Endpunkte. Und Neuanfänge: Geisteswissenschaftliche Annäherungen an die Dynamik von Zeitläuften [1 ed.] 9783412518776, 9783412518752


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German Pages [311] Year 2021

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Endpunkte. Und Neuanfänge: Geisteswissenschaftliche Annäherungen an die Dynamik von Zeitläuften [1 ed.]
 9783412518776, 9783412518752

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End punkte. Und Neu anfänge SAŠO JERŠE | KRISTINA LAHL (HG.)

Sašo Jerše / Kristina Lahl (Hg.)

Endpunkte. Und Neuanfänge Geisteswissenschaftliche Annäherungen an die Dynamik von Zeitläuften

Böhlau Verlag Wien Köln

Das Buch wurde gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Bonn, der Philosophischen Fakultät der Universität Ljubljana, der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Ljubljana sowie des Alexander von Humboldt- und DAAD-Alumni-Vereins Slowenien.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Satz: textformart, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51877-6

Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Endpunkte. Und Neuanfänge. Geisteswissenschaftliche Annäherungen an die Dynamik von Zeitläuften Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Kristina Lahl Epochenbrüche als fingierte Endpunkte und Neuanfänge . . . . . . . . . . . . . . . 19 Borut Ošlaj Was ist ein historischer Umbruch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Robin Dolar Möglichkeiten und Perspektiven der rechtshistorischen Erforschung von Räumen – Das Beispiel Sachsens zwischen Karl dem Großen und Friedrich Barbarossa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Caspar Ehlers Rechtsräume als (Fragestellungs-)Konzept und Versuch einer Rechtsraumtypologie im Rahmen der slowenischen Rechtsgeschichte . . 51 Katja Škrubej Zäsur 1648? Die Westfälische Friedensordnung im Urteil der Publikationen zum Gedenkjahr 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Michael Rohrschneider Klare Trennlinien oder verschwommener Berührungsraum? Zeitliche Markierungen der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Marko Štuhec Epochenumbrüche – Die Inszenierung des Anfangs in der russischen Romantik und im russischen Realismus . . . . . . . . . . . . . . . 95 Schamma Schahadat Erzählte und erzählende Anfänge – Ein narratologischer Ansatz . . . . . . . . . . 107 Špela Virant Die Kunst im Zeitalter der Erweiterung und der Überschreitung . . . . . . . . . . 117 Jožef Muhovič Politische Kunst und die Politisierung der Künste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Harry Lehmann

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Inhalt

Bilder des Friedens im Wandel – Alte und neue Denkmodelle . . . . . . . . . . . . 147 Wolfgang Augustyn Das visualisierte Friedenskonzept eines Adeligen aus der Frühen Neuzeit Pax in den Aufträgen von Ignaz Maria Graf Attems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Barbara Murovec Hundert Jahre Übergang Endpunkte und Neuanfänge in Mitteleuropa 1918–2019 . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Manfred Weinberg Endloses Ende, unbestimmter Neuanfang Die Entstehung des ersten Jugoslawien aus zeitgenössischen Perspektiven . . . 199 Rok Stergar Erfolgreiche Transformation – geglückte Einheit? Deutschland 30 Jahre nach der Wiedervereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Günther Heydemann 31. Januar 1968 Die Diplomatie der DDR anläßlich der Wiederaufnahme von Beziehungen zwischen Jugoslawien und der BRD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Dušan Nečak Allheilmittel oder Patient namens Bologna? Dynamiken diskursiver Krankheits- und Medizinmetaphern im Bologna-Reform-Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Janja Polajnar Bestreiten – Behaupten – Bezweifeln Demokratie in der parteilichen Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Heidrun Kämper Die EU zwischen Krise und Neubeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Johannes Varwick Eine Epilog-Sinfonie (Anno horribili atque spectabili) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Sašo Jerše Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Orts- und Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

Danksagung Unsere Ringvorlesung »Endpunkte. Und Neuanfänge« an der Philosophischen Fakul­tät der Universität Ljubljana im akademischen Jahr 2018/2019 sowie dieser daraus entstandene Band konnten nur entstehen mit großartiger Unterstützung, die wir von unseren Institutionen sowie Kollegen und Freunden erhalten haben. Der vorrangige Dank gebührt hierbei dem DAAD, der sowohl die Ringvorlesung als auch diese Publikation großzügig unterstützt hat. Den überaus freundlichen und verständnisvollen Beistand von Christina Schaar wissen wir zu schätzen. Die Kulturarbeit mit Deutschlandbezug in Slowenien wird durch den DAAD, der auch zahlreiche weitere Projekte im Land fördert, somit maßgeblich erleichtert und beflügelt. Ebenfalls möchten wir der Deutschen Botschaft Ljubljana, insbesondere S. E. Klaus Riedel und Peter Lange, für ihre Unterstützung nicht nur während der Ringvorlesung danken: Bei einem Botschaftsdinner im Dezember 2017 ist die erste Idee für die Reihe entstanden. Für die Organisation der Ringvorlesung möchten wir dem Alexander-von-Humboldt- und DAAD-Alumni-Verein Slowenien unseren besonderen Dank aussprechen. Der Philosophischen Fakultät der Universität Ljubljana, insbesondere dem Dekan Roman Kuhar, dem Institut für Geschichte unter Institutsleitung von Dušan Mlacović sowie dem Institut für Germanistik, Niederlandistik und Skandinavistik unter Institutsleitung von Irena Samide, danken wir sehr herzlich fürs große Engagement für die Ringvorlesung. Wir danken all denjenigen, welche die Veranstaltung besucht haben und zur regen sowie inspirativen Diskussion beigetragen haben. Für die tatkräftige Unterstützung während der Ringvorlesung und bei der Redaktionsarbeit möchten wir Matjaž ­Rebolj, Filip Draženović und Anton Snoj unseren Dank aussprechen. Für den wertvollen fachlichen Austausch und seine Erfahrungswerte im Veranstaltungsmanagement danken wir Johann Georg Lughofer. Unterstützung bei der finanziellen Realisierung des Publikationsprojekts erhielten wir vom Verlag der Philosophischen Fakultät, besonders erwähnen möchten wir hiebei Matevž Rudolf und Jure Preglau. Wir sind sehr froh, dass wir die Ergebnisse der Ringvorlesung im renommierten Böhlau-Verlag publizieren können, und danken hierbei insbesondere Kirsti Döpner und Julia Roßberg für die Begleitung, das Verständnis und die Geduld, die wir ihnen abverlangt haben. Andrea Leskovec danken wir zudem im Namen der slowenischen Autorinnen und Autoren für ihre Übersetzungen sowie ihre einfühlsame sprachliche Beratung und Ute Wielandt für ihr sehr wertvolles Korrektorat. Unser größter Dank gilt schließlich naturgemäß den Vortragenden der Ringvorlesung und den Autorinnen und Autoren der Beiträge. Mit ihnen einen Beitrag sowohl zur geisteswissenschaftlichen Forschung als auch zur deutsch-slowenischen Freundschaft geleistet haben zu dürfen, verbleibt für uns eine wertvolle Erinnerung und eine sehr große Freude.

Sašo Jerše und Kristina Lahl

Ljubljana, Karlsruhe, im Juni 2021.

Endpunkte. Und Neuanfänge Geisteswissenschaftliche Annäherungen an die Dynamik von Zeitläuften Vorwort Kristina Lahl

Es mangelt derzeit in der öffentlichen Debatte der westlichen Welt nicht an Diskursen, die unsere unmittelbare jüngste Geschichte als Wendepunkt markieren. Die zunehmende Globalisierung und Digitalisierung, die ständige und nahezu allumfassende Verfügbarkeit von Wissen und die zugleich massenhafte, in vielen Kreisen hoffähig gewordene gezielte Desinformation bewirken, dass die Welt im 21. Jahrhundert als zunehmend komplex und gar bedrohlich wahrgenommen wird. Dadurch verwundert es auch nicht, dass es zahlreiche verschiedenartige Aspekte sind, anhand derer von der heutigen Zeit als einem Endpunkt oder einem Neubeginn gesprochen wird. Zu Beginn der 10er Jahre wurden die Zukunftsvisionen zumindest in Deutschland noch durch eine weitestgehend euphorisch geführte Debatte über die 2011 auf der internationalen Industriemesse ›Hannover-Messe‹ ausgerufene Industrie 4.0, die als vierte Industrielle Revolution einen Umbruch in Fertigung, Konsumverhalten und Lebensqualität durch künstliche Intelligenz verspricht, dominiert. Doch spätestens nach dem sich über Jahre hinziehenden Brexit und nach der Erfahrung von vier Jahren erratischer republikanischer Führung im Weißen Haus, noch viel mehr aber durch die nunmehr sicht- und fühlbaren Auswirkungen des Klimawandels und schließlich durch die weltweite Pandemie wurden die gesellschaftlichen Diskurse um die Zukunft zunehmend dystopischer. Was bleibt, ist jedoch das Gefühl, an einem Scheidepunkt zu stehen, nach dem die Welt, wie wir sie kannten, nicht mehr sein wird. Doch ist ein solcher Wendepunkt eindeutig zu identifizieren als singuläres Ereignis, welches das Ende einer Ära und den Neubeginn einer anderen markiert? Gerade aus der Retrospektive werden solche Endpunkte und Neuanfänge als epochentrennende Ereignisse benannt, um damit ein Narrativ zu gestalten, das nicht selten mehr über die Verfasstheit der Zeiten aussagt, in denen Geschichte interpretiert, als über jene, in denen Geschichte geschrieben wird. So werden, abhängig von dem jeweiligen Fokus, teilweise auch unterschiedliche Endpunkte und Neuanfänge für bestimmte Ereignisse gesetzt; ein Beispiel hierfür wäre das Ende des Zweiten Weltkriegs, für das zumindest im allgemeinen Bewusstsein der Bevölkerung abhängig vom Erfahrungs- und Sozialisierungshintergrund mit Mai und September 1945 unterschiedliche Daten existieren.

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In unserer gelebten Gegenwart erleben wir jedoch unmittelbar, dass Ereignisse selten singulär sind, und dass es historisch und philosophisch unscharf ist, einzelnen Momenten für sich allein eine umwälzende Funktion zuzuschreiben. Besonders deutlich wird dies beim Klimawandel: Bestimmte Ereignisse, wie etwa die verheerenden Waldbrände in Kalifornien im Frühherbst 2020, haben eine unmittelbare Wirkung, indem sie das allenfalls allgemein greifbare Szenario der Erderwärmung um einige Grade auf erschreckende Weise in seinen Folgen erlebbar machen. Dadurch kann ein solches Ereignis – und es bleibt zu erwarten, dass es weitere, noch einschneidendere dieser Art geben wird – unmittelbare politische Entscheidungen auslösen, die z. B. das Ende der Ära der fossilen Energieträger einläuten können – ähnlich wie das Unglück in Fukushima den Ausstieg Deutschlands aus der Atomenergie einläutete. Und dennoch wird mehr als deutlich, dass die greifbaren Ereignisse des Klimawandels insbesondere in Form von Naturkatastrophen keine abrupt auftretenden Momente, und daraus resultierendes politisches Handeln keine Ad-hoc-Entscheidungen sind, sondern ihnen langfristige Entwicklungen vorausgehen, die – wenngleich oft wenig sichtbar – den eigentlichen Boden für Veränderungen bereiten. Eine grundsätzliche Frage, die sich hieraus ergibt und die in diesem Band in vielerlei Hinsicht beleuchtet wird, ist, wie die Dynamik von Zeitläuften und historischen Augenblicken zu beschreiben ist: In Form eines Kontinuums, indem der Fokus auf die Genese von Ereignissen aus einer Tradition heraus, sei es in Abkehr oder in Bestätigung dieser Tradition, gelegt wird, oder in Form einer Abfolge an Revolutionen und Umbrüchen, indem sich der Fokus auf das »genuin Neue« richtet? Eine weitere Frage, die sich stellt, ist diejenige nach der Perspektive auf Ereignisse, indem aus unterschiedlichen ›Sehepunkten‹ heraus einzelne historische Ereignisse oder gesamte Epochen sehr unterschiedlich bewertet werden. Besonders interessant ist bei einer solchen Fragestellung aus geisteswissenschaftlicher Sicht gar nicht einmal, welche Interpretation dabei eine – ohnehin nicht existierende – »objektiv richtige« ist, sondern vielmehr, was für retrospektive Interpretationen auf Epochen bestehen, woraus sie entstehen, welche Aussagen damit verknüpft werden und was sich daraus ablesen lässt. Die kritische Betrachtung eines Masternarrativs und seiner Genese sowie das Aufdecken der parallel verlaufenden, peripheren Narrative dient einer Diversifizierung der Geschichtsschreibung, die z. B. insbesondere seit Beginn des neuen Jahrtausends große Erfolge darin erzielt hat, marginalisierten Gruppierungen eine Stimme zu verleihen. Um auf unsere unmittelbare zeitgenössische Situation zurückzukommen, so wird die Zukunft zeigen, ob aktuell entscheidende Weichen gestellt werden, welche das sind und inwiefern dabei ein Paradigmenwechsel ausgemacht werden kann. Es lässt sich unabhängig davon jedoch behaupten: Zweifellos befinden wir uns inmitten von Prozessen, die aktuell einen bislang nie gekannten Höhe- oder Tiefpunkt erreichen, wie beispielsweise die Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz zeigen. Ursprünge in der Auseinandersetzung mit diesem Topos sind bis weit in die Antike nachzuvollziehen, die Mythen um Pandora oder Pygmalion zeigen hier schon frühe Wunsch- bzw. Albträume, die mit der Erschaffung eines künstlichen Menschen mit eigener Agency verknüpft sind. Erste technische Realisationen lassen sich im Zeit-

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alter der Aufklärung beobachten, und Der Sandmann, das in der deutschsprachigen Literatur bekannteste fiktionale Werk, in dem eine Art humanoider Automat eine tragende Rolle einnimmt und das Weltbild des menschlichen Protagonisten ins Wanken und schließlich zu Fall bringt, stammt aus dem Jahre 1816. Während im 20. Jahrhundert die Automatisierung und schließlich Digitalisierung entscheidend vorangetrieben wurden, so eröffnet etwa um die Jahrtausendwende die Entwicklung von neuronalen Netzen und selbstlernenden Systemen eine neue Dimension in Richtung »starker« künstlicher Intelligenz, die tatsächlich das Potential für einen revolutionären Durchbruch besitzt. Ob für zivile oder militärische Zwecke – es erscheint entscheidend, dass neben der technischen Komponente nun auch die ethischen, sozialen und kulturellen Dimensionen und Konsequenzen der Entwicklung einer solchen Superintelligenz diskutiert werden. Denn selbst wenn die Vorstellung von Robotern, die den Menschen dominieren, immer noch wie Science Fiction anmutet, so sind zahlreiche KI-Anwendungen doch bereits weit in unser Alltagsleben vorgedrungen und bedingen die Art und Weise, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen. Lisanne Bainbridge sprach im Jahre 1983 von den sogenannten Ironies of Automation, die besagen, dass die Automatisierung eigentlich Verfahren vereinfachen sollte, diese aber tatsächlich verkompliziert, indem es immer mehr Wissen und Erfahrung verlangt, die Prozesse der Maschine nachzuvollziehen. Knapp 30 Jahre später ließen sich auch Ironies of Artificial Intelligence formulieren, indem der flächendeckende Einsatz künstlicher Intelligenz mittels geeigneter Algorithmen das Versprechen von mehr Freiheit für den Menschen nur sehr bedingt eingelöst hat, und der Preis für die Erleichterung alltäglicher Prozesse durch KI gleichzeitig einhergeht mit einem massiven Verlust an individueller Autonomie. Während das Potential einer starken KI für eine Befähigung des Menschen zu außergewöhnlichen Leistungen durchaus vorhanden ist, vermag der Einsatz von Algorithmen und Assistenzsystemen auch zu einem Verlust an menschlichem Urteilsvermögen führen. Nicht allein auf die Entwicklung von KI, sondern auf die kulturelle und mentalitätsgeschichtliche Entwicklung der westlichen Gesellschaft bezogen, sei hier eine etwas provokante These in Form einer möglichen Interpretation unserer Gegenwart als ein Wendepunkt formuliert: Im Vertrauen auf die Unfehlbarkeit der künstlichen Intelligenz lässt sich potentiell ein Gegenentwurf zum »Sapere aude!« Kants erkennen. Das zunehmende Delegieren von Geistesleistungen auf Maschinen macht das eigene Denken in Teilen obsolet, während die massenhafte Desinformation durch Fake-News-Algorithmen die Trennung von »wahr« und »unwahr« durch Verwendung des Verstands zu einer kaum noch lösbaren Mammutaufgabe macht. Der Glaube an die menschliche Vernunft als das dominierende und legitime Instrument in Bezug auf Entscheidungen scheint zunehmend in Frage gestellt. Es ist in gleichem Maße erstaunlich und erschreckend, welche Konjunktur Verschwörungstheorien in unserer doch aufgeklärten und vernunftgeleiteten westlichen Gesellschaft entwickelt haben. Während zu Beginn des Jahrtausends nach dem 11. September 2001 zahlreiche Verschwörungstheorien die Runde machten, so wurden diese damals noch von der breiten Bevölkerung als ein Kuriosum zwar interessiert, aber doch unbeteiligt

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wahrgenommen. Denkt man an die aktuellen, massenhaft auftretenden Proteste und Demonstrationen gegen eine angeblich gestohlene Wahl in den USA bzw. gegen ein vermeintlich erfundenes oder wahlweise künstlich hergestelltes Virus, so zeigt sich, welche enorme Verbreitung und Wirkmacht Verschwörungstheorien heute auch dort haben, was weithin als die »Mitte der Gesellschaft« gilt. Dabei gelten PolitikerInnen und VertreterInnen wissenschaftlicher Institutionen als abgehobene Eliten, denen nicht zu trauen ist. Das sich ergebende Paradox, indem die Vernunft selbst in Verruf gerät, Fake News zur vermeintlichen Wahrheit verdreht und tatsächliche News als Fake News verschrien werden, ist eine Tendenz, die in ihrem Wesen zutiefst anti-aufklärerisch ist. Unter dem Deckmantel einer vorgeblichen Freiheit verbirgt sich dabei die Entmündigung des Individuums und der Einrichtungen, die seine Autonomie eigentlich stärken, wie unter anderem die unabhängigen Medien sowie demokratische Kräfte. Vorgelebt wird die Delegitimierung der in der Aufklärung installierten Institutionen der Volksvertretung, Gewaltenteilung und Wissenssicherung durch diejenigen, die sie eigentlich schützen sollten: In Großbritannien z. B., das seit über 300 Jahren eine Parlamentarische Monarchie ist, konnte man im Sommer 2019 gleich einer Reality Soap zusehen, wie der neu ernannte Premierminister eben jenes Parlament auszuhebeln und seine Wirkmacht für nichtig zu erklären versuchte, indem er es in eine Zwangspause schickte. Zwar entschied das Oberste Gericht, dass diese sogenannte Beurlaubung des Parlaments ›unlawful, null and of no effect‹ war, doch der Vorgang als solcher beschädigte das Vertrauen, stellte auf höchster Ebene die Legitimation der Volksvertretung in Frage und untergrub damit die demokratische Grundfeste. Dabei bietet eine kritische Auseinandersetzung mit dem Althergebrachten und Etablierten durchaus Chancen, da sie zeigt, wie bedeutsam eine Re-Evaluierung der bestehenden Institutionen in einer Welt im Wandel ist. Digitalisierung und Globalisierung haben den Komplexitätsgrad, in dem ein jeder Bürger seine Umwelt wahrnimmt, exorbitant erhöht, wobei z. B. unser Umgang mit Medien und Wissen neu zu reflektieren ist. Gleichzeitig ist die Vielstimmigkeit einer interkulturellen Gesellschaft und gar einer Staatengemeinschaft wie der Europäischen Union gegebenenfalls nicht mehr mit den bestehenden Regierungsinstrumenten vollständig abzudecken, sondern es sind innovative Ansätze einer geeigneten Governance vonnöten. Doch eine Abkehr von Vernunft und Wissenschaft, wie sie aktuell zunehmend salonfähig wird, erscheint in Zeiten, die vielleicht in sich noch keinen Wendepunkt markieren, aber in denen in Bezug auf den Klimawandel und den weiteren Umgang der Menschheit mit den begrenzten Ressourcen der Erde die Weichen für die Zukunft gestellt werden, als im wahrsten Sinne des Wortes brandgefährlich. Unsere Ringvorlesung, aus der dieser Band hervorgegangen ist, ist dagegen den Idealen der Aufklärung verpflichtet, indem sie multiperspektiv, kosmopolitisch und aus dem Dialog heraus versucht, sich der theoretischen und zugleich praktischen Frage zu nähern, wie Anfänge und Neuanfänge durch die Geschichte wahrgenommen und konstruiert worden sind. Im Herbst 2018, in dem die internationale und interdisziplinäre Ringvorlesung »Endpunkte. Und Neuanfänge« ihren Anfang

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nahm, jährte sich das Ende des Ersten Weltkrieges und mit ihm der Zusammenbruch zuvor vermeintlich fest verankerter Weltordnungen sowie das Entstehen neuer politischer sowie gesamtgesellschaftlicher Strukturen zum 100. Male. Dies nahm die Vorlesungsreihe an der Philosophischen Fakultät der Universität Ljubljana zum Anlass, einen geisteswissenschaftlichen Diskurs über Zusammenbrüche, Endpunkte und Neuanfänge unterschiedlicher Entitäten sowie Identitäten anzubahnen. Bewusst war dabei der historische Rahmen offengelassen, indem das Ende des Ersten Weltkrieges als Ausgangspunkt herangezogen und in den Fokus der Vorträge gestellt werden konnte, aber nicht musste. Vielmehr entstand ein vielseitiges Kaleidoskop unterschiedlicher, transdisziplinärer und -kultureller Perspektiven auf verschiedene Epochen und Zeitenwenden, in denen sich in unterschiedlichen Artefakten der individuelle sowie kollektive Umgang mit Umbrüchen spiegelt. Eine Gleichzeitigkeit im Ungleichzeitigen voraussetzend, machte es sich die Ringvorlesung zur Aufgabe, unterschiedliche Niedergänge und Neubeginne, die durch Kriege, Krisen, Revolutionen, Paradigmenwechsel u. a. hervorgerufen wurden, in einen größeren Gesamtkontext zu stellen und hierdurch zeitgemäße Aussagen zur geisteswissenschaftlichen Forschung sowie zur gesamtgesellschaftlichen Verfasstheit Europas zu treffen. In seinem philosophischen Beitrag greift Borut Ošlaj als Einstieg in den Sammelband das Ritual des Neujahrs auf, um aus anthropologischer Perspektive die Funktionalisierung des sprachlichen Gebrauchs von Endpunkten und Neuanfängen zu illustrieren. Der Jahresbeginn markiert dabei keine biologische oder astronomische Notwendigkeit, sondern ist ein kulturelles Konstrukt, eine »mythische Inszenierung der Realität«. Problematischer wird die unhinterfragte Deklaration von Umbrüchen in der Wissenschaft, die sich in ihrer angestrebten Objektivität vom mythischen Denken abgrenzt, sich in der Konstruktion von Epochenumbrüchen jedoch eines »Neomythologems« bedient. Anhand des Beispiels des Mauerfalls und der Gründung des slowenischen Staates zeigt der Beitrag auf, inwiefern diese als Epochenbrüche bezeichneten Ereignisse zwar Veränderungen hervorgerufen haben, die jedoch eher oberflächlicher als strukturell tiefgehender Natur waren. Durch die rückblickende Re-Interpretation und die Rhetorik des Umbruchs wird damit die Chance auf echte Entwicklung und Dynamik verspielt, weshalb der Autor für einen differenzierten Blick auf fließende Übergänge plädiert. Robin Dolar nimmt eine theoretische Diskussion des Begriffs ›Umbruch‹ im historischen Kontext vor. Im Spannungsfeld zwischen der Auffassung von geschichtlichen Veränderungen als Teil eines Kontinuums oder als Wendepunkt bedürfen der Begriff selbst, und viel mehr noch die Sachverhalte, auf die er angewandt wird, einer minutiösen Betrachtung. Dolar argumentiert, dass für eine Beurteilung von Ereignissen als Umbrüche der Referenzrahmen, sowohl zeitlich als auch sozial als auch qualitativ, eine entscheidende Rolle einnimmt. Subtile Abgrenzungen gegenüber konkurrierenden und semantisch ähnlichen Begriffen wie Revolution und Transformation sind in diesem Kontext ebenso bedeutsam wie die Unterscheidung von Umbrüchen in ihrer Funktion als Initiator oder Katalysator.

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Caspar Ehlers Beitrag nimmt die zahlreichen Umbrüche im Herrschaftsraum Sachsen in den Blick: Dabei wird herausgearbeitet, aufgrund welcher geo- und machtpolitischer Begebenheiten die Herrschaftswechsel von den Karolingern über die Ottonen und Salier bis hin zu den Staufern entstanden. Über die detaillierte Darstellung des konkreten rechtshistorischen Raums hinaus weist der Beitrag Perspektiven auf, wie der Herausforderung einer adäquaten Erfassung, Beschreibung und Interpretation eines Rechtsraums mithilfe der Faktoren Topographie, Kultur, Recht und Religion zu begegnen ist. Unter Berücksichtigung dieser vier Parameter können die in Endpunkten und Neuanfängen ersichtlichen Dynamiken zwischen Tradition und Transformation formuliert werden, die bis in unsere Gegenwart hinein wirken. Katja Škrubejs Beitrag  beschäftigt sich mit dem umfassenden Komplex von Rechtsräumen im Umbruch, und hierbei insbesondere mit der Frage, wie sich neue Rechtsräume manifestieren, inwiefern sie sich von zuvor bestehenden abgrenzen und welche Institutionen und Verhältnisse auch über Umwälzungen hinaus Bestand haben. Anhand des Beispiels der Rechtsgeschichte des slowenischen Raums im Rahmen der Illyrischen Provinzen bzw. des ›Königreichs Illyrium‹ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt sie eine Topologie zur vielschichtigen Beschreibung von Rechtsräumen, die deren historischen Spezifika gerecht werden kann und anachronistische Auffassungen von Rechtsräumen durch eine differenzierte Analyse zu korrigieren vermag. Auf den Konstruktcharakter von Epocheneinteilungen und Zäsursetzungen macht Michael Rohrschneider explizit aufmerksam, bevor er im Detail analysiert, welche Bedeutung dem »europäischen Epochenjahr 1648« in der jüngsten Forschung beigemessen wird. Kürzlich erschienene, umfassende Monographien behandeln den Dreißigjährigen Krieg zwar mit unterschiedlicher Fokussierung – auf den Krieg und das Kriegsgeschehen, auf den mitteleuropäischen Bezug des Krieges sowie schließlich auf den Friedensschluss und dessen Bedeutung für die Friedensforschung –, gemein ist ihnen jedoch eine weitestgehend deutliche Betonung des im Jahre 1648 angelegten Zäsurcharakters. Und doch entsteht aktuell eine differenzierte, interdisziplinäre Forschung zum Dreißigjährigen Krieg, welche einen epochalen Einschnitt durch den Dreißigjährigen Krieg bzw. den Westfälischen Frieden zunehmend kritisch in den Blick nimmt, wobei insbesondere die Entstehung allein gültiger »master narratives« wie das des »Westphalian system« und damit eine vermeintliche Zwangsläufigkeit historischer Ereignisse und Folgen hinterfragt werden. Anhand einer umfangreichen Analyse geschichtswissenschaftlicher Abhandlungen zeigt Marko Štuhec auf, wie unterschiedlich das Jahr 1648 als Wendepunkt oder Kontinuum in der frühneuzeitlichen Geschichte Europas bewertet wird. Dabei spielen insbesondere die Fragen, ob bahnbrechende Ereignisse der Geschichte, wie z. B. der Westfälische Frieden, als Umbruch oder als Teil eines Kontinuums gewertet werden können, und inwiefern Periodisierungen auch immer eine subjektive Wertung beinhalten und dennoch Gesetzmäßigkeiten gehorchen, eine Rolle. Das Konzept und die Definition der Moderne als für die Periodisierung der Frühen Neuzeit

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entscheidendes Kriterium wird hierbei kritisch reflektiert und einer Neuevaluation unterzogen. Konstrukte wie Epochenumbrüche leben vor allen Dingen von und durch ihre Narrative: Mit Erzählungen des Anfangs und des Aufbruchs in der russischen Literaturgeschichte setzt sich Schamma Schahadat in ihrem Beitrag intensiv auseinander. Dabei ist ein wesentlicher und paradoxer Aspekt des Anfangs, dass er nicht nur das Neue postuliert und schafft, sondern sich in der Auseinandersetzung mit dem Vergangenen auch in eine Tradition einreiht und somit wiederum auch Teil eines Kontinuums wird. Dies gilt für beide Formen des Anfangsnarrativs: für das traditionelle ohnehin, das sich an einem Ursprung in der Vergangenheit orientiert, ebenso aber auch für das disruptive, das in Abkehr vom Alten etwas revolutionär Neues zu schaffen strebt. Anhand der Beispiele der Romantik und des Realismus in der russischen Literatur zeigt Schahadat auf, wie vielfältig sich zeitgenössisches Selbstverständnis und -bewusstsein in der Wahrnehmung und Postulierung von Epochenumbrüchen darstellt, und inwiefern Epochenanfänge in Diskursen ausgehandelt werden. Erzählen als das Inszenieren von Anfängen und Endpunkten ist das Thema von Špela Virants Beitrag, der sich mit der literaturwissenschaftlichen Herangehensweise an Erzählungen des Anfangens sowie an Textanfänge beschäftigt. Narrative um Ursprungsmythen, Gründungserzählungen sowie Anfänge, die auf Brüche oder Kontinuitäten verweisen, stehen vor der paradoxen Aufgabe, das dem Beginn vorausgehende Nichts diskursiv zu gestalten, um sich von ihm wiederum abzusetzen. Bei den Erzählanfängen rückt dagegen der Erzähler selbst in den Mittelpunkt, indem er sich und sein Narrativ legitimieren muss. Während dies in der vormodernen Zeit noch durch Rückbezüge auf göttliche Eingebungen geschieht, so verschiebt sich der Fokus zunehmend auf das Subjekt, das schließlich in der Postmoderne gar selbstbewusst die eigene Unzuverlässigkeit unmittelbar hervorhebt. Mit einem Paradigmenwechsel im Umgang mit dem Spannungsfeld zwischen Politik und Kunst beschäftigt sich der Beitrag von Harry Lehmann. Anhand unterschiedlicher anschaulicher Beispiele politischer Kunst bzw. Politisierung der Künste in der jüngsten Vergangenheit analysiert er die diesen Phänomenen zugrunde liegenden Muster und Ausdrucksformen. Dabei ist die Differenzierung, ob Kunst politische Themen aufgreift oder ob sie innerhalb dieser Themen Partei ergreift, ein entscheidendes Kriterium dafür, wie das jeweilige Kunstwerk rezipiert und wahrgenommen wird, wobei die politische Aussagekraft in der Bestätigung oder Ablehnung durch Rezipienten einen zusätzlichen performativen Akt provoziert. Möglich ist die starke Politisierung der Kunst nur in einem Zeitalter des Realignments, indem Polarisierungen eindeutige Zuschreibungen attraktiv und medienwirksam erscheinen lassen. Zu Beginn seiner Abhandlung stellt Jožef Muhovič mithilfe einer historischen Übersichtsanalyse fest, dass wir heutzutage mit einem Übergang von der Kunst des »primären« zur Kunst des »erweiterten« Felds zu tun haben. Erstere wird durch das Medium und Metier charakterisiert, Letztere ist hiervon unabhängig und bedient sich in freier Weise verschiedener Medien und Kompetenzen, vorausgesetzt, sie führen zur Erreichung ihrer Ziele. Die Tatsache des Übergangs von der Kunst im

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engeren zur Kunst im erweiterten Sinn ruft von selbst die Problematik der »Grenze« und »Überschreitung von Grenzen« in die Diskussion. Das Überschreiten spiritueller Grenzen hat zwei grundlegende Modalitäten: die de-konstruktive und die konstruktive. Die eine bezeichnet das Überschreiten von Grenzen im Sinne ihrer Infragestellung, Überwindung und Befreiung von den Regeln und Werten, die in ihnen herrschen, die andere bezeichnet die Festlegung von Grenzen in Form der Anhebung qualitativer Standards. Der erste Aspekt tritt in das Kunstschaffen in der Form der Aufhebung eines bestimmten kreativen Paradigmas und der Suche nach alternativen Paradigmen auf, der zweite in der Form der Vertiefung und Komplexifizierung ihrer Ziele und Ergebnisse. Wolfgang Augustyn thematisiert in seinem Beitrag die unterschiedlichen und im Wandel der Zeit variierenden Darstellungen und Auslegungen des Friedens in der Kunst. Insbesondere in den Personifikationen von Pax und Iustitia, aber auch anderer Abstrakta, erweist sich das Changieren zwischen politischen und religiösen Motiven als subtiler und vielschichtiger Kommentar zu unterschiedlichen Gesellschafts- und Wertesystemen, Konventionen, Mythenrezeptionen und historischen wie regionalen Idiosynkrasien. Durch die Jahrhunderte illustrieren besonders die Details in den Attributen der Friedensallegorien die sich wandelnden Einschätzungen und Wahrnehmungen der Dynamiken zwischen Krieg und Frieden. Barbara Murovec widmet sich der Ikonographie des Friedens in der Frühen Neuzeit. Der Kunst kommt im Übergang von Kriegs- zu Friedenszeiten eine entscheidende Rolle bei der Absteckung des neu zu definierenden friedlichen Raums sowie bei der Bewältigung der Kriegserlebnisse zu. Anhand einer detaillierten Beschreibung und Interpretation der Fresken, die Ignaz Maria Graf von Attems nach dem Frieden von Karlowitz 1699 in Auftrag geben ließ, weist Murovec nach, wie umfangreich Attems die Friedensikonographie im Rahmen von unterschiedlichen Kontexten und mit mannigfaltigen Perspektiven systematisch zu einem gesellschaftlichen wie privaten und unter anderem Aspekte von Gender und Kreativität umfassenden Konzept entwickelte. Manfred Weinberg setzt sich in seinem Beitrag mit den kollektiven und doch so unterschiedlich wahrgenommenen Geschichten Europas in den vergangenen 100 Jahren auseinander. Dabei hebt er hervor, dass ein gemeinsames Denken und Erinnern, wie es so oft gefordert wird, zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist, da, und dies wird an den unterschiedlichen Interpretationen der Schicksalsjahre 1918, 1945, 1968 und 1989 in Deutschland und Tschechien deutlich, verschiedene Perspektiven und Erfahrungen ein jeweils anderes Denken und Erinnern hervorrufen. Weinberg plädiert stattdessen für ein translationales Gedächtnis, das im ständigen Dialog und in unermüdlicher Übersetzung ein gegenseitiges Verstehen begünstigt. In diesem Kontext gilt auch die Betonung einzelner Daten als Endpunkte und Neuanfänge als problematisch, da sie unterschiedliche Narrative begünstigt oder verstummen lässt. Vielmehr ist ein polyperspektivischer Blick auf das geschichtliche Kontinuum als immerwährender Übergang im Sinne eines translationalen Gedächtnisses zielführender.

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Rok Stergar arbeitet in seinem Text die Zeit unmittelbar vor Gründung des ersten Sloweniens anhand von Quellen des slowenischsprachigen Bürgertums auf, um den retrospektiven Anschein eines teleologisch unausweichlichen Gangs der Geschichte und ein sich daraus ergebendes nationales Masternarrativ differenziert zu analysieren und zu diskutieren. Detailgenau weist er mithilfe von Quellen aus den Jahren 1917 und 1918 nach, dass die Unabhängigkeit Jugoslawiens durch die Abspaltung von Habsburg von den Zeitgenossen keineswegs als eine historische Notwendigkeit wahrgenommen wurde, die aus einer euphorischen und von der Gemeinschaft getragenen nationalen Bewegung entstand, sondern vielmehr bis kurz vor bzw. sogar noch nach der Unabhängigkeitserklärung als eine von mehreren Optionen und als potentiell episodenhaft erschien. Der scheinbar klare Wendepunkt des Zerfalls Österreich-Ungarns gewinnt in diesem Licht eine differenziertere Qualität als eine von Zufällen und Unsicherheiten begleitete Entwicklung. Dušan Nečak beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Reaktion der DDR auf die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der BRD und Jugoslawien. Er zeigt dabei auf, mit welchen Narrativen und Strategien die DDR versuchte, das Treffen zwischen Jugoslawien und der BRD in Paris als Ende der Hallstein-­ Doktrin zu werten und für sich außenpolitisch zu nutzen. Anhand der diplomatischen Noten aus dem Jahr 1968 an Staaten weltweit lässt sich hierbei nachvollziehen, inwiefern Berlin versuchte, einen Wendepunkt in der weltweiten diplomatischen Haltung gegenüber der DDR zu forcieren.  Günther Heydemann widmet sich der Wiedervereinigung Deutschlands in den Jahren 1989/90, die er als einen End- bzw. Wendepunkt in der Entwicklung der deutschen Geschichte seit 1871 definiert. Dabei steht die Friedliche Revolution in einer Folge politischer und gesellschaftlicher Umbrüche, wobei ihre Sonderstellung als erste gewaltlose und gleichzeitig erfolgreiche Revolution offensichtlich wird. Der Fokus des Beitrags liegt insbesondere auf den innen- und außenpolitischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen Deutschlands in den vergangenen drei Jahrzehnten, mithilfe derer deutlich wird, inwiefern die Revolution von 1989 kein isoliertes Ereignis darstellt, sondern eine Dynamik entwickelt, deren Auslöser bereits zu einem sehr viel früheren Zeitpunkt einsetzen und deren Konsequenzen lange nachwirken. Janja Polajnar nimmt am Beispiel der unterschiedlichen internationalen Thematisierung der Bologna-Reform in den Medien in den Blick, inwiefern Metaphern als soziokulturelle, diskursive Einheiten individuelle und gesellschaftliche Wahrnehmung beeinflussen und formen, indem sie Bedeutung konstituieren. Anhand eines umfangreichen Textkorpus’ aus den Jahren 1999–2013 arbeitet sie heraus, welche Metaphern aus den Begriffsfeldern Krankheit und Medizin zur Be- und Umschreibung des Bologna-Prozesses verwendet werden und welche Diskursdynamiken sich dabei entwickeln. Im Laufe der umfangreichen medialen Diskussion wandelt sich der Diskurs um die Studiengangreform von einer weitestgehend optimistischen bis hin zu einer kritischen Einschätzung des Mehrwerts und der Wirkung von Bologna für Universitäten und Studierende, was sich an der unterschiedlichen Verwendung und

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Weiterentwicklung von Metaphern aus dem medizinischen Sprachbereich ablesen lässt. Dabei kommt metaphorischem Sprachgebrauch eine entscheidende Funktion in der Argumentation, Wahrnehmung und Bewertung von Sachverhalten zu, wodurch Diskurse Paradigmenwechsel nicht nur widerspiegeln, sondern entscheidend mit konstituieren. Heidrun Kämper beleuchtet in ihrem Beitrag Diskurse um die Demokratie entlang der entscheidenden Attribute Überlieferung, Transitorik und Traditionsbildung. Ausgehend von Umbruchzeiten im 20. Jahrhundert – der Gründung der Weimarer Republik, dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der 68er-Bewegung – analysiert sie die Kodierung demokratischen Wissens, also die Entstehung von Wissen um die Demokratie aus dem Diskurs heraus. Kämper versteht Institutionen mit Searles als Produkte intentionaler sprachlicher Akte, durch die gleichzeitig Wissen entsteht, das eng an die Institution gebunden ist. In Zeiten des Umbruchs verändert sich dieses Wissen bzw. durch die Veränderung des Wissens werden Umbrüche hervorgerufen. Am Beispiel der Weimarer Reichsverfassung zeigt Kämper, wie ethisches Wissen institutionalisiert wird – und wie dies, prägnant ersichtlich an der neuen Rolle der Frau, durch sprachliche Akte hervorgerufen und manifestiert wird. Anhand von fünf Krisendimensionen führt abschließend Johannes Varwick durch die aktuellen Herausforderungen Europas. Im Gegensatz zu vorhergehenden Entwicklungskrisen beschreibt er die aktuelle Situation Europas als mehrschichtige und grundlegende Existenzkrise, der die Leerstelle eines überzeugenden, gemeinsamen Narrativs zugrunde liegt. Mit einem genauen Blick auf unterschiedliche Krisenfelder arbeitet Varwick heraus, welche Wege Europa in Zukunft beschreiten kann. Das Spannungsfeld zwischen staatlicher Souveränität und europäischer Integration muss dabei austariert werden, so dass sowohl die europäischen Staaten als auch die europäische Staatengemeinschaft im internationalen Kontext und in der Bewältigung komplexer Herausforderungen selbstbestimmt handlungsfähig bleiben können. Sapere aude!

Epochenbrüche als fingierte Endpunkte und Neuanfänge Borut Ošlaj

Wenn man sich ernsthaft der Worte wie Epochenbrüche, Endpunkte und Neu­ anfänge bedient, um damit den Lauf der Geschichte auf verschiedenen Ebenen präziser zu beschreiben – was dafür spricht, dass man sie für feste Begriffe hält – dann setzt man in der Regel voraus, dass die Geschichte diskontinuierlich und nicht kontinuierlich verläuft. Die Dichotomie zwischen Kontinuität und Diskontinuität, zwischen einer monolinearen Entwicklung von den niedrigeren zu immer höheren Stufen der Entwicklung einerseits und einer brüchigen, mehrschichtigen und disparaten Bewegung andererseits, verzeichnet zwar ein altes Muster der Bewertung der Geschichte, das allerdings alles andere als überzeugend ist. Dies vorausgesetzt, muss man feststellen, dass diejenigen, die Epochenbrüche, Endpunkte und Neuanfänge nicht selbstverständlich für adäquate Begriffe halten und sie in ihrem semantischen Gehalt in Frage stellen, nicht unbedingt Vertreter der Auffassung einer geschichtlichen Kontinuität sind. Das angesprochene Problem im Bezug aufs Muster ist innerhalb der Geistesgeschichte, wie so oft, viel komplexer. An der These von Epochenbrüchen als fingierten Endpunkten und Neuanfängen, welche mir die Herausgeber dieses Buches suggeriert haben, lässt sich dies, so will ich hoffen, leicht veranschaulichen. Fangen wir an mit einem ganz einfachen und uns allen wohl vertrauten Brauch: das Neujahr zu feiern. Das alte Jahr mit seinen Ereignissen, Erzählungen, Erfolgen und Misserfolgen geht zu Ende und verabschiedet sich schließlich endgültig; das neue, das uns den Freiraum für unbekannte Möglichkeiten und mehr oder weniger gewagte Hoffnungen verschafft, fängt in all seiner Ungewissheit und Aufregung an. Als ich ein kleines Kind war, habe ich den ersten Tag im Neuen Jahr, daran kann ich mich klar erinnern, ganz anders wahrgenommen als andere Tage. Der Himmel schien mir blauer zu sein als sonst, die Sonne schien klarer, die Menschen waren freundlicher und eine magische Ruhe strahlte über dem ersten Tag. Alles erschien mir eben erneuert zu sein, inklusive mir selbst. Diese Verblendung, obwohl sie sehr angenehm war, hat natürlich nicht sehr lange gedauert, bis ich eben merkte, dass unsere Wörter, unser Sprachgebrauch und damit zusammenhängende Rituale nicht unbedingt mit der Realität korrespondieren und sie nicht ohne Verluste oder Verschönerungen quasi eins zu eins beschreiben und wiedergeben. Trotzdem pflege ich weiterhin die uralte Tradition, das Ende und den Neubeginn des Jahres zu feiern mit allen dazugehörenden neuen Wünschen und Hoffnungen. Die meisten Menschen tun es genauso und zweifeln nicht am Sinn dieses uralten Brauchs, auch nicht an der

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Art und Weise der sprachlichen Formulierung des ständig sich wiederholenden und sich erneuernden Jahresbruchs. Wieso, woher kommt das? Fragen wir uns zunächst einmal: Was endet eigentlich mit dem alten Jahr und was fängt mit dem neuen an? Etwas Wichtiges, Substantielles? Nein, ganz und gar nicht. Das alte, beendete, und das neue, angefangene Jahr beziehen sich lediglich auf die bewertende und numerische Klassifizierung unserer kulturbedingten Zeitwahrnehmung, die einerseits einer besseren Orientierung innerhalb eines dynamischen Prozesses des Vergehens dient und andererseits den psychologisch bedingten Wünschen und Hoffnungen auf ein besseres Leben in der Zukunft Konkretheit verschafft. Es wird also nichts Reales beschrieben, sondern eher nur eine symbolische Akzentuierung vermerkt, die unserem Leben und seinen Erzählungen ein Stück Sinn verleihen und es in seiner Wichtigkeit ehren und feiern will. Der Mensch bemühte sich seit je, mit Worten und Zahlen der Welt einen Sinn zu geben, sie unter seine Kontrolle zu bringen, sie festzuhalten und sich in ihr entsprechend zu orientieren; heute nicht weniger als vor Jahrtausenden. Es ist sozusagen ein Relikt, ein Residuum der mythischen Denkweise eines bewussten sterblichen Lebewesens, das mit Worten und anderen Zeichen das Leben aufhalten und es schließlich nach seinen Wünschen anschaulich erklären und gestalten will. Und weil das, vereinfacht gesagt, nie so richtig funktionierte, hat der Homo sapiens mit der Zeit eine erstaunliche und psychologisch betrachtet sehr effiziente Strategie entwickelt, immer wieder von vorn anzufangen, von Jahr zu Jahr, von Geburt zu Geburt, von Leben zu Leben; umso mehr, weil er ein ähnliches Muster auch in der umgebenden Natur immer wieder beobachten konnte. In der Tat verdanken Endpunkte und Neuanfänge ihre symbolische Existenz dem mythischen Bewusstsein, sie sind essentieller Teil einer jeden mythischen Inszenierung der Realität. Denken wir mal an die zahlreichen zyklisch durchgeführten und gefeierten Theo- und Kosmogonien der alten Sumerer, der Babylonier, der Hethiter und anderer Kulturen, in denen die alte Welt, die nicht mehr das hergab, was man von ihr erwartet hatte, mit einer rituellen Inszenierung zu Ende gebracht wurde, um an ihrer Stelle eine neue zu schaffen, die wieder von frischen Hoffnungen und Erwartungen erfüllt war. Mit der symbolischen Aufteilung des gesellschaftlichen Lebens auf mehrere sich ständig wiederholende Lebensabschnitte ließ sich wesentlich leichter leben. Der Mensch gibt nie auf, versucht es immer wieder von Neuem, sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene seiner Systeme und Subsysteme. Diese sinnspendende sowie sinnstiftende Überlebensstrategie ist uralt und hat bis heute an Kraft nicht eingebüßt, weil sich eben der Mensch in seinem Bemühen um ein besseres Leben nicht verändert hat. Wir glauben heute in der Regel zwar nicht, dass mit dem Neuen Jahr alles wieder von vorne anfängt, dennoch tut es uns wohl, mit erfrischten Hoffnungen und Wünschen erneut zu versuchen, unser Leben besser in Griff zu bekommen. Insofern haben die ritualisierten Jahresneuanfänge für uns weiterhin einen existenziellen Sinn beibehalten, obwohl sie durch die Geschichte an ihrem Wahrheitsgehalt deutlich eingebüßt haben. So weit, so gut. Nun wissen wir aber, dass wir den mythischen Sprachgebrauch, der mit verschiedenen Endpunkten und Neuanfängen das Leben anschaulicher, sinnvoller und

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übersichtlicher zu strukturieren bemüht ist, auch auf anderen Gebieten benutzen, auch innerhalb der verschiedenen Wissenschaften. Das ist allerdings dann gar nicht mehr so selbstverständlich und problemlos wie der gerade thematisierte Fall des Neujahresneuanfangs, da sich die Wissenschaften nicht selten gerade durch die kritische Abgrenzung zum mythischen Denken in seiner unreflektierten Anschaulichkeit definieren. Ich werde mich dabei nur auf das Gebiet der Geisteswissenschaften konzentrieren. Sowohl Historiker als auch Kulturwissenschaftler, Theologen und nicht zuletzt auch einige Philosophen machen sich diesen mythischen Sprachgebrauch – meistens unbewusst – nicht selten zu Nutze und ergänzen ihn dazu noch mit einem wichtigen und immer wieder verwendeten Neomythologem: mit dem Bruch bzw. Epochenbruch. Es handelt sich hier um ein Mythologem, weil es meistens als eine nicht mehr hinterfragbare Konstante benutzt wird und dabei eine eindeutig sprachlich-anschauliche Form besitzt; das Präfix »Neo« verwende ich dabei deshalb, weil die klassischen Mythologien in ihrer zyklischen Zeitwahrnehmung die Brüche eigentlich gar nicht kennen respektive akzeptieren. Zwischen dem alten und dem neuen Lebenszyklus gibt es für das mythische Bewusstsein keinen Bruch: Genau aus diesem Grund wird das »Neue« allmählich wieder zum »Alten«, und nichts Neues, was der Rede wert wäre, wird letztendlich passieren. Der moderne und vor allem der postmoderne Diskurs strotzt dagegen vor dem Sprachgebrauch der verschiedensten Brüche und Epochenbrüche, und das nicht nur auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften. Richard David Precht z. B. spricht in seinem Buch »Jäger, Hirten, Kritiker« aus dem Jahr 2018 unmissverständlich von einem neuen, echten »Epochenbruch«, von einer gewaltigen Revolution, vor welcher wir stehen. Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts geht seiner Meinung nach eine alte Welt unter und »wird durch eine ganz neue ersetzt.« Auch der Theologe Hans Küng bedient sich in seinem Weltethosprojekt desselben Sprachgebrauchs: »Wer heute die Frage nach einem globalen Ethos stellt, hat sich bewusst zu sein, dass die gegenwärtige Situation Ausdruck eines tiefgreifenden Epocheneinbruchs ist, der bereits mit dem Ersten Weltkrieg einsetzte.« Auch die Geschichte der Philosophie im Allgemeinen ist mit einigen angeblichen Brüchen versehen. Denken wir mal an die Rolle Descartes’ und noch mehr an die Rolle von Hegels Philosophie, mit der nicht nur Ästhetik und Religion, sondern auch Philosophie selbst ihr gewisses Ende finden sollten. Und nicht zuletzt auf den Gebieten der Kunstgeschichte, der Geschichts-, der Politik- und der Kulturwissenschaften ist die Rede von verschiedensten Epochenbrüchen, Endpunkten und Neuanfängen eigentlich schon längst zur Gewohnheit geworden; diese Neomythologeme genießen dort fast schon den Status echter wissenschaftlicher Begriffe. Wir sind heute von einem Ende-Diskurs richtiggehend überschwemmt. Schauen wir uns zwei Beispiele aus der Politikgeschichte näher an, eins mit globalen und das andere mit eher regionalen Eigenschaften und Wirkungen. Der Berliner Mauerfall im Jahre 1989 wird immer wieder als ein Epochenbruch mit globalen Auswirkungen thematisiert. Ähnlich die Unabhängigkeit Sloweniens im Jahre 1991, die als ein schicksalhafter Bruch und Neuanfang in der Geschichte der Slowenen verstanden wird. Betrachten wir mal beide Beispiele zusammen und fragen uns,

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was endet da eigentlich und was fängt neu an? Es sind in der Tat einige, darunter auch wichtige Veränderungen zu sehen. Die Deutschen z. B. leben wieder in einem gemeinsamen Staat und die Slowenen leben zum ersten Mal in ihrer Geschichte im eigenen Staat. Die DDR und Jugoslawien finden als Staaten ihr Ende und es entstehen neue politische und wirtschaftliche Strukturen etc. Aber kann man dabei ruhigen Gewissens wirklich von einem echten Bruch oder gar Epochenbruch reden? Mit einem Bruch bricht nämlich ein Kontinuum, ein Sach- und Sinnverhalt ab und muss logischerweise wieder von neu angefangen werden. Ist dem wirklich so? Die Deutschen merken immer wieder enttäuscht, dass mit dem Mauerfall eigentlich nur Betonstrukturen zusammengefallen sind, die Mauern in den Köpfen der Menschen blieben aber weiter und wurden in einigen Fällen sogar höher und breiter. Die Slowenen haben einen eigenen Staat bekommen und eine andere Ökonomie, aber die Gewohnheiten, die Ideologien und viele gesellschaftliche Strukturen und Mechanismen sind dieselben geblieben. Viele, die in den alten Strukturen führende Positionen besaßen, sind auch innerhalb der neuen Strukturen auf denselben Positionen geblieben. Um kurz und knapp zu bleiben, in allen Fällen ändert sich zwar einiges, aber das Wichtigste bleibt unverändert: Die Menschen, d. h. die Menschen mit ihren mehr oder weniger starren Ansichten, politischen und religiösen Überzeugungen, moralischen Wertschätzungen, mit ihrem Wissen und Unwissen, mit ihren Hoffnungen und Träumen nach einem besseren Leben, mit ihren Beziehungen, gegenseitigen Verdiensten und Grollen. Solange sich Menschen aber nicht ändern, kann auch nichts wirklich abbrechen, enden und darauf etwas völlig Neues anfangen, was der Rede wert wäre. Dafür benötigten wir echte Brüche in den Köpfen einer Großzahl der einflussreichsten Menschen und nicht bloß eine veränderte externe Kosmetik der formalen politischen, wirtschaftlichen und anderen Strukturen. Solche Brüche gab es aber bis jetzt nicht und wird sie vermutlich auch in der Zukunft nicht geben, weil der Bruch und die Brüche vielleicht eine gute Beschreibung der stofflichen bzw. materiellen, nicht aber der organischen, geschweige denn der mentalen respektive geistigen Welt sind. Die durch die verschiedensten Krisen verursachten gesellschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen und anderen Veränderungen verzeichnen nicht so sehr einen wirklichen Neuanfang als eher eine nachträgliche sprachpragmatische Re-Interpretation und Re-Kontextualisierung der bestehenden Umstände, die die einflussreichen denkenden Köpfe durchgeführt haben und dabei von dem alten Glauben geleitet wurden, dass ein besseres Leben nur mit einem neuen Anfang, der alles Alte und Schlechte hinter sich lässt, möglich ist. Mit den angeblichen Brüchen entstehen freilich nicht nur neue Hoffnungen, sondern auch Ängste und Sorgen vor der ungewissen Zukunft. Auf diese Weise lässt sich natürlich kaum etwas Wesentliches verändern. Sehr bezeichnend ist dafür auch Küngs Enttäuschung. Er hat den Begriff Epochenbruch oft verwendet, vor allem in Bezug auf die Geschehnisse in den Jahren 1918, 1945 und 1989; gleichzeitig stellte er aber resignierend zu Recht fest, dass die Chancen auf eine neue Weltordnung sowohl nach 1918 als auch nach 1989 verspielt wurden. Wir bedauern immer wieder, dass die Möglichkeiten zu einem neuen

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und besseren Leben irgendwie auf einem unbefestigten und staubigen Weg verspielt worden sind. Nun ja, warum bloß? Die Antwort ist nicht allzu schwer: Gerade weil der moderne Mensch in allen ähnlichen Fällen immer wieder die zweifellosen geschichtlichen Veränderungen mit Brüchen verwechselte und sie für schicksalhafte Epochenbrüche hielt, glaubte er, dass die Unzulänglichkeit einer alten Welt damit beendet wurde und somit die Türen zu einer neuen und hoffnungsvolleren nun weit offen stehen. Weil man also die Endpunkte und Neuanfänge eben viel zu ernst nahm, hat man dem Vergangenen, anscheinend Beendeten, keine entsprechende Beachtung mehr geschenkt. Die Vergangenheit und die Menschen, die die erste mitgestaltet haben, enden aber in der Gegenwart nicht, auch nicht, wenn der Vergangenheit deklarativ kein Recht mehr zugesprochen wird, öffentlich zur mitgestaltenden Macht zu gehören. Die meiste Unzufriedenheit und nachträgliche traumatische Ernüchterung, die durch die verschiedensten Veränderungen ausgelöst werden, entstehen gerade deshalb, weil es eben keinen wahren Bruch und keinen echten Endpunkt gegeben hat und weil man diese Tatsache, wissentlich oder nicht, völlig außer Acht gelassen hat. Wir sollten uns vielleicht dabei – sollten wir uns der mythischen Sprache bedienen – besser an dem wahren mythischen Denken, das keine echten Brüche kennt, orientieren, und nicht an seiner modernen und postmodernen neomythischen »Weiterentwicklung«. Das Alte und das Neue sind dem mythischen Kreislauf zwar durchaus inhärent und spielen sowohl in den mythischen Geschichten als auch in den Ritualen eine herausragende Rolle; allerdings so, dass zwischen dem »Alten« und dem »Neuen« keine Brüche vorkommen, sondern eher fließende Übergänge, die auch das Vergangene sozusagen ohne Verluste mit sich nehmen. Die neo-mythische Denkweise will dagegen Zukunft ohne Herkunft und denkt dabei naiv, die Probleme von gestern verschwinden von alleine, wenn man sich einen tiefen Bruch im Lauf des Lebens aufgemalt hat, um damit das Alte schlagartig zu beenden. Mit all ihrer Gewalt zeigt sich hier die ungebrochene Nachwirkung eines verkürzten quasi-mythischen Denkens: Warum sollte man sich der Vergangenheit stellen, wenn man stattdessen den Kopf in den Sand stecken und auf einen Neubeginn hoffen kann? Doch das Vergangene vergeht nie und holt uns immer wieder ein, weil wir sie in unseren Vorstellungen, Erfahrungen, Gewohnheiten, Praktiken, Überzeugungen, Tugenden und Schwächen immer wieder über die Brücken der geschichtlichen Veränderungen und Geschehnisse in eine vermeintlich völlig neue Epoche restlos mitnehmen. Epochenbrüche, Endpunkte und Neuanfänge sollten wir also nicht allzu ernst nehmen, nicht als Begriffe, vor allem nicht innerhalb der Wissenschaften: Sie sind nämlich nichts mehr als Mut und gleichzeitig Angst machende Erzählungen, interessante Geschichten und hoffnungsvolle Interpretationen des sich ständig verändernden Lebens mit eindeutig mythischem und neomythischem Charakter. Sie tragen zwar dazu bei, unsere Geschichte aufgrund der tatsächlichen und kaum zu leugnenden Veränderungen in einem Strom des zeitlichen Vergehens anschaulicher zu systematisieren und sich darin besser zu orientieren, dazu erfüllen sie uns auf psychologischer Ebene noch mit neuen Hoffnungen, aber auch Ängsten, tatsächlich bleiben sie aber fingiert und weitgehend realitätsfremd – sie sind und bleiben ein

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Stück verbaler Kosmetik des Alltags. Unser Leben wird durch solche Quasi-Begriffe nicht besser verständlich, sondern eher vereinfacht oder sogar verfälscht. Das heißt natürlich nicht, dass unser Leben keine tatsächlichen Endpunkte und Neuanfänge kennt; gewiss, aber sie beziehen sich eher auf kleine Geschichten, partielle Lebensstrukturen, auf engere Perspektiven und einzelne separate Handlungen und Praxen: Geburt – Tod; Anfang der Schulzeit – Ende der Schulzeit; Anfang der Ehe – Ende der Ehe; Anfang der Mahlzeit – Ende der Mahlzeit usw. Je mehr man sich an das menschliche Leben heranwagt und es von Nahem beobachtet, desto mehr Risse und manchmal sogar Brüche sind zu sehen; je mehr man sich von ihm entfernt und es von einer größeren Distanz ganzheitlicher wahrnimmt, desto »einheitlicher« und »kontinuierlicher« kommt uns alles vor; inklusive unser Leben. Die wichtigen Lebens- und Geschichtsepochen sind allerdings keine kleinen, sondern große Erzählungen und Geschichten, die nicht einfach abbrechen und aufhören zu sein, wenn sie durch vermeintlich »neue« ersetzt werden. Wir könnten da von dem mythischen Bewusstsein ruhigen Gewissens etwas lernen. Die biblischen Worte Kohelets, des Davidsohnes, haben an ihrem Wahrheitsgehalt nichts eingebüßt: »Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was getan wurde, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne« (Koh 1,9). Vielleicht trifft das nicht für alles zu, für vieles jedoch sicher und ist einer adäquaten und nüchternen Beschreibung der Realität näher als der vereinfachte und Mut machende Glaube an Epochenbrüche, Endpunkte und Neuanfänge. Abschließend möchte ich ausdrücklich betonen, dass ich die These »Epochenbrüche sind fingierte Endpunkte und Neuanfänge« eigentlich als einen Aufruf verstehe, die größeren und komplexeren Strukturen des Lebens öfter als bisher ganzheitlicher zu betrachten. Es ist ein Aufruf zur Ernüchterung, die sich nicht von der neo-mythischen Illusion eines möglichen Neuanfangs und durch die Ignoranz der Vergangenheit in die Irre leiten soll, sondern stattdessen mit mehr Engagement und kritischerer Vernunft als bisher an den ständigen Verbesserungen unseres Lebens bemüht ist. Das Gestern hört nicht auf, indem es zum Morgen wird. Ein neues Jahr, eine Geburt oder einen neuen Job sollten wir aber trotzdem ruhigen Gewissens weiter feiern. Die mythisch anschauliche und vereinfachende Sprachpragmatik hat uns schon immer wohlgetan; vorausgesetzt, wir können davon, vor allem wenn es um die großen Welterzählungen geht, vernünftigen Abstand halten.

Was ist ein historischer Umbruch? Robin Dolar

I. Einleitung Der Begriff Umbruch wird in Bezug auf die Vergangenheit sehr unterschiedlich verwendet und beschreibt folglich eine Vielzahl historischer Phänomene, die zumindest auf den ersten Blick oft sehr unterschiedlich erscheinen. Dieser Begriff ist vielschichtig. Er kann sowohl für die tiefgreifenden sozialen und demographischen Veränderungen in der Geschichte verwendet werden, wie die neolithische Revolution, oder für die brillantesten Gedankensprünge, wie De revolutionibus orbium coelestium von Nikolaus Kopernikus, als auch für die wesentlich weniger bedeutsamen Ereignisse und Folgeereignisse, wie zum Beispiel das Todesjahr des Marschalls Tito und die anschließende Wirtschaftskrise und den Niedergang Jugoslawiens. Bei all diesen Phänomenen finden die meisten Historiker die Verwendung des Begriffes Umbruch passend. Viele würden diese breite Verwendung des Begriffs jedoch ablehnen oder ihr zumindest widersprechen. Die Verwendung dieses Begriffs scheint heikel bei den folgenden Phänomenen zu sein: Die neolithische Revolution, die ein jahrhundertelanger Prozess war, der in verschiedenen Teilen der Welt mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten stattfand. Dann die Idee, dass sich die Erde um die Sonne dreht, die sich bereits in der Antike bei Aristarchos von Samos finden lässt. Außerdem war es nicht Kopernikus, der diese Entdeckung ordnungsgemäß begründete. Als Letztes ist die Datierung der wirtschaftlichen Probleme in Jugoslawien heikel, denn die begannen weit vor 1980 – wobei die Grundstrukturen seit dem Zweiten Weltkrieg schon vorhanden waren, außerdem war Titos Tod für großräumige politische Ereignisse in Europa und auf der ganzen Welt nicht wirklich wesentlich. Vielleicht würden wir lieber etwas anderes als einen »echten« Wendepunkt bezeichnen, wie Galileos heliozentrische Weltbild oder den Zerfall Jugoslawiens. Dies sind alles gültige Argumente, die viel Nachdenken benötigen. Selbst nach langwierigen Debatten gibt es unter Historikern große Meinungsverschiedenheiten darüber, welche Phänomene aus der Vergangenheit sinnvoll als Umbrüche zu bezeichnen sind. Die Verteilung der Wendepunkte hängt vom gewählten zeitlichen und räumlichen Kontext, dem Standpunkt der historischen Analyse, den methodischen Ausgangspunkten der historischen Forschung und natürlich der Interpretation verschiedener historischer Phänomene ab, die sich häufig im Laufe der Zeit ändern. Trotzdem können wir die Grundstruktur des Begriffes diskutieren, gewisse gemeinsame Kriterien definieren und die systematische Verwendung des Begriffes Umbruch in der Geschichte anstreben. Das versuchen wir in der vorliegenden Diskussion zu erörtern.

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II. Definition und Relevanz des Begriffes Umbruch Die folgende grundlegende Definition wird als Ausgangspunkt genommen: Ein historischer Umbruchspunkt stellt eine wichtige Änderung dar, die in kurzer Zeit erfolgt. Sie kann nur im Vergleich zu der Zeit vor der Änderung definiert werden, die sich erheblich von der Zeit nach dem Umbruch unterscheiden muss. Der Umbruch ist das Gegenteil von Kontinuität. Bei dieser Dichotomie geht es nicht um zwei in sich geschlossene bzw. rigide Kategorien, sondern um ein Kontinuum aller historischen Phänomene bzw. Ereignisse, wobei Kontinuität und reiner Umbruch zwei Extreme in diesem einen Kontinuum darstellen. In einer realen Reihe vergangener Ereignisse gibt es keine klare Grenze bzw. keinen klaren Punkt, über den hinaus wir nur von der einen oder anderen Kategorie sprechen könnten. Das heißt nicht, dass beide Kategorien nicht existieren. In Analogie mit dem griechischen Haufen-Paradox: obwohl wir nicht auf das spezifische Korn verweisen können, das den Haufen ausmacht, bedeutet dies trotzdem nicht, dass beide Kategorien nicht existieren. Die Phänomene, die wir als einen Umbruch betrachten, sind unter sich nicht alle gleichrangig, trotzdem existieren sie auf demselben Kontinuum. Das heißt, je näher ein Phänomen bzw. Ereignis dem Pol des reinen Umbruchs im Kontinuum steht und je weniger Kontinuität dieses Phänomen in sich enthält, desto einfacher ist es, es als einen Umbruch zu bezeichnen. Es liegt schon in der Natur der Geschichte, dass es keine Beispiele für reine Wendepunkte gibt, wenn man Gesellschaft als ein Ganzes betrachtet, was bedeutet, dass alle Fälle von Umbrüchen auch Elemente der Kontinuität beinhalten. Dies führt zu dem häufigsten Gegenargument dagegen, dass ein Phänomen als Umbruch zählt. Es geht um das Hervorheben von Fundamenten, unterschiedlichen Kontinuitäten und Ähnlichkeiten zwischen den Zeiträumen vor und nach dem angeblichen Wendepunkt – sinnvoll wäre es zu sagen, dass es mehr oder weniger Kontinuität gibt, und dass wir gleichzeitig die Kontinuität und den Umbruchspunkt betrachten sollten. Das Hervorheben der Kontinuität oder der längerfristigen Ursprünge eines Phänomens bedeutet an sich nicht, dass etwas kein Umbruch ist, sonst könnten wir diesen Begriff überhaupt nicht verwenden. Ein Phänomen kann sinnvoll als Umbruch klassifiziert werden, wenn es im Vergleich zu den Ereignissen in der vorherigen Periode weniger Kontinuität ausdrückt, oder mit anderen Worten, wenn es mehr Diskontinuität als die vorherigen Ereignisse auslöste. Um zu argumentieren, dass die Veränderungen um 1500 keinen Umbruch darstellen, reicht es beispielsweise nicht aus, nur eine Reihe von Prozessen und gesellschaftlichen Aspekten hervorzuheben, die sich nicht wesentlich verändert haben. Man muss dies im Vergleich zu Phänomenen aus früheren Zeitraum zeigen, wie die zum Ende des 100-jährigen Krieges und beim Fall von Konstantinopel, zu der Krise des 14. Jahrhunderts, zu den Veränderungen um 1000. Wenn wir die traditionelle Periodisierung verteidigen möchten, das heißt, wenn wir argumentieren möchten, dass die Veränderungen um 1500 einen Umbruch im Kontext der Weltgeschichte darstellen, müssen wir klarstellen, dass diese Verän-

Was ist ein historischer Umbruch?

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derungen wesentlich mehr Diskontinuität gebracht haben als die oben genannten Veränderungen im Mittelalter. So kann ein Umbruch daher nur durch Vergleich widerlegt oder bestätigt werden. Andererseits reicht es nicht aus, nur die Vergleiche und Unterschiede zu ziehen. Dies ist jedoch ein notwendiger Schritt, den wir erreichen müssen, wenn wir der Meinung sind, dass es sinnvoll ist, ein Phänomen als Umbruch zu bezeichnen. Die Frage stellt sich von selbst: Wann ist es überhaupt sinnvoll, über einen Umbruch zu sprechen? Das Ziel der Verwendung dieses Begriffs ist es, zwei Perioden auseinander zu halten und sie auf unterschiedliche Weise zu analysieren, denn nur so können wir zu den genauesten Analysen gelangen. Der Begriff des geschichtlichen Umbruchs ist daher grundsätzlich mit einer sinnvollen Teilung der vergangenen Zeit verknüpft – mit Fragen im Zusammenhang mit der Periodisierung. Ein Umbruch ist ein wichtiger Meilenstein, denn, wenn wir den Begriff richtig verwenden, unterscheiden sich soziale Phänomene vor und nach dem Umbruch erheblich: Diese Phänomene haben eine unterschiedliche innere Logik und sind miteinander unterschiedlich verbunden. Um sie zu verstehen, sind unterschiedliche methodische Ansätze und erkenntnistheoretische Ausgangspunkte erforderlich. Oft müssen sie als eine Ganzheit der Phänomene zwischen zwei Umbrüchen analysiert werden. Kurz gesagt, die Phänomene vor und nach den Umbrüchen können und sollten auf andere Weise verstanden und analysiert werden. Das Gleiche gilt natürlich andersherum. Wenn ein Phänomen zu streng als Umbruch wahrgenommen wird, können wichtige Kontinuitäten verwischt werden und somit wird die Möglichkeit eines gründlichen analytischen Ansatzes verringert. Die Weisen der Analyse bestimmter Phänomene ändern sich ganz natürlich mit der Entwicklung von Methoden, Interpretationen und Perspektiven in der Geschichtsschreibung, die zumindest hoffentlich das Verständnis der Vergangenheit aufklären. Die Entscheidung, welche Veränderung als wichtig genug erscheint, um sie als Umbruch zu bezeichnen, wird letztendlich von den Historikern selbst bestimmt – eine Veränderung ist im erkenntnistheoretischen Sinne nämlich für die historische Forschung wichtig, weil sie eine deutlichere Analyse der Vergangenheit ermöglicht. Ein offensichtliches Beispiel für eine Fehlinterpretation, die durch die Vernachlässigung eines Wendepunkts entsteht, ist die Suche nach dem modernen Nationalismus in der fernen Vergangenheit. Der Nationalismus, so wie er heute bekannt ist, ist ein Phänomen, das erst in der Zeit der modernen Geschichte entstand und verbreitet wurde. Dabei können wir von einem Umbruch in der Identifikation bzw. Mentalität der Menschen sprechen, die zuvor mehr an die lokale Umgebung, die Religion usw. angeknüpft war. Historiker, die das Konzept des modernen Nationalismus unhinterfragt auf die Zeit vor diesem Umbruch der menschlichen Identifikation projizierten, gingen daher die Analysen aus falschen Perspektiven an. Das unvermeidliche Problem der Geschichtsschreibung, das in direktem Zusammenhang mit den Umbrüchen steht, ist auch die Frage nach dem Zeitrahmen der Forschung. Wann ist es sinnvoll, eine Diskussion über eine historische Analyse zu beginnen und wann zu beenden? Die Antwort auf diese Frage hängt natürlich von den

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Besonderheiten des Themas ab, trotzdem ist es notwendig, die Grenzen solcher Analyse zu bestimmen, die oft sinnvoll durch schnelle und wichtige Änderungen – das heißt durch Umbrüche – bestimmt werden. Obwohl es aufgrund der Vermischung von Kontinuität und Veränderung, des langsamen Entwicklungstempos und der Berücksichtigung mehrerer Faktoren oft schwierig ist, den Anfang und das Ende eines Umbruchs zu bestimmen, müssen dennoch bestimmte Grenzen gesetzt werden. Das heißt, dass ein Umbruch im Mittelpunkt der historischen Forschung steht.

III. Grundlegende Eigenschaften eines Umbruchs Was sind die Hauptmerkmale eines historischen Umbruchs? Wir schlagen drei grundlegende Eigenschaften vor, die berücksichtigt werden müssen: die qualitative Dimension, das Ausmaß der Auswirkung und die Zeitdauer eines Ereignisses, welche relativ kurz sein muss. Der offensichtlichste Aspekt ist die qualitative Dimension, das heißt das Ausmaß der Veränderung der inneren Logik sozialer Phänomene oder der Gesellschaft insgesamt. Die Unterschiede zwischen feudalen und kapitalistischen Gesellschaften oder zwischen Geozentrismus und Heliozentrismus sind wesentliche Änderungen der inneren Logik, so dass es sich um verschiedene Arten der Organisation wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Beziehungen oder menschlicher Mentalität bzw. Weltanschauungen handelt. Eine Änderung der inneren Logik kann auch die Änderung einer Reihe von Phänomenen bedeuten, die bereits in der Vergangenheit oder in einem anderen räumlichen Kontext vorhanden sind. Die qualitativen Änderungen betrachten wir ausschließlich in dem gegebenen Kontext, in Bezug auf die vorhergehenden Einflüsse. Dabei betonen wir eine besondere Kategorie, nämlich die Einmaligkeit des Phänomens. Das heißt, dass sich ein Phänomen nicht nur erheblich von der vorherigen Periode unterscheiden sollte, mit der wir es vergleichen, sondern eine Neuheit in der gesamten Geschichte darstellen sollte. Je mehr es sich um eine völlige Neuheit in Bezug auf die gesamten historischen Ereignisse handelt, desto deutlicher ist der Fall des Umbruchs. Für eine detailliertere Analyse der Gesellschaft, werden die menschliche Aktivitäten, in der Geschichtsschreibung und allgemeiner in Geistes- und Sozialwissenschaften, in mehrere Bereiche oder Segmente unterteilt, die spezifischer miteinander verbunden sind, was wir auch für die Analyse von Umbrüchen tun müssen. So sprechen wir von wirtschaftlicher, sozialer, kultureller, politischer, intellektueller usw. Geschichte, oder sogar kleineren Segmenten oder Aspekten der Gesellschaft, zum Beispiel der Geschichte der Philosophie, der Musik, der Familie. Jedes dieser Segmente hat einerseits seine eigene innere Logik und in gewissem Maße seinen eigenen Veränderungsverlauf. Andererseits beeinflussen sich die Segmente gegenseitig und bilden zusammen die Gesellschaft als Ganzes, da soziale Phänomene nicht isoliert im Vakuum auftreten. Wenn wir ein bestimmtes Segment oder einen bestimmten Aspekt der Gesellschaft analysieren, können wir von Umbrüchen in diesen Segmenten

Was ist ein historischer Umbruch?

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bzw. Aspekten sprechen, beispielsweise von dem Wendepunkt in der Wissenschaftsgeschichte, der durch die kopernikanische Revolution repräsentiert wird und nicht unbedingt mit anderen Segmenten zusammenfällt. In ähnlicher Weise können wir in den Neuheiten, die die Frauengeschichte gebracht hat, Analysen folgen, die in der Vergangenheit nicht existierten, und daher nach Umbrüchen suchen, die nicht mit traditionellen Umbrüchen übereinstimmen. Frauen waren für den größten Teil der Geschichtsschreibung unsichtbar, aber als im letzten Jahrhundert eine Perspektive etabliert wurde, die die Position von Frauen in den Mittelpunkt stellt, beeinflusste dies auch die Bestimmung von Umbrüchen. Wenn wir die Gesellschaft als Ganzes als eine Reihe aller Segmente und Aspekte betrachten, müssen wir zwei Kriterien in der qualitativen Dimension berücksichtigen: erstens, ob es sich innerhalb kleiner Segmente um eine geringfügige oder größere Änderung handelt, und zweitens die Anzahl der Segmente, in denen Änderungen aufgetreten sind. Die Segmente sind nicht gleichwertig untereinander und müssen daher unterschiedlich bewertet werden. Bestimmte Segmente haben einen größeren Einfluss auf andere und sind daher wichtiger. Außerdem beeinflussen gleichzeitig unterschiedliche Segmente unterschiedlich das Leben der Menschen. In der marxistischen Geschichtsschreibung zum Beispiel geben sie den Wirtschaftsbeziehungen einen analytischen Vorrang, weil die Wirtschaft einen erheblichen Einfluss auf das Leben der Menschen ausübt. Im Zeitalter der modernen Geschichte spielte Politik eine wichtige Rolle, da politische Regimewechsel einen entscheidenden Einfluss auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Beziehungen in den Ländern hatten. Das wichtigste abstrakte Kriterium, an das wir uns bei der Wertung der Segmente richten sollten, ist, was den größten Einfluss auf das Leben der Menschen ausübt. Wenn wir die Gesellschaft als Ganzes betrachten, ist das beste Beispiel für einen Umbruch ein Phänomen, das am meisten Veränderungen in einer hohen Anzahl derjenigen Segmente, die den größten Einfluss auf das Leben der Menschen haben, verursacht hat. Die zweite grundlegende Eigenschaft eines Umbruchs ist das Ausmaß des Einflusses eines bestimmten Phänomens. Es geht um die räumliche Verteilung, die Anzahl der von dem Phänomen betroffenen Personen und die Auswirkungen des Phänomens auf andere Segmente. Dabei nehmen wir die Perspektive eines bestimmten Segments bzw. eines bestimmten Aspekts der Gesellschaft und nicht der Gesellschaft als Ganzes ein. Wenn ein Phänomen keine größeren Auswirkungen hat, sollte es nicht als Umbruch angesehen werden, selbst wenn es qualitativ ein Umbruch sein könnte. Zum Beispiel wäre es nicht sinnvoll, die Ankunft der Wikinger in Amerika als eine wichtige Veränderung zu beschreiben, da sie keine größeren Auswirkungen auslöste. Ganz im Gegenteil zu Columbus’ »Entdeckung« Amerikas, die große Auswirkungen hatte, obwohl beide Phänomene qualitativ untereinander vergleichbar sind, wenn man nur den Akt der Entdeckung in Betracht nimmt. Es gibt auch viele Beispiele für wissenschaftliche Innovationen, die möglicherweise eine wesentliche qualitative Änderung, das heißt eine Änderung der inneren Logik, bedeuteten, aber aus verschiedenen Gründen keinen größeren Einfluss hatten – sie wurden oft nicht veröffentlicht oder gut aufgenommen, und ihre Bedeutung wurde erst später von His-

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torikern entdeckt. Gregor Mendel entdeckte die Grundgesetze der Genetik bereits in den 1860er Jahren. Zu dieser Zeit wurden sie jedoch weitgehend ignoriert. So wurden seine Entdeckungen erst um 1900 von anderen Wissenschaftlern ernst genommen, bestätigt und als wichtig anerkannt. Wir können uns nur vorstellen, wie viele wichtige qualitative Veränderungen unbemerkt blieben, weil sie keine Auswirkungen verursachten. Es gilt jedoch auch umgekehrt. Ein Umbruch kann auch ein Phänomen sein, das keine signifikante qualitative Änderung bzw. Änderung der inneren Logik verursachte, aber trotzdem einen großen Einfluss hatte. Trotz der Interpretationen, nach denen Luther im Vergleich zum Spätmittelalter keinen wesentlichen Gedankensprung darstellte, kann das Jahr 1517 aufgrund des außerordentlichen Einflusses seiner Ideen dennoch sinnvoll als Wendepunkt bezeichnet werden. In der Beziehung zwischen der qualitativen Dimension und dem Ausmaß der Auswirkungen sollte der bereits erwähnte grundlegende Ausgangspunkt der Analyse berücksichtigt werden, nämlich ob wir ein einzelnes Segment bzw. einen Aspekt der Gesellschaft analysieren oder die Gesellschaft als Ganzes. Wenn wir ein einzelnes Segment oder einen einzelnen Aspekt bzw. eine innere Unterbrechung analysieren, ist die qualitative Dimension nur auf dieses Segment oder diesen Aspekt beschränkt, und die Beziehung zu anderen Segmenten wird als Maß für die Auswirkungen betrachtet. Wenn wir jedoch die Gesellschaft als Ganzes oder einen sozialen Umbruch betrachten, müssen wir alle Segmente und Aspekte gleichzeitig in einer qualitativen Dimension betrachten sowie Phänomene, die nur auf der Ebene der Gesellschaft als Ganzes analysiert werden können. Das Ausmaß der Auswirkungen des Phänomens in diesem Fall hängt jedoch von der Größe des Gebiets und der Anzahl der von den Änderungen betroffenen Personen ab. Um beispielsweise die qualitative Dimension des Wandels in Darwins Evolutionstheorie anzusprechen, müssen wir den damaligen Entwicklungsstand in der Biologie betrachten – wie auch den ideologischen Hintergrund der damaligen Gesellschaft – und Darwins Entdeckung in diesem Licht vergleichen und erst danach über die Größe der Veränderung der inneren Logik entscheiden. Der Einfluss, den die Evolutionstheorie auf andere wissenschaftliche Disziplinen und die Mentalität der Gesellschaft im Allgemeinen ausübte – der keineswegs gering ist –, wird als Ausmaß der Auswirkungen eines Ereignisses angesehen. Der Modernisierungsprozess ist jedoch eine Frage der Gesellschaft als Ganzes. Für einen qualitativen Wandel müssen wir also die Industrialisierung, die Entwicklung des modernen Staats, Veränderungen der Mentalität usw. zusammen betrachten. Die Ausbreitung des Einflusses bedeutet somit beispielsweise die Ausbreitung der westlichen Modernisierung auf andere Kontinente. Die dritte grundlegende Eigenschaft ist die Zeitdauer. Ein historisches Phänomen muss in kurzer Zeit auftreten, um als Umbruch charakterisiert zu werden. Wie entscheiden wir eigentlich, ob ein Phänomen als Umbruch bezeichnet wird? Was bedeutet eigentlich ein schneller, kurzer oder verdichteter Zeitraum? Wenn wir den Verlauf der Ereignisse in einem tagelangen Kampf analysieren, bedeutet schnell etwas völlig anderes, als uns die Intuition über die Zeitdauer normalerweise sagt. Das heißt, dass kurze oder lange Zeiträume nicht aus den intrinsischen Merkmalen dieser Zeit-

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räume – x Tage, x Jahre, x Jahrhunderte – bestimmt werden, sondern sie werden nur im Vergleich zu anderen Zeiträumen oder in Bezug auf den Referenzrahmen der Analyse definiert. In der Analyse des 27. Oktober 1962 steht der kurze Zeitabschnitt für Wassili Alexandrowitsch Archipows Entscheidung innerhalb weniger Minuten, den Befehl zum Abschuss von Atomsprengköpfen vom U-Boot nicht zu erteilen. Dieses schnelle Ereignis stellen wir dem ganzen Tag gegenüber. Im Kontext des traditionell definierten Übergangs vom Mittelalter zu Neuzeit steht ein kurzer Zeitraum für Veränderungen um 1500, die eigentlich mehrere Jahrzehnte dauerten. Die Ereignisse um 1500 werden den Jahrhunderten vor und nach diesem Jahr gegenübergestellt. Im Kontext der Weltgeschichte können die neolithische und industrielle Revolution als kurze Zeitabschnitte angesehen werden, obwohl die erste mehrere Jahrtausende und die zweite mehrere Jahrzehnte dauerte – die neolithische Revolution steht im Vergleich zur Zeit der Jäger und Sammler und die industrielle Revolution steht im Vergleich zur Zeit der Agrarorganisation der Gesellschaft. Alle diese Phänomene können in dem vorgegebenen Kontext als kurze Zeiträume bezeichnet werden. Unter Berücksichtigung dieses Grundprinzips können wir das Konzept des Umbruchs in Bezug auf die Heilige Dreifaltigkeit zeitlicher Konzepte in der Geschichte analysieren: Ereignis, Prozess und Struktur. Diese Begriffe werden unterschiedlich verwendet und die Grenzen zwischen ihnen sind nicht ganz klar, daher wäre es vielleicht deutlicher, über einen Referenzrahmen zu sprechen. Trotzdem lassen sich einige allgemeine Tendenzen erkennen. Normalerweise werden Ereignisse in Tagen, Monaten oder Jahren gemessen und werden mit politischen Ereignissen verbunden, die klare räumliche und zeitliche Grenzen haben, das heißt, dass sie einen klaren Anfang und ein klares Ende aufzeigen. Ein Ereignis bedeutet üblicherweise daher in den meisten Kontexten, aber nicht unbedingt, eine kurze Zeitspanne. Normalerweise betrachten wir Ereignisse im Ganzen als Umbruch. Bei den Phänomenen bzw. Prozessen, die Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte dauerten und eine gewisse Dynamik aufweisen, können wir uns den Anfang, wichtige Zwischenänderungen, das Ende oder das gesamte Phänomen ansehen und diese Prozesse trotz der Dauer als einen kurzen Zeitraum annehmen. Bei Prozessen, die mit Jahrhunderten (oder mehr) und einer gewissen Statik assoziiert werden, bezeichnet ein kurzer Zeitabschnitt normalerweise einen Zeitraum, in dem eine Struktur entweder errichtet oder beendet und durch eine neue Struktur ersetzt wird. Oft besteht das Problem darin, klare Grenzen zu setzen. Grenzen lassen sich am einfachsten definieren, wenn sich eine wichtige Änderung ereignete, die einen klar definierten Anfang und ein klar definiertes Ende hat, das geht beispielsweise bei politischen Revolutionen. Wenn es sich jedoch um den Beginn langfristiger Prozesse handelt, wie zum Beispiel den Prozess der Bildung des modernen Staates, oder um einen Zeitraum, der durch mehrere Phänomene gekennzeichnet ist, die nicht direkt miteinander zusammenhängen, wie zum Beispiel die Veränderungen um 1000 oder 1500, können wir nicht auf ein eindeutig identifizierbares Ereignis hinweisen, das einen Umbruch bedeuten würde. In solchen Fällen können wir eine ungefähre Jahreszahl für die Orientierung wählen, wobei schon die Präposition »um« in der Phrase

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um das Jahr auf diese Ungenauigkeit hinweist. Wir können auch ein bestimmtes Ereignis als Symbol bzw. Indikator wichtiger Veränderungen wählen, wie zum Beispiel die Entdeckung Amerikas 1492. In solchen Fällen haben die ausgewählten Ereignisse daher eine Orientierungsfunktion. Die qualitative Dimension, das Ausmaß der Auswirkungen, die Zeit – und die Beziehungen zwischen ihnen – sind daher die grundlegenden Dimensionen, die den historischen Umbruchspunkt bestimmen. Abstrakt gesehen ist der beste Fall eines Umbruchs ein Phänomen, bei dem die größte Anzahl an Veränderungen in der größten Anzahl von oben genannten Segmenten auftrat, das heißt, dass dieses Phänomen räumlich am weitesten verbreitet war, die größte Anzahl von Menschen betraf und in kürzester Zeit auftrat – gemäß gegebenem Kontext. Folgende hypothetische Beispiele beschreiben einen idealen Umbruch vielleicht am besten: Das wären eine Epidemie, die den größten Teil der Menschheit auslöschen würde; ein Krieg, der in einer nuklearen Apokalypse enden würde; eine Verschmutzung, deren Ausmaß die Natur des Planeten schnell und dauerhaft beeinflussen würde; und letztlich eine große technologische Entdeckung, die eine Singularität der künstlichen Intelligenz ermöglichen würde. In diesem Sinne leben wir zumindest seit dem Zweiten Weltkrieg in einer wirklich ungewöhnlichen Zeit, da es ganz möglich ist, dass wir während unseres Lebens einige der größten Umwälzungen in der gesamten Geschichte unserer Spezies erleben werden. In unserer bisherigen Geschichte sind unserer Meinung nach die neolithische und industrielle Revolution die besten Beispiele dafür. Bei der Analyse historischer Umbrüche ist es offensichtlich entscheidend, den Rahmen bzw. Kontext zu bestimmen. Damit meinen wir den räumlichen und zeitlichen Bezugsrahmen und den bereits erwähnten Unterschied zwischen segmentalem und gesellschaftlichem Durchbruch. Es geht nämlich um die Frage, ob wir ein Segment bzw. einen Aspekt der Gesellschaft oder die Gesellschaft als Ganzes analysieren. Wenn wir diesen Begriff systematisch verwenden wollen, ist es daher notwendig, über vergleichbare Umbrüche zu sprechen. Neben dem gleichen Bezugsrahmen meinen wir auch, dass der Grad der Veränderung, den sie auslösten, hinsichtlich qualitativer Kriterien vergleichbar sein sollte, was bedeutet, dass vergleichbare Veränderungen in einer vergleichbaren Anzahl von Segmenten stattfinden sollten. Wie bereits erwähnt, sind im Kontext der Weltgeschichte unserer Meinung nach nur die neolithische und industrielle Revolution vergleichbar, da nichts anderes in allen Bereichen der Gesellschaft so weit verbreitete und große Veränderungen bewirkt hat. Im räumlichen und zeitlichen Kontext der slowenischen Geschichte des 20. Jahrhunderts lässt sich sagen, dass die größten vergleichbaren Umbrüche der Erste und Zweite Weltkrieg und die Staatunabhängigkeit waren, das heißt politische Ereignisse, die zu Regimewechseln führten: erst von der österreichisch-ungarischen Monarchie zum Jugoslawien, wobei Slowenien von einem wirtschaftlich rückständigen Teil der Monarchie zu einem wirtschftlich fortschrittlichen Teil einer neuen supranationalen Einheit wurde; dann nach dem Zweiten Weltkrieg der Übergang zu einem Regime das durch eine eigenartige sozialistische Wirtschaft, das Einparteiensystem und die Außenpolitik der Blockfreien-Bewegung gekennzeichnet war; schließlich die slowe-

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nische Unabhängigkeit, nämlich der Übergang von einem supranationalen Staat zur Unabhängigkeit und gleichzeitiger Übergang zum liberalen Kapitalismus mit einem ziemlich starken Element der Sozialpartnerschaft – zumindest anfangs. Wenn wir den Referenzrahmen anders definieren, wenn wir als Beispiel nur das zweite, sozialistische Jugoslawien betrachten, können wir wieder vernünftigerweise Umbruchspunkte finden, wie zum Beispiel den Kominform-Konflikt, die Einführung der Selbstverwaltung in den 1950er Jahren, die partielle Liberalisierung der Wirtschaft um 1965, Titos Tod 1980 und die darauf folgende Krise. Diese Brüche sind jedoch nicht mit Weltkriegen und der Unabhängigkeit des Lands vergleichbar, denn sie passierten innerhalb desselben Regimes. Ein Beispiel für innerlich vergleichbare Brüche wäre Freuds These über die drei Schläge gegen die menschliche Überheblichkeit. Laut Freud war die erste Ernüchterung der kopernikanische Umbruch, als der Mensch erkannte, dass er nicht das Zentrum des Universums darstellte. Dann die Evolutionstheorie von Darwin, die das Konzept der Einzigartigkeit der menschlichen Spezies zerstörte, und als letzte Ernüchterung betrachtete er seine Psychoanalyse, die zeigte, dass der Mensch in seinem eigenen Haus selbst kein Meister ist, sondern von unbewussten und unkontrollierbaren Impulsen beeinflusst wird. Es ist klar, dass selbst die Vergleichbarkeit zwischen Brüchen nicht in Stein gemeißelt ist und offen für Interpretationen ist, trotzdem müssen wir uns um Vergleichbarkeiten bemühen, wenn wir strukturell über Brüche sprechen möchten. Es ist nicht sinnvoll, in einem Atemzug über die industrielle Revolution, Titos Tod und Freuds Psychoanalyse zu sprechen – außer mit einer sehr turbulenten Vorstellungskraft –, obwohl wir alle diese Phänomene in einem bestimmten Kontext ganz sinnvoll als Brüche beschreiben könnten.

IV. Die Arten von Brüchen Die beschriebenen Kriterien stellen verschiedene Parameter dar, die bei Brüchen in unterschiedlichem Maße vorhanden sind. Zusätzlich zu der offenen Definition und Verwendung des Begriffs Umbruch ist es unserer Meinung nach sinnvoll, über verschiedene Arten von Brüchen oder Modelle der Brüche je nach verschiedenen Kriterien zu sprechen. Es gibt mehrere Arten von Phänomenen, die einem Umbruch ähneln, jedoch nicht mit allen Kriterien eines Umbruchs übereinstimmen. Dies sind Phänomene wie Revolution und Transformation. Die Revolution kommt im allgemeinen Sprachgebrauch dem Begriff Umbruch semantisch sehr nahe, sie wird oft als große und schnelle Veränderung definiert, aber tatsächlich wird ihre Bezeichnung viel enger verwendet. Revolution unterscheidet sich von einem Umbruch darin, dass wir eine Revolution mit Beispiellosigkeit und Fortschritt verbinden, die politische Revolutionen sogar mit Gewalt. Eine Krise, ein Rückang, eine Epidimie, wie die schwarze Pest, die Weltkriege usw. sind üblicherwiese nich als Revloutionen gekennzeichnet, obgleich sie wohl ein Umbruch bedeuten können. Ausserdem ist nicht jede Revolu-

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tion notwendigerweise ein Umbruch, da politische Revolutionen gewaltsame Machtübertragungen beinhalten können, die aber keine wesentlichen Veränderungen in der Gesellschaft bewirkt haben, was eher eine Kontinuität als ein Wendepunkt wäre. Der Unterschied zwischen einer Transformation, im allgemeinen Sprachgebrauch, und einem Umbruch liegt in der Zeitdauer. Eine Transformation erfolgt nämlich nicht unbedingt in kurzer Zeit. Die engere Definition des Begriffs, nämlich: eine absichtliche radikale Änderung eines Systems, die hauptsächlich für Änderungen der politischen Regimes in der modernen Geschichte verwendet wird, weist jedoch auf gewisse Übereinstimmungen mit dem Begriff Umbruch hin. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass der Umbruch ein umfassenderes Konzept ist, das nicht an die Absicht des politischen Wandels gebunden ist, was für eine Transformation in der engeren Definition typisch ist. Wir führen zwei weitere Arten von Brüchen innerhalb eines selben Prozesses ein, nämlich den Initiator und den Katalysator. Beide Ausdrücke sind gelegentlich auch in allgemeinen Gebrauch verwendet, auch in der Darstellung der Vergangenheit, hier werden wir versuchen, sie in einem strikterem Sinne vorzustellen, in Rücksicht auf unserer Erfassung der geschichtlichen Umbrüche. Der Initiator stellt den Beginn langfristiger Prozesse dar, die nach einer bestimmten Zeit, jedoch nicht unbedingt sofort, erhebliche Auswirkungen auf die Gesellschaft hatten. Bei dieser Art des Umbruchs handelt es sich um eine relativ große Änderung der qualitativen Dimension, die den Boden für spätere Veränderungen bereiten kann, obwohl das direkte Ausmaß ihrer Auswirkungen nicht unbedingt groß ist. An dieser Stelle sollte hervorgehoben werden, dass es meist keine Phänomene in der Geschichte gibt, die völlig ohne Vorgänger wären. Es geht mehr um die relativ größte qualitative Änderung. Der Begriff Katalysator hingegen betrifft die Änderung innerhalb langfristiger Prozesse, wobei die Änderung der qualitativen Dimension relativ geringer ist und das Ausmaß des Einflusses und der Geschwindigkeit des Prozesses der Änderung relativ größer ist. Die Grundstruktur ändert sich daher mit dem Katalysator nicht wesentlich, jedoch das Ausmaß der Auswirkungen und die Geschwindigkeit des Prozesses, die wir in Betracht ziehen, ändern sich erheblich. In beiden Arten von Brüchen sind unterschiedliche Parameter vorhanden, die sich nur in ihrer relativen Wichtigkeit unterscheiden. Wir schlagen drei Beispiele für diese Arten von Brüchen vor, die natürlich das Ergebnis bestimmter Interpretationen sind. Für das erste Beispiel schlagen wir eine linke Sichtweise des US-Expansionismus und -Interventionismus vor, mit der amerikanischen Revolution als Initiator und dem Zweiten Weltkrieg als Katalysator. Nach dieser Interpretation ist der Zugang zu Rohstoffen und anderen wirtschaftlichen Vorteilen im Wesentlichen ein langjähriger Grund für Streitigkeiten und Eingriffe der USA – zunächst innerhalb und später hauptsächlich außerhalb ihrer Grenzen. Viele versuchen diese Tatsachen zu vertuschen und geben unterschiedliche Gründe zur Legitimierung dieser Maßnahmen an. Initiator ist daher die amerikanische Revolution und die Errichtung des unabhängigen Staats, da hierdurch die Grundlagen der oben beschriebenen Dynamik geschaffen wurden. Der Glaube an die Überlegenheit der USA und die Unterlegen-

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heit anderer Siedler ist bereits bei den Gründern der Vereinigten Staaten sichtbar. Wenig später war jedoch der explizite Grund für die Aggression in erster Linie die Verteidigung gegen die Engländer. Es folgte eine lange Entwicklung expansiver Tendenzen und Interventionen, darunter die anfängliche Expansion des Lands zunächst nach Westen auf Kosten der Eingeborenen, der Krieg mit Mexiko usw., die MonroeDoktrin, die Eskalation der Interventionen in Südamerika, insbesondere nach dem Bürgerkrieg, dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution, die einen neuen Rahmen für militärische Interventionen bzw. den Kampf gegen den Kommunismus bot. In diesem Prozess beschränkten sich Expansionismus und ausländische Interventionen bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts – mit einigen wichtigen Ausnahmen – hauptsächlich auf die westliche Hemisphäre. Zwischen den beiden Weltkriegen war zum Teil auch eine Politik des Isolationismus vorhanden. Für den Katalysator schlagen wir den Zweiten Weltkrieg vor, der eine enorme Zunahme der Militärmacht, die Geburt eines militärisch-industriellen Komplexes und die weltweite Vormachtstellung der Vereinigten Staaten bedeutete. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschleunigten sich die Interventionen der USA weltweit, was bis heute der Fall ist. Im Kalten Krieg war zweifellos ein Gegenpol und wichtiger Einflussfaktor der Vereinigten Staaten die Sowjetunion. Dies muss jedoch im Kontext mit den inneren Motivationen der Vereinigten Staaten verstanden werden, die in erster Linie wirtschaftlich orientiert blieben. Die gespannte Beziehung zeigt sich in den Aktionen der USA nach dem Ende des Kalten Krieges, beispielsweise als die NATO, die als Verteidigungspakt gegen die Sowjetunion errichtet wurde, beim Zusammenbruch der Sowjetunion nicht abgeschafft, sondern erweitert wurde. Nach dem 11. September wurde der Hauptgrund der Krieg gegen den Terrorismus. Einige der genannten Ereignisse stellen zweifellos wichtige Veränderungen dar, die im engeren Sinne als Brüche interpretiert werden könnten, aber unserer Ansicht nach sind sie nicht mit Brüchen wie der amerikanischen Revolution oder dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar. Die Grundstruktur der Expansion und Intervention der USA hat sich daher vor und nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wesentlich geändert. Was sich wesentlich verändert hat, ist die Anzahl der Interventionen der USA und das Ausmaß der erreichten Gebiete. Für das zweite Beispiel schlagen wir die langfristige Entwicklung politischer Revolutionen im Kontext der Weltgeschichte vor, indem wir als Initiator den Beginn des Konsolidierungsprozesses des Staats und für den Katalysator die Französische Revolution vorschlagen. Der Begriff politische Revolutionen wird im weitesten Sinne als eine gewaltsame Übertragung staatlicher Macht, die von einem bedeutenden Teil der Bevölkerung unterstützt wird, verstanden, daher werden nicht nur die sozusagen »großen« Revolutionen betrachtet. Zur Analyse der Revolutionen verfolgen wir den Ansatz, der als den wichtigsten Faktor bei der Entwicklung politischer Revolutionen die Rolle des Staats hervorhebt, da die Struktur des Staats die Bedingungen für die Entstehung und den Erfolg der Revolutionen am besten erklärt. Als Initiator schlagen wir die qualitativen Veränderungen vor, die im Entwicklungsprozess des modernen Staats um 1500 stattfanden und die einen schrittweisen

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Prozess der Konsolidierung des Staats bedeuteten, wobei genaue Grenzen in diesem Prozess jedoch nicht bestimmt werden können. Somit umfasst der lange Prozess politischer Revolutionen die Revolutionen, die in den Niederlanden, Spanien und England in der frühen Neuzeit stattfanden. Für den Katalysator schlagen wir die Französische Revolution vor, die im Hinblick auf die Grundstruktur politischer Revolutionen – eine rasche und gewaltsame Machtübertragung mit Unterstützung der Massen – keine wesentliche qualitative Veränderung bedeutet. Die Französische Revolution ist im Kontext politischer Revolutionen wichtig, weil sie radikaler war, was ein Moment der qualitativen Veränderung ist, und vor allem wegen der Verbreitung ihres Einflusses. Es war nämlich die Französische Revolution, die zum Vorbild für weitere Revolutionen nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt wurde, zuerst zum Beispiel in Südamerika. Auf diese Weise wurde die Zahl der Revolutionen auf der ganzen Welt größer und der Prozess der politischen Revolutionen wurde so beschleunigt – es ist kein Zufall, dass der Titel des berühmtesten Buchs über die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts Zeit der Revolutionen lautet. Unter anderen Gesichtspunkten, jedoch nicht unter dem Gesichtspunkt politischer Revolutionen, bedeutet die Französische Revolution auch eine wichtige qualitative Veränderung. Für das dritte Beispiel schlagen wir den Innovationsprozess der Technologie vor, der zur sogenannten digitalen bzw. Informationsrevolution führte. Dabei nehmen wir den Zweiten Weltkrieg als Initiator und die 1990er Jahre als Katalysator. Bei technologischen Innovationen sind langfristige und kollektive Prozesse der Technologieentwicklung üblich, die erst am Ende, wenn sie für die Kommerzialisierung ausreichend entwickelt sind, große Auswirkungen auf die Gesellschaft ausüben. Wenn wir jedoch nur die innere Entwicklung der Technologieforschung analysieren, die in mehreren Schritten erfolgt, bedeutet der letzte Schritt häufig keinen wesentlichen qualitativen Durchbruch bzw. keinen Umbruch im Vergleich zu den vorherigen Ereignissen. Daher kann der Beginn des Prozesses der Technologieentwicklung oft als Initiator angesehen werden und der Alltagsgebrauch der Technologie als Katalysator. Technologie, die heute einen so wichtigen Einfluss auf alle Aspekte unseres Lebens hat – Computer, Internet, Mobiltelefone – hat sich an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten allmählich entwickelt. Diese Technologie hat natürlich ihre Vorgänger, aber wir schlagen den Zweiten Weltkrieg als Initiator vor. Bereits während des Krieges gab es wichtige technologische Innovationen, von denen die bekanntesten vielleicht die Entdeckungen von Alan Turing sind. Vor allem aber ist es wichtig, dass nach dem Krieg ein Paradigma geschaffen wurde, dass die Länder aktiv und systematisch in Forschungsprojekte investierten, was meiner Meinung nach einen qualitativen Umbruch repräsentiert. Führend, wenngleich natürlich nicht die einzigen, waren vielleicht die Vereinigten Staaten, in denen dieser Wandel hauptsächlich aus Verteidigungszwecken und aufgrund des technologischen Wettkampfs mit der Sowjetunion stattfand, das heißt aufgrund der durch den Kalten Krieg geschaffenen Bedingungen. Dies ist auch der Grund, warum der größte Teil der Investitionen im Fall der USA aus dem Militärbudget stammte. Als Beispiel für eine Institution, die Forschungsprojekte systematisch unterstützt, erwähnen wir die 1958 gegründete

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ARPA-Organisation, die später in DARPA umbenannt wurde, die aus der Sorge entstand, hinter Russlands Sputnik zurückzufallen, das ein Jahr zuvor ins All geschickt worden war. Bereits während des Zweiten Weltkrieges und in den Jahrzehnten danach entstanden nach und nach hauptsächlich durch staatliche Finanzierung wichtige Innovationen wie Halbleiter, Computerschnittstellen, Mikroprozessoren, Lithium-Ionen-Batterien, Anfänge der Internetentwicklung usw., die die Grundlagen für die spätere digitale Revolution bildeten. Für den Katalysator empfehlen wir die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts, die zur Kommerzialisierung und allgemeinen Nutzung von Computern, Internet und Mobiltelefonen führten. Es gibt keinen genauen Punkt in diesem Jahrzehnt, der die Ausweitung der Popularisierung dieser Neuheiten bedeuten würde, trotzdem markiert dieses Jahrzehnt einen Wendepunkt im Vergleich zur Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die technologischen Veränderungen, die in dieser Zeit stattfanden, bedeuteten keinen signifikanten qualitativen Umbruch im Vergleich zu Innovationen aus den vergangenen Jahrzehnten – tatsächlich bedeuteten sie in diesem Sinne einen kleineren Durchbruch. Das gilt beispielhaft genauso für die Erfindung vieler Technologien selbst. Die wesentliche Änderung dieses Jahrzehnts ist die Übernahme der Technologie in allgemeine Nutzung. Es geht mehr um eine wesentliche Änderung des Ausmaßes der Auswirkungen der Technologie und nicht um eine Änderung des Innovationsprozesses selbst. In diesen Fällen können wir auch einige andere allgemeine Trends von Initiatoren und Katalysatoren beobachten, nämlich den segmentären Katalysator oder einfach gesagt den Katalysator in einem engeren Kontext. Der segmentäre Katalysator kann eine große qualitative Änderung in anderen oft breiteren Kontexten bedeuten, da die Ausbreitung des Einflusses auch die Interaktion und die daraus resultierende qualitative Änderung in den neu beeinflussten Räumen bzw. Segmenten fördert. So fanden mit dem Zweiten Weltkrieg qualitative Veränderungen in Ländern statt, in denen die Vereinigten Staaten auf verschiedene Weisen intervenierten. Mit der Französischen Revolution kam es zu qualitativen Veränderungen in Bereichen, in denen zunehmend politische Revolutionen stattfanden, bereits in Europa und beispielsweise in Südamerika und Haiti. Mit dem Aufkommen der digitalen Technologie in alltägliche Nutzung kam es jedoch zu qualitativen Veränderungen in anderen von dieser Technologie betroffenen Segmenten, nämlich in der sozialen Interaktion, Kommunikation, Bildung und dem Alltag der Menschen im Allgemeinen. Darüber hinaus bedeutet ein segmentärer Katalysator häufig auch eine wesentliche Veränderung in der Weltanschauung der Menschen, da das Ausmaß des Einflusses des Phänomens gerade die Dimension ist, die direkter mit der Weltwahrnehmung der Menschen zusammenhängt. Dies gilt zwar für alle drei angegebenen Fälle auf unterschiedliche Weise, aber der Fall des Katalysators im Innovationsprozess der digitalen Revolution wird besonders offensichtlich. Der langwierige Prozess der Entwicklung dieser Technologie, bei dem erhebliche qualitative Änderungen auftreten, die häufig vom öffentlichen Sektor finanziert werden, ist für die Öffentlichkeit nahezu unsichtbar. Mit dem Übergang der Technologie zur allgemeinen Nutzung, der häufig mit Pri-

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vatisierung verbunden ist, gelangen technologische Innovationen in das allgemeine gesellschaftliche Bewusstsein. Der Begriff historischer Umbruch wird daher in sehr unterschiedlichen Kontexten verwendet und seine Verwendung muss im Lichte spezifischer Fälle beurteilt werden. Unserer Meinung nach ist es jedoch sinnvoll, einige allgemeine Grundsätze zu befolgen, um ein Phänomen als Bruch zu bezeichnen. Man sollte einen Vergleich mit anderen Veränderungen in der Vorperiode des Phänomens ziehen. Es reicht nicht aus, nur die Kontinuitäten oder Ursprünge des Phänomens herauszustellen. Außerdem ist es notwendig, sowohl die Änderungen der inneren Logik der Phänomene bzw. Prozesse als auch das Ausmaß ihres Einflusses und die Beziehungen zwischen ihnen zu bewerten. Zudem ist es nötig, den Kontext oder den Bezugsrahmen klar zu definieren und folglich vergleichbare Brüche zu analysieren, anstatt einfach irrelevante Brüche miteinander zu vergleichen. Aufgrund der weit verbreiteten Verwendung und Definition des Begriffs Umbruch ist es sinnvoll, über verschiedene Arten von Brüchen zu sprechen, die Phänomene spezifischer beschreiben. Auf diese Weise können wir den Begriff historischer Umbruch klarer verwenden und so die Vergangenheit und folglich auch die Gegenwart klarer betrachten.

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Möglichkeiten und Perspektiven der rechtshistorischen Erforschung von Räumen – Das Beispiel Sachsens zwischen Karl dem Großen und Friedrich Barbarossa Caspar Ehlers

I. Was sind Rechtsräume? In diesem Beitrag soll es um die Rekonstruktion der Entstehung von Rechtsräumen anhand des Beispiels der Saxonia von den Anfängen in fränkischer Zeit bis zu der Entstehung der beiden Herzogtümer – Sachsen und Westfalen – auf dem historischen Gebiet der karolingischen Eroberung gehen.1 Die Unterwerfung der Sachsen bedeutete den Endpunkt einer wissenschaftlich nicht genau zu rekonstruierenden Vorgeschichte und den Neuanfang im Sinne einer geographisch-politischen Geschichte im westeuropäisch-christlichen Kontext. Alleine das war übrigens auch für die europäische Geschichte ein Wendepunkt, drang doch das fränkische Reich nun weit über die antiken Grenzen nach Ostmitteleuropa vor, was einen Paradigmenwechsel zur Folge hatte, da nun auch Bevölkerungen aus vormals nichtrömischen Territorien des Limes einbezogen werden konnten, und zugleich die Erneuerung des Römischen Imperiums durch die Kaiserkrönung Karls des Großen im Jahre 800 neue Legitimationsstrategien erforderte. Unter einem »Rechtsraum« verstehe ich ein geographisches Gebiet, das zwar kartierbar ist, aber nicht umfassend mit Hilfe schriftlicher Quellen beschrieben werden kann. »Beschreiben« meint in diesem Zusammenhang die raum- und zeitbezogene Überlieferung der Quellen. In erster Linie sind diese schriftlich und archäologisch und betreffen jeweils nur die Zeitabschnitte ihrer Berichtshorizonte. Eine diachrone und räumlich ›lückenlose‹ Rekonstruktion ist daher nicht möglich. Vielmehr müssen erkannte Zustände übertragen werden – auch wieder in Raum und Zeit –, so dass stets die Gefahr besteht, von Rekonstruktionsversuchen zu reaktiven Schlüssen zu 1 Die Vortragsgliederung wurde beibehalten und nur um die einschlägigen Literaturnachweise ergänzt. In erster Linie stütze ich mich auf zwei eigene Werke, die ich im Folgenden nicht mehr einzeln anführen werde: Ehlers, Caspar: Die Integration Sachsens in das fränkische Reich 751–1024 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 231), Göttingen 2007, sowie Ders.: Rechtsräume. Ordnungsmuster im Europa des frühen Mittelalters (Methodica. Einführungen in die rechtshistorische Forschung 3), Berlin / Boston 2016. Übereinstimmungen lassen sich angesichts der ähnlichen Fragestellungen und des Überblickcharakters der vorliegenden Abhandlung nicht vermeiden.

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gelangen, also in die historischen Abläufe moderne Forschungs- oder gar Ordnungsvorstellungen einfließen zu lassen. Den bekanntesten Fall solchen Vorgehens stellt das sogenannte Containermodell dar, eine Methode, die die Existenz eines Raumes voraussetzt, ohne nach seiner Genese, dem Faktor Zeit, zu fragen. Mit welchen Mitteln kann die Rekonstruktion auf diesen beiden methodischen Ebenen – der Sammlung von Befunden und Quellen und deren wissenschaftlicher Auswertung – vorgenommen werden? Hierfür werden die Quellen gemäß den Gruppierungen der traditionellen Methodenlehre der Geschichtswissenschaft herangezogen. Die Historik unterscheidet zwischen »Traditionen« einerseits, den schriftlichen »erzählenden« Quellen sowie den gleichfalls schriftlichen »normativen« Quellen, und den »Überresten« beziehungsweise »Denkmälern« andererseits. Mithin könnte sich eine Art ›Formel‹ kreieren lassen, die ungefähr so lauten könnte: [Integrationsprozess eines geographischen Raumes] = [Quellen für Ordnungsmuster] + [Zeit].

Aus den Quellen und ihrer zeitlichen Einordnung ließen sich dynamische raumbezogene Abläufe rekonstruieren – wenn diese »Gleichung« nicht zu viele Unbekannte hätte. Das mit dieser »Rechnung« umschriebene Problem – die Erforschung historischräumlicher Phylogenese – erscheint sehr komplex, ab und an unscharf und meist kontaminiert mit jeweils den Forschungsdisziplinen eigenen Verständnisinhalten und Interpretationsmodellen. Schon bei dem Begriff »Raum« beginnen semantische Probleme, denn er stellt bekanntlich ein nicht einseitig zu beschreibendes Phänomen dar, nicht zuletzt, da sich viele wissenschaftliche Disziplinen mit ihm beschäftigen und ihre spezifischen Ansätze und Terminologien mitbringen. Im Folgenden können nur Stichworte zur Illustration der terminologischen Variantenvielfalt geboten werden.2

Geographisch-beschreibender Natur 1. »Naturraum« oder »mathematisch-physikalischer Raum«;3 2. »Landschaft«, wenngleich nicht nur dieser Sphäre zuzuweisen; 3. »Region«, kaum allein dieser Sphäre zuzuweisen. Politisch-administrativer Art 1. »Herrschaftsgebiet« und »-raum«; 2. »Territorium« / »Staatsgebiet«; 3. »Geltungsbereich«; 4. »Rechtskreis«;

2 Vgl. dazu ausführlich Ehlers 2016 mit weiteren Verweisen. 3 Schmitt, Carl: Raum und Großraum im Völkerrecht. Zuerst publiziert 1940, nun in: Schmitt, Carl: Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969, hg. von Günter Maschke, Berlin 1995, S. 234–262.

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5. »Provinz«, in der Kirche noch heute verwendeter Ordnungsbegriff aus der weltlichen Sphäre der römischen Antike.

