Entwurf einer Theorie des literarischen Gebildes [Reprint 2018 ed.] 9783110855272, 9783110057683


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German Pages 227 [228] Year 1975

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Entwurf einer Theorie des literarischen Gebildes [Reprint 2018 ed.]
 9783110855272, 9783110057683

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Horst-Jürgen Gerigk Entwurf einer Theorie des literarischen Gebildes

Horst-Jürgen Gerigk

Entwurf einer Theorie des literarischen Gebildes

W DE

G_ Walter de Gruyter • Berlin • New York 1975

ISBN 3 11 005768 9 © Copyright 1975 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Gösdien'sche Verlagshandlung • J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J . Trübner • Veit & Comp., 1 Berlin 30 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Omnium-Druck, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin Printed in Germany

VORBEMERKUNG Es sei zur Anordnung der hier vorgelegten Untersuchungen ein kurzes Wort vorausgeschickt. Eine Aufgliederung in vier verschiedene Teile erwies sich als angebracht. Jeder von ihnen besitzt eine gewisse Selbständigkeit, und doch spricht sich in allen dasselbe aus: das Bestreben, ein haltbares Fundament für die Analyse des einzelnen literarisdien Gebildes zu ermitteln und vor Augen zu führen. Ausgangspunkt für die dazu nötige Explikation des Gebilde-Begriffs war eine der Grundeinsichten der philosophischen Hermeneutik, daß wir, wo wir ein Kunstwerk verstehen, nicht primär auf die Formungsleistung gerichtet sind, sondern auf das, was es uns sagt. Diese Voraussetzung des grundsätzlichen Primats des Ausgesagten vor seiner Form führte zur inhaltlichen Bestimmung des ,Worumwillen' eines jeden literarisdien Gebildes. Das literarische Gebilde wurde als sein verwirklichtes Worumwillen aufgefaßt. Es galt nun, die prinzipiellen Möglichkeiten solcher Verwirklichung anzugeben. Damit wurde die Angewiesenheit des Gebildes auf die grundsätzlichen, nämlich kategorialen Bedingungen seiner Verwirklichung deutlich. Hieraus ergaben sich gewisse Folgerungen für die Bestimmung der Eigenart des adäquaten und inadäquaten Verstehens. In kürzester Zusammenfassung sei festgehalten, daß in den hier vorgelegten Untersuchungen sowohl der formalistische Ansatz verlassen als auch von allen geläufigen inhaltlichen Idealforderungen an das literarische Gebilde abgegangen wird. Der erste Teil skizziert als ,Entwurf einer Theorie des literarischen Gebildes' den Fragehorizont, in dem sämtliche der hier angestellten Überlegungen sich aufhalten. Dieser Entwurf ist sehr knapp gehalten und mag vielleicht hier und da eine gewisse Rücksichtslosigkeit bei der Durdibringung der anstehenden Argumente aufweisen. Eine solche Rigorosität der Darlegung erschien indessen angebracht, um dem Leitgedanken die höchste Deutlichkeit wie auch die nötige Atemluft zu sichern, denn die herrschenden Strömungen innerhalb der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Methodendiskussion sind gewiß nicht dazu geeignet, ihm Auftrieb zu geben, was insbesondere der vierte Teil der vorliegenden Untersuchungen veranschaulichen mag. Eine erste Vorstellung davon, wie es aussieht, wenn ein im Rahmen dieses Entwurfs nur angeschnittenes Problem die notwendige Ausfaltung erhält, mag der zweite Teil dieser Untersuchungen vermitteln, der eine Typologie des innerfiktionalen Bedeutungszusammenhangs ausarbeitet. Allerdings rückte durch solche Ausfaltung ein anderes Problem plötzlich in den Blick, das hier aber nicht weiterverfolgt wurde, die Frage nämlich nach dem systematischen Zusammenhang zwischen der prinzipiellen Endlichkeit des künstlerischen Textes

VI

Vorbemerkung

und der Möglichkeit seiner gültigen Interpretation. Mit einem Wort: die vorgelegten Untersuchungen sehen es als ihre hauptsächliche Intention an, den Sinn für eine bestimmte Fragestellung zu wecken. D a ß dabei manche Implikationen nur gesichtet, nicht aber voll entfaltet werden, ist die unvermeidliche Folge solcher Zielsetzung. Im dritten Teil geht es nicht mehr um die Absteckung oder Ausfaltung bestimmter Problemkreise, sondern um die Anwendung der zuvor explizierten Fragestellung auf vorhandene Texte. Wer sich in der ersten Konfrontation mit den dezidiert schroffen Abstraktionen der theoretischen Teile befremdet sehen mochte, wird durch die Lektüre der Werkanalysen, deren Darlegungsstil eher konventionell als provozierend ist, möglicherweise ein erstes Vertrauen zu dem denkerischen Fundament gewinnen, auf dem sie stehen. Puskins „Dubrovskij", Edgar Allan Poes „Bericht des Arthur Gordon P y m " und Tolstojs „Krieg und Frieden" wurden auf ihr Worumwillen und dessen Verspannung in eine bestimmte anthropologische Prämisse untersucht. Poes Text ist, da er zu grundverschiedenen Leseeinstellungen animiert, besonders eingehend behandelt worden. Diese Analyse mag deshalb für die Einschätzung der hier entworfenen Theorie einen besonders geeigneten Prüfstein abgeben. Es bedarf keiner Hervorhebung, daß die Auswahl dieser Textbeispiele im Hinblick auf ihre Ergiebigkeit für die Dokumentation solcher Arten von künstlerischem Vorgehen vorgenommen wurde, die eine besonders hohe Verständnisleistung erfordern. So haben wir es etwa bei Puskin mit der Möglichkeit des Gebildes zu tun, als ,Längeres Gedankenspiel' eines konstituierenden Bewußtseins aufzutreten; bei Poe ging es unter anderem um die Explikation einer fiktionstranszendenten Bildfolge; bei Tolstoj schließlich galt es, innerhalb der scheinbar vollkommenen Diffusität verschiedener Lebensbereiche ein einziges Worumwillen aufzuspüren, das in immer neuer Ausprägung noch die beiläufigste Episode beherrscht und bislang ungesehen blieb. Hervorgehoben sei jedoch, daß trotz solcher Abstellung der zu analysierenden Beispiele auf ihre Ergiebigkeit für die Demonstration des zuvor explizierten Gebilde-Begriffs die vorgelegten Werkanalysen ihr eigentliches Ziel darin haben, ans Licht zu heben, was in den einzelnen Texten sich ausspricht und nicht sollen diese einzig zur Illustration einer Theorie herhalten. Wenn nun allerdings die Überzeugung aufkommen würde, daß die Sprache der Texte überhaupt nur durch die theoretisch geschärfte Sicht deutlich zu vernehmen war, so hätten diese Analysen die hier gewünschte doppelte Funktion voll erfüllt, indem sie gleichermaßen auf die ,Theorie' und auf den ,Text' aufmerksam machten. Der vierte Teil dieser Untersuchungen hat, was den Tenor der Darstellung betrifft, ein völlig anderes Gepräge als die vorausgegangenen. In ihm findet eine streckenweise unverhohlen polemische Auseinandersetzung mit Positionen statt, die mit jener, die den hier vorgetragenen Überlegungen zugrunde liegt, unvereinbar sind. Als angebracht erwies sich insbesondere ein näheres Eingehen auf Hans Robert Jauß, den zweifellos bedeutendsten und wirksamsten Vertreter jener Richtung literaturwissenschaftlichen Fragens, die der hier verfochtenen

Vorbemerkung

VII

Problemausrichtung vollkommen zuwiderläuft. Die von J a u ß propagierte rezeptionsästhetische Methode kann als Aufgipfelung all dessen bezeichnet werden, was heute innerhalb der literaturwissenschaftlichen Methodendiskussion Geltung beanspruchen darf. Als notwendige und deshalb wohl auch wünschenswerte Konsequenz drängte es sich auf, die hier vorgelegten Untersuchungen mit einer zugespitzten Erläuterung der ,Kommentarunbedürftigkeit des Kunstwerks' enden zu lassen, einer Formel, die der in ihnen verfolgten Fragerichtung durchaus als Titel dienen könnte. Oktober 1974

H . - J . G.

INHALTSVERZEICHNIS ERSTER TEIL E N T W U R F E I N E R T H E O R I E DES L I T E R A R I S C H E N

GEBILDES

Erster Abschnitt Die Eigenart des Gebildes § 1

Natürliche und artifizielle Lästigkeit

3

A. Das Gebilde mit natürlicher Lästigkeit 1. Der fiktionstranszendente Bereich § 2 Fiktionsimmanenter und fiktionstranszendenter Bereich § 3 Das Worumwillen des Gebildes § 4 Die anthropologische Prämisse § 5 Der Gegenstand des Gebildes. Das fiktionstranszendente Bild § 6 Die Schlüssigkeit des Gebildes

6 6 6 6 11 15 17

2. Der fiktionsimmanente Bereich § 7 Der Gegenstand des Gebildes in seiner anschaulichen Bestimmtheit § 8 Das Konkretionssubstrat § 9 Das Konkretionssubstrat in seiner universellen Tauglichkeit und tatsächlichen Gegebenheit § 10 Der wirklichkeitsbestimmende Konsensus § 11 Primärintentionen und Sekundärintentionen § 12 Die Kunstgriffe § 13 Innerfiktionaler und außerfiktionaler Anblick § 14 Das Zwischenreich des Erzählers § 15 Die Sprache im Gebilde

19

B. Das Gebilde mit artifizieller Lästigkeit § 16 Die Grundtypen des Gebildes mit artifizieller Lästigkeit Beispiel I : William Faulkners „Absalom, Absalom!" . . . Beispiel I I : Edgar Allan Poes „The Oblong Box" Beispiel I I I : Jorge Luis Borges' „Untersuchung des Werkes von Herbert Quain" Beispiel I V : Aleksej Krucenydis Wäscherechnung Beispiel V : Ernst Jandls „Übe!" Beispiel V I : Anton Lotovs „Melodie einer orientalischen Stadt" Beispiel V I I : Aleksej Kruienychs „dyr bul siyl"

19 20 23 26 28 31 32 34 36 37 37 38 41 43 45 47 49 50

X

Inhaltsverzeichnis

Beispiel V I I I : Ernst Jandls „klare gerührt" Beispiel I X : Stéphane Mallarmés „schweigendes Gedicht" . § 17 Artifizielle Lästigkeit und Schema-Bild § 18 Schema-Bild und Befindlichkeit

51 51 52 55

Zweiter Abschnitt Gebilde und Verstehen § 19 Natürliches und artifizielles Verstehen § 20 Das ausbeutende Verstehen § 21 Das fundamentalästhetische Verstehen

58 59 63

ZWEITER TEIL G E D A N K E N ZU EINER TYPOLOGIE DES I N N E R F I K T I O N A L E N BEDEUTUNGSZUSAMMENHANGS Erster Abschnitt Die zweifache Funktion der Einzelheiten § 22 Die Sprache der Einzelheiten § 23 Die Leitbegriffe Teleologie, Kontingenz und Konjektur

69 70

Zweiter Abschnitt Die Grundtypen des innerfiktionalen Bedeutungszusammenhangs § § § §

24 25 26 27

Teleologie. Edgar Allan Poe: „Die Morde in der Rue Morgue" Kontingenz. Anton Cechov: „Meine Frau" Konjektur. Fedor Dostoevskij: „Die Wirtin" Zur Endlichkeit des Textes

73 76 79 84

DRITTER TEIL WERKANALYSEN A. Puskins „Dubrovskij" 1. Puskins Pointe 2. Die fiktionsimmanente Knüpfung 3. Das „Längere Gedankenspiel" 4. Die fiktionsimmanente Lösung 5. Die substantielle Schlüssigkeit 6. Die objektive Wirklichkeit der Fiktion 7. Gegen Georg Lukäcs 8. „Dubrovskij" und „Michael Kohlhaas" 9. Zusätzliches

89 89 90 91 94 97 97 101 104 108

B. Edgar Allan Poes „Bericht des Arthur Gordon Pym" 1. Poes Schaffenslage 2. Werkanalyse

110 110 115

Inhaltsverzeichnis

XI

Der Gegenstand des Gebildes Das Konkretionssubstrat Der wirklichkeitsbestimmende Konsensus Die Erzählhaltung Die Behandlung der Zeit Die fiktionstranszendente Bildfolge a) Embryonale Situation und Geburt b) Der Eintritt in die Welt c) Zwischenmenschliche Konfrontationen d) Konfrontationen mit der Natur e) Die undeutbaren Zeichen f) Der Tod VII. Die Ironie der Form 3. Bemerkungen zu einer typologischen Standortbestimmung I. Einordnung in das Gesamtschaffen Poes II. Einordnung in den Traditionszusammenhang 4. Ein Wort zur Wirkungsgeschichte

115 120 121 123 124 126 127 128 129 130 130 131 133 139 139 141 143

I. II. III. IV. V. VI.

C. Lev Tolstojs „Krieg und Frieden" 1. Tolstoj und die Destruktion des Scheins 2. Napoleon als Künstler 3. Die Institutionen 4. Das Worumwillen 5. Die anthropologische Prämisse 6. Andrej Bolkonskij und Pierre Bezuchov 7. Tolstojs Zweideutigkeit

147 147 149 155 161 163 166 169

VIERTER TEIL ZWEI EXKURSE A. Auf der Suche nach dem verlorenen Kontext: Randbemerkungen zu Hans Robert Jauß 177 B. Von der Kommentarunbedürftigkeit des Kunstwerks: Überlegungen mit Rücksicht auf Puskins „Hauptmannstoditer" 189 Register 1. Autoren und Werke 2. Begriffe

211 214

ERSTER TEIL ENTWURF EINER THEORIE DES LITERARISCHEN GEBILDES

ERSTER ABSCHNITT DIE EIGENART DES GEBILDES § 1 Natürliche und artifizielle Lästigkeit Das literarische Gebilde ist eine Form des redenden Sprechens, es ist Rede des Anderen. Gegenüber der Rede des Anderen kann ich zwei verschiedene Einstellungen beziehen: entweder ich vernehme das Worüber der Rede oder ich vernehme die Rede des Anderen als Modus von Rede überhaupt. Jeder dieser beiden Weisen des Vernehmens entspricht ein Typus von literarischem Gebilde. Man könnte auch sagen: jede dieser beiden Einstellungen läßt sich ins Werk setzen. Ist eine Einstellung ins Werk gesetzt, dann steht es nicht mehr im Belieben dessen, der vernimmt, sich die eine oder die andere Einstellung gegenüber dem Gebilde als Rede des Anderen auszusuchen. Vielmehr zwingt dann das Gebilde von sich aus zu einer bestimmten Einstellung. Es wird im folgenden noch darzulegen sein, wie solcher ,Zwang' aussieht. Hier geht es zunächst um die Konstatierung der beiden Grundmöglichkeiten von Gebilde. Gebilde, die ihr Worumwillen im Worüber der Rede des Anderen haben, nenne ich Gebilde mit natürlicher Lästigkeit. Wurde hingegen eine Einstellung ins Werk gesetzt, die dazu zwingt, am Gebilde als Rede des Anderen einen Modus von Rede überhaupt zu vernehmen, so spreche ich von einem Gebilde mit artifizieller Lästigkeit. Welche Lästigkeit ,natürlich' und welche ,artifiziell' zu nennen ist, ergibt sich aus dem Vollzug des Verstehens. Wir sind, wo wir verstehen, immer bei der Sache, die verstanden werden soll, nicht beim Verstehen. Wer versteht, weiß sich nicht als einer, der versteht, weiß sich nicht als einer, der ,Sprache' vernimmt, ,Zeichen' deutet. Der Anblick dessen, was unser Verstehen trägt, kommt im Verstandenen nicht vor. Gleichwohl läßt sich eine Einstellung beziehen, die nicht beim Verstandenen ist und in der deshalb auch nicht verstanden' wird. Was durch sie in den Blick kommt, ist der Anblick dessen, was unser natürliches Verstehen trägt. Solcher Anblick kann verschiedenen Charakter haben. Immer jedoch ist, um ihn wahrzunehmen, eine künstliche Einstellung nötig. Eben diese Anblicke, die sich dem natürlichen Verstehen verbergen, zur Darstellung zu bringen, kann Ziel des literarischen Gebildes sein. Was außer dem Worüber der Rede, bei dem das natürliche Verstehen sich aufhält, als möglicher Anblick des Gebildes zu dessen Worumwillen werden kann, ergibt sich aus der Eigenart des literarischen Gebildes. Die artifizielle Lästigkeit ist hier fundiert in der Möglichkeit, die Rede des Anderen als Modus von Rede überhaupt zu vernehmen.

4

Entwurf

einer Theorie des literarischen

Gebildes

Das bedeutet, daß auch da, wo schließlich nur noch das .Material' (Buchstabe, Laut) in den Blick kommt, dieses immer noch auf dem unverlierbaren Vorwissen um dessen sonstige, in diesem Fall aber defiziente Funktion geschieht. Ein Gebilde mit artifizieller Lästigkeit liegt zum Beispiel vor, wenn Anton Lotov, ein russischer Futurist, versucht, in einem Gedicht mit dem Titel „Melodie einer orientalische Stadt" (Melodija vostocnogo goroda) den Klang einer unverständlichen Sprache nachzuahmen. 1 Was dabei aufgegriffen wird, sind nicht bestimmte Aussagen, sondern der Klang einer Sprache als unverstandener Fremdsprache, die Klangphysiognomie einer Sprache jenseits bestimmter Aussagen. Wir sehen hier so etwas wie ,fremde Sprache' versinnlicht. Das Worumwillen des Gebildes ist nicht in einem Sinn zu suchen, der sich hinter dem Unverstandenen für jemand, der zu verstehen wüßte, der also diese fremde Sprache beherrschte, auftäte. Das Unverständliche wird nicht als Durchgang zum Verständlichen gestaltet, vielmehr wird die Eigenart von Sprache, als Fremdsprache vernommen werden zu können, zur Abhebung gebracht. Es sei hervorgehoben, daß wir, wo uns fremde Laute begegnen, durchaus nicht ,nur ein Geräusch* hören, sondern Sprache vernehmen, wenngleich wir nichts verstehen, nichts mitgeteilt bekommen. Wo wir solche Fremdsprache erlernen und dann auf das Worüber der Rede gerichtet sein können, verschwindet deren Klangphysiognomie hinter dem verstandenen Sinn. Wir hätten eine äußerst künstliche Einstellung einzunehmen, um eine bereits erlernte Fremdsprache erneut wie eine unverständliche Sprache zu hören. Was im natürlichen Verstehen, das stets beim Worüber der Rede ist, verlorengeht, hält das Gebilde mit artifizieller Lästigkeit als Worumwillen fest. Das Gebilde mit natürlicher Lästigkeit hingegen, das im Worüber der Rede gründet, hat sein Worumwillen immer in einer existenzialen Möglichkeit der Befindlichkeit, das heißt: im Erschließen von Existenz. So hat das Gebilde „Hamlet" sein Worumwillen in einer Befindlichkeit, die sich etwa als fahles Entsetzen über die Zwecklosigkeit des eigenen Racheakts gegenüber geschehenem Sakrileg kennzeichnen ließe. Oder, betrachten wir den „Raskol'nikov": sein Worumwillen ist die Lust und die Qual des Missetäters. Für das Erfassen des Worumwillen eines Gebildes mit natürlicher Lästigkeit ist das Phänomen der Mitteilung entscheidend. Mitteilung ist hier in dem terminologischen Sinne gemeint, in dem Heidegger das Wort benutzt. In der Mitteilung ,geteilt' wird das „gemeinsam sehende Sein zum Aufgezeigten, welches Sein zu ihm festgehalten werden muß als In-der-Welt-sein, in der Welt nämlich, aus der her das Aufgezeigte begegnet." — In der Mitteilung „konstituiert sich die Artikulation des verstehenden Miteinanderseins. Sie vollzieht die .Teilung' der Mitbefindlichkeit und des Verständnisses des Mitseins".2

1

Vgl. Anton Lotov: Melodija vostocnogo goroda in: Anfänge des russischen Futurismus hrsg. von Dmitrij Tschizewskij (Wiesbaden 1963), S. 112. — Die Erörterung der artifiziellen Lästigkeit wird weiter unten (§ 16—18) wieder aufgenommen und systematisch durchgeführt. * Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit (9. Aufl., Tübingen 1960), S. 155 u. 162.

Die Eigenart des Gebildes

5

U m ein Gebilde mit natürlicher Lästigkeit a d ä q u a t zu verstehen, gilt es, sich in die Welt versetzen zu lassen, die es als Rede des A n d e r e n evoziert. W i r teilen dann die jeweils herrschende Befindlichkeit, d. h. wir sind H a m l e t , wir sind Raskol'nikov, wir sind Michael Kohlhaas jeweils in der Weise ,ihrer* Befindlichkeit. U n d dies können wir nur, weil die uns präsentierte Welt solcher Gebilde v o m A u t o r darauf angelegt ist, die jeweils herrschende Befindlichkeit auszuweisen. Solches Ausweisen hat zur G r u n d l a g e die Herstellung eines ,objektiven Korrelats' (objective correlative), wie T . S. Eliot es t r e f f e n d f o r m u lierte. 3 N u n hindert mich nichts daran, etwa den „ H a m l e t " d a r a u f h i n anzusehen, wie so etwas wie eine Tragödie aussieht; oder etwa den „Michael K o h l h a a s " als Beispiel f ü r so etwas wie teleologisches Erzählen in den Blick zu nehmen. Gleichwohl w ä r e es absurd, zu sagen, das Gebilde „ H a m l e t " habe sein W o r u m willen darin, so etwas wie .Tragödie' zu versinnlichen; desgleichen k ö n n t e es nur einem rabiaten Formalisten einfallen, v o m Gebilde „Michael K o h l h a a s " zu behaupten, es sei darauf angelegt, so etwas wie teleologisches' Erzählen zu versinnlichen. Blickeinstellungen wie die hier genannten sind gegenüber dem Gebilde als Rede des Anderen ,künstliche', denn das natürliche Verstehen ist zunächst immer beim Gesagten, beim Worüber der Rede; u n d das Gebilde mit natürlicher Lästigkeit ist dem natürlichen Verstehen a d ä q u a t . W e n n ich gegenüber einem Gebilde mit natürlicher Lästigkeit eine künstliche Einstellung beziehe u n d damit die Rede des Anderen in ihrer , G r a m m a t i k ' vernehme, so bringe ich es um sein Worumwillen. Es sei festgehalten: das Worumwillen eines Gebildes, das an ihm zentral Ausgewiesene, legt uns unmißverständlich eine bestimmte Einstellung nahe. Es d ü r f t e bereits auf G r u n d dieser k u r z g e f a ß t e n Vorüberlegungen deutlich geworden sein, d a ß wir zu einem natürlichen Verstehen in keiner Weise gezwungen zu werden brauchen. Das Gebilde mit natürlicher Lästigkeit entspricht solcher Normaleinstellung u n d weist den artifiziellen Hinblick ab. D e r Frage, auf welche Weise w i r zu einer artifiziellen Sicht regelrecht gezwungen werden können, soll nach der n u n anschließenden D a r l e g u n g der Eigentümlichkeiten des Gebildes mit natürlicher Lästigkeit detailliert nachgegangen werden.

» Vgl. T.S.Eliot: „Hamlet" (1919); jetzt in: Eliot, Selected Essays (London 1966), S. 141—146.

A. Das Gebilde mit natürlicher Lästigkeit 1. Der fiktionstranszendente

Bereich

§ 2 Fiktionsimmanenter und fiktionstranszendenter Bereidi Das Gebilde besteht zunächst aus zwei Bereichen: dem fiktionsimmanenten und dem fiktionstranszendenten Bereich. Die Welt des Gebildes heißt, wo sie im Unterschied zu unserer tatsächlichen' gedacht wird, Fiktion. Dieser Titel ist nicht herabziehend gemeint, er soll nicht andeuten, daß hier ,nur Fingiertes' vorliegt, sondern kennzeichnet die im Gebilde vorliegende Welt in bezug auf unsere als andersartig. Der Titel ,Fiktion' ist somit ähnlich dem englischen fiction zu hören, in der Bedeutung, die es hat, wenn Henry James tbe art of fiction erläutert, die Kunst nämlich, eine Welt aufzustellen. (Wenngleich hinzugefügt werden muß, daß James dabei ausschließlich die erzählende Prosa im Sinn hat.) Was der Welt des Gebildes angehört, liegt für uns fiktionsimmanent vor. Was die Welt des Gebildes übersteigt, die Sinnfiguration beispielsweise, aus der heraus die Existenz dessen, was fiktionsimmanent vorliegt, sich begründen läßt, gehört dem fiktionstranszendenten Bereidi an. Der fiktionstranszendente Bereidi ist Teil des Gebildes, aber nicht Teil der Fiktion. Wird der fiktionsimmanente Bereich nicht zum fiktionstranszendenten Bereich in Beziehung gesetzt, sondern etwa zu unserer alltäglichen Empirie, so benutze ich das Begriffspaar ,innerfiktional' — ,außerfiktional'. § 3 Das Worumwillen des Gebildes Das Worumwillen des Gebildes hat seinen Ort im fiktionstranszendenten Bereich. Das Worumwillen des Gebildes mit natürlicher Lästigkeit ist stets eine Befindlichkeit. Damit deutlich werde, was unter dem Titel ,Befindlichkeit' zu verstehen ist, sei eine Erläuterung zu Heideggers Ausführungen über das Phänomen der Furcht unternommen. Am Beispiel der Furcht wird in „Sein und Zeit" ein existenzialer Modus von Befindlichkeit auf seine konstitutiven Elemente angesehen.4 Es zeigt sich dabei, daß jede Befindlichkeit die Welt in bestimmter Weise entdeckt. Welt ist immer durch Befindlichkeit entdeckte. Befindlichkeit ,gehört' zum Dasein. Indem das Dasein als ein Seiendes gefaßt wird, dem es in seinem Sein um sich selbst geht, wird es möglich, Befindlichkeiten zu unterscheiden, die das Dasein in dieser seiner Eigentlichkeit erichließen oder verschließen. So ist etwa die Angst eine in einer ausgezeichneten Weise erschließende Befindlichkeit, denn sie bringt das Dasein vor sich selber, 4

Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeh (9. Aufl., Tübingen 1960), S. 140—142.

Die Eigenart des Gebildes

7

während etwa die Neugier in ihrer Aufenthaltslosigkeit eine in exemplarischer Weise verschließende Befindlichkeit ist, denn sie verdeckt dem Dasein die Möglichkeit des eigentlichen Verstehens. Jede Befindlichkeit läßt sich mithin auf ihr ,Worum' befragen. Die zutage tretende Antwort stellt fest, in welcher Weise sie erschließenden oder verschließenden Charakter hat. Es sei aber hervorgehoben, daß auch die verschließenden Befindlichkeiten auf ihre Weise Welt erschließen, so jedoch, daß durch solche ,Erschließung' das eigentliche, nämlich daseinsbewußte Verstehen niedergehalten wird. Die Befragung einer Befindlichkeit auf ihr Verhältnis zum daseinsbewußten Erschließen ist indessen für unseren Zusammenhang nicht vordringlich. Wichtiger werden die beiden anderen der drei möglichen Hinsichten, nach denen Heidegger das Phänomen der Furcht angeht. Neben dem Worum der Furcht werden das ,Wovor' der Furcht und das ,Fürchten' analysiert. Das bedeutet: die Befindlichkeit wird daraufhin angesehen, was sie erschließt, sowie auf das hin, was solches Erschließen kennzeichnet. Anders ausgedrückt: es wird in zwei einander entgegengesetzte Richtungen vorgegangen, einmal auf das in der Befindlichkeit Begegnende zu und zum anderen auf das in solcher Befindlichkeit stehende Bewußtsein zu. In bezug auf das gewählte Beispiel heißt das: es wird zunächst das Wovor der Furcht analysiert, nämlich das ,Furchtbare' und danach das Fürchten selbst als das ,sich-angehen-lassende Freigeben des Bedrohlichen'. „Das Wovor der Furcht, das ,Furchtbare', ist jeweils ein innerweltlich Begegnendes von der Seinsart des Zuhandenen, des Vorhandenen oder des Mitdaseins. Es soll nicht ontisch berichtet werden über das Seiende, das vielfach und zumeist ,furchtbar' sein kann, sondern das Furchtbare ist in seiner Furchtbarkeit phänomenal zu bestimmen. Was gehört zum Furchtbaren als solchem, das im Fürchten begegnet? Das Wovor der Furcht hat den Charakter der Bedrohlichkeit. Hierzu gehört ein Mehrfaches: 1. Das Begegnende hat die Bewandtnisart der Abträglichkeit. Es zeigt sich innerhalb eines Bewandtniszusammenhangs. 2. Diese Abträglichkeit zielt auf einen bestimmten Umkreis des von ihr Betreffbaren. Sie kommt als so bestimmte selbst aus einer bestimmten Gegend. 3. Die Gegend selbst und das aus ihr Herkommende ist als solches bekannt, mit dem es nicht ,geheuer' ist. 4. Das Abträgliche ist als Drohendes noch nicht in beherrschbarer Nähe, aber es naht. In solchem Herannahen strahlt die Abträglichkeit aus und hat darin den Charakter des Drohens. 5. Dieses Herannahen ist ein solches innerhalb der Nähe. Was zwar im höchsten Grade abträglich sein kann und sogar ständig näher kommt, aber in der Ferne, bleibt in seiner Furchtbarkeit verhüllt. Als Herannahendes in der Nähe aber ist das Abträgliche drohend, es kann treffen und doch nicht. Im Herannahen steigert sich dieses ,es kann und am Ende doch nicht'. Es ist furchtbar, sagen wir. 6. Darin liegt: das Abträgliche als Nahendes in der Nähe trägt die enthüllte Möglichkeit des Ausbleibens und Vorbeigehens bei sich, was das Fürchten nicht mindert und auslöscht, sondern ausbildet." Man sieht: die aus der Befindlichkeit erschlossenen ,Dinge' der Umwelt lassen sich als das, was sie ,phänomenal' sind, nicht dadurch in den Griff bringen, daß man sie bei den jeweils geläufigen Namen nennt und damit

8

Entwurf einer Theorie des literarischen Gebildes

,ontisch' über sie berichtet. Der Seinscharakter dessen, was innerweltlich begegnet, bestimmt sich aus der erschließenden Befindlichkeit und haftet nicht dem Begegnenden als eine Eigenschaft an, die nun, herausgehoben, ins Spiel käme. Überhaupt darf die hier zur Erläuterung vorgenommene Auseinanderlegung von innerweltlich begegnenden Objekten und rezipierendem Bewußtsein nicht etwa die Vorstellung von deren grundsätzlicher Eigenständigkeit und damit Trennung aufkommen lassen. Vielmehr stehen das erschlossen Begegnende und das Erschließende in einer ursprünglichen Angewiesenheit aufeinander. Alles Begegnende ist erschlossen durch eine Befindlichkeit. Es darf hier nicht vergessen werden, daß die Herausarbeitung der Befindlichkeit im Rahmen der Analyse der existenzialen Konstitution des Da stattfindet und in ihrer Gleichursprünglichkeit mit Verstehen und Rede expliziert wird. Festgehalten sei, daß die adäquate Beschreibung dessen, was erschlossen begegnet, nur in ständiger Rücksicht auf die erschließende Befindlichkeit vorgenommen werden kann. Aus dieser bestimmt sich die ,Bewandtnisart' dessen, was begegnet. Heideggers Auffächerung des Wovor der Furcht, das den .Charakter der Bedrohlichkeit' hat, in sechs verschiedene Momente mag als Musterbeispiel dafür stehen, wie eine ,Benennung' des erschlossen Begegnenden in ständiger Rückbindung an die erschließende Befindlichkeit auszusehen hat, in welche Bahnen mithin die Dinge zu stehen kommen, wo sie als jeweils erschlossene begegnen. — Es sei des weiteren die Analyse des in der Befindlichkeit betroffenen Bewußtseins betrachtet, hier also die Explikation des Fürchtens selbst. „Das Fürchten selbst ist das sich-angehen-lassende Freigeben des so charakterisierten Bedrohlichen. Nicht wird etwa zunächst ein zukünftiges Übel (malum futurum) festgestellt und dann gefürchtet. Aber auch das Fürchten konstatiert nicht erst das Herannahende, sondern entdeckt es zuvor in seiner Furchtbarkeit. Und fürchtend kann dann die Furcht sich, ausdrücklich hinsehend, das Furchtbare ,klar machen'. Die Umsicht sieht das Furchtbare, weil sie in der Befindlichkeit der Furcht ist. Das Fürchten als die schlummernde Möglichkeit des befindlichen In-der-Welt-seins, die .Furchtsamkeit', hat die Welt schon daraufhin erschlossen, daß aus ihr so etwas wie Furchtbares nahen kann. Das Nahenkönnen selbst ist freigegeben durch die wesenhafte existenziale Räumlichkeit des In-der-Welt-seins." Gewiß, es liegt nicht in der Absicht von „Sein und Zeit", die verschiedenen Modi der Befindlichkeit und ihre Fundierungszusammenhänge zu interpretieren, auch die Analyse des Furchtphänomens wird ja in einer ganz bestimmten Abzweckung unternommen, nämlich im Hinblick auf die Explikation der Befindlichkeit der Angst und die auf deren Hintergrund mögliche Bestimmung des Seins des Daseins als ,Sorge'. Gleichwohl liefern die wenigen phänomenal ausgefalteten Kennzeichnungen bestimmter Modi von Befindlichkeit (Furcht, Angst, Neugier) das Modell für die adäquate Erfassung aller nur denkbaren Befindlichkeiten. Die Leistung solchen Modells ist es, alle ontischen Benennungen der ins Spiel kommenden ,Dinge' als irreführend und wesensblind aufzudecken. Aufmerksamkeit verdient vor allem der Hinweis, daß innerhalb eines Modus von Befindlichkeit noch verschiedene Ausprägungen mit jeweiliger

Die Eigenart des Gebildes

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Selbständigkeit möglich sind. Hier ist allerdings zu beachten, daß all diese Modi von Befindlichkeit niemals isoliert in einem Erlebnisstrom vorkommen, sondern jeweils ein Verstehen bestimmen, das ständig in ein anderes umschlagen kann. Heidegger hält jedoch explizit fest, daß die „Mitteilung der existenzialen Möglichkeiten" der Befindlichkeit „eigenes Ziel der .dichtenden' Rede werden kann". 5 Offenbar kann also das literarische Gebilde dem einzelnen existenzialen Modus von Befindlichkeit eine Ungestörtheit sichern, die im Erlebnisstrom, nämlich ontisch-existenziell nicht garantiert werden kann. Folgen wir nun noch den Ausführungen zu den verschiedenen Ausprägungen der Furcht als eines existenzialen Modus von Befindlichkeit. „Die konstitutiven Momente des vollen Furchtphänomens können variieren. Damit ergeben sich verschiedene Seinsmöglichkeiten des Fürchtens. Zur Begegnisstruktur des Bedrohlichen gehört die Näherung der Nähe. Sofern ein Bedrohliches in seinem ,zwar noch nicht, aber jeden Augenblick' selbst plötzlich in das besorgende In-der-Welt-sein hereinschlägt, wird die Furcht zum Erschrecken. Am Bedrohlichen ist sonach zu scheiden: die nächste Näherung des Drohenden und die Art des Begegnens der Näherung selbst, die Plötzlichkeit. Das Wovor des Erschreckens ist zunächst etwas Bekanntes und Vertrautes. H a t dagegen das Bedrohliche den Charakter des ganz und gar Unvertrauten, dann wird die Furcht zum Grauen. Und wo nun gar ein Bedrohendes im Charakter des Grauenhaften begegnet und zugleich den Begegnischarakter des Erschreckenden hat, die Plötzlichkeit, da wird die Furcht zum Entsetzen. Weitere Abwandlungen der Furcht kennen wir als Schüchternheit, Scheu, Bangigkeit, Stutzigwerden." Es gilt nun zu fragen, was sich aus diesen Überlegungen für die Bestimmung der Eigenart des literarischen Gebildes ergibt. — Es wurde festgestellt: das Worumwillen des Gebildes (mit natürlicher Lästigkeit) ist stets eine Befindlichkeit. Das ist zunächst eine rein formelle Bestimmung. Sie besagt: alles, was noch im Gebilde antreffbar ist, ist nur deswegen da, damit eine Befindlichkeit ausgewiesen vorliegt. Auf dem Hintergrund der Ausführungen Heideggers zeigt sich jetzt aber, daß mit dem Satz: das Worumwillen des Gebildes ist eine Befindlichkeit gleichzeitig noch etwas anderes, das wesentlicher ist, gesagt wird. Daß nämlich das innerfiktional vorkommende Seiende nur im Hinblick auf eine Befindlichkeit zu Wort kommt. Man könnte auch sagen: die Befindlichkeit gestattet dem innerfiktional Seienden, das, was es ist, zu sein. Befindlichkeit kann nur durch etwas ausgewiesen werden, das selber schon aus der spezifischen Konstitution der betreffenden Befindlichkeit erschlossen wurde. Die Konstitution der Befindlichkeit, die als Worumwillen des Gebildes auftritt, bestimmt also vorgängig, als was etwas ins Spiel zu kommen hat. Das Vorgehen der kreativen Subjektivität, das hier ideal angesetzt wird, also nicht aus der Entstehungsgeschichte eines Werks zu ermitteln wäre, bestätigt den ontologisch-existenzialen Sinn der Befindlichkeit. Wer eine Befindlichkeit, etwa die der Furcht, herstellen will, kann dies nicht, indem er Ausschau hält 5

Vgl. Sein und Zeit, S. 162.

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nach dem, was zunächst und zumeist furchtbar ist. Betroffenmachen ist nicht garantiert durch sorgsames Auflesen dessen, was ontisch-existenziell sich bereits als Verkörperung eines Bedrohlichen erwiesen hat. Wäre dies der Fall, so ließe sich ein Katalog von Befindlichkeitsauslösern herstellen. Die Furcht indessen .sitzt' nicht im Vorhandenen.6 Es ist ein Irrtum zu meinen, es gebe innerweltlich Seiendes, das stets in Richtung einer bestimmten Befindlichkeit hin aufgeladen und in dieser Eigenschaft gleichsam transportabel sei. Man betrachte nur die geniale Erzählung „Bis zum Äußersten" (The Turn of the Screw) von Henry James. Worumwillen ist die Befindlichkeit der Furcht mit den Sonderformen von Grauen und Entsetzen, die zuzeiten in echte Angst umschlagen. Die .Auslöser', Miss Jessel und Peter Quint, stehen mit dem, was sie Flora und Miles, den Kindern, zufügen können, in keinem Verhältnis zu der in der jungen Gouvernante aufsteigenden ,Stimmung', die sich auf Miles tödlich überträgt. Furchtausbildend ist der Verdacht, der sich weder erhärten, nodi ausräumen läßt, daß hier Verstorbene .zurückgekehrt' sind. Die Unbestimmtheit dessen, was zu befürchten ist, bringt die Furcht zur Herrschaft und läßt immer wieder Angst aufkommen. Eine Verpflichtung zu bestimmter Befindlichkeit gibt es nicht. Der gleiche Anblick führt in unserer alltäglichen Empirie ganz offensichtlich nicht zur gleichen Befindlichkeit. Dennoch kann diese überspringen. Man sagt etwa, Furcht wirke ,ansteckend'. Solche Ansteckung kommt aber in der Empirie immer nur ,zufällig' zustande; wenn nämlich die konstitutiven Momente einer bestimmten Befindlichkeit besonders aufdringlich werden. Dichtung schaltet solche ,Zufälligkeit' aus. Das innerfiktional vorliegende (innerweltliche) Seiende wird immer nur aus einer bestimmten Befindlichkeit heraus sprechend und nicht als das, was es ,an und für sich' ist. Welche Stimmung herrschend wird, läßt sich im alltäglichen Leben offensichtlich nicht vorhersagen. Gleichwohl steht fest, als was etwas in den Blick gekommen ist, sobald eine bestimmte Stimmung (Befindlichkeit) herrschend wurde. Ins Zentrum dieser Problematik weist der von T. S. Eliot in die literaturwissenschaftliche Diskussion eingeführte Begriff des ,objective correlative', des objektiven Korrelats. Eliot hat diesen Begriff in seinem berühmten und absurd-kühnen Hamlet-Aufsatz aus dem Jahre 1919 definiert. Es heißt: „The only way of expressing emotion in the form of art is by finding an ,objective correlative'; in other words, a set of objects, a situation, a chain of events which shall be the formula of that particular emotion; such that when the external facts, which must terminate in sensory experience, are given, the emotion is immediately evoked." — Und zur Erläuterung fügt er hinzu: „The words of Macbeth on hearing of his wife's death strike us as if, given the '

Nur ein weniges vor den oben zitierten Passagen sagt Heidegger: „Wir müssen in der Tat ontologisch grundsätzlich die primäre Entdeckung der Welt der .bloßen Stimmung' überlassen. Ein reines Anschauen, und dränge es in die innersten Adern des Seins eines Vorhandenen, vermöchte nie so etwas zu entdecken wie Bedrohliches"

(Sein und Zeit, S. 138).

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sequence of events, these words were automatically released by the last event in the series. The artistic .inevitability* lies in this complete adequacy of the external to the emotion." 7 Gewiß impliziert Eliot nicht die Herstellbarkeit eines Katalogs von innerweltlich vorkommenden Dingen, die so, wie sie sind, jeweils zur Auslösung bestimmter Befindlichkeiten (emotions) bereitstünden. Vielmehr wird seine Überlegung sinnvoll und grundlegend erst mit der Einsicht in die Vorgängigkeit von Befindlichkeit bei der Erschließung von ,Welt'. Die Welt des Gebildes kann uns offenbar nur dann betroffen machen, wenn sie im Bann einer Befindlichkeit steht. Und das heißt: wenn die Konstitution der betreffenden Befindlichkeit den Zuschnitt der ins Spiel kommenden Dinge bestimmt. Das ,objektive Korrelat' ist dann gefunden, wenn das in unseren Blick gebrachte innerweltlich Seiende der zu gestaltenden Befindlichkeit ,entspricht'. Solche Entsprechung hat ihren Bezugspunkt zumeist in einem innerfiktional registrierenden Bewußtsein, das von einer Gestimmtheit .überfallen' wird. U n d nur weil die Auslöser von Befindlichkeit nicht als Objekte, deren .emotionaler Wert' ihnen wie eine Eigenschaft fest anhaftete und der deshalb lernbar und verlernbar wäre, in einer Außenwelt antreffbar sind, auf die das Subjekt sich einzustellen hätte, ist ein unmittelbares Verstehen der Welt des Gebildes über die Zeiten hinweg überhaupt möglich. Befindlichkeiten sind ahistorische Paradigmata der menschlichen Situation. Wer die innerfiktional auftretenden ,Dinge' adäquat benennen will, muß sie als das nennen, was sie aus der leitenden Befindlichkeit heraus sind. Nichts ist während der Lektüre eines Werks uns so nah wie die Befindlichkeit, die aus ihm und aus der es spricht. Und doch ist nichts so fern wie sie, wenn man .später', um dem Gelesenen theoretisch zu begegnen, nach ihr sucht. Plötzlich ist die .Stimmung' verschwunden und die sie ausweisenden ,Dinge' treten gleichsam isoliert in unseren Blick, drängen in solcher Isolation zum Kommentar. Angesichts der registrierbaren .Fakten', die sich dem zweiten Blick darbieten, gelangt die erlebte Befindlichkeit plötzlich in den Ruch einer bloß subjektivistischen Zutat, so daß es scheinen will, man müsse sie beiseite lassen, um das Werk .adäquat' zu interpretieren. — Welche Konsequenzen solches Absehen von der leitenden Befindlichkeit für das Verstehen eines Gebildes hat und welcher Art solches Absehen sein kann, wird im folgenden 8 noch näher darzulegen sein. Jetzt geht es darum, das Worumwillen des Gebildes auf seinem Weg zur anschaulichen Bestimmtheit zu verfolgen. Dieser Weg führt zunädist über die anthropologische Prämisse zum Gegenstand des Gebildes.

§ 4 Die anthropologische Prämisse Was von der beherrschenden Befindlichkeit zu halten ist, sagt uns die anthropologische Prämisse. Die anthropologische Prämisse ist die .Wahrheit der Welt des Gebildes'. 7 8

Vgl. T. S. Eliot: „Hamlet" (1919), in: ders., Selected Essays (London 1966), S. 145. Vgl. unten § 20.

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Entwurf einer Theorie des literarischen Gebildes

Die anthropologische Prämisse ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, die Lösung eines ,Problems' in ihrer Typik zu erkennen. Problem meint die Lage, in der sich die von der tragenden Befindlichkeit ,Überfallenen' Personen befinden. Befindlichkeiten überkommen den Menschen ohne Rücksicht auf seine Oberzeugungen oder die Überzeugungen anderer. Solches Uberkommenwerden ist durchaus nicht ,irrational' zu verstehen. Es kann sich durchaus psychologisch .erklären' lassen und sei es auch nur durch die Logik des Zuwiderhandelns. Wichtig zu sehen ist, daß das Hineingelangen in eine Befindlichkeit ohne Rücksicht auf die Zulässigkeit oder das .Menschenwürdige' der mit ihr verbundenen .Haltung' geschieht. Die Verpönung der Furchtsamkeit schafft nicht die Furcht aus der Welt. Gleichwohl steht jegliche Befindlichkeit stets unter Beschuß: die herrschende Meinung, die jeweils geltenden Anschauungen teilen über die Haltung des Menschen, der in einer Befindlichkeit sichtbar steht, Noten aus. Solche Zensur macht überhaupt das Erkennen von .Haltung' erst möglich. Mit der anthropologischen Prämisse werden jeweils bestimmte Anschauungen als .objektiv richtige' ins Spiel gebracht. Was von einer anthropologischen Prämisse als richtig angesetzt wird, ist kein notwendiges Aufgreifen von Weltanschauungen, die in der Zeit, in der der Autor ,lebt', herrschend sind. Jede anthropologische Prämisse kann zu jeder Zeit in einem Gebilde auftauchen. Es ist auch nicht so, als habe jeder Autor nur eine einzige anthropologische Prämisse zur Verfügung. Allerdings ist festzustellen, daß manche Autoren von einer bestimmten anthropologischen Prämisse so gepackt werden, daß sie alle anderen als unwesentlich oder .falsch' empfinden. Anthropologische Prämissen sind Definitionen des Wesens des Menschen. Die anthropologische Prämisse braucht den Gestalten der Welt des Gebildes, die von ihr getragen wird, nicht zu theoretischer Durchsichtigkeit gelangen. Die anthropologische Prämisse ist auch dann präsent, wenn niemand sie sieht. Man sieht sie, und das heißt: wir, die Leser, sehen sie am Schicksal der Gestalten. Ich will ein Beispiel bringen. Die Hauptgestalt in Dostoevskijs Roman „Verbrechen und Strafe", Rodion Raskol'nikov, stellt sich nach der Tat, die sich durch eine Reihe von Zufälligkeiten als perfektes Verbrechen erwies, der Polizei und nimmt die vom Gesetz vorgesehene Strafe an. Die anthropologische Prämisse dieses Werks läßt den Menschen nur als .sittlichen' zu. (Dies gilt auch für die vier anderen großen Romane dieses Autors.) Entzieht sich der Mensch der Sittlichkeit, so hört er auf zu sein. Der Selbstmord Svidrigajlovs zeigt, wie solches Aufhören aussehen kann: der Mensch verschwindet .physisch'. Der Selbstmord ist nur der Ausdruck für die vorangegangene Abtötung des Selbst durch unsittliches Handeln. In den „Dämonen" drückt Dostoevskij solches Verschwinden aus der lebendigen Welt, die immer eine sittliche ist, anders aus: Petr Verchovenskij entzieht sich dem Zugriff der Polizei und entkommt ganz offensichtlich ins Ausland. Auch mit einer solchen Flucht wird die Existenz der Wahrheit anerkannt. Das Schicksal Svidrigajlovs wie auch das Petr Verchovenskijs zeigt, daß der nicht-sittliche Mensch innerhalb der sitt-

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liehen Welt keinen Ort hat. Auch nach vollzogenem Verbrechen steht indessen der Mensch bei Dostoevskij noch in der Freiheit. Er kann durch Annahme der Strafe ,in der Welt' bleiben. Der Verbrecher hat, gemäß der anthropologischen Prämisse Dostoevskijs, ein Recht auf Strafe. Raskol'nikov bleibt in der Welt durch den Sprung in die Strafe. Man bedenke, daß er die Wahl hatte zwischen dem Selbstmord, der Flucht ins Ausland und der Annahme der Strafe. Eine denkbare vierte Reaktionsmöglichkeit: daß Raskol'nikov die Krise der Isolation nach vollbrachter Tat überwände und ungerührt in die Banalität des Alltags zurückkehrte, hätte, wäre sie gestaltet worden, die anthropologische Prämisse verändert und konnte deshalb gar nicht in Betracht kommen. Dostoevskijs Schwanken, wie er den Roman zu Ende führen sollte, war kein Schwanken bezüglich der anthropologischen Prämisse, sondern ein Schwanken bezüglich des Schicksals Raskol'nikovs innerhalb der von der anthropologischen Prämisse vorgezeichneten Möglichkeiten. Zur weiteren Verdeutlichung sei die anthropologische Prämisse in Gogol's „Toten Seelen" in den Blick gerückt. Sie läßt sich etwa folgendermaßen kennzeichnen: Jeder Mensch wird von einem einzigen Gedanken beherrscht, einer fixen Idee (russ.: zador), einem monomanischen und ,sinnlosen' Streben nach Erfüllung eines irgendwann einmal gefaßten Wunsches. Niemand hat die Möglichkeit, seine Monomanie zu überwinden. Es ist sogar ausgeschlossen, sie als das, was sie ist, zu erkennen. Der in den „Toten Seelen" aus dem Zwischenreich des Erzählers ständig und in verschiedenster Form zu hörende Klageton über die Eitelkeit des menschlichen Tuns bleibt eine die Wahrheit der Welt des Gebildes betonende Kontrastierung und belegt nicht die Möglichkeit einer einsichtigen Haltung innerhalb der Welt des Gebildes. Die Gestalten der „Toten Seelen" 9 sind sämtlich unheilbar ihrer fixen Idee verfallen; und ihr .Schicksal' besteht darin, daß sie keins haben. Die anthropologische Prämisse läßt beispielsweise einen echten Dialog, der nämlich auf ein Einverständnis in der Sache abzielte, nicht zu. Dialog ist hier nur als Gerede möglich. Intersubjektives existiert als Uneigentlichkeit. Sich abzeichnende Probleme erhalten keine .Lösung', weil ,Dialog' nicht möglich ist. Man beachte, daß die Verdächtigungen, denen sich Ciiikov ausgesetzt sieht und die seine Abreise erzwingen, in keinem Verhältnis zu seinen wirklichen Intentionen stehen, ja gegen diese regelrecht blind sind. Fixe Ideen lassen sich nicht kommunizieren. Fremde Befindlichkeiten' bleiben unerkannt. Beurteilung bleibt aus, weil sie nur als inadäquate möglich ist. Das heißt: alle moralische Wertigkeit von Denken und Handeln ist beseitigt. Es gibt nur das endlose Nebeneinander verschiedener Obsessionen. Es sei nun, damit gänzlich klarwerde, was anthropologische Prämisse bedeutet, das Unausdenkliche gedacht, nämlich: Was geschähe mit .Raskol'nikov',

• Es scheint mir nicht überflüssig, anzumerken, daß hier immer nur der erste Teil der „Toten Seelen" gemeint ist. Im zweiten Teil, so läßt sich jetzt sagen, suchte Gogol' die anthropologische Prämisse zu ändern, was ein Grund dafür sein mag, daß das Projekt problematisch wurde.

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Entwurf einer Theorie des literarischen Gebildes

würde er in die Welt der „Toten Seelen" versetzt? Die Antwort kann, wie mir scheint, nur folgendermaßen aussehen. Raskol'nikov, der Mörder, wäre nur als eine Gestalt möglich, die unbeirrbar und unheilbar aufs Verbrechen aus wäre, unerreichbar für jegliche Gegenrede, unerreichbar für den Ruf des Gewissens: ein Psychopath mit der fixen Idee, unablässig Untaten vollbringen zu müssen. Auch Strafe fiele fort. Sie könnte nur als groteskes Danebenzeigen auftreten, indem der Täter für etwas vollkommen Beiläufiges belangt würde, das er zudem gar nicht begangen hätte. Mit einem Wort: Ein ,Raskol'nikov' als die Gestalt, wie sie uns in „Verbrechen und Strafe" gegenübertritt, wäre in der Welt der „Toten Seelen" gar nicht möglich. Das aber heißt nicht, daß die Befindlichkeit, die „Verbrechen und Strafe" beherrscht: nämlidi die Lust und die Qual des Missetäters auf dem Boden der anthropologischen Prämisse der „Toten Seelen" nicht darstellbar wäre. Allerdings müßte diese Befindlichkeit als fixe Idee, als Tick auftreten, und das heißt: jemand müßte sich ständig in ihr aufhalten, hätte unter permanenten Schuldgefühlen über Schandtaten, die keine sind oder von ihm nicht verübt wurden, zu leiden. Die anthropologische Prämisse ist ein Prisma, durch das die beherrschende Befindlichkeit, das Worumwillen nämlich des Gebildes, gesehen wird. Der Name einer literarischen Gestalt kann mithin zweierlei meinen: einmal die Befindlichkeit, in der sie steht, zum anderen das Schicksal, das sie auf Grund der anthropologischen Prämisse erleidet. Gewiß, wo wir literarische Personen ,beim Namen' nennen, ist immer beides gemeint. Jedoch muß man sich darüber im klaren sein, daß stets zweierlei im Spiele ist. Ganz offensichtlich tritt hier der Grund für die sonderbare Erfahrung zutage, daß man von einem literarischen Gebilde, dessen .Weltanschauung' man nicht teilt, genuin ,ergriffen' werden kann. Die zentrale Befindlichkeit durchschlägt offenbar, wo sie zu echter phänomenaler Fülle gebracht wird, alle Beurteilung. Gleichwohl darf hier nicht der Eindruck aufkommen, als existiere die Befindlichkeit als Worumwillen des Gebildes vollkommen losgelöst von dessen anthropologischer Prämisse, als habe man es mit zwei getrennten Bereichen zu tun, die gleichsam neben- oder übereinander vorhanden sind. Die anthropologische Prämisse wird nicht nur in der Lösung eines .Problems' sichtbar, sie ist nicht etwas, das einer Befindlichkeit gleichsam angehängt würde, sondern: sie legt den Stil fest, in dem die tragende Befindlichkeit formuliert wird. Das Schicksal von jemand, der in einer bestimmten Situation angetroffen wird, ist in der Konfrontation mit dem einzelnen Gebilde stets zu erahnen. ,Kompositionelle Stringenz* ist inhaltlich gesehen ein Anbringen von Verweisen auf den tatsächlichen Ausgang der ,Geschichte'. Solche Verweise sind aber nichts anderes als ein Herauslegen der bereits angelegten Lösung der Situation. Dennoch ist die Befindlichkeit immer rein da, gleichsam frei vom Stil, in dem sie ,formuliert' auftritt, und frei meint hier: frei von jeglichem Stil. Es ist nämlich gleichgültig, wer Furdit oder Empörung empfindet, die Qual des Missetäters aussteht; die Phänomene Furcht, Empörung, Qual des Missetäters sind als existenziale Modi der Befindlichkeit immer dieselben. Die anthropologische Prämisse legt das Wer fest, bringt das Wer zur Bestimmtheit. In dieser Festlegung des Wer als

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einer Person in einer bestimmten Welt, das heißt, in einer von bestimmten Gesetzen getragenen Welt besteht die regelnde Funktion der anthropologischen Prämisse. Am Gebilde mit natürlicher Lästigkeit gilt es also zu unterscheiden zwischen dem Worumwillen in seiner ,absoluten* begrifflichen Bestimmtheit: der Befindlichkeit als solcher, und dem Worumwillen in seiner ,relativen' begrifflichen Bestimmtheit: der Befindlichkeit mitsamt dem Wer dessen, der in sie gerät, und das heißt, mitsamt den objektiven Urteilen, die sie aus einer bestimmten Welt erfährt.

§ 5 Der Gegenstand des Gebildes. Das fiktionstranszendente Bild Die zentrale Befindlichkeit im Zugriff der anthropologischen Prämisse ist der Gegenstand des Gebildes mit natürlicher Lästigkeit. Das Worumwillen des Gebildes, nämlich die zentrale Befindlichkeit, verlangt, um nachvollziehbar vorliegen zu können, zunächst die begriffliche Ausfaltung zu phänomenaler Fülle. Die soeben vorgenommene Erläuterung des Phänomens der Furcht hat deutlich werden lassen, wie solche Ausfaltung aussieht. Die Befindlichkeit hat gleichsam zu phänomenaler Fülle anzuwachsen. Solches Anwachsen mag man sich als ein pulsierendes Größerwerden vorstellen. Als Musterbeispiel für das hier Gemeinte ist beispielsweise Kleists Gestaltung der Empörung des Kohlhaas anzusehen. Die Befindlichkeit der Empörung pulsiert hier in verschiedenen Schüben zu ihrer vollen Ausfaltung empor, das heißt: es wird uns nicht das Worüber der Empörung und das von ihr sich angehen lassende Subjekt in einem einmaligen und in dieser Einmaligkeit statischen Aufblick dargeboten. Vielmehr wird uns Kohlhaas immer wieder als jemand vorgeführt, der seine Lage kritisch überprüft, das Worüber seiner Empörung derart durchdenkt, daß wiederholt eine wie auch immer hypothetische Zurücknahme dessen, was als das Wirkliche in den Blick kommt, stattfindet. Was als Technik von Steigerung sich herauskristallisieren läßt, zum ,Kunstgriff' sich niederschlägt, ist, recht betrachtet, die Folge einer inhaltlichen Prämisse: ein Befolgen nämlich der innersten Tendenz der Befindlichkeit selbst, die darauf aus ist, sich zu ihrer phänomenalen Fülle zu bringen. Eine Befindlichkeit .gestalten' heißt mithin: ihrem Drang, sich nach allen Seiten zu verwirklichen, gehorchen. Nach allen Seiten, das heißt nichts anderes, als daß die Befindlichkeit in ihren verschiedenen Schattierungen und auch in ihren .Grenzen' zu Wort kommt, in ihrem ständigen Angrenzen nämlich an andere, benachbarte, aber ihr entgegengesetzte Modi von Befindlichkeit, in die sie selbst, sich aufhebend, umschlagen könnte. So kommt etwa die Befindlichkeit der Furcht dadurch zu höchster Wirkung, daß immer wieder die Möglichkeit der Beruhigung in den Blick gebracht wird, so zwar, daß dadurch die Furcht umso stärker wieder aufkeimt. Es gilt zu sehen, daß das kundige Ausfalten einer Befindlichkeit sich an deren Eigenart orientiert und nicht ins Belieben des .Autors' gestellt ist. Man darf sagen: mit der Festlegung des Worumwillen eines Gebildes, d. h. hier, mit der Festlegung der zentralen Befindlichkeit erwachsen dem auktorialen Tun bestimmte Unabdingbarkeiten.

