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German Pages 571 [572] Year 1986
B U C H R E I H E DER A N G L I A Z E I T S C H R I F T FÜR E N G L I S C H E P H I L O L O G I E Herausgegeben von Helmut Gneuss, Hans Käsmann, Erwin Wolff und Theodor Wolpers 26. Band
WOLFGANG ZACH
POETIC
JUSTICE
Theorie und Geschichte einer literarischen Doktrin Begriff — Idee — Komödienkonzeption
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1986
Gedruckt mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung, der österreichischen Forschungsgemeinschaft und der Stadt Graz CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Zach, Wolfgang: Poetic justice : Theorie u. Geschichte e. literar. Doktrin ; Begriff — Idee — Komödienkonzeption / Wolfgang Zach. — Tübingen : Niemeyer, 1986. (Buchreihe der Anglia, Zeitschrift für englische Philologie ; Bd. 26) NE: Anglia / Buchreihe ISBN 3-484-42126-6
ISSN 0340-5435
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1986 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlags ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz und Druck: Voralpendruck Sulzberg, Sulzberg im Allgäu Bindearbeiten: Heinrich Koch, Tübingen
Fùr Hannelore und Cornelia
Inhaltsverzeichnis VORWORT
XI
EINLEITUNG
1
0.1. Einführung
3
0.2. Forschungsstand 0.3. Aufgabenstellung, dieser Studie
11 Methode
und formale
Charakteristika 16
ERSTER TEIL
POETIC JUSTICE: THEORETISCHE UND HISTORISCHE GRUNDLAGEN DER DOKTRIN 1.1. 'Poetic Justice': Entstehung, spektrum des Terminus
Verbreitung
und
Bedeutungs25
1.1.1.
Entstehung und Verbreitung des Begriffs
1.1.2.
Das Bedeutungsspektrum des Begriffs und terminologische
25
Konsequenzen
1.2. 'Poetic Justice': Genreübergreifende
27
...
37
1.2.1.
Die Grundlegung der Doktrin in der antiken Dichtungslehre und ihr Konnex mit der klassizistischen Poetik
Aspekte der Doktrin
37
1.2.2.
Die Doktrin in der synkretistischen Poetik des frühen Klassizismus
57
1.2.3.
Die Dimensionen von poetischer Gerechtigkeit in der klassizistischen Poetik
67
1.2.3.1. Die weltanschaulich-religiöse Dimension 1.2.3.2. Die moralisch-didaktische Dimension
67 80
1.2.3.3. Die ästhetisch-kulinarische Dimension
87
1.3. 'Poetic Justice': Komödienspezifische les bis Corneille 1.4. Zusammenfassung
Aspekte von Aristote97 107 VII
ZWEITER TEIL V O N VICE
TRIUMPHANT
Z U VIRTUE
REWARDED:
P O E T I S C H E G E R E C H T I G K E I T IN D E R KOMÖDIENKONZEPTION VON JOHN DRYDEN BIS R I C H A R D S T E E L E ( 1 6 6 0 BIS 1 7 2 8 ) 2 . 1 . 'Poetic Justice'und 2.1.1. 2.1.2. 2.1.3.
die Restaurationskomödie
(1660-1698)
Pro und contra poetische Gerechtigkeit am Beginn der Restaurationszeit: John Dry den vs. Thomas Shadwell Belohnung des rake} Die Restaurationskomödie nach 1672 Bekehrung und Bestrafung des rake: Die beginnende Moralisierung der Komödie nach 1687
2 . 2 . 'Poetic Justice'
in der
115 115 122 128
Collier-Bühnenkontroverse
(1698-1709)
141
2.2.1.
Poetische Gerechtigkeit in Jeremy Colliers Short View und in den Schriften anderer Bühnengegner (1698) 2.2.2. Poetische Gerechtigkeit in der Auseinandersetzung zwischen Gegnern und Verteidigern des Theaters ( 1 6 9 8 - 1 7 0 9 ) 2.2.2.1. Für und wider poetische Gerechtigkeit in der ersten Phase der Bühnenkontroverse (April bis Nov. 1698) 2.2.2.2. Letzte Verteidigung des gelohnten rake' und Dogmatisierung von poetischer Gerechtigkeit in der zweiten Phase der Bühnenkontroverse (Dez. 1698 bis Nov. 1699) 2.2.2.3. Poetische Gerechtigkeit als Dogma: Die dritte Phase der Bühnenkontroverse ( 1 7 0 0 - 1 7 0 9 ) 2 . 3 . 'Poetic Justice' von William Congreve
bis Richard
2.3.2. 2.3.3. 2.3.4.
Der Stellenwert von poetischer Gerechtigkeit bei William Congreve, John Vanbrugh und George Farquhar Die progressive Festigung von poetischer Gerechtigkeit in der Komödie: Von Mrs. Centlivre bis Colley Cibber Poetische Gerechtigkeit als Axiom der Komödientheorie im frühen 18. Jahrhundert Die Belohnung der Tugend: Joseph Addison, Richard Steele und die sentimental comedy
2 . 4 . Zusammenfassung VIII
151 152
169 181
Steele
(1698-1728) 2.3.1.
141
193 193 206 215 220 232
DRITTER TEIL JUSTICE ALS KÜNSTLERISCHE N O R M ? J O H N GAYS BEGGAR'S OPERA UND DIE KOMÖDIENKONZEPTION VON 1728 BIS NACH 1 8 0 0 POETIC
3.1. 'Poetic Justice' im literarischen Umfeld der 'Beggar's Opera'.
243
3.2. 'Poetic Justice' von John Gays 'The Beggar's Opera' bis zu 'Polly. An Opera'(1728-1730)
253
3.2.1. 3.2.2. 3.2.3.
Der Triumph Macheaths als Konsequenz des schlechten Publikumsgeschmacks: The Beggar's Opera (1728) Moralische Kritik am Triumph Macheaths und Verteidigungsversuche der Beggar's Opera (1728/29) John Gays Antwort auf die Kritik der Moralisten: Poetische Gerechtigkeit in Polly. Being the Second Part of the Beggar's Opera (1729)
3.3. 'Poetic Justice', die Komödienkonzeption der 'Beggar's Opera' von 1728 bis 1760 3.3.1.
253 266
274
und die Rezeption 278
Poetische Gerechtigkeit als Dogma der Komödienkonzeption Moralische Kritik und Verteidigungsversuche der Beggar's Opera
295
3.4. 'Poetic Justice', die Komödienkonzeption und die Rezeption der 'Beggar's Opera' von 1760 bis nach 1800
301
3.3.2.
3.4.1. 3.4.2. 3.4.2.1. 3.4.2.2. 3.4.2.3. 3.4.2.4. 3.4.3. 3.4.3.1. 3.4.3.2.
Wiederbelebung und Tod der Komödie und Diversifikation der Ansichten über poetische Gerechtigkeit Die fortdauernde Bedeutung von poetischer Gerechtigkeit in der Komödienkonzeption nach 1760 Poetische Gerechtigkeit und gerechte Sympathieverteilung in der Komödientheorie Die Komödienkonzeption und poetische Gerechtigkeit im Spiegel des Publikumsgeschmacks und der Literaturkritik . Poetische Gerechtigkeit als Dogma der sentimental comedy Die Vertreibung des ,belohnten rake' der Restaurationskomödie von der englischen Bühne Poetische Gerechtigkeit und die Rezeption der Beggar's Opera nach 1760 Der Kampf gegen die Beggar's Opera in England und ihre Moralisierung auf dem Kontinent (1760-1777) Der bekehrte und bestrafte Macheath. Der neue Schluß der Beggar's Opera (1777) und seine Aufnahme bei Publikum und Kritik
278
301 305 305 319 326 335 340 340
349 IX
3.4.3.3. Restitution des ,Happy-End', Expurgierung und Verstümmelung derBeggar's Opera nach 1780 3.4.3.4. Der Zuseher als potentieller Don Quijote der Räuberzunft? Auseinandersetzungen um die Beggar's Opera und poetische Gerechtigkeit von Dr. Johnson bis ins 19. Jahrhundert
3.5. Zusammenfassung
353
355
370 VIERTER TEIL
POETIC JUSTICE? VOM LITERARISCHEN DOGMA ZUR TRIVIALDOKTRIN. INFRAGESTELLUNG UND PRESTIGEVERLUST DER DOKTRIN VOM 18. JAHRHUNDERT ZUR MODERNE 4.1. 'Poetic Justice' in der genreübergreifenden menwechsel und das neue Paradigma
Poetik: Paradig381
4.1.1.
Abwertung der Doktrin und Relikte des alten Paradigmas nach 1800 4.1.2. Die Entwertung der drei Dimensionen von poetischer Gerechtigkeit und das neue Paradigma 4.1.2.1. Die weltanschaulich-religiöse Dimension 4.1.2.2. Die moralisch-didaktische Dimension 4.1.2.3. Die ästhetisch-kulinarische Dimension
4.2. 'Poetic Justice' in der Komödientheorie: und das neue Paradigma
381 387 387 395 412
Paradigmenwechsel 422 435
4.3. Zusammenfassung TEXTANHANG
ALTERNATIVE SCHLUSSSZENEN FÜR JOHN GAYS THE BEGGAR'S OPERA 1. Ehrenfried E. Buschmanns Schlußszene von ,Die Straßenräuber' (1770) 445 2. Edward Thompsons Schlußszene für die 'Beggar's Opera' (1777) 449 3. Henry Bishops (?) gekürzter Schluß der 'Beggar's Opera' (1813) 452 ANMERKUNGEN Abkürzungsverzeichnis
REGISTER X
455 456
535
Vorwort Die vorliegende Studie ist die überarbeitete Fassung einer Arbeit, die im Juni 1983 von der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz als Habilitationsschrift angenommen wurde. Es ist mir eine große Freude, hier allen Personen und Institutionen danken zu dürfen, die das Zustandekommen und die Drucklegung dieser Studie ermöglicht haben. Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Franz Zaic für den Anstoß zur Beschäftigung mit dem Gegenstand, Herrn Professor Franz K. Stanzel für seine Förderung der Arbeit und seine Kritik sowie Herrn Professor Herbert Mainusch für viele wertvolle Diskussionen und seine Ermutigung. Ebenso zu danken habe ich Herrn Professor Bernhard Fabian für anregende Gespräche und Literaturhinweise sowie Herrn Professor Wolfgang Riehle für seine kritische Lektüre des als Habilitationsschrift vorgelegten Manuskripts. Nur pauschal danken kann ich all den von mir weit über Gebühr beanspruchten Bibliothekaren, die mir den Zugang zu dem umfangreichen Quellenmaterial dieser Studie ermöglichten. Insbesondere nennen möchte ich hier die Mitarbeiter der Bodleian Library und der British Library, der österreichischen Nationalbibliothek sowie der Universitätsund Institutsbibliotheken in Münster und Graz. Darüber hinaus gebührt mein spezieller Dank dem Victoria and Albert Museum, der Indiana University Library und der Huntington Library, die mir eine Reihe von wichtigen Manuskripten und Textausgaben zugänglich machten. Weiterhin möchte ich vielen Institutionen und deren Mitarbeitern für die Förderung meiner Arbeit meinen aufrichtigen Dank aussprechen. Dieser gilt in ganz besonderer Weise der Alexander von Humboldt-Stiftung, die mir einen achtzehnmonatigen Forschungsaufenthalt an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster ermöglichte und auch einen großzügigen Druckkostenzuschuß gewährte. Ohne diese Unterstützung hätten diese Studien wohl nicht durchgeführt und in dieser Form publiziert werden können. Bestens danken möchte ich aber auch dem British Council, mit dessen Hilfe ich einige Monate am Mansfield College (Oxford) verbringen durfte, dem österreichischen BundesministeXI
rium für Wissenschaft und Forschung und dem Land Steiermark, die mich bei kürzeren Forschungsaufenthalten im Ausland unterstützten, sowie dem Theodor Körner-Stiftungsfonds für die Verleihung eines Förderungspreises. Der österreichischen Forschungsgemeinschaft und der Stadt Graz habe ich schließlich für die Gewährung von Zuschüssen zu danken, welche die Drucklegung dieser Arbeit endgültig ermöglichten. Den Herausgebern, insbesondere Herrn Professor Erwin Wolff, und dem Max Niemeyer Verlag danke ich für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe. Frau Birgitta Zeller hat die Drucklegung vorbildlich betreut. Daß diese Studie nun vorliegt, verdanke ich aber vor allem dem großen Verständnis meiner Familie und ihrer stetigen Unterstützung meiner Arbeit. Meine Frau, Hannelore Zach, hat auch mit mir gemeinsam das Typoskript hergestellt und die Korrekturen gelesen. Ihr und unserer Tochter, Cornelia, ist dieses Buch folglich in Dankbarkeit gewidmet. Graz, im Mai 1985
XII
Wolfgang Zach
EINLEITUNG
Was er für Vokabeln gebraucht ! Ganz ohne sich zu genieren spricht er von ,Tugend' — ich bitte dich! Mein ganzes Leben lang habe ich dieses Wort noch nicht in den Mund genommen. Hans Castorp in Thomas Manns ,Zauberberg' Von der Moral erwischt. Analyse eines Trivialromans. Dieter Wellershoff The good ended happily, and the bad unhappily. That is what Fiction means. Miss Prism in Oscar Wildes 'The Importance of Being Earnest'1
0.1. Einführung
Als Cecily in Oscar Wildes The Importance of Being Earnest (1895) eine abfällige Bemerkung über die vielen wöchentlich erscheinenden Romane macht, wird sie von Miss Prism, ihrer ältlichen und pedantischen Hauslehrerin zurechtgewiesen, die ihr überdies eröffnet, auch selbst einmal in jüngeren Jahren einen solchen Roman geschrieben zu haben. Dies setzt Cecily in höchstes Erstaunen: CECILY. Did you really, Miss Prism? How wonderfully clever you are! I hope it did not end happily? I don't like novels that end happily. They depress me so much. Miss PRISM. The good ended happily, and the bad unhappily. That is what Fiction means. CECILY. I suppose so. But it seems very unfair. (II, S. 341)
Diesem Dialog ist zu entnehmen, daß Oscar Wilde an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert offensichtlich der Meinung war, viele Romanautoren seiner Zeit richteten ihre Werke so ein, daß in ihnen schließlich ,die Guten' belohnt und ,die Bösen' bestraft würden. Diese Autoren richteten sich demzufolge also nach der sogenannten Doktrin der ,poetischen Gerechtigkeit'. Daß Wilde die Ansicht, poetic justice sei das Fundament der Dichtung schlechthin, gerade Miss Prism in den Mund legt, zeigt uns darüber hinaus, daß er diese Vorstellung der Lächerlichkeit preisgeben will. Tatsächlich gehören Cecilys Bewertung eines Happy-End in der Fiktion nicht als beglückend, sondern bedrückend und ihr Urteil über die Belohnung des Guten und die Bestrafung des Bösen in der Literatur nicht als gerechtfertigte moralische Parteinahme des Autors, sondern als eine dem fair play- Ideal widersprechende Unsportlichkeit zu den für das ganze Stück charakteristischen Paradoxien, in denen Wilde konventionelle Ideen seiner Zeit auf den Kopf stellt. Cecilys Bemerkungen sind zwar ganz in character gesprochen, doch gehen wir wohl nicht fehl in der Annahme, daß gleichzeitig Oscar Wilde, dem als Ästhetizisten jegliche moralische Bewertung fiktionaler Charaktere durch den Autor als 3
unverzeihlicher Stilmanierismus erscheint,2 mit einer moralistischen Poetologie abrechnet, der poetic justice tatsächlich als das Fundament der Dichtung schlechthin erschien. Für diese These spricht auch, daß Wilde selbst in The Importance of Being Earnest Lohn und Strafe am Ende nicht moralisch gerecht verteilt, und Lady Bracknell schließlich über den — zweifellos ,poetisch gerechten' — Roman Miss Prisms das Urteil fällt, dieser sei "of more than usually revolting sentimentality" (IV, S. 378). Autoren und Literaturkritiker des 20. Jahrhunderts neigen dazu, dieses Urteil Lady Bracknells allgemein auf die Doktrin der poetischen Gerechtigkeit zu beziehen, also universell auszuweiten und jedem literarischen Werk mit einem solchen Schluß anzuheften. So bezeichnet schon M. A. Quinlan 1912 in ihrer Studie Poetic Justice in the Drama die Doktrin als "the most unpoetical of literary dogmas", 3 und Stephen in James Joyces Ulysses (1922) mokiert sich über die literarische Belohnung des Guten und spricht von der Bestrafung des Bösen gleichzeitig verächtlich als "the bad man taken off by poetic justice to the place where the bad niggers go". 4 Heutzutage scheint poetische Gerechtigkeit in jedem zeitgenössischen literarischen Werk gleichgültig welchen Genres zum verläßlichen Indikator des Trivialen schlechthin geworden zu sein. So konzediert z.B. Rüdiger Ahrens im Lexikon der englischen Literatur (1979) zwar, daß die Doktrin auch heute noch einem beträchtlichen Teil der produzierten Literatur ihren Stempel aufdrückt, verbindet dies aber - wie weithin üblich — sogleich mit dem Hinweis auf die offenbar dadurch bedingte künstlerische Minderwertigkeit, wenn er schreibt: „Heute findet man p. j. [= poetic justice] bes. häufig in Filmen, Kom. und Romanen niederer Qualitätsstufe."5 Überdies wird für diese Bewertung von poetic justice zumeist nicht iiur für die moderne Literatur Gültigkeit beansprucht, sondern diesem Urteil wird oft auch apriorische Geltung zugeschrieben. Dabei gerät poetic justice in jedem literarischen Werk — gleichgültig welcher Zeit und welcher Gattung — zum kaum noch hinterfragten Signum des Unkünstlerischen. So meint etwa Mark Kinkead-Weekes 1973 in seiner beachtenswerten Monographie über Samuel Richardson zu dessen im Jahre 1740 erstmals publizierten Roman Pamela; or Virtue Rewarded: "It [ = poetic justice] is true neither to life, nor to morals, nor to Christianity."6 Gesteht man in der Moderne zwar einem Roman mit einem poetisch gerechten Schluß aber zumindest zu, ein Roman zu sein, neigen viele Literaturtheoretiker unserer Zeit dazu, jedem Drama mit einem poetisch gerechten Schluß abzusprechen, eine Tragödie sein zu können, auch wenn 4