Soziologisch-kulturelle Kriterien 1. »Siedelland«, Spannung zwischen Alt- und Neusiedelland im Sinne von Tradition und Innovation beziehungsweise von dynamischem Transfer; 2. »Kulturkreise«. So kann, ohne zu untertreiben, festgestellt werden, dass der mehrfache Sinn des Begriffes in verschiedenen kulturhistorischen Kontexten seine konkrete Anwendung erschwert. Ganz zu schweigen von den mit dem Raum verbundenen ideologischen Kontexten, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Nicht einfacher wird es, wenn der Begriff des Rechts mit einem Raum be- bzw. umschreibenden Begriff verbunden wird. Beispiele dafür wären: 1. »Rechtsraum«, z. B. EU, ein Staat etc., auch »Rechtsgebiet« und »Rechtskreis«; 2. »Rechtslandschaft«: Wird in variierenden Verwendungen angewandt, trifft aber das Phänomen des wechselseitigen Zusammenhangs von Raum und Recht; 3. »Rechtsregion« wäre neu, aber erst in seiner Abhängigkeit beziehungsweise Unterscheidung von »Rechtslandschaft« zu konkretisieren; 4. »Rechtsgebiet« hingegen ist anders besetzt im Sinne von »Geltungsbereich« bzw. als Beschreibung von juristischen Teilfächern der universitären Ausbildung. Vergleichbar sind die Fälle, in denen »Recht« mit einem Raum umschreibenden Begriff verbunden wird: 1. »Rechtszone« ist immateriell zu verstehen. 2. »Rechtsgemeinschaft«, der durch Walter Hallstein (1901–1982) populär gewordene Begriff, dient zur Beschreibung von übergreifenden Rechtsräumen wie der Europäischen Union, die ihrerseits nationale Rechtslandschaften integriert und der übergeordneten akzeptierten Ordnungsvorstellung anpasst.4 3. »Rechtsbereich«, vgl. »Rechtsgebiet« und »Rechtskreis«. Entscheidend aber ist die Frage, von was für einem Recht gesprochen wird. Handelt es sich um indigene oder exogene Rechte und Normvorstellungen  – steht also das übertragende oder das empfangende Rechtssystem im Mittelpunkt oder eher die Verschmelzung als Ergebnis eines Transferprozesses? Als Beispiel mag das Landrecht herangezogen werden, dass in den meisten Fällen die Synthese von

4 Vgl. Duve, Thomas: Von der europäischen Rechtsgeschichte zu einer Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive (Max Planck Institute for European Legal History Research Paper Series No. 2012–01), S. 36; http://ssrn.com/abstract=2139312, letzter Zugriff am 10. Juni 2021; Stolleis, Michael: Europa als Rechtsgemeinschaft, in: Europa als kulturelle Idee. Symposium für Claudio Magris, hg. von Stefan Kadelbach, Baden-Baden 2010, S. 71–81.

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auf den Raum übertragenen und im Raum vorhandenen Rechtsvorstellungen kristallisiert. Abstrakt gesprochen, erscheint daher eine genaue Analyse der Übertragungs- und Rezeptionsvorgänge der Rechte in Räume notwendig: indigene Fortdauer, Verschmelzung von eigenen und fremden Normvorstellungen, Oktroyierung der Rechte durch die neuen Herren. Diese Translations-, Transfer- und Rezeptionsvorgänge sind dynamisch, sie durchlaufen friedliche und gewalttätige Phasen von Erfolgen und Rückschlägen. Um zu verdeutlichen, was damit gemeint ist, sei diese analytische Methode im Folgenden auf die Integrationsprozesse in Sachsen zwischen dem 8. und dem 12. Jahrhundert angewandt.

II. Die Integration Sachsens Wegen der Schriftlosigkeit seiner Bewohner gibt es keine autochthone Überlieferung aus dem Raum zwischen Rhein und Elbe vor und neben den lateinischen fränkischen Quellen. Daher würde sich das Containermodell ohnehin nicht eignen, um Kontinuitäten rückwirkend zu übertragen. Da auch der Ablauf der sogenannten Sachsenkriege Karls des Großen kaum Rückschlüsse auf sächsische Raumordnungen erlaubt, sind die fränkischen Quellen aus der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts alles, was zur analytischen Verfügung steht. Die Sachsenkriege Karls des Großen Dass die militärische Auseinandersetzung mit den »Sachsen« drei Jahrzehnte dauern würde, war Karl dem Großen und seinen Heerführer sicherlich nicht klar, als sie 772 in Quierzy den Krieg begannen, den sie mit der Untreue und der Aggressivität der Sachsen begründeten. Zwei strategische Fehler großen Ausmaßes sind ihnen bei der Vorbereitung unterlaufen: Zum Einen beurteilten sie das Gelände, die naturräumliche Beschaffenheit ihres Operationsgebietes, völlig falsch, zum Anderen glaubten sie anscheinend, eine Art Volk oder zumindest einen zentral geführten Verband vor sich zu haben. Saxones werden die Gesamtheit der Gegner in den lateinischen Quellen genannt, in Wahrheit aber handelte es sich um unabhängig voneinander operierende Gruppen unter zahlreichen, oft auch wechselnden Führern, die nicht mit einer alles entscheidenden Schlacht bezwungen werden konnten. Beide Fehleinschätzungen lernten die Franken schmerzlich kennen und konnten sie erst im Zuge der von 772 bis 803 währenden Sachsenkriege korrigieren, so dass mit der Kaiserkrönung Karl des Großen auch der Sieg in den Sachsenlanden einherging. Ähnlich ›ungeschickt‹ verhielten sich die Eroberer bei der Übertragung von Normen auf die gewonnenen Räume und ihre Bewohner ostwärts des Rheins. Die erste Weisung, die Capitulatio de partibus Saxoniae (782), wurde von den Subjekten als eine Art »Siegerrecht« aufgefasst, sie ordnete nicht, sondern rief Widerstand hervor.

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Das wurde bei Hofe durchaus bemerkt und im folgenden Kriegsjahrzehnt auch divers beurteilt. Am Ende dieser Überlegungen stand dann das durchaus milder formulierte Capitulare Saxonum (797), dass es den Unterworfenen eher erlaubte, sich in die neuen Gegebenheiten der fränkischen Oberhoheit einzufügen. Die am Ende der Eroberung und nach der Kaiserkrönung Karls erlassene Lex Saxonum (802/803) bedeutete schließlich den Beginn der Integration des sächsischen Raumes in das Frankenreich. Wie die anderen großen Bevölkerungsgruppen des fränkischen Großreiches – die verschieden geprägten salischen und rheinischen Franken, die Langobarden und die Bayern – hatten nun auch die Sachsen, und mit ihnen auch die Thüringer und Friesen – ein eigenes, nach ihnen benanntes Recht. Die Lex Saxonum bestand zwar in erster Linie aus fränkischen Normen, beinhaltete aber an einigen Stellen wichtige indigene Rechtsvorstellungen der Westfalen und Sachsen. Mithin bedeutete der Anfang des 9. Jahrhunderts den Beginn der letztlich erfolgreichen Integration des Großraumes in das fränkische Königreich, beziehungsweise in das wiederhergestellte Römische Reich. Sachsen in der Karolingerzeit Freilich bedeutete das keineswegs, dass die Verhältnisse in Sachsen oder das Verhalten beider Parteien die erfolgreiche Eingliederung der Sachsen in das fränkische Reich Karls des Großen als abgeschlossen nahelegen würden. Zwar gab es jetzt einen Saxonia genannten politischen Raum und eine diesem theoretisch zugeordnete Bevölkerung, aber der effektive Rechtsraum entsteht erst allmählich durch die Erfassung der unterworfenen Menschen mittels ihrer fortschreitenden Akzeptanz der Lex Saxonum. Es kommt auf das Rechtsverhältnis des Individuums an, denn einen geographisch konkret genug beschriebenen räumlichen Geltungsbereich in heutigem Sinne kannten die frühen Rechte nur ansatzweise, es galt die persönliche Zugehörigkeit des Subjektes zu einem der sog. »Stammesrechte«. Dieser Begriff jedoch ist modern und verfehlt die historische Wirklichkeit, wie deutlich geworden sein sollte und was auch geltender Forschungsstand ist. Vor allem hat es einen sächsischen Stamm vor der fränkischen Eroberung nicht gegeben, eher ist von lokalen Verbänden auszugehen, deren Rechtsvorstellungen recht sparsam in die fränkische Lex Saxonum Einzug gefunden haben. So finden sich in der sächsischen Überlieferung auch keine Herzöge, jener schon im 8. Jahrhundert genannte Widukind ist zumindest als dux Saxonum eine Fiktion. Auch die sogenannte »Einführung der Grafschaftsverfassung« dürfte für die Entstehung politischer Subräume weniger Bedeutung gehabt haben, als die ältere Forschung annehmen wollte. Allein die von den Franken intendierte Gliederung des neugewonnenen Großraumes durch die Kirche erscheint als relativ erfolgreich, auch wenn sich diese ordnenden Prozesse bis weit in das 9. Jahrhundert hinein erstreckt haben. Die Reichsteilungen dieses Jahrhunderts aber zeigen geopolitische Entwicklungen, die für die Genese Sachsens eine bedeutende Rolle gespielt haben, und die klar

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aus seiner Lage am Ostrand des Karolingerreiches resultieren – also nicht unmittelbar mit dem Charakter der Sachsen verbunden sind. Eher ist es diese Lage, die ein von äußeren Einflüssen ungebrochenes Bewusstsein entstehen lässt. In Abwandlung eines berühmten staatstheoretischen Zitats mag man sagen können, dass die Sachsen von Bedingungen profitierten, die sie selbst nicht herstellen konnten. In den vier Reichsteilungen nämlich war Sachsen nie Gegenstand einer inneren Trennung. Die Divisio von 829 beließ die Saxonia im Gesamtreich Ludwigs I., »des Frommen« († 840). Im Vertrag von Verdun 843 wird sie dem Ostreich Ludwigs II., »des Deutschen« (reg. 843–876), ebenso zugesprochen wie im Vertrag von Meerssen 870. Auch der Vertrag von Ribemont (880) beließ Sachsen im Reich Ludwigs III., »des Jüngeren« (reg. 876–882), von Ostfranken. Der in dem Jahr dieses Vertragsschlusses gestorbene Liudolfinger Brun ist als Herzog in Sachsen bezeugt. Im ostfränkischen Reich regierte von 900 bis 911 der letzte Karolinger, Ludwig IV. »das Kind«, Herzog von Sachsen war der Liudolfinger Otto († 912). Nach dem Aussterben der Karolinger im Ostreich wurde der Franke Konrad I. aus dem an der Lahn und in der Wetterau ansässigen Geschlecht der sog. Konradiner zum König gewählt. Herzog von Sachsen war Heinrich (912 bis 936), gleichfalls ein Liudolfinger und erbitterter Gegner König Konrads, den er am Betreten des Herzogtums Sachsen erfolgreich mit militärischen und diplomatischen Mitteln hindern konnte. Mit dieser bislang nicht von seinen Vorfahren eingenommen oppositionellen Haltung gegenüber dem ostfränkischen König änderte Heinrich die liudolfingische Politik und schuf die Grundlage für seinen und seiner Familie Aufstieg zur höchsten Macht dieses Reiches.

III. Das Reich der Ottonen (919 bis 1024) Der riskante Weg Herzog Heinrichs von Sachsen brachte ihm die ostfränkische Krone, er regierte von 919 bis 936 und blieb dabei Herzog von Sachsen. Heinrichs I. Sohn, Otto I. (reg. 936–973, nach dem und seinen zwei Nachfolgern der wissenschaftliche Name der Familie der Liudolfinger in Ottonen geändert wurde), behielt das Herzogsamt, bestellte aber bei seinem Herrschaftsantritt als ostfränkischer König als ›Stellvertreter‹ den mächtigen sächsischen Adeligen Hermann († 973), der nach seiner familiären Abkunft »Billung« genannt wird und in Sachsen bis zu seinem Tode wirkte. Unter dem Sohn Ottos Großen, Otto II. (reg. 973–983), beziehungsweise seinem Enkel, Otto III. (reg. 983–1002), behielten die Billunger mit Bernhard I. von Sachsen (reg. 973–1011) das Herzogtum in ihrer Hand. Auch den ›Herrschaftswechsel‹ von der sächsischen zu der bayerischen Linie der Ottonen überstanden die Billunger. König Heinrich II. (reg. 1002–1024) bestellte als Herzog von Sachsen Bernhard II. Billung (reg. 1011–1059).

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Von 919 bis 1024 wurde das ostfränkische Reich für ein Jahrhundert von der einflussreichen sächsischen Adelsfamilie der Liudolfinger respektive Ottonen regiert. Das zeigt eindrucksvoll die starke Integrationsleistung der Karolinger im 9. Jahrhundert nach den gewonnenen Sachsenkriegen Karls des Großen im letzten Drittel des 8. Jahrhunderts. Neben den Ottonen errangen nicht nur die Billunger, sondern auch andere Familien zwischen Rhein und Elbe in dem sächsischen Raum großen Einfluss. Der Tod Heinrichs II. ohne dynastischen Nachfolger am 13. Juni 1024 im südsächsischen Grone – heute ein Stadtteil von Göttingen – erschütterte daher nicht nur das Reich, sondern auch sein nördliches Herzogtum.

IV. Das Reich der Salier (1024 bis 1125) Die Fürsten des ostfränkisch-deutschen Reiches einigten sich auf den entfernten Verwandten der Ottonen (seine Vorfahren entstammten der Ehe Ottos I. mit der angelsächsischen Königstochter Edgith), den Salfranken Konrad  II. (reg. 1024–1039), dessen traditionsreiche Familie im Raum der heutigen Pfalz und im Mittelrhein­ gebiet beheimatet war. In Sachsen blieb Herzog Bernhard II. Billung († 1059) im Amt, der sowohl den ersten Salier als auch seinen Sohn und Nachfolger Heinrich III. (reg. 1039–1056) überlebte. Den bedeutendsten Faktor bei dem Herrschaftswechsel von den Ottonen zu den Saliern stellte der Wechsel des königlich-familiären Eigengutes dar, was sich vor allem in den Regionen des Reiches auswirkte, in denen die Salier wenig allodialen, d. h. durch Eigenbesitz fundierten, Besitz hatten. In Sachsen konnten sie sich daher nur auf das geerbte Reichsgut ihrer ottonischen Vorgänger stützen. Dass dieser Anspruch zunächst durchzusetzen war, lag an Konrads II. und Heinrichs III. integrativer Politik. Der Ausbau Goslars als Pfalzort am Nordharzrand zu einem der bedeutendsten norddeutschen Orte der Herrschaft – nicht zuletzt wegen der dortigen Gründung des Pfalzstiftes St. Simon und Judas durch Heinrich III. als Ausbildungsstätte des Reichsklerus – ist Beleg für diese auf Sachsen bezogene Geopolitik, die sogar dazu führte, dass Heinrich III. Goslar höher als Speyer bewertete, die Bischofs- und Grabeskirche seines Vaters. Während der Herrschaft des dritten Saliers, Heinrichs IV. (reg. 1056–1106), war zunächst noch der schon öfters genannte Bernhard II. Billung Herzog von Sachsen. Ihm folgte sein Sohn Ordulf (reg. 1059–1072). Bekanntlich wuchsen die Schwierigkeiten Heinrichs  IV. in Ostsachsen im Zuge seiner selbständigen Herrschaft wegen des während seiner Minderjährigkeit erstarkten Selbstbewusstseins der lokalen Magnaten. Um seine königlich begründeten Ansprüche vor allem im sächsischen Harzgebiet zu rekonstituieren, griff er zu Mitteln der Gewalt. Diese musste Magnus Billung († 1106) ertragen, den der Salier wegen der Aufstandsbewegung 1070, also noch vor seinem Herrschaftsantritt als Erbe des Herzogtums Sachsen inhaftieren ließ. Bis 1073 und erneut 1075/1076 wurde er vom Salier inhaftiert, danach versöhnte er sich mit Heinrich IV. und kämpfte an seiner Seite an der sächsischen Ost-

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grenze. Im selben Jahr und nur wenige Tage nach Heinrich IV. starb er am 23. August 1106. Nach seines Vaters Ableben am 6. August 1106 erlangte der seit Längerem in Opposition zu ihm stehende Heinrich V. (reg. 1106–1125) die Alleinherrschaft. Herzog von Sachsen wurde der früher zur Partei des Widerstandes gegen Heinrich IV. stehende Lothar von Süpplingenburg (reg. 1106–1137). Als solcher begab er sich in Opposition zu Heinrich V., dessen Anspruch, seine Herrschaft auch gegenüber den Sachsen durchzusetzen, in der historischen Schlacht am Welfesholz am 11. Februar 1115 scheiterte. Bei der Wahl nach dem söhnelosen Ende der Salier entschieden sich die Fürsten für den in fortgeschrittenem Alter stehenden bewährten Gegner Heinrichs V., ebenjenen Herzog von Sachsen, als König nun Lothar III. (reg. 1125–1137). Wie schon 918 wurde ein mächtiger sächsischer Opponent König des ostfränkisch-deutschen Reiches. Diesmal dürfte jedoch den Ausschlag gegeben haben, dass von Lothar keine Dynastiebildung mehr zu erwarten sein würde. Eine gewisse Enttäuschung bot daher die Initiative Lothars, als Herzog von Sachsen und eventuellen Nachfolger seiner selbst als König seinen Schwiegersohn zu etablieren, Heinrich den Stolzen († 20. Oktober 1139; 1126–1138 Herzog von Bayern und 1137–1139 Herzog von Sachsen), den Vater Heinrichs des Löwen (*1133/35, †1195).

V. Das Reich der Staufer bis zum Tod Friedrichs I. Nach dem Tod Lothars III. setzte sich der Staufer Konrad III. (reg. 1138–1152) gegen Heinrich den Stolzen durch. Der Staufer und sein Bruder Friedrich befanden sich seit Langem in der Opposition zu Lothar, zeitweilig agierte Konrad sogar als Gegenkönig (1127–1135). Das Herzogtum Sachsen Der Welfe Heinrich der Löwe wurde 1142 Herzog von Sachsen, als Nachfolger des umstrittenen Albrechts des Bären, seit 1138, und 1156 Herzog von Bayern, als Nachfolger des Babenbergers Heinrich Jasomirgott, seit 1143. Nur die verwandtschaftliche und persönliche Nähe zu Friedrich I. (reg. 1152– 1190) begründete die rasante Kumulation von Machtbereichen zu Ungunsten anderer einflussreicher Familien im staufischen Reich und war zugleich auch der Grund für des Löwen tiefen Sturz nach dem Verlust der Königsnähe wegen überzogener Machtansprüche aus der Sicht Barbarossas und der Reichsfürsten. Vor allem der Wunsch des Welfen, Goslar und den Bergbau am Harz, ein Regal (Königsrecht), zu erringen und dies mit erpresserischen Methoden durchzusetzen, überschritt den freundlichen Willen des Staufers. Die Folge war ein langgestreckter Prozess des Königs und der Fürsten gegen Heinrich, an dessen Ende nicht nur das persönliche Scheitern des Welfen stand, sondern

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auch die Auflösung des Herzogtums Sachsen in der geographischen Ausdehnung seit seiner Entstehung. Das Herrschaftsgebiet wurde in zwei größere Rechtsräume geteilt. Die endgültige Zerschlagung des Herzogtums Sachsen 1180 Friedrich I. musste bei dem Hoftag in Gelnhausen den Konflikt zwischen Heinrich dem Löwen und den meisten Fürsten des Reiches beenden. Zu lange schon hatte sich der Welfe widerspenstig gezeigt und durch allerlei – auch juristische – Winkelzüge seine Verurteilung verhindert. Das Urteil von Gelnhausen bedeutet nicht nur den Verlust des amtsbezogenen Machtbesitzes in Form der Herzogtümer Sachsen und Bayern und die Reduktion auf ein schmales welfisches Allodialgut, etwa in Braunschweig-Lüneburg, sondern auch die Auflösung des ehemaligen Sachsenlandes als ein Herzogtum. Allerdings wurden dabei zwei neue Gebiete als Herzogtümer kreiert, die eine lange Vorgeschichte hatten: Westfalen und Sachsen. Die Raumbezeichnungen sind seit dem 8. Jahrhundert virulent, sie begegnen als Volksbezeichnungen in der Lex Saxonum und ziehen sich seither durch die schriftliche Überlieferung.5 Welche Raumbezeichnungen verwendet nun die Urkunde Friedrichs  I. vom 13. April 1180 aus Gelnhausen?6 Als einstiger Herzog wird Heinrich der Löwe genannt, allerdings nicht als der von Sachsen und Bayern, sondern als der »von Bayern und Westfalen« – Heinricus quondam dux Bawarię et Westfalię. Letzteres Herzogtum wird als spezifiziert als ducatum, qui dicitur Westfalię et Angarię, welches Friedrich I. in zwei Teile trennte – in duo divisimus. Anstelle des zu erwartenden Raumbegriffes »Sachsen« wird Engern verwendet, ein etwas ominöser Terminus, der ein Gebiet westlich und ostwärts der Weser entlang ihres Verlaufes nach Norden bezeichnet. Als Herzog des neu geschaffenen Westfalens wird Erzbischof Philipp von Köln (reg. 1180–1191) bestimmt, der verbleibende östliche Teil wird als neuem Herzog von Sachsen dem Askanier Bernhard III. (reg. 1180/81 bis 1212) übertragen, dem Sohn des oben schon genannten Albrechts des Bären – die Ordnungszahl »III« berücksichtigt die beiden billungischen Vorgänger im Amt. Ebenfalls ist zu beachten, wie in der Urkunde die beiden neuentstandenen Herzogtümer räumlich umschrieben werden. Es ist schon erwähnt worden, sollte aber besonders hervorgehoben werden, dass ein Kirchenfürst und ein weltlicher Magnat das geteilte Herzogtum zugesprochen bekamen. So wird, folgerichtig, der Kölner Teil mit Diözesen definiert, die zu der Kirchenprovinz Köln gehörten: unam partem, eam videlicet, que in episcopatum Coloniensem et per totum Pathebrunnensem episcopatum 5 Vgl. zu diesem und dem Folgenden demnächst: Ehlers, Caspar: Zur Wirkungsgeschichte eines Ordnungsbegriffes. Westfalen zwischen Karolingern und Saliern, in: Westfalen. Ein ›Hinterland‹ des Herzogtums Sachsen in salischer Zeit? hg. von Stefan Pätzold und Felicitas Schmieder (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Neue Folge 49), Münster 2020, S. 51–76. 6 Diplomata regum et imperatorum Germaniae, tom. 10,1–5. Die Urkunden Friedrichs I, hg. von Heinrich Appelt u. a., Hannover 1975–1990 (DF I), Nr. 795 or.

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protendebatur […] et cum omnibus ad eundem ducatum pertinentibus ecclesię Coloniensi legitimo donationis titulo imperatoria liberalitate contulimus. Der Teil Bernhards hingegen wird in betonter Ansetzung des westlichen Raumes folgendermaßen definiert: Friedrich  I. übergibt »seinem geschätzten Verwandten Bernhard« reliquam partem ducatus […], prememoratum archiepiscopum Philippum portione illa ducatus suę collata ecclesię vexillo imperiali sollempniter investivimus. Er wurde als Bernhardus dux Saxonie in einer Urkunde Barbarossas vom 16. Februar 1181 zum ersten Mal mit seinem neuen Titel genannt7, was mit den juristischen Nachbereitungen der besitzrechtlichen Folgen der Gelnhäuser Entscheidung zu tun hatte.

VI. Perspektiven – Voraussetzungen für weitere Forschungen Die hier zu erzählende Geschichte der Integration Sachsens vor dem Hintergrund des Zwiespaltes zwischen dem Eigenen und dem Fremden ist mit dem Jahre 1180 beendet, ein Blickwinkel, der stets Perspektivenwechsel erforderte. Es würde mit dem Sturz Heinrichs des Löwen eine neue Erzählung der »sächsischen Geschichte« beginnen. Diese kann zwar nicht ohne das soeben Dargelegte angelegt werden, weist aber zwangsläufig in unsere politische Gegenwart bis hin zu der Tatsache, dass das heutige Bundesland Sachsen räumlich gesehen wenig mit unserem Untersuchungsraum zu tun hätte. Dennoch wollen wir nun die methodischen Konsequenzen ziehen und Bilanzen und Ausblicke wagen, bevor das Rahmenthema der Ringvorlesung »Endpunkte und Neuanfänge« als Zusammenfassung dienen wird. Um die Entstehung historischer Landschaften – Räume – zu erforschen, müssen mindestens vier Faktoren in den Blick genommen werden. Zunächst natürlich die räumliche Topographie, Vor- und Nachteile der natürlichen Gegebenheiten, daraus resultierende Grenzen, Schwerpunktsetzungen und Peripherien sowie chronologischräumliche Volatilität wegen sich wandelnder Interessen. Der zweite Aspekt ist die Kultur innerhalb des untersuchten Raumes. Ethnographische wie archäologische Untersuchungen liefern hier nachhaltige Ergebnisse für die Erforschung einer Entwicklung, die ebenso dynamisch, volatil, ist, wie alle hier anzusprechenden vier Phänomene. Recht wäre das dritte davon. Der am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte geprägte Terminus »Multinormativität« trifft den Gegenstand. Im Grunde ist nie und nirgends die Herrschaft eines Rechts zu beobachten, stets kommt es zu Interaktionen und Parallelgeltungen. Vergleichbares gilt für den vierten und letzten Beobachtungsfaktor, die Religion. In der Regel hat sie einen unbeweglicheren Anspruch als das Recht, das Normen­ varianzen in gewissem Rahmen zulässt. Sakralräume sind ihr eigen, also Gebiete 7 DF I 814 or.

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konzentrierter Aufladung, wie etwa Kirchen, Märtyrergräber oder Pilgerstraßen. Punkte wie aus ihnen hervorgehende Linien und Flächen können mithin sakral verstanden werden und innerhalb einer räumlichen Struktur Sonderstatus erreichen. Bedenkt man unter dem Aspekt der Multinormativität die Geltungsebenen von Welt- und Kirchenrecht, dann wird besonders deutlich, dass stets mindestens zwei ›Folien des Rechts‹ über dem Raum liegen und lagen. Diese vier historisch begründbaren Faktoren  – Raum und Kultur, Recht und Religion – lassen sich analytisch unter zwei Zusammenhängen betrachten: Traditionen und Transformationen. Am hier gewählten Beispiel der Unterwerfung, Eingliederung und der anschließenden Geschichte Sachsens konnten diese methodischen Schlüsselbegriffe entwickelt, hervorgehoben und praktisch angewandt werden. Fränkische Norm- und Ordnungsvorstellungen wurden in einem langgestreckten und nicht immer geradlinig verlaufenden Prozess auf die Bevölkerung des Raumes zwischen Rhein und Elbe übertragen und von dieser – teilweise modifiziert – angenommen. Nach diesem Neuanfang im 9. Jahrhundert stellte das sächsisch-ottonische Königtum einen Wendepunkt dar, dessen Paradigmenwechsel darin bestanden, dass sich aus einem ostfränkischen ein frühdeutsches Reich und aus einem karolingischen Kaisertum ein ottonisches entwickeln konnten. Einen neuen Endpunkt bedeutete schließlich der Sturz des sächsischen Herzogs Heinrich über seine Superbia gegenüber dem deutschen König Friedrich I. und den Reichsfürsten. Ein offenbarer Wesenszug sächsischer Magnaten, der schon in der Salierzeit den Bestand Sachsens gefährdet hatte.

VII. Zusammenfassung – »Endpunkte und Neuanfänge« Wie eingangs skizziert, wären Statik und Mobilität mithin die Stichworte für die Frage nach Endpunkten und Neuanfängen. Sie implizieren die Chancen auf Fortentwicklung und Scheitern. Davon unabhängig sind hingegen die Konstruktionen von Vergangenheit und Zukunft. Völkisch-identitär angelegte Denkmuster ohne historisch tragfähige Basis erfahren in unseren Tagen Beachtung und politische Relevanz, ohne wegen ihrer Voraussetzungslosigkeit Neuanfänge sein zu können. Endpunkte hingegen werden unterschätzt, selbst wenn historisch motivierte Reanimationsversuche scheitern. Ohne diese beiden bipolaren Gegenwarten der Vergangenheit anzuerkennen, werden Zukunftsperspektiven irreal. Greift man zum historischen Atlas und vergleicht man die Karte der politischen Raumgliederung der Bundesrepublik Deutschland mit den historischen Räumen der Ottonenzeit, so würde es naheliegen, historische Kontinuitäten zu begreifen – sogar die Aufteilung des Herzogtums Sachsen im Jahre 1180 scheint sich in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen einerseits und Niedersachsen, Sachsen-Anhalt sowie Brandenburg anderseits zu erkennen zu geben. Selbstverständlich spielen historische Determinanten in diese geopolitische Entwicklung, aber eben nicht linear, sondern aufgrund historischer Erinnerung und

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erfolgreicher Argumentationen. Zwischen 1024 und dem heutigen Tag haben viele und sich stets verändernde Grenzziehungen einstige Räume zerlegt, kumuliert und wieder rekonstruiert – nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern auch im europäischen und globalen Raum, vor allem nach dem Ende der weltpolitischen Blöcke.8

8 Eine aktualisierte Bibliographie steht zum Download bereit: Ehlers, Caspar: Forschungsbibliographie Rechtsräume – Research Bibliography ›Legal Spaces‹ (October 23, 2019) (Max Planck Institute for European Legal History Research Paper Series No. 2019–25: subsidia et instrumenta). Available at SSRN: URL: http://ssrn.com/abstract=3493150, letzter Zugriff am 10. Juni 2021.

Rechtsräume als (Fragestellungs-)Konzept und Versuch einer Rechtsraumtypologie im Rahmen der slowenischen Rechtsgeschichte Katja Škrubej

I. Rechtsräume als (Fragestellungs-)Konzept – Eine Einleitung Den Hintergrund meiner langjährigen Bestrebungen, mich mit »Rechtsräumen« als vielschichtigem Konzept wozu nur relativ komplexe Fragestellung führt, auseinanderzusetzen, bildet das Bedürfnis, das vorherrschende Verständnis von der historischen Rechtsbildung revidieren zu helfen. Dieses wurde von einer für selbstverständlich gehaltenen Anbindung des Rechts an den Staat und den geschriebenen Text – oder sogar nur auf modernen Kodifikationen und den Normbegriff basiert1 – ausgeht. Nach mehr als zwei Jahrzehnten rechtshistorischer Forschung ist dieses Bedürfnis immer stärker geworden, vor allem auch aufgrund der Quellen, die aus dem heutigen slowenischen Raum2 stammen. In diesem Sinne stellen meine Bestrebungen auch eine Fortsetzung des Forschungsprogramms von Sergij Vilfan dar,3 dem doyen der slowenischen Rechtsgeschichte, wobei in dieser meiner Abhandlung vor allem an sein letztes Werk Zgodovinska pravotvornost in Slovenci [Historische Rechtsbildung und die Slowenen] angeknüpft wird.4 Hierbei beziehe ich mich vor allem auf seine einleitenden Gedanken über die anachronistischen und stark simplifizierten Konzeptionen der Rechtsbildung in der Vergangenheit wie auch auf sein Plädoyer für eine komplexere Betrachtung der Rechtsbildung. Auf der Suche nach einer solchen Betrachtung habe ich mich zum Beispiel vor zehn Jahren mit De Europa von Enea Silvio Piccolomini und seiner diachronen  – wenngleich veralteten doch ziemlich komplexen – Betrachtung der historischen Provinzen Europas mit Hilfe des dreiteiligen Konzepts locus, populus, imperium auseinandergesetzt5 und somit mit der 1 Über la culte de la Loi und ihrer tatsächlichen Verehrung in Paris während der Revolution siehe Krynen, Jacques: L’Emprise contemporaine des juges, Paris 2012, S. 31. 2 Vgl. Štih, Peter / Simoniti, Vasko / Vodopivec, Peter: Slowenische Geschichte. Gesellschaft – Politik – Kultur, Graz 2008. 3 Vilfan, Sergij: Pravna zgodovina Slovencev, Ljubljana 1961; Ders.: Rechtsgeschichte der Slowenen, Graz 1968. 4 Vilfan, Sergij: Zgodovinska pravotvornost in Slovenci, Ljubljana 1996. 5 Škrubej, Katja: La province de Carinthie d’après E. S. Piccolomini, De Europa, 1458/1490. locus, populus, imperium dans une perspective diachronique, in: Gojosso, Eric / Vergne, Arnaud (Hg.): La province. Circonscrire et administrer le territoire de la République romaine à nos jours, Paris 2010, S. 97–153.

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Literatur, die sich auch für komplexere Ansätze interessierte.6 Es muss aber gleich vorweg genommen werden, dass sich Piccolomini in seinem Werk nur sehr indirekt mit der Rechtsbildung befasst hat. Welche »Rechtsräume« haben dann in den folgenden Jahren mein Interesse relativ stark geweckt und warum? In den vergangenen Jahrzehnten wurden nämlich mehrere Konzepte unter dieser Benennung entwickelt.7 Über die verschiedenen Aspekte des menschlichen Zusammenlebens, die unter dem Begriff »Raum« in den verschiedenen Natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen zusammengebracht wurden, existiert mittlerweile eine schier unübersichtliche Fülle an Literatur. Daher ist es an der Zeit, dass sich ein Forscher mit der Problematik der immer stärker anwachsenden Fachliteratur und den Konzeptualisierungsversuchen über Rechtsräume auseinandersetzt. Für das frühe Mittelalter gelang das Caspar Ehlers, Historiker am Max Planck Institut (MPI) für Europäische Rechtsgeschichte, der auch mit der Leitung eines gleichnamigen Forschungsschwerpunkts betraut wurde. Im Jahr 2016 veröffentlichte er das Buch Rechtsräume. Ordnungsmuster im Europa des frühen Mittelalters, die Frucht seiner Recherchen, in einer besonderen MPI-Reihe Methodica. Einführung in die Rechtshistorische Forschung.8 Was mich jedoch sehr stark ansprach, war die kurze Präsentation des Forschungsschwerpunkts im Jahre 2014, vor allem der Aufruf, dass sich die rechtsgeschichtliche Forschung auch auf die normative Kraft 6 Dopsch, Heinz: An der Grenze des Reiches. Herrschaften, Hoheitsrechte und Verwaltungspraxis des Bistums Bamberg in Kärnten, in Eickels, Christine van / Eickels Klaus van (Hg): Das Bistum Bamberg in der Welt des Mittelalters, Bamberg 2007; Dopsch, Heinz / Brunner, Karl: Die Länder und das Reich (Der Ostalpenraum im Hochmittelalter). Österreichische Geschichte 1122–1278, Wien 1999; Weltin, Max: Der Begriff des Landes bei Otto Brunner und seine Rezeption durch die verfassungsgeschichtliche Forschung, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, GA (107), 70 (1990), S. 339–376; Herwig, Wolfram (Hg.): Österreichische Geschichte, Wien 1999; Reynolds, Susan: Kingdoms and communities in Western Europe 900–1300, 2 Oxford 1996; Stelzer, Winfried: Landesbewusstsein in den habsburgischen Ländern östlich des Arlbergs bis zum frühen 15. Jahrhundert, in: Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte (Hg): Spätmittelalterliches Landesbewusstsein in Deutschland, Ostfildern 2005, S. 157–222; Marquardt, William H. / Crumely, Carole L. (Hg.): Regional dynamics. Burgundian Landscapes in Historical Perspective, San Diego / New York 1987; Braudel, Fernand: L’identité de la France. Espace et Histoire, Paris 1990. 7 Das hat auch zur meiner Bewerbung für einen Forschungsaufenthalt am MPI geführt, der sich 2015 auch verwirklichte. Mein Forschungsvorhaben am MPI »Rechtsräume des Alpen-AdriaGebietes um 1800. Umwandlung, Herausbildung, Verschwinden und Resistenz« verknüpft sich hauptsächlich sowohl mit dem Themenschwerpunkt »Historische Untersuchungen zur Herausbildung von Rechtsräumen« als teilweise auch mit Forschungen zum Themenschwerpunkt Multinormativität und Prozesse der »kulturellen Translation.« Mehr über die Themenschwerpunkte in dem grundlegenden Beitrag über methodologische und konzeptuelle Ansätze, siehe Duve, Thomas: European Legal History. Concepts, Methods, Challenges, in Duve, Thomas (Hg.), Entanglements in Legal History. Conceptual Approaches (Global perspectives on Legal History), Vol. 1, Frankfurt am Main 2014, S. 29–56. 8 Ehlers, Rechtsräume.

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der Handlung historischer Akteure konzentrieren sollte. Das hatte viel mit Vilfans Ansätzen gemeinsam, was ich im Folgenden veranschaulichen möchte. Vor allem aber sah ich direkte Anknüpfungspunkte an ein kurzes, für die Anfänge meiner rechtshistorischen Forschungen jedoch sehr einflussreiches Werk von Fernando de Trazegnies Granda, für dessen slowenische Fassung ich die einleitende Studie beitrug,9 nämlich Ciriaco de Urtecho. Litigante por amor. Reflexiones sobre la polivalencia táctica del razonamiento jurídico.10 Es wurde mir ziemlich schnell klar, dass ich dank Vilfan aufgrund meiner Rechtsquellen- und Literaturkenntisse für den heutigen slowenischen Raum ab dem Hochmittelalter eine innerlich komplexere Konzeption von Rechtsräumen vorschlagen musste und auf diese Weise auch dem Ruf Caspar Ehlers’ und Thomas Duves nach einem komplexeren Vokabular bzw. »einem Wörterbuch« der Raumbegriffe zu folgen hatte. So bin ich anhand von zwei konkreten Beispielen aus der Zeit um 1800 – Autonomie der sog. Venezianischen Slowenen im Zwei-Täler-Land des Flusses Nadiža bzw. dem Natisone-Fluss und der Illyrischen Provinzen bzw. dem Königreich Illyrien –, die Teile der klassischen slowenischen Rechtsgeschichte darstellen, zu einer Art Versuch eines typologischen Schemas gekommen, das ich im letzten Teil meines Beitrags kurz vorstellen werde.11 Von der Fülle von Literatur, die in den verschiedenen Disziplinen in den letzten Jahren über Raumkonzepte veröffentlicht wurde, möchte ich besonders zwei Werke berücksichtigen, die sich für meine Forschung in einer schon fortgesetzten Phase, nämlich nachdem ich meinen Versuch einer Typologie zum erstes Mal einem kleineren Kreis von Rechthistorikern vorgestellt hatte,12 als anregend erwiesen haben. Dabei handelt es sich um eine Monographie mit dem Titel Räume von Susanne Rau aus dem Jahr 9 Škrubej, Katja: Spremna študija, in: Trazegnies Granda, Fernando de: Ciriaco de Urtecho. Pravda iz ljubezni. Nekaj misli o taktični večplastnosti pravnega razmišljanja, Ljubljana 2002, S. 7–29. 10 Trazegnies Granda, Fernando de: Ciriaco de Urtecho. Litigante por amor. Reflexiones sobre la polivalencia táctica del razonamiento jurídico, Lima 1981. 11 Ich möchte darauf hinweisen, dass ich auf meine Vorgehensweise anhand dieser beiden Beispiele sowie auf die Quellen- und Literaturhinweise in einem anderen Beitrag genauer eingehe, den ich seit Längerem vorbereite. 12 Den ersten Versuch eines solchen Schemas habe ich am Ende meines Forschungsaufenthalts am MPI im Mai 2015 den Mitgliedern und Gästen zunächst in Form eines Referats vorgestellt. Der Titel war »In the quest for ›legal space‹. Two cases from the Alps-Adriatic Area around 1800 – Slavia Veneta and Illyrian Provinces. The Agents of Institutionalisation, Disappearance, Resistance and Transformation (Towards  a possible typology? Problems and Questions).« https://www.rg.mpg.de/828518/event15-05-11_Jour_Fixe_In_the_quest_for_legal_space, letzter Zugriff am 27. Juni 2020. Im März 2017 habe ich in Paris eine weitere Version meiner Rechtsraumtypologie in einem Referat mit dem Titel »Espace(s) juridique(s). Essai de conceptualisation d’une notion (cle ?) en histoire du droit. A l’aide de deux cas des régions alpes-adriatique environ 1800« auch den Mitgliedern der französischen Gesellschaft für Rechtsgeschichte (Société d’histoire du droit) präsentiert. http://www.societehistoiredudroit.com/pdfs/Affiche_SHD_2016-2017.pdf, letzter Zugriff 27. Juni 2020.

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201313 und um den Sammelband Zur kommunikativen Konstruktion von Räumen (Theoretische Konzepte und empirische Analysen), ein Band, welcher von Gabriela B. Christmann im Jahr 201614 herausgegeben wurde.

II. Sergij Vilfan und seine Kritik von drei Auffassungen der Rechtsbildung Sergij Vilfan (1919, Triest  – 1996, Ljubljana), der in Ljubljana das Studium der Rechtswissenschaften absolvierte, wurde bei seinen späteren Studien von der französischen Rechtsanthropologie beeinflusst. 1961 studierte er bei Jean Meuvret an der École pratique des Hautes Études (VI. Sektion) in Paris. Bevor er eine Professur an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät in Ljubljana annahm, wurde er Direktor des Historischen Archivs Ljubljana, für dessen Entwicklung er sehr bedeutend war. Von 1994 bis 1996 war Vilfan Professor für Rechtsgeschichte in Graz. Er war außerdem korrespondierendes Mitglied der Österreichischen und Polnischen Akademie der Wissenschaften und Künste und Mitglied der Académie Européenne d’Histoire in Brüssel. Von seinen zahlreichen internationalen Funktionen müssen besonders seine Verdienste im Rahmen der Commission internationale pour l’Histoire de Villes (Vorsitzdender 1981–1996) hervorgehoben werden.15 Vilfans letztes Werk, Zgodovinska pravotvornost in Slovenci (Die historische Rechtsbildung und die Slowenen), gründet vor allem auf einer tiefgreifenden Kritik von drei Auffassungen der Rechtsbildung, und zwar: Dem Binärbild »volkstümlich« vs. »staatlich«, der Rechtsbildung als »nationale« Eigenschaft und einer anachronistischen Anbindung der Rechtsbildung ausschließlich an den Staat bzw. die Staatsbildung.16 Die ersten beiden fasste er folgendermaßen zusammen: Rechtsbildung ist die Fähigkeit einer Person oder einer Gruppe, Recht zu schaffen. Im 19. Jahrhundert, das Vereinfachungen liebte, wurde Rechtsbildung – ähnlich wie manche anderen vermeintlich kollektiven Eigenschaften – unter diejenigen Fähigkeiten eingeordnet, über welche einige Nationen in einem besonderen Maße verfügen sollten, 13 Rau, Räume. 14 Christmann, Zur kommunikativen Konstruktion von Räumen. 15 Weitere Arbeiten Vilfans, die nicht auf Slowenisch verfasst sind: Wirtschaftsgeschichte und Rechtsgeschichte, Graz 1985; Les communautés rurales entre l’occident et les Balkans. Formes Slovenes jusqu’au debut du XXe siecle, Paris 1986 ; Les Chartes de Libertés des États provinciaux de Styrie, de Carinthie et de Carniole et leur importance pratique, ICHRPI, Vol. 56, S. 199–210 ; Les conceptions du pouvoir déclarées par les États de Carniole à l’époque de la Réformation, ICHRPI, Vol. 67, S. 57–64; Crown, Estates and the Financing of Defence in Inner Austria. 1500–1630, London 1991; Towns and States at the Juncture of the Alps, the Adriatic, and Pannonia, Boulder / San Francisco / Oxford 1994. 16 Siehe auch die Gedenkschrift Tatjana Šenk (Hg.): Arhivistika, zgodovina, pravo. Vilfanov spominski zbornik = Archivkunde. Geschichte. Recht: Gedenkschrift für Sergij Vilfan = Archives, history, law. Vilfan’s memorial volume, Ljubljana 2007.

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während sie andere wiederum überhaupt nicht besaßen. Die Nationen wurden als Organismen mit ganz konkreten und spezifischen Eigenschaften verstanden.17

Vilfan erklärt weiter, wie sich das Binärbild »volkstümlich« vs. »staatlich«, sofern es sich auf das Recht bezieht, ausprägt, und wie es sich mit der Idee von Nationen als Organismen mit spezifischen Eigenschaften bis heute verknüpfen lässt: Darüber nachdenkend, hatten sie zwei Vorstellungen über die Beschaffenheit des Rechts, die sie aber nicht immer bewusst voneinander abgrenzten. Auf der einen Seite sollte es um die Rechtschaffung und die damit verbundene Rechtsdurchsetzung gehen, die ausgeprägte Merkmale von Spontanität, Anonymität und Originalität zeigten, und zwar im Sinne von »volkstümlich« bzw. was ursprünglich dafür gegolten hat bzw. noch heute teilweise gilt. Auf der anderen Seite kannten sie vor allem die Rechtsschaffung in organisierten Formen, wie sie für einen modernen Staat mit seiner planmäßigen Gesetzgebung typisch ist. Beide Aspekte der Rechtsbildung stellen Teile der gesamten Rechtsgeschichte dar, allerdings so, dass das Hauptthema dieser Disziplin die organisierte Rechtschaffung ist.18

Vilfan bringt noch eine angebrachte Warnung hinsichtlich von Worten und Begriffen an: Sowohl » volkstümlich« als auch »Rechtsbildung« seien Kinder ihrer Zeit und er betont, dass hinsichtlich der beiden »beträchtliche Vorbehalte angemessen sind und dass die Worte nicht pauschal verwendet werden sollten«, weil »die Entwicklung im breiten Raum zu verwickelt war, als dass wir mit solch groben Vereinfachungen umgehen konnten.«19 Danach kritisiert Vilfan sehr treffend eine weitere Vereinfachung des 19. Jahrhunderts, und zwar die anachronistische Anbindung der Rechtsbildung, die regelmäßig als dauernde Eigenschaft eines Volks verstanden wurde, ausschließlich an den Staat bzw. die Staatsbildung: Die Rechtsbildung wird manchmal aber von einem anderen Aspekt aus betrachtet, und zwar sozusagen als Fähigkeit oder als dauernde Eigenschaft eines Volkes oder einer Nation, eine Fähigkeit, über welche einige Völker verfügen und die anderen nicht. Diesem Gedankengang folgend, wurde die Frage der Rechtsbildung mit dem Staat verknüpft, und zwar vereinfacht: Die Fähigkeit zur Rechtsbildung solle nur ein Volk besitzen, das als staatsbildend betrachtet werden kann, d. h., das in der Geschichte über einen Staat verfügte.20

Vilfan relativierte diese grobe Vereinfachung, indem er den fälschlichen Eindruck einer Identität von gentilen Gesellschaften, mittelalterlichen Staatsgebilden und modernen Nationalstaaten demaskierte: 17 Vilfan: Zgodovinska pravotvornost, S. 17 (Übersetzung K. Š. Alle Zitate aus dem angeführten Werk wurden von der Autorin ins Deutsche übertragen). 18 Ebd., S. 17. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 26.

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Einleitend soll die folgende Behandlung dieses Aspekts der Rechtsbildung mit einer Feststellung überholt werden: Die gentilen Monarchien des Hochmittelalters traten den verschiedenen Formen des mittelalterlichen Staates zur Seite, meistens dynastischen Gebilden, die auf verschiedenen Formen von persönlichen Über- und Unterstellung basierten (Feudum, Ministerialität, Landesangehörigkeit). Bis zur Erscheinung des modernen Nationalitätsprinzips, das in verschiedenen Teilen Europas auf verschiedenen Grundlagen und Kriterien basierte, war ein europäisches Staatsgebilde im Bewusstsein der breiten Masse kein auf einem sprach-nationalen oder einem anderen ethnischen Prinzip aufbauendes Gebilde. Mit den heutigen Staaten sind nur einige historische Staatsgebilde vergleichbar, und auch sie vor allem und in einem gewissen Maße nur aufgrund des (geographischen) Gebietes. So eine grobe Vergleichbarkeit hat aber in dem Etablierungsprozess von Nationalstaaten einen fälschlichen Eindruck einer Identität von gentilen Gesellschaften, mittelalterlichen Staatsgebilden und modernen Nationalstaaten erweckt. So hat sich Frankreich (als Staat) mit den Franken identifiziert, Deutschland mit den Germanen, doch auch Franken waren Germanen.

Dass die Staatsbildung »in der Zeit zwischen den gentilen Monarchien und Nationalstaaten« vor allem nicht als Eigenschaft eines Volks oder einer Nation betrachtet werden konnte, erklärt Vilfan wie folgt: In der Tat waren die europäischen Staaten im Allgemeinen und die slowenischen Länder im Spezifischen in der Zeit zwischen den gentilen Monarchien und Nationalstaaten nicht mit den Völkern oder Nationen, wie wir sie heute kennen, identisch. Erstens, der moderne Staat und das historische Volk sind zwei verschiedene Kategorien, zweitens, in dieser Zwischenzeit waren nur verschiedene, ziemlich kleine Gruppen, die aufgrund des Zusammenwirkens unterschiedlicher historischer Gründe geformt wurden, staatsbildend. In der Zwischenzeit war Staatsbildung vor allem keine Eigenschaft eines Volkes oder einer Nation, weswegen auch seine Anknüpfung an die Rechtsbildung im Sinne einer allgemeinen Regel unmöglich ist. Noch unmöglicher aber ist sie in denjenigen Staatsgebilden, die schon wegen der Grundidee (z. B.. renovatio imperii) oder wegen einer dynastischen Politik (z. B.. die Habsburger) verschiedene Sprach- und ethnische Gruppen umfassten.21

Aufgrund einer jahrzehntelangen gründlichen Beschäftigung mit den Rechtsphänomenen im heutigen slowenischen Sprachgebiet – seine Recherchen basierten immer auf Archivalien, da sich Sergij Vilfan, wenngleich Jurist, im mitteleuropäischen Raum zunächst durch Archivkunde auszeichnete –, konnte sich Vilfan noch tiefgreifender über die Rechts- und Staatsbildung ausdrücken: Überdies gilt aber vor allem für das Mittelalter, dass die Rechtsbildung nicht ausschließlich eine Aktivität der Staatsorgane war, vor allem nicht der höchsten. Im mittelalterlichen Staat verursachten die Prädominanz der Naturalwirtschaft und der damit verbundene geringe Geldfluss und vor allem der Analphabetismus breiter Schichten der 21 Ebd. S. 27.

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Bevölkerung, dass die verschiedenen öffentlichen Funktionen unter der umfangreichen Beteiligung von Leuten in sehr dispergierten Einheiten ausgeübt wurden. In diesen Einheiten und zugleich auch im Rahmen der herrschenden gesellschaftlichen und rechtlichen Ordnung entstanden partikulare Rechte, die sich voneinander in mehreren Hinsichten unterschieden.22 Das alles aber bedeutet nicht, dass es zwischen dem Staat und der Rechtsbildung keine Verknüpfungen gab. Es bedeutet nur, dass die Staatsbildung nicht immer eine nationale Eigenschaft im heutigen Sinne war, so dass die Frage der slowenischen Rechtsbildung nicht im Voraus mit der Behauptung verworfen werden kann, dass es keinen »eigenen« Staat gegeben habe. Die Rechtsschaffung in den früheren Epochen war ein zu komplexes Geschehen, als dass wir es nur in ein paar Sätzen zusammenfassen könnten.23

In seiner auf Deutsch verfassten und in Graz im Jahr 1968 erschienenen Rechtsgeschichte der Slowenen fasst Vilfan die obigen Gedanken folgendermaßen zusammen: Der Partikularismus und die fortschreitende soziale Schichtung übten ihre Wirkung auf die Entwicklung der mittelalterlichen Autonomien nach dem Grundsatz sozial getrennter, doch auch innerlich ständisch gegliederter Kollegien aus. Aus der früheren Stammesorganisation wurde zunächst auch bei den Slowenen das Taiding (veča)  als Volksversammlung übernommen. In einzelnen Schichten kam es dann zu verschiedenen Zeiten zur Verlagerung des Schwerpunktes auf ein engeres Beisitzerkollegium, das sich verselbständigte, bis es schließlich durch Beamtenkollegien und Einzelorgane verdrängt wurde. … Die mittelalterliche Autonomie trug das alte Gemeinschaftsprinzip weiter, wobei allerdings sowohl die Kompetenz beschränkt als auch die Kontrolle durch den Vorsitzenden gesichert war. … Die Autonomie und die geringe gesetzgeberische Tätigkeit des älteren feudalen Staates, verbunden mit dem Gewohnheitsrecht, das zwar auf einem Trägheitsprinzip basierte, doch zugleich anpassungsfähig war, trugen dazu bei, dass sich die Rechtsgeschichte der Slowenen viel lebendiger gestaltete, als man es einst im Geiste der reinen Normengeschichte hatte vermuten können.24

Davon, dass Vilfan den letzten Satz, der sich gegen die Einsicht richtet, die Rechtsgeschichte ließe sich in einer reinen Normengeschichte erschöpfen, ernst meinte, spricht auch sein Lehrbuch Uvod v pravno zgodovino (Einleitung in die Rechtsgeschichte) aus dem Jahr 1991. Im einleitenden ersten Kapitel spricht Vilfan  – klassischen Rechtsquellenkategorien folgend – von vier »Arten von Recht laut ihrer Entstehung« (vrste prava po načinu nastanka), d. h. Gewohnheitsrecht, gesetztes Recht, Richterrecht – Judikatur und usus fori – und Juristenrecht.

22 Vgl. unten IV A die Betonung liegt auf der normativen Kraft der Handlung von historischen Akteuren aus allen sozialen Schichten und auf dem Verständnis von Rechtsräumen im Heiligen Römischen Reich als einem »Flickwerk« (patchwork). 23 Vilfan: Rechtsgeschichte, S. 28. 24 Vilfan: Rechtsgeschichte, S. 71.

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III. Kurzer Überblick über den komplexen historischen Kontext des Alpen-Adria-Gebiets im Rahmen des Heiligen Römischen Reiches um 180025 Im Jahre 1782 schuf Kaiser Joseph II. die fast tausendjährige Diözesangrenze zwischen den Erzbistümern Salzburg und Aquilea ab, die Karl der Große im Jahr 811 an dem Fluss Drau mitten in der karantana provincia, d. h. des tributären gentilen Fürstentums der Alpenslawen, gezogen hatte. Er passte sie an die Grenze zwischen den historischen Ländern Kärnten und Krain an, von denen das erste nur teilweise, das andere aber ganz zum heutigen Slowenien gehört. Damals bildeten die beiden Länder noch immer einen Teil der sogenannten innerösterreichischen Gruppe der habsburgischen Länder, verschafften sich aber im Sinne einer territorium clausum um 1800 allmählich ihre Territorien. Die mitten in Kärnten liegende Territorialherrschaft Villach (Beljak) zum Beispiel gehörte von 1007 bis in die Zeit Maria Theresias zum Hochstift Bamberg, während die mitten in Krain liegende Territorialherrschaft Veldes (Bled) von 1004 bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zum Hochstift Brixen gehörte. Das stellt nur ein Detail der umfangreichen Verwaltungs- und Justizreformen dar, mit denen Joseph II. die Zentralgewalt über die Kerngebiete seines Hauses zu verstärken versuchte. Sie erleichterten letztlich auch seinem Neffen Kaiser Franz I., der sich 1804 – vor allem auch mit Blick auf Napoleon – selbst zum Österreichischen Kaiser erhob, den langen Prozess der Herauslösung der Monarchia Austriaca aus dem Heiligen Römischen Reich. Der Herauslösungsprozess spiegelte sich auch darin, dass aufgrund von bekannten Privilegien, von Österreichischen Freiheitsbriefen, die Kernländer des Hauses Habsburg sehr früh, d. h. seit dem 14. Jahrhundert, von der Geltung der Reichsgesetze, und die Vasallen von der Jurisdiktion der Reichsorgane (privilegium de non evocando) im Prinzip ausgenommen wurden. Die südwestlichen Kernländer der Habsburger, d. h. die Länder Görtz und Krain mit Triest, grenzten seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts direkt an das Hinterland der Venezianischen Republik, die aber 1797 wegen Napoleon ihr Ende fand. Damit änderte sich auch wesentlich der rechtliche Status der Städte an der nördlichen Adriaküste. Die Halbinsel Istrien, deren kleiner nordöstlicher Teil seit dem 16. Jahrhundert zum habsburgischen Krain gehörte, wurde so seit dem 13. Jahrhundert, als die Küstenstädte an Venedig fielen, zum ersten Mal unter einer Herrschaft vereinigt – zuerst unter Napoleon und seiner Neuschöpfung, den Illyrischen Provinzen, und dann unter dem Kaiserreich Österreich. In der Zeit um 1800 erlebte dieses Gebiet tatsächlich nicht nur eine tiefe Umwandlung, sondern auch das Verschwinden alter Rechtsräume und die mehr oder weniger planmäßige Herausbildung von neuen. Was mich von Anfang an am meisten interessiert, sind einerseits die Zeichen der Resilienz von alten Rechtsinstitu-

25 Zur Geschichte des Alpen-Adria-Gebiets siehe Moritsch, Andreas (Hg.): Alpen-Adria. Zur Geschichte einer Region, Klagenfurt / Celovec 2001.

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ten und Rechtsverhältnissen im Kontext der Neuschöpfungen und andererseits eine umfangreiche Analyse der Gründe für das Verschwinden eines alten Rechtsraums. Mit dieser Absicht bereite ich für die nächste Phase meiner Recherchen die Analyse von zwei Quellenmaterialien vor, die aus der behandelten Zeit und dem behandelten Raum stammen. Auf der einen Seite werde ich mich auf das Quellenmaterial von Cour d’Appel de Laybach der Illyrischen Provinzen (1809–1813) konzentrieren, die die habsburgischen Länder Krain, Görtz, Triest, den westlichen Teil Kärntens, seit 1810 auch Osttirol und Kroatien südlich der Save und Dalmatien mit Dubrovnik umfassten. Auf der anderen Seite werde ich mich dem Quellenmaterial über Slavia Veneta im venezianischen Hinterland widmen, die seit Jahrhunderten an die Kernländer der Habsburger grenzte, und deren Bevölkerung seit dem 15. Jahrhundert seitens der Republik mehr als vierzig privilegia erhielt, wodurch ihre Verwaltungs- und Justizautonomie – ähnlich wie bei anderen Ländern in dem größeren Alpenraumgebiet – erheblich unterstützt wurde.26 Das erste Material wird aus der Perspektive der neuen Illyrischen Provinzen behandelt, d. h. eines neuen Rechtsraums, der die alten Kernländer der Habsburger aufgrund ihrer slawischen Bevölkerung umgestaltet hat, wobei ich mich besonders auf die Reformen des Strafrechts und der Strafjustiz beziehen werde, d. h. auf die Abschaffung der Patrimonialgerichte. Außerdem möchte ich auch auf den Prozess der formellen Inkorporierung hinweisen, die ein Teil dieses neuen Rechtsraums aufgrund der Wiedereingliederung in das Kaiserreich Österreich als »Königreich Illyrien« (1814–1849) durchlaufen hat.27 Das zweite Material wird als Beispiel der Abschaffung einer sehr alten Autonomie und ihres komplexen Rechtsraums erforscht, die von den neuen französischen und danach österreichischen Zentralbehörden als solche nicht mehr anerkannt wurde. Ein paar Jahrzehnte später spiegelte sich dieser Vorgang darin wieder, dass die »Venezianischen Slowenen« 1848 das politisch-nationale Programm »Vereinigtes Slowenien« im Rahmen des österreichischen Kaiserreiches nicht unterstützten und sich im Jahre 1866 bei einer informellen Volksabstimmung für das »Vereinigte Italien« entschieden. Die Gründe dafür waren einerseits, dass sie von dem neuen bürgerlichen Staat eine Verwaltungsund Justizautonomie erwarteten, wie sie schon die Venezianische Republik gekannt

26 Z. B. Vilfan, Sergij: L’autonomia della Slavia Italiana nel periodo patriarcale e veneto, in: La storia della Slavia Italiana (a cura del Centro studi Nediža), Quaderni Nediža 3, San Pietro al Natisone 1978, S. 57–84. Für eine umfangreiche und aktuelle Liste der Quellen und Literatur siehe Beguš, Ines: Avtonomija in ekonomiija Nadiških dolin v Beneški republiki, Koper 2015, S. 195–208. Über privilegia siehe Podrecca, Carlo: La Slavia Italiana, Cividale 1884, S. 59–65. 27 Siehe Polec, Janko: Kraljestvo Ilirija. Prispevek k zgodovini razvoja javnega prava v slovenskih deželah [s. Beitrag zur Geschichte der Entwicklung des Öffentlichen Rechts in den slowenischen Ländern], Ljubljana 1925; siehe auch Vošnjak, Bogumil: Ustava in uprava Ilirskih dežel (1809–1813). Prispevki k nauku o recepciji javnega prava prvega francoskega cesarstva [Verfassung und Verwaltung der Illyrischen Länder (1809–1813). Beiträge zur Rezeptionslehre des französischen öffentlichen Rechts des Ersten Französischen Kaisertums], Ljubljana 1910.

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hatte,28 andererseits die Hoffnung auf die Bewahrung ihrer Muttersprache, was sich jedoch als Trugschluss erwies.

IV. Rechtsräume – Die Lebendigkeit der Rechtsgeschichte hervorrufen (frei nach Vilfan) A. Das Heilige Römische Reich als Flickwerk von sich überlappenden Rechtsräumen (patchwork of overlapping legal spaces) Eine anreizende Bezeichnung für das Heilige Römische Reich, die treffend evokativ ist und sich vor allem von dem schon zu überfrachteten Ausdruck »System« – im Sinne der rationalistischen Naturrechtschule – unterscheidet, habe ich in einer kürzeren Arbeit von Karl Härter aus dem Jahr 2013 gefunden,29 in der der Autor, ebenfalls Mitglied des MPI für Rechtsgeschichte, etwas paraphrasiert von einem »Flickwerk von sich überlappenden Rechtsräumen (patchwork of overlapping legal spaces)« spricht. Härter charakterisiert die rechtliche Natur des Reichs und seiner komplexen Zusammensetzung zunächst folgendermaßen: The composite constitutional nature of the Empire formed a multi-layered legal system with various overlapping legal spaces, comprising Roman law / ius commune, imperial law and legislation (Reichsrecht), and particular customary law and legislation of the different territorial rulers.30

Härter hebt hervor, dass diese verschiedenen Ebenen nicht notwendigerweise einer hierarchischen Ordnung entsprachen, sondern eher einem »system of legal spaces with complex interactions and interconnections.«31 Die beeindruckende Diversität von Gerichtsbarkeiten bzw. Geltungsbereichen (jurisdictions) auf jeder Ebene des Reiches am Ende des 15. Jahrhunderts vergleicht der Autor dann mit einem Flickwerk (patchwork): »a patchwork  of imperial, territorial, seigniorial, ecclesiastical, aristocratic, communal, and local jurisdictions«.32 Härter verdeutlicht weiter, dass 28 Vgl. einen aussagekräftigen Auszug aus einem Protokoll des sog. »gesamten Taidings« (arengo) der Zwei Täler vom 12. November 1797 (d. h. nach dem Sturz Venedigs!): »… nel arengo dei Decani e Deputati di ambe convalli a S. Quirino, … i due Sindici propongano di passare all’elezione di n.2 Deputati e Procuratori, quali abbianno a presentarsi a piedi del Trono di Sua Maestá l’imperatore od a qualque altra autoritá per implorare la conferma delli Antichissimi Privileggi, ecc.« Podrecca: La Slavia Italiana, S. 44. 29 Härter, Karl: The Early Modern Holy Roman Empire of the German Nation (1495–1806). A Multi-layered system, in: Duindam, Jeroen / Humfress, Caroline / Hurvits, Nimrod (Hg.): Law and Empire, Leiden / Boston 2013, S. 111–131. 30 Ebd. S. 114. 31 Ebd. S. 116. 32 Ebd. S. 124–125.

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sie seitens verschiedener höherer und niedrigerer Gerichte ausgeübt wurden, wo sich die Laiengeschworenen bzw. Schöffen regelmäßig auf das lokale Gewohnheitsrecht beriefen.33 Härter betont auch den großen Einfluss dieser verschiedenen und sich überlappenden Gerichtsbarkeiten (jurisdictions) durch die aktive Rolle der Adressaten aus allen sozialen Schichten, die Strategien wie forum shopping und andere Verfahrensweisen inkorporierte.34 Diese Situation soll ab dem 15. Jahrhundert einem Verrechtlichungsprozess ausgesetzt werden, der nach Härters Meinung wesentlich von der 1495 etablierten Praxis des Reichskammergerichts beeinflusst wurde.35 B. Rechtsraumtypologie – Der Kontext ihrer Entstehung Den Zeitraum um 1800 habe ich für meine Untersuchung der beiden Fälle und deren Vergleich – und zwar von Anfang an mit der Absicht einer Herausarbeitung einer Typologie von Rechtsräumen – keineswegs zufällig ausgewählt. Es geht um einen Zeitraum, der vor allem durch den langen Übergang von Rechtspartikularismus und Rechtspluralismus zu Verstaatlichung und einer monistischen Auffassung des Rechts sowie von der Identität in der neuen bürgerlichen Gesellschaft charakterisiert ist. Es geht auch um einen Zeitraum, in dem die monistischen Konzeptionen nicht nur das vorherrschende Verständnis vom Recht – symbolisch materialisiert in den modernen Kodifikationen wie dem Code Napoléon und dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch, die auch in dem erforschten Alpen-Adria-Gebiet galten – wesentlich verändert haben, nämlich, indem den Entscheidungen der Richter, dem Gewohnheitsrecht und dem ius commune die Rechtskraft weggenommen wurde. Sie haben in einer tiefgreifenden Weise auch das vielschichtige Selbstverständnis der Menschen geändert. Vor allem gilt das für das neue Prinzip, dass der Rechtsadressat – in der neuen monistisch erfassten Situation in der Tat ein Adressat des Gesetzes bzw. der Kodifikation – der Bürger ist, der Bürger jedoch, so Paolo Grossi, als eine völlig abstrakte Kategorie, der von jeder Historizität »mit der Sense der Gleichheit« abgeschnitten ist.36 In seinem ausgezeichneten Beitrag »Carnalità de lo spazio giuridico« bemerkt Grossi ironisch, dass es heutzutage so aussieht, als ob das Recht in seiner Abstraktion, d. h. in seiner bedeutendsten Qualität – dank dem dauerndem Einfluss der rationalistischen Naturrechtsschule – »von oben nach unten auf einen Rechtsraum, der wie eine tabula rasa völlig leer erscheint, regnete«.37 Ich möchte daher betonen, dass keines der Konzepte von Rechtsräumen, die als Modell bzw. Ordnungsmuster für die Situation auf dem europäischen Kontinent nach 1800 dienten, für ältere Epochen 33 34 35 36 37

Ebd. S. 124. Ebd. S. 116. Ebd. S. 125. Grossi, Paolo: The History of European Law, West Sussex 2010, S. 80. Grossi, Paolo: Carnalità de lo spazio giuridico, in: L’uomo e lo spazio nell’Alto Medioevo. Atti delle settimane di studio del Centro italiano sull’Alto Medioevo, Spoleto 2002, S. 537–550, hier S. 537.

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und ihre grundverschiedenen und komplexen rechtsrelevanten Realien geeignet ist oder sogar automatisch auf diese transponiert werden kann. Als Beispiel eines beeindruckenden Konzeptualisierungsversuches von Rechtsräumen kann das Buch Legal spaces von Sabine Müller-Mell aus dem Jahr 2013 gelten.38 Nach ihrem Konzept müssen drei Typen von Rechtsräumen unterschieden werden: die Rechtsräume, die vom Gesetz, der Rechtsprechung und der Doktrin erzeugt sind. Ihre Analyse, wenngleich von hoher Abstraktion, ist jedoch stark auf der Grundlage der heutigen Situation in Europa modelliert und kann daher zur Analyse vergangener rechtsrelevanter Realien aufgrund des viel zu beschränkten Ausblicks nicht verwendet werden. Die beiden Quellenmaterialien, betrachtet vor dem Hintergrund einer um 1800 vorherrschenden Perspektive, wurden so in dieser ersten Phase meiner Recherchen im Kontext des langen Übergangs von Rechtspartikularismus und Rechtspluralismus zu Verstaatlichung und einer monistischen Auffassung des Rechts analysiert. Hierbei wurde außerdem in den Blick genommen, dass es sich bei dem Alpen-Adria-Gebiet spätestens seit der Spätantike um ein vielschichtiges Grenzgebiet handelt, in dem die einfachen interpretativen Schemata im Sinne einer Entwicklung verschiedener parallel konzipierter (vor)nationaler Rechtssysteme besonders ungeeignet erscheinen. C. Die Rechtsraumtypologie und ihre zusammengesetzten Elemente39 nach vier Kriterien I. Kriterium Machtverhältnisse 1. Erzeugt seitens potestas legislatoria / normative Kraft des Faktischen 2. hierarchisch / heterarchisch / ein »Flickwerk« 3. harmonisiert / konkurrierend 4. überlagert / integriert / kooptiert 5. etabliert / verhandelbar 6. obligatorisch / wählbar II. Kriterium Strukturierung 1. makro  /  mezzo / m ikro 2. monozentrisch / bizentrisch / plurizentrisch 3. zusammengesetzt / einteilig 4. mehrschichtig / einschichtig 5. fragmentiert (non clausum) / geschlossen (clausum) 6. überlappend / parallel (var. konzentrisch) / isoliert 38 Vgl. auch Kötter, Matthias / Schuppert, Gunnar Folke (Hg.): Normative Pluralität ordnen. Rechtsbegriffe, Normenkollisionen und Rule of Law in Kontexten dies- und jenseits des Staates, Baden-Baden 2009. 39 Jedes »zusammengesetzte« Typologie-Element beruht auf einem oder mehreren historischen »Beispielen«, die ich vor allem aus dem heutigen slowenischen Raum ab dem Hochmittelalter kenne und die ich in einem umfangreicheren Beitrag vorstellen werde.

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7. individualisiert / kollektiv / universal 8. personal / territorial 9. ambulatorisch / fixiert III. Kriterium Zeit 1. transitorisch / langlebig 2. ad hoc / permanent 3. jung (neu) / alt IV. Kriterium Materielle Beschaffenheit 1. physisch / geistig (internalisiert), var. symbolisch 2. vorhanden / potentiell 3. real / virtuell D. Komplexere Beschreibung zweier Beispiele von Rechtsräumen anhand der Typologie Wie also können wir die beiden historischen Beispiele mit Hilfe der Typologieelemente bzw. ihres »Vokabulars« in einer komplexeren Weise beschreiben, oder präziser gesagt, vor allem ihre komplexeren inneren und äußeren Beziehungen und Dynamiken? Die Illyrischen Provinzen als Rechtsraum um 1800 lassen sich folgenderweise beschreiben: Sie waren seitens der potestas legislatoria erschaffen worden, in ihrer Entstehung also nicht-verhandelbar. Sie waren hierarchisch, aber auch nicht ganz integriert in den französischen Staat. Man könnte sie als einen Mezzo-Rechtsraum betrachten. Als solcher waren sie geschlossen (territorium clausum), innerlich zusammengesetzt, mehrschichtig und mono- bzw. bi-zentrisch, abhängig von dem Typ der Organisationsstruktur, z. B. administrative oder gerichtliche, den wir vor Augen haben. Aufgrund ihrer kurzen Dauer waren sie ein transitorisches Gebilde. Trotz ihres kurzen Bestehens waren sie aber trotzdem ein physisch begriffener Rechtsraum, wurden jedoch nach ihrem Ende 1814 bzw. 1849 als potentieller neuer Rechtsraum transformiert und internalisiert, d. h. als ersonnener Vorläufer des künftigen Jugoslawien. Die Zwei Täler von Natisone (Nadiža) als Rechtsraum um 1800 gingen dagegen mehr als ein halbes Jahrtausend früher aus der normativen Kraft des Faktischen hervor. Unter der Macht des Venezianischen Dogen bzw. des Patriarchen von Aquilea könnte man sie vor dem 15. Jahrhundert als hierarchischen Rechtsraum schildern, aufgrund ihrer günstigen Grenzposition, die für die Venezianische Armee von Bedeutung war, auch als ständig verhandelbaren, worüber mehr als vierzig bestätigte Privilegien in drei Jahrhunderten Zeugnis abgeben. Die Zwei Täler wurden in den Makro-Rechtsraum Venedig kooptiert. Als Mikro-Rechtsraum waren sie geschlossen, doch aufgrund ihrer komplexen, inneren administrativen Organisation dreischichtig. Abhängend von dem Typ der gerichtlichen oder administrativen Organisation waren sie bi- bzw. monozentrisch. Die Zwei Täler waren um 1800 sicherlich ein wunder-

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schönes Beispiel für einen sehr alten und langlebigen Rechtsraum und als solcher sehr physisch erfasst. Doch nach ihrem tatsächlichen Ende um 1833 wurden sie als Rechtsraum transformiert und internalisiert, um dann im 20. Jahrhundert, im Rahmen des neuen italienischen Staats, nur noch ansatzweise rekonstruiert zu werden.

V. Schlusswort Die hier vorgeschlagene Typologie von Rechtsräumen wurde als ein konzeptuelles Hilfsmittel entworfen, das dem Überwinden zahlreicher anachronistischer Auffassungen von Rechtsbildung dient, über die sich Sergij Vilfan als Erster in der slowenischen Rechtsgeschichte so deutlich und argumentationsreich geäußert hat: das Binärbild »volkstümlich« vs. »staatlich« und zwei eher monistische Auffassungen, die Rechtsbildung als »nationale« Eigenschaft und als Anbindung der Rechtsbildung ausschließlich an den (modernen) Staat verstehen. Es ist nun meine Hoffnung, dass sich anhand der Typologie nicht nur die sog. slowenische, sondern auch die sog. österreichische40 oder jede andere Rechtsgeschichte – in Vilfans Worten – »viel lebendiger gestaltet« betrachten lässt, »als man im Geiste der reinen Normengeschichte hätte vermuten können«.41 Anders gesagt, gezeigt werden sollte, dass sich die Lebendigkeit der Rechtsgeschichte mit Hilfe der zahlreichen Optiken und Ausgangpunkte, die jedes zusammengesetzte »Element« der Typologie anbietet, besser beschreiben lässt, was sich vor allem bei der Analyse konkreter historischer Beispiele offenbart. Hier referiere ich an die oben bereits erwähnte Beschreibung Karl Härters des Heiligen Römischen Reichs, in das auch das Alpen-Adria-Gebiet Jahrhunderte lang inkorporiert war, als »System von Rechtsräumen mit komplexen Interaktionen und Verbindungen« und zugleich als »Flickwerk« von sich überlappenden Rechtsräumen. Es ist zudem meine Hoffnung, dass dieser Versuch teilweise auch die Frage Duves beantwortet, der danach fragt, wie sich die heutige und gestrige Rechtswelt kartieren lässt: »How we can map today’s and the past’s world of law.«42 Abschließend möchte ich aber noch ein ganz wichtiges Element besonders hervorheben, und zwar die normative Kraft des Faktischen bzw. der Handlung von historischen Autoren. Dafür möchte ich einen Auszug aus den Quellen der sog. Venezianischen Slowenen verwenden, der schon an sich aussagekräftig ist. Es geht um den Auszug aus einem Ducale des letzten Doge di Venezia, wo der Doge für den Rechtsraum oder besser für die Rechtsräume seiner treuen Männer und der Bevölkerung der Zwei Täler (fedeli huomini et abitanti nelle contrade e convalli di Schia40 Vgl. Strohmeyer, Arno: »Österreichische« Geschichte der Neuzeit als multiperspektivische Raumgeschichte. ein Versuch, in: (Hg.): Scheutz, Martin: Was heißt »österreichische« Geschichte? Probleme, Perspektiven und Räume der Neuzeitforschung, Innsbruck 2008, S. 167– 197. 41 Vgl. Kap II und Anm. 24. 42 Duve: Concepts, S. 50.

Rechtsräume als (Fragestellungs-)Konzept

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vonia) eine alte heimische Benennung verwendet: banche (»predetti luochi chimati le banche«). Nebenbei soll gesagt werden, dass die heimische Rechtsterminologie der sog. Venezianischen Slowenen, erforscht und dargestellt auch von Vilfan, aus heutiger Sicht eine Mischung von slawischen (pravda), romanischen respektive venezianischen (banche) und germanischen (garitto) Ausdrücken war und das banca ein sehr häufiger Terminus ist, der auch nicht für den Alpen-Adria-Raum spezifisch ist. Worauf ich zum Schluss aber aufmerksam machen möchte, ist der semantische Sprung, den der Terminus durchlaufen hat. Eine banca kann 1. »Tisch« (heimisch: lastra) und 2. »Gericht« (als Institution)43 bedeuten. Mit diesen zwei Bedeutungen ist banca keine Besonderheit. Spezifisch für die Zwei Täler ist aber der zweite semantische Sprung, nach dem banca einen ganzen Raum, konkret ein Tal (im geographischen Sinn) unter heimischer Gerichtsbarkeit – einen Rechtsraum – bedeutete. Dass auch in dieser vernakulären, traditionellen, gewohnheitsrechtlichen Bedeutung der Terminus in die offizielle Sprache der Venezianer aufgenommen wurde, ist ebenfalls nicht verwunderlich. Ähnlich wie geographische Rechtsräume wurden vor 1800 auch die Rechtswörter in die staatliche Rechts- bzw. Amtssprache ständig kooptiert. Was aber zugespitzt betont werden muss, ist erstens, dass die Benennung banca dank dieses semantischen Sprungs tatsächlich einen Rechtsraum aufscheinen lässt, der von historischen Akteuren, d. h. von der Bevölkerung betrachtet – erzeugt und aufrecht erhalten – wurde, und nicht etwa von einer Rechtshistorikerin und ihrem Schema. Und zweitens, dass der semantische Sprung in einer wunderschönen Weise von der normativen Kraft historischer Akteure zeugt, und zwar nicht nur in diesem dritten Sinn, sondern auch schon im ersten und zweiten – in der Tat also von den drei Phasen eines tatsächlichen Institutionalisierungsprozesses.44 Die vorgeschlagene Typologie und das Vokabular sollen vor allem der Erforschung und unter Umständen auch der Aufdeckung solcher Rechtsphänomene dienen, die mit den historischen Akteuren vielleicht schon einen Endpunkt erlebten, für Forscher aber eine unerschöpfliche Inspirationsquelle für Neuanfänge darstellen, vor allem auch im Sinne neuer Perspektiven.

43 Seine Sitzung dagegen hieß heimisch aber immer pravda. 44 Über vergleichbare semantische Sprünge der Bedeutungen der altslowenischen Worte »veča« und »pravda«, beide auch mit der Bedeutung »Taiding«; siehe Vilfan: Pravotvornost, S. 269– 271 und 276–279; über »veča« vgl. Škrubej, Katja: »Ritus gentis« Slovanov v vzhodnih Alpah. Model rekonstrukcije pravnih razmerij na podlagi najstarejšega jezikovnega pravnega gradiva. [»Ritus gentis« of the Slavs in the Eastern Alps. A Model of Reconstruction on the basis of the Old Vernacular Language Material], Ljubljana 2002, S. 157–161 und S. 207–222 (English summary).

Zäsur 1648 ? Die Westfälische Friedensordnung im Urteil der Publikationen zum Gedenkjahr 2018 Michael Rohrschneider

I. Einleitung Dass Historikerinnen und Historiker oftmals grundsätzliche Vorbehalte anmelden, wenn über die Bildung von Epochen, Handlungsabschnitten und konkreten Zäsuren im Geschichtsablauf debattiert wird, zählt zu den Konstanten der neueren Historiographiegeschichte.1 Epistemologische Debatten über potenzielle Erkenntnisgewinne durch Periodisierungen und Zäsursetzungen, aber auch über daraus resultierende Verzerrungen füllen inzwischen ganze Bücherregale.2 Wer sich im 21. Jahrhundert in dieser Frage positioniert, wird in aller Regel den subjektiven Konstruktcharakter von Epochengrenzen und Geschichtsgliederungen jedweder Art akzentuieren. Hinter diese grundlegende Einsicht, die nicht erst ein Erbe der Postmoderne ist, gibt es sicherlich kein Zurück mehr. Zu den Jahreszahlen, die gleichwohl auf eine auffällig große Akzeptanz stoßen, wenn es um Periodisierungen und die Verdeutlichung von epochalen Umbrüchen geht, zählt zweifellos das Jahr 1648. »Es gibt offenbar in allen Epochen schmale, sich oft auf wenige Monate reduzierende Zeitfenster, in denen sich die jeweilige Zeitgeschichte prismenartig verdichtet und fokussiert«.3 Das »europäische Epochenjahr Leicht erweiterter und um Belege ergänzter Text des im Rahmen der Ringvorlesung »Endpunkte. Und Neuanfänge« am 14. Februar 2019 in Ljubljana gehaltenen Vortrags. Der spezifische Vortragscharakter wurde im Wesentlichen beibehalten. 1 Vgl. exemplarisch die grundsätzlichen Überlegungen eines der klassischen Autoren der Annales-Schule, der die Problematik in pointierter Weise im Titel einer Studie verdichtet hat: Le Goff, Jacques: Geschichte ohne Epochen? Ein Essay. Aus dem Französischen von Klaus Jöken, Darmstadt 2016. 2 Auf umfangreiche Literaturhinweise zu diesem Themenkomplex wird verzichtet. Einen guten ersten Zugriff bietet in jüngerer Zeit Schöning, Matthias: »Zäsur«. Probleme einer historiographischen Angewohnheit, in: Meierhofer, Christian / Wörner, Jens (Hg.): Materialschlachten. Der Erste Weltkrieg und seine Darstellungsressourcen in Literatur, Publizistik und populären Medien 1899–1929 (Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs 30), Göttingen 2015, S. 67–81; vgl. darüber hinaus auch die Beiträge in dem Sammelband von Kühtreiber, Thomas / Schichta, Gabriele (Hg.): Kontinuitäten, Umbrüche, Zäsuren. Die Konstruktion von Epochen in Mittelalter und früher Neuzeit in interdisziplinärer Sichtung (Interdisziplinäre Beiträge zu Mittelalter und Früher Neuzeit 6), Heidelberg 2016. 3 Duchhardt, Heinz: 1648. Das Jahr der Schlagzeilen. Europa zwischen Krise und Aufbruch, Wien / Köln / Weimar 2015, S.  7.

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1648«4 ist ein solches Zeitfenster, das am Ende eines langen Krieges einen epochalen Abschluss und zugleich das Fanal zu einem elementaren Neubeginn zu signalisieren scheint. »1648« steht heutzutage als Chiffre für ein ganzes Bündel von Endpunkten und Neuanfängen, um hier das Leitmotiv dieses Sammelbands aufzugreifen. In der Geschichtswissenschaft dient die Jahreszahl traditionell als epochale Zäsur, die gerade in der älteren Historiographie mit dem Ende des sogenannten »Zeitalters der Glaubenskämpfe« und dem Beginn des sogenannten »Zeitalters des Absolutismus« in Verbindung gebracht wurde.5 Diese herkömmliche Periodisierung hängt in ganz entscheidendem Maße mit der unbestritten fundamentalen Bedeutung des Westfälischen Friedens für die europäische Geschichte zusammen.6 Im 18. Jahrhundert hoch geschätzt, im 19. Jahrhundert unter macht- und nationalstaatlichen Prämissen verurteilt und von den Nationalsozialisten massiv bekämpft, gilt der Friedensschluss von 1648 seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als eindeutig positiv konnotierte Wasserscheide der frühneuzeitlichen Geschichte. Der Augsburger Historiker Johannes Burkhardt hat den Westfälischen Frieden im Jubiläumsjahr 1998 sogar überschwänglich als das »größte Friedenswerk der Neuzeit«7 bezeichnet. Zwar sind in jüngerer Zeit einige Einwände gegen eine zu euphorische Deutung der Ergebnisse der Friedensverhandlungen von Münster und Osnabrück erhoben worden.8 Sie sollen aber nicht darüber 4 Ebd. 5 Vgl. als typisches Beispiel die entsprechenden Bände der 9. Auflage von Bruno Gebhardts »Handbuch der deutschen Geschichte«: Zeeden, Ernst Walter: Das Zeitalter der Glaubenskämpfe (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte 9), Taschenbuchausgabe, München 1986; Braubach, Max: Vom Westfälischen Frieden bis zur Französischen Revolution (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte 10), Taschenbuchausgabe, München 1988. 6 Vgl. die Bestandsaufnahmen jüngeren Datums in: Kampmann, Christoph / L anzinner, Maxi­ milian / Braun, Guido / Rohrschneider, Michael (Hg.): L’art de la paix. Kongresswesen und Friedensstiftung im Zeitalter des Westfälischen Friedens (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e. V. 34), Münster 2011; Croxton, Derek: Westphalia. The Last Christian Peace, New York 2013; Westphal, Siegrid: Der Westfälische Frieden (C. H. Beck Wissen 2851), München 2015; Goetze, Dorothée / Oetzel, Lena (Hg.): Warum Friedenschließen so schwer ist. Frühneuzeitliche Friedensfindung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses (Schriftenreihe zur Neueren Geschichte 39, NF 2), Münster 2019. 7 Vgl. Burkhardt, Johannes: Das größte Friedenswerk der Neuzeit. Der Westfälische Frieden in neuer Perspektive, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 49 (1998), S. 592–612; siehe hierzu auch die kritischen Bemerkungen von Tabaczek, Martin: Wieviel tragen Superlative zum historischen Erkenntnisfortschritt bei?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 50 (1999), S. 740–747, und Münch, Paul: 1648 − Notwendige Nachfragen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), S. 329–333. 8 So wurde insbesondere auf die Tatsache aufmerksam gemacht, dass es im Rahmen der westfälischen Friedensverhandlungen nicht gelang, den seit 1635 währenden französisch-spanischen Krieg zu beenden; vgl. Rohrschneider, Michael: Der gescheiterte Frieden von Münster. Spaniens Ringen mit Frankreich auf dem Westfälischen Friedenskongress (1643–1649) (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e. V. 30), Münster 2007.

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hinwegtäuschen, dass die Friedensschlüsse vom 30. Januar und 24. Oktober 1648 in vielerlei Hinsicht langfristige Wirkung entfalteten. Im Folgenden soll nun der Frage nachgegangen werden, wie der vermeintliche oder tatsächliche Zäsurcharakter des Jahres 1648 in der aktuellen Forschung beurteilt wird. Bildet das Jahr 1648 im Sinne der thematischen Leitbegriffe dieses Sammelbandes einen Endpunkt und Neuanfang? Wie wird der Stellenwert des Westfälischen Friedens heute eingeschätzt? Bestätigt sich die herkömmliche Sicht, der zufolge der Westfälische Frieden von 1648 einen deutlichen Einschnitt in der Geschichte Europas darstellte? Oder gilt er in der rezenten Forschung doch eher als transitorisch-ephemeres Phänomen? Empirische Grundlage der nachfolgenden Untersuchung sind ausgewählte Publikationen und Veranstaltungen zum Gedenkjahr 2018, in dem sich der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges zum 400. und der Abschluss des Westfälischen Friedens zum 370. Mal jährte. Analysiert werden im Folgenden: Erstens die neu publizierten wissenschaftlichen Gesamtdarstellungen des Dreißigjährigen Krieges; zweitens zwei themennahe internationale Tagungen, die der Verfasser als Mitveranstalter ausgerichtet hat und deren Ergebnisse inzwischen in Form wissenschaftlicher Sammelbände veröffentlicht wurden; drittens die Publikationen zu dem in neuerer Zeit viel diskutierten Terminus technicus »Westphalian system«, der in Wissenschaft und interessierter Öffentlichkeit breit rezipiert wird. Es geht somit insgesamt gesehen um eine Bestandsaufnahme der aktuellen wissenschaftlichen Debatte.9

II. Der Dreißigjährige Krieg und der Westfälische Frieden im Überblick In einem ersten Schritt ist es erforderlich, einige kurze Erläuterungen grundlegender Natur zum Dreißigjährigen Krieg und zum Westfälischen Frieden voranzustellen, damit die nachfolgend analysierten Befunde der jüngsten Forschung besser eingeordnet werden können. Zunächst stellt sich die banale Frage: Worum ging es im Dreißigjährigen Krieg? Der »Große Krieg« weist ein janusköpfiges Antlitz auf.10 Holz9 Zusätzlich zu den im Folgenden behandelten Publikationen sei auf folgende themennahe Studie hingewiesen, die sich der zeitgenössischen Wahrnehmung des Westfälischen Friedens im 18. Jahrhundert widmet: Becker, Rainald: Der Westfälische Friede als Epocheneinschnitt? Reflexe in süddeutschen Universalhistorien des 18. Jahrhunderts, in: Wüst, Wolfgang (Hg.) / ​ Bauereisen, Lisa (Red.): Der Dreißigjährige Krieg in Schwaben und seinen historischen Nachbarregionen: 1618 – 1648 – 2018. Ergebnisse einer interdisziplinären Tagung in Augsburg vom 1. bis 3. März 2018 (Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 111 (2019); Verein für Augsburger Bistumsgeschichte e. V. Sonderreihe 10), Augsburg 2018, S. 322–353. 10 Verwiesen sei lediglich auf die aktuelle Forschungsbilanz in Kaiser, Michael: 1618–2018. Eine bibliographische Bestandsaufnahme zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges vor 400 Jahren, in: Zeitschrift für Historische Forschung 45 (2018), S. 715–797, sowie die Beiträge in: Rohrschneider, Michael / Tischer, Anuschka (Hg.): Dynamik durch Gewalt? Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) als Faktor der Wandlungsprozesse des 17. Jahrhunderts (Schriftenreihe zur Neueren Geschichte 38, NF 1), Münster 2018.

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schnittartig verkürzt lassen sich die zahlreichen Einzelkriege, internen und externen Konflikte sowie Teilfriedensschlüsse in folgende Doppelperspektivierung einordnen: Zum einen wurden im Verlauf des Krieges die internationalen Mächteverhältnisse in Europa neu austariert. Eng damit verbunden war zum anderen das erbitterte Ringen um die zukünftige politische, konfessionelle und verfassungsmäßige Struktur des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Diese beiden Ebenen lassen sich zwar nicht trennscharf voneinander abgrenzen. Sie weisen aber jeweils eigenständige Komponenten und gesonderte Dynamiken auf und sollten folglich im Rahmen einer Gesamtbewertung auch stets sorgfältig differenziert werden. Gleiches gilt für den Friedensschluss vom 24. Oktober, der jüngst treffend als »hybride[s] Vertragswerk«11 bezeichnet worden ist – »ein multilateraler Friedensschluss als deutsche Verfassung«.12 Dass es so außerordentlich schwer war, den Dreißigjährigen Krieg zu beenden, hängt ursächlich mit der exzeptionellen Komplexität des Geschehens zusammen, die aus der skizzierten doppelten Konfliktlage resultierte: einerseits die Ebene der europäischen Mächtepolitik, andererseits das Ringen um die inneren Verhältnisse im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Auf dem Westfälischen Friedenskongress wurde vor allem über vier große Kriege verhandelt: den Unabhängigkeitskampf der aufständischen nordniederländischen Provinzen, die sich aus der spanischen Monarchie lösen wollten, ferner über die Kriege des Kaisers mit Frankreich und Schweden sowie das Ringen zwischen den katholischen Mächten Frankreich und Spanien.13 Ursprüngliches Ziel des Westfälischen Friedenskongresses war die Herstellung eines universalen Friedens in der Christenheit – »pax universalis« oder »pax generalis«.14 Dieses Ziel wurde letztlich verfehlt. Trotz langwieriger Verhandlungen gelangten Frankreich und Spanien auf dem Westfälischen Friedenskongress nicht zu einem Friedensschluss.15 Die beiden katholischen Kronen setzten ihren seit 1635 offen geführten Krieg vielmehr über das Jahr 1648 hinaus fort. Erst 1659, im sogenannten Pyrenäenfrieden, fanden sie sich unter veränderten machtpolitischen Umständen, die sich mehr und mehr zugunsten Frankreichs entwickelten, doch noch zu einem Friedensschluss bereit.16 11 Schmidt, Georg: Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, München 2018, S. 611. 12 Ebd. 13 Als konzise Darstellung des komplexen Verhandlungsgeschehens sei empfohlen: Repgen, Konrad: Die Hauptprobleme der Westfälischen Friedensverhandlungen von 1648 und ihre Lösungen, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 62 (1999), S. 399–438. 14 Vgl. hierzu jüngst Rohrschneider, Michael: Der universale Frieden als Leitvorstellung auf dem Westfälischen Friedenskongress (1643–1649). Probleme und Perspektiven der Forschung, in: Geiss, Peter / Geppert, Dominik / Reuschenbach, Julia (Hg.): Eine Werteordnung für die Welt? Universalismus in Geschichte und Gegenwart, Baden-Baden 2019, S. 195–216. 15 Vgl. Anm. 8. 16 Vgl. aus jüngerer Zeit vor allem Séré, Daniel: La paix des Pyrénées. Vingt-quatre ans de négociations entre la France et l’Espagne (1635–1659) (Bibliothèque d’histoire moderne et

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Dessen ungeachtet gelang es in Münster und Osnabrück, drei fundamentale Kriege zu beenden. Am 30. Januar 1648 wurde in Münster der Friedensschluss zwischen dem spanischen König Philipp  IV. und den aufständischen Niederländern unterzeichnet.17 Die Republik der vormaligen nordniederländischen ›Rebellen‹ wurden durch den »rey católico« als souveräner, unabhängiger Staat völkerrechtlich anerkannt. Ter Borchs berühmtes Gemälde, das zu einer Ikone europäischer Friedensdarstellungen geworden ist, zeigt die Beschwörung dieses Separatfriedensschlusses am 15. Mai 1648 durch die Kongressgesandten des spanischen Königs und der nordniederländischen Provinzen.18 Gut fünf Monate später, am 24. Oktober 1648, unterzeichneten Gesandte des Kaisers, der Reichsstände, Frankreichs und Schwedens die beiden Friedensverträge von Kaiser und Reich mit Frankreich und Schweden. Die beiden Friedensverträge, das sog. Instrumentum Pacis Monasteriensis (IPM) und das Instrumentum Pacis Osnabrugensis (IPO),19 bilden vertragsrechtlich gesehen eine Einheit. Dieser Friedensschluss weist allerdings kein Junktim mit dem niederländisch-spanischen Sonderfrieden vom 30. Januar 1648 auf und ist somit strikt von diesem Separatfriedensschluss zu unterscheiden.

III. Zäsur 1648? Deutungsansätze in den neu publizierten Gesamtdarstellungen zum Dreißigjährigen Krieg (2017/18) Nach dieser knappen Skizze der makropolitischen Kontexte gilt es nun in einem nächsten Schritt zu analysieren, ob und inwiefern die 1648 etablierte Friedensordnung in der aktuellen Forschung als Endpunkt, Neuanfang, Zäsur, Epocheneinschnitt, Paradigmenwechsel oder Ähnliches gesehen wird. Beginnen wir mit den contemporaine 24), Paris 2007; Duchhardt, Heinz (Hg.): Der Pyrenäenfriede 1659. Vorgeschichte, Widerhall, Rezeptionsgeschichte (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 83), Göttingen 2010; Bély, Lucien / Haan, Bertrand / Jettot, Stéphane (Hg.): La Paix des Pyrénées (1659) ou le triomphe de la raison politique (Histoire des temps modernes 3), Paris 2015. 17 Immer noch grundlegend für den Verlauf der niederländisch-spanischen Verhandlungen ist Poelhekke, Jan Joseph: De vrede van Munster, Den Haag 1948. 18 Siehe hierzu Duchhardt, Heinz: Fernwirkungen: Zur Rezeptionsgeschichte von Ter Borchs Friedensgemälde, in: Braun, Guido / Strohmeyer, Arno (Hg.): Frieden und Friedenssicherung in der Frühen Neuzeit. Das Heilige Römische Reich und Europa. Festschrift für Maximilian Lanzinner zum 65. Geburtstag (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e. V. 36), Münster 2013, S. 439–445; Ders.: »Fremdkörper« auf Ter Borchs Friedensgemälde?, in: Ders.: Der Westfälische Friede im Fokus der Nachwelt, Münster 2014, S. 33–44. 19 Die lateinischen Texte der beiden Friedensverträge sind historisch-kritisch ediert in: Oschmann, Antje (Bearb.): Acta Pacis Westphalicae, Serie III, Abteilung B: Verhandlungsakten, Bd. 1: Die Friedensverträge mit Frankreich und Schweden, 1. Teil: Urkunden, Münster 1998.

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anlässlich des Gedenkjahres 2018 neu erschienenen wissenschaftlichen Gesamtdarstellungen des Dreißigjährigen Krieges von Herfried Münkler, Georg Schmidt und Johannes Burkhardt.20 Ende des Jahres 2017 erschien die Gesamtdarstellung des Dreißigjährigen Krieges, die in den Medien bislang wohl am intensivsten rezipiert worden ist: die 950 Seiten umfassende Monographie des Berliner Politikwissenschaftlers Herfried Münkler mit dem Titel Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618–1648.21 Erklärtes Ziel der voluminösen Untersuchung ist es, ein rein »antiquarisches Interesse« an der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges hinter sich zu lassen und stattdessen in gegenwartsbezogener Weise zu fragen, ob der Dreißigjährige Krieg »womöglich so etwas wie eine Blaupause für die Kriege des 21. Jahrhunderts« sei.22 Münkler geht auf die in eurozentrischer Perspektive weit verbreitete Wahrnehmung des Dreißigjährigen Krieges als Zäsur ausdrücklich ein. Zwar werde das Geschehen der Jahre 1618 bis 1648 von der Nachwelt als maßgeblicher Einschnitt im Prozess der Überwindung von Religionskriegen angesehen. Angesichts der Konfliktlagen in der gegenwärtigen Staatenwelt gelangt Münkler aber zu einer eher ernüchternden Bilanz: Die definitive Zäsur, die der Dreißigjährige Krieg im west- und mitteleuropäischen Selbstverständnis bildet, ist […] nicht zu einer globalen Zäsur geworden. Der ungeordnete Krieg, bei dem Religions- und Bürgerkrieg, Staaten- und Hegemonialkrieg, ›kleiner Krieg‹ und ›großer Krieg‹ ineinander verwoben sind, gehört nicht ein für alle Mal der Vergangenheit an, sondern ist zum Begleiter unserer Gegenwart geworden.23

Lernen könne man heutzutage vor allem aus dem Krieg, nicht aber, so Münkler, aus der sogenannten »Westfälischen Ordnung«. Diese sei in den nachfolgenden Jahrhunderten »von ihren Grundsätzen her in Frage gestellt worden«.24 Allerdings fallen die Ausführungen Münklers über den Westfälischen Friedenskongress und die Friedensschlüsse von 1648 vergleichsweise knapp aus und bleiben letztlich nur an der Verhandlungsoberfläche.25 Der Krieg, nicht der Frieden ist das eigentliche Sujet des Erkenntnisinteresses Münklers. Lediglich auf das in der Politikwissenschaft breit rezipierte Schlagwort des »Westphalian system« bzw. der »Westfälischen Ordnung« geht er etwas näher ein. Darauf wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. 20 Das 2017 in deutscher Übersetzung erschienene Opus magnum des englischen Historikers Peter H. Wilson wird im Folgenden nicht behandelt, da es im englischen Original schon 2009 erschienen ist und für die deutsche Übersetzung inhaltlich nicht mehr wesentlich verändert wurde; vgl. Wilson, Peter: Europe’s Tragedy. A History of the Thirty Years War, London 2009 bzw. Ders.: Der Dreißigjährige Krieg. Eine europäische Tragödie, Darmstadt 2017. 21 Münkler, Herfried: Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618–1648, Berlin 2017. 22 Ebd., S. 20 und 22. 23 Ebd., S. 824. 24 Ebd., S. 817. 25 Vgl. ebd., S. 783–815.

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Ergiebiger für die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung ist die zweite große Gesamtdarstellung zum Dreißigjährigen Krieg, die anlässlich des Gedenkjah­ res 2018 neu erschienen ist: die ebenfalls umfangreiche Monographie Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des Dreißigjährigen Krieges aus der Feder des emeritierten Jenaer Frühneuzeithistorikers Georg Schmidt.26 Schmidt positioniert sich sehr klar und differenziert: Sowohl in demographischer als auch in ökonomischer Hinsicht stelle der Dreißigjährige Krieg eine Zäsur dar. An der ständisch-feudalen Gesellschaftsordnung hätten der Krieg und auch der Westfälische Frieden jedoch letztlich nichts geändert.27 Auch im Hinblick auf das politische System Europas und des Heiligen Römischen Reiches hätten die Ereignisse der Jahres 1618 bis 1648 laut Schmidt »keine tiefe Zäsur«28 zur Folge gehabt. Das westfälische Verhandlungsergebnis pries niemand als bahnbrechende Reform oder gar als Durchsetzung von Toleranz, Verrechtlichung und Pluralisierung. Zukunftsträchtig war die gute alte Ordnung, die auf dem Papier rhetorisch auch dort wiederhergestellt wurde, wo der Verfassungsgeber Neuland betrat.29

Gleichwohl negiert Schmidt keineswegs die großen Leistungen der westfälischen Friedensverhandlungen – ganz im Gegenteil: Der Westfälische Friede wurde ein Meisterwerk, weil er die transzendentalen Ziele außer Acht ließ und sich auf das Machbare konzentrierte. […] Es zeigte sich, dass nicht vermeintlich einfache und einheitliche Lösungen zum Ziel führten, sondern Ausnahmen, Sonderbestimmungen und Öffnungsklauseln. Der Friedensvertrag spiegelt eine komplizierte Realität, kein zukunftsweisendes Programm.30

Hinsichtlich der epochentypischen engen Verbindung von Konfession und Politik nimmt Schmidt einen Einschnitt wahr. Mit dem Westfälischen Frieden habe die »Emanzipation der politischen Macht aus den Fängen kirchlicher Bevormundung«31 begonnen. »Der vom Westfälischen Frieden ausgelöste Trend zu pragmatischen Lösungen«, so Schmidt, »ergriff nun auch die Theologie«.32 Dies korrespondierte mit signifikanten mentalitätsgeschichtlichen Veränderungen, die eine deutliche Tendenz zu säkularem Denken erkennen lassen. Gott habe, so lautet das pointierte Fazit Schmidts, »nach dem Dreißigjährigen Krieg seine irdische Allzuständigkeit«33 verloren. »[U]nerklärliche Naturereignisse verloren langsam ihren eschatologischen Schrecken, weil sie nicht mehr stets und von allen als Drohungen eines zornigen Got26 27 28 29 30 31 32 33

Vgl. Anm. 11. Schmidt: Reiter, S. 620–623. Ebd., S. 634. Ebd., S. 635. Ebd., S. 548. Ebd., S. 615. Ebd., S. 649. Ebd., S. 645.

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tes gedeutet und mit der biblischen Endzeit verknüpft wurden«.34 Dementsprechend habe auch das Phänomen der Hexenverfolgungen mit dem Krieg seinen Höhepunkt überschritten. Darüber hinaus setzt Schmidt einen für ihn typischen Akzent, der auf seine langjährigen Bemühungen zurückgeht, besonders den »teutschen« Charakter des Krieges herauszustellen und die identitätsstiftende Wirkung des Westfälischen Friedens ins Zentrum zu rücken.35 Der Westfälische Frieden habe, so Schmidt, »die deutsche Nation als eine politisch und territorial abgrenzbare Größe«36 behandelt. Zudem betont er, dass der Begriff »Dreißigjähriger Krieg« auf die Wahrnehmung von Zeitgenossen zurückgehe, die mit dieser Bezeichnung ausdrücklich das »mitteleuropäisch-deutsche Geschehen«37 zwischen dem Prager Fenstersturz und dem Westfälischen Frieden verbanden. »Wer daraus einen europäischen Krieg konstruiert«, führt Schmidt weiter aus, »übersieht die zeitlichen und räumlichen Umstände, ohne zusätzliche Erkenntnisse zu gewinnen«.38 Damit ist ein wichtiger Aspekt berührt, der in der Diskussion über den Dreißigjährigen Krieg oftmals vernachlässigt wird: das Problem, den französisch-spanischen Krieg der Jahre 1635 bis 1659 in das auf die Jahre 1618 bis 1648 angelegte Gesamtkonstrukt »Dreißigjähriger Krieg« zu integrieren.39 Dass die Auseinandersetzung zwischen den beiden katholischen Vormächten, die noch über 1648 hinaus erbittert um die Suprematiestellung rangen, aufs Engste mit dem mitteleuropäischen Kriegsgeschehen verbunden war, wird niemand anzweifeln. Dass der jahrzehntelang leitende Politiker der europäischen Hegemonialmacht Spanien und große Gegenspieler Richelieus, der conde-duque de Olivares,40 in Schmidts voluminöser Darstellung nicht erwähnt wird, scheint dann aber doch symptomatisch für seinen auf Mitteleuropa bzw. das Alte Reich fokussierten Ansatz. Hier ist also eine deutliche Schief­ lage zu konstatieren.41 34 Ebd., S. 672. 35 Vgl. beispielsweise Schmidt, Georg: Der Westfälische Friede als Grundgesetz des komplementären Reichs-Staats, in: Bußmann, Klaus / Schilling, Heinz (Hg.): 1648. Krieg und Frieden in Europa. Textband I: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft, [Münster] 1998, S. 447–454. 36 Schmidt: Reiter, S. 643. 37 Ebd., S. 688. 38 Ebd. 39 Vgl. hierzu schon die umstrittenen Thesen von Steinberg, Sigfrid Henry: Der Dreißigjährige Krieg. Eine neue Interpretation, Wiederabdruck in: Rudolf, Hans Ulrich (Hg.): Der Dreißigjährige Krieg. Perspektiven und Strukturen (Wege der Forschung 451), Darmstadt 1977, S. 51–67; Ders.: Der Dreißigjährige Krieg und der Kampf um die Vorherrschaft in Europa 1600–1660 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 261), Göttingen 1967. 40 Zu Olivares vgl. nach wie vor die grundlegende Biographie von Elliott, John H.: The CountDuke of Olivares. The Statesman in an Age of Decline, New Haven / L ondon 1986. 41 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die berechtigte Mahnung Konrad Repgens aus dem Jahr 1998, welche mit Blick auf den Westfälischen Frieden die traditionellen Schwerpunktsetzungen der deutschen Forschung kritisch hinterfragt: »Es spielt im deutschen Geschichtsbild eine merkwürdig bescheidene Rolle, daß 1648 in Münster der Ausgleich zwischen den beiden

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Für die Diskussion über die Epochengrenze 1648 ist die Einbeziehung der französisch-spanischen Perspektive aber ohne Zweifel von allergrößter Bedeutung. Denn der Krieg zwischen dem »roi très chrétien« und dem »rey católico« war der Kernkonflikt innerhalb der katholischen Christenheit. Die von Schmidt favorisierte Fokussierung auf den mitteleuropäisch-deutschen Bereich bleibt in diesem Kontext unbefriedigend, da sie dazu tendiert, wichtige Schauplätze des Kriegsgeschehens, etwa auf der Iberischen Halbinsel, zu marginalisieren. Die dritte anlässlich des Gedenkjahres 2018 neu veröffentlichte wissenschaftliche Gesamtdarstellung des Dreißigjährigen Krieges, die es nun vorzustellen gilt, ist die Monographie des emeritierten Augsburger Frühneuzeithistorikers Johannes Burkhardt mit dem Titel Der Krieg der Kriege. Eine neue Geschichte des Dreißigjährigen Krieges.42 Obwohl Burkhardt im Rahmen dieses Buches in breitem Umfang auf seine seit den 1990er Jahren publizierten Arbeiten zum Dreißigjährigen Krieg zurückgreift,43 handelt es sich insofern tatsächlich um eine – wie im Titel angekündigt – »neue« Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, als er gerade die Erkenntnismöglichkeiten besonders hervorhebt, die sich für die Historische Friedensforschung aus einer intensiven Beschäftigung mit dem Dreißigjährigen Krieg ergeben. Der Krieg der Kriege bietet […] eine einzigartige Erkenntnischance, die hier umfassend genutzt werden soll: für eine Neuvermessung des Friedensproblems. Denn gerade die monströse Länge und der erschreckende Umfang des Kriegsschauplatzes hinterließen auch das wohl größte Untersuchungsfeld für die Kriegsursachenforschung.44

Im Hinblick auf die Frage nach dem langfristigen Stellenwert des Jahres 1648 bietet Burkhardt interessante Einblicke. In seiner zugespitzten Art bezeichnet er den Westfälischen Friedenskongress als »Gleichstellungsveranstaltung«,45 deren Erfolg entscheidend damit zusammenhing, dass ein »Modellwechsel«46 vollzogen worden sei. Das Ideal eines hierarchisch gegliederten Mächteeuropas sei abgelöst worden durch die Vorstellung eines »gleichstellenden Nebeneinanders«47 der europäischen Staaten, und erst auf der Grundlage dieses fundamentalen Wandels sei ein umfassender Friedensschluss möglich gewesen. Burkhardt spart nicht mit wertschätzenden Formulierungen, welche die außerordentliche Bedeutung der Friedensordnung von 1648 und das Geschick der be-

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katholischen Kronen, Frankreich und Spanien, verfehlt worden ist«; Repgen, Konrad: Der Westfälische Friede. Ereignis, Fest und Erinnerung (Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Geisteswissenschaften. Vorträge, G 358), Opladen / Wiesbaden 1999, S. 18. Burkhardt, Johannes: Der Krieg der Kriege. Eine neue Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Stuttgart 2018. Zur Diskussion über seine einschlägigen Thesen vgl. Ders.: Die These vom Staatsbildungskrieg im Widerstreit der Forschung, in: Rohrschneider / Tischer (Hg.): Dynamik, S. 71–92. Ders.: Krieg der Kriege, S. 11. Ebd., S. 217. Ebd., S. 216 f. Ebd., S. 217.

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teiligten Akteure hervorheben. So habe der Westfälische Frieden »die dauerhafteste politische Ordnung« begründet, »die in Deutschland jemals ausgehandelt« worden sei.48 Die Rede ist auch von einem »friedensgeschichtlichen Meilenstein«, der »hohe[n] Kunst einer gedächtniswürdigen Kompromisskultur um des Friedens willen«, einem »besonders raffinierte[n] Pazifizierungstrick« sowie der friedensstiftenden und integrierenden Wirkung der gefundenen »Sprache des Friedens«.49 Am Ende stand mit den Friedensverträgen von 1648 »das zwischenstaatliche Friedensformular für Jahrhunderte«,50 so Burkhardt: »Es war ein Friede aller Frieden nicht nur im Rückblick auf die Lösung dieser Kriegskatastrophe, sondern gerade auch als Modell aller künftigen europäischen Friedensschlüsse«.51 Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Bei allen drei behandelten Autoren ist das Bemühen erkennbar, die imposanten Leistungen des Westfälischen Friedens in einer angemessenen, differenzierten Art und Weise zu würdigen. Allen ist bewusst, dass mit dem Krieg zwischen Frankreich und Spanien ein zentraler, wenn nicht sogar der zentrale Konflikt in der Christenheit das Jahr 1648 überdauerte. Auch stellt niemand in Frage, dass die Friedensordnung von Münster und Osnabrück die internationalen Beziehungen in Europa weder generell noch langfristig zu befrieden vermochte. Spätestens die Kriege Ludwigs XIV. zeigten, dass sich das in den Friedensverträgen von 1648 zum Ausdruck gebrachte Ideal eines ewigen Friedens – »pax perpetua« – in der Praxis nicht dauerhaft realisieren ließ.52 Aber die jüngst vorgelegten Gesamtdarstellungen des Dreißigjährigen Krieges weisen doch unisono auf den exzeptionellen Stellenwert der Friedensordnung von Münster und Osnabrück hin. Eine umfassende Dekonstruktion des Zäsurcharakters des Jahres 1648 ist jedenfalls nicht vorzufinden, weder bei dem Politikwissenschaftler Münkler noch bei den beiden Frühneuzeithistorikern Schmidt und Burkhardt.

IV. Zur Dekonstruktion traditioneller »master narratives« und des »Westphalian system« Blicken wir in einem nächsten Schritt auf die Ergebnisse einer internationalen Tagung, die 2016 im Hinblick auf das Gedenkjahr 2018 in Würzburg abgehalten wurde und dem Zäsur-Diskurs neue Impulse vermittelt hat. Die Referate sind im Jahr 2018 unter dem Titel Dynamik durch Gewalt? Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) als Faktor der Wandlungsprozesse des 17. Jahrhunderts publiziert worden.53 48 49 50 51 52

Ebd., S. 222. Die Zitate ebd., S. 224, 230, 252 und 248. Ebd., S. 249. Ebd., S. 258. Grundlegend hierzu die Überlegungen von Duchhardt, Heinz: Westfälischer Friede und internationales System im Ancien régime, in: Historische Zeitschrift 249 (1989), S. 529–543. 53 Vgl. Anm. 10.