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Wenn eine Befindlichkeit auf den Boden einer anthropologischen Prämisse gestellt wird, ergeben sich weitere Unabdingbarkeiten, jene nämlich, die f ü r die eindeutige Kennzeichnung der anthropologischen Prämisse notwendig sind. Man kann Empörung revolutionär bejahen oder als Hybris gegen gottgewollte Ordnung verneinen. Die damit jeweils implizierte anthropologische Prämisse macht in jedem Fall bestimmte Konstruktionen nötig, um als eine solche einsichtig zu werden. Die Summe der Unabdingbarkeiten auf Grund der Koppelung von Befindlichkeit und anthropologischer Prämisse ist der Gegenstand des Gebildes. Die Entfaltung einer Befindlichkeit zum Gegenstand des Gebildes k a n n rein begrifflich geschehen oder aber zusätzlich in ein fiktionstranszendentes Bild einmünden. Rein begrifflich geschieht sie in Dostoevskijs „Verbrechen und Strafe". Der fiktionstranszendente Bereich weist hier kein Bild auf. Die E n t faltung des Worumwillen des Gebildes, der Befindlichkeit ,Lust und Qual des Missetäters', wird logisch nackt vollzogen. Das heißt: die Komponenten ,Raskol'nikov' (der Frevler), ,Sonja Marmeladova' (Verdikt der eigenen Innerlichkeit), ,Porfirij Petrovi£' (Verdikt der Gemeinschaft), ,Svidrigajlov' (privative Parallele zur H a l t u n g der Hauptgestalt) werden nicht durch die Logik eines Bildes miteinander in Beziehung gesetzt. In den „Brüdern K a r a m a z o v " ist Dostoevskij anders vorgegangen. H i e r findet sich ein fiktionstranszendentes Bild, nämlich die Vorstellung von einem inneren Gerichtshof im Menschen, „vor welchem sich", wie es bei K a n t heißt 10 , „seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen". Der Staatsanwalt klagt — als homo noumenon gleichsam — den Missetäter an, der in vier K o m ponenten zerlegt auftritt: Aleksej (abgewiesene Bejahung des bösen Wunsches), Ivan (insgeheime Bejahung des bösen Wunsches), Dmitrij (offene Bejahung des bösen Wunsches) und Smerdjakov (Exekutor des bösen Wunsches). A n die Seite des beschuldigten Missetäters wird der Verteidiger gestellt, das „gemietete Gewissen" (nanjataja sovest'), das auch dann noch freispricht, wenn die Schuld feststeht. Die Geschworenen sprechen der Komponente ,Dmitrij' die H a u p t schuld zu, weil die Komponente ,Smerdjakov' im Menschen nicht in Aktion treten kann, wenn die Komponente ,Dmitrij' fehlt. Die Situation des im K r a f t feld des verwerflichen Wunsches befindlichen Menschen wird hier zu einem Bild entfaltet, das fiktionsimmanent nicht auftritt. Im fiktionsimmanenten Bereich wird Dmitrij verurteilt, weil man ihn f ü r den faktischen Täter hält. Die H a n d l u n g muß, was beispielsweise den Motivationszusammenhang angeht, auf der Ebene des fiktionstranszendenten Bildes anders wiedergegeben werden als von einem fiktionsimmanenten Standpunkt. Die in den „Brüdern K a r a m a z o v " im fiktionstranszendenten Bild auftretenden Realitäten lassen sich jedoch noch mit den ,Namen' bezeichnen', die sie auch im fiktionsimmanenten Bereich tragen: der Staatsanwalt ist in beiden Bereichen ein Staatsanwalt, der Verteidiger ein Verteidiger usw. N u r die Motivkette ist innerhalb des fiktionstranszendenten Bildes eine andere als im 10

Vgl. Kant: Metaphysik der Sitten (Ethisdie Elementarlehre, § 13).

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fiktionsimmanenten Bereich. Es gibt nun noch einen weiteren, völlig anderen Typus des fiktionstranszendenten Bildes. Wenn etwa in Edgar Allan Poes „Bericht des Arthur Gordon P y m " ( N a r r a tive of Arthur Gordon Pym) der Südpol als die Region des Todes aufzufassen ist, so läßt sich solche Auffassung von fiktionsimmanentem Standpunkt nicht bestätigen. N u r im fiktionstranszendenten Bereich ist der Südpol die Region des Todes. N u r im fiktionstranszendenten Bereich ist die Reise Pyms eine allegorische Reise, nämlich die Reise des Menschen durch das Leben, das im Mutterleib beginnt und im Tod endet. Fiktionsimmanent ist von nichts dergleichen die Rede, sondern nur vom düsteren Laderaum der ,Grampus', wo sich P y m als blinder Passagier versteckt hält, und von den weißen Nebelschleiern der Antarktis, in die P y m in leichtem K a n u sich hineingetrieben sieht. Die Herstellung von fiktionstranszendenten Bildern wurde insbesondere innerhalb der barocken ,Emblematik' zu hoher Kunst entwickelt. Im unmittelbaren Anblick der ,Pictura' liegt ja prinzipiell nichts anderes als der fiktionsimmanente Bereich des literarischen Gebildes beschlossen, während die ,Subscriptio' als die Auflösung der im unmittelbaren Bildgehalt eingeschlossenen Bedeutung nichts anderes ist als die Erschließung des fiktionstranszendenten Bildes. Es sei hier allerdings zu bedenken gegeben, daß das barocke Weltverständnis offenbar die fiktionsimmanente Ebene isoliert von der fiktionstranszendenten Bedeutung gar nicht kennt, so daß die hier vorgenommene Auseinanderlegung als radikale Formalisierung aufzufassen ist. Es sei darauf aufmerksam gemacht, daß, wer das fiktionstranszendente Bild nicht sieht, den Gegenstand des Gebildes zwar verkennt, aber gleichsam nur in einem Teil. Denn das Worumwillen qua Befindlichkeit und die anthropologische Prämisse sind ja auch bei Ausblendung des fiktionstranszendenten Bildes erfaßbar. Es geht indessen hier nicht um die Implikationen, die aus der Einführung eines fiktionstranszendenten Bildes f ü r das adäquate Verstehen erwachsen, vielmehr soll deutlich werden, daß die Entfaltung des Worumwillen zum Gegenstand des Gebildes eine Summe von Unabdingbarkeiten schafft, deren Verwirklichung' ansteht, wobei das fiktionstranszendente Bild eine besondere Möglichkeit der Einrichtung des fiktionstranszendenten Bereichs des Gebildes ausmacht.

§ 6 D i e Schlüssigkeit des G e b i l d e s Das vollkommene Gebilde ist ein schlüssiges Gebilde. Jeder kennt diesen Gemeinplatz. Schlüssigkeit liegt dann vor, wenn nichts fehlt und nichts zuviel ist. Wie aber steht es dann mit der Unzahl hervorragend aufgebauter Kriminalromane, die alle schlüssig sind in dem Sinne, daß nichts fehlt und nichts zuviel ist? Sind sie ausnahmslos vollkommene Gebilde? U n d wie steht es mit einer Erzählung wie etwa „Meine F r a u " (Zena) von Cechov? Wie will hier jemand, der an der Schlüssigkeit eines Kriminalromans orientiert ist, entscheiden, ob

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Entwurf einer Theorie des literarischen

Gebildes

nichts fehlt und nichts zuviel ist? Wäre somit diese Erzählung kein vollkommenes Gebilde? Es gilt hier folgendes zu beachten. Schlüssig kann ,etwas' immer nur sein in bezug auf einen Begriff. Dieser Begriff liegt beim vollkommenen Gebilde stets im fiktionstranszendenten Bereich. Hier wird die Vorentscheidung über seinen Rang getroffen. Wer nicht seinen Blick schärft für die Struktur des fiktionstranszendenten Bereichs des Gebildes, wird niemals substantielle Schlüssigkeit von einer nur formellen mit Sicherheit unterscheiden können. Substantielle Schlüssigkeit liegt dann vor, wenn die Ausfaltung des Worumwillen des Gebildes so geschieht, daß sie sich als Folge der anthropologischen Prämisse und gegebenenfalls zusätzlich als Folge eines fiktionstranszendenten Bildes begreifen läßt. Was im fiktionsimmanenten Bereich auftritt, darf lediglich den Erfordernissen, die im fiktionstranszendenten Bereich sich formulierten, gehorchen. Durch ein Anstarren der fiktionsimmanenten Realitäten werden sich solche Erfordernisse niemals vor den Blick bringen lassen. Die Schlüssigkeit sämtlicher Kriminalromane, die soeben in den Blick kam, ist eine formelle. Formelle Schlüssigkeit spielt sich ausschließlich im fiktionsimmanenten Bereich ab. Ausgestreute Bezüge werden wieder aufgenommen und in der ,Auflösung' einem Sinn zugeführt. Steht diese formelle Schlüssigkeit nicht im Dienst einer substantiellen, so kann von einem genuin schlüssigen Gebilde keine Rede sein. Werke, die nur in formeller Hinsicht schlüssig sind, haben, recht betrachtet, kein Worumwillen, haben die Befindlichkeit, die sich regte, unterdrückt und nicht zur Fülle gebracht, sind .unschlüssig', weil sie nicht wissen, in welcher Richtung sie sich substantiell entfalten sollen. Jedes Gebilde hat die Tendenz, ein substantiell schlüssiges Gebilde zu sein und damit die Grundvoraussetzung für seine Vollkommenheit zu erfüllen. Eine solche Feststellung mag angesichts der Vielzahl, ja eindeutigen Majorität mißglückter Gebilde Verwunderung hervorrufen. Man mache sich indessen klar, daß die negative Beurteilung eines künstlerischen Gebildes dieses stets an seinen nicht erfüllten ,Möglichkeiten' mißt. Gewiß, es kann dabei zu einer puren Besserwisserei auch gegenüber dem ,vollkommenen' Gebilde kommen. Dennoch ist das Vorlaufen ins Wünschenswerte, das dem Tatsächlichen entgegengestellt wird, orientiert an einem unveräußerlichen Bestand dessen, was schon vorliegt. Der Blick, der künstlerisch verwirft, hat sich auf den Bereich, aus dem das Verworfene, diesen erschließend, überhaupt erst aufstieg, immer schon fest eingelassen. Das aber heißt nichts anderes, als daß niemals das Gebilde mit allem, was an ihm ist, niemals das ganze Gebilde abgelehnt wird. Es wird immer nur ein anderer Fortgang, eine andere Lösung, eine andere Formulierung' dessen, was begonnen, gelöst, formuliert vorliegt, kritisch miteingebracht. Das vollkommene Gebilde läßt sich mithin als die Einlösung vollkommener Vorgriffe auffassen. Das mißlungene Gebilde ist ein Sonderfall des vollkommenen. Es mag nun hinreichend verdeutlicht sein, daß die These, jedes Gebilde habe die Tendenz, ein vollkommenes zu sein, nicht durch den Verweis darauf zu

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widerlegen ist, daß das vollkommene Gebilde doch offensichtlich seltener sei als das nicht vollkommene. Auf ähnliche Weise unzutreffend wäre es, wollte man Gadamers Ansetzung eines Vorgriffs der Vollkommenheit durch den Hinweis darauf widerlegen, daß Mißverstandenwerden häufiger sei als Verstandenwerden. Die Tendenz des Gebildes, ein vollkommenes zu sein, wird vom genialen Autor .fixiert'. Kehren wir nun zur Schlüssigkeit des fiktionstranszendenten Bereichs zurück. Gewiß gibt es auch Werke, die in formeller Hinsicht nicht schlüssig sind und gleichwohl genuine ,Vollkommenheit' besitzen. Die formelle Schlüssigkeit ist ganz offensichtlich keine unabdingbare Voraussetzung für das vollkommene Gebilde. Die soeben erwähnte Erzählung Cediovs, „Meine Frau", wie auch der „Ulysses" des James Joyce sind Belege dafür. Niemand könnte aus dem fiktionsimmanenten Bereich eine Begründung dafür herleiten, warum diese Werke ausgerechnet dort beginnen, wo sie beginnen, und ausgerechnet dort enden, wo sie enden. Ihre Schlüssigkeit hat ihr Fundament ganz im fiktionstranszendenten Bereich, dessen Strukturierung allerdings die Grundvoraussetzung für den Rang eines literarischen Gebildes liefert. Es taucht an dieser Stelle die Frage auf, welche Typen der formellen Schlüssigkeit der fiktionsimmanente Bereich des Gebildes aufweisen kann. Anders formuliert: es gilt zu prüfen, inwieweit überhaupt von innerfiktionalem Standpunkt von aller ,Schlüssigkeit' der Handlung, der Bündelung nämlich in einen ,Sinn', abgegangen werden kann. Die Ausfaltung dieser Frage führt zur Typologie des innerfiktionalen Bedeutungszusammenhangs, deren Grundlagen im zweiten Teil dieser Untersuchungen11 erörtert werden sollen.

2. Der fiktionsimmanente

Bereich

§ 7 Der Gegenstand des Gebildes in seiner anschaulichen Bestimmtheit Der fiktionstranszendente Bereich des Gebildes enthält den Gegenstand des Gebildes in seiner begrifflichen Bestimmtheit. Es gilt nun zu beschreiben, auf welche Weise der Gegenstand des Gebildes zu seiner anschaulichen Bestimmtheit gelangt. In dieser existiert er im fiktionsimmanenten Bereich. In seiner anschaulichen Bestimmtheit begegnet der Gegenstand des Gebildes uns, den Lesern, zunächst. Ich werde weiter unten darlegen, was dies für das Verstehen eines Gebildes bedeutet. Im fiktionsimmanenten Bereich leiht sich der Gegenstand des Gebildes sein Aussehen. Alles Reden über ein vorliegendes Gebilde ist darum nur im Durchgang durch den fiktionsimmanenten Bereich möglich. Der Gegenstand des Gebildes verwirklicht sich durch Eintauchen in den fiktionsimmanenten Bereich. Bei solchem Eintauchen ,melden' sich verschiedene 11

V g l . unten § 23—26.

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Wesensmerkmale des Gebildes. Der Gegenstand, so kann man sagen, will sich verwirklichen. Und dieses Wollen aktiviert bestimmte Eigentümlichkeiten des Gebildes, ruft sie gleichsam auf den Plan. Das Drängen des Gegenstandes nach Verwirklichung schafft Primärintentionen, die Sekundärintentionen (oder Auxiliarien) nach sich ziehen. Indem sich der Gegenstand des Gebildes auf seine anschauliche Bestimmtheit zu in Bewegung setzt, werden zwangsläufig Faktoren wirksam, die nicht zum Thematisierten gehören, sondern die konkrete Bestimmtheit einer Thematisierung überhaupt erst ermöglichen. Diese Faktoren sind: das Konkretionssubstrat und der wirklichkeitsbestimmende Konsensus. Da beide der Verwirklichung von Primär- und Sekundärintentionen vorgängig sind, werden sie hier zunächst behandelt.

§ 8 Das Konkretionssubstrat Die Weltgegend, in der ein Werk spielt, heißt Konkretionssubstrat. Konkretionssubstrate lassen sich im Hinblick auf ihre „Lage" einteilen in: (1) unmittelbar vorhandene, (2) rekonstruierte, (3) vorgestellte und (4) imaginäre. Ein unmittelbar vorhandenes Konkretionssubstrat liegt dann vor, wenn die in einem Gebilde evozierte Welt dem Autor und seinem (zeitgenössischen) Publikum als gegenwärtig gilt. Werke mit unmittelbar vorhandenem Konkretionssubstrat zeichnen sich durch ein dezidiertes Eingehen auf .tatsächliche' und damit nachprüfbare Verhältnisse der Gegenwart aus. Ein rekonstruiertes Konkretionssubstrat liegt dann vor, wenn die in einem Gebilde evozierte Welt dem Autor und seinem (zeitgenössischen) Publikum als vergangene gilt. Werke mit einem rekonstruierten Konkretionssubstrat zeichnen sich durch ein dezidiertes Eingehen auf .tatsächliche' und damit nachprüfbare Verhältnisse der Vergangenheit aus. Ein vorgestelltes Konkretionssubstrat liegt dann vor, wenn die in einem Gebilde evozierte Welt aus umlaufenden Vorstellungen über eine bestimmte, gegenwärtige oder vergangene Weltgegend zusammengesetzt wurde. Werke mit vorgestelltem Konkretionssubstrat beziehen sich nicht auf nachprüfbare Verhältnisse, sie leben von Klischee-Vorstellungen, so zwar, daß sich diese noch als solche erkennen lassen. Ein imaginäres Konkretionssubstrat liegt dann vor, wenn die in einem Gebilde evozierte Welt in ihrer Gesamtheit keinen Bezug auf eine objektiv vorhandene Weltgegend in sich trägt. Das unmittelbar vorhandene Konkretionssubstrat weist drei Untergruppen auf. Die in einem Gebilde mit unmittelbar vorhandenem Konkretionssubstrat evozierte Welt kann durch Nähe oder durch Ferne zur Welt des (zeitgenössischen) Publikums gekennzeichnet sein; und sie kann als Projektion in Erscheinung treten, in diesem Fall scheint sie fern, wenngleich sie es nicht ist. Die Ferne einer Welt kann geographisch bedingt sein oder wesensmäßig, d. h. durch den vorgeführten Sachbezirk.

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Ein unmittelbar vorhandenes Konkretionssubstrat, das durch Nähe zur Welt des (zeitgenössischen) Publikums gekennzeichnet ist, liegt vor in Flauberts „Madame Bovary", in Dostoevskijs „Verbrechen und Strafe". Ein unmittelbar vorhandenes Konkretionssubstrat, das durch Ferne zur Welt des (zeitgenössischen) Publikums gekennzeichnet ist, liegt vor in Melvilles „Moby Dick", in Joseph Conrads „Herz der Finsternis" (Heart of Darkness). In diesen beiden Werken handelt es sich sowohl um geographische Entlegenheit, wie auch um sachliche: bei Melville ,Welt des Walfängers', bei Conrad ,Welt des Elfenbeinjägers'. Mit geographischer Entlegenheit geht sachliche oft zusammen. Es gibt aber auch Beispiele für geographische Entlegenheit bei f a c h licher' Nähe, so etwa Somerset Maughams „Regen" (Rain) oder Joseph Conrads „Freya von den Sieben Inseln" (Freya of the Seven Isles). Die Ferne einer speziellen Welt braucht nicht mit geographischer einherzugehen. Man denke an Thomas Manns „Zauberberg" (Welt des Sanatoriums) oder auch an seinen „Doktor Faustus" (Welt des ,Tonsetzers'). Um ein unmittelbar vorhandenes Konkretionssubstrat, das in eine geographisch ferne Gegend projiziert wurde, handelt es sich bei Swifts „Gullivers Reisen" (Travels into Several Remote Nations of the World. By Lemuel Gulliver, First a Surgeon, and then a Captain of several Ships). Die wirkliche Bezugslandschaft ist hier England unter George I. Um ein unmittelbar vorhandenes Konkretionssubstrat, das in eine zeitliche Ferne projiziert wurde, handelt es sich bei Orwells „1984". Bezugspunkt ist die Weltlage um das Jahr 1948. Der mögliche Einwand, die hier geltend gemachte Unterscheidung zwischen ,Nähe' und ,Ferne' des Konkretionssubstrats sei relativ auf den jeweiligen „Standort" des tatsächlichen Lesers und lasse sich nicht aus dem Werk selber belegen, ist nichtig. Jedes Werk trägt sein Verhältnis zur vorausgesetzten Leserschaft objektiv mit sich herum. Daß Joseph Conrads Marlow im Wissen darum, Exotisches nahezubringen, erzählt, bleibt auch für jenen erhalten, der ,dort' wohnt. Umgekehrt: ein Afrikaner, der für Afrikaner über Afrika schreibt, schafft damit für uns kein fernes, exotisches Konkretionssubstrat. Auch geht ,Nähe' nicht verloren, indem eine Welt — etwa das Rußland Dostoevskijs — zur vergangenen wird. ,Nähe' und ,Ferne' sind Haltungen des Werks, denen wir zu entsprechen haben, um zu verstehen. Daß der Kaukasus eine exotische Weltgegend ist, gehört zu Lermontovs „Held unserer Zeit" (Geroj nasego vremeni) als objektives Kennzeichen. Daß Adrian Leverkühns Welt als die eines Spezialisten dargeboten wird, verschwindet auch nicht für jemand, der sich selber in ihr auskennt. Kiplings „Dschungelbücher" (The Jungle Book; The Second Jungle Book) verraten durch die Art, wie sie ihre Welt präsentieren, den Europäer, für den sie geschrieben sind. Ebenso verrät das projizierte Konkretionssubstrat seine vorgebliche Entlegenheit. Montesquieus „Persische Briefe" (Lettres persanes) haben ein unmittelbar vorhandenes Konkretionssubstrat der Nähe und geben vor, eines der Ferne zu besitzen; wer wollte leugnen, daß solche Vorgeblichkeit zu den objektiven Kennzeichen dieses Werks gehört? Das Konkretionssubstrat ist natürlich bei Montesquieu kein projiziertes.

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Das rekonstruierte Konkretionssubstrat tritt uns in historischen literarischen Werken entgegen. Hier wird, was einstmals unmittelbar vorhandenes Konkretionssubstrat gewesen ist, als dieses erschlossen. Daß rekonstruiert wurde, ist nicht immer aus dem Werk ersichtlich. Oft jedoch wird der Abstand zwischen der rekonstruierten Welt und dem zeitlichen Standort des rekonstruierenden Autors selber im Werk thematisch, so bei Scott im „Herz von Midlothian" (The Heart of Midlothian) oder in den Renaissance-Novellen Stendhals. Das rekonstruierte Konkretionssubstrat verrät sich nicht in der Weise wie die soeben diskutierte ,Nähe' und ,Ferne'. Wer liest etwa Puskins „Hauptmannstochter" (Kapitanskaja docka) als ,historischen' Roman? Der Streit um das Igor'Lied geht um die Frage, ob es sich hier um ein unmittelbar vorhandenes Konkretionssubstrat (der Nähe) handelt oder um ein rekonstruiertes. Die Möglichkeit der Entscheidung darüber, ob ein rekonstruiertes Konkretionssubstrat vorliegt oder nicht, hängt offenbar von Kennzeichen ab, die der ,Welt' des Werks akzidentell sind, wie etwa von der Sichtbarkeit des jeweiligen Sprachzustands, in dem sie auftritt. Ein vorgestelltes Konkretionssubstrat liegt vor in Franz Kafkas „Amerika", in Poes „Die Morde in der Rue Morgue" (The Murders in the Rue Morgue), in Gogol's „Taras Bul'ba", in Edgar Rice Burroughs' „Tarzan bei den Affen" (Tarzan of the Apes), in Coleridges „Kubla Khan". In all diesen Werken wird die Weltgegend, in der sie spielen, auf Grund von Vorstellungsklischees, die über sie in Umlauf sind, eingerichtet. Man kann also nicht sagen, daß es die Weltgegend in dieser Form nur in der Vorstellung ihres Autors gäbe, sie ist durchaus ,objektiv' vorhanden, aber nur als Phantasieleistung jener, die von ihr ,träumen'. Vorgestellte Konkretionssubstrate bestehen aus dem, was man über eine bestimmte Weltgegend hören möchte, weil man es schon ,weiß'. Was uns zum „Kubla Khan" berichtet wird, daß Coleridge über einem Satz aus Purchas's Pilgrimage, wo vom Khan Kubla und seinen sdiönen Gärten die Rede war, einschlief und mitsamt seiner fertigen Dichtung, die sidi um diesen Satz rankte, erwachte,12 mag durchaus als Beispiel für die Psychologie der Entstehung von vorgestellten Konkretionssubstraten herangezogen werden. Der Vorgang sieht offenbar so aus, daß sich auf Grund von sachlidier oder pseudosachlicher Information, die wegen der Ferne der wirklichen Weltgegend, ihrer faktischen Unerreichbarkeit, nicht verifiziert werden kann, Vor-Urteile herausbilden, die sich zu einer .Landschaft' verfestigen. Robbe-Grillet hat in seinem kleinen Roman „Die blaue Villa in Hongkong" (La maison de rendez-vous) eine solche Landschaft bewußt gestaltet und äußerte, auf sein Vorgehen befragt, sein Roman baue darauf auf, daß jeder Hongkong kenne, weil Hongkong allgemein bekannt sei und wir alle irgendein Hongkong vor Augen hätten.15 Dieselbe

12

13

Vgl. The Poems of S. T. Coleridge, ed. Ernest Hartley Coleridge (London, Oxford University Press 1960), S. 296. Die Äußerung entstammt einem Interview, das Robbe-Grillet der Schriftstellerin Thérèse de Saint Phalle gegeben hat. Enthalten in: E x libris Hanser, Herbst 1966, München, S. 5 — 7 .

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gestaltende Gesinnung liegt der Beschreibung von Paris in Poes „Morden in der Rue Morgue" zugrunde. Paris tritt nur als Kollektion sorgfältig ermittelter Klischees in Erscheinung: als Ort, wo man französisch spricht, als Großstadt und mithin Brutstätte des Verbrechens, als Heimstatt dekadenter Adeliger usw. — Daß die Welt der Kosaken in Gogol's „Taras Bul'ba" nicht der Wirklichkeit entspricht, wurde von Gogol's Zeitgenossen P. A. Kulis zum Anlaß für eine dichterische Polemik genommen. Wichtig wird in diesem Zusammenhang der Hinweis Dmitrij Tschizewskijs, daß Gogol' sicherlich absichtlich jene Tatsachen ignoriert hat, deren Unkenntnis man ihm vorwarf. 14 So wurde etwa das ukrainische Kosakentum entgegen der historischen Wirklichkeit als einheitliches Ganzes dargestellt; wichtige Sondergruppen, Stände, Privatinteressen blieben unberücksichtigt. Man beachte, daß nicht einmal festzustellen ist, in welchem Jahrhundert „Taras Bul'ba" spielt: ob im 16. oder im 17. bleibt offen. Fest steht lediglich, daß es sich um die Kosakenkämpfe gegen Polen handelt. Mit einem Wort: es ging Gogol' ums Pittoreske und Heroische, um Qualitäten mithin, die die Vorstellung vom ukrainischen Kosakentum tragen. — Kafkas „Amerika" ist systematisch mit Landläufigkeiten bestückt: Freiheitsstatue, Präsident, junger Mann, der sich durchringt; es galt gleichsam eine Geschichte zu schreiben mit Realitäten, die unbedingt vorkommen müssen. — Vorgestellte Konkretionssubstrate treten dann auf, wenn die ihnen zugrundeliegende tatsächliche Weltgegend nachhaltig im Gespräch ist. Vorgestellte Konkretionssubstrate sind das Resultat einer Ablagerung von Landläufigkeiten. Die Einreden von Ortskundigen und Geschichtskennern können gegen solche Ablagerung nichts ausrichten. Das imaginäre Konkretionssubstrat liegt vor in Leonid Andreevs „Das Leben des Mensdien" (Zizn' ¿eloveka), in Maurice Maeterlincks „Die Blinden" (Les aveugles), in Samuel Becketts „Warten auf Godot" (En attendant Godot). Das imaginäre Konkretionssubstrat läßt sich nur privativ definieren. Während die übrigen Typen des Konkretionssubstrats sämtlich durch geographische und historische Fixierbarkeit gekennzeichnet waren (mag auch solches ,Lokalisieren' beim vorgestellten Konkretionssubstrat oft nur pauschal möglich sein), so entfällt diese beim imaginären Konkretionssubstrat völlig. Die Weltgegend ist hier überall und nirgends, jetzt und nie. § 9 Das Konkretionssubstrat in seiner universellen Tauglichkeit und tatsächlichen Gegebenheit Konkretionssubstrate werden sichtbar immer nur in ihrer tatsächlichen Gegebenheit. Das heißt: sobald ein Konkretionssubstrat in einem Gebilde vorliegt, tritt es uns bereits im Kraftfeld der anthropologischen Prämisse und im Prisma des wirklichkeitsbestimmenden Konsensus entgegen. Dies mag auf den ersten 14

Vgl. Dmitrij Tschiiewskij: Russische Literaturgeschichte (München 1964), S. 103/104.

des 19. Jahrhunderts,

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Entwurf einer Theorie des literarischen Gebildes

Blick den Eindruck aufkommen lassen, als sei mit der Wahl eines bestimmten Konkretionssubstrats immer auch eine bestimmte anthropologische Prämisse oder ein bestimmter wirklichkeitsbestimmender Konsensus mitgesetzt. Was miteinander einhergeht, darf indessen nicht als einander bedingend aufgefaßt werden. Grundsätzlich muß festgehalten werden: Jedes Konkretionssubstrat ist mit jeder anthropologischen Prämisse kombinierbar. Ebenso gilt: Jedes Konkretionssubstrat ist mit jedem wirklichkeitsbestimmenden Konsensus kombinierbar. (Über den wirklichkeitsbestimmenden Konsensus berichtet der folgende Paragraph.) Wenn aber ein Konkretionssubstrat immer nur im Kraftfeld einer bestimmten anthropologischen Prämisse (und im Prisma eines bestimmten wirklichkeitsbestimmenden Konsensus) sichtbar wird, kann es dann überhaupt ,an sich' vorhanden und bestimmbar sein? Es gilt zu unterscheiden zwischen dem Konkretionssubstrat in seiner universellen Tauglichkeit und dem Konkretionssubstrat in seiner tatsächlichen Gegebenheit. Die Unterscheidung sei an einem Beispiel erläutert. Das Konkretionssubstrat der fünf großen Romane Dostoevskijs ist „Rußland von 1864 bis 1872". Vom Typus her haben wir es hier mit einem unmittelbar vorhandenen Konkretionssubstrat der Nähe zu tun. Es ist durch folgende Realitäten gekennzeichnet: Aufgeschlossenheit gewisser Teile der russischen Jugend f ü r f e s t liches' Ideengut, besonders französischer Prägung (Napoleon, ,Aufklärung'); Zurücktreten der Bedeutung des Adels und seiner Lebensformen; offenes Ohr gewisser Teile der Jugend f ü r russisch-orthodoxes Gedankengut; Konkurrieren der „westlichen" und „russischen" Orientierung. Daneben existiert ein anderer Bereich von Realitäten: die für jene Zeit typischen „Sitten und Gebräuche", der Stand der Technik (Eisenbahn, Orchestrion, Methoden der Kriminalistik), die spezielle Physiognomie Petersburgs und der Provinz, die Art sich zu kleiden. Mit einer solchen Aufzählung der Realitäten hat man das Konkretionssubstrat Dostoevskijs in seiner universellen Tauglichkeit beschrieben. Die Realitäten wurden nicht unter dem Gesichtspunkt des Werts betrachtet. Mit Hinzutreten der anthropologischen Prämisse kommt der Gesichtspunkt des Werts herein. Dostoevskij gestaltet den sittlichen Menschen, der die Wahl zwischen Gut und Böse hat. Gut und Böse werden bei Dostoevskij bezogen auf die Zukunft Rußlands. Böse ist, was das Chaos in Rußland fördert, gut ist, was dem Wesen des Menschen gemäße Formen des Zusammenlebens entwickelt und somit die Erhaltung Rußlands garantiert. Diese anthropologische Prämisse läßt es von ihrem Typus her nicht zu, über die Realitäten des Konkretionssubstrats geteilter Meinung zu sein: sie schreibt eine eindeutige Stellungnahme vor. Die tatsächliche Zuordnung der Kategorien Gut und Böse geschieht aus Dostoevskijs persönlicher Überzeugung heraus. Und so wird das westliche Ideengut als abträglich, das russisch-orthodoxe als zuträglich hingestellt. Mit solcher Zuordnung sind auch die Argumente mitgesetzt: der Geist der Aufklärung wird verdammt, ineins damit jegliche Fortschrittsgläubigkeit, das Christentum in seiner russisch-orthodoxen Ausprägung in nochmaliger

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Verengung zum russischen Starzentum als einzig lebensfähige Wahrheit propagiert. Auf diese Weise verliert das Konkretionssubstrat seine universelle Tauglichkeit. Es steht nun im Kraftfeld einer anthropologischen Prämisse. Man muß sich darüber klarwerden, daß die Bewertung der Realitäten, die eine bestimmte Weltgegend konstituieren, nicht automatisch festliegt. Die Realitäten des Dostoevskijschen Konkretionssubstrats hätten durchaus audi eine gegenteilige Zuordnung ,zugelassen', ohne daß das Konkretionssubstrat damit seine Identität verloren hätte. Denn diese gründet in der Festlegung, was überhaupt an Realitäten zu berücksichtigen sei. Eine gegenteilige Zuordnung von Gut und Böse hätte noch nicht einmal am Typus der anthropologischen Prämisse etwas geändert. Dostoevskijs anthropologische Prämisse hat ihren typologischen Widerpart nicht da, wo Christentum negativ oder atheistischer Sozialismus positiv eingeschätzt werden, sondern da, wo die Oberzeugung herrscht, daß alles gleich gültig und somit gleichgültig ist, also etwa in der anthropologisdien Prämisse des späten Cechov. 15 Es gilt also festzuhalten, daß sich aus einer bestimmten Weltgegend und ihrer Bestückung weder der Typus der anthropologischen Prämisse, noch, falls dieser die Unterscheidung von ,guten' und ,bösen' Realitäten fordert, die tatsächliche Zuordnung herleiten läßt. An dieser Stelle sei folgendes zu bedenken gegeben. Streng genommen hat jedes Gebilde sein eigenes Konkretionssubstrat. Es werden sich wohl auch schwerlich zwei Autoren finden lassen, die ihren Gebilden dasselbe Konkretionssubstrat zugrundelegen. Auch über die Bestückung einer bestimmten Weltgegend wird sich kaum eine verbindliche Übereinkunft erzielen lassen. Dies hat zur Folge, daß wir die universelle Tauglichkeit ein und derselben Weltgegend niemals anschaulich vorgeführt bekommen. Und so wird der Meinung Vorschub geleistet, insbesondere wenn es sich um ein unvermittelt vorhandenes Konkretionssubstrat der Nähe handelt, daß es einen Kausalzusammenhang zwischen der Weltgegend und der im betreffenden Gebilde sich aussprechenden Weltanschauung gebe. Die Verwirrung wird eine vollendete, wenn man schließlich noch dem größeren Dichter die größere Einsicht unterstellt und seine Bewertungen der einbezogenen Realitäten für .objektiv* richtig hält. Das Konkretionssubstrat ,leiht' dem Worumwillen des Gebildes das Aussehen, indem es festlegt, als was etwas in Erscheinung zu treten hat. Wie das Aussehen zu deuten ist, ergibt sich aus der anthropologischen Prämisse. Das Konkretionssubstrat in seiner tatsächlichen Gegebenheit ist ,gewertetes' Aussehen. Es sei jetzt beschrieben, auf welche Weise der wirklichkeitsbestimmende Konsensus dieses Aussehen mitbeeinflußt. Die tatsächliche Gegebenheit des Konkretionssubstrats ist, so sei explizit festgehalten, das Resultat des Zusammenwirkens von anthropologischer Prämisse und wirklichkeitsbestimmendem Konsensus auf das Konkretionssubstrat in seiner universellen Tauglichkeit.

ls

Vgl. etwa die Erzählungen „Die Braut" (Nevesta) und „Der Bischof" (Archierej).

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einer Theorie

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§10 Der wirklichkeitsbestimmende Konsensus Der wirklichkeitsbestimmende Konsensus legt fest, wo innerhalb der Fiktion die Grenze zwisdien subjektiver und objektiver Realität verläuft. Man kann auch sagen: der wirklichkeitsbestimmende Konsensus regelt die Zugehörigkeit des Denkbaren zur objektiven Wirklichkeit der Fiktion. Der wirklichkeitsbestimmende Konsensus kann sich erstrecken auf menschliches Verhalten. Er kann in Erscheinung treten als ausbleibende Verwunderung angesichts eines vollkommen außergewöhnlichen Anblicks. Oder als Verwunderung über etwas, das keine verdient. In beiden Fällen läßt das Verhalten der betreffenden Person keinen psychologischen Rückschluß zu, sondern kennzeichnet die Wirklichkeitsebene, auf der die Welt des Gebildes sich einrichtet. Der wirklichkeitsbestimmende Konsensus setzt fest, was ,normal' ist. Wenn wir ihn mitmachen, wissen wir, wo wir psychologisch' zu verstehen haben und wo nicht. Der wirklichkeitsbestimmende Konsensus kann sich erstrecken auf die Wirksamkeit von Naturgesetzen. Die körperliche Widerstandsfähigkeit Don Quixotes, von dem es heißt, er sei der meistgeprügelte Held der Weltliteratur, hätte, würde sie uns in Wirklichkeit geschildert, als Übertreibung des Erzählers zu gelten. Die Substanz des Erzählten wird zum Indiz für eine psychologische Inklination des Erzählenden genommen und somit auf den Boden ,unserer* Realität gestellt. Mit einem Wort: der die objektive Realität des Werks konstituierende .wirklichkeitsbestimmende Konsensus' würde aufgelöst. Zur Erläuterung weitere Beispiele. Wenn es im Grimmschen Märchen von jenem Zwerge, der kein Bett mehr hat, weil Schneewittchen in seinem liegt, heißt: „Der siebente Zwerg aber schlief bei seinen Gesellen, bei jedem eine Stunde, da war die Nacht herum", 1 ' so darf dies weder dem implizierten Erzähler als Flunkerei, noch den Zwergen als unausdenkliche Torheit angerechnet werden; vielmehr zeigt sich hier die Welt des Gebildes in ihrer Abständigkeit von unserer alltäglichen Empirie. Weniger auffällig in ihrer Funktion, den wirklichkeitsbestimmenden Konsensus herzustellen, sind viele Passagen im Werke Kafkas. So heißt es im „Schloß": „Noch immer waren die Gehilfen draußen am Gitter, so müde sie auch sichtlich schon waren, streckten sie doch noch von Zeit zu Zeit, alle Kräfte zusammennehmend, die Arme bittend gegen die Schule aus. Einer hatte, um sich nicht immerfort festhalten zu müssen, den Rock hinten auf einer Gitterstange aufgespießt." 17 Zwar werden K.'s Gehilfen auch innerfiktional als absonderlich geschildert, doch übersteigt das Aufspießen des Rocks das innerhalb der Fiktion Psychologisierbare und distanziert so die evozierte Welt von unserer. Noch weniger auffällig in ihrer Funktion für den wirklichkeitsbestimmenden Konsensus — und darum für den Ausleger um so verfänglicher — sind gewisse 18

17

Zitiert nach der Ausgabe: Kinder- und Hausmärchen, Grimm (München, Winkler, 1949), S. 246. Zitiert nach der Ausgabe: Franz Kafka, Das Schloß, furt a. M., S. Fischer, 1964), S. 202/203.

gesammelt durch die Brüder hrsg. von Max Brod (Frank-

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Stellen in Gogol's „Toten Seelen". Als Ciiikov seine Kaufverträge behördlich beglaubigen läßt, heißt es von den gegenzeichnenden Zeugen: „Ein jeder der Zeugen unterzeichnete mit vollem Rang und Namen, der eine in linksläufiger Schrift, der andere kerzengrade, wieder ein anderer geradezu mit den Beinen in der Luft, wobei Buchstaben hingesetzt wurden, wie man sie nicht einmal im russischen Alphabet zu Gesicht bekommen hatte." 1 8 Es hieße den wirklichkeitsbestimmenden Konsensus vollständig übergehen, wollte man hier etwa die ,Schrift' eines Analphabeten beschrieben sehen. Auch wäre es falsch zu meinen, hier werde eine absonderliche, Art von Unterschrift auf originelle Weise gekennzeichnet. Was von außerfiktionalem Standpunkt wie Hyperbolik erscheinen mag, ist innerfiktional keine. Das Befremdliche solcher Mitteilung darf nicht aufgelöst werden, indem man in ihr die Psychologie eines Erzählers aufspürte, sondern muß als Beleg für die Eigenart der Welt des Gebildes begriffen werden. Es gilt festzuhalten: der wirklichkeitsbestimmende Konsensus gibt uns zu verstehen, wie wir zu verstehen haben. Wer den wirklichkeitsbestimmenden Konsensus mitmacht, ,weiß', von welchen Gesetzen die innerfiktionale Wahrscheinlichkeit bestimmt wird. Der wirklichkeitsbestimmende Konsensus setzt fest, welchen Abstand die in einem Gebilde beschlossene ,Welt' zu unserer alltäglichen Empirie aufweist. Die verschiedenen möglichen Abstände zu systematisieren und mit Namen zu belegen, ist äußerst schwierig. Zwar läßt sich keine ,Welt' ersinnen, mit welch dezidierter Willkür man auch immer vorgehen mag, die nicht eine erkennbare Affinität zu psychischen Sonderzuständen innerhalb unserer Empirie aufwiese (Traum, Angsttraum, Halluzination des Geisteskranken usw.), doch bleibt es höchst fragwürdig, ob die aus solcher Affinität gewonnenen Kennzeichnungen den Sachverhalt treffen. Die hier vorliegende Problematik wurde von Max Bense sehr klar gesehen. E r sagt: „Man ist leicht geneigt — und die ,Tagebücher' oder ,Briefe' scheinen selbst Gründe für eine solche Auffassung beizubringen — , Kafkas Epik als die Reproduktion einer Traumwelt zu betrachten. Man bemerkt nicht den Realismus, der auf diese Weise in die Genesis einer Epik eingeführt wird, deren Prosa gerade an der Aufhebung der Realitätsthematik des Seins interessiert ist. Der innere ontologische Bau der Träume, die modalen Strukturen ihrer Geschehnisse sind kaum untersucht worden, und was die psychologischen und psychoanalytischen, die archetypologischen und charakterologischen Merkmale des Traumes anbetrifft, so verweisen sie ohne Zweifel auf eine Mechanik, einen Automatismus, der die Verbindung mit einer verfeinerten und verzweigten Realität herstellt. Die Traumwelt ist eine Symbolwelt, in der die Zeichen für ein Etwas stehen. Aber in Kafkas epischer Welt gibt es nur Zeichen, die ,Zeichen von etwas', nämlich Zeichen seiner epischen Welt und ihrer Seinslage selbst sind, und die Kluft zwischen diesen Zeichen 18

Kazdyj iz svidetelej pomestil sebja so vsemi svoimi dostoinstvami i iinami, kto oborotnym SSriftom, kto kosjakami, kto prosto £ut' ne vverch nogami, pomeiiaja takie bukvy, kakich daze ne vidano bylo v russkom alfavite. (Zitiert nach: N . V. Gogol', Sobr. soc. v 6 tt., hrsg. von S. I. MaiSinskij u. a., Moskau 1959, Bd. 5, S. 154)

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ist zugleich der Unterschied zwischen der Seinsthematik der Träume und der Seinsthematik des ,Schlosses' und anderer Erzählungen unseres Autors." 1 * — Diese Überlegung zeigt uns, daß sich die Welt eines Gebildes, wo sie recht verstanden wurde, immer an die Stelle unserer Welt gesetzt hat und nicht als von dieser umgriffen erfahren wurde. Indem wir den wirklichkeitsbestimmenden Konsensus vollziehen, verlieren wir unsere Welt. Wer die den Konsensus herstellenden ,Zeichen' psychologisch deutet, liest am Text vorbei. Die Etikettierung der Welten im Gebilde durch Bezeichnungen, die das Vorkommen solcher Welten als psychische Sonderzustände in der Empirie implizieren, muß mithin, wenn sie schon unvermeidbar ist, zumindest problembewußt geschehen. Zumeist mögen privative Kennzeichnungen genügen, indem man lediglich zeigt, in welcher Beziehung der wirklichkeitsbestimmende Konsensus wirksam wird. Es sei hier die Beschreibung des Konkretionssubstrats in seiner tatsächlichen Gegebenheit wiederaufgenommen. Es wurde festgestellt, daß der wirklichkeitsbestimmende Konsensus das Aussehen des Gegenstands des Gebildes mitbeeinflußt. Es ist nun klar, in welcher Weise. Ich bringe in Erinnerung: Ebenso wie jegliche anthropologische Prämisse mit jeglichem Typus von Konkretionssubstrat kombinierbar ist, so ist es auch jeglicher wirklichkeitsbestimmender Konsensus. Diese Feststellung mag zunächst befremden; denn will es nicht scheinen, daß das projizierte Konkretionssubstrat — man denke an Swifts „Gullivers Reisen" — apriorisch einen beträchtlichen Abstand der evozierten Welt zu unserer alltäglichen Empirie fordert, so daß eine Realistische' Behandlung von vornherein ausgeschlossen wird? Auch hier nun darf man sich durch die in den Blick kommenden Beispiele für einen bestimmten Typus von Konkretionssubstrat nicht täuschen lassen. Denn Beispiele sind ja immer ausgeprägte Gebilde, mithin realisierte Kombinationen. Daß eine bestimmte Kombination nicht vorliegt, spricht ja nicht gegen ihre Möglichkeit. Es sei allerdings festgehalten, daß bei Werken mit projiziertem oder vorgestelltem Konkretionssubstrat ein großer Abstand der evozierten Welt zu unserer alltäglichen Empirie häufig ist. Konkretionssubstrate sind, in welchem Typus sie auch immer auftreten, stets Entwürfe. Sie sind, was ihre Bestückung anbelangt, sämtlich gegen Einrede offen und deshalb gegen jegliche Einrede gefeit, weil diese auch immer ,nur' Entwurf sein kann. Falsch und Richtig, auf welchem Boden auch immer die Kriterien für eine solche Unterscheidung begründet werden mögen, entfallen, wenn es darum geht, Konkretionssubstrate zu ,beurteilen': alle sind gleichviel ,wert'. § 11 Primärintentionen und Sekundärintentionen Bei der Darstellung dessen, was unter dem ,Gegenstand des Gebildes' zu verstehen sei, hatten wir diesen als Summe von Unabdingbarkeiten definiert, die 19

Vgl. Max Bense: Aesthetica: Einfährung in die neue Aesthetik (Baden-Baden 1965), S. 91.

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nun im fiktionsimmanenten Bereich zu anschaulicher Bestimmtheit gebracht werden wollen. Wörtlich hieß es: Das Drängen des Gegenstandes nach Verwirklichung schafft Primärintentionen, die Sekundärintentionen oder Auxiliarien nach sich ziehen. Es gilt zu verdeutlichen, wie solche Verwirklichung von Primärintentionen zu verstehen ist. Die Primärintentionen werden fiktionsimmanent sichtbar als ,Situation', als ,Bild'. Das Konkretionssubstrat wird im Prisma des wirklichkeitsbestimmenden Konsensus darauf hin angesehen, was es für die Verwirklichung des ,Gegenstands des Gebildes' hergibt. Auf diese Weise entstehen jene Szenen, jene erschließenden Situationen, von denen nicht mehr abgegangen werden kann. Es kommt eine Reihe von Situationen zustande, die fiktionsimmanent noch unverknüpft, nämlicii ohne ein Motivationsgefüge, nebeneinander stehen. Die Sekundärintentionen oder auch ,Auxiliarien' leisten nun die Verknüpfung. Durch eine solche Verknüpfung geschieht die langstreckige Herbeiführung der einzelnen Szenen. Das aus dem fiktionstranszendenten Bereich Diktierte wird durch die Sekundärintentionen plausibel gemacht. Was fiktionsimmanent plausibel ist, setzt der wirklichkeitsbestimmende Konsensus fest. Zur Erläuterung dieser Überlegung sei ein Beispiel angeführt. In Dostoevskijs Erzählung „Der ewige Gatte" (Vecnyj muz) wird die Befindlichkeit „Eifersucht" gestaltet. Dostoevskij benötigt dazu das Zusammentreffen der beiden Rivalen Vel'caninov und Trusockij. Es wurde festgesetzt, daß dieses Zusammentreffen in Vel'caninovs Petersburger Wohnung stattfinden sollte. Die Begegnungen in Vel'caninovs Wohnung hatten ungestört zu verlaufen. Dostoevskij benötigte eine Atmosphäre der Entrücktheit, wo sich die Überspanntheit beider Beteiligten ungehemmt durch äußere Umstände entfalten konnte. N u n hat jedoch — gemäß dem empirienah angesetzten Konkretionssubstrat — ein Mann vom sozialen Status Vel'caninovs einen Diener oder eine Dienerin, die in der Erfüllung ihrer Verpflichtungen solch geforderte Atmosphäre stören würden. Dostoevskij hatte also das Hauspersonal fortzuräumen. Er kommt ganz beiläufig auf Vel'caninovs Bedienstete Pelageja zu sprechen, als von der Unordnung in Vel'caninovs Wohnung die Rede ist. Es heißt, Pelageja sei zu Verwandten gereist, wo sie ihren Urlaub verbringt; und für Vel'caninov lohne es sich nicht, für diese kurze Zeit sich nach einem Lakaien umzusehen. Der Seitenblick auf Pelageja geschieht ganz unauffällig; daß hier eine Sekundärintention durchgesetzt wird, bleibt dem normalen Verstehen vollständig verborgen. Dostoevskij tarnt wirksam, indem er auf Pelageja unter sexuellem Aspekt zu sprechen kommt (alleinstehendes Mädchen als Dienerin bei einem Junggesellen, der ein Mann von Welt ist). Was bei der Durchsetzung einer Sekundärintention ,erlaubt* ist, sagt der wirklichkeitsbestimmende Konsensus. Bei Dostoevskij haben wir es mit einem sehr geringen Abstand der geschilderten Welt zu unserer alltäglichen Empirie zu tun, die fiktionsimmanente Motivation für das vollständige Alleinsein Vel'caninovs ist deshalb .realistisch'.

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Beispiele für unrealistische Motivationen finden sich in Edgar Allan Poes „Bericht des Arthur Gordon Pym". So soll etwa die Titelgestalt auf einem Walfänger, der in Nantucket in See sticht, als blinder Passagier untergebracht werden. Poe benötigt zur Durchsetzung des fiktionstranszendenten Bildes eine labyrinthische Unordnung im Laderaum, der Wohnstatt Pyms. Als fiktionsimmanente Motivation für diese Unordnung wird die Unachtsamkeit des Kapitäns angeführt, obgleich eine solche Fahrlässigkeit das empirisch Plausible übersteigt. Gleichwohl ist mit der Einführung unrealistischer Begründungen kein Beleg für die Unkenntnis Poes auf dem betreffenden Sachgebiet gegeben. Vielmehr belegt die Sekundärintention den wirklichkeitsbestimmenden Konsensus. Auxiliarien können auch nötig werden, um die Psychologie einer Gestalt vor Fehlinterpretationen zu schützen. So wird in „Verbrechen und Strafe" Sonja Marmeladova, die Prostituierte, vom Odium des Libidinösen durch den Umstand befreit, daß sie nur auf die Straße geht, um ihre Angehörigen zu erhalten, die von ihrem, dem Trunk verfallenen Vater dem Ruin preisgegeben werden. Folglich mußte ihre Familie hereingebracht werden. Diese erwies sich nun wieder als Handicap, als es darum ging, Sonja mit Raskol'nikov nach Sibirien aufbrechen zu lassen. Wie kann Sonja ihre Angehörigen im Stich lassen, wenn sie zunächst als jemand vorgestellt wird, der sich ganz und gar durch Rücksicht auf diese bestimmen läßt? Dostoevskij schafft deshalb die Angehörigen beiseite: der alte Marmeladov stirbt, Katerina Ivanovna stirbt; es bleiben die Geschwister.Doch auch sie werden vom Autor untergebracht': Svidrigajlov, der vor dem Selbstmord sein nicht unbeträchtliches Kapital verschenkt, hinterläßt ihnen wirksame Lebenshilfe. Auf diese Weise wird der Weg frei für Sonja. Primärintentioien und Sekundärintentionen können nur aufgespürt werden in radikaler Besinnung auf das Worumwillen eines Gebildes und den sich aus der Begegnung des Worumwillen mit der anthropologischen Prämisse ergebenden Gegenstand. Dies zu sehen, ist entscheidend dafür, daß nicht die Meinung aufkomme, es würden dem Autor unbeweisbare Absichten unterstellt. Wenn es ein Einverständnis in der Sache gibt, so gibt es auch eine Logik des Gebildes, die der möglichen Partikularität der kreativen Subjektivität denselben Widerstand leistet wie der möglichen Partikularität des rezipierenden Bewußtseins. Gleichwohl muß man sich darüber im klaren sein, daß mit der Aufdeckung der Logik des Gebildes, keine Interpretation stattfindet. Das hier sich zeigende Problem wird seine volle Ausfaltung erst in der Absetzung des natürlichen Verstehens vom fundamentalästhetischen erfahren. Überhaupt tritt ja dem natürlichen Verstehen die Welt des Gebildes niemals als etwas ,Gemachtes' entgegen, das aber heißt in diesem Zusammenhang nichts anderes, als daß eine Aufteilung dessen, was als innerfiktionale Realität vorliegt, in verwirklichte Primärintentionen und Sekundärintentionen vom einfühlenden Verstehen überhaupt nicht vollzogen wird. Gleichwohl vernimmt dieses den zustandegekommenen ,Anblick'. Es zeigt sich an dieser Überlegung, daß der Weg des Gegenstands des Gebildes zu seiner anschaulichen Bestimmtheit zwar sich als ein notwendiger und ,gewollter' kennzeichnen läßt — wobei das Wollen als ausgehend vom Ge-

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bilde selbst zu verstehen ist — daß aber mit der Richtung und Verwirklichung solchen Wollens nicht die Bedeutung festgelegt wird. Es entstehen, gleichsam am Wege, immer wieder ,Anblicke', die implikativ Zustandekommen und durch das zentrale Wollen nicht kontrolliert werden können, weil sie außerhalb seiner ,Sicht' liegen. Solche ,Anblicke' indessen sind nicht zufällig in dem Sinne, daß sie sich vom Betrachter beliebig herstellen ließen. Sie sind selber objektiv vorhandener Bestandteil des jeweiligen Gebildes und immer nur herausgelegte Möglichkeiten der grundsätzlichen Fähigkeit des Gebildes zum ,Anblick', der seine eigene Art, kultiviert zu werden, besitzt. Allerdings liefert das zentrale Wollen des Worumwillen des Gebildes auch das tatsächliche Zentrum allen Verstehens. Es wird auf die hier sich eröffnende Problematik, nämlich auf das Verhältnis des sich selbst suchenden Gebildes, seines ,Eigensinns', zu dem, was es einem Verstehen ,bedeuten' kann, im folgenden noch näher einzugehen sein. — Es ging hier lediglich darum, die aus der Verwirklichung des Gegenstands des Gebildes hervorgehenden Anblicke gegen das von den Primärintentionen zentral Bewirkte, nämlich das zu anschaulicher Bestimmtheit gebrachte Worumwillen, abzugrenzen.

§ 12 Die Kunstgriffe Es sei an dieser Stelle die Frage nach der Eigenart des ,Kunstgriffs' erörtert. Kunstgriff ist alles, was einer Intention dient. Der Sachbezirk, in dem eine Intention auftritt, setzt jeweils fest, was überhaupt bestimmbarer ,Inhalt' einer Intention sein kann. Eben dieser Sachbezirk legt nun gleichfalls fest, wie die ,Kunstgriffe' zur Durchsetzung einer Intention aussehen können. Im Sachbezirk des literarischen Gebildes ist all das ,Kunstgriff', was der Verwirklichung seines Worumwillen dient. Es lassen sich hier zwei voneinander grundverschiedene Gruppen von Kunstgriffen unterscheiden: (1) solche, die die Konstituierung dessen, was ,erzählt' wird, betreffen; sie heißen substantielle Kunstgriffe, und (2) solche, die das Erzählen betreffen; sie heißen formelle Kunstgriffe. Die zweite Gruppe zerfällt in zwei Untergruppen. Formelle Kunstgriffe sind entweder absolut oder relativ. U m einen substantiellen Kunstgriff handelt es sidi, wenn in Edgar Allan Poes „Bericht des Arthur Gordon Pym" die Schiffbrüchigen auf dem Wrack der .Grampus' auf der Suche nach Nahrungsmitteln ins überschwemmte Innere des Schiffes tauchen und Pym selbst nach zwei vergeblichen Tauchmanövern beim dritten eine Flasche Portwein zutage fördert. Die Dreimaligkeit des Tauchens geht vollständig aufs Konto des wirklichkeitssetzenden Autors Poe. Eine Änderung zur Zweimaligkeit oder Viermaligkeit würde die beschriebene Wirklichkeit verändern. — Auch die Festlegung einer anthropologischen Prämisse oder die Bestimmung eines Konkretionssubstrats ist substantieller Kunstgriff. Formelle Kunstgriffe hingegen betreffen nicht die Substanz der beschriebenen Wirklichkeit, sondern deren Präsentation. U m einen absoluten formellen Kunstgriff handelt es sich, wenn William Faulkner seinen Roman „Die wilden Palmen" (The Wild Palms) mit der zweitletzten Episode beginnen läßt und dann

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alle vorausliegenden Geschehnisse in chronologischer Reihenfolge nachholt, wobei solches Vorgehen innerfiktional nicht motiviert wird. 20 Ein relativer formeller Kunstgriff liegt vor, wenn Joseph Conrad in seinem Roman „Lord Jim" die a-chronologische Präsentation der Ereignisse innerfiktional motiviert: Marlow erzählt (vorwiegend) in der Reihenfolge, in der er die Geschehnisse ermittelt hat. Ein relativer formeller Kunstgriff liegt also dann vor, wenn die Präsentation .psychologisch' sich erklären läßt. Grundsätzlich sei gesagt, daß nur die Wahl des jeweiligen Worumwillen des Gebildes kein Kunstgriff ist. Diese Überlegungen lassen deutlich werden, daß mit der Wahrnehmung eines Kunstgriffes nicht immer die präsentierte Wirklichkeit als eine auktorial hergestellte durchschaut wird: der relative formelle Kunstgriff kann auch vom natürlichen Verstehen bemerkt werden, da er eine innerfiktional sichtbare Handhabung von Inhalten bedeutet.

