonbandarchiv sind ca 500 Märchen vorhanden. Das Sammeln finnlandschwed. Märchen kam nach den Publ.en weitgehend zum Stillstand 68 . 2. F o r s c h u n g 2.1. F o r s c h u n g s z i e l e und G a t t u n g s c h r o n o l o g i e . Die ersten Anzeichen einer eigentlichen folkloristischen Qu.nkritik, deren Voraussetzung eine umfassende Kenntnis der Volksüberlieferung und eine Vorstellung von den verschiedenen Genres der Über-
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lieferung ist, zeigten sich in F. Ende des 18. Jh.s zur Zeit Porthans. Die folgende nationalromantische Phase brachte zwar Ausg.η hervor wie Lönnrots Kalevala und Salmelainens Märchenanthologie, führte jedoch nicht zu einer bemerkenswerten Forschung. Die rege Diskussion um das Kalevala wirkte paradoxerweise eher hemmend auf die Forschung, denn die Gelehrten hatten weder eine klare Vorstellung vom Verhältnis zwischen Epos und mündl. Volksliedern noch vom Anteil Lönnrots am Kalevala. Die Entstehung der finn. Folkloristik fällt in die 1. Hälfte der 1870er Jahre. Entscheidend war J. Krohns Feststellung, daß man sich bei der Erforschung der Volksdichtung nicht auf das Kalevala, sondern auf die ursprünglichen Liedaufzeichnungen stützen müsse 69 . Daß die Lieder von Ort zu Ort wandern, hatten auch schon andere vermutet 70 , aber erst von J. Krohn gehen die evolutionistischen Paradigmen der geogr.-hist. Methode aus. Offensichtlich waren es gerade der Rückgang des traditionellen Märchenerzählens und die Unzugänglichkeit der karel. Liedergebiete gemeinsam mit dem Schwinden der Dichtung im Kalevala-Versmaß, wodurch, nachdem F. 1917 unabhängig geworden war, eine neue Situation und die Voraussetzungen dafür geschaffen wurden, daß Sagen, Memorate, Chronikate u.a. persönliche Erzählungen in großem Maßstab gesammelt und erforscht wurden. Die in den 30er Jahren lebenden Glaubenssagen, hist. Sagen und Ätiologien sind zum großen Teil verschwunden und abgelöst worden durch autobiogr. Erinnerungen sowie alltägliches Erzählen. Eine Gattungstaxonomie steht noch aus. Eine 2. wesentliche Veränderung geschieht durch die Betonung jener Uberlieferung, die durch Medien vermittelt wird; die ausschließlich auf die mündl. Uberlieferung angewiesenen Genres gehen zurück, obwohl auch sie durchaus recht expansiv vorkommen (ζ. B. politische und sexuelle Anekdoten oder Witze). 2.2. G e o g r . - h i s t . M e t h o d e und M ä r c h e n m o n o g r a p h i e n . Die —> geogr.-hist. Methode wurde in den 1870—80er Jahren durch J. und K. Krohn entwickelt. Später beteiligten sich skand., estn. und amerik. For-
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scher an der Arbeit, und die Methode wurde in der Folkloristik allg. angewandt. Für die Definition dieser Forschungsweise sind neben K. Krohn bes. Aarne und W. —> Anderson 7 1 bekannt. Die Methode beschränkt sich auf die Frage nach der —» Urform eines bestimmten Überlieferungsproduktes, nach Entstehungsort und -zeit, den Verbreitungswegen, Überlieferungslinien und gegenseitigen Beziehungen der Var.n untereinander. Daher benötigt man möglichst viele Var.n aus dem gesamten Verbreitungsgebiet. Das zu untersuchende Überlieferungsprodukt muß also mittels ausreichend komplexer Merkmalverbindungen identifiziert werden können, damit die Voraussetzungen für die Aufstellung der Monogenese- und Wanderungshypothesen (cf. —» Wandertheorie) gegeben sind. Die Bedeutung der geogr.-hist. Methode ist schon allein daraus ersichtlich, daß von den bis 1983 erschienenen 234 Nummern der FFC ca 60 Monogr.n sind; 64 Nummern enthalten Typenverzeichnisse. Somit sind 45% der FFC ein Ergebnis der geogr.-hist. Forschungsweise. Wenige Jahre vor seinem Tode konnte K. Krohn repräsentative Resultate der Märchen-, Legenden·, Sagen- und Mythenforschung nach der geogr.-hist. Methode vorlegen 72 . Die späteren Inhaber des Lehrstuhls von K. Krohn, A. R. Niemi (Professor 1 9 3 0 - 3 1 ) und V. Salminen (1933—46), erreichten sein Niveau weder hinsichtlich der Entwicklung der Methode noch der Schaffung internat. Kontakte. Der Niedergang betrifft bes. die Märchenforschung, in der sich die Monogr.n Haavios 7 3 über Kettenmärchen als letzte anspruchsvollere Märchenuntersuchungen in F. erweisen. Der Schwerpunkt der Entwicklung ging über auf Volksglauben und Mythologie, und der Turkuer Religionswissenschaftler U. Harva übernahm nach dem Tode K. Krohns 1934 die Redaktion der FFC. Die Zeit der absoluten Urform ist vorbei, man spricht vom Urkern bzw. von der Kombination der ursprünglichsten Merkmale, was keine eindeutig in sich geschlossene und logische Gesamtheit zu sein braucht, sowie von der —> Normalform, die eine Abstraktion der zum gleichen Typ gehörenden Var.n darstellt. Die Konzepte der —> Wellentheorie und —> Automigration werden allmählich ersetzt
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durch siedlungs-, sprach-, kultur- und sozialgeschichtliche Schlußfolgerungen. Neue Wege wurden der Methode durch die motivgeschichtliche Forschung von Haavio 7 4 und die stilgeschichtliche von Kuusi 75 eröffnet. Es ist mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen, seit eine umfangreichere finn. Monogr. erschien, die als geogr. hist, zu bezeichnen ist 76 . 2.3. N e u e A n s ä t z e d e r f i n n . E r z ä h l f o r s c h u n g . Erst nach dem Zweiten Weltkrieg war die finn. Folkloristik reif für einen Paradigmenwechsel. Das umfangreiche wissenschaftsgeschichtliche Werk von J. Hautala (1954) ist dem Zeitpunkt nach ein Abschied der letzten Generation nach Krohn 7 7 , zu der Haavio, Kuusi und Hautala selbst gehören. Sie waren geprägt von der Atmosphäre der Krohnschen Forschungsweise und ihrer Kritik, sie hatten ein gemeinsames und zentrales Forschungsmaterial, die epischen Lieder im Kalevala-Versmaß, und jeder von ihnen suchte die Krohnsche Forschungstradition zu erneuern, ohne sich von ihr loszusagen. Kuusis Interesse gilt u.a. auch den Sprichwörtern: Zusätzlich zu seiner Sprichwortmonographie ist sein Vorschlag zu einem internat. Typensystem der Sprichwörter 78 zu nennen. Seinen Standpunkt zu den Möglichkeiten der geogr.-hist. Methode hat er im Rahmen der vorbildlichen Analyse eines Legendenliedes dargelegt 79 . Einerseits will er die Methode modernisieren, indem er zusätzlich zur Stil-, Struktur-, Klischee- und Formelanalyse die Inhalts-, Gattungs- und Funktionsanalyse einbringt, andererseits behauptet er, die Methode sei ihrem Grundcharakter nach textkritisch. Entsprechendes hat bereits 1901 der Este O. Kallas geäußert 8 0 . Im Bereich der Erzählforschung war Haavios Arbeit über die finn. Hausgeister bahnbrechend 8 1 . Obgleich der Schwerpunkt auf den Glaubenssagen lag, wurde hier doch zum ersten Mal der überlieferungspsychol. Aspekt in bezug auf supranormale Erlebnisse und Memorate erweitert. Zwischen dieser Arbeit und der zwei Jahrzehnte später erschienenen Unters, von L. —» Honko über die Gebäudegeister in Ingermanland 8 2 liegt eine deutliche methodologische Neuorientierung 83 . Honko verwendet Wahrnehmungs-
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Psychologie, Rollentheorie, Funktionsanalyse und Genreanalyse, indem er jede Var. genau vom Standpunkt jener Lebenssituationen analysiert, auf die sie zurückgeht. Vergleiche mit entsprechenden Überlieferungen außerhalb des untersuchten Gebietes fallen weg. Als Ergebnis entsteht das Bild von einem Milieu, in dem die Elemente des Geisterglaubens als Teile sinnvoller Verhaltensganzheiten fungieren; dabei werden die Werte, Normen und Rollen deutlich, die das Verhalten sowohl der Menschen als auch der supranormalen Wesen regulieren. Eine Schlüsselstellung für den Qu.nwert erhalten Memorate, die wie Sagen Bereitschaft für supranormale Erlebnisse schaffen, aber auf andere Weise 84 . Der Paradigmenwechsel der finn. Folkloristik fällt in die 60er Jahre. 1963 erschien die Gesamtdarstellung von Kuusi über die Dichtung im Kalevala-Metrum und über die diesbezüglichen Forschungsergebnisse 85 ; danach ist dieses ehemalige Hauptgebiet der Forschung gleichsam stillgelegt worden. Das Interesse wandte sich dem Volksglauben zu, den Mythen und Riten, den Klageliedern, den Sprichwörtern und den Rätseln. Durch den Einfluß der Linguistik, der Religionswissenschaft und der Ges.swissenschaften entstanden neue Fragen und Forschungsweisen. Die ersten Vertreter des neuen Faches Religionswissenschaft, das zuerst in Turku und dann in Hels. selbständig wurde, waren ihrer Ausbildung nach Folkloristen, so daß zwischen diesen Disziplinen ein enges Verhältnis entstand. O. Lehtipuro hat die neue Richtung der Helsinkier Folkloristik als linguistisch-strukturalistisch und die Turkuer Folkloristik als kulturanthropol. charakterisiert 86 . Die Veränderung kommt in vieler Hinsicht zum Ausdruck: Man arbeitet statt im Archiv nunmehr im Feld, begibt sich zu lebenden Informanten und Traditionsgemeinschaften, statt vergleichend wird regional geforscht, statt des Textes wird der —> Kontext betrachtet, statt epischer wird nun rituelle Dichtung untersucht (Klagelieder, Hochzeitslieder, Zaubersprüche), außer der Funktions-, Struktur· und Gattungsanalyse kommen auch quantitative Methoden, Repertoire-Analyse und kommunikationstheoretische Modelle zur Anwendung. Man spricht immer häufiger von —» Performanz, den Regeln der Erzeu-
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gung von Überlieferung und von Traditionsökologie 87 . Der eingetretene Wandel ist eindeutig, auch wenn einige Forscher — auf der Suche nach Kontinuität und Kompromiß darin eine Ergänzung sehen wollen. Die für die Erzählforschung interessanten Unters.en haben in der letzten Zeit Gattungsprobleme, bestimmte Erzählungsarten, die Erzählertheorie, das Repertoire von Individuum und Gemeinschaft, Strukturanalysen, Gewährsleute und Sammelsituationen behandelt (cf. —> Feldforschung). In der Gattungstheorie hat man versucht, zu unterscheiden zwischen idealen und realen Genres, man hat die Analyse der Gattungsbegriffe entwickelt, indem man ihre Bildungskriterien und gegenseitigen Beziehungen untersucht hat, und man hat eine Ausdehnung des Forschungsbereiches erwogen zwecks Einbeziehung der zu den üblichen Genres gehörenden Traditionstexte bis hin zum gesamten Diskurs und Verhaltensprozeß, zu dem der Text gehört 8 8 . Gegenstand des Interesses waren von den erzählenden Gattungen u.a. Mythos 89 , Memorat und Sage 90 , Scherz und Schwank 91 , Chronikat 9 2 und persönliches Erzählen allg 93 . Die Erzählertypologie ist umrissen worden aufgrund einer bestimmten Dorfgemeinschaft 9 4 , eines Kirchspiels 95 oder einer Erzählgelegenheit 96 . Ferner untersuchte man das —> Repertoire einer Spielgruppe von Kindern 9 7 und einzelner Erzähler 9 8 . Auf der Basis empirischen Materials konnte in diesen Unters.en der Einfluß sozialpsychol. Gegebenheiten, der Persönlichkeit, der Lernvorgänge und der jeweiligen Umgebung auf die Auswahl des Repertoires bzw. der aktiv darzustellenden Uberlieferung erhellt werden. Es erschienen auch Arbeiten über die Lebensgeschichte eines —» Erzählers, seines sozialen Hintergrunds sowie den Prozeß des Sammeins gerade seiner Überlieferung 9 9 . Die Aufmerksamkeit richtete sich auf das allusive Erzählen 100 , und man begann, über die Entstehung der Bedeutung von Erzählungen zu diskutieren 1 0 1 . Neben situations- und erzählerbezogenen Bedeutungen scheint es auch möglich zu sein, die Verbindungen zwischen Struktur und Bedeutung einer Erzählung zu untersuchen 102 . Ein anderer Ansatz besteht in der Verbindung der Struktur mit funktionalen Gattungsbegriffen 1 0 3 .
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Den meisten der oben genannten Unters.en gemeinsam ist die Kopplung der Schlußfolgerungen an ein Material, das als Überlieferungsgattung behandelt wird. Es sind gewissermaßen Vorarbeiten für eine folkloristische Kommunikationstheorie, die sich anschließt an die allg. Diskursforschung. Die Traditionsökologie berücksichtigt den Kontext in größerem Maße und betrachtet die Veränderungsprozesse der Überlieferung als systemartige und durch kulturelle Strukturen geregelte Abläufe 1 0 4 . M. Sarmela hat unter Anwendung statistischer Methoden eine makroökologische Analyse eines Überlieferungsgebietes geschaffen, in der ζ. B. die Geisterglaubensvorstellungen und -sagen vor einen möglichst ausgedehnten entwicklungsgeschichtlichen und sozialen Hintergrund gestellt werden 1 0 5 . Honko hat die Bestimmung regionaler und gruppenspezifischer Charakteristika sowie sozialer Identität vorgenommen und die Formen der Angleichung von Überlieferung klassifiziert 106 . 2.4. H e u t i g e M ä r c h e n f o r s c h u n g . Nach den 30er Jahren stagnierte die finn. Märchenforschung längere Zeit. L. —> Simonsuuris Schwank-Monogr. bildete das letzte bedeutende Werk einer abgeschlossenen Epoche 1 0 7 , obgleich sowohl er 1 0 8 wie auch Haavio 1 0 9 noch öfter auf die Märchen zurückkam. Von der folgenden Generation hat nur Rausmaa längere Zeit über Märchen gearbeitet. Ihre kleinen Monogr.n sind leider nicht übersetzt: Die eine behandelt die Märchenwerdung eines Liedes im Kalevala-Metrum über eine -> Freierprobe (AaTh 531 und 3 0 0 + 5 1 3 dienen als Muster) und den seltenen Übergang in eine Prosaform 1 1 0 , die andere das Märchen AaTh 533: Der sprechende —> Pferdekopf111 und das zugehörige Lied. Die in der letztgenannten Arbeit festzustellende Entwicklung von einem Märchen zu einem Lied im Kaleνα/fl-Metrum erweist sich im Lichte der Vergleichsbeispiele als ziemlich allg. Erscheinung 1 1 2 . Die neue Generation unterscheidet sich von den früheren in zweifacher Hinsicht: Statt umfangreiches internat. Vergleichsmaterial zu sammeln, untersucht man (1) das Material eines bestimmten Kulturkreises, wobei auch das Verhältnis des Märchens zu anderen
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Uberlieferungsgattungen berücksichtigt wird, und (2) die Strukturschemata. Gleichzeitig werden die Funktion des Märchens und die Person des Märchenerzählers Gegenstand der Interpretation. Bezeichnend ist die Analyse von H. Paunonen über die Beziehungen zwischen AaTh 552A: Three Animals as Brothers-in-law und 580: —* Beliebt bei den Frauen. Es handelt sich um die erste Anwendung des Strukturschemas von V. Ja. —» Propp in F. Hier wird Redaktionsanalyse betrieben, ohne noch weiter nach der Urform zu suchen 113 . Das ausländische Material wird herangezogen, um das erzielte Ergebnis zu testen, wobei die Unzuverlässigkeit der ausländischen Märcheneditionen verglichen mit dem finn. Archivmaterial festgestellt werden muß; daß die beiden fast identischen Märchen sich im selben Gebiet getrennt erhalten haben, wird mit Hilfe ihrer unterschiedlichen sozialen Funktion erklärt. Eine langfristige Analyse von J. Pentikäinen zeigt, daß das Märchenrepertoire einer einzelnen Erzählerin, Marina Takalo, einer Umsiedlerin aus Weißmeerkarelien, ungeachtet der neuen kulturellen Umgebung im Laufe der 7jährigen Interviewperiode von 6 auf 34 zunimmt und daß sich die Märchen nahtlos ihrem religiösen Weltbild anschließen 114 . S. A p o hat die verschiedenen Strukturmodelle kritisch verglichen 115 und versucht, eine eigene semantische Strukturanalyse zu entwickeln. Ihre in Arbeit befindliche Unters, soll die Typen des Handlungsverlaufs von 235 südwestfinn. Zaubermärchen, deren Struktur und Variation sowie den Inhalt vom Standpunkt der Ethnographie, der Sozialgeschichte und des Volksglaubens aufzeigen. Mit Hilfe der semantischen Strukturanalyse eines Legendenmärchens weist P. Leino nach, wie die Einschätzung der Struktur zur Erfassung der Bedeutung führt und umgekehrt: „Eine einwandfreie Struktur besitzt eine Erzählung, die auf eine Art und Weise ausgelegt werden kann, daß keines ihrer Elemente unmotiviert bleibt" 1 1 6 . Die Beziehungen zwischen schriftl. und mündl. Tradition sind in F. weder genügend noch systematisch erforscht worden. Das liegt teilweise daran, daß die finn.sprachige schriftl. Tradition spät beginnt und nicht sehr umfangreich ist. So gab die finn. Methode den mündl.
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späten Var.n unbedingten Vorrang vor den wenigen schriftl. fixierten frühen Var.n. Diese gegen A. —» Wesselski gerichtete Akzentuierung 117 , die allerdings ζ. B. bei Aarne in keiner Weise kategorisch war, wird in Zukunft einige Modifikationen erfahren. Unter diesem Aspekt ist u. a. die in Arbeit befindliche Unters, von G. Herranen über das Repertoire einer finnlandschwed. blinden Märchenerzählerin aus dem 19. Jh. interessant, das zu einem wesentlichen Teil auf Bücher und Bucherzählungen zurückgeht, die ihr vorgelesen wurden 118 . I Haavio, M.: Suomalaisten kansansatujen keruun ja julkaisemisen alkuvaiheet. In: Kalevalaseuran Vuosikirja 46 (1966) 3 2 - 7 7 , hier 77. - 2 Vilkuna, K.: Var har „Codex f.d. Kalmar" utarbetats? In: Kulturhistorisk Ärsbok (1933) 1 - 8 . - 3 Haavio (wie not. 1) 32—38. - 4 Agricola, M.: Teokcset 3 (1551). Hels. 1931, 2 1 2 - 2 1 4 (dt. Übers, und Kommentar: Honko, L.: Finn. Mythologie. In: H. W. Haussig [ed.]: WB. der Mythologie Abt. 1, Teil 2. Stg. 1963, 2 6 3 - 3 7 0 , bes. 2 9 6 - 3 0 1 : Götterverz. von Agricola); v. auch Krohn, K.: Zur finn. Mythologie 1 (FFC 104). Hamina 1932; Harva, U.: Suomalaisten muinaisusko. Porvoo 1948; Haavio, M.: Karjalan jumalat. Porvoo 1959. - 5 Honko (wie not. 4) 360sq.; Haavio, M.: Väinämöinen. Eternal Sage (FFC 144). Hels. 1952; Krohn, K.: Kalevalastudien. 5: Väinämöinen (FFC 75). Hamina 1928. - 6 Haavio (wie not. 5) 1 4 0 - 1 7 3 ; Kuusi, M./Bosley, K./Branch, M. (edd.): Finnish Folk Poetry: Epic. Hels. 1977, 533. - 7 Honko (wie not. 4) 3 0 1 - 3 0 4 , 332sq., 352sq., 3 6 3 - 3 6 6 . 8 Haavio (wie not. 4). — 9 Sarajas, Α.: Suomen kansanrunouden tuntemus 1500—1700 - lukujen kirjallisuudessa. Diss. Hels. 1956, 7. - 10 Olaus Magnus: Historia de gentibus septentrionalibus. Roma 1555. — II Haavio, M./ Vallinkoski, J.: Johannes Messeniuksen papereissa säilyneitä varhaishistoriamme aineksia. In: Turun Historiallinen Arkisto 11 (1951) 5 9 - 8 2 ; Haavio, M.: Piispa Henrik ja Lalli. Porvoo 1948. - 12 Sarajas (wie not. 9) 2 1 - 2 8 . 13 Schück, H.: Kunglig vitterhets-, historie- och antikvitetsakademien 1. Sth. 1932, 141. - 14 ibid., 138; cf. Svensson, S.: Gustav Adolf und die schwed. Vk. In: Festschr. W.-E. Peuckert. B. 1955, 6 0 67. - 15 Schück (wie not. 13) 124; Almgren, O.: Om tillkomsten av 1630 ärs antikvarie-institution. In: Fornvännen (1931) 37. — 16 ζ. Β. Schroderus. Ε.: Lex. Latino-Scondicum (1637). Uppsala 1941; cf. Sarajas (wie not. 9) 33 sq. — 17 ibid., 43—45. 18 19 ibid., 5 8 - 1 1 1 . Sanalaskut, Wanhain Suomalaislen Tavallset ja Suloiset Sananlaskut. ed. H. Florinus. s.l. 1702 (Faks. ed. A. R. Niemi. s.l. 190 7). - 2 0 z . B . Maxenius, G.: De effectibus fascino-naturalibus. Diss. A b o 1733; Castren, E.:
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Historisk och oeconomisk beskrifning öfver Cajanaborgs län. Diss. Abo 1754. — 21 Hautala, J.: Suomalainen kansanrunoudentutkimus. Turku 1954, 62sq. - 22 ibid., 68sq., 73sq. 23 Porthan, H. G.: Valitut teokset. Kääntänyt. 1: Kajanto. Jyväskylä 1982, 4 4 - 1 1 5 , bes. 73. 24 Fertiggestellt 1787 (Faks.: Porvoo 1 9 3 7 - 4 0 ) . 25 Neben der Volksüberlieferung zog Ganander etwas unkritisch auch literar. Qu.n heran, v. Tarkiainen, V.: Kristfrid Ganander, Porthanin työtoveri. In: Virittäjä (1941) 1 - 3 4 , bes. 9 - 1 3 . 26 Ganander, C.: Uudempia ulosvalituita Satuja Nuorten peränajatuxen teroituxexi, ja yhteisesä elämäsä Opixi, Varoituxexi, ja Neuvoxi. A b o 17 84. - 2 7 Sarajas (wie not. 9) 2 2 9 - 2 3 2 . 28 Honko, L.: Kansallisten juurien löytäminen. In: Suomen kultturhistoria 2. Porvoo 1980, 4 2 - 4 4 ; Haavio (wie not. 1) 65. - 2 9 ibid., 45 sq. - 30 ibid. (wie not. 1) 43. 31 ibid., 44. - 3 2 Rausmaa, P.-L.: Suomalaiset kansansadut 1—2. 1: Ihmesadut; 2: Legenda-ja novellisadut. Hels. 1972/82, hier t. 1, 12sq. - 3 3 Haavio (wie not. 1) 70. - 34 ibid., 7 0 - 7 2 ; Rausmaa (wie not. 32) t. 1, 13—15. — 35 Salmelainen, E.: Suomen Kansan Satuja ja Tarinoita. 7: Painos (1852—66). Jyväskylä 1982. — 3 6 Rausmaa (wie not. 32). — 37 ead.: Eero Salmelaisen „Suomen kansan satujen ja tarinain" I osan lähteet ja niiden käyttö. 1967; v. auch ead. (wie not. 32) t. 1, 2 5 - 3 1 ; Hautala, J.: Finnish Folklore Research 1 8 2 8 - 1 9 1 8 . Hels. 1969, 55 - 57. - 38 Rausmaa (wie not. 32) t. 1, 31sq. 39 ibid., 33sq. - 4 0 ibid., 38sq. 41 Krohn, K.: Suomalaisen kausansatuja. 1: Eläinsatuja. Hels. 18 86. - 4 2 id.: Suomalaisia kausansatuja. 2: Kuninkaallisia. Hels. 1893; Rausmaa (wie not. 32) t. 1, 40sq. - 4 3 ibid., 4 1 - 4 3 . 44 Aarne, Α.: Verz. der Märchentypen (FFC 3). Hels. 1910; Hackman. - 4 5 Krohn, K.: Erster Ber. über die Tätigkeit des folkloristischen Forscherbundes (FFC 4). Hels. 1910, 1 - 1 6 (Statuten der ,FF'). - 4 6 Krohn, K.: Fünfter Ber. über die Tätigkeit des folkloristischen Forscherbundes ,FF' (FFC 29). Hamina 1919, 41 sq. - 4 7 cf. Bän, Α.: Die ung. Sektion des Forscherbundes ,FF' im Jahre 1912. In: FFC 12 (1913) 13sq.; id.: Die ung. Sektion des Forscherbundes ,FF' im Jahre 1913. In: FFC 16 (1914) 1 - 3 . - 4 8 Krohn, Κ.: A. Aarne (FFC 64). Hels. 1926; id.: A. Olrik (FFC 29). Hamina 1919, 3 - 1 8 ; M o g k , Έ . : O. Dähnhardt (FFC 29). Hamina 1919, 1 9 - 4 0 . - 4 9 Christiansen, R. T.: Die Zentralisation der Sammlungsarbeit in Norwegen (FFC 29). Hamina 1919, 5 9 - 6 4 . - so Krohn, K.: Fünfter Ber. über die Tätigkeit des folkloristischen Forscherbundes ,FF'. In: FFC 29 (1919) 4 1 - 5 9 . 51 Rausmaa (wie not. 32) t. 1, 43 sq. - 52 Löwis of Menar, A. von (ed.): Finn, und estn. Märchen. MdW 1922. - 5 3 Simonsuuri, L./Rausmaa, P.-L. (edd.): Finn. Volkserzählungen. B. 1968. 54 Rausmaa (wie not. 32) t. 1. - 55 ibid., t. 2. 56 Haavio, M. Suomalaisia legendoja ja rukouksia. Hels. 1946; id.: Über oriental. Legenden und
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Finnland
Mythen in Grenz-Karelien und Aunus. In: SF 2 (1936) 3 - 53. - 5 7 Paasio, M. (ed.): Synnyt. Forssa 1976; Järvinen, I.-R. (ed.): Legendat. Jyväskylä 1981. - 58 Virtaranta, P. (ed.): Annastuuna aikanansa. Vammala 1969. — 5 9 Koponen, R. (ed.): Satuja ja legendoja. Vammala 1976. - 60 Virtaranta, P. (ed.): Kultarengas korvaan. Vammala 1971. 61 Wikman, K. R. V.: Katalog över Svenska litteratursällskapets folkloristiska, etnografiska och spräkvetenskapliga samlingar (S.L.S.), Tilläg. In: Folkloristika och etnografiska studier 4 (1931) 262. - 62 Hackman, O. (ed.): Finlands svenska folkdiktning. 1, Α - B : Sagor, Referatsamling. Hels. 1917/20; Allardt, A. (ed.): Finlands svenska folkdiktning. 2, Α - B : Sagor i urval. Hels. 1917/20. 63 Qvigstad. — 64 Itkonen, E.: Lappalainen kansanrunous. In: Suomen Kirjallisuus 1 (1963) 5 4 4 548. - 65 Tonbandaufnahmen von Märchen finden sich auch in den Slgen des Tonbandarchivs der Finn. Sprache (SKNA) in Hels. und des Tonbandarchivs für Folkloristik und Religionsforschung (TKU) in Turku. - 66 Mündl. Mittig von P.-L. Rausmaa 4. 11. 1983. - 67 ead. (wie not. 32) t. 1, 46. - 68 Wikman (wie not. 61) 263. - 69 Hautala (wie not. 21) 191. - 70 ibid., 108, 181. 71 Krohn, J.: Suomalaisen kirjallisuuden historia. 1: Kalevala. Hels. 1883; Krohn, K.: Kalevalankysymyksiä 1 (JS F O 35). Hels. 1918; id.: Die folkloristische Arbeitsmethode. Oslo 1926; Aarne, Α.: Leitfaden der vergleichenden Märchenforschung (FFC 13). Hamina 1913; id.: Vergleichende Rätselforschungen 1 (FFC 26). Hels. 1918, bes. 19—34; Anderson, W.: Geogr.-hist. Methode. In: H D M 2, 5 0 8 - 5 2 2 . - 72 Krohn, K.: Übersicht über einige Resultate der Märchenforschung (FFC 96). Hels. 1931. - 73 Haavio, M.: Kettenmärchen-Studien 1 - 2 (FFC 88/99). Hels. 1929/32. - 7 4 z . B . Haavio 1948 (wie not. 11); id. (wie not. 9); id.: Kansanrunojen maailmanselitys. Hels. 1955. — 75 Kuusi, M.: Virolais-suomalainen Maailmansyntyruno. In: Kalevalaseuran vuosikirja 36 (1956) 49—84; id. (ed.): Suomen kirjallisuus 1. Kirjoittamaton kirjallisuus. Keuruu 1963, 16sq. — 76 Kuusi, M.: Regen bei Sonnenschein. Zur Weltgeschichte einer Redensart (FFC 171). Hels. 19 5 7. - 77 cf. not. 21. - 78 wie not. 76. - 79 Kuusi, M.: Suomalainen tutkimusmenetelmä. In: Lehtipuro, O. (ed.): Perinteentutkimuksen perusteita. Porvoo 1980, 2 1 - 7 3 . - 80 Kallas, O.: Die Wiederholungslieder der estn. Volkspoesie 1. Hels. 1901. — 81 Haavio, M.: Suomalaiset kodinhaltiat. Porvoo 1942, 24, 7 2 - 1 1 3 . - 82 Honko, L.: Geisterglaube in Ingermanland 1 (FFC 185). Hels. 1962. 83 Lehtipuro, O.: Trends in Finnish Folkloristics. In: SF 18 (1975) 2 3 - 2 5 . - 84 Honko, L.: Memorates and the Study of Folk Beliefs. In: JFI 1 (1964) 5 — 19; ν. auch Velure, M.: Hovuddrag i nordisk folketruforskning 1 8 5 0 - 1 9 7 5 . In: Fataburen (1976) 2 1 - 4 8 , hier 42sq. - 85 Kuusi, M. (ed.): Suomen Kirjallisuus. 1: Kirjoittamaton kirjallisuus.
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Keuruu 1963; id. / Honko, L.: Saga och sejd. Angered 198 3. - 86 Lehtipuro (wie not. 83) 19. 87 Honko, L.: A Hundred Years of Finnish Folklore Research. A Reappraisal. In: FL 90 (1979) 1 4 1 152, hier 1 4 9 - 1 5 2 ; id.: Methods in Folk-Narrative Research. Their Status and Future. In: Ethnologia Europaea 11 (1980) 6—27; umfassender id.: Kertomusperinteen tutkimustavat ja niiden tulevaisuus. In: Kalevalaseuran vuosikirja 60 (1980) 1 8 - 3 8 . - 88 id.: Genre Analysis in Folkloristics and Comparative Religion. In: Temenos 3 (1968) 4 8 - 6 6 ; id.: Genre Theory Revisited. In: SF 20 (1976) 2 0 - 2 5 . - 89 id.: Der Mythos in der Religionswiss. In: Temenos 6 (1970) 36—67; id.: The Problem of Defining Myth. In: Biezais, Η. (ed.): The Myth of the State. Uppsala 1972, 7 - 1 9 . 90 Pentikäinen, J.: Grenzprobleme zwischen Memorat und Sage. In: Temenos 3 (1968) 136— 167. 91 Knuuttila, S.: Pilan ja kaskun suhteesta. In: Kalevalaseuran vuosikirja 60 (1980) 4 7 - 5 4 . - 92 Kuusi, M.: Kronikaateista. ibid., 3 9 - 4 6 . - 9 3 Virtanen, L.: Unien kerronta nykyaikana. ibid., 5 5 - 6 7 ; id.: Henkilökohtainen kerronta. In: Järvinen, I.-R./ Knuuttila, S. (edd.): Kertomusperinne. Pieksämäki 1982, 1 7 1 - 2 0 5 . - 9 4 Pentikäinen, J.: Perinne- ja uskontoantropologisen syvätutkimuksen menetelmästä. In: Sananjalka 12 (1970) 1 1 0 - 1 1 9 . 95 Siikala, A.-L.: Perinneorientaatio ja kertojan persoonallisuus. In: Kalevalaseuran vuosikirja 60 (1980) 8 3 - 9 2 . - 9 6 Suojanen, P.: Seuratuvan kertojat. ibid., 68 - 82. - 9 7 Virtanen, L.: Children's Lore (SF 22). Hels. 1978, bes. 7 2 - 7 7 . - ^ P e n t i käinen, J.: Oral Repertoire and World View (FFC 219). Hels. 1978; Siikala, A.-L.: The Personality and Repertoire of a Storyteller. An Attempt at Experimental Field Work. In: Arv 36 (1980) 1 6 5 - 1 7 4 . - " v . z. B. die Beitr.e von S. Apo, M. Jauhiainen, I.-R. Järvinen, A. Kaivola-Bregenhej, L. Koivu und U. Piela in: Kalevalaseuran vuosikirja 60 (1980) 1 3 6 - 1 4 4 , 1 5 9 - 1 9 9 . - 100 Lehtipuro, O.: On Sampling Folklore Competence. In: Ikola, O. (ed.): Congressus quintus internationalis FennoUgristarum, Turku 2 0 . - 2 7 . 8. 1980, Pars 4. Turku 1980, 3 4 1 - 3 4 8 . 101 Siikala, A.-L.: Personal and Social Meanings of Story-telling, ibid., 3 7 3 - 3 8 8 . - 102 Leino, P.: Kommunikative Funktion und Strukturmerkmale der Volksepik. Die karel. Legende. In: Honko, L./ Voigt, V. (edd.): Genre, Structure and Reproduction in Oral Literature. Bud. 1980, 1 2 9 145; ν. auch not. 14. - 1 0 3 Pentikäinen, J.: Sägnens struktur och funktion. In: Fataburen (1976) 141 — 154. - 104 Honko, L.: Traditionsekologi - en introduktion. In: Honko, L./ Löfgren, O. (edd.): Tradition och miljö. Lund 1981, 9 - 6 3 , hier 28. 105 Sarmela, M.: Talonhaltiat sosiaalisessa kilpailussa. Suomalaisen haltiaperinteen alueellisista eroista. In: Kalevalaseuran vuosikirja 54 (1974) 3 4 0 - 3 5 9 ; v. auch id.: Folklore, Ecology and Superstructures. In: SF 18 (1975) 7 6 - 1 1 5 . -
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Finnzyklus
106 Honko, L.: Four Forms of Adaption of Tradition. In: Honko, L./Voigt, V. (edd.): Adaption, Change and Decline in Oral Literature. Hels. 1981, 1 9 - 3 3 . - 107 Simonsuuri, L.: „Komm nicht, Frost, in die Stube." Eine vergleichende Wiegenlied-Schwank-Studie. In: SF 4 (1940) 4 9 198. - 108 Simonsuuri, L.: Kuuma huone (AaTh 956). In: Virittäjä (1959) 7 5 - 8 7 ; id.: Maailman kuuluisin sormus. In: Virtaranta, P./Itkonen, Τ./ Pulkkinen, P. (edd.): Verba docent. Juhlakirja Lauri Hakulisen 60-vuotispäiväksi 6. 10. 1959. Hels. 1959, 591-598. - 109 ζ. B. Haavio, M.: Der Etanamythos in F. (FFC 154). Hels. 1955; id.: Kansanrunojen maailmanselitys. Hels, 1955, 320— 359. - 110 Rausmaa, P.-L.: Hiidestä kosinta. Hels. 1964. 111
ead.: Syöjätär ja yhdeksän veljen sisar. Hels. 1967. — 112 ead.: Runo- ja proosamuodon siirtymisilmiöitä. In: Kalevalaseuran vuosikirja 48 (1968) 3 5 - 6 0 . - 113 Paunonen, H.: Das Verhältnis der Märchentypen At 552A und 580 im Lichte der finn. Var.n. In: SF 13 (1967) 7 1 - 1 0 5 , hier 77. 114 Apo, S./Pentikäinen, J.: Saturepertuaarin rakennekaavoista. In: Kalevalaseuran vuosikirja 54 (1974) 1 8 - 4 5 , hier 23; Pentikäinen, J./Apo, S.: The Structural Schemes of a Fairy-Tale Repertoire. In: Dundes, A. (ed.): Varia folklorica. The Hague 1978, 2 1 - 5 5 , hier 28sq.; cf. Pentikäinen (wie not. 98) 265-295. - 115 Apo, S.: Kansansadun struktuurien tutkimus. In: Apo, S./Enckell, J./Kuusi, Ο./ Tarasti, F. (edd.): Strukturalismia, semiotiikkaa, poetiikkaa. Hels. 1974,43-68, 241 sq. - 116 Leino, P.: Kertomuksen rakenne ja tulkinta. In: Kalevalaseuran vuosikirja 58 (1978) 232-244, hier 244. 117 Neumann, S.: Schwanklit. und Volksschwank im 17. Jh. In: Jb. für Vk. und Kulturgeschichte 24 (1981) 116-151, hier 119sq. - 1 , 8 Herranen, G.: Aspects of a Blind Storyteller's Repertoire. In: Actes du Colloque. Journees d'etudes en litterature orale: Analyse des contes; problemes de methode. P. 2 3 - 2 6 Mars 1982. Centre d'Etudes Africaines. P. (im Druck). Turku
Lauri H o n k o
Finnzyklus (engl. Fenian Cycle, ir. fianaigecht), schließt alle ir. Sagen u n d Balladen ein, die sich auf den auch als Finn (F.) U a Baiscni b e k a n n t e n F. M a c Cumaill (oder Umaill) u n d seine (Krieger- u n d Jäger-) G e meinschaft (ir. fian, fiann, Plural fiana, fianna, Genitiv Singular feine) beziehen. Seit J. M a c Phersons (1736—96) Ü b e r s e t z u n g e n von angeblichen Liedern des altgäl. B a r d e n —» Ossian sind die F.-Sagen auch u n t e r d e r B e zeichnung ossianischer Sagenkreis b e k a n n t .
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1. Z u m B e g r i f f f i a n . D a s W o r t fian, etymol. G r u n d l a g e f ü r ir. fianaigecht, engl. Fenian lore, diente ursprünglich zur Bezeichn u n g professioneller Krieger- und Jägergemeinschaften, deren Einzelmitglied (fennid, engl. Fenian, ,Fenier') a u ß e r h a l b seines Clans lebte (ecland) und über keinen Landbesitz verfügte (dithir). Die fiana bildeten sich zuerst in Südost-Irland (Leinster). Noch f ü r das 10. Jh. zählt d e r Dichter Flann M a c Mäilm ä e d o c drei b e r ü h m t e fiana in Leinster auf. D e r erste aus der ir. Geschichte b e k a n n t e , authentische F ü h r e r einer fian (rig-feinnid) war M ä e l u m a i M a c Bäitäin, der 603 den ir. König von Schottland, A e d ä n M a c G a b r ä i n , gegen die Angeln militärisch unterstützte. Im Z u s a m m e n g e h e n mit der Verbreitung der F.Sagen w u r d e der Begriff d e r fian auf die von F. (älter Find, jünger Fionn; Fingal bei M a c Pherson) geführte Kriegerschar eingeschränkt. 2. I n h a l t . Im Verlauf der Jh.e unterlag das Sagenrepertoire ständiger E r w e i t e r u n g und Umgestaltung. Im Mittelpunkt steht F., dessen fian sich aus zwei Gruppen zusammensetzt, dem Clan Baiscne, dem er selbst angehört, und dem Clan Morna, dessen Führer, Göll Mac Morna, Finns Vater Cumall (oder Umall) in der Schlacht bei Cnucha (Castleknock bei Dublin) erschlagen hatte. Die wichtigsten Repräsentanten des Clan Baiscne sind außer F. dessen Sohn Oisin (Ossian bei Mac Pherson) und Enkel Oscar, ferner Caflte, Sohn des Ronan, und —» Diarmuid. Zum Clan Morna gehört neben Göll (auch Iollan genannt) dessen Bruder Conan der Kahle, der durch sein Ungeschick die fian häufig in Schwierigkeiten bringt. F., ,der Helle, Weiße', der ursprünglich Demne hieß, wird nach des Vaters Tode heimlich im Walde aufgezogen (cf. Mot. L 111.2.1; Β 535). Er vollbringt eine Reihe von Knabentaten (macgnimartha nach dem Erzählmuster von —> Cu Chulainn; cf. —> Parzifal bei Mühlhausen 1928 und Dillon 4 1969, 35) und geht zu einem Dichter, wo er teinm laeda (Kauen des Marks, wahrscheinlich seines Daumens), imbas forosnai (das große Wissen, welches erleuchtet) und dichetal di chennaib (Spezies poetischer Beschwörung) erlernt (cf. O'Rahilly 1957, 3 3 0 - 3 4 0 ; Watkins 1978). Am Ende seiner Knabenzeit erschlägt F. den —» Elfen Aillen Mac Midna, der an jedem Samain (1. Nov.) Tara (ir. Temair in der Grafschaft Meath als Sitz des Hochkönigs von Irland) zu verbrennen pflegte (Rees/Rees 1975, 66), und nimmt Göll die Führung der fian von Irland ab (cf. O'Rahilly 1957, 279).
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Finnzyklus
Zeitlich zwischen diesem Ereignis und der Zersprengung und Vernichtung der fian in der Schlacht von Gabair (Knott/Murphy 1966, 165; Dillon 1970, XVII) liegen die Abenteuer der fian. Als der F.zyklus Ende des 12. Jh.s in den Vordergrund tritt, ist er durch das Prinzip der sog. Irish synthetic history bereits mit der Geschichte des Hochkönigs Cormac Mac Airt verknüpft und damit in das 3. Jh. p. Chr. n. eingeordnet (Thurneysen 1921, 4): F.s fian steht im Dienste Cormacs, dessen Töchter Gräinne und Ailbe (Thurneysen, Tochmarc 1921) von F. gefreit werden. 3. Züge der V o l k s e r z ä h l u n g (cf. Murphy 1953, XIII-XXXVII und Cross): Der Helfer mit übernatürlicher Kraft, der F. die Überwindung von magischen Gegnern oder Riesen möglich macht; F.s Fähigkeit zum zweiten Gesicht durch Kauen des Marks seines Daumens; die Besiegung eines dummen Ungeheuers durch die List des Helden; die Entdeckung des unbekannten Sohnes durch den königlichen Vater (F.); Oisins Mutter eine Hirschkuh; der Widder, der die Welt repräsentiert; Oisin im Lande der (ewigen) Jugend; die verwunschene Halle: F. wird zu einem verzauberten Gebäude (bruiden,,large banqueting hall') gelockt, wo er in Gefahr gerät (Knott/Murphy 1966,185); Prüfung einer Braut (bzw. eines Freiers) durch Rätsel (Knott/Murphy 1966, 151); Kampf zwischen Vater und Sohn (F. und Oisin: Meyer 1910, 2 2 - 2 7 ; cf. auch Art. Diarmuid). 4. Qu.n und R e z e p t i o n . Die ältesten Erwähnungen von F. lassen sich in das 6. oder 7. Jh. datieren. In genealogischen Versen werden Find, Taulcha und Cailte als Enkel von Baiscne und Nüadu Necht erwähnt (Meyer 1910, XVI—XVIII; 1914, 20 sq.; Murphy 1953, LV). Die folgenden Belege aus dem 8.-10. Jh. enthalten Erzählungen, die F. in Verbindung bringen mit Kämpfen, Jagden, Brautwerbungen und magischen Ereignissen in ganz Irland (cf. Meyer 1910, XVIII-XXV; Murphy 1953, L V - L X ) , darunter aus dem 8. Jh.: Kampf zwischen F. und Oisin; Tötung des Nahrung stehlenden Elfen Culdub (Schwarzhaar) durch F. (Murphy 1953, LXIV sq.), der sich beim Betre-
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ten des Feenhügels (sid) den Daumen quetscht, diesen in den Mund steckt und (durch Kauen des Daumens bis auf das Mark) die Gabe der Prophetie erwirbt (Rees/Rees 1975, 66; cf. oben teimn laeda).
Lose verknüpft mit dieser Erzählung ist eine Var. der Geschichte von Diarmuid (und Gräinne) u.a. aus dem 9. Jh., eine komplettere Version des Culdub-Abenteuers; eine Ortsgeschichte (dinnshenchus; D. Erenn The Place-lore of Ireland verzeichnet Geschichten zur Erklärung von Ortsnamen) von Äth Liac Find, in der F. zum ersten Mal Mac Umaill (nicht Cumaill) genannt wird. Die im 10. Jh. sich ausbildende Tendenz, F. als Heerführer im Dienste des Hochkönigs Cormarc von Tara zu identifizieren, erreicht im 11. Jh. ihren Abschluß. In zwei Sagenlisten aus dem 12. Jh., die wahrscheinlich Erweiterungen einer gemeinsamen Vorlage aus dem 10. Jh. darstellen (Thurneysen 1921, 22), werden Diarmuid (und Gräinne) neben der ,Freiung von Ailbe' (Tochmarc Ailbe) aufgeführt. Ende des 12. Jh.s erfolgt der Durchbruch: Der F.zyklus mit magisch-romantischem Hintergrund erringt eine Schlüsselposition in der ir. Volksüberlieferung, die ihm von nun an immer eigen sein sollte (Knott/Murphy 1966, 154). Zu dieser Entwicklung trugen bei: (1) die Aufnahme des Zyklus in die während des 12. Jh.s in Europa populär gewordene Balladen-Lit. (ir. laid; engl, lay; die älteren Zyklen Cu Chulainn, Königs-Zyklus und mythol. Zyklus bleiben außerhalb der Balladen-Dichtung); (2) der Einbau der Sagen in die auf das Ende des 12. Jh.s datierte Rahmenerzählung Acallam na senorach (Die Unterhaltung der alten Männer): Ausgehend von der Ortsnamenüberlieferung berichten die alt gewordenen Überlebenden der fian, Oisin und Cailte, dem hl. Patrick (385-460) von mehr als 200 Abenteuern des F. und seiner Mannschaft (cf. Dillon 1970). Frühneuir. F.Sagen aus dem ausgehenden 15. Jh. zeigen Einflüsse des roman d'aventure (Knott/ Murphy 1966, 183). Bis heute nimmt der F.zyklus unter den Gälisch-Sprechern von Irland und Schottland eine herausragende Stellung ein. F.-Balladen finden sich in vielen Hss. und werden von dem ir. und schott. Geschichtenerzähler (senchaid, senchaide, seanchaidhe) vorgetragen. Die wichtigsten frühneuir. Slgen sind in zwei Hss. enthalten: dem
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Fiore di virtü
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s c h o t t . Book of the Dean of Lismore a u s d e m f r ü h e n 16. J h . , v o n d e s s e n G e s c h i c h t e n e t w a 2 0 d e m F . z y k l u s a n g e h ö r e n ; d e m ir. Düanaire F. a u s d e m J a h r e 1 6 2 7 , d e s s e n 9 6 G e dichte allesamt den F.zyklus z u m Inhalt h a b e n (cf. M u r p h y 1 9 5 3 , I X sq.).
Book of the Lays of F. 1 (Irish Texts Soc. 7). L. 1908. — Meyer, K.: Fianaigecht (Todd Lecture Series 16). Dublin 1910. - Cross, Τ. P./Slover, C. Η. (edd.): Ancient Irish Tales. L./N.Y. 1936 (Neuausg. ed. C. W. Dunn. N.Y. 1969). - Murphy, G.: Duanaire F. The Book of the Lays of Fionn 3 (Irish Texts Soc. 43). Dublin 1953. - MüllerLisowski, K.: Ir. Volksmärchen. MdW 1962.
5. M y t h o l . und gesellschaftlicher H i n t e r g r u n d . Eine Reihe von charakteristis c h e n U n t e r s c h i e d e n b e s t e h t z w i s c h e n d e n älteren Ultersagen um Cü Chulainn und dem jüngeren F.zyklus (Weisweiler 1953, 21—26):
Lit.: Hyde, D.: A Literary History of Ireland [. . .]. L. 1899 (Neuausg. ed. B. 0 Cuiv. L./N.Y. 1967). - Meyer, K.: Über die älteste ir. Dichtung. 2: Rhythmische alliterierende reimlose Strophen (Abhdlgen der Kgl. preuß. Akad. der Wiss.en. Phil, hist. Kl. 10). B. 1914. - Westropp, T. J.: Α Study in the Legends of the Connacht Coast, Ireland. In: FL 28 (1917) 1 8 0 - 2 0 7 , 4 3 2 - 4 4 9 . - Thurneysen, R.: Die ir. Helden- und Königssage bis zum 17. Jh. Halle (Saale) 1921. - id.: Tochmarc Ailbe ,Das Werben um Ailbe'. In: Zs. für Celt. Philologie 13 (1921) 2 5 1 - 2 8 2 . - Mühlhausen, L.: Neue Beiträge zum Perceval-Thema. In: ibid. 17 (1928) 1 - 3 0 . - Murphy, G.: Folklore as a Help to the Understanding of the Irish Fionn Cycle. In: Folkliv 2 (1938) 2 1 1 - 2 1 6 . - Best, R. I.: Bibliography of Irish Philology and Manuscript Literature. Publ.s 1 9 1 3 - 4 1 . Dublin 1942 (Nachdr. 1969) 8 0 - 8 2 (mit weiterer Lit.). - O'Rahilly, T. F.: Early Irish History and Mythology. Dublin 1946 (Nachdr. 1957). Dillon, M.: Early Irish Literature. Chic./L. 1948 ("1969) 3 2 - 5 0 . - Weisweiler, J.: Voridg. Schichten der ir. Heldensage. In: Zs. für Celt. Philologie 24 (1953) 1 0 - 5 5 , 1 6 5 - 1 9 7 . - Rees, A./Rees, Β.: Celtic Heritage. Ancient Tradition in Ireland and Wales. L./N.Y. 1961 (Nachdr. L. 1975). Murphy, G.: The Ossianic Lore and Romantic Tales of Medieval Ireland. Dublin 1961 ( = Knott/ Murphy 1966, 1 4 5 - 1 9 3 ) . - Vries, J. de: Heldenlied und Heldensage. Bern/Mü. 1961. - Knott, Ε./ Murphy, G.: Early Irish Literature. Dublin 1966. — Dillon, M.: Stories from the Acallam (Mediaeval and Modern Irish Series 23). Dublin 1970. - Watkins, C.: Anosteos hon poda tendei. In: Festschr. M. Lejeune. P. 1978, 2 3 1 - 2 3 5 .
Ausgangspunkt Nord- und Westirland (Ulster, Connacht) gegen Südost- und Südirland (Leinster, Munster); von Menschen geformte und begrenzte Landschaft (Felder, Wiesen, Täler, Furten) gegen freie Natur (Wälder, Heide, Wildnis, Berge, Felsen, Höhlen); Cü Chulainn als Held und Verteidiger seines Stammes gegen F. als außerhalb seines Stammes wirkenden Helden (Dillon 4 1969, 33); heroischer gegen magisch-romantischen Hintergrund; epische oder dramatische gegen lyrische Form; Gebrauch von Streitwagen (den homerischen Griechen vergleichbar) gegen geringe Verwendung von Pferden; Kämpfe um Stiere und Rinderherden gegen Jagd auf Schwarz- und Rotwild, wie überhaupt dem Hirsch unter den Tieren und in der Namengebung der F.-Sagen (Oisin, Oscar) eine bes. Bedeutung zukommt (cf. Weisweiler 1953). G e g e n ü b e r v e r s c h i e d e n e n hist. I n t e r p r e t a t i o n e n d e s F . z y k l u s (cf. d i e Lit. b e i O ' R a h i l l y 1957, 2 7 1 - 2 8 1 ) verdienen die mit Hilfe der Vk. vorgenommenen Herleitungen aus der Volksdichtung (Murphy 1938) den Vorzug. Eine mythol. D e u t u n g stammt von O'Rahilly (1957, 278): „Finns Rivale, Göll (,der Einäugige'), der auch A e d (,Feuer') genannt w u r d e , ist d i e S o n n e n g o t t h e i t , d i e a u c h d e r H e r r der jenseitigen Welt (otherworld) war [. . .]. G e m ä ß p r i m i t i v e m M y t h o s e r s c h l u g o d e r ü b e r w a n d der n e u g e b o r e n e H e r o die G o t t h e i t der jenseitigen W e l t " . F., ,der W e i ß e , H e l l e ' (gall, v i n d o - , w e i ß ' ) , w i r d b e i d i e s e r I n t e r p r e t a t i o n m i t d e r kelt. L i c h t g o t t heit L u g u s (cf. gall. L u g u d u n u m , , L y o n ' ) in Zusammenhang gebracht (Knott/Murphy 1 9 6 6 , 1 4 7 ) . E i n e P a r a l l e l e in d e r U l t e r s a g e stellt d i e T ö t u n g v o n G ö l l u n d G a r b d u r c h C ü Chulainn dar ( R e e s / R e e s 1975, 57, 66). A u s g . n : Mac Pherson, J.: The Works of Ossian, the Son of Fingal 1 - 2 . L. 1765 (enthält: Fragments of Ancient Poetry [1760]; Fingal [1762]; Temora [1763]). - Mac Neill, E.: Duanaire F. The
Bonn
Karl Horst Schmidt
Fiore di virtü ( B l u m e d e r T u g e n d ) , E r bauungsbuch u m 1300, eines der ersten B ü c h e r in ital. V o l k s s p r a c h e , w a h r s c h e i n l i c h von dem Benediktinermönch T o m a s o Gozzadini verfaßt1. D i e moralisierende Schrift e n t h ä l t die D e f i n i t i o n u n d G e g e n ü b e r s t e l l u n g m e n s c h l i c h e r —» T u g e n d e n u n d L a s t e r ( i n s g e samt zwischen 35—42 Kap.), danach den V e r g l e i c h mit e i n e m p h a n t a s t i s c h e n o d e r r e a l e n T i e r 2 — h ä u f i g d e m —» Physiologus e n t n o m m e n —, p a s s e n d e A u s s p r ü c h e b e -
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Fiore di virtu
rühmter Persönlichkeiten und schließlich eine kurze Erzählung (—> Exemplum), die den Menschen dazu anspornen soll, den rechten Weg zu gehen. Dem Erstdruck (Venedig 1471) folgten im Laufe von 50 Jahren mehr als 40 Ausgaben, darunter viele wichtige Inkunabeln 3 . Das Werk fand als Hs. und Druck Verbreitung 4 . Es wurde in andere Sprachen übertragen, u. a. span. (Sevilla 1498) 5 und frz. (P. 1530) 6 . Hans von Vintler erweiterte in seiner dt. Übertragung, Die pluemen der tugent (hs. 1411 in Tirol), die ital. Quelle um Zusätze, die er einem Anhang, den einige Hss. des F. aufweisen, und anderen Quellen entnahm; bes. erwähnenswert ist die hinzugefügte Aberglaubensliste 7 . Überraschend viele Übertragungen und Neuauflagen sind in den Lit.en Südosteuropas zu verzeichnen. Allen Kontroversen zum Trotz gibt es zwingende Beweise dafür, daß in diesem Gebiet die erste Übertragung aus dem Ital. ins Rumän. erfolgte, und zwar zwischen 1478 und 1484 zur Regierungszeit Stefans des Großen, in welcher Beziehungen zu Italien angeknüpft wurden und aus der Spuren von schriftl. Gebrauch der rumän. Sprache vorhanden sind 8 . Eine Übers, in die östl. kirchenslav. Sprache datiert aus dem Jahr 1492, wie eine Abschrift, Kniga ,Flores darovanijam'9, bezeugt, aus der dann weitere Übernahmen erfolgten, die bis in die Prager Archive gelangten 10 . Einen weiteren Weg stellt die vermutlich aus dem 14. Jh. 1 1 stammende skr. Übers. dar 1 2 , datierbare hs. Texte gibt es jedoch erst seit dem Anfang des 16. Jh.s, einen unvollständigen in glagolit. 13 und einen in kyrill. Schrift 14 . Aus dieser Redaktion wurde das F. im 16. Jh. von neuem in die rumän. Lit. übertragen 1 5 ; mehr als 30 hs. Kopien liegen vor 16 . Ein 4. Vermittlungsweg nach Südosteuropa läßt sich durch das Vorliegen der griech. Version Antos tön haritön erkennen, von der zwei in Venedig (wo eine bedeutende griech. Kolonie bestand) gedr. Fassungen existieren: eine ältere aus dem 16. Jh., deren Text sich an ital. Hss. oder Inkunabeln anlehnt 1 7 , und eine aus dem 18. Jh. mit parallel gesetztem ital.-griech. oder umgekehrt griech.-ital. Text (abgeänderter Inhalt, verstärkte Erziehungstendenz) 1 8 . Der Verbreitung in Südosteuropa 38
Enzyklopädie des Märchens IV
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liegt die ältere Fassung zugrunde: ζ. B. für die rumän. Übers. Floarea darurilor (durch den Ordenspriester Filothei nach einem von Athos stammenden Druck) 1 9 , eine in hs. Kopien vorliegende kirchenslav. Übertragung 2 0 und eine armen. Version von 1675 (erstellt in der Kongregation De propaganda fide in Rom) 2 1 . Der inhaltlichen Struktur nach ist das F. eine Slg von Sprichwortelementen und Erzählungen — vergleichbar mit den Gesta Romanorum oder der Disciplina clericalis von —> Petrus Alphonsi. Das F. verbreitete sich auch durch Verbindung mit anderen Büchern, wie ζ. B. den —> Bestiarien 22 . Bestimmte literar. Motive aus dem F. erfreuten sich eines weiten Umlaufs bis in die Hochliteratur hinein. Das Motiv ζ. B. vom asketisch lebenden jungen Mann, dem man schöne Mädchen als Teufel erklärt, die den Menschen in die Hölle brächten, und der eben diese Teufel als das Schönste von allem Gesehenen bezeichnet (AaTh 1678: —> Junge weiß nichts von Frauen), ist alter ind. Herkunft 2 3 und ging u . a . 2 4 in zahlreiche ma. Exempelsammlung e n " ein. — D a s gleiche gilt für die Verbreitung des Typs —» Engel und Eremit (AaTh 759), der u. a. in dem engl. Poem The Hermit von Thomas Parnell und im Roman Zadig von —> Voltaire auftritt 26 . Nur in rumän. Fassungen des F. findet sich aus der Lebensgeschichte der Dichterin Kasia ein Beispiel für das Motiv der Wahl des Paris (byzantin. Chroniken entnommen; cf. Mot. Η 15 96.1) 2 7 . ^ L L 9, 3 5 3 6 s q . - 2 Lehmann-Brockhaus, Ο.: Tierdarstellungen der Fiori di Virtü. In: Mittigen des Kunsthist. Inst.es in Florenz 6, 1/2 ( 1 9 4 0 ) 1 - 3 2 . - 3 c f . Brunet, J. C.: Manuel du libraire et de l'amateur de livres 1. P. 1860, 1285sq.; t. 2 ( 1 8 6 1 ) 1262; Varnhagen, H.: U b e r die ,Fiori e vita di filosofi ed altri savi ed imperadori' nebst dem ital. Texte. Erlangen 1893, V sq., not. 1. — 4 Frati, C.: Ricerche sul F. In: Studi di Filologia romanza 6 ( 1 8 9 3 ) ) 2 4 7 - 4 4 7 ; Ulrich, J.: F. Versione toscoveneta del Gadd 115 della Laurenziana. Lpz. 1890; id.: F., saggi della versione tosco-veneta secondo la lezione dei mss. di Londra, Vicenza, Siena, M o dena, Firenze e Venezia. Lpz. 1895; Corti, Μ.: II mito di un Codice Laur. Gadd 115. In: Festschr. A . Monteverdi. Modena 1959, 1 8 5 - 1 9 7 ; id: Le fonti del F. In: Giornale storico della letteratura italiana 136 ( 1 9 5 9 ) 1 - 8 2 . - 5 cf. Regnier, R.: D i una ignota traduzione spagnuola del F. In: Archiv für rom. Philologie 18 ( 1 8 9 4 ) 305 sq. - 6 La Fleur de vertu. P. 1530. - 7 Z i n g e r l e , I. V. (ed.): D i e Pluemen der Tugent des H. Vintler. Innsbruck 1874; Dörrer, Α.: Vintler, H. von. In: Verflex. 4 ( 1 9 5 3 ) 6 9 8 - 7 0 1 ; Helm, K.: Vintler, H. In: H D A
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8, 1663sq.; Ebermann, O.: Zur Aberglaubensliste in Vintlers Pluemen der Tugent. In: ZfVk. 23 (1913) 1 - 1 8 , 1 1 3 - 1 3 6 . - 8 Chijimia, I. C.: Cele mai vechi urme de limbä romäneascä. In: Romänoslavica 1 (1948) 122sq.; id.: „Texte de aur" — reevaluarea inceputurilor scrisului in limba romänä. In: Valori bibliofile din patrimoniul cultural national 2 (1983) 1 3 1 - 1 3 6 . - 9 c f . Sljapkin, I. Α.: Sv. Dimitrij Rostovskij i ego vremja (Der Hl. Dmitrij von Rostov und seine Zeit). St. Peterburg 1891, 76—77; Speranskij, M.: Perevodnye sborniki izreienij ν slavjano-russkoj pis'mennosti (Übersetzungsslgen von Denksprüchen im slav.-russ. Schrifttum). In: Ctenija ν imperatorskom obscestve istorii i drevnostej rossijskich 2 (1905) 4 9 - 2 4 5 , 451—578, hier 534sq.; cf. vor allem Smochinä, N.: Ο traducere romäneascä a cärjii ,Floarea darurilor'. In: Biserica ortodoxä romänä 80, 7—8 (1962) 7 1 2 - 7 3 8 . - 10 cf. Polivka, G.: Zur Geschichte des Physiologus in den slaw. Lit.en. In: Archiv für slav. Philologie 15 (1892) 272; Olteanu, P.: F. dans les versions slaves traduites du romain. In: Romanoslavica 16 (1968) 2 7 3 - 3 0 4 , hier 279sq. 11 Kolendic, P.: F. u nasem prevodu XIV. veka (F. in unserer Übers, des 14. Jh.s). In: Prilozi za knjizevnost, jezik, istoriju i folklor 3 (1923) 133 — 140, hier 133 sq. - 1 2 Jagic, V.: Prilozi k historiji knjizevnosti naroda hrvatskoga i srbskoga (Beitr.e zur Geschichte des Schrifttums des kroat. und serb. Volkes). Zagreb 1868, 6 7 - 7 8 . - 13 Strohal, R. (ed.): Cvet vsake mudrosti. Najstarije hrvatsko umjetno sacuvano knjizevno djelo iz 14. vijeka (Blume aller Weisheit. Das älteste erhaltene kroat. Kunst-Lit.werk aus dem 14. Jh.). Zagreb 1916. — 14 Reäetar, M. (ed.): Libro od mnozijeh razloga. Dubrovaöki cirilski zbornik od g. 1520 (Das Buch vieler Weisheiten. Ein Dubrovniker kyrill. Sammelband aus dem Jahre 1520). Sr. Karlovci 1926, 25 sq. — 15 Cartojan, N.: F. in literatura romäneascä. In: Academia Romänä. Memoriile secjiunii literare 3 , 4 ( 1 9 2 8 - 2 9 ) 8 5 - 1 9 1 , hier 1 1 2 , 1 4 4 , 1 4 9 . - 16 cf. Moraru, M./Velculescu, C.: Bibliografia analiticä a cärjilor populäre laice. Partea a I I - a . Buk. 1978, 2 6 5 - 2 9 9 . - 17 Ausg.n: Venedig 1529,1537, 1546, 1594, 1603,1621 etc.; cf. Frati (wie not. 4) 291 sq.; Legrand, E.: Bibliogr. hellenique 1. P. 1894, 119; Lambros, S. P.: Catalogue of the Greek Manuscripts on Mount Athos 1. Cambr. 1895, num. 1510; Cartojan (wie not. 15) 156. - 18 Ausg.n: Venedig 1755 (ital.-griech. Text, der Forschung bisher unbekannt, Exemplar bei Chijimia), 1756 (griech.-ital. Text) sowie 1764, 1779, 1783, 1799 etc.; cf. Cartojan (wie not. 15) 157. - 19 Weitere Ausg.n: Bra§ov 1807, 1808; Sibiu 1834; Buk. 1864; cf. Moraru/ Velculescu (wie not. 16) 299—304; Simonescu, D.: Floarea darurilor. In: Chijimia, I./Simonescu, D. (edd.): Cärjile populäre in literatura romäneascä 2. Buk. 1963, 2 7 3 - 2 8 6 (Einl., ed. Fragmente). 20
Cartojan (wie not. 15) 86sq. Frati (wie not. 4) 247. - 2 2 Schmidtke, D.: Geistliche Tierinterpretation in der dt.sprachigen 21
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Lit. des MA.s ( 1 1 0 0 - 1 5 0 0 ) . 1: Text. Diss. Β. 1968, 107sq.; Varnhagen, H.: Die Qu.n der BestiärAbschnitte im F. In: Festschr. A. D'Ancona. Firenze 1901, 5 1 5 - 5 3 8 . - 2 3 Kerbaker, M.: La leggenda epica di Rishyasringa. ibid., 4 6 5 - 4 9 7 . - 24 Chijimia, I.: Varlaam §i Ioasaf. In: id./Simonescu (wie not. 19) 299. - 25 Tubach und Dvorak, num. 5365; Cartojan (wie not. 15 ) 98. - 2 6 Paris, G.: L'Ange et Termite. In (id.): La Poesie du moyen äge 1. P. 2 1887, 151; Schönbach, Α.: Die Legende vom Engel und Waldbruder. In: SB.e der Phil. hist. Kl. der Kaiserlichen Akad. der Wiss.en Wien 143 (1901) XII; Haase, H.-W.: Die Theodizeelegende vom Engel und dem Eremiten. Diss. Göttingen 1966, 48 sq. - 2 7 Krumbacher, K.: Kasia. In: SB.e der phil.-philolog. und der hist. Classe der königlich bayer. Akad. der Wiss.en zu Mü. Η. 1 (1897) 3 0 5 - 3 7 0 ; Psichari, J.: Cassia et la pomme d'or. In: Annuaire de l'Ecole pratique des Hautes Etudes. Section des sciences historiques et philologiques 1 9 1 0 - 1 1 (1910) 5 - 5 3 .
Bukarest
Ion Chijimia
Firdausi, Abu'l-Qäsim Mansür ibn-i Hasan, * Tüs (Nordost-Iran) um 940, f ibid. um 1020, Sohn einer Landbesitzerfamilie, Verfasser des Sähnäma. Dieses große literar. Epos Persiens, das zwischen ca 980—1010 p. Chr. n. entstand, ist in zahlreichen Hss. überliefert, von denen einige bis zu etwa 60.000 Verse umfassen. F.s Hauptquelle war eine pers. Prosa-Wiedergabe des mittelpers. (Pahlawi) Khwadäy Nämag, dessen Titel, ebenso wie Sähnäma, ,Königsbuch' bedeutet. Jenes ältere Werk, das nur aus zweiter Hand durch verschiedene pers. und arab. Autoren, von denen es benutzt wurde, bekannt ist, war eine Chronik, die etwa seit dem 5. Jh. p. Chr. n. von zoroastr. Priestern geführt wurde; ihr ursprünglicher Zweck bestand darin, die Stellung der Säsäniden (die von ca 224—651 im Iran herrschten) zu festigen, indem man sie durch eine künstlich erstellte Genealogie mit den alten Kayäniden in Verbindung brachte, deren letzter König, Vistäspa (Gustäsp), der Protektor Zarathustras war. Nach dem Vorbild dieser Chronik beginnt F. mit der Erschaffung der Welt. Anschließend wird die Herrschaft der iran. Kulturheroen und mythischen Könige geschildert, die der Pesdäd-Dynastie zugeordnet werden, auf die die Kayäniden folgen. Diese waren Stammesfürsten, die allem Anschein nach vor
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und während der iran. B r o n z e z e i t (ca 1 7 0 0 a. Chr. n.), d e s heroischen Z A . s v o n Persien, die Macht innehatten. A l s Q u e l l e ihrer H e l d e n t a t e n dienten den Säsänidenpriestern o f f e n b a r die L i e d e r fahrender Sänger, die sich w e g e n der V e r b i n d u n g der Kayäniden mit Zarathustra lange in der mündl. Tradition erhielten. In der späten Ü b e r l i e f e r u n g gingen in den K a y ä n i d e n - Z y k l u s Sagen über den sak. H e l d e n R u s t a m und die Parther (die v o n ca 1 4 1 a . Chr. n. - 2 2 4 p. Chr. n. im Iran herrschten) ein. D i e s e S t o f f e bilden zu etwa zwei Dritteln den Inhalt des Sähnäma, der R e s t bezieht sich auf die Säsänidenzeit und stützt sich eher auf hist. Tatsachen. D a s E n d e d e s E p o s bildet die Erzählung v o n der arab. Ero b e r u n g des Iran. S e i n e m Ursprung und der B e h a n d l u n g der T h e m e n nach ist das Sähnäma somit ein aristokratisches und kein populäres Werk; e s enthält aber, e b e n s o w i e andere W e r k e h ö f i scher Lit., folkloristische E l e m e n t e . So führt der Wunsch, eine Verbindung zwischen verschiedenen Dynastien herzustellen, zur wiederholten Verwendung des Motivs von der —» Aussetzung eines königlichen Kindes (Mot. S 141, R 131 sqq.), das unbekannt aufwächst und schließlich als rechtmäßiger Erbe des Throns anerkannt wird. Die Herkunft des Jünglings zeigt sich an seinem königlichen Auftreten, seiner Stärke und Schönheit und im Falle der Kayäniden (bes. Kay Khusraws) auch an einem erblichen Muttermal (cf. Mot. Η 51.1, Η 71). Die in der Abgeschiedenheit verbrachte Kindheit wirkt sich nie auf seine Fähigkeit aus, von einem Augenblick auf den anderen die Herrschaft übernehmen zu können, obwohl seine Pflegeeltern entweder einfache Bauern oder wilde Tiere waren. So wird der PeSdäde Firedün als Kind von der wunderbaren leuchtendfarbigen Kuh Birmäya genährt (Mot. Β 535.0.1). In einem anderen Fall setzt Rustam seinen Sohn Zäl aus, weil dieser weißhaarig zur Welt kam. Die SImurgh (Mot. Β 31.5), ein Fabelvogel, trägt das Kind zu ihrem Nest auf dem Alburz (avest. Harä berezaiti: Hoch-Harä, der Berggipfel im Zentrum der Welt; cf. —» Berg) empor und zieht es dort auf. Als Zäl als junger Mann von seinem Vater zurückgefordert wird, gibt ihm die SImurgh eine ihrer —> Federn, die er verbrennen soll, wenn er einmal ihre Hilfe brauchen sollte, worauf sie sofort zu ihm kommen werde (Mot. Β 501.4), was später auch eintritt. U m sich den Thron zu sichern, setzt die verwitwete Kayänidenkönigin Humäy ihren Sohn Däräb in einem Holzkästchen auf dem Fluß aus; das Kind wird von einem Wäscher gefunden, aufgezogen und schließlich als rechtmäßiger König anerkannt. 38*
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Im E p o s b e g e g n e n häufig Träume, die verb o r g e n e Wahrheiten enthüllen und K ü n f t i g e s vorhersagen. S o wird ζ. B. Casars T o c h t e r Katäyün, die unter d e n am H o f ihres Vaters v e r s a m m e l t e n Männern e i n e n G a t t e n aussuchen soll, durch einen Traum veranlaßt, einen ärmlichen, verachteten F r e m d e n zu wählen, der in Wirklichkeit der verkleidete Perserkönig Gustäsp ist. U n t e r den im Sähnäma auftretenden Fabelw e s e n k o m m t die größte B e d e u t u n g D r a c h e n oder gewaltigen R i e s e n s c h l a n g e n zu. Der iran. Drache ist ein Landtier (gewöhnlich schwarz oder von dunkler Farbe und mit Augen wie Blutlachen). Er verschlingt Menschen und Tiere, holt Vögel durch seinen glühenden oder giftigen Atem vom Himmel herab und vermag sich auch Meerestiere und Fische zu fangen. Dreimal wird von einem Drachen erzählt, dessen langes Kopfund Körperhaar auf dem Boden schleift, und von einem wird gesagt, er habe jahrhundertelang in der von ihm gewählten Wildnis gelebt. Drachen werden immer als riesig beschrieben, ein totes Untier wird jedoch einmal auf einen Ochsenkarren geladen und weggezogen. Ein anderes bekommt jede Nacht von den Bewohnern der Gegend einen Tribut von fünf Ochsen, damit es friedlich bleibt. Auch Schlangen sind im allg. böse (einmal erscheint jedoch eine schwarze Schlange, die den schlafenden jungen Buzurgmihr anhaucht, worauf dieser ein berühmter Weiser wird). Die Helden kämpfen gegen die Drachen, um ihren Raubzügen ein Ende zu bereiten, aber auch um den eigenen Mut zu beweisen. Eine der berühmtesten Begegnungen ist die zwischen Säm (avest. Keresäspa aus dem Hause Säma) und dem Drachen von Kasaf. Er tötet das Ungeheuer, indem er ihm drei Pfeile nacheinander in den offenen Rachen schießt und dann den Schädel mit seinem Streitkolben zerschmettert. Das aus dem toten Tier dringende Gift verseucht die Gegend, und es können jahrelang keine Feldfrüchte mehr angebaut werden. Das Awesta (das hl. Buch des Zoroastrismus) berichtet von einem früheren Zusammentreffen Keresäspas mit diesem Drachen, der ausnahmsweise Hörner trug und grün war. Er war so riesig, daß Keresäspa den schlafenden Drachen für einen Hügel hielt und an seiner Flanke ein Feuer entfachte, um sein Essen zuzubereiten. Das Ungeheuer wurde von der Hitze geweckt, stürmte davon und schleuderte dabei den Helden, den Kochkessel und das Feuer zur Seite. Ebenfalls im Awesta kämpft ein noch älterer Held, Thraetaona, mit dem dreiköpfigen Drachen Dahäka. Da es eine ved. Parallele mit Trita und einem dreiköpfigen Himmelsdrachen gibt, scheint die Geschichte auf die indoiran. Zeit (3. Jahrtausend a. Chr. n.?) zurückzugehen. Im Sähnäma erscheint dieses Paar als
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Firedün und Zahhäk. Letzterer ist hier ein von Iblis verhexter arab. König, aus dessen Schultern zwei schwarze Schlangen wachsen, die täglich mit menschlichen Gehirnen gefüttert werden müssen. Der ,Drachenkönig' führt 1000 Jahre lang sein böses Regiment über den Iran, bis Firedün ihn schließlich überwältigt, bindet und ihn in einer Höhle des Alburz an einen Felsen gekettet gefangenhalten läßt. Die Erklärung dafür liefert ein mittelpers. Werk (Denkard 9, 21, 10): Wenn Dahäk getötet würde, kämen aus der Wunde giftige Tiere hervor und würden die Erde bedecken; er muß daher bis zum —> Jüngsten Tag am Leben bleiben, aber in Fesseln gehalten werden. D e r G l a u b e an den Jüngsten T a g und die Entscheidungsschlacht zwischen —» Gut und B ö s e sind e i n e der g r u n d l e g e n d e n zoroastr. L e h r e n (cf. —> E s c h a t o l o g i e ) . E i n i g e V o r kämpfer des G u t e n bleiben in Erwartung dieser Zeit am L e b e n . So ist in der Darstellung des Sähnäma der König Kay Khusraw so reich an ,farr' (avest. khvarenah: göttliche Gnade), daß er nicht stirbt, sondern lebend aus seinem Dasein scheidet. Der zoroastr. Tradition nach schläft er in einer verborgenen Höhle zusammen mit sechs anderen ruhmreichen Männern in Erwartung des Rufs, aufzustehen und die letzte Schlacht zu schlagen (Mot. D 1960.2). Die Mächte des Bösen sind im Sähnäma ferner durch unzählige —> Dämonen oder Devs (—> Dev) vertreten, die von Ahriman (dem zoroastr. Teufel) und anderen namentlich genannten Erzdämonen angeführt werden. Sie sind fortwährend lärmende, ruhelose und böse Wesen, die zusammen in Höhlen oder anderen dunklen Aufenthaltsorten leben und schwarze Magie ausüben. Ihre Macht wird jedoch als nicht sehr stark dargestellt, und sie können am Ende immer durch weiße Magie oder physische Stärke eines Helden in Schranken gehalten werden. So legt der Peädäde Tahmüras sogar Ahriman selbst Zaumzeug an und reitet auf ihm durch die Welt; und Gamäed (avest. Yima Khäaeta, Sanskrit: Yama) zwingt Devs dazu, seinen Thron emporzuheben, so daß er sonnengleich in den Lüften sitzen kann. Rustam kämpft gegen den Weißen Dev, den König einer Heerschar von Dämonen, der ein schwarzes Gesicht und eine Löwenmähne hat und so groß ist, daß sein Kopf den Himmel berührt. Als Rustam ihn gerade zu überwältigen scheint, verwandelt er sich in einen Felsen, doch als der Held droht, diesen in Stücke zu zersplittern, erscheint der Dämon in menschlicher Figur mit einem Eberkopf und wird in dieser Gestalt getötet. Seine Leber wird herausgeschnitten und als Heilmittel gegen —> Blindheit verwendet.
Paris (—> Peri) o d e r weibliche D ä m o n e n w e r d e n häufig z u s a m m e n mit D e v s erwähnt.
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G e l e g e n t l i c h versucht e i n e einzelne Pari, e i n e n H e l d e n zu verführen, i n d e m sie ihre wahre Gestalt — die eines a b s t o ß e n d e n , runzligen alten W e i b s — in die Erscheinung e i n e s s c h ö n e n jungen M ä d c h e n s verwandelt. Isfandiyär, Gustäsps Sohn, dem solch ein Mädchen verdächtig vorkommt, schlingt um ihren Hals eine von Zardust (Zarathustra) gesegnete Kette, worauf sie sich zuerst in einen Löwen und dann, als er sie mit dem Schwert bedroht, zurück in ihre eigene Gestalt verwandelt, worauf er sie zerstückelt. Eine im Grunde gleiche Geschichte wird auch von Rustam und einer Pari erzählt. Beispiele für den Glauben, daß Devs und Paris die Fähigkeit besitzen, sich ein normales Aussehen zu geben, um Menschen zu hintergehen, finden sich wiederholt. So hat Iblis bei der Verhexung Zahhäks die Gestalt eines Kochs angenommen; ein anderer Dev erscheint dem Kay Kävüs als fahrender Sänger und verleitet ihn dazu, eine Dämonenfestung anzugreifen, was verhängnisvolle Folgen nach sich zieht. G e l e g e n t l i c h bedient sich auch ein H e l d der Zauberei, u m seine Gestalt zu ändern. S o wird von Firedün erzählt, er habe sich in e i n e n f e u e r s p e i e n d e n D r a c h e n verwandelt, u m den M u t seiner drei S ö h n e zu prüfen. D e r jüngste Prinz erweist sich jeweils als der tapferste und gewinnt s o d e n besten Teil d e s väterlichen Königreichs (cf. M o t . Η 1 2 4 2 ) . D i e Macht d e s b ö s e n Blicks (Mot. D 2 0 7 1 ) , die von d e n j e n i g e n ausgeübt w e r d e n kann, die d e n D e v s dienen, ist sehr gefürchtet; e i n e immer wiederkehrende Beschwörungsformel lautet daher: „ M ö g e der b ö s e Blick ferne v o n dir sein!" B e s . gefürchtet wird er bei d e n S ö h n e n , solange sie klein sind; sie dürfen deshalb nicht o f f e n bewundert w e r d e n . D e r Säsänide Ardaslr I. hat seinen S o h n Säpür aus A n g s t davor i m m e r bei sich. E i n Beispiel der Macht d e s b ö s e n Blicks bietet e i n e Erzählung v o n e i n e m in schwarzer M a g i e b e w a n d e r t e n Mann, der lediglich aus einer g e w i s s e n E n t fernung auf e i n e n N a p f Milch zu blicken braucht, u m sie dadurch in Gift zu v e r w a n deln, und so e i n e ganze Familie u m s L e b e n bringen kann. U n t e r den L e b e w e s e n der E r d e sind einige auf Seiten des B ö s e n , i n s b e s o n d e r e alle R a u b tiere (ζ. B . L ö w e n , W ö l f e ) . In einer E p i s o d e tritt der W o l f v o n Fäsqün auf — ein riesiges Tier, das stark g e n u g ist, ein Pferd fortzutragen —, der v o n Gustäsp aufgespürt und g e tötet wird.
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Firmenich (-Richartz), Johannes Matthias
Die Schauplätze der älteren Teile des Epos sind fast ausschließlich höfisch (Burg, Banketthalle, Schlachtfeld, Jagd). Im Zusammenhang mit der Jagd findet sich die Geschichte vom Meisterschützen (cf. —» Schützenkünste): Der König Bahräm Gör durchbohrt auf die Herausforderung einer Favoritin hin mit einem einzigen Pfeil Huf, Ohr und Kopf einer Gazelle. In den späteren Abschnitten erscheinen gelegentlich Szenen aus dem Dorfleben; und wiederholt findet sich das volkstümliche Motiv vom König (ζ. B. Bahräm Gör), der verkleidet unter seinen Untertanen einhergeht und in einem sehr armen Haushalt fromme Gastfreundschaft findet, daraufhin erklärt, wer er ist und seine schlichten Gastgeber reich belohnt (Mot. Q 1.1; Κ 1812.4). F.s Epos wurde äußerst populär; viele Verse daraus waren mündl. in Umlauf, und es gab auch professionelle Rhapsoden, die große Teile des Gedichts öffentlich vortrugen. Auf diese Weise wurden auch die ungebildeten Schichten mit dem Werk bekannt; und vermutlich trug seine Beliebtheit dazu bei, daß einige in ihm enthaltene volkstümliche Erzählungen vereinheitlicht und nunmehr nur noch in der von F. festgeschriebenen Form tradiert wurden. A u s g . n : The Shah Namu [. . .]. Calcutta 1811 (erste und unvollständige Ausg.). — The Shah nameh [. . . ] 1 - 4 . ed. T. Macan. Calcutta 1829. Le Livre des rois [. . .] traduit et commente par J. Mohl 1 - 7 . P. 1 8 3 8 - 7 8 . - Firdusii liber regum [. . .] 1 - 3 . ed. J. A. Vullers [t. 3 ed. S. Landauer]. Leyden 1 8 7 7 - 8 4 . — The Firdausi Millenary Edition 1 - 1 0 . ed. Sa'id Nafisi. Teheran 1 9 3 4 7 3 6 . Säch-näme. Kritiöeskij tekst 1 - 9 . ed. Ε. E. Bertel's. M. 1 9 6 0 - 7 1 . Ü b e r s . e n : Champion, J.: The Poems of Ferdosi 1. L. 1788 (mehr nicht erschienen). — Goerres, J.: Das Heldenbuch von Iran [. . .] 1 - 2 . B. 1820 (Ausw.). - Atkinson, J.: The Shah Nämeh. L. 1832 (unvollständig). - J. Mohl (v. Ausg.n). Pizzi, I.: II libro dei rei [. . .] 1 - 8 . Torino 1 8 8 6 88. — Rückert, F.: Firdosis Königsbuch 1 - 3 . B. 1 8 9 0 - 9 5 . - Warner, A. G. und E.: The Shähnäma of Firdausi 1 - 9 . L. 1 9 0 5 - 2 5 . - Levy, R.: The Epic of the Kings. Chic. 1967. Lit. (Ausw.): Nöldeke, T.: Das iran. Nationalepos. B./Lpz. 2 1920. - Minorsky, V.: The Older Preface to the Shäh-Näma. In: id.: Iranica. Teheran 1964, 260—273. — Boyce, M.: Zariadres and Zarer. In: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 17 (1955) 4 6 8 - 4 7 7 . - Hanaway, W. L.:
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The Iranian Epics. In: Heroic Epic and Saga. ed. F. J. Oinas. Bloom./L. 1978, 7 6 - 9 8 .
London
Mary Boyce
Firmenich (-Richartz), Johannes Matthias, *Köln 5. 7. 1808, f Potsdam 10. 5. 1889, dt. Philologe und Dichter. F., der einer Kölner Bürgerfamilie entstammt, widmete sich in Bonn und München dem Philosophie- und Philologiestudium, das er mit der Promotion abschloß. Nach verschiedenen Studienreisen, die ihn vor allem nach Rom (1832—34), Frankreich und Belgien führten, weilte F. in Wien, von wo er aber wegen seiner engen Beziehungen zu dem liberalen Dichter Anastasius Grün (1806—76) ausgewiesen wurde. Nach Aufenthalten im Rheinland (Düsseldorf, Köln) ließ er sich 1839 in Berlin nieder; hier wurde er 1860 zum Professor ernannt. 1861 als Universalerbe seines Oheims, des Kölner Millionärs und Mäzens J. H. Richartz, eingesetzt, kehrte F. nach Köln zurück, wo er sich u. a. erfolgreich für die Gründung des Roten Kreuzes sowie einer Seeschiffahrtsgesellschaft einsetzte. Eine Geisteskrankheit beendete 1868 seine weitgespannten Aktivitäten. Das dichterische (Euvre F.s enthält neben dramatischen Arbeiten (Karnevalsschwänke in Kölner Mundart, die romantische Tragödie Clotilde Montalvi u. a.) hauptsächlich Gedichte und Lieder, von denen einige beachtliche Volkstümlichkeit besaßen (ζ. B. Es wird hiermit bekannt gemacht, das Kinderlied Heijo, Hätzenskinkche oder patriotische Lieder wie Held Friedrich zog mit seinem Heer und Was klingt durch Deutschlands Gaun und Kreise). Von weit größerer Bedeutung sind aber F.s wiss. Leistungen, die einem ausgeprägten Interesse für Sprache und Volksdichtung entsprangen. Die Beschäftigung mit Fremdsprachen, die sich auch in entsprechenden dichterischen Versuchen niederschlug, fand ihren stärksten Ausdruck in der dem neugriech. Volksgesang gewidmeten Slg Tragouthia pömai'ka (1840—67). Wie das einleitende Kap. Über die Volkspoesie der Neugriechen zeigt, ist das Werk, das in seinem 2. Teil auch 100 Sprichwörter bietet und in einem ur-
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Fisch, Fischen, Fischer
sprünglich geplanten 3. Teil noch weitere Gattungen (,Volkserzählungen', Märchen, Fabeln) vorstellen wollte, —» Herders Ideen verpflichtet. So bedeutet für F. Volkspoesie sowohl den „Urquell aller Poesie" als auch einen Spiegel der „geheimsten Gefühle und Gesinnungen [der Völker] in ihrer scharf ausgeprägten nationalen Eigentümlichkeit". Die griech. Volkspoesie stellt seiner Meinung nach einen „noch lebenden Sprößling des alten griechischen Stammes" dar; in diesem Sinne werden die hier versammelten Lieder und Liedgattungen jeweils auf altgriech. Vorläufer zurückgeführt, darunter auch auf üblicherweise antiker Kunstdichtung zugeschriebene Werke (die Klephtenlieder etwa sind für F. Abkömmlinge der homerischen Epen, die er als Kompilationen von Einzelgesängen verschiedener Volksdichter ansieht).
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Arndts und J. Grimms an Lyra. (Diss. Greifswald 1929) Osnabrück 1929. - Lücke, H.: Der Einfluß der Brüder Grimm auf die Märchensammler des 19. Jh.s. Diss. Greifswald 1933. - Zierow, U.: Eine vergessene plattdt. Vondel-Übers. In: Ndd. Jb. 63/ 64 (1937/38) 193 sq.
Freiburg/Br.
Jürgen Dittmar
Fisch, Fischen, Fischer 1. Definition und Abgrenzungen — 2. F.-Ätiologien - 3. F.-Staat und F.-König - 4. F.-Fang, Fischer (F.er), F.-Essen — 5. Große F.e - 6. F.e verschlingen Menschen — 7. Hilfreiche und heilende F.e — 8. Heilige und F.e - 9. Wunderbare F.e - 10. F.e und wunderbare Empfängnisse — 11. F.-Menschen — 12. Zusammenfassung
V e r ö f f . e n (Ausw.): Tragouthia pömai'ka. Neugriech. Volksgesänge. Orig. und Übers. In Zusammenstellung mit den uns aufbewahrten altgriech. Volksliedern 1 - 2 . B. 1 8 4 0 - 6 7 . - Germaniens Völkerstimmen. Slg der dt. Mundarten in Dichtungen, Sagen, Mä[h]rchen, Volksliedern u.s.w. 1 - 3 . Β. [ 1 8 4 3 - ] 5 4 , Nachtrag 1866 (Nachdr. Hildesheim 1968).
1. D e f i n i t i o n und A b g r e n z u n g e n . Unter F.en verstand die ältere Naturwissenschaft „alle diejenigen Wasserbewohner, welche sich mittelst der Flossen in ihrem Elemente bewegen" 1 , und auch in volkstümlichen Vorstellungen zählen Wassersäugetiere wie —» Delphin und —» Wal zur Wirbeltier-Überklasse der Pisces. Die Cetaceen bleiben hier zwar ausgeklammert, doch ist festzuhalten, daß mit dem Begriff ,großer F.' sehr wohl auch ,Wal' gemeint gewesen sein kann. Erzählungen von F.en und F.ern hängen nicht selten, über mancherlei Zwischenstufen, mit den Überlieferungen der antiken Naturwissenschaft 2 , des A. T.s und N. T.s 3 (bes. Mt. 4, 1 8 - 2 0 : Menschenfischer, Mt. 17,27: Petrus findet Geldstück im F.-Maul, Lk. 5, 1 - 1 1 : Petri F.-Zug 4 , Joh. 21, 9 - 1 4 : Der Auferstandene ißt F.e mit den Jüngern) und den F.-Kompilationen der frühen Neuzeit 5 zusammen. Auch die neuere F.-Symbolik 6 beruht zum großen Teil auf reichen und langanhaltenden Traditionen teils literar., teils mündl. Art, die von den antiken Religionen und frühchristl. Lehren 7 bis ins hohe MA. 8 und weiter reichen. Eine Reihe von solchen Vorstellungen hat auch bis in den Aberglauben der frühen Neuzeit hineingewirkt 9 . F.-Symbolik und F.-Aberglauben müssen hier in den Hintergrund treten; das Sternzeichen F.e kann nicht abgehandelt werden.
Lit.: Schnorrenberg, J.: J. M. F.-R. In: A D B 48, 561 sq. - Meyer, Α.: F. W. Lyra und seine „Plattdt. Briefe". Mit Anhang von Briefen Kosegartens, F.s,
Die folgende, zumeist ahist. Darstellung von Volkserzählungen über F.e und F.er kann den angedeuteten Zusammenhängen nicht immer
Als Hauptwerk gilt die großangelegte Slg Germaniens Völkerstimmen (1843—54, 1866), in der mit Hilfe von ca 450 „Mitwirkern und Beförderern" die Volksdichtung von über 1000 dt., skand., ndl.-fläm. und engl. ,,Gebiete[n], Städtefn], Inseln, Orte[n] usw." zusammengetragen ist. F. legte dabei als einer der ersten Wert auf eine authentische Wiedergabe der oralen Überlieferungen, die im Falle der Märchen im krassen Gegensatz zum romantischen Stil der Grimmschen —> Kinder- und Hausmärchen steht. F.s primäres Anliegen war es freilich, die zahlreichen dt. Mundarten vor dem Vergessenwerden und Verfall zu bewahren. Seine in der Vorrede von neuem dargelegten Ansichten, wonach sich der „Geist eines Volkes" in seinen volkssprachlichen Äußerungen nicht nur widerspiegelt, sondern auch erneuert, mündeten hier in ein vaterländisches Credo, dem es vorrangig um nationale Einheit und Stärke ging.