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Der Tagung lag die Frage zugrunde, »inwieweit die multiplen Wandlungsprozesse des 17. Jahrhunderts durch den Dreißigjährigen Krieg initiiert, in katalysatorischer Weise vorangetrieben oder auch behindert wurden«.54 Hat der Dreißigjährige Krieg substanzielle Veränderungen in den unterschiedlichen Funktionssystemen – Politik, Verfassung, Religion, Wirtschaft, Bevölkerung, Gesellschaft, Kultur usw. – hervorgebracht bzw. ihnen Dynamik verliehen? Und welche Konsequenzen sind aus den kriegsbedingten dynamischen Transformationsprozessen im Hinblick auf den Zäsurcharakter des Jahres 1648 zu ziehen? So unterschiedlich die Befunde der einzelnen Aufsätze dieses Sammelbandes ausfallen, so eint sie doch die allgemeine Tendenz, tradierte »Meistererzählungen« kritisch zu hinterfragen. Einige ausgewählte Beispiele, die den Zäsurcharakter der Jahre 1618 bis 1648 betreffen, seien hier angeführt. So weist der Marburger Frühneuzeithistoriker Christoph Kampmann mit großem Nachdruck darauf hin, dass traditionelle Deutungsmuster und Großtheorien, die den Dreißigjährigen Krieg als Fundamentaleinschnitt der europäischen Geschichte der Frühen Neuzeit verorten, nicht überzeugen können. »Vorstellungen, dass die europäische Politik nach 1648 gänzlich anderen Leitvorstellungen gefolgt sei als vor 1618, sind eher irreführend. Dynastie, Konfession und Rangkonkurrenz büßten ihre Bedeutung auch nach dem Dreißigjährigen Krieg nicht ein«.55 Aus kunsthistorischer Perspektive verdeutlicht Eva-Bettina Krems, dass der nach 1648 im Bereich der höfischen Kultur einsetzende Wandel ursächlich nicht mit den Geschehnissen des Dreißigjährigen Krieges zusammenhing. Maßgeblich für neue Tendenzen der höfischen Kunst und Kultur in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts seien vielmehr die aus den Friedensschlüssen von Münster und Osnabrück hervorgegangenen Veränderungen der Machtverhältnisse und politischen Strukturen gewesen, etwa der Aufstieg Frankreichs, die Schwächung der Macht der Habsburger und des Papstes oder auch die Intensivierung reichsständischer Konkurrenz.56 Die klassischen »Meistererzählungen« vom Dreißigjährigen Krieg als Religionskrieg bzw. vom Westfälischen Frieden als Ende des Zeitalters der Religionskriege hinterfragt Christian Mühling. Er gelangt zu dem Befund, dass das viel diskutierte Narrativ, nach dem der Dreißigjährige Krieg ein Religionskrieg gewesen sei, um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert entstand, also erst deutlich nach 1648.57 Auch diese »Meistererzählung« wird damit dekonstruiert. 54 Rohrschneider, Michael / Tischer, Anuschka: Dreißigjähriger Krieg und historischer Wandel. Einführende Überlegungen, in: Dies. (Hg.): Dynamik, S. 1–10, hier S. 1. 55 Kampmann, Christoph: Politischer Wandel im Krieg – politischer Wandel durch Krieg? Militärische Gewalt und politische Innovation in der Epoche des Dreißigjährigen Kriegs, in: ebd., S. 41–67, hier S. 67. 56 Vgl. Krems, Eva-Bettina: Zum Wandel der höfischen Repräsentationskultur nach dem Dreißigjährigen Krieg, in: ebd., S. 273–289. 57 Vgl. Mühling, Christian: Wie der Dreißigjährige Krieg zum Religionskrieg wurde, in: ebd., S. 93–118.

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Zudem ist das plakative Diktum, 1648 habe die »Stunde der Regierungen«58 geschlagen, »in der die Initiative staatlichen Handels vollends an die Fürsten ging«,59 aus Sicht der jüngeren Ständeforschung nicht haltbar, wie Michael Kaiser in seiner Studie zu den kleve-märkischen Landständen darlegt. Einseitige Interpretationen, welche die Stände in marginalisierender Weise lediglich als retardierende Faktoren der frühmodernen Staatsbildung kennzeichnen, lassen sich im Spiegel der neueren Forschung nicht halten. Auch dies relativiert den Zäsurcharakter des Jahres 1648, und zwar unter anderem in der forschungsgeschichtlich sehr wichtigen »Absolutismus«-Debatte.60 Ähnliches gilt – dies sei nur kurz angedeutet – für die Erweiterung der Perspektive auf außereuropäisches Terrain, was anhand von Arno Strohmeyers Untersuchung zur machtpolitischen Bedeutung des Dreißigjährigen Krieges für den asiatischen Raum, insbesondere für die Herrschaftsbereiche der Osmanen und ­Safawiden, deutlich wird.61 Eine Rezeption politikwissenschaftlicher Ansätze zu Pfadabhängigkeiten und »windows of opportunity« vermag darüber hinaus dazu beizutragen, die Offenheit und Dynamiken kriegsinduzierter Transformationsprozesse besser zu verstehen, wie Kerstin Weiand in einer Studie zu reichsständischen Gestaltungsräumen im Dreißigjährigen Krieg aufzeigt. Dabei kann es nicht darum gehen, die Bedeutung der Frage nach den langfristigen Ergebnissen und Zäsuren zu schmälern, in ihr liegt nach wie vor eine entscheidende geschichtswissenschaftliche Aufgabe. Aber es kann darum gehen, durch die Offenlegung ihres Entstehungsprozesses die implizierte Notwendigkeit historischer Entwicklung zu hinterfragen und ihre prinzipielle Offenheit gerade unter dem Eindruck von Kriegsund Gewalterfahrung zu betonen.62

Diese ausgewählten Beispiele aus dem genannten Sammelband zeigen, dass die jüngere Forschung zum Dreißigjährigen Krieg und Westfälischen Frieden mit großer Zurückhaltung auf die Konstruktion von Epochengrenzen und Zäsuren reagiert, 58 Vierhaus, Rudolf: Deutschland im Zeitalter des Absolutismus (1648–1763) (Kleine Vanden­ hoeck-Reihe, 1439), 2. Aufl., Göttingen 1984, S. 21. 59 Kaiser, Michael: Auf dem Weg zur Selbstregierung. Die Landstände von Kleve und Mark in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs, in: Rohrschneider / Tischer (Hg.): Dynamik, S. 175–203, hier S. 175. 60 Vgl. hierzu aus jüngerer Zeit vor allem Schilling, Lothar (Hg.): Absolutismus, ein unersetzliches Forschungskonzept? Eine deutsch-französische Bilanz (Pariser historische Studien 79), München 2008; Faber, Martin: Absolutismus ist doch ein Quellenbegriff! Zum Auftauchen des Wortes im 18. Jahrhundert in Polen und zu den Konsequenzen für die Absolutismus-­ Debatte, in: Zeitschrift für Historische Forschung 44 (2017), S. 635–659. 61 Vgl. Strohmeyer, Arno: Der Dreißigjährige Krieg in der Korrespondenz des kaiserlichen Residenten in Konstantinopel Johann Rudolf Schmid zum Schwarzenhorn (1629–1643), in: Rohrschneider / Tischer (Hg.): Dynamik, S. 315–335. 62 Weiand, Kerstin: »Windows of opportunity«. Reichsständische Gestaltungsräume im Dreißigjährigen Krieg, in: ebd., S. 121–134, hier S. 133.

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wenn damit Großtheorien und »master narratives« einhergehen, die linear-teleo­ logisch anmutende Entwicklungslinien und Prozesse aufzuzeigen beabsichtigen. Dies gilt auch und gerade im Hinblick auf die Diskussion über das sogenannte »Westphalian system«, auf die es nun näher einzugehen gilt. Das Konstrukt des »Westfälischen Systems« oder auch der »Westfälischen Ordnung« hat seinen Ursprung in der amerikanischen Völkerrechts- und Politikwissenschaft des 20. Jahrhunderts.63 Die dahinterstehende leitende Vorstellung ist, dass mit dem Westfälischen Frieden ein System bzw. eine Ordnung etabliert worden sei, die von langfristig prägender Bedeutung ist – letztlich bis in die Gegenwart hinein – und folgende Merkmale aufweist: Es habe sich ein System von nach außen und innen souveränen Staaten als völkerrechtliche Akteure herausgebildet, die Krieg als legitimes Mittel zur Durchführung ihrer Interessen einsetzen. Diese souveränen Staaten gelten prinzipiell als gleichrangig. Ältere hierarchische Vorstellungen, etwa die Leitvorstellung einer Universalmonarchie, seien 1648 durch ein internationales System abgelöst worden, das auf einem paritätischen Nebeneinander gleichberechtigter Staaten gründe. Oftmals wird damit das Prinzip der »balance of power« in Verbindung gebracht, das die europäische Geschichte verstärkt seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts maßgeblich geprägt hat und bis heute zu den Leitmotiven der Gestaltung der internationalen Beziehungen zu zählen ist. Auch für den Gleichgewichtsgedanken habe der Westfälische Frieden eine »Startrampe«64 gebildet. Insgesamt gesehen stelle das Jahr 1648 eine Wasserscheide zwischen vormodernen Ordnungsvorstellungen einerseits und dem modernen Staat bzw. dem neuzeitlichen Staatensystem andererseits dar.65 In den Publikationen anlässlich der 400. Wiederkehr des Ausbruchs des Dreißigjährigen Krieges ist das Für und Wider des Begriffs »Westphalian system« intensiv und kontrovers debattiert worden: Herfried Münkler hält an diesem Terminus technicus fest, und auch Johannes Burkhardt meldet in diesem Punkt weiteren Forschungsbedarf an.66 Unter Frühneuzeithistorikern stellt Burkhardt diesbezüglich allerdings eher eine Ausnahme dar.67 Heinz Duchhardt, Christoph Kampmann 63 Die diesbezügliche Literatur ist inzwischen stark angewachsen. Einen guten inhaltlichen Überblick bietet jüngst Duchhardt, Heinz: Ein doppeltes »Westphalian system«? Der Westfälische Friede, das Reich und Europa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 68 (2018), H. 30–31, S. 34–40; vgl. auch Ders.: Das »Westfälische System«. Realität und Mythos, in: Thiessen, Hillard von / Windler, Christian (Hg.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel (Externa 1), Köln / Weimar / Wien 2010, S. 393–401. 64 Ders.: »Westphalian System«. Zur Problematik einer Denkfigur, in: Historische Zeitschrift 269 (1999), S. 305–315, hier S. 312. 65 So explizit jüngst mit Nachdruck Carvalho, Benjamin de / Kustermans, Jorg: The Modern Westphalian Peace Impasse in International Relations and What to Do about It, in: Goetze /  Oetzel (Hg.): Friedenschließen, S. 93–106, hier S. 93. 66 Vgl. Münkler: Krieg, S. 22–24; Burkhardt: Krieg der Kriege, S. 219 und 233. 67 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Windler, Christian: Symbolische Kommunikation und diplomatische Praxis in der Frühen Neuzeit. Erträge neuer Forschungen, in: Stollberg-Rilinger,

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und Georg Schmidt sprechen sich in ihren Publikationen aus dem Jahre 2018 sehr deutlich gegen diese Begriffs- und Theoriebildung aus. Münkler konstatiert, dass mit den Begriffen »Westfälisches System« bzw. »Westfälische Ordnung« eine »grundlegende Veränderung im Verhältnis der Mächte«68 zum Ausdruck gebracht werde. Der Westfälische Frieden habe den Krieg reguliert. Seit 1648 sei der souveräne Staat verpflichtet gewesen, die Regeln des Krieges zu beachten, der von nun an als Staatenkrieg ausgefochten worden sei. An die Stelle hierarchischer Ordnungsvorstellungen sei eine »Äquivalenz der Souveräne«69 getreten. Demzufolge sei die »Westfälische Ordnung« eine »Ordnung ohne Hüter«,70 denn der souveräne Staat bedurfte keiner übergeordneten Instanz zur Durchsetzung der Regeln des Krieges mehr, da er ein eigenes Interesse daran hatte, den Krieg zu regulieren. Leitend für die Entscheidung über Krieg und Frieden in der »Westfälischen Ordnung« seien, so Münkler, die »Interessen des Staates«, nicht aber die Bezugnahme auf »Wertbindungen oder religiöse Verpflichtungen«.71 Die entscheidende Veränderung, die mit der Westfälischen Ordnung gegenüber der vorherigen Ordnung des Politischen eintrat, war die Separierung der Kriegstypen und die Entflechtung der Konfliktebenen. […] Der Westfälische Frieden schuf die Grundlagen dafür, dass die Komplexität eines Krieges in die Ordnung des Friedens überführt werden konnte.72

Münkler kennzeichnet die Friedensordnung von 1648 somit sehr deutlich als Einschnitt und füllt den Begriff »Westfälische Ordnung« mit einer Reihe von Inhalten, die seiner Ansicht nach substanzielle Veränderungen der internationalen Beziehungen in post-westfälischer Zeit markieren. Auch Johannes Burkhardt hält, wie bereits erwähnt, am »Westphalian system« fest. Burkhardt bindet den Begriff eng an ein doppeltes Erbe des Jahres 1648. Zum einen an das – wie er es nennt – »Europa der Mehrstaatlichkeit«, das »die europäische Geschichte bis an die Schwelle der Gegenwart bestimmt«73 habe. Burkhardt verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass in Münster und Osnabrück keine Friedensordnung generiert worden sei, die »einen einstaatlichen europäischen Staats­

Barbara / Neu, Tim / Brauner, Christina (Hg.): Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), Köln / Weimar / Wien 2013, S. 161–185, hier insbesondere S. 162–165; siehe dazu auch den Kommentar von Schilling, Heinz: Symbolische Kommunikation und Realpolitik der Macht. Kommentar zur Sektion »Symbolische Kommunikation und diplomatische Praxis in der Frühen Neuzeit«, in: ebd., S. 187–198, hier S. 189 f. 68 Münkler: Krieg, S. 22. 69 Ebd., S. 23. 70 Ebd. 71 Die Zitate ebd. 72 Ebd., S. 23 f. 73 Burkhardt: Krieg der Kriege, S. 219.

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bildungsweg«74 vorsah. Universalistische Ordnungskonzepte seien 1648 vielmehr zugunsten von auf dem Prinzip der Souveränität gründenden »Einzelstaatsbildungen im mehrstaatlichen Europa«75 überwunden worden. Hingegen habe man im Heiligen Römischen Reich in unumkehrbarer Weise einen anderen Weg eingeschlagen, den Burkhardt als »deutsche Doppelstaatlichkeit«76 bezeichnet. Dieser sehr komplexe »doppelstaatlich-föderale Staatsaufbau«77 mit einem »Amtskaisertum«78 als monarchischer Spitze und einer »Staatsbildung im Plural«79 auf territorialer Ebene habe »eine besondere Chance für regionale Partizipation, Rechtsstaatlichkeit und Friedensfähigkeit«80 geboten. Bei Burkhardt verbindet sich somit die Wertschätzung des »Westfälischen Systems« mit der Vorstellung, die 1648 etablierte Ordnung sei eine Weichenstellung für langfristige Entwicklungslinien der deutschen und europäischen Geschichte gewesen. Gegen das Konstrukt des »Westphalian system« sind im Gedenkjahr 2018 gewichtige Einwände vorgebracht worden, die noch einmal sehr deutlich die von Seiten der Geschichtswissenschaft aufgeführten Bedenken gegen diese Begriffsbildung wiederholen und um einige Nuancen erweitern. So stellt Heinz Duchhardt, der sich in den letzten Jahren mehrfach zur Problematik des »Westphalian system« geäußert hat,81 jüngst noch einmal apodiktisch fest: Es sei abwegig, den Westfälischen Frieden als »Ausgangspunkt eines internationalen Westphalian system«82 zu qualifizieren. »Der Westfälische Friede schuf keine neue europäische Friedensordnung, ganz gleich[,] ob man ihr Ende mit 1789, 1945 oder 1990 datiert«.83 Auch Christoph Kampmann spart nicht mit Kritik an der seiner Ansicht nach irreführenden Vorstellung eines »Westphalian system«, mit dem »nicht nur ein vereinfachtes, sondern ein wirklich falsches Bild der Epoche nach dem Dreißigjährigen Krieg gezeichnet«84 werde. Kampmann vermag überzeugend aufzuzeigen, in welch hohem Maße Faktoren wie Dynastie, Konfession oder auch Rangkonkurrenz nach 1648 wirkungsmächtig blieben. Bei dieser Betrachtungsweise werden somit Elemente der Kontinuität stärker in den Vordergrund gerückt, die eine allzu kategorische Zäsursetzung fragwürdig erscheinen lassen. Georg Schmidt schlägt in dieselbe Kerbe: Im Westfälischen Friedensvertrag finden sich keine Bestimmungen, die einen Paradigmenwechsel der internationalen Beziehungen mit Blick auf Souveränität, Territorialität 74 Ebd. 75 Ebd., S. 233. 76 Ebd., S. 221. 77 Ebd., S. 233. 78 Ebd., S. 221. 79 Ebd., S. 220. 80 Ebd., S. 221. 81 Vgl. Anm. 63 und 64. 82 Duchhardt: Ein doppeltes »Westphalian system«, S. 40. 83 Ebd., S. 35. 84 Kampmann: Wandel, S. 47.

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und Gleichrangigkeit auch nur andeuten. […] Als multilateraler garantierter deutscher Verfassungsvertrag schuf der Frieden in Europa kein System kollektiver Sicherheit. Das ›Westfälische System‹ ist insofern eine Legende.85

Duchhardt, Kampmann und Schmidt, allesamt deutsche Frühneuzeithistoriker, beharren in ihren Stellungnahmen mit guten Gründen auf den Defiziten des Versuchs, mit der makropolitischen Großtheorie des »Westphalian system« die langfristigen Transformationsprozesse des in Entstehung begriffenen frühneuzeitlichen Staatensystems angemessen wiederzugeben. Der Verfasser dieser Abhandlung teilt diese Meinung ausdrücklich. Im derzeitigen Diskurs dient der Begriff »Westphalian system« mehr und mehr als Label, das mit nahezu beliebigen Inhalten gefüllt wird, die mit dem Westfälischen Frieden kaum noch etwas oder sogar gar nichts zu tun haben. In diesem Kontext werden zum Teil irrige Annahmen und Schlussfolgerungen präsentiert, die sich weitgehend von den Vertragsinhalten des Friedensschlusses vom 24. Oktober 1648 gelöst haben.86 Dem gilt es jedenfalls aus Perspektive der Geschichtswissenschaft nachhaltig entgegenzusteuern.

V. Perspektiven der (Zäsur-)Forschung: Wendepunkte und Übergangsphänomene von Frieden und Krieg Zum Abschluss und Ausblick sei das Konzept der internationalen wissenschaftlichen Tagung vorgestellt, die im Oktober 2018 unter dem Titel Wendepunkte: Friedensende und Friedensanfang vom Dreißigjährigen Krieg bis zur Gegenwart in Osnabrück veranstaltet wurde.87 Kriegsausbrüche und Friedensschlüsse zählen zweifellos nicht nur zu den besonders stark beachteten Themen der Historischen Friedens- und Konfliktforschung, sondern auch der Geschichtswissenschaft generell. Die Osnabrücker Tagung versuchte sich allerdings insofern an einer Perspektivenumkehr, als das Phänomen der Wendepunkte nicht primär vom Krieg her gedacht wurde, wie dies traditionell in der Forschung gehandhabt wird. Im Zentrum stand vielmehr der Frieden. Gefragt wurde also nicht: Warum und wann bricht ein Krieg aus? Und aus welchen Gründen wird er beendet? Sondern gefragt wurde genau umgekehrt: Warum und unter welchen Umständen wird Frieden aufgegeben und unter welchen Gegebenheiten wird Frieden wiederhergestellt?

85 Schmidt: Reiter, S. 612 f. 86 Vgl. etwa Strange, Susan: The Westfailure system, in: Review of International Studies 25 (1999), S. 345–354. 87 Die frühneuzeitlichen Referate der Tagung wurden publiziert in: Arnke, Volker / Westphal, Siegrid (Hg.): Der schwierige Weg zum Westfälischen Frieden. Wendepunkte, Friedensversuche und die Rolle der »Dritten Partei« (bibliothek altes Reich 35), Berlin / Boston 2021.

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Erklärtes Ziel der Tagung war es somit, nach den Motiven und Intentionen für die zeitweise Aufgabe des Friedens und seine spätere Wiederherstellung zu fragen. In den Blick genommen werden sollten somit Dynamiken und Wendepunkte, die einerseits vom Frieden zum Krieg und andererseits vom Krieg zurück zum Frieden führen. Ausgangspunkt war hierbei die Überlegung, dass die Phänomene Frieden und Krieg idealtypische Konstrukte sind, die zahlreiche Übergangsphänomene aufweisen, die bislang noch nicht in vergleichender und diachroner Weise erforscht worden sind. Thematisiert wurden daher explizit die Gleichzeitigkeit von militärischer Gewalt und Friedensbemühungen bzw. die reziproken Wechselwirkungen von Krieg einerseits und parallelen Versuchen der Herstellung von Frieden andererseits. Als Fallbeispiel im Rahmen eines solchen epochal übergreifend angelegten Zugriffs wurde neben dem Ersten Weltkrieg und den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien der Dreißigjährige Krieg gewählt. So wurden in der Sektion »Verpasste Gelegenheiten, gescheiterte Anläufe: Versuche zum Frieden während des Krieges« insbesondere solche Versuche der Friedensstiftung in den Blickpunkt gerückt, die letztlich nicht zum Ziel gelangten. Solche gescheiterten oder verpassten Friedensverhandlungen bzw. Friedensinitiativen stehen traditionell eher im Schatten der Geschichtswissenschaft und werden zumeist deutlich überlagert von der Erforschung derjenigen Friedensstiftungsbemühungen, an deren Ende letztlich ein substanzieller Erfolg stand, nämlich ein Friedensschluss.88 Die Tagung legte insgesamt gesehen ein prozessuales Verständnis von Friedensstiftung zugrunde, das von der in der älteren Historiographie oftmals anzutreffenden Vorstellung trennscharfer Übergänge von Krieg und Frieden Abstand nimmt und vielmehr Grauzonen, Grenzbereiche und Übergänge ins Visier nimmt.89 Deutlich wurde im Rahmen der Tagung, wie sehr solche prominenten Jahreszahlen wie zum Beispiel 1648 oder auch 1918, die seit Generationen als Periodisierungsgrenzen und Erinnerungsorte, »lieux de mémoire«, fungieren, einen Zäsurcharakter suggerieren, der vergleichsweise leicht zu dekonstruieren ist. Hierbei besteht allerdings noch erheblicher Forschungsbedarf.90 Selbst so gut untersuchte Ereignisse wie der Dreißig88 Vgl. hierzu jüngst Rohrschneider, Michael: Die ›verhinderte Friedensstadt‹. Köln als Kongressort im 17. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.): Frühneuzeitliche Friedensstiftung in landesgeschichtlicher Perspektive. Unter redaktioneller Mitarbeit von Leonard Dorn (Rheinisches Archiv 160), Wien / Köln / Weimar 2020, S. 139–161. Der Verfasser plant ein vergleichend angelegtes Forschungsvorhaben zu gescheiterten Friedenskongressen und -schlüssen. 89 Vgl. in diesem Sinne auch die Beiträge in: Planert, Ute / Retallack, James (Hg.): Decades of Reconstruction. Postwar Societies, State-Building, and International Relations from the Seven Years’ War to the Cold War (Publications of the German Historical Institute), Cambridge 2017. 90 Ein Beispiel aus der jüngsten Forschung, das aufzeigt, in welch hohem Maße der Zäsurcharakter des Jahres 1648 zu relativieren ist, wenn man die jeweilige Wahrnehmung der Zeitgenossen und die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort zum Maßstab nimmt: Kaiser, Michael: Das schwierige Ende des Krieges. Die Abdankung des Regiments Winterscheid in Memmingen 1649, in: Baumann, Reinhard / Hoser, Paul (Hg.): Krieg in der Region (Forum Suevicum 12), Konstanz / München 2018, S. 193–222; wichtig sind in diesem Zusammenhang auch die Über-

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jährige Krieg oder der Erste Weltkrieg bieten im Hinblick auf Übergangsphänomene zwischen Krieg und Frieden noch erhebliches Forschungspotential, das es zukünftig zu nutzen gilt.

VI. Fazit Eine Analyse der Publikationen und Veranstaltungen anlässlich der 400-jährigen Wiederkehr des Kriegsbeginns von 1618 zeigt sehr deutlich, wie lebendig die wissenschaftliche Diskussion über die Frage ist, ob und inwiefern der Westfälische Frieden als Endpunkt und zugleich Neuanfang in der europäischen Geschichte anzusehen ist. Dass dies keine Debatte im akademischen Elfenbeinturm ist, sondern eine Fragestellung, die zahlreiche Berührungspunkte zu aktuellen politischen Problemen aufweist, sei an dieser Stelle ausdrücklich betont. Die verzweifelte Suche nach Lösungen in den gegenwärtigen Konfliktlagen des Nahen und Mittleren Ostens verdeutlicht die große Relevanz, sich über das immer wieder bemühte vermeintliche »Westfälische System« Klarheit zu verschaffen.91 So banal es klingt: Auch im Syrienkonflikt muss man einen Endpunkt finden und einen Neubeginn in die Wege leiten. Der Westfälische Frieden zeigt jedenfalls, dass es den Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts gelungen ist, nach einem schier endlosen Konflikt einen solchen Neuanfang tatsächlich umzusetzen.

legungen in Kroener, Bernhard R.: Der »Zweiunddreißigjährige Krieg« – Kriegsende 1650. Oder: Wie lange dauerte der Dreißigjährige Krieg?, in: Wegner, Bernd (Hg.): Wie Kriege enden. Wege zum Frieden von der Antike bis zur Gegenwart (Krieg in der Geschichte 14), Paderborn u. a. 2002, S. 67–91. 91 Zur laufenden Diskussion vgl. insbesondere Milton, Patrick / A xworthy, Michael / Simms, Brendan: Towards a Westphalia for the Middle East, London 2018; vgl. darüber hinaus auch Rohrschneider, Michael: 1618 – 1648 – 2018. Zur Aktualität des Dreißigjährigen Krieges und des Westfälischen Friedens, in: Wissenschaft und Frieden 36 (2018), H. 3, S. 48–51; Milton, Patrick: Ein Westfälischer Frieden für den Mittleren und Nahen Osten? Ein Diskussionsbeitrag, in: Goetze / Oetzel (Hg.): Friedenschließen, S. 439–442.

Klare Trennlinien oder verschwommener Berührungsraum? Zeitliche Markierungen der Frühen Neuzeit Marko Štuhec

Diese Abhandlung beschäftigt sich mit der Frage nach den zeitlichen Grenzen der Frühen Neuzeit. In mancher Hinsicht gibt sie sich Mühe, an die Ausführungen von Michael Rohrschneider in diesem Buch anzuknüpfen1, und somit auch dem Thema von den Endpunkten und Neuanfängen gerecht zu werden. Hierbei handelt es sich um ein Thema, das das Zusammenfallen, Sichdecken und Ineinanderverwobensein zweier Erscheinungen impliziert, die sowohl zeitlich als auch inhaltlich nacheinander verlaufen und die einander ersetzen. Der Beitrag Rohrschneiders veranschaulicht, wie das Ende eines langen und grausamen Krieges infolge eines Friedensvertrags zu einem Neubeginn führte, obwohl im Beitrag auch sehr klar dargestellt wurde, dass der Umbruchcharakter dieses Neubeginns im Licht neuer Forschungen sehr stark in Frage gestellt wird. Aus diesem Infragestellen geht hervor, dass das Jahr 1648, in dem die Friedensverträge von Münster und Osnabrück geschlossen wurden, nicht mehr ganz einfach als Zäsur in der Geschichte der frühen Neuzeit verstanden werden sollte. Dennoch finden wir noch viele Beispiele, die dieses Jahr als einen Knotenpunkt verstehen lassen. In der von Karl Vocelka im Jahr 2010 verfassten Geschichte der Neuzeit 1500–1918 stellt das Jahr 1648 jenen Punkt dar, an dem das Zeitalter der konfessionalen Gegensätze endet und das Zeitalter des Absolutismus beginnt.2 Ähnlich schreibt auch Winfried Schulze in seiner Einführung in die Neuere Geschichte aus dem Jahr 2002: Dieser Frieden gilt zugleich als das Ende des »konfessionalen Zeitalters«, ohne dass freilich die Konfession als Antriebsmoment politischer Auseinandersetzung ganz entfallen wäre.3 Heinz Duchhardt leitet den im Jahr 2003 erschienenen sechsten Band des Handbuches der Geschichte Europas mit dem Titel Europa am Vorabend der Moderne 1650– 1800 mit folgenden Worten ein:

1 Rohrschneider, Michael: Zäsur 1648? Die Westfälische Friedensordnung im Urteil der Publikationen zum Gedenkjahr 2018. Unser Text ist das leicht veränderte Koreferat zu dem Referat, das Professor Rohrschneider am 14. Februar 2019 im Rahmen der Ringvorlesungen »Das Ende als Neubeginn« präsentierte. 2 Vocelka, Karl: Geschichte der Neuzeit 1500–1918, Wien / Köln / Weimar 2010, S. 370–442, 443–490. 3 Schulze, Winfried: Einführung in die Neuere Geschichte, Stuttgart 42002, S. 33.

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Bei der Grundsatzentscheidung in dieser Reihe[,] die so genannte Frühe Neuzeit durch zwei Bücher abzudecken, bot es sich in der Tat an, die Epoche schematisch zu halbieren und die beiden Bände in ihrer Mitte – um 1650 – sich berühren zu lassen. Aber neben der Konvention, die in der besonderen Hochschätzung des Westfälischen Friedens als eines auch europäischen Einschnitts gründet, spricht auch sonst nach wie vor vieles dafür, eine Zäsur in der Mitte des 17. Jahrhunderts zu legen, selbst wenn andere Werke – mit einem meist nationalgeschichtlich akzentuierten Schwerpunkt – sich für differierende Lösungen entscheiden, wie zum Beispiel die, das gesamte 17. Jahrhundert als eine Einheit zu behandeln.4

In einer repräsentativen Darstellung der europäischen Geschichte bezeichnet also einer der bedeutendsten deutschen Historiker die Mitte des 17. Jahrhunderts und den Westfälischen Frieden als Berührungspunkt zweier Subperioden und Einschnitt in der europäischen Geschichte, weil, so Duchhardt, vieles dafür spreche. Dabei lässt Duchhardt, wie wir sehen, aber auch andere Möglichkeiten, die Frühe Neuzeit einzuteilen, offen, die anhand anderer Maßstäbe und anderer inhaltlicher Zusammenhänge argumentiert werden können. Auch für die ausgezeichnete Reihe Fischer Weltgeschichte stellt das Jahr 1648 eine Zäsur dar, die den 24. Band Entstehung des frühneuzeitlichen Europa 1550–1648 vom 25. Band Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung 1648–1779 trennt.5 Es ist aber nicht zu übersehen, dass die Autoren dieser beiden Bände das Jahr 1648 doch differenziert verstehen und beurteilen. Der Standpunkt von Günther Barudio, einem Historiker, der die Politik in den Mittelpunkt seiner Arbeit stellt, ist plakativ. Er misst diesem Jahr große Bedeutung bei, die sowohl auf die innenpolitischen wie auch auf die außenpolitischen Tatsachen zurückzuführen sei: Von dieser Seite aus gesehen bildet 1648 eine entscheidende Epochengrenze, deren Bedeutung sich dadurch erhöht, dass der geschlossene Friede ohne unmittelbare Beteiligung des Heiligen Stuhls ausgehandelt wurde und damit die Säkularisierung des Völkerrechts manifestiert.6

Der Sozial- und Kulturhistoriker van Dülmen ist viel skeptischer hinsichtlich der Bedeutung eines bestimmten Jahres als entscheidenden Einbruchs in die sich schleichend wandelnden sozialen und ökonomischen Strukturen und langfristigen Prozesse: Insofern mag unsere Epocheneingrenzung beliebig erscheinen, denn das Jahr 1550 bedeutet so wenig einen Einschnitt wie das Jahr 1648; der Augsburger Religionsfriede wie der Westfälische Friede bleiben nur äußere Daten, solange sie nicht in einen größeren Strukturzusammenhang gebracht werden7. 4 Duchhardt, Heinz: Europa am Vorabend der Moderne 1650–1800 (Handbuch der Geschichte Europas 6), Stuttgart 2003, S. 13. 5 van Dülmen, Richard: Entstehung des frühneuzeitlichen Europas 1550–1648 (Fischer Weltgeschichte 24), Frankfurt a. M. 1982; Barudio, Günther: Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung 1648–1779 (Fischer Weltgeschichte 25), Frankfurt a. M. 1981. 6 Barudio, S. 19. 7 van Dülmen, S. 9.

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Trotz dieses harten Standpunkts gibt schließlich auch Dülmen nach und erteilt dem Jahr 1648 eine eindeutige Konzession: Dennoch lassen sich Signaturen des in diesem Band dargestellten Jahrhunderts finden, […] die es berechtigt erscheinen lassen, von einer eigenen Epoche europäischer Geschichte zu sprechen, die sich eindeutig von der Reformationszeit wie auch dem Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung abhebt.8

Die beiden Bände erschienen in der ersten Hälfte der achtziger Jahre, ebenso wie der zehnte Band der Oldenbourger Reihe Grundriss der Geschichte, dessen Autor Heinrich Lutz den Band Reformation und Gegenreformation mit dem Jahr 1648 enden lässt. Lutz unterstreicht vor allem die Bedeutung des Jahres 1648 für den mitteleuropäischen Raum.9 Auch Luise Schorn-Schütte hat ihr Buch Konfessionskriege und europäische Expansion. Europa 1500–1648, das 2010 in der Reihe Beck Geschichte Europas erschien, mit dem Jahr 1648 enden lassen.10 Obwohl die Autorin die Bedeutung des Westfälischen Friedens vor allem in den anders als bis dahin fundierten internationalen Beziehungen und in der betonten Souveränität des institutionellen Flächenstaates sieht11, hebt der Umschlag dieses Buches mit dem Gemälde Der Friedensschwur von Münster die Bedeutung des Jahres 1648 für die europäische Geschichte hervor. Bilder sprechen doch lauter als Worte. Selbstverständlich gibt es auch Handbücher, die eine differierende Gliederung der Frühen Neuzeit bevorzugen, wie zum Beispiel das im Jahr 2013 erschienene französische Werk Une histoire du monde aux temps modernes, dessen zweiter Teil dem 17. Jahrhundert gewidmet ist und das dieses Jahrhundert mit den Jahren 1600 und 1715 anfangen bzw. enden lässt12, oder solche, die die ganze Epoche als eine Einheit behandeln – wie zum Beispiel das Studienhandbuch Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit, das 2009 von der oben genannten Luise Schorn-Schütte13 verfasst wurde, oder Robert von Friedenburgs Europa in der frühen Neuzeit, das 2012 in der Reihe Neue Fischer Weltgeschichte erschienen ist.14 Diese 8 Ebd. 9 Lutz, Heinrich: Reformation und Gegenreformation (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 10), München / Wien 1982, S. 113. 10 Schorn-Schütte, Luise: Konfessionskriege und europäische Expansion. Europa 1500–1648 (C. H. Beck Geschichte Europas 4), München 2010. 11 Ebd. S. 234–235. Auch andere Historiker/-innen betonen Bedeutung und Umbruchcharakter des Jahres 1648 im Bereich der Politik und der internationalen Beziehungen. Vgl. Kunnisch, Johannes: Absolutismus, Göttingen 21999, S. 126–127, S. 179; Burkhardt, Johannes: Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt a. M. 1992, S. 198–204. 12 Delumeau, Jean (Hg.): Une histoire du monde aux temps modernes, Paris 22013, S 159–295. Siehe hierzu auch Simms, Brendan: Europe. The Struggle for Supremacy. 1453 to the Present, London 2013, S. 40–41. 13 Schorn-Schütte, Luise: Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit. Studienhandbuch ­1500–1789, Paderborn 2009. 14 von Friedenburg, Robert: Europa in der frühen Neuzeit (Neue Fischer Weltgeschichte 5), Frankfurt a. M. 2012.

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beiden Werke gliedern das historische Material vor allem thematisch auf, ebenso wie The European World 1500–1800. An Introduction to Early Modern History, das 2016 von einer Gruppe von Historikern herausgegeben wurde15, oder Storia moderna von Renata Ago und Vittorio Vidotto, das 2004 erschienen ist. Dabei ist es interessant, dass die letztgenannten, offensichtlich dem Marxismus nahestehenden Autoren nicht nur die innenpolitischen Folgen des Westfälischen Friedens erwähnen, sondern auch auf die verheerenden sozialen Konsequenzen aufmerksam machen, denen viele deutsche Bauern östlich der Elbe angesichts der verschärften feudalen Ausbeutung ausgesetzt waren: Questo pauroso vuoto demografico comportò anche gravi mutamenti sociali. Sopratutto nelle regioni orientali i signori feudai adottarono misure sempre più severe per legare i contadini alla tera, in modo che i loro posedimenti potessero continuare  a essere coltivati e la loro rendita non subisse perdite tropo forti. Ciò comporto un peggioramento della condizione giuridica dei contadini che si videro privare della libertà di movimento e furono costreti a fornire più prestazioni di lavoro gratuiro.16

Mary Wiesner Hanks hat jedoch die beiden Gliederungsprinzipien vereint und ihr Early Modern Europe, 1450–1789, das in der Reihe Cambridge History of Europe im Jahr 2013 erschien, in zwei Zeitabschnitte eingeteilt, die das Jahr 1600 aufteilt.17 In jedem Abschnitt hat sie dann die gleichen thematischen Komplexe behandelt: Individuals and society 1450–1600, Politics and power 1450–1600, Cultural and intellectual life 1450–1600 usw., und dann wieder Individuals and society 1600–1789, Politics and power 1600–1789 usw. Man könnte noch viele andere Beispiele und mit ihnen andere Autoren für verschiedene Gliederungsweisen einer historischen Epoche anführen, die Angeführten schildern die Verschiedenheit der Zäsursetzung jedoch plastisch genug. Sowohl die Ausführungen von Michael Rohrschneider in diesem Band wie auch die genannten Beispiele machen den Leser jedoch auf etwas aufmerksam, und zwar auf etwas, was für die Historiker sogar von größerer Bedeutung ist als dieses oder jenes Schnittjahr. Sie betonen ein altes Problem, nämlich das Problem des Umbruchs und der Kontinuität18 sowohl in der Vergangenheit selbst wie auch in der von uns Historiker reflektierten Geschichte. Mit diesen beiden, eine inhärente Polarität ausdrückenden Topoi, d. h. Umbruch und Kontinuität, ist am engsten die Frage des Status einiger emblematischer Ereignisse verbunden, wie zum Beispiel der des Thesenanschlags, der Landung an der Küste der Insel Guanahani, des Sturms auf die Bastille oder des Attentats von Sarajevo, wie auch die Rolle derjenigen, ohne die sich diese emblematischen Ereignisse nicht hätten ereignen können, also Martin Luther, Christoph Columbus oder Gavrilo Princip. Jüngere Forschungen haben ziem15 Kümin, Beat (Hg.): The European World 1500–1800. An Introduction to Early Modern History, London / New York 22016. 16 Ago, Renata / Vidotto, Vittorio: Storia moderna, Roma / Bari 2004, S. 106–107. 17 Wiesner-Hanks, Mary: Early Modern Europe. 1450–1789, Cambridge 22013. 18 Vgl. den Beitrag von Robin Dolar in diesem Band.

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lich überzeugend darauf hingewiesen, dass sowohl Luther als auch Columbus trotz ihrer bahnbrechenden Leistungen stark von der mittelalterlichen Mentalität geprägt waren, also in ihren Motivationen, Absichten und Handlungsweisen eher die Kontinuität als den Umbruch darstellten.19 Im Prinzip geht es dabei um die Frage der Einteilung des ununterbrochenen Verlaufs der Geschichte in kürzere Zeitabschnitte, also um die Periodisierung, um die Feststellung der Grenzen zwischen diesen Zeitabschnitten und um das Definieren wichtiger Knotenpunkte binnen dieser Zeitabschnitte. Wir wissen zwar, dass der Westfälische Frieden in einem Zeitabschnitt geschlossen wurde, den die Historiker überall als »die Frühe Neuzeit«, »Frühneuzeit« oder »early modern period«, »zgodnji novi vek«, »rano novovjekovlje« bezeichnen.20 Die romanischen Sprachen haben, wie aus den aufgelisteten Beispielen unschwer zu entnehmen ist, mit dem Beiwort »früh, early« ein kleines Problem, wenn es darum geht, es mit einem anderen Beiwort – »modern« – zu verbinden. So bezeichnen die Historiker aus den romanischsprachigen Ländern diese Zeit als »l’histoire moderne«, »Storia moderna«, obwohl die Franzosen das Adjektiv »modern« in der letzten Zeit durch das Substantiv »»modernité« ersetzen und die Modernität mit dem Adjektiv »erste« näher bestimmen. Sie sagen also »l’histoire de la première modernité«, wobei sie sich oft vor allem auf das 16. und den größten Teil des 17. Jahrhunderts beziehen.21 Aus dem bisher Gesagten ist also zu schließen, in welche Periode der Westfälische Frieden einzuordnen ist, wir wissen aber nur ungefähr, welche Zeitspanne diese Periode umfasst und was ihr Wesen ausmacht. Die angeführten Beispiele scheinen auch sehr deutlich den subjektiven Charakter der Periodisierung zu veranschaulichen. Michael Rohrschneider macht uns am Beginn seines Beitrages darauf aufmerksam, als er sagt, dass sich die Historiker schon in der Zeit vor der postmodernen Historiographie des subjektiven Charakters der Periodisierung bewusst gewesen seien.22 In einem Universitätslehrbuch aus dem Jahr 2002 – Einführung in die Geschichte – können wir sogar vom willkürlichen Charakter 19 Siehe z. B. Leppin, Volker: Martin Luther, Ljubljana 2017. Zur Diskussion über den Charakter der Reformation vgl. Leeb, Rudolf: Die Reformation – Umbruch oder Transformation. Ringvorlesung Reformation – Konfessionskulturen – Räume 1517–2017, 25.10.2016, Universität Innsbruck 2016/2017. Die Vorlesung ist auf YouTube zugänglich: http://youtube.com/ watch?v=WMIm1ZGKrfQ&t=2397s, letzter Zugriff am 19. Juni 2021. Über die Motivationen von Columbus siehe Todorov, Tzvetan: Voyageurs et indigènes, in: Garin, Eugenio (Hg.): L’homme de la renaissance, 2002, S. 347–348; Vincent, Bernard: 1492. L’année admirable de l’Espagne, in: Romain, Bertrand (Hg.): L’exploration du monde. Une autre histoire des grandes découvertes, Paris 2019, S. 144. 20 Die letzten zwei Benennungen sind slowenisch bzw. kroatisch; ähnlich auch in anderen slawischen Sprachen. 21 Z. B. Subrahmanyan, Sanjaj: Histoire global de la première modernité. Lecture inaugurale au College de France (28.11.2013), zugänglich auf YouTube: youtube.com / watch?v=Afrl8-cdawM, letzter Zugriff am19. Juni 2021. Es ist zu erwähnen, dass Denis Richet diesen Terminus schon in den 70er Jahren verwendete. Siehe: Richet, Denis: L’esprit des institutions, Paris 1973, S. 13. 22 Vgl. Anmerkung 1.

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historischer Perioden lesen, der zu einer großen Anzahl von Periodisierungsversuchen und -vorschlägen geführt habe, von denen aber keiner wirklich überzeuge.23 Gleich nach diesem Satz wird die bekannte Aussage von Benedetto Crocce zitiert, die Periodi­sierung habe nur mnemotechnisches Interesse.24 Hinsichtlich der Subjektivität der Periodisierung möchte man sagen, dass schließlich jede Erkenntnis subjektiv ist. Es war Einstein und kein anderer, der die Relativität der Zeit und des Raumes festgestellt hat, obwohl sich auch einige seiner Zeitgenossen dieser Entdeckung sehr genähert hatten. Eine Erkenntnis ist immer das Resultat eines erkennenden Subjekts, das seine Erkenntnisse dann durch andere kompetente Subjekte überprüfen lassen muss, sollen diese Erkenntnisse wissenschaftliche Validität erlangen. Die historische Wissenschaft unterscheidet sich in dieser Hinsicht überhaupt nicht von anderen Wissenschaften, obgleich ihr Argumentieren spezifisch ist und sie eigene Wege begeht, wenn sie ihr Objekt, die Vergangenheit, zu erkennen versucht. Von Willkürlichkeit kann in Hinsicht auf Periodisierung überhaupt keine Rede sein. Das ist auch der Standpunkt der deutschen Historikerin Birgit Emich, die in ihrer Geschichte der Frühen Neuzeit studieren aus dem Jahr 2006 im Bezug auf Periodisierung beteuert: Ohne Periodisierung lässt sich Geschichte auch nicht studieren. Dass Sie (das sind die Studierenden, die Leser) bestimmte Scheine für bestimmte Epochen erwerben müssen, ist schließlich kein Ausdruck der Willkür, sondern ein notwendiges Gliederungsprinzip im Studium.25

Dabei übersieht auch sie den Konstruktcharakter der Periodisierungen nicht.26 Wenn die moderne Historiographie periodisiert, also der Abfolge von Ereignissen und Entwicklungen eine zeitliche Ordnung und Struktur verleiht, und damit in Ereignissen, Entwicklungen, Prozessen und Strukturen auch einen zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhang zu bestimmen trachtet, dann berücksichtigt sie einige Kriterien: Sie muss der Gleichzeitigkeit von Ereignissen, Strukturen und Prozessen Rechnung tragen. Sie muss unterschiedliche Entwicklungsfaktoren gewichten und sie in ein inneres Verhältnis zueinander stellen. Wenn die Historiographie periodisiert, bringt sie verschiedene historische Erscheinungen in einer bestimmten Zeitspanne auf einen gemeinsamen Nenner, um die wesentlichen Züge und Profilierung einer Epoche zum Ausdruck zu bringen. Dabei ist aber bei jeder Periodisierung die Tatsache zu berücksichtigen, dass es keine reinen Epochen gab und dass binnen einer Zeitspanne immer gegenläufige Tendenzen existieren, dass also immer eine bestimmte Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen vorhanden ist. Und gerade aus dieser empirisch immer wieder beweisbaren Komplexität der jeweiligen historischen Situationen ergibt sich die Schwierigkeit, die Konfiguration einer Epoche restlos zu erfassen, sie ihrem Inhalt gemäß zu benennen und besonders ihre Grenzen zu bestim23 Buchmann, Bertrand Michael: Einführung in die Geschichte, Wien 2002, S. 70. 24 Ebd. 25 Emich, Birgit: Geschichte der Frühen Neuzeit studieren, Konstanz 2006, S. 107. 26 Ebd. S. 112.

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men. Nicht die Willkür der Historiker, sondern der Wirrwarr der Vergangenheit und oft der Mangel an entsprechenden Quellen erschwert die Periodisierung und macht sie in den Augen einiger überflüssig oder unmöglich. Hierbei sollte noch etwas berücksichtigt werden: Das Profil einer Epoche zu skizzieren und diese Skizze vielleicht noch zu schattieren bedarf der Abstraktion und Theoretisierung. Wer periodisiert, muss von oben schauen, den Wald sozusagen als ein Ganzes begreifen, um festzustellen, ob es sich um einen Laubwald oder um einen Nadelwald handelt, und man darf nicht bei jedem Baum anhalten, so schön, interessant, außergewöhnlich oder fremd er auch sein möge. Wir haben den Eindruck, vielleicht den falschen, dass die Geschichtswissenschaft das richtige Gleichgewicht zwischen Meistererzählung und minutiösen Einzelfallstudien, zwischen der Erfassung des Waldes als Ganzes und der Bewunderung eines einzelnen Baumes noch immer nicht gefunden hat, nachdem die Postmoderne so wuchtig beteuerte, dass es mit den großen Geschichten ein Ende hat. Aus einer Zeit, die laut Reinhard Koselleck über die Theoriebedürftigkeit der Geschichte sprach27 und sie bedauerte, ist, wenn wir es ein wenig zugespitzt sagen dürfen, eine Zeit der Theoriegleichgültigkeit geworden. Wie sieht es nun mit der Frühen Neuzeit oder Frühen Moderne und ihren Grenzen aus? Der Begriff ist eine Ableitung und Differenzierung der klassischen, aus dem Humanismus stammenden Dreiteilung der Geschichte, in der das Mittelalter nicht nur eine negative Konnotation hatte, sondern auch den Humanisten zur Selbststilisierung diente, die ihrer Meinung nach in einer neuen Zeit lebten, die durch die Wiederbelebung der Wissenschaften und Künste gekennzeichnet war und die in der antiken Kultur – im Altertum – die notwendigen Vorbilder gefunden hatte. Nachdem der Humanismus im 16. Jahrhundert zur allgemeinen europäischen Ausbildungsnorm geworden war, nahmen die Intellektuellen den Begriff an und verwendeten ihn zur Periodisierung der Geschichte. Die Geschichtsschreibung des ausgehenden 19. und des frühen 20. Jahrhunderts begann, die Spezifität der Zeit zwischen den Jahren 1500 und 1789 zu erkennen, der Begriff hat sich in der akademischen Welt jedoch erst in den 1950er und 1960er Jahren endgültig durchgesetzt.28 Als Hauptmerkmal dieser Epoche gilt ihr Übergangscharakter. Die Frühe Neuzeit oder die Frühe Moderne ist durch die Mischung der aus dem Mittelalter tradierten Elemente und Elementen, die wir, die Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts, als modern verstehen und die in die moderne Zeit geführt haben, gekenn27 Nolte, Paul: Historische Sozialwissenschaft, in: Eibach, Joachim / L ottes, Günther: Kompass der Geschichtswissenschaft, Göttingen 22006, S. 54. 28 Burkhardt, Johannes: Frühe Neuzeit, in: van Dülmen, Richard: Das Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt a. M. 2003, S. 438; Jaeger, Friedrich: Neuzeit, in: Jaeger, Friedrich (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Naturhaushalt – Physiokratie, Stuttgart / Weimar 2009, S. 162; Meck, Ilja: Die Frühe Neuzeit. Definitionsprobleme, Methodendiskussion, Forschungstendenzen, in: Boškovska Leimgruber, Nada (Hg.): Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft. Forschungstendenzen und Forschungsergebnisse, Paderborn / München / Wien / Zürich 1997, S. 21–22.

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zeichnet.29 Es ist nicht schwierig, die beiden Klassen von Elementen aufzuzählen, wie zum Beispiel die moderne Wissenschaft, moderne Kulturformen wie die Oper oder das Konzert, die Anfänge der Globalisierung und den Beginn des europäischen Kolonialismus, kapitalistische Formen in der Wirtschaft, aber auch die wesentliche Rolle der Religion, die Vorherrschaft der Landwirtschaft, die ständisch gegliederte Gesellschaft, blockierte Entwicklungsgelegenheiten, die hohe Geburten- und Sterberate usw. Dabei stellen sich sofort zwei Fragen: Welche Epoche ist nicht eine Übergangsepoche und gibt es überhaupt eine Epoche, in der keine Mischung von Altem und Neuem vorhanden wäre? Die Antwort auf diese Fragen ist zwar griffbereit, aber sie bereitet neue Probleme. Die Antwort ist nämlich: Sicherlich ist jede Epoche mehr oder weniger eine Übergangsperiode und sicher ist jede Epoche eine spezifische Kombination von Altem und Neuem, aber nur die Frühneuzeit oder Frühe Moderne ist eine Epoche, in der das Neue das Moderne bedeutet. Die Benennung ›Frühe Moderne‹ impliziert nämlich, dass sich Europa in Richtung der Moderne bewegt, das Ziel aber noch nicht erreicht hat. Das Problem dabei liegt auf der Hand: Wir laufen Gefahr, die geschichtlichen Veränderungen teleologisch zu erklären oder uns vor allem auf die neuen, modernen Komponenten zu konzentrieren, die alten jedoch zu vernachlässigen oder schlicht abzutun, obwohl diese tradierten Komponenten einen unabdingbaren Bestandteil der Epoche bildeten. Theoretiker, die verschiedene Modernisierungstheorien entworfen haben, wie zum Beispiel Max Weber, Talcot Parsons, Walter Rostow, aber auch Karl Marx, haben wesentlich zu einem bestimmten Erklärungsmodell der Frühen Neuzeit beigetragen, demjenigen, das den Verlauf der Geschichte in den letzten 400 Jahren im Grunde als nicht umzukehrenden Prozess versteht. Es ist zwar wahr, dass die Geschichte den teleologischen Voraussetzungen ausweichen muss, auf der anderen Seite ist es aber auch wahr, vielleicht ein wenig provokativ gesagt, dass die Geschichte gerade so und nicht anders verlaufen ist, und dass aus der sogenannten frühen modernen Zeit nichts anderes als die moderne Zeit entschlüpft ist. Wir können und dürfen den geschichtlichen Verlauf so betrachten und analysieren, dass wir zeigen, wie es zu einem bestimmten Zustand gekommen ist, dabei sollten wir den Akteuren aber nicht Absichten zuschreiben, die sie nicht hatten und nicht haben konnten. Karl der Große war in keinem Fall der Urvater des vereinigten Europas, obwohl es einen Karlspreis gibt und obwohl er wirklich über jene Territorien herrschte, wo sich heute die Gründungsstaaten der ehemaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft befinden. Wenden wir uns jetzt den zeitlichen Grenzen der Frühneuzeit zu. Das Ende ist ziemlich unbestritten. Die doppelte Revolution, also die industrielle und die französische, hat das Alte in den frühneuzeitlichen Strukturen zerstört. Nicht in einem oder 29 Vogler, Günter: Europas Aufbruch in die Neuzeit 1500–1650. Handbuch der Geschichte Europas. Band 5, Stuttgart, 2003, S. 22–32; Cameron, Euan (Hg.): Early Modern Europe. An Oxford History, Oxford 1999, S. XVII–XIX; Vierhaus, Rudolf: Nutzen und Nachteil des Begriffs »Frühe Neuzeit«, in: Vierhaus, Rudolf (Hg): Frühe Neuzeit – Frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen, Göttingen 1992, S. 24–25.

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zwei Jahrzehnten. Der Übergang von der frühmodernen zur modernen Gesellschaft dauerte sogar in England eine Weile, so dass das Konzept der Industrialisierung, das eine zeitliche Dimension beinhaltet, besser den historischen Tatsachen30 entspricht. Reinhard Koseleck hat diesen Übergang in die Zeit von 1750–1850 loziert und sie die Sattelzeit genannt.31 Der Beginn der Frühen Neuzeit ist schwieriger zu bestimmen. Im Allgemeinen gilt das Ende des 15. Jahrhunderts als Schwelle – die erste Modernisierungsschwelle liege um 1500, die zweite um 1800 –32, als sich das Spätmittelalter zur Frühneuzeit umwandelte. Es gibt aber auch ein konkurrierendes Epochenkonzept und einen damit verbundenen Epochenbeginn: Es geht um das Konzept Alteuropa, das von Otto Brunner konzipiert wurde33, dem sich später einige andere Historiker anschlossen. Diesem Konzept gemäß bildet die Zeitspanne von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis etwa zum Jahr 1800 eine Einheit, in der es wirtschaftliche, soziale und verfassungsbezogene Kontinuitäten gegeben habe. In letzter Zeit ist dieser Meinung auch Heinz Schilling, der 1999 in der Reihe Siedler Geschichte Europas eine umfassende Darstellung der europäischen Geschichte von 1250 bis 1750 mit dem Titel Die neue Zeit herausgab.34 Ein Vertreter eines langen Mittelalters war auch der berühmte französische Historiker Jacques Le Goff.35 Aber auch diejenigen, die das Konzept Alteuropa nicht berücksichtigen, schieben den Beginn der Frühen Neuzeit zurück, weil die Grenze in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu eng bemessen sei. So ist in The Oxford Handbook of Early Modern European History 1350–1750 das Folgende zu lesen: In a more general sense, a growing awareness of European developments in the fifteenth and even fourteenth century raises questions about how convincing the established periodization of early modern ever really was. It depended upon the predominantly negative view of the later medieval centuries prevailing at its birth. Yet many dominant themes of post-1500 Europe now seem to have their origins and even their counterparts during the era conventionally styled the Later Middle Ages: whether in topics as diverse as state formation, high culture, or voyages of exploration. Here the development of a more positive view of the fourteenth and fifteenth centuries has actually facilitated an extension of the early modern era backward.36 30 Schulze, S. 31–32. 31 Koselleck, Reinhardt: Einleitung, in: Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhardt (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, S. XIII–XXVI. 32 Burkhardt, Johannes: Frühe Neuzeit, in: van Dülmen, Richard: Das Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt am Main 2003, S. 438–439. 33 Brunner, Otto: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 31980. 34 Schilling, Heinz: Die neue Zeit. Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten. 1250 bis 1750. Siedler Geschichte Europas, Berlin 1999. 35 Le Goff, Jacques: Faut-il vraiment découper l’histoire en tranches? Paris 2014, S. 137–186. 36 Scott, Hamish: Introduction, in: Scott, Hamish (Hg.): The Oxford Handbook of Early Modern European History, 1350–1750. Volume I: Peoples & Places, Oxford 2015, S. 20. Von der Globalperspektive vgl. Reinhardt, Wolfgang: Einleitung. Weltreiche, Weltmeere – und der

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Unserer Meinung nach ist es fraglich, ob es sinnvoll ist, die spätmittelalterliche Krise als einen Teil der frühmodernen Epoche zu verstehen. Diese Krise, so relativiert sie auch sein mag, war das Resultat der mittelalterlichen strukturellen Bedingungen, vor allem der Spannungen zwischen Bevölkerung, Technologie, gesellschaftlicher Ordnung und Ressourcen. Das Begreifen der Zeitspanne von 1250–1800 als eine Einheit ist zwar nicht argumentslos, man könnte jedoch auch gut argumentieren, dass die Zeit vom Ende der Völkerwanderung bis zur industriellen Revolution eine Einheit bildet. Vor allem aber kann man diese ganze Periode nicht mit dem Adjektiv »modern« bezeichnen. Die Mitte des 13. Jahrhunderts hat mit der Moderne wirklich nichts zu tun. Und genau so gilt es auch für die Mitte des 14. Jahrhunderts. Was unserem Erachten nach sinnvoll wäre, wäre die Umbenennung der Epoche. Wir meinen zwar, dass sich die Frühe Neuzeit über den Zeitraum zwischen 1460/80 und 1760/80 erstreckte, fragen uns aber, ob diese Zeit wirklich die frühe moderne oder frühe neue Zeit ist. Ist diese Epoche vielleicht nicht eigentlich die letzte Periode einer Jahrtausende dauernden Zeitspanne, die sich zwischen den beiden wichtigsten Revolutionen in der menschlichen Geschichte, der Agrarrevolution und der industriellen Revolution, erstreckte?37 Operieren wir nicht vielleicht zu viel mit dem Konzept der Moderne und schreiben wir nicht zu hastig Tatsachen, Ereignissen und Menschen aus anderen Zeiten Modernität zu? Geschichtliche Epochen lassen sich nicht durch einen Punkt oder eine gerade Linie voneinander trennen. Sie sind nicht wie Wasser und Öl in einem Behälter, wo sich die beiden Flüssigkeiten klar voneinander trennen. Die geschichtlichen Epochen sind vielmehr wie zwei nasse Farben auf einer geneigten Leinwand, die sich langsam und leise in verschiedene Richtungen neigt, so dass die Farben in verschiedene Richtungen laufen und am Berührungsraum auf der Leinwand folglich eine nicht homogene und nicht linear verlaufende Farbmischung entsteht. So dürften wir auch das Ende und den Neubeginn nicht als einen festen Knoten verstehen, sondern als einen Knoten, der sich lockert, aber nicht löst.

Rest der Welt, in: Ders. (Hg.): Geschichte der Welt, 1350–1750. Weltreiche und Weltmeere, München 2014, S. 12–13. Reinhardt berücksichtigt das Konzept Alteuropa, aber in einem zeitlich engeren Rahmen. Der amerikansche Historiker Robert B. Marks, der die Frühe Neuzeit auch aus der Globalperspektive betrachtet, argumentiert, dass der Beginn dieser Epoche um 1400 zu suchen sei. Siehe: Marks, Robert B.: Die Ursprünge der modernen Welt. Eine globale Weltgeschichte, Darmstadt 2006, S. 23–27; Ähnlich auch Andre Gunder Frank. Siehe: Frank, Andre Gunder: ReOrient. Globalwirtschaft im Asiatischen Zeitalter, Wien 2016. Alle diese Werke zeigen sich sehr kritisch gegenüber dem Eurozentrismus. Interessant ist auch die Diskussion von Bernd Roeck über die Bedeutung der spätmittelalterlichen Krise für die Ausprägung der Frühen Neuzeit. Trotzdem stellt aber Roeck den Beginn der Frühneuzeit in die Mitte des 15. Jahrhunderts. Siehe: Roeck, Bernd: Frühe Neuzeit, in: Cornelißen, Christoph: Geschichtswissenschaften. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 2000, S. 85–87. 37 Cipolla, Carlo: The Economic History of World Population, New York 71978, S. 17–34.

Epochenumbrüche – Die Inszenierung des Anfangs in der russischen Romantik und im russischen Realismus Schamma Schahadat

Anfang I: Was ist der Anfang? Anfänge, so schreibt Herodot in seinen Historien, sind nicht gegeben, sondern sie müssen gesetzt werden.1 Anfänge bedürfen also der Anfangs- oder Ursprungserzählungen, und das gilt auch für Epochenanfänge. Eine bekannte Setzung ist das Manifest der russischen Futuristen 1913: Hier inszenieren sie sich und ihre Kunst als Neues, Erstes, Unerwartetes und werfen Puškin vom Dampfer der Gegenwart.2 Dieser Vorstellung von einem Anfang wird jedoch bereits wenige Jahrzehnte später im Zuge der postmodernen Philosophie und ihrer Vorläufer der Boden entzogen. So scheint schon in Heideggers Abhandlung Der Ursprung des Kunstwerks von 1935/36 die Idee auf, dass jeder Anfang nur »temporär« ist, er ist nicht »wirklich ein Anfang […], sondern vielmehr ein[…] Schritt entlang eines Weges«,3 und dieser Weg wiederum ist für Heidegger ein Kreis. Damit wird der Anfang vervielfacht.4 Michel Foucault und Jacques Derrida entwickeln diese Idee auf je unterschiedliche Weise weiter: Foucault entwirft zwar in der Archäologie des Wissens (1969) eine genealogische Methode, kommt dabei aber nicht zu einem Anfang: »Am historischen Anfang

Für Anregungen zu diesem Aufsatz danke ich Prof. Špela Virant, Ljubljana, Prof. Igor’ S­ mirnov, Konstanz, sowie Daniela Amodio, Tübingen. 1 Zit. nach Mülder-Bach, Inka / Schumacher, Eckhard: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Am Anfang war… Ursprungsfiguren und Anfangskonstruktionen der Moderne (Anfänge), Paderborn / München 2008, S. 7–10, hier S. 8. 2 »Читающим наше Новое Первое Неожиданное. Только мы  – лицо нашего  Времени. Рог времени трубит нами в словесном искусстве. Прошлое тесно. Академия и Пушкин непонятнее гиероглифов. Бросить Пушкина, Достоевского, Толстого и проч. и проч. с парохода Современности« (Majakovskij, Vladimir / Burljuk, David / Burljuk, Nikolaj / ​ Chlebnikov, Velimir / L ifšic, Benedikt / K andinskij, Vasilij / K ručenych, Aleksej: Poščečina obščestvennomu vkusu, Moskva 1912, ohne Seitenangabe). »Denen die lesen, unser Neues, Erstes Unerwartetes. Nur W IR sind das Gesicht unserer Zeit. Das Horn der Zeit dröhnt durch uns in der Wortkunst. Das Vergangene ist eng. Die Akademie und Puškin sind unverständlicher als Hieroglyphen. Puškin, Dostojevskij, Tolstoj usw. usw. sind vom Dampfer der Gegenwart zu werfen« (Asholt, Wolfgang / Fähnders, Walter: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938), Stuttgart 1995, S. 28. 3 Silverman, Hugh J.: Foucault / Derrida. – Ursprünge der Geschichte, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG) 4/3 (1993), S. 492–503, hier S. 501. 4 Silverman: Foucault / Derrida, S.  501.

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der Dinge findet man nicht die immer noch bewahrte Identität ihres Ursprungs, sondern die Unstimmigkeit des Anderen.«5 Der Ursprung ist für Foucault dort, wo in etwa gleichzeitig an verschiedenen Orten neue diskursive Praktiken entstehen,6 er ist verstreut und nicht auf den Punkt zu bringen. Derrida wiederum bringt die Konzepte der différance und der Spur (trace) ein, um die Idee eines Anfangs oder Ursprungs zu devaluieren. Das dekonstruktive Denken setzt an die Stelle des Ursprungs oder des Anfangs, so der amerikanische Philosoph Hugh Silverman, »Iteration und Repetition«.7 Im Folgenden aber wird es weniger um die philosophische Verzweiflung über den Anfang gehen als um das selbstbewusste Setzen eines Anfangs, oder genauer: das Setzen eines Anfangs im diskursiven Feld der Literatur bzw. der Literaturgeschichte durch diejenigen, die diese Anfänge erleben. Wie, so lautet die Frage, werden Epochenanfänge und damit Epochenbrüche diskursiv hervorgebracht, wie werden sie erzählt und inszeniert? Dabei ist die radikale Setzung eines Anfangs, wie sie der russische Futurismus durchführt, eher die Ausnahme. Im 19. Jahrhundert, in den Epochen der Romantik und des Realismus, herrscht eher das Bedürfnis danach, den eigenen Anfang in eine genealogische Reihung einzubauen, und nach der Avantgarde wird der Anfang, wie gerade schon in Ansätzen gezeigt wurde, wieder entmachtet. Was aber ist ein Anfang? Anfänge, so schreiben Inka Mülder-Bach und Eckhard Schumacher in ihrer Einleitung zu dem Band Am Anfang war, sind »seit jeher Verdichtungspunkte von ästhetischen Verfahren und kulturellen Symbolisierungen«,8 sie sind »Begründungen und Legitimierungen«, formulieren »Autoritäts- und Prioritätsansprüche.«9 Dem Anfang ist der Ursprung ähnlich; Karl Jaspers beschreibt den Anfang als »historisch«, während der Ursprung »die Quelle« ist.10 Für ihn ist der Anfang der Beginn einer Zukunft, ein Zeitstrahl, der beginnt, während der Ursprung das ist, auf das man zurückblickt – »durch [den Ursprung] erst wird die gegenwärtige Philosophie wesentlich.«11 Ein Epochenwandel bedarf also einer Anfangs- oder Ursprungserzählung, je nach Perspektive – von jetzt aus in die Zukunft, wie bei den Futuristen, oder von jetzt aus 5 Foucault, Michel: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Ders.: Von der Subversion des Wissens, hg. von Walter Seitter, Frankfurt am Main 1991, S. 69–90, hier S. 71. 6 Silverman: Foucault / Derrida, S.  494. 7 Silverman: Foucault / Derrida, S.  502. 8 Mülder-Bach / Schumacher: Einleitung, S.  7. 9 Ebd. 10 Jaspers, Karl: Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2004 (Sonderausgabe), S. 16. Bei Jaspers geht es um Anfang und Ursprung der Philosophie, genau heißt es: »Doch Anfang ist etwas anderes als Ursprung. Der Anfang ist historisch und bringt für die Nachfolgenden eine wachsende Menge von Voraussetzungen durch die nun schon geleistete Denkarbeit. Ursprung aber ist jederzeit die Quelle, aus der der Antrieb zum Philosophieren kommt. Durch ihn erst wird die gegenwärtige Philosophie wesentlich, die frühere Philosophie verstanden« (ebd.). 11 Jaspers: Einführung in die Philosophie, S. 16.

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zurück –, und diese Inszenierung des Anfangs hängt häufig mit einer Absage an die vorangehende Epoche zusammen, wenngleich diese Absage nicht immer so radikal ist wie im Fall der Futuristen. Epochenwandel als Epochenstreit bestimmte bereits die Debatte über die – oder das – Moderne: die Querelle des Anciens et des Modernes hat Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich darüber diskutiert, ob man der Antike folgen oder neue Wege einschlagen sollte, die Archaisten und die Neuerer haben zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Russland über die Einführung des mittleren Stils, des nežnyj slog, in die Literatur und generell über die Europäisierung der russischen Literatur gestritten, die Klassiker und die Romantiker haben einander unterschiedliche Modelle von Literatur entgegengesetzt und so weiter. Nicht selten geht der Anfang einer literarischen Epoche einher mit einem politischen Umsturz. Demnach ist die Romantik in Westeuropa eng verbunden mit der Französischen Revolution. Die russische Avantgarde wiederum begreift sich als Vorläufer der russischen Revolution 1917: Der ästhetischen Revolution, so glaubt die Avantgarde, folgt die politische. Doch wenngleich Anfänge als »Verdichtungspunkte« zeitlich fixiert und gesetzt werden, so werden an ihnen auch Transformationen, Übergänge, Traditionen sichtbar. Gerade die Auseinandersetzung mit dem, was davor war, bindet Anfänge in eine Geschichte ein und lässt sie eher als Umbruch denn als radikalen Neuanfang erscheinen. So inszeniert sich die Romantik als Gegenbewegung zur Klassik, der russische Realismus reagiert auf die Romantik, wesentlich aber auch auf den Sentimentalismus, während die Avantgarde, zumindest in Russland, eine Reaktion auf den Symbolismus ist. Zäsuren wirken aus der Vogelperspektive als Brüche, die Altes und Neues nicht nur trennen, sondern auch einen roten Faden mitziehen und neben den Unterschieden auch Gemeinsamkeiten sichtbar machen. Selbst die Futuristen, die sich als »Erstes Neues Unerwartetes« inszenieren, beziehen sich auf etwas, das ihrem Anfang vorausgegangen ist, nämlich auf Puškin, Dostoevskij und Tolstoj, die sie vom Dampfer der Gegenwart werfen. Der Anfang, archē, lässt sich zusammendenken mit anarchia, mit Anarchie. Theoretische Perspektiven auf Epochen- und Anfangsnarrative weisen eine breite Spanne auf zwischen der absoluten, radikalen Setzung eines Anfangs und der Integration in eine Erzählung von Umbrüchen und Traditionen.12 Im 19. Jahrhundert sind die Anfänge eingebunden in eine Genealogie, die den Ursprung zurückversetzt, die Ursprungs- oder Anfangserzählungen sind nicht selten zugleich Fortschrittserzählungen, in denen die eigene Epoche bzw. deren Anfang als Höhepunkt einer Entwicklung begriffen wird, die zu einer anderen Zeit und in einem anderen Raum begonnen hat – das gilt für die Romantik und den Realismus. Um die Wende vom 19. und 20. Jahrhundert herrschen dann – dem entgegengesetzt – Dekadenzerzählungen vor; die Epoche begreift sich als Wendepunkt in einer Niedergangserzählung, was schon in den Epochenbegriffen »Dekadenz« oder »Fin de Siècle« zum Ausdruck kommt. Mit der Avantgarde dann wird die Zukunft ins Hier und Jetzt versetzt. 12 Mit der Erzähllogik von Anfangsnarrativen befasst sich Albrecht Koschorke: Zur Logik kultureller Gründungserzählungen, in: Zeitschrift für Ideengeschichte I/2 (Sommer 2007), S. 5–12.

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Im Folgenden werde ich auf die Logik von Ursprungs- und Anfangserzählungen eingehen und dann beispielhaft die Anfänge der russischen Romantik und des russischen Realismus genauer betrachten.

Anfang II: Von Anfängen und Umbrüchen Epochenmodelle, die aus der Vogelperspektive auf die Abfolge literarischer Epochen blicken, interessiert weniger der Anfang als die Transformation von einer Epoche zur nächsten. Dabei lassen sich diese Modelle in zwei Typen einteilen, einen TraditionsTypus, der retrospektiv auf den Ursprung blickt, wie Jaspers definiert, und einen Evolutions-Typus, der den Anfang sucht und in die Zukunft blickt. Die Epochenmodelle, die von einer Tradition ausgehen, sind kanongebunden; so geht Ernst Robert Curtius in seinem Buch Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter von 1948 davon aus, dass die europäische Literatur in einem »Generationenverhältnis« steht, bei dem »die eine die Tochterkultur der anderen« ist, in diesem Fall ist das Abendland die »Tochterkultur« der Antike.13 Curtius argumentiert dabei sehr organisch; er geht von »Kulturkörpern« aus, die sich einer »Gesamtbewegung« unterordnen. Diese Bewegung ist zwar kein »Fortschritt«, aber ein »Aufstieg« – dabei bleiben einige Kulturen zurück, andere steigen immer höher.14 Mit seinem Konzept einer europäischen Literatur wendet Curtius sich gegen die Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, die einerseits teleologisch argumentierte, andererseits aber eine Nationalliteratur zum Ziel hatte.15 Anders als Curtius sah zum Beispiel Gervinus, der 1835–1842 die erste Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen schrieb, die Entwicklung der deutschen Literatur als Verfallsgeschichte; damit knüpfte er an Hegels These vom »Ende der Kunstperiode« an und begriff »die Literatur der nachklassischen Zeit als bloße Verfallserscheinung«.16 Der Evolutionstypus dagegen argumentiert nicht historisch, sondern typologisch und fasst die Literaturgeschichte als eine Abfolge bestimmter Stile auf; Epochen werden nicht, wie bei Curtius, in familiärer Verbundenheit betrachtet – als »Tochterkulturen« –, sondern, ganz im Gegenteil, als Kampf. Diese agonale Struktur stammt aus der Antike und ist in ihrem Ursprung ein »Muster der literarischen Polemik«: »Alte« 13 Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, Bern / München 1984, 10. Aufl., S. 16. 14 Genau heißt es bei Curtius: »Die einzelnen Kulturbewegungen können voneinander unabhängig sein (zum Beispiel Maya-Kultur und Altkreta), können aber auch durch ein Generationenverhältnis derart verbunden sein, daß die eine die Tochterkultur der anderen ist. In diesem Verhältnis stehen Antike und Abendland, aber auch altsyrische und arabische Kultur usw. Die einzelnen Kulturbewegungen ordnen sich einer Gesamtbewegung ein, die nicht als Fortschritt, sondern als Aufstieg zu fassen ist«, Curtius: Europäische Literatur, S. 16. 15 Siehe dazu Jauß, Hans-Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: Ders.: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M. 1970, S. 144–207, hier S. 148 f. 16 Jauß: Literaturgeschichte, S. 150.

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und »Neuerer« treten gegeneinander an.17 Daraus entwickelte sich ein Modell, das den Epochenwandel beschreibt. In der Kunstgeschichte unterscheiden Heinrich Wölfflin und Gustav René Hocke einen linearen und einen malerischen bzw. einen attizistischen und einen asianischen Stil,18 die sich regelmäßig abwechseln: Renaissance und Barock, Klassizismus und Romantik, Realismus und Symbolismus. Die russischen Formalisten haben dieses paarige Evolutionsmodell von seinen Inhalten befreit und stattdessen einen prinzipiell agonalen Wechsel zwischen den literarischen Epochen beschrieben, ausgehend von dem formalistischen Schlüsselbegriff der Automatisierung, dass jede Epoche sich allmählich erschöpft, wenn das, was sie begründet hat – nämlich eine Entautomatisierung der Verfahren –, allmählich automatisiert wird, so dass neue Verfahren aufkommen, die wiederum entautomatisierend wirken.19 In seinem Aufsatz O literaturnoj ėvoljucii (Über die literarische Evolution) von 1927 beschreibt Jurij Tynjanov Literaturgeschichte als »Ablösung der Systeme«,20 wobei das System »Literatur« in Wechselwirkung steht mit anderen Systemen. Dieser Systemwechsel ist auch bei Tynjanov agonal, in seinem Parodie-Aufsatz über Gogol’ und Dostoevskij (1921) heißt es: Wenn von ›literarischer Tradition‹ oder ›Nachfolge‹ gesprochen wird, so stellt man sich gewöhnlich eine gerade Linie vor, die den jüngeren Vertreter eines bestimmten literarischen Zweiges mit dem älteren verbindet. Die Sache ist indes wesentlich komplizierter. Es gibt keine Fortführung einer geraden Linie, eher handelt es sich um einen Aufbruch, um ein Abstoßen von einem bestimmten Punkt, also um Kampf.21 17 Jauß, Hans-Robert: Schlegels und Schillers Replik auf die ›Querelle des Anciens et des Modernes‹, in: Ders.: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M. 1970, S. 67–106, hier S. 70. 18 Vgl. Jensen, Peter Alberg: Zum Problem der primären und sekundären Stile, in: Wiener Slawistischer Almanach 32 (1993), S. 9–20, hier S. 9; Wölfflin, Heinrich: Kunstgeschichtliche Begriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München 21917, S. 20–79; Hocke, Gustav René: Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchimie und esoterische Kombinationskunst, Hamburg 1959, S. 12–13. 19 Siehe Šklovskij, Viktor: Iskusstvo kak priem / Die Kunst als Verfahren, in: Striedter, Jurij (Hg.): Texte der russischen Formalisten. Bd. 1. (Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa), München 1969, S. 2–35, hier S. 35: »wenn diese Störung in den Kanon eingeht, dann verliert sie ihre Wirkung als erschwerendes Verfahren« (»если это нарушение войдет в канон, то оно потерлет свою силу затрудняющего приема«); siehe auch Jauß: Literaturgeschichte, S. 166. 20 Tynjanov, Jurij: O literaturnoj evoljucii / Ü ber die literarische Evolution, in: Striedter, Jurij (Hg.): Texte der russischen Formalisten. Bd. 1. (Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa), München 1969, S. 432–461, hier S. 437. 21 Tynjanov, Jurij: Dostoevskij i Gogol’ (K teorii parodii), in: Striedter, Jurij (Hg.): Texte der russischen Formalisten. Bd. 1. (Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa), München 1969a, S. 300–371, hier S. 301. »Когда говорят о ›литературной традиции‹ илиу ›преемственности‹, осычно представляют некоторую прямую линию, соединяющую младшего представителя известной литературной ветви со старшим. Между тем дело много сложнее. Нет продолжения прямой линии, есть скорее отправление, отталкивание от известной точки, – борьба« Tynjanov: Dostoevskij i Gogol’, S. 300.

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Genau an dieser Stelle des Agonalen, des Kampfes, lassen sich die epochale Anfangsrhetorik und Überlegungen zur Evolution zusammenlesen: Der Kampf erfordert die Anfangsrhetorik, die Setzung des absoluten Neubeginns  – und sie impliziert das ›Verbrechen‹, die Vernichtung des literarischen Vorläufers, die Ab- und Wegwendung von ihm.22 Anfangsnarrative, die Epochenwenden und -brüche markieren, können somit agonal sein, oder aber sie bauen auf Tradition.

III. Zwei Anfangserzählungen: Die russische Romantik und der russische Realismus Beispielhaft hierfür lassen sich die russische Romantik und der russische Realismus anführen. So beginnt die Romantik in Russland gleich zweimal: Zunächst findet eine Auseinandersetzung um die Zugehörigkeit zu Europa statt, was in verschiedenen Debatten – zur Rhetorik, zur Übersetzung und zum Stil – agonal ausdiskutiert wird, und erst in einer zweiten Phase tritt Puškin auf den Plan; dieser wird in verschiedenen Anfangserzählungen zum ersten russischen Dichter gemacht. Die russische Romantik lässt sich so in zwei Sub-Epochen unterteilen; die erste, frühe Phase ist mit verschiedenen Polemiken zwischen »Archaisten« und »Neuerern« und – als Verkörperung des neuen, romantischen Stils – mit dem Namen Vasilij Žukovskij verbunden. Die zweite Phase, in der die Romantik sich noch einmal selbst setzt und begründet, kreist um Aleksandr Puškin und seine ›romantischen‹ Werke. Zunächst zur frühen Phase der russischen Romantik: An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert fand die grundlegende Auseinandersetzung zwischen Archaisten und Neuerern statt,23 die nicht nur auf Sprache und Literatur gerichtet war, sondern auch Politik und Kultur umfasste24 – in dieser Polemik, die unter anderem in der von Karamzin begründeten Zeitschrift Vestnik Evropy (Der europäische Bote) geführt wurde,25 ging es um nicht weniger als um die Beziehung zu Europa. Dabei rückten 22 Das wäre bei Harold Bloom die Tropik, vgl. Bloom, Harold: A Map of Misreading. New York, 1975. Albrecht Koschorke schließt Gründungsmythen und das Verbrechen kurz, wobei er sich auf das Gründungsnarrativ Roms bezieht: Vgl. Koschorke, Albrecht: Götterzeichen und Gründungsverbrechen. Die zwei Anfänge des Staates, in: Neue Rundschau 1 (2004), S. 40–55. 23 Die Begriffe »Archaisten und Neuerer«, »archaisty i novatory«, stammen aus Jurij Tynjanovs Aufsatz: Archaisty i Puškin, in: Ders.: Archaisty i novatory, Leningrad 1929, S. 87–228. 24 Kurilkin, Andrej / Majofis, Marija: Literaturnaja kritika Aleksandrovskogo carstvovanija, in: Dies. (Hg.): Kritika pervoj četverti XIX veka (Biblioteka russkoj kritiki), Moskva 2002, S. 3–22, hier S. 5. Auf diese Vermischung von Ästhetik und Politik hat bereits Tynjanov in seinem Essay »Archaisty i Puškin« (Die Archaisten und Puškin) hingewiesen. Die zweite Generation der Archaisten (bzw. der Vereinigung »Beseda«) ging, so Tynjanov (der sich im Übrigen auf Vilgel’m Kjuchel’beker bezieht), über die Literatur hinaus, vgl. Tynjanov: Archaisty i Puškin, S. 91. 25 Mit dem Vestnik Evropy, der 1802 zum ersten Mal erschien (bis 1830), begann in Russland die Kultur der sogenannten »tolstye žurnaly«, der »dicken Journale«, in denen es nicht nur um

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Auseinandersetzungen um die ›richtige‹ Übersetzung europäischer Vorbilder ins Zentrum der Debatte. So nutzte der »Neuerer« Dmitrij Daškov seine Rezension zur »Perevod dvuch statej iz Lagarpa« (»Übersetzung von zwei Aufsätzen von Laharpe«) des »Archaisten« Šiškov zu einer Auseinandersetzung mit dessen Sprachtheorie,26 und es kam zu Diskussionen über eine Ilias-Übersetzung sowie über die Balladen-Übersetzungen aus dem Deutschen, die Vasilij Žukovskij anfertigte. Diese Auseinandersetzungen sind im Kontext mit Napoleons Russland-Feldzug zu sehen, der den Effekt hatte, dass die führende Rolle Frankreichs im Bereich der Kultur in den gebildeten Kreisen Russlands hinterfragt wurde. Stattdessen wandte man sich der Antike als Vorbild zu, um die russische Literatur und Kultur weiterzuentwickeln.27 Die Frage, ob man die Ilias auf Russisch in Hexametern wiedergeben kann oder nicht, war somit nicht nur von ästhetischer, sondern auch von entscheidender kultureller Bedeutung. Die kriegerische Auseinandersetzung28 zwischen den Archaisten und den Neuerern, in der es um den »novyj slog«, den neuen Stil bzw. um eine neue, emotionalisierte Sprache auf mittlerem Niveau ging, die Debatten um die Gattungen, um die Versform und um Übersetzungen bereiteten die neue Epoche der Romantik vor. Und wenngleich Puškin auf Žukovskij, den ersten russischen Romantiker, folgt, so kreisen die Anfangserzählungen einer russischen Romantik dennoch im Wesentlichen Literatur ging. Karamzin plante eine »Auswahl aus den zwölf besten englischen, französischen und deutschen Zeitschriften«, die sich aus den »beiden großen Bereichen Literatur und Politik« zusammensetzt (»извлечением из двенадцати лучших английских, французских и немецких журналов. Литература и политика составят две главные части его«), Karamzin, Nikolaj zit. nach dem Eintrag »Vestnik« im Ėnciklopedičeskij slovar’ Brokgauz-Efron, Bd. VIIa, Sankt-Peterburg 1905; online zugänglich unter https://ru.wikisource.org/wiki/%D0%AD% D0%A1%D0%91%D0%95/%D0%92%D0%B5%D1%81%D1%82%D0%BD%D0%B8%D 0%BA, letzter Zugriff am 28. Januar 2020. Im Vestnik Evropy erschienen auch die ersten Gedichte Puškins. Die Zeitschrift stellte 1830 ihr Erscheinen ein, vgl. ebd. 26 Im Übrigen schreibt Daškov Šiškov ebenso zu, dass dessen »Vorhaben nicht darin lag, Laharpes Worte zu kommentieren, sondern Laharpe für seine Anmerkungen zu nutzen, die man eine Ergänzung zu seinen früheren Werken über den alten und den neuen Stil nennen könnte« (»намерение его было не примечания делать на Лагарповы слова, а самого Лагапр перевести для своих примечаний, кои можно назвать Дополнением к прежним сочинениям о старом и новом слоге«), Daškov, Dimitrij: Perevod dvuch sttej iz Lagarpa c primečanijami perevodčika, in: Kurilkin, Andrej / Majofis, Marija (Hg.): Kritika pervoj četverti XIX veka (Biblioteka russkoj kritiki), Moskva 2002, S. 73–110, hier S. 73 (Hervorhebungen im Original). 27 Kurilkin / Majofis: Literaturnaja kritika, S. 11–12. 28 »Друзья за меня вступились […]«, schreibt Žukovskij im November 1815 in einem Brief, kurz nachdem er in einer Komödie verlacht wurde, die gegen ihn und den »neuen Stil« gerichtet war. »[…] Теперь страшная война на Парнасе. Около меня дерутся за меня, а я молчу […] Город разделился на две партии […]« (»Die Freunde sind für mich eingetreten […] Jetzt herrscht ein schrecklicher Krieg auf dem Parnass. Um mich herum schlagen sie sich für mich, und ich schweige […] Die Stadt hat sich in zwei Lager aufgeteilt […]«; Arzamas. Sbornik v dvuch ­k nigach 1994, hrsg. von V. E. Vacuro, A. L. Ospovat. 2 Bde., Moskva 1994, II, S. 345.

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nicht um Žukovskij, sondern um Puškin – angefangen mit Ruslan i Ljudmila (Ruslan und Ljudmila), ein Werk, das den Untertitel »romantisches Poem«, »romantičeskaja poėma«, trug.29 Oleg Proskurin hat die »Zeitgenossenschaft« Puškins mit seinen Vorläufern Gavriil Deržavin, Vasilij Žukovskij und Konstantin Batjuškov herausgearbeitet: Alle drei, so Proskurin, waren für Puškin »ältere Zeitgenossen« – Deržavin war 1743 geboren, Žukovskij 1852 und Batjuškov 1787, Puškin 1799 –30 und an ihrer Lyrik und im Dialog mit dieser bildete er seinen Stil der romantischen Lyrik und der russischen Lyrik überhaupt aus.31 Mit Puškin tritt somit an die Stelle des Kampfes die Idee der Genealogie, der Weiterführung des Vorhergehenden, das dennoch ins Neue transformiert wird. Wenngleich Puškin aus historischer Perspektive nicht der »erste« russische Romantiker war, so kommt es in der Folge zu einem Puškin-Mythos, im Zuge dessen er als »erster russischer Dichter« in Szene gesetzt wird. Puškin begann in der zweiten Hälfte der 1810er Jahre zu schreiben, als die europäische Romantik sich bereits auf dem Höhepunkt befand und als die russische Romantik erste Schritte auf der »literarischen Bühne« Europas machte. Mit Puškins Werken begann eine Polemik zwischen Romantikern und Klassikern, und mit ihnen  – speziell mit Kavkazskij plennik (Der Gefangene des Kaukasus) und mit Bachčissarajskij fontan (Die Fontäne von Bachčissaraj) – wurde der Anfang neu gesetzt; die Romantik wurde noch einmal begründet; ihr wurde eine Grundlage gegeben, sie wurde erklärt und erläutert. Die Romantik also hat Schwierigkeiten mit dem Anfangsnarrativ bzw. verdoppelt den Anfang. Auch der Realismus tritt – zumindest in der russischen Literatur – eher zögerlich auf den Plan. Thomas Grob spricht von der Übergangszeit zwischen Romantik und Realismus als »Postromantik«32. Jurij Tynjanov entdeckte Parallelen zwischen Avantgarde und den 1830er Jahren, wobei er diese als promežutok, als Zwischenraum, bezeichnete und in ihr ein »›avantgardistisches‹ Lebensgefühl und ein […] Pathos der demystifizierenden Neu-Schaffung, Umwertung und De-Kanonisierung« entdeckte.33 Ebenfalls Tynjanov konzeptualisierte den Übergang zwischen Romantik und Realismus in seinem Aufsatz Dostoevskij i Gogol’. O teorii parodii (Dostoevskij und Gogol’. Über die Theorie der Parodie) von 1921 als ein »sich Abstoßen« (»ottalkivanie«) und als »Kampf« (»bor’ba«).34 Ein altes System wird zerstört und ein neues wird aufgebaut; die Verfahren nutzen sich ab und werden abgelöst, hier in Form der Parodie. 29 Zu dieser Polemik siehe Kurilkin / Majofis: Literaturnaja kritika, S. 20. 30 Proskurin, Oleg: Predšestvenniki Puškina v XVIII i XIX vv. (Deržavin, Žukovskij, Batjuškov), in: Bethea, David M. (Hg.): The Pushkin Handbook, Madison 2005, S. 475–493, hier S. ­475–476. 31 Proskurin: Predšestvenniki Puškina, S. 479. 32 Vgl. Grob, Thomas: Russische Postromantik. Baron Brambeus und die Spaltungen romantischer Autorschaft, Frankfurt a. M. 2017. 33 Grob: Russische Postromantik, S. 39; Jurij Tynjanov: Promežutok, in: Ders.: Poėtika. Istorija literatury. Kino, Moskva 1977, S. 168–195. 34 Tynjanov: Dostoevskij i Gogol’, S. 300.

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Auch der russische Realismus lässt sich, wie bereits die Romantik, in mehrere Phasen unterteilen, so dass die Bestimmung des Anfangs zum Problem wird. Der russische Realismus tritt evolutionsgeschichtlich gesehen nicht als Ablösung der Romantik, sondern als Kontrahent einer eher präromantischen Formation auf […]. Von daher wird die vehemente Polemik gegen die Empfindsamen verständlich, die wie ein Vorspiel zum Realismus wirkt,

schreibt Renate Lachmann dazu.35 Das Aufkommen eines realistischen Stils und realistischer Verfahren geht einher mit einer Kritik an der Rhetorik, an der »schönen Rede«. Eine solche Absage an die Rhetorik findet sich bereits in Aleksandr Puškins Evgenij Onegin, zum Beispiel in einer spöttischen Passage, in der der Erzähler den Mond nicht mehr als »hehre Himmelsleuchte« betrachtet, in dessen Licht es zu »tränenseligen Herzensbeichten« kommt, sondern ihn einfach nur mehr als »Ersatz des Lampenlichts« wahrnimmt.36 Bereits Puškin reflektiert die »schöne Rede« des Sentimentalismus und wendet sich gegen »leere Metaphern«.37 Die Entstehung des Realismus in der russischen Literatur, so Lachmanns These, ist eng verbunden mit einer Absage an die »Künstlichkeit der Kunst« und mündet zunächst in eine »Forderung nach einer unliterarischen Literatur«.38 Der Romantiker Puškin, der auf vor-sentimentalistische Verfahren der Natürlichkeit zurückgreift, erscheint so aus einer anderen, auf anti-rhetorische Stilistik gerichteten Perspektive nicht primär als Romantiker, sondern als Impulsgeber für einen realistischen Stil.39 »Mit Puškins Prosa ist der Sentimentalismus als Stil abgelöst«, und Puškin lässt sich als »Vorstufe zur Poetik des Realismus« begreifen.40 Anfang und Ende einer Epoche geraten in der Figur Puškin – als Autor von Texten ebenso wie als Dichtermythos der russischen Kultur – durcheinander. Ab Mitte der 1830er Jahre erscheinen die ersten poetologischen bzw. kritischen Texte über den aufkommenden Realismus. Als eine programmatische Ursprungserzählung für den russischen Realismus lässt sich Vissarion Belinskijs O russkoj povesti

35 Lachmann, Renate: Die Zerstörung der ›Schönen Rede‹. Rhetorismus-Kritik im Kontext realistischer Konzepte: Puškin, Gogol’, Dostoevskij, in: Dies.: Die Zerstörung der schönen Rede. Rhetorische Tradition und Konzepte des Poetischen, München 1994, S. 284–305, hier S. 284 f. 36 Genau heißt es bei Puškin: »Луну, небесную лампаду,  /  Которой посвящали мы  /  Прогулки средь вечерней тьмы, / И слезы, тайных мук отраду… / Но нынче видим только в ней / ​ Замену тусклых фонарей«; in deutscher Übersetzung: »Den Mond, die hehre Himmelsleuchte, / Der wir vorzeiten oft geweiht / Den Gang in dunkler Abendzeit / Und tränenselige Herzensbeichte … / Doch heute sehn wir in ihm nichts / Als den Ersatz des Lampenlichts«, Puškin, Aleksandr A.: Jewgenij Onegin. Roman in Versen. Deutsch von Rolf-Dietrich Keil, Gießen 1980, S. 92. 37 Lachmann: Zerstörung, S. 291. 38 Lachmann: Zerstörung, S. 288, 293. 39 Lachmann, Zerstörung, S. 291. »Mit Puškins Prosa ist der Sentimentalismus als Stil abgelöst.« 40 Lachmann, Zerstörung, S. 292, 293.

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i povestjach g. Gogolja (Arabeski i Mirgorod) (Über die russische Povest’41 und über die Povesti des Herrn Gogol’ [Arabesken und Mirgorod]) aus dem Jahr 1835 lesen, auch wenn der Realismus zu der Zeit noch nicht als Realismus etabliert ist und Belin­ skij ebenso wie sein Objekt Gogol’ eher an der Schaltstelle zwischen Romantik und Realismus steht. Belinskij (1811–1848) gilt als erster professioneller russischer Literaturkritiker und verfolgte in seinem Aufsatz über Gogol’ das Ziel, Gogol’ als herausragendsten Vertreter der neuen Prosagattungen zu etablieren, denn, so argumentiert er, die in der Literatur vorherrschende Gattung der Lyrik wurde durch den Roman und die Povest’ abgelöst. Auch der Realismus beginnt also mit einem Verbrechen, in diesem Fall rückt die Prosagattung die Lyrik beiseite, oder, in der Terminologie Belinskijs: tötet und »verschluckt« sie. Die Entstehung der neuen Zeit und der neuen Gattung erscheint aus dieser Perspektive als kannibalistischer Akt: Теперь вся наша литература превратилась в роман и повесть. Ода, эпическая поэма, баллада, басня […] все это теперь не больше, как воспоминие о какм-то веселом, на давно минувшем времени. Роман все убил, все поглотил, а повесть, пришедшая вместе с ним, изгладила даже и следы всего этого, и сам роман с почтением посторонился и дал ей дорогу впереди себя. Jetzt hat sich unsere ganze Literatur in den Roman und in die Povest’ verwandelt. Die Ode, das epische Poem, die Ballade, die Fabel […] all das ist jetzt nicht mehr als eine Erinnerung an eine fröhliche, noch nicht lange vergangene Zeit. Der Roman hat alles getötet, alles verschluckt, und die Povest’, die gemeinsam mit ihm aufgetreten ist, hat sogar alle Spuren davon ausgelöscht, und selbst der Roman ist ehrfurchtsvoll zur Seite getreten und hat ihr den Vortritt gelassen.42

Den Grund für die Ablösung der Gattungen sieht Belinskij im »Geist der Zeit« (»причина в духе времени«),43 dazu kommt der Einfluss der ausländischen Literaturen, z. B. die Übersetzungen der Romane von Walter Scott – dieser »Einfluss«, so Belinskij weiter, ist natürlich, denn »ein Volk, das beginnt, am Leben des gebildeten Teils der Menschheit teilzuhaben, kann geistigen Bewegungen nicht fremd sein«.44 Belinskij beginnt seinen Aufsatz mit der Bemerkung, wie unbedeutend die russische Literatur sei, ja, er zweifelt sogar ihre Existenz an,45 und am Himmel dieser russi41 »Povest’« ist eine russische Prosagattung, die kürzer ist als ein Roman, aber länger als eine Erzählung. 42 Belinskij, Vissarion G.: O russkoj povesti i povestjach g. Gogolja (›Arabeski‹ i ›Mirgorod‹), in: Ders.: Sobranie sočinenij. Tom pervyj (Stat’i, recenzii i zametki 1934–1936), hg. von N. K. Gej, V. I. Kulešov u. a., Moskva 1976, S. 138–184, hier S. 139 f.; meine Hervorhebung. 43 Belinskij: O russkoj povesti, S. 140. 44 »Правда, и хдесь было влияние иностранных литератур, что очень естественно, ибо народ, начинающий принимать участие в жизни образованной части человечества, не может быть чуждым никакого умственного движения«, Belinskij: O russkoj povesti, S. 140. 45 »Русская литература, несмотря на свою незначительность, несмотря даже на сомнительность своего существования, которое многими признается за мечту, русская литература испытала множество чуждых и собственных влияний«, Belinskij: O russkoj povesti, S. 138

Die Inszenierung des Anfangs in der russischen Romantik 

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schen Literatur habe es nur wenige »poetische Sterne« gegeben, die »für Jahrhunderte leuchteten«46 (nämlich Deržavin, Griboedov und Puškin), dass aber erst jetzt die »alten Autoritäten«47 ihre Macht verlören, die bei Puškin noch sichtbar gewesen sei. Belinskij deklariert hier nicht nur den Anfang einer neuen Gattung, nämlich der Prosa, sondern erzählt zudem vom Anfang der russischen Literatur, die erst jetzt – mit der Prosa  – beginnt und deren bisherige Geschichte nur eine Vorgeschichte war. Er greift hier somit nicht den Topos von Puškin als »erstem Dichter« auf, sondern er setzt einen alternativen Anfang der russischen Literatur mit Gogol’. Der sich ständig transformierende russische Realismus von Gogol’ über die natürliche Schule und Černyševskijs Lehrbuch-Realismus bis hin zu Turgenev, Dostoevskij und Tolstoj bleibt eine Epoche, die von Diskussionen und Polemiken geprägt ist; dabei geht es nicht nur um den Realismus, sondern auch um die – zu überwindende – Romantik. Die Romantik und der Realismus in Russland sind zwei Epochen, die sich mühselig etablieren, und die eine wie die andere beruht auf Polemiken, setzt den Anfang mehrfach neu und nutzt Anfangsnarrative, um dennoch einen Anfang zu inszenieren. Wenn Petr Vjazemskij im Zusammenhang mit Puškin 1824 über »die neueste, so genannte romantische Dichtung« spricht, obwohl Žukovskij bereits 1802 Thomas Grays Elegy in a Country Churchyard romantisierend übersetzt hat, so streicht er die Puškin vorausgehende frühe Phase der russischen Romantik und setzt einen ›blinden‹ ersten Anfang für die ›neue‹ Epoche. Vissarion Belinskijs realistisches Gründungsmanifest über Gogol’s Povesti von 1835 wiederum verkündet nicht nur den Ursprung des Realismus und geht nicht nur davon aus, dass eine neue Form der »Poesie« – gemeint ist damit die Literatur überhaupt – genau jetzt, Mitte der 1830er Jahre, entsteht, sondern dass die russische Literatur überhaupt jetzt erst beginnt zu existieren. Den Anfang, das zeigen beide Epochen und die ihnen zugehörigen Anfangserzählungen, gibt es nicht, stattdessen gibt es immer wieder neue Versuche, den Anfang zu inszenieren, Wiederholungen des Anfangs – der Romantik, des Realismus, der russischen Literatur überhaupt.

(»Die russische Literatur, obwohl sie so unbedeutend ist, obwohl sogar ihre Existenz zweifelhaft ist, die viele für einen Traum halten, die russische Literatur hat eine Vielzahl fremder und eigener Einflüsse erfahren«). 46 »единственное поэтическое созвездие, блестящее для веков«, Belinskij: O russkoj povesti, S. 139. 47 Belinskij: O russkoj povesti, S. 139.

Erzählte und erzählende Anfänge – Ein narratologischer Ansatz Špela Virant

I. Einleitung Wie soll dieser Text beginnen? Wie soll der erste Satz lauten? Und woher nehme ich, die Erzählerin, mir das Recht und woher den Mut, die Sprache zu benutzen und die Zeit eines Lesers in Anspruch zu nehmen? Jeder, der Texte schreibt, kennt diese Fragen und den Kampf mit dem blinkenden Cursor auf dem leeren Bildschirm. Doch während sie bei wissenschaftlichen Texten durch die Vorgaben der IMRaD-Struktur und die Affiliation zu einer Forschungsinstitution schnell beantwortet sind, steht bei narrativen Texten viel mehr auf dem Spiel, denn am Anfang einer Erzählung entscheidet der Leser oder Zuhörer, ob er die Entwicklung der Geschichte überhaupt weiterverfolgen will. Ob der Plot gut oder schlecht, das Ende offen oder geschlossen ist, kann nur beurteilen, wer den Anfang der Geschichte akzeptiert. Der Anfang gibt den Auftakt, bestimmt den Ton und dient als Anker für den Spannungsbogen. Eine Geschichte wird zur Geschichte erst, wenn aus dem Kontinuum des Erlebens ein Ausschnitt mit Anfang und Ende gewählt wird. Erzählen ist also, so gesehen, ein Inszenieren von Anfängen und Endpunkten. Der Literaturwissenschaft bieten sich in dieser Hinsicht zwei Forschungsbereiche, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen als Anregung für weitere Untersuchungen. Erstens können Erzählungen untersucht werden, die Anfänge thematisieren, also über den Beginn von etwas erzählen, zweitens können die Anfänge von Erzählungen selbst aus narratologischer Perspektive untersucht werden.

II. Erzählte Anfänge Aristoteles definiert in seiner Poetik, die selbst als Anfang der Literaturwissenschaft gelten kann, den Anfang mit einer kaum zu überbietenden Eingängigkeit: »Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht.«1 In dieser Definition

Der Beitrag ist im Rahmen des Forschungsprogramms Interkulturelle literaturwissenschaftliche Studien (Nr. P6–0265) entstanden, das von der Slowenischen Forschungsagentur aus öffentlichen Mitteln finanziert wird. 1 Aristoteles: Poetik, Stuttgart 1982, S. 25. (Übersetzt von Manfred Fuhrmann.)

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wird implizit bereits das Kausalitätsprinzip angedeutet, das, ebenfalls nur implizit, den modernen Definitionen der Erzählung unterliegt. Köppe z. B. formuliert die bekannte Minimaldefinition so: »Ein Text ist genau dann eine Erzählung, wenn er von mindestens zwei Ereignissen handelt, die temporal geordnet sowie in mindestens einer weiteren sinnhaften Weise miteinander verknüpft sind.«2 Egal, ob die kausale Verbindung zwischen zwei Ereignissen hergestellt, in Frage gestellt oder das Kausalitätsdenken dabei grundsätzlich hinterfragt wird, Erzählungen, die den Anfang thematisieren, haben vielmehr ein anderes Problem: Das Nichts, auf das der Anfang folgt, muss erzählt werden, damit der Anfang als solcher ersichtlich wird, und es muss zum Ereignis gemacht werden, um der Minimalanforderung der Erzählung zu genügen. Kurz gesagt, Erzählungen über Anfänge schreiben dem Nichts einen Ereignischarakter zu. Je nachdem, wie das Nichts als narratives Ereignis inszeniert wird, können verschiedene Typen von Erzählungen unterschieden werden, z. B. Ursprungserzählungen, Gründungserzählungen und Anfangserzählungen. Unter Ursprungserzählungen verstehe ich vor allem Kosmogonien, also Erzählungen, die den Ursprung der Welt und der Menschen imaginieren, egal, ob darin die Menschen aus Lehm geformt werden, durch einen hohlen Baumstamm aus der Unterwelt gekrochen kommen oder sich vom Himmel auf den Rücken einer im Ozean schwimmenden Schildkröte niederlassen. Solche Erzählungen kennen auch Kulturen, die keine Städte, Staaten oder Nationen gründeten. Das »Nichts« bezieht sich auf den Menschen und seine Lebenswelt, die noch nicht existieren, aber es ist nicht absolut gedacht, denn sie werden durch eine präexistente kreative Kraft hervorgebracht. Unter Gründungserzählungen hingegen verstehe ich die Narrative über die Gründung komplexer sozialer und politischer Gebilde. Am bekanntesten sind die Gründungserzählungen der Antike (Ilias, Aeneis), aber auch spätere Epochen entwickelten solche Erzählungen, z. B. im Zuge der sich neu entwickelnden Nationalismen der Romantik und Postromantik des 19. Jahrhunderts. In diesen Geschichten existieren Menschen bereits, doch ihre Lebenswelt hat noch keine Ordnung. Das »Nichts« wird hier als Chaos imaginiert, nicht als elementares Chaos, sondern vielmehr als eine Art Tumult, ein Durcheinander zwischenmenschlicher Beziehungen, die oft die Form kriegerischer Auseinandersetzungen haben. Als Anfangserzählungen können hingegen Narrative bezeichnet werden, die sich spezifisch in der Neuzeit entwickeln und sich auf Entwicklungsphasen, Epochen oder epochale Geschehnisse beziehen. Dabei sollten jedoch mindestens zwei Gruppen von Erzählungen unterschieden werden, die sich zwar verflechten, auf die Zukunft ausgerichtet sind und auf dem Grundgedanken des Fortschritts basieren, aber doch unterschiedliche Grundmuster aufweisen. Eine Gruppe betont vor allem die Kontinuität dieser Entwicklung aus einer Epoche in die nächste, bessere, modernere, 2 Köppe, Tilmann / K indt, Tom: Erzähltheorie. Eine Einführung, Stuttgart 2014, S. 43.

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vor allem aber zivilisiertere Epoche. Die andere Gruppe hingegen betont die Brüche zwischen den Epochen, die aber ebenfalls im Dienst des Glaubens an die stetige Verbesserung und Modernisierung stehen. Während diese letzte Gruppe dem Imperativ der Innovation in der Abfolge von Epochen in den Künsten und der Literatur folgt, folgen die Narrative, die die Kontinuitäten betonen, der Logik einer unilinearen Entwicklungsskala, die den stetigen Aufstieg von der Wildheit über die Barbarei zur Zivilisation unterstellt. Friedrich Engels übernahm z. B. diese Staffelung von Lewis Henry Morgan.3 Diese Geschichten, die den Grad der »Zivilisiertheit« an der Kompetenz der jeweiligen Kultur zur Beherrschung der Welt messen und sich selber als Produkt der höchsten Zivilisationsstufe nobilitieren, erzählen von der angeblich unausweichlichen Kontinuität dieses Aufstiegs, um die Superiorität der europäischen – weißen, männlichen – Kultur zu untermauern und kolonialistische gesellschaftliche Strukturen zu legitimieren. Das Nichts, gegen das sich etwas, was in diesen Geschichten neu beginnt, abhebt, wird nicht als Abwesenheit inszeniert – z. B. als Abwesenheit von Menschen oder von Ordnung –, sondern durch die Notwendigkeit eines Endpunkts markiert. Das Alte, das Unzivilisierte oder eine alte Ästhetik, muss beendet werden, um dem Neuen, dem Besseren, Platz zu machen. Mehr als ein Anfang ist es ein »Reset«, ein Aussetzen und Neuaufstellen, aber auf derselben Matrix, demselben Operationssystem.

III. Innovation Die oben erwähnte erste Gruppe von Erzählungen wurde von der postkolonialen und dekolonialen Literatur bereits ausführlich kritisch beleuchtet, an dieser Stelle aber verdient die zweite, dem Imperativ der Innovation folgende Gruppe Aufmerksamkeit. Im Jahr 1908 veröffentlichte die slowenische Publizistin, Übersetzerin und Aktivistin Minka Govekar den Ratgeber Dobra gospodinja (Die gute Hausfrau), in dem sie auch ein Kapitel der literarischen Bildung der Frauen widmet. Sie gibt ihm den Titel »Ženska in knjige« (»Die Frau und die Bücher«), dabei sind die Bücher also explizit im Plural gehalten. Darin stellt sie fest, dass »es nichts vollkommen Neues, in jeder Beziehung Originelles, mehr gibt in der Kunst. Alles gab es schon.«4 Das heißt natürlich noch nicht, dass die slowenischen Hausfrauen schon am Anfang des 20. Jahrhunderts alles wussten, was die Postmodernisten erst am Ende des Jahrhunderts als ihre innovative Feststellung verkauften, denn sie räumt immer noch ein, dass es zumindest in der Form, dem Stil und der Erzähltechnik Innovationen geben kann. Das Beispiel Minka Govekars zeigt vielmehr, dass bestimmte innovative Ideen

3 Vgl. Morgan, Lewis Henry: Ancient Society, Chicago 1877; Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats, Stuttgart 1892. 4 Im Original: »Popolnoma novega, v vsakem oziru originalnega ni v umetnosti menda sploh več. Vse je že bilo tu.« Govekar, Minka: Dobra gospodinja, Ljubljana 1908, S. 28.

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analog an mehreren Orten gleichzeitig entstehen können, dass sie in bestimmten Epochen sozusagen »in der Luft« liegen – denn viel mehr als »Luft« ist ein von einer Frau in slowenischer Sprache verfasstes und im Habsburger Reich publiziertes Buch nicht – oder im »Zeitgeist« bereits existieren, aber noch nicht als Innovationen auf dem Kunstmarkt platziert und wahrgenommen worden sind. Der Imperativ der Innovation entwickelt sich mit der neuzeitlichen Kunstauffassung in der bürgerlichen Gesellschaft und steht im Dienst des Kunstmarkts. Die produktions- und distributionsmäßig aus dem theologischen Rahmen losgelöste Kunst, obwohl inhaltlich noch lange durch religiöse Themen bestimmt, wird zur Ware, die ihren Wert durch das Neue, Moderne und Originelle, das sie anbietet, erlangt. Der Kunsttheoretiker Boris Groys, der in seinen kunsttheoretischen Werken diese Dimension der modernen Kunst erforscht, betont bereits am Anfang seiner Studie Über das Neue aber auch, dass »das Streben nach Neuem meistens mit einer Utopie verbunden [wird], in der Hoffnung auf einen historischen Neubeginn und eine radikale Veränderung der menschlichen Lebensbedingungen in der Zukunft.«5 Die Forderung nach Innovativem gilt zwar für jedes Kunstwerk, doch nicht jedes Werk ist epochemachend, auch wenn es innovativ ist. Es muss als solches, zur rechten Zeit im richtigen Kontext, rezipiert werden und sich mit einer ebenfalls neuen Utopie verbinden, um als Anfang einer neuen Epoche in die literaturgeschichtlichen Erzählungen aufgenommen zu werden.

IV. Anfänge von Erzählungen Für die Literaturwissenschaft von besonderer Bedeutung sind schließlich auch die konkreten Anfänge von Erzählungen. Der Anfang muss die Aufmerksamkeit des Rezipienten wecken und fesseln, sonst legt er das Buch weg. Vom narratologischen Standpunkt aus sind Anfänge wichtig, weil zu Beginn die Erzählsituation und die Erzählperspektive etabliert werden, die den Rezipienten auf die Geschichte einstimmen. Von Anfang an muss der Rezipient überzeugt werden, dass die Erzählung glaubwürdig ist. Die zentralen Fragen lauten hier also: Wer erzählt? Welche textinternen Signale vermitteln dem Leser, er könne diesem Erzähler vertrauen? Im Folgenden sollen vier Modelle vorgestellt werden, die sich im Laufe der Literaturgeschichte entwickelten und die zeigen, wie Erzähler sich am Beginn eines Textes als vertrauenswürdig inszenieren können.

5 Groys, Boris: Über das Neue, München / Wien 1992, S. 9.

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A. Bevollmächtigung In den ältesten Texten der westlichen Erzähltradition wird die Glaubwürdigkeit dadurch gewährleistet, dass der Erzähler sich selbst herabsetzt, indem er zum Sprachrohr von Göttern oder gottähnlichen Geschöpfen wird. Er ist nur ein Medium, ein Vermittler, während die Autorschaft einer höheren Macht zugeschrieben wird. Homer ruft die Göttin an, Vergil die Muse und in der Bibel wird das Wort mit Gott gleichgesetzt: Homer: Ilias: »Singe, Göttin, den Zorn des Peleiaden Achilleus«.6 Vergilius: Aeneis: »Muse, sag mir die Gründe: In welchem göttlichen Wollen / war sie verletzt, was schmerzte der Götter Königin, dass in / so viel Unglück sie trieb den Mann, ein Vorbild an Ehrfurcht, / so viel Mühsal? Ist Zorn so heftig in himmlischen Herzen?«7 Bibel: »Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort« (Joh 1,1).

Diese Bevollmächtigung, auf die sich die Erzähler nicht leichtfertig berufen, denn ein Missbrauch hätte fatale Folgen, muss auch dem Zuhörer respektive Leser genügen als Garant der Glaubwürdigkeit. B. Beglaubigung In den neuzeitlichen Erzählungen, vor allem den neuzeitlichen Gründungserzählungen, ist eine andere Form der Versicherung des Erzählten zu finden, die jedoch keine Selbstherabsetzung des Erzählers mehr miteinschließt. Der Erzähler, hinter dem schon das neuzeitliche Subjektkonzept steht, findet vielmehr seine Erhöhung im simulierten Bezug auf religiöse Kontexte. Nicht mehr Gottes Wort wird verkündet. Es sind die eigenen Worte des Erzählers, die ihre Glaubwürdigkeit aus einem Bezug zur Transzendenz schöpfen, die der Erzähler zu haben behauptet. Simuliert ist der Bezug, der ein Teil des Gründungsprojekts selbst ist, weil der theologische Rahmen bereits abhandengekommen ist. Beispiele dafür finden sich in der Konstruktion einer »Neuen Mythologie« bei den deutschen Frühromantikern. So beginnt Friedrich Schlegel seine Rede über die Mythologie: Bei dem Ernst, mit dem Ihr die Kunst verehrt, meine Freunde, will ich Euch auffordern, Euch selbst zu fragen: Soll die Kraft der Begeisterung auch in der Poesie sich immerfort einzeln versplittern und wenn sie sich müde gekämpft hat gegen das widrige Element, endlich einsam verstummen? Soll das höchste Heilige immer namenlos und formlos bleiben, im Dunkel dem Zufall überlassen? Ist die Liebe wirklich unüberwindlich, und

6 Homer: Ilias, Berlin 162013, S. 7. (Übertragen von Hans Rupé.) 7 Publius Vergilius Maro: Aeneis, Berlin / Boston 2015. (Übersetzt von Niklas Holzberg.)

