Die Ordnung der Welt: Darstellungsformen von Dynamik, Statik und Emergenz in Lukrez' 'De Rerum Natura'. Dissertationsschrift 9783825368425, 3825368424

Lukrez' 'De Rerum Natura' beschreibt und erklärt den Kosmos und alles in ihm Befindliche als geordnete Zu

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German Pages 257 [259] Year 2019

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Umschlag
Titel
Impressum
Danksagung
Inhalt
1 Einleitung
1.1 Problemskizze: Wie werden Dinge?
1.2 Forschungsüberblick
1.2.1 Philosophische Ansätze
1.2.2 Literaturwissenschaftliche Ansätze
1.3 Gegenstand und Methode der Arbeit
1.3.1 Ordnung – Zu Terminologie und Begriff
1.3.2 Ordnung im philosophischen Diskurs der Antike
1.3.3 Theoretische Annäherungen an Ordnung
1.4 Gliederung der Arbeit
2 Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien
2.1 Überblick: Buchstaben, Atome und Ordnung
2.2 „Uncertain terrain“. Epikureismus und Sprachtheorie
2.3 Die Anschaulichkeit der Ordnung: Fragen und Thesen
2.4 Die Analogie als epistemologisches Organon
2.5 Das ,Mehr‘ der Ordnung
2.5.1 Unzureichende Ordnung (I): Pluralistische Welterklärungen
2.5.2 „Nostris in versibus ipsis“. Der Bezugspunkt der Analogie
2.5.2.1 Vorsokratische Ordnungsformen: σχῆμα – τάξις – θέσις
2.5.3 Welt vs. Text. Unterscheiden und Ordnen
2.6 ,Flamme‘ und ,Stamm‘. Die Bezeichnung der Ordnung
2.6.1 Unzureichende Ordnung (II): Anaxagoras’ Welterklärung
2.6.2 „Paulo inter se mutata“. Vertauschung als Ordnungsprinzip
2.7 Die Differenz der Ordnung
2.8 Der Ausdruck der Ordnung
2.8.1 Dinge zum Ausdruck bringen: Ordnung und Referenz
2.8.2 Das lukrezische Kompositionalitätsprinzip
3 Ordnung und Anfang
3.1 Ordnung und die Frage nach dem ,Davor‘
3.1.1 „Rerum natura und De Rerum Natura“. Die Erzählbarkeit des Kosmos
3.1.2 Grundaxiome und Setzungen
3.1.3 „Principium und exordium“. Der Anfang des Anfangs
3.2 Materie / Raum. Über das Anfangen und Unterscheiden
3.2.1 Im Inneren der Dinge: materies und secreta facultas
3.2.2 Das „inane“ und die Differenz
3.3 Materie und Raum (I). Über die Verstetigung von Grenzen
3.3.1 Die Definition der Grenze
3.3.2 Nach der Grenze: „Corpus inani distinctumst“
3.4 Materie und Raum (II). Leere, Grenze und Didaxe
3.4.1 „Nec refert quibus adsistas regionibus“. Im (leeren) Raum
3.4.2 „Dispellere und suppeditare“. Die Unendlichkeit der Materie
3.4.2.1 „Exiguum horai sistere tempus“. Ordnung auf Zeit
3.4.2.2 „Sagaci mente locare“. Ein Sinn für Ordnung?
3.5 Schluss: Den Anfang machen
4 Ordnung und Abweichung
4.1 Anfangen durch Abweichen
4.2 Die Bewegung der Ordnung
5 Die Ordnung der Dinge (I)
5.1 Im Inneren der Atome
5.1.1 Exkurs: „De rerum mixtura“. Selbstreflexivität und Emergenz
5.2 Die Kritik der Ordnung
5.2.1 Die implizite Ordnung der Welt
5.2.2 Die „correctio“ der Ordnung
5.2.3 Die Effekte der Ordnung
5.3 Die Mechanismen der Ordnung
5.4 Schluss: ,Richtige‘ und ,falsche‘ Ordnung
6 Die Ordnung der Dinge (II)
6.1 In Ordnung bringen. Atomformen und atomare Verbindungen
6.2 Die Arithmetik der Ordnung
6.3 Die Berechenbarkeit der Ordnung
6.3.1 „Glomeramen in unum“. Ordnung, Mischung, Ballung
6.3.2 „Anything goes?“ Die „ratio“ der Ordnung
6.3.2.1 „Creare“ und „conservare“. Perspektiven auf Ordnung
6.3.2.2 „Eadem ratio res terminat“. Gesetz und Ordnung
6.4 Über das Auflösen
7 Schluss
7.1 Die Ordnung der Welt – Rückblick
7.2 Die Ordnung der Welt – Ausblick
Bibliographie
Indizes
Rückumschlag
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Die Ordnung der Welt: Darstellungsformen von Dynamik, Statik und Emergenz in Lukrez' 'De Rerum Natura'. Dissertationsschrift
 9783825368425, 3825368424

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eva marie noller

Die Ordnung der Welt noller Die Ordnung der Welt

isbn 978-3-8253-6842-5

noller

Die Ordnung der Welt

ukrez’ De Rerum Natura beschreibt und erklärt den Kosmos und alles in ihm Befindliche als geordnete Zusammensetzung von Atomen. Diese ebenso einfache wie grundlegende Feststellung dient als Ausgangspunkt der vorliegenden Studie. In einer Lektüre der in den ersten beiden Büchern von De Rerum Natura entwickelten Atomlehre wird herausgearbeitet, wie sich ein spezifisch lukrezischer Ordnungsbegriff im Spannungsfeld von Statik und Dynamik konturiert. Im Zentrum der Studie steht die sprachliche Verfassung dieser Ordnungsformen. Untersucht wird, wie es mittels der Figuren der Analogie, der Metapher und des Vergleichs gelingt, die unsichtbare Ebene der Welt anschaulich zu machen und so den atomaren Kosmos als einen geordneten zu vermitteln. Dazu werden u. a. die Buchstabenanalogien und die Kinetik auf ihre Ordnungs- und Darstellungsprinzipien hin untersucht. Diese werden in einem Ausblick auf das gesamte Werk als elementare Bestandteile der ästhetischen, philosophischen und didaktischen Verfassung des lukrezischen Lehrgedichts erkennbar.

Darstellungsformen von Dynamik, Statik und Emergenz in Lukrez’ De Rerum Natura

b i b li oth ek d e r klassisch en a ltertu m sw issen sch a f t en Herausgegeben von

j ürg en paul s chwindt Neue Folge · 2. Reihe · Band 158

eva marie noller

Die Ordnung der Welt Darstellungsformen von Dynamik, Statik und Emergenz in Lukrez’ De Rerum Natura

Universitätsverlag

w i n ter Heidelberg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

u m s c hl agb il d Paul Klee: Bildnerische Gestaltungslehre: I.1 Gestaltungslehre als Begriff, Bleistift auf Papier, 33 x 21 cm, Inv.-Nr. BG I.1/21, Obj. Id. 24743 © Zentrum Paul Klee, Bern

i s b n 978-3-8253-6842-5 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2o19 Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg Imprimé en Allemagne · Printed in Germany Umschlaggestaltung: Klaus Brecht GmbH, Heidelberg Druck: Memminger MedienCentrum, 87700 Memmingen Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier Den Verlag erreichen Sie im Internet unter: www.winter-verlag.de

Danksagung Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die im Mai 2016 unter dem Titel „Die Ordnung der Welt. Dynamik, Statik und Emergenz in Lukrez’ De Rerum Natura (Buch I‒II)“ von der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg angenommen wurde. Von Herzen möchte ich allen danken, die durch ihre Unterstützung zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben. An erster Stelle gilt mein Dank meinem Betreuer und Lehrer Jürgen Paul Schwindt. Er hat mich stets ermutigt und unterstützt und mir die nötigen Freiräume für meine Arbeit gewährt. Seiner überaus großzügigen Förderung, von der ich seit einem frühen Zeitpunkt meines Studiums profitieren durfte, und seinem weit über den Kontext meiner Dissertation hinausgehenden Einsatz verdanke ich sehr viel. Von seiner Art, Texte zu lesen und sie neu zu perspektivieren, habe ich unschätzbar viel gelernt. Melanie Möller (Berlin) danke ich herzlich für die Übernahme des Zweitgutachtens, für ihre genaue Lektüre meiner Arbeit, ihre vielen hilfreichen und scharfsinnigen Bemerkungen und für ihre Flexibilität. Gedankt sei auch dem Heidelberger SFB 933 Materiale Textkulturen, in dem ich diese Arbeit begonnen und durch dessen Fragestellung ich wichtige Impulse erhalten habe. Für die großzügige finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung danke ich zudem der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften. Die vorliegende Arbeit hätte in dieser Form nicht entstehen können ohne die motivierende und großzügige Unterstützung vieler Freunde und Kollegen. Meine Ideen und Texte durfte ich diskutieren mit Christian Badura, Jonathan Griffiths, Christian Haß, József Krupp, Giovanna Laterza, Jakob Lenz, Martin Stöckinger, Isabella Tardin Cardoso und Kathrin Winter. Ihnen allen danke ich sehr herzlich. Auch dem Department of Classics der New York University, insbesondere David Sider und David Konstan, sei für die freundliche Aufnahme und den anregenden wissenschaftlichen Austausch während meines Forschungsaufenthalts im Sommer 2017gedankt. Nicht zuletzt möchte ich von Herzen meiner Familie danken. Meine Eltern, mein Bruder Jörg und meine Schwester Anne Kathrin waren mir mit ihrer Geduld und ihrer Hilfsbereitschaft immer ein großer Rückhalt. Heidelberg, im März 2019

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Inhalt 1 Einleitung .......................................................................................................... 9 1.1 Problemskizze: Wie werden Dinge? ......................................................... 9 1.2 Forschungsüberblick ............................................................................... 12 1.2.1 Philosophische Ansätze ................................................................... 14 1.2.2 Literaturwissenschaftliche Ansätze ................................................. 18 1.3 Gegenstand und Methode der Arbeit ...................................................... 28 1.3.1 Ordnung – Zu Terminologie und Begriff ........................................ 28 1.3.2 Ordnung im philosophischen Diskurs der Antike ........................... 31 1.3.3 Theoretische Annäherungen an Ordnung ........................................ 44 1.4 Gliederung der Arbeit ............................................................................. 52 2 Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien ......................................... 55 2.1 Überblick: Buchstaben, Atome und Ordnung ......................................... 55 2.2 „Uncertain terrain“. Epikureismus und Sprachtheorie ............................ 60 2.3 Die Anschaulichkeit der Ordnung: Fragen und Thesen .......................... 61 2.4 Die Analogie als epistemologisches Organon ......................................... 63 2.5 Das ,Mehr‘ der Ordnung ......................................................................... 69 2.5.1 Unzureichende Ordnung (I): Pluralistische Welterklärungen ......... 69 2.5.2 Nostris in versibus ipsis. Der Bezugspunkt der Analogie ............... 75 2.5.2.1 Vorsokratische Ordnungsformen: σχῆμα – τάξις – θέσις ........ 77 2.5.3 Welt vs. Text. Unterscheiden und Ordnen ....................................... 80 2.6 ,Flamme‘ und ,Stamm‘. Die Bezeichnung der Ordnung ......................... 88 2.6.1 Unzureichende Ordnung (II): Anaxagoras’ Welterklärung ............. 88 2.6.2 Paulo inter se mutata. Vertauschung als Ordnungsprinzip ............. 90 2.7 Die Differenz der Ordnung ..................................................................... 97 2.8 Der Ausdruck der Ordnung ................................................................... 100 2.8.1 Dinge zum Ausdruck bringen: Ordnung und Referenz ................. 100 2.8.2 Das lukrezische Kompositionalitätsprinzip ................................... 104 3 Ordnung und Anfang .................................................................................... 107 3.1 Ordnung und die Frage nach dem ,Davor‘ ............................................ 107 3.1.1 Rerum natura und De Rerum Natura. Die Erzählbarkeit des Kosmos ...................................................... 107 3.1.2 Grundaxiome und Setzungen ........................................................ 110 3.1.3 Principium und exordium. Der Anfang des Anfangs .................... 111 3.2 Materie / Raum. Über das Anfangen und Unterscheiden ...................... 114

3.2.1 Im Inneren der Dinge: materies und secreta facultas.................... 114 3.2.2 Das inane und die Differenz .......................................................... 116 3.3 Materie und Raum (I). Über die Verstetigung von Grenzen ................. 121 3.3.1 Die Definition der Grenze ............................................................. 121 3.3.2 Nach der Grenze: Corpus inani distinctumst................................. 123 3.4 Materie und Raum (II). Leere, Grenze und Didaxe............................... 124 3.4.1 Nec refert quibus adsistas regionibus. Im (leeren) Raum ............. 124 3.4.2 Dispellere und suppeditare. Die Unendlichkeit der Materie ......... 128 3.4.2.1 Exiguum horai sistere tempus. Ordnung auf Zeit .................. 128 3.4.2.2 Sagaci mente locare. Ein Sinn für Ordnung? ........................ 130 3.5 Schluss: Den Anfang machen ............................................................... 137 4 Ordnung und Abweichung ............................................................................ 139 4.1 Anfangen durch Abweichen .................................................................. 139 4.2 Die Bewegung der Ordnung.................................................................. 147 5 Die Ordnung der Dinge (I)............................................................................ 151 5.1 Im Inneren der Atome ........................................................................... 151 5.1.1 Exkurs: De rerum mixtura. Selbstreflexivität und Emergenz ....... 161 5.2 Die Kritik der Ordnung ......................................................................... 164 5.2.1 Die implizite Ordnung der Welt .................................................... 164 5.2.2 Die correctio der Ordnung ............................................................ 167 5.2.3 Die Effekte der Ordnung ............................................................... 172 5.3 Die Mechanismen der Ordnung ............................................................ 174 5.4 Schluss: ,Richtige‘ und ,falsche‘ Ordnung ............................................ 180 6 Die Ordnung der Dinge (II) .......................................................................... 183 6.1 In Ordnung bringen. Atomformen und atomare Verbindungen ............ 183 6.2 Die Arithmetik der Ordnung ................................................................. 188 6.3 Die Berechenbarkeit der Ordnung......................................................... 197 6.3.1 Glomeramen in unum. Ordnung, Mischung, Ballung ................... 204 6.3.2 Anything goes? Die ratio der Ordnung ......................................... 207 6.3.2.1 Creare und conservare. Perspektiven auf Ordnung .............. 207 6.3.2.2 Eadem ratio res terminat. Gesetz und Ordnung .................... 211 6.4 Über das Auflösen ................................................................................. 218 7 Schluss .......................................................................................................... 227 7.1 Die Ordnung der Welt – Rückblick....................................................... 227 7.2 Die Ordnung der Welt – Ausblick......................................................... 232 Bibliographie .................................................................................................... 241 Indizes ............................................................................................................... 251

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Einleitung

1.1

Problemskizze: Wie werden Dinge?

De Rerum Natura ist ein Gedicht über Dinge. Genauer gesagt, ein Gedicht über die Entstehung und Beschaffenheit von Dingen.1 Wenn Lukrez in seinem Proömium zum ersten Buch angibt, die rerum natura in Verse fassen zu wollen,2 dann steht natura hier nicht nur für Natur im Sinne eines Wesensbegriffs der Dinge, sondern hat noch weitergehende Implikationen: Als futurisches, von nasci abgeleitetes Partizip hält natura auch den Aspekt der Dynamik und Prozesshaftigkeit präsent, der für die Dinge, wie sie sich in De Rerum Natura darstellen, konstitutiv ist.3 Da von der Welt bis zu ihren kleinsten Teilen buchstäblich alles aus Atomen besteht, unterliegen alle diese Dinge denselben Mechanismen. Sie sind nicht statisch und auf dauerndes Bestehen hin angelegt, sondern temporär und einem steten Wandel unterworfen, mag dieser auch für das Auge (zunächst) unsichtbar sein.4 Die rerum natura spielt für De Rerum Natura also 1

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Eine gängige Übersetzung für rerum natura lautet daher auch schlicht „Schöpfung“. Zur Frage nach dem ursprünglichen Titel von De Rerum Natura vgl. u.a. Bailey 1947, S. 583 (auch mit kurzer Erläuterung zur Nennung des Titels in den HSS); Erler 1994, S. 406; Clay 1998, S. 121f. Einen Überblick über die Wiedergabe des Titels in modernen Übersetzungen kann die Auflistung bei Erler 1994, S. 393‒395 geben. Te [sc.Venerem] sociam studeo scribendis versibus esse / quos ego de rerum natura pangere conor (1,24f.) („Du [sc.Venus] sollst mir Helferin sein beim Schreiben der Verse, die ich über die Natur der Dinge zu fügen suche“). Zur Verknüpfung von natura und nasci in der Antike vgl. Maltby 1991, s.v. natura. Ähnlich auch die etymologischen Herleitungen bei Ernout/Meillet 41959, s.v. nascor und Walde/Hofmann 31954, s.v. gigno. Auf die Bedeutung in De Rerum Natura verweisen Clay 1969, v.a. S. 33, Anm. 10 sowie in modifizierter Form Clay 1983, S. 82–95; Gale 2004b, S. 53. Der Begriff ,Ding‘ ist, insbesondere aus philosophischer Perspektive, nicht unbelastet. Auseinandersetzungen mit der Ding- oder Wesenhaftigkeit des Dings finden sich z.B. in der platonischen Ideenlehre und der aristotelischen Formmetaphysik, in Kants Ding an sich und Heideggers Kritik am bisherigen Denken über das Ding (vgl. Heidegger [1962] 1984). Zu Beginn von Die Frage nach dem Ding unterscheidet Heidegger vorläufig drei Bedeutungen (S. 6): 1) Dinge als Vorhandenes, z.B. ein Stein, 2) Dinge als ,thing‘, also als eine Sache oder Angelegenheit, 3) „All dieses und jegliches andere dazu, was irgend ein Etwas und nicht Nichts ist.“ In der im Zuge des material turn aufgekommenen Ding-Theorie („thing theory“), die z.T. auch von Heideggers Überlegungen beeinflusst ist (vgl. dazu Brown 2001), steht weniger der ontologische oder metaphysische Status des Dings im Zentrum als vielmehr die soziale und geschichtli-

10

Einleitung

eine zentrale Rolle, weil ohne die Erklärung des Aufbaus und der Beschaffenheit der Welt, d.h. ohne die Verhandlung der physikalischen Grundlagen, auch die ethischen Implikationen und Konsequenzen dieser Sicht auf die Welt ihrer Grundlagen und der Anschaulichkeit entbehrten.5 In De Rerum Natura geht Lukrez den Fragen auf den Grund, die sich aus den beiden eben skizzierten Implikationen des natura-Begriffs ergeben:6 Wie entstehen die Dinge und wie haben sie Bestand? Auf den Grund geht Lukrez den Dingen aber nicht nur metaphorisch gesprochen, sondern auch in einem ganz konkreten Sinn. Denn die Entstehungsweisen der Dinge und ihre Eigenschaften lassen sich nur erklären, wenn man einen Blick in sie hineinwirft. Die atomistische Prämisse der Welterklärung, von der De Rerum Natura ausgeht, stellt die Grundbedingung und Möglichkeit für diesen Blick in die Dinge dar: Alles, auch scheinbar Immaterielles wie die Seele oder geistige Vorgänge, ist aus Atomen aufgebaut und lässt sich durch Vorgänge auf der atomaren Ebene erklären. Diese Vorgänge auf der Ebene der Atome, die, vereinfacht gesprochen, Prozesse der Ordnung sind, stehen im Zentrum der vorliegenden Arbeit. Mit der ebenso einfachen wie komplexen Frage, wie sich eine solche Ordnung der Welt und der in ihr befindlichen Dinge herausbilden kann, ist aber noch eine weitere Frage verknüpft: Wie nämlich lassen sich die Ordnungsprozesse der Atome und nicht zuletzt die Atome selbst beschreiben und anschaulich machen, sind sie doch gänzlich unsichtbar und nur durch ihre Effekte sichtbar?7

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che Einbindung des Dings als ein Akteur im Netzwerk von Mensch und Natur (vgl. dazu z.B. Latour [1991] 1996). Häufig wird in diesem Zusammenhang statt von Dingen auch von Artefakten gesprochen, also von Dingen, die durch menschliche Einwirkung erzeugt worden sind (vgl. dazu die hilfreiche Diskussion bei Stöckinger 2016, S. 121, Anm. 1). Wenn in dieser Arbeit von Dingen die Rede ist, dann geschieht dies einerseits mit Blick auf die Grundbedeutung der Junktur rerum natura, andererseits mit Blick auf die materialistische Grundprämisse, die der rerum natura zugrunde liegt. Mit Heidegger gesprochen, umfasst dieser Ding-Begriff im lukrezischen Kosmos alles, was „irgend ein Etwas und nicht Nichts“ ist. Als Intention von De Rerum Natura wird gemeinhin die Beseitigung einer doppelten Furcht bestimmt: die Furcht des Menschen vor dem Tod und vor den Göttern. Gleichwohl muss betont werden, dass in De Rerum Natura der Fokus auf der epikureischen Physik liegt. Für Epikur lassen sich zwei gegensätzliche Forschungspositionen ausmachen, die entweder von der Unabhängigkeit der epikureischen Ethik von der Physik ausgehen (z.B. Sedley 1998 und im Anschluss daran Warren 2004) oder die epikureische Physik als Basis für die Ethik bestimmen (Asmis 2008). Die Bedeutung von De Rerum Natura als lateinische Übertragung des griechischen Περὶ φύσεως (sei es nun ein empedokleisches oder epikureisches) erörtern aus konzeptueller und quellenkritischer Perspektive u.a. Clay 1969, v.a. S. 32f., Erler 1994, S. 414f. sowie Sedley 1998, v.a. S. 21f., und S. 134–165. Mit diesem epistemologischen Grundproblem hat sich insbesondere Schrijvers 2007 befasst und dabei die zentrale Bedeutung der Analogie für De Rerum Natura herausgearbeitet. Lehoux 2013, S. 132 bringt die erkenntnistheoretische Herausforderung auf

Problemskizze: Wie werden Dinge?

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Diese beiden Fragen rufen implizit die beiden zentralen und nur schwer voneinander zu trennenden Einflussparameter auf, zu denen sich jede Arbeit über Lukrez’ De Rerum Natura – mit Unterschieden in Gewichtung – in einer spezifischen Weise verhält: Dichtung und Philosophie. Die Bestimmung des Verhältnisses von Form (gemeinhin: Dichtung in Hexametern) und Inhalt (gemeinhin: die Darstellung der epikureischen Philosophie) und die Untersuchung der Verbindung von Dichtung und Lehre prägen die Lukrezforschung seit jeher.8 Auch die vorliegende Arbeit befasst sich mit einer Frage, die die philosophischen Grundlagen von De Rerum Natura, im Besonderen aber deren Vermittlungsmodus betrifft: mit der Darstellung und sprachlichen Gestaltung der lukrezischen Ordnung der Welt. Auf diese Weise, so die dieser Arbeit zugrunde liegende Annahme, kann letztlich auch das epistemologische Interesse der Welterklärung von De Rerum Natura klarer konturiert werden. Denn wenn man beschreiben und zumindest bis zu einem gewissen Grad erklären kann, wie die für die Entstehung und Beschaffenheit aller Dinge grundlegenden Vorgänge auf der Ebene der Atome dargestellt und damit auch vor Augen gestellt werden, lassen sich auch zwei für De Rerum Natura in seiner Gesamtheit zentrale Bereiche klarer fassen. Der Fokus auf die Ordnung im lukrezischen Kosmos kann zum einen verdeutlichen, wie für Lukrez die Dinge, die res der rerum natura, funktionieren und ,gemacht‘ sind. Zum anderen lässt die Form der Beschreibung dieser für die rerum natura grundlegenden Ordnungen Rückschlüsse darauf zu, wie sich Welt und Sprache zueinander verhalten.9 Der Blick auf die Ordnung der Welt eröffnet so neue Perspektiven auf den lukrezischen Blick in die Welt. Wie sehen diese Vorgänge auf der atomaren Ebene aus, die im Rahmen dieser Arbeit untersucht werden sollen? Im zweiten Buch von De Rerum Natura gibt eine kurze Versfolge Aufschluss darüber (2,1019–1022): sic ipsis in rebus item iam materiai [intervalla vias conexus pondera plagas] concursus motus ordo positura figurae cum permutantur, mutari res quoque debent. Wenn so in den Dingen selbst alsbald die Zusammenschlüsse, Bewegungen, die Ordnung, Lage und die Gestalten des Urstoffs sich ändern, müssen sich auch die Dinge verändern.

8 9

den Punkt: „[S]ome things have some properties that are alike some aspects of atoms […], but nothing is really like atoms“. Vgl. u.a. Sharrock 2013, S. 2. Dies soll aber nicht zu einer kognitiv grundierten Metaphernforschung führen, wie sie z.B. Lakoff/Johnson 1980 entwickelt haben. Metaphern und andere Tropen spielen natürlich für die vorliegende Arbeit eine wichtige Rolle, sie sind aber nur ein Aspekt von mehreren, der für die Darstellung der atomaren Ordnung von Bedeutung ist.

12

Einleitung

Lukrez beschreibt zwei Ebenen: die der Dinge (res) und die der Atome (materia). Diese beiden Ebenen sind als eng aufeinander verwiesen markiert, zeitigen Veränderungen auf der Ebene der Atome doch auch Veränderungen auf der Ebene der Dinge – es ließe sich geradezu von einem Automatismus sprechen, der sich auch in der sprachlichen Gestaltung der Verse, wie in mutari und permutari, niederschlägt. Noch aufschlussreicher als die schiere Veränderung ist für die Frage nach der Ordnung jedoch, was dabei in den Dingen geschieht. Kurz gesagt: eine Menge. Die Materie, aus der die Dinge bestehen, verfügt über eine Vielzahl von veränderbaren Parametern, die Lukrez hier listenartig aufführt. Einfluss auf die Zusammensetzung der Atome nehmen ganz unterschiedliche Parameter, die einerseits dynamisch, andererseits statisch verfasst sind. Sie sollen im Rahmen dieser Arbeit unter dem Begriff der Ordnung gefasst werden. Das Wort Ordnung hat den Vorteil Statik und Prozesshaftigkeit, verstanden als Herausbildung einer Ordnung, gleichermaßen zum Ausdruck bringen zu können. Die terminologische Entscheidung für diesen recht voraussetzungsreichen Begriff wird im Rahmen dieser Einleitung noch gesondert diskutiert werden.10 Bereits hier sei jedoch festgehalten, dass der Begriff Ordnung gerade aufgrund seiner Vielschichtigkeit flexibel einsetzbar ist, zugleich aber auch eine definitorische Trennschärfe besitzt, um nicht in Beliebigkeit aufzugehen. Eine Definition des Begriffs, zumal eines spezifisch lukrezischen Ordnungsbegriffs, soll dieser Arbeit aber weder vorangestellt noch als ihr Zielpunkt gesetzt werden.11 1.2

Forschungsüberblick

Betrachtet man die Forschungslage zu Lukrez vom 19. bis ins 21. Jahrhundert, so scheint De Rerum Natura im Kern ,irgendetwas‘ mit Ordnung zu tun zu haben: Im 19. Jh. und zu Beginn des 20. Jh. ist es überwiegend die Ordnung des Textes selbst, die problematisiert wird.12 Dies ist freilich nicht die Ordnung, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit untersucht werden soll, wenngleich für die Geschichte der Textkritik, die auch eine Geschichte der Ordnung ist, De Rerum

10 11

12

Vgl. Kap. 1.3.1 dieser Arbeit. Vgl. zu den Schwierigkeiten einer definitorischen Bestimmung des Ordnungsbegriffs Müller-Herold 1992, S. 90f. (Hervorhebung dort): „Ordnung ist ein nicht schulmäßig definierbarer Fundamentalbegriff: Da eine Klärung des Begriffs ,Ordnung‘ selbst ordnungsgemäß erfolgen muß, setzt sie ihn selbst voraus […]. Dementsprechend haftet allen Definitionsversuchen – etwa: Ordnung benennt eine Konfiguration von Teilen, die jedem ihrer Bestandteile seine Stelle anweist – der Verdacht der Zirkelhaftigkeit an. Denn seinem wesentlichen Gehalt nach wird das Definiendum dabei durch Worte wie Konfiguration oder compositio oder dispositio vorweggenommen“. Vgl. Classen 1986, v.a. S. 332.

Forschungsüberblick

13

Natura eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hat.13 Auch mit Blick auf die Forschungsliteratur neuerer Zeit lässt sich feststellen, dass der Begriff Ordnung mit De Rerum Natura in Verbindung gebracht wird. Gleichsam en passant wird dann von der geordneten Welt, der Ordnung des Kosmos und der Dinge als selbstverständlichem Faktum gesprochen und damit ein dem (epikureischen) Kosmos inhärenter Ordnungsbegriff (voraus)gesetzt. Daneben findet der Begriff der Ordnung häufig auch auf der Ebene der Textbeschreibung Erwähnung, wenn es um die Anordnung des Stoffes und dessen didaktische Strukturierung geht. Der folgende Überblick ist kein Forschungsüberblick im eigentlichen Sinn und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.14 Da Ordnung – sei es unter philosophischen, strukturellen, narratologischen oder motivischen Gesichtspunkten – nur in wenigen Studien im Zentrum steht, sollen verschiedene Arbeiten vorgestellt werden, die zeigen, wie Ordnung in De Rerum Natura aufgegriffen und zu einem Thema werden kann.15 Die vielfach nur vereinzelt oder implizit hergestellten Bezüge zum Thema Ordnung können helfen, eine vorläufige Kartierung des Forschungsfelds ,Ordnung in De Rerum Natura‘ zu erstellen. Eine im strengeren Sinne konzeptuelle Bestimmung nehmen Studien vor, die, zumeist ausgehend von den ordnungstheoretischen Implikationen des griechischen kosmos, die Möglichkeiten und Grenzen eines epikureischen Ordnungsdenkens erörtern (Kap. 1.2.1). Daneben gibt es eine Vielzahl von Arbeiten, die Ordnung unter im weiteren Sinne strukturell-thematischen Gesichtspunkten untersuchen. Sie setzen sich mit rhetorisch-didaktischen Ordnungskonzeptionen, aber auch mit konkreten Vorgängen oder Manifestationen von Ordnung auf der inhaltlichen Ebene auseinander (Kap. 1.2.2).

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Lachmanns Lukrezausgabe aus dem Jahr 1850 gilt als Grundlegung der modernen Textkritik. Dazu Timpanaro 2005, S. 102‒115. Vgl. auch die wissenschaftsgeschichtliche und wissenschaftstheoretische Aufarbeitung bei Passannante 2011 und Tarrant 2016, S. 17. Zur Lukrezüberlieferung vgl. zuletzt Deufert 2017. Die Darstellung der einzelnen Beiträge folgt dabei keiner streng chronologischen Ordnung, sondern versucht die Beiträge danach zu gruppieren, aus welcher Perspektive sie sich mit Ordnung in De Rerum Natura befassen; der thematische Fokus dieses Überblicks bringt es daher mit sich, dass zentrale Studien der Lukrezforschung hier z.T. noch nicht benannt werden. Auf sie wird an gegebener Stelle im Hauptteil der Arbeit verwiesen. Studien zum strukturellen Aufbau und zur Stoffanordnung der einzelnen Bücher werden hierbei nicht behandelt. Vgl. dazu aber v.a. Farrell 2007 und Kenney 2007 (jeweils mit kommentiertem Forschungsüberblick).

14

Einleitung

1.2.1

Philosophische Ansätze

In Friedrich Solmsens Aufsatz „Epicurus and Cosmological Heresies“16 stehen die Bezüge, Interdependenzen und Abweichungen der Kosmologie Epikurs und der platonisch-aristotelischen Philosophie im Zentrum. Solmsen berührt dabei auch den neuralgischen Punkt einer Vorstellung von Ordnung im System des Epikureismus, wenn er fragt: „[H]ow can order arise out of the fortuitous concursus of atoms?“17 Wie antiteleologisches Denken und die Entstehung eines Kosmos zusammengebracht werden können, stellt auch einen wichtigen Aspekt der Untersuchung von Ordnung in De Rerum Natura dar. In Solmsens Studie bleibt aber offen, wie das mögliche epikureische Konzept von atomarer Ordnung konkret beschaffen ist. Es ist daher nötig, den in den meisten Arbeiten unbestimmt vorausgesetzten Ordnungsbegriff gerade mit Blick auf die epikureische Doktrin genauer zu beschreiben und in seinen Möglichkeitsbedingungen auszuloten.18 Dass rein philosophisch orientierte Untersuchungen dabei an ihre Grenzen kommen könnten, legt Solmsen selbst nahe, wenn er konstatiert, die Atome besäßen „a mysterious power to effect what the philosopher cannot explain“.19 In ihrer Argumentationsweise steht Solmsens Studie paradigmatisch für eine Untersuchungsmethode, bei der zur Plausibilisierung der Lehre Epikurs fast ausschließlich Passagen aus De Rerum Natura herangezogen werden. Solmsen legt seinen Überlegungen damit die Prämisse zugrunde, Lukrez habe in De Rerum Natura Epikurs Lehre übernommen, ohne dabei dem epikureischen Epikureismus eine lukrezische Färbung zu geben.20 Solmsens Beitrag ist aber im Wesentlichen eine Studie zum Ordnungsbegriff in De Rerum Natura, die dem lukrezischen Text nicht die nötige Eigenständigkeit zumisst: Als Gewährsmann wird Epikur herangezogen, Lukrez aber ,spricht‘. Auch in Pierre Boyancés Monographie Lucrèce et l’Epicurisme,21 die eine systematische Gesamtdeutung des lukrezischen Werks bietet, wird die Frage nach der Ordnung der Atome und der Entstehung der Dinge aufgeworfen: „Comment les atomes s’organisaient-ils pour constituer les corps et les mondes?“22 Anders als Solmsen beschreibt Boyancé die atomare Ordnung aber nicht als Spannungsfeld von Paradox (ἀνάγκη vs. τύχη) und Unbestimmtheit („myste-

16 17 18 19 20

21 22

Solmsen 1951. Solmsen 1951, S. 19. Vgl. dazu Kap. 1.3.2 dieser Arbeit. Solmsen 1951, S. 19. Zur Diskussion der Frage nach dem Einfluss Epikurs auf Lukrez sei hier auf die beiden Standardwerke von Clay 1983 und Sedley 1998 verwiesen. Eine präzise Metakritik bietet Rumpf 2003, S. 9‒19. Boyancé 1963. Boyancé 1963, S. 89.

Forschungsüberblick

15

rious power“), sondern als einen mechanischen Prozess.23 Indem er verschiedene Formen und zeitliche Strukturen von Ordnung unterscheidet – die „combinaisons (coetus)“ und die daraus resultierenden „structures (dispositurae)“ ‒, macht Boyancé deutlich, dass Ordnung eine dynamische und eine statische Seite besitzt, die jeweils von verschiedenen Parametern beeinflusst wird.24 Eine wichtige Rolle spielt dabei das Atom: „Les termes dont il [sc. Lucrèce] use, […] se réfèrent pour la plupart au rôle qu’ont les atomes d’engendrer les corps ou la matière des corps. Il a négligé de traduire le mot relatif à la structure de l’atome isolé, le mot physique pour multiplier les expressions qui se réfèrent à l’atome engagé dans la genèse des choses.“25

Dieser Befund verdeutlicht, dass der Fokus von De Rerum Natura – unabhängig von einem tatsächlichen übersetzungspraktischen Versäumnis, wie es Boyancé Lukrez unterstellt – nicht auf dem einzelnen Atom liegt, sondern darauf, so legt es der Umstand der Atome als pluralia tantum nahe,26 wie diese Atome sich zueinander verhalten. Boyancé weist darauf hin, dass den einzelnen Atomen dennoch eine wichtige Funktion zukommt: Die unterschiedlichen Atomformen spielen eine zentrale Rolle für die Entstehung unterschiedlicher Dinge und ihrer Effekte („effets variés“27). Von der Ordnung der einzelnen Atome zu sprechen genügt also nicht, um die Ordnungen von De Rerum Natura zu beschreiben. Ordnung ist vielmehr ein komplexer Prozess, an dem unterschiedliche Einflüsse beteiligt sind. Wichtig ist, dass vom epikureischen Standpunkt aus diese Ordnung keine gerichtete, d.h. keine teleologische Ordnung ist. Auch Claude Gaudin hebt in seiner Monographie Lucrece. La lecture des choses diese spezifische Form der Ordnung hervor.28 Gaudins Hauptinteresse gilt der Frage, wie unter den Prämissen der epikureischen Philosophie die Genese von Sinn (sens) möglich ist.29 Dabei ist für ihn das folgende Ordnungskonzept von großer Bedeutung: „Cet ordre n’est gouverné par aucune finalité providentielle, et pas davantage par le Fatum.“30 Diese kontingente Ordnung stellt kein Paradox dar, sondern wird von Gaudin durch das Konzept einer komplexeren, 23

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30

Vgl. Boyancé 1963, S. 222: „Ce sont des combinaisons purement mécaniques qui assurèrent l’organisation“. Boyancé 1963, S. 108; S. 141. Boyancé 1963, S. 111. Sedley 1998, S. 38. Boyancé, 1963, S. 199. Gaudin 1999. Gaudin 1999, S. 30 : „La question de fond, revenant à tous les niveaux parce qu’elle est la première, est: à partir de quelles conditions une association quelconque d’éléments prend-elle sens? […] Sous une forme très périlleuse Lucrèce, re-traduisant l’atomisme dans son intégralité, c’est-à-dire par-delà Épicure, tente une genèse du Sens“. Gaudin 1999, S. 27

16

Einleitung

abstrakten Form von Ordnung erklärt: „[L]’ ordre, gouvernant la nature des choses, ne se réduit pas au seul ,arrangement‘ des parties dans un tout. Cet arrangement se trouve sous la juridiction d’un ordre plus caché parce qu’il est plus abstrait.“31 Zwei Aspekten dieser Form von Ordnung misst Gaudin dabei besondere Bedeutung bei: Prozessualität und Kontinuität.32 Die philosophischen Prämissen von De Rerum Natura insinuieren nämlich zum einen, dass Ordnung immer nur ein temporärer Zustand sein kann, zum anderen aber, dass die atomare Ordnung zugleich bestimmte Muster hat, nach denen dieselben Dinge wieder hervorgebracht werden können. Gaudin versucht sich auf dieser Grundlage auch an einer Typologie verschiedener Ordnungen in De Rerum Natura und unterscheidet dabei drei Formen: erstens die Ordnung der Unordnung, die jedoch nicht mit dem Chaos gleichzusetzen ist;33 zweitens einen weiteren „pré-ordre“,34 nämlich die Leere und die unendliche Menge der Atome, die gemeinsam die Existenz aller Dinge ermöglichen; drittens die „économie qui fait subsister la nature“.35 Gaudin subsumiert darunter alle erschaffenen Dinge (creata), die nach den Gesetzmäßigkeiten der Natura (foedera naturai) dafür sorgen, dass die Welt Bestand hat. Was bei Gaudin, aber auch bereits bei Solmsen und Boyancé anklingt, ist die Emergenz- bzw. Reduktionismusproblematik, also die Frage, ob die Entstehung der Dinge und ihrer Eigenschaften auf einer bloßen, in einer spezifischen Weise geordneten Addition von Atomen beruht, oder ob hierbei ein (kontingentes) ,Mehr‘ hinzukommt. Während der älteren Forschung eine mechanistische und in deutlicher Nähe zu einem reduktionistischen Weltbild verortete Sichtweise zugrunde liegt, betont Gaudin: „Lucrèce nous empêche de croire à la combinatoire des atomes comme à une technique logique ou arithmétique“.36 Die Frage nach reduktionistischen Strukturen in De Rerum Natura wird in den Arbeiten von Lorenz Rumpf explizit thematisiert.37 Rumpf gesteht zwar zu, dass „der erste Impuls des atomistischen Denkens ein reduktionistischer ist“,38 weist aber auch darauf hin, dass beim Zusammenschluss der Atome etwas hinzukommt, was auf der atomaren Ebene zuvor nicht vorhanden war: 31 32

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Gaudin 1999, S. 152f. (Hervorhebung dort). Vgl. Gaudin 1999, S. 154: „Le rejet d’un ordre préexistant ou institué par un démiurge conduit au concept d’un ordre en train de se faire“ (Prozessualität); „[L]’ordre n’est pas seulement défini par la stabilité des combinaisons convenables, il est défini par la capacité de se reproduire“ (Wiederholbarkeit). Vgl. Gaudin 1999, S. 155. Gaudin 1999, S. 156. Gaudin 1999, S. 157. Gaudin 1999, S. 155. Für die ,mechanistische‘ Sichtweise vgl. Boyancé 1963, S. 222 und Kennedy S. 391. Vgl. Rumpf 2001 und 2003. Außerdem Sedley 1983 und 1988 und im Anschluss daran Fowler 2002. Rumpf 2003, S. 109.

Forschungsüberblick

17

„[B]eim Übergang von der atomaren zur aggregierten Ebene [bilden sich] neue Strukturen […]. Irreduzible, ,emergente‘ Eigenschaften, Dynamiken und Gesetzlichkeiten kommen dazu, die nicht deterministisch durch die Eigenschaften der Atome erklärt werden können.“39

Rumpf macht mit dieser Feststellung darauf aufmerksam, dass es zwar Ordnungen auf verschiedenen Ebenen gibt, dass deren Entstehung und Beschaffenheit aber nicht oder nur unzureichend erklärt werden können.40 Es gilt also zu fragen, ob sich in De Rerum Natura dieses Problem der Physik, wenn nicht erklären, so aber zumindest in seiner spezifischen Darstellung beschreiben lässt. Neben Arbeiten, die Ordnung als kosmologisches Phänomen untersuchen, gibt es auch vereinzelte Untersuchungen, die nach der Bedeutung von Ordnung für die epikureische Ethik bzw. Epistemologie fragen. Andree Hahmann hat ausgelotet, inwieweit der Epikureismus, ausgehend von seinen ethischen und epistemologischen Bestimmungen, als eine Philosophie der Ordnung gelten kann.41 Die epikureische Epistemologie steht mit ihrer Prämisse, wonach alle Sinneswahrnehmungen wahr sind, vor einer erkenntnistheoretischen Herausforderung, denn verschiedene Sinneseindrücke können verschiedene Wahrheiten vermitteln.42 Hahmann stellt daher die These auf, es müsse in der epikureischen Philosophie eine implizite Ordnung, d.h. eine Form von Kohärenz geben, die es dem Geist ermögliche, zu entscheiden, welcher Sinneswahrnehmung der höhere Wahrheitswert beigemessen werden könne: „The idea of creating order connects very different parts of Epicurean philosophy: In imposing order, Epicurean agents domesticate the chaos that surrounds them. Whether it is in regard to their perceptions, feelings, or – more broadly – the political realm, then, Epicureanism is a philosophy of order.“43

Wie sich gezeigt hat, erfährt der Ordnungsbegriff aus einer philosophischen Perspektive ganz unterschiedliche Verwendungen. Sowohl im Bereich der Physik und Kosmologie als auch im Bereich von Ethik und Epistemologie wird Ordnung als Konzept oder Terminus herangezogen, um bestimmte physikalische 39 40 41 42

43

Rumpf 2003, S. 108. Darauf verweist implizit bereits Solmsen 1951, S. 19. Hahmann (im Erscheinen). Diese Annahme – Sinneswahrnehmung als Wahrheitskriterium – kann in ihrer Kompromisslosigkeit daher auch als Antwort auf die Annahme der (pyrrhonischen) Skepsis verstanden werden, wonach keine Wahrnehmung wahr oder falsch sein kann. Vgl. hierzu ausführlicher Long 2010, S. 59. Vander Waerdt 1989 rekonstruiert, wie sich die antiskeptische Argumentation im Epikureismus entwickelt hat. Contra Sedley 1998, S. 85–90. Hahmann (im Erscheinen). Ähnlich pointiert ebendort: „Epicurean philosophy might perhaps be described as a philosophy of order just as it is often described as a philosophy of pleasure“.

18

Einleitung

Gegebenheiten oder philosophische Problemstellen zu erfassen. Wenig überraschend nehmen die Studien, die Ordnung unter im weitesten Sinne kosmologischen Gesichtspunkten untersuchen, dabei den größten Raum ein. Gleichwohl muss man hierbei berücksichtigen, dass Ordnung vielfach austauschbar mit anderen Termini (wie z.B. Kohärenz oder Struktur), d.h. nicht in einem prägnanten Sinne verwendet wird.44 Auch gibt es Unterschiede im Referenzobjekt von Ordnung: Mal sind es die Atome und ihre Zusammenschlüsse, mal die Welt oder Prozesse innerhalb der Welt. Dennoch scheint bei aller Disparatheit eine begriffliche Auseinandersetzung mit Ordnung im Kontext der epikureischen Philosophie unumgänglich zu sein. 1.2.2

Literaturwissenschaftliche Ansätze

Auch Studien, die keinen im engeren Sinne philosophischen skopos verfolgen, bedienen sich des Begriffs der Ordnung, um bestimmte Phänomene in De Rerum Natura zu beschreiben. Ähnlich wie in den philosophischen Studien steht Ordnung auch in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen nur vereinzelt im Mittelpunkt und findet meist im Zuge übergeordneter Fragen Erwähnung. Es lassen sich aber verschiedene literaturwissenschaftliche Herangehensweisen und Schwerpunkte unterscheiden. Neben Studien, die strukturell-narratologische und rhetorische Ordnungsformen untersuchen, sind Studien zu nennen, die sich mit einem von der atomaren Beschaffenheit der Welt ausgehenden, thematischen Ordnungsbegriff befassen oder poetologische Lesarten verfolgen. Einem Ansatz, der das Verhältnis von Welt und sprachlicher Repräsentation untersucht, ist Eva M. Thurys Aufsatz „Lucretius’ Poem as a Simulacrum of the Rerum Natura“ zuzuschlagen.45 Thury nimmt die lukrezische Erkenntnistheorie beim Wort und liest De Rerum Natura, wie auch alle Bilder, die das Gedicht präsentiert, als simulacra der Realität.46 Thurys Überlegungen enthalten aber auch wichtige Anhaltspunkte für die Untersuchung von Ordnung. Mit Blick auf die simulacra stellt Thury nämlich fest, dass deren Abbildhaftigkeit wesentlich mit der atomaren Ordnung der abgebildeten Dinge zusammenhängt: „Simulacra preserve the form of the shape of their source by maintaining the order of the parts of the source with respect to one another“.47 Implizit stellt Thury Ordnung damit nicht nur als Grundprinzip, sondern auch als Grundvoraussetzung für die Einsicht in die Welt heraus – allerdings ohne darauf einzugehen, wie diese Ord44 45 46

47

Zum Strukturbegriff vgl. Kap. 1.3.1 dieser Arbeit. Thury 1987. Zur ,Anwendbarkeitʻ der epikureischen Theorie auf die dichterische Praxis von De Rerum Natura vgl. Thury 1987, S. 282: „[H]is explanation of the mechanism of visual imagery and his account of how to evaluate it properly must be applicable to the visual imagery of his poem“. Thury 1987, S. 278.

Forschungsüberblick

19

nung genau beschaffen oder beschrieben ist.48 Einen Hinweis darauf können aber Thurys Ausführungen zu den Buchstabenanalogien geben. Denn indem Thury zwei Ebenen von Ordnung unterscheidet – eine auf die materialen Dinge in der Welt und eine auf den Text bezogene –,49 arbeitet sie nicht nur die generelle Bedeutung der Analogie für De Rerum Natura als Erkenntnisinstrument heraus, sondern verdeutlicht auch, dass ein wesentliches Merkmal von Ordnung in De Rerum Natura in der spezifischen Kombinatorik einzelner Elemente, seien es nun Atome oder Buchstaben, besteht.50 Untersuchungen, die sich mit dem Gebrauch von rhetorischen Stilmitteln, insbesondere Analogien und Metaphern in De Rerum Natura befassen, sind auch für den Fragehorizont der vorliegenden Arbeit von zentraler Bedeutung.51 Gail Cabisius’ Aufsatz „Social Metaphor and the Atomic Cycle in Lucretius“52 stellt einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Beschreibungsmodi in De Rerum Natura dar, da die Autorin besonders diejenigen Metaphern untersucht, die Lukrez zur Veranschaulichung der atomaren Ebene heranzieht. Cabisius arbeitet zunächst heraus, weshalb das Vermögen der Metapher – die Verbindung zweier voneinander geschiedenen Ebenen durch ein tertium – für die lukrezische Dichtung so zentral ist: „Metaphorical language joins together the nature of the senseless atoms and the social nature of human beings. It forms a bridge between the elements that in Epicurean philosophy are logically dichotomous.“53 Verben wie convenire, conciliare, consentire oder die Substantive motus, ordo, terminus, aber auch turba oder tumultus können nach Cabisius die Bewegungen der Atome ebenso wie die Handlungen lebendiger Organismen, insbesondere von Menschen, anschaulich machen: „Lucretius compares the atoms to weavers and craftsmen, architects and builders, and generals ordering their troops in battle, but most extensive of the atomic met-

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Vgl. Thury 1987, S. 278: „The simulacra or sense perceptions, on which we must focus our attention in order to learn about the universe, themselves rely on order for their certainty“. Vgl. Thury 1987, S. 279f. Vgl. Thury 1987, S. 279 (Hervorhebung dort): „Order is not the only quality which makes things what they are in the world […]. However, it is the quality which allows us to perceive what they are by our senses and it is what makes things what they are in poetry“. Zum Metapherngebrauch in De Rerum Natura vgl. u.a. Sykes Davies 1931; Pope 1949; Synder 1983; Cabisius 1985; Gale 2004b; Kennedy 2007; Schrijvers 2007; zuletzt Johncock 2016. Noch immer wichtig für die Untersuchung der Bilder und der Bildhaftigkeit der lukrezischen Sprache ist West 1969. Vgl. daneben auch De Lacy 1964; Townend 1965; Leen 1984. Cabisius 1985. Cabisius 1985, S. 120. Vgl. dazu auch S. 110.

20

Einleitung aphors are those that speak of the atoms as demonstrating social characteristics and engaging political relationships.“54

Lukrez verwendet also vor allem Metaphern, die die Zusammenschlüsse der Atome sowie deren Auflösung beschreiben und so die auf der atomaren Ebene vorherrschende Dynamik betonen. Cabisius bezieht diese Metaphern unmittelbar auf Phänomene der menschlichen Welt: So werden z.B. die ordines der Atome an die römischen ordines zurückgebunden.55 Diese unilineare und bruchlose Allegorese kann man aus methodologischer Perspektive ebenso kritisieren wie Cabisius’ Tendenz, die lukrezischen Metaphern allein ausgehend von ihrer ursprünglichen Bedeutung in einem auf die menschliche Gesellschaft bezogenen Kontext zu erklären.56 Hervorzuheben ist aber, dass Cabisius’ Herangehensweise und ihr Untersuchungsfokus auch den Blick für das spezifische Phänomen der Ordnung in De Rerum Natura schärfen kann.57 Eine erweiterte Perspektive verfolgt Myrto Garani. In ihrer Studie Empedocles Redivivus: Poetry and Analogy in Lucretius58 untersucht sie den Einfluss von Empedokles auf De Rerum Natura. Sie beschränkt sich dabei aber nicht auf die Analyse intertextueller Verweise. Garani vertritt vielmehr die These, dass sich Lukrez auch der epistemologischen Methoden bedient, die Empedokles zur Veranschaulichung seiner Lehre verwendet hat, und dass er diese weiterentwickelt.59 Personifikationen, Gleichnisse und Metaphern stehen daher im Mittelpunkt von Garanis Untersuchung. Da auch Empedokles’ Welterklärung von einer partikularisierten Perspektive – den vier Elementen – ausgeht, widmet Garani gerade den Bildern besondere Aufmerksamkeit, die die Entstehung der Welt und der Dinge aus Einzelteilen veranschaulichen. Besonders in ihren Ausführungen zur Personifikation finden sich viele weiterführende Beobachtungen zu den von Cabisius thematisierten „social metaphors“.60 Garani arbeitet heraus, wie 54

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Cabisius 1985, S. 110f. Noch expliziter als Cabisius bindet Schiesaro 2007a, S. 83f. die verschiedenen Metaphernfelder zurück an die spezifisch römische Erfahrungswelt: „In the De rerum Natura Lucretius describes and explains a universe organized according to principles and rules which are defined with reference to specifically Roman practices: his universe is knit together on the basis of nexus, foedera, and leges“. Cabisius 1985, S. 112. Vgl. z.B. die Interpretation der foedera naturai als Entsprechung der römischen foederatae civitates (Cabisius 1985, S. 113). Ein interessanter Bezugspunkt ergibt sich hier zur modernen soziologischen Theoriebildung, wie sie u.a. Friedrich August von Hayek in Recht, Gesetz und Freiheit entwickelt (vgl. Kap. 1.3.3 dieser Arbeit). Garani 2007. Vgl. Garani 2007, S. 16. So unterscheidet Garani 2007, S. 155 z.B. folgende Metaphernkomplexe: „a. The metaphor of ,piecing together the primary elementsʻ; b. The metaphor of ,filling or emptying the atomic containerʻ; c. The metaphor of ,flowing waterʻ; d. the metaphor of ,squeezing out the spongeʻ“. Angelegt ist diese Ordnung bereits bei Lloyd 1966.

Forschungsüberblick

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Lukrez auf die Bildsprache des Empedokles zurückgreift, um diese dann in Übereinstimmung mit dem Rahmen, den die epikureische Philosophie vorgibt, zu modifizieren. Garanis Studie kommt damit nicht nur das Verdienst zu, das Verhältnis des Epikureismus zur empedokleischen Philosophie zu schärfen, sondern auch die Vielfalt der lukrezischen Bildsprache zu systematisieren. Diese Systematisierung bringt freilich mit sich, dass durch diesen Rahmen die Spezifika und Widersprüchlichkeiten, d.h. die Eigenheiten einzelner Bilder zugunsten einer größeren Ordnung harmonisiert werden. Don Fowler und Alessandro Schiesaro haben in Fortführung von Cabisius’ „social metaphors“ die politischen Implikationen von De Rerum Natura untersucht. 61 Sie weiten den Fragehorizont auf den philosophischen Kontext und den Einfluss des konkreten historisch-politischen Umfelds aus, in dem De Rerum Natura entstanden ist, blenden aber die sprachliche Ebene aus der Sphäre des Politischen nicht aus. In seiner Studie „Lucretius and Politics“62 unterstreicht Fowler zunächst, dass die Politikfeindlichkeit, die für den Epikureismus generell in Anschlag gebracht wird, einer genaueren Betrachtung nicht standhält und bestimmte Formen des politischen Engagements durchaus mit den Forderungen der Abstinenz vom Politischen und des zurückgezogenen Lebens in Einklang gebracht werden können.63 Wie Cabisius verweist auch Fowler darauf, dass Lukrez die Ebene der Atome sprachlich mit Ebene mit der Politik verbindet.64 Die Bedeutung dieser Metaphern liegt für Fowler darin begründet, dass bei ihrer Verwendung stets beide Kontexte präsent bleiben. Die Bildlichkeit verfügt damit über eine solch große suggestive Kraft, dass Lukrez, folgt man Fowlers These, die Trennung zwischen der unbelebten Ebene der Atome und der Welt des Menschen in seinem politisch-sozialen Kontext ganz explizit machen muss und den Atomen jegliche Belebtheit abspricht.65 Neben dieser Möglichkeit, bestimmte Eigenschaften vom Menschen auf das Atom zu übertragen, sind nach Fowler die Metaphern aus dem Bereich des Politischen gerade für den kosmologischen Ordnungsbegriff von großer Bedeutung: Die Ordnung des epikureischen Kosmos kommt einerseits durch äußere Einflüsse zustande – ebenso auch politische oder soziale Ordnungen –, andererseits ist diese Ordnung, die sich durch concilia und foedera naturai bildet, nicht auf Dauer angelegt. Dies gilt ebenfalls für politische und soziale Verhältnisse und Institutionen.66 Fowler deutet die beiden Ebenen der Metapher im Anschluss an Cabisius’ Überlegungen also noch weiter aus und rückt dabei insbesondere zent-

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Zu einer (impliziten) Kritik an Cabisius vgl. Fowler 1989, S. 428f. Fowler 1989. Vgl. Fowler 1989, S. 400. Vgl. Fowler 1989, S. 426. Vgl. Fowler 1989, S. 427f. mit Verweis auf 1,1021–1028. Vgl. Fowler 1989, S. 430.

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Einleitung

rale Begriffe des römischen Rechtssystems, wie das foedus (in foedera naturai), in den Mittelpunkt. Dieser speziellen Form der (rechtlichen) Ordnung, den leges bzw. foedera naturai, auf die Lukrez wiederholt Bezug nimmt, widmet Schiesaro in seinem Aufsatz „Rhetoric and the Law in Lucretius“67 besondere Aufmerksamkeit. Die Verwendung dieser Metaphern bringt aus epikureischer Perspektive ein Problem mit sich, impliziert die Rede von Gesetzen doch auch die Einführung einer Form von Intentionalität oder einer (göttlichen) gesetzgebenden Instanz.68 Schiesaro kann jedoch zeigen, dass die Verwendungsweise bei Lukrez diese Widersprüche aufhebt: „,Laws‘ are yet another way in which we can describe, in Epicurean terms, the non-teleological order which governs the workings of nature.“69 Als Metaphern erfahren die rechtlichen Termini somit eine Umwidmung, die es möglich macht, die Entwicklung und Bedingungen von Ordnung für einen epikureischen Kosmos ins Bild zu setzen, ohne dabei die Implikationen des ursprünglichen Begriffs gänzlich zu übernehmen. Das terminologische Feld von lex, foedera oder concilia spielt somit für die Darstellung und Sichtbarmachung von Ordnung in De Rerum Natura – sei es nun in einem historischen, politischen oder philosophischen Kontext – eine wichtige Rolle und macht deutlich, dass die Ebene der Atome dabei stets einen zentralen Bezugspunkt bzw. Ausgangspunkt bildet.70 Nur dort wird Ordnung nämlich manifest. Doch nicht nur Metaphern aus dem Bereich der Politik und des Rechts spielen für die Untersuchung von Ordnung in De Rerum Natura eine wichtige Rolle. Auch im Kontext der von Lukrez wiederholt gebrauchten Metaphern des Webens tritt die Bedeutung der Bilder von Ordnung für De Rerum Natura deutlich hervor. Jane M. Snyder macht in ihrer Studie „The Warp and the Woof of the Universe in Lucretius’ De Rerum Natura“71 darauf aufmerksam, dass der für die Be67

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Schiesaro 2007a. Vgl. auch Schiesaro 2007b mit Fokus auf das 5. und 6. Buch von De Rerum Natura. Schiesaro 2007a, S. 83. Schiesaro 2007a, S. 85. Vgl. hierzu auch Asmis 2008, die die Verwendung von Rechtstermini wie foedus und lex aus einer philosophischen Perspektive untersucht. In ihrer Studie „Lucretiusʼ New World Order: Making a Pact with Nature“ untersucht Asmis, wie Lukrez, aufbauend auf den philosophischen Implikationen dieser Metaphern die ethischen Implikationen von De Rerum Natura in den Vordergrund rückt. Ein interessantes Komplement dazu bildet die Studie von Shearin 2015, der untersucht, inwieweit die Sprechakttheorie John L. Austins, insbesondere die Sprechakte des Versprechens und Benennens, zu einem genaueren Verständnis von De Rerum Natura beitragen kann. Für den Sprechakt des Versprechens untersucht Shearin auch den Begriff der foedera naturai (v.a. S. 88‒97). Snyder 1983; ähnliche Beobachtungen z.T. schon bei West 1969. Eine interessante Ergänzung zu Snyders thematischer Untersuchung der Webmetaphorik bildet die Studie von Hendren 2012, der die Alliterationen in De Rerum Natura als metapoetische Reflexion bzw. Abbildung der Verwebung der Atome interpretiert.

Forschungsüberblick

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schreibung der lukrezischen Dichtung und Welt zentrale Begriff exordium und das Wortfeld um texere, textus und textura in ihrer Grundbedeutung auf den Bereich der Webkunst bezogen sind. Exordium bezeichnet den Zettel, d.h. die längs gespannten Fäden, um die beim Weben der bewegliche Faden geschlungen wird. Wenn Lukrez diesen Ausdruck verwendet, werden so zwei Aspekte aufgerufen: Ordnung und Anfang.72 Obgleich exordium etymologisch nicht unmittelbar mit ordo zusammenhängt, wird durch die Metapher des Webens diese Verbindung ganz bildhaft evoziert – und dies umso mehr, vergegenwärtigt man sich den kreativen Umgang mit Sprache in De Rerum Natura.73 Sowohl die Atome als auch die Dichtung über diese Atome sind mit dem Aspekt des Anfangens und mit dem Aspekt des Ordnens in einer Weise verbunden, der mehr zugrunde liegt, als der Gebrauch von exordium unter rein rhetorischen Gesichtspunkten umfasst.74 Ähnliches gilt auch für das Wortfeld um texere. Neben exordium identifiziert Snyder mit primordium bzw. primordia noch einen weiteren Begriff, der die De Rerum Natura inhärente Bedeutung von Ordnung veranschaulicht. Zwar verweisen die primordia nur über ihre etymologische Verbindung zu ordiri auf die Metapher des Webens,75 setzten aber dennoch

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Wie primordium so besitzt auch das Kompositum exordium den Wortstamm -ord-, der etymologisch auf das Verb ordiri zurückzuführen ist (vgl. Walde-Hofmann 31954 und Ernout-Meillet 41959, s.v. ordior). Ob ordiri jedoch sprachgeschichtlich und damit auch semantisch tatsächlich mit ordo verwandt ist, lässt sich nicht mit Sicherheit nachweisen (vgl. Ernout-Meillet s.v. ordior: „Une parenté entre ōrdō ,l’ordre, la rangéeʻ et ōrdior est possible“). In den einschlägigen etymologischen Wörterbüchern von Ernout-Meillet, Vaan oder Walde-Hofmann wird stets lemmatisch zwischen ordiri und ordo, unterschieden. Zur Differenzierung zwischen ordo und ordiri vgl. Ernout-Meillet, S. 467, s.v. ordo: „Il est à noter que ōrdior n’a pas le sens de ,mettre en rangʻ, mais de ,commencerʻ. Le dérivé de ōrdō qui signifie ,mettre en ordreʻ, c’est ōrdinō; et les Latines ne sentaient pas une parenté entre ōrdō et ōrdior, ni entre ōrdō et ōrnō“. Vaan 2008, S. 434 (zu ordiri und ordo) erläutert: „Lat. exordium must be derived from exordiri […], unless there was an original stem *ord-, from which exordium and ordo were independently derived“. Einschlägig und instruktiv hierzu noch immer Friedländer 1941 und Snyder 1980. Vgl. Snyder 1983, S. 39f.: „Although exordium had by the first century BC already acquired its rhetorical sense of ,beginning a speechʻ, its literal meaning had not been supplanted“. Vgl. Snyder 1983, S. 41f., und – unter Vorbehalten – Johncock 2016, S. 257, der die Gleichsetzung von exordium und primordium hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Webmetapher über ihre gemeinsame Wortwurzel begründet: „Any doubts about this meaning of primordia can be dispelled further by considering Lucretius’ choice of other atomic terms rooted in weaving metaphor. […] Lucretius employs the term exordia, which shares the same root as primordia and carries similar base meanings of ,beginningʻ and ,threadsʻ“.