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Fisch, Fischen, Fischer
nachgehen; auch läßt die relativ geringe Zahl von F.-Märchen, -Legenden und -Sagen kaum eine sinnvolle Systematisierung aller dieser Überlieferungen zu. Die herausragenden Märchentypen AaTh 736 A: Ring des —> Polykrates, AaTh 555: —> F.er und seine Frau, AaTh 705: Vom F. geboren, AaTh 879 A: —» F.er als Ehemann der Prinzessin, AaTh 1567 C: Den großen F. befragen und AaTh 250 A: —> Flunder werden gesondert abgehandelt. 2. F . - Ä t i o l o g i e n . Zahlreiche ätiologische Sagen und Märchen in aller Welt beschäftigen sich mit der Erschaffung der F.e (Mot. A 2100-2137); nach Gen. 1, 2 0 - 2 3 erfolgte sie am fünften Schöpfungstage mit Gottes bes. Segen für ihre fruchtbare Vermehrung. Nach einer finn. Sage hatte dabei auch der Teufel die Hand im Spiel: Er schuf den Hecht, der Gottes Weißfisch fressen sollte 10 . Die populäre Phantasie fragt vor allem nach den Gründen für das bes. Aussehen der F.e, etwa die Flachheit ihres Körpers (Mot. A 2305.1) oder auch nur ihres Schwanzes (Mot. A 2213. 5.2): Flunder oder Butt wurden von Christus oder Maria nur von der einen Seite gegessen, die andere wurde ins Meer zurückgeworfen (Mot. A 2126.01); das Maul des Butts ist schief, weil er Gott nachäffte oder neidisch war (cf. AaTh 250 A: -> Flunder). Die Abdrücke am Kopf des Schellfisches sollen von St. Peters Fingern stammen (Mot. A 2217.3. 1). Andere Erzählungen fragen etwa nach den F.-Schuppen (Mot. A 2315), nach der Dummheit des F.es (Mot. A 2537.1), nach dem Fett des Dorsches (der sich vom Fleisch des Teufels nährt) 11 oder warum die einen F.e tiefer als die anderen schwimmen müssen 12 . 3. F.-Staat und F.-König. Die Scholle bekam ein schiefes Maul, so erklärt das ätiologische Märchen KHM 172 13 , weil sie sich über die Wahl des Herings zum König der F.e lustig machte (AaTh 250 A). Seefahrende Völker haben öfter solche Vorstellungen von F.-Staaten (Mot. Β 223) mit einem König als Oberhaupt (Mot. Β 236, Β 236.2) entwickelt. Nicht immer wird der F.-König von seinesgleichen gewählt (Mot. Β 236.2; cf. —» Königswahl der Tiere): Christus ernennt den Hecht zum Oberhaupt der F.e, weil dieser
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ihn über einen Fluß trug (Mot. A 2223.4). Der F., der eine wunderbare Empfängnis im Brüdermärchen (AaTh 303: Die zwei —> Brüder) bewirkt (cf. hier Kap. 10), wird in einigen Var.n als König der F.e bezeichnet 14 . Dem —> Herrn der Tiere entsprechend, glaubt K. Haiding in manchen Sagen 15 einen ,Herrn der F.e' entdecken zu können 16 . Die Frage, ob solche Erinnerungen mit antiken F.Kulten 17 (Erzähl-Beispiele: Crassus verehrte eine Moräne wie ein schönes Mädchen 18 , Kalif Mamoun starb, weil er das Tabu eines ,hl.' silbernen F.es verletzte 19 ) zusammenhängen, ist ungeklärt. In einer F.-Gesellschaft können Wettspiele, so wie sie zwischen anderen Tieren stattfinden, abgehalten werden: etwa zwischen Barsch und Lachs (AaTh 250: —> Wettschwimmen der F.e); im übrigen sind Tierfabeln mit F.en als Protagonisten bemerkenswert selten 20 (cf. noch AaTh 252: The Pike and the Snake Race to Land, der Gewinner des Wettrennens muß an Land bleiben, und AaTh 253: The Fish in the Net, die kleinen F.e rutschen durch die Maschen, die großen bleiben gefangen 21 ). Moralisierende Exempla berichten von wohlriechenden F.en, die andere anlocken, um sie zu fressen (Sinnbild für den Teufel) oder von der Errettung eines F.es durch Artgenossen (Tubach, num. 2070, 2064). 4. F.-Fang, F.er, F.-Essen. Bei Erzählungen vom F.-Fang stehen ungewöhnliche Ereignisse im Vordergrund. Ein frz.-kanad. F.er fing mit einer jeweils kleineren Forelle immer größere (AaTh 1895 A*: Larger and Larger Fish). Bei den Juden erzählt eine Lügengeschichte von einem starken Mann, der Tausende von F.en in seinem Bart sammelte (Mot. F 634.1) 22 . Bei Finnen, Flamen, Deutschen, Russen, Angloamerikanern und Chinesen ist die Geschichte von dem im Wasser watenden Mann belegt, der viele F.e in seinen Stiefeln fängt (AaTh 1895: A Man Wading in Water Catches Many Fish in his Boots)23. Mancherlei Lügenerzählungen (finn., schwed., ital., skr.) handeln von einem ungewöhnlich großen F.-Zug (AaTh 1960 C: cf. Die ungewöhnliche —* Größe)2*. Barocke Kompilationen erinnern an den (antiken?) MeerPastinac, der, durch Gesang (oder Flötenspiel: Mot. Β 767.1, J 1909.1) verlockt, ins Boot
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Fisch, Fischen, Fischer
der F.er tanzt (cf. auch die arab. Var. zu AaTh 285 D: —> Feindschaft zwischen Tieren und Mensch)25. Größter Beliebtheit erfreute sich die antike Fabel von Bär oder Wolf als —> Schwanzfischer (AaTh 2; Tubach, num. 2074); sie wird noch heute erzählt 26 . In der Exempelliteratur verbreitet war die Geschichte von einem Zitherspieler, der mit des Kaisers goldenem Haken einen Angelwettbewerb gewinnt (Tubach, num. 2073). Ein frz. Schwank erzählt von einem F.er, der die gefangenen F.e wieder ins Meer entläßt, weil er glaubt, sie schwämmen von allein zu seiner Mutter 27 . In einem altfrz. Fabliau legt eine listige Frau F.e in einen Acker; der Mann pflügt sie auf, aber als er solche F.e zu essen verlangt, wird er wegen der absurden Forderungen ausgelacht (AaTh 1381 A: Die geschwätzige —> Frau)28. In einer Erzählung aus dem Ostseeraum wird das Fehlen von F.en im Meer mit dem Frevel erklärt, den eine Frau mit einem F. begangen hat (Mot. F 931.2). Arbeit und Mühen des F.-Fangs scheinen also in Volkserzählungen kaum zur Sprache zu kommen; eher lassen Sagen und Märchen mit F.ern als Protagonisten Armut und Not dieses Berufszweiges deutlich werden 29 : Ein F.er-Ehepaar mit einem Kind hat gewöhnlich drei F.e zum Essen; die Eltern töten das Kind, um mehr Nahrung zu haben, aber von da an fangen sie nur je zwei F.e (AaTh 832: The Disappointed Fisher)30. Nach einem ital. Märchen errettet ein F.er drei in einem Körbchen ausgesetzte Kinder (—» Aussetzung) aus einem Fluß; seine Frau ist betroffen, daß er statt der F.e noch drei zu ihren sieben Kindern bringt 31 . Wegen der Schwierigkeiten, die zahlreiche Nachkommenschaft zu ernähren, verspricht der F.er immer wieder eines seiner Kinder (das Neugeborene; in 20 Jahren das, was er jetzt noch nicht kennt, i. e. das Kind im Mutterleib; in 18 Jahren das, was seine Frau jetzt trägt; das Liebste, was er hat; das Erste, das ihm begegnen wird; cf. —> Kind dem Teufel verkauft oder versprochen) dem Teufel (Meerfrau, Meermann) gegen die Zusicherung eines guten Fangs (Mot. S 227) 32 . Ein solcher Vertrag ist Grundlage des Handlungsverlaufs in dem ital. Volksbuch Liombruno33, welches wiederum Basis für zahlreiche ital. — aber auch dt. — Märchen geworden ist34. In einem
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sizilian. Märchen angelt der F.ersohn einen großen F., den er am Königshofe verkauft, wo er die Prinzessin trifft, die er letztlich heiratet 35 . Trude Jantz erzählt von einem F.erjungen, der einem Meerfräulein (Feschmäke), das er gefangen hat, in ihr Reich folgt, um mit ihr zu spielen; als er nach Hause zurückkehrt, ist so viel Zeit vergangen (cf. AaTh 471 A: —> Mönch und Vöglein), daß ihn niemand mehr kennt 36 . Aus nur wenigen Volkserzählungen (cf. AaTh 1567 C: Den großen —> F. befragen) läßt sich erkennen, welch enorme Bedeutung F.e als Nahrungsmittel gehabt haben. Der in Exempla (Tubach, num. 2054, 2058, 2062, 2063, 2066) immer wieder geführte Nachweis, daß ein F.-Essen dem Fastengebot entspreche (auch die Redensart ,weder F. noch Fleisch' hat mit diesem Problem zu tun 37 ), oder aber, daß selbst der Genuß von F. Teufelswerk sei, ist kaum als ein Thema zu bezeichnen, welches das oftmals hungernde Volk tangierte (cf. —» Fasten). Einen populären Wunschtraum vermitteln dagegen die frz. Novelle und das russ. Märchen von einer ungeheuren F.-Suppe im Meer (AaTh 1895 B*: The Fish-Soup in the Sea)38. Ein sard. Märchen erzählt von der Aufteilung eines F.es unter vier Mönchen in drei Teile: Der Koch soll nur die Brühe erhalten, aber mit einem listigen Spruch bekommt er den ganzen F. (Mot. J 1242.2) 39 . Trotz R. Köhlers Nachweisen 40 hat sich bisher keine befriedigende Erklärung für die Geschichte in den —» Gesta Romanorum41 gefunden, in welcher ein Gast das strenge Verbot des Kaisers übertritt, bei Tisch eine Scholle auf die gefärbte Seite zu drehen, sich aber durch drei kluge Wünsche der Hinrichtung entzieht (AaTh 927 A: Der letzte —> Wunsch42; Tubach, num. 2056). 5. G r o ß e F.e. Das Lügenmärchen vom Fang eines bes. großen F.es (AaTh 1960 B: The Great Fish), das in Finnland am häufigsten aufgezeichnet wurde, hat seine Vorläufer in der Mythologie und in der Sensationsliteratur. Der —> Leviathan des A. T.s (Mot. Β 61) umspannt den ganzen Erdkreis; nach anderen Vorstellungen trägt ein Riesenfisch (Weltfisch, Zitterfisch) die ganze Welt; wenn er sich bewegt, bebt die Erde 43 . Der Name Celebrant' für diesen F. wurde von Köhler auf
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Fisch, Fischen, Fischer
,Cete grande' zurückgeführt 44 . Die —> Brandan-Legende erzählt, das Schiff des Heiligen sei 14 Tage lang von einem ,ungefügen' F. umringt worden 45 . Die Begegnung mit großen Cetaceen muß in der Tat für die frühen Seefahrer schrecklich gewesen sein. Als der spätere Präfekt von Malaga, Georg Brito, von Portugal nach Westindien segelte, wurde das Schiff von einer ,ingens bellua' festgehalten; der Schiffskaplan vertrieb sie mit Kreuz, Gesang und Exorzismen 46 . Berichte von Riesenfischen tauchen dann in Chroniken 47 , Zeitungen 48 , Lieddrucken 49 und Flugblättern 50 immer wieder auf und haben sicherlich auch populäre Erzählungen beeinflußt 51 . Das Sprichwort ,Die großen F.e fressen die kleinen' geht auf patristische (Augustinus, Quodvultdeus, Caesarius von Arles) Metaphern von der Welt als einem Meer mit F.-Hierarchien zurück 52 . Man findet sie verbildlicht auf einer Zeichnung Pieter Brueghels (15 5 6) 53 , auf Flugblättern 54 , in der Emblematik 5S und verbal ausgeschmückt in der barocken Predigt 56 . Die Metapher von der Hierarchie der F.e evoziert Gedankenassoziationen mit Macht/Schwäche und Gewalt/ Schrecken.
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den Helden des Märchens vom Meerhäschen (KHM 191, AaTh 329: Versteckwette) in seinem Bauch (aber die Prinzessin entdeckt ihn trotzdem). In einem böhm. —> FortunatusMärchen (AaTh 566) wirft der Held einen F. in den Fluß zurück, dafür trägt ihn dieser später übers Meer zum Schloß der Prinzessin und hilft dann beiden bei der Flucht 62 . Nicht nur der —» Delphin dient als Transportmittel; neben allg. F. (Mot. Β 551.1, R. 246) wird bes. der Lachs als Helfer genannt (Mot. Β 175.1), aber auch der Thunfisch rettet den Helden vor dem Ertrinken (Mot. Β 175.2); immer wieder gelingt eine Flucht auf dem F.-Rücken (Mot. Β 541.1), ganze Familien (Mot. Β 375. 1.1) oder gar Schiffe werden gerettet (Mot. Β 541.5). Auch das moderne Bilderbuch greift das Thema vom freigelassenen F. auf 63 . Dankbare F.e erscheinen insbesondere bei AaTh 555: —> F.er und seine Frau und bei den Märchen von wunderbaren Empfängnissen (hier Kap. 10; cf. Mot. Β 375.1).
Die F.e der Sagenwelt, z.B. einäugige F.e 64 , besitzen öfters dämonische und magische Kraft. Im Hexenhammer (—• Malleus maleficarum) (1487) wird die Macht einer Hexe mit Hilfe von Kräutern gebrochen, die einem Kind in der Wiege (Speier, 1484) auf die 65 6. F.e v e r s c h l i n g e n M e n s c h e n . Bis in Brust gelegt werden ; in einer Aargauer Sage werden für den gleichen Fall fünf Grundein die frühe Neuzeit hinein hielt man die riesigen 66 F.e für fähig, Menschen zu verschlingen (cf. zur Hexenabwehr verwendet . Das ir. Hill—> Fressermärchen). Die —» Jonas-Geschichte folk benutzt gebackene Heringe, um Mädchen (Jon. 2; Mot. F 911.4) und auch die vom gro- irrezuleiten; ein Priester kann den Zauber ßen F., der den —> Tobias fressen wollte (Re- erkennen. Um von den Fairies nicht in die densart: ,Ο Herr, er will mich fressen', auch: Irre geführt zu werden, sollte man, nach ir. 67 ,Tobias sechs, Vers drei') 57 , waren zudem Volksglauben, gesalzenen F. mit sich tragen . allg. bekannt und wurden für wahr gehalten. Im deuterokanonischen Buche Tobit wird die Novellen-, Schwank- und Märchendichter Galle eines F.es zur Heilung des blinden (wie Heinrich —» Bebel, Hans Wilhelm —» Vaters benutzt (Tob. 11, 7 - 1 4 ) ; Leber und Kirchhof, Giambattista -» Basile) haben die Herz, zu Asche verbrannt, gegen den die Ehe Geschichte von verschluckten Menschen oder zwischen Tobias und Sara gefährdenden Dämon Asmodeus eingesetzt (Tob. 8, 2—3; cf. gar Schiffen (AaTh 1889 G: Man Swallowed Dankbarer Toter, by Fish) daher immer wieder erzählt 58 , und auch AaTh 505-508: 68 selbstverständlich haben Kalendermacher 59 Kap. 4) . In einem Exemplum der —> Mensa und Jugendbuchautoren 60 des 19. Jh.s diesen philosophica findet sich F. als fiebersenkendes Stoff nicht verschmäht, obwohl die Verschlin- Mittel (Tubach, num. 2069). So tauchen denn gebratene Goldfische auch in einem böhm. gung längst nicht mehr geglaubt wurde. Märchen als Heilmittel für eine kranke Prin69 7. H i l f r e i c h e und h e i l e n d e F.e. F.e zessin auf . sind dankbar 61 , wenn sie der Mensch verschont oder sie ins Wasser zurückversetzt (—» 8. H e i l i g e und F.e. Die christl. IkonograDankbare Tiere). Ein hilfreicher F. versteckt phie weist mehrere Hll. und Selige mit einem
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F. als Attribut auf, etwa —> Antonius von Padua, der den F.en predigte (Mot. Β 251. 2.7.1); Berthold von St. Blasien, der F.e an Fasttagen vermehren konnte; Botvid von Schweden, der einen wunderbaren F.-Zug tat; —> Elisabeth, welche Hungrige mit F.en speiste; Ulrich von Augsburg, der ein Gänsebein vom Donnerstagabend am Freitag (Fastengebot!) in einen F. verwandelte; Zeno von Verona, der einen oder zwei F.e am Bischofsstab (der Angelrute) hängen oder auf einem F.-Kasten liegen hat, womit auf seine seelsorgerische Tätigkeit hingewiesen wird. Einen F. mit Ring im Maul haben Arnulf von Metz und Verena von Zurzach (cf. AaTh 736 A: Ring des —* Polykrates)', Benno zeigt als Attribut einen F. mit einem Schlüssel, den der Hl. in die Elbe geworfen hatte. Ähnlich Tobias heilte —> Gregor von Tours seinen blinden Vater mit Herz und Leber eines F.es 70 . Heiligenlegenden erzählen entsprechend häufig von wunderbaren F.en; C. G. Loomis zitiert u.a. die Viten von Adelbert von Prag, Albeus, Bonitus, Cainnicus, Columban, Finan, Geraldus, Gislen, Gudwall, Ida, Richard und Vedastus 71 . Wenn ein Hl. Nahrung für seine Gäste braucht, kommen F.e aus dem See zu ihm (Mot. D 2105.5), er kann tote F.e zum Leben erwecken 72 und Fleisch in F. (oder umgekehrt) verwandeln 73 . Nach einer Wallfahrtslegende aus Balukli bei Konstantinopel sprangen gebratene F.e wieder lebendig aus der Pfanne, zum Zeichen, daß die Stadt wirklich von den Türken eingenommen worden sei 74 ; ein ähnliches Mirakel wird mehreren Hll.n zugeschrieben (—> Bratenwunder).
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Der Hecht des Kaisers Friedrich II., 1230 mit einem beschrifteten Ring ausgesetzt, wurde im Alter von 267 Jahren in einem Teich bei Heilbronn gefunden — die Geschichte läuft vom 16. bis zum 20. Jh. ungehemmt durch die Wunderliteratur 80 . Hechte beißen Mädchen 81 und Diebe 82 oder verschlingen gar einen Hund 83 . Im Kampf mit einem Frosch dagegen unterliegt der Hecht, weil ihm der Schwächere die Augen auskratzt 84 . Reich sind auch die Überlieferungen von fabelhaften Meerbewohnern (—» Fabelwesen) 85 , die oftmals F.-Mischwesen sind. —» Beowulf hat mehrfach mit Seemonstern zu tun. St. Brandan begegnet auf seiner Meerfahrt einem „mörwunder: das was voran als ein man und hindan als ein visch" 86 . In Conrad Gesners F.buch finden sich dann alle wunderbaren F.e und F.-Mischwesen der frühen Neuzeit versammelt 87 : der Meermönch und -bischof 88 , Meermänner 89 und -frauen 90 , Meerteufel und -löwen. In der Volksüberlieferung erscheinen neben Meerfrauen 91 (—» Wassergeister, —» Sirenen) auch Meerkälber 92 und zahllose Meermonstren 93 , die hier nicht einzeln aufgeführt werden können, zumal sie kaum noch etwas von F.en an sich haben. Bemerkenswert ist freilich, daß die Zeitungssage solche F.-Monstren weiterhin lebendig erhält 94 .
10. F.e und w u n d e r b a r e E m p f ä n g n i s s e . Bei vielen Völkern ist der F. ein Symbol für Fruchtbarkeit und Hilfsmittel bei Liebeszauber; die Gleichsetzung von F. und Phallus war in der Antike geläufig 95 ; noch heute hat in der populären Metaphorik fischen, F.e fangen etc. sexuelle Konnotationen 96 . So treten denn in der Volkserzählung auch F.e als Liebhaber 9. W u n d e r b a r e F.e. An außerordentli- auf (Mot. Β 612), oder es wird von einer chen, außerhalb der Naturgesetze agierenden Heirat mit einem F. erzählt (Mot. Β 644, 654; F.en fehlt es aber auch in der profanen Lit. cf. auch AaTh 552: -» Tierschwäger). Eine nicht 75 . —» Plutarch und —> Claudius Aelianus Märchenheldin, die sich ein Kind wünscht, 97 berichten unabhängig voneinander über pro- muß einen F. essen . Schwangerschaft (eines 76 phetische F.e (Mot. Β 144); die weissagen- Mannes) durch Genuß eines F.s, einer Frucht den Tiere tauchen dann sowohl in der literar. etc. (Mot. Τ 511.5.1) ist das zentrale Motiv Sage 77 wie im Märchen (KHM 60 und 85, in AaTh 705: Vom —> F. geboren sowie Eindes Zweibrüdermärchens cf. AaTh 303) auf. Märchen-F.e können leitungsmotiv 98 sprechen (Mot. Β 211.5, cf. D 1613.1), wie (KHM 60, AaTh 303) , das indes in vielen 99 AaTh 555 und 675: Der faule —» Junge Var.n eine Dreierstruktur aufweist , und des 78 zeigen . Unter den Süßwasserfischen tut sich Typs AaTh 300 A: —> Drachenkampf auf der neben dem Lachs bes. der Hecht hervor 79 . Brücke.
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Fisch, Fischen, Fischer
11. F . - M e n s c h e n . Durch die Verbindung mit einem F. als Sexualpartner können nach populärem Glauben Mischwesen entstehen, so ein Kind, das halb Mensch, halb F. ist (Mot. Τ 551.5; cf. -» Halbwesen) 100 . F.Menschen sind bekannte Sagengestalten vor allem im Mittelmeerraum 101 . Menschen können in F.e (Mot. D 170), seltener F.e in Menschen (Mot. D 370) verwandelt werden. Der ganze Komplex solcher Vorstellungen von F.-Menschen und Menschenfischen (cf. auch —> Melusine, Sirene, —> Taucher) ist trotz der weitausgreifenden Studien von K. J. Heinisch 102 noch nicht genügend untersucht. 12. Z u s a m m e n f a s s u n g . Die naturgegebene Vielfalt der F.-Arten spiegelt sich in F.Erzählungen kaum wider; differenziert gesehen werden große F.e und Meermonstren, die dem F.er in seinem Boot gefährlich werden können (wobei der Wal, nicht der Hai eine bedrohliche Rolle spielt), und einige wenige, durch ihre Gestalt und/oder ihren Nährwert bedeutende F.-Arten wie Flunder, Hecht, Karpfen oder Lachs. Die Masse der F.e stellte man sich gesellschaftlich geordnet vor. Süßund Salzwasserfische dienen, in Erzählungen nicht anders als in der Realität, hauptsächlich dazu, den Hunger zu stillen; wenn ihnen häufig magische Eigenschaften zugerechnet zu werden scheinen, so liegt das am Erkenntnisinteresse der Märchen- und Sagenaufzeichner vor allem des 19. Jh.s, nicht am prinzipiellen Lebensinteresse und Gedankengang der Fluß- und See-F.er, deren Alltagsberichte unaufgezeichnet blieben. Daß dieser Alltag ständige Auseinandersetzung mit der Natur bedeutete, schimmert noch aus einigen der überlieferten Texte durch. Zwei Wunschträume, jenseits der täglichen Nahrungssorgen, lassen sich darüber hinaus festmachen: mit einem oder mehreren großen Fängen zu materiellem Glück zu gelangen oder aber für die harte Arbeit durch tierische Helfer oder Gabenspender direkt belohnt zu werden. Fast alle F.-Erzählungs-Inhalte und -Schemata sind in antiken Naturbeschreibungen sowie im A.T. und N.T. bereits vorgegeben; F.-Erzählungen sind, der Bedeutung und dem Alter des F.er-Berufes entsprechend, traditionsträchtig. Von langanhaltender mündl. Überlieferung kann dabei keine Rede sein; die vor-
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und pseudowiss. Lit. über F.e ist seit der frühen Neuzeit so umfangreich, daß sie das sekundäre Wissen von F.en, F.ern und ihren Beziehungen auch bei meeresfernen Menschen immer wieder bereichert hat. Diese starke literar. Tradition verbietet es, die Texte des 19. und 20. Jh.s als rein volkstümliche zu bezeichnen; sie behindert auch nicht selten deren eindeutige Zuordnung zu bestimmten Erzählungsgattungen. 1 Bloch, Μ. E.: Oeconomische Naturgeschichte der F.e Deutschlands 1. B. 1782, 2. - 2 Polek, N.: Die F.kunde des Aristoteles und ihre Nachwirkung in der Lit. In: Primitiae Czernouicienses. ed. I. Hilberg/J. Lüthener. Czernowitz 1909, 3 1 - 4 5 ; Keydell, R.: Oppians Gedicht von der F.erei und Aelians Tiergeschichte. In: Hermes 72 (1937) 4 1 1 - 4 3 4 ; Gamer-Wallert, I.: F.e und F.kulte im alten Ägypten. Wiesbaden 1970; Richmond, J.: Chapters on Greek Fish-Lore. Wiesbaden 1973. — 3 Richter, J. G. O.: Ichthyotheologie oder: Vernunft· und Schriftmäßiger Versuch, die Menschen aus Betrachtung der F.e zur Bewunderung [. . .] ihres [. . .] Schöpfers zu führen. Lpz. 1754; Engemann, J.: F., F.er, F.fang. In: RAC 7, 9 5 9 - 1 0 9 7 ; The Illustrated Bible Dictionary 1. Leicester 1980, 509. - 4 Geninasca, J.: Pecher/Precher. Recit et metaphore (Luc 5, 1 — 11). In: Groupe d'Entrevernes: Signes et paraboles, semiotique du texte evangelique. P. 1977, 1 4 3 - 1 7 1 (dt. in: Delorme, J. [ed.]: Zeichen und Gleichnisse. Evangelientext und semiotische Forschung. Düsseldorf 1979,132— 156). - 5 Gesner, C.: F.buch (ed. C. Forer. Zürich 1575). Ffm. 1598 (Die lat. Ausg.: C. Gesneri [. . .] Historiae animalium liber IUI, qui est de piscium & aquatilium animantium natura [. . .]. Zürich 1558 enthält auch die F.-Bücher der Franzosen G. Rondelet und P. Belon); Johnstone, J.: Historia naturalis de piscibus et cetis libri V. Ffm. 1602; Aldrovandi, U.: De piscibus libri V et de cetis lib. unus [. . .]. Bologna 1613 (Ffm. 1640); Artedi, P.: Ichthyologia sive opera omnia de piscibus, scilicet Bibliotheca ichthyologica [ . . . ] . Leyden 1738. — 6 Tervarent, G. de: Attributs et symboles dans l'art profane. Geneve 1958, 309sq.; Schmidt, L. (ed.): Volkskunst im Zeichen der F.e. Ausstellung im Praemonstratenserstift Geras. Wien 1976. — 7 Dölger, F. J.: I Χ Θ Y C 1. Rom 1910, t. 2 - 5 . Münster 1 9 2 2 - 1 9 4 3 ; Drewer, L.: Fisherman and Fish Pond: From the Sea of Sin to the Living Waters. In: The Art Bulletin 63 (1981) 5 3 3 - 5 4 7 . - 8 Wehrhahn-Stauch, L.: Christi. F.symbolik von den Anfängen bis zum hohen MA. In: Zs. für Kunstgeschichte 35 (1972) 1 - 6 8 (F. als Heils- und Taufsymbol sowie als Symbol der Eucharistie und der Passion); Schmidtke, D.: Geistliche Tierinterpretation in der dt.sprachigen Lit. des MA.s (1100— 1500) 1. Diss. Β. 1968, 2 8 6 - 2 9 2 . - «Bassett, F. S.:
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Fisch, Fischen, Fischer
Legends and Superstitions of the Sea and of Sailors in All Lands and at All Times. Chic./N. Y. 1885; Sebillot, P.: Legendes, croyances et superstitions de la mer. P. 1886; id.: Le Folk-Lore des pecheurs. P. 1901 (Nachdr. 1968); Amades, J.: Mitologia de la mar. Barcelona 1936 (alle diese Werke sind quellenkritisch zu betrachten); Jungwirth, H.: F.er, fischen. In: HDA 2, 1549-1569; Puckett, Ν. N.: Popular Beliefs and Superstitions. A Compendium of American Folklore 1 - 3 . ed. W. D. Hand. Boston 1981, cf. Reg. p. 1690; zum poisson d'avril cf. Metken, S.: Poisson d'avril. Frz. Bildpostkarten zum ersten April und ihre Geschichte. In: Volkskunst 4 (1981) 106-113. - 10 Aarne, Α.: Verz. der finn. Ursprungssagen (FFC 8). Hamina 1912, num. 115. 11 Loorits, 92, num. 95. — 12 Aarne (wie not. 10) num. 119. - 13 cf. BP 3, 284sq. - 14 z.B. Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine 1. Grenoble 1971, num. 7.1-7.5. - 15 z.B. Kuhn, Α.: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen 1. Lpz. 1859, num. 362-367. - 16 Haiding, K.: Eine burgenländ. Sage vom Herrn der F.e. In: ÖZfVk. 85 (1982) 201-219. - 17 Engemann (wie not. 3) 982-987. - 18 Richmond (wie not. 2) 18sq. 19 Hasluck, F. W.: The Caliph Mamoun and the Prophet Daniel. In: J. of Hellenic Studies 42 (1922) 9 9 - 1 0 3 . - 20 Für AaTh 2 5 0 - 2 5 4 findet sich z.B. keinerlei ital. Entsprechung in Cirese/Serafini; cf. auch HDM 2, 124,1. 21 Schempf, H.: Kleine F.e. In: Carlen, L. (ed.): Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Vk. 1. Zürich 1978, 6 3 - 8 0 . - 22 cf. auch Thomas, G.: The Tall Tale and Philippe d'Alcripe. St. John's, Newfoundland 1977, num. 17. - 23 cf. auch Ergis, num. 394,4; de Meyer, Conte; Baughman; Rausmaa; Ting. - 24 cf. als Vorbild Lk. 5, 1 - 1 1 . — 25 Francisci, E.: Die lustige Schaubühne allerhand Curiositäten 1. Nürnberg 1690, 991 sq. (zitiert dabei C. Schott, der seinerseits A. Kircher heranzog); Misanders Theatrum tragicum 1. Dresden 1699, 35; Nowak, num. 203. - 26 Tolksdorf, U.: Eine ostpreuß. Märchenerzählerin. Marburg 1980, num. 1 und not. p. 426. - 27 Sebillot, P.: Contes de la Haute Bretagne. Contes comiques. In: RTP 12 (1897) num. 44. - 28 cf. Liebrecht, F.: Zur Vk. Heilbronn 1879, 125-127; EM 1, 79sq. 29 Jungwirth (wie not. 9); cf. auch F.er-Lieder, wie etwa bei Amades, J.: Folklore de Catalunya. 2: Canfoner. Barcelona 2 1979, 402 - 4 3 3 . - 30 Ergänzend zu AaTh cf. Jason; Aräjs/Medne; Ikeda entspricht nicht der angeführten Erzählung. 31 Barozzi, G.: Ventisette fiabe raccolte nel Mantovano. Milano 1976, 328. - 32 Sebillot 1901 (wie not. 9) 349-353. - 33 Schenda, R.: Ital. Volkslesestoffe im 19. Jh. Einführung und Bibliogr. zur Slg ital. Volksbüchlein im Museo Pitre, Palermo. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 7 (1965) 2 0 9 - 3 0 0 , hier 261, num. 27 (mit weiteren Nachweisen). - 34 Köhler/Bolte 1, 3 0 8 - 3 1 2 ; Wolf, J. W.: Dt. Hausmärchen. Göttingen/Lpz. 1851,
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1 - 8 ; Calvino, I.: Fiabe italiane. Torino (1956) 1979, num. 134 (literar. Bearb.). - 35 Pitre, G.: Fiabe, novelle e racconti popolari siciliani 2. ed. A. Rigoli. Palermo 1978, num. 69 (Lu piscaturi); Calvino (wie not. 34) num. 155. - 36 Tolksdorf (wie not. 26) num. 19. - 37 Taylor, Α.: „Neither Fish nor Flesh" and Its Variations. In: JFI 3 (1966) 3 - 9 ; zum F. als Festtagsspeise cf. Dölger 5 (wie not. 7) 389 sq. — 38 Bouchet, G.: Les Serees 1. Poitiers 1584 (P. 1585 etc.) cap. 6 (Du poisson; als Qu. ist R. Gaguin und seine Beschreibung des ,lacus Dumensis' angegeben); Philippe d'Alcripe [Philippe le Picard]: La nouvelle Fabrique des excellens traits de verite (P. 1579). P. 1853, 134-137 (D'un potage exquis [. . .]); cf. dazu Thomas (wie not. 22) num. 86 (mit falscher AaTh-Zuordnung); cf. auch AaTh 1920 A. - 39 Addari Rapallo, C. (ed.): II bandito pentito e altri racconti popolari sardi. Cagliari 1977, num. 37. - 40 Köhler/Bolte 2, 651-657. 9
41 Gesta Romanorum, num. 194. - 42 Bei AaTh 927 Α muß es statt plate (Teller) richtig (wie bei Tubach) plaice (Scholle, Flunder) heißen; die Gesta Romanorum haben pectinem piscis (F.-Gräte) und reden von der weißen und schwarzen Seite - also einer Scholle. Das Verbot des Herrschers, obwohl mit .Freigebigkeit, Großzügigkeit' erklärt („erat tarn largus, quod [. . .]"), bleibt trotzdem absurd, es sei denn, man denke an ein Tabu, das an die obenerwähnte ätiologische Christus-Legende anknüpft. - 43 Birlinger, Α.: Volksthümliches aus Schwaben 1. Fbg 1861, num. 283; Meier, J.: Die Völkersage vom F. als Weltträger. In: Jb. für Volksliedforschung 5 (1936) 4 8 - 5 2 ; HDA 2, 1544. - 44 Köhler/Bolte 2, 2 0 - 2 4 ; Kretzenbacher, L.: Ein F. trägt die Erde. In: Neue Chronik zur Geschichte und Vk. der innerösterr. Alpenländer 20 (1954) 1 sq. - 45 Podleiszek, F. (ed.): Volksbücher von Weltweite und Abenteuerlust. (Lpz. 1936) Darmstadt 1964, 54. - « Maffei, J. P.: Historiarum Indicarum libri XVI. Köln 1590, 325 sq. (Ende des lib. VII); Torquemada, Α.: Jardin de flores curiosas (1570). ed. G. Allegra. Madrid 1982, 472 sq. (der F. heißt Fisiter, der Kapitän Ruibaz Pereyra); Astolfi, F.: Miracoli della Croce Santissima [...]. Venezia 1609, 154-156. 47 Zehnder, L.: Volkskundliches in der älteren Schweiz. Chronistik. Basel 1976, 510 (Großer F. im Zugersee, 1509). - 48 Wöchentliche Ordinari Ztg. Zürich 1638, num. 18 (Großer F. in der Donau, Preßburg, 8. März). - 49 Rollins, Η. Ε.: A Pepysian Garland. Cambr., Mass. (1922) 1971, 438sq. (in Cheshire an Land geschwemmt); Brednich, R. W.: Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jh.s 2. Baden-Baden 1975, Abb. 106. - 50 Fehr, H.: Massenkunst im 16. Jh. Flugblätter aus der Slg Wickiana. B. 1924, Tafel 24 (Gibraltar, F. namens Thonine mit vielen Schiffen im Bauch); weitere Beispiele im Flugblattarchiv, Seminar für Vk. Göttingen. — 51
cf. Sebillot, P.: La Mer et les marins. In: RTP 12
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Fisch, Fischen, Fischer
(1897) num. 21. - 5 2 Bambeck, M.: „Die großen F.e fressen die kleinen" [. . .]. In: Neuphilolog. Mittigen 82 (1981) 2 6 2 - 2 6 8 . - 5 3 Tolnay, C. de: Die Zeichnungen Pieter Brueghels. Zürich 1952, 18sq. und Abb. 44. - 5 4 Harms, W. (ed.): Dt. ill. Flugblätter des 16. und 17. Jh.s 2. Mü. 1980, Tafel 136. — 55 id./Freytag, H.: Außerliterar. Wirkungen barocker Emblembücher. Mü. 1975, 178, num. L 73, Abb. 3 6 - 38. - 5 6 Abraham a Sancta Clara: Huy! und Pfuy! der Welt [. . .]. Würzburg 1707, 1 5 9 - 1 6 1 . - 5 7 Röhrich, Redensarten 4, 1078; cf. auch Richter (wie not. 3) 4 7 9 482. - 5 8 Schenda, R.: Walfisch-Lore und WalfischLit. In: Laogr. 22 (1965) 4 3 1 - 4 4 8 . - 59 Der Bauernkalender auf das Jahr 1865. Langnau 1864, s.p. (Die neuste F.geschichte). — 6 0 Andreas, E.: Erlebnisse des Herrn Fritz Pimpelmus auf der Reise nach und in den schwarzen Erdtheil. Dresden 1892, 13-16. 61 H D M 2, 126sq. - 6 2 Tille 289. - 6 3 Velthuijs, M.: Der Junge und der F. Mönchaltorf (1969) 2 1 971. - 64 Haiding (wie not. 16) 208sq. 65 Sprenger, J./Institoris, H.: Der Hexenhammer (Malleus maleficarum). ed. J. W. R. Schmidt. (B. 1906) Ffm. 1982, 2. Teil, 7. - 6 6 Rochholz, E. L.: Schweizersagen aus dem Aargau 2. Aarau 1856, num. 403. — 6 7 Fairy Legends from Donegal. Originally collected by S. Ο hEochaidh. ed. M. Mac Neill. Dublin 1977, 43, num. 7; 167, num. 67. 68 Text in: Zimmermann, F. (ed.): The Book of Tobit. An English Translation with Introduction and Commentary. Ν. Y. 1958, 105, 93; cf. Wehrhahn-Stauch (wie not. 8) 39; Liljeblad, S.: Die Tobiasgeschichte und andere Märchen mit toten Helfern. Lund 1927; Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N. Y. 1 9 8 1 , 1 1 0 - 1 1 2 . 69 Tille 345. - 70 Keller, H. L.: Reclams Lex. der Hll. und der bibl. Gestalten. Stg. 4 1979, unter den jeweiligen Namen; cf. das Reg. der Attribute s.v. F.e in: LCI 8 (1976) 15*. 71 Loomis, C. G.: White Magic. Cambr., Mass. 1948, 69sq. - 7 2 Bagatta, G. B.: Admiranda orbis christiani 1. Augsburg/Dillingen 1700, 494, num. 1 - 4 ; cf. Massigli, R.: Un Manuscrit inedit de l'evangile du Ps.-Matthieu. In: Melanges archeologiques 33 (1913) 8 1 - 1 1 8 , bes. 108. - 73 Bagatta (wie not. 72) 276, num. 1 - 1 2 . - 74 Carnoy, Η./ Nicolai'des, J.: Folklore de Constantinople. P. 1894, 5 4 - 6 8 . - 7S cf. Ernst, J. D.: Die neue hist. SchauBühne [ . . . ] . Lpz. 1702, 1 0 1 8 - 1 0 4 7 (Die sonderbaren Erzehlungen von den F.en). - 76 Richmond (wie not. 2) 14 sq. - 77 Wolf, J. W.: Ndl. Sagen. Lpz. 1843, 259, dum. 162 (nach L. Vair, 1583). 78 cf. H D M 2, 127. - 79 Zu den Redensarten über den Hecht cf. Röhrich, Redensarten, 403 sq. 80 Schenda, R.: Die frz. Prodigienlit. in der 2. Hälfte des 16. Jh.s. Mü. 1961, 118; Gesner 1598 (wie not. 5) fol. 176 v°; Johnstone (wie not. 5) 161 (mit Übers, der griech. Inschrift); Richter (wie not. 3) 758sq. (mit weiteren alten Hechten); Ripley's
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Believe It or not! 6 th series (1954). N.Y. 1958, 67. 81 Gesner 1598 (wie not. 5) fol. 175v°; cf. Walton, I.: The Compleat Angler [. . .]. L. 1653, cap. VII. 82 Francisci (wie not. 25) 10 1 5. - 8 3 Philippe d'Alcripe (wie not. 38) 142 ( = cap. 90); cf. Thomas (wie not. 22) num. 90. - 8 4 Wüstner, A./Kollmann, J. (edd.): Johannes Dubravius' Buch von den Teichen und den F.en [. . .] [1547]. Wien 1906, 31 sq.; Walton (wie not. 81) 164sq. (Karpfen); Francisci (wie not. 25) 1016sq. — 85 Richter (wie not. 3) 5 3 2 - 5 3 6 ; Gibson, J.: Monsters of the Sea, Legendary and Authentic. L. 18 8 7. - 8 6 Podleiszek (wie not. 45) 39. - 87 Gesner 1598 (wie not. 5) fol. 104 v°—106 v°. — 88 Der Meermönch taucht schon in Konrad von Megenbergs Buch der Natur, in Hss. nach 1350, im Druck Augsburg 1475 auf; cf. Baltrusaitis, J.: Reveils et prodiges, le gothique fantastique. P. 1960, 260, 263 sq. (zum Hortus sanitatis, 1491); Aldrovandi, U.: Monstrorum historia. Bologna 1642, 28sq., 358; Fehr (wie not. 50) Tafel 74; Schenda (wie not. 80) 119; cf. auch Walton (wie not. 81) 21 (nach G. Dubartas' Semaine, 1578, 5. Tag). - 89 cf. auch Johnstone, J.: Thaumatographia naturalis. Amst. 2 1665, 428 (Meermann erschreckt F.er in der isl. See); Buschor, E.: Meermänner (SB.e der Bayer. Akad. der Wiss.en, Phil. Hist. Abt. 1941, 2, 1). Mü. 1941. - 9 0 Richter (wie not. 3) 93 (mit rationaler Erklärung); Benwell, G./Waugh, Α. Α.: Töchter des Meeres. Hbg 1962 (Orig.: Sea Enchantress. L. 1961). 91 Fairy Legends (wie not. 67) 2 0 5 - 2 0 9 , num. 84—86. — 9 2 Simiani, C.: La leggenda del bue marino. In: Archivio per lo studio delle tradizioni popolari 8 (1889) 4 8 1 - 4 8 4 . - 93 cf. Christiansen, M. L., num. 4 0 5 0 - 4 0 9 0 ; Zink, G.: Eckes Kampf mit dem Meerwunder. Zu ,Eckenlied' L 52 — 54. In: Mediaevalia litteraria. Festschr. H. de Boor. Mü. 1971, 4 8 5 - 4 9 2 ; Brednich (wie not. 49) Abb. 1 0 6 - 1 0 8 . - 9 4 Zweibeiniger F. gefangen. In: Stuttgarter Ztg (24.6. 1958); Rätsel um ,F. mit Beinen' gelöst, ibid. (26.6. 1958). - 95 Dölger 5 (wie not. 7) 1 8 4 - 1 8 7 . - 9 6 Farmer, J. S./Henley, W. E.: Slang and Its Analogues 2 (1891). Ν. Υ. 1974,401; Corso, R.: Das Geschlechtleben in Sitte, Brauch, Glauben und Gewohnheitsrecht des ital. Volkes. Nicotera 1914,226 (pescatrice), 228 (pisci); Brednich, R. W.: Erotische Lieder aus 500 Jahren. Ffm. 1980, num. 47. — 9 7 Naumann, H. und I.: Isl. Volksmärchen. MdW 1923, num. 7. - 9 8 Köhler/Bolte 1, 179sq.; Ranke, K.: Die zwei Brüder (FFC 114). Hels. 1934, 131 — 140 (magische Geburt nach dem Genuß von F.). — 9 9 z.B. Joisten, C.: Contes populaires de l'Ariege. P. 1965, 29—42; Anmerkungen zu den frz. Ökotypen bei Cosquin 1, 6 0 - 8 1 ; 2, 5 6 - 5 9 , 352; cf. Lo Nigro, num. 303. - 1 0 0 cf. Knoche, W.: Einige Beziehungen eines Märchens der Osterinsulaner zur F.verehrung und zu F.menschen in Ozeanien. In: Mittigen der Anthropol. Ges. in Wien 69 (1939) 2 4 - 3 3 . 101 Pitre, G.: La leggenda di Cola Pesce. In: id.:
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Fisch: Vom F. geboren
Studi di leggende popolari in Sicilia e nuova raccolta di leggende siciliane. Torino 1904, 1 - 1 7 3 . — 102 Heinisch, K. J.: Der Wassermensch. Entwicklungsgeschichte eines Sagenmotivs. Stg. 1981 (mit Bibliogr.).
Zürich
Rudolf Schenda
Fisch: Vom F. geboren (AaTh 705) ist bei AaTh als Zaubermärchen in der Untergruppe The Banished Wife or Maiden klassifiziert. Nicht gekennzeichnet ist dort die episodische Struktur dieser komplexen Erzählung, die in zwei große Teile zu untergliedern ist: Teil 1 behandelt das Thema des schwangeren Mannes (Mot. Τ 578; cf. wunderbare —> Empfängnis) und seiner Kinder, während Teil 2 die Erfahrungen beschreibt, die diese Kinder durchmachen. Für die Ausformung von AaTh 705 ist Teil 1 spezifischer; er zeigt auch eine Tendenz zu größerer Stabilität über kulturelle Grenzen hinweg als Teil 2, der von einem — oder mehreren — aus einer begrenzten Anzahl unabhängiger Erzähltypen gebildet wird. Die Verbindung beider Teile ist recht lose und bezieht sich oft nur auf die Kinder; es liegt daher nahe anzunehmen, daß sie erst in einem verhältnismäßig späten Stadium entstand. 1946 konnte S. Thompson AaTh 705 lediglich in Skandinavien nachweisen 1 ; 1961 gibt er im AaTh eine Reihe zusätzlicher europ. Belege — außer einer westind. Var. — an 2 . Das Verbreitungsspektrum von AaTh 705 ist jedoch viel größer als ursprünglich angegeben. Die Erzählung findet sich auch in Kleinasien3, in Südamerika 4 und erscheint häufiger in Nordafrika 5 , im Mittleren und Nahen Osten 6 — bes. im Niltal 7 und in Somalia 8 — sowie in Schwarzafrika 9 . Auf der Grundlage des nun repräsentativeren Verbreitungsbildes lassen sich zwei dominante Subtypen der Erzählung feststellen. Bei Subtyp Α ist Teil 1 kombiniert mit AaTh 706: —> Mädchen ohne Hände oder anderen Erzählungen, in denen die Heldin eine Reihe qualvoller Erfahrungen durchsteht 10 : Teil 1: Ein Ehemann mißachtet die Weisung seiner Frau und ißt von einer wunderbaren Speise (gewöhnlich: —> Frucht), von der diese schwanger werden soll. Daraufhin wird er selbst schwanger.
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Meist aus dem Knie (—> Anthropogonie) gebiert er ein Mädchen und setzt es der Anordnung seiner Frau entsprechend aus. Das Kind wird von einem wilden Vogel (gewöhnlich Falke oder Adler) auf dem Wipfel eines Baumes großgezogen. Ein Prinz sieht das Spiegelbild des Mädchens im Wasser und verliebt sich in es, kann aber nicht zu ihm gelangen. Eine alte Frau bringt das Mädchen mit einer List dazu hinabzusteigen; es wird gefangen und mit dem Prinzen verheiratet. Teil 2: Während der Abwesenheit des Prinzen verstümmelt seine Mutter (andere Person) seine Frau und jagt sie fort; der Frau wird übernatürliche Hilfe zuteil. Die Mutter verkleidet sich und spielt ihrem Sohn gegenüber die Ehefrau; sie schlafen miteinander. Die Mutter wird schwanger und verlangt nach einer Frucht, die nur im Wundergarten seiner Frau zu finden ist. Die Diener, die ausgeschickt werden, um die Frucht zu holen, hören einen Vers, in dem die Wahrheit erzählt wird, werden aber durch Zauber stumm. Der Prinz selbst macht sich auf, erfährt die Wahrheit und wird wieder mit seiner Frau vereinigt. Die verbrecherische Mutter wird bestraft 11 .
Diese Form von AaTh 705 erscheint in Nordafrika, im Mittleren Osten, in Europa und Südamerika als Zaubermärchen; der Text aus Somalia 12 scheint die südlichste Grenze zu markieren. Subtyp Β verbindet Schlüsselelemente aus Teil 1 und Erzählungen, die unter AaTh 123: Wolf und Geißlein, AaTh 327 B: Däumling und Menschenfresser, AaTh 327 C: —> Junge im Sack der Hexe, AaTh 327 F: —> Hexe und Fischerjunge und AaTh 327 G: The Boy at the Devil's (Witch's) House erscheinen. Teil 1: Ein Mann (gewöhnlich ein Jäger) gebiert mehrere Kinder aus seinem Knie. Er bringt sie auf dem Wipfel eines Baumes unter und warnt sie davor, das Seil hinunterzulassen, außer für ihn selbst. Teil 2: Ein Riese (Wolf oder ähnliches feindliches Wesen) verleitet eines der Kinder mit einer List dazu, das Seil herabzulassen. Der Riese klettert auf den Baum und verschlingt die Kinder. Als der Vater zurückkehrt und bemerkt, was geschehen ist, fordert er den Riesen zum Zweikampf heraus und schlitzt ihm den Bauch (oder eine Zehe) auf (—» Gastrotomie). Die Kinder kommen lebend heraus; sie werden die Urväter der verschiedenen Stämme.
Diese Fassung von AaTh 705 scheint auf die schwarzafrik. Gemeinschaften beschränkt zu sein, bes. auf das obere Nilgebiet, wo die Geschichte als Glaubenserzählung — oft mit ätiologischen Funktionen — vorkommt 13 . Das vergrößerte Verbreitungsspektrum trägt auch zu einer weiteren Erhellung mög-
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Fisch: V o m F. geboren
licher V e r b i n d u n g e n z w i s c h e n A a T h 7 0 5 u n d a n d e r e n E r z ä h l t y p e n bei. U n t e r b e s . B e t o n u n g des Motivs der durch Essen einer bestimmten S p e i s e v e r u r s a c h t e n S c h w a n g e r s c h a f t wird bei A a T h das E i n g a n g s t h e m a v o n A a T h 7 0 5 d e m v o n A a T h 3 0 3 : Die zwei —> Brüder gegenübergestellt. D i e s e r Vergleich beruht jedoch a u f e i n e r o b e r f l ä c h l i c h e n Ä h n l i c h k e i t , d i e nur in d e m allg. M o t i v der E m p f ä n g n i s d u r c h Essen (Mot. Τ 5 1 1 ) besteht. D i e wunderbare S p e i s e ist in d e r R e g e l e i n e Frucht (ζ. B . A p f e l , Orange)14. Ferner werden die g e h e i m nisvollen Verse über den V o r g a n g der wunderb a r e n E m p f ä n g n i s im z w e i t e n T e i l d e s S u b typs Α häufiger gebraucht, um zu enthüllen, w a s mit d e r H e l d i n g e s c h e h e n ist, als d a ß sie e i n R ä t s e l d a r s t e l l e n , d a s e i n Freier l ö s e n m u ß , u m ihre H a n d z u g e w i n n e n . ( E s b e s t e h t kein Z u s a m m e n h a n g zwischen A a T h 7 0 5 und A a T h 8 5 0 - 8 6 9 : The Princess's Hand is Won.) D a s spezielle Motiv der Schwangerschaft durch den G e n u ß v o n Fisch (Mot. Τ 5 1 1 . 5 . 1 ) und das daraus abgeleitete Rätsel (Mot. Η 7 9 1 ) s c h e i n e n die a m w e n i g s t e n h ä u f i g e n E l e m e n t e d e r E r z ä h l u n g z u s e i n ; sie t r e t e n nur s p o r a d i s c h in E u r o p a auf — h a u p t s ä c h l i c h i m O s t s e e g e b i e t - ; i m M i t t l e r e n O s t e n u n d in S c h w a r z a f r i k a k o m m e n sie nicht vor. S i e sollt e n d a h e r nicht als B e s t i m m u n g s m e r k m a l v o n A a T h 7 0 5 betrachtet werden. E s gibt A n z e i c h e n dafür, d a ß d i e G r u n d t h e m e n und -motive von A a T h 7 0 5 und 7 0 6 auf alte (in e x o t e r i s c h e r Sicht als M y t h e n b e zeichnete) religiöse Glaubensvorstellungen des Nahen Ostens zurückgehen. D a s stark hervorstechende Motiv der durch Essen oder Trinken verursachten männlichen Schwangerschaft findet sich in dem altägypt. Bericht vom Streit zwischen Horus und Seth um die Herrschaft (—> Ägypten, Kap. 1. 4.) 1 5 : Seth - der sich H o r u s homosexuell genähert hatte — wurde von H o r u s ' Mutter Isis durch List dazu gebracht, Salat zu verzehren, auf dem sich Horus' Samen b e f a n d ; Seth wurde schwanger und gebar den Mond. Das T h e m a der Falkenmutter, die ein Kind auf einem B a u m großzieht, weist auf die altägypt. Göttin H a t h o r hin, deren N a m e ,Haus des H o r u s ' bedeutet und von der man glaubte, sie wohne in einem hl. Sonnenbaum. Die Verstümmelung ( A b h a c k e n der H ä n d e und / oder Ausstechen der A u g e n ) und die spätere Wiederherstellung der geschädigten Körperteile entspricht der Handlungsweise der Isis, die die verunreinigte H a n d ihres Sohnes abschlug und durch eine andere, unbefleckte ersetzte, und anderen
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verwandten T h e m e n in Z u s a m m e n h a n g mit H o r u s und Seth 1 6 . E b e n s o kann das T h e m a der widernatürlichen Verbindung, das in neueren Erzählungen als —» Inzest zwischen Mutter und Sohn erscheint, in Beziehung zu dem homosexuellen Vorgang des altägypt. Texts gesetzt werden. Weiter findet sich eine Reihe von Motiven, die der heutigen Volkserzählung und den alten mythol. Darstellungen gemeinsam sind, in späteren Stufen der religiösen Entwicklung. A h m a d Ibn M u h a m m a d al-Tha'labl (gest. 1036), ein Verf. religiöser W e r k e , der sehr stark aus mündl. Überlieferungen geschöpft zu haben scheint, liefert implizit in einem Ber. eine Erklärung dafür, warum in der islam. Lit. von Satanen die R e d e ist, obwohl nur ein Satan ('iblis) aus dem Paradies vertrieben wurde: nämlich d a ß Satan, der als männliches Wesen aufgefaßt wird, mit sich selbst Geschlechtsverkehr hatte und vier Eier legte, aus denen seine N a c h k o m m e n schlüpften (cf. Mot. T512.6)17. Eine andere Erzählung al-Tha'labls enthält die T h e m e n g r u p p e von der Falkenmutter, der Jungfrau auf dem B a u m und dem Freier, der das Mädchen durch eine Täuschung erlangt. Obwohl das Motiv des schwangeren M a n n e s fehlt, ist der Inhalt der Geschichte d e m Teil 1 von A a T h 705 recht ähnlich, mit Subtyp Β stimmt sie hinsichtlich der G a t t u n g (Glaubenserzählung) und der offenkundigen Funktion (didaktisch und ätiologisch) überein 1 8 . Diese Erzählung, in der — wie P r o p h e t Sulayman ( ^ Salomo) zu Recht prophezeit hatte — vergeblich ein Mädchen vor einem Jungen auf einer Insel auf einem B a u m versteckt wird, wurde zur Stützung der Prädestinationslehre ( —» Schicksal) herangezogen, eines Ecksteins der orthodoxen sunnit. Theologie, die aber von den Mu'tazaliten (die eine A r t Protestant. islam. Philosophie entwickelten) abgelehnt wurde; implizit wird darin auch begründet, warum al-'anqä', ein Vogel, den m a n sich weiblichen G e schlechts mit menschlichem Gesicht, Brüsten und H ä n d e n vorstellte 1 9 , nicht m e h r von den Menschen erblickt werden kann und warum die —> Eule ein Nachtleben führt und tagsüber von anderen Vögeln angegriffen wird 2 0 . S u b t y p Α v o n A a T h 7 0 5 stellt d a s h ä u f i g e T h e m a der unschuldig verfolgten Ehefrau o d e r d e s u n s c h u l d i g v e r f o l g t e n M ä d c h e n s dar (—> Frau). V o m p s y c h o l . S t a n d p u n k t aus löst das schuldlose Leiden der Heldin bei d e n Z u h ö r e r n v e r m u t l i c h G e f ü h l e der S y m p a t h i e ( o d e r ä h n l i c h e E m p f i n d u n g e n ) für d i e u n recht b e h a n d e l t e H e l d i n u n d F e i n d s e l i g k e i t g e g e n ü b e r i h r e m P e i n i g e r aus. D i e H a n d l u n g verläuft entsprechend der durch diese E m p findungen hervorgerufenen Einstellungen; so wird d e r U n s c h u l d i g e e r l ö s t u n d d e r S c h u l d i g e bestraft21. W e g e n der Vielfalt der Personen, d i e als S c h ä d i g e r d e r H e l d i n a u f t r e t e n k ö n n e n ,
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Fisch: Vom F. geboren
ist es nicht möglich, e i n e n einzigen K o m p l e x v o n Einstellungen zu b e s t i m m e n , durch den sich A a T h 7 0 5 interkulturell charakterisieren ließe. E s gibt j e d o c h e i n e A u s n a h m e : Die überwältigende Mehrheit der Belege aus der östlichsten geogr. Zone, die sich von Somalia nach Syrien erstreckt 2 2 , enthält einen Komplex von Dreiecksbeziehungen zwischen einer Frau, ihrem Mann und dessen Mutter. Diese Texte weisen ein einheitliches psychol. Muster auf, das auf den ersten Blick deutlich ödipal erscheint (—» Ödipus). In Teil 1 des Subtyps Α von AaTh 705 läßt die Frau von Anfang an der noch ungeborenen Tochter gegenüber Feindseligkeit erkennen und bevorzugt einen Sohn; seinen deutlichen Ausdruck findet das Ödipus-Thema in Teil 2 im Inzest zwischen Mutter und ihrem ahnungslosen Sohn; der Vater des Sohns findet keine Erwähnung. In dieser Fassung stellt AaTh 705 + 706 eines der seltenen Beispiele arab. Überlieferung dar, in denen eine ödipale Situation so offen beschrieben wird 23 . Als unabhängige Erzählung oder in anderen Kontexten dagegen ist es für AaTh 706 typisch, daß das Thema des Mutter-Sohn-Inzests fehlt 2 4 . D a s d e m o g r a p h i s c h e Verbreitungsbild der Erzählung bestätigt aber diese ödipale Interpretation nicht. D e r Inzest zwischen Mutter u n d S o h n in A a T h 7 0 5 -I- 7 0 6 k o m m t bei verschiedenen Altersstufen u n d bei ethnisch-rassisch, regional, gesellschaftlich, wirtschaftlich und religiös unterschiedlichen Grupp e n vor 2 5 , ist j e d o c h unter n o r m a l e n Erzählbedingungen bei männlichen E r w a c h s e n e n dieser G r u p p e n nicht anzutreffen 2 6 . A a T h 7 0 5 + 7 0 6 wird in der R e g e l v o n Frauen erzählt, g e legentlich auch von jungen Männern, bei d e nen die Integration in die Subkultur v o n Gruppen männlicher E r w a c h s e n e r n o c h nicht abgeschlossen ist 2 7 . Somit kreist die Erzählung u m einen äußerst stabilen Kern v o n E m p f i n dungen, in d e n e n sich eher die Feindseligkeit einer Frau g e g e n ü b e r der d o m i n i e r e n d e n R o l l e 2 8 ihrer —> Schwiegermutter äußert als die sexuellen G e f ü h l e , die einen e r w a c h s e n e n M a n n zu seiner Mutter hinziehen. In der Tat stimmt die Einstellung, die in der Erzählung z u m Ausdruck k o m m t , mit den G e f ü h l e n überein, die e i n e typische weibliche Erzählerin bei der Darstellung ihrer e i g e n e n P r o b l e m e innerhalb der Gesellschaft und ihrer E m p f i n dungen g e g e n ü b e r ihrem M a n n und dessen Mutter ausdrückte 2 9 . 1 Thompson, Folktale, 123. - 2 Weitere europ. Belege zusätzlich zu AaTh: 0 Süilleabhäin/Chri-
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stiansen; Arajs/Medne; Smits, P.: Latviesu tautas teikas un pasakas 1 — 12. ed. H. Biezais. Waverly, I o w a 2 1 9 6 2 - 1 9 6 8 , hier t. 6 , 4 7 0 - 4 8 0 , num. 16. 69; t. 7, 3 9 - 4 2 , num. 1. 13 und 6 2 - 6 7 , num. 1. 20; t. 9, 1 6 3 - 1 8 1 , num. 13. 1 - 1 3 . 10; Kecskemeti/Paunonen (karel.); SUS (ukr.); Kremnitz, M.: Rumän. Märchen. Lpz. 1882, num. 10; Dawkins, R. M.: Forty-five Stories from the Dodekanese. Cambr. 1950, 4 0 1 - 4 1 0 , num. 38 (nicht num. 9 wie in AaTh); Laogr. 20 (1962) 3 8 0 - 3 8 5 , num. 10; Cirese/ Serafini; Meier, H./Woll, D. (edd.): Port. Märchen. MdW 1975, num. 20, 101. - 3 Paton, W. R.: Folktales from the Aegean. In: FL 11 (1900) 335 sq., num. 9. — 4 Pino-Saavedra 2, num. 93 ( = id.: Chilen. Volksmärchen. MdW 1964, num. 23). 5 El-Fasi, M./Dermenghem, E.: Nouveaux Contes fasis. P. 1928, 8 1 - 8 7 ; Legey, F.: Contes et legendes populaires du Maroc, recueillis ä Marrakech. P. 1926, num. 6; Desparment, J.: Contes populaires sur les ogres, recueillis ä Blida 1. P. 1909, 1 4 0 - 1 4 9 (alger.). - 6 Al-Hasan, Gh.: Al-hikäyah al-Khuräfiyyah fi al-'adab al-sh'bl al-'ordum 1 - 2 (Das Märchen in jordan. Volkslit.). Magisterarbeit Univ. Kairo 1973, hier t. 2, 7 0 - 7 3 , num. 14; AlHasan bezieht sich auf eine andere Archiv-Var. (vermutlich Kontamination von AaTh 705 und AaTh 451), gesammelt von 'U. Al-Särls; Yüsoff, 'U.: Al-hikäyah al-sha'biyyah fi almujtama' al-filistlni (Volkserzählungen in der Gesellschaft Palästinas). Magisterarbeit Univ. Kairo 1972, 2 3 8 - 2 4 1 ; Jason, H.: Märchen aus Israel. MdW 1976, num. 28; Bergsträsser, G.: Neuaramä. Märchen und andere Texte aus Ma'lüla in dt. Übers. Lpz. 1915, num. 2; Stevens, E.: Folk-Tales of Iraq. L. 1931, num. 22; Fadel, Α.: Beitr.e zur Kenntnis des Arab. Märchen und seiner Sonderart. Diss. Bonn 1979, num. 45; Jason, Types. - 7 ElShamy, H.: The Falcon's Daughter. In: Folktales Told around the World, ed. R. M. Dorson. Chic. 1975, 1 5 9 - 1 6 3 ; Faraj, F.: Al-Qasas al-sha'bl fi alDaqahliyya (Volkserzählungen in Daqahliyya [ägypt. Provinz]). Kairo 1977, 1 1 4 - 1 1 7 ; Littmann, Ε.: Arab. Märchen und Schwänke aus Ägypten. Wiesbaden 1955, num. 9 (mit Lit.); Khidr, 'U.: Bint al-Suqür (Die Tochter der Falken). In: AlMasä' (8. 7. 1965) (dt. Übers, und Unters, von Jahn, S.: Arab. Volksmärchen. B. 1970, 1 3 2 - 1 4 1 , 5 1 4 - 5 1 6 ) ; Sha'räwi, I.: Rädiyah. 'an al-qasas alsha'bl al-nübl (Rädiyah [Neubearb. Geschichten], Nach nub. Volkserzählungen). Kairo 1967, 2 8 - 3 4 ; Kronenberg, A. und W.: Nub. Märchen. MdW 1978, num. 35; 10 zusätzliche Var.n aus verschiedenen Teilen Ägyptens, gesammelt von 1 9 6 8 - 7 2 , sind in Archiven zugänglich (Center for Folklore, Ministry of Culture, Cairo [Slgen von S. Hasan, O. Khidr, Ά . Ibrahim]; The American University in Cairo Collection [Slgen von M. Labib, J. Rouchdy, F. Tammoum, B. A l l a m , M. Abd-el-Malek]); AlShahi, A./Moore, F.: Wisdom from the Nile. Ox. 1978, num. 9sq.; cf. num. 11 (1. Teil von AaTh 705) (sudanes.); Khidr, Α . : Hawädlt 'arabiyyah
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Fisch: Den großen F. befragen
1 - 2 . (Arab. [Volks-]Märchen). Kairo 1 9 6 0 - 6 4 . t. 1, 8 5 - 8 9 ; t. 2, 2 6 - 3 1 (sudanes.); Yüsoff, H.: Riyya (Maktabat al-Sibyän). Khartoum 1965 (sudanes.). — 8 Archive 1973 gesammelter schriftl. Aufzeichnungen bei El-Shamy. — 9 Liyong, T. (ed.): Popular Cultures of East Africa. Nairobi 1972, 81, num. 5. 34 (Kikuyu); Lindblom, G.: Kamba Folklore. Teil 2: Tales of Supernatural Beings and Adventures. Uppsala 1935, 1 5 - 2 4 , num. 4 (Akamba), 123 sq. (Hinweise auf Var.n der Embu des Berges Kenia, der Moi, Anyanja, Baronga und aus dem Mkulwe-Gebiet in der Provinz Rukwa); Hollis, Α.: The Masai, Their Language and Folklore. Ox. 1905, 1 4 7 - 1 5 4 , cf. auch 161 — 164; cf. Jacottet, E.: The Treasury of Ba-Suto Lore. L. 1908, 196; Idewu, O./Adu, O.: Nigerian Folktales, ed. Β. K. und W. S. Walker. New Brunswick, N. J. 1961, 7 3 - 7 5 (Yoruba); Fuja, Α.: Fourteen Hundred Cowries. Ox. 1962, 1 2 9 - 1 3 2 ; Fuchs, P.: Afrik. Dekamerone. Stg. 1961, 1 2 4 127; cf. Cahiers d'etudes africaines 8 (1968) 3 1 0 317 (diese Erzählung der Fon-Gruppe überschneidet sich mit AaTh 705 und AaTh 327 B). - 10 Ζ. B. erscheinen Verbindungen mit AaTh 402 in Meier/ Woll (wie not. 2); mit AaTh 403 in Pino-Saavedra (wie not. 4); mit AaTh 450 und AaTh 451 in Christiansen, Ν. E.; mit AaTh 451 in Smits (wie not. 2) t. 9, num. 13. 10; gelegentlich wird nur die erste Hälfte als unabhängige Geschichte erzählt, so in Kremnitz (wie not. 2); Sveinsson; Ennis, M.: Umbundu. Folktales from Angola. Boston 1962, 194 sq. 11 Das Resümee basiert auf einem Text aus Ägypten, erzählt von einer 38jährigen Beduinenfrau, v. El-Shamy (wie not. 7); Mot. Τ 578: Pregnant Man tritt nur sporadisch in Europa auf und scheint sich im Ostseegebiet zu konzentrieren, v. Smits (wie not. 2) t. 9, num. 13.1, 1 3 . 5 - 1 3 . 8 ; PinoSaavedra (wie not. 4) hat auch das fast völlige Fehlen von Mot. Τ 578 in den rom. Var.n von AaTh 705 angemerkt; in ähnlicher Weise scheint auch Mot. Τ 412: Mother-son incest auf arab. Versionen des Mittleren Ostens beschränkt zu sein, es tritt in somal., sudanes., ägypt., palästinens. und irak. Var.n auf; der 2. Teil der Geschichte ist verwandt mit AaTh 870 C*. - 12 El-Shamy (wie not. 8). 13 v. die Var.n aus Ost-Afrika in not. 9; durch das Fehlen von Kontext-Angaben ist es schwierig, exakt festzustellen, zu welcher Gattung eine Erzählung gehört; Liyong reiht die Kikuyu-Var. jedoch unter der generellen Überschrift ,Myths, Legends, Customs' ein; Lindblom ordnet das allg. Thema der ,Kniegeburten' unter ,Myth' ein. 14 Auch Meier/Woll (wie not. 2) 269 haben das Fehlen von Fisch in diesem Zusammenhang angemerkt; alle sudanes. Var.n (v. not. 7) verzeichnen Fleisch, Knochen oder ähnliche tierische Substanzen. - 15 v. Simpson, W. K. (ed.): The Literature of Ancient Egypt. N.Y. 1972, 1 0 8 - 1 2 6 , bes. 120sq.; cf. das Motiv der antiken ägypt. Gottheit Atum, die, um ohne Partner Nachkommen zu produzie39
Enzyklopädie des Märchens IV
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ren, sich mit ihrem Schatten vereinigte; v. Ions, V.: Egyptian Mythology. L. 2 1968, 26; Jahn (wie not. 7) 515 gibt ein ähnliches Motiv an, welches Kumarbi, den „obersten Gott der Hurriter" betrifft, der Nachkommen durch das Trinken von Samen produzierte. — 16 v. Vikentiev, V.: Une nouvelle Version de l'ancien conte egyptien des ,Deux Freres'. In: Bulletin of the Faculty of Arts 14, 2 (1952) 9 7 - 1 0 7 ; v. auch El-Shamy, Η. M. (ed.): Folktales of Egypt. Chic./L. 1980, 2 6 1 - 2 6 4 . 17 Al-Tha'labi, Α.: Kitäbqisasal-'anbiyä'(DasBuch der Prophetengeschichten). Kairo s.a., 25. - 18 v. not. 13. — 19 Zu al-'anqä' v. Chauvin 7, 12. 20 Al-Tha'labi (wie not. 17) 1 6 5 - 1 6 8 ; diese islam. Erzählung ist ohne Zweifel verwandt mit AaTh 554 B* und AaTh 860 A*. 21 El-Shamy, H . M . : Emotionskomponente. In: E M 3, 1 3 9 1 - 1 3 9 5. - 22 Der türk. Text (wie not. 3) und der griech. Text bei Dawkins (wie not. 2) projizieren dasselbe Empfindungsmuster; jedoch fehlt in beiden Texten, die von erwachsenen Frauen erzählt wurden, Mot. Τ 412: Mother-son incest (v. not. 11). — 2 3 cf. Littmann (wie not. 7) 141; zum Problem der Relevanz westl. psychiatrischer Theorien und der Odipus-Komplex-Hypothese für arab. Kulturen v. El-Shamy, H.: The Brother-SisterSyndrome in Arab Family Life, Socio-Cultural Factors in Arab Psychiatry: A Critical Review. In: Internat. J. of Sociology of the Family 11 (1981) 3 1 3 - 3 2 3 , hier 3 1 8 - 3 2 1 ; Kennedy, M. C.: Middle Eastern Families in Transitional Societies: An Editorial Essay, ibid., 1 5 3 - 1 6 8 , hier 162sq. - 24 v. El-Shamy, Η. M.: Brother and Sister Type 872*. A Cognitive Behavioristic Analysis of a Middle Eastern Oikotype. Bloom. 1979; AaTh 706 erscheint hier in Kombination mit AaTh 872*. — 25 Diesbezüglich sind die Var.n, erzählt von einer christl. Frau aus Bagdad (Stevens [wie not. 6]), einer jüd. aus Nablus (Jason [wie not. 6]), einer moslem. aus dem Umland von Kairo (El-Shamy [wie not. 7]) identisch. - 26 v. El-Shamy (wie not. 16) XLVIII. - 27 ibid., LII. - 2 8 El-Shamy (wie not. 7) 159, v. auch not. 11. - 29 ibid.; zusätzliche Information über die Erzählerin bei El-Shamy (wie not. 16) 212 sq.
Bloomington
Hasan M. El-Shamy
Fisch: Den großen F. befragen (AaTh 1567 C), eine traditionsreiche, witzige Erzählung aus der Serie der —»> Hungrigenschwänke, wonach ein armer Schlucker auf pfiffige Weise zu erkennen gibt, daß er bei der Speisenzuteilung an der Herrentafel zu kurz gekommen ist. Ein gering geachteter Gast (Bettler, Gaukler oder auch der Sohn selbstsüchtiger Eltern) be-
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Fisch: Den großen F. befragen
kommt kleine F.e vorgesetzt, während die großen der Herrschaft (den Eltern) vorbehalten bleiben. Der Arme hält daraufhin eines der F.lein ans Ohr. Auf die Frage, was dies zu bedeuten habe, gibt er vor, den F. nach dem Verbleib seines kürzlich ertrunkenen Vaters (nach Jonas und dem Walfisch) befragt zu haben. Doch habe das F.lein geantwortet, es sei noch zu jung, um darüber Bescheid zu wissen, er möge doch die älteren F.e fragen. Nach anderer Version soll der verdächtig riechende F. gesagt haben, er wisse nichts über die Vorgänge im Meer, weil er schon vor acht Tagen gefangen worden sei. Dies löst Gelächter aus, und der Arme bekommt einen großen (frischen) F. serviert.
Diese auch aufgrund ihrer sozialkritischen Tendenz wirksame Geschichte hat eine beträchtliche Vergangenheit. Die älteste Version stammt von dem Peripatetiker Phainias von Eresos, einem Schüler des Aristoteles, und wurde von dem Schriftsteller Athenaios von Naukratis (um 200 p. Chr. n.) in dessen Deipnosophistai (Gastmahl der Gelehrten) überliefert 1 . Danach habe der Dichter Philoxenos (ca 435—380 a. Chr. n.) bei Dionysios gespeist und die Befragung des kleinen F.es damit begründet, daß er über die Nereustochter Galatea schreibe und sich nach Neuigkeiten aus dem Reiche des Meeresgottes erkundigt habe. Diese antike Anekdote findet sich bei Caelius Rhodiginus (L. —»Ricchieri)2, bei —» Erasmus von Rotterdam 3 und in anderen lat. Qu.n 4 und wurde eben danach von Hans —> Sachs als Α in schwanck: Mulus, der gros merfisch gestaltet 5 , während in weiteren Fassungen des 16. Jh.s, etwa bei Laurentius —> Abstemius 6 , Milieu und Befragungsmotiv gewechselt haben: Es handelt sich nun um einen gering geachteten Gelehrten, der angeblich nach dem Verbleib des ertrunkenen Vaters fragt. Bei Heinrich —» Bebel 7 ist der Protagonist ein Gaukler, bei Johannes —» Pauli 8 ein armer Geselle. In Italien begegnet die Erzählung auf den gegenüber den Gesandten am Hof des Dogen benachteiligten, jedoch allzeit schlagfertigen —» Dante bezogen 9 und im 17. Jh. in der Rahmenhandlung von Pompeo Sarnellis Posilecheata10. Für die Verbreitung im Orient spricht die Version im —> Hodscha Nasreddin: Der Hodscha beobachtet die Eltern beim Verstecken der großen F.e und gibt vor, die kleinen nach Jonas und dem Walfisch zu befragen 11 (danach auch die Formulierung des Typs bei
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AaTh). A. —> Wesselski verweist auch auf eine pers. Var., wonach zwei Freunde F.e braten, die großen jedoch verschwinden lassen, als ein Fremder naht etc. 12 . Die Erzählung muß allg. Anklang gefunden haben, da sie nicht nur in der älteren ital., sondern auch in frz. und span. Lit. vielfach belegt ist13. In dt. Schwank- und Unterhaltungsbüchlein des 17. und 18. Jh.s gehört der Typ zu den am häufigsten dokumentierten Beispielen für die —» Schlagfertigkeit eines sozial Benachteiligten 14 . Die neueren Aufzeichnungen aus mündl. Überlieferung, wozu bei AaTh nur Belege aus Finnland und Litauen 15 angegeben sind, entsprechen quantitativ nicht ganz der reichen literar. Tradition, doch finden sich immerhin Nachweise in Katalogen und Slgen aus Flandern 16 , Ungarn 17 , Italien 18 , Portugal 19 und Israel 20 . Im dt. Sprachgebiet ist der Typ mehrfach Kontaminationen mit AaTh 1610: —» Teilung von Geschenken und Streichen und Mot. Κ 318: Watchdog enticed away u. a. Motiven eingegangen 21 . AaTh 1567 C ist hier nur eine Episode in einer Kette von Auseinandersetzungen eines Herrn mit einem ihm an Pfiffigkeit überlegenen Untergebenen und reiht sich damit in die große Zahl der von H. —» Bausinger als Ausgleichs- und Steigerungstypen bezeichneten Schwankformen ein 22 . 1 Ateneo: I Deipnosofisti (o Sofisti a Banchetto). Testo riveduto con note critiche e traduzione italiana [. . .] di G. Turturro. Bari 1961, 29; lat. Text bei Bebel/Wesselski 1,2, p. 177; cf. auch Avanzin, Α.: Einige Qu.n der lustigen Geschichten von Franz Resl. In: ÖZfVk. 57, N.S. 8 (1954) 1 2 4 - 1 3 6 , hier 134 (bei AaTh irrtümlich L. Schmidt zugeschrieben). - 2 Lodovici Caelii Rhodigini antiquarium lectionum libri 16. Venetiis 1516, 356. — 3 Erasmus (Desiderius): Apophthegmatum libri octo [. . .]. Lugduni 1556, 649. - 4 cf. Pauli/Bolte 2 , 4 0 7 sq. (zu num. 700). - 5 Goetze, E. (ed.): Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs 2. Halle 1894, 5 4 8 - 5 5 4 , num. 354 (Qu.: Plutarchi und anderer kurtz weise und höfliche Sprüche. Durch Heinrich von Eppendorff vß dem Latin in Teutsch verdollmetscht. Straßburg 1534, 570); cf. Stiefel, A. L.: Hans Sachs-Forschungen. Nürnberg 1894, 180 sq. — 6 Lavrentii Abstemii Fabvlae. In: Nevelet, I. N. (ed.): Mythologia Aesopica [. . .]. Ffm. 1610, 584 sq., num. 118. 7 Bebel/Wesselski 1, 2, num. 21. - 8 Pauli/Bolte, num. 700. — 9 Wesselski, Α.: Dante-Novellen. Wien/Mü. 1924, 156. - 10 Sarnelli, P.: Posi-
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Fischart. Johann
lecheata. ed. V. Imbriani. Napoli 1885, 9, 137 sq.; Pögl, J. (ed.): Pompeo Sarnelli Posilecheata. Salzburg 1982, 11. 11 Hodscha Nasreddin 1, num. 158 (Lit. p. 247 sq.). - 12 wie not. 9 (nach: Kuka, Μ. N.: The Wit and Humour of the Persians. Bombay 1894, 179). - 13 cf. Rotunda J 1341.2; Childers J 1341.2; zahlreiche Var.n des 16. und 17. Jh.s bei Pauli/ Bolte, num. 700. — 14 Texte im EM-Archiv (mit num.): Melander/Ketzel 1618 (17.397); Exilium melancholiae 1643 (237); Johann Peter de Memel 1656 (5.877); Gerlach 1656 (3.544); HeerPaucker 1663 (13.144); Burger-Lust 1663 (13. 722); Wolgemuth 1669 (13.872, auf Philoxenos bezogen); Lyrum larum lyrissimum 1700 (15.578); Conlin 1706 (10.119); Abraham a Sancta Clara, Huy und Pfuy 1707 (4.470); Hanß-Wurst 1712 (7.444, 7.710); Lexicon apophthegmaticum 1718 (4.271); Polyhistor 1729 (9.557); Freudenberg 1731 (17.634); Bienenkorb 1770 (11.982); zur Redensart ,Kleine F.e' v. Schempf, H.: Kleine F.e. In: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Vk. 1. ed. L. Carlen. Zürich 1978, 6 3 - 8 0 . — 15 Ergänzend zu AaTh: Aräjs/Medne; Rausmaa. - 16 de Meyer, Conte. — 17 György, num. 178; cf. auch id.: Konyi Jänos Democritusa. Bud. 1932, 8 0 - 8 2 , num. 43 (mit Lit.). - 18 Cirese/ Serafini. - 19 Meier, H./Woll, D.: Portugies. Märchen. MdW 1975, num. 102. — 2 0 Jason; Olsvanger, I.: Rosinkess mit Mandlen. Aus der Volkslit. der Ostjuden. Basel 2 1931, num. 46. 21 cf. Zs. für dt. Mythologie und Sittenkunde 3 (1855) 56 und not. p. 306; Stübs, H.: Uli Lüj verteilen. Greifswald 1938, num. 62; Bodens, W.: Vom Rhein zur Maas. Bonn 1936, num. 37; weitere Kontaminationen: Neumann, S. (ed.): Volksschwänke aus Mecklenburg. Aus der Slg R. Wossidlos. B. 1963, num. 2. — 2 2 Bausinger, H.: Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen. In: Fabula 9 (1967) 1 1 8 - 1 3 6 , bes. 128.
Göttingen
Elfriede Moser-Rath
Fischart, Johann (genannt Mentzer, d. h. Mainzer), *Straßburg Ende 1546 oder Anfang 1547, f Forbach bei Saarbrücken Ende 1590 (?), bedeutendster dt. Schriftsteller des späten 16. Jh.s. Vom 6. Lebensjahr ab vermutlich Besuch des von dem Humanisten Johannes Sturm geleiteten Protestant. Gymnasiums in Straßburg, 1563-65 Unterricht bei seinem Paten Kaspar Scheidt in Worms. 1565—67 unternahm F. eine Bildungsreise in die Niederlande, nach Frankreich, England und Italien. 1568 Erwerb des Magistergrades an der Univ. Straßburg, 1574 Promotion zum Doktor der Rechte in Basel. 1570-80 Tätig39·
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keit in Straßburg als Mitarbeiter bei seinem Schwager Bernhard Jobin (Drucker in Straßburg) und als freier Schriftsteller. 1580 ist F. in Speyer beim Reichskammergericht, seit 1581 als Advokat; 1583 wird er Amtmann in Forbach. Seine Tätigkeit dort läßt sich urkundlich nur bis 1586 belegen, aber vermutlich hatte er die Stelle bis zu seinem Tode 1590 (oder 1591) inne. Dagegen könnte sprechen, daß 1588—90 zahlreiche Veröffentlichungen erschienen. Der bedeutende Satiriker und Polemiker der Lutherzeit verfaßte zahlreiche Flugschriften und konfessionellpolemische Dichtungen wie auch .Zeitungen' und brachte Übersetzungen und literar. Bearbeitungen heraus. Alle größeren Werke beruhen auf Vorlagen, die F. aber kräftig umarbeitete und wesentlich erweiterte, wobei er sich als großer Sprachschöpfer auszeichnete. Das gilt auch für die erste größere Bearbeitung, den Eulenspiegel Reimensweiß (Ffm. 1572), der nicht nur von Kaspar Scheidt übernommen, sondern auch von dessen Grobianus (Worms 1551) beeinflußt ist. In der Vorrede weist F. darauf hin, daß alles Volkstümliche am besten in Liedern und Reimen abgefaßt werde, und walzt so das Volksbuch auf 13.506 Verse aus. Am Ende oder zu Beginn der einzelnen Schwänke setzt er in didaktischer Absicht eine Moral, und so konnte das weitschweifige Werk neben dem knapp gefaßten Volksbuch nur wenig Liebhaber finden. In F.s Werk spielen humanistische Tradition sowie volkstümliche Überlieferung und Darstellung gleichermaßen eine Rolle. Für die Erzählforschung ist von Bedeutung, daß an vielen Stellen (ζ. T. mehrfach) seiner derb-humoristischen Kompilationen Sagen, Schwänke und Märchen eingestreut sind, die ihn nicht nur als Kenner der älteren Lit., sondern auch der populären Tradition seiner Zeit in Lied, Redensarten, Sprichwort, Brauch und Kinderspiel ausweisen. So spricht er im Binenkorb (Christiingen [i.e. Straßburg] 1581) von „eyn ander Eschengrüdel" und erzählt eine Var. des Aschenputtel-Märchens (AaTh 510 A: —» Cinderella)1. Im Zusammenhang mit AaTh 800: —> Schneider im Himmel ist eine Anspielung aus F.s Verssatire Flöh Haz (Straßburg 1573; erw. Ausg. Straßburg 1577) zu sehen: „Gleich wie man von Sant Peter saget/
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Der, als er Herr Got war ain tag/Und Garn sah stalen aine Magt/Wurf er jr gleich ain Stul zum schopf/Erwis also sein Peterskopf [Hitzkopf]/Hets solcher gstalt er lang getriben/Es wer kain Stul im Himel pliben" 2 . Im gleichen Werk findet man auch einen Beleg für die Geschichte vom Schwaben, der das Leberlein gegessen (AaTh 785: —> Lammherz)3 und einen Vergleich aus dem —» Faulheitswettbewerb (AaTh 1950). Bei F. ist es eine Faule, von der er sagt: „Sie wendet sich nicht vm ain hör, wie der, dems Wasser trof inns Or" (cf. Mot. W 111.1.3) 4 . Auch das Motiv vom Hahn als unbekanntem Tier wird in der Flöh Haz angesprochen: Um der Rattenplage Herr zu werden, zündet man die Scheunen an (cf. AaTh 1281: —> Katze als unbekanntes Tier; AaTh 1282: House Burned Down to Rid it of Insects)5. Von solchen ,Kunkelmären' 6 , .Marlin und Kunkelpredigen' 7 ist oft die Rede, wenn er etwa von einer riesigen Rübe (cf. KHM 146: Die Rübe) spricht und im Ehzuchtbüchlein (Straßburg 1578) 8 und in Aller Practick Großmutter (vermutlich Basel 1572) 9 einen sprichwörtlichen Hinweis darauf gibt. F. kennt ferner die Bearbeitung des Märchens von der Bienenkönigin (KHM 62; cf. AaTh 554: Dankbare Tiere) im Abenteuerroman Vom edlen Ritter Brissoneto (Straßburg 1559) des Straßburgers Georg Messerschmidt 10 . In der Flöh Haz finden sich an Erzählmotiven noch Das Hündlein von Bretten11, —> Feldmaus und Stadtmaus (AaTh 112) nach Burkart Waldis' Äsopübertragung 12 , eine wohl von F. erfundene Erzählung von Eva, ihren Kindern und den Flöhen (diese beißen die Kinder und fliehen vor Eva, indem sie sich bei ihr verstecken) 13 und — wie auch in anderen seiner Werke — eine große Zahl von Anspielungen auf Sagenstoffe der Antike, für die er ebenso Gewährsmann ist wie für dt. Sagen, was auch die Brüder Grimm quellenmäßig zu nutzen wußten 14 . Nach der Verdeutschung des 6. Buches des —» /I mad«-Romans (1572) ging F. an die Übersetzung und Umarbeitung von —> Rabelais' Gargantua et Pantagruel (Lyon 1532). Das 1575 zunächst als Geschichtschrift bezeichnete Werk (später: Geschichtklitterung)15 geht stofflich auf das Volksbuch vom Riesen —» Gargantua zurück; drei Auflagen der Geschichtklitterung (Straßburg) erschie-
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nen zu F.s Lebzeiten, nach seinem Tod noch sechs weitere bis 1631. Trotz weiterer Pläne kam F.s Neudichtung („uberschrecklich lustig in einen Teutschen Model vergossen") nicht über das 1. Buch von Rabelais' Werk, einer Schrift gegen Rom und die Scholastik, hinaus. Das jedoch erweiterte F. auf den dreifachen Umfang, schilderte Leben und Taten des Gargantua, Sohn des freß- und sauftüchtigen Riesen Grandgusier und seiner Frau Gargamelle, unter bes. Berücksichtigung dt. Verhältnisse und streute zahlreiche Anspielungen auf Volkserzählstoffe ein 16 . In der Vorrede zur Geschichtklitterung erwähnt er —» Straparolas Erzählungen als eine seiner vielen Quellen, die er noch bis hin zu —> Boccaccio anführt, und berichtet auch über die Art, wie zu seiner Zeit Märchen erzählt wurden: „[Er] sagt vom fernigen Schnee, wie ers vom Großvatter Hackeleback [auf des Großvaters Bein reitend] gehört hat" 17 . Auch andere Werke F.s wie Aller Practick Großmutter, eine Verspottung der Kalenderund (astrologischen) Praktiken-Lit., oder Das Glückhafft Schiff von Zürich (Basel 1576), das von der schnellen Schiffahrt der Zürcher Schützen mit dem warmen Hirsebrei zum Freischießen ins verbündete Straßburg mit einem Schmachspruch und F.s .Notwendigem Kehrab' handelt, enthalten mannigfaltige Hinweise auf ältere Erzählungen und Motive, ebenso die von F. ins Deutsche übertragenen Inquisitionsanweisungen De la Demonomanie des sorciers (P. 1580; dt. Vom Außgelaßnen wütigen Teuffelsheer. Straßburg 1581) Jean —> Bodins mitsamt den ca 140 sagenhaften Beispielerzählungen in Form von Fallberichten 18 und der verhängnisvolle Hexenhammer (Straßburg 1581; —»• Malleus maleficarum), welche die bestehende Lit. und die Ansichten der Ketzer-Inquisitoren über die Notwendigkeit von Hexenprozessen zusammenfaßten 19 . In einem Zusatz zur Dimonomanie bringt F. eine von Johannes Trithemius übernommene Erzählung von einem Arzte Kaiser Ludwigs („ein Jüd mit Namen Sedechias"), der ein Gauklerstück vollbrachte, indem er „einen Menschen inn die Luft hinnauff trieb, riß jhn daselbst zu stücken, laß darnach die Glieder zu hauff vnd setzt sie wiederumb gantz zusammen" 20 . Von Bodin hingegen übernahm er u. a. das Motiv vom Teufel als Fürsprecher
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Fischart. Johann
der Unschuldigen (AaTh 1697: —» Handel mit dem Teufel)21. In losem Zusammenhang zur Demonomanie, gleichsam als Beleg für das dort Behauptete, steht die Erneuerung der mhd. Reimdichtung über die Verbindung des Ritters —» Peter von Staufenberg (1588) mit einem übernatürlichen Wesen (Die gestörte —> Mahrtenehe), einer Auftragsarbeit des Melchior von Staufenberg, die F. an den Organisten B. Schmid weitergab, überarbeitete und um einen Prolog ergänzte 22 . Als letzte bedeutende Dichtung F.s erschien im gleichen Jahr das Ehzuchtbüchlin (Straßburg). In ihm steht mitten in der äsopischen Fabel vom Wettlauf des Hasen mit der Schildkröte (Äsop, num. 292) eine Anspielung auf die abgewandelte Fassung des in einer Hs. des 13. Jh.s überlieferten Gedichts vom Fuchs und Krebs, die beide Variationen der Geschichte vom —> Wettlauf der Tiere (AaTh 275) darstellen: „Gut ists, das ich nicht wie der Fuchs/ Hab einen Schwanz/Du wirst sonst flugs/Dich wie ein Krebs auch hengen dran/Das ich dich zum Ziel schlenckert dan" 23 . Bis heute ist F.s über 80 Titel umfassendes Werk in Hinblick auf populäre Erzählstoffe und -motive nicht hinlänglich untersucht 24 . Wichtig erschiene nicht nur ein Vergleich seiner Bearb.en mit den Quellen, sondern auch sein Einfluß auf die schwankhafte und satirische Lit. bes. des 17. Jh.s. Hier ist die Unters. P. Honeggers Die Schiltburgerchronik und ihr Verf. J. F.25 zu nennen, in welcher der Autor ältere Unters.en — wie die von E. Jeep 2 6 — zur Verf.frage und zu den Bearb.en des Volksbuches 27 zu widerlegen sucht. Schon K. von Bahder 2 8 u. a. erwähnen auffallende Parallelen zu F.s Werk und Sprachstil, den freilich die —» Lalebuch-Fassung ([Straßburg] 1597) mehr belegt als das angeblich .originalere' - » Schildbürger-Buch ([Ffm.] 1598). Im Zusammenhang mit der Druckgeschichte werden gute literaturwiss. Gründe angeführt, die es wahrscheinlich machen, daß eine dem Volksbuch ursprünglich zugrundeliegende Schiltburgerchronik von F. verfaßt und nach dessen Tod in verschiedenen Fassungen herausgegeben und bearbeitet wurde, wobei Wolfhart Spangenberg, der auch schon als möglicher Autor der Schildbürger-Schwänke genannt wurde, das Vorw. des Lalebuchs geschrieben haben könnte 29 .
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1 BP 1, 182. - 2 J. F.s Werke 1 - 3 . ed. A. Hauffen. Stg. [1895] hier 1.1, V. 344-350; BP 1, 344 sq. 3 Werke 1 (wie not. 2) V. 113; BP 2, 152. 4 Werke 1 (wie not. 2) V. 1885 sq. - 5 ibid., V. 3459; BP 3, 282. - 6 Werke 1 (wie not. 2) V. 3304. - 7 Werke 3 (wie not. 2) 86 (Das Podagrammisch Trostbüchlin von 1577). - 8 ibid., 123 (Das Philosophisch Ehzuchtbüchlin). — 9 ed. W. Braune. Halle 1876, 24; BP 3, 187. - 10 cf. BP 2, 23. 11 Werke 1 (wie not. 2) V. 140; Grimm DS 96. 12 Werke 1 (wie not. 2) V. 2052. - 13 ibid., V. 2847. - 14 cf. Röhrich, L.: Sage und Märchen. Fbg/Basel/Wien 1976,57. - 15 Geschichtklitterung (Gargantua) 1 - 2 . ed. A. Aisleben. Halle 1886/ 91. — 16 Zusammenstellung BP 4, 59. — 17 (wie not. 15) Kap. 14, 201. - 18 Janson, S.: Jean Bodin J. F. De la Demonomanie des sorciers (1580) — Vom Außgelaßnen wütigen Teuffelsheer (1581) und ihre Fallberichte. Ffm./Bern/Cirencester 1980 (Exempelkatalog, 165-232). — 19 Sprenger, J./ Institoris, H.: Malleus maleficarum. Der Hexenhammer. Übers, und eingeleitet von J. W. R. Schmidt. (B. 1906) Nachdr. Darmstadt 1974; cf. Rez. von R. Alsheimer in: ZfVk. 72 (1976) 308 sq. - 20 cf. BP 2, 540. 21 BP 2, 566. - 22 Röhrich, Erzählungen 1, num. 2 (mit Nachweisen). - 23 BP 3, 351. - 24 Zu den Schwankliedern cf. Williams, C. Α.: Zur Liederpoesie in F.s Gargantua. Diss. Halle (Saale) 1909. — 25 Honegger, P.: Die Schiltburgerchronik und ihr Verf. J. F. Hbg (1982). - 26 Jeep, E.: Hans Friedrich von Schönberg, der Verf. des Schildbürgerbuches und des Grillenvertreibers. (Diss. Göttingen 1890) Wolfenbüttel 1890. - 27 Spengler, W. E.: Volksbuch. In: RDL 4, 734-742. - 28 Bahder, K. von (ed.): Das Lalebuch (1597) mit den Abweichungen und Erweiterungen der Schiltbürger (1598) und des Grillenvertreibers (1603). Halle 1915. - 29 cf. ibid.; Trümpy, H.: Die Hintergründe des Schwankbuches von den Laleburgern. In: Festgabe H. von Greyerz. Bern 1967, 759-782.
Ausg.n: J. F.s Werke 1 - 3 . Eine Ausw. ed. A. Hauffen. Stg. [1895] (1. Teil: Flöh Haz [1577], Das Glückhaft Schiff von Zürich. Bündnis zwischen Straßburg, Zürich und Bern. Das Jesuiterhütlein. Vom Ritter Peter von Stauffenberg. Kleinere Dichtungen. 2. Teil: Eulenspiegel Reimensweiß. 3. Teil: Das Podagrammisch Trostbüchlin. Das Philosophisch Ehzuchtbüchlin). — Aller Praktik Grossmutter [1572]. ed. W. Braune. (Neudr.e dt. Litteraturwerke [NDL] 2). Halle 1876. - Der Flöhhaz [1573], ed. C. Wendeler (NDL 5). Halle 1877. Geschichtklitterung (Gargantua) 1 - 2 . Synoptischer Abdr. der Bearb.en von 1575, 1582 und 1590. ed. A. Aisleben (NDL 65-71). Halle 1886/ 91. - Geschichtklitterung, ed. mit einem Glossar U. Nyssen. Düsseldorf 1963/64. Lit. (Ausw.): Hauffen, A. (ed.): J. F. Ein Lit.bild aus der Zeit der Gegenreformation 1 - 2 . B./Lpz.
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Fischdiebstahl
1921/22. - Helm, Κ.: J. F. In: H D A 2, 1 5 4 6 1549. - Sommerhaider, H.: J. F.s Werk. Eine Einführung. B. 1960. — Spengler, W. E.: J. F. genannt Mentzer. Göppingen 1969.
Bonn
W. Eckehart Spengler
Fischdiebstahl (AaTh 1), eine vor allem in Europa verbreitete Tiererzählung. Der —> Fuchs stellt sich tot, wird vom Fischer aufgehoben und auf den mit Fischen beladenen Wagen gelegt. Er wirft die Fische hinunter und springt am Ende selbst aus dem Wagen. Der —> Wolf versucht, den Fuchs zu imitieren, der Fischer jedoch errät die Täuschung und schlägt den Wolf halb tot.
Diese Erzählung ist bereits in ma. Texten nachzuweisen, z.B. im frz. —» Roman de Renart (ca 1175), im fläm.sprachigen Reinaert de Fos-Epos des 12. und 13. Jh.s und in der dt. sprachigen Nachbildung Reynke de Vos (1498; —» Reineke Fuchs) 1 . Nach diesen ältesten bekannten schriftl. Belegen dürfte die Erzählung aus der mitteleurop. Volksüberlieferung stammen. Die F.-Erzählung besitzt internat. Verbreitung. Man kennt sie wahrscheinlich in allen europ. Ländern, wofür die große Anzahl von Var.n spricht (z.B. 220 lett., 120 finn., 38 lit., 35 estn., 58 russ., ukr. und weißruss., ca 80 dt., 73 ir., 30 frz. Var.n 2 ). In anderen Erdteilen hat sie sich wahrscheinlich durch europ. Vermittlung 3 verbreitet. In Sibirien wird sie ebenso wie in der Mongolei 4 , in Japan, Korea s , Birma und Kambodscha 6 tradiert, die Typenverzeichnisse Chinas und Indiens 7 jedoch erwähnen die Erzählung nicht. Einige Var.n sind aus Afrika 8 belegt. Indian. Versionen aus Nordamerika 9 sind eindeutig durch Europäer vermittelt worden, und gleiches dürfte für die wenigen Var.n aus Mexiko und Südamerika 10 zutreffen. Die zweite Episode von der mißglückten Nachahmung durch den Wolf ist in Nord- und Osteuropa, dem vorherrschenden Verbreitungsgebiet der Erzählung, gar nicht bekannt oder zumindest sehr selten. Laut M.-L. —» Teneze läßt sich auch diese zweite Episode schon mindestens ins 11. Jh. zurückdatieren, in Verbindung mit dem allg. Thema vom —» Krieg der Tiere11.
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In den einzelnen Motiven der Erzählung treten je nach Regionen kleine Schwankungen auf. Als Hauptfigur für die erste Episode wird der Fuchs am häufigsten genannt; in den Grenzregionen des Verbreitungsgebietes, wie in Amerika, Asien oder Afrika, kann der Protagonist ein typisches Tier der jeweiligen lokalen Überlieferung sein: —> Kaninchen, —» Hase, Kojote (—> Coyote Stories), —» Schakal. Entsprechend kann auch in der zweiten Episode der Wolf durch ein anderes Tier (Fuchs, Kojote, —» Hyäne) ersetzt werden. Eine viel größere Schwankung zeigt sich in bezug auf die Wagenladung, das Ziel des Diebstahls. Fische finden sich fast ausschließlich in Nord- und Osteuropa, anderswo kann der Wagen auch mit Käse, Butter, Federvieh, Brot, Fleisch, Früchten oder Geld beladen sein. Das Transportmittel kann anstelle des Wagens oder des Schlittens ein auf dem Rükken getragener Korb sein, aus dem der Fuchs (Kaninchen) flieht, indem er ein Loch in ihn beißt, durch das er die Fische oder den Käse zuvor hinauswirft (AaTh l**) 12 . Einen eigenen Untertyp (AaTh 1 *) stellt die in manchen Typenkatalogen erscheinende Version dar, in der zwei Tiere zusammenarbeiten: Während der Hase (Vogel) sich totstellt oder auf andere Art die Aufmerksamkeit auf sich zieht, stiehlt der Fuchs den Korb oder dessen Inhalt 13 . Auch dieser Typ ist schon in den ma. Tierepen als Schinkendiebstahl-Episode enthalten: Der Fuchs stellt sich lahm und lockt den Bauern zu sich; in dieser Zeit stiehlt der Wolf den Schinken des Bauern und frißt ihn allein auf 14 . In nord- und osteurop. Var.n fehlt die zweite Episode mit dem Diebstahlsversuch des Wolfs. Statt dessen wird meistens mit der Erzählung vom —> Schwanzfischer (AaTh 2) fortgefahren, in der der Fuchs den Wolf (Bär) dazu verleitet, seinen Schwanz in ein Eisloch zu hängen, um Fische zu fangen. Auch in Mittel- und Südeuropa ist die Kontamination dieser beiden Typen nicht unbekannt, aber sie ist bei weitem nicht so ausschließlich wie im nördlicheren Verbreitungsgebiet, in dem man den F. nur als Einleitung der SchwanzfischerErzählung antrifft. Ζ. B. sind von 73 ir. F.Versionen nur 16 mit der Schwanzfischer-Erzählung verbunden, von den 30 frz. Var.n nur zwölf und von den 22 ital. Fassungen sieben 15 .