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gibt es wohl eine Kunst, die den Namen verdiente, wenn diese nicht die Gewalt hat, den Geist der Liebe durch ihr Zauberwort zu fesseln, daß er ihr folge und auf ihr Geheiß und nach ihrer notwendigen Willkür die schönen Bildungen beseelen muß?8

Es ist kein Gott mehr, der hier spricht, aber die Wörter selbst sind Zauberwörter, die das »höchste Heilige« in sich zum Klingen bringen. Diese Berufung auf das Heilige soll das Gesagte über eine nur subjektive Meinungsäußerung erheben. Ähnlich ist die Funktion des berühmten ersten Satzes aus Herman Melvilles Moby Dick, der ein eminentes Beispiel für neuzeitliche Gründungserzählungen ist: »Call me Ishmael.«9 Der Name des Stammvaters Ishmael, der als Rufname genutzt wird, setzt den Erzähler in eine direkte Beziehung zu seinen behaupteten mythischen Vorfahren. Es ist diese Affiliation, die den Ich-Erzähler über die nur subjektive Erzählung hinaus zum Sprecher eines sich durch seine Erzählung konstituierenden sozialen Verbands macht. Die Beglaubigung des Erzählers und die Glaubwürdigkeit des Erzählten basieren bei diesem Modell also auf dem behaupteten Verhältnis zwischen Subjekt und Transzendenz, die als konstruierte Mythologie oder als imaginierte Genealogie am Beginn des Erzählens evoziert werden. C. Legitimierung Das dritte Modell, bereits vollständig säkularisiert, lässt sich vor allem in den Texten des 20. Jahrhunderts beobachten, in denen – mit modernistischen Schreibweisen – gleichzeitig auch die Subversion dieses Modells erscheint. Der Prozess von Franz Kafka, also einer der berühmtesten Romane des 20. Jahrhunderts, beginnt mit dem ebenso berühmten ersten Satz: »Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.«10 Jedes polizeiliche Verfahren sollte eigentlich mit der Identitätsfeststellung beginnen, doch von Josef K. verlangt niemand einen Ausweis. Er selbst reagiert der Situation entsprechend und verlangt zu wissen, wer denn der Mann sei, der ihn verhaftet hat: Sofort klopfte es und ein Mann, den er in dieser Wohnung noch niemals gesehen hatte, trat ein. Er war schlank und doch fest gebaut, er trug ein anliegendes schwarzes Kleid, das, ähnlich den Reiseanzügen, mit verschiedenen Falten, Taschen, Schnallen, Knöpfen und einem Gürtel versehen war und infolgedessen, ohne daß man sich darüber klar wurde, wozu es dienen sollte, besonders praktisch erschien. »Wer sind Sie?« fragte K. und saß gleich halb aufrecht im Bett. Der Mann aber ging über die Frage hinweg, als müsse man seine Erscheinung hinnehmen, und sagte bloß seinerseits: »Sie haben geläutet?« 8 Schlegel, Friedrich: Kritische Ausgabe seiner Werke, Bd. II, München / Paderborn / Wien 1967, S. 311. 9 Melville, Herman: Moby Dick, London 1986, S. 93. 10 Kafka, Franz: Der Prozess, Frankfurt a. M. 1983, S. 7.

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»Anna soll mir das Frühstück bringen«, sagte K. und versuchte, zunächst stillschweigend, durch Aufmerksamkeit und Überlegung festzustellen, wer der Mann eigentlich war. Aber dieser setzte sich nicht allzulange seinen Blicken aus, sondern wandte sich zur Tür, die er ein wenig öffnete, um jemandem, der offenbar knapp hinter der Tür stand, zu sagen: »Er will, daß Anna ihm das Frühstück bringt.« Ein kleines Gelächter im Nebenzimmer folgte, es war nach dem Klang nicht sicher, ob nicht mehrere Personen daran beteiligt waren.11

Kafka, der in seinen Texten, besonders aber in diesem Roman das Schreiben, Lesen und Interpretieren von Texten reflektiert, erfindet für seinen Roman einen Erzähler, den Franz K.  Stanzel später in seiner Typologie als den personellen Erzähler bezeichnete und der sich recht schwer beschreiben lässt.12 Er erzählt in der 3. Person Singular, maßt sich jedoch nicht an, allwissend zu sein, sondern nimmt die Perspektive einer der Figuren ein, in diesem Fall Josef K.s Sichtfeld. Er ist im Grunde wie der schwarz gekleidete Mann im zitierten Anfangsabsatz des Romans: diskret und praktisch, mit vielen Taschen, um seine kleinen erzählerischen Taschenspielertricks ausführen zu können. Er erzählt über die Worte und Gedanken von Josef K. und gibt sie dem Gelächter der Zuhörer und Leser preis. Aber er weist sich nicht aus. Seine Anwesenheit muss Josef K., über den der Erzähler herrscht, ebenso hinnehmen wie die Leser des Romans. Schon am Anfang von Kafkas Roman wird deutlich, dass sich die Inszenierung der Glaubwürdigkeit verschoben hat: vom Verhältnis zwischen Subjekt und Transzendenz zum Verhältnis zwischen Individuum und Institution. Doch wenn bei wissenschaftlichen Texten die Affiliation zu einer Forschungsinstitution die Glaubwürdigkeit des Erzählens sichert, scheitert im Roman die Identitätsfeststellung, wodurch nicht nur auf eine Konvention der modernen Textproduktion hingewiesen wird, sondern diese gleichzeitig schon subversiv unterlaufen wird. Später entwickelt sich aus dieser subversiven Technik, bei der sich der Erzähler der Festschreibung seiner Identität entzieht, ein Erzählertyp, den Wayne C. Booth als den unzuverlässigen Erzähler bezeichnet.13 Zwei weitere Beispiele aus Romanen, die zu den Höhepunkten deutschsprachiger Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehören, stellen den Ich-Erzähler in ein Spannungsverhältnis zu der Institution, die ihn eigentlich durch Identitätszuweisung legitimieren sollte. So beginnt der Roman Stiller von Max Frisch mit dem ebenfalls berühmten Anfangssatz: »Ich bin nicht Stiller! – Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefängnis, das noch zu beschreiben sein wird, sage ich es, schwöre ich es und fordere Whisky, ansonst ich jede weitere Aussage verweigere. Denn ohne Whisky, ich hab’s ja erfahren, bin ich nicht ich selbst«.14 Stiller, die Hauptfigur und der Ich-Erzähler des Romans, wird von der Grenzpolizei verhaftet und als Stiller identifiziert, doch 11 Ebd. 12 Stanzel, Franz K: Theorie des Erzählens, Stuttgart 2008. 13 Vgl. Booth, Wayne C.: Die Rhetorik der Erzählkunst, Heidelberg 1974. 14 Frisch, Max: Stiller, Frankfurt a. M. 1996, S. 7.

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er verweigert sich dieser Identitätszuschreibung und verweist auf seine dem Alkohol geschuldete Unzurechnungsfähigkeit und erzählerische Unzuverlässigkeit. Ebenso berühmt ist der Anfang der Blechtrommel von Günter Grass: »Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, lässt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann.«15 Auch der Erzähler der Blechtrommel verweist in dem ersten Satz auf seine Geisteskrankheit und die dadurch bedingte Unzuverlässigkeit, gleichzeitig entzieht er sich deklarativ dem Normierungs- und Normalisierungspotential der Institution. Die Erzählerfiguren bei Grass und Frisch entziehen sich den kontrollierenden Instanzen der Institutionen, die ihre Identität festlegen und damit ihre erzählerische Legitimität sichern sollten. Wenn also die Erzählerfiguren der neuzeitlichen Gründungsgeschichten ihre Beglaubigung im Verhältnis von Subjekt und Transzendenz in Anspruch nehmen oder es schlichtweg behaupten, wird das Legitimierungspotential der staatlichen Institutionen von den Erzählern des 20. Jahrhunderts zurückgewiesen. Das Resultat sind unzuverlässige Erzähler, die jedoch durch diese unsichere, rebellische oder subversive Haltung das Erzählen in der europäischen Literatur nach zwei Weltkriegen, die das Vertrauen in Autoritäten gründlich erschütterten, wieder vertrauenswürdig machen. D. Anerkennung Das vierte Modell soll mit einem Beispiel aus der oralen Literatur der indigenen nordamerikanischen Erzähltradition veranschaulicht werden, um den eurozentrischen Blick auf das Erzählen etwas zu relativieren. Die Lakota Sioux beginnen traditionell ihre Erzählungen mit der Formel »Mitákuye Oyás’ iŋ«, die ins Englische meistens mit »All my relations« übersetzt wird. Der Satz, der zum Erkennungsmerkmal der nordamerikanischen indigenen Erzähltraditionen avanciert ist,16 bedeutet also in etwa »alle meine Beziehungen«, »wir stehen alle in Beziehung zu einander«, »wir sind alle verwandt«. Es ist ein Satz, mit dem die Erzählung performativ alle, die Erzähler und die Zuhörer, in Beziehung zueinander setzt. Die Glaubwürdigkeit des Erzählers und des Erzählten werden also nicht durch einen behaupteten Bezug zur Transzendenz oder zu übergeordneten Machtinstitutionen hergestellt, sondern durch einen intersubjektiven Konsens. Dieses Modell, das auf einer nicht-europäischen Epistemologie basiert, kommt ohne eine Hierarchisierung zwischen Erzähler und Hörer oder Leser aus, die durch eine übergeordnete religiöse oder machtpolitische Instanz gesichert werden müsste, und auch ohne die deklarative Verweigerung einer solchen Hierarchisierung.

15 Grass, Günter: Die Blechtrommel, München 2007, S. 9. 16 Vgl. King, Thomas (Hg.): All my Relations. An Anthology of Contemporary Canadian Native Fiction, Toronto 1990.

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V. Schluss Wie soll dieser Text enden? Jeder Text, auch wenn er Anfänge thematisiert, muss irgendwie enden. Aristoteles definiert das Ende komplementär zur Definition des Anfangs: »Ein Ende ist umgekehrt, was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der Regel, während nach ihm nichts anderes mehr eintritt.«17 Das Ende sollte Schlussfolgerungen, Antworten und Auflösungen bringen oder überzeugend darlegen, warum es keine geben kann. Umgekehrt zum Anfang wird allem, was noch passieren mag, das Ereignishafte und Erzählenswerte abgesprochen: Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute. Aber da, wo eine Erzählung sich erschöpft, kann und muss wieder eine neue beginnen, denn, wie Thomas King es formuliert: »The truth about stories is that that’s all we are.«18

17 Aristoteles, Poetik, S. 25. 18 King, Thomas: The Truth about Stories, Minneapolis 2003, S. 153.

Die Kunst im Zeitalter der Erweiterung und der Überschreitung Jožef Muhovič

Die Problematik des Verhältnisses zwischen den Endpunkten und Neuanfängen in geistesgeschichtlichen Transformationen und die Problematik der gegenwärtigen Politisierung der Kunst möchte diese Abhandlung an dieser Stelle durch die Dioptrie des Geschehens in der Kunst am Übergang von der Moderne zur Postmoderne betrachten. Dies liegt auf der Hand, weil dieser Übergang evident ein Wendepunkt in der Selbstauffassung der gegenwärtigen Kunst – präziser gesagt, der gegenwärtigen Künstler – darstellt, und sowohl die Logik der Epilogik als auch die Logik der Wende vom Ästhetischen zum Politischen in sich trägt.

I. Im Zeitalter der Epilogik Alle Vorstellungen von etwas Neuem spielen sich ab am Grab von jemandem oder etwas. Das Gleiche gilt für Vorstellungen von neuer Kunst. Auch diese versuchen am offenen Grab der Vergangenheit als Schlussworte zum einst Aktuellen aufzutreten. Oder, wie Peter Sloterdijk schreibt: Die Gegenwartskultur ist eine große epilogische Maschine, die durch Außerkraftsetzung des Gestrigen einen Hauch von Orientierung in der Gegenwart erzeugt. Wo niemand mehr wissen kann, was morgen gilt, da wirkt die Feststellung, dass wenigstens das Vergangene vorüber ist, fast wie ein Balsam. Zeitgenössische Gehirne sind im Augenblick noch warm vom Durchlauf der letzten Epilogewellen  – all diese postfreudistischen, postmarxistischen, poststrukturalistischen, postmetaphysischen Rhetoriken: Wer hätte sie nicht gern, um Sloterdijk zu bemühen, in ihrem eifrigen Abschiednehmen von der Vergangenheit. Ähnliches gilt für das Gebiet der Kunst. Auch hier sind die Gehirne noch warm vom Durchfluss vielbeachteter Wellen von Nachworten zur allzu einengenden Vergangenheit – Gesamtkunstwerk, Objets trouvés, erweiterter Kunstbegriff usw. Je mächtiger der Nachruf ist, desto eher öffnet sich in der Gegenwart der Raum der Zustimmung zu ihren Inhalten und zu den aus ihnen hervorgehenden Trends. A. Gesamtkunstwerk In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann die Idee und Praxis des sogenannten Gesamtkunstwerks der Ausweitung des Kunstbegriffs und Kunstfelds den Weg zu bahnen. Wobei ein Gesamtkunstwerk nicht nur eine »multimediale« Ver-

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bindung aller Künste in einem einzigen Werk war, sondern vor allem die Tendenz zur Emanzi­pierung der Kunst enthielt. Was bedeutet, dass »gute Werke« nach 1750, als die philosophische Ästhetik »erfunden« wurde, vom Territorium heteronomer religiöser und historizistischer Inhalte in das säkulare Territorium der ästhetischen Autonomie emigrieren konnten. Die spätere Kritik der »Religion des Gesamtkunstwerks«, um Igor Strawinsky zu bemühen, zeigte zwar, dass die in ihr mitwirkenden Künste auf Kosten der totalitären Anwendung des Gesamtkunst-Konzepts an künstlerischer Frische einbüßen und zu Epiphänomenen philosophischer Spekulationen werden, jedoch konnte die Erweiterung des Territoriums von der heteronomen auf die autonome Sphäre ihre Geltung bewahren. B. Objets trouvés Einen weiteren Aspekt der Erweiterung des primären Kunstbegriffs bzw. Kunstfelds stellen die bekannten Objets trouvés und Duchampschen Readymades dar, die in Form einer »Verschiebung vom Retinalen zum Mentalen« eine Erweiterung der Kunst von der Schaffung von Artefakten hin zur intellektualistischen Semantisierung von Fakten bedeuten. Die gute Seite der Wende zur Faktizität ist, dass der Kontakt mit dem alltäglichen, nicht arrangierten Leben erhalten bleibt, die schlechte Seite besteht in der ständigen Gefahr, dass man von der Verehrung und öfter der Mythisierung der menschlich produzierten Formen in ein immanentistisches Akzeptieren des bereits Gegebenen abrutscht. C. Der erweiterte Kunstbegriff Der erweiterte Kunstbegriff ist der zentrale Begriff des Theoretisierens und Praktizierens von Joseph Beuys (1921–1986). Ausgehend von der Überzeugung, dass jeder Mensch ein Künstler und daher in der Lage ist, Kunst zu schaffen, verstand Beuys unter der Syntagma erweiterter Kunstbegriff künstlerische Kreativität in einem äußerst breiten Spektrum. Insbesondere im Sinne der Anthroposophie von Rudolf Steiner (1861–1925) und seiner Vorstellung vom »sozialen Organismus« und von »sozialer Kreativität«. Kunst des erweiterten Begriffs bzw. Felds könnte nach Beuys’ Auffassung eine welt- und gesellschaftsverändernde soziale Kunst in Form der sogenannten »Sozialen Plastik« schaffen. Beuys’ erweiterter Kunstbegriff entwickelt das Konzept des Gesamtkunstwerks unter neuen Bedingungen. Und zwar in Anbindung an die Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts, beispielsweise Fluxus sowie den politischen und sozialen Diskurs der neuen Linken mit Elementen der Subversion, des Internationalismus, des Anarchismus und der Emanzipation. Die Problematisierung des Kunstbegriffs mit Objets trouvés und duchampschen Readymades erschöpfte sich in den 1960er Jahren. Beuys’ Erweiterung ist ein Versuch, sie auf neuen Fundamenten wiederzubeleben. Mit ihr ist eine Reihe radikal neuer Vorstellungen von der Rolle der Kunst in der Gesellschaft, von der Rolle des Künstlers, seiner Materialien, des Produzierens, der

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Rezeption, der Kommunikation ins Spiel getreten. Der Wunsch des Künstlers nach einer aktiven Beziehung mit dem Rezipienten hat die traditionelle Auffassung des Kunstwerks stark verändert. Als Formen von Kunstwerken können in der neuen Perspektive nicht nur Artefakte auftreten, sondern auch – und sogar vor allem – Situationen (Installation, Environment), Interaktionen (Performance), Prozesse (Happening), Konzepte, Institutionen, die Ökologie, die Politik, in der die Kunst aktiv mitwirken soll, und sogar die Gesellschaftsordnung selbst. Beuys’ Vision unter dem Markenzeichen Soziale Plastik bzw. soziale Skulptur bezieht die gesamte gesellschaftliche Sphäre, alle Bereiche und Formen des sozialen Lebens und der sozialen Kreativität in den Bereich der Kunst ein. In deren Rahmen ist der Künstler kein Produzent »geistiger Objekte« mit in der Regel absichtlich erschwerter Kommunikation, sondern sozusagen ein Medium, ein Katalysator und Aktivist des gesellschaftlichen und politischen Lebens, mit einer Funktion, die in primären Gesellschaften von Schamanen ausgeübt wurde und heute offensichtlich in den Händen des Künstlers gelandet ist. Eine solche Sicht der Kunst kann mit der Meinung des amerikanischen Kurators Aaron Moulton zur Ausstellung »Seeing Eye Awareness«, die unlängst in der Galerie Vžigalica (Das Streichholz) in Ljubljana stattfand, konkretisiert werden: The exhibition Seeing Eye Awareness celebrates the artist as cultural clairvoyant,  a shaman, as someone having a third eye opened unto the secrets of society, as someone we invite to reveal mystical truths. The artist’s truest function has been to uncover mutations and anomalies. These are things that come from a place where language is insufficient or that crosses the border of consciousness, showing us culture’s bleeding edge. There are multiple kinds of practices and artifacts in this exhibition that offer forms of revelation, fantasy and problem-solving that highlight today’s slippery moment of belief. Some artists have cosmic or occult aspects to the work they make and others are ambassadors of mysticism and astral folklore, another group have gifted technological savvy and are outsourced by larger forces for research purposes with goals yet to be determined. The final category is of artists who I fantasize are in fact cultural operatives or moments of scripted avant-gardes.1

II. Zwischen dem primären und dem erweiterten Kunstbegriff – Vom Ästhetischen zum Politischen Betrachtet man das Gesagte vom Standpunkt der bildenden Kunst, sieht man folgende Erweiterungen ihres Horizonts, ihres Felds und ihrer Kompetenzen: (a) Das Gesamtkunstwerk markiert den Übergang von der religiös-historistischen Tradition zur ästhetischen Autonomie; (b)  das Objet trouvé bedeutet eine Erweiterung des Territoriums von der Schaffung von Artefakten auf die Semantisierung von Fakten durch ihre Transkontextualisierung; (c) der erweiterte Kunstbegriff stellt eine Aus1 Moulton, Aaron: Seeing Eye Awareness. Ljubljana 2018. Https://goo.gl/KCpthx, letzter Zugriff am 18. Dezember 2018.

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weitung der Künstlertätigkeit von der Ebene eines Produzenten auf die Ebene eines sozialen Agenten dar, dessen Ziel die »welt- und gesellschaftsverändernden« sozialen Prozesse sind. Es scheint, dass die Künste  – bildende Kunst, Musik, Literatur, Darstellende Kunst usw. – heutzutage ihren Mittelpunkt jenseits ihres Metiers, ihres Mediums und ihrer Kompetenzen finden. Ihr Medium, ihr Metier und ihre Kompetenzen erweisen sich als unzureichend, weil sie zu speziell sind, und sie müssen mit multi- und transartistischen Kompetenzen, die der »Künstler des primären Felds« nicht besitzt, kombiniert und sogar durch sie ersetzt werden, z. B. sekundäre Semantisierung, aktionistische, digitale, transmediale, politisch-ideologische und ähnliche Kompetenzen. In dieser Perspektive wird die Vielfalt der Kunstgenres zu einem Hindernis oder zu einer Nebensache – und alles, was die Künstler unterschiedlich macht, wird als unbedeutend, zufällig und veraltet angesehen. Kunst ist Kunst ohne genrespezifische Besonderheiten, sie ist sozusagen Unisex. Außerdem, was für einen Unterschied gibt es tatsächlich zwischen dem Katalysatoreffekt von Beuys’ »Sozialer Plastik« oder beispielsweise dem Katalysatoreffekt einer »Sozialen Symphonie« oder eines »Sozialen Romans« eines in einem anderen Medium initiierten Künstlers? Kurzum, realistisch betrachtet haben wir es heute mit der Koexistenz der Kunst des »primären« und des »erweiterten« Felds zu tun. Erstere wird – in Bezug auf Kompetenzen und Umfang – durch das Medium und Metier charakterisiert. Letztere ist hiervon unabhängig und bedient sich in freier Weise verschiedener Medien und Kompetenzen, vorausgesetzt, sie führen zur Erreichung ihrer Ziele. Zwischen beiden Paradigmen bestehen Unterschiede, die in Form einer bestimmten Anzahl von ontischen, produktions- und zielbezogenen Differenzen dargestellt werden können (Abb. 1). Trotz der Vereinfachungen, die ein Tribut an vorgestellte Modelle sind, geht aus dem Schema hervor, dass die Unterscheidung nach dem Paradigma des primären Kunstfelds und dem Paradigma des erweiterten Kunstfelds realistisch ist und sich nachweisen lässt. Vielleicht könnte man sogar beweisen, dass beide Felder in der zeitgenössischen Erfahrung komplementär sind, obwohl eine solche Auffassung heute noch selten ist. Dies könnte durchaus Gegenstand einer anderen Abhandlung sein. Das Paradigma des primären Kunstfelds ist artefakt-zentrisch. In seinem Rahmen ist der Künstler ein Hersteller unikaler, analoger, kontemplativer, repräsentativer »geistiger Objekte«, die auf Seiten des Künstlers ein spezialisiertes Metierwissen und spezialisierte ästhetische Kompetenzen voraussetzen, sowie auf Seiten des Rezipienten eine »aufrichtige, demütige Unterordnung unter das geistige Objekt eines anderen Menschen, eine Erfahrung, die nicht automatisch gegeben ist, sondern Vorbereitung und Reinheit des Geistes« verlangt, wie sich Meyer Schapiro Mitte des letzten Jahrhunderts äußerte. Das ultimative Ziel dieses Paradigmas ist die »pure Freude am unabhängigen Bestehen von etwas Exzellentem«, wenn ich mich mit den Worten von Iris Murdoch ausdrücke. Diesem Paradigma gelingt dies, wenn seine produktiven Prozesse zur Vollkommenheit der Form führen, die in der Lage ist, den Menschen zu einer nichtpossessiven Kontemplation einzuladen und ihn davor zu bewahren, in

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Abb. 1: Das Verhältnis zwischen der Kunst des »primären« und des »erweiterten« Felds: Zwischen beiden Paradigmen bestehen Unterschiede, die in Form einer bestimmten Anzahl von ontischen, produktions- und zielbezogenen Differenzen dargestellt werden können.

bewohnte Abkürzungen einer egoistischen Träumerei eingesaugt zu werden. In der Ortschaft des Seins ist dies laut Slotedijk die lokale Qualität, die menschlichem Verhalten den universellen Maßstab gibt. Das Paradigma des erweiterten Kunstfelds ist hingegen fakto- und sozio-zentrisch. Es stellt eine Erweiterung der Künstlertätigkeit von der Ebene eines metierspezialisierten Produzenten auf die Ebene eines genreübergreifenden, multimedialen und multikulturellen »Katalysators« sozialer und politischer Ereignisse dar, wobei künstlerische Materialien und kreative Prozesse für ihn lediglich ein Mittel zur Förderung von »welt- und gesellschaftsverändernden« Prozessen sind. Der Künstler wirkt hier bona fide, dass seine Vorstellungen über die Richtung wie auch die Art und Weise

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des Ablaufs dieser Prozesse tatsächlich das sind, was der Realität am meisten entspricht, also nicht nur das, wovon er meint, dass es mit sich selbst zufrieden sein kann. Dem erweiterten postmodernen Motto Everything is permitted entspricht hierbei der abenteuerliche und provokative Begriff der Vernunft, für die das richtig ist, was die Hindernisse auf dem Weg zu einem ungezügelten Leben in Angriff nimmt und als Medium der gesellschaftspolitischen Kritik und der sozialen Konstruktion dient.

III. Die Kunst und die Grenzen Die Tatsache des Übergangs von der Kunst im engeren zur Kunst im erweiterten Sinn ruft von selbst die Problematik der »Grenze« und »Überschreitung von Grenzen« in den Diskurs. In physischer und spiritueller Hinsicht sind wir Menschen von vielen sichtbaren und unsichtbaren Grenzen umgeben. Wir können aber nur agieren, wenn wir die Grenzen und die von ihnen gegebenen Beschränkungen beachten, überprüfen, verteidigen, überschreiten, aber auch festlegen und respektieren. So überschreitet jeder von uns täglich die Grenze zwischen Schlaf und Wachheit, zwischen Ruhe und Arbeit, verteidigt sich mit den Grenzen der eigenen Identität gegen Einflüsse der Umgebung und setzt hohe Standards auf dem einen oder anderen Tätigkeitsgebiet. Das Überschreiten von psychophysischen Grenzen führt zu einer Änderung des Zustands und stellt nicht unbedingt eine Errungenschaft dar. Anders verhält es sich mit den sogenannten geistigen – kulturellen, künstlerischen, wissenschaftlichen – Grenzen. Deren Überschreitung und Reformulierung erfordern Reflexion, Unterscheidung, Entscheidung und Kreativität. Solche Grenzen sind beispielsweise die Grenze zwischen alltäglichem und produktivem Denken, zwischen funktionaler und ästhetischer Wahrnehmung, zwischen Gegebenem und Innovativem, zwischen Seriellem und Unikalem, zwischen geringerer und höherer Qualität, zwischen Leben und Kunst. Das Überschreiten spiritueller Grenzen hat zwei grundlegende Modalitäten: die de-konstruktive und die konstruktive. Die eine bezeichnet das Überschreiten von Grenzen im Sinne ihrer Infragestellung, Überwindung und Befreiung von den Regeln und Werten, die in ihnen herrschen, die andere bezeichnet die Festlegung von Grenzen in Form der Anhebung qualitativer Standards. Der erste Aspekt tritt in der Form der Aufhebung eines bestimmten kreativen Paradigmas und der Suche nach alternativen Paradigmen auf, der andere in der Form der Vertiefung und Komplexifizierung ihrer Ziele und Ergebnisse. Der erste hat den Charakter des Lateralen – ­lateral thinking –, der zweite den Charakter des Vertikalen – vertical thinking. A. Die Kunst, frei zu sein Der dekonstruktive bzw. laterale Aspekt des Überschreitens von Grenzen in der Kunst ist mit dem Gefühl der Beengtheit und dem Bedarf nach Befreiung von den bestehenden gestalterischen Regeln und Werten verbunden. In der Kunst kommt

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diese »Fähigkeit, die Wahrnehmung zu verändern«, in den manieristischen, insbesondere avantgardistischen Bewegungen zum Ausdruck, in denen künstlerische Freiheit als Freiheit zum Bruch mit allen Einschränkungen der Vergangenheit aufgefasst wird. Der Widerstand gegen die bestehende Ordnung wird in der Regel als subversiv dargestellt: Wir waren Gefangene der Gleichheit, jetzt werden wir in die Freiheit des Unterschieds entlassen, in einen befreienden Bruch mit etablierten Formenerzeugungsweisen und Werten. Zu dieser Art des Überschreitens von Grenzen zählt beispielsweise der Übergang vom Impressionismus, der der klassischen Tradition der malerischen Wahrnehmung folgte und diese weiterentwickelte (Divisionismus), zum Gebrauch von Readymades, der diese Tradition verlässt und in eine völlig andere Tradition übertritt, nämlich in die Tradition der Dulia bzw. der Verehrung von bereits hergestellten und angetroffenen Gegenständen  – gr. δουλια (dulia), Verehrung  –, d. h. in ein völlig anderes bedeutungserzeugendes Wertsystem. Eine analoge Art des Überschreitens von Grenzen stellt auch der bereits beschriebene Übergang von der Bildhauerei zur unkonventionellen Beuysschen »Sozialplastik« dar. Der Wandel und Übergang erfolgt hier durch »Erzwingen« – forcing –, wenn Dinge und Inhalte in eine gestalterische Situation »hineingezwungen« werden, die sich in der Sprache dieser Situation nicht ausdrücken lassen. Die Situation wird instabil und erfordert eine radikale Änderung der eigenen formerzeugenden Infrastruktur – Werte, formative und informative Methoden, Axiologie usw. Der integrale Kontext der Beschränkungen, die die Situation definieren, kollidiert hier mit einer Praxis, die bewusst darauf abzielt, das System von Regeln, Traditionen und Institutionen, mit denen »fortschrittliche«, unkonventionelle Autoritäten unzufrieden sind, in ihr zu zerstören. Kurzum: die Fesseln traditioneller Bewusstseinsausdrücke durch die Entdeckung einer anderen – angeblich höherwertigen – Bewusstseinsform zu zerschlagen. Der dekonstruktive Aspekt ist im Kern auf die radikale Kritik am Ausgangsparadigma gerichtet. Sein Weg ist der Weg der Negation, weil erst diese die Grenzen des Bereichs festlegt, innerhalb dessen die formerzeugenden und bedeutungserzeugenden Regeln des Ausgangsparadigmas nicht mehr anwendbar und relevant sind. Jedes Paradigma, das ein früheres überwinden will, versucht zuerst, die Herrschaft über das Gedächtnis des Menschen zu erringen. Alles beginnt mit den Vorteilen des neuen Paradigmas. Die Vergangenheit ist passé, irrelevant, reaktionär, durch Vorurteile, Mythen und Legenden kompromittiert. Dies gilt auch für die Selbstauffassung unserer Zeit, die hohe Entwicklungserwartungen in die Loslösung von der Natur, in den Glauben an die moderne Technologie und an das soziale Konstruieren setzt, dies obwohl sie – wie Soziologen feststellen – mit einem »spürbaren Verlust der Zukunft« konfrontiert ist. B. Die Kunst, zu überschreiten Der konstruktive bzw. vertikale Aspekt des Überschreitens von Grenzen in der Kunst ist der Aspekt der Festlegung neuer Grenzen durch Anhebung der Qualität innerhalb eines bestimmten Paradigmas – vertikales Denken. Dabei geht es darum, das »Me-

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dium Neuheit« durch das »Medium Qualität« zu ersetzen. Mit anderen Worten, die Umwandlung ist damit verbunden, dass man sich von Barriere-, Kritik- und Innovationssystemen umorientiert auf Systeme von tiefen Einsichten, Originalität, hoher Komplexität und Zeitlosigkeit respektive Zeitenthobenheit. Oder noch anders, mit den Worten von George Steiner: »The text, the painting, the composition are wagers on lastingness. They embody the dur désir de durer (the harsh, demanding desire for durance).« Der konstruktive Aspekt ist analog zur Aufstellung von Rekorden im Sport oder zum »Mehrwert« in der Wirtschaftsterminologie. In seiner konkreten Form zeigt er sich im Unterschied zwischen Spitzen- und durchschnittlichen Leistungen auf dem Gebiet der künstlerischen Wiedergabe, ganz besonders intensiv bei Meisterwerken innerhalb eines bestimmten Kunstgenres, die von der Ästhetik einst mit den potenten Begriffen Archetypik respektive Universalität und Beständigkeit respektive Zeitenthobenheit oder Zeitlosigkeit, mit George Steiner auch als dur désir de durer bezeichnet wurde. Den Antriebsmotor und die Zieldestination der Vertikalisierung in der Kunst hat der Maler Sol Le Witt auf einmalig einfache Weise wie folgt veranschaulicht: »We cannot believe in art if we do not believe in some kind of unchanging attitude towards, or timeless standards of, what is important, and what is essential in life.« Der vertikale Gesichtspunkt der Grenzüberschreitung auf allen Ebenen tritt entweder kontinuierlich oder durch einen Quantensprung ein. Und zwar immer dann, wenn es dem Schöpfer gelingt, einen autoritativen Kontakt zwischen der Partikularität seiner Form und deren universeller, gemeinmenschlicher formal-semantischer Wirkung herzustellen. C. Grenzüberschreitungen in der geisteshistorischen Zeit Laterale Grenzen sind in erster Linie räumliche Grenzen – Verschlossenheit, Eingeengtheit, Überschreitung, Ausweitung –, während vertikale Grenzen in erster Linie zeitliche Grenzen darstellen – Entwicklung, Verifikation, Dauer, Nichtveralten. Natürlich geht es hier um kulturellen Raum und kulturelle Zeit, kairós: Das griechische Wort »kairós« (καιρός) bedeutet qualitative Zeit, »bedeutende« bzw. »entscheidende« Zeit, in der etwas Besonderes, ein Umbruch, etwas dauerhaft Wichtiges geschieht. Jede Epoche verwendet dabei sowohl laterale respektive dekonstruktive als auch vertikale respektive konstruktive Grenzüberschreitungen, obwohl diese Überschreitungen in jeder Epoche unterschiedlich dosiert und koordiniert sind. Wie? Betrachtet man den diachronen Rhythmus der Kunst im Lichte formbildender Transformationen, so stellt man fest, dass dieser Rhythmus die Form einer an­ steigenden Kurve hat, die in ihrem Steigen und Sinken prototypisch durch Initial-, Zenit- und Schlussmomente definiert wird. Initialmomente sind sogenannte archaische Epochen, Zenitmomente klassische und Schlussmomente manieristische Epochen (Abb. 2). Zu den archaischen zählen Epochen, die durch Öffnung neuer, frischer und anspruchsvollerer Gestaltungshorizonte, durch Anschaulichkeit der Lösungen und

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Abb. 2: Der diachrone Rhythmus der Kunst im Lichte formbildender Transformationen, der prototypisch durch Initial-, Zenit- und Schlussmomente definiert wird: der Archaik, die Klassik und der Manierismus.

durch Streben nach primärem Ausdruck charakterisiert sind. Solche Epochen sind im westlichen Kulturraum z. B. in der griechischen Archaik, im altchristlichen Impressionismus, in der Frühromanik und im Impressionismus des 19. Jahrhunderts zu erkennen, da sie im Grunde die gleichen geistigen und gestalterischen Merkmale aufweisen. Zu den klassischen Epochen, die den Höhepunkt einer bestimmten gestalterischen Ausrichtung darstellen und in ihrer Spitzenkreativität alles auf das Ideal, die Perfektion und die Schönheit setzen, kann man die griechische Klassik, die Renaissance, den Barock und die Moderne zählen. Zu den Manierismen, die durch leichtlebiges Durchspielen und Übertreiben vorangegangener »klassischer« Idealitäten beweisen, dass man, wenn man sich im Zenit befindet, nur dadurch vorankommt, dass man sich nach unten hinablässt, zählen beispielsweise der griechische Hellenismus, die flammige Gotik, der Manierismus des 16. Jahrhunderts, das Rokoko und nicht zuletzt die Postmoderne, die ein ähnliches Entwicklungs- und Kreativitätsschicksal teilen (Abb. 3). Betrachten wir die Beziehungen zwischen dem dekonstruktiven und dem konstruktiven Aspekt des Grenzüberschreitens in diesen prototypischen gestalterischen Milieus. In archaischen Zeiten müssen der dekonstruktive und der konstruktive Aspekt des Grenzüberschreitens zwingend aufeinander abgestimmt und komplementär sein, da solche Epochen simultan sowohl die Dynamik des Such- bzw. Forschungsprozesses als auch die Dynamik des qualitativen Progresses erfordern. Der dekonstruktive Aspekt durchbricht und erweitert den geistigen Horizont der vorangegangenen Epoche, während der konstruktive gleichzeitig die formativen Qualitätsstandards erhöht, die zu konkurrierenden formalen Lösungen führen. In klassischen Epochen, in denen der Mensch auf der Grundlage einer ausgearbeiteten Vorstellung vom Ideal, von der Perfektion und der Schönheit, z. B. Renaissance, glaubt, die Welt durch Wissen und durch diese ausgearbeitete Vorstellung beherrschen zu können, übernehmen die konstruktiven Aspekte des Erweiterns und Überschreitens von Grenzen das Primat. Nämlich im Sinne einer Aufstellung möglichst hoher Standards für die Verwirklichung des Ideals, der Perfektion und der Schönheit in der Welt. Da man das Ideal nicht erst zu suchen braucht, können die dekonstruktiven Aspekte in den Hintergrund treten. Und auf Lauer liegen.

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Abb. 3: Der diachrone Rhythmus der Kunst im Lichte der Stilgeschichte.

In manieristischen Epochen müssen aufgrund des starken Bedürfnisses und Verlangens des Menschen danach, dass sich aus dem bereits Bekannten wieder etwas Anderes, Neues, nicht Langweiliges entfaltet, die dekonstruktiven Aspekte des Grenzüberschreitens aktiviert werden, damit eine ausreichende Anzahl von lateralen Suchprozessen Alternativen entdeckt und dadurch zeigt, was dieses Andere und Neue sein soll. In diesem Fall kann die Vertikalisierung der Ergebnisse darauf warten, dass sich die Verhältnisse stabilisieren und sich die Ziele und Ideale profilieren. Unter diesem Gesichtspunkt kann man sagen, dass die »natürliche« Beziehung zwischen lateralen und vertikalen Leistungen in der Kunst die Komplementarität ist, d. h. das funktionale Zusammenwirken und gegenseitige Ergänzen. Diese natürliche Beziehung bricht jedoch auseinander, wenn sich bestimmte Leistungen auf Kosten anderer durchsetzen und sich zum Beispiel dekonstruktive und konstruktive Arten des Überschreitens von Grenzen miteinander zu vermischen und sich gegenseitig auszutauschen beginnen. Dies geschieht beispielsweise dann, wenn man Neues  – Avantgardistisches, Provokatives, Exzesshaftes, Umbrüchiges usw.  – automatisch mit Qualität oder aber Originalität gleichsetzt. In Ausnahmefällen mögen Neues und Qualität zwar zusammenfallen, keinesfalls aber sind sie gegenseitig austausch-

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bar. Ersteres kann nicht zum Letzteren werden – und umgekehrt. Wenn der Mensch das Gefühl zur Unterscheidung des einen vom anderen in der Kultur verliert, gerät er mit Sicherheit in eine Krise. Dies ist eine Situation, in der man unterscheiden, beurteilen und entscheiden muss: griechisch κρίσις (krísis), d. h. Meinung, Urteil, Entscheidung, von κρίνειν (krínein), d. h. urteilen, entscheiden. In der Kultur sind Krisen ein konstantes Phänomen. Ihren Ursprung haben sie im Zusammenbruch der alten Kulturordnung, die dann zusammenbricht, wenn Unterschiede bzw. Grenzen in ihr zu verschwinden beginnen. Wenn man zum Beispiel nicht mehr weiß, was wahr und was unwahr ist, was gut und was böse, was schön und was hässlich, was Kunst und was Leben, was konstruktiv und was dekonstruktiv, was vertikal und was lateral, usw. Und dies ist genau eine Situation, in der es relevant ist, nur solche Entscheidungen zu treffen, die nicht nach Abkürzungen suchen, um den Götzen des Durchschnittsgeschmacks, der Popularität, der Mode oder der politischen Korrektheit zu gefallen.

Bibliographie Beuys, Eva / Beuys, Wenzel / Beuys, Jessyka: Joseph Beuys. Block Beuys, München 1990. Hubbard, Sue: Adventures of Art. Selected Writings 1990–2010, New York 2010. Moulton, Aaron: Seeing Eye Awareness, Ljubljana 2018. https://goo.gl/KCpthx, letzter Zugriff am 18. Dezember 2018. Murdoch, Iris: The Sovereignty of Good, London / New York 1971. Schapiro, Meyer: Modern Art. 19th and 20th Centuries, New York 1978. Sloterdijk, Peter: Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, Frankfurt a. M. 1989. Steiner, George: Real Presences, London / Boston 1989. Williams, Raymond: The Politics of Modernism, London 1989.

Politische Kunst und die Politisierung der Künste*

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Harry Lehmann

Die politische Polarisierung der Gesellschaft hinterlässt ihre Spuren auch in der Kultur und führte zu einer starken Politisierung der Künste. Im Kontrast zur postmodernen Kunst, die in den letzten Jahrzehnten tonangebend war, herrscht heute im Kunstsystem ein anderes Betriebsklima vor. Nichts war, noch vor ein paar Jahren, uncooler als der heute so selbstverständlich gewordene Habitus, die Welt retten zu wollen und Haltung zu zeigen. Was ist geschehen, dass in den liberalen Demokratien des Westens innerhalb kürzester Zeit die politisch engagierte Kunst derart prominent werden konnte? Und ist die engagierte Kunst das neue »post-postmoderne« Paradigma, das nun wiederum für Jahrzehnte zum bestimmenden Leitbild der Künste wird? Es sind vor allem drei Faktoren, die hier zusammenspielen und sich wechselseitig verstärken: Prozesse der Gruppenpolarisierung bei denjenigen, die Kunst produzieren und rezipieren; die Digitalisierung, welche eine neue Schnittstelle im Kunstsystem für den politischen Aktivismus geschaffen hat; und ein politisches Realignment in den liberalen Demokratien, das der Politisierung der Kunst zu Grunde liegt.

I. Gruppenpolarisierung Auf der Fassade der Alice Salomon Hochschule in Berlin war noch vor wenigen Jahren das Gedicht »Avenidas« von Eugen Gomringer zu lesen (Abb. 1), das aber nach Studentenprotesten entfernt und durch ein anderes Gedicht ersetzt wurde. alleen alleen und blumen blumen blumen und frauen alleen alleen und frauen alleen und blumen und frauen und ein bewunderer

Die Quintessenz des Poems, das im Original auf Spanisch verfasst war, findet sich in den letzten beiden Versen: »alleen und blumen und frauen und / ein bewunderer«. Der Vorwurf, der gegen dieses Gedicht erhoben wurde und 2016 zu seiner Über* Ursprünglich veröffentlicht in Lettre International 131, Winter 2020, S. 56–61.

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Abb. 1: Die Alice Salomon Hochschule in Berlin mit dem ursprünglichen Gedicht »Avenidas« von Eugen Gomringer an der Fassade.

Abb. 2: Die Wohnungsgenossenschaft Grüne Mitte Hellersdorf mit dem Gedicht »Avenidas« von Eugen Gomringer in spanischer und deutscher Fassung.

schreibung führte, bestand darin, dass es frauenfeindlich sei, weil es Frauen zu einem Objekt männlicher Bewunderung degradieren würde. Inzwischen ist das Gedicht unweit der Alice Salomon Hochschule – im Sinne eines Protests gegen den Protest – von der Wohnungsgenossenschaft Grüne Mitte Hellersdorf an einem ihrer Wohnblöcke wieder aufgebracht worden (Abb. 2). Eugen Gomringer gehörte zu den Begründern der Konkreten Poesie und hat nicht zuletzt deswegen im Jahr 2011 den Alice Salomon Poetik Preis von einer unabhängigen Jury verliehen bekommen. Unter normalen Umständen wäre es sehr unwahrscheinlich, dass der Akademische Senat einer Hochschule sich auf eine derart kunstfremde Lesart eines Gedichts einlässt, sich dann über das Urteil einer Expertenjury hinweggesetzt und daraus politische Konsequenzen zieht. Fünf Jahre nach der Preisverleihung konnte nicht einmal die harsche Kritik von Kulturstaatsministerin Monika Grütters – die die Entfernung des Gedichts »einen erschreckenden Akt der Kulturbarbarei nannte«1 – die Hochschulleitung von ihrer Entscheidung abbringen. Der Rechtswissenschaftler Cass R.  Sunstein hat bereits vor über zwanzig Jahren ein »Gesetz der Gruppenpolarisierung« formuliert, mit dessen Hilfe sich auch die Meinungsbildungsprozesse rekonstruieren lassen, die zu einer Politisierung der Künste führen. Die von Sunstein im Juristenenglisch formulierte und entsprechend 1 Siehe den Artikel »Umstrittenes Gedicht wieder an Hauswand zu sehen« im SPIEGEL vom 22.02.2019. https://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/eugen-gomringer-wohnungsgenossen​ schaft-bringt-avenidas-wieder-an-a-1254560.html, letzter Zugriff am 29. Juni 2021.

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nur schwer übersetzbare Definition lautet: »In brief, group polarization arises when members of a deliberating group move toward a more extreme point in whatever direction is indicated by the members’ predeliberation tendency.«2 Als Gruppenpolarisierung wird hier eine Situation bezeichnet, bei der die Mitglieder einer sich beratschlagenden Gruppe – wie einer Jury, die einen Preis verleihen möchte – nach der Beratung eine extremere Position vertreten als vor der Beratung, wobei sich das Urteil in die Richtung verschiebt, für die es unter der Mehrheit der Gruppenmitglieder eine Präferenz gab. Was an der Alice Salomon Hochschule tatsächlich vonstattengegangen ist, ist nicht bekannt, aber man kann davon ausgehen, dass die beiden entscheidenden Voraussetzungen für eine Gruppenpolarisierung erfüllt waren: Zum einen wird es an der 1908 von der Frauenrechtlerin Alice Salomon begründeten Hochschule einen feministischen Grundkonsens gegeben haben, und zum anderen dürfte das Meinungsspektrum innerhalb dieses Konsenses auch nicht homogen gewesen sein, sondern von moderaten bis zu radikalen Stimmen gereicht haben. Das Gesetz der Gruppenpolarisierung besagt nun, dass sich unter diesen Bedingungen die radikalen feministischen Positionen gegenüber den moderaten feministischen Positionen durchsetzen werden. Selbst wenn vor der Beratung nur einige wenige Gruppenmitglieder davon überzeugt waren, dass Gomringers Gedicht misogyn sei, so werden sich infolge der Diskussion fast alle Mitglieder der Gruppe dieser Meinung angeschlossen haben. Es ist ein wissenschaftlich gut belegtes Phänomen, dass es überall dort, wo es Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse gibt, unter besagten Voraussetzungen zur Gruppenpolarisierung kommt. Als theoretische Erklärung werden vor allem zwei Mechanismen angeführt: Zum einen verfügen Gruppen, deren Mitglieder mehrheitlich ein bestimmtes Wertesystem teilen, über einen begrenzten Argumentationspool. So kann man davon ausgehen, dass an der Alice Salomon Hochschule schlichtweg mehr feministische Argumente zirkulieren, die für eine Übermalung des Gedichts sprechen, und dass Gegenargumente in diesem Soziotop nicht in der gleichen Weise präsent sind. Zum anderen achten alle Gruppenmitglieder während einer solchen Beratung auf ihre eigene Reputation und möchten durch ihre Diskussionsbeiträge weder ihr Ansehen in der Gruppe noch ihr eigenes Selbstwertgefühl beschädigen. Wenn Gleichberechtigung und Emanzipation unstrittige Werte an dieser Hochschule sind, dann wird der soziale Status einer Person danach bemessen, wie viel persönliches Engagement sie in Bezug auf diese Werte zeigt. In einem solchen sozialen Kontext setzen all diejenigen ihr Ansehen aufs Spiel, die zum Beispiel argumentieren, dass das Konzept der Mikroaggression zur Beurteilung von Gedichten unbrauchbar ist, weil sich nach dieser Logik alle Kunstwerke mikroaggressiv verhalten würden.

2 Vgl. Sunstein, Cass R.: »The Law of Group Polarization«, in: The Journal of Political Philosophy, Vol. 10, No. 2 (2002).

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II. Politische Kunst Die Politisierung der Künste ist aber nicht nur eine Sache der Rezeption, sondern sie zeigt sich auch in der größeren Zahl und in der größeren öffentlichen Resonanz von Werken, die sich eindeutig als politische Kunst identifizieren lassen. So hat 2016 der chinesische Künstler Ai Weiwei 14.000 Schwimmwesten an den Säulen des Berliner Konzerthauses befestigen lassen, zwischen denen ein Schlauchboot mit der Aufschrift »Safe Passage« hing (Abb. 3). Die Installation besitzt eine politische Botschaft und fordert auf dem Höhepunkt der Migrationskrise in Deutschland eine sichere Passage für Flüchtende im Mittelmeer. Der politische Konflikt, ob man für oder gegen eine Willkommenskultur ist, war in der Öffentlichkeit präsent, und das Werk lässt keinen Zweifel daran, auf welche Seite sich der Künstler in dieser Frage stellt. Bei Ai Weiweis »Safe Passage« handelt es sich um ein klares Beispiel für »politische Kunst«. Mit diesem Begriff ist im Folgenden ein spezifisches Genre gemeint, das seit einigen Jahren Konjunktur hat und insofern – d. h. wenn man über dieses Phänomen sinnvoll diskutieren will – von aller anderen Kunst terminologisch unterschieden werden muss. Das Genre der politischen Kunst lässt sich nicht einfach in einem alltagssprachlichen Sinne darüber bestimmen, dass hier politische Themen verhandelt werden, oder dass die entsprechenden Arbeiten in jener idiosynkratischen Weise, wie Kunstwerke generell auf Menschen wirken, bei manchen Subjekten auch politische Assoziationen auslösen, an die sich politische Interpretationen anschließen lassen. Vielmehr ist »politische Kunst« ein Genre, das eine ganz bestimmte politische Wirkung intendiert und dieses Ziel auch bei der Mehrheit ihrer Rezipienten erreicht. Der Grund für diese ungewöhnliche Treffsicherheit liegt in einer Unterscheidung, welche diese Kunstform aus dem Politiksystem übernimmt und die von weiten Teilen der Bevölkerung sofort erkannt und verstanden wird: die politische Leitdifferenz, also der Code von links und rechts mit einer klaren Präferenz für eine der beiden Seiten. In diesem Sinne lautet unsere Definition: »Politische Kunst« ist Kunst, die einen politischen Konflikt thematisiert und in diesem Konflikt Partei ergreift. Es gibt viele Missstände in der Welt, die im blinden Fleck der Politik liegen und nicht die Form eines politischen Konflikts angenommen haben. Politische Kunst bezieht sich hingegen immer auf jene gesellschaftlichen Konflikte, die vom politischen System bereits kodiert sind. Damit wird an solchen Werken auch für normale Bürger – und nicht nur für die Insider von Kunstszenen – die Konfliktlinie wahrnehmbar, die liberale Demokratien in zwei konkurrierende Lager spaltet. Im selben Jahr und nur wenige Meter Luftlinie vom Konzerthaus entfernt fand auch eine Protestaktion der rechtsextremen Identitären Bewegung statt, deren Mitglieder das Brandenburger Tor erkletterten und dort weithin sichtbar ein Spruchband entrollten, auf dem »Sichere Grenzen Sichere Zukunft« zu lesen war (Abb. 4). Es handelt sich um genau die entgegengesetzte politische Forderung, wie sie Ai Weiwei einige Wochen vorher mit seiner Konzerthaus-Installation erhoben hatte, so dass man

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Abb. 3: Das Konzerthaus Berlin mit der Installation »Safe Passage« von Ai Weiwei 2016.

Abb. 4: Protestaktion der Identitären Bewegung auf dem Brandenburger Tor 2016.

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aufgrund der zeitlichen und räumlichen Nähe der beiden Ereignisse davon ausgehen kann, dass es sich hier um eine spiegelbildliche Reaktion handelt. Es wäre sicherlich überzogen, die Protestaktion am Brandenburger Tor zur politischen Kunst zu zählen, aber sie ist wie eine Performance inszeniert und zeigt, wie sehr heute die Grenzen zwischen politischer Kunst und politischem Aktivismus verschwimmen. In beiden Fällen geht es um die symbolische »Besetzung« von Bauwerken im öffentlichen Raum mit einer politischen Botschaft. Die hier zutage tretende Unschärfe zwischen politischem Aktivismus und politischer Kunst ist ein Erbe der Konzeptkunst, die im Grenzfall auf das Herstellen von Werken verzichtet und sich auf das Ausstellen von »Konzepten« beschränkt. Ein solches »Konzept« wird gewöhnlich in Form eines Textes, einer Losung oder nur als Werktitel präsentiert. So hat auch Ai Weiwei für sein Projekt nur die Ideen geliefert und war bei der Ausführung der Arbeit selbst nicht vor Ort. Mit dem Aufkommen des Konzeptualismus bleibt nur noch ein Restkriterium übrig, anhand dessen sich Aktivismus und Kunst unterscheiden lassen, nämlich, ob die Aktionen überhaupt noch einen Bezug zu einem Kunstkontext besitzen. Bei der Konzerthaus-Installation war das sicher der Fall, bei der Plakataktion auf dem Brandenburger Tor definitiv nicht. Wäre Letztere aber von einer identitären Künstlergruppe veranstaltet worden, dann wäre sie, wenn man dieser Logik folgt, auch politische Kunst. Das Feuilleton hat »Safe Passage« im Februar 2016 einhellig als politischen Aufruf für eine sichere Flucht übers Mittelmeer verstanden und mehr oder weniger ausführlich auch über den Entstehungskontext dieser Arbeit berichtet: Es handelte es sich um eine Auftragsarbeit der Cinema for Peace Foundation für ihren alljährlich in Berlin stattfindenden Benefiz-Abend, bei dem im Jahr 2016 der »wertvollste Flüchtlingsfilm« prämiert wurde. Für die Prominenz wurde eigens der rote Teppich ausgerollt, und es ist sicherlich kein Zufall, dass Ai Weiwei die Besucher in High Heels, Abendkleid und Smoking unter dem Schlauchboot hindurch ins Konzerthaus flanieren ließ. Während der aktuellen Flüchtlingskrise ist niemandem aufgefallen – es lässt sich zumindest kein Hinweis unter den vielen Berichten darauf finden –, dass »Safe Passage« eben nicht nur »Sichere Überfahrt« heißt, sondern dem Gala-Publikum zugleich einen sicheren Weg, am Flüchtlingselend vorbei, in den Festsaal gewiesen hat. Für solche abgründigen Ambivalenzen fehlte der Kunstkritik damals der Blick. Es ist diese Doppelbödigkeit, welche die Installation zu einem eindrücklichen Werk macht und sie von jener politischen Kunst unterscheidet, die nichts weiter als eine politische Haltung propagiert. Nach der Prozession über den roten Teppich fand noch eine spektakuläre Performance statt, die als solche allerdings gar nicht rezipiert worden ist. Es gibt einige Fotos im Netz, auf denen die Glamour-Stars an ihren Tischen sitzen und in einem goldenen Lichtschein erstrahlen (Abb. 5). Es war Ai Weiweis Idee, unter jeden der Stühle ein Päckchen mit einer Rettungsfolie zu legen, die sich die Reichen, Schönen und Guten dieser Welt, bitteschön, in einem mimetischen Akt der Solidarität mit den Flüchtenden um die Abendgarderobe legen sollten. Und natürlich trug man die goldenen Folien mit Noblesse und Eleganz. Es gab zwar einige Stimmen

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wie im Stern, die sich über diese »bodenlose Geschmacklosigkeit« echauffierten3, aber auch hier hat offenbar niemand den Künstler preisen wollen, der diese denkwürdige Performance inszeniert hat: Die High Society legt sich ein goldglänzendes Folienmäntelchen um und macht aus der Wohltätigkeitsveranstaltung eine kleine Krönungsmesse ihrer selbst. Ai Weiwei hat dieses auratische Bild von der Veranstaltung, an der er selbst nicht teilgenommen hat, dann Abb. 5: Die Besucher der Benefizveranstaltung der Cinema for Peace Foundation folgen der auf Instagram gepostet. Wie alle Kunst, so entfaltet auch die Aufforderung von Ai Weiwei und hüllen sich in politische Kunst ihren Gehalt erst in der goldene Rettungsfolien. Rezeptionsgeschichte, so dass man Fragen nach der Qualität nicht immer sofort beantworten kann. In Zeiten einer extremen politischen Polarisierung, in denen es besondere Anreize gibt, politische Kunst zu produzieren, existieren mindestens genauso starke Anreize, solche Arbeiten auch nur eindimensional auf ihre politische Aussage hin zu rezipieren. Die Politisierung der Gesellschaft frisst sich in den Wahrnehmungsapparat, so dass man im Februar 2016 allein Ai Weiweis politisches Engagement sehen konnte, nicht aber, dass er der engagierten Schickeria den Spiegel vorhält. Die instinktive Furcht aller Beteiligten, hinter die plakative Oberfläche solcher Werke zu schauen, ist durchaus berechtigt. Was man da sehen könnte, relativiert und schwächt das klare politische Bekenntnis, das jedem und jeder aufgrund einer starken Gruppenpolarisierung im eigenen sozialen Umfeld abgefordert wird. Es gibt politische Kunst, die ihr Wesensmerkmal – die eindeutige Ansage, mit der sie in einem politischen Konflikt Partei ergreift – reflektiert. Ai Weiweis Schwimmwesten-Installation ist eben nicht nur ein politischer Appell, sondern sie führt, zusammen mit ihrer Goldfolien-Performance, die Doppelmoral jener gesellschaftlichen Klasse vor, die sich öffentlichkeitswirksam für die gute Sache engagiert. Damit verschiebt sich der Fokus solcher Werke, denn sie zwingen ihre Betrachter nur auf den ersten Blick zur Parteinahme und machen eigentlich einen gesellschaftlichen Widerspruch sichtbar. Politische Kunst, die ihre eigene Parteilichkeit thematisiert, kann ein Nachleben haben. Genau in dem Moment, wenn der politische Konflikt, in dem sie sich positioniert, nicht länger die Öffentlichkeit polarisiert, verwandelt sich eine derart reflektierte politische Kunst zu einem Zeitbild der Geschichte.

3 Vgl. »Feiern bis die Schwimmweste kracht« im Stern vom 16. Februar 2016. https://www.​stern. de/lifestyle/leute/cinema-for-peace--charlize-theron--ai-wei-wei-und-die-geschmacklosigkeit-​ 6700302.html, letzter Zugriff am 29. Juni 2021.

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III. Politisierte Kunst Ein weiteres aufschlussreiches Beispiel für politische, oder genauer gesagt, für politisierte Kunst ist Nicholas Galanins White Noise, American Prayer Rug (2018), eine Arbeit, die auf der Whitney Biennale 2019 zu sehen war und auf den ersten Blick keine politische Agenda zu verfolgen scheint. Vielmehr sieht man einen Wandteppich, in den das Abbild eines alten Kathodenbildschirms eingewebt ist, der, wie es der Titel sagt, weißes Rauschen zeigt (Abb. 6). Wenn man den ganzen Titel berücksichtigt, sieht man: einen Fernsehbildschirm als Gebetsteppich der Amerikaner. Und insofern die Mattscheibe nur noch ein Signal ohne Informationswert an die Zuschauer versendet, scheint das Fernsehen als amerikanische Ersatzreligion einen Defekt zu haben. Dem Land, das seit Jahrzehnten einen Krieg gegen den Terror führt und das Wertesystem westlicher Demokratien in islamischen Kulturkreisen zu etablieren versuchte, wird dieselbe Art von orthodoxer Religiosität zugeschrieben, gegen die sich dieser Kampf eigentlich richtet. Galanin gelingt es hier mit einfachsten Mitteln und einem scharfsinnigen Konzept, eine Verbindung zwischen einem traditionellen und einem modernen Glaubenssystem herzustellen. Im herkömmlichen Kunstverständnis, das Vielschichtigkeit, Provokation und Ambivalenz prämiert, ist das ein brillantes Werk. Wenn man allerdings die Flickr-Seite des Künstlers aufruft, stößt man unter dem Foto der Arbeit auf folgendes Statement: The work points to whiteness as a construct used throughout the world to obliterate voices and rights of cultures regardless of complexion. Calling attention to white noise as a source of increasing intolerance and hate in the United States as politicians, media, and citizens attempt to mask and obliterate the reality of America’s genocidal past and racist present.4

Es ist bemerkenswert, dass Galanin eine solche starke politische Engführung seines Werkes vornimmt. Weder die Werkbezeichnung White Noise, American Prayer Rug noch die sinnliche Erscheinung der Arbeit enthalten einen Hinweis, über den sich eine Verbindung zwischen weißem Rauschen und weißer Hautfarbe herstellen ließe. Wenn man die Erläuterung gelesen hat, dann hat sie zweifellos einen gewissen Witz, insofern white noise ein technischer Begriff ist, der hier ins Politische gewendet wird – das »weiße Rauschen« wird, wenn man noise wörtlich liest, zum »weißen Lärm«, sprich zum Lärm der Weißen. Bislang hatten sich Künstler eher damit zurückgehalten, ihre Werke auf eine bestimmte Lesart hin festzulegen, mit der begründeten Furcht, mit solchen Selbstaussagen die eigene Arbeit zu ruinieren. Die Kunstkritikerin Deborah Solomon schrieb

4 Das Zitat ist Teil eines umfangreicheren Statements, vgl. https://www.flickr.com/photos/ galanin/31102635898, letzter Zugriff am 29. Juni 2021.

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Abb. 6: Nicholas Galanin: White Noise, American Prayer Rug (2018).

in diesem Sinne bei ihrer Besprechung der Whitney Biennale, auf welcher Galanins Arbeit zusammen mit einem Auszug aus seinem politischen Statement zu sehen war: It’s a lovely object, mingling ancient prayers with the pop outlines of a ’60s-era TV. But the wall label is a problem. The tapestry, it says, is intended as a ›critique of white supremacy.‹ The piece is richly associative, but the curators of the show have stripped it of its visual integrity and reduced it to a tired academic slogan.5

Galanins Politisierung der Arbeit durch den Flickr-Text ist nicht etwa nur eine Erweiterung des Konzepts, wie es im Titel formuliert wird, sondern das KünstlerStatement formuliert ein anderes, inkompatibles Konzept, das den Kunstcharakter des Werkes schwächt. Der visuelle Aspekt, dass man einen Teppich sieht, der als »Gebetsteppich« auf den Islam verweist, ergibt jetzt keinen Sinn mehr. Die zweite Konzeptualisierung unterläuft die Logik der ersten, wo Anschauung und Begriff in schlagender Evidenz aufeinandertreffen und einen Sinnzusammenhang aufscheinen lassen, den man so noch nicht gesehen hat. Stattdessen illustriert der Wandteppich jetzt ein politisches Statement. Für das Verständnis der politisierten Kunst, welche wie politische Kunst wirkt, ist diese zweifache Konzeptualisierung dennoch instruktiv. So kann man hier, an ein

5 Vgl. https://www.wnyc.org/story/review-whitney-biennial-cops-out/, letzter Zugriff am 29. Juni 2021.

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und demselben Werk, den Unterschied zwischen einem umgangssprachlichen und einem theoriegeleiteten Verständnis von politischer Kunst deutlich machen. Wenn man nur die erste, durch den Titel induzierte Konzeptualisierung berücksichtigt, dann kann man White Noise, American Prayer Rug in einem umgangssprachlichen Sinne zur politischen Kunst zählen, weil hier politisch relevante Themen verhandelt werden. Wenn man hingegen die zweite durch die Flickr-Seite induzierte Konzeptualisierung der Rezeption zu Grunde legt, dann ist diese Arbeit in einem viel strikteren Sinne politische Kunst, insofern sie jetzt in der politischen Unterscheidung von Weißsein zu Nichtweißsein eindeutig Partei ergreift. Galanin gehört selbst zur indigenen Bevölkerung Alaskas und vertritt eine postkolonialistische Position, die nicht in der ersten, aber in der zweiten Konzeptualisierung zum Ausdruck kommt. Eine Theorie der politischen Kunst muss diesen Unterschied einer politisch-thematischen und einer politisch-parteiergreifenden Kunst sichtbar machen können, denn es ist dieser Unterschied, an dem sich entscheidet, ob es in einer Kunstszene zu einer Politisierung kommt oder nicht. Die Frage ist nicht, ob sich Künstler mit politischen Themen beschäftigen, sondern wie. Eine Kritik der politischen Kunst steht vor der generellen Schwierigkeit, dass sich diese Kunstform der herkömmlichen Kunstkritik entzieht. Insbesondere wenn es um Themen der Identitätspolitik geht, die heute im Zentrum der politischen Kunst stehen, gewinnt die doppelte Konzeptualisierung der Werke, wie sie bei Galanin zu sehen ist, eine performative Dimension. Sein Kommentar, demzufolge Weißsein ein Konstrukt sei, das überall auf der Welt dazu benutzt wurde, die Stimmen und Rechte von Kulturen auszulöschen, ist in einem linken Milieu eine Selbstverständlichkeit – bei einem Großteil der Biennale-Besucher und erst recht der Bevölkerung sicherlich nicht. Im Prinzip hat aber die identitätspolitische Linke eine Ablehnung ihrer Positionen immer schon antizipiert. Sie rechnet wie einst der Marxismus mit dem falschen Bewusstsein derjenigen, die keine Einsicht zeigen. Wenn also eine weiße Kunstkritikerin vor Galanins White Noise, American Prayer Rug steht und diese Arbeit nicht als Kritik von white supremacy lesen kann, dann zeige die Arbeit in einem performativen Akt, dass Weißsein als Konstrukt tatsächlich existiert – der Kritikerin mangelt es offensichtlich an der nötigen Sensibilität gegenüber der hier angesprochenen strukturellen Gewalt. Mit solchen sich gegenüber Kritik selbstimmunisierenden Kunstwerken muss man im Kontext der politischen Kunst jederzeit rechnen. Die doppelte Konzeptualisierung von Galanins Arbeit verletzt also nur aus der Außenperspektive »die visuelle Integrität« des Werks und reduziert es zu einem »langweiligen akademischen Slogan«; im Denksystem der politischen Kunst provoziert sie einen performativen Akt, der zum Werk dazugehört und dessen politische Aussage affirmiert. Zur Politisierung der Künste gehört wesentlich, dass die politische Botschaft, die einem Werk zugeschrieben wird, wichtiger wird als das Werk selbst; und hier dürften es wiederum Prozesse der Gruppenpolarisierung sein, die einzelne Kunstszenen zu normieren beginnen. Sobald im Zuge einer allgemeinen gesellschaftlichen Politisierung politische Diskussionen ein soziales System erfassen, beginnt sich das Mei-

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nungsspektrum zum politischen Positivwert zu verschieben. An einem bestimmten Umschlagpunkt werden dann nicht länger künstlerische, sondern die in der Szene akzeptierten politischen Kriterien die Inklusions- und Exklusionsregeln ihrer Mitglieder definieren. Für jeden Einzelnen schnellen dann die Kosten dafür in die Höhe, eine skeptische, moderate oder gar abweichende Meinung zu vertreten. Schließlich macht sich eine Atmosphäre breit, in der die meisten Akteure sich genötigt sehen, durch virtue signaling ihre Gruppenzugehörigkeit zu bekräftigen – entweder um die eigene Reputation zu schützen oder um unliebsame Konkurrenten auszumanövrieren, oder beides. Wahrscheinlich lassen sich auch in liberalen Demokratien solche Systemzustände der Selbstideologisierung nicht per se vermeiden. Aber man kann transparent machen, dass sie eine Anomalie sind, mit der man in Zeiten einer starken politischen Polarisierung der Gesellschaft rechnen muss.

IV. Neue Medien, neue Kunststrategien Mit den digitalen sozialen Medien entsteht in den Künsten eine neue Schnittstelle zwischen Politik und Kunst. Auf der einen Seite wird es für politische Aktivisten über Facebook, Twitter, Websites und Blogs um Vieles einfacher, Künstler, Sammler und Kunstinstitutionen mit einer politischen Agenda zu beeinflussen. Auf der anderen Seite kann die politische Kunst mit tagesaktuellen Provokationen viel stärker als je zuvor die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich lenken. Im vordigitalen Zeitalter waren die Kunstszenen auf das Wohlwollen und die guten Verbindungen zu den Feuilletons großer Tageszeitungen und Kultursendungen angewiesen, um in der Gesellschaft überhaupt wahrgenommen zu werden. Die Macht der klassischen Medien beruhte auf der Exklusivität, mit der sie über Ereignisse berichten konnten; was nicht in der Zeitung stand oder im Fernsehen war, existierte in der Öffentlichkeit nicht. Mit dem Aufkommen der neuen Medien kann man aus den Kunstszenen direkt in die Öffentlichkeit hineinkommunizieren, womit für die Kunst ein ganz neues Spielfeld entsteht: Es lassen sich politische Kunstprojekte auf ihre Medienwirksamkeit hin designen und über die eigenen digitalen Kanäle lancieren. Niemand beherrscht das selbstinszenierte Medienspektakel besser als Philipp Ruch mit seinem Zentrum für politische Schönheit (ZPS). Eine seiner denkwürdigsten Aktionen, die es ohne die Netzwerkeffekte der neuen Medien nicht gegeben hätte, ist das Holocaust-Mahnmal Bornhagen (Abb. 7). Es handelt sich um eine Miniatur des Berliner Holocaust-Denkmals, das das ZPS dem Fraktionsvorsitzenden der AfD im Thüringer Landtag, Björn Höcke, auf die Wiese vor seinem Haus gebaut hat. In der breiten Öffentlichkeit ist das Bornhagener Projekt primär als eine gegen die AfD gerichtete politische Aktion wahrgenommen worden; sein Kunstcharakter blieb vollkommen sekundär. Die meisten Leser der großen Tageszeitungen werden nach wie vor der Meinung sein, dass diese politische Provokation überhaupt keine Kunst sei. Dabei braucht man sich nur den Spendenaufruf anzuschauen, mit dem das ZPS auf YouTube für die Finanzierung des Bauprojektes

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Abb. 7: Das Bornhagener Holocaust-Mahnmal des Zentrums für politische Schönheit vor dem Wohnhaus des AfD-Politikers Björn Höcke.

Abb. 8: Das Berliner Holocaust-Mahnmal, das Denkmal für die ermordeten Juden Europas.

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geworben hat, um zu bemerken, dass hier mit den Mitteln der Hyperaffirmation gearbeitet wird: [Weil] Höcke ein heimlicher Verehrer des Denkmals ist, bauen wir es ihm jetzt direkt vors Haus […] Beobachten Sie den bekanntesten Brandstifter Deutschlands, schlafen Sie direkt im Haus neben ihm, spielen Sie mit seinen Schafen […] investieren Sie in Beton, machen Sie das Holocaust-Denkmal direkt vor Höckes Haus möglich […] spenden Sie jetzt. Setzen Sie Björn Höcke ein Denkmal.6

Allein schon der Umstand, dass man mit der eigenen Berichterstattung unfreiwillig mithilft, die ironische Ansage des ZPS Wirklichkeit werden zu lassen, und Björn Höcke tatsächlich ein Denkmal setzt, hätte die Massenmedien vor dem Internetzeitalter sehr vorsichtig agieren lassen. Auch die rechtlichen Grauzonen dieser Kunstaktion – es wurde suggeriert, dass man über Monate hinweg das Privatleben des Politikers ausspioniert habe – hätte die großen Tageszeitungen eher zur Zurückhaltung bewogen. Der CDU-Abgeordnete und damalige Präsident des Thüringer Landtags, Christian Carius, meinte hierzu: »Das Abhören und Ausspionieren von Abgeordneten und ihren Familien gleicht den Zersetzungsmethoden der Staatssicherheit.« Es spricht also viel dafür, dass die alte analoge Medienwelt das Ganze einfach pikiert ignoriert hätte, anstatt aus dem abgelegenen ostdeutschen Provinznest zu berichten. Doch das ZPS verfügt dank Digitalisierung über eine eigene Medienmaschine und verbreitet von den eigenen Aktionen genau jenes Infotainment, das so sensationell ist, dass auch die klassischen Medien nicht umhinkommen, es weiterzuverbreiten. In Zeiten eines politischen Realignments, in denen eine neue politische Kraft wie die AfD das existierende Parteiengefüge sprengt, hatte man für diese Art von Humor wenig Verständnis und stritt sofort darüber, ob das ZPS der Linken nun einen Bärendienst erwiesen habe, weil es die AfD in eine Opferrolle bringt, oder ob es sich hier um gelebten Antifaschismus handelt. Insofern Philipp Ruch für den schönen Schein einer politischen Idee liebend gern jeden politischen Kollateralschaden in Kauf nimmt, ist er von seinem Naturell her ganz sicher ein Künstler und im besten Fall ein politisch unzuverlässiger Kantonist. Das ist überhaupt das Konzept, das sich hinter diesem merkwürdigen Namen Zentrum für politische Schönheit verbirgt: Es geht um die ästhetische Darstellung politischer Ideen unter den Maßgaben der Kunst. Zu dieser Lesart kann man kommen, wenn man Immanuel Kant etwas modernisiert. Dieser hatte geschrieben: »Man kann überhaupt Schönheit … den Ausdruck ästhetischer Ideen nennen«.7 Allerdings folgt das ZPS nicht mehr wie Kant einer klassischen

6 Siehe das Video »Bau das Holocaust-Mahnmal direkt vor Höckes Haus!« auf dem YouTube-Kanal des Zentrums für Politische Schönheit; https://youtu.be/nZaCmu-cc3Q, letzter Zugriff am 2. Juli 2021. 7 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 51. Werkausgabe Band X , hg. v. W.  Weischedel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 121992.

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Ästhetik des Schönen, sondern einer Ästhetik der Moderne mit ihren Vorlieben für das Ereignis und die Ambivalenz.8 Wie Ai Weiweis Konzerthaus-Installation, so hat auch das Bornhagener Holocaust-Mahnmal ein Nachleben als Kunstwerk, wobei der Konzeptkunstcharakter und die politische Intervention beim ZPS so aggressiv sind, dass es überhaupt erst in dem Moment als Kunstprojekt erfahrbar wird, wenn die gesellschaftliche Polarisierung ihren Kulminationspunkt bereits überschritten hat und sich der eingeschüchterte Kunstsinn in der Gesellschaft wieder aus der Deckung wagen kann. Aus der großen Auswahl von Dokumenten, mit denen das ZPS das Projekt auf seiner Website9 dokumentiert, inklusive aller aufgelaufenen Gerichtsurteile, ist es insbesondere dieses Foto, bei dem die politische Idee des Bornhagener Holocaust-Mahnmals im Sinne ihrer Schöpfer »am schönsten« zum Ausdruck kommt – ein Foto, das den Blick von einem Dutzend Betonstelen über eine idyllische Wiese mit Schafen und einem kleinen Teich zum Wohnhaus von Björn Höcke schweifen lässt. Vor gut zwei Jahren hat diese Kunstaktion die politische Polarisierung in Deutschland verschärft, indem sie für die einen als Symbol des antifaschistischen Widerstands galt und für die anderen ein Zeichen von Linksterrorismus war. Heute kann man darin eine »ästhetische Idee« erkennen, die einem im Sinne von Kant viel zu denken gibt. Immanuel Kant verstand unter »Geist […] das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen« und ergänzte »unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann«.10 Wie »geistreich« ist nun die Bornhagener Kunstaktion? Und was wäre die »ästhetische Idee«, die in dem Foto zum Ausdruck kommt? Obwohl die ganze Aktion natürlich unter den Schutz der Kunstfreiheit fällt, wird der eine oder die andere von dem unguten Gefühl heimgesucht werden, dass diese grobschlächtige Miniaturisierung des Berliner Holocaust-Mahnmals etwas von einem Sakrileg an sich hat. Aufschlussreich ist diesbezüglich, was bereits 2011 Fabian Wolff in der Jüdischen Allgemeinen schrieb: »Ich mag das Mahnmal nicht, aber es wurde auch nicht für mich gebaut. Es wurde für die Deutschen errichtet. Für schuldgeplagte oder schuldmüde Intellektuelle, die mal ihr Verhältnis zur Vergangenheit klären mussten und dazu vor 25 Jahren die Feuilletons vollschrieben.«11 8 Vgl. hierzu die »Theorie der ästhetischen Eigenwerte«, auf deren Grundlage sich erklären lässt, wie und warum sich die modernen Künste in der Mitte des 19. Jahrhunderts von der klassischen ästhetischen Leitidee des Schönen emanzipierten und sich stattdessen an den spezifisch modernen ästhetischen Werten des Ereignisses, der Ambivalenz und des Erhabenen (in purifizierter Form) zu orientieren begannen (Harry Lehmann: Gehaltsästhetik. Eine Kunstphilosophie, Paderborn: W. Fink, 2016). 9 https://politicalbeauty.de/mahnmal.html, letzter Zugriff am 29. Juni 2021. 10 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 49. 11 https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/nicht-kompatibel/, letzter Zugriff am 29. Juni 2021.

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Es geht bei dem Mahnmal offenbar weniger um die jüdische als um die deutsche Identität, und insofern ist es wohl auch unproblematisch, wenn das ZPS mit ihr auf der Dorfwiese spielt. Letztendlich handelt es sich bei dem Berliner Mahnmal nicht um eine KZ-Gedenkstätte, sondern um abstrakte Architektur, die zu einer Touristenattraktion unter vielen geworden ist, und das liegt zum Teil auch an der ästhetischen Inkonsequenz dieses Bauwerks (Abb. 8). Wäre es tatsächlich das Anliegen des Architekten und der Stadtgesellschaft gewesen, dass es an die Geschichte erinnert, indem es ein Gefühl des Schreckens und Grauens evoziert, dann hätte man die Stelen nicht in schnurgeraden Linien aneinanderreihen dürften, so dass man immer ein paar Besucher im Blick hat und am Ende der Sichtachse die Autos vorbeifahren. Wären die Betonblöcke nur ein wenig zueinander versetzt errichtet worden, wäre ein klaustrophobisches Steinlabyrinth entstanden, durch das man nicht ohne ein Gefühl der Beklemmung laufen würde. So hingegen verbreitet das Holocaust-Mahnmal jenen kosmopolitischen Flair, den die Welt an Berlin so liebt. Wenn es richtig ist, dass das politische System liberaler Demokratien derzeit ein politisches Realignment erfährt, das auf die neue Konfliktlinie zwischen kosmopolitischen und kommunitaristischen Parteien zusteuert, dann hat das ZPS ein Sinnbild dieses sich neuformierenden politischen Raumes geschaffen: Als Kontrast zwischen dem 500 Jahre alten Pfarrhaus auf dem Lande, in dem jetzt ein AfD-Politiker wohnt, und dem Holocaust-Mahnmal aus der Hauptstadt. Die ästhetische Idee, die das Foto zeigt, ist jener Identitätskonflikt, der die politische Auseinandersetzung heute prägt und voraussichtlich in den nächsten Jahrzehnten prägen wird.

V. Politisches Realignment Die Politisierung der Künste spielt sich im Windschatten eines politischen Realignments ab. Der instabile Phasenübergang des politischen Systems ist die spezifische Voraussetzung dafür, dass es überhaupt zu starken Interferenzen zwischen politischer und ästhetischer Kommunikation kommt, die wir dann als »Politisierung der Künste« registrieren. Erst aufgrund der starken politischen Polarisierung der Gesellschaft können sich Gruppenpolarisierungsprozesse aufschaukeln, durch die es zur Übermalung von Gedichten, zur Entfernung von Kunstwerken aus Museen oder zum Ausschluss von Künstlern aus Gruppenausstellungen kommt, und nur weil die Themen »Migration« und »AfD« die Öffentlichkeit polarisieren, können Arbeiten wie die von Ai Weiwei und Ruch ein breites Medieninteresse auf sich ziehen. Pauschalisiert kann man sagen, dass es bei dem derzeitigen Realignment zu einer Überschreibung und Reformulierung der traditionellen Links / Rechts-Unterscheidung durch einen neuen politischen Konflikt kommt, und zwar den Konflikt zwischen den Globalisierungsgewinnern in den urbanen Zentren, die kosmopolitische Werte vertreten, und den Globalisierungsverlierern, die eher im Umland leben und ihre Interessen besser durch ein Prinzip der Gemeinschaft im Dorf, in der Region

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und im Nationalstaat vertreten sehen. Ich habe andernorts ein Kippmodell des politischen Raumes entwickelt, in dem sich diese Neuausrichtung der Politik nachvollziehen lässt.12 Hier geht es vor allem um die Rolle, welche die politische bzw. die politisierte Kunst in diesem Umstrukturierungsprozess spielt. Parteien folgen in Realignment-Zeiten jeweils Aktivistengruppen, die ihnen politisch nahestehen, aber unter normalen Umständen in den Parteien und bei ihren Wählern als zu radikal und zu wenig kompromissbereit gelten, und deswegen auch nur marginalen Einfluss auf das politische Geschäft besitzen. Im linken Parteienspektrum gewann eine Allianz aus LGBT-Gruppen, Klimaaktivisten und NGOs an Einfluss, im rechten Parteienspektrum handelt es sich um nationalistische Gruppierungen wie die Identitäre Bewegung oder den inzwischen aufgelösten »Flügel« in der AfD, deren Agenda zum Attraktor für konservative Wählerschichten wurde. Politische Aktivisten fungieren für die etablierten und für die sich neu etablierenden Parteien in Realignment-Zeiten wie Wegweiser, denen man folgt, bis die neue Konfliktlinie gefunden ist und sich wieder stabile Machtverhältnisse in der Gesellschaft durch Wahlen herstellen lassen. Eine solche Wegweiserfunktion erfüllt auch die politische bzw. politisierte Kunst, denn es sind genau dieselben strittigen Themen, die hier aufgegriffen werden; bei den vier diskutierten Beispielen ging es um Sexismus, Migration, Postkolonialismus und nationalen Populismus. Sie zeigen, dass die Politisierung der Künste dabei sehr unterschiedlich vonstattengehen kann. Einerseits können politisch unverdächtige Werke wie das Gedicht von Gomringer oder der Wandteppich von Galanin durch eine nachträgliche Zuschreibung politisiert werden, und diese Zuschreibung kann entweder durch kunstferne Rezipienten oder durch den Künstler selbst erfolgen. Andererseits gibt es genuin politische Kunst, bei der die Arbeiten in einem existierenden politischen Konflikt dezidiert Partei ergreifen. Die Mehrzahl dieser Werke ist Kunstszenen-Agitprop, wo eine politische Überzeugung, die in einer Kunstszene besonders anschlussfähig und erfolgversprechend ist, eins zu eins abgebildet wird. Bei einigen Arbeiten wie der Konzerthaus-Installation von Ai Weiwei und der Bornhagener Aktion des ZPS gibt es aber einen ästhetischen Überschuss, der die eindeutige politische Aussage in ein komplexes Bedeutungsspiel überführt und damit auch transzendiert: Ai Weiwei arbeitet mit einer selbstreflexiven Strategie, so dass der Aufruf zur Flüchtlingshilfe sich in einer unfreiwilligen Performance der Flüchtlingshelfer spiegelt. Philipp Ruch setzt auf hyperaffirmative Strategien, bei denen er einen Kontrollverlust über die Interpretation billigend in Kauf nimmt. Für all diese kunstbezogene Politisierung gilt, dass sie in demselben Maße wie der politische Aktivismus dazu beiträgt, die Gesellschaft weiter zu polarisieren. Der Polarisierungseffekt zeigt sich insbesondere an den Gegenreaktionen, die die politisierte Kunst hervorruft: Eine Wohnungsgenossenschaft bringt das übermalte

12 Harry Lehmann: »Kunst und Kunstkritik in Zeiten politischer Polarisierung. Ein Kippmodell des politischen Raums«, in: Merkur, Nr. 853, Juni 2020.

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­ omringer-Gedicht demonstrativ an einer ihrer Fassaden an; dem Aufruf für eine G sichere Überfahrt am Berliner Konzerthaus folgt eine Protestaktion für sichere Grenzen am Brandenburger Tor, und das ZPS löste mit seiner Bornhagener Aktion unzählige Rechtsstreitigkeiten und Stellungnahmen von Politikern quer durch alle Parteien aus. In Realignment-Zeiten geraten nicht nur das Parteiensystem, sondern viele Bereiche der Gesellschaft wie die Presse, die Bildung, die Massenmedien und auch die Kunst in einen stark polarisierten Zustand, weil die Programme von politischen Aktivisten jetzt stellvertretend für die sich im Krisenmodus befindlichen Parteien eine temporäre Orientierungsfunktion übernehmen. Bei solchen Politikangeboten handelt es sich notgedrungen um einfache Antworten auf komplexe Fragen. Der zweipolige politische Aktivismus mit seinen radikalen Lösungen – d. h. heute mit einer linken Identitätspolitik an dem einen und einer rechten Identitätspolitik an dem anderen Pol – formulieren keine praktikable Politik, sondern sie geben der politischen Auseinandersetzung einen neuen Richtungssinn vor. Der Preis hierfür sind große Simplifizierungen, die jederzeit in einen populistischen Politikstil umschlagen können, weil es eben keine moderaten, auf gesellschaftlichen Ausgleich bedachten politischen Kräfte sind, sondern radikale Bewegungen, die neue Themen setzen, die eine neue politische Rhetorik einüben und neue Feindbilder schaffen. In dem Moment, in dem sich das Parteiensystem an der neuen Konfliktlinie ausgerichtet hat, wenn also die Parteien ihre Programmatik umgeschrieben und ihr Personal erneuert haben, beginnen sie sich von jenen politischen Aktivisten wieder zu distanzieren, denen sie eher aus Not denn aus Überzeugung für eine Weile gefolgt sind. Damit kommt auch die Hochkonjunktur der politischen Kunst an ihr Ende, weil sie, wie der politische Aktivismus generell, nicht länger diese zusätzliche richtungsweisende Funktion für die Politik erfüllt. Es gibt dann zwar immer noch politische Kunst und alle möglichen Versuche, Kunst zu politisieren, aber sie stoßen nicht mehr in derselben Weise wie in einer politisch polarisierten Gesellschaft auf Resonanz. Sobald sich die Gesellschaft nicht mehr in diesem metastabilen Zustand befindet, in dem es jederzeit zu einer Gruppenpolarisierung kommen kann, verschwinden viele Anreize für Künstler, Kuratoren, Museumsdirektoren und Kritiker, politische Kunst zu kreieren, sich für sie zu engagieren und die Kunstkommunikation zu politisieren. Der politischen Kunst kommt die überschüssige Anschlussfähigkeit wieder abhanden, die sie in Zeiten des politischen Realignments besaß. Aller Voraussicht nach wird die Corona-Krise das politische Realignment auch in Deutschland zu einem vorzeitigen Abschluss bringen, da die Pandemie alle zu Globalisierungsverlierern macht und in Zukunft weder offene noch geschlossene Grenzen wie bisher als moralische Werte funktionieren, mit denen sich Konfliktparteien im politischen System identifizieren und unterscheiden können. Es geht in Zukunft, von Fall zu Fall, um das richtige Maß an Globalisierung und nicht um eine Entweder / Oder-Alternative, wie sie die liberalen Demokratien in den letzten Jahren polarisiert hat. Wenn so das neue vorpolitische Überzeugungssystem aussieht, welches der gegenwärtigen politischen Auseinandersetzung zu Grunde

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liegt,13 dann werden demnächst moderate kosmopolitische mit moderaten kommunitaristischen Kräften um einen kulturellen und sozialen Ausgleich in der Gesellschaft streiten. In diesem Szenario verblassen sehr schnell die Umrisse der politischen Kunst, sie verliert mit ihrer politischen Funktion weitgehend an Bedeutung. Es sei denn, die Arbeiten besitzen wie die Berliner Konzerthaus-Installation oder das Bornhagener Holocaust-Mahnmal eine zweite oder dritte Bedeutungsdimension und können sich deswegen, als Kunstwerk, ins kulturelle Gedächtnis einschreiben.

13 Mark Lilla spricht in diesem Zusammenhang von einer »dispensation«, s. Ders.: The Once and Future Liberal. After Identity Politics, New York 2017.

Bilder des Friedens im Wandel – Alte und neue Denkmodelle Wolfgang Augustyn

Es dürfte wenige Bildthemen geben, an denen sich so deutlich und unübersehbar die Konkurrenz von Denkmodellen zeigen lässt wie in der Bildüberlieferung zu Krieg und Frieden. Viele Beispiele dafür sind bekannt, dass in Zeiten vor der Moderne, in denen der Krieg als legitimes Mittel zur Klärung politischer oder territorialer oder weltanschaulicher, ja sogar religiöser Streitfragen angesehen wurde,1 Kunstwerke aller Gattungen, die den Krieg verherrlichen, zum Alltag des Bildgedächtnisses gehörten.2 Erst mit der Technisierung, der erschreckenden Breitenwirkung moderner Massenkriege und der daraus folgenden Vernichtung ganzer Länder und Völker hat 1 Vgl. (mit weiterer Literatur): Kimminich, Otto u. a.: Krieg, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Basel / Stuttgart 1976, Sp. 1230–1235; Janssen, Wilhelm: Krieg, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 567–615; Rief, Josef: Die bellum-iustum-Theorie historisch, in: Glatzel, Norbert / Nagel, Ernst Josef (Hg.): Frieden in Sicherheit. Zur Weiterbildung der katholischen Friedensethik, Freiburg usw. 21982, S. 15–40; Münkler, Herfried: Krieg, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. völlig überarb. und erw. Aufl., Bd. III, Berlin 2016, Sp. 242–247; Siep, Ludwig: Ewiger Friede und gerechter Krieg in der politischen Philosophie der Neuzeit, in: Althoff, Gerd u. a. (Hg.): Frieden. Theorien, Bilder, Strategien. Von der Antike bis zur Gegenwart, Dresden 2019, S. 256–272. 2 Die Literatur zu diesem Thema ist überreich. Es seien hier nur einige neuere Untersuchungen und Ausstellungen genannt: Lademacher, Horst / Groenveld, Somin (Hg.): Krieg und Kultur. Die Rezeption von Krieg und Frieden in der Niederländischen Republik und im Deutschen Reich 1568–1648, Münster u. a. 1998; Leuschner, Eckhard / Wünsch, Thomas (Hg.): Das Bild des Feindes, Berlin 2013; Oschema, Klaus: Performanz und Kriegserfolg. Performative Qualitäten als Analysekategorie am Beispiel mittelalterlicher Feldherrenreden, in: Ders. / A ndenna, Cristina (Hg.): Die Performanz des Mächtigen. Rangordnung und Idoneität in höfischen Gesellschaften des späten Mittelalters, Ostfildern 2015, S. 73–102; Staffa, Giuseppe (Hg.): Le guerre dei papi (I volti della storia 379), Rom 2016; Bonanate, Luigi: Dipinger guerre, Turin 2016; Bellis, Joanna / Slater, Laura (Hg.): Representing war and violence 1250–1600, Woodbridge 2016; Hornstein, Katie: Picturing war in France, 1792–1856, New Haven / L ondon 2017; Padiyar, Satish / Shaw, Philip (Hg.): Visual culture and the Revolutionary and Napoleonic Wars, London 2017; Ascher, Deborah / McCloskey, Barbara: The art of war (German visual culture 5), Oxford usw. 2017; Scalini, Mario (Hg.): Armi e potere nell’Europa del Rinascimento (Ausst.-Kat. Rom, Castel Sant’Angelo und Palazzo Venezia), Cinisello Balsamo 2018; EngbergPedersen, Anders / Maurer, Kathrin (Hg.): Visualizing war, New York / L ondon 2018; Bianchi, Paolo / Del Negro, Piero (Hg.): Guerre ed eserciti nella storia, Bologna 2018; Bechler, Jean (Hg.): La guerre et les arts, Paris 2018; Fochessati, Matteo / Franzone, Gianni (Hg.): La memoria della guerra. Antonio G. Santagata e la pittura murale del Novecento, Genua 2019.

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der Krieg sein einstiges Ansehen weithin eingebüßt, ist die Verherrlichung des Siegs von Nationen, ist die positive Bewertung des Krieges, der nicht der Verteidigung und Lebenserhaltung Angegriffener dient, längst diskreditiert und als gefährliches ideologisches Klischee entlarvt worden,3 dem die Kunst nicht dienen sollte. Seit dem Dreißigjährigen Krieg, dem ersten jahrzehntelangen Konflikt der europäischen Mächte mit verheerenden Auswirkungen auf Völker und Länder, begannen die Künstler, den Krieg und seine schlimmen Wirkungen in Bildern anzuklagen, wie es etwa Francisco Goya, Otto Dix, Pablo Picasso oder Henry Moore taten.4 Dass sich gerade – nicht selten als Kritik am Krieg – Künstler auch mit dem Gegenbild, dem Frieden, beschäftigten, zeigt gleichermaßen die lange Bildüberlieferung zum Friedensthema. Sie belegt auf ganz unterschiedliche Weise die verschiedenen, im Lauf der Jahrhunderte einander ablösenden oder ergänzenden Denkmodelle, die den Vorstellungen vom Frieden zugrunde lagen.5 3 Vgl. dazu u. a. Janssen: Krieg (Anm. 1), S. 612–614. 4 Auch zu diesem Themenbereich gibt es eine sehr umfangreiche Forschungsliteratur, aus der hier nur einige Werke genannt sein sollen: Reuter, Anna: Opfer und Täter in Goyas Inquisitions- und Kriegsszenen, in: Frank, Christoph / Hänsel, Sylvaine (Hg.): Spanien und Portugal im Zeitalter der Aufklärung (Ars Iberica et Americana 8), Frankfurt a. M. 2002, S. 477–493; Thaler, Jürgen (Hg.): Wacker im Krieg. Erfahrungen eines Künstlers, Salzburg 2018; Marno, Anne: Otto Dix’ Radierzyklus »Der Krieg« (1924). Authentizität als Konstrukt (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte 123), Petersberg 2015; Van Dyke, James: Otto Dix’s Triptych The War, in: Kunst und Politik, Bd. 18, Göttingen 2016, S. 25–35; Keller, Mariah (Hg.): Picasso, The Great War, experimentation and change, New York 2016; Desserrières, Laëtitia u. a. (Hg.): Picasso et la guerre (Ausst.-Kat. Paris, Musée de l’Armée), Paris 2019. – Zusammenfassend: Romain, Lothar: Der Künstler und der Frieden, in: Kunstforum 71/72 (1984), S. 303–311; Jürgens-Kirchhoff, Annegret: Schreckensbilder. Krieg und Kunst im 20. Jahrhundert, Berlin 1993 (dazu: Kaulbach, Hans-Martin: »Schreckensbilder«. Die Folgen des Ersten Weltkriegs in Kunst und Medien, in: Kunstchronik 48 (1995), S. 557–561); Held, Jutta: Avantgarde und Politik in Frankreich: Revolution, Krieg und Faschismus im Blickfeld der Künste, Berlin 2005; Dinkla, Söke u. a. (Hg.): Zeichen gegen den Krieg. Antikriegsplastik von Lehmbruck bis heute (Ausst.-Kat. Duisburg, Wilhelm-Lehmbruck-Museum), Köln 2015; Kerby, Martin C. u. a. (Hg.): The Palgrave handbook of artistic and cultural responses to war since 1914, Cham 2019; Giesener, Jeanne E. / Kohns, Oliver (Hg.): Der Erste Weltkrieg in der Literatur und Kunst (Texte zur politischen Ästhetik 4), Paderborn 2017. 5 Zu Darstellungen des Friedens in den Bildkünsten vgl. u. a. Arnold, Klaus: Bilder des Krieges – Bilder des Friedens, in: Fried, Johannes (Hg.): Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 43), Sigmaringen 1996, S. 561–586; Kaulbach, Hans-Martin: Friede als Thema der bildenden Künste – Ein Überblick, in: Augustyn, Wolfgang (Hg.): PA X . Beiträge zu Idee und Darstellung des Friedens (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte München XV), München 2003, S. 161–242; Krems, Eva-Bettina: Make Love, Not War. Zur Darstellbarkeit des Friedens in der Kunst, in: Arnhold, Hermann (Hg.): Wege zum Frieden (Ausst.-Kat. Münster, LWL-Museum für Kunst und Kultur), Dresden 2018, S. 27–35; Meier-Staubach, Christel: Mythen – Bilder – Ideale. Friedensvorstellungen des Mittelalters, in: ebd., S. 37–41; Kaulbach, Hans-Martin / Augustyn, Wolfgang: Friede, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. X, München 2020, Sp. 1461–1568.

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Der vielfältige Gebrauch des Begriffs »Friede« belegt die Spannbreite verschiedener Bedeutungen, die auch zu den entsprechenden bildlichen Darstellungen führte. In der philosophischen, theologischen, politischen und literarischen Reflexion über Wort und Sache6 reicht das Spektrum des Friedens »als eines Zustands konfliktfreier Beziehungen zwischen Menschen, Gruppen und Staaten«7 vom irdischen, politischen Frieden mit dem Ziel der Beilegung und künftigen Vermeidung von Konflikten, der das Ergebnis vertraglicher Vereinbarung und / oder Folge herrscherlichen Handelns sein kann, bis zum jenseitigen eschatologischen Frieden, der als gnadenhaftes Geschenk Gottes verstanden wird.8 Eine schier unübersehbare Fülle von Bildern macht anschaulich, wie dieser Zustand herbeigeführt werden kann, aber auch, welche Wirkungen sich daraus ergeben, ebenso im historischen Präsens wie im eschatologischen Futur. In der Antike wurde der Friede als Zeit von Wohlstand und Überfluss charakterisiert, aber auch als günstige Folge des Siegs im Krieg und als Resultat guter und gerechter Regierung erklärt. Griechischen und römischen Quellen und Bildzeugnissen zufolge galt der Friede als Zustand der Waffenruhe, politischen Stabilität und des wirtschaftlichen Erfolgs, den man seit dem 4. Jahrhundert personifizierte und, mit der Begründung eines Kultes verbunden, als Gottheit wiedergab (Abb. 1). Zahlreiche auf den Frieden bezogene Bildformeln und -motive sind vor allem aus der römischen Kunst der Kaiserzeit bekannt und auf Münzen bis in konstantinische Zeit nachweisbar.9 Sie wurden in der Renaissance rezipiert und ganz selbstverständlich ins Repertoire der Friedensikonographie aufgenommen. Dazu gehören die Attribute der Pax wie Füllhorn, Ölzweig und Caduceus, aber auch das auf römischen Münzen seit dem sog. Vierkaiserjahr 69 n. Chr. geläufige Verbrennen von Waffen, welche Pax mit einer Fackel entzündet (Abb. 2), ferner die Wiedergabe des unter Vespasian errichteten Tempels der Pax und des Janus-Tempels, dessen Türflügel in Friedenszei6 Vgl. etwa Steiger, Heinhard: Friede in der Rechtsgeschichte, in: Augustyn: PA X (Anm. 5), S. 11–62; Lachner, Raymund: Friede aus theologischer Sicht. Biblische Grundlagen und theologische Entfaltungen von der frühen Kirche bis zum Mittelalter, in: ebd., S. 63–116; vgl. ferner die verschiedenen Beiträge in: Garber, Klaus u. a. (Hg.): Erfahrung und Deutung. Religion – Geschlechter – Natur und Kultur (Der Frieden. Rekonstruktion einer europäischen Vision 1), München 2001; Asch, Ronald G. u. a. (Hg.): Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Die europäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt (Der Frieden. Rekonstruktion einer europäischen Vision 2), München 2001. 7 Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 9, Leipzig / Mannheim 212006, S. 774. 8 Lachner: Friede aus theologischer Sicht (Anm. 6). 9 Zur Darstellung des Friedens in der griechischen Kunst: Kader, Ingeborg: Εἰρήνη und Pax. Die Friedensidee in der Antike und ihre Bildfassungen in der griechischen und römischen Kunst, in: Augustyn: PA X (Anm. 5), S. 117–160, besonders S. 117–139; Meyer, Marion: Friede in der Bilderwelt der Griechen, in: Althoff u. a.: Frieden (Anm. 1), S. 58–85. Zur römischen Kunst: Kader, S. 140–160; Lichtenberger, Achim / Nieswandt, H.-Helge / Salzmann, Dieter: Eine imperiale Göttin. Die Friedensgöttin Eirene / Pax in der römischen Münzprägung, in: ebd., S. ­86–111.

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ten geschlossen waren, wie es etwa Münzen aus der Zeit Kaiser Neros zeigen.10 Die ersten Darstellungen des Friedens in der christlichen Spätantike stammen aus dem 5. Jahrhundert und beziehen sich auf den künftigen eschatologischen Frieden in einem messianischen Friedensreich, in dem Tiere wie Wolf und Lamm, Panther und Böcklein, Kalb und Löwe friedlich nebeneinander lagern: eine Vorstellung, die im Alten Testament als Vision des Propheten Isaias formuliert (Is 11,6–8) ist, die in ähnlichen Varianten aber auch aus anderen antiken Literaturen bekannt ist (Vergil, Ecloga IV,22).11 Dargestellt ist dieses friedliche Nebeneinander etwa auf syrischen Mosaiken des 5. und 6. Jahrhunderts,12 in der Bauplastik des Speyerer Doms um 1100 oder in einem der Fassadenreliefs des Doms von Orvieto aus der Zeit um 1310,13 aber auch in einer der HandAbb. 1: Römische Kopie der Eirene. schriften der sog. Bible moralisée, einer in Paris nach 1230 entstandenen Gruppe von für den französischen Hof konzipierten, allegorisch kommentierten Bibelparaphrasen.14 Im Toledaner Exemplar bietet auf der entsprechenden Seite das dritte Medaillon des linken Registers den Propheten und seine Zuhörer sowie den Inhalt der Prophetie (Abb. 3). Das Medaillon darunter illustriert die Auslegung: Der Friede unter den Tieren wurde als Bild für die in der Kirche friedlich vereinten unterschiedlichen Charaktere gedeutet, der Wolf versinnbildliche Paulus, Petrus bedeute das Lamm, der Bär bedeute die Grausamen, der Löwe die

10 Simon, Erika: Eirene und Pax …, in: Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 24/3 (1988), S. 55–84, hier S. 74 f. 11 Groß, Heinrich: Die Idee des ewigen und allgemeinen Weltfriedens im Alten Orient und AT (Trierer Theologische Studien 7), Trier 1956; zur Auslegungsgeschichte: Buchheit, Vinzenz: Tierfriede bei Hieronymus und seinen Vorgängern, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 33 (1990), S. 21–35. 12 Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 4, Freiburg usw. 1971, Sp. 317–320. 13 Carli, Enzo: Il Duomo di Orvieto, Rom 1965, S. 48 f., Abb. 27. 14 Zur Gattung u. a. Haussherr, Reiner: Bible moralisée, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Freiburg usw. 1968, Bd. 1, Sp. 289–293; Ders.: Sensus litteralis und sensus spiritualis in der Bible moralisée, in: Frühmittelalterliche Studien 6 (1972), S. 356–380.

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Abb. 2: Denar des Trajan aus Rom, zwischen 103 und 111 n. Chr.

Stolzen und das Schaf die Demütigen.15 In der Neuzeit illustrierte der Tierfriede vor allem – nun im profanem Zusammenhang – das Thema des »Goldenen Zeitalters«, aber auch den postulierten realen Frieden wie etwa auf dem Gemälde von Edward Hicks von 1834 den Frieden zwischen Siedlern und Indianern in Nordamerika.16 Ein anderes biblisches Motiv, das für das Friedensthema im Mittelalter von besonderer Bedeutung war, stammte aus dem Psalter, aus Ps 84 (85). Der unbekannte Verfasser hatte in diesem Lied die Not seiner Zeit beschrieben, dann aber an die neuerlich erhoffte Heilserfahrung erinnert, die mit dem Ende des babylonischen Exils im 6. Jh. vor Christus verbunden gewesen war.17 In Vers 10 heißt es: »Wahrlich nahe ist denen, die Gott verehren, sein Heil, dass seine Herrlichkeit wohne in unserem Land.« Vers  11 schließt an: in der Formulierung der Vulgata: »Misericordia et veritas obviaverunt sibi / iustitia et pax osculatae sunt.« »Huld« – in Luthers Übersetzung »Güte«  – »und Wahrheit  – Treue  – begegnen einander, Gerechtigkeit und Friede

15 Vgl. Hugo de St. Cher: Postilla in universam Bibliam, In Isaiam XI: Biblia mit Postilla des Hugo de Sancto Caro, Basel: Johann Amerbach für Anton Koberger, 1498–1502, Teil 4 (nicht nach 1501), Bl. E3r; zur »Postilla« des Hugo de St. Cher (um 1190–1263) als Quelle für Auslegungen in der »Bible moralisée«: Haussherr, Reiner: Petrus Cantor, Stephan Langton, Hugo von St. Cher und der Isaias-Prolog der Bible moralisée, in: Fromm, Hans u. a. (Hg.): Verbum et signum, Bd. 2, München 1975, S. 347–364. 16 Held, Julius: Edward Hicks and the Tradition, in: The Art Quarterly 14 (1951), S. 121–136; Tatham, David: Edward Hicks, Elias Hicks and John Comly – perspectives on the Peaceable Kingdom theme, in: The American art journal 13/2 (1981), S. 36–50. 17 Vgl. u. a. Weiser, Arthur: Die Psalmen. Erster Teil: Psalm 11–60 (Das Alte Testament Deutsch, Teilband 14), Göttingen 91979, S. 388–391; Hossfeld, Frank-Lothar / Z enger, Erich: Die Psalmen, II (Die Neue Echter Bibel. Kommentar zum Alten Testament, Lfg. 40), Würzburg 2002, S. 472–475.

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Abb. 3: Bible morali­ sée, Paris, nach 1230.

küssen sich.« Vers 12: »Veritas de terra orta est, iustitia de coelo prospexit«: »Der Erde entsprießt Wahrheit (Treue), und Gerechtigkeit blickt vom Himmel herab.« Dass diese Verse, vor allem Vers 11, zu einem in Wort und Bild so wichtigen Motiv werden konnten, lag an der Verbreitung und am vielfältigen Gebrauch des Psalters ebenso wie auch an der einprägsamen Metaphorik dieser Formulierungen. Zu den frühen Zeugnissen für die Bebilderung dieses Verses gehört etwa ein Psalter aus dem zweiten Viertel des 9. Jahrhunderts, der zwischen 820 und 840 in Reims entstandene Psalter in Utrecht. In einem größeren Bildfeld sind jedem Psalm mehrere Federzeichnungen zugeordnet (Abb. 4), so zu V. 11 auch der Kuss von Iustitia und Pax. Voraussetzung eines solchen Bildmotivs war die seit der Antike literarisch und in Bildern gängige Methode personifizierender Darstellung, die als erster christlicher Autor Prudentius (348 – nach 405) in einem allegorischen Lehrgedicht, der »Psychomachia«, konsequent angewandt hatte, als er die Seelenkräfte in menschlicher Gestalt miteinander

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streiten ließ.18 In dieser Art illustrierte man im Utrecht-Psalter die in Vers 11 genannten Heilswirkungen in menschlicher Gestalt: Misericordia und Veritas begegnen sich, Iustitia und Pax küssen einander. Die lateinische Übersetzung des Psaltertexts erlaubte neben der geistlichen Deutung eine Ethisierung und begründete damit das eigentümliche Oszillieren der Bedeutungen, die der Gebrauch des Verses als litera­ risches und bildliches Motiv zeigt. Iustitia und Pax waren vielfältig konnotierte Termini im Neuen Testament, aber auch in der profanen Literatur der römischen Antike, sowohl in poetischen als auch in juristischen Texten, in Werken zur Ethik ebenso wie in jenen zur politischen Theorie.19 Die allegorische Auslegung des Verses gestattete es, den dort beschriebenen Zustand als Hinweis auf die Menschwerdung Christi zu deuten und demnach im Kuss von Gerechtigkeit und Friede die Begegnung von Maria und Elisabeth versinnbildlicht zu sehen, da Johannes der Täufer für Gerechtigkeit, Christus aber für den Frieden stehe.20 Wohl deswegen erhält in einem anderen karolingischen Psalter Pax als Bild Mariens eine Krone.21 Die allegorische Gleichsetzung findet sich auch im Evangeliar Heinrichs des Löwen aus dem späteren 12. Jahrhundert (Abb. 5), und noch in dem 1546 vollendeten Stundenbuch des Giulio Clovio für Kardinal Alessandro Farnese.22 Die Auslegung der vier Begriffe im Psalm, die von den Theologen des späteren Mittelalters in der Nachfolge Anselms von Canterbury als Eigenschaften Gottes gedeutet wurden,23 führte zu einer erweiterten Argumentation, die ebenfalls Darstel18 Jauss, Hans Robert: Form und Auffassung der Allegorie in der Tradition der »Psychomachia«, in: Ders. / Schaller, Dieter (Hg.): Medium aevum Vivum. Festschrift Walther Bulst, Heidelberg 1960, S. 179–260; zum Verfahren der Personifikation grundsätzlich: Meier, Christel: Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Allegorie-Forschung. Mit besonderer Berücksichtigung der Mischforschung, in: Frühmittelalterliche Studien 10 (1976), S. 1–69, hier S. 58–64; Kiening, Christian: Personifikation. Begegnung mit dem Fremd-Vertrauten in mittelalterlicher Literatur, in: Brall, Helmut u. a. (Hg.): Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur (Studia humaniora 25), Düsseldorf 1994, S. 347–387. 19 Vgl. dazu u. a. Imbach, Ruedi: Pax universalis – tranquillitas civitatis, in: Althoff u. a.: Frieden (Anm. 1), S. 124–144; Meier, Christel: Homo pacificus. Friedensmythen in Anthropologie und Kosmologie. Heilsgeschichte und Politik, in: ebd., S. 146–168. Zur Bildüberlieferung: Augustyn, Wolfgang: Friede und Gerechtigkeit. Wandlungen eines Bildmotivs, in: Augustyn: PA X (Anm. 5), S. 243–300. 20 Eine solche allegorische Deutung hatte schon Theodoret von Antiochien im 5. Jahrhundert vorgenommen: Migne, Jacques-Paul (Hg.): Theodoretus Cyrrhi Episcopus Opera Omnia (Patrologia Graeca 80), Paris 1860, Sp. 1551. 21 Psalter, St. Germain-des-Prés, um 835, Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, cod. bibl. fol. 23, fol. 100 v): Der Stuttgarter Bilderpsalter …, Stuttgart 1968. 22 Evangeliar Heinrichs des Löwen, Helmarshausen, um 1175 (zwischen 1173 und 1175?), Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, cod. Guelf. 105 Noviss. 2°, fol. 110 v: Augustyn: Friede und Gerechtigkeit (Anm. 19), S. 249, Abb. 3. – New York, The Pierpont Morgan Library, M. 69, fol. 17v–18r: Smith, Webster: The Farnese Hours, New York 1976. 23 Mäder, Eduard Johann: Der Streit der »Töchter Gottes«. Zur Geschichte eines allegorischen Motivs (Europäische Hochschulschriften 1/41), Bern / Frankfurt 1971.

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Abb. 4: Psalter, Reims, 820/840.

lungen nach sich zog: Wegen des Sündenfalls habe Gott die Menschen mit Iustitia und Veritas bestraft, seine Gnade manifestiere sich aber in Pax und Misericordia. Der Tod Christi habe Gnade und Gerechtigkeit in Einklang gebracht.24 Der Konflikt der Prinzipien wurde dargestellt als »Streit der vier Tugenden, der Töchter Gottes«, der entweder mit der Verkündigung verbunden wurde oder mit der Kreuzigung, bei der die Tugenden Christus ans Kreuz nageln. In der Rechtssprache des Hochmittelalters spielte das Begriffspaar Pax et iustitia keine besondere Rolle, außer im Mainzer Reichslandfrieden von 1235, in dem damit die innere Verfasstheit des Gemeinwesens charakterisiert wurde.25 Friede und 24 Augustyn: Friede und Gerechtigkeit (Anm. 19), S. 256–261. 25 »… in observancia pacis et execucione iusticiae …«: Constitutio pacis (15. August 1235), in: Monumenta Germaniae Historica. Legum sectio IV: Constitutiones et Acta publica impera-

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Abb. 5: Evangeliar Heinrichs des Löwen, Helmarshausen, 1173/1175.

Gerechtigkeit sollten herrschen, aber um eines innerweltlichen Ziels willen. Gemeint war der Zustand der staatlichen Ordnung, der aus dem Gehorsam gegenüber Herrscher und Gesetz resultiert. Der dadurch erreichte Zustand galt nicht als ein Geschenk Gottes, sondern ergebe sich aus dem Zusammenwirken der Glieder der Gesellschaft und werde durch die Obrigkeit gewährleistet und geschützt. Varianten dieser Argumentation lassen sich in Darstellungen nachweisen, in denen man das herkömmliche Bildmotiv beibehielt, aber auf einen innerweltlichen Friedensbegriff zielte – wenngleich das Psalmzitat immer noch vorkommen konnte; es scheint, als sei das Changieren von politischen und religiösen Motiven durchaus intendiert gewesen. Die griffige Bildformel erhielt so im Rahmen des Herrscherlobs neues Gewicht torum et regum, Tom. II, ed. Ludewicus Weiland, Hannover 1896, S. 241–247 (Nr. 196: lateinischer Text) und 248–263 (Nr., 196a: deutscher Text), hier S. 241.

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(Abb.  6) wie in einer mehrmals wiederholten Allegorie auf die Herrschaft Kaiser Rudolfs  II.; ähnliche Beispiele gibt es bis in die Zeit um 1800. Das Motiv der beiden Personifikationen blieb fester Bestandteil der Friedensikonographie, ob man es nun anlässlich eines konkreten Friedensschlusses ins Bild setzte oder es in eine allgemeine Argumentation einbezog wie der französische Maler und Kupferstecher Bernard Picard auf dem Frontispiz eines Corpus zum Völkerrecht von 1726, wo er umfangreiches allegorisches Personal versammelte.26 Im Vordergrund liegen am Boden Ehrgeiz, Zwietracht, Betrug und kriegerische Raserei (Ambitio, Discordia, Fraus und Furor belli ). Gerechtigkeit und Frieden thronen auf einem Sockel im Hintergrund der Szene: War ihr Kuss einst Zeichen für die HoffAbb. 6: Dirck de Quade van Ravesteyn, Allegorie nung auf die Wiederherstellung des auf die Regierung Rudolfs II. Prag 1603., Prag, Heils, später Bild irdischer FriedensPrämonstratenserabtei Strahov. sehnsucht, so waren Gerechtigkeit und Friede nun eines von mehreren mahnenden Monumenten zu Ehren einer ethisch begründeten politischen Vernunft zwischen den Personifikationen von Naturrecht, Stärke, politischer Klugheit, Wahrheit, Glaube, Völkerrecht, Weisheit und Beständigkeit Ius naturae, Fortitudo, Prudentia politica, Veritas, Fides, Ius gentium, Sapientia und Constantia (Abb. 7). Doch war die Ethisierung des Friedensbegriffs auch in den Bildkünsten nicht neu. Eine der berühmtesten Friedensdarstellungen aus dieser Zeit, von Ambrogio Lorenzetti in der sogenannten »Sala della pace« im Palazzo Pubblico von Siena, 1337–1339, blieb in ihrer Entstehungszeit zwar vereinzelt, zeigt aber eine Gegenüberstellung der Segnungen des Guten Regiments und der verheerenden Wirkungen der Tyrannei. Hier ist der Friede Bestandteil und Wirkung der Herrschaftsausübung, ein durch die Anwendung verantwortlicher Regierungsethik erreichter und durch die Abwesenheit von Tyrannei dauerhaft gewährleisteter glückhafter Zustand.27 Es geht

26 Bernhard Picard, Radierung, Frontispiz zu: Dumond, Jean: Corps universel diplomatique du droit des gens, contenant un recueil des traités de paix …, Bd. I, Amsterdam 1726. 27 Dazu u. a. Skinner, Quentin: Ambrogio Lorenzetti. The Artist as Political Philosopher, in: Proceedings of the British Academy 72 (1987), S. 1–56; Ders.: Ambrogio Lorenzetti’ Buon

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um eine allegorisch veranschaulichte Staatslehre, eine politische Ethik in Bildern. Das Gemälde an der einen Wand stellt vor Augen, wie es in Friedenszeiten aussieht, wenn die Bauern, beschützt von Securitas, Ackerbau und Viehzucht betreiben können, und in der Stadt Handel und Wandel florieren. Wenn der Krieg dies verhindert, liegt jedoch alles brach, geht zugrunde. Dass nur die Anwendung bestimmter Tugenden die gezeigten positiven Wirkungen begründet, wird deutlich durch die Verkörperungen all jener Tugenden, die eine gute Regierung gewährleisten: Sie stehen der thronenden Staatsgewalt, zugleich Verkörperung Sienas, zur Seite und bedingen sich aber auch gegenseitig: Die Verkörperung Sienas ist wiedergegeben als älterer, bärtiger Mann mit Schild und Zepter auf dem Thron, umgeben von den drei theologischen Tugenden, über ihm Caritas, flankiert von Fides und Spes. Zu seinen Füßen Abb. 7: Bernhard Picard, Radierung, Frontispiz kauern zwei Kinder, Romulus und Re- zu Jean Dumond, Corps universel diplomatique mus: Auch Siena führte im Mittelalter du droit des gens, contenant un recueil des traités seine Gründung auf Remus, einen der de paix, Bd. I, Amsterdam 1726. beiden Söhne der Rhea Silvia und des Mars, zurück (Abb.  8). Auf der einen Seite sitzen Großmut (Magnanimitas), Mäßigung (Temperantia) mit dem Stundenglas als Attribut sowie Gerechtigkeit (Iustitia) mit dem Richtschwert. Krone und abgeschlagener Kopf belegen die Tätigkeitsbereiche der Judikative und Exekutive, zu urteilen und zu bestrafen. Auffällig ist, nota bene, zur Rechten der »Res publica Senensis« links außen die Verkörperung des Friedens (Pax). Während die Verkörperung des Friedens nicht handelt, sondern auf ihrer Bank ruht – sie versinnbildlicht den Frieden als einen Zustand –, sitzt neben ihr die Personifikation der Stärke (Forti­ tudo). Wenn ein Staatswesen nicht gerüstet ist, lassen sich Friede und Wohlstand nicht sichern und gegebenenfalls verteidigen, wie es schon das nach antiken Quellen

Governo Frescoes …, in: Journal of Warburg and Courtauld Institutes 62 (1999), S. 1–28; Poeschke, Joachim: Wandmalerei der Giottozeit in Italien 1280–1400, München 2003, S. ­290–309 und 440, Taf. 174.