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Einleitung

Ordnungspotential ins Bild. Exordia und primordia76 werden nämlich in De Rerum Natura teilweise synonym zur Bezeichnung der Atome als ,Ursprungsteilchen‘ verwendet.77 Wie Gaudin pointiert zusammenfasst, liegt eben darin ihre Verbindung zur Ordnung: „[L]e mot primordia comme celui d’exordia renvoyant à la signification: origine de l’ordre.“78 Wenngleich die Verbindung von Ordnung und primordia nicht über eine solch konkrete Metapher erfolgt wie im Fall von exordium oder dem Wortfeld des Webens (texere, textura, textus), zeigt der Blick auf die bereits bestehenden Untersuchungen, dass gleichsam als Automatismus, allein durch die Verwendung stammverwandter Wörter, neben den belegbaren Bedeutungen ein übergeordnetes tertium, das der Ordnung, aufscheint.79 Von zentraler Bedeutung für die Untersuchung von Ordnung sind zweifellos die Buchstabenanalogien in De Rerum Natura. Wie die oben vorgestellten Metaphern verhandeln sie Ordnung über bestimmte rhetorische Verfahren. Durch die analogische Verbindung von Buchstaben und Atomen werden nicht nur die zwei für De Rerum Natura wesentlichen Ebenen von Text und Welt zueinander ins Verhältnis gesetzt, sondern auch die Mechanismen sichtbar gemacht, die deren Beschreibung zugrunde liegen. Diese poetologischen Implikationen machen die Analogie daher zu einem Ansatzpunkt für ganz unterschiedliche Untersuchungsperspektiven und Untersuchungsthemen: Kaum eine Studie kommt ohne einen Verweis auf die Buchstabenanalogien aus.80 Der Begriff der Ordnung ist jedoch meist nur einer von vielen Begriffen, der im Kontext der Buchstabenanalogien Erwähnung findet. Von dieser thematischen und auf metaphorischen Relationierungen beruhenden Herangehensweise sind Alessandro Schiesaros („The Palingenesis of De

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Auf ein einzelnes Atom wird in De Rerum Natura nie mit exordium oder primordium verwiesen. Die beiden Termini werden zu pluralia tantum, wenn sie auf die Atome bezogen sind. Vgl. Johncock 2016, S. 257. Rumpf 2003, S. 159 kann zudem zeigen, dass exordia nicht (nur) die Grundbestandteile, sondern auch die Ausgangspunkte der Dinge bezeichnen. Gaudin 1999, S. 57. Ähnlich bereits Grimal 1974 und Sedley 1998, S. 38: „Unlike corpuscula all these [sc.rerum primordia etc.] concentrate not on the smallness of atoms but on their role as the primitive starting-points from which other entities are built up“. Ein weiteres wichtiges Wort zur Bezeichnung der Atome, principia, akzentuiert den Aspekt des Anfangens besonders deutlich. Vgl. Johncock 2016, S. 256f. Johncock äußert zwar richtig, dass primordia durch die etymologische Verbindung zu ordior die Bedeutung des Anfangens impliziere. Die von ihm in gleicher Weise angenommene Verbindung von primordia und ordo lässt sich aber etymologisch nicht zweifelsfrei belegen. Da der Ordnungsbegriff in den Buchstabenanalogien in einem eigenen Kapitel dieser Arbeit untersucht wird, soll an dieser Stelle auf einen Forschungsüberblick verzichtet werden. Vgl. dazu Kap. 2.1 dieser Arbeit.

Forschungsüberblick

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rerum natura“81) und Monica Gales („The Story of Us: A Narratologcial Analysis of Lucretius’ De Rerum Natura“82) Studien zu unterscheiden. Sie beleuchten den Begriff der Ordnung in De Rerum Natura aus einer narratologischen Perspektive und setzen bei der Untersuchung des didaktischen plot an. Sowohl Gale als auch Schiesaro benennen dabei auch die möglichen Probleme einer Applikation moderner narratologischer Konzepte auf antike, zumal didaktisch verfasste Texte und deren narrative Ordnung: „Eichenbaum and especially Genette rightly insist that the contrast between an abstract series of events in their proper causal connection, and the specific syntagmatic reordering of those events in the text is a primary form of production of meaning. But what is the story of the plot we read as the De rerum natura?“83

Ausgehend von den Prämissen der epikureischen Physik, wonach das All räumlich und zeitlich unbegrenzt ist, spitzt Monica Gale das in dieser Frage aufscheinende Problem noch weiter zu: „The Epicurean universe is one that cannot, logically, have a story; so how is the poet going to present it to his reader? One possible solution to the problem is for the poet to follow a logical rather than a chronological order.“84

Während Schiesaro in seiner Studie auf verschiedene Aspekte der Gestaltung des plot von De Rerum Natura eingeht und besonders die Buchstabenanalogien und Wiederholungsstrukturen untersucht, dabei den Ordnungsbegriff aber nicht ins Zentrum rückt, weitet Gale den Themenkomplex der Ordnung aus. Sie nimmt auch die analoge Struktur von Text und Welt in den Blick: „[T]he ordering of the poem parallels the ordering of the cosmos – and Lucretius underlines the point by using the same word, ordine, to describe his own arrangement of his subject matter (418) and the accidental ,arrangementʻ of atoms into the elemental masses of this world (420).“85 81 82 83

84

85

Schiesaro 1994. Gale 2004b. Schiesaro 1994, S. 82 (Hervorhebung dort). Ähnlich Gale 2004b, S. 52: „I will look […] at the relationship in the DRN between ,story‘ (that is, the ,plot‘ of the poem, the sequence of events which it narrates) and ,narrative‘ (that is, the story as told by this narrator)“. Gale 2004, S. 52f. (Hervorhebung dort). Allgemeiner bereits bei Schiesaro 1994, S. 81: „[N]othing can be safely excluded from such a poem, and the choice the author is going to attempt is in any case going to be extremely arbitrary. But after all this is not a specific problem of didactic poetry as much as the organization of the materials is. How can a didactic poem achieve both a sufficient sense of internal cohesion and a meaningful internal structure?“. Gale 2004b, S. 60. Die Versangaben beziehen sich auf das 5. Buch.

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Einleitung

Der Ordnungsbegriff, den Gale im Weiteren entfaltet, löst sich also von der rein narratologischen Betrachtungsweise und wird mit einem Konzept von Ordnung verbunden, das auf die im weiteren Sinne rhetorische Ausgestaltung von Ordnung vermittels der Analogie ausgerichtet ist. Gale geht von der Beobachtung aus, dass Lukrez mit ordo sowohl die Anordnung seines Stoffes (5,418) als auch die der Atome (5,520) bezeichnet.86 Im Gegensatz zur Ordnung von De Rerum Natura als einer ,gemachten‘ Ordnung ist die Ordnung des epikureischen Kosmos, die darin beschrieben wird, aber nicht auf Dauer angelegt: „The world […] unlike the poem is not a stable and perfect structure“.87 Gale unterscheidet somit zwei verschiedene Konzepte von Ordnung, indem sie der Dichtung einen höheren Grad an Ordnung und Stabilität zumisst als der aus Atomen gebildeten Welt. In diese Richtung weist auch eine Studie Don Fowlers: „From Epos to Cosmos: Lucretius, Ovid, and the Poetics of Segmentation“88 geht von einer strukturellen Beobachtung aus. Fowler beschreibt, wie De Rerum Natura von der Anordnung des Gesamtwerks in einzelne Bücher bis hin zur Ebene der Silben und Buchstaben einer genauen Einteilung („segmentation“) unterliegt.89 Wie Gale verbindet Fowler die Ebene des Textes mit der Ebene der Welt unter Gesichtspunkten, die deren jeweilige Ordnung betreffen: „The ratio of Lucretius’ account maps onto the systematic ratio of the universe. […] The ordered divisions of the text of the De Rerum Natura reflect the ordered divisions of the world“.90 Diese Feststellung führt Fowler jedoch nicht zu dem simplifizierenden Schluss, Ordnung mit Einfachheit gleichzusetzen. Fowler hebt vielmehr hervor, dass gerade Ordnung – sei sie nun auf den Text, die Welt oder beides bezogen – Komplexität notwendigerweise mit einschließt: „The world is an ordered place, but it is also empirically complex and messy, and you cannot derive its complexity from a few simple axioms“.91 An die Stelle der noch bei Gale aufscheinenden Hierarchisierung92 von Text und Welt setzt Fowler die Beobachtung, dass eine Ordnung durch ihre Komplexität auch in die Nähe einer Unordnung geraten kann – ohne dass dies den Begriff der Ordnung obsolet oder widersprüchlich machen würde. Fowler betont zudem, dass die der „segmentation“ innewohnende (oder zugeschriebene?) ratio nicht nur unter formalen Gesichtspunkten Beachtung finden, sondern auch an die Grundprämissen des Epikureismus anschließen kann: Der Verdacht einer göttlich insinuierten oder teleologischen Ordnung kann nämlich durch die Komplexität dieser Ordnung ausgeräumt werden.93 Ausgehend von seinen (strukturellen) 86 87 88 89 90 91 92 93

Gale 2004b, S. 60. Gale 2004b, S. 61 (Hervorhebung dort). Fowler 1995. Vgl. Fowler 1995, S. 7. Fowler 1995, S. 9. Fowler 1995, S. 17. Gale 2004b, S. 61. Vgl. Fowler 1995, S. 17.

Forschungsüberblick

27

Beobachtungen am Text kann Fowler unmittelbar an die (philosophischen) Prämissen des Epikureismus anschließen und somit induktiv wie deduktiv Ansätze für die Beschreibung von De Rerum Natura als komplexe Ordnung über komplexe Ordnung liefern. In seiner Studie „Making a Text of the Universe: Perspectives on Discursive Order in the De Rerum Natura of Lucretius“ geht Duncan Kennedy noch einen Schritt weiter.94 Er thematisiert nicht nur die Ordnung des Kosmos, der Welt oder der Atome, sondern auch, dass ihnen der Status der Ordnung zugeschrieben wird. Nicht nur dass, sondern auch wie der lukrezische Kosmos zu einer Ordnung wird, bildet das Untersuchungsinteresse Kennedys: „[W]e ,understand‘ the universe only in the discourses which describe it, and our sense of the ,order‘ – or equally it may be our sense of the ,disorder‘ – of the universe we inhabit is discursively produced“.95 Ausgehend von dieser Prämisse kann Kennedy besonders differenzierte Aussagen über das Verhältnis von Text und Welt und ihre jeweilige Ordnung treffen, denn er unterscheidet zwischen der Repräsentation einer textuell vermittelten Ordnung und deren Realität.96 Kennedy misst auch den mikrokosmischen Ordnungen und Ordnungsprozessen wesentliche Bedeutung zu, indem er die vitalistisch-anthropomorphe Bildsprache des Lukrez genauer in den Blick nimmt und ausgehend von der Benennung der Atome als (genitalia) corpora oder semina konstatiert: „[T]his is an enormously suggestive way of describing atoms. […] Calling atoms ,seedsʻ serves to suggest a reassuring degree of order in the universe. The properties of the atoms mean that the phenomena of the universe are strictly demarcated.“97

Kennedy lenkt den Blick auf die evidente, aber (daher) nur wenig untersuchte Tatsache, dass die Ordnung der Atome in einem Verhältnis zur Ordnung des Kosmos selbst steht. Dies zeigt, dass die verschiedenen Ebenen der Ordnung in ihrer je eigenen Spezifik genau differenziert und auch deren Interaktionen und Dependenzverhältnisse berücksichtigt werden müssen. Nicht zuletzt sollten dabei auch die Prozesse berücksichtigt werden, die im Text diese Effekte von Ordnung erzielen. Kennedy verwendet ebenfalls Bezeichnungen wie „compound“ oder „combination“,98 um die atomare Ebene zu beschreiben, spricht dabei aber auch – und das verdient v.a. mit Blick auf das anfangs konstatierte Problem reduktionisti-

94 95 96 97 98

Kennedy 2007. Kennedy 2007, S. 395. Vgl. Kennedy 2007, S. 394. Kennedy 2007, S. 386f. (Hervorhebung E.N.). Kennedy 2007, S. 386.

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Einleitung

scher Lesarten besondere Aufmerksamkeit – von einem „mechanical process“.99 Der Aspekt des Mechanischen einerseits und des Anthropomorphen andererseits entwirft also ein Szenario, in dem eine depersonalisierte und eine personalisierte Ordnung zusammengedacht werden (können). Dieser Befund führt zu der auch für diese Arbeit zentralen Frage, wie Ordnung – sei sie nun auf den Text oder die Welt bezogen – wahrnehmbar und vermittelbar wird. Der Überblick über die verschiedenen Verhandlungen von Ordnung in De Rerum Natura zeigt, dass sich Ordnung als Phänomen darstellt, das gleichermaßen auf der inhaltlichen wie auf der formalen Ebene zum Tragen kommt und dabei didaktische und philosophische Gesichtspunkte ebenso betrifft wie die sprachliche Verfasstheit und Funktionsweise des Werks. Diese unterschiedlichen Aspekte wurden bereits in einzelnen Studien problematisiert und mit der Genese der Welt und aller in ihr befindlichen Dinge in Verbindung gebracht. Wie diese Ordnung auf der atomaren Ebene der Welt abläuft und wie Lukrez diese Vorgänge beschreibt, wird dabei jedoch zumeist nur schlaglichtartig untersucht. In der vorliegenden Arbeit stehen diese beiden Aspekte daher im Mittelpunkt. 1.3

Gegenstand und Methode der Arbeit

1.3.1

Ordnung – Zu Terminologie und Begriff

Am Beginn dieser Arbeit stand die Beobachtung, dass De Rerum Natura ,etwas‘ mit Ordnung zu tun habe. Auch mit Blick auf die bestehende Forschung kann man zu einem solchen Befund kommen, wird doch in vielen Studien unter ganz unterschiedlichen thematischen und methodischen Prämissen ein Begriff von Ordnung aufgerufen bzw. implizit vorausgesetzt. Dennoch bedarf jene anfängliche Hypothese, soll sie zu einer tragfähigen These werden, einer schärferen Konturierung. (Wie) Kann und soll man einen Begriff von Ordnung für De Rerum Natura in Anschlag bringen? Der Forschungsüberblick hat deutlich werden lassen, dass Ordnung in De Rerum Natura verschiedene Systemstellen einnehmen kann. So wird der Begriff z.B. verwendet, um Ordnung im emphatischen Sinne als kosmos, also als eine in sich geordnete Einheit zu beschreiben, und in dieser Eigenschaft dem Konzept des Chaos gegenübergestellt. Daran anschließend lässt sich auch die teils normative Bedeutung des Ordnungsbegriffs erklären. In dieser Weise rekurrieren Studien auf den Ordnungsbegriff, die die strukturelle Beschaffenheit von De Rerum Natura untersuchen.100 Als didaktisches Gedicht, dessen wesentliche Funktion darin besteht, bestimmte Sachverhalte zu vermitteln und rezipierbar zu machen, 99

100

Kennedy 2007, S. 391. Interessanterweise nimmt auch schon Boyancé 1963, S. 87 auf diese Metapher Bezug: „[C]omment fonctionne en fait et en détail le méchanisme de l’univers […] ?“. Vgl. u.a. Fowler 1995; Gale 2004, Farrell 2007; Kennedy 2007.

Gegenstand und Methode der Arbeit

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benötigt De Rerum Natura auch spezifische Formen der Darstellung – seien sie nun auf die Mikro- oder die Makrostruktur des Gedichts bezogen. Ein zentrales Charakteristikum jener didaktischen Darstellungsformen ist die Ordnung des Dargestellten. Didaxe ist ohne eine spezifische Ordnung des plot nicht denkbar. Neben dieser Verortung innerhalb des Begriffspaares Ordnung/Chaos findet Ordnung auch häufig als ,heuristischer Topos‘ Verwendung: Als Ordnung wird hierbei in generalisierender Weise dasjenige benannt, was die Vorgänge im lukrezischen Kosmos oder die Eigenschaften des Textes auszeichnet, ohne dass die jeweiligen Phänomene in ihrer spezifischen Form von Ordnung beschrieben würden. Der Begriff Ordnung oszilliert also gleichsam zwischen absoluter Denotation und einer völligen Offenheit, genau genommen, der Bedeutungsleere eines topischen Ausdrucks. Gerade diese Offenheit kann erklären, weshalb Ordnung in der Forschungsliteratur zu De Rerum Natura vielfach austauschbar mit anderen, (vorgeblich) synonymen Begriffen verwendet wird. Arrangement, Gemisch, Verbindung, Zusammensetzung, Regelmäßigkeit (und die entsprechenden fremdsprachigen Äquivalente) beschreiben allesamt Prozesse oder Zustände, die die materiale oder textuelle Beschaffenheit von De Rerum Natura betreffen. Dieser Auflistung ist noch ein weiterer Begriff hinzuzufügen, der im Gegensatz zu den bereits genannten begriffsgeschichtlich und theoretisch mindestens ebenso, wenn nicht noch intensiver reflektiert worden ist als der Begriff der Ordnung selbst: Es ist dies der Begriff der Struktur. Ordnung und Struktur werden vielfach austauschbar gebraucht oder sogar als ‚Ordnungsstruktur‘ zusammengedacht. Gleichwohl sind sie keine Synonyme, sondern weisen deutliche Unterschiede auf, wie ein Blick auf ihre Verwendungskontexte zeigen kann. Die Theoretisierung und teilweise Verabsolutierung des Strukturbegriffs v.a. durch die strukturalistischen Strömungen des 20. Jahrhunderts hat mit Sicherheit großen Anteil an der heutigen Privilegierung des Strukturbegriffs vor dem der Ordnung. Wenn es um die präzise Beschreibung eines spezifischen Sachverhalts geht, erscheint Struktur als historisch gewachsener und definierter Begriff passgenauer als der Begriff der Ordnung, der trotz einzelner Ansätze nie eine solche Konkretisierung und diskursive Wirkmächtigkeit entfaltet hat. Ordnung und Struktur kommen begrifflich nicht mehr zur Deckung, nimmt man die Perspektive in den Blick, aus der sich die beiden Begriffe ihrem Bezugspunkt jeweils annähern. Wie Roland Barthes in seinem Aufsatz „Die strukturalistische Tätigkeit“ beschreibt, bildet jede Struktur ihr Objekt als simulacrum ab und legt dadurch offen, wie dieses Objekt funktioniert.101 Nicht die Abbild-, sondern die Erklärungsfunktion, die der Struktur nach Barthes innewohnt, ist das entscheidende Moment. Denn die durch die Abstraktion vom Gegenstand erzeugte Dekomplexisierung geht einher mit einer Zunahme an Erkenntnis über diesen Gegenstand. Selbst wenn man die emphatische epistemologische Aufwertung des Strukturbegriffs bei Barthes nicht mitgehen möchte, lässt sich doch feststellen, dass sich eine 101

Barthes (1963) 1966

30

Einleitung

Struktur im Gegensatz zu einer Ordnung besonders durch die Eigenschaft auszeichnet, eine verallgemeinernde Perspektive zu eröffnen und damit für ganz unterschiedliche Gebiete anschlussfähig zu sein.102 Anders verhält es sich mit Ordnung. Das Konzept von Ordnung ist weniger ausdifferenziert und durch spezifische theoretische Positionen belegt als das der Struktur. Ein Spezifikum von Ordnung liegt zudem darin, dass Ordnung nicht nur ein statisches, sondern auch ein dynamisches Moment impliziert. Dadurch tritt der Bezug zu ,etwas‘, das geordnet wird, deutlicher hervor als beim Begriff der Struktur. Aus der eben skizzierten terminologischen und begrifflichen Varianz ergeben sich einige konzeptuelle Bemerkungen: Das begriffliche Manual zur Erfassung bestimmter konzeptioneller oder thematischer Komplexe eines Textes kann, ganz allgemein gesprochen, entweder induktiv aus dem Text gewonnen oder von außen an ihn herangetragen werden. Wenn in dieser Arbeit der Begriff der Ordnung ins Zentrum gestellt wird, liegt dem ein Mittelweg zwischen einer induktiven und einer deduktiven Methode zugrunde: Dass Ordnung und ordo gänzlich dasselbe begriffliche Spektrum erfassten, ist nicht die Prämisse dieser Arbeit. Die beiden Wörter erschöpfen sich nicht auf der Ebene der Übersetzung. Obgleich ordo vielfach an programmatischen Stellen in De Rerum Natura genannt ist, würde es zu kurz greifen, ordo völlig deckungsgleich mit Ordnung zu lesen (und umgekehrt). Den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung bildet also nicht die Annahme einer bloßen Entsprechung der Begriff Ordnung und ordo und die methodische Konsequenz einer darauf aufbauenden Wortfeldanalyse. In De Rerum Natura wird vielmehr eine Vielzahl von Termini und Beschreibungen verwendet, die das Begriffsfeld von Ordnung umfassen. Wie vor diesem Hintergrund die Formierung der Dinge aus Atomen dargestellt wird, welche Bilder, Metaphern, Analogien und andere Beschreibungsmuster der Bestrebung zugrunde liegen, die epistemologische Herausforderung einer atomistischen Welterklärung zu bewältigen, das soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit untersucht werden. Unter rein terminologischen Gesichtspunkten (dies wäre die deduktive Seite der Begründung für die Wahl des Ordnungsbegriffs) vermag Ordnung die beiden Hauptaspekte der rerum natura am besten zu erfassen.103 Ordnung ist aber auch von konzeptueller Bedeutung für De Rerum Natura, weil dort das ,Andere‘ der Ordnung oder, um mit Bernhard Waldenfels zu sprechen, das „X […], das der Ordnung entgegensteht“,104 auf ganz spezifische Weise in den Fokus gerückt wird. De Rerum Natura ist ein Werk über die natura, d.h. über die Entstehung, Beschaffenheit und die Voraussetzungen der Dinge, beginnend beim Kleinsten 102

103

104

In dieser Weise spricht auch Lévi-Strauss (1958) 1967, S. 301 davon, dass die ethnologischen Strukturforschungen keines eigenen Forschungsgebiets bedürften: „[S]ie bilden eher eine Methode heraus, die sich zur Anwendung auf verschiedene ethnologische Probleme eignet“. Zur Unterscheidung von „Ordnung im statuarischen Sinne“ und der „Herstellung oder Entstehung eines solchen Zusammenhangs“ vgl. auch Waldenfels 1987, S. 17. Waldenfels 1987, S. 20.

Gegenstand und Methode der Arbeit

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bis zum unermesslich großen Kosmos. Genau genommen beginnt Lukrez sein Werk aber nicht mit der Entstehung der Dinge, sondern davor. Was nämlich im ersten und zweiten Buch von De Rerum Natura verhandelt wird, ist noch nicht die Ordnung der Welt – es ist aber auch kein Chaos. Dem Begriff des Chaos soll hier daher der Begriff der Unordnung vorgezogen werden, denn die Verbindung von Ordnung und Unordnung schafft zweierlei: Zum einen erzeugt sie eine Differenz, indem – auch morphologisch – Ordnung von etwas unterschieden wird, das keine Ordnung ist. Zum anderen bleibt auf diese Weise die Ordnung in der Unordnung präsent. Gerade dieser Aspekt ist für die Beschreibung von Ordnung und ihres ,Anderen‘ in De Rerum Natura von zentraler Bedeutung.105 1.3.2

Ordnung im philosophischen Diskurs der Antike

Auch wenn es in dieser Arbeit in erster Linie darum gehen soll, die Darstellungsformen von Ordnung in De Rerum Natura zu untersuchen, ist es an dieser Stelle geboten, die zugrunde gelegte Fragestellung in einem philosophiehistorischen Rahmen zu verorten: Es soll über die Art und Weise Aufschluss gewonnen werden, in der im System der epikureischen Philosophie – sei es nun in der Physik, Ethik oder Epistemologie – Ordnung ,konzeptualisiert‘106 ist. Darüber hinaus soll skizziert werden, welche Bedeutung Ordnungsvorstellungen in anderen philosophischen Strömungen zukommt, um auf diese Weise unterschiedliche Funktionen und Repräsentationen von Ordnung klarer beschreiben zu können. Denkt man Ordnung und Epikureismus zusammen, so scheint dies zunächst eine contradictio in adiecto zu sein. Denn welche Rolle könnte Ordnung in einem philosophischen System spielen, das ganz wesentlich auf einer antiteleologischen und kontingenzbasierten Weltsicht fußt und unentwegt die Instabilität des Kosmos und aller in ihm befindlichen Dinge ins Gedächtnis ruft? Schenkt man dem Testimonium des Laktanz Glauben, wäre das Nachdenken über Ordnung bei Epikur von vornherein hinfällig. So schreibt er Epikur im Kontext der Diskussion um (göttliche) Vorsehung in der Welt die folgende Äußerung zu (inst. 3,17,17):

105

106

Die Gegenüberstellung von Ordnung und Unordnung impliziert neben diesem konzeptuellen einen deskriptiven Aspekt. Die Gegenüberstellung von Ordnung und Chaos wiederum enthält zumeist eine über den rein deskriptiven Status hinausgehende (kulturell determinierte) Konnotation, die eine wie auch immer geartete Hierarchisierung bzw. Wertung (chronologisch, sozial, moralisch) der beiden Begriffe vornimmt. Ob es im Epikureismus Konzepte, Ideen oder Substrate geben kann, ist Gegenstand zahlreicher Debatten, die ihren Ausgangspunkt zumeist von der epikureischen Sprachphilosophie nehmen. Für einen Überblick vgl. die Einleitung zum Kapitel über die Buchstabenanalogien (Kap. 2.2).

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Einleitung si enim providentia nulla est, quomodo tam ordinate, tam disposite mundus effectus est? ,nulla‘, inquit, ,dispositio est; multa enim facta sunt aliter quam fieri debuerunt.‘ Wenn es nämlich keine Vorsehung gibt, wie kommt es dann, dass die Welt so wohlgeordnet, so wohl eingeteilt erschaffen wurde? Er [sc. Epikur] sagt: ,Es gibt keine Ordnung. Viele Dinge sind nämlich anders geschaffen als sie hätten geschaffen werden müssen.‘107

Was Epikur nach Laktanz ablehnt, ist eine determinierte Ordnung. Er stellt nicht in Abrede, dass die Dinge entstanden sind (facta sunt), sondern dass sie nach einem bestimmten Plan entstanden sind. Der Verweis Epikurs auf die Unzulänglichkeiten in der Welt, d.h. offensichtlich defektive Ordnungen, bildet daher einerseits einen Beweis für die offensichtlich falsche, da in sich widersprüchliche Welterklärung, gibt andererseits ex negativo einen Hinweis darauf, wie Ordnung nach Epikur in der Welt zu verorten ist: Weniger dass, sondern wie die Dinge entstehen, ist von Bedeutung. Studien, die dezidiert ein mögliches Konzept von Ordnung im Epikureismus untersuchen, sind rar.108 Dies mag der (scheinbar) aporetischen Fragestellung nach dem Platz der Ordnung in einem philosophischen System sein geschuldet sein, das den Zufall in sein Zentrum rückt, aber auch mit einem methodologischen Problem zusammenhängen: Konzeptuelle Fragestellungen sehen sich per se vor der Herausforderung, ihren Gegenstand zugleich voraussetzen und erst noch definieren zu müssen. Eine Begriffsbestimmung ist in dieser zirkulären Bewegung immer nur approximativ möglich und kann nie zu einem definitiven Schluss kommen. Versucht man unabhängig von Zeit, Ort und doktrinärer Verortung Aufschluss über bestimmte Vorstellungen von Ordnung zu gewinnen, sind zwei Bereiche dafür prädestiniert: politisch-soziale und kosmologische Ordnungen.109 Im philosophischen Kontext werden die beiden Bereiche häufig ineinander geblendet, wenn z.B. die Ordnung des Kosmos durch der Ebene der menschlichen Gesellschaft entlehnte Bilder und Metaphern beschrieben wird.110 Im Epikureismus treten aber gerade diese beiden Bereiche, das Politisch-Soziale und die Kosmologie, hinter die ethischen Hauptziele zurück. Ihnen wird in der gängigen Interpretation des epikureischen Lehrgebäudes eine dienende Funktion zugewie107 108

109

110

Text: Heck/Wlosok 2007; Übers.: Nickel 2011. Vgl. aber die Überlegungen von Wilson 2008, S. 85‒88 zur Integration des Ordnungsbegriffs in der epikureischen Kosmologie und von Hahmann (im Erscheinen) zu einer möglichen Ordnungskonzeption in der epikureischen Ethik. Dies lässt sich besonders deutlich aus Überblicksdarstellungen ableiten. Vgl. z.B. HWPh s.v. Kosmos, v.a. Sp. 1167. Einen ausführlichen Überblick über die Verwendungsbereiche des kosmos-Begriffs gibt auch Kerschensteiner 1962, S. 4‒24. Eine gute und materialreiche Überschau über die Verwendung dieser Bildlichkeit bei den Vorsokratikern bietet Lloyd 1966, S. 210–232.

Gegenstand und Methode der Arbeit

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sen.111 Trotz seiner Zurückhaltung112 hinsichtlich der aktiven Mitgestaltung des Gemeinwesens erkennt Epikur die grundsätzliche Bedeutung eines funktionierenden Staates durchaus an: „Das Recht ist als soziale Voraussetzung für die Philosophie anzusehen, nicht als ihre Folge. Alles, was dem Ziel der Sicherung des philosophischen Lebens dient, hat als gut zu gelten. Dazu gehört die staatliche Ordnung.“113 In dieser Schutzfunktion der staatlichen Ordnung liegt für Epikur, ähnlich wie auch für Platon, die Existenz menschlicher Gemeinschaften begründet.114 Bei Aristoteles spielt dieser Aspekt ebenfalls eine zentrale Rolle für die Herausbildung von nach bestimmten Prinzipien geordneten Gemeinschaften. Die Entstehung einer polis ist bei ihm aber auf ein Streben des Menschen (ὁρμή), d.h. auf eine spezifische Disposition der menschlichen Natur zurückzuführen.115 Auch gemäß der stoischen Auffassung ist der Mensch ein κοινωνικόν ζῷον, das von Natur aus der Gemeinschaft bedarf.116 Dieses übereinstimmende Streben nach politischer bzw. sozialer Ordnung hat freilich unterschiedliche Gründe und Ziele: „Anders als bei Aristoteles oder Platon wird bei Epikur die Entwicklung, die zum Entstehen eines Staates führt, nicht durch ein natürliches Streben nach Gemeinschaft […], sondern durch äussere [sic] Umstände und durch Streben nach Sicherheit bestimmt.“117

Diese verschiedenen Konzeptionen von menschlicher Ordnung spiegeln letztendlich auch einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Epikureismus und den anderen philosophischen Schulen wider: Die antiteleologische Weltsicht, die Epikur an die Stelle der Teleologie setzt, macht die Vorstellung einer Ordnung nicht unmöglich oder obsolet, stellt sie aber unter gänzlich andere Vorzeichen.

111 112

113 114

115

116 117

So z.B. Erler 1994, S. 139. Die für die philosophische Praxis topisch gewordenen Lehrsätze Epikurs (v.a. Λάθε βιώσας) proklamieren für den Weisen ein Leben ohne politische Betätigung. Wie Fowler 1989 unter Einbezug weiterer Quellen wie Philodem, Cicero und Plutarch zeigen kann, darf der Leitsatz aber nicht als generelle Politikfeindlichkeit verstanden werden. Erler 1994, S. 163. Vgl. Prot. 322b: […] ἐζήτουν δὴ ἁθροίζεσθαι καὶ σῴζεσθαι κτίζοντες πόλεις („[…] und so suchten sie sich nun zusammenzutun und sich zu retten, indem sie gemeinsame Wohnstätten gründeten“. Text: Burnet (1908) 1961; Übers.: Bayer/Bayer 2008). Vgl. Schütrumpf 2011, S. 306. Zur ὁρμή vgl. Aristot. pol. 1,1253a: φύσει μὲν οὖν ἡ ὁρμὴ ἐν πᾶσιν ἐπὶ τὴν τοιαύτην κοινωνίαν („Von Natur aus lebt aber in allen ein Drang nach einer solchen Gemeinschaft“. Text: Ross 1957; Übers.: Schütrumpf 1991). Vgl. SVF ΙΙΙ, 686. Erler 1994, S. 164. Zu den Unterschieden zwischen dem platonischen und aristotelischen Konzept der polis vgl. Schütrumpf 2011, S. 304.

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Einleitung

Neben politisch-sozialen Ordnungsverhältnissen sind Kosmologien die Orte für Reflexionen über Ordnung schlechthin, wie folgendes Beispiel aus Platons Gorgias illustrieren kann: Himmel, Erde, Götter und Menschen werden hier durch die gleichen ordnungsstiftenden Mechanismen verbunden und in ihrer Gesamtheit als Ordnung benannt (Gorg. 507e–508a): φασὶ δ᾽ οἱ σοφοί, ὦ Καλλίκλεις, καὶ οὐρανὸν καὶ γῆν καὶ θεοὺς καὶ ἀνθρώπους τὴν κοινωνίαν συνέχειν καὶ φιλίαν καὶ κοσμιότητα καὶ σωφροσύνην καὶ δικαιότητα, καὶ τὸ ὅλον τοῦτο διὰ ταῦτα κόσμον καλοῦσιν, ὦ ἑταῖρε, οὐκ ἀκοσμίαν οὐδὲ ἀκολασίαν. Nun sagen aber die Weisen, Kallikles, dass die Gemeinschaft und die Freundschaft Himmel und Erde, Götter und Menschen zusammenhalten und der Sinn für Ordnung und die Besonnenheit und der Gerechtigkeitssinn. Und dieses Ganze nennen sie deshalb Kosmos, mein Freund, nicht Ordnungslosigkeit und nicht Zügellosigkeit.118

In Platons Ausführungen hat Ordnung für Mensch, Gott und für die Mikro- wie auch die Makroebene der Welt gleichermaßen Gültigkeit.119 Nicht zuletzt weist diese Form der Analogisierung auch eine wertende Komponente auf, wie Ernan McMullin herausstellt: „The order that exists in the visible cosmos, for Plato in particular, is a sort of image of the order that exists in the life of a good and reasonable man.“120 Wie in der platonisch-aristotelischen Tradition121 oder der stoischen Idee einer kosmopolis122 scheinen auch im Epikureismus der Kosmos und die menschliche Gesellschaft zueinander in Bezug gesetzt worden zu sein: So stellt Don Fow118 119

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122

Text: Burnet (1908) 1961; Übers.: Dalfen 2004. Zur möglichen Identifizierung der hier genannten Weisen als Anhänger des Empedokles (aufgrund der kosmischen Implikationen von philia) oder des Pythagoras (aufgrund der Pythagoras zugeschriebenen Prägung der Verwendung von kosmos für das geordnete Weltall) vgl. Dodds 1959 ad loc. und Schluderer 2016, S. 12. McMullin 1968, S. 63. Wie Mesch 2017, S. 217 zum obigen Auszug aus dem Gorgias bemerkt, „stehen ethisch-politische Fragen meist so stark im Vordergrund, dass der wahrnehmbare Kosmos, das geordnete Weltganze, fast ausschließlich als Voraussetzung für die Ordnung von Einzelseelen in den Blick kommt“. Zur platonischen Auffassung einer Ordnung schaffenden Vernunft, die gleichermaßen im einzelnen Menschen wie im Kosmos wirkt, vgl. Szlezák 1996, v.a. S. 34f. Szlezák hebt hervor, dass „die Verbindung von Wissen vom Kosmos und Wissen um die politische Gestaltung des Staates“ (S. 28) ein zentrales Charakteristikum der platonischen Konzeption von Philosophie und Politik sei, das sich gerade auch in der Sprache niederschlage (S. 34f.): Die Metaphorik des Zusammenflechtens (συμπλοκή) oder Zusammenmischens (σύγκρασις) werde von Platon gleichermaßen für die Handlung des Politikers im Staat wie für den Kosmos verwendet; vgl. z.B. Tim. 31 b–c. Zur stoischen Kosmopolis vgl. zuletzt Forschner 2018, S. 170 und S. 260f.

Gegenstand und Methode der Arbeit

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ler die These auf, dass gerade im epikureischen Kontext die Verbindung von kosmos und polis sprachlich am konsequentesten durchgeführt worden sei: „The metaphors of cosmic democracy are only fully carried through by the Epicureans“.123 Als Nachweis führt Fowler an, dass Junkturen wie foedera naturai oder foedera rerum vor Lukrez nicht belegt sind. Aufgrund der Überlieferungslage gibt es darüber hinaus jedoch keine allzu umfangreichen textbasierten Nachweismöglichkeiten. Gleichwohl bildet die atomistische Grundprämisse der Epikureer eine naheliegende Grundlage, um den Kosmos wie ein Gemeinwesen als einen Ort zu beschreiben, an dem viele Einzelelemente miteinander interagieren. Im Vergleich mit Platon und Aristoteles lässt sich daher von einer perspektivischen Verschiebung sprechen, wenn nicht nur der Kosmos in seiner Gesamtheit, sondern auch die kleinsten Teile des Kosmos mit dem Menschen und menschlichen Gemeinschaften in Verbindung gebracht werden. Hierin besteht auch die Nähe zu stoischen Konzeptionen und Darstellungen, deren Basis ebenfalls die Annahme der Existenz von Grundelementen bildet – allerdings solchen, die Anteil am Göttlichen haben.124 Während bei Platon, Aristoteles und in der Stoa der Kosmos als lebendiger Organismus aufgefasst und dementsprechend sprachlich repräsentiert wird, ergibt sich eine solche Annäherung in der atomistisch basierten Kosmologie nicht unmittelbar. David Furley hebt aber mit Blick auf Leukipps bei Diogenes Laertios (9,31) überlieferte Weltentstehung hervor: „Cosmogony is the story of a birth, even for an atomist“.125 Dies spiegelt sich auch bei Epikur wider. In der Nachfolge der Atomisten ist sein Kosmos unbelebt. Den Vergleich des Kosmos mit einem Lebewesen, d.h. eine sprachliche Bezugnahme, schließt dieser Befund allerdings nicht aus, glaubt man der doxographischen Tradition: Ἐπίκουρος πλείστοις τρόποις τὸν κόσμον φθείρεσθαι· καὶ γὰρ ὡς ζῷον καὶ ὡς φυτὸν καὶ πολλαχῶς (fr. 305 Us. [= Aët. 2,4,10]) („Epikur [sagt], dass der Kosmos auf ganz unterschiedliche Weisen vergeht: wie ein Lebewesen und wie eine Pflanze und auf vielfältige Art“).126 In der oben konstatierten perspektivischen Verschiebung der Sicht auf die Welt liegt somit der grundlegende Unterschied zwischen den philosophischen Traditionen: Während der Fokus bei Aristoteles auf der Erklärung von Ganzheiten liegt – Furley spricht von „whole forms“127 –, sucht die atomistische Tradition nach Erklärungen durch Partikularisierung: „Atomists regard whole forms as something to be explained by reducing them to their compound parts.“128 Diese 123 124 125 126

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Fowler 2002, S. 380 ad 302. Vgl. dazu ausführlicher Forschner 2018, S. 136‒143. Furley 1989, S. 230. Vgl. dazu Solmsen 1953, S. 50 und Garani 2007, S. 73. Dass sich die Fortführung der Bildlichkeit bei Epikur weniger mit der Fortführung einer spezifischen Lehrmeinung als mit dem medizinischen Zeitdiskurs erklären lässt, erläutert Solmsen 1953. Furley 1989, S. 233. Furley 1989, S. 233.

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Grundunterscheidung begründet Furley mit einem divergierenden epistemologischen Interesse: Die Erklärungen, die die Atomisten geben, zeugen von einer „preference for the bits and pieces of things“.129 Vor dem Hintergrund dieser pointierten Feststellung wird auch deutlich, weshalb die Untersuchung der „bits and pieces“ eine so zentrale Rolle für das Verständnis der inhaltlichen und sprachlichen Konzeption des epikureischen Kosmos spielt. Der Gemeinplatz, dass Sprache die Welt formt, dass aber auch die Welt die Sprache formt, findet sich hier auf eindrückliche Weise illustriert. Im Folgenden soll daher die Sprache Epikurs auf jene Spuren des epikureischen Ordnungsdenkens hin untersucht werden. Besonders aufschlussreich sind dafür die Briefe an Herodot und an Pythokles, da Epikur in diesen Kondensaten seiner Lehre die Zusammenschlüsse von Atomen, sei es nun in einem dezidiert kosmologischen Kontext, sei es zur Erklärung bestimmter meteorologischer Phänomene, ausführlicher beschreibt.130 Im 89. Kapitel des Briefes an Pythocles legt Epikur dar, dass es nicht nur eine, sondern unermesslich viele, ähnlich beschaffene Welten gibt. In diesem Zusammenhang beschreibt er auch, wie eine solche Welt entsteht: […] ἐπιτηδείων τινῶν σπερμάτων ῥυέντων ἀφ’ ἑνὸς κόσμου ἢ μετακοσμίου ἢ ἀπὸ πλειόνων κατὰ μικρὸν προσθέσεις τε καὶ διαρθρώσεις καὶ μεταστάσεις ποιούντων ἐπ’ ἄλλον τόπον, ἐὰν οὕτω τύχῃ, […]. (90) Οὐ γάρ ἀθροισμὸν δεῖ μόνον γενέσθαι οὐδὲ δῖνον ἐν ᾧ ἐνδέχεται κόσμον γίνεσθαι κενῷ […]. […] dabei fließen irgendwelche passenden Samen von einer einzigen Welt, einer Zwischenwelt oder von mehreren Welten ab und verursachen allmählich Zusammensetzungen, Gliederungen und Umstellungen an einen anderen Ort, wenn es sich so ergibt […]. (90) Denn es reicht nicht aus, dass dort nur eine Ansammlung und ein Wirbel im Leeren erfolgen, worin eine Welt entstehen und sich vergrößern kann […].131

Die Atome – von Epikur als spermata bezeichnet – konstituieren (ποιεῖν132) eine neue Welt, wenn sie sich aus einer anderen Verbindung gelöst haben.133 Interes129 130

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Furley 1989, S. 235. Vgl. Garani 2007, S. 52 zum Einfluss von Empedokles auf Epikur. Garani geht mit Blick auf die Verwendung von Metaphern bei Epikur von einer engen intertextuellen Bezugnahme auf Empedokles aus. Alle Epikurbriefe werden nach Diogenes Laertios (Text: Marcovich 1999) und der Übersetzung von Nickel 2011 zitiert. Vgl. hierzu Morel 2003, S. 36 und S. 44. Die auf Heraklit zurückgehende Metapher des Fließens untersucht Garani 2007, S. 198 ausführlicher für kosmologische Kontexte. Garani ist darin zuzustimmen, dass Epikurs Verwendung dieser Metaphorik eine Verbindung zu Heraklit herstellt, auch wenn seine philosophische Doktrin nicht mit der Heraklits zur Deckung kommt. Eine implizite Kritik Epikurs an Heraklits Postulat einer sich kontinuierlich verändernden Welt, gerade

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sant ist hier zunächst, dass die Atome als „passend“ oder „geeignet“ (ἐπιτήδειος) bezeichnet werden. Dies deutet darauf hin, dass die Entstehung einer Welt nicht auf einer gänzlich zufälligen Zusammenfügung einzelner Elemente beruht, sondern dass es Baupläne, d.h. Ordnungsmuster gibt, nach denen sich alles bildet. Dass diese Form der Weltentstehung nicht auf eine teleologische Weltordnung hinweist, ist deutlich markiert,134 denn der Konditionalsatz, der auf die Auflistung der verschiedenen Zusammensetzungen folgt, stellt all diese Vorgänge unter die Bedingung des Zufalls (ἐὰν οὕτω τύχῃ). Wenn Epikur die Zusammenfügungen genauer beschreibt, bedient er sich eines breiten terminologischen Spektrums.135 Der Vorgang des Ordnens auf der atomaren Ebene ist also nicht „dissapointingly vague“136 beschrieben und besteht keineswegs lediglich in einer einfachen Bewegung des Zusammengehens. Diese Tatsache findet auch auf der sprachlichen Ebene ihren Ausdruck, wie der resümierende Nachsatz in Kap. 90 nahelegt: οὐ γάρ ἀθροισμὸν δεῖ μόνον γενέσθαι οὐδὲ δῖνον.137 Cyril Bailey macht deutlich, dass eine Zusammenfügung von Atomen die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Entstehung einer Welt ist: „[M]any conditions are requisite besides the mere aggregation of atoms in a void“.138 Gerade im Terminus ἀθροισμός (Anhäufung, Verdichtung), der die Verbindung von Einzelelementen in Form einer dichten Zusammenballung zum Ausdruck bringt (vgl. ἀθρόος „dicht gedrängt“, „versammelt“),139 wird dieser Aspekt besonders akzentuiert: „[I]t connotes no harmonious unity: it rather has the sense of a mixing-up into a mass“.140 Den eigentlichen Vorgang der Kosmogenese beschreibt Epikur detaillierter: πρόσθεσις („Zusatz, Vermehrung“), διάρθρωσις („Gliederung“) und μετάστασις („Umstellung“) unterscheiden verschiedene Aspekte von Ordnung. Während der Begriff πρόσθεσις in erster Linie die Hinzufügung von Material, d.h. einen quantitativen Aspekt bezeichnet,141 sind mit διάρθρωσις und μετάστασις zwei Be-

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durch die Verwendung diese Metaphorik, wie Garani vermutet, lässt sich aber schwer nachweisen. In diesem Sinn auch Long 1977, S. 72f.: „It [sc.ἐπιτήδειος] should not be regarded as an incautious lapse into teleological language but a fundamental concept which helps Epicurus to outline a doctrine analogous to Aristotle’s ,hypothetical necessity‘“. Furley 1999, S. 425 und im Anschluss daran Taub 2012, S. 55f. heben v.a. die häufig in Kosmogonien gebrauchte physiologische Metaphorik der spermata hervor. Furley 1999, S. 425. Zur Rolle des Wirbels in der Darstellung Epikurs und bei den Vorsokratikern vgl. u.a. Furley 1999, S. 426; Morel 2003, S. 43f. Bailey 1926 ad loc. Häufig finden sich das Substantiv ἀθροισμός bzw. ἄθροισις und das Adjektiv ἀθρόος auch zur Bezeichnung der Zusammenstellung von einzelnen Körpern zu einer Gesamtheit, wie z.B. im kriegerischen Kontext. Vgl. LSJ s.v. ἀθροισμός und ἄθροισις bzw. ἀθρόος II. Keen 1979, S. 66. Vgl. LSJ s.v. πρόσθεσις III.

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Einleitung

griffe genannt, die die Art der Zusammenfügung präzisieren. Im anatomischen Gebrauch bezieht sich διάρθρωσις auf das Gelenk, also den Punkt, an dem zwei unterschiedliche Knochen zusammenkommen und zusammengehalten werden.142 Auch wenn dieses konkrete Bild nicht auf die Entstehung eines Kosmos übertragen werden kann, enthält es doch eine Ebene, die sich auch in einer Kosmogonie wiederfinden lässt. Ein Gelenk ist eine Form von Gliederung, die zugleich trennt und verbindet.143 In ähnlicher Weise müssen sich demnach auch die einzelnen Atome so zusammenfinden, dass sie von anderen διαρθρώσεις unterschieden sind. Der dynamische Aspekt der Kosmogenese, der auch in den beiden bereits untersuchten Begriffen aufscheint, tritt besonders deutlich im dritten Begriff, der μετάστασις, hervor. Die μετάστασις ἐπ’ ἄλλον τόπον beschreibt die Bewegung der Materie von einem Ort zu einem anderen. Dabei muss dahingestellt bleiben, ob damit, wie Bailey vermutet, schon die Anordnung der unterschiedlichen Elemente an den ihnen zukommenden Platz gemeint ist,144 oder ob lediglich zum Ausdruck kommen soll, dass bei der Entstehung eines Kosmos verschiedene, klar voneinander zu unterscheidende Teile zueinander gruppiert werden. Für die Ordnung der Atome jenseits eines kosmologischen Zusammenhangs findet sich in Epikurs Briefen eine Vielzahl von Beschreibungen. In Ep. Hdt. 43 stellt Epikur die Bewegung der Atome und ihre Zusammenschlüsse dar und greift dabei auf den Begriff περιπλοκή („Verflechtung“) zurück:145 Κινοῦνταί τε συνεχῶς αἱ ἄτομοι […] τὸν αἰῶνα, καὶ αἱ μὲν εἰς μακρὰν ἀπ’ ἀλλήλων διϊστάμεναι, αἱ δὲ αὖ τὸν παλμὸν ἴσχουσιν ὅταν τύχωσι τῇ περιπλοκῇ κεκλειμέναι ἤ στεγαζόμεναι παρὰ τῶν πλεκτικῶν. Die Atome bewegen sich ununterbrochen die ganze Zeit lang, […] und teils bewegen sie sich weit entfernt voneinander, teils behalten sie wiederum ihre schwingende Bewegung, wenn sie zufällig miteinander verflochten oder umschlossen sind von solchen, die die Verflechtung verursachen können.

Die Atome sind also nicht lose verknüpft, sondern eng miteinander verbunden. Zwei unterschiedliche Möglichkeiten für diese Verbindung werden hier genannt: zum einen die Verflechtung (τῇ περιπλοκῇ κεκλειμέναι), zum anderen die Umschließung (στεγαζόμεναι παρὰ τῶν πλεκτικῶν). Nicht alle Atome, so scheint es,

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LSJ s.v. διάρθρωσις 1 mit Verweisen auf Hippokrates und Aristoteles’ Historia animalium und De generatione animalium. Vgl. Bailey 1926 ad loc. Ähnlich LSJ s.v. διαρθρόω „divide by joints“. Vgl. Bailey 1926 ad loc.: „μετάστασις: the moving of portions of matter to their appropriate places, e.g. of the fiery materials to the sky“. Zu einer Einordnung der Metapher des Flechtens in den philosophiehistorischen Kontext (bei den Vorsokratikern und Platon) vgl. Garani 2007, S. 162.

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gehen Verbindungen ein; teilweise werden sie lediglich zu einem Teil einer Verbindung gemacht, an der sie keinen aktiven Anteil haben.146 Nicht nur der Prozess der Zusammensetzung von Atomen, sondern auch deren Ergebnis wird bei Epikur reflektiert. Im Passus zur Theorie der eidola findet sich eine Charakterisierung des Zusammenschlusses von Atomen als τάξις und θέσις in einem Körper (Ep. Hdt. 48): σῴζουσα τὴν ἐπὶ τοῦ στερεμνίου θέσιν καὶ τάξιν τῶν ἀτόμων ἐπὶ πολὺν χρόνον, εἰ καὶ ἐνίοτε συγχεομένη ὑπάρχει […]. Die Strömung bewahrt die Lage und die Ordnung der Atome am festen Körper für lange Zeit, auch wenn sie manchmal durcheinander gerät […].

Nach den Zeugnissen des Aristoteles sind θέσις („Lage“) und τάξις („Ordnung“, „Anordnung“) bereits bei Leukipp und Demokrit Zentralbegriffe einer Ordnungsvorstellung, die durch den Vergleich von Buchstaben und Atomen anschaulich gemacht wird. Diese Form der Ordnung betont den Aspekt der räumlichen Verortung, d.h. in welcher Position das einzelne Atom situiert ist, und die Relationierung, d.h. die Anordnung der Atome zueinander.147 Damit trifft Epikur sowohl Aussagen über das einzelne Atom, dessen Lage innerhalb einer Ordnung von Bedeutung ist, als auch über die Verbindung mehrerer Atome, deren Anordnung zueinander die Gesamtordnung ebenfalls beeinflusst. Diese Ordnung der Atome in den Abbildern ist aber nicht von ewiger Dauer, sondern hält mit einkalkulierten Störungen (ἐνίοτε συγχεομένη)148 „über lange Zeit“ (ἐπὶ πολὺν χρόνον) vor. Gerade darin liegt ein Ansatzpunkt, um einen möglichen Widerspruch zwischen den Prämissen der epikureischen Philosophie und einem Begriff von Ordnung aufzulösen, denn Ordnung ist bei Epikur im Wesentlichen dynamisch und temporär gedacht. Hinzu kommt: Diese Ordnung bildet sich selbst, ohne Hinzutun einer in welcher Weise auch immer ordnenden Instanz. Eine solche Sichtweise auf Ordnung steht hinter der Vorstellung einer dauerhaften, von einem platonische Demiurgos eingerichteten Ordnung zurück. Im platonischen Timaios lässt sich beispielsweise beobachten, dass eine Schöpfung der Welt als Ordnung thematisiert wird, deren Schöpfergott ein „Zusammensteller“ 146

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Bailey 1926 ad loc. konkretisiert die aus diesen Verbindungen entstehenden Dinge: „Epicurus assumes two varieties of these closer compounds. In one the atoms […] are actually interlaced with one another as in most solids, in the other there is as it were an outer case of interlaced atoms, which shuts in a number of other atoms moving freely within […]. It was the latter form that he conceived the body of fluids“. Bei Leukipp und Demokrit ist, wie Aristoteles überliefert, das Konzept der θέσις durch den Buchstaben Ζ veranschaulicht, der, um 90 Grad gedreht, zu Ν wird; die τάξις ist dagegen eine Umstellung, wie die von ΑΝ und ΝΑ (vgl. Aristot. metaph. 985b 13‒19). Vgl. dazu ausführlicher Kap. 2.5.2.1 dieser Arbeit. Während des Ablösungsprozesses und des Wegs der eidola vom Gegenstand zum Auge können die feinen Atomordnungen durch Zusammenstöße beschädigt werden.

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(συνιστάς; Tim. 30b) ist. Er überführt die ungeordnete Bewegung in den Zustand einer Ordnung: εἰς τάξιν αὐτὸ ἤγαγεν ἐκ τῆς ἀταξίας (Tim. 30a).149 Ausgehend von den kosmologischen Ordnungsreflexionen der Akademie lässt sich noch ein weiterer Unterschied zum epikureischen Ordnungsbegriff ausmachen: Nicht nur, dass die platonisch-aristotelische Ordnung eine ,gemachte‘ ist, sie ist auch eine, die wesentlich auf Relationen und Symmetrie beruht.150 Wie sich bereits gezeigt hat, sind die Formen der Ordnung, die bei Epikur zur Darstellung kommen, anders beschaffen, aber deswegen noch lange keine ,wilden‘ Ordnungen. Auch bei Epikur verweisen die Begrifflichkeiten auf bestimmte Grundmuster. Atomare Verbünde werden in den Briefen besonders häufig als συγκρίσεις (lat. concilia) beschrieben. Damit liegt der Akzent auf einer Perspektive, die die Dinge als aus einem Verbindungsprozess hervorgegange Zusammensetzungen beschreibt.151 In den meisten Fällen verwendet Epikur diesen Begriff, wenn die Partikularität jener Zusammensetzungen von Bedeutung ist, wenn also nicht das Ganze, sondern seine Teile betrachtet werden sollen.152 Daneben stehen σύνοδος, συμφυλία,153 oder συστροφή.154 Neben der naheliegenden Bestimmung, dass die Begriffe allesamt eine Form des Zusammenseins beschreiben, lässt sich eine unterschiedliche Perspektivierung der durch diese Begriffe charakterisierten Zusammenschlüsse ausmachen. Wie Garani aufzeigt, wird σύνοδος von Epikur nicht in einem spezifisch technischen Sinne verwendet,155 das Wort stellt aber im allgemeinen Sprachgebrauch häufig einen Zusammenschluss im Sinne einer menschlichen Versammlung dar.156 Mit dem lateinischen Äquivalent coetus bzw. coitus (häufig auch in der verbalen Form co-

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Text: Burnet (1902) 1962. Solmsen 1958, S. 268 hebt die Unterschiede zu vorsokratischen Kosmogonien hervor: „[H]owever we interpret […] the Demiurge, it is clear that what causes the transition from the precosmic to the cosmic condition is not an evolutionary or a mechanical process. This is the essential point where Plato breaks away from the Presocratic tradition. His cosmogony is teleological, not mechanical“. Vgl. Solmsen 1951, S. 22: „As we know, his [sc.Epicurus’] concept [sc.of order] is not founded on the harmony and the beautiful mathematical pattern of the heavenly spheres and movements“. Z.B. Ep. Hdt. 42, 54, 55, 62, 73. Vgl. die Klärung von Garani 2007, S. 52: „[T]he word σύγκρισις […] denotes the intermingling of the atoms“. Vgl. z.B. Ep. Hdt. 42: Πρός τε τούτοις τὰ ἄτομα τῶν σωμάτων καὶ μεστά, ἐξ ὧν καὶ αἱ συγκρίσεις γίνονται καὶ εἰς ἅ διαλύονται, ἀπερίληπτά ἐστι ταῖς διαφοραῖς τῶν σχημάτων („Außerdem sind die unteilbaren und vollen Körper, aus denen die Verbindungen entstehen und in die sie sich auflösen, unfassbar in den Verschiedenartigkeiten ihrer Gestalten“). Beide z.B. in Ep. Pyth. 115. Ep. Hdt. 73. Garani 2007, S. 52. Vgl. LSJ s.v. σύνοδος (B) I.

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ire) bezeichnet auch Lukrez die Atomverbünde.157 Da diese Bildlichkeit bereits von den vorsokratischen Philosophen verwendet wurde und als „one of the principal means“158 zur Veranschaulichung der Ordnung des Kosmos und der Atome gelten kann, lässt sich somit von einer Kontinuität der Metaphorik sprechen, die gleichermaßen der doktrinären Verbundenheit und den Erfordernissen der Sprache zur Veranschaulichung der atomaren Ebene geschuldet ist. Die Komposita συμφυλία und συστροφή lassen ebenfalls erkennen, dass Epikur bei seinen Beschreibungen der atomaren Zusammensetzungen bestimmte Aspekte genauer akzentuiert. So wird im Fall von συμφυλία der Aspekt der Ähnlichkeit des Verbundenen markiert,159 im Fall von συστροφή die Beschaffenheit und Qualität der Verknüpfung. Von στρέφω („drehen“) abgeleitet bezeichnet συστροφή etwas, das ,zusammengedreht‘ und damit eng zusammengebunden ist.160 Auch hier lassen sich Verbindungslinien zu Lukrez herstellen, der mit Verben wie texere oder complecti ganz ähnliche Bilder aufruft, um die Atomverbindungen zu beschreiben.161 Schließlich findet sich bei Epikur (Ep. Pyth. 88) auch das Wort κόσμος in der konkreten Bedeutung von „Welt“ oder „Weltall“.162 Dieser Passus kann darüber hinaus aber auch als formale Definition des Begriffs κόσμος gelesen werden, wenn man die verallgemeinernde Einführung (κόσμος ἐστὶ περιοχή τις […]) als emphatische Bestimmung versteht, die zugleich eine Bedingung beinhaltet. In diesem Fall ist eine wie auch immer geartete Ordnung ganz wesentlich mit der Existenz einer Grenze verbunden: Κόσμος ἐστὶ περιοχή τις οὐρανοῦ, ἄστρα τε καὶ γῆν καὶ πάντα τά φαινόμενα περιέχουσα, ἀποτομὴν ἔχουσα ἀπὸ τοῦ ἀπείρου καὶ καταλήγουσα ἐν πέρατι ἢ ἀραιῷ ἢ πυκνῷ […]. Eine Welt ist ein umgrenzter Teil des Himmels, der Sterne, die Erde und alle anderen sichtbaren Erscheinungen umfasst, einen Abschnitt aus dem Unbegrenzten darstellt und an einer Grenze endet, die entweder dünn oder dicht ist […].

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Lukrez verwendet coitus nur ein Mal (1,184f.): Nec porro augendis rebus spatio foret usus / seminis ad coitum, si e nilo crescere possent ‒ „Ferner wäre auch für das Wachstum der Dinge nicht ein Zeitraum zur Vereinigung der Samen nötig, wenn die Dinge aus dem Nichts hervorwachsen könnten“. Garani 2007, S. 50f. Vgl. LSJ, s.v. συμφυλέτης: „[O]f the same φυλή“. Vgl. LSJ, s.v. συστροφή: „[T]wisting together; […] II. That which is rolled into one mass; 2. Physical mass, aggregate“. Das griechische Äquivalent (συμπλοκή) findet sich nicht in den überlieferten Schriften Epikurs. Zu einer Einordnung dieser Passage in den argumentativen Kontext des Briefes vgl. Bailey 1926 ad loc.

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Einleitung

Die Welt als Ordnung, so zeigt bereits die erste Bestimmung dieser Definition, zeichnet sich durch ihre Begrenzung (περιοχή), d.h. eine strukturelle Eigenschaft aus. Diese Eigenschaft ist nicht nur auf kosmologische Zusammenhänge zu beziehen, sondern beinhaltet auch ein gleichsam globales Merkmal für Ordnung: Ordnung bedeutet Unterscheidung. Insofern ist die epikureische Auffassung von (kosmologischer) Ordnung natürlich weitaus weniger konkret und kategorisierbar als die bei Platon und Aristoteles, sie besitzt aber Merkmale, die sie von anderen Zuständen unterscheidet. Wie aus der vorangegangenen Überschau deutlich geworden ist, lassen sich bei Epikur ganz unterschiedliche Bezugnahmen auf und Darstellungen von Ordnung ausmachen. Es ist dabei aber auch deutlich geworden, dass eine Systematisierung dieser Ordnungsformen weder möglich noch sinnvoll ist. Die angeführten Beispiele können bzw. sollen daher nicht den Anspruch erheben, die Konzeption einer impliziten und vor allem kohärenten Theorie der Ordnung im bei Epikur darzulegen. Drei Schlüsse sollen aber aus den Beispielen gezogen werden: Erstens ist die zeitliche Struktur von Ordnung bei Epikur auf Diskontinuität angelegt, denn im Gegensatz zum einen, ewigen Kosmos bei Platon und Aristoteles stehen im Epikureismus unendlich viele Kosmoi, die sich irgendwann wieder in ihre ursprünglichen Bestandteile auflösen.163 Zweitens kommt auch die epikureische Philosophie offensichtlich nicht ohne ein Konzept und eine sprachlich differenzierte Darstellung von Ordnung aus; drittens ist Ordnung bei Epikur trotz der Überschneidungen in der Sprachbildlichkeit (biologische und politische Metaphern) anders konzeptualisiert als in der platonisch-aristotelischen Tradition oder in der Stoa. Der Grund dafür liegt in der ebenso einfachen wie folgenreichen Prämisse des Epikureismus, nach der alles aus Atomen aufgebaut ist. Die Entstehung und Beschaffenheit einer Ordnung wird also aus einer Perspektive beschrieben, die man als partikular bezeichnen kann. Dementsprechend gibt es bei Epikur eine große Bandbreite an Termini, die verschiedene Aspekte dieser kleinteiligen Ordnungen umfassen. Neben Metaphern, die auf physiologische Vorgänge oder auf die menschliche Gesellschaft verweisen, z.B. „Verflechtungen“ (περιπλοκή, συμφυλία) oder „Zusammenschlüsse“ (σύνοδος), greift Epikur auch auf Bilder zurück, die die atomaren Ordnungen als geradezu mechanische Prozesse beschreiben: Bezeichnungen wie πρόσθεσις („Zusatz“, „Vermehrung“), διάρθρωσις („Gliederung“) oder μετάστασις („Umstellung“) stellen die Entstehung des Kosmos als einen Vorgang dar, bei dem die Atome nicht chaotische und zufällige Verbindungen eingehen, sondern bestimmten Abläufen folgen. Tobias Reinhardt hat mit Blick auf den Terminus ἄτομος die These geäußert, Epikur versuche, dessen metaphorischen Charakter bewusst zu erhalten: „[I]n 163

In diesem Punkt liegt auch die Ähnlichkeit der epikureischen zur stoischen Kosmologie: Der eine, in seiner Existenz zeitlich begrenzte Kosmos löst sich durch die Ekpyrosis wieder auf.