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Fischer als Ehemann der Prinzessin
Nord- und Osteuropa zeigen sich also auch aufgrund der Kontamination von AaTh 1 und AaTh 2 als ein sehr zusammenhängendes Verbreitungsgebiet, wohingegen in anderen Gebieten sowohl hinsichtlich der einzelnen Motive als auch der Kontaminationen größere Schwankungen anzutreffen sind. Uber den Ursprung des F.s und seiner Beziehung zur Schwanzfischer-Erzählung finden sich unterschiedliche Auffassungen. K. —» Krohn vertritt in seiner Diss, über Fuchserzählungen die Ansicht, daß der F. im Norden entstanden sei als Einleitung der Schwanzfischer-Erzählung, um zu erklären, wie der Fuchs in den Besitz der Fische gekommen sei. In dieser Verbindung hätten sich dann die beiden Erzählungen von Nord- nach Mitteleuropa ausgebreitet 16 . Dieser Auffassung Krohns, derzufolge der F. keineswegs als selbständige Erzählung gelebt hätte, widersprach O. —» Dähnhardt. Seiner Meinung nach ist der F. als eigenständige Erzählung von Nordeuropa nach Mittel- und Westeuropa gewandert und die Verbindung von F. und Schwanzfischer im Norden erst später entstanden 17 . A. Graf stimmt zwar mit Dähnhardt darin überein, daß der F. im Norden als selbständige Erzählung entstanden sei, aber ist mit Krohn der Ansicht, daß der F. und der Schwanzfischer erst als Kontamination nach Mitteleuropa gekommen seien 18 . L. ThaarupAndersen stellt die nordeurop. Herkunft insgesamt in Frage. Ihrer Meinung nach kann die Erzählung ebensogut fast überall entstanden, der Zusammenschluß der F.- und Schwanzfischer-Erzählungen dafür gerade im Norden geschehen sein 19 . Auch W. —» Liungman glaubt nicht an den nordeurop. Ursprung; er hält den F. für jünger als die Schwanzfischer-Erzählung 20 . 1 Krohn, K.: Bär (Wolf) und Fuchs. In: JSFO 6 (1889) 1 - 1 3 2 , hier 52; cf. auch Smith, 7. 2 Zusätzlich zu AaTh v. Aräjs/Medne; Viidalepp, R.: Eesti muinasjutud. Tallinn 1967, 491; SUS; MNK; de Meyer, Conte; 0 Siiilleabhäin/Christiansen; Delarue/Teneze; Cirese/Serafini; Megas; Jason; Noy; cf. auch Schwarzbaum, Fox Fables, 4 8 0 - 4 8 4 . - 3 Krohn (wie not. 1) 51. - 4 Kecskemeti/Paunonen (insgesamt 57 Var.n); Lehtisalo, T.: Samojed. Sprachmaterialien. Hels. 1960, 337, num. 2; Lörincz; Ergis, num. 2, 4, 10sq., 15sq.; J A F L 41 (1928) 415. - 5 Seki, num. 31; Ikeda; für Korea cf. Choi, num. 25. — 6 Htin Aung, Μ.: Bur-
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mese Folk-Tales. L. 2 1954, 1 6 9 - 1 7 1 , num. 50; Esche, Α. (ed.): Märchen der Völker Burmas. Lpz. 1976, 253sq.; Aymonier, E.: Textes khmers. Saigon 1878, 34. - 7 Eberhard, Typen; Bodker, Indian Animal Tales. - 8 z.B. Bleek, W. H. J.: Reineke Fuchs in Afrika. Weimar 1870, 13 sq., 83sq.; Fuchs, P.: Afrik. Dekamerone. Stg. 1961, 3 0 - 3 5 ; cf. Arewa, num. 2930; Coetzee. - 9 z.B. Coffin, Τ. P.: Analytical Index to the JAFL. Phil. 1958. - 10 Robe; z.B. Cascudo, L. da Cämara: Contos tradicionais do Brasil. Rio de Janeiro 1946, 278; Chertudi, S.: Cuentos folklöricos de la Argentina 2. Buenos Aires 1964, num. 1; cf. auch Flowers. 11
Delarue/Teneze 3, 273. — 12 ζ. B. Hansen; Robe. - 13 Aräjs/Medne; de Meyer, Conte; Ikeda; Robe. - 14 Graf, Α.: Die Grundlagen des Reineke Fuchs (FFC 38). Hels. 1920, 6 9 - 7 0 . - 15 0 Süilleabhäin/ Christiansen; Delarue/Teneze; Cirese/Serafini. 16 Krohn (wie not. 1) 4 6 - 5 4 . - 17 Dh. 4, 226. 18 Graf (wie not. 14) 5 9 - 6 0 . - 19 Thaarup-Andersen, L.: „Fiskefangstfablen" i den skriftlige literatur og folkeliteraturen. In: DSt. (1954) 135. - 20 Liungman 3, 15.
Helsinki
Pirkko-Liisa Rausmaa
Fischer als Ehemann der Prinzessin (AaTh 879A) ist ein bes. in Mittelmeerländern (Türkei, Griechenland, Sizilien, Malta) 1 , aber auch in Rumänien und Litauen 2 bekannter Typ. Eine Königstochter verliebt sich in einen jungen Fischer, dessen niedrige soziale Herkunft von seiner außergewöhnlichen Schönheit (oder Stimme) aufgewogen wird, und will ihn heiraten. Der Jüngling hat ernsthafte Bedenken wegen seiner Herkunft, fügt sich aber letztlich der Beharrlichkeit des Mädchens. Er spricht jedoch die Warnung aus, er wolle nie mehr reden, wenn sie ihm eines Tages seinen bescheidenen Stand vorwürfe. Meist beim Hochzeitsessen (oder in der Hochzeitsnacht) wird er von ihr durch eine Ungeschicklichkeit (oder sogar bewußt) beleidigt. Der Jüngling verläßt das Haus und tritt bei einem König in Dienst. Dieser ist von der Schönheit des jungen Mannes beeindruckt, jedoch gleichermaßen bedrückt wegen dessen Stummheit. Der König verspricht demjenigen, der ihn zum Sprechen bringen kann, reichen Lohn, demjenigen, dem es mißglückt, droht er den Tod an. Schließlich erscheint nach langer Suche auch die Königstochter in Männerkleidung. Sie bleibt drei Nächte vergeblich an der Seite des Jünglings, um ihn zum Sprechen zu bewegen, und wird zur Hinrichtung geführt. Der Jüngling befindet sich unter den Zuschauern auf dem Richtplatz. Im letzten Augenblick, als ihr der Henker die Schlinge um den Hals legen will, spricht ihr
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Fischer und seine Frau
Mann (auf für sie recht entwürdigende Weise) und rettet sie.
Der Inhalt der Erzählung weist auf eine späte Entstehungszeit hin. Nur das Motiv des —» Schweigens (als Initiationsindiz wie vermutlich in AaTh 451: —> Mädchen sucht seine Brüder) scheint ihr archaischen Charakter zu verleihen. Im vorliegenden Märchen hat das Schweigen jedoch eine andere Funktion: Es projiziert den inneren Zustand des Zornes und des Trotzes anschaulich nach außen und steht für den Entschluß des Jünglings, sich an der hochmütigen, sozial höhergestellten Königstochter zu rächen. Das Thema des selbstauferlegten Schweigens eines Jünglings aufgrund eines ihm zugefügten Unrechts durch eine Frau ist u. a. im Dolopathos des —> Johannes de Alta Silva anzutreffen, von dem möglicherweise dieses Motiv herzuleiten ist 3 . Das Märchen gipfelt im Erniedrigungsmotiv: In der maltes. Var. erlaubt der König dem Mädchen, bevor es hingerichtet werden soll, noch drei Worte zu sagen. Da spricht sie: „Wer will mein Leben um drei Pfennige kaufen?" Niemand antwortet, und erst, als sie zum dritten Mal fragt, wer ihr Leben für einen Pfennig kaufen wolle, bricht der Jüngling sein Schweigen, um zu sagen: „Ich kaufe es!" 4 . In der griech. Var. erscheint der junge Mann mit drei Nüssen in der Hand und sagt zum Henker: „Gieb mir die junge Frau für diese drei Nüsse" 5 .
AaTh 879 Α gehört zu den wenigen Erzählungen, die soziale Unterschiede nicht harmonisieren oder rechtfertigen, sondern den Konflikt aufzeigen. Daher ist sie als Subtyp zu AaTh 879: —> Basilikummädchen aufgenommen worden, in dem ebenfalls ein Nachklang der Konfrontation zweier Liebender unterschiedlicher Herkunft zu finden ist 6 . 1
Ergänzend zu AaTh: Cirese/Serafini (sizilian.); Karlinger, F.: Inselmärchen des Mittelmeeres. MdW 1960, num. 20 (aus: Stumme, H.: Maltes. Märchen. Lpz. 1904, num. 11). - 2 Kremnitz, M.: Rumän. Märchen. Lpz. 1882, num. 8; Schleicher, A. (ed.): Lit. Märchen, Sprichworte, Rätsel und Lieder. (Weimar 1857) Nachdr. Hildesheim/N.Y. 1975, 86—91. — 3 In der Regel schweigen in den Märchen die Mädchen, cf. Mot. Η 343: Suitor test: bringing dumb princess to speak, Mot. Η 1194.0.1: Task: causing silent person to speak; cf. auch Knüsel, Κ.: Reden und Schweigen in Märchen und Sagen. (Diss. Zürich) Bern 1980. - 4 Karlinger (wie not. 1) 91. - 5 Hahn, 245. - 6 Meraklis, M.:
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Das Basilikummädchen, eine Volksnovelle. Diss. Göttingen 1970, 31 sq.; zum F. als Ehemann der Prinzessin ibid., 44 sq.
Jannina
Michael Meraklis
Fischer und seine Frau (AaTh 555). Der räumlich und zeitlich weit verbreitete und gut belegte Märchentypus verdient bes. Aufmerksamkeit wegen seiner herausragenden Rolle, die er bei der Konstituierung der volksliterar. Sammelunternehmungen der Romantiker und vor allem der Brüder Grimm gespielt hat, wegen seines mit vielen Mythologemen und Morallehren übereinstimmenden Inhalts und auch wegen seines der Traumstruktur frappant ähnlichen Aufbaus. Protagonisten sind meist zwei in dürftigen Verhältnissen lebende, ältliche Eheleute. Sie kommen mit einer numinosen Gestalt (göttliches Wesen, Heiliger, Dämon, Mensch in Tiergestalt) in Verbindung, die sie in der Regel aus einer Notlage (Todesgefahr, Gefangenschaft, Verwandlung) befreien oder sich sonst verbindlich machen, woraufhin ihnen —> Wünsche gewährt werden. Diese —> Gabe nutzen sie zunächst überlegt und mit Maßen (im Gegensatz zu den Märchenhelden mit den unvernünftigen Wünschen), ehe sie sich zu hybriden und unerfüllbaren Forderungen versteigen. Damit ist die Wunschfähigkeit vertan, und sie werden wieder in den ärmlichen Ausgangszustand zurückversetzt oder gar noch obendrein bestraft (—» Demut und Hochmut; —> Hybris).
Die Aufzeichnungen des aus Wolgast in Pommern stammenden romantischen Malers Philipp Otto Runge ( 1 7 7 7 - 1 8 1 0 ) Von den Fischer un siine Fru und Van den MachandelBoom gehören zu den ältesten Märchendokumenten dieser Art überhaupt und waren von gar nicht hoch genug einzuschätzendem Einfluß auf die Grimmschen KHM. Für die Überlieferungsgeschichte des dt. Volksmärchens kommt ihnen ein ähnlicher Stellenwert zu wie den elsäss. Aufzeichnungen Goethes von 1771 für die des Volkslieds. Sie sind zugleich die bedeutendsten Texte in der ersten Phase der Sammeltätigkeit ( 1 8 0 7 - 1 0 ) der Brüder Grimm, bestimmten maßgeblich deren (zunächst unausgesprochene) Definition der Gattung ,Volksmärchen', wurden ihnen und andern Sammlern geradezu zum Muster 1 , dem sie bei ihren eignen Aufzeich-
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Fischer und seine Frau
nungen, ihrer Textauswahl und ihren Ü b e r arbeitungen nahezukommen suchten 2 . Am 24. 1. 1806 hatte sich Runge beim Wunderhorn- Verleger J. G. Zimmer in Heidelberg für die Übersendung des 1. Bandes der Liedersammlung bedankt und „2 Platdeutsche Döhnche wie sie die Kinderfrauen wol erzählen" 3 für die WunderhornFortsetzung beigefügt. Zimmer hat eine Abschrift der Einsendung an den nachmaligen KHM-Verleger G. A. Reimer in Berlin geschickt, der sich im Jan. 1808 dafür bedankte 4 ; die Originale wurden von Zimmer an Clemens —» Brentano, von diesem an Achim von —> Arnim weitergegeben. Da in die Wunderhorn-Foits. aber dann doch (bis auf die Var. zu KHM 80 5 ) nur Lieder aufgenommen wurden, veröffentlichte Arnim den Machandel-Boom in seiner Ztg für Einsiedler ( 9 . - 1 2 . 7. 1808); die zugrundeliegende Hs. Runges machte er zusamt dem Fischer-Ms. W. Grimm zugänglich, der sie 1809 abschrieb und über Arnim wieder Brentano zurückgab, weil dieser sie in seine eignen Märchen einfügen wollte 6 , was indes nie geschah - die Rungeschen Originalniederschriften, gleichsam ,Urmeter' der Märchenlandschaft, sind seither verschollen 7 . Noch vor dem 1. Band der KHM waren im Sept. 1812 J. G. —> Büschings Volks-Sagen, Märchen und Legenden erschienen, die den Machandel-Boom (num. 57) nach dem Arnimschen Abdruck, den Fischer (num. 58) aber nach einer Abschrift F. H. von der —> Hagens in vor allem sprachlich und stilistisch nicht unwesentlich abweichender Form boten. Diese Version bezeichneten die Grimms zunächst als „nicht ohne Fehler" 8 , bis sie Arnim belehrte, daß Büsching nicht Arnims Abschrift, sondern eine abweichende Redaktion Runges selbst vorlag 9 . Die Märchenforschung hat das übersehen und immer wieder vergeblich die authentische ,Urfassung' zu erweisen gesucht, zumal der Verleger Reimer in die KHMTexte (num. 19, 47),schlimmbessernd' eingegriffen hatte 10 . Erst 1973 konnte der Sachverhalt durch Entdeckung der Hs. von der Hagens geklärt werden 11 : Runge hatte Anfang 1806 KHM 19 in divergierenden Fassungen aufgeschrieben 12 , sich (wie seinerzeit üblich) das Bearbeitungsrecht des Aufzeichners „in letzter Instanz" 13 genommen. M a n sollte solche Varianz als überlieferungsgeschichtliche Gegebenheit und nicht als Ärgernis betrachten, zumal die wichtigeren Fragen, o b Runge Erinnerungen an seine p o m m e r s c h e Kindheit oder seinerzeit in H a m b u r g umlaufende Traditionen festgeh a l t e n 1 4 und wieweit er ergänzend, abrundend, ausschmückend eingegriffen hat, noch i m m e r nicht zureichend beantwortet sind. D i e brillante Erzähltechnik, die stringente Motivierung sprechen ebenso für Runges
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künstlerische Überarbeitung wie die schon zeitgenössische Behauptung, befragte G e währsleute „hätten sie [die F . - G e s c h i c h t e ] aber alle anders wissen w o l l e n " 1 5 . E s waren nicht zuletzt solche Unsicherheiten, die W . G r i m m veranlaßten, die A n m e r k u n g zu K H M 1 9 ab der 2. Aufl. ( B . 1 8 2 2 ) und endlich ab der 5. Aufl. der K H M (Göttingen 1 8 4 3 ) auch den T e x t gründlich zu ändern. Dabei folgte er einer m e h r schlechten als rechten Umsetzung seiner eignen Fassung von 1 8 1 2 in einen merkwürdigen H a m b u r g e r Dialekt durch D . Runge, einen B r u d e r des Malers 1 6 , womit beide fälschlich der verlorenen Urfassung von 1 8 0 6 näherzukommen gemeint hatten. E s ist fatal, daß diese sprachlich mißglückte und auch sonst nicht eben verb. Fassung dank der weiten Verbreitung der K H M - A u s g . letzter H a n d bis heute die bekannteste blieb. D e n beiden ursprünglichen Originalniederschriften des F.-Märchens durch R u n g e stehen von der H a g e n s A b schrift 1 7 und die Grimmsche Fassung der K H M - E r s t a u f l a g e a m nächsten. Sie zeichnen sich u. a. durch lebendige, zuweilen derb realistische Sprache (wörtliche R e d e n ! ) , märchengerechte Wiederholungen (Verseinlagen) und bes. durch kunstvolle Steigerungen aus: Einer dreigliedrigen Klimax der Wohngegebenheiten (Pißpott, Fischerhütte, Schloß) folgt die hybride Trias der Ämterlaufbahn (König, Kaiser, Papst), womit die Rolle der Fischersfrau (!) eindeutig ins Groteske geführt wird, bis der sechste und letzte Wunsch die strafende restitutio auslöst. Dem malerischen Ingenium Runges wird man ehestens die Einbringung einer artistisch durchlaufenen Farbskala von „blank" über „gehl und grön", „vigelett un gru un dunkelbloj", „swartgru", „swart", „roth" bis hin zu „gans swart" (nebst entsprechender Wettersymbolik) zuschreiben dürfen: Himmel und Meer spiegeln zeichenhaft in wiederum zweimal dreifacher Steigerung die zunehmende Gefährdung der Fischersleute durch die Hypertrophie ihrer Wünsche. Im Rahmen einer märchenhaften Zeitlosigkeit (formelhaft in „Dar war mal eens" und „noch hüt upp dissen D a g " gefaßt) entfaltet sich das Crescendo der immer hastigeren Wünsche: Nach etwa 14 Tagen in der Hütte und einer Nacht im Schloß vergeht zwischen König- und Kaisertum nur eine kurze Weile, bis zur Papstwürde lediglich noch ein Augenblick; diese währt retardierend wieder eine Nacht, ehe der Sonnenaufgang den verhängnisvollen letzten Wunsch anregt.
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Fischer und seine Frau
Daß Runges Niederschriften älterer und seinerzeit weitverbreiteter mündl. Überlieferung folgen, hat zuerst von der Hagen erfaßt: „Es ist übrigens schon ein, wer weiß, wie altes Märchen, dessen sich schon alte Leute aus ihrer Jugend erinnern" 18 . Dafür sprechen u. a. von Runge/Büsching/Grimm sowie voneinander unabhängige Versionen, wie sie ζ. B. A. L. Grimm 1808 19 , Justinus Kerner 20 1811 veröffentlicht hatten oder wie sie den Grimms vor 1812 mündl. in Kassel zugekommen waren 21 . „Das Motiv von der Frau, die ihren Mann zu hohen Würden reitzt, ist gewiß uralt, von Eva und der etrurischen Tanaquil (Livius 1, 47) bis zur Lady Macbeth", merkten die Grimms bereits 1812 an 22 . Das eigentliche Thema haben Karl Immermann 23 und Friedrich Hebbel als schlechthin „märchenhaft" 24 charakterisiert 25 . Eine märchenhaft anmutende Ausformung ist schon um 1250 in England aufgezeichnet 26 ; sie entspricht dem Typus ,König für einen Tag' (cf. AaTh 1531: —> Bauer wird König für einen Tag) oder dem Sprichwort ,Hochmut kommt vor dem Fall'. Deutliche Verwandtschaft mit altind. Sagen um König Mändhätri sowie dem —» Tantalus-Mythos (in der antiken Fassung durch Athenaios 27 ) könnten auf polygenetischen Ursprung des F.Märchens deuten. Dafür sprechen auch die merkwürdig genaue Übereinstimmung des Textes mit charakteristischen Traumerlebnissen 28 und vor allem die Fülle der weitgestreuten Ökotypen. In Europa lassen sich bes. viele ir., fläm., frz., lett. und ostslav. Var.n belegen 29 . Neben der großen Zahl der von den Grimms (Fisch als Glücksspender), aber auch von A. Stöber (Vogel) 30 beeinflußten Versionen 31 sind die genannten älteren dt.sprachigen Var.n 32 und die in Einzelheiten deutlich abweichenden, sich damit als relativ selbständig erweisenden Fassungen von Bedeutung. Zumal im Bereich der Romania wird der Kontakt zum Numinosen häufig mittels einer himmelhohen Pflanze (Der himmelhohe —» Baum, —> Bohnenranke) hergestellt 33 ; entsprechend ist der Glücksspender meist Petrus oder Gott selbst. Hinsichtlich der Bestrafung am Ende zeigen sich Besonderheiten etwa in tatar., masur. und isl. (die Protago-
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nisten kommen um 34 ) sowie in slavon. und wend. Fassungen (die Unersättlichen werden ewig geprügelt 35 ). Nebst der sonst üblichen restitutio ad integrum ist indes die —» Verwandlung in Tiere am weitesten verbreitet 36 . Trotz solcher Divergenzen im einzelnen ist das F.-Märchen in vieler Hinsicht so gemeinplätzig, daß schließlich die Frage nach dem tatsächlichen Protagonisten fast gegenstandslos wird, zumal Unersättlichkeit in einigen Fassungen ausschließlich durch den Mann, in andern durch Mann und Frau gleichmäßig verkörpert werden: In der dt. Versfassung von 1811 37 , aber auch in tatar., malai. und einigen frz. Aufzeichnungen tritt ζ. B. die Ehefrau überhaupt nicht auf 38 ; in den andern vorgrimmschen Var.n 39 und in Ludwig —•> Bechsteins Dt. Märchenbuch (Lpz. 1845) 40 wünschen beide Eheleute mit gleicher Leidenschaft und Maßlosigkeit. Unter philolog. wie märchenkundlicher Perspektive verfehlt daher die Kritik des Zentralkapitels im ß««-Roman von Günter Grass 41 (Darmstadt/Neuwied 1977, Kap. 6,3) ihr Ziel: Es gibt ebensowenig eine ,profeministische' Fassung Runges wie eine durchgehend ,anti-feministische' Tendenz des F.-Märchens schlechthin; so konnte etwa die Grimm/Rungesche Fassung schon 1814 ohne weiteres auf Napoleon 42 sowie noch 1978 auf Hitler 43 übertragen werden. Die Diskussion J. Grimms mit Arnim (der sich vor allem an dem Wort „Pißpott" störte 44 ), ob es sich um ein Kindermärchen handelt, ist nur ein Detail grundsätzlicher Divergenzen. Gattungsspezifisch relevanter ist das Problem des fehlenden Happy-End 45 . Zwar ändert die eigentliche Bedeutung des F.-Märchens sich nicht, wenn die Rollen wechseln; durch die verschiedenen Protagonisten wird sie nur nuanciert. Ob ein Baum, eine Haselstaude, ein Fisch, ein Vogel, eine Katze, eine Maus, eine Fee, Elias, Petrus, der hl. Michael oder Gott selbst der numinose Helfer 46 ist: Stets scheitern die Märchenhelden an sich selbst. Aber dieses Scheitern hat eben nicht nur burleske und belehrende, sondern letztlich vor allem tragische Züge: Dem höchsten Streben des Menschen ist Erfüllung versagt; er scheitert — bibl. gesprochen — in der Antinomie zwischen seinem gottgesetzten Ziel, „ad imaginem et similitu-
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Fischer und seine Frau
dinem Dei" zu streben, und seiner Hybris, sein zu wollen „sicut Deus" 47 . Auf demselben schmalen Grad zwischen ,Abbild' und .Ebenbild' der Gottheit führt ja auch Goethe seinen Faust. M. Lüthi 48 hat dies herausgestellt und auf das Problem verwiesen, daß der eigentliche Märchenheld, der Kontakt zum Numinosen hat, hier passiv erscheint, sein Partner hingegen als dynamisch, bedeutend und interessant; dessen „Streben ist groß und an sich berechtigt, es täuscht sich nur im Ziel" 49 . I „Gut wäre es wohl, zum Anfang ein Rungesches Mährchen oder einige andere Muster [. . .] einrücken zu lassen" — nämlich in einen geplanten Rundbrief zur Slg volksläufiger Lit.: J. Grimm an Brentano, 22. 1. 1811 (Steig, R.: C. Brentano und die Brüder Grimm. Stg./B. 1914, 161 sq.); „Sowohl in Rücksicht der Treue, als der trefflichen Auffassung wüßten wir kein besseres Beispiel zu nennen, als die von dem seligen Runge in der Einsiedlerzeitung gelieferte Erzählung vom Wacholderbaum, plattdeutsch, welche wir unbedingt zum Muster aufstellen und woran man sehen möge, was in unserm Feld zu erwarten ist" (J. Grimms Entwurf zu einer entsprechenden „Aufforderung", ibid., 167). - 2 Lüthi, Märchen ( 7 1979) 58; cf. bereits BP 4, 453sq.; noch Anfang 1813 mißt Brentano die K H M kritisch ohne weiteres am Maßstab Runges: „Warum die Sachen nicht so gut erzählen, als die Runge'schen erzählt sind? sie sind in ihrer Gattung vollkommen" (an Arnim, in: Steig 1894, 309). - 3 Nach dem Original, cf. Rölleke 1973, 115, not. 4. - 4 Zimmer, H. W. B. (ed.): J. G. Zimmer und die Romantiker. Ffm. 1888, 277: „Das erste und bei weitem vortrefflichere [das F.Märchen] der beiden dürfte eine güldene Anwendung finden auf die Ereignisse unserer Zeit [. . .], daß alle menschlichen Bemühungen, in wiefern nicht ihr letztes Ziel in Gott gesteckt ist, nichtig sind." - 5 Rölleke, H. (ed.): Des Knaben Wunderhorn 8. Stg./B./Köln/Mainz 1979, 469sq. - 6 „Ich gehe jetzt damit um, Kindermährchen zu sammeln. Zimmer wird sie, wenn ich fertig bin, drucken. Ihr trefflich erzählter Machandelboom und Buttje werden auch dabey sein, wenn Sie es erlauben" (Brentano an Runge, Juni 1810, in: Feilchenfeldt, K. [ed.]: C. B r e n t a n o - P . O. Runge. Briefwechsel. Ffm. 1974, 41). - 7 Weiss, H. F.: Unveröff. Briefe Arnims. In: Lit.wiss. Jb. 21 (1980) 8 9 - 1 6 9 , hier 139 und 2 2 ( 1 9 8 1 ) 7 1 - 1 5 4 , hier 85 sq. - 8 Rölleke 1975, 143. - 9 v. Rölleke 1973, 113 sq. - 10 cf. Steig, R.: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: ArchfNSprLit. 107 (1901) 2 7 7 - 3 0 0 , bes. 296, 300; cf. BP 1, 138. II cf. Rölleke 1973. - 12 cf. auch Runges Brief an seinen Bruder Gustaf: „ich will dir [. . .] zwey Löögschen senden, die ganz außerordentlich schön
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und complet sind", in: Rölleke 1973, 115. 13 Goethe über das Wunderhorn: Jenaer Allg. Lit.-Ztg num. 19 (22. 1. 1806) 147. - 14 cf. das Nebeneinander der Charakterisierung als .Hamburgisch' bzw. ,Pommerisch' schon in Arnims Einsiedlerzeitung (9. und 12. 7. 1808) und D. Runges Überarbeitung in: Hinterlassene Sehr, von P. O. Runge, Mahler 1. ed. von dessen ältestem Bruder [i.e. D. Runge], Hbg 1840, 4 3 0 - 4 3 5 . - 15 Rölleke 1978, 11, 97. Zu Runges eignem Anteil cf. bereits die apodiktische Behauptung A. L. Grimms aus dem Jahr 1816 in: Lina's Mährchenbuch. Grimma s.a., p. V: „Der seelige Runge hat in ihrer Sammlung zwey wunderschöne Mährchen unnachahmlich in plattdeutscher Sprache erzählt. Sie sind aber gewiß nicht so aus dem Munde des Volkes aufgeschrieben." cf. dagegen J. Grimms Lob Runges (Brief an F. Grimm, 8. 2. 1813, ungedr., Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz B., Nachlaß Grimm 368): „Wer so herrlich und in seiner Art vollkommen erzählen kann, ohne Falschheit und Schmuck". - 16 Runge (wie not. 14). — 17 Abdruck bei Rölleke 1973, 1 2 0 - 1 2 3 ; verb, in Rölleke 1978, 2 0 - 2 8 und id.: ,Nebeninschriften'. Bonn 1980, 3 2 - 3 6 . - 18 cf. Rölleke 1973, 117sq.; cf. auch A. L. Grimms Bemerkung (wie not. 15). 19 ,Hanns Dudeidee - ein Mährchen', kommentierter Textabdruck bei Wesselski, Α.: Dt. Märchen vor Grimm. Brünn/Lpz. 1938 (Brünn u.a. 1942) 4 4 - 5 2 , 3 2 7 - 3 3 2 ; Rölleke 1 9 7 8 , 3 1 - 4 3 . - 2 0 ,Hans Entendee - Kindermährchen'. Verf. der Verserzählung ist Κ. P. Conz ( 1 7 6 2 - 1 8 1 7 ) , kommentierter Textabdruck bei Rölleke 1978, 4 3 - 4 9 . 21 Durch die Apothekersgattin D. C. Wild ( 1 7 5 2 1813): Anmerkung zu K H M 19: ,vom Männchen Domine'. Für einen textlichen Archetypus spricht auch der Gleichklang der zufrühest belegten Namen: timpe tee (Runge; bei Grimm: Timpe Te), Dudeidee, Entendee, Domine; cf. ferner Dundeldee in: Mark. Sagen und Märchen, ed. A. Kuhn. B. 1843, 273—276, nach mündl. Tradition in der Ukermark, oder Tintelntee, nach mündl. Tradition in Belgien: Germania 14 (1869) 91; cf. auch Düffelkee, Ticktocktee: BP 1, 144. Der Beginn des den Grimms um 1810 durch die Pfarrerstochter F. Mannel ( 1 7 8 3 - 1 8 3 3 ) aus Allendorf (Schwalm) zugekommenen K H M 85 ,Die Goldkinder' stimmt auffällig mit dem F.-Märchen überein. — 22 cf. Rölleke 1975, 143. - 2 3 Gedicht ,Auf dem Heimwege', Abdruck bei Rölleke 1978, 95 („Zaubermärchen"). - 24 Hebbel, F.: Sämtliche Werke. 2. Abt. Tagebücher 1 - 4 . ed. R. M. Werner. B. 1903, hier t. 4, 263 („Märchenhaft; man schläft ein auf Stroh und erwacht in einem Palast"). — 25 cf. auch H. von Hofmannsthals ,Xenodoxus' in: Dramen 4. ed. H. Steiner. Ffm. 1970, 85 („Xenodoxus' rasender Hochmut. E r ist die ganze Monarchie. Er wird Papst werden. Er wird Gott sein."); schon in der ,Semele' (In: Schiller, F.: Anthologie auf das Jahr 1782. Stg. 1782) faßte Schiller den antiken Mythos ganz in diesem Sinn: Auch hier führen die schließ-
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Fischkönig — Flächenhaftigkeit
lieh hybriden Wünsche zur Katastrophe. — 26 Wesselski, MMA, 235sq.; zu altfrz. Parallelen cf. BP 1, 147sq.; Delarue/Teneze. — 27 Wesselski, M M A , 236. — 2 8 Arnim verwendet 1813 im Drama ,Päpstin Johanna' (übereinstimmendes Motiv: eine Frau als Papst) das Märchen zweimal: In der entsprechenden Verseinlage träumen der Fischer und seine Frau die ganze Geschichte! cf. dazu Steig R.: Literar. Umbildungen des Märchens vom Fischer und siner Fru. In: ArchfNSprLit. 110 (1903) 8—19 (nur zu Arnim). — 29 Ergänzend zu AaTh cf. 0 Suilleabhäin/Christiansen; de Meyer, Conte; Delarue/Teneze; Aräjs/Medne; SUS; Ikeda; Nowak, num. 53; Jason; Robe; Cirese/Serafini; Flowers; Choi, num. 125; Kecskemeti/Paunonen; Ting; Ranke 2, 217—228; cf. auch Tubach, num. 3650 sowie Permyakov, G. L.: From Proverb to Folk-Tale. Μ. 1979, 58sq. - 3 0 Stöber, Α.: ,Mann und Frau im Essigkrug': Elsäss. Volksbüchlein. Straßburg 1842, 1 0 9 - 1 1 3 . 31 Beleg von über 90 Fisch- und fünf Vogel- Var.n in: Rommel 1935, 24; cf. auch BP 1, 1 3 8 - 1 4 8 ; H D M 2, 130 sq.; Ranke 2, 2 1 7 - 2 2 8 sowie die kleine Textslg bei Rölleke 197 8. - 32 cf. not. 1 8 - 2 1 . - 3 3 cf. Delarue/Teneze; BP 1, 145; H D M 1, 300; cf. auch Aarne, Α.: Die Zaubergaben. In: JSFO 27 (1911) 1 - 9 6 , hier 49. - 3 4 Radioff, W.: Proben der Volkslitteratur der türk. Stämme SüdSibiriens 1. St. Petersburg 1866, 3 1 3 - 3 1 7 ; ZfVk. 42 (1933) 199sq.; Isl. Volksmärchen. Übers. H. und I. Naumann. MdW 1923, 124. - 35 Hüllen, G. (ed.): Märchen der europ. Völker 6. Münster 1965, 2 3 7 - 2 4 1 ; Schulenburg, W. von: Wend. Volksthum in Sage und Sitte. B. 1882, 37. 36 H D M 2, 130; cf. auch: Die Wunderblume und andere Märchen. Märchen verschiedenster Völker der UdSSR. B. 195 8, 45 - 4 7 . - 3 7 wie not. 20. 38 cf. not. 34; cf. auch Wesselski, M M A , 1 2 2 - 1 2 4 , 235 sq. - 3 9 cf. not. 19 und 21. - 4 0 cf. Bechstein, L.: Sämtliche Märchen, ed. W. Scherf. Mü. 1965, 258—263 (hochdt. Version nach Stöber [wie not. 30]). 41 Zwischen Arnim und Grass gibt es zahlreiche Adaptionen, von denen hier außer der Umdichtung durch A. Puskin (cf. BP 1, 146) nur die märchennahe Bearb. durch M. Jahn: De Fisker un sien Fro. In: id.: Ulenspegel un Jan Dood. Mü. 1940, 6 1 - 6 8 und die Umsetzung ins Hochdt. durch U. Johnson: Vom Fischer un syner Fru. Ein Märchen nach Philipp Otto Runge. Ffm. s. a. sowie die Vertonungen durch F. Klose (1903), H. Hoffmann (1918) und O. Schoeck (1956) genannt seien; cf. auch Mieder, W.: Zwei moderne lyrische Bearb.en des Märchens „Von dem Fischer un syner Fru". In: SAVk. 75 (1979) 63—69. Eine Ausw. der zahllosen Illustrationen bietet Rölleke 197 8. - 4 2 cf. Rölleke 1978, 18, 98 sowie Savignys Brief aus Berlin an W. Grimm (29. 4. 1814) in: Stoll, Α.: F. K. von Savigny 2. B. 1929, 104 („Hier hat jemand den ,Fischer und sine Fru' aus Ihrem Buch besonders drucken lassen, was als Biographie Bonapartes
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stark gekauft und gelesen wird."); cf. auch die zeitgenössische Anwendung (wie not. 4). — 4 3 Hochhuth, R.: Eine Liebe in Deutschland. Reinbek 1978, 185, cf. 266; cf. bereits Assmann, K.: Dt. Schicksalsjahre. Wiesbaden 1950, Vorw., pass.; gegenwärtig häufige Kritik an der Industrialisierung mittels des F.-Märchens (ζ. B. Der Spiegel, 2. 7. 1979, 11. 8. 1980 und pass.). - 4 4 Steig 1904, 262 sq., 269, 271, 273, 297; Seemann 1939, 55 sq., der auf mundartlich ,Pißkat' (Armenkate) abhebt. - 4 5 cf. Jason, H.: The Fisherman and His Wife. A Case Study of a Hybrid Folktale. In: Fabula 21 (1980) 1 - 2 3 . - 4 6 Einzelnachweise v. BP 1, 1 4 3 - 1 4 7 ; H D M 2, 130 sq. - 4 7 Gen. 1, 26 und 3,5. — 48 Lüthi, Μ.: Von dem Fischer un syner Fru. In: id. 2 1966, 5 7 - 6 1 . - 4 9 ibid., 59. Lit.: Bechstein, L.: Mythe, Sage, Märe und Fabel 2. Lpz. 1855, 236 sq. - A. von Arnim und C. Brentano. ed. R. Steig. Stg. 1894. - A. von Arnim und J. und W. Grimm, ed. R. Steig. Stg./B. 1904. Hamann, H.: Die literar. Vorlagen der K H M und ihre Bearb. durch die Brüder Grimm. B. 1906, 5 8 66. - BP 1, 1 3 8 - 1 4 8 . - Heyden, F.: Volksmärchen und Volksmärchen-Erzähler. Hbg 1922, 1 6 - 2 0 . — Schulte Kemminghausen, K.: Die ndd. Märchen der Brüder Grimm. Münster 1932, 79— 83. - H D M 2, 1 2 9 - 1 3 1 . - Rommel, M.: Von dem Fischer un syner Fru. (Diss. Heidelberg) Karlsruhe 1935 (Rez.: ZfVk. 44 [1934] 309 sq.). Seemann, E.: De Pißputt in dem Märchen von dem Fischer un siner Fru. In: Ndd. Welt 14 (1939) 55 sq. — Lüthi, M.: Volksmärchen und Volkssage. Bern/Mü. 2 1966. — Rölleke, H.: Von dem Fischer un syner Fru. Die älteste schriftl. Überlieferung. In: Fabula 14 (1973) 1 2 2 - 1 2 3 . - id. (ed.): Die älteste Märchenslg der Brüder Grimm. ColognyGeneve 1975, 1 3 2 - 1 4 2 , 3 6 3 - 3 6 5 . - E M 1, 610, 739, 1383. - Rölleke, H.: Der wahre Butt. Düsseldorf/Köln 2 1978. - E M 2, 27, 586. - Kallenberger, P.: Mann und Frau im Essigkrug. In: Vom Menschenbild im Märchen, ed. J. Janning u. a. Kassel 1980, 9 1 - 1 0 5 .
Wuppertal
Heinz Rölleke
Fischkönig —» Wettschwimmen der Fische
Flächenhaftigkeit ist einer der Termini, mit denen M. —> Lüthi den Stil des europ. Volksmärchens zu charakterisieren sucht1. Schon in der Wahl seiner Requisiten bevorzugt das Märchen Flächen- und Linienhaftes: Schwerter und Stäbe, Ringe und Schlüssel, Tierhaare und -federn. Es spricht oft von Kleidern, selten von Körpern. Während in der Volkssage die Wange oder die Brust dessen, der von
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Flachses Qual -
einem Jenseitigen angerührt worden ist, krankhaft anschwillt, so daß dem Hörer leibliches Geschehen nahegebracht wird, ist vom Zustand, vom Verfall der Körper kranker Märchenkönige, -prinzen und -prinzessinnen kaum je die Rede. Der kleine Käselaib, den Sagenjenseitige einem Diesseitigen schenken, wächst, sofern er nie ganz aufgegessen wird, immer wieder nach: auch dies ein räumliches Geschehen, das den Raumsinn anspricht, während im Märchen empfangene Gaben ihre Form unverändert zu behalten pflegen. Märchenfiguren können sich Glieder abschneiden, als ob sie von Papier wären; meist wird weder körperliche noch seelische Qual angedeutet, man sieht kein Blut fließen, die Verletzung wirkt sich weder ästhetisch noch funktional aus. Damit ist schon ein weiteres angedeutet: Das Märchen vermeidet es, in die Seelentiefe seiner Handlungsträger hinabzuleuchten. Diese sind nicht als volle Persönlichkeiten dargestellt, es sind bloße Figuren. Insofern kann man den —» Stil des Märchens als Figurenstil bezeichnen. Es hat die Tendenz, Inneres in Äußeres zu übersetzen und so alles möglichst auf die gleiche Ebene zu projizieren, auf die des Geschehens, des äußerlich Sichtbaren: Eigenschaften drücken sich in Handlungen aus 2 , Beziehungen in Gaben 3 . Innere Gewissenskämpfe und Ängste werden vom Märchen ebensowenig geschildert wie subtile Gefühlsregungen. Es ist, als ob die Märchenfigur keine Innenwelt hätte. Sie hat auch keine eigentliche Umwelt, sondern geht ihren Weg allein, ihre Beziehungen sind punktuell, anders als jene der Sagengestalten, die in ihren Wohnort und ihre Wohngemeinschaft eingebunden sind, so daß der Eindruck eines plastischen Ganzen entsteht. Auch die Verbundenheit mit der Vorwelt (Ahnen, Geschlechterfolge) spielt im Märchen keine Rolle, und von der Nachwelt ist keine Rede (Kinder werden nur erwähnt, wenn sie im Schicksalsgang der Hauptfigur wichtig werden). So besteht ein Zusammenhang zwischen F. und —> Isolation. Die verschiedenen Möglichkeiten menschlichen Verhaltens werden verschiedenen Figuren zugewiesen: Mut und Verantwortungslosigkeit, gut und böse finden sich nicht in der gleichen Brust vereint, sie werden vielmehr isoliert und auf verschie-
Flamen
1242
dene Figuren (z.B. auf Brüder) verteilt, so daß ein Nebeneinander entsteht, während in der Wirklichkeit und in realistischer Dichtung widersprüchliche Gefühle und Antriebe sich in ein und demselben Menschen ausprägen. Auch die jenseitige Welt ist in der Regel nicht plastisch ausgegliedert, der jenseitige Helfer tritt meist einzeln auf; selten wird der Zusammenhang gezeigt, in den er gehört. Ferner bewirkt die —» Eindimensionalität, daß Diesseitiger und Jenseitiger im Märchen relativ spannungslos nebeneinanderstehen. Trotz Abweichungen und Ausnahmen ist die Tendenz zur F. im Märchen so stark, daß sie einen wesentlichen Beitrag zur Formierung des Märchenstils leistet. Sie ist nicht ein Mangel, sondern ein Bestandteil der —> Sublimation, welche dem Märchen Schwerelosigkeit schenkt. Wie Magisches und Numinoses im Gesamtgefüge des Märchens sich verflüchtigen, so wird Räumliches gewissermaßen abgesaugt. Die F. (engl, depthlessness) ist eine Komponente des abstrakten Stils (—» Abstraktheit), der dem Märchen Klarheit, Transparenz, spielerische Leichtigkeit verleiht. 1 Lüthi, Europ. Volksmärchen (1947, 7 1 9 8 1 ) 1 3 24. - 2 Olrik, 8. - 3 Lüthi, M.: Die Gabe im Märchen und in der Sage. Diss. Bern 1943, pass.
Zürich
Max Lüthi
Flachses Qual^> Qual des Brotes (Flachses)
Flamen. Die Anfänge der volkskundlichen Forschung in Flandern fallen mit dem Interesse dt. Philologen für die Überlieferung dieser Region zusammen. So besuchten ζ. B. Α. H. Hoffmann von Fallersleben und J. W. —> Wolf Flandern häufig und sensibilisierten Philologen, Bibliothekare, Archivare und Künstler für volkstümliche Traditionen, die sie mit deren Hilfe durch Veröffentlichungen bewahren wollten. Auf diese Weise entstanden äußerst wichtige Sammlungen von Volksliedern und Volkserzählungen 1 . Wolfs persönliches Engagement in Flandern (1840—47) und seine Veröffentlichungen von Volkserzählungen aus den Jahren
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Flamen
1843/45 haben insofern eine günstige Reaktion gezeitigt, als in mehreren Provinzen volkskundliche Zeitschriften entstanden 2 , in denen die frühesten Ergebnisse der Sammelaktivitäten erscheinen konnten. In diesem Zusammenhang fällt auf, daß die frühe Volkskunde vor allem an Erscheinungsformen der geistigen Volkskultur wie Liedern, Sagen, Märchen, der Volkssprache, der Volksfrömmigkeit und ähnlichem interessiert war. Neben Publikationen in Zeitschriften erschienen auch schon selbständige Sammlungen von Volkserzählungen aus kleineren geogr. Bereichen. Mag das eingebrachte Material hinsichtlich seiner Quantität auch imponierend anmuten, der wiss. Rang dieser spontan und begeistert gesammelten Volkserzählungen war dagegen weit weniger befriedigend 3 : Die Sammelwut mancher Dilettanten war zu einem beträchtlichen Teil durch romantische Schwärmerei angeregt. Weiter hatte man auch hier die Überzeugung J. und W. Grimms übernommen, die Relikte einer Volkskultur seien schon an und für sich des Sammeins würdig. Auch in Flandern hatte die hist.-mythol. Strömung ihre Anhänger, wie u.a. aus dem suggestiven Titel und Untertitel der Zs. Wodana. Tijdschrift voor Nederduitsche Oudheidskunde, von Wolf 1843 gegründet, hervorgeht. Im Bewußtwerdungsprozeß der heroischen Vergangenheit stellten die Volkslieder und die Volkserzählungen unerwartete und scheinbar höchst interessante Hilfsquellen dar. Die erwähnte Sammeltätigkeit wurde weiterhin dadurch motiviert, daß sehr viele Äußerungen volkstümlicher Kultur verlorenzugehen drohten. Deshalb erschienen in den lokalen Zeitschriften öfters Aufrufe, die traditionelle Volkskultur vor dem Vergessen und dem Untergang zu retten (cf. —» Survivaltheorie). Pfarrer, Volksschullehrer und Dilettanten aus den unterschiedlichsten Berufen begannen alles, was sie hörten und fanden, aufzuzeichnen. So wurde die 2. Hälfte des 19. Jh.s zu der Sammelperiode schlechthin. Wichtige Anthologien mit Volkserzählungen, vor allem mit Märchen — denn dies war das bevorzugte Genre — wurden in jener Zeit herausgegeben von G. —> Gezelle, A. Lootens, A. J. Witteryck, A. Joos, A. de —» Cock, P. de
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—> Mont, L. Lehembre, A. Gittee, T. van Heuverswyn, J. van Lantschoot, I. Teirlinck, A. Vermast, C. Claerbout, J. Cornelissen, J. B. Vervliet, J. Leroy u. a. 4 Die genannten Sammler waren allerdings keineswegs geschult, sie ließen sich eher von ihrer Begeisterung für das Auffinden und das Aufzeichnen als durch wiss. Objektivitätsansprüche leiten. Starke Textüberarbeitungen waren üblich. Die pädagogische Ausrichtung der Priester und Lehrer führte überdies zur Nichtberücksichtigung von trivialen und erotischen Texten. Für die Beschäftigung mit Volkserzählungen waren folgende Gründe maßgebend 5 : (1) Dem romantischen Zeitgeist entsprechend Einschätzung der Volkserzählung als hist. Quellenmaterial. (2) Förderung des Nationalgefühls 6 durch Aufzeigen typisch fläm. Charaktereigenschaften wie Religiosität, poetische Begabung und Naivität. (3) Bestandsaufnahme einer von der Industrialisierung bedrohten Volksüberlieferung als Rettungsaktion in vermutlich letzter Minute 7 . (4) Positive Beeinflussung des Familienlebens durch Bewahrung von Feierabenderzählkreisen 8 und dadurch Einschränkung zu häufiger Wirtshausbesuche 9 . (5) Sammlung von Volkserzählungen, bes. Märchen, als didaktisch-pädagogischer Beitrag zu Schulbüchern 10 . Negative Auswirkungen: formale und inhaltliche Überarbeitungen der Texte. (6) Volkserzählungen als Illustrationsmaterial für stilistische und inhaltliche Gattungsfragen 11 . (7) Bewahrung des —> Dialektes durch Aufzeichnung mündl. Überlieferung. (8) Volksbildung bes. der unteren Schichten durch Verwendung leicht zugänglicher —» einfacher Formen. (9) Vermittlung von Regionalkultur durch Volkserzählungen.
Aus dem hier skizzierten Überblick dürfte hervorgehen, daß mit dem Sammeln volkstümlicher Kulturgüter durch Nicht-Fachleute an erster Stelle an die Masse der Laien und nicht an wiss. Zwecke gedacht wurde. Für jene Sammler stand der Text im Vordergrund, die Unterrichtung über Erzähler und Kontext wurde stark vernachlässigt. Die Frage der Biologie der fläm. Volkserzählung blieb nahezu unberücksichtigt. Nur gelegentlich erörtert ein Sammler sein Verfahren beim Sammeln, Reproduzieren und Anordnen. Ganz sporadisch findet man Angaben zu Fundort oder Erzählerpersönlichkeit. Offenbar gab es drei
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Flamen
Arten von Quellen: Die Aufzeichnung aus der mündl. Überlieferung, aus Chroniken und sonstigen liter. Quellen und die mündl. oder schriftl. Mitarbeit Dritter: Bibliothekare, Archivare, Philologen, Studenten, Schüler u. a. Schließlich erhält der Leser nur ausnahmsweise konkrete Auskünfte über die Gewährspersonen. Zu den rühmlichen Ausnahmen gehören die Veröffentlichungen von de Mont und de Cock und vor allem von V. de —» Meyere und G. Lamerant 12 . Der Letztgenannte hat seine Märchensammlung (13 Erzählungen) aus dem Mund eines 73jährigen Mannes im fläm.sprachigen Teil Frankreichs aufgezeichnet. Seine Methode wurde mehr als ein halbes Jh. später in der Veröffentlichung von H. Daras und H. —> Stalpaert weiterverfolgt 13 . Zu den wichtigsten wiss. Veröffentlichungen fläm. Märchenforschung zählen die Beiträge von Daras 14 , de Cock 15 , Μ. de —> Meyer 16 , de Mont 17 , W. Duym 18 , K. C. -> Peeters 19 , J. R. W. Sinninghe20, Stalpaert 21 22 und S. Top . Für den gesamten ndl. Sprachbereich hat sich J. de —> Vries 23 in der ganzen Welt einen Ruf erworben. Für die fläm. Märchenforschung sind die Untersuchungen de Meyers in jeder Hinsicht die wichtigsten. Nicht nur hat er in langjähriger, geduldiger Sammeltätigkeit die veröffentlichten sowie unveröffentlichten Märchentexte zusammengestellt und sie durch seine Kataloge der internat. Forschung zugänglich gemacht; er hat außerdem wiederholt die Ergebnisse seiner Inventarisation in eigene Arbeiten integriert. In diesem Zusammenhang ist sein großangelegtes Unternehmen aus dem Jahre 1942 beispielhaft. Durch Anwendung der —» geogr.-hist. Methode hat de Meyer 24 versucht, zehn Typen fläm. Märchen, nämlich AaTh 301, 303, 330, 425 C, 503, 555, 563, 700, 1535, 1696, zu charakterisieren und ihren kulturhist. Wert gegenüber den entsprechenden wallon., dt., frz. und ndl. Varianten zu bestimmen. Zur Lösung der Frage, inwiefern Flandern ein Übergangsgebiet zwischen den germ, und rom. Kulturbereichen darstelle, hat de Meyer die meisten Märchentypen diachronisch untersucht, d. h. er hat sie mit älterem ikonographischem Material (Bilderbogen) und mit Erzeugnissen der volkstümlichen europ. Lit.
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(Volksbücher, Trivialliteratur u. a.) verglichen. Obwohl das lebendige Volksmärchen auch in Flandern fast eine Seltenheit geworden ist, tauchen doch noch ab und zu Varianten auf, die in Zeitschriften veröffentlicht werden. Inzwischen bedarf de Meyers Katalog 25 einer Ergänzung. Gegenwärtig wird das fläm. Märchen an der Univ. Löwen auf eine doppelte Weise untersucht. An erster Stelle steht das Studium der dramatis personae im Märchen, d. h. ihre internen und externen Erscheinungsformen, ihre gegenseitigen Beziehungen und die strukturellen Implikationen ihrer Anwesenheit und Handlungen. Die meisten fläm. Sammlungen in Buch und Zeitschrift wurden bereits auf diese Weise bearbeitet. Die heutige Forschung konzentriert sich weiter auf Einzelstudien bestimmter Typen, die einerseits nach AaTh und de Meyer, andrerseits nach dem Strukturmuster von V. Ja. —» Propp untersucht werden. Nach der Methode de Meyers wird dabei jeder Typ mit germ, und rom. Varianten verglichen. Solche bisher noch nicht veröffentlichten Typenstudien liegen für AaTh 326: —» Fürchtenlernen, 480: Das gute und das schlechte —> Mädchen, 510: Cinderella and Cap ο' Rushes und 613: Die beiden —> Wanderer vor. Weitere bisher noch nicht publizierte Monographien des volkskundlichen Seminars der Univ. Löwen beschäftigen sich mit der Hexe, der Prinzessin, dem Bauern sowie einer qualitativen und funktionalen Analyse des fläm. Volksmärchens. — Bes. Erwähnung bedürfen zwei Veröff.en: In Westvlaamse wondersprookjes druckt Stalpaert nebst einem hist. Überblick der Märchenforschung in der Provinz Westflandern auch 83 Texte mit vielen bibliogr. Anmerkungen und Quellennachweisen ab 26 . Einen Teil des fläm. Materials, 40 Märchen, Schwänke und Sagen, haben A. Μ. A. Cox-Leick und H. L. Cox ins Deutsche übersetzt 27 . Zusammenfassend sei betont, daß die große Märchen-Sammeltätigkeit in Flandern ihren Schwerpunkt in der 2. Hälfte des 19. Jh.s hatte. Der wiss. Wert dieser Sammlungen ist jedoch ungleich und stieg erst mit den Veröffentlichungen von Lamerant, de Mont, de Cock und bes. de Meyere im 20. Jh. Mit der eigentlichen Märchenforschung in
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Flandern sind nur wenige große Namen verbunden, u. a. de Cock und de Meyer. Beide haben das Märchen vorzugsweise vergleichend untersucht. Die heutige Forschung legt ihren Schwerpunkt mehr auf die thematische und strukturalistische Analyse, wobei die Arbeiten von de Meyer noch immer als Leitfaden dienen. 1
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Flaschengeist — Fledermaus
Hoffmann von Fallersleben, Α. H.: Horae Belgicae 1 - 6 . Breslau 1 8 3 0 - 1 8 3 8 ; t. 7. Lpz. 1845; t. 8. Göttingen 1852; t. 9 - 1 2 . Hannover 1 8 5 4 1862; Wolf, J. W.: Ndl. Sagen. Lpz. 1843; id.: Dt. Märchen und Sagen. Lpz. 1845; von Plönnies, M.: Die Sagen Belgiens. Köln 1846. - 2 Rond den Heerd. Brugge ( 1 8 6 5 - 1 9 0 2 ) ; 't Daghet in den Oosten. Hasselt ( 1 8 8 5 - 1 9 1 4 ) ; Volk en Taal. Ronse/Waregem ( 1 8 8 8 - 1 8 9 5 ) ; Ons Volksleven. Brecht ( 1 8 9 9 - 1 9 0 0 ) ; Biekorf. Brugge (1890 sqq.); Vlaamsche Zanten. Sint-Niklaas ( 1 8 9 9 - 1 9 0 4 ) ; Vk. Gent/Antw. (1888 sqq.); cf. dazu Nederlandse Volkskundige Bibliografie. Systematische Registers op Tijdschriften, Reekswerken en Gelegenheidsuitgaven. Antw. 1964 sqq. (bisher 34 Bände). — 3 Gittee, Α.: Sur les Moyens de recueillir le folklore. In: Bulletin de la Societe dAnthropologie de Bruxelles 5 ( 1 8 8 6 - 8 7 ) 3 3 1 - 3 4 6 (Anleitung für Sammler). - 4 de Meyer, M.: Les Contes populaires de la Flandre. Hels. 1921; id.: Le Conte populaire flamand. Hels. 1968. - 5 Top, S.: De historische context van G. Lamerants „Vlaamsche Wondervertellingen uit Fransch-Viaanderen". In: Vk. 77 (1976) 3 0 - 5 1 ; cf. dazu Fabula 17 (1976) 338 (bibliogr. Notiz). — 6 Vincx, J. F.: Dit zijn grappige Vertelsels en Sprookjes van het Vlaamsche volk naverhaald 1 - 2 . Brugge 1 9 0 1 - 1 9 0 4 ; Lamerant, G.: Vlaamsche Wondervertellingen uit FranschVlaanderen. Yper 1911. — 7 Lootens, Α.: Oude kindervertelsels in den Brugschen tongval. Brüssel 1868; de Mont, P./de Cock, Α.: Dit zijn Vlaamsche Wondersprookjes. Gent 1896 sowie Dit zijn Vlaamsche vertelsels. Gent 1898. - 8 Das (abendliche) Erzählen am Herd wird öfters betont, v. u. a. den Titel der westfläm. Zs. Rond den Heerd (1865 — 1902). Der Terminus Herd erscheint auch oft im Titel von Slgen: de Cock, Α.: Rond den Heerd. Sprookjes voor jong en oud. Gent 1890; van Heuverswyn, T.: 's Avonds rond den heerd of Vlaamsche Volkvertellingen. s. 1. 1894; van Nieuwenhuyse, T.: Winteravondstonden. Naverhaalde Vertelsels. Gent 2 1906. - 9 Joos, Α.: Vertelsels van het Vlaamsche volk. Brugge 1889 (Einl.: Anleitung zum Erzählen). - 10 de Cock (wie not. 8); Gittee, Α.: Lectures neerlandaises graduees ä l'usage des Walions avec l'indication tonique et des principales difficultes de la prononciation. Namur 1894; de Mont/de Cock (wie not. 7) sowie Zoo verteilen de Viamingen. Ten believe en gerieve van de Waalsche Schooljeugd, die gaarne Nederlandsch wil leeren. Gent 1903. —
11 Mit dieser Absicht hat Teirlinck übers.: Teirlinck, I.: Contes flamands. Bruxelles [1896]. - 12 de Mont, P./de Cock, Α.: Vlaamsche Wondersprookjes. Gent 1898;^de Meyere, V.: De Vlaamsche Vertelselschat 1 - 4 . Antw. 1 9 2 5 - 1 9 3 3 ; Lamerant (wie not. 6). - 13 Daras, H./Stalpaert, H.: De sprookjescyclus van Richard Duytschaever. In: Jaarboek van de Heemkundige Kring „Bos en Beverveld" (1968) 1 0 3 - 1 2 9 . - 14 Daras, H.: Een proeve van sociologisch onderzoek in de sprookjescyclus van Richard Duytschaever. ibid. (1971) 1 3 9 - 1 6 0 . - 15 de Cock, Α.: Volkssage, Volksgeloof en Volksgebruik. Antw. 1918. - 16 de Meyer 1921 (wie not. 4); id.: Vlaamsche sprookjesthema's in het licht der romaansche en germaansche kultuurstroomingen. Leuven 1942; id.: Literaire overleveringen mondelinge overlevering in de sprookjes. In: Vk. 49 (1948) 2 3 - 3 0 ; id.: Het Vlaamse sprookjesboek. Antw./Amst. 1951; id. 1968 (wie not. 4); id.: Vk. Verzamelde opstellen van Maurits de Meyer. Antw. 1966, 5 7 - 1 3 0 . - 1 7 d e M o n t , P.: Hoe de vertelsels eindigen! In: Vk. 1 (1888) 20 sq., 51 sq., 1 8 3 185. — 18 Duym, W.: Inleiding tot de stilistische voorhistorie van het volkssprookje. In: Vk. 48 (1947) 1 - 2 2 . - 19 Peeters, K.: Der Einfluß der Brüder Grimm und ihrer Nachfolger auf die Vk. in Flandern. In: Brüder Grimm Gedenken [1]. ed. L. Denecke/I.-M. Greverus. Marburg 1963, 405 — 420. - 2 0 Sinninghe, J.: Vijftig sprookjes als vervolg op de Meyer's catalogus. In: Vk. 74 (1973) 130— 132; 77 (1976) 1 2 1 - 1 2 3 . 21 Stalpaert, H.: Verteilen. Handleiding voor den volkskundigen Verteiler. Roeselare s.a.; id.: Het sprookjesarchief uit de nalatenschap van Amaat Joos. In: Jaarboek. Koninklijke Belgische Commissie voor Volkskunde 21 (1971) 1 2 3 - 2 1 8 . 22 Top (wie not. 5); id.: Kanttekeningen bij een linguistisch sprookjesonderzoek. In: Vk. 80 (1979) 27—34. — 2 3 de Vries, J.: Betrachtungen zum Märchen besonders in seinem Verhältnis zu Heldensage und Mythos. Hels. 1954. - 24 de Meyer 1942 (wie not. 16). - 25 id. 1968 (wie not. 4). 26 Stalpaert, H.: Westvlaamse Wondersprookjes. Brugge 1977. - 27 Cox-Leick, A./Cox, H.: Märchen der Niederlande. MdW 1977.
Leuven
Stefaan Top
Flaschengeist —> Geist im Glas Fledermaus 1. Allgemeines — 2. Eigenschaften der F. — 3. Fabelliteratur und Verwandtes — 4. Ätiologien 5. Anthropomorphisierungstendenzen
1. A l l g e m e i n e s . Zur Säugetierordnung der Fiedertiere gehören als Unterordnungen
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Fledermaus
die F.e (Microchiroptera) — weltweit verbreitet — und die Fiederhunde (Megachiroptera) 1 . In der älteren Lit. und im unwiss. Sprachgebrauch wird die Bezeichnung F. vielfach auch für Fiederhunde benutzt. Das Wissen davon, daß im Orient große F.e (Fiederhunde) existieren, ist im europ. Bereich seit der Antike niemals völlig verlorengegangen. So berichtet Felix Fabri in seinem Evagatorium (1484/88) von taubengroßen, menschliche Nasen fressenden F.en in der palästinens. Wüste 2 . Obgleich bereits Aristoteles den Säugetiercharakter der F.e erkannte, sind die F.e bis an den Beginn der Neuzeit heran normalerweise zu den Vögeln gerechnet worden (so noch im 16. Jh. bei U. Aldrovandi) 3 . Dementsprechend begegnet in der Lit. die F. vielfach in Kontexten, in denen sonst nur Vögel auftreten können. Daß in einigen Versionen der —> Königswahl der Tiere die F. die Position des Zaunkönigs einnehmen kann, erklärt sich so4. Unter den F.en herauszuheben sind die blutsaugenden Vampirfledermäuse (Desmodontidae), die nur in Mittel- und Südamerika vorkommen (cf. —> Dracula, —> Vampir).
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sem Bereich der Glaube der zur finn.-ugr. Sprachfamilie gehörigen Wotjaken gelten, die Seele verkörpere sich, wenn der Mensch schläft, in F.form (Mot. Ε 731.7) 1 2 . Dagegen begegnet in ganz unterschiedlichen Kulturen, unregelmäßig über Zeit und Raum verteilt, sporadisch die Vorstellung, daß die Seelen der Verstorbenen in F.form weiterexistieren. So halten Ureinwohner einer Insel vor der Elfenbeinküste die F.e für Seelen der Gestorbenen; so fürchtet ein Mörder unter den Guayaki-Indianern Ostbrasiliens, daß der Geist seines Opfers in F.form zurückkommen werde 13 . Im europ. Bereich wird aus Litauen berichtet, daß die Seele eines verstorbenen bösen Menschen 300 Jahre in F.gestalt büßt 14 . Hier ist auch ein ind. Bericht von der Wiedergeburt einer Frau als F. anzuschließen (Mot. Ε 692.1).
Wenn auch im ganzen zumindest im europ. Raum beim F.aberglauben die düsteren Aspekte zu dominieren scheinen, so darf doch die Existenz hellerer Züge (etwa: F. als Glücksbringer beim Spiel etc.) nicht übersehen werden. Diese helleren Züge erklären sich allerdings teilweise daraus, daß hier die dämonischen Wirkkräfte der F. manipulativ in den Dienst des Menschen gestellt erscheinen. In China herrscht die Vorstellung der F. als Glücksbringer; die Bildzeichen für Glück und F. sind im Chinesischen fast identisch 15 . In den wenigen Kulturen, die die Vorstel2. E i g e n s c h a f t e n der F. Aus den vielen, lung eines theriomorphen Gottes mit F.zügen meist übernatürlichen Eigenschaften, die der kennen, hat diese Gottes- oder DämonengeF. — wie auch anderen Wesen der Nacht und stalt eher düstere Konnotationen. Die in Dämonen — im Aberglauben, in VolksmediDenkmälern der Mayas und Zapoteken erzin und -magie zugeschrieben werden 5 , könscheinenden F.götter/-dämonen „bedeuteten nen hier nur einige für die Erzählforschung das Ende, den Schluß und eventuell den Tod (Sage) beachtenswerte herausgehoben werund waren mit dem Opferbegriff verbunden. den" 16 . Samoa kennt zwei F.götter als Kriegs(a) Vor allem im mittel- und osteurop. Raum götter 17 . wird berichtet, daß sich die F. ins Haar des MenIn der Bibel (Dtn. 14, 18; Lev. 11, 19; Jes. schen verwickelt und nur schwer entfernbar ist6. 2, 20) wird die F. zu den unreinen Tieren geBes. in Osteuropa wird dies teilweise als extreme rechnet. Auch in der Tiersymbolik des abendGefährdung interpretiert, ζ. B. kann es bei den Siebenbürger Sachsen den baldigen Tod bewirken 7 . In länd. Raumes herrschen die negativen Beeiner poln. Fassung aus der Nähe von Lublin heißt deutungen für die F.e vor 18 . F.e bedeuten vieles, daß die F.e Menschen suchen, die ihre Seelen fach Laster und Gruppen von Verworfenen der Hölle versprochen haben, sich in deren Haar (Hingabe an das Irdische und Abkehr vom verwickeln, ihnen den Kopf abreißen und die Seeewigen Licht 19 , heuchlerische Doppelzüngiglen mit sich in die Hölle nehmen 8 , (b) Obgleich die keit, Neid und Ehrabschneidung 20 etc.). Am Vorstellung von F.en als Dämonen- und Teufelsverkörperungen (cf. den vorangehenden Beleg) Beginn der Neuzeit tritt - freilich wohl nur in eine Stütze im Bereich der bildenden Kunst finden esoterischen Kreisen — die nicht mehr als konnte (tiergestaltige Dämonendarstellungen, DarLasterbezeichnung gemeinte Bedeutung 9 stellung Satans mit F.flügeln) , hält sich die .Melancholie' hinzu. Allg. läßt sich in der 10 Zahl der literar. Belege in Grenzen , (c) HexenEntwicklung vom MA. zur Barockzeit eine epiphanie, cf. Mot. G 211.2.10 (England) 11 , (d) deutliche Zunahme der positiven BedeutunSeelen Verkörperungen. Als Sonderfall muß in die40
Enzyklopädie des Märchens IV
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gen ausmachen 21 , doch wird die Dominanz der negativen Bedeutungen nicht aufgehoben. Hinsichtlich der Bedeutung der F. bei den mittel- und siidamerik. Indianern hat C. LeviStrauss festgestellt, daß „die Mythen diese Tiere vor allem mit dem Blut und den Körperöffnungen" assoziieren, und hat dies u. a. erläutert mit dem Hinweis auf sexuelle Bedeutungsmöglichkeiten (F. — weibliches Organ) 22 . Auch in Europa ist mit einer - freilich weniger stark ausgebildeten — sexuellen Bedeutungskomponente zu rechnen. So exemplifiziert in den Blumen der Tugend des Hans Vintler (Übers, des —> Fiore di virtü des Tommaso Gozzadini) die F. die Unkeuschheit, weil bei den F.en sich angeblich jeweils gleichgeschlechtliche Tiere paaren 23 . Die Gleichung F. = Vulva liegt auch der wohl aus dem 18. Jh. stammenden Schwankballade Die F. zugrunde 24 .
3. F a b e l l i t e r a t u r und V e r w a n d t e s . Obwohl die F. in der Fabelliteratur keine Hauptrolle spielt, finden sich Belege für das Auftreten der F. in der Erzählliteratur der Alten Welt hauptsächlich in diesem Bereich. Die einzige F.-Fabel, die fast über die gesamte Alte Welt Verbreitung erlangte, ist die Geschichte vom opportunistischen Verhalten der F. im Krieg der Vögel und vierfüßigen Tiere, das durch die scheinbare Zwischenstellung der F. zwischen den Vögeln und den Säugetieren ermöglicht wird (AaTh 222A: —» Krieg der Tiere)25. Wohl schon seit —> Phädrus, gewiß aber seit —» Romulus gehört diese Fabel zur äsopischen Fabeltradition. Bes. in Europa erfolgte die Überlieferung hauptsächlich auf schriftl. Wege. Die Variantenbildung hält sich demgemäß in Grenzen. Statt des Motivs des Krieges der Vögel und Tiere treten in einigen asiat. Fassungen Ersatzmotive ein (Verweigerung des Kommens zum Hoftag oder der Unterwerfung oder von Abgaben und Steuern) 26 . Von der äsopischen Fabeltradition unbeeinflußt oder nur indirekt beeinflußt scheinen Erzählungen nordamerik. Indianer vom Wettballspiel zwischen Tieren und Vögeln zu sein: In einer Fassung (Cherokee) wird eine Maus ihrer Kleinheit wegen von der Partei der Tiere nicht akzeptiert. Die Vögel dagegen verfertigen dem Mäuschen aus der Bespannung einer Trommel Flügel, die F. spielt dann die Rolle des matchwinners für die Partei der Vögel 27 . In einer anderen Fassung (Cherokee, Creek) wird die F., nachdem sie zu-
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nächst von beiden Parteien abgelehnt worden war, schließlich von den Tieren toleriert. Sie gewinnt dann das Spiel für diese 28 .
Das Motiv der Ausnutzung der (vermeintlichen) Zwitterstellung zwischen Vögeln und Tieren wird die Phädrus/Äo/MM/Ms-Fabel AaTh 222 Α der älteren äsopischen Fabel F. und Wiesel (Aesop, num. 307) entnommen haben, in der sich eine F. gegenüber einem vogelfeindlichen Wiesel als Maus und einem mäusefeindlichen Wiesel gegenüber als Vogel ausgibt und so ungeschoren davonkommt. Diese Fabel, die politisch-kluges Verhalten lehrt und am eindrucksvollsten von —» La Fontaine (2, 5) gestaltet wurde, ist nicht in die Volkstradition eingegangen. In der Stilisierung der F. zu einem intellektuell bestimmten Tier, das gerissen seinen Vorteil wahrnimmt, zeigen zwei schwankhafte Erzählungen der Bulu (Kamerun) 29 Verwandtschaft mit der äsopischen Fabeltradition. In einer dieser Geschichten gelingt es der F., sich als stärkstes Tier zu erweisen: Sie irritiert den Elefanten durch Flügelschlagen in dessen Ohr so stark, daß er zu Boden fällt 30 . 4. Ä t i o l o g i e n . Ursprungsgeschichten, nichtspontane Verwandlungen und Ätiologien im engeren Sinne stellen den Kernbereich des F.erzählgutes dar. (a) Die F. als Teufelsschöpfung. Unregelmäßig über den europ. Raum verteilt, existieren Erzählungen, die von der Erschaffung gegensätzlicher Tiere durch Gott und Teufel handeln (cf. Mot. A 1751) 31 . Der Schwalbe als Gottesgeschöpf wird hier vielfach die F. als Teufelsgeschöpf gegenübergestellt (—> Dualismus). Aus einem unappetitlichen Kuß des Teufelskönigs entstand die F. nach einer Sage der Zigeuner 32 . In den vor allem in Osteuropa heimischen Erzählungen, die von Verwandlung von Mäusen in F.e aufgrund des Verzehrs von Kerzen in Christi Grab oder aufgrund des Verzehrs der Altarshostie berichten 33 , ist es in einigen Fassungen der Teufel, der die Mäuse anstiftet und ihnen dann zum Schutz die Flügel verleiht (cf. Krzyzanowski, num. 2492 [A]), (b) Göttlich-gute Mächte treten nur vereinzelt in Entstehungsgeschichten auf. In einer niederösterr. Sage hat eine arme Alte eine Maus, die sie im Speck fand, an die Tür genagelt. Maria, die sich der Alten in ihrer Not annimmt, erbarmt sich auch der Maus, verwandelt sie in eine F. 34 . In einer apokryphen aus dem Thomas-Evangelium stammenden Legende wird berichtet, daß der junge Jesus Vögel aus Lehm formt
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Fledermaus
und sie durch Händeklatschen oder Hauch belebt. Vor allem in arab. Koran-Kommentaren ist die Auffassung belegt, daß aus den Lehmklumpen dabei F.e wurden 35 , (c) Verwandlung in eine F. als Strafe. Die berühmteste hierhergehörige Erzählung findet sich in Ovids Metamorphosen (4,1—54 und 3 8 9 431). Die Töchter des Minyas spinnen während des Festes des Bacchus und werden als Strafe dafür von diesem in F.e verwandelt. In einer Sage aus der Auvergne heißt es: Die Feen, die den Puy-dePrechonnet bewohnten, wurden F.e, als sie den verwegenen Wunsch ausgesprochen hatten, ihr Berg möge sich zur Höhe des Puy-de-Döme erheben 36 . Nach einer alta. Sage war die F. früher ein Schamane, der sich für den kranken Sohn Dzajaci-chans nicht zum Opfer bringen wollte und deshalb vom Vater verwandelt wurde 37 . Nach einer Erzählung der südamerik. Selk'nam-Indianer (Feuerland) wollte Kwänyip Oklta (der Name bedeutet bereits F.), die Schwester von Okricin, heiraten. Als der Bruder den Bewerber ablehnt, verwandelt Kwänyip den Bruder in eine Eule; als die Schwester darauf zornig sich verweigert, wird sie mit allen F.Charakteristika ausgestattet38, (d) Krass-physische Züge zeigen einige Ursprungsgeschichten mittel- und südamerik. Indianer: Für die Azteken entstand die F. aus dem Sperma des Gottes Quetzalcoatl, nach den südamerik. SherenteIndianem aus der Bauchhöhle eines Menschenfressers und nach den südamerik. Aguaruna-Indianern aus dem Blut der von den Indianern ermordeten Familie des Dämons Aetsasa 39 . (e) Ätiologisches im engeren Sinne. Eine ätiologische Schlußpointe begegnet schon in der oben erwähnten Fabel AaTh 222 A. Zentral von ätiologischer Intention bestimmt ist die äsopische Fabel von F., Tauchervogel und Dornbusch, die gemeinsam Handel treiben wollen, doch bei einem Schiffbruch alles verlieren. Die F. fliegt seitdem nur noch nachts, um ihren Schuldnern zu entgehen (AaTh 289: —> Tiere auf Seereise)40. Diese Fabel hat über den europ. Bereich hinaus Verbreitung erlangt (arab. und syr. Übers.en) und ist vereinzelt auch aus der mündl. Überlieferung aufgezeichnet worden. Im Directorium humanae vitae des —> Johannes von Capua heißt es (als Beispiel der Torheit) von der F., daß sie nur des Nachts fliegt, weil sie fürchtet, ihrer Schönheit wegen gefangen zu werden 41 . In zwei Erzählungen der Esten und Kasantataren wird das lichtscheue Wesen der F. auf eine Bestrafung zurückgeführt, die mit der Sonne zusammenhängt 42 . In einer Sage aus Wales 43 werden Eule und Taube von dem Häuptling eines F.stammes bewirtet. Während die Eule überschwenglich Lob spendet, bedankt sich die Taube nur höflich. Sie wird von dem beleidigten F.-Häuptling deshalb der Unterkunft verwiesen. Auf Beschwerde der Taube verkündet der Adler als König der Tiere, daß fortan Eulen und F.e, sofern sie sich am Tage zeigen, von allen Vögeln verachtet und mißhandelt werden sollen44.
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5. Anthropomorphisierungstendenzen. Aus dem nordamerik. Bereich ist eine Mythenerzählung vom Vogelnestausheber erwähnenswert, die die F. (Großmutter/Großvater des Helden) als hilfreiches Tier zeigt, das den Helden in einer mit Spinnwebennetzen bespannten Kiepe aus der Höhe wieder auf den Boden zurückbringt 45 . In einer Anzahl von südamerik. Erzählungen erscheint die Grenze zwischen Mensch und F. durchlässig. Eine Yupa-Erzählung (Venezuela) berichtet von einem Menschen, der an den geselligen Zusammenkünften der F.e teilnimmt und sich allmählich vom Menschen zur F. wandelt 46 . Das Motiv des Tiergatten (tagsüber F., nachts Mensch) begegnet bes. in Erzählungen der Tacana Boliviens (meist tragisch endend; die ahnungslose Frau löst eine Katastrophe aus) 47 . Unter den Stämmen der Ge-Indianer Ostbrasiliens wird von F.menschen erzählt, Zwitterwesen mit menschlichem Körper und F.flügeln und mit teils tierischer, teils zivilisierter Lebensweise (Wandmalereien, Äxte) 4 8 . In der seit 1939 erscheinenden BatmanComicserie tritt der als Identifikationsfigur gemeinte Held in fledermausartiger Verkleidung auf, um gegen das Verbrechen zu kämpfen 49 . Die F.ausstaffierung, die der Tradition der Gespensterromane und Vampirsagen des 19. Jh.s entstammt, wird hier als Mittel zum Zweck eingesetzt: Es soll Schrekken erregt werden für die ,gerechte' Sache. 1
Grzimeks Tierleben 11. Zürich 1969, 89-161. Felix Fabri: Evagatorium in terrae sanctae, Arabiae et Egypti peregrinationem 2. ed. C. D. Hassler. Stg. 1843, 164. Freilich braucht nicht unbedingt, wenn einmal in einer Sage von riesigen F.en die Rede ist (cf. Jungbauer, G.: BöhmerwaldSagen. Jena 1927, 117), eine Erinnerung an oriental. Fiederhunde mitzuspielen. — 3 cf. Pauly/ Wissowa 6, 2, 2740-2742; Carus, J. C.: Geschichte der Zoologie. Mü. 1872, 47, 293. - 4 BP 3, 282. 5 Bartels, M.: Ein Paar merkwürdige Kreaturen. In: ZfVk. 9 (1899) 171-179,245-255; Riegler, M.: F. In: HDA 2, 1579-1598; Wirz, P.: Uber die Bedeutung der F. in Kunst, Religion und Aberglauben der Völker. In: Geographica Helvetica 3 (1948) 267-278; StandDict. 1, 120 sq. - 6 HDA 2, 1584 sq., 1587,1590. - 7 ibid., 1585. - «PeuckertArchiv im Seminar für Vk., Göttingen (nach Wisla 13 [1899] 7). - 9 Art. Teufel in: LCI 4, 295-300, bes. 298. - 10 HDA 2, 1592 sq. (u.a. Ber. von einem Exorzismus in der Lechgegend: Geist fährt 2
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Fleisch der weißen Schlange — Fleischpfand
aus „ähnlich einer F."); Toldo 1902, 330, 332, 339 (u.a. Leben des hl. Vedastus, Exorzismus). Zur F. als Verkörperung von Krankheit und Tod cf. HDA 2, 1590; StandDict. 1, 120. 11 cf. ferner HDA 2, 1592 (dt. Var.). - 12 Holmberg, S. U.: Finno-Ugric, Siberian Mythology (Mythology of All Races 4). (1932) Nachdr. N.Y. 1964, 7 sq. - 13 StandDict. 1, 120; H D A 2, 1591 (karib.). - 14 Ludwig ζ Pokiewia [i.e. L. A. Jucewicz]: Litwa pod wzgl^dem starozytnych zabytkow, obyczajow i zwyczajow. Wilno 1846, 128 sq.; HDA 2, 1591 sq. (sizilian., ital.). - 15 Wirz (wie not. 5) 267-270. - 16 Brentjes, B.: Zur Rolle der F. in Altamerika. In: Säugetierkundliche Mittigen 16 (1968) 157-160, bes. 160. - 17 StandDict. 1, 120 sq. - 18 Eine umfassende Ubersicht über die F.symbolik fehlt, cf. Pitra, J. B.: Spicilegium Solesmense 2. P. 1855, 507 sq.; Reau, L.: Iconographie de Γ art chretien 1. P. 1955, 108; Henkel, Α./ Schöne, Α.: Emblemata. Stg. 1967, 829, 8 9 9 902 und 2193; Schmidtke, D.: Geistliche Tierinterpretation in der dt.sprachigen Lit. des MA.s (1100-1500). Diss. Β. 1968, 292; Kurzübersicht: Goya. Das ZA. der Revolutionen 1789-1803. Ausstellungskatalog. Hbg 1980/81,62; zur F. in der Traumsymbolik cf. ferner HDA 2, 1590. - 19 Pitra (wie not. 18); Seuse, H.: Dt. Sehr. ed. K. Bihlmeyer. Stg. 1907, 427. - 20 Im Etymachietraktat Sinnbild des Neides (Schmidtke [wie not. 18]), in den Contes moralises des Nicole Bozon bezogen auf Ehrabschneider (Tubach, num. 502 [Eigenschaft: F. verbrennt sich Flügel am Feuer]), ebenso im Buch der Natur des Konrad von Megenberg (ed. F. Pfeiffer. Stg. 1861, 227 [Eigenschaft: F.e fliegen im Finstern]); zu den Bedeutungen üble Nachrede (Siebenbürger Sachsen) und Neid (Magyaren) cf. HDA 2, 1590. 21 Man vergleiche die bei Pitra zusammengestellten ma. Bedeutungen mit Picinelli (Henkel/Schöne [wie not. 18] 2 1 93). - 22 Levi-Strauss, C.: Mythologica 1 - 4 . Ffm. 1971-75 (frz.: P. 196471), hier t. 4, 420. - 23 Schmidtke (wie not. 18). 24 Roth, K.: Ehebruchschwänke in Liedform. Mü. 1977, 35, 259. — 25 Am besten unterrichtet momentan Schwarzbaum, Fox Fables, Reg. s.v. bat; cf. auch Dh. 4, 197-199, 202 sq., 303; Espinosa 3, 361; Tubach, num. 501; Kosak, B.: Die Reimpaarfabel im SpätMA. Göppingen 1977, 367 sq. 26 Liebrecht, F.: Zur Vk. Heilbronn 1879, 121; Dh. 4, 189 sq.; Thompson/Balys Β 261.1; Schwarzbaum, Fox Fables, 230, not. 18. - 27 Dh. 4, 3 - 5 . 28 StandDict. 1, 121. - 29 ibid. - 30 Einige fabelartige pointierte Redeszenen mit F.en: Schwarzbaum, Fox Fables, 228; cf. noch: Die Gedichte Reinmars von Zweter. ed. G. Roethe. Lpz. 1887, num. 201. 31 Dh. 1, 155 sq.; Lixfeld, H.: Gott und Teufel als Weltschöpfer. Mü. 1971, 18-24. - 32 Bartels (wie not. 5) 251. - 33 Dh. 1, 197 sq., 351; Dh. 3, 268; weitere Belege im Peuckert-Archiv (wie not. 8). — 34 Dh. 3, 267. - 35 Dh. 2, 73 sq.; Wildhaber, R.:
Zum Weiterleben zweier apokrypher Legenden. In: Festschr. N. Grass 2. Innsbruck 1975, 219-237. 36 ZfVk. 9 (1899) 207; Dh. 3, 527 sq. - 37 Dh. 3, 5 27. - 38 cf. Wilbert, J.: Folk Literature of the Selknam Indians. L. A. 1975, 29 sq. - 39 LeviStrauss (wie not. 22) t. 4, 420 sq. Aus dem europ. Bereich vergleichbar ein lit. Ber. von der Entstehung der F. (als einer Seelenverkörperung) aus einem im Kirchengewölbe vergrabenen Leichnam (cf. not. 14). - 40 Fabula 6 (1965) 194 (H. Schwarzbaum); Schwarzbaum, Fox Fables, 230 sq., not. 26; Dh. 4, 273 sq. und 306. 41 Beispiele der Alten Weisen des Johann von Capua. ed. F. Geißler. B. 1960, 322. - 42 Dh. 3, 2 6 8. - 43 Dh. 3, 270. - 44 Zu weiterem ätiologischem Material cf. etwa Mot. A 2214.6, A 2236.3, A 2317.8, A 2491.1; Dh. 1, 95, 335; Dh. 3, 94, 98sq., 267, 488, 500sq.; Liebrecht (wie not. 26) 102sq.; StandDict. 1, 120; Wilbert, J.: Folk Literature of the Warao Indians. L. A. 1970, 1 0 1 103. - 45 Thompson, S.: Tales of the North American Indians. Cambr., Mass. 1929, num. 151b, entweder Episode des größeren Vogelnestaushebermythos (etwa Opler, Μ. Ε.: Myths and Tales of the Jicarilla Apache Indians. N.Y. 1938, 5 7 - 7 7 ) oder relativ eigenständig (ibid., 286-288). Zum Vogelnestaushebermythos cf. auch LeviStrauss (wie not. 22) t. 4, 612 et pass. - 46 Wilbert, J.: Yupa Folktales. L. A. 1974, 122sq. 47 Hissink, K./Hahn, Α.: Die Tacana. 1: Erzählungsgut. Stg. 1961, 2 8 9 - 2 9 2 ; cf. auch LeviStrauss (wie not. 22) t. 4,420. - 48 Wilbert, J.: Folk Literature of the Ge Indians. L. A. 1978, 325-332; cf. dazu Levi-Strauss (wie not. 22) t. 1, 164-166, 179. Weitere in dieser Arbeit nicht angeführte F.Erzählmaterialien: Mot.; Dh. 3, 131, 406sq., 504sq., 526; Wirz (wie not. 5) 271; StandDict. 1, 120sq.; Levi-Strauss (wie not. 22) Reg.; cf. noch Lessings Fabel: Die phil. Maus (3, 23); v. auch not. 44. - 49 LKJ 1, 114sq.
Berlin
Dietrich Schmidtke
Fleisch der weißen Schlange sprachenkundiger Mensch
Tier-
Fleischpfand (AaTh 890).Die zentrale Episode Mot. J 1161. 2 tritt in Form einer eigenständigen Erzählung und - in Kombination mit weiteren Motiven — als Novellenmärchen mit mehreren Redaktionen auf, unter denen eine durch —» Shakespeares Lustspielfassung The Merchant of Venice (L. vor 1600) mit der Gestalt des unerbittlichen, grausamen —» Juden Shylock literar. sehr bekannt ist. Nach den Unters.sergebnissen von E. Schamschula 1 handelt die zentrale Episode von einem
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Fleischpfand
Vertrag, der den Gläubiger (Jude, Kaufmann, Wucherer, Adliger etc.) einer ausgeliehenen Geldsumme dazu berechtigt, bei Überschreitung des RückZahlungstermins dem Schuldner (christl. oder mohammedan. Kaufmann, Goldschmied, Jude, Adliger etc.) einen genau festgelegten Teil aus dessen Fleisch (auch Auge, Kopf, einzelne Gliedmaßen etc.) herauszuschneiden (—» Schuldner und Gläubiger). Der Schuldner versäumt die Rückzahlung und wird vor einen Richter (auch Papst Sixtus V., Karl der Große, Sultan Soliman, des Schuldners —»Frau in Männerkleidung [Mot. Κ 1825.2] etc.) gezogen. Manchmal wird dem Kläger vor dem Urteilsspruch angeboten, sein Geld oder eine noch höhere Summe anzunehmen und auf die darüber hinausgehende Vertragserfüllung zu verzichten; er ist damit aber nicht zufrieden. Das Urteil gibt dem Gläubiger zwar formal recht, belegt ihn jedoch mit unerfüllbaren Auflagen: Er muß beim Abschneiden des Fleisches oder der Gliedmaßen die vertraglich vereinbarte Menge strikt einhalten oder darf kein(en Tropfen) Blut des Schuldners vergießen, andernfalls er selbst vertragsbrüchig wird oder eine harte Strafe zu erwarten hat. Der Gläubiger tritt daraufhin notgedrungen von seiner Forderung, den Schuldner zu verstümmeln, zurück und wird manchmal noch zusätzlich bestraft.
Schamschula ordnet die von ihr untersuchten Varianten nach hervorstechenden Motiven und Zügen in sechs Untergruppen ein. Bei diesen Redaktionen dominieren, abgesehen von der vierten, die literar., teils sehr früh belegten Fassungen, was jedoch auch im unzureichenden Forschungsstand begründet sein mag. Die erste oder ,Vertragsredaktion', deren ältester Nachweis das engl. Gedicht Cursor mundi (Anfang 14. Jh.) ist2, besteht lediglich aus der F.-Episode selbst3. In der zweiten oder ,Brautwerbungsredaktion' benötigt der Protagonist das im F.-Vertrag geliehene Geld für die Werbung um eine schöne Frau; er möchte sie oder ihren Vater durch seinen Reichtum günstig stimmen oder ein Geschäft für den Lebensunterhalt seiner späteren Frau und ihres Vaters gründen 4 . Zu dieser Redaktion gehört Shakespeares The Merchant of Venice. In der dritten oder ,Freierprobenredaktion' wirbt der Held ebenfalls um eine begehrenswerte Frau, die sich demjenigen versprechen will, der eine Nacht mit ihr im Bett verbringt, im Falle seines Versagens aber seine Habe an
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sie abtreten muß. Der Liebhaber wird durch Zauberei oder Betäubungsmittel zum vorzeitigen Einschlafen gebracht, entdeckt bei einoder zweimaliger Wiederholung der —> Freierprobe die Ursache seines Versagens, kommt ihr zuvor und heiratet die Frau. Bei der letzten Wiederholung nimmt er eine Geldsumme als Einsatz für die Probe auf und geht den F.-Vertrag ein. Die ältesten literar. Bearb.en des F.-Stoffes finden sich in dieser Redaktion, im Dolopathos des —> Johannes de Alta Silva, einer um 1300 entstandenen Version der —> Sieben weisen Meister5, in Fassungen der —» Gesta Romanorum (14. Jh.) 6 und im Pecorone des Ser Giovanni Fiorentino (um 1378) 7 , von denen bestimmende Einflüsse auf Shakespeare ausgegangen sind8. In der vierten oder .Brautkaufredaktion' muß die erwünschte Ehefrau mit Silber oder Gold aufgewogen oder mit ähnlich phantastisch hohen Geldsummen gekauft werden, zu deren Aufnahme der Held den F.-Vertrag abschließt. Nach der Heirat ist der Mann einige Zeit auf Reisen, und die Frau führt andere Männer, die sie verführen wollen, hinters Licht und nimmt ihnen dabei ihr Geld ab. Oder aber der Ehemann prahlt vor anderen mit der Treue seiner Frau, worauf sie von diesen erfolglos in Versuchung gebracht wird. Dennoch als treulos verleumdet und von ihrem Mann verstoßen, findet die Ehefrau erst wieder nach der F.-Gerichtsverhandlung zu ihm zurück. Von allen Redaktionen kommt nur diese vierte dem von Christiansen, N.E. übernommenen Handlungsverlauf bei AaTh 890 nahe. Eine frühe engl. Bezeugung ist die Ballade The Northern Lord and the Cruel Jew aus dem 16. Jh. 9 . Nur mehr Teil der Rahmenhandlung und gleichzeitig des Gerichtsverfahrens ist die F.Episode in der fünften oder ,Unfallredaktion', in der ein Schuldner das entliehene Geld zu seinem Lebensunterhalt, zum Handel etc. braucht, es nicht rechtzeitig zurückzahlt und auf dem Weg zum Richter in eine Serie von Unfällen verwickelt wird: Er schlägt einem Pferd/Maultier, nach dem er einen Stein wirft, ein Auge aus, reißt einem Esel/ Maultier beim Versuch, das Tier aus einem Graben zu ziehen, den Schwanz aus, springt auf einen anderen Menschen und tötet ihn
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Fleischpfand
damit, bewirkt, daß eine schwangere Frau ihr Kind verliert. Die von ihm Geschädigten folgen ihm zum Gericht. Der Richter entscheidet alle Rechtsfälle (cf. AaTh 1534: Die Urteile des —> Schemjaka), darunter den F.Streit als ersten, zugunsten des Schuldners 10 . Hierhin gehört der Meistergesang Kaiser Karls Recht von 1443, der die Rechtsprechung Karls des Großen rühmt 11 . In der relativ stark abweichenden sechsten oder ,Wettredaktion' geht es nicht mehr um ein Darlehen, folglich treten statt Gläubiger und Schuldner nur Kläger und Beklagter auf. Das F. ist Einsatz bei einer Wette, Gewinn bei einem Verkauf, Strafe für ein Vergehen oder geht auf eine mißverstandene Forderung zurück. Der F.-Vertrag wird wie üblich vor Gericht verhandelt 12 . Zu den frühen literar. Fassungen gehört Gregorio Letis Vita di Sisto Quinto von 1587 mit Papst Sixtus V. als Richter und einem Juden als Angeklagtem 13 . Auch in Schamschulas Unters, der F.-Erzählung sind immer noch zu wenige Var.n ausgewertet, von denen ungefähr die Hälfte aus literar. Fassungen besteht. Eine notwendige Auswertung der internat. Volkserzählungsarchive 14 würde vermutlich gesicherte Ergebnisse zur Verbreitung und evtl zur Wanderung erbringen. Die über 50 Var.n sind hist, kontinuierlich vom 13. —18. Jh. dokumentiert; im 19./20. Jh. werden sie infolge der mündl. Aufzeichnungen zahlreicher. Inhaltlich stimmen Var.n aller Redaktionen in einer Reihe von Einzelzügen überein, so daß Schamschula mit Recht von einer wechselseitigen Beeinflussung zwischen Var.n verschiedener Redaktionen ausgeht. Vor allem die düstere Gestalt des grausamen und unerbittlichen Juden als Antiheld in den ersten fünf Redaktionen läßt die F.-Erzählung zum Träger eines populären Antisemitismus werden, der bereits im Cursor mundi15, im Pecororte16 und vor allem in Shakespeares Lustspiel The Merchant of Venice auch in seinen hist. Anstößen 17 faßbar wird. Gemeinsam sind allen Var.n die zentrale F.Episode mit dem F.-Vertrag und dem gerichtlichen Urteil auf genaueste Einhaltung des Vertrages, das den Schuldner infolge seiner Undurchführbarkeit von seiner Verpflichtung löst und vor der Verstümmelung bewahrt. Dieses Kernstück der F.-Erzählung scheint,
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jenseits aller Spekulationen über buddhist. oder talmud. Einflüsse 18 , in seiner rechtskritischen Funktion, die wortwörtliche Erfüllung eines Gesetzes in Frage zu stellen und ein Urteil nach Maßgabe der Billigkeit zu verlangen, den Satz „Summum ius summa iniuria" zu illustrieren und aus dem Rom. Recht zu stammen. Damit ist ein Hinweis auf die genuin europ. Entstehung der Geschichte gegeben, die nicht ohne Grund im 15. und 16. Jh. im Orator19 als juristischer Paradefall diente und in Kaiser Karls Recht20 sowie in der Vita di Sisto Quinto21 zur Verherrlichung geschichtlicher Herrschergestalten verwandt wurde 22 . Die über Jh.e hinweg in der europ. Hochliteratur einen festen Platz einnehmende F.-Geschichte dürfte einen weit intensiveren Niederschlag in Volkserzählungen gefunden haben, als bis jetzt bekannt ist. 1 Schamschula, E.: A Pound of Flesh. A Study of Motif J 1 1 6 1 . 2 in Folklore and Literature. (Magisterarbeit) Berk. 1981; ead.: Das F. Mot. J 1161.2 in Volkserzählung und Lit. In: Fabula 25 (1984) (im Druck). — 2 Morris, R. (ed.): Legends of the Holy Rood. L. 1871, 1 1 0 - 1 1 2 ; cf. id. (ed.): Cursor mundi. L. 1877 (Nachdr. 1966) 1 2 2 6 - 1 2 3 0 . 3 Var.n: Corrozet, G.: Divers Propos memorables des nobles et illustres hommes de la Chrestiente. P. 1556, fol. 62a; cf. Wenger, Β.: Shylocks Pfund Fleisch. Eine stoffgeschichtliche Unters. In: Shakespeare-Jb. 65 (1929) 9 2 - 1 7 4 , hier 140sq.; Popovic, P.: Shakespearian Story in Serbian Folklore. In: FL 33 (1922) 7 2 - 9 0 , hier 75; Tille, Soupis 2, 2, 37sq.; Staerk, W.: Eine ägypt. Var. zum ShylockMotiv. In: Anglia 62 (1938) 3 5 6 - 3 5 8 ; Percy, Τ.: Reliques of Ancient English Poetry 1. L . 1 7 6 5 , 1 9 1 198; Bolte, J.: Jakob Rosefeldts Moschus, eine Parallele zum Kaufmann von Venedig. In: Jb. der Dt. Shakespeare-Ges. 21 (1886) 1 8 7 - 2 1 0 , hier 1 8 9 - 1 9 5 , 2 0 2 - 2 1 0 ; Bullough, G.: Narrative and Dramatic Sources of Shakespeare 1. L. 1961, 4 8 3 - 4 8 6 ; Malcolm, J.: Sketches of Persia. From the J.s of a Traveller in the East 1. L. 1828, 134sq.; id.: Sketches of Persia. L. 1849, 69sq.; Krek, C.: Einl. in die slav. Lit.geschichte. Graz 1887, 772; Eberhard/Boratav, num. 339; Weiss, L.: Talmudic and Other Legends. N.Y. 2 1888, 1 - 1 0 . - 4 Var.n: Furness, H.H. (ed.): A New Variorum Ed. of Shakespeare. 7: The Merchant of Venice. Phil. 12 1916, 4 6 1 - 4 6 3 ; Meissner, J.: Die engl. Comoedianten zur Zeit Shakespeares in Oesterreich. Wien 1884, 1 3 1 - 1 8 9 ; Leo, F. Α.: Ein serb. Shylock. In: Jb. der Dt. Shakespeare-Ges. 21 (1886) 3 0 5 - 3 1 0 ; Popovic (wie not. 3) 74; Munday, Α.: Zelauto: The Fountain of Fame, 1580. ed. J. Stillinger. Carbondale (1963). - 5 Oesterley, H. (ed.): Iohannis de Alta Silva Dolopathos sive de rege et septem
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Fleiß und Faulheit
sapientibus. Straßburg/L. 1873, 5 7 - 6 1 . - 6 Gesta R o m a n o r u m , n u m . 195; Douce, F.: Illustrations of Shakespeare and of Ancient Manners 1. L. 1807, 2 8 1 - 2 9 0 . - 7 Floerke, H. (ed.): Die 50 Novellen des Pecorone von Ser Giovanni Fiorentino 1. Mü. 1921, 6 8 - 9 7 . - 8 c f . Chauvin 8, 2 0 0 - 2 0 3 . 9 Child, F. J.: English and Scottish Ballads 8. Boston, Mass. 1858, 2 7 7 - 2 8 5 ; Furness (wie not. 4) 293; weitere Var.n: Schlauch, Μ.: T h e P o u n d of Flesh Story in the North. In: J. of English and G e r m a n i c Philology 33 (1931) 3 4 8 - 3 6 0 , hier 3 4 8 - 3 5 0 , 3 5 6 s q . ; Campbell, J. F.: Popular Tales of t h e West Highlands 2. L. 1890, 9 - 1 6 ; Müller, D. H.: Mehriund Hadrami-Texte. Wien 1 9 0 9 , 1 1 6 - 1 2 2 ; id.: Die Mehri- und Soqotri-Sprache 1. Wien 1902, 1 4 9 161; ibid. t. 3 (1907) 7 3 - 8 7 ; Saga af Marsilius og R o s a m u n d u . Reykjavik 1885; Skelton, R. (ed.): J. M. Synge, Four Playsand the A r a n Islands. L. (1969) 1 7 2 - 1 7 5 . - 10 Var.n: Vambery, Α.: D e r oriental. Ursprung von Shylock. In: Keleti Szemle 2 (1901) 1 8 - 2 9 , hier 1 9 - 2 4 ; Popovic (wie not. 3) 75sq.; Eastwick, E . (ed.): Autobiography of Lutfullah, a M o h a m e d a n Gentleman. Lpz. 1857, 1 2 1 - 1 3 2 ; Clouston, W. A. (ed.): Some Persian Tales. Glasgow 1892, 3 6 - 4 8 ; Johnson, S./Steevens, G. (edd.): T h e Plays of William Shakespeare 5. L. 1793, 5 5 7 s q . ; Wenger (wie not. 3) 104sq.; Kuka, Μ. Ν.: T h e Wit and the H u m o u r of the Persians. B o m b a y 1894, 2 2 9 - 2 3 2 ; D e c o u r d e m a n c h e , J. Α.: L e M a r chand de Venise dans les contes orientaux. In: R T P 19 (1904) 4 4 9 - 4 6 0 , hier 4 5 4 - 4 6 0 . 11 Bergmann, J. (ed.): Das A m b r a s e r Liederbuch vom Jahr 1582. Stg. 1845, 1 6 7 - 1 7 1 . - 12 Var.n: Velten, C. (ed.): Märchen und Erzählungen der Suaheli. Stg. 1898, 3 4 - 4 0 ; Lüders, E.: Ein Zigeunershylock. In: A r v 12 (1956) 1 - 2 5 , hier 6 - 8 ; Leti, G.: Vita di Sisto V. t. 3. Amst. 1721, 1 4 6 151; Gargiolli, C. (ed.): M a d o n n a Lionessa. Cantare inedito del secolo XIV. Bologna 1866, 3 - 1 9 ; Halliwell, J. O. (ed.): T h e R e m a r k s of Κ. Simrock on the Plots of Shakespeare's Plays. L. 1850, 6 2 s q . ; Gladwin, F.: T h e Persian Moonshee. Calcutta 1801, 8; Dieulafoy, J.: La Perse, la Chaldee et la Susiane. In: T o u r du M o n d e 49 (1885) 8 1 - 1 6 0 , hier 90. - 13 Leti (wie not. 12). - 14 A r ä j s / M e d n e ; Choi, num. 634; 0 Süilleabhäin/Christiansen; Cirese/Serafini; Jason; Tubach, num. 3867, 4 3 5 7 ; Pfaff, F.: Karls Recht. In: Zs. für vergleichende Litteraturgeschichte N.S. 6 (1893) 3 9 7 - 3 9 9 ; Konstantinou, E.: Eine n e u e albanogriech. Version des ,Kaufmanns von Venedig' aus Böotien-Griechenland. In: Zs. für Balkanologie 11, 1 (1975) 4 1 - 5 8 ; id.: E i n e neugriech. Version des ,Kaufmanns von Venedig' aus Agion P n e u m a bei Serres, Griechenland. ibid. 11, 2 (1975) 4 8 - 5 2 ; Velie, Α.: T h e „Vicious Bargain" Motif in T h e Merchant of Venice. In: Fabula 16 (1975) 5 7 - 6 0 ; Texte in E M - A r c h i v (mit num.): Schau-Platz der Betrieger 1687 (15086); Schola curiositatis 1, 1660 (9217); A n g e n e h m e r Zeitvertreib 1786 (8139); Kurtzweiliger Zeitvertreiber 1685 (6932); Wohlgemuth, H a u p t -
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Pillen 1669 (13898); Casalicchio 1702 (3128); Zinkgref-Weidner 2, 1653 (1109); L e h m a n n , Exilium melancholiae 1643 (377); cf. Arlequin 1691 (13358); Alcover, A. M.: Aplec de rondaies mallorquines d'en Jordi des R e c o 15. Palma de Mallorca 1956, 1 2 5 - 1 2 9 ; Benzel, U.: Kaukas. Märchen. Regensburg 1963, 141 sq.; Chalilov, Ch.: Skazki narodov Dagestana. M. 1965, 254; E h r e n treich, Α.: Engl. Volksmärchen. M d W 1938, 2 4 9 254; Gustavson, H. (ed.): Gotländska sagor 1. U p p t e c k n a d e av P. A. Säve. Uppsala 1952, num. 79; Kvideland, R.: Glunten og riddar rev. Oslo 1977, 7 2 - 7 7 ; Laoust, E.: Contes berberes du Maroc 1 - 2 . P. 1949, hier t. 1, 50sq., t. 2, 73sq.; Lebedev, Κ. Α.: Afganskie skazki. M. 1955, 130sq.; L o m b a r d i Satriani, R.: Racconti popolari calabresi 1. Neapel 1953, n u m . 28; Noy, D.: Jefet Schwill erzählt. B. 1963, num. 80; id.: Contes p o p u l a t e s , racontes par des Juifs du Maroc. Jerusalem 1 9 6 5 , 4 1 - 4 5 ; Pino-Saavedra 2, num. 131; Schmidt, H./Kahle, P. (edd.): Volkserzählungen aus Palästina 2. Göttingen 1930, num. 86; Sever din, Μ. I.: Uzbekskie narodnye skazki 1. Taschkent 2 1963, 4 2 6 - 4 4 0 ; Smits, P.: Latviesu tautas teikas un pasakas 10. Waverly, Iowa 2 1968, num. 3 7 . 1 - 3 7 . 2 ; Stebleva, I. V.: Prodannyj son. Turkmenskie narodnye skazki. M. 1969, num. 42; Tille, Soupis 2, 2, 37sq.; Wesselski, M M A , num. 61. - 15 Morris (wie not. 2). — 16 Floerke (wie not. 7). - 17 Frenzel, Stoffe, 6 9 0 - 6 9 2 . - 18 cf. Benfey 1, 3 8 8 - 3 9 1 ; Wenger (wie not. 3) 94—96; Lüders (wie not. 12) 20sq.; Gaster, Μ.: D a s sodomitische Urteil. In: Monatsschrift für Geschichte und Wiss. des J u d e n tums 29 N.S. 1 2 ( 1 8 8 0 ) 1 1 5 - 1 2 0 , hier 115; Taylor, Α.: F. In: H D M 2, 153sq. - 19 Bullough (wie not. 3). - 2 0 Bergmann (wie not. 11). — 21 Leti (wie not. 12). - 2 2 Nach Frenzel, Stoffe, 691; cf. Wesselski, M M A , 2 5 2 s q . ; Lüders (wie not. 12) 17.