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Abb. 8: Ambrogio Lorenzetti, ­1337–1340. Siena, Palazzo Pubblico, Sala della pace.

geprägte Sprichwort »Si vis pacem, para bellum« lehrte.28 Diese beiden Tugenden sind, so zeigt es die Sitzordnung an, die wichtigsten. Die Aussage des Bildes ist unmissverständlich: Wenn ein Gemeinwesen Stärke besitzt, gibt es auch ruhigen Frieden. Die Gegenseite ist um die Hauptfigur »Tyrannis« herum gruppiert. Diese umgeben Laster wie die Habsucht (Avaritia), der Hochmut (Superbia) und das eitle Streben nach Ansehen, die Ruhmsucht (Vana gloria). Der Tyrannis helfen bei der Ausübung ihres verderblichen Tuns u. a. Grausamkeit (Crudelitas), Verrat (Proditio), Betrug (Fraus) und Raserei (Furor). War das Bildprogramm in Siena zur Entstehungszeit singulär, so war die Vorstellung des Guten Regiments gerade in den frühneuzeitlichen Kommunen durchaus beliebt, wie ein Gemälde von 1592 im Regensburger Rathaus belegt: Unter Gottvater thront Iustitia mit Waage und Schwert, flankiert von Caritas und Sapientia,

28 Vgl. dazu grundlegend Senghaas, Dieter (Hg.): Den Frieden denken. Si vis pacem, para pacem, Frankfurt a. M. 1995; Merkl, Alexander: »Si vis pacem, para virtutes«. Ein tugendethischer Beitrag zu einem Ethos der Friedfertigkeit (Studien zur Friedensethik / Studies on Peace Ethics 54), Baden-Baden 2015.

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die mit Ketten an sie gebunden sind, ebenso wie die vorne sitzenden Personifikation des Friedens und der Res publica, die sich die Hände reichen, ein altes und vielfältig ausgedeutetes Zeichen des freundschaftlichen Einvernehmens, Zeichen für Übereinkunft und Frieden. Die neuzeitlichen Darstellungen des Friedens gleichen lange Zeit der Vorstellung der kaiserzeitlichen Pax Romana, einer Idee des Friedens, der durch militärischen Sieg und Unterwerfung der unterlegenen Gegner erwirkt war. Zahlreiche Darstellungen historischer Ereignisse zeigen die dafür erforderlichen Akte der Unterwerfung und der Annahme durch den Unterwerfenden: ein chiffriertes Vokabular öffentlicher Gesten, die in Texten geschildert und protokolliert, aber auch in Bildern gezeigt wurden.29 Solche Ereignisbilder geben den Ablauf eines Geschehens wieder, wie das berühmte Gemälde des Velazquez zur Übergabe der Stadt Breda im Jahr 1635 durch den Kommandanten Justinus von Nassau an den Oberbefehlshaber der spanischen Truppen, Ambrosio Spinola, wobei Velazquez dabei wohl den tatsächlichen Ereignissen folgte.30 Andererseits bot das Ereignisbild auch die Möglichkeit propagan­ distischer Einfärbung. Berühmtes Beispiel ist die Bildüberlieferung zum Frieden von Venedig 1177 zwischen Papst Alexander III. und Kaiser Friedrich I., nicht nur eines der bemerkenswertesten Beispiele, wie man in einem solchen Fall den Konflikt beilegte und dies mit bekräftigenden Handlungen bekundete, sondern auch, wie unterschiedlich dieses Ereignis gerade in Bildern überliefert wurde, je nachdem, welche Deutung die Auftraggeber zu verbreiten suchten, um ihren politischen Standpunkt angemessen zu veranschaulichen. Die Geschichtsschreiber sowohl der päpstlichen als auch der kaiserlichen Seite waren sich einig in ihrer positiven Beurteilung der neuen Eintracht zwischen Kirche und Reich, nicht jedoch in Darstellung und Bewertung der einzelnen Ereignisse, die beim Friedensschluss stattgefunden 29 Althoff, Gert: Der frieden-, bündnis- und gemeinschaftstiftende Charakter des Mahles im früheren Mittelalter, in: Bitsch, Irmgard u. a. (Hg.): Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit, Sigmaringen 1987, S. 13–25; Ders.: Königsherrschaft und Konfliktbewältigung im 10. und 11. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 23 (1989), S. 265–290; Ders.: Amicitiae und Pacta. Bündnis, Einung, Politik und Gebetsgedenken im beginnenden 10. Jahrhundert (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 37), Hannover 1992; Ders.: Genugtuung (satisfactio). Zur Eigenart gütlicher Konfliktbeilegung im Mittelalter, in: Heinzle, Joachim (Hg.): Modernes Mittelalter, Frankfurt a. M. 1994, S. 247–265; Ders.: Das Privileg der deditio. Formen gütlicher Konfliktbeendigung in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft, in: Oexle, Otto / Paravicini, Werner (Hg.): Nobilitas. Funktion und Repräsentation des Adels in Alteuropa. Festschrift für Karl Ferdinand Werner zum 70. Geburtstag (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 133), Göttingen 1997, S. 27–52; Ders.: Spielregeln. Konfliktführung und Kommunikation in den früh- und hochmittelalterlichen Herrschaftsordnungen, Darmstadt 1996. 30 Bailey, Anthony: Velázquez and the surrender of Breda. The making of a masterpiece, New York 2011; Warnke, Martin: Auf der Bühne der Geschichte. Die »Übergabe von Breda« des Diego Velázquez, in: Fleckner, Uwe (Hg.): Bilder machen Geschichte (Studien aus dem Warburg-Haus 13), Berlin 2014, S. 159–170.

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hatten.31 In erster Linie betraf dies den Fußkuss.32 Während die Parteigänger des Kaisers den Eindruck der Niederlage und Unterwerfung abzumildern suchten und für gewöhnlich den ihrer Meinung nach für den Kaiser entwürdigenden Fußkuss verschwiegen, stellten Autoren der päpstlichen Seite ihn unverhohlen als Triumph des Papstes dar. Der Fußkuss galt später, im Zeitalter von Humanismus und Reformation, vielen als sprechender Beweis für die Überhebung der Päpste. So sah Martin Luther in dieser Geste ein Zeichen der vollkommenen Unterwerfung und Anbetung, die jedoch Gott allein vorbehalten sei. Sich die Füße küssen zu lassen sei »Anmaßung von itzlichen Tyrannen und heidnischen fursten«,33 denen es der Papst hierin gleichtue. Dementsprechend zeigt ein Holzschnitt von Lucas Cranach d. Ä. zu dem 1521 in Wittenberg erschienenen Text des »Passional Christi und Antichristi« von Martin Luther den Papst als Antichrist, während der Kaiser seinen Fuß küsst.34 Auch die Republik Venedig war mit ihrer Rolle als Austragungsort nicht zufrieden, im späten 13. Jahrhundert wurde die Überlieferung des Ereignisses durch venezianische Historiker korrigiert und eine bis ins 19. Jahrhundert fortgeschriebene Legende erfunden, wonach Venedig Zufluchtsort des vor dem Kaiser geflohenen Papstes gewesen sei, in einer fiktiven Seeschlacht den Kaiser besiegt habe und dafür mit besonderen zeremoniellen Ehrenrechten für den Dogen und der Anerkennung von Venedigs Seeherrschaft belohnt worden sei. Der Bildzyklus in der Nikolauskapelle beim Dogenpalast zeigte die Ereignisse, in einer um 1370 entstandenen Handschrift wiederholte man diese Bilder. In Venedig blieb der identitätsstiftende Mythos Teil der historischen Überlieferung bis zum Ende der Republik und wurde an prominenter Stelle, in der »Sala del ­Maggior Consiglio« im Dogenpalast, in einem mehrmals erneuerten großen Bildzyklus in Erinnerung gehalten (Abb. 9). In der Kunst der Renaissance wurden um 1500 auch die antiken Attribute der Pax einbezogen: Auf Münzen Papst Innozenz’ VIII. sieht man nach dem Vorbild kaiserzeitlicher Münzen die Verkörperung der Pax mit Ährenkranz, Füllhorn und Öl31 Augustyn, Wolfgang: Wie man Geschichte erfindet. Der Friede von Venedig (1177) im Bild – Realität und politische Projektion, in: Ders. / Worm, Andrea: Visualisieren – Ordnen – Aktualisieren. Geschichtskonzepte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte 52), München 2020, S. 317–376. 32 Althoff, Gert: Demonstrationen und Inszenierung. Spielregeln der Kommunikation in mittelalterlicher Öffentlichkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 27 (1993), S. 27–50 (wieder in: Ders. [Hg.]: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Friede und Fehde, Darmstadt 1997, S. 229–257); zum Fußfall auch: Ders.: Otto III., Darmstadt 1996, S. 190–199; Ders.: Die Macht der Rituale, Darmstadt 2003; Ders.: Fußfälle. Realität und Fiktionalität einer rituellen Kommunikationsform, in: Bertelsmeier-Kierst, Christa / Young, Christopher (Hg.): Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200–1300 (Cambridger Symposium 2001), Tübingen 2003, S. 111–122. 33 Luther, Martin: Einer aus den hohen Artikeln des Allerheiligsten Bepstlichen glaubens, genant Donatio Constantini, Wittenberg 1537, zitiert nach: D. Martin Luthers Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 50, Weimar 1914, S. 78. 34 Augustyn: Wie man Geschichte erfindet (Anm. 31), Abb. 23.

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Abb. 9: Federico Zuccari, Unterwerfung Barbarossas beim Frieden von Venedig. Venedig, Dogenpalast, um 1582.

zweig. Wenig später wurde auch der ebenfalls aus der Antike bekannte Bildtypus der Pax gebräuchlich, die Waffen verbrennt, wie es ein Kupferstich von 1507 zeigt – ein Motiv, das fortan Teil der bis um die Mitte des 16. Jahrhunderts vielfältig ausdifferenzierten Friedensikonographie war.35 Diese blieb allerdings eingebunden in den jeweiligen Kontext, innerhalb dessen verschiedene Aspekte akzentuiert wurden. Betrachtet man etwa die Allegorie des Friedens von Battista Dossi näher, eines von vier Bildern aus dem Palast Herzog Ercole des II. d’Este in Ferrara, so sieht man, dass Pax zwar die Fackel an Waffen hält, aber gleichzeitig auch auf einem Harnisch steht, wie man es ähnlich noch am Grabmal des französischen Ministers und Kardinals Mazarin vom Ende des 17. Jahrhunderts sehen kann. Wolf und Lamm bei Dossi erinnern an den biblischen Frieden, dennoch – so soll der Betrachter erkennen – ist der 35 Kaulbach: Friede als Thema (Anm. 5), S. 165–169; zur Rolle des Friedens in der päpstlichen Propaganda und Selbstdarstellung: Krems, Eva-Bettina: Zur Visualisierung der pax christiana. Die Päpste im 16. und 17. Jahrhundert, in: Althoff u. a.: Frieden (Anm. 1), S. 208–235.

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Friede nur zu sichern, wenn man nicht auf den Schutz der Waffen verzichtet.36 In der neuzeitlichen Sinnbildkunst – eines der Initialwerke, der Emblematum liber des italienischen Humanisten Andrea Alciato, war erstmals 1531 erschienen –, illustrierten mehrere Emblemata die Ambivalenz der Waffen: die Erfahrung, sie in Friedenszeiten nicht gebrauchen zu müssen, ebenso wie die politische Erkenntnis, dass dieser Zustand des Schutzes bedürfe. Der Friede muss gewappnet sein wie ein Kriegselefant, der ungeschützte Friede ist wehrlos gegen Arglist, und auch der Igel verzichtet selbst in Friedenszeiten nicht auf seine Stacheln.37 Eher selten zeigte man das Umschmieden der Waffen zu Pflugscharen, wie es die in der modernen Friedensbewegung zum Schlagwort gewordene Vision bei Micha 4,1–4 bzw. Jesaja 2,2–4 imaginiert.38 Zum ikonographischen Standard gehörte die Personifikation der Pax, die man in immer neuen Kombinationen mit anderem Personal allegorischer Friedensdarstellungen auftreten ließ. Neben den klassischen, seit der Antike bekannten Attributen kamen neue hinzu, wie z. B. bei Giorgio Vasari das Rad, das, von der Fortuna entlehnt, an die Unbeständigkeit und stetige Gefährdung des Friedens erinnerte. Eine gewisse Kanonisierung erfuhr diese Bildtradition durch die 1593 bzw. in der ersten illustrierten Ausgabe 1603 erschienene Iconologia des Cesare Ripa.39 Es gibt in der Iconologia nur noch zwei Begriffe – Vittoria und Virtù –, für deren bildliche Wiedergabe ähnlich viele Alternativen angeboten sind wie für »Pace«, wohl weil der Verfasser den Begriff unter mehreren Aspekten zu veranschaulichen suchte: Einige der »immagini« deuten vornehmlich die zum Frieden führenden Wege an, manche schildern die Segnungen des mit dem Frieden erreichten Zustands, andere lenken die Aufmerksamkeit auf die Voraussetzungen, um ihm Beständigkeit und Dauer zu sichern. Das Instrumentarium, das solche Präzisierungen und Kombinationen ermöglicht, liefern die unterschiedlich verteilten Attribute: Bei keinem der vorgeschlagenen Bildkonzepte hat »Pace« nur ein einziges Attribut. Wiederholt vergeben wurde der Ölzweig, öfters gibt es Füllhorn, Caduceus und die Ähren, andere kommen nur einmal vor und konkretisieren bestimmte Begriffsinhalte. Einmal bezog er sich auf eine griechische Skulptur, von der er durch die Beschreibung des Pausanias Kenntnis haben konnte (Pace [II]), zehnmal auf Darstellungen der Dea Pax auf römischen Kaisermünzen: Entsprechende Angaben waren aus Publikationen des 16. Jahrhunderts zu erhalten.40

36 Senghaas: Den Frieden denken (Anm. 28); Merkl: »Si vis pacem« (Anm. 28). 37 Appuhn-Radtke, Sibylle: Darstellungen des Friedens in der Emblematik, in: Augustyn: PA X (Anm. 5), S. 341–360. 38 Kaulbach, Hans-Martin: »Schwerter zu Pflugscharen«. Abrüstung und Rüstungskonversion in der Kunst, in: Bald, Detlef (Hg.): Rüstungsbestimmte Geschichte und das Problem der Konversion in Deutschland im 20. Jahrhundert, in: Jahrbuch für historische Friedensforschung 1 (1992), S. 113–142, besonders S. 122–124. 39 Ripa, Cesare: Iconologia, overo descrittione dell’imagini universali cavate dell’antichità, Rom 1593. 40 Vgl. die Synopse in: Okayama, Yassu: The Ripa Index. Personifications and their Attributes in Five Editions of the Iconologia, Doornspijk 1992, S. 207–209.

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Ripas Vorgaben folgte der Antwerpener Stadtmaler Erasmus Quellinus d. J. bei der Gestaltung der Friedenspersonifikation, die auf dem Schaugerüst anlässlich der Verkündigung des Westfälischen Friedens 1648 in Antwerpen zu sehen war: Sie trägt einen Lorbeerkranz, in Händen hält sie Heroldsstab und Ölzweig, zu ihren Füßen die Schlange der Nemesis als Sinnbild des überwundenen Krieges und das Füllhorn als Zeichen für den Wohlstand, der mit dem Frieden einhergeht.41 Häufig sind nun auch Darstellungen in der Tradition der Trionfi des Petrarca, bei denen Pax entweder ein eigener Wagen zuerkannt wird, oder sie als Begleitung etwa der Aurora gezeigt wird, zusammen mit Unschuld (Innocentia)  und Keuschheit (Castitas), während Natur (Natura), Freude (Laetitia) und Sicherheit (Securitas) die Fahrt des Gespanns bestimmen.42 Seit dem 16. Jahrhundert illustrierte man besonders oft den Frieden durch die daraus resultierenden Wirkungen: Glück und Wohlfahrt in all jenen Bereichen, die in Kriegszeiten darniederliegen wie Handel und Gewerbe, Künste und Wissenschaften. Dazu setzte man nun neben den Personifikationen auch die Götter des antiken Mythos ins Bild. Ein schon von den Zeitgenossen bewundertes Beispiel dafür war die von Jacopo Tintoretto für die »Sala del Anticollegio« im Dogenpalast von Venedig geschaffene Allegorie auf die ideale Staatsführung, die ein Stich Agostino Caraccis von 1589 bekannt machte: Minerva, die für die Weisheit der Republik steht, beschützt Frieden und Überfluss (Abundantia) vor Mars, hält Kriege vom Staat fern und sichert dessen Wohlstand. Abundantia hält eine Schale, in die Pax Milch spenden wird: Sinnbild dafür, dass der Friede den Reichtum nährt (Abb. 10).43 Auf diese Bildkomposition nahm Rubens in seiner Fassung des Themas Bezug, dem 1629–1630 entstandenen Gemälde, das der Maler und Diplomat dem englischen König zum Geschenk machte.44 Rubens, seine Schüler und Nachahmer, aber auch zahlreiche andere Künstler nutzten diese Vorstellung und variierten sie: Man zeigte Pax und Abundantia, die die Pfeile des Krieges zusammenbinden und damit unbrauchbar machen, die geschwisterliche Nähe von Frieden und Überfluss oder Minerva, die Pax krönt,45

41 Bußmann, Klaus / Schilling, Heinz (Hg.): 1648. Krieg und Frieden in Europa, Bd. I–III, hier Bd. III: Katalogband, S. 232 (Nr. 696). 42 Kaulbach: Friede als Thema (Anm. 5), S. 183–188. 43 Ebd., S. 192–195. 44 Baumstark, Reinhold: Ikonographische Studien zu Rubens’ Kriegs- und Friedensallegorien, in: Aachener Kunstblätter 45 (1974), S. 125–234, hier S. 152–162; zum Thema auch: Kaulbach, Hans-Martin: Peter Paul Rubens. Diplomat und Maler des Friedens, in: Bußmann / Schilling: 1648 (Anm. 41), Bd. II, S. 565–574. 45 Als Beispiele: Janssen, Abraham: Gemälde »Pax« und »Abundantia«, 1614, Wolverhampton, Art Gallery and Museum: Bußmann / Schilling: 1648 (Anm. 41), Bd. III, S. 35 f. (Nr. 29); Pax und Abundantia: Gemälde aus dem Umkreis von Rubens (Erasmus Quellinus II?), um 1650, Münster, Stadtmuseum: Der Westfälische Frieden. Krieg und Frieden (Ausst.-Kat. Münster 1988, Stadtmuseum), Greven 1987, S. 258–260; Minerva, die Pax krönt: Lievens, Jan: Gemälde, 1652, Amsterdam, Rijksmuseum: ebd., S. 400 f. (Nr. 1162).

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Abb. 10: Annibale Carracci nach Tintoretto, Minerva vertreibt Mars von Pax und Abundantia, Kupferstich, 1598.

oder Prudentia, die Pax und Abundantia herbeiführt.46 Gerade Rubens entfaltete in seinem malerischen und graphischen Werk eine Fülle von Bildideen zum Frieden und griff anhand von Reproduktionen antiker Münzbilder auf antike Motive wie den Janustempel u. a. zurück. Das Bild des Friedensaltars und das Bild des Friedenstempels sollten später zu Chiffren eines aufgeklärten Friedensbegriffs werden, der nun nicht mehr den Frieden im Innern, sondern das Verhältnis der Staaten zueinander beschrieb. Der Friede dient nicht dieser Idee, sondern wird zur Zielvorstellung, an der sich politische Ethik orientieren soll. Bis ins 19. Jahrhundert wurde diese Vorstellung ins Bild gesetzt, verschwand dann aber völlig aus dem Repertoire der gängigen Friedensbilder.47

46 Vgl. etwa ein Gemälde von Simon Vouet aus der Zeit um 1640, Paris, Musée du Louvre: L’art de la paix. Secrets et trésors de la diplomatie (Ausst.-Kat. Paris, Petit Palais), Paris 2016, S. 106 f. 47 Kaulbach: Friede als Thema (Anm. 5), S. 213–216; Kaulbach, Hans-Martin (Hg.): Friedensbilder in Europa 1450–1815. Kunst der Diplomatie, Diplomatie der Kunst, Berlin / München 2013, S. 101–108.

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Viele neuzeitliche Bildzeugnisse zeigen den Frieden im Sinn der pax Romana als einen durch die Ausübung herrscherlichen Handelns bewirkten Frieden und waren Teil des Herrscherlobs. Manchmal hob man die Rolle des Herrschers noch durch einen ebenfalls aus der Antike übernommenen Gestus hervor, den »atto di pacificatore«, wie ihn zeitgenössische italienische Quellen nannten, der den Herrscher als Vermittler und Garanten des Friedens zeigte, so in Darstellungen Papst Pauls III. oder im urbanen Kontext einer kaisernahen Reichsstadt, wie beim bronzenen Bildnis des Augustus in Augsburg.48 Während die Friedensschlüsse des 16. Jahrhunderts immer noch Vereinbarungen zwischen Fürsten waren, hatten sich im 17. Jahrhundert die rechtlichen Voraussetzungen gewandelt; man legte nun bestimmte völkerrechtliche Postulate und Vorstellungen zu Grunde: Der Friede war im 17. Jahrhundert endgültig Vertragsgegenstand zwischen Staaten geworden.49 Dies bewies der in Münster und Osnabrück 1648 erreichte Friede. Neu war in den Bildkünsten im 17. Jahrhundert, in denen so ausführlich wie kaum jemals zuvor Kriegsgreuel und Friedensglück vergegenwärtigt wurden, die bildliche Darstellung des Verhandlungsgeschehens, zu der die Wiedergabe der miteinander um einen Tisch versammelten und um eine Vertragsregelung bemühten Parteien zählte, eine in der Folgezeit oft variierte Bildformel, die zum festen Bestand der Bilderinnerung nicht nur des Westfälischen Friedens,50 sondern fortan der Friedensikonographie überhaupt wurde. Dargestellt wurden gleichermaßen die Akteure der Verhandlungen wie die Ausgestaltung der auf dem Weg zum Frieden entwickelten Formen der Kommunikation, ebenso politische Leitvorstellungen und die vielfältig wirksamen religiösen Faktoren, die dabei eine Rolle spielten, nur in besonderen Ausnahmefällen jedoch die konkreten staatsrechtlichen und territorialen Vertragsergebnisse. Das seit dem 16. Jahrhundert für die Verbreitung gebräuchliche Medium war die Druckgraphik. Seit dem späten 15. Jahrhundert zeigten Flugblätter mit Holzschnitten, später stattdessen mit Radierungen oder Kupfersti48 Kaulbach: Friede als Thema (Anm. 5), S. 169–178; zur Augsburger Brunnenskulptur auch: Diemer, Dorothea: Denkmal und Brunnen in Süddeutschland um 1600. Eine Skizze, in: Nova, Alessandro / Hanke, Stephanie (Hg.): Skulptur und Platz (I Mandorli 20), Berlin / München 2014, S. 125–138, hier S. 129. 49 Zum Thema u. a. Kampmann, Christoph: Friedensnorm und Sicherheitspolitik. Grundprobleme frühneuzeitlicher Friedensstiftung am Beispiel des westfälischen Friedens, in: Althoff u. a.: Frieden (Anm. 1), S. 237–254, besonders S. 246–249; Siep, Ludwig: Ewiger Friede und gerechter Krieg in der politischen Philosophie der Neuzeit, in: ebd., S. 256–272; Brauner, Christina: Friede auf Erden? Grenzen des Völkerrechts und Perspektiven einer Globalgeschichte der Vormoderne, in: ebd., S. 292–313. 50 Kaulbach, Hans-Martin: Das Bild des Friedens – vor und nach 1648, in: Bußmann / Schilling: 1648 (Anm. 41), Bd. II, S. 593–603, hier S. 601; Augustyn, Wolfgang: L’art de la paix? Bilder zum Kongresswesen, in: Kampmann, Christoph u. a. (Hg.): L’art de la paix. Kongresswesen und Friedensstiftung im Zeitalter des Westfälischen Friedens (Schriftenreihe der »Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte« e. V. 34), Münster 2011, S. 615–641; Kaulbach: Friedensbilder in Europa (Anm. 47), S. 123–142.

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chen, einem großen Abnehmerkreis Ereignisse von allgemeinem Interesse und boten einen mehr oder weniger ausführlichen, in Typendruck gesetzten Text dazu als Kommentierung, oft in Gedichtform. Die im Druck verbreiteten Darstellungen der Geschehnisse sollten als Bildberichterstattung verstanden werden, boten jedoch auch eine interpretierende, gleichsam gefilterte und gelenkte Sicht. Im Fall des Friedens trugen sie zu dessen Bekanntheit bei und halfen ihn zu sichern. Anlässlich des Friedens, den am 30. Januar 1648 die Vertreter des spanischen Königreichs und der Vereinigten Niederlande in Münster schlossen, wurden zahlreiche Flugblätter veröffentlicht, einerseits solche mit allegorischen Darstellungen, andererseits mehrere, die die Geschehnisse in Münster ins Bild brachten. Gemälde und Nachstiche zeigen den feierlichen Endpunkt der Verhandlungen: die Beschwörung der Ratifikation des Friedensschlusses am 15. Mai 1648.51 Allerdings gab der Künstler hier – nicht ganz der verbürgten Wirklichkeit entsprechend – die beiden aufeinander folgenden Eidesleistungen der verschiedenen Parteien synchron wieder und zeigte die – porträthaft genau wiedergegebenen – Vertreter der verschiedenen Vertragsparteien nicht um den Tisch herum gruppiert, sondern im Halbkreis aufgestellt, um den Blick des Bildbetrachters auf alle zuzulassen. Deutlich unterscheidbar sind die Parteien: Die katholischen Spanier schwören mit der Hand auf der Bibel, die protestantischen Niederländer mit erhobener Rechter. Exakt ist das Bild jedoch in der Wiedergabe des Orts, jenem später als »Friedenssaal« bezeichneten Raum im Münsteraner Rathaus, und in der Wiedergabe der Mitglieder der verschiedenen Gesandtschaften. Wohl kannte man die Beeidigung von Friedensschlüssen auch aus anderem Zusammenhang, jedoch war der Friede bis dahin immer als ein von Herrschern bewirkter Zustand dargestellt worden, während Bilder seit dem Westfälischen Frieden nun auch – häufig sogar im Mittelpunkt mehrszeniger Bildkompositionen – die Diplomaten zeigten, deren Handeln zum Frieden geführt hatte. Folgerichtig trägt auch die umfangreiche Serie der von Anselm van Hulle 1697 in Rotterdam veröffentlichten Bildnisse der zum Friedenskongress nach Münster und Osnabrück gekommenen Gesandten den Titel »Pacificatores Orbis Christiani«.52 Der Betrachter sollte verstehen, dass der Friede auf einem Vertrag beruhte, der den Diplomaten verdankt wurde. Die Bildzeugnisse zum Westfälischen Frieden übertreffen an Zahl und Ausführlichkeit alles, was an Bildern zur Erinnerung späterer Friedensschlüsse geschaffen wurde (Abb. 11). Sie erweiterten das Spektrum der Friedensikonographie und wurden zu Vorbildern 51 Ausst.-Kat. Der Westfälische Frieden (Anm. 45), S. 185–191 (Nr. 122); Kettering, Alison M.: Gerard Ter Brochs »Beschwörung der Ratifikation des Friedens von Münster« als Historienbild, in: Bußmann / Schilling: 1648 (Anm. 41), Bd. II, S. 605–614; Bußmann / Schilling: 1648 (Anm. 41), Bd. III, S. 212 f. (Nr. 615). 52 Pacificatores orbis Christiani sive icones principum ducum et legatorum, qui Monasterii atque Osnabrugae pacem Europae reconciliarunt …, Rotterdam 1697; Dickmann, Fritz: Der Westfälische Frieden, München 21977, S. 609–634 u.ö.; Ausst.-Kat. Der Westfälische Frieden (Anm. 45), S. 127–149; Kaster, Karl Georg / Steinwascher, Georg (Hg.): »… zu einem stets währenden Gedächtnis.« Die Friedenssäle in Münster und Osnabrück und ihre Gesandtenporträts, Bramsche 1996; Bußmann / Schilling: 1648 (Anm. 41), Bd. III, S. 279 (Nr. 790).

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sowohl für Beispiele aus der Gattung des repräsentativen historischen Ereignisbildes als auch für Einblattdrucke der Bildpublizistik. Neu war in den Bildkünsten im 17. Jahrhundert, in denen so ausführlich wie kaum jemals zuvor Kriegsgreuel und Friedensglück vergegenwärtigt wurden, die Darstellung des Verhandlungsgeschehens, zu der die Wiedergabe der miteinander um einen Tisch versammelten und um eine Vertragsregelung bemühten Parteien zählte, eine in der Folgezeit oft variierte Bildformel, die zum festen Bestand der Bilderinnerung nicht nur des Westfälischen Friedens, sondern der Friedensikonographie überhaupt wurde.53 Häufig wurde nun auch die Abfolge der mit dem Friedensschluss verbundenen Ereignisse ins Bild gesetzt, gab man neben allgemeinen Bildformeln jene Vorgänge wieder, die dem Frieden vorausgingen und ihn schließlich in Geltung setzten, nicht zuletzt jene Feierlichkeiten, mit denen man den Frieden öffentlich bekundete.54 In Gemälden mit geradezu dokumentarischem Anspruch zeigte man die Teilnehmer an Verhandlungen und Vertragsunterzeichnung, zudem wurden graphische Blätter veröffentlicht, die den Friedensschluss allgemein bekannt machten. Nicht nur der Friedensschluss selbst wurde durch Flugblätter verbreitet, sondern auch die mit dem Friedensschluss zusammenhängenden Ereignisse, nicht zuletzt die besonderen zeremoniellen Akte und sinnfällig inszenierten Festlichkeiten. Dies gilt etwa für den Friedensexekutionskongress 1649/1650 in Nürnberg. Berühmt wurde das vom schwedischen Generalissimus und Thronfolger Carl Gustav von Pfalz-Zweibrücken am 25. September 1649 im Nürnberger Ratssaal veranstaltete Friedensmahl, mit dem die vier Tage zuvor stattgefundene gemeinsame Verabschiedung des Vorvertrags über die praktische Umsetzung des Friedens zwischen Kaiser und schwedischem König gefeiert werden sollte.55 Der Saal war dafür aufwendig geschmückt worden, die Fruchtgehänge sollten den »amönen Ort des Herbstes«, eine Landschaft des Friedens und Überflusses andeuten, ein Dichter konzipierte die Tischdekorationen mit Sinnsprüchen, von vier Tribünen erklang Musik; Joachim von Sandrart hielt dies alles in Zeichnungen fest, die 1650 zu einem großformatigen Leinwandgemälde führten. Die im Bild wiedergegebenen Teilnehmer des Mahls sind namentlich identifizierbar. Es gibt zahlreiche weitere Bildzeugnisse zu diesem Ereignis, etwa das Sandrarts Bildaufbau folgende Blatt, dessen Entwurf Matthäus Merian d. J. und dessen Ausführung in Kupferstich und Radierung Caspar Merian zugeschrieben werden: Es zeigt neben den Gästen an der Tafel das Auftragen gebratener und wieder mit Federn überzogener Schwäne sowie mehrerer Pfauen, die bei einem der sechs Gänge des Mahls gereicht wurden. Zuvor hatte sich die weiße Taube, die sich beim Aufschneiden der großen Pastete in die Lüfte erheben sollte, bei ihrem Flug schließlich auf die Personifikation der »Con53 Als Beispiele sei etwa an die Blätter zum Frieden von Breda (1667), Nijmegen (1678/1679) und Utrecht (1713) erinnert: ebd., S. 250 f. (Nr. 730–734); Augustyn: L’art de la paix? (Anm. 50). 54 Ebd., S. 231–241 (Nr. 695 –720). 55 Kluxen, Andrea M.: Harsdörffer und das Schauessen beim Nürnberger Friedensmahl, in: Gerstl, Doris (Hg.): Georg Philipp Harsdörffer und die Künste (Schriftenreihe der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg 10), Nürnberg 2005, S. 89–103.

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Abb. 11: Gerard ter Borch, Beschwörung des Spanisch-Niederländischen Friedens im Rathaus zu Münster am 15. Mai 1648, 1648.

cordia« des Triumphbogens in der Tischmitte gesetzt, was allgemein als glückliches Omen gedeutet wurde.56 Alle Darstellungen des Innenraums zeigen auch den Löwen, der in ein offenes Fenster des Ratssaals gestellt worden war, aus dessen Maul sich sechs Stunden lang roter und weißer Wein in zwei Kufen auf dem Platz ergoss, aus denen die Bevölkerung schöpfen konnte.57 Für diese Art der Bildberichterstattung auf einem einzigen Blatt wandte man ein schon in der Buchmalerei des Spätmittelalters bekanntes und in der Druckgraphik erprobtes Verfahren an, das für Karten und Flugblätter auf politische Ereignisse u. ä. genutzt wurde: Ein Mittelbild oder ein in der Mitte eingefügtes Textfeld wird von mehreren kleineren Bildfeldern umgeben. Auf diese Weise war es möglich, mehrere mit dem Frieden verbundene Ereignisse oder Wirkungen, reale oder allegorische Szenarien synchron zu zeigen: ein

56 Ebd.; Bußmann / Schilling: 1648 (Anm. 41), Bd. III, S. 419 f. (Nr. 1197–1199); Von teutscher Not zu höfischer Pracht 1648–1701 (Ausst.-Kat. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum), Nürnberg 1998, S. 26–32. 57 Ebd., S. 31 (Nr. 12); zu dem im Museum der Stadt Nürnberg, Fembohaus, erhaltenen Holzlöwen: ebd., S. 34 (Nr. 14); Bußmann / Schilling: 1648 (Anm. 41), Bd. III, S. 421 (Nr. 1200).

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Abb. 12: Sir William Orpen, The Signing of Peace in the Hall of Mirrors, Versailles, 28th June 1919. 1919.

im 17. Jahrhundert oft wiederholtes und vielfach abgewandeltes Layout. Die besondere Bedeutung, die man dem Kongresswesen seit dem Westfälischen Frieden zuerkannte, blieb in der Bildtradition zum Frieden und zu konkreten Friedensschlüssen mehr oder weniger ungebrochen präsent. Dieser Tradition sind Darstellungen zu Friedensschlüssen im 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert (Abb. 12) und letztlich auch noch dokumentarische Fotos wie das der Vertragsunterzeichnung der Ostverträge verpflichtet. Gruppenbilder mit den um einen Verhandlungstisch versammelten Gesandten oder die feierliche Vertragsunterzeichnung werden nicht nur als historische Momentaufnahmen verstanden, sondern auch als Chiffren, suggerieren noch in den modernen Bildmedien die Bereitschaft zu verhandeln und politische Konsensfähigkeit. Sieht man vom Typus des historischen Ereignisbildes der Friedenskonferenzen und Friedensverträge ab, so bricht die Bildüberlieferung zum Frieden im frühen 19. Jahrhundert ab. Während in Frankreich seit den 1790er Jahren Bildentwürfe nachwirkten, in denen der Aspekt der verfassungsmäßigen Ordnung im Vordergrund stand – man zeigte die Allegorie der Republique oder Constitution mit den Attributen der Pax,

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auf dem Wagen, den Mars und Herkules ziehen, wie Joseph-Marie Vien 1794,58 war die Allegorie als Kunstform spätestens im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts bald obsolet geworden, ohne dass neue äquivalente Bildformeln an ihre Stelle traten. Bis ins 20. Jahrhundert wurde der Friede durch Bildthemen artikuliert, die die kon­ stitutionelle Monarchie,59 den zivilisatorischen Fortschritt oder das natürlich bzw. private Idyll zum Gegenstand hatten,60 ob dies karikierend-ironisch geschah wie in Bildern nutzlos gewordener Armierung, strickender Wachtposten u. ä., wie bei Carl Spitzweg,61 oder im Idyll Edward Landseer, dessen Schaf seinen Kopf in die Mündung einer Kanone bettet – »Time of Peace«, 1846, ehem. Tate Gallery, London.62 Letztlich ist dieser Idee noch Picassos Gemälde von 1952 – Vallauris, Musée National Picasso – verpflichtet.63 Während Daumier die Brüchigkeit des Idylls beschwor und in seinen politischen Karikaturen den mangelnden Friedenswillen der zeitgenössischen Nationalstaaten anprangerte,64 wurde der Friede in Deutschland nach 1871 zum Attribut der siegreichen Nation und wurde in Bildern der Victoria angenähert.65 Abgesehen von symbolischen Bildzeichen, die an die Stelle alter Friedenssymbole traten – der Eisvogel, der sein Netz auf Wasser baut, die zum Handschlag vereinten Hände, die biblische Taube mit dem Ölzweig im Schnabel –, war es vor allem die Taube ohne Ölzweig im Flug, die Picasso seit 1949 für Plakate der Internationalen Friedensbewegung entwarf, die zu einem prägnanten Signet des Friedens wurde.66 58 Kaulbach: Friede als Thema (Anm. 5), S. 216–220. 59 Vgl. zum Thema nach den napoleonischen Kriegen: Telesko, Werner: Neuordnung Europas? Friedensikonografie und Bildpolitik am Wiener Kongress (1814/1815), in: Althoff u. a.: Frieden (Anm. 1), S. 274–290. 60 Kaulbach: Friede als Thema (Anm. 5), S. 220–225. 61 Bildbelege bei: Wichmann, Siegfried: Vorposten bewaffneten Friedens. Ein Beitrag zur Motivforschung, München 1982; zum Thema: Jensen, Jens Christian: Carl Spitzweg. Zwischen Resignation und Zeitkritik, Köln 1975, S. 64–77; Ders.: Wandlungen der Idylle im 19. Jahrhundert am Beispiel von Carl Spitzweg, in: Wedewer, Rolf / Jensen, Jens Christian (Hg.): Die Idylle. Eine Bildform im Wandel. Zwischen Hoffnung und Wirklichkeit 1750–1930, Köln 1986, S. 142–152, besonders S. 147 f. 62 Graphische Reproduktionen gab es seit etwa 1850: Ormond, Richard: Sir Edwin Landseer, London 1981, S. 188. 63 Müller, Markus (Hg.): Picasso von den Schrecken des Krieges zur Friedenstaube, Dresden 2018, S. 99, Abb. 11. 64 Kaulbach: Friede als Thema (Anm. 5), S. 225. 65 Zu den ikonographischen Quellen: Vedder, Ursula: Nike, Viktoria und Palladion. Inhaltliche und formale Vorbilder der Antike für den Münchner »Friedensengel«, in: Götz; Norbert (Hg.): Friedensengel. Bausteine zum Verständnis eines Denkmals der Prinzregentenzeit, München 1999, S. 16–39; zur Bildtradition: Kaulbach, Hans-Martin: Der Friede auf dem Sockel. Öffentliche Friedensbilder seit 1648, in: ebd., S. 45–65. 66 Müller, Markus: Das Schweigen der Lämmer, in: Müller: Picasso (Anm. 63), S. 10–66, zu Picassos Taube: S. 49–66; Gaude, Alexander: Picasso, die Kommunisten und die Friedensbewegung, in: ebd., S. 67–85; zur Rezeption des Bildmotivs: Flammer, Thomas u. a. (Bearb.): Frieden wie im Himmel so auf Erden?, in: ebd., S. 99–105.

Bilder des Friedens im Wandel

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Es ist aber in der Kunst des 20. Jahrhunderts nicht mehr zur Ausprägung allgemein akzeptierter, gewissermaßen verbindlicher Motive zur Verbildlichung des Friedens gekommen, obwohl gerade unter dem Eindruck der Weltkriege, des Kalten Krieges und des internationalen Wettrüstens an der Aktualität des Themas kein Zweifel besteht,67 und obwohl auch die Künstler der klassischen Moderne und Nachmoderne sich mit diesem Thema beschäftigt haben. An die Stelle von Friedensvisionen, die gerade angesichts der Greuel zweier Weltkriege und der weiterhin anhaltenden internationalen Konflikte als Ausdruck einer quietistisch anmutenden Nostalgie, der Sehnsucht nach einer »heilen Welt« oder mindestens als harmlos erscheinen mussten, haben Künstler schon in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg damit begonnen, den Krieg und seine Wirkungen in seiner ganzen Inhumanität anzuklagen und damit für den Frieden einzutreten. Individuelle künstlerische Lösungen von Wolf Vostell – »Ich erkläre den Frieden zum größten Kunstwerk«, im Jahr 1979 –,68 Joseph Beuys oder Bruce Nauman,69 um nur einige Beispiele zu nennen, belegen eindrucksvoll, wie eine neue Art, über den Frieden zu denken, sich auch in der Kunst durchsetzen konnte und immer wieder durchsetzt.70

67 Vgl. dazu u. a. Thamer, Hans-Martin: Zerstörte Hoffnungen? Friedenskulturen und Kriege vom Ende des I. Weltkriegs bis in die Gegenwart, in: Ausst.-Kat. Wege zum Frieden (Anm. 5), S. 43–49. 68 Beuckers, Klaus Gereon / Friedrich, Hans-Edwin (Hg.): Wolf Vostell, dé-coll / a ge als Manifest – Manifest als dé-coll / a ge, München 2014, S. 143; weitere Beispiele für künstlerische Manifestationen für Frieden und gegen Krieg: Ausst.-Kat. Zeichen gegen den Krieg (Anm. 5), S. 68–70 (Simone Rikeit). 69 Vgl. zu Nauman etwa die Video-Installation von 1996: Schulz-Hoffmann, Carla: Weltfrieden oder nur ein Bühnenstück mit Worten? Zu einer Rauminstallation von Bruce Nauman, in: Dies. (Hg.): Bruce Nauman, World Peace (Projected)  (Ausst.-Kat. München, Staatsgalerie moderner Kunst), München 1997, S. 8–17. 70 Vgl. dazu Beispiele von Marina Abramović, Joseph Beuys, Werner Büttner, Jota Castro, Danica Dakić, Jeremy Deller, Antja Ehmann und Harun Farocki, Duane Hansons, Mona Hatoum, Lynn Hershman Leeson, Dragen Lovrinović, Bruce Nauman, Iván Navarro, Anja Niedringhaus, Gil Shachar, Frank Stella, Rosemarie Trockel, Danh Vō, in: Ausst.-Kat. Zeichen gegen den Krieg (Anm. 5).

Das visualisierte Friedenskonzept eines Adeligen aus der Frühen Neuzeit Pax in den Aufträgen von Ignaz Maria Graf Attems Barbara Murovec

Gesellschaftliche Fragestellungen im Zusammenhang mit menschlicher Kreativität gehören mit zu den grundlegenden geisteswissenschaftlichen Aufgaben.1 Der visionäre Charakter der Ringvorlesung, welcher dieses Buch entsprang, soll deutlich hervorgehoben werden: Endpunkte bedeuten zugleich auch immer Neuanfänge. Wechselwirkungen zwischen geisteswissenschaftlichen Konzepten und globalen sowie persönlichen Krisen als Wendepunkte hat es in der Vergangenheit ebenso wie heute immer gegeben. Sie geben Anlass zu einem Neuanfang, ähnlich wie der Friede als ein humaner und kreativer Sieg über einen zerstörerischen Krieg gedeutet werden kann. Die zeitlichen und räumlichen Grenzen zwischen Krieg und Frieden, mit denen wir epochemachende Wendepunkte markieren und darstellen, werden historisch bis auf die Minute und den letzten Quadratmeter durch Waffenstillstände, Friedenserklärungen, Verträge und viele andere politische Handlungen definiert und präzisiert. Die künstlerische Darstellung des Friedens hat auch deshalb eine extrem lange und sehr reiche (Bild-)Tradition.2 Meistens setzt die politisch wiederhergestellte 1 Mein großer Dank gilt vielen Kolleg*innen und Freundinnen und Freunden für ihre Ermutigung, Geduld, Gespräche und Ratschläge, insbesondere Wolfgang Augustyn, Robert Born, Angelika Dreyer, Sašo Jerše, Vesna Krmelj, Anke Schlecht und Franz Tichy. Bei Martin Mádl und dem Universalmuseum Joanneum bedanke ich mich für die Fotografien und die freundliche Erlaubnis, diese zu publizieren. Die Forschung wurde im Rahmen des Projektes Kunst in Friedenszeiten. Repräsentation – Traumatabearbeitung – Triumph. Eine vergleichende Studie mit der finanziellen Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) ermöglicht, für die ich mich nachdrücklich bedanke, und am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München ausgeführt. 2 Vgl. besonders Augustyn, Wolfgang (Hg.): PA X . Beiträge zu Idee und Darstellung des Friedens, München 2003; Kaulbach, Hans-Martin: Friede, in: Fleckner, Uwe / Warnke, Martin / Ziegler, Hendrik (Hg.): Handbuch der politischen Ikonographie, Band 1: Abdankung bis Huldigung, München 2011, S. 381–388; Manegold, Cornelia: Friedensgesandte und die Porträtkultur im frühneuzeitlichen Europa, in: Krems, Eva-Bettina / Ruby, Sigrid (Hg.): Das Porträt als kulturelle Praxis, Berlin / München 2016, S. 139–153; Kaulbach, Hans-Martin / Augustyn, Wolfgang: Friede, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, 10, München 2021 (im Druck) und den Beitrag von Wolfgang Augustyn in diesem Band (mit weiterführender Literatur); siehe auch das E-Portal: Dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen. Repräsentationen des Friedens im vormodernen Europa, http://www.friedensbilder.net/, letzter Zugriff am 21. Februar 2021.

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Friedenszeit enorme Potentiale frei, die für den langfristigen Wiederaufbau eines neuen Lebens und den Beginn einer neuen Epoche anstelle der durch den Krieg und seine verheerenden Verwüstungen hinterlassenen Brache von entscheidendem Wert sind. Unmittelbar nach dem Krieg trägt Kunst sowohl auf kollektiver als auch auf individueller Ebene eine außergewöhnliche Bedeutung, sie spielt eine der Schlüsselrollen bei der (öffentlichen) Raumgestaltung in der Zeit des neu entstandenen und gefundenen Friedens und kann entscheidend beitragen bei der (emotionalen) Verarbeitung und Bewältigung der traumatischen Erlebnisse und Schrecken des Krieges. Der Friede von Karlowitz (Sremski Karlovci) im Jahr 1699 bzw. die Rezeption und Propaganda in den Habsburgischen Ländern, gemäß denen der Kaiser Leopold I. die Bedingungen gegenüber dem Osmanischen Reich festlegen und dessen Expansion Halt gebieten konnte,3 führte im südlichen Teil der Monarchie zu einer enormen Erleichterung und Entspannung. Dies und die Freigabe von finanziellen Mitteln spiegelte sich auch in den neuen, prachtvollen Bauinvestitionen auf dem Land und in den Städten wider, vor allem in den Gebieten der Monarchie, deren Einwohner sich bislang auf militärisch befestigte Stadtarchitektur beschränken mussten. Wie Prinz Eugen von Savoyen begannen auch andere Adlige, die bis dahin im militärischen und diplomatischen Dienst gestanden waren, neue Schlösser und Paläste zu bauen.4 Unter ihnen tat sich in der Steiermark Ignaz Maria Reichsgraf Attems-Heiligenkreuz (1652–1732) hervor, der in seinem Bestreben um künstlerische Repräsentation Prinz Eugen gleichgestellt werden kann. Bedauerlicherweise sind keine archivalischen Quellen über die Programme der von Attems in Auftrag gegebenen Deckenmalerei bekannt, die vermitteln könnten, 3 Winkelbauer, Thomas: Die Habsburgermonarchie vom Tod Maximilians I. bis zum Aussterben der Habsburger in männlicher Linie (1519–1740), in: Winkelbauer, Thomas (Hg.): Geschichte Österreichs, Stuttgart 22016, S. 159–289, hier S. 159. Vgl. auch Abou-El-Haj, Rifaat A.: Ottoman Diplomacy at Karlowitz, in: Journal of the American Oriental Society 87 (1967), S. 498–512; Strohmeyer, Arno / Spannenberger, Norbert: Frieden und Konfliktmanagement in interkulturellen Räumen. Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2013 (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 45); Vocelka, Karl: Herrscher, Adel und Osmanen. Gedanken zu einem komplexen Bezieungsgeflecht, in: Born, Robert / Jagodzinski, Sabine (Hg.): Türkenkriege und Adelskultur in Ostmitteleuropa vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Ostfildern 2014 (Studia Jagellonica Lipsiensia 14), S. 13–26; Heywood, Colin / Parvev, Ivan: The Treaties of Carlowitz (1699). Antecedents, Course and Consequences, Leiden 2020 (The Ottoman Empire and Its Heritage. Politics, Society and Economy 69). Für die Hinweise über die Komplexität der Verhandlungen und für die weiterführende Literatur bedanke ich mich herzlich bei Robert Born. 4 Vgl. Husslein-Arco, Agnes (Hrsg.): Prinz Eugen. Feldherr, Philosoph und Kunstfreund (Belvedere, Wien, 11. Februar – 6. Juni 2010), München 2010; Seeger, Ulrike: Die wirtschaftliche und architektonische Inbesitznahme der mittleren Donau nach den Friedensschlüssen von Karlowitz und Passarowitz. Livio Odescalchi und Prinz Eugen, in: Möseneder, Karl / Thimann, Michael / Hofstetter, Adolf (Hg.): Barocke Kunst und Kultur im Donauraum. Beiträge zum Internationalen Wissenschaftskongress (9.–13. April 2013 in Passau und Linz), 2, Petersberg 2014, S. 568–578.

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welche Ideen Attems visualisieren bzw. welche Botschaften er den Besuchern seiner Schlösser und des Stadtpalastes übermitteln wollte. Die vergleichende ikonographische Forschung und die Analyse der verwendeten, meist graphischen Vorlagen und Vorbilder führen zu vielen neuen Erkenntnissen, dennoch ermöglichen erst eine systematische Untersuchung und die Verknüpfung seiner Biographie mit dem historischen Kontext, sich der von Ignaz Maria Reichgraf von Attems in seinen profanen und sakralen Aufträgen vermutlich beabsichtigten historia zu nähern. Graf Ignaz Maria Attems, Angehöriger einer alten Adelsfamilie aus dem Friaul mit der Stammburg Attimis, kam in Ljubljana als jüngster Sohn des Landeshauptmanns des Herzogtums Krain, Johann Ferdinand Attems-Heiligenkreuz, und seiner dritten Frau Francesca Markiza Strozzi aus Mantua 1652 zur Welt.5 Nach der Türkenbela­ gerung Wiens wurde Ignaz Maria am 16. November 1683 von Kaiser Leopold I. zum Innerösterreichischen Hofkammerrat in Graz ernannt. Als Attems 1685 die aus der steierischen Reichsgrafenfamilie Wurmbrand zu Stuppach stammende Maria Regina in Graz heiratete, besaß er weder Grundstücke noch Herrschaften. Am 27. Oktober 1688 erhielt er vom Kaiser das Amt eines Obrist-Proviantmeisters der Windischen und Petrinianischen Grenzen.6 Die Rolle von Attems bei der Verteidigung der Steiermark gegen die Osmanen und seine daraus resultierende Position sowie auch seine finanzielle Prosperität waren bisher nicht Gegenstand (kunst-)historischer Untersuchungen, obwohl man daraus schließen kann, dass seine bemerkenswerte Tätigkeit als Auftraggeber in hohem Maß genau dann eintrat und aufzublühen begann. Sie war geographisch von kriegs- und politischem Handeln am südlichen Rand der Habsburgermonarchie bestimmt, wo sich Ende des 17. Jahrhunderts die Hauptverteidigungslinie gegen das Osmanische Reich bildete.7 In der Untersteiermark, am Rand zur kroatisch-slawonischen Militärgrenze, kaufte, renovierte und baute er seine Schlösser um, sorgte für die angemessene Repräsentation seiner Familie und bereitete in seinen Schlössern zweckgemäße, neue Prachträume vor, insbesondere die Festsäle, die Treppenhäuser und die Kapellen. In 5 Steiermärkisches Landesarchiv (StLA), Graz, Familienarchiv Pallavicino, K. 28, H. 415, Familienbuch des Hauses Attems, VI. Die steirische Linie, Maschinentext; Zadravec, Dejan: Postavitev in postavljavec materialnih in rodbinskih temeljev plemiške družine Attems na Štajerskem, in: Zbornik občine Slovenska Bistrica, III. Svet med Pohorjem in Bočem (ur. Stane Gradišnik), Slovenska Bistrica 2009, S. 99–114. Neue Ergebnisse zu Ignaz Maria Attems’ Ausbildung und Kavaliersreise vgl. Murovec, Barbara: Historizirana podoba naročnika. Attemsova družinska portreta in Rembov avtoportret iz brežiškega gradu, in: Acta historiae artis Slovenica 23/1 (2018), S. 113–131, hier S. 113–120. 6 Zit. nach: StLA, Graz, Familienarchiv Pallavicino, K. 28, H. 415. 7 Zur wirtschaftlichen Bedeutung der Militärgrenze und zum Einkommen einiger Beteiligter vgl. Gestrin, Ferdo: Gospodarstvo na Slovenskem in Vojna krajina. Nekateri aspekti gospodarske zgodovine, in: Čubrilović, Vasa (Hg.): Vojne krajine u jugoslovenskim zemljama u novom veku do karlovačkog mira 1699. / Die Militärgrenzen in den jugoslawischen Ländern der Neuzeit bis zum Frieden von Karlowitz 1699, Beograd 1989, S. 223–235, hier S. 229–233; bei Gestrin wird Attems nicht erwähnt.

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der um 1700 eintretenden Friedensphase sicherte er sich den gesellschaftlichen Aufstieg als einer der wichtigen Kunstpatrone in der Region und ließ seine Freigebigkeit (Liberalitas) gegenüber Künstlern ausführlich in der Deckenmalerei ins Bild setzen. In diesem Bereich der Steiermark lagen ehedem die Besitzungen des Hans Erasmus von Tattenbach. Dieser war aufgrund seiner Beteiligung an der Magnatenverschwörung in der sog. Zrinski-Frankopan-Verschwörung 1671 in Graz enthauptet worden und seine Besitzungen wurden zum Großteil konfisziert. Attems erwarb seine ersten Herrschaften in der zweiten Hälfte der 1680er Jahre von Gläubigern des hingerichteten Tattenbach: beginnend im Jahr 1686 mit dem Ankauf vom Schloss Windisch Landsberg (Podčetrtek) und 1688 mit dem Erwerb der Herrschaft Stattenberg (Štatenberg), damals noch mit der alten Burg, wo er in den neunziger Jahren dann das neue Schloss erbauen ließ.8 Obwohl Attems, als er die Freskoausstattung für Schloss Stattenberg etwa zehn Jahre später in Auftrag gab, kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag stand, entwarf bzw. wählte er ein zunächst eher dezent personalisiertes ikonographisches Programm bzw. Konzept für seine bildliche Repräsentation.9 Die meisten der mit Stuckdekoration umrahmten quadri riportati sind exakte Kopien nach graphischen Blättern berühmter Werke, die ohne künstlerische Kreativität auf die Decken übertragen wurden.10 Ihre Hauptbotschaft und ihr Wert liegen in der ›Referenz‹, in der Veranschaulichung der Kenntnis bedeutender und einflussreicher Kunstwerke der Hochrenaissance und des Barock, sowohl in Bezug auf den Auftraggeber, die Ikonographie als auch auf die Künstler. Von den profanen und sakralen Aufträgen, die der ehrgeizige Adelige in den nächsten drei Jahrzehnten bis zu seinem Tod an mehrere Künstler des in der slowenischen Fachliteratur so genannten ›Kreis der Attems-Freskanten‹11 vergab, ist die Deckenmalerei in Schloss Stattenberg das künstlerisch am wenigsten ambitionierte Werk. Einerseits wählte Attems seine Hofkünstler nach dem patriotischen Kriterium aus, z. B. den aus Herzogtum Krain stammenden Franz Karl Remp, andererseits nach ihrer Ausbildung in Italien, ihrer Kenntnis anderer europäischer Kunstwerke sowie bereits abgeschlossenen Malaufträgen für andere Auftraggeber in der Steier8 Vgl. Zadravec, Dejan: Plemiška družina Tattenbach in njihove posesti na Štajerskem / The Noble Tattenbach Family and Their Estates in Styria, in: Podravina 7/14, S. 52–74; Zadravec: Postavitev, S. 99–114. 9 Zur Autorschaft der Fresken vgl. Murovec, Barbara: Antonio Maderni (1660–1702). Je bil pozabljeni Weissenkircherjev zet iz Capolaga prvi Attemsov freskant?, in: Murovec, Barbara (Hg.):  Slovenska umetnost in njen evropski kontekst. Izbrane razprave 1, Ljubljana 2007, S. 114–122. 10 Murovec, Barbara: Grafični listi po Simonu Vouetu in Charlesu Le Brunu kot predloge za baročne stropne poslikave na Kranjskem in Štajerskem,  in: Acta historiae artis Slovenica 1 (1996), S. 7–33; Murovec, Barbara: Likovni viri za baročno stropno slikarstvo v Sloveniji, in: Zbornik za umetnostno zgodovino n. F. 39 (2003), S. 99–102. 11 Šijanec, Fran: Krog Attemsovih freskantov, in: Kronika. Časopis za slovensko krajevno zgodovino 5 (1957), S. 146–155.

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mark, z. B. für Franz Anton Graf Saur in dessen Schlössern Ankenstein (Borl) und Dornau (Dornava).12 Bei seinen Verwandtenbesuchen in Venedig, Mantua, Florenz und anderen Städten, auch während seiner Kavalierreise, die bislang archivalisch lediglich durch seine eigenhändige Eintragung in die Matrikel der Deutschen Nation in Siena am 18. Juli 1672 belegt ist,13 lernte Attems, wie der soziale Status durch prachtvolle Paläste und Schlösser legitimiert und unterstrichen wird. In Graz, wo er als Minderjähriger bei seiner Schwester Maria Anna, der verheirateten Baronin Zollner-Maisenberg, ab 1684 die dritte Frau von Georg Herr von Stubenberg, von 1687 bis 1703 Steierischer Landeshauptmann, lebte, wirkte die Familie Eggenberg zweifellos als größtes Vorbild, außerdem im Rahmen der Habsburger Monarchie die Liechtensteins und in seiner ›Heimat‹ mütterlicherseits die Medici. Die Eile des nicht mehr ganz jungen Attems und die nicht ausreichenden, aber nötigen finanziellen Mittel, um sich z. B. eine standesgemäße Antikensammlung anzulegen und durch die Sammeltätigkeit die eigene Bedeutung und Repräsentation zum Ausdruck zu bringen, haben vermutlich dazu beigetragen, dass er die Entscheidung traf, durch Architektur, aber vor allem durch Deckenmalerei seine Verdienste für den Frieden im Lande, die Förderung der Künstler und seinen gesellschaftlichen Aufstieg in der Steiermark, seiner neuen Heimat, zum Ausdruck zu bringen. Im Eingangs- bzw. Hauptsaal des Schlosses Stattenberg gab Attems für die Dekoration der Spiegelgewölbe reiche Stuckatur mit fünf freskierten Feldern in Auftrag. Die vier seitlichen Bilder sind genaue Kopien nach Wandteppichen mit den vier Elementen für Ludwig XIV.14 Das zentrale Deckengemälde ist zwar kompositorisch an das Fresko Triumph der Divina Sapientia von Andrea Sacchi im römischen Palazzo Barberini angelehnt, die Botschaft zur Bedeutung des Friedens für die fruchtbaren Bedingungen, die Kunstproduktion ermöglichen, ist jedoch ein eigenständiges Attems-Konzept (Abb. 1). Es repräsentiert die Leitidee von Attems’ Auftraggeberschaft, die er durch alle Malaufträge hindurch entwickelte, und sie kann als Visualisierung seiner persönlichen Legitimation und Unterstützung der Schönen Künste und der Wissenschaften, die nur in Friedenszeiten prosperieren, verstanden werden. Die Hauptfigur an der Decke, die geflügelte, über den Künsten und der Wissenschaften schwebende Pax-Personifikation, trägt in beiden Händen Olivenzweige als 12 Vgl. die Ausstellung: Murovec, Barbara: HERCULES STIR IA E . Štajerski Herkul – Hercules of Styria. Po sledeh freskantskih naročil Ignaca Marije grofa Attemsa / Following Ignaz Maria Count of Attems’ Commissions of Frescoes, Schloss Windisch Feistriz (Slovenska Bistrica) (15. Juni – 31. Dezember 2017; seit 2018 teilweise als Dauerausstellung). 13 Murovec: Historizirana podoba, bes. S. 117, Anm. 29; siehe auch: Siena, Biblioteca comunale degli intronati, A.XI.14, fol. 145v; vgl. auch Weigle, Fritz: Die Matrikel der deutschen Nation in Siena, 1573–1738, 1–2, Tübingen 1962 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 22–23), Nr. 8207. 14 Murovec: Grafični listi, S. 20–28; vgl. auch Seeger, Ulrike: Die »Tapisseries du Roy« des Verlags Johann Ulrich Kraus von 1687. Ein Beitrag zum französischen Nachstichwesen in Augsburg vor 1700, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 61 (2010), S. 69–107.

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Abb. 1: Die Blüte der Künste und der Wissenschaften in Friedenszeiten. Festsaal, Schloss Stattenberg (Štatenberg).

Symbol des Friedens, der die notwendige Voraussetzung für eine kulturelle Blüte darstellt. Die Inschrift auf dem Textband L[A]ETIS PAX ADVO[LA]T ALIS (Der Friede fliegt mit üppigen / glücklichen Flügeln herbei), annähernd in der Mitte des Bildes, unterstützt die visuelle Aussage des Freskos. Die Prosperität bzw. der blühende Wuchs wird durch ein riesiges Füllhorn, aus dem zwei Putten Blumen herausschütten, als weiteres Sinnbild der Fruchtbarkeit in Friedenszeiten verstärkt. Das genaue Jahr der Ausführung des Deckengemäldes im Festsaal des Schlosses Stattenberg ist nicht gesichert. Bisher wurde es in die späten 1690er Jahre datiert. Müssen wir es als eine ›Vision‹ des kommenden Jahres 1699 verstehen, das von dem österreichischen Historiker Thomas Winkelbauer mit dem Friedensschluss von Karlowitz als eines der Schlüsseljahre in der Habsburger Monarchie  – »in dem Kaiser Leopold  I. dem Osmanischen Reich im Vertrag von Karlowitz erstmals einen Frieden diktieren konnte und die Rückgewinnung des größten Teils der seit 1541 von den Osmanen besetzten Gebiete Ungarns vertraglich abgesichert

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wurde, […]« –15 bezeichnet wurde? Oder wurde es erst genau im Jahr des »beglückenden« Friedens gemalt, worauf man durch die Inschrift L[A]ETIS PAX ADVO[LA]T ALIS schließen könnte? Die Kunde vom Gedeihen der Schönen Künste unter der Auftraggeberschaft der Familie Attems bekam im Schloss Rann (Brežice), das Attems im Jahr 1694 ankaufte, eine weitere Dimension und ein viel komplexeres ikonographisches Konzept. Der Graf wandelte den Ostflügel des Renaissance-Schlosses in einen langen zweigeschossigen Festsaal um und vertraute die Gesamtfreskierung von Wänden und Decke sowie die Anfertigung von sechs großen ovalen Ölgemälden Franz Karl Remp (1674–1718) an, einem in Rom ausgebildeten Landsmann aus dem Herzogtum Krain.16 Die Tätigkeit Remps ist für das Jahr 1702 archivalisch belegt.17 In dieser Zeit hatte in den innerösterreichischen Ländern die Angst vor den Osmanen langsam nachgelassen und im Zuge der gebannten Gefahr und des wachsenden Selbstbewusstseins begannen sukzessive überall neue Bau- und Ausstattungsprojekte, die sich auch mit der jüngsten Vergangenheit auseinandersetzen, so entstand z. B. auch in der Kathedrale von Laibach die Deckenmalerei mit dem Thema Triumph des wahren Glaubens mit der Erinnerung an die Türkenbelagerungen, ausgeführt von Giulio Quaglio in den Jahren von 1703 bis 1706. Wie im Schloss Stattenberg, aber weitaus freier, griff der Maler auch im Festsaal vom Schloss Rann auf zahlreiche kompositorische und ikonographische Vorlagen zurück.18 Als Grundschema der gemalten Raumgestaltung dienten die Fresken Pietro da Cortonas im Il Salone des römischen Palazzo Barberini. Die zentrale Personifikation an der Decke ist in Rann nicht mehr Pax, sondern Liberalitas,19 die im Auftrag von Attems die sieben Schönen Künste mit ihren »Gaben« versorgt, damit diese sich erfolgreich entwickeln können. Die Künste – Malerei, Bildhauerei, Architektur, Rhetorik, Poesie, Musik und Astronomie – wurden als mehrfigurige Allegorien angelegt und folgen dem von Claude Perrault in Le Cabinet des Beaux Arts (1690) entwickelten Modell.20 Die Ikonographie des Friedens ist in den beiden Ölporträts der Familie des Auftraggebers, die ursprünglich in der Mitte des Festsaals hingen – und heute beschnitten in der Sammlung Universalmuseum Joanneum in Schloss Eggenberg aufbewahrt werden –, festgehalten.21 15 Winkelbauer: Die Habsburgermonarchie, S. 159. 16 Für Remp siehe: Lechner, Georg Matthias: Der Barockmaler Franz Carl Remp (1675–1718), Wien 2010 (Dissertation), mit weiterführender Literatur. 17 Weigl, Igor: Matija Persky. Arhitektura in družba sredi 18. stoletja, Ljubljana 2000 (Magisterarbeit), S. 45, Anm. 142. 18 Murovec: Likovni viri, S. 99, 101–102. 19 Murovec, Barbara: Attemsova reprezentacija moči in darežljivosti, in: Kokole, Metoda / Kokole, Stanko / Murovec, Barbara: Imago musicae. Glasba na baročnih poslikavah brežiškega gradu, Ljubljana 2016, S. 4–17. 20 Murovec: Likovni viri, S. 102; vgl. Martin, Marie-Pauline: Le Cabinet des Beaux-arts de Charles Perrault. Le monument d’un moderne, in: Revue de l’art 190/4 (2015), S. 9–18. 21 Reproduktionen beider Porträts im Originalzustand (heute zugeschnitten) siehe: Murovec: Historizirana podoba, S. 122–123.

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Abb. 2: Franz Karl Remp, Familienporträt mit Ignaz Maria Graf Attems aus dem Schloss Rann (Brežice). Universalmuseum Joanneum, Schloss Eggenberg.

Auf den historisierten Familienbildnissen ist in dem einen Oval Ignaz Maria Graf Attems in einem antikisierenden Gewand als Architekt mit Zirkel und dem Plan einer befestigten Stadt gemeinsam mit seinen drei älteren Söhnen zu sehen (Abb. 2), auf dem anderen Oval wird seine Frau Maria Regina geborene Gräfin Wurmbrand mit ihrer einzigen Tochter und den zwei jüngeren Söhnen dargestellt (Abb. 3).22 Der Krieg ist beendet und im Lande herrscht Friede, somit gibt es für die Waffen keine weitere Verwendung, deswegen wird auf der ›Herrenseite‹ des Familienporträts die halbverdeckte Kanone vom Betrachter weggedreht und nachlässig in das Innere des Bildraumes verschoben. Hier verhält es sich ganz anders als im Schloss Stattenberg, wo auf dem Seitenbild mit dem Element Feuer noch der Schuss aus einer Kanone – entsprechend dem Inhalt der verwendeten graphischen Vorlage der Tapisserie, die von Charles Le Brun für Ludwig XIV. entworfen worden war – die Landschaft in Flammen setzte. Im Festsaal des Schlosses Rann trägt das Schweigen der Waffen hin-

22 Zu anderen Aspekten der beiden Familienporträts siehe: Murovec: Historizirana podoba, S. 120–131.

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Abb. 3: Franz Karl Remp, Familienporträt mit Maria Regina Gräfin Wurmbrand aus dem Schloss Rann (Brežice). Universalmuseum Joanneum, Schloss Eggenberg.

gegen bewusst zu Frieden und Wohlstand, zum Aufblühen der Kunst, der Familie und des Landes Steiermark bei. In der Literatur wurde die im Schoß des Grafen liegende Skizze einer Stadt, die sein Sohn Franz Disma mithält, bisher als Karlstadt (Karlovac) oder – viel überzeugender – als Graz identifiziert. Graz war die Hauptstadt des Landes, dessen Armee Graf Attems in seiner Funktion als Obrist-Proviantmeister versorgte, und wurde auf Darstellungen der Frühen Neuzeit in dieser Weise abgebildet.23 Gleichzeitig repräsentiert der gemalte Plan im Schoß von Attems eine Zitadelle oberhalb der Stadt in der Steiermark und an der kroatisch-slawonischen Militärgrenze, die gegen die Os23 Vgl. Stadtbild-Ausstellung Alt- und Neu-Graz. Die bau- und kulturgeschichtliche Entwicklung der Landeshauptstadt Graz von der frühen Grenzburg bis zur Vorbereitung der Zukunft im neuen Stadtbauplan, veranstaltet von der Stadtgemeinde Graz, Industriehalle, Graz 1928, bes. S. 13–33; Resch, Wiltraud (Hg.): Die Kunstdenkmäler der Stadt Graz. Die Profanbauten des I. Bezirkes. Altstadt. Mit Einleitungen über die topographische und architektonische Entwicklung der Altstadt, Wien 1997 (Österreichische Kunsttopographie, 53).

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manen entsprechend befestigt und geschützt sein musste. Attems wird auf mehreren Ebenen als ›Erbauer‹ dargestellt, er selbst dilettierte als Architekt, ist außerdem der ›Architekt‹ des neuen steirischen Zweigs der Familie Attems und nicht zuletzt wirkt er als Verteidigungs- bzw. friedenbringender Architekt einer neuen Epoche. Auf der ›Damenseite‹ des Familienporträts wird dem Frieden ebenfalls eine zentrale inhaltliche Rolle eingeräumt. Maria Regina und ihre einzige Tochter Henriette Charlotte halten zusammen einen Olivenzweig, mit dem die Mutter durch die weibliche Linie Frieden weitervermittelt. Im Vordergrund des Porträts trägt der kleine Ernest Amadeus zwei Tauben mit einem Ölbaumzweig in ihrem Schnabel. Hier ist bereits das ikonographische Konzept angegeben, wonach der weibliche Teil der Attems-Familie für den Frieden und der männliche für die Kunst, insbes. Architektur und Malerei, ›verantwortlich‹ ist. In Ignaz Marias Pax-historia beginnt diese ›Funktionstrennung‹ spätestens mit seiner Mutter, Francesca Markiza Strozzi, deren Wappen-Aufsatz auf dem Ahnenprobediplom eine Taube mit einem Olivenzweig im Schnabel darstellt. Eine solche Aufteilung entspricht auch der Tradition, den Frieden als weibliche Tugend zu visualisieren.24 1703 beendete Attems seinen Dienst als Obrist-Proviantmeister der Windischen und Petrinischen Grenzen. Anschließend erstellte er einen detaillierten Bericht mit der Abrechnung aller Kosten25 und ging danach seinen neuen Lebensabschnitt mit dem gleichen Engagement an, mit dem er zuvor Innerösterreich vor der osmanischen Bedrohung geschützt hatte. Den Schwerpunkt seiner Tätigkeit verlagerte Graf Attems während dieser Zeit nach Graz, wo er mit dem Bau seines Stadtpalastes begann, für den er 15 Jahre lang nach und nach die Grundstücke in der Sackstraße kaufte, um dort das mächtigste hochbarocke Privathaus in der Stadt entstehen zu lassen.26 Obwohl die Beschäftigung von Graf Attems mit der Architekturplanung archivalisch nur für ein »Türmchen« im Schloss Landsberg gesichert ist,27 bestätigt die Erforschung des Grazer Stadtpalasts mit großer Wahrscheinlichkeit seine aktive Beteiligung an der architektonischen Konzeption des Baus. Nachdem Remp den Auftrag im Festsaal im Schloss Rann fertiggestellt hatte, stieg er für viele Jahre zum führenden Maler bei der Ausstattung des Grazer Stadtpalastes von Attems auf. Er arbeitete als Freskant, teilweise mit Matthias von Görz zusammen, und malte zahlreiche Ölgemälde für die Decken und Wände des Palas24 Kaulbach, Hans-Martin: Weiblicher Friede  – männlicher Krieg? Zur Personifikation des Friedens in der Kunst der Neuzeit, in: Schade, Sigrid / Wagner, Monika / Weigel, Sigrid (Hg.): Allegorien und Geschlechterdifferenz, Köln / Weimar / Wien 1994, S. 27–49. 25 Zitiert nach den Angaben der Familiengenealogin Maria Viktoria Gräfin Attems-Heiligenkreuz: StLA, Graz, Familienarchiv Pallavicino, K. 28, H. 415. 26 Vgl. z. B. Lorenz, Hellmut: Graz, Palais Attems, in: Lorenz, Hellmut (Hg.): Barock, München / L ondon / New York 1999 (Geschichte der bildenden Kunst in Österreich, 4), Kat. Nr. 48, S. 280. 27 Weigl, Igor: Prenova gradu Podčetrtek v letih 1715–1723, in: Kronika 47/1–2 (1999), S. 31–42.

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Abb. 4: Franz Karl Remp, Allegorie des Friedens mit Pax und Merkur. Treppenhaus, Palais Attems, Graz.

tes.28 Das Deckenfresko im repräsentativen Treppenhaus,29 dessen Stuckdekoration 1706 von Domenico Boscho signiert und datiert wurde, ist bisher in der Literatur als Merkur und Abundantia sichern den Reichtum des Hauses Attems betitelt und ikonographisch gedeutet worden.30 Die hier vorgelegte Interpretation folgt jedoch der Auslegung, nach welcher an die Decke nicht Lorbeer-, sondern Olivenzweige gemalt sind. Als Konsequenz dieser Beobachtung ergibt sich jedoch, dass die Botschaft des Freskos, mit dem Attems die Besucher seines Palastes empfing, in einem anderen Kontext steht. Sie führt die Idee der Pax-Ikonographie fort und erfährt eine Erweiterung (Abb. 4). Im zentralen Feld der Treppenhausdecke sitzen auf den Wolken eine weibliche und eine männliche Figur, von denen Letztere mit einem Caduceus und den Flügeln an den Knöcheln eindeutig als Merkur identifizierbar ist. Die weibliche Figur mit einem goldenen Gürtel und einem Kranz auf dem Kopf hält in der rechten Hand 28 Vgl. Schweigert, Horst: Graz, Wien 1979 (Dehio-Handbuch. Die Kunstdenkmäler Österreichs), S. 97; Lechner: Der Barockmaler, bes. S. 121–127, 151–163. 29 Vgl. Karlsen, Anja: Das mitteleuropäische Treppenhaus des 17. und 18. Jahrhunderts als Schaubühne repräsentativer Inszenierung. Architektur, künstlerische Ausstattung und Rezeption, Petersberg 2016. 30 Z. B. Karl Möseneder, Deckenmalerei, in: Lorenz: Barock, Kat. Nr. 89, S. 336; Lechner: Der Barockmaler, S. 122–123.

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einen Olivenzweig und richtet ihren Blick auf Merkur, wobei sie mit der linken Hand auf ein Puttenpärchen weist. Ein weiterer, darüber fliegender Putto streut aus einem mit Olivenzweigen gefüllten Füllhorn einzelne Zweige über das Putto-Paar und die jeweiligen Besucher des Treppenhauses, um sie mit Frieden zu beschenken. Die weibliche Figur auf dem Fresko ist daher nicht Abundantia, sondern Pax. Unter den vielen Aufgaben und vielgestaltigen ikonographischen Bedeutungen von Merkur31 sind für das Grazer Deckengemälde besonders zwei entscheidend.32 Einerseits ist Merkur Jupiters Herold,33 der »trefflichste Bote, weil er Alles, was man ihm auftrug, genau ausrichtete«;34 nach Homer verleiht er »den Werken aller Menschen Anmut und Glanz«, und »von M[ercur] leitet man die Friedensunterhandlungen, Vergleichsvorschläge und Verträge her, die im Kriege vorkommen.«35 Der Grazer Merkur kann daher als Friedensbringer interpretiert werden, gleichzeitig sollte im Lichte der weiblichen und männlichen ›Mission‹ in der Familie Attems auch die Rolle von Merkur als dem Schutzpatron der Künstler berücksichtigt werden. Seine Darstellungen auf den Fassaden und in den Innenräumen der Künstlerhäuser oder in den Gärten, wie die Beispiele der Casa Pippi von Giulio Romano in Mantua oder das Rubenshaus in Antwerpen zeigen, veranschaulichen, wie »die Künste ihre höchste Blüte unter dem Segen Merkurs erreichen«.36 Zu deuten wäre demzufolge das Grazer Fresko mit der Pax-Personifikation als Frauenprinzip,37 dargestellt durch Maria Regina, und mit Merkur als Männerprinzip, verkörpert von Ignaz Maria. Graf Attems ist daher der Bote, der die Friedens-

31 Hederich, Benjamin: Gründliches mythologisches Lexikon, Leipzig 1770, Sp. 1591–1604; Huss, Bernhard: Hermes, in: Moog-Grünewald, Maria (Hg.): Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart / Weimar 2008 (Der neue Pauly, Supplemente 5), S. 344–351, bes. S. 348–349. 32 Der Caduceus war »ursprünglich ein Ölbaumzweig«; vgl. Preston, Percy: Metzler Lexikon antiker Bildmotive, Stuttgart / Weimar 1997, S. 32; zu weiteren Aspekten der Friedensikonographie und des Caduceus als Attribut von Pax vgl. von Erffa, Hans Martin: Caduceus, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, 3, Stuttgart 1954, Sp. 303–308. 33 Vollmer, Wilhelm: Wörterbuch der Mythologie aller Völker, Stuttgart 31874, S. 332. 34 Vollmer: Wörterbuch, S. 332. 35 Vollmer: Wörterbuch, S. 332. 36 Müller, Fabian: Giulio Romanos Mantuaner ›Künstlerhaus‹ als summa artistica. Eigenrefe­ renzialitäten in Architektur und Ausstattung der Casa Pippi (1538–1542), in: Tacke, Andreas / ​ Schauerte, Thomas / Brenner, Danica (Hg.): Künstlerhäuser im Mittelalter und der Frühen Neuzeit / A rtists’ Homes in the Middle Ages and the Early Modern Era, Petersberg 2018, S. 106–114, bes. S. 108; Uppenkamp, Barbara: Rubens’s palazzetto in Antwerp, in: Tacke / ​ Schauerte / Brenner: Künstlerhäuser, S. 218–232. Vgl. auch: Stutz, Zita: Die Residenz des Malerfürsten Rubens in Antwerpen und das vornehme Bürgerhaus Rembrandts in Amsterdam, in: Hüttinger, Eduard (Hg.): Künstlerhäuser von der Renaissance bis zur Gegenwart, Zürich 1985, S. 139–152, hier S. 146; Wirth, Liselotte: Die Häuser von Raffael in Rom und von Giulio Romano in Rom und Mantua, in: Hüttinger: Künstlerhäuser, S. 57–68. 37 Kaulbach: Weiblicher Friede.

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nachrichten ins Land bringt, sowie der Patron der Künste, die in seinem Stadtpalast ein großzügiges Domizil gefunden haben. Nach dem Tod von Attems erster Frau Maria Regina im Jahre 1715 heiratete Attems noch im selben Jahr Christine Creszentia Gräfin Herberstein. Mit dieser neuen Eheverbindung ging auch ein Wechsel in der Außendarstellung einher. Zum Leitmotiv seiner visuellen Darstellung wurden nun die Identifikation mit Herkules und der heldenhafte Eintritt unter die Auserwählten. Durch seine Verdienste, seinen Beitrag zum Frieden und durch die Unterstützung der Schönen Künste bestärkt, entschloss sich der fast siebzigjährige Attems für eine Visualisierung seiner Person als zum Olymp aufsteigender Herkules. Für die malerische Umsetzung dieses Programms in dem 1717 erworbenen Schloss Windisch Feistritz (Slovenska Bistrica) berief Attems den aus Augsburg stammenden Künstler Franz Ignaz Flurer (1688–1742), der 1721 die Apotheose des Herkules auf die Decke des Festsaals malte. Die Pax-Ikonographie ließ Attems aber auch in Schloss Windisch Feistritz nicht fallen, sondern diese noch ›emblematischer‹ als auf den Familienporträts im Schloss Rain umsetzen. An der Wand unter dem Wappen Attems finden sich Symbole der Malerei und Architektur: Ein Putto hält die Palette und den Pinsel, der andere den Zirkel und den Grundriss einer Festungsarchitektur. Auf der gegenüberliegenden Seite des Festsaals, unterhalb des Familienwappens der von Herberstein, wurden zwei Friedensymbole angebracht: Ein Putto trägt einen Ölbaumzweig, der andere eine Taube ohne Olivenzweig im Schnabel. Im Festsaal des Schlosses Windisch Feistritz wird noch einmal die Verteilung der »Aufgaben« zwischen beiden Geschlechtern visualisiert, die Familie Attems wird mit den Künsten und Herberstein mit dem Frieden verbunden. Die Friedensikonographie wird hier von Attems zu einer ganz spezifischen Familienikonographie erweitert und zeigt mit dieser Verknüpfung noch einmal die Bedeutung, die dieser Kontext für den Auftraggeber trägt. Eine weitere Quelle, aus der die betonte Präsenz der Friedensikonographie in den Aufträgen von Ignaz Maria abzuleiten ist, besteht in der engen Verbindung der Familie Attems mit allen drei Orden der Minderen Brüder, den Kapuzinern, den Franziskanern und den Minoriten. Ihre besondere Beziehung und Unterstützung der Orden zeigten die Attems unter anderem mit vielen Klosterstiftungen, durch die testamentarisch verfügten Heiligenmessen und bei der Auswahl ihrer Grabstätten – das Grab seiner ersten Frau befand sich in der Franziskanerkirche in Rann (Brežice), das von Ignaz Marie Graf Attems selbst und seiner zweiten Frau ist in der St. Anton-von-Padua-Kapelle bei den Grazer Franziskanern. Sowohl das Motto »Pax et Bonum« wie auch die Worte des heiligen Franziskus »Der Herr gebe euch den Frieden!« beziehungsweise »Und wenn sie irgendein Haus betreten, sollen sie zuerst sagen: ›Friede diesem Haus!‹« (NbReg 14,3) stimmen mit der betonten Präsenz der Pax-Ikonographie in den gemalten Aufträgen von Ignaz Maria überein. Die systematische Darstellung von Pax-Personifikationen und Friedenssymbolen in den Aufträgen von Attems erweist sich auch im weiteren europäischen Kontext als äußerst konsequent und umfassend. Obwohl viele Auftraggeber und ihre ikonographischen Berater eine Friedensbotschaft in die visuelle Dekoration ihrer Paläste

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und Schlösser einbezogen hatten und Attems sicherlich viele Projekte kannte, bzw. sie sogar im Original gesehen hatte, in deren Konzept der Friede integriert wurde – wie etwa die Ausstattungen für den Großherzog Ferdinand II. Medici im Palazzo Pitti,38 für Urban VIII. und die Familie Barberini im Palazzo Barberini in Rom39 oder z. B. für Fürstbischof Johann Philipp von Lamberg in der Passauer Hofbibliothek –,40 ist sein systematischer Einbezug der Ikonographie des Friedens in die (Decken-)Malerei auffällig. Er baute »sein« Friedenskonzept über mehrere Jahrzehnte als Teil eines äußerst ehrgeizigen und großzügigen Lebens auf, in dem er den Frieden zu einem grundlegenden gesellschaftlichen und persönlichen Wert erklärte, ihn als Ausgangspunkt für die menschliche Kreativität festgelegte, als weibliches Prinzip in der Familie verankerte und als spirituelle Verbindung mit dem hl. Franz von Assisi und dem Motto Pax et Bonum positionierte. Als äußerst ambitionierter Auftraggeber hatte er um 1700 in der Steiermark ein ewiges Denkmal für seine Familie erschaffen wollen, das heute jedoch durch die nachlässige Einstellung zur Erhaltung der barocken Denkmäler in Slowenien äußerst bedroht ist. Die durch den vorliegenden Aufsatz nochmals verdeutlichte Erkenntnis, welch außergewöhnliche Bedeutung das Konzept von Frieden, Blüte der Kunst und Wohlstand für Attems’ Leben ebenso wie für sein Land hatte und welch überragende Position der Pax-Ikonographie in seinen malerischen Aufträgen eingeräumt worden war, möchte das Bewusstsein sensibilisieren, das überlieferte, wertvolle (kultur-)histo­rische und künstlerische Erbe von Attems systematisch zu schützen und zu erhalten: L[A]ETIS PAX ADVO[LA]T ALIS.

38 Roettgen, Steffi: Wandmalerei in Italien. Barock und Aufklärung 1600–1800, München 2007, S. 158–187. 39 Roettgen: Wandmalerei, S. 142–158. 40 Dreyer, Angelika: Erratne Erath? Fürstbischof Johann Philipp von Lamberg, Augustin Erath und die Freskenausstattung in der Passauer Hofbibliothek, in: Dupper, Jürgen / Buchhold / Stefanie / Forster, Bernhard (Hg.): 800 Jahre Veste Oberhaus. Mächtig prächtig! Fürstbischöfliche Repräsentation zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Regensburg 2019, S. 293–305, hier S. 294.

Hundert Jahre Übergang Endpunkte und Neuanfänge in Mitteleuropa 1918–2019 Manfred Weinberg

In einem Artikel zu den Feiern zum hundertsten Jubiläum von Polens Unabhängigkeit 1918 schrieb Roswitha Schieb Mitte November 2018 in der Neuen Zürcher Zeitung: »1918 bis 2018: Wohin strebt Europa?«: So lautet das Thema eines Essaywettbewerbs in Berlin, in dessen Rahmen Studenten aufgefordert waren, sich schriftlich zu der Fragestellung zu äussern. Immer wieder liest man in den Essays, dass der Erste Weltkrieg bzw. das Jahr 1918 als die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« angesehen wird, immer wieder wird das Kriegsende 1918 als düsteres Schicksalsjahr beschworen, immer wieder die Zeit danach nur als Scheitern der jungen Demokratie angesehen. Es ist erstaunlich, wie durch und durch deutsch (oder österreichisch) die jungen Studenten im Jahr 2018 empfinden, wie sehr sie von ihrer nationalen Geschichtsdarstellung durchdrungen und geprägt sind, wie wenig sie es vermögen, über den eigenen Tellerrand auf die nächsten Nachbarstaaten zu schauen und einen Perspektivwechsel vorzunehmen – und das bei einem Thema, das von Europa handelt. Denn »1918« klingt in anderen Ländern nicht nur nach Soldatenfriedhöfen, nicht nach Niederlage, Demütigung, Zerbrechen von Grossreichen, Ende der Monarchie, allgemeinem Untergang und Anfang vom Ende, sondern nach Befreiung, Unabhängigkeit und triumphalem Neuanfang.1

Warum aber hält die Autorin die Tatsache der nicht »über den eigenen Tellerrand auf die nächsten Nachbarstaaten« schauenden deutschen und österreichischen Studierenden für erstaunlich? Woher sollen sie, und nicht nur sie, denn etwas von der ganz anderen Geschichte in Ostmitteleuropa wissen? In der deutschen und österreichischen medialen Öffentlichkeit kommt dieses Ostmitteleuropa, und zwar sowohl seine Vergangenheit als auch seine Gegenwart, so gut wie nicht vor – und wenn, dann wimmeln die Ausführungen von sachlichen Fehlern, selbst in den Qualitätszeitungen sowie in den Nachrichtensendungen und Magazinen der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehkanäle. Die Diagnose gilt allerdings auch in umgekehrter Richtung: Das Unwissen in Ostmitteleuropa über den westlich gelegenen Teil Europas ist mindestens genau 1 Schieb, Roswitha: Zeichen und Wunder. Polens Unabhängigkeit von 1918 wird auch bei den Nachbarn gefeiert, die unter ihr zu leiden hatten, in: Neue Zürcher Zeitung, 17. November 2018, https://www.nzz.ch/feuilleton/zeichen-und-wunder-polens-unabhaengigkeit-von-1918wird-auch-bei-den-nachbarn-gefeiert-die-darunter-zu-leiden-hatten-ld.1430224, letzter Zugriff am 23. November 2019.

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so groß und die Berichterstattung in den Medien mindestens genauso falsch. Viele Tschechen etwa sind heute fest davon überzeugt, dass die Flüchtlingspolitik Deutschlands in sehr naher Zeit krachend scheitern wird und sich dann gewaltige und gewalttätige Flüchtlingshorden über ihr Land ergießen werden. Ihr Staatspräsident Miloš Zeman hat vorsichtshalber schon einmal die Jäger und sonstigen Besitzer von Schusswaffen verbal ermächtigt, von diesen dann auch Gebrauch zu machen. Unkenntnis und Unwissen über »die Anderen« also allerorten in Europa. Das lässt sich erklären. Alfred Schütz hat im Jahre 1944 einen Aufsatz unter dem Titel »The Stranger. An Essay in Social Psychology« veröffentlicht, ins Deutsche übersetzt als »Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch«. In diesem führt er aus, was mit einem in die Fremde Geratenen, etwa einem Exilanten, geschieht. Entscheidend ist dabei Schütz’ Erklärung, warum sich der ›Fremde‹ in seiner neuen Heimat überhaupt fremd fühlt, was er mit unser aller Existenzweise in der »sozialen Welt« begründet: »Der Handelnde in der sozialen Welt erlebt sie […] primär als ein Feld seiner aktuellen und potentiellen Handlungen und nur sekundär als ein Objekt seines Denkens.«2 Dieses bloß am gelingenden Handeln orientierte Alltagswissen »– so inkohärent, inkonsistent und nur teilweise klar, wie es ist – hat für die Mitglieder der in-group den Schein genügender Kohärenz, Klarheit und Konsistenz, um jedermann eine vernünftige Chance zu geben, zu verstehen und selbst verstanden zu werden.«3 Solches Wissen habe »seine Evidenz in sich selbst – oder es wird vielmehr aus Mangel an gegenteiliger Evidenz fraglos hingenommen«.4 Die unhinterfragte Fortsetzung der uns, wie Schütz schreibt, von »Vorfahren, Lehrer[n] und Autoritäten«5 übermittelten Anweisungen nennt er unser aller »Denken-wie-üblich«6. Kommt man in die Fremde, muss man aber feststellen, dass dort offensichtlich ein ganz anderes »Denken-wie-üblich« ganz andere Handlungen legitimiert als in der eigenen Heimat. In einem Aufsatz unter dem Titel »Von den Grenzen nationaler Erinnerungskulturen, der Unmöglichkeit eines transnationalen und den Chancen eines ›translationalen‹ Gedächtnisses«7 habe ich solches »Denken-wie-üblich« auf ein ›Erinnern-wie-üblich‹ hin erweitert und daraus das notwendige Scheitern eines gemeinsamen europäischen Erinnerns, wie es so oft gefordert wird, abgeleitet. Wir alle sind gefangen in einem uns mitgegebenen ›Denken‹ und ›Erinnern‹ wie in unseren Herkunftsländern üblich

2 Schütz, Alfred: Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze. Bd. 2: Studien zur soziologischen Theorie, hg. von Arne Brodersen, Den Haag 1972, S. 53–69, hier: S. 55. (Erstveröffentlichung: The Stranger. An Essay in Social Psychology, in: American Journal of Sociology 49/6, 1944, S. 499–507. 3 Ebd., S. 57. 4 Ebd., S. 58. 5 Ebd. 6 Ebd. et passim. 7 Weinberg, Manfred: Von den Grenzen nationaler Erinnerungskulturen, der Unmöglichkeit eines transnationalen und den Chancen eines »translationalen« Gedächtnisses, in: Erinnerungsnarrativen in Zentraleuropa, Berlin / Boston 2021, S. 231–246.

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und können dies nicht einfach durch ein gesamteuropäisches Erinnern ersetzen – vor allem eben deshalb nicht, weil uns die Handlungsanweisungen, denen wir folgen, nicht bewusst sind. Das bedingt übrigens auch den Weg, den Schütz den in die Fremde Verschlagenen gehen lässt: Was den Einheimischen unhinterfragt selbstverständlich ist, muss der Fremde höchst mühsam und vor allem bewusst erst verstehen lernen, um sich im ganz Anderen nach und nach zurechtzufinden. Um die großen Unterschiede des jeweiligen ›Erinnerns-wie-üblich‹ so konkret wie möglich aufzuzeigen, wende ich mich dem mir naheliegenden Beispiel der Deutschen und Tschechen zu: – 1918 – auf deutscher Seite Niederlage, Demütigung, Ende der Monarchie und Anfang der dann scheiternden Weimarer Republik, auf tschechischer Seite »Befreiung, Unabhängigkeit und triumphaler Neuanfang« mit der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik. – 1945/46: Aus deutscher Perspektive eine gewaltsame, durch nichts zu rechtfertigende Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei, aus tschechischer Perspektive deren legitime und geregelte ›Abschiebung‹, so die wörtliche Übersetzung des im Tschechischen üblichen Begriffs odsun. – 1968: auf deutscher Seite gerahmt von den Studentenunruhen und aufgeladen etwa mit dem Bild des toten Benno Ohnesorg, auf tschechischer Seite gerahmt von der Niederschlagung des Prager Frühlings und aufgeladen etwa durch Bildzeugnisse des Widerstands gegen die Panzer der Truppen des Warschauer Pakts. – 1989, nicht zuletzt, mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und seiner Folge am 1. Mai 2004: der Aufnahme von unter anderem Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn in die EU. Für die Deutschen wohl eine ›Parallelaktion‹ zur deutschen Wiedervereinigung – eine vermeintlich freundliche Übernahme mit der Erwartung, dass sich die ›annektierten‹ Mittel- und Ostmitteleuropäer bald ins westeuropäische Wertesystem und damit das eigene »Denken-« und ›Erinnern-wie-üblich‹ finden werden. Für die Tschechen die Möglichkeit, sich aus den Fängen Russlands durch Beitritt zur EU sowie zur NATO zu befreien, doch um den Preis, die eine von Moskau aus operierende drangsalierende Großmacht gegen eine ganz andere, nun von Brüssel aus agierende Großmacht eingetauscht zu haben, die inzwischen oft als genauso drangsalierend empfunden wird.

Wie sollen diese Unterschiede in einem gemeinsamen europäischen Erinnern aufgehen? Um solche Inkongruenzen zu überwinden, habe ich im genannten Aufsatz angeschlossen an die Forderung des tschechischen Schriftstellers Jaroslav Rudiš nach »mehr Stammtische[n] für Europa«, »an denen wir uns unsere unterschiedlichen Herkünfte und deren Besonderheiten erklären könnten«.8 Von dieser For8 Ebbinghaus, Uwe: Mit Kafka in der Kneipe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Oktober 2017, http://plus.faz.net/faz-plus/feuilleton/2017-10-14/mit-kafka-in-der-kneipe/67761.html/, letzter Zugriff am 23. November 2019.

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derung habe ich der meist ja gut gemeinten, aber unrealistischen Forderung nach einem transnationalen Gedächtnis die aus meiner Sicht einzige Möglichkeit eines von mir so genannten ›translationalen‹ Gedächtnisses in Europa entgegengestellt. Am Ende des Aufsatzes heißt es: Im Gespräch [miteinander] würde das bisher als alternativlos gedachte je eigene nationalkulturelle ›Erinnern-wie-üblich‹ auf seine Übersetzbarkeit in ein anderes ›Erinnernwie-üblich‹ hin geöffnet. […] Die Gemeinsamkeit Europas würde somit in dem Willen begründet, miteinander ins Gespräch zu kommen und im Gespräch zu bleiben. Daraus entstünde keine einstimmige europäische Erinnerungskultur, denn diese hat rein gar nichts, worauf sie aufbauen könnte, sondern eine vielstimmige, ein immer neues Übersetzen und sich Austauschen. Es besteht dabei auch kein Problem damit, dass ein solches Europa immer wieder von einem ›Lost in Translation‹ bedroht sein wird, denn das würde einfach weitere Gespräche und Übersetzungen erfordern, die aber diesem Modell ohnehin immanent sind: kein Ende der Übersetzungen, niemals. Kein ›homo europäiensis‹, sondern Tschechen, Deutsche, Polen etc., die nicht müde werden, als willentliche Europäer dem anderen ihre andere Sicht der Dinge zu übersetzen  – an Stammtischen oder wo auch immer.9

Gerade vor diesem Hintergrund ist aber zu fragen, ob sich West- und Ost(mittel)­ europäer überhaupt auf das Jahr 1918 als einen entscheidenden Umbruch  – also Endpunkt und Neuanfang in einem –, als den es etwa der am Anfang genannte Essay-Wettbewerb behauptet, einigen könnten. Die Antwort scheint eindeutig. Auf der Homepage der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung liest man: Der Erste Weltkrieg […] ist die Zäsur des beginnenden 20. Jahrhunderts: Er zerstörte alle naiven Fortschrittshoffnungen und offenbarte die Zerstörungspotentiale der industriellen Moderne. Diese »Urkatastrophe« (George F. Kennan) des 20. Jahrhunderts erfasste alle Bereiche von Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur  – und prägte den weiteren Verlauf der neueren Geschichte maßgeblich. Die europäische Landkarte wurde umgestaltet, die regierenden Monarchien in Rußland, Österreich-Ungarn und Deutschland wurden revolutionär umgestürzt, die sozialen Verhältnisse und kulturellen Orientierungen wandelten sich grundlegend. Durch den amerikanischen Kriegseintritt 1917 und die russische Revolution zeichnete sich schon früh auch die Systemkonkurrenz ab, die die Blockkonfrontation der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausmachte.10

Die polnischen Historiker Włodzimierz Borodziej und Maciej Górny haben sicher nicht zufällig 2018 eine zweibändige Studie unter dem Titel Der vergessene Weltkrieg. Europas Osten 1912–1923 vorgelegt, in dessen Titel das Jahr 1918 programmatisch nicht vorkommt. In seiner Besprechung in der Neuen Zürcher Zeitung hat Oliver Jens Schmitt die entscheidende neue Perspektive so auf den Punkt gebracht: 9 Weinberg: »Translationales« Gedächtnis, S. 244. 10 Dossier Erster Weltkrieg, Homepage der Bundesanstalt für politische Bildung, http://www. bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/ersterweltkrieg/, letzter Zugriff am 23. November 2019.

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Das Werk […] öffnet die Augen für eine Gewaltgeschichte, die allein schon zeitlich anders verlief als jene des Westens. Der Erste Weltkrieg begann nicht 1914 und endete nicht 1918. Vielmehr setzte die Gewalt schon 1912 mit dem Ersten Balkankrieg ein, und sie kam erst zu einem Ende, als 1922/23 der Griechisch-Türkische Krieg in Anatolien entschieden war, als im russischen Bürgerkrieg die Bolschewiken endgültig gesiegt hatten und als von Deutschland bis Bulgarien die letzten Putschversuche kommunistischer Kräfte gescheitert waren.11

Man kann also durchaus argumentieren, dass auch das als gesamteuropäisch entscheidender Einschnitt nominierte Jahr 1918 diesen Charakter eher aus einer westeuropäischen Perspektive hat. Doch auch wenn es wie etwa im Fall der Ersten Tschechoslowakischen Republik als entscheidender Neuanfang ausgewiesen ist, lässt sich die damit nahegelegte Vereinheitlichung der Bewertung als Befreiung und Triumph durchaus in Frage stellen.12 Dies kann man etwa an F. C. Weiskopfs Slawenlied. Roman aus den letzten Tagen Österreichs und den ersten Jahren der Tschechoslowakischen Republik erweisen, das von der Revolution 1918 erzählt. Das Buch ist in drei Kapitel gegliedert: »Das letzte Jahr«13, »Der tote Punkt«14 und »Das neue Lied«.15 Diese Einteilung scheint auf den ersten Blick am Ablauf aller Revolutionen orientiert: Ein zu beseitigendes Altes, die Revolution selbst als ›Nullpunkt‹16, schließlich das durch die Revolution hervorgebrachte radikal Neue. Der »tote Punkt« meint bei Weiskopf aber eben nicht die Revolution, sondern den Anfang der Tschechoslowakischen Republik. Wichtiger noch: »Das neue Lied« ist ein erst kommendes! Am Ende des Romans heißt es zur Arbeiterdemonstration 1920: »[M]ir fällt auf einmal ein, daß diese Menschen hier, die vom Morgenrot der Freiheit singen, eben erst gehetzt und verprügelt worden sind; daß sie eine Niederlage hinter sich haben … aber vor sich den Sieg.«17

11 Schmitt, Oliver Jens: Wo der Erste Weltkrieg mehr als zehn Jahre dauerte, in: Neue Zürcher Zeitung, 9. Mai 2019, https://www.nzz.ch/feuilleton/die-historiker-borodziej-und-gornyueber-den-vergessenen-weltkrieg-ld.1479794, letzter Zugriff am 23. November 2019. 12 Weinberg, Manfred: Zu F. C. Weiskopfs »Slawenlied. Roman aus den letzten Tagen Österreichs und den ersten Jahren der Tschechoslowakischen Republik«, in: Höhne, Steffen (Hg.): Zusammenbruch, Trauma, Triumph. Das Epochenjahr 1918 und sein Nachleben in Zentral-, Ostmittel- und Südosteuropa, Wiesbaden 2020, S. 233–246. 13 Weiskopf, Franz Carl: Das Slawenlied. Roman aus den letzten Tagen Österreichs und den ersten Jahren der Tschechoslowakei, Berlin 1931, S. 7–183. 14 Ebd., S. 185–300. 15 Ebd., S. 301–378. 16 Hermann Broch schreibt an einer Stelle seiner Schlafwandler-Trilogie von der Revolution als »Tat der Selbstaufhebung und der Selbsterneuerung, letzte und größte ethische Tat des zerfallenden, erste des neuen Wertesystems, Augenblick der radikal geschichtsbildenden Zeitaufhebung im Pathos des absoluten Nullpunkts« (Broch, Hermann: Huguenau oder die Sachlichkeit, Frankfurt a. M. 1970, S. 323). 17 Weiskopf: Slawenlied, S. 375.

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Ganz anders die Darstellung des historischen Umbruchs von 1918 in Richard Weiners Feuilletonserie Třásničky dějinných dnů [Fransen historischer Tage], publiziert in den Lidové noviny [Volkszeitung], die zudem literarisch anspruchsvoller als Weiskopfs Slawenlied daherkommt. So findet Weiner für den revolutionären Nullpunkt – radikaler Abbruch und Neuanfang in eins – ›plastischere‹ Worte: Atemlos. Dann: Hände hoch, alle auf einmal: Hoch Wilson! – Ein Häufchen deutscher Studenten lächelt verlegen. – Am Graben einige wenige Fahnen. Die großen Banken zögern. – Menschen laufen verwirrt herum. – Dort irgendwo ein Bekannter. Die Arme ausgebreitet. »Was ist los?« – »Weiß nicht!« – »Das Ende.« – »Abtreten.« – »Wir sind am Ziel.« – Vor der »Národní politika«. Sonderausgabe. – Wir wissen es schon. – Von allen Seiten: »Oh!« – »Ah!« – »Mein Gott!« – »Es ist besiegelt!18

Das Aussetzen der Zeit am revolutionären Nullpunkt führt hier zu einem bloß noch stenographischen Festhalten der Ereignisse. Zur Zeit (davor und) danach aber heißt es: »Fort ist das graue Märchen, doch die Wirklichkeit, die einfache, durchsichtige und bürgerliche Wirklichkeit hat nicht minder Zauber, wenn auch einen klareren. Wir lernen auf ein freundlicheres Märchen um.«19 Man lebe jetzt in einer Republik, »in deren Organismus es noch hier und da holpert, wo man jedoch ohne Umschweife daran arbeitet, daß es Tag für Tag weniger holpert.«20 Das schlechte Alte und das noch nicht perfekte, aber sich perfektionierende Neue – das ist die klassische Logik der gelungenen Revolution. Weiskopfs Slawenlied aber erkennt der historischen Revolution von 1918 diese Eigenschaft nicht zu, womit das gleiche Ereignis einmal als wirklicher Neuanfang, einmal nur als Ende eines noch Schlechteren erscheint, dem eine revolutionär erstrittene tatsächlich bessere Zeit erst noch in der Zukunft folgen wird. Die Doppeldiagnose von Ende und Neuanfang gilt auch für das Jahr 1945: Ende des Dritten Reiches und der Herrschaft der Deutschen über Europa; Neuanfang durch Begründung einer neuen europäischen Ordnung, die sich im Kalten Krieg – hier der vermeintlich freie Westen, dort der ›Ostblock‹; hier die NATO, dort der Warschauer Pakt – stabilisierte. Auch wenn diese Ordnung ›nur‹ knapp viereinhalb Jahrzehnte hielt und schon wieder seit dreißig Jahren vorbei ist, prägt sie unser »Denken-wie-üblich« dennoch weiterhin in umfassender Weise. Ich kann das hier nur mit einem zugegebenermaßen banalen Beispiel zeigen. Wenn ich meinem Gegenüber schlagartig klar machen will, dass er oder sie tatsächlich noch in alten geopolitischen Kategorien denkt, frage ich immer wieder gerne, welche Stadt denn westlicher liege: Prag oder Wien. Die Antwort von Deutschen und Westeuropäern ist weit überwiegend und mit allergrößter Überzeugung: Natürlich Wien! Denn Österreich gehörte im Kalten Krieg ja klar zum Westen, auch wenn es nicht NATO-Mitglied war. Prag 18 Weiner, Richard: Aus: Fragmente historischer Tage. Prag, begeistert und närrisch, in: Ders.: Kreuzungen des Lebens, München 2005, S. 157–169, hier: 157 f. 19 Ebd., S. 162. 20 Ebd., S. 165.

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aber lag hinter dem Eisernen Vorhang, gehörte also zum Ostblock, muss also auch östlich von Wien liegen. Die Stabilität der ja auch nur übergangsweise geltenden Ordnung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg ist dabei sicher mit verantwortlich für all das, was in diesem Europa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs falsch gelaufen ist. Bevor ich auf das Jahr 1989 blicke, wende ich mich noch einmal zurück zum Ende des Zweiten Weltkrieges, um an der Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei noch einen anderen Punkt bezüglich historischer Großereignisse zu verdeutlichen. In seiner literaturwissenschaftlichen Dissertation Das Gedächtnis der Vertreibung. Interkulturelle Perspektiven auf deutsche und tschechische Gegenwartsliteratur und Erinnerungskulturen hat der Prager Historiker und Germanist Václav Smyčka vier ›Masternarrative‹ unterschieden, mittels derer der Vertreibung eine erzählbare Form und damit natürlich auch eine Bedeutung gegeben worden sei. Das sozusagen traditionelle Narrativ21 der tschechischen Öffentlichkeit versteht nach Václav Smyčka die Vertreibung als angemessene Bestrafung der Deutschen: Alle Deutschen waren ›Nazis‹, also Miturheber von deren Verbrechen, und mussten dafür nach dem Zweiten Weltkrieg bestraft werden. Dieses ›Masternarrativ‹ wurde in den ersten Jahren nach Kriegsende zudem gelegentlich auf eine aus deutscher Perspektive sicher befremdliche Weise historisiert. In dieser Sicht ist die Vertreibung Vergeltung für die Erniedrigung, die die Tschechen bei der Schlacht am Weißen Berg von 1620 erfahren haben, die den Verlust der böhmischen Unabhängigkeit zur Folge hatte. Mit dieser Historisierung wird die Vertreibung an den sich im 19. Jahrhundert etablierenden tschechischen Nationalismus gebunden, der immer ein gegen die Deutschen gerichteter Nationalismus war, wobei man sagen muss, dass diese Deutschen national gesehen – wie ja auch die Tschechen – zumindest bis 1918 Österreicher, also Staatsangehörige der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn waren. Auf deutscher Seite findet sich ein ebenso rückwärtsgewandtes Narrativ,22 das in gleicher Weise an die einander entgegenstehenden Nationalismen des 19. Jahrhunderts anschließt. Etwa in der sudetendeutschen Landsmannschaft wurde auf die ›zivilisatorische‹ Rolle der deutschen Bevölkerung in Böhmen, Mähren und Schlesien verwiesen sowie auf den Nationalismus und Fanatismus der Tschechen, die das ehemals friedliche Zusammenleben gewaltsam zugrunde gerichtet hätten. Damit greift dieses deutsche Narrativ historisch aber noch weiter zurück als das tschechische, indem es sich auf den Beginn der Besiedlung der späteren Böhmischen Länder durch Deutsche bezieht, die dadurch entstandene Plurikulturalität idealisiert und die k.u.k.-Monarchie Österreich-Ungarn zum positiven Inbegriff solcher Interkulturalität macht. Auf den völlig falschen Weg, nämlich den der Abwendung von dem vermeintlich so harmonischen, tatsächlich aber natürlich streng hierarchisierten Zusammenleben hätten sich die Tschechen mit der Gründung der Tschechoslowakei resp. dem sogenannten

21 Vgl. Smyčka, Václav: Das Gedächtnis der Vertreibung. Interkulturelle Perspektiven auf deutsche und tschechische Gegenwartsliteratur und Erinnerungskulturen, Bielefeld 2019, S. 41 f. 22 Vgl. ebd., S. 42 f.