§13 Innerfiktionaler und außerfiktionaler Anblick Bei der Durchsetzung von Primärintentionen entstehen, so ließ sich bereits sagen, Aufsichten und Anblicke, die nicht explizit gemeint waren, nun aber plötzlich da sind. Diese Anblicke gehören zu den objektiven Merkmalen eines Gebildes. Es sei jetzt der Frage nachgegangen, welche Einteilung all das zuläßt, was als Anblick gemeint sein oder als solcher implizit Zustandekommen kann. Das grundsätzliche Unterscheidungskriterium ergibt sich aus der Möglichkeit, einen Standpunkt entweder innerhalb der Welt der Fiktion oder außerhalb der Welt der Fiktion zu beziehen. Von diesem zeigt sich die außerfiktionale Physiognomie des Erzählten, von jenem die innerfiktionale Physiognomie des Erzählten oder Gesagten. Belegen wir diese Unterscheidung durch Beispiele. Wenn ich sage, daß sowohl in Dostoevskijs „Dämonen" (Besy) wie auch in Kafkas „Schloß" eine alptraumhafte Welt evoziert wird, so wird niemand die Richtigkeit einer solchen Feststellung bezweifeln können. Gleichwohl beruht das Alptraumhafte nicht in beiden Werken auf demselben Prinzip. In Dostoevskijs „Dämonen" entsteht es aufgrund von Ereignissen, die auch f ü r die beteiligten Gestalten außergewöhnlich sind, deren Physiognomie also auch von innerfiktionalem Standpunkt sich als eine alptraumhafte kennzeichnen läßt. Der Erzähler verweist mehrfach auf das Exzeptionelle der geschilderten Ereignisse. Man denke nur an den Satz, mit dem der Roman beginnt: „Indem ich die Schilderung der so merkwürdigen Ereignisse in Angriff nehme, die sich vor kurzem in unserer, bis dahin durch nichts ausgezeichneten Stadt zugetragen haben, sehe ich mich, meiner Unerfahrenheit in derlei Dingen zufolge, gezwungen, etwas weiter auszuholen . . . " " — In Kafkas „Schloß" kommt der Eindruck des Alptraumhaften 20 21

Hier ist natürlich die Charlotte-Harry-Story gemeint. Pristupaja k opisaniju nedavnidi i stol' strannych sobytij, proissedäich v naäem, dosele niiem ne otliiavSSemsja gorode, ja prinuzden, po neumeniju moemu, nacSat' neskol'ko i z d a l e k a . . . . (Zitiert nach: F. M. Dostoevskij, Sobr. soc. v. 10 tt., hrsg. von L. N. Grossman u. a„ Moskau 1956—58 Bd. 7: Besy, S. 7)

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aufgrund des wirklichkeitsbestimmenden Konsensus zustande: nur für uns, die Leser, ist die Welt eine durch und durch befremdliche, exzeptionelle, nicht aber für die Gestalten, die sich in ihr bewegen. Im Sinne des von Kafka hergestellten wirklichkeitsbestimmenden Konsensus müßte man sagen: die Grenze zwischen dem Exzeptionellen und dem Landläufigen ist innerfiktional gar nicht vorhanden. Die außerfiktionale Physiognomie überspringt alle innerfiktionale ,Motivation'. So kann etwa die Häufung bestimmter Merkmale, bestimmter Ereignisse innerfiktional ,Zufall' sein, außerfiktional aber entfällt der Begriff des Zufalls. Von außerfiktionalem Standpunkt ist der Ausschnitt von Wirklichkeit, den der Text absteckt, stets unveränderlich gegeben. Er bietet als Ganzes einen bestimmten Anblick und hört damit auf, Ausschnitt zu sein. Das Gebilde als Rede des Anderen zeigt als endlicher Text eine bestimmte (außerfiktionale) Physiognomie. Von außerfiktionalem Standpunkt weisen Dostoevskijs „Dämonen" und Kafkas „Schloß" eine fundamentale Ähnlichkeit auf, die Affinität nämlich zum Alptraum, die innerfiktional aber jeweils anders motiviert ist. Die Beschäftigung mit der außerfiktionalen Physiognomie des literarischen Gebildes, die alle innerfiktionale Motivation des Geschehens überspringt und somit auf die .absolute Physiognomie' des Gebildes gerichtet ist, eröffnet einen äußerst komplexen Problembereich. So lassen sich absolute Physiognomien etwa auf ihre schichten- und klassenspezifische Zuordnung untersuchen. Theodor W. Adorno hat Vorstöße in dieser Richtung unternommen, wenn er in seiner „Einleitung in die Musiksoziologie" eine ,Physiognomik musikalischer Ausdruckstypen' zu skizzieren versucht, die Modelle der konkreten Einheit von musikalisch-immanenten Tatbeständen und ihrer sozialen Deutung fordert. „Um das Kleinbürgerliche an Lortzing zu hören, muß man nicht erst die Texte kennen, sondern es genügt, wenn ein Potpourri aus ,Zar und Zimmermann' in einem sommerlichen Kurpark gespielt wird." — Bei Beethoven werden ,die kompositorischen Gesten der Widerborstigkeit, des Refraktären' zum Ausdruck Revolutionären Bürgertums' deklariert. 22 Gewiß, man mag solchen Zuordnungen vorwerfen, sie suchten am Gebilde zu denunzieren und gutzuheißen, was innerhalb der Empirie Ablehnung oder Lob verdiente. Adornos Überlegungen haben ihre bemerkenswerte Pointe indessen darin, daß sie, was das Gebilde an Physiognomie zeigt, dessen objektiven Merkmalen zurechnen und nicht etwa als klassenspezifische Projektion des rezipierenden Subjekts auffassen. Es lassen sich jedoch auf dem Hintergrund solcher Grundannahmen von dem objektiven Charakter der Physiognomie eines Gebildes noch wesentlich andere Zuordnungsmöglichkeiten denken. So bietet es sich etwa an, das Gebilde als Phantasieleistung psychologischer Typen' aufzufassen, die die ständige Möglichkeit der Wiederkehr haben, unabhängig von der konkret-gesellschaftlichen Entwicklung. Des weiteren sei zu bedenken gegeben, daß ja auch solche Merkmale in den Blick genommen und damit als ,Anblick' aufgefaßt werden können, die nicht 22

Vgl. Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie. lesungen (1. Aufl., Frankfurt am Main 1962), S. 74/75.

Zwölf theoretische

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einen emotionalen Ausdruckswert (Pessimismus, Aggressivität, Anpassung) besitzen, sondern lediglich als Figuration, als Arabesken des Formalen auffallen. So läßt sich etwa die äußere Aufgliederung des literarischen Textes separat betrachten: die Orte seiner Peripetien, die allmähliche Verknäulung verschiedener Handlungsstränge oder die Einteilung in Kapitel und Abschnitte. Man mache sich indessen klar, was es heißt, wenn hier derartige Anblicke zur .Physiognomie' des Gebildes gerechnet werden. Es bedeutet nichts anderes, als daß die formalen Merkmale nicht auf ihre Funktion im Hinblick auf die Verwirklichung des Worumwillen des Gebildes angesehen werden, sondern in ihrer abgehobenen Möglichkeit, ein .autonomes' Bild zu formen, in den Blick kommen. Auch die sprachlichen Eigentümlichkeiten eines literarischen Textes können als ein in diesem Sinne abgehobenes ,Bild' begegnen, was sogleich noch etwas detaillierter erläutert werden soll. Grundsätzlich sei festgehalten, daß von genuin innerfiktionalem Standpunkt, der stets eine direkte Einfühlung in die präsentierte Welt nach sich zieht, immer nur solche Anblicke erfaßbar sind, die nicht auf die Endlichkeit des Textes angewiesen sind. Alle innerfiktionale Physiognomie ist orientiert an einer Wirklichkeit, die nicht durch Anfang und Ende dessen, was von ihr gezeigt wird, begrenzt ist, alle außerfiktionale Physiognomie hingegen am Text als einem endgültig endlichen Ganzen. § 1 4 Das Zwischenreich des Erzählers Der Erzähler der Welt des Gebildes ist streng zu unterscheiden von einem Berichterstatter in unserer Empirie. Wenn etwa die Moderne im Erzähler den Berichterstatter, der sich zurechttastet, hervorkehrt, so wird damit das Phänomen des Erzählens durchaus nicht in seine Ursprünglichkeit zurückgeführt. Für den empirischen Berichterstatter gilt, daß sein Wissen Staunen macht, sein Nichtwissen als normale Konsequenz des Wirklichen aufgefaßt wird. Für den Erzähler im Gebilde hingegen gilt, daß sein Wissen als selbstverständlich empfunden wird, sein Nichtwissen aber sofort auffällt. Es steht zweifellos fest, daß das natürlidie Verstehen, das die Fiktion nicht als etwas .Gemachtes' durchschaut, sondern als etwas .Gegebenes' hinnimmt, erst da auf den Erzähler aufmerksam wird, wo der Text selbst auf ihn aufmerksam macht. Das aber zeigt, daß die Voraussetzung einer totalen Informiertheit zum dichterischen Sprechen überhaupt gehört. Diese Voraussetzung bleibt allerdings unsichtbar, weil sie als Selbstverständlichkeit wirkt. Jeder Erzähler im Gebilde ist in der Implikation ein zuviel .wissender' Erzähler, indem er die Wirklichkeit von Aussagen garantieren muß. Auch der Augenzeuge wie etwa Joseph Conrads Marlow oder Dostoevskijs „Spieler" kann die wörtliche Wiedergabe von Dialogen nicht als vollkommen deckungsgleich mit der Wirklichkeit, die hier immer eine vergangene ist, garantieren. Dennoch dürfen wir die Möglichkeit oder sogar die Wahrscheinlichkeit einer ungenauen Erinnerung oder Referierung nicht gegen den uns präsentierten Text geltend machen, falls der Text selber nicht eine solche Haltung ausdrück-

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lieh vorsieht. Man bedenke jedoch, daß auch da, wo die Subjektivität eines IchErzählers nachdrücklich zur Abhebung gebracht wird, der Hintergrund des Objektiven, von dem sie sich abhebt, selber von solcher Subjektivität mitkonstituiert wird, was nicht möglich wäre ohne eine Setzung von Wirklichkeit, die diese Subjektivität, träte sie in der Empirie auf, gar nicht vollbringen könnte und für die Fiktion nur vollbringen kann, weil sie nicht als wirkliche, sondern nur als .gespielte' Subjektivität zu Wort kommt. Einen vollständig Realistischen' Erzähler kann es im Gebilde nicht geben. Und deshalb verbietet es sich, von Verstößen, von Inkonsequenzen zu reden, wenn bei einer Erzählweise, die sich realistisch gibt, plötzlich Einbrüche u n realistischen' Erzählens stattfinden. Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang die Inkonsequenzen in Melvilles „Moby Dick" und Dostoevskijs „Dämonen", wo der die Wahrheit des Geschilderten bezeugende Ich-Erzähler plötzlich über Situationen wortwörtlich Bescheid weiß, die er weder belauscht noch anderweitig erfahren haben kann. Man denke etwa an Ahabs Monologe oder an den Selbstmord Kirillovs. Zweifellos lag den Autoren dieser beiden Werke das Bewußtsein, eine Inkonsequenz zuzulassen, vollständig fern. Es zeugte von einem höchst fragwürdigen Kunstverständnis, wollte man sich zu der Meinung bekennen, daß die Präsentation von .Realität' seit Melville und Dostoevskij Fortschritte gemacht habe, so daß derartige Inkonsequenzen nun vermieden würden. Es bedarf im Gebilde. weder ganz jemals auf ließe.

hier einer grundsätzlichen Besinnung auf den Ort des Erzählers Der Erzähler wohnt in einem Zwischenreich. Das heißt: er kann und gar der Welt des Gebildes angehören, noch befindet er sich einem Standpunkt, der sich als außerfiktionaler kennzeichnen

Konsequenzen und Inkonsequenzen der Präsentation des zu Erzählenden fallen nicht unter den wirklichkeitsbestimmenden Konsensus. Ein unrealistisch gestalteter Erzählvorgang bedingt keine unrealistische Welt im Gebilde, ein realistisch gestalteter Erzählvorgang keine realistische. Die Befugnisse des Erzählers sind in einem Bereich zuhause, der in der Welt des Gebildes nicht aufgeht. Jedes literarische Gebilde ist gegliedertes Ansichtig-Machen. Wo der Erzähler als thematisierter Hinblick explizit ins Bild gerückt wird, geschieht gegenüber dem, was sich immer tut, wo wir eine Welt im Gebilde dargeboten bekommen, nichts grundsätzlich Anderes. Der explizite Erzähler ist ein Sonderfall des gegliederten Ansichtig-Machens, nicht ist der .fehlende' Erzähler, etwa im Drama, ein Sonderfall des expliziten Erzählers. Gewiß enthält der innerfiktional thematisierte Aufblick, also die Einführung eines expliziten Erzählers, eigene Möglichkeiten der Lenkung und Beeinflussung unseres Urteils, sowie auch der Aufdeckung solcher Beeinflussung. Zu bedenken ist allerdings, daß auch eine rein szenische Darstellung allein durch die Reihenfolge der einzelnen Episoden eine ,Tendenz' und damit eine präsentierende Hand verraten kann. Es ist bei solcher Anblicksbetrachtung streng zu prüfen, ob das ,Ge-

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schehen' im Zwischenreich des Erzählers den absoluten oder den formellen Kunstgriffen zuzuordnen ist.

relativen

§15 Die Sprache im Gebilde Die Sprache im Gebilde in ihrer Fixierbarkeit auf einen historischen Sprachzustand und die auf dessen Boden vom Autor eingenommene spezifische Sprachhaltung hat ihren Ort ebenso wie der ,Erzähler* in einem Bereich, der zwischen der Welt der Fiktion und der Welt außerhalb der Fiktion liegt. Die Sprachwelt eines Werks läßt keine Rückschlüsse auf den wirklichkeitsbestimmenden Konsensus zu. Mit der Abständigkeit der im literarischen Kunstwerk auftretenden Sprache von der Alltagssprache oder den sprachlichen Konventionen der betreffenden Epoche ist noch keine Abständigkeit der geschilderten Welt von der Empirie mitgesetzt. Sprachstil und Wirklichkeitsstil hängen nicht zusammen. Die Sprache verbirgt sich, indem sie verstanden wird. Um die Art, wie ein Gebilde zu uns spricht, zu verstehen, müssen wir von der ,Sprache', in der es uns entgegentritt, auf spezielle Weise absehen. Solches Absehen geschieht, indem wir uns ,einlesen*. Mit dem Einlesen .lernen' wir die uns fremde Sprachwelt. Haben wir uns eingelesen, so ist unser Blick geschärft für die Unterscheidungen, die innerfiktional solche sind. — Jedes Gebilde hat seine eigene Sprachwelt. Der jeweilige Sprachzustand, der sich .historisch' beschreiben läßt, und in dem uns die Sprachwelt eines Gebildes je entgegentritt, ist innerfiktional nicht vorfindlich. Es gilt also streng zu unterscheiden zwischen solchen sprachlichen Merkmalen, die nur von außerfiktionalem Standpunkt erkennbar sind, und solchen, die von innerfiktionalem Standpunkt erkennbar sind. Wer die Sprache eines Gebildes ,beschreibt' und zwischen den Merkmalen, die nur von außerfiktionalem Standpunkt sichtbar sind, und den Merkmalen, die von innerfiktionalem Standpunkt sichtbar sind, nicht unterscheidet, wird leicht einem Verstehen verfallen, das die präsentierte Welt ausblendet und nur solche Kennzeichen festhält, die dem Text als Verwirklichung seines Worumwillen zufällig sind. Gleichwohl haftet die sprachliche Faktur eines literarischen Gebildes diesem als objektives, aber innerfiktional nicht wahrnehmbares Merkmal an. Bei der Realisierung dessen, was der Text sagt, verschwindet dieses Merkmal. Es wäre nun falsch, wollte man solches Verschwinden als das endgültige Ziel des adäquaten Verstehens auffassen. Es steht außer Zweifel, daß der Blick, der verstanden hat, fähig ist, derart zum Sprachstil zurückzukehren, daß dieser in seiner Autonomie spielerisch wie gebunden an das Gesagte vernommen wird. Aus dieser Möglichkeit beziehen zum Beispiel Nachahmungen vergangener und mit bestimmten Inhalten bereits assoziierten Sprachstile eine intendierte Wirkung. Man denke nur an Walter Mehrings Übersetzung der „Contes Drolatiques" Balzacs. Mehrings Anknüpfen an die Sprache der Fischartschen Rabelais-Übersetzung bezeugt gerade in seiner Freiheit und Willkür gegenüber dem

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Genutzten, daß es um den Effekt fernen Sprachzustands und nicht um dessen philologisch exakte Reproduktion ging. Es wird hier die schlummernde Möglichkeit des Gebildes herausgelegt, seine .Sprache' selber bewußt zu meinen. Man denke auch an Arno H o l z ' „Dafnis", wo noch das Schriftbild zum .lyrischen P o r t r ä t aus dem 17. Jahrhundert' gehört. Das Sprachbild ist allerdings immer mehr, als das Gebilde von ihm meinen kann. Das volle Sprachbild kann nur in den Blick kommen, wenn wir vom Gesagten absehen. W o wir beim Worüber der Rede sind, sehen wir nicht das ,Aussehen' der Sprache. Die Figurationen des ,Sprachbilds', nämlich des außerfiktionalen Anblicks der Sprache eines literarischen Gebildes sind dem, was dieses ,sagt', zwar fest zugeordnet, dennoch besteht zwischen Sprachbild und Worüber der Rede keinerlei notwendiger Zusammenhang. Das bedeutet: wo wir das Sprachbild isolieren, haben wir längst vom Gebilde abgesehen, wo wir indessen das Sprachbild als Ausdruck des ,Gesagten' auffassen, lassen wir einen Übergriff des Sinnes auf sein Material zu. Solcher Übergriff gründet aber ganz offensichtlich in der Eigenart der Sprache. Welchen Anblick das Sprachbild bietet, ist offensichtlich abhängig vom Standpunkt des Lesers. So erblickt etwa jemand, der mit Deutsch als Muttersprache den T e x t eines amerikanischen Autors im Original liest, ein grundsätzlich anderes Sprachbild als jemand, der die Originalsprache des Textes zur Muttersprache hat. Das Sprachbild gehört zum Gebilde als Rede des Anderen, ohne dessen ,Sinn' auch nur mitzubestimmen. Bestimmte Eigentümlichkeiten eines Sprachbildes können jedoch in einer festen assoziativen Beziehung zum innerfiktional Gemeinten stehen. Das volle Sprachbild gehört stets zur außerfiktionalen P h y siognomie des literarischen Gebildes.

B. Das Gebilde mit artifizieller Lästigkeit § 1 6 Die Grundtypen des Gebildes mit artifizieller Lästigkeit Es sei jetzt die anfangs nur kurz in den Blick gerückte Unterscheidung zwischen natürlicher und artifizieller Lästigkeit des literarischen Gebildes näher betrachtet. Es gilt der Frage nachzugehen, wie es im Gebilde aussieht, wenn sein Worumwillen so gelagert ist, daß dieses sich aus einer natürlichen Einstellung heraus nicht erfassen läßt. Es kommt hier ein grundsätzliches Problem in Sicht, die Tatsache nämlich: daß jedes literarische Gebilde unseren Blick ganz offensichtlich abrichtet. W o wir uns solcher Abrichtung widersetzen, wird adäquates Verstehen ausgeschaltet. 1 1

Die an dieser Stelle notwendigen Überlegungen zur artifiziellen Lästigkeit sind in kürzerer Form bereits unter dem Titel „Möglichkeiten des literarischen Gebildes" in den Neuen Heften für Philosophie (4, 1973, S. 103—122) erschienen und wurden in den wesentlichen Zügen zum erstenmal im Rahmen eines Ästhetik-Kolloquiums vorgetragen, das vom 4.—7. April 1971 unter der Leitung von Gottfried Boehm und Rüdiger Bubner in Heidelberg stattfand.

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Es sei kurz in Erinnerung gebracht, daß das Gebilde mit natürlicher Lästigkeit immer eine existenziale Möglichkeit der Befindlichkeit zum Worumwillen hat. Für das Erfassen des Worumwillen eines Gebildes mit natürlicher Lästigkeit ist, so sei erneut festgehalten, das Phänomen der Mitteilung entscheidend, wobei Mitteilung in dem terminologischen Sinne Heideggers zu verstehen ist: in der Mitteilung ,geteilt' wird „das gemeinsam sehende Sein zum Aufgezeigten, welches Sein zu ihm festgehalten werden muß als In-der-Welt-sein, in der Welt nämlich, aus der her das Aufgezeigte begegnet". 8 Die Mitteilung vollzieht die ,Teilung' der Mitbefindlichkeit und des Verständnisses des Mitseins. Das bedeutet, daß wir uns, um ein Gebilde mit natürlicher Lästigkeit verstehen zu können, in die Welt hineinversetzen lassen müssen, die es als Rede des Anderen evoziert. Das Gebilde mit artifizieller Lästigkeit hingegen erfordert, um in seinem Worumwillen erfaßt zu werden, ein ganz spezielles Absehen von aller .Mitteilung'. Es sei nun an neun Beispielen dargetan, welche Grundmöglichkeiten f ü r das Gebilde mit artifizieller Lästigkeit existieren. Die Beispiele sind so angeordnet, daß sich die Leitfrage nach den Gründen f ü r die Abrichtung unseres Blicks Schritt f ü r Schritt verschärft stellen läßt. Das heißt: die betrachteten Texte zeichnen sich durch einen immer höheren G r a d an artifizieller Lästigkeit aus, sie bringen das ,normale' Verstehen in immer größere Schwierigkeiten. Beispiel I: William Faulkners „Absalom, Absalom!" Es sei mit einem Text begonnen, der mit gutem Recht als doppellastig bezeichnet werden kann, der zwei Richtungen von Lästigkeit aufweist. Es handelt sich um William Faulkners „Absalom, Absalom!". Das Werk erschien 1936 und hat sich inzwischen immer eindeutiger zu einem Vorzugsgegenstand der Faulkner-Forschung entwickelt. Cleanth Brooks rückte es mit Abstand an die Spitze des Faulknerschen Gesamtwerks.® Die hohe Einschätzung, die dieser sonderbare Text allmählich uneingeschränkt erfährt, legt indessen noch nicht seine Eigenart frei. „Absalom, Absalom!" kann durch ein natürliches Verstehen allein nicht adäquat erfaßt werden. Seine Qualitäten lassen sich nicht vollzählig mit einer Einstellung in den Griff bringen, die am landläufig i n haltlichen' orientiert ist. Das natürliche Verstehen richtet sich hier auf die Gestalt, der das H a u p t interesse der uns präsentierten Personen gilt: auf Thomas Sutpen, die Inkarnation des amerikanischen Gedankens in seiner südstaatlichen Ausformung, der — man beachte die Allegorik — mit einer Horde wilder Neger, die er sich von den Westindischen Inseln mitbrachte, im Yoknapatawpha County eine Plantage samt Herrenhaus aus dem Boden stampfte, den er den Indianern 2 3

Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit (9. Aufl., Tübingen i960), S. 155 u. 162. Vgl. Cleanth Brooks: William Faulkner: The Yoknapatawpha County (New Häven 1963).

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für ein Spottgeld abhandelte. Sutpen sucht die Welt nach seinem Willen einzurichten und eine Dynastie der rassisch Edlen zu gründen. Seine Pläne schlagen fehl, das Negerblut eines seiner Söhne, den er verstieß und der plötzlich wieder auftaucht, führt zu einem Konflikt, in dessen Verlauf alles zerstört wird, was Sutpen aufbaute. Sutpens Bannkraft bleibt indessen ungebrochen. Sein unbestechliches Streben nach konkreter Macht innerhalb des Chaos der Mächte ist mehr oder weniger heimlich bejahtes Bollwerk aller, die eine Majorisierung durch vegetierenden Plebs fürchten. Die Umstände klären, die zu Sutpens Untergang führen, der gleichzeitig den des amerikanischen Südens bedeutet, heißt, eine verbindliche Haltung zur Idee Sutpens gewinnen. Sutpen ist nicht nur eine Herausforderung an das Gewissen jener, die ihn innerhalb der Fiktion deuten, sondern auch an das des Lesers. Wir kommen jedoch mit dem Versuch, Sutpen einzuschätzen, nicht zu Rande. Bei genauerem Hinsehen erweist sich alles, was wir über ihn erfahren, als korrigierbar. Wir erhalten eine Summe von Mutmaßungen. Der natürliche Hang des Verstehens, zu einer Klärung der präsentierten Daten zu gelangen, den Zusammenhang zu finden, wirft uns hier vom Erzählten auf das Erzählen zurück. Solcher Rückwurf verfängt sich zunächst in der Psychologie der einzelnen Hinblicke. Man versucht, die Äußerungen über Sutpen und sein Schicksal psychologisch' zu verstehen, d. h. die Motivation für eine mögliche Verfälschung des Wirklichen aufzudecken und damit die Widersprüche, die aus den verschiedenen Aufblicken resultieren, aufzulösen. Dieser Aufdeckungsversuch scheitert, denn Faulkner gibt uns keinen objektiv gültigen Sutpen, wodurch es möglich würde, Aufblicke in ihrem Aberrationsgrad von der Wahrheit zu bestimmen. Die Hauptperson und ihr Schicksal bleiben Entwurf. Alle Konturen verlieren sich in der Zeitentiefe. Man bedenke, daß uns die Ereignisse um Sutpen, der 1869 starb, aus der Sicht der Jahre 1909 und 1910 präsentiert werden. Sutpens Aufstieg im Yoknapatawpha County begann im Jahre 1833. „Absalom, Absalom!" ist mithin der Versuch, Geschichte zu deuten; man könnte auch sagen, Vergangenheit zu bewältigen. Diese Bewältigung findet nicht statt. 4 Sie wird vereitelt durch die Unsicherheit der Fakten. Das Verstehen sieht sich einer fundamentalen Störung ausgesetzt. Aus dieser Störung erwächst zwar die Legende vom Colonel Sutpen, 'who came out of nowhere and without warning upon the land' 5 , gleichwohl kann das kritische Interesse eines Quentin Compson, in dessen Bewußtsein sich alles über Sutpen Erfahrene sammelt, mit der Bildkraft der Legende nicht sich zufrieden geben. Quentin versucht immer wieder, zu einem Entwurf zu gelangen, der nicht mehr korrigiert werden muß. Einen solchen Entwurf läßt Faulkner indessen nicht zu.

4

s

Fast will es scheinen, als habe Faulkner die Gestalt Sutpens mit einem Seitenblick auf Adolf Hitler konzipiert. Nicht zu leugnen ist, daß Sutpens ,Design* durchaus faschistische Züge trägt. Vgl. William Faulkner: Absalom, Absalom! (New York: The Modern Library 1951), S. 9.

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Was geschieht nun mit dem Verstehen des Lesers? Ich sagte soeben, es finde ein Rückwurf des Verstehens statt, ein Rückwurf vom Erzählten auf- das Erzählen und mithin zunächst auf die Erzählenden, die hier ganz explizit als Entwerfende gestaltet werden. Doch mit diesem Rückwurf wird das Erzählte nicht deutlicher. Das Verstehen wird immer wieder gezwungen, sich neu einzurichten: es kommt nicht zur Ruhe in einem ,Sinn', der das Woraufhin des Entwurfs endgültig festlegte, aus dem heraus die verschiedenen Fakten als ein jeweils bestimmtes Etwas verständlich würden. Indem nun der jeweils zur Herrschaft strebende Entwurf immer nur als ein solcher gekennzeichnet wird, und das heißt, anderen Entwürfen ausgeliefert bleibt, findet ein Umschlag in unserem Verstehen statt. Wir sehen plötzlich, weil wir mit dem Sinn des Gesagten nicht zu Rande kommen, auf die Art des Sagens. Wir vernehmen anstelle des Gedeuteten das Deuten. Wir erfahren das Deuten als Gestus. Wir erfahren den Gestus des Deutens in seiner Artikulation. Die Lästigkeit des Gebildes ist umgeschlagen: wir vernehmen jetzt das Deuten von Vergangenheit als Modus von Rede. Das Gesagte als solches wird nun für den Vernehmenden in einem ganz bestimmten Sinne gleichgültig. Denn der Gestus des Deutens ist unabhängig vom Gedeuteten. Wir .erfahren' hier, wie so etwas wie Deuten .aussieht'. Dieses Erfahren bedeutet nicht: es wird uns gesagt, so und so sieht Deuten aus, sondern: der Gestus des Deutens als Modus von Rede zeigt sich von sich aus an der Rede des Anderen. Das Gebilde „Absalom, Absalom!" hat zwei Schwerpunkte. Der eine gründet in Colonel Sutpen, dem zu Deutenden; der andere in Quentin Compson, dem Deutenden. Die Entfaltung des Deutungsvorgangs zu echter Eigenständigkeit gegenüber dem zu Deutenden sei hier, so kurz es geht, kenntlich gemacht. — Faulkner erhebt das Deuten als Vorgang zu echter phänomenaler Fülle. Quentin, so sagte ich, trägt den Gestus des Deutens. Er hört zunächst zu, als Rosa Coldfield, eine zurückgestoßene Verehrerin Sutpens, ihre Version des Geschehens gibt. Während des Anhörens keimen in Quentins Bewußtsein Nebeninformationen, Ergänzungen auf. Diesem Lauschen Quentins auf die bereits verfestigte Deutung einer unmittelbar Beteiligten steht in der zweiten Hälfte des Werks sein Lausdien auf die pittoresk-flüchtige Deutung eines vollkommen Unbeteiligten gegenüber. Quentin selbst sucht im Geschehen um Sutpen ein Allgemeines: er will Klarheit um der moralischen Klarheit willen und gerät dabei in einen hermeneutischen Furor. Faulkner sagt, Quentin sei ,trying to get God to teil him why' 6 . Rosa Coldfield, der ,Spinster', die noch selber Zeugin war, geht es nur um die Verwindung einer narzißtischen Kränkung; und Shreve McCannon, dem kanadischen Kommilitonen und Zimmergenossen Quentins an der Harvard University, ist der Niedergang des Südens nur ein Spektakel von der Monstrosität eines „Ben Hur". Das wesentliche Deuten, das auf die Klärung der Sache selbst aus ist, wird uns als pendelnd zwischen • Vgl. Frederick L. Gwynn and Joseph L. Blotner (ed.), Faulkner in the University. Class Conferences at the University of Virginia: 1957—1958 (New York, Vintage Books 1965), S. 275.

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blindem persönlichem Engagement (Rosa) und konstruktionsfreudig-unbekümmertem Ausmalen (Shreve) vorgeführt. Quentin sucht nach einem Korrektiv seines eigenen Entwurfs und findet überall nur Entwürfe. Indem das natürliche Verstehen einer fundamentalen Störung ausgesetzt bleibt, werden wir zum Vernehmen der Grammatik von so etwas wie Entwerfen gezwungen. Die Störung des natürlichen Verstehens, das stets beim Worüber der Rede sich aufhält, bewirkt den plötzlichen Umschlag der Einstellung des Betrachters. Indem Faulkner die Möglichkeiten, sich zu einem vergangenen Sachverhalt deutend zu verhalten, systematisch abschreitet und gestaltet, ohne einer einzigen den Vorrang zu geben, verschafft er der artifiziellen Sicht ein objektives Fundament im Text. Das Anliefern des zu Deutenden, der emotional aufgeladenen ,Inhalte', läßt sich durchaus nur als Vorwand dafür auffassen, so etwas wie Deuten zur Darstellung zu bringen. Da jedoch das zu Deutende selber, die Befindlichkeit des Thomas Sutpen, zu echter phänomenaler Fülle gebracht wird, mit wahrhaftem Ernst auftritt, haben wir es mit einem Gebilde zu tun, das sowohl einer natürlichen Einstellung sich genuin öffnet, wie auch einer artifiziellen. Daß eine Verwirrung des natürlichen Verstehens nicht die Popularität eines Werkes fördert und zu sachfremder Kritik provozieren mag, dürfte sofort einleuchten. Einen interessanten Beleg für ein Verfehlen der artifiziellen Sicht und das daraus resultierende hartnäckige Unverständnis liefert Clifton Fadimans prompte und sarkastische Reaktion auf das Erscheinen von „Absalom, Absalom!". Fadimans Rezension erschien am 31. Oktober 1936 in der Zeitschrift „The New Yorker", und es heißt darin: "Then we have what may be called Anti-Narrative, a set of complex devices used to keep the story from being told. Mr. Faulkner is very clever at this." 7 Gewiß, Fadimans Kritik verweigert auch jenen Bedeutungsbereichen, die sich einem natürlichen Verstehen erschließen, die notwendige interpretatorische Geduld, dennoch kommt in seinem radikalen Abtun des Werks dessen Doppellastigkeit ex negativo zur Sprache. Das natürliche Verstehen allein muß einen Gegenstand solcher Art verärgert fallen lassen, insofern meldet sich, recht besehen, in Fadimans Abwehr gerade jene Dimension, die von der nachfolgenden Forschung, die sich ausschließlich am Inhaltlichen orientierte, unentdeckt blieb. Es sei nun ein Text betrachtet, der sich einer natürlichen Einstellung nur ganz bedingt, gleichsam nur zum Schein, öffnet. Beispiel II: Edgar Allan Poes „The Oblong Box" Es handelt sich um eine scharf pointierte Erzählung, die in der Poe-Forschung keinerlei Beachtung gefunden hat. Die eigentümliche Beirrung, die von der stets zutiefst spielerischen Erzählkunst Poes auf den wachen Betrachter ausgeht, läßt sich gerade an diesem Text recht gut lokalisieren. 7

Vgl. Clifton Fadiman: „Faulkner, Extra-Special, Double-Destilled", in: The New Yorker (31. Oktober 1936); jetzt gekürzt in: Robert Penn Warren (Hrsg.): Faulkner. A Collection of Critical Essays (Englewood Cliffs, N . J.: Prentice-Hall) S. 289—90.

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Worum es geht, ist schnell erzählt und sonderbar genug. Der Maler Cornelius Wyatt, ein exzentrischer Mann, bucht eine Schiffsreise von Charleston nach New York auf der .Independence', die dem Kommando Captain Hardys untersteht. Kurz vor der Abreise stirbt Wyatts junge Frau an einer plötzlichen Krankheit, über die wir nichts Näheres erfahren. Da die Reise nicht verschoben werden kann, gleichwohl aber die Überführung eines Leichnams die meisten Passagiere zum Verlassen des Schiffs bewegen würde, trifft Cornelius Wyatt mit Captain Hardy folgendes Arrangement: Frau Wyatts Leichnam wird in einer länglichen Kiste unter Zuhilfenahme einer beträchtlichen Menge Salz als normales Gepäckstück mitgeführt. Den Platz der Verstorbenen nimmt für die Dauer der Reise Wyatts Dienerin ein. Der zufällig mitreisende Erzähler bleibt uninformiert. Er beobachtet voller Neugier Wyatts intensives Interesse an der länglichen Kiste, die in dessen Kaiüte untergebracht ist, und schließt aufgrund der sonderbaren Kistenform, daß hier eine kostbare Kopie von Leonardos ,Abendmahl' mitgeführt werde. Das Schiff gerät in einen Sturm und beginnt zu sinken. Alle Passagiere steigen schließlich in die Rettungsboote, auch Cornelius Wyatt, der jedoch plötzlich wieder zurückspringt aufs sinkende Schiff, denn er hat die längliche Kiste vergessen, an die er sich nun, allein auf der ,Independence', anschnallt, um sich mit ihr in wahnsinnigem Entschluß in die tiefe See zu stürzen. Captain Hardy, inmitten des sich entfernenden Rettungsbootes, kommentiert kryptisch: „Sie werden erst wieder auftauchen, wenn sich das Salz aufgelöst hat."* Erst vier Wochen später erfährt der Erzähler bei einer zufälligen Begegnung mit Captain H a r d y auf dem Broadway, was es mit dem Salz und mit der länglichen Kiste auf sich hatte. Hier zeigt sich das Grinsen dessen, der bis zum Überdruß weiß, wie so etwas wie pointiertes Erzählen aussieht. Es ginge fehl, wer meinte, Poe parodiere hier bestimmte Inhalte. Diese sind zudem seine eigenen: Nekrophilie, plötzlidier Verlust des geliebten Partners, Exzentrizität des Künstlers. „The Oblong Box" läßt die Grammatik von so etwas wie Pointe aufsässig werden. Das Prinzip, mit dem hier die Störung der natürlichen Leseeinstellung zustandegebracht wird, ist ein anderes als bei Faulkner. Das natürliche Verstehen kann bei Poe durchaus im Erzählten zur Ruhe kommen. Eine rätselhafte Situation wird präsentiert, eine falsche Deutung suggestiv angeboten, bis schließlich die Auflösung dem Unverständlichen seinen Platz im Verständlichen anweist und alles seinen ,Sinn' bekommt. Im Erzählten sind indessen Elemente enthalten, die auch im unkritischsten Leser ein gewisses Unbehagen hervorbringen. Ins Auge springt die ungemeine Grobheit der Pointe, die schamlose Exzeptionalität des Geschehens, die Unbekümmertheit, mit der die Differenz zwischen der richtigen und der falschen Deutung durchgespielt wird. Die natürliche Lese8

"They sank as matter of course," replied the captain, "and that like a shot. They will soon rise again, however — but not tili the salt melts." Vgl. The Complete Tales and Poems of Edgar Allan Poe, hrsg. von Hervey Allen (New York 1938) S. 719.

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einstellung sieht sich hier in eine eigentümliche Leere entlassen: das Erzählte wird als nicht weiter memorierwürdig eingestuft und einfach vergessen. Daß ein Könner wie Poe den Vorwurf leichtfertiger Arbeit und abgeschmackter Bildlichkeit auf sich lädt, stimmt indessen den Kenner sofort wachsam. Die ostentativ rüde Faktur des Berichteten lenkt unseren Blick auf den Gestus des pointierten Sagens. Der .Inhalt' ist regelrecht .geschenkt*. Man darf sagen: das pointierte Erzählen geschieht hier aus einer Bewußtseinslage heraus, die an allen gattungsgleichen Produkten nur noch die Grammatik pointierter Darbietung wahrnimmt. Poe hat solchen Hinblick ins Werk gesetzt. Gewiß, jede pointierte Erzählung enthält den Gestus pointierten Erzählens, doch so, daß er nicht als ein solcher zur Abhebung gelangt, sondern in der verstehenden Aneignung des Erzählten zum Verschwinden kommt. Indem nun das Erzählte auf monströse Weise abstrus gehalten wird und der Autor offenbar Verachtung gegenüber der Plausibilität von Uberraschungseffekten empfindet, gelangt so etwas wie pointiertes Erzählen zur Darstellung. Die Welt, die zu teilen wäre, ist derart nichtig, daß wir uns nicht ernsthaft in ein »gemeinsam sehendes Sein zum Aufgezeigten' gebracht fühlen. Wir verharren auf einem Standpunkt außerhalb der Fiktion und hören so die dezidiert teleologische Rede des Anderen als Modus von Rede. Die beiden bisher betrachteten Texte enthüllten sich auch dem natürlichen Verstehen sofort in ihrer Fiktionalität. Es sei nun ein Text in den Blick gerückt, der sich dem natürlichen Verstehen niemals als Fiktion, als genuin ,literarisch' darbieten könnte. Beispiel I I I : Jorge Luis Borges' „Untersuchung des Werkes von Herbert Quain" Was Borges uns hier präsentiert, könnte ein Zeitungstext sein: die kritische Würdigung eines soeben verstorbenen Schriftstellers. Gäbe es Herbert Quain und sein Werk, so wiese solche Würdigung uns ein in die Sache seines Dichtens. Es gibt jedoch keinen Herbert Quain und auch keines der Bücher, von denen die Rede ist. Borges indessen tut so, als gäbe es sowohl ihn wie sein Werk. Was hat dies zur Folge? Gehen wir mit der Einstellung des natürlichen Verstehens an die „Untersuchung" heran: sie weist uns ein in die Sache, um die es dem Schriftsteller Herbert Quain geht. Dies geschieht in der Weise, daß wir auf Werke aufmerksam gemacht werden, die er geschrieben hat. Solches Hinweisen bezieht bereits andere Hinweise auf das Werk Quains ein: so wird ein Artikel aus dem »Literary Supplement' der Times erwähnt. Mit einem Wort: die Würdigung des Werkes von Herbert Quain versetzt uns in die Welt, in der sein Werk spricht und schon gesprochen hat, derart, daß uns implizit angesonnen wird, das in der Untersuchung Gesagte nachzuprüfen. Die Sache des Quainschen Dichtens wifd uns unter der selbstverständlichen Voraussetzung beschrieben, daß wir, die Leser, sie uns selber direkt aneignen könnten. Da es sidi um eine Fiktion handelt, weist das in der Untersuchung Gesagte ins Bodenlose. Mit der Erkenntnis des derart apriorischen Entzugs der Sache, von der die Rede ist, geschieht am Text eine Veränderung. Anders ausgedrückt: unser Verstehen

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schlägt um. Es richtet sich nicht auf das Gesagte als solches, sondern auf das Gesagte als Modus von Rede. Borges' Text zeigt, wie so etwas wie kritische Würdigung eines soeben verstorbenen Dichters aussieht. Das Gesagte ist in seiner Bestimmtheit nur Vorwand für die Präsentation eines Modus von Rede, eines Gestus. Begegnete uns eine derartige Würdigung in der Zeitung und bezöge sie sich auf einen Dichter, dessen Werk wir kennten, so wäre zwar auch der Gestus von so etwas wie Würdigung vorhanden, doch so, daß er sich verborge, unsichtbar würde, hinter dem Gesagten verschwände, vom Sachgehalt des Vorgebraditen gleidisam aufgesogen würde. Um bei der Lektüre einer tatsächlichen Würdigung eines Dichters Würdigung als Modus von Rede im Verstehen zur Abhebung kommen zu lassen, bedürfte es einer äußerst künstlichen und komplizierten Einstellung, die durch den Sachgehalt des Textes, sein Verweisen auf das diskutierte Werk des betreffenden Dichters ständig bedroht wäre, umzuschlagen in ein normales Verstehen. Die Einstellung, mit der bei der Lektüre eines Nachrufs nur noch der Gestus von Würdigung in den Blick käme, hätte vom Sachgehalt des Gebotenen auf ganz bestimmte Weise abzusehen. Eine solche Einstellung hätte gegenüber dem Zeitungstext keine .Berechtigung*. Sie bliebe beliebig ablegbare oder annehmbare Haltung des lesenden Subjektes. Borges beseitigt die Möglichkeit, daß der Gestus des Sagens vom Gesagten aufgeschluckt würde, durch die Fiktionalität der beredeten Sache, des Werkes Quains. Das Verstehen kann niemals in der Zueignung der beschriebenen Sache zur Ruhe kommen. Der Text zwingt zur künstlichen Einstellung. Was in der Empirie des Zeitungslesers ein subjektivistisdhes Absehen vom Sachgehalt bliebe, ein hermeneutischer Luxus gleichsam, wird hier dem Verstehen als einziges Ziel vorgeschrieben. Borges' Text ist ein Gebilde mit artifizieller Lästigkeit. Der Text, die kritische Würdigung eines soeben verstorbenen Dichters, läßt an ihm selbst zur Abhebung kommen, wie so etwas wie kritische Würdigung ,aussieht'. Das heißt: der Text bleibt unverstanden, wenn man zu verstehen sucht, was er ,sagt'. Borges' „Untersuchung" hat ihre Dignität als Gebilde darin, daß sie, was bei einem beliebigen Zeitungstext jener Gattung, der sie selbst angehört, nur ,zufällig' die Abhebung des Gestus von kritischer Würdigung stützen könnte, bewußt sammelt. Das heißt: die Konstituierung des Textes ist von vornherein an der Ausfaltung des Gestus von kritischer Würdigung orientiert, nicht kommt dieser als Implikation von einem Sachinteresse zustande, das dem Werke Quains nachgeht. Eine solche dezidierte Sammlung dessen, woran sich der Gestus eines bestimmten Sagens zeigen muß, bedingt, daß schließlich ein existenzialer Modus von Rede als solcher gestaltet vorliegt. Es sei an dieser Stelle meiner Ausführungen ein kurzer Rückblick gestattet. — Der Gestus des Deutens, der an Faulkners „Absalom, Absalom!" zur Abhebung kam, steht stellvertretend für all solche Modi von Rede, die im alltäglichen Miteinander vorkommen, ohne daß von ,Literatur' die Rede sein könnte. Der Gestus des pointierten Erzählens, der an Poes „The Oblong Box" zur Abhebung kam, steht stellvertretend für all solche Modi von Rede, die

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spezifisch ,literarisch' sind und deshalb nur an einem literarischen Gebilde vernehmbar werden können. Der Gestus von kritischer Würdigung, der an Borges' „Untersuchung des Werkes von Herbert Quain" zur Abhebung kam, steht stellvertretend für all solche Modi von Rede, die in der Empirie schon als Text vorkommen, jedoch nicht als literarischer, sondern als Gebrauchstext von gleichsam halbliterarischer Qualität (z. B. Reisebericht, Schmähschrift, Lehrbuch, Leitartikel, Gebrauchsanweisung). Die nun folgenden Beispiele zeichnen sich durch einen artifizieller Lästigkeit aus.

erhöhten Grad an

Beispiel IV: Aleksej Krucenychs Wäscherechnung In seiner Streitschrift „Die geheimen Laster der Akademiemitglieder" (Tajnye poroki akademikov, Petrograd 1916) präsentiert uns Aleksej Krucenych eine Wäscherechnung von sechs Zeilen Länge mit dem Kommentar: solch ein Gebilde sei stilistisch höherwertig als alles, was Puskin im „Evgenij Onegin" geleistet habe. 8 1 2 5 2 3 1

Bettlaken gestärkte Hemden Hemdkragen . . . . Paar Manschetten Kissenbezüge . . . . Unterziehjacke . .

5 Kopeken 20 30 20 9 5

Die polemische Art der Präsentation soll in diesem Zusammenhang nicht interessieren. Es geht vielmehr darum, der Verwandlung nachzuspüren, die hier einem alltäglichen Text durch Präsentation widerfährt. Will uns der Text bedeuten, unser Augenmerk darauf zu richten, wie so etwas wie Wäscherechnung ,aussieht'? — Gewiß nicht. Man könnte gleichfalls nicht sagen: hier werde uns der Gestus des Eintreibens von Geld für eine Dienstleistung demonstriert. Was aber gibt uns dann der Text zu verstehen? — Es gilt sich den Typus des Textes zu vergegenwärtigen. Seine Eigenart ist zweifellos dadurch bestimmt, daß es sich um einen vollkommen alltäglichen Text handelt. Und das heißt: sein ,Aussehen' verschwindet vollkommen hinter dem, was er sagt. Es handelt sich hier um einen Text, der in exemplarischer Weise im alltäglichen umsichtigen Besorgen verankert ist. Dies meint: sein Aussehen bedeutet dem, der ihn 8

Der russische Originaltext lautet: 1 prostynja 5 k. 2 krachm. rubachi . . 2 0 " 5 vorotnickov 30" 2 pary mannet 20 " 3 navolocki 9" 1 fufajka 5" Zitiert nach A. E. Krucenych: Izbrannoe, hrsg. von Vladimir Markov (München 1973), S. 176. Die betreffende Streitschrift enthält auch Beiträge von I. Kljun und K. Malevic.

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im Alltag ,versteht', nichts. Noch jener Typus von Text, den die „Untersuchung des Werkes von Herbert Quain" repräsentiert, ließ sich auf eine Formungsleistung hin ansehen, ohne daß damit sein ,Zweck' ausgeblendet würde. Sobald ich aber Krucenychs Rechnung auf ihr Aussehen als Text hin betrachte, verstehe ich sie nicht mehr. Kurz gesagt: die Art der Präsentation zwingt uns, den Text als Ansammlung von Wörterdingen zu vernehmen. Wiederum handelt es sich um eine Störung des natürlichen Verstehens. Der Zusammenhang, aus dem heraus die präsentierte Rechnung als Rechnung sinnvoll wäre, bleibt ausgeblendet. Die Welt, aus der die Rechnung spricht, fehlt. Wir könnten schwerlich dazu gebracht werden, an einer kritischen Würdigung nur Wörterdinge wahrzunehmen. Selbst der fehlende Verifikationshintergrund bringt Borges' Text nicht so radikal um seinen ,normalen' Sinn, wie das bei einer Wäscherechnung der Fall ist, die wie ein Gebilde präsentiert wird. Um einem möglichen Mißverständnis von vornherein zu begegnen, sei hier thesenhaft festgehalten, daß die Einstellung, die das Worumwillen eines Gebildes mit artifizieller Lästigkeit in den Blick bringt, nicht psychologisch' aufgelöst werden darf. — Zur Erläuterung ein Seitenblick auf Gogol's „Tote Seelen". Dort wird gleich zu Anfang geschildert, wie Ciiikov bei seinem Gang durch die ihm unbekannte Provinzstadt von einem Pfosten einen Anschlagzettel abreißt, den er, in seinem Hotelzimmer angekommen, in Ruhe durchliest. Es heißt: „Übrigens enthielt der Zettel nicht viel Bemerkenswertes: man gab ein Drama des Herrn Kotzebue, worin der Rolla von Herrn Spuckmann und die Cora von Fräulein Fröstel gespielt wurden, die übrigen Personen waren noch weniger bemerkenswert; immerhin las er alle ihre Namen durch, gelangte sogar bis zu den Preisen der Parterreplätze und erfuhr, daß das Plakat in der Druckerei der Gouvernementsverwaltung gedruckt worden war; sodann drehte er es auf die andere Seite: zu sehen, ob nicht auch dort irgendetwas sei, rieb sich aber, da er hier nichts fand, die Augen, faltete den Zettel sauber zusammen und legte ihn in sein Kästchen, wo er seiner Gewohnheit nach alles hinlegte, was ihm unter die Finger kam." — Ciiikov verharrt gleichsam am Rande der Möglichkeit, den Theaterzettel in eine artifizielle Sicht zu bringen und nur noch Wörterdinge zu vernehmen. Auch wenn solche Einstellung zustandekäme, hätte sie indessen die Funktion, einen Gemütszustand Cicikovs kenntlich zu machen; wir hätten also eine Welt zu teilen, so wie wir es jetzt auch tun. Das Anstarren des Theaterzettels indiziert uns eine Gestimmtheit Cicikovs, die Aufenthaltslosigkeit der Neugier, der alles in gleicher Weise gültig ist. Wird hingegen ein Gebilde mit artifizieller Lästigkeit in seinem Worumwillen erfaßt, so entfällt alle mögliche psychologische' Motivation für den Hinblick. Und das bedeutet: wir lassen uns in die evozierte Welt eben nicht hineinversetzen, sondern begreifen sie als Vorwand für etwas, das sich an ihr von sich aus zeigt. Was vom Gesichtspunkt der angesonnenen ,Mitteilung' eine Abwendung von Aufmerksamkeit ist, muß jetzt positiv gesehen werden: als Hinwendung nämlich einer ganz speziell gerichteten Aufmerksamkeit.

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Es sei also festgehalten: durch vollständigen Entzug der Welt, auf die so etwas wie Rechnung in erhöhtem Maße angewiesen ist, um das, was sie als Rechnung ist, sein zu können, bringt uns KrutSenych dazu, die Rede des Anderen in ihrer Zerschlagbarkeit in Wörterdinge zu vernehmen. Wir sehen, daß Worte als Wörter in ihrer visuellen und lautlichen Konstellation eine Physiognomie haben. Sprache wird hier in ihrer Möglichkeit, als scheinbar nur noch Vorhandenes (Wörterding, Buchstabe, Laut) aufzutreten, zur Darstellung gebracht. Man könnte auch sagen: Rede wurde auf ihre Störfähigkeit durch Aufdringlichmachen des ihr zukommenden ,Materials' hin angesehen. Es sei nun den weiteren Möglichkeiten der Störung von Rede durch Hervorkehrung ihres Materials nachgegangen. Beispiel V : Ernst Jandls „ÜBE!" ÜBE! rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr A! 1111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111 (eng) iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii ppp— FEHL NIE! ssssst rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr („uuuhii") NNA! 1111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111 EEE! nnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnn WIPP!

FEHL'N'S? („püree") ssst! du! „kau meinen (hhhhhhhhh) auch.. „diii eee"

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„vögel!" „eee" ihn!" s—c—hwwwe

i"

G E H N I E IM WALD eeewa... rrrrrrrrrrrrrrr TEE. nnn— UUU? (rrrrrrrb alder uuhe) ssst! du! „au!" c

h

Jandl nennt seinen Text ein ,Lautgedicht'.10 Es handelt sich, wie man sieht, um einen Text ,über' einen Text, oder besser: über einem Text. Wir bekommen „Wandrers Nachtlied" (Über allen Gipfeln) in lautlicher Verzerrung derart geboten, daß ,neuer Sinn', anderer Sinn sich einstellt. Gewiß ist hier Überdruß am Kanonisierten mit federführend gewesen: konkrete Realitäten des Schülerdaseins werden gegen verbürgte Klassizität dezidiert oppositionell in Anschlag gebracht. Gleichwohl haben wir keine Parodie vor uns. Der Rückgriff auf ein klassisches Beispiel der Dichtkunst geschieht vielmehr in erster Linie deshalb, um ein unveräußerliches Fundament richtiger Lautung zu garantieren. Auf solchem Fundament erhebt sich die Fehllautung, das falsche ,Lesen' des richtigen Textes. Die lautliche Seite der Rede des Anderen wird für sich genommen, wird gleichsam abmontiert und jenseits oder diesseits des Bezeichneten in die Freiheit klang-assoziativer Zuordnungen oder sinnleerer Abrückungen entlassen. Jandls Text demonstriert die Möglichkeit der phonemblinden Realisation eines Textes, die in der Hinausgesprochenheit der Rede als Sprache gründet. Wir werden zum Anstarren der Laute eines Textes (Wandrers Nachtlied)

19

Hier zitiert nadi Ernst Jandl: Der künstliche Baum (Neuwied und Berlin, Sammlung Luchterhand 8, 1970), S. 125.

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gebracht. Was der Kenner hier goutiert, ist gerade nicht das, was dabei an anderem ,Sinn' herauskam, sondern: daß so etwas überhaupt möglich ist. Sowohl Krucenychs Rechnung, wie auch Jandls „ÜBE!" sind solche Gebilde, die an einem sinnvollen Text etwas, das gemeinhin ,unsichtbar' bleibt, zur Abhebung kommen lassen, die mithin an bestimmten Formen der Mitteilung orientiert sind. Es sei nun ein Gebilde betrachtet, das nicht mehr auf einen bestimmten Modus der Rede des Anderen bezogen ist. Beispiel VI: Anton Lotovs „Melodie einer orientalischen Stadt" Die lautliche Seite der Sprache, die in Jandls „ÜBE!" in gezielter Abirrung von der richtigen Lautung eines Textes zur Abhebung gebracht wurde, kann noch auf völlig andere Weise Worumwillen eines Gebildes werden. Bereits zu Beginn meiner Darlegungen zur Eigenart des Gebildes war zur einführenden Kennzeichnung einer artifiziellen Sicht die Rede auf Anton Lotovs „Melodie einer orientalischen Stadt" (Melodija vostocnogo goroda) gekommen. Es kann jetzt der genaue typologische Ort dieses eigentümlichen Gebildes bestimmt werden. Zunächst sei der volle Text" angeführt: Chan chan da dai su sur i des viljar' jagda suksan kardeks Mak sa Mak sa jakim den zar vaks bar dan jak Zaza Sju sec bezd i gear e ada be Men chatt zajde Vin da cok me Es kommt hier die stete Möglichkeit der Sprache zu ,Wort', in ihrer Fremdsprachlichkeit vernommen zu werden. Der Effekt erlischt, wo das in seiner Fremdheit Nachgeahmte tatsächlich verstanden wird. Entgegen aller möglichen Bestimmtheit des in der Rede des Anderen Beredeten wird die Klangphysiognomie einer orientalischen Sprache, wie sie sich in diesem Falle dem russischen Ohr darstellt, zur Abhebung gebracht. Die hier festgehaltene Einstellung sperrt sich gegen alle Mitteilung. Die Rede des Anderen wird auf ihre Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft angesehen, dies jedoch keinesfalls mit dem rubrizierenden Blick des Linguisten. Vielmehr hat sich der ,Wortlaut' des Textes vollkommen und im vorhinein angewiesen auf das, was nur ein flanie11

Belegt bei Dmitrij Tschizewskij (Hrsg.): Anfänge des russischen Futurismus (Wiesbaden 1963, S. 112), sowie bei C. M. Bowra: The Creative Experiment (London/ Melbourne/Toronto 1967, S. 12). Über die Person Anton Lotovs liegen keinerlei Angaben vor.

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rendes O h r vernimmt, wenn es der fremden und ihm unverständlichen Sprache begegnet. Dabei sinkt nun das Vernommene durchaus nicht zu bloßen Geräuschen ab, es wird vielmehr sofort als Sprache aufgefaßt, die verstanden werden will. Indem das Verstehen aus Unkenntnis der vorliegenden Sprache scheitert, kommt Sprache als eine Sprache in den Blick, das Verstehen läßt ab von der Ausschau nach Mitteilung und überläßt sich dem Klangbild von Rede als einer Sprache. Lotovs „Melodie" ahmt Sprache in ihrer stets möglichen Fremdsprachlichkeit nach und geht dabei sogar so weit, vom Standpunkt einer einzelnen anderen eine phantastische Gliederung des Nichtverstehbaren in Worte und offenbar auch Sätze durchzuführen. W i r haben es hier nicht mehr mit einem bestimmten Modus von Rede zu tun. Vielmehr wurde die lautliche Seite der Rede des Anderen in äußerster Allgemeinheit, nämlich in ihrer physiognomischen Bedingtheit durch die betreffende Einzelsprache erfaßt. — Es gilt jetzt ein Gebilde zu klassifizieren, das nicht mehr am intakten Vollzug des Verstehens der Rede des Anderen orientiert ist. Es handelt sich um ein Werk, das in der von Krucenych propagierten und praktizierten ,transrationalen Sprache' (zaumnyj j a z y k ) geschrieben ist. Beispiel V I I : Aleksej Krucenychs „dyr bul SScyl" dyr bul 22yl ubeäSsüur skum v y so bu r 1 ez Nebenbei sei bemerkt, daß es sich um

eins der

meistzitierten Werke des

russischen Futurismus handelt. 1 2 Krucenych veröffentlichte es zum ersten M a l 1913 in seinem Buch „ P o m a d e " (Pomada). Die Pointe dieses sonderbaren F ü n f zeilers liegt darin, daß

seine .Wörter* keine Sätze bilden, ja,

zur Mehrzahl

überhaupt keine sind, so daß plötzlich auch im Russischen existente W o r t f o r men,

wie

,dyr'

und

,vy'

ausgesprochenen

Willkürdiarakter

bekommen. 1 ®

Sprache erscheint hier in ihrer Zerlegbarkeit in Wörter, Silben und Buchstaben, die sich gegen eine beliebig freie Verwendung nicht wehren können. Das natür12

13

Hier zitiert nach A. E. Kruüenych: Izbrannoe, hrsg. von Vladimir Markov, (München: Fink 1973), S. 55. In seinem Buch Rttssian Futurism: A History (Berkeley und Los Angeles 1968, S. 44) gibt Markov folgenden Kommentar: "The poem begins with energetic monosyllabics, some of which slightly resemble Russian or Ukrainian words, followed by a three-syllable word of shaggy appearence. The next word looks like a fragment of some word, and the two final lines are occupied with syllables and just piain letters, respectively, the poem ending on a queer, nonRussian-sounding syllable". Zur Systematisierung der sprachlichen Merkwürdigkeiten der russischen Futuristen vgl. Friedrich Scholz: „Die Anfänge des russischen Futurismus in sprachwissenschaftlicher Sicht" in: Poetica, Bd. II, Heft 4 (Oktober 1968). Des weiteren vgl. Dmitrij Cizevskij: „O poezii russkogo futurizma", in: Novyj Zurnal, Bd. 73 (September 1963).