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Epicurus’ texts measures are taken to prevent ἄτομος from sinking down to the level of a mere technical term; instead its character as a live metaphor is preserved“.164 Ausgeweitet auf die obigen Ausführungen zur Bildlichkeit der Ordnung in Epikurs Briefen lässt sich der Unterschied zu den anderen philosophischen Strömungen auch über ihren Metapherngebrauch erklären: Bei Epikur sind Metaphern Übertragungen im Wortsinne, denn die unbelebte Materie und der unbelebte Kosmos werden als belebt beschrieben. Durch diese Distanz zwischen dem illustrandum und dem illustratum bleiben die Metaphern lebendig. In der platonisch-aristotelischen Philosophie und vor allen Dingen in der Stoa ist der Kosmos als belebtes Wesen gedacht. Die verwendeten Metaphern werden dadurch nicht unbedingt zu toten Metaphern, das Verhältnis von Gegenstand und Veranschaulichung unterliegt aber einer geringeren Distanz, da beide am im weitesten Sinne gleichen Gegenstandsbereich – dem Lebendigen – teilhaben. Abschließend soll nun noch ein Blick auf den zeitgenössischen philosophischen Diskurs des 1. Jh. v. Chr. geworfen werden, um auch aus einer synchronen Perspektive Aufschluss über die sprachliche Ausdrucksweise Ordnung im epikureischen Kontext zu erhalten. Neben Lukrez stellen Ciceros philosophische Schriften eine substantielle Auseinandersetzung mit dem Epikureismus in lateinischer Sprache dar. Auch wenn Cicero mehr die epikureische Götterlehre und das epikureische Lustprinzip zum Gegenstand seiner bald polemischen, bald sachlich-kritischen Darstellung macht, blendet er die zentralen Bestandteile der epikureischen Physik nicht aus. Tobias Reinhardt hat herausgearbeitet, dass nicht nur Lukrez die Atome personifiziert und dabei auf Termini zurückgreift, die der Sphäre des Politischen entlehnt sind (concilium, consociare), sondern auch Cicero.165 Dabei gibt es, so betont Reinhardt, kaum Anhaltspunkte für eine direkte intertextuelle Einflussnahme zwischen Lukrez und Cicero.166 Gleichwohl sind sowohl bei Lukrez als auch bei Cicero bestimmte Strukturen erkennbar, die darauf hinweisen, dass es, wenn auch keine direkte Beeinflussung, so doch ein gemeinsames Arsenal zur Beschreibung der atomaren Bewegungen gab. Gerade bei der Darstellung des clinamen tritt dies deutlich zutage: So greifen beide Autoren auf das Kompositum declinare (bei Lukrez auch: inclinare) zurück und die Fallbewegung der Atome wird mit den Junkturen si omnia deorsus […] ferrentur (fin. 1,19) bzw. deorsum cuncta ferantur (Lucr. 2,202), cum deorsum […] ferantur (Lucr. 2,217) und omnia deorsum […] caderent (Lucr. 2,221f.) beschrieben.167 164 165 166 167

Reinhardt 2005, S. 158. Vgl. Reinhardt 2005, v.a. S. 171–173. Reinhardt 2005, S. 152. Eine Entsprechung, die doch die Möglichkeit einer Verbindung der Texte von Cicero und Lukrez auftut, ist die folgende: Cicero schreibt über das clinamen, es sei etwas willkürlich Erfundenes (nam et ipsa declinatio ad libidinem fingitur; fin. 1,19). Bei Lukrez heißt es, die Abweichung des clinamen belaufe sich nur auf ein Minimum, „damit wir nicht schiefe Bewegungen zu erfinden scheinen“ (ne fingere motus obli-

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Einleitung

Von Philodem, dem anderen wichtigen Einflussnehmer des Epikureismus in Italien, sind keine Schriften zur Physik erhalten, weshalb er keine weiteren Erkenntnisse über den sprachlichen Ausdruck von atomarer Ordnung liefern kann.168 Auch bei ihm lässt sich, ähnlich wie im Fall Ciceros, keine direkte Verbindung zu Lukrez nachweisen. Wie Beate Beer in ihrer Studie zu Lukrez und Philodem aber herausgearbeitet hat, lässt sich von einem Diskursgefüge sprechen, an dem beide Autoren teilhaben und das sich – bezieht man auch Ciceros Kritik am Stil der epikureischen Philosophen mit ein – als Auseinandersetzung mit der Frage nach dem angemessenen Verhältnis von philosophischem Inhalt und dessen Form beschreiben lässt.169 1.3.3

Theoretische Annäherungen an Ordnung

Ordnung besetzt in zahlreichen und dabei ganz unterschiedlichen theoretischen Kontexten eine wesentliche Systemstelle. Gerade weil Ordnung nur schwer auf den Begriff zu bringen ist, sollen im Folgenden lediglich die theoretischen Felder umrissen werden, die zur konzeptuellen und terminologischen Schärfung des Ordnungsbegriffs in De Rerum Natura beitragen können.170 Michel Foucaults Ordnung der Dinge ist einer der zentralen Texte über Ordnung. Foucault geht es darum nachzuzeichnen, wie sich das Bestehen von Ordnung in einer Kultur manifestiert und welches Ordnungsschema einer bestimmten Epoche eignet: „[G]emäß welchem Raum an Identitäten, Ähnlichkeiten, Analogien haben wir die Gewohnheit gewonnen, so viele verschiedene und ähnliche Dinge einzuteilen? Welche Kohärenz ist das, von der man sofort sieht, daß sie weder durch eine Verkettung a priori und notwendig determiniert ist, noch durch unmittelbar spürbare Inhalte auferlegt wird?“171

Aus diesem Zitat wird ersichtlich, dass Foucault unter der ,Ordnung der Dinge‘ ihre Einteilung versteht. Sein Erkenntnisinteresse gilt also weniger der Ordnung an sich, als der Frage, wie eine bestimmte Ordnung des Wissens sich herausbil-

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171

quos videamur et id res vera refutet; Lucr. 2,244f.). Lukrez reagiert hier gewissermaßen auf den Vorwurf des Erfindens und schränkt ihn durch die Modifikation ein. Vgl. Asmis 1990, S. 2374; Beer 2009, S. 45. Vgl. zusammenfassend Beer 2009, S. 503‒506. Aus einer weiter gefassten Perspektive, die philosophische, soziologische, wissenschaftstheoretische und literarische Ansätze einbezieht, widmen sich dem Begriff der Ordnung zwei Studien älteren Datums: Das Problem der Ordnung (hg. v. Kuhn 1962) und The Concept of Order (Kuntz 1968); vgl. hier v.a. das instruktive Vorwort auf S. xxv–xxxix. Foucault (1966) 1974, S. 22.

Gegenstand und Methode der Arbeit

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det, sich verfestigt und durch andere Ordnungen abgelöst wird. Das ,Material‘ seiner Ordnung ist nicht Materie, wie bei Lukrez, sondern das Wissen, das „epistemologische Feld, die episteme“172 einer Epoche. Wie aus dem französischen Titel der Ordnung der Dinge, Les mots et les choses, hervorgeht, misst Foucault dem Verhältnis von Sprache und Welt, Wörtern und Dingen dabei eine wichtige Funktion zu. Er möchte aufzeigen, wie Veränderungen der epistemischen Ordnung sich gerade auch in der Sprache bemerkbar machen, d.h. durch welche sprachlichen Formen und Figuren eine bestimmte Ordnung des Wissens zu einem bestimmten Zeitpunkt ihren Ausdruck findet. Für die Arbeit an De Rerum Natura interessiert jedoch nicht die (im weiteren Sinne) historische, diachrone Perspektive der Ordnung der Dinge und auch nicht die Veränderungen im Verhältnis der Wörter zu den Dingen, die Foucault anhand der drei zentralen Paradigmen seiner Untersuchungsepoche vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Ähnlichkeit – Repräsentation – Mensch, herausarbeitet.173 Für die Zeit bis 1600 bilden nach Foucault die vier Ähnlichkeiten convenientia, aemulatio, Analogie und Sympathie,174 d.h. das Denken von Entsprechungen, das zentrale Paradigma zur Darstellung von epistemischen Ordnungen. Wie Alessandro Schiesaro und Petrus H. Schrijvers herausgearbeitet haben,175 kommt dem Denken von Entsprechungen, insbesondere in Form von Analogien, in De Rerum Natura eine solche zentrale epistemologische Funktion zu. Die Episteme der Ähnlichkeit, die nach Foucault bis zum Ende des 16. Jahrhunderts in der abendländischen Kultur eine wesentliche Rolle gespielt hat,176 kann man demnach auch in De Rerum Natura wiederfinden. Wenngleich Foucault richtig konstatiert, dass das Konzept und der Gebrauch der Analogie sich mit der Zeit veränderte, so können einige grundlegende Bestimmungen doch auch für die Betrachtung der Analogien in De Rerum Natura von Nutzen sein. Insbesondere die Beobachtung Foucaults, durch die Analogie könnten sich „alle Gestalten der Welt einander annähern“,177 benennt einen wichtigen Punkt, vergegenwärtigt man sich die Größendimensionen in De Rerum Natura, die vom Atom bis zum unendlichen All reichen. Foucault präzisiert noch weiter: „[D]ie Ähnlichkeiten, die sie [sc. die Analogie] behandelt, sind nicht jene der sichtbaren und massiven der Dinge selbst; es genügt, daß es die subtileren Ähnlichkeiten der Verhältnisse

172 173

174 175 176 177

Foucault (1966) 1974, S. 24. Foucault legt jedoch Wert darauf, keine „Aszendenzgeschichte“ vorzulegen (1974, S. 25): „Auf der archäologischen Ebene sieht man, daß das System der Positivität sich an der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert auf massive Weise gewandelt hat. Das heißt nicht, daß die Seinsweise der Dinge und der Ordnung grundlegend verändert worden ist, die die Dinge dem Wissen anbietet, indem sie sie aufteilt“. Vgl. Foucault (1966) 1974, S. 46–56. Schiesaro 1990, Schrijvers 2007. Vgl. Foucault (1966) 1974, S. 46. Foucault (1966) 1974, S. 51.

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Einleitung

(rapports) sind“.178 Es wird zu untersuchen sein, ob und wie die Unterscheidung zwischen dinglicher Analogie und rein verhältnismäßiger Analogie zur Schärfung des Analogiebegriffs bei Lukrez beitragen kann. Neben Foucaults Auseinandersetzung mit der Figur der Analogie ist es die Fragerichtung selbst, die Anstöße für die Untersuchung von De Rerum Natura geben kann. Wenn Foucault davon spricht, untersuchen zu wollen, „von wo aus Erkenntnisse und Theorien möglich gewesen sind“, oder ein „historische[s] Apriori“ setzt,179 so sind dies Fragen nach dem vor einer Ordnung Liegenden. Gerade diese Perspektive ist auch für die Untersuchung von De Rerum Natura von zentraler Bedeutung. Auf den Umstand, dass sich Lukrez häufig einer Form von „social metaphor“180 bedient, um die Ordnungsprozesse der Atome anschaulich zu machen, wurde oben bereits mehrfach hingewiesen. Diese noch recht unbestimmte ,Soziologie der Atome‘ kann an begrifflicher Schärfe gewinnen, wirft man einen Blick auf moderne soziologische Untersuchungen. Prädestiniert dafür ist Friedrich August von Hayeks Grundlagenwerk der Soziologie Recht, Gesetz und Freiheit (1979). Hayek unterscheidet zwischen zwei Formen der Ordnung: kosmos und taxis.181 Nicht nur aufgrund dieser terminologischen Entsprechungen kann Hayeks soziologische Theorie die Untersuchung von De Rerum Natura sinnvoll ergänzen, sondern auch aufgrund ihrer konzeptuellen Bestimmungen. Diese setzen nämlich gerade an den Punkten an, die sich bei der Kartierung des Ordnungsbegriffs in De Rerum Natura als zentrale Fragekomplexe herauskristallisiert haben. Durch die Unterscheidung von kosmos und taxis richtet Hayek den Fokus zunächst auf die Entstehung von Ordnung und stellt neben die exogene, von einem Punkt außerhalb des Systems aus geschaffene Ordnung eine endogene Form, die „von innen her“ entsteht.182 Während Erstere damit eine „erzeugte“183 Ordnung darstellt (taxis), ist Letztere eine „gewachsene Ordnung“184 (kosmos). Ihr widmet Hayek besondere Aufmerksamkeit: „Die gewachsene Ordnung, von der wir als selbstgenerierender […] sprachen, läßt sich am einfachsten als spontane Ordnung bezeichnen“.185 Auch in De Rerum Natura, so wurde bereits deutlich, ist die Frage nach dem Anfang einer Ordnung von zentraler Bedeutung – gerade vor dem Hintergrund, dass im Epikureismus eine von außen kommende Ordnungsinstanz kategorisch ausgeschlossen wird. Wenn Hayek konstatiert, dass eine „Ordnung, die nicht

178 179 180 181 182 183 184 185

Foucault (1966) 1974, S. 51. Foucault (1966) 1974, S. 24. Cabisius 1985. Hayek (1979) 2003, S. 39. Hayek 2003, S. 38. Hayek 2003, S. 39. Hayek 2003, S. 39 (Hervorhebung dort). Hayek 2003, S. 39.

Gegenstand und Methode der Arbeit

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vorsätzlich erzeugt ist“,186 für viele jenseits des Bereichs des Vorstellbaren liege, so bildet dies einen Ansatz, um die zentralen Konfliktpunkte der epikureischen Physik mit anderen, nicht-materialistischen Philosophien und nicht zuletzt auch mit dem Christentum soziologisch zu perspektivieren. Mit seinem Konzept einer spontanen bzw. selbstgenerierenden Ordnung beschreibt von Hayek darüber hinaus präzise, was auch den Prozess der Ordnung in De Rerum Natura auszeichnet und von anderen Modellen der Welterklärung unterscheidet: Im clinamen, das den Anstoß für die Genese der Dinge gibt, liegt der spontane Aspekt der lukrezischen Ordnung, der die Selbstorganisation des gesamten kosmischen Systems bedingt, nicht aber lenkt. Hayek verweist im Kontext des sich selbst generierenden kosmos auf die physikalische Kybernetik, die er als Beleg für das erstarkende Interesse an solchen ,anderen‘ Ordnungen anführt.187 Ein ganz ähnliches Phänomen wie Hayeks Selbstgenese hat Niklas Luhmann in seiner Grundlegung einer soziologischen Systemtheorie unter dem Begriff der Autopoiesis gefasst.188 Auf die genaue Verbindung von Systemtheorie und De Rerum Natura soll erst an späterer Stelle,189 mit direktem Bezug zum lukrezischen Text eingegangen werden, da, was Luhmann für die Autopoiesis formuliert, in gewisser Weise auch für die gesamte Systemtheorie gelten kann: Die Systemtheorie als „Universaltheorie“190 erklärt nichts, aber sie erklärt, wie etwas erklärt werden kann. Gerade diese Perspektive macht sie für De Rerum Natura so interessant. Hervorzuheben ist an dieser Stelle noch zweierlei. Erstens: Die Autopoiesis ist, wie schon ihre Benennung impliziert, eine Form der Produktion und Erhaltung eines Systems aus sich selbst heraus, ohne Einfluss der Umwelt.191 Gerade mit Blick auf die Entstehung und die begrenzte Lebensfähigkeit der Welt stellt die Luhmannsche Autopoiesis ein Modell zur Verfügung, mit dem man die Paradoxien der epikureischen Physik beschreiben kann.192 Zweitens: Durch die 186 187 188

189 190

191

192

Hayek 2003, S. 40. Vgl. Hayek 2003, S. 39. Zur Genese des vom Biologen Humberto Maturana gebildeten Neologismus vgl. Luhmann 2009, S. 110. Vgl. Kap. 3.2.2. und 3.4.2.2 dieser Arbeit. Vgl. Niklas Luhmanns Soziale Systeme (1984), die bereits im Untertitel programmatisch als „Grundriß einer allgemeinen Theorie“ angekündigt werden. Luhmann macht aber zugleich auch deutlich, dass ein System und seine Operationen nicht ohne die Umwelt auskommen. Systeme sind daher zugleich geschlossen und offen. Wie und wann die Umwelt in Kontakt mit dem System tritt – und das ist entscheidend –, bestimmt das System. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Luhmann und Lukrez besteht jedoch darin, dass es für Luhmannn neben dem System noch die Umwelt, d.h. etwas außerhalb des Systems Liegendes geben muss. Das lukrezische All hat dagegen (anders als eine aus den Atomen temporär zusammengefügte Welt) kein Außen, denn es besitzt keine Grenzen.

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Einleitung

Autopoiesis kann Luhmann im Gegensatz zu Hayek die Frage nach dem Anfang gänzlich ausblenden: „Die Bestimmung eines Anfangs, eines Ursprungs, einer ,Quelle‘ und eines ,Davor‘ ist ein im System selbst gefertigter Mythos – oder die Erzählung eines anderen Beobachters“.193 Der lukrezische Kosmos wiederum ist ein in sich geschlossenes System, in dem es jedoch durchaus Anfänge und ein ‚Davor‘ gibt. Um derlei – wie sich zeigen wird: scheinbare – Widersprüchlichkeiten präziser beschreiben zu können, bieten die Differenzierungen Luhmanns sinnvolle Bezugspunkte. Begriffliche Schärfung kann moderne Theoriebildung noch an einem weiteren Punkt leisten: Die Tatsache, dass sich in De Rerum Natura aus den atomaren Zusammensetzungen einerseits Dinge mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften bilden, die Atome andererseits aber (fast) eigenschaftslos sind, lässt die Frage aufkommen, wie sich das Zwischenstadium und der Prozess der Entstehung von Eigenschaften aus Eigenschaftslosigkeit beschreiben lässt. Dafür soll der Begriff der emergenten Ordnung eingeführt werden, der bereits in Hayeks „spontaner Ordnung“ aufscheint und auch in Luhmanns Systemtheorie eine wichtige Rolle spielt.194 Emergenz beschreibt ein qualitatives surplus. In einer emergenten Ordnung treten die spezifischen Qualitäten der beteiligten Einzelteile, die diese Ordnung konstituieren, zurück und verschwinden hinter einem qualitativ Neuen, das plötzlich auftritt und nicht an die es konstituierenden Elemente rückgebunden werden kann.195 „[D]as Verhältnis zweier Ebenen“,196 das die Grundvoraussetzung für jegliche Form von Emergenz darstellt, ist in De Rerum Natura mit den Atomen und den aus ihnen konstituierten Dingen in geradezu paradigmatischer Weise gegeben. Lorenz Rumpf hat in seiner Analyse der Wind-Wasser-Analogie im ersten Buch von De Rerum Natura (1,271–297) bereits in überzeugender Weise aufgezeigt, dass gerade für den Atomismus Emergenz einen sinnvollen Beschreibungsmodus darstellt. Er begründet die Notwendigkeit, sich mit dem Begriff der Emergenz auseinanderzusetzen, folgendermaßen: „Was wir sinnlich erfassen, bestimmt sich dort [sc. im Atomismus] als bloße Addition und Kombination von Teilchen. Demokrit hat […] die ,Wahrheit‘ auf die Teilchenebene verlegt, also den Bereich des gerade nicht sinnlich Erfaßbaren. Will man 193 194

195

196

Luhmann 1997, S. 441. Vgl. dazu die Definition von Küppers/Krohn 1992, S. 7f., oder Greve/Schnabel 2011, S. 7. Gleichwohl ist mit Greve/Schnabel 2011, S. 9 zu bemerken, dass „[t]rotz wiederholter wissenschaftsinterner Auseinandersetzungen […] der Begriff der Emergenz bisher keineswegs eindeutig definiert [ist] und in unterschiedlichen Disziplinen unterschiedlich verhandelt [wird]; besonders in den Kultur- und Sozialwissenschaften lässt sich zeigen, dass das Konzept der Emergenz noch wenig trennscharf ist“. Zum Problem des Reduktionismus vgl. Hoyningen-Huene, 2007, S. 178 und im Anschluss daran Greshoff 2011, S. 216f.; mit Bezug auf die epikureische Philosophie bzw. De Rerum Natura vgl. Fowler 2002, S. 428–443 und Rumpf 2003, S. 110. Greve/Schnabel 2011, S. 10.

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dabei nicht stehenbleiben, so muß man einen gewissermaßen post-reduktionistischen Schritt folgen lassen und zugestehen, daß sich beim Übergang von der atomaren zur aggregierten Ebene neue Strukturen bilden. Irreduzible, ,emergente‘ Eigenschaften, Dynamiken und Gesetzlichkeiten kommen dazu, die nicht deterministisch durch die Eigenschaften der Atome erklärt werden können.“197

Neben der Entstehung von spontanen Ordnungen akzentuiert Hayek jedoch noch einen zweiten Aspekt, der ins Zentrum eines jeden Konzepts von Ordnung weist. Es ist dies die Frage nach der Zielgerichtetheit einer Ordnung, d.h. nach der Verbindung von Teleologie und Ordnung. Hayek konstatiert zunächst: „Unsere gewohnheitsmäßige Gleichsetzung von Ordnung mit einer erzeugten Ordnung oder taxis hat nun unter anderem den Effekt, daß wir dazu neigen, jeder Ordnung bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben, die vorsätzlichen Einrichtungen regelmäßig sind und, was einzelne dieser Eigenschaften angeht, sogar Notwendigkeit besitzen.“198

Auch Hayek betont, dass es Ordnungen gibt, deren „Komplexitätsgrad […] nicht auf das beschränkt [ist], was der Verstand eines Menschen beherrschen kann“.199 Diese anthropozentrische Perspektive auf Ordnung lässt sich natürlich nicht eins zu eins auf die Konzeptualisierung von Ordnung in De Rerum Natura übertragen. Doch die in Hayeks Aussage implizit getroffene Bestimmung, dass es Ordnungen verschiedener Komplexitätsgrade gibt, die dennoch Ordnungen sind (gewissermaßen vom Rezipienten entkoppelte Ordnungen), ist eine mit Blick auf De Rerum Natura zentrale und mit Blick auf die bestehenden, auf Vereinfachung oder Harmonisierung bedachten Definitionen notwendige Erweiterung des Ordnungsbegriffs. Diese Erweiterung macht es auch möglich, die mit jener ,einfachen‘ Ordnung verbundene Vorstellung eines Zwecks zugunsten einer nicht-zweckgerichteten, nicht-kausalen Ordnung zu erweitern. Der Ansatz von Bernhard Waldenfels in seiner Studie Ordnung im Zwielicht200 ist ein phänomenologisch-deskriptiver. Einleitend nimmt Waldenfels die folgende vorläufige und sehr offene Bestimmung seines Begriffs von Ordnung vor: „Ordnung […] im allgemeinen Sinne ist ein geregelter (d.h. nichtbeliebiger) Zusammenhang von diesem und jenem“.201 Waldenfels unterscheidet danach drei Ordnungsformen: 1.) Harmonie: „Alles wird einem Ganzen eingeordnet“; 2.) Arché: „Ordnung in bezug auf ein Erstes. […] In diesem Fall wird eines dem anderen über- und untergeordnet“; 3.) Teleologie: „Ordnung als Entwicklung auf ein Ziel hin. Hier tritt eine neue Leitdifferenz auf, es ist nicht mehr 197 198 199 200 201

Rumpf 2003, S. 108 (Hervorhebung dort). Hayek 2003, S. 40. Hayek 2003. Waldenfels 1987. Vgl. Waldenfels 1987, S. 17 (Hervorhebung dort).

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Einleitung

die zwischen Teil und Ganzem bzw. zwischen Niederem und Höherem, sondern die zwischen Früherem und Späterem“.202 Wenngleich dieser Abriss der Ordnungsformen, den Waldenfels aus ihrem Auftreten in „der Geschichte“ deduziert, einige zentrale Ansatzpunkte zur Beschreibung von Ordnungen enthält, erscheint es doch problematisch, eine solche normative Systematisierung von Ordnung vorzunehmen, die die Perspektive zwangsläufig verengt und damit Ordnungen nicht beschreibt, sondern vorschreibt. Waldenfels nähert sich Ordnung aus ganz unterschiedlichen Perspektiven an und bezeichnet sein Vorgehen selbst als „heuristisch“.203 Bei seinem Ansatz, harmonisierende, ganzheitliche Ordnungsvorstellungen zu hinterfragen und an deren statt „offene Ordnungsformen“204 zu setzen, wird trotz aller heuristischen Breite doch deutlich, dass auch Waldenfels’ Ordnungsbegriff nicht ohne Bezugnahme auf drei Aspekte auskommt, die bereits als konstitutive Fragen der Ordnung in De Rerum Natura bestimmt wurden: die genannte Ausweitung der Bestimmung dessen, was Ordnung sei; das Andere der Ordnung, und wie es sprachlich vermittelt werden kann;205 die Bedeutung der Frage nach dem Anfang oder einem ,Vor‘ der Ordnung. Besonders mit Blick auf das Verhältnis von Ordnung und dem vor der Ordnung Liegenden unternimmt Waldenfels eine bedenkenswerte Differenzierung: „Wenn man Ordnungen nicht als fertige hinnimmt und hypostasiert, so setzen ihre selektiven und exklusiven Leistungen etwas voraus, was in Ordnung kommt und ihnen als zu Zu-Ordnendes vorausgeht. Doch dieses präordinale Ungeordnete, das wir vom intraordinalen Unordentlichen zu unterscheiden haben, läßt sich nicht direkt sagen und erfassen, weil dieser Zugriff immer schon eine Ordnung voraussetzt, deren Mittel er nutzt. […] Der Versuch läuft darauf hinaus, das, was der Ordnung vorausgeht, zu thematisieren als das, was über die Ordnung hinausgeht.“206

Bei Waldenfels wird das ,Davor‘ der Ordnung in ein ,Darüber‘ transformiert: „[A]lles, was in eine Ordnung eingeht, [bewegt] sich auf gewisse Weise auch außerhalb ihrer“.207 Das Außerordentliche impliziert somit einen Überschuss gegenüber der Ordnung.208

202 203 204 205

206 207 208

Waldenfels 2000, S. 2 (alle Zitate). Waldenfels 2000, S. 20. Waldenfels 2000, S. 35. Waldenfels 1987 schlägt hier die Differenzierung zwischen dem Unordentlichen „im Sinne des Regelwidrigen, das unter die binären Qualifikationsmuster einer Ordnung fällt“, und dem „Ungeordneten“, einem „Regellosen diesseits“ (S. 20) einer Ordnung, vor (vgl. S. 20 und S. 33f.). Waldenfels 1987, S. 173f. (Hervorhebung dort). Waldenfels 1987, S. 174. Vgl. Waldenfels 1987, S. 174.

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Auch in De Rerum Natura stellt sich die Frage, wie das Außerordentliche darzustellen und zu beschreiben sei. Gerade weil die Ordnung des Kosmos eine sekundäre ist, der mit dem gleichmäßigen Fall der Atome ein Zustand der völlig isomorphen Ordnung vorausgeht, wird zu fragen sein, ob die Intention Waldenfels’, etwas außerhalb der Ordnung Liegendes zu bestimmen, auch zur Entschärfung dieses Paradoxes in De Rerum Natura beitragen kann, indem es nicht ausgeschlossen, sondern in seiner Negativität eingeschlossen wird. Dass dabei Kontingenz eine wichtige Funktion zukommt, hebt auch Waldenfels hervor und unterscheidet zwischen einer „radikale[n] Form der Kontingenz“, die die Ordnung selbst betrifft, und einer, die innerhalb einer Ordnung anzusiedeln ist.209 Ordnung ist jedoch auch ein stark formal konnotierter Begriff – vielleicht ist er es sogar in erster Linie. Die Lukrezforschung hat ihn in dieser Form häufig bemüht und zu ihrem Untersuchungsgegenstand gemacht. Als rhetorischer Ordnungsbegriff ist ordo ein „gegliedertes, organisiertes Verhältnis zwischen den Teilen eines Ganzen“.210 Die dispositio in den officia oratoris, verstanden als die Anordnung des Stoffes, ist aber nicht nur auf den Bereich der Rhetorik im strengeren Sinne beschränkt.211 Melanie Möller verweist in ihrer aufmerksamkeitstheoretischen Untersuchung der Ciceronianischen Rhetorik darauf, dass die dispositio eine „gewichtige Instanz der Vermittlung von res und verba“212 ist und so gewissermaßen Ordnung als engeren Gattungsbegriff der Rhetorik mit einem weiteren Begriff verbindet. Wie zuletzt besonders Katharina Volk hervorgehoben hat, ist dieses Verhältnis auch in der didaktischen Dichtung, die in enger Verbindung zur Rhetorik steht,213 von eminenter Bedeutung: Volk differenziert zwischen carmen und res, „song“ und „subject matter“.214 Die Anordnung des Stoffes, die dispositio im engeren Sinne, nimmt somit Einfluss auf zwei unterschiedliche Ebenen der Dichtung: auf das Wie und auf das Was. Natürlich lässt sich eine solche trennscharfe Scheidung nur theoretisch, nicht aber in der Praxis 209 210 211

212 213

214

Vgl. Waldenfels 2000, S. 4 mit Anm. 3. Ernst 2003, Sp. 416. Schwindt 2006, S. 1144 verweist auf die „definitorische Energie“ der römischen Fachwissenschaft und auf die „Anordnungsobsession“, die am deutlichsten in der rhetorischen dispositio sichtbar werde. Vgl. dort auch S. 1049f. zu den möglichen epistemologischen Implikationen textueller (Vor-)Ordnung. Möller 2013, 212. Zur dispositio in ihrer Gesamtheit vgl. Möller 2013, S. 209–234. Vgl. hierzu als Vorstufe Büchner 1936 und konkreter Classen 1986, der unter der Rhetorik von De Rerum Natura im Speziellen die einzelnen Beweismethoden versteht. Marcović 2008, S. 10 macht in seiner Monographie zu Rhetoric of Explanation in Lucretius’ De rerum natura explizit, dass hier jeweils ein weiterer Begriff von Rhetorik zum Tragen kommt: „I use the term in its broadest, essentially Aristotelian sense, to refer to the ways in which authors of literary texts on any possible subject secure the adherence of their audience. The term thus transcends the notion of literary genre, and simply indicates the set of traditional formal techniques and procedures which authors use to create their texts and produce desired effects on their audience“. Volk 2002, S. 198.

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Einleitung

vornehmen. In der dispositio wird sichtbar, warum dies nicht möglich ist: Diese Form der Ordnung schafft gewissermaßen eine Kontiguität zwischen Form und Inhalt und bildet genau jenen Punkt, an dem sich diese beiden voneinander zu scheidenden Ebenen treffen können. Die fragile Interdependenz dessen, was vermittelt wird und wie diese Vermittlung vonstattengeht, spielt gerade in der didaktischen Dichtung eine zentrale Rolle.215 Die formale und sichtbare Seite von Ordnung kann in einer Studie, die Ordnung in De Rerum Natura untersucht, nicht gänzlich außer Acht gelassen werden, denn auch Lukrez selbst unternimmt in der Analogisierung von Atomen und Buchstaben eine solche Engführung von res und verba, die ganz wesentlich auf ihrer Ordnung beruht. 1.4

Gliederung der Arbeit

In den bis zu diesem Punkt vorgenommenen Beobachtungen und vorläufigen Definitionen stellt sich Ordnung in erster Linie als Dynamik dar. Der Überblick über die unterschiedlichen Forschungsansätze hat zudem eine Vielzahl von Perspektiven auf den Begriff von Ordnung aufgezeigt, die allesamt dazu beitragen können, der Frage nach der Beschaffenheit und den Darstellungsmodi von Ordnung in De Rerum Natura aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu begegnen. Mit Blick auf diese beiden Annäherungen an den Begriff der Ordnung lassen sich die folgenden Themenkomplexe umreißen, die, wie sich aus den Prämissen der Forschung und meinen eigenen Überlegungen herauskristallisiert hat, für eine Untersuchung des Ordnungsbegriffs in De Rerum Natura unerlässlich sind und auf diese Weise auch die Anlage dieser Arbeit vorgeben. Zunächst stellt sich die grundlegende Frage, warum der Begriff der Ordnung überhaupt einen für De Rerum Natura relevanten Gegenstand bildet, worin also ganz konkret die (text-)interne Motivation für den Fokus auf die Darstellungsformen von Ordnung liegt. Die Buchstabenanalogien stehen in der vorliegenden Arbeit daher zunächst im Mittelpunkt (Kap. 2). In diesem Kapitel geht es darum, aus dem Text einen Begriff von Ordnung zu entwickeln und zu zeigen, dass Ordnung für De Rerum Natura als Ganzes von grundlegender Bedeutung ist. Die Buchstabenanalogien werden in den meisten Fällen weniger auf ihre ordnungs215

Die Unterteilung der dispositio in ordo naturalis und ordo artificialis verdient mit Blick auf De Rerum Natura insofern Erwähnung, als zu fragen ist, ob es für diesen Stoff überhaupt möglich sei, eine Zuschreibung als ,natürlich‘ oder ,künstlich‘ vorzunehmen. Dies öffnet die Fragestellung für narratologische Herangehensweisen, deren Verbindungen zur antiken Rhetorik u.a. Ernst 2000 herausgearbeitet hat. Gleichwohl muss betont werden, dass die moderne Narratologie nur unter Vorbehalten auf die antike Rhetorik zurückbezogen werden kann, insbesondere, weil der narratologische Ordnungsbegriff, wie bei Genette, in erster Linie an die Zeitlichkeit der erzählten Sequenzen gebunden ist. Vgl. Genette (1972) 21998, S. 22–59.

Gliederung der Arbeit

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theoretischen Implikationen hin gelesen als vielmehr unter Gesichtspunkten untersucht, die die Relation von Text und Welt betreffen. Die Bedeutung der Passagen für diese Arbeit liegt nun aber gerade darin, dass in ihnen gleichsam in nuce alle Aspekte angelegt sind, die die Ordnungen in De Rerum Natura betreffen. Die Ordnung der Welt und die des Textes werden dabei nicht nur für sich verhandelt, sondern einander teils angenähert, teils ineinander geblendet. Es hat sich bereits gezeigt, dass Kosmogonien für die Untersuchung von Ordnungsdarstellungen einen wichtigen Anlaufpunkt bilden. Ein zweiter, näher zu betrachtender Bereich wird daher der Zusammenhang von Ordnung und Anfang sein. Unter welchen Bedingungen tritt Ordnung in De Rerum Natura ein bzw. auf? Hierzu soll gerade der Teil von De Rerum Natura in den Blick gerückt werden, in dem es noch nicht um Ordnung geht (Kap. 3). Die im ersten Buch eingeführten Prämissen und Grundaxiome der epikureischen Physik sind keinesfalls nur eine der didaktischen Anlage des Werkes geschuldete Präliminarie. Sie sind vielmehr essentiell für die zugrunde gelegte Frage. Hier kann nämlich gewissermaßen ein Blick vor die Ordnung(en) geworfen und Aufschluss darüber gewonnen werden, wie die nicht-lineare und nicht-chronologische Abfolge der einzelnen Teile sprachlich und erzählerisch fassbar wird. In engem Bezug zur Frage nach dem Anfang und den Bedingungen von Ordnung steht das vierte Kapitel, das sich mit dem lukrezischen clinamen befasst. Hier lässt sich die Bedingtheit von Ordnung, die in der Forschung vielfach problematisierte Verbindung von Ordnung und Kontingenz, einer genaueren Betrachtung unterziehen. Das zufällig auftretende clinamen ist der Moment des Übergangs zwischen zwei Formen von Ordnung:216 Voraussetzung für die Ordnung des Kosmos ist die zufällig erzeugte Unordnung, die das clinamen in die Ordnung des regelmäßigen Falls der Atome bringt. Gerade in diesem transitorischen Moment des clinamen liegt ein wichtiger Aspekt für die Erfassung des Ordnungsbegriffs in De Rerum Natura, da hier der Anfang einer Ordnung beobachtbar gemacht wird. Besonders virulent wird die Rede von der Prozesshaftigkeit der Ordnung, wenn es um die tatsächliche Beschreibung der atomaren Ordnungen im ersten und im zweiten Buch von De Rerum Natura geht (Kap. 5–Kap. 6). Dort steht noch nicht die Erklärung spezifischer Phänomene und Eigenschaften der Dinge im Mittelpunkt, die sich auf die atomare Ebene zurückführen lassen. Es ist vielmehr das „rohe Sein der Ordnung“,217 das sich in seinen vielfältigen Ausformungen zeigt. Diese Formen von Ordnung und ihre sprachliche Repräsentation stehen im Zentrum dieser beiden Kapitel. Aus diesem Abriss über die Anlage der vorliegenden Arbeit ist bereits ersichtlich, dass der Ordnungsbegriff nicht erschöpfend, d.h. für De Rerum Natura in seiner Gesamtheit von sechs Büchern, betrachtet werden wird, sondern ledig216 217

Vgl. Serres 1977, S. 37. Foucault (1966) 1974, S. 23.

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Einleitung

lich in Ausschnitten und unter bestimmten Gesichtspunkten. Ein zentrales Anliegen dieser Arbeit ist es, gerade die Passagen in den Blick zu nehmen, die kaum je Gegenstand einer detaillierten Textlektüre gewesen sind. Abgesehen von den Kommentaren zu den ersten beiden Büchern von De Rerum Natura und vereinzelten Studien218 haben die ersten beiden Bücher von De Rerum Natura nur wenig Aufmerksamkeit jenseits philosophischer Fragestellungen erfahren. Diese „technical parts“,219 wie sie Petrus H. Schrijvers nennt, beinhalten jedoch vielfach Beobachtungen und Beschreibungen, die direkt auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit weisen, die aber auch darüber hinaus Aufmerksamkeit verdienen. Darauf hat auch Charles Martindale hingewiesen: „[I]t is wrong to see merit only in the more familiar set-pieces and purple passages (which do not always show Lucretius at his most inventive)“.220 Im Zentrum dieser Arbeit stehen daher die Bücher, in denen die Atome und ihr ,Verhalten‘ auf einer ganz elementaren Ebene beobachtet, beschrieben und erklärt werden. Die Einführung der atomistischen Grundprämissen, die gewissermaßen die Koordinaten des epikureischen Systems bilden, und die Darstellung der Bewegungen der Atome mit all ihren Eigentümlichkeiten und Konsequenzen sind die Teile von De Rerum Natura, in denen die Atome und ihre Verbindungen am unmittelbarsten zur Darstellung kommen. Es werden in dieser Arbeit daher keine Aussagen über die (möglichen) ethischen Implikationen von Ordnung in De Rerum Natura getroffen, auch liegt kein Schwerpunkt auf der Erörterung bestimmte Prämissen philosophischer und gattungstheoretischer Art. Es geht vielmehr darum, in einer genauen Lektüre des Textes zu beschreiben, was De Rerum Natura mit Ordnung zu tun hat. Den Zitaten aus De Rerum Natura liegt die kritische Ausgabe von Cyril Bailey (1947) zugrunde. Die Übersetzung beruht auf der Übersetzung von Hermann Diels, wurde aber an vielen Stellen angepasst. Übersetzungen anderer Autoren stammen, wenn nicht anders vermerkt, von mir. Zeitschriftenabkürzungen richten sich nach dem Siglensystem der Année Philologique, die Abkürzungen der lateinischen Werke und Autoren entstammen dem Thesaurus Linguae Latinae, die der griechischen Autoren und Werke dem Lexikon der Alten Welt.

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220

Hier seien v.a. Rumpf 2001 und 2003 genannt. Schrijvers 2007, S. 287: „I have concentrated especially on the most technical parts of the poem, which have in general attracted little attention from commentators, since modern studies dedicated to Lucretius’ imagery prefer to deal with the less technical passages“. Martindale 2007, S. 199. Das Bild der „purple passages“ hat Davies 1931, S. 25 geprägt.

2

Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

2.1

Überblick: Buchstaben, Atome und Ordnung

Die lukrezische Buchstabenanalogie stellt einen Dreh- und Angelpunkt für die Konzeption und Darstellung von Ordnung in De Rerum Natura dar. Sie markiert den Punkt, an dem die Ordnung der Atome und die daraus entstehenden Dinge nicht mehr in einem distanzierenden Modus der Beschreibung dargestellt sind, sondern direkt anschaulich werden. Nicht allein, dass in den Buchstabenanalogien durch die Bezugnahme auf Buchstaben und Atome, also auf die kleinsten Elemente von Text und Welt, die Unterschiede dieser beiden Ebenen reflektiert werden; auch die genaue Beschaffenheit dieser Unterschiede, d. h. das Verhältnis von Text und Welt, rückt in den Fokus. Ein wesentlicher Punkt der Buchstabenanalogien besteht in der Veranschaulichung des Unanschaulichen: Die Erklärung eines maximum aus seinen minima verweist auf die zentrale epistemologische Prämisse und das zentrale epistemologische Interesse von De Rerum Natura, nämlich: die Welt als aus einzelnen Elementen bestehenden Makrokosmos zu erklären. Durch diese partikularisierte Weltsicht1 rückt unweigerlich auch die Frage in den Mittelpunkt, wie aus diesen minima ein maximum entstehen kann und wie sich diese Vorgänge anschaulich machen lassen. Die These dieses Kapitels lautet, dass Ordnung eine wesentliche Systemstelle in den Buchstabenanalogien bildet. Die Analogien bilden in programmatischer Weise den Anfang der vorliegenden Studie, weil sie das Spektrum dessen ausloten, was Ordnung in De Rerum Natura bedeuten kann. Dies ist umso wichtiger, als durch die Analogie die Ordnung der Welt ebenso wie die des Textes sichtbar gemacht und diese beiden Ebenen zueinander in ein noch näher zu bestimmendes Verhältnis gebracht werden. Eine solche Auflösung ontologischer Grenzen ist an keiner anderen Stelle in De Rerum Natura gegeben. Wie Katharina Volk in ihrem konzisen Überblick herausgearbeitet hat,2 kreisen letztlich alle Untersuchungen zur lukrezischen Buchstabenanalogie um ein Zentrum: die Frage, welche Implikationen diese Passagen für De Rerum Natura als Text und für die darin erklärte Welt aufweisen. Dass die Analogisierung von Atomen und Buch-

1 2

Vgl. Furley 1989, S. 235. Volk 2002, S. 101–105 (mit ausführlicher Bibliographie). Einen differenzierten Forschungsüberblick bietet zudem Beer 2009, S. 64f.

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Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

staben die materiale Poetik3 von De Rerum Natura formuliert und auf diese Weise auch Text bzw. Sprache und die außertextuelle bzw. außersprachliche Welt in ein Verhältnis treten, gilt seit dem „seminal article“4 Paul Friedländers, „Pattern of Sound and Atomistic Theory in Lucretius“,5 und der Fortführung in Jane M. Snyders Monographie Puns and Poetry in Lucretius’ ,De Rerum Naturaʻ6 als Konsens. Widerspruch rührt im Wesentlichen von den interpretatorischen Ansätzen her, die eine Verbindung der Buchstabenanalogie mit der epikureischen Sprachtheorie bzw. Sprachursprungstheorie herzustellen suchen.7 Oft wird bei dem fast schon topisch gewordenen Verweis auf die Theorie der „atomology“8 jedoch nicht genügend berücksichtigt, worum es Friedländer in seinem wichtigen Artikel tatsächlich geht: Nicht die Analogie von Buchstaben und Atomen steht im Mittelpunkt von Friedländers Überlegungen – sie erhält lediglich als theoretisches Schema Bedeutung9 –, sondern, wie bereits der Titel seiner Studie deutlich macht, klangliche Phänomene.10 Da Friedländer aber nicht klar definiert, in welchem Bezug Sprache, Buchstaben und Klang stehen, können die Buchstaben gleichermaßen als Abbild, noch mehr jedoch als Lautbild der atomaren Natur fungieren.11 Ersteres klingt bei Friedländer nur im kurzen Verweis auf die Buchstabenanalogie an, könnte aber gerade mit Blick auf das mehrfache vides [nostris in versibus] (1,824; 2,689), das die Passagen als Modus der Rezeption, oder besser, Perzeption ausstellt, noch stärker gewichtet werden.12 Das Verhältnis von Laut, Buchstabe und Sprache hat Snyder, deren Studie von Friedländer wesentlich beeinflusst ist, differenzierter verhandelt, und sie ist es auch, die ausführlicher von einer Selbstbezüglichkeit des Textes spricht.13

3

4 5 6 7

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Beer 2010, S. 117 spricht von „materialistischer Dichtung“, Schrijvers 1970, S. 140‒148 von einer „poétique physique“. Schiesaro 1994, S. 84. Friedländer 1941. Snyder 1980. Schrijvers 2007, S. 262 sowie ausführlicher Dalzell 1987, S. 27: „[N]either Epicurus in the Letter to Herodotus nor Lucretius in his discussion of language in Book 5 was interested in the relationship between words and things“. West 1990, S. 649 fasst zusammen: „Friedländer’s ,atomologicalʻ theory is a false doctrine based on correct observation“. Friedländer 1941, S. 7. Vgl. Friedländer 1941, S. 17: „They [sc.letters] are an image of the atoms producing the world“. Vgl. Friedländer 1941, S. 17. Vgl. Friedländer 1941, S. 24: „[T]he pattern of sound which is at the same time a pattern of […] reality – reality being the atoms“. Zur Differenzierung zwischen ,Rezeption‘ und ,Perzeption‘ in den Buchstabenanalogien vgl. Neumann/Noller 2014. Vgl. Snyder 1980, S. 40 und ebenso bereits Maguinnes 1965, S. 87; Vgl. zudem Volk 2002, S. 101, Montarese 2012, S. 249.

Überblick: Buchstaben, Atome und Ordnung

57

Im Anschluss an diese poetologische Deutung blieben die Analogie und ihr Status – insbesondere ihre epistemologischen Implikationen – lange unproblematisiert; die Buchstaben fungieren als „image of the atoms“14 und die Relation der beiden Ebenen lässt sich daher folgendermaßen zusammenfassen: „[T]he reality [is] reflected in words“.15 Alessandro Schiesaro hat jedoch größere Genauigkeit beim Umgang mit dem Status der Analogie angemahnt: „[T]he term ,analogyʻ itself, superficially self-explanatory though it is often taken to be, does not in fact clarify what type of relationship is established between the two elements of the analogy.“16 Auch Ivano Dionigi beleuchtet die Frage nach der Relation von Text und Welt, legt dabei jedoch unter dem Stichwort der declinatio den Fokus auf die in der Analogie parallelisierten Bewegungsformen von Buchstaben bzw. Atomen. In diesem Zusammenhang steht auch Dionigis Beobachtung, dass die Formen der atomaren Ordnung, wie sie in concursus, motus, ordo, positura, figurae (2,1021) zusammengefasst werden können, zu termini technici der lateinischen (und griechischen) Rhetorik und Grammatik wurden: „Lucretius applies these grammatical terms to the atoms […]. […] [T]he poem takes the form of a grammatical ,translation‘ of the cosmos – as if to say ‚In the beginning was the Grammar‘“.17 Mit dieser relationalen Zuordnung zu den Elementen der Analogie, in der die Welt, mit Schrijvers gesprochen, als illustratum und der Text als illustrandum fungiert,18 nimmt Dionigi zugleich eine Relativierung dieser Position vor. Entgegen der in der Forschung einhellig artikulierten sekundären Rolle von Buchstaben und Text, welche zur Welt in einem Verhältnis der Repräsentation stehen, plädiert er für ein Verhältnis der Reziprozität: „The De Rerum Natura provides multiple examples of […] ,reciprocity‘ between the linguistic moulding and the moulding of the reality“.19 Damit berührt Dionigi auch eine Frage, die die Theorie der Analogie betrifft. Es wird nämlich zu untersuchen sein, ob die Bezüge, die zwischen den beiden Ebenen der Analogie hergestellt werden, lediglich in eine Richtung verlaufen – Buchstaben veranschaulichen Atome – oder ob nicht vielmehr die beiden Ebenen zu einem Erkenntnisgewinn über die jeweils andere beitragen.

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Friedländer 1941, S. 17. Snyder 1980, S. 31. Schiesaro 1994, S. 84. Dionigi 2008, S. 29. Schrijvers 2007, S. 255f. Dionigi 2008, S. 30. Teilweise führt diese Überlegung Dionigis sogar zu einer Privilegierung der Schrift vor der Welt. Diese These ist, trotz ihres dekonstruktivistischen Potentials – darauf hat Schiesaro 1994, S. 105 Anm. 16 bereits hingewiesen – vor dem Hintergrund des epikureischen Materialismus nur schwer aufrecht zu erhalten. Zum Verhältnis von Realität und Repräsentation in einem umfassenderen Kontext vgl. auch Kennedy 2002.

58

Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

Damit eng verknüpft ist die Frage nach dem ontologischen Status der Buchstaben: Gehören sie zur Sphäre des Textes oder müssen sie nicht vielmehr auch als materiale Artefakte verstanden werden, die, wie der Text, Bestandteile der aus Atomen bestehenden Welt sind? Während die Ebenen von Buchstaben und Atomen in den meisten Studien a priori als ontologisch verschieden gesetzt sind, hat Schiesaro in seiner Studie wichtige Impulse für Überlegungen gegeben, die ontologische Differenz zwischen Text und Welt zu beseitigen oder zumindest zu minimieren:20 Vor dem Hintergrund des strikten epikureischen Materialismus argumentiert Schiesaro dafür, konsequenterweise auch den Buchstaben einen materialen Status beizumessen und die beiden Analogieebenen ineinander zu blenden.21 In Zusammenhang mit der materialen Poetik wird oftmals auch der Beitrag von Eva M. Thury genannt, die „Lucretius’ Poem as a Simulacrum of the Rerum Natura“22 liest. Die Studie unterscheidet sich von der Schiesaros dahingehend, dass sie die theoretische Grundlegung ihrer These nicht aus dem lukrezischen Text selbst entwickelt, sondern ausgehend von der epikureischen Abbildtheorie: „The simulacra or sense perceptions, on which we must focus our attention in order to learn about the universe, themselves rely on order for their certainty“.23 Ordnung erhält bei Thury somit den Status eines nur randständig behandelten Phänomens, dessen Implikationen bei genauerer Betrachtung aber sehr weitreichende Folgen haben: Denn was Thury formuliert, ist nichts Geringeres als die epistemologische Prämisse des Epikureismus – und diese beruht auf Ordnung. Dieser selektive Überblick über die Forschungsgeschichte zur lukrezischen Buchstabenanalogie, dessen Ziel darin bestand, einzelne Schlaglichter auf die Anfänge, deren Fortentwicklung und neue Ansätze der Forschung zu werfen, verdeutlicht, dass jene in Rede stehenden Passagen zentrale ,litteraturtheoretische‘ bzw. poetologische Implikationen besitzen. Darüber hinaus werden in den Buchstabenanalogien unmittelbar grundsätzliche Fragen semiotischer, didaktischer und epistemologischer Art berührt, die für De Rerum Natura in ihrer Gesamtheit bedeutsam sind. In seinen Untersuchungen stellt Friedländer keinen Bezug zu den didaktischen Implikationen der Buchstabenanalogien her. Dies unternimmt Snyder in der Fortführung seiner Thesen.24 Friedländers Ansatz ließe sich daher als im weitesten Sinne semiotisch fundiert charakterisieren, wobei er zwischen zwei Polen changiert: Friedländer interessiert die mögliche Interdependenz von Zeichen und Welt. 20 21 22 23 24

Vgl. v.a. Schiesaro 1994, S. 87. Vgl. Schiesaro 1994, S. 87. Thury 1987. Für die genauere Diskussion ihrer Thesen vgl. Kap. 1.2.2 dieser Arbeit. Thury 1987, S. 278. Snyder 1980, S. 125f.: „Puns are part of Lucretius’ repertory of didactic devices designed to instruct the student of Epicureanism, and thus work together with repetition, multiplicity of arguments […] to teach the novice […] the theories of the Epicurean system“.

Überblick: Buchstaben, Atome und Ordnung

59

Er vertritt gewissermaßen eine auf einzelnen Buchstaben basierende Konventionalitätsthese, bei der das arbiträre Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat aufgehoben ist (vgl. ignis et lignum; 1,912).25 Mit Blick auf die für Friedländer wesentlichen Klangphänomene des lukrezischen Textes (Alliteration, Onomatopoesie) lässt sich von einem im weiteren Sinne ikonischen Verhältnis zwischen Laut und Welt sprechen. Gerade in dem Interesse, die Differenz zwischen dem Verstehen der Welt und dem Verstehen des Textes zu nivellieren, ist ein Verweis darauf zu sehen, dass Friedländers und auch Snyders Überlegungen letztlich auf einem epistemologischen Interesse gründen – und damit auch ins Zentrum der didaktischen Dichtung zielen. Ausgangspunkt für die Studie Schiesaros ist dagegen zunächst ein rezeptionsästhetisch und narratologisch basiertes Interesse am „didactic plot“26 von De Rerum Natura. Im Verlauf der Studie wird deutlich, dass die Frage nach der didaktischen Fundierung unweigerlich auf die epistemologische Fundierung von De Rerum Natura zurückführt. Gegenüber den semiotisch, didaktisch und epistemologisch orientierten Ansätzen soll im vorliegenden Kapitel ein Ansatz verfolgt werden, der die oben herausgearbeiteten Fragekomplexe in Bezug zu Fragen der Ordnung setzt. Eine Beobachtung soll bereits vorweggenommen werden: Wenn Ordnung in enger Verbindung zu der semantischen Ebene des Textes steht, also zu jener Ebene, die, legt man einen zeichentheoretisch basierten Bedeutungsbegriff zugrunde, eine Verbindung zwischen der außertextuellen Welt und deren Repräsentation im Text herstellt, so ist Ordnung nicht nur ein Faktor, um das Verhältnis von Text und Welt beschreibbar zu machen. Ordnung wird auch wichtig, wenn es darum geht, Aufschluss über jenen schwer greifbaren transitorischen Punkt zu erlangen, an dem Welt zu Text (oder Text zu Welt?) wird – über Prozesse also, die metaphorisch gesprochen, im Maschinenraum der Dichtung operieren. Freilich soll im semiotischen Teil der Lektüre der Buchstabenanalogien nicht der Versuch unternommen werden, eine einheitliche lukrezische Zeichentheorie zu rekonstruieren oder Lukrez als einen zwar ,prämodernen‘ Dichter aber dennoch ,modernen‘ oder gar ,postmodernen‘ Zeichentheoretiker zu profilieren. Es gilt vielmehr, die ohnehin wenig produktive Trennung zwischen Antike und Moderne zugunsten einer prinzipiellen Permeabilität zu öffnen und philosophischtheoretische Konzepte der Antike und der Moderne gleichermaßen zur Lektüre heranzuziehen.

25 26

Vgl. Friedländer 1941, S. 17, Snyder 1980, S. 41. Schiesaro 2004, S. 81.

60 2.2

Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

„Uncertain terrain“. Epikureismus und Sprachtheorie

Auch wenn die implizite Semiotik nur einen Aspekt der Buchstabenanalogien ausmacht, sei an dieser Stelle ein kurzer Blick auf die philosophischen Grundlagen der epikureischen Sprach- und Zeichentheorie geworfen. Das System des Epikureismus wurde schon vielfach auf seine sprach- und zeichentheoretischen Implikationen hin untersucht. Dennoch ist dieser Bereich, wie Brooke Holmes treffend feststellt, noch immer ein „uncertain terrain“: „[T]here is little consensus among scholars on even the most basic Epicurean principles of language“.27 Zumeist werden epikureische Sprachtheorie und Sprachursprungstheorie ausgehend von einer Passage in Epikurs Brief an Herodot (Kap. 76) zueinander in Bezug gesetzt,28 vereinzelt liegt der Fokus auch auf der Darstellung einer epikureischen Semiotik.29 Nicht zuletzt gründet die Frage nach den sprachtheoretischen Grundlagen des Epikureismus auch auf einem genuin epistemologischen Interesse,30 das sich vereinfacht in der Frage nach dem Verhältnis von Sprache, Welt und Erkennen zusammenführen lässt. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Konzept der πρόληψις (bei Lukrez: notitia31), das gemeinhin als aus „wiederholten Wahrnehmungen“32 resultierendes transzententales Signifikat, oder mit Asmis gesprochen, als das „initial concept“33 eines Dings zu bezeichnen ist. Erkenntnistheoretisch ist die πρόληψις für den Epikureismus insofern zentral, als durch sie die Existenz objektiver Tatsachen bewiesen werden kann.34 Wenn man eine Vorstellung von etwas hat, dann existiert es auch.35 Insbesondere von der skeptischen Tradition, die den Wahrheitsgehalt solcher Beweismethoden in Frage stellt, ist diese Annahme proble-

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Holmes 2005, S. 547. De Lacy 1939, Snyder 1980, S. 11–18. Zur Differenzierung zwischen Sprachtheorie und Sprachursprungstheorie vgl. aber Glidden 1983, S. 199. Vgl. hierzu insbesondere Asmis 1996; Barnes 1996; Porter 1996. De Lacy 1939, S. 86; Beer 2010, S. 106–117. Vgl. hierzu Bailey 1947, S. 53f., und Fowler 2002, S. 187ff., die die lukrezische notitia als lateinische Übersetzung der πρόληψις Epikurs ausführlich erläutern. Beer 2010, S. 113. Ähnlich Fine 2011, S. 98: „Prolepses are objectively […] evident“. Asmis 1984, S. 22. Der vollständigste griechische Referenztext findet sich in Diog. Laert. 10,33: Τὴν δὲ πρόληψιν λέγουσιν οἱονεὶ κατάληψιν ἢ δόξαν ὀρθὴν ἢ ἔννοιαν ἢ καθολικὴν νόησιν ἐναποκειμένην, τουτέστι μνήμην τοῦ πολλάκις ἔξωθεν φανέντος, οἷον τὸ Τοιοῦτόν ἐστιν ἄνθρωπος („Als Prolepse bezeichnen sie so etwas wie Erfassung oder wahre Meinung oder Begriff oder einen [in uns] abgespeicherten, allgemeinen Gedanken, d.h. ein Erinnerungsbild dessen, was sich häufig von außen her zeigt. Z.B. der Satz ,Solches ist ein Mensch‘“. Text: Marcovich 1999; Übers.: Jürß 1998). Zu terminologischen Definitionen vgl. des Weiteren Asmis 1984, S. 21ff., und Beer 2010, S. 112f. Vgl. Beer 2009, S. 191. Vgl. Fine 2011, S. 91f.

Die Anschaulichkeit der Ordnung: Fragen und Thesen

61

matisiert worden.36 Um zu Erkenntnis über etwas zu gelangen, benötigt man eine Vorstellung davon – ob diese Vorstellung, von der man ausgeht, aber gänzlich korrekt ist, ist sekundär. Unfehlbares und unmittelbares Wissen durch Sinneswahrnehmungen ist, anders als im Epikureismus, für die Skepsis daher weder möglich noch nötig. Auch im Kontext von sprachtheoretischen Reflexionen ist die πρόληψις von eminenter Bedeutung, denn sie enthält wichtige Anhaltspunkte für eine epikureische Semiotik. Das Konzept der πρόληψις als Vorstellung oder zeichentheoretisches Signifikat findet nämlich auf diese Weise Eingang in ein epikureisches Zeichenmodell.37 Die Buchstabenanalogien in De Rerum Natura werden in den sprachtheoretischen Untersuchungen jedoch nicht als Referenz herangezogen. Der lukrezische Beitrag zur epikureischen Sprach- und Zeichentheorie wird mehr in der Darstellung der Sprachentstehung im fünften Buch gesehen. Mit der Beobachtung der allmählichen Entwicklung von menschlicher und tierischer LautBedeutungszuordnung wird dort nachvollzogen, wie sich die menschliche symbolische Sprache und die tierische indexikalische bzw. symptomatische Sprache herausbilden.38 Da Lukrez dabei, wie Epikur, von Lauten ausgeht (linguae sonitus; 5,1028. bzw. voces; 5,1088), die zur Bezeichnung der Dinge verwendet werden, bleibt der ,buchstäbliche‘ Zugang zur Sprache ausgespart. Lukrez verweist lediglich am Ende seiner Kulturentstehungslehre auf die Erfindung der Buchstaben (nec multo priuʼ sunt elementa reperta – „und nicht viel früher sind die Buchstaben erfunden worden“; 5,1445), setzt diese aber nicht in Bezug zur Entstehung der Sprache selbst. 2.3

Die Anschaulichkeit der Ordnung: Fragen und Thesen

Die Buchstabenanalogien in De Rerum Natura eröffnen einen ,buchstäblichen‘ Zugang zu den Dingen. Doch nicht nur die konkrete Praxis dessen, was in der Analogie veranschaulicht wird, auch die zugrunde liegende Theorie soll im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen. Die von Friedländer aufgebrachten erkenntnistheoretischen Implikationen der Verbindung von ignis und lignum39 gründen auf 36

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Eine ausführliche Analyse der Auseinandersetzung von Sextus Empiricus mit dem Epikureismus nimmt Fine 2011 vor. Zur Forschungslage vgl. ausführlicher Beer 2010, S. 113f. Zu den Verbindungslinien zwischen Epikureismus und der Semiotik von Charles Sanders Peirce vgl. Franz 1999, S. 301–324. Zu einer konzisen Überschau über das Verhältnis der Sprachentstehungslehre Lukrez’ zu der Epikurs vgl. zuletzt Stevens 2008. Die hier vorgenommene Charakterisierung der menschlichen und tierischen Sprache orientiert sich an seiner Darstellung. Vgl. 1,907–912: iamne vides igitur, […] eadem paulo inter se mutata creare / ignis et lignum? („Siehst du also nun, […] wie eben dieselben [sc.Grundelemente] untereinander nur wenig vertauscht, Flamme und Stamm erzeugen?“).

62

Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

der Tatsache, dass Feuer und Holz qua Erfahrung in einem Näheverhältnis stehen. Durch die Buchstabenfolge -ign-, die beide Ausdrücke gemeinsam haben, lässt sich das epistemologische Potential des Ausdrucks dahingehend ausweiten, dass die Nähe von Feuer und Holz auch konzeptueller Natur ist. Die Ähnlichkeit der Buchstabenordnung veranschaulicht, dass Feuer und Holz zumindest teilweise aus denselben Atomen aufgebaut sind. Folgende Untersuchungs- und Fragekomplexe stehen im Mittelpunkt dieses Kapitels: 1) Das Verhältnis von Buchstabe und Atom: Wenn von der Repräsentation eines Gegenstands durch seinen Ausdruck in Buchstaben auf die Realität dieses Gegenstands Rückschlüsse gezogen werden können, wenn der Text also eine zentrale epistemologische Systemstelle für die Anschauung der Welt darstellt, ist der Art und Weise, in der Gegenstand und Repräsentation aufeinander bezogen sind, besondere Aufmerksamkeit zu widmen. 2) Der epistemologische Status der Analogie: Das Verhältnis von Buchstabe und Atom ist in Form der Analogie bzw. des Vergleichs dargestellt. Beide sind rhetorische Tropen, in denen eine bestimmte Form der Proportionalität, also ein spezifisches Ordnungsverhältnis zwischen zwei Ebenen hergestellt wird.40 Es wird zu untersuchen sein, wie diese Verhältnismäßigkeit im Einzelnen funktioniert, d.h. welche Elemente zueinander in ein analoges Verhältnis gesetzt werden und wie dabei das tertium, die Ordnung, zur Darstellung kommt.41 3) Ordnung als tertium und Aporie: Das tertium der Buchstabenanalogie ist Ordnung. Diese These liegt den folgenden Untersuchungen zugrunde. Wie bereits im obigen Beispiel von ignis und lignum sichtbar wurde, steht eine spezifische Ordnung einerseits auf der Ebene von Buchstaben und Atomen im Zentrum; andererseits fungiert diese Ordnung aber auch als Bindeglied zwischen diesen beiden Ebenen. Besonderes Augenmerk wird zudem auf der Frage liegen, wie weit die Analogie der beiden Ebenen reicht und ob, wo und warum sie zu einem Ende kommt.

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Vgl. Lausberg (1960) 42008, §555. Die sprachphilosophischen Implikationen der Tropenlehre sollen hier ausgeblendet bleiben, da der Fokus auf der Beschreibung der rhetorisch-sprachlichen Mechanismen liegt. Zur Vereinbarkeit der Vorstellung eines tertium comparationis mit der epikureischen Sprachtheorie (v.a. mit Blick auf Metaphern) vgl. aber Beer 2009, S. 213f.: „Die Vorstellung vom tertium comparationis, das den bildlichen Ausdruck, den Gegenstand und das eigentliche Wort auf einer überindividuellen und konzeptuellen Ebene miteinander verbindet, liefert dem didaktischen Ich in De rerum natura […] die Möglichkeit zur Rechtfertigung des Metapherngebrauchs im Lehrgedicht, der nach epikureischer Sprachtheorie eigentlich auszuschließen wäre“.

Die Analogie als epistemologisches Organon

63

Obgleich aus textkritischer Perspektive durchaus Argumente dafür angeführt werden können, dass es sich bei einigen der Verse um Interpolationen handelt – dafür hat z.B. Deufert eine ausführliche Erklärung gegeben42 –, sollen hier die vier zentralen, da ausführlichsten Passagen untersucht werden, in denen Buchstaben und Atome zueinander in ein Entsprechungsverhältnis gesetzt werden. Durch die Analogisierung von Welt und Text wird eine Annäherung zweier auch ontologisch klar voneinander geschiedener Ebenen evoziert, und in diesem Sinne ließe sich auch das von Foucault formulierte Totalisierungspotential der Analogie in der Welt erweitern.43 Die „immense Kraft“,44 die Foucault der Analogie beimisst, besteht nicht nur darin, alles, was in der Welt ist, einander annähern zu können, sondern auch darin, Ähnlichkeiten über eine ontologische Grenze hinaus herzustellen. 2.4

Die Analogie als epistemologisches Organon45

Die Bedeutung, die der Analogie in De Rerum Natura als Erkenntnisinstrument zukommt, macht es notwendig, diese zwischen Metapher und Vergleich changierende Trope46 noch einmal genauer in den Blick zu nehmen.47 Das atomistische Modell zur Erklärung der Welt ist in sich (weitgehend) widerspruchsfrei und geschlossen: „The De rerum natura offers a solution to the crucial problem of explaining how the random conjunction of atoms can result in things coming into being after a fixed pattern“.48 Doch gerade darin liegt bei genauerem Hinsehen das große Defizit oder zumindest der ,wunde Punkt‘ einer solchen Erklärungsmethode. Welchen erkenntnistheoretischen Wert hat nämlich mit Blick auf die wesentliche Funktion des

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Vgl. Deufert 1996, v.a. S. 127–144. Auch in seinem Kommentar zu seiner Neuedition des Lukreztexts zeigt Deufert an, dass er mit Ausnahme der ersten Passage alle weiteren für Interpolationen hält; vgl. Deufert 2018. Vgl. Foucault (1966) 1974, S. 51. Foucault (1966) 1974, S. 51. Dieses Kapitel ist die stark erweiterte und überarbeitete Fassung einer von den Versen 1,814–829 ausgehenden Studie zu Ordnung und Bedeutung (Noller 2015). Vgl. hierzu Coenen 2002, der in seiner Studie die Meinung vertritt, jede Metapher gründe zunächst auf einer Analogie. Coenen grenzt sich dabei dezidiert von Ansätzen der modernen Sprachtheorie ab, die diesen Bezug der Metapher auf die Analogie ablehnen. Neben Kullmann 1980 und Schrijvers 2007 hat vor allem Schiesaro 1994 auf die Wichtigkeit der Analogie für De Rerum Natura aufmerksam gemacht. Vgl. zuletzt auch Marcović 2008, S. 91‒100. Schrijvers 2007, S. 259.