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Prager Aufstand 1945 begeben. In diesem Narrativ sind die Deutschen – wie schon immer – rational und besonnen, die Tschechen aber ein irrationaler und später dem Kommunismus verfallener Mob. In der Tschechoslowakei formierte sich seit den 1970er Jahren ein im Antikommunismus verankertes Masternarrativ der Vertreibung,23 das das ältere Narrativ nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mehr und mehr ersetzte. Die in den verfolgten oppositionellen Kreisen versammelten Intellektuellen haben die Vertreibung der Deutschen im breiteren Kontext der Nachkriegsgeschichte und unter dem Eindruck der den Prager Frühling beendenden Invasion durch den Warschauer Pakt sowie der sich daran anschließenden sogenannten ›Normalisierung‹, also der Rückkehr zu einer strikt kommunistischen Ideologie und der sich aus dieser ableitenden umfassenden Unterdrückung der Bevölkerung, verstanden. Petr Pithart etwa bezeichnete die Vertreibung als Ereignis, das zur Auflösung des Rechtssystems der Tschechoslowakei und der Moral der tschechischen Gesellschaft geführt hat und so die nachfolgende Entstehung der kommunistischen Diktatur und ihre Rechtswidrigkeit vorbereitete. Pitharts Thesen hat später der slowakische Historiker Ján Mlynárik erweitert, indem er die Vertreibung als ›Ursünde‹ der Tschechen beschrieb, die sie in den Bann der Sowjetunion trieb, da nur die Teilung Europas sie vor der Rache der Vertriebenen und einer zukünftigen Revision des Potsdamer Abkommens schützen konnte. Diese antikommunistische Haltung konnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs eine deutlich entlastende Funktion haben, da sozusagen alle Schuld an der Vertreibung den Kommunisten zugeschrieben wurde und der Anteil anderer Parteien daran vergessen gemacht werden konnte. In Deutschland entwickelte sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ein neues Deutungsmuster der Vertreibung,24 das das vorangehende konfrontative Masternarrativ mehr und mehr ersetzte. Selbst in der sudetendeutschen Landsmannschaft wurde die aus den binären nationalen Zuschreibungen hergeleitete Erklärung zugunsten transnationaler Verständnisweisen aufgegeben. Die Vertreibung erscheint so nicht mehr als Folge des spezifischen Konflikts von Deutschen und Tschechen, sondern als Ergebnis eines überspannten modernen Nationalismus und der ethnischen Säuberungen, die ja in verschiedensten Teilen Europas – freilich nicht nur – im 20. Jahrhundert stattgefunden haben. Verallgemeinert gesprochen: Was als außerordentliches historisches Ereignis erklärt werden soll, wird durch alle vier ›Masternarrative‹ Teil einer sehr langen Geschichte, ohne deren Kenntnis die bloß vermeintliche Singularität nicht verstanden werden kann. Gerade dies ist der Grund, warum ich den Titelworten der Ringvorlesung, auf die dieser Aufsatz zurückgeht, »Endpunkte. Und Neuanfänge« im Titel meines Beitrags den Begriff eines sozusagen immerwährenden »Übergangs« zur Seite gestellt habe. So sehr ein historisches Ereignis auch je nach Sicht Endpunkt eines Al-

23 Vgl. ebd., S. 43 f. 24 Vgl. ebd., S. 44 f.

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ten oder Anfang eines Neuen – also eine historische Zäsur – ist, so ist es doch auch immer Teil eines geschichtlichen Kontinuums. Dieses ist aber immer schon durch das nationalkulturell spezifische ›Erinnern-wie-üblich‹ geprägt, in das das singuläre Ereignis als Teil einer Kausalkette einbezogen wird. Dies gilt dann auch für das Epochenjahr 1989. Im zweiten Band der schon erwähnten Studie Der vergessene Weltkrieg. Europas Osten 1912–1923 vergleichen Włodzimierz Borodziej und Maciej Górny immer wieder den Umbruch von 1918 mit dem von 1989. So schreiben sie: Beim Blick auf die Probleme, die sich vor den jungen Staaten Ostmitteleuropas auftürmten, entdeckt man unschwer Parallelen zu einer späteren Umgestaltung der Fundamente der sozialen und ökonomischen Ordnung in diesem Teil der Welt. Ganz wie 1989 durchlief Ostmitteleuropa 1918 eine Systemtransformation.25

Die beiden polnischen Historiker fahren fort: In der Geschichtsschreibung tauchte dieser Vergleich erst vor Kurzem auf. Florian Kühler-Wielach und Sarah Lemmen schlagen vor, man solle die Transformation nicht als einmaligen Umbruch, sondern als Prozess betrachten, als komplexe, unumkehrbare Veränderung aller Lebensbereiche: Politik, Kultur, Wirtschaft und Sozialbeziehungen.26

Auch davon ist der Titel dieses Aufsatzes Hundert Jahre Übergang inspiriert. Eine solche Sicht nimmt dem einzelnen Ereignis im Übrigen nicht seine Singularität. Einzigartig am Umbruch 1989 ist etwa sicher, wie sehr er zum Zeitpunkt des Geschehens als Befreiung, herbeigeführte Unabhängigkeit und triumphaler Neuanfang verstanden wurde und wie sehr er von heute aus gesehen als Umbruch erscheint, in dem – jedenfalls aus meiner Sicht – außer dem Kollaps eines totalitären Kommunismus fast alles falsch gelaufen ist. Denn das damals gültige Narrativ zum neuen Europa war, dass – parallel zum Diktum Willy Brandts zur deutschen Wiedervereinigung, dass zusammenwachse, was zusammengehört –, nun ein früheres Europa ohne die große Bruchlinie in seinem Inneren reetabliert werden könne. Hinderlich daran war nur, dass ein Wissen um jenes andere Europa vor dem Zweiten, vor allem aber vor dem Ersten Weltkrieg nicht mehr wirklich vorhanden war. Und so setzten die Westeuropäer voraus, dass die im ehemaligen Osten liegenden Staaten und deren Gesellschaften nichts Besseres zu tun hätten, als sich dem einmaligen Friedensprojekt der europäischen Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg und der es begründenden Werte anzuschließen. Die Beitritte zur EU und zur NATO schienen das ja auch zunächst zu bestätigen. Die Entwicklungen der letzten Jahre aber zeigen, dass das so nicht der Fall war. Die neu entstandenen Nationalismen sind ja auch eine Verweigerung gegenüber einer vermeintlichen Gleichheit, die der Westen gönnerhaft

25 Borodziej, Włodzimierz / Górny, Maciej: Der vergessene Weltkrieg. Europas Osten 1912–1923, Band 2: Nationen 1917–1923, Darmstadt 2018, S. 287. 26 Ebd., S. 287 f.

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unterstellte und damit auch meinte, die ganz anderen Erfahrungen der Bewohner des sogenannten Ostblocks ignorieren zu können. Doch wessen Land 1968 besetzt worden ist und wer danach die sogenannte Normalisierung erleiden musste, schaut wohl anders auf Europa als jene, die 1968 die Studentenunruhen und die mit ihnen verbundene Liberalisierung der Gesellschaft erfahren haben. Man hätte sich also nach 1989 zusammenfinden müssen – an Stammtischen oder wo auch immer – und sich die ganz anderen Sichtweisen erklären müssen, um auf dem so etablierten gegenseitigen Verständnis ein ganz neues Europa aufzubauen, das vielleicht dann dem Europa vor 1914 durchaus ähnlich geworden wäre. Auch in diesem Fall kam es anders. Auf SPIEGEL Online konnte man Ende 2015 im Zusammenhang mit der Weigerung vieler ostmitteleuropäischer Staaten, Flüchtlinge aufzunehmen, als Resümee einer in Deutschland und Westeuropa verbreiteten Haltung lesen: Es wäre jetzt naheliegend, scharfe Maßnahmen gegen die hartleibigen EU-Nachbarn im Osten zu fordern: Streicht den Undankbaren, die seit ihrem Beitritt so viele Milliarden aus dem EU-Topf erhalten haben, doch die Mittel zusammen! Trefft sie an ihrer schwächsten Stelle, der Wirtschafts- und Infrastrukturförderung! Dann werden sie schon sehen, wo sie mit ihrem unsolidarischen Verhalten bleiben!27

Man könnte ergänzen: Und dann doch noch Teil des westeuropäischen ›Denkenswie-üblich‹ werden. Ich weiß nicht, was ich schlimmer finden soll: Jene antidemokratischen Tendenzen, die sich in Ostmitteleuropa immer mehr Bahn brechen, oder die Ignoranz westeuropäischer Politiker, die sich nicht einmal im Ansatz darum bemühen, die Gründe für diese Entwicklungen zu verstehen, und sie damit – ohne es zu erkennen – noch befeuern. Das ist alles Andere als eine Relativierung all der undemokratischen Entwicklungen in Ungarn, Polen, auch in Tschechien. Aber ohne ein Verständnis, warum diese Länder nach ihren ganz eigenen Erfahrungen meinen, diesen Weg gehen zu müssen, kommt man nicht weiter. Danach kann man seine Kritik ja dann immer noch wiederholen, aber es wäre eine Kritik unter Gleichen, nicht eine von vermeintlich Höherentwickelten den rückständigen Nachbarn im Osten gegenüber. Die im Untertitel meines Beitrags genannten Endpunkte und Neuanfänge in Mitteleuropa 1918–2019 stehen für das meine Ausführungen prägende Verständnis der Geschichte als fortwährendem Übergang und langer Dauer. In diesen sind die markanten Umbrüche sozusagen nur Punktierungen, ein An-den-Tag-Treten von etwas, was sich lange und langsam entwickelt hat und was nach der Eruption zusammen mit den eingetretenen Veränderungen noch weiterwirkt. Ich plädiere also für eine ›Dekonstruktion‹ der großen Umbrüche. Die Fixierung auf das große Datum halte

27 Weiland, Severin: EU-Kürzungen für Osteuropa. Bitte nicht kraftmeiern! In: SPIEGEL Online, 17.12.2015, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlingskrise-eu-kuerzungenfuer-osteuropa-waeren-falsch-a-1068290.html, letzter Zugriff am 23. November 2019.

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ich für fragwürdig, zumindest aber unzureichend. In der Fokussierung auf ein Jahr und das Ereignis, für das es steht, nistet auch immer die Unterstellung, das Ereignis sei fassbar, mehr noch, es habe eine (einzige) anzugebende Bedeutung. Gerade das aber ignoriert die Europa umfassend prägende Vielfalt des ›Erinnerns wie üblich‹, der man nur gerecht wird, wenn man anerkennt, dass ganz unterschiedlich auf ein einzelnes Ereignis geblickt werden kann. Wir werden nicht umhinkommen, uns diese Unterschiede immer von Neuem gegenseitig zu übersetzen.

Endloses Ende, unbestimmter Neuanfang Die Entstehung des ersten Jugoslawien aus zeitgenössischen Perspektiven Rok Stergar

I. 29. Oktober 1918: Unabhängigkeitstag Am 29. Oktober 1918 befand sich Ljubljana, die Hauptstadt des österreichischen Kronlandes Krain, in heller Aufregung. Die meisten Geschäfte und Büros waren geschlossen und Massen von Menschen zogen durch die Straßen und schwenkten slowenische und jugoslawische, aber auch britische, US-amerikanische und tschechische Flaggen.1 Der Artikel auf der ersten Seite des politischen Blatts Slovenec ­(Slowene), der Hauptzeitung der Slowenischen Volkspartei, behauptete, die Atmosphäre sei jubelnd und »die Luft gesättigt mit Freude und Triumph.«2 Laut dem liberalen Nationalisten und ehemaligen Bürgermeister der Stadt, Ivan Hribar, war sogar das Wetter perfekt. Es gab keine Wolken und der »Horizont war so klar wie das Auge eines Fisches.«3 Der Grund für all diese Aufregung war die Massenversammlung, die am Nachmittag stattfinden sollte und bei der die Unabhängigkeit des Staates der Slowenen,

Ich möchte Laurence Cole, Jernej Kosi, Alexander Maxwell, John Paul Newman und den Teilnehmern der Konferenz »Paths of Transition / Transformation: Local Societies in Southeastern Europe in Transition from Empires to Nation States after World War I« (2017) am Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München für ihre hilfreichen Kommentare zu früheren Entwürfen dieses Aufsatzes danken. Des Weiteren möchte ich Laurence Cole, Claire Morelon und John Paul Newman meinen Dank dafür aussprechen, dass sie mir freundlicherweise erlaubt haben, ihre Kapitel zu lesen, bevor sie veröffentlicht wurden. Abschließend möchte ich die finanzielle Unterstützung durch die Slowenische Forschungsagentur (Projekt »Post-Imperial Transitions and Transformations from a Local Perspective: Slovene Borderlands Between the Dual Monarchy and Nation States (1918–1923)«, Nr. J6–1801 (A)) würdigen. Eine etwas veränderte englische Version dieses Kapitels erscheint in einem von Enikő Dácz und Gábor Egry herausgegebenen Sammelband. Ich danke den Herausgebern, dass sie mir die Wiederverwendung dieses Textes gestattet haben. 1 Manifestacijski sprevod v Ljubljani [Manifestationsumzug in Ljubljana], in: Slovenski narod, 30. Oktober 1918, S. 1, 2. 2 Dan svobode [Tag der Freiheit], in: Slovenec, 29. Oktober 1918, S. 1. 3 Hribar, Ivan: Moji spomini [Meine Erinnerungen], hg. von Vasilij Melik, Ljubljana 1984, Bd. 2, S. 274, 275.

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Kroaten und Serben – im Volksmund Jugoslawien genannt – proklamiert werden sollte. Nachdem nämlich die Nationalräte in Ljubljana und Zagreb, die selbsternannten Vertreter der habsburgischen Südslawen, das Manifest Kaiser Karls I. vom 17. Oktober abgelehnt hatten, hatte der Nationalrat für Slowenien und Istrien, nach einigen recht sorgfältigen Überlegungen, schließlich einer öffentlichen Versammlung zugestimmt, die den letzten Schritt auf dem Weg zur Unabhängigkeit markieren sollte, der – so schien es – mit der Verlesung der sogenannten Maideklaration im Wiener Reichsrat am 30. Mai 1917, also fast eineinhalb Jahre zuvor, begonnen hatte.4 Doch trotz all der großen Worte und all der Aufregung waren nicht alle davon überzeugt, dass der Bruch unmittelbar bevorsteht und endgültig ist. So hatte beispielsweise die Laibacher Zeitung, die halboffizielle Zeitung der Krainer Landesregierung, der kommenden »nationalen Revolution« nur eine kurze Nachricht gewidmet. »Der Nationalrat der Slowenen, Kroaten und Serben hat den morgigen Tag zum Nationalfeiertag erklärt und bestimmt, daß aus diesem Anlasse die Arbeit überall zu ruhen habe. Unser Blatt wird daher morgen nicht ausgegeben werden«, schrieben sie in einer kurzen Notiz auf der vierten Seite, unter den Lokal- und Provinznachrichten.5 Entweder sahen die Journalisten der Regierungszeitung nicht, was da auf sie zukam, oder vielleicht waren sie auch nur nicht bereit, sich der Realität zu stellen. Auch die Richter des Provinzgerichts hatten ihre Bedenken. Als sie sich am 28. Oktober zusammensetzten, um zu erörtern, ob sie an der Versammlung am nächsten Tag teilnehmen sollten, schloss einer von ihnen die Sitzung mit einer recht aufschlussreichen Ankündigung ab: »Wir werden wie Narren dastehen, wenn nichts aus diesem Jugoslawien wird!«6 Dieser einfache, kurze Satz, der für die Nachwelt im Tagebuch des Richters und bekannten Autors Fran Milčinski erhalten geblieben ist, dient als Ausgangspunkt für diesen Aufsatz, der versucht, die Frage zu beantworten, wie es möglich war, dass ein einigermaßen gut vernetzter und informierter Kollege von Milčinski am Vorabend der Proklamation der Unabhängigkeit noch Zweifel daran hatte, dass Jugoslawien Wirklichkeit werden würde. Wie konnte es sein, dass es immer noch Menschen gab, die trotz aller Entwicklungen der vergangenen Monate dachten – hofften oder fürchteten –, dass es realistische Alternativen gäbe? Oder, um die Frage allgemeiner

4 Perovšek, Jurij: Slovenska osamosvojitev v letu 1918. Študija o slovenski državnosti v Državi Slovencev, Hrvatov in Srbov [Slowenische Emanzipation im Jahr 1918. Studie zur slowenischen Eigenstaatlichkeit im Staat der Slowenen, Kroaten und Serben], Ljubljana 1998, S. 51–54; Pleterski, Janko: Prva odločitev Slovencev za Jugoslavijo. politika na domačih tleh med vojno 1914–1918 [Die erste Entscheidung der Slowenen für Jugoslawien. Politik auf heimischem Boden während des Krieges 1914–1918], Ljubljana 1971, S. 259–267; Lukan, Walter: Die Habsburgermonarchie und die Slowenen im Ersten Weltkrieg (Austriaca, 11), Wien 2017, S. 199–202. 5 Nationalfeiertag, Laibacher Zeitung, 28. Oktober 1918, S. 1646. 6 Milčinski, Fran: Dnevnik 1914–1920 [Tagebuch 1914–1920], hg. von Goran Schmidt, Ljubljana 2000, S. 384.

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zu formulieren: Wie war es möglich, dass viele Zeitgenossen nicht sahen, dass das Ende nahte und ein Neuanfang unmittelbar bevorstand? Anhand des Tagebuchs von Milčinski und anderer ähnlicher Quellen, wobei der Schwerpunkt auf dem slowenischsprachigen Bürgertum liegt, versucht der vorliegende Aufsatz diese Fragen zu beantworten und die gut etablierte Erzählung über den Übergang von Österreich-Ungarn zu Jugoslawien um einige Details und Nuancen zu ergänzen.7 Dies geschieht weniger, um ihre sachliche Korrektheit anzuzweifeln, sondern vor allem, um ihre Teleologie in Frage zu stellen, indem nationalistische MetaErzählungen, die die Errichtung eines Nationalstaates als unvermeidliches Ergebnis historischer Prozesse betrachten, als Erklärungsrahmen zurückgewiesen werden.

II. Jugoslawien! Welches Jugoslawien? Als Anton Korošec, der Vorsitzende des Südslawischen Klubs, des Reichratsklubs der slowenischen, serbischen und kroatischen Abgeordneten des österreichischen Parlaments, am 30. Mai 1917 die Maideklaration verlas, legte er der Regierung ein Programm vor, das das politische System der Doppelmonarchie zu zerstören drohte. Die einzige Forderung dieses Programms war nämlich die Vereinigung »aller von Slowenen, Kroaten und Serben bewohnten Gebiete der Monarchie zu einem selbständigen, von jeder nationalen Fremdherrschaft freien, auf demokratischer Grundlage aufgebauten Staatskörper unter dem Zepter der habsburgisch-lothringischen Dynastie.«8 Kurz gesagt, der Südslawische Klub forderte ein habsburgisches Jugoslawien, das Teile von Cisleithanien, Teile Ungarns sowie Bosnien und Herzegowina umfassen sollte. Doch in den folgenden Monaten begannen die Schöpfer der Deklaration langsam, die sogenannte Habsburg-Klausel als eine Option und nicht als integralen Bestandteil des Programms zu betrachten. Während sie sich noch im Frühjahr 1917 höchst aufrichtig ein habsburgisches Jugoslawien gewünscht hatten, 7 Siehe vor allem: Balkovec, Bojan: Prva slovenska vlada 1918–1921 [Erste slowenische Regierung 1918–1921] (Družboslovje, 9), Ljubljana 1992; Perovšek, Jurij: Die Slovenen in der Umbruchszeit und im neuen jugoslawischen Staat (1918–1929), in: Heppner, Harald / Staudinger, Eduard (Hg.): Region und Umbruch 1918. Zur Geschichte alternativer Ordnungsversuche, Bern 2001, S. 69–85; Perovšek: Slovenska osamosvojitev; Perovšek, Jurij: Slovenski prevrat 1918. Položaj Slovencev v Državi Slovencev, Hrvatov in Srbov [Slowenischer Umsturz 1918: Situation der Slowenen im Staat der Slowenen, Kroaten und Serben], Ljubljana 2018; Pleterski: Prva odločitev; Zečević, Momčilo: Slovenska ljudska stranka in jugoslovansko zedinjenje 1917–1921. Od majniške deklaracije do vidovdanske ustave [Die Slowenische Volkspartei und die jugoslawische Einigung 1917–1921. Von der Maideklaration bis zur Vidovdan-Verfassung], Maribor 1977. Vgl. Rahten, Andrej: Od Majniške deklaracije do habsburške detronizacije. Slovenska politika v času zadnjega habsburškega vladarja Karla [Von der Maideklaration bis zur Entthronung der Habsburger. Slowenische Politik in der Zeit des letzten Habsburger-Kaisers Karl], Celje 2016. 8 Lukan: Die Habsburgermonarchie und die Slowenen, S. 101, 102; Pleterski: Prva odločitev, S. 116, 117; Rahten: Od Majniške deklaracije, S. 60–62.

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wollten sie ab dem Spätherbst desselben Jahres zunehmend nur noch ein Jugoslawien – mit oder ohne die Habsburger. Völlige Unabhängigkeit wurde so zu einer realistischen Alternative; für einige wurde sie sogar zur bevorzugten Option. Eine halbgeheime Resolution vom März 1918 ließ die Habsburger bereits ganz weg. Anton Korošec behauptete später, dass sie in diesem Moment »das Habsburger-Zepter hinausgeworfen« hätten.9 Die Tatsache, dass sich die meisten slowenischen Politiker 1918 von den Habsburgern abgewendet hatten, bedeutete jedoch nicht, dass das habsburgische Jugoslawien völlig aus dem Blickfeld geriet. Immerhin lehnten im Januar 1918 sogar der britische Premierminister David Lloyd George und der US-Präsident Woodrow Wilson noch den Zerfall Österreich-Ungarns ab.10 Die Vorstellung, dass es »orientalisch«, ja sogar »asiatisch«, ein a-nationales Überbleibsel der Vergangenheit sei, hatte sich unter den Staatsmännern der Entente noch nicht durchgesetzt.11 Es ist also nicht überraschend, dass das Habsburgerreich unter den Slowenen immer noch viele Anhänger hatte. Ivan Šusteršič, der Landeshauptmann von Krain und einer der Führer der Volkspartei, und seine Unterstützer interessierten sich nur dann für Jugoslawien, wenn es Teil eines habsburgischen Reiches blieb.12 Die Haltung von Šusteršič führte zu einer Spaltung der Partei. Aber selbst einige seiner Gegner glaubten, dass der habsburgische Staat eine Zukunft habe und dass eine südslawische Einheit ein Teil davon sein könnte.13 Der Bischof von Ljubljana Anton Bonaventura Jeglič, der im Herbst 1917 maßgeblich an der Gründung der sogenannten Deklarationsbewegung, einer Massenbewegung zur Unterstützung der Maideklaration, beteiligt war, verstand seine Unterstützung als ein Mittel gegen die Pläne zur Errichtung eines von der Karađorđević-Dynastie regierten Jugoslawiens. Bis kurz vorm Ende des alten Österreichs wollte er es reformieren und »gegen seine ausländischen Feinde im Süden stärken.«14 Sein Sekretär, der führende slowenische Ideologe des politischen Katholi9 Lukan: Die Habsburgermonarchie und die Slowenen, S. 147; Pleterski: Prva odločitev, S. ­166–172. 10 Cornwall, Mark: The Undermining of Austria-Hungary. The Battle for Hearts and Minds, Houndmills / L ondon / New York 2000, S. 179; Zečević: Slovenska ljudska stranka, S. 93, 94. 11 Sluga, Glenda: Bodies, Souls and Sovereignty. The Austro-Hungarian Empire and the Legitimacy of Nations, In: Ethnicities 2 (2001) 1, S. 207–232. 12 Lukan: Die Habsburgermonarchie und die Slowenen, S. 136–139, 189; Pleterski, Janko: Dr. Ivan Šušteršič, 1863–1925. Pot prvaka slovenskega političnega katolicizma [Dr. Ivan Šušteršič, 1863–1925. Der Weg des Führers des slowenischen politischen Katholizismus], Ljubljana 1998, S. 401–439; Rahten: Od Majniške deklaracije, S. 50–168; Rahten, Andrej: Ivan Šusteršič, der ungekrönte Herzog von Krain. Die slowenische katholische Bewegung zwischen trialistischem Reformkonzept und jugoslawischer Staatsidee (Studien zur Geschichte der ÖsterreichischUngarischen Monarchie, 32), Wien 2012, S. 314–343; Zečević: Slovenska ljudska stranka, S. 80 und passim. 13 Rahten: Od Majniške deklaracije, S. 140–149. 14 Jeglič, Anton Bonaventura: Jegličev dnevnik. Znanstvenokritična izdaja [Jegličs Tagebuch: Wissenschaflich-kritische Ausgabe], hg. von Blaž Otrin und Marija Čipić Rehar, Celje / Ljubljana 2015, S. 730. Siehe auch den anonymen Brief von Jeglič an die christlich-sozial orientierte

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zismus, Aleš Ušeničnik, veröffentlichte noch im August 1918 eine Broschüre, in der er für ein habsburgisches Jugoslawien plädierte.15 Auch viele slowenischsprachige Sozialdemokraten waren gegen die Teilung Österreich-Ungarns und wollten es stattdessen reformieren. In einem Brief an Otto Bauer vom Februar 1918 schrieb Henrik Tuma, einer der wichtigsten slowenischen Sozialdemokraten, dass er zu der Schlussfolgerung gekommen sei, dass ein Gleich­gewicht der europäischen Staaten nur dann möglich sei, wenn es ein mitteleuropäisches politisches System gebe, das »die nationalen Gruppen der Polen, Čechoslowaken, Madyaren, österreichischen Deutschen, Rumänen und Südslaven umfasst.«16 Lange Zeit war dies auch die offizielle Parteilinie. Eine Minderheit hielt selbst noch nach dem Kurswechsel der Jugoslawischen Sozialdemokratischen Partei, die ab dem Frühjahr 1918 die Deklarationsbewegung und ihren zunehmend separatistischen Kurs zu unterstützen begann, daran fest.17 Darüber hinaus blieb die Unterstützung für die Habsburg-Klausel auch außerhalb der politischen Eliten während des gesamten Frühjahrs und Sommers 1918 weit verbreitet. Aus verschiedenen Gründen – Trägheit, Pragmatismus, Angst vor dem Unbekannten, aber auch Staatspatriotismus – konnten sich die meisten Menschen ein nicht-habsburgisches Jugoslawien noch immer nicht vorstellen. Deshalb mussten die Politiker ihren Kurswechsel verbergen. Der liberale Reichsratsabgeordnete Vladimir Ravnihar schrieb später: Wie vorsichtig wir mit unserer ›Maideklaration‹ umgehen mussten, um die ›patriotischen Gefühle‹ unseres guten, religiösen, einfachen Volkes nicht zu verletzen. […] An einigen Orten mussten wir bei öffentlichen Versammlungen die österreichischen Tasten drücken, um den gewünschten Effekt zu erzielen.18

Was auch immer der Grund war, die Unterstützung der Bevölkerung war überwältigend. Nachdem die Deklarationsbewegung im Herbst 1917 begonnen hatte, erklärten bis zum Sommer 1918 mehr als 500 Gemeinderäte und mehr als 327.000 Per-

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Wiener Tageszeitung Reichspost: [Jeglič, Anton Bonaventura]: Die Spaltung unter den Slovenen, in: Reichspost, 10. Januar 1918, S. 4. Jeglič erkannte die Urheberschaft in seinem Tagebuch an. Siehe: Jeglič: Jegličev dnevnik, S. 740. Ušeničnik, Alexius [Aleš]: Um die Jugoslavija. Eine Apologie, Laibach 1918; Rahten: Od Majniške deklaracije, S. 140–142. Tuma, Henrik: Pisma. Osebnosti in dogodki (1893–1935) [Briefe: Persönlichkeiten und Ereignisse (1893–1935)], hg. von Branko Marušič, Ljubljana / Trst 1994, S. 16. Siehe auch: Rahten: Od Majniške deklaracije, S. 85–87. Pleterski: Prva odločitev, S. 185–205; Rahten: Od Majniške deklaracije, S. 287. Für eine eingehende Analyse der slowenischen sozialdemokratischen Politik während der letzten beiden Kriegsjahre siehe: Kermavner, Dušan: Ivan Cankar in slovenska politika leta 1918 [Ivan Cankar und das slowenische politische Jahr 1918], Ljubljana 1968. Ravnihar, Vladimir: Mojega življenja pot. Spomini dr. Vladimirja Ravniharja [Mein Lebensweg. Erinnerungen von Dr. Vladimir Ravnihar], hg. von Janez Cvirn et al. (Historia 2), Ljubljana 1997, S. 270.

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sonen ihre Unterstützung.19 Selbstverständlich können wir nicht wirklich wissen, warum genau jeder Einzelne die Deklaration unterstützte. War es wegen der Habsburg-Klausel oder trotz der Habsburg-Klausel? Eine Analyse zahlreicher Petitionen zur Unterstützung der Deklaration bestätigt jedoch, dass das habsburgische Jugoslawien in den letzten Monaten des Jahres 1917 und sogar 1918 noch viel Unterstützung hatte. Tatsächlich sprach sich eine klare Mehrheit für ein reformiertes Habsburgerreich, das gewöhnlich einfach nur Österreich genannt wurde, aus und erklärte seine Loyalität gegenüber Kaiser Karl.20 So gaben beispielsweise die Flüchtlinge aus dem Lager Bruck an der Leitha an: »Lang lebe der jugoslawische Staat unter dem Zepter des ruhmreichen Hauses Habsburg!« Und die 170 slowenischen und kroatischen Bergleute aus Fohnsdorf bei Judenburg beendeten ihre Unterstützungserklärung mit: »Lang lebe Jugoslawien! Lang lebe unser Kaiser Karl!«21 Nicht alle Aussagen wirkten wie leere Phrasen, die aus reiner Gewohnheit verkündet wurden. Im Gegenteil, viele waren klare politische Aussagen, die die Habsburg-Klausel aus der Maideklaration nicht nur wiederholten, sondern weiter ausführten. So hieß es in der Petition eines Dorfes in der Nähe von Dravograd (Unterdrauburg), die der dortige Pfarrer verfasst hatte: »Wir wollen nicht weg von Österreich, wir wollen Österreicher bleiben, aber wir wollen eine Vereinigung aller österreichischen Jugoslawen in einem unabhängigen Staat innerhalb der Monarchie.« Auch die 126 Unterzeichner aus der Pfarrei Sveta Barbara v Halozah (St. Barbara in der Kollos) bekannten sich am 5. Mai 1918 felsenfest und in ihren eigenen Worten zu einem österreichisch-jugoslawischen Staat: »Wir wollen nicht unter den serbischen oder italienischen König kommen, weder unter Deutschland noch unter die Ungarn. Wir waren, wir sind, und wir wollen österreichisch-jugoslawisch bleiben, und wir wollen unter dem österreichischen Herrscher bleiben.«22 Die Petition des Kärntner Dorfes Edling (Kazaze) enthielt sogar eine farbige Karte, die die Grenzen der zukünftigen Nationalstaaten im föderalisierten Österreich zeigt.23 Die Präferenz für eine österreichische Lösung der sogenannten südslawischen Frage ist nicht nur aus öffentlichen Erklärungen ersichtlich. Auch in den Briefen der Soldaten von der Front und in ihren Tagebüchern ist sie häufig anzutreffen. Die Unterstützung für Jugoslawien wurde oft zum Ausdruck gebracht, aber speziell für ein habsburgisches Jugoslawien, ebenso wie die Hoffnung, dass Kaiser Karl derjenige sein wird, der eine gründliche Reform der Doppelmonarchie einleiten wird.24 19 Stavbar, Vlasta: Majniška deklaracija in deklaracijsko gibanje. Slovenska politika v habsburški monarhiji, od volilne reforme do nove države (1906–1918) [Maideklaration und Deklarationsbewegung. Slowenische Politik in der Habsburgermonarchie, von der Wahlreform bis zum neuen Staat (1906–1918], Maribor 2017, S. 81. 20 Ebd., S. 85. 21 Ebd., S. 86, 90, 91. 22 Ebd., S. 92, 131, 211. 23 Ebd., S. 214. 24 Lukan, Walter: Die politische Meinung der slowenischen Bevölkerung 1917/18 im Spiegel der Zensurberichte des Gemeinsamen Zentralnachweisbureaus für Kriegsgefangene in Wien (mit

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Das Tagebuch von Franc Rueh, einem Reserveoffizier des 17. Infanterieregiments, ist ein recht typisches Beispiel. Rueh sah Österreich als sein Heimatland an, doch er wurde zunehmend kritisch gegenüber der politischen Situation im Reich. Besonders verbittert war er wegen der wahrgenommenen deutschen Vorherrschaft. Dennoch unterstützte er nach wie vor die Errichtung eines habsburgischen Jugoslawiens, nicht die volle Unabhängigkeit. Noch im Juli 1918 schrieb er zustimmend: »Unser Volk […] fordert einen eigenen unabhängigen Staat in Österreich, in dem alle brüderlichen österreichischen Kroaten, Serben und Slowenen vereint sein werden.«25 Während es klar ist, dass die Habsburg-Klausel für die Führer der Bewegung zunehmend nur ein Mittel darstellte, um den Vorwurf des Verrats und damit ein Eingreifen der kaiserlichen Behörden zu vermeiden, was von einigen Anhängern durchaus ähnlich verstanden wurde, deutet die schiere Menge an pro-habsburgischen Petitionen und Erklärungen  – aber auch ihr Inhalt  – auf einen Grad an Staatspatriotismus hin, der nicht ignoriert werden kann. Die politische Verfolgung in den ersten beiden Kriegsjahren und die Unfähigkeit des Staates, für seine Bürger zu sorgen, haben sicherlich die dynastische Loyalität und den Staatspatriotismus vermindert.26 Trotzdem sieht es so aus, als hätten das Reich und die Dynastie ihren Vorkriegsbonus nicht ganz ausgeschöpft.27 Selbst 1918 war das habsburgische Jugosbesonderer Berücksichtigung des Verfassers der Berichte – Milan Hodža), in: Pokorný, Jiří et al. (Hg.): Nationalismus, Gesellschaft und Kultur in Mitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Jiří Kořalka zum 75. Geburtstag = Nacionalismus, společnost a kultura ve střední Evropě 19. a 20. století. Pocta Jiřímu Kořalkovi k 75. narozeninám, Praha 2007, S. 217–283; Svoljšak, Petra: Slovenci v primežu avstrijske cenzure [Slowenen im Griff der österreichischen Zensur], in: Kleindienst, Katja / Vodopivec, Peter (Hgg.): Velika vojna in Slovenci. 1914−1918 [Der Große Krieg und die Slowenen. 1914−1918], Ljubljana 2005, S. 109–127, hier S. 124–127. Für eine allgemeine Analyse der Einstellungen der Soldaten siehe: Rachamimov, Iris (früher Alon): Arbiters of Allegiance. Austro-Hungarian Censors during World War I, in: Judson, Pieter M. / Rozenblit, Marsha L. (Hg.): Constructing Nationalities in East Central Europe, Oxford 2005, S. 157–77; Dies.: Imperial Loyalties and Private Concerns. Nation, Class, and State in the Correspondence of Austro-Hungarian POWs in Russia, 1916–1918, in: Austrian History Yearbook 31, 2000, S. 87–105. 25 Rueh, Franc: Moj dnevnik, 1915−1918 [Mein Tagebuch, 1915−1918], hg. von Igor Vilfan, Ljubljana 1999, S. 218. 26 Deak, John / Gumz, Jonathan E.: How to Break a State. The Habsburg Monarchy’s Internal War, 1914–1918, in: The American Historical Review 122 (2017) 4, S. 1105–1136; Cole, Laurence: Questions of Nationalization in the Habsburg Monarchy, in: Wouters, Nico / van Ypersele, Laurence (Hg.): Nations, Identities and the First World War, London 2018, S. 126–129; Judson, Pieter M.: The Habsburg Empire. A New History, Cambridge, MA, London 2016, S. 385–428; Judson, Pieter M.: »Where our commonality is necessary…«. Rethinking the End of the Habsburg Monarchy, in: Austrian History Yearbook 48 (2017), S. 1–21, hier S. 13–17. 27 Cole, Laurence: Military Culture and Popular Patriotism in Late Imperial Austria, Oxford 2014; Unowsky, Daniel L. / Cole, Laurence (Hg.): The Limits of Loyalty. Imperial Symbolism, Popular Allegiances, and State Patriotism in the Late Habsburg Monarchy, New York, Oxford 2007; Unowsky, Daniel L.: The Pomp and Politics of Patriotism. Imperial Celebrations in Habsburg Austria, 1848–1916 (Central European studies), West Lafayette, Indiana 2005. Für

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lawien noch immer die bevorzugte Option für einen großen Teil der politisch aktiven slowenischsprachigen Bevölkerung. Weniger als einen Monat vor der Ausrufung der Unabhängigkeit, am 29. September, glaubte Bischof Jeglič aufrichtig, dass »das gemeine Volk noch immer loyal und Österreich ergeben ist«, wie er in einem Brief an den österreichischen Ministerpräsidenten Max Hussarek schrieb.28 Außerdem haben viele von denen, die schließlich die volle Unabhängigkeit befürworteten, erst im letzten Monat die Seite gewechselt. Fran Milčinski ist hierfür ein gutes Beispiel. Sein Tagebuch für die zweite Hälfte des Jahres 1917 zeigt, dass er die Maideklaration unterstützt, aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass er eine Auflösung Österreich-Ungarns und die volle Unabhängigkeit ins Auge gefasst hätte. Es gibt darin auch einige sehr positive Bemerkungen über den Kaiser. In der ersten Hälfte des Jahres 1918 begann seine Begeisterung für Karl zwar zu schwinden und seine Bemerkungen wurden geringschätziger, aber dennoch kritisierte er noch im August 1918 diejenigen, die sich »kein anderes und gerechtes Österreich vorstellen können« – wohingegen er offensichtlich glaubte, dass er es könne.29 Erst im September und Oktober zeigen die Eintragungen in sein Tagebuch, dass ihm die österreichische Lösung nicht mehr realistisch erschien. Als er am 17. Oktober hörte, dass geplant war, einen illyrischen Staat zu etablieren, und dass die südslawischen Forderungen zumindest teilweise erfüllt werden sollten, bemerkte er dazu nur lapidar: »Zu spät!«30 Für Milčinski war die volle Unabhängigkeit nicht die Verwirklichung eines lebenslangen Traums, sondern eine pragmatische Lösung eines Problems. Und er stand erst dann hinter der Unabhängigkeit, als externe und interne Entwicklungen sie unausweichlich erscheinen ließen. Für ihn und viele andere slowenische bzw. jugoslawische Nationalisten war das primäre Ziel Jugoslawien, d. h. ein nationales Gemeinwesen der Südslawen, und nicht unbedingt ein unabhängiger Nationalstaat. Eine solche Position wurde vielleicht am besten von Bischof Jeglič, einem gut informierten, wenn auch politisch etwas naiven Verfechter der Deklarationsbewegung, in seinem Tagebucheintrag vom 16. Oktober 1918 zusammengefasst: »Was Jugoslawien betrifft, ist die Situation folgende: Es ist eine Gewissheit; aber es bleibt die Frage, ob wir es in Österreich oder außerhalb Österreichs bekommen werden.«31 Hier liegt die Antwort auf die Frage, wie es möglich war, dass einige Zeitgenossen Ende Oktober 1918 noch an der Verwirklichung des unabhängigen Jugoslawiens zweifelten und dass es noch Menschen gab, die sich damals realistische Alternativen vorstellen konnten. Betrachtet man die Ereignisse aus der Perspektive der Zeitgenossen, so waren die Zweifel des Richters Travner, der befürchtete, er würde wie ein

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die slowenischsprachige Bevölkerung siehe: Stergar, Rok: National Indifference in the Heyday of Nationalist Mobilization? Ljubljana Military Veterans and the Language of Command, in: Austrian History Yearbook 43 (2012), S. 45–58. Jeglič: Jegličev dnevnik, S. 760. Milčinski: Dnevnik, S. 363. Ebd., S. 378. Jeglič: Jegličev dnevnik, S. 762.

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Narr dastehen, wenn nichts aus Jugoslawien käme, oder des Richters Persche, der nur wenige Tage zuvor davor warnte, dass »die Dinge plötzlich eine Wendung nehmen könnten; die Bevölkerung könnte den Kaiser unterstützen«32, vollauf gerechtfertigt. Interne und externe Entwicklungen während des Krieges, vor allem aber nach dem Mai 1917, machten die Gründung eines unabhängigen Jugoslawien wahrscheinlicher, doch im Oktober 1918 gab es noch immer machbare Alternativen – oder zumindest hatten die Zeitgenossen allen Grund zur Annahme, dass es sie gab. Der Zerfall Österreich-Ungarns und die Gründung von Nachfolgestaaten sieht nur dann wie eine saubere Angelegenheit – wie ein Prozess, der nur so enden konnte, wie es schließlich der Fall war – aus, wenn man viele Aspekte der Vergangenheit ignoriert. Ansonsten ist er voller Überraschungen, unrealisierter, aber realistischer Alternativen und unerwarteter Wendungen. Vergessen sollte man nicht, dass kein Geringerer als Anton Korošec, der unbestrittene Anführer der Separatisten, später anerkannte, dass er im Frühjahr 1918 fest damit rechnete, dass das Reich noch einen weiteren Winter überstehen würde.33 Diese Erwartungen – oder sogar die Erwartung, dass das Reich überhaupt nicht zusammenbrechen könnte – sahen wahrscheinlich noch realistischer aus, wenn wir die Ereignisse und Prozesse außerhalb der politischen Arena berücksichtigen. Dort war Österreich-Ungarn während des gesamten Frühjahrs und Sommers 1918 noch sehr lebendig – wenn es ihm auch nicht besonders gut ging. Es funktionierte immer noch als Wirtschafts- und Verwaltungseinheit, trotz sichtbarer Anzeichen eines schleichenden Zerfalls entlang der nationalen, aber auch der regionalen Linien.34 Soldaten kämpften noch immer an mehreren Fronten, Bürokraten besetzten noch immer ihre Posten, Universitätsprofessoren bereiteten sich auf ein neues akademisches Jahr vor, und Unternehmen warben für ihre Waren und Dienstleistungen im ganzen Reich. Franc Rueh zum Beispiel versuchte in der ersten Oktoberhälfte wegen seiner »leichten Neurasthenie« eine medizinische Entlassung aus der Armee zu erreichen.35 Der Richter Milčinski war in den ersten Septembertagen noch damit beschäftigt, Theaterstücke zu zensieren, und die Regierung trieb ihn dazu an, so schnell wie möglich eine Entscheidung zu treffen.36 Im Februar war Bischof Jeglič in Wien und debattierte im Herrenhaus über die Grenzen des künftigen polnischen Königreichs; am letzten Tag des Monats besuchte er auch Kaiser Karl in Baden, um ihm für das Großkreuz des Franz-Joseph-Ordens zu danken, das er einige Monate zuvor erhalten hatte.37 1918, vor der Auflösung Österreich-Ungarns, erschien das 32 Milčinski: Dnevnik, S. 378. 33 Lukan: Die Habsburgermonarchie und die Slowenen, S. 184. 34 Judson: The Habsburg Empire, S. 430–432; Langthaler, Ernst: Dissolution before Dissolution. The Crisis of the Wartime Food Regime in Austria-Hungary, in: Tucker, Richard P. et al. (Hg.): Environmental Histories of the First World War, Cambridge 2018, S. 38–61, hier S. 60, 61. 35 Rueh: Moj dnevnik, S. 233, 234. 36 Milčinski: Dnevnik, S. 364. 37 Jeglič: Jegličev dnevnik, S. 747.

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Jahrbuch der Hermagoras-Gesellschaft für das Jahr 1919, das voller Anzeigen aus ganz Österreich, vor allem aus Wien, war. Dieses äußerst populäre Jahrbuch des größten slowenischen Vereins enthielt auch einen 33-seitigen Artikel über das »Letzte halbe Jahrhundert in Österreich«, der mehrere Seiten der wirtschaftlichen Entwicklung widmete; er endete mit einem kurzen Absatz über »Die Zukunft«.38 Die Zukunft Österreichs und seiner Wirtschaft war nicht nur Gegenstand von Artikeln, sondern es wurden auch sehr praktische Maßnahmen in den Gebieten umgesetzt, die die jugoslawischen Nationalisten in ihren Nationalstaat aufnehmen wollten. Die Versuche zur Wiederbelebung der lokalen Wirtschaft entlang des Oberen Isonzo (Soča), die einige Monate nach der Verlegung der Frontlinie weiter nach Westen begannen, sind ein anschauliches Beispiel. Seit Anfang 1918 wurden finanzielle und materielle Hilfen für die örtlichen Unternehmen und Bauernhöfe bereitgestellt, und die Behörden organisierten Vorträge über den Wiederaufbau. Des Weiteren wurden Häuser wiederaufgebaut und provisorische Unterkünfte bereitgestellt. Die Verwaltungsstrukturen – Gemeindeverwaltung, Gendarmerieposten usw. –, die 1915 bei der Umwandlung des Gebiets in ein Kriegsgebiet zerstört worden waren, wurden ebenfalls wiederhergestellt.39 Kurz gesagt, es herrschte kein Normalbetrieb, aber es gab auch keine Anzeichen dafür, dass das Habsburgerreich diese Gebiete aufgegeben hatte. Im Gegenteil, es sah sehr danach aus, als ob es vor Ort bleiben würde. Henrik Tuma behauptete in seinen Memoiren, dass es in Trieste (Trst) und Gorizia (Gorica, Görz) bis in die ersten Oktobertage keine Anzeichen für einen Zusammenbruch Österreich-Ungarns gab.40

III. Nach dem Bruch Als die Unabhängigkeit proklamiert wurde, war die Situation wirklich verwirrend! Auf der einen Seite waren der selbsternannte Staat der Slowenen, Kroaten und Serben und seine Behörden eindeutig darauf ausgerichtet, die Kontrolle über die anvisierten jugoslawischen Staatsgebiete zu erlangen. Tatsächlich ließ der Nationalrat in Ljubljana eine solche Absicht bereits bei seiner Gründung, am 16. und 17. August 1918, bekannt werden.41 Vielleicht noch wichtiger ist, dass die Entente-Mächte den Zerfall 38 Koledar Družbe sv. Mohorja. Za navadno leto 1919, Celovec 1918, S. 110–142. 39 Komac, Jernej: »Eno pa bomo lahko rekli: Doma smo!« Prebivalstvo Bovškega in njegova izkušnja vélike vojne 1914–1918 [»Eines werden wir sagen können: Wir sind daheim!« Die Bevölkerung in der Gegend von Bovec und ihre Erfahrungen des Großen Krieges 1914–1918], Magisterarbeit, Universität Ljubljana, 2018, S. 78–86; Svoljšak, Petra: Obnavljanje Goriške [Die Erneuerung von Goriška / Görz], in: Beguš, Ines / K lavora, Marko (Hg.): Begunci. Slovenski begunci s soške fronte [Flüchtlinge. Slowenische Flüchtlinge von der Isonzo-Front], Nova Gorica 2016 S. 98–105. 40 Tuma, Henrik: Iz mojega življenja. Spomini, misli, izpovedi [Aus meinem Leben. Erinnerungen, Gedanken, Bekenntnisse], hg. von Branko Marušič, Ljubljana 1997, S. 374. 41 Perovšek: Slovenska osamosvojitev, S. 15–19.

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Österreich-Ungarns unterstützten. Auf der anderen Seite waren in all diesen Gebieten noch österreichische Behörden präsent, der Kaiser blieb auf dem Thron und hatte wenige Tage zuvor sogar seine Pläne für eine weitreichende Föderalisierung des österreichischen Teils der Doppelmonarchie angekündigt – und die Minister der Regierung von Heinrich Lammasch blieben in ihren Ämtern. Und schließlich war auch die Armee, obwohl sie sich rasch auflöste, immer noch eine mächtige Kraft, und es schien plausibel, dass sie in die innenpolitischen Entwicklungen eingreifen könnte, um den Zusammenbruch des Reiches zu verhindern. Es ist also kein Wunder, dass die Zeitgenossen verwirrt waren. Dies lässt sich recht gut am Beispiel der Handlungen von Franc Rueh illustrieren: Am 29. Oktober hielt er sich zunächst in Ljubljana auf – da seine schwangere Frau an der Spanischen Grippe erkrankt war, hatte man ihn vom Militärdienst beurlaubt – und nahm an den Feierlichkeiten im Zusammenhang mit der Unabhängigkeitserklärung teil. Doch noch am selben Abend nahm er den Zug nach Wien, um sich wieder zum Dienst zu melden. Am nächsten Tag teilte man ihm mit, dass seine Dienste nicht mehr benötigt würden, und er kehrte nach Ljubljana zurück, allerdings erst, nachdem er seinen Gehaltsscheck für November abgeholt hatte.42 Fran Milčinski zeigte sich ähnlich verwirrt in seinem Verständnis dessen, was die Unabhängigkeit denn nun tatsächlich für ihn persönlich bedeutete. An dem Tag, an dem sie proklamiert wurde, fragte er sich, ob er am nächsten Tag wirklich damit anfangen solle, seine Amtsgeschäfte auf Slowenisch zu führen. Er war auch besorgt darüber, ob er am 1. November sein Gehalt aus Wien erhalten würde.43 Und es waren nicht nur Einzelpersonen, auch die neuen Behörden brauchten einige Zeit, um die Bedeutung der Unabhängigkeit zu begreifen. Die Bürokraten des Nationalrates schickten – zumindest vereinzelt – noch immer Berichte nach Wien, und der Nationalrat brauchte drei Tage, um den Landespräsidenten endgültig von seinen Aufgaben zu entbinden.44 Die Bürokraten auf den niederen Ebenen benötigten noch mehr Zeit. Milčinski vermerkte in seinem Tagebuch, dass einige Richter ihre Urteile »im Namen des Kaisers« fällten oder Anfang November nach wie vor in deutscher Sprache amtierten. Porträts von Kaiser Karl schmückten noch immer die Amtsstuben.45 Zugegeben, im Nachhinein könnte all dies als Geburtswehen abgeschrieben werden, und einige Zeitgenossen – vielleicht sogar die Mehrheit – haben es möglicherweise auch so verstanden. Sie könnten es aber auch anders verstanden haben: Als Episode, als Intermezzo oder vielleicht als Verwirklichung der kaiserlichen Pläne zur Föderalisierung des Reiches.46 Und einige waren sicher noch nicht dazu bereit, den 42 43 44 45 46

Rueh: Moj dnevnik, S. 233, 234. Milčinski: Dnevnik, S. 386, 387. Pleterski: Prva odločitev, S. 267. Milčinski: Dnevnik, S. 389, 391, 401. Judson: The Habsburg Empire, S. 433; Lukan: Die Habsburgermonarchie und die Slowenen, S. 193; Watson, Alexander: Ring of Steel. Germany and Austria-Hungary in World War I, New York 2014, S. 544.

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habsburgischen Staat zu verlassen oder die Dynastie aufzugeben. In der ersten Novemberwoche musste Bischof Jeglič ein Treffen seines Klerus absagen, weil die prohabsburgischen Priester sich anschickten, eine Reihe schwieriger Fragen zu stellen: Verstößt die Proklamation der Unabhängigkeit nicht gegen die erklärten Ziele der Maideklaration? Was ist mit dem Treueeid, kann der ignoriert werden? Was wird das einfache Volk sagen? Jeglič, der selbst aktiv an der Unabhängigkeitserklärung beteiligt gewesen war, versicherte ihnen in einem Brief, dass die Beziehungen zur Dynastie noch nicht abgebrochen seien, obwohl man nun »aus Österreich heraus« sei.47 Nur eine Woche später, als Kaiser Karl auf »jeden Anteil an den Staatsgeschäften« verzichtete und die Beamten von ihrem Treueeid freisprach, kam Jeglič zu dem Schluss, dass es jetzt »angemessen ist, davon auszugehen, dass er uns aufgegeben hat.«48 Auch andere dachten zunächst so wie Bischof Jeglič und hofften, dass eine Föderation der neu gegründeten Nationalstaaten geformt werden könnte und dass die Habsburger im neuen jugoslawischen Staat eine Rolle spielen könnten. Eine Woche vor dem 29. Oktober war Ivan Šusteršič, der pro-habsburgische Landeshauptmann von Krain, zu dem Schluss gekommen, dass die Unabhängigkeit nicht zu vermeiden sei; er war aber auch davon überzeugt, dass ein »unabhängiges und souveränes« Jugoslawien Teil der »Habsburg-Lothringer Vereinten Staaten« oder alternativ der »Vereinten Donau-Staaten« sein sollte.49 Laut Ottokar Landwehr von Pragenau vertrat kein Geringerer als Anton Korošec, der Präsident des Nationalrats des Staates der Slowenen, Kroaten und Serben, also das faktische Staatsoberhaupt des neuen Jugoslawiens, zur selben Zeit ähnliche Vorstellungen.50 Etwa ein Jahr später setzte sich Ivan Šusteršič, der zu jener Zeit in der Schweiz lebte, bei italienischen Diplomaten für einen gemeinsamen slowenisch-kroatischen Staat ein, der Jugoslawien ersetzen sollte; möglicherweise waren seine Pläne mit Karl Habsburg-Lothringen abgestimmt, der die Wiederherstellung seines Thrones noch nicht aufgegeben hatte.51 Und nach Angaben eines britischen Offiziers, der im Frühjahr 1919 die Steiermark besuchte, waren dort noch viele slowenischsprachige Menschen dem alten Österreich treu.52 Trotzdem erwiesen sich die Pläne von Šusteršić als allzu optimistisch. Dennoch kursierten Anfang der 1920er Jahre noch immer Gerüchte über eine Rückkehr der

47 Jeglič: Jegličev dnevnik, S. 766. 48 Ebd., S. 767, 768. 49 Šusteršič, Ivan: Dinastično vprašanje [Dynastische Frage], in: Resnica, 26. Oktober 1918, S. 2; Ders.: Izolirana Jugoslavija ali Zedinjene države [Isoliertes Jugoslawien oder Vereinte Staaten], ebd. 50 Rahten: Od Majniške deklaracije, S. 182, 183. Cf. Bister, Feliks J.: »Majestät, es ist zu spät …«. Anton Korošec und die slovenische Politik im Wiener Reichsrat bis 1918, Wien / Köln / Weimar 1995, S. 314. 51 Rahten: Od Majniške deklaracije, S. 210–216. 52 Pleterski, Janko: Ameriška poročila iz Hrvaške in Slovenije spomladi 1919 [Amerikanische Berichte aus Kroatien und Slowenien im Frühjahr 1919], in: Prispevki za novejšo zgodovino, 33 (1993), 1/2, S. 203–213, hier S. 208.

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Habsburger; angeblich standen slowenische Loyalisten in Kontakt mit Šusteršič, kroatischen Emigranten und Karl selbst.53 Es überrascht nicht, dass unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung auch alle möglichen Gerüchte im Umlauf waren. Die Nachrichten erreichten Ljubljana nämlich oft erst mit Verzögerung, und selbst die Mitglieder des Nationalrats und der Nationalregierung waren hinsichtlich der Entwicklungen im weiteren Umfeld nicht immer auf dem Laufenden.54 Einige Gerüchte, wie z. B. die Behauptung, dass USPräsident Wilson in Wirklichkeit der österreichische Kronprinz Rudolf sei55, wurden schnell von allen, außer den Leichtgläubigsten, abgetan. Andere wiederum trugen dazu bei, das allgemeine Gefühl der Unsicherheit und Verwirrung zu verstärken. In dieser Hinsicht unterschied sich die Zeit nach der Unabhängigkeit nicht sehr von der Kriegszeit, in der selbst die wildesten Gerüchte weite Verbreitung gefunden hatten.56 Im Ljubljana nach der Unabhängigkeit gab es Geschichten über eine bevorstehende Ankunft britischer Truppen – Milčinski phantasierte bereits davon, Dudelsäcke zu hören – und über eine italienische Besetzung der Stadt.57 Einige glaubten, Anton Korošec sei ermordet worden, und dass es einen Putsch gegen den Nationalrat in Zagreb geben würde.58 Vor allem aber stellten die Menschen – selbst die besser informierten – alle möglichen Vermutungen an, wie die künftige Gestalt des Gemeinwesens aussehen könnte, in dem sie leben würden. Würde der jugoslawische Staat, der gerade seine Unabhängigkeit proklamiert hatte, unabhängig bleiben oder würde er sich mit Serbien vereinigen? Würde er vielleicht von Serbien annektiert werden, einem Staat, der Teil der im Krieg siegreichen Entente war? Würde der neue Staat eine Republik oder eine Monarchie sein?59 Und, sollte Letzteres eintreten, welche Dynastie würde ihn regieren? Während die serbische Herrscherfamilie eine naheliegende Wahl zu sein schien, hatten ja auch die Habsburger, wie wir gesehen haben, noch ihre Unterstützer. Es war auch die Rede davon, dass die ehemalige montenegrinische Herrscherfamilie

53 Rahten: Od Majniške deklaracije, S. 250, 251. Zu den zahlreicheren und aktiveren kroatischen pro-habsburgischen Oppositionellen und Emigranten und ihrer letztendlichen Entwicklung zur faschistischen Ustascha siehe: Newman, John Paul: Shades of Empire. Austro-Hungarian Officers, Frankists, and the Afterlives of Austria-Hungary in Croatia, 1918–1929, in: Miller, Paul / Morelon, Claire (Hg.): Embers of Empire. Continuity and Rupture in the Habsburg Successor States After 1918, Oxford 2018, S. 157–176. 54 Zečević: Slovenska ljudska stranka, S. 160. 55 Milčinski: Dnevnik, S. 410. 56 Healy, Maureen: Vienna and the Fall of the Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I, Cambridge, New York 2004, S. 122–162. Zu Gerüchten in Prag nach der Unabhängigkeit siehe: Morelon, Claire: State Legitimacy and Continuity between the Habsburg Empire and Czechoslovakia. The 1918 Transition in Prague, in: Morelon / Miller (Hg.): Embers of Empire, S. 43–63. 57 Milčinski: Dnevnik, S. 391–399. 58 Ebd., S. 398; Jeglič: Jegličev dnevnik, S. 769. 59 Jeglič: Jegličev dnevnik, S. 765–769; Milčinski: Dnevnik, S. 402, 403.

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einspringen würde, und sogar die französischen Bourbonen und der britische Prinz Connaught wurden in diesen Zusammenhang erwähnt.60 Um die Verwirrung noch zu vergrößern, blieb der Staat der Slowenen, Kroaten und Serben international nicht anerkannt, während sich die italienischen Truppen auf die Demarkationslinie zubewegten, die Italien im Londoner Pakt von 1915 versprochen worden war, und Tausende österreichisch-ungarischer Soldaten auf ihrem Weg von der italienischen Front durch Ljubljana zogen. Darüber hinaus braute sich eine weitere Revolution zusammen. Während Nationalisten versuchten, eine nationale Revolution durchzuführen, waren wichtige Teile der Bevölkerung eher an einer sozialen Revolution interessiert. Die Unruhen hatten seit Monaten zugenommen. Im Juni trafen Milčinski und ein Freund auf einen jungen Mann, der die Frage, ob er ein Jugoslawe sei, wie folgt beantwortete: »Wissen Sie, was Bolschewiken sind? Ich war in Russland!«61 Einige abgelegene Gebiete wurden bereits von den sogenannten Grünen Kadern kontrolliert, Gruppen von oftmals bewaffneten Deserteuren, die manchmal von einer Revolution im bolschewistischen Stil sprachen und träumten. Die Grünen Kader waren am mächtigsten in Kroatien und Slawonien, aber sie waren auch in eini­ gen Regionen des heutigen Sloweniens vertreten.62 Nach dem 29. Oktober ließen die sozialen Unruhen nicht nach. Im Gegenteil, in Kroatien und Slawonien wurden sie nur noch stärker, und auch die ehemalige Krain und die Untersteiermark standen am Rande eines gewaltsamen Umbruchs. In Mežiška dolina plünderten Anfang November Hunderte von Arbeitern städtische Siedlungen und Bauernhöfe.63 In einem Vorort von Novo mesto riefen Arbeiter eine kurzlebige »Sowjetrepublik« aus, und auch in Ljubljana wehten rote Fahnen.64 60 Bodoče ustave [Zukünftige Verfassung], in: Resnica, 26. Oktober, S. 1, 2. Bereits 1903 wurde Prinz Arthur von Connaught, der Sohn von Königin Victoria, im Zusammenhang mit der Verschwörung, ihn auf den serbischen Thron zu setzen, erwähnt, und 1912 wurde er als geeigneter Kandidat für die Herrschaft im gerade unabhängig gewordenen Albanien vorgeschlagen. Siehe: Crampton, Richard J.: The Hollow Detente. Anglo-German Relations in the Balkans, 1911–1914, London / Atlantic Highlands, N. J. 1979, S. 119; Markovich, Slobodan G.: Anglophiles in Balkan Christian States (1862–1920), in: Balcanica 40 (2009), S. 93–145, hier S. 110. 61 Milčinski: Dnevnik, S. 345. 62 Beneš, Jakub S.: The Green Cadres and the Collapse of Austria-Hungary in 1918, in: Past & Present 236 (2017), 1, S. 207–241, hier S. 217, 218. Siehe auch: Newman, John Paul: Post-Imperial and Post-War Violence in the South Slav Lands, 1917–1923, in: Contemporary European History 19 (2010), 3, S. 249–265. 63 Ude, Lojze: Boj za severno slovensko mejo 1918–1919 [Der Kampf um die nördliche slowenische Grenze 1918–1919], Maribor 1977, S. 141. 64 Banac, Ivo: »Emperor Karl Has Become a Comitadji«. The Croatian Disturbances of Autumn 1918, in: The Slavonic and East European Review 70 (1992), 2, S. 284–305, hier S. 301, 302; Beneš: The Green Cadres, S. 30; Milčinski: Dnevnik, S. 405. Für eine Übersicht siehe: Centrih, Lev: »Govorile so celo strojnice!« Boljševizem v prevratni dobi na Slovenskem. Med preprostim ljudskim uporništvom in vplivi ruske revolucije [»Es sprachen sogar Maschinengewehre!«

Endloses Ende, unbestimmter Neuanfang

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Kurzum: War die Situation in den letzten Monaten der habsburgischen Herrschaft zunehmend unberechenbar, so war der Monat nach der Unabhängigkeitserklärung in vielerlei Hinsicht noch chaotischer. So sehr, dass Fran Milčinski am 20. November in seinem Tagebuch notierte: »Diese Tage sind schwierig, wie die zu Beginn des Krieges. Ein Mann, der keine klare und glückliche Zukunft sieht, ist indisponiert. […] Ich habe meine Zweifel, ob wir unseren eigenen Staat verdienen.«65 Erst die Vereinigung mit Serbien am 1. Dezember brachte etwas Stabilität und zumindest den Anschein von Endgültigkeit.

IV. Fazit Von »unten«, aus der zeitgenössischen »Perspektive der Einheimischen« betrachtet, wirkt der Zerfall Österreich-Ungarns eher wie eine Zeit großer Unsicherheit, eine längere Zeit des allmählichen Übergangs und nicht wie ein sauberer Bruch. Aus dieser Perspektive wird auch deutlich, dass das Ergebnis alles andere als sicher war. Nicht alle Wege führten unweigerlich zur Unabhängigkeit, auch wenn diese dann das Endergebnis war. Die nicht eingeschlagenen Wege stellten damals reale Alternativen dar – oder zumindest erschienen sie den Zeitgenossen als solche. Während ein unabhängiger jugoslawischer Staat sicherlich schon vor Beginn des Krieges einige begeisterte Anhänger hatte und die Idee während des Krieges ein gewisses Maß an Unterstützung fand, befürworteten sogar die meisten slowenischen Nationalisten fast bis zum Ende ein habsburgisches Jugoslawien, einige sogar noch darüber hinaus. Folglich war die Unabhängigkeit in vielerlei Hinsicht nicht das Ergebnis einer gut geplanten »nationalen Revolution«, sondern vielmehr das Ergebnis einer Reihe von Eventualitäten, von denen einige weit außerhalb der Kontrolle lokaler Akteure lagen. Aus diesem Grund war der Herbst 1918 eine Zeit der Ungewissheit, der Risikobereitschaft und der wechselnden Loyalitäten. In vielerlei Hinsicht war es eine Reise ins Ungewisse! Und die Reise endete nicht im Oktober oder November, nicht einmal im Dezember. Der Große Krieg war zwar zu Ende, doch die Kämpfe gingen weiter, diesmal zwischen neu gegründeten Staaten. Bereits Ende 1918 hatten die Kämpfe um die Grenze zwischen Jugoslawien und Österreich begonnen. Es überrascht nicht, dass bei den Männern, die erneut mobilisiert wurden, nicht viel Enthusiasmus herrschte. Die slowenischen Behörden in der Untersteiermark mussten Anfang November den Sold ihrer Soldaten erhöhen, weil sie sonst wohl einfach nach Hause gegangen wären oder sich den besser bezahlten deutschen »Freiwilligen«-Einheiten angeschlossen

Bolschewismus zur Zeit des Umsturzes in Slowenien. Zwischen einfachem Volkswiderstand und Einflüssen der Russischen Revolution], in: Slovenski prelom 1918, hg. von Aleš Gabrič, Ljubljana 2019, S. 311–327. 65 Milčinski: Dnevnik, S. 404.

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hätten; die Grünen Kader versteckten sich wieder in den Wäldern.66 Außerdem standen die Menschen, meist Frauen, noch immer für Brot Schlange, da die Nahrungsmittelknappheit bis weit in die 1920er Jahre hinein ein Problem darstellte.67 Auch bürokratische Verfahren und Gewohnheiten, Gesetze, die Währung und viele andere Dinge hatten sich nicht wirklich geändert, ebenso wie in anderen Nachfolgestaaten, zum Beispiel der Tschechoslowakei.68 Kurz gesagt, auf mehreren Ebenen gab es keinen Bruch, keinen Endpunkt und keinen Neuanfang, da der Übergang nur ein Teil einer viel längeren Transformation war.69 Der ehemals habsburgische Nordwesten des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen – wie Jugoslawien nach der Vereinigung am 1. Dezember offiziell genannt wurde – war in vielerlei Hinsicht ein habsburgisches Jugoslawien, nur eben ohne die Habsburger.

66 Beneš: The Green Cadres, S. 33; Švajncer, Janez J.: Slovenska vojska 1918/1919 in upor julija 1919 [Die slowenische Armee 1918/1919 und der Aufstand im Juli 1919], in: Časopis za zgodovino in narodopisje 58 (1987), 2, S. 152–167, hier S. 155. 67 Cvirn, Janez: Meščanstvo v Celju po razpadu Avstro-Ogrske [Bürgertum in Celje nach dem Zerfall Österreich-Ungarns], in: Počivavšek, Marija (Hg.): Iz zgodovine Celja (Odsevi preteklosti, 3), Celje 1996, S. 191–216, hier S. 202. 68 Morelon: State Legitimacy and Continuity. 69 Für eine vertiefte Diskussion zum Thema Transformation siehe: Kührer-Wielach, Florian / ​ Lemmen, Sarah: Transformation in East Central Europe. 1918 and 1989. A Comparative Approach, in: European Review of History. Revue européenne d’histoire 23 (2016), 4, S. 573–579.

Erfolgreiche Transformation – geglückte Einheit? Deutschland 30 Jahre nach der Wiedervereinigung Günther Heydemann

I. Deutschland von außen – eine fiktive Perspektive Ein Beobachter von außen könnte über das heutige Deutschland eventuell folgende Ansichten äußern: Deutschland ist eine gefestigte, parlamentarische Demokratie mit einem funktionierenden Rechtssystem und praktiziertem gesellschaftlichem und medialem Pluralismus; in Europa und der EU stellt es einen außen- und sicherheitspolitischen Stabilitätsanker dar; seine Wirtschaft ist die viertstärkste der Welt, zugleich ist Deutschland Exportweltmeister; z. Zt. gibt es faktisch kaum noch Arbeitslosigkeit1; im Ranking des Weltwirtschaftsforums von 2018 nimmt es als innovativstes Land der Welt den ersten Platz ein; das Land verfügt seit Jahren über ein immer höheres Steueraufkommen und zahlt kontinuierlich seine Schulden zurück; die Lebenserwartung seiner Einwohner steigt von Jahr zu Jahr und seit 2015 hat es rund eine Million Flüchtlinge aufgenommen.

Eine solche Einschätzung ist im Grunde durchaus zutreffend, aber sie reicht sicherlich nicht aus, um den gegenwärtigen Zustand des Landes angemessen zu beurteilen. Zudem fehlt ihr die historische Tiefenschärfe, denn charakteristisch für solche Meinungen über Deutschland ist inzwischen, dass die Friedliche Revolution von 1989/1990 in der DDR bisweilen gar nicht mehr erwähnt wird.

II. Metamorphosen Deutschlands 1870/1871 bis 1989/1990 Daher scheinen einige kurze Bemerkungen zur Friedlichen Revolution in der DDR in den Jahren 1989/90 angebracht, um ihren historischen Kontext und ihren fundamentalen Stellenwert für Deutschland und seine jüngste Geschichte einzuordnen und zu bewerten. Zuerst einmal stellt das »annus mirabilis« 1989/90 den Endpunkt einer politischhistorischen Entwicklung Deutschlands dar, die immer wieder mit tiefgreifenden politischen und staatlichen Veränderungen und der Verschiebung von Grenzen 1 So sank die Zahl der Arbeitslosen mit nur noch 4,9 Prozent im Oktober 2018 erstmals unter die Fünf-Prozent-Marke; vgl. Arbeitslosenquote sinkt unter 5 Prozent, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.10.2018, S. 15.

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verbunden war, so dass man nicht zu Unrecht von einer »Kontinuität der Brüche« (Richard Vierhaus) gesprochen hat. In der Tat gibt es kaum ein anderes europäisches Land, das in den letzten 150 Jahren so viele Verwandlungen durchgemacht hat, oft zu seinem eigenen Schaden, meist aber auch zum Schaden seiner europäischen Nachbarn. 1. Da ist zunächst die Reichsgründung 1870/71 und die Entstehung des Deutschen Kaiserreichs, das erstmals die Einheit Deutschlands erbringt, allerdings unter Ausklammerung der Deutsch-Österreicher, eine konstitutionelle Monarchie mit stark autoritären Zügen; 2. es folgen die Jahre 1914–1918 mit dem Ersten Weltkrieg, der nach der militärischen Niederlage und durch die anschließende Revolution von 1918/1919 zum Ende des Deutschen Kaiserreichs führt; 3. die daraus hervorgehende erste deutsche Demokratie, die Weimarer Republik von 1919 bis 1933, sieht sich allerdings schon seit 1920 einer Mehrheit von antidemokratischen Gegnern gegenüber und bricht unter den immensen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre zusammen; 4. der Usurpierung der Macht durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 folgt der Ausbau einer totalitären Diktatur, die 1939 den Zweiten Weltkrieg initiiert und bis 1945 einen europaweiten Rassen- und Vernichtungskrieg durchführt; es ist der schlimmste Zivilisationsbruch der Weltgeschichte; 5. nach der NS-Diktatur, die buchstäblich bis in den Führerbunker hinein von den Alliierten besiegt werden muss, schließen sich die Jahre 1945 bis 1949 an, mit totaler Niederlage, vierfacher Besatzung Deutschlands und dem Beginn seiner vierzigjährigen Teilung in zwei deutsche Staaten mit diametralen politischen und ökonomischen Strukturen, Interessen und Wertvorstellungen; 6. die vier Jahrzehnte deutscher Teilung werden durch den überraschenden Ausbruch der Friedlichen Revolution in der DDR im Herbst 1989 beendet und führen nicht nur zur Befreiung von der sozialistischen Diktatur in Ostdeutschland, sondern auch zur Wiedervereinigung Deutschlands.

In diesem arrhythmischen Zyklus oft abrupt auftretender politischer Strukturveränderungen bildet die Friedliche Revolution von 1989/90 den Endpunkt einer immer wieder alternierend von autoritären, diktatorialen und demokratischen Herrschaftsformen geprägten Geschichte Deutschlands seit 1870/71.

III. Revolutionen in Deutschland: 1848/1849, 1918/1919, 1989/1990 Man muss das Jahr 1989/90 aber auch aus einer revolutionshistorischen Perspektive betrachten, denn in diesen Zusammenhang gehört es hinein und bildet in diesem Kontext ebenfalls einen Endpunkt.

Erfolgreiche Transformation – geglückte Einheit?

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1. Da ist die Revolution von 1848/1849, deren Ziel Einheit und Freiheit war, die trotz einer für die damalige Zeit ausgesprochen fortschrittlichen Verfassung am Widerstand der alten Monarchien, der traditionellen Eliten und des ihm unterstehenden Militärs scheitert; 2. da ist die Revolution von 1918/1919, die maßgeblich zu einer der modernsten Verfassungen hinsichtlich des Wahlrechts und sozialpolitischer Bestimmungen in der damaligen Zeit beigetragen hat, aber vor allem von antidemokratischen Kräften ausgehebelt worden ist und niemals das Stigma des verlorenen Weltkrieges abschütteln konnte, für dessen Ausbruch und Ende sie gar nicht verantwortlich war; 3. und da ist schließlich die dritte und erstmals erfolgreiche Revolution von 1989/1990 in der deutschen Geschichte, eine gewaltlose Revolution von neuer Qualität, was nicht vergessen werden darf. Ihr gelang es nicht nur, das Ende einer sozialistischen Diktatur herbeizuführen, sondern auch die Einheit Deutschlands in Freiheit wiederherzustellen – ein Ziel, das sich schon die Revolution von 1848/1849 auf ihre Fahnen geschrieben hatte.

In dieser Koinzidenz von politisch-historischen Brüchen und zugleich erfolgreicher, gewaltloser Revolution liegt die eigentliche Spezifik der Jahre 1989/1990.

IV. Grundgesetz und Föderalismus Und damit kommen wir zu einem ersten und fast immer übersehenen Ergebnis, denn fast alle Revolutionen, die eine neue politische Herrschaftsordnung herbeiführten, forderten nicht nur, sondern erarbeiteten in der nachrevolutionären Folgezeit fast immer eine neue Verfassung. Das ist aber gerade in Deutschland nach der Friedlichen Revolution von 1989/1990 nicht der Fall gewesen. Vielmehr entstand mit der am 3. Oktober 1990 innerhalb eines Jahres vollzogenen Vereinigung von Bundesrepublik und DDR eine neue, letztlich aber nur erweiterte Bundesrepublik Deutschland, in der die bestehende institutionelle politische und staatliche Ordnung Westdeutschlands nahezu unverändert erhalten blieb. Das Grundgesetz von 1949, in dem i. Ü. einige systemische Fehler der Weimarer Verfassung ausgemerzt worden waren, hatte sich in der 40-jährigen politischen Praxis so bewährt, dass eine Verfassungsrevision oder gar die Ausarbeitung einer neuen Konstitution von einer großen Mehrheit für unnötig erachtet wurde. Hinzu kam zudem der Umstand, dass es für die Wiedervereinigung nur ein schmales internationales Zeitfenster gab, das genutzt werden musste. Dieses Mal, 1989/1990, wollte man nicht noch einmal, wie in der Revolution von 1848/1849, mit der Formulierung einer neuen Verfassung zu viel Zeit verlieren, um am Ende machtlos und ohne Ergebnis dazustehen. Mit dem Beitritt der fünf neuen ostdeutschen Bundesländer zum Grundgesetz, d. h. Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg inkl. Ost-Berlin, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen) wurde darüber hinaus auch die föderale Grundstruktur

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der Bundesrepublik wieder revitalisiert, welche die SED in der DDR bereits 1952 abgeschafft hatte; dadurch wurde der Föderalismus als ältestes politisches Strukturelement der deutschen Geschichte, das bis ins Frühmittelalter zurückreicht, nicht nur revitalisiert, sondern auch erneut legitimiert. Alle neuen ostdeutschen Bundesländer nahmen sofort wieder ihre traditionellen Namen und Grenzen an. Außerdem vollzog sich der (Wieder-)Vereinigungsprozess bereits zwischen zwei Demokratien, nachdem am 18. März 1990 erstmals seit 1945 wieder demokratische Wahlen in der damals noch bestehenden DDR durchgeführt worden waren.

V. Veränderungen des Parteiensystems seit 1989/1990 Ganz im Gegensatz zur unveränderten politischen Grundordnung des nun vereinigten Deutschlands hat sich aber seit 1989/1990 das bundesdeutsche Parteiensystem in den letzten 30 Jahren stark verändert. Das gilt zunächst für den Hinzutritt der ehemaligen Staatspartei SED, die in ihrer Entwicklung nach 1990 mehrfach umbenannt wurde. Schon bei der ersten demokratischen Wahl in der DDR im März 1990 war die führende Macht in der DDR, die SED, überraschend drittstärkste Partei geworden. Durch die Fusion mit der westdeutschen WASG, d. h. Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit, im Juni 2007, einer stark gewerkschaftlich geprägten Linksabspaltung von der SPD, gelang es der inzwischen DIE LINKE benannten Partei, auch auf gesamtdeutscher Ebene im Bundestag vertreten zu sein. Als Milieu- und Protestpartei mit antikapitalistischer Ausrichtung gewinnt DIE LINKE auf Bundesebene bis heute zwischen 8 und 10 Prozent der Wählerstimmen. Seither entzieht sie dadurch aber der SPD kontinuierlich Stimmen, so dass deren Wählerpotential geschrumpft ist. War diese Entwicklung eine eindeutige Folge der Wiedervereinigung, so hatte das Aufkommen der Grünen, die erstmals 1983 in den Bundestag einzogen, bereits sechs Jahre zuvor ebenfalls eine Reduzierung der Wählerschaft der SPD eingeleitet. In jüngster Zeit hat der rasante Aufstieg der Grünen, die z.Zt. 24 % der Stimmen erhalten, der SPD weitere Stimmen entzogen; daher ist die SPD auf einen Stimmenanteil von nur noch 14 Prozent gefallen. Dieser durch die Grünen bewirkte Stimmenverlust betrifft z. T. auch die CDU, so dass diese gegenwärtig ebenfalls nur noch über ein Stimmenaufkommen von 25 Prozent verfügt. Dem dramatischen Stimmenrückgang der SPD, teilweise aber auch der CDU, liegen indes noch weitere Faktoren zugrunde: Ihr früheres sozialdemokratisches Stammpersonal der klassischen Industriearbeiterschaft existiert aufgrund soziologischer Veränderungen kaum mehr; zudem hat sich die Bindungskraft von Milieus, aber auch von Glaube, Religion und Kirche in den letzten drei Jahrzehnten immer stärker reduziert, wobei sich Letzteres vor allem auf die christlich-soziale Union negativ auswirkt. Zugleich hat der wachsende Individualismus der Bürger in Deutschland, ermöglicht durch die freiheitlich-demokratische Grundordnung, zunehmend

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einen volatilen Wähler hervorgebracht, der sich nicht mehr ideologisch-parteipolitisch gebunden fühlt, sondern mit seinem Votum zwischen den Parteien hin- und her wechselt. Erschwerend für die SPD kommt darüber hinaus hinzu, dass Kanzlerin Angela Merkel während ihrer inzwischen fünfzehn Jahre währenden Regierung eine latent »sozialdemokratische« Sozialpolitik betrieben hat, die von den Wählern jedoch eher der Union (CDU und CSU) als der SPD zugeschrieben wurde, obwohl diese gerade in den Jahren 2005–20092, 2013–2017, und seit März 2018 drei Große Koalitionen mit der Union eingegangen ist. Insgesamt hat sich das Stimmenreservoir der beiden großen Volksparteien in den letzten Jahren sukzessive reduziert, so dass gegenwärtig nur noch die Union als Volkspartei gelten kann. Waren es bei der Bundestagswahl von 2013 noch 67,2 Prozent aller Stimmen, welche die beiden großen Parteien Union und SPD erhielten, schrumpfte ihr gemeinsamer Stimmenanteil bei der letzten Wahl bereits auf 53,4 Prozent zusammen.3 Inzwischen liegt er, wie die Landtagswahl in Hessen am 28.10.2018 gezeigt hat, sogar unter fünfzig Prozent. Aber auch der Union von CDU und CSU ist in den letzten fünf Jahren durch die Flüchtlingskrise ein parteipolitischer Konkurrent erwachsen, der ihr Stimmenpotential vermindert; in Abstrichen gilt das allerdings auch für die anderen Parteien: nämlich die am 6. Februar 2013 gegründete sog. Alternative für Deutschland (AfD), die bei der letzten Bundestagswahl am 24. September 2017 auf Anhieb drittstärkste Partei mit 12,6 Prozent der Stimmen wurde. Bis dahin war es seit 1949 keiner rechtsextremistischen Partei jemals gelungen, in den Bundestag einzuziehen.4 Wie sich das zukünftige Stimmenaufkommen der AfD entwickelt, ist schwer vorauszusagen, hängt aber vor allem von der weiteren Entwicklung der Flüchtlingsproblematik in Deutschland und Europa ab. In den östlichen Bundesländern hat die AfD bei den Landtagswahlen im Jahre 2019 durchweg zwischen 20 und 30 Prozent der Stimmen erzielt (Thüringen 23,4 Prozent; Brandenburg 23,5 Prozent; Sachsen 27,5 Prozent). Zwar dürfte die Union weiterhin die einzige bestehende Volkspartei bleiben, aber ihr Wählerpotential ist seither nicht ausschließlich, aber vor allem durch die AfD reduziert worden. In der Zusammenfassung ergibt sich folgendes Bild: Durch die Wiedervereinigung ist das bisherige Parteienspektrum in Deutschland um eine linkssozialistische Partei, DIE LINKE , zu fünf Parteien erweitert worden, was vom Stimmenpotential her gesehen vor allem zu Lasten der SPD geht. Bereits zuvor hatte das Aufkommen 2 Vgl. Bukow, Sebastian / Seemann, Wenke (Hg.): Die Große Koalition. Regierung – Politik – Parteien 2005–2009, Wiesbaden 2010. 3 Vgl. hierzu detailliert (bis 2009) Decker, Frank: Lagerinterne oder lagerübergreifende Bündnisse? Das bundesdeutsche Parteiensystem vor und nach der Wiedervereinigung, in: Jesse, Eckhard (Koord.): Eine normale Republik? Geschichte – Politik – Gesellschaft im vereinigten Deutschland, München 2012, S. 57–71. 4 Bei den Bundestagswahlen von 1969 erreichte die NPD als höchstes Ergebnis überhaupt nur 4,3 Prozent.

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der Grünen, der Partei Bündnis 90/Die Grünen, das Stimmenreservoir der SPD sukzessive reduziert, in geringerem Maße aber auch das der CDU / CSU. Mit dem Aufkommen der Alternative für Deutschland (AfD) seit 2013 als sechster Partei hat sich ein im Prinzip ähnlicher Vorgang vor allem zu Lasten der CDU / CSU ergeben. Beides zusammen führt(e) zu einer »Erosion der Mitte«; denn aktuell (2020) weisen SPD und CDU / CSU zusammen nur noch ein Stimmenaufkommen von 41 Prozent auf, die SPD 14 Prozent, die Union 27 Prozent, DIE LINKE 10 Prozent, Bündnis 90/die Grünen 22 Prozent, die FDP sechs Prozent und die AfD 14 Prozent.5 Damit wird die traditionelle Bildung mehrheitsfähiger Koalitionen schwieriger; das hat sich bereits bei der letzten Regierungsbildung gezeigt, die insgesamt fast ein halbes Jahr dauerte bis 14. März 2018. Diese neue parteipolitische Situation kann in Zukunft eventuell auch zu einer geringer werdenden Stabilität deutscher Regierungen führen, wobei erschwerend hinzukommt, dass die seit 15 Jahren regierende Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre definitiv letzte Amtsperiode durchläuft; sie wird 2021 ausscheiden. Erste Anzeichen eines schleichenden Machtverlustes sind bereits seit Ende 2018 erkennbar, indem sie nach 18 Jahren als Parteivorsitzende der CDU / CSU nicht noch einmal kandidierte.

VI. Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik nach 1989/90 Auch in außen- und sicherheitspolitischer Hinsicht hat die Wiedervereinigung Deutschlands zu einer völlig neuen Konstellation geführt. Denn die Ablösung der europäischen Nachkriegsstrukturen nach 1989 veränderte die Bedingungen deutscher Außenpolitik grundlegend. Bis dahin hatten die beiden deutschen Staaten jeweils nur insoweit eine eigenständige Außenpolitik betreiben können, als diese grundsätzlich unter dem Schutz und den Vorgaben der beiden Supermächte USA und Sowjetunion stand. Diese außen- und sicherheitspolitische Abhängigkeit wurde noch verstärkt durch den Umstand, dass sie im Kern eine völlig gegensätzliche Deutschlandpolitik betrieben und betreiben mussten. Erst nach 1990 nahm das vereinte und erstmals seit 1945 wieder souveräne Deutschland in Europa und der Welt eine neue Rolle ein. Die »Kultur der außenpolitischen Zurückhaltung« (Volker Rühe)6 war an ihr Ende gekommen. Zugleich kehrte Deutschland geopolitisch »aus seiner Randlage im Ost-West-Konflikt in seine traditionelle Mittellage in Europa zurück«.7 Als europäische »Mittelmacht und Macht der Mitte« (Daniel Vernet) ist Deutschland »eine integrierte europäische und euro-atlantische Macht. Durch 5 Zahlenangaben bei Koch, Matthias: Wo ist die Mitte ?, in: Leipziger Volkszeitung vom 15./16.02.2020, S. 1. 6 Zitiert nach Stürmer, Michael: Deutsche Interessen, in: Kaiser, Karl / Maull, Hanns W. (Hg.), Deutschlands neue Außenpolitik, Band 1: Grundlagen, München 1994, S. 39–61; hier 58. 7 So Görtemaker, Manfred: Die Berliner Republik. Wiedervereinigung und Neuorientierung, Berlin-Brandenburg 2009, S. 61 f.

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die Einbindung in die sich überlappenden integrativen und kooperativen Gleichgewichtssysteme im europäischen und euro-atlantischen Raum ist die potenziell hegemoniale Macht Deutschland entschärft«.8 Im Rahmen von NATO und Europäischer Union kann die vergrößerte Bundesrepublik erstmals wieder eine eigenständige Außen- und Sicherheitspolitik verfolgen, tat sich aber nach 1990 schwer mit dieser neuen Aufgabe und Position. Das lag einerseits daran, dass Deutschland seine Sicherheit, wie es unlängst Wolfgang Ischinger formuliert hat, »jahrzehntelang outsourcen« konnte.9 Unter dem Atomschirm der USA und der Sowjetunion waren beide deutsche Staaten nicht nur abhängig von den Entscheidungen ihrer Hegemonialmächte, sie konnten darunter auch kaum eine eigenständige Politik entwickeln, sieht man einmal von der westdeutschen »Ostpolitik« Ende der 1960/Anfang der 1970er Jahre ab. Diese wurde von beiden Supermächten toleriert, da sie zwar im Kern auf eine Verbesserung der deutsch-deutschen Beziehungen abzielte, aber insgesamt auch eine Verbesserung des Ost-West-Verhältnisses anstrebte, was schließlich zum Zustandekommen der KSZEKonferenz 1975 in Helsinki maßgeblich beitrug. Andererseits stieß die Tatsache, dass ein uneingeschränkt souveränes Deutschland nach der Wiedervereinigung erneut eine Großmacht in der Mitte Europas verkörpern würde, durchaus nicht auf allgemeine Freude und Zustimmung. Das hatten besonders die Reaktionen Großbritanniens unter Margaret Thatcher, aber auch Frankreichs noch Ende 1989 klar gezeigt. Denn schon 1966 hatte der französische Schriftsteller Francois Mauriac das Bonmot geprägt, er liebe Deutschland so sehr, dass »er am liebsten zwei davon hätte«. Aus politisch-historischer und nicht minder militärischer Sicht waren entsprechende Befürchtungen gegenüber einem Deutschland, das ökonomisch und demographisch mit Abstand wieder an der Spitze Europas stand, mehr als gerechtfertigt. Ohnehin war das Zustandekommen der Wiedervereinigung auf internationaler und sicherheitspolitischer Ebene durch den 2+4-Vertrag nur möglich geworden, weil der demokratische Charakter des wieder vereinten Deutschlands unzweifelhaft war und es sich zu einer friedensorientierten Außenpolitik sowie zur endgültigen Anerkennung aller bestehenden Grenzen auf der Basis eines verantwortlichen Umgangs mit der Macht verpflichtete.10 Darüber hinaus ging man davon aus, dass das vereinte Deutschland in seiner Außen- und Sicherheitspolitik weiterhin auf den traditionellen Grundpfeilern aufbauen würde, die bereits für Konrad Adenauer bestimmend gewesen waren: Die Integration Europas und das transatlantische Verteidigungsbündnis – EWG, EG, EU und NATO. In der Tat hat die Forcierung der europäischen Integration mit der 8 Grundlegend hierzu Link, Werner: Deutschland als europäische Macht, in: Weidenfeld, Werner (Hg.): Die Staatenwelt Europas, Bonn 2006, S. 15–31; 27 f. 9 »Wir erleben einen Epocheneinbruch«. Spiegelgespräch mit Wolfgang Ischinger, in: DER SPIEGEL , Nr. 36, vom 01.09.2018, S. 83. 10 Vgl. Kaiser, Karl: Das vereinigte Deutschland in der internationalen Politik, in: Ders. / Maull (Hg.): Deutschlands neue Außenpolitik, S. 1–14; hier 4.

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Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion durch den Vertrag von Maastricht vom 7. Februar 1992 gerade durch die Wiedervereinigung Deutschlands einen erheblichen Schub erfahren – eine Konsequenz, die oft übersehen wird. Dennoch musste Deutschland erst noch seine neue internationale Rolle finden. Aus historischen Gründen verfügt es bis heute nicht über eine so selbstverständliche Einstellung zur Macht wie z. B. die USA, Frankreich oder Großbritannien, besonders hinsichtlich des Einsatzes von Militär; dem stand und steht eine weit verbreitete Abwehrhaltung in der deutschen Bevölkerung entgegen. Außerdem unterlag ein militärischer Einsatz außerhalb Deutschlands hohen verfassungsrechtlichen Bestimmungen (s. Art. 87a GG), die erst am 12. Juli 1994 durch das Bundesverfassungsgericht zum größten Teil aufgehoben worden sind (s. Art. 24 II GG), wobei der Einsatz der Bundeswehr der Zustimmung des Bundestages unterliegt.11 Anlass hierfür war die Teilnahme von deutschen Soldaten bei der Überwachung des Flugverbots über Bosnien-Herzegowina während des Bürgerkrieges in Jugoslawien. Die Bundeswehr ist demzufolge eine Parlamentsarmee. Seither war die Bundeswehr in vielen Ländern stationiert und hat weltweit die verschiedensten Einsätze durchgeführt, von Afghanistan mit inzwischen über 50 gefallenen Bundeswehrsoldaten über das Horn von Afrika bis nach Mali und jüngst in den baltischen Staaten. Solche Auslandseinsätze sind erst durch die Wiedervereinigung – auch verfassungsrechtlich – möglich geworden. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht im Jahre 2011 wurden solche Einsätze überdies erleichtert. Gleichwohl haftet der deutschen Außenpolitik bis heute so etwas wie eine innere Hemmschwelle an. Militärische Einsätze werden von den Deutschen mehrheitlich abgelehnt; der Verteidigungsetat hat noch lange nicht das von allen NATO-Mitgliedern im September 2014 auf dem NATO-Gipfel in Wales, auch von Deutschland, beschlossene Ziel von zwei Prozent erreicht; erst im Jahr 2023 erreicht der Etat 1,5 Prozent. Die Ausrüstung der Bundeswehr ist teilweise veraltet und bedarf umfassender Modernisierung. Daher wird die Bundeswehr erst in fünfzehn Jahren in der Lage sein, der NATO drei vollständige, komplett ausgerüstete Heeresdivisionen zur Verfügung zu stellen. Erst dann wird die Bundeswehr »sowohl für die Landes- und Bündnisverteidigung als auch für Einsätze außerhalb des NATO-Bündnisgebietes gerüstet« sein.12 Dabei geht es nicht um eine Aufrüstung Deutschlands, sondern ausschließlich darum, einen gewichtigeren Beitrag in EU und NATO zu leisten. Und der schon vor 1989 praktizierte Multilateralismus der früheren Bundesrepublik bleibt auch zukünftig für das vereinte Deutschland (s)eine außenpolitische Maxime. Denn nur innerhalb dieser internationalen Bündnisse und Gemeinschaften wird Deutschland in der Lage sein, weltweite Konflikte eindämmen zu helfen und dabei auch eigene Interessen zu vertreten.13 11 Vgl. Görtemaker, S. 83 f. 12 Vgl. Bundeswehr soll kräftig wachsen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.09.2018, S. 4. 13 Ischinger, DER SPIEGEL , S. 83.

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Ganz im Vordergrund dieser Aufgaben muss gegenwärtig die Zielsetzung stehen, die EU auch als militärische Macht zu etablieren, d. h. aus ihr auch »eine europäische Verteidigungsunion«14 zu machen. Angesichts einer dramatisch veränderten Weltlage muss sich Deutschland, ob es nun will oder nicht, als viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt und Führungsmacht der EU stärker als bisher in das internationale Geschehen einbringen.15 Insofern hat die vor 30 Jahren vollzogene Wiedervereinigung das Koordinatensystem deutscher Außen- und Sicherheitspolitik deutlich verändert.

VII. Folgen der Friedlichen Revolution Die Öffnung der deutsch-deutschen Grenze – und das war mehr als nur der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989, schließlich gab es eine 1200 km lange deutsch-deutsche Grenze – führte gleichsam unmittelbar zu einer innerdeutschen Migration von Ost- nach Westdeutschland; bis Mitte 1991 überquerten teilweise täglich rund 1000 Ostdeutsche die ehemalige innerdeutsche Grenze und zogen in die Bundesrepublik. Insgesamt ist die ostdeutsche Bevölkerung im Zeitraum zwischen 1990 und 2015 um rund 12 Prozent zurückgegangen, d. h. von rund 14,8 Millionen auf 12,6 Millionen Einwohner gefallen.16 Das war allerdings nicht nur eine Folge der Abwanderung, sondern auch des temporären Geburtenrückgangs aufgrund der unsicheren politischen und sozioökonomischen Lage in den Anfangsjahren nach der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern. Aus beiden Faktoren resultierte eine erhebliche Erhöhung des Alterungsniveaus der ostdeutschen Gesellschaft. Daraus ergab sich wiederum eine Reduzierung der erwerbsfähigen Bevölkerung, bei wachsendem Anteil von Personen über 65 Jahre. Mittel- und langfristig wird diese ungünstige demographische Entwicklung weiteres Wirtschaftswachstum in Ostdeutschland hemmen, weil weniger (jüngere)  Arbeitskräfte vorhanden sind bzw. sein werden. Auch wenn seit 2014 inzwischen mehr Menschen nach Ostdeutschland ziehen oder wieder zurückkehren, so kann dies die großen Verluste der zwei Jahrzehnte zuvor nicht ausgleichen. Hinzu kommt, dass der Wohnortwechsel nach Ostdeutschland vorwiegend von ostdeutschen Pendlern, die jahrelang in westdeutschen Bundesländern gearbeitet haben, vorgenommen wird, nachdem sie inzwischen das Rentenalter erreicht haben; sie können also den in Ostdeutschland bestehenden Arbeitskräftemangel nicht mehr kompensieren. Im Unterschied dazu wiederum profitierten die alten Bundesländer vom jahrelangen Zuzug meist junger und gut ausgebildeter Arbeitskräfte. So paradox es klingen mag, aber Westdeutschland ist 14 Ebd., S. 84. 15 Hierzu umfassend Ischinger, Werner: Welt in Gefahr. Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten, Berlin 2018. 16 Vgl. Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2017, Berlin 2017, S. 49.

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im Unterschied zu Ostdeutschland von der Friedlichen Revolution 1989/90 demographisch und arbeitskräftemäßig erheblich begünstigt worden. Um der Gefahr einer zu großen Abwanderung aus der ehemaligen DDR, insbesondere von jüngeren, fertilen Arbeitskräften zu entgehen, war nach dem Ende der Friedlichen Revolution rasches Handeln geboten. Noch vor der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 schlossen beide deutsche Staaten am 1. Juli 1990 daher einen »Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion«, der die Basis für alle weiteren Gesetze und Maßnahmen zum Vereinigungsprozess bildete.17 Vergessen wird übrigens bis heute oft, dass es bis dahin keinerlei Vorerfahrungen gab, ob und wie überhaupt zwei völlig gegensätzliche politische und wirtschaftliche Systeme integriert werden können. Darüber hinaus galt es, die marode Infrastruktur der DDR zu sanieren, ihr völlig veraltetes Kommunikationssystem zu modernisieren sowie schwere Umweltschäden zu beseitigen. Dabei stiegen die Investitionen in Ostdeutschland ab 1991 stark an, erreichten in den Jahren 1994/95 ihren Höhepunkt und führten erst im Jahre 2002 zu einem normalen Niveau. Diese außerordentlich hohen Sonderausgaben haben wiederum zu einer enormen Verschuldung Deutschlands geführt. Diese stieg von einer halben Billion € im Jahre 1990 (538 Milliarden €) in Westdeutschland sprunghaft auf über zwei Billionen € (2,068 Billionen €) im Jahr 2012 im wieder vereinigten Deutschland an; allerdings werden diese Schulden seit fünf Jahren wieder zurückgezahlt, so dass sich der gegenwärtige Schuldenstand auf inzwischen unter 2 Billionen € beläuft (=1,916 Billionen / Juni 2019). Dadurch ist es seit 15 Jahren erstmals wieder gelungen, die Vorgaben von Brüssel zur Stabilität des Euros (sog. Schuldenobergrenze) einzuhalten, die eine Staatsverschuldung von nicht mehr als 60 Prozent vorschreiben (vgl. Vertrag von Maastricht).18 Den Löwenanteil unter den gegenwärtigen Staatsschulden Deutschlands nahmen dabei die Kosten für die Wiedervereinigung ein, die sich auf rund 1,5 Billionen € belaufen. Darunter wiederum haben die Kosten für sozial- und arbeitsmarktpolitische Transfers einen wesentlich höheren Anteil als die reinen Investitions- und Aufbaukosten, die nur bei etwa 300 Milliarden € liegen (!), also nur ein Fünftel ausmachen.

VIII. Transformationsprozess und Treuhand Hauptaufgabe und Kernproblem der Wiedervereinigung war die Transformierung der sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft, die in der Privatisierung der verstaatlichten Betriebe Ostdeutschlands lag. Dadurch 17 Hierzu im Detail: Heydemann, Günther: DDR, in: (Ders.)/ Vodicka, Karel: Vom Ostblock zur EU. Systemtransformationen 1990–2012 im Vergleich, Göttingen / Bristol (USA) 2013, S. 101–136; insbesondere S. 116–129. 18 Deutsche Staatsschuld: 1916,6 Milliarden Euro, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 01.08.2019, S. 19.

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sollten dort wieder Privateigentum, freie Preisbildung, die Freizügigkeit von Arbeit, Kapital und Dienstleistungen, einschließlich eine der Sozialen Marktwirtschaft gemäße Arbeitsordnung und ein leistungsfähiges soziales Sicherungssystem eingeführt werden. Tatsächlich war der Zustand der DDR-Wirtschaft in den meisten Branchen und Betrieben desolat. Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung betrug die Arbeitsproduktivität der ostdeutschen Wirtschaft im Vergleich zur westdeutschen nur noch 35 Prozent. Schon seit den 1970er Jahren war die DDR »auf vielen Gebieten international nicht mehr konkurrenzfähig.«19 Und obwohl seit den letzten 30 Jahren enorme wirtschaftspolitische Anstrengungen unternommen und ebensolche finanzielle Aufwendungen geleistet worden sind, um die Wirtschaft in Ostdeutschland grundlegend zu modernisieren, liegt die dortige Wirtschaftsleistung pro Einwohner noch immer erst bei rund 80 Prozent (2019) im Vergleich zu Westdeutschland; die Steuerkraft ist mit durchschnittlich 60 Prozent sogar noch einmal niedriger.20 Allerdings muss in diesem Zusammenhang kritisch hinzugefügt werden, dass es bis heute keine börsenkonnotierten Konzerne in Ostdeutschland gibt, die dort ihren Sitz haben und entsprechende Steuerleistungen erbringen. Dadurch sind die neuen Bundesländer die »verlängerte Werkbank« Westdeutschlands geblieben. Mit der Transformierung der DDR-Wirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft sollten vor allem zwei Ziele erreicht werden: Einerseits sollte in den neuen Bundesländern eine auch auf internationaler Ebene wettbewerbsfähige Wirtschaft aufgebaut werden, um gleichzeitig andererseits ein attraktives Angebot von Arbeitsplätzen anzubieten, damit die laufende innerdeutsche Ost-West-Migration vieler junger Ostdeutscher reduziert, eventuell sogar gestoppt werden könnte. Diese Aufgabe, deren Einsetzung übrigens noch von der letzten DDR-Regierung beschlossen wurde, also keine westdeutsche Entscheidung war, übernahm ab 1. Juli 1990 die sog. Treuhandanstalt, eine Staatsholding, und zwar durch das »Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens«. Zum Höhepunkt ihrer Tätigkeit war die »Treuhand« für die Privatisierung von fast 15.000 Betrieben mit ca. 6 Millionen Beschäftigten zuständig. Bis Ende 1994 gelang es ihr, rund 70 Prozent der früheren DDR-Unternehmen in private oder öffentliche Hand zu überführen; der Rest musste in Liquidation gehen. Dieser fundamentale ordnungspolitische Umbruch führte zunächst zu einer DeIndustrialisierung, der dann einige Jahre später eine Re-Industrialisierung folgte. War man zu diesem Zeitpunkt von westdeutscher Seite noch davon ausgegangen, dass sich durch die Privatisierung der ostdeutschen Betriebe ein Erlös von ca. 600 Milliarden D-Mark erzielen lassen würde, schloss die Treuhand tatsächlich mit 19 Hoffmann, Dierk: Transformation einer Volkswirtschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.09.2018, S. 6. 20 Vgl. Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2017, Berlin 2017, S. 44 sowie Sachsen hinkt dem Westen weiter hinterher, in: Leipziger Volkszeitung vom 12.09.2018, S. 4.

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einem Defizit von rund 230 Milliarden D-Mark ab, eine Fehlkalkulation von rund 830 Millionen D-Mark; i. Ü. einer der Gründe für die hohe Verschuldung Gesamtdeutschlands nach 1990. Doch die enormen finanziellen Folgekosten der Privatisierung durch die Treuhand waren nicht einmal das Hauptproblem. Vielmehr hatte der unumgängliche und letztlich gesamtökonomisch höchst erfolgreiche Abbau ineffizienter und unproduktiver Industriebetriebe die fatale Konsequenz zur Folge, dass damit ein ebenso rasanter Abbau von Arbeitsplätzen einherging; zeitweise führte dies sogar zu einer Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland. So hatten bis Ende 1993 nur noch 29 % der ostdeutschen Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz behalten; über zwei Drittel wurden entweder arbeitslos oder befanden sich auf dem Weg beruflicher Veränderung. Bis heute stellt das Wort »Treuhand« für die meisten Ostdeutschen daher einen ausschließlich negativen Begriff dar, der sofort hohe Emotionen hervorruft, während das Wirken der Treuhand in Westdeutschland, übrigens auch international, große Wertschätzung genießt.21 An diesem Beispiel einer Industriebranche mit langer Tradition wird deutlich, wie innerhalb von weniger als vier Jahren 100.000 Beschäftigte ihren Arbeitsplatz verloren (von 1991 mit 134.400 Beschäftigten auf 34.900 im Jahre 1995). Dieser massive Abbau von Arbeitsplätzen ist von vielen, oft seit Jahrzehnten im gleichen Betrieb Beschäftigten als traumatisch empfunden worden. Gleichzeitig kann jedoch aus betriebswirtschaftlicher Perspektive nicht übersehen werden, dass nach weniger als 15 Jahren (2004) nur noch 34.000 Beschäftigte den doppelten Umsatz erzielten gegenüber 1991. Aus der hohen Arbeitslosigkeit, über Jahre hinweg mindestens doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern und z. T. noch höher, erwuchsen erhebliche soziale und sozialpsychologische und dadurch auch politische Probleme. Die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern war gegenüber den westlichen immer höher, eineinhalb Jahrzehnte lang sogar mehr als doppelt so hoch; erst seit 2016 zeichnet sich eine allmähliche Angleichung ab. Als Folge dieser jahrelangen hohen Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland kehrte sich die ursprünglich große Zustimmung zur Wiedervereinigung und dem demokratischen und marktwirtschaftlichen System der Bundesrepublik im Lauf der Zeit in tiefe Frustration breiter Bevölkerungsschichten um. Denn scheinbar objektiv erfüllte sich für viele beschäftigungslos gewordene Ostdeutsche nun subjektiv die propagandistische Prophezeiung der SED: »Kommt der Kapitalismus, kommt die Arbeitslosigkeit.« Das hatte eine Abkehr, zumindest aber eine Distanzierung von der westdeutschen Demokratie und ihrer Wirtschaftsordnung bei vielen Ostdeutschen zur Folge, die bis heute nachwirkt. Denn sie waren im DDR-Sozialismus an einen lebenslang sicheren Arbeitsplatz gewöhnt und wurden jetzt durch den Systemwechsel auf einmal arbeitslos. Besonders hart traf dies Arbeitnehmer ab etwa 50 Jahre und 21 Hierzu als erste Analyse vor weiteren Forschungen Böick, Marcus: Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung. 1990–1994, Göttingen 2018.

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älter, die durch den Umbruch der Transformation oft keine Anstellung mehr fanden. Und es setzte sich für diese Alterskohorte fort mit Erreichen der Altersgrenze, da sie während der transformationsbedingten Arbeitslosigkeit jahrelang nicht für ihre Rente einzahlen konnten; entsprechend fiel ihr Rentenbescheid niedrig aus. Das Gefühl der Herabwürdigung der eigenen Lebensleistung(en) hat bei vielen Betroffenen die Identifikation mit der Demokratie erschwert, wenn nicht sogar blockiert. Dass ein Großteil dieser Langzeitarbeitslosen später zu den stärksten Kritikern der (westdeutschen) Demokratie und ihrer Politik werden sollte und eine große Affinität zur AfD aufweist, kann kaum verwundern. Dass Arbeitslosigkeit und verfügbares Einkommen miteinander korrelieren, wird auch geographisch deutlich; die durchweg höhere Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland bedingt ein geringeres verfügbares Einkommen. Die alten Grenzen zwischen Westund Ostdeutschland treten (fast) wieder hervor. Solche massenhaft erlebten, individuellen Erfahrungen trugen dazu bei, dass das Misstrauen gegenüber den politischen Parteien in Ostdeutschland erheblich höher ist und entsprechend geringer die Mitgliedschaft in ihnen, einschließlich des persönlichen, politischen Engagements. Es existiert daher in den neuen Bundesländern eine höhere Skepsis gegenüber dem politischen System der Demokratie, der Politik und den Medien (Stichwort: »Lügenpresse«). Und diese skeptische, bisweilen ablehnende Haltung, natürlich keineswegs aller, sondern mancher Ostdeutscher, in Zahlen etwa zwischen 20 und 30 Prozent, kam seit 2015/2016 vor allem durch die Flüchtlingsfrage vehement zum Ausbruch.

IX. Die Flüchtlingsproblematik In der Tat ist »das Jahr 2015 in das kollektive Gedächtnis der Bevölkerung Deutschlands als Jahr der ›Flüchtlingskrise‹ eingegangen«22 und rief bald die unterschiedlichsten Reaktionen hervor: auf der einen Seite spontane Hilfsbereitschaft, auf der anderen Seite wachsende Ablehnung. Die ab Mai 2015 steil ansteigenden Asylanträge, hinter denen eine enorme Zuwanderungswelle bis Oktober 2016 steht, verdeutlichen, dass im Zeitraum von 2015/2016 rund eine Million Menschen nach Deutschland gekommen ist. Relativierend muss zunächst festgestellt werden, dass es in jeder Gesellschaft Menschen gibt, die fremdenfeindlich sind; ebenso gibt es in jeder Gesellschaft rechtsund linksextreme Gruppierungen. Das gilt selbstverständlich auch für Deutschland. Auffällig war bzw. ist jedoch, dass die Ablehnung von Ausländern bzw. Flüchtlingen in Ostdeutschland bis heute eindeutig höher ausfällt, obwohl die ostdeutschen Länder – im Vergleich zu Westdeutschland – den geringsten Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund aufweisen. Leben in den alten Bundesländern rund 15 bis 20 Prozent Ausländer und mehr, beträgt dieser Anteil in den ostdeutschen Ländern 22 Vgl. Hanewinkel, Vera / Oltmer, Jochen: Deutschland, in: focus Migration (Sept. 2017), S. 16.

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nicht mehr als 6,3 bis 7,2 Prozent.23 Ein weiteres, schlimmes Indiz ist die Anzahl der Übergriffe auf Asylbewerber und Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte. Allein im Jahre 2016 wurden in ganz Deutschland rund 3500 solcher krimineller Angriffe und Tätlichkeiten verzeichnet, 2017 noch einmal 2200 Anschläge. Im Schnitt liegt die Anzahl der verübten Anschläge im Osten Deutschlands jedoch etwa drei Mal so hoch wie in Westdeutschland. Wie ist das zu erklären? Tatsächlich schlagen in dieser Hinsicht eine ganze Reihe von Faktoren zu Buch, die einerseits aus der Vergangenheit der DDR resultieren, andererseits von den Erfahrungen des seit 1989/1990 erlebten Umbruchs geprägt sind. Im Unterschied zu Westdeutschland kam die Bevölkerung in der DDR mit Ausländern kaum oder nur ganz selten in Berührung. Die sog. »Fremdarbeiter«, die als Arbeitskräfte aus Vietnam, Mocambique oder Kuba ab den 1970er Jahren in die DDR geholt wurden, waren in eigenen, oft ghettoähnlichen Wohnsiedlungen untergebracht. Mit ihnen kamen die DDR-Bürger kaum in Kontakt; eine Gewöhnung an Ausländer unterblieb daher. Eine repräsentative Umfrage in Sachsen aus dem Jahr 2017 belegt diesen Sachverhalt: So waren 56 Prozent der Befragten der Auffassung, dass die Bundesrepublik durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maße überfremdet würde, und 38 Prozent vertraten die Ansicht, dass Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland grundsätzlich untersagt werden sollte.24 Diese xenophobe, nicht selten auch rassistisch motivierte Ablehnung von Ausländern wird verstärkt durch subjektive Erfahrungen, die aus dem zurückliegenden und hautnah erlebten Transformationsprozess resultieren. Die enormen beruflichen und privaten Umstellungen, die dieser Prozess den Einzelnen abforderte, der massenhaft erlebte Verlust des Arbeitsplatzes u. a. m. haben unter manchen Ostdeutschen die Befürchtung wachsen lassen, die Migranten könnten ihnen als Billigarbeiter diese Arbeitsplätze wieder wegnehmen. Ebenso wird geargwöhnt, dass ihnen selbst Sozialleistungen gekürzt werden könnten, deren Nutznießer wiederum Flüchtlinge oder Asylbewerber werden.25 Hinzu kommt, wie bereits oben erwähnt, dass ein Teil von Ostdeutschen unzufrieden mit dem demokratischen System der Bundesrepublik ist. Es erscheint ihnen zu kompliziert, Entscheidungen würden zu langsam getroffen, und das politische 23 Schmitt, Peter-Philipp: Familie als Hauptmotiv. Was der Mikrozensus über Deutschlands Einwohner mit Migrationshintergrund verrät, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.08.2018, S. 8. 24 Vgl. Umfrage von dimap; »Sachsen-Monitor« im Auftrag der Sächsischen Staatskanzlei; 1006 Befragte vom 20.07. bis 24.08.2017, zitiert nach DER SPIEGEL , Nr. 36 vom 01.09.2018, S. 10. 25 Hierzu jüngst umfassend Kraske, Michael: Wie die Radikalisierung im Osten unser Zusammenleben zerstört, Berlin 2020. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist auch die soziologische Mikrostudie von Mau, Steffen: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Berlin 2019, der diese spezifischen ostdeutschen Mentalitäten am Beispiel eines typischen DDR-Wohnviertels in Rostock untersucht, in dem er selbst aufgewachsen ist. In diesem Werk spricht Mau von sozialpsychologischen »Frakturen des ostdeutschen Lebensgefühls«.

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Establishment habe keinen Bezug mehr zum »Volk«. Man wünscht einfache und schnelle Lösungen. »Ausländer raus!« ist daher mehr als nur ein Ausruf, es ist eine Denkweise. Überhaupt steht der Wunsch nach einer geschlossenen Gesellschaft und dichten Grenzen im Vordergrund, wie gleichermaßen die Angst vor Überfremdung.26 Es verwundert daher nicht, dass der Anteil von Wählern der AfD, die als Partei politisch fast einseitig auf die Flüchtlingsproblematik abhebt und dadurch einen perfiden Populismus betreibt, besonders in den ostdeutschen Bundesländern groß ist.27 Allerdings ist das kein rein ostdeutsches, sondern auch ein gesamtdeutsches Phänomen. Die erschreckende Serie von rechtsextrem motivierten Anschlägen in jüngster Zeit zeigt, dass rassistisches und antisemitisches Denken in West- wie Ostdeutschland nach wie vor virulent ist. Verstärkt wird dies nicht nur die oft negativen Erfahrungen, die viele Ostdeutsche im Verlauf des Transformationsprozesses persönlich und beruflich gemacht haben, sondern auch durch das subjektive Gefühl, dass die eigene Lebensleistung während dieses tiefgreifenden Umbruchs nicht oder zu wenig anerkannt wird. Diese (Selbst-)Einschätzung ist in Ostdeutschland weit verbreitet. So sind 44 Prozent von ihnen der Überzeugung, im wieder vereinten Deutschland nur Bürger zweiter Klasse zu sein.28 Diese Einschätzung kommt auch darin zum Ausdruck, dass 36 Prozent der Westdeutschen, aber 48 Prozent der Ostdeutschen davon überzeugt sind, dass die Entwicklung in Ostdeutschland in den nächsten Jahren ungünstig verlaufen wird.29 Daraus resultiert »ein spezifisches ostdeutsches Identitätsgefühl«. Denn während sich 71 Prozent der Westdeutschen in erster Linie als Deutsche und nicht nur als Westdeutsche empfinden, identifizieren sich viele Ostdeutsche nach wie vor mit dem Staatsgebiet der früheren DDR: Zwar sehen sich 44 Prozent in erster Linie als Deutsche, 47 Prozent aber zuvörderst als Ostdeutsche. Und wer sich in Ostdeutschland vornehmlich als Ostdeutscher begreift, wählt häufiger AfD oder DIE LINKE .30 Gleichwohl muss in diesem Zusammenhang festgestellt werden, dass die tatsächliche wirtschaftliche und soziale Lage der großen Mehrheit von Ostdeutschen erheblich besser ist als die persönlich »gefühlte« Situation. Jedenfalls wird die verbreitete Unzufriedenheit mit dem »Aufbau Ost« durch die sozioökonomischen Daten und Fakten nicht gedeckt. Zwar liegt die Wirtschaftskraft in Ostdeutschland, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Erwerbstätigen, hier weiterhin nur bei knapp 80 Prozent des West-Durchschnitts, wie ebenso die Löhne für Vollzeitbeschäftigte im Osten bei nur 79 Prozent des westdeutschen Niveaus. Doch das tatsächliche 26 Leipziger Studie: AfD-Wähler sehen Deutschland bedroht, in: Leipziger Volkszeitung vom 21.08.2018, S. 1. 27 Vgl. Mudde, Cas / Rovira Kaltwasser, Cristóbal: Populismus, Bonn 2019. 28 Vgl. Umfrage von dimap; »Sachsen-Monitor«, S. 14. 29 Vgl. Das ostdeutsche Identitätsgefühl, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.07.2019, S. 8. 30 Vgl. ebd.

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Wohlstandsniveau der Ostdeutschen ist deutlich besser, als es die statistischen Daten ausweisen. Denn in den neuen Bundesländern sind die Mieten meist geringer und Lebensmittelkosten im Schnitt um sieben Prozent günstiger. Nach Berechnungen des Dresdener Instituts für Wirtschaftsforschung (Ifo) liegen die real verfügbaren Einkommen von Ostdeutschen somit bei 92,2 Prozent des West-Niveaus.31 D. h. zwischen der bisweilen negativ empfundenen subjektiven Einschätzung individueller Lebenslagen und den tatsächlichen sozioökonomischen Zuständen besteht nicht selten eine Kluft. Damit korreliert im Übrigen, dass die Lebenszufriedenheit in Ost- und Westdeutschland seit der Wiedervereinigung kontinuierlich gestiegen ist. Die mittlere Lebenszufriedenheit ist in Westdeutschland seit der Wiedervereinigung 1989/1990 immer höher als in Ostdeutschland; doch unübersehbar ist gleichzeitig, dass die Kurve der mittleren Lebenszufriedenheit in Ostdeutschland seit 2004 angestiegen ist. Es ist keine Frage, dass das wieder vereinte Deutschland gegenwärtig in politischer wie gesellschaftlicher Hinsicht von starken Spannungen durchzogen wird. Das ist einerseits eine Folge des fundamentalen Transformationsprozesses, den die ostdeutsche Bevölkerung seit 1989/1990 durchmachen musste, während das Leben der übergroßen Mehrheit von Westdeutschen andererseits weiter in den gewohnten Bahnen verlief. Unterfüttert wird die Tatsache, dass es zwischen West- und Ostdeutschen durchaus feststellbare unterschiedliche politische Einstellungen und Mentalitäten gibt, durch die divergenten Sozialisationsprozesse, welche die Menschen in beiden Landesteilen, in Demokratie und Diktatur, durchlaufen haben. Während Westdeutsche auf inzwischen 70 Jahre Erfahrung in und mit der Demokratie zurückblicken können, sind es bei Ostdeutschen nur 30 Jahre. Nicht zuletzt das rapide Aufkommen der Flüchtlingsfrage in den Jahren 2015/2016 hat dabei Meinungs- und Verhaltensunterschiede zwischen West- und Ostdeutschen wie ein Katalysator sichtbar und hörbar hervortreten lassen.