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liehe Verstehen wird in eine fundamentale Verwirrung gebracht, indem es sich zum Anstarren des vollkommen außer Funktion gesetzten .Materials' der Rede des Anderen gezwungen sieht. Als letztes Beispiel dieser zweiten Beispielreihe, die sich an den Möglichkeiten, Sprache als scheinbar nur noch Vorhandenes physiognomisch begegnen zu lassen, orientierte, sei ein weiteres Werk von Jandl betrachtet. Beispiel V I I I : Ernst Jandls „klare (gerührt)" Jandl bringt in seiner Gedichtsammlung „Laut und Luise" (1966) mehrere Variationen über das Bedeutungsfragment „klare (gerührt)". Von Interesse ist in diesem Zusammenhang jene Variation, die den Eindruck eines drucktechnischen Versehens evoziert. 14 Die Wörter ,klare gerührt' werden in sinnleerer Wiederholung und schräggestellten Zeilen über zwei aufgeschlagene Buchseiten gedruckt. Das sieht aus, als habe man ein defektes Druckwerk in der Hand, als habe die Rotationsmaschine das Druckpapier falsch in den Griff bekommen und so ein Zufallsgebilde entstehen lassen, dessen Zustandekommen dem typographischen Laien auf immer ein Rätsel bleiben wird. Es wäre nun falsch zu meinen, Jandl habe so etwas wie »drucktechnisches Versehen' veranschaulichen wollen. Vielmehr wird Sprache im Zugriff drucktechnischen Versehens vorgeführt. Wir vernehmen hier das Sprechenwollen des verschleppten Wortes, das auch da noch zur Ausschau nach Sinn animiert, wo es längst durch Einwirkung von außen, durch ,Umstände', um ihn gebracht wurde. Jandls ,Text' gründet in der Schriftlichkeit der Sprache, durch die ihr Ausgeliefertsein an die potentielle Willkür des drucktechnischen Apparats, an die Möglichkeit des ,Druck-Fehlers' mitgesetzt ist. Der landläufige Druckfehler ist ja nur ein Sonderfall jener Art von Störung des natürlichen Verstehens, die die Sprache in ihrer Schriftlichkeit vernehmbar werden läßt. Die Demonstration der Grundmöglichkeiten des Gebildes mit artifizieller Lästigkeit abschließend, sei jetzt eine Betrachtung zu Mailarmes berühmtem Gedanken versucht, wonach das ideale Gedicht ein leeres Blatt sei. Beispiel I X : Stéphane Mallarmés ,schweigendes Gedicht' Mallarmé hat, wie jeder weiß, geäußert, das ideale Gedicht sei ,das schweigende Gedicht, aus lauter Weiß'. 15 Das Gemeinte scheint auf dem Hintergrund der hier vorgetragenen Überlegungen einen ganz präzisen Sinn zu bekommen. Mallarmé spricht vom Schweigen als Modus von Rede. Das leere, weiße Blatt tritt als die Artikulation von Schweigen auf, nicht als Blatt Papier, auf das man etwas schreiben könnte, nicht als unbeschriebenes Blatt. Das weiße Blatt ist in seiner Leere ein redendes Blatt. Was durch die Leere redet, ist das Schweigen. Mallarmés leeres Blatt ist die äußerste Möglich14

15

Vgl. Ernst Jandl: Laut und Luise (Ölten und Freiburg im Breisgau, Walter-Druck 12, 1966), S. 194/195. In der späteren Ausgabe: Sammlung Luchterhand 38, Neuwied und Berlin 1971, fehlt gerade diese Variation. Vgl. Stéphane Mallarmé: Oeuvres complètes (Paris 1946), S. 367.

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keit der Darstellung von Rede, verstanden als Artikulation, wobei sich hier Schweigen .artikuliert'. Es gilt sich an dieser Stelle mit allem Nachdruck zu vergegenwärtigen, daß ,Schweigen' in dem von Mallarmé konzipierten Gedicht ein Worumwillen ist, das artifizielle Lästigkeit voraussetzt, d. h. wir werden dazu gebracht, so etwas wie Schweigen zu vernehmen; und das bedeutet nicht etwa das bedeutungsvolle Schweigen eines Gesprächspartners, der mit unserer Meinung unzufrieden ist, gleichwohl aber nichts erwidert; ein solches Schweigen, das uns die Befindlichkeit eines Gegenübers kundgäbe, wäre angewiesen auf einen Zusammenhang von Meinungen und Gegenmeinungen, worin es als unausgesprochene Formulierung eines Standpunktes seinen festen O r t hätte. Mallarmés Schweigen ist Rede, befreit von jeglichem .Material', das aus irgendeiner denkbaren Einstellung heraus aufsässig werden könnte, und darum Rede, die gar nichts mehr sagt. Das ,schweigende Gedicht, aus lauter Weiß* ist die radikalste Möglichkeit der Darstellung (!) von Artikulation als Artikulation, die radikalste Möglichkeit deshalb, weil hier das Alleräußerste an artifizieller Lästigkeit vorliegt: Artikulation, die kein ,Aussehen' mehr hat, als Worumwillen des Gebildes. Nichts ist mehr da, woran das natürliche Verstehen sich halten könnte.

§ 17 Artifizielle Lästigkeit und Schema-Bild Es wird niemandem entgangen sein, daß in meinen Ausführungen die Wendung ,so etwas wie . . . ' häufig vorkam. So hieß es von Faulkners „Absalom, Absalom!", hier werde so etwas wie Deuten zur Abhebung gebracht, von Poes „The Oblong Box", hier komme so etwas wie pointiertes Erzählen zur D a r stellung, bei Borges so etwas wie kritische Würdigung. Auch die folgenden Beispiele wiesen ein durchgehendes Charakteristikum der Kennzeichnung auf. Es hieß von Kruienychs Wäscherechnung, hier zeige sich die Zerschlag barkeit der Sprache in Wörterdinge, von Lotovs „Melodie", hier zeige sich die Fremdsprachlichkeit, oder von Jandls „klare gerührt", hier zeige sich die Schrihlicbkeit der Sprache. Es sei jetzt die methodische Relevanz solcher Kennzeichnungsmerkmale aufgedeckt. Ich gehe dazu auf Heideggers Darlegungen zum Schematismus-Begriff bei Kant ein. 16 Bei der Herausarbeitung dessen, was K a n t unter dem Ausdruck ,Bild' versteht, unterscheidet Heidegger dreierlei Bild-Begriffe. ,Bild' ist zunächst der unmittelbare Anblick von etwas. Man sagt etwa: „Die Versammlung bietet ein trauriges Bild". Mit Bild meinen wir hier den Anblick eines unmittelbar gesehenen Einzelnen, bzw. dieses einzelnen Ganzen dieser Versammlung. — ,Bild' kann des weiteren den vorhandenen abbildenden Anblick eines Seienden bezeichnen. Man denke an eine Photographie. Auch diese bietet als »dieses Ding' unmittelbar einen Anblick (ist damit ,Bild' in dem 16

Vgl. Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, (2. Aufl., Frankfurt am Main 1951).

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ersten Sinne), jedoch: indem sie sich als dieses Bild zeigt, will sie gerade das von ihr Abgebildete zeigen. Das Sichzeigende ist nun wiederum etwas, das unmittelbar als Bild sich zeigt. Diese beiden Weisen der Bild-Beschaffung, und das heißt: der Versinnlichung, sind durch unmittelbares Anschauen eines Einzelnen (,Dies-da*) gekennzeichnet, einmal durch unmittelbares empirisches Anschauen, zum anderen durch unmittelbare Abbildbetrachtung. Es gibt nun noch eine dritte, völlig andere Weise der Bild-Beschaffung, die nicht im Hinsehen auf ein ,Dies-da' zur Ruhe kommt. Heidegger verweist zur Erläuterung auf die Photographie einer Totenmaske, die wir, als Nachbild eines Abbilds, etwa auf den unmittelbaren Anblick dieses bestimmten Toten, wie auf den seines Abbilds ansehen können. U n d jetzt heißt es: „Die P h o t o graphie kann nun aber auch zeigen, wie so etwas wie eine Totenmaske überhaupt aussieht. D i e Totenmaske wiederum kann zeigen, wie überhaupt so etwas wie das Gesicht eines toten Menschen aussieht. Aber das kann auch ein einzelner Toter selbst zeigen. U n d so kann auch die Maske selbst zeigen, wie eine T o t e n maske überhaupt aussieht, imgleichen die Photographie nicht nur das P h o t o g r a p h i e n , sondern wie eine Photographie überhaupt aussieht. — Was zeigen aber jetzt diese »Anblicke' (Bilder im weitesten Sinne) dieses Toten, dieser Maske, dieser Photographie usf.? [ . . . ] Was versinnlichen sie jetzt? Sie zeigen, wie etwas ,im allgemeinen' aussieht, in dem Einen, was für viele gilt. Diese Einheit für mehrere aber ist das, was die Vorstellung in der Weise des Begriffs vorstellt. Diese Anblicke sollen jetzt der Versinnlichung von Begriffen dienen." 1 7 Was Versinnlichung eines Begriffs heißt, wird am Beispiel des Begriffs ,Haus' dargelegt: „Wir sagen: dieses wahrgenommene Haus z. B . zeigt, wie ein Haus überhaupt aussieht, mithin das, was wir im Begriff Haus vorstellen. I n welcher Weise zeigt dieser Hausanblick das Wie des Aussehens eines Hauses überhaupt? Das Haus selbst bietet zwar diesen bestimmten Anblick. Allein, in diesen sind wir nicht versunken, um zu erfahren, wie gerade dieses Haus aussieht. Vielmehr zeigt sich dieses Haus eben als solches, das, um ein Haus zu sein, nicht notwendig so aussehen muß, wie es aussieht. Es zeigt uns ,nur' das So-wie . . . ein Haus aussehen kann. [ . . . ] Dieses Wie des empirischen Aussehenkönnens ist es, was wir angesichts dieses bestimmten Hauses vorstellen". 1 8 — Unser Interesse ist nicht auf eine Möglichkeit des Aussehens eines Hauses aus, sondern auf den Umkreis als solchen des möglichen Aussehens, auf das, was regelt und vorzeichnet, wie etwas aussehen muß, um ein Haus zu sein; auf das, was das Ganze dessen ,auszeichnet', was mit dergleichen wie ,Haus' gemeint ist. 19 — „Aber dieses Gemeinte ist nun überhaupt nur so meinbar, daß es als das vorgestellt " 18

"

Heidegger, ebenda S. 90 Ebenda. Heideggers Erörterung umkreist hier den Satz Kants: „Der Begriff vom Hunde bedeutet eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgendeine einzige besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet, oder auch ein jedes mögliche Bild, was ich in concreto darstellen kann, eingeschränkt zu sein" (Kritik der reinen Vernunft, A 141, B 180).

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einer Theorie des literarischen

Gebildes

wird, was das mögliche Hineingehören dieses Zusammenhangs in einen empirischen Anblick regelt. N u r im Vorstellen der Weise, in der die Regel das Hineinzeichnen in einen möglichen Anblick regelt, kann überhaupt die Einheit des Begriffes als einigende, vielgültige, vorgestellt werden. Wenn der Begriff überhaupt das ist, was zur Regel dient, dann heißt begriffliches Vorstellen das Vorgeben der Regel einer möglichen Anblickbeschaffung in der Weise ihrer Regelung. Solches Vorstellen ist dann struktural notwendig auf einen möglichen Anblick bezogen und daher in sich eine eigene Art der Versinnlichung." 20 Was an solcher Versinnlichung „an unmittelbarem Anblick notwendig mit vorkommt, ist nicht eigens thematisch gemeint, sondern als mögliches Darstellbares der Darstellung, deren Regelungsweise vorgestellt wird. [ . . . ] Das Vorstellen des Wie der Regelung ist das freie, an bestimmtes Vorhandenes ungebundene ,Bilden* einer Versinnlichung als Bildbeschaffung in dem gekennzeichneten Sinne." 21 — Diese Vorstellung nun von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nennt Kant das „Schema zu diesem Begriff" 22 ; — und Heidegger beschließt seine Herausarbeitung der dritten Bedeutung des Ausdrucks ,Bild' folgendermaßen: „Das Schema ist zwar vom Bilde zu unterscheiden, aber gleichwohl auf so etwas wie Bild bezogen, d. h. der Bildcharakter gehört notwendig zum Schema. Er hat sein eigenes Wesen. Er ist weder nur ein schlichter Anblick (,Bild' in der ersten Bedeutung) noch ein Abbild (,Bild' in der zweiten Bedeutung). Er sei daher Schema-Bild genannt." 23 Was sagen uns diese Überlegungen über die Eigenart des Gebildes mit artifizieller Lästigkeit? — Folgendes: Das Worumwillen eines Gebildes mit artifizieller Lästigkeit ist immer ein Schema-Bild. Wenn wir bei Faulkner so etwas wie Deuten versinnlicht sehen, dann haben wir vom konkreten Inhalt des zu Deutenden bereits abgesehen. Desgleichen vernehmen wir bei Poe nicht die Story in ihrer konkreten Bestimmtheit, nicht das ,Dies-da' des Erzählten, sondern: das Erzählte wird daraufhin angesehen, wie so etwas wie pointiertes Erzählen aussieht. Was an unmittelbarem Anblick notwendig mit vorkommt, ist nicht eigens thematisch gemeint, sondern als mögliches Darstellbares der Darstellung, deren Regelungsweise vorgestellt wird. Wir sind in den unmittelbaren Anblick der Würdigung des Werkes von Herbert Quain nicht versunken, um zu erfahren, was wir von dieser Untersuchung zu halten haben; vielmehr zeigt sich diese eben nur als eine solche, die, um zu sein, was sie ist, nicht notwendig so aussehen muß, wie sie aussieht. Noch krasser ist der Abstand zwischen dem Gemeinten und dem, was als unmittelbarer Anblick notwendig mit vorkommt, bei Kruienychs Rechnung. Nicht nur könnten beliebige andere Kleidungsstücke aufgeführt werden, ja, die Rechnung könnte durch eine Fahrkarte ersetzt werden, ohne daß das Gemeinte, das Worumwillen des Gebildes, sich ändern müßte. In Lotovs „Melodie" wird i0 21 22 23

Heidegger: Kant.. ., S. 91. Ebenda, S. 90/91. Kant: Kritik der reinen Vernunft, Heidegger: Kant..S. 92.

A 140, B 179 f.

Die Eigenart des Gebildes

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das Worüber der Rede noch radikaler austauschbar und kommt überhaupt nur noch als implizierte Bestimmtheit ins Spiel. Desgleichen ist in Jandls „klare gerührt", was an Wörtern zum unmittelbaren Anblick notwendig ist, vollkommen beliebig. Wir haben, um das Worumwillen eines Gebildes mit artifizieller Lästigkeit in den Blick zu bekommen, auf ganz spezifische Weise nicht bei der Sache zu sein. Ich habe oben darauf aufmerksam gemacht, daß überall da, wo bei einem literarischen Gebilde artifizielle Lästigkeit vorliegt, wo wir also die Rede des Anderen nicht in ihrem Gesagten, sondern als Modus von Rede vernehmen, die Mitteilungsfunktion der Rede verschwindet. Auf dem Hintergrund der Ausführungen Heideggers zum Schema-Bild enthüllt sich die ganze Tragweite dieser Beobachtung. Die Photographie einer Totenmaske ließ, wie wir sahen, verschiedene Einstellungen zu. Sie schreibt uns von sich aus nicht vor, was wir an ihr herausheben sollen. Wir können sie als unmittelbaren Anblick dieses bestimmten Toten, dieser bestimmten Totenmaske, wie auch als Demonstration von so etwas wie Photographie auffassen. — Die Frage, die unsere Überlegungen in Gang brachte, lautete: Wie schafft es ein literarisches Gebilde, unseren Blick so abzurichten, daß wir uns nicht mehr aussuchen können, welchen Anblick es uns bietet? Die Antwort fanden wir im Phänomen der Störung. Das natürliche Verstehen wird bei artifizieller Lästigkeit eines Gebildes derart gestört, daß eine Versetzung in die Welt, die uns das literarische Gebilde als Rede des Anderen erschließt, verhindert wurde oder gleichsam nur provisorisch zustandekam. Der positive Sinn solcher Störung ist, daß sie uns zwingt, vom unmittelbar gesehenen Einzelnen abzusehen, und zwar so, daß, was an unmittelbarem Anblick vorkommt, nur als Vorwand für die Versinnlichung eines Begriffs zugelassen wird. Welche Begriffe als Schema-Bild Worumwillen eines literarischen Gebildes sein können, ergab sich aus seiner Bestimmung als Rede des Anderen. Diese Bestimmung führte zu den hier erörterten Beispielen. § 1 8 Schema-Bild und Befindlichkeit Es seien jetzt Erläuterungen zu einer Frage gegeben, die bei der soeben durchgeführten Präsentation der verschiedenen Möglichkeiten von artifizieller Lästigkeit nur am Rande abgehandelt wurde. Bei der Diskussion von Kruienychs Wäscherechnung kam plötzlich die Überlegung ins Spiel, daß der Hinblick, zu dem wir von einem Gebilde mit artifizieller Lästigkeit gezwungen werden, nicht psychologisch' erklärt werden darf. Es geht also nicht an, das Worumwillen eines Gebildes mit artifizieller Lästigkeit als Ergebnis einer bestimmten ,Stimmungslage' aufzufassen. Artifizielle Lästigkeit im Gebilde fängt unseren Blick derart, daß wir positiv etwas sehen. Was als Störung kenntlich gemacht wurde, ist nur formell ein negativer Begriff. Störung wird bei artifizieller Lästigkeit perenniert. Das heißt: sie ist nicht mehr, wie im alltäglichen Besorgen, nur ein Zwischenakt zur Reparatur, zur Rückführung dessen, was auffällig wurde, in die Unauffälligkeit, in der es funktioniert. Hier muß die posi-

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Entwurf

einer Theorie des literarischen

Gebildes

tive Leistung von Gebilde mit allem Nachdruck hervorgehoben werden. Gebilde ist Präsentation, und Präsentation verwandelt. Die ,Störung' des natürlichen Verstehens, das im ,Besorgen' aufgeht, bekommt eine Wendung ins Positive, sobald sie von einem Gebilde getragen wird. Störung hört dann auf, etwas zu sein, das man zu beheben hätte; sie hält unseren Blick jetzt so fest, daß nicht mehr einem Fehlenden nachgegangen wird, denn solches Nachgehen wird ja durch das Gebilde als heraushebendes Präsentieren unmöglich gemacht, sondern: der Bruch der in der Umsicht entdeckten Verweisungszusammenhänge läßt Welt in ihrer Weltlichkeit aufleuchten. Uns in einem labilen Gleichgewicht innestehen zu lassen in der Störung, ist die Leistung des Gebildes mit artifizieller Lästigkeit. Wo aufgrund eines unmittelbaren Anblicks plötzlich ein Schema-Bild wahrgenommen wird, ist die Befindlichkeit des Betrachters immer dieselbe, nämlich die des ruhigen, innehaltenden, gesammelten und ,emotionslosen' Hinsehens, das ein Absehen vom unmittelbaren Dies-da des empirisch Angeschauten ist. Im Aufblitzen des Sdiema-Bildes entgleitet jegliches vorherige Dies-da. Das Worumwillen des Gebildes mit artifizieller Lästigkeit entführt aus aller Mitteilung. Die immergleiche Befindlichkeit dessen, der plötzlich ein Schema-Bild wahrnimmt, ist keine ,mitgeteilte'. Mitteilung ist darauf angewiesen, daß wir in die Welt hineinversetzt werden, in der die Rede des Anderen stattfindet. Ein kurzer Blick auf zwei typische Werke von Helmut Heißenbüttel und Peter Handke mag die Relevanz solcher Überlegung voll hervortreten lassen. — Wenn Heißenbüttel in einer ,Geschichte' mit dem Titel „Endlösung" in scheinbar rein mechanistischer Abwandlung das Satzstück ,die haben sich das einfach mal so ausgedacht' umspielt, so kommt darin zwar auch das aller Sinnabzweckung fremde Eigenleben der Sprache zu Wort, es entsteht aber kein Gebilde mit artifizieller Lästigkeit. Vielmehr belegen das Klappern der sprachlichen Fertigteile und die Monotonie der in engstem Sinnbezirk verlaufenden Assoziationen das desperate Verharren dessen, der hier formulieren möchte, vor dem unsagbar Schrecklichen. Angesichts dessen, was in Sicht steht, verschlägt es dem, der sich äußern will, die Sprache: das Bestreben, präzise zu benennen, schlägt um in eine Art Betäubung, in der die Sprache aus dem Griff gerät und sich selbst überlassen wird. Das Sprachgeschehen wird hier mithin als Ausdruck einer Bewußtseinslage ins Spiel gebracht.24 In Handkes Prosatext „Das Standrecht" gerät die Sprache nicht aus dem Griff dessen, der sie handhaben möchte, sondern wird im festen Zugriff einer ins Dekretistische heruntergekommenen Machtausübung vorgeführt. Wir bekommen kommentarlos 14 Artikel, die das Standrecht betreffen, dargeboten. Auch hier mag es zunächst den Anschein haben, daß ein Gebilde mit artifizieller Lästigkeit angestrebt wird. Das ist aber nicht der Fall. Zwar wird die Eigenart von so etwas wie Amtssprache in den Vordergrund gerückt. Nicht aber soll der Gestus von Amtssprache als Worumwillen zur Abhebung gelangen, M

Vgl. Helmut Heißenbüttel: Das Textbuch Luchterhand, 3), S. 102—104.

(Neuwied und Berlin 1970, Sammlung

Die Eigenart des Gebildes

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vielmehr wird Entsetzen angesichts der Differenz zwischen der peniblen Sorgfalt der ,Verordnung' und dem Unding des ,Verordneten' übermittelt. 25 Wo in diesen beiden Beispielen ,Grammatik' vernommen wird, ist dies ein Indiz für Verstörung, ausgelöst durch das, was sich ,versteckt' ausspricht. — Es gilt mithin streng zu unterscheiden zwischen Gebilden mit artifizieller Lästigkeit und einer innerfiktional vorkommenden, .psychologisch' bedingten artifiziellen Einstellung.

25

Vgl. Peter Handke: Prosa, Gedichte, Theaterstücke, am Main 1970), S. 75—80.

Hörspiel, Aufsätze

(Frankfurt

ZWEITER ABSCHNITT GEBILDE U N D VERSTEHEN § 1 9 Natürliches und artifizielles Verstehen Im natürlichen Verstehen wird die Welt eines Gebildes so erfahren, wie sie von den in ihr sich aufhaltenden Gestalten erfahren wird. Die fundamentalste Implikation dieses Umstands ist, daß im natürlichen Verstehen das Gebilde nicht als etwas von jemand Gemachtes in den Blick kommen kann. Selbst wenn einem solchen anteilnehmenden Bewußtsein die Zweckmäßigkeit der erlebnistragenden Komponenten sich zeigte, kann es solche Zweckmäßigkeit immer nur a posteriori feststellen, als gleichsam von einem Autor angelegte begreifen, niemals aber als vom Autor eingerichtete. Das natürliche Verstehen ist das Verstehen eines fiktionsimmanenten Bewußtseins. Das Worumwillen des Gebildes (mit natürlicher Lästigkeit) wird vom natürlichen Verstehen nicht als ein solches erfahren, sondern als ,Stimmung', in die bestimmte Personen auf diese und jene Weise hineingeraten. Die anthropologische Prämisse wird als ,Wahrheit' vernommen, als ein ,So ist es'. Dabei wird jedoch niemals die Möglichkeit einer anderen Prämisse in Betracht gezogen. Die anthropologische Prämisse kommt somit nicht als das, was sie ist, in den Blick, sondern im Resultat ihrer Regelungsweise. Mit einem Wort: das natürliche Verstehen ist prinzipiell blind gegen all das, was an der im Gebilde beschlossenen Welt sich nur deshalb zeigt, weil diese Welt als Gebilde auftritt. Das natürliche Verstehen ist vollständig beim Worüber der Rede des Anderen und macht keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem, was ihm in der Empirie .tatsächlich' als Bericht oder Erlebnis entgegentritt und dem, was über ein Gebilde sich meldet. Gewiß, man kann nun nicht sagen, dem natürlichen Verstehen gehe der Sinn für die Unterscheidung zwischen der .Fiktion' und der ,Wirklichkeit' ab. Zweifellos weiß auch das natürliche Verstehen sofort, wann es mit einer Fiktion zu tun hat. Aber dieser Unterschied wird nur zur Kenntnis genommen, um wieder vergessen zu werden. Das natürliche Verstehen gehorcht blindlings den Einweisungen des Textes in die in ihm beschlossene Welt. Das heißt: es befolgt bewußtlos gleichsam die Winke, mit denen der wirklichkeitsbestimmende Konsensus hergestellt wird und nimmt dann das in solcher Einstellung Begegnende in dem, was ,gesagt' wird, wahr. Das natürliche Verstehen leistet dem Sog des Gebildes ins Worüber der Rede bedingungslos Folge. Das natürliche Verstehen angesichts der Rede des Anderen, mag diese nun ,empirisch' oder ,literarisch' sein, hält das Gesagte prinzipiell für wahr und ist damit die Grundlage allen Verstehens, indem es das trägt, was Gadamer

Gebilde und

Verstehen

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den ,Vorgriff der Vollkommenheit' nennt. Ohne das natürliche Verstehen käme keinerlei Sinn zustande. Solche Überlegungen mögen deutlich machen, daß es hier keinesfalls darum gehen soll, eine bestimmte Einstellung gegenüber der Rede des Anderen als minderwertig hinzustellen. Gleichwohl muß eingeräumt werden, daß mit einer natürlichen Einstellung allein manche Eigentümlichkeiten des Gebildes nicht in den Blick gebracht werden können. Wie gezeigt werden konnte, lassen sich all solche Gebilde, die eine artifizielle Lästigkeit aufweisen, mit einer natürlichen Einstellung nicht in ihrem Worumwillen erfassen. Gleichwohl ist nun das artifizielle Verstehen nicht das ,höhere', denn es versagt ja vor einem Gebilde mit natürlicher Lästigkeit. Das artifizielle Verstehen ist indessen gegenüber dem natürlichen nicht das schlechthin andere, sondern auf dieses vollkommen angewiesen. Was artifizielles Verstehen ist, läßt sich nur unter der Voraussetzung des natürlichen sagen. Das artifizielle Verstehen verläßt also nicht den Boden, auf dem das natürliche steht. Es sei in Erinnerung gebracht, daß ja das Phänomen der Störung konstitutiv war für die Herbeiführung der artifiziellen Sicht. Was gestört wurde, war das natürliche Verstehen. Das heißt: auch eine natürliche Einstellung gegenüber dem Gebilde ,bemerkt' jene Winke, aus denen, würden sie befolgt, eine artifizielle Einstellung entspringen würde, eine Befolgung kann indessen hier nicht stattfinden, weil sich damit das natürliche Verstehen, das nur auf .Mitteilung' reagiert, selber aufgeben würde. Was von der artifiziellen Sicht erfaßt wird, hat somit den Durchgang des Verstehens durch eine natürliche Einstellung nötig. Es sei festgehalten: natürliches und artifizielles Verstehen gehören zusammen und entsprechen den beiden Grundmöglichkeiten des literarischen Gebildes, nämlich als Rede des Anderen sein Worumwillen entweder im Worüber der Rede oder in einem Modus von Rede überhaupt zu haben. Beide Einstellungen bezeichnen die direkten, ,richtigen' Zugänge zum literarischen Gebilde. Anders ausgedrückt: an jeglichem literarischen Gebilde mit natürlicher Lästigkeit schlummern die herauslegbaren Worumwillen einer artifiziellen Sicht, so wie an jeglichem Gebilde mit artifizieller Lästigkeit das Worüber der Rede in potentieller Eigenständigkeit mit vorhanden ist. § 20 Das ausbeutende Verstehen Das ausbeutende Verstehen ist blind gegen das Worumwillen des Gebildes und tritt stets .wissenschaftlich' auf. Das Gebilde wird ihm zum Beleg für die Berechtigung einer Disziplin. Bei der geschehenden Erfassung dessen, was im Gebilde vorkommt, treffen wir hier bisweilen auf wirkliche Akribie und höchsten Scharfsinn. Wo jedoch Zutreffendes im Sinne einer am Worumwillen des Gebildes orientierten Einstellung herausgearbeitet wird, geschieht dies gleichsam zufällig und nicht abgedeckt durch die dezidierte ,Methode' des auslegenden Vorgehens.

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Entwurf

einer Theorie des literarischen

Gebildes

Das ausbeutende Verstehen ist ein pervertiertes Verstehen. Während sich das natürliche und das auf es bezogene artifizielle Verstehen niemals als das, was sie sind, formulieren und sich nicht zur Abhandlung, zur Interpretation niederschlagen, sondern im Vernehmen dessen, was das Gebilde ,sagt', verharren, tritt das ausbeutende Verstehen energisch an die Öffentlichkeit. Es will herrschen. Den direkten, nichtigen' Einstellungen verschlägt es gegenüber dem ausbeutenden Verstehen den Atem. Das ausbeutende Verstehen kann derart zur Herrschaft gelangen, daß es dem Rezipierenden die Fähigkeit, ,natürlich' zu verstehen, nimmt oder zumindest verargt. Das ausbeutende Verstehen sucht dem Leser einzureden, was er zu vernehmen hat. So ist etwa Lev Tolstoj in seiner Streitschrift „Was ist Kunst?" (Cto takoe iskusstvo?, 1898) ein typischer Vertreter ausbeutender Literaturbetrachtung, wenngleich ein in seiner vehementen, zu keiner politischen Richtung verpflichtenden Gradlinigkeit höchst seltener. Aus unserer Zeit seien Romano Guardini und Georg Lukacs genannt, deren Einfluß zwar immer mehr abnimmt, die sich jedoch auf das Geschäft des Überredens anhand von künstlerischen Gebilden vorbildlich verstanden. Mit welcher Finesse Guardini das ausbeutende Verstehen betreibt, wird deutlich in der grundlegenden Kritik Hans-Georg Gadamers an Guardinis RilkeBuch.1 Gadamer zeigt, wie Guardini als katholischer Christ die Vielschichtigkeit der gegenständlichen Motive in Rilkes Dichtung unberücksichtigt läßt. Es heißt: „Niemand wird bestreiten, was Guardini auch ganz mit Recht feststellt, daß Rilke aus einer katholischen Umwelt und Herkunft die entscheidenden Möglichkeiten für seine dichterischen Aussagen gewinnt." Gewiß, was mit Hilfe solcherart geprägter gegenständlicher Motive in seiner Dichtung zur Aussage kommt, soll verstanden und ,als wahr' aufgefaßt werden. „Das mißlingt aber, wenn man statt dessen die stofflich-gegenständlichen Mittel dieser Aussagen als die Sache selbst behandelt." — Es gilt der Argumentation Gadamers hinzuzufügen, daß Guardini in seinem Dostoevskij-Buch genau umgekehrt verfährt. Dostoevskijs unverhohlener H a ß auf die katholische Kirche ließ eine Gleichsetzung der stofflich-gegenständlichen Mittel der Aussage mit der Sache selbst nicht zu, und so sah sich Guardini gezwungen, einen anderen Weg einzuschlagen, um Dostoevskij noch würdigen zu können. Die stofflich-gegenständliche Seite seines Werks wird auf die an ihr sich zeigenden Prinzipien angesehen, die auch eine andere Veranschaulichung zuließen. Guardinis hervorragende Einzelbeobachtungen bestechen immer wieder und belegen, daß offensichtlich das natürliche Verstehen auch bei einer dezidierten Tendenz der Auslegung des öfteren zum Durchbruch kommt. Guardini ist, recht besehen, den Sophisten zuzuordnen. Das gleiche gilt für den marxistisch orientierten Ästhetiker Georg Lukacs. Man beachte, daß hier das literarische Kunstwerk nicht nur zum Indiz für geistesgeschichtliche Zusammenhänge herabgewürdigt wird, sondern gleich1

Vgl. Hans-Georg Gadamer: „Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins (zu dem Buch von Romano Guardini)", in: Gadamer: Kleine Schriften, II (Tübingen 1967), S. 178 ff.

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Verstehen

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zeitig als Beleg dafür fungiert, daß die Größe der großen Dichter darin besteht, Wirklichkeit .richtig* und das heißt: fortschrittlich widerzuspiegeln. Lukäcs übersieht vollständig, daß man das ,Reaktionäre' der Weltanschauung eines Dichters nicht zu leugnen braucht, um seine Größe anzuerkennen; denn was ist eine mißlungene Widerspiegelung der Wirklichkeit anderes als eine anthropologische Prämisse, die in bestimmter Weise einem Konkretionssubstrat zugeordnet ist, und was sind anthropologische Prämisse und Konkretionssubstrat anderes als Notwendigkeiten für die anschauliche Bestimmtheit des Worumwillen des Gebildes, deren jeweilige Ausprägung unmaßgeblich ist für den Rang des Werks?! Es kann hier nicht darum gehen, das weite Feld ausbeutender Kunstbetrachtung auf seine verschiedenen ,Schulen' und Wirkungen hin anzusehen. Es soll lediglich ins Gedächtnis gerufen werden, wie verbreitet in sich schlüssige und damit disziplinär auftretende Einstellungen sind, aus denen heraus das Worumwillen des Gebildes ausgeblendet bleibt. Es will sogar scheinen, daß die explizite Wirkungsgeschichte eines Kunstwerks Sache des ausbeutenden Verstehens ist. Es zeigt sich hier jenes eigentümliche Faktum, daß die Gründe, die für die Wirkkraft eines künstlerischen Gebildes angeführt werden, immer in der Gefahr stehen, nur beiläufige zu sein, da es ungemein schwierig ist, das Sinngeschehen beim Namen zu nennen, das die Konstituierung eines substantiell schlüssigen literarischen Gebildes ausmacht. Daß solche prinzipielle Schwierigkeit in eine echte Bodenlosigkeit des Hinblicks umschlagen kann, wenn dieser von dezidierten Überredungszielen getragen wird, ließe sich an sehr vielen Beispielen darlegen. Wo wir große Wirkungslinien protokollieren können, bleibt deren Argument politisch': das öffentliche Interesse für ein Kunstwerk — und worauf wäre feststellbare Wirkung sonst angewiesen? — kann sich, wie es scheint, nur innerhalb von Strömungen und Tendenzen .formulieren' und täuscht sich mithin immer über das, was durch die Kunst wirkt. Uber ranghöchste Gebilde wird ,dasselbe* vorgebracht wie über solche ohne Rang, so daß dem .Kulturleben' nur die Funktion bleibt, das künstlerisch relevante Gebilde aus irgendwelchen Gründen mitanzubieten. Echte Tradition beruht auf Vermittlung ohne Begründung, auf der Einsicht, daß es Einsichten gibt, die zwar in der Konfrontation mit dem literarischen Gebilde immer wieder evoziert werden, jedoch nicht ohne weiteres kommuniziert werden können. Nach diesen Überlegungen mag es so aussehen, als sei das ausbeutende Verstehen stets weltanschaulicher Art, politisch ausgerichtet und damit .inhaltlich' bestimmt. Dies ist jedoch durchaus nicht der Fall. Auch die Besinnung auf die künstlerische Technik kann zu einer Sicht führen, die blind ist gegenüber dem Worumwillen des Gebildes. Wo die Aufmerksamkeit sich auf die Kunstgriffe richtet, liegt die Gefahr nahe, diese gleichsam in Ruhestellung zu beschreiben und zu katalogisieren, so daß schließlich ein Arsenal von Verfahrensweisen ohne Rücksicht auf deren Verwendung in einem bestimmten Fall vorliegt. Der bestimmte Fall, der das ,Dies-da* des Erzählten, den präsentierten Inhalt mitenthält, wird nur zum Anlaß genommen, einen

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Entwurf

einer Theorie

des literarischen

Gebildes

Kunstgriff zu demonstrieren. Gewiß kann ein solches Vorgehen, auch wo es zur Schule wird und eine Zeitlang automatisch betrieben wird, den Sinn für bestimmte Eigenheiten des Gebildes schärfen. Es darf indessen nicht übersehen werden, daß gerade eine solche, von allen konkreten Gehalten abstrahierende Blickeinstellung leicht der Selbsttäuschung erliegen kann, das spezifisch Künstlerische in den Griff zu bekommen. So muß zum Beispiel auch die Einstellung der russischen Formalisten gegenüber dem literarischen Gebilde dem ausbeutenden Verstehen zugerechnet werden. Allerdings bedarf eine solche Feststellung einer Erläuterung, um nicht in falsche Hände zu fallen. Das Verdienst der russischen Formalisten steht außer Frage. Die Klärung dessen, was wir meinen, wenn wir einen Text als literarisch' bezeichnen, darf gewiß von keiner Literaturbetrachtung, die es ernst mit sich meint, unterschlagen werden. Feststeht, daß der russische Formalismus aller ideologischen Vereinnahmung des künstlerischen Textes die Tür gewiesen hat. Gleichwohl fordert die hier vorliegende Methode solcher Abkehr von aller inhaltlichen Befleckung der Auslegung zu prinzipiellen Vorbehalten heraus. Indem der Formalist den ,Kunstgriff' (priem) zum Wesentlichen der Kunst erklärt, findet eine ganz spezielle Abzweckung des Hinblicks statt. Kurz gesagt: der Formalist betrachtet alle literarischen Gebilde als Gebilde mit artifizieller Lästigkeit. Der grundsätzliche Unterschied zwischen einem Gebilde mit natürlicher Lästigkeit und einem Gebilde mit artifizieller Lästigkeit war den Formalisten unbekannt. In ständigem Kontakt indessen mit der literarischen Avantgarde, die ja immer wieder Gebilde mit artifizieller Lästigkeit hervorbrachte — man denke nur an Velimir Chlebnikov und Aleksej Krucenych — wurde die durch solche zeitgenössischen Kunstergebnisse nahegelegte Sicht zum Kennzeichen aller Kunst erhoben. Was sich dabei vom Standpunkt der hier entworfenen Theorie des Gebildes freizusetzen suchte, wurde von den Formalisten nicht zu begrifflicher Durchsichtigkeit gebracht. Es kam indessen zu einer gleichsam instinktsicheren Hinwendung zu solchen Gebilden der Tradition, die zumindest eine Doppellastigkeit aufwiesen. So analysierte Sklovskij etwa Sternes „Tristram Shandy" und beschloß seine Abhandlung mit der wie eine rein polemische Pointe wirkenden Feststellung: „ ,Tristram Shandy' ist der typischste Roman der Weltliteratur", was auf dem Hintergrund dieser Untersuchungen nichts anderes heißt, als daß wir hier so etwas wie gemächlich ausgreifendes Erzählen versinnlicht sehen, mithin ein Schema-Bild als Worumwillen vorliegen haben. Da der „Tristram Shandy" doppellastig ist, stieß Sklovskijs Einstellung auf eine objektive Eigenart des Textes.2 Boris Ejchenbaums berühmter Aufsatz über Gogol's „Mantel" spielt indessen eine sich nur regende, aber nicht zum Durchbruch kommende Tendenz des Textes zum Schema-Bild ungebührlich hoch.3 Vollends ohne wirklichen Auf2

3

Vgl. Viktor Sklovskij: „Parodijnyj roman. ,Tristram Sendi' Sterna", in: Sklovskij, O teorii prozy (Moskau 1925). Vgl. Boris Ejdienbaum: „Kak sdelana ,Sinei' Gogolja" (1919), in: Ejchenbaum, O proze. Sbornik Statej (Leningrad 1969).

Gebilde und Verstehen

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Schluß bleibt Tynjanovs Arbeit über Dostoevskijs Roman „Das Gut Stepaniikovo und seine Bewohner", ein Gebilde mit ausschließlich natürlicher Lästigkeit. 4 Gewiß wird Wichtiges zur Theorie der Parodie gesagt, wenngleich es im Grunde um den Ausweis eines Schema-Bildes zu gehen hätte, das nun allerdings in dem zur Debatte stehenden Werk Dostoevskijs nicht zur Darstellung kommt. Auch Sklovskij irrt sich, wenn er, trotz seiner Schlußbemerkung, den „Tristram Shandy" f ü r einen .parodistischen Roman' hält. — Halten wir fest: indem die russischen Formalisten alle literarischen Gebilde f ü r solche mit artifizieller Lästigkeit halten, kommt es zwar zur Herausarbeitung dessen, was durch Auffälligmachen an einem Gebilde dominant werden kann. Was dabei für das einzelne literarische Gebilde zum Worumwillen erklärt wird, hat jedoch ausgesprochenen Willkürcharakter. Die Rückbindung des interpretierenden H i n blicks in die literarische Evolution machte von vornherein Erkennungskriterien geltend, die nicht auf der Voraussetzung einer Direktkommunikation zwischen dem Einzelwerk und seinem Leser gründeten. Der Mechanismus der objektiven Genese, die sich als .literarische Evolution' (Tynjanov) manifestiert, schiebt sich in Gestalt der angeblich wahrnehmbaren ,Differenzqualität' vor alles, was am Gebilde von sich aus sich zeigt. Der russische Formalismus hat das literarische Gebilde in den Bereich einer nur sich selbst bestätigenden Kennerschaft eingeholt. Wer die literarische Technik vom hic et nunc ihrer jeweils einmaligen Verwendung zum Abhub bringt, verhält sich gegenüber dem literarischen Gebilde ausbeutend. Es wird hier eine Möglichkeit des ausbeutenden Verstehens belegt, die paradoxerweise das literarische Gebilde vor aller sachfremden Ausbeutung schützen wollte. Die ausschließliche Besinnung auf den .Kunstgriff', mag diese auch auf das rechte Erfassen der Eigenart des Einzelwerks abzielen, kann offensichtlich eine verstehende Auslegung nicht nur nicht ersetzen, sondern nur verdunkeln.

§ 21 Das fundamentalästhetisdie Verstehen Das fundamentalästhetische Verstehen ist jene Grundlage an .Einstellung', aus der heraus das natürliche und artifizielle, wie auch das ausbeutende Verstehen überhaupt erst jeweils als solche bestimmbar werden. Das fundamentalästhetische Verstehen ist beim Worumwillen des Gebildes, dies aber nun nicht derart, daß es sich dort festmachte und den Weg zu solchem Ziel vergäße. Vielmehr ist das fundamentalästhetische Verstehen ein nervöses Verstehen, das nirgends zur Ruhe kommt, gleichwohl aber in solcher Unruhe nidit kopflos ist. Unser Blick kehrt bei einer fundamentalästhetischen Einstellung zwar immer wieder zum Worumwillen des Gebildes zurück, doch verharrt er auch mit derselben Hartnäckigkeit bei dem, was das Worumwillen trägt. Sich vor einem künstlerischen Gebilde fundamentalästhetisch verhalten, heißt: sein 4

Vgl. Jurij Tynjanov: „Dostoevskij i Gogol' (k teorii parodii)" (1921), in: Tynjanov, Archaisty i novatory (Leningrad 1929).

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Entwurf einer Theorie des literarischen

Gebildes

Worumwillen in seiner Angewiesenheit auf Ausweisung durch etwas wahrnehmen. Das künstlerische Tun läßt sich aus solcher Sicht als ein Kultivieren dessen auffassen, was notwendig mit dabei ist, damit etwas, nämlich das Worumwillen, ausgewiesen, und das heißt: versinnlicht vorliegen kann. Was von der Funktion her nur ein Mittel ist, etwas zur Hauptsache zu machen, wird selber in dieser Funktion als zeitweilige Hauptsache genommen. Ein solches Verharren bei dem, was zur Ausweisung eines Worumwillen notwendig mit dabei ist, geschieht bei einer fundamentalästhetischen Einstellung niemals beliebig, ist nicht ein durch mögliche Vorlieben des Lesers geprägtes Verweilen bei bestimmten .Dingen' innerhalb der Welt der Fiktion. Vielmehr ist das ,Dies-da', wobei ein Verweilen stattfindet, immer schon gesehen in der Bahn einer Kategorie. So kann das Gebilde als Rede des Anderen etwa auf den wirklichkeitsbestimmenden Konsensus hin angesehen werden, auf den Abstand mithin, den die in ihm beschlossene Welt zu unserer, der empirischen, aufweist. Oder man richtet den heraushebenden Blick auf die anthropologische Prämisse. Auch das Konkretionssubstrat kann in seiner universellen Tauglichkeit wie in seiner tatsächlichen Gegebenheit das Ziel unserer dezidierten Hinwendung sein, desgleichen etwa die außerfiktionale Physiognomie der ,Sprache'. Mit einem Wort: das Gebilde ist dadurch gekennzeichnet, daß es Auseinanderstrebendes zu einem Worumwillen bändigt. Solches Auseinanderstreben, das wurde deutlich, verläuft nicht vollkommen diffus, sondern auf bestimmten Ebenen, die sich jeweils herausheben lassen. Die Bändigung wird umso stärker eine solche, umso mehr alles Auseinanderstrebende, das ja gleichfalls vom Autor .gesetzt' ist, zu seiner höchstmöglichen Autonomie gebracht wird, so daß sich der verstehende Hinblick durchaus verfangen muß, um ,alles' zu sehen, gleichwohl aber immer wieder ins Worumwillen zurückgetrieben wird. Die fundamentalästhetische Einstellung ist also eine wachsame Offenheit für die möglichen ,Anblicke' eines vorliegenden literarischen Gebildes. Man kann sagen: das fundamentalästhetische Verstehen überläßt sich den durchschauten Zwängen des Gebildes. Das aber bedeutet nichts anderes, als daß sowohl die Funktion der Zwänge, nämlich das Worumwillen auszuweisen, als auch die autonome Physiognomie dessen, was der Bändigung unterliegt, gesehen werden. Das fundamentalästhetische Verstehen ist fähig, die untilgbare Spannung zwischen dem Eigensinn des Gebildes und dem Sinn des Gebildes zu erleben. Das Gebilde kann sein Worumwillen nur in dieser Spannung sein. Wo diese Spannung verstanden, nämlich als notwendige ,erlebt' wird, kann weder von einer Auflösung von Bedeutung in ein Relationssystem die Rede sein, noch von einem funktionsblinden Verharren bei einem reinen ,Dies-da'. Das fundamentalästhetische Verstehen bleibt, bildlich gesprochen, stets in Rufweite des Worumwillen des Gebildes. Das ausbeutende Verstehen hingegen verläßt nidit nur solche Rufweite, sondern ist auch innerhalb dieser taub gegen allen Ruf, kann jedoch in spezieller Ausprägung das Relationssystem eines Gebildes durchaus sichten, ohne aber dann verstehend bei der Sache zu sein. Das fundamentalästhetische Verstehen hat mit dem ausbeutenden nichts zu tun, es

Gebilde

und

Verstehen

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schließt dieses im wörtlichsten Sinne aus. Das natürliche Verstehen hingegen wird durch das fundamentalästhetische nicht ausgeschlossen, wandelt sich aber in diesem, denn es hört auf, in dem Sinne ,naiv' zu sein, daß es außer sich nichts kennt. In der fundamentalästhetischen Einstellung läßt sich das natürliche Verstehen als das, was es ist, gleichsam bereitwillig beobachten und verliert darum in keiner Weise seine Eigenart der totalen Einfühlung in die Welt, die in der Rede des Anderen sich auftut. Was im natürlichen Verstehen erschlossen wird, ist die primäre Informationsquelle für das fundamentalästhetische Verstehen. Auch das artifizielle Verstehen wird seiner selbst erst bewußt innerhalb einer fundamentalästhetischen Einstellung. Ohne diese ist es nur eine Störung des natürlichen Verstehens. Das bedeutet: erst im fundamentalästhetischen Verstehen kann das durch eine solche Störung in den Blick gelangende Worumwillen eines Gebildes als das, was es positiv ist, erfaßt werden. Das fundamentalästhetische Verstehen ist also stets gebildebewußt. Das heißt nun ganz und gar nicht, daß sein Hauptinteresse auf die Formungsleistung als solche gerichtet ist, so daß die .ästhetische Unterscheidung* in Anschlag gebracht würde. Es tritt jetzt der Sinn der hier gewählten Kennzeichnung in den Blick: fundamental-,ästhetisch' verstehen bedeutet, als Zweck des Gebildes einzig sein Worumwillen gelten zu lassen, gleichwohl aber die Angewiesenheit dieses Worumwillen auf sein Ausgewiesensein durch etwas, was ihm nur Mittel ist, mitzuerfassen, so zwar, daß dieses unruhige Wechselverhältnis wie eine tatsächliche Intention wahrgenommen und ,festgehalten* wird. Das Gebilde wird, dynamisch, als Verwirklichung seines Worumwillen gesehen, das stets direkt ergreift, gleichzeitig wird es jedoch, statisch, als Bild solcher Verwirklichung .ästhetisch' angeschaut. Man kann solche Verwirklichung formell als Rücksichtnahme auf das, was notwendig mit dabei ist, auffassen. Die Verwirklichung ist angewiesen auf die .Erfüllung' bestimmter Kategorien. So ist jedes literarische Gebilde auf .Sprache' angewiesen, so weist jegliche in einem Gebilde beschlossene Welt einen Abstand zur empirischen auf, so ist jedes Gebilde Beleg für die Eigenart einer Weltgegend usf. Gemessen an der zu erreichenden Wirklichkeit des Worumwillen sind solche Wesensmerkmale, da sie zur Erfüllung drängen, Zwänge zum Umweg. Es entstehen ,Anblicke', die ursprünglich, nämlich angesichts des Worumwillen, nicht berücksichtigt wurden, die sich nun aber wie von selbst, nämlich aufgrund der Eigenart von Gebilde überhaupt, ergeben. Ein solches Sich-Ergeben ist keine direkte Formungsleistung; der Blick, der das Resultat dessen, was sich auf solche Weise ergab, erfaßt, darf darum niemals mit einer Einstellung verwechselt werden, die auf die Einbringung der .ästhetischen Unterscheidung' aus ist. Dennoch muß die gleichsam autonome Ausgestaltung solcher sich einstellender Anblicke als ein Grundzug des künstlerischen Tuns angesehen werden, wie auch immer das ausübende künstlerische Bewußtsein dazu stehen mag. Paradox ausgedrückt: der Sog ins Worumwillen des Gebildes kann nur zur Wirkung kommen, indem gleichsam Umwege beschritten werden, die aus der Eigenart von Gebilde überhaupt resultieren. Auf der Seite des Betrachters

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Entwurf einer Theorie des literarischen

Gebildes

hat dies zur Folge, daß der verstehende Blick zu einer geregelten Unruhe gezwungen wird. Die systematischen Bedingungen für diese Unruhe nicht nur zu sehen, sondern diese Unruhe selbst als Sinngeschehen eigener Art auffassen zu können, ist die höchste Fähigkeit der fundamentalästhetischen Einstellung. Das fundamentalästhetische Verstehen entspricht mithin wissend und doch immer wieder spielerisch sich verlierend sämtlichen Anblicken, die sich aus der Eigenart des Gebildes, sein verwirklichtes Worumwillen sein zu müssen, ergeben. Man kann sich zwar gegenüber der ,Wirklichkeit' ästhetisch verhalten, nicht aber fundamentalästhetisch. Die fundamentalästhetische Einstellung ist nur gegenüber einem Gebilde möglich. Das Worumwillen des Gebildes wiederum ist niemals in einer ästhetischen Einstellung vernehmbar. Eine ästhetische Einstellung zur Wirklichkeit kann indessen Worumwillen des Gebildes werden, läßt sich aber als diese nicht mehr ästhetisch betrachten. J e größer das Können des Künstlers, desto unvermittelter scheint uns das Worumwillen des Gebildes zu begegnen. Die fundamentalästhetische Einstellung vernimmt nun diese zugrundeliegende Vermittlung als Spiel der erfüllten Kategorien miteinander. Nicht die dezidierte Formungsleistung als Verarbeitung von ,Material' rückt in den Blick, sondern das Apriori der ,Form' selber, so zwar, daß diese in ihrem Grundbezug zum Worumwillen erfaßt bleibt. Mit einem Wort: was unser Vernehmen des Worumwillen eines Gebildes als ,verborgenes' Fundament notwendig trägt, wird für einen Augenblick ebenso wichtig wie das vernommene Worumwillen. Dieser Augenblick wird durch das fundamentalästhetische Verstehen bewußt erschlossen.

ZWEITER TEIL GEDANKEN ZU EINER TYPOLOGIE DES INNERFIKTIONALEN BEDEUTUNGSZUSAMMENHANGS

ERSTER ABSCHNITT DIE ZWEIFACHE FUNKTION DER EINZELHEITEN § 22 Die Sprache der Einzelheiten Einzelheit ist, was auffällt. Wer nidits versteht, dem fällt alles auf. Wer alles versteht, dem fällt nichts auf. Die Zeiger an einer Uhr sind für den, der weiß, was eine Uhr ist, keine Einzelheiten. Erst ein fehlender Zeiger würde zur Einzelheit. Ein tedinisdies Spezialgerät macht auf den Laien den Eindruck eines Sammelsuriums von Einzelheiten. Wird ihm der Verwendungszweck erklärt, das Wozu der einzelnen Teile, so hören diese auf, Einzelheit zu sein, denn sie wurden auf den Boden einer Bewandtnisganzheit gestellt. Verstehen ist ein Verschwindenmachen von Einzelheiten und bedeutet gleichzeitig die Schaffung eines neuen Hintergrunds für Einzelheiten, der Möglichkeit nämlich, eine Abweichung, einen Defekt als Einzelheit wahrzunehmen. — Einzelheiten .sprechen'. Angesichts eines literarischen Gebildes befindet sich der Leser in der Situation von jemand, der in eine ihm noch verhüllte Bewandtnisganzheit eingerückt wird und dabei sein Auge an die innerfiktionale ,Sicht' zu gewöhnen hat. Es entsteht so ein innerfiktionaler Hintergrund für ,Einzelheiten'. Gleichzeitig liefert jedoch die Fiktion als Ganzes einen weiteren, völlig anders situierten Hintergrund für Einzelheiten. Dieser Hintergrund ist innerfiktional nicht wahrnehmbar. Zur Erläuterung sei eine Passage aus Franz Kafkas Prosastück „Erstes Leid" in den Blick gerückt: „Ein Trapezkünstler — bekanntlich ist diese hoch in den Kuppeln der großen Varietebühnen ausgeübte Kunst eine der schwierigsten unter allen, Menschen erreidibaren — hatte, zuerst nur aus dem Streben nadi Vervollkommnung, später auch aus tyrannisch gewordener Gewohnheit sein Leben derart eingerichtet, daß er, solange er im gleichen Unternehmen arbeitete, Tag und Nacht auf dem Trapez blieb. Allen seinen, übrigens sehr geringen Bedürfnissen wurde durch einander ablösende Diener entsprochen, welche unten wachten und alles, was oben benötigt wurde, in eigens konstruierten Gefäßen hinauf- und hinabzogen. Besondere Schwierigkeiten für die Umwelt ergaben sich aus dieser Lebensweise nicht; nur während der sonstigen Programm-Nummern war es ein wenig störend, daß er, wie sich nicht verbergen ließ, oben geblieben war und daß, trotzdem er sich in solchen Zeiten meist ruhig verhielt, hie und da ein Blick aus dem Publikum zu ihm abirrte. Doch verziehen ihm dies die Direktionen, weil er ein außerordentlicher, unersetzlicher Künstler war. Auch sah man natürlich ein, daß er nicht aus Mutwillen so lebte, und eigentlich nur so

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Typologie des innerfiktionalen

Bedeutungszusammenhangs

sich in dauernder Übung erhalten, nur so seine Kunst in ihrer Vollkommenheit bewahren konnte." 1 Was hier geschildert wird, spricht zu jemand, der einen Standpunkt innerhalb der Fiktion einnimmt, anders als zu jemand, der von außerfiktionalem Standpunkt zuhört. Wer von außerfiktionalem Standpunkt zuhört, vernimmt den Abstand der geschilderten Welt zur empirischen, denn wo gibt es einen Trapezkünstler, der Tag und N a c h t auf dem Trapez bleibt?! Von innerfiktionalem Standpunkt indessen indiziert uns dieselbe Einzelheit die Besessenheit dieses sonderbaren Artisten von seiner Kunst. Das natürliche Verstehen macht den innerfiktionalen Hinblick besinnungslos mit: es zeigt nur Verwunderung über das, was innerfiktional Verwunderung verdient. Die Einzelheiten eines literarischen Textes sprechen mithin auf zweierlei Weise zu uns: in einer offenen Sprache und in einer verschwiegenen Sprache. Die offene Sprache wird von innerfiktionalem Standpunkt verstanden, die verschwiegene Sprache nur von außerfiktionalem. Die offene Sprache sagt uns, wie die Gestalten der Fiktion ihre Welt verstehen, die verschwiegene Sprache gibt uns zu verstehen, wie wir zu verstehen haben. Die verschwiegene Sprache kennzeichnet den wirklichkeitsbestimmenden Konsensus.

§ 23 Die Leitbegriffe Teleologie, Kontingenz und Konjektur Die Welt des Gebildes spricht zu uns in einer offenen Sprache. Das natürliche Verstehen eignet sich das in dieser Sprache Gesagte zu. Solche Zueignung vollzieht die Auslegung nach, die die Welt des Gebildes durch die in ihr lebenden Personen erfahren hat. Das natürliche Verstehen spürt mithin einer Auslegung nach, die schon stattgefunden hat. Das natürliche Verstehen hat jedoch selber Entwurfcharakter: es legt beim Aufspüren von Auslegung selber vorweg aus. N u r so kann bereits vorliegende .Auslegung' verstanden werden. Wie Auslegung ,aussieht', hat uns Heidegger erläutert: Auslegung „gründet jeweils in einer Vorhabe. Sie bewegt sich als Verständniszueignung im verstehenden Sein zu einer schon verstandenen Bewandtnisganzheit. Die Zueignung des Verstandenen, aber noch Eingehüllten vollzieht die Enthüllung immer unter der Führung einer Hinsicht, die das fixiert, im Hinblick worauf das Verstandene ausgelegt werden soll. Die Auslegung gründet jeweils in einer Vorsicht, die das in Vorhabe Genommene auf eine bestimmte Auslegbarkeit hin ,anschneidet'. Das in der Vorhabe gehaltene und .vorsichtig' anvisierte Verstandene wird durch die Auslegung begreiflich. Die Auslegung kann die dem auszulegenden Seienden zugehörige Begrifflichkeit aus diesem selbst schöpfen oder aber in Begriffe zwängen, denen sich das Seiende gemäß seiner Seinsart widersetzt. Wie immer — die Auslegung hat sich je schon endgültig oder vorbehaltlich f ü r eine bestimmte Begrifflichkeit

1

Aus Kafkas Erzählsammlung „Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten" (Berlin 1924), jetzt in: Franz Kafka, Erzählungen, hrsg. von Max Brod (Frankfurt am Main 1965) S.241.