Freiburg/Br.
Hannjost Lixfeld
Fleiß und Faulheit 1. Allgemeines - 2. Fleiß — 2.1. Didaktische Erzählungen — 2.2. Märchen — 2.3. Ü b e r n a t ü r licher Fleiß - 2.4. Pervertierte Formen des Fleißes — 3. Faulheit - 3.1. Didaktisches Erzählgut 3.2. Märchen und Schwankmärchen — 4. Gegenüberstellung von Fleiß und Faulheit — 5. Z u s a m menfassung
1. A l l g e m e i n e s . Die Wichtigkeit des Themas Fleiß (Fl.) und Faulheit (Fa.) für die ethische und literar. Überlieferung läßt sich anthropol. begründen: Der Mensch als mature artificielle' ist existenziell auf Handlung
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Fleiß und Faulheit
angewiesen 1 . Die Bedeutung der kosmogonischen Mythen besteht darin, daß sie den Menschen zum Handeln treiben: Durch die symbolische Wiederholung der Schöpfung verwandelt er die natürliche Landschaft in einen kulturellen Lebensraum 2 . Industria hat in der Antike eine positive Konnotation, —> Arbeit und Müßiggang werden jedoch nicht immer einheitlich bewertet: Hesiod und Piaton nehmen Stellung gegen das Drohnendasein 3 , doch für Aristoteles schließen sich Arbeit und Tugend aus 4 . Nach chin. Auffassung besteht ebenfalls ein Widerspruch zwischen angestrengter Tätigkeit und Weisheit 5 . Fl. wird dagegen bei altägypt. Beamten gerühmt 6 , im Α. T. und in der christl. Theologie als gottgefällige Pflicht betrachtet („Ora et labora") 7 2. F l e i ß 2.1. D i d a k t i s c h e E r z ä h l u n g e n (—> Didaktisches Erzählgut). „Durch ein Höchstmaß an Tugenden wird ein Mensch zum Heiligen" 8 : Im Sinne des christl. Arbeitsethos verherrlichen daher hagiographische Legenden unter anderen Tugenden auch den Fl. ihrer Hll.n. In der Bibel- und Legendenepik des dt. MA.s wird Joseph als fleißiger (fl.) Zimmermann, als arbeitsamer Familienvater dargestellt 9 . Luther beschreibt Maria als eine bescheidene und fl. Familienmutter 10 . Legenden über Volksheilige berichten bes. gerne über den Fl. ihrer Helden 11 . Die jesuit. Liedpropaganda besingt den fl. Bauernheiligen Isidor von Madrid für die schwer arbeitenden ,Bauers-Leut' 12 . Ist Isidor das ideale Vorbild der Bauern, so ist die Hl. —> Notburga aus Tirol, die fl. Magd, das gültige Beispiel für die Dienstboten. Die —» geistliche Hausmagd des Bilderbogens und der populären Erbauungsliteratur heiligt die fl. Dienstbotenarbeit dadurch, daß sie sie zum Leiden Christi in Beziehung setzt. In der Aschenputtellegende (cf. AaTh 510 A: —» Cinderella) der Historia Lausiaca (um 400) des Palladius wird demütiger Küchendienst über 40 Jahre Eremitentum gestellt 13 . Aber auch hohe Hll. scheuen die Anstrengung nicht. Eustachius, der vornehme röm. Krieger, verrichtete seine Bauernarbeit im Exil 15 Jahre lang mit Fl. und Treue 14 (AaTh 938: —> Placidos). Lioba, Kind vornehmer Eltern, arbeitete mit ihren Händen,
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wenn sie nicht mit Beten beschäftigt war 15 . Ebenfalls thematisiert in der Legende sind körperlicher und geistlicher Fl.: Der Hl. —> Petrus fordert zu Fl. auf, damit man „nicht faul [. ..] in der Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus" ist 16 : Fl. in diesem geistlichen Sinne zeichnet den Asketen der mhd. Mönchslegende aus 17 . Das ma. Exemplum verherrlicht den Hl.n, der Tag und Nacht betet (Tubach, num. 3911), doch belehrt es den Mönch, der glaubt, daß körperliche Arbeit geistlos sei, eines besseren (Tubach, num. 5386). Der Weg der Erlösung besteht sowohl in geistiger als auch in körperlicher Anstrengung, wie es dem Hl. —> Antonius Eremita in einer Vision gezeigt wird (Tubach, num. 275). Diesen Weg verbildlicht eindrücklich das Motiv des ergrünten dürren Stabes oder des erblühten verkohlten Apfelbaumes in der Legendenballade vom —> Elternmörder (Mot. Q521.1; cf. AaTh 756: Der grünende —> Zweig)18. Im Gleichnis, in der Parabel und Fabel wird der Fl. auch mit didaktischer Zielsetzung dargestellt, das angesprochene Publikum und die Aussage variieren jedoch nach hist.-gesellschaftlicher Position der Autoren. Als Mahnung steht der beispielhafte Fl. der —• Ameise schon im Gleichnis Salomos (Spr. 6, 6 - 1 1 ; cf. auch —» Biene). Fl. und nicht Schätze bringen den größten Ertrag, lehrt die Parabel vom —> Schatz im Weinberg (AaTh 910 E). Von der wirtschaftlich notwendigen spätma. Aufwertung des fl. Bauernstandes zeugt das Bauernlob 19 . Zielpublikum der didaktischen Fabel der Reformationszeit sind oft Erzieher bzw. die Jugend, welche man um eines glücklichen Lebens willen u.a. zum Fl. erziehen soll20. Für das pädagogische Interesse der Reformationszeit zeugen auch die dt. Prodigusbearbeitungen mit ihrer Betonung der Kinderzucht und Aufwertung des Fl.es21. Exempel und Fabel können je nach Autorenposition zur Ergebenheit in glückliche und fl. Armut mahnen (cf. AaTh 754: —> Glückliche Armut)22 oder den Bürger-Fl. aufklärerischemanzipatorisch dem feudalen Legitimationsprinzip der Geburt entgegenhalten 23 . In der volkspädagogischen Aufklärungsliteratur wird auch der Bauer direkt angesprochen und mittels Exempel belehrt: „Fleiß belohnt sich selber" 24 .
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Fleiß und Faulheit
Als Beispiel für miindl. didaktische Dichtung im 20. Jh. soll das ung. Klagelied erwähnt werden, in dem die Hochzeitsmutter ihre Arbeitsamkeit besingt und die Braut auch zu Gehorsam und Fl. mahnt 25 . 2.2. M ä r c h e n . In dieser Gattung tritt die didaktische Funktion gegenüber der epischen zurück: Fl. ist hier meistens —> Bewährungsprobe und hat handlungsbewegende Funktion. Vor allem weibliche Helden sind fl. Sie arbeiten, meistens unter der Regie einer —> Stiefmutter, im Haushalt 26 des Elternhauses (AaTh 510 A; KHM 186: Die wahre Braut) oder hüten Tiere auf der nahen Weide (AaTh 511: —> Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein). Sie versehen Magd- oder Hütedienste in der diesseitigen oder jenseitigen Fremde: Allerleirauh (AaTh 510 B: —» Cinderella) oder die Gänsemagd (AaTh 533: Der sprechende —> Pferdekopf) dienen an fremden Königshöfen, andere Heldinnen füttern Tiere, putzen, fegen und führen einen Haushalt bei Dämonen (—> Dienst beim Dämon, —> Belohnung). Oft ist Fl. mit Demut und —> Gehorsam verbunden, deren extreme Form von —» Griseldis (AaTh 887) verlangt wird. Lohn des Fl.es in diesen Märchen sind Schätze und Schönheit, vor allem aber eine vornehme Heirat. Dies gibt dem weiblichen Fl. im Märchen den Charakter einer —> Brautprobe. Fl. gehört nicht zu den typischen —> Charaktereigenschaften des männlichen Helden, wird jedoch mitunter in Zusammenhang mit einer Lehre erwähnt: „Da lernte er fleißig und unverdrossen" (KHM 36, AaTh 563: —» Tischleindeckdich), oder der Meister lobt den Helden: „Du hast mir treu und ehrlich gedient" (KHM 83, AaTh 1415: Hans im Glück). Auch beim Teufel arbeitet der Held ,wie befohlen' (KHM 100). Im MA. diente der Geselle ,uf gnade'; so bekommt auch der Held im Grimmschen Märchen für seinen Fl. ein Geschenk, das von der Gnade des Meisters abhängt 27 : Zauberdinge (AaTh 563), einen Klumpen oder einen Sack Gold (AaTh 1415, AaTh 475: -» Höllenheizer) oder gerade das Gegenteil: bloß drei Heller für drei Jahre Arbeit (AaTh 592: —> Tanz in der Dornenhecke). Im außereurop. Märchen ent-
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spricht der Lohn hingegen oft alltäglichen Bedürfnissen: Er besteht ζ. B. aus gutem Pflanzenwuchs, aus Butter und Milch und aus Schutz gegen Feinde (Thompson/Balys Q 86) 28 . 2.3. Ü b e r n a t ü r l i c h e r Fleiß. Das Märchen ist am Außergewöhnlichen interessiert, daher wird von seinen Helden öfters übermenschlicher Fl. verlangt: Unerfüllbare Spinn-, Web- und Küchen-Aufgaben werden der Heldin, unlösbare Kulturaufgaben dem Helden gestellt (AaTh 500: —> Name des Unholds, AaTh 511, AaTh 510 A, cf. unlösbare —> Aufgaben). Diese Aufgaben können nur mit jenseitiger Hilfe erfüllt werden: Ein kleines Männchen oder die Mutter in Tiergestalt —» spinnen und weben (Mot. D 2183), die Tochter des Dämons, Vögel (Mot. Η 335.0.1, Β 450), —»dankbare (hilfreiche) Tiere erfüllen die Aufgaben für die Helden. Verschiedene Gestalten der niederen Mythologie in der Sage zeichnen sich ebenfalls durch Fl. aus (Mot. F 346: Fairy helps mortal with labor): Hilfreiche Hausgeister hüten Kinder, Erdleutchen verrichten Dienst um das Vieh, während ihre Frauen spinnen; Bergmännchen heuen für den Bauern 29 . Durch wohlgemeinten Lohn des Fl.es werden jedoch die Helfer vertrieben (,ausgelohnt'; Mot. F 451.5.10.9) 30 . Überirdische Hilfe steht den fl. Frommen und den Hll.n der Legende zu: Engel kochen und backen für sie, bebauen das Feld und hüten das Vieh an ihrer Statt, während sie im Gebet versunken oder bei der hl. Messe sind 31 . 2.4. P e r v e r t i e r t e F o r m e n des Fleißes. Schwank und Sage wissen über unproduktiven, scheinbaren, ja schädlichen Fl. zu berichten. —» Eulenspiegel nimmt die Befehle seines Meisters wörtlich und wirft „die ermel an den rock dy nacht uss bis morgens" (—» Wörtlich nehmen) 32 . Mit eitlem Fl. sind auch die endlosen Strafarbeiten verbunden: Der Elternmörder baut täglich an einer Brücke, die der Teufel nachts zerstört 33 . Die —» Sisyphus-Gestalten der Volkssage müssen nach ihrem Tod die zu Stein gewordenen verschwendeten Speisen ununterbrochen den Berg hinaufrollen oder einen Platz immer wieder sauber fegen 34 . Den gefährlichen Fl. des Teufels bindet man auch mit endlosen Arbeiten: Er muß
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ζ. B. ein -> Seil aus Sand (AaTh 1174) winden 35 . Fl. wird durchaus nicht positiv beurteilt, wenn er Ausdruck des —> Geizes ist oder wenn auf ihm kein Segen Gottes ruht (Ps. 127). Demokritos vergleicht die Biene, Lessing den Hamster mit den Geizigen 36 . Im Schwank wird über den unnützen Fl. der hageren Liese gelacht 37 (AaTh 1430: ->· Luftschlösser). Der Fl. des gottlosen Mädchens in der ung. und rumän. Legende wird zur Qual, solange es nicht „wenn Gott hilft" sagen kann 38 . Die alpenländ. Sage vom ,,,Nicht-hartmähen'dürfen" verurteilt den Mißbrauch einer wunderbaren —» Gabe: Der Wetzstein-Zauber hört auf, wenn der Knecht mit seinem übernatürlichen Fl. seine Kameraden bedrängt 39 . 3. F a u l h e i t . Die Darstellung der Fa. wird durch die komplementären Funktionen der populären Lit. bestimmt: Soziale Kontrolle einerseits, sozialer Protest und Eskapismus andererseits bewirken, daß Fa. bald als gefährliches Laster, bald als mit Nachsicht, ja Sympathie begleitete Eigenschaft dargestellt wird 40 . 3.1. D i d a k t i s c h e s E r z ä h l g u t . Fa. wird in didaktischen Erzählungen als allg. menschliches, noch öfter jedoch als berufs- bzw. standes- oder volkstypisches Laster — nicht selten im allegorischen Tiergewand — bloßgestellt. Urbild der Fa. ist in der klassischen Fabel das faule (fa.) gefräßige Hündchen des Schmiedes (Mot. W 111.5.4). Als fa. gilt im böhm.-ma. Exempel die Krähe, die sich nicht entschließen kann, in den Süden zu fliegen 41 . Mit dem Esel und Ochsen wird der fa. Diener verglichen (Tubach, num. 4297). Durch seine Dummheit straft sich der fa. Esel selbst: Als er merkt, daß seine Säcke voll Salz im Wasser leichter werden, wirft er sich später mit einer Ladung Wolle in den Fluß (AaTh 211: Die Last des —> Esels)42. Als größte Behinderung wird den —» Bettlern nicht Krankheit, sondern Fa. unterstellt: Im 112. Exempel —> Jacques' de Vitry wollen sich der Lahme und der Blinde aus Angst vor Arbeit von dem Hl. —» Martin nicht heilen lassen 43 (Mot. X 531). Nur die Geldgier des Bauern ist größer als seine Fa. in Georg —» Wickrams Bauernspott. Erst ein vermeintlicher Taler lockt ihn nach neun Tagen aus
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seinem Bett 44 . In Erzählungen über fa. Knechte und Mägde (—» Gesinde) liegt der Akzent bald auf der Geißelung der Trägheit, bald auf der Sympathie für die Drückeberger. Vornehmlich in literar.-didaktischen /Erzählungen, von den ma. Exempeln bis zum Schwank des 16. Jh.s, wird ein negatives Dienerbild entworfen: Zum Stillen seines Durstes ist er zu fa. 45 ; um nicht aufstehen zu müssen, schickt er sein Hündchen aus und prüft das Wetter an dessen Fell (Tubach, num. 4288). Mit seiner Schläfrigkeit sabotiert er die Pilgerfahrt seines Herrn 46 . Schläfrigkeit ist auch die Sünde der fa. Magd, sie verdient in den Schwänken von Martin —*· Montanus nur den Spott ihrer Umgebung 47 . Im Volksschwank hingegen wird Fa., möglicherweise als Protest gegen die herrschaftliche Ausnützung, oft anekdotenhaft und nachsichtig behandelt 48 . Typische Beispiele dafür sind der gefräßige und fa. Junge in AaTh 1561: The Lazy Boy Eats Breakfast, Dinner, and Supper One after the Other oder KHM 151a: Die zwölf faulen Knechte, die sich vor der Arbeit meisterhaft drücken. Die Arbeitsscheu der Mönche und Pfaffen wird von den Reformierten scherzhaft kritisiert; über die Angst des Pfarrers vor Arbeit spottet aber auch der moderne Schwank 49 . Als Diener Gottes sollte er freilich eher mit gutem Beispiel vorangehen: Schon Johannes —» Pauli mahnte die Klosterbrüder in diesem Sinne „nit treg sein, ful und laß" 50 . Gerechte Könige in der Schwanksage lehren die fa. Edelleute und Geistlichen arbeiten, so etwa —» Matthias Corvinus, der sogar — so will es die Sage — seine Schwester von Fa. kurieren läßt 51 . Im ung. Körmendi-Kodex (1684) ist die Fabel von den heiratsfähigen Teufelstöchtern als Verkörperungen der Todsünden enthalten (Tubach, num. 1452, 1589); hier wird die Fa. mit dem Adel verheiratet 52 . Der Schwank von —» Christus und Petrus im Nachtquartier (AaTh 791) wird in Westfalen, im Rheinland und in Schlesien häufig auf den Alten Fritz und seinen Begleiter übertragen, die als Faulpelze vom Bauern verdroschen werden 53 . Nicht nur die Fa. der Vertreter verschiedener Berufe und Stände, auch die einzelner Familienmitglieder ist Thema vieler Volkserzählungen. Der fa. Sohn ist vor allem Lieblingsgestalt des Märchens. Fa. des Ehemannes ist
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Fleiß und Faulheit
höchstens Eingangsformel in einem komplizierten Märchen (cf. AaTh 986: Der faule —> Ehemann) oder Ergänzung anderer schlechter Eigenschaften, etwa der Unbeholfenheit und Dummheit (cf. AaTh 1408: Hausarbeit getauscht). Das häufige Thema der fa. Tochter und Ehefrau im didaktischen Schwank spiegelt hingegen evtl reale Verhältnisse der alten, teilweise sogar der modernen bäuerlichen Gesellschaft wider: Fl. der heiratsfähigen Tochter ist hier lebensnotwendig, Fa. wird in abschreckenden Schwänken gegeißelt 54 (cf. AaTh 1451-1461, 1463: -> Brautproben·, Mot. Η 382). Die Erziehung der fa. —» Frau inspiriert Mären, Fastnachtspiele, Predigtund Volksschwänke vom MA. bis heute, wobei das Schema der Geschichten ähnlich bleibt: Brutal oder schlau wird die Frau, die ihren Haushalt und ihren Ehemann vernachlässigt, mit Schlägen und mit Demütigung ,kuriert' (cf. AaTh 902*, 1370: Die faule -> Frau wird kuriert). Arzneimittel in der Kur ist meistens der Prügel: Vom kurzen Witz Heinrich —» Bebels Von eim faulen Weib55 über das Fastnachtspiel des 16. Jh.s wird das Thema bis zum rezenten Bauernschwank variiert 56 . Nicht minder grausam ist die Methode des Ehemannes, der nicht direkt zuschlägt, sondern auf dem Leib seiner Frau die angeblich fa. Katze prügelt (AaTh 1370) oder das Fell gerbt. Die Geschichte büßte ihre Volkstümlichkeit bis heute nicht ein: Das Märe Georg Zobels im 15. Jh. unterscheidet sich kaum vom heutigen Dorfschwank 57 . Die fa. Frau wird auch moralisch gedemütigt: Es werden ihr die Haare oder das Kleid abgeschnitten (AaTh 1383: -» Teeren und federn). Der im Flachs versteckte Schlüssel verrät die Spinnfaulheit der Braut (AaTh 1453). Die arbeitsscheue Ehefrau muß hungern (AaTh 901 B*, 1370 A*: Wie das Essen, so die Arbeit), ihr Brot wird zu Stein (AaTh 368*: The Punishment of the Lazy Woman), sie wird in einem Strohbündel auf eine Hochzeit getragen oder ihren Eltern zurückgeschickt (AaTh 902*). Erziehung zum Fl. und Strafe für Fa. nimmt auch sonst einen breiten Raum in den europ. und außereurop. Erzählungen ein. „Die Glücksgöttin liebt den Trägen nicht", mahnt die Schildkröte die verzweifelte Maus im —> Pancatantra5S; die Götter entziehen dem
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Faulen ihre Unterstützung, lehrt auch die antike Fabel (Tubach, num. 3646). Das Beispiel der nur kurze Zeit schlafenden Vögel soll dem Faulen den Weg zum Reichtum zeigen (Tubach, num. 637). Der fa. Diener wird hingegen nicht durch Beispiel, sondern mit Schlägen kuriert (AaTh 1572*: —» Privileg des Herrn). Exempel und Warnsagen mahnen gegen Fa., die über das Grab hinaus bestraft wird: Der wiederkehrende fromme, aber fa. Mönch ist halb licht, halb schwarz (Tubach, num. 1256); der träge Hirt muß in der alpenländ. Sage die zu Tode gestürzte Kuh nach seinem Tod immer wieder den Berg hinauftragen 59 . Harter Existenzkampf mit der Natur spiegelt sich in den Strafen der außereurop. Erzählungen: Die Peitsche züchtigt im Tischleindeckdich-Märchen (AaTh 563) aus Oberguinea nicht einen Dieb, sondern die durch Nahrungsgaben fa. gewordenen Dorfbewohner 60 . Verbannung (Thompson/Balys Q 431. 19) 61 oder Sklavendasein 62 ist die Strafe für die fa. Söhne, während Tierverwandlung zu den extremen Konsequenzen der Fa. gehört 63 . In ätiologischen Erzählungen werden gewisse Eigenschaften der Tiere als Strafe für Fa. erklärt 64 (Mot. Q 321; cf. AaTh 55: -> Tiere bauen einen Weg). Nahezu in ganz Europa ist die Ursprungssage über Ungeziefer als Strafe für Fa. verbreitet (Mot. A 2032.1) 65 . Laster werden in theol.-didaktisch geprägten Epochen - so im 16. Jh. - mit Vorliebe personifiziert, wie im Narrenschiff (1494) des Sebastian —> Brant u.a. die Trägheit (Kap. 97). Im recht nachsichtigen Schwank von Johannes Pauli kämpfen ,Ernsthafftigkeyt' und ,Faulheyt' um den schläfrigen Jungen in dessen Phantasie 66 . Fa. wird auch als einer der Lasterteufel personifiziert: Schon das ma. Exempel erblickt am Bettrand der fa. Nonne den Teufel selbst (Tubach, num. 3498). In der Reihe Protestant.-didaktischer Teufelsbücher erscheint 1563 der Faul Teufel (Eisleben) von Joachim Westphal. Seit dem 4. Jh. ist die Liste der Todsünden festgelegt und liegt vielfach exemplarischen Erzählungen solange zugrunde, bis die Sorge um die Befolgung der Zehn Gebote an die Stelle der Bekämpfung der sieben Hauptlaster tritt. Acedia als eine der Todsünden wird sowohl als Trägheit im Dienste des Herrn wie
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Fleiß und Faulheit
auch als Müßiggang und Fa. bekämpft. Unter anderen Lastern läßt Hernien Bote seinen Ulenspiegel in Historia 34 der Acedia begegnen, während Johann —» Fischart sie in seinen Schiltburgern (Kap. 20) zur Darstellung bringt 57 . Zur Unterweisung der Jugend kompiliert Georg Wickram 1556 aus älteren Vorlagen Die siben Hauptlaster, worin er die erschreckenden Folgen der Fa. anhand bibl. und klassischer Geschichten illustriert 68 (cf. —> Tugenden und Laster). 3.2. M ä r c h e n und S c h w a n k m ä r c h e n . Es ist verständlich, daß der zum Handeln gezwungene Mensch als Ausgleich auch eine lächelnde Sympathie für Fa. übrig hat, daß er in seinem Wunschtraum das —* Schlaraffenland (AaTh 1930) herbeisehnt, in dem der Faulste zum König gemacht wird und aus dem die Fleißigen vertrieben werden. Der männliche Held des Zaubermärchens — nicht selten der jüngste Sohn — verharrt noch oft im Zustand der trägen Kindheit. Fa. und Dummheit sind geradezu Merkmale des scheinbar aussichtslosen Helden (Mot. L 101) 69 . Die keineswegs dogmatische Märchenmoral erlaubt es, daß ein fa. Junge sogar die positive Hauptfigur der Erzählung abgeben kann (cf. AaTh 675: Der faule —» Junge). Fa. gehört indessen selten zu den dauernden Charaktereigenschaften, vornehmlich nur zum Anfangsbild des Helden. Ähnlich wie Ruhe nach der Arbeit legitim ist, so ist die scheinbare Fa. des Helden als eine Ruhe vor der großen Aufgabe im Sinne der Kantschen Didaktik moralisch ebenfalls nicht verwerflich, denn die scheinbar unfähigen Jünglinge vollbringen später heroische Taten oder werden mächtige Zauberer 70 (cf. —» Dümmling, Dummling). Von Indien bis Irland ist der anfänglich fa., kindische Held eine beliebte Figur: Schon verheiratet, lebt er „noch immer von seines Vaters Vermögen wie ein Säugling von der Muttermilch" 71 . Er wird 21 Jahre lang als Säugling an die Mutterbrust gelegt 72 . Beliebte Symbole seiner Fa. sind —» Asche und Herd (Mot. L 131.1, L 131): Der bret. Luduenn ist vom norw. —» Askeladden, der schott. Assipattie vom ung. Hamupipöke oder Hamupepejke nicht weit entfernt 73 : „Den ganzen Tag lief er in abgerissenen Kleidern und mit ungekämmtem Haar umher, aus dem jeder Windstoß eine Aschenwolke blies, und an den Abenden lag er da und wälzte sich in der Asche" 74 .
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Es fällt jedoch auf, daß immer nur männliche Fa. verherrlicht wird. Die fa. Mädchen hingegen sind ausschließlich Schwankfiguren oder Gegenspielerinnen der fl. Heldin. Es scheint, daß die Bewährungsprobe für die Heldin in Opferbereitschaft, Gehorsam und Fl. besteht, für den Helden hingegen in Kampf und in Lösung schwieriger Aufgaben, für die er seine Kräfte vorerst noch schonen darf 75 . Ins Absurde wird auch die anfängliche Fa. des Abu Mohammed gesteigert, der 15 Jahre lang müßig daliegt, bevor er gezwungen wird, sein Glück zu suchen 76 . Der fa. Heinz (KHM 164) hingegen bleibt sich samt seiner fa. Trine treu und verbringt sein Leben hauptsächlich im Bett 77 . Beispielhafte Fa. zeichnet den Mann aus, der seinem Kameraden —> Hilfe beim Nichtstun (AaTh 1950 A) leistet, oder den, der das geschenkte Holz nur gespalten annehmen will (AaTh 1951: Is Wood Split!). Die absurdesten Faulen sind freilich diejenigen, die einen —> Faulheitswettbewerb (AaTh 1950) eingehen. Sie sind eher bereit, auf Geld und Schlaf zu verzichten, zu verhungern, verbrennen, verdursten oder sich erhängen zu lassen, als sich vom Fleck zu rühren. 4. G e g e n ü b e r s t e l l u n g von Fleiß und F a u l h e i t . Es entspricht der Vorliebe des Märchens für Polarität, seinem „zur extremen Ausformung tendierenden Gestaltungswillen", daß Fl. und Fa. nicht nur einzeln, sondern auch als gegensätzliches Eigenschaftspaar auftreten 78 (—> Extreme). Zu dieser ästhetischen Kontrastwirkung kommt ein episch-struktureller Gewinn hinzu: Die Handlungen der zwei Protagonisten ermöglichen durch ihre spiegelverkehrte Qualität die Genese einer relativ spannenden Zweizahl-Geschichte. Da ein Großteil dieser Erzählungen zudem zum Thema ,Reward and Punishment' 79 gehört, wird eine erwünschte, schon im Α. T. formulierte Lehre transparent: „Lässige Hand macht arm; aber der Fleißigen Hand macht reich" (Spr. 10, 4—6). Anthropol. ist schließlich diese Doppelstruktur als ein Modell der Möglichkeiten Erfolg/Mißerfolg oder Sichbewähren/Versagen bedeutsam 80 . Mit Feld- und Hausarbeiten verdienen sich die guten und fl. Heldinnen Schönheit, Gold und kgl. Heirat, die fa. und hartherzigen werden dagegen mit Häßlichkeit und Unglück
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bestraft (AaTh 480: Das gute und das schlechte -> Mädchen-, KHM 13, AaTh 403 B: Die schwarze und die weiße —> Braut; KHM 169, AaTh 431: Haus im Walde). Die kluge und fl. Tochter hat in —> Cum grano salis (AaTh 915) Glück in all ihren Handlungen, der fa. und dummen mißlingt alles. Lob und Belohnung des Fl.es, Tadel und Strafe für Fa. treten auch in der europ. und außereurop. Tierfabel auf. Der fleißigen —» Ameise steht die leichtsinnige Grille (AaTh 280 A: The Ant and the Lazy Cricket) oder der Mistkäfer (Mot. J 711), dem arbeitsamen Ochsen das träge Kalb 81 gegenüber. In der ind. Fabel erhält der fa. Schakal seine Strafe, das fl. Schwein seinen Lohn (Mot. Q 5.1). Ohne moralischen Zeigefinger lacht der Schwank über das ungleiche Paar: Die fl. Frau hat ihre liebe Mühe mit ihrem dummen und fa. Ehemann 8 2 . Im Schwank von —» Christus als Ehestifter (AaTh 822) wird sogar als göttliche Vorsehung dem fa. Burschen eine fl. Ehefrau zugedacht. Kritik an Gott wird hingegen im Märchen vom - » Gevatter Tod (AaTh 332) geäußert, da er den reichen fa. Bauern dem armen und fl. vorzieht (Mot. J 486) 83 . In Ost- und Südosteuropa ist die ätiologische Erzählung vom fa. Rinderhirten und fl. Schäfer verbreitet: Ursprünglich waren die Schafe scheu, die Rinder zahm. Als Gott (Christus) und Petrus auf Erden wanderten (—* Erdenwanderung der Götter), sahen sie, daß der Rinderhirt unfreundlich und fa., der Schäfer jedoch, obwohl er mit seinen Tieren viel mehr Mühe hatte, hilfsbereit und fl. war. Als Strafe für den Rinderhirten verwandelte Gott die Rinder in scheue Tiere, als Lohn für den Schäfer machte er die Schafe zahm 84 . Die Zwerge in der mitteleurop. Bergmannssage belohnen die fl. und bestrafen die fa. Bergleute 85 . Aus ihrem tierischen Ursprung werden gewisse Eigenschaften der Frauen erklärt (Mot. A 1371.2sq.). So ist die aus einem Esel geschaffene Frau fa., die fl. aber war ursprünglich eine Katze oder eine Sau 86 . 5. Z u s a m m e n f a s s u n g . Obwohl Fl. meistens positiv, Fa. negativ dargestellt wird, ergibt sich in den Volkserzählungen keineswegs ein einheitliches Bild von ihnen. Während didaktische Erzählungen einer arbeitsfreund-
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lichen Einstellung verpflichtet sind, wird im didaktisch-moralisch weniger gebundenen Märchen und im Schwank mitunter eine echte Bewunderung für die Fa. sichtbar. Je nach Funktion der Gattungen wird jedoch auch die positiv aufgefaßte Fa. anders gewertet: Im Märchen hat sie den Charakter einer erzählungsimmanenten Kräfteschonung, im Volksschwank jedoch eine transzendentale Aufgabe: Ihre Darstellung ermöglicht eine kurzfristige Flucht der Rezipienten aus der Härte der realen Arbeitswelt. I Gehlen, Α.: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Wiesbaden 1978, 3 1 - 4 0 , pass. — 2 Eliade, M.: Die Schöpfungsmythen. Darmstadt 1977, 19. - 3 Kl. Pauly 1 (1979) 4 9 0 492. - 4 Hist. WB. der Philosophie 1. ed. J. Ritter. Basel/Stg. 1971, 481. - 5 Phil. WB. ed. G. Schischkoff. Stg. 17 1965, 31. - 6 ERE 5, 484. - 7 ζ. Β. für das MA. Gentry, F. G.: Arbeit in der ma. Gesellschaft. In: Grimm, R./Hermand, J. (edd.): Arbeit als Thema in der dt. Lit. vom MA. bis zur Gegenwart. Königstein (Taunus) 1979, 3 - 2 8 . - 8 Bausinger, 186. - 9 Masser, Α.: Bibel und Legendenepik des dt. MA.s. B. 1976, 84, llOsq. - 10 Luther, M.: Werke 7. Weimar 1897, 575. II Kretzenbacher, L.: Heimkehr von der Pilgerfahrt. In: Fabula 1 (1958) 2 1 4 - 2 2 7 , hier 215. 12 Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1 9 8 1 , 2 2 9 - 2 3 4 . - 13 ibid., 2 3 7 - 2 4 3 ; Pfaundler, W. von: St. Notburga. Eine Hl. aus Tirol. Wien/Mü. 1962; Spamer, Α.: Der Bilderbogen von der g e i s t lichen Hausmagd'. Bearb. M. Hain. Göttingen 1970, Beilage 24 und pass.; cf. Singer, S.: Schweizer Märchen. Teil 2. Bern 1906 (Nachdr. Mü.-Pullach/B. 1971) 1 - 9 . - 14 Stadler, J. E./Heim, F. J. (edd.): Vollständiges Hll.n-Lex. 2. Augsburg 1861 (Nachdr. Hildesheim/N.Y. 1975) 128sq., hier 128. 15 ibid. 3 (1869) 8 3 8 - 8 4 8 , hier 839. - 16 2. Petr. 1, 5 - 8 . - 17 Brinker, K.: Formen der Heiligkeit. Diss. Bonn 1968, 24, 193sq. - 18 Brednich, R. W.: Die Legende vom Elternmörder in Volkserzählung und Volksballade. In: Jb. für Volksliedforschung 9 (1964) 1 1 6 - 1 4 3 , hier 141. - 19 Der paurn lob. Bamberg 1493 (abgedr. in: Pörnbacher, H./Hubensteiner, B. [edd.]: Bayer. Bibl. 1. Mü. 1978, 5 7 0 5 7 5). - 2 0 Rehermann, E. H./Köhler-Zülch, I.: Aspekte der Gesellschafts- und Kirchenkritik in den Fabeln von Martin Luther, Nathanael Chytraeus und Burkhard Waldis. In: Hasubek, P. (ed.): Die Fabel. B. 1982, 2 7 - 4 2 , hier 32. 21 Solomon, J. L.: Die Parabel vom verlorenen Sohn. In: Grimm/Hermand (wie not. 7) 29—50. 22 Moser-Rath, 94sq. - 23 Triller, D . W . : Neue Aesopische Fabeln. Hbg 1740, 2 9 0 - 2 9 4 (Das Pferd und dessen Enkel). - 2 4 Becker, R. Z.: Nothund Hülfs-Büchlein für Bauersleute. Gotha/Lpz. 1788 (Nachdr. Dortmund 1980) 100 sq. - 25 Rajecz-
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Fliege
ky, Β.: Typen ung. Klagelieder. In: DJbfVk. N. S. 3 (1975) 3 1 - 4 6 , hier 34, 36. - 26 HDM 1, 1 0 8 110. - 27 Jessen, J.: Das Recht in den KHM der Brüder Grimm. Diss. Kiel 1979, 7 1 - 7 5 . - 28 Haldar, S.: Ho Folk-Lore. In: The J. of the Bihar and Orissa Research Soc. 1 (1915) 255-273, hier 2 5 7 260. — 29 Lütolf, Α.: Sagen, Bräuche, Legenden aus den fünf Orten Lucern, Uri, Schwiz, Unterwaiden und Zug. Lucern 1862 (Nachdr. Hildesheim/ Ν. Y. 1976) 95, 475, 488sq. - 30 Peuckert, W.-E.: Sagen. Geburt und Antwort der mythischen Welt. B. 1965, 139-155. 31 Günter 1949, 239sq.; Tubach, num. 1245. 32 Ein kurtzweilig lesen von Dyl Ulenspiegel [. . .]. ed. E. Schröder. Lpz. 1911, 46. Historie. - 33 wie not. 18, 136sq., 140; ähnlich die vor allem in Osteuropa verbreitete Ballade vom Bauopfer, cf. Ortutay, G./Kriza, I.: Magyar nepballadäk. Bud. 1968, 107, 123, 733sq.; Talo§, I.: Me§terul Manole. Buk. 1973, pass. - 34 Guntern, J.: Volkserzählungen aus dem Oberwallis. Basel 1978, num. 405; wie not. 29, 155. - 35 Wesselski, Α.: Das Recht des Teufels auf Arbeit. In: Ndd. Zs. für Vk. 10, 1 - 2 (1932) 1 - 1 6 , hier 15. - 36 RAC 2, 277; Dithmar, R. (ed.): Fabeln, Parabeln und Gleichnisse. Mü. 1978, 225. 37 KHM 168. - 3 8 Berze Nagy 766*. - 39 Schmidt, L.: Gestaltheiligkeit im bäuerlichen Arbeitsmythos. Wien 1952, 55sq. - 40 Schenda, R.: Folkloristik und Sozialgeschichte. In: Erzählung und Erzählforschung im 20. Jh. ed. R. Kloepfer/G. JanetzkeDillner. Stg. 1981, 4 4 1 - 4 4 8 , hier 445. 41
Dvorak, num. 1360**. - 42 Moser-Rath, num. 227. - 43 Jacques de Vitry/Crane, num. 112; Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./ N.Y. 1981, 74 sq. - 44 Wickram/Bolte, num. 10. 45 Dvorak, num. 3004*; Montanus/Bolte, 344, 619. - 46 Pauli/Bolte, num. 263, 761. - 47 Montanus/Bolte, 4 3 - 4 5 . - 48 Kapfhammer, G.: Bayer. Schwänke. Düsseldorf/Köln 1974, 70sq.; Woeller, W.: Der soziale Gehalt und die soziale Funktion der dt. Volksmärchen. In: Wiss. Zs. der HumboldtUniv. zu B. Gesellschafts- und Sprachwiss. R. 10 (1961) 395-459, hier 442; 11 (1962) 2 8 1 - 3 0 7 , hier 291. - 49 Moser-Rath, E.: Das Thema ,Arbeit' in der Volkserzählung. In: Arbeit und Volksleben, ed. G. Heilfurth/I. Weber-Kellermann. Göttingen 1967, 262, 264; Woeller 1961 (wie not. 48) 442. 50 Pauli/Bolte, num. 260. 51 Ortutay, G./Katona, I.: Magyar parasztmesek. Bud. 1956, num. 28sq. - 52 Scheiber, S.: Folklör es tärgytörtenet 2. Bud. 2 1977 , 91. - 53 Woeller 1961 (wie not. 48) 447; Henssen, G.: Volk erzählt. Münster 1954, 383sq. - 54 Degh, L.: Folktales of Hungary. L. 1965, num. 12; Sebestyen, Α.: Bukovinai szekely nepmesek 1. Szekszard 1979,366, not. 4 (Ä. Koväcs); 2 (1981) 443, not. 48. - " B e b e l / Wesselski 1, num. 90. — 56 In: Pömbacher/Hubensteiner (wie not. 19) 1038-1054; Berze Nagy 1371*. — 57 Fischer, H.: Die dt. Märendichtung des 15. Jh.s. Mü. 1966, 286, 293, num. 33; Cammann, A./Karasek, Α.: Donauschwaben erzählen 1 - 4 .
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Marburg 1976-79, t. 4, 415sq.; Wehse, R.: Schwanklied und Flugblatt in Großbritannien. Ffm./Bern/Las Vegas 1979, num. 252 ( = Child, num. 2 7 7). — 58 Ruben, W.: Das Paficatantra und seine Morallehre. B. 1959, 111; cf. Benfey 2, 190. - S9 Isler, G.: Die Sennenpuppe. Basel 1971, 35sq., 228. — 60 Frobenius, L.: Volksdichtungen aus Oberguinea 1. Jena 1924, 224-226. 61 Parker, Η.: Village Folk-Tales of Ceylon 3. L. 1914, 265-271, hier 265. - 62 Frobenius, L.: Die atlantische Götterlehre. Jena 1926, 203 sq. 63 Yang, Ζ. U.: Strukturen und Elemente korean. Volkserzählungen. Ffm./Bern 1980, 207. 64 Elwin, V.: Tribal Myths of Orissa. Bombay 1954, 65 66 373 sq., num. 61. Dh. 2, 111-117. Pauli/ Bolte, num. 761. - 6 7 Honegger, P.: Die Schiltburgerchronik und ihr Verf. Johann Fischart. Hbg 1982, 111-113. - 68 Wickram/Bolte, X X V I I XXXVI, 286-295. - 6 9 Lüthi, Ästhetik, 43sq. 70 Kant, I.: Werke in zwölf Bänden, ed. W. Weischedel. Ffm. 1964, t. 12, 613sq.; cf. etwa AaTh 300, 301, 325, 530, 550, 551. 71 Hertel, J.: Ind. Märchen. MdW 1953, 119. 72 Müller-Lisowski, K.: Ir. Volksmärchen. MdW 1981, 265. - 73 Massignon, G.: Contes traditionnels des teilleurs de lin du Tregor (BasseBretagne). P. 1965 (Nachdr. 1981) 225; Briggs, K.: A Dictionary of Fairies. Harmondsworth 1976, 11; Berze Nagy 530. - 74 Aitken, H./Michaelis-Jena, R.: Märchen aus Schottland. MdW 1982, 106. 75 Horn, Κ.: Der aktive und der passive Märchenheld. Basel 1983, 32sq„ pass. - 76 1001 Nacht 3, 176-200 (Die Geschichte von Abu Mohammed dem Faulpelz); Chauvin 6, 6 4 - 6 7 . - 77 HDM 1, 99; t. 2, 6 4 - 6 6 . - 78 Lüthi, Ästhetik, 109-111. 79 Drory, R.: Ali Baba and the Forty Thieves. An Attempt at a Model for the Narrative Structure of the Reward-and-Punishment Fairy Tale. In: Jason, H./Segal, D. (edd.): Patterns in Oral Literature. The Hague/P. 1977, 3 1 - 4 8 . - 80 Lüthi, Ästhetik, 114. 81 Waldis, Β.: Esopus 1. ed. Η. Kurz. Lpz. 1862, num. 17. - 82 Moser-Rath, num. 80. — 83 Soupault, R.: Bret. Märchen. MdW 1982, 205-210, hier 206. - 84 Dh. 2, 117-121. - 85 Dömötör, T.: Some Questions Concerning Belief-Legends as a Genre. In: Honko, L./Voigt, V. (edd.): Adaptation, Change and Decline in Oral Literature. Hels. 1981, 11-17, hier 17. - 86 Cammann/ Karasek (wie not. 57) t. 1 (1976) 279.
Basel
Katalin Horn
Fliege. Im Unterschied zu —»Ameise oder —»Biene werden der F. ebenso wie Mücke oder —» Floh zumeist negative Qualitäten zugeschrieben; gemeint ist dabei die Stuben-F. (musca domestica), kaum die auch verbreitete
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Fliege
Fleisch-F. (musca carnaria) oder Stech-F. (stomoxys calcitrans), und die von ihr für den Menschen ausgehende Belästigung. Naturkundliche Berichte über F.n, die mit Vorliebe Aas und Exkremente besuchen, finden sich bereits in frühen Kulturen des mediterranen Gebiets, des Orients und auch in der späteren griech.-röm., christl. und jüd. Lit. 1 Dabei sind z.T. richtige, z.T. unrichtige Beobachtungen über die Entwicklung der F. festgehalten. So notierte ζ. B. Aristoteles u. a., daß F.n aus Maden entstünden, welche sich im Dünger gebildet hätten 2 ; eine ähnliche Ansicht vertrat Konrad von Megenberg 3 . Erzählungen mit verwandtem Inhalt aus neuerer Zeit sind in Kamerun (Mot. A 2432.9, A 2433.5.2) und anderswo (Mot. A2031) 4 verbreitet. Unrichtige Vorstellungen werden im ΜΑ., ζ. T. bis in die Neuzeit 5 , unkritisch 6 übernommen, etwa der Glaube an die Wiederbelebung von ertrunkenen F.n, die man lebendig machen könne, wenn man sie nur mit warmer Asche bestreue und in die Sonne setze 7 . Erzählungen neuerer Zeit beschäftigen sich bes. mit G e s t a l t und A u s s e h e n der F., erklären ihre Kahlköpfigkeit damit, daß ein Bär ihr .Fellchen' abgezogen habe (lett.; Mot. A 2317.2) 8 , die Form ihrer geschwollenen Augen als Folge vielen Lachens über die ungeschickten Versuche von Menschen, sie zu fangen (rumän.; Mot. A2332.1.2 = AaTh 282 B*: Conversation of Fly and Flea)9, oder gehen auf ihre E i g e n s c h a f t e n ein: Sprachlosigkeit und Summen sind bei den afrik. Ekoi eine Strafe für eine unrichtige Antwort (Mot. A2239.2). Ihr Erscheinen stößt allg. auf Ablehnung (cf. Mot. A2522.7) 10 . Die Sintflut habe sie nur überlebt, weil Noah, vor die Wahl zwischen Teufel und F. gestellt, sich für die Mitnahme des Zweiflüglers entschied (ung.; Mot. A 2031.2) 11 . Russ. und ung. Sagen begründen die E n t s t e h u n g der F.n damit, daß Gott solches Ungeziefer erschaffen habe, um die Menschen für ihre Faulheit zu bestrafen bzw. keine Trägheit aufkommen zu lassen (Mot. A 2031.1; A 1730; Q321) 1 2 . Die B e z i e h u n g e n zu a n d e r e n T i e r e n sind getrübt. Die Kameruner ζ. B. erzählen, daß Hunde deshalb nach F.n schnappten, weil jene beim vorgetäuschten Tod des Hundes
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gelacht hätten (Mot. A2479.8) 1 3 . In der aus dem äsopischen Fabelkreis überlieferten Rangstreitfabel zwischen F. und Ameise wird der Fleiß der Ameise gegenüber dem schmarotzerhaften und unnützen Tun der F. herausgestellt 14 . Selbstüberheblichkeit und Hochmut bescheinigen Kamel, Elefant, Ochse oder Maultier der F. in sog. Proportionserzählungen. Menschliche —» Proportionsphantasie läßt die kleine F. eine Art scheinbar gleichwertiger Partnerschaft mit größeren Tieren eingehen: Auf der Deichsel eines Maultiers sitzend, spornt sie das Arbeitstier zu schnellerer Gangart an, doch es weist die Prahlerei der F. zurück, weil es nur auf die Peitsche des Herrn hört (Phädrus 3, 6) 15 . Verachtung der F. gegenüber äußert auch der Ochse bzw. das Kamel in jüd. und ind. Überlieferung, als das Insekt um Verzeihung bittet, daß es sich auf dem Nacken des größeren Tieres niedergelassen habe. Der Ochse (Kamel) antwortet, er habe ihr Gewicht überhaupt nicht bemerkt (cf. Thompson/ Balys J 953.10) — eine gleichfalls in äsopischer Tradition stehende Fabel (Handlungsträger zumeist Mücke oder Floh) 16 . Den größten Bezug zur Realität weisen jene Erzählungen auf, die von den Feinden der F. erzählen, ζ. B. von der Einladung der —» Spinne an die F., sich bei ihr auszuruhen. Die Spinne fängt die arglose F. in ihrem Netz und verzehrt sie (AaTh 283: Spider Invites Fly to Rest on her Curtain)17. V e r b r e i t u n g jedoch haben vor allem jene Erzählungen gefunden, die von der A b w e h r und dem oft vergeblichen, ζ. T. sprichwörtlich gewordenen Kampf gegen die Plagegeister (auch im Kinderreim sehr geläufig) handeln 18 . Plinius berichtete von der Verehrung eines F.n verscheuchenden Dämons Myiagros (Naturalis historia 10, 75; Myiodes, ibid. 29, 106), an dessen Stelle in heilenist. Zeit der Dämon Zeus Apomyios (i. e. F.nabwehrer) trat, ein Kult, den Herakles begründet haben soll, als er einst beim Opfer (cf. —> Altar) von F.nschwärmen belästigt worden sei (Pausanias 5, 14, 1). Auch Apollon galt als F.nvertreiber (Älian, De natura animalium 11, 8) 19 . Wie manch andere antike Vorstellung wird auch die Kraft des F.nbannens (—> Festbannen) auf die christl. Heiligen übertragen (ζ. B. Leutfredus, Vitus) 20 , und selbst H. —> Rauscher
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Fliege
verzichtet nicht auf ein solches Mirakel, das er nach —* Vincent de Beauvais (Speculum exemplorum 3, 52) dem hl. —» Bernhard von Clairvaux zuschreibt: Als jener die Insekten bannt, fallen die F.n tot von den Wänden (cf. Tubach, num. 2085) 2 1 . Aber auch gewöhnliche Geistliche vollbringen solche Thaumasia: Sie können F.n exkommunizieren, weil sie die Kirche verunreinigen (Tubach, num. 4556); dank eines Gebets hält eine Spinne die störende F. während des Abhaltens einer Messe fest (Tubach, num. 2099), oder das Insekt muß sterben, weil es den Kelch eines Priesters berührt hat (Tubach, num. 2101). Von solchen Vorstellungen ist es nicht weit zur Verteufelung der F. als Krankheitsdämon, überhaupt zur Gleichsetzung der F. mit dem Bösen, die auch seit alters bezeugt ist (basierend möglicherweise auf der Tatsache, daß F.n Krankheitsüberträger sein können). Die F. dient als Inkarnation der —» Pest (Tubach, num. 2084) und bes. des —> Teufels (seltener der Hexe) in dämonologischen Sagen (Mot. G 303.3.4.4; G 211.5.1; G 225.1; cf. Ε 423.7) 2 2 . Sporadisch nehmen sich dagegen positiv wertende Erzählungen aus: So heißt es etwa in estn. Sagen (mit antisemitischer Tendenz), die F. dürfe überall essen. Sie habe sich auf den Leib Christi gesetzt, als die Juden einen fünften Nagel einschlagen wollten und die F. dabei für einen bereits eingeschlagenen hielten (AaTh 772*) 2 3 . Oder eine F. hilft dem Helden in einer türk. Var. zu AaTh 554: —» Dankbare Tiere, die Braut aus einer Reihe gleichgekleideter Mädchen herauszufinden (Eberhard/Boratav, num. 61), sie warnt einen Prinzen vor dem Feind (Thompson/Balys Β 521.3.3.1) etc. 24 . Zur —»Absurdität gerät die F.nabwehr schließlich im Schwank, wenn statt des Insekts der Gepeinigte (tödlich) getroffen wird (AaTh 1586, 1586 A: F. auf des Richters Nase) oder das —> tapfere Schneiderlein (AaTh 1640) dem Riesen suggeriert, seine Gürtelinschrift .Sieben auf einen Streich' bezöge sich auf Menschen statt auf F.n. Die Vorliebe der Insekten für Aas 'und Exkremente ist selten thematisiert 25 (—» F.n sollen nicht vertrieben werden). 1 Knortz, K.: Insekten in Sage, Sitte und Lit. Annaberg 1910, 84-105; Keller, O.: Die antike Tier-
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welt 2. Lpz. 1913 (Nachdr. Hildesheim 1963) 4 4 7 460; Pauly/Wissowa 6, 2 (1909) 2744-2747; RAC 7 (1969) 1110-1124; Lex. der Ägyptologie 2. Wiesbaden 1977, 264sq.; De Gubernatis, Α.: Die Thiere in der idg. Mythologie. Lpz. 1874, 5 0 6 512. — 2 Aristoteles, Historia animalium 5, 19, 103; cf. auch Pauly/Wissowa (wie not. 1). — 3 Das Buch der Natur von Conrad von Megenberg. [. . .] bearb. [.. .] von H. Schulz. Greifswald 1897, 259. 4 MansfeId, Α.: Urwald-Dokumente. Vier Jahre unter den Grossflussnegern Kameruns. B. 1908, 229; zur Todes-F. cf. Vidossi, G.: Saggi e scritti minori di folklore. Torino 1960, 157. - 5 cf. HDA 2, 1621-1630. — 6 Abenteuerliche Berichte von Entstehung und F.nabwehr cf. Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wiss.en und Künste 9. Halle/Lpz. 1735, 1348-1352. - 7 Plinius, Naturalis historia 11, 120; Lukian, Gallia 7; Älian, Natura animalium 2, 29; Isidor von Sevilla 12, 8, 11; v. auch Tubach, num. 367. — 8 Dh. 3, 11. — 9 Mot.-num. bei AaTh nicht vermerkt; Text cf. Dh. 3, 19. - 10 Knortz (wie not. 1) 84; Levi-Strauss, C.: Mythologica. 4, 1—2: Der nackte Mensch. Ffm. 1975, Reg. s.v. F.; Radin, P./Kerenyi, K./Jung, C. G.: Der göttliche Schelm. Zürich 1954, Reg. s.v. F. 11 Dh. 1, 267sq. - 12 Dh. 2, 112. - 13 Mansfeld (wie not. 4) 227. - 14 Phädrus 4, 25; Jacques de Vitry/Crane, num. 189; Tubach, num. 2096sq.; zur Verbreitung cf. Schwarzbaum, Fox Fables, 104, 246, not. 19 und 525 sq. - 15 ibid., 373, 375, not. 22, 450, 452; cf. auch SUS 282 B** (F. auf dem Nacken des Ochsen: „Wir haben gepflügt"). 16 cf. Schwarzbaum, Fox Fables, 371-375. — 17 Mot. A 2494.14.1 (= Dh. 3, 349; philippin.); Tubach, num. 4569; cf. auch Megas; SUS 283 A*, A**; Schwarzbaum, Fox Fables, 529 sq. — 18 Wander, K. F. W.: Dt. Sprichwörter-Lex. 1. Lpz. 1867, 1064-1069; Röhrich, Redensarten, 282. Eine tolpatschige F.njagd zeigt der von W. Busch erdachte Münchener Bilderbogen, num. 425: Die F. (1865/ 66; mehrere Dutzend Aufl.n); cf. auch Eichler, U.: Münchener Bilderbogen (Oberbayer. Archiv 99). Mü. 1974. - 19 Keller (wie not. 1). - 20 Frenken, G.: Wunder und Taten der HU. Mü. 1925, 212sq.; Toldo 1908, 36; Günter 1949, 272; Königs, H.: Der hl. Vitus und seine Verehrung. Münster 1939, 15sq., 35; zur Übertragung cf. auch RAC 7, 1122 sq. 21 Brückner, 248. - 22 Belege cf. HDA 2, 16231627; Brückner, 301, 449; v. auch PeuckertArchiv, Seminar für Vk., Göttingen, s.v. Tiere 69; cf. ferner Schmidtke, D.: Geistliche Tierinterpretation in der dt. sprachigen Lit.desMA.s(1100-1500). 1: Text. Diss. Β. 1968, 292sq.; Emblemata. ed. A. Henkel/A. Schöne. Stg. 21976, Bild-Reg. s.v. F. 23 Dh. 2, 241 sq. - 24 cf. auch Mot. Β 483.1; Wilbert, J.: Folk Literature of the Warao Indians. L. A. 1970, num. 78; id./Simoneau, K.: Folk Lore of the Ge Indians 1. L.A. (1978) num. 159; iid.: Folk Lore of the Toba Indians 1. L.A. 1982, num. 17,
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Fliege und Floh tauschen
149. — 25 Zur Aufdeckung eines Mordes verhelfen F.n in einer chin. Erzählung: Sie kreisen über einer verdeckten Kopfwunde (Ting 926 Q*).
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Fliege und Floh tauschen (AaTh 282 A*). Unter Angabe einiger russ. und poln. Erzählungen (Andreev *284, Krzyzanowski 299) registrierte AaTh (1961): The Flea and the Fly: the flea unhappy in the country; the fly in the city; they switch their places. Die Fabel ist jedoch in verschiedenen Teilen Europas bekannter, als Thompson annahm 1 . Er übersah auch, daß er unter Mot. J 612.1 2 , mit Hinweis auf —> Jacques de Vitry u. a., die gleiche Fabel, allerdings mit abweichendem Text, bereits notiert hatte 3 . Doch dürfte sie noch früheren Ursprungs sein. Das Grundmuster findet sich schon in Form einer Ätiologie im Codex Sangallensis aus karoling. Zeit 4 und ist dort zusammen mit Gedichten des —> Paulus Diaconus (gest. 799) überliefert. Dort heißt es von Floh und Podagra 5 : Eines Tages sei der Floh, während er einen -Mann biß, gefangen worden; der Gicht, die in den Fuß eines Armen eingedrungen war, sei es schlecht gegangen. Floh und Gicht hätten sich getroffen, ihre Erfahrungen ausgetauscht und beschlossen, die angestammten Aufenthaltsorte zu tauschen. Seit dieser Zeit suche die Gicht Reiche heim, Flöhe hingegen zöge es zu Armen.
Der zeitlich nächste Beleg stammt aus den Sermones vulgares des Jacques de Vitry (gest. 1240) 6 und dient als Exemplum, mit dem das Wohlleben der Nonnen angeprangert wird. Die Beispielerzählung ist erweitert worden. Statt des Podagras handelt es sich um Fieber. In mehreren Dialogen schildern Floh und Fieber ihre Erlebnisse. Die luxuria der Klosterfrauen verurteilt Jacques de Vitry indirekt in dem Bericht des Flohs - jener ruhte bei einer Äbtissin in einem weichen Bett zwischen herrlichen Linnentüchern und wurde von Mägden verscheucht — und stellt die Erlebnisse des Fiebers dagegen, das bei einer armen Frau eingekehrt war. Trotz der Körperschwäche verrichtete die Frau ihre harte, entbehrungsreiche Arbeit (Wäsche waschen am Fluß), so daß das Fieber sich nicht entwickeln' konnte. Nach dem Tausch der .Arbeitsplätze' (Vorschlag des Flohs) treffen sich beide erneut, und Jacques de Vitry liefert auch eine Begründung für beider Wechsel. Das Fieber kann sich bei der Äbtissin, 41
Enzyklopädie des Märchens IV
1282
verborgen unter Hermelindecke und köstlichem Linnen, wohlfühlen, und der Floh befindet sich bei der Armen in besten Händen, ohne Gefahr für sein Leben fürchten zu müssen: Die Frau ist nach der vielen Arbeit zu müde, um ihn verscheuchen zu können 7 .
Obwohl die Version des Augustiners noch öfter als Vorlage für verschiedene Slgen des 14./15. Jh.s (Johannes Gobii Junior 8 , Ulrich Boner 9 ) diente, fußen doch die späteren Fassungen auf der Bearb. Francesco Petrarcas (1304—74), der in seinen Epistolae familiares (Endredaktion 1366) als Handlungsträger wiederum Podagra und, erstmals, die Spinne (anstelle des Flohs) einsetzt 10 . Mit diesen beiden Akteuren weist die von den Kompilatoren oft unbegründet zu den äsopischen Fabeln gerechnete und von J. —> Grimm als Tierfabel bezeichnete Geschichte 1 1 eine reiche Tradition insbesondere im 16. Jh. auf (N. Gerbellius, M. Luther, B. Waldis, J. Gast, J. Camerarius, E. Eyring) 1 2 und wird auch in Fabelsammlungen des 17./18. Jh.s (bes. La Fontaine 3,8) überliefert 1 3 . Obwohl das Handlungsgerüst einfach strukturiert ist (Spinne bei Reichem, Gicht bei Armem, Tausch der Wohnsitze, Zufriedenheit beider über den Wechsel), differieren die einzelnen Versionen in Aussage und Länge jedoch erheblich. War zunächst die Kritik gegen die Verweltlichung der Klöster gerichtet (Jacques de Vitry, Boner) 1 4 , so wendet sie sich später gegen den Müßiggang der Reichen (ζ. B. Waldis, J. L. Heibig) 15 . Einer Ursprungssage angenähert ist der Eingang bei La Fontaine (3,8): Er bezeichnet Spinne und Gicht als Ausgeburten der Hölle, die durch Los ihren Wohnort bei den Menschen bestimmen und nur aus den schon genannten Gründen wechseln. Die mündl. tradierten Versionen neuerer Zeit stammen überwiegend aus Mittelund Osteuropa 1 6 . Häufig treffen sich zwei Insekten (Fliege und Floh 1 7 ), öfter handelt es sich aber auch um das Zusammentreffen zweier Krankheiten wie Fieber und Blattern oder Katarrh und Gicht 1 8 auf der Suche nach neuen Krankheitsträgern. Kennzeichen fast aller Var.n ist zum einen die zu beobachtende Motivreduktion (nur ein Treffen), zum andern die recht unterschiedliche Begründung des Wechsels (in einer mordwin. Var. berichtet nur der Floh der Fliege von seinem Ar-
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Fliege auf des Richters Nase
beitsplatztausch 19 ). Thematisch rückt der Gegensatz Stadt/Land in den Vordergrund — in einer poln. Version sind die Insekten nationalisiert: Ein poln. Dorffloh begegnet einer Fliege aus Deutschland 20 —, und hinter allem steht unausgesprochen die alltägliche Lebenserfahrung, die sich auch in zahlreichen Sprichwörtern manifestiert: „Was dem einen sin Ul, ist dem andern sin Nachtigall", „Was dem einen recht ist, ist dem andern billig" 21 etc. Ob das Auftreten von Insektenplagen Entstehen und Verbreitung solcher Erzählungen begünstigt haben könnte, mag dahingestellt bleiben. Ähnliche Begegnungen von Insekten sind noch verschiedentlich thematisiert, ζ. B. AaTh 282*: Wedding of Cricket and Fly, AaTh 282 Β*: Conversation of Fly and Flea. Am weitesten verbreitet ist die auch aus Indien bekannte Fabel von der Einladung des Flohs durch die Laus, die für die Gastgeberin tödlich endet (AaTh 282 C*: Laus und Floh). I Schon Krzyzanowski 299 verwies auf lit., lett. und russ. Var.n. - 2 Der Hinweis auf Mot. J 612.1 bei AaTh 282 B* ist unzutreffend. - 3 Schwarzbaum, Fox Fables, 528; cf. auch Tubach, num. 2080 (der dortige Hinweis auf Mot. L 392 basiert auf einer fehlerhaften Angabe im Mot. und entbehrt der Grundlage); die Angabe von AaTh 282 A* bei Dvorak, num. 2088* ist unrichtig: Bei dem erwähnten Exemplum (Flies, Town and Country) handelt es sich um AaTh 282 C*: Laus und Floh. — 4 cf. Perry, num. 587. - 5 Perry, Β. Ε.: Babrius and Phaedrus. L./Cambr., Mass. 1965, num. 587; erstmals besprochen von Müllenhoff, Κ.: Zwei Fabeln aus dem Karling. ZA. In: ZfdA. 13 (1867) 3 1 9 321, hier 320. - 6 Jacques de Vitry/Crane, num. 59. — 7 Wesselski, Α.: Mönchslatein. Lpz. 1909, num. 75 (dt. Übers.). - 8 Gobius, J.: Scala celi. Ulm 1480, fol. 75 b. - 9 Der Edelstein von U. Boner. ed. F. Pfeiffer. Lpz. 1844, num. 48; cf. auch Herbert, 174, num. 86 (Hs. des 14. Jh.s). - 10 Petrarca, F.: De rebus familiaribus epistolae. ed. S. Manitius. Venedig 1492, 3, 13. II Grimm, J.: Über eine Thierfabel. In: Recensionen und Vermischtes. Aufsätze von J. Grimm. 2. Theil (Kl.re Sehr. 5). B. 1871, 4 0 0 - 4 0 3 ; ibid. 4. Theil (Kl.re Sehr. 7) (1884) 425 sq. - 12 cf. Nachweise bei Kurz, H. (ed.): Esopus von Burkhard Waldis 2. Lpz. 1862, 94 sq.; Jacques de Vitry/ Crane, 159 sq.; Wesselski (wie not. 7) 227; ZfVk. 15 (1905) 105 (J. Bolte/G. Polivka). - 13 wie not. 12; cf. auch Moser-Rath, num. 205 (dort als Mot. J 612.1 bezeichnet; Mücke statt Floh). 14 Jacques de Vitry/Crane, num. 59; Boner (wie
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not. 9). - 15 Waldis (wie not. 12) 1 (1862) 2 0 8 214 (= 2, 31); Moser-Rath, num. 205. - 16 ZfVk. 15 (1905) 105 (poln., kleinruss., slovak.); Krzyzanowski 299; Barag; SUS; Dh. 3, 116 (poln.); Benzel, U.: Volkserzählungen aus dem oberpfälz.böhm. Grenzgebiet. Münster 1965, num. 121 (recte 122); Mordwin. Volksdichtung 4. Gesammelt von H. Paasonen. ed. R. Ravila. Hels. 1947, 835 (fehlt bei Kecskemeti/Paunonen); Loorits, O.: Estn. Volkserzählungen. B. 1959, num. 53; Viidalepp, R.: Eesti muinasjutud. Tallinn 1967, num. 42 ( = id.: Estn. Volksmärchen. B. 1980, num. 35); Wossidlo, R.: Mecklenburger erzählen, ed. G. Henßen. B. 1957, num. 23; Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 1961, num. 5; Benzel, U.: Kaukas. Märchen. Regensburg 1963, 3 1 - 3 3 ; Megas. 17 Spinne und Rheuma: Wossidlo (wie not. 16); Benzel 1963 (wie not. 16). - 18 ZfVk. 15 (1905) 105 (slovak.). - 19 Paasonen/Ravila (wie not. 16). - 20 Dh. 3, 116; cf. Barag. 21 Wander, K. F. W.: Dt. Sprichwörter-Lex. 1. Lpz. 1867 (Nachdr. Darmstadt 1964) 902, 904; ibid. 3 (1873) 1538, 1541.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Fliege auf des Richters Nase (AaTh 1586, 1586 A), Schwankerzählung über einen Dummen (—> Dummheit) und die sich bei F.nfang bzw. -abwehr oder einem Tötungsversuch ergebenden kuriosen Situationen. S. —> Thompson klassifizierte solche Erzählungen auf Vorschlag A. —»Aarnes als Dummenschwank und ergänzte bei der 2. Revision des AaTh (1961) weitere Geschichten mit drei verschiedenen Aussagen als Subtypus 1586 A. Die kurzen Inhaltsangaben charakterisieren jedoch nur einen kleinen Teil der geogr. und zeitlich weit auseinanderliegenden Überlieferung. Bis heute steht eine eingehende Unters, aus. Nach den z. Zt vorliegenden Var.n ergibt sich folgendes Bild: Die Abwehr lästiger F.n ist häufiger Gegenstand von Erzählungen, nicht immer jedoch so eindrucksvoll dargestellt wie in der von —> Phädrus (5, 3) 1 überlieferten Fabel Kahlköpfiger und F. (eigentlich Mücke, lat. musca, in der älteren Lit. aber synonym mit F. gebraucht). Dort belästigt eine F. einen —> Kahlkopf und verhöhnt ihn, als er bei einem Schlag nach ihr statt des Insekts sich selbst trifft. Der Kahlköpfige indes rechtfertigt die Tötungsabsicht, selbst bei größerem Schaden für den Ausführenden. Applicatio mo-
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Riege auf des Richters Nase
ralis: Unwissentlich Schadenden sei zu verzeihen, bewußten Schädigern aber die größte Strafe zuzumessen.
Die europ. Exempel- und Fabelliteratur (Mot. J 2102.3; Tubach und Dvorak, num. 45 8) 2 hat die Thematik zwar aufgegriffen, bezeugt durch zahlreiche Versionen aus Mittelund Westeuropa (ζ. B. Romulus, —> Stricker, Gerhard von Minden, Alexander —» Neckam, -» Klaret, U. Boner, H. Steinhöwel)3, die Funktion bzw. das ,Fabula docet' ist jedoch entscheidend verändert, vermutlich nach der Vorlage des —»Jacques de Vitry 4 . Bei ihm gelingt es dem Mann schließlich, den Plagegeist zu treffen, Voraussetzung wiederum für die Aussage, die F. schade wenig, füge sich selbst dabei den größten Schaden zu, oder, wie es in Burkart —> Waldis' Schlußvers heißt: „Böß ists, wider den Stachel streben" 5 . Der Fabeldichter der Lutherzeit gibt damit ein weiteres Beispiel für seine am Utilitaritätsprinzip orientierte Einstellung 6 . Seine Umarbeitung markiert zugleich auch den zeitlichen Schlußpunkt der Fabel-Tradierung, sieht man von einzelnen Neuausgaben oder späteren Übers.en ab 7 . Entscheidend für das Weiterleben des Motivs von der fatalen F.nabwehr wurde jedoch die (eigentlich naheliegende) Umgestaltung zum Dummenschwank. Bereits in der älteren ind. Lit. begegnen didaktische Erzählungen mit einer Charakterisierung dummen Verhaltens, von denen die vermutlich älteste Fassung nach T. —> Benfey, Β. E. —»Perry u. a. als groteske Karikatur der Phädrusfabel betrachtet werden könnte 8 , und auch in Süd-, später in Mitteleuropa lassen sich solche Dummengeschichten nachweisen. Aufgrund der bekanntermaßen unsicheren Quellenlage der älteren ind. Lit. verbietet sich allerdings die Frage nach einer genauen zeitlichen Fixierung und damit nach einer Abhängigkeit der einzelnen Fassungen und möglichen Wanderwege. Im Makasa-jätaka (num. 44) wird erzählt, daß der Sohn eines Zimmermanns seinen kahlköpfigen Vater von einer F. befreien will, eine Axt ergreift, statt des Insekts aber den Vater tödlich verletzt. Lehre: Es sei besser, einen Feind zu haben als einen törichten Verwandten (Mot. Ν 333.1) 9 . - Im Rohini-jätaka (num. 45) tötet die Dienerin Rohini in gleicher Weise ihre Mutter mit einem Reismörser (cf. Mot. Ν 333) 1 0 . — Wie Benfey zeigt, schlüpfen 41·
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auch Tiere in die Rolle des dummen F.nvertreibers 11 : In einer —» Pancatantra-Bearb. ζ. B. wirft ein —» Bär einen Stein an den Kopf des schlafenden Gärtners und trifft ihn tödlich (Mot. Ν 333.2 = AaTh 163 Α*) 1 2 , und gleiches vollbringt ein Schwert tragender, als Königswächter eingesetzter —> Affe, der mit dem Schwert eine Biene/F. vom Haupt des Schlafenden abwehren will und nicht das Insekt, sondern den Herrscher tötet 13 ; in einer anderen Version wird der Schlafende in letzter Minute gerettet (Mot. Ν 680) 1 4 .
In Europa hat Girolamo —> Morlini den Stoff von der fatalen Insektentötung aufgegriffen 15 . Bei ihm tötet ein Diener seinen Herrn auf diese Weise und kann sich einer Bestrafung durch List entziehen (AaTh 1600: Der begrabene Schafskopf). Diese Version haben u. a. —* Straparola (3, 4) und —> La Fontaine (8, 10) ihrer Bearb. zugrunde gelegt 16 . Die unkluge Handlung geschieht aber ebenso durch einen Bären (AaTh 163A*: The Bear Chases away the Flies), und solche Erzählungen sind noch aus mündl. Überlieferung neuerer Zeit bezeugt 17 . Die F.nabwehr kann auch glimpflicher enden. In einer späteren Fassung von Johannes —> Paulis Schimpf und Ernst (Straßburg 1533) findet sich die Geschichte eines Narren, der bei dem schlafenden Bischof von Mainz die F.n abwehren soll18. Der Dumme hält das Schnarchen des Kirchenfürsten für Totenrasseln, verdächtigt die F.n als Urheber, haut mit dem Stiel des F.nwedels nach ihnen und trifft dabei die Nase des Schlafenden. Der unsanft Geweckte hört sich die Geschichte des Dummen an, läßt ihn wegen seines törichten Handelns unbehelligt, bestraft aber den, der den Narren als Wächter hingestellt hatte (Mot. J 1833).
Für alle diese Fassungen bedeutsam ist, daß der von F.n Geplagte schläft und dabei von einem Insekt belästigt wird. Der größte Teil der neueren Erzählungen kommt allerdings ohne diesen Zug aus. Bereits eingangs wird der F.nvertreiber als Narr, Dummer u. a. hingestellt. Dabei lassen sich zwei Redaktionen unterscheiden. (1) Ein Dummer (oder mehrere) versucht, mit einem ungeeigneten Gegenstand eine F. (mehrere) zu töten (abzuwehren), und trifft den vom Insekt Behelligten tödlich. Hierunter fallen alle als AaTh 1586 A (Mot. J 1833. I) 1 9 bezeichneten Dummenschwänke neuerer Zeit: als Einzelschwank 20 und häufiger auch
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Fliege auf des Richters Nase
als Episode innerhalb von Dummenschwänken 21 nachweisbar, ζ. T. als —> Ortsneckerei, kontaminiert ζ. B. mit AaTh 1200: —> Salzsaat12, AaTh 1287: Sich nicht —> zählen können23, AaTh 1537: Die mehrmals getötete —» Leiche24, AaTh 1681 B: Fool als Custodian of Home and Animals25. Gesteigert wird die absurde Handlung noch dadurch, daß der Geplagte selbst Gefährten (Freunde, Verwandte) zur Tötung des Insekts auffordert. So heißt es z.B. von den Einwohnern Anzonicos (Tessin), daß sie zwei Wachen zur Abwehr der F.nplage aufstellten. Die Riesen-F. auf der Brust des einen soll der andere töten: „Tut Ihr Eure Pflicht". Von der Waffe als Mordinstrument tödlich getroffen, sinkt der Kamerad zu Boden 26 . Solche grotesken —» Mißverständnisse mit fatalen Folgen sind schwanktypisch und erinnern an die Geschichte von —> Hund und Sperling (AaTh 248) nach einem Gevatterschmaus (AaTh 15: —> Gevatter stehen). Dort will ein Fuhrmann den ihn ärgernden Vogel treffen, schlägt dabei jedoch blindwütig alles kreuz und klein und fordert schließlich seine Frau auf, den im Munde befindlichen Spatz mit der Hacke zu töten, was natürlich, grotesk genug, mißlingt. Der Mann kommt zu Tode (KHM 58) 27 . (2) Den zweifellos größten Anteil auch innerhalb der oralen Tradition nehmen Erzählungen ein, die eine absurde richterliche Entscheidung durch eine ebenso sinnlose Handlung in ihr Gegenteil verkehren (AaTh 1586 [Mot. J 1193.1]; —» Ad absurdum führen). Ein Mann (Bauer, Bäcker, Narr) bezichtigt F.n des Diebstahls 28 und geht vor Gericht. Der Richter (Bürgermeister, Zar) entscheidet, der Mann solle die F.n töten, wo immer er sie fände. Zufällig fliegt (wird erblickt) eine F. auf des Richters Nase, und der Kläger setzt den Urteilsspruch sofort in die Tat um (Spielart des literal fool; cf. —> Wörtlich nehmen). Der Richter erleidet kiäftige Blessuren oder wird sogar getötet. Den närrischen F.ntöter kann niemand belangen.
Den Schwank hat Pauli bereits in die Erstauflage aufgenommen 29 , und zahlreiche Versionen in mittel- und westeurop. Schwankbüchern späterer Zeit 30 bezeugen die Beliebtheit des Dummenschwanks bis hin zu rezenten Aufzeichnungen auch aus anderen Teilen Europas und europ. beeinflußten Kulturen 31 . Nicht selten begegnet in neueren Fassungen
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die Erzählung (wie auch AaTh 1586 A) als Episodenschwank, wobei die Handelsgeschäfte des Dummen, der auf dem Wege zum Markt den Insekten Fleisch etc. verkauft (das dann gestohlen wird) oder F.n des Diebstahls der nicht mehr vorhandenen Handelsware beschuldigt (AaTh 1642: Der gute —> Handel), meistens den ersten Teil der Handlung bilden 32 . Öfter ist der unbedachte Schlag in das Gesicht des Richters zum Schelmenstreich umfunktioniert, als Antwort des Schelmen (kein Dummer, ζ. B. Eulenspiegel, Juha [Giufä], Balakirev) auf einen absurden Rat des Würdenträgers 33 . Für die Popularität solcher Erzählungen von F.nabwehr mit ungeeigneten Maßnahmen und daraus folgenden grotesken Ergebnissen (kleine Ursache - große Wirkung) spricht nicht nur die internat. Verbreitung, sondern auch das Vorhandensein zweier unterschiedlicher Redaktionen und die Einbindung in andere Schwänke. Daß dabei die ursprünglich belehrende Intention durch die Umgestaltung verlorengeht, ist, als Schwundstufe eines Erzählstoffes 34 , öfter zu beobachten. I cf. Perry, num. 525. - 2 Mot.-num. von Tubach nicht registriert. - 3 Belege bei Tubach und Dvorak, num. 458 (bes. Äsop/Holbek, num. 65); cf. auch Keller/Johnson J 2102.3. - 4 Jacques de Vitry/ Crane, num. 190. — 5 Esopus von Burkhard Waldis. ed. H. Kurz. Lpz. 1862, num. 99. - 6 c f . auch Rehermann, E. H./Köhler, I.: Aspekte der Gesellschafts- und Kirchenkritik in den Fabeln von Martin Luther, Nathanael Chytraeus und Burkhard Waldis. In: Hasubek, P. (ed.): Die Fabel. Theorie, Geschichte und Rezeption einer Gattung. B. 1982, 2 7 - 4 2 , hier 3 5 - 4 2 . - 7 ζ . B. Christiern Pedersens dän. Übers, von H. Steinhöwels Esopus ( = Äsop/ Holbek, hier num. 65). - 8 Benfey 1, 293; Perry, Β. Ε.: The Origin of the Book of Sindbad. In: Fabula 3 (1960) 1 - 9 4 , hier 42, not. 84 (zugleich Zeugnis für die These, daß auch viele Erzählungen von Westen nach Osten gewandert sein könnten). 9 Benfey 1, 292sq.; t. 2, 538sq. - 10 Jätaka, num. 45. II
Benfey 1, 293sq., 296, 358; t. 2, 154sq. Mot.-num. bei AaTh 163 A* nicht vermerkt (statt AaTh 1586 ist auf AaTh 1586 Α zu verweisen); Bodker, Indian Animal Tales, num. 118; cf. Benfey 1, 283. - 13 Badker, Indian Animal Tales, num. 118; cf. Pauli/Bolte 2, 412 (not. zu num. 712). - 14 Bodker, Indian Animal Tales, num. 117; cf. Schwarzbaum, 362sq. - 15 Wesselski, Α.: Die Novellen G. Morlinis. (Mü. 1908) num. 21. 12
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Fliegen lernen
16 Nachweise ibid., 216sq. - 17 Ergänzend zu AaTh: Eberhard/Boratav, num. 38; Aräjs/Medne; SUS; STF 1, 361; Jason (irak.); Pauli/Bolte 2, 412 (not. zu num. 712). Eigentümliche Version vom Kampf zwischen F.n und Affen (nur ein Affe überlebt) bei Vries, J. de: Volksverhalen uit Oost-Indie. Zutphen 1925 [322 = num. 81]. - 18 Pauli/Bolte, num. 712. - 19 Ergänzend zu AaTh 1586 A: Ting; Cirese/Serafini (+ app.); Fabula 21 (1980) 2 6 5 268 (jüd.-jemenit. =Jason, Types 1433*); Marzolph. - 20 Neuhaus, W.: Sagen und Schwänke aus dem Kreise Hersfeld [. . .]. Hersfeld s. a., 98; Jegerlehner, J.: Sagen und Märchen aus dem Oberwallis. Basel 1913, 189; Neumann, S. (ed.): Ein mecklenburg. Volkserzähler. B. 1968, num. 173; Schott, A. und Α.: Rumän. Volkserzählungen aus dem Banat. ed. R.W. Brednich/I. Talo§. Buk. 1975, 278; Benzel, U.: Kaukas. Märchen. Regensburg 1963, 22sq.; Sheikh-Dilthey, H. (ed.): Märchen aus dem Pandschab. MdW 1976, num. 72. 21 Rittershaus, Α.: Die neuisl. Volksmärchen. Halle 1902, num. 96; DBF A 2, 265-268; Robe. 22 Mayedo, N./Brown, W.N.: Tawi Tales: Folk Tales from Jammu. New Haven 1974, num. 36 (ind., pers. und ceylones. Var.n cf. p. 416); Dirr, Α.: Kaukas. Märchen. MdW 1920, num. 80 (Mücken). 23 Fansler, D.: Filipino Popular Tales. Lancaster/ N.Y. 1921, num. 9. - 24 Thudt, A./Richter, G.: Der tapfere Ritter Pfefferkorn u. a. siebenbürg. Märchen und Geschichten. Buk. 1971, 76sq. 25 Cammann, Α.: Dt. Volksmärchen aus Rußland und Rumänien. Göttingen 1967, num. 61; Fuchs, P.: Afrik. Dekamerone. Erzählungen aus Zentralafrika. Stg. 1961, 191-196. - 26 Todorovic-Strähl, P./Lurati, O. (edd.): Märchen aus dem Tessin. MdW 1984, num. 69. - 27 cf. BP 1, 515-519. 28 Zwei griech. Var.n, in denen F.n des Weindiebstahls beschuldigt werden, hat S. Thompson fälschlich als AaTh 1433*: Man and Wife Leave Food to get Wine aufgenommen; die jüd.-jemenit. Var. bei Jason, Types gehört ebenso zu AaTh 1586. — 29 Pauli/Bolte, num. 673 (Bienen). - 30 Nachweise ibid., 402 (zu num. 673); ergänzend: [anonym:] Lieblicher Sommer-Klee und Anmuthiges WinterGrün [. . .]. s. 1. 1670, num. 137; Texte im EMArchiv (mit num.): J. P. de Memel 1656 (6142); Historien-Schreiber 1729 (15.465); Nouveaux Contes ä rire [. . .]. Amst. 1700, 168. 31 Ergänzend zu AaTh :Aräjs/Medne;Jason;Cirese/ Serafini; Rausmaa; Robe; Flowers; Kecskemeti/ Paunonen; SUS; György, L.: Konyi Jänos Democritusa. Bud. 1932, num. 122; Coetzee; Ting; Konkka, U. S. (ed.): Karel'skie narodnye skazki. M./Len. 1963, num. 71; DBF A 2, 149; RE 5 (1965) 457-459 (port.); De Nino, Α.: Usi e costumi abbruzzesi 3. Firenze 1883, num. 74; BoäkovicStulli, M.: Narodne pripovijetke. Zagreb 1963, num. 87; Aganin, R./Al'kaeva, L./Kerimov, M.: Tureckie skazki. M. 1960, 216; JAFL 34 (1921) 154sq. (puertorican.). - 32 Meier, H./Woll, D. (edd.): Port. Märchen. MdW 1975, num. 53, 83; Alcover,
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A. M.: Aplec de rondaies mallorquines 9. Palma de Mallorca s. a., 6 0 - 8 3 ; Bünker, J. R.: Sagen und Märchen in heanz. Mundart. Lpz. 1906, num. 7; Beres, Α.: Rozsälyi nepmesek. ed. Α. Koväcs. Bud. 1967, num. 77; Hodscha Nasreddin 2, num. 428; JAFL 34 (1921) 152-155, 181-183 (puertorican.). - 33 cf. SUS; Ergis, num. 324,7; Coetzee; Debus, O.: Till Eulenspiegel in der dt. Volksüberlieferung. Diss, (masch.) Marburg (1951), 228sq.; Crane, T. F.: Italian Popular Tales. Boston/N.Y. 1885, num. 101; Lambertz, M.: Alban. Märchen [...]. Wien 1922, 57sq.; Hodscha Nasreddin 1, num. 280; Volkov, Α. Α.: Karakalpakskie narodnye skazki. Nukus 1959,81 sq. - 34 Ranke, Κ.: Schwank und Witz als Schwundstufe (1955). In: id.: Die Welt der Einfachen Formen. B./N.Y. 1978, 6 1 - 7 8 . Göttingen
Hans-Jörg U t h e r
Fliegen lernen ( A a T h 225, 225 A , 226). Die Erzählungen von Vögeln, die ein nicht flugfähiges Tier durch die Luft tragen und abstürzen lassen, bilden zwei voneinander unabhängige Erzählkreise mit literar. und mündl. Var.n. Sie entstanden wohl aus der Beobachtung von Raubvögeln 1 . 1. D a s b u d d h i s t . E x e m p e l 2 . Zwei Vögel (Gänse, Schwäne) tragen eine Schildkröte an einem Stock, in den sie sich verbissen hat, auf eigenen Wunsch aus ihrem Teich fort. Dabei von anderen Tieren oder Menschen zum Reden verführt, stürzt sie ab. Diese Erzählung findet sich schon in einem Jätaka (215) und dient, oft mit entsprechendem K o m m e n tar versehen, zur Warnung vor unzeitiger Geschwätzigkeit. Die Verwendung als Predigtexempel sicherte ihr Volkstümlichkeit, engte aber auch die Möglichkeiten mündl. Ausformung ein, die sich meist eng an das literar. Vorbild anlehnt. Freier gestaltet ist eine Kettenerzählung aus Ceylon, wo die Lehrabsicht hinter der Darstellung von List und Gegenlist zurücktritt, und ein Märchen aus Kambodscha 3 , in dem die Vögel durch den A f f e n und der Stock durch ein Seil ersetzt sind. D e r A f f e möchte die ihm befreundete Schildkröte zu sich auf einen Baum ziehen; als sie den Mund zum Reden öffnet, stürzt sie ab. Das Exempel ist in E u r o p a seit dem M A . bekannt, wurde aber nur von La Fontaine bearbeitet 4 und hatte keinen Einfluß auf die europ. Volkserzählung.
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Fliegen lernen
2. Die ä s o p i s c h e n Fabeln. Von einem vergleichbaren Geschehen erzählen zwei äsopische Fabeln. In der einen (AaTh 225 A; Mot. J 657.2; Wienert ET 98, ST 320) weiß ein Adler mit der geraubten Schildkröte (später auch Schnecke, Muschel, Nuß) wegen ihres harten Panzers nichts anzufangen und erhält von der Krähe den Rat, die Beute an einem Felsen zerschellen zu lassen. Die Fabel warnt vor trügerischer Sicherheit und der gefährlichen Macht eines Wortes 5 . Das Thema .Fliegen lernen' spielt in ihr keine Rolle, die Typenbezeichnung ist deshalb nicht gerechtfertigt. Mündl. ist nur eine griech. Var. belegt6, in der die Schildkröte selbst dem Adler den Rat erteilt, wie er sich ihrer Artgenossen bemächtigen könne, und die dann sein erstes Opfer wird. In der zweiten Fabel (AaTh 225; Mot. Κ 1041; Wienert ET 51, ST 63) bittet die Schildkröte den Adler um Flugunterricht. Er trägt sie hoch in den Himmel und läßt sie fallen. Sie zerschellt, sieht aber, bevor sie stirbt, die Unsinnigkeit ihre Wunsches ein. Als Warnung vor Hybris und dem Verstoß gegen die gottgewollte Ordnung 7 wurde die Fabel früh in die europ. Nationalsprachen übersetzt 8 . Zahlreiche mündl. Var.n zeugen von ihrer Beliebtheit. Diese lassen sich in einen nordosteurop. 9 und einen iber.-südamerik. 10 Erzählkreis einteilen. Davon abhängige einzelne Var.n finden sich im Baskenland 11 , in Frankreich 12 , Süditalien 13 , Afrika 14 , Indonesien 15 und Nordamerika 16 . 2.1. N o r d o s t e u r o p . E r z ä h l k r e i s . In der Minimalform 17 bittet der Fuchs einen Wat(Storch, Kranich, Fischreiher) oder Schwimmvogel (Wildgans, Schwan), ihm das Fliegen beizubringen. Der Vogel trägt ihn in die Luft und läßt ihn fallen mit dem Rat, sich schräg zu halten. Der Fuchs stürzt zu Boden und meint, das Fliegen sei schön, nur die Landung habe ihn durchgerüttelt. Der Witz der Erzählung liegt in dem undurchführbaren Rat des Vogels und in der Bemerkung des Fuchses. Var.n: Der Wunsch des Fuchses wird begründet (Preis für die Freilassung des gefangenen Vogels oder dessen Fütterung im Winter 18 ). — Kontamination mit AaTh 56 A (cf. —> Fuchs und Vogeljunge·, cf. Mot. Κ 1788) 19 . - Spott über den flugunfähigen Fuchs 20 . — Der Fuchs sucht nach neuen Jagdtech-
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niken 21 . — Der Rat des Vogels ist eine Ätiologie seines Rufs 22 . - Der Flugteil wird ausgestaltet 23 . Der tote oder schwerverletzte Fuchs wird verspottet 24 .