es der Autor - gleichgültig ob Euripides oder ein Dramatiker der Neuzeit — als Tragödie verstand. "Tragedy is only possible to a mind which is for the moment agnostic or Manichean. The least touch of any theology which has a compensating Heaven to offer the tragic hero is fatal", 7 so wird gerne I. A. Richards zitiert, u. a. von George Steiner in dessen vielbeachteter Monographie The Death of Tragedy (1961 ).8 Dieser stellt darüber hinaus selbst dezidiert fest: "Where there is compensation, there is justice, not tragedy." 9 Solche Feststellungen finden sich mittlerweile auch in literaturwissenschaftlichen Handbüchern häufig, obgleich dies weder dem antiken noch dem klassizistischen Verständnis der Tragödie entspricht. Schließlich scheint auch der,echten' Komödie - zumindest gemäß der heute vorherrschenden Meinung — poetic justice fremd zu sein. Hier sei Northrop Frye als Gewährsmann zitiert, der in seiner bekannten Studie Anatomy of Criticism (1957) schreibt: Comedy usually moves toward a happy ending, and the normal response of the audience to a happy ending is 'this should be', which sounds like a moral judgement. So it is, except that it is not moral in the restricted sense, but social. Its opposite is not the villainous but the absurd, and comedy finds the virtues of Malvolio as absurd as the vices of Angelo. 1 0
Jedes moralische Urteil ist demzufolge also der Komödie unangemessen. Allerdings modifiziert Frye kurz darauf diese Feststellung und stellt fest, daß es auch eine moralische Komödie — mit einem poetisch gerechten Schluß — gebe, wertet diese aber gleichzeitig als ,humorlos', selbstgerecht' und ,melodramatisch' ab, grenzt diesen Dramatypus also letztlich doch aus dem ,eigentlichen' Komödiengenre aus. 11 Northrop Fryes Beurteilung von Komödien, in denen poetic justice geübt wird, fällt übrigens noch gnädig aus, vergleicht man sie mit der Bewertung durch andere Kritiker, sofern diese eine solche Komödienspezies überhaupt noch zur Kenntnis nehmen. So verdammt Joseph Wood Krutch in seiner heute noch vielzitierten Studie Comedy and Conscience after the Restoration (1924) die in den Komödien des 18. Jahrhunderts geübte poetische Gerechtigkeit als "palpably absurd", ja sogar als "infantile" und spricht von ihrer "essential childishness".12 Der Doktrin der poetischen Gerechtigkeit wird somit in der Moderne überwiegend attestiert, gleichsam zeit- und gattungsunabhängig mit dem Makel des Unkünstlerischen behaftet zu sein und — so wird häufig impliziert — auch das literarische Werk dadurch zu einem künstlerisch minderwertigen Produkt zu stempeln.13 Diese Bewertung ist heute fast schon 5
zur Regel geworden, und es kostet große Mühe, davon divergierende Stellungnahmen zu finden wie etwa jene John Traugotts, der in einer 1966 verfaßten Studie über die Restaurationskomödie zu dem üblichen Triumph des rake in diesen Dramen bemerkt: "Something is wrong with this comic resolution; it does not quite correspond with our sense of rightness upon which the joy of comedy depends."14 Wenn also poetische Gerechtigkeit in der modernen Literaturkritik fast nur dazu gebraucht wird, um ,Unkunst' kenntlich zu machen und sich in Übereinstimmung damit in der modernen ,Hochliteratur' kaum noch findet, ist dann noch, so muß man sich fragen, poetische Gerechtigkeit selbst überhaupt ein den Aufwand lohnendes, zeitgemäßes Thema? Dies ist nun m.E. aus mehreren Gründen sehr wohl der Fall. Zunächst ist festzustellen, daß die moralisch gerechte Verteilung von Lohn und Strafe auch in der Literatur des 20. Jahrhunderts nicht bedeutungslos geworden ist. Vielmehr ist poetische Gerechtigkeit selbst heute noch in ungezählten Komödien, Romanen, Fernsehserien und Filmen zu finden, was wir schon der kurz zuvor zitierten Bemerkung Rüdigers Ahrens' entnehmen konnten, ja sie ist - oder war jedenfalls bis vor kurzem — in einigen Textsorten sogar die Regel, wie etwa im Kriminal- oder ,Wildwest'-Genre, in der Heftliteratur, in Comics-Serien für Jugendliche etc. Nun werden alle diese Textsorten in der Literaturwissenschaft tatsächlich häufig - wie wir das schon bei Rüdiger Ahrens gesehen haben als ,trivial' bewertet und gleichsam aus der ,Literatur' wie auch aus der Optik des Literaturwissenschaftlers ausgegrenzt. Allerdings darf nicht unerwähnt bleiben, daß die sogenannte ,Trivialliteraturforschung', wenn auch gleichsam in einem Ghetto, besonders in den letzten beiden Jahrzehnten große Fortschritte gemacht hat, und es in letzter Zeit sogar Bestrebungen gibt, den üblicherweise verwendeten Terminus ,Trivialliteratur' durch weniger stark abwertende Bezeichnungen wie etwa ,Schema-Literatur' zu ersetzen, wie dies Hans Dieter Zimmermann 1979 in seiner Monographie zu diesem Thema vorgeschlagen hat. 15 Für uns hier ist die Wertfrage allerdings - zunächst einmal - nicht relevant, wichtig ist vielmehr das Faktum, daß poetische Gerechtigkeit bis vor wenigen Jahren besonders stark in Texttypen verankert war und zum Teil immer noch ist, die besonders viele Rezipienten erreichen — durch das Medium des Drucks, des Films und des Fernsehens.16 Zu diesem Faktum, das allein schon Beachtung verdient, kommt noch eine interessante Komponente. Wie nämlich die längste Zeit im Film wurde poetische Gerechtigkeit in den sechziger Jahren auch im Fernse-
6
hen, etwa von den beiden deutschen Fernsehanstalten, zur Regel erklärt. So heißt es in den Programmrichtlinien der ARD (Abs. 2): Die Darstellung von kriminellen Handlungen und von Verbrechermilieu ist dann zur Vorführung nicht geeignet, wenn diese sowie ihre Folgen als vorbildlich erscheinen, ferner wenn das Dargestellte geeignet ist, das sittliche Empfinden und Denken negativ zu beeinflussen, zur Nachahmung anzureizen oder in der Durchführung strafbarer Handlungen zu unterweisen. . . . Verbrechen, Gewalt und Laster . . . sollten im Fernsehen nicht ohne den Hinweis auf die darauf folgende Vergeltung und Strafe gezeigt werden. 17
Auch in den damaligen Programmrichtlinien des ZDF (VI/4) finden wir folgenden Passus: Die Darstellung von kriminellen Handlungen, von Laster, Gewalt oder Verbrechermilieu darf nicht vorbildlich wirken, zur Nachahmung anreizen oder in der Durchführung strafbarer Handlungen unterweisen. . . . Hinweise auf Strafe, Reue oder Sühne sollen in der Darstellung nicht fehlen. 18
Poetische Gerechtigkeit zumindest in ihrer strafenden Form sollte also im Fernsehen standardisiert werden, offenbar weil man den Einfluß fiktionaler Darstellungen von Laster, Gewalt und Verbrechen auf die Psyche der Rezipienten fürchtete und Nachahmungsfolgen nur ausschließen zu können vermeinte, wenn auch die angemessene Strafe oder zumindest die Reue der Verbrecher gezeigt wird. Die tatsächliche Praxis ist eine andere Sache und hier hat sich gerade seit den sechziger Jahren ungeheuer viel geändert, jedenfalls wurden und werden aber Verstöße gegen diese selbstauferlegte Norm, etwa von katholischen Publizisten wie J. Scharrer in seiner Studie Die publizistischen Mittel in christlicher Sicht (1965), scharf kritisiert.19 Eine weitere Komponente, die wir bisher nur angedeutet haben, ist allerdings noch bedeutungsvoller. Wenn wir noch einmal auf die eingangs angesprochene Zeit - also die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zurückblenden, so finden wir nämlich, daß nicht nur Oscar Wilde zur Doktrin der poetischen Gerechtigkeit kritisch Stellung bezieht, sondern etwa auch Bernard Shaw gegen "the ... poetic justice of the romantic stage" 20 seiner Zeit anschreibt, was wir später noch genauer sehen werden. Dies deutet an, daß poetic justice um 1900 einen viel stärkeren Rückhalt im Publikum und in der Literatur hatte als heute, wo die Dichterelite gegen vieles polemisiert, nicht aber jedenfalls gegen die für sie weithin bedeutungslos gewordene Doktrin der poetischen Gerechtigkeit. Weder Oscar Wildes spitze Ironie noch Bernard Shaws bissige Aggressivität sollten uns im übrigen darüber hinwegtäuschen, daß poetic justice 7
damals sogar noch zum festen Bestandteil des Begriffsinventars vieler Literaturkritiker gehörte, und daß einige von diesen — freilich heute vergessenen — Kritikern noch dogmatisch auf der gerechten Verteilung von Lohn und Strafe in der Literatur schlechthin bestanden. So schreibt W. T. Price in The Technique of the Drama (1892) an ganz prominenter Stelle, ein Drama müsse eine vollständige und organische Handlung haben und mit der gerechten Verteilung von Lohn und Strafe für die Charaktere — "a conclusion ... that concords with our views of justice" — schließen.21 Ein ebenso entschiedener Anhänger von poetic justice unter den Literaturkritikern der Jahrhundertwende ist auch W. Basii Worsfeld, der 1903 gegen die Gegner der Doktrin polemisiert und meint: "In spite of a thousand assaults ... the principle of poetic justice remains securely established by agreement with the general sense of mankind." 22 Heutzutage könnte nicht einmal mehr ein Don Quijote der Literaturkritik in ähnlicher Weise für poetische Gerechtigkeit plädieren, doch regt sich bereits aufgrund der eben zitierten Belege aus einer Zeit, die weniger als ein Jahrhundert zurückliegt, der Verdacht, die Geringschätzung der Doktrin in der Literaturkritik von heute sei keine universell gültige Norm, sondern möglicherweise ein Produkt des ,modernen Bewußtseins'. Dieser Verdacht erhärtet sich, wenn wir nicht nur ein Jahrhundert, sondern in die Epoche des Klassizismus zurückblenden. Dort nämlich finden wir poetic justice gegenüber der modernen Beurteilung zumeist genau gegenteilig bewertet — nämlich als Quintessenz des Künstlerischen schlechthin, und zwar in allen literarischen Großformen. So schreibt Lionardo Salviati 1588 über das Epos: . . . che può darne piggiore esemplo in ogni lettura, e in ogni fauola, che s'ascolti, o che ci venga rappresentata, che il vedere, o la virtù senza'l premio, o il vizio senza la pena? E in che altro, che nell'esempio consiste il profitto dell'Epopeia? E à che altro, che all'esemplo, che debba trarsene dagli ascoltanti, risguardano gli ammaestramenti, e le leggi della bontà del costume nelle poesie introdotto? 2 3
Eben gegen diese — offenbar also jahrhundertealte — moralistische Literaturkonzeption, der poetische Gerechtigkeit tatsächlich als zentrale Regel für die Dichtung erschien, haben wir noch Oscar Wilde und Bernard Shaw polemisieren gesehen, und einen Reflex dieser Position sogar in den Programmrichtlinien von Fernsehanstalten gefunden. Nun könnte man etwa einwenden, Salviati beziehe sich an der eben zitierten Stelle nur auf das Epos und nicht auf die Dichtung schlechthin. 8
Ganz ähnliche Bemerkungen über die Zentralität der gerechten Verteilung von Lohn und Strafe finden wir im Klassizismus aber auch in bezug auf den Roman und das Drama. So lesen wir z.B. im Vorwort zu einer sechsbändigen Sammlung von Romanen, die Samuel Croxall im Jahr 1726 edierte: The chief Design of a Romance, and which the Writer ought in the first place to have in View, is the Instruction of his Reader, before whom he is to represent the Reward of Virtue, and the Chastisement of Vice. 24
Hier finden wir also die gerechte Verteilung von Lohn und Strafe als erste Pflicht des Romanautors bezeichnet. Den gleichen Tenor hat die Aussage von François Hédelin, abbé d' Aubignac über das Drama in seiner bisweilen als Bibel der französischen doctrine classique bezeichneten Pratique du théâtre (1657): „La principale regle du Poëme Dramatique, est que les vertus y soient toûjours recompensées,... ÔC que les vices y soient toûjours punis,.. ." 2 S Wie ernst man auch in England eben diese Regel nahm, zeigt sich u. a. daran, daß Lewis Theobald, der ShakespeareHerausgeber und Dramatiker, in seiner Kopie der englischen Übersetzung von d'Aubignacs Poetic (1684) diese Regel unterstrichen hat und nur sie auch noch auf die Innenseite des Buchdeckels schrieb.26 Auch wurde poetic justice im Klassizismus häufig als zentrale Regel, ja als Fundament sowohl von Tragödie als auch Komödie angesehen. So schreibt etwa John Dennis 1712 folgendes: "Poetical Justice is ... the Foundation of all the Rules, and ev'n of Tragedy itself." 27 Zur Komödie schließlich soll hier George Farquhar zitiert werden, der 1702 den Komödienautoren seiner Zeit sogar die Peitsche androht, wenn sie nicht poetische Gerechtigkeit üben. "If they have left vice unpunished, virtue unreward, folly unexposed, or prudence unsuccessful ... let them be lashed to some purpose", 28 schreibt Farquhar und meint dies offensichtlich ernst. Diesen Aussagen entnehmen wir, daß man offenbar während der Dominanz des sogenannten ,Klassizismus', der in der italienischen Renaissance seinen Ausgang nahm und in der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts kulminierte, geneigt war, für die Literatur von hohem Kunstrang in allen literarischen Genres ebenso ein poetic justice-Gebot auszusprechen wie die moderne Literaturkritik dazu tendiert, ein poetic justice-Verbot auszusprechen. Zwar lassen einige wenige Belegstellen noch keinen Schluß darauf zu, in welchem Ausmaß die Idee der poetischen Gerechtigkeit im Klassizismus und darüber hinaus akzeptiert war, doch können wir doch schon aufgrund der eben zitierten Belegstellen 9
ihre offenbar zentrale Bedeutung in der klassizistischen Poetologie vermuten. Dies werden wir näher zu untersuchen haben. Wie wichtig poetische Gerechtigkeit in der Poetik des italienischen Klassizismus tatsächlich war, ersehen wir ansatzweise auch schon aus der 1961 publizierten, stark positivistisch ausgerichteten zweibändigen Monographie A History of Literary Criticism in the Renaissance von Bernard Weinberg.29 In Hinblick auf die französische Poetologie können wir dies René Brays 1963 erschienener Studie La Formation de la Doctrine Classique en France entnehmen. Darin sind der poetischen Gerechtigkeit zwar nur wenige Seiten gewidmet, weshalb auch die Positionen der einzelnen Autoren zu sehr uniformiert und nur Teilaspekte der Doktrin erfaßt werden, dennoch hat Bray aber im wesentlichen recht, wenn er aus der großen Zahl von französischen Autoren, welche poetische Gerechtigkeit damals dogmatisiert sehen wollten, den Schluß zieht: „La diversité de ces noms montre que la règle vaut à la fois pour le théâtre, pour l'epopèe, même pour le roman." 30 Was die Bedeutung von poetic justice in England betrifft, so gibt es keine vergleichbare Untersuchung, doch soll hier die noch zu belegende Behauptung aufgestellt werden, daß für diese Doktrin nach 1660 auch in England in ähnlicher Weise axiomatische Geltung beansprucht wurde wie in Frankreich schon vor diesem Zeitpunkt. Dazu sei schon an dieser Stelle angemerkt, daß auch die meisten Gegner der axiomatischen Gültigkeit von poetic justice im 18. Jahrhundert - von Joseph Addison 1711 über Samuel Richardson um 1750 bis hin zu William Belsham 1791 - die weitgehende Akzeptanz und M o dernität' der Doktrin bestätigen, ungemein apologetisch argumentieren und fast nur die Regelhaftigkeit der belohnten Tugendhaftigkeit in der Literatur in Frage stellen, nicht aber den - offensichtlich wichtigeren Aspekt der Bestrafung von dargestellten Verbrechen und Vergehen gegen die moralische Norm. 31 Wir können also zunächst einmal festhalten, daß die Doktrin der poetischen Gerechtigkeit jedenfalls in der Poetologie des Klassizismus in Italien, Frankreich, England und - dies sei noch hinzugefügt - auch in Deutschland eine zentrale Rolle spielte. Deshalb wird die klassizistische Poetik auch im Zentrum dieser Studie stehen. Insbesondere die bisher gemachten Aussagen über die Bedeutung von poetic justice in der englischen Poetik der Epoche stellen ja bislang nur unzureichend belegte Behauptungen dar. Außerdem wissen wir noch nicht, woher die Idee der poetischen Gerechtigkeit stammt, wann genau, in welchem Ausmaß, aus welchen Gründen und in welchen literarischen Gattungen die Doktrin besonders bedeutsam war. Auch wissen wir noch nichts über den Kon-
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nex zwischen literarischer Theorie und Praxis, ab welchem Zeitpunkt poetic justice von zentraler Wichtigkeit wird und wann und wie ihr schon dokumentierter Prestigeverlust zustande gekommen ist.