Die zweifache Funktion der Einzelheiten

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entschieden; sie gründet in einem Vorgriff." U n d weiter heißt es: „Was im verstehenden Erschließen artikulierbar ist, nennen wir Sinn. Der Begriff des Sinnes u m f a ß t das formale Gerüst dessen, was notwendig zu dem gehört, was verstehende Auslegung artikuliert. Sinn ist das durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs, aus dem her etwas als etwas verständlich wird."2 — Es gilt also festzuhalten: aus der offenen Sprache der Einzelheiten konstituiert sich eine Sinnerwartung, die dann durch den Fortgang der Lektüre bestätigt, korrigiert oder vollständig verlagert wird. Wichtig zu sehen ist, daß alle Sinnerwartung teleologisch strukturiert ist. Das jeweils bereits Gesehene, vor dem Blick Befindliche soll als Gesamt Ausweis eines bestimmten ,Entwurfs' sein und damit sinnvoll werden. Im teleologischen Erzählen wird diese ursprüngliche Struktur der Sinnerwartung eingelöst. Alle .Einzelheiten', die zunächst aufgehäuft werden, erhalten auf dem Boden einer Bewandtnisganzheit, auf den der Leser vom Autor gestellt wird, eine feste und sichtbare Bedeutung. Hier ist zu bemerken, daß, wer diese Bedeutungen erfaßt, das Werk nicht in seinem fiktionstranszendenten Bereich versteht, sondern nur seine formelle Schlüssigkeit in den Griff nimmt. Musterbeispiel des teleologischen Erzählens ist der klassische Kriminalroman, der, wie jeder weiß, von Edgar Allan Poes drei Kriminalerzählungen seinen Ausgang nimmt (The Murders in the Rue Morgue; The Mystery of Marie Rog£t; The Purloined Letter). Neben Poe, der die Gattung mit dem ersten Ansdilag zum Gipfel führte, müssen als würdige Vertreter der Z u n f t genannt werden: Arthur Conan Doyle und Agatha Christie. Bekanntlich hat Ernst Bloch als Urbild des Detektivischen den „König ö d i p u s " des Sophokles n a m h a f t gemacht. 3 U m was es geht, wird durch die Konstruktion solcher Ahnenschaft durchaus deutlich: ein im Hintergrund lauernder ,Sinn' wird auf Umwegen, die selbst jeweils sich anbietende Sinnerwartungen sind, plötzlich eingelöst und läßt alles, was in den Blick kam, .sinnvoll' werden. In äußerstem Gegensatz zu solchem Erzählen, das die teleologische Struktur jeglicher Sinnerwartung bestätigt, steht das kontingente Erzählen. Hier zeigt sich kein ,Sinn', besser: die auftauchenden Sinnerwartungen werden nicht eingelöst. Das natürliche Verstehen wird gegenüber soldier Welt kopflos, es weiß nicht, „was es von dem Ganzen halten soll". Meist wird dann, um dem Gelesenen doch irgendetwas abzugewinnen, gesagt: so sei das Leben, oder: hier werde eine Stimmung geschildert. Von formeller Schlüssigkeit kann keine Rede

2

3

Heidegger: Sein und Zeit (§ 32). Es mag nicht überflüssig sein, ausdrücklich hervorzuheben, daß Sinn als das Woraufhin des Entwurfs, der den einzelnen Bedeutungen und ihrem Zusammenhang vorausgeht, und Bewandtnisganzheit streng auseinanderzuhalten sind. Der Bedeutungszusammenhang setzt eine bestimmte Bewandtnisganzheit voraus. Verstanden wird, streng genommen, niemals der Sinn, sondern stets .etwas als etwas', d. h. die Bedeutung einer Einzelheit in einem Bedeutungszusammenhang, dem das Woraufhin des Entwurfs unausgesprochen vorausgeht. Vgl. Ernst Bloch: „Philosophische Ansicht des Detektivromans", in: ders., Verfremdungen I (Frankfurt a. M. 1968), S. 37—64.

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Typologie des innerfiktionalen

Bedeutungszusammenhangs

sein. Die meisten der späten Erzählungen Anton Cechovs sind Beispiele für das kontingente Erzählen. Auch der „Ulysses" des James Joyce ist hier zu nennen. Keine Bewandtnisganzheit gelangt zu Herrschaft, alles ist in gleichem Maße erzählwürdig. Anfang und Ende des Erzählens lassen sich von innerfiktionalem Standpunkt nicht begründen. Zwischen dem teleologischen Erzählen und dem kontingenten steht das konjekturale. Hier kämpfen verschiedene Bewandtnisganzheiten um die Herrschaft. Präziser ausgedrückt: eine bestimmte Bewandtnisganzheit sucht sich durchzusetzen, ein bestimmter ,Sinn' leuchtet auf und bleibt Konjektur. Zur Definition des konjekturalen Erzählens gehört, daß nicht auf dem Boden ein und derselben Bewandtnisganzheit verschiedene Möglichkeiten von ,Sinn' zur Debatte stehen (etwa: war X der Mörder oder Y?), sondern: daß möglicherweise die Bewandtnisganzheit, aus der her sich der ,Sinn' zeigt, gar nicht zuständig ist. Beispiele für konjekturales Erzählen sind Michel Butors „Zeitplan" (L'emploi du temps; — war es überhaupt Mord?), Faulkners „Absalom, Absalom!" (Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen?), Dostoevskijs „Die Wirtin" (Chozjajka; — Halluzination eines Fieberkranken oder Wirklichkeit?). Beim konjekturalen Erzählen ist die Bewandtnisganzheit, auf deren Boden sich der ,Sinn' zeigt, von dem her alles, was an ,Einzelheiten' da ist, seinen Ort angewiesen bekäme, ständig — und zwar über das Ende des Textes hinaus — in der Bedrohnis, umzuschlagen, durch eine andere ersetzt zu werden. Ein Musterbeispiel für das Umschlagen einer Bewandtnisganzheit in eine andere findet sich in Herman Melvilles Erzählung „Benito Cereno" (aus den „Piazza Tales"). Der Umschlag geschieht vom Geläufigen und Harmlosen ins Exzeptionelle und Gefährliche und zwar endgültig, so daß das Erzählen zu einem teleologischen wird. Die ,Einzelheiten', aus denen sich ergibt, daß sich Benito Cerenos Schiff, die „San Dominick", längst in den Händen der mitgeführten Neger, die den Weg in die Sklaverei antreten sollten, befindet, formieren sich zunächst nur im Hof des Mitwahrgenommenen zur tatsächlichen Bewandtnisganzheit, die dann für Captain Delano und für uns, die Leser, ruckartig ausdrücklich wird. Es gilt zu sehen, daß in „Benito Cereno" der Ansatz zu einem genuin konjekturalen Erzählen gegeben ist. Die leitenden Begriffe Teleologie, Kontingenz und Konjektur kennzeichnen jeweils einen Grundtypus des innerfiktionalen Bedeutungszusammenhangs. Jeder dieser Grundtypen sei hier an einem Beispiel erörtert.

ZWEITER ABSCHNITT DIE GRUNDTYPEN DES INNERFIKTIONALEN BEDEUTUNGSZUSAMMENHANGS § 24 Teleologie. Edgar Allan Poe: „Die Morde in der Rue Morgue" Das Worumwillen des Gebildes „Die Morde in der Rue Morgue" ist das Entsetzen angesichts des zutiefst und unerklärlich Schrecklichen. Der Titel nennt das Worüber des Entsetzens. Die anthropologische Prämisse impliziert, daß nichts unerforschlich ist, daß es ein absolutes Rätsel nicht gibt, daß der menschliche Geist in das Dunkel auch des scheinbar Unerklärlichen Licht bringen kann, wenn er nur auf rechte Weise in Anschlag gebracht wird. Man beachte: die anthropologische Prämisse ist hier derart, daß sie dem genuinen Entsetzen angesichts des unerklärlich Schrecklichen im Grunde gar keinen Raum gewährt. Man könnte sagen: die leitende Befindlichkeit wird durch die anthropologische Prämisse gleichsam weggeleugnet. Die Frage, mit der dem Schrecklichen ,begegnet' wird, lautet: Wer ist der Täter? Durch diese Frage gelangt ein ruhiges theoretisches Hinsehen zur Herrschaft, dem sich die Unheimlichkeit, die aus dem Anblick der Mordstätte spricht, nicht eröffnet. Poe erzählt gleichsam so, als verstünde er gar nicht, worum es geht. Durch die gespielte Abkehr von der Atmosphäre des Grauens, die aus den Informationen des sachlichen Reports nur zögernd hervordringt, gelangt dieses aber erst wirklich an die Macht. Die anthropologische Prämisse mündet hier in einen bestimmten Typus des innerfiktionalen Bedeutungszusammenhangs. Die Erzählung beginnt mit einer theoretischen Erörterung 4 . Es geht darum, auf welche Weise man in einer Kampfsituation, where mind struggles with mind, die Oberhand behalten kann. Die Erörterung gipfelt in der Unterscheidung zwischen analytical power und simple ingenuity. N u r die Fähigkeit, auf rechte Weise zu analysieren, garantiert den Sieg in jedem Fall. Es genügt nicht, riditig zu schließen; die Kunst des richtigen Folgerns wird zu einer substantiellen nur dann, wenn das richtige Beobachten vorausging. „The necessary knowledge is that of what to observe." Erst so wird der Boden gewonnen, auf dem das richtige Folgern sinnvoll wird. Nach diesen Überlegungen heißt es dann: „The narrative which follows will appear to the reader somewhat in the light of a commentary upon the propositions just advanced." Man beachte, daß nicht die theoretischen Überlegungen als Kommentar zur nach4

Hier zitiert nach der Ausgabe: The Complete Tales and Poems of Edgar Allan Poe, hrsg. von Hervey Allen (New York, Random House, 1938 u. ö., The Modern Library). Darin: The Murders in the Rue Morgue, S. 141—168.

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Typologie

des innerfiktionalen

Bedeutungszusammenhangs

folgenden Geschichte, zum wirklichen Geschehnis gegeben werden, sondern das sich-einstellende Wirkliche als Kommentar zur .Theorie'. Das Vorausgeschicktsein der theoretischen Erörterung ist bereits Folge der anthropologischen Prämisse. Es sei jetzt der Kern der Erzählung untersucht. Er beginnt mit dem Satz: ,Not long after this, we were looking over an evening edition of the Gazette des Tribtmatix, when the following paragraphs arrested our attention" (147). — Es folgt die wörtliche Anführung des Zeitungsberichts über die Ermordung der Madame L'Espanaye und ihrer Tochter Mademoiselle Camille L'Espanaye. Der Bericht schließt mit den Worten: „To this horrible mystery there is not as yet, we believe, the slightest clew." Direkt angeschlossen wird der Zeitungsbericht des darauffolgenden Tages, mit dem einleitenden Satz: „The next day's paper had these additional particulars." Dieser Bericht ist länger als der erste und referiert eine ganze Reihe von Zeugenaussagen. Noch am selben Tag erscheint in der Abendausgabe eine Ergänzung, des Inhalts, daß keine neuen Anhaltspunkte aufgetaucht seien und man Adophe Le Bon, den Bankangestellten, als mutmaßlichen Täter festgenommen habe. Wie sieht das Verstehen des Lesers bis zu diesem Punkt der Erzählung aus? Erzähler, Dupin, Zeitungsberichte haben dasselbe Frageziel: Wer hat die Morde in der Rue Morgue verübt? und: Auf welche Weise sind sie verübt worden? Das Fundament der Bewandtnisganzheit steht fest: es wurde gemordet. Was allerdings zum Zeichen genommen werden soll, um die Aufklärung herbeizuführen, steht noch nicht fest. Der erste Zeitungsbericht ist ganz von dieser Unsicherheit geprägt. Alles ist Einzelheit, weil nichts verstanden wird. Der zweite Bericht sucht vergeblich einen Hintergrund zu schaffen, von dem aus sich der wahre Hergang der Geschehnisse in der Rue Morgue konstruieren läßt. Die Verhaftung Le Bons wird so zum Eingeständnis der Hilflosigkeit der Polizei angesichts der ,Fakten'. Poes Erzählen ist darauf gerichtet, zunächst das Unerklärliche zu beschwören und danach das Unerklärliche zum Erklärbaren abzubauen. Der Abbau zum Erklärbaren beginnt in dem Augenblick, wo C. Auguste Dupin sich des Falles annimmt. Die Grundlage seines Vorgehens tritt in folgender Äußerung zutage: „It is not too much to say that neither of us believe in praeternatural events" (156). Und deshalb wird nicht nach einer plausibleren Schlußfolgerung gesucht, sondern: die Fakten, auf Grund derer gefolgert werden soll, werden neu überprüft. Dupin sucht — zusammen mit dem Erzähler — die Mordstatt auf. Der Sinnentwurf Dupins ist zunächst privativer Art und führt zu erneuter Bestandsaufnahme. Aufgrund dieser zeigt sich nun genuiner ,Sinn'. Poe geht so vor, daß Dupin zunächst mit seinem Wissen zurückhält. Der Erzähler und wir, die Leser, sehen also vorerst nur, daß hier jemand ,Sinn' sieht, nicht aber diesen. Was unerheblich schien, erweist sich für den Sinnentwurf Dupins als erheblich, so der Umstand, daß die Sprache des offensichtlichen Täters von den befragten Zeugen jeweils als eine solche identifiziert wurde, die ihnen ungeläufig ist. Von grundsätzlicher Bedeutung ist hier Dupins Kommentar über sein Vorgehen: „I know not, what impression I may have made, so far, upon your own

Grundtypen des innerfiktionalen Bedeutungszusammenhangs

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understanding; but I do not hesitate to say that legitimate deductions even from this portion of the testimony — the portion respecting the gruff and shrill voices — are in themselves sufficient to engender a suspicion which should give direction to all farther progress in the investigation of the mystery. I said legitimate deductions'; but my meaning is not thus fully expressed. I designed to imply that the deductions are the sole proper ones, and that the suspicion arises inevitably from them as the single result. What the suspicion is, however, I will not say just yet. I merely wish you to bear in mind that, with myself, it was sufficiently forcible to give a definite form — a certain tendency — to my inquiries in the chamber" (156). — Dupin formuliert hier aus der Wahrheit der Welt des Gebildes heraus. Es gibt keine wirklichen Fakten ohne Sinn. Wer die wirklichen Fakten hat, hat audi den ,Sinn'. Es läßt sich also mit Sicherheit sagen, daß Dupins Sinn-,Entwurf der Wirklichkeit ,entspricht'. Dupins Verdacht ist bereits Wissen. Der Erzähler wird von Dupin schrittweise zur Einsicht in den wahren Hergang der Bluttat gebracht. Dies geschieht derart, daß Dupin darlegt, was ihm auffiel und dabei die Folgerung zurückhält. Der Leser bekommt so alles noch einmal erzählt, jetzt aber in der richtigen Akzentuierung: das Unerhebliche wird als unerheblich gekennzeichnet, das Maßgebliche als maßgeblich. Das Woraufhin des Entwurfs, aus dem heraus etwas als etwas verständlich wird, bestimmt ganz und gar die Entscheidung über das Erzählwürdige. Im ,Resümee' Dupins tritt die Spannung zwischen der leitenden Befindlichkeit, die in der Mordstatt nistet, und der anthropologischen Prämisse, die dem Grauen kein Hausrecht zubilligt, exemplarisch in Erscheinung. Besonders typisch ist die folgende Passage: „Keeping now steadily in mind the points to which I have drawn your attention — that peculiar voice, that unusual agility, and startling absence of motive in a murder so singularly atrocious as this — let us glance at the butchery itself. Here is a woman strangled to death by manual strength, and thrust up a chimney head downward. Ordinary assassins employ no such mode of murder as this. Least of all, do they thus dispose of the murdered. In the manner of thrusting the corpse up the chimney, you will admit that there was something excessively outré — something altogether irreconcilable with our common notions of human action, even when we suppose the actors the most depraved of men. Think, too, how great must have been that strength which could have thrust the body up such an aperture so forcibly that the united vigor of several persons was found barely sufficient to drag it down!" (160) — Und Dupin kommt zu dem Schluß: der .Täter' war ein Affe, ein Orang-Utan, der dem Matrosen eines Malteser Schiffs entlaufen war. Man beachte, daß mit dieser Aufdeckung die Geschichte noch nicht zu Ende ist. Dupins Sinnentwurf umgreift auch das Zukünftige: in der Orientierung am ,Gegen'-Geist (mind struggles with mind) wird die Reaktion des unseligen Affenbesitzers auf eine von Dupin formulierte Zeitungsannonce richtig vorhergesagt. Der Matrose erscheint in der Wohnung Dupins in der Annahme, seinen lohfarbenen Orang-Utan der Borneo-Spezies, den man ja, wie die Zeitungsberichte zeigten, mit den Geschehnissen in der Rue Morgue in keinerlei Verbindung brachte, gegen geringes Entgelt zurückzuerhalten. Und

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Bedeutungszusammenhangs

nun wird uns die Geschichte ein drittes Mal erzählt. Diesmal aus der Sicht eines entsetzten Augenzeugen. Was Dupin folgerte, findet hier höchste Bestätigung. Grundsätzlich sei vermerkt, daß Poe so die Analogie zwischen der objektiven Realität und dem auf rechte Weise Gedachten demonstriert. Wer auf rechte Weise denkt, zu dem kommt die Lösung ins Haus, er braucht ihr nicht nachzueilen. Der .Analytiker' (the analyst) ist Denker, und als solcher wird uns Auguste Dupin ja auch vorgestellt, nicht als Detektiv, wenngleich er dieser nur als jener erfolgreich sein kann. Das Prinzip des teleologischen Erzählens gelangt in Poes Kriminalerzählungen zu einer Aufgipfelung, wie sie exemplarischer nicht denkbar ist. Interessant ist dabei, was in den „Morden in der Rue Morgue" besonders hervortritt, daß der Täter nicht als sittliche Person ins Spiel kommt. Die Tat wird ausschließlich unter dem Aspekt der Originalität des Vorgehens gesehen. Der Täter ist ein Affe, d. h. ein Mechanismus, der zufällig in Richtung ,Mord' in Gang kam. Das Un-Menschliche des Täters fungiert gleichsam als undiskutiertes Apriori; was für den Kriminalroman als Gattung typisch ist, scheint hier souverän ins Bild gehoben. Die Reinhaltung der Welt des Gebildes vom Unerklärbaren bedingt, daß sämtliche Einzelheiten restlos einem Sinn sich fügen; nichts ist, was nicht ,sinnvoll' wäre.

§ 25 Kontingenz. Anton Cechov: „Meine Frau" Das Worumwillen des Gebildes „Meine F r a u " (2ena) ist die Gleichgültigkeit, die uns als ,fahle Ungestimmtheit' (Heidegger) überfällt und scharf zu trennen ist vom Gleichmut. Wer im Sinne der Ungestimmtheit gleichgültig ist, überläßt sich dem, was je der Tag bringt u n d nimmt dabei doch alles mit. Der Gleichgültige ist also gar nicht unbedingt ein Tatenloser. Gleichgültigkeit kann als eine sich überstürzende Geschäftigkeit sich äußern. Cechov bringt in der hier zu betrachtenden Erzählung solche Ungestimmtheit zur Darstellung. Dabei ist zu beachten, d a ß die in Anschlag gebrachte anthropologische P r ä misse die als Worumwillen gestaltete Befindlichkeit bestätigt. In Poes „Die Morde in der Rue Morgue" hingegen kam eine Befindlidikeit zur Herrschaft, die durch die anthropologische Prämisse gleichsam zertrümmert wurde. Cechov gestaltet eine wohlerwogene Phalanx solcher Realitäten, die eine gleichgültige H a l t u n g nicht zuzulassen scheinen. Pavel Asorin, die das W o r u m willen tragende Hauptperson, begegnet den verschiedensten Möglichkeiten des Engagements. All diese Möglichkeiten werden jedoch vom trüben Firnis der Sinnlosigkeit überzogen. Der Titel der Erzählung weist auf die stärkste Gegenk r a f t zur Gleichgültigkeit: den sexuellen Wunsch. Die Erzählung setzt ein mit dem Satz: „Ich erhielt folgenden Brief . . . " . Solcher A u f t a k t kündigt Ungewöhnliches an. Das darauf in extenso präsentierte Schreiben züchtet ganz bestimmte Erwartungen, entwirft die Grundlage f ü r ein gleichsam kriminalistisches' Geschehen, f ü r das jede der gelieferten oder noch impliziten Einzelheiten von Bedeutung sein kann. Vorweg sei fest-

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gestellt, daß nichts von dem, was das Schreiben in Aussicht stellt, auch nur im geringsten eingelöst wird, ja, sogar der objektive Ausgangspunkt, die Notlage der Bauern, will schließlich wie eine subjektivistische Projektion erscheinen. Betrachten wir diesen sonderbaren Brief: „Werter Herr Pavel Andreevic! Nicht weit von Ihnen, im D o r f Pestrovo, geschehen traurige Dinge, von denen Ihnen zu berichten ich für meine Pflicht halte. Alle Bauern dieses Dorfs haben sich, nachdem sie ihre Hütten und ihre sämtliche Habe verkauften, zur Übersiedlung ins Gouvernement Tomsk aufgemacht, sind aber nicht bis dort gekommen und kehrten wieder um. Hier, das ist klar, besitzen sie nun nichts mehr, denn alles ist in fremde Hände übergegangen; an die drei bis vier Familien hausen in einer Hütte, so daß auf jede Hütte nicht weniger als 15 Personen beiderlei Geschlechts kommen, Kleinkinder nicht mitgerechnet, und es ist abzusehen, daß sie bald nichts mehr zu essen haben, der Hunger herrscht, wer keinen Typhus hat, den plagt das Fleckfieber; alle sind regelrecht krank. Die Heilgehilfin sagt: da gehst du in eine Hütte, und was siehst du? Kranke nur und Fiebernde, einer lacht laut, der andere will die Wände hoch; in den Hütten stinkt es, kein Wasser da, niemand zum Holen, die ganze Nahrung eine verfrorene Kartoffel. Die Heilgehilfin und Sobol (unser Zemstvo-Arzt), was können die schon machen, wenn Brot, was sie nicht haben, nötiger ist als Medikamente? Die zuständige Behörde lehnt jegliche Hilfe ab, weil ja alle schon abgemeldet sind und nun zum Gouvernement Tomsk gehören, auch fehlt es ja an Geld. Indem ich Ihnen in Kenntnis Ihrer Humanität dies mitteile, bitte ich Sie, Ihre sofortige Hilfe nicht zu verweigern. Jemand, der es gut mit Ihnen meint." 5 Man erwartet nach einem solchen Anfang eine teleologische Fortführung, ein Aufspüren des Briefschreibers etwa oder eine Prüfung der Informationen. Nichts dergleichen erfolgt. Der Brief entschwindet der Aufmerksamkeit Asorins, gleichwohl wird er in aller Ausführlichkeit zitiert. Was spricht aus einer solch .überflüssigen' Genauigkeit? Die Frage, was es mit diesem Brief auf sich hat, wird nur zufällig wieder akut, als Asorin zum Bahnhof fährt, um endlich zu verreisen und die Öde der Provinz hinter sich zu lassen. Der Weg zum Bahnhof führt über das Dorf Pestrovo. Formulierungen des Briefes schießen durch Asorins Hirn. Doch nichts, was er sieht, bestätigt die Schilderung des anonymen Briefschreibers. N o t und Unglück scheinen in Pestrovo so gut wie überwunden. Trotzdem quält Asorin das Gewissen. E r denkt an sein Reiseziel: Petersburg. E r geht auf den Bahnsteig, bleibt ohne eine bestimmte Absicht an einem Pumpenhaus stehen. E r faßt plötzlich den Entschluß, nicht zu verreisen, und gibt seinem Kutscher Anweisung, ihn zu seinem Bekannten Bragin zu bringen, das sind zwar 28 Werst, aber was macht das schon. — Diese Szene auf dem Bahnsteig verdient höchste Beachtung. Es kommt hier gleichsam zu einem als-freien 5

Zitiert nach der Ausgabe: Anton Cediov, Sobranie 1960—63); darin tena, Bd. VII, S. 5—50.

socineni} v 12 tt.

(Moskau

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Erfassen der Außenwelt. Das als-freie Erfassen ist ein Nur-noch-vor-sich-haben von etwas. Die Dinge der Umwelt werden nur noch angestarrt und nicht mehr verstanden. Die Umwelt verschwindet. Gewiß, Asorin konstatiert selber als Erzählender, daß er vor einem Pumpenhaus stehenbleibe. Asorin ,weiß' also: dies ist ein Pumpenhaus; dennoch kommt dieses nicht als Pumpenhaus ins Spiel, sondern als ein beliebiges Ding, das zufällig auf dem Bahnsteig vorfindlich ist. Asorin ist, wie man so sagt, .geistesabwesend'. Nicht jedoch derart, als zeige sich irgendwo ein ,Sinn', dem er nachzueilen hätte und über dem er, konzentriert wie ein Detektiv, seine unmittelbare Umwelt vergäße; vielmehr findet gar keine Absorption durch irgendeinen Inhalt statt. Was Asorin beim Anstarren des Pumpenhauses ,denkt', wird im Grunde genauso angestarrt wie dieses. Das Bewußtsein empfindet inmitten der Dinge nur seine eigene Anwesenheit. Was es mit den Dingen für eine Bewandtnis hat, ist nichts Wissenswertes. Es gilt nun einzusehen, daß Cechov durch die Befindlichkeit der Gleichgültigkeit, in der Asorin steht, diesen nicht als Psychopathen, auch nicht als absonderlich oder auch nur als irgendwie herausgehoben kennzeichnet. Dazu hätte die Möglichkeit, ein wesentliches Leben zu führen, konkret gestaltet werden müssen und Asorin hätte in seiner grundsätzlichen Interesselosigkeit als einer dazustehen, der an dem, was Interesse verdient, achtlos vorbeigeht. Es hätte mithin über den Kopf Asorins hinweg uns, den Lesern, eine Lebensmöglichkeit eröffnet werden müssen, gegen die Asorin aufgrund seiner Persönlidikeitsstruktur blind bliebe. Cechovs anthropologische Prämisse indessen schließt das Aufgehen in sinnvoller Tätigkeit aus. Die Personen, mit denen Asorin zusammentrifft, demonstrieren dies. Sie alle erleben das Vakuum der Sinnlosigkeit auch im sinnvollsten Tun. Für den vom Text ausgelösten und gelenkten Vorgang des Verstehens hat solche Grundüberzeugung von der SinnFerne des menschlichen Tuns zur Folge, daß die sich zeigenden Sinnerwartungen nicht eingelöst werden. Was als Einzelheit auffällt, erfährt keine Entwicklung auf einen ,Sinnc hin. Einzelheiten kehren grundlos wieder, so die Hinweise auf das Spannungsverhältnis zwischen Asorin und Natal'ja Gavrilovna, seiner Frau, so die Verweise auf die Armut der Bauern. Asorin erzählt uns das, was ihm durch den Kopf geht. Sein Blick selektiert nicht. Aber das wissen wir nicht, wenn wir die Erzählung das erstemal lesen. Unser Blick sucht ständig nach einem Sinn, in den sich alles auflöst. Das natürliche Verstehen kann hier nicht zur Ruhe kommen, es wird ständig enttäuscht. Das Bewußtsein Asorins verharrt, richtungslos und ein Bündel von Trieben, schwebend gleichsam in einem Lebenselement, das nur solchen Zustand zuläßt. Die gesellschaftspolitische Problematik ist nur der Nährboden für ein Engagement, das, von der Gemeinschaft allerdings rückhaltslos gebilligt, sich selber wie jedes andere als Ausflucht vor der toten Wüste einer nur sich selbst bestätigenden Bewußtheit weiß. Cechov hat, dies muß verstanden werden, zur Konkretion der leitenden Befindlichkeit der ,fahlen Ungestimmtheit' deren zwei ärgste Feinde gestaltet: den dezidierten Altruismus sozialer Verantwor-

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tung und den Egoismus des Sexualtriebs. Die Emphase liegt allerdings, was nicht nur der Titel anzeigt, auf diesem. Auf dem Boden der anthropologischen Prämisse konnten indessen auch diese starken Gegenstimmen keine sinnstiftende Kraft entfalten. Für den innerfiktionalen Verweisungszusammenhang hatte dies zur Folge, daß die Problemformulierung gleichsam unscharf blieb: Asorins Entschlußlosigkeit bleibt grundlos, hat aber gerade darin ihr Fundament in der vorausgesetzten Sinnlosigkeit des Wirklichen. Der Sprung ins soziale Engagement, mit dem die Erzählung schließt, ist wesensverwandt mit dem Nichtstun. So bleibt als einziger fühlbarer Halt Asorins blind-magnetisdie Kettung an das Objekt seiner Lust: an Natal'ja, seine Frau. In solcher Welt fehlt jegliches Ereignis. Alles ist in gleicher Weise wichtig und damit auch unwichtig. Alles bleibt Einzelheit, weil nichts zu ,verstehen' ist. Asorins .Rückkehr' zur Ehefrau ist nicht die dezidierte Hinwendung zum Partner, sondern ein träges Zurücksinken in den Bannkreis einer verweigerten Triebbefriedigung. Die Sinnversprechungen des Textes, die überall zu lauern scheinen, erweisen sich als Manifestation einer unabschaffbaren Kontingenz. § 26 Konjektur. Fedor Dostoevskij: „Die Wirtin" Das Worumwillen des Gebildes „Die Wirtin" (Chozjajka) ist die Befindlichkeit dessen, der im Banne einer sexuellen Wunschvorstellung steht und an deren Realisierung gehindert wird. Träger der Wunschvorstellung ist ein junger Mann. Das begehrte Objekt ist eine junge Frau. Das Begehren wird durchkreuzt von einem älteren Mann, der Macht über die junge Frau hat. Die junge Frau als das begehrte und positiv reagierende Objekt tritt gleichzeitig mit dem älteren Mann, dem Hindernis, in den Blick des jungen Mannes, so daß seine Aussicht auf Erfolg und die Möglichkeit einer Durchkreuzung ständig zusammen gegenwärtig sind. Die Entscheidung darüber, was es mit dem älteren Mann, der den Namen Murin trägt, für eine Bewandtnis hat, ist eine Entscheidung über die anthropologische Prämisse. Der Ausgang der Geschichte, das ,Schicksal' der tragenden Situation wird von Murin diktiert. Eine Entscheidung über Murins Funktion wird indessen von Dostoevskij unmöglich gemacht. Bei der Klärung dessen, was in der Erzählung tatsächlich geschieht, geraten wir immer wieder ins Bodenlose. Gleichwohl sucht sich ein ganz bestimmter Sinn durchzusetzen. Es sei zunächst skizziert, wie dieser Sinn aussieht, danach sei gezeigt, auf welche Weise er in Frage gestellt wird. Der Sinn, der sich durchzusetzen sucht, bleibt Konjektur. Es stehen sich gegenüber: die sensible Zudringlichkeit Ordynovs, des jungen Mannes, und die jungfräulich-laszive Willfährigkeit Katerinas, der jungen Frau. Ihre Entsprechung wird vereitelt durch die problembewußte Einschüchterungsstrategie Murins. Der Sinn, der sich durchzusetzen sucht, ist: daß hier ein willensstarker älterer Rivale den willensschwachen jüngeren abschüttelt und damit auch gegen die innerste Neigung der begehrten Frau handelt. Mit

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solcher Deutung wird einmal impliziert, daß es sich bei sämtlichen präsentierten Szenen um wirkliche Geschehnisse handelt, zum anderen, daß das Vorgehen Murins motiviert ist als Abwehr eines Rivalen um die libidinöse Gunst Katerinas. Dieser Sinn, der sich als ,fester' durchzusetzen sucht, erhält indessen zusätzlich eine Konjektur bezüglich der objektiven Beziehung zwischen Murin und Katerina. Murin trägt sowohl die Züge eines Vaters wie die eines Geliebten. Aus solcher Kontamination definiert sich überhaupt erst Murins Macht über Katerina. Das Image des tyrannischen Vaters und das des willensstarken Geliebten in eine Nichtunterscheidung zu bringen, ist aber gerade die eindeutige Implikation der hier sich abzeichnenden anthropologischen Prämisse, die eine Wesensbestimmung der Beziehung der Geschlechter zueinander enthält. Katerina wird durch jenen Partner gebannt, der wie ein tyrannischer Vater auftritt und beim Auftauchen eines ernstlichen Rivalen diesen wie ein Über-Ich in Schach hält. Es sei nun in den Blick gerückt, auf welche Weise Dostoevskij die Verbindlichkeit solcher Sinngebung torpediert. Eine solche Torpedierung bedeutet nicht, daß die im Ganzen sich zeigende Sinnfiguration tatsächlich zerstört würde. Es wird lediglich die Frage ins Spiel gebracht, ob nicht Ordynov sich die Grundlage für solche Auslegung nur einbildet. Bejaht man dies, so wird Ordynovs ,Erlebnis' zum Ausweis einer bestimmten Subjektivität, das heißt: was .geschieht', spiegelt nur die Innerlichkeit Ordynovs wider, seine Inklination zu bestimmten Entwürfen von Bedeutung. In diesem Falle wäre Ordynov nicht mit dem wirklichen Lauf der Dinge in Kontakt gekommen. — Es gilt also zu klären: Spricht sich in dem, was Ordynov ,sieht', die objektive Wirklichkeit der Fiktion aus oder die Wunschlandschaft eines fieberkranken jungen Mannes, der die Welt nicht kennt. D a ß Ordynov die Welt nicht kennt, wird nachdrücklich gesagt." Ordynov wird uns als Student geschildert, der zurückgezogen lebt und sich mit geradezu krankhaftem Eifer der Wissenschaft widmet. Im herbstlichen Petersburg begegnet er einer jungen Frau, die sich in Begleitung eines hünenhaften älteren Mannes befindet. Ordynov, der infolge des Wohnungswechsels seiner Wirtin ohne Obdach ist und von Einsamkeitsgefühlen heimgesucht wird, die sich in 6

Die Wissenschaft, mit der sich Ordynov beschäftigt, wird nur ganz am Rande bezeichnet (Kirchengeschichte). Die Emphase liegt auf der Intensität, mit der sich hier ein junger Mann der Wissenschaft (oft nur ,nauka') verschreibt. Es wird angedeutet, daß Ordynov nach einem System suche. Die Beiläufigkeit, mit der die Substanz seiner Forschungen und Grübeleien berührt wird, zeigt deutlich, daß es Dostoevskij hauptsächlich darum ging, die asketische Haltung seines Helden herauszuarbeiten, die sinnlichkeitsfremde Orientiertheit seines Lebens, wodurch der wirksame Hintergrund für das Erscheinen Katerinas geschaffen wird. Dostoevskij greift hier das Thema vom fahrenden Scholaren und der verführerischen jungen Frau auf, das Gogol' in seiner Erzählung „Der Wij" (Vij) behandelt. Es scheint mir wichtig, Dostoevskijs Erzählung in die Nähe des „Wij" zu rücken. Diese Nähe wurde bislang, soweit ich sehe, zugunsten der motivischen Parallelen zu Gogol's „Schrecklicher Rache" (Strainaja mest') übersehen. — Dostoevskij hat das Thema erneut in seinem Roman „Der Idiot" zentral behandelt.

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ein undeutliches Verlangen, in den Strom des Lebens einzutauchen, umsetzen, sieht sich von der, mit ihm gleichaltrigen, jungen Frau sofort gefesselt. Er folgt schließlich dem seltsamen Paar, das im Hinterhof eines armseligen Mietshauses verschwindet. Die Reaktion des älteren Mannes auf das plötzliche Auftauchen und die aufsässige Gegenwart des jungen verrät oder scheint sexuelles Engagement zu verraten. Ordynov steht plötzlich vor der Wohnungstür des sonderbaren Paares und fragt aufs Geratewohl, ob man ein Zimmer für ihn habe, Katerina, die junge Frau, bejaht; und Murin, ihr Begleiter, fügt sich unter schlecht verhohlenen Haßgefühlen. Noch am selben Abend bekommt Ordynov in seinem neuen Zimmer, das nur durch eine provisorische Zwischenwand von der Schlafstätte seiner Vermieter getrennt ist, Besuch von Katerina, die sich außerordentlich zutraulich zeigt und ihm plötzlich, als sie durch unwilliges Klopfen Murins zurückgebeten wird, einen heißen Kuß gibt. Ordynov schläft ein und erwacht mitten in der Nacht. Durch einen Spalt in der Wand sieht er, wie Katerina bei schwachem Kerzenlicht mit kindlicher Geste Murin streichelt. Ordynov steht auf, stürmt, von Eifersucht gepackt, ins Zimmer und sieht Murin mit geladenem Gewehr auf ihn anlegen. Der Schuß trifft nicht, und Murin bekommt einen epileptischen Anfall. In der nächsten Nacht kommt Katerina erneut zu Ordynov. Sie erzählt ihm ihr Schicksal. Aus ihrem Bericht geht hervor, daß sie die Situation, in der sie sich jetzt mit Ordynov befindet, bereits einmal durchgemacht hat: ihr junger Geliebter Alesa wurde von ihr, da sie im Banne Murins stand, in den Tod gejagt. Ordynov sieht die Parallelität deutlich und nähert sich Murin, um ihn zu töten. Er wird jedoch von der Dämonie des Schlafenden gebannt und verläßt sein sonderbares Quartier. Als sich Ordynov, von schwerer Krankheit genesen, nach Katerina und Murin erkundigt, muß er hören, daß beide Petersburg auf Nimmerwiedersehen verlassen haben. Unbekannt wohin. Es gilt einzusehen, daß Dostoevskij in diesem Werk ganz bewußt mit dem Leser spielt. Wer hier versucht, Ordnung zu stiften, verkennt den Typus des innerfiktionalen Bedeutungszusammenhangs, der auf Konjektur angelegt ist. Wir haben es mit mindestens vier verschiedenen Möglichkeiten von Bedeutungsganzheit zu tun: jede hat zur Grundlage eine andere Prämisse bezüglich des Charakters der dargestellten Geschehnisse. Wir können (1) annehmen, daß alles, was Ordynov erlebt und von Katerina erfährt, Wirklichkeit ist, die allerdings infolge seines Fieberzustands mehr oder weniger überzeichnet erscheint und sich gleichsam in bengalischer Beleuchtung darbietet. Wir können aber auch (2) annehmen, daß Ordynovs Erlebnisse auf entscheidende Strecken die Halluzinationen eines Fieberkranken sind, dessen Einbildungskraft sich an bestimmten Ausgangspunkten des Wirklichen festmacht und dann ins Gewünschte wie auch ins Gefürchtete überschießt. Wir können des weiteren (3) annehmen, daß die beiden von Ordynov beobachteten und erlebten Personen, ohne daß dieser es realisierte, geistesgestört sind und daß deshalb deren Benehmen nicht so aufgefaßt werden darf, als seien sie normal. Und schließlich können wir noch (4) annehmen, daß Ordynov in Murin auf das Mitglied einer Schmugglerbande gestoßen ist, das sich, zusammen mit seiner

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möglicherweise zufälligen Begleiterin in Geldnot befindet, auf Zimmervermietung angewiesen ist und in dem ausgemergelten Studenten plötzlich einen Verräter wittert. Jede der aufgeführten Deutungsmöglichkeiten hat ein objektives Fundament im Text, und doch geht keine völlig auf. Immer bleiben Einzelheiten übrig, die Ausgangspunkt f ü r einen anderen Sinnzusammenhang werden können, aus dem heraus dann plötzlich wieder ganz andere Einzelheiten auf nicht-integrierbare Realitäten hinweisen. Es lassen sich, wenn man will, neben den vier genannten Deutungsmöglichkeiten noch weitere finden. Unberücksichtigt blieb beispielsweise, daß sich Ordynovs Umzug in Katerinas Quartier bereits als Beginn eines Fiebertraums auffassen läßt, dessen Inhalt sich ihm aufgrund seines tatsächlichen Zimmerwirts, eines biederen Deutschen mit einer Tochter namens Tinchen, aufdrängt. Die uninteressante Wirklichkeit wäre dann in Ordynovs Phantasie zur interessanten Wunschlandschaft verändert worden. Es geht indessen hier nicht um die volle Auslotung des Textes, sondern um die Demonstration von konjekturalem Erzählen. Als wichtigsten P u n k t gilt es hervorzuheben, daß unser Verstehen sich offensichtlich auf eine Deutung festzulegen sucht, die aber dann plötzlich vom Text her angefochten wird. Nicht aber halten wir verschiedene Deutungen gleichzeitig und mit gleichem Recht parat. Dostoevskijs konjekturales Erzählen stiftet also eine ganz spezielle Unruhe, die durch ein Hineilen zu einer bestimmten Deutung gekennzeichnet ist, deren Fundament dann plötzlich absinkt. Man beachte, daß bei konjekturalem Erzählen die endgültige Bestimmung der anthropologischen Prämisse verhindert wird. Denn diese ist, um eindeutig erfaßbar zu sein, auf einen festen innerfiktionalen Bedeutungszusammenhang angewiesen oder auf dessen Verflüchtigung zur Kontingenz. So stellen in unserem Beispiel insbesondere die dritte und vierte Deutungsmöglichkeit eine Liebesbeziehung, welcher A r t auch immer, zwischen Murin und Katerina in Frage. Das heißt: möglicherweise eignet sich O r d y n o v die tatsächliche Wirklichkeit falsch an, weil er seine Sinnerwartung gleichsam autoritär über die Dinge der Außenwelt legt. Murin könnte sich beispielsweise wegen seiner Fallsucht einer ebenfalls kranken Person angeschlossen haben, so daß die Vertreibung Ordynovs aufgrund einer Motivation geschähe, die uns überhaupt nicht mitgeteilt wird und nur innerhalb der unkommunizierbaren Wahnwelt Murins ,verständlich' ist. In der vierten Deutungsmöglichkeit wird die Vertreibung Ordynovs vollkommen versachlicht: man hält ihn f ü r einen Denunzianten, so daß seine Beziehung zu Katerina f ü r das Geschehen völlig unmaßgeblich ist. Gewiß, es zeigt sich, daß nicht alle von Dostoevskij geweckten Sinnfigurationen angesichts des Textes die gleiche Evokationskraft aufweisen. Vielmehr kehren wir von solchen Durchblicken immer wieder zu der hauptsächlichen Sinngebung zurück, in der sich die zentrale Befindlichkeit ausdrückt. Die nachdrücklichste und allernächste Bedrohung erhält alle Sinngebung hier durch die Möglichkeit, daß O r d y n o v auf gewisse Strecken seinen Halluzinationen erliegt. Den Versuch einer solchen realistischen Auflösung hat Alfred L. Böhm

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unternommen. 7 Die Schlüsselszenen zwischen Katerina, Ordynov und Murin werden als Halluzinationen Ordynovs aufgefaßt. N . S. Trubetzkoy hat diesen Deutungsversuch zurückgewiesen. 8 Trubetzkoy plädiert dafür, zwei Lesarten: die .prosaisch-realistische' und die ,poetisch-phantastische' als durch den Wortlaut des Textes berechtigte anzuerkennen. — Mit einem solchen Pluralismus ist indessen für die Problemformulierung wenig gewonnen. Es geht um die Einsicht, daß nicht vielerlei Sinn sidi anbietet und dann unvereinbar nebeneinander zu stehen kommt, sondern: daß sich ein ganz bestimmter Sinn durchzusetzen versucht und doch aus dem Text keine wirkliche Bestätigung erfährt. Terminologisch gefaßt: es sucht sich ein bestimmter Gegenstand des Gebildes nach vorn zu drängen, nämlich ein Murin, erschlossen durch die Befindlichkeit Ordynovs auf der Grundlage einer bestimmten anthropologischen Prämisse. Das bedeutet: Wir glauben Katerinas nächtlicher Erzählung, in der die Eifersucht Murins als die des sadistischen Geliebten gekennzeichnet wird. Der heimatlose Träumer Ordynov und die von einem fremden Willen beherrschte Schöne begegnen sich einen Augenblick lang im Reich des Phantastischen. Aber dieses Phantastische ist die Wirklichkeit der Seele. Gewiß, eine solche Deutung allen anderen ebenfalls .möglichen' rigoros voranzusetzen, mag wie ein Verstoß gegen den Text aussehen, der anscheinend keine ausdrücklich bevorzugt. Auf die Frage, wer Murin sei, Katerinas satanischer Geliebter, ihr Ehemann oder ein entfernter Verwandter, der die Stelle des Vaters einnimmt, gibt der Text keine Antwort. Wir sehen nur, daß hier ein älterer, willensstarker Mann eine junge Frau libidinös besetzt hält und den jüngeren, willensschwachen Rivalen verjagt. In solcher .Besetzung' vermischen sich autoritäre Besitzimpulse, die nicht unbedingt sexuell orientiert zu sein brauchen, und rein sexuelle Besitzansprüche. In Katerinas Fixierung auf Murin spricht sich indessen deutlich aus, daß dieser in ihrer Welt die Stelle des Geliebten einnimmt. Die Vermischung solcher Einstufung durch das im Text ebenfalls vorliegende Angebot, Murin als selbstlosen Beschützer Katerinas zu werten, ändert nichts an ihrer Einstellung zu ihm. Wer auch immer Murin sei, er hat zweifellos die Funktion einer Vater-Figur mit allen nur denkbaren Horrorqualitäten.® 7

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Vgl. Alfred L.Böhm ( = Bern): „Dramatizacija breda", in: Bern (Hrsg.), O Dostoevskom. Sbornik statej, I (Prag 1929). Vgl. N . S. Trubetzkoy: Dostoevskij als Künstler (London/The Hague/Paris 1964). Nicht unerwähnt bleiben darf hier der geistreiche Versuch Rudolf Neuhäusers, die „Wirtin" als politisches Gleichnis aufzufassen. Katerina fungiert darin als Inkarnation der Seele Rußlands, Murin als dessen düster-reaktionäre Tradition und Ordynov als progressiver Intellektueller, so daß folgendes Fazit möglich wird: „The Russian soul enslaved by centuries-old national and religious traditions has become intoxicated by a narcissistic complex of self-lacerations and enjoyment of humiliation and lacks the power to renounce the oppressive traditions, to follow the progressive, westernized intellectual" (R. Neuhäuser: „The Landlady: A N e w Interpretation", in Canadian Slavonic Papers, 10, 1968, 1,". 42—67). — Entscheidend ist hier, daß solche Deutung unsere These von der objektiven Ten-

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Halten wir, diese Überlegungen abschließend, fest: der Text liefert immer wieder Anhaltspunkte für insbesondere die Auffassung, daß uns das Fundament des tatsächlich Wirklichen verschwiegen wird, daß wir, anders ausgedrückt, nur Ordynovs Überflutungen zu sehen bekommen und möglicherweise auf längste Strecken gar kein K o n t a k t mit der objektiven Realität vorliegt. In solcher Animation zur vollständigen Neufundierung dessen, was in den Blick kommt, liegt das Wesen des konjekturalen Erzählens. Nicht daß die Lösung der Konfliktsituation nicht zu echter Präzisierung gelangt, macht die volle Eigenart der Konjektur aus, sondern daß die Konfliktsituation selber möglicherweise objektiv gar nicht existiert. Mit einem Wort: Ordynov hat sich die Zuneigung Katerinas nur eingebildet und aufgrund dieser Voraussetzung Murins Verhalten regelrecht erschaffen. Aber auch eine solche .Deutung' zerrinnt sofort zur bloßen Konjektur, und das Verstehen setzt zum Rücklauf in bereits verlassenen ,Sinn* an. Solche gesteuerte und unablässige Unruhe, in der allerdings bestimmte Bedeutungen zur Herrschaft drängen, ist die Folge einer auf Konjektur angelegten Textwelt.

§ 2 7 Z u r E n d l i c h k e i t des T e x t e s Jeder der drei soeben in den Blick gerückten Texte könnte in einer Weise fortgeführt und zu seinem dann endgültigen Ende gebracht werden, daß der innerfiktionale Bedeutungszusammenhang seinen Typus änderte. So ließe sich etwa der Cechovsdie Text derart fortsetzen, daß dodi nodi eine ,Teleologie' herausspränge, indem die in dem anonymen Brief des Beginns ausgestreuten Bezüge zu einer ,Handlung' ausgebaut würden. Was in der „Wirtin" Konjektur bleibt, könnte aufgrund erfolgreicher Nachforschungen Ordynovs ebenfalls zur ,Teleologie* verdichtet werden. Dupins düpierende Aufklärung des D o p pelmords in der Rue Morgue ließe sich durch systematische Neuausrichtung aller Fakten als Scheinlösung eines Betrügers darstellen, der mit dem A f f e n besitzer unter einer Decke steckt usw., bis schließlich aller mögliche Sinn zu kurzlebigster Konjektur erstarrte und am Ende nur Kontingenz übrigbliebe. Solche Möglichkeiten unterbliebener Fortführung sind, solange man das wirkliche Ende eines Textes nicht kennt, anwesend. Sie entfallen endgültig erst durch das wirkliche Ende des Textes. U m die Konsequenzen dieser Überlegung einzusehen, gilt es sich über den Zusammenhang zwisdien innerfiktionalem Bedeutungszusammenhang und anthropologischer Prämisse klarzuwerden. Es taucht hier ein Problemkreis auf, der innerhalb dieser Untersuchungen nicht mehr entfaltet werden soll. N u r soviel sei zu bedenken gegeben, daß offenbar nicht jede anthropologische Prämisse mit jedem der drei Grundtypen von innerfiktionalem Bedeutungszusammenhang gekoppelt werden kann. S o setzt etwa Poes .teleologisches denz des Gebildes bestätigt, auch bei innerfiktionalen Konjekturen einer ganz bestimmten Sinnfiguration den Vorrang zu geben. Neuhäuser hat, terminologisch gesprochen, ein fiktionstranszendentes Bild herausgearbeitet.

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Erzählen' eine einsehbare Gesetzmäßigkeit im Lauf der Dinge voraus, die es nicht nur möglich macht, einen Geschehnisverlauf im nachhinein in seiner inneren Notwendigkeit nachzuzeichnen, sondern auch, ihn aufgrund seines Beginns vorauszusagen; während Cediovs ,kontingentes Erzählen', paradox ausgedrückt, die anthropologische Prämisse zur Folge hat, daß es keinerlei teleologisches Sinngeschehen im Lauf der Dinge gibt. Man verdeutliche sich, daß es ausschließlich die Endlichkeit des Textes ist, die uns gestattet, den Typus des Bedeutungszusammenhangs zu bestimmen. Die soeben hypothetisch hergestellte Offenheit abgeschlossener Texte gegenüber einer denkbaren Weiterführung demonstriert, recht besehen, die prinzipielle Offenheit all dessen, was wir in der Empirie über ein Geschehnis durch einen Text erfahren, gegenüber einer Korrektur, die in einem besseren oder anderen Sachverständnis gründet. Die Bestimmbarkeit des Typus von Bedeutungszusammenhang gehört also ganz offensichtlich zu den Merkmalen, die den literarischen Text von einem .empirischen' unterscheiden. Indem der literarische Text seinen endgültigen Anfang und sein endgültiges Ende hat, kann er als Gebilde erfahren werden. Das Gebilde ist mithin immer eine unwiderrufliche Heraushebung aus einem Kontext, von dem es ein Teil sein könnte.

DRITTER TEIL WERKANALYSEN

A. Puskins „Dubrovskij" 1. Puskins Pointe Über die Größe Puskins etwas zu sagen und dabei nur von „ D u b r o v s k i j " zu sprechen, scheint mir durchaus möglich. Militant und enthusiastisch hat bereits Georg Lukäcs auf die „schlanke Schönheit in der epischen Linienführung" gerade dieses Werks aufmerksam gemacht; er hält es neben „Michael K o h l h a a s " und zeigt uns mit dem lässigen Raffinement des geübten und einübenden Demagogen, wie unendlich tief Kleist unter Puskin steht. Solches L o b gipfelt schließlich in der Versicherung, Puskin sei „in gewisser H i n s i c h t " sogar „dichterisch höheren R a n g e s " als Goethe. 1 Ich werde auf Lukacs zurückkommen. Aber erst gegen Ende dieser Ausführungen. Zuvor sei „ D u b r o v s k i j " untersucht. Sein Worumwillen gründet im ewigen Wunsch des Menschen, daß einer kommen

möge und die

im

argen

liegende Wirklichkeit zurechtrücke, das Recht wiederherstelle, den Mißbrauch der Macht bestrafe. Das ist der Traum, aus dem R o b i n H o o d geboren wurde, aus dem die Ideologien ihr Pathos und ihre Lebenskraft beziehen. M i t einem Wort, es ist der T r a u m der Seeräuber-Jenny, die sich vom „Schiff mit acht Segeln und fünfzig K a n o n e n " aus dem Sklavendasein des Gläserspülens und Bettenmachens rigoros erlöst sieht: U n d es werden kommen hundert gen Mittag an L a n d U n d werden in den Schatten treten U n d fangen einen jeglichen aus jeglicher T ü r U n d legen ihn in Ketten und bringen vor mir U n d fragen: Welchen sollen wir töten? U n d an diesem Mittag wird es still sein am H a f e n Wenn man fragt, wer wohl sterben muß. U n d dann werden Sie mich sagen hören: Alle! 2 H i e r träumt das sozialkritische Bewußtsein, wenngleich noch spontan und ohne theoretischen H a l t . Wie man sich erinnert, läßt Brecht die Essenz desperaten Wunschdenkens in höhnendem Rückgriff auf bekämpftes Klischee durch ,des Königs reitenden Boten' in die objektive Wirklichkeit der Fiktion einbrechen. Die Utopie wird so, wenngleich als ungeglaubte, als wirklich ins W e r k gesetzt. 1

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Vgl. Georg Lukdcs: „Puschkins Platz in der Weltliteratur" (1949); jetzt in: ders., Russische Literatur — Russische Revolution (rde 1969), S. 12 und 22. Zitiert nach der Ausgabe: Bertolt Brecht, Gesammelte Werke in 20 Bänden (Frankfurt 1967, Bd. II), S. 417.

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Werkanalysen

Wie geht Puskin vor? Eines steht fest: seine Mar'ja Troekurova ist keine Seeräuber-Jenny. Auf die Frage: Welchen sollen wir töten, antwortet sie: Keinen! — Und doch hat sie nach dem „Schiff mit acht Segeln" gerufen. Sie nimmt indessen ihren Ruf zurück. Sie sagt zu Dubrovskij, er komme zu spät. Diese Zurücknahme ist die Kernstelle der Erzählung. Es gilt nun, die Relevanz der Entscheidung Mar'jas darzulegen. Dazu sei zunächst die Schürzung des Problems kurz in Erinnerung gebracht. 2. Die fiktionsimmanente Knüpfung Vladimir Dubrovskij, der Titelheld, ein ehrgeiziger und zur Verschwendung neigender junger Mann, lebt in Petersburg als Kornett der Garde. Inmitten blasiert-genüßlicher Kumpanei erreicht ihn plötzlich aus tiefster Provinz der Notruf seiner Kinderfrau Arina Petrovna. Dieser Brief, in seiner weltbezeugenden Einfalt von geradezu Cervantesker Größe des Stils, läßt keinen Zweifel darüber, daß sein Vater im Streit mit seinem reichen Nachbarn und Freund Kirila Troekurov um Besitz und Gesundheit gebracht ward. Die Situation ist ernst und fordert sofortiges Handeln. Dubrovskij setzt ein Urlaubsgesuch auf und begibt sich, so schnell die Postpferde es schaffen, nadi Hause. Puskin unterläßt nichts, um seinen Titelhelden unauffällig, aber eindeutig mit dem Nimbus des berufenen Rächers zu umgeben. Mit der Fahrt Dubrovskijs an den Ort des Unrechts wird eine ganze Gattung in ihrem Innersten und Besten präsent: das Echo dieser Passage reicht — für jene, die es hören können — bis an den Lebensnerv des amerikanischen Western. Zu einem wirklichen Eingreifen kommt es indessen nicht. Ausgemergelt und irr von ungleichem Kampf stirbt Vladimirs Vater; und unversehens erscheinen die frechen Paladine des Widersachers auf Dubrovskijschem Hofe, pochen auf das erwirkte Gerichtsurteil, wonach Gut samt Leibeigenen nun Troekurov gehören. Doch das Gesinde grollt, und die amtsbefugten Vollstrecker ziehen sich ins Wohngebäude zurück, das im Dunkel der Nacht von Vladimir in Brand gesteckt wird: die bezechten Beamten verbrennen bis auf den letzten Mann, weil Archip, der Schmied, entgegen der Weisung seines Herrn sie einschloß. Mit der desperaten Einäscherung der väterlichen Heimstatt wird zu Ende gebracht, was der böse Geist Troekurov begonnen hat. Diese Feuersbrunst gebiert aber gleichzeitig den Räuberhauptmann Dubrovskij, wenngleich das, was als Beleg für Vergeltung nach außen dringt: der Flammentod der Troekurovschen Clique — nur heimliche Zutat eines empörten Vasallen bleibt. Die Gegend wird nun unsicher. Kühne Raubüberfälle halten das Land in Atem. Nur Troekurovs Ländereien bleiben verschont. Bereits in dieser Phase der Problementwicklung zeigt sich Puskins Konzeption seines Helden in ihrer ganzen Subtilität: Dubrovskij bleibt in seinen Handlungen Exekutor des Wirklichen, das auch ohne ihn so wäre, wie es ist. Was er als Individuum vollbringt, die Brandlegung, bleibt Sinnbild für das, was

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schon längst geschehen ist. Wo Dubrovskij wirksam wird, hat das Wirkliche diese Wirksamkeit bewilligt. Und er selber ist ,wirklich' nur insoweit, als er im Wirklichen bereits vorliegende ,Rollen' übernimmt. In der Gestalt des edlen Räuberhauptmanns bleibt er eine Abstraktion, die Summe bestimmter Eigenschaften schon vorkommender Rollenträger. Dies bedingt, daß er als Individualität ungemein farblos gehalten wird: sein Steckbrief paßt auf jeden. Mit der Verwandlung Vladimir Dubrovskijs in „Dubrovskij" endet der zweite große Geschehniskomplex. Puskin gliedert seine Erzählung in drei ungleiche Phasen. Auf die erste, nämlich die Kapitel 1 bis 3 komme ich erst später zu sprechen. Mit dem 9. Kapitel beginnt die dritte, in deren Mittelpunkt die Beziehung Dubrovskijs zu Mar'ja Troekurova steht. Spannungsmittel und Situationstypik werden nun vollends zu denen des gängigen Räuberromans. Der Verweis aufs typologische Etikett fällt im Werk selber: „Rinaldo Rinaldini". Die erzählerische Sicht konzentriert sich jetzt auf die Welt der Mar'ja Troekurova, und ,Sicht' meint hier mehr als nur Perspektive. Die Tatsache, daß es einen „Dubrovskij" gibt, tritt nun in den Horizont eines jungen Mädchens. („Sie hatte ihr siebzehntes Lebensjahr vollendet, und ihre Schönheit stand in voller Blüte.") 3 Puskin setzt eine Wirklichkeit, die als Tagtraum eines Mädchens vom Schlage der Mar'ja Kirilovna Troekurova veranschlagt werden muß. Das heißt nicht, daß die Geschehnisse als Einbildungen Mar'jas zu gelten hätten. Gleichwohl ist Dubrovskij jetzt die „Ausgeburt" Mar'ja Troekurovas. Wie ist das zu verstehen? Ganz gewiß nicht so, als seien seine Auftritte lediglich Phantasien der weiblichen Heldin. Puskin setzt vielmehr als ,objektiv' vorhanden an, was als Wunschtraum eines jungen Mädchens naheliegt. Dabei wird das träumende Subjekt nicht als träumendes gestaltet, sondern als Objekt innerhalb der vom Autor im Sinne des Subjektes angelegten ,Wirklichkeit'. Dennoch ist die geschilderte Wirklichkeit so noch nicht angemessen beschrieben. Die Außenwelt als subjektindifferenter Lauf der Dinge wird ja nicht außer Kraft gesetzt: in der Landschaft der projizierten Innerlichkeit melden sich oft unversehens Elemente, die dieser nidit entstammen, ihr Eigenleben ,stören' und dadurdi diese als solche erst zur Abhebung kommen lassen. 3. Das „Längere Gedankenspiel" Eine derartige Verflechtung zweier Wirklichkeitstypen, von Wunschlandschaft und Realität zur objektiven "Wirklichkeit der Fiktion hat den Verzicht auf jegliche plausible Psychologie zur Folge. Was indessen manchem krude Willkür scheinen mag, ist äußerste Finesse. Auch in den „Erzählungen des verstorbenen Ivan Belkin" hat die Mißachtung einer realistischen Handlungsführung den Kenner seit je wachsam gestimmt. '

Ej bylo semnadcat' let, i krasota ee byla v polnom svete. Zitiert nach der Ausgabe: A. S. PuäSkin, Sobr. soc. v 10 tt., hrsg. von D. D. Blagoj u. a. (Moskau 1959—1962), darin: „Dubrovskij", Bd. 5, S. 148—233.