X. Rechtsextremismus und -terrorismus Doch bliebe eine Analyse der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage des wiedervereinten Deutschland nach 30 Jahren unvollständig, wenn das in ganz Deutschland seit Jahren immer wieder auftretende Phänomen des Rechtsterrorismus bzw. -extremismus unerwähnt bliebe. Dabei handelt es sich keineswegs nur um die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber, die bis heute breiten Raum in der öffentlichen Debatte einnimmt. Vielmehr ist es zugleich die Kette von rechtsterroristischen Anschlägen, die seit der Wiedervereinigung verübt wurden und rassistisch, ausländerfeindlich, antiislamistisch und / oder antisemitisch motiviert waren und sind. Bis Ende Februar 2020 sind 198 Menschen Opfer rechts31 Vgl. Debski, Andreas: Situation der Ost-Wirtschaft: Schlechter als erwartet – aber besser als gefühlt, in: Leipziger Volkszeitung vom 12./13.10.2019, S. 7.

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extremer Gewalt geworden, der jüngste Anschlag auf Deutsche mit Migrationshintergrund in Hanau am 19. Februar 2020 kostete neun Menschen das Leben. Nur ein halbes Jahr früher, am 9. Oktober 2019, wurden zwei Menschen bei einem versuchten Anschlag auf die Synagoge in Halle getötet. Drei Monate zuvor, am 2. Juni 2019, war der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke vor seinem Haus erschossen worden, weil er sich für Flüchtlinge und Asylanten eingesetzt hatte. Zwischen 2000 und 2007 verübte die rechtsextremistische Terrororganisation »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) eine Reihe von Sprengstoffanschlägen und erschoss neun Migranten und eine Polizistin. Die Liste solcher Gewalttaten ließe sich – leider! – leicht fortsetzen.32 Auch wenn die rechtsextremen Täter jeweils persönlich für ihre Taten verantwortlich sind und der Strafverfolgung des demokratischen Rechtsstaates unterliegen – ohne Zweifel gibt es eine zumindest indirekte Mitverantwortung durch die AfD. Vor allem seit der Flüchtlingskrise von 2015/2016 haben Politiker der AfD eine von Hass und Hetze erfüllte Rhetorik gepflegt, die es bislang in dieser Weise nicht gab und über die öffentliche Debatte hinaus auch großen Einfluss auf die sozialen Medien genommen hat.33 Völlig zu Recht stellte daher Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in einer Rede vor einer Debatte im Deutschen Bundestag über den Rechtsterrorismus in Deutschland fest, dass der Staat gegen die »unerträgliche Verrohung« mit aller Macht vorgehen müsse, und forderte nach den rassistischen Morden von Hanau »eine aufrichtige Selbstkritik der Politik«.34 Dabei zeigt sich, dass sich die Langzeitfolgen der Transformation in Ostdeutschland und rechtsextremistische Einstellungen in ganz Deutschland überlappen, ja teilweise sogar potenzieren. Denn der eigentliche politische Rückhalt der AfD basiert in den neuen Bundesländern. So liegt das Stimmenaufkommen der AfD in Westdeutschland »zwischen fünf und 13, im Osten zwischen 22 und 24 Prozent«.35

XI. Fazit Zurück zur Revolution von 1989/1990. Auch nach dreißig Jahren sind Folgen dieses umfassenden politischen, ökonomischen und sozialen Umbruchs noch immer existent; denn auf die erste, politische Revolution folgte eine zweite, sozioökonomische Revolution, nämlich der wirtschaftliche und soziale Transformationsprozess in Ostdeutschland, der mindestens ebenso revolutionär gewesen ist wie die erste. Dabei 32 Vgl. https://www.dw.com/de/chronologie-rechte-gewalt-in-deutschland, letzter Zugriff am 6. März 2020. 33 Vgl. die Zusammenstellung solcher Äußerungen von Bender, Justus: Ehrlos und unanständig, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 05.03.2020, S. 3. 34 Vgl. Wehner, Markus: Zwischen verhärteten Fronten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.03.2020, S. 2. 35 Vgl. Wehner, Markus: Eine Partei im Getto, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 05.03.2020, S. 3.

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erweist sich am Beispiel Deutschlands, dass selbst erfolgreiche politische und ökonomische Transformationsprozesse eine lange Nachwirkung zeitigen. Psychologische, habituelle und mentale Denkmuster und Verhaltensweisen brauchen Zeit, um die neuen Verhältnisse und Gegebenheiten individuell wie kollektiv zu verarbeiten – und sie entwickeln sich nicht immer nach demokratischen und rechtsstaatlichen Normen, wie das noch 1990 erwartet wurde. Der umfassende Transformationsprozess, der sich in Ostdeutschland vollzog, lässt sich jedenfalls nicht einfach »aus den Kleidern schütteln«. Auch wenn im wieder vereinten Deutschland »zusammenwächst, was zusammengehört«, wie das Willy Brandt nach dem Fall der Mauer formuliert hat, es wird noch ein längerer Prozess sein und bleiben.

31. Januar 1968 Die Diplomatie der DDR anläßlich der Wiederaufnahme von Beziehungen zwischen Jugoslawien und der BRD Dušan Nečak

Eines der ersten äußerlichen Anzeichen für das Ende des Beharrens der westdeutschen Außenpolitik auf den Prinzipien der Hallstein-Doktrin stellte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Rumänien im Jahr 1967 dar. Da es sich um einen relativ unbedeutenden Staat des »östlichen Lagers« handelte, löste diese Aufnahme keine größere Reaktion auf Seiten der DDR aus. Als es aber am 31. Januar 1968 zur Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Jugoslawien und der BRD kam, reagierte Berlin euphorisch. Es wurde sogar eine Reihe umfangreicher diplomatischer Noten unterbreitet, in denen man darzustellen versuchte, warum die Beziehungen wieder aufgenommen wurden, in denen man seine eigene Politik verteidigte, die Richtigkeit der jugoslawischen Anerkennung der DDR bestätigte, vor allem aber die vermeintliche Fortsetzung der westdeutschen »Alleinvertretungspolitik« angriff. Mit Ausnahme der USA gab es kaum einen Staat, an den eine solche Note nicht adressiert worden wäre. Mit diesen Noten gab man in Berlin wenigstens mittelbar zu, dass man das bedeutendste Ziel der diplomatischen Tätigkeit in Belgrad, d. h. die Verhinderung der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der BRD und Jugoslawien, verfehlt hat, dennoch versuchte man diese Niederlage im Lichte eines höheren Ziels – der weiteren internationalen Anerkennung der DDR – als einen Sieg darzustellen. Die Noten der DDR-Regierung stellten eigentlich eine diplomatische Offensive dar, mit der man die neue westdeutsche »Ostpolitik« Willy Brandts von Anfang an zu brandmarken versuchte. Die de facto gescheiterte Hallstein-Doktrin und die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Jugoslawien und der BRD benutzte man aber dazu, möglichst viele Anerkennungen der DDR seitens anderer Staaten zu erwirken. Vor allem die westeuropäischen Staaten versuchte man zu überzeugen, dass die BRD auf die Hallstein-Doktrin in der Tat nicht verzichtet, sondern die Staaten nur eingeteilt habe in solche, denen es »erlaubt sei«, diplomatische Beziehungen zur DDR zu unterhalten, und jene, die daran mithilfe ökonomischer und politischer Druckmittel verhindert werden sollten. Die BRD wurde beschuldigt, sie wolle die Grenzen in Europa verschieben und somit die Folgen der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg rückgängig zu machen. Die DDR-Regierung lobte die Politik Jugoslawiens zur Deutschland-Frage, die bereits vor einem Jahrzehnt die richtige Entscheidung getroffen habe, die Realität der Existenz zweier deutscher Staaten zu

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akzeptieren. Die westdeutsche »Alleinvertretungsanmaßung«, die noch immer in Bonn befürwortet werde, stelle eine Gefahr für den Frieden in Europa dar, würden doch dadurch Grenzverschiebungen angestrebt und somit Spannungen in der Welt erhöht. All das sei in Bonn nur deswegen möglich, weil die maßgebenden Stellen der BRD noch immer von nationalsozialistischen Kräften beherrscht würden. Die Note an west- und nordeuropäische Staaten endete mit folgenden Worten: Um die westdeutsche Regierung im Sinne der Friedenssicherung beeinflussen zu können, ist gerade jetzt – nachdem die BRD die Hallstein-Doktrin selbst abgeschafft hat – notwendig und durchaus möglich, dass diese Doktrin, die eine Gefahr für den Frieden darstellt, restlos und endgültig aus den bilateralen Beziehungen gebannt wird und dass normale völkerrechtliche Beziehungen zur DDR hergestellt werden.1

In den Noten an die Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas  – oder genauer gesagt die blockfreien Staaten – appellierte die DDR-Regierung, ihre Regierungen sollten »keine arrogante und beleidigende Einmischung der Regierung der westdeutschen Bundesregierung in Regelung und Entwicklung ihrer Beziehungen zur DDR zulassen«2. In den Noten hieß es weiter, durch das Aufzwingen der Grundsätze der Hallstein-Doktrin betrachte die Regierung der BRD die Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas als unmündig und spreche ihnen das Recht und die Fähigkeit ab, in den bedeutendsten Fragen der internationalen Politik solche Stellungnahmen herauszubilden, die ihren Interessen entsprechen würden. Die DDR war bemüht, diese Staaten zur Aufnahme von Beziehungen zur DDR zu veranlassen, indem sie sie von ihrer Einschätzung der damaligen Lage in den internationalen Beziehungen zu überzeugen versuchte. Das Kräfteverhältnis in der Welt und in der BRD würde der Regierung der westdeutschen Bundesrepublik die Durchführung von Repressalien gegenüber jenen Staaten erschweren, die sich im Interesse des Friedens, der nationalen Unabhängigkeit und Souveränität sowie Blockfreiheit dem Diktat der Hallstein-Doktrin nicht unterordnen ließen. Aus diesem Grund sollten die blockfreien Staaten normale Beziehungen mit dem »deutschen Staat des Friedens und des Fortschritts aufnehmen«.3 Die Note an die sozialistischen Staaten, obwohl die kürzeste von allen, war von der Begeisterung über die internationalen und innenpolitischen Errungenschaften der sozialistischen Staaten mit der Sowjetunion an der Spitze beseelt. Die DDR-Regierung versuchte die Freundstaaten zu überzeugen, dass die Politik gegenüber der westdeutschen Bundesrepublik, die auf der Konferenz der Außenminister der Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts im Februar 1967 umrissen worden war, die sogenante neue Bonner »Ostpolitik«, in eine aussichtlose Lage geraten sei. Darum sei die westdeutsche Regierung dazu gezwungen gewesen, die diplomatischen Beziehungen zu 1 SAPMO, (Stiftungsarchiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin), DY 30/J IV 2/3J-714 /ZK der SED, Politbüro (Informationen)/. 2 Ebd. 3 Ebd.

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Jugoslawien wieder aufzunehmen und auf die Anwendung der Hallstein-Doktrin zu verzichten, obwohl sie zehn Jahre lang vergeblich darum bemüht gewesen sei, die Beziehungen zwischen der DDR und Jugoslawien durch politischen und ökonomischen Druck zu behindern, wenn nicht abzubrechen. Trotz des Misserfolgs dieser Politik habe die Bonner Regierung – so meinte man in Berlin – nicht aufgehört, sich gönnerhaft in innere Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen. Ganz im Gegenteil, hieß es in der Note, obwohl sie im Falle Jugoslawien zum Nachgeben gezwungen worden sei und auf die Anwendung der Hallstein-Doktrin habe verzichten müssen, beharre die Bundesrepublik nach wie vor auf deren Anwendung. Sie habe lediglich die Staaten eingeteilt in solche, denen sie die Anerkennung der DDR erlaube, und jene, denen sie das verbiete. Die Grundlage der westdeutschen Politik zur Lösung der Deutschland-Frage sei nach wie vor die revanchistische »Alleinvertretungspolitik«.4 Den Plänen Bonns und Washingtons, durch die Anwendung einer »selektiven Koexistenz«, d. h. durch die »selektive Anwendung der Hallstein-Doktrin«, die sozialistischen Staaten zu differenzieren und auf diese Weise die DDR zu isolieren und einzukreisen, sollte man durch die erwähnte Vereinbarung der Außenminister der Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts vom Februar 1967 effektiv entgegenwirken. In dieser Vereinbarung stellten die Außenminister fest, dass das sozialistische Lager hinsichtlich der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zur DDR im Vorteil sei. Es wäre möglich, die BRD dazu zu zwingen, ihre »revanchistische Politik« zu überdenken. Aus diesem Grund teilte die Regierung der DDR in einer Note den Freundstaaten ihre Absicht und Überzeugung mit, dass man die Nicht-Anwendung der Hallstein-Doktrin gegen Jugoslawien zum Kampf um die Herstellung diplomatischer Beziehungen zwischen der DDR und anderen Staaten nutzen müsse. Die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen der BRD zu Jugoslawien sei der richtige Beweis für alle nichtsozialistischen Staaten, dass die Zeit gekommen sei, die aggressive »Alleinvertretungspolitik« zurückzuweisen und diplomatische Beziehungen zur DDR aufzunehmen. Abschließend dankte die DDR-Regierung den Regierungen aller sozialistischen Staaten für die bisherige Hilfe im Kampf um die diplomatische Anerkennung und bat sie zugleich, sie zu diesem günstigen Zeitpunkt noch weiterhin zu unterstützen und ihrerseits alles Mögliche zu tun, damit das gewünschte Ziel erreicht werde.5 Inhaltlich vorbereitet wurden die genannten Noten auf der Sitzung des PB der SED am 6. Februar 1968, auf der bereits einige Tage nach der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der westdeutschen Bundesrepublik und Jugoslawien eine »Stellungnahme des PB der ZK über die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der BRD und SFRJ« entworfen wurde (Punkt 2 der Tagesordnung). Die Stellungnahme war zwar relativ kurz, gut zwei maschinengeschriebene Seiten lang, aber entschieden, scharf und triumphierend in ihrer Formulierung. Die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der BRD 4 Ebd. 5 Ebd.

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und SFRJ wurde gleich am Anfang als ein Sieg der Politik der Sowjetunion und der Warschauer-Pakt-Staaten dargestellt, vor allem deswegen, weil man an der Vereinbarung der Außenministerkonferenz des Warschauer Pakts vom Februar 1967 festgehalten habe. In der Stellungnahme wurde nicht nur die Politik der BRD kritisiert, sondern es wurden, obwohl in viel milderer Form, auch Vorwürfe gegen Jugoslawien erhoben. Es wurde Folgendes niedergeschrieben: … Auf der anderen Seite ist es nicht zu übersehen, dass sich die jugoslawische Regierung bei der Unterzeichnung des Abkommens über die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen von besonderen politischen Interessen sowie ökonomischen und finanziellen Erwägungen leiten ließ. Dem muss man hinzufügen, dass sie die amtlichen Stellungnahmen der Bonner Regierungsstellen mit einer gewissen nachgiebigen Zurückhaltung aufnahm, wenn es sich um die Alleinvertretungsanmaßung handelte …6

Am Ende der Stellungnahme des PB des ZK der SED wurde eine diplomatisch-politische Offensive zur Zerschlagung der Hallstein-Doktrin angesagt: Die Außenpolitik der DDR muß die überholte Hallstein-Doktrin gegen Jugoslawien zum Kampf um deren Zerschlagung ausnutzen. Mit Unterstützung anderer sozialistischer Staaten sollte dieser Beweis für die Unhaltbarkeit der Hallstein-Doktrin dazu dienen, allen nichtsozialistischen Staaten vor Augen zu führen, daß die Zeit herangereift ist und durchaus möglich ist, diese aggressive Alleinvertretungsanmaßung zurückzuweisen und die diplomatischen Beziehungen zur DDR aufzunehmen. Die auf die Zerschlagung der Hallstein-Doktrin ausgerichtete Politik setzt vor allem ein einheitliches Auftreten der Warschau-Pakt-Staaten voraus auf der Grundlage der Vereinbarungen, die auf der Warschauer Konferenz der Außenminister hinsichtlich der westdeutschen Bundesrepublik getroffen wurden. Eine besondere Bedeutung schreiben wir den vereinbarten oder gemeinsamen Maßnahmen der DDR und SFRJ gegenüber den fortschrittlichen arabischen und afroasiatischen Staaten zu. Diese Beurteilungen und Ziele müssen die auswärtigen politischen Maßnahmen und diplomatischen Schritte der DDR bestimmen.7

Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR wurde später intensiviert, jedoch nicht »wegen der friedlichen Politik der DDR«, sondern vielmehr wegen der neuen Ostpolitik der BRD. Bald nach der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der BRD und SFRJ im Februar 1968 beklagte sich die DDRBotschafterin in Belgrad Eleonore Staimer bei dem jugoslawischen Präsidenten Tito, dass zahlreiche hohe politische Vertreter ihres Staates arabische Staaten besucht hätten mit der Aufgabe, diese für die Anerkennung der DDR zu gewinnen, jedoch ohne nennenswerten Erfolg. Es sei nur ein Abkommen zwischen der Volksrepublik Jemen

6 SAPMO, DY 30J2/2/1153, Stellungnahme des Politbüros der ZK zur Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der westdeutschen Bundesrepublik und der SFRJ. Anlage Nr. 14 zum Protokoll Nr. 4/68 von. 06.02.1968. 7 Ebd.

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und der DDR über die gegenseitige Einrichtung von Generalkonsulaten zustande gekommen, andere konkrete Ergebnisse hätten diese Besuche jedoch nicht gezeitigt.8 Auf der bereits erwähnten Sitzung des Politbüros des ZK der SED am 6. Februar 1968 in Berlin wurde auch ein Maßnahmenkatalog entworfen, der im Zusammenhang mit der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der DDR und SFRJ im außenpolitischen Bereich durchgeführt werden sollte. Er umfasste neun Punkte. Zwei davon betrafen unmittelbar auch Jugoslawien. Die Maßnahme Nummer zwei sah nämlich vor, dass der Außenminister der DDR Otto Winzer in der zweiten Märzhälfte den jugoslawischen Staatssekretär für Äußere Angelegenheiten Marko Nikezić zu einem DDR-Besuch einladen sollte. Durch die Maßnahme Nummer drei wurde die DDR-Botschafterin in Jugoslawien Eleonore Staimer beauftragt, den jugoslawischen Staatspräsidenten Tito in einer Unterredung über die Stellungnahme der Parteiführung und der Regierung der DDR zur Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der BRD und SFRJ zu informieren und ihn um die Unterstützung bei der Durchführung der außenpolitischen Maßnahmen zur Zerschlagung der Hallstein-Doktrin, besonders in den arabischen und afroasiatischen Staaten, zu bitten.9 Die fragilen und unsicheren jugoslawisch-ostdeutschen Beziehungen bewogen die Partei- und Staatsführung der DDR dazu, einen »Plan B« zu erarbeiten. Im Maßnahmenkatalog wurde nämlich noch eine zweite Aufgabe für die DDR-Botschafterin niedergeschrieben, für den Fall, dass Tito sie in absehbarer Zeit nicht empfangen würde. In diesem Fall sollte sich Botschafterin Staimer an den jugoslawischen Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten Marko Nikezić wenden mit der Einladung zu einem DDR-Besuch.10 Mit einer besonderen Aufgabe wurde auch der DDR-Außenminister beauftragt. Er sollte seine Reise nach Kambodscha, Burma und Indien dazu benutzen, die Führungen dieser Staaten davon zu überzeugen, diplomatische Beziehungen zu seinem Staat aufzunehmen. Darüber hinaus bekam er die Aufgabe, bei seiner Zwischenlandung in Kairo ein Gespräch mit dem ägyptischen Außenminister Mahmud Riad, dem Präsidenten Gamal Abdel Naser und Hai Mohd Ali Sabri zu führen. Eine interparlamentäre DDR-Gruppe wurde beauftragt, Senatoren und Abgeordnete nichtsozialistischer Staaten über die übermittelten diplomatischen Noten zu informieren. Durch Fragen in ihren Parlamenten sollten Debatten über eine Normalisierung der Beziehungen ihrer Staaten zur DDR angeregt werden. Schließlich war das DDR-Außenministerium in Zusammenarbeit mit der Abteilung Auslandsinformation damit beauftragt, die Wiederherstellung

8 PAAA (Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Bestand MfAA, Berlin) Bestand MfAA (Ministerium für auswärtige Angelegenheiten der DDR), VS – 58a, Beziehung DDR-SFR Jugoslawien und SFRJ zu anderen Staaten, 1967–1975, Vermerk über die Unterredung der Genossin Stauner mit dem Präsidenten der SFRJ, Genossen Josip Broz Tito am 23.02.1968. 9 PAAA, MfAA, C 424/70. 10 SAPMO, DY 30J2/2/1153, Massnahmen auf aussenpolitischem Gebiet.

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der diplomatischen Beziehungen zwischen der westlichen Bundesrepublik und SFRJ auslandsinformatorisch zu benutzen.11 Die DDR-Botschaft in Belgrad erarbeitete fast gleich nach der Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen zwischen der BRD und der SFRJ einen kurzen, fünf Seiten umfassenden Bericht über die Bedeutung der Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen, eine der besten politischen Analysen, wie es damals hieß. Am Anfang stellte man fest, dass die jugoslawische Seite dem Standort der Verhandlungen zur Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Staaten keine große Bedeutung beigemessen habe. Bonn habe es zwar abgelehnt, aber nicht darauf bestanden, dass die Verhandlungen in Belgrad stattfinden sollten. Paris als Kompromissvorschlag, so meinte man, sei vorteilhaft für die BRD gewesen. Es trifft das Urteil zu, dass in diesem Fall der BRD der Canossagang erspart geblieben sei. Es wurde ferner hervorgehoben, dass Jugoslawien den Schwerpunkt der Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen auf die bilaterale Ebene verlegt habe. Die diplomatischen Beziehungen sollen zur Verbesserung der bilateralen Beziehungen beitragen. Man ging von der richtigen Annahme aus, dass es keine Rede von einer Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen geben könne, solange keine Lösungen gefunden würden für Probleme wie Liberalisierung für jugoslawische Erzeugnisse auf westdeutschem Markt, Rechtsschutz für jugoslawische Gastarbeiter in der BRD, Entschädigung für Naziopfer, Einstellung der antijugoslawischen Tätigkeit von Ustascha- und anderen faschistischen Organisationen auf westdeutschem Boden. Die Verstimmung der DDR-Botschaft war durchaus verständlich, beteuerte man doch auf jugoslawischer Seite intern, dass durch die Herstellung der diplomatischen Beziehungen der Hallstein-Doktrin ein harter Schlag versetzt worden sei, was vor aller Welt Zeugnis von ihrer Unhaltbarkeit abgelegt habe. Offiziell habe man aber dazu keine Stellung nehmen wollen. Außerdem kritisierte man, dass sich Jugoslawien bedingungslos zur Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen entschlossen habe. Auf diese Weise sei der Bonner Regierung die Gelegenheit geboten worden, die Aufnahme als eine Art Annäherung an ihre Auffassung der deutsch-deutschen Frage zu verstehen und zu interpretieren. Man war auch davon überzeugt, dass die Einstellung der jugoslawischen Seite zur Berlin-Frage nach wie vor dieselbe geblieben sei, weil diese auf den Pariser Verhandlungen nicht angeschnitten worden sei.12 Auch innenpolitisch versuchte die ostdeutsche politische Führung die Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen zwischen der BRD und Jugoslawien als einen Sieg über den Imperialismus und über die BRD darzustellen. Walter Ulbricht hielt bereits am 14. Februar 1968 vor dem außenpolitischen Ausschuss der Volkskammer eine Rede. Er griff vor allem Kanzler Kiesinger an und bezeichnete ihn als 11 Ebd. 12 PAAA, Bestand MfAA, C 563/73, Abt. SOE, Sekt. Jugoslawien Entwicklung und Einschätzung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Jugoslawien und BRD; enthält auch: Einschätzung der jugoslawischen Haltung im Zusammenhang mit der Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen zwischen Jugoslawien und der BRD, 1966–1969.

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den Politiker, der sich 1957 am stärksten für die Anwendung der Hallstein-Doktrin als Antwort auf die Anerkennung der DDR durch Jugoslawien eingesetzt habe. Er lobte Jugoslawien, das nach der Anerkennung hervorragende Beziehungen zur DDR entwickelt habe, insbesondere Tito, der erklärt habe, dass es ein Glück sei, dass es die DDR gebe, denn nur sie stelle eine Schutzmauer gegen die revanchistischen Elemente in Westdeutschland dar. Er rief Staaten auf den anderen Kontinenten auf, die Bedeutung der DDR für die Stabilisierung der Verhältnisse in Europa und für die Friedenssicherung in der Welt einzusehen. Diese Auffassung habe Tito auch nach der Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen zur BRD vertreten. Mit Überzeugung behauptete er, dass die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen mit SFRJ nicht der Entscheidung der BRD zuzuschreiben sei, vielmehr sei sie durch die folgerichtige Politik der Sowjetunion und der Warschauer-Pakt-Staaten sowie infolge der veränderten internationalen Lage dazu gezwungen worden. Seine Ausführungen gipfelten in der Erklärung, auch die »neue Bonner Ostpolitik« sei in eine Sackgasse geraten dank der geschlossenen Haltung der Warschauer-Pakt-Staaten. Mit der »neuen Ostpolitik« habe nämlich die BRD die DDR einkreisen und isolieren wollen. Dabei kam er natürlich nicht umhin, den wunden Punkt in der Frage der Anerkennung der DDR außer Acht zu lassen, nämlich die Beziehungen der blockfreien Staaten zur DDR. Dass die BRD trotz der Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen zu SFRJ auf ihre bisherige Politik nicht verzichtet habe, davon zeuge, so Ulbricht in der Volkskammer, die arrogante neokolonialistische Politik der maßgebenden westdeutschen Stellen gegenüber arabischen, afrikanischen und asiatischen Staaten, denen man in Bonn das Recht auf das Mitspracherecht bei europäischen Staaten abspreche. Er fügte ferner hinzu, das »sei nichts anderes als eine Wiedergeburt des Rassendünkels und des Herrenmenschentums der europäischen Imperialisten.«13 Er schloss sein Exposé mit der Überzeugung und Hoffnung, dass die Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen zwischen der BRD und SFRJ ein Ende der Hallstein-Doktrin bedeute und dass der Zeitpunkt gekommen sei für die Normalisierung und Aufnahme der diplomatischen Beziehungen auf der Grundlage der friedlichen Koexistenz. Obwohl er seine Rede mit Titos Terminologie schloss, den er über alle Maße lobte, sollte die Zeit der scheinbaren »großen Liebe und tiefen Freundschaft« sehr bald vorbei sein.14

13 PAAA, Bestand, MfAA, C 1172/72, SOE / Jugoslawien, Beziehungen Jugoslawiens zur BRD auf aussenpolitischem und wirtschaftlichem Gebiet, 1966–1970. 14 Ebd.

Allheilmittel oder Patient namens Bologna? Dynamiken diskursiver Krankheits- und Medizinmetaphern im Bologna-Reform-Diskurs Janja Polajnar

I. Einleitung Die Unterzeichnung der Bologna-Erklärung am 19. Juni 1999 im italienischen Bologna markiert für viele Akademiker den Endpunkt von Humboldts Universitätskonzept, für andere hingegen stellt sie einen Neuanfang dar. So wird der BolognaProzess im massenmedialen öffentlichen Diskurs seit 1999 als Erneuerungs- und Umbruchprozess bzw. als die Umstellung der Studiengänge auf die internationalen Abschlüsse Bachelor (BA) und Master (MA) paraphrasiert und soll einer gründlichen Reform, einer sog. Groß- bzw. Gesamtreform der Studienstrukturen dienen. Um den Zusammenhang zwischen solchen gesellschaftlichen »Umbruchphänomenen« wie dem Bologna-Prozess und sprachlichen (Gebrauchs-)Veränderungen (»sprachlichen Umbrüchen«) aufzuzeigen, werden Diskurse »als gesellschaftliche Wirklichkeit konstituierende kommunikative Prozesse und Praktiken«1 untersucht. Denn eine diskurslinguistische transtextuell orientierte Analyse von Schlüsselwörtern, Topoi oder Metaphern etwa kann uns auf der semantisch-lexikalischen Ebene Einblick in das Geflecht von Diskursstrukturen, -positionen sowie -akteuren gewähren. Die im vorliegenden Beitrag fokussierte Metaphernanalyse wurde in den 1990er Jahren als »Zugang zu diskursiven Untersuchungsgegenständen«2 etabliert. Aus den diskurslinguistischen Arbeiten zu Metaphern geht hervor, dass Metaphern als transtextuelle Muster diskursive Einheiten sind3, die die Konstruktion von Wissen nicht nur in wissenschaftlichen Texten4, sondern auch in öffentlich-politischen De1 Kämper, Heidrun: Sprachgeschichte  – Zeitgeschichte  – Umbruchgeschichte  – Sprache im 20. Jahrhundert und ihre Erforschung, in: Kämper, Heidrun / Eichinger, Ludwig M. (Hg.): Sprache – Kognition – Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung, Berlin / New York 2008, S. 198–224 (Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 2007), hier S. 208. 2 Kuck, Kristin: Manuelle Annotation von Metaphern in großen Korpora. Praktische Überlegungen, in: Spieß, Konstanze / Köpcke, Klaus-Michael (Hg.): Metapher und Metonymie. Theoretische, methodische und empirische Zugänge, Berlin / München / Boston 2014, S. 81–107, hier S. 81. 3 Vgl. Semino, Elena: Metaphor in discourse, Cambridge 2008. 4 Vgl. Hänseler, Marianne: Metaphern unter dem Mikroskop. Die epistemische Rolle von Metaphorik in den Wissenschaften und in Robert Kochs Bakteriologie, Zürich 2010.

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batten5 und ganz generell in den Medien und der Alltagskommunikation maßgeblich prägen. Hierbei kommt Metaphern in öffentlich-politischen, massenmedialen Diskursen, wie etwa dem hier dargestellten hochschulpolitischen Bildungsdiskurs zur Bologna-Reform, zunächst eine Veranschaulichungsfunktion zu. Mithilfe »von verfügbarem, oft sinnlich konkretem Wissen«6 wird die abstrakte Bologna-Reform als umfassende Studienstrukturreform zur Schaffung eines Europäischen Hochschulraums erschlossen, beschrieben und bewertet. Wenn im europaweit geführten hochschulpolitischen Diskurs zur Bologna-Reform ab 2010 typischerweise metaphorische Muster wie langwierige Krankenakte mit dem Namen Bologna-Reform oder der Patient namens Bologna-Reform kommt auf den OP-Tisch gebraucht werden, die diese Reform nicht nur als einen Kranken, sondern einen lange behandelten Patienten imaginieren, dessen Genesung als dringend hervorgehoben wird, erfolgt das in einer spezifischen Strukturierung, Perspektivierung und Evaluierung des Themas7. Denn Metaphern bilden nie nur Realität ab, sondern kodieren spezifische Perspektiven der Diskursakteure, um »möglichst viele Personen von der je eigenen Position zu überzeugen«8, weshalb sie auch eine argumentative oder argumentationsstützende Funktion übernehmen können9. Neben den genannten können Metaphern noch weitere Funktionen wie die Benennungsfunktion oder kohärenzbildende Funktion übernehmen, wie im Beitrag gezeigt werden soll. Dieser Beitrag analysiert metaphorische Muster zur Bologna-Reform in zwei deutschen Leitmedien (Süddeutsche Zeitung und DER SPIEGEL) im Zeitraum 1999–2013. Im Fokus stehen Metaphern aus dem bildspendenden Bereich der Medizin und Krankheit, die dazu beigetragen haben, die Bologna-Reform sprachlich zu konstruieren und mitzukonstituieren, denn Metaphern als diskurssemantische und transtextuelle Elemente stehen in Diskursen nicht allein, sondern verdichten sich in Bildfeldern10. Der Diskursausschnitt wird im Hinblick auf Dynamiken diskursiver Krankheits- und Medizinmetaphern untersucht, d. h. welche »Protometaphern«11 aus dem gewählten Bildfeld sich über längere Zeit etablierten und im Gebrauch stabil 5 Vgl. Schwarz-Friesel, Monika: Metaphern und ihr persuasives Inferenzpotenzial, in: Spieß / ​ Köpcke (Hg.): Metapher und Metonymie. Berlin / München / Boston 2015, S. 143–160. 6 Ziem, Alexander: Kollokationen, Konkordanzen und Metaphern. Krisenszenarien im SPIEGEL . Aptum 6/2 (2010), S. 157–169, hier S. 157. 7 Schwarz-Friesel, Monika: Metaphern und ihr persuasives Inferenzpotenzial, in: Spieß / Köpcke (Hg.): Metapher und Metonymie. Berlin / München / Boston 2015,, S. 143–160, hier S. 153. 8 Spieß, Konstanze: Vom Flüchtlingsstrom bis hin zum Flüchtlingstsunami? Metaphern als Meinungsbildner, in: Erwachsenenbildung.at: Das Fachmedium für Forschung, Praxis und Diskurs 31 (2017), S. 1–5, hier S. 2. 9 Spieß / Köpcke (Hg.): Metapher und Metonymie. 10 Weinrich, Harald: Sprache in Texten, Stuttgart 1976. 11 Liebert, Wolf-Andreas: Die transdiskursive Vorstellungswelt zum Aids-Virus. Heterogenität und Einheiten von Textsorten im Übergang von Fachlichkeit und Nichtfachlichkeit, in: Kalverkämper, Hartwig (Hg.): Fachliche Textsorten. Komponenten – Relationen – Strategien, Tübingen 1996, S. 789–811, hier S. 808.

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blieben, aber auch, wie sie in innovativen Setzungen von verschiedenen Akteuren zu Metaphernfeldern ausdifferenziert werden. Schließlich sollen die Funktionen diskursiver Metaphern innerhalb ihres Verwendungskontexts expliziert werden.

II. Diskurslinguistik und Diskurs Diskurslinguistik ist eine Teildisziplin der Linguistik mit »Interesse an textübergreifenden, also transtextuellen Sprachstrukturen«12; sie ist als Erweiterung der historischen Diskurssemantik zu verstehen13, die den Foucault’schen Diskurs-Begriff handlungstheoretisch aufgefasst und für die diskurslinguistischen Analysen brauchbar gemacht hat. Diskurse14 sind als Mengen von themenidentischen Texten oder Aussagen nach Ziem »eine extrapolierte Größe, die sich empirisch nie vollständig erfassen lässt«15. Folglich wird Diskurs forschungspraktisch relevant als »virtuelles Korpus«16 definiert und somit die Engführung der Diskurs- mit der Korpuslinguistik legitimiert, wie sie im vorliegenden Beitrag umgesetzt wird. In diskurslinguistischen Untersuchungen wie der vorliegenden geht man also von themenidentischen Korpora (hier zur Bologna-Reform) aus und analysiert darin textübergreifende Sprachstrukturen wie metaphorische Muster »im Geflecht von Diskursakteuren«17 und diachron im Diskursverlauf. Da sich am Diskurs zur europaweit eingeführten Studienstrukturreform viele Akteure in Europa beteiligten und dieses hochschulpolitische Thema landes- und sprachenübergreifende Relevanz hatte und hat, kann der Bologna-Diskurs als sprachenübergreifender Diskurs gedeutet werden. Von dieser Prämisse ging auch das hier teilweise dargestellte bilaterale Forschungsprojekt18 aus. Im vorliegenden Bei12 Spitzmüller, Jürgen / Warnke, Ingo H.: Diskurslinguistik. Eine Einführung in Theorien und Methoden der transtextuellen Sprachanalyse, Berlin / Boston 2011, hier S. 22. 13 Vgl. Busse, Dietrich / Teubert, Wolfgang: Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik, in: Busse, Dietrich / Hermanns, Fritz / Teubert, Wolfgang (Hg.): Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik, Opladen 1994, S. 10–28. 14 Vgl. die Übersicht diskursanalytischer Ansätze und Diskursauffassungen bei Spitzmüller / ​ Warnke: Diskurslinguistik, S. 81–117. 15 Ziem, Alexander: Begriffe, Topoi, Wissensrahmen. Perspektiven einer semantischen Analyse gesellschaftlichen Wissens, in: Wengeler, Martin (Hg.): Sprachgeschichte als Zeitgeschichte. Konzepte, Methoden und Forschungsergebnisse der Düsseldorfer Sprachgeschichtsschreibung für die Zeit nach 1945, Hildesheim / New York 2005, S. 315–348, hier S. 319. 16 Busse, Dietrich / Teubert, Wolfgang: Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik, in: Busse / Hermanns / Teubert (Hg.): Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte, S. 10–28, hier S. 14. 17 Spitzmüller / Warnke: Diskurslinguistik, hier S. 22. 18 Der Beitrag stellt die Teilergebnisse des Forschungsprojekts »Bologna-Reform als kulturelle und gesellschaftliche Herausforderung. Ein kontrastierender Beitrag zur kulturanalytischen Diskursgeschichte mit einem transkulturellen Vergleich« vor, das anschließend in das DFG-

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trag wird aus Platzgründen der Fokus auf Krankheits- und Medizinmetaphern im deutschen Diskursausschnitt gelegt, die nur im deutschsprachigen Diskurs eine diskurskonstitutive Rolle tragen.

III. Diskursive Metaphern und deren Funktionen Diskurslinguistische Arbeiten aus der jüngsten Vergangenheit verweisen darauf, dass Metaphern in Diskursen eine zentrale Rolle einnehmen und unterschiedliche Funktionen erfüllen können19. Sie sind als transtextuelle Muster und somit als diskursive Einheiten zu verstehen20, die zur Konstruktion von Wissen maßgeblich beitragen, indem sie zwei unterschiedliche Ideen und Wissenssysteme verbinden21. Eine solche Auffassung und Bedeutung kommt den Metaphern erst seit dem 20. Jahrhundert zu, denn davor wurden Metaphern als rhetorische Mittel mit ornamentaler Funktion in der Literatur oder Rhetorik verstanden. Neuere diskurslinguistische Analysen von Metaphern knüpfen an unterschiedliche Theorien an: Die sog. Interaktionstheorien betrachteten Metaphern zum ersten Mal als kulturell verortete sprachliche Alltagsphänomene und gingen von der Interaktion zweier Bereiche aus, d. h. »tenor« / »vehicle«22, »frame« / »focus«23 oder »target domain« / »source domain«24 etc. Im Beitrag werden die Termini bildempfangendes und bildspendendes Feld nach Weinrich verwendet25. Berücksichtigt wird weiter Weinrichs Bildfeldtheorie26, die Metaphern nicht isoliert, sondern im Rahmen ihres Bildfelds betrachtet. Einen wichtigen Impuls geben in den 1980er Jahren Lakoff / Johnson27, die in »Metaphors we live by« Metaphern als kognitive, das menschliche Denken, Sprechen und Handeln strukturierende Einheiten auffassen, was später aus kognitionslinguistischer28, Netzwerk »Diskurse – digital: Theorien, Methoden, Fallstudien« (06/2016–06/2019) eingegliedert wurde. Ziel des Projekts war es, die Manifestationen diskursiv konstruierter Wissensformationen und kultuspezifischer Sichtweisen anhand lexikalisch-semantischer Einheiten, Metapherninventare und Argumentationsmuster in deutschen und slowenischen Leitmedien für den Zeitraum 1999–2013 zu erarbeiten. Vgl. Polajnar, Janja: Bologna-Prozess. Zur Wissenskonstitution zentraler lexikalisch-semantischer Einheiten im massenmedialen Diskurs, in: Muttersprache 124/3 (2014), S. 206–230. 19 Spieß / Köpcke: Metapher und Metonymie, hier S. 3, 5–10. 20 Vgl. Semino, Elena: Metaphor in discourse, Cambridge 2008. 21 Deignan, Alice. Metaphor and corpus linguistics, Amsterdam 2005, hier S. 9. 22 Richards, Ivor Armstrong: The philosophy of rhetoric, New York 1936, hier S. 95. 23 Black, Max: Die Metapher, in: Haverkamp, Anselm (Hg.): Theorie der Metapher, Darmstadt 1983, S. 55–79 (Wege der Forschung 389), hier S. 58. 24 Lakoff, George / Johnson, Mark: Metaphors we live by, Chicago 2003, hier S. 252. 25 Vgl. Weinrich, Harald: Sprache in Texten, Stuttgart 1976, hier S. 284. 26 Ebd. 27 Vgl. Lakoff / Johnson Metaphors we live by. 28 Schwarz-Friesel: Metaphern; Spieß / Köpcke (Hg.): Metapher und Metonymie, S. 143–160.

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vor allem aber aus soziopragmatischer Perspektive kritisiert wird.29 In neueren diskurslinguistischen Arbeiten werden Metaphern nicht nur als kognitive, kontextfreie Abstraktionen verstanden, sondern vor allem als kontextuelle, situationsgebundene und kulturell verortete Phänomene30. Liebert kritisiert die Ideal Cognitive Metaphor Theory von Lakoff und Johnson im Hinblick darauf, dass diese keine Erklärung bietet, wann und warum spezifische Projektionen kognitiver Modelle zustande kommen und warum bestimmte Metaphern charakteristisch die kulturelle Kohärenz der heutigen Gesellschaft prägen31. Hiermit widerspricht er der Auffassung, dass Metaphern kognitiv determinierte Phänomene sind. In Anlehnung an Liebert werden im vorliegenden Beitrag Metaphern als soziokulturelle, diskursive Einheiten verstanden, deren Aufkommen, Ausdifferenzieren und Verschwinden auf diskursiven Dynamiken beruhen.32 Folglich sollen nach Liebert deren »temporal and ideational origins and developments«33 im Zentrum der vorliegenden Metaphernanalyse stehen. Spieß und Köpcke34 nennen mehrere kommunikative Leistungen und Funktionen von Metaphern, die diesen auch in Diskursen zukommen können: a) Fokussierungsfunktion und persuasive Funktion: Durch Metapherngebrauch werden in Diskursen bestimmte Bedeutungsaspekte hervorgehoben (fokussiert) und andere ausgeblendet; damit erfüllen Metaphern zugleich eine perspektivierende Funktion. »Metaphorischer Sprachgebrauch als perspektivischer Sprachgebrauch ist dementsprechend weltanschaulich geprägt und kann persuasive Funktionen […] erfüllen«35. b) Benennungsfunktion und bedeutungskonstitutive Funktion: Metaphern schließen semantische Lücken und Benennungslücken, indem sie Gegenstände und Sachverhalte benennen (z. B. technische Innovationen). Aus semasiologischer Perspektive haben Metaphern bedeutungskonstitutive Funktion, denn mit Metaphern werden »in Diskursen Bedeutungen hervorgebracht«36.

29 Liebert, Wolf-Andreas: Metaphernbereiche der deutschen Alltagssprache. Kognitive Linguistik und die Perspektiven einer Kognitiven Lexikographie, Frankfurt a. M. 1992. 30 Ebd. 31 Liebert, Wolf-Andreas: The sociohistorical dynamics of language and cognition. The Emergence of the Metaphor Model ›Money Is Water‹ in the Nineteenth Century, in: Fill, Alwin / ​ Mühlhäuser, Peter (Hg.): The ecolinguistics reader. Language, ecology and environment, London 2001, S. 101–106, hier S. 103. 32 Vgl. Henn-Memmesheimer, Beate: Die Ordnung des Standards und die Differenzierung der Diskurse, in: Henn-Memmesheimer, Beate / Franz, Joachim (Hg.): Die Ordnung des Standard und die Differenzierung der Diskurse, Frankfurt a. M. 2009, S. XIII. 33 Liebert: Metaphernbereiche der deutschen Alltagssprache; Liebert: Die transdiskursive Vorstellungswelt zum Aids-Virus; Liebert: The sociohistorical dynamics of language and cognition, S. 101–106, hier S. 104. 34 Spieß / Köpcke (Hg.): Metapher und Metonymie, hier S. 5–10. 35 Ebd.: S. 6. 36 Ebd.: S. 6.

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c) Mit Sachverhalts- und Wissenskonstituierung »mittels Metaphorik […] geht immer schon eine Perspektivierung des Sachverhaltes / Wissens einher.«37 Bei der Benennung von technischen Innovationen durch Metaphern werden diese sowohl sprachlich konstituiert als auch perspektiviert (z. B. Verkehrsinsel zeigt die Sicht der Fußgänger, die Schutz vor dem Verkehrsfluss auf der Insel suchen, vs. Fahrbahnteiler, der die Sicht der Autofahrer wiedergibt38). d) Wissensvermittlung und Veranschaulichung von Wissen: Metaphern veranschaulichen komplexe Sachverhalte und Vorgänge, denn »Abstraktes [wird] mit Konkretem aus einem anderen Erfahrungsbereich in Zusammenhang gebracht«39, verdeutlicht und plausibilisiert. Metaphern kommt so eine »erkenntnisfördernde und erkenntnissteuernde, heuristische Funktion«40 zu. e) Textorganisation, Konstitution von Textkohärenz: Metaphern können die Textkohärenz gewährleisten, denn spezifische Metaphorik kann ganze Texte konstituieren. Hierbei können »unterschiedliche Metaphern miteinander vernetzt werden und durch die Spezifik des Kontextes semantische Erweiterungen erfahren«41. f) Wissensstrukturierung: Nach Liebert42 wird das Wissen durch Metaphorisierungsprozesse hierarchisch strukturiert: Metaphernbereiche (z. B. Bewegungsmetaphern) setzen sich aus Metaphernkonzepten (z. B. POLITIK ALS WEG) zusammen; diese bestehen wiederum aus Types, die durch einzelne Tokens realisiert werden (Politik als Weg durch eine Landschaft). g) Argumentationsfunktion: Pielenz43 spricht den Metaphern eine argumentative Funktion zu, denn die Schlussregeln sind ihnen insofern inhärent, als beim Metaphorisierungsprozess von einem Bereich auf einen anderen mithilfe von Schlussregeln geschlossen wird.

IV. Das Korpus und methodisches Vorgehen A. Das Korpus Im Beitrag werden Metapherninventare in zwei deutschen Leitmedien (Süddeutsche Zeitung und DER SPIEGEL) im Zeitraum 1999–2013 untersucht. Das Untersuchungskorpus wurde im Archiv der SZ und in der Datenbank Lexis Nexis mittels folgender Suchanfrage erhoben: ((Bologna und Reform) oder (Bologna und Prozess) 37 Ebd.: S. 7. 38 Sprachkompass: https://sprachkompass.ch/theorie/metaphern-erkennen, letzter Zugriff am 4.Februar 2020. 39 Spieß / Köpcke (Hg.): Metapher und Metonymie, hier S. 7. 40 Ebd.: S. 7. 41 Ebd.: S. 7. 42 Liebert: The sociohistorical dynamics of language and cognition, S. 101–106. 43 Pielenz, Michael: Argumentation und Metapher, Tübingen 1993, hier S. 105–108.

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oder (Bologna und Erklärung) oder Bachelor). Es enthält insgesamt 1.946.438 Wörter, davon 1.822.890 Wörter (SZ) und 123.438 Wörter (DER SPIEGEL). B. Korpusinformierte diskursanalytische Metaphernanalyse Die Metaphernanalyse wurde in den 1990er Jahren nicht nur als Zugang zu diskurslinguistischen Fragestellungen, sondern auch als methodische Herangehensweise anhand großer elektronischer Korpora etabliert.44 Im Gegensatz zu rein korpuslinguistischen Verfahren, die Metaphern aus großen elektronischen Korpora zu extrahieren versuchen45, werden bei einer diskurslinguistischen Metaphernanalyse Diskurse bzw. Diskursausschnitte oft manuell erarbeitet. Allerdings zeigt Ziem46 überzeugend, dass diskurslinguistische Metaphernanalyse als datengeleitete Korpusanalyse beispielsweise auch mithilfe des Konkordanzprogramms AntConc erfolgen kann. Anhand von Wortlisten, Schlüsselwörtern und n-Grammen47 kann man datengeleitet Ausdrücke herausfiltern, die im Hinblick auf Schlüsselwörter, die den thematisch-inhaltlichen Diskursschwerpunkt darstellen, metaphorisch gebraucht werden. Hiermit werden aus einem Diskursausschnitt nur diejenigen Metaphern erarbeitet, die im jeweiligen Diskursausschnitt zur sprachlichen Konstruktion und Konstitution von zentralen Diskursobjekten beitragen. Im vorliegenden Beitrag wurde zunächst das kleinere SPIEGEL -Korpus manuell untersucht. Die eruierten Metapherninventare wurden in einem nächsten Schritt mit dem Konkordanzprogramm AntConc im SZ-Korpus korpusinformiert48 erarbeitet, um ihre diskursive, quantitative Dominanz festzustellen. Da Metaphern oft in der Umgebung von anderen Metaphern vorkommen, wurden alle im Kotext von gesuchten Metaphern eruierten Metaphern wiederum mithilfe von AntConc untersucht. Auf die quantitative Analyse folgte eine genaue qualitative Analyse der relevanten Textstellen. Die erarbeiteten Metapherninventare wurden schließlich im Hinblick

44 Kuck, Kristin: Manuelle Annotation von Metaphern in großen Korpora. Praktische Überlegungen, in: Spieß / Köpcke (Hg.): Metapher und Metonymie, S. 81–107. 45 Scharloth, Joachim / Bubenhofer, Noah: Korpusvergleich als Methode der Stilanalyse, in: Felder, Ekkehard / Müller, Marcus / Vogel, Friedemann (Hg.): Korpuspragmatik. Thematische Korpora als Basis diskurslinguistischer Analysen, Berlin 2012, S. 195–230 (Linguistik – Impulse und Tendenzen 44). 46 Ziem, Alexander: Kollokationen, Konkordanzen und Metaphern; hier 158–161. 47 Ebd., S. 160. 48 Wie in jüngsten korpuslinguistischen Arbeiten deutlich wurde, wird auch bei einem korpusbasierten (»corpus-based«) Vorgehen beobachtet, dass Erkenntnisse anhand Korpusevidenzen in den Forschungsprozess einfließen und ihn beeinflussen. Folglich wird die Festlegung auf ein Korpusparadigma in jüngster Zeit von Forschern relativiert: Der corpus-based- und corpusdriven-Ansatz schließen sich gegenseitig nicht aus und nur ihre Verknüpfung kann wirklich ertragreich sein. Um dieser Relativierung terminologisch gerecht zu werden, wird in der vorliegenden Untersuchung von einem korpusinformierten Ansatz gesprochen.

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auf ihre Funktion im Text, auf Diskursakteure sowie auf die diachrone Entwicklung im Diskursverlauf differenziert beschrieben.

V. Empirische Analyse: Perspektivierung durch Krankheits- und Medizinmetaphorik Im analysierten Diskursausschnitt konnten zahlreiche Metaphern mit den Bildspenderbereichen Wirtschaft, Bauwesen, Maschinen und Industrie, Kampf sowie Krankheit und Medizin eruiert werden49, die im Analyse-Zeitraum zum einen kontinuierlich auftreten und zum anderen Diskursdynamiken widerspiegeln. Sie weisen darauf hin, welch zentrale Rolle Metaphern aus den genannten Metaphernfeldern bei der sprachlichen Konstruktion und Konstitution der Bologna-Reform und des Reformprozesses spielen und wie wesentlich sie zur perspektivischen Sachverhaltskonstitution beitragen. Die Detailanalyse der korpusinformiert rekonstruierten Krankheits- und Medizinmetaphern beleuchtete folgende diskursive Entwicklung und zeigte Funktionen auf, die Metaphern in ihrem Gebrauchskontext erfüllen können. A. Im Bologna-Fieber: Bologna-Reform, Bachelor und Master als Allheilmittel und Wundermittel Am Anfang des untersuchten Diskursausschnitts liegt der thematisch-inhaltliche Schwerpunkt auf der Einführung der neuen Bachelor- und Masterstudiengänge sowie der entsprechenden Abschlüsse. Eine am Diskursanfang frequente Metapher ist die Allheilmittel-Metapher, die die Bedeutungsaspekte von Allheilmittel als einem »[Haus]mittel gegen alle möglichen Beschwerden; Universalmittel« (Duden Onlinewörterbuch 2020: Allheilmittel) auf die Bologna-Reform bzw. Bachelor und Master überträgt. Oft perspektivieren im Diskursausschnitt die Bologna-Befürworter mit dieser Metapher die gestuften Studiengänge als ein Universalmittel, das mit einem Mal alle Schwierigkeiten der Hochschulbildung, wie etwa das Dauerproblem der überlangen Studienzeiten, der hohen Abbrecherquoten und der geringen Mobilität, behebt. Die alten Studienstrukturen werden dadurch indirekt als krank dargestellt. Auch im folgenden Beleg (1) werden die gestuften Studienstrukturen nach angelsächsischem Muster sprachlich als Allheilmittel perspektiviert, was einige Fächer in Frage stellen. Neben Perspektivierung kommt der Allheilmittel-Metapher im Beleg eine argumentative Funktion zu. 49 Polajnar, Janja / Gredel, Eva: Diskursive Dynamiken zur Bologna-Reform. Eine kontrastive Analyse metaphorischer Muster im Deutschen und im Slowenischen, in: Gredel, Eva et al. (Hg.): Diskurs – kontrastiv. Diskurslinguistik als Methode zur Erfassung transnationaler und sprachübergreifender Diskursrealitäten, Bremen 2018, S. 122–149 (Sprache – Politik – Gesellschaft 23); hier 128–129.

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(1.) Ganz Hochschul-Deutschland wird von der Flut der Bachelor- und Master-Studiengänge und -abschlüsse überrollt. Ganz Hochschul-Deutschland? Nein, einige Fächer leisten bislang noch heftigen Widerstand. Sie heißen Chemie, Physik, Biologie und stehen den von vielen als Allheilmittel angesehenen gestuften Studienstrukturen nach angelsächsischem Muster ausgesprochen skeptisch gegenüber, wie sich auf einer Tagung der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) und des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) kürzlich in Bonn zeigte. (SZ, 13. Juni 2000)

Die Allheilmittel-Metapher wird bereits am Anfang auch von Reformgegnern relativ häufig gebraucht, um darauf zu verweisen, dass die eingeführten Bachelor- und Masterstudiengänge nicht als Allheilmittel auf alle und alles angewendet werden dürfen, sondern eine differenzierte, auf einzelne Fächer und Studiengänge angepasste Herangehensweise adäquater wäre. Eine ein wenig andere sprachliche Perspektivierung erfahren Bachelor und Master durch die Wundermittel-Metapher. Die Bedeutungsaspekte von Wundermittel als »Mittel mit einer erstaunlichen, wunderbaren oder ans Wunderbare grenzenden Wirksamkeit« (Duden Onlinewörterbuch 2020: Wundermittel) werden auf die Studienabschlüsse Bachelor und Master übertragen, wodurch diese im Hinblick auf die Ziele der Bologna-Reform wie etwa Attraktivität, Überschaubarkeit sowie Kürze des Studiums oder Studentenmobilität als äußerst wirksam perspektiviert werden. Die Wirksamkeit der neuen Studiengänge grenzt also an ein Wunder, das man mit Gott und Religion assoziiert. Im folgenden metaphorischen Szenario wird eine journalistische Einschätzung der Diskurspositionen von Bologna-Befürwortern und -Gegnern präsentiert: Während die Bologna-Befürworter die Studiengänge als wahre Wundermittel sehen, sind für die Reformgegner Bachelor und Master des Teufels (»etwas völlig Unvernünftiges« (Duden Onlinewörterbuch 2020: des Teufels sein)), so die Interpretation des Autors des Beitrags. (2.) Unverständlich – und unwissenschaftlich – aber ist, wie Anhänger und Gegner des neuen Studiensystems im Streit übers Ziel hinausschießen. Für die einen sind Bachelor und Master wahre Wundermittel, die Deutschlands Hochschulen wieder weltweit attraktiver, ihre Studenten mobiler und auch noch das Studium überschaubarer und kürzer machen. Für die anderen sind Bachelor und Master des Teufels und degradieren ein Studium zur »Schmalspurausbildung«. (SZ, 19. Mai 2005)

Mit den sich häufenden Kritiken des Bologna-Prozesses und der neuen Studienstrukturen seitens unterschiedlicher Diskursakteure wird im Jahr 2009 zum ersten Mal die »Reform der Reform« erwähnt (SZ, 11. Dezember 2009). In diesem Sinne kommen seit 2009 andere Allheilmittel für die nun als krank implizierten BolognaStudiengänge, die gemessen an ihren Zielen gescheitert sind, ins Spiel. Der Politikstudent Daniel Palm, der mit seinen Kommilitonen der Uni Leipzig gegen schlechte Studienbedingungen protestierte, betrachtet das Zurückkehren zum alten System allerdings nicht als das Allheilmittel bzw. die Lösung der durch den Bachelor verschärften Probleme:

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(3.) SZ: Verfluchen Sie manchmal, nicht mehr auf Diplom studieren zu können? Palm: Nicht unbedingt. Ich denke, es wäre nicht das Allheilmittel, alles zu revidieren und zum alten System zurückzukehren. Der Protest hat ja verschiedene Gründe. Da sind Probleme dabei, die der Bachelor verschärft hat, die es aber auch schon vorher gab: überfüllte Seminare, schlechte Betreuung, zu wenig Selbstbestimmung. (SZ, 28. April 2009)

Deutlich wurde, dass die meliorativen Allheilmittel- und Wundermittel-Metaphern zwischen 1999 und 2009 im Diskursausschnitt durch wiederholten Gebrauch seitens der Bologna-Befürworter und -Gegner oder der Journalisten, die damit die entgegengesetzten Diskurspositionen imaginieren, häufig aktualisiert und stabilisiert wurden. Folglich wird der Diskurs entlang dieser Struktur geführt, d. h. dass die neu eingeführten Bachelor- und Master-Studiengänge als Mittel perspektiviert werden, wodurch man mit einem Mal alle Schwächen alter Studienstrukturen beheben kann, oder diese Sichtweise bestritten wird. Neben der perspektivierenden Funktion kommt diesen Metaphern eine argumentative Funktion zu. Nach 2010 werden die Allheilmittel- und Wundermittel-Metapher vollständig durch andere Krankheitsund Medizinmetaphern ersetzt. B. Bologna-Reform als Kranker und Patient Im Jahr 2010, elf Jahre nach der Unterzeichnung der Bologna-Erklärung, wird nun die Bologna-Reform nicht mehr implizit, sondern explizit als Kranker, als »jemand, der im körperlichen oder geistigen Wohlbefinden beeinträchtigt, gestört ist« (Duden Onlinewörterbuch 2020: Kranker) einerseits und als Patient, als eine »von einem Arzt, einer Ärztin […] behandelte oder betreute Person« (Duden Onlinewörterbuch 2020: Patient) andererseits personifiziert. Im Kommentar »Ohne Geld gibt es keine Bildung. Solange die Hochschulen unterfinanziert sind, wird die Bologna-Reform Probleme bereiten« (SZ, 3. August 2010) (4) entwirft der Journalist Johann Osel ein umfängliches metaphorisches Szenario mit einer hohen Dichte an Krankheits- und Medizinmetaphern, um verschiedene Diskurspositionen zu veranschaulichen. Durch die Krankheitsmetaphern Kranker und Patient wird sprachlich inszeniert, dass die Umstellung des Studiensystems auf die Abschlüsse Bachelor und Master mit ernsthaften Problemen behaftet ist, denn sie funktionierte nicht einwandfrei, war fehlerhaft und scheiterte darin, die gesetzten Ziele umzusetzen. Dass diese Probleme über einen längeren Zeitraum andauern und es von unterschiedlichen Diskursakteuren erfolglos versucht wird, sie zu lösen, wird mit der Krankenakte-Metapher imaginiert. Zudem werden im Kommentar mit Hilfe von Krankheitsmetaphern die verschiedenen Diskurspositionen der Bildungspolitiker, der Hochschulen und der Studierenden im Hinblick auf die Probleme und deren Lösung kontrastiert: Während Bildungspolitiker die Probleme aus der Ferne als klein und unbedeutend als ein paar Zipperlein diagnostizieren (»Gebrechen, Wehwehchen« (Duden Onlinewörterbuch 2020: Zipperlein)) und fest an deren Lösung glauben, sind die Hochschulen täglich mit der lange andauernden, problematischen Situation »ohne Aussicht auf Besserung«

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(Duden Onlinewörterbuch 2020) konfrontiert (das Siechtum). Sie wissen, dass der Grund in der lange andauernden bzw. chronischen Unterfinanzierung der Hochschulen liegt, können das Problem aber nicht ohne zusätzliche Finanzierung (als Heilmittel) lösen. Die Studierenden in der Opferposition sehen die Problemlösungsversuche Verantwortlicher als dilettantisch und zu langwierig als Herumdoktern (ugs. »durch dilettantische Methoden zu heilen versuchen« (Duden Onlinewörterbuch 2020: Herumdoktern)) an und bestehen auf eine schleunige, den gewünschten Erfolg bringende Lösung der Probleme, auch wenn das für die Bachelor- und Masterstudiengänge nachteilhaft wäre (mittels einer Rosskur, eine »für die Patienten überaus anstrengende, strapaziöse Behandlung, die aber den gewünschten Erfolg bringt« (Duden Onlinewörterbuch 2020: Rosskur)). Folglich wollen neun führende technische Universitäten zu drastischen Maßnahmen greifen und wieder die alten Titel einführen; auf diesen Akt werden die Bedeutungsaspekte von Operation als einem »chirurgische[n] Eingriff in den Organismus« (Duden Onlinewörterbuch 2020: Operation) übertragen, um die alten Titel zu reanimieren (»Wiederbelebung erloschener Lebensfunktionen« (Duden Onlinewörterbuch 2020: reanimieren)). Allerdings perspektiviert der Journalist die Reanimation alter Titel ausschließlich als eine Beruhigungsmaßnahme (Beruhigungspille, »Medikament in Tablettenform, das beruhigend auf das Nervensystem wirkt« (Duden Onlinewörterbuch 2020) und als kein (All-)Heilmittel (vgl. Beleg 3). (1) Es ist eine langwierige Krankenakte mit dem Namen Bologna-Reform. In den vergangenen zehn Jahren wurden an den Hochschulen sukzessive die neuen Abschlüsse Bachelor und Master eingeführt. Einwandfrei funktioniert die Reform nur in seltenen Fällen, doch über die Krankengeschichte gibt es höchst unterschiedliche Ansichten: Da ist die Bildungspolitik, die nur ein paar Zipperlein diagnostiziert und fest an die völlige Genesung des Patienten glaubt; da sind die Hochschulrektoren, die das Siechtum täglich sehen, Heilmittel wüssten, aber nicht das Geld dafür haben; und da gibt es viele Studenten, denen das Herumdoktern schon zu lange dauert, die schleunigst einen gesunden Patienten brauchen – und sei es mittels einer Rosskur. Doch im Grunde ist allen klar: Die ausgefeiltesten Studienkonzepte bringen wenig, wenn die Studienbedingungen mies sind. Dem Kranken würde zuvorderst helfen: ein Ende der chronischen Unterfinanzierung der Hochschulen. Nun kommt der Patient namens Bologna abermals auf den OP-Tisch. Die neun führenden technischen Universitäten wollen wieder den Titel des Diplom-Ingenieurs vergeben. […] Das Hauptproblem der Bologna-Reform ist, dass sie nicht ausreichend finanziert wurde. Eine Reanimation alter Titel auf dem Papier ist da nicht mehr als eine Beruhigungspille für das Selbstwertgefühl einer Zunft. (Süddeutsche Zeitung, 3. August 2010)

Die Dichte an Krankheits- und Medizinmetaphern in diesem Kommentar verdeutlicht deren textorganisierende und kohärenzbildende Funktion. Nach Spieß / Köpcke können Metaphern neben Veranschaulichungs-, Benennungs- und FokussierungsFunktion, erkenntnisfördernder oder argumentativer Funktionen u. a. auch die Ko-

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härenz von Texten gewährleisten, indem »ganze Texte durch spezifische Metaphorik konstituiert sind«50 und sog. »metaphorische Szenarien«51 entstehen. C. Diagnose: Bacheloritis und Bulimie-Lernen Seit 2010 heben die Kritiker der Bologna-Reform zudem hervor, dass die durch die Bologna-Reform initiierte Umstellung von Studienstrukturen nicht nur krank ist, sondern auch krank macht. Die betroffenen Opfer sind Studierende, die als Folge der neu eingeführten Studiengänge unter Bacheloritis und Bulimie-Lernen leiden. Hiermit übernehmen diese innovativen Metaphern eine Benennungs- und bedeutungskonstituierende Funktion. Im Jahr 2010 wird die Metapher von der Bacheloritis prominent in die Überschrift des Zeitungsartikels »Uni-Frust: Diagnose: Bacheloritis« (SZ, 17. Mai 2010) gesetzt und im Textverlauf definiert sowie ausführlich behandelt. Bei dieser Metapher handelt es sich um eine innovative pseudomedizinische Suffigierung mit dem exogenen Morphem -itis, das in der Gemeinsprache in Bildungen mit (exogenen) Substantiven folgende Bedeutungsmerkmale hat: »sich wie eine [entzündliche, akute] Krankheit äußernd, aber in Wirklichkeit keine seiend«, »etwas von der Norm (= Verhaltensweise)  Abweichendes« sowie »übermäßige Aktivität […], die als krankhaft vom Normalen abweichend empfunden wird«52. Das Bachelor-Studium stellt im Diskursausschnitt die Ursache für den psycho-physischen Zustand von Studierenden dar, der als eine übermäßige als krankhaft empfundene Aktivität perspektiviert wird.53 Diese pseudomedizinische Suffigierung wird im Diskurs mit pejorativer und ironisierender Bedeutung gebraucht54. (1) Experten haben im Zuge der Bologna-Reform eine neue Krankheit ausgemacht, die unter Studenten grassiert: die Bacheloritis. Sie äußert sich in Prüfungsangst und Stresssymptomen. »Der Druck hat zugenommen«, ist die Beobachtung von Achim Meyer auf der Heyde vom Deutschen Studentenwerk in Berlin. »Und damit sind auch der Stress und die Angst vor dem Versagen gewachsen.« […] Durch die Verkürzung der Studienzeit seien die Lehrpläne im Bachelor oft überfrachtet worden. (SZ, 17. Mai 2010)

50 Spieß / Köpcke (Hg.): Metapher und Metonymie, hier S. 7. 51 Kuck, Kristin: Krisenszenarien. Metaphern in wirtschafts- und sozialpolitischen Diskursen, Berlin 2018 (Sprache und Wissen 33). 52 Feine, Angelika: Fußballitis, Handyritis, Chamäleonitis. -itis-Kombinationen in der deutschen Gegenwartssprache, in: Sprachwissenschaft 28 (2003), S. 437–466, hier S. 448–449. 53 Diese Bildung findet sich interessanterweise auch im Englischen, allerdings hat Bacheloritis eine andere Bedeutung erlangt: »A single straight adult male who lives alone and makes very minimal effort or no effort to cook and / or clean.« (Urban Dictionary: https://www. urbandictionary.com/define.php?term=bacheloritis, letzter Zugriff am 4. Februar 2020. 54 Feine: Fußballitis, Handyritis, Chamäleonitis, hier S. 449.

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Eng verbunden mit Bacheloritis ist die Kompositum-Metapher Bulimie-Lernen bzw. Lernbulimie, eine studentische Krankheit, die ebenso seit 2010 im Bologna-Diskurs frequent verwendet wird. Hier werden die Bedeutungsaspekte von Bulimie als eine »Störung des Essverhaltens mit suchtartigen Heißhungeranfällen und anschließend absichtlich herbeigeführtem Erbrechen« (Duden Onlinewörterbuch 2020: Bulimie) auf den Lernprozess als schnellen »Verzehr« eines Pensums und die anschließende Wissensreproduktion in einem Akt der Entleerung übertragen. In den besten Fällen gibt es einsichtige Professoren, die dafür Verständnis haben, die sich auch nach den »alten Zeiten« zurücksehnen. In jenen Zeiten hat ihnen niemand vorgeschrieben, dass sie alles Wissen nur noch mit sechzigminütigen schriftlichen Prüfungen abfragen dürfen. »Lernbulimie« nennt man das – friss alles Wissen in dich hinein und spuck es dann auf Befehl wieder aus. (SZ, 20. Dezember 2010)

Neben den Substantivkomposita finden sich im Diskursausschnitt auch adjektivische Kompositum-Metaphern: Dazu gehört ein trockener Fleiß, der dennoch den Arbeitsaufwand zu minimieren strebt; ein bulimie-artiges Lernverhalten (erst rasender Verzehr eines Pensums, dann dessen Reproduktion in einem Akt der Entleerung). (SZ, 20. August 2011)

VI. Fazit Anhand der Detailanalyse von Krankheits- und Medizinmetaphern im Diskursausschnitt zur Bologna-Reform (SZ, DER SPIEGEL ; Zeitraum 1999–2013) wurde deutlich, dass diese miteinander eng verzahnt sind. Deren diskursive Entwicklung spiegelt die thematische Entwicklung des analysierten öffentlich-bildungspolitischen Diskurses wider. Dieser kann grob in zwei Phasen eingeteilt werden: In der vorwiegend optimistischen Anfangsphase mit einigen kritischen, warnenden Stimmen werden die Bologna-Reform und die neu eingeführten Abschlüsse Bachelor und Master als positive und sinnvolle Maßnahmen perspektiviert, mit denen die bestehenden Probleme der langen Studienzeiten, der hohen Abbrecherquoten, der geringen Mobilität und der schlechten internationalen Vergleichbarkeit gelöst werden können. Folglich wird die erste Phrase (1999–2009) durch die meliorativen Medizinmetaphern Allheilmittel, Wundermittel und Heilmittel geprägt, die ein vorwiegend optimistisches Bild zeichnen. Allerdings stellen bereits in der Anfangsphase die Bologna-Kritiker die Wirkung von Bachelor und Master als Allheilmittel in Frage und nennen erste Symptome (beamtlich-rechtliche Vorschriften) für die schleppende Reform, was einen Krankheitszustand der Reform impliziert. Die zweite Diskursphase wird durch die Studentenproteste im Jahr 2009 eingeleitet sowie durch die Reform der Reform geprägt. Der thematische Umbruch spiegelt sich in einem sprachlichen Umbruch wider. Für die zweite Phase sind folgende innovative metaphorische Muster aus dem Bildspenderbereich der Krankheit und Medizin charakteristisch, die die

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Metaphern aus der Anfangsphase vollständig ersetzen: Die Bologna-Reform wird als chronischer Kranker / Patient imaginiert, bei dem aus der Perspektive unterschiedlicher Akteure unterschiedliche Krankheitsbilder diagnostiziert wurden (ein paar Zipperlein, ein Siechtum) und unterschiedliche Maßnahmen helfen würden (ein Heilmittel, eine Rosskur oder eine Operation). Diese Missstände haben bei den Studierenden zu zwei krankhaften Zuständen geführt: Zum einen sind aufgrund überfrachteter Studiengänge Studierende äußerst erschöpft, weisen Prüfungsangst und Stresssymptome auf, was mit der innovativen itis-Bildung, Bacheloritis, benannt wird; zum anderen erinnert ihr Lernprozess als schnelle Stoffaufnahme und Reproduktion als Entleeren an Bulimie, was mit den innovativen Kompositum-Metaphern Bulimie-Lernen, Lernbulimie, bulimie-artiges Lernverhalten benannt und zugleich perspektiviert wird. Die zweite Phase wird also durch wiederholten Gebrauch, Aktualisierung und Stabilisierung pejorativer Krankheitsmetaphern gekennzeichnet, was dem Diskurs einen eher kritisch-pessimistischen Ton verleiht und Akteure (Bildungspolitik, Hochschulen, Professoren) zum Handeln auffordert. Insgesamt kann hervorgehoben werden, welche zentrale Rolle metaphorischen Mustern im öffentlich-bildungspolitischen Bologna-Diskurs zukommt, denn Metaphern tragen wesentlich zur veranschaulichenden und perspektivischen Sachverhaltskonstitution im Diskursverlauf bei. Deutlich wurde zudem, dass sich im Diskursausschnitt viele Akteure mit Metaphern beteiligen, mit denen sie versuchen, von ihren Positionen für oder gegen die Bologna-Studienstrukturreform zu überzeugen. Hierbei werden die Diskurspositionen von Bologna-Befürwortern und -Gegnern zum einen durch dieselben Metaphern bzw. Metaphernfelder sprachlich konstruiert (Bologna-Reform ist ein / kein Allheilmittel) oder durch Metaphern unterschiedlicher Bildfelder kontrastiert (»Bachelor und Master wahre Wundermittel […] des Teufels« (SZ, 19. Mai 2005)). Metaphorische Muster tragen als diskurssemantische Einheiten folglich nicht nur zur perspektivischen Sachverhaltskonstitution bei, sondern übernehmen häufig auch argumentative Funktion. Zudem konnte ihre konstitutive Rolle für die Textkohärenz aufgezeigt werden, denn Krankheits- und Medizinmetaphern prägen ganze Texte; auf diese Weise werden umfängliche metaphorische Szenarios mit Metaphern aus einem bildspendenden Bereich oder mehreren inszeniert. Schließlich wurden mit innovativen Metaphern neue durch das Bachelor-Studium bedingte Krankheiten benannt; so kommt Metaphern die Benennungsfunktion sowie bedeutungskonstitutive Funktion zu.

Bestreiten – Behaupten – Bezweifeln Demokratie in der parteilichen Kontroverse Heidrun Kämper

I. Einführung Wir sind der Meinung, […] daß, wenn schon ein Wechsel in der Staatsform eintreten müßte, die demokratische Monarchie […] für die deutschen Verhältnisse eine viel zweckmäßigere und nützlichere Einrichtung gewesen wäre als diese radikale Republik, unter deren Herrschaft wir jetzt leben.1

Clemens von Delbrück, Mitbegründer der extrem rechten Deutschnationalen Volkspartei, kodiert hier demokratisches Wissen. Delbrück redet im eben neu gewählten Reichstag 1919, also in einer Umbruchzeit. In einer antifaschistisch-demokratischen Republik können demokratische Freiheiten nur denen gewährt werden, die sie vorbehaltlos anerkennen. Demokratische Freiheiten sind aber denen zu versagen, die sie nur nutzen wollen, um die Demokratie zu schmähen und zu zerschlagen.2

In ihrem ersten Nachkriegsprogramm stellt die SPD Demokratie und Freiheit in einen engen Zusammenhang und kodiert demokratisches Wissen. Wir befinden uns im Jahr 1945, also in einer Umbruchzeit. Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus wurde von der breiten Mehrheit unseres Volkes eine Friedenspolitik und die Verwirklichung der sozialen Demokratie gefordert. Die Entscheidung gegen diese Forderung ist die eigentliche Wurzel der gegenwärtigen Krise.3

1 Delbrück, Clemens von: Aus einer Rede des Abgeordneten von Delbrück, DNVP, 2. Juli 1919, in: Michaelis, Herbert u. a. (Hg.): Der Weg in die Weimarer Republik (Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte Bd. 3), Berlin 1959, S. 461–463, hier S. 461 f. 2 SPD: Aufruf des Zentralausschusses der SPD vom 15. Juni 1945 zum Aufbau eines antifaschistisch-demokratischen Deutschlands, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (Hg.): Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung Reihe III, Band 1, Berlin 1959, S. 28–30. 3 Seeliger, Rolf (Hg.): Die außerparlamentarische Opposition, München 1968, S. 143.

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Rolf Seeliger, ein Akteur der 1968er-Bewegung, reflektiert in seinem Buch »Die außerparlamentarische Opposition« die Demokratiegeschichte der vergangenen zwanzig Jahre. Seeliger kodiert demokratisches Wissen. Das Buch ist aus dem Jahr 1968, also aus einer Umbruchzeit.

Mit diesen Beispielen ist das Thema des vorliegenden Beitrags angedeutet. Im Folgenden fragen wir danach, wie in Umbruchzeiten des 20. Jahrhunderts über Demokratie geredet wird, was bedeutet: Wir fragen danach, mit welchen Wissenselementen das Konzept, der Wissensrahmen ›Demokratie‹ in diesen Umbruchzeiten ausgestattet wird. Wir nehmen uns dazu die Umbrüche von 1918/19, 1945 und 1967/68 als Beispiele dafür vor, wie »Demokratie in der parteilichen Kontroverse« konstituiert wird.4 Es geht anschließend um die Frage, was eigentlich mit diesem Wissen in Umbruchzeiten geschieht – als Antwort auf diese Frage wird der »Diskurseffekt Verfassung« dargestellt. Im Sinn eines Fazits wird das »Wissensmanagement im Umbruch« zusammengefasst. Zunächst aber werden zwei theoretische Voraussetzungen reflektiert.

II. Theoretische Voraussetzungen Zunächst soll die Analyse theoretisch-methodisch gerahmt werden, hinsichtlich ihrer Verortung in der Institutionentheorie Searles’ sowie als Perspektive einer wissenstheoretischen Fragestellung, die Prinzipien diskursiver Wissensgenerierung in den Kontext von sprachlichen Umbrüchen stellt. A. Reden ist Gold Wir setzen voraus: Demokratie ist eine Institution, und Demokratisierungsprozesse sind sprachliche, genauer deklarative Institutionalisierungsprozesse. Damit schließen wir an Searles Institutionentheorie an, der die sprachliche Performanz als konstitutiv in einem solchen Prozess beschreibt. Institutionentheorien beschreiben ihren Gegenstand als norm- und wertbezogene gesellschaftliche Instanz und Form sozialen Handelns. Mit dieser sozialen Dimensionierung von ›Institution‹ ist gleichzeitig ein Zusammenhang zwischen Institution und Diskurs hergestellt: Institutionen sind ein kollektiv geschaffenes Phänomen, 4 In Bezug auf diese drei Umbruchphasen stelle ich hier Aspekte dar, die in Kämper, Heidrun: Der Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit. Ein Beitrag zur Geschichte des sprachlichen Umbruchs nach 1945, Berlin / New York 2005; Kämper, Heidrun: Aspekte des Demokratiediskurses der späten 1960er Jahre. Konstellationen – Kontexte – Konzepte, Berlin / Boston 2012; Kämper, Heidrun: Demokratisches Wissen in der frühen Weimarer Republik. Historizität – Agonalität  – Institutionalisierung, in: Kämper, Heidrun / Haslinger, Peter / R aithel, Thomas (Hg.): Demokratiegeschichte als Zäsurgeschichte. Diskurse der frühen Weimarer Republik, Berlin / Boston 2014, S. 19–96 ausführlich beschrieben sind.

Bestreiten – Behaupten – Bezweifeln

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was bedeutet, dass Institutionen Produkte von Diskursen sind. Sie werden im Zuge sozialer kollektiver Interaktion geschaffen. Ergebnis dieser Interaktion ist ein Regelsystem, das »automatisch die Möglichkeit institutioneller Tatsachen schafft«. Institutionelle Tatsachen existieren »im Rahmen von Systemen konstitutiver Regeln«.5 Im Sinn Searles werden Institutionen sprachlich, und nur sprachlich, geschaffen. Denn: Entscheidend für die Schaffung eines Regelsystems, also für die Etablierung einer Institution, ist die Erklärung dieses Regelsystems zu einem solchen. Diese deklarative Sprachhandlung ist die zentrale Konstituente in Searles Institutionentheorie, die Institution mithin als Ergebnis eines Akts sozialen sprachlichen Handelns darstellt. ›Sprachlich geschaffen‹ heißt in dem Modell Searles, durch deklarative Sprechakte geschaffen. Diese Deklaration geschieht unter der Bedingung kollektiven gesellschaftlichen Konsenses. Die Deklarierung eines Sachverhalts, einer Person oder einer Gegebenheit zu einer Institution ist von der kollektiven Zustimmung, von der Akzeptanz derjenigen Gemeinschaft abhängig, an die die (zu schaffende, zu verhindernde usw.) Institution gerichtet ist. Diesen Konsens stellt Searle als gesellschaftliches Kontinuum dar, welches Verlässlichkeit, Erwartungssicherheit, geringe Abweichungstoleranz als ein wesentliches Konstituens von Institutionen bedeutet. Die aus dieser Modellierung von Institutionalisierungsprozessen als deklarative Sprechakte resultierende Formel der konstitutiven Regeln, also derjenigen Regeln, die die Institution bestimmen, lautet bei Searle: »X gilt im Kontext K als Y«,6 womit kollektiv und konsensuell zugleich etwas als der Fall seiend erklärt wird.7 Diesem werden mit der Y-Position kollektiv anerkannte sprachlich repräsentierte sog. »StatusFunktionen« zugeschrieben.8 Diese Zuschreibungen geschehen kollektiv intentional. Voraussetzung für die Schaffung von Institutionen ist also die Absichtlichkeit ihrer Schaffung und ihres Fortbestands. Aus sprachlicher und sprachgeschichtlicher Perspektive sind es diese Statusfunktionen, die die umbruchspezifischen Konzeptveränderungen ausmachen und die entsprechend als sprachgeschichtliche Faktoren zu beschreiben sind. Wenn also nie kollektiv über Demokratie gesprochen wird, gibt es sie nicht. Reden ist Gold, und so erklären sich Demokratiediskurse des 20. Jahrhunderts. Reden ist allerdings nur dann Gold, wenn die Redenden gehört werden, mit Foucault: wenn sie Diskurshoheit haben, mit Blommaert: wenn ihre Beiträge eine ›voice‹ im Diskurs darstellen.9 ›Voices‹ in der frühen Weimarer Republik z. B. gibt es viele. Für und gegen die Demokratie reden hörbar starke Beteiligungsgruppierungen: Diejenigen, die sich der Etablierung der parlamentarischen Demokratie verschrieben haben, ha5 Searle, John R.: Wie wir die soziale Welt machen. Die Struktur der menschlichen Zivilisation, Berlin 2012, S. 24. 6 Searle: Wie wir die soziale Welt machen, S. 22 u.ö. 7 Vgl. Searle: Wie wir die soziale Welt machen, S. 145 f. 8 Vgl. Searle: Wie wir die soziale Welt machen, S. 160. 9 Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M. 1991; Blommaert, Jan: ­Language Ideological Debates, Berlin / New York 1999.

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ben Demokratie unentwegt zustimmend zum Gegenstand ihres Diskurses gemacht; diejenigen, die sie verhindern wollten, entsprechend ablehnend.10 Diskurshoheit hatten in diesem agonalen Raum zunächst die Demokratiefreunde, die Verweigerungsbeteiligten wurden dann, wie wir wissen, 1932/33 diskursmächtig.11 Indem also über Demokratie gesprochen wird, wird die Institution insofern diskursiv etabliert bzw. stabilisiert oder eben auch demontiert. B. Reden ist Generierung von Wissen Wissen ist in sog. Wissensrahmen12 strukturiert, in komplexen semantischen Einheiten höherer Ordnung. Demokratie bezeichnet solch einen Wissensrahmen, der aus einem komplexen Inventar von Wissenselementen, also Wissensbeständen, gebildet wird. Aus der Perspektive der Linguistik sind diese Veränderungen von Wissensrahmen eine Angelegenheit der Semantik: »Semantik ist besonders gut geeignet, zur Analyse der Strukturen des gesellschaftlichen Wissens beizutragen.«13 Zustimmendes oder ablehnendes Reden über Demokratie findet statt durch die Kodierung von Wissenselementen in der Kommunikation: ›Sprache und Wissen‹ ist ein linguistischer Forschungsansatz.14 Er fragt danach, wie Wissen im Diskurs entsteht, sprachlich-diskursiv dynamisiert und distribuiert wird. Wissensbestände werden im Sinn von Wissensrahmen und Wissenselementen modelliert. So versieht man den Wissensrahmen ›Demokratie‹ konstruktiv mit bestimmten Wissenselementen, oder man spricht dem Wissensrahmen bestimmte Wissenselemente ab. Für die sprachgeschichtliche Umbruchforschung ist dies ein adäquater Ansatz. Wenn Demokratie derart sprachlich errichtet, zerstört, verhindert wird, dann wird in die Wissensbestände der Institution eingegriffen, und es ist damit offensichtlich: Wissensbestände haben eine Geschichte, werden ständig agonal-diskursiv bearbeitet und sind damit dauernden historischen Veränderungen unterworfen.

10 Vgl. die Beiträge in Papenfuß, Dietrich / Schieder, Wolfgang (Hg.): Deutsche Umbrüche im 20. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien 2000, darin insbes. Fritzsche, Peter: Deutsche Demokratie – Deutsche Diktatur, in: Papenfuß / Schieder (Hg.): Deutsche Umbrüche, S. 147–161. 11 Jones, Larry Eugene: Von Weimar zu Hitler. Deutschlands konservative Eliten und die Etablierung des »Dritten Reichs« 1932–1934, in: Papenfuß / Schieder (Hg.): Deutsche Umbrüche, S. 191–205. 12 Nach Busse bezeichnet ›Wissensrahmen‹ »ein Strukturgefüge …, in dem einzelne für das Verstehen eines Wortes oder einer in einem Satz ausgedrückten Prädikation notwendige Wissensaktivierungen zu einer sich nach Inhaltsaspekten ergebenden mehr oder weniger stabilen Ganzheit zusammenkommen.« Busse, Dietrich: Architekturen des Wissens. Zum Verhältnis von Semantik und Epistemologie, in: Müller, Ernst (Hg.): Begriffsgeschichte im Umbruch? Hamburg 2004, S. 43–57, hier S. 46. 13 Busse, Dietrich: Architekturen des Wissens, S. 55. 14 Vgl. Felder, Ekkehard / Müller, Marcus (Hg.): Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerkes »Sprache und Wissen«, Berlin / New York 2009.

Bestreiten – Behaupten – Bezweifeln

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C. Die Übergänge, die Momente der Veränderung von Wissensbeständen nennen wir Umbruch. Wissenselemente lassen sich klassifizieren. Im Fall von Demokratie lassen sich drei Dimensionen unterscheiden: organisatorisches Wissen, ethisches Wissen, ideologisches Wissen. Diejenigen Elemente, deren Summe den Wissensrahmen ›Demokratie‹ bildet, haben eine organisatorische, eine ethische und eine ideologische Dimension. Insofern unterscheiden wir den Wissensrahmen ›Demokratie‹ wie folgt: Wir verstehen ›organisatorisches Wissen‹ als solche Wissensart, die »sich auf gesellschaftlich organisierte […] Handlungszusammenhänge bezieht.«15 Das organisatorische Wissen in Bezug auf Demokratie wird z. B. mit Elementen wie Wahlen, Parlament, Parteien usw. repräsentiert. Ethisches Wissen bildet die Basis, die gesellschaftliches Handeln, Denken, Wollen und Sollen bestimmt. Auf diese Basis verpflichtet sich eine Gesellschaft, sie bezieht sich unstrittig auf sie. Ethisches Wissen ist Wissen über die nicht in Frage zu stellende Deontik einer Gesellschaft, über eine Norm und ein für alle verbindliches Wertesystem, über die »gemeinsame[n] Grundelemente einer Sinnwelt …, die als solche Gewißheitscharakter haben«.16 Wir sprechen von dem Wertekonsens einer Gesellschaft. Während die Versprachlichungen organisatorischen Wissens die Funktion haben, die Institution als strukturiertes Ordnungssystem zu konzipieren, dient die Manifestation ethischen Wissens dazu, die Institution zu legitimieren. Mit entsprechenden Elementen ethischen Wissens weisen die Akteure die Berechtigung ihres jeweiligen politischen Handlungsziels nach. Das ethische Wissen in Bezug auf Demokratie wird z. B. mit Elementen wie Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit usw. repräsentiert. In dem Moment, wo Kodierungen ethischen Wissens Gegenstand kontroverser agonaler parteilicher Diskurse sind und nicht mehr die Funktion der Legitimierung, sondern die des parteilichen Bekenntnisses, der parteilichen Bewertung haben, gehen sie über in den Status ideologisch gebundener Repräsentationen: Freiheit gibt es nur in der sozialen Demokratie! Diese Klassifizierung der Wissensarten in organisatorisch, ethisch und ideologisch bedeutet also nicht, dass sich die entsprechenden lexikalischen Repräsentationen im Sinn von je spezifischen Wortschatzbereichen voneinander abgrenzen lassen. Es ist der textuelle oder kommunikative Kontext, der die Funktionen der lexikalischen Einheiten eindeutig markiert: als Sachverhaltsorganisation (organisatorisch), als Sachverhaltslegitimation (ethisch) oder als Sachverhaltsbewertung (ideologisch).17 15 Hoffmann, Ludger: Wissensgenerierung. Der Fall der Strafverhandlung, in: DausendschönGay, Ulrich / Domke, Christine / Olhus, Sören (Hg.): Wissen in (Inter-)Aktion. Verfahren der Wissensgenerierung in unterschiedlichen Praxisfeldern, Berlin / New York 2010, S. 249–279, hier S. 254. 16 Berger, Peter L. / Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 161999 (1. Aufl.: 1965), S. 133 f. 17 Diese drei sind Versionen von Sachverhaltskonstitutionen, die ihrerseits je spezifisch von Akteuren vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Werthaltungen, Wissenshorizonte und Lebens-

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III. Demokratie in der parteilichen Kontroverse – Wie redet man im 20. Jahrhundert über Demokratie? Nachfolgend fokussiert der empirische Teil drei Umbruchphasen mit je spezifischen Ausprägungen von Demokratie-Konzepten und entsprechenden Veränderungen des Wissensrahmens Demokratie. A. Demokratie gegen Demokratie – Demokratiepolemik 1918/1919 Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg sind in die Politik- und Sozialgeschichte eingegangen als Zeit der Stimmenvielfalt, ja des Stimmengewirrs. Die Anzahl derjenigen, die sich am politischen Diskurs beteiligen, ist groß. Man streitet um den Wissensrahmen Demokratie. Diskurshoheit hat die politische Mitte, die die Regierung bildet – die sog. Weimarer Koalition, bestehend aus SPD, DDP und Zentrum. Deren Akteure und Akteurinnen haben es sich zum Ziel gesetzt, die parlamentarische Demokratie einzurichten, zu stabilisieren, zu konsolidieren. Wahre Demokratie ist für die politische Mitte der Weimarer Republik der Parlamentarismus. Friedrich Ebert eröffnet als Vorsitzender die erste Sitzung der Nationalversammlung, indem er dem Plenum in diesem Sinn zuruft: Nur auf der breiten Heerstraße der parlamentarischen Beratung und Beschlußfassung lassen sich die unaufschiebbaren Veränderungen auch auf wirtschaftlichen und sozialen Gebieten vorwärtsbringen.18

Diese Haltung zur neu einzuführenden Demokratie hat Folgen. Sie bestimmt die Art und Weise, wie die politische Mitte über Demokratie redet. Die politische Linke ist dagegen – ihre Vorstellung von Demokratie ist eine gänzlich andere. Sie stattet ihre Gegenrede mit Metaphorik aus, um das Demokratiekonzept der politischen Mitte zu disqualifizieren, das gegnerische Demokratiekonzept mit dem sprachlichen Bild des Scheins, der Maske, der Lüge zu inkriminieren und zu disqualifizieren: welten geprägt sind (vgl. Felder, Ekkehard: Semantische Kämpfe in Wissensdomänen. Eine Einführung in Benennungs-, Bedeutungs- und Sachverhaltsfixierungs-Konkurrenzen, in: Ders. (Hg.): Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften, Berlin / New York 2006, S. 13–46; Kämper, Heidrun: Personen als Akteure, in: Roth, Kersten Sven / Wengeler, Martin / Ziem, Alexander (Hg.): Handbuch Sprache in Politik und Gesellschaft (Handbücher Sprachwissen 19, hg. von Ekkehard Felder und Andreas Gardt), Berlin / Boston 2017, S. 259–279. 18 Ebert, Friedrich: Eröffnungsrede des Volksbeauftragten Ebert bei der Eröffnung der Nationalversammlung in deren Sitzung am 6. Februar 1919, in: Hohlfeld, Johannes (Hg.): Die Weimarer Republik 1919–1933 (Dokumente der Deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart. Ein Quellenwerk für die politische Bildung und staatsbürgerliche Erziehung 3), Berlin 1951, S. 14–17, hier S. 15.

Bestreiten – Behaupten – Bezweifeln

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Die Bourgeoisie täuscht die proletarischen Massen durch das Gaukelspiel der Demokratie.19 In der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sind demokratische Rechtsformen Truggebilde.20 Ein Parlament, das lediglich ein Mittel einer herrschenden Minderheit ist, einer beherrschten Mehrheit die Demokratie vorzuspiegeln.21

Die Linke also demoralisiert, ja inkriminiert zum Zweck der Delegitimierung die bürgerliche Demokratieversion. Auch die politische Rechte ist dagegen – sie stattet ihre Diffamierung von Demokratie erwartungsgemäß mit völkisch-rassistischen Elementen aus, indem sie einen antisemitisch begründeten Zusammenhang herstellt und die Bedeutung von Demokratie – wie Hitler in ›Mein Kampf‹ – mit dem Kennzeichen ›jüdisch‹ versieht: [D]iese Art von Demokratie ist auch das Instrument derjenigen Rasse geworden, die ihren inneren Zielen nach die Sonne zu scheuen hat, jetzt und in allen Zeiten der Zukunft. Nur der Jude kann eine Einrichtung preisen, die schmutzig und unwahr ist wie er selber.22

Aushandlung von Wissen, also auch von demokratischem Wissen, besteht nicht nur im Bestreiten und Abwerten von Konzepten des politischen Gegners, sondern auch im Behaupten des eigenen Entwurfs. Diesem wird stets die Eigenschaft wahr, wirklich, tatsächlich zugeschrieben. Die politische Linke wirbt für die sozialistische Demokratie – wie etwa Clara Zetkin auf einem Parteitag 1919: Hier die leere bürgerliche formale, politische Demokratie; dort die blutstrotzende, kampffrohe proletarische, sozialistische Demokratie, die die wirtschaftliche Befreiung und Gleichberechtigung der Arbeiter zur Voraussetzung hat.23

19 Zetkin, Clara (1920): Richtlinien für die kommunistische Frauenbewegung, in: Zetkin, Clara: Ausgewählte Reden und Schriften. Band II: Auswahl aus den Jahren 1918 bis 1923, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1960, S. 260–289, hier S. 274. 20 USPD (1919): Das Revolutionsprogramm der Unabhängigen Sozialdemokratischen Deutschlands, 6. März 1919, in: Hohlfeld (Hg.): Die Weimarer Republik 1919–1933, S. 23–25, hier S. 23 f. 21 KPD (1919): Leitsätze über den Parlamentarismus, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (Hg.): Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Reihe II: 1914–1945. Band 7: Februar 1919 – Dezember 1923, Berlin 1966, S. 134–136, hier S. 134. 22 Hitler, Adolf: Mein Kampf. Band 1: Eine Abrechnung, München 851–8551943 (1. Aufl.: 1925/​ 1926), S. 99. 23 Zetkin, Clara (1919): Ich will dort kämpfen, wo das Leben ist, in: Zetkin, Clara: Ausgewählte Reden und Schriften. Band II, S. 93–115, hier S. 102 f.

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Bei der politischen Rechten wundert es nicht, dass sie kaum ein ausgearbeitetes Demokratiekonzept vorzuweisen hat. Gelegentlich lässt sie sich über die sog. germanische Demokratie aus, über die wahrhaftige germanische Demokratie der freien Wahl des Führers, mit dessen Verpflichtung zur vollen Übernahme aller Verantwortung für sein Tun und Lassen. … darin liegt ja eben der Sinn einer germanischen Demokratie, daß … schon durch die Größe der zu übernehmenden Verantwortung Nichtskönner und Schwächlinge zurückgeschreckt werden.24

Halten wir fest: Die Diskursbeteiligten der frühen Weimarer Republik verwerfen das Demokratiekonzept des jeweiligen politischen Gegners, indem sie die jeweiligen Wissenselemente verwerfen; gleichzeitig erheben sie das eigene Konzept in den Status ›unabdingbar und wahr‹, indem sie die entsprechenden Wissenselemente behaupten / zuschreiben; jede Gruppierung deutet Demokratiekonzepte ablehnend oder zustimmend aus – immer mit Verwendung des Labels Demokratie. Hier passiert übrigens etwas, das die Politolinguistik mit der Kategorie »ideologische Polysemie«25 beschreibt: Das Phänomen entsteht, wenn unterschiedliche, womöglich gegensätzliche, Ideologien sich derselben Ausdrücke bedienen und diese mit ihrer jeweils eigenen Deutung versehen. In unserem Fall: Der Ausdruck Demokratie bleibt gleich, seine Wissenselemente variieren nach politisch rechts, links und der Position der Mitte. Vollziehen wir einen Zeitsprung und schauen wir, wie man fünfundzwanzig Jahre später, nach Zweitem Weltkrieg, Nationalsozialismus und dem Zivilisationsbruch des Holocaust, über Demokratie redet. B. Demokratie als Lebensform – Demokratischer Konsens 1945 Die Konstellation der Beteiligten ist in diesem historischen Kontext eine ähnliche. Auch hier zählen zu den Akteuren, neben den Parteien, die um politische Macht streiten, auch Angehörige der gesellschaftlichen Elite: Künstler, Intellektuelle, Theologen, Philosophen. Sie alle sollen und wollen Staat und Gesellschaft wiederaufbauen – z. T. im ausdrücklichen Auftrag der Alliierten. Es sind diejenigen, die sich 24 Hitler: Mein Kampf, S. 99 f. 25 Dieckmann ordnet ideologische Polysemie solchen Wörtern zu, »die verschiedenen Ideologien gemeinsam sind und deren verschiedene Sinndeutungen nebeneinander in einer Sprache auftauchen«. Dieckmann, Walther: Sprache in der Politik. Einführung in die Pragmatik und Semantik der politischen Sprache. 2Heidelberg 1975, S. 71. Josef Klein (1989) bezeichnet dieses Phänomen (analog zu Bezeichnungskonkurrenz) als Bedeutungskonkurrenz und meint damit die »Tilgung und / oder Hinzufügung eines oder mehrerer semantischer Merkmale oder Stereotype«. Klein, Josef: Wortschatz, Wortkampf, Wortfelder in der Politik, in: Klein, Josef (Hg.): Politische Semantik. Bedeutungsanalytische und sprachkritische Beiträge zur politischen Sprachverwendung, Opladen 1989, S. 3–50, hier S. 22.

Bestreiten – Behaupten – Bezweifeln

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Schuldreflexionen aussetzen und eine Schuld der Deutschen er- und bekennen – im Zeichen der Redemokratisierung der Deutschen. Von Adolf Grimme, einem intensiv am Diskurs Beteiligten, ist die Formulierung überliefert: »Demokratie und Mitschuld sind zwei Begriffe, in denen sich die Zukunft und die Vergangenheit wie in einem Brennpunkt auffangen.«26 Die politisch-gesellschaftlichen Akteure der Jahre 1945 bis 1948/1949 konzipieren Demokratie mit der Haltung des Erschüttertseins und der Entschiedenheit. Diese Entschiedenheit insbesondere findet eine sprachliche Entsprechung. In diesem Diskurs fällt ein Satzmuster auf, das den Diskurs nahezu systematisch durchzieht und das in hoher Frequenz belegt ist. Es ist, in verkürzter Fassung, die Searlesche Institutionenformel »x ist y«, die den Normfall diskursiver Wissensgenerierung darstellt. »Was ist Demokratie?«, fragen die nachkriegsdeutschen Zeitgenossen und antworten entschlossen und musterhaft mit der Formel Demokratie ist x. Dieses Muster ist eine definitorische Festschreibung, und die Wissenselemente, mit denen dieser x-Slot besetzt wird, drücken Gewissheiten aus, haben normativen Charakter und präskriptive Funktion. Und sie reflektieren Zeitgeschichte, denn es entspricht dem gesellschaftlich-politischen Kontext von 1945: Die Diskursbeteiligten, die in dieser Weise Demokratie mit Wissenselementen versehen, entsprechen ihrem gesellschaftspolitischen Auftrag, den deutschen als einen demokratischen Staat zu errichten. Insofern sind sie, gleich welcher politischen Richtung, auf Demokratie gestimmt und drücken dies aus mit der suggestiv-apodiktischen Konstruktion Demokratie ist x. Zu fragen ist, mit welchen Wissenselementen der Slot x gefüllt wird. Auch hier erkennen wir Musterhaftes, nämlich: die Ethisierung der Institution Demokratie. Diese vor allem vermittelt das nachkriegsdeutsche Demokratieverständnis. Demokratie ist 1945 ff. eine mit ethisch-moralischen Wissenselementen versehene Kategorie in Wendungen wie: Demokratie ist, individuelle Freiheit und Gemeinschaftsbewußtsein glücklich miteinander zu vermählen.27 Demokratie ist, aus unanständigen anständige Menschen zu machen.28 Demokratie ist ein ethisch-geistiges Verhalten zu Mensch und Volk und Völkern dieser Erde.29 Demokratie ist die Renaissance des Menschen.30

26 Grimme, Adolf (1946): Jugend und Demokratie, in: Grimme, Adolf: Selbstbesinnung. Reden und Aufsätze aus dem ersten Jahr des Wiederaufbaus, Braunschweig u. a. 1947, S. 93–113, hier S. 93. 27 Stegerwald, Adam: Wo stehen wir? Würzburg o. J. (1945), S. 23 f. 28 Stegerwald: Wo stehen wir?, S. 23 f. 29 Grimme, Adolf: Jugend und Demokratie, hier S. 109. 30 Ebd.

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Demokratie ist die Bejahung jedes Menschen und jeden Volkes in seinem Wert und seiner Würde.31 Demokratie … ist eine Weltanschauung, die wurzelt in der Auffassung von der Würde, dem Werte und den unveräußerlichen Rechten eines jeden Menschen.32 Demokratie ist die politische Form, in der die Achtung der Person Grundsatz geworden ist.33

In Formulierungen wie diesen können sich die Zeitgenossen jeglicher politischer Orientierung wiederfinden. Der zeitgeschichtliche Bezug ist unübersehbar: Demokratie mit all ihren ethischen Wissenselementen ist das, was der NS nicht war. Halten wir für den Demokratiediskurs fest: 1. Anders als das Wissensmanagement 1919, das auch die Zerstörung des Wissensrahmens ›Demokratie‹ zuließ, ist diese 1945 keine Option. Die politisch-gesellschaftlichen Konditionen machten die Etablierung der Institution und damit des Wissensrahmens ›Demokratie‹ unabdingbar. 2. Die Ethisierung des Wissensrahmens erhält 1945 aus der Zeitgeschichte Evidenz. C. Demokratie als Realität und Wille – Demokratiekritik 1967/1968 Welche Konstellation finden wir Ende der 1960er Jahre vor? Der öffentliche kritische Diskurs ist, ereignisbedingt, mit der Erschießung Benno Ohnesorgs beschäftigt, der Lesung und Verabschiedung der Notstandsgesetze und der Berichterstattung über die Protestbewegung in der (Springer-)Presse. Diese Ereignisse sind die diskursiven Momente der späten 1960er Jahre. Sie wurden im Zeichen von Demokratie und ihren Defiziten von den Diskursbeteiligten, ihren Beteiligtenrollen entsprechend, bearbeitet. Die Diskursbeteiligten sind einerseits die studentische Linke (Dutschke, Krahl, Negt), andererseits die intellektuelle Linke (Adorno, Horkheimer, Habermas). Die übergeordnete diskursive Referenz ist die demokratische Wirklichkeit, die seit zwanzig Jahren etablierte demokratische Praxis. Sie gibt sozusagen die diskursive Folie ab – zur Modifizierung, zur Spezifizierung, zur Radikalisierung. Im Sinn von Wissensmanagement formuliert: Die Beteiligten ergänzen, präzisieren, tauschen Wissenselemente aus. Der kritische Diskurs der späten 1960er Jahre lässt sich in die Reihe der demokratiebezogenen Umbruchdiskurse des 20. Jahrhunderts stellen, mit der Einschränkung: Er hat, anders als die von 1918/1919 ff. und von 1945 ff. weder einen radikalen gesellschaftlichen Umbau von der Monarchie bzw. von der Diktatur zur Demokratie zur Voraussetzung, noch demzufolge ein nichtdemokratisches System, von dem er 31 Ebd., S. 107 f. 32 Adenauer, Konrad: Rede vom 24.3.1946, in: Bucher, Peter (Hg.): Nachkriegsdeutschland 1945–1949 (Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe), Darmstadt 1990, S. 138–165, hier S. 143. 33 Grimme, Adolf: Jugend und Demokratie, S. 107.

Bestreiten – Behaupten – Bezweifeln

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sich abgrenzen könnte. Politische Realität ist vielmehr die seit rund zwanzig Jahren bestehende erste Nachkriegsdemokratie. Diese prinzipielle systemische Identität zwischen dem Vorfindlichen und dem Gewollten hat konzeptuelle Folgen der Ausdifferenzierung und Spezifizierung von Wissenselementen. Wie im Weimarer Diskurs werden bestimmte Wissenselemente verworfen, andere werden eingeführt. Opponent ist jedoch in diesem Fall der späten 1960er Jahre die seit über zwanzig Jahren bestehende parlamentarische Demokratie. Diese wird mit dem Grundgesetz in Beziehung gesetzt, das zentrale Referenzinstanz ist. Wenn die intellektuelle und die studentische Linke von Demokratie redet, dann meint sie damit die im Grundgesetz festgelegte Form eines freiheitlichen, pluralistischen Systems von Grundrechten. Das grundgesetzliche Demokratiekonzept wird sozusagen als Tool von Wissenselementen verwendet, und es findet auf dieser Basis eine Bewertung der demokratischen Realität statt: es geht um das Recht auf Kritik und Opposition, mit dem unsere zweite deutsche Demokratie steht und fällt34 die Studenten haben Defekte unserer Demokratie erfahren35 der Staat heute genügt einem Ideal von Demokratie nicht36 Verteidigung des Grundgesetzes und der Demokratie37 ein Tag, an dem die Gefahr einer manifesten Erschütterung der Demokratie sichtbar geworden ist38 wir verstehen unter »Demokratie« die möglichst adäquate Umsetzung des Grundgesetzes39 Versuch, die ohnehin nicht gefestigte Demokratie zu beseitigen.40 34 Bracher, Karl-Dietrich (1967): Rede anläßlich der Trauerfeier des AStA der Universität Bonn am 9. Juni, in: Nevermann, Knut (Hg.): Der 2. Juni 1967. Studenten zwischen Notstand und Demokratie. Dokumente zu den Ereignissen anlässlich des Schah-Besuchs. Herausgegeben vom Verband Deutscher Studentenschaften, Köln 1967, S. 43–46, hier S. 43. 35 Adorno, Theodor W. / Peter Szondi (1967): Gespräch über die »Unruhen der Studenten« im Westdeutschen Rundfunk, in: Kraushaar, Wolfgang (Hg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail. 1946 bis 1995. Band 1 bis 3, Hamburg 2003, S. 304–310, hier S. 305. 36 Ebd. 37 Abendroth, Wolfgang (1967): Diskussionsbeitrag, in: Vesper, Bernward (Hg.): Bedingungen und Organisation des Widerstandes. Der Kongreß in Hannover. Voltaire Flugschrift 12, Frankfurt a. M. 1968, S. 67–68, hier S. 68. 38 Habermas, Jürgen (1967): Rede über die politische Rolle der Studentenschaft in der Bundesrepublik, in: Habermas, Jürgen: Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt a. M. 1969, S. 137–149, hier S. 138 f. 39 Adorno / Szondi: Gespräch über die »Unruhen der Studenten«, S. 304 f. 40 Kotzold, Wolfgang (1967): Rede auf einer Demonstration des AStA und der politischen Studentengruppen der Universität Heidelberg am 6. Juni, in: Nevermann (Hg.) Der 2. Juni 1967., S. 75–76, hier S. 75.

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Neben diese Gegenwartskonzeption von Demokratie  – dem Grundgesetz nicht entsprechend, desolat, nicht gefestigt – stellt die intellektuelle und die studentische Linke ein Zukunftskonzept – was bedeutet: Sie versieht den Wissensrahmen ›Demokratie‹ mit neuen Elementen. Die Wissenselemente der intellektuellen und studentischen Linken heißen z. B. Mündigkeit und Partizipation bzw. Beteiligung. So versteht die Linke Demokratie zukunftsbezogen als Form eines Gemeinwesens, das durch Öffentlichkeit legitimiert ist und das eine kritische und mündige Bevölkerung unumschränkt beteiligt: die Forderung zur Mündigkeit scheint in einer Demokratie selbstverständlich41 eine Demokratie verlangt mündige Menschen42 zu den Gleichgewichtsbedingungen einer funktionierenden Demokratie gehört die Beteiligung der Staatsbürger43 wirkliche Demokratie … [ist] nur möglich, wenn wir die Bevölkerung an der Demokratie unmittelbar beteiligen44

Wir sehen also und halten für diesen Diskurs fest: 1. Die Diskursbeteiligten Ende der 1960er Jahre legen, ihrer Überzeugung von Kritik als Lebensform entsprechend, eine Demokratiekritik vor, die zwischen der gegenwärtigen Demokratie und einer künftigen Demokratie unterscheidet. 2. Diese Unterscheidung wird mit je spezifischen Wissenselementen realisiert. 3. Gegenwartsbezogen wird Demokratie mit den Wissenselementen ›dem Grundgesetz nicht entsprechend‹, ›desolat‹, ›nicht gefestigt‹ konstituiert. 4. Zukunftsbezogen konstituieren Demokratie die Wissenselemente ›Mündigkeit‹ und ›Partizipation‹ bzw. ›Beteiligung‹.

IV. Verfassungen: Kodifizierungen demokratischen Wissens Ich möchte nun anschließend auf einen zentralen Aspekt der Wissenskonstituierung von gesellschaftlichen Umbrüchen eingehen. Es geht um Verfassungen in Umbruchzeiten, die wir als eine Art kommunikativ erlangtes Diskurs-Ergebnis bezeichnen können. Genauer: Verfassungen sind zum 41 Adorno, Theodor W. (1969): Erziehung zur Mündigkeit, in: Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969. Herausgegeben von Gerd Kadelbach, Frankfurt a. M. 1971, S. 133–147, hier S. 133. 42 Adorno, Theodor W. (1966): Erziehung  – wozu? In: Adorno: Erziehung zur Mündigkeit, S. 105–119, hier S. 107. 43 Habermas, Jürgen (1961): Reflexionen zum Begriff der politischen Beteiligung, in: Habermas, Jürgen u. a.: Student und Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewusstsein Frankfurter Studenten. Neuwied 1961. S. 13–55, hier S. 14. 44 Abendroth, Wolfgang (1967): Diskussionsbeitrag, in: Vesper (Hg.): Bedingungen und Organisation des Widerstandes, hier S. 68.

Bestreiten – Behaupten – Bezweifeln

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einen Umbruchphänomene und insofern nicht nur politische, sondern auch sprachgeschichtliche Meilensteine. Verfassungen sind zum andern Kodifizierungen gesellschaftlichen Wissens ihrer Zeit. Kodifizierungen heißt: Das in Verfassungen verdichtete Wissen hat höchsten Gültigkeitsgrad und ist kein Gegenstand mehr eines gesellschaftlich aushandelnden Diskurses, sondern ein Effekt eines solchen: Verfassungen in Demokratien sind das Resultat eines strittigen, in hohem Maß ideologisch geführten Diskurses. Verfassungen sind daher Einigungsprodukte und sie haben normsetzende Kraft. Die Normsetzung ist ein sprachlicher Akt. Ich möchte am Beispiel der Weimarer Reichsverfassung (WRV) die Dimensionen zeigen, die Kodifizierungen von Wissenselementen in einem Normtext wie der Verfassung haben können. Die Weimarer Reichsverfassung also, 1919 verabschiedet, schafft die neue politische Wirklichkeit der parlamentarischen Demokratie. Nicht nur, weil in dieser es die Parteien sind, die sich um Mehrheiten und um Regierungslegitimation bemühen, sondern auch, weil mit der Einführung der Verfassung ein neues Wahlrecht gilt – mit erheblichen Folgen hinsichtlich des Bestands an Wissenselementen von Demokratie. Mit der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung können die in ihr kodifizierten Wissenselemente der Demokratiegeschichte als sprachliche Innovation gelten, die von der Ebene des temporär begrenzten Ereignisses auf die Ebene der Tradition, der Kontinuität, der Dauer gelangt sind. Dies betrifft das organisatorische Wissenssegment, wie etwa Wahl und wählen und einen damit zusammenhängenden kommunikativen Effekt, sowie das ethische Wissenssegment, wie die Grundrechte. Es sind dies Wissenselemente, die seit 1919 zum stabilen Bestand des Wissensrahmens ›Demokratie‹ zählen. Wahl und wählen sind 1919 natürlich keine Bezeichnungen politischer Innovationen – aber die Adressaten und Adressatinnen sind neu. Bei aller demokratiekonzeptionellen Nähe insbesondere zur Paulskirchenverfassung offenbart indes ein Vergleich den wissens- und demokratiegeschichtlichen, und damit sprachgeschichtlichen, Schub, der mit der Weimarer Verfassung manifest wird und der den Status der Wahlen betrifft. Artikel 22 der Weimarer Reichsverfassung lautet: Die Abgeordneten werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von den über zwanzig Jahre alten Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt.

Damit ist ein Novum der Verfassungsgeschichte fixiert. Zwar wird die Formel allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Wahlen bereits 1867 in der Verfassung des Norddeutschen Bundes verwendet, aber in höchst eingeschränktem Sinn. Sie sieht vor, dass Wähler jeder unbescholtene Staatsbürger … ist, welcher das 25. Lebensjahr zurückgelegt hat.