0.2. Forschungsstand Die bisherige Forschung erweist sich als nicht sehr hilfreich, wenn es darum geht, die soeben gestellten Fragen zu klären. Daß hier eine Forschungslücke besteht, ersehen wir am besten daraus, daß Rüdiger Ahrens in dem schon einmal zitierten Lexikon der Englischen Literatur (1979), wo ansonsten unter den einzelnen Stichworten meist auch recht umfangreiche und neueste Literaturhinweise zu finden sind, sub poetic justice nur eine einzige Studie anführt, nämlich die ebenfalls bereits erwähnte Arbeit von M. A. Quinlan, Poetic Justice in the Drama, aus dem Jahr 1912(!). 32 Tatsächlich scheint diese Arbeit die einzige publizierte Monographie zu sein, die sich allein und ohne zeitliche Einschränkungen mit der Bedeutung von poetic justice — im Drama - auseinandersetzt. Quinlan betrachtet auch kurz die antike Poetik, geht aber auf die hier als zentral erachtete englische Poetik nur eher kursorisch ein, erfaßt bloß einen Bruchteil allein der literaturkritischen Äußerungen zur Doktrin und auch dabei nur einige wenige Teilaspekte, die Beachtung verdienen. Außerdem ist diese Studie natürlich mittlerweile in vielen Punkten überholt. An Monographien zu poetic justice in verschiedenen Epochen und Genres der englischen Literatur ist hier ebenfalls nur ein Buch zu erwähnen, nämlich die 1973 erschienene Studie The Principle of Poetic Justice Illustrated in Restoration Tragedy von John Dale Ebbs, die sich in erster Linie auf exemplarische Analysen von Tragödien konzentriert und überdies in mehreren Rezensionen ungewöhnlich scharf kritisiert worden ist.33 An gedruckten Arbeiten direkt zur Doktrin der poetischen Gerechtigkeit besteht auch im Bereich der übrigen Literaturen ein Mangel. Hier zu nennen sind aber zwei Dissertationen, nämlich Manfred Neumanns Die poetische Gerechtigkeit in der neueren Komödie. Untersuchungen zur Technik des antiken Lustspiels (1958) und Norbert Müllers Die Poetische Gerechtigkeit im deutschen Lustspiel der Aufklärung (1969). 34 Auch neuere Zeitschriftenaufsätze, die sich zentral mit poetic justice als poetologische Kategorie auseinandersetzen, gibt es nur wenige. Erwähnenswert sind Lewis M. Magills 1957 erschienene, in ihren Ergebnissen allerdings eher dürftige Studie "Poetic Justice: The Dilemma of the Early Creators of Sentimental Tragedy" 35 und der im gleichen Jahr 11
publizierte Beitrag von Richard H. Tyre "Versions of Poetic Justice in the Early 18th Century", worin die Grundlagen der Doktrin zumindest differenzierter betrachtet werden, als dies zuvor üblich war. 36 Im Jahr 1962 publizierte Amrik Singh einen Aufsatz über "The Argument of Poetic Justice (Addison versus Dennis)", dem Verfasser kürzlich einen Beitrag über „'Foundation of all the Rules' oder 'Ridiculous Doctrine'? Zur Kontroverse um Poetic Justice zwischen John Dennis und Joseph Addison am Beginn des 18. Jahrhunderts" entgegenstellte.37 Schließlich verdient Helmut Klinglers 1981 publizierter Beitrag "'Poetic Justice', Uses and Abuses of a Critical Term, 1660—1737" besondere Erwähnung. Auch Klingler beschäftigt sich wie die eben genannten Wissenschaftler allein mit der Tragödienkonzeption, er macht aber das Dilemma des Literaturkritikers vollends deutlich, wenn er aus der registrierten Bedeutungsunschärfe des Begriffs die Forderung ableitet, man solle den Terminus 'poetic justice' zumindest bei Dramenanalysen möglichst gar nicht verwenden.38 Im übrigen belegen schon die Titel wie auch der geringe Umfang dieser Publikationen, daß jeweils nur sehr kleine Teilbereiche aus dem Problemkreis der poetischen Gerechtigkeit in der Tragödienkonzeption des englischen Klassizismus erfaßt werden. Außerdem hinzuweisen ist auch auf drei unpublizierte Dissertationen. Dabei ist an erster Stelle Thomas A. Harts "The Development and Decline of the Doctrine of Poetic Justice from Plato to Johnson" aus dem Jahr 1941 zu nennen. Darin wird die Thematik der poetischen Gerechtigkeit bisher am ausführlichsten behandelt, jedoch der Themenstellung gemäß die englische Poetologie nicht eingehend behandelt, schon mit Dr. Johnson geschlossen und nur eine der noch näher zu erläuternden Dimensionen der Doktrin erfaßt. Harts Ergebnisse halten im übrigen manchmal einer genaueren Überprüfung nicht stand. Dennoch hätte es sich diese Arbeit verdient, publiziert zu werden.39 Eine weitere unveröffentlichte Dissertation aus dem Jahr 1961, von Amrik Singh über "The Concept of Poetic Justice in Neo-Classical Dramatic Theory", erfaßt einiges Material über poetic justice im englischen Klassizismus, bietet zur Erfassung des Prestiges der Doktrin aber nur eine unzureichende Erklärung an und befaßt sich — wie übrigens auch die zuvor zitierte Arbeit von Hart — wiederum fast ausschließlich mit der Tragödienkonzeption.40 Schließlich ist noch Richard John Murphys "Poetical Justice: A Study of the Critical Concept in the Early 18th Century" aus dem Jahr 1977 zu nennen. Daran ist erwähnenswert, daß Murphy zwar die Bedeutung der Doktrin etwas differenzierter sieht als Hart oder Amrik Singh, dafür aber nur ein sehr schmales zeitliches Segment aus jener Epoche heraus12
schneidet, in der die Doktrin der poetischen Gerechtigkeit von zentraler Bedeutsamkeit war, und sich außerdem etwa mit der Komödienkonzeption überhaupt nicht auseinandersetzt.41 Zu nennen sind weiterhin einige Studien zur Bedeutung von poetic justice bei einzelnen Autoren, insbesondere die Arbeiten zur Frage der poetischen Gerechtigkeit in Henry Fieldings Romanen und William Congreves Dramen und Dramenkritik von Aubrey L. Williams.42 Seine Studien zu Congreve liegen seit 1979 ergänzt durch weitere Kapitel, in denen u. a. auch über poetic justice allgemein gehandelt wird, in einer Monographie mit dem Titel An Approach to Congreve vor. 43 Die Thesen und Interpretationen Williams', der sich von den Literaturwissenschaftlern unserer Zeit bisher vielleicht am eingehendsten mit poetic justice befaßt hat und nachdrücklich für die Zurkenntnisnahme ihrer Bedeutung im englischen Klassizismus plädiert, sind allerdings kontrovers und haben bei vielen Kritikern Widerspruch erregt.44 Auch wir werden uns mit seinen Thesen in der Folge noch auseinanderzusetzen haben. Daß sich Martin C. Battestin zwar nicht dem Titel, wohl aber dem Inhalt seiner 1974 publizierten Monographie The Providence of Wit zufolge auch mit der Doktrin der poetischen Gerechtigkeit auseinandersetzt und dazu in ähnlicher Form Stellung nimmt wie Williams, sei hier noch angefügt.45 Auch zur Frage der Bedeutung von poetic justice bei einzelnen Autoren oder in einzelnen Werken gibt es nur einige wenige unpublizierte Dissertationen und Aufsätze. Von diesen sind hier etwa eine Studie von William E. Evans über Henry Fielding aus dem Jahre 1973 und eine noch ältere Arbeit von Waverly E. Hester über Samuel Richardson (1953) zu nennen. Diese beiden Dissertationen haben allerdings leider wenig darzubieten, was nicht in Spezialstudien zu den beiden Autoren ohnedies nachzulesen wäre.46 Interessanter ist da zweifellos Margaret E. Kendas ebenfalls unpublizierte Dissertation "Poetic Justice in the Novels of George Eliot and Makepeace Thackeray" aus dem Jahr 1971, und zwar weil hier wenigstens in einer Studie die Bedeutung von poetischer Gerechtigkeit im 19. Jahrhundert im Zentrum der Betrachtung steht. Allein schon aus diesem Grund wäre die Publikation dieser Dissertation wünschenswert gewesen, in der wir übrigens den Prestigeverlust von poetic justice illustriert, wenn auch nicht ausreichend erklärt finden.47 Damit haben wir die wichtigsten spezifisch der Doktrin der poetischen Gerechtigkeit gewidmeten Studien genannt und müssen feststellen, daß der Forschungsstand zu diesem Problembezirk eher dürftig ist. Vor allem fällt auf, daß es besonders im Komödienbereich an Arbeiten zu 13
diesem Thema mangelt. Auch wird poetic justice fast nur in der Periode des Klassizismus zur Kenntnis genommen, so daß die Grundlagen der Idee ebenso wie die Ursachen für den schon erwähnten Prestigeverfall der Doktrin, die heute zu ihrer zur vollkommenen Entwertung geführt haben, in den genannten Studien nicht oder nur höchst partiell erfaßt werden. Überdies ist auch, wie schon erwähnt, die angedeutete Bedeutsamkeit der Doktrin in der gesamten klassizistischen Poetik noch in keiner Arbeit dargestellt worden. Dies betrifft also, wie auch aus den zitierten Studien zu poetic justice hervorgeht, in England insbesondere die Zeit von John Dryden bis Samuel Johnson. 48 Allerdings fällt auf, daß in ungezählten Schriften, die sich mit der Poetik und Literatur dieses Zeitraumes auseinandersetzen, zumeist wie selbstverständlich von poetischer Gerechtigkeit gesprochen wird, und die Doktrin häufig - wenn auch meist nur auf wenigen Seiten und fast immer mit stark negativem Wertakzent versehen - Beachtung findet. Es ist hier nicht möglich, auch nur die wichtigsten Monographien und Aufsätze zu nennen, in denen die Thematik berührt wird, doch ist darauf hinzuweisen, daß poetic justice fast zwangsläufig Beachtung finden muß, wenn sich jemand mit der klassizistischen Dichtungslehre wie auch der Literatur gleichgültig welchen Genres beschäftigt. Die Lyrik bleibt dabei und auch in der Folge, wenn wir von ,Literatur' und »Dichtung' sprechen, natürlich außer Betracht. Jedenfalls entnehmen wir also dem hier dargestellten Forschungsstand zum Problemkreis von poetic justice in allein diesem Thema gewidmeten Studien, daß sich jeder Literaturkritiker in einem Dilemma befindet, wenn er - auf die Bedeutsamkeit der Fragestellung aufmerksam geworden - nach einer Studie sucht, um sich über die Grundlagen und Bedeutung der Doktrin Klarheit zu verschaffen. Dies ist vielleicht am besten daran zu ersehen, daß sich Kritiker, wenn sie auf eine Überblicksstudie zur Doktrin der poetischen Gerechtigkeit verweisen wollen, nicht auf die genannten Studien beziehen, sondern auch heute noch häufig auf die kaum zehn Seiten umfassenden Kapitel über "Poetic Justice" in Clarence C. Greens 1934 publizierter Studie The Neo-Classic Theory of Tragedy in England during the 18th Century oder Francis Gallaways Kapitel über "Poetic Justice and Ideal Nature" in dessen 1940 erschienener Monographie Reason, Rule, and Revolt in English Classicism hinzuweisen pflegen. 49 Im übrigen haben es einige Kritiker bislang sogar vorgezogen, sich auf die Anmerkungen Edward N. Hookers zu poetic justice in dessen 1939/43 erschienenen Ausgabe der Critical Works of John Dennis zu beziehen.50 14
An Alternativen bietet sich auch kaum etwas anderes an, zur Bedeutung von poetic justice in der Dramentheorie der Restaurationszeit höchstens das kurze Kapitel über die Doktrin in Sarup Singhs 1963 erschienener Studie The Theory of Drama in the Restoration Period oder seit 1976 die verstreuten Bemerkungen in der bislang gründlichsten Darstellung des Restaurationsdramas, The Development of English Drama in the Late Seventeenth Century von Robert D. Hume.51 Für das 18. Jahrhundert ist die Forschungslage noch prekärer. Die kurzen Betrachtungen über poetic justice in Studien zum Klassizismus überhaupt, wie etwa in den Arbeiten von J. W. H. Atkins, Emerson R. Marks, Alexandre Maurocordato, James W. Johnson, Franz Zaic u.a., behandeln zwar einige wesentliche Aspekte der Doktrin,52 reichen aber insgesamt nicht aus, um die zuvor aufgeworfenen Fragen zu beantworten und der historischen Bedeutungsdimension der Idee gerecht zu werden. Natürlich kann man auch Spezialstudien zu einzelnen Gattungen oder Autoren durchkämmen und wird tatsächlich des öfteren auf Bemerkungen über poetic justice stoßen. Allerdings sind schon etwas umfangreichere Auseinandersetzungen mit der Idee wie in Arthur J. Tiejes The Theory of Characterization in Prose Fiction Prior to 1740 aus dem Jahre 1915, wo bis jetzt die Bedeutung von poetic justice in der Romantheorie am ausführlichsten dokumentiert ist (!), selten.53 Auch längere Erörterungen der Bedeutung von poetic justice für einzelne Literaten, wie etwa in R. D. Stocks Monographie über Samuel Johnson and Neoclassical Dramatic Theory (1973), wo zumindest ansatzweise auch der Zusammenhang mit der in England damals ungemein wichtigen französischen Poetik hergestellt wird, sind rar. 54 Was die englische Komödie betrifft, so finden sich zwar in fast allen Monographien und vielen Einzelinterpretationen Hinweise auf poetic justice, doch wird kaum je ein größerer Zusammenhang hergestellt. Zu nennen sind hier allerdings Ben Ross Schneiders kontroversielle Studie The Ethos of Restoration Comedy (1971 ) 55 sowie einige Arbeiten zur sentimental comedy, in denen der Doktrin mehr Beachtung geschenkt wird als üblich. Insbesondere erwähnt seien trotz ihres hohen Alters die historisch ausgerichteten Arbeiten von Ernest Bernbaum The Drama of Sensibility aus dem Jahr 1915 und von Joseph W. Krutch über Comedy and Conscience after the Restoration aus dem Jahr 1924, die mangels einer Alternative heute noch immer Beachtung finden müssen. Zu nennen sind weiterhin Arthur Sherbos eher theoretisch angelegte Monographie English Sentimental Drama aus dem Jahr 1957, wo etwas ausführlicher über poetic justice gehandelt wird, sowie Paul E. Parnells kurzer, 15
aber ungemein hellsichtiger Aufsatz "The Sentimental Mask" aus dem Jahre 1963. 5 6
0.3. Aufgabenstellung, Methode und formale Charakteristika dieser Studie Aus der soeben skizzierten Forschungslage ersehen wir, daß ein beträchtliches Mißverhältnis zwischen der Bedeutung von poetic justice besonders im englischen Klassizismus und ihrer bisherigen Erfassung durch die Literaturwissenschaft besteht. Dies hängt vermutlich damit zusammen, daß der Doktrin aufgrund ihrer Geringschätzung in der Moderne auch in der Vergangenheit nur geringe Bedeutsamkeit zugestanden wird und deshalb auch nur wenig Beachtung geschenkt worden ist. Mit der vorliegenden Studie soll hingegen versucht werden, der Bedeutung von poetic justice überhaupt, insbesondere aber in der Poetik des englischen Klassizismus, gerecht zu werden und den bereits aufgezeigten Problemstellungen nachzugehen. Dabei soll vor allem eine Antwort auf die Frage nach den historischen und theoretischen Grundlagen der Doktrin und nach dem Verlauf der Prestigekurve von poetic justice bis hinein in die Moderne zu geben versucht werden. In Verbindung damit wird auch auf damit zusammenhängende allgemeinere Fragestellungen, wie die der literarischen Schlußbildung oder der Sympathieverteilung gegenüber Charakteren, einzugehen sein. Aus dieser Zielsetzung wie auch aufgrund des Standes der bisherigen Forschung ergeben sich für die spezifischen Aufgabenstellungen und besonderen Akzentsetzungen in dieser Studie wichtige Konsequenzen. Zunächst ergibt sich daraus, daß versucht werden muß, den offensichtlich historisch - durch Faktoren, die es noch zu erfassen gilt — bedingten unterschiedlichen Bewertung von poetic justice in der Moderne gegenüber dem Klassizismus Rechnung zu tragen. Hier schließen wir uns wissenschaftstheoretisch Paul Feyerabend und Thomas S. Kuhn an und betrachten auch Literaturwissenschaft und -kritik als ideologiehaltigen „geschichtlichen Vorgang", dessen jeweilige Prämissen es zu hinterfragen bzw. dessen Paradigmen und deren Ablösung es zu erfassen gilt.57 Deshalb sollen hier von einer möglichst wertneutralen Position aus jene Komponenten zu beschreiben versucht werden, die für den bereits aufgezeigten Paradigmenwechsel und die damit einhergehende Veränderung der Bewertung von poetic justice zwischen Klassizismus und Moderne verantwortlich sind. Demgemäß wird auch in erster Linie be16