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Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

Sehsinns in der epikureischen Erkenntnistheorie49 eine Erklärung der Welt, die darauf beruht, dass ihre Erklärungsgrundlage unsichtbar ist? Daryn Lehoux macht die Problematik im Vergleich zu anderen Welterklärungsmodellen deutlich: „Where a Stoic could talk about atmospheric air as being a less refined version of psychic pneuma, or an Aristotelian about fire in a fireplace as being very like elemental fire, the Epicurean is more limited – there is nothing even like microcosmic void to point to, and nothing we see out in the world behaves in any way analogously to the almost (but not quite) propertyless, indivisible atoms of Epicurean physics.“50

Wenn man die Existenz von unsichtbaren Atomen annimmt, aus denen alles, was gesehen werden kann, gebildet wird, entsteht eine epistemologische Leerstelle. Dort setzen die Analogien an. Die spezifische Struktur der Analogie, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie auf zwei unterschiedlichen Ebenen operiert, bietet ein geeignetes Mittel, um diese Leerstelle zu füllen.51 Die Analogie ist somit ein auf die epikureische Erkenntnistheorie zugeschnittenes Erklärungsinstrument. Auf die konkrete Verwendung von Analogien in De Rerum Natura übertragen bedeutet dies, dass durch sie nicht allein Wissen didaktisierend vermittelt wird, sondern, noch grundlegender, Einsicht in die Dinge. Trotz der methodologischen und epistemologischen Zentralstellung der Analogie wurde, wie auch Schrijvers hervorhebt, ihr theoretischer Status in der Antike nur in geringem Maße reflektiert: „[A] very striking contrast can be observed between the frequent use of argument from analogy, and the paucity of systematic theoretical reflexion on this principle of observation“.52 Bei Epikur selbst findet sich ein kurzer Passus, in dem er Überlegungen zu Entsprechung und Analogie anstellt. In seinem Brief an Herodot (Kap. 57–59) setzt er sich mit der möglichen Größe von Atomen auseinander und kommt zu dem Schluss, dass selbst Atome nicht unendlich klein sein können. In diesem Zusammenhang führt er anhand seines Untersuchungsgegenstands, d.h. der Praxis der Analogie, auch Ansätze für deren Theoretisierung an (Ep. Hdt. 58f.): Ταύτῃ τῇ ἀναλογίᾳ νομιστέον καὶ τὸ ἐν τῇ ἀτόμῳ ἐλάχιστον κεχρῆσθαι·(59) μικρότητι γὰρ ἐκεῖνο δῆλον ὡς διαφέρει τοῦ κατὰ τὴν αἴσθησιν θεωρουμένου, ἀναλογίᾳ δὲ τῇ αὐτῇ κέχρηται. Ἐπείπερ καὶ ὅτι μέγεθος ἔχει ἡ ἄτομος κατὰ τὴν ἐνταῦθα ἀναλογίαν κατηγορήσαμεν, μικρόν τι μόνον μακρὰν ἐκβαλόντες.

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Vgl. Asmis 1984, v.a. S. 100–193 (zur zentralen Bedeutung von τηρεῖν für die epikureische Epistemologie); Everson 1990; Schrijvers 2007 (zur Verbindung von Epistemologie und Analogie); Asmis 2009. Lehoux 2003, S. 132. Vgl. Schrijvers 2007, S. 256. Schrijvers 2007, S. 256.

Die Analogie als epistemologisches Organon

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Man hat davon auszugehen, dass auch das im Bereich des Unteilbaren Kleinste diese Proportionen aufweist. (59) Denn offensichtlich unterscheidet sich jenes an Kleinheit von dem der Sinneswahrnehmung Zugänglichen, weist aber dieselben Proportionen auf. Denn dass das Atom Größe hat, haben wir gemäß der dort gültigen Proportion festgestellt, nachdem wir nur etwas Kleines auf einen großen Maßstab gebracht hatten.

Wie Elizabeth Asmis richtig feststellt, findet sich bei Epikur keine „technical elaboration“53 der Analogie. Wenn er von ἀναλογία spricht, ist dieser Begriff in seiner Grundbedeutung als Relation zwischen zwei Wahrnehmungsebenen zu verstehen.54 Wird Verschiedenes zueinander in Bezug gesetzt, resultiert daraus die Feststellung von Verschiedenheit – so auch hier: Atome können nicht wahrgenommen werden, weil sie in einer zentralen Eigenschaft, ihrer Größe, von anderen Dingen unterschieden sind (μικρότητι γάρ ἐκεῖνο δῆλον ὡς διαφέρει). Diese Unterschiede der Eigenschaften sind quantitativer Art und lassen sich daher systematisch zueinander in Bezug setzen. Die Fähigkeit der Analogie, Nicht-Anschauliches anschaulich zu machen, d.h. ihre epistemologische Dimension, klingt dabei implizit an, wenn der Erkenntnisgewinn über die Größe von Atomen als eine Form des κατηγορεῖν bezeichnet wird.55 In Philodems Schrift De Signis findet sich eine ausführlichere und systematische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Analogie.56 Mit Blick auf die ansonsten „ausgeprägte Zurückhaltung gegenüber stark formalisiertem logischem Argumentieren“57 im Epikureismus unterstreicht dies die wichtige Bedeutung, die dem analogischen Schlussverfahren zukommt. Durch die atomistische Grundlage der Welterklärung ist gerade die epikureische Erkenntnistheorie leicht angreifbar und benötigt daher ein auch theoretisch möglichst valides Erklärungsmodell: Philodem bezeichnet die Analogie als die im Epikureismus einzig korrekte Methode, um logische Schlüsse zu ziehen58 und verteidigt sie zugleich gegen den Vorwurf der erkenntnistheoretischen Unzulänglichkeit.59 Beate Beer hat im Detail herausgearbeitet, wie Philodem in Auseinandersetzung mit den gegnerischen Argumenten das epikureische Analogieverfahren sys-

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Asmis 1984, S. 177. Beer 2009, v.a. S. 182–210 kommt aber, ausgehend von Philodems Schrift De Signis, zu einem anderen Schluss (S. 195): „[D]as epikureische Analogieverfahren, wie es in De Signis beschrieben wird, [erweist sich] […] als recht weitgehend theoretisch ausformuliert“. Vgl. Bailey 1926 ad loc. Vgl. LSJ s.v. κατηγορέω II,1 „signify, indicate, prove“. Vgl. dazu ausführlich Beer 2009, S. 172–197. Beer 2009, S. 195. Vgl. De sign. 30,37–39: σημειώσεως γὰρ ὀρθῆς | οὐδεὶς παρὰ τ[οῦ]τόν ἐ[σ]τιν ἕτερος | τρόπος („Denn außer dieser [sc.der Analogie] gibt es keine andere korrekte Methode“). Text: De Lacy/De Lacy 1978. Vgl. Beer 2009, S. 174.

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Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

tematisiert.60 Um im Spezifischen die Form der Analogie genauer beschreiben und erklären zu können, auf die Lukrez in De Rerum Natura zurückgreift, sind diese theoretischen Aspekte jedoch weniger aufschlussreich als vielmehr die konkrete Frage, wie die Relation durch Ähnlichkeit, auf der jede analogische Verbindung beruht, genau beschaffen sein muss. Beer weist darauf hin, dass Philodem eben diesen „Kern des Analogieverfahrens“,61 die Ähnlichkeit, im Unbestimmten belässt (De sign. 28,25–29): [κα]ὶ τὸ μὴ | [ἐπιλε]λογίσθαι ὅτι ο[ὐκ] ἀφ’ οὗ ἔ|τ[υχε]ν ὁμοίου ἐφ’ ὅ ἔτυχεν οἰό|με[θα] δεῖν μεταβαίνειν ἀλλ’ ἀ|πὸ τοῦ μάλιστα ὁμοιοτάτου („Und [sc. es ist falsch], unsere Überzeugung nicht einbezogen zu haben, man solle nicht von irgendeiner zufälligen Ähnlichkeit auf irgendeine andere schließen, sondern nur vom Allerähnlichsten“). Damit, so Beer, wirke Philodem dem Schluss aufgrund beliebiger Ähnlichkeiten entgegen.62 Die Bestimmung, man solle bei einer Analogie stattdessen die größte Ähnlichkeit zugrunde legen, lässt einerseits großen Interpretationsspielraum. Andererseits lässt sich daraus aber ableiten, dass die Wahl einer bestimmten Bezugsebene, zumal wenn häufiger auf sie rekurriert wird, implizit auch etwas darüber aussagt, für wie erkenntnistheoretisch valide diese Ebene gelten kann. Die Buchstabenanalogien in De Rerum Natura erzeugen z.B. gerade deshalb so unmittelbare Evidenz, weil sie mir der Ordnung der Atome unter so vielfältigen Gesichtspunkten zur Deckung kommen. Eine Darstellung der Mechanismen einer Analogie unter rhetorischen Gesichtspunkten findet sich in Quintilians Institutio Oratoria. Quintilian betont in seiner komprimierten Definition die Aspekte, die auch für die erkenntnistheoretische Problematik des Epikureismus von zentraler Bedeutung sind (inst. 1,6,3f.63): Omnia tamen haec exigunt acre iudicium, analogia praecipue: (4) quam proxime ex Graeco transferentes in Latinum proportionem vocaverunt. Eius haec vis est, ut id quod dubium est ad aliquid simile de quo non quaeritur referat, et incerta certis probet. Dennoch verlangt dies alles scharfes Urteilsvermögen, zumal die Analogie, (4) die man in genauer Übertragung aus dem Griechischen proportio genannt hat. Ihr Vermögen besteht darin, etwas Zweifelhaftes auf etwas Ähnliches zu beziehen, an dem kein Zweifel besteht, und Ungewisses durch Gewisses zu beweisen.

Nach Quintilian besteht das analogische Sprechen in zwei Operationen: referre und probare. Das Herstellen von Bezügen, wie es in referre zum Ausdruck kommt, kann dabei als zugrunde liegende Methode aufgefasst werden, durch die 60 61 62 63

Vgl. Beer 2009, S. 182–197. Beer 2009, S. 198. Beer 2009, S. 199. Text: Winterbottom 1970; Übers.: Rahn 1972.

Die Analogie als epistemologisches Organon

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das Ziel, nämlich die Plausibilisierung (probare) des in Frage stehenden Sachverhalts, erreicht wird. Insbesondere der methodische Aspekt, der darin besteht, zwei in einem nicht näher spezifizierten Ähnlichkeitsverhältnis stehende Elemente zueinander in Bezug zu setzen, verdient besondere Aufmerksamkeit. Denn trotz der zunächst einfach anmutenden Operation einer relationierenden Übertragung verweist der Grundmechanismus der Analogie auf komplexere epistemologische und methodologische Aspekte: Was für eine Relation wird nämlich zwischen den beiden Bestandteilen der Analogie tatsächlich hergestellt?64 Trotz ihres Status als Erkärungsinstrument ist eine Analogie alles andere als eindeutig. Im Gegenteil: Die Eindeutigkeit der Analogie wird durch ihre Mehrdeutigkeit suggeriert. Die Begriffe Oszillieren und Transzendieren65 beschreiben daher am besten, wie die Übertragungsmodi der Analogie funktionieren. Eine Analogie muss per se uneindeutig sein, um ihr Ziel zu erreichen, nämlich etwas gerade in seiner nicht zu verändernden Eindeutigkeit anschaulich zu machen. Sie oszilliert daher zwischen der Festlegung einer Bedeutung und deren Beliebigkeit.66 Gerade in dieser Gleichzeitigkeit von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit liegt jedoch noch ein weiteres Spezifikum der Analogie, das für die lukrezischen Buchstabenanalogien wichtig ist: Die Analogie bezieht zwei Ebenen auf einander, die ontologisch, oder wie Secretan formuliert, „matériellement“ keine Berührungspunkte aufweisen. Bildlich gesprochen überwindet eine Analogie damit den epistmologischen ,Graben‘, bzw. die Grenze, die zwischen diesen beiden Ebenen besteht: „[D]ans la mesure où les frontières qui marquent les limites de ces domaines sont matériellement infranchissables, l’analogie les franchit en montrant ce qu’il y a de formellement ressemblant entre l’ici et le là-bas. […] L’analogie est un pont par dessus une frontière – qui ne s’en trouve pas abolie pour autant.“67

Welche Grenzen in der Analogie von Buchstaben und Atomen überwunden werden und welche bestehen bleiben, muss daher ganz besonders in den Fokus 64 65

66

67

Vgl. Schiesaro 1994, S. 84f. Diese beiden Charakteristika der Analogie wurden zuerst von Secretan 1984, S. 7f. formuliert, an dem sich die obige Darstellung orientiert. Daran lässt sich auch die Beobachtung von Hardie 1986, S. 221 anschließen, der feststellt: „[T]he awareness of the real analogy between the two things compared sets up a two-way movement […]. In the traditional simile the emphasis lies on the illumination of the primary subject by the object to which it is compared; in the Lucretian simile the access of fresh vision or understanding works in both directions; as well as illustrating the less clear by the more clear, the simile also adjusts our perception of its own content“. Vgl. dazu Secretans Bestimmung (1984, S. 8; Hervorhebungen dort), die Analogie sei „un intermédiaire entre l’univoque et l’équivoque, donc entre la fixation d’un terme sur une et une seule signification, ou au contraire sa dispersion dans un divers de significations sans rapport les unes avec les autres“. Secretan 1984, S. 8.

68

Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

gerückt werden, denn das Verhältnis der Ähnlichkeit, das nach Quintilian den epistemologischen ,Graben‘ überwinden kann, nimmt in den lukrezischen Buchstabenanalogien eine spezifische Ausprägung als visuelle Ähnlichkeit an. Das erkenntnistheoretische Potential des Visuellen, auf dem die epikureische Epistemologie fußt, wird damit selbst zum Gegenstand der Reflexion, wenn die nicht sichtbaren Atome durch die Buchstaben des Textes anschaulich gemacht werden. Die Erklärung eines dubium durch ein simile ist bei Quintilian das Ziel einer Analogie. Es wird sich zeigen, dass bei Lukrez Ordnung das dubium ist, das in den Buchstabenanalogien zur Anschauung kommen soll. Das Verfahren der Analogie und ihr epistemologisches Potential ist in der Antike trotz oder gerade wegen ihrer wenig ausführlichen Theoretisierung nicht unwidersprochen geblieben. Aus den kritischen Auseinandersetzungen, die v.a. im zeitgenössischen Diskurs um Lukrez stattfinden, lässt sich schließen, für wie valide das analogische Schlussverfahren im Kontext anderer philosophischer Strömungen angesehen wurde und welche Reaktionen seitens der Epikureer – neben Lukrez sei hier insbesondere Philodem genannt – die erkenntnisskeptischen Haltungen zeitigten.68 Ein gutes Beispiel bietet Ciceros Schrift De Natura Deorum. Cotta, der für die akademische Skepsis spricht, problematisiert die für die Analogie so zentrale Ähnlichkeitsbeziehung (nat. deor. 1,97f.): Ipsa vero quam nihil ad rem pertinet, quae vos delectat maxime, similitudo. quid, canis nonne similis lupo (atque, ut Ennius, ,simia quam similis turpissuma bestia nobis‘); at mores in utroque dispares. Doch selbst die Ähnlichkeit, an der ihr eure ganz besondere Freude habt, wie wenig tut sie zur Sache. Denn ist der Hund nicht dem Wolf ähnlich, und, um mit Ennius zu reden, ,Ach, wie gleicht uns doch das hässlichste Tier, der Affe!‘; und trotzdem ist der Charakter bei beiden verschieden.69

Im Kern läuft Cottas Kritik darauf hinaus, dass die beiden Ebenen der Analogie und deren Ähnlichkeit völlig beliebig und zufällig seien und demnach keinerlei erkenntnistheoretischen Wert hätten – insbesondere nicht für die so hergeleitete Annahme, Götter und Menschen besäßen die gleiche Gestalt (vgl. nat. deor. 1,96). Wie Elizabeth Asmis hervorhebt, kritisiert Cotta damit die Form des epikureischen ἐπιλογίζεσθαι.70 Asmis kann auch zeigen, dass diese Argu68

69 70

Vogt 2016, S. 156 betont, dass eine wirkliche philosophische Auseinandersetzung mit der epikureischen Epistemologie erst im 1. Jh. v. Chr. einsetzen konnte: „In general, I suspect that skepticism develops more in exchange with Epicurean epistemology than it is standardly assumed. But Epicurus does not yet have sophisticated skeptics as interlocutors. Skepticism was significantly advanced by the need to reply to Epicurean and Stoic challenges. At the time when Lucretius writes there are sophisticated kinds of skepticism to respond to“. Text: Ax; Übers.: Gerlach/Bayer (1978) 31990. Asmis 1996, S. 175.

Das ,Mehr‘ der Ordnung

69

mentationsweise derjenigen ähnlich ist, die Philodem in De Signis nutzt, um das epikureische Analogieverfahren zu erklären und die gegnerischen Standpunkte darzustellen.71 In dieser Gegenüberstellung von Epikureismus und Skepsis manifestiert sich, dass die beiden Schulen in einem direkten und engen Diskussionszusammenhang über die Frage standen, ob und wie aus empirischen Grundlagen ,wahre‘ Schlüsse gezogen werden können.72 2.5

Das ,Mehr‘ der Ordnung

2.5.1

Unzureichende Ordnung (I): Pluralistische Welterklärungen

Im ersten Buch von De Rerum Natura spielen Differenz und Identität eine wichtige Rolle, da sich zwischen diesen beiden Polen die Ordnung der Dinge vollzieht.73 Diese Grundkonstellation bleibt auch in den Passagen des ersten Buches bestehen, die nicht im eigentlichen Sinne der Darstellung der epikureischen Doktrin zuzurechnen, sondern als philosophische Kontrastfolie konzipiert sind.74 In der umfassenden Analyse und Widerlegung anderer philosophischer Welterklärungsmodelle (1,635–920) führt die lukrezische Kritik, trotz der ganz unterschiedlichen Konzeptionen dieser philosophischen Modelle im Einzelnen, letztendlich immer auf die Frage nach dem Verhältnis von Identität und Differenz zurück: Der Monismus Heraklits, der empedokleische Pluralismus und die Homoiomerie des Anaxagoras werden allesamt als defizitär für die Erklärung der Welt beurteilt, weil sie Identität und Differenz in ein Verhältnis bringen, das der tatsächlichen Beschaffenheit der Welt – aus der hier maßgeblichen atomistischen Perspektive – nicht gerecht werden kann. Dieser Grundkonflikt ist auch bestimmend für die im Folgenden untersuchte Passage, in der die Auseinandersetzung mit der pluralistischen Welterklärung – der „popular version of Pluralism“75 (1,763–768) und der Lehre des Empedokles (1,770–781) – im Zentrum steht.76 Wird die Welt nämlich nicht als Zusammen71

72

73 74 75 76

Nach Asmis 1996, S. 179 sind die gegnerischen Standpunkte in erster Linie der akademischen Skepsis zuzuorden. Vgl. dazu auch Beer 2009, S. 174–182. Vgl. Beer 2009, S. 182. Nicht nur bei Philodem, sondern auch in De Rerum Natura findet sich eine Auseinandersetzung mit der Skepsis. Im vierten Buch (4,469–472) lehnt es Lukrez ab, sich mit der in sich selbst widersprüchlichen skeptischen Erkenntnishaltung zu befassen. Vgl. dazu u.a. Vander Waerdt 1989 und Vogt 2016. Sedley 1998 liest die Stelle nicht als Ausweis eines zeitgenössischen Diskurses, sondern erkennt darin einen direkt von Epikur übernommenen Argumentationsmodus. Vgl. Kap 3.2 dieser Arbeit. Vgl. hierzu ausführlich Montarese 2012. Brown 1984, S. 165. Wie Bailey 1947, S. 733 richtig bemerkt, kommen in dieser Passage verschiedene Ausformungen des Pluralismus zur Darstellung.

70

Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

setzung aus Atomen, sondern als Verbindung aus den vier Elementen Wasser, Erde, Luft und Feuer bestimmt, ergeben sich aus dieser pluralistischen Ordnungslehre Konstellationen, die sich wie folgt beschreiben lassen (1,763–768): Denique quattuor ex rebus si cuncta creantur atque in eas rursus res omnia dissoluuntur, qui magis illa queunt rerum primordia dici quam contra res illorum retroque putari? alternis gignuntur enim mutantque colorem et totam inter se naturam tempore ab omni.

765

Wenn außerdem alles sich aus vier Dingen bildet und sich auch wieder in diese vier auflöst, wie kann man da jene mit mehr Recht die Urelemente der Dinge nennen, als umgekehrt die Dinge für die Urelemente jener halten? Von jeher entstehen sie nämlich im Wechsel und verändern ihre Farbe und ihr gesamtes Wesen untereinander.

Die Dinge entstehen aus den vier Elementen und lösen sich auch wieder in diese auf. Was noch deutliche Parallelen zum atomistischen Erklärungsmodell aufweist, unterscheidet sich bei näherer Betrachtung und in der folgenden, genaueren Beschreibung dieser Prozesse jedoch ganz wesentlich davon. Die fehlende Möglichkeit, zwischen Element und Ding zu unterscheiden – was hier auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass beide Begriffe durch res ausgedrückt sind (vgl. quattuor ex rebus, 1,763; rerum primordia; 1,765; res illorum; 1,766) –, führt zur Frage nach dem Ursprung der Dinge. Der ständige Prozess des Wechsels77 führt dazu, dass nicht mehr unterschieden werden kann, was Anfang und was Folge ist. Ob sich aus der Zusammensetzung der einzelnen Elemente die Dinge gebildet haben, oder aus den Dingen nach ihrer Auflösung die Elemente wieder sichtbar wurden, kann nicht bestimmt werden. Statt Differenz gibt es nur Identität, denn die Möglichkeit, Unterschiede zwischen Dingen und Elementen herzustellen, ist nicht gegeben. Es herrscht Beliebigkeit und Ununterscheidbarkeit, was zu dem folgenden, paradoxen Szenario führen kann: „[Y]ou might just as well chose your ,first-beginnings‘ at the other point in the process and say that ,things‘ are the elements of the elements“.78 Die Herausbildung der Dinge aus einer spezifischen Ordnung der Elemente ist also schon rein praktisch nicht möglich, da eine klare Zuteilung und Unterscheidung der Ebenen von Konstituens und Konstitutum nicht möglich ist. Im Umkehrschluss lässt sich aus der Kritik an der Vier-Elemente-Lehre für die atomistisch basierte Welterklärung ableiten, dass bei der Entstehung von Dingen aus Atomen klare Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen Konstituens und Konstitutum gegeben sind und damit auch die Frage des Anfangs beantwortet 77 78

Bailey 1947, S. 733 spricht von einem „alternating process“. Bailey 1947, S. 733.

Das ,Mehr‘ der Ordnung

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werden kann; daneben kann man daraus auch ableiten, dass die Weise, in der sich die Grundelemente zu den Dingen zusammenfinden, nicht in einer wechselseitigen Austauschbewegung besteht, sondern, wie sich im Folgenden zeigen wird, als Bewegung des Zusammenkommens konzeptualisiert ist. Den Ununterscheidbarkeit erzeugenden Veränderungen steht das lukrezische Modell gegenüber, das auf einer unveränderlichen Unterscheidbarkeit beruht: immutabile enim quiddam superare necessest („etwas Unveränderliches muss nämlich übrigbleiben“; 1,790).79 Die pluralistische Lehre muss von Lukrez aber nicht gänzlich widerlegt oder verworfen werden. Was vielmehr deutlich wurde, ist, dass sie für die vollständige Erklärung der Welt nicht ausreichend ist; und zwar nicht aufgrund eines ihr inhärenten Mangels an Ordnung (vgl. 1,763–768), sondern weil die Weltordnung, die aus vier Elementen entspringt, eine sekundäre Ordnung ist: Der Element- und Ordnungsbegriff des Pluralismus ist nicht ganz bis zu seinem Ende gedacht und lässt sich auch nicht bis zu einem solchen denken. Aus atomistischer Perspektive sind die vier Elemente nämlich selbst noch weiter in Atome segmentierbar: „Lucretius’ aim is to show that Atomism fits the facts adduced even better than does Pluralism; his main contention is that pluralistic analysis does not go far enough“.80 Auch die empedokleische Lehre (1,770–781) von den vier Elementen weist sich durch ihren spezifischen Umgang mit dem Paradigma von Differenz und Identität aus. Hier ist es jedoch nicht die Ununterscheidbarkeit von Element und Ding, die postuliert wird, sondern – im Gegenteil – deren Unterscheidbarkeit, denn die Elemente bleiben stets als solche mit ihren spezifischen Eigenschaften in den Dingen präsent: „[T]he elements retained their own ,immortal‘ nature and formed things by their combination in varying proportions. Such a process, Lucr[etius] argues, could never give rise to any real ,thing‘ with its own characteristics; for earth, air, fire, and water would always obtrude their qualities in the combination.“81

Wie bereits in Cyril Baileys Erklärung anklingt, setzt die Kritik aus lukrezischer Perspektive bei dem spezifischen Verhältnis von Identität und Differenz an. Wie in der „popular version“82 des Pluralismus verbinden sich auch hier die Elemente zu den Dingen. Sprachlich lässt sich ein Unterschied zum zuvor Geschilderten bereits darin finden, dass sich Lukrez eines Vokabulars mit „socio-political con79

80 81 82

Vgl. dazu auch 1,794–796: quapropter quoniam quae paulo diximus ante / in commutatum veniunt, constare necessest / ex aliis ea, quae nequeant convertier usquam („Deshalb müssen natürlich die eben bezeichneten Stoffe, da sie Wandlungen erfahren, aus anderen Stoffen bestehen, und zwar solchen, die nie verändert werden können“). Brown 1984, S. 170; ähnlich Garani 2007, S. 13. Bailey 1947, S. 733. Brown 1984, S. 165.

72

Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

notations“83 (coetus, acervus) bedient und damit die Partikularität des entstehenden Ganzen hervorhebt. Inhaltlich betrachtet bestehen der Unterschied und das Defizit der Elemente nun nicht mehr darin, dass Element und Ding, Konstituens und Konstitutum, nicht mehr zu unterscheiden wären, sondern darin, dass die Unterscheidbarkeit der einzelnen Elemente auch in den zusammengesetzten Dingen noch vorhanden ist. Die Differenz der einzelnen Bestandteile bleibt also immer sichtbar (1,775–777): quippe suam quidque in coetu variantis acervi naturam ostendet mixtusque videbitur aer cum terra simul atque ardor cum rore manere.

775

Freilich, beim Zusammenkommen der verschiedenartigen Masse wird ein jedes seine Natur zeigen und man wird Luft mit Erde vermischt und Glut zugleich mit Feuchtigkeit sich erhalten sehen.

In den pluralistischen Modellen zur Welterklärung kann die Ordnung der Elemente somit nur zur Herausbildung von Eigenschaften führen, über die auch die Elemente selbst verfügen. Eigenschaften, die aus der Ordnung der Elemente hervorgehen, dabei aber nicht schon in den Elementen selbst enthalten sind, emergente Eigenschaften also, sind mit diesem Modell nicht erklärbar. Gerade in dieser verhinderten Emergenz, die ganz wesentlich mit dem Verhältnis von Identität und Differenz zusammenhängt, ist der zentrale Kritikpunkt am Pluralismus zu sehen. So ist deutlich geworden, dass zwar in beiden Modellen durch die Zusammensetzung einzelner Elemente Dinge entstehen können, dass daraus jedoch nicht erklärt werden kann, warum sich die Dinge so zeigen, wie sie sich zeigen. Sowohl zu viel (Empedokles) als auch zu wenig Differenz zwischen (Grund-)Element und Ding verhindert die Emergenz spezifischer Eigenschaften. An dieser Stelle setzt die Erklärungsebene der Atome an. Damit kann Lukrez die Entstehung und Beschaffenheit der Dinge aus einer Perspektive beschreiben, die der Perspektive der pluralistischen Erklärung nicht entgegensteht, sondern sie gewissermaßen unter einer noch höheren Auflösung betrachtet. Dieser ,Zoom‘ in die Dinge stellt sich wie folgt dar (1,817–822): atque eadem magni refert primordia saepe cum quibus et quali positura contineantur et quos inter se dent motus accipiantque; namque eadem caelum mare terras flumina solem constituunt, eadem fruges arbusta animantis, verum aliis alioque modo commixta moventur.

820

Und oft ist es auch sehr wichtig, mit welchen anderen und in welcher Lage dieselben Grundelemente verbunden sind, und welche Bewegungen sie untereinander 83

Garani 2007, S. 54.

Das ,Mehr‘ der Ordnung

73

geben und empfangen; denn dieselben bilden Himmel, Meer, Erde, Flüsse und die Sonne, auch Korn, Bäume und Lebewesen; vermischt bewegen sie sich freilich mit anderen auf andere Weise.

An die Stelle des für die Ebene der Elemente beschriebenen Problemfelds der Differenz wird nun auf der Ebene der Atome das Prinzip der Gleichheit gesetzt, wie der zweimalige Verweis auf „dieselben Grundelemente“ (eadem primordia; 817, 820) markiert. Zwar bilden sich auch in diesem Modell die Dinge aus einer Form der Ordnung – Zusammensetzung und Mischung (constituere, 1,821; commiscere, 1,822) –, ein entscheidender Unterschied liegt jedoch im Verhältnis von konstituerendem Grundelement und konstituiertem Ding: Würden nämlich, wie in der pluralistischen Lehre, alle Dinge aus der Mischung aller vier Elemente zugleich hervorgehen, so entstünde aus Gleichem Gleiches: Sei es, dass zwischen dem Element Feuer und dem Ding Feuer keine Unterscheidungsmöglichkeit bestünde (wie in 1,763–768) oder dass das Element Feuer auch noch im Wasser sichtbar wäre (wie in 1,775–777). Von der lukrezischen Beobachtungsperspektive aus erklären sich die Entstehung der Dinge und ihrer Eigenschaften auf andere Weise. Aus den gleichen Grundbestandteilen können unterschiedliche Dinge erzeugt werden: Aus Gleichheit entsteht Differenz. Von entscheidender Bedeutung ist hierbei die Ordnung der Atome – verstanden als Prozess und als (temporär) feststehendes Konstrukt. Für die Entstehung der genannten Dinge der Welt, wie Himmel, Meer oder Erde sind allein die Lage (quali positura; 1,817),84 Mischung (cum quibus; 1,817) sowie die Bewegungen (quos motus; 1,819) der Atome untereinander ausschlaggebend.85 Abhängig davon, wie ein Atom diese Ordnungsvariablen ausfüllt, verändert sich auch das daraus zusammengesetzte Ding in seiner Erscheinung. Die Form des einzelnen Atoms ist dabei jedoch – anders als im Modell der Vier-Elemente-Lehre – nicht mehr sichtbar. Diese Veränderung rückt diese Form der Ordnung in die Nähe von Emergenz. Der entscheidende Punkt liegt dabei darin, dass im Entstehungsprozess vom Atom zu einem Ding (neue) Eigenschaften entstehen, die nur noch bedingt auf die atomaren Eigenschaften zurückzuführen sind. Dadurch, dass die Atome und ihre Ordnungen sowohl statisch sind als auch dynamisch agieren, erzeugen sie grundlegende Unterschiede in der räumlichen 84

85

Vgl. Bailey 1947 ad 818 zur Erklärung des Begriffs mit Verweis auf Leukipps Konzept der τροπή. Zu einer Zuordnung der von Lukrez verwendeten Termini zu den entsprechenden griechischen Begriffen vgl. Beer 2009, S. 60. Eine ganz ähnliche Darstellung der Ordnungsprozesse, die an der Hervorbringung immer neuer Dinge durch unterschiedliche Ordnung beteiligt sind, findet sich im zweiten Buch (2,883–885): iamne vides igitur magni primordia rerum / referre in quali sint ordine quaeque locata / et commixta quibus dent motus accipiantque? („Siehst du nun denn nicht, dass sehr wichtig ist, in welcher Ordnung die Ursprungskörper alle sich befinden und mit welchen anderen vermischt sie bewegen und bewegt werden?“).

74

Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

Disposition dieser mikroskopischen Ebene und bringen so die verschiedenen Erscheinungen der Dinge hervor (1,820–822): namque eadem caelum mare terras flumina solem constituunt, eadem fruges arbusta animantis, verum aliis alioque modo commixta moventur.

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Denn dieselben bilden Himmel, Meer, Erde, Flüsse und die Sonne, auch Korn, Bäume und Lebewesen; vermischt bewegen sie sich freilich mit anderen auf andere Weise.

Nachdem in den Versen zuvor im Mittelpunkt stand, welche Mechanismen der Ordnung auf der nicht sichtbaren Ebene der Atome zum Tragen kommen und dabei besonders hervorgehoben wurde, dass es dieselben primordia sind, die diese Mechanismen ausführen, folgt nun die Begründung, warum dies so wichtig ist (namque; 1,820). Im Gegensatz zur Entstehung der Dinge, wie sie in der VierElemente-Lehre konzipiert ist, ist es von zentraler Bedeutung, dass im atomistischen Modell dieselben Atome ganz unterschiedliche Dinge hervorbringen können. Dieser Passus führt daher keine neuen Aspekte zur Genese und Ordnung der Dinge ein, sondern er wiederholt diese lediglich noch einmal. Der Unterschied besteht dabei in der Perspektive. Denn nun rückt in den Blick, wie aus der unterschiedlichen Ordnung derselben Atome (eadem; 1,820) Welt, Himmel, Erde und deren übrige Grundbestandteile entstehen. Die Betonung der Gleichheit der Atome ist an dieser Stelle jedoch nicht in der Weise zu verstehen, dass postuliert würde, nur eine Form von Atom erzeuge alle Dinge86 – dies käme der pluralistischen Vorstellung gleich –, sondern deutet auf einen Aspekt hin, der in den Analogien der Buchstaben besonders deutlich wird: Dieselben Atome sind an der Genese gänzlich unterschiedlicher Dinge beteiligt. Dies bedeutet, dass auch unterschiedliche Dinge in ihrem Inneren Gemeinsamkeiten besitzen, ohne dass dabei ihre Verschiedenheit verloren ginge.87 Auf die vielfältigen Atomkombinationen verweist auch noch einmal der letzte Vers dieses Abschnitts: verum aliis alioque modo commixta moventur („vermischt bewegen sie sich freilich mit anderen auf andere Weise“; 1,822). Durch das Polyptoton aliis alioque wird eben diese Vielfältigkeit, die auf der Mischung einzelner Atome beruht, gänzlich im Unbestimmten belassen; die beiden Indefinitpronomen fungieren darüber hinaus gleichsam als Variablen, die, je nach

86

87

So auch Brown 1984 ad loc.: „L[ucretius] concedes to his opponent that the four elements and living things contain the same primordia even though he disagrees fundamentally about their nature and their methods of combination“. Anders perspektiviert bei Beer 2009, S. 224: „Die Dinge sind also nur an ihrer Oberfläche verschieden. Je mehr Einsicht man in ihren inneren Aufbau gewinnt, desto deutlicher tritt ihre Ähnlichkeit hervor, und die Welt wird berechenbar“.

75

Das ,Mehr‘ der Ordnung

Konkretisierung, andere Bewegungen und damit auch andere Kombinationen und Dinge hervorbringen können. Gerade im Verweis auf die atomare Natur der Grundelemente in der Welt – caelum, mare, terra, flumen, sol (1,820) –, die durchaus als Verweis auf die vier Elemente zu lesen sind,88 wird so noch einmal ganz deutlich gemacht, dass auch und gerade diese vier Elemente, die der pluralistischen Lehre zugrunde liegen, selbst Produkte der atomaren Ordnungen sind.89 Auch für sie gelten somit jene Mechanismen der Ordnung, die zuvor als Genese von Differenz aus Gleichheit beschrieben wurden: Die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft lassen sich ihrerseits wieder in kleinere Bestandteile, die Atome, zerlegen, und haben in den primordia ihren kleinsten gemeinsamen und bestimmbaren Teiler erreicht. Indem Lukrez diese Elemente als Zusammenfügungen und Vermischungen beschreibt, wird deutlich, dass auf beiden Ebenen die gleichen Prinzipien zum Tragen kommen. Auf der Ebene der sichtbaren Welt stehen aber weniger die Prozesshaftigkeit als vielmehr die Resultate dieser Prinzipien im Vordergrund. Die Ordnung der Atome, die auf spezifischen Zusammenschlüssen und Bewegungen beruht, bringt die Erscheinungen der sichtbaren Welt hervor, und zwar in einer Form, die dezidiert als Akt der Zusammensetzung charakterisiert ist. 2.5.2

Nostris in versibus ipsis. Der Bezugspunkt der Analogie

Im weiteren Fortgang der Argumentation erfolgt ein erneuter Perspektivwechsel. Nachdem Lukrez von der Ebene der Atome ausging und dann auf die Ebene der Welt wechselte, ist nun ein ontologischer Perspektivwechsel zu verzeichnen. Durch den Verweis auf die Buchstaben des Textes wird nämlich eine Ebene eingeführt, die notwendig ist, um die Veranschaulichung qua Analogie vorzubereiten. Das nicht sichtbare dubium (hier: die Ebene der Atome), das Quintilian in seiner Definition als Zentrum der Analogie bestimmt (vgl. inst. 1,6,4),90 wird damit nun auf etwas Ähnliches bezogen (1,823–826): quin etiam passim nostris in versibus ipsis multa elementa vides multis communia verbis, cum tamen inter se versus ac verba necessest confiteare et re et sonitu distare sonanti.

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Vgl. Brown 1984 ad loc. Zur Vierteilung der Welt bei Empedokles vgl. Garani 2007, S. 14. Vgl. auch die Erklärung Baileys aus philosophischer Perspektive (Bailey 1947, S. 740): „It must be remembered that in Atomism too the elements played a considerable part as existences intermediate between the atoms and compound things“. Vgl. Kap. 2.4 dieser Arbeit.

76

Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien Ja sogar in unseren eigenen Versen siehst du überall, dass viele Buchstaben vielen Wörtern gemeinsam sind; auf der anderen Seite musst du aber zugeben, dass Verse und Wörter untereinander sowohl dem Inhalt als auch ihrem klingenden Klang nach verschieden sind.

Dies ist der „pont par dessus une frontière“, der für das Funktionieren einer Analogie unabdingbar ist.91 Denn an dieser Stelle wird die epistemologische Leerstelle ,überbrückt‘, die genau dort anzusiedeln ist, wo der kausale Konnektor namque (1,820) die Ebene der Atome mit der Ebene der sichtbaren Dinge in der Welt verbindet. Denn dass und wie etwas nicht Sichtbares etwas Sichtbares erklären kann, bleibt an dieser Stelle offen. Die Buchstabenanalogie setzt genau dort an, indem sie jene äußerste Abstraktion, in der das Modell einer atomistischen Welterklärung operiert, nun in eine größtmögliche Konkretheit transformiert: Die Bezugnahme auf die Buchstaben und deren Ordnungsmechanismen im Text. Wie bereits eingangs skizziert, wird dieser Bezug zwischen Buchstaben und Atomen nicht nur an dieser, sondern auch noch an anderen Stellen in De Rerum Natura hergestellt. Wie ein Blick auf diese Passagen zeigt, befinden sie sich alle am Ende eines längeren argumentativen Passus.92 Darin ist aber nicht allein ein Verweis auf ein wesentliches Strukturmerkmal der Argumentationsweise in De Rerum Natura zu sehen, also darauf, dass die Analogie dazu prädestiniert ist, das lukrezische Modell der Welterklärung zur Darstellung zu bringen, oder besser: vor Augen zu stellen. Der Umstand, dass jeweils ganz am Ende eines für die lukrezische Welterklärung zentralen Passus ein Verweis auf die Buchstäblichkeit des eigenen Textes steht, lässt die Vermutung zu, dass der Text in De Rerum Natura nicht nur als Illustration, sondern auch als Systemstelle fungiert, an der Text und Welt einander soweit angenähert werden, dass der Text zugleich über etwas anderes (die Welt) und sich selbst sprechen kann. Als ,ultimatives‘ Argument steht die Analogie der Buchstaben daher am Schluss eines Arguments. Gerade in dieser Annäherung werden Form und Inhalt nicht nur veranschaulicht, sondern auch im Wortsinne anschaulich. Die Differenz, die zuvor zwischen der Beschreibungsebene (dem Text) und dem Beschriebenen (der Welt) herrschte, ist somit aufgehoben, wenn der Text selbst in den Mittelpunkt rückt. Durch den starken deiktischen Gestus gleich zu Beginn (passim nostris in versibus ipsis – „in unseren eigenen Versen [siehst du] überall“; 1,823) werden die den Text konstituierenden Buchstaben, die elementa, nun selbst zum Anschauungsobjekt gemacht: Durch Buchstaben, Wörter und

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Secretan 1984, S. 8. Die Verse 1,907–914 stehen am Ende der Widerlegung von Anaxagorasʼ Lehre, die Verse 2,688–699 am Ende des Passus über die Mischungen der Atome und die Verse 2,1013–1022 am Ende des Passus über die Empfindungslosigkeit der Atome. Auf die Stellung der Buchstabenanalogie in 2,688 als Schluss einer Beweisreihe hat bereits Büchner 1937, S. 76 hingewiesen.

Das ,Mehr‘ der Ordnung

77

Verse wird auf Buchstaben, Wörter und Verse reflektiert.93 Der Begriff elementum verdient dabei besondere Aufmerksamkeit, bezeichnet er doch in De Rerum Natura gleichermaßen Atome und, wie hier, die Buchstaben. Hinzu kommt, dass elementum zumeist in einem Kontext verwendet wird, der mit Ordnung zusammenhängt.94 Der doppelte Sinn von elementum, das als Übertragung des griechischen στοιχεῖον95 gebildet ist, trifft exakt in das epistemologische Funktionszentrum der Analogie. Wie bereits hervorgehoben, funktioniert die Analogie durch die Herstellung einer semantischen Uneindeutigkeit, da sie ein semantisches Feld aufruft, in dem ein Wort – in diesem Fall elementum – in einer bestimmten Bedeutung verwendet wird. Diese Bedeutung bleibt jedoch auf den Ebenen, die durch die analoge Relation verbunden sind, nicht bestehen, sondern wird zu einer Vielzahl von Bedeutungen erweitert.96 Ausgehend von den Buchstaben/elementa wird damit zugleich die Bedeutung ,Atom‘ evoziert. Auf dieser Weise kann Lukrez die Verbindung zur Ebene der Atome herstellen, die durch die Analogie veranschaulicht werden soll. 2.5.2.1 Vorsokratische Ordnungsformen: σχῆμα – τάξις – θέσις Der Verweis auf Buchstaben als Form der Veranschaulichung ist bereits für die griechischen Atomisten belegt: Aristoteles beschreibt, wie Leukipp und Demokrit auf die Buchstaben des Alphabets zurückgreifen, um die Bewegungen und

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An anderer Stelle (vgl. Noller 2015, S. 153–155 mit Referenz auf De Rerum Natura und Gertz/Krabbes/Noller 2014, S. 207–217 zur theoretischen Fundierung) habe ich hierfür den Begriff der Metatextualität eingeführt. Als Erweiterung des Begriffsfelds der Poetologie bzw. Metapoetik soll ein Akzent darauf gelegt werden, dass auch der Text als Zusammenfügung aus einzelnen Bestandteilen von zentraler selbstbezüglicher Relevanz sein kann, wie mit Blick auf die Buchstabenanalogien besonders deutlich wird. Vgl. Sedley 1998, S. 39. Snyder 1980, S. 46 verfolgt zudem die Verwendung von elementum durch die einzelnen Bücher von De Rerum Natura und schließt auf eine didaktisch motivierte Hinführung von der Bedeutung ,Buchstabe‘ auf die Bedeutung ,Atomʻ zurück: „Thus Lucretius has led his student gradually from the elements of words to the elements of reality“. Diese Hypothese ist aufgrund der rein quantitativ basierten Untersuchung m.E. jedoch so nicht haltbar. Diels 1899 zur komplexen Wortgeschichte von στοιχεῖον/elementum ist noch immer lesenswert; ebenfalls wichtig Snyder 1980, S. 32–37, die nachweist, dass bereits στοιχεῖον häufig in der Doppelbedeutung ,Buchstabe‘ und ,Atom‘ verwendet wurde. Zur Verwendung von στοιχεῖον bei Epikur bzw. im epikureischen Kontext vgl. Montarese 2012, S. 246. Vgl. Secretan 1984, S. 8.

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Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

Ordnungsformationen der Atome zu erklären und anschaulich zu machen.97 Dieser Aspekt der Relationierung von Buchstaben und Atomen steht in einem Passus der Metaphysik (metaph. 985b 13‒19) im Vordergrund: καὶ οὗτοι τὰς διαφορὰς αἰτίας τῶν ἄλλων εἶναί φασιν. ταύτας μέντοι τρεῖς εἶναι λέγουσι, σχῆμά τε καὶ τάξιν καὶ θέσιν· διαφέρειν γάρ φασι τὸ ὂν ῥυσμῷ καὶ διαθιγῇ καὶ τροπῇ μόνον· τούτων δὲ ὁ μὲν ῥυσμὸς σχῆμά ἐστιν ἡ δὲ διαθιγὴ τάξις ἡ δὲ τροπὴ θέσις· διαφέρει γὰρ τὸ μὲν Α τοῦ Ν σχήματι τὸ δὲ ΑΝ τοῦ ΝΑ τάξει τὸ δὲ Ζ τοῦ N θέσει. Ebenso sagen auch diese Denker [sc. Leukipp und Demokrit], dass die Ursachen der anderen Dinge die Unterschiede sind. Deren sind jedoch drei, sagen sie: Gestalt, Anordnung und Lage, denn das Seiende unterscheide sich, sagen sie, nur durch rhysmos (ῥυσμός, Gestaltung), diathige (διαθιγή, Berührung) und trope (τροπή, Wendung), hiervon ist rhysmos so viel wie Gestalt, diathige so viel wie Anordnung und trope so viel wie Lage, es unterscheidet sich nämlich das A vom N durch die Gestalt, AN von NA durch die Anordnung, das Z vom N durch die Lage.98

Ähnlich wie in der auf die Buchstabenanalogie in De Rerum Natura hinführenden Passage, so steht auch hier die Frage nach Unterschieden und Unterscheiden im Mittelpunkt. Differenz wird dabei auf Differenz zurückgeführt, wobei mit σχῆμα („Gestalt“), τάξις („Anordnung“) und θέσις („Lage“) die drei Parameter genannt sind, auf die sich alle Unterschiede zurückführen lassen.99 Der Verweis auf die Buchstaben, die als einzelne elementa ins Zentrum gerückt werden, ist an dieser Stelle nicht im strengen Sinne als Analogie konzipiert, sondern schließt, wie die kausale Konjunktion γάρ zeigt, als Begründung unmittelbar an das zuvor Gesagte an. Die einzelnen Zusammenstellungen der Buchstaben dienen somit als konkrete Beispiele oder Illustrationen für die zuvor lediglich abstrakt eingeführten Parameter.100 Für die Frage nach einem möglichen Konzept von Ordnung ist dies von besonderer Bedeutung, da Ordnung hier nicht nur beschrieben, sondern auch ganz konkret in den unterschiedlichen Positionen der einzelnen Buchstaben anschaulich wird. In der Gegenüberstellung der einzelnen elementa ist jedoch nicht deren Bedeutung, sondern allein deren Form von Belang. Ordnung ist an dieser Stelle 97

98 99

100

Für Epikur ist die Analogie jedoch nicht belegt; vgl. Montarese 2012, S. 246. Zur Verwendung der Analogie von Atomen und Buchstaben bei anderen Autoren vgl. Marcović 2008, S. 92, Anm. 48. Text: Jaeger 1957; Übers.: Szlezák 2003. Beer 2010, S. 60 verweist darauf, dass sich die Ordnungsbegriffe der ersten Buchstabenanalogie (1,818–827) exakt mit den drei hier genannten Begriffen parallelisieren lassen: cum quibus mit σχῆμα, quali positura mit θέσις und permutato ordine solo mit τάξις. Vgl. Snyder 1980, S. 35.

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also ein rein visuelles Phänomen ohne Bezug zu Inhalten oder zu aus der Ordnung emergierenden Eigenschaften. Ordnung ist zum einen mit einem einzelnen Atom verknüpft, wie der Verweis auf die Unterschiede in σχῆμα (figura) oder θέσις (positura) zeigt, zum anderen mit bereits verbundenen Atomen: Denn AN und NA unterscheiden sich in ihrer Anordnung voneinander.101 Im zweiten bei Aristoteles überlieferten Zeugnis liegt der Fokus zwar zunächst, wie auch in der Metaphysik, auf der Einführung und Veranschaulichung der einzelnen atomaren Ordnungen; darüber hinaus wird in De generatione et corruptione aber noch eine weitere Eigenheit der Ordnung sichtbar, die die rein mechanische Ordnung der Buchstaben um eine inhaltsbezogene, eine semantische Ebene erweitert (gen. corr. 315b 5‒15): Δημόκριτος δὲ καὶ Λεύκιππος ποιήσαντες τὰ σχήματα τὴν ἀλλοίωσιν καὶ τὴν γένεσιν ἐκ τούτων ποιοῦσι, διακρίσει μὲν καὶ συγκρίσει γένεσιν καὶ φθοράν, τάξει δὲ καὶ θέσει ἀλλοίωσιν. Ἐπεὶ δ’ ᾤοντο τἀληθὲς ἐν τῷ φαίνεσθαι, ἐναντία δὲ καὶ ἄπειρα τὰ φαινόμενα, τὰ σχήματα ἄπειρα ἐποίησαν, ὥστε ταῖς μεταβολαῖς τοῦ συγκειμένου τὸ αὐτὸ ἐναντίον δοκεῖν ἄλλῳ καὶ ἄλλῳ, καὶ μετακινεῖσθαι μικροῦ ἐμμιγνυμένου καὶ ὅλως ἕτερον φαίνεσθαι ἑνὸς μετακινηθέντος· ἐκ τῶν αὐτῶν γὰρ τραγῳδία καὶ τρυγῳδία γίνεται γραμμάτων. Stattdessen haben Demokrit und Leukipp die Figuren in Ansatz gebracht, um die Veränderung und das Werden daraus zu bewerkstelligen: durch Trennung und Zusammenschluss Werden und Vergehen, durch Anordnung und Lage hingegen Veränderung. Da sie zudem glaubten, dass im Erscheinen Wahres liege, die Erscheinungen aber gegensätzlich und von unbegrenzter ˂Vielfalt˃ sind, so setzten sie die Figuren als unbegrenzt ˂vielfältig˃ an, so dass durch Wandlungen des Zusammengetretenen dasselbe für den einen und einen anderen gegensätzlich erscheine, d.h. es umgemodelt werde, indem eine Kleinigkeit beigemischt wird, und sogar ein völlig anderes Phänomen auftrete, obwohl nur eines umgemodelt wurde: denn Tragödie und Komödie kommen aus denselben Buchstaben zustande.102

Die Veränderung, die in den Dingen durch die Veränderung „einer Kleinigkeit“ (μικροῦ ἐμμιγνυμένου) erzeugt werden kann, wird hier nicht mehr durch die Bezugnahme auf einzelne Buchstaben und deren (bedeutungslose) Kombinationen veranschaulicht, sondern durch solche Kombinationen von Buchstaben, bei denen eine minimale Veränderung der Anordnung mit einer sichtbaren und einer semantischen Veränderung einhergeht. Die Pointe in der Gegenüberstellung von

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Die Form der Ordnung, die an dieser Stelle mit τάξις beschrieben ist, hat damit ein direktes Echo in der ,gemachten‘ Ordnung, die Hayek in seiner Theorie gesellschaftlicher Ordnungen als taxis benennt, und von kosmos, einer ,gewachsenen‘ Ordnung, unterscheidet. Vgl. dazu Kap. 1.3.3 dieser Arbeit. Text: Rashed 2005; Übers.: Buchheim 2010 (Hervorhebungen dort).

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τραγῳδία und τρυγῳδία103 – sei dies nun tatsächlich eine von Demokrit herangezogene Illustration oder eine spätere Auslegung seines Gedankens104 – besteht darin, dass sich durch die Veränderung eines Buchstabens, eines μικρόν, die Form des Wortes und auch dessen Inhalt verändert; in diesem Fall sogar ins genaue Gegenteil.105 Zugleich bleibt aber durch die Übereinstimmung der anderen Buchstaben noch eine Verbindung der beiden Konzepte bestehen.106 In welcher Weise können diese Passagen nun zur Theoretisierung oder Konzeptualisierung von Ordnung beitragen? Zwei Hauptaspekte lassen sich nennen. Erstens: Ordnung erzeugt Unterscheidung. In der ersten Passage aus Aristoteles’ Metaphysik wird insbesondere in den Fokus gerückt, wodurch sich zwei elementa voneinander unterscheiden. Dabei zeigt sich, dass nicht nur Anordnung (τάξις) oder Lage (θέσις), sondern auch die Form (σχῆμα) eines Buchstabens selbst Differenz erzeugen kann. Bei der Untersuchung der Modi der Ordnung in De Rerum Natura muss daher auch einbezogen werden, ob von Belang ist, dass sich elementa unterschiedlicher Formen miteinander verbinden. Zweitens kann das Konzept der Ordnung, das die elementa in spezifischen Zuständen beschreibt, auch mit Blick auf seine dynamische Seite ausdifferenziert werden. In De generatione et corruptione sind nämlich eben diese Zustände (τάξις, θέσις, σχῆμα), erweitert durch διάκρισις und σύγκρισις, auch als ursächlich für Werden, Vergehen (γένεσις und φθορά) und Veränderung (ἀλλοίωσις) dargestellt. 2.5.3

Welt vs. Text. Unterscheiden und Ordnen

Text und Welt stehen im Zentrum der ersten Buchstabenanalogie in De Rerum Natura. Sie verdient besondere Aufmerksamkeit mit Blick auf die Konzeptionen von Ordnung, weil Lukrez hier nicht allein auf die Veranschaulichung der atomaren Welt durch Buchstaben zurückgreift, wie sie in den Testimonien bei Aris103

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106

Vgl. die Erläuterungen von Buchheim 2010, S. 272: „Τρυγῳδία ist ein seltener, aber durch ein Scholium schon für Aristophanes bezeugter anderer Ausdruck für ,Komödie‘, der womöglich von Demokrit selbst als Illustration für seine Theorie verwendet worden sein könnte. Die Pointe des Gedankens läge dann darin, dass durch den Austausch eines einzigen Buchstaben eine völlig andere oder sogar gegenteilige Wortbedeutung erzeugt werden kann – ganz entsprechend, wie […] ein völlig anderes Phänomen erzeugt wird, wenn nur ein einziges Element (d.h. ein Atom) im Wahrnehmungsobjekt verändert oder ausgetauscht wurde“. Vgl. hierzu Buchheim 2010 S. 270 und Rashed 1994, S. 183f. Vgl. West 1969, S. 150f. (mit textkritischer Diskussion um τρυγῳδία und das für den aristotelischen Text ebenfalls überlieferte κωμῳδία). In ähnlicher Weise ließe sich auch das lukrezische Wortspiel von ignis und lignum (1,911–914) beschreiben, wo sich aus der Veränderung weniger Buchstaben zwei Begriffe unterscheiden lassen, die gleichwohl, wie die bestehende Übereinstimmung der Buchstaben -ign- zeigt, in einer engen Verbindung zueinander stehen.

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toteles überliefert ist, sondern diese „stock illustration of the atomists“107 noch in spezifischer Weise modifiziert. Der zentrale Unterschied der lukrezischen Buchstabenanalogien besteht nämlich in der expliziten Selbstreferenz, d.h. dem Verweis auf die Buchstaben, Wörter und Verse des eigenen Textes, durch die die Ordnung der Atome illustriert wird. In diesem stark performativen Gestus zeigt sich der zuvor skizzierte transitorische Charakter der Analogie besonders deutlich,108 denn die Verbindung der unsichtbaren Ebene der Atome mit der sichtbaren Ebene der Buchstaben erfolgt vermittels eben dieser Buchstaben und erreicht so die größte nur mögliche Anschaulichkeit (1,823f.): quin etiam passim nostris in versibus ipsis multa elementa vides multis communia verbis […]. Ja sogar in unseren eigenen Versen siehst du überall, dass viele Buchstaben vielen Wörtern gemeinsam sind […].

Wie in der Passage aus Aristoteles’ Metaphysik, so wird auch in diesen Versen der Text (zunächst) als aus Buchstaben bestehende Ordnung betrachtet. Auch hier lässt sich somit davon sprechen, dass es Lukrez um die Zeichenhaftigkeit der Wörter und nicht um deren Semantik geht. Denn wie das Prädikat vides markiert, wird der Text hier in seiner Zeichenhaftigkeit buchstäblich vor Augen gestellt. Dass verschiedene Wörter teilweise aus denselben Buchstaben aufgebaut sind, ist allein an den verschiedenen Formen der Buchstaben erkennbar, die sich in verschiedenen Wörtern wiederfinden – für die Bedeutung der Wörter ist dann, so wird sich in den folgenden Versen zeigen, eine spezifische Ordnung von Nöten. Diese rein zeichenbasierte Beobachtung lässt sich, wie das Adverb passim explizit macht, immer und an jeder Stelle des Texts in gleicher Weise aktualisieren und wiederholen – ohne dass dabei die tatsächliche Bedeutung der durch die Buchstaben gebildeten Wörter von Relevanz wäre.109 Diese Passage steht in engem Zusammenhang mit den vorangegangenen Versen, in denen die Bewegungen und Kombinationen der Atome zur Darstellung kamen (1,814–816): nimirum quia multa modis communia multis multarum rerum in rebus primordia mixta sunt […].

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Weil freilich viele Ursprungselemente, die auf vielerlei Weise vielen Dinge gemeinsam sind, in den Dingen vermischt sind […]. 107 108

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Bailey 1947, S. 633. Vgl. Secretan 1984, S. 7f. Zum Verhältnis von Trangression und Analogie bei Lukrez vgl. Gaudin 1999, S. 53. Zu Sehen und Erkennen im Epikureismus vgl. Schiesaro 1994, S. 88 und Beer 2009, S. 166‒172 mit Fokus auf Lukrez und Philodem.

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Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

Die primordia zeichnen sich durch zwei Eigenschaften aus: Zum einen sind sie zahlreich (multa primordia), zum anderen konstituieren sie die Dinge durch Vermischung (in rebus mixta). Bei der großen Varianz der Dinge, die durch diese Form der Mischung erzeugt werden, haben sie immer auch gemeinsame Bestandteile (communia multarum rerum primordia). In dieser Hinsicht stehen die Dinge der Welt und die Wörter des Textes, die ebenfalls zum Teil Buchstaben gemeinsam haben, in einem analogen Verhältnis. Da die Kombination der communia primordia zu den Dingen jedoch auf ganz unterschiedliche Weise erfolgen kann (modis communia multis primordia), besteht nur eine geringe Wahrscheinlichkeit einer völligen Übereinstimmung und somit der völligen Ununterscheidbarkeit aller primordia, die ein Ding konstituieren. Im Vergleich zu den Buchstaben, so wird hieraus deutlich, verfügen die Atome über ein größeres Kombinationsspektrum. Während die den Wörtern gemeinsamen Buchstaben nämlich als communis (1,824) charakterisiert sind, ist die Bandbreite an Kombinationsmöglichkeiten auf der Ebene der Atome demgegenüber potenziert, denn es heißt, die primordia seien „auf vielerlei Weise (multis modis; 1,814) vielen Dingen gemeinsam“. Auch der Modus, in dem sich die Atome zu den Dingen zusammensetzen, wird genauer expliziert als für die Ebene der Buchstaben, denn die primordia sind „zusammengemischt“ (mixta).110 Mischung erzeugt also Ordnung. Die in diesen Versen entfaltete ,Kombinationslehre‘ zeigt somit für die Ebene der Atome und auch für die Ebene der Buchstaben auf, dass und wie aus der Ordnung des Gleichen Unterschiedliches geschaffen werden kann. Die Ebenen von Atom und Buchstabe sind also nicht völlig deckungsgleich, sondern unterscheiden sich in den Modi ihrer Ordnung, wenn verschiedene Wörter Buchstaben gemeinsam haben (communis), verschiedene Dinge aber Atome auf ganz verschiedene Weise gemeinsam haben (multis modis communis). Für die Ebene der Buchstaben lässt sich Ordnung dahingehend spezifizieren, dass sie eine Anordnung darstellt: Die Ordnungsmechanismen der Buchstaben und deren Resultate nehmen eine weniger komplexe Ausgestaltung an als die Atome. Das manifestiert sich auch in der syntaktischen und stilistischen Gestaltung dieser Verse, denn durch die Häufung von Hyperbata mit mehrfachem Bezug111 und durch zahlreiche Alliterationen wird eine Engführung der inhaltlichen und der formalen, in diesem Fall der visuell wahrnehmbaren Seite erzeugt, die für die Ebene der Atome komplexer ist als für die der Buchstaben.112 110

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Brown 1984 ad loc. verweist darauf, dass schon bei Empedokles die Mischung einzelner Elemente von zentraler Bedeutung war, wie er im Bild eines Malers, der seine Farben mischt, veranschaulicht (vgl. DK 31 B 23). Lukrez rekurriere in seiner Buchstabenanalogie auch auf diesen Vorläufer. Vgl. dazu Garani 2007. Kongruent mit primordia stehen multa, communia und mixta; kongruent mit elementa stehen multa und communia. In diesem Sinne lässt sich hier von ,mimetischer Syntax‘ sprechen. Der Begriff wurde von Beer 2009, S. 126f. für De Rerum Natura geprägt. Vgl. auch die genaue stilistische Analyse bei Brown 1984 ad loc., der jedoch nicht von einem mimetischen Ver-

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Das ,Mehr‘ der Ordnung

Vergegenwärtigt man sich an dieser Stelle noch einmal die Funktionsweise der Analogie, so wird deutlich, dass und wie durch deren transitorischen Charakter113 der epistemologische ‚Graben‘ zwischen den sichtbaren Buchstaben des Textes (elementa vides; 1,824) – und den unsichtbaren Atomen der Welt – communia primordia sunt (1,814‒816) – überwunden wird.114 Es ist allerdings zu fragen, inwieweit die vorliegende Analogie tatsächlich als „pont par dessus une frontière“115 fungiert, d.h. als Grenze zwischen Text und Welt. Alessandro Schiesaro hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Text von De Rerum Natura bereits selbst Teil des materialen Kosmos ist.116 Das zentrale Moment der Analogie ist damit weniger in der Tatsache zu suchen, dass eine Verbindung zwischen den Ebenen von Text und Welt hergestellt wird, sondern vielmehr in dem, was die beiden Ebenen eint: Ordnung. Ordnung ist ein zentrales Konstituens des Textes ebenso wie der Welt. Während in den oben diskutierten Versen (823f.) der Aspekt der ,buchstäblichen‘ Gleichheit von Wörtern und Versen betont wurde (in versibus ipsis / multa elementa vides multis communia verbis – „in unseren eigenen Versen siehst du überall, dass viele Buchstaben vielen Wörtern gemeinsam sind“), rückt in den folgenden Versen nun deren Unterscheidung in den Mittelpunkt (1,925f.): […] cum tamen inter se versus ac verba necessest confiteare et re et sonitu distare sonanti.

825

[…] Auf der anderen Seite musst du aber zugeben, dass Verse und Wörter untereinander sowohl dem Inhalt als auch ihrem klingenden Klang nach verschieden sind.