Eine bes. Gruppe bilden Märchen aus der UdSSR mit zwei Motiven aus dem —» EtanaMythos, dem Freundschaftspakt von Adler und Schlange und seinem Bruch (cf. AaTh 56 Β: Fuchs und Vogeljunge) und dem Flug in den Himmel (AaTh 537: Etana)25. Fuchs und Kranich ziehen gemeinsam ihre Jungen auf, der Fuchs frißt die Jungen des Kranichs. Dieser lädt ihn zu einem Flug zu Allah ein, läßt ihn aber nach der dreimaligen Frage, wie ihm die Erde aus solcher Höhe erscheine, zu Tode stürzen. Gegenüber dem £/ana-Mythos hat eine Verschmelzung und Verschiebung der Handlungsträger unter Einfluß der äsopischen Fabeln stattgefunden, so auch in einfacher Form in einer donauschwäb. Version (Geier, Fuchs, drei Fragen) 26 . 2.2. Kennzeichnend für die iber.-süda m e r i k . V a r . n 2 7 ist das in seiner Herkunft ungeklärte Motiv vom Fest im Himmel, welches das nicht flugfähige Tier (auf der iber. Halbinsel der Fuchs, in Brasilien Kröte und Schildkröte, in Argentinien Frosch und Fuchs, in Peru und Mexiko Fuchs und Kojote, in Puerto Rico Katze und Kaninchen, in der Dominikan. Republik der Kaiman) zu besuchen wünscht. Das Angebot, ihm dabei zu helfen, geht vom Vogel (auf der iber. Halbinsel dem Adler oder einem Friedvogel, in Brasilien dem Schwarzgeier [Urubu], in Argentinien und Puerto Rico dem Adler, in Peru dem Kondor, in Mexiko, Puerto Rico und der Dominikan. Republik dem Bussard, Fischreiher, Kranich und der Krähe) aus, der in den iber. und einigen südamerikan. Var.n den Fluggast abstürzen läßt, um sich zu rächen oder dem Gefressenwerden zu entgehen. Während des Sturzes fordert das Opfer Erde und Felsen auf, ihm aus dem Weg zu gehen, oder faßt seine Erfahrung in einem kastil. Sprichwort zusammen: Es wolle nie mehr in den Himmel, wenn es diesmal heil davonkomme 28 . Vor allem in den brasilian. Var.n gehen Schildkröte oder Kröte mit dem Geier eine Wette ein, wer zuerst im Himmel ankomme. Sie gewinnen die Wette, indem sie sich in der Gitarre, dem Zylinder oder dem
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Brotkorb des Geiers verstecken, werden aber dort auf dem Rückflug entdeckt und von dem erzürnten Geier in die Tiefe gestürzt (cf. auch AaTh 58*: Birds Break Rope and Let Fox Fall to Earth)29. Die südamerik. Var.n enden häufig mit einer Ätiologie (Erklärung der Gestalt der Kröte bzw. Schildkröte; Mot. A 2214.5.1) 3 0 . Hauptverbreitungsgebiet ist Brasilien, die Zahl der Var.n nimmt unter Angleichung an die iber. Versionen gegen Norden hin stark ab. Mitunter finden sich Verbindungen mit anderen Fabeln (AaTh 60: —> Fuchs und Kranich31; AaTh 56 A 3 2 ), in Mittelamerika auch Kettenerzählungen 33 . Die Frage, ob die Erzählung von Europa nach Südamerika oder umgekehrt gewandert ist, ist unterschiedlich beantwortet worden, auch afrik. Herkunft wurde vermutet 34 . 3. AaTh 226 (The Goose Teaches the Fox to Swim) ist nur schwach ausgebildet und tritt in Nordeuropa meist in Verbindung mit AaTh 225 auf, wobei der Wunsch, schwimmen oder auch segeln zu lernen, dem Wunsch, fliegen zu lernen, vorausgeht 35 . Indon. Erzählungen 3 6 kontaminieren mit AaTh 58 (The Crocodile Carries the Jackal) und AaTh 91 (—» Affenherz als Heilmittel). 1
Nachweise bei AaTh 225, 225 A; Ikeda 225 A; Seki, num. 21; Ting; Dh. 4, 269-271, 279-284. 2 Nachweise bei Bedker, Indian Animal Tales; Thompson/Roberts; de Vries 2, 404. - 3 Sacher, R.: Märchen der Khmer. Lpz. 1979, 89 sq. - 4 La Fontaine: (Euvres completes 1. ed. R. Groos/J. Schiffrin. P. 1954, 245 sq. - 5 Boner, U.: Der Edelstein. ed. F. Pfeiffer. Lpz. 1844, num. 17. — 6 Megas, G. Α.: Begegnung der Völker im Märchen. 3 (Griechenland—Deutschland). Münster 1968, num. 17. - 7 Henkel, A./ Schöne, Α.: Emblemata. Stg. 21976, 613. - 8 Nachweise bei Keller; Tubach, num. 1832; Cirese/Serafini; Aräjs/ Medne; Flowers; Robe; Ting; Moser-Rath, 471. - 9 Var.n: Berntsen, K.: Folke-jeventyr 2. Odense 1883, num. 11; Grundtvig, S.: Gamle danske minder i folkemunde 2. Kop. 1857, num. 117; Meyer, G. F.: Plattdt. Volksmärchen und Schwänke. Neumünster 1925, num. 54; Wossidlo, R.: Mecklenburg. Volksüberlieferungen 2. Wismar 1899, num. 311 a - d ; Beckmann, P.: Kreuzbube Knud und andere mecklenburg. Märchen. B. 21955, 76; Neumann, S.: Ein mecklenburg. Volkserzähler. B. 21970, num. 211; id.: Mecklenburg. Volksmärchen. B. 1971, num. 45; Asmus, F./Knoop, O.: Kolberger Volkshumor. Köslin 1927, num. 189; Schemke, M.: Wat Ohmke vertällt. Danzig 1924, 22sq.;
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Plenzat; Krzyzanowski; Bukowska-Grosse, Ε./ Koschmieder, E.: Poln. Volksmärchen. MdW 1967, num. 5; Sväbe, Α.: Latvju tautas pasakas 2. Riga 1924, num. IIa; Viidalepp, R.: Eesti muinasjutud. Tallinn 1967, num. 34; Lintur, P.: Ukr. Volksmärchen. B. 1972, num. 4; Propp, V. Ja. (ed.): Severnorusskie skazki ν zapisjach A. J. Nikiforova. M./Len. 1961, num. 117; Eliasov, L. E.: Burjatskie skazki 1. Ulan-Ude 1959,267sq.; Honti; Koväcs. 10 Var.n: Boggs; Coelho, F. Α.: Contos populäres portuguezes. Lisboa 1879, 15 — 17; Hansen; Robe, S. L.: Mexican Tales and Legends from Los Altos. Berk./L. A. 1970, num. 6; id.: Mexican Tales and Legends from Veracruz. Berk./L. A./L. 1971, num. 1; Matthaei, H.: Die Rolle der Greifvögel, insbesondere der Harpyie und des Königsgeiers, bei den außerand. Indianern Südamerikas. Hohenschäftlarn 1977, 245-247; Cascudo, L. da Cämara: Contos tradicionais do Brasil. Bahia 21955, 375 — 377. 11 Irigaray, Α.: Euskalleriko ipuifiak. Cuentos populäres vascos con su version castellana. Karautz'en 1957, num. 39. — 12 Lüthi, M.: Ein frz. Tiermärchen. In: Europ. Volkslit. Festschr. F. Karlinger. Wien 1980, 110-118. - 13 Rossi Taibbi, G./Caracausi, G.: Testi neogreci di Calabria. Palermo 1959, 28-30. - 14 Scelles-Millie, J.: Contes arabes du Maghreb. P. 1970,17-23 (AaTh 56 A + AaTh 225); Frobenius, L.: Volksmärchen der Kabylen 3. Jena 1921, num. 1 (AaTh 56 A + AaTh 225); Smith, W./Dale, Α. M.: The Ila-speaking People of Northern Rhodesia 2. L. 1920, num. 23. - 15 de Vries 2, 402 (Typ 70). - 16 Bacon, Α. M./Parsons, Ε. C.: Folk-Lore from Elizabeth City County, Virginia. In: JAFL 35 (1922) 250-331, num. 11; Harris, J. C.: Uncle Remus. N.Y. 1880, num. 21. - 17 Neumann 1971 (wie not. 9); Asmus/ Knoop (wie not. 9); Lohre, Η.: Märk. Sagen. Lpz. 1921, num. 92; Grannas, G.: Plattdt. Volkserzählungen aus Ostpreußen. Marburg 1957, num. 23. — 18 Wossidlo (wie not. 9) num. 311 a, b; Meyer (wie not. 9); Beckmann (wie not. 9); Löwis of Menar, A. von: Finn, und estn. Volksmärchen. MdW 1922, num. 48; Lintur (wie not. 9). 19 Schemke (wie not. 9); Preuß, T.: Tiersagen, Märchen und Legenden in Westpreußen gesammelt. Danzig 1916, 34; Eliasov (wie not. 9). — 20 Bukowska-Grosse/Koschmieder (wie not. 9)·21 Grundtvig (wie not. 9). - 22 Neumann 1970 (wie not. 9); Wossidlo (wie not. 9) num. 311b; Beckmann (wie not. 9); Meyer (wie not. 9); Sväbe (wie not. 9). - 23 Lintur (wie not. 9). - 24 Wossidlo (wie not. 9); Beckmann (wie not. 9); Schemke (wie not. 9); Propp (wie not. 9); Bukowska-Grosse/ Koschmieder (wie not. 9); Löwis of Menar (wie not. 18). - 25 Schewerdin, M. J.: Die Märchenkarawane. B. 1959, 102-104; Dirr, Α.: Kaukas. Märchen. MdW 1920, num. 36; Chalilov, Ch.: Skazki narodov Dagestana. M. 1965, 30. - 26 Cammann, A./Karasek, Α.: Donauschwaben erzählen 3. Mar-
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Fliegen sollen nicht vertrieben werden
bürg 1978, 370. — 2 7 Eine Gliederung nach Motiven unter Einschluß der äsopischen Fabeln mit ζ. T. irreführenden Nachweisen bei Espinosa 3, 305 — 310. - 2 8 Espinosa 3, 310. — 2 9 Cascudo (wie not. 10); Mason, J. Α.: Porto Rican Folk-Lore. FolkTales. ed. Α. M. Espinosa. In: JAFL 40 (1927) 313—414, hier num. 66. - 30 Cascudo (wie not. 10). 31 ζ. B. Espinosa 3, num. 219sq.; Almeida, A. de: 142 historias brasileiras. Säo Paulo 1951, num. 142. - 3 2 Espinosa 3, num. 218. - 33 Robe 1970, 1971 (wie not. 10). - 3 4 Barbosa-Rodrigues, J.: Poranduba amazonense. Rio de Janeiro 1890, III— VI. — 35 Grundtvig (wie not. 9); Berntsen (wie not. 9). - 3 6 de Vries 2, num. 159 (Typ 69); t. 1, num.
18. Köln
Joachim Kühn
Fliegen sollen nicht vertrieben werden (Mot. J 215.1), didaktische Erzählung, der die Lebenserfahrung zugrundeliegt, daß Machteliten bei Amtsantritt öfter eine starke Neigung zu persönlicher Bereicherung auf Kosten der Bevölkerung entwickeln. Aristoteles schildert in seinen rhetorischen Schriften 1 folgenden Fall: Als das erzürnte Volk von Samos einen Parteiführer wegen Verfehlungen zum Tode verurteilen will, habe sich der weise —> Äsop erhoben und ausgeführt: Beim Uberqueren eines Flusses fiel ein Fuchs in eine Felsklamm, aus der er sich lange Zeit nicht befreien konnte. Der Wehrlose wurde von Hundsläusen gequält, die scharenweise über ihn herfielen. Ein vorbeikommender Igel sah das Elend und bot beim Ablesen der Insekten seine Hilfe an. Doch der Fuchs wehrte ab mit der Bemerkung, sie hätten sich schon an seinem Blut gesättigt, benötigten nur wenig. Nähme der Igel jene weg, kämen neue, die hungriger seien und ihn noch mehr belästigten. Äsop beschließt sein Beispiel und appelliert an die Männer von Samos: „Der da schadet euch nicht mehr, er ist schon reich; tötet ihr ihn, so kommen andere, die noch nichts haben, und stehlen euch alles" 2 .
Den griech. Philosophen interessiert nicht der Ausgang der Fabel, d. h. die Frage, ob der Angeklagte mit dem Leben davongekommen ist. Er rät lediglich zur Verwendung solcher und anderer erfundener Fabeln in der Rede als Beweis (,Zeuge'), vor allem dann, wenn keine Beispiele aus der Geschichte herangezogen werden können. In ganz anderer Funktion begegnet die „prächtige Geschichte" 3 dann wieder bei —» Plutarch 4 , als Versatzstück zur Erörterung der Frage, ob auch im Alter politische Tätigkeiten ausgeübt wer-
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den sollten. Im Blick auf das Beispiel überrascht die Einstellung des Philosophen nicht: Die Alten müßten möglichst lange in ihren Ämtern verbleiben, allein schon deshalb, um Lehrmeister der Jüngeren zu sein und um deren Überschwang zu dämpfen. Ζ. T. unter Berufung auf Aristoteles wird das Exemplum vom ausgehenden MA. bis ins 18. Jh. tradiert, vor allem in äsopischen Fabelsammlungen 5 . Doch ist der Zusammenhang mit phil. Betrachtungen für die Kompilatoren unerheblich. Sie interessiert der Beispielcharakter der Erzählung selbst, und so heben sie auf die Verwerflichkeit des schmarotzerhaften Tuns ab; die applicatio moralis oder eingestreute belehrende Sentenzen, selten so ausführlich wie bei Burkart —» Waldis 6 , machen dies deutlich. Seine abwartende und resignierende Einstellung zu politischem Handeln und dessen Auswirkungen für den gemeinen Mann dokumentiert er in der anschließenden, von —Valerius Maximus (6, 2, extra 2) bekannten Erzählung über eine alte Witwe, die jeden Tag für die Gesundheit eines Tyrannen betet, obwohl er ihr oft Schaden zugefügt hat. Auf die Frage des Despoten, warum sie dies tue, antwortet sie, nach seinem Tode könne nur ein schlimmerer kommen (Mot. J 215.1; —»Gebet für den Tyrannen) 7 — der gleiche Gedanke nur anders ausgedrückt. Auch die späteren frz. Bearb.en halten mit ihrer Kritik nicht zurück, belassen es aber bei der Feststellung, daß es wie die schmarotzenden Insekten ebenso viele Menschen gebe: „man findet sie bei Hof, im Rat, im Richterstand" 8 . Eine ungleich größere Verbreitung in Europa bis zu rezenten mündl. Überlieferungen war der Version des —» Josephus Flavius {Judaike archaiologia 18, 6, 5) beschieden. Er übertrug das Exemplum auf Tiberius (14—37 p. Chr. η.). Auf die Frage, warum die Statthalter so lange in ihren Ämtern blieben, antwortet der röm. Kaiser mit einem Beispiel. Er selbst habe einen kranken Mann voller Geschwüre und von F. belästigt gesehen; dieser habe sich jegliche Hilfe verbeten: Der Stachel einer hungrigen Fliege verursache zweimal mehr Schmerz als der einer gesättigten. Der verantwortliche Herrscher ist nicht von der Integrität seiner Bediensteten überzeugt und besetzt daher die Ämter nicht ständig neu.
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Fliegen sollen nicht vertrieben werden
Der erzählerische Kunstgriff einer vermeintlichen Frage aus dem Volke erlaubt Josephus die Schilderung der Wesenszüge des Herrschers ebenso wie der Eigenarten von Amtsträgern. Hatte Aristoteles auf das Beispiel von Fuchs und Igel in den Worten des Äsop indirekt für den guten Parteiführer plädiert, so rechtfertigt hier der Verantwortliche selbst seinen politischen Führungsstil. Nicht nur das griffige Motiv der schmarotzenden Insekten und der daraus resultierenden Belästigung für die Wirtsleute, sondern auch und gerade die vielfach geschichtliche Erfahrung von ungerechten Amtsträgern (Gesta Romanorum, num. 51: De injustis exactoribus) dürfte zu der nicht unbeträchtlichen Verbreitung des Apologs 9 in Exempelsammlungen, ζ. T. unter ausdrücklicher Berufung auf Josephus 1 0 , in Fürstenspiegeln 11 und in der Anekdoten- und Schwankliteratur des 16. —18. Jh.s beigetragen haben: Die Erzählung kann bis auf das Motiv reduziert sein, daß ein Mann mit offenen Wunden dort lieber satte als hungrige Insekten dulden will und Helfer abwehrt 1 2 . Hier ist nur die Sicht des direkt Betroffenen gewahrt, der ursprüngliche Gehalt verlorengegangen. Nicht von ungefähr sind aus vielen Teilen Europas Sprichwörter überliefert, die diesen Sachverhalt auf eine kurze Formel bringen. So heißt es etwa in ma. und neueren Sammlungen: „Hungrig F. beißen übel" 1 3 und auch vice versa: „Satte F. stechen nicht" 1 4 . Angelehnt an den Tiberius-Apolog ist die Version des —> Berechja ha-Nakdan 1 5 ; er änderte den Eingang und führte andere Handlungsträger ein: Ein Kaufmann wird von Räubern gefangengenommen, entkleidet und, an einen Baum gebunden, den F. ausgesetzt. Die Hilfe eines Ritters beim Ablesen der Insekten weist er zurück. Der anschließende Ratschlag, die Amtsinhaber nicht so häufig zu wechseln, entspricht inhaltlich dem Tiberius-Apolog, die Entpersonalisierung erleichtert jedoch die stärkere Herausstellung des Allgemeingültigen mit der Warnung vor ständiger Neubesetzung höherer Stellen eines Gemeinwesens. Var.n aus mündl. Tradition 1 6 , vorwiegend aus dem dt. Sprachgebiet und aus Ungarn, betonen - wie schon Josephus — stärker die Doppelfunktion des Apologs, auch wird der Strafcharakter herausgestellt. Ein diebischer
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Gutsverwalter (Förster) ist zur Strafe von seiner Herrschaft nackt an einen Baum gefesselt und Insekten ausgesetzt worden 1 7 . Ein Begleiter des Königs 18 oder einer seiner Amtsträger (Förster) 1 9 führt dem Herrscher unter Hinweis auf das F.-Beispiel die negativen Auswirkungen der Bestrafung solcher Untergebener vor Augen, oder der König gelangt selbst zu dieser Erkenntnis 2 0 . Das Motiv des wehrlos Gefesselten und von Insekten Geplagten begegnet öfter (Mot. Q 464), ζ. B. bei Apuleius (Körper eines Sklaven wird zur Strafe mit Honig beschmiert) 21 . Daß Tiere als Schmarotzer an schwärenden Wunden geduldig ertragen werden müssen, macht in anderem Zusammenhang eine Stelle aus dem Testament des Job (1. Jh. a. Chr. n.) über Jobs Krankheit deutlich 22 : Eingedenk des unerfindlichen göttlichen Wollens läßt Job Würmer sich nicht nur an seinem Körper sättigen, davongekrochene Würmer setzt er sogar an die gleiche Stelle zurück 23 . Zur Überlistung plagender Insekten cf. AaTh 63: —> Fuchs und Flöhe. I Aristoteles, Rhetorica, 2, 20 ( = Aesop, num. 36); cf. auch Perry, num. 427; Wienert, ET 228, ST 254. — 2 Meuli, K.: Herkunft und Wesen der Fabel. In: SAVk. 50 (1954) 6 5 - 8 8 , hier 78 sq. - 3 ibid., 79. — 4 Plutarch, An seni sit gerenda res publica, cap. 12. — 5 ζ. Β. Bernardus Lublinensis, num. 128; Gilbertus Cognatus, num. 26; Burkart Waldis 4, 52: Nachweise v. Gesta Romanorum, zu num. 51; Esopus von Burkhard Waldis 2. ed. H. Kurz. Lpz. 1862, 166; Pauli/Bolte, zu num. 186; Schwarzbaum, Fox Fables, XIII, 4 8 8 - 4 9 0 ; Tubach und Dvorak, num. 2087. - 6 Waldis/Kurz (wie not. 5) hier 125 — 127. - 7 Trümpy, H.: Eine antike Anekdote und ihr Nachleben im Baselbiet. In: Schweizer Vk. 70 (1980) 78 sq. Mit Recht stellte 5. Thompson beide Exempel zu Mot. J 215: Choice between evils; weitere Nachweise cf. György, L.: Konyi Jänos Democritusa. Bud. 1932, num. 12; Tubach und Dvorak, num. 1678. - 8 La Fontaine 12, 13; cf. auch Desbillons, F. J. T.: Fabularum Aesopiarum libri quinque [. . .]. P. 1754, hier t. 3, num. 41. - 9 Nachweise cf. not. 5. - 10 Manchmal ist das Aristoteles-Beispiel mit dem Tiberius-Apolog verknüpft, z. B. Camerarius, J.: Fabvlae Aesopi [. . .]. Tübingen 1542, 154 b; Cognatus, G.: Narrationvm sylva qva magna rervm [. . .] lib. VIII. Basel [1567] 26 sq. II Köhler/Bolte 2, 3 7 5 - 3 7 7 (Fürstenspiegel über Girard de Rosellon, verfaßt von einem unbekannten Mönch aus Poithieres, um 1200). - 12 Text im
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Fliegender Holländer
EM-Archiv (mit num.): Harpagiander, Lexicon 1718 (num. 794). - 13 Wander, Κ. F. W.: Dt. Sprichwörter-Lex. 1. Lpz. 1867, 1 0 6 4 - 1 0 6 9 , num. 49, 6 0 - 6 3 und 1 0 7 4 - 1 0 7 7 , num. 7, 31, 32, 38 und 3 (1874) 7 3 9 - 7 4 5 , num. 13, 31, 45, 46, 48, 5 2 54, 68. - 14 ibid. 1, 1064, num. 74. - 15 Dokumentation bei Schwarzbaum, 361 sq. und id., F Ewigen Juden auf dem Land und zur —» Wilden Jagd in der Luft begriffen und geformt. Die Erzählung erhält auch ein Beglaubigungsmotiv - das Briefe-Überbringen — und in der Dichtung wenig später ein (bei Verklärung des Schwurs als Ausdruck .titanischen Tatendrangs') ja durchaus naheliegendes Motiv der Erlösung. Zeit und Milieu des holländ. Ostindienhandels beschwört ganz betont erst 1841 eine dt. Unterhaltungszeitschrift, die von den unglaublich schnellen Reisen eines Kapitän Fokke berichtet, um — wie es einleitend heißt — zu zeigen, „daß der jetzige .fliegende' seinerzeit ein .leibhaftiger' Holländer war" 21 . Unter dem Einfluß historisierenden Denkens wird also die ursprünglich nicht näher charakterisierte Kapitänsgestalt eines geisterhaften Schiffes erst zum verwegenen Kerl und dann speziell zum Repräsentanten der ruhmreichen Epoche ndl. Geschichte stilisiert22. Das drückt sich auch in den typisch holländ. Namen aus, die allesamt nicht sicher auf bestimmte hist. Personen zurückzuführen sind. Das ewige Segeln, in den ältesten Var.η mehr oder weniger additiv als Folge eines Verbrechens erklärt, wird in den 1820er Jahren konstruktiv in der Hybris eines Individuums begründet und später meist durch Teufelspakt oder andere unchristl. Taten einzelner Kapitäne motiviert. Diese epochengeschichtliche Motiwerschiebung scheint von einer kulturräumlichen Tendenz überlagert 23 : Die rom. Fassungen (Frankreich, Katalonien), in denen das ewige Segeln stets als Verdammung für unerhörte Gotteslästerungen ausgemalt wird, dürften stark von kathol. Bildvorstellungen beeinflußt sein, während ζ. B. die F. H.-Überlieferung in Skandinavien handlungsärmer ist und sich mit der dort tradierten Glaubensvorstellung eines unbemannten Todesseglers ver-
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Fliegender Holländer
mischt, der still als böses Vorzeichen erscheint. Versuche, den Erzähltypus vom F. H. durch kühne Textinterpretation 24 oder auch allg. Bilddeutung 25 bis in die Renaissancezeit zu datieren, sind nicht überzeugend 26 . Das charakteristische Kernmotiv (Mot. Ε 511: The Flying Dutchman) hat sich wohl erst im 19. Jh. unter literar. Einfluß herausgeformt. Der F. H. ist damals in ein umfängliches Traditionsgeflecht verwoben, das sich nur fragmentarisch aufdecken läßt, aber auch so den häufigen Wechsel zwischen mündl. und schriftl. Tradierung, die Variationsbreite der Überlieferungsformen (Novelle, Bericht, Lied, Roman, Drama), die Vermittlung über Sprach- und Völkergrenzen hinweg sowie den oft in Einzelzüge aufgelösten Überlieferungsprozeß selbst veranschaulichen kann 27 . Im 20. Jh. haben — im Zuge einer positivistischen Geistesströmung — Dichtung, Kapitänsmemoiren und populäre Sagenbücher die Charakteristik der F. H.-Erzählung durch ζ. T. groteske Motivhäufungen und -Vermischungen oft verwaschen. 4. E r z ä h l f u n k t i o n . Erzählungen vom F. H. waren vom 18. bis weit ins 19. Jh. hinein auf den Segelschiffen ein Unterhaltungsstoff mit bes. Wirklichkeitsgehalt. Oft von merkwürdigen Erlebnissen angeregt, haben sie latenten Geisterschiff-Glauben 28 aktualisiert und neu gefestigt. Als spezifisch benanntes Vorzeichen für Sturm und Unglück ist der F. H. auch am tiefsten und längsten im Bewußtsein der Seeleute verankert geblieben, während das Handlungsgeschehen um die Verdammung ihnen oft nicht bekannt war und wohl nur selten tatsächlich geglaubt wurde. Dieser Stoff, der seemännische Realität mythisch zu bewältigen suchte, entwickelte sich vielmehr zu einem Gegenstand, der aufgeklärten Matrosen seinerseits Fragen aufwarf, rationalistische Erklärungen herausforderte und schließlich in schwankhafte Formen gerann. Eine Endstufe bildete die Verwendung von ,F. H.' als Fluchwort oder Spitzname mit fast ganz verlöschten Handlungs- und Bildvorstellungen. Um die letzte Jh.wende haben die Seeleute vom F. H. kaum mehr erzählt (umso bekannter war er im bürgerlichen Bildungswissen), sondern statt dessen von den
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damaligen Schnellseglern der Reederei Laeisz, den Flying-P-Liners, auf die und deren Kapitäne sie der F. H.-Überlieferung entsprechende fabelhafte Züge übertrugen und den Schauder der alten Sage nun durch eine vorbehaltlose Bewunderung ersetzten 29 . I
v. zum folgenden die Belegtabellen bei Gerndt 1971, 2 1 5 - 2 4 1 . - 2 Blackwood's Edinburgh Magazine (Mai 1821); Das Ausland, num. 237 (1841); Daheim 3 (1867) 2 1 8 - 2 2 0 . - 3 Smidt, H.: Der ewige Segler. In: id.: Seegemälde. Lpz. 1828, 135 — 146; Heine, H.: Memoiren des Herrn von Schnabelewopski (1831). In: id.: Werke in 10 Bänden. Lpz. 1 9 1 0 - 1 5 , t. 6, 3 4 8 - 3 5 3 ; von Sternberg, Α.: Der fliegende Holländer. In: id.: Novellen 4. Stg./Tübingen 1834, 7 5 - 1 1 0 . 4 Oswald [i. e. H. Hudtwalcker]: Bruchstücke aus Karl Bertholds Tagebuch. B. 1826; Marryat, F.: The Phantom Ship. P. 1839. - 5 Scott, W.: Rokeby (1812). In: id.: The Poetical Works 9. Edinburgh [ca 1834] 91 sq., 3 1 8 - 3 2 0 ; Smidt, H.: Poetische Versuche. Altona 1825, 95 sq. — 6 Raigersfeld, J. Baron de: The Life of a Sea Officer (ca 1830). L. 1929, 52—56; Jal, Α.: Scenes de la vie maritime 2. P. 1832, 8 9 - 9 7 , 1 1 2 - 1 1 5 . - 7 Fitzball, E.: The Flying Dutchman. L. 1828; Wagner, R.: Der F. Η. (1841). In: id.: Gesammelte Schriften und Dichtungen 1. Lpz. "1907; Wolff, J.: Der F. Η. B. 1892. 8 Moore, T.: On Passing Deadman's Isle (1804) (zitiert bei Kalff 1923, 5); Irving, W.: The StormShip (1823). In: id.: The Complete Works. P. 1834, 4 6 2 - 4 6 4 ; Cooper, J. F.: The Pilot. N.Y./L. [1819]; id.: The Red Rover. L. 1827. - 9 Wossidlo, R.: Reise, Quartier, in Gottesnaam. Rostock 7 1959, 2 9 0 - 2 9 2 . - 10 cf. Marryat (wie not. 4). II cf. Heine (wie not. 3). — 12 cf. Wagner (wie not. 7). - 13 Ausführliche Inhaltsanalysen bei Gerndt 1971, bes. 1 0 6 - 1 1 6 . - 14 Camöes, L. de: Os Lusiadas. Lisboa 1572, 5. Gesang. — 15 cf. Raigersfeld (wie not. 6). - 16 Gerndt 1971, 1 7 0 - 1 7 2 . 17 cf. Raigersfeld (wie not. 6). — 18 cf. Scott (wie not. 5). - 19 cf. Jal (wie not. 6). - 2 0 Zitiert bei Gerndt 1971, 34. 21 Zitiert ibid., 48. — 22 cf. zur Historisierung einer mythischen Sage z. B. Peuckert, W.-E.: Murrmaunck von Geiselwind. In: Festschr. J. Dünninger. B. 1970, 5 0 4 - 5 1 1 , bes. 506. - 23 Gerndt 1971, 1 9 6 - 1 9 8 . - 2 4 Engert 1927. - " W o e l l e r 1968. 26 Gerndt 1971, 166sq.; Gerndt, H.: Kultur als Forschungsfeld. Mü. 1981, 7 6 - 8 4 . - 27 Gerndt 1971, 2 0 3 - 2 0 6 . - 2 8 Jolicceur 1970. - 29 Gerndt 1971, 2 0 8 - 2 1 0 .
Lit.: Golther, W.: Der F. H. in Sage und Dichtung. In: id.: Zur dt. Sage und Dichtung. Lpz. 1911, 7 - 1 5 . — Kalff, G.: De sage van den Vliegenden Hollander. Zutphen 1923. - Engert, R.: Die Sage vom F. Η. B. 1927. - van Rossum, G. M.: De Vliegende Hollander. In: Ons Eigen Volk 1 (1940)
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Flinte -
3 - 3 4 . - Woeller, W.: Die Sage vom F. H. In: DJbfVk. 14 (1968) 2 9 2 - 3 1 4 . - Jolicoeur, C.: Le Vaisseau fantöme. Quebec 1970. - Gerndt, H.: F. H. und Klabautermann. Göttingen 1971.
München
Flinte
Helge Gerndt
Waffen
Floh. Von den vielen Arten des Zweiflüglers meint die Volkserzählung hauptsächlich den F. des Menschen (pulex irritans). Das Insekt hat trotz vorauszusetzender Häufigkeit weniger Spuren in schriftl. fixierter Lit. früherer Zeiten hinterlassen 1 als etwa die artverwandten und für Menschen gleichermaßen lästigen —> Fliegen oder Mücken; einschlägige Hbb. neuerer Zeit beschäftigen sich, wenn überhaupt, mit dem F. nur am Rande 2 . Dies gilt ebenso für orale Traditionen 3 und wirkt um so erstaunlicher, als durchaus Kompendien über das Insekt existieren und vielfach aufgelegt wurden 4 . Anders als der Formicarius (gedr. Straßburg 1517) des Dominikaners Johannes —» Nider oder das Bonum universale de apibus (gedr. Straßburg 1478) des —> Thomas Cantipratanus ist die F.-Lit. dem Bereich der Satire und humoristischen Dichtung zuzurechnen. Dazu gehört etwa die mehrfach aufgelegte, von Johann —» Fischart unter Pseud. verfaßte Verssatire Flöh Hätz /Weiber Tratz (Straßburg 1573) 5 , eine witzige Beschreibung der Raubzüge des F.s und seiner Verfolgung durch den Menschen, verbunden mit zeitkritischen Einsprengseln und antikathol. Polemik, oder Opizii Jocoserii [Pseud. für Otto Philipp Zaunschliffer] Curiöse Bedancken / Vom Flohen (s. 1. 1702) oder E . T . A. —> Hoffmanns (von ihm als Märchen bezeichnete) humoristische Erzählung Meister F. (Ffm. 1822) 6 . Zaunschliffers berühmte, unter wechselndem Titel erscheinende Abhdlg über die F.e, Umarbeitung von Janus Caecilius Freys 1594 in Ffm. gedr. makkaronischer Dichtung Floia cortum versicale defloisschwartibus und fälschlich mit einer nicht existierenden Ausg. von 1768 Goethe als „dissertatio juridica" 7 untergeschoben 8 , erlebte bis ins 20. Jh. zahlreiche Aufl.n 9 . A b w e h r m i t t e l gegen das lästige Ungeziefer (ζ. B. Wermut in Salzwasser, Ziegen-
Floh
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blut) kannten bereits die Alten, und gängige Rezepte finden sich nicht nur in älteren Arzneiund Wundbüchern 1 0 , sondern auch in Hbb. 1 1 und zahlreichen sagenkundlichen Berichten 1 2 (im Schwank cf. AaTh 1862: F.pulver) — bis hin zu Abhdlgen über die Anfertigung von Gerätschaften wie F.fallen und deren vermeintliche Wirksamkeit 13 . Erzählungen neuerer Zeit berichten bes. über G e s t a l t , A u s s e h e n und E i g e n s c h a f t e n des F.s. In einer lit. Sage vom Wettstreit der Schöpfer (cf. —> Dualismus) heißt es, der Teufel habe Gott mit Mücken belästigt, welche der Allmächtige mit Feuer abwehrte, um seinerseits den Bösen mit F.en zu plagen — dagegen kannte der Teufel kein apotropäisches Mittel (Mot. A 63.4.1; A 2032.4; cf. —» Abwehrzauber) 1 4 . Tendenz zu misogyner Einstellung — oft ist der F. „spiritus familiaris feminarum" 15 — spricht aus der von Flamen und Liven überlieferten Ätiologie, der F. sei erschaffen, um faule Frauen zur Arbeit zu bringen (Mot. A 2032. 2). Er hat ein rotes Gesicht (korean.; Mot. A 2330.5), ist nach rumän. Auffassung häßlich und schwarz (Strafverwandlung eines Mannes in einen F.; Mot. A 2441.3.2), bucklig, weil er Beulen bei Schlafenden hinterläßt (rumän.; ung.; Mot. A 2332.1.2 = AaTh 282 Β*: Conversation of Fly and Flea)16, muß ständig umherspringen (norw.; rumän.) 1 7 , wird mit der —» Laus zusammen bes. nach Gewittern tätig (Ainu-Sage; Strafverwandlung zweier Donnergötter, welche die gleiche AinuFrau lieben) 1 8 und soll zeit seines Lebens Schädlichkeit hervorrufen (Beresit rabba 5, 1, 11 = Erläuterung zu Gen. 3, 17) 1 9 .
D a s V e r h ä l t n i s zu a n d e r e n T i e r e n ist selten Gegenstand von populären Erzählungen. Anstelle anderer Insekten ist der F. öfter Dialogpartner in Erzählungen vom Tausch der Aufenthaltsorte und Arbeitsplätze und macht dabei negative Erfahrungen (AaTh 282 A*, B*: —> Fliege und F. tauschen), feiert, skurril genug, Hochzeit mit der Laus (AaTh 2019*: Louse and Flea wish to Marry)20 oder folgt ihrer Einladung, die für den Gastgeber tödlich endet: Der F. sticht einen Schlafenden und springt davon, die Laus hingegen wird im Bett erdrückt (AaTh 282 C*: —> Laus und F.)21. Mit mancherlei List vermag sich ein Fuchs von dem ihn plagenden Ungeziefer befreien (AaTh 63: —> Fuchs und F.e). Menschliche —» Proportionsphantasie läßt den F. eine Art Partnerschaft mit größeren Tieren eingehen, wenn er sich, ζ. B. bei —» Berechja ha-
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Flohpulver
N a k d a n , im N a c k e n eines Kamels einnistet und tragen läßt, schließlich mit Selbstüberschätzung um Verzeihung wegen der kostenlosen B e f ö r d e r u n g bittet, vom H u f t i e r aber lediglich zur A n t w o r t erhält, es h a b e ihn gar nicht b e m e r k t (cf. Mot. J 953) 2 2 . In a n d e r e n G e n r e s der Volkserzählung ist der F. allenfalls substituiert, etwa in E r z ä h l u n gen über hilfreiche Tiere: So bringt er durch einen Stich in den Hals eine Prinzessin zum Reden (ind.; Mot. F 954.4.1), setzt einem schlafenden Herrscher zu, so daß jener die Aktivitäten eines Räubers wahrnimmt und unterbindet (Mot. Β 521.3.3). Eine Frau sticht er zur Strafe für deren ungastliches Verhalten und macht das Versprechen des Bettlers wahr, das ,erste Beginnen' solle den ganzen Tag währen: Die Reiche will Geld zählen, er setzt sich auf ihre Stirn, sie fängt an zu kratzen (den Tag über), und am Abend liegt sie mit zerkratztem Haupt tot im Bett (frz.; AaTh 750 A: Die drei Wünsche)23. Im ganzen sind die u n a n g e n e h m e n Folgen eines F.bisses selten thematisiert, der Realitätsbezug in Volkserzählungen ist n u r gering zu veranschlagen. Allenfalls hat noch die bek a n n t e Hurtigkeit des F.s Niederschlag in Sprichwort und R e d e n s a r t („Sack voll F.e h ü t e n " etc.) g e f u n d e n . 1
Lex. der Ägyptologie 2. Wiesbaden 1977, 267; Keller, O.: Die antike Tierwelt 2. Lpz. 1913 (Nachdr. Hildesheim 1963) 401 sq. - 2 Art. F. fehlt ζ. B. im RAC und, trotz mehrfachen Verweises, im Pauly/ Wissowa. - 3 Knortz, K.: Insekten in Sage, Sitte und Lit. Annaberg 1910, 4 7 - 8 3 ; HDA 2, 16311635. - "Hayn, H./Gotendorf, A.N.: F.-Lit. (de pulicibus) des In- und Auslandes, vom 16. Jh. bis zur Neuzeit. [Mü.] 1913; ebenfalls 16.-18. Jh.: Philopsyllus, W. A. L. [i. e. W. Marshall]: Der F., das ist des weiblichen Geschlechtes schwarzer Spiritus familiaris von literar. und naturwiss. Seite beleuchtet. Weimar 2 1880, bes. not. p. 109-171; ferner: Littmann, E.: Vom morgenländ. F. Dichtung und Wahrheit über den F. bei Hebräern, Syriern, Arabern, Abessiniern und Türken. Lpz. 1925; Brumble III, D. H.: John Donne's ,The Flea': Some Implications of the Encyclopedic and Poetic Flea Traditions. In: Critical Quart. 15 (1973) 1 4 7 154. - 5 Aufgenommen auch in Dornavius, C.: Amphitheatrum sapientiae socraticae joco-seriae [. . .]. Hanau 1619, 3 1 - 7 6 (im Inhaltsverz. nicht angezeigt). - 6 Zum F. in der Lit. cf. Koszella, L.: Das F.-Motiv in der Lit. Diss, (masch.) Mü. 1923. 7 Keysser, Α.: Die Jurisprudenz und die F.e. In: id.: Kulturbilder aus dem Rechtsleben. 2: Recht und Juristen im Spiegel der Satire. Bad Rothenfelde 1919, 6 7 - 9 0 . - 8 Göthe's juristische Abhdlg über
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die F.e (de pulicibus). B. 1839. — 'Juristische Abhdlg über die F.e (de pulicibus). Von Johann Wolfgang von Goethe. (Altona 3 1866) Nachdr. Hameln 1964. - 10 Babst von Rochlitz. M.: Artzney-Kunst und Wunderbuch. 2: Gifftjagendes Kunst und Haussbuch [. . .]. Lpz. 1592, 180-185. 11 ζ. B. Grosses vollstaendiges Universal Lexicon aller Wiss.en und Künste 9. Halle/Lpz. 1735, 1265-1269. - 12 HDA 2,1632-1634; Knortz (wie not. 3). — 13 Feldhaus, F. M.: Ka-Pi-Fu u. a. verschämte Dinge. B.-Friedenau 1921, 185-189. 14 Einen F. statt einer Seele erhält der ,geprellte' Teufel (lit.; Mot. Κ 219.7). - 15 Expressis verbis in verschiedenen Titeln, cf. not. 4. - 16 Mot.-num. bei AaTh nicht vermerkt. — 17 Dh. 3, 19, 222sq., 469 (verschiedene Begründungen). — 18 Dh. 3, 470 sq.; Strafverwandlung von Menschen in F.e auch bei Levi-Strauss, C.: Mythologica. 4, 1—2: Der nackte Mensch. Ffm. 1975, 674. - 19 Dh. 1, 216. 211 cf. ergänzend zu AaTh: SUS 2019* (Mücke heiratet, Laus und F. bereiten Dampfbad). — 21 Einzubeziehen ist auch AaTh 276**: The Flea, the Louse and the Bug (von S. Thompson nicht erkannt). — 22 Dokumentation bei Schwarzbaum, Fox Fables, 371—375 (auch von Mücke und Fliege bekannt). - 23 Dh. 1, 142. Göttingen
Hans-Jörg Uther
Flohpulver ( A a T h 1862 A ) , Schwank ü b e r einen Quacksalber, d e r seinem d u m m e n Publikum ein Mittel zur Vernichtung von Flöhen verkauft. Z e n t r a l ist dabei die absurde E m p f e h l u n g zur A n w e n d u n g solcher in d e r Realität durchaus gebräuchlicher Pülverchen gegen H a u t p a r a s i t e n . Der Marktschreier, Zahnbrecher und Quacksalber Messer Cerse macht die einfältigen Venezianer glauben, er besitze ein Pulver, das Flöhe zu töten vermag. Die Leute sind ganz verrückt auf das Mittel, der Umsatz ist beträchtlich. Niemand fragt nach einer Gebrauchsanweisung. Schließlich wendet sich der Schelm an die Käuferschar und erklärt ihnen lachend, sie müßten die Flöhe fangen, ihnen den Mund aufsperren und ein Körnlein von dem Pulver hineinwerfen. Die Venezianer fühlen sich düpiert und werfen dem Marktschreier die gekauften Schachteln an den Kopf. Weitere Sanktionen unterbleiben. In dieser Version des ital. Novellisten Lodovico C a r b o n e scheint die bislang älteste nachweisbare Fassung vorzuliegen 1 . D i e „ t o tale V e r s p o t t u n g des ärztlichen S t a n d e s " 2 im Schwank (cf. —> A r z t ) und die Beliebtheit solcher Geschichten (ζ. B. A a T h 6 6 0 : Die drei —>
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Floire et Blancheflor
Doktoren-, AaTh 1862: Jokes on Doctors·, AaTh 1862 C: Die einfältige —> Diagnose)3 mag dazu beigetragen haben, daß der —> Scharlatan mit seinem F. wenig später schon in einschlägigen frz. (C. de —> Bourdigne) 4 und engl.5 Schwanksammlungen vertreten ist, wobei regional bekannte —> Schelmentypen wie Pierre Faifeu oder John Scogin die Rolle des F.-Verkäufers übernommen haben. Eine einheitliche Tradition hat sich nicht ausgebildet, aber das Grundmuster des Schwanks läßt sich bis zu rezenten Aufzeichnungen aus mündl. Überlieferung verfolgen. Die wenigen von S. Thompson (AaTh) notierten Belege (frz., span., dt., ital.) 6 zeigen längst nicht das Spektrum des im 19./20. Jh. in verschiedenen Sammlungen nachgewiesenen Schwanks, der ebenso in ir. (17 Var.n) 7 , dän. (2) 8 , lett. (9) 9 , finn. (3) 10 , ung. (8)"undtürk. (2) 12 Versionen bekannt ist. Die Erzählung findet sich auch in Neu-Mexiko 13 und China 14 . Die F.-Geschichte wird vereinzelt Eulenspiegel 15 und Hodscha Nasreddin 16 zugeschrieben, seltener handelt es sich um anonyme Handlungsträger, meist Hausierer 17 oder Apotheker 18 . Die Fassungen sind recht kurz — die längste (mit anschaulicher Schilderung des Verkaufsgesprächs) bringt Ε. T. Kristensen 19 — und begnügen sich mit den notwendigsten Erklärungen (Motivreduktion). Verschiedentlich ist nur noch vom Verkauf des F.s (singulär: Wanzenpulver 20 ) die Rede, nicht aber von der Art und Weise des Handels; oder der Verkauf entfällt als Eingangsmotiv, und es wird lediglich ein Rat gegen das Flohbeißen erbeten wie in einer mecklenburg. Dialektaufzeichnung. Dort antwortet Eulenspiegel einer alten Frau: „Griepen [Greifen] un de Tähnen utbräken!" „Ja, Herr Ulenspeegel", sagt sie, „wenn man dee denn nu eenmal het, denn kann man se jo man gliek ganz dotschlahn!" „Ja, dat sail ok got sinn!" 21
1 Salza, A. (ed.): Facezie di Lodovico Carbone ferrarese. Livorno 1900, num. 106 (dt.: Wesselski, Α.: Italiän. Volks- und Herrenwitz. Mü. 1912, 146). - 2 Hand, W. D.: Arzt. In: EM 1, 8 4 9 - 8 5 3 , hier 851. - 3 cf. auch Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N.Y. 1981, 71 sq. (zu Mot. Κ 1955.1 etc.: Scharlatan lehrt Lahme laufen). — 4 Bourdigne, C. de: La Legende joyeuse maistre Pierre Faifeu [. . .]. [Rouen 1532] num. 18 (Verkauf von Sägemehl als F.). — 5 Shakespeare
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Jest-Books 2. ed. W. C. Hazlitt. L. 1864, 84; cf. Wesselski (wie not. 1) 273. — 6 Ergänzend zu AaTh: Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine 2. Grenoble (1971) 188, num. 5.1; auch von Honore de Balzac in seine den ,Cent nouvelles nouvelles' nachempfundenen ,Contes drölatiques' aufgenommen (Ausg. P. 1925, 162); Neumann, S.: Volksschwänke aus Mecklenburg. Aus der Slg R. Wossidlos. B. 1963, num. 369; id.: Ein mecklenburg. Volkserzähler. Die Geschichten des August Rust. Β. 1968, num. 114; Cirese/Serafini. - 7 0 Suilleabhäin/Christiansen 1548 A*, 1862 A. - 8 Kristensen, Ε. T.: Danske Skaantesagn. Ferste Sämling. Aarhus 1900, num. 12, 245 und 17, 498. - 9 Aräjs/Medne. - 10 Rausmaa. — 11 György, num. 125 (recte 25). - 12 Pekotsch, H.: Erinnerungen. Türk. Geschichten und Begebenheiten. Wien 1911, 10; Tachmasib, M. G.: Anekdoty Molly Nasreddina. Baku 1958, 217. 13 Robe; Rael, J. B.: Cuentos espanoles de Colorado y de Nuevo Mejico 2. Stanford [1957] num. 431. - 14 Ting. - 15 Neumann (wie not. 6). 16 Tachmasib (wie not. 12). - 17 Rael (wie not. 13). - 18 Wossidlo, R.: Aus dem Lande Fritz Reuters. Lpz. 1910, 143 sq. - 19 Kristensen (wie not. 8) num. 17, 498. - 2 0 Rael (wie not. 13). 21 Neumann 1968 (wie not. 6).
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Floire et Blancheflor, Sage um das in der ma. Lit. mehrfach auftauchende Motiv der Kinderminne, hier eines heidnischen span. Königssohns zu der Tochter einer christl. Kriegsgefangenen. Die Herkunft ist umstritten, oriental, und auch spätantike Vorbilder sind denk-, aber nicht nachweisbar; sicher jedoch sind Eindrücke der Kreuzzüge als thematischer Nährboden. Die sich in den Prosaauflösungen und Romanfassungen noch des 16. Jh.s dokumentierende anhaltende Beliebtheit des Stoffes ist wohl der Anregung durch die sich ständig erneuernden Auseinandersetzungen mit Sarazenen, Türken und morgenländ. Seeräubern im Mittelmeerraum zuzuschreiben. Als ältester Beleg gilt der um 1160 entstandene frz. Versroman; möglicherweise steht dieser Fassung der Trierer Floyris1, die um 1170 erfolgte frühhöfische, nur in Bruchstücken erhaltene Eindeutschung und Bearb. eines maasländ. Autors, zeitlich am nächsten 2 . Den Gesamtinhalt bewahrte die in drei Hss. und einem Fragment erhaltene, zwischen
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Floire et Blancheflor
1160 und 1175 anzusetzende frz. ,Version aristocratique' 3 : Die am gleichen Tag geborenen Kinder werden gemeinsam erzogen und lieben sich von klein auf. Als sie heranwachsen, erscheint diese Beziehung dem Vater des F. unerwünscht; er schickt seinen Sohn zum Studium nach Montoire, verkauft inzwischen B. an babylon. Kaufleute und errichtet ihr ein Grabmal, das dem Heimgekehrten gezeigt wird. Als F. sich das Leben nehmen will, gesteht ihm seine Mutter die Wahrheit, worauf er sich auf die Suche nach der Geliebten begibt. Seine Ähnlichkeit mit B. führt ihn auf ihre Spur: Sie ist in Babylon mit anderen Mädchen in einem Turm (Mot. R 41.2) eingeschlossen und soll die Frau des ,Amiral' werden. Auf den Rat des Brückenpächters gewinnt er durch Freigebigkeit den bösen Turmwächter und wird in einem Blumenkorb in den Turm getragen (Mot. Κ 1342.0.1; cf. -> Gefangenschaft). Die Liebenden verbringen drei Wochen im Turmgemach, dann entdeckt sie der ,Amiral' und verurteilt sie zum Feuertode. Der Wettstreit der Liebenden, von denen jeder zuerst für den anderen sterben will, rührt ihn jedoch, er begnadigt beide und verzichtet auf B. Sie heiraten und kehren nach Spanien zurück, wo F., der sich zum Christentum bekehrt, die Herrschaft seines verstorbenen Vaters antritt; beider Tochter —» Berta wird die Mutter —> Karls des Großen.
Der Stoff verbreitete sich von Frankreich her in leicht voneinander abweichenden Var.n über fast ganz Europa. Die dem frz. höfischen Epos geistig am nächsten stehende Bearb. ist die graziöse, durch Detailmalerei und theoretische Erörterungen über den Wert der Minne erweiterte Fassung des Hartmann-Schülers Konrad Fleck, Flore und Blanscheflur (um 1200) 4 , der gegenüber die um 1250 entstandene mndl. Fassung Floris ende Blancefloer des Diederic von Assenede 5 als eng an die frz. Vorlage angeschlossen und unselbständig erscheint. Das mhd. Gedicht Konrad Flecks erfuhr 1475 eine Prosabearbeitung 6 , und aus dem Werk Diederics von Assenede ging das ndl. Volksbuch Van Floris ende Blancefleur (1508/30) hervor 7 . Um die Mitte des 13. Jh.s entstand in England die stark gekürzte und poetisch unbedeutende Nacherzählung in Versen Floris and Blauncheflur8. Aus dem Ende des 13. Jh.s stammt die in Bruchstücken erhaltene ripuar. Versfassung Flors und Blanzeflors9 und aus der Mitte des 14. Jh.s der mndd. Versroman Flos unde Blankeflos10; beide dürften auf eine mndl. Kurzfassung des Werkes von Diederic von Assenede zurück-
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gehen 11 . Das mndd. Gedicht verrät volkstümlich-bürgerliche Denkweise. Die erste Prosaauflösung erfolgte um 1300 in Norwegen (Flores saga ok Blankiflür), deren Gesamtinhalt jedoch nur in einer gekürzten isl. Fassung vorliegt 12 ; diese weicht insofern von der frz. Vorlage ab, als der babylon. König dem F. erlaubt, sich im —> Zweikampf mit des Königs bestem Ritter zu messen (cf. die ,Version populaire'), und ihm nach seinem Sieg Geld und Gut sowie die Herrschaft über ein morgenländ. Reich anbietet, die F. ablehnt. Auch wird F. erst Christ, als B. ihn auf einer Reise in ihre Heimat Frankreich vor die Wahl stellt, entweder den Glauben zu wechseln oder sie an ein Kloster zu verlieren. Die norw. Saga ist Hauptquelle für den etwa 1311 entstandenen schwed. Versroman Flores och Blanzeflor13, der im 15. Jh. ins Dänische übersetzt wurde (Flores og Blanseflor)14. In Island ist der Stoff frei weiterentwickelt worden. Die Sigurdar saga pqgla15 hat eine Tochter von F. und B. zur Heldin, und die Reinalds rimur16 des 14./15. Jh.s lassen eine verlorene Reinalds saga erschließen, deren Ablauf dem der Flores saga ok Blankiflür sehr eng folgt: Die durch Reinaldrs Mutter an einen Kaufmann verkaufte Rosa muß wie B. vielen Liebesanträgen widerstehen, ehe sie von Reinaldr wiedergefunden wird; ein sicher im Norden erfundenes Motiv ist der Sturm, den Rosa entfacht, indem sie Runen in die Wand des Schiffes ritzt, das sie in die Fremde entführen soll. Aus der ,Version aristocratique' hat sich schon im 13. Jh. eine frei ausgesponnene, mit stoffremden Elementen angereicherte, vergröberte ,Version populaire' 17 ergeben, deren Orig. nur in einem einzigen Fragment erhalten ist. Hier wird die mißliebige B. von F.s Vater nicht verkauft, sondern wegen versuchten Giftmordes fälschlich angeklagt und zum Feuertode verurteilt; F. eilt zu ihrer Rettung herbei, fordert ihren Hauptankläger zum Zweikampf heraus und besiegt ihn. Das Zweikampf-Motiv wird nach Art volkstümlichen Erzählens in zwei weiteren Variationen wiederholt; auch die Befreiung nach der Entdeckung im Turm wird durch Zweikampf erreicht. Ebenso wird das Motiv eines Zauberrings gleich zweimal eingeführt (Mot. D 1310.4.1, D 1382.11; cf. —» Ring). Dagegen fehlen der romantische Selbstmordversuch F.s und die (möglicherweise später hergestellte) Beziehung zur Karlssage.
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Floire et Blancheflor
Die wichtigste Bearb. der ,Version popul a t e ' ist —Boccaccios Erstlingswerk II filocolo (1340—45), das auf eine frz. Vorlage zurückgeht. Von Boccaccio hängen ab das dt. Volksbuch Ein gar schone newe histori der hochen lieb des kuniglichen fursten Florio: unnd von seyner lieben Bianceffora (Metz 1499) 18 und Lodovico Dolces L'amore di Florio e Biancifiore (1532). Auf der dt. Vorlage, die auch in jidd. Prosa nachgewirkt hat 19 , wiederum beruhen das tschech. Volksbuch Floria ζ Hispanij, a geho milee pänie Bianczeforze (1519) 20 und die Dramatisierung Florio des kunigs son auss Hispania, mit der schön Bianceffora (1551) von Hans —> Sachs. Unabhängig von Boccaccio ist dagegen II cantare di Fiorio e Biancofiore21, eine im 14. Jh. entstandene Dichtung in Stanzen, der bereits eine ital. Vorlage vorausgegangen sein muß und die dem volkstümlichen Geschmack an Abenteuerlichem und Spannendem Rechnung trug, ebenso wie das wohl auf der gleichen ital. Qu. beruhende griech. Versepos Diegesis exairetos erötike kai xene Phlöriu tu paneutychus kai kores Platzia Phlöres (Ende 14./Anfang 15. Jh.) 22 . Für die sehr freie Behandlung des Stoffes in der ital. Leggenda della Reina Rosana et di Rosana sua figliuola (14. Jh.) 23 ist eine religiöse Komponente entscheidend; an die Stelle der Entdeckung und Rettung der Liebenden ist hier eine Entführung aus dem Turm getreten. Mit dem Roman La historia de los dos enamorados Flores y Biancaflor rey y reyna de Espana y emperadores de Roma (Alcalä de Henares 1512) 24 nahm sich auch die span. Lit. der populären Version eines nationalen Stoffes an; er wurde 1554 ins Französische übersetzt. Einzelne Motive und Motivkomplexe des Stoffes lebten in anderen Dichtungen fort. So scheint der herkunftsbedingte Liebeskonflikt, nun nach dem gängigeren Muster der Liebe zwischen einem christl. Ritter und einem oriental. Mädchen, mit Verfolgung, Trennung und glücklicher Vereinigung, sich in der Cante fable —> Aucassin et Nicolette mit verstärktem Märchencharakter zu wiederholen, ohne daß Beziehungen nachweisbar wären. Herkunftsbedingter Liebeskonflikt mit eben dieser Rollenverteilung und das Motiv der Kinderminne finden sich in Johanns von 42
Enzyklopädie des Märchens IV
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Würzburg Epos Wilhelm von Österreich (1314), der Wettstreit der Liebenden, sich für den anderen zu opfern, taucht in der Volksballade Des Grafen Töchterlein25 auf. Wesentlich später, im Zuge der literar. Türkenmode, formiert sich der Motivkomplex von der Befreiung einer christl. Gefangenen aus der Gewalt eines oriental. Machthabers durch ihren Geliebten in Gaetano Martineiiis Opern text La schiava liberata (Musik: Niccolö Jommelli, 1768; Joseph Schuster, 1777), der — um Züge aus der engl, komischen Oper The Captive (1769) angereichert — in Gestalt von Christoph Friedrich Bretzners Libretto Belmonte und Konstanze (1781) durch Mozarts Vertonung als Die Entführung aus dem Serail (Text-Bearb. Gottlieb Stephanie d. J., 1782) berühmt wurde; Beziehungen zu der ma. Dichtung sind auch hier nicht nachzuweisen26. 1 Steinmeyer, E./Roediger, M. (edd.): Floyris. In: ZfdA 21 (1877) 3 0 7 - 3 3 1 ; de Smet, G./Gysseling, M. (edd.): Die Trierer Floyris-Bruchstücke. In: Studia Germanica Gandensia 9 (1967) 1 5 7 - 1 6 9 . 2 Hypothesen zum Inhalt der ältesten frz. Version und zur Stellung des Floyris v. Winkelman, J. H.: Die Brückenpächter- und Turmwächterepisode im Trierer Floyris' und in der ,Version aristocratique' des altfrz. Florisromans. Diss. Leiden 1977. — 3 Pelan, M. (ed.): F. et B. P. 2 1956; Wirtz, W. (ed.): Flore et B. Ffm. 1937; Krüger, F. (ed.): Li romanz de F. et Β. B. 1938. - 4 Sommer, E. (ed.): Flore und Blanscheflur. Quedlinburg/Lpz. 1846; Rischen, C. H. (ed.): Die alten Bruchstücke von Konrad Flecks F. und Blancheflür. Heidelberg 1913; cf. Ganz, P.: Heck, K. In: Verflex. 2 ( 2 1979) 7 4 4 747. — 5 Hoffmann von Fallersleben, Α. H. (ed.): Floris ende Blancefloer door Diederic van Assenede. Lpz. 1836; Leendertz d.J., P. (ed.): Floris ende Blancefloer van Diederic van Assenede. Leiden 1912; de Keyser, P. (ed.): Floris ende Blancefloer. Amst. 1961. — 6 Bachmann, A./Singer, S. (edd.): Volksbücher aus einer Züricher Hs. Stg. 1889. — 7 De Historie van Floris ende Blancefleur. (Nachdr. der Ausg. Amst. 1642) Leiden 1903. 8 Hausknecht, E. (ed.): Flores and Blauncheflour. B. 1885; Taylor, Α. B. (ed.): Floris and Blancheflour. Ox. 1927; de Vries, F. C.: Floris and Blauncheflur, a Middle English Romance. Diss. Utrecht 1966. - 9 Schafstaedt, A. (ed.): Die Mülheimer Bruchstücke von Flors und Blanzeflors (Jahrber. des Gymnasiums und der Realschule zu Mülheim [Rhein]). Mülheim 1906; cf. Beckers, H.: Flors inde Blanzeflors. In: Verflex. 2 ( 2 1979) 760 sq. - 10 Decker, O. (ed.): Flos vnde Blankeflos. Rostock 1913; cf. Beckers, H.: Flos vnde Blankeflos. In: Verflex. 2 ( 2 1979) 7 6 1 - 7 6 4 . -
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Flöte — Fluch, Fluchen, Flucher
11 cf. dazu Teske, H.: Unters.en zu den mittelndd. Epen [. . .]. In: Korrespondenzbl. des Vereins für ndd. Sprachforschung 51 (1938) 6 1 - 6 4 . - 12 Kolbing, E. (ed.): Flores saga ok Blankifltir. Halle 1896. - 13 Klemming, G. E. (ed.): Flores och Blanzeflor. Sth. 1844. - 14 Olrik, J. (ed.): Flores og Blanseflor. Kop. 1925. - 15 Loth, Α. (ed.): Saulus saga ok Nikanors, Siguröar saga J>9gla. Kop. 1963. — 16 Inhaltsangabe und Textproben bei Kolbing, E.: Beitr.e zur vergleichenden Geschichte der romantischen Poesie und Prosa des MA.s. Breslau 1876, 2 2 3 - 2 2 6 ; cf. auch Schlauch, M.: Romance in Iceland. N.Y. 1973, 185. - 17 Du Meril, E. (ed.): F. et Blanceflor. P. 1856 (enthält beide Versionen). — 18 Tacconelli, L.: La leggenda di Florio e Biancifiore: dal „Filocolo" boccacciano al „Volksbuch" tedesco del 1499. In: Ber.e im Auftrag der Internat. Arbeitsgemeinschaft für Forschung zum Rom. Volksbuch, ed. F. Karlinger. Seekirchen 1 9 7 6 , 1 0 2 - 1 1 5 . - "Beckers,H./Röll, W.: Florio und Biancefforra. In: Verflex. 2 ( 2 1979) 759 sq. - 2 0 Ein Faksimile der Ausg. von 1519 erschien in Prag 1928. — 21 Crocioni, G. (ed.): II cantare di Fiorio e Biancofiore secondo un ms. velletrano. Rom 1903. 22 Hesseling, D. C. (ed.): Le Roman de Phlorios et Platzia Phlore. Amst. 1917. - 23 D'Ancona, A. (ed.): La leggenda della Reina Rosana e di Rosana sua figliuola. Livorno 1871. - 24 Bonilla y San Martin, A. (ed.): La historia de los dos enamorados Flores y Biancaflor. Madrid 1917. - 25 DVldr, num. 63; Meier, J.: Die Ballade ,Des Grafen Töchterlein' und der Roman von Flore und Blanscheflur. In: Jb. für Volksliedforschung 7 (1941) 5 - 1 0 . 26 Preibisch, W.: Qu.nstudien zu Mozarts „Entführung aus dem Serail". Ein Beitr. zur Geschichte der Türken-Oper. Diss. Halle 1908.
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sakralisierung — 7. Neuere Bedeutung - 8. Erzählung — 8.1. Sage, Exempel, Legende, Ätiologie — 8.2. Märchen
1. Begriff. Der F. ist ein im Affekt des Zorns ausgesprochener Unheilswunsch, der einem Wesen oder einer Sache Vernichtung oder Schaden bringen soll, ursprünglich ein Zauberwort, das aus eigener Kraft wirkt und, einmal ausgesprochen, im allg. nicht mehr gehemmt werden kann. Eine märchenspezifische Ausprägung des F.s ist die —»Verwünschung. Profanierte oder abgeschwächte Formen, die begrifflich nicht immer klar vom F. zu trennen sind, können Schimpfwort und Schelte sein. Im Unterschied zum F., der einen ganzen (oder elliptischen) Satz darstellt, begrenzt sich die Schelte auf ein (im Zorn) hervorgestoßenes Wort (Invektive), ein Vorgang, dessen Funktionalität von der Sprachpsychologie untersucht wird1. Gegen Gott gerichtet ist die —> Blasphemie. Zum Ritual erhoben wächst aus dem F. die öffentliche Verdammung etwa im Anathema des kirchenrechtlichen Banns.
In den germ. Sprachen liegt die Bedeutung des Wortes F. im dunkeln. Möglich ist eine Entlehnung des mhd. vluochen, ahd. fluohhan, -ön aus dem germ. *flökan (neuengl. flog: schlagen, geißeln) 2 , das seinerseits auf lat. flagellare zurückgeführt werden kann. Wann sich der Bedeutungswandel von der tätlichen Strafhandlung zu ,maledicere' vollLit. (soweit nicht in den not. aufgeführt): Sundzogen hat, ist unbestimmt; möglich ist auch macher, H.: Die altfrz. und mhd. Bearb. der Sage eine stufenweise Begrenzung auf das gevon Flore und Blanscheflur. Diss. Göttingen sprochene Wort, dem ohnehin Zauberkraft 1872. — Herzog, H.: Die beiden Sagenkreise von beigemessen wurde, da es mit Gebärden (ein Flore und Blancheflur. Diss. Wien 1884. - Reinoder mehrere ausgestreckte Finger, Werfen hold, J. H.: F. et B. Etude de litterature comparee. P. 1906. - Ernst, L.: F. und Blantscheflur. Studie von Steinen und Sand), mit der Anrufung der zur vergleichenden Lit.wiss. Straßburg 1912. — Gottheit oder der Götter als Zeugen oder Cacciaglia, M.: Appunti sul problema delle fonti del Strafer verbunden war. Die psychoanalytische romanzo di Fiore e B. In: Zs. für rom. Philologie 80 Schule von Sigmund —> Freud definiert das (1964) 2 4 1 - 2 5 5 . - KLL 9, 3 5 7 2 - 3 5 7 7 . - FrenF.en als ersten befriedenden Kulturakt: Man zel, Stoffe, 2 1 6 - 2 1 8 . ging dazu über, dem Gegner statt einer Streitaxt ein böses Wort an den Kopf zu werfen. F. Berlin Elisabeth Frenzel und Segen sind perfekte Antonyme (sie können sich gegenseitig aufheben); der F. hat, Flöte —» Musikinstrumente wie der Segen, in allen Kulturen seinen festen Platz und die entsprechende Formen- und Ausdrucksvielfalt·3. Erst die ,Aufklärung' des Fluch, Fluchen, Flucher 20. Jh.s hat es mit sich gebracht, daß der F. wiss., mit positivistischen Ansätzen, unter1. Begriff - 2. Antike - 3. Bibel - 4. Der F. in der Praxis der Kirche — 5. Der germ. F. — 6. Ent- sucht wurde. Daß dabei der gotteslästernde,
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Fluch, Fluchen, Flucher
zugleich Lästerungen euphemisierende (-» Euphemismus), erotische und skatologische Aspekt in den Vordergrund rückte, ist weiter nicht verwunderlich. Pionierarbeit leistete hier F.S. —> Krauss mit der Zs. Am Ur-Quell4. Durch einschlägige Veröff.en und Gründung der Fachzeitschrift Maledicta strebt R. Aman eine Fortführung der damals begonnenen Arbeit an 5 . 2. A n t i k e . Die klassische Antike kannte stets die ambivalente Form des Heils- und/ oder Unheilszaubers. Jede eidliche Bindung (—»Eid, Meineid) setzte eine Selbstverfluchung voraus (eine Form, die heute noch umgangssprachlich durchaus geläufig ist), die, in vielfache Formeln gesetzt, unter Anrufung von übernatürlichen Zeugen beredtes Zeugnis vom Glauben an die Macht des Wortes ablegt. In direktem Zusammenhang damit steht die neuzeitliche Überlieferung der Meineidsagen 6 . Das klassische Altertum des Mittelmeerraumes, bes. die spätröm. Zeit, kannte ferner F.sprüche, vor allem auf Bleitafeln (F.tafeln, Defixionstafeln), die in der Nähe der zu Schädigenden vergraben wurden. Der eingeritzte F. sollte den Gegnern anhaften 7 (lat. defixio zu defigere). —» Blei galt zudem als bes. zauberkräftig und bindend 8 . Tacitus (Annales ab excessu divi Augusti 2, 69) schreibt über den Tod des Germanicus: „man grub aus Boden und Wänden Menschenreste aus, Besprechungen und Verfluchungen und den Namen des Germanicus auf Bleitäfelchen und anderen Schadenzauber, womit man die Seelen den unterirdischen Dämonen zu überantworten vermeint". Die Tradierung dieser Form von Verfluchung geht möglicherweise auf altägypt. Praktiken zurück. Die als Ächtungstexte bekannten F.formeln sind schon gegen Ende der 12. Dynastie (19. Jh. a. Chr. n.) belegt; als Analogiezauber praktiziert, wurden F.formeln auf Tonfiguren geschrieben und in kleinen Tonsärgen begraben 9 . Anwünschen und Anhexen von Schaden ist ferner aus altägypt. Urkunden und kgl. Dekreten als Waffe gegen Zuwiderhandelnde bekannt, z.T. als Anrufung von Gottheiten oder als Androhung von körperlicher Strafe (Vergewaltigung durch den Esel; im Orient und auf dem Balkan auch heute noch umgangssprachlich tradiert, ζ. B. 42*
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mit dem rumän. F. ,futu-te mägarul' oder dem entsprechenden magyar. ,bassza meg a szamär' [,möge dich der Esel ficken']). 3. Bibel. Im A.T. gilt ein F. dem, der den Bund mit Gott einseitig löst oder seine Eltern verflucht (Gen. 27, 29; Ex. 21, 17); letzteres Vergehen wurde mit dem Tode bestraft, wie auch die Verfluchung der Mächtigen (Ex. 22, 27) oder die Gotteslästerung (Lev. 24,10). Bemerkenswert, daß im A.T. viel mehr vom F. die Rede ist als im N.T. 10 . In diesem Zusammenhang sei auf den F.psalm verwiesen (Ps. 109); andere Psalmen (69, 2 3 - 2 9 ; 83, 1 0 17; 119, 21; 137, 6 - 9 ) enthalten nur F.verse, sind also keine F.psalmen im strengen Sinn des Wortes 11 . Wie den at. Juden ist auch den Christen das F.en, Verwünschen oder die Selbstverwünschung verboten (Mt. 5, 36—44; Rom. 12, 14; Gal. 6, 7; Jak. 3, 10), ein F. gilt aber dem, der die Lehre verfälscht (Apg. 8, 20). Im neueren jüd. Erzählgut taucht die Verwandlung von F. in Segen als ,Wunder' auf (Mot. D 2175.5). 4. D e r F. in der Praxis der Kirche. In der christl. Kirche hat der F. als Bannfluch (Anathema; 1. Kor. 16,22) schon sehr früh (möglicherweise in Anlehnung an die heidn. Praxis als Akkomodation oder als Übernahme aus dem altjüd. Kultgeschehen) seinen festen Platz als Handhabe zur Exkommunikation eingenommen — nicht nur als Ausschluß aus der Gemeinde und von den Sakramenten verstanden, sondern auch von allen göttlichen Segnungen, was einer Preisgabe an den Satan gleichkommt (1. Kor. 5,5), in Analogie zum Sündenfall-Bericht Gen. 3, 14 (Gott verflucht Kain wegen des Brudermordes: Gen. 4, 11). Zahlreiche Konzilien (Elvira 303, Laodicäa 357, Nicäa 325) befaßten sich mit dem Begriff, der im späteren Verlauf sich als excommunicatio major in die eigentliche Strafe für Ketzerei wandelte 12 . Eine bes. Form des Schadenfluches war das Mortbeten im MA.: Die Praxis, regelrechte Totenmessen für noch Lebende zu lesen, wurde 694 von der Synode von Toledo verboten, was aber kein Hindernis war, daß ζ. B. noch 1589 in Paris eine Reihe von F.messen gelesen wurde, um Heinrich III. zu beseitigen 13 .
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Fluch, Fluchen, Flucher
5. D e r g e r m . F. Im altnord. Recht wurden sowohl Eid als auch F. als Zauber verstanden; der Eid enthielt die Selbstverfluchung für den Fall des Eidbruches, wie ζ. B. in der Vglsunga saga: „Pess sver ek, at ek lyg eigi, ok mik take harr galge ok aller gramir, ef ek lyg nakvat ord" (Das schwör ich, daß ich nicht lüge, und der hohe Galgen und alle Bösen packen mich, wenn ich irgendein Wort lüge) 14 . Der auf diese Weise hervorgebrachte feierliche F. unterscheidet sich von anderen F.en, die durch ihren ,niederen' Stil gekennzeichnet sind 15 . Der F. löst sich allmählich aus dem sakralen Bereich und aus der Rechtspraxis, indem die beschwörende Selbstverfluchung und der Primitiveid sich beispielsweise zur heute noch praktizierten ,So wahr mir Gott helfe'-Formel wandelt. Der F. sinkt als .einfache' Kurzform (brevia dicta, Brachylogismus) in den Alltagsgebrauch ab 1 6 . 6. E n t s a k r a l i s i e r u n g . Merkwürdig ist, daß schon die ältere Fachliteratur den Versuch unternommen hat, die Vielfalt der unter F., F.en gesammelten Begriffe (Schimpfen, Lästern, Schelten, Schwören, Beteuern) infolge des Funktionswandels oder -Verlustes (v. oben) zu klassifizieren; die fließend gewordenen Grenzen müssen den Anlaß dazu gegeben haben. Nach J. Grimm 1 7 ist das Scheltwort kürzer als die Lästerung (d.h.F.) und ,besser' als die lat. injuria, obgleich eine tätliche Beschimpfung im Alten Recht einer Gewalttätigkeit gleichkommt. Das aus sakraler Tradition erwachsene F.verbot scheint indes einen vergeblichen Kampf gegen die menschliche Natur zu führen, denn die ma. und nachma. Exempel- und Erbauungsliteratur wie auch zahlreiche Belege aus der Gegenwart bieten vielfache Motive und Motivverkettungen, die auf den gleichen Topos, den der —» Strafe für den F. zurückgehen. Es ist zu vermuten, daß der F. seit frühester Zeit in allen überschaubaren Kulturen im Umlauf war — wenngleich auch im Einzelfall Unsicherheit besteht, ob es sich um Gotteslästerung handelt oder um im Affekt hervorgestoßene umgangssprachliche Formeln, deren Inhalt ohne Bewertung und Intention bleibt und demzufolge auch entsprechend milder gerät, wenn sie nicht überhaupt nur als Ventil aufzufassen sind. F.e sind ,Würzung' und se-
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mantische Hervorhebung bestimmter Aussagen, die als charakteristisches Scheidungsmerkmal zwischen Mundart und Hochsprache gelten 18 . 7. N e u e r e B e d e u t u n g . Die Vielfalt der Scheltwörter läßt daran denken, daß sie mit F.en identisch sind, bes. wenn sie nicht auf die angesprochene Person zutreffen, das Wort demnach als F. oder —> Schadenzauber interpretiert werden kann, vor allem wenn die schädigende und anhaftende Funktion des F.s deutlich mit Belegen aus der Lit. vor Augen geführt wird: F.e sind „nicht schmal", sie „wirken rasch", es zwickt noch „des Fleisches Zange", der F. „haftet", „klebt", „trifft ein", „brennt" 1 9 . Als allg. Scheltworte gelten solche, (1.) die die Ehre des freien Mannes angreifen (rechtlos, ehrlos, ungetreu), (2.) des Vorwurfes leiblicher Mißgestalt (Däumling, lahme Hutsche), (3.) der Unfreiheit (Knecht, Schalk), (4.) unehelicher Geburt (Hurensohn, Hundesohn), (5.) der Feigheit, im Altertum ehrenrührigster Schimpf (Memme), (6.) von Verrat, Geiz, Trunkenheit, Unkeuschheit, Untreue, Meineid etc.; (7.) vorgeworfene Verbrechen waren schwere Schelte (Mörder, Dieb etc.), und schließlich galt (8.) eine Vielfalt von Schimpfwörtern den Frauen (Hure, Hexe; cf. F. über die ungetreuen Frauen, eine anonyme Klagerede aus dem MA. 2 0 ). Gewaltige Kräfte stecken in den F.en und Verwünschungen: Die Wirkung des F.es ist Rieselhart', dem ir. Volksglauben zufolge schwebt der F. sieben Jahre in der Luft, um irgendwann niederzufallen 21 . 8. E r z ä h l u n g 8.1. S a g e , E x e m p e l , L e g e n d e , Ä t i o l o g i e . Mächtig ist der F. des Sterbenden und der Mutter (er ist unabwendbar). „Des Vaters Segen baut ein Haus, der Mutter Fluch reißts wieder aus" (Tubach, num. 1440) 22 . Ganze Scharen von Gegnern werden solcherart verflucht, daß sie in ungeweihter Erde ruhen müssen — Runen auf Gräbern schützen aber mit einem (Gegen-)F. vor dem Grabfrevler (—> Frevel, Frevler), in ähnlicher Weise schützen Runen vor dem F. einer Toten (Mot. D 1385.20) 23 . Die Kraft des F.s überträgt sich merkwürdigerweise mit umgekehrtem Vorzeichen auf Dinge (als Wachstumssegen), wie
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ζ. B. beim Aussäen von gewissen Kräutern 2 4 . Der gesamte Bereich F. und dessen Wirkungen im Aberglauben ist von K. Beth ausführlich behandelt im H D A 2 5 . Der Versuch, den Verstoß gegen das vierte Gebot des —» Dekalogs mit allen negativen Konsequenzen zu veranschaulichen, führte zur Verbreitung einer unübersichtlichen Flut von Exempla, Predigtgeschichten, Märlein und anderen Formen religiös geprägter Erzählungen, die ausnahmslos die Verwerflichkeit des F.ens und der Gotteslästerung vor Augen führen, verbunden mit der Androhung (und Verwirklichung) einer entsprechenden Strafe: Abholung durch den Teufel und ewige Verdammnis. Die schon im frühen MA. belegbaren Beispiele finden ihre Forts, auch nach der Reformation, weil Luther das F.en wider Gott und die Lästerungen, Selbstverfluchungen und das Schimpfen und Schelten gleichermaßen für verwerflich hielt, obgleich die Gegenreformation und spätere päpstliche Kampagnen ihn gerade dieser ,Hauptsünde' bezichtigten 26 . Eine gute Anzahl der Motive dieser lehrreichen Kurzgeschichten sinken als Sagenmotive ab, die ζ. T. bis in die Gegenwart nachgewiesen werden können. Ein Beispiel für die Verbreitung und Lokalisierung einer F.sage ist ,Das Blut von Willisau'. Die Sage handelt von einem Spieler, der die Gotteslästerung bis zur Tätlichkeit steigert, indem er einen Dolch gegen Gott in die Höhe schleudert, weil er beim Spielen verliert und Gott dafür verantwortlich macht. Der Dolch verschwindet — fünf Tropfen Blut fallen aus den Wolken, und der Spieler wird vom Teufel fortgezerrt 2 7 (—> Flugblatt, Flugschrift). Vor allem F.er, Lästerer, Teufelsrufer und Spötter werden vom Teufel geholt (cf. Mot. R 11.2.1) - das F.en führt in die Hölle (Mot. C 12.5) 28 . Ebenso belädt derjenige sich mit Unglück, der den Teufel herbeiwünscht, wie jener Mann in einer schles. Stadt, der Gäste geladen hatte, die aber nicht gekommen sind. Im ersten Zorn flucht er, alle Teufel sollten kommen. Eine Menge Dämonen besetzen sein Haus 2 9 . Einer von drei Landsknechten, der während eines Gewitters Gott lästert, wird von einem Baum erschlagen 30 . Ein Ritter verflucht sich selbst (der Blitz möge ihn treffen),
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was auch sogleich eintrifft (Tubach, num. 1404); zahlreiche Sagen sind ferner überliefert, in denen F.en den Blitz anzieht 31 . Hierher dürfte auch das F.en gottloser Priester gehören, das als Strafe Stürme und Verwüstungen nach sich zieht (Tubach, num. 1417). — Ein Priester verflucht die Seele seines eigenen Vaters, der hohen Zins genommen hat (Tubach, num. 5041), der Hl. —> Franz von Assisi eine spottende Frau in der Kirche (Tubach, num. 2187). In diesem Zusammenhang stehen wohl auch die vielen legendenhaften Erzählungen, in denen —* Christus (als Bettler) erscheint, um ein Almosen zu erheischen und die Reichen auf die Probe zu stellen (cf. u.a. AaTh 750 A: Die drei —» Wünsche)32. Tänzer erkennen Christus nicht; sie sind grob zu ihm und werden dafür verflucht, bis zum Jüngsten Tag zu tanzen (Mot. C 94.1.1; Tubach, num. 1419). Aber auch der Teufel nimmt verschiedene Gestalten an. Er erscheint ζ. B. in Gestalt einer Wiedergängerin als verstorbene Ehefrau dem Gatten (Succubus), verschwindet auf dessen F. aber wieder 33 . Widersprüchlich ist hier die Auflage: Wenn der Gatte, als bekannter Polterer, nicht mehr flucht, bleibt ihm die (vorgetäuschte) Frau erhalten. Ein Incubus betört eine Frau, die diesem Drängen so lange widersteht, bis er ihren Mann und einen der Söhne tötet und den anderen blendet. Nach der Beichte wird die Frau vom Incubus befreit, bis zum Tage, an dem sie ihren blinden Sohn verflucht — da muß sie zur Strafe sterben (Tubach, num. 2742). Eine Reihe von Beispielen behandelt den elterlichen F. oder den F. der Kinder wider die Eltern (Mot. Ρ 236.3), der schon im A.T. hart bestraft wird. So verflucht —»Noah seinen Sohn (AaTh 825; Tubach, num. 3479); durch Noahs F. hat der Teufel überhaupt die Sintflut überlebt (Mot. C 12.5.1). Ein Kind wird vom Teufel geholt, nachdem dessen Eltern es häufig im Zorn verfluchen (Tubach, num. 4477) 3 4 . Dieser Exempeltypus ist vielfältig als Mirakel vom F. der Eltern, der an den Kindern in Erfüllung geht, mit Orts- und Zeitangaben belegt 35 . Das verleiht diesen Stücken einen eigenen, an Sagen erinnernden Charakter; aber schon im MA. sind Exempel bekannt, in denen eine Mutter ihr Kind dem Satan weiht (Tubach, num. 975).
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Das Motiv von den gottlosen Kindern, die während des Gottesdienstes Karten spielen und deshalb von der eigenen Mutter verflucht werden, bildet den Eingang zu KHM 25, AaTh 451: —> Mädchen sucht seine Brüder. In einigen Var.n von AaTh 756 B: —»Räuber Madej36 verflucht eine Mutter ihr noch ungeborenes Kind (Mot. S 223.2); der Teufel holt das Neugeborene, das die Gebärende verflucht (Tubach, num. 1582); eine Mutter verflucht ihr weinendes Kind (Tubach, num. 4799); der Teufel wirft einen fluchenden Knaben in den Graben 37 . Einem Bürger von Rom wird das Kind von fünf schwarzen Männern aus den Armen gerissen und getötet. Der fünfjährige Knabe hatte häufig geflucht, ohne daß die Eltern es ihm verwehrten (Mot. Ε 412.4) 38 . Der Elternfluch (Mot. Μ 411.1) spielt ferner eine bes. Rolle in der Lit. der Romantik des 19. Jh.s 39 . Es gibt aber auch Fälle, in denen der F. der Mutter nicht angelastet wird. Dies ist auf eindrucksvolle Weise in der weitverbreiteten spätma. Erzählung ->• Advokat und Teufel (AaTh 1186; cf. Mot. R 11.2.1) 40 belegt. Bei einer provisorischen Gruppierung der F.sagen aufgrund des Peuckert-Nachlasses 41 ergeben sich folgende Kategorien: (1.) F.en zieht den Teufel an (Mot. C 12.5; ,wenn man den Teufel nennt, kommt er gerennt'). — (2.) Bei der —> Schatzhebung darf man nicht fluchen (reden). - (3.) F.en zieht den Blitzschlag an. — (4.) Bes. Wirkung von F.en der Fuhrleute. — (5.) F.en vertreibt Irrlichter oder zieht sie an (cf. auch Mot. A 2817.2). — (6.) F.en als Stimmen- und Geräuschspuk. - (7.) Freude des Huckup am F.en. - (8.) F. der blinden, betrogenen Schwester, die um ihr Erbe gebracht wird. — (9.) F. der Saligen. — (10.) Feuerfluch (auch Blitzfluch). — (11.) Der Verfluchte geht um. - (12.) Das Turmkreuz (Kirche) des verfluchten Dorfes verschwindet unter den Fluten (Seeätiologien). — (13.) Saatfluch und Flurfrevel 42 . - (14.) Der wilde (verfluchte) Jäger (—> Wilde Jagd). — (15.) Erlösung Verfluchter mißlingt. - (16.) Wirksamkeit des F.es von abgewiesenen Bettlern. — (17.) Wirksamkeit der Selbstverfluchung. — (18.) Wirksamkeit des F.es Sterbender oder zu Unrecht zum Tode Verurteilter. — (19.) Verfluchung wegen Tanzwut 43 (Tubach, num. 1415, 1419). - (20.) Eltern verfluchen Kinder. — (21.) Mühlenfluch. - (22.) Bergmannsund Zechenfluch. — (23.) Verfluchung von —» Glocken (Glockenfluch). — (24.) Verfluchung wegen gottlosen Treibens (cf. Ps. 109). - (25.) F. der Elben, Riesenmädchen, Zwerge etc. (Mot. G
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269.4.1). - (26.) Versteinerung. - (27.) Wunderknäuel. - (28.) F.ender Pfarrer. - (29.) Gotteslästerung (F. in der Kirche). — (30.) Wagen versinkt. - (31.) Schloß versinkt.
Eine Reihe von ätiologischen Sagen hat die Verfluchung (von Menschen, Tieren, Pflanzen oder Sachen) als Hauptmotiv. So ist der Mann im Mond zur Strafe für Gotteslästerung für alle Zeiten dorthin verbannt (Mot. A 751.1.2), nach einigen frz. Var.n sieht man den Kopf des —»Judas Ischariot im Mond 44 . Der nächtliche Erbsendieb verflucht den Mond, der ihn beleuchtet und verrät: Zur Strafe muß er selbst auf den Mond 4S . Tiere werden verflucht, wenn sie einer Gottheit nicht helfen, die sich auf der —*· Flucht befindet (Mot. A 2231.7, A 2231.7.2 sq.). Die Muttergottes verflucht die Espe, die sich weigerte, der hl. Familie Schutz bei der Flucht nach Ägypten zu gewähren (Mot. A 2231.7.1.1) 46 . Desgleichen sind die Schwalben verflucht, weil sie fröhlich zwitscherten, als Christus am Kreuze starb 47 . Dasselbe gilt auch für Pflanzen (Mot. A 2721, A 2776; ζ. Β. ist der Baum verflucht, an dem sich Judas erhängt hat: Mot. A 2721.5) 48 . Kosmische Ausmaße nehmen F.sagenmotive an, wenn die Sonne vom Mond verflucht wird (Mot. A 736.9); eine Mutter verflucht ihren jüngsten Sohn: Das ist die Ursache für Sonnenfinsternisse (Mot. A 737.2). Völlig ins Menschliche übertragen wirkt der dualistische F. der Seele über den Leib (Mot. Ε 727.1.1). Im F.wettkampf des Menschen mit den Riesen sind F.e konkrete Pfeile (AaTh 1094: Contest in Cursing); zwangsweise ergibt sich für jeden F. ein Gegenfluch (AaTh 556 B*: Curse and Countercurse)\ die Zwerge wandern aus, weil sie die F.e der Menschen nicht mehr vertragen (Mot. F 451.9.1.10), Pferde lehnen es ab, in der Nähe von verfluchten Menschen zu bleiben (Mot. Β 133.4.1). Zwerge verfluchen die Geschenke, die man ihnen abnötigt oder die unwillkommen sind (Mot. F 451.5.2.13). Der F. einer Hexe kann Krankheiten verursachen (Mot. G 263.4.0.1; cf. Mot. G 269.4); F. und Schimpfen kann aber auch als Gegen- und Heilmittel wirken 49 . An die Sage vom —> dankbaren Toten erinnert der F. des Hl.n, der eine ganze Heerschar von Feinden aufhalten kann (Mot. D 2091.13).
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8.2. M ä r c h e n . Entgegen der von M. —> Lüthi getroffenen Unterscheidung zwischen F. und Verwünschung wird hier die märcheneigentümliche Verwünschung nicht als Gegenpol zum F. gesehen, sondern als untergeordnete, gattungsspezifische Ausprägung des F.s. Lüthi definiert: „Die einzige Märchengabe, die in die Tiefe des Empfängers einzudringen und ihn vom Grund auf umzuformen scheint, ist die Verwünschung. Ihr entspricht in der Sage der Fluch" 50 . Die —»Verwünschung verwandelt den Betroffenen in eine wesensfremde Gestalt, der F. bewirkt hingegen keine spektakuläre Verwandlung; die Verwünschung entrückt den Betroffenen nur für eine gewisse Zeit, der F. „wirft den Menschen unerbittlich und unwiderruflich in eine andere Dimension und läßt ihn einen Teil dieser anderen Welt werden" 51 . Die Verwünschung trifft den Helden, der F. hingegen zumeist den Frevler. Viele, wenn nicht alle Motive von F. und Verfluchtsein kommen im Märchen vor, beginnend mit der Geburt des Helden. Auf ihm kann entweder ein Segen oder ein F. lasten, der von einer Fee stammt (Mot. F 312.1.1; cf. auch AaTh 410: -» Schlafende Schönheit), von der Patin, Mutter oder Stiefmutter; ein F. kann aber auch von Dämonen, von einer Riesin oder einem Zauberer stammen: So springt der bösen Tochter bei jedem Wort eine Kröte aus dem Mund, der von Feen begabten Jungfrau beim Reden oder Lächeln hingegen Perlen oder Goldstücke, wobei der Kontrast gut (Segen)/böse (Verwünschung) wieder einmal transparent wird (cf. —» Gut und böse) 52 . Im Hinblick auf die Unterscheidung von Gut und Böse wirkt das Kästchenwahlmotiv in pädagogischer Absicht fast schwankhaft: Ein großes Stück Kuchen mit meinem F. oder ein kleines mit meinem Segen (Mot. J 229.3; AaTh 480: Das gute und das schlechte —> Mädchen)53. H. von —» Beit deutet die F.verwandlung als schamanistischen Vorgang 54 . — Die Bindungen durch den F. sind gewaltig, sie können über Generationen von Helden wirksam sein, aber es gibt schließlich immer eine Erlösung vom F.; diese kann allerdings auch durch Vernichtung des Gegenspielers erfolgen (KHM 9, AaTh 451) 55 . Die Motivation des Helden, sein Vaterhaus zu verlassen und Gefahren zu be-
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stehen, kann auch auf einen F. zurückgehen 56 . Von Beit definiert den F. als „eine Vorbedingung zu einer wirklichen Animus-Beziehung", da „in jeder negativen, unbewußten Bestimmung eine positive Möglichkeit besonderer Entwicklung liegt", der Weg für eine Umkehrung der gesetzten Zeichen möglich, aber demnach letztlich offen bleibt 57 . I
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Flucht
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Gundelfingen b. Freiburg Michael Belgrader
Flucht. F. ist ein Instinktverhalten, das der Mensch mit den Tieren gemeinsam hat. In der Tierwelt ist F. die Alternative zum Angriff; beide stehen im Dienste der Selbsterhaltung. Bei vielen Tieren kennt man die genaue kritische Distanz, bei welcher sie von F. zum Angriff übergehen 1 . Das beim Menschen die körperliche F. begleitende innere Erleben nennt C. G. —> Jung ,archetypisch'; es besteht aus allg.menschlich ähnlichen Emotionen, Vorstellungen und Phantasiebildern. Aus der Antike sind die Mythen von Phrixos und Helle, die vor ihrer Stiefmutter auf einem goldenen Widder durch die Luft entfliehen, die F. —» Atalantes, die F. des Arion auf einem —> Delphin, —> Medeas vor —> Theseus auf einem Drachenwagen, des Odysseus vor —> Polyphem (cf. AaTh 1135 — 1137) und des —> Dädalus aus Kreta bekannt (cf. —> Fluggeräte) 2 . In der bibl. Überlieferung ist bes. die F. der Juden aus Ägypten wichtig3, die von den gnostischen Peraten und vielen Kirchenvätern symbolisch als Auszug aus der Welt der Sünde und Unbewußtheit (agnosia) gedeutet wurde. Ebenfalls beliebt ist die Erzählung von der F. der Heiligen Familie aus Ägypten, welche in viele europ. Volkserzählungen überging und meist auf spezielle Orte bezogen wurde, an denen sich die Heilige Familie ausruhte 4 . In der Volksüberlieferung finden sich, je nach Gattung, alle Abstufungen vom realisti-
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sehen (möglicherweise sogar hist.) F.bericht bis zu ganz ins Phantastische, Übernatürliche ausgearbeiteten Erzählungen. Die angefügten übernatürlichen Züge manifestieren nach Jung speziell den archetypischen, i.e. seelischgeistigen Innenaspekt des F.instinktes, etwas, das über den rein biologischen Aspekt desselben hinausweist5. Manche dieser übernatürlichen Züge könnten dabei von Angstträumen inspiriert worden sein, in denen das F.motiv bekanntlich sehr oft erscheint. In solchen Fällen handelt es sich, psychol. gesehen, um eine berechtigte oder unberechtigte F. des bewußten Ich vor destruktiven (oder scheinbar destruktiven) Inhalten des Unbewußten. Wo diese Inhalte übermächtig sind, ist F. oft die einzige Möglichkeit zu überleben. Doch gibt es auch eine ,unstatthafte' F., wo ζ. B. einer Haus und Hof verkauft, um einem schikanierenden ,Wichtele' zu entgehen. Dieses sitzt aber am Umzugstag oben auf dem Wagen und zieht an den neuen Wohnort mit 6 . Eine Versöhnung durch Gesinnungswandel des Verfolgers kommt in Träumen häufig, in Volkserzählungen dagegen sehr selten vor 7 . In realistischen Erzählungen und Sagen (kaum je in Märchen) kommt auch mißlingende F. vor; häufig wird dabei der Geflüchtete im letzten Moment, als er sich schon sicher wähnt, doch noch vom Schicksal ereilt 8 . In Europa beziehen sich viele Erzählungen auf Vorkommnisse aus der Zeit der Verbreitung des Christentums (relativ selten), der Türkeninvasion, der Hugenottenverfolgungen, des Dreißigjährigen Kriegs und der Frz. Revolution. In ihnen retten sich einzelne, häufiger Dorfgruppen, vor den Schweden9, Spaniern 10 , Kosaken 11 , Kroaten 12 , Tataren 13 , Franzosen 14 , Österreichern 15 , Türken 16 , Reformierten oder Katholiken 17 sowie auch vor der Pest 18 . Beliebt ist in der Sage die F. einer hochgestellten Persönlichkeit, ζ. B. Friedrichs des Großen 19 , eines ung. Königs20, des Königs Ladislaus 21 , Gustav Adolfs 22 , Luthers 23 , Kaiser Heinrichs IV. 24 , des Dänenkönigs 25 , des Königs Wenzel von Böhmen 26 , des Kaisers (!) der Schweden, Napoleons 27 , eines Heiden am Hof Karls des Großen 28 , des Kurfürsten Friedrich von der Pfalz 29 , des Albertus Magnus 30 , eines Abtes oder Adligen 31 etc., die sich jeweils mit Hilfe eines treuen
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Dieners 32 retten oder an einem unscheinbaren Fluchtort (Stall, Mist) verstecken 33 . Dies verbildlicht wohl soziale Ausgleichtendenzen, welche zeigen sollen, daß der Hohe und der Niedrige in der Not aufeinander angewiesen sind. Christi. Legendengestalten, die ja ihrem Wesen nach nicht kämpfen dürfen, werden oft auf der F. geschildert: der hl. Werner 34 , die hl. Aurelia 35 , Gangolf 36 , Hemma 37 , Marthe 38 , Walpurgis (flieht vor Geistern) 39 , Hyazinth 40 ; dabei werden gern bes. F.wege und -orte erwähnt (cf. Mot. R311, R315, R 317). Wegen ihrer Wehrlosigkeit ist auch die Schilderung der F. von Frauen (ζ. B. Nonnen: bekannter Topos aus der Legende 41 ) beliebt, sei es F. vor einem Feind, vor Vergewaltigern 42 oder vor einem unerwünschten Liebhaber oder bösen Gatten 43 . Häufig rettet sich die verfolgte Frau durch einen bes. kühnen Sprung in die Tiefe vor ihren Bedrohern (Jungfernsprung) 44 . Die in das Roß des Teufels verwandelte Tochter des Schmiedes flüchtet vor dem Teufel über 99 Friedhöfe auf den Gottesacker zu Glis45. Dieses Sagen- und Legendenmotiv leitet über zu dem Märchenmotiv von der durch einen Räuber, Mörder (Blaubart), häufiger aber von einem dämonischen männlichen Wesen verfolgten Frau (v. unten). Sagen und Legenden nennen häufig bes. F.orte: Wald, Baum, Berg, Höhle, Brunnen, Schlucht, Teich, See (F. über zugefrorenen See oder Teich) 46 , Rastplätze der Hl. Familie auf der F. 47 Die Höhle als F.ort findet sich ζ. B. schon in AaTh 156: —> Androklus und der Löwe oder in AaTh 967: —> Spinngewebe vor der Höhle. Eine bes. beliebte Form von F. ist die Schilderung eines kühnen Sprunges des Verfolgten aus dem Fenster, über einen Zaun, über Mauer, Fluß, Schlucht (cf. den Pfaffensprung bei Gurtnellen über die Reuß 48 ). Oft verhilft ein bes. —» Pferd zu diesem Sprung (Reitersprung). So flieht Lützow auf einem ausgezeichneten Pferd vor seinen Feinden 49 , Horomyr auf seinem Wunderpferd Schlemik50, Eppele von Geilingen aus Nürnberg 51 , Luther aus Augsburg auf einem feuerschnaubenden Pferd 52 etc. In psychol. Sicht personifiziert das Pferd seelisch einen Teil des Reiters selber,
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gleichsam seine animalische Instinktreaktion, die ihm in der Not zu Hilfe kommt 53 . F. ist im Tierreich eng mit Aggression gekoppelt (cf. oben). Das zeigt sich ζ. B. in den weit verbreiteten Erzählungen der F. aus —» Gefangenschaft, in denen das bewachende Tier überlistet wird, durch Täuschung (AaTh 5: —> Biß in die Wurzel) oder zeitweilige Sehschädigung (AaTh 73: —* Wache blenden). Ein ähnliches F.verhalten ist im Typus der Trickstererzählungen vom —> Tapferen Schneiderlein (KHM 20, AaTh 1640) dargestellt, in denen die Aggression im Riesen und im Einhorn etc. verkörpert wird. Durch List erreicht der Held, daß letzteres selber zu Schaden kommt. Die die Welt regierenden Mächte von Intelligenz und Brutalität messen sich (F. des schamlosen Tricksters), wobei der intelligente' oft auch grausam vorgeht; er flieht nicht ganz ,echt', sondern gleichzeitig mit der Nebenabsicht, den Verfolger zu verderben. Daß es sich bei der F. um ein tief in der Instinktwelt verwurzeltes Verhalten handelt, zeigt sich an den verbreiteten T i e r g e s c h i c h ten, in denen eine Gruppe von meist harmlosen (oft von Menschen mißhandelten) Tieren zuerst vor den Menschen oder Raubtieren flieht, nachher aber letztere selber, absichtlich oder unabsichtlich, in die F. jagt (ζ. B. KHM 27, AaTh 130: —> Tiere auf Wanderschaft). Bes. reizvoll sind jene Tiergeschichten, wo es dazu kommt, daß sich einer vor dem anderen fürchtet 54 . Auch die Furcht von Gegenständen voreinander, ζ. B. des Pfannkuchens vor der Pfanne, kommt vor (cf. AaTh 2025: Der dicke fette —> Pfannkuchen). Daß Tiere die Handlungsträger vieler Geschichten sind, bes. bei Naturvölkern, weist (ähnlich wie die Existenz von Tier-Göttern) nach Jung auf die enge Beziehung zwischen Instinkt ( = ererbte körperliche Verhaltensmuster) und —> Archetypen (= ererbte seelische Verhaltensweisen) hin. Daß es sich bei der F. um eine Instinktreaktion handelt, wird ebenfalls deutlich in Erzählungen, in denen der Held nicht flüchten darf, d. h. eine gefahrvolle Situation aushalten müßte, wie in vielen Sagen, in denen es um die —» Erlösung einer Schatzjungfrau oder um die Hebung eines —» Schatzes geht. Dazu ist eine bes. geistige Einstellung nötig; es handelt sich eigentlich um ein opus contra naturam.