schrieben, analysiert, erklärt und interpretiert, aber nicht evaluiert werden. Es soll also ein Beitrag zu einer historischen Poetik auf moderner wissenschaftstheoretischer Grundlage geleistet werden.58 Deshalb und aus den früher schon angegebenen Gründen nehmen wir zwar u.a. auch moderne normative Gattungsfestschreibungen zur Kenntnis, schließen uns aber diesen letztlich immer noch präskriptiven Distinktionen nicht an, wenn sie dem durch die Literaturgeschichte determinierten Variationsspielraum des Genres nicht gerecht werden. Jede literarische Gattung soll also im Lichte ihrer historisch gegebenen Bandbreite betrachtet werden, wie dies etwa schon W. J. Lawrence gefordert hat, wenn er schreibt: "It is not the function of the... dramatic historian to throw classifications of old on the Procrustean bed and maim them in accordance with some hard-and-fast principie. Nothing but confusion can ensue from such a course." 59 Auch die hier gewählten zeitlichen Grenzen bedürfen eines Kommentars, obwohl schon klargestellt worden ist, daß der Epoche des Klassizismus unsere besondere Aufmerksamkeit gelten wird. Es ist hier aber noch festzuhalten, daß damit für die englische Poetik — wie weithin üblich - vor allem ein Zeitraum erfaßt wird, der durch die Rückkehr der Stuarts auf den englischen Thron (1660) und den Tod Samuel Johnsons (1784) eingegrenzt wird. Daß sowohl engere als auch weitere, bis in die Elisabethanische Zeit zurückdatierende Grenzziehungen für die klassizistische Periode in England möglich sind und es verschiedene Spielarten des Klassizismus gibt, 60 ist für unsere Thematik insofern von Bedeutung, als wir auch wichtige Stellungnahmen zur Doktrin der poetischen Gerechtigkeit schon im Elisabethanischen Zeitalter zur Kenntnis nehmen wollen. Weiterhin wollen wir dem Faktum Rechnung tragen, daß man zunächst im Italien des 16. Jahrhunderts auf antike Denktraditionen auch in der Dichtungslehre zurückgreift und dieser — in immer stärkerem Maße mit einem normativen Rationalismus gekoppelte — Klassizismus gleichsam wellenartig zunächst Frankreich, dann England und schließlich Deutschland erreicht. Dies macht es erforderlich, die antike Dichtungslehre ebenso wie die italienische und französische Poetik vor 1660 hier miteinzubeziehen.61 Nur dadurch wird es möglich, zu den Wurzeln von poetic justice vorzudringen und die Evolution poetologischer Denkschablonen nachzuvollziehen, die schließlich zur Dogmatisierung der Doktrin führt. Wegen des schon angedeuteten Bestrebens, auch der Frage nachzugehen, zu welcher Zeit und aus welchen Gründen bei der Kritiker- und Dichterelite aus höchster Achtung vor poetic justice schließlich tiefste 17
Verachtung wird, darf auch die zeitliche Eingrenzung zur Moderne hin nicht starr sein. Vielmehr soll über die Kluft, welche die klassizistische von der romantischen Poetik trennt, eine Brücke geschlagen und damit letztlich die Moderne erreicht werden, im Sinne von René Wellek übrigens, der in seiner Einleitung zum ersten Band seiner wichtigen History of Modern Criticism (1750-1950) bemerkt: "In the later 18th century there emerge, and struggle with one another, doctrines and points of view which are relevent even today." 62 Demgemäß soll in dieser Studie auch die von Wellek angesprochene Überlagerung der klassizistischen und idealistischen Norm durch romantische und realistische Tendenzen in der Poetologie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Beachtung finden. Weiterhin soll auch auf die bislang kaum beachtete Bewertung von poetic justice in der Romantik eingegangen werden. Darüber hinaus sollen Verbindungslinien zur Dichtungslehre des späteren 19. Jahrhunderts und des 20. Jahrhunderts gezogen werden. Hier sind noch zwei Anmerkungen zu machen, die mit dem eben Gesagten zusammenhängen. Zunächst sei darauf hingewiesen, daß René Wellek nicht vollinhaltlich zugestimmt werden kann, wenn dieser meint, eine Geschichte der modernen Literaturtheorie habe am besten erst um 1750 zu beginnen, "as then the neoclassical system of doctrines, established since the Renaissance, began to disintegrate. To describe the changes within the system between 1500 and 1750 seems to me largely an antiquarian task". 63 Wellek postuliert nämlich eine Teleologie, die m. E. selbst ein Produkt des von der Romantik mitgeprägten ,modernen Bewußtseins' ist, das die weiterexistierende Denktradition der mimetisch-pragmatischen Poetik der Zeit vor der romantischen Revolution der Ästhetik nicht mehr zur Kenntnis nehmen will und sich absolut setzt. Auch dies soll in der folgenden Studie verdeutlicht werden. Weiterhin sei hier angemerkt, daß wir die sich verändernde Bedeutung von poetic justice in der englischen Poetologie zwischen Klassizismus und Romantik nur verstehen können, wenn wir nicht nur diachron verlaufende Verbindungslinien zur Moderne, sondern auch synchron verlaufende Querlinien ziehen, und zwar zunächst zur französischen Poetik, die zumindest bis ins späte 18. Jahrhundert hinein die englische Dichtungslehre beeinflußte, in der Romantik dann zur deutschen Poetik, der die englischen Romantiker stark verpflichtet sind. 64 Außerdem sind Hinweise auf die Poetologie in Italien, Frankreich und Deutschland dieses Zeitraumes auch für die Erfassung der verschiedenen poetologischen Denkmuster wichtig, die zunächst zur Entdogmatisierung und schließlich zur Verwerfung von poetic justice durch die europäische Dichterelite führen. 18
Auch die Strukturierung der Arbeit und einige besondere Akzentsetzungen bedürfen eines Kommentars. So sollen im ersten Teil der folgenden Studie zunächst der Terminus 'poetic justice' betrachtet und dessen historisches wie auch modernes Bedeutungsspektrum herauszufiltern versucht werden, um etwa Helmut Klinglers Befund Rechnung zu tragen, den Begriff solle man wegen seiner semantischen Unschärfe besser gar nicht verwenden. 65 Anschließend soll die historische Basis der Doktrin in der antiken Poetik und ihre Ausformung in der klassizistischen Dichtungslehre vor 1660 skizziert werden. Daraufhin wird versucht, die theoretischen Grundlagen zu erfassen, die zur Dogmatisierung von poetic justice im späten 17. und 18. Jahrhundert führen. Dabei sollen die Argumentationsmuster bzw. Dimensionen der Doktrin differenziert werden. Während in den ersten beiden Kapiteln des ersten Teiles die Idee der poetischen Gerechtigkeit genreübergreifend Beachtung findet, soll dann der Blickwinkel auf die Komödienkonzeiption eingeengt werden. Für diese Focusierung auf das Komödiengenre sind eine Reihe von Faktoren maßgeblich. Dabei ist von ganz besonderer Bedeutung, daß sich nicht etwa die Tragödie, sondern die Komödie gegen eine Unterwerfung unter die Doktrin der poetischen Gerechtigkeit am heftigsten und längsten gewehrt hat, weshalb sich auch in der Konfrontation zwischen Komödienkonzeption und poetic justice, wie noch zu zeigen sein wird, die heftigsten Kontroversen ergeben. Hingegen ist etwa die Frage nach der poetischen Gerechtigkeit im Epos schon für die Klassizisten nur mehr von verhältnismäßig geringer Bedeutung und mangels zeitgenössischer Epen für die literarische Praxis kaum relevant. Darüber hinaus finden sich die wenigen interessanten Stellungnahmen dazu schon in Richard J. Murphys Studie zur poetischen Gerechtigkeit zitiert, und die Epentheorie selbst ist in H. T. Swedenbergs autoritativer Monographie The Theory of the Epic in England. 1650-1800 ausgezeichnet aufbereitet. 66 Was den Roman betrifft, so war — wie noch zu dokumentieren sein wird — poetische Gerechtigkeit zumindest bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts sowohl in England als etwa auch in Frankreich so sehr dogmatisiert, daß nur einige ganz wenige,Häretiker' gegen die Norm zu verstoßen wagten. Auch als Richardson mit seiner Clarissa (1747/48) gleichsam ein Pionier des ,poetisch ungerecht' endenden Romans wurde, indem er seine tugendhafte Heldin sterben ließ und im Postcriptum seines Romans gegen die Doktrin der poetischen Gerechtigkeit zu Felde zog, stellte er doch nur die dogmatische Geltung der Belohnung der Tugend in Frage, nicht aber die Bestrafung von Vergehen — also die zweite, hier schon als wichtiger 19
erkannte Komponente der Doktrin. 67 Dies ist im englischen Roman dann weiterhin die Norm, selbst noch in der Gothic novel.68 Außerdem etabliert sich das unaristotelische Genre des Romans erst im 18. Jahrhundert langsam innerhalb der Poetik und wird — zumindest während die Doktrin der poetischen Gerechtigkeit im Zenith steht — von den klassizistischen Theoretikern kaum zur Kenntnis genommen. Daher wird auch die Frage der poetischen Gerechtigkeit im Roman erst spät eingehend diskutiert. So hätte sich also nur die Tragödienkonzeption als Focus angeboten. Nun hat man aber gerade der Tragödie, wie schon aus den Titeln der zitierten Studien zur poetic justice hervorgeht, bereits einige Beachtung geschenkt, während die Komödienkonzeption jedenfalls in dieser Hinsicht von der Wissenschaft bisher stark vernachlässigt worden ist. Die Komödienkonzeption ist also in Hinblick auf poetische Gerechtigkeit die kontroversiellste und deshalb für unsere Fragestellung ergiebigste Gattung. Auch bietet sich aufgrund der Forschungssituation an, die Komödie in das Zentrum dieser Studie zu stellen. Nur durch diese Einengung der Optik im zweiten und dritten Teil dieser Studie wird es überdies möglich, die Bedeutung von poetic justice in der Komödientheorie und -kritik eingehend zu untersuchen und auch das Verhältnis zur literarischen Praxis miteinzubeziehen. Auch alle wichtigen Kontroversen um die Komödie und Versuche, ihre Unterwerfung unter das Dogma der poetischen Gerechtigkeit zu erreichen, können auf diese Weise ausführlich dargestellt werden. Darüber hinaus wird die komödienspezifische in eine genreübergreifende Betrachtungsweise eingebettet, weil häufig für die Doktrin der poetischen Gerechtigkeit Validität für das Drama oder die Literatur schlechthin beansprucht wird und weil dies für das Verständnis der Veränderung in der Komödienkonzeption ebenso bedeutsam ist wie für die Erhellung des Prestigekurvenverlaufs von poetic justice. Tragödienspezifische Aspekte werden hier allerdings nur am Rande erwähnt, diese werden vor allem im ersten Teil der Studie berücksichtigt. Im zweiten und dritten Teil der vorliegenden Studie steht somit die Frage nach der Bedeutung von poetic justice in der Komödienkonzeption im Vordergrund. Die zeitlichen Grenzen des zweiten Teiles dieser Studie sind übrigens mit 1660 bis 1728 nicht willkürlich gewählt, sondern ergeben sich - dies sei hier vorweggenommen — aus der in diesem Zeitraum erfolgenden Umpolung der Komödienkonzeption in Hinblick auf die darin poetic justice zugemessenen Bedeutung. Besonders eingehend wird in diesem Teil die Rolle von poetischer Gerechtigkeit in der sogenannten Collier-Büh-
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nenkontroverse um 1700 behandelt werden, weil dies für unsere Fragestellung besonders wichtig ist und in der Forschung bisher kaum Beachtung gefunden hat. Im dritten Teil bildet dann John Gays Beggar's Opera (1728) das Zentrum, weil an ihr und an ihrer Rezeption bis hinein ins 19. Jahrhundert die Bedeutung bzw. Entwertung von poetic justice am besten illustriert werden kann. Dabei ist darauf hinzuweisen, daß John Gay mit diesem vielleicht bedeutendsten, sicher aber am modernsten anmutenden Drama des 18. Jahrhunderts zwar das Genre der bailad opera - des Singspiels - begründet hat, man jedoch im 18. Jahrhundert Gays Drama gemeinhin als Komödie verstanden und bezeichnet hat. 69 Darüber hinaus wird auch die Bedeutung von poetic justice in der Komödientheorie, -kritik und -praxis bis nach 1800 eingehend behandelt. Im vierten Teil der Studie wird schließlich als Pendant zum ersten Teil die Entwertung der Doktrin im Verlauf des späten 18. Jahrhunderts und in der Romantik dargestellt. Auch wird zum Verständnis dieses Paradigmenwechsels und des neuen Paradigmas nicht nur die genreunabhängige Poetologie der Romantik betrachtet, sondern auch die Poetik des 19. und 20. Jahrhunderts berücksichtigt. Der Komödienkonzeption ist wiederum ein eigenes Kapitel gewidmet. Schließlich gibt es noch einen Textanhang. Die einzelnen Teile sind im übrigen so gegliedert, daß es einem Leser auch möglich sein sollte, einzelne der in der Studie behandelten Abschnitte oder Aspekte gesondert zu betrachten. So kann sich zum Beispiel ein allein an der Frage nach den Grundlagen des hohen Prestiges von poetic justice im Klassizismus und ihrer Entwertung in der Moderne interessierter Leser auf die Lektüre zweier Kapitel (1.2.3. und 4.1.2.) beschränken. Für spezifischere Fragestellungen sollten die entsprechenden Kapitel leicht zu finden sein. Um auch eine solche, selektive Lektüre zu ermöglichen, werden — wo erforderlich — Ergebnisse aus früheren Kapiteln rekapituliert. Hier seien schließlich noch kurze Erläuterungen zu einigen weiteren Charakteristika dieser Studie angefügt. Was zunächst die Aufnahme zahlreicher direkter Zitate in den Text betrifft, so hat dies seinen Grund zunächst schon in dem Forschungsstand. Gerade weil in dieser Studie die Bedeutung von poetic justice als solcher erstmals ausführlich dargestellt wird, aber auch weil gleichzeitig gegen moderne Denkschablonen angeschrieben werden muß, ist eine solche Vorgangsweise unerläßlich. Weiterhin ist hervorzuheben, daß viele Texte, wie etwa — um nur zwei Beispiele zu nennen — der im späteren 18. Jahrhundert gespielte Schluß der Beggar's Opera oder auch für unsere Fragestellung relevante theolo21
gisch-philosophische Schriften, das erstemal zugänglich gemacht werden. Auch sind viele der zitierten Texte schwer einzusehen oder zumindest bisher noch nie in direkten Zusammenhang gestellt worden. Insbesondere soll dadurch aber die Bedeutsamkeit von poetic justice und die Variationsbreite in den Argumentationsschemata illustriert werden. Außerdem soll dadurch jenen Lesern Rechnung getragen werden, die bloß daran interessiert sind, sich über die Bewertung von poetic justice durch einen bestimmten Autor zu informieren. Mit ein zentrales Ziel dieser Studie ist jedenfalls die Dokumentation der wichtigen, hier den Rang von Quellen einnehmenden Stellungnahmen von Autoren und Kritikern zur poetischen Gerechtigkeit. Diesem Verfahren wurde der Vorzug gegeben vor einer eingehenden Auseinandersetzung mit der Forschungssituation im Text der Arbeit selbst, die nur in wenigen, für die Problemstellung unmittelbar relevanten Fällen im Text diskutiert werden soll, ansonsten aber — soweit erforderlich und möglich — in den Anmerkungen mitreflektiert wird. Quellen werden im Text in der Regel in der Originalsprache wiedergegeben, Autoren der griechischen Antike werden aber aus mehreren Gründen nach weithin akzeptierten und leicht zugänglichen englischen Übersetzungen zitiert. Wo auf eine Werkausgabe mehrmals hintereinander hingewiesen wird, sind den Zitaten im Text Seitenzahlen nachgestellt. Belegstellen aus literarischen Zeitschriften sind z.T. mit allen bibliographischen Angaben nur im Text selbst verzeichnet, alle anderen Schriften werden hingegen beim ersten Verweis in den Anmerkungen vollständig zitiert. Auf eine eigene Bibliographie mußte vor allem wegen des Umfanges des erfaßten Textmaterials und der sich daraus ergebenden hohen Druckkosten verzichtet werden. Der geschlossen nach den Text gestellte Anmerkungsapparat und das darauf verweisende Register sind aber so gestaltet, daß sie die Bibliographie ersetzen sollten. Titel von Zeitschriften oder anderen Werken sind in den Anmerkungen nur dann gekürzt wiedergegeben, wenn die Siglen weithin gebräuchlich sind. Diese werden in einem Abkürzungsverzeichnis erklärt.
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ERSTER TEIL
POETIC
JUSTICE:
Theoretische und historische Grundlagen der Doktrin
In der poetischen Gerechtigkeit ist gewissermaßen der liebe Gott selbst eine Person von Gerechtigkeitsliebe, die eine Lust daran hat, Ränkespinner in ihren eignen Netzen sich fangen zu lassen. Otto Ludwig We know of no apology that can be made for violating what the critics call poetical justice. English Review 1794 It is the office of a comic-Poet
to imitate Justice. Ben Jonson
1 . 1 . 'Poetic
Justice'-.