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115 116

hältnis von Text und Inhalt ausgeht: „[T]he language underlines the point: the marked m and v alliteration in 824 highlights the letters common to different words, as does the repetition of groups of letters in versibus, verbis, versus ac verba; multa, multis […]. Just as each of these […] groups comprises different words of closely related meaning […], so different compounds with a preponderance of common, identically arranged atoms would closely correspond“. Vgl. Secretan 1984, S. 8. Vgl. hierzu Bailey 1947 ad loc.: „[T]he repetitions and interlacings of the lines […] [are] no doubt intended to symbolize the complicated interlacing of the atoms“. Secretan 1984, S. 8 (Hervorhebung E.N.). Vgl. Schiesaro 1994, S. 87 (Hervorhebung dort): „[I]t might be worthwhile to entertain the thought that letters, too, are made of atoms, and they, too, are not only an image of the atomic reality, but a part thereof. In a strictly material sense this proposition is selfevidently true, since letters and words consist of (for instance) particles of ink deposited on papyrus“. Zu dem Schluss, dass es keinen Unterschied zwischen Text und Welt gibt, kommt auch Montarese 2012, S. 251. Er stützt seine Argumentation auf die Verwendungsweise des Wortes elementum, das im Verlauf der Analogien seine Bedeutung von ,Buchstabe‘ zu ,Atom‘ ändere.

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Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

Zwar gibt es sichtbare Übereinstimmungen in der Anordnung der Buchstaben bei der Wortbildung, zugleich unterscheiden sich jene Buchstabenordnungen aber auch voneinander. Diese Unterschiede sind allerdings nicht auf der gerade beschriebenen Ebene der visuellen Gemeinsamkeiten zu verorten. Sie beziehen sich auf res und sonitus und verweisen damit auf die Ebene der Semantik. Sonitus mit seinem Attribut sonanti markiert die lautliche Differenz, gewissermaßen das Lautbild, das der (visuellen) Gleichheit nun die (akustische) Verschiedenheit gegenüberstellt: sonitu distare sonanti (1,826).117 Trotz der Gemeinsamkeiten der Wörter untereinander sind diese Differenzen nicht nur offensichtlich (necessest confiteare; 1,825f.), sondern auch notwendig, da andernfalls völlige Ununterscheidbarkeit herrschte. Der zweite Bestandteil, der die Unterscheidung einzelner Wörter oder Verse ermöglicht, liegt in res. Gemeinhin wird res an dieser Stelle mit ,Bedeutung‘ gleichgesetzt, sodass sich in der Zusammenschau die beiden genannten Aspekte der Differenzierung als Konstituenten eines bilateralen Zeichens, bestehend aus Konzept und Lautbild bzw. Signifikat und Signifikant, beschreiben lassen, wie es Ferdinand de Saussure in die moderne Sprachwissenschaft eingebracht hat.118 Dass gerade an diesem Punkt der lukrezischen Argumentation Ordnung erneut in den Vordergrund rückt, markiert, dass dort der Kern der Analogisierung zu suchen ist.119 Der auf die lukrezische ,Zeichenlehre‘ folgende Vers fasst nämlich pointiert zusammen, welche Rolle Ordnung, im bereits explizierten Sinn einer Anordnung, bei der Schaffung von Differenz und damit auch bei der Schaffung von Bedeutung spielt (1,827–829):

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Zum in diesem Vers enthaltenen Spiel mit Worten und Lauten vgl. Beer 2010, S. 59, Anm. 128 und ausführlich Fitzgerald 2016, S. 105 (Hervorhebungen dort): „The jingle sonitu/sonanti is the most obvious effect, but more interesting is what happens to the syllable -re- (confiteare et re et sonitu distare sonanti). This syllable appears with three different functions: first, as the mark of the second person singular of the subjunctive (confiteare), then as the ablative of res (re) and finally as the mark of the present infinitive (distare). But, if the two previous elisions (confitear(e) et r(e) et) encourage us to link (-)re with the words that follows it, then re- also reappears as the prefix of the implied verb resonanti, made up by the last two words of the line (distare sonanti). The eye, mind and ear boggle as the same sound produces a variety of meanings and functions, so that the texture of the verse is not identical with itself: what you see and what you hear diverge, and so do the units of sense, grammatical or aural“. Für den genauen Wortlaut vgl. die zweisprachige Ausgabe von Wunderli 2013, S. 67–69. An anderer Stelle (Noller 2015, v.a. S. 159–161) habe ich den Vorschlag gemacht, statt des bilateralen Zeichens ein trilaterales Zeichenmodell zur Beschreibung heranzuziehen und res in der Bedeutung als ,Ding‘, d.h. als direkten Gegenstandsbezug beizubehalten. Darauf verweist auch Montarese 2012, S. 248.

Das ,Mehr‘ der Ordnung

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tantum elementa queunt permutato ordine solo. at rerum quae sunt primordia, plura adhibere possunt unde queant variae res quaeque creari. Solches vermögen die Buchstaben allein durch die Veränderung ihrer Anordnung. Doch die [sc. elementa], die die Ursprungsteilchen der Dinge sind, verfügen über mehr Möglichkeiten, die unterschiedlichen Dinge zu erschaffen.

Zwei wichtige Aspekte für die Rolle der Ordnung in diesem semiotischen Prozess treten hervor: Zum einen wird durch tantum die Bedingung für Differenz und damit für die Bedeutung von Wörtern und Versen dezidiert an die Anordnung (ordo) der Buchstaben gebunden – und zwar allein daran: ordine solo.120 Zum anderen muss die Ordnung der semiotischen Ebene, d.h. die Anordnung der Buchstaben verändert werden (permutato ordine), damit eine Veränderung auf der semantischen Ebene möglich ist. Während die Verbindungen auf der Ebene der Atome zuvor als Mischung (commixtus; 1,822) charakterisiert waren, wird auf der Ebene der Buchstaben nun permutatus (1,827) zur Beschreibung verwendet.121 Die Zusammenstellung verschiedener Elemente ist also einerseits als Vermischung, andererseits als Veränderung charakterisiert. Dabei verweist permutatus auf eine systematisierte Form der Veränderung, die nach dem Prinzip des Aus- oder Vertauschens einzelner Elemente verfährt und, so lässt sich mit Blick auf moderne linguistische Zeichenmodelle formulieren, gleichsam auf einer paradigmatischen Ebene operiert; miscere hingegen steht als Vorgang des Mischens für eine unspezifischere Form der Veränderung und Zusammenfügung. Das Prinzip der Änderungskategorie permutatio kann, in Anlehnung an Roland Barthes „Strukturalistische Tätigkeit“, als ,atomistische Tätigkeit‘ bezeichnet werden: Diejenigen Vorgänge des Trennens, Unterscheidens und Anordnens von Elementen stehen im Mittelpunkt, die auch Barthes in seiner strukturalistischen Objektanalyse als „Zerlegung“ und „Arrangement“ für sich bedeutungsloser und nur durch „winzige Differenzen“122 voneinander unterschiedener Fragmente beschreibt.123 Mit der Veränderung der Ordnung einzelner Elemente geht notwendigerweise eine Veränderung der gesamten Verbindung einher, die bei Lukrez an dieser Stelle primär als Unterscheidung konzeptualisiert ist. Auf diese Weise werden Ordnung und Differenz auf einander bezogen und Differenz direkt an Ordnung gebunden.

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Vgl. zur Deutung auch Bailey 1947 ad loc. und Montarese 2012, S. 246. Der Eintrag im TLL s.v. permuto 10/1,1576‒1579 verweist auf eine mit Plautus und Lukrez beginnende Verwendung des Verbs für die Beschreibung von Zustandsveränderungen von Wörtern (10/1,1576,54‒70). Dies zeigt auch die spätere Verwendung im rhetorisch-grammatischen Kontext z.B. bei Quintilian. Barthes (1963) 1966, S. 193. Barthes (1963) 1966, S. 193; vgl. hierzu auch Noller 2015, v.a. S. 162f.

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Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

Doch noch weitere Implikationen für die Konzeption von Ordnung in De Rerum Natura finden sich in dieser Passage. Betrachtet man nämlich die abschließenden Verse, so wird deutlich, dass die der Ebene der Atome zugrunde liegende Ordnungsvorstellung weiter zu fassen ist als die der Buchstaben (1,828f.): at rerum quae sunt primordia, plura adhibere possunt unde queant variae res quaeque creari. Doch die [sc. elementa], die die Ursprungsteilchen der Dinge sind, verfügen über mehr Möglichkeiten, die unterschiedlichen Dinge zu erschaffen.

Durch das emphatische at zu Beginn wird zunächst noch einmal zwischen den zwei Ausformungen der elementa unterschieden: Die elementa, die als Ursprungsteilchen für die Dinge fungieren, sind anders beschaffen als die zuvor genannten Buchstaben-elementa. Die Anzahl der Atomformen ist ebenso wie die der Buchstaben begrenzt, die Atome verfügen jedoch über eine größere Bandbreite an Kombinations- und Positionierungsmöglichkeiten im Raum: Sie haben andere und mehr Möglichkeiten zur Ordnung (plura adhibere possunt).124 Auf der Ebene des Textes verbleiben die Buchstaben und ihre Ordnung sozusagen im zweidimensionalen Raum. Ihre Ordnung ist eine Anordnung, die aus der sequentiellen Reihung der Buchstaben hervorgeht. Neben dieser sequentiellen Ordnung sind im Raum der Atome komplexere Formen der Ordnung möglich, die aus dem Zusammenspiel von Zusammensetzungen, der eigenen Position und der Bewegung der Atome resultieren (vgl. cum quibus, quali positura, quos motus; 1,818f.). Das der Ebene der Atome zugrunde liegende Konzept von Ordnung erschöpft sich somit nicht in ordo, sondern enthält in Relation zur Ebene der Buchstaben mehr Möglichkeiten zur Ordnung, wie auch durch den Komparativ plura125 markiert wird.126 Führt man nun die Analogie von Buchstaben und Atomen sowie deren Ordnungen zu verba und res weiter, zeigt sich, dass an dieser Stelle die Herstellung von analogischen Verhältnismäßigkeiten, d.h. die Erklärung eines dubium durch ein certum, an ihre Grenzen gelangt. Der auf Unterscheidung basierenden Genese von Bedeutung, wie sie für die Ebene der Buchstaben und Wörter dargestellt wurde, entspricht an dieser Stelle nämlich allein die Verschiedenheit der Dinge, aber nicht, wie in einer analogischen Relation, ein ,Mehr‘ an Verschiedenheit gegenüber den Wörtern. Im Umkehrschluss impliziert diese Grenze der Analogie, dass die semantische Ebene der Buchstaben zwar aufs Engste mit deren Anordnung verbunden ist, dass auf der Ebene der außertextuellen res diese se124

125 126

So auch Brown 1984 ad loc.: „[I]n addition to mere changes in order: e.g. varieties in the concursus, motus and positura“. Vgl. hierzu Piazzi 2011 ad loc. In diesem Sinne lässt sich hier von der Ähnlichkeit der Verhältnisse (rapports) im Sinne Foucaults sprechen (vgl. Kap. 1.3.3 dieser Arbeit).

Das ,Mehr‘ der Ordnung

87

mantische Ebene aber kein Analogon finden kann. Denn der Text bedeutet die Ordnung der Welt, nicht deren Bedeutung. Einerseits, so lässt sich aus dieser Asymmetrie der Analogie an dieser Stelle schließen, kann man die elementa daher als defizitär gegenüber den primordia bezeichnen: Sie verfügen über weniger Möglichkeiten der Ordnung und können somit auch weniger Kombinationen hervorbringen als die primordia.127 Andererseits bringt dieses Defizit der Buchstaben ihre Überlegenheit gegenüber den Atomen zum Ausdruck. Zwar sind sowohl die Anzahl der Buchstabenformen als auch die Formen der Atome begrenzt128 – bis zu diesem Punkt reicht das analogische Verhältnis also noch –, erst mit Blick auf die Ordnung von Atomen und Buchstaben aber manifestiert sich eine fundamentale Differenz und das Ende der Analogie: Die Buchstaben verfügen gegenüber den Atomen über geringere Möglichkeiten zur Ordnung. Trotz ihres Defizits kann allein durch die Anordnung der Buchstaben die unbegrenzte Vielfalt der atomaren Welt in ihrer Ordnung nachgebildet und erklärt werden – mit Sedley kann man an dieser Stelle daher auch von einer „explanatory economy“129 sprechen. Das epistemologische und semantische Potential der Analogieebene der Buchstaben wird an diesem Punkt besonders deutlich:130 Unter epistemologischen Gesichtspunkten ist die Anordnung der Buchstaben ein visuelles Phänomen, das die Funktionsmechanismen der atomaren Ordnung zwar nicht deckungsgleich abbildet, aber doch zu einem gewissen Grade anschaulich macht. In der Komplexitätsreduktion, die auf der Ebene der Buchstaben stattfindet, wird in Reinform sichtbar, dass das, was hier beschrieben wird und worum es in De Rerum Natura im Kern geht, als Ordnung zu verstehen ist. Doch nicht nur das: Es wird vielmehr durch die Selbstreferenz des Textes sichtbar, wie diese Ordnung funktioniert. Allein aus der unterschiedlichen Anordnung der in ihrer Anzahl begrenzten Buchstaben lässt sich das Defizit kompensieren, das durch die geringere Komplexität gegenüber der atomaren Ordnung auf einer direkten, gleichsam ikonischen oder abbildenden Ebene entsteht. Durch die Ordnung der Buchstaben, so der paradoxe Schluss, wird auf der einen Seite die atomare Ordnung kondensiert und reduziert, d.h. unterkomplex veranschaulicht, aber auf der anderen Seite wird sie gerade dadurch überhaupt erst darstellbar. 127

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Das ,generative‘ Potential der primordia wird auch durch das Attribut varius (variae res quaeque creari; 1,829) noch einmal betont. Darauf verweist auch Franz 1999, S. 615 im Zusammenhang seiner Untersuchungen zur semiotischen Poetik des Lukrez. Sedley 1998, S. 190 (Hervorhebung dort). In diesem Sinne lässt sich das Werk De Rerum Natura als simulacrum der rerum natura bezeichnen (vgl. dazu Thury 1987). Es wird zudem noch einmal sichtbar, wie eng sich an vielen Stellen die lukrezische Darstellung an Roland Barthes’ Strukturalistische Tätigkeit anschließen lässt. Nach Barthes (1963) 1966, S. 192 ist das durch die selektiv und kombinatorisch verfahrende strukturalistische Tätigkeit konstruierte simulacrum eines Objekts die „wirkliche Erzeugung einer Welt, die der ersten ähnelt, sie aber nicht kopieren, sondern verständlich machen will“.

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Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

Für die ordnungstheoretischen Implikationen der Analogie von Buchstaben und Atomen lässt sich daher bis zu diesem Punkt Folgendes festhalten: In einem ganz grundlegenden Sinne können die Entstehung der Dinge und die Entstehung der Wörter als Ordnungen bezeichnet werden; und zwar nicht nur, weil der Ausdruck ordo eine zentrale konzeptuelle Rolle spielt, sondern weil zur Darstellung kommt, was genau Ordnung in De Rerum Natura bedeutet: die Verbindung einzelner Elemente unter bestimmten statischen und dynamischen Parametern. Dies ist die Minimaldefinition. Der Modus, in dem sich Ordnung bildet, d.h. die dynamische Seite der Ordnung, erhält aber noch eine weitere Bestimmung. Wenn zwischen dem Vorgang des Ordnens auf der Ebene der Atome und der Ebene der Buchstaben differenziert wird (commixtus gegenüber permutatus), lässt sich gerade aus dieser Differenz heraus genauer beschreiben, wie die jeweilige Ordnung funktioniert. Mit Blick auf die semantischen Implikationen, die für die Ebene der Buchstaben herausgearbeitet werden konnten, hat sich zudem gezeigt, dass die Ordnung der Elemente zu etwas Neuem immer mehr beinhaltet als die bloße Verbindung. 2.6

,Flamme‘ und ,Stamm‘. Die Bezeichnung der Ordnung

2.6.1

Unzureichende Ordnung (II): Anaxagoras’ Welterklärung

Auch die zweite Passage, in der Lukrez die Buchstaben des Textes zu den Atomen der Welt in Bezug setzt, ist Teil der umfassenden Philosophenkritik und auch diese Verse bilden, wie die erste Analogie, den Abschluss einer größeren Sinneinheit. Nach dem (empedokleischen) Pluralismus wird nun Anaxagoras’ Modell der Homoiomerie in seiner Inkompatibilität mit den Erscheinungen der Welt offengelegt.131 Läge der Welt dieses Modell zugrunde (zumindest in der Weise, wie es in De Rerum Natura dargestellt ist),132 so wäre bereits alles in allem enthalten und die Ausprägung der spezifischen Eigenschaften eines Dings allein an die Mengenverhältnisse in dessen Innerem gebunden (1,876–879): […] ut omnibus omnis res putet immixtas rebus latitare, sed illud apparere unum cuius sint plurima mixta et magis in promptu primaque in fronte locata.

131

132

Zu Konzept und Übersetzung von homoiomeria, die neben harmonia die einzige wörtliche Übernahme eines griechischen philosophischen Terminus in De Rerum Natura darstellt, vgl. Sedley 1998, S. 48 und Montarese 2012, S. 236–238. Vgl. Bailey 1947, S. 743.

,Flamme‘ und ,Stamm‘. Die Bezeichnung der Ordnung

89

[…] Dass er [sc. Anaxagoras] glaubt, alle Dinge hielten sich innig vermischt in allen Dingen, doch nur jenes eine zeige sich; das nämlich, von dem das meiste hineingemischt sei und sichtbarer sich ganz im Vordergrund befinde.

Während die lukrezische Kritik an den pluralistischen Erklärungen zur Entstehung der Varianz in der Welt im Kern auf einem falschen Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit beruhte, gründet die Kritik im Fall der Homoiomerie auf dem Ausmaß der Indifferenz in den Dingen: Wenn nämlich buchstäblich alles in allem vorhanden ist,133 müssen die Dinge auch über alle entsprechenden Eigenschaften verfügen, wie Lukrez im Bild der beim Zermahlen blutenden Körner134 oder dem nach Milch schmeckenden Wasser135 in besonders eindrücklicher Weise beschreibt. Bailey charakterisiert die „very original theory“136 des Anaxagoras daher auch treffend als Extremform des Pluralismus.137 Noch wichtiger als diese Grundprämisse der Homoiomerie-Lehre ist jedoch, wie diese Indifferenz zustande kommt – und hier rückt auch wieder das Konzept der Ordnung in den Fokus. Was Anaxagoras’ Weltmodell nämlich von den anderen, oben diskutierten Modellen unterscheidet, ist das zugrunde liegende Konzept von Ordnung: Während im Pluralismus und auch im lukrezischen Modell die Mischung (miscere) und Vertauschung (mutare) der einzelnen Elemente die Dinge hervorbringt und damit Veränderbarkeit in der Welt möglich macht (vgl. u.a. 1,675–689138), ist die Entstehung der Dinge nach der Lehre des Anaxagoras an quantitative Kriterien gebunden. Nur das Element wird sichtbar (apparet; 1,878), das den höchsten Anteil im Gemisch besitzt (cuius sint plurima mixta; 1,879). Die sichtbare Erscheinung der Dinge ist somit an eine quantitative Ordnung gebunden. Wie nämlich die Dinge jenseits der bloßen Mischung genau zusammengefügt sind, bleibt an dieser Stelle ausgespart. Dadurch, dass ein Ding aufgrund der Dinge in ihm (omnibus omnis res / immixtas rebus; „Dinge innig vermischt in allen Dingen“; 1,877f.) potentiell alles sein bzw. werden kann, ist jener unscharfe Raum des ,Zwischen‘, der im Pluralismus, noch stärker aber im (lukrezischen) Atomismus hervortritt, überblendet und durch die bereits in seinem Inneren vorhandenen Eigenschaften eines Dings vorgegeben. Das Hauptdefizit 133

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136 137 138

Vgl. das Fragment des Anaxagoras (DK 59 B 11): ἐν παντὶ παντὸς μοῖρα ἔνεστι πλὴν νοῦ („In jedem ist von jedem ein Teil enthalten, außer vom Geist“). Conveniebat enim fruges quoque saepe, minaci / robore cum in saxi franguntur, mittere signum / sanguinis („Denn dann müsste Korn natürlich auch oft, wenn es mit bedrohlicher Wucht auf dem Mühlstein zerquetscht wird, Zeichen von Blut von sich geben“; 1,881–883). Consimili ratione […] decebat […] / et latices dulcis guttas similique sapore / mittere, lanigerae quali sunt ubere lactis („Auf ähnliche Weise […] müsste dann auch […] Wasser süße Tropfen vom gleichen Geschmack entsenden, wie die Milch vom Euter der wolletragenden Schafe“; 1,885–887). Bailey 1947, S. 742. Vgl. Bailey 1947, S. 742. Vgl. dazu auch ausführlich Kap. 5.2.2 dieser Arbeit.

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Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

der Homoiomerie-Lehre, so ließe sich daher zusammenfassen, liegt darin, dass durch sie nicht die Möglichkeit zur Herausbildung emergenter Eigenschaften gegeben ist. Stattdessen herrscht ein konsequent zu Ende gedachter Reduktionismus vor. Wie schon die Betrachtung der ersten Analogie mit Blick auf das semantische Potential der Buchstaben ergeben hat, ist Ordnung nicht nur eine Bedingung für Emergenzprozesse, sondern Ordnung selbst kann ebenfalls am Ende eines solchen Prozesses stehen. 2.6.2

Paulo inter se mutata. Vertauschung als Ordnungsprinzip

Im weiteren Verlauf des Passus lässt sich beobachten, wie der argumentative Schwerpunkt von der Widerlegung falscher philosophischer Meinungen zur Darstellung der ,richtigen‘ Erklärungen verschoben wird (1,894–896): […] scire licet non esse in rebus res ita mixtas, verum semina multimodis immixta latere multarum rerum in rebus communia debent.

895

[…] Man kann erkennen, dass die Dinge nicht so in den Dingen vermischt sind, sondern dass die vielfach gemischten Samen vieler Dinge sich gemeinsam in den Dingen verbergen müssen.

Im Zentrum dieser Verse werden einander zwei Modelle gegenübergestellt, die beide die Entstehung der Dinge beschreiben. Zunächst ist noch einmal die Homoiomerie-Lehre des Anaxagoras anzitiert (vgl. die Nähe zu res putet immixtas rebus latitare – „er [sc. Anaxagoras] glaubt, alle Dinge hielten sich innig vermischt in allen Dingen“; 1,877). Diese wird dann durch die folgende Erklärung aus atomistischer Perspektive korrigiert: In den Dingen sind nicht Dinge mit Dingen vermischt, sondern deren Samen (semina; 1,895). Bailey weist darauf hin, dass diese Passage in ganz ähnlicher Weise wie die Widerlegung der Lehre des Empedokles strukturiert ist.139 Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch in der Bildsprache: Während die Atome in der Passage zu Empedokles, wohl um den Anfangspunkt dieser Ordnungen auf der atomaren Ebene zu markieren, als primordia benannt sind, spricht Lukrez nun von semina. Die Implikationen dieser Metapher sind vielschichtig: Der Anfang der Dinge liegt auf einer unsichtbaren Ebene und besitzt ,generatives‘ Potential in dem Sinne, dass sich aus ihm, wie aus einem Samen, etwas entwickelt, das keine Ähnlichkeitsbeziehung zu

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Bailey 1947 ad loc.: „Lucr[etius] asserts the atomic doctrine against Anaxagoras in almost the same words which he had used against Empedocles in 814–15“. Eine ausführlichere Gegenüberstellung der beiden Passagen findet sich bei Montarese 2012, S. 255‒257.

,Flamme‘ und ,Stamm‘. Die Bezeichnung der Ordnung

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eben diesem Anfang mehr hat.140 Hinzu kommt auch hier der Aspekt der Kombinatorik, denn es ist nicht ein bestimmter, sondern es sind verschiedene Samen, die je nach Mischung die verschiedenen Dinge hervorbringen. Nicht nur dieser grundlegende konzeptionelle Unterschied der beiden Modelle wird in De Rerum Natura akzentuiert; er zieht vielmehr noch weitere Erläuterungen nach sich: Im Gegensatz zur Entstehung der Dinge nach dem Muster ,res in bzw. aus res‘, stellt sich die Herausbildung von ,res aus semina‘ nämlich komplexer dar. Nicht allein, dass, wie durch multimodis (1,895) zum Ausdruck kommt, die Art der Mischung der Ursprungskörper vielfältig ist; die Form dieser Mischung ist wesentlich differenzierter und lässt sich daher auch wesentlich differenzierter beschreiben. Nicht alles ist in allem enthalten, wie es in der Homoiomerie-Lehre postuliert wird, sondern nur zu bestimmten Teilen: semina […] latere / multarum rerum […] communia debent („dass die […] Samen vieler Dinge […] sich gemeinsam in den Dingen verbergen müssen“; 1,895f.). Wenn sich viele Dinge aus den gleichen Grundbestanteilen zusammensetzen, impliziert dies, dass bei der Entstehung der Dinge ein bestimmtes Verhältnis der Mischung, d.h. eine bestimmte Ordnung zum Tragen kommt.141 Eben diese Ordnungsformen werden in der Hinführung auf die zweite Buchstabenanalogie noch weiter konkretisiert. Dabei wird auch deutlich, dass in Fortführung der ersten Analogiepassage (1,823–829) nicht mehr nur im Mittelpunkt steht, dass die Bildung der Dinge und ihrer Eigenschaften auf ihrer je eigenen Ordnung beruht; zu dieser Grundbestimmung tritt nun noch ein konkreteres Interesse: In der zweiten Buchstabenanalogie geht es darum darzustellen, dass, wie und warum bei dieser Ordnung sich nicht alles mit allem verbindet bzw. alles in allem enthalten ist. Als konkreter Ausgangspunkt dient dazu die semiotische und die semantische Verbindungslinie, die sich zwischen ignis und lignum ziehen lässt.142 Aus der Perspektive des Anaxagoras ließ sich die leichte Brennbarkeit von Holz daraus erklären, dass im Holz immer schon kleine Feuer enthalten sind. Eben daran, also an die Frage, warum Holz zwar brennt, aber nicht dauerhaft in Flammen steht, wie es unter den Prämissen der Homoiomerie-Lehre der Fall wäre,143 schließt nun die atomistische Erklärung an (1,901–903):

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Vgl. Kennedy 2007, S. 387. Schrijvers 2007, S. 238f. perspektiviert das scheinbare Paradox der Metapher, wenn er ihr den Status eines „intermediate step“ zuspricht und so auf ihre Funktion im Erkenntnisprozess Bezug nimmt. Vgl. dazu ausführlicher Kap. 2.6.1 und 3.2.2 dieser Arbeit. Vgl. hierzu u.a. Friedländer 1941, Snyder 1980, S. 41f., und aus semiotischer Perspektive Franz 1999, S. 613. Quod si facta foret silvis abscondita flamma, / non possent ullum tempus celarier ignes, / conficerent vulgo silvas, arbusta cremarent („Wenn die fertige Flamme bereits in den Wäldern verborgen wäre, könnte sich das Feuer keinen Moment verstecken; es würde allenthalben die Wälder verzehren und die Sträucher verbrennen“; 1,904–907).

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Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien scilicet et non est lignis tamen insitus ignis, verum semina sunt ardoris multa, terendo quae cum confluxere, creant incendia silvis. Freilich ist dem Stamm auch nicht die Flamme eingepflanzt; es gibt vielmehr zahlreiche Keime des Feuers, die, wenn sie durch Reibung zusammengeflossen sind, Waldbrände erzeugen.

Gegen die Theorie der ,Dinge in den Dingen‘ wird hier nun die Theorie der ,Samen in den Dingen‘ gestellt. Besonders aufschlussreich für die Frage nach Ordnung ist hierbei, wie das Verhältnis und die Entstehung von Feuer aus Holz beschrieben wird. Während nämlich im ersten Fall mit insitus die Frage der Entstehung auf das Vorhandensein des entsprechenden Stoffes zurückgeführt wird – Feuer ist in Holz enthalten144 –, stellt sich die Erklärung desselben Sachverhalts im zweiten Fall komplexer dar: Nicht der Stoff an sich, sondern lediglich die Anlagen (semina) dazu sind in den Dingen enthalten.145 Ein Prozess der Zusammenfügung führt dann zur Entstehung von Feuer. Wenn Lukrez diesen Prozess als Zusammenfließen (confluere) beschreibt, verweist dies auf eine (noch) recht unspezifische Art und Weise des Zusammenkommens und Zusammenbleibens, die weit entfernt ist von einer gerichtete Bewegung, wie sie mit insitus aufgerufen wird. Sie steht ihr, möchte man inserere in einer vereinfachenden Gegenüberstellung dem Bereich der Kultur zuschlagen und confluere dem Bereich der Natur, geradezu diametral entgegen. Dass die Hervorbringung von Waldbränden durch die auf diese Weise zu Feuer verbundenen semina schließlich als ,kreativer‘ Akt charakterisiert wird (creant incendia silvis; 1,903), verstärkt diese Implikationen noch.146 144

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Mit insero greift Lukrez auf einen Begriff zurück, der besonders als terminus technicus in der Agrikultur und der Baumzucht verwendet wird (vgl. TLL s.v. 2. insero 7/1,1876,35‒84). Die Bildlichkeit des Einsäens und vor allen Dingen des Einpfropfens verweist dabei auf eine Kulturtechnik. Gerade dieser Aspekt der künstlichen Hervorbringung, der bei der Nennung von insero in Zusammenhang mit Holz, dem wesentlichen Bestandteil von Bäumen, unweigerlich mitschwingt, verstärkt die ablehnende Haltung gegenüber dem Modell des Anaxagoras. Bailey 1947 ad loc. bemerkt richtig, dass die semina ardoris nicht ,Feuerkeime‘ im eigentlichen Sinne sind: „[N]ot ,particles of fire‘, which is what Lucr[etius] denies are in the wood, but ,seeds (sc.atoms) capable of making fire‘, when they are united in the right way“. Garani 2007, S. 108–110 und S. 195–209 untersucht die Metaphorik des Fließens bei Lukrez und stellt fest, dass Lukrez sie, wie Epikur, zur Beschreibung sowohl epistemologischer als auch, wie hier, kosmologischer Phänomene nutzt. Ausgehend von der Frage, ob neben Empedokles auch Heraklit für diese Bildsprache Pate gestanden hat, stellt Garani fest, dass Lukrez die Metapher modifiziert: Das griechische ῥεῖν, das bei Epikur für Prozesse des Erschaffens und Zerstörens gleichermaßen verwendet wird, erhält bei Lukrez eine terminologische Differenzierung: fluere wird zumeist zur Be-

,Flamme‘ und ,Stamm‘. Die Bezeichnung der Ordnung

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Dieser Prozess, in dem aus den einzelnen Ursprungsteilchen ein spezifisches Ding, wie in diesem Fall Feuer, entsteht, wird dann in einer Wiederholung der Verse aus der ersten Buchstabenanalogie, gleichsam als performativer Ausdruck der darin verhandelten ,elementaren‘ Kombinationslehre, noch genauer beschrieben (1,907–912): iamne vides igitur, paulo quod diximus ante, permagni referre eadem primordia saepe cum quibus et quali positura contineantur et quos inter se dent motus accipiantque, atque eadem paulo inter se mutata creare ignis et lignum?

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Siehst du also nun, dass es, wie wir oben sagten, vor allem wichtig ist, mit welchen anderen dieselben Grundelemente verbunden sind und in welcher Lage, welche Bewegungen sie untereinander geben und empfangen und wie dieselben, untereinander nur ein wenig vertauscht, Flamme und Stamm erzeugen?

Gleich zu Beginn wird durch den rückverweisenden Einschub der Bezug zur ersten Analogiepassage (1,817f.) hergestellt.147 In wörtlicher Übernahme werden dann zunächst noch einmal die verschiedenen Grundparameter der Ordnung vorgestellt: Mischung, Anordnung und Bewegung. Diese allgemeine Bestimmung wird aber noch erweitert, indem erneut ein Bezug zu ignis und lignum, den Leitbegriffen des gesamten Passus, hergestellt wird. Feuer und Holz entstehen jeweils, indem die gleichen – oder auch dieselben – Atome (eadem [sc. primordia]; 1,911) miteinander verbunden werden. Tatsächlich entsteht Feuer also aus Holz. Aber nicht in dem oben skizzierten Sinne, wonach die res ,Feuer‘ in der res ,Holz‘ enthalten ist, sondern durch eine spezifische Ordnung. Feuer ,aus‘ Holz ist hier nicht im konkreten Sinne zu verstehen (vgl. auch lignis insitus ignis; 1,901), so wie dies im Rahmen der Homoiomerie-Lehre der Fall wäre. Die enge konzeptuelle Verbindung von ignis und lignum besteht vielmehr darin, dass Feuer aus Holz im Sinne einer mutatio, also einer Veränderung entsteht, die auf der Ebene der Atome stattfindet. In identischer Weise ist auch die Veränderung der elementa auf der Ebene der Buchstaben charakterisiert. Wie in Vers 1,911 zum Ausdruck kommt, hängen Holz und Feuer insofern zusammen, als in ihnen ein Verhältnis der Mischung von unterschiedlichen Atomformen vorliegt, das bei nur geringer Veränderung,

147

schreibung destruktiver Vorgänge verwendet, confluere für kreative Prozesse. Auf die Bedeutung von Wasser und dessen Bewegung für die Bildlichkeit in De Rerum Natura verweisen auch Schrijvers 1970, S. 270 und Beer 2009, S. 248f. Atque eadem magni refert primordia saepe / cum quibus et quali positura contineantur / et quos inter se dent motus accipiantque („Und oft ist es auch sehr wichtig, mit welchen anderen und in welcher Lage dieselben Grundelemente verbunden sind, und welche Bewegungen sie untereinander geben und empfangen“); vgl. hierzu auch Bailey 1947 ad loc.

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Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

d.h. ohne dass Atome hinzugefügt oder weggenommen werden, einen Stoff in einenm anderen verändert. Allein durch die veränderte Ordnung einer Ordnung kann so eine andere res entstehen.148 Dass Holz leicht brennbar ist und Holz und Feuer tatsächlich in einem engen Bezug zueinander stehen, lässt sich aus deren atomarer Beschaffenheit erklären: Sie bestehen aus den gleichen Atomen, allein deren unterschiedliche Ordnung führt dann zu den unterschiedlichen Dingen ,Feuer‘ und ,Holz‘. Daraus wird erneut ersichtlich, wie eng Ordnung und Emergenz in De Rerum Natura miteinander verknüpft sind, denn ausgehend von ein und derselben Ausgangsposition (einer bestimmten Anzahl von Atomen) können zwei unterschiedliche Dinge entstehen. Während zuvor die Blickrichtung immer von dem empirischen Befund ausging, dass Holz zu Feuer werden kann, wird diese kausale Verbindung auf der Beschreibungsebene der Atome gewissermaßen neutralisiert; hier ist nicht die Rede davon, dass Holz zu Feuer würde, sondern allein davon, dass – je nach Ordnung der Atome – Holz oder Feuer erzeugt wird (vgl. creare; 1,911).149 Über die tatsächliche ontologische Verbindung der beiden Dinge, wie in der Homoiomerie-Lehre postuliert, wird an dieser Stelle keine Aussage gemacht. Im Übergang zur Buchstabenanalogie tritt aber eine andere Verbindung zutage, wird an dieser Stelle doch der für eine Analogie konstitutive Überbrückungsmechanismus150 sichtbar: Von einer rein inhaltlichen Warte aus betrachtet heißt es, dass die mutatio der gleichen Atome, abhängig von ihrer Ordnung, Feuer oder Holz hervorbringen. Zugleich wird aber auf der formalen, ,buchstäblichen‘ Ebene jene mutatio bereits vorgenommen (1,912–914): […] quo pacto verba quoque ipsa inter se paulo mutatis sunt elementis, cum ligna atque ignis distincta voce notemus. […] So bestehen auch die Wörter selbst aus untereinander ein wenig vertauschten Buchstaben, wenn wir Stamm und Flamme mit verschiedenen Lauten bezeichnen.

Das dubium der Analogie ist an dieser Stelle der Vorgang der mutatio, und wie aus dieser Form der Umordnung unterschiedliche Dinge bzw. Wörter hervorgehen. Wie die der Atome, so wird auch die Ordnung der Buchstaben nur ein wenig verändert (vgl. [vides primordia] paulo inter se mutata creare / ignis et lignum – „[du siehst], dass [dieselben Grundelemente] untereinander nur wenig vertauscht, Flamme und Stamm erzeugen“; 1,911f.) und es bilden sich unterschiedliche Wörter. Ignis und 148 149

150

Vgl. hierzu ausführlicher Kap. 5.2.3 dieser Arbeit. Vgl. hierzu auch Snyder 1980, S. 41 (Hervorhebung dort): „He [sc.Lucretius] is confirming the Democritean-Epicurean concept that there is fire in firewood insofar as both substances are composed of approximately the same atoms, but in different combinations“. Vgl. Secretan 1984, S. 8.

,Flamme‘ und ,Stamm‘. Die Bezeichnung der Ordnung

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lignum werden hier daher nicht mehr von einer Warte aus betrachtet, die das konkrete Ding ,Feuer‘ und ,Holz‘ in seiner Stofflichkeit ins Zentrum rückt, sondern von einer semiotischen Warte. Die Buchstaben, gleich den Atomen, fungieren dabei als Grundbausteine, aus deren unterschiedlicher Ordnung Unterschiede emergieren. Diese finden auch in unterschiedlichen Lautbildern ihren Ausdruck: cum […] distincta voce notemus.151 In diesem schließenden Nebensatz (1,914) werden die beiden Ebenen von Text und Welt zusammengeführt, denn was distincta voce benannt wird, sind erneut die materialen Erscheinungsformen der Dinge. In der Zusammenschau mit der ersten Analogiepassage ergibt sich eine Parallele, denn auch dort war von Wörtern (und Versen) die Rede, die auf den Unterschieden bezüglich res und sonitus beruhten.152 Ein ganz ähnliches Modell ergibt sich an dieser Stelle, wenn die Ordnung der elementa an ein differenzschaffendes Lautbild (distincta voce; 1,914) und die bezeichneten Dinge (ligna atque ignis; 1,914) in der Welt geknüpft ist. Die unterschiedliche Lautform bei der Bezeichnung der Dinge hat auch Auswirkungen auf deren Ausdruck auf der Wortebene. Eine kohärente lukrezische Zeichen- oder Sprachtheorie kann und soll auch mit Blick auf diesen Befund nicht entworfen werden.153 Doch es ist hervorzuheben, dass sich, insbesondere mit Blick auf die Verbindung von Differenzieren und Bezeichnen (distincta voce notare), rudimentäre Strukturen einer Zeichenlehre finden, in der verschiedene Bereiche (verba, ignis und lignum, vox) und verschiedene Prozesse (mutare elementa, notare) der Semiose differenziert werden.154 151

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Zu den Implikationen von notare vgl. Stevens 2008, S. 550f.: „[M]eaningful difference between things is a result of structural differences. Importantly, the same sort of relationship between differences and meaning applies to symbols or at least names as to the physical world. […] The minimal pair of lign-um and ign-is, differing by only one element, is contrasted with the greater differences between wooden and fiery things and so suggests that, for Lucretius, although language was originally ,naturalʻ, contemporary language at least does not reflect the natural essences of things. Since formal similarity does not guarantee similarity of essence, voce notare must mean something like ,to denote with the voice within a conventional structural system,ʻ i.e., symbolically“. Vgl. 1,825f.: cum tamen inter se versus ac verba necessest / confiteare et re et sonitu distare sonanti („Auf der anderen Seite musst du aber zugeben, dass Verse und Wörter untereinander sowohl dem Inhalt als auch in ihrem klingenden Klang nach verschieden sind“). Vgl. hierzu ausführlicher Kap. 2.5.3 dieser Arbeit. Vgl. Kap. 2.2 dieser Arbeit. Zur Diskussion um eine epikureische Semiotik vgl. Asmis 1996 (affirmativ), Glidden 1983, v.a. S. 203 (ablehnend); Everson 1993, v.a. S. 87. Folgende Verbindungspunkte zu modernen Zeichentheorien lassen sich herstellen: Im Zeichenmodell Saussures zu seiner Unterscheidung zwischen signifiant bzw. image acoustique und signifiée, sowie zu seiner differenzbasierten Definition der valeur eines Zeichens. Daneben gibt es auch Bezugspunkte zu triadischen Zeichenmodellen, wie dem von Ogden und Richards, in dem ein außersprachliches Referenzobjekt in den Prozess der Semiose einbezogen wird.

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Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

Die Ordnung der Buchstaben in den Wörtern geht von den Differenzen auf der Ebene der materialen Dinge aus. An dieser Stelle treffen sich die Ebene der Atome und die der Buchstaben, denn von der veränderten Ordnung der Atome geht eine Veränderung auf der Ebene der Dinge aus, die wiederum die lautliche und damit auch ,buchstäbliche‘ Bezeichnung verändert. Aus dieser Perspektive stellt sich die Analaogiepassage als Ringstruktur dar, an deren Anfangs- und Endpunkt eine ,elementare‘ Ordnung steht: Einmal ist diese als atomare Ordnung und einmal als Buchstabenordnung verfasst. Ähnlich wie schon in der ersten Analogiepassage kommt auch die zweite Analogie an einem Punkt zu ihrem Ende. Denn wie Michael Brown richtig bemerkt, ist die Illustration durch ignis und lignum keine wirkliche Abbildung des hier verhandelten Inhalts: „Despite the arresting similarity between ignis and lignum/ligna, the example illustrates only changes of combination but not of arrangement, since the common letters occur in the same ordo in each word.“155 Die Wörter lignum und ignis veranschaulichen nicht, dass, wie für die Ebene der Atome beschrieben, dieselben elementa, werden sie in eine andere Ordnung gebracht, ein anderes Ding bzw. Wort ergeben. Im Gegenteil: Nicht Veränderung, sondern die Beständigkeit einer Ordnung kommt hier zur Darstellung. Hinzu kommt, dass die Wortbildung nicht ausschließlich vom vorhandenen Buchstabenmaterial ausgeht, sondern neue Buchstaben hinzugefügt werden. An den unveränderten Kern -ign- treten neue und v.a. unterschiedliche Buchstaben hinzu. Auf der Ebene der Buchstaben kann die für die Ebene der Atome beschriebene Ordnungsweise also nur unzureichend abgebildet werden. Die sichtbaren Buchstabenformationen können aber besonders gut zum Ausdruck bringen, dass die Schaffung von Differenz aus Ordnung auf der Ebene der Buchstaben mehr benötigt als bloß dieselben Buchstaben, da ihre Form der Ordnung eine andere ist: eine Anordnung. Der Komplexitätsgrad, den eine Ordnung auf der Ebene der Buchstaben erreichen kann, ist also beschränkt, wohingegen auf der Ebene der Atome durch die beschriebene größere Varianz an Ordnungsmöglichkeiten komplexere Ordnungen erzeugt werden können. Lukrez führt jedoch vor, wie dieses Defizit kompensiert werden kann, indem er die bestehende Ordnung (-ign-) durch andere Buchstaben erweitert und damit die Ordnungsmöglichkeiten vergrößert.156 Im Beispiel von lignum und ignis verweist die Buchstabenfolge -ign- als Konstante innerhalb einer Veränderung darauf, dass auf der Ebene der Buchstaben 155 156

Brown 1984 ad 913. Dionigi 2008, S. 30 schließt die folgende Beobachtung an, die das Verhältnis von Text und Welt noch weiterdenkt: „Here [sc.1,911–914] the relationship between the physical and the linguistic level, between nature and cosmos, between ,atomology‘ and ,etymology‘ is quite radical […]. [T]he words ,igneous‘ and ,ligneous‘, although not entirely identical, yet with the sole alteration of a single linguistic elementum, produce the figure of speech known as paronomasia. Lucretius establishes here a real arithmetic proportion: wood is to fire as ligneous is to igneous“.

Die Differenz der Ordnung

97

zwar alle Kombinationen möglich sind, es aber dennoch Einschränkungen gibt. Es ist nämlich nicht die Funktion der Ebene der Buchstaben, allen möglichen Ordnungen Ausdruck zu verleihen, sondern vielmehr, sinnvolle Ordnungen zu bilden, d.h. solche, die zur Bezeichnung eines Dings in der Welt benutzt werden können (vgl. distincta voce notare; 1,914). Wie in der ersten Analogiepassage so lässt sich auch hier beobachten, wie der zunächst defizitär erscheinende Charakter der aus Buchstaben bestehenden Ordnungen aufgewertet wird. 2.7

Die Differenz der Ordnung

Die erste Analogiepassage des zweiten Buches unterscheidet sich in zwei wesentlichen Punkten von den oben untersuchten Passagen des ersten Buches: zum einen mit Blick auf die Struktur der Analogie, zum anderen mit Blick auf die zugrunde liegende Perspektive auf die Ordnung der Dinge.157 Während in den Analogien des ersten Buches die Ebene der Atome stets durch die Ebene der Buchstaben illustriert und das nicht Sichtbare auf das Sichtbare zurückgeführt wurde, ist dieses Verhältnis in der im Folgenden diskutierte Passage verkehrt. In Form eines Vergleichs wird, ausgehend von den Buchstaben des Textes, der Aufbau der Welt geschildert und in eben dieser Struktur, ,wie der Text, so auch die Welt‘, wird nicht die Ordnung der Welt durch die Ordnung der Buchstaben, sondern die der Buchstaben durch die der Welt erklärt. Auch die Ordnung der Dinge ist in anderer Weise perspektiviert als zuvor. Während nämlich in den beiden Analogiepassagen des ersten Buches gezeigt werden sollte, dass bei der Entstehung der unterschiedlichen Dinge und der ihnen zugrunde gelegten Ordnungen Differenz aus Gleichheit hervorgeht (vgl. eadem primordia, 1,820, 1,908; multa elementa multis communia verbis, 1,824; variae res, 1,829; distincta voce notare, 1,914), rückt nun, in Abwandlung des obigen Musters, ,Differenz aus Differenz‘ ins Zentrum. Bereits der Kontext der Passage macht Differenz zum Thema, da die Ordnung der Dinge nicht als Zusammensetzung aus denselben Atomen beschrieben, sondern, aus der entgegengesetzten Perspektive, an die unterschiedlichen Atomformen geknüpft wird. Die

157

In der Literatur zu den Versen 2,688‒699 werden diese Unterschiede jedoch nicht akzentuiert. Bailey 1947 ad loc. hebt dem Kompositionscharakter dieser Passage hervor, wenn er davon spricht, die Verse seien „largely composed of those used in i.823ff. together with quotations from ii. 336–7“. Auch Snyder 1980, S. 42 unterstreicht die Gemeinsamkeiten, konstatiert dabei aber, dass die vorliegenden Verse gegenüber den anderen Passagen eine größere Anschaulichkeit anstreben. Einzig Deufert 1996, S. 131f. nimmt auf Unterschiede in den beiden Passagen Bezug, sieht jedoch darin einen argumentativen Widerspruch und spricht sich daher dafür aus, die Verse zu athetieren.

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Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

atomaren Ordnungen erscheinen so als ,Zusammenballungen‘ von Verschiedenem (2,686f.):158 dissimiles igitur formae glomeramen in unum conveniunt et res permixto semine constant. Unähnliche Gestalten kommen also zu einem Knäuel zusammen und so formen sich die Dinge aus vermischten Samen.

Lukrez präzisiert die zuvor allgemein gehaltene Darstellung von Ordnung als Zusammensetzung von Atomen, indem er nun die unterschiedlichen Formen der Atome als Ordnungsparameter hervorhebt und daran unmittelbar die Anschauungsebene der Buchstaben anschließt, in der ebenfalls Verschiedenheit – die Verschiedenheit der Buchstaben ‒ im Mittelpunkt steht (2,688–691): quin etiam passim nostris in versibus ipsis multa elementa vides multis communia verbis, cum tamen inter se versus ac verba necesse est confiteare alia ex aliis constare elementis.

690

Ja sogar in unseren eigenen Versen siehst du überall, dass viele Buchstaben vielen Wörtern gemeinsam sind; auf der anderen Seite musst du aber zugeben, dass Verse und Wörter untereinander jeweils aus anderen Buchstaben bestehen.

Während in den ersten beiden Versen, die mit den Eingangsversen der Buchstabenanalogie des ersten Buches (vgl. 1,823–826) identisch sind, auf die Übereinstimmung von Buchstaben in verschiedenen Wörter abgehoben und so noch einmal die Bedeutung der Gleichheit für eine Ordnung betont wird, rückt danach die Bedeutung der Differenz in den Mittelpunkt.159 Es wird der paradoxe Umstand hervorgehoben, dass trotz der großen Übereinstimmung von Buchstaben innerhalb von Wörtern (multa elementa vides multis communia verbis; 2,689) diese Anordnungen sich zugleich voneinander unterscheiden. Die Genese und Beschaffenheit eben dieser Differenz in und aus Ordnung entwickelt Lukrez in den folgenden Versen noch genauer. Die Ordnung der Wörter und Verse aus Buchstaben wird so aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln einmal als Gleichheit und einmal als Differenz beschrieben (2,692–694): 158 159

Vgl. ausführlich zu dieser Passage Kap. 6.3.1 dieser Arbeit. Deufert 1996, S. 132 weist auf diesen Unterschied zu den anderen Passagen hin: „Im ersten Buch verdeutlichte Lukrez durch das Buchstabengleichnis, dass aus denselben Atomen durch ihre unterschiedlichen Verbindungen unterschiedliche Dinge entstehen können […]. An unserer Stelle hat der Buchstabenvergleich eine andere Funktion. Wie in den Versen des Lukrez viele Wörter aus denselben Buchstaben bestehen […], so bestehen auch für die wahrnehmbaren Dinge trotz vieler gemeinsamer Atome doch aufs Ganze gesehen Unterschiede“.

99

Die Differenz der Ordnung non quo multa parum communis littera currat aut nulla inter se duo sint ex omnibus isdem, sed quia non vulgo paria omnibus omnia constant.

Nicht als ob sich nicht auch häufig gemeinsame Buchstaben fänden oder nicht auch zwei aus ganz denselben bestehen könnten: nicht alle sind aber gewöhnlich mit allen identisch.

Die in den Versen zuvor postulierte, auf unterschiedlichen Buchstaben beruhende Differenz zwischen den einzelnen Wörtern und Versen wird zunächst wieder relativiert. Lukrez schließt eine absolute Differenz, d.h. eine völlige Verschiedenheit der Buchstabenordnungen aus, um dann, in einer erneuten Relativierung, auch das Postulat der völlige Gleichheit aller Buchstaben in einem Wort oder einem Vers zurückzunehmen (non vulgo paria omnia; 2,694). An diese Zirkelbewegung, in der sich Gleichheit und Differenz gewissermaßen die Waage halten, lassen sich zwei wichtige Beobachtungen anschließen: Den jeweiligen Buchstaben, d.h. den jeweiligen Formen der an einer Ordnung beteiligten Grundelementen, kommt eine zentrale, ,konstitutive‘ Funktion zu. Es gibt ferner unterschiedliche Grade an Differenz (bzw. Gleichheit), die in einer Verbindung Ordnung herstellen können, wie durch multa parum communis (2,692), inter se duo sint isdem (2,693) oder (non) paria omnia constant (2,694) zum Ausdruck kommt. An diese Beobachtungen auf der Ebene der Buchstaben schließt Lukrez die Übertragung auf die Ebene der Atome an. Das einleitende sic markiert dabei, in welcher Relation das nun Folgende zu der für die Ebene der Buchstaben explizierten Differenz- und Ordnungslehre steht (2,695–699): sic aliis in rebus item communia multa multarum rerum cum sint primordia, verum dissimili tamen inter se consistere summa possunt […].

695

So auch in anderen Dingen, da auf gleiche Weise viele Urelemente vielen Dingen gemeinsam sind; aber sie können dennoch untereinander bestehen in ihrer Gesamtheit verschieden […].

Die für die Ebene der Buchstaben beschriebene Verhältnismäßigkeit von Gleichheit und Differenz, bei der der Differenz eine übergeordnete Funktion zukam (non vulgo paria […] omnia; 2,694), lässt sich auch auf die Ebene der Atome übertragen: Auch dort besteht einerseits das Verhältnis der Gleichheit, da in verschiedenen Dingen durchaus die gleichen Atome enthalten sein können (communia […] primordia; 2,695f.); andererseits aber schließt diese Möglichkeit zur Gleichheit das Bestehen von Differenz nicht aus. Es wird explizit markiert, dass zwischen den beiden Polen kein Widerspruch besteht, denn in den Versen 2,695–699

100

Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

findet noch eine weitere Differenzierung statt. Es ist nicht mehr die Rede von Zusammensetzungen, die sich, wie Wörter, mit Blick auf die sie bildenden Elemente unterscheiden, sondern es werden Teil (primordia; 2,696) und Ganzes (summa; 2,697) unterschieden. Ein weiteres Mal rückt so der Raum des ,Zwischen‘ in den Fokus, der zwischen dem Einzelteil und dem daraus konstituierten Ding steht. Gerade an diesem Punkt kann in Auseinandersetzung mit dem Begriff von Ordnung erfasst und genauer beschrieben werden, welche Vorgänge dabei vonstatten gehen: Die (partielle) Gleichheit der Einzelteile geht in einem Ganzen (summa) auf, das sich durch Verschiedenheit auszeichnet – eine Verschiedenheit, die auf der unterschiedlichen Ordnung der Grundelemente basiert. Bereits an anderer Stelle160 wurde auf die enge Verbindung zwischen dem Konzept der Emergenz und den in De Rerum Natura beschriebenen Prozessen hingewiesen; die Frage nach dem Verhältnis von Ordnung und Emergenz lässt sich nun noch aus einer anderen Perspektive beleuchten, denn wenn die Möglichkeit erwähnt wird, dass sich Ausgangs- und Endprodukt, d.h. Teil und Ganzes, unterscheiden, dann lässt sich auch jeglicher Reduktionismusverdacht ausräumen: Im Prozess der Ordnung kommt jenes ,Mehr‘ hinzu, das den Unterschied von Einzelteil und Ganzem (aus)macht.161 2.8

Der Ausdruck der Ordnung

2.8.1

Dinge zum Ausdruck bringen: Ordnung und Referenz

Im Zentrum der letzten Buchstabenanalogie steht das Bezeichnen (significare; 2,1016). Damit wird nicht nur ein vielschichtiger Bezug zur ersten Analogiepassage hergestellt, in der das Verb constituere diese Systemstelle einnahm, sondern auch explizit gemacht, wie die beiden Ebenen der Analogie, Text und Welt, zueinander in Verbindung gesetzt werden können.162 Wie in den vorangegangenen Passagen, so wird auch hier durch die Analogieebene der Buchstaben das dubium ,Ordnung‘ veranschaulicht. Dies geschieht 160 161

162

Vgl. Kap. 2.5 dieser Arbeit. Ähnlich sieht Rumpf 2003, S. 110 bei Lukrez eine implizite Stellungnahme zum Reduktionismusproblem, die ganz wesentlich auf der Betonung des Prozesscharakters bei der Entstehung der Dinge beruhe: „Der Text bringt […] verdichtend in einem das Atommodell zur Anschauung wie auch das Mehr, das es nicht mehr positiv beschreiben kann“. Die beiden Verse seien an dieser Stelle der Übersicht halber zitiert: namque eadem caelum mare terras flumina solem / constituunt, eadem fruges arbusta animantis („denn dieselben bilden Himmel, Meer, Erde, Flüsse und die Sonne, auch Korn, Bäume und Lebewesen“; 1,820f.); namque eadem caelum mare terras flumina solem / significant, eadem fruges arbusta animantis („denn dieselben [Buchstaben] bezeichnen Himmel, Meer, Erde, Flüsse und die Sonne, auch Korn, Bäume und Lebewesen“; 2,1015f.).

101

Der Ausdruck der Ordnung

jedoch in einer Weise, die von der Augenscheinlichkeit der Ordnung abrückt. Vor der Abstraktion steht aber zunächst die größtmögliche Konkretheit: Durch die atomare Natur der Dinge verändern sich diese in ihrer Form, Farbe oder ihrem Empfindungsvermögen, ohne dass dabei die materiale Grundlage verloren ginge. Im Bild des Todes, der gerade keine völlige Vernichtung darstellt, lässt sich dies besonders gut veranschaulichen, denn er ist nichts anders als eine Auflösung und Neuordnung (2,1002–1009): nec sic interemit mors res ut materiai corpora conficiat, sed coetum dissipat ollis; inde aliis aliud coniungit et efficit omnes res ita convertant formas mutentque colores et capiant sensus et puncto tempore reddant, ut noscas referre earum primordia rerum cum quibus et quali positura contineantur et quos inter se dent motus accipiantque […].

1005

Der Tod vernichtet kein Ding in der Weise, dass er die Urkörper des Stoffs zerstörte, sondern er zersprengt ihren Verbund; dann verbindet er anderes mit anderem und bewirkt so, dass alle Dinge ihre Formen verkehren und ihre Farben verändern und dass sie Empfindungen erhalten und plötzlich wieder verlieren; daraus sollst du erkennen: Es ist wichtig, mit welchen und in welcher Lage die Grundelemente der Dinge zusammengehalten werden und welche Bewegungen sie untereinander geben und empfangen […].

Die sichtbare Veränderung auf der Ebene der res (convertere; mutare)163 ist an die Verbindung der verschiedenen Atome geknüpft, oder wie Lorenz Rumpf formuliert, an einen als „einfache atomistische Kombinatorik gedachten Modus der Veränderung“164 – und dies, wie die Korrelation (efficit) ita […] ut (2,1005– 1007) markiert, in einer Weise, die einen epistemologischen Effekt hat: Von der Ebene der sichtbaren Welt und der dort zu beobachtenden Veränderungen können Rückschlüsse auf die Beschaffenheit und Funktionsmechanismen der atomaren Ebene gezogen werden: ut noscas… (2,1007). Die dann genannten Parameter der Ordnung sind, in geringer Variation gegenüber den Darstellungen in den vorangegangenen Passagen, ihre Kombination (cum quibus; 2,1008), ihre Lage und ihre Bewegung (quos motus; 2,1009). Während die Ordnung auf der Ebene der Atome, wie durch die Verben coniungere und continere zum Ausdruck kommt, auf Verbindungen, d.h. der Zusammenfügung von Einzelelementen beruht, stellt sich dies auf der sichtbaren Ebene der Dinge als ein Vorgang dar,

163 164

Vgl. Kap. 2.6.2 dieser Arbeit. Rumpf 2003, S. 137.

102

Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

bei dem bereits Bestehendes und Zusammenhängendes nicht (neu) zusammengesetzt, sondern lediglich verändert (convertere; mutare) wird.165 Wenn Lukrez dann von der Beschreibungsebene der Atome zu der der Buchstaben übergeht, lässt sich die Darstellung der Ordnungskonstellationen auf der Ebene des Textes – gemäß des Vermögens der Analogie, Unsichtbares durch Sichtbares zu erklären – zunächst als Ausdeutung und Wiederholung des zuvor Gesagten beschreiben. Zugleich deutet sich darin aber bereits die anfangs beschriebene Verschiebung an: Wie auch in den anderen Analogiepassagen (vgl. 1,823f.) werden die unterschiedlichen Parameter der Ordnung, die zunächst für die Ebene der Atome postuliert werden, noch einmal wiederholt – nun aber unter den Voraussetzungen, die die Ebene der Buchstaben eröffnet (2,2013f.): quin etiam refert nostris in versibus ipsis cum quibus et quali sint ordine quaeque locata […]. Ja sogar in unseren eigenen Versen ist es von Bedeutung, mit welchen [anderen Buchstaben] und in welcher Ordnung ein jeder [Buchstabe] steht […].

Ein zentraler epistemologischer Mechanismus der Analogie liegt in ihrer Fähigkeit, als „pont par dessus une frontière“166 zwei (ontologisch) voneinander getrennte Ebenen zu verbinden.167 In den weiter oben behandelten Passagen wurde dies vor allem durch die von mir als Metatextualität bezeichnete Form der Selbstreferentialität erreicht: Mit der Aussage quin etiam passim nostris in versibus ipsis / multa elementa vides multis communia verbis („ja sogar in unseren eigenen Versen siehst du überall, dass viele Buchstaben vielen Wörtern gemeinsam sind“; 1,823 = 2,687) wird nicht nur auf die Buchstaben des Textes verwiesen, der über sich selbst spricht; eben diese Buchstaben sind auch als visuell wahrnehmbar beschrieben.168 In den Versen 2,2013f. lässt sich aber eine Verschiebung erkennen, denn die Analogie wird nicht mehr mit einem Verweis auf die Sichtbarkeit der Buchsta165

166 167 168

Vgl. hierzu auch die detaillierte Analyse bei Rumpf 2003, S. 137: „Die räumliche ,Form‘ eines Gegenstandes (1,1005: res ita convertant formas) läßt sich noch auf die relativen Positionen der Atome zueinander zurückführen. Zugleich aber deutet sich in dem Ausdruck convertere formas jetzt auch das Konzept einer Gesamtgestalt an, die mehr ist als die Resultierende [sic] von Atomstellungen und sich nicht dauernd und gleichmäßig verändert, sondern Bestand hat, solange der Gegenstand existiert. Das Kompositum von vertere gibt dem Übergang von einem Zustand zum anderen nun eher den Charakter eines schlagartigen Umkippens“. Der von Rumpf aufgebrachte Aspekt der Plötzlichkeit ist in dieser Passage m.E. aber weniger stark zu gewichten als der Aspekt des Mechanischen. Secretan 1984, S. 8. Vgl. hierzu ausführlicher Kap. 2.4 dieser Arbeit. Zur Bedeutung des Rezipienten als eines visuell Wahrnehmenden vgl. Beer 2009, S. 166‒172.

Der Ausdruck der Ordnung

103

ben, d.h. einem certum, eingeleitet; vielmehr wird nun die Bedeutung einer je spezifischen Ordnung der elementa auch für die Ebene des Textes betont: refert nostris in versibus ipsis (2,1013). Anstatt den Text in seiner ,buchstäblichen‘ Beschaffenheit metatextuell zu beschreiben, formuliert Lukrez die einfache Prämisse, dass Ordnung für die Verse von De Rerum Natura von Bedeutung ist. Diese Verschiebung, die, wie Lorenz Rumpf erörtert, als Argument für die mangelnde Echtheit dieser Verse herangezogen wurde,169 ermöglicht es aber, die Ordnung der Atome und die der Buchstaben einander unmittelbar gegenüberzustellen. Ganz zu Beginn dieser Passage wurde nämlich auch für die Ebene der Atome deren je spezifische Ordnung als bedeutsam markiert: ut noscas referre eadem primordia rerum / cum quibus et quali positura contineantur („daraus sollst du erkennen: es ist wichtig mit welchen und in welcher Lage die Grundelemente der Dinge zusammengehalten werden“; 2,1007f.). Diese direkte Parallelisierung der Ordnungen von Buchstaben und Atomen war in den vorherigen Analogiepassagen nicht gegeben, denn dort wurde die ,Bedeutsamkeit‘ der Ordnung auf der atomaren Ebene zur Sichtbarkeit der Ebene der Buchstaben ins Verhältnis gesetzt (vgl. z.B. atque eadem magni refert primordia saepe / cum quibus et quali positura contineantur – „und oft ist es auch sehr wichtig, mit welchen anderen und in welcher Lage dieselben Grundelemente verbunden sind“; 1,817f.). In der ersten Analogiepassage wurden die Ordnungsparameter der Atome explizit als umfangreicher im Vergleich zu denen der Buchstaben dargestellt. In den vorliegenden Versen kommt dieses Verhältnis implizit zum Ausdruck. Während nämlich die Atome sowohl die Kombination (cum quibus; 2,1008) als auch ihre Position (positura; 1,818) und Bewegung (quos motus; 2,1009) im Zuge einer Verbindung verändern können, wird für die Buchstaben lediglich die Kombination (cum quibus; 2,1014) und Anordnung (quali ordine; 2,1014) benannt. Es geht an dieser Stelle somit darum, „noch einmal grundsätzlich die Bedeutung von ordo und positura der Elemente zu veranschaulichen“.170 Dadurch ist aber auch der Status der Analogie noch einmal zu modifizieren, denn in dieser Buchstabenanalogie herrscht kein epistemologisches Ungleichgewicht, das eine Erläuterung qua Analogie erforderte, sondern ein ausgeglichenes Verhältnis, in dem die beiden Ebenen der Analogie gleichermaßen aufeinander verweisen. Das dubium der Analogie ist an dieser Stelle nicht mehr eines, das die visuelle Seite der Buchstaben betrifft und der Veranschaulichung der atomaren Ordnung durch die Ordnung der Buchstaben bedarf. Dieses dubium verlässt die Ebene der Anschaulichkeit. Damit wird an dieser Stelle ein zentraler Mechanismus der Analogie außer Kraft gesetzt, denn nun ist nicht mehr markiert, welche Ebene der Analogie die andere illustriert.