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So ist etwa im „Schneesturm" das titelgebende, Weg und Steg verhüllende Unwetter bereits die aus den verborgenen Tiefen der weiblichen Psyche aufsteigende Wunschlandschaft, aus der die bevorstehende eheliche Bindung an den Jugendgespielen durchkreuzt wird. Denn im Schneetreiben verirrt sich ein Unbekannter in die Dorfkirche und nimmt verdutzt, unerkannt und rechtskräftig den Platz des Bräutigams ein, der nicht erschienen ist. Für das Prinzip solcher Darstellung hat Arno Schmidt den Terminus bereitgestellt: ,Längeres Gedankenspiel'. Er schreibt in seiner Abhandlung „Berechnungen": „Das Gedankenspiel ist kein seltener oder auch nur extremer Vorgang, sondern gehört zum unveräußerlichen Bestand unserer Bewußtseinstatsachen: ohne der Wahrheit Gewalt anzutun läßt sich behaupten, daß bei jedem Menschen die objektive Realität ständig von Gedankenspielen, meist kürzeren, nicht selten längeren, überlagert wird — wobei sich dann natürlich die wunderlichsten Interferenzerscheinungen & la Don Quijote ergeben können." 4 Im Gedankenspiel träumt das Individuum ,aktiv-auswählend' ohne die u n erwünscht-empörendsten Rücksichtslosigkeiten' des passiv erlittenen T r a u m s . . . Das Beirrende an der Puskinschen Verfahrensweise liegt darin, daß die Orientierung an der Realität psychischen Geschehens innerfiktional gar nicht thematisch wird, daß als zeitlich vorausliegend und objektiv vorhanden auftritt (der Schneesturm), was erst in der nachfolgenden Situation (vor dem Altar der Dorfkirche) im Gedankenspiel der Braut erschaffen wurde. Mit einem Wort: Puikin läßt hier die objektive Realität lediglich in ihrer Typik erkennen, in ihrer konkreten Bestimmtheit wird sie nicht gestaltet. Eine realistische A u f lösung' ist deshalb im Bereich des Thematisierten nicht möglich. Diese Überlegungen gelten, nebenbei gesagt, auch für Luis Bunuels „Belle de Jour" und Roman Polanskis „Rosemary's Baby" . . . Doch ich habe mich ablenken lassen. Von „Dubrovskij" soll die Rede sein. Was ,träumt' eine Mar'ja Troekurova? — Sie träumt: der wohlerzogene und unterbezahlte französische Hauslehrer, den ihr Vater soeben einstellte, sei gar kein Hauslehrer, sondern — der Räuberhauptmann Dubrovskij! Sie träumt: Dubrovskij sei in sie verliebt und wolle sie entführen. Sie träumt: daß plötzlich das Geheimnis seiner Identität bekannt wird und er fliehen muß zu seiner wilden Rotte in den tiefen Wald. Sie träumt: daß Dubrovskij ihr einen Ring gibt, den sie ihm, sobald nur irgend Gefahr drohe, zum Zeichen ihrer Not zukommen lassen möge . . . Man sieht: hier träumt nicht das sozialkritische Bewußtsein, sondern der Narzißmus einer artigen jungen Dame, dessen Harmlosigkeit vollends sich enthüllt, als die Realität brutal ihren Liebreiz aufkauft. Zuvor setzt Puskin Mar'jas Wunschwelt aufs durchtriebenste ins Wirkliche. Das Prisma der in Liebe entbrannten Virgo steigert das Image des edlen Outlaw zu höchster Brisanz. 4

Arno Schmidt: „Berechnungen II", Stahlberg, 1959) S. 293 f.

in:

ders.,

Rosen

& Porree

(Karlsruhe:

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Die Husarenstücke des Dubrovskij inkognito sind zugleich Husarenstücke ingeniöser Novellistik. D a wird zunächst eine diabolische Lustbarkeit liquidiert: Troekurovs Bär, der an wohlbemessenem Strick in einer ihm eigens hergerichteten K a m m e r auf arglose Besucher zu warten hat, die während der Hausbesichtigung vom scherzfreudigen Gastgeber zu ihm hineingestoßen und in tödlichen Schrecken versetzt werden. Auch der neue Hauslehrer sieht sich plötzlich dem horriblen Meister Petz konfrontiert. — Doch statt um Befreiung zu betteln, schießt er das Untier kurzerhand tot, waidgerecht ins Ohr. N o c h ahnt niemand, wer er ist. Seine mutige Notwehr bedingt gar, daß einer von Troekurovs Mitzechern darum bittet, bei ihm, dem Bärentöter, übernachten zu dürfen, weil ein Überfall des berüchtigten Dubrovskij nicht ausgeschlossen sei. Zur Schlafenszeit ziehen sich die beiden Männer ins gemeinsame Gemach zurück. Puskin malt aus, nicht ohne spitzbübisches Detail, er verweilt hier, wie Alfred Hitchcock es tut, wenn der bereitgestellte Überraschungseffekt nur noch auf den Abruf wartet. — Handfest gibt sich der Hauslehrer schließlich seinem Zimmergenossen zu erkennen, erleichtert ihn ums mitgeführte Geld und entschwindet in die Nacht; und das ,Ich bin Dubrovskij' trifft den Leser mit derselben Plötzlichkeit wie den düpierten Mitschläfer, der allerdings, wie es sich gehört, ein ausgemachter Schurke ist. Hier applaudieren auch jene, denen die Sphäre der Kunst niemals etwas gegolten hat. U n d doch muß der Verdacht, PuSkin parodiere so die Niederungen des literarischen Geschmacks, abgewiesen werden. Die Ubertölpelung des Lesers bleibt nicht pures Zeigen, ,wie man sowas macht'; die eigentliche Pointe liegt in der gestalteten Sache. Die vermittelte Überraschung angesichts der Identität des Hauslehrers ist in Wahrheit ein ungläubiges Staunen über verwunschene Wirklichkeit. A m Grunde solchen Staunens liegt Resignation. D a s Verschwinden Dubrovskijs aus der unmittelbaren Umwelt der M a r ' j a Troekurova geht einher mit dem Lautwerden der Absicht ihres Vaters, sie mit dem steinreichen Fürsten Verejskij zu verheiraten, einem stark angegrauten Fünfziger, der die untünchbaren Spuren lebenslanger Ausschweifung unter parfümierter Liebenswürdigkeit zu verbergen sucht. D i e Vorbereitungen zur Hochzeit werden getroffen. Mar'jas Gegenrede findet kein Gehör. Sie sendet, wie abgesprochen, nach Dubrovskij, doch es hapert bei der Übermittlung. Dubrovskij kommt nicht, und der Pope traut das Paar. Fürst Verejskij fährt mit blasser Gemahlin heimwärts, als plötzlich Dubrovskij an der Spitze seiner Spießgesellen aus dem Hinterhalt hervorbricht und seiner verkauften Braut die Freiheit erkämpft. Doch Mar'ja spricht: „ E s ist zu spät, ich bin getraut, ich bin die Frau des Fürsten Verejskij. [ . . . ] Bis zum letzten Augenblick habe ich auf Sie gewartet. Jetzt aber, glauben Sie mir, ist es zu spät. Lassen Sie uns gehen." 5 s

Pozdno — ja obveniana, ja zena knjazja Verejskogo . . . J a zdala vas do poslednej minuty [ . . . ] No teper', govorju vam, teper' pozdno. Pustite nas.

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4. Die fiktionsimmanente Lösung Puükins unverhohlene Mißachtung einer realistischen Psychologie verdient höchste Aufmerksamkeit. Zu sagen, Mar'ja Troekurova fühle sich ans Sakrament der Ehe gebunden, wäre blanker Unsinn. Eine Deutung, die sich im Bereidi des Thematisierten bewegt, muß blind bleiben gegenüber dem, was hier von Puskin gesagt wird. Es gilt sich über den von Puskin genutzten Typus des ,Längeren Gedankenspiels' klarzuwerden und es in seiner Angewiesenheit auf die .objektive Realität' zu prüfen. Die Winke, die der Text uns dafür gibt, habe ich in der Referierung der vorausgehenden Situation erkennen lassen. Es zeigte sich, daß alles, was Dubrovskij vollbringt, nicht den Rahmen dessen sprengt, was vom Wirklichen ohnehin schon bewilligt wurde. Dubrovskijs Taten ändern nichts am Lauf der Dinge. Die Hauslehrer-Episoden verdeutlichen, daß der Räuberhauptmann Dubrovskij gerade da seinem Image am vollsten gerecht wird, wo seine Aktionen in den Bereich der Kinder-Rache fallen, partikulare sind, wirkungslose, wenngleich pittoreske und beklatsdite. Dies hat auch zur Folge, daß sie sidi ohne ironische Signalisierung nicht adäquat referieren lassen. Die Absage Mar'jas ist das Nein des Wirklichen ans Nicht-Wirkliche. Mar'ja verabschiedet sich hier von ihrem Traum, und auch dieses Abschiednehmen ist Teil des ,Längeren Gedankenspiels': ein letztes Mal erscheint „Dubrovskij", und diesmal von keiner im Umkreis legalen Alltags vorfindlichen Rolle getragen. Er erscheint ganz als er selbst aus der notwendigen Gesetzesferne: anonyme Gegengewalt und deshalb maskiert. Und Mar'jas verstörtes Bewußtsein denkt sich gegenüber dem verzweifelten Anspruch der eigenen Einsicht wohlfeile Entschuldigung aus: „Ich bin die Frau des Fürsten Verejskij."' Das Entsetzen über die erlittene Realität ist so fundamental, daß es die Quelle des gesund rebellierenden Tagtraums trübt. Hier spricht kein Individuum mehr, hier spricht tonlos sein vom Zuspruch realer Macht verkrüppeltes Spottbild. Dem untersagten Traumbild des Befreiers wird hektisch die Leerformel jener Prozedur entgegengehalten, mit der die Versklavung vollzogen wurde. „Bis zum letzten Augenblick habe ich auf Sie gewartet. Jetzt aber, glauben Sie mir, ist es zu spät. Lassen Sie uns gehen." Über solchen Worten liegt bereits das fahle Licht Kafkaesker Inwendigkeit. Wie Mar'ja zum Ritus der Trauung .theoretisch' steht, kommt gar nicht ins Spiel. Vom Schock angesichts der über sie verhängten Wirklichkeit ist sie so maßlos devot geworden wie nur je ein Opfer der Inquisition; sie schwört ab und verpönt ihren innersten Wunsch. „Dubrovskij" entschwindet, ausgestattet von ihr mit schmerzlicher Wunde, die in Wahrheit ihre eigene ist. • In der Demonstration einer institutionellen Fremdsteuerung des schwachen Einzelnen geht PuSkin so weit, daß er Mar'ja das notwendige J a - W o r t gar nicht aussprechen läßt; immer noch in der Hoffnung auf Rettung, zögert sie mit der Antwort, und es heißt: „Der Priester sprach, ohne ihre Antwort abzuwarten, die unwiderruflichen W o r t e " (svjaSiennlk, ne dozdaväis' ee otveta, proiznes nevozvratimye slova).

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Wer sich der von Puskin evozierten Welt naiv überläßt, wird angesichts einer solchen Auslegung eine nicht geringe Beirrung verspüren. Denn was ,dasteht' scheint doch viel harmloser. Von einer gebrochenen Mar'ja wird uns nichts gesagt, viel eher von einer, die sich klug ins Unausweichliche fügt. Es gilt indessen zu bedenken, wie PuSkin verfährt. Dubrovskij, die Fata Morgana der Beleidigten und Unterdrückten wird als Gestalt der reinen Innerlichkeit im Realitätsmodus ununterscheidbar neben die Gestalten der implizierten objektiven Realität' gesetzt. Eine solche Mischung von Innerlichkeit und Außenwelt macht das Wesen des ,Längeren Gedankenspiels' aus, worin man sich selber zuschaut, mit den Möglichkeiten der eigenen Existenz experimentiert, so zwar, daß der Seitenblick aufs Tatsächliche dieses auf irgendeine Weise miteinbezieht. In einer Welt der projizierten Innerlichkeit kann die nochmalige Innerlichkeit der auftretenden Gestalten nicht mit der vergleichbar sein, der sie entstammen. Ihnen fehlt gleichsam das Gedächtnis; sie sind das, was sie augenblicklich sind, immer ganz. Das Geschehen, das sie konstituieren, gelangt erst in der Zurücknahme in die Welt, aus der es projiziert wurde, zur Fülle des Ausdrucks. Diese Welt aber liegt nicht thematisiert vor. Und doch ist sie unabweisbar da: sie meldet sich in der ,Unwahrscheinlichkeit' der Psychologie der Gestalten. Die in Puskins „Dubrovskij" explizit vorliegende Welt muß im wesentlichen als Reflex auf eine implizierte ,objektive Realität' verstanden werden. Ich setze diese Überlegungen weiter unten verschärft fort. Hier sei nur darauf aufmerksam gemacht, daß ein Verstehen, das sich am Selbstverständnis der vorgeführten Gestalten orientiert, in diesem Falle besonders gefährdet ist. Der Gang der Handlung sei jetzt weiterverfolgt. Nach der Absage Mar'jas, die das Verschwinden Dubrovskijs aus der Welt der projizierten Innerlichkeit bedeutet, verjagt ihn PuSkin folgerichtig auch aus der objektiven Wirklichkeit der Fiktion. Der Regierung wird schließlich das Treiben des namhaften Outlaw zu bunt. Eine Kompanie Soldaten zersprengt die Bande. Einige werden gefangen. Dubrovskij selbst entkommt, wie es heißt, ,ins Ausland'. Er ist mithin aus der Welt. Und unter dem Deckmantel genregerechter Kadenz wartet Puskin mit dem ausgesuchtesten Zynismus auf: „Die Überfälle, Brände und Plünderungen hörten auf. Die Landstraßen wurden wieder sicher." Die Welt ist wieder im Lot. Recht und Ordnung sind erneut gewährleistet. Keine Experimente. Es bleibt alles so, wie es ist. „Wer Geld hat, wird gesund, wer Macht hat, schwört richtig, wer Gewalt hat, schafft R e c h t . " Dies hat uns der unbestechliche Gottfried Benn eingeschärft. 7 Puskin sagt dasselbe. Wie die Welt ohne Dubrovskij aussieht, zeigen uns die Anfangskapitel seiner Erzählung. Hier tritt das Wirkliche vollkommen nackt auf. Am Horizont des töd-

7

Vgl. Gottfried Benn: „Können Dichter die Welt ändern?" in: ders., Gesammelte Werke in 4 Bänden, hrsg. von Dieter Wellershoff, Bd. I V (Wiesbaden 1961), S. 219.

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lieh Geschädigten steht nicht einmal geträumte Abhilfe. Die Extinktion des schwächeren Nachbarn wird, ist sie einmal beschlossen, wie ein Geschäft betrieben. Die Genese verwerflicher Wirklichkeit wird uns mit äußerster Sorgfalt dargetan. Der Anlaß für den Niedergang des alten Dubrovskij scheint trivial. Angesichts der aufwendigen Jagdkoppel seines Freundes, Kriegskameraden, Standesgenossen und Nachbarn Kirila Troekurov tut er die Bemerkung, ob nicht hier die Hunde besser leben als das Gesinde. Und einer von Troekurovs Piqueuren, in völliger Verkennung der Lanze, die hier auch für ihn gebrochen wurde, kontert mit dem Witzwort, mancher Edelmann wäre gewiß froh, könnte er so leben, wie hier die Hunde. Troekurov lacht schallend, und Dubrovskij verläßt unbemerkt die Gäste. Die Lunte schwelt. Troekurov, in seiner vital-maliziösen Skrupellosigkeit ein Vor-Bild des Fedor Karamazov, bedenkt den Fall auch dann noch nüchtern, als ihm vom erzürnten Nachbarn seine provokativ stehlenden Bauern verprügelt werden, weiß er doch genau, daß subalternes Geschmeiß, wo es der Billigung des Mächtigen gewiß ist, frech sich in Szene setzt. Der Ruf indessen, in dem er sich sonnt, nötigt ihn zu mißachten, was zwischen ihm und Andrej Dubrovskij an privater Bindung existiert. Und dem formalisierten Willen, den anderen in die Knie zu zwingen, bietet sich ein williges Werkzeug. Der Advokat SabaSkin, ein bestechlicher und schlauer Jude, lockt das in juristischen Dingen unerfahrene Opfer in wirksamste Falle. Dubrovskij sieht sich, da es ihm an den entscheidenden Urkunden fehlt, rabulistisch um seinen Familienbesitz gebracht. Vor Gericht um seine Unterschrift ersucht, bekommt er einen Tobsuchtsanfall, der seinen Widerpart Troekurov aufs tiefste verwirrt, weil dieser plötzlich des unwiderruflichen Ernstes seiner im Grunde nur aus Sportsgeist betriebenen Aktion innewird. Man sieht: Die Charakterzeichnung Troekurovs ist von gediegenstem Raffinement. Puskin erreicht, indem er die sofortige Unnachgiebigkeit des alten Dubrovskij sachlich darlegt und die Anwandlungen Troekurovs, bei bester Gelegenheit die Sache noch beizulegen, deutlich ins Bild rückt, eine eisige Objektivität, die im zweifachen Sinne ,besticht', indem nämlich sekundenlang im Leser der Gedanke aufzuckt: Dubrovskij habe sich die tödliche Schärfe seines Gegners selbst zuzuschreiben. Erst aus einer derartigen Verführung des Lesers gewinnt der Geschehnisablauf seine tiefe Bitterkeit. (Ein zweites Mal bricht solche gezielte .Objektivität* herein, als der Fürst Verejskij, negativ eingeführt, inmitten seiner Parkanlagen für Sekunden als ganz passabler Weltmann erscheint, so daß Mar'jas Schicksal durchaus in der Ordnung der Dinge zu liegen scheint). Nach dem Tobsuchtsanfall dämmert Andrej Dubrovskij, von unmediierbarer Wirklichkeit kraftlos geworden, seinem Tode entgegen. Ins klerikale Trostwort anläßlich der Leichenfeier mischt Puskin seinen gerechten Hohn. Vor der greifbaren Unbill wird der Verweis aufs demokratische Jenseits zur Farce. Niemand hilft: Troekurov bleibt ungeschoren.

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5. Die substantielle Schlüssigkeit In den ersten drei Kapiteln ist noch wenig von jenem Genre zu spüren, auf das die Erzählung mit dem Erscheinen „Dubrovskijs" einschwenkt. Dubrovskij ist, ich deutete es schon an, kein Individuum wie die anderen Gestalten, sondern die am Horizont beschädigten Lebens jeweils auftauchende und mit unterschiedlichen Attributen ausgestattete Idee des rächenden Erlösers. Puskin zeigt dies dadurch an, daß die Identität seines .Helden' zwar innerfiktional gewahrt bleibt, als er im Umkreis Mar'jas auftaucht, daß indessen hier plötzlich die Ausstattung Dubrovskijs ganz und gar im Sinne Mar'jas vorgenommen wird: die noch ausstehende Abrechnung mit Kirila Troekurov scheint völlig vergessen, denn sie ist ja nicht Mar'jas Sache. Dubrovskij ist also Individuum immer nur je im Umkreis des ,träumenden* Subjekts. Was Dubrovskij denkt, erfahren wir nicht. Er führt vor unseren Augen eine seltsam flackernde Existenz. Aus dieser Überlegung folgt, daß Dubrovskij niemals ,stirbt'. Er ist der unsterbliche, illegal rechtmäßige Strafgeist, der jegliche ausgemalte Rache beseelt. Und hierin liegt bereits die Verführung zur Serie, zur Reihe, zur Fortsetzung ad infinitum, der die Gattung in ihren Niederungen widerstandslos nachgibt. Bei Puskin ertönt der Ruf nach „Dubrovskij" nur zweimal. Das erstemal .träumt' das empörte Kollektiv des Dubrovskijschen Hofgesindes, das die Schmach seines Herrn für die eigene nimmt und gesühnt sehen möchte. Der Hilferuf an Vladimir ergeht bezeichnenderweise von der Kinderfrau Arina Petrovna und nicht von seinem Vater. Das zweitemal ruft ihn Mar'ja Troekurova, das Individuum. Man sieht: Öffentlichkeit und Privatsphäre sind die Orte des Unrechts. Weitere Orte gibt es nicht. Damit dürfte, wie mir scheint, der Boden für eine positive Antwort auf die Frage nach der denkerischen Abgeschlossenheit dieser Erzählung, die, streng genommen, ein Fragment geblieben ist, bereitet sein.8 Beachtet sei in diesem Zusammenhang auch, daß beidemal Unrecht institutionell besiegelt wird: das erstemal durch Richterspruch (Staat), das zweitemal durch den Segen des Popen (Kirche).

6. Die objektive Wirklichkeit der Fiktion Es ist nun an der Zeit, einen Gedanken ins Zentrum zu rücken, den ich bislang immer nur am Rande behandelt habe. Ich räume ein: wem die Position, in die meine Überlegungen jetzt münden, bereits während der Lektüre des Werks vollständig vor Augen kam, muß meine bisherigen Ausführungen mit einer gewissen Ungeduld und möglicherweise mit Unbehagen verfolgt haben. Es ist mir durchaus klar, daß sich die Puskinsche Wirklichkeit nicht restlos in .Psychologien' auflösen läßt. Denn in diesem .Rest' wohnt ja das Recht der Kunst. 8

Das Werk erschien zum erstenmal 1841, vier Jahre nach Puükins Tod. Vgl. dazu meine Hinweise am Schluß dieser Ausführungen.

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Folgendes sei bedacht: Dubrovskij existiert, so sagte ich, de facto nur in der ,subjektiven Realität*. Was Puskin uns schildert, ist im wesentlichen eine Fotografie der .Längeren Gedankenspiele* derer, die zur Idee eines „Dubrovskij" fähig sind. Puskin zeigt uns indessen nicht ein Bewußtsein explizit bei der Arbeit, wie etwa James Thurber in seiner bekannten Kurzgeschichte „Das Doppelleben des Herrn Mitty" (The Secret Life of Walter Mitty): am Steuer seines Wagens auf städtischer Einkaufsfahrt wird Walter Mitty, amerikanischer Durchschnittsbürger, ständig von Gedankenspielen absorbiert, die ihn zur Fahrlässigkeit verführen: er sieht sich als unerschrockenen Flugzeugkapitän inmitten eines Unwetters von den Akklamationen der Mannschaft umgeben, er sieht sich als berühmten Chirurgen unter den Augen prominenter Kollegen eine schwierige Operation zum Erfolg führen, er sieht sich als Angeklagten in einem Mordprozeß, als Kampfflieger im Einsatz und schließlich als Todesverächter angesichts eines Exekutionskommandos. Thurber trennt deutlich .objektive Realität' (Einwürfe und Anweisungen der mitfahrenden Ehefrau und Eindrücke der unmittelbaren Umwelt) von der Realität des Gedankenspiels. Puskin verfährt anders. Die .objektive Realität' wird von ihm nur implizit gestaltet. Sie muß abgelesen werden. Die Leistung des auf .objektive Realität' reagierenden Bewußtseins wird uns als objektive Wirklichkeit der Fiktion vorgeführt. Aber das Gesamt der uns von Puskin dargebotenen innerfiktionalen Wirklichkeit ist nicht die Summe der .Längeren Gedankenspiele' der ausersehenen Subjekte! Der Raum zwischen den Gedankenspielen wird derartig ausgestaltet, daß eine dritte Wirklichkeitsebene ins Spiel kommt, die in unserer alltäglichen Empirie keinen Ort hat. Das heißt: Puskin konzipiert seinen Titelhelden durchaus als reale Person, die nicht darauf angewiesen bleibt, von jemand gedacht zu werden, um zu existieren. Was erst im Gedankenspiel ins Leben kommt, tritt auch in der ,Realität' außerhalb des Gedankenspiels auf. Dieses Außerhalb läßt sich weder der subjektiven' noch der ,objektiven Realität' zuordnen. Indem Puskin es bruchlos mit dieser und jener verstrebt, schafft er jene Glätte des äußeren Fortgangs, auf deren Hintergrund die fundamentale Unstimmigkeit des Ganzen erst zu leben beginnt. Wie auf bestimmten Bildern Salvador Dalis, wo der klare Gestus des Ganzen von Einzelteilen getragen wird, die aus heterogenen Wirklichkeitsbereichen stammen und sich bei näherem Hinsehen in diese zurückziehen, wird hier die Einfühlung gleichzeitig animiert und durchkreuzt, ohne daß von Willkür die Rede sein könnte. PuSkins Erzählung fordert zu grundverschiedenen ,Einstellungen' heraus. Zweifelhaft bleibt etwa, ob in Mar'jas Welt, reduziert man sie auf .objektive Realität', Dubrovskij jemals leibhaftig erschienen ist. Das heißt, es bleibt gar nicht zweifelhaft, denn er ist nicht erschienen: der Hauslehrer war nur ein Hauslehrer. Nicht zweifelhaft bleibt, was aus Vladimir Dubrovskij wurde, als er, dem Notruf folgend, nach Hause eilte: er wurde zum Brandstifter und Wegelagerer. Zweifelhaft bleibt indessen, ob der .wirkliche' Vladimir Dubrovskij, jener, der in Petersburg teuren Vergnügungen nachgeht, jemals die Gesetzlosigkeit auf sich genommen hätte, um zu versuchen, das Gesetz herzustellen.

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Unbestritten ist lediglich, daß die Leute des Andrej Dubrovskij den SabaSkin und seine Helfer umbrachten. Puskin spielt mit Realistischen' Durchblicken und Auflösungen. Diese sind ,da', auch wenn sie nicht ,aufgehen'. Das Thematisierte wird in solchen Durchblicken verengt zum Reflex auf ,objektive Realität'; und diese kommt nur in der Vermittlung durch jenen vors Auge des Lesers. Die ausgewählten Konfliktsituationen liegen derart im Zentrum des stets Verständlichen, daß der Reflex ausreicht, um das, worauf reagiert wird, eindeutig mitzusetzen. Die ,objektive Realität' erscheint in „Dubrovskij" nirgends unverhüllt, direkt, als solche. Gleichwohl können wir sie sehen: ein einflußloser russischer Gutsbesitzer wird aufgrund eines Streits mit seinem mächtigen Nachbarn auf infamste Weise um seinen gesamten Besitz gebracht und stirbt daran; und eine junge Dame mit romantischen Träumen verschwindet in vorgeschriebener Ehe mit einem reichen, ungeliebten Mann. Mehr geschieht nicht. Es wird nur beidemal die Würde des Menschen niedergekämpft. Doch nicht Puskins zynisches Pathos soll ins Bild gerückt werden. Es geht jetzt um die Art der Präsentation. Beschreibt man diese ,objektive Realität' mit den Namen der vorgeführten Personen, spricht man von Andrej Dubrovskij, von Kirila Troekurov, von Mar'ja Troekurova, so befindet man sich bereits in der objektiven Wirklichkeit der Fiktion, so kennzeichnet man schon, was sich begeben hat, im Stil dieser Dichtung. Was ist das für ein Stil? — Ich deutete es schon an: Es ist der Stil einer bestimmten Unterart des Abenteuerromans: des Romans vom edlen Räuber. Diesem beherrschenden (Bild-) Stil des Ganzen am fernsten steht zweifellos der detailliert belegte Niedergang Andrej Dubrovskijs, mit dem Gipfel in der wörtlichen Anführung der Urteilsbegründung und der offiziellen Darstellung des Sachverhalts9. Die Schilderung dessen, was Andrej Dubrovskij widerfährt, kommt der ,objektiven Realität' am nächsten. Doch gibt Puskin dem Erzählten durch antithetische Typisierung der beiden Parteien und durch Verwendung gängiger Münzen der Situationsschilderung hier bereits einen ausgesprochen .literarischen' Charakter. Dieser kommt dann mit dem Auftreten Vladimir Dubrovskijs vollends zum Durchbruch und zur Herrschaft. Als bewußt verwendete Klischees seien hervorgehoben: der in harmlosen Schwächling verkleidete Bandenchef; die schöne und edle Tochter des skrupellosen Wüstlings; der verlebte Liebhaber und die junge Braut; die Zuneigung zwischen Sohn und Tochter verfeindeter Nachbarn; das verliebte, einsame Mädchen am nächtlichen Fenster; der an geheimer Verschwörung teilhabende Knabe; die betenden Räuber; die Rettung einer Katze aus brennendem Hause, worin der Feind dem Feuertod überlassen bleibt; und — das Ganze überdachend: die ausgemalte Rache. Eine derartige Aufzählung legt nahe zu meinen, es handle sich hier um ein ausgesprochen literarisches' Werk, indem nämlich Puskin sein Bilder-Arsenal 9

Bekanntlich hat PuSkin hier ein tatsächlich vorhandenes Dokument in vollem Wortlaut in seine Erzählung übernommen. Vgl. dazu: Boris TomaSevskij, Puikin, II (Moskau/Leningrad 1961), S.521.

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mit dem Ziel einer Art Pastiche mit den umlaufenden Standardsituationen der Literatur bestückte. Ein solcher Schluß würde indessen das Vorgehen Puskins nicht richtig beleuchten. Puikin sieht und zeigt uns, daß das Klischee zum festen Bestand seelischer 'Wirklichkeit gehört. Was als literarische ,Anspielung', als ein Aufgreifen des literarisch Etablierten aufgefaßt werden mag, ist in Wahrheit ein ursprünglicher Rückgang auf die empirische Situation, aus der heraus solche literarische Etablierung erst möglich wurde. Zur privativen Verdeutlichung sei auch der ,formalistische' Standpunkt hereingebracht. „Dubrovskij" läßt sich geradezu musterhaft ,formalistisch' sehen: so nämlich, daß Puskin eine bestimmte Art des Abenteuerromans in einer bestimmten Phase aufgegriffen und im Umgang mit dem vorhandenen .Material' (den Standardsituationen) — rein aus der konkreten Arbeitserfahrung heraus — gewisse Brechungen der Erwartungsintentionen angebracht hat: den Bösewicht ereilt nidit die verdiente Strafe, das zur Ehe mit einem ungeliebten Mann gezwungene Mädchen widersetzt sich plötzlich der ersehnten Befreiung. — Eine solche Sicht würde zwar Puskins Kunstfertigkeit in den Griff bekommen, nicht aber die Größe seiner Kunst, denn diese zeigt sich im Einhergehen solcher Fertigkeit mit der Substantialisierung des aufgegriffenen Genres: indem dieses als wirklicher Reflex auf .objektive Realität' verstanden und gestaltet wird: als Gedankenspiel aus beschädigtem Leben. Anders ausgedrückt: PuiSkin begreift das genutzte Genre nicht als „literarisches Faktum", sondern als menschliches. Was am Schicksal der Mar'ja Troekurova vom ,formalistischen' Blick als Klischee-Brechung registriert und damit in den Bezirk der sich selbst bestätigenden Kennerschaft abgedrängt wird, gewinnt seine eigentliche Dignität erst begriffen als Ausdruck einer Innerlichkeit, die dem Druck des Wirklichen verletzt nachgibt, oder — anders formuliert: als direkter Ausweis einer anthropologischen Prämisse, die die wirkende Macht des Mächtigen für unabschaffbar deklariert. Ich verdeutliche noch schärfer. Puskin psychologisiert den Räuberroman. Dies heißt nicht, daß er innerhalb der Fiktion mit einer verfeinerten Psychologie aufwarte und etwa das Motivationsgefüge raffinierter gestalte. Vielmehr bringt er das Unvermittelte des Fortgangs, ja das Melodramatische und Kitschige, das der Gattung von Hause aus eignet, so wie es ist, ins Spiel, ohne daß dabei von einer parodistischen Schmähung des Benutzten die Rede sein könnte. Der Räuberroman wird in seiner ursprünglichen Affinität zur Phantasieleistung jener gesehen, die sich gegenüber vollzogenem Unrecht eine Gegenkraft ersinnen. Dabei setzt Pulkin jedoch nicht das Ganze seiner Erzählung in eine — wie auch immer pauschale — Beziehung zu einer denkbaren allgemeinen Situation von Unrecht, vielmehr wird dessen ,objektive Realität' in durchaus konkreter Bestimmtheit konzipiert, aber nur in der Reaktion des ,Längeren Gedankenspiels' zur Sprache gebracht. Dies hat zur Folge, daß sich verschiedene Bereiche der Subjektivität, projizierter Innerlichkeit unterscheiden lassen. Wie ich zeigte, gestaltet Puäkin zwei solcher Bereiche (den um Andrej Dubrovskij und den um Mar'ja Troekurova). Die Beirrung für den Ausleger entsteht dadurch, daß beide Bereiche miteinander verquickt sind, einmal durch die Identi-

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tat entscheidender Gestalten (Kirila Troekurov, Vladimir Dubrovskij) und zum anderen durch die Identität des Ortes, des Milieus. Man beachte den Unterschied zum Vorgehen James Thurbers: bei ihm sind die Gedankenspiele auf verschiedene Welten verteilt (Luftfahrt, Chirurgie, Gerichtswesen usw.), so daß keine gemeinsame ,Landschaft' zustandekommt. Und durch eben diese gemeinsame ,Landschaft', durch die Zusammenlegung der ,Längeren Gedankenspiele' in eine einzige Welt schafft sich Puskin die Voraussetzung dafür, eine bestimmte literarische Gattung gleichzeitig zu ,psychologisieren' und autonom durchzuhalten. Diese Autonomie gründet darin, daß die vom ,Längeren Gedankenspiel' in Gang gebrachte Wirklichkeit so fortgeführt und vorbereitet wird, daß sie als ganze keine Affinität mehr zur Phantasieleistung der implizierten Subjekte beanspruchen kann. Innerhalb der so sich konstituierenden objektiven Wirklichkeit der Fiktion läßt sich die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen ,objektiver Realität' und ,Längerem Gedankenspiel' nicht mehr denken, denn sie ist auf die Einnahme eines Standpunktes außerhalb der Fiktion angewiesen. Und denkt man sie von diesem aus, so bleiben die Konturen ihrer innerfiktionalen Entsprechungen fließend. Sich für eine der beiden Lesarten zu entscheiden, wäre nicht im Sinne des Werks: die .realistische' durchherrscht als ständige die abenteuerliche und literarische'. 7. Gegen Georg Lukäcs Ich kehre nun zum Urteil Georg Lukacs' über „Dubrovskij" zurück, auf das ich bereits zu Anfang meiner Überlegungen verwiesen habe. Lukacs vergleicht Puskins Werk mit Kleists „Michael Kohlhaas" und fragt: „Weshalb ist die Novelle Puskins schön, im konkreten ästhetischen Sinne dieses Wortes? Und weshalb ist die von Kleist nur ein hervorragendes Kunstwerk?" — Als Antwort und Begründung führt Lukäcs an, „bei Kleist entstehen in der Seele des rebellischen, in die Sünde getriebenen Menschen größere, tiefergehende, pathologischere Entstellungen, als sie aus dem Wesen des Themas unbedingt folgen müssen", während Puskin „nie über die Gestaltung ,normaler' Menschen" hinausgehe; Puskins Empörer „zeige nie menschlich verzerrte Züge, im Gegenteil, aus jeder seiner Taten strömt eine geistige und moralische Überlegenheit und beleuchtet um so schärfer die Verdorbenheit der sich auflösenden Gesellschaft". Wo bei Puskin „Verzerrtheit" sich zeige, liege sie auf der Seite derer, die die Ungerechtigkeit heraufbeschwören. Es handle sich mithin um eine „gesellschaftlich typische" und nicht — wie bei Kleist — um eine „individuell pathologische Verzerrung". Doch, was das Schlimmste sei: bei Kleist sehe man „nirgends einen Ausweg", während bei Puskin „die dichterische Atmosphäre des ganzen Werkes, die epische Linienführung der ganzen Erzählung laut und deutlich" verkünden: „so kann es nicht bleiben". Puskin zeige, daß es der „zerfallenden feudalen Gesellschaft nicht gelingt, das Menschentum des Helden zu verzerren, dem Kern seiner Menschlichkeit ein Leid anzutun". Bei Kleist hingegen erblicken wir „nirgends eine menschliche Kraft, die sich den Mächten, die die Menschheit zerstören, entgegenstellen würde". — Ein solches Einsinken

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ins Ausweglose könne nicht ohne Folgen für die Formungsleistung bleiben. „Sowohl bei Puskin als auch bei Kleist werden die Konzentriertheit, der Lakonismus der guten Novelle eingehalten. Und doch hat nur Puskins Erzählerton die Schlankheit, Leichtigkeit, die heitere Überlegenheit der klassischen Novelle selbst dann, wenn der Dichter Schreckliches erzählt". Und Lukacs fährt fort: „Man kann nur normale Menschen, respektive solche menschlichen Verzerrungen ohne detaillierte Analyse, durch ihre bloße Existenz evident gestalten, die aus der Struktur irgendeiner Gesellschaft objektiv, mit sichtbarer Notwendigkeit herauswachsen. Die pathologische Verzerrung hingegen, die in eine individuelle Seele eindringt, muß erklärt, analysiert (oder mit einer romantischen, phantastischen, exotischen Staffage umgeben) werden, damit die Gestaltung einigermaßen überzeugend wirkt". — Weil Kleist „infolge seiner preußischen Junkerideologie" eng mit der feudalen Gesellschaft verbunden sei, könne er diese nicht ernstlich kritisieren und hieraus resultiere der Pessimismus seiner Novellen, speziell im „Michael Kohlhaas": das „Sich-Verirren der Handlung ins grotesk und phantastisch Romantische." 10 Indem der rückhaltslosen Bejahung Puskins die rückhaltslose, nur scheinbar vorsichtige Verneinung Kleists an die Seite gestellt wird, sichert sich die Argumentation den Schein der Objektivität, der als ein bloß solcher sofort sich enthüllt, wenn man sich dem überlegenen Textanspruch der behandelten Werke wirklich unterwirft. Es wäre jetzt ein leichtes, Lukacs seine Verkennung der Gestalt Dubrovskijs vorzurechnen. Puskins Winke sind unbemerkt geblieben. Nicht jedoch die Fehlinterpretation eines einzelnen Werkes und seiner konstruierten Antithese soll hier aufgewiesen werden; denn dieses Fehlurteil ist keine Entgleisung, sondern markiert durchaus die Hauptlinie des Lukäcs'schen Philosophierens. Diese sei darum in den Vordergrund gerückt. In seiner wichtigen Spätschrift „Wider den mißverstandenen Realismus" (Hamburg 1958) sieht Lukacs das große Manko der westlichen Moderne darin, keine Mittel und Wege für die „Überwindung der Angst vor der Wirklichkeit" aufzuspüren. Große Kunst zeige die „dialektisch richtige Proportionalität" zwischen „den Menschen als Einzel- und Gesellschaftswesen". — „Ob er es will oder nicht, spricht jeder Dichter über das Schicksal der Menschheit. Darum ist das gesellschaftliche Wohin? der Menschheit im Werk des Dichters objektiv die Grundlage für jedes noch so abstrakte, noch so individuelle Wohin?" — Jedes literarische Kunstwerk muß sich mithin die Frage gefallen lassen, ob die in ihm sich aussprechende Totalität dem „menschlich Wesentlichen im Geschichtsprozeß" positiv Rechnung trägt. Dieses „menschlich Wesentliche" muß unversehrt bleiben als Idee, als Horizont der Zukunft, so daß die Verzerrungen, die eine konkrete historische Situation am menschlich Wesentlichen vornimmt, als solche gesehen werden, als Übergänge und nicht als die ewige Grundlage der condition humaine." 10

11

Vgl. Georg Lukdcs: „Puschkins Platz in der Weltliteratur", in: ders., Russische Literatur — Russische Revolution (rde 1968), S. 11—14. Vgl. Georg Lukdcs: Wider den mißverstandenen Realismus (Hamburg 1958), S. 77, 84, 70.

Puskins

„Dubrovskij"

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Niemand kann ein Urteil von Georg Lukacs über ein beliebiges Einzelwerk zwingend voraussagen. Denn die vorausgegangene sorgsame Zurechtlegung des Gebildes wird von Lukacs nicht ins Argument mitaufgenommen. Fest steht lediglich und immer das Resultat des Argumentierens. Indem die beschriebenen ,Dinge' aus der Welt der Fiktion herausgenommen werden, sind sie erneut frei für die Verspannung in wertsetzende Disziplinen. Nach solchem Freigeben spricht die auslegende Ideologie je nach Bedarf dem beanspruchten Sachverhalt eine Vermitteltheit zu, die um seine vorgängige, innerfiktionale prinzipiell sich nicht schert.12 Das ästhetische Argument wird erst herangeschleift, wenn das ideologische festgemacht ist. Indem Lukacs für den ideologisch wirksamen Vergleich zwischen Puskin und Kleist die Kategorie des Schönen hereinbringt, verschafft er seinem Argument eine scheinbar ästhetisch objektive Schlagkraft. Dubrovskij ist gesund — denn er behält angesichts der Schrecknisse sozialer Wirklichkeit die moralische Integrität, Kohlhaas indessen ist ein Psychopath, denn er verliert die Übersicht und verstrickt sich in unverantwortliche Rebellion. Daß in solchem Argumentieren leerer Scharfsinn sich ausspricht, sei durch folgende ,Gegen'-Rede dargetan. Warum sollte nicht Kohlhaas als Träger wahren Menschentums aufgefaßt werden, gegen das die feudale Gesellschaft blind bleibt? Und warum sollte man nicht Puskin vorwerfen, er habe sich über den Gang der Geschichte getäuscht, indem er den gerechten Rächer aus den Reihen des Adels und nicht der Bauern rekrutierte? 13 Und wird nicht deshalb das ,Schöne' hier tendenziös beschworen? Viel naheliegender wäre es doch gewesen, den Kohlhaas für die Revolution zu vereinnahmen! — Mit solchen Einwänden bliebe man, gleichwie Lukacs selber sie auffangen mag, auf der Ebene einer die ,Inhalte' wertenden Position. 12

Es sei hier nicht versäumt, auf Theodor W. Adornos Kritik an der interpretatorischen Ausgangsbasis des späten Lukics nachdrücklich zu verweisen. Unter dem Titel „Erpreßte Versöhnung" wird mit Lukacs' hermeneutischem Instrumentarium, wie es in seiner oben erwähnten Schrift „Wider den mißverstandenen Realismus" greifbar wird, aufs radikalste abgerechnet. Bei aller mitleidlosen Schärfe von Wort und Sicht ist an entscheidenden Stellen die tiefe Trauer Adornos um die irreparable Beschädigung eines ästhetischen Bewußtseins vom Range des Lukäcs'schen zu spüren, was seiner Argumentation gerade da, w o sie der umgangssprachlichen Scheltmünze nicht enträt, ein düsteres Pathos mitgibt. (Vgl. Theodor W . A d o r n o : „Erpreßte Versöhnung; zuerst erschienen in: Der Monat, X I , 1958, jetzt in: ders., Noten zur Literatur II, Frankfurt a. M. 1961, S. 152—188).

13

Man beachte zum Beispiel, daß der sowjetische Literaturwissenschaftler N . V. Izmajlov die sozialkritische Unbrauchbarkeit des „Dubrovskij" gerügt hat: an der Spitze der Bauern stehe ein Adliger, zudem sei die Form des Protestes, ein Räuberleben zu führen, exzeptionell und untypisch, ganz abgesehen davon, daß es sich bei dem Konflikt, der den Rächer hervorbringe, um eine rein inneradlige Angelegenheit handele. Außerdem würden die Ansätze zu echter Gesellschaftskritik durch die Melodramatik der Titelgestalt neutralisiert. Izmajlov ist konsequent genug, den „Dubrovskij" deshalb abzutun und dafür den Puskin der „Hauptmannstochter" zu feiern. (Vgl. N . V. Izmajlov: „Kapitanskaja docka", in: Istorija russkogo romana v 2 tt., hrsg. von A. S. Busmin u. a., Moskau/Leningrad 1962, Bd. I, S. 192 f.).

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Werkanalysen

Die Willfährigkeit dichterischer Wirklichkeit gegenüber pragmatischem Scharfsinn spricht indessen nicht für die Unmöglichkeit einer werkangemessenen Deutung, sondern ausschließlich gegen diesen. Und so bleibt an Lukäcs' Ausführungen verdienstvoll nur, daß er innerhalb einer angestrebten Würdigung der Puskinschen Gesamtleistung nachdrücklich auf den „Dubrovskij" aufmerksam gemacht hat, nachdrücklicher als dies meines Wissens irgend sonst geschehen wäre14, und durch sein Urteil dem Zwang zu denken uns aussetzt. Lukäcs erweist sich damit lediglich und zuhöchst, was Thomas Mann an ihm hervorhob, als Vermittler von .Bildung'. 8. „Dubrovskij" und „Michael Kohlhaas" Ich skizziere jetzt abschließend die Grundlinien einer fundamentalästhetischen Analyse für „Dubrovskij" und „Michael Kohlhaas" so weit, wie es nötig ist, um die Basis eines sinnvollen Vergleichs zu schaffen. Beide Werke gestalten dasselbe ahistorische Paradigma: die Empörung angesichts geschehender Unbill. Dieses Paradigma wird auf verschiedene Weise entfaltet und auch unter verschiedenen anthropologischen Prämissen gesehen, so daß der Gegenstand des Gebildes jeweils ein anderer ist. Die anthropologische Prämisse des „Dubrovskij" verneint einen wirksamen Widerstand gegen die Wirklichkeit der Macht. Puskin sieht hier das Individuum potentiell im Würgegriff der Macht des Mächtigen, der sein Vorgehen institutionell absichert und das .Recht' auf seiner Seite hat. Die anthropologische Prämisse des „Michael Kohlhaas" ist nicht an der Wirklichkeit der Macht, sondern an der Wirklichkeit des Staates orientiert. Kleist faßt das Individuum als Staatsbürger. Zur Detaillierung dieser Vergleichsgrundlage setze ich erneut an. Das gestaltete ahistorische Paradigma heißt .Empörung'. Die Befindlichkeit Empörung ist bestimmt durch deren Worüber und deren Wohin. Das Worüber hat die Bewandtnisart des Abträglichen als eines Übergriffs auf etwas, das dem Betroffenen wesentlich ist. Das Wohin ist durch das Worüber mitgesetzt, indem dieses anzeigt, was fehlt. Das Wohin ist gerichtet auf die Annihilation des Abträglichen und die Beeinträchtigung dessen, der das Abträgliche hervorgebracht hat. Die Einfühlung des Lesers in das ahistorisdie Paradigma geschieht ohne Rücksicht auf die anthropologische Prämisse. Der Leser ist mit dem gestalteten 14

Insbesondere sei vermerkt, daß auch ein Boris Tomasevskij auf den „Dubrovskij" nur ganz am Rande zu sprechen kommt. Die melodramatische Zeichnung der Titelgestalt und der Schematismus der Liebesintrige werden implizit getadelt. (Vgl. Boris Tomasevskij, Puskin II, Materialy k monografii, Moskau/Leningrad 1961, hrsg. von V. G. Bazanov, S. 146). Erwähnt sei ferner, daß auch Vsevolod Setschkareff dem Werk verständnislos gegenübersteht: „Man wird von einem Fragment, welches vom Autor nicht gedruckt, ja nicht einmal ins Reine geschrieben wurde, kaum künstlerische Vollendung verlangen können." (Vgl. Vsevolod Setschkareff, Alexander Puschkin. Sein Leben und sein Werk, Wiesbaden 1963, S. 175—177).

Puskins „Dubrovskij"

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Phänomen ,Empörung' gleichsam allein. Die im Werk selbst geschehende Beurteilung bleibt notwendige Konkretion einer Kategorie, ohne die so etwas wie Gebilde nicht sein kann. Je schärfer die anthropologische Prämisse als eine solche unterscheidbar wird, desto entschiedener tritt sie zurück, indem sie das ahistorische Paradigma als hier unter diesem Aspekt gesehen kennzeichnet und es dadurch in seiner Aspektfähigkeit freisetzt. Bei Puskin formuliert sich die Empörung zu einer Gestalt, die aufsteht im Namen derer, die ausdrücklich nach ihr rufen. Diese erste Ausfaltung des ahistorischen Paradigmas orientiert sich weiterhin an der Frage nach den Möglichkeiten von Unrecht. Als Orte werden, wie ich oben zeigte, angesetzt: Öffentlichkeit und Privatsphäre. Das Wohin der Empörung ist in diesem Bereich noch durch nichts gehemmt, der herbeigerufene Rächer zu jeglicher Gewalttat ermächtigt. Bei Kleist begibt sich das von der Unbill betroffene Individuum selber auf den Pfad der Vergeltung. Das Phänomen ,Empörung* wird hier von einer einzigen Person getragen. Die Frage nach den Orten von Unrecht entfällt. Das Wohin der Empörung ist entschränkt. Daß es in solcher Entschränkung tatsächlich gestaltet wird, hat mit dieser prinzipiellen Entschränkung, in der sich das Phänomen konstituiert, nichts zu tun. Im Durchgang durch die anthropologische Prämisse gelangt das zu absoluter begrifflicher Bestimmtheit gebrachte ahistorische Paradigma zu seiner relativen begrifflichen Bestimmtheit. In dieser ist es der Gegenstand des Gebildes. Die anthropologische Prämisse ist die Wahrheit der Welt der Fiktion und gibt somit das Maß ab, woran der Stellenwert der innerfiktional vorliegenden ,Ansichten' über die Befindlichkeit Empörung abzulesen ist. — Wer sich, was Adorno Lukäcs vorwirft, ,unverdrossen ans Erzählte' hält, wird „Dubrovskij" mißverstehen. Die Titelgestalt kann nur dann richtig erfaßt werden, wenn die Konstellation im ,Tatsächlichen', aus der heraus sie entsteht, sorgfältig durchdacht wird. Wie ich gezeigt habe, entspricht' Dubrovskij den Wunschvorstellungen derer, die sich angesichts der im argen liegenden Wirklichkeit eine Gegenkraft ersinnen. Die anthropologische Prämisse läßt jedoch ein Wirksamwerden solcher Gegenkraft nicht zu. Puskin zeigt uns den Mächtigen und den Machtlosen in undialektischem und damit ewigem Gegenüber. Aus dieser apriorischen Folgenlosigkeit der ersonnenen Gegenmaßnahmen erwächst, künstlerisch wirkungsvoll und psychologisch konsequent, die Gestalt des Dubrovskij als paradoxe Mischung aus potentieller Brutalität und rigoros edler Gesinnung. Seine Ausstattung trägt den Stempel der faktischen Ohnmacht derer, die ihn riefen. Archips dezidierter Racheakt zeugt von der gleichen Hilflosigkeit angesichts der Wurzel des Übels wie Mar'jas Verzicht auf jeglichen Widerstand. Man beachte Puskins diabolische Verschränkung der beiden möglichen Reaktionsweisen: Wer die Empörung zur Brutalität echter ,Wirkung' vortreibt, begibt sich in die soziale Ächtung und wird über kurz oder lang von den Regierungstruppen aufgegriffen oder verscheucht und sieht sich obendrein noch in genuiner Divergenz zum ursprünglichen Anspruch, nur das Gesetz herzustellen; wer andererseits die potentielle Brutalität des herbeizitierten

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Rechtsetzers nicht bejahen kann, sieht sich im entsdieidenden Augenblick von seinem eigenen Verlangen nach Recht getrennt. Beide Möglichkeiten, auf die Idee „Dubrovskij" zu reagieren, exerziert Puskin durch, mit demselben Resultat: Ausweglosigkeit. — Daß es der „zerfallenden feudalen Gesellschaft nicht gelingt, das Menschentum des Helden zu verzerren", was Lukdcs an der Erzählung lobend hervorhebt, verweist die Gestalt des Dubrovskij unzweideutig in den Bereich des Utopischen, was Lukacs nicht einsieht. Von einem „revolutionären Optimismus" Puskins kann hier beim besten Willen nicht die Rede sein.15 — Gegenstand des Gebildes ist mithin der ewige Wunsch des Empörten nach Vergeltung, nicht deren 'Wirklichkeit! Gleichwohl ist das ahistorische Paradigma .Empörung' in seiner ganzen ,Fülle' da. Kleists Gegenstand ist ein anderer. Hier steht das verwirklichte Wohin der Empörung zur Debatte. Nicht der Mächtige und der Machtlose stehen sich gegenüber, sondern das Individuum und der Staat in dialektischem Verhältnis. Die dialektische Verquickung beider wird mit unüberholbarer Schärfe ins Bild gerückt: Wo das Recht des Individuums auf Schutz durch das Gesetz ignoriert wird, ignoriert sich der Staat selber: sobald sich das Individuum sein Recht holt und dadurdi selber ,Staat' wird, dies aber nidit wollen kann, weil es nur sich selber will, kann sich der Staat nur durch Bestrafung und Gewährung der geforderten Genugtuung wiederherstellen und damit auch das Individuum als Staatsbürger neu hervorbringen. Und darum liegt über der Hinrichtungsszene die unmenschliche Helligkeit geschehender Wahrheit. Je deutlicher sich Kohlhaas als Staatsbürger Gehör verschafft, so daß seine Sache schließlich zu einer Angelegenheit des gesamten heiligen römischen Reichs wird, desto unaufhaltsamer gerät er unter das Beil des Scharfrichters. „Das ist eine Geschichte", so gestand Franz Kafka, „die ich mit wirklicher Gottesfurcht lese."" — Solches Wort will verstanden sein, denn Kafka war nicht fromm. Wofür wird Kohlhaas, recht besehen, bestraft? — Für sein Wort an Johann Nagelschmidt, die Inkarnation wahrer Gesetzesferne.17 Es ist kein Zufall, daß 15

18

17

Jenseits solcher Richtigstellungen sei bedacht, daß selbst dann, wenn die Beobachtungen Lukacs nicht mit dem konkreten Gehalt des Textes in Widerspruch stünden, eine Gleichsetzung der in der Welt der Fiktion beschworenen Zukünftigkeit mit der erfüllten Zukünftigkeit der geschichtlichen Empirie ein fragwürdiges Unterfangen bleibt. Vgl. Franz Kafka: Briefe an Feiice, hrsg. von Erich Heller und Jürgen Born (Frankfurt a. M. 1967), S. 291. Zwar basiert die Beschwerde des Kurfürsten von Sachsen an den Kaiser ausschließlich auf dem von Kohlhaas begangenen Landfriedensbruch und die NagelschmidtAffäre bleibt bewußt ausgeblendet, gleichwohl wäre der Landfriedensbrudi ohne die Komponente „Nagelschmidt" in Kohlhaas nicht möglich gewesen. Dies sieht imierfiktional niemand! Kleist zeigt uns: Kohlhaas schafft sich sein Schicksal selber, indem er das wird, was er — gemäß der anthropologischen Prämisse — schon ist. Die dabei auftretenden Zufälligkeiten (Nagelschmidt zum Beispiel wäre ja um ein Haar von Kohlhaas hingerichtet worden) wie auch die zweifelhafte Gesinnung des Kurfürsten von Sachsen sind gleichsam Vergrößerungsgläser für die Wesensqualitäten eines „Kohlhaas" und dürfen nicht als schicksalsbestimmend aufgefaßt werden.

Puskins

„Duhrovskij"

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Kleist beide Namen mit denselben Vokalen ausstattete: M i ch a e 1 K o hlh aas — J o h i i n n N i z g e lschm i dt.18 Durch die Existenz des Nagelschmidt wird die Amnestierung des Kohlhaas vereitelt. Dies heißt: Kohlhaas wird bestraft für das, was seine Haltung im Prinzip mit sich führt, für das, was sie notwendig weckt, seinen ewigen Schatten. Wo ein „Michael Kohlhaas" auftaucht, da ist auch ein „Johann Nagelschmidt" nicht weit: das Sengen und Plündern um ihrer selbst willen. Kleist läßt keinen Zweifel darüber, daß Kohlhaas den Nagelschmidt erschuf: „Johann Nagelsdimidt nämlich, einer von den durch den Roßhändler zusammengebrachten und nach der Erscheinung der kurfürstlichen Amnestie wieder abgedankten Knechten, hatte für gut befunden, wenige Wochen nachher, an der böhmischen Grenze, einen Teil dieses zu allen Schandtaten aufgelegten Gesindels von neuem zusammenzuraffen, und das Gewerbe, auf dessen Spur ihn Kohlhaas geführt hatte, auf seine eigene Hand fortzusetzen"." Die Tragik des Kohlhaas liegt darin, daß die fundamentale menschliche Regung, für die er bestraft wird, weil sie, um wirksam zu werden, wo sie keine objektive Anerkennung findet, die Bejahung archaischer Aggressivität voraussetzt, gleichzeitig der im Individuum liegende Garant für die Existenz sinnvoller Ordnung schlechthin ist: das Anstoßnehmen bis ins Mark an verweigertem Recht. Solche Sensibilität ist das notwendige Korrektiv gegen die Depravierung dessen, was als normal sidi ansetzt, und fungiert in keiner Weise als Ausweis für ein klinisches Unikum. Das Überwältigende der Gestalt des Kohlhaas gründet in Kleists ursprünglicher Einsicht, daß archaische Aggressivität gerade da am fundamentalsten und verheerendsten zum Durchbruch kommt, wo der Wille zur peinlich genauen Kontrolle aller eigenen Maximen herrschend war und deshalb nur sich verhöhnt sehen konnte. Kohlhaas schlägt erst zu, als man ihn als Staatsbürger endgültig ignoriert. Was Lukdcs an Kohlhaas als pathologisch' rügt, ist die adäquate Reaktion des Individuums auf das Versagen des Staates. „Wer mir den Schutz der Gesetze verweigert", so argumentiert Kohlhaas im Gespräch mit Martin Luther, „gibt mir, wie wollt Ihr das leugnen, die Keule, die mich selbst schützt, in die Hand" (45). Aber auch das Verhalten des Staats wird als adäquate Reaktion dargestellt. Dies darf nicht übersehen werden.20 Selbst wenn Kohlhaas begnadigt würde, indem ihm zu 18

In Kleists Quelle, einer Chronik, die 1731 in einem Sammelwerk erschienen war, lauteten die Namen Hans Kohlhase und Georg Nagelsdimidt. (Vgl. Helmut Sembdners Anmerkungen zu der von ihm besorgten Ausgabe: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, 2 Bde., München, 2. revidierte Aufl. 1961, Bd. II, S. 894). Daß die Namensänderungen auch im Hinblick auf die hier vorgetragene Deutung vorgenommen wurden, scheint mir außer Zweifel zu stehen.