Entstehung, Verbreitung
und Bedeutungsspektrum des Terminus
1.1.1. Entstehung und Verbreitung des Begriffs Die Forschung ist sich darin einig, daß Thomas Rymer den Terminus 'poetical justice' geprägt und in seiner Schrift The Tragedies of the Last Age (1677) das erste Mal verwendet hat. 1 Bekannt ist auch, daß zuvor bereits Ben Jonson in seiner Volpone vorangestellten "Epistle" (1607) davon gesprochen hat, es sei die Aufgabe des Komödienautors "to imitate justice". 2 Bisher scheint man allerdings übersehen zu haben, daß Thomas Rymers Begriffprägung auf eine seiner Hauptquellen, Jules de La Mesnardières La Poétique (1639), zurückgeht. La Mesnardière spricht nämlich in Opposition zu Castelvetros Zulassung eines ungerechten' Schlusses neben einem gerechten' Ausgang der Tragödie3 nicht bloß von „iustice du Théâtre", „exacte iustice qu'il veut observe de la Scène" und von der Bühne als „le throne de la Iustice", sondern auch von „iustice du Poëme" sowie an ganz exponierter Stelle von „exacte iustice du Poëme tragique".4 Da zwar nicht Gerichts- und Gerechtigkeitsmetaphorik, wohl aber ein mit 'poetical justice' korrespondierender Terminus in der kontinentalen wie englischen Literaturkritik ansonsten zu fehlen scheint, gehen wir wohl nicht fehl in der Annahme, daß Rymer zu seiner Begriffsprägung von La Mesnardières Terminus ,iustice du Poëme' angeregt worden ist. Während Le Mesnardières Begriffe,iustice du Poëme' und,iustice du Théâtre' in Frankreich praktisch ohne Widerhall blieben,5 wurde der Neologismus 'poetical justice' von den englischen Literaten sogleich aufgegriffen. Im 17. Jahrhundert trugen nicht nur Thomas Rymers vielbeachtetes Traktat über die Tragödie,6 sondern auch John Drydens literaturkritische Schriften wesentlich dazu bei, daß sich der Terminus durchzusetzen vermochte. Dryden gebrauchte erstmals neben 'poetical justice' die Variante 'poetic justice'.1 Beide Formen werden im übrigen bis heute als Synonyma verwendet. Popularisiert wurde der Begriff dann während
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der sogenannten Collier-Kontroverse um 1700. In den Schriften von Gegnern und Apologeten des Theaters erscheinen allerdings gelegentlich neben 'poetical justice' in gleicher Bedeutung auch die Begriffe 'stagediscipline' und 'dramatic justice',* die jedoch danach gleich wieder verschwanden. Große Publizität wurde dem Terminus dann durch die Schriften John Dennis' und durch Joseph Addisons Angriff auf die Doktrin der poetischen Gerechtigkeit in der 40. Nummer des populären Spectator (1711) zuteil.9 Der zunächst nur für die Tragödie gebrauchte Begriff wurde schon am Ende des 17. Jahrhunderts auf die Komödie, das Epos sowie den Roman übertragen und von da an auf alle Gattungen bezogen verwendet. Er blieb im 18. Jahrhundert, ja bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein fester Bestandteil des literaturkritischen Begriffsinventars in England, wurde allerdings mit dem von ihm bezeichneten Konzept der ,angemessenen Belohnung des Guten und Bestrafung des Bösen' immer stärker an den Rand gedrängt und abgewertet. Dabei fällt auf, daß Autoren, die der Idee der poetischen Gerechtigkeit ablehnend gegenüberstehen, zunehmend vermeiden, den Terminus zu verwenden, während sich dieser im literaturkritischen Unterstrom der anonymen Zeitschriftenkritik am längsten hält. 10 Der Begriff ist heute noch in den meisten englischen Handbüchern der Literaturwissenschaft zu finden, wird häufig in Arbeiten über Literatur des späten 17. und des 18. Jahrhunderts verwendet und ist überdies so sehr im englischen Sprachgebrauch verankert, daß ihn auch die modernen englischen Wörterbücher fast ausnahmslos als eigenes Lemma verzeichnen. Während in Frankreich auch Thomas Rymers Begriff 'poetic justice' fast unbeachtet geblieben ist, fand in Deutschland zunächst schon La Mesnardieres Terminologie ein zumindest schwaches Echo, so etwa bei Georg Philip Harsdörffer, der 1650 in seinem Poetischen Trichter dafür plädierte, daß das Trauerspiel „gleichsam ein gerechter Richter" 11 sein solle. Mit dem Erwachen und Erstarken der Anglophilie im 18. Jahrhundert drang dann 'poetic justice' in der Übersetzung ,poetische Gerechtigkeit' auch in das deutsche literaturkritische Vokabular ein. Dies geschah sehr wahrscheinlich unter dem Einfluß des Spectator, der sich in Deutschland höchster Wertschätzung erfreute und auch ins Deutsche übersetzt wurde. In der deutschen Version dieser englischen Wochenschrift als Der Zuschauer (1742) wird der Terminus jedenfalls mit,poetische Gerechtigkeit' wiedergegeben.12 Der Begriff findet sich dann etwa bei J. J. Bodmer, G. E. Lessing und bei J. W. von Goethe, in den Dramenkritiken der literarischen Zeitschriften des späten 18. Jahrhunderts
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und selbst noch bei Arthur Schopenhauer oder Friedrich Engels im 19. Jahrhundert.13 Daneben hat man offenbar auch den Ausdruck ,Bühnen-Gerechtigkeit' verwendet,14 und einige wenige moderne Kritiker sprechen eher von dichterischer Gerechtigkeit'.15 Dies deutet darauf hin, daß der Begriff ,poetische Gerechtigkeit' im Deutschen zwar gebräuchlich war, sich aber bei weitem nicht so durchzusetzen vermochte wie 'poetic(al) justice' im Englischen. Demgemäß fehlt der Terminus auch in den meisten deutschen Wörterbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts als Stichwort,16 wird von deutschen Literaturkritikern unserer Zeit verhältnismäßig selten gebraucht und etwa in Gero von Wilperts weit verbreitetem Sachwörterbuch der Literatur eher idiosynkratisch definiert.17 Wir wollen hier bei der historisch eingebürgerten Übersetzung des englischen Terminus als ,poetische Gerechtigkeit' bleiben.
1.1.2. Das Bedeutungsspektrum des Begriffs und terminologische Konsequenzen Wir haben den Terminus 'poetic justice' bislang Undefiniert gelassen bzw. uns mit dem Verständnis des Begriffs als ,gerechte Bestrafung des Lasters und Belohnung der Tugend' begnügt, einem Begriffsverständnis also, das häufig als communis opinio auch von Literaturkritikern unserer Zeit als bekannt vorausgesetzt wird und eine Vorstellung bezeichnet, die viel älter ist als der Begriff und bis in die Antike zurückverfolgt werden kann. Wollen wir aber das von dem unifizierenden Terminus bezeichnete Konzept erfassen und die Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts nicht mißverstehen, so dürfen wir uns mit einer solch groben Definition nicht zufriedengeben. Wir halten es dabei mit George Boas, der einmal bemerkt hat, es sei notwendig, die geheiligten Begriffe' eines Zeitalters zu hinterfragen, um die von ihnen bezeichneten Ideen wirklich zu verstehen.18 Wie notwendig ein solches Verfahren ist, geht vielleicht am deutlichsten aus dem vielzitier en Aufsatz "'Nature' as Aesthetic Norm" Arthur O. Lovejoys hervor der nicht weniger als achtzehn Bedeutungsvarianten (mit weiteren Subbedeutungen) von 'nature' allein im englischen Neoklassizismus auszusondern vermochte.19 Bevor wir auf das historische Bedeutungsspektrum des Terminus 'poetic justice' eingehen, soll allerdings zuvor seine semantische Bandbreite im Sprachgebrauch unserer Zeit untersucht werden. Daß diese recht beachtlich ist, entnehmen wir schon einer Gegenüberstellung von 27
Begriffsdefinitionen aus verschiedenen Wörterbüchern. Diese Worterklärungen, dies sei summarisch vorausgeschickt, stimmen zwar weitgehend darin überein, daß es sich bei 'poetic(al) justice' um eine Art,idealer' oder ,perfekter' Gerechtigkeit handelt, darüber hinaus gibt es aber erhebliche Bedeutungsunterschiede. Greifen wir nun einige der Definitionen heraus, die für die auftretenden semantischen Varianten repräsentativ sind: (1) The ideal justice in distribution of rewards and punishments supposed to befit a poem or other work of imagination. (2) The ideal justice which poets exercise in making the good happy and the bad unsuccessful. (3) An ideal distribution of rewards and punishments such as is common in some poetry and fiction. (4) Ideal administration of reward and punishment. (5) An outcome whereby a person receives his just deserts in a manner peculiarly or ironically appropriate. (6) An outcome of a fictitious or real situation, in which vice is punished and virtue rewarded usu. in a manner peculiarly or ironically appropriate to the particular situation. (7) Perfect justice, by which wrong-doers are punished or made to suffer in a way that seems particularly suitable or right. (8) Der in der Dichtung oft erscheinende, in der Wirklichkeit vermißte Kausalzusammenhang von Schuld und Strafe. 2 0
In der Mehrzahl dieser Definitionen (1—6) wird der Terminus auf die Belohnung des Guten und Bestrafung des Bösen bezogen, doch finden wir in einigen Fällen auch den — offenbar wichtigeren — strafenden Aspekt verabsolutiert (7, 8). Weiterhin wird das Spezifikum von poetischer Gerechtigkeit häufig darin gesehen, daß diese eben auf die Dichtung beschränkt ist (1, 2, 3, 8). In anderen Definitionen fehlt jedoch dieser Hinweis auf die Literatur (4, 5, 7) oder es wird sogar besonders hervorgehoben, daß sich 'poetic justice' auch auf Ereignisse der Realität bezieht (6). Schließlich wird der Akzent in einigen Worterklärungen nicht auf die einigermaßen nebulose Idealität dieser Gerechtigkeit gelegt, sondern die besondere, gleichsam ironisch angemessene Art der Bestrafung (und Belohnung) als Charakteristikum von poetischer Gerechtigkeit betrachtet (5,6, 7), oder einmal auch der Kausalnexus von Vergehen und Strafe (8). Damit haben wir die heutigen Bedeutungsnuancen des Terminus 'poetic justice' erfaßt und können zusammenfassend festhalten, daß dieser Begriff offenbar auf fiktionale und auch auf reale Ereignisse bezogen werden kann, distributiv als Lohn und Strafe oder auch nur strafend ver28
standen wird und sich zwar in erster Linie auf die Tatsache der gerechten Bestrafung des Bösen (und Belohnung des Guten) beziehen läßt, daneben aber auch auf die Art ihrer ironischen und — selten — auch kausalen Verknüpfung. Besonders in der Literaturkritik wird dabei der Aspekt der distributiven Gerechtigkeit häufig verabsolutiert, so etwa, wenn A. C. Bradley in seiner einflußreichen Shakespeare-Studie definiert: '"Poetic justice' means that prosperity and adversity are distributed in proportion to the merits of the agents." 21 Vor allem von Personen, die in der Literaturkritik nicht bewandert sind, wird hingegen poetic justice häufig im Sinne der ironischen Angemessenheit von Belohnung und Strafe verstanden. Diese zwei Bedeutungen von poetic justice werden schon in Joseph T. Shipleys Dictionary of World Literary Terms (1970) rezipientenspezifisch unterschieden. Zum Begriffsverständnis von Nichtliteraturkritikern wird darin bemerkt: T o the non-literary scholar, or a lay person, poetic justice means a reward or a punishment (more frequently the latter) which is somehow peculiarly appropriate to the good deed or the crime; it may be of a sort that occurs rarely in life; but it is gratifyingly concrete, and it somehow ironically 'fits the crime', as when a villain is overwhelmed by the catastrophe he had planned for others. 2 2
Nur ganz selten wird von Literaturkritikern diese ironische Dimension von 'poetic justice' neben ihrem distributiven Aspekt zur Kenntnis genommen wie von Charles Duffey und Henry Pettit, die in ihrem Dictionary of Literary Terms (1952) sub 'poetic justice' Folgendes vermerken: 1. The requirement that good and evil should be meted out their just deserts of reward and punishment. Thus, for his goodness Edgar ends happily and for his evil Edmund ends disastrously (King Lear,
Shakespeare).
2. The term may also apply to the appropriateness of a character's reward or punishment: Beadle Bumble ends his days in the workhouse over which he so long tyrannized (Oliver Twist, Dickens). 2 3
Dies sind nun tatsächlich die beiden wichtigsten Bedeutungsvarianten von 'poetic justice' im modernen Englisch. Nur noch am Rande sei hinzugefügt, daß von einigen Kritikern der Versuch unternommen wird, den Begriff der ,poetischen Gerechtigkeit' neu zu beleben, indem sie den kausalen Aspekt extrahieren und den logisch motivierten Ausgang der Handlungssequenz eines literarischen Werks unabhängig von der gerechten Verteilung von Lohn und Strafe als 'poetic justice' bezeichnet sehen wollen.24 Wohl weil man in der Literaturkritik weithin Überein29
kunft über den Begriffsinhalt von 'poetic justice' als ,gerechte Belohnung des Guten und Bestrafung des Bösen' erzielt hat, haben diese Versuche kaum ein Echo gefunden. Tatsächlich wäre es dann zumindest ebenso naheliegend, ,poetische Gerechtigkeit' bloß deskriptiv zu definieren, damit sich auch Gustave Flauberts Überzeugung darunter subsumieren ließe, die Gerechtigkeit des Dichters sei identisch mit vollkommener moralischer Unparteilichkeit.25 So wenig zielführend solche Redefinitionen des Begriffes sind, so stellen sie uns doch vor Augen, daß die heutige, auch in dieser Studie akzeptierte Hauptbedeutung von 'poetic justice' in der Literaturwissenschaft ,die gerechte Bestrafung des Bösen und Belohnung des Guten in der Literatur' — offenbar als historisch determiniert betrachtet werden muß. Dies wird allerdings von vielen Kritikern übersehen, die deshalb Thomas Rymer zuschreiben, den Begriff 'poetical justice' nicht nur geprägt, sondern ihn auch bereits in diesem modernen Sinn verstanden zu haben. Nun hat Thomas Rymer den Begriff 'poetical justice' in seiner Schrift Tragedies of the Last Age (1677) nur viermal verwendet und in seiner zweiten literaturkritischen Schrift, A Short View of Tragedy (1692), überhaupt beiseite gelegt. Tatsächlich gebraucht er den Terminus immer nur bezogen auf die Bestrafung eines Charakters in der Tragödie. Dies geht besonders aus einer Textstelle hervor, wo Rymer davon spricht, daß vollkommen unschuldige Charaktere in der Tragödie nicht den Tod finden dürften, und in diesem Zusammenhang bemerkt: "then no Poetical Justice could have touched them" (S. 26). Über die Feststellung hinaus, daß Rymer den Terminus 'poetical justice' nur verwendet, um dadurch die Bestrafung eines Charakters in der Tragödie zu bezeichnen, erweist sich eine nähere Bestimmung seines Begriffsverständnisses als schwierig. Tatsächlich sind Rymers Gedanken und Begriffe, wie schon John Dryden bemerkt hat, "sometimes obscure", 26 und dies trifft insbesondere auf die Vagheit seines Terminus 'poetical justice' zu. Tatsächlich scheint Rymer dem Begriff sogar verschiedene Bedeutungen zu unterlegen, nämlich (a),ausgezirkelt gerechte Bestrafung', (b),ironisch angemessene Bestrafung', (c),strengere Bestrafung, als es das Vergehen verdient'.27 Die letzte Bedeutungsvariante geht darauf zurück, daß Rymer sich nur mit der Tragödienform auseinandersetzt. Dabei wird in seiner Schrift — wie schon in Rymers Hauptquelle, La Mesnardieres Po'etique — das im französischen Klassizismus dominante Konzept angemessener Bestrafung in der Tragödie von einer neoaristotelischen Tragödienkonzeption überlagert, damit aber nicht widerspruchsfrei harmonisiert. Aristoteles wird dabei so interpretiert, als habe 30
er die mitleiderweckende strenge Bestrafung eines leichten Vergehens als tragödiengemäß bezeichnet.28 So kommt es, daß Rymer 'poetical justice' einmal so geometrisch ausgezirkelt versteht, als dürfe ein Charakter nur ein Verbrechen begehen, weil er auch nur einmal dafür bestraft werden kann, 29 an anderer Stelle aber meint, die Tragödie sei nicht Tyburn, nur Vergehen sollten dargestellt und bestraft werden, die nicht quasi vom Gesetzbuch erfaßt werden, und außerdem müßte die Strafe viel strenger ausfallen, als dies der Charakter verdiene.30 Dazu kommt noch, daß es an zwei Stellen scheint, als befürworte Thomas Rymer ausgehend von der damals topischen Opposition von Geschichtsschreibung und Dichtung eine moralisch genau angemessene Bestrafung des Lasters und Belohnung der Tugend, wenn er zwar nicht von 'poetic justice', wohl aber in Anlehnung an La Mesnardiere von 'justice' spricht und schreibt: "Finding in History, the same end happen to the righteous and to the unjust, vertue often opprest, and wickedness on the Throne, they [= Sophocles and Euripides] ... concluded, that a Poet must of necessity see justice exactly administered, if he intended to please" (S. 22). 3 1 Außerdem betont Rymer auch den Kausalzusammenhang von Tugend und Belohnung, Vergehen und Strafe, wenn er schreibt: "Something must stick by observing ... that necessary relation and chain, whereby the causes and the effects, the vermes and rewards, the vices and their punishments are proportion'd and link'd together; how deep and dark soever are laid the Springs, and however intricate and involv'd are their operations" (S. 75). 3 2 Die aufgezeigten, ähnlich auch bei La Mesnardiere vorhandenen Ungereimtheiten bringen es mit sich, daß die Meinungen über die Bedeutung des Begriffs 'poetic justice' bei Thomas Rymer und auch über dessen Tragödienkonzeption schon bei seinen Zeitgenossen weit auseinandergehen. So sieht etwa Samuel Butler 1677/78 Thomas Rymer sogar als Vorkämpfer eines amoralischen Aristotelianismus und Gegner gerechter Verteilung von Lohn und Strafe, 33 während John Dryden 1690 Rymer so interpretiert, als verstehe dieser unter 'poetical justice' nur die gerechte Bestrafung von Verbrechen, nicht aber die strenge Strafe eines 'fatal flaw'.34 Jedenfalls wird der Begriff 'poetical justice' in England sogleich aufgegriffen, zumindest bis ins frühe 18. Jahrhundert hinein aber aufgrund seiner Bedeutungsunschärfe bei Thomas Rymer mit all den Bedeutungsnuancen gebraucht, die wir bei diesem finden. So verwenden John Dryden in seinen "Heads of an Answer to Rymer" (1677/78), im Vorwort zu Troilus and Cressida (1679) und im Vorwort zu Don Sebastian (1690) oder auch Nicholas Rowe in seiner Dedikationsepistel zu The 31