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Mancher hätte die schwierige Situation durchgestanden, aber dann wurden seine Tiere unruhig oder brannten durch 55 ; psychol. gesehen heißt das, daß er selber flieht, er gibt seinen Instinkten nach, statt ihnen zu widerstehen. In den Sagen ist das F.motiv oft moralisch neutral; der Verfolgte ist zwar häufiger gut, der Verfolger böse, doch wird auch die erfolgreiche F. von bösen Raubrittern, Despoten, Verbrechern 56 , Zauberern und Hexern (oft mit Hilfe magischer Mittel oder des Teufels) bewundert und dramatisch ausgestaltet 57 . Wenn der —» Teufel im Märchen (vor allem in Schwankmärchen) vom Schmied oft überlistet und verprügelt wird (z.B. AaTh 330, 330 A + B : —> Schmied und Teufel), ist er in vielen anderen Erzählungen so deutlich numinos-furchtbar, daß man nur vor ihm fliehen kann. Im Faustbuch von 1587 erscheint bei der Unterzeichnung des Paktes in blutiger Schrift „O homo fuge" an der Wand 58 . Die lat. Sakralsprache weist auf die religiöse Bedeutung dieser Warnung hin. Umgekehrt muß der Teufel selber vor dem Cruzifixus fliehen (cf. AaTh 768: —> Christopherus). In psychol. Sicht verkörpert der Teufel das absolut Destruktive in der Psyche, mit dem das Ich des Menschen nicht kämpfen, sondern vor dem es nur fliehen kann 59 . Dies gilt aber nicht nur für den Teufel, sondern auch für mythische oder gespenstische Tiere (Schlangenkönig, Drache, schwarzer Hund) oder andere dämonische (jenseitige') boshafte Wesen (—> Bosheit), wobei der Flüchtende den Verfolger oft durch einen nach hinten geworfenen Gegenstand aufhalten kann. Dies dürfte eine Vorform der —> Magischen Flucht (AaTh 313, 314) darstellen. Sobald der Verfolger nicht mehr ein reales Wesen, sondern von mythol. Natur ist, hat sich offensichtlich die schöpferische Phantasie des Erzählers eingeschaltet, es kommen damit die geistig-psychischen Anteile des Instinktes zu Wort: So wird ein Mann vom Schlangenkönig verfolgt, eine Frau flieht vor dem Zwergenreich, die Braut vor ihrem toten Geliebten (AaTh 365: —> Lenore), ein Mann vor der Meerfrau, Dorfleute vor einem Dämon, einem Gespenst, einem Troll, vor
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dem Nachtjäger, vor den Unterirdischen, eine Frau vor Rübezahl, Rübezahls eigene Frau vor ihrem Gatten, ein Mann vor einem schwarzen Hund, vor der Pest, vor schatzhütendem schwarzem Vogel, vor gespaltenem Fohlen, Kalb, Hund; endlich fliehen Kinder vor den wilden Weibern, —> Hänsel und Gretel (AaTh 327 A ) vor der -> Hexe etc. 6 0 (cf. auch Mot. Κ 5 0 0 - 6 9 9 : Escape by deception).
Das Hänsel und Gretel-Märchen leitet zu den F.märchen über, wo ein Geschwisterpaar vor der bösen Mutter, Stiefmutter, der negativen .großen Mutter' (Hexe) flieht. In der Sicht B . Bettelheims stellt dies die F. des Kindes vor den mythologisierten, dämonisierten Eltern dar 61 ; in der Sicht Jungs ist es die F. des Menschen überhaupt vor den auf die Eltern projizierten Vater- und Mutterimagines, denen er infolge einer noch infantilen Bewußtseinshaltung nicht gewachsen ist 62 . In diesem Sinne ist F. die Möglichkeit eines zu schwachen Bewußtseins, dem übermächtigen Unbewußten zu entkommen. Die Bedrohung des Geschwisterpaars geht fließend über in das Motiv der Bedrohung des Helden-Kindes oder göttlichen Kindes überhaupt 63 . Daß es sich beim Verfolger nicht nur immer um die Elternimagines handelt, beweist das F.motiv, in welchem eine Frau vor einem destruktiven oder dämonischen Liebhaber oder ein Mann vor einer Dämonin fliehen muß. Berühmt ist der erstere Fall im Märchen vom Blaubarttypus (ζ. B . AaTh 955: —» Räuberbräutigam). In der Sicht Jungs wäre das die F. vor einer übermächtigen gegengeschlechtlichen Komponente im Unbewußten der Frau, die Jung als Animus bezeichnet, vor einem destruktiven Geist, der die Frau besessen macht und vermännlicht und oft zu einer ungünstigen Partnerwahl verführt 64 . In seinem positiven Aspekt ist der Animus das geistige Element in der Psyche der Frau. Das Gegenstück wäre beim Mann die Anima, eine Figur, welche in den Märchen oft als Hexe oder bösartige Rätselprinzessin dargestellt ist (cf. AaTh 507 C: —» Giftmädchen, wo es sich nicht um F., aber doch um ein Sich-nichtEinlassen handelt). Sie verkörpert im Mann eine Komponente, die ihn in ihrer negativen Form weibisch macht, verstimmt und seinen Eros verdirbt, positiv personifiziert sie seine „Herrin Seele" (Carl Spitteier), seinen Eros 6 5 .
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Eine Beimischung von übernatürlichen (i.e. geistigen, archetypischen) Zügen findet sich in Sagen und Legenden bei der Gestalt des F.helfers: Zunächst ist zwar dieser oft nur ein gewöhnliches Tier (Fuchs, Maus, Vogel, Pferd etc.) 6 6 , häufiger jedoch, vor allem in der Legende, ein Heiliger oder eine Heilige, ein Engel oder Gott selber. Ferner erscheint der —» Helfer als Zauberer, Hexe oder als Kobold; dem Verbrecher hilft manchmal der Teufel selber. Eine Arme Seele warnt vor dem Niedergang einer Lawine, ein weißer Vogel (Wildmannli, Geist) vor einem Felssturz und ermöglicht damit Mensch und Vieh die F. Einen zauberischen Wagen oder Flugapparat zur F. benützen bereits Medea und Dädalus: Dieses Motiv findet sich auch in Volkserzählungen wieder (Mot. R 225.1, F 1 0 2 1 . 1 + F 1021.2.1, Β 552.1, R 215.1, R 215.3).
Während die realistisch geschilderte F. eines Liebespaares, dessen Verbindung den Eltern, einem Eifersüchtigen oder der Gesellschaft nicht paßt, öfters in Sagen vorkommt 67 , steht in der F.schilderung des Märchens das Übernatürliche im Vordergrund: Hier überwiegt gegenüber der Sage das Wunderbare, Dichterische 68 . Nach Jung manifestiert sich darin das Urelement des Geistes 69 . So findet sich die magische Flucht häufiger im Märchen als in Sagen. Eine spezielle, fast ausschließlich in Märchen dargestellte Version des F.motivs ist die F. vor dem zukünftigen Ehepartner. Im Umstand, daß der Drachentöter nach seiner Tat meistens für ein Jahr unerkannt verschwindet, kann eine solche F. gesehen werden. Sie verlangt von der weiblichen Partnerin die Fähigkeit, den wahren Helden zu erkennen und ihm ihre Treue zu beweisen. In einem neugriech. Märchen wird der Held während seiner Verborgenheit ein Schneider, die Prinzessin erkennt ihn an den für sie von ihm gefertigten Hochzeitskleidern 70 . Der Held muß offenbar ein Stück einseitiger aktiver Männlichkeit opfern (ζ. B. —» Herakles bei Omphale) und beweisen, daß er die Frau in ihrem Eigenwesen (im .passenden' Kleid, das er für sie anfertigt) erkennen kann (cf. auch F. durch —* Verkleidung und —> Geschlechtswechsel; Mot. Κ 521, Mot. D 642). Bes. differenziert ausgebildet findet sich diese Art von F. des männlichen Partners in den Märchen vom —» Amor und Psyche-Typus (AaTh 425 sqq.), wo der Bräutigam sich der Gattin
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nach ihrem Tabu-Bruch (oft: Beleuchten) entzieht, so daß sie ihn auf einer Suchwanderung wiederfinden muß. Häufiger dürfte die umgekehrte Situation sein, die im sog. —» Schwanjungfrau-Motiv (Mot. D 361.1) zum Ausdruck kommt, bei welchem die Gattin zuerst durch List oder Gewalt (Raub des Tierkleides, Überlistung des Alps u. a.) erobert worden war. Sie findet das Tierkleid später wieder (oder der unvorsichtig gewordene Gatte öffnet die verschlossene Eintrittsöffnung des Alps u.a.). Auch hier muß der Gatte eine lange Suchwanderung antreten, um die Entflohene wiederzugewinnen (AaTh 400: —> Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau)71. In der Sage ist der Verlust meist endgültig72. Bettelheim sieht in der F. der Gattin den Ausdruck einer Sexualangst 73 ; es dürfte sich jedoch eher darum handeln, daß der übermenschliche Partner ein Bild der gegengeschlechtlichen inneren Seite in Mann und Frau, die Jung Anima und Animus nennt, darstellt; sie sind ,fugitiv', i.e. sie weisen die Tendenz auf, dem Bewußtsein immer wieder zu entgleiten und unbewußt zu werden. Dies stellt ein wesentliches Problem vieler psychol. Behandlungen dar. Näher um wirklich erotische Probleme scheint der zum Aschenputtelzyklus gehörige Allerleirauhtyp (AaTh 510 B; cf. —» Cinderella) zu kreisen, den auch Bettelheim anführt, wo sich die Tochter dem inzestuösen Ansinnen ihres Vaters durch F. entzieht. Auch der King-Lear-Typus gehört im weiteren Sinn hierher (Mot. Μ 21; Tubach, num. 3006; AaTh 706: Mädchen ohne Hände)74. In der Sicht S. —» Freuds stellt die F. vor dem Vater die Notwendigkeit für die Tochter dar, ihrem oder dem —» Inzestwunsch des Vaters zu entfliehen. Die Problematik der inzestuösen Elternbindung der Patienten füllt heute die psychol. Sprechstunden. Sie ist die Wurzel der meisten Störungen in der Beziehung zwischen Mann und Frau. Während sich die Heldin im Allerleirauhtyp dem Vater entzieht, flieht sie in den Aschenputtelmärchen vor ihrem zukünftigen Gatten (Mot. R 221), wobei die Lösung darin liegt, daß er sie unter ihren Stiefschwestern und in niedriger Gestalt findet und erkennen muß. Nach Bettelheim handelt es sich hier um eine
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Sexualangst, die auf noch vorhandenen ödipalen Tendenzen beruht. Mehr noch geht es wohl um das Sich-aufeinander-Einspielen zweier Schicksalsmuster, um die Frage, ob sie und er zueinander ,passen' oder nicht. Schon auf der Tierstufe wird die Partnerwahl durch frühkindliche Prägungen vorbereitet, in welche beim Eintritt der Geschlechtsreife das Bild der Partners ,paßt'. F.verhalten gehört auf der Tierstufe oft zum Aufforderungsspiel des weiblichen Partners; beim Weibchen können sich Angst und Sexualität, beim Männchen Aggression und Sexualität kombinieren, aber nicht umgekehrt 75 . In den meisten Märchen geht es am Ende um eine glückliche Heirat (cf. —> Hochzeit), was man psychol. als innere Einswerdung der seelischen Gegensätze deuten kann, weshalb manche Märchen unterstreichen, daß die Hochzeit nicht ,νοη dieser Welt' ist, indem eine Schlußformel ausdrücklich davon weg in die harte Wirklichkeit zurückruft. In solchen Fällen steht wohl hinter dem Hochzeitsbild der Archetypus der ,heiligen Hochzeit' (hieros gamos), das Geheimnis der unio mystica oder der Einswerdung des Menschen mit dem Göttlichen 76 . 1 Lorenz, K.: Das sog. Böse. Wien 1963, 45 sq., 58 sq. - 2 cf. Pauly/Wissowa, s.v. Phrixos, Atalante, Arion, Polyphem, Daedalus etc. — 3 Ex. 14; cf. Gunkel, H.: Das Märchen im A.T. Tübingen 1921, 107 sq. - 4 Dh. 2, 2 3 - 6 8 ; Schmidt, 2 5 9 264; Cardoso, C. C.: Die „F. nach Ägypten" in der mündl. port. Überlieferung. In: Fabula 12 (1971) 1 9 9 - 2 1 1 ; Moser, D.-R.: Die Hl. Familie auf der F. In: Rhein. Jb.er für Vk. 61 (1973) 2 5 5 328; id.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, Reg. s.v. Familie, hl.; EM 1, 653 (hl. Elisabeth flieht mit dem kleinen Johannes); cf. Krzyzanowski, num. 2442, 2651. - 5 v. Jung, C. G.: Instinkt und Unbewußtes (G. W. 8). Olten/Fbg 2 1976, 270; id.: Zur Phänomenologie des Geistes im Märchen (G. W. 9,1). Olten/Fbg 1976, 393; id.: Mysterium coniunctionis (G. W. 14,2). Zürich/Stg. 1968, 270. - 6 Holzmann, H.: Wipptaler Heimatsagen. Wien 1948, 110; cf. Büchli, Α.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 1. Aarau 1958, 40 (Geist zieht mit), 191 (Hexe); ibid. 2 (1966) 745 (Totenseele) (Hinweise auf Schweizer Sagen sind Dr. G. Isler [Küsnacht] zu verdanken). - 7 Künike, H. (ed.): Märchen aus Sibirien. MdW 1940, 81; Herrlein, A. von: Die Sagen des Spessarts. Aschaffenburg 2 1885, 65. - 8 Zaunert, P.: Rheinlandsagen 1. Jena 1924, 36 sq., 257; Jungbauer,
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G. (ed.): Böhmerwald-Sagen. Jena 1924, 1 6 7 169; Kühnau, R.: Oberschles. Sagen geschichtlicher Art. Breslau 1926, 36, 49, 291, 348; Die Nachbarn 2 (1954) 128; in unterirdischem F.weg verschüttet: Grohmann, J. V.: Sagenbuch von Böhmen und Mähren. Prag 1863, 299; Büchli 1 (wie not. 6) 3, 7; Guntern, J.: Volkserzählungen aus dem Oberwallis. Basel 1978, num. 799, 805 sq., 8 1 7 - 8 2 0 ; zahlreiche Belege vorwiegend aus dt.sprachigen Slgen hier und im folgenden cf. Peuckert-Archiv, Seminar für Vk., Göttingen, Kasten 15 (F. und Gebet). - 9 ζ. B. Brückner, 321, num. 244; Lohmeyer, K.: Die Sagen von der Saar, Blies, Nahe, vom Hunsrück, Soon- und Hochwald. Saarbrücken 3 1935, num. 421, 608, 651; cf. Peuckert-Archiv (wie not. 8). — 10 Lohmeyer (wie not. 9) 584. 11 Schell, O.: Sagen des Rheinlandes. Lpz.-Gohlis 1922, 326; Zaunert (wie not. 8) 43. - 12 Eisel, R.: Sagenbuch des Voigtlandes. Gera 1871, num. 716*. - 13 Kühnau (wie not. 8) 96, 205; Müller, F.: Siebenbürg. Sagen. Wien/Hermannstadt 2 1885, 469, 507, 570. - 14 Gredt, N.: Sagenschatz des Luxemburger Landes. Luxemburg 1885, 371; Müller, J.: Sagen aus Uri 1 - 3 . Basel 1926/1929/ 1945, hier t. 3, num. 1360; Büchli 1 (wie not. 6) 46, 80, 89, 109, 165, 293, 508; ibid. 2, 875 sq.; Senti, Α.: Sagen aus dem Sarganserland. Basel 1974, p. 69, num. 17, p. 70, num. 19, 21, 23, p. 207, num. 27, p. 208, num. 28, p. 209, num. 33, p. 250, num. 30, 34, p. 392, num. 16, p. 419, num. 3; Guntern (wie not. 8) num. 269, 280, 289 sq., 301; ferner Peuckert-Archiv (wie not. 8). - 15 Büchli 2 (wie not. 6) 662 sq.; Guntern (wie not. 8) num. 325. 16 Klarmann, J. L./Spiegel, H.: Sagen und Skizzen aus dem Steigerwald. Gerolzhofen 1912, 208; ferner Peuckert-Archiv (wie not. 8). - 17 Zaunert (wie not. 8) 226 sq.; Peuckert-Archiv (wie not. 8). - 18 Müller 1 (wie not. 14) num. 87; ibid. 3, num. 1352 e; Büchli 1 (wie not. 6) 531; ibid. 2,597, 676, 698 sq., 766, 891; Senti (wie not. 14) p. 67, num. 6, p. 138, num. 18, p. 249, num. 2 2 - 2 4 , p. 432, num. 2; Guntern (wie not. 8). - 19 Kühnau (wie not. 8) 410 (als Fischer verkleidet). - 20 Müller (wie not. 13) 367. 21 ibid., 3 70. - 22 Karasek-Langer, A./Strzygowski, E.: Sagen der Beskidendeutschen. Lpz. 1930, 525. - 23 Reiser, K.: Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus 2. Kempten 1902, num. 5 5 9. - 24 Zaunert (wie not. 8) 193; Schell (wie not. 11) 309. - 25 Meyer, G. F.: Schleswig-Holsteiner Sagen. Jena 1929, 160. - 26 Eisel (wie not. 12) 781. - 27 Schell (wie not. 11) 326. - 28 Jungbauer (wie not. 8) 93. — 29 Sann, H. von der: Sagen aus der grünen Mark. Graz 3 1952, 10. - 30 Zaunert (wie not. 8) 162. 31 Vemaleken, T.: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Wien 1859, 32 sq.; Müllenhoff, K. (ed.): Sagen, Märchen und Lieder der Herzogt ü m e r Schleswig Holstein und Lauenburg. Kiel "1845, num. 50; Peuckert-Archiv (wie not. 8). -
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Kühnau (wie not. 8) 528. - 33 Meyer, G. F.: Amt Rendsborger Sagen. Rendsburg 1925, 11; Schell (wie not. 11) 32 3. - 34 ibid., 164. - 35 Birlinger, Α.: Aus Schwaben 1. Wiesbaden 1874, num. 51. - 36 Wucke, C. L.: Sagen der mittleren Werra [. . .]. Eisenach 3 1921, num. 366 - 372. - 37 Sann (wie not. 29) 48. - 3 8 Thiele, J. M.: Danske folkesagn 1. Kop. 1818, 81. - 39 Grohmann (wie not. 8) 40. - 40 Kühnau (wie not. 8) 526. 41 Toldo 2 (1902) 306. - 42 Korth, L.: Volkstümliches aus dem Kreise Bergheim. Köln 1891, 45; Lenggenhager, G.: Volkssagen aus dem Kanton Baselland. Basel 1874, 148; ferner PeuckertArchiv (wie not. 8). - 43 Mot. R 321.1; Knoop, O.: Sagen der Provinz Posen. B. 1913, 299; Lyncker, K.: Dt. Sagen und Sitten in hess. Gauen. Cassel 1854, 254. - 44 Kuoni, J.: Sagen des Kantons St. Gallen. St. Gallen 1903, num. 274; PeuckertArchiv (wie not. 8). - 4S Jegerlehner, J.: Sagen und Märchen aus dem Oberwallis. Basel 1913, 196, num. 91; Müller 3 (wie not. 14) num. 1240 sq. (Wallfahrtskapelle im Riedertal). - 46 cf. PeuckertArchiv (wie not. 8); Guntern (wie not. 8) num. 244; Senti (wie not. 14) 48 sq., num. 12; Werner, Α.: Myths and Legends of the Bantu. L. (1933) Nachdr. 1968, 258 (Ameisenhügel); cf. EM 1, 653 (Berg spaltet sich auf); Schmei'ng, Κ.: F.- und Werbungssagen in der Legende. Diss. Münster 1911; Horn, K.: L'Arbre secourable dans le conte populaire allemand. In: Ethnologie franfaise 4,4 (1974) 333-348. - 47 z.B. Stein bei Neißel: Kühnau (wie not. 8) 135, 484, 486. - 48 Müller 3 (wie not. 14) num. 1360. - 49 Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1. Wien 1880, 256 sq.; Gredt (wie not. 14) 895-898. 50 CL 22 (1913) 21 sq. 51 Büsching, J. G.: Volks-Sagen, Märchen und Legenden. (Lpz. 1812) Nachdr. Hildesheim 1969, 9 1 . - 52 Reiser (wie not. 23). - 5 3 Eine bes. List ist es auch, Pferdehufe verkehrt zu beschlagen oder die Hufe mit Lappen zu umwickeln, um die Spuren zu verwischen, ζ. B. Kühnau (wie not. 8) 397, 414; Büchli 2 (wie not. 6) 350, cf. 338. 54 v. Lüthi, M.: „Er fürchtet sich vor mir, ich mich vor ihm". In: Rhein.-Westfäl. Zs. für Vk. 24 (1978) 231—244; cf. auch von Franz, M.-L.: Die Bremer Stadtmusikanten. In: Zs. für analytische Psychologie und ihre Grenzgebiete 2 (1970) 4 - 2 2 ; EM 1, 405. - 55 Graber, G.: Sagen aus Kärnten. Lpz. 1914, 138, num. 172; Müller 1 (wie not. 14) num. 417,5, cf. num. 411. - 56 Peuckert-Archiv (wie not. 8). - 57 ibid. - 58 Historia von D. Johann Fausten (Nachdr. des Faustbuchs von 1587). ed. M. Sändy. Wiesbaden 1978, 20; cf. auch Christopher Marlowe's Faustus. ed. A. Riedl. B. 1874, 18 (2,1). — 59 cf. von Franz, M.-L.: Shadow and Evil in Fairy Tales. Spring 1975; ead.: Spiegelungen der Seele. Stg./B. 1978, 94; cf. Mot. G 303.16.19.4. 60 Belege v. Peuckert-Archiv (wie not. 8). — 61 Bettelheim, B.: The Uses of Enchantment. N.Y. 1976, 174. - 62 von Beit 1, 685. - 63 cf. diejenige
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von Apollo und Artemis durch Typhon: Jung, C. G.: Zur Psychologie des Kindarchetypus (G. W. 9,1). Olten/Fbg 1974, 285. - 6 4 Jung, C. G.: Aion. Beitr.e zur Symbolik des Selbst (G. W. 9,2). Ölten/ Fbg 1976, Kap. 3; cf. von Beit 1, 613. - 65 Spitteier, C.: Prometheus und Epimetheus. Jena 1911, 9; cf. auch von Beit 2, 242. - 6 6 Belege v. PeuckertArchiv (wie not. 8). - 6 7 ζ. B. Lohmeyer (wie not. 9) 405; ferner Peuckert-Archiv (wie not. 8). - 6 8 cf. Lüthi, M.: Volksmärchen und Volkssage. Bern/Mü. 1961, 46 sq. - 6 9 cf. Jung (wie not. 5). - 70 ζ. B. Kretschmer, P.: Neugriech. Märchen. MdW 1917, num. 59. — 71 Melusinenmotiv; mit tragischem Ende v. MüllerLisowski, K.: Ir. Volksmärchen. MdW 1923, num. 29; sowie Lüthi, Märchen ( 7 1 979) 113. - 7 2 Ausnahmen: Büchli 2 (wie not. 6) 237; cf. Fink, H.: Eisacktaler Sagen, Bräuche und Ausdrücke. Innsbruck 1957, 224 sq.; hierher gehört auch das Motiv von wegziehenden Zwergen, Wildmännern, cf. Peuckert, W.-E.: Sagen. B. 1965, 1 3 9 - 1 5 5 . 73 Bettelheim (wie not. 61) 126. - 74 cf. Dundes, Α.: I Love My Father All. In: SFQ 40 (1976) 3 5 4 366; cf. Lüthi, Μ.: Der Aschenputtelzyklus. In: Janning, J./Gehrts, H./Ossowski, H. (edd.): Vom Menschenbild im Märchen. Kassel 1980, 3 9 - 5 8 , bes. 51. — 7S Lorenz, K.: Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen. Mü. e 1966, 28 sq.; interessanterweise lassen sich gewisse Formen des Brautlaufs unter dem Aspekt der F. betrachten, cf. EM 1, 9 3 1 - 9 3 3 ; Geißler, F.: Brautwerbung in der Weltlit. Halle (Saale) 1955, Reg. - 7 6 cf. Jung 1968 (wie not. 5).
Küsnacht
Marie-Luise von Franz
Flugblatt, Flugschrift 1. Vorbemerkung — 2. Definitionen von Fb. und Fs. Gemeinsamkeiten — 3. Fb. - 3.1. Werdegang — 3.2. Überlieferungslage und Forschungsstand — 3.3. Erscheinungsformen — 3.4. Zentrale Themenbereiche — 3.5. Fb. als Quellenmaterial — 3.6. Fb. als Quelle der Erzählforschung — 3.7. Das Fb. außerhalb des dt. Sprachraums — 4. Fs.
1. V o r b e m e r k u n g . Im Rahmen des komplexen Art.s —> Bildquellen, -Zeugnisse hatte die EM (2, 3 3 7 - 3 4 5 ) den ill. Fb.ern bereits einen eigenen Beitr. gewidmet, in welchem aufgrund des damaligen Forschungsstandes verschiedene Aspekte (Text-Bild-Verhältnis, Grundformen der Bildaussage, Affinität zu Volkserzählungen) zur Sprache gebracht wurden. Seit dem Erscheinen dieses Art.s haben sich bes. im dt. Sprachraum die Qu.nlage und der Forschungsstand 1 durch eine Reihe
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von Publ.en stark verbessert, so daß es rechtigt erscheint, im vorliegenden Art. der Gesamterscheinung von Fb. und Fs. widmet ist, wiederum auch die Probleme ill. Fb.s einzubeziehen.
beder gedes
2. D e f i n i t i o n e n von Fb. u n d Fs. G e m e i n s a m k e i t e n . Unter Fb. versteht man einseitig mit Lettern oder einem graphischen Druckverfahren (Holzschnitt, Kupferstich, Radierung) oder aus einer Kombination beider Verfahren bedruckte offene Bll. Das dt. Wort Fb. ist eine vergleichsweise späte Wortschöpfung, die — aus dem frz. feuille volante gewonnen — zum ersten Mal 1787 bei Christian Friedrich Daniel Schubart gebraucht wird 2 , der 1788 als erster auch den Begriff Fs. verwendet. Eine Fs. ist dagegen vom Erscheinungsbild her ein Heftchen oder kleines Buch, das durch ein- oder mehrmaliges Falten eines beidseitig bedruckten Foliobogens entsteht 3 . Im Bedarfsfalle konnten weitere Bogen angeheftet werden. Mit der Entstehung dieser vielseitigen und preiswerten Druckerzeugnisse standen den Publikatoren seit dem ausgehenden 15. Jh. zwei Publ.sformen zur Verfügung, mit denen zum ersten Mal breite Bevölkerungsschichten erreicht werden konnten, die Ungebildeten mehr durch die Illustrationen, die Gebildeten auch durch die Texte. Unter Fb. ist in der Regel das ill. Fb. zu verstehen; nur ein geringer Prozentsatz der vom 15. bis zum 17. Jh. im dt. Sprachraum gedr. Fb.er entbehrt der Illustration. Erst seit der Wende zum 18. Jh. steigt der Anteil reiner Textblätter parallel mit der fortschreitenden Alphabetisierung der Bevölkerung an. Bei den Fs.en als Frühformen der Lesestoffe (cf. —»Chapbook) beschränkt sich der Anteil der Abb.en von Anfang an auf Titelholzschnitte und sparsame Illustration im Innern der Druckwerke. Die Berechtigung, Fb. und Fs. gemeinsam zu behandeln, ergibt sich aus der Einsicht, daß beide Medien trotz ihrer Unterschiede im äußeren Erscheinungsbild und im Umfang der darin enthaltenen Mittigen manche Gemeinsamkeiten aufweisen. Sowohl beim Fb. wie bei der Fs. handelt es sich um kurze, zum raschen Umlauf und Verbrauch bestimmte, gedr. Gelegenheitsschriften, die mit dem An-
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Flugblatt, Flugschrift
spruch der Aktualität auftreten und weite Verbreitung anstreben. Mit diesen Publ.sformen wenden sich die Autoren an ein heterogenes Publikum, vor allem in der Absicht, die Meinungen, Wertvorstellungen und das Verhalten der Rezipienten in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Unterhaltungsfunktion, wie sie in den Nachfolgemedien (ζ. B. —> Kolportageliteratur, Bilderbogen) dominant wird, tritt beim Fb. noch mehr in den Hintergrund. Fb. und Fs. sind somit als wirkungsintensive, agitatorische Formen des aktuellen Tagesschrifttums anzusehen und müssen daher stets vom Kontext der Zeitumstände, der Entstehungsbedingungen und Wirkungsabsichten her verstanden und interpretiert werden. Es erstaunt daher nicht, daß Fb.er und Fs.en als „frühe Massenkommunikationsmittel mit propagandistisch - agitatorischer Zielsetzung'' 4 bes. in Phasen intensiver geistig-religiöser oder politisch-sozialer Auseinandersetzung wie der —> Reformation und des Dreißigjährigen Krieges im großen Umfang zur gezielten Meinungsbeeinflussung eingesetzt worden sind. Zur Zeit der weitesten Verbreitung von Fb.ern und Fs.en im 16. und 17. Jh. steht für diese publizistischen Kleindrucke noch keine Sammelbezeichnung zur Verfügung. Das Bewußtsein dafür, daß es sich um spezifische Publ.sformen im Dienste von Glaubenslehre und Meinungsbeeinflussung handelt, war in diesem Zeitraum noch nicht stark ausgeprägt, so daß auch die Ubergänge zwischen den beiden Formen fließend und die Abgrenzung zu benachbarten Phänomenen unscharf bleiben. Die mangelnde Einheitlichkeit in der Einschätzung der Kleindrucke als eigene Medien wird auch aus den Titeln deutlich, wo ein breites Wortfeld mit Begriffen wie Abriß, Bericht, Kontrafaktur, Effigies, Erzählung, Newe Zeitung, Pasquill, Wunderwerk etc. in Erscheinung tritt. Der Fs. fehlt gegenüber dem Fb. die durchgängige Verknüpfung von Wort und Bild und damit ein „Hauptelement der Suggestiv- und Memorierleistung" des ill. Fb.s. Während der Rezipient eines großformatigeren, bebilderten Druckerzeugnisses nolens volens mehr in die Rolle eines Betrachters gedrängt wird, ist er bei der Lektüre einer Fs. bereits „auf dem Weg vom Plakat zum Buch" 5 .
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3. Fb. 3.1. W e r d e g a n g . Das Fb. tritt im letzten Drittel des 15. Jh.s als ein Neben- oder Abfallprodukt der Buchdruckerkunst in Erscheinung, das sich, obwohl vielfach argwöhnisch von der Zensur verfolgt, rasch als Medium für die Verbreitung kurzer Nachrichten in Wort und Bild durchzusetzen beginnt. Der Gesamtbestand aller erhaltenen dt.sprachigen Drucke aus der Inkunabelzeit bis zum Jahre 1500 wurde 1914 in einem Katalog der Einblattdrucke zusammengefaßt 6 . Die Inventarisation erbrachte zum damaligen Zeitpunkt 1650 Drucke. In diesem Bestand überwiegen noch weitgehend obrigkeitliche Erlasse, Verordnungen und Mandate, aber in Erscheinungsformen wie Ablaßbriefen, Aderlaßregeln, Almanachen, Beichtbriefen, Gebeten, Pestblättern, Praktiken, Warnungen vor Falschgeld u.a. kündigt sich bereits die spätere Formenvielfalt und Heterogenität des Fb.s als eines Instrumentes an, das grundsätzlich für die Aufnahme jeder nur denkbaren kurzen Text-Bild-Information offenstand. In der Kunstgeschichte werden die aus der Inkunabelzeit stammenden Drucke unter dem Begriff Einblattdrucke zusammengefaßt 7 ; soweit sie mit Holzschnitten ausgestattet sind, trifft für sie auch der Begriff Einblattholzschnitte zu. Zahlreiche der von M. Geisberg 8 , W. L. Strauss 9 und D. Alexander 10 veröff. Einblattholzschnitte (engl, single-leaf woodcuts) sind infolge der Kombination der Holzschnittillustration mit Textbeigaben per definitionem zugleich auch Fb.er. Im ausgehenden 15. Jh. nutzt als erster Sebastian —» Brant die im ill. Fb. begriffenen publizistischen Möglichkeiten zur politischen und religiösen Indoktrination des damals allerdings noch sehr kleinen Kreises potentieller Rezipienten der höheren Bildungsschichten11. Erst durch die Reformation und den Bauernkrieg wird die Bedeutung des neuen Mediums als wirksames Mittel der Beeinflussung der öffentlichen Meinung offenkundig, zumal Martin —> Luther, Philipp —> Melanchthon u. a. Reformatoren ihre Argumente nicht nur in Form gelehrter Fs.en 12 vortrugen, sondern durch die Veröff. von ill. Fb.ern einen wahren Bilderkampf inszenierten 13 , der bis weit ins 17. Jh. fortwährte 14 und bei Ereignissen wie der Verkündigung der Augsburger Konfes-
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sion (1530), dem Schmalkaldischen Krieg (1546—47), dem ersten Reformationsjubiläum 1 5 (1617), dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges 16 (1618) u.a. immer wieder neue Impulse erhielt. Durch Hans —> Sachs, der insgesamt 107 seiner moralisch-didaktischen Gedichte von berühmten Nürnberger Holzschnittkünstlern illustrieren und als Fb.er erscheinen ließ 17 , wurde früh die Leistungsfähigkeit dieses Mediums auch für die Verbreitung anderer als lediglich politischer und religiöser Aussagen unter Beweis gestellt. Aufgrund seiner Flexibilität ist unter dem Fb. dieser Zeit keine eigene literar. Gattung zu verstehen, sondern eine multidimensionale Publ.sform, ein „Verwendungskomplex für den Einsatz von potentiell mehreren Gattungen" 1 8 . Diese Komplexität gilt für die Bilddimension ebenso wie für den Text. Auf der Bildebene dominiert während des ganzen 16. Jh.s der Holzschnitt. Seit der Wende zum 17. Jh. gewinnt zunehmend der Kupferstich als aufwendigeres Mittel der —> Illustration im Fb. an Bedeutung, jedoch behauptet der Holzschnitt in solchen Druckerzeugnissen, die der sog. populären Druckgraphik näherstehen 1 9 , parallel zum kupferstichillustrierten Bl. durchaus seine Stellung. Was sich in dieser Entwicklung der Illustrationstechnik objektiviert, ist die jetzt sichtbare Differenzierung des Mediums zwischen den verschiedenen Rezipientenschichten. Da eine solche optische Dissoziierung im 16. Jh. im gleichen Maße noch nicht vorhanden war, hat man beim ill. Fb. pauschal von einer ,Massenkunst' 2 0 sprechen wollen. Eine solche Aussage ist stark einzuschränken, da das Fb. in seinen Anfängen ein Kommunikationsmittel vorwiegend gebildeter (vorzugsweise Protestant.) Autoren war, das sich zunächst vor allem an die des Lesens fähige Oberschicht und die städtischen Mittelschichten wandte. Eine breitere Rezeption war jedoch auch in der Frühzeit potentiell dadurch gewährleistet, daß diese Erzeugnisse der vervielfältigenden Presse durch den Kolporteur und Zeitungssänger 2 1 am öffentlichen Ort ausgerufen und gehandelt wurden, nach dem Erwerb von Hand zu Hand gingen, der Wiederholungslektüre unterlagen, in Versammlungen etc. vorgelesen oder vorgesungen wurden und zudem als dekorativer Wandschmuck in
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Räumen Verwendung finden konnten, die, wie z.B. Wirtshäuser, der Öffentlichkeit zugänglich waren 2 2 . Die Aufl.η der einzelnen Drucke betrugen zwischen 1000 und 2000 Exemplaren, der Preis entsprach etwa dem Stundenlohn eines Handwerkers und war somit relativ niedrig, was aber wiederum nicht bedeutet, daß die breite Schicht der Besitzlosen als ständige Käufer des Fb.s in Frage gekommen wäre. Die Zentren der Herstellung waren während des gesamten 16. Jh.s oberdt. Druckorte wie Augsburg, Nürnberg, Straßburg und Basel, während mit der weiteren Ausbreitung des Buchdrucks und der beginnenden Gegenreformation auch mittel- und norddt. Druckorte und kathol. Offizinen Süddeutschlands an Bedeutung gewannen.
3.2. U b e r l i e f e r u n g s l a g e u n d Fors c h u n g s s t a n d . Während für das 15. Jh. noch mit außerordentlich hohen Verlustquoten zu rechnen ist, bessert sich die Überlieferungslage für das 16. Jh. bereits wesentlich; vom 17. Jh. an dürfte von einem hohen Prozentsatz aller im Umlauf befindlichen Drucke ein Exemplar im öffentlichen Besitz anzutreffen sein. Bedeutende Slgen von Fb.ern befinden sich in folgenden Bibliotheken: Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, Staatsbibliothek Bamberg, Staatsbibliothek Preuß. Kulturbesitz Berlin, HerzogAnton-Ulrich-Museum Braunschweig, Kunstsammlungen Veste Coburg, Stadt- und Univ.sbibliothek Frankfurt am Main, Schloßmuseum Gotha, Kurpfälz. Museum Heidelberg, Germ. Nationalmuseum Nürnberg, Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, Zentralbibliothek Zürich. Weitere Bestände — auch in den Nachbarländern - harren noch der Erschließung. Die Informationsmöglichkeiten über die genannten Bestände haben sich seit einiger Zeit erheblich verbessert, da eine Reihe von Museen einen Teil ihrer Schätze durch Ausstellungen und zugehörige Katalogpublikationen zugänglich gemacht haben, u.a. Braunschweig 23 , Coburg 24 , Heidelberg 25 und Nürnberg 26 . Daneben wurden erfolgreiche Anstrengungen unternommen, die lange vernachlässigte Qu.nedition von Fb.ern voranzubringen. Ein bes. Verdienst kommt hierbei dem Germanisten W. Harms und seiner Münchner Schule zu 27 .
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3.3. E r s c h e i n u n g s f o r m e n . Das Hauptinteresse dieser Forschungsrichtung wandte sich dem kupferstichillustrierten Ft), des Barock zu, dem auch eine Spezialedition mit einer Ausw. von 75 größtenteils unbekannten Drukken des 17. Jh.s gewidmet wurde 2 8 . Das ill. Fb. stellt sich im Lichte dieser Forschungen als ein mit vielfältigen poetischen und ikonographischen Mitteln arbeitendes Medium dar, das heute nur noch in Ausnahmefällen ohne Erklärungen verständlich ist. Die Arbeit an der Kommentierung dieser Qu.η hat aber gezeigt, daß es außerordentlich lohnend ist, in dieses Gebiet mit seinen teilweise stark verschlüsselten Wort- und Bildbotschaften einzudringen und durch einen fächerübergreifenden Zugang die Aussagen der einzelnen Qu.η unter Berücksichtigung hist., kunsthist., literaturwiss., theol. und volkskundlicher Forschungsergebnisse zu dechiffrieren. Von Harms wurde auch mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß den ill. Fb.ern im Rahmen einer ,hist. Bilderkunde' im Gymnasial- und Hochschulunterricht eine bedeutsame Funktion zuwachsen könnte 2 9 . Die Gesamtüberlieferung des Einblattholzschnittes unter Einschluß des populären Fb.s für den Zeitraum von 1500—1700 liegt in mehreren Editionen vor 30 . Die neun mächtigen Bände mit einer Gesamtseitenzahl von über 3500 und knapp 3200 Abb.en bieten zwei Jh.e dt. Holzschnittkunst nach Künstlern, Werkstätten oder Verlegern geordnet dar und stellen auch der Fb.forschung ein immenses Material bereit, dessen volkskundliche Bedeutung — bes. was die ausgedehnte Produktion von Briefmalern und Winkeldruckern anbelangt — bisher nur zum geringsten Teil gewürdigt worden ist. Lediglich für das Fb. als Vermittler von Liedüberlieferungen liegt eine Spezialuntersuchung von R. W. Brednich vor 31 , die von den Anfängen des Fb.s bis ins 17. Jh. reicht und einen Bestand von 359 Drucken einbezieht. Sie zeigt, daß das Fb. von beiden Konfessionen zur Verbreitung religiöser Lieder benutzt worden ist, ferner tritt es als Träger hist.-politischer Lieder, von Ztgsliedern, Volks- sowie Ges.sliedern in Erscheinung. An die im Bereich der sog. Liedpublizistik entwickelten speziellen Formen des Vertriebs und der öffentlichen Aufführung Schloß sich im 17./18. Jh. der —> 43
Enzyklopädie des Märchens IV
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Bänkelsang (—> Bildquellen) an, bei dem ill. Fb.er und Fs.en in Form populärer Liederheftchen Moritat) noch bis ins 20. Jh. hinein eine Rolle spielten. Eine weitere Arbeit über die Frühformen der Einblattdrucke bis zum Jahre 1555, ihre Herstellung, den Vertrieb, die Intentionen und Wirkung der verschiedenen literar. Formen (Rede, Spruch, Prosatraktat, Lied u. a.) hat G. Ecker 3 2 vorgelegt. 3.4. Z e n t r a l e T h e m e n b e r e i c h e . Darüber hinaus bleibt aber die Aufgabe, die zentralen Themenbereiche des populären Fb.s durch zusammenfassende und vergleichende Studien in die Forschungsarbeit einzubeziehen. Zu den hervorstechendsten Eigenschaften der Publ.sform Fb. gehört zweifellos ihre unübersehbare Affinität zu —> Wunder und —> Prodigien 33 . Als wichtigstes Anliegen der Fb.literatur läßt sich trotz ihrer unbestrittenen Bedeutung für die Verbreitung von aktuellen Informationen und Glaubenslehren die Propagierung angstvoller Appelle bezeichnen. Durch die nicht abreißende Folge immer neuer und sich überbietender Schreckensbotschaften ist durch das Fb. in der frühen Neuzeit ein Klima der permanenten —> Angst, Bedrückung, der Wunder- und Endzeiterwartung (cf. —> Eschatologie) geschürt worden, das die Rezipienten an ein Medium band, das zur raschen Verbreitung all der erfundenen und erlogenen Nachrichten bereitstand und zugleich die Aufklärung über die wahren Hintergründe der beschriebenen Erscheinungen verhinderte. Diese wurden stereotyp als Ausdruck des geheimen Willens Gottes, als Zuchtrute, Geißel und Strafe des Himmels für menschliches Fehlverhalten interpretiert, und ebenso stereotyp schließt jeder Kommentartext mit eindringlichen Warnungen zur Umkehr und Buße ab. Dies gilt mehr oder weniger für alle Sensationsthemen wie Blutund Kornregen (—> Regen, Regenwunder), —» Erdbeben, Feuersbrünste, Heuschreckenplagen, Himmelserscheinungen, Kometen, Krankheiten, Kriege, Meereswunder, —» Mißgeburten von Menschen und Tieren (—» Monstrum), Mordtaten, Schlachten, Seuchen, Teuerungen, Unwetter, Überschwemmungen, Verbrechen, Wunderfische, Wundergeburten etc. 34 . Die Forschung hat seit P. Roth 3 5 für
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diese Druckerzeugnisse den treffenden Terminus der Neuen Zeitung geprägt. Unter den vielen Arten der Nachrichtenvermittlung stellte das Fb. nur eine, jedoch aufgrund seiner technischen Möglichkeiten bes. wirkungsvolle dar. Im übrigen teilt es aber die genannte Thematik nicht nur mit der parallelen Publ.sform Fs., sondern in starkem Maße auch mit der weltlichen und geistlichen —> Kompilationsliteratur der frühen Neuzeit. Die Erforschung der Zusammenhänge des Fb.s mit der —> Chronikliteratur, der —> Historienliteratur und der —> Prodigienliteratur, ferner mit -> Kalender und früher —> Zeitung steht noch in den Anfängen. Außerdem ist infolge der großen internat. Verflechtung dieser Lit. wiederum mit einer starken Verbreitung über die dt. Sprachgrenze hinaus zu rechnen. Auch diese Beziehungen sind bisher noch kaum erforscht. Die Bedeutung der Wundernachrichten im Fb. fällt bereits bei einfachen Zahlenvergleichen ins Auge. Die Kollektaneen des Zürcher Chorherrn J.J. Wiek (1522-88) weisen bei einem Gesamtumfang von 420 verwendeten Fb.ern allein 98 Drucke mit Himmelserscheinungen, 84 mit Abnormitäten auf. Rechnet man alle Prodigien und Wundernachrichten der Slg zusammen, so kommt man auf 228 Drucke oder 52% Gesamtanteil 36 . Allein diese Zahlenverhältnisse lassen es bei allem Reiz, der von der Dekodierung stark verschlüsselter barocker Fb.er ausgehen mag, geboten erscheinen, den vorherrschenden Themen der populären Fb.literatur künftig auch von seiten der Erzählforschung größere wiss. Anteilnahme entgegenzubringen. 3.5. Fb. als Q u e l l e n m a t e r i a l . Der Erzählforscher findet darüber hinaus in der gesamten Fb.Überlieferung ein überaus reiches und von ihm noch unzureichend erschlossenes Qu.nmaterial vor. Allerdings darf er sich diesem Überlieferungsbereich nicht mit der Erwartung nähern, darin unmittelbare Zeugnisse zur Geschichte von Volkserzählungen vorzufinden. Zwar ist das ill. Fb. in allen seinen Erscheinungsformen voll von Anspielungen und Hinweisen auf Sagen, Schwänke, Legenden, Sprichwörter etc., aber in der Regel werden die betr. Stoffe im Fb.
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nicht um ihrer selbst willen gestaltet, sondern sie ordnen sich der jeweiligen Wirkungsabsicht des Autors unter, sind also Mittel zum Zweck. Hier gilt für das Medium allg. der im Gothaer Katalog für die Fb.er der Reformation und des Bauernkrieges formulierte Grundsatz, daß das Fb. eben primär „kein Unterhaltungsstück, sondern ein politisches Aufklärungsmittel" 37 darstellt. Wenn im folgenden bei den wichtigsten neueren Editionen Nachweise zu dem Anteil an Erzählüberlieferungen gegeben werden, so ist es allerdings nicht möglich, in diesen Verz.sen die jeweiligen Argumentationszusammenhänge und Intentionen mitzuliefern, in welche die Erzählthemen oder -motive eingebettet sind. Dieser Kontext bleibt im Einzelfall bei der Analyse des betreffenden Belegs zu klären. In der Regel stehen die Fb.er des 16. und 17. Jh.s im Dienste der Vermittlung herrschender Normen und Wertvorstellungen, sie verhalten sich so systemkonform, daß es M. Schilling38 möglich war, aus den Vorschriften städtischer Polizeiverordnungen (am Beispiel Straßburgs) eine Klassifikation der Themen zeitgenössischer Fb.publizistik zu gewinnen. Auf der anderen Seite ist aber das Fb. durchaus auch offen für teilweise handfeste Kritik an der bestehenden Ordnung, es beklagt die Leiden der Handwerker, der Bauern in Kriegszeiten, oder es geißelt das Unwesen der Kipper und Wipper 39 (Münzverschlechterer). Vielfach wird die Unzufriedenheit mit der herrschenden Sozialordnung aber nicht direkt ausgesprochen, sondern als Tierallegorie, Fabel oder in das verbreitete Bild von der Umkehrung der bestehenden Verhältnisse in ihr Gegenteil (—> Verkehrte Welt) gekleidet. 3.6. Fb. als Q u e l l e der E r z ä h l f o r schung. In den folgenden Zusammenstellungen sind weniger die massenhaft auftretenden Prodigien (Himmelserscheinungen, Mißgeburten etc.) erfaßt, sondern das Schwergewicht liegt auf den Themen aus dem Bereich der Erzählüberlieferung, für die eigene Art. in der EM vorgesehen sind. G e i s b e r g 4 0 : 1.1, 55 = Martyrium des Hl. —> Sebastian. - 56 = —» Moses mit den Gesetzestafeln. - 112 = Hl. Rochus (-» Pest). - 158 = Neun
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Häute der bösen Frauen. - 161 = AaTh 1353: Böses —> Weib schlimmer als der Teufel. t.2, 456 = Hl. -» Kümmernis. - 7 3 4 - 1 = Hl. Sebaldus. t. 3, 1004 = AaTh 214 B: —> Esel in der Löwenhaut (von H. Sachs). - 1005 = AaTh 70: -> Hasen und Frösche. - 1006 = Wolf und Hirte (von H. Sachs, nach Äsop). - 1007 = Phöbus als Bote Jupiters bei den Menschen (von H. Sachs; AaTh 750 A: Die drei -» Wünsche). - 1008, 1158 = Der Niemand 41 . 1014 = Hasen hängen den Jäger. - 1052 sq. = Hl. -»Christophorus. - 1130 = Hl. Dominikus. 1152 = Der Ritter aus Frankreich (von H. Sachs). — 1153 = Die Königin von Lampartia (von H. Sachs). - 1155 = Heuschrecken sind leichter zu hüten als die Tugend einer untreuen Frau. — 1192 sq. = Das Wappen des —> Schlaraffenlands (cf. AaTh 1930). - 1195 = AaTh 227: -» Fuchs und Gänse42. - 1196 = Krieg zwischen Mäusen, Katzen, Ratten und Hunden (—> Krieg der Tiere). t. 4, 1254 = Hexe als Teufelsbündnerin in Schiltach. — 1323 = Fama. Das —> Gerücht mit seiner wunderlichen Eigenschaft (von H. Sachs). — 1352 = Doktor Siemann (—»Pantoffelheld). — 1354 = Kartenspiel mit einer schönen Frau (von H. Sachs). - 1412 = Legende von Heinrich und Kunigunde (cf. -» Gottesurteil). - 1507 = AaTh 826: —* Sündenregister auf der Kuhhaut. - 1584 sq. = Verjüngung der Männer/Frauen im Glutofen (—»Altweibermühle). M e u c h e / N e u m e i s t e r 4 3 : num. 14 = AaTh 70. — 18 = AaTh 227. — 28 = Katze vor dem Mäusekönig (Verkehrte Welt). — 32 = Krieg der Mäuse gegen die Katzen (Verkehrte Welt). - 36 = Die Saat —> Adams und Evas. — 40 = Der Niemand. — 41 = Kampf der Gänse gegen die Füchse (Verkehrte Welt). - 42 = AaTh 277: -> Frösche bitten um einen König. — 43 = Hasen richten über Jäger und Mönche (Verkehrte Welt). Strauss 4 4 : t. 1, 84 = Wunderbarer Schlaf hungernder Kinder. - 92 = Kornregen 45 . - 218 = Blut von Willisau46 (-> Fluch, Fluchen, Flucher). - 226 = Weissagendes Kind warnt vor Wucher und Gotteslästerung (—> Blasphemie). — 380 = Ehebrecherbrücke des König Artus. — 395, 397, 457 = Kornregen. — 425 = Meineidsagen (—» Eid, Meineid). — 465 = Fastenwunder (—> Fasten). t. 2, 488 = Ein Wirt lauert als Teufel verkleidet einem Fuhrmann auf und wird von diesem erschlagen. — 489, 494 = Gotteslästernder Trinker vom Teufel versteinert. - 548 = Verwandlung von über 300 Frauen in Werwölfe durch —» Teufelspakt Wolfsmenschen). - 549 = AaTh 2040: -> Häufung des Schreckens. — 557 = Meineidigem wird die halbe Hand schwarz. — 666 = Kornregen. — 690 sq. = Heilung einer Lahmen auf der —> Wallfahrt nach Einsiedeln. - 692 = Himmelsbrief gegen Sonntagsarbeit (—» Bilder vom Himmel). — 701, 795 = Wolfsverwandlung und Hinrichtung eines Bauern. — 703 = Jüd. Hostienfrevel (—»Hostie, Hostien wunder). - 735 = Judensau 47 . 43'
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— 738 = Hexenverbrennung in Derneburg. 766 = Himmlische —> Weisung gegen Gotteslästerung. t. 3, 935 = Teufel dreht putzsüchtigem und hoffärtigem Mädchen den Kopf nach hinten, im Sarg liegt eine Katze mit einem Spiegel. — 936 = Hartherziger Junker verweigert einer Arbeiterfrau Brot und versinkt in der Erde (-> Brotlegenden). 1083 = Schlaraffenland (von H. Sachs). - 1100 = Verjüngung der Frauen im Glutofen. - 1120 = -»Jonas und der Wal. - 1190 = Schwurhand eines Eidbrüchigen wird zur Hälfte schwarz. — 1194 = Eine Magd wird wegen eines ihr unterschobenen Kindes unschuldig gehenkt und bleibt wunderbarerweise am Leben (—» Galgen wunder). 1335 = Jesuit will als Teufel verkleidet eine Magd bekehren und wird erstochen. — 1337 = Waldenburger Fastnacht 48 . A l e x a n d e r / S t r a u s s 4 9 : t. 1, 26 = Wundertätige Hostie in Augsburg. - 88 = Meineidsagen. — 158 = Monstranz bleibt bei Feuersbrunst unversehrt. - 180 = Schlange sticht einem dän. Obersten in die Hand und macht seine Eidbrüchigkeit offenbar. - 344 = —> Geistermesse in Plan (Böhmen). t. 2, 434 = Geistermesse. - 4 3 8 - 4 4 0 = Kampf des Teufels mit einem bösen Weib. - 443 = Ungehorsamem Knaben wachsen —» Hand und —» Zunge aus dem Grabe 50 . — 448 = Siebenfache —> Kindsmörderin. — 450 = Bestrafte Brotverweigerung . — 455 sq. = —» Entrückung eines —> scheintoten Mädchens und seine Prophezeiungen. - 484, 626 = —» Geistliche Hausmagd 51 . — 486 = Meineidsagen. — 489 = Butzen-Bercht (—»Percht). — 508 = AaTh 980: Der undankbare -»Sohn52. 524 = Das Schiff des Heils 53 . - 538 = Hl. Kümmernis. — 559 = Die beiden bösen Weiber des —> Sokrates. - 571, 685, 749 = Der Niemand. 593, 628 = Bestrafte Brotverweigerung. — 611 = AaTh 935: —» Heimkehr des verlorenen Sohnes. — 648, 799 = Himmelsbrief warnt vor Sonntagsarbeit. - 662 sq. = Breiter und schmaler Weg 54 . — 668 = Teufelsbesessenheit bestraft (—> Exorzismus). — 673 = Hexenprozeß. - 678 = Untaten und Hinrichtung eines Hexers. — 717 = Untaten von Hexen. - 728 = Ungehorsame Tochter wird —> Teufelsbraut. H a r m s / S c h i l l i n g / W a n g 5 5 : t. 2, 43 = Kölner Bürgermeister ersticht Löwen 56 . - 72 = —> Riese Haymon als Gründer des Klosters Wilten bei Innsbruck. — 80 = Judensau. — 105 sq. = Moritz von Oranien als Ritter St. —» Georg. - 130 = Breiter und schmaler Weg. — 136 = Sprichwort: Die großen Fische fressen die kleinen (—> Fisch, Fischen, Fischer). — 137 = Tiere in der Löwenhöhle. — 187 = Fabeln: AaTh 34A: —» Hund verliert das Fleisch; Affe und Kastanien 57 . - 345 = AaTh 60: —» Fuchs und Kranich. H a r m s / P a a s / S c h i l l i n g / W a n g 5 ® : num. 7 = AaTh 766: —> Siebenschläfer. — 16 = Breiter und schmaler Weg. - 19 = AaTh 935. - 22 = Krieg der Tiere. — 24 = Esel als Kunstrichter im Gesangs-
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Wettstreit zwischen Nachtigall und Kuckuck 59 . 28 = AaTh 1930. - 29 = Verkehrte Welt 60 . 40 = Die großen Fische fressen die kleinen. - 50 = Betrügerischer Geldwechsler versinkt in der Erde. Harms 6 1 : num. 116, 118 = Breiter und schmaler Weg. - 127 = AaTh 227. - 131 = Herr über sie 62 (Pantoffelheld). - 132 = - » W e i b e r von Weinsberg. — 151 = Hexensabbat.
3.7. D a s Fb. a u ß e r h a l b d e s dt. S p r a c h r a u m s . Außerhalb des dt. Sprachraums weist bes. Frankreich eine reiche und alte Fb.tradition auf. In der Periode des Frühdrucks hießen die ein einziges Blatt umfassenden Druckerzeugnisse mit kurzen Nachrichten occasionnels, später setzte sich der Begriff canard durch, der seit dem letzten Drittel des 19. Jh.s durch die Sammelbezeichnung fait divers verdrängt wurde. Erst unter dieser Bezeichnung sind die frz. Fb.er zu einer Massenerscheinung geworden, die im 19. Jh. in die Hunderttausende gehende Aufl.η erlebte, während in den drei vorangegangenen Jh.en allenfalls wenige 100 Exemplare nachzuweisen sind 63 . Die Thematik der frz. Fb.er ist durch das Vorherrschen von Sensationen (Verbrechen, Unglücksfälle, Heldentaten, übernatürliche Ereignisse) gekennzeichnet, wobei die Drucke häufig an der Entstehung und Verbreitung von Verbrecherkulten Anteil hatten. Noch bis ins 19. Jh. waren frz. Fb.er mit populären Holzschnitten illustriert. In Liedform gefaßte Nachrichten hießen auch complaintes, unabhängig vom Inhalt des betreffenden Fb.es 64 . Die Ubergänge zwischen faits divers und Bilderbogen bzw. den populären Fs.en (canards du petit format; —» Bibliotheque bleue) sind fließend. Auch in Italien heben sich die vorwiegend im 19. Jh. verbreiteten Fb.er (fogli volanti) aus der Gesamtheit volkstümlicher Druckerzeugnisse (stampe popolari) als eigenständige und überschaubare Publikationsform hervor. Ein Gesamtüberblick, der die bisher vorliegenden Teilkataloge und Detailuntersuchungen zusammenfaßt und weiterführt, fehlt. Einen bis zum Jahre 1961 reichenden Forschungsbericht hat R. Schenda vorgelegt, der zugleich auch 71 Drucke des Museo Etnografico Giuseppe Pitre in Palermo durch Abhdlg und Katalog erschlossen hat 5 5 . Als Hauptthemen treten dabei in Erscheinung: Satire, Devotion, Sensationsmeldung, tradi-
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tionelle Historie (ζ. B. als Beichtiger verkleideter Liebhaber; cf. Mot. Κ 1349.1.1), Politik und Belehrung. Die Texte sind oft in Liedform gefaßt. Über ital. Liedflugblätter liegen eigene Faksimile-Editionen vor 6 6 . Zu den interessantesten Erscheinungen der katalan. populären Druckgraphik gehören die gozos oder goigs, Fb.er mit religiösen Holzschnitten und geistlichen Liedtexten. Sie sind seit dem ausgehenden 15. Jh. bekannt und werden zuweilen bis in die Gegenwart im Dienste der Ausbreitung der Marienverehrung und zur Propagierung von Hll.nkulten hergestellt 67 . Mit dem Buchdruck gelangte die Publ.sform des Fb.s früh auch nach England 6 8 . Engl. Fb.er heißen broadsides, wenn sie auf einer Seite bedruckt, broadsheets, wenn sie beidseitig bedruckt oder gefaltet sind 69 . Eine Besonderheit des Fb.s in England stellt es dar, daß die durch dieses Medium verbreiteten Nachrichten nahezu ausschließlich in Liedform abgefaßt und somit für die Vermittlung durch Gesang bestimmt waren. Lied und Fb. erscheinen hier so eng aufeinander bezogen, daß der Begriff broadside nahezu nur in Verbindung mit bailad als broadside ballad 7 0 (Fb.lied, —» Ballade) auftritt. In dieser gereimten, sangbaren Form haben Sensationsmeldungen mit dem gleichen breiten Themenspektrum wie im dt. oder frz. Sprachraum bis ins 20. Jh. hinein Verbreitung gefunden. Die auf das 16. und 17. Jh. zurückgehenden Drucke in Frakturschrift werden black letter broadsides 7 1 genannt, seit dem 18. Jh. gehen die Drucker zur Antiquaschrift (white letter) über. Einige der wichtigsten ags. Slgen befinden sich in der British Library in London, der Bodleian Library in Oxford, dem Magdalene College in Cambridge und der University Library in Glasgow 7 2 sowie in der College Library in Harvard, der Library of Congress in Washington D.C. und der University Library in Los Angeles 73 . Eine von 1557 bis 1709 bestehende Registrierungspflicht für alle engl. Druckerzeugnisse einschließlich der Fb.er ermöglicht anhand der Listen der Company of Stationers in London 7 4 eine Übersicht über die Gesamtproduktion von eineinhalb Jh.en. Die bedeutendsten Druckerwerkstätten des 19. Jh.s waren die Pressen von John Pitts ( 1 7 6 5 - 1 8 4 4 ) 7 5 und James Catnach ( 1 7 9 2 -
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1841) 76 . Über die Zusammenhänge des Mediums Fb. mit einem bestimmten Genre der engl. Liedüberlieferung, dem Schwanklied, handelt die Monogr. von R. Wehse 77 , die zum ersten Mal über Editionen und Druckermonographien hinaus den Weg zu einer übergreifenden thematischen Erforschung des engl. Fb.s eingeschlagen hat. Ebenso wie England weisen die USA eine bedeutende Fb.tradition auf 78 , deren Einflüsse auf die mündl. Balladentradition tiefgreifend waren 79 (über engl, und amerik. Fs.en cf. —» Chapbooks). Die Überlieferung von Fb.ern in Dänemark setzt mit dem Jahre 1650 ein. Die seitdem bekannt gewordenen etwa 600 dän. Bilddrucke mit Holzschnittillustrationen haben ihre Erhaltung vielfach dem Umstand zuzuschreiben, daß sie als Schmuck in Truhendeckel und dgl. eingeklebt wurden, woher die dän. Gattungsbezeichnung kistebileder (schwed. kistebreve) abgeleitet ist. Die dän. Drucke sind in einem von V. E. Clausen erstellten Katalog erfaßt 80 . In Schweden gelangt die populäre Bildkunst erst im 18. Jh. zur Blüte. Sie zeigt wie in Dänemark eine Vorliebe für religiöse Sujets 81 . Anhand mehrerer Monogr.η zu einzelnen Bildthemen hat N.-A. Bringeus den Einfluß dt. Fb.themen auf die populäre Imagerie Schwedens nachgewiesen und damit Beitr.e zu einer von ihm inaugurierten vergleichenden ethnologischen Bildforschung' geliefert 82 . 4. Fs. Die Fs. ist ein Druckerzeugnis, das im Gefolge der Reformation im 3. Jahrzehnt des 16. Jh.s zum erstenmal massenhaft auf dem Markt erscheint und seither aus der Geschichte der Lesestoffe nicht mehr wegzudenken ist. Fs.en sind selbständige, nichtperiodische und nicht gebundene Druckschriften. Mit der Fs. entstand neben dem Fb. in der frühen Neuzeit ein zweites Massenmedium, das — sparsamer illustriert als das Fb. — in seinen Anfängen vor allem die Funktion der Information eines lesefähigen Publikums über politische und religiöse Tagesfragen übernahm 83 . Aber bald eroberte sich auch diese Publ.sform durch ein erw. Themenangebot breitere Rezipientenschichten. In der Erschließung, Dokumentation und Erforschung der populären Fs.en des 16. und
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17. Jh.s bestehen im dt.sprachigen Bereich noch große Defizite. Bisher ist lediglich von germanistischer Seite die Aufarbeitung der Fs.en der Reformationszeit in Angriff genommen worden 84 . Im Rahmen eines Tübinger Forschungsprojektes wird eine Bibliogr. der dt. und lat. Fs.en des Zeitraumes von 1501 — 30 vorbereitet 85 . Im Zusammenhang damit wurden erstmals auch genaue Richtlinien für die Beschreibung und Verzeichnung der Drucke entwickelt 86 . In der volkskundlichen Forschung haben Fs.en außer im Bereich des —»Volksbuches vor allem für die Geschichte des Liedes bes. Bedeutung. Parallel zu den politisch-religiösen Fs.en des Reformations-ZA.s entwickelte sich als eigenes Verlagsprodukt vieler süddt. Druckerwerkstätten die Liedflugschrift. Es handelt sich dabei in der Regel um Gelegenheitsschriften von 4, 8,12 oder 16 Druckseiten Umfang, mit einem Titelholzschnitt und einer Slg von zwischen zwei und fünf Liedern. Dabei finden alle denkbaren Liedgattungen (einschließlich Ballade und Meistersang) in oft willkürlicher Kombination Berücksichtigung. In mehreren dt. Bibl.en sind bedeutende Slgen solcher Liederheftchen erhalten. Den größten Bestand weisen die Dt. Staatsbibliothek Berlin (Ost) mit der Slg Κ. H. G. von Meusebach 87 und die Staatsbibliothek Preuß. Kulturbesitz Berlin (West) 88 auf. Das Dt. Volksliedarchiv in Freiburg (Breisgau) hat über 10.000 Orig.e und Kopien von Liedflugschriften aus dem 15.—20. Jh. zusammengetragen. Nur verschwindend wenige Bestände sind in Ausg.n zugänglich: Eine Slg der Stadtbibliothek Colmar 89 , ein Sammelband aus dem Besitz von Ludwig Uhland 90 , ein Sammelband der Bibl. Weimar 91 sowie 30 Lieddrucke der Druckerfamilie Apiarius 92 . Die überragende Bedeutung der frühen Zeugnisse für die Geschichte des älteren dt. Volksliedes geht aus vielen Uberlieferungsverzeichnissen der Freiburger Balladenausgabe 93 hervor. Eine zusammenfassende Darstellung über die Liedflugschrift steht noch aus. Sie hätte u.a. auch deren Verwendung in der Liedkatechese der Gegenreformation 94 sowie die große Popularität der Lieddrucke bis zum 19. Jh. in Österreich 95 in Rechnung zu stellen. Solche Liedflugschriften sind für das 19. Jh. auch für Polen 96 , die Tschecho-
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Slowakei 97 , Kroatien 98 und Bulgarien 99 bezeugt. I Brückner, W.: Massenbilderforschung 19681978. Teil 1: Die traditionellen Gattungen der populären Druckgraphik des 15. bis 19. Jh.s. In: Internat. Archiv für Sozialgeschichte der dt. Lit. 4 (1979) 130-178 (Fb., 139-148; Bibliogr., num. 34-91). - 2 Kluge, F.: Etymol. WB. der dt. Sprache. B. 2I 1975, 209. - 3 Schenda, R.: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910. (Ffm. 1970) Nachdr. Mü. 1977, 275 sq. - 4 Köhler, H.-J. (ed.): Fs.en als Massenmedium der Reformationszeit. Stg. 1981, X. - 5 Harms, W./Paas, J.R./Schilling, M./Wang, A. (edd.): III. Fb.er des Barock. Tübingen 1983, VIII. - 6 Einblattdrucke des 15. Jh.s. Ein bibliogr. Verz. ed. Kommission für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Halle (Saale) 1914 (Nachdr. Nendeln 1968). - 7 Erffa, Η. M. von: Einblattdruck, Einblattholzschnitt. In: RDK 4, 971-978, hier 971. - 8 Geisberg, M.: The German Single-Leaf Woodcut: 1500-1550. t. 1 - 4 . Rev. und ed. W. L. Strauss. N.Y. 1974. - 'Strauss, W. L.: The German Single-Leaf Woodcut: 1550-1600. t. 1 - 3 . N.Y. 1975. - 10 Alexander, D. (in Zusammenarbeit mit W. L. Strauss): The German Single-Leaf Woodcut: 1600-1700. t. 1/2. N.Y. 1977. II cf. ferner Müller, J.-D.: Poet, Prophet, Politiker: Sebastian Brant als Publizist und die Rolle der laikalen Intelligenz um 1500. In: Zs. für Lit.wiss. und Linguistik 10 (1980) 102-127. - 12 Clemen, Ο.: Fs.en aus den ersten Jahren der Reformation 1 - 4 . Lpz./N.Y. 1907-11 (Nachdr. Nieuwkoop 1967); Berger, A.E.: Die Sturmtruppen der Reformation. Lpz. 1931 (Nachdr. Darmstadt 1964). 13 Grisar, Η./ Heege, F.: Luthers Kampfbilder 1 - 4 . Fbg 1921/22. - 14 Harms, W. (ed.): III. Fb.er aus den Jh.en der Reformation und der Glaubenskämpfe. Bearb. B. Rattay. Coburg 1983. 15 Kastner, R.: Geistlicher Raufhandel. Form und Funktion der ill. Fb.er zum Reformationsjubiläum in ihrem hist, und publizistischen Kontext. Ffm. 1982. - 16 Bohatcovä, M.: Irrgarten der Schicksale. Einblattdrucke vom Anfang des Dreißigjährigen Krieges. Prag 1966. — 17 Geisberg, M. (ed.): Hans Sachs. Des Dichters 107 originale Holzbilderbogen 1 - 4 . Mü. 1928; Röttinger, H.: Die Bilderbogen des Hans Sachs. Straßburg 1927. - 18 Harms u.a. (wie not. 5). — 19 Brückner, W.: Populäre Druckgraphik Europas. Deutschland vom 15. bis zum 20. Jh. Mü. 1969 ( 2 1975). - 20 Fehr, H.: Massenkunst im 16. Jh. Fb.er aus der Slg Wickiana. B. 1924. 21
Brednich, R. W.: Die Liedpublizistik im Fb. des 15. bis 17. Jh.s 1/2. Baden-Baden 1974/75, t. 1, 290-318. — 22 cf. zusammenfassend Harms u.a. (wie not. 5) Xsq. - 23 Bruns, W./Stelter, V.: Fb.er im Dreißigjährigen Krieg. Aurich 1979. — 24 Harms (wie not. 14). - 25 Wechssler, S.: Fb.er. Aus der Frühzeit der Ztg. Heidelberg 1980. - 26 Janeck, Α.:
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Zeichen am Himmel. Fb.er des 16. Jh.s. 25. Wechselausstellung der Graphischen Slg des Germ. Nationalmuseums Nürnberg. Katalog. Nürnberg 198 2. - 27 Harms, W./Schilling, M./Wang, A. (edd.): Die Slg der Herzog August Bibl. in Wolfenbüttel. 2: Historica. Mü. 1980. - 2 8 Harms u.a. (wie not. 5). - 29 ibid., XIII, XV. - 30 cf. not. 8-10. 31 Brednich (wie not. 21) t. 2. - 32 Ecker, G.: Einblattdrucke von den Anfängen bis 1555. t. 1/2 Göppingen 1981. - 33 Schenda, R.: Die frz. Prodigienlit. in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s. Mü. 1961; id.: Die Prodigienslgen des 16. und 17. Jh.s. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 4 (1963) 637—698. — 34 cf. die gleichen Stichwörter bei Brückner, Motivreg. — 35 Roth, P.: Die neuen Ztgen in Deutschland im 15. und 16. Jh. Lpz. 1914 (Nachdr. 1963). - 36 Stäheli, M.: Catalogue descriptif des feuilles volantes dans la collection des Wickiana ä la Bibliotheque centrale de Zurich. Diplomarbeit Genf 1950. - 37 Meuche, H./Neumeister, I.: Fb.er der Reformation und des Bauernkrieges. 50 Bll. aus der Slg des Schloßmuseums Gotha. Lpz. 197 6. - 38 Schilling, M.: Das Fb. als Instrument gesellschaftlicher Anpassung. In: Brückner, W. (ed.): Lit. und Volk im 17. Jh. Wolfenbüttel 1984 (im Druck). - 39 Redlich, F.: Die dt. Inflation des frühen 17. Jh.s in der zeitgenössischen Lit.: Die Kipper und Wipper. Köln/Wien 1972; Goer, Μ.: ,Gelt ist also ein kostlich Werth'. Monetäre Thematik, kommunikative Funktion und Gestaltungsmittel ill. Fb.er im 30jährigen Krieg. Diss. Tübingen 1981. - 40 Geisberg (wie not. 8). 41
Bolte, J.: Die Legende vom hl. Niemand. In: Alemannia 16 (1888) 193-201; t. 17 (1889) 151; t. 18 (1890) 131-134; Meyer-Heisig, E.: Vom ,Herrn Niemand'. In: DJbfVk. 6 (1960) 6 5 - 7 6 . 42 Rodin, K.: Räven predikar for gässen. En Studie av ett ordspräk i senmedeltida ikonografi. Sth. 1983. - 43 Meuche/Neumeister (wie not. 37). — 44 Strauss (wie not. 9). - 45 Brednich, R. W.: Die Uberlieferungen vom Kornregen. Ein Beitr. zur Geschichte der frühen Fb.lit. In: Dona ethnologica. Festschr. L. Kretzenbacher. Mü. 1973,248-260. 46 Brückner, 167, 348. - 47 Shachar, I.: The .Judensau'. A Medieval Anti-Jewish Motif and Its History. L. 1975. - 48 Bausinger, Η.: Volkssage und Geschichte (Die Waldenburger Fastnacht). In: Württemberg. Franken 41 (1957) 1 - 2 4 . 49 Alexander (wie not. 10). - 50 Schmidt, L.: Die Hand aus dem Grab. Kinderzucht-Sage in einem Fb.lied. In: Schmidt, 225-234. 51 Spamer, Α.: Der Bilderbogen von der geistlichen Hausmagd'. Ein Beitr. zur Geschichte des religiösen Bilderbogens und der Erbauungslit. im populären Verlagswesen Mitteleuropas. Bearb. und Nachw. M. Hain. Göttingen 1970. - 52 DVldr 5, num. 123. — 53 Küster, J.: ,Spectaculum vitiorum'. Studien zur Intentionalität und Geschichte des Nürnberger Schembartlaufes. Remscheid 1983. — 54 Harms, W.: Homo viator in bivio. Studien zur
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Flügel des Königssohnes
Bildlichkeit des Weges. Mü. 1970. - 55 Harms u.a. (wie not. 27). — S6 Schade, H.: Das Promptuarium exemplorum des Andreas Hondorff. Diss. Ffm. 1966, 77. - " R ö h r i c h , Redensarten, 488. 58 Harms u.a. (wie not. 53). — 5 9 Bolte, J.: Kuckuck und Nachtigall. In: ZfVk. 13 (1903) 221 sq. 60 Kunzle, D.: World upside down. The Iconography of a European Broadsheet Type. In: Babcock, B.A. (ed.): The Reversible World. Symbolic Inversion in Art and Soc. Ithaca/L. 1978, 39-94. 61 Harms (wie not. 14). - 6 2 Moser, D.-R.: Schwänke um Pantoffelhelden oder die Suche nach dem Herrn im Haus. In: Fabula 13 (1972) 2 0 5 292. - 6 3 Lecerf, M.: Les Faits divers. P. 1981; Monestier, A. (ed.): Le Fait divers. Musee des arts et traditions populaires 19 novembre 1982 - 28 avril 1983. P. 1982; Seguin, J.-P.: Nouvelles ä sensation. Canards du XIX e siecle. P. 1959; id.: Physiologie du canard. P. 1965; id.: Canards du siecle passe. P. 1969; id.: Les Canards illustres du 19e siecle. Fascination du fait divers. Catalogue. Musee-galerie de la Seita 9 novembre 1982—30 janvier 1983. P. 19 82. - 6 4 Brednich (wie not. 21) t. 1, 3 2 8 - 3 3 0 . - 65 Schenda, R.: Die Slg ital. Fb.er im Museo Pitre. In: ZfVk. 58 (1962) 2 1 0 - 2 3 7 . — 6 6 Rocchi, F.: Un secolo di canzoni. Fogli volanti. s.l. 1961; Vajro, M.: Fascino delle canzoni napoletane. Saggio storico, testi, aneddoti, iconografia. Napoli 1961. — 67 Amades, J./Colomines, J./Vila, P.: Imatgeria popular catalana 1 - 2 . Barcelona 1931; Amades, J./Colomines, J.: El goigs 1/2. Barcelona 1939/48; Duran i Sanpere, Α.: Populäre Druckgraphik Europas. Spanien vom 15. bis zum 20. Jh. Mü. 1971, 5 8 - 6 2 . Laver, J.: Populäre Druckgraphik Europas. England vom 15. bis zum 20. Jh. Mü. 1972, 2 9 - 5 2 ; Collison, R.: The Story of Street Literature. Forerunner of the Popular Press. L. 197 3. - 6 9 Shepard, L.: The History of Street Literature. Newton Abbot 1973, 14, 224; Wehse, R.: Schwanklied und Fb. in Großbritannien. Ffm./Bern/Las Vegas 1979, 1 - 6 9 . - 70 Shepard, L.: The Broadside Ballad. L. 1962. 71 Collier, J. P. (ed.): Broadside Black-Letter Ballads, Printed in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. [L.] 1868 (Nachdr. N.Y. 1968); Lilly, J. (ed.): A Collection of Seventy-Nine Black-Letter Ballads and Broadsides, Printed in the Reign of Queen Elizabeth, between the Years 1559 and 1597. L. 1867 (Nachdr. Detroit 1968); Rollins, H. E.: The Black Letter Broadside Ballad. In: Publ.s of the Modern Language Assoc. 24 (1919) 2 5 8 3 39. - 72 Überblick bei Wehse (wie not. 69) 6 0 65. - 73 Überblick ibid., 6 6 - 6 9 . - 74 Rollins, Η. Ε.: An Analytical Index to the Ballad-Entries ( 1 5 5 7 - 1 7 0 9 ) in the Reg.s of the Company of Stationers of L. In: Studies in Philology 21 (1924) 1 - 3 2 4 (Nachdr. Hatboro, Pa 1967). - 75 Shepard, L.: John Pitts, Ballad Printer of Seven Dials, L. 1 7 6 5 - 1 8 4 4 . L. 1969. - 76 Hindley, C.: The Life
and Time of James Catnach [. . .]. L. 1878 (Nachdr. Detroit 1968). - 77 Wehse (wie not. 69). 78 Ford, W. C.: Broadsides, Ballads, etc., Printed in Mass. 1 6 3 9 - 1 8 0 0 . Boston 1922; Heartman, C. F. (ed.): The Cradle of the United States, 1 7 6 5 1789: A Collection of Contemporary Broadsides, Pamphlets [. . .] 1/2. Metuchen 1922/23. - 79 Laws, G. M.: American Balladry from British Broadsides. Phil. 1957. - 80 Clausen, V. E.: Det folkelige danske tr;esnit i etbladstryk 1 6 5 0 - 1 8 7 0 . Kop. 1961. 81 id.: Populäre Druckgraphik Europas. Skandinavien vom 15. bis zum 20. Jh. Mü. 1973, 9 3 - 1 0 0 . 82 Bringeus, N.-A.: Volkstümliche Bilderkunde. Mü. 1982. - 83 Bebermeyer, G.: Fs. In: R D L 1 ( 2 1955) 4 6 4 - 4 6 8 . - 84 Schwitalla, J.: Dt. Fs.en 1460—1525. Textsortengeschichtliche Studien. Tübingen 1983. - 85 Köhler (wie not. 4) IX. 86 Weismann, C.: Beschreibung und Verzeichnung alter Drucke. In: Köhler (wie not. 4) 4 4 7 - 6 1 4 . 87 Zarncke, F.: Die Meusebach'sche Bibl. In: id.: Aufsätze und Reden zur Cultur- und Zeitgeschichte. Lpz. 1898, 1 7 9 - 1 8 8 . - 88 Bliembach, E.: Hist. Fs.en und Einblattdrucke in der Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz. In: Mittigen der Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz 14 (1982) 6 2 - 9 2 . - 8 9 H e i t z , P.: Unbekannte Ausg.n geistlicher und weltlicher Lieder, Volksbücher und eines alten ABC-Büchleins gedr. von T. Berger. Straßburg 1911. — 90 Blümml, Ε. K. (ed.): Ludwig Uhlands Sammelband fliegender BI1. aus der zweiten Hälfte des 16. Jh.s. Straßburg 1911. 91 Das Weimarer Liederbuch. Lpz. 1976/Zürich 1977. - 9 2 Bioesch, H.: Dreißig Volkslieder aus den ersten Pressen der Apiarius. Faks.ausg. Bern 1937. - 9 3 DVldr. - 9 4 Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. Studien zur Liedpropaganda und -katechese der Gegenreformation. B. 1981. - 95 Klier, Κ. M.: Ein Band Prager Fb.-Lieder von 1828. In: Sudetendt. Zs. für Vk. 2 (1929) 9 7 - 1 0 9 , 1 7 2 - 1 8 2 ; Schmidt, L.: Niederösterr. Fb.lieder. In: Jb. für Volksliedforschung 6 (1938) 1 0 4 - 1 6 3 ; Riedl, A./Klier, Κ. M.: Lied-Fb.drucke aus dem Burgenland. Eisenstadt 1958. — 96 Nyrkowski, S.: Karnawal dziadowski. Piesni w^drownych spiewakow ( X I X - X X w . ) . W. 1973. 97 Benes, B.: Sv Münchhausiaden). Wie der Wagen ist auch das Pferd 10 als Zug- und Reittier einerseits wundersamer
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Helfer (ζ. B. Pegasus), andererseits erscheint es in dämonischer und chthonischer Bedeutung (Geister- und Teufelsroß). Auch in einer Reduktionsform (z.B. als Sattel und Zaumzeug) kann aus ihm ein Fluggerät werden. Das Pferd selbst als Fluggerät ist durch Das Ebenholzpferd in —» 1001 Nacht populär und einflußreich geworden 11 . Flugkleider, Zauber- und —» Federhemden, künstliche Flügel 12 (AaTh 575: —» Flügel des Königssohns), künstliche Vögel 13 und Flugapparate sind als direkter Analogiezauber offensichtlich, gehören zum Kernbereich der F. und sind weit verbreitet. Der nicht nur in den —> Faustsagen zu findende Zauber- oder Flugmantel 14 läßt sich auf die —> Gesta Romanorum (Kap. 120) zurückführen. Da der —» Mantel dabei häufig als Tuch aufgefaßt wird, auf das sich der Held zum Flug setzt, könnte hier eine Verquickung mit oriental. F.n (fliegender Teppich) vorliegen. Neben dem Mantel tauchen auch nicht näher bezeichnete Tücher, lederne Decken, Hand- und Taschentücher auf. Als Protagonisten solcher Mantelfahrten sind nicht nur Dämonen und Zauberer, sondern auch hist. Personen des 18. und 19. Jh.s 15 belegt. Das —» Bett ist als Fluggerät bes. geläufig. Im Arab, und Türk, finden sich statt dessen der fliegende Teppich und neben Kisten, Koffern und Truhen auch Sitzmöbel (vom Thron bis zum ,Wasserschemel'). Der fliegende Teppich kann sowohl als kulturspezifische Var. der Liegestatt oder Sitzgelegenheit wie als dem Kleider- und Tuchzauber zugehörig gedeutet werden. (In afrik. Erzählungen tauchen auch Matten, in nordeurop. Decken und Tücher als F. auf.) Daneben finden sich Gürtel, Spangen, Ranzen, Kappen und Hüte (ζ. B. das Wunschhütlein in AaTh 566: —> Fortunatus). Als Vehikel magischer Flüge dienen auch Zauber-, Wunsch- oder Siebenmeilenstiefel, die sich sowohl von der Fußbekleidung riesenhafter Dämonen als auch von Attributen der Götterboten (Hermes) herleiten lassen. (Kulturspezifische Var.η sind ζ. B. Gamaschen, Bund-, Bast- und Schneeschuhe.) Als ausgesprochene F. von Hexen und Zauberern gelten Stöcke, Stäbe und —»Besen, deren magische Kräfte dem älteren —» Zauberstab entstammen. (Dagegen dürften —> Pfeile als F. dem Bereich des Analogiezaubers
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Fluggeräte
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zuzuordnen sein 16 .) Weitere F., die zu den spezifischen Attributen von Hexen, Zauberern und Dämonen (Mahren, Truden) gerechnet werden (auffällig häufig dem Umkreis des häuslichen Feuers entstammend), sind: Ofengabeln, Feuerzangen, Kochlöffel, Siebe, Gefäße, Fässer, Haspeln, Garnknäuel, Gabelstiele, Deichseln, Stühle und Schemel, wobei die Flugfähigkeit der Objekte ζ. T. durch Behandlung mit Hexen- oder Flugsalbe 17 erreicht wird.
In den Comics, die wie der Film auf die bildhafte Darstellung des Ungewöhnlichen ausgerichtet sind, findet sich häufig die bewußte Aufnahme und Variation älterer Stoffe. Zwar fliegt —» Supermann als Außerirdischer durch eigene Kraft, aber der Mantel bleibt sein Attribut. Bewußte Anlehnungen an überlieferte Erzählstoffe finden sich bei einer Reihe neuerer ,Superhelden' in den Marvel-Comics (ζ. Β. beim Mighty Thor, dem sein Hammer Waffe und Fluggerät zugleich ist, oder dem Silver Surfer, der das Universum Zu den beständigsten Inhalten gehören in auf einem magischen Surfbrett durchquert23). diesem Zusammenhang die Var.n der Sage von —» Dädalus und Ikarus mit der darin — im F. weisen aber auch die Bilderwelten der Werbung, der Poster und Postkarten auf, wo Gegensatz zum Flugmotiv des AlexanderroSanta Claus nicht mehr nur im Rentierschlitmans (Mot. Β 552.1) — anklingenden Warten, sondern ebenfalls in Fliegenden Unternung vor menschlicher —> Hybris und der Zutassen und auf Raketen reist. Bei den ,Fliegenschreibung auf reale oder angeblich hist. Perden-Teppich-Witzen' liegt der Witz oft nur sönlichkeiten. Die Reihe der Gescheiterten 18 noch im Eingeständnis des Klischees, indem reicht von —» Simon Magus zu Zeiten Neros der Zeichner selbst dem Witz eine hohe .Seüber Bladud, den Vater König Lears, und Reriennummer' gibt. F. spielen schließlich eine giomontanus bis zum Schneider von Ulm und wichtige Rolle im Design von Videospielen 24 . Otto Lilienthal, umspannt dabei den langen Umgekehrt hat die Volkserzählung, dort, wo Übergang von der Flugsage bis zur realen sie sich im 20. Jh. noch als lebendig erwies, Luftfahrt. Heute findet das Motiv als Zeidurch Requisitverschiebung die Luftkutsche tungsbericht über verunglückte Fallschirmdurch das Flugzeug ersetzt (—> Modernisspringer und Drachenflieger interessierte und 19 men) 25 . ergriffene Leser . F. wurden schon im 19. Jh. zu einem beliebten und häufigen Gegenstand populärer Drucke und der Massenmedien 20 . Im 20. Jh. etablierten sich F. in der Science fiction und der Luftfahrtliteratur. Daneben war es vor allem der Film, der sich seit seinen Anfängen als Jahrmarktspektakel bei Georges Melies wegen seiner einzigartigen Möglichkeiten, das Phantastische bildlich und bewegt zu inszenieren, des Themas mit bes. Vorliebe annahm. Und bis heute blieben gerade die Imaginationen des Irrealen spezifische Leistungen des Films, wobei sich die Tendenz zur immer neuen Übertrumpfung des Bisherigen derzeit in ganzen Geschwadern von fliegenden Pferden und Teppichen 21 , in den immer spektakuläreren Weltraumvehikeln der Star WarsSerie und in den als ,Lichtkathedralen' konzipierten Raumschiffen der Außerirdischen in Die unheimliche Begegnung der Dritten Art (Close Encounters of the Third Kind. USA 1977) oder Ε. Τ. — Der Außerirdische (Ε. Τ. — The Extra-Terrestrial. USA 1981) 2 2 eindrücklich zeigt.
Die Interpretation der F. — sei es als Elemente und Träger der Handlung, sei es als Ausdruck von Wunschbildern oder magischen Denkweisen — berührt zwar den numinosen Kernbereich des Märchens, zumal das Zaubermärchen als das eigentliche Märchen angesehen wird 26 . Dennoch ist bisher keine Theorie der Volkspoesie, des Märchens oder des Zaubermärchens im bes. detailliert genug, um differenzierte und prägnante Aussagen über den Gehalt und die Funktion der verschiedenen F. zu erlauben. Die Märchentheorien stoßen allenfalls bis zum Motiv des Fluges und des Fliegens vor. L. —» Röhrich faßt „Wunderfahrten durch die Luft" als „sehr bekannte Traummotive (Flugträume)" 27 auf. Als Beweis dient ihm dabei vor allem das Bett als Fluggerät, das für ihn den Ort des Flugtraums symbolisiert. Kulturspezifische Requisitverschiebungen (Matte, Teppich etc.) sollen diese Lesart zusätzlich unterstützen 28 . Die C. G. Jung-Schülerin H. von —» Beit interpretiert Flugreisen generell als Seelenreisen. Im Fall des fliegenden Teppichs bietet sie eine
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Fluggeräte
poetischere Deutung: „Im Märchen erscheint bisweilen ein fliegender Teppich, der auf Wunsch durch die Lüfte trägt. Damit ist auch wieder auf die Wirklichkeit schaffende Phantasie verwiesen, welche das Gewebe symbolisiert" 29 . In den derzeit modischen, bewußt antirationalen ethnol. Theorien — in Westdeutschland unter Berufung auf M. —» Eliade u. a. von Η. P. Duerr oder S. Golowin propagiert — gehören Märchen zu den Zeugnissen vorbzw. transrationaler „Traumzeiten" 30 . Flugmotive gelten vornehmlich als Ausdruck rauschhafter, (durch Drogen und Ekstasetechniken) bewußt herbeigeführter Halluzinationen. Im Hinblick auf F. wurden bisher keine differenzierten Aussagen gemacht. Eine vergleichsweise nüchterne These vertrat der Naturwissenschaftler A. Lampa. Er begriff das Vorkommen von F.n vor allem als Analogie zur Realität: weil das Fliegen „dem Menschen als einzige Fortbewegungsart der Natur ohne Hilfsmittel nicht möglich ist" 31 . Im HDA hat L. Herold vier Grundlagen für das Flugmotiv in Volkserzählungen aufgelistet: „1. Wunsch; 2. Traum; 3. Zustände krankhafter Erregbarkeit; 4. Rauschzustände" 3 2 und vor pauschal-einseitigen Begründungen gewarnt. Auch (oder gerade) wenn man der Vollständigkeit zuliebe noch die F.-Auslegung von Vertretern der sog. .Astronautengötter'-These 33 hinzunimmt (die F. für Zeugnisse des vorgeschichtlichen Besuchs Außerirdischer halten), ergibt sich heute nicht unbedingt der Eindruck eines Fortschritts in der Theoriediskussion. Vor radikalen und pauschalen spirituellen' Interpretationen des Flugmotivs und der Annahme eines geschlossenen magischen Weltbildes als ausschließlicher Qu. des Märchenhaften und Wunderbaren sollten einige Sachverhalte warnen: (1) Schon früh (spätestens seit dem 9. Jh. belegt) gibt es Versuche, Flug und Flugerlebnis .natürlich' zu erklären 34 . (2) Detaillierte quasi-technische Herstellungsund Funktionsbeschreibungen von F.n gibt es (wie im Falle des Ebenholzpferdes aus 1001 Nacht) nicht nur in den relativ späten Hochkulturen, sondern auch bei sog. Naturvölkern. (3) Auch die schwankhafte Verwendung von Flugmotiven und F.n, in der die Dummheit und Leichtgläubigkeit der Zeitgenossen
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verlacht wird, ist nicht erst das Produkt rationalistisch werdender Denkweisen, sondern findet sich als gleichberechtigter Erzählmodus von Anfang an und ebenfalls in den Märchen von sog. Naturvölkern 35 . 1
Herold, L.: Flug. In: H D A 2, 1 6 5 7 - 1 6 7 6 . ibid.; Heckscher, K.: Fahrzauber. In: HDM 2, 8—42. - 3 cf. Meissner, B.: Luftfahrten im alten Orient. In: Mittigen der schles. Ges. für Vk. 12 (1910) 4 0 - 4 7 . - 4 Für den dt. Sprachraum cf. bes. Ebermann, O.: Sagen der Technik. Lpz. 1930; Abb.en bes. in Thyraud, J.: Der fliegende Mensch. Bern 1978 und in Henkel, A./Schöne, A. (edd.): Emblemata. Stg. 2 1976. - 5 Heckscher (wie not. 2) 27. - 6 Jungwirth, H.: Schiff, Schiffer. In: H D A 9 (Nachtrag), 1 5 2 - 1 6 0 ; Weiser-Aall, L.: Wagen. In: H D A 9, 2 4 - 4 8 . - 7 cf. Ez. 1; 2. Kön. 2, 11; Feldhaus, F. M.: Luftfahrten einst und jetzt. B. 2 1923, 14sq., Abb. 15; Henning, R.: Zur Vorgeschichte der Luftfahrt. In: Beitr.e zur Geschichte der Technik und Industrie 18 (1928) 8 7 - 9 4 , hier 90; Panzer, F.: Das Flugproblem in Mythus, Sage und Dichtung. In: Denkschrift der ersten internat. LuftschiffahrtsAusstellung zu Frankfurt a. Μ. 1. ed. B. Lepsius/R. Wachsmuth. B. 1910, 1 1 8 - 1 3 4 , hier 119. - 8 ibid. - »BP 3, 273. - 10 Steller, W.: Pferd. In: H D A 7, 1 5 9 8 - 1 6 5 2 . 2
11
cf. BP 2, 131 sq. - 12 BP 2, 134. - 13 ibid. Herold, L.: Mantelfahrt. In: H D A 5, 1 5 9 1 1595. - 15 Petsch, R.: Faustisches in dt. Sagen. In: ZfVk. 26 (1916) 3 3 0 - 3 3 5 , hier 333; Meiche, Α.: Sagenbuch des Königreiches Sachsen. Lpz. 1903, num. 678. - 16 cf. Abaris. In: HDS, 23. - 17 Herold, L.: Flugsalbe. In: H D A 2, 167sq. - " H e n ning, R.: Beitr.e zur Frühgeschichte der Aeronautik. In: Beitr.e zur Geschichte der Technik und Industrie 8 (1918) 1 0 0 - 1 1 6 , hier 1 0 4 - 1 0 8 . 19 cf. Feldhaus (wie not. 7) 1 4 - 3 8 ; Henning (wie not. 7) 8 7 - 9 4 . - 2 0 cf. bes. Minor, J.: Die Luftfahrten in der dt. Lit. In: Zs. für Bücherfreunde N.F. 1 (1909) 6 9 - 7 3 . 14
21 cf. Arabian Adventure (dt.: Im Banne des Kalifen). Großbritannien 1978; The Thief of Baghdad (dt.: Der Dieb von Bagdad). Großbritannien 1978. 22 Der Flug mit dem Fahrrad in diesem Film führte zu einem Boom der BMX-Räder. - 23 EM 3, 93sq. - 2 4 cf. Nagl, M.: Science Fiction. Tübingen 1981, 1 8 6 - 1 8 8 . - 25 cf. Bausinger, H.: Technik im Alltag. In: ZfVk. 77 (1981) 2 2 7 - 2 4 2 , hier 231; Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 1 9 1 199. - 26 cf. ζ. B. ibid., 5. - 27 ibid., 230. - 28 In der Tat ist gerade das Bett (ζ. B. in der Kinderlit.) auffällig häufig Fluggerät; cf. ζ. B. die Comicstrips .Little Nemo in Slumberland' ( 1 9 0 5 - 1 4 ) und ,In the Land of Wonderful Dreams' ( 1 9 2 4 - 2 7 ) von W. Mc Cay, in denen das Bett Ausgangspunkt und oft auch Vehikel für Traumerlebnisse ist. — 29 von Beit 1, 345. - 3 0 cf. z. B. Duerr, H. P.: Traumzeit. Ffm. 1978; Golowin, S.: Die Magie der verbotenen Märchen. Hbg 2 1975. -
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Flunder - Fluß
31 Lampa, Α.: Das naturwiss. Märchen. Reichenberg 1919. - 32 cf. Herold (wie not. 1) 1657. 33 cf. z.B. Dopatka, U.: Lex. der Präastronautik. Wien/Düsseldorf 197 9. - 34 cf. Herold (wie not. 1) 1665 sq. - 35 cf. z.B. Koch-Grünberg, T.: Indianermärchen aus Südamerika. MdW 1920, num.