169

170

Zur Frage der Echtheit dieser Verse vgl. den konzisen Überblick bei Rumpf 2003, S. 140–148. Rumpf 2003, S. 143.

104

Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

Gleichwohl findet sich aber auch in dieser Analogiepassage ein Punkt, der auf die erste Analogie zurückverweist. Denn während die Bedeutung der Ordnung für die Ebene der Atome lediglich konstatiert wird (ut noscas referre; 2,1007), erhält diese Feststellung mit Blick auf die Erklärungsebene der Buchstaben eine Erweiterung: Es wird nämlich begründet, weshalb die spezifische Ordnung von Bedeutung ist. Hier tritt das eingangs erwähnte Bezeichnen (significare) auf den Plan (2,1015f.): namque eadem caelum mare terras flumina solem significant, eadem fruges arbusta animantis […]. Denn dieselben [sc. Buchstaben] bezeichnen Himmel, Meer, Erde, Flüsse und die Sonne, auch Korn, Bäume und Lebewesen […].

Das ,Mehr‘ der Ordnung auf der Ebene der Buchstaben liegt darin, dass diese etwas bezeichnen, d.h. als Signifikant etwas außerhalb des Textes Liegendes zum Ausdruck bringen können.171 Gerade an diesem Punkt lässt sich eine wichtige Verbindung zur ersten Analogiepassage (1,823–829) herstellen, in der die Ordnungen der Buchstaben durch ihre Unterschiede in res und sonitus gekennzeichnet waren. Während mit sonitus zeichentheoretisch gesprochen das Lautbild, also die Ebene des Ausdrucks benannt werden konnte, stellte res die Seite der Bedeutung dar. Die Frage nach dem Verhältnis von Text und Welt in De Rerum Natura, die am Grund aller Auseinandersetzungen mit den Buchstabenanalogien liegt,172 erhält mit Perspektive auf die Verse 1004‒1016 daher eine eindeutige Antwort: Der Text bringt die Welt zum Ausdruck. Duncan Kennedy führt diese Beobachtung noch weiter, denn ausgehend von der Feststellung, dass die sichtbaren Buchstaben die unsichtbaren Atome repräsentieren, kann man auch das folgende Paradox nicht ignorieren: „Representation of atoms as letters of the alphabet deconstructs the distinction between the ends of representation and its means“.173 2.8.2

Das lukrezische Kompositionalitätsprinzip

Am Ende der Verse 1004‒1016 standen die Buchstaben des Textes im Mittelpunkt. In den sich anschließenden Versen bewegt sich der Fokus zurück auf die Ebene der Atome, von wo die gesamte Passage auch ihren Ausgang nahm (vgl. 2,1005f.). Auf diese Weise rücken noch einmal drei wichtige Aspekte in den Mittelpunkt: Gleichheit, Differenz und Ordnung. In einer Form der wiederholen171

172 173

Zum Begriff significare in De Rerum Natura und dessen Vorprägungen bei Epikur vgl. Fowler 2002 ad 2,128. Vgl. u.a. Snyder 1980, Thury 1987, Schiesaro 1994, Gaudin 1999, Volk 2002, Gale 2004b. Kennedy 2002, S. 86f. (Hervorhebung dort).

105

Der Ausdruck der Ordnung

den Präzisierung wird dabei zunächst das Wechselverhältnis von Gleichheit und Differenz beschrieben (2,1017f.): si non omnia sunt, at multo maxima pars est consimilis; verum positura discrepitant res. Wenn sich auch nicht alle sich gleichen, so ist sich die Mehrzahl doch sehr ähnlich; aber erst durch ihre Lage unterscheiden sich die Dinge.

Der erste Vers lässt zunächst offen, ob es sich bei omnia in Anbindung an die vorangegangene Passage, in deren Zentrum die Buchstaben standen, noch um eben jene elementa handelt, oder, im Vorausgriff auf den folgenden Vers, um die Atome. Ähnlich wie oben (vgl. die Buchstabenanalogie in 2,695–298) changiert die Beschreibung zwischen dem Postulat eines Überhangs an Differenz und eines Überhangs an Ähnlichkeit. Eindeutigkeit schafft aber erst der zweite Vers, der definiert, wie Differenz zustande kommt. Eben diese Unterscheidung wird nun dezidiert wieder an Ordnung gebunden: Die Mannigfaltigkeit der Dinge, die Lukrez in den Versen zuvor beschreibt, ist mit einer spezifischen Ordnung, der positura der Atome verknüpft.174 Diese Verschiedenheit der Dinge (discrepitant res), so zeigen die folgenden Verse, beruht einzig auf einer Veränderung der Ordnungsparameter und Ordnungsmechanismen. Unterschiede haben etwas mit einer Veränderung, einer mutatio zu tun; dies ist nichts anderes als das bereits bekannte Muster der Differenz aus Ordnung: Werden die atomaren Ordnungsparameter verändert (cum permutantur; 2,1022), so verändern sich auch die Dinge (2,1019–1022): sic ipsis in rebus item iam materiai [intervalla vias conexus pondera plagas]175 concursus motus ordo positura figurae cum permutantur, mutari res quoque debent.

1020

Wenn sich auf diese Weise auch in den Dingen selbst Zusammenstoß, Bewegung, Ordnung, Lage und Gestalt der Materie verändern, so müssen sich auch die Dinge verändern.

174

175

Zur Bedeutung der positura in diesem argumentativen Zusammenhang vgl. Rumpf 2003, S. 143f. Zur Junktur corporis positura vgl. Rumpf 2003, S. 145. Zur Athetese des Verses durch vgl. Lachmann 1850 ad loc.: „[S]ufficiunt in hoc loco Concursus motus ordo positura figurae, ut in I,685. […] scilicet qui hunc versum ex suo loco huc transtulit ne grammatices quidem rationem habuit“; Deufert 1996, S. 141 beurteilt den gesamten Passus 2,1013‒1022 als Interpolation und schließt die Verse aus dem Text aus: „1013‒1022 hat Lukrez nicht geschrieben“. Bailey orientiert sich an Lachmann und athetiert lediglich Vers 2,1020.

106

Elemente der Ordnung. Die Buchstabenanalogien

Die Auflistung von concursus, motus, ordo, positura und figurae lenkt den Blick erneut explizit auf die Ebene der Atome und durch sic wird sie unmittelbar mit der sichtbaren Ebene der Dinge verknüpft: „[S]ono elencati i criteri differenziali che regolano la struttura atomica della realtà“.176 So wird auch darauf verwiesen, dass diese je spezifischen Veränderungen daauf ausgerichtet sind, Unterscheidungen zu erzeugen, die auf der Ebene der Dinge ihren sichtbaren Ausdruck finden. Ordnung wird also aus Ordnung erklärt, denn die Veränderung der positura, die dazu führt, dass sich die Dinge voneinander unterscheiden, besteht in der Veränderung spezifischer Parameter. Diese Veränderung kann aber wiederum nur für dier Ebene der Atome genauer beschrieben werden. Beim Blick auf die Dinge sind Unterschiede allein auf eine veränderte Ordnung und Lage (positura) zurückführbar. Beim Blick in die Dinge lässt sich deren spezifische Ordnung hingegen genauer bestimmen, nämlich als permutatio ganz unterschiedlicher Parameter. Je nach Beobachterstandpunkt stellt sich die Ordnung der Dinge bzw. Atome also mal komplexer (auf der Ebene der Atome), mal einfacher dar (auf der Ebene der Dinge). Besonders deutlich wird dies durch die Verwendung des simplex mutare (res) und des Kompositums permutare (in rebus) markiert. Die direkte Abfolge von permutare zu mutare bildet geradezu den Automatismus ab, der im Raum des ,Zwischen‘ von der Ebene der Atome zu der der Dinge abläuft.177 Dort kommen die unterschiedlichen Ordnungsparameter zum Tragen, die in ihrer Vielfalt deutlich machen, dass Ordnung auf der Ebene der Atome in anderer Weise funktioniert als auf der Ebene der Dinge. Auch das Verhältnis der beiden Analogieebenen ließ Rückschlüsse auf die verschiedenen Möglichkeiten und Ausdrucksformen von Ordnung zu. Lukrez bringt diese Ebenen in ein Gleichgewicht, indem er einerseits betont, dass die Ebene der Atome über wesentlich mehr Ordnungsmöglichkeiten verfügt als die der Buchstaben, andererseits aber hervorhebt, dass die Ordnung der Buchstaben über ein schöpferisches Potential verfügt, das die atomare Ebene nicht besitzt. Die Ordnung der Buchstaben ermöglicht es daher nicht nur, die Mechanismen von Ordnung direkt anschaulich zu machen, sie ermöglicht es auch, die Ordnung der Welt zum Ausdruck zu bringen.

176

177

Dionigi 2005, S. 22. Dort sind auch die griechischen Begriffe genannt, auf die Lukrez zurückgreift. Armstrong 1995, S. 227 diskutiert, in wieweit Lukrez in 2,1019–1022 auf das von Philodem verworfene Prinzip der metathesis hinweist, kommt aber zu dem Schluss, dass es hier nicht nur um formale, sondern auch um inhaltliche Veränderungen geht, die durch die Umstellung erzeugt werden: „Lucretius is […] adamant that the meaning and thought are always altered by the mutation, not just the sound“. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Armstrong unter stärkerer Berücksichtigung von Philodem vgl. Beer 2009, v.a. S. 93f., und S. 260.

3

Ordnung und Anfang A little bit of constructivism takes you far from realism: a complete constructivism brings you back to it.1

3.1

Ordnung und die Frage nach dem ,Davor‘

3.1.1

Rerum natura und De Rerum Natura. Die Erzählbarkeit des Kosmos

Im vorangegangenen Kapitel zu den Buchstabenanalogien wurde die Ordnung der Atome in einem klar umgrenzten Ausschnitt untersucht. Durch die Gegenüberstellung von Atomen und Buchstaben, so hat sich gezeigt, rückt nicht nur in den Vordergrund, dass die Entstehung der Dinge auf verschiedenen Ordnungsmechanismen beruht, sondern auch, dass die Veranschaulichung dieser Mechanismen bestimmter sprachlicher Vermittlungsstrategien bedarf. Diese Perspektive soll nun erweitert werden, denn es gilt zu untersuchen, wie die Verhandlung der atomaren Ordnung in den größeren Kontext des ersten Buches von De Rerum Natura eingebunden ist. Um Aufschluss über die Entstehung der Dinge und ihre Darstellungsweise zu erhalten, muss nämlich auch in den Blick genommen werden, woraus sie bestehen. Damit ist das erste Buch in ganz grundsätzlicher Weise befasst, denn in ihm ist dargestellt, wie die beiden Grundbestandteile der Dinge, Materie und Leere (inane), in eine Ordnung gebracht werden. Eine Überschau über die Anlage des ersten Buches zeigt, dass die Perspektive auf Materie und Leere in drei Hauptaspekte aufgefächert ist: Zunächst führt Lukrez die beiden Grundbestandteile für sich genommen ein, noch ohne sie zueinander in Bezug zu setzen (Kap. 3.2). Dann folgt ein Teil, in dem der Fokus auf der Relation dieser beiden Bausteine zueinander liegt und in dem beobachtbar wird, was am Beginn einer Ordnung steht: Sie erfordert die Herstellung von Unterscheidung. Ihre Sichtbarkeit erhält diese Unterscheidung dadurch, dass Lukrez vielfach beschreibt, wie Materie und Leere durch materiale Grenzen voneinander getrennt und damit verschieden sind (Kap. 3.3). Den Abschluss des ersten Buches bildet die Beschreibung des Alls, in dem die Funktionsweisen von Materie und Leere in einem konkreten Zusammenhang dargestellt werden (Kap. 3.4). Vergleicht man diese inhaltliche Struktur nun mit anderen Erzählungen von Anfängen, so wird deutlich, dass De Rerum Natura nicht mit dem Anfang des 1

Latour 1990, S. 71.

108

Ordnung und Anfang

Kosmos oder des Alls2 beginnt, also bei einer der grundlegendsten Formen der Ordnung, sondern davor ansetzt.3 Den folgenden Ausführungen liegt daher die These zugrunde, dass Lukrez mit dieser Struktur einer durch sein Thema angezeigten Herausforderung begegnet, die darin besteht zu erklären, wie und wo ein Gedicht beginnen kann, dessen Gegenstand nichts Geringeres als ,alles‘ ist und der noch dazu keine raum-zeitlichen Grenzen besitzt.4 Die Frage nach dem ,Davor‘ scheint eine zeitliche Relationierung bzw. Priorisierung in den Vordergrund zu rücken. Doch das lukrezische All zeichnet sich durch eine Zeitkonzeption aus, die nur schwer fassbar und beschreibbar ist.5 Denn nicht ein Paradigma der Linearität mit einem Anfang und einem Ende, sondern eines der Simultaneität ohne Ursprung und Begrenzung ist für das omne immensum konstitutiv. Dass Lukrez mit seiner Darstellung vor dem Anfang ansetzt, gründet daher nicht allein auf der Tatsache, dass das epikureische All zeitlich (und räumlich) unbegrenzt ist, sondern auch darauf, dass dies der Gegenstand von De Rerum Natura ist. Die Frage nach dem Anfang betrifft also auch 2

3

4

5

Erler 1994, S. 144 weist auf die Bedeutungsdifferenz des Wortes ,Kosmos‘ im heutigen Sprachgebrauch hin: „Zu bedenken ist, dass der antike Gebrauch des Wortes ,Kosmos‘ anders als heute auch ein Teil des Universums bezeichnen kann. Der Kosmos, oder besser die Kosmoi umfassen Sterne, Erde und alle Phänomene“. Dass die Frage nach einem Anfang und was ihm vorausgeht nicht nur essentieller Bestandteil von De Rerum Natura ist, legt auch die folgende, von Sextus Empiricus überlieferte Anekdote aus der philosophischen Vita Epikurs nahe (adv. math. 4,19): „Als er noch ganz jung war, fragte er [sc.Epikur] seinen Lehrer, als er ihm ,Wahrlich, zuallererst entstand die gähnende Leere‘ vorlas, woraus die gähnende Leere entstanden sei, wenn sie zuerst entstanden sei“. Vgl. hierzu und zu den Implikationen der lukrezischen Konzeption des inane Porter 2003. Hieraus erklärt sich auch, warum De Rerum Natura kein im strengen Sinne erzählender Text ist und sich einer umfassenden narratologischen Analyse entzieht. Vgl. dazu Schiesaro 1994, Gale 2004b und Noller 2012. Um diese Ebene von den philosophischen und sprachlichen Aspekten zu unterscheiden, wird der Begriff der Erzählung hier jedoch beibehalten. Lavery 1987, S. 771; Auf S. 772 nimmt er eine Systematisierung der lukrezische Zeitkonzeption vor, indem er „Ordered Time“ von „Disordered Time“ unterscheidet: „Ordered Time may be defined as temporal conformity to the rerum natura. When we examine the world around us […], we perceive this notion of fixed times as a recurrent theme“; „Violations of the rerum natura often involve a significant temporal element. These constitute instances of what we shall call Disordered Time“. Die Passagen, die Lavery für seine Argumentation heranzieht (u.a. 1,84–101 [Die Opferung der Iphigenie]), legen dabei implizit ein factum der lukrezischen Zeitkonzeption offen: Es handelt sich immer um eine bezogene Zeitvorstellung (vgl. 1,459: tempus item per se non est ‒ „die Zeit ist kein Ding an sich“). Eine Verbindung der (raum-)zeitlichen Unendlichkeit des Alls mit der Zeit, die allein in der Welt gegeben ist, wird bei Lavery nicht hergestellt. Die Frage nach der Gleichzeitigkeit von Zeitlosigkeit und Zeitlichkeit führt in letzter Konsequenz auf die Frage nach der Erzählbarkeit der rerum natura in De Rerum Natura.

Ordnung und die Frage nach dem ,Davor‘

109

die Ebene der erzählerischen Vermittlung, denn der plot von De Rerum Natura steht der Möglichkeit eines chronologischen Erzählens entgegen.6 Dieser unter narratologischen Gesichtspunkten aporetischen Ausgangslage7 begegnet Lukrez aber in der folgenden Weise: Wenn er die Grundaxiome der epikureischen Physik darstellt, leeren Raum und Materie einführt, sich gegen konkurrierende philosophische Doxai abgrenzt und schließlich die materialen und räumlichen Grenzen des Alls ins Zentrum der Beobachtung rückt, dann lassen sich all diese Aspekte als Bausteine8 eines Systems bezeichnen, das Lukrez errichtet. In diesem System kann alles verortet werden, was in den folgenden Büchern Gegenstand der Verhandlung sein wird. Philip Hardie beschreibt dieses Verfahren in ähnlicher Weise, wenn er davon spricht, Lukrez versuche ein „rigorous system“ zu konstruieren, das die „totality of objects and events“9 bedinge. Der Begriff des Systems ist der Lukrezforschung nicht fremd, wird allerdings fast durchweg im philosophischen Sinne in der Bedeutung ,philosophisches System‘ oder ,Denkgebäude‘ verwendet.10 Doch mit Blick auf die eben skizzierte erzählerische Aporie muss man die Rede vom System in De Rerum Natura auch auf die Ebene der Erzählung übertragen: De Rerum Natura bringt nicht nur das philosophische System der epikureischen Physik zur Darstellung; insbesondere das erste Buch bringt auch zur Darstellung, wie sich ein solches, in sich geschlossenes System und dessen sukzessive Konstruktion darstellen lässt.11 Denn Lukrez ,macht‘ den Anfang seines Gedichts und er legt dabei auch offen, wie er dies tut. Ausgehend von Materie und Leere, den Grundbestandteilen dieses Systems, wird nicht nur das Werden der Dinge, die natura rerum möglich, sondern es wird auch möglich, über diese Entstehung der Dinge zu sprechen (de rerum natura).12 In diesem Vorgehen zeigt sich bereits, wie philosophische und erzählerische Aspekte im ersten Buch ineinander greifen. Indem das Was? vom Wie? in diesem Sinne unterschieden wird, können einerseits die Form der Vermittlung und der vermittelte Gegenstand, andererseits deren Verhältnis genauer beschrieben

6 7 8

9 10 11

12

Darauf hat bereits Gale 2004b, S. 52 hingewiesen. Zur narrativen Aporie vgl. Noller 2012, S. 14. Darauf verweist auch Gale 2004b, S. 52, wenn sie davon spricht, Lukrez folge einer logischen und weniger einer chronologischen Ordnung. Hardie 1986, S. 219. Vgl. u.a. Teichmüller 1878 und Schulz 1958, S. 20f. Auf diesen Konstruktcharakter wird auch in der Forschung immer wieder hingewiesen (vgl. z.B. Schulz 1958, S. 44). Dabei bleibt jedoch stets ausgeblendet, was genau gemeint sei, wenn von ,Konstruktion‘ die Rede ist. Vgl. den Titel der Studie von Thury 1987, die als erste diese Ausdeutung des Titels von De Rerum Natura vornimmt: „Lucretiusʼ Poem as a Simulacrum of the Rerum Natura“.

110

Ordnung und Anfang

werden.13 Auf diese Weise treten nicht zuletzt auch Aspekte in den Vordergrund, die helfen können, die Spezifika atomarer Ordnung klarer zu konturieren. 3.1.2

Grundaxiome und Setzungen

Mit der Einführung in das System der epikureischen Physik, beginnend bei den beiden Grundaxiomen, wonach nichts aus nichts entsteht (nulla res ex nilo gigni; vgl. 1,150) und nichts zu nichts vergeht (haud redit ad nilum res ulla; 1,248), setzt Lukrez nicht allein bei den Grundlagen der epikureischen Physik an. Er führt an dieser Stelle das nihil ex nihilo auch als aus erzählerischer und epistemologischer Perspektive notwendige Setzung ein. Die epikureischen Grundaxiome sind aber keine Thesen, in dem Sinne, dass sie als Behauptungen aufgestellt und dann in ihrer Richtigkeit bewiesen werden müssten. Sie sind Thesen in einem noch grundlegenderen Verständnis, denn sie betreffen bestimmte methodologische und bestimmte epistemologische Vorentscheidungen und Grundlagen. Es ist immer wieder betont worden, dass im ersten Buch von De Rerum Natura die Voraussetzungen oder, bildlich gesprochen, die Fundamente für die Darstellung der epikureischen Lehre geschaffen würden.14 Bezeichnet man jene nun als Setzungen, kann noch deutlicher akzentuiert werden, dass es sich nicht nur 13

14

Von De Rerum Natura als didaktischer Dichtung zu sprechen, impliziert jedoch nicht, dass die Gattung einen festen Rahmen vorgibt, in dem alle Spezifika der Dichtung aufgehen; vgl. dazu die Typologisierung von Effe 1977. Fowler 2000, S. 205 grenzt die didaktische Dichtung als „discursive […] genre or mode“ von erzählenden Gattungen, insbesondere dem Epos, ab. Zugleich hebt er aber hervor, dass die beiden Gattungen oder diskursiven Modi interferieren, wie bereits Kroll in seiner topisch gewordenen „Kreuzung der Gattungen“ ([1924] 1964) festgestellt hat. Fowler modifiziert diese Modelle dahingehend, dass er nicht von einer Mischung oder Hybridisierung spricht, sondern das Verhältnis als eines der Inklusion oder Inkorporierung beschreibt. So kann er hervorheben, dass epische Elemente in der didaktischen Dichtung (oder umgekehrt) immer als solche präsent bleiben und wahrgenommen werden – trotz der grundsätzlichen Instabilität von Gattungszuschreibungen. Vgl. im Anschluss daran auch Volk 2002, die ihrer Untersuchung zunächst einen klar definierten Gattungsbegriff von didaktischer Dichtung zugrunde legt, diesen aber ausführlich diskutiert und einen kritischen Abriss der theoretisch-historischen Gattungsdiskussion unternimmt (vgl. v.a. S. 25‒68). Für Volk ist besonders der Aspekt des „didactic mode“ von Relevanz, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Texte auch, aber nicht nur didaktisch verfasst sind; zur diachronen Betrachtung von Gattungen vgl. Gale 2004a, S. xiii: „In practice, however, […] it is clear that not only do genres mutate over time, as innovations are assimilated and in turn become conventional, but also that they are ,fuzzy‘ around the edges. The boundary between epic and didactic is one notoriously subject to border-disputes“. Zu einer generellen Problematisierung von Konzept und Terminus der Gattungskreuzung vgl. Barchiesi 2001. Vgl. u.a. Bailey 1947, S. 583; Farrell 2007, v.a. S. 80.

Ordnung und die Frage nach dem ,Davor‘

111

um die inhaltlichen Voraussetzungen dieser Lehre handelt, sondern auch um die Voraussetzungen für deren Darstellbarkeit. Diesen Aspekt des ,Davor‘, der im Konzept der Setzung von zentraler Bedeutung ist, hat der analytische Philosoph Willard Quine in seiner Diskussion des englischen Äquivalents „position“ im Besonderen hervorgehoben: Demnach lässt sich nicht nur eine Theorie, sondern auch der Prozess der Theoriebildung beschreiben. Diese Prozessualität, die dem Vorgang des Setzens eignet, spielt auch im ersten Buch von De Rerum Natura eine wichtige Rolle. Quine hebt hervor, dass eine Setzung „nicht reduzierbar“15 ist. Sie bildet gewissermaßen eine epistemologische Nullstelle, die – und das ist für die lukrezischen Setzungen von besonderer Bedeutung – nicht stillschweigend eingeführt, sondern im Prozess der Setzung selbst ausgestellt wird. Aus erkenntnistheoretischer Perspektive ist dies insofern zentral, als das durch diese Setzung vermittelte Wissen so allererst vermittelbar wird. Eng verknüpft damit sind die narrativen bzw. methodischen Implikationen einer Setzung, denn erst diese ermöglicht es, im Wortsinne (irgendwo) einen Anfang zu ,machen‘.16 Aus einer systemtheoretischen Perspektive, die in ähnlicher Weise einem konstruktivistischen Denkansatz verpflichtet ist wie Quine, lässt sich eine Setzung daher auch als eine Primärunterscheidung bezeichnen, die notwendig ist, um ein System zu einem in operativer Geschlossenheit funktionsfähigen Gebilde zu machen.17 Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, weshalb die Begriffe Setzung und System mit ihrer konstruktivistischen Prägung auch für die Untersuchung von De Rerum Natura weiterführend sein können: Vor dem Hintergrund der hier bereits skizzierten Herausforderungen, mit denen die Darstellung der rerum natura konfrontiert ist, sollte der Versuch, eine kohärente Narrative herzustellen, ersetzt werden durch eine andere Form der Kohärenz – eine Kohärenz, die darauf beruht, einzelne thematische Sequenzen zueinander in Bezug zu setzen, dabei aber nicht einer (ausschließlich) chronologischen oder kausalen Logik folgt.18 3.1.3

Principium und exordium. Der Anfang des Anfangs

Nichts entsteht aus nichts. Die Darstellung dieses ersten Grundaxioms der epikureischen Physik schließt in De Rerum Natura an einen kurzen Passus an, der sich als methodologische Positionsbestimmung des Lukrez beschreiben lässt: Der menschlichen Furcht kann man nur durch eine rationale Sicht auf die Welt beikommen (1,146–150):19 15 16

17 18 19

Quine 1979, S. 48. Diese Formulierung übernehme ich von Haß 2015, v.a. S. 100‒104, der untersucht, wie Vergil im ersten Buch seiner Georgica einen Anfang ,macht‘. Vgl. Luhmann 2009, S. 109–118. Vgl. Noller 2012, S. 15. Für eine ausführliche Diskussion dieses Passus vgl. Fowler 2002 ad 2,59–61.

112

Ordnung und Anfang Hunc igitur terrorem animi tenebrasque necessest non radii solis neque lucida tela diei discutiant, sed naturae species ratioque. principium cuius hinc nobis exordia sumet, nullam rem e nilo gigni divinitus umquam.

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Jenen Schrecken und die Verdüsterungen des Geistes müssen zersprengen nicht die Strahlen der Sonne und auch nicht die hellen Geschosse des Tages, sondern allein die Naturanschauung und Forschung. Deren Anfang soll von hier ihren Ausgang nehmen, nämlich, dass nichts jemals aus dem Nichts durch göttliche Schöpfung entstehen kann.

Katharina Volk stellt fest, dass an dieser Stelle die, „[poetic] simultaneity“20 von De Rerum Natura offenbar werde: „When embarking on the teaching speech proper, the speaker creates a strong sense of beginning with the words principium cuius hinc nobis exordia sumet (1.149)“.21 Doch nicht allein, dass am Anfang das Anfangen explizit gemacht wird – Vers 1,149 beinhaltet mit dem Verweis auf ein principium und exordia gleich zwei Bezugnahmen zu einem je anders gearteten Anfang. Zunächst nennt Lukrez ein principium, das den Ausgangspunkt der ,rationalisierenden‘ Naturbetrachtung (naturae species ratioque) markiert. Dieser Punkt wird dann als Anfang im konkreten Textverlauf von De Rerum Natura verortet und durch das anaphorisch gebrauchte cuius, dem das prägnante hinc zur Seite gestellt ist, besonders deutlich akzentuiert: hinc nobis exordia sumet.22 Die starke Deixis markiert also, dass die epistemologische und methodologische Grundannahme, die in der Junktur species ratioque naturae zum Ausdruck kommt, im Textverlauf von De Rerum Natura ihren Ausgang von einem bestimmten Punkt, nämlich „von hier“ (hinc), d.h. dem folgenden Vers, nimmt. Dieser hat die Benennung des ersten epikureischen Grundaxioms zum Inhalt: Nichts kann aus nichts entstehen (nullam rem e nilo gigni divinitus umquam).23 20

21 22

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Volk 2002, S. 76; zum Begriff der „poetic simultaneity“ vgl. einführend Volk 2002, S. 13: „By this I mean the illusion that the poem is really only coming into being as it evolves before the readers’ eyes, that the poet/persona is composing it ,as we watch‘“. Volk spezifiziert nicht näher, was sich vor den Augen des Lesers abspielt und blendet die produktions- und rezeptionsästhetische Ebene („the readers’ eyes“ bzw. „the poet/ persona is composing it“) ineinander. Der Begriff der Simultaneität sollte aber nicht nur auf das Gedicht und seine Entstehung, sondern auch auf die darin beschriebene Welt und deren Entstehung ausgedehnt werden. Volk 2002, S. 75 (Hervorhebung dort). Zu den Bezügen vgl. Bailey 1947 ad loc., der principium cuius auf das im vorhergehenden Vers stehende naturae species ratioque bezieht, und Brown 1984 ad loc., der principium cuius als „the beginning of this (study); the reference […] is doubtless to the basic atomic theory of books 1–2“ liest. Zur Verortung dieses ersten Axioms in der philosophischen Tradition Epikurs und der Vorsokratiker vgl. Bailey 1947, S. 624.

Ordnung und die Frage nach dem ,Davor‘

113

Die Bezeichnung dieses Satzes als principium ruft die Thematik des Anfangs aus zwei unterschiedlichen Perspektiven auf. Wie bereits ausgeführt, wird damit ein Anfangspunkt benannt, der im principium des nihil ex nihilo besteht; an dieses schließt sich in der folgenden Passage das zweite Axiom an. Neben der Beschreibung einer Reihenfolge impliziert die Bezeichnung principium aber auch einen qualitativen Aspekt des Anfangs, der nicht allein Anfang, sondern auch Grund und theoretische Basis der naturae species ratioque ist. Diese beiden Aspekte von principium sind in diesem Vers nicht zu trennen.24 Auch der zweite Verweis auf einen Anfang durch den rhetorischen Terminus exordium, bzw. hier exordia, hebt einen spezifischen Aspekt hervor. Der besondere Fokus auf den Vorgang des Anfangens geht hier von der Etymologie des Wortes aus, bezeichnet das Verb exordiri doch die Tätigkeit des Anzettelns beim Weben.25 Diese etymologische Verbindungslinie verweist darauf, dass exordium noch nicht den Vorgang des Webens, sondern die dieser Tätigkeit vorausgehenden Vorbereitungen bezeichnet. Nimmt man diese Metapher als poetologische Metapher ernst, legt Lukrez an dieser Stelle die Grundlagen für das, Weben‘ seines Stoffes, d.h. sein Dichten fest. So beschreibt es auch Jane M. Synder: „Lucretius is not so much proclaiming that he is about to make a speech on atomic theory as that he is setting up the essential foundation on which the atomic theory rests.“26 Der Grundsatz, in dessen Zentrum die Bedingungen und Möglichkeiten eines Anfangens stehen (nullam rem e nilo gigni), fungiert so als abstraktes, zugrunde gelegtes ,Anfangsprinzip‘ (principium) und zugleich als konkreter Anfangspunkt des Sprechens darüber (exordia). Der eigentliche Anfang von de rerum natura (im Sinne eines Sprechens über die natura rerum) ist daher an dieser Stelle anzusetzen.27 Wenn dabei zudem jede göttliche Einflussnahme emphatisch ausgeschlossen wird, ist diese Zusammenführung als eine charakterisiert, die das Anfangen als einen Akt der Setzung vollzieht und nicht auf metaphysischem Schöpfungsdenken gründet.28 Das poetische Verfahren, dessen Lukrez sich bedient, wenn er am Beginn des eigentlichen Inhalts seines Gedichts zugleich die Modi ausstellt, unter denen dieser Anfang zum Anfang wird, lässt sich somit auch als Reflexion auf die eige-

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25 26 27

28

Vgl. TLL s.v. principium, -i 10/2,1310,75‒1311,5. Unter dem caput primum („spectat ad tempus, originem, seriem“) wird die Lukrezstelle in der Bedeutung von ,Grundprinzip‘ („de fundamentis, elementis doctrinae, artis“) aufgeführt. Vgl. dazu ausführlicher Kap. 1.2.2 dieser Arbeit. Snyder 1983, S. 39f. Dies zeigen auch die Gliederungen des ersten Buches an. Vgl. z.B. die Übersicht bei Bailey 1947, S. 584. Vgl. hierzu das diesem Kapitel vorangestellte Zitat von Bruno Latour, das auf den Punkt bringt, welche epistemologische Freiheiten im Rahmen dieser Setzungen möglich werden.

114

Ordnung und Anfang

ne Methode und Praxis verstehen:29 Dieser Teil von De Rerum Natura beginnt nicht, und gibt auch nicht vor, aus dem Nichts inspiriert zu beginnen. Anfang und Anfangen werden vielmehr so explizit wie nur möglich gemacht.30 Neben der Setzung der beiden Grundaxiome, d.h. der Grundprinzipien, nehmen den weitaus größeren Teil des ersten Buches die Einführung von Materie und leerem Raum, d.h. der Grundbestandteile des epikureischen Physik, ein. Die Beschreibung dieses Zusammenspiels, das auf unterschiedlichen Mechanismen und Ausformungen von Ordnung beruht, steht im Folgenden im Mittelpunkt. 3.2

Materie / Raum. Über das Anfangen und Unterscheiden

3.2.1

Im Inneren der Dinge: materies und secreta facultas

Wie einleitend beschrieben, führt Lukrez Materie und Raum zunächst als voneinander getrennte „story bits“31 ein und setzt diese dann sukzessive zueinander in Bezug. Dieser Konstruktcharakter hängt mit der bereits erörterten Schwierigkeit zusammen, einen Kosmos wie den lukrezischen vermittelbar und erzählbar zu machen. Eine Kosmogonie kann aufgrund ihrer zeitlichen Strukturierung in eine lineare Erzählung überführt werden, für die Darstellung ihrer Grundlagen gilt das aber nicht uneingeschränkt. Lukrez zerlegt im ersten Buch von De Rerum Natura diese Darstellung daher in einzelne Sequenzen und vermag gerade dadurch den didaktischen Erfordernissen seines Gegenstands gerecht zu werden. Auf diese Weise ist es nämlich möglich, die verschiedenen Themenkomplexe kleinschrittig einzuführen und zu erklären und dabei den Eindruck zu vermitteln, ohne Vorannahmen oder, mit Blick auf einen Rezipienten, ohne Vorwissen auszukommen. In der daraus resultierenden Genauigkeit der Darstellung, bei der kein Faktum und keine Annahme als gegeben angesehen wird, liegt ein zentrales Merkmal der ,Didaktizität‘ von De Rerum Natura. Doch auch über die Darstellungsformen von Ordnung kann diese Verfahrensweise Aufschluss geben. Von Bedeutung sind dabei vor allem die Partien, in denen beschrieben wird, wie sich Materie und Leere verbinden. Für einen besseren Überblick sei im Folgenden dennoch kurz skizziert, wie Lukrez die beiden Grundbestandteile des Alls für sich genommen einführt.

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30

31

Ähnlich bei Rumpf 2003, S. 230 (Hervorhebung dort): „Die Analysen dieser Arbeit fanden bei Lukrez neben der Darstellung des Theoriesystems in mehrfacher Hinsicht Figuren einer impliziten Reflexion über Theorie: Reflexionen über bestimmte Theoriegehalte wie Reflexionen über Status und Beschaffenheit von Theorie überhaupt“. Es handelt sich somit nicht allein, wie von Volk 2002, S. 75 postuliert, um einen „sense of beginning“, sondern ein Anfang wird tatsächlich ,gemacht‘. Noller 2012, S. 15.

Materie / Raum. Über das Anfangen und Unterscheiden

115

Der Abschnitt über die Materie macht den Anfang.32 Obgleich die materielle Grundlage der Dinge niemals gänzlich vernichtet werden kann, gibt es sichtbare Zeugnisse dafür, dass die aus der Materie erzeugten Dinge, d.h. die verschiedenen Ordnungen der Atome, entstehen und vergehen. Diese Ordnungen haben einen Anfang und ein Ende, weshalb die Ebene der Atome auch einen wichtigen Orientierungspunkt für die Erzählbarkeit des Kosmos bildet. Programmatischer Zugang zur bereits erwähnten ,Rationalisierung‘ der Welt ist in De Rerum Natura der Blick in die Dinge. So konstatiert Lukrez zu Beginn der Sektion über die Materie, dass die Entstehung bestimmter Dinge auf bestimmten Voraussetzungen in ihrem Inneren beruht (1,169–173): at nunc seminibus quia certis quaeque creantur, inde enascitur atque oras in luminis exit, materies ubi inest cuiusque et corpora prima; atque hac re nequeunt ex omnibus omnia gigni, quod certis in rebus inest secreta facultas.

170

Doch weil sich jegliches jetzt aus bestimmten Samen bildet, wächst es von dort hervor und dringt zu den Räumen des Lichts, wo sich der Mutterstoff eines jeden und die Ursprungskörper befinden; dadurch kann nicht alles aus allem entstehen, weil bestimmten Dingen eine gesonderte Kraft innewohnt.

Die Ebene der sichtbaren Welt und die darunter liegende Ebene der unsichtbaren Atome werden hier eng miteinander verknüpft.33 Durch die dem Bereich der biologischen Vermehrung entlehnten Metaphern (semina, creare, nasci, corpora, gigni) stellt Lukrez die an sich sterile Materie als belebt und ,kreativ‘ in einem ganz wörtlichen Sinn dar. So kann er die Prozesse, die im Inneren der Dinge bei ihrer Entstehung ablaufen, wenngleich nicht anschaulich, so aber doch vorstellbar machen.34 Der starke Differenzierungsgestus, der in dieser Passage zutage 32

33

34

Materie ist somit nicht nur für die diskursive Ebene der philosophischen Doktrin, sondern auch für diejenige Ebene unabdingbar, die diese Doktrin zur Darstellung bringt, wie auch Blumenberg (1981) 1999, S. 302 festgestellt hat: „Es ist mehr als ein geistreicher Einfall, wie ihn nachträglich jeder glaubt gehabt haben zu können: Ein Gedicht über den leeren Raum wäre möglich. Man denkt an das Lehrgedicht des Lukrez, doch vergeblich, denn ohne das Weltendrama der Atome bliebe zwar der leere Raum Epikurs, aber von dem Lehrbaren des Gedichts nur Sprachlosigkeit“. Bailey 1947 ad loc. und S. 628 argumentiert dafür, dass in diesen Versen mit seminibus certis (1,169) und materies (1,171) noch nicht dezidiert auf Atome verwiesen werde, sondern, allgemeiner gefasst, auf das Potential von „creative bodies“. Für Baileys These spricht auch, dass Lukrez auf die atomare Beschaffenheit der Dinge erst zu einem späteren Zeitpunkt ausführlich Bezug nimmt (1,483ff.). Auch der Begriff materies selbst erhält eine solche metaphorische Aufladung, bezieht man mit ein, dass nur wenige Verse zuvor von der für alle Dinge existierenden Mutter die Rede war (certa mater rebus; 1,168). Das Spiel mit der Ähnlichkeit von mater und

116

Ordnung und Anfang

tritt (vgl. die Junkturen semina certa bzw. res certae und Vers 1,172), charakterisiert die Entstehung der Dinge dabei nicht als zufälligen Prozess, sondern als Vorgang. Die Unterschiede und Spezifika dieser Entstehung werden vielmehr auf einer unterhalb der Dinge befindlichen Ebene sichtbar. Dieses räumlich gedachte Verhältnis verbildlichen auch die Verben enasci und exire. Die Differenzen werden an dieser Stelle allerdings lediglich konstatiert, erklärt werden sie noch nicht. Einen Hinweis gibt lediglich die Rede von der den Dingen inhärenten secreta facultas (1,173). Gemeinhin wird diese „gesonderte Kraft“ als Fähigkeit verstanden, ein spezifisches Ding hervorzubringen, und auf diese Weise schließt sie an den Aspekt der Differenzschaffung an, der bereits konstatiert wurde.35 Die Wortwurzel -cre-, die certus und secretus gemeinsam haben, verstärkt diesen engen Bezug noch.36 Was genau dieses Vermögen ausmacht, nur zu bestimmten Anfängen angelegt zu sein, bleibt aber noch unbestimmt und abstrakt, denn die präzisierende Rückbindung der secreta facultas an die atomare Natur, d.h. die atomare Ordnung der Dinge, folgt erst an späterer Stelle im ersten Buch (ab 1,483). Secretus kann hier daher auch in seiner Bedeutung ,verborgen‘ verstanden werden. 3.2.2

Das inane und die Differenz

Neben Materie besteht der lukrezische Kosmos auch aus Leere (inane).37 Differenziert werden muss dabei zwischen der Leere im Raum und der Leere in den

35

36 37

materies findet sich mehrfach bei Lukrez und zeigt, wie existentiell das Sprachverständnis in De Rerum Natura an vielen Stellen ist: Mater und materies ähneln sich nicht nur klanglich und mit Blick auf ihre Buchstaben, sondern auch konzeptuell. Vgl. zu dieser Verbindung Snyder 1980, S. 135–141; Nugent 1994; Fowler 2002, S. 444–452. Vgl. Brown 1984 ad loc.: „[T]o produce the appropriate species“. In gleicher Weise Bailey 1947 ad loc.: „,[P]ower‘ for the creation of special things“. Vgl. Brown 1984 ad loc. Auf das komplexe Verhältnis von Leere und Raum in der epikureischen Philosophie im Allgemeinen und in De Rerum Natura im Besonderen kann hier nicht weiter eingegangen werden. Auch in den Untersuchungen, die sich ausführlicher mit Raumkonzepten in De Rerum Natura befassen – neben den Kommentaren von Bailey 1947 und Brown 1984 v.a. Schulz 1958, Porter 2003, Hardie 2009, v.a. S. 175f., sowie der Band Space in Hellenistic Philosophy (hg. v. Graziano Ranochhia et. al. 2014) –, wird nur teilweise erörtert, wie sich inane, spatium, locus und omne zueinander verhalten, und die Studien kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Schulz 1958, S. 33 argumentiert dafür, keinen „grundsätzlichen Unterschied zu machen zwischen Leerem und Raum“, zu diesem Ergebnis kommt mit Blick auf Ep. Hdt. 40 auch Sedley 1982, S. 188f. Lévy 2014, S. 137 unterscheidet dagegen zwischen locus und spatium: „Locus is used for the void as a frame in which the atoms are situated […], while spatium means the void as a place through which the atoms can move“. Contra Konstan 2014, 92f., der zu dem Schluss kommt: „[S]pace is never occupied, but is simply the com-

Materie / Raum. Über das Anfangen und Unterscheiden

117

Dingen. Eine grundlegende Eigenschaft eint jedoch diese beiden Ausformungen von Leere, denn sie schaffen die Möglichkeit für Unterscheidungen, wie die einführenden Verse zum Passus über das Leere zeigen (1,329f.): Nec tamen undique corporea stipata tenentur omnia natura; namque est in rebus inane.

330

Aber es ist nicht überall alles gedrängt voll Körpermaterie; denn es gibt noch im Inneren der Dinge das Leere.

Dem Moment des thematischen Übergangs von Materie zu Leere ist in der lukrezischen Darstellung besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Ähnlich wie bei der Einführung der Materie lässt sich auch hier beobachten, wie kleinschrittig der Modus der Vermittlung ist. So wird nicht nur die Anschaulichkeit des didaktischen Gegenstandes erhöht, sondern innerhalb des didaktischen Settings auch Fehlschlüssen seitens des Rezipienten entgegengewirkt.38 Ginge man nämlich an dieser Stelle allein von den bislang gesetzten Konstituenten aus, so bestünde das im Aufbau befindliche System des Kosmos einzig aus Materie: undique corporea stipata tenentur / omnia natura. Dies wird nun verneint, denn Materie und Leere stehen nicht in einem Folgeverhältnis des ,Davor‘ und ,Danach‘, sondern in einem des ,Zugleich‘.39 Das inane, dieses Andere, das neben der Materie existiert, vervollständigt damit nicht nur die Grundbestandteile des lukrezischen Kosmos, es ermöglicht aus systematischer Sicht auch die Setzung der ersten und konstitutiven Unterscheidung in diesem Kosmos. Die für Ursprungsszenarien so zentrale Vorstellung einer ursprünglichen (zumeist chaotischen) Einheit, die auch hier zu Beginn ex negativo aufgerufen wird (nec tamen undique; 1,329), bricht Lukrez auf, um an deren Stelle eine Grunddifferenz zu setzen: Leere und Materie existieren zugleich und sind voneinander zu unterscheiden, sie können und müssen vielmehr unterschieden werden. Diese Ausgangsdifferenz von corpora und inane zeichnet sich nicht nur dadurch

38 39

plement of atoms, existing where they are not. […] Epicurus was not thinking of matter versus void but of bodies as opposed to the absence of bodies“. Anstatt die unterschiedlichen räumlichen Begriffe definitorisch voneinander abzugrenzen, sollte das Konzept von Räumlichkeit in De Rerum Natura vielmehr als flexibel in dem Sinne verstanden werden, dass jeweils ein Aspekt des Raumes stärker akzentuiert wird als ein anderer. Zum Begriff des didaktischen Setting vgl. Noller 2015, S. 155, Anm. 78. Auf die Nähe von didaktischer Dichtung und ekphrastischen Beschreibungen weist Fowler 2000, S. 206 (Hervorhebung dort) hin, wenn er Erstere als „genre descriptif“ bezeichnet. Die strukturelle Parallelen von De Rerum Natura und ekphrastischen Beschreibungen können darin gesehen werden, dass der epikureische Kosmos in seiner raum-zeitlichen Disposition der Gleichzeitigkeit ähnlich funktioniert wie ein Kunstwerk und sich daher in seiner Beschreibung mit ähnlichen epistemologischen und narratologischen Fragen hinsichtlich des modus operandi konfrontiert sieht.

118

Ordnung und Anfang

aus, dass sie eine Unterscheidung macht, also Materie und Leere voneinander trennt und als nicht dasselbe markiert, sondern auch dadurch, dass sie damit Unterscheidbarkeit, d.h. die Möglichkeit, zu unterscheiden allererst einführt. Das ,generative‘ Potential von Unterscheidungen hat Niklas Luhmann in seiner differenzialistisch operierenden Systemtheorie besonders deutlich herausgearbeitet. Auch in Theorien bzw. Theoremen, die dem Strukturalismus verpflichtet sind, spielt Differenz eine zentrale Rolle, doch nur bei Luhmann werden der Vorgang des Unterscheidens und der des Anfangens zusammengedacht. Luhmann bringt die Systemtheorie daher auch auf folgende Formel: „Die Theorie beginnt mit einer Differenz, mit der Differenz von System und Umwelt, soweit sie Systemtheorie sein will […]. Sie [sc. die Systemtheorie] beginnt also nicht mit einer Einheit […] sondern sie beginnt mit einer Differenz“.40

Die Feststellung einer ersten und grundlegenden Unterscheidung, der von System und Umwelt, ,macht‘ somit die Systemtheorie. Für die Untersuchung von De Rerum Natura kann diese Unterscheidung freilich nicht gelten,41 zumal für Luhmann nur eine Seite der Differenz von Interesse ist.42 Luhmanns Systemtheorie wird für die Untersuchung von De Rerum Natura daher vor allen Dingen aus einer Perspektive wichtig, die als Muster für eine bestimmte Denkweise von Differenz dienen kann. Für den Beginn (s)einer Theorie befindet Luhmann das Vorhandensein einer spezifischen Differenz als konstitutiv. In De Rerum Natura ist der Anfang, der den Anfang des Kosmos macht, die Differenz von Materie und Leere. Vor dem Hintergrund des Differenzdenkens Luhmanns kann also präziser erfasst werden, dass und wie die Differenz vor dem Anfang des lukrezischen Kosmos steht.43 Die Leere im Raum unterscheidet sich nicht nur von der Materie, ihr kommt auch noch eine weitergehende Funktion zu. Ohne den leeren Raum bestünde das 40 41

42 43

Luhmann 2009, S. 67. Bei Lukrez gibt es zu diesem ,Zeitpunkt‘ der Systemschaffung keine Umwelt, d.h. kein ,Draußen‘, in dem „gleichzeitig etwas anderes oder nichts“ (Luhmann 2009, S. 81) geschieht. Diese Unterscheidung lässt sich erst im fünften Buch mit der Darstellung der Weltentstehung vornehmen. Vgl. Luhmann 2009, S. 143. Luhmann 1997, S. 441 merkt jedoch an, dass in der Systemtheorie Anfangsfragen keine Priorität zukommt: „Nur wenn das System operiert und wenn es hinreichende Komplexität aufgebaut hat, um sich selbst in der Zeitdimension beschreiben zu können, kann es seinen Anfang ,postizipieren‘. Die Bestimmung eines Anfangs, eines Ursprungs, einer ,Quelle‘ und eines (oder keines) ,Davor‘ ist ein im System selbst gefertigter Mythos – oder die Erzählung eines anderen Beobachters“. Eben diese Konstellation kann auch auf den Anfang von De Rerum Natura übertragen werden. Denn es geht hier nicht um den Anfang eines kosmischen Systems, das, wie Luhmann treffend formuliert, einen Anfang „postzipiert“, sondern gerade darum, dass dies von einer anderen Instanz geschildert wird.

Materie / Raum. Über das Anfangen und Unterscheiden

119

lukrezische All ausschließlich aus statischer Materie und die Dinge hätten keine Möglichkeit sich zu bewegen (1,334–339): quapropter locus est intactus inane vacansque. quod si non esset, nulla ratione moveri res possent; namque officium quod corporis exstat, officere atque obstare, id in omni tempore adesset omnibus; haud igitur quicquam procedere posset, principium quoniam cedendi nulla daret res.

335

Es gibt daher Leere, einen Raum, der nicht berührt werden kann und frei ist. Wenn es das Leere nicht gäbe, könnten sich die Dinge auf keinerlei Weise bewegen; denn, was die Aufgabe eines Körpers ist: zu hemmen und entgegenzustehen, das würde beständig allem eignen; nichts könnte folglich weiter vorrücken, da ja kein Ding anfangen könnte, Platz zu machen.

Nach der Darstellung der bloßen Existenz von Materie und Leere weist Lukrez den beiden Grundbestandteilen auch regelrechte Aufgabenbereiche zu: Das officium (1,336) der aus Materie bestehenden Körper liegt in ,offensiver‘ Bewegung (officere atque obstare; 1,337).44 Ohne den leeren Raum gerät diese allerdings in einem Zustand der Blockade: haud igitur quicquam procedere posset (1,338).45 Erst dadurch, dass die Leere der Materie Platz einräumt, wird es möglich, dass sich diese bewegt und damit die Prozesse in Bewegung setzt, die zum Zusammenschluss oder zur Auflösung der Dinge führen.46 Diese Beschreibung legt nahe, dass das inane als eine Form von Behälter fungiert, in dem sich die Materie befindet und Raum für Bewegung hat.47 Doch auch in den Dingen selbst gibt es dieses Verhältnis von Leere und Materie (1,381–383): 44

45 46

47

Um das Wortspiel von officium und offendere zu erfassen, übersetzt Brown 1984 ad loc.: „What is in the way of body, to gest in the way“. Dies lässt sich im Deutschen nur schwer nachbilden. Vgl. hierzu Schulz 1958, S. 28. Von einem Primat des Räumlichen vor der Materie zu sprechen, ist mit Blick auf die materialistischen Grundlagen der epikureischen Philosophie nicht vertretbar. Gleichwohl lässt sich mit Blick auf den Modus der Darstellung in De Rerum Natura von einer Privilegierung des Raumes sprechen, denn Materie und leerer Raum werden in der Möglichkeit ihres Bestehens immer ausgehend vom Raum gedacht. Vgl. auch Schulz 1958, v.a. S. 30–36. Diese Auffassung findet auch noch einmal in den Versen 1,419–421 pointiert Ausdruck: omnis, ut est igitur per se, natura duabus / constitit in rebus; nam corpora sunt et inane, / haec in quo sita sunt et qua diversa moventur („Alle Natur, wie sie an sich ist, besteht aus zwei Dingen; denn es gibt nur Körper und Leere: das, in dem sich die Körper befinden und wo sie sich hin- und her bewegen“). Bailey 1947, S. 665 hebt die enge Verbindung dieser Passage zu Ep. ad Hdt. 39–40 hervor und hält es für wahrscheinlich, dass es sich dabei um eine direkte Übersetzung (mit Erweiterungen) handelt. Zurückhaltender Clay 1983, S. 121, der von einer „reproduction“ spricht.

120

Ordnung und Anfang aut igitur motu privandumst corpora quaeque aut esse admixtum dicundumst rebus inane unde initum primum capiat res quaeque movendi. Also muss man den Körpern entweder jedwede Bewegung absprechen oder behaupten, dass Leere mit den Dingen vermischt ist; daher nimmt ein jedes Ding seinen ersten Bewegungsanfang.

Während die erste Möglichkeit bereits in den diesem Passus vorausgehenden Versen als falsa ratio (1,377) offengelegt wurde – Bewegung wäre demnach lediglich ein Austausch von besetzten, d.h. gefüllten Räumen48 –, nimmt letztere eine neue Verhältnisbestimmung vor: Es gibt Bewegung und sie nimmt ihren Ausgangspunkt (vgl. initum primum; 1,383) von der Leere. Wie Bailey richtig bemerkt, wird damit auf eine bislang nicht erwähnte Funktion von Leere verwiesen. Im Zuge dessen treten auch deren spezifische Eigenschaften deutlicher hervor,49 denn die Leere wird als mit den Dingen „Vermischtes“ (admixtum; 1,382) bezeichnet. Auffällig ist, dass Lukrez das charakteristische Verb admiscere besonders häufig benutzt, um das Verhältnis von res und inane zu beschreiben.50 Doch nicht nur, dass Lukrez dem Vorgang des Mischens eine wichtige Rolle für die Entstehung der Dinge zumisst: Es liegt darin auch die Voraussetzung für Bewegung. Durch die Leere bzw. die Vermischung von Leere mit etwas anderem werden, auch wörtlich genommen, Dinge in Gang gesetzt. Dieses schöpferische Potential von Mischungen spielt besonders in der auf den Mischverhältnissen der vier Elemente beruhenden Welterklärung des Empedokles eine wichtige Rolle.51 Dass aus lukrezischer Sicht das empedokleische Weltmodell, 48

49 50

51

Vgl. 1,375–377: sic alias quoque res inter se posse moveri / et mutare locum, quamvis sint omnia plena. / scilicet id falsa totum ratione receptumst („So könnten auch andere Dinge unter einander sich bewegen und ihren Platz tauschen, auch wenn alles voll ist. Das alles glaubt man freilich aufgrund falscher Schlussfolgerungen“). Bailey 1947, S. 658 verbildlicht diese von Lukrez abgelehnte Theorie der Bewegung folgendermaßen: „[M]otion was due to a shifting of places between things, one occupying immediately the space left by the other, without any interspace, much as the pieces of coloured glass appear to do in the kaleidoscope“. Vgl. Bailey 1947 ad loc. Laut Wacht 1991, s.v. admiscere wird das Verb in De Rerum Natura neun Mal verwendet, nur drei Mal davon aber in einem anderen Kontext. Vgl. DK 31 B 8: […] ἀλλὰ μόνον μίξις τε διάλλαξίς τε μιγέντων / ἔστι, φύσις δ’ ἐπὶ τοῖς ὀνομάζεται ἀνθρώποισιν („[…] sondern nur Mischung und Austausch des Vermischten gibt es; bei den Menschen wird dafür nur Geburt als üblicher Name gebraucht“). Nicht nur in vorsokratischen Weltmodellen wie dem des Empedokles spielt die Mischung verschiedener Elemente eine wichtige Rolle, auch Aristoteles problematisiert in seinen naturphilosophischen Schriften diese Form der Zusammensetzung. In gen. corr. 328a 5–15 unterscheidet er zwischen μίξις (Mischung) und σύνθεσις (Zusammensetzung) und differenziert die beiden Termini dahingehend aus, dass bei einer Mischung

Materie und Raum (I). Über die Verstetigung von Grenzen

121

wie weiter oben diskutiert,52 abzulehnen ist, bedeutet nicht, dass bestimmte Ansätze dieser Erklärung ebenfalls zu verwerfen sind. Empedokles bietet vielmehr ein geeignetes Modell, um Vorgänge zu beschreiben, bei denen aus einzelnen Bestandteilen Lebendiges entsteht. 3.3

Materie und Raum (I). Über die Verstetigung von Grenzen

3.3.1

Die Definition der Grenze

Im ersten Buch von De Rerum Natura werden nicht nur Materie und Leere eingeführt und in ihrem Verhältnis zueinander dargestellt, Lukrez beschreibt auch die Funktion der beiden Grundelemente des Kosmos innerhalb einer res (1,511–517): praeterea quoniam genitis in rebus inanest, materiem circum solidam constare necessest, nec res ulla potest vera ratione probari corpore inane suo celare atque intus habere, si non, quod cohibet, solidum constare relinquas. id porro nil esse potest nisi materiai concilium, quod inane queat rerum cohibere.

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Da sich nun ferner Leere in allen erschaffenen Dingen findet, muss sich ringsum fester Stoff erstrecken, und bei keinem Ding vermag man mit richtigem Schluss darzutun, dass es in seinem Körper Leeres verbirgt und in sich hat, wenn man nicht zugleich zugesteht, dass das, was es umfasst hält, dichter Stoff ist. Es kann nun aber nichts anderes sein als eine Versammlung von Urstoff, die das Leere der Dinge zu umschließen vermag.

In diesen Versen wird der Prototyp einer res beschrieben: Die Dinge, d.h. Erzeugnisse aus Atomen (vgl. genitae res; 1,511),53 bestehen aus leerem Raum und einer materialen Begrenzung. Diese Begrenzung wird aus einer doppelten Perspektive genauer bestimmt: Zum einen durch die Beschreibung ihrer Beschaf-

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die Verschiedenheit der einzelnen Bestandteile zugunsten eines neuen Ganzen aufgeht (dies ließe sich auch unter dem Begriff der Emergenz fassen), dass dagegen bei einer Zusammensetzung jene Grundelemente erhalten bleiben. Eine ausführliche Diskussion des „Problem of Mixture“ bei Aristoteles bietet Fine 1996. In aristotelischer Terminologie wäre die Zusammensetzung, die in der obigen Passage aus De Rerum Natura mit admiscere beschrieben wird, unter dem Begriff der σύνθεσις zu fassen, da Leere und Materie als solche nicht verschwinden, sondern erhalten bleiben. Vgl. Kap. 2.5.1 dieser Arbeit. Vgl. Bailey 1947 ad loc.: „[A] more elaborated and definite way of expressing ,compound bodiesʻ than the simple res“. Brown 1984 ad loc.: „[C]ompound objects, whereas the primordia have always existed and never been ,bornʻ“.

122

Ordnung und Anfang

fenheit (materiem […] solidam constare necessest; 1,512), zum anderen durch die Beschreibung ihres Verlaufs (circum constare; 1,512; quod cohibet; 1,515). Aus den Grundbestandteilen einer solchen Grenze erklärt sich auch ihr Aufbau, denn die Materie umschließt den leeren Raum, also den Teil, der nicht aus Materie besteht. Damit wird die zuvor noch abstrakt eingeführte Differenz zwischen Materie und Leere nun in einen konkreten Zusammenhang überführt und auf diese Weise anschaulich gemacht. Doch noch ein weiterer Aspekt des Verhältnisses von Materie und Leere rückt in den Blick. In den Versen 1,513–515 wird die Frage aufgeworfen, wie man überhaupt zu einer gesicherten Erkenntnis über die Existenz des leeren Raumes gelangen kann und es zeigt sich: Ohne die Annahme einer materialen Umgrenzung kann das Konzept des leeren Raumes nicht gedacht und plausibel gemacht werden (probari; 1,513). Lukrez unterscheidet dafür zwischen dem Ding (res) und seinem corpus, setzt also zwei Perspektiven auf denselben Gegenstand nebeneinander, um auf diese Weise seine Argumentation zu stärken: Das Leere in den Dingen kann nicht gesehen werden, ist aber dennoch vorhanden. Wenn nun ein Ding in seinen Körper das Leere „verbirgt“ (celare) und „in sich hat“ (intus habere), so evoziert dies das Bild einer Oberfläche, die etwas darunter Liegendes überdeckt, gleichsam überzieht. Dadurch, dass diese Beschaffenheit dem Ding in seiner Eigenschaft als corpus und nicht als res eignet, wird der Aspekt des Körperlichen in diesem Verbund besonders hervorgehoben, zeichnet sich ein Körper doch gerade dadurch aus, dass er ein Inneres und ein begrenzendes Äußeres besitzt. Dieses Äußere erläutert Lukrez noch genauer (1,516f.): id porro nil esse potest nisi materiai concilium, quod inane queat rerum cohibere. Es kann nun aber nichts anderes sein als eine Versammlung von Urstoff, die das Leere der Dinge zu umschließen vermag.

Dieser Stoffverbund (concilium materiai) ist nicht als konkrete Zusammensetzung zu verstehen, sondern, wie die relativische Ergänzung zu concilium markiert, noch grundsätzlicher in seiner Eigenschaft als Begrenzung aufzufassen.54 Dafür spricht auch, dass Lukrez den Teil, der begrenzt wird, mit der ungewöhnlichen Junktur inane rerum55 bezeichnet und auf diese Weise den anderen Bestandteil einer prototypischen res – die Leere – benennt. Es wurde zu dieser Passage angemerkt, die lukrezische Beschreibung sei nicht exakt, denn man habe sich unter dem beschriebenen concilium materiai 54

55

Bailey 1947 ad loc: „[H]ere in the concrete sense as ,compound‘, but of matter alone and not, as usual, of matter and void“. Ebenfalls mit Vorbehalten Brown 1984 ad loc.: „Not in the full technical sense of a material compound“. Bailey 1947 ad loc.: „[A]n unusual possessive gen[itive], for which there is no exact parallel in Lucr[etius]“.

Materie und Raum (I). Über die Verstetigung von Grenzen

123

(1,516f.) keine undurchdringliche Mauer vorzustellen.56 Doch diese vermeintliche Ungenauigkeit kann darauf zurückgeführt werden, dass an dieser Stelle in De Rerum Natura noch nicht eine zusammenhängende Entstehung der Dinge beschrieben ist. Es werden vielmehr einzelne Mechanismen und Konstellationen herausgegriffen und separat dargestellt. Eine solche vereinfachte Darstellung einer res macht es möglich, klarer zu erfassen, welche Prozesse bei der Ordnung der Atome und bei der Entstehung der Dinge besondere Beachtung finden müssen: Das Verhältnis von Leere und Materie – als Inneres und Äußeres – sowie die Beschaffenheit und Funktion von Grenzen. 3.3.2

Nach der Grenze: Corpus inani distinctumst

Das Verhältnis, in das leerer Raum und Materie gesetzt sind, wird von Lukrez in den folgenden Versen auf einen Begriff gebracht (1,524–527): alternis igitur nimirum corpus inani distinctum, quoniam nec plenum naviter exstat nec porro vacuum. sunt ergo corpora certa quae spatium pleno possint distinguere inane.

525

Also ist Körper und Leeres – daran besteht kein Zweifel – wechselweise geschieden, da weder das Volle ausschließlich für sich steht noch das Leere; somit gibt es bestimmte Körper, die den leeren Raum vom Vollen zu scheiden vermögen.