Ambitious Step-Mother (1700) den Terminus allein dazu, um die gerechte Strafe eines Verbrechens in der Tragödie zu bezeichnen.35 Charles Gildon im Vorwort zu The Patriot (1703) oder John Dennis in The Usefulness of the Stage (1698) verstehen unter 'poetic justice' die strenge Strafe eines 'involuntary fault' des Protagonisten in der Tragödie, und Charles Gildon verknüpft damit noch die Vorstellung, daß auf dem Theater nur Vergehen dargestellt werden dürften, die nicht von den bestehenden Gesetzen erfaßt und somit in der Realität ohnedies schwer bestraft würden.36 Darüber hinaus fügt Dryden an einer Stelle in seinen "Heads of an Answer to Rymer" (1677/78) den auf Rymer zurückzuführenden Bedeutungsnuancen eine neue hinzu, indem er den Begriff 'poetic justice' auf das ebenfalls traditionelle Konzept überträgt, das den Dichter darauf verpflichten wollte, im Rezipienten Abscheu vor dem Laster und Liebe zur Tugend zu erzeugen.37 Uns wird im übrigen nicht nur die Idee von 'poetic justice' als,gerechte Verteilung von Lohn und Strafe', sondern auch die damit eng verknüpfte Doktrin der ,anziehenden Zeichnung der Tugend und abstoßenden Zeichnung des Lasters' noch häufig begegnen. Dieses Prinzip wollen wir in der Folge als ,gerechte Sympathieverteilung' bezeichnen. Am naheliegendsten war es im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert aber, den Begriff 'poetic(al) justice' zu verwenden, um die in der damaligen Poetik nicht nur in der Tragödie, sondern auch in der Komödie, dem Epos und dem Roman ungemein wichtige Doktrin der gerechten Verteilung von Lohn und Strafe zu bezeichnen. Tatsächlich bezieht sich der Terminus schon in Elkanah Settles Farther Defence of Dramatic Poetry (1698) ausdrücklich auch auf die Belohnung tugendhafter Charaktere in der Komödie und wird von James Drake in The Antient and Modern Stages Survey'd (1699) mehrmals als ,gerechte Belohnung und Bestrafung von Tugenden und Lastern in der Literatur' definiert. Dabei hebt Drake allerdings manchmal auch die ironische Angemessenheit der poetisch gerechten' Strafen in der Tragödie hervor und zollt Stücken besonderen Beifall, in denen sich ein Schurke in seiner eigenen Falle fängt. 38 Diese ironische Dimension spielt nun zwar auch im 18. Jahrhundert im Begriffsverständnis von 'poetic justice' eine gewisse Rolle, ist jedoch gegenüber der sich immer mehr allein auf die ,gerechte Belohnung des Guten und Bestrafung des Bösen in der Literatur' einengende Bedeutung des Terminus nur von untergeordneter Bedeutung. Die anderen, früher genannten Bedeutungsvarianten des Begriffs verblassen hingegen zusehends im frühen 18. Jahrhundert. Joseph Addisons Definition von 'poetic justice' als "equal Distribu32
tion of Rewards and Punishments" im 40. Spectator-Essay (16. April 1711) 3 9 hat durch die ungemeine Popularität des Spectator wohl ganz entscheidend dazu beigetragen, daß der Begriff danach fast nur mehr in diesem eingeengten Sinn verstanden wurde. Dies entnehmen wir etwa Nathaniel Baileys Dictionarium Britannicum (1730), wo es heißt: "POETICAL Justice [in the Drama] is used to signify a Distribution of Rewards and Punishments to the several Persons, at the Catastrophe or Close of a Piece, answerable to the several Characters in which they have appeared." 40 Ganz ähnlich finden wir 'poetical justice' auch von E. Chambers in dessen Cyclopaedia (1738) definiert und hier auch als Usus der Dramatiker schlechthin bezeichnet: POETICAL JUSTICE, is chiefly used in respect of the drama, to denote a distribution of rewards and punishments to the several persons, at the catastrophe or close of the piece, answerable to the several characters they have appeared in. . . . Whatever difficulties and distresses the virtuous and innocent may labour under, and how prosperously soever it may go with the wicked, in the course of the piece; the poet usually takes care to give each of them their due ere he parts with them. 41
Auch Thomas Dyche und William Pardon definieren den Terminus in A New General English Dictionary (1740) in diesem Sinn: "In compositions for the stage, when each party is rewarded or punished as the crimes or virtues they have committed or practised deserved, it is called poetical justice. "42 Allein in diesem Sinn wird im übrigen im 18. Jahrhundert (mitverursacht durch die Übernahme des Terminus erst mit Addisons Spectator- Essays) ,poetische Gerechtigkeit' in Deutschland verstanden. In England und Deutschland wird daneben weiterhin häufig und in Frankreich ausschließlich von der Belohnung der Tugend und Bestrafung des Lasters in der Literatur gesprochen wie schon lange vor der Prägung des Begriffs 'poetical justice' durch Thomas Rymer. Daneben wird der Begriff aber im Englischen wie im Deutschen auch getrennt für die Belohnung des Guten oder — häufiger — für die Bestrafung des Bösen in der Literatur verwendet. Die Bedeutungsvariante von 'poetic justice' als der ,strengen Bestrafung eines Vergehens' in der Tragödie verblaßt in England um die Mitte des 18. Jahrhunderts,43 erscheint in dieser Bedeutung aber in der deutschen Literaturkritik des späten 19. Jahrhunderts.44 In der Moderne findet sich diese Bedeutungsvariante nicht mehr, dafür hat sich, wie schon erwähnt, das Verständnis von 'poetic justice' als ,ironisch angemessene 33
Strafe' so sehr verselbständigt, daß eine große Zahl vor allem literaturkritisch unvorbelasteter Personen den Begriff, nur noch in diesem Sinn versteht.45 Auch wird der Terminus heute offenbar häufig in dieser ,ironischen' Bedeutungsvariante auf Ereignisse der Realität bezogen. Dies entsprach noch nicht der Begriffverwendung der Autoren im 18. Jahrhundert, die in solchen Fällen zumeist von 'providential justice' zu sprechen pflegten.46 Man war damals nämlich weithin der Meinung, das Wirken der göttlichen Vorsehung manifestiere sich besonders in der ironischen Angemessenheit der Bestrafung von Verbrechen etwa im Sinne des biblischen „Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein". 47 Offenbar trat erst mit dem Schwund des Glaubens an die Erkennbarkeit von Eingriffen der göttlichen Vorsehung in das menschliche Leben der Begriff 'poetic justice' ein, um solche in der Realität vorkommenden Ereignisse zu bezeichnen, denen im übrigen schon Aristoteles besondere Poetizität attestiert hat. 48 Die Ansicht einiger deutscher Literaturkritiker unserer Zeit, nicht die besondere Strenge, Idealität oder Ironie der Bestrafung, sondern die kausale Verknüpfung von Vergehen und Strafe sei das Spezifikum von ,poetischer Gerechtigkeit',49 läßt sich ebenfalls, wie bereits gezeigt, schon aus Thomas Rymers Begriffsverwendung herleiten. Auch spielt diese Idee der moralischen Kausalität im poetologischen Programm der rationalistischen Dichtungslehre des Klassizismus eine wichtige Rolle, weshalb wir ihr in der Folge noch häufig begegnen werden. Allerdings ist dies schon im 18. Jahrhundert nur eine Nebenbedeutung des Terminus, der von englischen Literaturkritikern unserer Zeit und im modernen Englisch überhaupt nicht mehr zur Kenntnis genommen wird. Offenbar handelt es sich also um eine der schon erwähnten, von manchen Literaturwissenschaftlern des 20. Jahrhunderts vorgenommenen Neudefinitionen des Begriffs durch Extrapolation einer im Klassizismus zwar wichtigen, aber nicht so zentralen Bedeutung wie der Idealität der in der Dichtung geübten Gerechtigkeit. Worauf es nämlich bei 'poetic justice' und den Diskussionen über die Doktrin von der Antike bis ins 20. Jahrhundert tatsächlich in erster Linie ankommt, ist die ,im Gegensatz zur Realität ideale moralische Gerechtigkeit der Verteilung von Lohn und Strafe in der Literatur'. Daher ist es auch verständlich, wenn Literaturkritiker unserer Zeit dazu neigen, allein diesen Aspekt hervorzukehren. So definiert z.B. M. H. Abrams den Terminus in seinem weit verbreiteten Glossary of Literary Terms ( 3 1971) folgendermaßen:
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POETIC JUSTICE was a term coined by Thomas Rymer, an English critic of the latter seventeenth century, to signify the need to distribute earthly rewards and punishments at the close of a literary work in proportion to virtue or vice of the various characters. . . . Few major critics or writers since Rymer's day have acceded to this principle; it would, of course, destroy the possibility of tragic suffering, which exceeds what the protagonist has merited by his tragic flaw.50
Es fällt auf, daß Abrams die historischen Bedeutungsvarianten des Terminus gerade auch bei Thomas Rymer nicht mehr zur Kenntnis nimmt, sondern diesem das moderne Verständnis des Begriffs in der Literaturkritik unterschiebt. Abrams verzerrt dadurch die tatsächliche Tragödienkonzeption Rymers, der ja zumindest an einigen Stellen von The Tragedies of the Last Age sehr wohl für die übermäßig strenge Bestrafung eines 'fatal flaw' des Tragödienprotagonisten als tragödiengemäße Norm plädierte. Auch vermittelt Abrams den — falschen — Eindruck, als sei die Idee der poetischen Gerechtigkeit nach Rymer praktisch bedeutungslos geworden, und versäumt überdies darauf hinzuweisen, daß die Doktrin der Belohnung der Tugend und Bestrafung des Lasters bloß ohne den von Thomas Rymer geprägten terminus technicus schon im 16. und 17. Jahrhundert eine wichtige Rolle in der kontinentalen und auch in der englischen Poetologie spielte — und dies in allen aristotelischen Dichtungsgattungen, also Tragödie, Komödie und Epos. Da eine Klärung der historischen und modernen Bedeutungsvarianten des Terminus 'poetic justice' noch ausstand, ist es erforderlich gewesen, diese Differenzierungen hier vorzunehmen. Dabei war es umso wichtiger, sowohl die richtige historische Tiefendimension wiederherzustellen als auch das heutige Bedeutungsspektrum des Begriffs aufzuzeigen, weil ahistorische und zu wenig differenzierende definitorische Festlegungen wie jene bei M. H. Abrams in der Literaturwissenschaft weit verbreitet sind. Auch haben die hier vorgenommenen Klarstellungen für die folgenden Kapitel dieser Arbeit wichtige terminologische Konsequenzen. Zunächst ist hier darauf hinzuweisen, daß wir die Termini 'poetic justice' und ,poetische Gerechtigkeit' verwenden werden, um damit die schon vor der Prägung dieser Begriffe bedeutsame Doktrin der ,moralisch gerechten Verteilung von Lohn und Strafe, Glück und Unglück am Schluß eines literarischen Werks' zu bezeichnen. Hierin stimmen wir also mit Abrams und der überwiegenden Zahl der englischen Literaturwissenschaftler überein. Darüber hinaus ist es uns jetzt aber auch möglich, sowohl Mißverständnisse zu vermeiden, die sich aus der aufgezeigten Bandbreite im Bedeutungsspektrum des Terminus 'poetic justice' 35
vom 17. bis 20. Jahrhundert ergeben könnten, als auch die verschiedenen Modifikationen der Vorstellung zur Kenntnis zu nehmen. Dabei wird in den Ausführungen zur Komödienkonzeption insbesondere auf die ,ironische' Variante von 'poetic justice' hinzuweisen sein. Ständig werden wir zwischen ,poetischer Gerechtigkeit', der gerechten Belohnung und Bestrafung von Charakteren am Ende eines Dramas, und gerechter Sympathieverteilung', dem Konzept der anziehenden Zeichnung des Guten und der abstoßenden Darstellung des Bösen, unterscheiden. Es soll hier aber nochmals darauf hingewiesen werden, daß diese beiden poetologischen Doktrinen eng zusammengehören: Zu poetischer Gerechtigkeit als abschließende gerechte Verteilung von Lohn und Strafe in der dargestellten Welt bildet gerechte Sympathieverteilung das Pendant dazu auf der Darstellungsebene, gleichsam als ständige gerechte Verteilung von Lohn und Strafe während des gesamten Handlungsverlaufes. Deshalb werden wir diesen beiden Vorstellungen in der Poetik auch häufig gemeinsam begegnen und zusammen zu betrachten haben.
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1.2. Poetic Justice: Genreübergreifende Aspekte der Doktrin
1.2.1. Die Grundlegung der Doktrin in der antiken Dichtungslehre und ihr Konnex mit der klassizistischen Poetik Joseph Addison bemerkt in seinem 40. Spectator- Essay (1711), es gebe in der zeitgenössischen Literaturkritik die Regel, die jeden Autor darauf verpflichten wolle, selbst in der Tragödie der Tugend ihren Lohn, dem Laster seine Strafe zuzumessen — "an equal Distribution of Rewards and Punishments, and an impartial Execution of poetical Justice" vorzunehmen.1 Dazu merkt Addison an, er wisse nicht, wer denn als erster diese Regel aufgestellt habe.2 Nun war, wie schon Edward N. Hooker bemerkt hat, diese Doktrin in England tatsächlich zumindest seit 1690 von Kritikern und Dramatikern weithin als literarische Norm akzeptiert,3 ja wir finden sie schon bei John Dryden in dessen Essay ofDramatic Poetry (1668), einer der ersten bedeutenden literaturtheoretischen Schriften der Restaurationszeit,4 und sie hat auch die Tragödienform im England dieser Epoche ganz wesentlich beeinflußt.5 Tatsächlich ist die dogmatische Forderung nach gerechter Verteilung von Lohn und Strafe aber bereits in der französischen Poetologie des 17. Jahrhunderts bei und nach Jean Chapelain, dem Ahnherrn der doctrine classique, in allen aristotelischen Dichtungsgattungen fest verankert.6 Sogar schon in der italienischen und englischen Literaturtheorie des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, wie etwa bei Benedetto Varchi, Sir Philip Sidney oder Francis Bacon, finden wir die Belohnung des Guten und Bestrafung des Bösen als Spezifikum der Dichtung schlechthin gedeutet, aus der sogar die Überlegenheit der Dichtkunst über die mit ihr konkurrierenden Bereiche der Historiographie und Philosophie abgeleitet wird.7 Nun würde man sicherlich immer noch zu kurz greifen, wollte man sich nicht auch auf die Grundlage der vom 16. bis 18. Jahrhundert dominierenden Poetik besinnen - die antike Dichtungslehre. Dabei wollen wir uns hier zentral nur mit den wichtigsten Autoren befassen, nämlich
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vor allem mit Plato und Aristoteles. Kurze Hinweise auf andere antike Autoren sollen die Bedeutung einzelner Aspekte bloß illustrieren. Dabei geht es uns insbesondere um die selektive Erfassung jener Aspekte, die für die Herausbildung der Doktrin der poetischen Gerechtigkeit und für ihre Ausdifferenzierung und Festigung im Klassizismus von besonderer Wichtigkeit sind. Auf diese Zusammenhänge zwischen antiker und neuzeitlicher Poetik wollen wir im übrigen gleich — zumindest ansatzweise — aufmerksam machen. Wenn wir uns zunächst Plato zuwenden, haben wir auch schon den von Addison gesuchten Autor gefunden, der als erster die Forderung zum Dogma erhoben hat, der Tugend in der Dichtung immer nur Glück und dem Laster immer nur Unglück zuzumessen. Zumindest kann Plato eklektizistisch in diesem Sinne interpretiert werden. Piatos Meinungen über die Dichtung schwanken stark, doch hat etwa schon S. H. Butcher in seinem heute noch vielzitierten Kommentar zu Aristoteles' Poetik zwei Äußerungen Piatos, die eine davon in Die Gesetze (II) und die andere in seinem Staat (III), so interpretiert, als wolle Plato den Dichter dazu zwingen, ausnahmslos die Belohnung der Tugend und die Bestrafung des Lasters darzustellen.8 Tatsächlich behauptet Plato, daß Rechtschaffenheit den größten Nutzen und das größte Glück bedeute, um dem hinzuzufügen: I should try to compel the authors and every inhabitant of the state to take this line; and if anybody in the land said that there are men who live a pleasant life in spite of being scoundrels, or that while this or that is useful and profitable, something else is more just, I should impose pretty nearly the extreme penalty.9 Desgleichen lesen wir: ... we shall have to say that about men and poets and story-tellers are guilty of making the gravest misstatements when they tell us that wicked men are often happy, and the good miserable; and that injustice is profitable when undetected, but that justice is a man's own loss and another's gain — these things we shall forbid them to utter, and command them to sing and say the opposite.10 Plato will also den Dichter dazu zwingen, gute Menschen glücklich und schlechte Menschen als unglücklich darzustellen, und dies aus religiösen und moralischen Gründen. Der religiöse Aspekt tritt auch noch im zehnten Buch der Gesetze hervor, wo Plato behauptet, der Glaube an die Götter und ihre Gerechtigkeit werde vor allem durch den von Dichtern 38
für gewöhnlich auch noch glorifizierten Erfolg und Reichtum von Schurken und Verbrechern untergraben. 11 Da es Plato gerade darum geht, diesen Glauben zu festigen, kann er folglich moralisch ungerechte Sujets in der Literatur nur ablehnen. Dabei betrachtet Plato eben den Kausalnexus von Tugend und Glück, Laster und Unglück als höhere, dem äußeren Schein einer in der Verteilung materieller Güter scheinbar ungerechten Welt transzendierende, unabänderlich gültige moralische Wahrheit. Diese wiederum wird von Göttern garantiert, die den einem kunstvollen Plan gleichenden Kosmos durchwalten und über dieser moralischen Gerechtigkeit im Universum und im Leben jedes einzelnen Menschen wachen. Plato hebt die Belohnung der Rechtschaffenheit und die Bestrafung von Übeltätern in der Psyche des Menschen, im Urteil der Mitmenschen und in einer jenseitigen Existenz der Seele in ewigen himmlischen Freuden oder höllischer Pein besonders hervor und rechtfertigt damit die wahre Utilität der Tugend. Demgegenüber wertet er die Bedeutung weltlicher, durch unmoralisches Verhalten zu erwerbenden Gütern in diesem Leben für das Glück des Menschen ab. 1 2 Dennoch spielt bei Plato aber ein teleologisch verstandener Gerechtigkeitsbegriff eine große Rolle. Diese auch poetic justice zugrundeliegende Vorstellung gleichsam einer Preisverteilung für Gut und Böse tritt besonders deutlich in Der Staat (X) hervor. Darin schreibt Plato: This must be our notion of the just man, that even when he is in poverty or sickness, or any other seeming misfortune, all things will in the end work together for him in life and d e a t h . . . . Look at things as they really are, and you will see that the clever unjust are in the case of runners, who . . . go off at a great pace, but in the end only look foolish, slinking away with their ears draggling on their shoulders, and without a crown; but the true runnej comes to the finish and receives the prize and is crowned. And this is the way with the just; . . . 1 3