12.
Stuttgart
Manfred Nagl
Flunder (AaTh 250 A), eine Ätiologie, die von der Entstehung signifikanter oder vermeintlicher Körpermerkmale des Fisches F. (Scholle, ndd. Butt, Familie der Pleuronectidae) berichtet, die ihm angeblich als Strafe für frühere Freveltaten an anderen Fischen, Tieren, an Menschen, Gottheiten oder Hll.n verliehen worden sind. Anstelle der F. sind es seltener auch der Barsch (chin.), die Seezunge (port.) oder der brasilian. Fisch Aramanja bzw. der jap. Trepang, die wie die F. ein schiefes Maul, einen verdrehten Kopf, geschlitzte Lippen, verdrehte und schielende Augen auf nur einer der Körperflachseiten (ein ,schiefes Gesicht'), ganz allg. häßliches Aussehen oder Stummheit davontrugen, weil sie Eifersucht, Neid, Eitelkeit, Überheblichkeit oder Verachtung gegenüber einem oder mehreren anderen Fischen wie z.B. dem Hering, Klippfisch, Hecht und Kaulbarsch zeigten 1 . Die im Wettschwimmen (zur —> Königswahl der Tiere) siegreichen oder in einer anderen Beziehung überlegenen Fischkonkurrenten wurden einstmals von der F. durch Schimpfworte und das Schneiden einer Fratze verhöhnt und beleidigt, beim Tanz verschmäht, durch Wartenlassen auf die sich erst prächtig kleidende F. herabgesetzt (Mot. A 2252.4). Ähnlich erging es Gottheiten oder Hll.n, dem lieben Gott, Christus, der Muttergottes Maria, St. Columba oder einer jap. Göttin, denen die F. eine scheußliche Fratze zog, keine Antwort auf ihre Fragen zu geben geruhte, deren Stimme sie nachäffte, die sie lästerte und verspottete (Mot. A 2231.1.2), oder Menschen und Tieren, die die F. mitleidlos und schmähend bei der Sintflut untergehen sah2.
Die Bestrafung der F. für ihr normabweichendes Verhalten mit einem abstoßenden ,Gesicht' ist symbolisch-didaktisch zu verstehen. Die ätiologische Tiergeschichte dürfte auch als Warnerzählung gedient haben. Das Verbreitungsgebiet der früher wie heute variantenarmen Ätiologie wollte A.
1374
von —> Löwis of Menar „auf Pommern und die Küstenländer der Nordsee" beschränken 3 . Inzwischen lassen zusätzliche internationale Belegfunde die sicher auch polygenetisch erklärbare Verbreitung viel weitgestreuter, obwohl vornehmlich auf Länder mit ausgedehnten Meeresküsten zentriert erscheinen 4 . Zum literar. Bekanntheitsgrad von AaTh 250 A hat wohl auch die Aufnahme in die KHM als num. 172 s beigetragen, aus denen sie mehrfach in andere gedr. Anthologien übernommen wurde 6 . 1 Ting; Cascudo, L. da Cämara: Contos tradicionais do Brasil. (Rio de Janeiro 1946) Bahia 2 1955, num. 373sq.; Dh. 2,252sq. (weitere Lit.); t. 3, 24 sq. (Beleg von 711 p. Chr. n.; weitere Lit.). — 2 BU. für pommersche Vk. 5 (1897) 137, num. 4 (= Dh. 1,290). - 3 Dh. 4 , 1 9 2 - 1 9 7 , hier 192sq.; cf. Dähnhardt, O.: Beiträge zur vergleichenden Sagenforschung. In: ZfVk. 16 (1906) 391 sq. (weitere Lit.). — 4 Var.n (soweit nicht bei AaTh angegeben): Balys, num. 3181; 0 Smlleabhäin/Christiansen; Sinninghe, 50, num. 117; Dh. 2, 78, 302; t. 3,179, 189; Neumann, S.: Mecklenburg. Volksmärchen. B. (1971) 2 1973, num. 52; Meyere, V. de: De vlaamsche vertelselschat 4. Antw./ Santpoort 1933, num. 376; Meyer, M. de: Les Contes populaires de la Flandre (FFC 37). Hels. 1921, 89, num. 117; Poortinga, Y.: De ring fan it ljocht. Ljouwert 1976, 364; Ergis, num. 63. 5 Jahrbücher des Vereins für mecklenburg. Geschichte und Altertumskunde 5 (1840) 77, num. 2. - 6 BP 3, 284 sq.
Freiburg/Br.
Hannjost Lixfeld
Fluß 1. F.götter - 2. Personifikationen von Flüssen (F.en) — 3. Ursprung von F.en — 4. Kosmische F.e — 5. Beherrschung der Fluten - 5.1. Sperrung der F.e — 5.2. Änderung von Wasserstand, Strömung und Lauf 6. F.überquerungen 6.1. Hilfreiche Tiere - 6.2. Hilfreiche übernatürliche Wesen - 6.3. Fährleute — 6.4. Magische Teilung des Wassers - 6.5. Magisches Versickern 6.6. F.überquerung als Probe - 6.7. Durchschwimmen eines imaginären F.es - 7. F.e als magische Grenze für übernatürliche Wesen - 8. Magische Kräfte der F.e — 9. Ungewöhnliche F.e — 9.1. Beschaffenheit - 9.2. Von F.en vollbrachte bemerkenswerte Taten — 9.3. Unterwasserreiche — 10. Schätze in F.en - 11. F.geister — 12. F.opfer — 13. Ertränken in F.en — 14. Tabus 15. Gottesurteile, Prophezeiungen und Eide — 16. Kindesaussetzungen auf F.en — 17. Mittler-
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Fluß
rolle von F.en — 18. F.e in der Tiererzählung und im Schwank W a s s e r , f o n s et o r i g o allen L e b e n s , wird g e m e i n h i n als e i n e f o r m l o s e M a s s e a n g e sehen. F.e bändigen jedoch das E l e m e n t (—> W a s s e r ) u n d g e b e n i h m R i c h t u n g u n d k o n k r e t e G e s t a l t . Für d e n M e n s c h e n sind sie v o n e i n e m — teils b e w u ß t , teils u n b e w u ß t e m p f u n d e n e n — poetischen Symbolismus1, der u n i v e r s e l l e P r o b l e m e u n d B e l a n g e berührt 2 . F . e sind S y m b o l e d e r , D a u e r i m W e c h s e l ' , d i e ü b e r d i e V e r g ä n g l i c h k e i t d e s D a s e i n s hinw e g t r ö s t e n k ö n n e n . S o w o h l b e w u ß t als a u c h u n b e w u ß t w u r d e n d i e F . e mit i h r e n r e g e l m ä ß i g a n s c h w e l l e n d e n F l u t e n , d i e sie auf das L a n d e r g i e ß e n , der l e b e n s e r s c h a f f e n d e n Kraft des menschlichen Phallus gleichgesetzt.
1. F . g ö t t e r . W i e z . B . H i m m e l , S o n n e u n d M e e r w u r d e n F . e h ä u f i g als a n t h r o p o m o r p h e Götter aufgefaßt, die aber auch proteischer N a t u r w a r e n u n d sich e t w a in Stiere, P f e r d e und Drachen verwandeln konnten. Beispiele für m ä c h t i g e G o t t h e i t e n f i n d e n sich w e l t w e i t . Inder sahen in d e m F. Sarasvati (Mot. A 420.1) eine Göttin, die ,Mutter aller Ströme' genannt wurde (Mot. A 425.1) 3 . F.göttinnen n a h m e n vor allem in kelt. Ländern, bes. Irland, eine b e d e u t e n d e Stellung ein 4 . In Indien hielt man F.e auch für Gemahlinnen wichtiger Götter (Mot. A 425.1.1). Die Khasi in Assam erzählen, daß eine Göttin bei einem Wutanfall sich selbst in fünf Teile zerrissen habe, aus denen die fünf A r m e eines F.es entstanden seien (Mot. A 934.11.3). Kultische V e r e h r u n g von F.göttinnen ist aus verschiedenen Teilen Indiens b e k a n n t . In Ägypten deutete man den Nil als den a n t h r o p o m o r p h e n und proteischen Gott Hapij (wie der N a m e des F.es ursprünglich lautete), bei dem sich manche Überschneidungen mit Osiris feststellen lassen 5 . Einem frühen Pyramidentext zufolge ertrank Osiris im Nil - ein deutlich mit der Neubelebung der Vegetation durch die jährliche Nilflut in Z u s a m m e n h a n g stehender Mythos 6 . F.götter gab es auch im alten Griechenland, laut —> H o m e r a n t h r o p o m o r p h e Gestalten mit eigenen Tempeln und Priestern (Ilias 5, 78; 23, 149) 7 ; ein solcher Altar befand sich in Spercheios. Z u den volkstümlichsten griech. F.göttern gehörten Alpheios und der durch seinen Kampf mit —» Herakles b e k a n n t e Acheloos 8 . Nach Berichten H o m e r s wurden dem F. Skamandros Tieropfer dargebracht, u . a . Pferde, die lebend in seine Fluten geworfen wurden 9 . In China galten alle größeren F.e als G ö t t e r ; ihnen wurden Jungfrauen ,anvermählt', ind e m man die Bräute in ihren Wassern ertränkte 1 0 .
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2. P e r s o n i f i k a t i o n e n v o n F . e n . N e b e n D e i f i k a t i o n e n f i n d e n sich in E r z ä h l u n g e n a u s v i e l e n T e i l e n d e r E r d e a u c h —> A n t h r o p o m o r p h i s i e r u n g e n o d e r —> P e r s o n i f i z i e r u n g e n v o n F . e n , u n d z w a r b e r e i t s in d e n f r ü h e s t e n literar. Z e u g n i s s e n . In einem hurrit.-hethit. E p o s ist der N a m e des H e l d e n , G u r p a r a n z a h , von A r a n z a h , der hurrit. Bezeichnung des Tigris, abgeleitet 1 1 . Von dem ind. Gott Visnu heißt es, er h a b e eine schöne J u n g f r a u als F. wiedergeboren werden lassen, um als Stein in ihrem Bett liegen zu können (Mot. A 934.11.1). Die ind. Khasi erzählen von der Fähigkeit eines Helden, sich nach Wunsch in einen F. zu verwandeln (Mot. A 934.11.2). F.e sollen die G a b e haben zu sprechen (ind., Mot. D 1610.35), Frauen in sich verliebt zu machen (griech., Mot. Τ 461.1) oder den Liedern der Dichter zu antworten (ir., Mot. F 996). Nach Überlieferung der südamerik. Selknam-Indianer sind die Urväter ihres Stammes F.e, die ihr Bett verlassen und wie M e n schen auf der E r d e wandeln können 1 2 . Nachklänge einer echten Personifikation finden sich ζ. B. in Prägungen wie ,Vater R h e i n ' etc.
3. U r s p r u n g v o n F . e n . D e n M e n s c h e n f r ü h e r e r Z e i t e n war e s o f t nicht m ö g l i c h , F . e bis z u ihren Q u e l l e n z u r ü c k z u v e r f o l g e n ; d i e P h a n t a s i e half d a h e r mit p o e t i s c h e n u n d m y t h i s c h e n E r k l ä r u n g e n für d i e H e r k u n f t aus. Im hethit. Mythos vom Königreich im H i m m e l wird erzählt, wie Kumarbi A n u s Männlichkeit verschlang und mit dem Sturmgott, drei ungenannten G ö t t e r n sowie dem F. A r a n z a h (Tigris) schwanger wurde 1 3 . Nach einem babylon. (akkad.) Mythos wurden E u p h r a t und Tigris einfach nach dem Willen des Gottes Marduk geschaffen 1 4 . Die alten Ägypter glaubten, der Nil entspringe dem großen unterirdischen Urwasser Nun 1 5 . Ein sumer. Mythos berichtet, d a ß der Wassergott Enki den Tigris erschaffen habe und sich Tigris in Gestalt einer wilden Kuh und Enki in Gestalt eines wilden Stiers miteinander gepaart hätten (Mot. A 930.1) 1 6 . Recht häufig werden F.e auf eine Urgöttin oder U r riesin zurückgeführt (ir., isl.: T h o r m u ß einen F. aus dem Menstruationsblut einer Göttin durchqueren; Sudan., mittelind. Mythen, m o d e r n e frz. Volkserzählung cf. Mot. A 933). Die Entstehung eines F.es aus dem Speichel des Fenriswolfs ist in Island (Mot. A 933.1), aus T r ä n e n von Urwesen und Göttinnen ζ. B. in Irland 1 7 und bei den afrik. U p o t o 1 8 belegt. Die Indianer der Nordwestküste erzählen, die Seen und F.e stammten von dem Wasser, das der R a b e Yelth gestohlen und beim Wegfliegen habe fallen lassen 1 9 . Die Y a m a n a in Feuerland berichten, F.e hätten sich gebildet, als der Kolibri mit seiner Schleuder Steine warf (Mot. A 934.2) 2 0 . Von einem F., der aus
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dem Leichnam der Mutter des Kulturheros entspringt, sprechen die südamerik. Amuesha (Mot. A 511.1.1.1). Die sibir. Kirhus führen F.e auf das Graben und Wühlen eines Urochsen zurück (Mot. A 934.1). Einer ind. Ätiologie zufolge wurde den F.en ihr Weg von einem Stock vorgezeichnet, den eine Gottheit hinter sich hergeschleift hatte (Mot. A 934.4). In Irland sagt man von F.en, sie seien dem Gebet eines Hl.n bei langer Dürre zu verdanken (Mot. A 934.5), oder auch, sie seien urplötzlich aus Berghängen hervorgeschossen (Mot. A 934.9). Nach Hesiod (Theogonie 133, 3 3 7 - 3 7 0 ) zeugte Okeanos mit seiner Schwester Thetys die 6000 F.e der Welt, von denen die ältesten Acheloos und Styx sind (Mot. A 938). Bei verschiedenen Völkern wird von der Verwandlung eines Frauenhaars in einen F. erzählt (Mot. D 457.4.1). 4. K o s m i s c h e F.e. D i e Vorstellung, d a ß D i e s s e i t s und —> Jenseits durch einen F. g e trennt w e r d e n und kaum einer, der ihn überschreitet, jemals zurückkehrt, bildet e i n e s der wirklich universell verbreiteten T h e m e n in M y t h o s und Sage. D a s Motiv e i n e s F.es, d e n alle V e r s t o r b e n e n überqueren müssen, ist ζ. B . s o w o h l im Pandschab als auch in Island bekannt (Mot. F 1 4 1 . 1 ) . In vielen M y t h e n wird h e r v o r g e h o b e n , daß diese Passage höchst gefährlich ist (Mot. F 1 4 1 . 1 . 1 ) . Bei den Eskimos heißt es auch, die Jenseitsgrenze werde von einem Wasserfall gebildet (Mot. F 141.4). Der Grenz-F. muß mit Hilfe eines Bootes, einer Brücke oder eines ähnlichen Hilfsmittels überwunden werden. Von einem Boot ist u.a. in isl. Erzählungen die Rede (Mot. Ε 481.2.2); in Irland wird das Seelenboot oft als gläsern oder kristallen beschrieben (Mot. F 157.1) 21 . Ir. Mythen berichten von einem feurigen F. als Schranke vor dem Jenseits (Mot. F 142) 22 . Einer Reihe von Mythologien zufolge spannt sich eine —> Brücke über den F., der das Jenseits begrenzt. Dies ist das Kernmotiv des sowohl in der Alten aus auch in der Neuen Welt belegten Erzähltyps AaTh 471: —» Brücke zur anderen Welt. Im ir. Mythos heißt diese Brücke Seelenbrücke (Mot. A 661.0.5.1). Nach isl. Erzählungen wird sie von einem Drachen gehütet (Mot. Β 11.6.6), nach ir. Mythos von verschiedenen Tieren (Mot. F 152.0.1). Der bekannteste Wächter einer Unterweltsbrücke ist der schreckliche Hund —> Cerberus aus der griech. Mythologie (Mot. A 673). N e b e n den G r e n z - F . e n zwischen D i e s s e i t s u n d Jenseits k e n n e n viele K o s m o l o g i e n auch —> U n t e r w e l t - F . e . Homer z.B. erwähnt fünf große F.e, die das Reich des Hades durchschneiden: Styx (F. des Hasses), Acheron (F. des Stöhnens), Kokytos (F. 44
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der Wehklage) sowie die beiden feurigen F.e Phlegethon und Pyriphlegethon; spätere Qu.n fügen noch den F. des Vergessens, .Lethe, hinzu 23 . Von Unterwelt-F.en berichten auch ind. Erzählungen. In einer engl. Ballade ist von einem blutigen Höllen-F. die Rede (Mot. A 671.2.2), in ir. Überlieferungen von Höllen-F.en, die Gift (Mot. A 671. 2.2.1) oder schwarzes Wasser führen (Mot. A 671.2.2.4). Die Eskimos glauben, es gebe einen Unterwelt-F., der aus den Tränen der Lebenden entstehe (Mot. F 162.2.12); nach Anschauung der südamerik. Toba hingegen wird ein Jenseits-F. vom Blut der Gebrechlichen und Verwundeten auf Erden gespeist (Mot. F 162.2.13). In europ. Sagen, Legenden und Exempeln ist die Vorstellung von Höllen-F.en aus —>Feuer sehr geläufig (Mot. A 671.2.2.3) 2 4 . Aus ir. Tradition ist ein feuriger F. als Schutz der Himmelstore bekannt (Mot. A 661.0.1.1.1, A 661.0.1.4). F.e, die die W e l t u m g e b e n (Mot. A 8 7 2 ) , erscheinen ebenfalls in d e n K o s m o l o g i e n zahlreicher Völker. U n t e r d e m griech. O k e anos verstand m a n ursprünglich nicht das M e e r , sondern e i n e n F., der rings u m die E r d e fließt 2 5 . D i e s e s M o t i v findet sich auch in e i n e m ind. C h e n c h u - M y t h o s . In Island glaubte man, daß sich u m die E r d e die g e w a l tige Midgardschlange w i n d e 2 6 ; das Bild der —• Schlange, die in d e n die W e l t u m s ä u m e n den G e w ä s s e r n lebt, ist weit verbreitet ( M o t . A 876). E b e n f a l l s häufig sind B e s c h r e i b u n g e n verschiedener H i m m e l s - o d e r —» Paradies-F.e (Mot. F 1 6 2 . 2 . 1 ) . A u s Irland stammt die Ü b e r l i e f e r u n g v o n e i n e m H i m m e l s - F . , der die Schlechten verbrennt, den G e r e c h t e n aber Trost und Freude spendet ( M o t . Ε 7 5 5 . 1 . 2 ) . Ein jüd. E x e m p e l erzählt v o n 13 himmlischen B a l s a m - F . e n (Mot. F 1 6 2 . 2 . 7 ) , die ir. Tradition v o n Ö l - , Milch-, W e i n - und H o n i g - F . e n (Mot. F 1 6 2 . 2 . 6 ; cf. Kap. 9 . I . ) 2 7 .
5. B e h e r r s c h u n g d e r F l u t e n . F . e b e wässern das Land, s c h w e m m e n Schmutz und A b f ä l l e mit sich fort, liefern Wasser z u m Trinken, zur Reinigung, z u m A n t r i e b v o n Maschinen, und w o h l kaum ein G e w e r b e k ö n n t e o h n e Wasser a u s k o m m e n . Störungen in d e n natürlichen B e d i n g u n g e n der F.läufe b e d e u t e n N o t und E l e n d für die v o n der Wasserversorgung abhängigen Menschen. E s ist ein Z u g der menschlichen Natur, die am m e i s t e n gefürchteten Katastrophen in V o l k s erzählungen zu thematisieren.
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5.1. S p e r r u n g der F.e. Nach einem sumer. Mythos soll das große unterirdische Urmeer Kur einmal den Tigris zum Stillstand gebracht haben. Als die jährliche Überschwemmung nicht eintraf und eine Hungersnot ausbrach, schaffte der Gott Ninurta, Enlils Sohn, dadurch Abhilfe, daß er vor Sumer einen Wall aus gewaltigen Steinen errichtete, deren Gewicht das Urmeer in die Tiefen der Erde hinabdrückte 28 . Das Rgveda (3, 48, 7) besingt die Befreiung der fünf großen F.e (Punjabi) durch Indra: Dieser tötete das Ungeheuer Vrtra, in dessen Gewalt sich die Wasser der F.e befunden hatten. Daß —» Schlangen und —> Drachen Wasserläufe aufhalten, ist ein fast überall auf der Welt verbreitetes Motiv, das in Indien auch in neuerer Zeit immer wieder auftaucht; so ζ. B. blockiert ein Schlangenkönig Bergquellen (cf. Mot. A 1019.2). Die Yamana in Feuerland erzählen, ein riesiger Fuchs habe die Wasserversorgung durch Bau einer Mauer um die Frischwasserlagune gesperrt, der Kolibri aber das Hindernis durchbohrt 29 . In einem Märchen aus Sri Lanka hält ein Riese den F. mit seinem Fuß zurück (Mot. F 531.3.1.2.1). 5.2. Ä n d e r u n g von Wasserstand, S t r ö m u n g und Lauf. In einer Leptscha-Erzählung trinkt ein Dämon, der dem Helden als Führer dient, unterwegs alle F.e leer (Thompson/Balys F 531.3.1.2.2.7). Nach einer Ätiologie der mittelind. Chenchu durchzogen in der Urzeit die F.e nicht das ganze Land, sondern flössen kreisförmig, und erst der Pfau habe ihnen ihren heutigen Lauf gewiesen (Mot. A 934.12). Pausanias (10, 32, 18) ζ. Β. schreibt, die periodischen Nilüberschwemmungen würden durch das Weinen der Isis über den Tod des Osiris verursacht. In einer Erzählung über die göttlichen Zwillinge, Schöpfergottheiten der nordamerik. Huronen, heißt es, daß der gute Zwilling den F.en zwei Betten mit entgegengesetzter Strömung gegeben habe, der böse Zwilling aber den Indianern das Reisen erschweren wollte, daher eines der Betten zerstörte und zusätzlich Stromschnellen, Strudel und Wasserfälle schuf 30 . Diese Thematik findet sich auch in einer ung. Erzählung 31 . Aus Herefordshire stammt folgende Überlieferung: Als ein Trommeljunge in einer belagerten Festung
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bemerkt, daß seine Trommel vibriert, überzeugt er mit Hilfe einer Erbse, die auf dem Trommelfell auf- und niederhüpft, die Belagerten davon, daß der Feind unter der Festung Gänge gräbt. Sie schicken einen Mann hinaus, der das Wasser eines nahen F.es in die Gänge leitet, und die Belagerer müssen darin ertrinken (Mot. Κ 2369.5; cf. —» Kriegslisten). Die Eroberung einer Stadt durch eine Armee, die sich von den Mauern nicht behindern läßt und im trockenen Bett eines zuvor abgeleiteten F.es einmarschiert, ist in einer isl. Saga, einem span. Exempel und bei Cassiodor beschrieben (Mot. Κ 2369.6; cf. Tubach, num. 4109). Manchen Auslegungen von 2. Sam. 5,8 zufolge konnte Davids Heer durch trockengelegte Wassergräben nach Jerusalem eindringen und so die Stadt einnehmen 32 . Nach Papst Gregor (Dialogi 3,10) verlegt ein Bischof mit Hilfe eines Rechens das Bett eines schädlichen Wasserstromes 33 . 6. F . ü b e r q u e r u n g e n . Den handelnden Personen von Mythen, Märchen, Sagen und Legenden steht häufig ein F. im Wege, den sie z.B. auf der —> Flucht vor einem Riesen oder in einer anderen Notlage zu überwinden gezwungen sind. Die erzählerische Phantasie hat für diese Situation die verschiedensten Auswege ersonnen. 6.1. H i l f r e i c h e T i e r e (cf. —» Dankbare [hilfreiche] Tiere). In einem buddhist. Mythos aus Indien setzt der Schlangenkönig ein fliehendes Paar über einen breiten F. (Mot. R 245.2; cf. auch Mot. Μ 205.1.1 und S 222.2.2). Christus bittet zwei weidende Tiere, ihn über einen F. zu tragen. Das Pferd lehnt mit der Begründung ab, es sei noch nicht satt, und wird von Christus zu rastlosem, nimmersatten Grasen verdammt, während das bereitwillige Rind nach Stillung seines Hungers fortan gemächlich wiederkäuend ruhen darf (slav., bait.) 34 . Ein sprechender —»Fisch (Mot. Β 211.5), der sich dem Fischer gegenüber dankbar zeigt, weil dieser ihn wieder in den F. zurückgeworfen hat (Mot. Β 375.1), erscheint in der Einleitungsepisode von AaTh 303: Die zwei —> Brüder und ist bestimmend für den Handlungsverlauf in AaTh 555: —> Fischer und seine Frau (cf. auch Mot. Β 375.1.2 und Β 527.1). Tiere
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tragen Menschen über breite F.e, so ein Lachs (walis., Mot. Β 175.1), eine Wasserschlange (ind., Mot. Β 551.4), eine Schildkröte (buddhist., Mot. Β 551.5) und ein Krokodil (ind., Mot. Β 551.3). Verbreitet ist das Motiv, daß hilfreiche Tiere eine Brücke bilden, auf der der Held den F. überqueren kann (Mot. Β 555, Β 551.1). 6.2. H i l f r e i c h e ü b e r n a t ü r l i c h e Wesen. Häufig sind es Riesen, die Menschen über sonst unpassierbare F.e bringen (cf. AaTh 768: —» Christophorus), so in einer Erzählung aus Sri Lanka (Mot. F 531.3.13.2). Nach dt. Sagen tragen zwei Riesen eine Kirche über den F. (Mot. F 531.3.6). Dagegen heißt es in der Snorra Edda, der Gott Thor habe einen Riesen in einem Korb über einen eisigen Strom befördert (Mot. F 531.3.1.3).
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6.5. Magisches V e r s i c k e r n . Eine andere Überquerungsmöglichkeit besteht darin, den F. auszutrocknen. Das geschieht durch Zauberpulver wie in einer Geschichte der afrik. Ekoi (Mot. D 1542.3.1) oder durch Schwenken eines Asts (mittelind., Mot. D 1542.3.3). Die südamerik. Yamana berichten, als die Zwillingshelden auf der Flucht vor einem Riesen an einen unüberwindbaren F. gekommen seien, habe ihr am anderen Ufer stehender Vater die gefährliche Lage erkannt und den F. versickern lassen (Mot. D 2151.2.3) 37 . Bei den südamerik. Selknam werden die Zwillinge von ihrem Onkel gerettet: Er verengt den F., so daß sie hinüberspringen können; der Riese vermag ihnen jedoch nicht zu folgen, da der F. inzwischen wieder so breit wie zuvor geworden ist (cf. Mot. D 1524.5) 38 .
6.6. F . ü b e r q u e r u n g als P r o b e . Die —»Freierprobe einer ind. Erzählung besteht darin, daß die Bewerber zu Pferd einen weiten F. überspringen müssen (Mot. Η 331.1.6). Eine —»Keuschheits-Probe schil6.3. F ä h r l e u t e . Bes. aus AaTh 461: Drei dert das Lied Als wir jüngst in Regensburg —» Haare vom Bart des Teufels bekannt ist das waren39. In fast allen europ. Ländern bekannt Motiv des ewigen —»Fährmanns, der nur ist der Typ AaTh 1579: -» Wolf\ Ziege und dann erlöst wird, wenn er das Ruder einem Kohlkopf40. anderen überlassen kann (Mot. Η 1292.8, Q 521.5); er wird schließlich vom Schwieger6.7. D u r c h s c h w i m m e n eines imagivater des Helden, dem bösen und geldgierigen n ä r e n F.es. Manchmal werden Verfolgte — König, abgelöst, der so sein Schicksal auf alle Menschen, Tiere, selbst ein ganzes Heer — Zeit besiegelt (Mot. Ρ 413.1.1) 35 . Im griech., von einer optischen Täuschung oder ihrer aber auch im ir., ägypt. und babylon. Mythos eigenen Einbildung genarrt und versuchen, erscheint der Fährmann, der die Seelen der den F., den sie vor sich zu sehen glauben, Toten in die Unterwelt übersetzt (Mot. schwimmend zu durchqueren (cf. Mot. D A 672.1, F 93.0.1.1). 2031.1.2; AaTh 1290: Schwimmen im Flachsfeld). 6.4. Magische T e i l u n g des Wassers (Mot. D 1551). In Volkserzählungen verschafft sich oft ein mit magischen Kräften ausgestatteter Mensch oder ein übernatürliches Wesen den Übergang mit Hilfe einer Zauberrute, die das Wasser teilt (Mot. D 1551.2) 36 , so auch in einem span. Exemplum und in Aufzeichnungen von den rhodes. IIa und den Hindustani des Gangestals; in einer Var. aus dem Pandschab ist der Zaubergegenstand ein magischer Ziegel (Mot. D 1551.8). Nach ir. Legenden können Hll. trockenen Fußes durch F.e oder Seen schreiten, da die Fluten von selbst vor ihnen zurückweichen (Mot. D 1841.4.3.1; cf. auch AaTh 827: —• Heiligkeit geht über Wasser). 44*
7. F.e als m a g i s c h e G r e n z e f ü r übern a t ü r l i c h e Wesen. Ubiquitär findet sich die Anschauung, daß man übernatürlichen Wesen wie dem Teufel, Hexen, dem Alp und dergleichen über eine Brücke entkommen könne, da sie nicht in der Lage seien, F.e zu überqueren. Beispiele dafür bieten etwa die franko-kanad. (Riese: Mot. G 131), dän. und engl. (Hexen: Mot. G 273.4) sowie die ind. Überlieferung (Riesen) 41 ; in Europa 42 und in den USA 4 3 glaubt man solches auch von Geistern. Verwandte Vorstellungen sind in ir. Sagen anzutreffen, in denen ein Hl. an einem F. einer Seuche Einhalt gebietet (Mot. D 2162.2).
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8. M a g i s c h e Kräfte der F.e. Wie dem Wasser allg. mißt man den F.en die Fähigkeit bei, verjüngen (Mot. D 1338.1.1), stärken (Mot. D 1335.2.2), heilen (Mot. D 1500.1.18) und verschönern (Mot. D 1337.1.2) zu können. Daneben werden aber bestimmten Strömen und F.en, nicht dem Wasser selbst, spezielle magische Eigenschaften zugeschrieben. Wohl am berühmtesten ist die Sage von Thetis, die ihren Sohn Achilleus in die Styx tauchte, um ihn unsterblich zu machen. Beschreibungen zauberkräftiger F.e finden sich in dt. Lokalsagen 4 4 . Häufig erscheint in Erzählungen der Nordwestküstenindianer, wie der Tsimshian, Tlingit und Haida, der Glaube an eine magische Stärkung durch Baden in bestimmten F.en (Mot. D 1832). Aus verschiedenen Teilen der Welt ist überliefert, daß F.e Menschen oder Tiere in andere Wesen verwandeln oder ihnen eine andere Gestalt verleihen könnten (Mot. D 562). Magische Heilkraft soll der Jordan haben (Mot. D 1500.1.18.6). Eine Reihe von Erzählungen über F.e mit magischen Kräften stammt aus Irland: Ein Weisheits-F. quillt aus einem Zauberborn (Mot. D 1300.3.1).
9. U n g e w ö h n l i c h e F.e 9.1. B e s c h a f f e n h e i t . In den Erzählungen vieler Völker erscheinen Vorstellungen von F.en, die nicht Wasser führen, sondern Blut (südamerik. Indianer, ind. Baiga 45 , Mot. F 715.2.1). So finden sich auch Schlaraffenlandvorstellungen (AaTh 1930) in Verbindung mit F.en. Es fließen z.B. Milch (Mot. F 715.2.3) oder Honig (westafrik. Hausa, Mot. F 715.2.4). Ind., arab. und span. Qu.n schildern Paläste, die von F.en aus Wein, Rosenwasser und Honig umgeben sind (Mot. F 771.7, F 771.2.4.1). 9.2. V o n F.en v o l l b r a c h t e b e m e r k e n s w e r t e Taten. Von F.en werden manchmal erstaunliche Taten berichtet, ganz als würden sie aus eigenem Willen handeln. So bringt nach ir. Überlieferung ein F. den von einem Hl.n dringend benötigten Gegenstand herbei (Mot. F 932.5.1; —» Schwemmwunder). In einem Marienmirakel schwemmt ein F. die Leiche eines frommen Mannes nicht mit sich fort, sondern wölbt sich über ihr wie zu einer Gruft (Mot. F 932.2), ein ir. Mythos schildert, wie ein F. zu kochen beginnt, als man die Asche eines menschlichen Herzens hineinwirft (Mot. F 932.7.1). Ebenfalls aus Irland stammt die Anschauung, die großen F.e der Welt wie Euphrat, Tigris, Tiber und der ir.
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Boyne seien unterirdisch verbunden und also im Grunde alle ein und derselbe Strom (Mot. F 715.3). F.e verfolgen böse Menschen (Mot. D 1432), steigen vor einem schlimmen Feind (Mot. D 2091.7.1), einer feindlichen Armee (Mot. F 932.8.2) oder fliehenden Dieben (Mot. F 932.8.3), entstehen plötzlich aus dem Nichts zwischen zwei Heeren und verhindern so eine Schlacht (Mot. F 932.8.2.1). Auch z.B. in Afrika, Nordeuropa und Griechenland (Mot. F 923.1) wird von F.en berichtet, die Übeltäter verfolgen. Ein ind. F. soll seine Fluten erhoben haben, um einen Bösewicht darin zu ertränken (Mot. F 932.8.5), ein korn. F. mit einem sündigen Priester in Flammen aufgegangen sein (Mot. G 303.17.2.4). Der F. unter -> Halbhähnchens (AaTh 715) Flügel löscht das Feuer, durch das es getötet werden soll (Mot. D 1382.8).
9.3. U n t e r w a s s e r r e i c h e . Daß sich unter der Erdoberfläche noch andere Lebensbereiche befinden, ist eine nahezu universale Vorstellung. Man hält oft Schluchten, Klammen, Klippenspalten oder Höhlen, aber auch Teiche, Seen und bes. F.e für Eingänge zu solchen unterirdischen Bezirken, bei denen es sich meist um Reiche von —» Wassergeistern handelt, die aber nicht immer mit der Geisterwelt in Zusammenhang stehen müssen. Z . B . heißt es im ir. Mythos von einem F., daß unter ihm ein Sterblicher wohne (Mot. F 725.4). Versunkene —> Glocken, ein gewöhnlich mit Seen verbundenes Motiv, hört man nach lit. (Balys, num. 3610) und engl. Tradition (Baughman F 993) auch aus der Tiefe der F.e klingen (Mot. F 993; —> Versinken). Die nordind. Leptscha erzählen von einer Braut, die in ihrem Unterwasserreich spinnt (Mot. Κ 1911.2.2.2).
10. Schätze in F.en. Unter F.en sollen auch große Schätze verborgen sein, versenkt (Mot. Ν 513.4) wie im —> Nibelungenlied (V. 1 1 3 0 - 1 1 4 0 ) oder in Kammern unter dem F.bett vergraben. Jordanes' De origine actibusque Getarum (Kap. 30) beschreibt, daß die Westgoten den ital. F. Barent aus seinem Bett leiteten, um ihren König Alarich dort zusammen mit vielen Kostbarkeiten beizusetzen, und danach das Wasser wieder ins F.bett zurückführten, so daß der Schatz unauffindbar blieb 46 . Ähnliches erzählt man vom Grab des Hunnenkönigs —»Attila47. 11. F.geister. Wie Seen, Teiche, Brunnen und andere Gewässer werden bestimmte F.e als Wohnort von Wasserfeen und Wassergeistern aller Art angesehen.
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Oft ertränken F.geister Schwimmende 48 : Der Wassergeist Schlitzöhrchen in der Streu bei Mellrichstadt in Franken z.B. zog die Leute von der Brücke 49 . Es gibt eine ganze Reihe von Brücken, deren Überquerung aus solchen Gründen gefürchtet wird; bes. Hochzeitsgesellschaften meiden diese Orte, aus Angst davor, der Wassergeist könne die junge Braut entführen (Mot. G 424) 50 . Von ind. F.dämonen heißt es, sie zerrten jeden, dessen Schatten auf die Wasseroberfläche falle, zu sich herunter (Mot. G 336.1). In England meint man, Wechselbälger könnten gebannt werden, indem man sie in den F. werfe (Mot. F 321.1.4.1). Nach einer dt. Sage wird ein —> Wechselbalg beim Passieren einer Brücke in den F. geworfen 51 . Wie Reisende lassen sich Fairies und Zwerge häufig über F.e setzen (Mot. F 213.2, F 451.9.5)", ebenso die Geister Toter: Eines der bekanntesten Beispiele ist das erstmals bei Philipp Melanchthon belegte schreckliche Erlebnis eines Speyrer Fischers, der die Geister von sechs Mönchen über den Rhein schiffte 53 .
12. F.opfer. Den als hl. betrachteten oder als Gottheiten verehrten F.en sollen nach der Überlieferung nicht nur Tiere, sondern auch Menschen als Opfer 5 4 dargebracht worden sein: Zur Zeit der Tang-Dynastie vollzogen chin. Priester periodisch rituelle Hochzeiten, bei denen die Braut des Gelben F.es in dessen Wasser ertränkt wurde (Mot. Β 11.2.1) 55 . Von einem ähnlichen, beim jährlichen Anstieg der Nilfluten stattfindenden Brauch, den die Araber bei der Eroberung Ägyptens kennenlernten, schreibt der arab. Historiker Makrlsl (1364—1442); später ersetzte man die Jungfrau durch eine Puppe 5 6 . Eine neuere ägypt. Erzählung berichtet von einer großen Schlange, der alljährlich ein Mädchen geopfert werden müsse, damit sie nicht den F. des Nils aufhalte 57 .
Manche F.e rauben sich ihre Opfer, wenn sie ihnen nicht freiwillig gegeben werden. In China glaubte man, die in den F.en wohnenden Seelen Ertrunkener könnten erst dann wiedergeboren werden, wenn jemand ihren Platz im F. einnähme, und versuchten deshalb, am Ufer Spazierende zu sich in die Tiefe zu reißen 58 . Dt. Sagen berichten, daß manche F.e alljährlich ein Menschenopfer haben müßten 5 9 . Schon in den Otia imperialia des —> Gervasius von Tilbury belegt ist das sehr verbreitete Sagenmotiv, nach dem F.e laut rufend ihre Opfer fordern, mit Worten wie: „Die Stunde ist da, aber der Mann nicht" (Mot. D 1311.11.1) 6°. Die Unerbittlichkeit der Kraft, die das Opfer in den F. lockt, bezeugt eine dt. Sage: Ein Ritter trinkt Wasser aus einem goldenen Becher und fällt daraufhin tot in den F. 61 . Nach ostdt., offenbar ursprünglich slav. Volksglauben werden die Seelen
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der Ertrunkenen in umgekehrten Töpfen im Unterwasserreich festgehalten 62 . Seelen von Entführten und Ertrunkenen werden zu Fischen 63 , Ertrunkene müssen durch unablässiges Hochpumpen unterirdischer Gewässer den Wasserkreislauf in Gang halten 64 .
13. E r t r ä n k e n in F.en wird als Hinrichtungsart häufig bei Vergehen sexueller Art, z.B. Ehebruch, bes. in Irland (Mot. Q 428.1) genannt, aber auch bei einer Reihe weiterer ide. Völker 6 5 ; daneben ist die Strafe des —> Ertränkens noch in anderen Ethnien belegt (Mot. Q 467). Hinzu kommen Uberlieferungen, in deren Mittelpunkt nicht menschliche, sondern göttliche Vergeltung von Übeltaten steht: In Irland soll ein Mann, der sich einem Hl.η heftig widersetzte, von einem F. verschlungen worden sein (Mot. Q 552.19.1); ähnliches berichtet ein buddhist. Mythos; wegen des bloßen Mordgedankens wird ein Mann in einer anderen ir. Erzählung ertränkt (Mot. Q 552.19.2). 14. T a b u s . Ertrinken als Folge von Tabuverletzung ist bei Iren und Juden (Mot. C 923), Griechen, Hawaiianern und Samoanern sowie bei Grönland-Eskimos bekannt. Darüber hinaus existieren vielfältige, in unterschiedlichen Gebieten und zu verschiedenen Zeiten aufgezeichnete Belege für Tabuvorstellungen, die speziell einzelne F.e betreffen. Z.B. durfte in Irland zu gewissen Zeiten aus bestimmten F.en nicht getrunken werden 66 ; in einer Geschichte der afrik. Ekoi ist von einem Badeverbot in klaren F.en die Rede (Mot. C 721.2.1). 15. G o t t e s u r t e i l e , Prophezeiungen und E i d e . Da man F.e oft für hl. oder göttlich hielt, ist es nicht sehr verwunderlich, daß in Volkserzählungen Praktiken aufscheinen, bei denen sie zur Ergründung des Unbekannten benutzt werden, bes. in Zusammenhang mit Gerichtsverfahren, Proben, Zukunftsprophezeiungen und Eidschwören (cf. —• Divination, —> Eid, Meineid, —> Gottesurteil, Prophezeiungen, —> Orakel, —> Wahrheitsprobe). Äußerst verbreitet während der Zeit der Hexenverfolgungen waren Berichte über Wasserproben (Mot. Η 222) — man dachte, die mit festgebundenen Gliedern in den F. geworfene Frau sei dadurch als Hexe zu erkennen,
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daß der Teufel ihr zu Hilfe kommen würde. Wasserproben begegnen auch in ind. Erzählungen. Die Kelten sollen Kinder zur Feststellung ihrer Ehelichkeit in den Rhein getaucht haben (Mot. Η 221.1). F.ordale als Freierproben kommen in einer Geschichte aus Belutschistan 67 und in einer ital. Novelle 68 vor. In ir. Qu.n belegt ist die Anschauung, ein trockenes F.bett kündige Unglück (Mot. D 1812.5.1.16) oder den Tod einer bedeutenden Persönlichkeit an (Mot. D 1812.5.1.16.1). Ihren hl. Eid, den Griechen in der Schlacht zu helfen, leistete Hera über der Styx (Ilias 14, 153sq.; Mot. Μ 119.1). Der vielleicht einst verbreitete Brauch, bei F.en zu schwören, muß aber relativ früh verschwunden sein, da sich in Volkserzählungen offenbar keine weiteren Beispiele finden. Es gibt jedoch eine Überlieferung, nach der bei dem Schwur der Eidgenossen auf dem Rüth urplötzlich Quellen aus der Erde hervorgeschossen seien 69 . 16. K i n d e s a u s s e t z u n g e n auf F.en (—» Aussetzung). Ein internat. sehr beliebtes und im biogr. Schema des Heldenlebens immer wiederkehrendes Thema ist das —» Moses-Motiv: Ein Kind wird in einem Kasten auf dem F. zurückgelassen oder ausgesetzt, wie dies u. a. auch von Cyrus und —» Beowulf berichtet wird. Var.n sind auch in Märchen aus neuerer Zeit anzutreffen: In einer ägypt. Erzählung z.B. wird der Held von seiner bösen Mutter erschlagen, zerstückelt und in einer Kiste in den Nil geworfen; eine schöne Prinzessin, die der Held zuvor vor einem Krokodil gerettet hat, bringt die Kiste zu einem Scheich, der den Jüngling mit —> Lebenswasser erweckt (v. auch AaTh 58) 70 . Das bei vielen Völkern bekannte Motiv Mot. S 331: Exposure of child in boat (floating chest) — der ind. Katalog Thompson/Balys etwa verzeichnet davon 14 Belege — ist ein wichtiger Bestandteil des bes. in den bait, und slav. Ländern verbreiteten Typs AaTh 930: The Prophecy (cf. AaTh 930sqq.: —» Uriasbrief; —> Schicksalskind); verwandte Motive sind Mot. Μ 371: Exposure of infant to avoid fulfillment of prophecy, Mot. S. 141: Exposure in boat und Mot. L 111.2.1: Future hero found in boat. Nach buddhist. Mythos findet ein König auf dem F. einen Kasten
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mit zwei Kindern und einer Notiz, die sie als seine eigenen Sprößlinge identifiziert (Mot. Η 157; cf. —> Odilia). Eine in ma. Versromanen beliebte Variation des Themas 71 besteht darin, daß die vom Vater verstoßene Mutter zusammen mit dem Kind auf dem F. ausgesetzt wird (Mot. D 1717.1, S 431.1); ähnliches beschreibt eine ital. Novelle 72 . 17. M i t t l e r r o l l e von F.en. Auf F.en treibende Gegenstände enthalten oft — absichtlich oder zufällig — eine Botschaft für den Finder; häufig wird durch sie ein Abenteuer oder eine Suchwanderung (—• Suchen) ausgelöst. So entdeckt z.B. der Held das auf dem F. schwimmende goldene Haar einer Prinzessin und verliebt sich bei dessen Anblick in die Besitzerin (Mot. Η 1213.1; —»Fernliebe; cf. AaTh 531: —> Ferdinand der treue und Ferdinand der ungetreue). Auch der Verlust eines Gegenstandes im F. und der Versuch, ihn zurückzuerlangen, kann den Helden oder die Heldin zu großen Abenteuern führen, so bes. in Var.n von AaTh 480: Das gute und das schlechte —» Mädchen13. Manchmal werden F.e als Kommunikationsmittel benützt: In der Sage von —> Tristan und Isolde wird zum Zeichen der Warnung ein Blatt oder ein Span den F. hinabgeschickt (Mot. Η 135); nach ir. Überlieferung schüttet eine untreue Frau als Signal für ihren Liebhaber Milch in den F. (Mot. Η 135.2; —> Erkennungszeichen). 18. F.e in der T i e r e r z ä h l u n g und im Schwank. Auch in der Szenerie der Tiermärchen spielen F.e eine wichtige Rolle. Das ist der Fall in AaTh 67: Fox in Swollen River Claims to be Swimming to Distant Town74, wo der von der reißenden Strömung fortgetragene Fuchs behauptet, er müsse in eine weit entfernte Stadt schwimmen (cf. auch Mot. J 873.1; cf. AaTh 64*: The Jackal Domineers Over the Tigers). In einer Fabel aus dem äsopischen Korpus versuchen Hunde, einen F., in dem sie Futter vermuten, leerzutrinken (Mot. J 1791.3.2). Sowohl in Indien als auch bei nordamerik. Indianern bekannt ist die Geschichte von dem undankbaren F.passagier (z.B. Stachelschwein), der seinen Träger (ζ. B. Büffel) im Wasser tötet (AaTh 133*: Goat Carries Snake over Stream)75; die mittelind. Santal berichten, ein Trickster habe sich von einem Krokodil übersetzen lassen, diesem den Rachen weit auseinandergesperrt und es dann in diesem bedauernswerten Zustand allein gelassen (Mot. R 245.1).
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Ähnliche Situationen mit menschlichen Protagonisten werden in Schwänken beschrieben. In einem ind. Beleg beantwortet ein Diener, der seinen H e r r n über einen F. trägt, dessen Frage mit einer Handbewegung, die den H e r r n ins Wasser wirft (Mot. J 2133.5.1.1). Sowohl in literar. als auch mündl. Erzähltradition sehr verbreitet ist die Erzählung von der im F. e r t r u n k e n e n widerspenstigen —»Ehefrau ( A a T h 1365 A ) , deren Leiche der Witwer flußaufwärts sucht: Schließlich h a b e sie ihr Leben lang alles verkehrt gemacht. Von einem D u m m k o p f , der über einen F. will, aber sich die F ü ß e nicht n a ß m a c h e n möchte, handelt eine Episode aus ital. Überlieferung: E r schöpft mit einer Haselnußschale Wasser ab (Mot. J 1967; cf. A a T h 1273 A*: Numskull Bales Out the Stream). In K H M 61: Das Biirle ( A a T h 1535: -> Unibos) erzählt ein Schneider Bauern, er habe auf dem G r u n d e des F.es eine Schafherde gefunden. Als die Bauern ans Wasser laufen und darin die Spiegelung der Schäfchenwolken sehen, glauben sie, es handle sich um echte Schafe, springen hinein und ertrinken. In einer Version von A a T h 1231: —> Sieben Schwaben ertrinken die Fliehenden, weil sie den Ruf eines Frosches als eine A u f f o r d e r u n g zum Hindurchwaten nehmen (Mot. J 1832) 7 6 . I Danckert, W.: Symbol, M e t a p h e r , Allegorie im Lied der Völker 4. B o n n - B a d G o d e s b e r g 1978, 1513. - 2 H ü n n e r k o p f , R.: F., fließendes Wasser. In: H D A 2 , 1 6 8 1 - 1 6 9 4 . - 3 Carnoy, Α.: Divinisation des rivieres et la toponymie celtique. In: Antiquite celtique 2 0 (1951) 1 0 3 - 1 1 0 . - 4 ibid. 5 Kurth, D.: Nilgott. In: Lex. der Ägyptologie 4. Wiesbaden 1982, 4 8 5 - 4 8 9 ; Frank Kamenetski, J.: Ü b e r die Wasser- und B a u m n a t u r des Osiris. In: A R w . 24 (1927) 2 3 4 - 2 4 3 . - 6 Anthes, R.: Mythology in Ancient Egypt. In: K r a m e r , S.N. (ed.): Mythologies of the World. G a r d e n City, N.Y. 1961, 1 5 - 9 2 , hier 71. - 7 G a r d n e r , P.: G r e e k River Worship. In: Transactions of the Royal Soc. of Literature Second Series 11 (1878) 1 7 3 - 2 1 8 . 8 Nilsson, M . P . : Geschichte der griech. Religion 1. Mü. 1941, 220. - 9 ibid. - 10 E b e r h a r d , W.: Lex. chin. Symbole. Köln 1983, 90 sq. II Güterbock, H . G . : Hittite Mythology. In: K r a m e r (wie not. 6) 154. - 12 Wilbert, J.: Folk Literature of the Selknam Indians. L. A. 1975, num. 57. — 13 G ü t e r b o c k (wie not. 11) 156 sq. — 14 Kramer, S.N.: Mythology of Sumer and A k k a d . In: id. (wie not. 6) 121. - 15 Bonnet, H.: Nil. In: Reallex. der ägypt. Religionsgeschichte. Β. 1942, 5 2 5 - 5 2 8 . - 16 K r a m e r (wie not. 1 4 ) 9 9 . - 17 MacCulloch, J.: Celtic Mythology. Boston 1918, 135. 18
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Flut vorgetäuscht
1958, 129. - 74 Schwarzbaum, Fox Fables, 43 sq., 452 (ausführliche Diskussion des Motivs), 556, not. 4. - 75 Elwin, V.: Folktales of Mahakoshal. N.Y. 1944, 449; Thompson, S.: Tales of the North American Indians. Cambr. 1929, 302. - 76 BP 2, 556, not. 2. Los Angeles
Donald Ward
Flut vorgetäuscht ( A a T h 1361), ein E h e bruchschwank mit deftigen A k z e n t e n , der durch die E r z ä h l u n g des Müllers in —» C h a u cers Canterbury Tales literar. B e r ü h m t h e i t und im Schrifttum wie in der mündl. Überlief e r u n g weite Verbreitung erlangt hat. The Miller's Tale und die Vollform der Var.n weisen folgende E p i s o d e n auf: (1) Ein einfältiger Ehemann (Zimmermann, Kaufmann, Müller, Bauer) hört von einer bevorstehenden Sintflut und legt sich, um der Gefahr zu entgehen, in einen unter dem Dach festgebundenen Trog. Das Gerücht wurde jedoch von einem Liebhaber der Ehefrau, meist einem lüsternen Priester oder Studenten, bewußt ausgestreut, um ungestört Zugang zu seiner Liebsten zu haben (Mot. Κ 1522). Nach manchen Var.n begeben sich Ehemann, Frau und Liebhaber in Tröge unter dem Dach, doch verläßt das Liebespaar diese, sobald der Ehemann eingeschlafen ist. (2) Die Ehefrau hat noch einen oder zwei andere Verehrer. Während sie sich nun des Nachts mit dem Priester (Studenten) vergnügt, kommt der zweite Liebhaber (Schmied, Küster) und verlangt Einlaß oder zumindest einen Kuß. Die Frau selbst oder der erste Liebhaber halten ihren Hintern zum Fenster hinaus und veranlassen den zweiten, diesen zu küssen. (3) Der so Betrogene merkt die Beschämung, holt ein glühendes Eisen herbei, fordert einen zweiten Kuß und verbrennt den abermals dargereichten Hintern des ersten Liebhabers (Mot. Κ 1577). Bei dessen entsetztem Schrei nach Wasser meint der Ehemann im Trog, die F. sei gekommen, durchschneidet die Seile und fällt zu Boden, verletzt sich oder bricht sich gar das Genick. Als Chaucers Vorlage wird ein verlorengegangenes frz. Fabliau vermutet, auf d e m möglicherweise ein hs. erhaltenes, in Einzelzügen allerdings von The Miller's Tale abweichendes fläm. Gedicht aus der Zeit u m 1400 basiert 1 . E s ist aber auch d e n k b a r , d a ß der Dichter den Stoff aus zeitgenössischer mündl. Ü b e r lieferung kannte. Für die Popularität der E r zählung sprechen die von R . Köhler 2 , H . V a r n h a g e n 3 , A . J. B a r n o u w 4 , J. Bolte 5 und S. Thompson6 zusammengetragenen Belege,
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wovon hier n u r die wichtigsten in chronologischer Reihenfolge mit den jeweiligen Episoden angegeben seien. Kuß (2) und Brandmarkung (3) findet sich 1476 im Novellino des —> Masuccio Salernitano 7 ; nur das Kußmotiv (2) verwendete der Nürnberger Meistersinger Hans Folz um 1490 in einem Fastnachtspiel, in dem zwölf Bauern ihre Liebesabenteuer beschreiben 8 . Die F.episode (1) brachte 1520 Girolamo —» Morlini9, wiederum nur die Kußszene (2) eine engl. Ballade des frühen 16. Jh.s 10 . Ein Meisterlied des Hans —> Sachs von 1537, Der schmit im pachdrog, umfaßt alle drei Episoden 11 , eine vollständige Fassung findet sich auch in Valentin —> Schumanns Nachtbüchlein von 1559 12 und in einem lat. Gedicht des Caspar Cropacius von 1580 13 . Nur (2) und (3) verwendete eine engl. Fassung von T. Brewer aus dem Jahre 1631 14 . Die Übers, einer frz. Version mit (1)—(3) brachte das dt. Schwankbuch Schau-Platz der Betrieger von 1687 15 , in dem vor allem die List der Ehebrecherin im Umgang mit drei Liebhabern in den Vordergrund gestellt wird; andere Belege in dt. Schwank- und Unterhaltungsbüchlein des 17. und 18. Jh.s mit einem Bauern als tölpischem Ehemann, Priester und Schmied als Liebhabern stimmen in der Kombination der drei Episoden fast wörtlich mit dem Text in der Lustigen Gesellschaft des Johann Peter de —> Memel von 1656 überein 16 . Nur die 1. Episode ohne die anstößigen Elemente der Erzählung verwendete —» Abraham a Sancta Clara als Warnung vor Leichtgläubigkeit gegenüber den Prophezeiungen der Astrologen 17 . Daß man auch im sonst so prüden 19. Jh. die derbe Geschichte noch zum Druck bringen konnte, beweist die ausführliche Version Die neue Sündflut in den Schriften des beliebten Unterhaltungsautors August Friedrich Ernst Langbein (1757—1835) 18 . D e r reichen literar. Tradition des Schwankes entspricht eine weite V e r b r e i t u n g in der mündl. Uberlieferung. Bei A a T h und in n e u e r e n T y p e n k a t a l o g e n sind Var.n aus Schweden, D ä n e m a r k und Finnland 1 9 , aus d e m Baltikum 2 0 , den N i e d e r l a n d e n 2 1 und aus I r l a n d 2 2 registriert, ferner aus d e m dt. Sprachgebiet 2 3 , aus U n g a r n 2 4 , Jugoslawien und R u ß l a n d 2 5 und aus der Türkei. Einige Var.n, wohl von europ. E i n w a n d e r e r n übertragen, finden sich in N o r d - und Mittelamerika 2 6 , eine V e r sion ist auch in China ([2], [3]) 2 7 b e k a n n t . Sicherlich hat die vielfältige schriftl. U b e r lieferung zur erstaunlichen Konstanz der E r zählung über Jh.e beigetragen. Jedenfalls bietet d e r Typ ein gutes Beispiel f ü r die W e c h selbeziehungen zwischen Lit. und mündl. Uberlieferung.
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Flutlegenden — Focus: Teilung des Brotes oder Geldes
D a ß der obszöne C h a r a k t e r der E r z ä h l u n g in oraler Tradition mitunter noch deutlicher, etwa mit der Kastrierung des Liebhabers und deren Folgen, zum A u s d r u c k k o m m t , zeigen A u f z e i c h n u n g e n von in dieser Hinsicht u n b e f a n g e n e n o d e r vielmehr speziell an der Volkserotik interessierten Sammlern 2 8 . Z u moralisierenden Schlußbetrachtungen, die in einigen älteren Zeugnissen die anstößigen E l e m e n t e abschwächen sollten, k o m m t es in der mündl. Ü b e r l i e f e r u n g nicht. Im G r u n d e liegt die Moral in der E r z ä h l u n g selbst, da alle Beteiligten Schaden erleiden: D e r sträflich einfältige E h e m a n n durch den E h e b r u c h der Frau und den A b s t u r z mit d e m Trog, die Frau durch entgangene L i e b e s f r e u d e n und erst recht die schmählich b e t r o g e n e n und schmerzlich verletzten Liebhaber. So m a g außer der Lust a m O b s z ö n e n S c h a d e n f r e u d e bei E r z ä h lern und Z u h ö r e r n ein M o v e n s f ü r die konseq u e n t e T r a d i e r u n g dieser eigentlich u n e r quicklichen Geschichte gewesen sein. I
Thompson, S.: The Miller's Tale. In: Bryan, W. F./Dempster, G. (edd.): Sources and Analogues of Chaucer's Canterbury Tales. (Chic. 1941) L. 2 1958, 106-123, hier 106. - 2 Köhler, R.: Zu Chaucer's The Milleres Tale. In: Anglia 1 (1878) 3 8 - 4 4 , 186-188. - 3 Varnhagen, H.: Zu Chaucer's Erzählung des Müllers. In: Anglia 7 (1884) 81 — 84. — 4 Barnouw, A. J.: Chaucer's „Milleres Tale". In: Modern Language Revue 7 (1912) 1 4 5 148. — 5 cf. Valentin Schumanns Nachtbüchlein (1559). ed. J. Bolte (BiblLitV 197). Tübingen 1893, 384 zu num. 2; Frey/Bolte, 277; weitere Nachweise v. Hammond, E. P.: Chaucer. A Bibliographical Manual. N.Y. 1908, 275; Griffith, D. D.: Bibliography of Chaucer 1908-1953. Seattle 1955, 192-195. - 6 Thompson (wie not. 1). - 7 Settembrini, L. (ed.): II Novellino di Masuccio Salernitano [. . .]. Napoli 1891, 314-321, num. 29; Textabdruck bei Thompson (wie not. 1) 108—111. 8 Keller, A. von: Fastnachtspiele aus dem 15. Jh. 1 (BiblLitV 28). Stg. 1853, 330-336, num. 43. Zur Datierung cf. Catholy, E.: Das Fastnachtspiel im SpätMA. Tübingen 1961, 306. - 9 cf. Kolbing, E.: Zu Chaucer's Erzählung des Müllers. In: Zs. für vergleichende Litteraturgeschichte N.F. 12 (1898) 448-450, hier 449 (lat. Text). - 10 Flügel, E.: Liederslgen des 16. Jh.s. In: Anglia 24 (1903) 273. II Goetze, E./Drescher, C. (edd.): Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs 3. Halle 1900, num. 69. — 12 cf. not. 5. - 13 Cropacius, C.: Poemata cvnarum Christi libri 2. Nürnberg 1581, 291; Nachdr. in: Schumanns Nachtbüchlein (wie not. 5) 355—357. — 14 Proescholdt, L.: Eine prosaische
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Nachbildung der „Erzählung des Müllers" aus Chaucer's Canterbury Tales. In: Anglia 7 (1884) 116-119. - 15 Text im EM-Archiv (mit num.): Schau-Platz der Betrieger 1687 (15.217). - 16 cf. Gerhard, F.: Joh. Peter de Memels Lustige Gesellschaft nebst einer Übersicht über die SchwankLitteratur des 17. Jh.s. Halle 1893; EM-Archiv: Joh. Peter de Memel 1656 (5.854); Burger-Lust 1663 (13.765); Sommer-Klee 1670 (13.579); Polyhistor 1729 (9.465); Historien-Schreiber 1729 (15.268). - 17 EM-Archiv: Abraham a Sancta Clara, Huy und Pfuy 1707 (4.486). - 16 Langbein, A. F. E.: Sämmtliche Sehr. 16: Schwänke, Mährchen und Erzählungen. Stg. 2 1841, 67—88; zur Person cf. NDB 13 (1982) 546 sq. - 19 Ergänzend zu AaTh: Rausmaa. — 20 Aräjs/Medne. 21 de Meyer, Conte. - 22 0 Smlleabhäin/Christiansen. - 23 Müllenhoff, K. (ed.): Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, num. 608 (= Merkens, H.: Was sich das Volk erzählt [1]. Jena 1892, num. 273); Neumann, S. (ed.): Volksschwänke aus Mecklenburg. Aus der Slg R. Wossidlos. B. 1963, num. 278; Haiding, K. (ed.): Märchen und Schwänke aus Oberösterreich. B. 1969, num. 40, 112. - 24 Kecskemeti/Paunonen. - 25 SUS; cf. auch Hoffmann Κ 15 22.1. - 26 Baughman; Robe; Rowers. — 27 Ting. - 28 cf. Hnatjuk, V.: Das Geschlechtleben des ukr. Bauernvolkes in Österreich-Ungarn 1. Lpz. 1909, num. 300; ibid. 2 (1912) num. 323; Anthropophyteia 2 (1905) 3 1 3 318, num. 409, 411. Göttingen
Elfriede M o s e r - R a t h
Flutlegenden —> Sintflut
Focus: Teilung des Brotes oder Geldes ( A a T h 921 A ) . Die E r z ä h l u n g besteht aus drei Teilen: (1) Ein H e r r s c h e r fragt einen B a u e r n ( H a n d w e r k e r ) , wie er seinen L o h n aufteilt; (2) der G e f r a g t e gibt eine symbolische A n t wort, (3) die er nach A u f f o r d e r u n g erklärt. In d e m ältesten europ. Beleg aus den —» Gesta Romanorum (num. 57) hat die E r z ä h lung folgenden Inhalt 1 : F., ein Schmied, der trotz des Kaisers Gebot am Festtag arbeitet, wird durch eine vom Zauberer —> Vergil angefertigte Bildsäule verraten. Er rechtfertigt sich damit, daß er jeden Tag acht Pfennige verdienen müsse. Er hätte davon zwei Pfennige zu erstatten (für seinen alten Vater), zwei auszuleihen (für seinen Sohn), zwei zu verlieren· (für seine Frau) und zwei auszugeben (für sich selbst). D e r f r ü h e s t e Beleg f ü r die M e t a p h e r der Teilung findet sich bereits im 484. —> Jätaka.
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Focus: Teilung des Brotes oder Geldes
Hier erklärt der beim Reissammeln gefangene Papageienkönig, der Bodhisattva, dem Feldwächter, daß er Schulden tilge und auf sich lade und Schätze sammle, d. h. seine Eltern ernähre, für seine Kinder sorge und flügellahmen Vögeln spende. Zwei Erzählungen der —Vetälapaücavirhsatikä handeln von derartiger Güterverteilung 2 . Der in Europa 3 weitverbreitete Typ tritt außerdem in Indien 4 , Afghanistan 5 , Kurdistan 6 und im Nahen Osten 7 auf; aus Ost-Afrika 8 läßt sich eine Var. nachweisen. Zwei Redaktionen der Erzählung können abgegrenzt werden: die Verteilung von Brot - bes. in oriental. Var.n 9 sowie europ. Belegen des 17. —18. Jh.s 10 — und die Verteilung von Geld — offensichtlich unter dem Einfluß der Gesta Romanorum und deren Bearb.en entstanden. Die Verbreitung der F.-Erzählung wurde durch die zahlreichen ma. Ausg.n und Übers.en der Gesta Romanorum gefördert 11 . Die einzelnen Var.n der Erzählung repräsentieren morphologisch ein einheitliches Bild: Dies ist einerseits auf die Popularität der BrotRedaktion zurückzuführen, andererseits mag es aus der Ausformung der mündl. überlieferten Texte durch die literar. Bearb.en resultieren. Die von den Gesta Romanorum geprägten literar. Fassungen der F.-Erzählung in Versen 12 oder Prosa 13 mit ihrer Rückwirkung auf die mündl. Überlieferung komplizieren zusätzlich die Lösung der Frage nach Verbreitung und Formveränderung von AaTh 921A. Sowohl in West- wie Osteuropa erweist sich die Kontamination AaTh 9 2 1 A + 922 Β (—> König auf der Münze) als stabil, die sich aufgrund der kreativen Tradierung des F.-Märchens bzw. der Geld-Redaktion ausgebildet hat 14 . In Osteuropa ist außerdem in russ. 15 , ukr. 16 und ung. 17 Var.n auch die Kontamination AaTh 921A+921F* (-» Gänserupfen) vorzufinden. In der port. Überlieferung zeigt AaTh 921 Α Affinität zu AaTh 1375: Pantoffelheldenw. Die F.-Erzählung besteht im wesentlichen aus einem die —» Klugheit des antwortenden Handwerkers (Bauern) unterstreichenden Dialog: Die durch Verhüllung des Gemeinten (—»Metapher; —» Rätsel) 19 erzeugte Spannung zwischen Fragesteller und Antwortgeber wird auf den Rezipienten übertragen, der sich einerseits mit dem sozialen Umfeld des Ant-
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wortenden identifiziert, andererseits wie der Fragende auf eine Erklärung wartet 20 . In dieser gibt der Gefragte Art und Umfang des zu verteilenden Einkommens sowie dessen konkrete Verwendung an, wobei in den einzelnen Var.n oft eine Kritik am Familienversorgungssystem oder aber am Herrscher wegen der Steuerlasten zum Ausdruck kommt 21 . I BP 4, 137; zur Rede der Bildsäule in Verbindung mit dem Sprichwort ,Audi, vide, tace' cf. Taylor, Α.: „Audi, vide, tace," and the Three Monkeys. In: Fabula 1 (1958) 2 6 - 3 1 , hier 26. - 2 Wesselski, MMA, 2 2 7 - 2 2 9 ; Ranke 3, 278. - 3 Ergänzend zu AaTh und BP (soweit in den not. nicht berücksichtigt): 0 Süilleabhäin/Christiansen; Aräjs/Medne; Kecskemeti/Paunonen; SUS; Barag; Berze Nagy, num. 929*; Aleover, Α. M.: Aplec de rondaies mallorquines 14. Palma de Mallorca s.a., 59; Meier, H./Woll, D.: Port. Märchen. MdW 1975, num. 7; Amades, num. 1639; Ulrich, J.: Die 100 alten Erzählungen. Lpz. 1905, app. 1, num. 101; Lombardi Satriani, R.: Racconti popolari calabresi 2. Napoli 1956, num. 91; Teneze, M.-L./ Hüllen, G.: Begegnung der Völker im Märchen 1. Münster 1961, num. 23; Joisten, C.: Contes popul a t e s du Dauphine 2. Grenoble 1971, num. 78; Asmus, F./Knoop, O.: Sagen und Erzählungen aus dem Kreise Kolberg-Körlin. Kolberg 1898, 11 sq.; Nedo, P. (ed.): Die gläserne Linde. Westslaw. Märchen. Bautzen 1972, 2 3 7 - 2 3 9 ; KabaSnikaü, K. P.: Kazki i legendy rodnaga kraju. Minsk 1960, num. 89; Cistov, K.: Perstenek-dvenadcat' staveskov. Petrozavodsk 1958, 185sq.; Ortutay, G.: Ung. Volksmärchen. B. 1957, num. 32; Mazon, Α.: Documents, contes et chansons slaves de l'Albanie du Sud. P. 1936, num. 65; Tosev, K.: Makedonske narodne pripovijetke. Sarajevo 1954, 262 sq.; Megas, G. Α.: Begegnung der Völker im Märchen 3. Münster 1968, num. 23; id.: Folktales of Greece. Chic./L. 1970, num. 54. - "Thompson/ Roberts. - 5 Lebedev, K.: Afganskie skazki. M. 1955, 124. - 6 Rudenko, M. B./Jaskeljajn, Α. Α.: Kurdskie narodnye skazki. M. 1970, num. 27; Druzinina, E. S.: Kurdskie skazki. M. 1959, 1 3 2 135. - 7 Jason; Jason, Types; Schwarzbaum, 2 2 1 223, 324sq. - 8 v. AaTh. - 'Minaev, I. P.: Indijskie skazki i legendy. (St. Petersburg 1877) M. 1966, num. 40; Hertel, J./Leszczynski, G. L./Beer, R.: Bestrafte Neugier. Anekdoten und Schwänke aus dem Orient. Lpz./Weimar 1979,5 sq. - 10 Texte im EM-Archiv: Gerlach, Eutrapeliae 1647 (2230); id., Eutrapeliarum 1656 (3188); Zinkgref/Weidner 1655 (2031); Casalicchio 1702 (3044); Harpagiander, Lexicon 1718 (3722). II Tubach und Dvorak, num. 2105. - 12 Heller, B.: Mätyäs kiräly megfejt bakkeeskei. In: Ethnographia 47 (1936) 2 9 0 - 2 9 3 , hier 291. - 13 György, num. 70. - 14 Neumann, S. Α.: Plattdt. Märchen. Volkserzählungen aus Mecklenburg. Rostock 1978, num.
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Folklore, Folkloristik
18, not.; Afanas'ev 3, num. 323; Moldavskij, D. M.: Russkaja satiriceskaja skazka. M./Len. 1955, 18sq.; Tille, Soupis 1, 122sq.; Polivka 4, 443sq.; Krzyzanowski, num. 929; Gasparikowa, V.: Sloneczny kon. Bajki slowackie. W. 1981, num. 37; Danner, Ε.: Die Tanne und ihre Kinder. Märchen aus Litauen. B. (1958) 2 1961, 1 0 7 - 1 1 0 ; Lo Nigro, num. *926; de Meyer, Conte; Ranke 3, 2 7 8 280. — 15 Novikov, Ν. V.: Russkie skazki ν zapisjach i publikacijach pervoj poloviny XIX veka. M./Len. 1961, num. 95; Nikiforov, A. I./Propp, V. Ja.: Severnorusskie skazki. M./Len. 1961, num. 7; Moldavskij (wie not. 14) 20sq. — 16 Ivasjuk, M. H./Besarab, V. S.: Kazky Bukoviny. Uzhorod 1973, 5 - 7 . - 1 7 Berze Nagy, J.: Baranyai magyar nephagyomänyok 2. Pees 1940, num. 169; Berze Nagy, num. 927**. - 1 8 Coelho, G. J.: Contes et legendes du Portugal. P. 1965, 5 - 1 1 . - 19 cf. Röhrich, L.: Gebärde — Metapher — Parodie. Düsseldorf 1967, 1 1 1 - 1 1 4 . - 2 0 cf. auch Ördögh, C.: „En is meset mondok, odjätok mesemet". Talälos kerdesen alapulö novellameseinkröl, különös tekintettel azokra, amelyek Mätyäs kiräly nevehez füzödnek. (Reszlet) („Auch ich erzähle ein Märchen, hört doch mein Märchen." Zu den auf Rätseln beruhenden ung. Novellenmärchen, mit bes. Berücksichtigung der mit dem Namen Matthias verbundenen. [Auszug]). In: Artes populäres (1973) 3 1 - 5 3 . 21 ζ. B. Berze Nagy, num. 929*; Danner (wie not. 14).
Budapest
Äkos Dömötör
Folklore, Folkloristik 1. Entstehung und Ausbreitung des Begriffs Folklore (F.) - 2. Begriffsumfang - 3. Definitionsprobleme - 4. Folkloristik
1. E n t s t e h u n g und A u s b r e i t u n g des B e g r i f f s F. Die Entstehung des Begriffs F. ist eindeutig datierbar: es ist eine Wortschöpfung des engl. Altertumsforschers W. J. Thoms aus dem Jahr 1846. In der Zs. The Athenaeum vom 22. Aug. rief er zur Erforschung alter Volksüberlieferungen auf, hob die Arbeiten J. —> Grimms hervor und erinnerte an die 1777 publizierten Observations on Popular Antiquities von J. Brand. In diesem Zusammenhang wandte er sich gegen die umständlichen Ausdrücke ,popular antiquities' und ,popular literature' und empfahl statt dessen den neuen Begriff: ,,a good Saxon compound, Folk-Lore — the Lore of the People" 1 .
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Das neue Wort schlug ein. Schon im Sept. 1847 meldete die Redaktion der Zs. — sicher etwas übertreibend —, der Ausdruck sei nun fast allg. geläufig. Jedenfalls setzte er sich in England verhältnismäßig schnell durch. 1878 wurde in London die F. Society gegründet; von ihr ging die Anregung zur Gründung ähnlicher Ges.en in anderen Ländern und zu internat. F.-Kongressen aus — F. wurde mehr und mehr zum Generalnenner für den Gegenstand der ,antiquarischen' Bemühungen in Europa und Amerika. 1891 stellt K. Weinhold im 1. Band der ZfVk. fest, F. sei „ein Weltwort geworden, indem es auch in den anderen germanischen, in den romanischen und slavischen Ländern Annahme gefunden hat" 2 . Gebrauch und Bedeutung des Wortes waren allerdings nicht einheitlich. Auf der einen Seite wurden, auf der Linie von Thoms, die Volksüberlieferungen darunter verstanden, das Wissen und die Erfahrung (lore) der einfachen Leute (folk). Auf der anderen Seite wurde das Wort häufig auch als Wiss.sbegriff benützt. So faßte E. S. —» Hartland, einer der damals führenden engl. Erzählforscher, den Modus der mündl. Weitergabe und das so bewahrte Wissen unter den Namen Tradition, während er F. als „the science of Tradition" bezeichnete 3 . Diese Verwendungsweise war ein Grund dafür, daß sich dt. Forscher gegen die Bezeichnung wandten; sie konzipierten Vk. umfassender im Sinne einer nationalen und regionalen Anthropologie 4 . Aber sie zogen die dt. Begriffe ,Volksüberlieferung' und ,Vk.' auch vor, weil sie dt. waren und weil sie deutlicher als F. die nationale Ausrichtung zum Ausdruck brachten 5 . Im dt. Sprachbereich wird F. in den folgenden Jahrzehnten praktisch nur als Zitat, im Blick auf ausländische Publ.en und Veranstaltungen, verwendet. Diese Abschottung ist zu bedenken, wenn der heutige Gebrauch qualifiziert wird: F. wird nicht selten in etwas abwertender Bedeutung verwendet; der Verdacht auf künstliche Wiederbelebung und Inszenierung (—»Folklorismus) schwingt mit, zumal die Bezeichnung inzwischen populär geworden ist über die kulturindustrielle Verbreitung musikalischer F. aus allen Erdteilen. Andererseits erzwingt die intensivierte internat.
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Folklore, Folkloristik
Zusammenarbeit immer häufiger den Gebrauch des Wortes als Äquivalent für Volksüberlieferung, —> Tradition (—» Orale Tradition) und ähnliches. 2. B e g r i f f s u m f a n g . Während Vk. im allg. als Wiss.sbezeichnung verwendet wird (Kunde über das Volk, nicht Kunde des Volkes), bezieht sich F. häufiger auf den Gegenstand der Wiss. (Wissen des Volkes, nicht Wissen über das Volk). In seinem Umfang wird dieser Gegenstand aber sehr verschieden bestimmt. Eine sehr weite Konzeption von F. geht von der bes. Tradierungsweise vorliterar. oder nur teilweise literarisierter Kulturen aus und faßt alle mündl. vermittelten Wissensbestände, Fertigkeiten und Handlungen unter den Begriff: „Folklore includes folk art, folk crafts, folk tools, folk costume, folk custom, folk belief, folk medicine, folk recipes, folk music, folk dance, folk games, folk gestures, and folk speech, as well as those verbal forms of expression which have been called folk literature but which are better described as verbal art" 6 . Andere Auffassungen von F. orientieren sich gerade am künstlerischen Moment: F. umfaßt nicht die gesamte Kultur und Lebensweise, sondern bezeichnet künstlerische Prozesse und ihre Ergebnisse: „folklore is artistic communication in small groups" 7 . Ein drittes Konzept faßt F. noch enger und versteht darunter nur sprachliche Überlieferungen, „verbal materials in all their varieties" 8 . Andere kulturelle Erscheinungsformen wie Musik, Tanz, bildende Künste, Bräuche etc. werden zwar in enger Verwandtschaft zur F., aber doch als getrennte Untersuchungsfelder gesehen 9 . Diese Einengung des Begriffs wird zwar in theoretischen Setzungen nur selten vertreten; aber in vielen F.-Zss. ist die Dominanz von Volksliteratur, von ,verbal art', offenkundig. Dieser Akzent wird dadurch verstärkt, daß sich vielfach eine entsprechende wiss. Arbeitsteilung durchgesetzt und auch organisatorisch verfestigt hat (v. Kap. 4). 3. D e f i n i t i o n s p r o b l e m e . J. H. Brunvand zählt in seiner Einführung in die amerik. F. fünf Merkmale für F. auf 10 , die auch in der sonstigen Diskussion des Begriffs als Bestim-
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mungskriterien herangezogen werden: (1) F. wird mündl. weitergegeben — von einer Person zur andern und von einer Generation zur nächsten. (2) F. ist traditionell. (3) F. existiert in verschiedenen Versionen. (4) F. ist in der Regel anonym. (5) F. tendiert zur Formelhaftigkeit. Die drei letzten Kriterien, die in einem inneren Zusammenhang stehen, sind unbestritten, zumal es sich dabei um relative Feststellungen handelt. Das Merkmal der —> Anonymität schließt nicht aus, daß Lieder oder Erzählungen auf einen bestimmten Verfasser zurückgeführt werden können, und es steht auch nicht im Widerspruch dazu, daß Sänger oder Erzähler einzelne Stücke ihres Repertoires mehr oder weniger exklusiv für sich reklamieren. Die Wiedergabe und Weitergabe erfolgt jedenfalls im allg. ohne B e rücksichtigung und auch ohne Kenntnis der Urheberschaft. Da F. immer neu verwirklicht und auch dem jeweiligen Hörerkreis angepaßt wird, entstehen unvermeidlich Variationen, die sich in der Wiederholung zu (ihrerseits variablen) Versionen verfestigen können. Trotzdem wird die Identität von Erzählungen und Liedern gewahrt, da ihre Struktur im allg. nicht verändert wird und da sie auch darüber hinaus formelhafte Elemente aufweisen (cf. —> Formelhaftigkeit). Das Merkmal der mündl. Überlieferung wird zwar wohl am häufigsten herangezogen, ist aber nicht unumstritten. Nach zwei Seiten ist es zu problematisieren. Einmal umfaßt und prägt mündl. Kommunikation in vorliterar. Phasen die gesamte Kultur; der Begriff F. verliert damit innerhalb solcher Kulturen jegliche Spezifik. Aus diesem Grund wird bei der Erforschung derartiger Kulturen F. meistens nur auf,verbal art' bezogen. Zum andern wird es mit dem Fortschreiten der Alphabetisierung immer fragwürdiger, Überlieferungsprozesse anzunehmen, die völlig unbeeinflußt von literar. Fixierungen und schriftl. Kommunikation sind (ζ. B. —»• Flugblatt). Dabei sind auch die Reflexe der Erforschung der F. zu bedenken (—» Buchmärchen). Das Kennzeichen der Tradition spielte schon bei der Entstehung des Begriffes eine wesentliche Rolle. Gemeint war a l t e Tradition: F. wurde als Ausläufer eines aus dem ,Altertum' kommenden Überlieferungsprozesses verstanden. Neuere Auffassungen von
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Folklore, Folkloristik
F. betonen demgegenüber, daß Tradition ständig erneuert wird 11 — und dies betrifft nicht nur Veränderungen im Rahmen schon vorhandener, sondern auch die Entstehung ganz neuer Traditionen. Tatsächlich gibt es eindrucksvolle Zeugnisse von F., die weder das Kriterium mündl. Verbreitung noch das von Tradition im herkömmlichen Sinne erfüllen, ζ. B. die durch Vervielfältigungen verbreitete ,Bürofolklore' Xeroxlore) 12 . Die Blätter mit Zeichnungen, Gedichten und formelhaften kurzen Prosatexten verbreiten sich innerhalb der Gruppe der Büroangestellten sehr rasch - ein Vorgang, der eher Diffusion als Tradition zu nennen wäre 13 . Entscheidend scheint dabei zu sein, daß die F. sich an den in der Gruppe herrschenden Maßstäben und Bedürfnissen orientiert: die „Präventivzensur der Gemeinschaft", die P. G. —* Bogatyrev und R. Jakobson als Kennzeichen der traditionellen F. betrachteten 14 , ist auch hier wirksam.
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punkt, Folkloristik ist im wesentlichen Volksdichtungsforschung. In den nord. Ländern Europas stehen Ethnologie und Folkloristik nebeneinander, und selbst wo ein gemeinsames institutionelles Dach vorhanden ist wie an schwed. Univ.en, wird doch terminologisch unterschieden. Dies gilt auch von den angelsächs. Ländern, in denen ,F. and Folklife Studies' oft zusammengefaßt, aber doch getrennt ausgewiesen sind. Unklar bleibt bei dieser Unterscheidung vielfach, wohin Sachgebiete wie Brauch, Volkskunst und ähnliches gehören. Dies kann die Vernachlässigung solcher Gebiete zur Folge haben: „While many professional folklorists would definitely claim that their concept of folklore did include folk dance, folk art, and folk recipes, few are engaged in research in these areas" 16 . So beschränkt sich Folkloristik zwar nicht grundsätzlich und ausschließlich auf sprachliche Uberlieferung, aber sie konzentriert sich doch deutlich darauf.
4. F o l k l o r i s t i k . Die Vertreter der Wiss. von der F. werden in den letzten Jahrzehnten des 19. Jh.s häufig Folkloristen genannt; die Wiss.sbezeichnung Folkloristik (folkloristics) scheint daraus abgeleitet zu sein 15 . Sie wird keineswegs durchgängig verwendet. Teilweise wird noch immer F. als Bezeichnung der Disziplin vorgezogen; aus dem Kontext ist dabei im allg. erkennbar, daß nicht die Bedeutung ,Wissen über folk' im Hintergrund steht, daß es sich vielmehr eher um eine Abkürzung für ,folklore studies' oder ähnliches handelt. Teilweise erübrigt sich der Name Folkloristik aber auch, weil der Bereich durch eine weiterreichende Wiss.sbezeichnung abgedeckt ist. So wird der Begriff in den rom. Ländern neben traditions populaires und ähnlichen Bezeichnungen kaum verwendet; im dt.sprachigen Bereich werden im allg. unter der übergreifenden Bezeichnung Vk. einzelne Sparten wie Erzählforschung, Liedforschung etc. ausgewiesen; und auch ethnology und anthropology können das Feld der Folkloristik einschließen.
I cf. Kossinna 1896; Dorson, R. M.: F. in the Modern World. In: id. 1978, 1 1 - 5 1 , hier 13sq.; Bausinger 2 1980, 41 sq. - 2 Weinhold, K.: Zur Einl. In: ZfVk. 1 (1891) 1 - 1 0 , hier 1. - 3 Zitiert nach Dorson 1978, 14. - 4 cf. Weinhold (wie not. 2). - 5 cf. Kossinna 1896; Weinhold (wie not. 2). 6 Bascom 1968, 496sq. - 7 Ben-Amos, D.: Toward a Definition of F. in Kontext. In: Paredes, A./Bauman, R. (edd.): Toward New Perspectives in F. Austin/L. 1972, 3 - 1 5 , hier 13 (dt. in: Jb. für Volkslied-Forschung 26 [1981] 1 5 - 3 0 ) . - 8 Smith, M. W.: F. In: StandDict. 1, 3 9 8 - 4 0 3 , hier 402 (in diesem Art. geben 21 der 29 Hauptmitarbeiter des Hwb.s ihre Definition von F.). - 9 ibid. - 10 Brunvand 1968, 4. II cf. Dorson (wie not. 1) 23 sq. - 12 cf. Dundes, A./Pagter, C. R.: Urban F. from the the Paperwork Empire. Austin 1975; Kutter, U.: „Ich kündige". Zu einer F. der Imponderabilien. In: ZfVk. 77 (1981) 2 4 3 - 2 6 1 ; id.: Ich kündige! Zeugnisse von Wünschen und Ängsten am Arbeitsplatz. Marburg 1982. - 13 cf. Bausinger, H.: Mündl. In: BoSkovicStulli 1981, 1 1 - 1 5 . - 14 Bogatyrev/Jakobson 1929, 903. - 15 cf. den Lex.art. ,F.' von 1887, wiedergegeben bei Brückner 1981, 76. — 16 Dundes 1975, 10.
Für viele Länder ist jedoch die Zweiteilung charakteristisch: In osteurop. Ländern sind Ethnographie und Folkloristik im allg. getrennt; bei der Ethnographie steht die Erforschung der materiellen Kultur im Mittel-
Lit.: Kossina, G.: F. In: ZfVk. 6 (1896) 1 8 8 192. - Bogatyrev, P. G./Jakobson, R.: Die F. als eine bes. Form des Schaffens. In: Donum natalicium Schrijnen. Nijmegen/Utrecht 1929, 9 0 0 913. - Schulze, F. W.: F. Zur Ableitung der Vorgeschichte einer Wiss.sbezeichnung. Halle 1949. -
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Folklore Fellows Communications
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letztere unter Einbeziehung des finn. und bait. Materials. Die ersten Bände, Dansk Folkemindesamling (DFS) (FFC 1), The System of Tales in the Folklore Collection of Copenhagen (FFC 2) und Verz. der Märchentypen mit Hülfe von Fachgenossen ausgearbeitet (FFC 3), wurden 1910 von Olrik, A. Lunding und A. —> Aarne veröffentlicht. Letzterer schrieb die Einl. 2 seines Werkes nach den Prinzipien der —»geogr.-hist. Methode. Die Publ. von Typen- und Motiwerzeichnissen, vorzugsweise zu Märchen und Sagen, war eine der Haupttätigkeiten der FFC. Die Gesamtzahl der von 1907—82 edierten Typenindizes beträgt 37. Aarne war mit 20 Bänden der aktivste Mitarbeiter der Reihe. Weitere Verf. sind u.a. Krohn (17 Bände), der finn. Volksglaubensforscher Α. V. Rantasalo (10), S. —> Thompson (10), R.T. —> Christiansen (6), W. —»Liungman (6), P.G. Brewster (5), Μ. -> Haavio (5), Μ. Kuusi (5), J. d e - * Vries (5).
Die bes. Bedeutung der FFC liegt darin, daß sie die finn. und skand. folkloristische Forschung in internat. Sprachen bekannt machte. 50% der Verfasser stammt aus den Tübingen Hermann Bausinger nord. Ländern: 95 aus Finnland, 24 aus Skandinavien; dazu kommen 4 Esten. Die meisten Publ.en sind dt.sprachig (159), 70 Werke Folklore Fellows Communications (FFC), engl., 9 frz., 2 ital. Die Reihe hat eine nord. 1907 auf Initiative von K. —» Krohn und A. —> und internat. Prägung und veröffentlichte QJrik begründete folkloristische Reihe, an- viele internat. wichtige Arbeiten, ζ. B. von fangs vom internat. Forscherbund der Folklore J. —» Bolte, W. —> Anderson, L. —» MackenFellows in Helsinki herausgegeben. Nach sen, N. P. —» Andreev, J. K. —» Qvigstad, U. Auflösung des Bundes 1911 setzte dieselbe Holmberg, Μ. K. —* Azadovskij, A. —> Taylor, Forschergruppe die Publ.stradition fort, E. 0 . —» Sveinsson, E. Enäjärvi-Haavio, K. später zusammen mit der Suomalainen Tiede- —» Ranke, R. Austerlitz, L. —> Honko, A. akatemia (Academia Seientiarum Fennica). B. —>Rooth, R. W. —»Brednich, A. -> Bis 1984 lagen 234 Bände vor. Dundes, F. J. Oinas, R. D. Abrahams etc. Die FFC lieferten wichtige Beiträge zur MärchenDer Bund verfolgte zwei Ziele: ,,a) den forschem volkskundliches (folkloristisches) und Sagenforschung (61 Titel). Andere oft material aus den verschiedenen ländern zu- behandelte Gattungen sind Volksbräuche und gänglich zu machen und kataloge derartiger -glauben (14), Volksepik, das —* Kalevala (10), Legende und Ballade (14), ZauberforSammlungen herauszugeben; b) die herausgäbe wissenschaftlich befriedigender Publika- meln (9), Sprichwörter (6), Rätsel (5). tionen volkskundlicher materialien in einer Charakteristischerweise behandelten die leicht zugänglichen spräche oder mit refera- FFC als finn.-volkskundliche Publ. häufig ten in einer solchen zu fördern" 1 . Man plante religionsgeschichtliche Themata (23 Bände), zunächst, Mitteilungen über die volkskundζ. B. in den Arbeiten von U. Holmberglichen Materialien hs. und gedr. Slgen zu verHarva, K. F. Karjalainen, Rantasalo, Haavio, öffentlichen, und beabsichtigte auch, internat. Honko, A. Vilkuna, J. Pentikäinen, M. Sarund nord. Serien der FFC herauszugeben, mela, A.-L. Siikala, A. Nenola-Kallio.
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Folklorismus
Der Folklore Fellows-Bund verstand sich als internat. Organisation der Vk. Seine Gründer beabsichtigten, ein Netz lokaler Mitgliederorganisationen zu schaffen. Die ersten Gruppen wurden in Kopenhagen (Vorsitz Olrik) und Helsinki (Vorsitz Krohn) gegründet 3 . Später kamen folgende örtliche Vereine hinzu: Berlin (Bolte), Dresden und Leipzig (E. Mogk), Böhmen (A. Hauffen), Lemberg und Czernowitz (V. —»Hnatjuk), Reykjavik (P. Pälsson), Prag (J. —» Horäk), Budapest (G. Sebestyen), Dorpat (I. M. —» Eisen), Lund (C. W. von —> Sydow), Uppsala (J. A. Lundell), Athen (N. G. -> Politis), Kazan (Anderson), Basel (E. HoffmannKrayer), Würzburg, München, Hamburg, Kristiania (heute Oslo), Madrid, New York (T. F. -» Crane), La Plata (R. LehmannNitsche) 4 . Ohne dieses Mitarbeiternetz wäre es unmöglich gewesen, Typen- und Motiwerzeichnisse zu erarbeiten. Die Publ. unterstand einem Redaktionskomitee der Folklore Fellows. Hauptredakteure waren immer finn. Folkloristen, Krohn, Harva, Haavio und Honko. 1
Statuten des Bundes „FF" (FFC 4). Hels. 1910, 15sq., hier 15. - 2 Aarne, Α.: Verz. der Märchentypen [. . . ] (FFC 3). Hels. 1910, IIsq. - 3 Krohn, K.: Erster Ber. über die Tätigkeit des folkloristischen Forscherbundes „FF" (FFC 4). Hels. 1910, 1 - 1 4 , hier 1 0 - 1 2 . - 4 1 . - 5 . Ber. über die Tätigkeit des folkloristischen Forscherbundes „FF" von K. Krohn in FFC 4 (1910); 7 (1911); 12 (1913); 21 (1914); 29 (1919) 4 1 - 5 9 .
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als Neo-F. 2 , da in einem weiteren Sinne auch schon vom „Folklorismus der französischen Aufklärung, der deutschen Romantik oder der russischen Narodniki" 3 gesprochen werden kann. V. Voigt definiert F. allg. als „das Ausstrahlen der Folklore in die Literatur und in die Hochkunst überhaupt, mithin das Eindringen von Folkloreerscheinungen in den Kulturbereich der herrschenden Gesellschaftsklassen" 4 . F. ist so eine Möglichkeit der ,Aufhebung' von Folklore, ist Revitalisierung und Weiterentwicklung der künstlerischen Formensprache im Zeichen der Tradition. Er bringt jedoch die Gefahr mit sich, daß die Entwicklung stillgestellt wird und daß die produktive Umsetzung älterer Elemente umschlägt in einen bornierten Kult des Überlebten. T. W. Adorno wies verschiedentlich auf diese „reaktionären Implikationen" hin 5 und münzte 1962 den Begriff F. auf musikalische Bewegungen, die rüsten „zum blutigen faschistischen Ernst einer Musikgesinnung, die Universalität zertrampelt und die eigene Beschränkung, ihr nun einmal so und nicht anders sein, barbarisch als höheres Gesetz oktroyiert" 6 .
Folklorismus. Der Begriff bezeichnet die Verwendung stofflicher oder stilistischer Elemente der —»Folklore in einem ihnen ursprünglich fremden Zusammenhang.
Diese kritische Einstellung zum F. erklärt sich erstens aus der Erfahrung des Nationalsozialismus, der .arteigene' Folklore gegen ,entartete Kunst' ausspielte, zweitens aus der überwuchernden kulturindustriellen Verwertung von Folklore in der westl. Welt, drittens und im Zusammenhang damit aus dem Tatbestand, daß Folklore - anders als in den spät industrialisierten und modernisierten östl. Ländern 7 — in den westl. Gesellschaften kaum mehr unvermittelt und quasi-ursprünglich greifbar ist. Dieser Tatbestand ist seinerseits kritisch unter den Begriff F. gefaßt worden.