19

Zitiert nach der Ausgabe von Helmut Sembdner, op. cit., Bd. II, S. 65. Man beachte die in der Kleist-Forschung neuerdings anzutreffende Tendenz, das Verhalten des Kohlhaas im positiven Licht revolutionärer Gesinnung zu sehen. Die Versuche, Kohlhaas nicht mehr als Frevler zu deuten, verdienen höchstes Interesse. Es sei hier insbesondere auf den anregenden Aufsatz von Richard Matthias Müller aufmerksam gemacht („Kleists ,Michael Kohlhaas'", in Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Bd. 44, 1970, Heft 1,

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Gunsten ein Machtspruch des Kaisers fiele, stünde sein eigentliches Schicksal fest. Hierzu seien die Worte des Kurfürsten von Brandenburg auf der Richtstätte angeführt: „Der Kurfürst rief: ,nun, Kohlhaas, der Roßhändler, du, dem solcherart Genugtuung geworden, mache dich bereit, kaiserlicher Majestät, deren Anwalt hier steht, wegen des Bruchs ihres Landfriedens, deinerseits Genugtuung zu geben!' " (102) Es wäre völlig falsch, wollte man die Verurteilung des Kohlhaas als Folge der feudalen Gesellschaftsordnung ansehen.21 Diese ist vorhanden als Bestandteil des gewählten Konkretionssubstrats. Zwar wird so die Form des Instanzenweges festgelegt, nicht aber das Schicksal des Kohlhaas. Dieses ergibt sich allein aus der anthropologischen Prämisse und steht in keinem Zusammenhang mit dem Konkretionssubstrat (Deutschland Mitte des 16. Jahrhunderts), das sich mit jeder beliebigen anderen anthropologischen Prämisse kombinieren ließe. 9. Zusätzliches Ich habe bereits darauf aufmerksam gemacht, daß der „Dubrovskij", streng genommen, ein Fragment geblieben ist. Dennoch darf er als ,abgeschlossenes* Werk gelten. Es sei hier ein kurzer Blick auf die erhaltenen Pläne Puskins zum dritten Teil der Erzählung getan, der ungeschrieben blieb. Puskin arbeitete am „Dubrovskij" von Oktober 1832 bis Februar 1833. Den Anstoß bildete ein tatsächliches Vorkommnis, über das Puskin durch seinen Freund P. V. Nascokin Ende September 1832 unterrichtet wurde: ein verarmter weißrussischer Adliger namens Ostrovskij wurde im Prozeß mit einem Nachbarn um sein Besitztum gebracht und machte sich danach mit dem ihm verbliebenen Gesinde daran, am Prozeß beteiligte Beamte und dann auch andere S. 100—120). Noch Benno von Wiese kennzeichnet das Vorgehen des Kohlhaas als ,tragische Hybris' (Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka, I, 1958, S. 60). — Gleichwohl bleibt Kleists paradoxe Schärfe nur dann in Sicht, wenn man den Akzent nicht auf die Staatsform (und eine realistische revolutionäre Gesinnung hätte sich gegen diese zu richten), sondern auf den Staat überhaupt setzt. Der Niedergang des Kurfürsten von Sachsen (Kapsel-Geschichte) — von Richard Matthias Müller als Ausblick auf den Volksaufstand gedeutet — bliebe dann ein systemimmanentes, mithin revolutionsfernes Problem: das bildlich gefaßte Zerrissenwerden eines einflußreichen Einzelnen, der einen Konflikt aus verwerflichen Motiven der richtigen Lösung zuführt. Mit einem Wort: der Kurfürst von Sachsen wird als staatsunwürdig gestaltet: seinem Geschlecht, so darf man schließen, steht der Untergang bevor, wohingegen die Gesinnung des Kohlhaas als staatswürdig dasteht: seine Söhne werden deshalb (so gilt es zu folgern) zu Rittern geschlagen. 21

Vollends begibt sich ins Bodenlose, wer, wie Georg Lukics es versucht, nicht nur das Schicksal der Hauptgestalt mit der Haltung des Dichters zu den Realitäten der feudalen Gesellschaft in einen Kausalzusammenhang zu bringen, sondern auch die angewandten Kunstgriffe, hier also etwa Kleists Handhabung phantastischer Elemente oder den Erzählton.

Puskins

„Dubrovskij"

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Personen auszurauben. Nascokin hatte Ostrovskij noch in der Festung aufgesucht (um das Jahr 1810).22 Aus Ostrovskij wurde Zubrovskij und aus Zubrovskij schließlich Dubrovskij. 23 Der Rächer wird zum Sohn des Geschädigten. Zunächst sollte „Dubrovskij" Troekurov umbringen. Eine weitere Phase des Plans sieht vor, daß Dubrovskij — hier noch Ostrovskij — als Hauslehrer mit Mar'ja auf und davon geht, seine Räuberbande auflöst und sich mit seiner Frau (!), die inzwischen niedergekommen ist und kränkelt, nach Moskau begibt, wo er sich an die Polizei verraten sieht. Vom Raffinement bei der Gestaltung des jetzt endgültigen Textes ist hier nicht das Geringste zu ahnen. Zu den nicht ausgeführten Kapiteln finden sich folgende Notizen: „Das Leben der Mar'ja Kirilovna. Der Tod des Fürsten Verejskij. Witwe. Der Engländer. Das Stelldichein. Die Spieler. Der Polizeichef. Schluß." (2izn' Mar'i Kirilovny. Smert' knjazja Verejskogo. Vdova. Angliianin. Svidanie. Igroki. Policmejster. Razvjazka.) 24 Man beachte auch auf dem Hintergrund meiner Ausführungen, daß das Wiedersehen zwischen Vladimir und Mar'ja erst nach dem Tode Verejskijs stattfinden sollte; Mar'jas Freiheit sollte nicht durch Dubrovskij bewirkt werden. Gleichwohl sollte so kein positiver Ausgang geschaffen werden. Ein anderer Plan spricht am Ende von ,Moskau, Arzt, Isolation' (Moskva, lekar', uedinenie), von einer ,Kneipe' (kabak) und schließlich von Verdächtigungen' (podozrenija) und ,Polizeichef' (policmejster). Wie man es auch anstellt, etwas wirklich Konkretes ist aus diesen Entwürfen nicht herauszulesen. Darauf hat auch Dmitrij Tschizewskij aufmerksam gemacht. 25 Die innere Richtung des Puskinschen Planens steht indessen fest: zu zeigen, daß, wer es auf sich nähme, ein „Dubrovskij" zu sein, innerhalb der sozialen Wirklichkeit keinen Ort hätte. Ständig kehren wieder: die ,Auflösung der Räuberbande' (raspuscennaja ¡Sajka) und das Auftauchen des ,Polizeidiefs' (policmejster), mithin die Verhaftung Dubrovskijs. Im Hinblick auf die dargelegte Realitätsbezogenheit des ,Längeren Gedankenspiels' heißt das: mit dem Verschwinden „Dubrovskijs" aus der Wunsdiwelt der ,Mar'ja Troekurova' 22

23

24 25

Vgl. die Anhänge zu den Ausgaben: A. S. PuSkin, Soc. v. 3 tt, hrsg. von D . D . Blagoj, Bd. 3 (Moskau 1958), S. 593 ff. und A. S. PuiSkin, Sobr. soc. v 10 tt, hrsg. von D. D. Blagoj (Moskau 1959—1962), Bd. 5, S. 548 ff. Der Name Dubrovskij geht offensichtlich auf einen Pleskauer Gutsbesitzer des 18. Jahrhunderts zurück, der seine Bauern zum Aufstand ermutigte. — Das Dokument der Urteilsbegründung, das Puskin in seine Erzählung übernahm, bezieht sich auf einen anderen, dem Ostrovskijschen ähnlichen Fall. — Wie man sieht, kreiste Puskins Interesse um den Mißbrauch der Macht und die Möglichkeiten der Revolte. Noch während der Niederschrift des „Dubrovskij" entwarf Puskin Pläne zur „Hauptmannstochter". Dies hat in der Puskin-Forschung die Meinung gefestigt, es handele sidi bei „Dubrovskij" um eine mehr oder weniger harmlose Vorstudie zur Problematik der Gestalt Pugaievs (TomaSevskij, Izmajlov, S. M. Petrov). Bd. V der oben zitierten lObändigen Puskin-Ausgabe, S. 552. Vgl. Dmitrij Tsdiizewskij, Nachwort zur Ausgabe: Alexander Pusdikin, Erzählungen, übers, von F. Ottow (München, Winkler-Verlag, 1957), S. 454.

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wurde das Schicksal Vladimir Dubrovskijs innerhalb der objektiven Wirklichkeit der Fiktion mitgesetzt. Die noch ausstehenden Kapitel hätten nur aussprechen können, was die vorhandenen implizit schon sagen. Mit einem Wort: das Fehlende fehlt nicht.

B. Edgar Allan Poes „Bericht des Arthur Gordon Pym" 1. Poes Schaffenslage „Der Bericht des Arthur Gordon Pym" (The Narrative of Arthur Gordon Pym) ist nicht nur das neben „Heureka" (Eureka) ehrgeizigste Werk Poes, es gehört auch in eine Reihe mit seinen dichterisch stärksten. Das Lesepublikum scheint nur zögernd zu dieser Erkenntnis zu gelangen und die wissenschaftliche Kritik nur auf Umwegen.1 Der Grund dafür liegt in der Eigenart und damit im Rang dieses Werks: seine Form ist zutiefst ironisch und erfordert, um als eine solche erkannt und goutiert zu werden, ein nicht unerhebliches Maß an Reflexionswachheit. Die Ebene, auf der es auch dem naiven Leser, dessen Haltung durch unmittelbare menschliche Teilnahme wesenhaft gekennzeichnet ist, etwas zu sagen hat, ist hier irreführender denn je bei Poe. Die Kunst, mit der hier eine in denkerischer Strenge entwickelte Bildfolge zur bloßen Mannigfaltigkeit beliebiger Unbill stilisiert wurde, ist so groß und von einer derartigen Durchtriebenheit, daß sie auch von Kennern nur teilweise durchschaut und gewürdigt wurde: der Gegenstand des Gebildes blieb bislang ungesehen. So überrascht es nicht, daß der „Bericht des Arthur Gordon Pym" wiederholt als nur mehr oder minder ingeniös durchgestalteter Abenteuerroman registriert worden ist. Zwar hat bereits Charles Baudelaire, indem er Poes ,roman analytique' zu den Marksteinen in der Gestaltung der inneren Landschaft des modernen Bewußtseins rechnete,8 auf wesentlichere Eigentümlichkeiten angespielt, zwar sind inzwischen — seit der von Marie Bonaparte unternommenen tiefenpsychologischen Analyse (1933) — mehrere detaillierte Versuche zu verzeichnen, die der landläufigen Unterschätzung des Werks entgegenarbeiten und etwa auf 1

Ich stimme Daniel Hoffman (Poe, Poe, Poe, Poe, Poe, Poe, Poe, Garden City/ N e w Y o r k : Anchor Press 1973) voll zu, wenn er den „ P y m " zusammen mit „Eureka" und „Fall of the House of Usher" an die Spitze des Poeschen Gesamtwerks stellt. — Hoffman deutet den „ P y m " als Beispiel einer degressive imagination' und bestimmt den Grundgedanken als ,the longing of the living body to die', wozu das Anagramm Imp ( = Pym) herbeigezogen wird. Auch Hoffmans Deutung stößt indessen nicht auf die Ebene des Sinnbilds vor, auf der die Episodenfolge dieses Werks ihren wirklichen Zusammenhalt findet.

2

Vgl. Charles Baudelaire: Oeuvres (Paris: Bibliothèque de la Pléiade 1954), S. 1115. An Baudelaire knüpft an Walther Killy in 'Wirklichkeit und Kunstcharakter. Neun Romane des 19. Jahrhunderts (München 1963). Vgl. des weiteren Gaston Bachelard: L'eau et les rêves. Essai sur l'imagination de la matière (Paris 1942).

Edgar Allan Poes „Beriebt des Arthur Gordon

Pym"

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seinem Anteil an den archaischen Angstvorstellungen der Menschheit insistieren: eine

angemessene Deutung dieser

seltsamen Dichtung fehlt

aber,

wie

mir

scheint, bis heute. D e r Grund dafür, daß die bisherigen Interpretationsversuche lediglich auf treffende Einzelbeobachtungen hinauslaufen konnten, soll im folgenden verdeutlicht werden." Zunächst sei Poes Schaffenslage skizziert. Dies jedoch nicht zum Z w e c k der psychologischen Ausleuchtung einer bestimmten Stelle seiner privaten Biographie, sondern einzig zur Verdeutlichung der damaligen Aktualität jener halbliterarischen Gattung, die Poe seinen Absichten zugrundelegte. Diese Gattung ist der Reisebericht. Was Poe zur W a h l dieser Gattung in ihrer Sonderform des Berichts über eine Seereise veranlaßte, ist leicht einzusehen: er spekulierte auf das Leseinteresse des größeren Publikums. D i e Wahl einer Fahrt zum Südpol ist keine zufällige. D e r „Bericht des Arthur Gordon P y m " erschien 1838. Zu dieser Zeit war die Antarktis noch nicht erforscht. M a n erging sich in Mutmaßungen, ob dort Land sei oder Wasser. Phantastereien fanden G e h ö r : so die von J o h n Cleve Symmes entwickelte Theorie von den ,Öffnungen an den Polen', den eisumgürteten Zugängen ins hohle Erdinnere zu völlig unbekannten Lebensbereichen. Symmes veröffentlichte seine Theorie 1826 in Zusammenarbeit mit James McBride unter dem Titel „Symmes' Theory of Concentric Spheres" 4 . Erst die von der amerikanischen Marine ausgerüstete Wilkes-Expedition schuf in den Jahren 1 8 4 0 — 4 2 endgültig Klarheit. M i t einem W o r t : Südpolexpeditionen standen im Zentrum des allgemeinen Interesses, das mit

patriotischem

Bangen untermischt war, weil neben den Vereinigten Staaten auch Holland, ® Es seien hier die folgenden Arbeiten genannt: Patrick F. Quinn: „Poe's Imaginary Voyage" (Hudson Review, IV, 1952, 562—585), Edward H.Davidson: Poe. A Critical Study (Cambridge, Mass., 1957), Walter E. Bezanson: „The Troubled Sleep of Arthur Gordon Pym" (In: R. Kirk and S.F.Main: Essays in Literary History Presented to J. Milton French. New Brunswick, N . J . , 1960, S. 149—175), Moffitt L. Cecil: „The Two Narratives of Arthur Gordon Pym" (Texas Studies in Literature and Language, V. 1963, S. 232—241), Roger Forclaz: ,,Un voyage aux frontières de l'inconnu: Les Aventures d' A. G. Pym, d'Edgar Poe" (Etudes de Lettres, Université de Lausanne, VII, 1964, S. 46—58), Hellmuth Petriconi: „Abenteuer und kein Ende II: Aventures D'Arthur Gordon Pym" (Romanistisches Jahrbuch XV, 1964, S. 160—71), J. V. Ridgely and Iola S. Ha vers tide: „Chartless Voyage: The Many Narratives of Arthur Gordon Pym" (Texas Studies in Literature and Language, VIII, 1966, 63—80), Helen Lee: „Possibilities of Pym" (English Journal, LV, 1966, S. 1149—1154), Pascal Covici Jr.: „Toward a Reading of Poe's .Narrative of Arthur Gordon Pym' " (Mississippi Quarterly 2, 1968), Patrick F. Quinn: „.Arthur Gordon Pym': ,A Journey to the End of the Page'" (Poe Newsletter, I, 1968), Grace F.Lee: „The Quest of Arthur Gordon Pym" (Southern Literary Journal, IV, Spring 1972, S. 34—40). 4 Bereits 1823 hatte Symmes den amerikanischen Kongreß in einer Eingabe ersucht, seine Theorie, die er seit 1818 in Rundschreiben an wissenschaftliche Institutionen verbreitet hatte, durch Aussendung einer Expedition zu prüfen und 25 positive Stimmen erhalten. Den Durchmesser der Öffnung am Südpol veranschlagte Symmes mit 6000 Meilen. — Am Rande sei angemerkt, daß Symmes' Hole noch 1854 in Thoreaus „Waiden" (Schlußkapitel) als fester Begriff auftaucht.

Werkanalysen

112

Frankreich, Deutschland, R u ß l a n d und England bei der Erforschung dieser Erdregion Ehrgeiz zeigten. An diesbezüglichen Quellen wurden von Poe insbesondere herangezogen und zum Teil in enger und engster Anlehnung verarbeitet: Benjamin Morrells „ N a r rative of Four Voyages to the South Seas, N o r t h and South Pacific Ocean, Chinese Sea, Ethiopic Ocean, From the year

and Southern Atlantic Ocean, Indian 1822 to 1 8 3 1 "

(New York

and Antarctic

1832) 5 und

Jeremiah

N . Reynolds' „Address on the Subject of a Surveying and Exploring Expedition to the Pacific Ocean and South Seas. Delivered in the H a l l of Representatives on the Evening o f April, 3, 1 8 3 6 " ( N e w Y o r k 1836). 6 Außerdem benutzte Poe das zweibändige Werk von James C o o k und James K i n g „ A Voyage to the P a c i f i c " (London 1784). Daneben hat Poe — und zwar vornehmlich im ersten Teil seines Buches 7 — eine Reihe von Berichten über die Strapazen und Gefahren der Seefahrt schlechthin verarbeitet. Mit solchen Werken wurde die Anschauungsbasis für die Schilderung der exzeptionellen Alltäglichkeit des Lebens auf See ungeachtet der plötzlichen Aufgipfelungen durch bestimmte Entdeckungen geliefert. Als Poes Rüstzeug dürfen in dieser Hinsicht betrachtet werden: Archibald Duncans „ T h e Mariner's Chronicle" ( 1 8 0 4 ) und vor allem das an dieses W e r k anschließende und ihm verpflichtete Buch von R . Thomas „An Authentic Account of the Most Remarkable Events: Containing the Lives o f the Most noted Pirates and Piracies. Also, the most Remarkable Shipwrecks, Fires, Famines, Calamities, Providential Deliverances, and Lamentable Disasters on the Seas, in most parts o f the W o r l d " (New Y o r k 1836). 8 Neben den bislang aufgeführten Schriften, die Sachbuch-Charakter tragen, darf vor allem ein dichterisches W e r k nicht ungenannt bleiben, das unmittelbar auf Poes Unternehmen eingewirkt hat. Es ist dies der utopische R o m a n „ S y m zonia: A Voyage of D i s c o v e r y " ( N e w Y o r k 1 8 2 0 ) von Adam Seaborn (möglicherweise ein Pseudonym für den oben genannten Symmes, auf dessen T h e o rien sich der Titel bezieht). Darin wird geschildert, wie ein verwegener K a p i t ä n über den R a n d des Südpols hinweg ins hohle Erdinnere vorstößt und dort Wesen von abnorm heller H a u t f a r b e antrifft, die sich durch eine vorbildliche

5

6

7 8

Vgl. D. M. McKeithan: „Two Sources of Poe's .Narrative of Arthur Gordon Pym'", in: Texas University Studies in English, XIII, 1933, S. 116—137. — Behandelt Morrells .Voyages' und Duncans .Mariner's Chronicle'. Reynold's „Address" umfaßte 1500 Wörter. Poe übernahm daraus Passagen von insgesamt 700 Wörtern. — Vgl. auch Poes Rezension dieser Schrift im „Southern Literary Messenger" (Jan. 1837); abgedruckt in der Ausgabe: Poe, Works (Harrison), Bd. IX, S. 306 f. — Vgl. Aubrey Starke: „Poe's Friend Reynolds", in: American Literature, XI, 1939, 152—59; und Robert F. Almy: „J. N. Reynolds: A Brief Biography with Particular Reference to Poe and Symmes", in: The Colophon, New Series, II, 2, 1937, S. 227—245. Bis zur Rettung der Schiffbrüchigen durch die „Jane Guy". Vgl. Keith Huntress: „Another Source for Poe's .Narrative of Arthur Gordon Pym' ". in: American Literature, XVI, 1944, 19—25.

Edgar Allan Poes „Bericht des Arthur

Gordon

Pym"

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Vernünftigkeit auszeichnen. Poes schöpferische Auswertung dieses Werks hat J. O. Bailey eingehend untersucht. 9 Arno Schmidt hat die Vermutung geäußert, Poe habe sein Werk in „ausdrücklicher Konkurrenz" zu James Fenimore Coopers gesellschaftskritischer Satire „The Monikins" (anonym 1835) verfaßt. 10 (Der Titel nennt denkende Affen, deren Heimatinsel im Südmeer liegt.) Es ist sehr wahrscheinlich, wenngleich bislang nicht erwiesen, daß Poe Coopers Buch kannte und durch die Kontroversen, die es hervorrief, angereizt wurde, den aktuellen Appeal antarktischer Landschaft auf seine Weise zu nutzen. Als wirklicher Konkurrent, nämlich in rein künstlerischer Hinsicht, hat, wie mir scheint, allein Samuel Taylor Coleridge zu gelten, dessen „Rime of the Ancient Mariner" (1798; mit Randglossen 1817) Poe gut bekannt war. Die Genialität des Engländers zwang zu wohlüberlegter Distanz. Von einem Rückgriff auf ausdrücklich Ähnliches kann keine Rede sein: Poe gipfelte vollkommen anderes auf als Coleridge. So hat zum Beispiel der bei Coleridge tabuisierte Albatros bei Poe jegliche Bannkraft verloren und fungiert nur noch als zoologische Merkwürdigkeit. — Dieser Seitenblick auf Coleridge geht bereits über die hier vorgenommene Kennzeichnung der unmittelbaren Einflußsphäre hinaus und berührt schon das Problem der literarhistorischen Einordnung, die erst im dritten Teil dieser Untersuchung vorgenommen wird. Es zeigte sich: Poe hat die umlaufenden Vorstellungen seiner Zeit über eine ganz bestimmte Weltgegend samt ihren historischen Voraussetzungen, die in den genuin wissenschaftlichen und den populär sensationell gehaltenen Reiseberichten enthalten waren, zum Fundament seiner Imagination werden lassen. Der seefahrende Mensch wurde dabei in seiner Typik erschaut. Man beachte, daß der Überhang ins Utopische, Phantastische hier als eine Dimension des Wirklichen selber zu gelten hat. Die Materie rührte bereits in ihrer historischen Tatsächlichkeit an den Kern uralter Menschheitsvorstellungen, und die von Poe gewählte Darstellungsform: der Bericht im sachlichen Tenor des Log-Buchs — ist dieser Materie auf natürliche Weise zugeordnet. Und so fügten sich hier von der Sache her Eigentümlichkeiten zusammen, die Poes ganz spezielle Begabung: das Außergewöhnliche und das alle Erfahrung Überschreitende durchs Prisma des streng wissenschaftlichen Reports zu betrachten, zur Entfaltung regelrecht zwangen. Das Werk erschien in seiner heutigen Gestalt zum erstenmal im Juli 1838 im einflußreichen New Yorker Verlag Harper & Brothers. (Poe war damals 29 Jahre alt.) Der Charakter eines echten Reiseberichts blieb auch auf dem Titelblatt gewahrt: der Name des wirklichen Autors fehlte. Poe wurde lediglich in Pyms Vorwort als Bearbeiter einiger weniger Kapitel genannt. Der volle Titel — der leider auch in amerikanischen Ausgaben so gut wie nie gebracht wird — lautet: „The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket, Com9

10

Vgl. J. O. Bailey, „Sources for Poe's ,Arthur Gordon Pym', ,Hans Pfaall', and other Pieces", in: PMLA, LVII, 1942. S. 513—35. Vgl. Arno Schmidts Nachwort zu Coopers Conanchet oder die Beweinte von WishTon-Wish (Stuttgart 1962), S. 642.

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prising the Details of a Mutiny and Atrocious Butchery on Board the American Brig Grampus, on her way to the South Seas — with an Account of the Recapture of the Vessel by the Survivors; their Shipwreck, and subsequent Horrible Sufferings from Famine; their Deliverance by means of the British Schooner Jane Guy; the brief Cruise of this latter Vessel in the Antarctic Ocean, her Capture, and the Massacre of her Crew among a Group of Islands in the 84th Parallel of Southern Latitude, together with the Incredible Adventures and Discoveries still further South, to which that Distressing Calamity gave rise." (Gleichzeitig erschien eine Ausgabe im Londoner Verlag Wiley & Putnam, der dann in England mehrere Raubdrucke folgten.) — Vor der Buchausgabe hatte Poe bereits zwei Folgen des Werks unter seinem eigenen Namen im „Southern Literary Messenger" (Januar und Februar 1837) erscheinen lassen. Genauer ausgedrückt: Poes Name erschien nur im Inhaltsverzeichnis, nicht aber im Innern des Heftes. 11 Über Poes Quellen und Entlehnungen liegen bereits recht detaillierte Forschungsergebnisse vor, auf die jedoch in den hier vorgenommenen Überlegungen nur noch am Rande eingegangen werden soll.12 Denn die poetologische Besinnung angesichts des endgültigen Textes hat das Detail solcher Forschung im Grunde nicht nötig. Es gilt vielmehr zu sehen, was Poe durch seine dezidierte Aufgipfelung der Besonderheiten einer halb-literarischen Gattung erreichte. Indem Poe gleichsam Fertigteile benutzt, die authentische Information in sein Werk einbaut, verschafft er diesem zwar auf den ersten Blick den Anschein der Authentizität; doch wird durch solches Verfahren weiterhin, was viel wesentlicher ist, deutlich, daß der authentische Bericht vom Nichtfachmann in Wahrheit immer nur als Gestus eines bestimmten Sagens erfahren werden kann. Bedeutsam wird hier, daß Poe nicht so weit geht wie Adam Seaborns „Symzonia"; und doch weiter als die Wirklichkeit! Solche Beschränkung hat nun nicht darin ihr wahres Ziel, das kühn Erfundene mit dem Wirklichen verwechselbar zu halten, sondern in der Kennzeichnung jener Schwebe, in der auch der echte Bericht, der erstmalig Kunde vom Unerforschten bringt, den Leser beläßt: nämlich aus dem zur Verfügung stehenden Erfahrungshorizont nicht sagen zu können, ob hier eventuell das Wirkliche überschritten wird. Mit einem Wort: Die Aktualität des Reiseberichts wurde f ü r Poe der Anlaß, den wissenschaftlichen Report in seiner Wissenschaftlichkeit ästhetisch zu sehen. Der Gestus wissenschaftlicher Beschreibung wurde als solcher zur Abhebung gebracht. Im inhaltlichen Bereich hatte dies zur Voraussetzung, die Grenze 11

12

Die erste Folge umfaßte das erste Kapitel und einen Teil des zweiten, die zweite den Rest des zweiten Kapitels, das dritte und einen Teil des vierten (bis „not concerned in the mutiny, twenty seven."). Pyms Vorwort erschien erst in der Buchausgabe. Außer den bereits aufgeführten Arbeiten vgl. Robert Lee Rhea: „Some Obser-

vations on Poe's Origins", in: Texas

University

Studies in English, X, 1930,

S. 135—145; sorgfältige Kennzeichnungen der Passagen, zu denen sich Parallelen in anderen Werken feststellen lassen, finden sich in der von Kuno Schumann und Hans Dieter Müller besorgten deutschen Ausgabe: Poe, Sämtliche Werke, Bd. II (Freiburg und Ölten 1967).

Edgar Allan Poes „Bericht des Arthur Gordon Pytn"

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zwischen dem Faktischen (B. Morrell, J . Reynolds, R. Thomas) und dem Phantastischen (A. Seaborn) nur so weit gegen dieses hin zu überschreiten, daß die Überschreitung als Möglichkeit des Faktischen gelten konnte, gleichwohl aber als solche kenntlich blieb. Der Blick auf Poes „Vorbilder" dürfte, wie mir scheint, die Heraushebung dieses Gedankens erleichtert haben, der ohne solche Rückbesinnung auf die historische Lage manchem wie eine pure Spekulation hätte erscheinen können. Ich werde weiter unten, bei der Diskussion der „Ironie der Form" diese Überlegungen erneut und radikaler aufgreifen. Zuvor sei das organisierende Prinzip des Werkes dargetan und damit der Gegenstand des Gebildes ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.

2. Die Werkanalyse I. Der Gegenstand des Gebildes Das Worumwillen des Gebildes „Arthur Gordon Pym" ist die Befindlichkeit des Auf-der-Hut-seins. Diese hat zur Voraussetzung das Wissen um Gefahr. Das Auf-der-Hut-sein gelangt in eine äußerste Möglichkeit in der Situation des Kampfes. Alles Begegnende wird auf Zuträglichkeit oder Abträglichkeit abgehorcht. Das Wovor des Auf-der-Hut-seins ist das Abträgliche. Die Befindlichkeit des Auf-der-Hut-seins wird uns im „Arthur Gordon Pym" fast unablässig vorgeführt. Immer wieder ergibt sich Gefahr. Immer wieder kommt es zur Situation des Kampfes. Was soll dieses Immer-wieder? Hätte es nicht genügt, wenn Poe uns nur eine einzige Kampfsituation dargestellt hätte? Warum die vielen? Etwa deshalb, weil es zum Genre des abenteuerlichen Reiseberichts gehört, eine Serie von Kämpfen zu liefern, damit die Aufmerksamkeit des Lesers immer neu gefesselt wird? Ist die Vielfalt der Kämpfe, die uns vorgeführt wird, nicht eine unnütze Wiederholung von ein und demselben? Gewiß könnte man sagen, daß die dargestellten Kampfsituationen im Verlauf des Berichtes eine Steigerung ins Absonderliche erfahren, aber reicht solche Steigerung aus, um das Argument, hier werde nur eine äußere Mannigfaltigkeit geboten, zu entkräften? Wo ist zu suchen, um das Gebilde vor solcher Einrede bewahren zu können? Man betrachte dazu das Wovor des Auf-der-Hut-seins. Es wurde als das Abträgliche gekennzeichnet. In welcher Gestalt tritt das Abträgliche jeweils auf? Wie sehen die konkreten Wogegen der jeweiligen Kämpfe aus? Das Wogegen der Kämpfe Pyms sind einmal: die feindseligen Artgenossen und zum anderen: die Gewalten der Natur. Der Kampf mit den Artgenossen wird in zwei Aspekten dargestellt: als Auseinandersetzung mit den feindseligen Elementen jener Gemeinschaft, in die Pym sich hineingestellt sieht, und als Auseinandersetzung mit einer fremden Volksgemeinschaft, die die Gemeinschaft, der Pym angehört, als Gesamt vernichten möchte. Das Abträgliche in Gestalt der Gewalten der Natur wird ebenfalls in zwei Aspekten gestaltet. Die Naturkräfte treten als blinde Naturgewalt auf und als vom Menschengeist dienstbar gemachtes Zerstörungsmittel.

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Man sieht: Poe hat die Wogegen des Kampfes systematisiert. Solche Systematisierung fußt darauf, daß die menschliche Situation in allgemeinster Typisierung in den Blick gebracht wird. Auffallend ist, daß das Wogegen des Kampfes in zwei Fällen als Rätsel, das es zu lösen gilt, gestaltet wird: beim erstenmal löst sich das Rätsel auf (Pyms Aufenthalt im Laderaum der „Grampus") das zweitemal bleibt es bestehen (Pyms Einfahrt in die weiße Finsternis des Südpols). Das Auf-der-Hutsein sieht sich in beiden Fällen keinem konkreten Wovor gegenüber. Was ist daraus für die Bestimmung des Gegenstandes des Gebildes zu schließen? Wie sind die beiden letztgenannten Ausprägungen des Auf-der-Hut-seins mit der zuvor freigelegten Systematisierung der Kampfsituationen in Beziehung zu bringen, damit das organisierende Prinzip sichtbar werde? Einen Wink für das rechte Erfassen des Gegenstandes des Gebildes gibt uns der Name des Titelhelden: Arthur Gordon Pym. Zahl und Anordnung der Silben sind dieselben wie im Namen des Autors: Edgar Allan Poe. Wäre das Ganze somit eine verschlüsselte Selbstbiographie? Will die Parallelität im Klang der Namen uns bedeuten, das Werk auf chiffrierte Bilder anzusehen, deren Dechiffrierung Aufschluß über bestimmte Episoden im tatsächlich gelebten Leben des Autors geben könnte? Wäre das Werk also letztlich die dichterische Paraphrase einer bitteren Lebensphase seines Autors? — Keineswegs. Und doch ist der Name des Titelhelden kein Zufall und ein Schlüssel zur rechten Deutung. Poe gestaltete hier den Ablauf des menschlichen Lebens: Geburt, Kampf ums Dasein und Tod. Arthur Gordon Pym ist der Mensch schlechthin. Durch den klanglichen Verweis auf sich selbst sucht Poe den hellhörigen Leser im vorhinein auf die überindividuelle Allegorik dieser sonderbaren Reisebeschreibung aufmerksam zu machen. Der Autor unterschreibt so in subtiler Verkleidung seine eigene Formulierung der ewigen Situation des Menschen. Er setzt unter die scheinbar kontingenten Abenteuer seines Helden ein unauffälliges Echtheitssiegel, das tiefstes Engagement verrät. Die conditio humana in allgemeinster Typisierung wird durch drei Hauptphasen ausgedrückt: Aufenthalt im Mutterleib und Geburt, Teilnahme am Lauf der Welt und schließlich: das Eingehen in den Tod. Aufenthalt im Mutterleib und Tod werden in je einem Kapitel geschildert (2 und 25) und sind in ihrem Bildcharakter durch Ähnlichkeit und Verschiedenheit aufeinander bezogen. Durch Ähnlichkeit: sowohl im Laderaum des Schiffs (Mutterleib) als auch in der antarktischen Wasserwüste (Region des Todes) verschwindet der Tag-und-Nacht-Rhythmus; durch Verschiedenheit: im Laderaum der „Grampus" herrscht schwarze Finsternis, in der antarktischen Wasserwüste weiße Finsternis. Außerdem sei beachtet, daß sich das unbestimmte Wovor des Aufder-Hut-seins im Laderaum (Mutterleib) mit dem Hinaufgelangen Pyms an Deck (Geburt) zu einem bestimmten wandelt, während das unbestimmte Wovor des Auf-der-Hut-seins während der Fahrt in die weiße Finsternis des Südpols (Eingehen in den Tod) ein solches bleibt. Zwischen diesen beiden bildkräftigen Schwellen, der schwarzen und der weißen Finsternis, vollzieht sich die Teil-

Edgar Allan Poes „Bericht des Arthur Gordon

Pym"

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nähme des Menschen am Lauf der Welt. Diese Teilnahme wird begonnen durch Erlernen der Situation, in die sich der Mensch, Pym, hineingeboren sieht (Bericht des Augustus Barnard in den Kapiteln 4 und 5) und hat ihren Höhepunkt in der Entdeckung von Spuren eines verschlüsselten Sinnes (Kap. 23), dessen Aufdeckung durch den Tod unmöglich wird. Diese Bildfolge, die mit dem zweiten Kapitel beginnt und mit dem fünfundzwanzigsten endet, ist innerhalb der Fiktion niemandem einsichtig. Das Vorwort Pyms, das erste Kapitel und das Nachwort des Herausgebers sind für diese Bildfolge ohne Belang: diese Teile des „Berichts" lenken von seinem fiktionstranszendenten Sinn ab, sichern die Autonomie des Genres und bedingen die Blindheit Pyms gegenüber der wirklichen Paradigmatik seiner Erlebnisse. (Zum ersten Kapitel, das die Ausfahrt auf der „Ariel" schildert, wird weiter unten noch ein besonderes Wort nötig sein.) Ich wiederhole: die fiktionstranszendente Bildfolge ist innerhalb der Fiktion niemandem einsichtig. Dort sind die Dinge und Ereignisse das, was sie sind: der Laderaum der „Grampus" ist ein Laderaum und nichts anderes, die Kanufahrt in die weiße Finsternis ein außergewöhnliches Ereignis und nichts weiter. Es gilt also streng zu unterscheiden zwischen der Bedeutung, die ein Ding oder Ereignis fiktionsimmanent hat, und jener, die es im fiktionstranszendenten Bereich hat. Die Kluft zwischen diesen beiden Bedeutungsebenen ist hier so groß, daß sich der fiktionstranszendente Sinn für den ungeübten Blick vollkommen verbirgt. Poe hält die „Bedeutungslosigkeit" der fiktionsimmanenten Ebene konsequent durch, sucht uns pokergesiditig einzureden, es handle sich ausschließlich um einen, wenngleich interessanten, Erlebnisbericht. Und deshalb ist die Geschichte fiktionsimmanent vor der Geburt des Menschen längst im Gange und geht nach seinem Tode noch weiter. Solche ,Ablenkung* wurde durchaus wörtlich genommen. Angesichts des beirrenden Nachworts, das den plötzlichen Tod des ,empirischen' Pym vermeldet, wodurch die wenigen noch ausstehenden Kapitel seiner Reisebeschreibung der Redaktion vorenthalten worden seien, sind verschiedentlich Vermutungen über eine von Poe möglicherweise geplante und dann aus irgendwelchen Gründen nicht durchgeführte Fortsetzung seines Werks angestellt worden. Solche Vermutungen haben nicht nur im völlig abrupten Schluß der Aufzeichnungen Pyms eine scheinbare Stütze, sondern auch in den, das gesamte Werk durchziehenden Verweisen auf jene vollkommen unerhörten Abenteuer, die bereits der Titel in seiner vollständigen Form ankündigte: . . . and the Massacre of her Crew among a Group of Islands in the 84th Parallel of Southern Latitude, together with the Incredible Adventures, to which that Distressing Calamity gave rise. Hier wird unzweideutig auf Fehlendes Bezug genommen. Denkt man im Vorstellungsbereich von Seaborns „Symzonia" weiter, so hätten nach dem jetzt letzten Kapitel die Abenteuer im hohlen Innern der Erde folgen müssen. Offensichtlich befanden sich Pym und seine Begleiter bereits im Sog der von Symmes angenommenen Öffnung, so daß sich nun jenes vollkommen Unglaubliche hätte ereignen müssen, von dem das Auftauchen jener mensch-

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liehen Gestalt, weiß wie Schnee und „very far larger in its proportions than any dweller among men", nur ein Vorgeschmack war. Wie hat man sich zu den uns von Poe vorenthaltenen Kapiteln zu stellen? Hat Poe hier tatsächlich weitere Kapitel geplant und unausgeführt gelassen? Wenn ja, sind dann nicht die im Werk enthaltenen Verweise auf jene Kapitel ein kompositioneller Mangel? Hat Poe etwa über dem Schreiben des „Berichts" seine Intentionen geändert und es versäumt, die Reste seines ursprünglichen Vorhabens zu beseitigen? Noch in jüngster Zeit wurde ernsthaft behauptet, das Werk sei, streng genommen, unvollendet!13 — Wer allerdings die fiktionstranszendente Bildfolge sieht und bedenkt, wird leicht einsehen, daß ein solches Urteil den Sachverhalt verkennt. Poe hat gewiß nicht vorgehabt, dem „Bericht des Arthur Gordon Pym" so, wie er vorliegt, noch irgend etwas hinzuzufügen. Mit der Einfahrt in die weiße Finsternis ist die Geschichte ja zu Ende, denn hier ,stirbt* ja der Held. Und was wie ein kompositioneller Mangel wirken mag, wird, recht betrachtet, zur gezielten Aussage: die den „Bericht" durchziehenden Verweise auf den Inhalt der fehlenden' Kapitel zeigen implizit, daß der Tod alle Fäden zerschneidet und — im Sinne Poes: die Auflösung, die Enträtselung für immer vereitelt. Für den ,empirischen', den fiktionsimmanenten Pym hat sich allerdings längst alles aufgeklärt, er weiß, was es mit jener weißen Gestalt, mit jener geheimnisvollen Gegend am Rande des Südpols auf sich hatte, denn er hat die Fahrt ja überstanden. Ein Mitliefern der Auflösung hätte den fiktionstranszendenten Sinnzusammenhang gestört. Weiter unten, bei der detaillierten Freilegung der einzelnen ,Bilder', wird zum ausgesparten Telos der Schlußszene noch Näheres zu sagen sein. An dieser Stelle gilt es festzuhalten, daß Poe die beherrschende Befindlichkeit des Auf-der-Hut-seins gemäß der Logik eines nur fiktionstranszendent sichtbaren Bildkomplexes zur Entfaltung bringt.

13

H . H . Kühnelt nennt den „Arthur Gordon P y m " eine „Erzählung, die bekanntlich unvollendet blieb" (Die Bedeutung von E.A.Poe für die englische Literatur, Innsbruck 1949, S. 277). Walter Lennig behauptet: „Das Buch blieb unvollendet, und irgendeine geheimnisvolle Hemmung hat den Autor auch später davon abgehalten, es zu Ende zu schreiben" (E.A.Poe, „rowohlts monographien", H a m burg 1959, S. 86). Ungesehen bleibt der wirkliche Grund des plötzlichen Abbruchs in den Rechtfertigungen des offenen Schlusses, wie sie von Edward H . Davidson (Poe, Cambridge, Mass., 1957, S. 161), Hellmuth Petriconi (Romanistisches Jahrbuch, 1964, S. 160 f.) und Arnim Staats (E.A.Poes symbolistische Erzählkunst, Heidelberg 1967, S. 166) unternommen wurden. — Auch die neueren Deutungsversuche Daniel Hoffmans (Poe, Poe, Poe .. . Garden City und New Y o r k 1973) und Paul John Eakins („Poe's Sense of an Ending", in: American Literature, 45, 1, 1973, S. 1—22) gelangen nicht zur Unterscheidung zwischen dem fiktionsimmanenten und fiktionstranszendenten Pym. Das Gleiche gilt für die soeben erschienene Analyse Richard M. Fletchers (The Stylistic Development of Edgar Allan Poe, Den H a a g — Paris, 1973, S. 145). — Jules Vernes Fortsetzung muß außerhalb dieser Überlegungen bleiben: sie hat ihr eigenes Recht. Vgl. dazu weiter unten die Bemerkungen zur Wirkungsgeschichte (4).

Edgar Allan Poes »Bericht des Arthur

Gordon

Pym"

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Es sei nun die anthropologische Prämisse dargelegt, auf deren Boden die beherrschende Befindlichkeit den Gegenstand des Gebildes begründet. Wer die anthropologische Prämisse eines Werks formuliert, nennt die in ihm sich aussprechende Weltanschauung. Diese ist nicht mit der Weltanschauung einer einzelnen Gestalt zu verwechseln. Die anthropologische Prämisse ist das über aller Partikularität des dezidierten Handelns und Theoretisierens stehende Grundverhältnis des Menschen zur Welt. Das Grundsätzliche seiner Stellung in der Welt kann dem in sie verstrickten Protagonisten durchaus verborgen bleiben oder nidit zu theoretischer Durchsichtigkeit gelangen. Die anthropologische Prämisse ist die Wahrheit der Welt des Gebildes. Im „Arthur Gordon Pym" zeigt sich die anthropologische Prämisse am deutlichsten während des Anschlags der Eingeborenen auf ihre Gäste. Pyms sämtliche Gefährten werden mit Ausnahme von Dirk Peters unter hereinbrechenden Gesteinsmassen begraben. Das Gestein der Insel Tsalal, auf der dieses Ereignis stattfindet, bezeichnet Poe als „a species of soft rock resembling soapstone". 14 Diese sonderbare Weichheit des Gesteins wurde von Poe nicht zufällig ersonnen, ist nicht eine wahllos herbeizitierte Eigenschaft, die lediglich die Exotik der betreffenden Landschaft belegen soll; denn nur die ungewöhnliche Nachgiebigkeit des Gesteins gestattet es den Bewohnern der Insel Tsalal, mit primitivsten Mitteln eine tödliche Falle herzustellen: durch Einschlagen von hölzernen Pflöcken, an deren oberen Enden Stricke aus besonders festen Weinranken befestigt werden, wird es möglich, ungeheure Gesteinsmassen am Schluchtrand abzuspalten und zum Absturz zu bringen. Durch die dadurch verursachte außergewöhnliche Erschütterung entsteht indessen, wiederum gemäß dem Charakter des Gesteins, an der Stelle, wo Pym und Peters sich befinden, ein riesiger Riß, wodurch beiden das Leben erhalten und die Flucht ermöglicht wird. Pym stellt fest, „that the concussion [ . . .], which had so unexpectedly overwhelmed us, had also, at the same moment, laid open this path för escape." (863) — Poe zeigt, daß mit der Möglichkeit von Gefahr immer auch die Möglichkeit der Rettung mitgesetzt ist. Die Rettung bleibt zwar hier für den Einzelnen Zufall, war jedoch nichtsdestoweniger in der Natur der Dinge angelegt. Einsicht in die Natur der Dinge ist von entscheidender Bedeutung fürs Überleben. Dieser Gedanke durchzieht den gesamten „Bericht". Poe rückt immer wieder die Zweideutigkeit all dessen, was Pym und seinen Gefährten begegnet, in den Vordergrund: das Rettende kann, wird es nicht in seinem Wesen erkannt, zum Schaden ausschlagen. So schneiden die Haltestricke, mit denen sich Peters allzu energisch an Deck festmachte, um nicht über Bord gespült zu werden, nahezu tödlich ins Fleisch; so verursachen die Haselnüsse der Insel Tsalal, zunächst als unerwartete Nahrung in öder Felsgegend begrüßt, allzu ausschließlich genossen, unerträgliche Beschwerden; so versetzt die aus den überfluteten Kajüten geborgene Flasche Portwein Pyms unvor14

Zitiert hier stets nach der Ausgabe „The Complete Tales and Poems of Edgar Allan Poe", hrsg. von Hervey Allen ( N e w York 1938), S. 862.

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sichtige Gefährten in den Zustand der Idiotie; so kehrt sich das verwegene Ansinnen Parkers, einer müsse sich opfern, damit die anderen überleben, gegen ihn selbst. Umgekehrt kann das, was Abträgliches anzukündigen scheint, Nutzen bringen. Das zum Entsetzen aller Betroffenen umschlagende Wrack der „Grampus" legt seinen, mit nahrhaften Entenmuscheln besetzten Boden frei und schafft ungleich bessere Aufenthaltsbedingungen. „Thus, in two important respects, the accident we had so greatly dreaded proved a benefit rather than an injury." (828) Das Prinzip, das die hier aufgeführten Situationen durchherrscht, gilt auch für das Zwischenmenschliche. Hier wird die List, das Durchschauen von Motiv und Täuschung zum tragenden Moment. Immer geht es um den Blick für Gesetzmäßigkeiten, sei es der Natur, sei es des Verhaltens. Hoffnung ist das Vertrauen darauf, daß sich jederzeit verborgene Gesetzmäßigkeiten positiv auftun können. Kein Judgement Day' läßt in der Welt des Arthur Gordon Pym Furcht und Zittern aufkommen, sondern die vorgestellte Möglichkeit eines ,day of universal dissolution' (861), wo alle Gesetzmäßigkeiten aufhören und der Globus zerfällt. Poes Einschätzung der menschlichen Situation liegt jenseits von Optimismus und Pessimismus. Einerseits impliziert das ständige Vorhandensein von Gefahr die Möglichkeit sofortiger Vernichtung, andererseits ist die Möglichkeit des Überlebens niemals ausgeschlossen. Rettung kann entweder automatisch geschehen, indem der einzelne von glücklichen Umständen getragen wird und ohne sein Zutun überlebt, oder durch entschlossene Umwendung neutraler oder widriger Umstände ins Positive. Eine Kunstlehre des Überlebens für den einzelnen gibt es nicht; und wer umkommt, ist niemals verdammt. Ein Zusammenhang zwischen dem Ergebnis einer Situation und der moralischen Wertigkeit des Verhaltens der an ihr beteiligten Personen ist nicht vorhanden. In der Welt des „Arthur Gordon Pym" ist der Mensch als Techniker des Überlebens definiert. II. Das Konkretionssubstrat Die historisch-geographisch fixierbare Weltgegend, in der ein literarisches Werk spielt, heißt Konkretionssubstrat. Wie dieses im „Arthur Gordon Pym" aussieht, wurde bereits bei meinen einleitenden Bemerkungen deutlich. Es reicht von Nantucket bis zum Südpol in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts. Was vom Konkretionssubstrat sichtbar zu werden hat, bestimmt der Gegenstand des Gebildes. Von seinem Typus her ist das im „Arthur Gordon Pym" verwendete Konkretionssubstrat ein unmittelbar vorhandenes mit einem Überhang zum vorgestellten. Das heißt: die beschriebene Weltgegend ist mit den Elementen, die von ihr ins Spiel gebracht werden, durchaus nachprüfbar vorhanden. Man denke an die von Poe verwerteten ,Sachbücher'. Gleichzeitig hat Poe aber die wissenschaftlich gegründeten Daten vermischt mit phantastischen. Diese Phantastik ist jedoch, ich deutete es oben bereits an, keine subjektive, sondern:

Edgar Allan Poes „Bericht des Arthur

Gordon Pym"

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sie bewegt sich in Bahnen, die selber schon Besitz der Allgemeinheit sind. Poe verarbeitet den Grundbestand von umlaufenden Vorstellungen, die sich um das tatsächliche Aussehen der betreffenden Weltgegend nicht scheren. Das Konkretionssubstrat liefert die fiktionsimmanenten Bilder für den fiktionstranszendenten Sinn. Die Bestückung der jeweiligen Weltgegend kann ihren eigenen Zauber entwickeln, der unabhängig davon ist, was uns das Werk mit seiner beherrschenden Befindlichkeit oder seiner anthropologischen Prämisse ,sagt'. Poe hat, ich wiederhole es, den zur See fahrenden Menschen in seiner Typik erschaut. Der „Arthur Gordon Pym" ist voll von klassischen Schauplätzen und Situationen. Da sind: das Schiff mit Spezialausrüstung, das Wrack, die unbekannte Insel, die ,Stimmungen' des Meeres; und: Meuterei, Schiffbruch, zufällige Rettung, Vordringen in unbefahrene Meeresgegenden, Kampf mit den Eingeborenen usw. Bereits das gleichsam enzyklopädische Erfassen solcher Topoi muß als nicht geringe Leistung veranschlagt werden. Daß es Poe gelungen ist, das Situationsarsenal einer bestimmten Weltgegend paradigmatisch vorzuführen, klingt auch in einem Urteil an, das sich ironischdistanziert gibt: „the last word in adolescent fantasy". 15 Es gilt also festzuhalten: Poe hat den Bilderschatz einer ganz bestimmten Weltgegend seinen künstlerischen Absichten dienstbar gemacht. III. Der wirklichkeitsbestimmende Konsensus Der wirklichkeitsbestimmende Konsensus setzt den Verhaltensstil der Gestalten und den Grad der Wirksamkeit von Naturgesetzen fest. Was durch den wirklichkeitsbestimmenden Konsensus festgesetzt wird, darf nicht psychologisch' verstanden und aufgelöst werden. Dazu sei folgende Erläuterung gegeben. Verhaltensstil der Gestalten meint nicht die als Folge einer wirksamen oder unwirksamen Erziehungsleistung zustandekommende Art des Benehmens, nicht die psychologisch erklärbare Art des Sichgebens, sondern das allen Möglichkeiten des Verhaltens der Gestalten innerhalb der Fiktion zugrundeliegende Fundament, das jeweils einen ganz bestimmten, großen oder geringen Abstand der geschilderten Welt zu unserer alltäglichen Empirie erkennen läßt. Die von Poe im „Arthur Gordon Pym" beschworene Welt und Optik sind die eines Menschen, der Beklemmendes träumt oder im Tagtraum ersinnt. Dabei wird jedoch dem Anspruch Pyms, tatsächliche Ereignisse zu schildern, durch eine ganze Reihe von Kunstgriffen zu echtem Ernst verholfen, wodurch eine vorgebliche Optik entsteht und es zu jenem für Poe so typischen Gegeneinander von Tonfall und Dargestelltem oder, genauer ausgedrückt: von thematisiertem Tonfall und dem impliziten Tonfall der Darstellung kommt. Der thematisierte Tonfall kennzeichnet die Psychologie des Erzählers, mithin die 15

Vgl. Spiller/Thorp u. a. (Hrsg.) Literary History of the United States. Revised edition in one volume ( N e w York 1953), S. 329. — Der Abschnitt über Poe stammt von F. O. Matthiessen, der, nebenbei bemerkt, in seinem umfangreichen Werk American Renaissance Poe nur am Rande behandelt.

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Haltung Pyms. Der implizite Tonfall der Darstellung kennzeichnet die Eigenart der geschilderten Welt und ist nidit psychologisch' aufzulösen, denn in ihm ,zeigt sich' der weltaufstellende Autor Poe. Das Gegeneinander von thematisiertem Tonfall und implizitem Tonfall der Darstellung ist nicht nur bei der Gestaltung des empirisch Unmöglichen ergiebig, sondern auch bei der Präsentation des Degoutanten. Man beachte zum Beispiel, wie der faktische Zynismus des Erzählens durch eine raffinierte Rhetorik geleugnet wird. So wird die von Poe mit maliziösem Vergnügen gezeichnete Vertilgung Parkers mit der scheinheiligen Versicherung eingeleitet: „It is with extreme reluctance that I dwell upon the appalling scene which ensued" (818). — Doch geht die Scheinheiligkeit einer solchen Versicherung keinesfalls auf Pyms Konto, denn Pym schildert nur ab: sein thematisiertes Gefühl ist echt. Was aus der tatsächlichen Schilderung spricht, darf nicht gegen die einleitende Versicherung in Anschlag gebracht werden, weil sonst der wirklichkeitsbestimmende Konsensus mißachtet und die Eigenart des Textes unverstanden bliebe. Die ,Rhetorik' Pyms ist innerfiktional keine und kann sidi als solche Poes erst von außerfiktionalem Standpunkt enthüllen. Auf dem Hintergrund dieser Überlegung muß zum Beispiel auch die Schilderung der Bestattung des Ausgustus Barnard (S. 826) gesehen werden, von dessen Leiche es heißt: „It was [ . . . ] so far decayed that, as Peters attempted to lift it, an entire leg came off in his grasp" (kursiv von mir, H . - J . G.).Der hervorgehobene Passus indiziert nicht die Pietätlosigkeit Pyms, der ein solches Detail angesichts des erhabenen Anspruchs der Situation hätte ausblenden sollen, sondern die Befremdlichkeit der beschworenen Welt, die sich so, ohne daß von einem Zutun des Erzählers die Rede sein könnte, ausspricht. Der Abständigkeit des Verhaltensstils der Gestalten von unserer alltäglichen Empirie entspricht der Grad der Wirksamkeit von Naturgesetzen. Man betrachte dazu jene Szene, wo Pym sich, vom umschlagenden Wrack ins Meer gestoßen, zahlreiche Haie vom Leibe hält. „My principal terror was now on account of the sharks, which I kew to be in my vicinity. In order to deter these, if possible, from approaching me, I splashed the water vigorously with both hands and feet as I swam toward the hulk, creating a body of foam. I have no doubt that to this expedient, simple as it was, I was indebted for my preservation" (827). — Eine solche Passage psychologisch zu verstehen und aufzulösen, würde bedeuten, sie schlicht als Flunkerei Pyms aufzufassen, wodurch die von Poe hergestellte Wirklichkeit zerstört würde. In diesem Zusammenhang muß auch die phantastische Widerstandsfähigkeit Pyms und Peters* gegen körperliche Strapazen gesehen werden. Nach der Errettung der Schiffbrüchigen durch die „Jane G u y " heißt es: „In about a fortnight [ . . . ] both Peters and myself recovered entirely from the effects of our late privation and dreadful suffering" (831). — Der wirklichkeitsbestimmende Konsensus legt fest, wo innerhalb der Fiktion die Grenze zwischen subjektiver und objektiver Realität verläuft. Man sieht: der Abstand der geschilderten Welt zu unserer alltäglichen Empirie ist beträchtlich. ,Abstand' meint hier nicht Ferne im Sinne der geographi-

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sehen Entlegenheit (Südpol) oder erfahrungsmäßigen (Leben auf See) des beschriebenen Weltbezirks, sondern die grundsätzliche Kluft zu dem, was in der Empirie überhaupt vorkommen kann. Bereits das erste Kapitel des „Arthur Gordon Pym" spurt uns auf die Gesetze ein, von denen die innerfiktionale Wahrscheinlichkeit bestimmt wird, so daß bei Beginn des ,longer and more momentous narrative' der wirklichkeitsbestimmende Konsensus bereits voll in Kraft ist. IV. Die Erzählhaltung Die Einstellung Pyms zu seiner Leserschaft kommt in folgender Bemerkung exemplarisch zum Ausdruck: „As I address myself principally, if not altogether, to persons who have never been to sea, it may be as well to state the exact condition of a vessel under such circumstances" (793). Mit einem Wort: Pym bezieht die Haltung eines Experten, der sich an Laien wendet. Indem Poe seinen Erzähler den Gestus des skeptischen und interessierten Forschers annehmen läßt, verführt er den Leser zum Glauben an die Wirklichkeit der geschilderten Welt. Die Ereignisse steigern sich mit Fortschreiten des Berichts vom Absonderlichen und Grausigen ins vollkommen Phantastische. Daß der Leser an keiner Stelle den „Bericht" in abstruse Phantasterei umkippen fühlt, zeigt, mit welcher Finesse Poe zu Werke gegangen ist. Als tragender Kunstgriff fungiert die Einschaltung wissenschaftlicher Exkurse, die ein Gegengewicht zur Unwahrscheinlichkeit der Geschehnisse liefern. Nach einer Aufgipfelung ins Alptraumhafte folgt ein wissenschaftlicher Exkurs, der das erzählerische Klima wieder abkühlt. So folgt auf die Schilderung der Strapazen Pyms im Laderaum der „Grampus" und des blutigen Massakers mit den Meuterern eine Betrachtung über die sachgemäße Verstauung einer Schiffsladung und auf die Schilderung der hyperbolischen Unbill der Schiffbrüchigen eine geradezu behagliche Beschreibung des Kerguelen Island. Als weiterer Kunstgriff, die Möglichkeit des Unmöglichen plausibel zu gestalten, haben die Verweise auf jenen Teil der Reise zu gelten, der uns von Pym nicht beschrieben wird. In der Vorbemerkung (Introductory Note) kennzeichnet Pym die Erlebnisse in jener letzten Phase der Reise als „so positively marvellous", daß er fürchte, das Publikum werde sie als „merely an impudent and ingenious fiction" abtun. Von den uns nicht geschilderten Jahren sagt Pym, sie seien „crowded with events of the most startling and, in many cases, of the most unconceived and unconceivable character" (808). Das phantastische Wasser auf der Insel Tsalal ist für Pym „the first definite link in that vast chain of apparent miracles with which I was destined to be at length encircled" (852). Indem Poe nur die weiteren, nicht geschilderten Ereignisse als wahrhaft ungewöhnlich und wunderbar hinstellt, werden die uns geschilderten in den Rahmen des Glaubwürdigen gerückt. Pyms Haltung zum Geschilderten überträgt sich auf uns, die Leser. An manchen Stellen hat die Sucht Pyms, alles zu erklären und größtmögliche Genauigkeit walten zu lassen, einen komischen Effekt, nämlich dann, wenn

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die erstrebte Angabe in keinem sinnvollen Zusammenhang mit dem Fortgang der Handlung steht. So heißt es zum Beispiel am Anfang des zweiten Kapitels: „About eighteen months after the period of the Ariel's disaster, the firm of Lloyd and Vredenburgh (a house connected in some manner with the Messieurs Enderby, I believe, of Liverpool) were engaged in repairing and fitting out the brig Grampus for a whaling voyage" (757). Die eingeschobene Vermutung über die Herren Enderby in Liverpool zeigt innerfiktional lediglich die Verstrickung des Erzählers in seine Assoziationen an. Für den Leser wird jedoch durch ein solches Hereinstehen des teleologisch Sinnlosen die Autonomie der geschilderten Welt belegt. Noch ein weiteres Beispiel sei angeführt: die Aufzählung der Namen nach der Meuterei auf der „Grampus". Es heißt: „The whole number of persons on board was now thirteen, to wit: Dirk Peters; Seymour, the black cook; Jones; Greely; Hartman Rogers; and William Allen, of the cook's party; the mate, whose name I never learned; Absolom Hicks; Wilson; John Hunt; and Richard Parker, of the mate's party; — besides Augustus and myself" (790). Die ausgesparten Vornamen schaffen den Eindruck unbedingter Wirklichkeitstreue, denn einem dichtenden Berichterstatter wäre es ein leichtes gewesen, hier Namen zu erfinden. Das Grundsätzliche einer solchen Genauigkeit wird weiter unten im Kapitel über die .Ironie der Form' diskutiert werden. Pym trägt seinen Bericht auf wesentliche Strecken in der Form eines Tagebuchs vor. Was er seinen Lesern vorlegt, sei zum Teil die Überarbeitung eines während jener neun Jahre, über die uns nichts berichtet wird, angelegten „pencil memorandum" (880). Manche Datumsangaben seien lediglich aus der Erinnerung rekonstruiert und könnten keinen Anspruch auf absolute Exaktheit erheben. Auch in diesem Zusammenhang wird, wie man sieht, durch die eingestandene Möglichkeit einer ungenauen Erinnerung die wissenschaftliche Redlichkeit des Erzählers betont. Zur suggestiven Bestätigung der Authentizität des Berichteten fügt Poe verschiedentlich Fußnoten bei, wodurch schon vom Druckbild her der Eindruck penibler Sachlichkeit vermittelt wird. V. Die Behandlung der Zeit Es sei hier zunächst jener Abschnitt betrachtet, der die fiktionstranszendente Bildfolge trägt: die Kapitel 2 bis 24. Pyms Fahrt auf der „Grampus" beginnt Mitte Juni 1827. Am 17. Juni wird Pym von Augustus Barnard, dem Sohn des Kapitäns, in sein Versteck im Laderaum des Schiffes gebracht. Am 20. Juni verläßt die „Grampus" den Hafen. Pyms letzte Eintragung bezieht sich auf den 22. März 1828. Die als echte Gegenwart evozierte Zeitspanne umfaßt mithin neun Monate. Diese neun Monate werden — bis auf eine einzige Unregelmäßigkeit — chronologisch beschrieben, das heißt: die Ereignisse werden in der Reihenfolge geschildert, in der sie sich zugetragen haben. Die Kapitel 4 und 5, in denen

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Augustus dem wieder ans Tageslicht gelangten Pym die während seiner Abwesenheit vorgefallenen Ereignisse wiedergibt, bilden die einzige Ausnahme. Die einleitende Bemerkung, in der Pym das Motiv für die Niederschrift seiner Erlebnisse formuliert, trägt die Jahreszahl 1838. Pyms Reise hat — wie der Anfang von Kapitel 10 erkennen läßt, bis ins Jahr 1837 gedauert 1 '. Von den neun Jahren, über die uns nur Andeutungen gemacht werden, sollten die noch fehlenden Kapitel handeln." Die Reise auf der „Grampus" dauert bis zum 7. August 1827. An diesem Tage werden die Schiffbrüchigen von der „Jane G u y " aufgenommen. Ab 1. Januar 1828 beginnen wieder regelmäßige Tagebucheintragungen, die die Reise in die Antarktis belegen. Am 19. Januar ankert die „Jane G u y " in einer Bucht der Insel Tsalal. Am 1. März 1828 gelangt Pym in Begleitung von Peters und Nu-Nu in eine Gegend „of novelty and wonder". Drei Wochen später, am 22. März, bricht der Bericht ab. U m jene Bilder, die Poe zur (fiktionstranszendenten) Illustration des menschlichen Lebens ausersehen hatte, dem wirklichkeitsbestimmenden Konsensus gemäß fiktionsimmanent zu realisieren, waren jeweils bestimmte Zeitspannen nötig: das Schiff, auf dem Pym sich jeweils befand, hatte in jene Gegenden oder Situationen gebracht zu werden, die von der fiktionstranszendenten Bildfolge gefordert wurden; die soeben dargelegte Zeiteinteilung entstand korollarisch. ,Sprünge' im Sinne einer Aussparung von Wichtigem, das später nachgeholt würde, fehlen. Dies hängt mit der vorgeblichen Wissenschaftlichkeit des E r zählens zusammen: alles Merkwürdige wird festgehalten; Tage, über die nichts berichtet wird, sind ereignislos. Als Poe den für den fiktionstranszendenten Sinn notwendigen Bilder schätz komplett vorliegen hatte, zeichnete er den Rest der tatsächlichen Reise Pyms ohne Rücksicht auf die Proportionen pauschal zu Ende. So kommt es, daß für die angeblich noch ausstehenden neun Jahre nur „two or three final chapters" veranschlagt werden, während die vorliegenden 24 Kapitel einen Zeitraum von nur neun Monaten abschreiten. Offensichtlich spielte auch der Wunsch eine Rolle, dem Leser wirklich aktuelle Erlebnisse in Aussicht zu stellen: das Ende der Reise wurde bis fast ans Datum der Niederschrift gestreckt. Pyms einleitende Bemerkung läßt ja vermuten, daß die ganze Reise beschrieben wird. Die im ersten Kapitel geschilderte Fahrt auf der „Ariel" liegt der Reise auf der „Grampus" um mehr als achtzehn Monate voraus, hat also 1825 stattgefunden. Zu Anfang der Erzählung wird uns die Begegnung Pyms mit Augustus beschrieben. Pym, so heißt es, war zu jener Zeit sechzehn Jahre alt. Er wurde mithin 1809 geboren. Dies ist auch das Geburtsjahr Poes. D a ß dieses erste Kapi16

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In der .Introductory Note', die im Juli 1838 abgefaßt ist, unterlief Poe eine N a c h lässigkeit: P y m müßte bereits 1836 zurückgekehrt sein, um seinen Beitrag für die Januar-Nummer 1837 des „Southern Literary Messenger" schreiben zu können. Offensichtlich sollte zunächst Augustus als ständiger Begleiter Pyms fungieren, denn es heißt aus der Sicht des Jahres 1827, Augustus habe sich erst Jahre später über bestimmte Empfindungen rückhaltslos geäußert (S. 738), obwohl Augustus noch am 1. August (sie!) desselben Jahres stirbt.