Alles ist zum Wohle des Ganzen geordnet: Der Rechtschaffene darf Plato zufolge darauf vertrauen, daß ihm schließlich vollkommenes Glück zuteil wird, der Schurke kann sich darauf verlassen, daß seine Verbrechen trotz seiner Klugheit schließlich im Leben oder jedenfalls im jenseitigen Zustand der Seele angemessen bestraft werden: der Triumph des Guten über das Böse ist das göttliche Gesetz des Universums, dessen Darstellung die — das wahre Wesen der Dinge enthüllende — moralische und religiöse Norm der Dichtung. Dabei vertritt Plato auch die Position der 39
Theodizee, will also die Götter nicht als Urheber des Übels dargestellt sehen, weil auch dies seiner Ansicht zufolge den Unglauben fördert.14 Die Affinität dieser Ansichten Piatos zu biblischen Vorstellungen sind auffällig, und später begegnen wir diesen Ideen insbesondere in der von einer rationalistisch-militaristischen Grundhaltung geprägten christlichen Theologie und Philosophie der Aufklärung, also im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert in England wieder, wo dann das Prestige von poetic justice seinen Zenith erreicht. Auch eines der zentralen Argumentationsmuster zur Stützung der Doktrin in der damaligen Poetologie entspricht genau jenem Piatos und läßt sich wie folgt skizzieren: Die Darstellung von moralischer Ungerechtigkeit in der Literatur stellt die Gerechtigkeit Gottes in Frage und fördert den Unglauben, die Übung von poetic justice hingegen entspricht dem rational einsichtigen vollkommen gerechten Weltenplan Gottes. Wir wollen diese Dimension von poetischer Gerechtigkeit in der Folge als den ,weltanschaulich-religiösen' Aspekt der Doktrin bezeichnen.15 Hier sei allerdings gleich erwähnt, daß wir die Vorstellung, die dichterischen Strafen seien als Abbild der Eingriffe Gottes in das menschliche Leben zu sehen, auch etwa bei Plutarch und in der frühen christlichen Literatur finden, ganz besonders aber im 16. und 17. Jahrhundert. In England entwickelte sich damals sogar eine populäre Literaturgattung, nämlich die Sammlung von providentiellen ,Exempla\ in denen die häufig ironisch angemessenen Strafen von Verbrechern zur Darstellung gebracht und eben dem Wirken der in das Leben der Menschen manchmal in dieser Weise eingreifenden göttlichen Vorsehung zugeschrieben werden. Selbst Henry Fielding gab noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine solche Sammlung heraus.16 Wie noch genauer zu zeigen sein wird, fließen in der klassizistischen Poetologie jedenfalls platonisches und christliches Gedankengut zusammen und führen offenbar, je weiter das rationalistisch-utilitaristische Denken vordringt, zur Dogmatisierung von poetic justice. Demgemäß haben also sowohl Friedrich Nietzsche als auch Arthur Schopenhauer recht, wenn der eine die Doktrin der poetischen Gerechtigkeit aus dem Platonischen Gedankengebäude herleitet, während der andere die jüdisch-christliche Denktradition dafür verantwortlich macht. Bei den beiden im Folgenden zitierten Textpassagen müssen wir berücksichtigen, daß das Dogma der poetischen Gerechtigkeit aus Gründen, die in dieser Studie besonders in 4.1.2. dargelegt werden sollen, bereits künstlerisch entwertet und ebenso wie das rationalistisch-optimistische Weltbild der Aufklärung überwunden war. So beurteilt Schopenhauer in Die Welt als
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Wille und Vorstellung (1819) die Tragödie als vornehmste literarische Gattung, weil „der Triumph der Bosheit, die höhnende Herrschaft des Zufalls und der rettungslose Fall der Gerechten und Unschuldigen uns hier vorgeführt werden: denn hierin liegt ein bedeutsamer Wink über die Beschaffenheit der Welt und des Daseyns".17 Als Konsequenz dieses Weltbildes muß Schopenhauer zur Auffassung kommen, die Doktrin der poetischen Gerechtigkeit beruhe „auf gänzlichem Verkennen des Wesens der Welt", um dann gleichzeitig gegen das Weltbild der Aufklärungsepoche zu polemisieren. „Nur die platte, optimistische, protestantischrationalistische, oder eigentlich jüdische Weltansicht wird die Forderung der poetischen Gerechtigkeit machen und an deren Befriedigung ihre eigne finden", schreibt er (S. 299). Außerdem deutet Schopenhauer an anderer Stelle „alle Theodizeen, Hiobs vernünftelnde Freunde, Kants Postulat eines belohnenden Gottes und einer belohntwerdenden unsterblichen Seele" bloß als „Philistereien".18 Er stellt im übrigen auch klar, worin denn nun für ihn das Philistertum besteht, wenn er den „Philistern" in gleichem Atemzug zuschreibt, sie hätten „die poetische Gerechtigkeit erfunden, damit die Tugend doch wenigstens zulezt [!] etwas nütze" (1,45). Schopenhauers eigene Wertmaßstäbe sind in diesem Zusammenhang unerheblich; wichtig ist hier nur der von ihm aufgezeigte enge Zusammenhang zwischen Religion, Weltbild und Poetologie, seine Ableitung der Vorstellung eines Gerechtigkeit übenden Gottes wie Dichters aus einem Denken, das von Vernunft und Utilität bestimmt ist. Dabei zählen für Schopenhauer eben nicht nur Kant, sondern zweifellos auch Plato und mit diesem viele andere bedeutende Denker zu den ,Philistern', doch nennt Schopenhauer Plato in diesem Zusammenhang nicht. Wohl aber hat Friedrich Nietzsche in mehreren Schriften auf das rationalistisch-utilitaristische Denken als Fundament der Philosophie Sokrates' wie Piatos hingewiesen und gerade daraus die Doktrin der poetischen Gerechtigkeit hergeleitet. In seiner Schrift „Socrates und die Tragoedie" gibt Nietzsche Sokrates und mit ihm auch Plato die Schuld an der von ihm als Verfall betrachteten Ablösung der als wahrhaft künstlerisch bewerteten „pessimistischen" Tragödie, in welcher der Mensch „blind ... und mit verhülltem Haupte... in sein Unheil" stürzt, durch die optimistische, poetisch gerechte Tragödienform schon bei Euripides. Dies entnehmen wir etwa den folgenden Ausführungen Nietzsches: Das sokratische Bewußtsein und sein optimistischer Glaube an den nothwendigen Verband von Tugend und Wissen, von Glück und Tugend hat bei einer großen Anzahl der euripideischen Stücke die Wirkung gehabt, daß am Schlüsse sich die Aussicht auf eine ganz behagliche Weiterexistenz, zumeist
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mit einer Heirath öffnet. Sobald der Gott auf der Maschine erscheint, merken wir, daß hinter der Maske Sokrates steht und Glück und Tugend auf seiner Wage [!] in Gleichgewicht zu bringen sucht. 19
Nietzsche läßt noch deutlicher erkennen, was er von poetischer Gerechtigkeit hält, wenn er in „Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus" von der gleichen Prämisse des von Plato hergestellten Zusammenhangs zwischen Tugend, Wissen und Glück ausgehend bemerkt, eben dadurch werde „die transzendentale Gerechtigkeitslösung des Aischylos zu dem flachen und frechen Prinzip der ,poetischen Gerechtigkeit' mit seinem üblichen deus ex machina erniedriegt".20 Es sei nochmals angemerkt, daß sich die Bewertung von poetischer Gerechtigkeit als,untragisches' Prinzip in der Moderne weithin durchgesetzt hat und häufig ahistorisch absolut gesetzt wird. So läßt etwa George Steiner nur noch das blinde Notwendigkeitsdenken als spezifisch ,tragisch' und ,griechisch' gelten, während er - Schopenhauer simplifizierend — das rationalistische Gerechtigkeitsdenken als Ausdruck einer spezifisch jüdischen Geisteshaltung deutet. In diesem Sinne schreibt er: Tragedy is alien to the Judaic sense of the world.... The demand for justice is the pride and burden of the Judaic tradition. . . . over the sum of time, there can be no doubt that the ways of God to man are just. Not only are they just, they are rational. The Judaic spirit is vehement in its conviction that the order of the universe and of man's estate is accessible to reason. The ways of the Lord are neither wanton nor absurd. 21
Von diesem normativen Standpunkt aus nimmt Steiner die historische Entwicklung der Tragödienform etwa schon bei Euripides ebensowenig zur Kenntnis wie die diesem Gerechtigkeitsdenken gleichfalls verpflichteten Tragödien des Klassizismus. Noch schwerer wiegt aber wohl, daß damit auch Piatos Gerechtigkeitsvorstellung und insbesondere seine Forderung nach poetischer Gerechtigkeit als ,ungriechisch' und mangels einer anderen Alternative ebenso als Ausdruck des "Judaic sense of the world" betrachtet werden müßte wie die Tragödien der Aufklärung. Dies würde nun George Steiner selbst möglicherweise gar nicht stören, meint er doch, auch der Marxismus sei "characteristically Jewish in its insistence on justice and reason" (S. 5). Nun ist Steiners dichotomische Betrachtungsweise meines Erachtens zwar aus den genannten Gründen nicht haltbar, doch ist auch seine Stellungnahme hier von Interesse. Eines nämlich ist Steiner, Schopenhauer und Nietzsche gemeinsam: Alle drei erkennen die dogmatische Forderung nach mathematisch ausgezir-
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kelter Gerechtigkeit in der Dichtung als Ausdruck einer rationalistischen Weltsicht, nehmen aber nicht wahr, daß diese zumindest in drei für uns hier wichtigen Varianten existiert, nämlich in einem Rationalismus platonisch-sokratischer und jüdischer Prägung in der Antike und dem diese Traditionsstränge vereinigenden christlichen Rationalismus des in der Aufklärung kulminierenden Klassizismus des 16. bis 18. Jahrhunderts. Die Relevanz dieser spezifischen Ausprägung des weltanschaulich-religiösen Aspekts von poetischer Gerechtigkeit in der für diese Studie zentralen Periode des Klassizismus wird noch (speziell in 1.2.3.1.) besprochen werden. Wenn wir nochmals auf Plato zurückblenden, so fällt auf, daß dieser vom Dichter verlangt, gute Menschen als glücklich und schlechte Menschen als unglücklich darzustellen, und diese Regel nicht auf eine literarische Gattung beschränkt. Allein weil die Frage der poetischen Gerechtigkeit, wie wir schon gesehen haben, späterhin hauptsächlich im Zusammenhang mit der Tragödienkonzeption diskutiert wird, haben wir darauf bezügliche Aussagen zur Kenntnis nehmen müssen und werden dies auch weiterhin tun, vor allem wenn diese für die Rolle von poetic justice in der Komödienkonzeption nach 1660, die Abgrenzung von Tragödie und Komödie und die Erfassung der Grundlagen der Doktrin von Bedeutung sind. Wichtig ist aber jedenfalls die Feststellung, daß schon Plato den Nexus zwischen Tugend und Glück, Laster und Unglück in der Literatur schlechthin dogmatisiert hat. Dem muß hinzugesetzt werden, daß wir mit der Erfassung der weltanschaulich-religiösen Dimension von poetischer Gerechtigkeit erst einen der für Plato und für die gesamte Poetik relevanten Aspekte der Doktrin aufgezeigt haben. Betrachten wir Piatos Forderung nach gerechter Verteilung von Glück und Unglück in der Literatur nochmals, so finden wir, daß Plato damit auch ein erzieherisches Ziel verfolgt, ja daß die oben bereits zitierte Textstelle im zweiten Buch sei ler Gesetze in eine längere Diskussion von Erziehungsprinzipien eingebette* ist. Dabei geht Plato von einer Art tabula rasa- Konzeption der menschli hen Psyche und von einem hedonistisch-utilitaristischem Erziehungspn lzip aus, das im übrigen Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik ül ;rnimmt und das viel später ganz ähnlich gerade auch John Locke, der Erzphilosoph der Aufklärung in England, vertritt.22 Plato zufolge besteht Erziehung hauptsächlich darin, eine ideale, mit dem Wohl des Staates in Einklang stehende Moral durch die Verknüpfung des dermaßen definierten Guten mit Lust, des Bösen mit Unlust zu internalisieren. Dies entnehmen wir insbesondere Piatos folgenden Bemerkungen: 43
I call 'education' the initial acquisition of virtue by the child, when the feelings of pleasure and affection, pain and hatred, that well up in the soul are channelled in the right courses before he can understand the reason why. . . . Education, then, is a matter of correctly disciplined feelings of pleasure and pain. . . . The soul of the child has to be prevented from getting into the habit of feeling pleasure and pain in ways not sanctioned by the law and those who have been persuaded to obey it; he should follow in their footsteps and find pleasure and pain in the same things as the old. 2 3
Plato geht es also um die Bewahrung und Tradierung einer etablierten Moral auf einer hedonistischen Grundlage, und er muß deshalb, weil er der Literatur in diesem Sinn eine bedeutende Wirkung auf die Moralvorstellungen zuschreibt, für strenge literarische Zensur plädieren.24 Dies tut er nicht bloß in Hinblick auf Jugendlektüre, weil er glaubt, daß sich eine assoziativ angeeignete Moral im Laufe des Lebens eines Menschen abnützt, ja sogar vollständig verloren gehen kann. Demgemäß dominiert bei Plato die Vorstellung, daß die Menschen leicht beeinflußbar seien, sich im besonderen mit literarischen Charakteren identifizierten und vom Verlangen beseelt seien, deren Verhalten nachzuahmen.25 So will Plato in seinem Staat u. a. aus Furcht vor Nachahmungswirkungen dargestellten normabweichenden Verhaltens überhaupt nur Hymnen auf Götter und Preislieder auf Helden als materia poetica zulassen.26 Im zweiten Buch seiner Gesetze will er den Dichter allerdings nur darauf verpflichten, gute Menschen anziehend und schlechte Menschen abstoßend zu zeichnen, damit der Rezipient auf die Darstellung des Bösen mit Abscheu reagiert und sich nur mit dem Guten identifiziert: "In fact", schreibt Plato, "we could hardly point to a greater force for good or evil — than this inevitable assimilation of character". 27 Ungerechte Sympathieverteilung wird im übrigen in der Antike auch Cicero aus dem gleichen Grund zum Ärgernis.28 Wir finden in Piatos Gesetzen also bereits die Forderung nach gerechter Sympathieverteilung dogmatisiert und werden dieser Doktrin dann etwa wieder bei dem deutlich von Plato beeinflußten Averroes und in der klassizistischen Poetologie überhaupt begegnen.29 Auch will Plato in diesem Kontext die Literatur vom Gesetzgeber insofern zensiert wissen, als der Dichter gezwungen werden soll zu lehren, daß nur Rechtschaffenheit letztlich in Glück resultiere. Außerdem hebt Plato die Notwendigkeit von Strafen für jegliche Gesetzesübertragung und explizit auch deren Abschreckungseffekt hervor.30 Damit finden sich schon bei Plato Vorstellungen, denen wir im Klassizismus ständig begegnen werden: die Angst, daß durch die Identifikation des Zusehers mit unmoralischen 44
Charakteren die etablierten sittlichen Normen untergraben würden, und die daraus resultierende normative Forderung nach gerechter Sympathieverteilung und poetischer Gerechtigkeit als didaktische Mittel des Dichters zur Internalisierung der absolut gesetzten moralischen Normen der Gesellschaft. Wir haben damit die zweite wichtige Dimension von poetischer Gerechtigkeit kennengelernt, die wir als ,moralisch-didaktisch' bezeichnen wollen. Diese erzieherische Funktion der gerechten Verteilung von Lohn und Strafe in der Literatur finden wir im übrigen in der Antike später z.B. auch von Plutarch hervorgekehrt, wie besonders aus dessen folgender Äußerung hervorgeht: "The description and portrayal of mean actions, if it also represent as it should the disgrace and injury resulting to the doers thereof, benefits instead of injuring the hearer." 31 Der Dichter verwendet Plutarch zufolge solchermaßen gestaltete fiktionale Exempla, um den Zuseher zu belehren und moralisch zu beeinflussen. Dabei erscheint Plutarch die Bestrafung von Verbrechern didaktisch besonders wirksam, ja er schreibt dieselbe Absicht der Didaxis sogar schon Euripides zu: "Euripides is reported to have said to those who have railed at Ixion as an impious and detestable character, 'But I did not remove him from the stage until I had him fastened to the wheel'" (S. 104). Daran wird auch deutlich, daß die Bestrafung nicht normkonformen Verhaltens eine wichtigere Komponente von poetischer Gerechtigkeit ist als die Belohnung von Normkonformität, und sich der Dichter - wie dies hier schon Euripides zugeschrieben wird - der Doktrin der poetischen Gerechtigkeit auch bedienen kann, um sein Werk gegen moralische Kritik zu immunisieren. Gerade der letztgenannte Aspekt spielt auch in der Neuzeit eine wichtige Rolle, was später noch ausführlich demonstriert werden soll. Wiederum einige Jahrhunderte nach Plutarch finden wir bei Walafrid Strabo die Forderung nach poetischer Gerechtigkeit. In seiner Geographia polemisiert Strabo gegen Eratosthenes' Auffassung, daß die Dichtung nur zu unterhalten brauche, also keine lehrhafte Absicht haben müsse. Dabei leitet er gerade aus poetischer Gerechtigkeit die von ihm als notwendig erachtete Didaxis der Literatur ab. Die Darstellung der Belohnung von Helden durch die Götter oder ähnliche glückliche Ausgänge heroischer Taten, so meint er, könne die Menschen anspornen, dieses Verhalten nachzuahmen, dargestellte göttliche Strafen oder auch das bloße Faktum der Bestrafung von Übeltätern hingegen könne Menschen davon abhalten, sich solcher Verbrechen schuldig zu machen. Aus dieser auf poetischer Gerechtigkeit beruhenden vermeintlichen Nützlichkeit der Dichtkunst leitet Strabo sogar ihre Höherwertigkeit gegt 45