1. Er wird zunächst auf künstlerische Tendenzen bezogen: Seit der Wende zum 20. Jh. sucht und findet die Avantgarde in Musik, Lit. und bildender Kunst neue, angemessene Ausdrucksformen teils in der Formensprache fremder, wenig komplexer Kulturen (,Primitivismus'), teils in den Uberlieferungen der eigenen Volkskultur 1 . Diese Orientierung an der Tradition der unteren Schichten wird gelegentlich als F. bezeichnet, manchmal auch
2. H. Moser führt das Wort 1962 in die Vk. ein. Er erwähnt zwar den künstlerischen F., vor allem in der Musik 8 ; im Zentrum seiner Beobachtungen stehen aber Veränderungen von Bräuchen, die im Zeichen des Fremdenverkehrs oder auch aufgrund der Nachfrage von Medien von oft sehr schlichten Formen der Ausführung in demonstrative und farbige Formen der Aufführung übergehen. Moser bezieht den Begriff „auf das mit der zu-
Helsinki
Juha Pentikäinen
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Folklorismus
nehmenden zivilisatorischen Nivellierung zugleich wachsende allgemeine Interesse an .Volkstümlichem' schlechthin und an allen seinen Reservaten, in denen das Leben noch Eigenart und Ursprünglichkeit, Kraft und Farbe hat oder jedenfalls zu haben scheint", vor allem aber „auf die Praxis, dieses Interesse zu befriedigen, zu stärken, gegebenenfalls erst zu wecken, indem man ,Volkstum', zumeist in einem Extrakt des folkloristisch Attraktiven vermittelt" 9 . In der durch Moser ausgelösten Diskussion werden vor allem vier Probleme behandelt: (1) der Unterschied zwischen der Publikumsorientierung früherer Bräuche und den Showeffekten des gegenwärtigen F. 1 0 ; (2) die Fragwürdigkeit der Kategorie ,echt', die oft gerade durch die Agenturen des F. in Anspruch genommen wird, und entsprechend die Problematik der Ausgrenzung unechter —> Fakelore 1 1 ; (3) der — meist unfreiwillige — Beitrag der Vk. zum F. 1 2 ; (4) die politische Verwertbarkeit des F. im Sinne einer beschwichtigenden Präsentation der guten alten Zeit 1 3 . 3. Folklore im engeren Sinn, also volksliterar. Tradition, spielt in diesem F. der Volkskultur nur eine untergeordnete Rolle: Märchen- und Sagenstoffe werden in lebenden Bildern dargestellt und in Umzüge bei Ortsjubiläen, Kinderfesten etc. integriert 14 . Örtliche Necknamen (—» Ortsneckerei) und Schwanküberlieferungen geben den Vorwurf für neue Fastnachtsmasken ab 1 5 . Regionale Volkslieder wurden schon sehr früh als folkloristische Darbietungen exportiert 1 6 ; heute werden sie oft bei Veranstaltungen als ,Heimatlieder' gesungen und mitunter szenisch präsentiert. Über diese sehr direkte Einbindung hinaus prägen jedoch das Klima und die Rahmenbedingungen des F. die heutigen Erscheinungsformen und Lebenswelten von Folklore. Moser sieht den deutlichsten Ausdruck von F. „in der Vermittlung und Vorführung von Volkskultur aus zweiter Hand" 1 7 . Folklore erhebt zwar nun, per definitionem, den Anspruch, Volkskultur aus erster Hand zu sein; aber da eben dieser Anspruch auch ein häufiger Bestandteil der „Volkskultur aus zweiter H a n d " ist, werden die Grenzen fließend. Tat-
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sache ist, daß gerade die ,klassischen' Erzählformen kaum mehr als ungebrochene mündl. Tradition greifbar sind, daß vielmehr auch sie immer häufiger vermittelt' und ,vorgeführt' werden (—» Vermittlung). Am offenkundigsten ist dieser Sachverhalt beim Märchen. Die unmittelbare mündl. Weitergabe von Märchen spielt eine ganz untergeordnete Rolle im Vergleich mit anderen Vermittlungsformen: Märchenbücher und Bilderbogen (cf. —» Bildquellen, Kap. 6), professionelle Erzählerinnen und Erzähler, die ihr Märchenwissen aus Büchern beziehen, Märchenschallplatten, Verfilmungen von Märchen (—»Film; -^Television) 1 8 , Märchenbilder in —> Märchenparks und in der Werbung (—»Reklame), Märchenstoffe in Theater (—»Märchenspiele) und Oper (—> Märchenoper). Auch die Aktivitäten der sächs. ,Märchenausschüsse' vor dem ersten Weltkrieg 1 9 und die sonstigen, in den letzten Jahrzehnten ständig gewachsenen Aktivitäten der —»Märchenpflege sind anzuführen. Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß Märchen in stärkerem Maße als früher poetischen Umformungen als Vorwurf dienen (—» Parodie, —»Travestie) 20 . Man kann darüber streiten, ob all diese Vermittlungsformen als F. etikettiert werden dürfen. Jedenfalls gehören sie in seinen weiteren Einflußbereich. F. ist kein analytischer, sondern ein beschreibender Begriff mit kritischem Einschlag, der vor allem heuristischen Wert besitzt. Er vermag, auch für das Gebiet der Volkserzählung, das Unterscheidungsvermögen für verschiedene Entwicklungsstufen der Erzählkommunikation zu schärfen, und er entzieht die Popularisierungsbemühungen der Vk. (—»Popularisierung) dem naiven Vertrauen in die angebliche Echtheit der so vermittelten Traditionen. 1 cf. Cocchiara, G.: L'eterno selvaggio. Presenze e influsso del mondo primitivo nella cultura moderna. Milano 1961; Grote, L.: Expressionismus und Volkskunst. In: ZfVk. 55 (1959) 2 4 - 3 1 . 2 cf. Marinus, Α.: Le Neo-folklorisme. In: Isidor Teirlinck Album. Louvain 1931, 2 3 1 - 2 3 7 (zitiert nach Voigt 1970, 402); Voigt 1970; id. 1980; Gusev 1980. - 3 Voigt 1970, 401. - 4 ibid. 5 Adorno, T. W.: Einl. in die Musiksoziologie. Ffm. 1962 (Reinbek 1968), 178; cf. auch id.: Philosophie der neuen Musik. Köln 1958 ( = Gesammelte Sehr. 12. Ffm. 1975); id.: Musikalische Sehr. IV
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Folter
( = Gesammelte Sehr. 17). Ffm. 1982. - 6 id. 1962 (wie not. 5). - 7 cf. Bausinger/Oinas/Stief 1970; Bausinger 1982. - »Moser 1962, 180sq. - 9 ibid., 179. - 10 cf. ibid., 190sq.; Jeggle/Korff 1974. 11 cf. Bausinger 1966; Strobach 1982, 4 0 - 5 2 . 12 Bausinger 1966; cf. auch id.: Vk. Tübingen 3 1982, 1 5 9 - 2 0 9 , pass. - 13 Brückner, W.: ,Heimat und Demokratie'. Gedanken zum politischen F. in Westdeutschland. In: ZfVk. 61 (1965) 2 0 5 - 2 1 3 ; Bimmer, A. C. (ed.): Hessentag — ein Fest der Hessen? Marburg 1973. - 1 4 cf. z . B . Narr, R.: Kinderfest. Eine pädagogische und gemeindesoziol. Studie. Neuwied/Darmstadt 1974, 66, pass. — 15 cf. Dörfliche Fasnacht zwischen Neckar und Bodensee (Volksleben 12). Tübingen 1966, 2 7 0 310. — 16 Zum ,Liederhandel' der ,Alpensänger' cf. Moser 1962, 193; Jeggle/Korff 1974, 4 4 - 4 7 . 17 Moser 1962, 180. - 18 cf. Psaar, W./Klein, M.: Wer hat Angst vor der bösen Geiß? Zur Märchendidaktik und Märchenrezeption. Braunschweig 1976, 1 8 9 - 2 1 0 ; Rogge, J.-U.: Märchen in den Medien. In: Doderer, K. (ed.): Uber Märchen für Kinder von heute. Weinheim/Basel 1983, 1 2 9 154. - 19 cf. Brückner, W.: ,Vk.' kontra .Folklore' im Konversationslex. seit 1887. In: Festschr. der Wiss. Ges. an der Johann Wolfgang Goethe-Univ. Frankfurt am Main. Wiesbaden 1981, 7 3 - 8 4 , hier 83. - 2 0 cf. ζ. B. Mieder, W. (ed.): Mädchen, pfeif auf den Prinzen! Märchengedichte von Günter Grass bis Sarah Kirsch. Köln 1983. Lit.: Moser, H.: Vom F. in unserer Zeit. In: ZfVk. 58 (1962) 1 7 7 - 2 0 9 . - id.: Der F. als Forschungsproblem der Vk. In: HessBllfVk. 55 (1964) 9 57. — Bausinger, H.: Zur Kritik der F.kritik. In: Populus revisus (Volksleben 14). Tübingen 1966, 61—75. - Verschiedene Beitr.e zum F. cf. ZfVk. 65 (1969) 1 - 5 5 . - Bausinger, H./Oinas, F. J./Stief, C.: Folklore. In: Marxism, Communism and Western Soc. A Comparative Enc. Fbg 1970, 3 6 0 - 3 7 5 . - Köstlin, K.: F. und Ben Akiba. In: Rhein. Jb. für Vk. 20 (1970) 2 3 4 - 2 5 6 . - Strübin, Ε.: ,Folklore' und ,folkloristisch' im allg. Sprachgebrauch. In: Schweizer Vk. 60 (1970) 6 8 - 7 3 . Voigt, V.: Vom Neofolklorismus in der Kunst. In: Acta Ethnographica 19 (1970) 4 0 1 - 4 2 3 . - Jeggle, U./Korff, G.: Zur Entwicklung des Zillertaler Regionalcharakters. Ein Beitr. zur Kulturökonomie. In: ZfVk. 70 (1974) 3 9 - 5 7 . - Folklorizmus egykor es ma 2 (F. einst und jetzt 2). Kecskemet 1978; Chistov, K.: Folklore and Culture of the Ethnos. In: F. Bulletin (Bud. 1980) 2 - 1 1 . Gusev, V. J.: Principal Types of Present-day Folklorism. ibid., 12 — 14. - Voigt, V.: Folklore and ,Folklorism' Today. In: Folklore Studies in the Twentieth Century. Proc. of the Centenary Conference of the Folklore Soc. Woodbridge/Totowa 1980, 4 1 9 - 4 2 4 . - Bausinger, Η.: Zum Begriff des F. In: Folklör tärsadalom müveszet 1 0 - 1 1 (1982) 3 9 - 5 7 . - Strobach, H.: Folklore - Folklorepflege — F. Tendenzen, Probleme und Fragen. In: 45
Enzyklopädie des Märchens IV
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H e r m a n n Bausinger
Folter, mit b e s t i m m t e n G e r ä t e n ( F . w e r k zeuge) v o r g e n o m m e n e oder angedrohte körp e r l i c h e —> S c h ä d i g u n g v o n P e r s o n e n z u m Z w e c k d e r W a h r h e i t s f i n d u n g (cf. a u c h —> G o t t e s u r t e i l ) o d e r Teil e i n e r S t r a f e . D i e im r ö m . R e c h t b e s . b e i S k l a v e n p r a k t i z i e r t e F. k a m in M i t t e l e u r o p a e r s t im s p ä t e n M A . auf u n d w a r v o m 14. J h . bis z u r A u f k l ä r u n g ( A b s c h a f f u n g d e r F. in P r e u ß e n 1 7 4 0 ; in allen e u r o p . S t a a t e n bis A n f a n g d e s 19. J h . s ) b e i Hexenprozessen und Ketzerverfolgungen, aber auch mit der allmählichen E i n f ü h r u n g d e s r ö m . R e c h t s in w e l t l i c h e r R e c h t s p r e c h u n g (z.B. Peinliche Gerichtsordnung Karls V. von 1 5 3 2 ) als allg. B e w e i s m i t t e l z u r W a h r h e i t s f i n d u n g zulässig 1 . In p o p u l ä r e n E r z ä h l u n g e n f i n d e n sich B e s c h r e i b u n g e n v o n F . u n g e n v o r a l l e m in L e g e n d e n , w e n i g e r in M ä r c h e n u n d Sagen. Z w a r sind in Ü b e r l i e f e r u n g e n a u s d e r A n tike häufig verschiedene A r t e n der F.ung erwähnt, seltener jedoch Einzelheiten über W e r k z e u g e u n d T e c h n i k e n , w a s sich z u m e i n e n auf d i e V e r t r a u t h e i t m i t d e n F . - A r t e n z u r ü c k f ü h r e n l i e ß e , z u m a n d e r e n auf d e n allg. ästhetischen Grundsatz, Beschreibungen körperlicher Leiden zu vermeiden2. Diese E i n s t e l l u n g w a n d e l t sich g r u n d l e g e n d in d e n D a r s t e l l u n g e n d e r L e i d e n christl. —> M ä r t y r e r (—> Acta martyrum et sanctorum) u n d in d e n d a v o n abhängigen bildlichen Gestaltungen in Fresken, Altartafeln, Andachtsbildern und F l u g b l ä t t e r n (—> B i l d q u e l l e n ) , d i e w e n i g e r z u r ü c k h a l t e n d in d e r A u s m a l u n g d e r g r ä ß lichsten T o r t u r e n w ä h r e n d d e s Verhörs (quaestio) und der folgenden Einkerkerung u n d Hinrichtung (passio) sind3. D i e Schilderungen körperlicher u n d seelischer Q u a l e n d e s M ä r t y r e r s , d e r mit s e i n e m T o d Z e u g n i s für Christus ablegte, b o t e n Gelegenheit zur Ü b e r h ö h u n g d e s G e s c h e h e n s im S i n n e e i n e r —> A r e t a l o g i e , d i e S t a n d f e s t i g k e i t d e r B e k e n n e r d e m o n s t r i e r t e d i e S t ä r k e d e s christl.
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Folter
Glaubens 4 . Durch die christl. Märtyrerakten wurde „das mythische Denken des Westens immer nachhaltiger vom Begriff des Martyriums geprägt" 5 . Die sog. epischen Martyrien (passion epique) 6 , welche — ganz und gar fiktiv — die Schilderungen übermenschlicher Leiden und bes. —> Grausamkeiten herausstellten, beeinflußten Denken und Lit. des MA.s 7 und des 16./17. Jh.s 8 ungemein. So enthält die wohl populärste Slg solcher epischer Martyrien, die —> Legenda aurea, eine Fülle von Ber.en über F.n, die der Märtyrer bis zu seinem Tod über sich ergehen lassen mußte: An den Haaren aufgehängt (—> Georg, Julianus), hart mit Geißeln geschlagen (Georg, Quintinus), glühenden Helm auf den Kopf gesetzt (—> Christopherus), flüssiges Blei auf den Kopf (Juliana) oder in den Mund gegossen (Primus, Felicianus, Quintinus [Kalk, Essig, Senf]), Mund mit Steinen zerschlagen (Hippolytus), Zunge herausgeschnitten (Leodegarius), Nägel durch Hände und Füße getrieben (Primus, Felicianus), Gebeine über Amboß zerschlagen Maria), —> Brüste abgeschnitten Katharina, Agatha), auf einen glühenden Eisenrost gelegt (Laurentius), auf glühende Eisenplatten (Thomas), aufs Rad gespannt (Juliana, Eufemia), an einen Stier gebunden und über den Boden geschleift (Saturninus), Glied für Glied mit Nägeln zerrissen (Georg) oder Fleisch mit eisernen Kämmen abgezerrt (Ignatius, Margareta, Blasius, Theodorus) 9 etc. Viele F.werkzeuge sind zu Attributen der Hll.n geworden.
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Ungewißheit oder Zweifel keinen Eingang finden. Das Strafenregister kann „fast noch umfangreicher als das der Vergehen selbst" sein 14 , und man könnte im Blick auf die —> Verstümmelungen von einer oftmals stufenhaften Darstellung der Todesstrafe sprechen, die im Sinne eines erzählerisch wirkungsvollen Schlusses (—> Achtergewicht) dem —> Gegenspieler als „quälende Vorstufe der eigentlichen Hinrichtung" 15 zugedacht sind: Verbrechern werden zuvor die —> Finger abgehackt, die —> Zunge herausgerissen, sie werden geblendet (—> Blendung; KHM 21, AaTh 510 A: —» Cinderella), —> lebendig begraben, aufs Rad geflochten, von wilden Tieren zerrissen, an den Schwanz eines Pferdes gebunden und durch die Stadt geschleift, in ein mit siedendem Öl gefülltes Faß oder in eine mit Nägeln gespickte Tonne (—» Nagelfaß) gesteckt 16 . Dabei begnügt sich das Märchen mit der kargen Schilderung des Faktums, so daß die Grausamkeit nicht eigentlich konkret ist, sondern entwirklicht (cf. —> Sublimation); —» Gefühls- oder Mitleidsäußerungen fehlen daher nahezu völlig. Solche —> extremen Situationen sind wohl eher ein erzählerisch-epischer Kunstgriff als das Nachwirken —> archaischer Züge oder —> Rechtsvorstellungen. So ist ζ. B. die im Märchen anzutreffende Vorliebe für die Nageltonne rechtshistorisch viel seltener belegt. Aber dies im einzelnen festzustellen, muß weiteren Unters.en vorbehalten bleiben.
In Märchen und Sage begegnet die F. als Beweismittel zur Erzwingung von Geständnissen selten 10 . So heißt es etwa in einem 1 Schweiz. Märchen, eine Hexe habe durch F. Quanter, R.: Die Leibes- und Lebensstrafen bei 2 ihr Verbrechen gestanden 11 . Andererseits allen Völkern und zu allen Zeiten. Lpz. 1906 (Nachdr. Aalen 1970); Helbing, F.: Die Tortur. verleitet die Furcht vor der F. zur Ablegung Geschichte der F. im Kriminal-Verfahren aller unrichtiger Geständnisse; und diese Tatsache Völker und Zeiten 1 - 2 . B. [ca. 1895] (Neuausg. führt dann zur Abschaffung der F. (schweiz. durch M. Bauer. B. 1926). - 2 RAC 8, 1 0 1 - 1 1 2 , Erklärungssage) 12 . Die Heanzen erzählen von 1 1 2 - 1 4 1 . - 3 Delehaye, H.: Les Passions des martyrs et les genres litteraires. Brüssel 1921,197 — einer ergebnislosen F., die vermeintlichen 4 hagiographiMörder werden dadurch nicht zu einem Ge- 202 und pass. — id.: 4Les Legendes ques. Brüssel (1905) 1955. - 5 EM 1, 68. 13 ständnis gebracht . 6 Delehaye (wie not. 3) 1 7 1 - 2 2 6 . - 7 Zu F. und Weit häufiger dagegen schildert das Mär- 'F.-Arten in der engl. Hll.nlegende cf. Wolpers, T.: chen die körperliche Schädigung als Teil einer Die engl. Hll.nlegende des MA.s. Tübingen 1964, 8 Strafe. Signifikant ist dabei, daß der Über- Reg. s.v. Marterung. — Hieber, W.: Legende, Protestant. Bekennerhistorie, Legendenhistorie. gang vom Verbrechen zur Strafe direkt stattStudien zur literar. Gestaltung des Hll.nthematik im findet, ohne das Dazwischentreten eines Ver- ZA. der Glaubenskämpfe. Diss. Würzburg 1970, hörs. Bei der Vorliebe des Märchens für —> bes. 1 7 9 - 2 0 2 , 2 1 5 - 2 8 8 . - 'Nachweise cf. LePrägnanz ist der —» Kontrast entscheidend, genda aurea/Benz, s.v. Reg. — 10 Für das Märchen so daß mit einem Verhör verbundene etwaige cf. Ludwig, O.: Richter und Gericht im dt. Märchen mittlere Stimmungen bzw. Situationen wie Bühl (Baden) 1935, 10, 37; Eberhard/Boratav,
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Folz, Hans -
Force, Charlotte Rose de Caumont de la
num. 158, 179, 200; für die Sage einige Beispiele bei Burde-Schneidewind, G. (ed.): Hist. Volkssagen aus dem 13. bis 19. Jh. B. 1977, num. 48. 223, 226. 11 Belege v. Ludwig (wie not. 10) 37. - 12 Walliser Sagen 1. ed. Hist. Verein von Oberwallis. Brig 1907, num. 32. - 13 Bünker, J. R.: Heanz. Schwänke, Sagen und Märchen in heanz. Mundart. Lpz. 1906, num. 69. - 14 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 143. - 15 ibid. - 16 cf. ibid., 143 sq.
Athen
Michael Meraklis
Folz, Hans —» Meistersinger Force, Charlotte Rose de Caumont de la, * Casenove (Gironde) um 1646, f Paris 16. 3. 17241. Aus einer der ältesten — Protestant. — Familien des frz. Hochadels stammend, 1686 zum Katholizismus konvertiert und durch kgl. Pension unterstützt, führte F. zunächst eine vielbemerkte und glänzende Existenz am Hof Ludwigs XIV. Verwicklungen in zahlreiche Affären und Skandale — u.a. wurde ihre 1687 mit dem Sohn des Präsidenten C. de Briou heimlich geschlossene Ehe auf Betreiben des Schwiegervaters in einem zweijährigen spektakulären Prozeß wieder aufgelöst 2 — ließen sie endlich die Gunst des Sonnenkönigs verlieren; 1697 zog sie sich, nach einem erneuten Skandal wegen irreligiöser Lieder, auf Betreiben des Königs in ein Kloster in Gercy-en-Brie zurück, das sie 1704 mit einer Benediktinerabtei in Paris vertauschte. Ihre intensiven Bemühungen um Freilassung hatten — nach einer zwischenzeitlichen Verbannung in ihre heimatliche Provinz — 1713 Erfolg. Noch 1697 erschienen — mit der Jahreszahl 1698 im Impressum und anonym — ihre Contes des contes', der Band stellt F.s einzigen Beitr. zur damaligen Lit.mode der —> Contes de(s) fees dar. Als Eigentümlichkeit dieser Erzählungen — im Unterschied bes. zu denjenigen von Charles —» Perrault und Marie Catherine d' —> Aulnoy — ist die extravagante Umformung von traditionellen und Volksmärchen-Motiven hervorgehoben worden 3 . Darüber hinaus neigt F. zu allegorisierender Darstellung, die aber fragmentarisch oder bewußt unscharf bleibt. Typisch für die Botschaft ihrer Contes des contes ist, daß die 45*
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Auseinandersetzung zwischen Tugend und Sünde oder schönen und häßlichen Feen oder höfischem und pastoralem Leben am Ende zu Integration führt und so ein fast dialektisches Vertrauen in die letztliche Geregeltheit des Weltlaufs unterstrichen wird. Unter den acht Erzählungen der Slg bietet lediglich Persinette ein weitgehend intakt belassenes Märchen: AaTh 310: —> Jungfrau im Turm. Die von F. Schulz 1790 — ohne Angabe der Herkunft — als Rapunzel publizierte Übertragung dieser Erzählung ins Deutsche dient dem Grimmschen Rapunzel (KHM 12) als Vorlage 4 . L'Enchanteur erzählt das in nach-Chretiensche —> Parzival-Bearb.en eingefügte episodische Buch Carados nach, das von der ehebrecherischen Beziehung der schönen Königin Isene zu einem Zauberer und dem erbarmungslosen Kampf ihres gemeinsamen Sohnes Carados gegen seine illegitimen Eltern handelt — mit für F. typischer Änderung zu einem insgesamt positiven Schluß; F.s Quelle, von ihr selber (ungenau) angegeben, ist der Prosa-Perceval von 1530 5 . An zwei weiteren Erzählungen sei gezeigt, wie F. traditionelle Märchenmuster und -motive umformt: Plus belle que Fee läßt sich auffassen als eine geschickt verschmolzene Kontrafaktur zu (u.a.) AaTh 500: Name des Unholds und AaTh 551: —» Wasser des Lebens mit zwei weiblichen Helden, denen der Sohn der bösen Fee als Helfer an die Seite gestellt ist. Gegen Schluß wird das Motiv vom Verbrennen der —> Tierhaut (Mot. D 721.3) eingesetzt. Die allegorisierende Erzählung Le Pays des delices bringt eingangs das Motiv der —» Aussetzung und dann den ersten Teil von AaTh 555: —» Fischer und seine Frau; dabei wird nicht ein Fisch gefangen, sondern eine Auster, die überdies Zwillingsschwester der Venus ist. Die Titel der übrigen Erzählungen lauten: Tourbillon; Verd et bleu·, La Puissance d'amour, La bonne Femme. Unter F.s Contes des contes werden Tourbillon und Verd et bleu in der Rezeption durch die frz. Volksbüchlein des 18. und 19. Jh.s bevorzugt.
Neben den Contes des contes enthält das (Euvre F.s mehrere oftmals im zensurfreien Ausland gedruckte Romane, in denen F. — ebenfalls nach einer Mode der Zeit — hist. Stoffe mit Liebesgeschichten versetzt, um so eine erklärende ,histoire secrete' zu den bekannten politischen und militärischen Ereignissen zu liefern 6 . 1 F.s Geburtsjahr wird unterschiedlich angesetzt; ausführlich dazu Storer, Μ. E.: Un Episode litteraire de la fin du XVII e siecle. La Mode des contes
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Forcee de gre — Formelhaftigkeit, Formeltheorie
de fees ( 1 6 8 5 - 1 7 0 0 ) . P. 1928 (Nachdr. 1972) 110; ibid., 1 0 9 - 1 1 4 und 277 (Qu.n- und Lit.-Angaben zu F.s Biogr.); weitere Präzisierungen der Biogr. v.: de Caumont due de la Force, A.-A.-N.: Une Romanciere au XVII e siecle. Son CEuvre et ses aventures. In: La Revue. Litterature, histoire, arts et sciences des deux mondes (1954, mars-avril) 620—635. — 2 Darüber handelt eine Versepistel von Jean de La Fontaine an den Prinzen de Conti aus dem Juli 1689; La Fontaine, J. de: CEuvres diverses, ed. P. Clarac. P. 1958, 6 9 9 - 7 0 2 . 3 Storer (wie not. 1) 1 1 6 - 1 2 5 ; Hillmann, H.: Nachwort. In: id. (ed.): Die schlafende Schöne. Frz. und dt. Feenmärchen des 18. Jh.s. Hbg 1967, 2 4 1 - 2 7 8 , hier 2 5 3 - 2 5 5 . - 4 Schulz, [J. C.] F.: Kleine Romane 1 - 5 . Lpz. 1 7 8 8 - 9 0 , hier t. 5, 2 6 9 - 2 8 8 (Neuaufl. t. 1 - 3 . Mannheim 1801, hier t. 1, 2 1 5 - 2 2 9 ) ; zu diesem Komplex ausführlich und mit vollständigem Abdruck der drei Texte: Lüthi, M.: Die Herkunft des Grimmschen Rapunzelmärchens. In: Fabula 3 (1960) 9 5 - 1 1 8 (erw. u. d.T. Rapunzel in: id.: Volksmärchen und Volkssage. Zwei Grundformen erzählender Dichtung. Bern/Mü. 1961 [ 2 1966] 6 2 - 9 6 ) . - 5 (anonym:) Tresplaisante et Recreative Hystoire du Trespreult et Vaillant Chevallier Perceval le Galloys jadis chevallier de la Table Ronde. P. 1530; cf. Storer (wie not. 1) 237sq. - 6 cf. Adam, Α.: Histoire de la litterature fran^aise au XVII e siecle 5. P. 1962, 314sq.; recht ausführlich und mit Sympathie für die Romane: Waldberg, M. von: Der empfindsame Roman in Frankreich 1. Straßburg/B. 1906, 2 0 5 - 2 5 9 .
Catherine de Bourbon, duchesse de Bar, et sceur de Henry le Grand, roy de France & de Navarre [. . .]. Nancy 1703 ( = Anecdotes du XVI e siecle, ou Intrigues de cour, politiques et galantes 1—2. Amst. 1741). L i t : Le Cabinet des fees [. . .] 37. Amst./P. 1786, 1 0 4 - 1 0 5 . - Biogr. universelle [. . .] 15. P. 1816, 2 4 8 - 2 4 9 . - Nouvelle Biogr. generale [. . .] 28. P. 1859, 8 0 0 - 8 0 3 . - Marquis de la Grange: Introduction. In: id. (ed.): Les Jeux d'esprit ou la Promenade de la princesse de Conti ä Eu, par Mademoiselle de la F. P. 1862, I - X X X I I I . BP 4,274. - Delarue, 21 sq., 1 7 9 - 1 8 1 . - Dictionnaire des lettres fran^aises. Le XVIP siecle. P. 1954, 567sq. (Verf. des Art.s ist der Due de la Force). - Jacobs, E.: Anthony Hamilton et Mile de la F. In: Revue des sciences humaines (1964, juillet—septembre) 3 7 9 - 3 9 0 . - Di Scanno, T.: La Mode des contes de fees de 1690 ä 1705. Genova 1968, 8 8 - 9 1 . - Barchilon, J.: Le Conte merveilleux fran^ais de 1690 ä 1790. P. 1975, 6 6 - 6 8 , 7 1 - 7 5 . - Dauphine, C.: Charlotte-Rose de Caumont, une romanciere du XVII e siecle. Perigueux 1980 (über Leben und Romane, mit kurzer Textanthologie).
Hamburg
Günter Dammann
Forcee de gre —» Vergewaltigung Forme irreductible —> Agnostische Theorie
A u s g . n : Histoire secrete de Bourgogne 1—2. P. 1694 ( = Histoire secrete de Marie de Bourgogne 1 - 2 . Lyon 1694). — Histoire secrete de Henry IV, roy de Castille. P. 1695 ( = Histoire secrete des amours de Henry IV, roi de Castille, surnomme I'Impuissant. La Haye 1695). - Histoire de Marguerite de Valois, reine de Navarre, sceur de Franc i s Ier 1 - 2 . P. 1696 (erw. t. 1 - 6 . P. 1783). Les Contes des contes par Mademoiselle de *** 1—2. P. 1698 (weitere Aufl.n: Les Fees. Contes des contes. Par Mademoiselle de ***. P. 1707; Amst. 1708; Amst. 1716; P. 1725; Amst. 1756); Wiederabdruck in: Le Cabinet des fees [. . .] 6. Amst./P. 1785, 1 - 2 0 0 ; Teileditionen v. Storer (wie not. 1) 267 und Morin, Α.: Catalogue descriptif de la Bibliotheque Bleue de Troyes. Geneve 1974, num. 1075, 1098 sowie Schenda, R.: Tausend frz. Volksbüchlein aus dem 19. Jh. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 9 (1969) 7 7 9 - 9 5 2 , num. 133 b, 914, 930; dt. Übers.en: Das Cabinet der Feen 8. Nürnberg 1765 (enthält alle acht Erzählungen ohne Angabe des Übersetzers [F. I. Bierling]); Schulz (wie not. 4) überträgt außer „Persinette" noch „La bonne Femme" als „Die gute Frau" in t. 4 (1789) 1 7 1 - 2 1 6 (Neuaufl. t. 3). Gustave Vasa, histoire de Suede 1—2. P. 1 6 9 7 98. — Anedocte [!] galante, ou Histoire secrette de
Formelhaftigkeit, Formeltheorie 1. Zur Geschichte der F.theorie — 1.1. M. Parry - 1.2. Α. Β. Lord - 1.3. Spätere Entwicklung der F.theorie - 1.3.1. Wesen der F. und des f.haften Systems — 1.3.2. Größere Erzähleinheiten — 1.3.3. Argumente für und gegen den mündl. Ursprung der klassischen und ma. Epen — 1.3.4. Ubergang von der mündl. zur schriftl. Form — 1.3.5. Anwendbarkeit der F.theorie auf andere mündl. Gattungen - 2. F.haftigkeit und Volkserzählung — 2.1. Formale Bauelemente 2.2. Inhaltliche Bauelemente
Seit langem ist es allg. anerkannt, daß die traditionelle Dichtkunst in großem Umfang Gebrauch von vorgefertigten Bauelementen (feststehenden Wendungen, Klischees, —> Stereotypen, —> Topoi, Formeln [F.n]) macht, die dem improvisierend Vortragenden ohne oder mit nur geringen Veränderungen augenblicklich verfügbar sind. Solche Elemente erscheinen in individuellen künstlerischen Äußerungen niemals in vergleichbarer Fülle. Die-
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Formelhaftigkeit, Formeltheorie
se grundsätzliche Unterscheidung zwischen traditioneller und individueller Dichtung ist der zentrale Punkt der F.theorie, die innerhalb der Epenforschung (—»Epos) entwickelt wurde. In diesem Fach wurde bisher auch der größte Teil der Forschungsarbeit geleistet; es gab einige Versuche, die Ergebnisse auf Balladen und mündl. Erzählen anzuwenden; vergleichbare Methoden wurden auf dem Gebiet der Volksmusik benutzt (und könnten auch für Tanz, Volksschauspiel etc. eingesetzt werden), aber die Zuverlässigkeit analoger Anwendung ist noch nicht ausreichend untersucht, um hier einen Überblick über diese Gebiete zu rechtfertigen. Die folgende Darstellung der F.theorie wird sich daher auf ihre Entwicklung im Bereich der Epenforschung und auf eine Diskussion ihrer Anwendbarkeit auf mündl. Prosaerzählungen sowie entsprechende Bemühungen in der Balladenforschung konzentrieren. 1. Z u r G e s c h i c h t e d e r F . t h e o r i e . Die F.theorie 1 basiert auf der Annahme, daß die f.hafte Diktion der epischen Dichtung Ergebnis einer traditionellen Technik ist, die mündl. sein muß (-> Orale Tradition). Improvisiertes Dichten (—»Improvisation) während des Vortrags mittels einer speziellen f.haften Sprache ist für das zeitgenössische mündl. Epos aus Europa, Asien und Afrika belegt. Die Anhänger der F.theorie versuchen nachzuweisen, daß den meisten klassischen und ma. Epen eine ähnliche Dichtungsmethode zugrunde liegt. Für die Beweisführung zentral ist die —> Homerforschung, innerhalb der die F.theorie von M. —» Parry 2 1928—37 in einer Reihe von Unters.en erstmals vollständig entwickelt wurde. Parrys Vorläufer lassen sich bis ins 18. Jh. zurückverfolgen 3 (cf. auch —> Fragmententheorie), und Parrys Befunde enthielten nichts Wesentliches, das nicht schon um 1850 von einigen Homerforschern erkannt worden war 4 ; ihm gelang es jedoch nicht nur, den umfassenden und systematischen Charakter f.hafter Diktion aufzuzeigen, sondern auch die Relevanz seines Ansatzes für ein Gebiet unter Beweis zu stellen, das mehr als ein Jh. lang von der unlösbaren Kontroverse um die Frage beherrscht worden war, ob die homerischen Epen von einem oder mehreren Autoren verfaßt worden seien.
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1.1. M. P a r r y . Parry stellte seine Hauptgedanken 1928 in seiner Diss, über das Epitheton ornans bei Homer vor 5 . Sein Zugang soll an einem vereinfachten Beispiel erklärt werden: Odysseus wird fortwährend mit den Epitheta ,der Erfindungsreiche' (polymetis), ,der Vielduldende' (polytlas) oder ,der Göttliche' (dios) belegt; der Grund für die ständige Wiederholung dieser schmückenden Beiwörter ist nicht offenkundig, denn die meisten stehen nicht in Bezug zum Kontext 6 . Parry gibt die Erklärung, daß die konkrete Anwendung der Epitheta — obwohl durch sie eine allg. poetische Wirkung erzielt wird — eher von einem metrischen als von einem semantischen Standpunkt aus begriffen werden muß. Ihre Funktion besteht darin, die poetische Idee ,Odysseus' in unterschiedlichem Ausmaß zu dehnen, so daß der Sänger dieselbe poetische Idee unter verschiedenen metrischen Bedingungen ausdrücken kann. Jeder wichtige Held oder Gott der Ilias oder Odyssee besitzt eine Reihe solcher Epitheta, die S y s t e m e bilden: Es gibt gewöhnlich nur eine Kombination von Epitheton und Nomen zur Füllung einer bestimmten Stelle im Hexameter; die Systeme zeichnen sich somit nicht nur durch ihre Ausdehnung (extension), sondern auch durch ihre Ökonomie (thrift) aus. Für fast jeden Gott oder Helden gibt es ζ. B. durch Epitheta erweiterte Wendungen, die das zweite Hemistichium nach jeder der üblichen Zäsuren füllen. Sie können als Subjekte mit einem ebenso umfangreichen System von Prädikaten kombiniert werden, die das erste Hemistichium ausfüllen. Parry nannte solche Wendungen F.n und definierte die F. als „eine Gruppe von Wörtern, die bei Vorliegen der gleichen metrischen Bedingungen regelmäßig verwendet wird, um einen gegebenen Vorstellungskern auszudrücken" 7 . Ein Dichter, der über eine ausreichende Zahl von Prädikat- und Subjekt-F.n zur Füllung des ersten bzw. zweiten Hemistichiums des homerischen Hexameters verfügt, ist in der Lage, jede beliebige Anzahl metrisch perfekter Verse zu improvisieren, indem er einfach diese Bauelemente miteinander kombiniert; er muß also nicht auswendig lernen. Dasselbe gilt für zahlreiche andere F.typen.
Seit langem ist bekannt, daß —> Loci communes bei Homer in großer Fülle auftreten. C. E. Schmidt 8 hat dies mit äußerster Gründlichkeit nachgewiesen; für die Ilias gibt er 5.605, für die Odyssee 3.648 Verse an, die als Ganzes wiederholt werden oder aus wiederholten Wendungen gebildet sind (36% bzw. 30% der Gesamtanzahl). Parry zeigte, daß der gesamte Stil beider Epen f.haft ist. Er ergänzte seine Theorie durch die Konzeption des f.haften Systems, einer „Gruppe von Ausdrücken, die denselben metrischen Wert
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haben und in Inhalt und Formulierung genug Ähnlichkeit besitzen, um keinen Zweifel daran zu lassen, daß der Dichter, der sie verwendete, sie nicht nur als Einzel-Formeln kannte, sondern auch als Formeln eines bestimmten Typs" 9 . Die Einführung dieser Konzeption beruht auf der Beobachtung, daß neue F.n nach dem Muster bereits bestehender gebildet zu sein scheinen und so eine Tendenz zeigen, eng verknüpft in Häufungen aufzutreten. Parry analysierte die ersten 25 Zeilen der beiden homerischen Epen 1 0 nicht nur in Hinblick auf wörtliche Wiederholungen, sondern auch auf analoge f.hafte Wendungen. Dieses später von vielen Nachfolgern angewandte Verfahren ermöglichte es ihm nachzuweisen, daß fast jeder Vers f.haftes Material enthält. Ein Vergleich mit weiteren Werken der griech. Lit. zeigte, daß andere frühe Texte auch zu einem gewissen Grade f.hafte Diktion aufweisen, die aber bald mehr und mehr zurückging und später völlig verschwand. Parry nahm dies als Beweis für den Ubergang zu einer neuen, schriftl. Dichtungsmethode, die sich von der Homers grundlegend unterschied. Studien zu anderen Aspekten der homerischen Epen bestätigten seine Uberzeugung, daß zur richtigen Bewertung ihres Wesens metrische Gesichtspunkte von überaus großer Bedeutung seien. So Schloß er in seiner Unters. der homerischen Sprache 11 , die keinem der bekannten griech. Dialekte entspricht, daß sie sich als Reaktion auf die Erfordernisse des Hexameters entwickelt habe. Schließlich ergab auch Parrys Beschäftigung mit dem Enjambement bei Homer im Vergleich zu anderen Epen (—> Vergils/lne« [cf. —> Äneas], Argonautika des Apollonios Rhodios [cf. —> Argonauten]), daß die Tendenz, einen Satz am Versende abzuschließen oder lediglich durch Zusatzelemente fortzuführen, auf die im Vorangegangenen nichts hindeutet (von Parry als ,unperiodisches' Enjambement bezeichnet), bei Homer weit stärker ausgeprägt ist als im späteren Epos 12 . Der sich daraus ergebende parataktische, ,additive' Stil weist in dieselbe Richtung wie die oben genannten Charakteristika: Die homerische Diktion wurde geprägt von den Erfordernissen der Improvisation beim mündl. Vortrag, bei dem der Sänger durch die völlige Beherrschung
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eines bestimmten Stils und Rhythmus, einer melodischen Begleitung und eines Bestands an f.haften Wendungen in der Lage war, seine Erzählungen jedesmal neu zu schaffen 13 . Der epische Sänger ist also Ausführender, Schöpfer und Traditionsträger in einer Person. Dieser epische Stil in seiner Komplexität, Flexibilität und Ausdruckskraft kann nach Parrys Ansicht unmöglich als Werk eines einzelnen gelten, wie sich aus dem Vergleich mit Epen späterer Dichter deutlich ergibt; er mußte das Ergebnis einer langen mündl. Tradition sein. Parry schloß daher, daß die homerischen Epen eine Kunstform darstellten, die im schriftlosen Griechenland schon jahrhundertelang gepflegt worden war, bevor (auf ihrem Höhepunkt?) einige Proben davon für die Nachwelt aufgezeichnet wurden 14 . Um zu beweisen, daß seine nicht von allen Homerforschern wohlwollend aufgenommenen revolutionären Thesen fundiert seien, wandte sich Parry der zeitgenössischen epischen Tradition Jugoslawiens zu; mit ihr hatten sich vorher bereits andere Wissenschaftler befaßt, denen ihre Ähnlichkeit mit den homerischen Epen aufgefallen war 15 . Eine Voruntersuchung des von Parry in Jugoslawien gesammelten Materials 16 , die wegen seines frühen Todes (1935) nicht zu Ende geführt wurde, zeigte, daß er sich in wachsendem Maße der Bedeutung der typischen Handlungselemente oder ,Themen' (themes), wie er sie nannte, für die Technik mündl. Dichtung bewußt wurde (v. unten). 1.2. Α. B. Lord. Parrys Gedanken wurden weitergeführt von Α. B. —»Lord, der nach zusätzlichen Feldforschungen und der Teilveröffentlichung des Materials 1960 die Ergebnisse ihrer beider Arbeit publizierte 17 . Lord erweiterte die Konzeption seines Lehrers vor allem in folgenden Punkten: (a) Er dokumentierte die Erlernung und Ausübung der Kunst durch den Sänger; (b) er untersuchte die f.haften Systeme in bezug auf eine lebendige Tradition; (c) er baute Parrys noch nicht voll entwickeltes Konzept der typischen Handlungselemente zu einem wesentlichen Teil der Theorie aus. Lord erkannte, daß sich das Erlernen der Kunst des epischen Gesangs in drei Stufen vollzieht: Zunächst, gewöhnlich in der Pubertät oder kurz da-
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nach, hört der Schüler den älteren Meistern zu, lernt die Gusle oder die Tambura spielen und übt für sich allein. Der zweite Abschnitt beginnt, wenn er selbst zu singen anfängt, und endet, wenn er vor einem kritischen Publikum ein vollständiges Lied vortragen kann. Der dritte und letzte Lernabschnitt ist abgeschlossen, wenn das Repertoire des Sängers groß genug ist, um mehrere Nächte lang Unterhaltung zu bieten. Lord verglich diese Entwicklung sowohl mit einer Lehrzeit als auch mit dem Erlernen der Muttersprache, da es sich um den Erwerb einer bestimmten Fertigkeit durch Imitation und Experimentieren während eines zwanglosen Lernprozesses handelt. Der vollendete Meister hat große Freiheit im Ausdruck, bleibt aber immer gänzlich seiner Tradition verhaftet; er strebt nach Kompetenz, nicht nach Originalität. Lord fand heraus, daß die Epensänger Jugoslawiens verschiedenen gesellschaftlichen Schichten angehörten und nicht als Berufsstand bezeichnet werden konnten (auch wenn einige von ihnen gegen Bezahlung sangen), daß sie aber zweierlei gemeinsam hatten: Alle waren Männer und Analphabeten. Das Erlernen von Lesen und Schreiben wirkte sich immer negativ aus.
In seinen Unters.en f.hafter Wendungen unterstrich Lord einige von Parrys Beobachtungen und fügte andere, eigene hinzu. Er bemerkte ζ. B., daß bestimmte Arten von Wörtern regelmäßig in bestimmten Stellungen erscheinen und daß bestimmte grammatische Konstruktionen vorherrschen; er erörterte auch das häufige Vorkommen von Resonanzphänomenen, den Nachhall wichtiger Passagen in Rhythmus, Vokalmuster und Alliterationen — alles Zeichen von F.haftigkeit. Daher definierte er die f.haften Wendungen sehr viel umfassender als Parry als eine nach dem F.muster gebaute Zeile oder Halbzeile 18 . Er gab damit Parrys Definition der f.haften Systeme als unterschiedliche Verkörperungen derselben epischen Idee auf. So stellte er in seiner Unters, des Chanson de Roland (cf. —> Roland) ein System fest, bei dem die Zeile mit ,tient',,trait' oder ,prent' beginnt und mit einem anschließenden dreisilbigen Nomen-Objekt endet: Durendal Halteclere (trait) Tencendur tient ses chevels (prent) ses crignels sun espiet sun escut l'olifan 19 . In diesem System wird eine Wendung wie ,tient Durendal' als f.haftes Äquivalent von ζ. Β. ,prent
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l'olifan' gesehen, obwohl beide Wendungen zwei unterschiedliche epische Gedanken vermitteln.
Diese Ausweitung der Konzeption war bei Lords Denkweise notwendig. Er erklärte, daß der Sänger sich bei der schnellen Improvisation vor einem Publikum auf allen Ebenen auf feststehende Gewohnheiten, Assoziationen und Analogien stützen muß. Bei Aufzeichnungen von Textvorträgen wird dies deutlich an den durch Wiederholungen, Parallelismen und Kontrasten verbundenen Ton- und Rhythmusmustern, Alliterationen, Assonanzen und Reimen. Der Begriff der F.haftigkeit erhält so eine sehr weitgefaßte Bedeutung, was vielleicht verständlich ist, wenn er zur Unters, einer mündl. Tradition in ihrer Gesamtheit gebraucht wird; doch gleichzeitig verliert er viel von seiner Präzision. Beide Kriterien Parrys für f.hafte Systeme, Ausdehnung und Ökonomie, können nicht zur Anwendung kommen, da die Ausdehnung wegen der Breite von Lords Konzeption an Unendlichkeit grenzt und es unmöglich wird, Ökonomie nachzuweisen. Lord zeigte jedoch, daß das Kriterium der Ökonomie auf das Repertoire eines einzelnen Sängers anwendbar ist20, übrigens ein Argument dafür, daß die homerischen Epen einem einzigen Sänger zuzuschreiben sind. Die als ,Themen' bezeichneten typischen Handlungselemente definiert Lord als wiederholte Vorkommnisse und beschreibende Passagen 21 : die Einberufung einer Versammlung, die Vorbereitungen zu einer Hochzeit, die Übermittlung eines Briefes, die Bewaffnung eines Kriegers, die Aufzählung der Helden in einem Heer etc. Diese ,Themen' werden, wo immer es möglich ist, in überkommenen Wendungen vorgetragen; es gibt feste Beschreibungsmuster, ζ. B. für den Aufputz eines Pferdes, und sie finden ihren Ausdruck immer in f.hafter Sprache. Dem Sänger geben solche Routinepassagen Zeit, seine Gedanken zu sammeln und sich auf das Folgende vorzubereiten, sie sind Atempausen im raschen Kompositionsprozeß. Die .Themen' dienen ebenso der Ausschmückung (—» Dekorative Züge). Lord bringt dafür ein anschauliches Beispiel: Mumin Vlahovljak, selbst ein meisterhafter Sänger, trug das Lied von Beciragic Meho im Beisein des großen Avdo Meöedovic vor. Danach
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wurde Avdo, der von dem beabsichtigten Experiment nichts wußte (cf. —> Experimentelle Erzählforschung), gebeten, das ihm bis dahin unbekannte Lied selber zu singen. Er kam dem Wunsch sofort nach, und während Mumins Lied die schon beachtliche Länge von 2.294 Versen aufwies, brachte Avdo es auf 6.313 Verse, die Hälfte des Umfangs der Odyssee. Er erreichte dies durch Ausschmückung mit ,Themen', Herausarbeitung von Details und größere Tiefe der Charakterisierung22. Lord wies nach, daß Avdo ausgiebig Gebrauch von ,Themen' machte, die sich auch anderwärts in seinem Repertoire finden.
.Themen' bilden also einen wesentlichen Bestandteil des ,Arsenals' eines Sängers. Manchmal scheinen in ihnen rituelle und religiöse Elemente früherer Kulturstufen nachzuklingen, und es gibt Anzeichen dafür, daß sie oft durch eine untergründige Kraft, die Lord ,tension of essences' nennt, zusammengehalten werden 2 3 . Ζ. B. liegt es nahe, daß das Thema Verkleidung regelmäßig mit dem Thema Wiedererkennung verbunden ist, aber das ist nicht alles. So enthalten die in der jugoslaw. Tradition verbreiteten Heimkehrerlieder gewöhnlich die Elemente (1) Gefangennahme, (2) Hilferuf und Befreiung, (3) Heimkehr und (4) folgende Ereignisse; Element (3) enthält regelmäßig die Themen (a) Verkleidung, (b) irreführende Erzählung und (c) Wiedererkennung — ein Aufbau, der deutlich an den der Odyssee erinnert. Die ,Themen' werden so von größeren Strukturen geordnet. Lord war sich bewußt, daß seine Gedanken sich hier mit den Ideen V. Ja. —» Propps berühren 2 4 , ging der Sache aber nicht weiter nach. Dies ist im wesentlichen die F.theorie von Parry und Lord. Sie ist in hohem Maße durch Feldforschungen bestätigt worden 2 5 ; Bemühungen, die Mündlichkeit einer Reihe klassischer und ma. Epen zu beweisen, wurden hingegen nicht so einhellig akzeptiert 26 . Zu den ersten, die die F.theorie auf ma. Texte anwandten, zählten C. M. Bowra, F. J. Magoun und J. Rychner 2 7 , und nach Erscheinen von Lords Buch folgten viele andere 2 8 . 1.3. S p ä t e r e E n t w i c k l u n g d e r F . t h e o rie. Die hauptsächlichen Auseinandersetzungen konzentrieren sich seither auf die folgenden fünf Streitfragen: 1.3.1. D a s W e s e n d e r F. u n d d e s f . h a f t e n S y s t e m s . Parrys Definitionen, die
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auf metrischen wie stilistischen und semantischen Überlegungen beruhen, sind als zu eng und mechanisch empfunden worden (bes. wenn sie so dogmatisch angewandt wurden wie von einigen seiner Schüler), Lords Konzeption des F.systems dagegen als zu vage 29 . Unter den neueren Impulsen 3 0 sollte vorrangig vielleicht der generative Ansatz erwähnt werden. Μ. N. Nagler 3 1 unterscheidet zwischen der vorsprachlichen Gestalt, einer geistigen Tiefenstruktur, und ihrer Transformation in die präzise Äußerung mittels eines Zwischenstadiums von syntaktischen und phonologischen Normenmustern. Die verschiedenen Allomorphe, die von derselben Gestalt generiert werden, werden als Glieder desselben nicht abgeschlossenen .Familien Systems gesehen. Bei seiner Betrachtung der —> Motive, der Grundbausteine der Erzählung (v. unten), erklärt Nagler, wie die Familienähnlichkeit' zustande kommt: Ein Motiv kann ζ. B. der Auftritt des Helden oder der Heldin sein. Der Sänger, der es gebrauchen will, greift zu einer Gestalt, die Elemente enthält wie: (1) der Held/die Heldin, (2) in entsprechender Aufmachung, (3) schreitet vor/steigt herab/kommt aus den Frauengemächern, (4) nicht allein, (5) sondern begleitet (6) von zwei Dienern/ Mägden. Jedes dieser Elemente kann bei der Ausgestaltung des Motivs weggelassen oder ausgeschmückt werden, wenn es aber erwähnt wird, besteht die Tendenz, es mit einer speziellen Wendung zu verbinden (deren Resonanz manchmal sogar spürbar ist, wenn das Element selbst nicht erscheint; daher der frappierende Gebrauch von Dualen für die Begleiter, auch wenn es nicht zwei sind). Die Ähnlichkeit f.hafter Wendungen rührt somit aus ihrer genetischen Verwandtschaft her, nicht aus oberflächlicher Analogisierung.
Einen ähnlichen Ansatz vertritt N. Kiparsky 32 . Er setzt die stehenden F.n den f e s t e n Wendungen der Alltagssprache gleich, die durch willkürlich beschränkte Distribution, erstarrte Syntax und nicht-kompositionelle Semantik charakterisiert werden (Beispiel: „a foregone conclusion"). Andererseits sind die Elemente f l e x i b l e r Wendungen durch syntaktisch-semantische Beziehungen mit Kookurrenzrestriktionen verbunden, und solche Wendungen erscheinen im epischen Gesang als f.hafte Systeme. Die Glieder einer flexiblen F. müssen grammatisch verwandt sein (in linguistischer Terminologie: Sie müssen Schwestern einer Konstituente
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Formelhaftigkeit, Formeltheorie
sein, d. h. direkt beherrscht von demselben Knotenpunkt - Naglers ,Gestalt'); keine Form eines solchen Systems braucht als Prototyp betrachtet zu werden, von dem die anderen durch Analogiebildung abgeleitet wären. Jedes Glied des Systems kann durch neue Elemente weiter spezifiziert werden (dadurch erklärt sich das Phänomen zusammengesetzter F.n). Es erweist sich, daß F.n nicht so streng wie früher angenommen an bestimmte metrische Positionen gebunden sind (gewissermaßen ein Widerspruch zu Parry); die Improvisation in metrischer Form muß als ein spezieller Gebrauch f.hafter Sprache aufgefaßt werden, nicht als ihre Ursache. Es gibt natürlich noch andere gebräuchliche Definitionen der F., nicht zuletzt, weil sie verschiedenen epischen Traditionen Rechnung tragen, wahrscheinlich wird aber künftig der generative Ansatz für die Erzählforschung gerade wegen seiner relativen Unabhängigkeit von der Frage der Metrik von bes. Interesse sein. 1.3.2. G r ö ß e r e E r z ä h l e i n h e i t e n . Als Ersatz für Parrys nicht ganz eindeutigen Begriff ,theme' bietet sich eine Reihe anderer Termini an. W. Arend 33 gebrauchte ,typische Szene', Nagler (v. oben) zieht ,Motiv' für kleinere und ,Motivsequenz' für größere Einheiten vor. E. R. Haymes 34 unterscheidet zwischen drei Ebenen: Einzelmotive bzw. Motivgruppen, typische Szenen, Gerüste, die mehrere Szenen ordnen. N. Voorwinden und M. de Haan 35 verwenden statt ,typische Szenen' den Ausdruck ,Erzählschablonen', der zu Recht eine gewisse Gültigkeit erlangt hat, da er sich nicht mit Terminologien anderer Zielrichtung überschneidet. Eine feste Taxonomie hat sich nicht entwickelt; die Epenforschung hat ihren Propp noch nicht gefunden. Anzumerken ist weiter, daß bei der kleinsten Einheit eine Ähnlichkeit mit Phänomenen der Prosaerzählung, wie den ir. ,Runs', zu bestehen scheint (cf. auch Kap. 2.1. und 2.2.). 1.3.3. A r g u m e n t e f ü r und gegen den m ü n d l . U r s p r u n g der klassischen und ma. E p e n . Wissenschaftler, die offenbar —» Analphabetismus mit Primitivität und niedrigem Kulturstand in Zusammenhang brachten, reagierten mit Befremden auf den Ge-
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danken, daß die großen Epen vergangener Zeiten mündl. entstanden sein sollten. Die Anhänger der F.theorie sahen sich daher gezwungen nachzuweisen, daß Sänger ohne Lese- und Schreibkenntnisse tatsächlich Epen hervorbringen können, die ebenso lang und von ebenso hohem Wert sind wie ζ. B. die homerischen. Hinsichtlich des Umfangs ist dies gelungen: Von einigen serb. Sängern wurden Lieder aufgezeichnet, die so lang wie die Odyssee sind, noch längere sogar bei asiat. Turkvölkern; alle übertrifft jedoch das Mwindo-Epos, das Candi Rureke aus Zaire den Sammlern an zwölf aufeinanderfolgenden Tagen jeweils vom Morgen bis in die späte Nacht, mit nur kurzen Unterbrechungen, vortrug 36 . Die Qualitätsfrage stellt sich schwieriger dar. Einige Kritiker der Parry-LordSchule behaupten, ihren Anhängern fehle jeglicher Sinn für Ästhetik 37 . Hier fragt sich, wonach denn künstlerischer Wert zu bestimmen ist. Zumindest muß der Beurteiler mit der jeweiligen Sprache und Kultur eng vertraut sein, um den relativen Wert ζ. B. klassischer griech., ma. frz. und moderner kirgis., serb. und Bantu-Epen objektiv einschätzen zu können 38 . Das Problem bleibt ungelöst, die Nicht-Mündlichkeit der homerischen Epen kann aber weder auf quantitativer noch auf qualitativer Basis nachgewiesen werden. 1.3.4. Ü b e r g a n g von der mündl. zur schriftl. Form. Daß die homerischen Epen einen so hohen Grad der Vollendung erreichen konnten, wurde auf den Übergang zu einer neuen (schriftl.) Dichtungsmethode zurückgeführt, und es wurde sogar geltend gemacht, das griech. Alphabet sei speziell zum Zweck ihrer Niederschrift geschaffen worden 39 . Zur Frage, wie man sich diesen Übergang vorzustellen hat, verfocht Lord konsequent die Auffassung, daß die Kluft zwischen mündl. und literar. Dichtungsmethode unüberbrückbar sei: Die Dichtung komme entweder mit Hilfe der Technik der mündl. Sänger zustande, wobei der Stil f.haft sei, oder der mündl. Stil werde imitiert 40 , und dann handle es sich bei f.haft wirkenden Wendungen in Wirklichkeit um bloße Wiederholungen. Er verweist u.a. auf den Franziskaner Andrija Kacic Miosic (1704—60), der in Prosa und Vers eine Geschichte der Süd-
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slaven schrieb und sich dazu des Stils der traditionellen Heldenlieder bediente, dabei allerdings wesentliche Änderungen einführte wie den Endreim und die vierzeilige Strophe (das mündl. serb. Epos ist stichisch); hinzu kommt eine beträchtliche Verringerung der F.dichte. Diese Beobachtung gewinnt Bedeutung in Zusammenhang mit dem Problem der ma. europ. Epen, denn nur wenige unter ihnen weisen eine F.dichte auf, die mit der von Parry für Homer festgestellten F.haftigkeit zu vergleichen ist: J. J. Duggan fand bei 13 altfrz. Epen und Versromanen eine F.haftigkeit von 1 5 - 3 9 % heraus und 31,7% beim Cid, der sich damit seiner Ansicht nach fest unter die mündl. Epen einreiht 41 ; Magoun ermittelte eine F.haftigkeit von nicht weniger als 70% in den ersten 50 Zeilen des —>• Beowulf42·, F. H. Bäuml und E. Spielmann stellten beim —> Nibelungenlied in der Dichte der f.haften Konstruktionen einen Schwankungsbereich von 25—80% pro Strophe fest 43 . Die Messungskriterien für die F.dichte sind umstritten. So ist für Haymes, im Gegensatz zu Duggan, die einmalige Wiederholung eines Hemistichiums nicht ausreichend, um als f.haft gelten zu können 44 (eine Wiederholung in mehreren tausend Zeilen könne zufällig sein oder in einer bestimmten Absicht gebraucht werden — an der Handhabung der F. aber werde eine bestimmte Dichtungstechnik sichtbar). Bäuml und Spielmann halten an Lords strenger Unterscheidung der beiden Dichtungsmethoden fest, glauben aber im Fall des Nibelungenlieds, daß sich ein des Schreibens kundiger Autor zur Abfassung des für ein lesekundiges Publikum bestimmten überlieferten Gedichts der mündl. Tradition bedient habe — wahrscheinlich der Niederschrift eines mündl. vorgetragenen Texts 45 . Möglicherweise ist ähnliches für andere ma. Epen anzunehmen, ζ. B. den Beowulf, in dem sich ein relativ hoher Grad an F.haftigkeit mit unbestreitbaren Spuren christl. und klassischer Einflüsse verbindet, die nur auf einen schreibkundigen (und sehr belesenen) Dichter zurückzuführen sein können. M. Curschmann 46 , ein Verfechter des Übergangsstadiums zwischen beiden Dichtungsmethoden, erwähnt zahlreiche Beispiele nachweisbar literar. ma. Epen, die hohe F.dichte besitzen. Was die homerischen Epen betrifft, so ver-
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teidigt Lord die schon von Parry vertretene These, daß es sich um einen mündl. diktierten Text handle, d. h., daß der Sänger — der (gleichgültig, ob er nun lesen und schreiben konnte oder nicht) ganz sicher unabhängig von literar. Einflüssen dichtete — seine Lieder einem geübten Schreiber diktierte, vielleicht unter außergewöhnlich günstigen Umständen, durch die sich ihre künstlerische Tiefe und Vollendung erklären würde 47 . Ergebnisse von Feldforschungen in Jugoslawien haben bestätigt, daß ein solches Verfahren durchaus praktikabel ist. Die Vertretbarkeit von Lords Standpunkt kann nicht von der Hand gewiesen werden, man sollte sich aber bei der Unters. ma. Epen vor Augen halten, daß ein wenn auch kleiner Teil — der ma. Gesellschaft damals schon lange literarisiert war und Übergangsformen zweifellos ihren Platz gehabt haben könnten. 1.3.5. A n w e n d b a r k e i t der F . t h e o r i e auf a n d e r e mündl. G a t t u n g e n . Daß Kurzgattungen wie —> Sprichwort 48 und —» Rätsel 49 regelrecht nach traditionellen F.n gebaut sind, ist inzwischen erwiesen, und weitere Forschungen auf diesem Gebiet sind sicher zu erwarten. So könnten auch Kinderreime, Wiegenlieder, Zaubersprüche und andere kürzere Genres einer Analyse nach der ParryLord-Methode unterzogen werden. Von größerer Bedeutung sind vermutlich aber Versuche, die Erkenntnisse von Parry und Lord auf die —»Balladen-Überlieferung Mittel-, West- und Nordeuropas anzuwenden. Die Ballade unterscheidet sich von der epischen Tradition in mehrfacher Hinsicht: Sie ist strophisch, nicht stichisch; sie ist gereimt und besitzt häufig einen Refrain; ihr Erzählstil ist eher lyrisch-dramatisch als episch, verdichtet und von Ausschmückungen frei; Balladen werden sowohl von Frauen als auch von Männern gesungen, manchmal als Begleitung zum Tanz; der epische Gesang dagegen ist den Männern vorbehalten und ausschließlich zum Zuhören bestimmt. Trotz dieser Divergenzen sind Balladen ebenso f.haft geprägt wie epische Lieder. Man hat sich sehr um die Unters, ihrer ,F.-', ,Gemein-', ,Geripp-', ,Lieblings-' oder ,Wanderstrophen' bemüht 50 , wobei jedoch gewöhnlich die F.haftigkeit als Zeichen des Verfalls gewertet wurde 51 . So besteht der
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hauptsächliche Zweck des F.katalogs von E. von der Recke darin festzustellen, zu welchen Balladen die Stereotypen ursprünglich gehört hatten, bevor sie durch das von mangelhafter Beherrschung der Texte bedingte Zersingen davon abgelöst wurden 52 . Lords Arbeit wirkte auch in diesem Forschungsbereich inspirierend. Nachdem einige kleinere Abhandlungen zum Thema erschienen waren 53 , kristallisierten sich zu Anfang der 70er Jahre drei methodische Entwürfe heraus. Am wenigsten kompliziert ist der Beitrag von W. H. Anders 54 , dessen Hauptziel ist, die F.haftigkeit (in Parrys Sinne) in der ags. Balladentradition nachzuweisen. Er beobachtet äußerst produktive F.muster und unterscheidet zwischen individuellen und regionalen Gewohnheiten des F.gebrauchs; daraus schließt er, daß Balladen nach der gleichen Methode wie epische Lieder gedichtet worden sein müßten. D. Buchan 55 , der sich mit der Tradition Nordostschottlands befaßt, ist vorsichtiger. Er glaubt, daß die Kunst mündl. Balladenimprovisation nur bis zum Beginn der Alphabetisierung, d. h. bis Ende des 18. Jh.s, lebendig war; für spätere Qu.n, die immer stärkere Tendenz zum Auswendiglernen der .richtigen', gedruckten Versionen zeigen, sei Improvisation nicht mit gleicher Sicherheit belegbar. Daher konzentriert Buchan sich auf die früheste Informantin der Gegend, Anne Brown of Falkland (1747-1810), die fast alle ihre Lieder vor 1759 lernte. Viele ihrer Balladen wurden mehrmals und von verschiedenen Sammlern aufgezeichnet, und an den Aufzeichnungen wird eine ausgeprägte und hohe Variabilität sichtbar, die Buchan sich nur damit erklären kann, daß die Sängerin die Balladen beim Singen oder Diktieren jedesmal neu schuf 56 . Er untersuchte ihre Technik daraufhin, wie sie eine komplizierte Erzählsequenz im Griff behielt, und fand heraus, daß sie sich dazu drei synchroner Strukturierungen bediente: der Strophenstruktur, bei der eine vereinheitlichte Strophengruppe in Szenen arrangiert wird; der Personenstruktur, die die Protagonisten gruppiert; der Erzählstruktur, die die Handlungseinheiten ordnet. Bisweilen entsprechen die drei Strukturen einander genau; bes. bei längeren Balladen bilden sie manchmal aber eine Art strukturellen Kontrapunkt 57 . Buchan führt diese Struk-
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turen zurück auf die der Mündlichkeit eigene Gewohnheit des Denkens in Gleichgewichten (Antithesen, Parallelismen), triadischen Rhythmen (häufig als Steigerung bis zu einem Höhepunkt, an den sich eine Koda anschließt) und in Rahmen- oder Ringformen 58 . Das Geheimnis des improvisierten Reimens beruht auf folgender Technik: Die Anzahl regelmäßiger Reimlaute ist begrenzt, und die erste der reimenden Zeilen, die zweite des Vierzeilers, die gewöhnlich nicht als unabhängiger Bedeutungsträger fungiert, wird durch eine semantisch leere Wendung, eine F., gefüllt, auf die sich die vierte Zeile reimt 59 . Schließlich nahm Buchan die Bewahrung bestimmter Klänge und syntaktischer Muster in verschiedenen Versionen derselben Ballade zum Nachweis dafür, wie die Sänger sich ihre Lieder einprägen: nämlich als Sequenzen von Höreindrücken (im Gegensatz zum visuellen Lernen der Lesekundigen) 60 . O. Holzapfel verfolgt ein etwas anderes Ziel; die technischen Fragen ordnet er der Beschreibung der ,balladesken' Erzählweise unter, die sich durch ,Ballung und Engführung' auszeichnet, im Gegensatz zu ,Reihung und Ausfaltung', den Merkmalen der Volkserzählung 61 . In einer Reihe von Unters.en über Balladen des germ. Sprachbereichs, bes. dän., isoliert und beschreibt er ein System (von ihm so benannter) epischer F.n, wobei er die rein ornamentalen Epitheta und andere Stereotypen vernachlässigt. Das Spezifische an der Ballade ist, daß die Handlung selbst zu einer stereotypisierten Kette epischer F.n vereinfacht wird und nach einem festen Schema abläuft: Situation, Konfrontation, Alarm, Aktion und Reaktion. Die Ballade stützt sich also auf das Thema, nicht auf das Motiv 62 . Die epische F. entsteht aus meist strophenfüllenden, stereotypisierten Handlungselementen der Ballade, welche in enger narrativer Verkettung, oft stufenweise, eine Erzählung balladesk strukturieren. Sie ist wesentliches Kompositionsmittel und wichtiges, gattungskonstituierendes Element in der Erzählweise der Volksballade der germ. Sprachen, bes. der nord. Überlieferung. Im Gegensatz zur Erzählschablone ist die epische F. metrisch und verbal vorgeformt, sie ist unterschieden von der ornamentalen Funktion des Epitheton ornans, und im Gegensatz zu einem Motiv
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ist sie Element der tradierten Balladensprache selbst, nicht des individuellen Liedthemas. Sie ist damit Ausdruck der balladesken Erzählvision und Voraussetzung für die leichte Tradierbarkeit der Ballade. Nach Holzapfels Ansicht folgt daraus nicht, daß Balladen bei jedem Vortrag (mündl.) neu gedichtet werden. Sie sind in hohem Umfang auswendig gelernt, allerdings als Kette epischer F.n, vielleicht auch mit einer gewissen Freiheit in den Details. Holzapfel betrachtet die epische F. als balladenspezifische Erscheinung, ähnliche Phänomene treten möglicherweise aber auch in der Volkserzählung auf. Es wäre verfrüht, für den Bereich der Ballade endgültige Schlußfolgerungen zu ziehen. Die F.theorie kann sicher einigen Aufschluß über die Dichtungstechnik geben, doch werden zweifellos noch Korrekturen anzubringen sein, vielleicht in der von Holzapfel skizzierten Richtung 63 . 2. F . h a f t i g k e i t u n d V o l k s e r z ä h l u n g . Innerhalb der Volkserzählungsforschung wird die theoretische Ungenauigkeit des geläufigen F.begriffs erkennbar. Die ,langue' 6 4 oder .Kompetenz' 6 5 des mündl. Vortragenden, gleich ob Sänger oder Erzähler, beruht zweifellos auf einer Improvisationstechnik mittels .vorgefertigter' Bauelemente, die aber noch präzise bestimmt und abgegrenzt werden müßten. F.n in Epen und Balladen werden nach metrischen, stilistischen, semantischen und/oder funktionalen Kriterien definiert, in Volkserzählungen aber definieren diese Kriterien Einheiten in verschiedenen , Registern' (um einen von A. —» Koväcs aus der Musik eingeführten Terminus zu gebrauchen 6 6 ), die gleichzeitig angewandt werden, ohne sich unbedingt überschneiden zu müssen. Die F.haftigkeit von Volkserzählungen ist daher, obwohl sie greifbar erscheint, schwer zu beschreiben. Da es für eine solche Beschreibung kein feststehendes Prinzip gibt, kann im folgenden nur eine erste annähernde Darstellung geboten werden. F.märchen (—> Kettenmärchen) werden dabei nicht berücksichtigt, —»• Eingangs- und —> Schlußformeln nur gestreift, ebenso die ,Kontaktformeln' 6 7 , die eingesetzt werden, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu wecken und zu er-
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halten; solche F.n sind reich an flexiblen Wendungen der von der F.theorie definierten Art, aber nicht Bestandteil der Märchentexte selbst. Die Textelemente, die verschiedentlich als F.n beschrieben worden sind, können nach formalen und inhaltlichen Kriterien in zwei Klassen unterteilt werden. 2.1. F o r m a l e B a u e l e m e n t e R h y t h m u s . Der Vortragsstil von Volkserzählungen ist oft rhythmisch, auch wenn die meisten Texte dies aufgrund mangelhafter Aufzeichnungstechniken nicht erkennen lassen. Der Rhythmus ist, z.B. nach Auffassung von R. —> Berge und von Koväcs 68 , einer der —» archaischen Züge im Märchen. Koväcs erkennt im ung. Erzählstil ein deutlich trochäisch-daktylisches Muster, das auf einem Metrum von zwei Versfüßen beruht. Sie bemerkt, „daß sich so wie aus den Takten die Zeile, aus den Zeilen die Strophe, aus den Strophen die Strophenkonstruktion aufbaut" 6 9 , d.h., daß der gesamte Erzählstil im wesentlichen vom Rhythmus geprägt ist. Die Allgemeingültigkeit dieser Beobachtung kann bislang noch nicht beurteilt werden. Berge und A. de —»Feiice 70 stellen für Norwegen bzw. Frankreich einen regelmäßigen Wechsel zwischen rhythmischen und ,freien' Passagen fest, eine der —> Cante fable verwandte Struktur. W i e d e r h o l u n g e n . Die Wiederholung ist nach Berge 7 1 „das große rhythmische Grundgesetz" (cf. —> Drei, Dreizahl; —> Dreigliedrigkeit sowie A. —> Olriks -H> epische Gesetze der Wiederholung und der Dreizahl). Wiederholungen können in vielerlei Gestalt auftreten: einfach, variiert, gesteigert; mit einer Richtungsänderung oder Umkehrung; als Parallel- oder Kontrastformen; in verschiedenen rahmen- oder ringförmigen Anordnungen. Aus jeder dieser Formen kann eine Gruppe von F.märchen entwickelt werden, Wiederholungstechniken dienen aber auch als untergeordnete Konstruktionsprinzipien, in längeren Prosaerzählungen ebenso wie in Balladen und Epen 7 2 . A l l i t e r a t i o n e n u n d R e i m e . Gereimte Diktion ist insbesondere für arab. Erzählungen charakteristisch 73, verschiedene Reim-, Assonanz- und Alliterationsformen etc. sind jedoch überall in der mündl. Dichtkunst anzu-
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treffen. In Volkserzählungen verwendet man sie bes. häufig in Eingangs- und Schlußformeln, in ,Runs', in Versen und Dialogen sowie auch für —> Namen. Wie der Rhythmus ist der Reim an sich noch nicht f.haft, wird aber regelmäßig zum F.bau benützt. —» V e r s e u n d -> D i a l o g e werden oft als f.haft bezeichnet, entsprechen aber keineswegs immer F. η nach der Definition der F.theorie. Die Verse im Märchen „sind der jeweiligen Situation angepaßte Verse, insofern also nicht formelhaft, nicht ohne weiteres in andere Märchentypen einsetzbar — als stark geformte Sprachelemente aber doch dem formelhaften Gesamtstil des Volksmärchens sich einordnend" 7 4 . Viele Verse besitzen lediglich insofern F.charakter, als sie nach den allg. Formregeln der mündl. Überlieferung gebaut sind. Gewisse feststehende Dialoge (wie sie z.B. für das Zusammentreffen des Helden mit dem Ungeheuer benützt werden), die in unterschiedlichen Erzählungen erscheinen können, sind jedoch als echt f.haft zu betrachten. Berge 7 5 stellt fest, daß beim Wechsel zwischen Prosa und Vers in Volkserzählungen häufig der Dialog in Vers- und der verbindende Text in Prosaform auftritt. —» S t r u k t u r e n . Größere Erzählstrukturen wurden ebenfalls F.n genannt 7 6 , wenn auch nicht im Sinne der F.theorie. Zahlreiche kürzere Tiererzählungen, Witze und Anekdoten sind nach häufig wiederkehrenden Mustern konstruiert, die auch als F.n betrachtet werden können. Die Zusammenhänge zwischen F.n und größeren Erzählstrukturen sind bis jetzt nicht sehr gründlich untersucht. Wenn Propps Theorie der —Morphologie und Transformation von Zaubermärchen 7 7 der Zeit standhält, könnte sie als Grundlage für die Beschreibung der Bedingungen, unter denen identische Erzählelemente in verschiedenen Erzählungen verwendet werden können, die F.haftigkeit der Märchen erklären helfen. 2.2. I n h a l t l i c h e B a u e l e m e n t e P r ä g n a n t e E i n z e l h e i t e n . Die —> Abstraktheit des Märchenstils ist an sich f.bildend. Zum —» Stil gehört nach M. —» Lüthi 7 8 die „Technik der bloßen Benennung", d.h. die Einzelheiten der Märchenwelt werden den Zuhörern ohne jede Beschreibung vorgeführt
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(cf. die epischen Gesetze der Schematisierung, der Handlungsgebundenheit u.a.); nur was die Handlung direkt befördert, wird erwähnt. Alle Handelnden, Gegenstände etc. werden als isoliert (—»Isolation) veranschaulicht. Auch die Tendenz zur Kondensierung und Vereinfachung, zur —> Übertreibung und Extremisierung (—> Extreme) trägt zur außerordentlichen —» Prägnanz der Einzelheiten bei. Hieraus erklärt sich, daß vereinzelte Wörter und Begriffe f.haft im Parry-Lordschen Sinne auftreten können: goldene Kugeln, Zauberflöten, Glasberge, dreiköpfige Riesen, kupferne, silberne und goldene Wälder etc. Auch die —> Zahlen der Märchen müssen wegen ihrer auffallenden Gegenständlichkeit als prägnante, f.hafte Einzelheiten aufgefaßt werden. Diese Einzelheiten sind inhaltsschwerer und offensichtlich auch etwas enger mit dem Faden der Erzählung verknüpft als die oben besprochenen epischen F.n und daher nicht so frei versetzbar wie diese, sind aber dennoch insofern als f.haft zu betrachten als sie dem kompetenten Erzähler als Einzelelemente zur Verfügung stehen. Dies bestätigt die Behauptung einiger neuerer Epenforscher (v. oben), daß die F. nicht eindeutig als eine metrische Einheit aufzufassen ist 79 . K u r z e C h a r a k t e r i s i e r u n g e n . Die Handlungsgebundenheit des Märchenstils erlaubt keine verzögernden Beschreibungen, die Technik der bloßen Benennung schließt gewöhnlich sogar den Gebrauch von Adjektiven aus; es werden aber Charakterisierungen verwendet, die aktiv zum lebendigen Fluß prägnanter Bilder beitragen. Es wird ζ. B. nicht gesagt, daß der Wald ,grün' ist, weil das eine allg. bekannte und somit überflüssige Tatsache ist; es kann aber vom ,tiefen' oder f i n steren' Wald die Rede sein, denn hierdurch deutet sich die Möglichkeit an, daß man sich in ihm verirren könnte (cf. —» Dekorative Züge). Das Epitheton ornans homerischen Typs tritt nur sporadisch auf, ζ. B. in gäl. Heldensagen, die auch in anderer Hinsicht an die Heldenepik erinnern 8 0 . —»Metaphern sind selten, wie Lüthi bemerkt 8 1 ; sie verlangen eine kurze Unterbrechung zur Aufschlüsselung und Betrachtung, stellen also einen mit dem Tempo des Märchenstils unvereinbaren lyrischen Zug dar. Vergleiche sind gebräuch-
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licher, bes. solche, die Extreme betonen 82 , „[. . .] der Vergleich faltet auseinander, [. ..] er entspricht dem Zug des Märchens zum Nebeneinander" 83 , trägt also zum ,additiven' Stil der mündl. Erzählweise bei. ,Runs' und l ä n g e r e f . h a f t e A b s c h n i t t e . A. Bruford 84 definiert die ,Runs' der gäl. Tradition als feststehende Passagen ornamentaler Beschreibungen, die der Erzähler in jeder beliebigen Heldensage oder jedem beliebigen Märchen dort einflechten kann, wo das passende Handlungselement erscheint, und die auswendig vorgetragen werden, wobei derselbe Erzähler sich immer genau derselben Worte bedient, wenn die entsprechende Situation eintritt. Brufords Klassifizierung umfaßt Einl.-Runs, Kampf-Runs, Reise-Runs, Personenbeschreibungen, Naturbeschreibungen, Schilderungen von Festen, Dialog-Runs und Schluß-Runs. Die Runs entsprechen sehr eng den von Lord beschriebenen ,Themen' (v. oben) und haben dieselben Funktionen — ein weiteres Beispiel für die Verwandtschaft der gäl. Heldensage mit der Epentradition. Ähnlich wortreiche Eingangs- und Schluß-,Runs' finden sich auch in anderen Erzähltraditionen, insbesondere in den russ., türk. und arab. ,Vormärchen' (cf. —*· Eingangsformeln). Dagegen sind in den anderen Erzählüberlieferungen Beschreibungen innerhalb der Texte selbst in der Regel kürzer; es finden sich jedoch Beispiele wie: „Siwka-Burka, die weise Kaürka, rennt, die Erde zittert, aus den Nüstern kommt Rauch, aus den Ohren Feuer" oder „die Baba-Jagä, das Knochenbein, fährt in einem Mörser, mit dem Stößel treibt sie ihn, und mit einem Ofenbesen verwischt sie ihre Spur" 85 — also stereotypierte Passagen echt f-haften Charakters. K. O'Nolan 86 betont, daß sich die F.haftigkeit in der Sprache eines geübten Erzählers nicht nur auf so kleine Elemente wie die Runs beschränkt. Kürzere f.hafte Passsagen können sich zu längeren verbinden, diese sich ihrerseits wieder bündeln, so daß weite Passagen gänzlich f.haften Charakters entstehen können. Er nennt als Beispiel aus der ir. Märchenüberlieferung die detaillierte Beschreibung einer Schlacht, die zweimal wiederholt und von Eingangs- und Schlußpassagen umrahmt wird — eine Sequenz, die als Ganzes in unterschiedlichen Erzählungen (wo nötig mit
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einigen Änderungen von —» Details) Verwendung finden kann. Seine Beobachtungen, die von Koväcs' und Berges Ergebnissen (v. oben) bekräftigt werden, geben einen Hinweis darauf, in wie hohem Maße die Volkserzählung f.haft geprägt ist; es bleibt jedoch noch viel an präziser Forschungsarbeit zu leisten. R e g i e f o r m e l n . Dieser Begriff bezeichnet hier diejenigen F.typen, die Bemerkungen zum Handlungsverlauf enthalten oder die Zuhörer einbeziehen sollen. Wie die Eingangs·, Schluß- und Kontaktformeln (die eigentlich ebenfalls als Regieformeln bezeichnet werden könnten) gehören solche F. η streng genommen nicht zur Erzählung, werden aber in den Text selbst eingeflochten. Bes. früher ließen viele Sammler und Herausgeber diese Regieformeln weg, in authentischeren Märchenaufzeichnungen und -aufnahmen aus neuerer Zeit kommen sie aber mit solcher Regelmäßigkeit vor, daß man sie als echten Bestandteil des Märchenstils betrachten muß. Folgende Gruppen sind bisher beschrieben worden: Übergangs- und Überleitungsformeln, bes. in längeren, zweisträngigen Erzählungen, wenn die Aufmerksamkeit auf einen anderen Protagonisten gelenkt werden soll: „Lassen wir aber nun das Mädchen und sehen wir, was der Bursche macht" 87 . — Kommentare zu Ereignissen in den Erzählungen, Akzente setzende Sätze 88 wie „Also war gut", „So ist denn gut" etc. - Fragen, die das Publikum zu einer Stellungnahme auffordern sollen: „Und was denkt ihr, war in dem zwölften Raum?" etc. - F.n, die Pausen in der Erzählung markieren, wie sie ζ. B. von Erzählern in türk. Kaffeehäusern verwendet werden 89 .
Dieser Überblick zeigt, daß in allen .Registern' F.haftigkeit besteht. Es wurde ihr jedoch nicht annähernd die gleiche Aufmerksamkeit gewidmet wie parallelen Erscheinungen im Epos, und die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen ,Registern' sind nicht ausreichend geklärt, um eine umfassende und kohärente Beschreibung zu ermöglichen. Ein bes. Forschungsdesiderat wäre die vergleichende Unters, einer Reihe einwandfrei aufgezeichneter und kompetent erzählter Texte, die sich mit allen ihren .Registern' befaßt. Nur so wäre festzustellen, inwieweit Analogien zwischen der F.haftigkeit von Volkserzählungen und Epen bestehen.
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1 Einführende Lit. cf. Bowra, C. M.: Heroic Poetry. L. 1952; Lord, Α. B.: The Singer of Tales. Cambr., Mass. 1960; Duggan, J. J. (ed.): Oral Literature. Edinburgh/L. 1975; Stolz, B. A./Shannon, R. S. (edd.): Oral Literature and the Formula. Ann Arbor 1976; Haymes, Ε. R.: Das mündl. Epos. Stg. 1977; Latacz, J. (ed.): Homer. Tradition und Neuerung. Darmstadt 1979; See, K. von (ed.): Europ. Heldendichtung. Darmstadt 1978; Voorwinden, N./Haan, M. de (edd.): Oral Poetry. Das Problem der Mündlichkeit ma. epischer Dichtung. Darmstadt 1979. 2 Gesammelte Studien: The Making of Homeric Verse, ed. A. Parry. Ox. 1971; zu Parry und Rezeption cf. auch Bibliogr. bei Latacz (wie not. 1) 5 7 3 618; ferner Skafte Jensen, M.: The Homeric Question and the Oral-Formulaic Theory. Kop. 1980. - 3 Latacz (wie not. 1) 4 - 1 0 , 2 5 - 4 4 , 4 7 175. - 4 cf. ibid., 39. - 5 L'Epithete traditionnelle dans Homere. P. 1928 (engl. Übers.: Parry [wie not. 2] 1 — 190). - 6 Sie können sogar irreführend sein; Odysseus wird schon in der Ilias, also vor seiner in der Odyssee beschriebenen gefährlichen Reise,,Vielduldender' genannt. - 7 Parry (wie not. 2) 13, 272; übers, bei Latacz (wie not. 1) 187. 8 Schmidt, C. E.: Parallel-Homer. Göttingen 1885, VIII. - 9 Parry (wie not. 2) 275; übers, bei Latacz (wie not. 1) 191. - 10 Parry (wie not. 2) 3 0 1 304. 11 ibid., 3 2 5 - 3 6 4 . - 12 ibid., 2 5 1 - 2 6 5 . - 13 ibid., 449 sq. - 14 Lord (wie not. 1) wollte den Begriff ,mündl.' nur für den improvisierten Vortrag gelten lassen; R. Finnegan (Oral Poetry. Cambr. 1977) dagegen wies auf individuelle Dichtkunst in schriftlosen Gesellschaften hin; cf. Skafte Jensen (wie not. 2) 2 2 - 2 7 . - 15 Ζ. B. Jousse, M.: Le Style oral rhythmique et mnemotechnique chez les verbo-moteurs. P. 1925; Murko, M.: La Poesie populaire epique en Yougoslavie au debut du XXC siecle. P. 1929; Braun, M.: Das skr. Heldenlied. Göttingen 1961. - 16 12.500 Texte, hauptsächlich epische Lieder, die während zwei Expeditionen (1933; 1934—35) aufgezeichnet wurden. TextAusw. veröff. in Parry, Μ./Lord, Α. Β.: Serbocroatian Heroic Songs 1—2. Belgrad/Cambr., Mass. 1 9 5 3 - 5 4 ; t. 3 (mit Bynum, D. E.). Cambr., Mass. 1974. - 17 Lord (wie not. 1). - 18 ibid., 4. 19 ibid., 203. - 20 ibid., 5 0 - 5 4 . 21 ibid., 4. - 22 ibid., bes. 7 8 - 8 0 , 1 0 2 - 1 0 5 , 2 2 3 234. - 23 ibid., 97, cf. 1 1 2 - 1 2 3 . - 24 ibid., 284. 25 cf. Bowra (wie not. 1); ferner Haymes, E. R.: A Bibliography of Studies Relating to Parry's and Lord's Oral Theory. Cambr., Mass. 1973; Biebuyck, D. P.: The African Heroic Epic. In: JFI 13 (1976) 5 - 3 6 ; Oinas, F. J. (ed.): Heroic Epic and Saga. An Introduction to the World's Great Folk Epics. Bloom. 1978; Vesterholt, O.: Tradition and Individuality. Kop. 1973. — 26 Kritische Übersicht in von See (wie not. 1) 15 - 23. — 27 Bowra (wie not. 1); Magoun, F. J.: Oral-Formulaic Character of Anglo-Saxon Narrative Poetry. In: Speculum 28 (1953) 4 4 6 - 4 6 7 (dt. in Voorwinden/de Haan
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[wie not. 1] 1 1 - 4 5 ) ; Rychner, J.: La Chanson de geste. Genf 195 5. - 28 Bibliogr.n bei Haymes (wie not. 1); Voorwinden/de Haan (wie not. 1). 29 Stolz/Shannon (wie not. 1); cf. auch Haymes (wie not. 1) 6 - 1 4 . — 3 0 cf. die Sammelrezension von B. Holbek in Fabula 20 (1979) 2 8 8 - 2 9 6 . 31 Nagler, Μ. N.: Spontaneity and Tradition. Berk./ L.A./L. 1974. - 3 2 Kiparsky, N.: Oral Poetry. Some Linguistic and Typological Considerations. In: Stolz/Shannon (wie not. 1) 7 3 - 1 2 5 . — 33 Arend, W.: Die typischen Scenen bei Homer. B. 19 3 3. - 3 4 Haymes (wie not. 1) 20 sq. - 35 Voorwinden/de Haan (wie not. 1) 1. - 3 6 Skafte Jensen (wie not. 2) 37, cf. 4 6 - 5 5 . - 3 7 cf. ζ. B. von See (wie not. 1) 17, 22 und pass. - 38 cf. Skafte Jensen (wie not. 2) 2 8 - 4 5 ; Haymes (wie not. 1) 31; Parry, Α.: Have We Homer's Iliad? In: Yale Classical Studies 20 (1966) 1 7 7 - 2 1 6 (Nachdr. in Latacz [wie not. 1] 4 2 8 - 4 6 6 ) . - 3 9 WadeGery, Η. T.: The Poet of the Iliad. Cambr. 1952; Parry (wie not. 38); Kirk, G. S.: Homer and the Oral Tradition. Cambr. 19 7 6. - 4 0 Lord, A. B.: Perspectives in Recent Work on Oral Literature. In: Duggan (wie not. 1) 1 - 2 4 , hier 18; cf. Lords frühere Ansichten: id. (wie not. 1) 1 2 4 - 1 3 8 und id.: Homer's Originality, Oral Dictated Texts. In: Transactions of the American Philological Assoc. 84 (1953) 1 2 4 - 1 3 4 . 41 Duggan, J. J.: Formulaic Diction in the Cantar de Mio Cid and the Old French Epic. In: id. (wie not. 1) 7 4 - 8 3 , hier 82. - 4 2 Magoun (wie not. 27). - 4 3 Bäuml, F. H./Spielmann, E.: From Illiteracy to Literacy: Prolegomena to a Study of the Nibelungenlied. In: Duggan (wie not. 1) 62—73. 44 Haymes (wie not. 1) 10; cf. Russo, J. Α.: Is „Oral" or „ A u r a l " Composition the Cause of Homer's Formulaic Style? In: Stolz/Shannon (wie not. 1 ) 3 1 71. - 45 Bäuml/Spielmann (wie not. 43) 63. 46 Curschmann, M.: Oral Poetry in Medieval English, French, and German Literature: Some Notes on Recent Research. In: Speculum 42 (1967) 3 6 - 5 2 (Nachdr. in Latacz [wie not. 1] 4 6 9 - 4 9 5 ) ; id.: The Concept of the Oral Formula as an Impediment to Our Understanding of Medieval Oral Poetry. In: Medievalia et Humanistica N.S. 8 (1977) 63 — 76. - 4 7 So auch Skafte Jensen (wie not. 2); cf. Lord (wie not. 40). - 4 8 Kuusi, M.: Ein Vorschlag für die Terminologie der parömiologischen Strukturanalyse. In: Proverbium 5 (1966) 9 7 - 1 0 4 . 49 Kaivola-Bregenhoj, Α.: The Nominativus Absolutus Formula - One Syntactic-Semantic Structural Scheme of the Finnish Riddle Genre (FFC 222). Hels. 1978; Rosenberg, Β. Α.: The Art of the American Folk Preacher. N.Y. 1970. - 50 cf. Anders, W. H.: Balladensänger und mündl. Komposition. Mü. 1974, 3 3 - 4 0 . Entsprechungen zum Parallel-Homer (v. not. 8) z. B. in E. von der Reckes unveröff. Folkeviseregistrant (Kongelige Bibliotek. Kop., Ny kongelig Sämling, num. 765 in-8); cf. auch Wirth, Α.: Die typischen und f.haften Elemente in den engl.-schott. Volksballa-
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Formelhaftigkeit, Formeltheorie — Förster
den. Diss. Halle 1897; Fehr, B.: Die f.haften Elemente in den alten engl. Balladen. Basel 1900; Borregaard, M. C.: The Epithet in English and Scottish, Spanish, and Danish Popular Ballads. Diss. The Hague 1933. 51 Uberblick bei Holzapfel, Ο.: Studien zur F.haftigkeit der ma. dän. Volksballade. Diss. Ffm. 1969, 1 0 - 1 5 . - 52 cf. not. 50 sowie Recke, E. von der: Nogle Folkeviseredactioner. Kop. 1906. Dies führte zu einer Polemik zwischen ihm und A. Olrik in: DSt. (1906) 4 0 - 4 2 , 1 7 5 - 2 2 1 und ibid. (1907) 167—172 (dort vertrat Olrik u.a. einige der späteren Ideen Parrys). - 5 3 Jones, J. H.: Commonplace and Memorization in the Oral Tradition of the English and Scottish Popular Ballads. In: J A F L 74 (1961) 9 7 - 1 1 2 ; Erwiderung von Friedmann, A. B.: The Formulaic Improvisation Theory of Ballad Tradition - a Counterstatement. ibid., U S U S ; Richmond, W. E.: Den utrue egtemann. In: Norveg 10 (1963) 5 9 - 8 8 . - 5 4 Anders (wie not. 50). - 55 Buchan, D.: The Ballad and the Folk. L./Boston 1972; cf. Holbek, B.: The Ballad and the Folk. In: Arv 2 9 - 3 0 ( 1 9 7 3 - 7 4 ) 5 - 2 5 . 56 Dagegen: Andersen, F. G./Pettitt, T.: Mrs. Brown of Falkland: A Singer of Tales? In: J A F L 92 (1979) 1 - 2 4 . - " B u c h a n (wie not. 55) 88. 58 In Anlehnung an Whitman, C. H.: Homer and the Heroic Tradition. Cambr., Mass. 1958 (für die Ilias); ferner A. Olriks Epische Gesetze (cf. E M 4, 58—69) und A. B. Lords Begriff der ,tension of essences' (cf. Kap. 1.2.). — 5 9 cf. auch Holzapfel (wie not. 51) 17; id.: Det balladeske. Odense 1980, 22sq.; ferner Ittenbach, Μ.: Die Volksballadenstrophe. Amst. 1944. - 6 0 Holzapfel (wie not. 51); id.: Die epische Formel in der dt. Volksballade. In: Jb. für Volksliedforschung 18 (1973) 3 0 - 4 1 ; id.: Homer - Nibelungenlied — Novalis: Zur Diskussion um die F.haftigkeit epischer Dichtung. In: Fabula 15 (1974) 3 4 - 4 6 ; id.: Skand. Volksballadenformeln. In: Sumlen (1978) 1 0 2 - 1 2 1 ; id.: Balladeske Umformungen des Nibelungenstoffes und kompositorische F.haftigkeit im Nibelungenlied. In: Hohenemser Studien zum Nibelungenlied. ed. A. Masser. Dornbirn 1981, 1 3 8 - 1 4 7 . 61 Holzapfel 1980 (wie not. 59) 34. - 62 ibid., 103sq. — 6 3 Roth, K.: Zur mündl. Komposition von Volksballaden. In: Jb. für Volksliedforschung 22 (1977) 4 9 - 6 5 ; cf. auch Conroy, P.: Oral Composition in Faroese Ballads, ibid. 25 (1980) 3 4 - 5 0 . - 6 4 Bogatyrev, P./Jakobson, R.: Die Folklore als eine bes. Form des Schaffens. In: Donum natalicium Schrijnen. Nijmegen/Utrecht 1929, 9 0 0 - 9 1 3 . - 65 Das Konzept basiert auf der linguistischen Theorie N. Chomskys; cf. Bauman, R.: Verbal Art as Performance. Rowley, Mass. 1978, 11, 50. — 6 6 Koväcs, Ä.: Rhythmus und Metrum in den ung. Volksmärchen. In: Fabula 9 (1967) 1 6 9 - 2 4 3 , hier 182. - 6 7 cf. E M 3, 1 2 2 8 - 1 2 3 1 ; ferner Degh, L.: Märchen, Erzähler und Erzählgemeinschaft. B. 1962, 81; Crowley, D. J.: I Could
Talk Old-Story Good. Berk./L. A. 1966, 20; Pop, M.: Der formelhafte Charakter der Volksdichtung. In: DJbfVk. 14 (1968) 1 - 1 5 , hier 13 (über Binnenformeln); Ro§ianu, N.: Formule mediane in basm. In: Analele Universitä{ii Bucure§ti. Seria filologie 18 (1969) 1 3 9 - 1 6 0 , hier 142sq. 68 Berge, R.: Norsk eventyrstil 3. In: Norsk Folkekultur 4 (1918) 4 9 - 7 9 , hier 78sq.; Koväcs (wie not. 66) 174; cf. auch Degh (wie not. 67) 183; Pentikäinen, J.: On Rhythm in Storytelling. In: Studia Fennica 17 (1974) 1 3 2 - 1 7 7 . - 6 9 Koväcs (wie not. 66) 181, cf. auch 176. - 70 Berge (wie not. 68) 7 5 - 7 9 ; Felice, A. de: Contes traditionnels des vanniers de Mayun (Loire-Inferieure). In: Nouvelle RTP 2 (1950) 4 4 2 - 4 6 6 , hier 455sq. 71 Berge (wie not. 68) 67. - 7 2 Dazu Felice, A. de: Essai sur quelques techniques de l'art verbal traditionnel. These d'Etat P. 1957 (unveröff.); Einl. und Inhaltsverz. erschienen in Arts et traditions populaires 6 (1959) 4 1 - 5 0 . - " J a h n , S. al Azharia: Arab. Volksmärchen. B. 1970, 441 sq. 74 Lüthi, Ästhetik, 62; cf. O'Nolan, K.: The Use of Formula in Storytelling. In: Beal. 3 9 - 4 1 ( 1 9 7 1 73) 2 3 3 - 2 5 0 , hier 244. - 75 Berge (wie not. 68) 7 2 - 7 5 . — 76 cf. ,Märchenformeln' bei Hahn, 45 — 61; auch ,Hero Patterns' werden oft als F.n aufgefaßt, cf. Dundes, Α.: Interpreting Folklore. Bloom./ L. 1980, 2 2 3 - 2 6 1 . - 7 7 P r o p p ; id.: Transformacii volsebnych skazok. In: Poetika 4 (1928) 7 0 - 8 9 . - 78 Lüthi, Europ. Volksmärchen, 2 5 - 3 6 (Abstrakter Stil). - 79 O'Nolan (wie not. 74) 234. - 8 0 ibid., 243. 81
Lüthi, Ästhetik, 127; cf. E M 3, 3 8 0 - 3 8 5 . Ro§ianu (wie not. 67) 1 4 6 - 1 4 8 ; Jahn (wie not. 73) 442sq.; Tonnelat, E.: Les Contes des freres Grimm. P. 1912, 152; Boratav, P. N.: Le „Tekerleme". P. 1963, 116. - 83 Lüthi, Ästhetik, 127. 84 B r u f o r d , Α.: Gaelic Folk-Tales and Mediaeval Romances. Dublin 1969, 3 6 - 4 4 , 1 8 2 - 2 0 9 . 85 Pomeranzewa, E.: Russ. Volksmärchen. Β. 1964, 611 (F.n im russ. Orig. als Reim). - 86 O'Nolan (wie not. 74) 236. - 87 Lüthi, Ästhetik, 59; cf. auch Ro§ianu (wie not. 67) 143; Boratav (wie not. 82) 115. - 88 Lüthi, Ästhetik, 58. - 89 Boratav (wie not. 82) 118. 82
Fakse
Bengt Holbek
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