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tel autobiographischen Charakter trägt, steht außer Frage. Für eine Deutung des Hauptstücks, das mit dem zweiten Kapitel beginnt, läßt sich jedoch aus diesem Umstand nichts ableiten. Der sonderbare Vorspann muß als privates Podest für eine überindividuelle, sinnbildliche Konstruktion betrachtet werden. Diese Konstruktion wird fiktionsimmanent als „longer and more momentous narrative" (750) bezeichnet. Roger Forclaz faßt das erste Kapitel recht einleuchtend als Umschreibung einer bestimmten biographischen Situation auf, aus der heraus der Dichter dann, wie Forclaz annimmt, sein weiteres Leben visionär erschaut: als „voyage aux frontières de l'inconnu". 18 Forclaz sieht nicht, daß das Hauptstück auf das menschliche Leben als ganzes gerichtet ist, mit der embryonalen Situation beginnt und mit dem Tode endet. VI. Die fiktionstranszendente Bildfolge Die Bildsprache, in der Poe die einzelnen Phasen und Aspekte des menschlichen Lebens formuliert, ist verwandt mit dem Aussagestil der Emblemata des Barock. Die Veranschaulichung eines Grundgehaltes (des fiktionstranszendenten Sinnes) durch einen Bildgehalt (den fiktionsimmanenten Sinn) geschieht dort für unseren Blick oftmals mit der gleichen radikalen Naivität wie bei Poe. Im „Arthur Gordon Pym" wird uns eine Folge von ,Bildern' (picturae) geboten, denen die ,Unterschrift' (subscriptio) fehlt. Was ich hier als Deutung anbiete, sind die vom Werk implizierten ,Unterschriften'. Die Möglichkeit, solche ,Unterschriften' eindeutig abzulesen, gründet darin, daß Poe — in der Terminologie Georg Philipp Harsdörffers: nur ,signa ex congruo' benutzt und keine ,signa ex placito'. Das heißt: Poes Bildvorstellungen sind, ist einmal der Sinn für sie geweckt, jedem geläufig und ohne Vorwissen um eine bestimmte, privat festgelegte ,Zeidien'-Sprache verständlich. Entscheidend ist, daß bei seiner scheinbar naturalisierenden Darstellungsweise ,Bilder' überhaupt vermutet werden. Das 19. Jahrhundert hat — insbesondere in seiner zweiten Hälfte — den Blick für solche ,Bilder' verloren. Der realistische Roman geht naturalisierend vor. Der ,Sinn' eines realistischen Romans transzendiert zwar die geschilderte Objektwelt, jedoch geschieht bei solchem Transzendieren kein Sprung auf eine .zweite' Ebene, die des Sinnbilds. Die Deutung eines realistischen Romans hat das Welt- und Selbstverständnis der geschilderten Gestalten zur legitimen Grundlage. Bei einer Dichtung, die im wesentlichen nicht naturalisierend, sondern indirekt allegorisierend vorgeht, 1 ' bleiben die geschilderten Gestalten von der Einsicht in das, was sie verkörpern, prinzipiell ausgeschlossen. 18

18

Roger Forclaz: „Un voyage aux frontières de l'inconnu: Les Aventures d'A. G. Pym, d'Edgar Poe", in: Etudes de Lettres (Université de Lausanne), VII, 1964, S. 46—58. Direkt allegorisierend ist zum Beispiel Poes Erzählung „König Pest" (King Pest), wo bereits fiktionsimmanent der sinnbildliche Charakter des Geschehens offenbar ist.

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Pym"

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Die Schwierigkeit für die Interpretation des „Arthur Gordon Pym" besteht darin, daß Poe die Ebene, die den Bildgehalt trägt, derartig autonom durchgestaltet — insbesondere durch die Rückbindung an eine bereits vorhandene Gattung: den abenteuerlichen Reisebericht — daß der Anschein einer naturalisierenden Dichtung reinsten Wassers entsteht. Auf dieser Ebene, die Pym selbst .versteht' — oder besser: auf der er sich selbst versteht — ist der „Bericht" die Schilderung einer Initiation, des Aufbruchs eines jungen Mannes in die Welt, seiner unter Zwang geschehenden plötzlichen Reifung. In diesem Sinne haben Edward H . Davidson 20 , Harry Levin21, Roger Forclaz das Werk gedeutet. Eine solche Deutung ist ganz gewiß nicht ,falsch', denn sie bezieht sich ja streng auf das, was dasteht; daß sie zu kurz ziehlt, zeigt sich erst, wenn die künstlerische Einheit des Werks dargetan werden soll. Diese läßt sich nur über die fiktionstranszendente Bildfolge in den Blick bringen. Auf folgendes allerdings sei aufmerksam gemacht, damit kein Mißverständnis sich einschleiche. Es geht hier ganz und gar nicht um den Nachweis, daß Poe bestimmte Emblemata gekannt und verwendet habe, sondern einzig um die prinzipielle Einsicht: daß Poe im „Arthur Gordon Pym" die gestaltende Gesinnung, aus der das barocke Emblem hervorging, formschaffend wirksam werden ließ. Ob dies in bewußter Aneignung der Tradition geschah oder durch selbständige Erfindung, bleibt vollkommen gleichgültig. — Es sei nun mit der Freilegung der einzelnen ,Bilder' begonnen. a) Embryonale Situation und Geburt Das Leben des Menschen setzt ein mit der embryonalen Situation. Diese wird von Poe gekennzeichnet als Aufenthalt in einem lichtlosen Labyrinth, in dessen erstickender Enge sich der ,Held' von arachaischem Unbehagen heimgesucht sieht und immer wieder vom Schlaf übermannt wird. Dieses ,Bild' wird von Poe recht rücksichtslos hergestellt. Augustus Barnard, der Sohn des Kapitäns, bringt seinen Freund Pym als blinden Passagier im Laderaum der „Grampus" unter. Im Laderaum, so heißt es, herrsche eine geradezu chaotische Unordnung. Inmitten verschiedensten Schiffsgeräts befindet sich Pyms Wohnstatt: eine eisenbeschlagene Kiste, ausgestattet mit einer Matratze, Büchern, Schreibzeug und Lebensmitteln. In der Realität wäre eine Schiffsladung, wie sie Poe benötigt, um das bildgeforderte Chaos im Laderaum herzustellen, gar nicht möglich. Der Verzicht auf eine realistische Motivation steht jedoch im Einklang mit dem wirklichkeitsbestimmenden Konsensus. Die Hilfskonstruktionen für das Zustandekommen des ,Bildes', die Auxiliarien für die Durchführung der Primärintentionen verraten Poes Kunstabsicht, belegen den Realitätsstil der beschworenen Welt. Wer hier empirisch-realistische Einwände vorträgt, hat am Text vorbeigelesen. Nach drei Tagen spürt Pym, daß sich die „Grampus" in Bewegung setzt. Die Reise hat begonnen. Pym macht es sich bequem und schläft ein. Dieser Schlaf 20 21

Edward H . Davidson: Poe: A Critical Study (Cambridge, Mass., 1957). H a r r y Levin: The Power of Blackness (New York/London 1958).

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ist der Auftakt zum Schrecklichen. Als Pym aufwacht, ist alles seltsam verändert: seine Uhr ist stehengeblieben, die Zündhölzer lassen sich nicht finden. Was einen angenehmen Aufenthalt versprach, schlägt um ins Alptraumhafte. Poe häuft nun beklemmende Traumsituationen: Pym sucht unter allen Umständen an Deck zu gelangen, doch die Falltür zur Kajüte des Augustus ist verbarrikadiert. Schwärzeste Finsternis umgibt den verzweifelten Helden. Das düstere Gelaß ist von atemnehmendem Gestank erfüllt. Die dilettantisch gestapelten ölfässer drohen den herumtastenden Pym zu erschlagen.22 Die unnachahmliche Plastizität der Situation stellt Poe durch Wegnahme eines Sinnes her: er läßt den Gesichtssinn gleichsam leerlaufen. Alles ist dunkel und wird durch Betasten erschlossen. Dieses Verfahren wird später in der Erzählung „Die Grube und das Pendel" (The Pit and the Pendulum) noch wirksamer angewandt, denn dort ist dem Helden der Raum, in den er sich versetzt sieht, vollkommen unbekannt. Pyms Situation im Laderaum der „Grampus" ist bestimmt durch Einsamkeit (solitary and cheerless condition), Verzweiflung (paroxysm of despair) und den Wunsdi, an Deck zu gelangen. Die Kunde von den Vorgängen ,draußen* dringt zwar vor bis zu Pym (in Gestalt der Warnung des Augustus), bleibt jedoch so fragmentarisch, daß nichts Konkretes auszumachen ist. Eindeutig zu entnehmen ist lediglich das Vorhandensein von Gefahr. Es sei darauf aufmerksam gemacht, daß nicht alles, womit Poe fiktionsimmanent arbeitet, als Bedeutungsträger aufgefaßt werden darf. So hat zum Beispiel Pyms Neufundländer ,Tiger' keine bildtragende Funktion. Tiger ist pures Hilfsmittel: er frißt die Kerzen, so daß Pym kein Licht hat (was fiktionstranszendent gefordert wird), er bringt die Warnung des Augustus usw. Pyms Verlassen des Laderaums ist seine .Geburt': er zwängt sich durch eine enge Luke und gelangt endlich in den Genuß der frischen Luft, befindet sich allerdings noch nicht an Deck, dem Schauplatz des Lebens, sondern in einem Versteck dicht bei der Koje des Augustus. b) Der Eintritt in die Welt Die Situation, in die sich Pym nach seiner ,Geburt' gestellt sieht, ist derart gefährlich, daß er noch einige Zeit im Schutze seines Freundes Augustus verbringen muß. Dieser unterrichtet ihn zunächst in großen Zügen über die Lage, die sidi auf Deck ergeben hat. Pym lernt. Aneignung der Tradition bedeutet offenbar Einblicknahme in die Schandtaten des Menschen. Der ,Unterricht' des Augustus bereitet Pym auf seine Teilnahme an den Vorgängen auf Deck vor und läßt bereits die tragenden Prinzipien des Zwischenmenschlichen erkennen: die Situation auf Deck ist durch Mord und Totschlag wesenhaft bestimmt. 22

Die Unordnung im Laderaum ist nicht ganz konsequent motiviert. Zunächst berichtet Pym, Augustus habe diese absichtlich hergestellt, um Pym vor Entdeckung zu schützen (760). Später indessen wird die Unachtsamkeit des Kapitäns als Begründung angeführt (785).

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Pym erfährt: Unter der Mannschaft der „Grampus" brach unter der Führung des ersten Maats eine Meuterei aus. Das Vorgehen der Meuterer ist gnadenlos. Augustus spricht von ,diabolical villany'. Zweiundzwanzig der kapitänsgetreuen Mannschaftsangehörigen werden, nachdem man sie durch List zur Kapitulation gebracht hat, vom Schiffskoch, einem Neger, mit einer Axt getötet. Den Kapitän, Augustus' Vater, setzt man mit vieren seiner Getreuen in einem Boot aus: ohne Mast, Segel, Ruder und Kompaß. Augustus selbst bleibt verschont, weil ihn Dirk Peters, der bärenstarke Sproß einer Upsaroka-Mutter und eines Weißen, in seine Obhut nimmt. Bedeutsam ist, daß die Meuterer untereinander rasch uneins werden. Zwei Gruppen entstehen: die des Maats und die des Kochs. Dirk Peters ist gegen die des Maats, folglich (!) sind es auch Augustus und Pym. Pym beteiligt sich sofort maßgeblich an einem Komplott gegen den Maat. Damit beginnt sein selbstverständliches Mitmachen im Namen des Uberlebens. Poe gestaltet hier die automatische Integration des Individuums in jene Gruppe, der es durch den Ort seiner Geburt angehört. c) Zwischenmenschliche

Konfrontationen

Die Beziehung des Individuums zu den Mitmenschen wird von Poe an zwei prinzipiellen Aspekten vorgeführt. Einmal am Verhältnis Pyms zu den unmittelbaren Gefährten, und das heißt: auf der privaten Ebene; zum anderen am Verhältnis der Interessengemeinschaft, der Pym angehört, zu einer fremden, und das heißt: auf der politischen, internationalen Ebene. Der erste Aspekt gipfelt im Kannibalismus: Pym, Peters und Augustus vertilgen ihren Gefährten Parker, nachdem zuvor durch das Los entschieden wurde, wer sich opfern müsse, damit die anderen überleben. Poe gestaltet hier das nackte Fazit des Kampfs ums Dasein: das von körperlichen Strapazen zermürbte Individuum sieht sich angesichts der Möglichkeit völliger Extinktion vor den ganz natürlichen Wunsch gebracht: der andere soll sterben, nicht ich. Das factum brutum der Tötung des Artgenossen zwecks Vertilgung erhält sein plausibles Fundament durch die mit allen Mitteln subtilster Bildsteigerung beschworene Situation der Schiffbrüchigen: das Auftauchen des Totenschiffs vermittelt gleichzeitig die Vorstellung des Sterbens und die Verführung zum Kannibalismus. Der zweite Aspekt gipfelt im heimtückischen Überfall einer Gemeinschaft von Eingeborenen am Rande des Südpols auf die Mannschaft der „Jane Guy". Man beachte, daß Poe jegliche Zwistigkeiten innerhalb der Gemeinschaft, der Pym angehört, und auch unter den Eingeborenen ausschließt. Es stehen sich hier zwei Gruppen jeweils solidarisch gegenüber. Die Infamie der Eingeborenen wird ganz offensichtlich aus einer metaphysischen Rückbindung, und das heißt: ,ideologisch' gespeist und findet ihren Ausdruck in einem Machiavellismus reinsten Wassers. Unter dem Deckmantel aufrichtiger Freundschaft wird die apriorisch und insgeheim zum Feind deklarierte Fremdgemeinschaft in den Untergang getrieben.

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d) Konfrontationen mit der Natur Neben der Gefahr, die aus der unabschaffbaren Bosheit des Mitmenschen erwächst, existieren als beständige Drohung die Gefahren der Natur. Diese werden von Poe in der ersten Hälfte des Werks durch ein eindrucksvolles, in Barock und Romantik ungemein verbreitetes Bild veranschaulicht. Wir sehen den Menschen auf seeuntüchtigem Schiff als Spielball von Wind und Wellen. Poe sorgt dafür, daß sich die „Grampus" in ein manövrierunfähiges Wrack verwandelt, und Pym klagt: „It was, indeed, hardly possible for us to be in a more pitiable condition". Schließlich wird das Steuerruder (!) weggerissen, und danach fegt eine gigantische Woge sämtliche, noch übriggebliebenen Aufbauten fort, „filling every inch of the vessel with water" 5 . Nach dem Abbau der „Grampus" zum vollständigen Wrack führt Poe das auf diese Weise vorbereitete Bild zum Höhepunkt. Pym und seine drei Gefährten schnallen sich, um nicht über Bord gespült zu werden, auf Deck fest und lassen die unablässigen Wogen der See über sich ergehen. „Although we lay close together, no one of us could see the other". Erst wenn solch ein Satz nicht nur als Teil des „Berichts" sondern gleichzeitig als direkte Beschreibung eines fiktionstranszendenten Bildes gehört wird, hat man die Aussageform dieses Werks verstanden. Einsam und der Unbill preisgegeben, verständigen sich die Schiffbrüchigen durch Zurufe. In der zweiten Hälfte des „Berichts" wird Pym mit der nature artificielle, einer zweiten, abgerichteten Natur konfrontiert: mit der durch menschlichen Geist gegen den Menschen in Anschlag gebrachten Naturkraft. Der kundig und arglistig ausgelöste Erdrutsch im Gebirge der Insel Tsalal macht eine Gegenmaßnahme unmöglich. Ein Abwenden der Gefahr wäre lediglich durch vorzeitige Verdächtigung der Eingeborenen möglich gewesen. Gegenüber der nature artificielle ist Pym hilfloser denn je: weil hier eine Kombination bösen Willens und natürlicher Zerstörung vorliegt. Daß Pym und Peters auch diese Gefahrensituation überleben, bleibt ,Zufall'. Welcher Art dieser Zufall ist, habe ich bei der Darlegung der anthropologischen Prämisse gezeigt. e) Die undeutbaren Zeichen In der gebirgigen Einöde der Insel Tsalal treffen Pym und Peters auf seltsame Formationen: gewundene Schluchten, deren Gestalt offensichtlich kein Werk der Natur sein kann. Pym ahnt geheimnisvollen Sinn und bringt die Formationen zu Papier. An einer dieser Felswände finden sich Eingrabungen, die Schriftzeichen ähneln, denen eine menschliche Gestalt in extremer Stilisierung vorangestellt scheint. Auf dem Boden der Schlucht findet Pym indessen die korrespondierenden Steinstückchen und schließt daraus, daß es sich um ein Werk der Natur handle. Bedeutsam ist, daß die aufgespürten Zeichen nachdrücklich in einen Bezug zur Region des Südpols und damit, fiktionstranszendent, des Todes gerückt werden. Kurz bevor Pym und Peters auf die seltsamen Eingrabungen stoßen, heißt es in einer Fußnote: „This day was rendered remarkable by our observing in the south several huge wreaths of the grayish vapor I have before spoken

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of" (870). Der so angedeutete Bezug zum Geheimnis des Todes verdichtet sich in der redaktionellen Nachbemerkung zu Pyms Bericht — wenn auch im Gewand phantastischer Philologie — zur Gewißheit. Die wissenschaftliche Form des „Berichts" findet mit der Einschaltung sorgsam bezifferter Zeichnungen in den fortlaufenden Text eine ungewöhnliche Aufgipfelung. Doch die Pointe liefert erst der Nachtrag, wo die Lageskizze des Labyrinths zum Schriftzeichen sich wandelt, dessen dunkler Sinn den verstorbenen Pym nicht mehr erreicht. Mit den Zeichen im Gestein von Tsalal wirft das Jenseits den Schatten seines Geheimnisses ins Hiesige. Die Bestätigung der Ahnung wird durch den Tod unmöglich.2® ,Tod' meint hier nicht jenen fiktionsimmanenten des Pym, von dem uns der redaktionelle Nachtrag berichtet, sondern den fiktionstranszendenten, von dem er, Pym, nichts weiß. f ) Der Tod Das fünfundzwanzigste Kapitel schildert das Eingehen Pyms ins Reich des Todes. Poe läßt hier alle Empirie hinter sich. Die Steigerung der fiktionsimmanenten Wirklichkeit ins Bizarr-Unerhörte verdient größte Aufmerksamkeit. Pyms Tod wird gestaltet als Kanufahrt in eine weiße Finsternis, in die weiße Finsternis des Südpols, aus der sich plötzlich eine riesige weiße Gestalt erhebt. Poe evoziert hier das Nichts. Der Gesichtssinn trifft in der Region des Südens nur auf das sichtbar gewordene Fehlen der Farbe: ins Weiße. Ebenso wird der Gehörsinn auf eine Nullstelle angesetzt. Wabernde Kaskaden weißer Dämpfe verhängen Pyms Horizont wie ein riesiger Vorhang, 24 von dem es heißt: „It emitted no sound." Winde erheben sich, die „soundless" sind, und eine sonderbare Verkehrung findet statt: „A sullen darkness now hovered above us — but from out the milky depth of the ocean a luminous glare arose." Das Unten wird zur Gegend geheimnisvoller Helle, das Oben zum Ort der Dunkelheit. Dieses Hantieren mit den Manifestationen des vollkommen Unvertrauten würde jedoch nicht wirklichkeitsschaffend wirksam werden, wenn nicht eine — wie auch immer geartete — Teleologie, und das heißt: eine Pointe mit ins Spiel gebracht würde. Diese Pointe ist das Auftauchen jener weißen Gestalt, „very far larger in its proportions than any dweller among men", mit dem der Bericht abreißt. Die naturalisierende Ebene wird hier, wo es um den prekärsten Gehalt geht, nachdrücklich autonom durchgehalten. Poe schafft ein imaginäres Telos, zu dem jene weiße Gestalt offenbar der Schlüssel ist, auf das 23

24

Anregungen für die Beschreibung der Insel Tsalal bezog Poe aus dem, von ihm auch rezensierten, Werk von John Lloyd Stephens: Incidents of Travel in Egypt, Arabia Petraea, and the Holy Land (2 Bde., 1837). Eine offene Anspielung auf derartige Reisebeschreibungen findet sich im 24. Kapitel des „Arthur Gordon Pym": „The place was one of singular wildness, and its aspect brought to my mind the descriptions given by travellers of those dreary regions marking the site of degraded Babylon" (S. 876). L. Moffitt Cecil hat die Vermutung geäußert, daß Poe die heißen Quellen Virginias zur Anregung für die Beschreibung der Antarktis dienten („Poe's Tsalal and the Virginia Springs", in: Nineteenth Century Fiction, X I X , 1965, S. 398-402).

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auch vielerlei Zeichen hindeuten, das jedoch nicht enthüllt wird. Dieses Telos ist das Geheimnis des Südpols. Und der Südpol ist das Reich des Todes. Man beachte die Häufung der Datumsangaben. Die Wissenschaftlichkeit des Berichts wird, je unglaublicher das Berichtete, desto nachdrücklicher in den Vordergrund gerückt. Der Kurs auf den Südpol ist wegen der Unmöglichkeit einer Rückkehr Zwang. Die „Jane Guy" hat auf ihrer Fahrt in die Antarktis Eiszonen durchquert, die nun jeden Weg zurück versperren. „Only one course seemed to be left open for hope. We resolved to steer boldly to the southward, where there was at least a probability of discovering other lands, and more than a probability of finding a still milder climate". Eine wichtige Funktion kommt dem von Pym und Peters mitgeführten Eingeborenen Nu-Nu zu. Pym sieht, daß offenbar nur ihm selbst und Peters vieles unerklärlich scheint, weil sie die Gegend und ihre Eigenarten nicht kennen. Nu-Nu jedoch weiß ganz offensichtlich Bescheid, wird jedoch durch seine abergläubischen Ängste, die schließlich seinen Tod bewirken, an jeglicher Aufklärung gehindert. Er weiß zum Beispiel um das Motiv für den Uberfall seiner Stammesbrüder auf die Mannschaft der „Jane Guy". Dieses Motiv nennt er aber nicht, weil ihm der Aufenthalt in der für seinesgleichen tabuisierten Zone die Sprache nimmt. Sein stumm-beredtes Zeichen: das Freilegen seiner schwarzen (!) Zähne bleibt undeutbar und verrät lediglich die Existenz eines ideologischen Hintergrunds für den vorausgegangenen Anschlag seiner Stammesbrüder. Wichtig ist, daß Poe auch da, wo er, fiktionstranszendent, den Schrecken des Nichts zu evozieren sucht, fiktionsimmanent Auflösungen, Motive bereitstellt, sie jedoch unaufgedeckt läßt. Die Fahrt zum Südpol wird begleitet vom Auffälligwerden der Farbe Weiß. Solches Auffälligwerden beginnt — in der Rückschau — mit dem Aufgreifen eines sonderbaren Tierkadavers: „The body was covered with a straight silky hair, perfectly white" (848). Dies wird unter dem 18. Januar berichtet. Später, als die Schießpulvervorräte der „Jane Guy" Feuer fangen und explodieren, fliegt der Körper dieses seltsamen Tiers mitten unter die entsetzten Eingeborenen: „Although they crowded around the carcass at a little distance, none of them seemed willing to approach it closely" (869). Daß die Farbe Weiß für die Bewohner von Tsalal tabuisiert ist, zeigt sich audi während der allerersten Besichtigung der „Jane Guy": „for example we could not get them to approach several very harmless objects — such as the schooner's sails, an egg, an open book, or a pan of flour" (850). Pym kann sich auf diese Scheu zu jener Zeit noch gar keinen Reim machen, da er das Gemeinsame dieser Gegenstände, die Farbe Weiß, nicht erkennt. Die Insel Tsalal wird von Poe ganz und gar auf die Farbe Schwarz abgestellt. Schwarz ist die Kleidung der Eingeborenen, schwarz sind die Haustiere, schwarz ist hier sogar der Albatros, schwarz sind die zeltähnlichen Behausungen der Oberschicht, und schwarz ist das Gestein. Schwarz sind auch die Zähne der Eingeborenen, was Pym erst ganz spät bemerkt, denn die Lippen dieser Menschen, so will es Poe mit todernster Miene, waren so dick, daß sie auch beim Lachen geschlossen blieben. Der „Bericht" hält nicht fest, was diese

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Menschen von Dirk Peters denken mußten, dessen riesige Zähne so weit vorstanden, daß sie niemals von den Lippen bedeckt wurden, so daß auf den ersten Blick der Eindruck entstand, dieser Mann werde von Lachen geschüttelt. Durch die antithetische Hereinnahme der Farbe Schwarz lädt Poe die weiße Finsternis des Südpols mit dunkler Bedeutung auf. Das Schlußkapitel des „Arthur Gordon Pym" gehört zweifellos zu den eindrucksvollsten Passagen Poescher Prosa. Zweifellos bietet es sich an, aus der magischen Antithetik der Farben Schwarz und Weiß eine insgeheime Stellungnahme des Autors zum Rassenproblem des amerikanischen Südens herauszulesen; gleichwohl ist bei Poe bezüglich der zeitgeschichtlichen Aktualisierung seiner Dichtung höchste Vorsicht geboten.25 Das Wissen um Seaborns „Symzonia", wo die Hellhäutigkeit der Bewohner des hohlen Erdinnern als Ausweis ihrer Positivität fungiert, trägt zur Deutung des „Arthur Gordon P y m " nichts bei. Auch Mutmaßungen darüber, was es mit der überdimensionalen weißen Gestalt auf sich hat, die aus den Nebeln des Südpols sich Pym und seinen Gefährten entgegenbeugt, wären nicht im Sinne des Werks. Was hier geschieht, soll ja als Geheimnis ,begriffen' werden und kommt nur als ein solches ins Spiel. Die Kenntnis dessen, was Poe ,benutzt' hat, hier: Vorstellungen aus Seaborns „Symzonia", kann sogar dem rechten Verständnis abträglich werden, indem sie ablenkt vom Stellenwert des innerfiktional Eingebrachten. Die Befindlichkeit des Auf-der-Hut-seins, die das gesamte Werk durchherrscht, sieht sich in der Todesszene einer extremen Möglichkeit ihres Wovor ausgeliefert, nämlich dem ganz und gar Unvertrauten, das jedoch in einem, wenngleich nur formellen, Bezug zum bereits Vertrauten steht. Dieser formelle Bezug, der in der Antithetik der Farben Schwarz und Weiß gründet, schlägt indessen gemäß der Logik des fiktionstranszendenten Bildes nicht in einen substantiellen um. Das Wovor des Auf-der-Hut-seins bleibt hier ein Unbekanntes. Es sei daran erinnert, daß das Wovor des Auf-der-Hut-seins während der embryonalen Situation, mit der die fiktionstranszendente Bildfolge beginnt, ebenfalls als etwas ganz und gar Unvertrautes gekennzeichnet wird, das jedoch mit der Geburt zu einem Durchschaubaren sich wandelt und damit eine bestimmte Strategie ermöglicht. Der Tod indessen meldet sich als das ganz und gar Unvertraute und bleibt dieses. VII. Die Ironie der Form Die Ironie der Form ist die Formel, mit der ich Poes Leistung im „Arthur Gordon Pym" gegen den auf den ersten Blick berechtigten Vorwurf der kompositioneilen Unzulänglichkeit abschirme. Viele Passagen scheinen kompositio25

Zur tiefenpsychologischen Deutung der Rassen- und Farbsymbolik im „Pym" vgl. Harry Levin: The Power of Blackness ( N e w York und London 1958) und Leslie Fiedler: Love and Death in the American Novel ( N e w York 1960). Des weiteren hat Pascal Covici Jr. versucht, der .Rothaut' Peters eine allegorische Pointe abzugewinnen („Toward a Reading of Poe's ,Narrative of Arthur Gordon Pym' ", in: Mississippi Quarterly X X I , 2, 1968).

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nell in der Luft zu hängen, wenn man davon ausgeht, daß nur solches vom Konkretionssubstrat sichtbar zu werden hat, was in einem direkten oder indirekten Bezug zum Gegenstand des Gebildes, zur fiktionstranszendenten Bildfolge steht. Poe hat jedoch, wer wollte das leugnen, im „Arthur Gordon P y m " auch Passagen, und zwar recht umfangreiche, untergebracht, die sich beim besten Willen in keinen Bezug zur fiktionstranszendenten Bildfolge bringen lassen. Man denke insbesondere an die Häufung von Umweltschilderungen, Navigationsangaben, Erkundungsberichten zu Anfang der Reise Pyms auf der „Jane Guy"2®. Gewiß, ich zeigte, wie Poe hier durch Versachlichung des Berichts das erzählerische Klima abkühlt, was für die Wahrscheinlichkeit der Gesamtlinie notwendig war. Dennoch sind die bezeichneten Passagen zu umfangreich, als daß sie sich derart rechtfertigen ließen. Welche Funktion haben dann aber diese gleichsam autonomen Exkurse und Episoden? Man könnte sagen, sie belegen die Eigenart des Reiseberichts. In einem Reisebericht kommen eben solche Passagen vor, und deshalb hat auch Poe sie in seinen „Bericht" einbezogen. Nun tritt aber ein Reisebericht nicht mit dem Anspruch auf, ein Gebilde zu sein. Kann die Nutzung einer bestimmten Gattung von „Bericht" eine Entschuldigung für kompositioneil Unnotwendiges sein, wo dieser Anspruch vorliegt? Es gilt zu fragen, was hier unter .Nutzung' zu verstehen sei. Mit Recht kann man sagen, Poe hat den Reisebericht seinen Absichten dienstbar gemacht. Mit einer solchen Feststellung wird der Blick auf die beherrschende Befindlichkeit (das Auf-der-Hut-sein) und die fiktionstranszendente Bildfolge gerichtet. Poe hat jedoch noch auf andere Weise den Reisebericht ,benutzt', indem er ihn als das, was er ist, zur Darstellung brachte. Poe zeigt uns, wie so etwas wie ein wissenschaftlicher Reisebericht aussieht. Poe faßt diesen als Modus eines bestimmten Sagens. Ich wies bereits in den einleitenden Bemerkungen zu dieser Untersuchung darauf hin, daß Poe den wissenschaftlichen Report in seiner Wissenschaftlichkeit ästhetisch gesehen habe. Daß sich dies uns, den Lesern, mitteilt, setzt die Desubstantialisierung des Geschilderten voraus. Der Gestus eines bestimmten Sagens kann nur für jemand zur Abhebung kommen, dessen Interesse nicht auf den Was-Gehalt des Gesagten gerichtet ist. Solchem Interesse wird die konkrete Bestimmtheit einzelner Aussagen gleichgültig gegenüber dem Bereich, in dem solche Aussagen vorkommen. Das kompositioneile Leerlaufen jener Exkurse zu Anfang der Reise Pyms auf der „Jane Guy" zeigt an, daß hier Aussagen von konkreter Bestimmtheit nicht in ihrem Was-Gehalt zu Wort kommen, sondern als Repräsentanten einer bestimmten ,Sicht', hier der Sicht des Forschungsreisenden. Es gilt, die Relevanz dieser Überlegung für das Gesamt des uns von Pym Berichteten einzusehen. Die kompositionell leerlaufenden Passagen machen uns lediglich mit Nachdruck auf etwas aufmerksam, was Eigenheit des gesamten „Berichts" ist. Auch im kompositionell Relevanten kann durch Übergenauigkeit an den Randstellen der Gestus eines bestimmten Sagens zur Abhebung gelangen; ja, wer auf Poes versteckte Winke in rechter Weise reagiert, wird schließlich sämtliche Mit26

Vgl. Kap. 14 und 15

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teilungen dieses Berichts .anders' lesen. Auch Sätze wie: This morning the gale had diminished to a mere ten-knot breeze, and the sea had gone down with it so considerably that we were able to keep ourselves dry upon the deck oder: We now found ourselves in the wide and desolate Antarctic Ocean, in a latitude exceeding eighty-four degrees, in a frail canoe, and with no provision but the three turtles werden dann nicht mehr nur in dem, was sie ,aussagen', vernommen, sondern als Repräsentanten eines Stils von Aussage, eines Modus von Rede. Poe filtert das Erzählte vorgängig durch eine Bewußtseinslage, aus der heraus der faktische Reisebericht als Ästheticum erfahren wird. Es ließe sich auch sagen: Poe ist an den Phantasieleistungen des pubertären Bewußtseins orientiert, das sich Abenteuer „im Stile von . . . " ausdenkt und dabei den Hinblick des Experten nachahmt. Die Kennzeichnung der Bewußtseinslage, durch die hier gefiltert wird, als ,pubertäre' geschieht nicht, was sich fast von selbst versteht, in abträglichem Sinne, sondern in auszeichnendem: denn das pubertäre Bewußtsein erfährt jeglichen theoretischen, wissenschaftlichen Hinblick noch ohne Ernst, ohne daß deshalb von einer unernsten Haltung die Rede sein könnte. Zur Verdeutlichung ein Seitenblick auf Melvilles „Moby Dick". Dort finden wir scheinbar Ähnliches: eine durchaus phantastische Handlungslinie, die die Existenz des weißen Riesenwals zur Voraussetzung hat, und sachkundige Erörterungen zur Technik und Geschichte des Walfangs. Melvilles Haltung zur gewählten Form des Erlebnisberichts ist indessen keine ironische. Melvilles Sachverständnis ist echt, es hält dem Blick des nachprüfenden Experten stand. Die Abhandlungen zur Cetologie ahmen nicht den Hinblick des Experten nach: sie sind dessen Hinblick. Es geht Melville nicht um den Gestus, sondern um die Substanz. Poes Dichtung indessen gründet in einer Subjektivität, die sich auf eigene Faust mit dem für sie Fremden, aber Interessanten einläßt. Mit einem Wort: Poes Material tritt gar nicht ,rein' auf. Die wissenschaftlichen Erläuterungen zielen nicht darauf ab, expertenfestes Sachverständnis zu belegen. Sie sind der Vorwand für einen Gesms. „Der Bericht des Arthur Gordon Pym" erfordert, um recht verstanden zu werden, eine kompliziertere Denkeinstellung als „Moby Dick". Was Poe hier vollbringt, ist bar der Wirkung auf Naive. Die Ironie der Form zeigt sich im Nachzeichnen der empirischen Eigentümlichkeiten jener Gattung, die das Werk zu sein sich verpflichtet, bis an den Rand der Nicht-Kunst, d. h. bis einschließlich des kompositioneil Unbrauchbaren. Poe geht so weit, auch den ungefügen Ballast von pedantischen, gleichsam sorgenvollen Erläuterungen, die der Reisebericht, kommt er in Wirklichkeit vor, uns zumutet, spielerisch mitzuschleppen. Über dem todernsten Hantieren mit dem Zünftigen liegt unmerkliches Kichern. „I believe it was not long after Captain Patten's visit that Captain Colquhoun, of the American brig Betsey, touched at the largest of the islands for the purpose of refreshment. H e planted onions, potatoes, cabbages, and a great many other vegetables, an abundance of all which is to be met with" (837). Der jeglichem Publikum von den Forschungsreisenden aller Zeiten unterstellte unbändige Wissensdrang sieht sich hier den subtilsten Trivialitäten kon-

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frontiert. Aufzählung wird allein durch die Existenz dessen, was aufgezählt wird, gerechtfertigt: „Besides the penguin many other birds are here to be found, among which may be mentioned sea-hens, blue peterels, teal, ducks, Port Egmont hens, shags, Cape pigeons, the nelly, sea-swallows, terns, seagulls, Mother Carey's chickens, Mother Carey's geese, or the great peterel, and, lastly, the albatross" (834). Poe erzielt eine Ästhetisierung des Pragmatischen. Man beachte zum Beispiel, daß jegliche ,ästhetische' Naturbetrachtung im „Arthur Gordon Pym" fehlt. Nirgends eine zweckfreie, unpragmatische Erlebnisschilderung; kein Sonnenuntergang wird erlebt, keine Stimmung genossen, nirgends ein Haltmachen, nirgends ein Sich-Verlieren des Subjekts an das Unendliche. Alles wird sachgemäß registriert und auf Zuträglichkeit oder Abträglichkeit abgehorcht. Die Stimmungen des Meeres sind lediglich in bezug auf die Seetüchtigkeit des Schiffs, auf dem man sich gerade befindet, von Interesse. Poe schafft Dichtung aus dem beispielhaft Prosaischen. Und dies nicht so, daß innerhalb der pragmatischen Bewandtniszusammenhänge die Möglichkeiten eines rein ästhetischen Aufblicks entdeckt würden — so verfährt Melville in „Moby Dick", wo für Ishmael, den Erzähler, auch in der Verarbeitung eines erlegten Pottwals noch das Pittoreske aufleuchtet. Man denke nur an die Beschreibung des sogenannten „Heidelberger Fasses", das im Kopf des Pottwals offengelegt wird: „I know not with what fine and costly material the Heidelburgh Tun was coated within, but in superlative richness that coating could not possibly have compared with the silken pearl-colored membrane, like the lining of a fine pelisse, forming the inner surface of the Sperm Whale's case."27 Poe nimmt das Pragmatische als Pragmatisches ,ästhetisch'. Das heißt: der sachlich registrierende Blick des Forschungsreisenden wird zur Herrschaft gebracht und als das, was er ist, ästhetisch gesehen. Damit wird der Gestus einer Disziplin gestaltet. Der Gestus des Experten kann als solcher nur zur sichtbaren Abhebung gelangen, wenn der Sachbereich, der ihn trägt, von einem Bewußtsein rezipiert wird, das selber nicht das eines Experten ist. Die Folge davon ist, daß im „Arthur Gordon Pym" disziplinär Phantastisches mit disziplinar Wirklichem gleichberechtigt einhergeht und kompositioneil Unnotwendiges unter unausdrücklicher Berufung auf die prätendierte Authentizität des Berichts zugelassen wird. Eine solche Haltung zur genutzten Gattung des Reiseberichts ist in ihrem Wesen keine parodistische. Poe erfaßt eine ,Welt' in ihrem Aussagegestus. Man könnte auch sagen: Poe reproduziert, wie eine Fachwelt, nämlich der Typus einer bestimmten Weltauslegung, einem Bewußtsein, das nicht von deren Sachzwängen aufgesogen wird, erscheinen muß. Solches Abheben dessen, was an einer Fachwelt für einen Nicht-Fachmann von sich aus sich zeigt, ist nicht etwa ein Gleichsetzen dieser spezifischen Welt mit dem, was zufällig von ihr verstanden wird, sondern ein strenges Erfassen 27

Moby Dick, Kap. 77: The Great Heidelburgh Tun; zitiert nach der Ausgabe: Herman Melville, Moby Dick, or The Whale (New York, The New American Library, 1956), S. 382.

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dessen, was diese Welt als bestimmter Gestus von Weltauslegung oder auch als Summe von Gesten ist. So führt uns Poe etwa den Gestus der Log-BuchEintragung, der unterkühlten Gefahrenschilderung, des wissenschaftlichen Abwägens vor, solche Gesten mithin, in denen das Weltinteresse des forschenden Reisenden sich dokumentiert. 28 Die Ironie der Form ist per definitionem keine Ironie des Gehalts. Der Ernst der fiktionstranszendenten Bildfolge und die Verbindlichkeit der anthropologischen Prämisse bleiben von der spielerischen' Handhabung der gewählten literarischen Gattung unberührt. Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen sei der radikalste Angriff in Augenschein genommen, der bislang gegen die künstlerischen Qualitäten des „Arthur Gordon Pym" geführt wurde. Er stammt aus der Feder des verdienten amerikanischen Poe-Forschers Sydney P. Moss und trägt den bezeichnenden Titel „,Arthur Gordon Pym' or the Fallacy of Thematic Interpretation". 2 " Moss stützt sich bei seiner Argumentation auf die Entstehungsgeschichte des Werks, verweist insbesondere auf einen Brief der Gebrüder Harper an Poe30, worin dieser gebeten wird, keine Sammlung von Erzählungen, sondern eine „single and connected story" größeren Umfangs zu liefern, die „populär" und nicht „too learned and mystical" zu sein habe und vor allem eigens für H a r per & Brothers geschrieben sein solle. Dieser Aufforderung sei Poe allzu bereitwillig nachgekommen und habe ohne Rücksicht auf konsistente Charakterzeichnung, sachliche Richtigkeit und kompositioneile Stringenz drauflosfabuliert: das Ergebnis sei ein regelrechtes Flickwerk. Moss greift zunächst die von L. Moffitt Cecil 1963 aufgestellte These a u f 1 , wonach das Werk aus zwei miteinander unverbundenen Teilen bestehe: der „Grampus"-Story und der „Jane Guy"-Story, und kommt zu dem Schluß — hauptsächlich in der Auseinandersetzung mit den Deutungen Patrick F. Quinns, 32 Edward H . Davidsons 33 und Harry Levins34, daß jegliche thematische Interpretation fehlgehe, denn das Werk habe gar kein Thema, es sei ein Sammelsurium von mehr oder weniger oberflächlich verbundenen Einzelepisoden. Moss bietet keine eigene Interpretation an, sondern lehnt jegliche ab. Die Rechtfertigung für diese hermeneutische Abstinenz wird durch Aufdeckung 28

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Ein Dichter, der Poe in dieser Hinsicht verstanden und fortentwickelt hat, ist Jorge Luis Borges. Ich erinnere nur an das Prosastück „Untersuchung des Werkes von Herbert Quain", wo die literarkritische Würdigung als Modus von Rede zur Darstellung kommt. Sydney P. Moss: „,Arthur Gordon Pym' or The Fallacy of Thematic Interpretation", in: University Review, XXXIII, 1966/67, S. 299—306. Dieser Brief (Juni 1836) ist veröffentlicht in Arthur Hobson Quinn, Poe: A Critical Biography (New York 1941), S. 250/51. L. Moffit Cecil: „The Two Narratives of Arthur Gordon Pym", in: Texas Studies in Literature and Language, V., 1963, 232—41. Patrick F. Quinn: „Poe's Imaginary Voyage", in: Hudson Review, IV, 1952, S. 562—585. Edward H.Davidson: Poe: A Critical Study (Cambridge, Mass., 1957). Harry Levin: The Power of Blackness: Hawthorne, Poe, Melville (New York und London 1958).

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der Entstehungsgeschichte und durch Aufzählung von Fehlern und kompositioneil blinden Stellen geliefert: wer hier deute, suche Sinn, wo keiner intendiert sei. Was Sydney P. Moss richtig erkannt hat, und damit kommt seiner These eine prinzipielle Bedeutung zu, ist, daß sich die künstlerische Einheit dieses Werks aus dem thematischen (fiktionsimmanenten) Bereich nicht herleiten läßt. Moss hat, wenn man so sagen will, die Eigentümlichkeit dieses sonderbaren Werks gleichsam privativ gesehen, indem er alle Deutungen, die sich am explizit Thematisierten ausrichteten, in die Sphäre des bloßen Dafürhaltens verwies. Allerdings bleibt Moss, indem er für die schlechthinnige Unmöglichkeit einer sinnvollen Interpretation plädiert, grundsätzlich im Verständnishorizont der von ihm bekämpften Ausleger, denn er faßt wie sie das Werk als naturalisierende und nicht als allegorisierende Dichtung auf. Die Lösung liegt ja nicht in der Zurückweisung jeglicher Interpretation und damit im Abtun des Werks, sondern kann nur durch den Sprung auf die Ebene des Sinnbilds vollzogen werden, von der aus die bislang blinden Anschauungen ihre Begriffe finden. Gleichwohl bleibt auch für jemanden, der die fiktionstranszendente Bildfolge deutlich sieht, ein scheinbar unauflösbarer Rest an kompositionell Unnotwendigem. Moss wartet mit dem Argument auf, Poe habe sein Werk durch Einschieben wissenschaftlicher Exkurse auf die vom Verlag geforderte Länge gestreckt. Wer meine Erläuterungen zur Ironie der Form bedenkt, wird die kompositioneile Überflüssigkeit solcher Exkurse nicht leugnen, sie aber als Ausweis einer intendierten künstlerischen Eigenart begreifen. Moss' Beobachtung bleibt also durchaus in Kraft, führte ihn jedoch zu falscher Schlußfolgerung. Auch der Vorwurf, Poe sei bei der Zeichnung der beiden Hauptpersonen Pym und Peters nicht konsequent verfahren, muß vom Gesichtspunkt der Ironie der Form neu bedacht werden. Wiederum handelt es sich um eine richtige Beobachtung: Peters wird als Ausbund an Dämonie eingeführt und erweist sidh, ohne daß .Psychologie1 im Spiel wäre, als getreuer Kumpan; und Pym beginnt die Reise auf der „Grampus" als exemplarischer Laie im Nautischen und ist wenige Monate später so beschlagen, daß Captain Guy sich von ihm beraten läßt. Wenn Poe indessen das Faktische seiner Dichtung an der Phantasieleistung jener orientiert, die sich an einer bestimmten vorgeprägten Welt begeistern und Abenteuer „im Stile von . . . " zusammenstellen, wird die Rücksichtslosigkeit beim Passendmachen der einmal kreierten Helden für die jeweils benötigten Situationen zum durchaus bewußten Verfahren. Selbst was ganz offensichtlich als Nachlässigkeit Poes zu werten ist (etwa die unterbliebene Erklärung für das Verschwinden ,Tigers' oder die Unstimmigkeit in den Datumsangaben der .Introductory Note' usw.) wird durch Ansetzung eines konstituierenden Bewußtseins positiv bedeutsam.

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3. Bemerkungen zu einer typologisdien Standortbestimmung I. Einordnung in das Gesamtschaffen Poes „Der Bericht des Arthur Gordon Pym" nimmt innerhalb des Poeschen Gesamtwerks eine zentrale Stellung ein. Einmal durch die Häufung von Themen und Situationen, die für Poe typisch sind, in anderen Werken wiederkehren oder beherrschend gestaltet werden, und zum anderen durch die eigentümliche Mischung von ,ratiocination' und unauflösbarer Pbantastik. Thematisch vorweggenommen — ich erinnere daran, daß das Werk 1838 erschien — wird (in Kap. 3 und Kap. 24) das Phänomen des widersinnigen Handelns, das in der „Schwarzen Katze" (The Black Cat; 1843) und im „Dämon des Widersinns" (The Imp of the Perverse; 1845) in den Vordergrund rückt; außerdem wird an zwei Stellen (Kap. 2 ff. und Kap. 21) Poes Obsession von der Vorstellung, lebendig begraben zu werden, sichtbar, die später im „Begräbnis vor dem Tode" (The Premature Burial; 1844) und im „Faß Amontillado" (The Cask of Amontillado; 1846) zur Herrschaft kommt, auch in „Die Grube und das Pendel" (The Pit and the Pendulum; 1842) und in „Der Untergang des Hauses Usher" (The Fall of the House of Usher; 1839) keine geringe Rolle spielt und bereits früher, in „Berenice" (1835), mit nekrophilen Untertönen gestaltet wurde. Mit den seltsamen Zeichen im Gestein von Tsalal (Kap. 23) berührt Poe das Thema der Kryptographie, das im „Goldkäfer" (The Gold-Bug; 1843) zentral gestaltet wird. Die Beschreibung der Leichen Rogers' und Augustus' und die Schilderung des vorbeiziehenden Totenschiffs weisen voraus auf die makabre Aufgipfelung im „Fall Valdemar" (The Facts in the Case of M. Valdemar; 1845). Mit der Schilderung des Totenschiffs greift Poe außerdem ein Thema auf, das bereits früher, in der „Flaschenpost" (MS Found in a Bottie; 1833), angeschlagen wurde: die Fahrt auf dem Fliegenden Holländer. Als Vorübung für die Darstellung des Phantastischen im Gewand des wissenschaftlichen Reports hat die Erzählung „Das unvergleichliche Abenteuer eines gewissen Hans Pfaall" (The Unparalleled Adventure of One Hans Pfaall; 1835) zu gelten. Mit einem Wort: „Der Bericht des Arthur Gordon Pym" ist geradezu eine Enzyklopädie Poescher Themen. Dabei muß jedoch beachtet werden, daß das Wiederauftauchen eines Themas nicht die Wesensverwandtschaft beider Werke impliziert. Diese hat ihren Grund in der anthropologischen Prämisse. Es stellt sich jetzt die Frage nach dem systematischen Ort des „Arthur Gordon P y m " innerhalb des Poeschen Gesamtwerks. Man kann sagen: „Der Bericht des Arthur Gordon Pym" steht zwischen den ,tales of ratiocination' und den ,tales of horror'. Dieses Zwischen bedeutet nicht, daß es unentschieden bliebe, zu welcher Gruppe der „Bericht" gehört. Ins Paradox vorgetrieben: „Arthur Gordon Pym" darf als ,tale of ratiocination' ohne mögliche Auflösung bezeidinet werden. Diese Feststellung gilt es näher zu erläutern. — Poe ist ein äußerst vielseitiger Dichter, und die Frage, ob sich sein Gesamtschaffen einer bestimmten Weltanschauung fügt, auf eine einzige anthropologische Prämisse abgestellt ist, muß,

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wie mir scheint, verneint werden. Nichtsdestoweniger hat Poe in verschiedenen Reihen seiner Werke jeweils eine bestimmte Weltanschauung konkretisiert. In unserem Zusammenhang wird insbesondere die weltanschauliche Antithetik zwischen den „Morden in der Rue Morgue" und dem „Untergang des Hauses Usher" relevant: Auguste Dupin hat im Hause Usher nichts zu suchen. Tale of horror und De-tektiv sind unvereinbar. Wo das Folgern sein Feld hat, gibt es keinen Schrecken, der sein Recht behaupten könnte. „Arthur Gordon Pym" gehört vom Typus der implizierten Weltordnung her zur Gruppe der ,tales of ratiocination'. Diese Zuordnung mag zunächst befremden, da hier ja kein Rätsel zu lösen, kein Kriminalfall aufzuklären ist. Die Detektiv-Geschichten bilden jedoch, recht betrachtet, nur eine Untergruppe der vom Prinzip des ,Folgerns' getragenen Werke Poes. Es sei in Erinnerung gebracht, daß Auguste Dupin von Poe nachdrücklich als Denker gekennzeichnet wird, der nur zum Zeitvertreib seine Fähigkeit, in die Natur der Dinge einzudringen, auf die Lösung von Kriminalfällen verwendet. Insofern formulieren die Detektiv-Geschichten, von ihrer inneren Intention her gesehen, einen metaphysischen Satz: die prinzipielle Analogie nämlich zwischen dem auf rechte Weise Gedachten und der objektiven Realität. Diese Analogie kommt im Folgern zum Vorschein. Die Kunst des richtigen Folgerns, die in den Detektiv-Geschichten (The Murders in the Rue Morgue; The Mystery of Marie Roget; The Purloined Letter) vom Standpunkt des sie beherrschenden Intellekts eine Spielerei bleibt, wird in anderen Werken zum Garant für die Durchsetzung von „Interessen". So kann es etwa um die Hebung eines Piratenschatzes gehen (The Gold-Bug) oder um die Aufdeckung von Scharlatanerie (Maelzel's Chess-Player). Und schließlich wird die Kunst des richtigen Folgerns zum Garant fürs Überleben (The Pit and the Pendulum; A Descent into the Maelstrom). Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen dürfte die innere Verwandtschaft der Welt Pyms mit der Dupins deutlich werden: hier wie da eine prinzipiell durchschaubare Ordnung der Dinge. Dupin allerdings vermag diese Ordnung zu denken, während Pym sie nur erlebend erfährt. Für Pym gelangt das Prinzip, nach dem seine Welt angetreten ist, nicht zu theoretischer Durchsichtigkeit, gleichwohl verhält er sich ihm gemäß. Pyms Welt ist dadurch gekennzeichnet, daß alles, was in ihr geschieht — und sei es auf den ersten Blick noch so geheimnisvoll — eine rationale Erklärung zuläßt. Wenn Pym zuweilen von den ,Wundern' (miracles) spricht, die er erlebt habe, und die Schilderung solcher Geschehnisse in Aussicht stellt, die manchem wie Ausgeburten der Phantasie erscheinen müssen, so wird damit nicht deren rationale Erklärbarkeit geleugnet, sondern lediglich festgestellt, daß hier der Horizont unserer bisherigen Erfahrungen überschritten wird. Solche Überschreitung bedeutet hier jedoch keinesfalls ein Verlassen des Bodens, auf dem die vorausliegende Erfahrung stand. Dennoch bleibt für uns, die Leser, Pyms Fahrt ins weiße Herz der Finsternis für immer mit dem Schleier des unlösbaren Geheimnisses umgeben. Die uns von Poe verweigerte Aufklärung impliziert nicht fiktionsimmanente Unaufklär&