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Jeder unbescholtene Staatsbürger – das grammatische Maskulinum ist hier auch das geschlechtliche, erste Einschränkung also von allgemein und gleich. Und auch aufgrund alters- und sozialbedingter Einschränkungen konnten nur 20 % der Bevölkerung wählen – von allgemein und gleich in konsequentem Sinn kann also keine Rede sein. Erst 53 Jahre später, 1919, sind die Wahlen zu einem deutschen Parlament tatsächlich allgemein und gleich im heutigen umfassenden Sinn. Was ist an der Einführung dieses Wahlrechts außerdem in wissensgeschichtlicher Hinsicht interessant? 1919 kommen Frauen ins politische Spiel. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts streiten sie um die politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung. Jetzt ist es soweit. Und wir können feststellen: Die Weimarer Reichsverfassung repräsentiert mit diesem Artikel 22 ein neues Frauenkonzept. Es geht hier nicht nur um die Formalie, dass Frauen wählen und gewählt werden dürfen, sondern es geht – und das ist wissensgeschichtlich zentral – um ein neues sprachgeprägtes Frauenbild, indem Frau überhaupt im Verfassungstext vorkommt, und indem Frau mit politisierenden Kennzeichen, nämlich z. B. dem Kennzeichen der Wahlberechtigung, versehen wird. Frau politisch konnotiert ist ein neues Wissenselement. Das hat Folgen – dieses neue, emanzipatorisch geprägte Frauenkonzept betrifft die weibliche Form von Bezeichnungen, die bis dahin nur in der männlichen Form vorkamen. Grammatikalisches Kennzeichen der Neukonzeption von Frau ist eine starke Belegung movierter Formen, insbesondere von Berufsbezeichnungen, aber auch von Bezeichnungen aus dem politischen Kontext, z. B. Abteilungsleiterin, Automobilistin, Nationalökonomin, Parlamentarierin. Ein weiteres Phänomen der Wissensgeschichte, das mit dem in der WRV kodifizierten Frauenbild zu tun hat, ist kommunikativer Natur. Bis zum 6. Februar 1919 wurden die Anwesenden in deutschen Parlamenten, etwa im Reichstag, mit Meine Herren angeredet – es waren eben nur Herren anwesend. Seit dem 6. Februar 1919 ist die Anrede Meine Damen und Herren die übliche und korrekte, denn dies ist der Tag der ersten Zusammenkunft des neugewählten Parlaments, in dem mit dem neuen Wahlrecht auch Frauen sitzen. Das ist ein Umbruch, den Friedrich Ebert in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Nationalversammlung bei seiner Begrüßung dieses neuen Gremiums ausdrücklich markiert: Meine Damen und Herren, die Reichsregierung begrüßt durch mich die Verfassunggebende Versammlung der deutschen Nation. Besonders herzlich begrüße ich die Frauen, die zum ersten Mal gleichberechtigt im Reichsparlament erscheinen.45

Am 19. Februar dann hat Marie Juchacz als erste Frau in einem Parlament als dessen demokratisch gewähltes Mitglied gesprochen. Auch sie nimmt Bezug auf diesen neuen Zustand und markiert ihn bereits in ihrer Anrede, indem sie die Anwesenden

45 Ebert, Friedrich (1919): Eröffnungsrede des Volksbeauftragten Ebert bei der Eröffnung der Nationalversammlung in deren Sitzung am 6. Februar 1919, in: Hohlfeld (Hg.): Die Weimarer Republik 1919–1933, S. 14–17, hier S. 14.

Bestreiten – Behaupten – Bezweifeln

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nicht konventionell mit Meine Damen und Herren anspricht, sondern, Heiterkeit auslösend, mit Meine Herren und Damen.46 Inwiefern stellt die verfassungsmäßige Normierung ethischen Wissens, also die Kodifizierung der Grund- und Menschenrechte, einen Umbruch dar? Insofern die »normative Entwicklung der Menschenrechte […] im Rahmen nationaler Verfassungen stattgefunden« hat und insofern »Menschenrechte im rechtlichen Sinn […] erst seit der Herausbildung von Verfassungen«47 überhaupt existieren, können wir in ethischer Hinsicht für die Weimarer Verfassung festhalten: Nachdem die Menschenrechte in der Paulskirchenverfassung erstmals konstitutionalisiert und diese Konstitutionalisierung mit den Verfassungen von 1867 und 1871 gleichsam wieder rückgängig gemacht wurde, ist die (Wieder-)Einführung der Grundrechte 1919 der zweite Versuch: Die ethischen Wissenselemente, die die Grund- und Menschenrechte repräsentieren und die den Wissensrahmen ›Demokratie‹ konstituieren, erhalten damit den Status obligatorischer Standardwerte.48 Unter dieser Voraussetzung ist der Transfer ethischer Wissenselemente in den institutionellen Status als Umbruchphänomen zu beschreiben. Die Grenze zwischen ethischem und institutionellem Wissen wird im Text der Weimarer Reichsverfassung aufgehoben insofern, als mit der Normierungsfunktion die ethischen zu institutionellen Elementen des Wissensrahmens werden. Da ein Verfassungstext das Resultat eines agonalen, im Kontext der Politik eines in hohem Maß ideologisch geführten Diskurses ist, da er also wie gesagt ein Einigungsprodukt darstellt, hat er normsetzende Kraft. Diese Funktion institutionalisiert auch die ethische Dimension der Wissenselemente und ist für den Weimarer Diskurs umbruchsignifikant.

V. Fazit. Wissensmanagement im Umbruch. Auf der Grundlage des beschriebenen Diskurses können wir voraussetzen: 1. Der Zusammenhang von gesellschaftlich-politischen Wechseln und sprachlichen Umbrüchen ist der Zusammenhang zwischen Demokratisierungs- bzw. Ent­ demokratisierungsvorgängen der Gesellschaften des 20. Jahrhunderts und ihren sprachlichen Manifestationen. 2. Diese Demokratisierungs- bzw. Entdemokratisierungsvorgänge sind kommunikative diskursive Prozesse.

46 Juchacz, Marie: Stenografische Berichte. 11. Sitzung, 19. Februar 1919, S. 177. Verhandlungen des Deutschen Reichstags (http://www.reichstagsprotokolle.de, letzter Zugriff am 18. Juni 2021). 47 Nowak, Manfred: Einführung in das internationale Menschenrechtssystem, Wien 2002, S. 27. 48 Vgl. auch Pauly, Walter: Grundrechtslaboratorium Weimar. Zur Entstehung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung vom 14. August 1919 unter Mitarbeit von Olaf Hünemörder, Tübingen 2004.

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3. Im Zuge dieser Kommunikation werden Wissenselemente diskursiv konzipiert und realisiert, in Frage gestellt und behauptet. 4. Demokratie hat in den jeweiligen Umbruchphasen einen je spezifischen Status, der gesellschaftlich im Diskurs ausgehandelt wird. Diese Statusunterschiede sind Unterschiede hinsichtlich der Wissenselemente, die Demokratie zugeschrieben oder abgesprochen werden. Dieser Prozess wird erkennbar in den historisch unterschiedlichen Kodierungen, die Bedeutungs- und Konzeptunterschiede von ›Demokratie‹ bewirken.

In der Perspektive der Wissensanalyse repräsentieren Versprachlichungen von Konzepten Wissensbestände. Diese Repräsentierung ist, solange sie das (sprachliche)  Muster befolgt, Routine und daher unproblematisch. Insofern jedoch »Wissen so dynamisch und wandelbar oder so stabil und tradiert [ist] wie die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst«49, und insofern Versprachlichungen von Wissenselementen in der politischen Domäne immer im Kontext von Ideologie und Macht stehen, insofern ist die Sprach- und Wissensgeschichte die Geschichte tiefgehender gesellschaftlicher Umbrüche: Umbruch ist, wenn in politisch-gesellschaftlich stark markierten Zeiten Wissensbestände in Form von agonalen Deutungsakten tradiert, neu etabliert oder verändert werden. Im Zuge dieser Deutungsakte wird in Wissensrahmen eingegriffen, es wird versucht, sie zu stabilisieren, zu zerstören bzw. zu modifizieren.50 Die Frage, inwiefern die Kodierungen von Instanzen des Wissensrahmens ›Demokratie‹, die im politischen Diskurs aktualisiert werden, einen demokratiegeschichtlichen Umbruch markieren, bedeutet danach zu fragen: 1. Welches sind gesellschaftlich geprägte und historisch entwickelte Wissenselemente, konkret also Elemente, die insbesondere seit dem 19. Jahrhundert den Bestand des Wissensrahmens ›Demokratie‹ ausmachen und die reaktiviert bzw. bestätigt werden? Wir fragen nach der Überlieferung. 2. Welches sind ereignishafte Wissenselemente, konkret also Elemente, die temporär den Bestand des Wissensrahmens ›Demokratie‹ beeinflussen, ohne ihn dauerhaft zu verändern? Wir fragen nach der Transitorik. 3. Welches sind Elemente, die von der Ebene des Ereignisses auf die Ebene der Tradition, der Kontinuität gelangen, Elemente m.a.W., die seit ihrer Einführung zum stabilen Bestand des Wissensrahmens ›Demokratie‹ zählen? Wir fragen nach der Traditionsbildung.

49 Busse, Dietrich: Architekturen des Wissens. Zum Verhältnis von Semantik und Epistemologie, in: Müller, Ernst (Hg.): Begriffsgeschichte im Umbruch? Hamburg 2004, S. 43–57, hier S. 52. 50 Vgl. zum Folgenden Kämper, Heidrun: Politische Wechsel – sprachliche Umbrüche. Zum Verhältnis von Zeitgeschichte und Sprachgeschichte, in: Bock, Bettina / Fix, Ulla / Pappert, Steffen (Hg.): Politische Wechsel – sprachliche Umbrüche, Berlin 2011, S. 31–50.

Bestreiten – Behaupten – Bezweifeln

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Die Antworten lauten wie folgt: 1. Überlieferung historisch geprägten Wissens bezieht sich auf organisatorisches demokratisches Wissen. Es ist ein im Zuge der politischen Zäsur von 1918/19 nicht erst zu entwickelndes und zu etablierendes Wissen. Die Konzeption der Organisation ›Demokratie‹ markiert in der Frühphase der Weimarer Republik insofern keine sprachliche Zäsur, als sie konzeptionell elaboriert ist. Die bekannten sind z. T. bereits Konstituenten des ersten Demokratieversuchs von 1848, und sie stellen insgesamt Konstanten des Demokratiediskurses dar – über sämtliche Zäsuren hinweg: das Volk-als-Souverän-Prinzip, das Vertretungsprinzip, das Wahlprinzip, das Öffentlichkeitsprinzip sind organisatorische Basisinstanzen einer parlamentarischen Demokratie und mit Kodierungen wie (Volks-)Vertretung, allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Wahlen, Parlament, Partei in institutionell-ausdrucksseitiger Hinsicht als Konstanten der sprachlichen Demokratiegeschichte historisch entwickelt und kulturell geprägt, kollektiv präsent und aktivierbar. Auch in Hinsicht auf ethisches Wissen haben wir es wie gesehen mit Bekanntem, mit eingeführten Wissenselementen zu tun – die Menschen- und Grundrechte waren bereits Elemente der Verfassung von 1848. 2. Transitorik von Wissenselementen bedeutet eine kurzfristige Aktivierung von ereignishaften Wissenselementen, die vorübergehend den Bestand des Wissensrahmens ›Demokratie‹ beeinflussen, dann aber auch rasch wieder bedeutungslos werden. Es sind zumeist ideologisch gebundene Modifikationen des Wissensrahmens ›Demokratie‹, die ihn hinsichtlich seiner Bestandselemente vorübergehend erweitern oder reduzieren. In der Weimarer Zeit ist es z. B. das Konzept der Rätedemokratie, das vorübergehend zu den Wissenselementen von ›Demokratie‹ zählte. Kodierungen sind etwa Rätedemokratie, Rätewesen, direkte Demokratie. 3. Traditionsbildung demokratischer Instanzen findet statt, wenn sprachliche Innovationen von der Ebene des momentanen Ereignisses auf die Ebene der Tradition, der Kontinuität gelangen, um Elemente m.a.W., die seither zum stabilen Bestand des Wissensrahmens ›Demokratie‹ zählen. Seit 1919, seit das Parlament der Weimarer Republik die konstitutionelle Monarchie abgelöst hat, hat das Konzept ›Demokratie‹ insofern sozusagen einen Kontinuität schaffenden Schub erfahren, als die bekannten Formeln allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Wahlen und Männer und Frauen das Wahlrecht seither bestimmen. Diese Befunde einer sprachbezogenen Wissensanalyse stellen einen Teil der Sprachgeschichte dar – in diesem Fall der Sprachgeschichte des 20. Jahrhunderts. Sprachgeschichte erklärt sprachliche Zustände und ihre Entwicklung bis zur Gegenwart – das heißt, sie erklärt auch, wie die Gegenwartssprache entstanden ist. Dazu braucht sie solche Darstellungen wie die sprachliche Demokratiegeschichte.

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Die EU zwischen Krise und Neubeginn Johannes Varwick

I. Wir leben heute in einem freien, vereinten und zumindest auf dem Boden der EU auch friedlichen Europa – trotz aller Herausforderungen und Schwierigkeiten, auf die ich nun im Weiteren eingehen möchte.1 Gleichwohl muss man feststellen, dass Europa wieder einmal mit sich selbst beschäftigt ist. Ach Europa – wie es der deutsche Schriftsteller Hans-Magnus Enzensberger vor längerer Zeit so schön formuliert hat! Die zentrale und lange als Blaupause für andere Weltgegenden betrachtete Regionalorganisation befindet sich im Herbst 2018 in einem Erosionsprozess, den noch vor einem Jahrzehnt nur wenige für möglich hielten. Die seit Langem unter dem Schlagwort »Krise« diskutierten EU-Baustellen wie etwa das Ausmaß zukünftiger Erweiterungen, Legitimitäts-, Effektivitäts- und Akzeptanzdefizite und eine als in zentralen strategischen Fragen weitgehend absent wahrgenommene globale Rolle erscheinen heute wie ein harmloser Vorgeschmack auf das ganze Ausmaß der gegenwärtigen zentrifugalen Tendenzen. Der befürchtete Zerfall der Union ist zwar bisher nicht eingetreten, aber doch so wahrscheinlich wie nie zuvor in den vergangenen Jahrzehnten. Diesen Zustand der EU möchte ich mir anhand ausgewählter Krisendimensionen näher ansehen und anschließend einen Ausblick wagen. Dazu gehe ich in zwei Schritten vor. Zunächst nehme ich fünf Krisendimensionen in den Blick: (1.) »Öffentlichkeitskrise«; (2.) außen- und sicherheitspolitische Schwäche; (3.) Finanz- und Wirtschaftskrise; (4.) Migrationskrise; (5.) Mitgliedsstaaten »auf Abwegen«: Brexit, Polen, Ungarn. Im Folgenden werde ich argumentieren, dass das Verbindende dieser auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Krisendimensionen in der Neuverhandlung des Themas nationale Souveränität im europäischen Kontext liegt. Anschließend werden daraus drei Szenarien für die Zukunft der EU abgeleitet: »Staatswerdung«, »EUrosion« und »Muddling through«.

1 Der Text geht auf die Rede zurück, welche der Verfasser am 8. November 2018 im Rahmen der Ringvorlesung vorgetrug. Anm. der Herausgeber.

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Johannes Varwick

II. Was ist an der heutigen Situation das Besondere? Krisen sind im Verlauf der europäischen Integration eher der Normal- als ein Sonderfall. Bisher folgte die Integrationsgeschichte meist dem Muster einer stetigen Schwankung zwischen Krise und Fortschritt. Es handelte sich mithin nicht um »Existenzkrisen«, sondern um »Entwicklungskrisen«, die den Integrationsprozess im Ergebnis durch eine weiter fortschreitende Vergemeinschaftung auf eine neue Stufe gehoben haben. Immer wieder äußerten sich in solchen Krisen grundsätzlich unterschiedliche Konzeptionen von EU-Europa, die sich auf die Extrempole »Vereinigte Staaten von Europa« und »Europa der Vaterländer« (de Gaulle)  zurückführen lassen. Das gilt für die erste größere Integrationskrise in den 1960ern, als Frankreich unter Protest gegen eine Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen die Institutionen für ein halbes Jahr de facto lahmlegte, aber auch für Großbritannien unter Thatcher in den 1980ern oder für diverse gescheiterte Referenden insbesondere seit dem Vertrag von ­Maastricht 1992. Neu ist in der gegenwärtigen Situation aber zum einen die Häufung gleichzeitig auftretender Krisenerscheinungen, zum anderen das Ausmaß an Konfliktlinien zwischen Gruppen von Mitgliedsstaaten (vereinfacht: Nord-Süd, Ost-West), die zugleich auch bis in eine mögliche Kerngruppe hineinreichen. Ein zentrales Problem liegt außerdem darin, dass uns ein überzeugendes europäisches Narrativ abhandengekommen zu sein scheint bzw. die alten Motive (Friedenserhalt, gemeinsamer Wohlstand) – fälschlicherweise – vielfach als selbstverständlich betrachtet werden und neue Erzählungen fehlen.

III. Fünf Krisendimensionen A. »Öffentlichkeitskrise« Lange zeigte die europäische Öffentlichkeit, soweit man von dieser überhaupt sprechen konnte, eher wenig Interesse für die Details europäischer Entscheidungsprozesse. Entsprechend delegierten die Bürger politische Entscheidungen an ihre jeweiligen nationalen Regierungen, die sie in periodischen Wahlen demokratisch legitimierten. Wichtige Entscheidungen wurden praktisch ohne zivilgesellschaftliche Debatten getroffen. Mit zunehmender Komplexität der Politikinhalte und des institutionellen Gefüges der Europäischen Gemeinschaft nahm allerdings die Akzeptanz dieser indirekt legitimierten politischen Entscheidungsprozesse auf der europäischen Ebene ab. Dies zeichnete sich bereits im Laufe der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ab, wurde jedoch vor allem seit der Gründung der Europäischen Union 1993 deutlich. Maastricht repräsentiert in dieser Hinsicht den tipping point hin zu einem Zustand, in dem europäische Entscheidungen zunehmend kontrovers im Fokus der Innenpoli-

Die EU zwischen Krise und Neubeginn

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tik der Mitgliedstaaten stehen. Damit erreicht auch die vormalige Expertendebatte um Art und Ausmaß eines demokratischen Defizits der europäischen Institutionen eine breitere Öffentlichkeit. Deren Details können wir an dieser Stelle nicht diskutieren, wohl aber festhalten, dass ein Teil der wiederholt bemängelten Defizite inzwischen quasi ausgebügelt wurde, bspw. durch die stetige Aufwertung des Europäischen Parlaments, dass aber in anderen Bereichen nach wie vor zumindest kontrovers über die demokratische Qualität des EU-Institutionensystems diskutiert wird, etwa hinsichtlich der Legitimationskette der Kommission, um nur ein Beispiel zu nennen. Jenseits solcher zumeist konstruktiv vorgebrachten Kritik gab es primär in Großbritannien, punktuell aber auch in anderen Mitgliedsstaaten schon seit Langem Akteure, die mit erheblichem Erfolg »Fundamentalopposition« betrieben haben. In Verbindung mit der Wirtschaftskrise haben in einigen ›Krisenstaaten‹, im Kontext der Migrationskrise dann in praktisch allen Mitgliedsstaaten solche Kräfte massiven Zulauf erfahren, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Um aus der unerfreulich breiten Palette ein besonders schlagendes Beispiel herauszugreifen: Der französische Front National, heute Rassemblement National, bediente sich in seiner Kampagne zur Präsidentschaftswahl 2017 massiv antieuropäischer Rhetorik und stellte Kernbestandteile des Binnenmarktes, die Gemeinschaftswährung und den Schengenraum in Frage. Der Kelch einer Präsidentin Le Pen ist noch mal an Europa vorübergegangen, aber wir müssen alle nicht weit schauen, um die nächsten Populisten zu finden, die der EU oft ziemlich unverfroren die Verantwortung für Fehlentwicklungen zuschieben, die diese gar nicht zu verantworten hat. Große Teile der Bevölkerung folgen diesen Parolen bereitwillig. Populistische Positionen werden mitunter sogar mehrheitsfähig, wie die Wahlerfolge von Fidesz (Ungarn), PIS (Polen) oder die »Brexit«-Kampagne in Großbritannien veranschaulichen. In diesem Klima konnten die »Eurosceptics« tatsächlich ein ›gefühltes‹ Übergewicht im politischen Diskurs erringen, wenngleich die Mehrheit der Bevölkerungen ihre Positionen nicht teilt. Die Übernahme der Regierungsgewalt durch populistische und nationalistische Parteien in vielen europäischen Hauptstädten ist Teil der europäischen »Existenzkrise«, denn über das politische System der EU wird der »Euroskeptizismus« nicht von außen an sie herangetragen, sondern sitzt in deren Zentrum. B. Außen- und sicherheitspolitische Schwäche Das Umfeld der Europäischen Union ist in den letzten Jahren auf eine Art und Weise unsicher geworden, die sich in der Aufbruchsstimmung der 1990er Jahre kaum jemand hätte ausmalen können. Um nur einige Stichworte zu nennen: ein zunehmend aggressiver auftretendes Russland, manifest insbesondere, aber nicht nur in der Krimkrise, erheblicher Stabilisierungsbedarf im Süden und Südosten des EU-Territoriums bei offenkundiger Nichteignung der Europäischen Nachbarschaftspolitik, diesen zu gewährleisten, beunruhigende Entwicklungen in der Türkei, Folgewirkungen des Chaos im Nahen Osten in Gestalt von Terrorismus und Flüchtlingsströmen, die riesigen Herausforderungen in Afrika, von globalen Themen wie Klimawandel und

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Massenvernichtungswaffen ganz zu schweigen, und all dies vor dem Hintergrund einer unsicher gewordenen transatlantischen Partnerschaft. Grund genug, könnte man meinen, für eine gemeinsame, effektive Außen- und Sicherheitspolitik »aus einem Guss«. Was wir dagegen sehen, sind zwar einige unbestreitbare Fortschritte seit der Einrichtung der GASP in den 1990er Jahren, aber die EU bleibt ein nach außen fragmentierter Akteur, der in jeder Krise um den inneren Zusammenhalt ringen muss und die eigentlich vertraglich vorhandenen Möglichkeiten nicht wirklich nutzen kann (man denke etwa an die 2005 eingerichteten, aber noch nie eingesetzten EU battlegroups). Es ist zwar nicht neu, dass die EU-Mitgliedsstaaten sich in ihren geographischen Prioritäten, ihren präferierten Mitteln der Konfliktbearbeitung, ihren sicherheitspolitischen Kulturen, ihrer Bewertung des transatlantischen Verhältnisses usw. markant unterscheiden, aber das Aufbrechen und die Verstetigung tiefer Bruchlinien unter den Mitgliedsstaaten lässt es zunehmend aussichtslos erscheinen, aus dem vielbeklagten »außenpolitischen Zwerg EU« einen eigentlich dringend benötigten Riesen zu machen. Damit sind die europäischen Krisen nicht nur »familieninterne« Querelen, sondern wirken sich auch negativ auf die internationale Politik aus, indem bspw. ein möglicher zentraler Player für die Erhaltung eines inklusiven Multilateralismus, für ehrgeizige Klimaschutzziele etc. ausfällt. Ob die Dringlichkeit der Lage nun dazu führt, dass man sich »zusammenrauft« und die vielleicht gar nicht mehr so großen Schritte geht, um die anstehenden Herausforderungen effektiv gemeinsam zu bearbeiten, ist heute noch nicht absehbar. Die Diskussionen um eine mögliche Aufgabe des Einstimmigkeitserfordernisses zeigen, dass hier Bewegung möglich wäre, die bisherigen Erfahrungen lehren aber auch, dass die Mitgliedsstaaten diese Domäne vermeintlicher nationaler Souveränität nicht bereitwillig aufgeben werden. C. Finanz- und Wirtschaftskrise Zwar besteht heute praktisch Konsens darüber, dass die Wirtschafts- und Währungsunion von Anfang an mit Konstruktionsfehlern behaftet war, dennoch ist diese Krisendimension primär auf ein »Überschwappen« der internationalen Finanzkrise – Stichwort Lehman Brothers etc. – und damit einen externen Faktor zurückzuführen, wurde aber dennoch zu einem massiven Problem für die EU und ihre Akzeptanz in der Bevölkerung. Angesichts der Eskalation der Krise, die in einigen Mitgliedsstaaten durch länderspezifische Probleme noch erheblich befeuert wurde, wurde auf europäischer Ebene eine ganze Reihe von Maßnahmen ergriffen, die man grob drei Kategorien zuordnen könnte: erstens Stabilisierungsmaßnahmen, zweitens eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte und drittens Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung und wirtschaftspolitischen Steuerung. Ich lasse es an dieser Stelle mit den Stichworten ESFS / E SM, Fiskalpakt, Sixpack und Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB bewenden. Ob diese Maßnahmen nun einen effektiven Schutz vor zukünftigen Krisen darstellen, wird von den meisten Experten trotz Verbesserungen bezweifelt.

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Klar sind allerdings teils dramatische Folgen der Krise und der zu ihrer Bewältigung ergriffenen Maßnahmen. In wirtschaftlicher Hinsicht konnte man ein Einbrechen des BIP in zahlreichen Mitgliedsstaaten beobachten, das auch die Wirtschaftskraft der EU insgesamt geschwächt hat. Vertrauensverluste führten zu Kreditengpässen und damit sinkenden Investitionen, und schließlich stellten die Rettungspakete selbst natürlich eine finanzielle Belastung und ein potentielles »Fass ohne Boden« dar. Zugleich, und das scheint uns mindestens genauso gravierend, haben wir es mit sozialen und politischen Folgen der Krise zu tun, die sich nicht oder zumindest nicht alle mit der nächsten besseren Konjunktur wieder geben werden. In sozialer Hinsicht stiegen zunächst und als unmittelbar sichtbare Folge die Arbeitslosenquoten, aber es wurden in den »Krisenstaaten« auch Renten und Reallöhne gekürzt, teils drastisch und quasi mit der Heckenschere, und öffentliche Institutionen sahen sich mit drastischen Kürzungen konfrontiert. All das schafft ein Gefühl des Verlusts von sozialer Sicherheit und damit Verunsicherung und Unzufriedenheit in den Bevölkerungen. Das bringt uns zu den politischen Folgen, denn diese Unzufriedenheit ist sicher zumindest ein Teil der Erklärung für den Zulauf, den EU-kritische und populistische Parteien in den vergangenen Jahren erfahren haben. Außerdem hat sich in der Krise eine Kluft zwischen Schuldner- und Gläubigerstaaten immer weiter aufgetan, die nicht unbedingt Positives für das zukünftige wechselseitige Vertrauen erwarten lässt. Ein letzter Punkt mit Blick auf die politischen Folgen betrifft den Krisenbewältigungsmodus selbst, der in gewisser Weise die Spielregeln des Integrationsprozesses verändert hat, ohne diesen auf eine neue vertragliche Grundlage zu stellen. Denn es ist innerhalb kurzer Zeit – weniger Jahre – zu einem ziemlich umfassenden Souveränitätsverzicht gekommen, etwa durch die neuen Befugnisse in der Haushaltsüberwachung. Gleichzeitig hat sich aber paradoxerweise die Entscheidungsfindung deutlich in die intergouvernementalen Institutionen verschoben, also den Rat und – als quasi Dauer-Krisen-Gipfel – den Europäischen Rat. Dafür ist dieser nicht nur eigentlich gar nicht vorgesehen, sondern das Abweichen vom »normalen« politischen Prozess schafft auch Folgeprobleme, etwa eine vollständig absente Rolle des Europäischen Parlaments, und auch die nationalen Parlamente konnten Entscheidungen vielfach nur noch abnicken, weil ihnen zum einen eine reichlich kurze Frist im Nacken saß und zum anderen die nationale Regierung ja bereits zugestimmt hatte. Also eine ganze Reihe unerfreulicher und zumindest in Teilen wohl auch langfristig wirkender Konsequenzen. D. Migration Kommen wir zur vorletzten Krisendimension. Auch diese hat eine längere Vorgeschichte, denn heute ist völlig klar, dass die Regelungen des Dublin-Systems grundsätzlich ungeeignet waren bzw. von längst nicht mehr gegebenen Voraussetzungen ausgegangen sind. Darauf hätte man allerdings durchaus schon früher kommen

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können, denn Länder wie Italien drängten seit Jahren auf eine Reform, aber die nordeuropäischen Mitgliedsstaaten sahen keine Veranlassung, ihre komfortable Position – die Ersteinreise erfolgte ja selten über die Ostsee – zu hinterfragen. Dementsprechend wurden trotz vieler Zeichen, die man hätte sehen und entsprechend reagieren können, Europas Regierungen und Bevölkerungen von den Ereignissen des Sommers 2015 relativ unvorbereitet »kalt erwischt«. Von den gigantischen Sachproblemen selbst einmal abgesehen offenbarte diese Krise eine ganze Reihe europäischer Schwächen: Es fehlte an akzeptierter Führung, konstruktive Vorschläge der Kommission wurden nicht unterstützt oder schlicht ignoriert, ein Gefühl von Solidarität unter den Mitgliedsstaaten kam – sicher auch in Verbindung mit der Wirtschaftskrise – nur sehr punktuell auf. Die langfristigen Konsequenzen sind noch nicht absehbar, aber schon heute gravierend: Das europäische Grenzregime des Schengen-Raums wird durch nationale Sonderwege und Grenzschließungen faktisch ausgehebelt, das europäische wie nationale Missmanagement spielt Populisten in die Hände, und die Gräben zwischen den Mitgliedsstaaten, insbesondere einigen osteuropäischen Mitgliedsstaaten und der »alten EU«, sind tiefer geworden. Das führt mich zur letzten Krisendimension: E. Mitgliedsstaaten gehen ihres eigenen Weges – Brexit, Polen, Ungarn In Fragen der Meinungsfreiheit und Gewaltenteilung werden die rechtsstaatlichen Vorgaben in einigen Ländern, konkret in Ungarn und Polen, vielfach verletzt. Der Europäischen Union fehlt eine angemessene Handhabe in solchen Fällen, klare Standards wären nötig, der Weg ist aber vorerst versperrt und das sog. Rechtsstaatsverfahren ein vergleichsweise zahnloser Tiger. Gleichzeitig muss auch festgehalten werden, dass nicht alle Probleme auf Seiten dieser Staaten liegen, sondern es manchmal auch den Westeuropäern an der nötigen Sensibilität im Umgang mit den relativen Neumitgliedern und ihrer politisch-gesellschaftlichen Lage fehlt. Schließlich ist der extremste Fall, manche würden sagen: der Super-GAU, eines Mitgliedsstaates auf Abwegen selbstverständlich mit dem britischen Brexit-Referendum eingetreten. Wenngleich der britische Euroskeptizismus nichts Neues ist und z. B. in den 1980er Jahren unter Thatcher zeitweise fast schon militante Züge annahm, haben der feindliche Tenor von weiten Teilen der Leave-Kampagne und das finale Ergebnis der Abstimmung viele überrascht bis verstört zurückgelassen, im In- wie im Ausland. Angesichts der offensichtlichen Planlosigkeit der britischen Regierung ist noch immer nicht absehbar, was am Ende dieses »Renationalisierungsunternehmens« herauskommen wird. Die Mitgliedsstaaten, denen es bisher bemerkenswert gut gelungen ist, eine gemeinsame Position zu vertreten, haben ebenso wenig ein Interesse an einem »no deal Brexit« wie die Briten selbst, aber es bleibt ein riskantes Unterfangen, Großbritannien einerseits so gut wie möglich »halb an Bord zu behalten« und andererseits einen Präzedenzfall für andere potentiell Desintegrationswillige unbedingt zu vermeiden.

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Aus meiner Sicht weisen die fünf gerade diskutierten Krisendimensionen eine zentrale Gemeinsamkeit auf, und diese ist ein Wiedergänger in der internationalen und europäischen Politik: das Thema nationale Souveränität. Populisten gehen damit erfolgreich Stimmen fischen, Souveränität ist ein zentrales Hindernis für außen- und sicherheitspolitischen Fortschritt auf europäischer Ebene, in der Folge der Staatsschuldenkrise wurde die Legitimität europäischer ›Interventionen‹ wiederholt in Frage gestellt. Beim Thema Migration schwingt mehr oder weniger offen der Wunsch nach einer Rückkehr zu nationalen Grenzen mit, und der Brexit ist wohl die letzte Konsequenz einer Rückkehr zu national definierter Souveränität. Als erste These halte ich damit fest: Eine wahrgenommene Bedrohung nationaler Souveränität liegt – mehr oder weniger direkt  – allen derzeit wirkmächtigen Krisendimensionen der Europäischen Union zugrunde.

Doch wie geht es nun weiter mit der EU? Ist sie am Ende, oder gelingt es ihr, die »Existenzkrise« zu überwinden?

IV. Szenarien Die Kommission hat 2017 ein »Weißbuch zur Zukunft Europas« vorgelegt, in dem fünf Szenarien beschrieben werden, von denen jedes einzelne einen Ausblick bietet, wo die Union im Jahr 2025 stehen könnte – je nachdem, welchen Kurs Europa einschlägt: Szenario eins: Weiter so wie bisher; Szenario zwei: Schwerpunkt Binnenmarkt; Szenario drei: Wer mehr will, tut mehr; Szenario vier: Weniger, aber effizienter; Szenario fünf: Viel mehr gemeinsames Handeln. Während das Weißbuch viel Kritik dafür geerntet hat, keine klare »Roadmap«, sondern lediglich verschiedene mögliche Pfade mehr oder weniger gleichberechtigt darzustellen, ist es eigentlich nur ein ehrliches Eingeständnis einer Lage, in der die supranationalen Institutionen nicht viel mehr tun können als Vorschläge zu unterbreiten, die die Mitgliedsstaaten dann – voraussichtlich mit eher skeptischer Brille – prüfen und umsetzen oder in der Schublade verschwinden lassen. Aus meiner Sicht braucht es allerdings keine fünf, sondern gibt es im Wesentlichen drei Szenarien, die allesamt eine gewisse Plausibilität aufweisen. A. Szenario »Staatswerdung« Das erste wäre, dass sich die Mitgliedsstaaten quasi »zusammenreißen«, weitere, im Zweifel mutige Integrationsschritte gehen und die EU zwar vielleicht kein Staat wird, wohl aber ein international sichtbares und durchsetzungsfähiges politisches Gebilde mit hohem internem Zusammenhalt. Was braucht es dazu – nun, zunächst die eigentlich ja schon fast als Binsenweisheit anmutende Erkenntnis, dass die vergleichsweise kleinen europäischen Länder auf globalem Parkett alleine verraten und verkauft

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sind, etwa wenn es um das Aushandeln von Handelsabkommen geht, aber auch um die Gewährleistung ihrer Sicherheit, das Hochhalten sozialer oder Umweltstandards usw. usw. Die US-amerikanische Präsidentschaft Donald Trumps hat solche Überlegungen sicher zusätzlich unterfüttert, wie man an der Zunahme von Aussagen, Europa müsse »sein Schicksal selbst in die Hand nehmen«, ablesen kann. Also: Die Erkenntnis, in einer hochkomplizierten Welt mit substanziellem Gefährdungspotential zu leben und weitgehend selbst dafür verantwortlich zu sein, das, was wir trotz aller Unterschiede vielleicht doch als gemeinsame europäische Werte identifizieren können, zu schützen, könnte mittelfristig im besten Fall dazu führen, eine echte, volle politische Union zu begründen – dann natürlich auch flankiert durch Änderungen im politischen System, etwa in Richtung einer Parlamentarisierung. B. Szenario »EUrosion« Auf der anderen Seite gibt es sicher auch eine Reihe von beunruhigenden Anzeichen dafür, dass sich die EU in der Tat vor oder schon in der Erosion befindet. Noch ist es nicht so weit, dass die EU tatsächlich zerfällt, aber wenn Schengen temporär faktisch suspendiert wird, mit Großbritannien ein zwar traditionell schwieriger Partner, der manches blockiert hat, aber auch eine wichtige Volkswirtschaft die EU verlässt und in etlichen anderen Mitgliedsstaaten zumindest zeitweise laut über ein Austrittsreferendum nachgedacht wurde, gibt es sicher Grund zur Besorgnis. Leider sind aus meiner Sicht gleich mehrere Szenarien denkbar, die zu einem tatsächlichen Zerfall der EU – zumindest bis auf eine Art Freihandelszone plus – führen könnten. Eins wäre ein Wahlsieg des Front National in Frankreich bei der nächsten Präsidentschaftswahl, denn dann ginge es wirklich an den Kern der Mitgliedsstaaten und damit quasi ans Eingemachte. Ein anderes wäre eine – wahrgenommene oder tatsächliche – Bedrohung der osteuropäischen, insbesondere baltischen Mitgliedsstaaten, in der diese sich durch die EU nicht hinreichend geschützt fühlen: Das wäre ebenfalls nichts grundsätzlich Neues, wie etwa die Debatte um »old and new Europe« im Zuge des Irakkrieges belegt. Und natürlich ist auch die Staatsschuldenkrise im Grunde nach wie vor nicht gelöst – das ist ohne Zweifel eine wirtschaftliche Bedrohung, aber auch eine soziale, und in der Konsequenz hat sie auch politische Konsequenzen, zwischen den Mitgliedsstaaten ebenso wie innerhalb. C. Szenario »Muddling through« Die dritte Variante ist aus meiner Sicht die heute wahrscheinlichste, auch wenn »die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte« nicht die originellste Antwort sein mag. Da es gute, rationale Gründe für ein Festhalten zumindest am Binnenmarkt, aber im Grunde auch darüber hinaus, etwa in der Außenpolitik, am europäischen Projekt gibt, die auch aus dem Blickwinkel mitgliedsstaatlicher Interessen überzeugen können und müssten, wird es mit einiger Wahrscheinlichkeit zu einer Art Status quo plus oder minus kommen. Nach all dem Theater um den Vertrag über eine Verfas-

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sung für Europa, der ja bekanntlich gescheitert ist, und dem letztlich erfolgreichen, aber auch nicht ganz einfachen Versuch, diesen mittels des Vertrags von Lissabon zu retten, hat im Grunde niemand mehr wirklich Lust auf eine weitere umfangreiche und kontroverse Vertragsreform, also »wurschtelt« man sich so durch, wie man in Norddeutschland sagt. Ein Seitenast dieses Szenarios ist eine stärker differenzierte Integration, über die in Forschung und Politik seit Langem diskutiert wird. Dahinter verbirgt sich – je nach nationaler Interessenlage – entweder die schrittweise »Verwirklichung einer immer engeren Union« mittels temporaler Uneinheitlichkeit oder aber die dauerhaft festgeschriebene Verabschiedung von eben jener Zielvorstellung und die Segmentierung der EU-Mitgliedstaaten in Gruppen mit unterschiedlichem Integrationswillen und -niveau. Während bereits der Nizza-Vertrag eine entsprechende Flexibilisierungsklausel enthielt und sowohl der Euro als auch Schengen, die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die Innen- und Justizpolitik aufgrund etlicher opt-outs in Teilen diesem Gedanken entsprechen, wird angesichts eines erlahmenden Integrationswillens in zahlreichen Mitgliedstaaten und noch einmal verstärkt in der gegenwärtigen Krise vermehrt über eine grundsätzlich-konzeptionelle zeitliche, räumliche oder sektorale Flexibilisierung der Integration nachgedacht. Damit verabschieden sich denkbare und praktikable Ordnungsmodelle aber von der Vorstellung einer einheitlichen und gleichzeitigen Integration aller beteiligten Staaten. Insbesondere die Mitglieder der Eurozone spielen hier eine herausragende Rolle, bspw. wurden die zentralen Weichenstellungen für die Unterstützung der Krisenstaaten sowie die Reformen der wirtschaftspolitischen Steuerung der gesamten EU größtenteils im Rahmen der Eurostaaten vollzogen oder zumindest politisch vorentschieden. Differenzierungsoptionen erscheinen vor dem Hintergrund der tiefen gegenwärtigen Krise und interner Gräben alles in allem als eine realistische Zukunftsperspektive. Im Ergebnis besteht damit allerdings die Herausforderung, dass inzwischen unterschiedliche Integrationsgemeinschaften nebeneinander bestehen. Entscheidungen werden nicht immer von allen Betroffenen gefällt (das sog. Kongruenzproblem); zudem werden sie noch komplexer und damit intransparent; es droht möglicherweise eine Zweiklassengesellschaft von Mitgliedsstaaten usw. Soll eine weitere Vertiefung erreicht werden, wird eine Ausweitung der differenzierten Integration dennoch zwangsläufig sein.

V. Fazit Ich hatte bereits festgehalten, dass aus meiner Sicht die wahrgenommene Bedrohung von Souveränität die zentrale Schnittstelle der europäischen Krisen darstellt. Lassen Sie uns mit einigen daran anschließenden Überlegungen zum Ende kommen. Teile der europäischen Bevölkerung empfinden offenbar ein erhebliches Unbehagen gegenüber dem Gedanken, dass nationale Souveränität durch die europäische Integ-

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ration zumindest partiell in Frage gestellt wird, und Regierungen und Parteien teilen entweder dieses Empfinden oder greifen es instrumentell auf. An diesem Befund kommen wir für den Moment nicht vorbei, dennoch erscheint es angemessen, über das populistische Getöse hinweg nach der eigentlich angemessenen Problemlösungsebene zu fragen. Meine zweite These hierzu wäre: Politisch und medial wird die Problemlösungsfähigkeit reflexhaft auf der nationalen Ebene verortet, während in der Mehrzahl der strategisch entscheidenden Politikfelder die faktische Problemlösungsfähigkeit auf europäischer Ebene liegt.

So sagte etwa der ehemalige deutsche Finanzminister und heutige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, dessen Krisenpolitik sicher nicht unumstritten ist, der aber zugleich unbestritten ein überzeugter Europäer ist: »Bislang haben die Mitgliedstaaten in Europa fast immer das letzte Wort. Das kann so nicht bleiben. Wir müssen in wichtigen Politikbereichen mehr Kompetenzen nach Brüssel verlagern, ohne dass jeder Nationalstaat die Entscheidungen blockieren kann.« Wenn es zutrifft, dass nationale Souveränität oder gar Autarkie zunehmend zur Fiktion verkommt, die aber durch Akteure aller Art hartnäckig hochgehalten wird, dann ist der Moment gekommen, noch mehr als bisher öffentlich für die europäische Integration zu streiten. Trotz aller Probleme sollten sich die Pro-Europäer des Wertes der Europäischen Union vergewissern, mit einem positiven Grundvertrauen auf das europäische Projekt schauen und danach fragen, an welchen Stellen mehr, an welchen vielleicht auch weniger gemeinsames Handeln angebracht ist. Dazu gehört auch eine ehrliche Bestandsaufnahme und konstruktive Bearbeitung der »Mängelliste«, aber diese darf nicht wie bisher die Debatten dominieren. Die Nationalstaaten werden in diesem »überarbeiteten« Europa nicht verschwinden, und es vielleicht auch Zeit, das anzuerkennen und überhastete Vorschläge zu den Vereinigten Staaten von Europa vorerst wegzuheften. Sie müssen sich aber konstruktiv in den europäischen Rahmen integrieren, wenn die ja nicht kleiner werdenden Herausforderungen ansatzweise effektiv bearbeitet werden sollen. Daher lautet meine dritte und abschließende These: Es geht nicht um eine Wahl zwischen nationaler und europäischer Souveränität, sondern um die Wahl zwischen geteilter oder langfristig schwindender Souveränität.

Eine Epilog-Sinfonie (Anno horribili atque spectabili) Sašo Jerše

I. (Schnell, mit Feuer)

Anno horribili, in dem fürchterlichen Jahr 2020, in welchem dieses Buch entstand, ist allemal zu viel geschehen, und man würde denken, dass sich nun doch endlich etwas ändern müsste. Das Jahr begann mit einem Brand, der einen ganzen Kontinent zu zerstören drohte und tiefe Wunden in den kostbaren Wald eines anderen Kontinents geschlagen hat. Große Teile eines dritten Kontinents wurden von Heuschrecken verwüstet, die dann noch einen vierten Kontinent befielen. Ohne Unterlass wüten seit Jahren Hass und Krieg, denen bereits zahlreiche Menschen zum Opfer gefallen sind und die auch in Zukunft tiefe Spuren in unser aller Leben zu hinterlassen drohen. Überall erheben sich nationale Egoismen und die Geldinstitute, die goldenen Kälber unserer Zeit, sind unter der Last der Unsicherheit einer Welt, die, was man vor noch nicht allzu langer Zeit vielleicht nur vermutet hätte, zu Boden geht, mehrmals ins Wanken geraten. Dass die Welt, wie wir sie kannten, wirklich am Boden liegt, hat letztlich die Seuche aus China ein weiteres Mal bestätigt. Doch nicht alles, was auf dieser furchteinflößenden Welt geschieht, ist gleich die Apokalypse, wovon uns die Vestalinnen des zeitgenössischen Wissens mit ihrem filmischen Jargon überzeugen wollen. Der Begriff Apokalypse bedeutet nämlich nicht »das Ende vom Ende«, sondern »Offenbarung«, d. h. eine neue heilige Zeit und somit eine neue heilige Wirklichkeit. Noch sind wir von beidem weit entfernt. Alles, was geschieht, ist daher nur Geschichte. Das Rad der Geschichte, das sich seit einem guten Jahrzehnt in horizontaler Lage zu drehen scheint, wie ein bizarres Ringelspiel, beginnt sich nun zurückzudrehen. Durch die Seuche aus China beziehungsweise die Leninistische Pest, ein Begriff, auf welchen später näher eingegangen werden soll, die dieses Rad auf seine fürchterliche Bahn gebracht hat, sind Krankenhäuser zu Spitälern, Altersheime zu Siechenhäusern und mikrobiologische und pharmakologische Institute zu den Stuben von Alchimisten geworden. Die Bürger, die mit ihrer Kinderschar und dem Kleinvieh kochend und fernschauend um ihre Feuerstelle hockten und die entweder ihr eigenes CyberGewerbe betrieben oder irgendetwas oder kaum was oder eben gar nichts, haben sich

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in verschreckt schimpfende und wütend flüsternde Untergebene verwandelt, deren Interesse und Phantasie von der Aussaat zur Ernte, von der Hand in den Mund, von einem Schlaf zum anderen reichten. Erneut erwiesen sich die Händler en gros und ihre Manager als Räuberbanden und die Geldinstitute als übersensible und unersättliche, unruhige und in dieser ihrer Unruhe als rücksichtslose Feudalherren. Die Regierungen glichen Oligarchen ohne Heller und Pfennig, die versuchten Ordnung zu schaffen und sich selbst mit unwiderruflichen Dekreten im Sattel und in der Würde zu erhalten. Die Universitäten schienen auf einmal nur noch Schreibstuben per zoom zu sein und die katholische Kirche zu gutem Beispiel, bekannt wohl für ihre gotische Haltung und ihren barocken Ausdruck, versteckte sich in den Katakomben. Und über allem lag eine Stille, die längst vergessen schien und an jene Zeiten erinnerte, in denen die Menschen das Ende der Welt und das Ende der Zeit erwarteten. China aber nahm in diesem wilden und furchteinflößenden Lauf der Zeit einen besonderen Platz ein, denn unter der Xi-Dynastie hat das chinesische Imperium seinen Platz im Auge vom Rad der Geschichte. Das Jahr, in dem dieses Buch entstand, war ein annus horribilis. »Was ist es, das geschehen ist? Genau das, was danach geschehen wird. Was ist es, das man getan hat? Genau das, was man danach wieder tun wird; und es geschieht nichts Neues unter der Sonne. Geschieht denn etwas, wovon man sagen könnte: ›Sieh, das ist neu?‹ Es ist früher auch geschehen in den langen Zeiten, die vor uns gewesen sind«, heißt es in der Bibel (Prediger 1,9–10). Und der Blick in die vergangenen Zeitläufte, welche unseren ähneln, muss ihr Recht geben. Die Pest ist nämlich immer und zuerst eine Frage der Herrschaft. Sei es die Antoninische Pest im 2. Jh. n. Chr., die Ciprianische im 3. Jh., die Justinische im 6. Jh., die als »schwarzer Tod« in die Geschichte einging und jahrhundertelang immer wieder wütete, immer gingen Ausbreitung und verheerende Folgen der Pest auf Herrschaftsstrukturen und Beziehungen innerhalb von Gemeinschaften zurück sowie auf falsche Entscheidungen der jeweiligen Machthaber. Und dieses Bewenden hat es auch mit der Seuche aus China, die deshalb als Leninistische Pest bezeichnet werden kann und die Beschaffenheit des chinesischen Imperiums auf global verheerende Art und Weise aufwies. Das moderne chinesische Imperium ist nämlich von seiner Herrschaftsstruktur her die Verwirklichung der leninistischen politischen Architektur als Lotusblüte: In der Mitte der vergoldete Hof, der mit einer Diktatur herrscht, die keinen Einspruch erlaubt und um die sich kreisförmig die Untertanen anordnen, je nachdem, wie bedeutsam sie sind und wie raffiniert sie sich im Erreichen ihrer Ziele gerieren. Ihr Blick ist starr auf die Mitte des Hofes gerichtet und in die Weite eines einzigen Himmels. In dieser Herrschaftsordnung gibt es weder Individuen noch Bürger, sondern nur noch den homo cyberneticus, einen kybernetisch erschaffenen, beherrschten und kontrollierten Untertan. Hier drängt sich nicht nur die Frage nach der Legitimität dieser Herrschaft auf, sondern auch nach dem universalistischen Anspruch, den sie stellt, nämlich ein »seidener Hegemon« zu sein. Die Grundpfeiler, auf denen die Legitimität der Macht des Hofes und seiner hegemonialen Bestrebungen beruhen, enthüllte vor nicht allzu langer Zeit der chinesi-

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sche Philosoph und Mandarin Zhao Tingyang, der, wie die Gerüchte es wollen, Xi Jinping, dem Kaiser, genannt auch dem Ersten, dem Großen und dem Weisen, im Schlafzimmer aus seinen Arbeiten vorliest. Die Legitimität der politischen Führung findet Zhao Tingyang in einer chinesischen Lehre aus dem 6. Jh. v. Chr., die den Namen Tianxia trägt, was so viel bedeutet wie »Alles unter dem Himmel«. So schreibt der Höfling, dessen Ruhm um die akademische Welt kreist: Da der Himmel die Gesamtheit alles Existierenden umfasst, muss auch ›Alles unter dem Himmel‹ die Gesamtheit des Existierenden umfassen, nur so entspricht es dem Himmel. Das ist mit dem Satz: ›Der Himmel beschirmt alle gleichermaßen ohne eigennützige Bevorzugung, die Erde trägt alles gleichermaßen ohne eigennützige Bevorzugung‹ gemeint. Das Prinzip des Tianxia kennt kein Außen, setzt apriorisch (transcendentally) die Welt als politisch Ganzes voraus, das System des Tianxia kennt daher nur ein Innen und kein Außen und lässt damit die Begriffe des ›außenstehenden Fremden‹ und ›Feindes‹ verschwinden. Keine Person kann als untolerierbarer Außenstehender, kein Staat, keine Nationalität und keine Kultur als antagonistischer Feind angesehen werden.

Und weiter heißt es, hervorgehoben vom Höfling selbst, die »Koexistenz geht der Existenz voran, mit anderen Worten, die Koexistenz ist die Voraussetzung der Existenz.« Das, so Zhao, sei die Voraussetzung für das, was bisher nur als Wunsch existiert habe, nämlich für den ewigen Frieden. Und gerade die Sicherung des ewigen Friedens sei Berufung und Ziel des chinesischen Imperiums. Aufgrund dieser himmlischen Berufung zur Erreichung dieses einen irdischen Ziels habe China, gibt Zhao Tingyang zu verstehen, seinen legitimen Platz im Auge vom Rad der Geschichte. Die Idee »Alles unter dem Himmel« und die Idee des »seidenen Hegemonen«, beide, wie man mittlerweile weiß, bloß eine zynische Bezeichnung für einen kybernetischen Totalitarismus, sind natürlich keineswegs nur Ideen des chinesischen Kaiserhofes. In petto gehören sie auch den Patriziern im Silicon Valley und in den Programmierungsstuben rund um den Erdball träumen ganze Armeen von computer clercs von ihnen. Doch in China wurde die Idee bereits umgesetzt und der chinesische Kaiser hat seinen Untertanen, ganz im Sinne eines Befehls einer seiner Vorgänger, Mao Tse-tung, »Seid Schrauben im Rad der Revolution«, bereits befohlen: »Seid Befehlsträger im Leninistischen Algorithmus.« Davon, wie man sich ein Leben in solch einer Wüste der Menschlichkeit, in der außer Trans- und Antihumanismus nichts gedeiht, vorzustellen hat, zeugen die Schriften des chinesischen Nobelpreisträgers, Philosophen und Schriftstellers Liu Xiabo, der vom Kaiser, nachdem er anlässlich des 100jährigen Jubiläums der chinesischen Verfassung angemerkt hatte, dass die Kleidung des Kaisers Zeichen eines altmodischen Geschmacks sei, ins Gefängnis geworfen wurde, wo man ihn schließlich sterben ließ. Seine Beschreibungen der Mao-Schrauben im Rad des Despotismus lesen sich folgendermaßen: Wer so lebt, allerdings leben viele eigentlich nicht wirklich, lebt in den zynischen und aalglatten Strukturen von Berechnung und Heuchelei, gewöhnt an seine egoistische

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Rolle als Beobachter. Wer so lebt, lebt mit gebeugten Knien und gesenktem Kopf und gibt sich mit einem Gnadenbrot zufrieden. Sein Leben ist leer, trivial und banal, sein Charakter zwiespältig. Sein Geist ist längst eingeschlafen, entfernt wurden Mitgefühl und Gerechtigkeitssinn, er ist Sklave seiner Begierden, halb Vieh, halb Rind. Und er ist still. Schamgefühl und Gewissen sind seinem Schweigen zum Opfer gefallen. Wer so lebt, lebt vernünftig. Zuerst nämlich hat er sein Gewissen verkauft, dann seine Helden, die noch ein Gewissen hatten, und schließlich sein Schamgefühl, das eigentlich die Verantwortung für seine Sünden tragen müsste. Und ohne Schamgefühl können Menschen und Völker eigentlich sehr ruhig und glücklich leben.

So ruhig und glücklich, könnte man fortfahren, leben auch die Bewohner des Kaiserreiches des einen Himmels, die plebs cybernetica, aber nur so lange, bis ihre Koexistenz ohne Existenz nicht von einer Seuche gestört werden, die der Algorithmus nicht übersetzen konnte. Dann aber lässt sich von einem zum anderen Ende der Welt kein geschlossenes Je suis toi-même vernehmen, sondern eine vielstimmige Stille von bis zu ihrem eigenen Tod Erschrockenen und bis zum fremden Tod in den Zorn Getriebenen. Und dann bekommt das ehemals mächtige Imperium die Überzeugungskraft des verlegenen Lächelns. Und dann bricht der eine Himmel entzwei. Und dann ist dort draußen wieder dort draußen und hier drinnen wieder hier drinnen. Dann gibt es wieder Lebende und Tote, Gesunde und Kranke, Menschen mit Mitgefühl und jene ohne und Menschen, die Mitgefühl erfahren, und jene, die leer ausgehen. Dann setzt der Algorithmus aus. Dann ist der Mensch wieder Mensch. Das alles verheißt ein Kaiserreich des bloß einen Himmels, wohl auch das chinesische Imperium. Dabei erweist sich die Frage, ob das chinesische Imperium wirklich ein Land des Lächelns und der Gastfreundschaft ist und es weiterhin auch bleiben wird, wie uns die Sinologen sowie andere Besucher jenes fernen Landes versichern, als eher irrelevant, denn das verändert in keiner Weise die Macht- sowie Herrschaftsstruktur des Imperiums, verringert weder die Verantwortung seines Hofes noch das Gewicht des Jochs, das die Untertanen zu tragen haben, und auch die Aussichten werden dadurch keineswegs freundlicher. Da es, im Gegensatz dazu, wichtig erscheint, dass wir uns immer wieder bewusst machen, dass die Welt eine Bühne ist und die Pest ein Einakter, stellen wir uns eine Theaterszene vor, die von historischen Ereignissen im 2. Jh. v. Chr. inspiriert ist, von einer Zeit, in der sich die Römische Republik und Karthago kriegerisch gegenüberstanden. Es ging, wie in der Geschichte eingefahren, um Macht und Einfluss, um Sieg und Führungsanspruch. Obwohl die Römische Republik aus den ersten beiden sog. Punischen Kriegen als, wenngleich mehrfach erniedrigter, Sieger hervorging, machte der Reichtum Karthagos die römischen Senatoren unruhig und erfüllte sie mit Angst und Hass. Und nachdem Cato der Ältere, genannt auch der Weise, einer der Helden des Zweiten Punischen Krieges, im Jahre 152 v. Chr. aus Karthago zurückgekehrt war, war er noch unruhiger und mit noch mehr Angst und Hass erfüllt, und seitdem beendete er seine Reden im Senat mit dem Aufruf, Karthago zu vernichten. In unserer Theaterinterpretation, in der sich zu Beginn das beschriebene Rad der Geschichte nicht rückwärts dreht, sondern vorwärts, macht sich Cato nach China

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auf, wundert sich über den dortigen Reichtum, die Macht, den Einfluss und den unersättlichen Appetit des kybernetischen Leninismus und kehrt dann, völlig beunruhigt, vor Angst erschöpft und voller Hass zurück und beendet von nun an alle seine Reden mit dem Satz: »Zudem denke ich, dass das chinesische Imperium zu vernichten ist«, Ceterum autem censeo imperium Sinarum esse delendum.

II. (Langsam)

In dem Jahr, das auf das Schreckensjahr 2020 folgte und das diesem in nichts zurückstand, wurde noch ein anderes, nicht weniger dramatisches Szenarium denkbar. In ihm tritt Captain Sarah Hunt auf, Kommandantin der US-Navy-Flottille Destroyer Squadron 21 – Solomons Onward, die im Südchinesischem Meer eine Freedom of Navigation-Operation durchführt. Die Flottille von Captain Hunt trägt seit dem Zweiten Weltkrieg den Spitznamen »ungezähmte Löwen«, Rampant Lions, was die Mannschaft an Bord anspornt. Die Kommandantin wird von ihren Marines auch liebevoll Löwenkönigin, Lion Queen, genannt. Her small flotilla was twelve nautical miles off Mischief Reef in the long-disputed Spratly Islands on a euphemistically titled freedom of navigation patrol. She hated that term. Like so much in military life it was designed to belie the truth of their mission, which was  a provocation, plain and simple. These were indisputably international waters, at least according to established conventions of maritime law, but the People’s Republic of China claimed them as territorial seas. Passing through the much-disputed Spratlys with her flotilla was the legal equivalent of driving donuts into your neighbor’s prized front lawn after he moves his fence a little too far onto your property. And the Chinese had been doing that for decades now, moving the fence a little further, a little further, and a little further still, until they would claim the entire South Pacific. So … time to donut drive their yard. Maybe we should simply call it that, she thought, the hint of a smirk falling across her carefully curated demeanor. Let’s call it a donut drive instead of a freedom of navigation patrol. At least then my sailors would understand what the hell we’re doing out here.

Man schreibt das Jahr 2034, den 12. März. Am Ende dieses Tages wird das Schiff von Captain Hunt auf dem Grund des Südchinesischen Meers liegen. China koordiniert zusammen mit dem Iran seine militärischen Schritte und setzt an diesem Tag seine neuen Cyberwaffen ein, mit denen es die US Navy und die Air Force entwaffnet, ja geradezu lächerlich macht. Beide wirken auf einmal wie ein Haufen Spielzeug einer betuchten amerikanischen Familie. Das ist der Beginn einer neuen, einer schrecklichen Ära, die alles Gewesene an Unheil übertrifft. Die Szene stammt aus dem Roman 2034. A novel of the Next World War, der in diesem unseren zweiten unheilvollen Jahr erschienen ist. Sein Autor ist einer der be-

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deutendsten amerikanischen Offiziere, der legendäre Admiral James G. Stavridis, ein ehemaliger NATO-Kommandeur, der als Soldat in fast allen großen Konflikten der modernen Welt und Zeit gedient hat. Als ausgezeichneter Kenner der geopolitischen Lage lässt er vor dem Leser das großartige Fresko eines fiktiven Konflikts zwischen den größten Akteuren der Weltbühne entstehen, und zwar den USA, China, Iran, Russland und Indien, in dem Amerika und China den größten Preis zahlen und die größten Verluste verzeichnen, Europa hat in diesem Krieg nicht einmal die Rolle der Barmherzigen Schwester inne. Schon bald nach seiner Veröffentlichung kam der Roman auf die Bestsellerlisten und fand begeisterte und zugleich verängstigte Leser. Seinem eigenen Bekunden zufolge gratulierten dem Autor seine Kameraden mit folgenden Worten: »Sehr interessantes Buch, Stavridis, aber in einer Sache täuschst du dich. Im Datum! All das kann bereits morgen passieren.« Und doch um gerade dies zu verhindern, erklärt Admiral Stavridis in einem Interview, habe er selbst einen solchen Roman geschrieben. »Wo ist die Literatur, die uns heute das Unvorstellbare vorstellbar macht – einen Krieg zwischen USA und China?«, fragte sich der Admiral, eine Literatur also, die das Kräftemessen beruhigt und die Leidenschaften besänftigt, das Böse überwinden hilft und nach dem Guten strebt. Eine Literatur, die Kriege zu verhindern hilft. »Ein Hauptproblem der internationalen Politik ist nämlich, dass schlichte Muster von Gut und Böse die Auseinandersetzung beherrschen. Ich bin überzeugt: Das einzig absolut böse ist der Krieg.« Der Glaube des illustren Admirals an die Groß-Macht seiner eigenen Fiktion ist rührend und schon deshalb sollten wir ihr wünschen, ihre noble Botschaft zu erzielen. Doch man könnte seinen Roman auch als eine geopolitische Analyse von militärstrategischem Charakter lesen, die Wirklichkeit werden kann. Ist das, was diese beiden unheilsamen Jahre voraussagen, die Zukunft? Jene Zukunft, die vielleicht bereits in unserer Gegenwart wurzelt und deren Antlitz, vor dem man die Augen jetzt nicht mehr verschließen kann, schon in den beiden vergangenen Jahren aufleuchtete? Ist unsere Zukunft demnach der Krieg? Ist der Krieg die einzige Zukunft, die wir uns vorstellen können? Wenn dem so ist, dann war das annus horribilis das allerschrecklichste. Es war allemal ein Jahr des Umbruchs, eines zweifachen Umbruchs, folgt man dem Gedanken von Robin Dolar aus vorliegendem Buch. Es war ein Jahr des Umbruchs als Initiator historischer Ereignisse, denn es kam, worauf zu Beginn hingewiesen wurde, zu großen qualitativen Veränderungen in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Und es war ein Jahr des Umbruchs als Katalysator, denn die bereits bestehenden respektive sich abzeichnenden gesellschaftlichen und politischen Prozesse gewannen in diesem schrecklichen Jahr nicht nur an Geschwindigkeit, sondern auch an Tiefe und Weitläufigkeit. In diesem unheilvollen Jahr kam es also zu einem zweifachen Zusammenbruch der Welt. Und man könnte meinen, dass damit der Abschied vom Frieden einhergeht. Den Frieden, schreibt Wolfgang Augustyn, können oder wollen sich zumindest die schönen Künste schon lange nicht mehr vorstellen und ihn auch nicht darstellen: Der Frieden lässt sich heute nur noch mit

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Bildern des Krieges darstellen. Bei Harry Lehmann lässt sich in diesem Bezug nachlesen, wie leicht und wie vielseitig die sogenannte politische Kunst nicht nur auf die politischen, sondern auf alle Gegensätze ihrer Zeit reagiert, in die sie sich laut und wild einmischt und mit denen sie auf geboten oder ungeboten Weise gedanklich und in Worten oder in Taten und Bildern spielt, sie meist noch verstärkt und nie wirklich beruhigt. Oder anders, wenig zugespitzt ausgedrückt: Den Frieden kann man sich heute nur noch als Krieg vorstellen. Oder noch anders: Der Friede ist heute nur noch wie Krieg. In Michael Rohrschneiders Beitrag über den Dreißigjährigen Krieg, der den europäischen Kontinent verwüstete, liest man, wie sich die Unversöhnlichkeiten des Krieges einst in eine Ordnung des Friedens hatten umsetzen lassen. Ist es diesmal anders? Ist es diesmal nicht gerade umgekehrt? Werden die Unversöhnlichkeiten unserer Zeit, von der wir noch immer meinen, sie sei eine Zeit des Friedens, zu einer Ordnung des Krieges? Gilt das vielleicht schon längst, hat sich aber in diesen beiden unheilvollen Jahren erst wirklich offenbart? Aus alledem lässt sich bejahend nur dieser einer erschreckender und trauriger Schluss ziehen, bestätigt durch Orwells Prophezeiung: WAR IS PEACE. Unser Krieg ist allerdings ein neuartiger Krieg, in dem sich alle Militärordnungen sowie Militärhandlungen auf Algorithmen respektive auf eine kybernetische Ratio verlassen müssen, der sie schließlich völlig unterworfen sind. Unser Krieg ist ein Holos-Cyber-Krieg, ein holokybernetischer Krieg, in dem das Messer von Clausewitz nicht mehr so ist, wie man es von früher kennt: Der Mensch ist nicht mehr die Klinge des Krieges und seine Waffen sind nicht mehr der Griff des Militärs. In dem Krieg unserer Zeit sind, anders als in den früheren Kriegen, Dinge, d. h. Waffen, Munition, Fortbewegungsmittel und Material aller Art, zur Klinge geworden, zum Griff dagegen die Kraft des Einzelnen, die in den Motiven, dem Mut, der Ausdauer und der Enthaltsamkeit des Einzelnen wie des Kollektivs sowie in allem, was menschlich ist, ihren Ausdruck findet. In einem solchen Krieg, das kann man auch in dem Roman 2034 nachlesen, entfachen und entscheiden sich Konflikte vorher, bevor man sich überhaupt bewusst wird, dass der Krieg bereits begonnen hat. In einem solchen Krieg, so heißt es bei Alexander Kluge, läuft der Griff hinter der Klinge her. Ein solcher Krieg wird zum ewigen Krieg. In einem solchen Krieg entscheidet der Souverän über das Ausmaß des Krieges. In einem solchen Krieg hat sich die Souveränität im modernen Sinne bereits aufgelöst. Die moderne Souveränität kann nämlich als fünffaches Streben nach Autonomie und Unabhängigkeit beschrieben werden: Das Streben von politischen Gemeinschaften nach, erstens, territorialer Unabhängigkeit und, zweitens, nach politischer Autonomie; drittens, das Streben nach historischer Unabhängigkeit, also der Unabhängigkeit von der Vergangenheit; viertens, das Streben nach existenzieller Unabhängigkeit der politischen Gemeinschaften und des Einzelnen, also ihre Loslösung vom Legitimierungszwang durch die Berufung auf einen Sinn, der nicht in ihnen selbst ist, also zum Beispiel auf das Heilige; und schließlich, das Streben nach der persönlichen Unabhängigkeit, nach der Unantastbarkeit der Person des Einzelmenschen und des

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eigenen Glücks. Diese Art der modernen Souveränität hat heute, wie neulich der Soziologe Hartmut Rosa bemerkte, ihr historisches Ende gefunden. »Wir stecken«, schreibt Rosa, »in der Situation eines rasenden Stillstandes, in der die Steigerungsleistungen nicht mehr als Teil einer Fortschrittsgeschichte hin zu einer gestaltbaren Zukunft verstanden werden, sondern als Kampf gegen das Abrutschen in den Abgrund des Zusammenbruchs. Die historischen Rolltreppen laufen gleichsam rückwärts. Ein solcher Zweifel an der Gestaltbarkeit der Zukunft ist unmittelbar ein Zweifel an der Gestaltbarkeit der Welt und damit an der politischen Souveränität. Spätmodernen Menschen erscheint ihre Welt in paradoxer Verkehrung der Verfügbarkeitsverheißung als versteinert und entfremdet. Sie erfahren sich nicht als souverän Handelnde, sondern als ohnmächtig Erleidende.« Über eine derartige Realität und den sich in ihr befindlichen Menschen kann leicht das Tianxia herrschen, jenes »alles unter dem Himmel«, von dem jener besagte Mandarin schreibt. Doch dieses »alles unter dem Himmel« ist natürlich nicht, wie er behauptet, die ewige Ruhe, sondern, wie wir gesehen haben, der ewige Krieg. In diesem Zusammenhang bekommen auch Reflexionen über den historischen Vektor die erschreckende Bedeutung eines Epilogs: Der historische Vektor, der bislang Zeiten des Krieges und des Friedens, Zeiten der Trauer und der Freude, Zeiten des Lachens und des Weinens, wie sie die Bibel verheißt (Prediger 3,1–18), kreuzte, hält in diesem fragwürdigen Jahr unaufhaltsam auf den ewigen Krieg zu. Und Orwells Prophezeiung ist auf erschreckende Weise Wirklichkeit geworden. WAR IS PEACE. Doch noch stehen wir in der westlichen Welt zumal vor den Kulissen der alten modernen, demokratischen und liberalen Verfassungsordnung. Gleichzeitig muss man aber auch Jožef Muhovič zustimmen, der in seinem Beitrag anmerkt, dass unsere zeitgenössische Kultur »eine große epilogische Maschine [ist], die durch Außerkraftsetzung des Gestrigen einen Hauch von Orientierung in der Gegenwart erzeugt. Wo niemand mehr wissen kann, was morgen gilt, da wirkt die Feststellung, dass wenigstens das Vergangene vorüber ist, fast wie ein Balsam«. Und diese »epilogische Maschine« der Postmoderne, des Posthumanismus sowie der postfreudistischen, postmarxistischen, poststrukturalistischen, postmetaphysischen Rhetoriken, dieses Post-Post-Post-Dynamo, fährt schon ihr wildes Rennen auf den Endpunkt zu, wo »man zum Beispiel nicht mehr weiß, was wahr und unwahr ist, was gut und was böse, was schön und was hässlich, was Kunst und was Leben, was konstruktiv und was dekonstruktiv, was vertikal und was lateral.« So also sieht der Endpunkt aus, an dem wir uns in diesem unheilvollen Jahr befinden. Und ein derartiger Endpunkt ist historisch überaus spezifisch. Die Zeit der letzten industriellen Revolution, die mit der künstlichen Intelligenz begann und welche sich gerade auf ihrem Teufelsritt befindet, und die damit verbundenen globalen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verschiebungen, Sprünge und Täuschungsmanöver, ist eine historisch überaus spezifische Epoche. Bisher sahen sich die Menschen mit drei Größen konfrontiert: Mit sich selbst, mit ihren Nächsten und schließlich mit der Natur. Nun öffnet sich ein neues Konfrontations-

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feld, auf dem der Mensch auf die künstliche Intelligenz trifft, wovon Kristina Lahl in ihrer Einführung spricht. Damit verbunden sind völlig neue Herausforderungen und somit stellen sich völlig neue Fragen. Und das sind allesamt politische Fragen. Es geht nämlich um die Frage nach der Welt, in der wir leben und die wir kennen, und nach den politischen Entitäten, in denen wir leben und die wir immer weniger zu verstehen, geschweige denn zu gestalten vermögen. In der heutigen Zeit nämlich wächst die Diskrepanz zwischen Verfassungsnorm auf einer Seite und politischer Realität auf der anderen unaufhaltsam: Auch in einer postdemokratischen Zeit leben wir, in den politische Entitäten gemischter Verfassung, »mixed constitution«, in denen das demokratische Prinzip einerseits und das oligarchische andererseits aufeinandertreffen, sich miteinander auseinandersetzen und sich gegenseitig ausspielen. Doch diese Tatsache scheint heute weitgehend übersehen oder verkannt zu werden, was auch für die zunehmend offensichtlicher werdende Tatsache gilt, dass sich das Feld des Politischen, also das Feld, auf dem Entscheidungen getroffen werden, die für alle Beteiligten der politischen Gemeinschaft verbindlich sind, schließt. Der heutige Mensch ist weniger Staatsbürger als Untertan und hat in der neu konstituierten Verfassungsordnung, die keinerlei Legitimität bedarf, weder politische Vollmachten noch das Recht zu zweifeln oder zu widersprechen und, folgt man den Überlegungen von Kristina Lahl, auch kein Recht mehr zu wissen, in welcher Realität er eigentlich lebt. Auch das sind, schaut man in der Geschichte zurück, Anzeichen des Krieges, eines Bürgerkrieges, d. h. eines Krieges der Bürger. War also das unheilvolle Jahr, das annus horribilis, schrecklicher, als wir es uns hätten vorstellen können? War dieses unheilvolle Jahr das Ende der Welt, wie wir sie kannten?

III. (Kraftvoll, fröhlich, aber nicht zu schnell)

Eine wunderbare Erkenntnis des vorliegenden Buches ist, dass jeder Anfang und jedes Ende immer zunächst Erzählungen sind. »Den Anfang«, heißt es in dem Beitrag von Schamma Schahadat, »gibt es nicht, stattdessen gibt es immer wieder neue Versuche, den Anfang zu inszenieren«, d. h. seine gedankliche und verbale Inszenierung geht dann in Handlung über. Špela Virant fügt dem hinzu: »Das Nichts, auf das der Anfang folgt, muss erzählt werden, damit der Anfang als solcher ersichtlich wird, und es muss zum Ereignis gemacht werden, um der Minimalanforderung der Erzählung zu genügen. Kurz gesagt, Erzählungen über Anfänge schreiben dem Nichts einen Ereignischarakter zu.« Doch dieses »Nichts« ist natürlich kein Nichts, kein leeres oder absolutes Nichts, »das Nichts« ist kein historischer Kahlschlag. »Das Nichts« ist zunächst Stille, Schweigen und Staunen. Und das annus horribilis war zunächst ein Jahr der Stille, ein Jahr im Krampf eines schreienden Schweigens.

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Es gibt Tage, die bleiben, die brennen sich ein. Unverschämte Tage. Tage, die sich anfühlen wie ein verschrobener Morgen danach: Man wacht auf und glaubt, das eigene Herz überlebt zu haben. Freitag, der 13. März ist so ein Tag. Für die Berliner Clubs bringt dieser Tag im Frühjahr 2020 die Gewissheit, dass es keine Gewissheiten mehr geben wird. Denn an diesem Freitag, den 13.[,] kündigt der Berliner Senat an, die Clubs zu schließen. Die meisten Clubbetreiber haben bereits Veranstaltungen abgesagt, in wenigen Clubs wird dieser Freitag zur letzten Partynacht, bevor die verordnete Stille kommt. An die Stelle von Tanz, Bass und Rausch treten Distanz, Verordnung und Bürokratie. […] In diesen stillen Orten trafen wir Menschen, die von ihren Clubs und Clubszenen sprachen, als handele es sich um Familie, ja, als fürchteten sie um nicht weniger als um den Verlust ihres Zuhauses. Das hat uns in dieser Dimension dann doch überrascht. Wir waren ausgezogen, um die Stille zu dokumentieren[,] und hatten Heimaten gefunden.

Das ist ein Auszug aus der Einleitung zum Bildband HUSH, das den Untertitel Berliner Clubkultur in Zeiten der Stille trägt. Es handelt sich um ein Buch mit Interviews, Essays und Fotografien, zusammengestellt von der Fotografin Marie Staggat und dem Journalisten Timo Stein, die von April bis Dezember 2020 vier Duzend Berliner Elektro-Clubs besuchten, Kultstätten, wo in der Zeit vor der Stille, die ihnen von der Seuche auferlegt wurde, Nacht für Nacht immer wieder neue und andere Welten entstanden, die sich ausgeprägt von denen unterscheiden, die das Tageslicht vorschreibt, Welten, die keinesfalls sinnlos, sondern allenfalls sinnfrei sind. VOID, Süss. War gestern, Melancholie, Suicide Circus, Sisyphos, Tresor Club, Club der Visionaere, SchwuZ, Griessmühle, Kit Kat Club, ://ablut blank und viele andere lost places, meistens im Ost-Berlin der Nachwendezeit entstanden, verweisen schon durch ihre Namen auf jene »epilogische Maschine«, von der weiter oben die Rede war und die sie antreiben. Oder anders gesagt, genau diese Clubs sind jene »epilogische Maschine« und, wie wir bereits gesehen haben, weiß man in ihrer wilden Rotation nicht mehr, »was wahr und unwahr ist, was gut und was böse, was schön und was hässlich, was Kunst und was Leben, was konstruktiv und was dekonstruktiv, was vertikal und was lateral.« Doch die berauschende Schönheit dieser Orte liegt genau in dieser sinnfreien Rotation, in der Orte der Begegnungen und Erkundungen, der Experimente und Kreationen entstehen, Orte der Freiheit, die, das zeigen die Fotografien, minutiösen Beschreibungen der Autoren und die zahlreichen Interviews mit den Menschen, die diese Orte entstehen lassen, zu einem Zuhause werden, sogar, obwohl ehemals lost places, zu einer Art Heimat. So zumindest war es, bevor die Stille kam, als auch die »epilogische Maschine« anhalten musste. Und plötzlich war die Nacht vorbei und der Tag kam und mit ihm der Sinn, allerdings der Sinn des ewigen Krieges respektive des ewigen Friedens, der wie der ewige Krieg erscheint. Und natürlich stellte sich dann die Frage, ob es dabei bleiben würde. Wird der ewige Krieg, über den Admiral Stavridis schreibt, ewig dauern? Wird ihm irgendwann der ewige Friede folgen, über den Zhao Tingyang

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schreibt? Oder ist einfach beides nur als höfischer Euphemismus zu verstehen und die Zukunft, obwohl offensichtlich und unvermeidlich, kommt, um Jorge Luis Borges zu bemühen, möglicherweise gar nicht? Diese Frage kann heute natürlich noch nicht beantwortet werden, man sieht aber, dass bereits eine Erzählung entstanden ist, die dieses unheilvolle Jahr ganz anders enden lässt, was gleichzeitig auch ein neuer Anfang sein könnte. »Den Anfang«, zitiert man nochmals Schamma Schahadat, »gibt es nicht, stattdessen gibt es immer wieder neue Versuche, den Anfang zu inszeniren.« Und eine solche impressive, inspirierende und in jeglicher Hinsicht spektakuläre Inszenierung eines Neuanfangs ist die 17. Architekturbiennale von Venedig, die im Frühjahr 2021 eröffnet wurde. Der Kurator der Ausstellung, der iranische, am Massachusetts Institute of Technology lehrende Architekt Hashim Sarskis, stellt mit ihr die Frage nach dem How will we live together? und geht dabei davon aus, dass es in der heutigen Welt mit ihren immer größeren politischen Differenzen, der Atrophie der politischen Vorstellungskraft, den wirtschaftlichen Unterschieden und der immer brisanter werdenden vierfachen Herausforderung, von der oben bereits die Rede war, unmöglich ist, einen neuen Gesellschaftsvertrag (social contract) auszuhandeln, was jedoch von höchster Dringlichkeit sei. Es ließe sich aber, so Sarskis, ein neuer Raumvertrag (spacial contract) aufsetzen, der es den Menschen ermöglicht, ihre individuellen Bedürfnisse und Lebenskonzepte genauso auszuleben wie den Wunsch nach enger Verbundenheit mit anderen Menschen und anderen Arten in der realen und der digitalen Welt, der neue und andere Formen von Haushalten und Nachbarschaften vorsieht, neue Gesellschaftsformen, die Gleichheit, Integration und eigene Raumidentitäten bieten, der neue Formen der Verbundenheit jenseits von gegebenen geografischen und politischen Grenzen bietet und schließlich ein Zusammenleben auf einem Planeten mit zahlreichen Krisen, die noch zu meistern sind. Doch diese Krisen lassen sich nicht mit den bereits bekannten Lebensräumen und Lebensstilen meistern. Zu meistern wären sie mit einem neuen Raumvertrag für neue Räume des Zusammenlebens. »If a social contract determines the freedoms lost and gained in order for people to enter society, a spacial contract determines the methods by which people negotiate these freedoms trough their spacial interactions. The spacial contract precedes, rehearses, articulates, materializes, invariably enables or resists, but often supersedes the social contract.« Den Architekten wird zusammen mit Ingenieuren, Bauherren, Handwerkern sowie Politikern, Geistes- und Sozialwissenschaftlern gemeinsam mit Bürgern die Rolle vom »cordial convener and custodian of the spatial contract« anvertraut. Dass die Idee für die Biennale nur kurz vor Ausbruch von Seuche und Stille entstand, die uns selbst, unsere Lebensräume und Lebensstile sowie unsere Vorstellungskraft und unsere Erzählungen von einer neuen Welt stark in Frage gestellt haben, ist der gleichen Ironie des Schicksals zuzuschreiben, die zur Entstehung des vorliegenden Buches über Endpunkte und neue Anfangspunkte geführt hat. Dabei ist diese Ironie auf eine gewisse Art und Weise zugleich segensreich, ein l’esprit ist sie, der neue Antworten hervorgebracht hat, die nicht weniger ironisch sind als die

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Ironie des Schicksals, die sich der Ironie aber als Werkzeug für den Entwurf neuer Welten oder zumindest neuer Erzählungen über diese neuen Welten bedienen. Einen neuen Anfang, so soll nochmals betont werden, muss man zunächst einmal erzählen können. Und dafür benötigt man l’esprit. Von diesen neuen Erzählungen vom Neubeginn der neuen Welt soll eine von den großartigsten hervorgehoben werden, welche im deutschen Pavillon auf der Architekturbiennale in Venedig und auch anderswo zu sehen ist. An den weißen Wänden des völlig leeren Pavillons sieht man QR-Codes, die der Besucher scannen kann, um so die Message zahlreicher Architekten, Wissenschaftler und Künstler zu sehen, die aus der Zukunft berichten. Die Filme können auch auf der Webseite des Pavillons abgerufen werden. Auf die Frage How will we live together? antworten die Architekten Olaf Grawert, Arno Brandlhuber, Nikolaus Hirsch und der Filmkünstler Christopher Roth sowie ihre zahlreichen Mitarbeiter mit einer großartigen Vision von einer geordneten, gerechten, guten und ruhigen, einer seligen Welt. Ihre Vision trägt den Titel 2038_The New Serenity, denn das Jahr 2038 ist völlig anders als das Kriegsjahr 2034, von dem Admiral Stavridis berichtet, und völlig anders als der ewige Friede, von dem Zhao Tingyang träumt. Das Jahr 2038 ist weder ein Jahr des ewigen Krieges noch des ewigen Friedens. Das Jahr 2038 ist ein Jahr der Seligkeit. Die Vision dieser neuen Seligkeit in einer Welt des Friedens stellt farbenreich Christoph Roths filmische Miniatur dar, die auf der Grundlage von Ölbildern des Malers Gabriel von Max aus dem späten 19. Jahrhundert entstanden und musikalisch mit einer Kreation von Cosimo Flohr unterlegt ist. Die Bilder von Gabriel von Max werden in zahlreichen Details zitiert, die Affen in unterschiedlichen Positionen zeigen, sei es beim Spiel oder der Annäherung, dem Fragen oder dem Suchen. Der Affe personifiziert den tierischen Trieb im Menschen und gilt seit Beginn des Christentums als Symbol für Todsünden wie Eitelkeit (vanitas), Wollust (luxuria), Faulheit (acedia), Geiz (avaritia) und Hinterlist (fraus) und als Symbol für die Sündhaftigkeit des Menschen an und für sich. Doch diese Sündhaftigkeit begleitet eine freudige Verkündung der Zukunft in ihrer jüngsten glorreichen Vergangenheit. The 20s were tough. / It was only in the early 30s of the 21st century / that the world came to its senses. / Instead of eliminating the broken capitalist system / we used the infrastracture as  a platform. / States, institutions and tech-companies joined forces / and designed a universal, adaptable / and viable system with collective goals, / while local structures have enough authonomy / to organise and manage themselves decentrally. / Equality is our main objective. / Taxes are celebrated / as part of permanent redistribution. / In the past, technology was enslaved / for purely capitalist purposes, / leaving the real transformative potential / of many achivements entapped. / ​ Existing, sometimes forgotten ideals were activated / with the fundamental sociopolitical change / in the late 20s. / Architects have repeatedly been part of the solution. / Architects who have answers and not questions. / Eco-systems are now legal entities / most rivers, lakes, forests and mountains / even own themselves. / Drama is almost forgotten, / we live in a radical democracy / and in a radical bureaucracy. / We need neither heroes nor villains. / We call our time the New Serenity.

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Oder mit anderen Worten gesagt, diese neue Zeit ist die Zeit der Apokalypse, eine neue, selige Zeit ist sie. Die beiden vergangenen unheilvollen Jahre, in denen auch dieses Buch mit seinen sehr unterschiedlichen und allesamt inspirierenden Abhandlungen über Endpunkte und Anfangspunkte entstanden ist, ein Buch über die Dynamik von den Zeitläuften, haben somit mindestens zwei Erzählungen über Ende und Anfang hervorgebracht, nämlich die Erzählung von der Katastrophe des ewigen Krieges, der auch als ewiger Friede proklamiert wird, und die Erzählung von der Apokalypse, die eine Zeit der Ruhe und des Friedens ist, eine neue selige, ja heilige Zeit. Welche dieser Erzählungen Wirklichkeit werden wird, wird sich mit der Zeit zeigen. Unsere Zeit hat jedoch bereits gezeigt, dass uns mindestens zwei Erzählungen von Zukunft zur Verfügung und damit zur Wahl stehen. Und deshalb sollten wir uns glücklich schätzen, denn weiterhin will man dem Renaissance-Esprit Giovanni Pico della Mirandola Glauben schenken, nämlich seiner Auffassung, dass die Menschen nur etwas niedriger als die Engel gestellt seien, was sie zu den besten und herrlichsten Entscheidungen sowie größten und schönsten Schöpfungen befähige. In diesem Sinne muss man das unheilvolle Jahr als weit weniger schrecklich empfinden. Demnach war das annus horribilis zugleich ein annus spectabilis. Auch ein spektakuläres Jahr!

Abbildungsnachweise Jožef Muhovič, Die Kunst im Zeitalter der Erweiterung und der Überschreitung Abb. 1

Abb. 2

Abb. 3

Das Verhältnis zwischen der Kunst des »primären« und des »erweiterten« Felds: Zwischen beiden Paradigmen bestehen Unterschiede, die in Form einer bestimmten Anzahl von ontischen, produktions- und zielbezogenen Differenzen dargestellt werden können. © Jožef Muhovič. Der diachrone Rhythmus der Kunst im Lichte formbildender Transformationen, der prototypisch durch Initial-, Zenit- und Schlussmomente definiert wird: der Archaik, die Klassik und der Manierismus. © Jožef Muhovič. Der diachrone Rhythmus der Kunst im Lichte der Stilgeschichte. © Jožef Muhovič.

Harry Lehmann, Politische Kunst und die Politisierung der Künste Abb. 1 Abb. 2

Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5

Abb. 6 Abb. 7

Abb. 8

Die Alice Salomon Hochschule in Berlin mit dem ursprünglichen Gedicht »Avenidas« von Eugen Gomringer an der Fassade. Foto: OTFW CC 3.0. Die Wohnungsgenossenschaft Grüne Mitte Hellersdorf mit dem Gedicht »Avenidas« von Eugen Gomringer in spanischer und deutscher Fassung. Foto: C.Suthorn / cc-bysa-4.0 / commons.wikimedia.org. Das Konzerthaus Berlin mit der Installation »Safe Passage« von Ai Weiwei 2016. Foto: picture alliance / dpa / K ay Nietfeld. Protestaktion der Identitären Bewegung auf dem Brandenburger Tor 2016. Foto: picture alliance / dpa / Paul Zinken. Die Besucher der Benefizveranstaltung der Cinema for Peace Foundation folgen der Aufforderung von Ai Weiwei und hüllen sich in goldene Rettungsfolien. Foto: Image via Instagram (@aiww). Nicholas Galanin: White Noise, American Prayer Rug (2018). Foto: Nicholas Galanin, https://www.flickr.com/photos/galanin/31102635898. Das Bornhagener Holocaust-Mahnmal des Zentrums für politische Schönheit vor dem Wohnhaus des AfD-Politikers Björn Höcke. Foto: Patryk Witt / Z entrum für Politische Schönheit. Das Berliner Holocaust-Mahnmal, das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Foto: picture alliance / Silas Stein / dpa / Silas Stein.

Wolfgang Augustyn, Bilder des Friedens im Wandel – Alte und neue Denkmodelle Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5

Römische Kopie der Eirene. München, Staatliche Antikensammlungen, Glyptothek. Denar des Trajan aus Rom, zwischen 103 und 111 n. Chr. Im Privatbeseitz. Bible moralisée, Paris, nach 1230. Toledo, Biblioteca y Archivo Capitulares, cod. s.n., Bd. II, fol. 109v. Psalter, Reims, 820/840. Utrecht, Bibl. der Rijksuniversiteit, Ms. 32, fol. 49v. Evangeliar Heinrichs des Löwen, Helmarshausen, zw. 1173/1175. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, cod. Guelf. Noviss. 2°, fol. 110v.

300 Abb. 6 Abb. 7

Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12

Abbildungsnachweise Dirck de Quade van Ravesteyn, Allegorie auf die Regierung Rudolfs II.. Prag 1603, Prag, Prämonstratenserabtei Strahov. Bernhard Picard, Radierung, Frontispiz zu Jean Dumond, Corps universel diplomatique du droit des gens, contenant un recueil des traités de paix, Bd. I, Amsterdam 1726. Ambrogio Lorenzetti, 1337–1340. Siena, Palazzo Pubblico, Sala della pace. Federico Zuccari, Unterwerfung Barbarossas beim Frieden von Venedig. Venedig, Dogenpalast. Annibale Carracci nach Tintoretto, Minerva vertreibt Mars von Pax und Abundantia, Kupferstich, 1598. Staatsgalerie Stuttgart, Graphische Sammlung. Gerard ter Borch, Beschwörung des Spanisch-Niederländischen Friedens im Rathaus zu Münster am 15. Mai 1648, 1648. London, National Gallery. Sir William Orpen, The Signing of Peace in the Hall of Mirrors, Versailles, 28th June 1919. 1919. London, Imperial War Museum.

Barbara Murovec, Das visualisierte Friedenskonzept eines Adeligen aus der Frühen Neuzeit – Pax in den Aufträgen von Ignaz Maria Graf Attems Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4

Die Blüte der Künste und der Wissenschaften in Friedenszeiten. Festsaal, Schloss Stattenberg (Štatenberg). © Martin Mádl, Prag. Franz Karl Remp, Familienporträt mit Ignaz Maria Graf Attems aus dem Schloss Rann (Brežice). Schloss Eggenberg. © Universalmuseum Joanneum, Graz. Franz Karl Remp, Familienporträt mit Maria Regina Gräfin Wurmbrand aus dem Schloss Rann (Brežice). Schloss Eggenberg: © Universalmuseum Joanneum, Graz. Franz Karl Remp, Allegorie des Friedens mit Pax und Merkur. Treppenhaus, Palais Attems, Graz. © Martin Mádl, Prag.

Orts- und Namensregister

Adenauer, Konrad  221 Adorno, Theodor  264 Adriatisches Meer  61 f., 64 f. Aeneis 111 Afghanistan 222 Afrika  234, 277 Ago, Renata  88 Alciato, Andrea  162 Alexander III. (Papst)  159 Alpen  61 f., 64 f. Alpenslawen 58 Amerika  29, 32, 290 Anatolien 191 Ankenstein (Borl)  177 Anselm von Canterbury  153 Antwerpen  163, 184 Aquilea  58, 63 Archipow, Wassili Alexandrowitsch  31 Aristarchos von Samos  25 Aristoteles  107, 115 Asiens 234 Askanier 47 – Albrecht I. der Bär  46 f. – Bernhard III.  47 f. Attems  16, 174–177, 179–186 – Ernest Amadeus  182 – Henriette Charlotte  182 – Ignaz Maria  16, 174 f., 180, 184 f. – Maria Anna  177 Augsburg 165 Augustyn, Wolfgang  290 Babylonier 20 Bachčissaraj 102 Baden 207 Bainbridge, Lisanne  11 Bamberg 58 Barberini 186 Barudio, Günther  86 Bastille 88 Batjuškov, Konstantin Nikolaevič  102 Bauer, Otto  203

Bayern  46 f. Bayern (Volk)  43 Belgrad  236, 238 Belinskij, Vissarion Grigor’evič  103–105 Berlin  17, 129 f., 133 f., 143, 187, 233, 235, 237 f., 252 Beuys, Joseph  118–120, 171 Billunger  44 f. – Bernhard I.  44 – Bernhard II.  44 f. – Hermann 44 – Magnus 45 – Ordulf 45 Böhmen 193 Bologna 17 Bonn  234 f., 239 Booth, Wayne C.  113 Borges, Jorge Luis  295 Borodziej, Włodzimierz  190, 195 Boscho, Domenico  183 Bosnien und Herzegowina  201, 222 Bourbon 212 Brandenburg  49, 217, 219 Brandlhuber, Arno  296 Brandt, Willy  195, 232 f. Braunschweig-Lüneburg 47 BRD → Deutschland Breda 159 Brixen 58 Bruck an der Leitha  204 Brunner, Otto  93 Brüssel  54, 189, 224, 284 Bulgarien 191 Burkhardt, Johannes  68, 72, 75 f., 79, 80 f. Burma 237 Caraccis, Agostino  163 Carius Christian  141 Carracci, Annibale  164 Cato der Ältere  288 Čechoslowaken 203 Černyševskij, Nikolaj Gavrilovič  105

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Orts- und Namensregister

China 285–290 Christmann, Gabriela B.  54 Christus, Jesus  151–154 Cisleithanien 201 Clovio, Giulio  153 Columbus, Christoph  29, 88 f. Connaught, Arthur von  212 Cortonas, Pietro da  179 Cranach, Lucas  160 Croce, Benedetto  90 Curtius, Ernst Robert  98 Dalmatien 59 Darwin, Charles  30, 33 Daškov, Dmitrij Vasil’evič  101 DDR, 17, 22, 215–218, 224–226, 228 f., 233–239 Delbrück, Clemens von  255 Derrida, Jacques  95 f. Deržavin, Gavriil Romanovič  102 Descartes, René  21 Deutsche  22, 98, 101, 142, 177, 189, ­192–194, 203, 216, 222, 231, 263 Deutschland  9, 16 f., 49, 56, 76, 132, 145, 170, 190 f., 194, 196, 204, 215, 217–224, 227–239 Dix, Otto  148 Dolar, Robin  88, 290 Dornau (Dornava)  177 Dossi, Battista  161 Dostoevskij, Fëdor  97, 99, 102, 105 Drau 58 Dravograd (Unterdrauburg)  204 Drittes Reich  192 Dubrovnik 59 Duchhardt, Heinz  79, 81 f., 85 f. Dülmen, Richard van  86 f. Dumond, Jean  157 Dutschke, Rudi  264 Duve, Thomas  53, 64 Ebert, Friedrich  260, 268 Edgith 45 Edling (Kazaze)  204 Eggenberg  177, 180 Ehlers, Caspar  52 f. Einstein, Albert  90 Eirene (Mythologie)  150

Elbe  42, 45, 49, 88 Elisabeth (Mutter Johannes’ des Täufers)  153 Emich, Birgit  90 Engels, Friedrich  109 England  36, 93 Enzensberger, Hans Magnus  275 Este, Ercole II. d’, 161 Estland 189 Europa  18, 25, 36 f., 51 f., 56, 62, 69 f., 73, 76, 80–82, 85–87, 92, 100, 187–190, 192 f., 195–197, 215, 219 f., 233 f., 239, 243, 275–277, 281–284, 290 Farnese, Alessandro (Kardinal)  153 Ferrara 161 Fischer, Reihe  86 Flohr, Cosimo  296 Florenz 177 Flurer, Franz Ignaz  185 Fohnsdorf 204 Foucault, Michel  95 f., 257 Franken  42 f., 56 Frankenreich  39, 43 Frankreich  56, 70 f., 75 f., 97, 101, 169, 221 f., 276, 282 Franz von Assisi  186 Franzosen 89 Freud, Sigmund  33 Friedenburgs, Robert von  87 Friesen (Volk)  43 Frisch, Max  113 Fukushima 10 Galanin, Nicholas  136–138 Galilei, Galileo  25 Gaulle, Charles de  276 Gelnhausen 47 George, David Lloyd  202 Gerard ter Borch  168 Germanen 56 Gervinus, Georg Gottfried  98 Gogol’, Nikolaj Vasil’evič  99, 102, 104 f. Gomringer, Eugen  129 f. Górny, Maciej  190, 195 Görz  58 f., 208 Görz, Matthias von  182 Goslar  45 f. Govekar, Minka  109

Orts- und Namensregister Goya, Francisco  148 Grass, Günter  114 Grawert, Olaf  296 Gray, Thomas  105 Graz  54, 57, 175–177, 181–183 Grimme, Adolf  263 Grob, Thomas  102 Großbritannien  221 f., 276 f. Grossi, Paolo  61 Groys, Boris  110 Grütters, Monika  130 Guanahani 88 Habermas, Jürgen  264 Habsburg  17, 56, 58 f., 77, 110, 177 f., ­201–205, 210 f., 214 – Franz I.  58 – Franz Joseph I.  207 – Joseph II.  58 – Karl I.  200, 204, 206 f., 209 f. – Leopold I.  174 f., 178 – Maria Theresia  58 – Philipp IV.  71 – Rudolf (Kronprinz)  211 – Rudolf II.  156 Haiti 37 Halle 231 Hallstein, Walter  41 Hanau 231 Härter, Karl  60 f., 64 Harz  45 f. Hegel, Georg W. F.  21, 98 Heidegger, Martin  95 Heiliges Römisches Reich  58, 60, 64, 70, 73, 81 Heinrich Jasomirgott  46 Helmarshausen 155 Helsinki 221 Herberstein, Christine Creszentia  185 Herkules  170, 185 Herodot 95 Hethiter 20 Hicks, Edward  151 Hirsch, Nikolaus  296 Hitler, Adolf  261 Höcke, Björn  139–142 Hocke, Gustav René  99 Homer  111, 184

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Horkheimer, Max  264 Horn von Afrika  222 Hribar, Ivan  199 Hulle, Anselm van  166 Hunt, Sarah  289 Hussarek, Max  206 Iberische Halbinsel  75 Illyrien (Königreich)  53, 59 Illyrische Provinzen  14, 53, 58, 59, 63 Indianer 151 Indien  237, 290 Innerösterreich  179, 182 Innozenz VIII. (Papst)  160 Iran 290 Ischinger, Wolfgang  221 Isonzo (Soča)  208 Istrien  58, 200 Italien  59, 176, 212, 280 Jaspers, Karl  96, 98 Jeglič, Anton Bonaventura  202, 206 f., 210 Jemen 236 Jesaja (Prophet)  162 Johannes der Täufer  153 Johnson, Mark  244 f. Josef K.  112 f. Juchacz, Marie  268 Juden 140 Judenburg 204 Jugoslawien  17, 22, 25, 32 f., 63, 83, ­200–204, 206 f., 210, 213 f., 222, 233, 235–239 Jupiter 184 Kafka, Franz  112 f. Kairo 237 Kaiser, Michael  78 Kalifornien 10 Kambodscha 237 Kampmann, Christoph  77, 79, 81 f. Kant, Immanuel  141 f. Karađorđević 202 Karamzin, Nikolaj Michajlovič  100 Karlowitz (Sremski Karlovci)  174, 178 Karlstadt (Karlovac)  181 Kärnten  58 f. Karolinger  14, 44 f. – Karl der Große  39, 42 f., 45, 58, 92

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Orts- und Namensregister

– Ludwig I. der Fromme  44 – Ludwig II. der Deutsche  44 – Ludwig III. der Jüngere  44 Karolingerreich 44, → Frankenreich Karthago 288 Kaukasus 102 Kennan, George F.  190 Kiesinger, Kurt Georg  238 King, Thomas  115 Köln 47 Königreich der Serben, Kroaten und ­Slowenen (SHS-Königreich)  214 Konradiner 44 – Konrad I.  44 Konstantinopel 26 Köpcke, Klaus-Michael  245 Kopernikus, Nikolaus  25 Korošec, Anton  201 f., 207, 210 f. Koselleck, Reinhart  91, 93 Krain  58 f., 175 f., 179, 199, 202, 210, 212 Krems, Eva-Bettina  77 Kroaten  200 f. Kroatien  59, 212 Kuba 228 Kühler-Wielach, Florian  195 Küng, Hans  21 Lachmann, Renate  103 Lahl, Kristina  293 Lahn 44 Laibach 179, → Ljubljana Lakoff, George  244 f. Lakota Sioux  114 Lamberg, Johann Philipp von  186 Lammasch, Heinrich  209 Landseer, Edward  170 Langobarden 43 Lateinamerika 234 Le Goff, Jacques  93 Le Pen, Marine  277 Lehmann, Harry  291 Leipzig 249 Lemmen, Sarah  195 Lettland 189 LeWitt, Sol  124 Liebert, Wolf-Andreas  246 Lissabon 283 Litauen 189

Liu, Xiaobo  287 Liudolfinger → Ottonen Ljubljana  13, 54, 67, 119, 175, 199 f., 202, 208 f., 211, 212 London 170 Lorenzetti, Ambrogio  158 Lübcke, Walter  231 Ludwig XIV.  177, 180 Luther, Martin  30, 88 f., 160 Lutz, Heinrich  87 Madyaren 203 → Ungarn (Volk) Mähren 193 Mali 222 Mantua  177, 184 Mao, Tse-tung  287 Maria (Mutter Jesu)  153 Mars  157, 163 f., 170 Marx, Karl  92 Mauriac, Francois  221 Max, Gabriel von  296 Mazarin, Kardinal  161 Mecklenburg-Vorpommern 217 Medici 177 – Ferdinand II.  186 Meerssen 44 Melville, Herman  112 Mendel, Gregor  30 Merian, Caspar  167 Merian, Matthäus  167 Merkel, Angela  219 f. Merkur 184 Meuvret, Jean  54 Mexiko 35 Meyer, Achim  252 Mežiška dolina  212 Micha (Prophet)  162 Milčinski, Fran  200 f., 206 f., 209, 211–213 Minerva  163 f. Mitteleuropa 74 Mittelrheingebiet 45 Mittlerer Osten  84 Mlynárik, Ján  194 Mocambique 228 Moore, Henry  148 Morgan, Lewis Henry  109 Moskau 189 Moulton, Aaron  119

Orts- und Namensregister Mühling, Christian  77 Muhovič, Jožef  292 Mülder-Bach, Inka  96 Müller-Mell, Sabine  62 Münkler, Herfried  72, 79 f. Münster  68, 71, 74, 76 f., 80, 85, 87, 165 f., 168 Murdoch, Iris  120 Nadiža  53, 63 Naher Osten  84 Napoleon  58, 101 Naser, Gamal Abdel  237 Nassau, Justinus von  159 Nauman, Bruce  171 Negt, Oskar  264 Nero 150 Niederlande  36, 71, 166 Niedersachsen 49 Nikezić, Marko  237 Nordamerika 151 Nordrhein-Westfalen 49 Novo mesto  212 Nürnberg 167 Ohnesorg, Benno  189, 264 Olivares, Gaspar de Guzmán von  74 Olymp 185 Orpen, William  169 Orvieto 150 Orwell, George  291 Osmanen  78, 175, 178 f. Osmanisches Reich  174 f., 178 Osnabrück  68, 71, 76 f., 80, 82, 85, 165 f. Ost-Berlin  217, 294 Österreich  58 f., 192, 204–206, 208, 213 Österreicher  193, 204 Österreich-Ungarn  190, 193, 201–203, ­206–209, 213 Ostfranken 44 Ostfrankenreich 44–46 Ostmitteleuropa  39, 187, 195 f. Osttirol 59 Ottonen/Liudolfinger  14, 44 f. – Brun 44 – Heinrich I.  44 – Heinrich II.  44 – Otto 44

– Otto I.  44 f. – Otto II.  44 – Otto III.  44 Palm, Daniel  249 f. Pandora 10 Paris  17, 53 f., 150, 152, 238 Parsons, Talcot  92 Paul III. (Papst)  165 Paulus (Apostel)  150 Pausanias 162 Perrault, Claude  179 Persche, Rudolf  207 Petrarca, Francesco  163 Petrus (Apostel)  150 Pfalz  45, 167 Philipp von Köln (Erzbischof)  47 Picard, Bernhard  157 Picasso, Pablo  148, 170 Piccolomini, Enea Silvio  51 f. Pico della Mirandola, Giovanni  297 Pielenz, Michael  246 Pithart, Petr  194 Polen  189, 196, 275, 277, 280 Polen (Volk)  190, 203 Prag  156, 192 Pragenau, Ottokar Landwehr von  210 Precht, Richard David  21 Princip, Gavrilo  88 Proskurin, Oleg  102 Prudentius 152 Puškin, Aleksandr Sergeevič  95, 97, ­100–103, 105 Pygmalion 10 Quaglio, Giulio  179 Quellinus, Erasmus  163 Rann (Brežice)  179–182, 185 Rau, Susanne  53 Ravesteyn, Dirck de Quade van  156 Ravnihar, Vladimir  203 Reims  152, 154 Remp, Franz Karl  176, 179–183 Repgen, Konrad  74 Rhea Silvia  157 Rhein  42, 45, 49 Riad, Mahmud  237

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Orts- und Namensregister

Ribemont 44 Richelieu (Kardinal)  74 Ripa, Cesare  162 f. Rohrschneider, Michael  85, 88 f., 291 Rom (Stadt)  179, 186 Romano, Giulio  184 Römische Republik  288 Römisches Reich (Rom)  39, 151 Romulus und Remus  157 Rosa, Hartmut  292 Rostow, Walter  92 Roth, Christopher  296 Rotterdam 166 Rubens, Peter Paul  163 Ruch, Philipp  139, 141 Rudiš, Jaroslav  189 Rueh, Franc  205, 207, 209 Rumänen 203 Rumänien 233 Russland  37, 97, 100 f., 105, 190, 212, 277, 290 Sabri, Ali  237 Sacchi, Andrea  177 Sachsen  14, 39, 42–49, 217, 219, 228 Sachsen (Volk)  42–44, 46 Sachsen-Anhalt  49, 217 Safawiden 78 Salier  14, 45 f. – Heinrich III.  45 – Heinrich IV.  45 f. – Heinrich V.  46 – Konrad II.  45 Salomon, Alice  131 Salzburg 58 Sandrart, Joachim von  167 Sarajevo 88 Sarskis, Hashim  295 Saur, Franz Anton Graf  177 Save 59 Savoyen, Eugen von  174 Schahadat, Schamma  293, 295 Schapiro, Meyer  120 Schäuble, Wolfgang  231, 284 Schieb, Roswitha  187 Schilling, Heinz  93 Schlegel, Friedrich  111 Schlesien 193

Schmidt, Georg  72–76, 80–82 Schmitt, Oliver Jens  190 Schorn-Schütte, Luise  87 Schulze, Winfried  85 Schumacher, Eckhard  96 Schütz, Alfred  188 Schweden  70, 71 Schweiz 210 Scott, Walter  104 Searle, John R, 257 Seeliger, Rolf  256 Serben  200, 201 Serbien  211, 213 SFRJ (Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien) 235–239 Siena 156–158 Silverman, Hugh  96 Šiškov, Aleksandr Semënovič  101 Slavia Veneta  59 Slawonien 212 Sloterdijk, Peter  117, 121 Slowakei 189 Slowenen  21 f., 51, 53 f., 57, 59, 64 f., ­199–202, 205 Slowenien  17, 21, 32, 58 f., 186, 189, 200, 212 Smyčka, Václav  193 Solomon, Deborah  136 South Pacific  289 Sowjetunion  35 f., 194, 220 f., 234, 236, 239 Spanien  36, 70, 74–76 Speyer  45, 150 Spieß, Constanze  245 Spinola, Ambrosio  159 Spitzweg, Carl  170 Spratly Islands  289 St. Simon und Judas (Stift)  45 Staat der Slowenen, Kroaten und Serben (SHS-Staat)  199 f., 208, 210, 212 Staggat, Marie  294 Staimer, Eleonore  236, 237 Stanzel, Franz K.  113 Stattenberg (Štatenberg)  176, 178–180 Staufer  14, 46 – Friedrich der Einäugige  46 – Friedrich I. Barbarossa  46–49, 159, 161 – Konrad III.  46 Stavridis, James G.  290, 294, 296

Orts- und Namensregister Steiermark  174–177, 181, 186, 210 Stein, Timo  294 Steiner, George  124 Steiner, Rudolf  118 Strawinsky, Igor  118 Strohmeyer, Arno  78 Strozzi, Francesca  182 Stubenberg, Georg von  177 Südamerika 35–37 Südslawen  203, 206 Sumerer 20 Sunstein, Cass R.  130 Süpplingenburg, Lothar III. von  46 Šusteršič, Ivan  202, 210 f. Sveta Barbara v Halozah (St. Barbara in der Kollos) 204 Tattenbach, Hans Erasmus von  176 Thatcher, Margaret  221, 276 Thüringen  217, 219 Thüringer  43, 139, 141 Tintoretto, Jacopo  163 f. Tito, Josip Broz  25, 33, 236 f., 239 Tolstoj, Lev Nikolaevič  97, 105 Trajan 151 Travner, Vladimir  206 Trazegnies Granda, Fernando de  53 Triest (Trst)  54, 58 f., 208 Trump, Donald  282 Tschechen  188–190, 193 f. Tschechien  16, 189, 196 Tschechoslowakei  189, 191, 193 f., 214 Tschechoslowaken → Čechoslowaken Tuma, Henrik  203, 208 Turgenev, Ivan Sergeevič  105 Türkei 277 Tynjanov, Jurij Nikolaevič  99, 102 Ulbricht, Walter  238 Ungarn  189, 193, 196, 201, 207, 275, 277, 280 Ungarn (Volk)  204 Untersteiermark  175, 213 Urban VIII. (Papst)  186 USA, 12, 34–36, 136, 199, 202, 211, ­220–222, 233, 282, 290 Ušeničnik, Aleš  203 Utrecht 152

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Vallauris 170 Vasari, Giorgio  162 Velázquez, Diego  159 Veldes (Bled)  58 Venedig  58 f., 159, 160 f., 177 Venezianer 65 Verdun 44 Vergil 111 Vernet, Daniel  220 Versailles 169 Vespasian 149 Vidotto, Vittorio  88 Vien, Joseph-Marie  170 Vierhaus, Richard  216 Vietnam 228 Vilfan, Sergij  51, 53–57, 64 f. Villach (Beljak)  58 Vjazemskij, Pëtr Andreevič  105 Vocelka, Karl  85 Vostell, Wolf  171 Wales 222 Warschau 236 Washington 235 Weber, Max  92 Weiand, Kerstin  78 Weimarer Republik  18, 189, 216, 257, 260, 262, 271 Weiner, Richard  192 Weinrich, Harald  244 Weiskopf, Franz Carl  191 f. Weiwei, Ai, 132–135, 142–144 Welfen – Heinrich der Löwe  46–49, 153, 155 – Heinrich der Stolze  46 Welfesholz 46 Westfalen  39, 43, 47 Wetterau 44 Wien  192 f., 208 f. Wiesner Hanks, Mary  88 Wilson, Peter H.  72 Wilson, Woodrow  202, 211 Windisch Feistritz (Slovenska Bistrica)  185 Windisch Landsberg (Podčetrtek)  176, 182 Winkelbauer, Thomas  178 Winzer, Otto  237 Wittenberg 160

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Orts- und Namensregister

Wolff, Fabian  142 Wölfflin, Heinrich  99 Wurmbrand-Stuppach, Maria Regina von ​ 175, 180–182, 184 f. Würzburg 76 Xi, Jinping  287

Zagreb  200 f. Zeman, Miloš  188 Zetkin, Clara  261 Zhao, Tingyang  287, 294, 296 Ziem, Alexander  247 Zuccari, Federico  161 Žukovskij, Vasilij Andreevič  100–102, 105

Autorenverzeichnis Dr. Wolfgang Augustyn, Zentralinstitut für Kunstgeschichte München.

Robin Dolar, Historiker und freier Autor, Ljubljana. Dr. Caspar Ehlers, Professor für mittelalterliche Rechtsgeschichte. Max-PlanckInstitut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, Frankfurt am Main. Dr. Günther Heydemann, emerit. Professor für Zeitgeschichte. Universität Leipzig. Dr. Sašo Jerše, ao. Professor für Slowenische und Allgemeine Geschichte der Frühen Neuzeit. Institut für Geschichte, Philosophische Fakultät, Universität Ljubljana. Dr. Heidrun Kämper, Professorin für Lexik. Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache, Mannheim. Dr. Kristina Lahl, Referentin für die Exzellenzstrategie. Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Dr. Harry Lehmann, Philosoph und freier Autor, Berlin. https://www.harry​ lehmann.net. Dr. Jožef Muhovič, Professor für Bildtheorie. Akademie der Bildenden Künste und des Designs (ALUO), Universität Ljubljana. Dr. Barbara Murovec, ao. Professorin für Kunstgeschichte. Kunsthistorisches Institut in Florenz, Max-Planck-Institut. Dr. Dušan Nečak, emerit. Professor für Slowenische und Allgemeine Zeitgeschichte. Institut für Geschichte, Philosophische Fakultät, Universität Ljubljana. Dr. Borut Ošlaj, Professor für Ethik und Philosophische Anthropologie. Abteilung für Philosophie, Philosophische Fakultät, Universität Ljubljana. Dr. Janja Polajnar Lenarčič, ao. Professorin für Morphologie und Diskursanalyse. Abteilung für Germanistik, Philosophische Fakultät, Universität Ljubljana.

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Autorenverzeichnis

Dr. Michael Rohrschneider, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte. Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Dr. Schamma Schahadat, Professorin für Slawische Literatur- und Kulturwissenschaft. Universität Tübingen. Dr. Rok Stergar, ao. Professor für Südosteuropäische Geschichte des 19. Jahrhunderts, Philosophische Fakultät, Universität Ljubljana. Dr. Katja Škrubej, ao. Professorin für Rechtsgeschichte. Juristische Fakultät, Universität Ljubljana. Dr. Marko Štuhec, Dozent für Slowenische und Allgemeine Geschichte der Frühen Neuzeit. Institut für Geschichte, Philosophische Fakultät, Universität Ljubljana. Dr. Johannes Varwick, Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Dr. Špela Virant, Professorin für Literaturwissenschaft und deutschsprachige Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Abteilung für Germanistik, Philosophische Fakultät, Universität Ljubljana. Dr. Manfred Weinberg, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Institut für germanische Studien, Karls-Universität Prag.