über der weniger verständlichen und daher didaktisch weniger wirksamen Philosophie ab. 32 Möglicherweise in Anschluß an Strabo preist auch der Konstantinopler Patriarch und belesene Gelehrte Photios in seinem Myriobiblion den — auch nach Meinung Erwin Rohdes33 — für gewöhnlich mit poetischer Gerechtigkeit endenden hellenistischen Roman. Insbesondere lobt er Die Wunder jenseits Thüle des Antonius Diogenes und schreibt diesem zweifache Utilität' zu: „Primum quidem, quod hinc, etsi qui injuste quidpiam admiserunt, effugere saepius videantus, tandem tarnen méritas dare poenas, discas. Insontes deinde multos, ingentibus vicinos periculis, praeter spem omnem saepenumero servari."34 Photius denkt wohl in erster Linie an die moralisch-didaktische Wirkung von poetischer Gerechtigkeit, doch könnte er auch die religiöse Sichtbarmachung des Einflusses der göttlichen Vorsehung implizieren. Leider sagt er uns darüber nicht mehr. Im übrigen wird Photios dann beifällig von Bischof Huet in dessen Traité de l'Origine des Romans (1670) als Autorität für die von diesem vertretene Ansicht angeführt, die aus der Übung von poetischer Gerechtigkeit, der Belohnung der Tugend und Bestrafung des Lasters, resultierende Didaxis sei das Hauptziel des Romans schlechthin.35 Huets Schrift war eine der ersten umfänglicheren Auseinandersetzungen mit dem Romangenre der Zeit, wurde auch ins Englische übersetzt und Huets Ideen so auch in England weitertradiert.36 Dieses Beispiel und die anderen hier angeführten Belegstellen illustrieren den engen Zusammenhang zwischen der moralisch-didaktisch motivierten Forderung nach poetischer Gerechtigkeit von Plato über die hellenistische und byzantinisch-christliche Tradition bis hinein in den Klassizismus. Weiterhin haben wir damit auch dokumentiert, daß für das Dogma der poetischen Gerechtigkeit eben nicht bloß gattungsspezifische, sondern alle literarische Großformen umfassende Geltung beansprucht wurde. Nun müssen wir ein letztes Mal zu Plato zurückkehren und wollen festhalten, daß gerade dessen Insistenz auf der Tradierung etablierter moralischer Normen durch die Dichtung, auf Indienstnahme der Literatur durch die Moral und das gemeingesellschaftliche Interesse, wie auch seine Auffassung, der Dichter dürfe nichts schreiben, was nicht mit den traditionellen Vorstellungen von Gerechtigkeit, Tugend und Schönheit übereinstimme,37 nicht nur im Klassizismus weiterleben, sondern auch für Piatos Poetologie selbst eine entscheidende Konsequenz haben: Plato kann nämlich das ästhetische Vergnügen des einzelnen als solches nicht als künstlerisches Kriterium gelten lassen, sondern muß auch dieses moralisch standardisieren. 46
Darüber spricht Plato wiederum vor allem im zweiten Buch der Gesetze. Hier gibt er sich zunächst beeindruckt von der angeblichen Tradierung einer starr fixierten, ,korrekten' Kunstform in Ägypten über zehntausend Jahre hinweg und plädiert für eine präskriptive Regelpoetik,38 die später, im Klassizismus, durch die Amalgamierung platonischer mit aristotelischen, horazischen und anderen Elementen tatsächlich kodifiziert wurde. Plato setzt sich dann mit dem Vergnügen als Wertmaßstab für die Kunst auseinander und schreibt dabei gegen eine damals offenbar schon existierende rein kulinarische Ästhetik an. 39 Das Vergnügen des einzelnen will er keinesfalls als Wertmaßstab der Kunst gelten lassen. Jeder würde dann anders urteilen, meint er: die Kinder würden sich für das Puppenspiel, ältere Kinder für die Komödie, der Großteil der Bevölkerung für die Tragödie, ältere Menschen eher für das Epos entscheiden. Daraus entnehmen wir im übrigen Piatos Geringschätzung der auch aus moralischen Gründen abgewerteten Komödie, die er von Gesetzes wegen abschaffen oder aus der er zumindest jede persönliche Satire getilgt haben will. Auch einen strafenden Effekt des satirisch-verächtlichen Lachens hat Plato offenbar registriert, findet daran aber keinen Gefallen.40 Das individuelle Geschmacksurteil scheidet für Plato jedenfalls als Beurteilungsinstanz der Literatur aus. Ebensowenig will er den Entscheid des gesamten Publikums gelten lassen, weil er vom überwiegend schlechten Geschmack der Menge überzeugt ist, der für ihn nichts anderes ist als ein unmoralischer Geschmack. Seine Lösung in diesem Kontext besteht konsequenterweise darin, auch den delectare-Efiekt der Literatur moralisch zu standardisieren. Nur das Vergnügen soll als künstlerisch legitim gelten dürfen, so schreibt er, das von moralisch korrekt empfindenden, gebildeten Kunstrichtern empfunden wird.41 Dabei spricht Plato in diesem Zusammenhang vor allem das Vergnügen an vorbildhaft-idealisierten Charakteren in der Tragödie an, was uns im übrigen darauf hinweist, daß die uns zur Selbstverständlichkeit gewordenen Aristotelischen Gattungsdefinitionen und -differenzierungen für Plato natürlich noch nicht existierten. Es fällt aber auch auf, daß Plato moralisch ,korrekt' empfindenden Menschen — und solche sollen seine Kunstrichter ja sein — kurz zuvor zugeschrieben hat, auf die Darstellung von Gut und Böse moralisch gerecht, mit Lust und Unlust, Zuneigung und Abneigung, zu reagieren. Auch ist für Plato Gerechtigkeit das höchste Gut und mit größter Freude verknüpft.42 Da er gleich anschließend dem Dichter auch noch vorschreiben will, gute Menschen immer glücklich darzustellen, fehlt auch zur Forderung nach gerechter Verteilung von Glück und Unglück aus ,ästhetisch-kulinarischen' Gründen nicht 47
viel. Diese dritte Dimension von poetischer Gerechtigkeit wird allerdings zentral erst von Aristoteles diskutiert, dessen Poetik wir uns nun zuwenden wollen. Aristoteles geht es in seiner Poetik zwar wie Plato auch um die Wirkung der Dichtung auf den Rezipienten und er macht diese ebenfalls — wenn auch nicht ausschließlich — von der moralischen Natur der Charaktere abhängig, 43 doch ist es ihm im Gegensatz zu Plato allein um das von ihm gattungsspezifisch normierte ästhetische Vergnügen zu tun. Dies erkennen wir besonders deutlich, wenn Aristoteles im XIV. Kapitel der Poetik feststellt, nicht jedes Vergnügen solle vom Dichter in der Tragödie hervorzurufen versucht werden, sondern nur das ihr gemäße. Daraus erst leitet Aristoteles den psychagogischen Effekt der Katharsis ab. 4 4 Mit dem vieldiskutierten, tragödienspezifischen Katharsisproblem brauchen wir uns hier allerdings nicht zu befassen, wir können aber nicht umhin, hier in erster Linie von der Tragödie zu sprechen, weil Aristoteles die von ihm der poetischen Gerechtigkeit zugemessene Bedeutung vor allem anhand der Tragödie konturiert. Auch schreibt Aristoteles seinen Aussagen über die psychischen Effekte verschiedener Schlußlösungen der Tragödie universelle Validität zu, weshalb auch die Übertragung von Aristoteles' Bemerkungen auf alle literarischen Genres im Klassizismus leicht möglich war. Wichtig ist auch gleich der Hinweis darauf, daß Aristoteles im Gegensatz zu Plato strukturbezogen argumentiert, d.h. zum ersten Mal verschiedene Schlüsse von Dramen unterscheidet und nach künstlerischen Prinzipien bewertet. Hier soll nur herauszuarbeiten versucht werden, welche Bedeutung Aristoteles der poetischen Gerechtigkeit zumißt und welche seiner Ideen im Klassizismus aufgegriffen, in welcher Weise diese verstanden bzw. uminterpretiert wurden, als man die dann auch aus weltanschaulichen und moralischen Gründen bedeutsame Doktrin mit den Vorstellungen der Poetik zu harmonisieren versuchte. Betrachten wir zunächst, was Aristoteles über die ideale Schlußlösung einer Tragödie sagt: The perfect P l o t . . . must have a single, and not (as some teil us) a double issue; the change in the hero's fortunes must be not from misery to happiness, but on the contrary from happiness to misery; and the cause of it must lie not in any depravity, but in some great error [ d ^ a p t i a ] on his part. (1453 a) 4 5
Dem können wir bereits entnehmen, daß Aristoteles offenbar gegen Befürworter eines vollkommen gerechten Ausgangs ("a double issue") polemisiert. Möglicherweise repliziert Aristoteles hier auch direkt auf Pla48
to, jedenfalls wurde aber offenbar schon von einflußreichen Zeitgenossen des Aristoteles eine mathematisch ausgezirkelte Verteilung von Lohn und Strafe in der Tragödie befürwortet. Dieser Auffassung pflichtet Aristoteles allerdings nicht bei, sondern stellt dem eben sein Ideal einer Tragödie entgegen, in der ein Protagonist nicht gerecht bestraft wird, sondern bloß durch eine - im Englischen häufig als tragic flaw übersetzte ¿(xagiCa ins Unglück stürzt. Anschließend wendet sich Aristoteles noch nachdrücklich gegen jene Kritiker, die Euripides wegen dessen unglücklicher Tragödienschlüsse tadeln und sieht gerade diese als wahrhaft tragisch an. Auf Aristoteles geht offenbar auch die Betrachtung eines unglücklichen Ausgangs als genrebestimmendes Spezifikum der Tragödie zurück, die zunächst in der Spätantike akzeptiert, von da aus ins Mittelalter transportiert und schließlich durch die Wiederentdeckung der Poetik um 1500 in Italien noch gefestigt wurde.46 Allerdings war es möglich, die von Aristoteles dem Protagonisten in der Tragödie zugeschriebene d^aptia moralisch zu deuten und auf diese Weise den strafenden Aspekt der poetischen Gerechtigkeit mit der Aristotelischen Poetik zu harmonisieren und als ,strenge Strafe' zu interpretieren. Dies geschah allenthalben im Klassizismus häufig und kann wohl nicht mit Sicherheit als Fehlinterpretation ausgeschlossen, wenn auch als Bedeutungseinengung des ä(xaQxia-Begriffes betrachtet werden.47 Die Belohnung der Tugend wird von Aristoteles jedoch eindeutig als der seiner Ansicht nach idealen Tragödienform unangemessen bewertet. Allerdings hat Aristoteles seiner zitierten Explikation der perfekten Tragödienform folgende Bemerkung angefügt: "After this comes the Constitution of plot which some rank first, one with a double story (like the Odyssey) and an opposite issue for the good and the bad personages" (1453 a). Von manchen Übersetzern und Kritikern wurde Aristoteles und wird z.T. heute noch so verstanden, als räume er dieser Tragödienform, in der ein moralisch guter Charakter im Glück und ein sittlich schlechter Charakter im Unglück enden, den zweiten Rang ein. Selbst in der 1982 erschienenen Übersetzung der Poetik durch Manfred Fuhrmann heißt es: „Die zweitbeste Tragödie, die von manchen für die beste gehalten wird, ist die mit einer zweifach zusammengefügten Fabel, wie die ,Odyssee', d.h. in der die Guten und Schlechten ein entgegengesetzes Ende finden." 48 Auf diese Textstelle stützten sich auch schon manche Klassizisten, wenn sie für die Doktrin der poetischen Gerechtigkeit plädierten und die Autorität des Aristoteles für sich reklamieren oder zumindest nicht in Zweifel ziehen wollten. 49 Vor allem ist aber auch von 49
Bedeutung, daß Aristoteles hier mit der Odyssee keine Tragödie, sondern ein Epos als Beispiel für eine poetisch gerechte Literaturform nennt. Da Aristoteles ansonsten nichts über den Epenschluß sagt, ist es wohl gerade auf diese Textstelle in der Poetik zurückzuführen, daß schon in der italienischen Renaissance die Idee der moralisch gerechten Verteilung von Lohn und Strafe gerade im Epos eine zentrale Rolle spielte, und von da aus auf den Roman und schließlich, wie etwa auch Sir Philip Sidneys, Francis Bacons oder Jean Chapelains poetologische Schriften belegen, auf die Literatur schlechthin ausgedehnt werden konnte. 50 Wer allerdings poetische Gerechtigkeit auf der Basis des letzten Zitats aus dem XIII. Kapitel der Poetik auch für die Tragödie als aristotelisch reklamieren wollte, mußte allerdings auch Aristoteles' Anmerkung zu dieser Textstelle geflissentlich übersehen, wo dieser zu einem poetisch gerechten Ausgang festhält: "It is ranked as first only through the weakness of the audience; the poets merely follow their public, writing as their wishes dictate. But the pleasure here is not that of Tragedy" (1453 a). Mit nur kurzer Unterbrechung führt Aristoteles hier also seine Polemik gegen die Befürworter ausgezirkelter poetischer Gerechtigkeit in der Tragödie weiter und schreibt die Bevorzugung eines solchen Schlusses durch das Publikum einem künstlerisch der Tragödie unangemessenen, als Schwäche gedeutetem Wunschdenken des Publikums zu.51 Aristoteles akzeptiere hier zwar, wie Alfred Gudeman bemerkt, die „anerkannte empirische Tatsache", daß das Publikum einem vollkommen gerechten Schluß den Vorzug gibt, wolle dieses „Faktum" aber abwerten, weil dies mit seiner Vorstellung von einer idealen Tragödie in Konflikt stehe.52 Gleichzeitig fällt auf, daß Aristoteles nicht moralisch und religiös argumentiert wie Plato, sondern allein psychologisch-ästhetisch, und den so verstandenen Effekt der Tragödie normieren will: Nicht jede Form von Genuß ist Aristoteles zufolge der Tragödienform gemäß, sondern — wie er in Kapitel XIV definiert: "The tragic pleasure is that of pity and fear, and the poet has to produce it by a work of imitation" (1453 b). Für die spätere Bedeutung von poetischer Gerechtigkeit in der Literatur von besonderem Belang sind auch noch einige andere Textstellen der Poetik, in denen die Doktrin thematisiert wird. Zunächst ist hier auf jene Textstelle im XIII. Kapitel hinzuweisen, wo Aristoteles ausgehend von dem als zentral erachteten Mitleid-und-Furcht-Effekt der Tragödie bestimmte Handlungsverläufe und Charakterzeichnungen ausschließt: There are three forms of Plot to be avoided. (1) A good man must not be seen
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passing from happiness to misery, or (2) a bad man from misery to happiness. The first situation is not fear-inspiring or piteous, but simply odious [[KOIQÖV] to us. The second is the most untragic that can be; it has no one of the requisites of Tragedy; it does not appeal either to the human feeling [(piAdvögamov] in us, or to our pity, or to our fears. Nor, on the other hand, should (3) an extremely bad man be seen falling from happiness into misery. Such a story may arouse the human feeling [cpiA.ötvdQüMtov] in us, but it will not move us to either pity or fear. (1452 b)
Es fällt auf, daß man sich mit gutem Grund auf Aristoteles berufen kann, wenn man das Unglück eines vollkommen Unschuldigen und das Glück eines Verbrechers aus rein ästhetisch-kulinarischen Gründen in der Literatur nicht dargestellt sehen will.53 Das eine bewertet Aristoteles ja bloß als ,abscheulich' (niaQÖv), das andere lehnt er noch dezidierter ab, und beide Urteile scheinen für die Literatur insgesamt zu gelten. Im übrigen befindet Aristoteles in seiner Rhetorik (1386b), daß gerade die Befriedigung über moralisch gerechte Verteilung von Lohn und Strafe das Charakteristikum eines guten Menschen sei.54 Tatsächlich hatten die Autoren besonders im späten 17. und im 18. Jahrhundert große Probleme mit dem Publikum, wenn sie das Unglück eines vollkommen unschuldig scheinenden Charakters darstellten. Dies kulminiert in dem bekannten poetisch gerechten Happy-End in Nahum Tates Bühnenversion von Shakespeares Tragödie King Lear (1681), die erst in der Romantik wieder mit dem ursprünglichen Schluß gespielt wurde, oder auch in den weniger bekannten Umarbeitungen von King Lear, Othello und Hamlet im 18. Jahrhundert in Frankreich und Deutschland.55 Den Triumph des Bösen darzustellen, wagte in England ohnedies kaum jemand.56 Allerdings wurde die Unbeliebtheit des unglücklichen Ausgangs beim Publikum auch schon den direkt auf Aristoteles rekurrierenden italienischen Autoren des 16. Jahrhunderts zum Problem. Manche hielten deshalb — wenn auch selten — Aristoteles die antike Tragödienpraxis und, gestützt auf das delectare- Prinzip des Horaz, den.Geschmack ihres Publikums entgegen. So schreibt Giraldi Cintio in seinen Discorsi (1554), er trete für einen glücklichen Ausgang in Komödie wie Tragödie ein, und zwar . . . solo per seruire a gli spettatori, & farle riuscire piu grate in Seena, & conformarmi piu con l'uso de i nostri tempi. Che anchora che Aristotile dica, che cio e seruire alia ignoranza de gli spettatori, hauendo pero l'altra parte i difensori suoi, ho tenuto meglio sodisfare a chi ha ad ascoltare, con qualche minore eccellenza (quando fusse accettata per la migliore l'openione d'Aristotile) che con un poco piu di grandezza dispiacere a coloro, per piacere de
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quali la fauola si conduce in Seena: che poco giouerebbe compor fauola un poco piu lodeuole, &C che poi ella si hauesse a rappresentare odiosamente. 57
Mit der größeren Distanz zu dem Text und der Autorität von Aristoteles' Poetik gibt es schon in der französischen doctrine classique des frühen 17. Jahrhunderts und dann auch in der englischen Poetik nach 1660 diese Skrupel nicht, sondern es wird distributive Gerechtigkeit in allen Genres auch aus ästhetisch-kulinarischen Gründen zu normieren gesucht. So schreibt etwa François Hédelin, abbé d' Aubignac in seiner Pratique du Théâtre (1657), der Bibel des französischen Klassizismus: " . . . il est toujoûrs d'autant plus agréable que de plusieurs apparences funestes, le retour & l'issuë en est heureuse & contre l'attente des Spectateurs."58 Nur die Forderung nach einer überraschenden Schlußlösung, dies sei hier angemerkt, ist noch aristotelisch. Wichtig ist darüber hinaus Aristoteles' auch in den modernen Interpretationen der Poetik umstrittener Begriff TÖ qpiÁávd()ü)jtov. So deutet etwa H. D. F. Kitto den Begriff so, als bezeichne dieser gleichsam poetischer Gerechtigkeit, wie sie Dr. Johnson — entsetzt über den Tod Desdemonas und Cordelias — befürwortet: Aristotle's insistence on TÖ