Die beiden Bestandteile des Kosmos, die zunächst voneinander getrennt verhandelt wurden (vgl. 1,169–17357), sind nun in ihrer wechselseitigen Bedingtheit (alternis) und ihrer gegenseitigen Ausschließlichkeit (distinctum) dargestellt.58 Eines wird immer nur in Abgrenzung vom anderen, oder genauer, durch das andere distinkt.59

56

57 58 59

Bailey 1947 ad 512: „ It is true that the statement is not strictly accurate and we must conceive of a wall of detached dots with tiny interspaces rather than a continuous barrier“. Brown 1984 ad 512: „[I]ndicating not that the enclosing matter […] forms a continuous, unbroken envelope but that it is, by definition, totally distinct from the void which it encloses“. Vgl. Kap. 3.2.1. dieser Arbeit. Vgl. dazu auch Schulz 1958, S. 38. Vgl. hierzu auch noch 1,1008–1013, wo das Naturgesetz formuliert wird, dass sich die Grundbestandteile des Kosmos nicht selbst begrenzen dürfen: Ipsa modum porro sibi rerum summa parare / ne possit, natura tenet, quae corpus inani / et quod inane autem est finiri corpore cogit, / ut sic alternis infinita omnia reddat […] („Ferner hält die Natur das Verbot: Die Gesamtheit der Dinge darf sich nicht selbst die Schranken errichten; sie [sc. die Natur] lässt daher den Körper sich durch das Leere begrenzen

124

Ordnung und Anfang

Dieses aus dem Zusammenspiel von Materie und Raum resultierende, einfache Ordnungsverhältnis wird nun explizit als Unterscheidung bezeichnet. Der Unterschied zwischen Materie und leerer Raum liegt darin begründet, dass beide existieren. Es gibt nicht nur Materie oder nur Leere (nec plenum […] nec vacuum; 1,525f.), sondern beides; dies ist die Differenz, die Differenz schafft.60 Dass die Atome dabei eine zentrale Rolle spielen, hebt Lukrez abschließend hervor. Die Tatsache, dass das All aus Leere und Materie besteht, kann als Beleg für ihre Existenz gelten, ,machen‘ die Atome doch den Unterschied zwischen den beiden Raumformen.61 Das Aufeinandertreffen von Materie und leerem Raum, das aus epikureischer Perspektive per se vor einem geordneten Kosmos stattfindet, kann so die zentralen Mechanismen (vor) der Ordnung wie in einem Vergrößerungsglas zur Darstellung bringen. Die Bedeutung von Abgrenzungsbewegungen und Differenzen, die sich als Bedingungen für eine spätere Ordnung im Kosmos verstehen lassen, wird in den Versen 1,524–527 noch einmal ganz explizit gemacht. Dabei hat sich schon eine einfache Ordnung herausgebildet, nämlich die einer binären Differenz. Aus der Unähnlichkeit des Raumes und der Materie erwächst, gleichsam als Automatismus, die Notwendigkeit, diese Unähnlichkeit auch sichtbar zu machen. Hier setzt die Bedeutung von Grenzen ein. 3.4

Materie und Raum (II). Leere, Grenze und Didaxe

3.4.1

Nec refert quibus adsistas regionibus. Im (leeren) Raum

Auch am Schluss des ersten Buches steht die Frage nach Grenzen. Raum und Materie werden nicht mehr allein im Verhältnis zueinander beobachtet, es rücken vielmehr gerade die daraus resultierenden Konsequenzen für die Darstellung und Beschaffenheit des Kosmos, d.h. für eine atomare Ordnung, in den Blick. Wenn Lukrez die Unbegrenztheit von Materie und Raum so ausführlich darstellt, dann tut

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61

und das, was leer ist, wiederum durch den Körper; so sorgt sie für die wechselseitige Unendlichkeit von allem […]“). Luhmann 2009, S. 70–76, v.a. S. 74, legt dieses (scheinbare) Paradox einer doppelten Differenz ausgehend von George Spencer Browns Zeichen in den „Laws of Form“ (1969) dar: „[D]ie Unterscheidung [enthält] zwei Komponenten, nämlich die Unterscheidung selbst, den vertikalen Strich, und die Bezeichnung, den horizontalen Strich. Das Merkwürdige ist, dass die Unterscheidung eine Unterscheidung und eine Bezeichnung enthält, also Unterscheidung und Bezeichnung unterscheidet. Die Unterscheidung setzt […] immer schon eine Unterscheidung in der Unterscheidung voraus“. Zur Bedeutung und Prägung des Begriffs spatium bei Lukrez und Cicero vgl. zuletzt Lévy 2014, der die obige Passage jedoch nicht in seine Überlegungen einbezieht.

Materie und Raum (II). Leere, Grenze und Didaxe

125

er dies letztlich vor dem Hintergrund der Frage, wie eine Ordnung trotz der für das epikureische All konstitutiven Grenzenlosigkeit überhaupt möglich ist. Dieser Raum, in dem sich die Dinge befinden, wird als omne (vgl. τὸ πᾶν) bezeichnet62 und in seiner Grundeigenschaft, Grenzenlosigkeit, im Rückgriff auf ein Bild aus der menschlichen Erfahrungswelt anschaulich gemacht (1,958f.):63 Omne quod est igitur nulla regione viarum / finitumst („hiernach hat das All nach keiner Wegrichtung irgendwelche Begrenzung“).64 Unabhängig davon,

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64

Es herrscht kein Konsens, ob das omne als (leerer) Raum konzeptualisiert ist oder ob damit eine gänzlich neue Raumvorstellung eingeführt wird. Während Bailey 1947 das omne als All vom spatium unterscheidet (ad 958: „[The universe] must be carefully distinguished from omne quod est spatium“), argumentiert Brown 1984, S. 191: „,Spaceʻ is coextensive with the universe“. Obgleich auch mit inane jener Raum beschrieben wurde, in dem sich die Dinge befinden, beziehen Bailey 1947 und Brown 1984 den leeren Raum an dieser Stelle nicht in ihre konzeptuellen Überlegungen mit ein. Vgl. Schulz 1958, S. 41, der, blendet man die psychologisierenden Aspekte seiner Interpretation aus, richtig beschreibt: „[D]er Vers [illustriert] die lebendige, anschauliche Vorstellung, die Lukrez vom All, vom Weltenraum hat: er sagt nulla regione viarum; das All ist ihm so vertraut, daß er es sich gleichsam von Straßen durchzogen denkt; der Begriff ist auf keinen Fall abstrakt“. Auf die engen Verbindungen zu einer Passage aus Ep. Hdt. 41 weisen Bailey 1947 und Brown 1984 ad loc. hin. In ihrer unterschiedlichen Auffassung, wie omne hier zu verstehen sei – auf Atome und Raum (Bailey) bezogen oder nur räumlich gefasst (Brown) –, rückt erneut die bereits für andere Passagen in De Rerum Natura dargestellte Verwendung der gleichen Termini in unterschiedlichen konzeptuellen Verwendungskontexten in den Blick. Bailey orientiert sich eng an Ep. Hdt. 41: Ἀλλὰ μὴν καὶ τὸ πᾶν ἂπειρόν ἐστι („Weiterhin ist das All unbegrenzt“). Der bei Epikur direkt folgende Passus, den Bailey nicht mehr zitiert, dürfte als Ausgangspunkt für seine Verständnis des omne gedient haben: Καὶ μὴν καὶ τῷ πλήθει τῶν σωμάτων ἂπειρόν ἐστι τὸ πᾶν καὶ τῷ μεγέθει τοῦ κενοῦ („Ferner ist das Ganze hinsichtlich der Menge der Körper und hinsichtlich der Größe des leeren Raumes unbegrenzt“). Epikur macht hier explizit, dass sein Konzept des πᾶν sowohl auf die Atome als auch auf den leeren Raum bezogen ist. Eine solche vereindeutigende Definition fehlt jedoch in De Rerum Natura. Dieser Tatsache ist es wohl auch geschuldet, dass Bailey – trotz seiner Festlegung – immer wieder Erweiterungen bzw. Ausnahmen von seiner einmal getroffenen terminologischen Regelung anführen muss. Vgl. z.B. Bailey 1947 ad 958: „For the universe he also uses omne […] and omnia “; S. 763 zu den Versen 1,980–983: „The argument definitely concerns the infinity of the universe, but it carries with it the implication of the infinity of space“. Betrachtet man die entsprechende Passage in De Rerum Natura, so zeigt sich, dass die lukrezische Reproduktion mit einer stark ausgeprägten räumlichen Bezugnahme bzw. Wahrnehmung operiert: regio (1,958), via (1,958), finire (1,959), extremum (1,959), ultra (1,961), non longius sensus natura sequatur (1,962). An dieser Stelle ist die räumliche Bedeutung, für die auch Brown 1984, Schulz 1958, S. 41 und Clay 1983, S. 132f. argumentieren, nicht auszuschließen, zumal, wenn man die Möglichkeit in Betracht zieht, dass Lukrez die Passage aus Epikurs Herodot-Brief zwar als Orientierung, nicht

126

Ordnung und Anfang

welche Richtung man im All einschlägt, die Strecke, die man dabei zurücklegen würde, wäre unendlich. Wurde durch den leeren Raum in den Dingen Differenz und damit Unterscheidbarkeit generiert, so bringt die Grenzenlosigkeit des omne einen gegenteiligen Effekt mit sich – den der Indifferenz und Unterschiedslosigkeit (1,965–967): nec refert quibus adsistas regionibus eius; usque adeo, quem quisque locum possedit, in omnis tantundem partis infinitum omne relinquit.

965

Auch ist es einerlei, wohin du dich im Raum stellst; denn vor dem Ort, wo gerade sich jeder befindet, erstreckt sich überallhin gleichweit das unendliche All.

Das unendliche All besitzt kein Zentrum.65 Will man diese Unendlichkeit beschreiben, benötigt man jedoch – ähnlich wie bei der Vorstellung des von Straßen durchzogenen Raums – einen Punkt, von dem aus diese Grenzenlosigkeit als solche fassbar und damit beschreibbar werden kann. Erst durch einen Beobachter, der in diesen grenzenlosen Raum steht, wird der Raum zu einem perspektivierten Raum.66 Wenn der Beobachter nun von seinem festen Standpunkt aus den Raum wahrnimmt, kommt auch hier wieder das strukturelle Muster der Setzung zum Tragen: Die Grenzenlosigkeit des Raumes kann erst aus einer Begrenzung heraus, nämlich durch einen Beobachter und seine Perspektive fassbar werden.67 Mit Niklas Luhmann lässt sich diese Konstellation als eine Beobachtung erster und zweiter Ordnung bezeichnen. Lukrez beschreibt nämlich, was ein von ihm eingesetzter Beobachter beobachtet: Das All erstreckt sich unendlich weit. Eben diese Fokussierung ist wichtig, denn „[m]an muss ein Objekt spezifizieren, […] in Bezug auf das man nachvollziehen will, wie es, er oder sie die Welt sieht“.68 Durch diese Spezifizierung gelingt es Lukrez, die Unmöglichkeit einzuholen, vom Unendlichen zu sprechen, weil mit einer Beobachtung zweiter Ordnung

65 66

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jedoch als Vorgabe genutzt haben könnte. Vgl. hierzu Clay 1983, S. 137f., und Sedley 1998, S. 197. Darauf verweist mit Blick auf die politischen Implikationen auch Kennedy 2013b, S. 57. Vgl. hierzu eine ähnliche Passage im zweiten Buch (2,1048–1051), wo die Verortung mit noch größerer Genauigkeit vorgenommen ist: Principio nobis in cunctas undique partis / et latere ex utroque ˂supra˃ subterque per omne / nulla est finis; uti docui, res ipsaque per se / vociferatur, et elucet natura profundi („Erstens gibt es für uns nach allen beliebigen Seiten weder nach rechts noch nach links noch nach oben hin oder nach unten irgendein Ende; so habe ich es gelehrt, auch die Sache selbst verkündet es laut von sich aus, und das Wesen des Unendlichen leuchtet klar hervor“). Möller 2015 untersucht eine weitere Beobachterszene in De Rerum Natura: Den Schiffbruch zu Beginn des zweiten Buches. Auch in dort spielt der Konstruktcharakter der Beobachterposition eine zentrale Rolle. Luhmann 2009, S. 156.

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Materie und Raum (II). Leere, Grenze und Didaxe

auch eine „scharfe Reduktion von Komplexität“69 einhergeht. Indem das grenzenlose All ausgehend von einem Beobachter beschrieben wird, lässt sich die übrige Grenzenlosigkeit ausblenden. Durch diese Dekomplexisierung, so Luhmann, „gewinnen wir die Welt […] gleichsam wieder“.70 Besonders hervorzuheben ist dabei, dass der Kontrast, der durch das Zusammenspiel eines Zentrums, d.h. eines fest definierten Beobachters erster Ordnung, und dem Indefiniten erzeugt wird, genau genommen nur ein scheinbarer Kontrast ist. Die Beobachterperspektive kann als flexibles Zentrum an jeder beliebigen Stelle im All eingenommen werden und ist damit in ihren möglichen Positionen ebenfalls unbegrenzt (nec refert quibus adsistas regionibus eius; ‒ „auch ist es einerlei, wohin du dich im Raum stellst“; 1,965). Die definitorische Ordnung des Raumes, die durch die Positionierung möglich ist, wird somit durch dessen Grenzenlosigkeit relativiert. Die Formulierungen nec refert quibus (1,965) und tantundem (1,967) markieren die Hinfälligkeit von Unterscheidungsmöglichkeiten. Der zentrale Unterschied zwischen den beiden Raumkonzepten, dem Leeren in den Dingen und dem (leeren) Raum, in dem sich die Dinge befinden, besteht also in ihrem jeweiligen Verhältnis zu Grenzen. Während für ersteres Begrenzung und Differenz konstitutiv sind, sind es für letzteres Grenzenlosigkeit und Indifferenz: Dem All fehlt ein Anderes, das es begrenzt. An den Schluss dieses argumentativen Passus setzt Lukrez daher noch einmal eine pointierte Veranschaulichung (1,984–98771): postremo ante oculos res rem finire videtur; aer dissaepit collis atque aera montes, terra mare et contra mare terras terminat omnis; omne quidem vero nil est quod finiat extra.

985

Zuletzt: Es liegt doch vor Augen, wie ein Ding von einem anderen begrenzt wird; Luft trennt die Hügel, Berge wiederum trennen den Luftraum, Land begrenzt das Meer, und das Meer begrenzt wieder das Land in seiner Gänze; aber das Weltall freilich, da gibt es nichts, was es außen begrenzte.

Die Bezugnahme auf konkret erfassbare Gegebenheiten der irdischen Welt ist hier jedoch, wie der abschließende Vers zeigt, aus einer rein strukturellen Perspektive zu verstehen: Die Luft umgrenzt (dissaepit; 1,986) die Berge, da sie nicht Berg ist, Erde und Meer begrenzen sich ebenso (terminat; 1,987), weil das eine nicht das andere ist. Dieser Unterschied ist für das omne nicht gegeben: Es gibt nichts, was 69 70 71

Luhmann 2009, S. 156. Luhmann 2009, S. 156. In seiner Neuüberarbeitung des Texts (1947) nimmt Bailey, abweichend von seiner editio altera aus dem Jahr 1922, eine Umstellung der Verse 1,984–1001 vor, die er mit der inhaltlichen Argumentationsfolge begründet (Bailey 1947, S. 764; vgl. dort auch für eine ausführliche Diskussion der Varianten in anderen Ausgaben). Ich folge an dieser Stelle der Ausgabe von 1922.

128

Ordnung und Anfang

es von außen begrenzen würde (vgl. 1,961 und 1,963) oder zu dem es als Opposition stehen könnte, weil es nichts außer dem All gibt.72 Auch in dieser differenzlosen Einheit des omne liegt ein Bezug zur Ordnung der Dinge, ist es doch der grenzenlose Raum des Alls, der die unentwegte Bewegung der Atome und damit auch deren Verbindungen ermöglicht: „If therefore the universe (= space) were finite the atoms would all collect in a mass at the bottom and there could be no formation of things or worlds. As it is they are constantly moving in every direction and by their collisions and unions form things.“73

Darin wird nun auch der Konvergenzpunkt der beiden gegensätzlichen Raumkonzepte (strikte Begrenzung vs. konstitutive Grenzenlosigkeit) sichtbar, denn wie der unermessliche Raum des Alls bildet auch das inane in den Dingen die Voraussetzung dafür, dass die Dinge sich bewegen und Ordnungen bilden können. 3.4.2

Dispellere und suppeditare. Die Unendlichkeit der Materie

3.4.2.1 Exiguum horai sistere tempus. Ordnung auf Zeit In seiner Darstellung der Eigenschaften von Materie kommt Lukrez am Ende des ersten Buches noch auf einen wichtigen Aspekt zu sprechen: Da der Vorrat an Atomen unbegrenzt ist, gibt es keine Möglichkeit für eine vollständige Vernichtung der Dinge und ein steter Nachschub an Materie ist gewährleistet. Da diese Bestimmung ganz wesentlich mit dem Bau der Dinge, d.h. mit dem Zusammenschluss von Atomen zusammenhängt, finden sich in diesem Kontext auch präzisere Aussagen über die Beschaffenheit solcher Ordnungen. Während die Darstellung der Unendlichkeit des Raumes Rückschlüsse auf die Entstehungsbedingungen von Ordnung zuließ – erst wenn die Materie in Bewegung gesetzt ist, besteht die Möglichkeit, dass sich die einzelnen Atome im Raum zusammenfinden –, stehen nun die Prozesse und Zustände im Zentrum, in denen die Materie tatsächlich geordnet wird bzw. geordnet ist. Die Beschreibung oszilliert dabei zwischen Passagen, die auf konkrete Gebilde der Welt, wie Erde oder Himmel Bezug nehmen, und solchen, die die atomare Ebene in den Fokus rücken.74 72

73 74

Auch in Ep. Hdt 41 werden diese fehlenden Relationierungsmöglichkeiten des Kosmos thematisiert: ἀλλὰ μὴν τὸ πᾶν οὐ παρ’ ἕτερόν τι θεωρεῖται („Das Ganze ist aber nicht neben einem anderen Ganzen vorstellbar“). Entgegen Marcovich folge ich daher Useners Ergänzung an dieser Stelle. Bailey 1947, S. 768; vgl. dort S. 769 für die Verbindung zum clinamen. Zu einer detaillierten Diskussion der möglichen Gliederung und Argumentationsstruktur vgl. Bailey 1947, S. 773 und Brown 1984, S. 199–200.

129

Materie und Raum (II). Leere, Grenze und Didaxe

Der folgende Abschnitt imaginiert ein Szenario, in dem die Materie endlich ist. Zunächst werden die Konsequenzen beschrieben, die diese Beschränkung für die (sichtbare) Welt hätte, dann wechselt der Blick auf die Ebene der Atome und es wird ausgehend davon erklärt (und erklärbar), was zuvor nur konstatiert werden konnte (1,1014–1020): […] nec mare nec tellus neque caeli lucida templa nec mortale genus nec divum corpora sancta exiguum possent horai sistere tempus. nam dispulsa suo de coetu materiai copia ferretur magnum per inane soluta, sive adeo potius numquam concreta creasset ullam rem, quoniam cogi disiecta nequisset.

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[…] Dann würden nicht Meer, nicht Land, auch nicht das leuchtende Himmelsgewölbe, weder das Menschengeschlecht noch die heiligen Leiber der Götter auch nur ein winziges Weilchen ihr Leben zu fristen vermögen; denn herausgeschleudert aus dem eigenen Verbund würde sich die Masse des Stoffs aufgelöst im unendlichen Raum zerstreuen, oder vielmehr hätte sie in sich zusammengewachsen niemals etwas erschaffen, da sie, überall verstreut, sich nicht hätte zusammensammeln können.

Gäbe es nicht einen unendlichen Vorrat an Materie, der den steten Abfluss von Atomen ersetzen könnte, bestünden so zentrale Bestandteile der Welt wie Meer, Erde, Himmel, Menschen (und Götter75) nur für einen verschwindend geringen Zeitraum (exiguum horai; 1,1016). Ausgehend von den Vorgängen auf der atomaren Ebene erklärt sich dieses Verschwinden mit der Auflösung der Atomverbünde. Auch wenn in diesem Zusammenhang die Auflösung einer Ordnung veranschaulicht und erklärt wird und nicht deren Entstehung, lässt sich doch Aufschluss über deren Beschaffenheit und die Weise, in der diese sprachlich dargestellt wird, gewinnen. Ob eine ,Noch-nicht-Ordnung‘ oder eine ,Nicht-mehr-Ordnung‘: Beide können Aufschluss über den Prozess und den Gegenstand des Ordnens geben. Lukrez zeichnet für die sich als nicht zutreffend erweisende Annahme einer endlichen Menge von Materie zwei mögliche Folgen: Die Dinge würden zerstört oder vielmehr erst gar nicht entstehen.76 Die (nicht) entstandenen Atomordnungen werden dabei als coetus, d.h. als Resultat einer vorangegangenen Bewegung 75

76

Auch die Götter sind somit als atomare Verbünde gedacht. Vgl. hierzu auch Bailey 1947 ad loc. Auf die enge Verbindung zu Ep. Hdt. 42 verweist Bailey 1947, S. 773. Epikur betrachtet insbesondere die Unmöglichkeit von Zusammenschlüssen und der daraus resultierenden ungehemmten Bewegung Atome. Abgesehen von der Bezeichnung der Atome als σώματα διεσπαρμένα („zerstreute Körper“) finden sich dort jedoch keine Rückschlüsse auf bestehende Ordnungen.

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Ordnung und Anfang

des Zusammengehens, und als (copia) concreta bezeichnet. In beiden Beschreibungen verschränkt Lukrez die Darstellungsebene der Atome mit einer metaphorischen Sprachebene und blendet auf diese Weise den Bereich des unbelebt-mechanischen und des belebt-physiologischen ineinander. Ähnlich verhält es sich mit der zweiten von Lukrez angeführten Möglichkeit (1,1019–1020): Wenn sich im unendlichen Raum nur eine begrenzte Menge von Atomen befindet, sind Zusammenschlüsse unmöglich. Auch über deren Nichtvorhandensein lässt sich aber nur sprechen, indem man das Vorhandene verneint: numquam concreta creasset / ullam rem („vielmehr hätte sie in sich zusammengewachsen niemals etwas erschaffen“; 1,1019). Durch das Partizip concreta und das Prädikat creasset werden an dieser Stelle die Ebenen von Unbelebtem und Belebtem verbunden. Zugleich kann, wenn von der „zusammengewachsenen Masse“ (copia concreta) die Rede ist, die etwas hervorbringt, Aufschluss über die Bedingungen für diese Hervorbringungen gewonnen werden.77 Denn nur wenn die Atome sich so eng und fest verbunden haben, dass man sie als miteinander verwachsen bezeichnen könnte – so legt es auch der Wortursprung von concrescere nahe –, kann daraus ein Ding entstehen. Auch über die gegenteilige Bewegung, d.h. die Auflösung einer bestehenden Zusammenfügung, gibt die vorliegende Passage Aufschluss. Durch Einwirkung von außen kann der Zustand der verbundenen Masse in sein Gegenteil verkehrt werden. Was wesentlich durch den Aspekt des Zusammenseins bestimmt war (vgl. coetus, concreta), ist dann durch Trennung gekennzeichnet (vgl. dispulsa; disiecta), wobei Lukrez die getrennten Verbindungen als Auflösungen ins Bild setzt (copia soluta). Die Metapher des Webens, auf die Lukrez an vielen Stellen in De Rerum Natura zurückgreift, wird also nicht nur für den Prozess der Schaffung von Verbindungen gebraucht, sondern auch für den Prozess der Auflösung.78 3.4.2.2 Sagaci mente locare. Ein Sinn für Ordnung? Im Passus über die Unendlichkeit der Materie lassen sich die atomaren Ordnungsprinzipien nicht nur implizit nachzeichnen. Auch explizit, als ordo, rückt Lukrez dort die Ordnung der Atome in den Fokus. Ausgangspunkt hierfür bildet die Frage, ob die Dinge planvoll entstehen und ob die atomaren Zusammensetzungen demzufolge einem teleologischen Muster folgen. In diesem Fall, so die zu widerlegende Konsequenz, wäre auch die Anzahl der Atome genau bestimmt und somit beschränkt: „[I]f the world had been created by design, even so to speak by the internal design of the atoms without extraneous supernatural force, it might have been constructed with a limited

77 78

Vgl. ähnlich Bailey 1947 ad loc.: „[C]oncreta, the necessary preliminary to creation“. Vgl. Snyder 1983, S. 40.

Materie und Raum (II). Leere, Grenze und Didaxe

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number of atoms“.79 Lukrez führt zwei Möglichkeiten an, wie eine solche teleologische Ordnung aussehen könnte (1,1021–1023):80 nam certe neque consilio primordia rerum ordine se suo quaeque sagaci mente locarunt nec quos quaeque ˂darent motus pepigere profecto˃81 […]. Denn nicht planvoll haben sich die Urelemente der Dinge, jedes seiner Ordnung gemäß, mit Spürsinn zusammengefunden oder durch einen Vertrag vereinbart, welche Bewegungen ein jedes beginnen soll […].

In diesen Versen erweitert Lukrez die Bildebene der biologischen Metaphorik, wenn er den Atomen nicht nur Merkmale eines lebendigen Organismus, sondern menschliche Eigenschaften und Handlungsweisen zuschreibt. Die Entstehung von atomaren Ordnungen ist demnach nicht darauf zurückzuführen, dass sich die Atome planvoll (consilio) zusammenfinden und dabei einen Instinkt oder Trieb zur Ordnung an den Tag legen. Der Spürsinn (sagax mens)82 kann zum einen eine intrinsische Motivation beschreiben,83 zum anderen aber – und dies legt das Adverb consilio nahe – eine geistige Anlage, die wesentlich auf der Fähigkeit des planvollen und scharfsichtigen Denkens beruht. Eben diese Eigenschaft besitzen die Atome gemäß der epikureischen Auffassung nicht. Es ist bemerkt worden, dass Lukrez die Unmöglichkeit des von ihm gezeichneten Szenarios nicht argumentativ darlegt, sondern allein durch die unmittelbare Anschaulichkeit seiner Bilder erwirkt.84 Umso mehr zeigt dies die Bedeutung der bildhaften Eindrücklichkeit für De Rerum Natura, weil die Metaphern an dieser Stelle einer negativen Veranschaulichung dienen: Lukrez macht einen Sachver-

79 80

81

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83 84

Bailey 1947, S. 774. Brown 1984 ad 2021–1028 bemerkt richtig, dass es sich dabei nicht um die Darstellung spezifischer Lehrmeinungen, wie z.B. der stoischen πρόνοια, handelt, die es zu widerlegen gilt, sondern um eine generelle Absage an teleologische Schöpfungsmodelle. Marullus’ Konjektur lässt sich plausibel begründen. Die Verbesserung ist dem in den Handschriften überlieferten sagaci mente locarunt mit Blick auf die parallele Stelle in 5,421 (nec quos quaeque darent motus pepigere profecto) klar vorzuziehen und mit Bailey 1947 ad loc zu begründen: „[P]erhaps the scribe’s eye slipped from one quaeque to the other“. Butterfield 2016, S. 35 führt weitere Beispiele zur Plausibilisierung an. In De Rerum Natura wird das Adjektiv sagax nur als Attribut zu den Substantiven animus (1,50; 1,402; 2,840; 4,909), ratio (1,130; 1,368) oder mens (1,1022 = 5,520) verwendet und beschreibt die auf die natura rerum gerichtete Rezeptionspraxis bzw. den Modus der darauf gerichteten Erforschung durch ein Gegenüber. Cabisius 1985, S. 111 spricht von den „social instincts“ der Atome. Brown 1984 ad 2021: „L[ucretius] offers no argument but presents the absurdity of the rival view as self-evident“.

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halt sichtbar, den es so auf der an sich unsichtbaren Ebene der Atome nicht geben kann, bewirkt aber dennoch, dass dieser anschaulich wird. Doch nicht nur die Formen der atomaren Zusammensetzung sind nicht determiniert. Der zweite Aspekt, den Lukrez genauer ausführt, bezieht sich auf die Bewegungen der Atome, die für die Entstehung von Verbindungen ebenfalls eine zentrale Rolle spielen. In Fortführung der Anthropomorphisierung wird den Atomen eine koordinierte Bewegung abgesprochen. Durch das Verb pangere (pepigere), das eine formelle, vertragliche Vereinbarung bezeichnen kann,85 werden die Atome als Individuen dargestellt, deren Bewegungen nicht willkürlich, sondern mit den anderen Atomen abgestimmt sind. Auch die in diesem Bild vermittelte Verhaltensweise steht in Kontrast zur lukrezischen Lehre, denn das clinamen, das durch seine spontane Abweichungsbewegung die strenge Ordnung der regelmäßig fallenden Atome durchbricht und damit die Möglichkeit für Verbindungen schafft, ist keine koordinierte oder abgestimmte Bewegung. Trotz der eindrücklichen, negativen Veranschaulichungen wird ein zentraler Punkt in diesem Passus nicht negiert. Unbenommen bleibt, dass die Zusammensetzungen der Atome eine Ordnung (ordo) bilden. Die Negation neque […] nec verneint jeweils die Aussage, dass die beschriebenen Ordnungsprozesse planvoll ablaufen, nicht aber die Junktur, die die Ordnung selbst beschreibt (ordine suo […] locarunt; 1,1022). Dies verdeutlichen auch die folgenden Verse (1,1024–1027): sed quia multa modis multis mutata per omne ex infinito vexantur percita plagis, omne genus motus et coetus experiundo tandem deveniunt in talis disposituras […].

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[...] Aber da viele von ihnen auf vielerlei Weise sich verändernd seit unendlicher Zeit im All geplagt werden, durch Schläge aufgepeitscht, kommen sie, allerlei Art der Bewegung und Bindung versuchend, endlich auch in solche Ordnungsgefüge […].86

Wie das einleitende sed quia markiert, wird die Ablehnung des zuvor beschriebenen Szenarios der planvoll handelnden Atome nun begründet. Zugleich bleibt durch diese Verbindung aber auch präsent, dass weiterhin die Frage im Zentrum steht, wie eine atomare Ordnung entstehen kann. Denn wie die Ordnungsprozesse tatsächlich ablaufen, wurde bis zu diesen Punkt lediglich ex negativo fassbar. Im Zuge seiner Gegendarstellung beschreibt Lukrez die Zusammenfügungen der Atome nun als

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86

Vgl. zur Bedeutung TLL 10/1,205,82–84 s.v. pango: „[S]pectat ad iura, foedera […] constituenda; fere per conventionem sim. inter duos vel plures factam“. Zur Verwendung juristischer Terminologie und juristischer Konzepte in De Rerum Natura vgl. Schiesaro 2007a. Diese Übersetzung von dispositura stammt von Büchner (1956) 2008.

Materie und Raum (II). Leere, Grenze und Didaxe

133

Ordnungsgefüge (dispositura), d.h. als statisches Gefüge, zu dem sich die Atome am (vorläufigen) Ende eines Prozesses zusammenfinden (tandem deveniunt). Als Grundbewegungen einer Ordnung ließen sich bislang einfache Formen des Zusammenschlusses (con- …) bestimmen. Diese Minimaldefinition kann aber durch den Begriff der dispositura weiter ausdifferenziert werden, denn wie die Verwendung des verwandten und insbesondere für die Rhetorik zentralen Begriffs dispositio87 verdeutlichen kann, geht es bei der Tätigkeit des Anordnens nicht nur um eine reine Zusammenfügung, sondern um eine relationale, d.h. differenzierte Verbindung von Elementen. Für die atomaren Verbindungen ist also auch von Bedeutung, wie sich die einzelnen Teilchen an verschiedenen Stellen zueinander anordnen. Neben der statischen Form von Ordnung werden in diesen Versen aber auch die dynamischen Aspekte des Ordnens weiter beschrieben. Bevor nämlich der Zustand einer Anordnung (dispositura) erreicht ist, bewegen sich die primordia rerum durch Zusammenstöße und verändern dadurch ihre bisherige Stellung zueinander (mutata; 1,1024; vexantur; 1,1025; percita plagis; 1,1025). Die Stöße, denen die Atome ausgesetzt sind, und die den ungerichteten und immerwährenden Anstoß zur Bewegung geben, resultieren aus atomaren Kollisionen. Diese Zirkularität – Atombewegung entspringt aus Atombewegung – verweist auf die Frage nach dem genauen Ursprung der Bewegung. Das clinamen bleibt an dieser Stelle jedoch noch ausgeblendet. Die Ersetzungs- oder Vertauschungsbewegung (vgl. 1,1024), die neben der Impulsbewegung an dieser Stelle genannt ist, fügt der Beschreibung der atomaren Relationen noch einen anderen Aspekt hinzu.88 Da die Form der Atome selbst unveränderlich ist, können durch die Zusammenstöße lediglich Veränderungen eintreten, die die Relation zu anderen Atomen betreffen. Dass dies von ordnungstheoretischer Relevanz ist, kann auch ein Blick auf die Buchstabenanalogien verdeutlichen. Dort werden die Veränderungen auf der Ebene der Buchstaben als Vertauschungen beschrieben (tantum elementa queunt permutato ordine solo – „solches vermögen die Buchstaben allein durch die Veränderung ihrer Anordnung“; 1,827), denen eine weitaus größere Varianz auf der Ebene der Atome gegenübersteht (1,814–816): multa modis communia multis / multarum rerum in rebus primordia mixta / sunt („viele Ursprungselemente, die auf vielerlei Weise vielen Dinge gemeinsam sind, sind in den Dingen vermischt“). Darauf verweist Lukrez auch, wenn er die Vielfalt der Ordnungsmöglichkeiten, denen die unendliche Anzahl von Atomen im All unterworfen ist, mit einer ähnlichen, durch die Alliteration hervorgehobenen Junktur beschreibt (multa modis multis mutata; 1,1024). 87

88

Zur lukrezischen Form der dispositura vgl. Bailey 1947 und Brown 1984 ad loc. Der weitaus gebräuchlichere Terminus dispositio wurde von Lukrez demnach aus metrischen Gründen durch dispositura ersetzt. Munro (1886) 1978 ad loc. betont, dass es sich dabei nur um eine Veränderung hinsichtlich der Position handeln kann.

134

Ordnung und Anfang

Die bislang freigelegten Ordnungsmechanismen, die sich auch als ,Kurzbiographie‘ eines Dings lesen lassen, erhalten aber noch ein interessantes Komplement, denn dem Prozess, den die Atome vom chaotischen Herumschwirren bis zu ihrer Ordnung durchlaufen, wird Versuchscharakter zugeschrieben: omne genus motus et coetus experiundo / tandem deveniunt […] („allerlei Art der Bewegung und Bindung versuchend, kommen sie endlich auch zu solchen Ordnungsgefügen […]“; 1,1026f.). Die Ursprungsteilchen kommen also dadurch in ein Ordnungsgefüge, dass sie gänzlich verschiedene Bewegungen (motus) und Verbindungen (coetus) erproben. Unter argumentativen Gesichtspunkten fungiert diese Stelle als Beleg dafür, dass die Materie im lukrezischen All tatsächlich unbegrenzt ist. Andernfalls wäre die Anzahl der verfügbaren Atome durch die fehlgeschlagenen Versuche irgendwann aufgebraucht und die Entstehung von Anordnungen ab einem gegebenen Zeitpunkt unmöglich.89 Unter Gesichtspunkten, die die ordnungstheoretischen Implikationen betreffen, ermöglicht es die Rede vom Versuchen (experiri), die atomaren Ordnungsprozesse und ihre Darstellungsweise noch präziser zu erfassen. Zwei Aspekte sind dabei von besonderer Relevanz: Die Darstellung der Versuchsobjekte und des Versuchs selbst. Auch an dieser Stelle werden die primordia somit als aktive Bestandteile einer jeden Ordnung personifiziert. Anders als die Bilder der zuvor eröffneten Szenarien, in denen die Atome über Spürsinn (sagax mens; 1,1022) und die Fähigkeit zur Abstimmung untereinander verfügen (pangere; 1,1023), eröffnet die Beschreibung des Versuchscharakters eine andere Bildebene. In der Kommentarliteratur zum Lemma experiundo lässt sich, als Indikator dieser Veränderung, eine gewisse Uneinigkeit über den Status des Bildes konstatieren. Während Bailey ihm den Status einer Personifikation abspricht,90 sieht Brown darin eine Fortführung der in diesem Passus vorliegenden Metaphorik.91 Was die beiden Passagen unterscheidet, ist der Grad und die Art der Übertragbarkeit der Bilder. Die Atome, die eine mens besitzen und rechtliche Abmachungen treffen, sind Personifikationen, weil sie sich wie Menschen verhalten. Im Fall der experimentierenden Atome ist die Identifizierung der Bildebene nicht ganz so eindeutig, lässt sich experiri doch sowohl als Metapher verstehen, d.h. als Versuch im Sinne eines Ergebnisses, dem mehrere Anläufe vorausgehen, als auch – allerdings weniger plausibel – als fortgeführte Personifikation. In diesem Unterschied im Bildgebrauch liegt daher auch eine implizite Verstärkung der einander gegenüber gestellten Ordnungsszenarien: Dadurch, dass die zu widerlegende Ansicht auf der Personifizierung der Atome beruht, wird klar, dass dies nicht der epikureischen Wirklichkeit entsprechen kann, sind die Atome doch gänzlich unbelebt. 89

90 91

Vgl. Brown 1984, S. 200: „[W]orlds like ours are […] the product of a long series of accidents, whose success, it is implied, demands an infinite number of atoms available for ,experiment‘“; ähnlich Bailey 1947, S. 774: „[T]here must have been infinite atoms to enable all these previous futile ,experiments‘ to take place“. Bailey 1947 ad loc.: „[A]lmost involving a personification of the atoms“. Brown 1984 ad loc.: „L[ucretius] persists in personifying them [sc.the atoms]“.

Materie und Raum (II). Leere, Grenze und Didaxe

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Durch eine Metapher hingegen lassen sich die Atome über ein gemeinsames tertium darstellen, als ob sie belebt wären, da sie über ähnliche Eigenschaften und Verhaltensweisen verfügen. Die Dinge entstehen nicht aus beliebigen Ordnungen und beliebigen Bewegungen. Es gibt vielmehr passende Bewegungen und Verbindungen (motus convenientis; 1,1030), die aber wiederum erst durch die Erprobung anderer Bewegungen und Zusammenschlüsse hervortreten können. Darin besteht der Versuchscharakter der Ordnung. Der Vorwurf eines unterschwelligen Determinismus, wie er in der Vorstellung passender Bewegungen angelegt zu sein scheint, kann aber dadurch entkräftet werden, dass die Atome hierbei als agens fungieren und gewissermaßen verschiedene Zusammensetzungen austesten. Diese Erprobung ist nicht auf die die Genese eines bestimmten Dings hin ausgerichtet. Der beschriebene Experimentalcharakter verdeutlicht also, dass auf Basis der spezifischen Eigenschaften eines Atoms (Form, Gewicht, Bewegung) Verbindungen zu anderen Atomen geschaffen werden können, die wiederum aufgrund ihrer Eigenschaften kompatibel dazu sind. Dadurch stellt sich die Ordnung der Atome als Prozess dar, der weder vollkommen kontingent noch streng determiniert ist. Nachdem er deren Entstehungsmodi dargestellt hat, rückt Lukrez die genauere Beschaffenheit einer Ordnung in den Mittelpunkt. Nun geht es somit nicht mehr um Ordnung als Prozess, sondern um Ordnung als Zustand (1,1027–1031): […] tandem deveniunt in talis disposituras, qualibus haec rerum consistit summa creata, et multos etiam magnos servata per annos ut semel in motus coniectast convenientis, efficit ut […].

1030

Sie kommen endlich auch in solche Ordnungsgefüge, wie sie unser bestehendes All zu seiner Entstehung bedurfte, und nachdem es einmal in rechte Bewegung geraten war, hielt es sich auch im Gang unzählige Weltperioden, und sorgte dafür, dass […].

Von der Ebene der atomaren Ordnung erfolgt hier der Übergang zur Ebene der bzw. einer Welt, die in ihrer Gesamtheit aus der Ordnung der Atome entstanden ist (summa rerum creata). Die (temporäre) Beständigkeit dieser Ordnung, die durch das Prädikat constitit92 und durch die Bezeichnung als dispositura ins Bild gesetzt ist, steht damit im Gegensatz zu dem in 1,1016 beschriebenen „impressive edifice“93 von Himmel, Erde und Göttern, die, gäbe es keine internen Begrenzungen der Dinge, allesamt nur über einen kurzen Zeitraum bestünden (exi-

92

93

Vgl. Brown 1984 ad loc.: „The word serves as a transition from creation to preservation“. Brown 1984 ad loc.

136

Ordnung und Anfang

guum possent horai sistere tempus ‒ „nur ein winziges Weilchen vermögen sie das Leben zu fristen“; 1,1016). Der Ordnung der Atome kommt somit in zweierlei Hinsicht eine zentrale Rolle zu: Zum einen ermöglicht nämlich erst sie es, das All, die summa rerum, zu erzeugen. Ordnung ist gewissermaßen die Voraussetzung und Technik für die Entstehung aller Dinge. Zum anderen bildet Ordnung auch die Voraussetzung dafür, dass diese Dinge über einen gewissen Zeitraum hinweg Bestand haben. Nur wenn die einmal gebildete Ordnung ,in Ordnung‘ bleibt, ist sie von Dauer. Diese Bedingung kommt insbesondere in Vers 1,1029f. zum Ausdruck: Wenn die Materie in passende Bewegung zusammengekommen ist (ut semel in motus coniectast convenientis) – im Verb coniectast scheint noch der Aspekt des Ungeordneten auf –, geht damit eine Dauerhaftigkeit einher, deren Zeitspanne sich immerhin auf unzählige Jahre (multos magnos annos; 1,1029) beziffern lässt. Die Beständigkeit der geordneten Welt beruht also ganz wesentlich auf einer bestimmten Form von Bewegung. Wie Bailey bemerkt, kann diese Bewegung als ,harmonisch‘ im grundlegenden Sinne charakterisiert werden, d.h. als synchrone Bewegung der Atome in einer bestimmten Verbindung: „[A]toms which are to remain in a compound body must not only be of the right size and shape but must also be able to consociare motus“.94 Es geht also nicht um eine spezifisch passende, vorausgesetzte Bewegung der Atome, die allein Ordnung ermöglicht,95 sondern darum, dass die Atome in ihren (gleichwohl unterschiedlichen) Bewegungen einen Zustand herstellen, der die Ordnung erhält. Ihre gemeinsamen Bewegungen sind nicht destruktiv, sondern, im Wortsinne, konstruktiv und konservativ. Lukrez konkretisiert diesen Befund im Anschluss noch weiter, indem er den Blick auf die äußere Erscheinung der Dinge lenkt: Die unsichtbaren Vorgänge auf der Ebene der Atome bewirken, dass die sichtbaren Dinge nicht verschwinden, sondern weiter bestehen (1,1032–1034). Die auf diesen Passus folgenden Verse wechseln noch einmal die Beobachtungsebene und illustrieren die unendliche Anzahl der Atome im All, die die Beständigkeit der Welt mit Blick auf die Atome erklären. Für die Beschreibung von Ordnung ist aber dieses argumentative telos weniger zentral; weiterführend ist vielmehr eine terminologische Verschiebung. Während in den Versen 1,1032–1034 die Beständigkeit von Meer, Erde, Leben und Feuer als geradezu vitalistische (floreat; vivant; 1,1034) Erneu-

94 95

Vgl. Bailey 1947 ad loc. mit Bezug auf ἁρμονία („Verbindung“). Cabisius 1985, S. 111 nimmt zwar keine genauere Bestimmung der Verbs convenire vor, ihre Interpretation legt jedoch nahe, dass sie den Aspekt der harmonia im uneigentlichen Sinne zugrunde legt: „The atoms are spoken of as possessing social instincts and having a natural tendency to form social relationships. Their movements (motus) must be convenientes“. Da jedoch, wie Bailey 1947 ad loc. hervorhebt, in De Rerum Natura metaphorisches Sprechen immer auch auf seinen eigentlichen Kern hin mitbedacht werden muss, kann Cabisius’ Interpretation eine weitere, wohl kopräsente Seite des Verbs convenire akzentuieren.

137

Schluss: Den Anfang machen

erung bzw. Wiederherstellung bezeichnet wird, stellen sich diese Vorgänge auf der atomaren Ebene anders dar (1,1035–1041): quod nullo facerent pacto, nisi materiai ex infinito suboriri copia posset, unde amissa solent reparare in tempore quaeque. nam vel uti privata cibo natura animantum diffluit amittens corpus, sic omnia debent dissolui simul ac defecit suppeditare materies aliqua ratione aversa viai.

1035

1040

All dies wäre nicht möglich, wenn nicht die Fülle des Urstoffs aus dem unendlichen Raum beständig sich erheben könnte, um die erlittenen Verluste zur richtigen Zeit zu ersetzen. Denn wie die Natur der beseelten Geschöpfe, ist sie der Speise beraubt, dahinschwindet und den Körper verliert, so muss auch alles übrige sich auflösen, sobald der Stoffvorrat zuneige geht, weil ihn irgendein Hemmnis vom richtigen Weg abgebracht hat.

Während in suboriri noch der Aspekt eines nicht genauer zu verortenden Entstehens vorhanden ist, wird durch die anderen zur Beschreibung verwendeten Verben (amissa solent reparare; 1,1037; suppeditare; 1,1040) die Beständigkeit der Welt auf fortwährende ,Reparaturen‘ durch die Atome zurückgeführt.96 Der Kosmos sichert sein Bestehen also durch die ihm eigenen Bestandteile.97 3.5

Schluss: Den Anfang machen

Die Frage nach der Ordnung wurde in diesem Kapitel unter zwei Gesichtspunkten untersucht. Zunächst stand die Frage nach dem ,Davor‘ im Zentrum. Nach der Ordnung (in) der rerum natura zu fragen, so wurde deutlich, ist nicht mög96

97

Den Bezug zur Technik stellen dezidiert auch Bailey 1947 und Brown 1984 her, jedoch ohne daraus weitere Folgerungen für die Ordnungskonzeption von De Rerum Natura zu ziehen; vgl. z.B. Bailey 1947, S. 779: „[I]t is the infinite supply of atoms which preserves a world […] by making it possible to repair what is lost by the efflux of component atoms“; Brown 1984 ad 1030 spricht von „a technical reason for its [sc. the atoms] initial ability to hold together“. In Ansätzen lässt sich dieses Prinzip der Selbsterhaltung des lukrezischen Kosmos als autopoietisches Verfahren im Sinne Niklas Luhmanns beschreiben. Luhmann 2009, S. 100f. unterscheidet zwischen Selbstorganisation und Autopoiesis: „Wir haben es mit zwei Sachverhalten zu tun: erstens mit ,Selbstorganisation‘ im Sinne der Erzeugung einer Struktur durch eigenen [sic] Operationen und zweitens mit ,Autopoiesis‘ im Sinne einer Determination des Zustandes, von dem aus weitere Operationen möglich sind, durch die Operationen desselben Systems“. Ähnlich wie bei Luhmann ein kommunikatives System durch Kommunikation besteht, erhält sich das ,kosmische System‘ bei Lukrez durch Ordnung.

138

Ordnung und Anfang

lich, ohne dabei genau in den Blick zu nehmen, welche Parameter diese Ordnung beeinflussen. Der Anfang des ersten Buches stellte sich dabei nicht als kohärentes Ganzes im Sinne einer Erzählung dar; mit der Darstellung der Grundaxiome und der beiden Grundelemente des epikureischen Kosmos – Materie und Raum – zeigte sich dieser Teil vielmehr als in einzelne, voneinander gänzlich unabhängige Sequenzen aufgeteiltes Gebilde, das vorführt, wie der Opposition zwischen der Linearität der Sprache und der Zeit- und Raumkonzeption des Epikureismus beizukommen ist. In diesem Teil ging es nicht nur darum, die im engeren Sinne inhaltlichen (d.h. doktrinären) Aspekte auf ihre Implikationen für die Ordnung in De Rerum Natura hin zu untersuchen, sondern auch darum, wie die Herausforderung, die der Epikureismus an den Umgang mit Zeit- und Raumkonzepten stellt, in De Rerum Natura umgesetzt ist, und in welchem Zusammenhang dies mit der Frage nach der Ordnung steht. Der bereits genannte Modus der Sequenzierung der einzelnen verhandelten Inhalte stellt nur einen Aspekt dessen dar, wie Lukrez diesem Zeitproblem begegnet. Der andere ist der der Setzung: Ein Anfang wird in De Rerum Natura nämlich ,gemacht‘. Die Grundaxiome sowie Materie und leerer Raum werden zunächst voneinander getrennt eingeführt und dargestellt. In der Folge werden sie in Interaktion miteinander gebracht. Der Teil des ersten Buches, in dem erste Ordnungen der Atome beschreibbar wurden, setzt daher auch mit konkreten Bezugspunkten zur erfahrbaren Welt an. Diese Ordnungen sind jedoch nur bestimmbar und beschreibbar auf der Grundlage dessen, was zuvor in den einzelnen Sequenzen über Materie und leeren Raum dargelegt wurde. Wie bereits zu Beginn des ersten Buches wird die tatsächliche Ordnung der Atome, aber auch die Interaktion von Materie und leerem Raum in einer Weise dargestellt, die die Dinge bis ins Kleinste durchschaubar macht. Die Rede vom Experiment, das vor der Ordnung steht und im Passus der Verse 1,1024–1028 als solches auch ganz explizit hervortrat, lässt eine wichtige Konkretisierung des Ordnungsbegriffs in De Rerum Natura zu: Es gibt Ordnung – allein, wann diese sich herausbildet, bleibt offen.

4

Ordnung und Abweichung

4.1

Anfangen durch Abweichen

„Le clinamen est une absurdité“.1 Auf diese kurze Formel bringt Michel Serres die Kritik an dieser für die epikureische Physik und Ethik so wichtigen Form der Bewegung.2 Das clinamen wird aber nicht nur als Absurdität bezeichnet, weil es spontan auftritt und keinen Ursprung hat; auch nicht, weil daran der freie Wille des Menschen geknüpft ist. Das clinamen löst Widerstand aus, weil es die Verhältnisse von Ordnung und Unordnung verkehrt. Ähnlich ist auch die antike Kritik am clinamen verfasst, die sich besonders gut anhand von Ciceros Auseinandersetzung mit dem Epikureismus nachzeichnen lässt. In De Finibus bezeichnet Cicero die epikureische Lehre von den Abweichungen als „kindische Erfindung“ (tota res ˂est˃ ficta pueriliter; fin. 1,19)3 und kritisiert die Grundlosigkeit dieser Bewegung (fin. 1,19): ait [sc. Epicurus] enim declinare atomum sine causa; quo nihil turpius physico, quam fieri quicquam sine causa dicere („Epikur sagt nämlich, das Atom weiche ohne Ursache ab; für einen Naturwissenschaftler gibt es doch nichts Entehrenderes als die Behauptung, etwas geschehe ohne Ursache“).4 In dieser Polemik kommt ein tiefgreifenderes Problem zum Ausdruck, das seinen Ausgang von der Behauptung Epikurs nimmt, die Atome wichen ohne Ursache von ihrem regelmäßigen Fall ab. Gegenstand der Kritik Ciceros ist nicht nur, dass diese Behauptung aufgestellt wird, sondern auch, dass sie von einem mit der Natur befassten Philosophen aufgestellt wird. Vor dem Hintergrund seiner akademisch-skeptisch geprägten Sicht auf die Welt, bilden für Cicero Kausalität und Determinismus die unhintergehbaren Prämissen einer Beschreibung und Erklärung natürlicher Phänomene. Dass gerade diese Grundannahmen bei Epikur ausgespart, oder besser, verkehrt werden, wendet auch die Rolle des Philosophen ins Absurde, denn er sucht und findet nicht Gründe, sondern er erschafft sie sich. 1 2

3 4

Serres 1977, S. 9. Sedley 1983, S. 11 fasst die beiden Hauptfunktionen des clinamen wie folgt zusammen: „The swerve enables (a) atoms falling through space at equal speed in parallel lines to collide occasionally and initiate cosmogonic patterns of motion; and (b) somehow or other serves as a necessary condition for the behavioural autonomy of animate beings – a power often identified as ,free will‘“. Text: Moreschini 2005; Übers.: Gigon/Straume-Zimmermann 1988. Bei Reinhardt 2005, S. 171‒175 findet sich eine detailliertere sprachliche Analyse der Darstellung des clinamen in De Finibus und in De Natura Deorum.

140

Ordnung und Abweichung

Wie genau die durch das clinamen ausgelösten Wechselwirkungen von Abweichung und Ordnung in De Rerum Natura beschaffen sind, soll im Zentrum dieses Kapitels stehen. Zunächst gilt es aber nachzuzeichnen, wie die Bewegung des clinamen beschaffen ist, um es dann in seinem Verhältnis zu einer Ordnung genauer zu untersuchen. Das clinamen ist ein vieldiskutiertes Phänomen. Dies ist nicht allein der Tatsache zuzuschreiben, dass dieser Bewegungsform eine zentrale Funktion innerhalb des philosophischen Systems des Epikureismus zukommt,5 sondern auch darin zu suchen, dass De Rerum Natura eine der wenigen zusammenhängenden Darstellungen des clinamen enthält. In Epikurs überlieferten Schriften findet sich hingegen kein expliziter Verweis auf die παρέγκλισις.6 Trotz der intensiven Auseinandersetzung mit dem clinamen herrscht keine Einigkeit in der Frage nach seiner Funktion und nicht alle Aspekte des clinamen werden in der gleichen Intensität diskutiert.7 Den bei weitem größten Teil nehmen Untersuchungen ein, die sich mit dem Problem der Willensfreiheit bzw. des Determinismus befassen (2,251–293).8 Der kosmologischen Funktion des clinamen, die in einem den Versen über die Willensfreiheit vorangestellten Passus verhandelt wird (2,216–250), 5

6

7

8

Für eine prägnante Zusammenfassung der philosophiegeschichtlichen Verortung des clinamen als durch die aristotelische Kritik motivierte Hinzufügung zum System des Epikureismus vgl. Fowler 1983, S. 344‒352. Vgl. Fowler 2002, S. 301: „Notoriously, there is no explicit reference to the doctrine of ,swerve‘ amongst the extant works of Epicurus. Bigone thought to introduce a reference into Ep. Hdt. 43 by positing a lacuna there, but this is doubtful; even if we have a lacuna, it need not contain a reference to the swerve“. Sedley 1998, S. 147 vermutet, die παρέγκλισις sei von Epikur erst in einem seiner späteren Bücher von Περὶ φύσεως eingeführt worden. Zu Referenzen bei Diogenes von Oinoanda, Cicero und Plutarch vgl. Bailey 1947, S. 839 und Fowler 2002, S. 301‒318. Auf ein ausführliches Referat der Forschungsliteratur wird an dieser Stelle verzichtet. Es sei jedoch verwiesen auf Sedley 1983, der dem clinamen in den Schriften Epikurs nachgeht und dabei zugleich eine pointierte Forschungsdiskussion der bis dato wichtigsten Beiträge liefert; Fowler 2002 (v.a. S. 301‒309) bietet mit Bezug auf die Theorie des clinamen in der Antike und einem Überblick über die wichtigsten Forschungskontroversen eine umfassende Einführung. Zuletzt hat zudem Schmidt 2007 dem clinamen eine Monographie gewidmet. Nach Schmidt ist die Einführung des clinamen nicht als Reaktion auf die aristotelische Kritik am System der epikureischen Philosophie zu verstehen, sondern als Ausdruck einer bereits für den Atomismus zentralen Grundannahme: Die Materie ist als belebt zu denken und den Bewegungen der Atome daher ein vitalistischer Charakter zuzuschreiben. Schmidt spricht im Titel seiner Studie daher auch vom „dynamischen Atomismus“. Rumpf 2008 setzt sich in seiner Rezension zu Schmidt kritisch mit dieser Neudeutung des clinamen auseinander. Vgl. hierzu v.a. die folgenden Beiträge, die durch die enge Bezugnahme aufeinander einen guten Überblick über die Forschungskontroversen und Forschungspositionen bilden: Furley 1967, Long 1977, Fowler 1983, Sedley 1984, Saundres 1984, Gulley 1990 und zuletzt Johnson 2013.

Anfangen durch Abweichen

141

kommt demgegenüber zumeist eine sekundäre Rolle zu.9 Diese Abschnitte sind aber insofern wichtig, als das clinamen gerade in seiner Wirkweise auf der Ebene der Atome Aufschluss über den Ursprung von Ordnung geben kann. Durch die minimale Abweichung eines Atoms vom gleichmäßigen Fall der Atome ist nämlich die Möglichkeit für eine Veränderung und für die Herausbildung, d.h. den Ursprung von atomaren Verbindungen überhaupt erst gegeben.10 Ursprungserklärungen bedienen sich meist eines Musters, das die Entstehung von Ordnung aus dem Chaos ableitet. Auch Michel Serres nimmt bei seiner Charakterisierung der epikureischen bzw. lukrezischen Physik Bezug auf diese Abfolge: „La physique essaie d’expliquer comment les choses et le monde se forment naturellement à partir du chaos atomique, autrement dit comment un ordre, plusieurs ordres émergent du désordre“.11 Wie sich bereits gezeigt hat, lässt sich ein solches lineares Entwicklungsmodell aber nur unzureichend auf die Prozesse übertragen, die in De Rerum Natura beschrieben werden. Ausgehend von seinem Befund verbindet Serres die Frage nach dem clinamen daher mit der Frage nach Ordnung.12 Das clinamen wird von Serres primär als Bewegung des Übergangs zwischen zwei Ordnungen in den Blick genommen und der regelmäßige Fall der Atome („écoulement laminaire“) als eine der Ordnung des Kosmos vorgängige Ordnung identifiziert: „La théorie physique de la turbulence comporte un paradoxe. L’écoulement laminaire, figure du chaos, est, à première vue, un schéma d’ordre. Les atomes s’épanchent parallèlement, ne se mélangent ni s’accrochent. Ces rangées préalables sont déjà une taxinomie, comme l’indique le mot même. La turbulence paraît introduire un désordre dans cet arrangement. C’est ainsi que le veut la langue, où turbare désigne un trouble, une confusion […]. Le désordre émerge de l’ordre.“13

Im Kern stellt Serres die gängigen Zuschreibungen dessen, was Ordnung und was Unordnung sei, in Frage: Der ,Atomregen‘ lässt sich ebenso als Ordnung beschreiben wie der Kosmos.14 Vor diesem Hintergrund kann Serres’ Studie Anregungen 9

10

11 12 13 14

Zu dieser Aufteilung vgl. u.a. Fowler 2002, S. 307 und Schmidt 2007, S. 46. Long 1977, S. 65 merkt zudem an, dass in den antiken Diskussionen um das clinamen dessen Einfluss auf die Ordnung (in) der Welt keine Rolle spielte und spontane Abweichungsbewegungen der Atome nur auf die Willensfreiheit bezogen wurden. Fowler 2002, S. 308 gibt zu bedenken, dass innerhalb einer sich bereits herausgebildeten Welt dem clinamen keine kosmologische Funktion mehr zukommen kann, da andernfalls diese Ordnung immer zugleich in der Auflösung begriffen sei. In Übereinstimmung mit Long 1977 plädiert Fowler daher dafür, die Funktion des clinamen innerhalb der Welt allein auf die Ebene des animus zu beziehen. Serres 1977, S. 37. Serres 1977. Serres 1977, S. 37. Vgl. Serres 1977, S. 37: „Le turbare […] est la fluctuation des figures et mouvements. Ordre ou désordre, il est difficile d’en décider“.

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Ordnung und Abweichung

für die vorliegende Arbeit geben, denn Serres nimmt Ordnung aus einer anderen Perspektive in den Blick.15 Er interessiert sich besonders für die der epikureischen Kosmologie inhärenten Paradoxien und arbeitet dabei heraus, welche Bedeutung das clinamen für die Genese von Ordnung hat. Im Unterschied zu anderen Kosmogonien, bei denen auf Unordnung Ordnung folgt, finde sich bei Lukrez strukturell betrachtet ein Dreischritt: Auf die initiale und ewige Ordnung des gleichmäßigen Falls der Atome folgt die Unordnung durch das clinamen. Daraus kann dann eine neue Ordnung, die des Kosmos, entstehen.16 Lukrez beginnt mit einer genauen Beschreibung und raum-zeitlichen Verortung des clinamen (2,216–220): Illud in his quoque te rebus cognoscere avemus, corpora cum deorsum rectum per inane feruntur ponderibus propriis, incerto tempore ferme incertisque locis spatio depellere paulum, tantum quod momen mutatum dicere possis.

220

Dies noch wünsche ich hierbei dir recht zur Kenntnis zu bringen: Wenn die Körper im senkrechten Fall durch das Leere stürzen, durch ihr eigenes Gewicht, dann treiben sie gewöhnlich irgendwann und irgendwo von ihrer Bahn ein wenig ab, doch nur so, dass man von einer geänderten Richtung sprechen kann.

Mit der einleitenden Phrase in his quoque rebus nimmt Lukrez Bezug auf die diesem Passus vorangehende Passage, in der der Beweis dafür erbracht wurde, dass die Bewegung der Atome im Raum (inane) immer streng vertikal, also von oben nach unten erfolgt.17 Dies nimmt Vers 2,217 nochmals auf, der beschreibt, dass die Atome in gerader Linie nach unten (deorsum rectum) durch den Raum 15

16

17

Furley 1981, S. 675 äußert sich in seiner Rezension zu Serres’ Naissance de la physique zu den Eigentümlichkeiten der Studie und ihrer (möglichen) Wirkungsweise im klassisch-philologischen Kontext: „It is easy to list some things the book has not. It has no index, no bibliography, no polemics against other interpretations of Lucretius, no learned footnotes, no exposition line by line of the Latin text. It has very little that one would want to call argument: it proceeds rather by suggestion, by metaphor, by assonance and alliteration, often by parataxis of phrases denuded of verbs. It runs rings around the plodding, linear mind of the conventional classical scholar and leaves him dizzy. […] Criticism of this sonorous tone-poem seems beside the point. […] But it is constantly suggestive and illuminating. It forces questions upon us, and especially the question of the clinamen“. Zu einer ausführlicheren Untersuchung des Zusammenhangs, den Serres in seiner Lektüre von De Rerum Natura zwischen Ordnung und dem clinamen herstellt, vgl. Noller 2016. Vgl. den Anfang der Passage in 2,184‒186: Nunc locus est, ut opinor, in his illud quoque rebus / confirmare tibi, nullam rem posse sua vi / corpoream sursum ferri sursumque meare („Hier nun scheint mir der geeignete Ort, um dir bei dieser Gelegenheit auch Folgendes zu beweisen: Nichts ist imstande, sich durch eigenen Antrieb in die Höhe zu erheben und aufwärts zu strömen“).

Anfangen durch Abweichen

143

fallen. Der Fokus liegt dabei jedoch nicht mehr auf dieser regelmäßigen Bewegung – auch ersichtlich durch die Verlagerung dieses Geschehens in einen Nebensatz –, sondern auf der Abweichung von dieser Bewegung. War der Fall der Atome im leeren Raum durch ihr eigenes Gewicht (feruntur ponderibus propriis; 2,217f.) noch von einer den Atomen inhärenten Eigenschaft bedingt, stellt das clinamen eine davon abweichende Eigenaktivität dar, die diesen Zwang überwindet: [te cognoscere avemus] corpora […] spatio depellere paulum (2,219).18 Diese Abweichung ist der Eigenanfang, der in der Folge die notwendige Bedingung für alle Bewegung und für die Herausbildung von Ordnung darstellt. Dieser Aspekt wird in der oben zitierten Passage jedoch nicht thematisiert. Im Zentrum dieser einführenden Verse steht vielmehr die Betrachtung des clinamen selbst. Die corpora weichen in völliger zeitlicher und räumlicher Unbestimmtheit von ihrer Bahn ab: incerto tempore ferme / incertisque locis spatio depellere paulum (218f.).19 Die Bestimmung des clinamen als eine solche vollständige „indétermination dans un ordre déterminé“,20 wurde von Gilles Deleuze einer Revision unterzogen. Deleuze nimmt keine Neubestimmung, aber eine an entscheidenden Punkten von der communis opinio abweichende Deutung des clinamen vor. Im Kern geht es dabei um die Frage von Ordnung und Kontingenz: „[D]as Clinamen [weist] keine Kontingenz, keine Unbestimmtheit auf. Es offenbart etwas ganz anderes: das [sic] lex atomi, das heißt die irreduzible Pluralität der Ursachen oder der Kausalreihen, die Unmöglichkeit, die Ursachen in einem Ganzen zu vereinen. Das Clinamen ist die Bestimmung der Begegnung zwischen Kausalreihen […].“21

Zunächst scheint es, als verkehre Deleuze die Theorie des clinamen in ihr vollständiges Gegenteil: Das clinamen als Gesetzmäßigkeit, nicht als Kontingenz. Damit wäre die Willensfreiheit, die vom clinamen abhängig gemacht wird, ad absurdum geführt. Doch bei genauerer Betrachtung verhält es sich anders: Die Gesetzmäßigkeit des clinamen besteht darin, dass es eintritt. Damit ist das clinamen lediglich unbestimmt, aber nicht gänzlich unbestimmbar. In der „Unmöglichkeit, die Ursachen in einem Ganzen zu vereinen“ besteht die eigentliche Freiheit, wie auch Brooke Holmes feststellt: „The causes […] cannot be totalized. It is precisely by insisting on the independence of each causal series […] that the Epicureans believe they escape the nets of determinism“.22 Wie Deleuze 18

19

20 21 22

Fowler 2002 ad 2,219: „The verb suggests sudden jump, and the point is that it is the same sort of movement that would result from the plagae but internally caused“. Diese Bestimmung fungiert auch als Ausgangspunkt für Michel Serres’ Theorie einer „mécanique des fluides“ (Serres 1977, S. 103), die in der lukrezischen Physik entwickelt werde. Zur Rezeption von De Rerum Natura durch Serres vgl. Berressem 2005. Gaudin 1997, S. 70. Deleuze (1969) 1993, S. 329. Holmes 2012, S. 324.

144

Ordnung und Abweichung

zudem differenziert, handelt es sich bei der durch incerto tempore und incertis locis verorteten Bewegung nicht um eine unbestimmte, sondern um eine unbestimmbare Abweichung. Auf diese Weise bleibt die Bewegung des clinamen zwar nicht erfassbar, das Abweichen lässt sich jedoch in die Logik des Zufalls integrieren.23 Wie genau diese Bewegung beschaffen ist, zeigt die Formulierung paulum depellere (2,219), die Don Fowler als „unique intransivization“ bezeichnet.24 Indem die Bewegung des Verdrängens oder Abdrängens intransiviert wird, d.h. kein Bezugsobjekt zu depellere vorhanden ist, wird sie zum einen auf sich selbst zurückverwiesen: Das Abdrängen ist auf das jeweilige Atom selbst bezogen, das von seiner Bahn (spatium; 2,219) abweicht. Zum anderen wird durch das Adverb paulum die Bewegung noch genauer modifiziert und das clinamen als lediglich minimale raum-zeitliche Abweichung markiert, die sich zwischen25 dem gleichmäßigen Fall eines Atoms von oben nach unten und seinem Zusammenstoß (offensus; plaga; 2,223) mit einem anderen Atom ereignet.26 Das clinamen selbst darf somit nicht mit seinem Effekt zusammengedacht werden, sondern besteht in einer minimalen raum-zeitlichen Einheit, einem nec plus quam minimum („nicht mehr als das Allerkleinste“), wie Lukrez an anderer Stelle (2,243) schreibt. In diesem ,Zwischen‘ liegt somit der Ursprung einer Verbindung und damit auch Ordnung schaffender Bewegung: ein Ursprung, der sich räumlich, zeitlich und sprachlich jedoch nur näherungsweise erfassen lässt.27 Fowler erörtert in seiner ausführlichen Darstellung des clinamen, wie man sich die Abweichungsbewegung vorzustellen hat, und gründet seine Argumentation dabei wesentlich auf die modifizierenden Umschreibungen (paulum bzw. insbesondere nec plus quam minimum inclinare).28 Im Zentrum seiner Überlegungen steht die Prämisse, das lukrezische minimum fungiere, wie das Konzept des ἐλάχιστον bei Epikur, als genaue Maßeinheit eines Kleinsten. Davon ausgehend lässt sich nach Fowler das clinamen nur als eine Bewegung beschreiben und nicht als schiefer Abprall, für den zuletzt Ernst A. Schmidt argumentiert hat.29 23

24 25 26

27

28 29

Ähnlich auch Long 1977, S. 67: „Irregular and disorderly happenings may be just as much the outcome of antecedent conditions as regular events“. Fowler 2002 ad loc. Auf dieses Moment des ,Zwischen‘ verweist auch Serres 1977, S. 26. Zu einer ausführlichen Darstellung und Diskussion verschiedener Modelle des clinamen vgl. Fowler 2002, S. 304f. Serres 1977, S. 104 (Hervorhebung dort) definiert das clinamen daher auch als Bewegung des Übergangs: „Le clinamen est la turbulence infinitésimale, première, mais il est aussi le passage de la théorie à la pratique“. Der gleichmäßige Fall der Atome ist demnach nur eine rein theoretische Form der Ordnung, die erst durch das clinamen in eine zweite, eine kosmische Ordnung, überführt werden kann. Erst die Effekte dieses clinamen machen seine Existenz sichtbar. Vgl. dazu ausführlicher Noller 2016. Fowler 2002, S. 304f. Schmidt 2007.

Anfangen durch Abweichen

145

Dafür spricht auch, dass Lukrez das clinamen meist verbal mit declinare oder inclinare umschreibt.30 Eine paraphrasierende Annäherung liegt in Vers 2,220 vor, in dem die Abweichung als momen mutatum bezeichnet wird.31 Auch im Wort momen kommt das Charakteristikum des clinamen, seine Bewegung, zum Ausdruck, doch die Bewegung ist an dieser Stelle nur ein Referenzpunkt, der benötigt wird, um davon mit dem Partizip mutatum eine qualitative Absetzung zu schaffen. Denn das clinamen lässt sich nur ausgehend von und in Differenz zu der bereits vorhandenen regelmäßigen Bewegung fassen. Es schließt sich eine Passage an, in der Lukrez das Bild einer Welt ohne clinamen zeichnet, um dessen Bedeutung für verschiedene Formen des Anfangs zu veranschaulichen (2,221–224): quod nisi declinare solerent, omnia deorsum, imbris uti guttae, caderent per inane profundum, nec foret offensus natus nec plaga creata principiis: ita nil umquam natura creasset. Wichen die Atome nicht ab, dann würden, wie Tropfen des Regens, alle geradeaus hinabfallen in die Tiefe des Leeren. Kein Zusammenstoß wäre dann für die Ursprungskörper entstanden und kein Zusammenprall; so hätte die Natur niemals etwas erschaffen.

Das clinamen ist die notwendige Bedingung für das Zusammentreffen der Atome, denn ohne Abweichung (declinatio) würde es im All lediglich in regelmäßigen Bahnen fallende Atome geben. Wie auch an anderen Stellen greift Lukrez zur Veranschaulichung dieses abstrakten Sachverhalts auf ein Bild aus der unmittelbaren menschlichen Erfahrungswelt zurück: fallende Regentropfen (imbris uti guttae; 2,222). Der Vergleich mit dem Regen illustriert, wie Fowler hervorhebt, die Quantität, aber auch die parallele Fallrichtung der Atome im All.32 Ein Merkmal der lukrezischen Bilderwahl zeigt sich aber auch in diesem Vergleich: Das Bild veranschaulicht immer nur einen spezifischen Aspekt des zu veranschaulichenden Phänomens. So bleibt hier z.B. ausgeblendet, dass Regentropfen in ihrem Fall begrenzt sind und notwendigerweise auf eine Grenze, den Boden, treffen. Für den Fall der Atome ist dagegen die Grenzenlosigkeit des Raumes, durch den sie fallen, zwingend erforderlich. Nur so lässt sich plausibilisieren, dass sie nicht zusammentreffen. In dieser Unmöglichkeit eines Zusammentreffens liegt auch die Unmöglichkeit eines Anfangs: nec foret offensus natus nec 30

31

32

Vgl. 2,221; 2,253 (declinare); 2,243 (inclinare); das Substantiv clinamen wird überhaupt nur ein einziges Mal (2,292) in De Rerum Natura verwendet. Für eine Übersicht über die Verwendung von momen in der lateinischen Literatur vgl. Fowler 2002. Fowler 2002 ad loc. Vgl. hierzu auch Bailey 1947 ad loc.: „[T]he comparison lies in the parallel lines; rain does not necessarily fall in downward lines“.

146

Ordnung und Abweichung

plaga creata / principiis (2,223f.). Die Abwesenheit des clinamen macht Zusammenstöße unmöglich, die fehlenden Anstöße machen wiederum den Anfang einer Ordnung unmöglich.33 Durch die Verwendung von Metaphern aus dem Bereich der Biologie (natus, creata)34 hebt Lukrez aber gerade die Notwendigkeit des Bewegungsanfangs bzw. dessen Genese und damit die Bedeutung des clinamen für Anfänge hervor. Dieser Anfang wird zudem in Beziehung zu den Atomen gesetzt, die an dieser Stelle nicht mehr, wie noch in Vers 2,217, als corpora benannt sind, sondern als principia: Atome, die auf ihre Eigenschaft als Ursprungsteilchen verweisen. Erst durch das clinamen, so lässt sich pointiert zusammenfassen, werden die corpora, die qua Benennung über generatives Potential verfügen, zu primordia, die dieses generative Potential, auch wörtlich genommen, in Gang setzen. Im Schlussvers folgt schließlich der Übergang auf die Ebene der Welt: ita nil umquam natura creasset („so hätte die Natur niemals etwas erschaffen“; 2,224). Die hier geschilderten Vorgänge sind jedoch nicht von dem Vorausgegangenen zu trennen – im Echo der Partizipien natus und creata (2,223) in natura und creasset spiegelt sich dies auch formal wider.35 Die Natur ist, wie zuvor die Atome (vgl. das einleitende ita in 2,224), auf das clinamen verwiesen, steht als Prinzip der schaffenden natura jedoch nicht in Widerspruch zu den ,schöpferischen‘ Fähigkeiten des clinamen. Wenn der Beschreibungsfokus innerhalb weniger Verse vom Mikrokosmos (Atome) zum Makrokosmos (sichtbare Welt) fortschreitet, wird nämlich ein und dasselbe auf zwei unterschiedlichen Ebenen in der dort je spezifischen Ausprägung dargestellt.36 Durch die Abweichung des clinamen entstehen Zusammenstöße (plagae), die wiederum die atomaren Zusammensetzungen und damit potentielle Ordnungen erzeugen können.

33 34 35 36

Zur semantischen Differenzierung von offensus und plaga vgl. Fowler 2002 ad loc. Fowler 2002 ad 2,63. Vgl. Fowler 2002 ad loc. Vgl. Fowler 2002, S. 411, Anm. 15

147

Die Bewegung der Ordnung

4.2

Die Bewegung der Ordnung

Bei der Beschreibung des clinamen im vorangegangenen Passus standen die Atome im Vordergrund, in den Versen 2,251–260 ist es dagegen die Frage nach der Rolle des clinamen in Bezug auf den freien Willen.37 Gleichwohl lässt sich diese Frage nicht ohne das clinamen in seinem kosmologischen Kontext verhandeln, liegt der Ausgangs- bzw. Bezugspunkt für die Erklärung des freien Willens doch auf der Ebene der Atome im Raum – außerhalb des animus, wo der Entstehungsort des freien Willens angesiedelt ist. Im folgenden Passus beschränkt sich die Beschreibung des clinamen nicht auf seine Funktion für den Ursprung und die Voraussetzungen einer Ordnung. Lukrez wendet sich nun der Verbindung von Abweichung und Ordnung selbst zu (2,251–260): Denique si semper motus conectitur omnis et vetere exoritur ˂motu˃ novus ordine certo nec declinando faciunt primordia motus principium quoddam quod fati foedera rumpat, ex infinito ne causam causa sequatur, libera per terras unde haec animantibus exstat, unde est haec, inquam, fatis avulsa voluntas per quam progredimur quo ducit quemque voluptas, declinamus item motus nec tempore certo nec regione loci certa, sed ubi ipsa tulit mens?

255

260

Schließlich: Wenn alle Bewegung immer aneinandergeknüpft ist und aus der alten Bewegung die neue in fester Ordnung hervorkommt und die Ursprungskörper auch nicht durch eine Abweichung einen Bewegungsanfang bewirken, der die Bande des Schicksals zertrümmert, damit nicht ewig Ursache auf Ursache folge; woher stammt dann der freie Wille der Lebewesen auf Erden, woher ist er, frage ich, dem Schicksal entwunden, der Wille, vermöge dessen wir vorwärts schreiten, wohin uns die Lust führt, und wir desgleichen unsere Bewegungen weder zu einer bestimmten Zeit noch an einer bestimmten Stelle im Raum ändern, sondern wo uns der Verstand hingetragen hat?

Zu Beginn von Vers 2,257 wird mit der Frage unde est haec […] voluntas? die Frage nach einem Ursprung, nämlich dem der libera voluntas gestellt. Lässt man die durch die lange Protasis komplexe syntaktische Struktur der Passage zunächst außer Acht, beinhalten die Verse 2,251–255 zwei Szenarien, die auf ihre Möglichkeit hin befragt werden, einen Ursprung der voluntas zu ermöglichen: die erste ohne Einfluss des clinamen (2,251–252), die zweite unter Einfluss des clinamen (2,253–255). 37

Zu einem kritischen Überblick über die Forschungen zum lukrezischen clinamen und der Willensfreiheit vgl. Schmidt 2007, S. 131‒135.

148

Ordnung und Abweichung

Durch diese direkte Gegenüberstellung lassen sich das clinamen und seine Implikationen für die Genese einer Ordnung noch genauer beobachten und deutlicher konturieren. Die Willensproblematik, die in dieser Passage eingeführt wird,38 soll mit Blick auf die Fragerichtung des vorliegenden Kapitels jedoch in den Hintergrund treten, da für die Untersuchung der atomaren Ordnungsmöglichkeiten der freie Wille erst sekundär von Bedeutung ist. Mit seiner einleitenden Frage (2,251f.) setzt Lukrez ganz am Anfang, bei der Frage des Ursprungs an: Woher stammt der freie Wille, wenn Bewegung stets in einer bestimmten Ordnung auf Bewegung folgt?39 Ohne den Einfluss des clinamen, so zeigt sich, wäre Ordnung das zentrale Prinzip jeder Bewegung. Die zeitliche Kontinuität (semper) erhält durch die Qualifizierung als nach bestimmten Ordnungsprinzipien (ordine certo) ablaufender Prozess eine zusätzliche Akzentuierung, denn keine Bewegung, kein Übergang von einem vetus motus zu einem novus motus vollzieht sich zufällig und spontan. Der Übergang ist vielmehr stets geordnet. Diese Form der Kontingenzeliminierung geht mit einer sprachlichen Überdeterminierung von Ordnung einher, denn der an sich bereits geordnete ordo wird durch certus noch weiter der Unbestimmtheit entzogen: Nicht in einer beliebigen, sondern einer bestimmten, einer festen Ordnung setzt sich die Bewegung fort. Der ordo certus überbrückt damit genau jene unbestimmte und unbestimmbare Leerstelle bei der Entstehung von Bewegung, die deren Ursprung markiert und an die wiederum der Ursprung der voluntas geknüpft wäre. An die Stelle von Kontingenz tritt hier somit ordo. Auf diese Ordnung in einer Welt, die ohne clinamen auskommt und dagegen die Existenz einer festen Ordnung setzt, verweisen auch die Verse 2,259f.: declinamus item motus nec tempore certo / nec regione loci certa, sed ubi ipsa tulit mens („wir ändern desgleichen unsere Bewegungen weder zu einer bestimmten Zeit noch an einer bestimmten Stelle im Raum, sondern wo uns der Verstand hingetragen hat“)? Sie affirmieren in Absetzung von dem in Vers 2,251 genannten ordo certus, dass durch das clinamen die Bewegung gerade nicht in einer geordneten und bestimmten raum-zeitlichen Konstellation stattfindet (tempore certo; regione certa).40 Diese immer nach gleichem Muster ablaufenden, d.h. sich wiederholenden Ordnungsformationen können jedoch nach lukrezischer (bzw. epikureischer) Auffassung nicht bewirken, was das clinamen bewirkt: Der 38

39

40

Vgl. u.a. Furley 1967, Fowler 1983 (ausführliche Diskussion zum clinamen in De Rerum Natura; gekürzte Fassung in Fowler 2002), Seldey 1983 (ausführliche Diskussion zum clinamen v.a. bei Epikur) und Purinton 1999. Fowler 2002 ad 251 weist auf eine lukrezische Besonderheit hin: „It is usually things or causes which are connected; I know of no parallel to Lucretius’ motus“. Gaudin 1999, S. 71 verweist auf die Parallelität von clinamen und freiem Willen: „Lucrèce accentue le parallélisme entre déclinaison de l’atome et acte volontaire en disant qu’ils échappent l’un et l’autre à la détermination spatiale et temporelle“. Zur Frage der raum-zeitlichen Verortung des clinamen vgl. auch Bobzien 2008, v.a. S. 309f.

149

Die Bewegung der Ordnung

freie Wille lässt sich nicht aus einer geordneten Bewegung erklären, wie sie in den Versen 2,251f. beschrieben wurde (motus conectitur […] novus ordine certo). Betrachtet man nun den gleichen Vorgang unter dem Einfluss des clinamen, gelangt man zu einem interessanten Befund. Es ist nämlich bezeichnend für den lukrezischen Ordnungsbegriff, dass das clinamen nicht als Gegensatz zur Ordnung und als Ursprung einer Nicht-Ordnung gedacht wird. Dies zeigen die Verse 2,253f. besonders deutlich, die – hier im Modus der Negation – die Mechanismen des clinamen noch einmal explizieren (2,253–255): nec declinando faciunt primordia motus principium quoddam quod fati foedera rumpat, ex infinito ne causam causa sequatur […].

255

[Und wenn] die Ursprungskörper auch nicht durch eine Abweichung einen Bewegungsanfang bewirken, der die Bande des Schicksals zertrümmert, damit nicht ewig Ursache auf Ursache folge […].

Die primordia bewirken durch ihr Abweichen vom regelmäßigen Fall der Atome den Anfang einer Bewegung.41 Dies ist das clinamen, das den Anstoß für den Anfang gibt. In der Beschreibung der Verse 2,251f., in der mit ordine certo zwar der Modus und in gewisser Weise auch die Bedingung für Bewegung genannt waren, der Bereich des Ursprungs jedoch ausgespart wurde, fehlt diese vor dem Anfang befindliche Bewegung. Das Prädikat conectitur, das eine Reihung von Vorgängen bezeichnet, hebt dies ebenfalls hervor. Anders in den folgenden Versen. Die kurz aufeinanderfolgende Nennung von primordia und principium wurde in der Kommentarliteratur als unnötige Tautologie bezeichnet,42 doch die Wahl der Begriffe legt nahe, dass darin mehr als eine rhetorische Funktion zu sehen ist. Zum einen unterscheiden sie das clinamen (declinando [primordia]; 2,253) von dem Anstoß, den diese Abweichung generiert (motus principium; 2,254). Zum anderen rückt dadurch das primum, das sowohl in principium als auch in primordia enthalten ist, in den Vordergrund und markiert den Anfang einer Bewegung. Auch diese unter Einfluss des clinamen gebildete Ordnung bleibt aber unbestimmbar, da zwar die Abweichung eines Atoms am Anfang eines Anfangs steht (declinando als erster Anfang; faciunt primordia motus principium als daraus resultierender, sekundärer Anfang), 41

42

Vgl. dazu Johnson 2013, S. 128: „I propose that we should understand the declinando to initiate movement that can annul the decrees of destiny (fati foedera) and prevent the existence of an endless chain of causation in 253‒4 to be spontaneous, but not random, contingent, or indeterminate. The ,declinationʻ is opposed to something caused or moved by external forces, ,decrees of destinyʻ, and it is not at all opposed to what has a cause or gives signs of orderly, determinate, even intentional action. On the contrary, this is exactly what it is meant to explain: the appearance of free and independent and natural activity on the part of animals and human beings“. Fowler 2002 ad loc.

150

Ordnung und Abweichung

dieser Anfang, das principium motus, aber durch das Indefinitpronomen quoddam im Unbestimmten belassen wird. Diese Unbestimmtheit kann als Kontrast zu dem in Vers 2,251 benannten ordo certus aufgefasst werden, der den Modus charakterisiert, nach dem neue Bewegung generiert wird. Mit quidam und certus stehen sich damit zwei Pole gegenüber, die beide eine Form der Ordnung beschreiben. Die eine, die erste Ordnung ist dabei eine bestimmte, die zweite Ordnung, die des principium, ist nicht bestimmbar. Durch dieses unbestimmbare, Ordnung schaffende principium motus, so zeigt Vers 2,254, wird es aber erst möglich, eine andere Form der Ordnung, die fati foedera („Bande des Schicksals“), zu zerstören.43 Die Beseitigung dieser Ordnung ist kein Selbstzweck, sondern steht in Bezug zur Frage nach dem Anfang. Der Bewegungsanfang (principium motus) zerstört die fati foedera, damit nicht aus der (zeitlichen) Unendlichkeit (ex infinito; 2,255) ein Grund auf den anderen folgt.44 In Frage steht damit der Ursprung der kausalen Folge von Ursachen (causa; 2,255): Wo liegt der Anfang dafür, dass eine Ursache auf die nächste folgt? Der Ursprung der Verkettung von Ursachen, mit anderen Worten: der kausalen Folge (causam causa sequatur; 2,255), darf nämlich gerade nicht indefinit sein. Die Gesetzmäßigkeit des Zufalls kommt also auch in Zusammenhang mit der Genese von Ordnung zum Tragen. Denn die für das clinamen konstitutive raum-zeitliche Unbestimmbarkeit interferiert hier mit der Bestrebung nach einer Beendigung dieser Unbestimmbarkeit. Indem durch das clinamen der Ursprung für diese Reihe von Ursachen bestimmt werden kann, offenbart sich das clinamen selbst als unmittelbarer Anfang von Ordnung.

43

44

Zur Junktur fati foedera vgl. auch Fowler 2002 ad loc., der von einer „unique and unexpected phrase“ spricht: „For the fatal chain that the clinamen breaks one might have expected lex or ordo to be used“. Vgl. Furley 1967, S. 174f. zur Diskussion und Verortung des fatum-Begriffs an dieser Stelle. Furley stellt richtigerweise fest: „For the interpretation of our passage of Lucretius the identification of the opponent is not yet particularly important, because Lucretius explains unmistakably what aspect of the concept of fate he has in mind“. Franz 1999, S. 596 bezeichnet das clinamen als „Voraussetzung für den Paradigmenwechsel von den foedera fati zu den foedera naturae“.

5

Die Ordnung der Dinge (I)

5.1

Im Inneren der Atome

Ordnungen in De Rerum Natura lassen sich als Zusammensetzungen einzelner Elemente charakterisieren, die durch Bewegung zustande kommen und deren Auflösung in dieser Bewegung bereits angelegt ist. Dynamik und Partikularität stellen also die Grundeigenschaften jeder Ordnung dar. Im ersten Buch von De Rerum Natura wird jedoch eine Ordnung beschrieben, die nur in Teilen diesem Schema folgt. Nicht nur die Dinge, sondern auch die sie konstituierenden Atome sind nämlich als Ordnungen kleinster Elemente, den minimae partes, konzipiert. Anders als die Ordnung der Dinge ist diese Ordnung nicht auflösbar, müssen die Atome gemäß der epikureischen Doktrin doch per se unveränderlich, v.a. unteilbar, sein. Aus der Existenz der kleinsten Teilchen lässt sich aber paradoxerweise eben diese Eigenschaft der Atome erklären. Die minimae partes, aus denen sich die Atome zusammensetzen, erfüllen eine Funktion, die einem Einzelelement im Verhältnis zu einem Ganzen zukommt: Die Elemente gehen Verbindungen ein und bringen auf diese Weise bestimmte Eigenschaften in diesem Verbund hervor. Eine in De Rerum Natura zentrale Eigenschaft fehlt ihnen aber: Ihre einmal erzeugte Ordnung ist nicht wieder auflösbar. Wie sich eine solche Ordnung eines Atoms bilden kann und wie sich deren Beschreibung von der Ordnung eines Dings unterscheidet, sind nur zwei Fragen, die sich bei der Beschäftigung mit den minimae partes stellen. Aufgrund ihrer Eigenschaften sind sie zwischen atomarer Realität und Theorie anzusiedeln1 und lassen daher den Blick auf eine Form von Ordnung zu, die Gemeinsamkeiten mit den bisher untersuchten Ordnungsformen hat, sich an zentralen Punkten aber von ihnen unterscheidet. Die Sektion, in der Lukrez die minimae partes verhandelt, steht in einem größeren argumentativen Zusammenhang, der die Grundeigenschaften des Atoms darstellt: seine Unteilbarkeit, seine Unzerstörbarkeit und seine Festigkeit. Der Blick ins Innere eines Atoms kann eben jene atomaren Grundeigenschaften

1

So auch Sedley 1976, S. 23 (mit kurzem Forschungsüberblick) in Bezug auf Epikurs Konzeption der minimae partes: „[I]t is not merely a physical minimum, contingent upon the nature of matter, but a theoretical minimum, than which nothing smaller is conceivable“. Ähnlich Sorabji 1983, S. 372 (Hervorhebung dort), der ganz explizit darauf hinweist, es sei danach zu fragen, „how conceptually indivisible parts are possible, rather than to prove that they actually exist“.

152

Die Ordnung der Dinge (I)

erklären, so wie die Eigenschaften der Dinge aus ihrer atomaren Zusammensetzung erklärt werden können. Der Passus beginnt mit der Beschreibung der Winzigkeit der minimae partes, geht dann über zur Feststellung, dass sie nie unverbunden bestehen können und findet seinen Abschluss in der Begründung für diese notwendige Unteilbarkeit (1,599–614): Tum porro quoniam est extremum quodque cacumen corporis illius quod nostri cernere sensus2 iam nequeunt, id nimirum sine partibus exstat et minima constat natura nec fuit umquam per se secretum neque posthac esse valebit, alterius quoniamst ipsum pars primaque et una, inde aliae atque aliae similes ex ordine partes agmine condenso naturam corporis explent, quae quoniam per se nequeunt constare, necessest haerere unde queant nulla ratione revelli. sunt igitur solida primordia simplicitate quae minimis stipata cohaerent partibus arte, non ex illorum conventu conciliata, sed magis aeterna pollentia simplicitate, unde neque avelli quicquam neque deminui iam concedit natura reservans semina rebus.

600

605

610

Weil es nun einen äußersten Punkt bei jenem Urelement gibt, das unsere Sinne schon nicht mehr in der Lage sind zu sehen, besteht dieser Punkt natürlich ohne weitere Teilchen und ist schlechthin das Kleinste. Nie hatte es für sich abgetrennt Bestand und nie wird es später als solches bestehen. Es ist nämlich selbst nur Teil des anderen, und zwar nur das eine Erste; daher füllen eins ums andere ähnliche Teilchen geordnet in dichter Reihe das Atom und gestalten es; da die Teilchen für sich ja nicht bestehen können, müssen sie dort anhaften, von wo sie unmöglich wieder abgerissen werden können. Die Grundelemente sind also stets eine feste Einheit, da sie durch winzigste Teilchen eng aneinander gedrängt zusammenhängen. Sie sind nicht aus der Verbindung einzelner Teilchen entstanden, sondern vielmehr durch ihre Einheit mächtig, die ewiges Bestehen verbürgt. Dass davon etwas abgerissen wird oder dass es vermindert wird, lässt die Natur nicht zu, denn sie bewahrt die Keime zu künftigen Dingen.

An dieser Stelle lässt sich zum zweiten Mal in De Rerum Natura eine Fixierung auf eine unhintergehbare Grenze konstatieren: Nicht nur, dass es ein minimum der Bewegung, das clinamen gibt; es existiert auch ein ,materialer‘ Gegenpart: das minimum der Materie. 2

Während Bailey in seiner zweiten Edition (1922) im Anschluss an Munro ([1886] 1978) vor diesem Vers eine lacuna ansetzt, ist diese Entscheidung in der überarbeiteten, seinem Kommentar beigegebenen Edition des Textes (1947), in der Bailey eine konservativere Textbehandlung verfolgt, revidiert. Zur Begründung vgl. Bailey 1947, S. 705.

Im Inneren der Atome

153

Mit Blick auf die philosophischen Implikationen dieser minimae partes ist es sinnvoll, kurz auf den Herodot-Brief Epikurs einzugehen, in dem auch für das Verständnis der lukrezischen Passage wichtige Klärungen vorgenommen werden (Ep. Hdt. 56–59).3 Von der sichtbaren Welt, in der der „minutest point“4 (ἄκρον) eines Dings festgemacht werden kann, schließt Epikur auf die Existenz von Extrempunkten auch in der nicht sichtbaren Welt (Ep. Hdt. 57): Ἄκρον τε ἔχοντος τοῦ πεπερασμένου διαληπτόν, εἰ μὴ καὶ καθ’ ἑαυτὸ θεωρητόν, οὐκ ἔστι μὴ οὐ καὶ τὸ ἑξῆς τούτου τοιοῦτον νοεῖν („da nun davon auszugehen ist, dass das Begrenzte einen Anfang und ein Ende hat, auch wenn dies für sich nicht sichtbar ist, kann man sich das Nächstfolgende genauso vorstellen“). Die Existenz von kleinsten Teilchen innerhalb der Atome lässt durch deren Funktion als ,Schlusssteine‘ auch Rückschlüsse auf die Größe bzw. Form eines Atoms zu: „In the atoms too we can in thought distinguish constituent parts, which are the least things in extension, but they cannot be conceived as existing separately any more than the ἄκρα can be seen separately. But like the ἄκρα they too act as πέρατα and the size of the atom can be determined by the number of least parts it contains.“5

Darüber hinaus ist es nicht möglich, sie noch weiter zu teilen. Die kleinsten Teilchen sind also Einheiten im Wortsinne: Sie sind nicht aus Einzelelementen aufgebaut (sine partibus; 1,601), sondern bestehen nur aus einem winzig kleinen minimum (1,601–603): id nimirum sine partibus exstat et minima constat natura nec fuit umquam per se secretum neque post hac esse valebit. Dieser Punkt [besteht] natürlich ohne weitere Teilchen und ist schlechthin das Kleinste. Nie hatte es für sich abgetrennt Bestand und nie wird es später als solches bestehen.

Der Superlativ minimum ist hier nicht elativisch oder relational zu verstehen, sondern in einem „technical sense“6 als absolutes Minimum (ἐλάχιστον): „They

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4 5 6

Vgl. Bailey 1947, S. 702. Zu ausführlicheren Untersuchungen der minimae-partes-Theorie Epikurs sei hier auf die Beiträge von Furley 1967 (Gegenüberstellung von Aristoteles und Epikur), Konstan 1982, v.a. S. 66f., und Sorabji 1983, S. 371–375 verwiesen. Bailey 1947, S. 702. Bailey 1947, S. 702. Bailey 1947 ad loc.

154

Die Ordnung der Dinge (I)

[sc. the smallest parts] are […] the minimum of extension within the atom, which is itself the minimum of matter“.7 Pointiert lassen sich die minima mit den folgenden Charakteristika beschreiben: Eine minima pars ist eines und zugleich immer auch ein anderes, denn es ist Teil eines Atoms und kann nicht für sich allein bestehen (vgl. 1,604).8 Dass sich daraus die paradoxe Konstellation von gleichzeitiger Einheit und Vielheit ergibt, hat Claude Gaudin beschrieben: „Lucrèce affirme de l’élément qu’il possède, d’une part, la simplicité absolue de ce qui est ,unʻ, et d’autre part, il affirme qu’il n’a pas d’autarcie hors d’une unité composée, qui est l’atome.“9 Durch die Apposition primaque et una (1,604) wird die Einheit in der ,Zweiheit‘ der minimae partes noch weiter definiert.10 Ein minimum ist eine Einheit (una) und nicht in kleinere Elemente zerlegbar. Darüber hinaus erhält das extremum cacumen durch primum eine räumliche Bestimmung, denn „prima refers to the imaginary survey of the atom: the cacumen […] is the first part you see and then your eye passes to other minimae partes“.11 Setzt man prima zudem zu inde im folgenden Vers (1,605) in Bezug, so wird bereits hier eine Aussage über die Herausbildung und den Bau eines Atoms getroffen. Die minimae partes stellen den gleichwohl nur theoretischen Anfangspunkt dar, von dem ausgehend sich ein Atom konstituiert.12 Wenn Lukrez über die Bildung des Atoms spricht, dabei aber zugleich betont, dass es einen Zustand des ,Davor‘, in dem die minimae partes noch unverbunden waren, nicht geben kann, trifft er auch eine Aussage über die Zeitstruktur des Atoms: Was unzerstörbar ist, kann ein eigenes Verhältnis zur Anschauungsform der Zeit unterhalten, das auch scheinbar paradoxe Konstellationen, wie die beschriebene Anfangslosigkeit, rechtfertigt.13 Zugleich impliziert die Rede von den minimae partes (im Plural) aber auch, dass sie sich in ihrer Position innerhalb eines Atoms voneinander unterscheiden und ein Atom damit, wie ein sichtbares Ding, als Zusammenfügung einzelner Elemente gelten

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8 9 10

11 12 13

Bailey 1947, S. 701. Zu einer ähnlichen Unterscheidung vgl. auch Munro (1886) 1978, S. 80 (Hervorhebung dort): „In the visible thing […] the cacumen seems to be a minimum, in the atom it is a minimum, so small that nothing can be smaller and exist“. Vgl. Bailey 1947 ad loc. Gaudin 1999, S. 60. Bailey 1947 ad loc. merkt an: „[T]he meaning of the words is not quite clear“. Er gibt aber dennoch eine schlüssige Erklärung, die auch die Grundlage der hier vorgestellten Interpretation bildet. Vgl. auch Deufert 2018 ad loc. mit Verweis auf Ep. Hdt. 58: „Das minimum cacumen selbst existiert nur als Teil eines anderen (nämlich des Atoms) – und zwar als dessen erster Teil in einer Reihe vieler weiterer Teile und als ein individueller Teil, der von den anderen minimae partes klar geschieden ist“. Bailey 1947 ad loc. Vgl. Brown 1984 ad loc.: „[T]he most basic conceivable starting point“. Vgl. hierzu auch Munro (1886) 1978, S. 78f.

Im Inneren der Atome

155

muss. Wie kann ein Atom aber eine unteilbare und unzerstörbare Einheit sein, wenn es doch selbst aus noch kleineren Elementen besteht?14 Betrachtet man in diesem Zusammenhang die Rolle der Ordnung, so wird sichtbar, wie man diese Frage beantworten kann: Am Ende des Passus (1,609– 614) wechselt die Beobachtungsebene von den minimae partes zurück zu den primordia. Wichtig ist nun, was über den Prozess und Zustand der Ordnung der Atome ausgesagt wird (1,611f.): non ex illarum conventu conciliata, sed magis aeterna pollentia simplicitate […]. Sie sind nicht aus der Verbindung einzelner Teilchen entstanden, sondern vielmehr durch ihre Einheit mächtig, die ewiges Bestehen verbürgt […].

Die Atome haben sich nicht aus der Vereinigung (conventu) von Einzelelementen15 gebildet, sondern bestehen schon immer in ihrer Einheit (simplicitas).16 Es wird also ausgeschlossen, dass es für die Atome jemals einen Prozess der Ordnung gab, in dem die minimae partes sich zusammenfanden (non ex conventu). Hierbei handelt es sich um eine Negation derjenigen Ordnung, die für die aus den Atomen gebildeten Dinge konstitutiv ist. Mit conciliata wird zudem, noch immer im Modus der Negation, das Innere der Atome als nicht-zusammengefügte Zusammenfügung beschrieben: non ex conventu conciliata. Diese Paradoxie lässt sich lösen, akzentuiert man an dieser Stelle den Aspekt des Partizips conciliata stärker. Die Atome sind demnach nicht das Resultat eines Verbindungsprozesses, sie sind vielmehr immer schon verbunden. Darauf nimmt auch der folgende Vers 1,612 Bezug, wenn die primordia emphatisch als ewige Einheiten (aeterna simplicitas) beschrieben werden.17 Die innere Ordnung der Atome darf und kann per definitionem also keinen Anfang und kein Ende besitzen. 14 15

16

17

Vgl. Munro (1886) 1978, S. 79. Zum Bezug des in den Handschriften OQ überlieferten illorum vgl. ausführlicher Bailey 1947 ad loc. und Deufert 2018 ad loc. Bailey plädiert dafür, die Lesart der Handschriften beizubehalten, abweichend davon soll hier jedoch mit Deufert dem Vorschlag Winckelmanns (illarum) gefolgt werden. Dies ist, wie Bailey richtig bemerkt, die lectio facilior, da mit illarum die vier Verse zuvor genannten partes wieder aufgenommen werden. Bailey weist darauf hin (Proleg. V B, §7), dass in De Rerum Natura ein Neutrum durchaus auf Substantive eines anderen Genus bezogen werden kann. Dennoch reicht dies m.E. an dieser Stelle nicht aus, um das neutrale illorum auf die cacumina, die ganz zu Beginn dieses Abschnitts genannt sind (1,600) oder auf die primordia (1,609) zu beziehen. Deufert 2018 weist zudem darauf hin, dass die Korruptel von A zu O in der Überlieferung häufig zu beobachten ist. Brown 1984 ad 1,611 konstatiert richtig: „This line contrasts the union of the ,least partsʻ in an atom with the union of atoms to form a compound“. Furley 1967, S. 35 (Hervorhebung dort) bezeichnet die Einführung einer solida bzw. aeterna simplicitas als „poor [argument]“: „The premise ,the extremity cannot be sep-

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Die Ordnung der Dinge (I)

Auch hier stellt sich wieder die Frage nach der Erzählbarkeit dieser Phänomene, die für das erste Buch bereits ausführlich diskutiert wurde.18 Im Fall der minimae partes dient aber weniger die Strategie der Setzung, sondern die Absolutsetzung des resultativen Aspekts als Lösungsansatz: Das Bestehen der Atome ist immer und allein als Resultat zu sehen, das nicht eingeholt werden kann – weder sprachlich, noch theoretisch, noch philosophisch. Dieses ,absolute Resultat‘ ist nur ein anderer Ausdruck für den Raum der Zeitlosigkeit, in der das Atom sich befindet. Dass in dieser Zeitlosigkeit der Aspekt der Ordnung akzentuiert wird, ist besonders bemerkenswert und aufschlussreich, denn auf diese Weise rückt eine andere, der Ordnung der Dinge diametral entgegenstehende Ordnung der Atome in den Fokus. Nach der präzisen Einführung der atomaren Grundbausteine in den Versen 1,599–604 folgt eine genauere Beschreibung des Atomaufbaus aus diesen minimae partes (1,605f.): inde aliae atque aliae similes ex ordine partes agmine condenso naturam corporis explent […].

605

Daher füllen eins ums andere ähnliche Teilchen geordnet in dichter Reihe das Atom und gestalten es […].

Zwei Aspekte sind hierbei besonders hervorzuheben. Zunächst: Die Grundelemente sind in ihrer Menge nicht genau festgelegt (aliae atque aliae partes),19 zugleich aber ähneln diese partes einander. Es muss jedoch offenbleiben, ob die Theorie der minimae partes, wie die der Atome, eine Theorie der Formen impliziert (vgl. 2,333–729), denn die in diesem Kapitel diskutierten Verse sind neben einer Passage im zweiten Buch (2,485–499) die einzigen expliziten Äußerungen zu den minimae partes in De Rerum Natura.

18 19

arated‘ is apparently asserted without a proper argument […]; and the possibility that, even if the minimum part is inseparable, the atom might have other separable parts not considered“. Vgl. Kap. 3.1.1 dieser Arbeit. In 2,485f. wird die Zahl der minima genauer festgelegt: fac enim minimis e partibus esse / corpora prima tribus, vel paulo pluribus auge („Lass nämlich die Ursprungskörper aus drei winzigen Teilchen bestehen, oder erweitere sie noch um ein paar wenige“). Durch das einleitende fac ist der Modus dieser Bestimmung jedoch als Vorstellung markiert. Darin manifestiert sich erneut der theoretische Status der minimae partes. Ihre Anzahl lässt sich nicht genau bestimmen, sondern nur näherungsweise eingrenzen (3 + x). Dies lässt den Schluss zu, dass die Zusammensetzung der Atome aus einer nicht unüberschaubaren Menge von minimae eine Ordnung von geringerer Komplexität bilden. Vgl. dazu ausführlicher Kap. 5.1 dieser Arbeit.

Im Inneren der Atome

157

Die Weise, in der die minimae partes die Atome konstituieren, wird als geordnetes ,Auffüllen‘ beschrieben.20 Durch das Verb explere ist besonders deutlich markiert, dass das Einzelatom an dieser Stelle als räumliches Gebilde vorgestellt ist, gewissermaßen als Hohlkörper, der von den Kleinstelementen gefüllt wird – und zwar ohne dass dabei durch das inane konstituierte Leerräume existierten.21 Die Junktur natura corporis markiert zudem, dass die Aussagen, die an dieser Stelle über das Atom und seine Beschaffenheit getroffen werden, konzeptueller Art sind. Gerade dieser Akzent auf der generellen Beschaffenheit eines Atoms ist von Bedeutung, denn es gehört zur natura, d.h. zum Wesentlichen des Atoms, von den minimae partes gänzlich ausgefüllt zu sein. Auch das Verb explere ist damit weniger als Prozess, denn als Zustand des ,Erfüllens‘ zu verstehen. Obwohl die Atome damit, wie die Dinge, die sie konstituieren, Zusammensetzungen aus Einzelelementen sind, unterscheiden sie sich in eben diesem wesentlichen Punkt von den Dingen: Die Ordnung der Atome ist eine, die unauflösbar ist, also eine, die immer in ihrer jeweiligen Form bestehen bleibt. Dass das Innere eines Atoms als etwas beschrieben wird, das mit minimae partes gefüllt ist, impliziert zudem, wie sich oben bereits angedeutet hat, dass für diese Ordnung feste Grenzen existieren. Aufschluss über diese Form der Ordnung, die jegliche Prozessualität von vornherein ausschließt, kann eine genauere Betrachtung der Verse geben, die darstellen, wie die Atome in ihrem Inneren gefüllt sind. Zwar ist die Menge der Teilchen unbestimmt, der Modus ihrer Verbindung ist dafür umso präziser als ein geordneter benannt. Dass die minimae partes im Kontext einer Ordnung anzusiedeln sind, zeigt am deutlichsten die Junktur ex ordine (1,605), die die Ordnung des Atoms als eine Reihenfolge oder Anordnung markiert: „Elles [sc. les minimae partes] constituent par leur homogénité la cohérence des corps premiers“.22 Auch wenn diese Anordnung nicht genauer charakterisiert wird – es wäre z.B. denkbar, zwischen den cacumina als Extrempunkten und weniger exponierten minimae partes zu unterscheiden –, so ist das Innere eines Atoms doch als eines beschrieben, das nicht gänzlich unbestimmt ist. Dadurch, dass Lukrez nicht den konkreten Prozess des Füllens eines Atoms durch minima beschreibt, sondern eine generelle Aussage darüber trifft, wie ein Atom beschaffen ist, bleibt die Frage, ob diese Ordnung eine gerichtete, teleologische sei, oder nicht, gänzlich ausgeblendet. Die Ordnung des Atoms ist eine, die schlicht existiert. Im Gegensatz zu den Atomen sind die minima nie in unverbundener Form vorhanden ([cacumen] nec fuit umquam / per se secretum ‒ „Nie hatte es für sich abgetrennt Bestand“; 1,602f.). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass über die Beschaffenheit 20

21 22

Garani 2007, S. 187–195 untersucht die Metapher des Auffüllens und Leerens bei Lukrez mit Blick auf seine Adaption der Metaphorik, die Empedokles und Epikur verwenden. Die Passagen zu den minimae partes bleiben dabei jedoch unberücksichtigt, da der Fokus Garanis in erster Linie dem leeren Raum gilt. Vgl. Brown 1984 ad loc.; Garani 2007, S. 175. Gaudin 1999, S. 60.

158

Die Ordnung der Dinge (I)

der minimae partes als Einzelteile nur theoretische Aussagen getroffen werden können. Noch ein weiterer Punkt trägt dazu bei, dass die minima ein gedankliches Konstrukt bleiben: In ihnen existiert keine Leere.23 Die Junktur agmine condenso (1,606) bestimmt – neben ex ordine – die Füllung eines Atoms näher. Nicht nur in einer (Reihen-)Folge, sondern auch in einer Form der äußersten Komprimierung sind die minimae partes in den Atomen angeordnet. Veranschaulicht wird diese besondere Dichte der minimae partes also durch das folgende Bild: Im metaphorischen Sinn verstanden ist das Innere eines Atoms mit einem in enger Ordnung stehenden Heer zu vergleichen. Auch an anderer Stelle, wie z.B. dem Gleichnis von Atomen und Staubkörnern,24 greift Lukrez auf die Bildlichkeit des Krieges zurück, um die Bewegung, v.a. den immerwährenden, konfliktiven Zustand der Atome zu veranschaulichen.25 Doch die militärische Metaphorik illustriert nicht nur die nie zum Stillstand kommende Bewegung der Atome, sondern auch deren Ordnung.26 Die Vorstellung einzelner, dicht beieinander stehender Soldaten, die ein unzertrennliches Ganzes bilden (müssen), um ihre Funktion zu erfüllen, lässt sich auf das Innere des Atoms übertragen: Auch dort sind es notwendigerweise mehrere Teilchen, die zur Funktionsfähigkeit des Ganzen benötigt werden; zugleich – und hier ist die Ebene der Atome noch existenzieller gedacht als die der Metapher – sind diese einzelnen Bestandteile aber unter keinen Umständen aus dem einmal gebildeten Verbund herauslösbar und so dicht zusammengefügt, dass es zwischen ihnen keinen Raum gibt. Dem Raum zwischen den einzelnen Elementen kommt jedoch, wie bereits für das inane im ersten Buch herausgearbeitet,27 in mehrfacher Hinsicht eine zentrale Rolle zu: Der Raum ermöglicht Bewegung und Differenz und damit letztlich die 23

24

25

26

27

Dies hebt auch Piazzi 2011 ad loc. hervor: „Le parti mimime che costituiscono l’atomo sono strettamente coese tra loro e non comprendono il vuoto, diversamente da quanto avviene negli aggregati di atomi“. 2,116–120: videbis / corpora misceri radiorum lumine in ipso / et vel ut aeterno certamine proelia pugnas / edere turmatim certantia nec dare pausam, / conciliis et discidiis exercita crebris („Du wirst sehen: Die Körperchen vermischen sich Mitten im Licht der Sonnenstrahlen und sie liefern sich, wie in einem nicht enden wollenden Gefecht, Schlachten und Kämpfe, in Schwadronen eifernd, und sie gönnen sich keine Ruhe. Immer erregt sie der Drang zur Verbindung und Trennung“). Bereits Leukipp und Demokrit greifen auf das Gleichnis zurück, um die Bewegungen der Atome zu charakterisieren (vgl. Aristot. De an. 1,2,404). Zum Bild bei Demokrit vgl. die Monographie von Salem 1996. Gale 1998 untersucht die Metaphorik des Krieges bei Lukrez und Vergil. Sie arbeitet heraus, dass sich Lukrez durch die Verwendung militärischer Metaphern einerseits in die Tradition seiner vorsokratischen Vorläufer, insbesondere Empedokles stellt, andererseits damit auch an die Sprache und Bildlichkeit der epischen Dichtung anschließt. Contra De Lacy 2007, S. 153: „The army is for Lucretius a symbol not of order but of the endless conflict that characterizes atomic movement on the physical level “. Vgl. Kap. 3 dieser Arbeit.

Im Inneren der Atome

159

Ordnung der Dinge. Im Umkehrschluss können nun aber auch die bereits genannten Besonderheiten der intra-atomaren Ordnung erklärt werden. Die Nichtexistenz von Zwischenräumen zwischen den minimae partes macht Bewegung und damit Veränderung unmöglich. Die Ordnung des Atoms ist eine statische und unauflösbar dichte:28 [primordia] minimis stipata cohaerent partibus arte („durch winzigste Teilchen eng aneinander gedrängt hängen sie zusammen“; 1,610).29 Dieser Befund macht auch deutlich, dass sich die tatsächliche Ordnung eines Atoms nicht genauer beschreiben lässt: Die minimae partes können nicht unterschieden werden, weil der Raum fehlt, der zur Unterscheidung notwendig ist. Dies verdeutlicht auch der folgende Vers, in dem es heißt, die minimae partes könnten nicht per se bestehen, sondern seien nur als Verbindung, d.h. in Relation zu einem anderen existent: necessest / haerere unde queant nulla ratione revelli („sie müssen sie dort anhaften, von wo sie unmöglich wieder abgerissen werden können“; 1,607f.). Das unauflösliche Zusammenhängen der minimae partes als Einheit kommt auch in den Versen 1,609‒614 noch einmal zum Ausdruck: [sunt primordia] simplicitate, / unde neque avelli quicquam neque deminui iam / concedit natura reservans semina rebus („dass davon [sc. von der Einheit] etwas abgerissen wird oder dass es vermindert wird, lässt die Natur nicht zu, denn sie bewahrt die Keime zu künftigen Dingen“). Ordnung ist an dieser Stelle somit als Einheit gedacht und durch die Emphatisierung der simplicitas wird dies noch einmal besonders deutlich. Wenn die Eigenschaft der Atome als Einheit zunächst (1,609f.) davon hergeleitet wird, dass die minima in ihnen in dichter Ordnung zusammenhängen (cohaerent), und der Prozess einer ordnenden Verbindung dabei ausgeschlossen wird, so beschreibt dies die Einheit aus einer teilchenbasierten Perspektive. Daran schließt eine Perspektive an, die das gerade Beschriebene, narratologisch gesprochen, noch einmal anders fokalisiert: Zum einen ist die simplicitas ewig (aeterna; 1,613) und nicht mehr nur fest (solidus; 1,609), zum anderen ist sie nicht einer abstrakten Notwendigkeit unterworfen (wie in 1,607f.: necessest haerere). Es ist vielmehr natura, die jene Eigenschaften der minima bestimmt: concedit natura (1,614). Doch weniger die erneut genannte Tatsache, dass die minimae partes nicht geteilt oder vermindert werden können (1,613), sondern vielmehr, dass die Natur diese Strukturen den Dingen vorbehalten hat, ist an dieser Stelle in den Vordergrund zu rücken: natura reservans semina rebus (1,614). Implizit lassen sich hieraus Rückschlüsse auf die natura rerum ziehen, denn primordia und res 28

29

Brown 1984 ad loc. weist darauf hin, dass auch durch stipare und cohaerere die militärische Metaphorik fortgeführt werde. Vgl. im Gegensatz dazu die Atome: Nec tamen undique corporea stipata tenentur / omnia natura; namque est in rebus inane („Aber es ist nicht überall alles gedrängt voll Körpermaterie; denn es gibt noch im Inneren der Dinge das Leere“; 1,329f.); nam certe non inter se stipata cohaeret / materies, quoniam minui rem quamque videmus („Denn mit Sicherheit hängt die Materie nicht untereinander zusammen wie ein Klumpen geballt, da wir ja sehen, wie sich ein jedes Ding vermindert“; 2,67f.).

160

Die Ordnung der Dinge (I)

lassen sich auf der Basis ihrer jeweiligen Teilchenebene unterscheiden. Die Atome werden an dieser Stelle als semina (rebus) bezeichnet, wodurch schon terminologisch die Unterschiede zu den minima deutlich werden: Die semina besitzen generatives Potential. Sie können die Dinge und damit verschiedene Ordnungen bilden und zeichnen sich durch eben diese Eigenschaften aus: Die Dinge können zerstört und aufgelöst werden, weil die Menge der sie konstituierenden Atome durch Abnutzungserscheinungen abnehmen kann. Den minimae partes fehlt dieses Potential.30 Für die Ordnung der Dinge und die der Atome ergeben sich aus dieser Passage die folgenden Schlüsse: Die Ordnung (innerhalb) der Atome ist unter völlig anderen Prämissen konzeptualisiert als die Ordnung (innerhalb) der Dinge, aber beide Formen sind, zumindest theoretisch, existent. In der Ordnung der minimae partes liegt das Paradox einer Ordnung vor, die zwar aus einzelnen Teilen besteht, deren Einzelteile aber keine Funktion haben und nicht wahrnehmbar bzw. unterscheidbar sind. Gerade aus diesem Grund ist die vorliegende Passage für die generellen Überlegungen zur Ordnung in De Rerum Natura von zentraler Bedeutung. Hier wird dezidiert eine Ordnung dargestellt, die ohne ,funktionsfähige‘ Bestandteile auskommt, weil sie als Einheit konzeptualisiert ist. Daran schließt unmittelbar ein zweiter wichtiger Aspekt an: Der Komplex von Grenze und Unterscheidung. Eine minima pars ist eine theoretische und absolute Grenze, die einen ganz wesentlichen epistemologischen Stellenwert besitzt: Sie ermöglicht zu unterscheiden. Wäre nämlich der Teilbarkeit der Teilchen keine Grenze gesetzt, wie es die Verse 1,615– 620 vorführen, läge in einem Atom die Unendlichkeit: praeterea nisi erit minimum, parvissima quaeque corpora constabunt ex partibus infinitis, quippe ubi dimidiae partis pars semper habebit dimidiam partem nec res praefiniet ulla.

30

615

Vgl. 1,628–634: Denique si minimas in partis cuncta resolvi / cogere consuesset rerum natura creatrix, / iam nil ex illis eadem reparare valeret / propterea quia, quae nullis sunt partibus aucta, / non possunt ea quae debet genitalis habere / materies, varios conexus pondera plagas / concursus motus, per quas res quaeque geruntur („Schließlich: Wenn die Natur der Dinge, die Schöpferin, gewöhnlich alles zwänge, sich wieder in kleinste Teilchen aufzulösen, könnte sie aus ihnen nicht mehr dieselben Gebilde aufs Neue herstellen, weil, was durch keinerlei Teilchen vermehrt ist, nicht das besitzen kann, was Zeugungsstoff haben muss: unterschiedliche Verbindungen, Gewicht, Stöße, Zusammentreffen, Bewegungen; nur so vollzieht sich alles“). Der Schluss der Passage akzentuiert ex negativo, welche Eigenschaften die Teilchen besitzen müssen, die als genitalis materia fungieren: conexus, pondera, plagas, concursus, motus. Die Dinge können nur entstehen, wenn diese ,Variablen‘ gegeben sind. Das Konzept von Ordnung, das hier zugrunde gelegt ist, speist sich, wie gerade auch mit Blick auf die Buchstabenanalogien deutlich wird, aus der je spezifischen Kombination und Ausformung dieser Aspekte.

161

Im Inneren der Atome ergo rerum inter summam minimamque quid escit? nil erit ut distet […].

620

Wenn es außerdem kein Kleinstes gibt, dann werden auch die winzigsten Körper aus unzähligen Teilen bestehen, denn stets wird die Hälfte einer Hälfte eine Hälfte haben und nichts wird jemals eine Grenze setzen. Welcher Unterschied wird also zwischen dem Größten und dem Kleinsten bestehen? Keiner.

Ohne Grenze keine Möglichkeit zur Unterscheidung. Wenn ein Ding unendlich teilbar wäre, wären ein Atom und das All nicht mehr voneinander zu unterscheiden, da beide unendlich viele Teile besäßen. Für eine Ordnung bedeutet dies, dass sie nur entstehen und bestehen kann, weil die Atome selbst nicht mehr teilbar sind. Eine statische Ordnung ist möglich – so zeigt der Fall der minimae partes –, verfügt aber nicht über das schöpferische Potential, das einer dynamischen Ordnung innewohnt. 5.1.1

Exkurs: De rerum mixtura. Selbstreflexivität und Emergenz

Für die Ordnung der Dinge, so hat sich bis zu diesem Punkt gezeigt, sind Einheit (hier im emphatischen Sinne als Unveränderbarkeit verstanden) und Differenz von wesentlicher Bedeutung. Am Ende des zweiten Buches wird diese Konstellation noch einmal in einer kurzen Passage aufgenommen und in einer Weise akzentuiert, die nicht nur bemerkenswert ist, weil sie die beiden genannten Voraussetzungen in Verbindung mit dem Komplex von Ordnung und Empfindung bringt, sondern auch, weil dabei der erkenntnistheoretische Kern von De Rerum Natura benannt wird: γνῶθι σεαυτόν als Physik, und zwar im Bild der über sich selbst reflektierenden Atome. In dem in Rede stehenden Teil des zweiten Buches wird neben der Erklärung der atomaren Formen und Verbindungen auch dargestellt, wie diese Formen und Verbindungen die Empfindungsfähigkeit beeinflussen. Gerade vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die epikureische Epistemologie ganz wesentlich auf Sinneswahrnehmungen fußt,31 verdient dieser Komplex besondere Aufmerksamkeit. Seine Bedeutung erschöpft sich nicht in der Feststellung, bei der Darstel-

31

Auch wenn ein besonderer Schwerpunkt auf den Sehsinn gelegt wird, ist der eigentliche primus sensus der Tastsinn: tactus enim, tactus, pro divum numina sancta, / corporis est sensus („Nur durch Berührung nämlich, durch Berührung, entsteht, bei den Mächten des Himmels, jedes Empfinden des Körpers“; 2,434f.). Eine ,Haptomenologie‘ von De Rerum Natura ist noch zu schreiben. Vgl. zur Bedeutung des Tastsinns zuletzt Moser 2016.

162

Die Ordnung der Dinge (I)

lung fühlender Atome handle es sich um die in De Rerum Natura häufig angewandte argumentative Strategie der reductio ad absurdum.32 Den Ausgangspunkt bildet, wie auch in der zuvor behandelten Passage (1,615–620) die Feststellung, dass die atomaren Zusammensetzungen immer von einem Unveränderbaren, einer Grenze, ausgehen müssen, um Beliebigkeit und Ununterscheidbarkeit zu vermeiden. Andernfalls böte sich das Bild einer unendlichen Partikularisierung der Welt (2,980–983): quandoquidem totis mortalibus assimulata ipsa quoque ex aliis debent constare elementis, inde alia ex aliis, nusquam consistere ut ausis […].

980

Denn da sie [sc. die Atome] ähnlich wären einem sterblichen Menschen als Ganzes, müssten sie selbst auch wieder aus anderen Atomen bestehen, diese dann wieder aus anderen, so dass du nirgendwo wagtest, einen Punkt zu machen […].

Die unterschiedlichen Erscheinungen in der Welt, so erklären die Verse, sind nicht direkte Abbilder oder Reproduktionen eben jener Erscheinungen auf der Ebene der Atome. Entgegen Anaxagoras’ Modell zur Welterklärung stehen sie nicht in einem Verhältnis der Homoiomerie (,Gleiches aus Gleichem‘).33 Hier gilt vielmehr das Schema ,Differenz aus Differenz‘. Es unterscheiden sich jedoch nicht konkrete Eigenschaften, die von der Ebene der Atome auf die der Dinge übergehen. Die Differenz besteht vielmehr in den spezifischen Ordnungen der Atome, aus denen die verschiedenen Eigenschaften der Dinge – qua Emergenz – hervorgehen. Eben hierauf, also auf der Frage nach der Entstehung spezifisch menschlicher Eigenschaften aus der eigenschaftslosen Trägersubstanz der Atome, liegt nun der Fokus. Das folgende Szenario stellt dar, was geschehen würde, wenn auch Atome Empfindungen hätten (2,976–979): scilicet et risu tremulo concussa cachinnant et lacrimis spargunt rorantibus ora genasque multaque de rerum mixtura dicere callent et sibi proporro quae sint primordia quaerunt […]. Freilich lachen sie [sc. die Atome] schallend, geschüttelt von Lachsalven, benetzen mit tauigen Tränen ihr Gesicht und ihre Wangen und verstehen sich darauf, viel über die Mischung der Dinge zu sagen und weiter danach zu forschen, was Urkörper seien […].

32

33

Implizit Bailey 1947, S. 954: „The argument is not very serious […]. But he [sc. Lucretius] loves to conclude a long argument with an ironical jeu d’esprit“. Vgl. daneben z.B. Kullmann 1980, Asmis 1984, S. 297 oder Gale 1994, S. 123. Diesen Bezug stellt auch Bailey 1947, S. 954 her.

Im Inneren der Atome

163

Nur aus lachenden bzw. weinenden Atomen könnte demnach das menschliche Lachen oder Weinen hervorgehen.34 Doch Lukrez belässt es nicht bei diesen genuin menschlichen Empfindungen. Er überträgt auch die Handlung auf die Ebene der Atome, die in diesem Teil von De Rerum Natura im Zentrum steht: De Rerum Natura wird zu de rerum mixtura. Die Dinge und ihre Entstehung aus der Mischung von Atomen sowie die Atome und ihre Beschaffenheit werden selbst zum Gegenstand der Betrachtung. Auch wenn der gesamte Passus ex negativo gelesen werden muss, denn gerade auf diese Weise funktioniert das atomistische Modell nicht,35 lässt das, was hier beschrieben ist, doch Rückschlüsse darauf zu, was die Menschen tatsächlich tun – mit dem Unterschied, dass ihre Handlungen nicht bereits von den Atomen vorgegeben sind. Die atomare Selbstbetrachtung offenbart aus dieser Perspektive weitergehende epistemologische Implikationen, denn zum einen wird in diesem Bild explizit die Mischung der Atome, d.h. ihre Ordnung zum Thema erhoben und das Wissen um die Entstehung der Dinge durch ihre Mischung (mixtura) als ein Kernkomplex der Lehre von den Atomen (und als Kernkompetenz eines Rezipienten) markiert. Zum anderen veranschaulicht die Frage der primordia nach sich selbst (quae sint primordia; 2,979) den Anspruch von De Rerum Natura, nicht nur die Dinge, sondern auch die Atome so genau wie möglich zu durchdringen, indem nach ihrer Wesenhaftigkeit gefragt wird. So sichtbar wird das spezifische Interesse der lukrezischen Dichtung an ihrem Stoff an keiner anderen Stelle personalisiert, denn von der hier beschriebenen Ebene der Atome können die erkenntnistheoretischen Fragen und Handlungen gleichsam auf die Ebene des Menschen zurückprojiziert werden. Neben Ordnung tritt noch ein weiterer Aspekt in den Vordergrund, der damit in enger Verbindung steht. Wenn nämlich die Eigenschaften der Dinge nicht in den Atomen liegen, wie hier u.a. in so einprägsamen Schlüssen, wie ridere potest non ex ridentibus auctus („lachen kann doch auch das, was nicht aus lachendem Stoff erwachsen ist“; 2,986), woher stammen sie dann? Dieses unerklärbare ,Mehr‘, das aus der Ordnung der Atome resultiert, lässt sich am besten unter dem Begriff der Emergenz fassen. Wie bereits an früherer Stelle skizziert, kann das Konzept einer emergenten Ordnung36 genau jenen Punkt in der Entstehung der Dinge beschreibbar und benennbar machen, der in De Rerum Natura zumeist als Leerstelle fungiert. Denn nicht Ordnung resultiert als neue Eigenschaft aus der 34

35

36

Eine verkürzte Darstellung dieser Passage findet sich bereits im ersten Buch (1,919f.): fiet uti risu tremulo concussa cachinnent / et lacrimis salsis umectent ora genasque („Dann wird es geschehen, dass sie schallend lachen, von Lachsalven geschüttelt, und mit salzigen Tränen ihr Gesicht und ihre Wangen benetzen“). Vgl. dazu Shearin 2015, S. 79f. Wardy 1988, S. 128 beschreibt das Szenario dieser Verse daher nicht ganz korrekt, wenn er zusammenfasst: „Lucretius concludes with some familiar sarcasm […], finally allowing his concealed adversary to break cover“. Gerade dies ist nicht der Fall, denn das hier geschilderte Szenario markiert trotz des Sprechens im Indikativ seinen Modus der Irrealität durch das einleitende scilicet und die vorangegangene rhetorische Frage. Vgl. Kap. 1.3.3 dieser Arbeit.

164

Die Ordnung der Dinge (I)

Zusammenfügung der Atome. Erst durch den Prozess der Ordnung und dessen Resultat wird jenes ,Mehr‘ vielmehr sichtbar. 5.2

Die Kritik der Ordnung

5.2.1

Die implizite Ordnung der Welt

Nicht nur zur internen Disposition der Atome, sondern auch zur Ordnung der Dinge enthält das erste Buch wichtige Beobachtungen. In der im Folgenden diskutierten Passage geschieht dies im Modus der Absetzung: Gleich zu Beginn eines längeren Passus, der im Zeichen der Auseinandersetzung mit anderen philosophischen Welterklärungsmodellen steht (1,635–920),37 unternimmt Lukrez eine Kritik der Feuerthese Heraklits (1,635–638): Quapropter qui materiem rerum esse putarunt ignem atque ex igni summam consistere solo, magno opere a vera lapsi ratione videntur. Heraclitus init quorum dux proelia primus […].

635

Diejenigen, die der Meinung sind, Feuer sei der Grundstoff der Dinge, und nur aus Feuer bestehe auch das Weltall, scheinen mir erheblich abzukommen vom Weg der Wahrheit. Heraklit, ihr Anführer, beginnt als erster die Schlacht […].

Wie bereits im Passus der Buchstabenanalogien sichtbar geworden ist, lässt sich die kritische Revision der philosophischen Lehren strukturell betrachtet auf eine je unterschiedlich gewichtete binäre Grundkonstellation zurückführen: Ordnung und Differenz. Die verschiedenen Welterklärungsmuster der Vorsokratiker, seien es nun Heraklit, Empedokles oder Anaxagoras, sind aus der lukrezischen Perspektive nicht falsch und müssen deshalb widerlegt werden, sondern unzureichend für die Erklärung der Komplexität der Welt. Nach Heraklit bildet das Element Feuer das Grundmaterial aller Dinge. Die lukrezische Kritik setzt nun an einem Punkt an, der an das oben beschriebene Muster von Ordnung und Differenz rührt (1,645f.): Nam cur tam variae res possent esse, requiro, ex uno si sunt igni puroque creatae. Ich möchte nämlich wissen, warum die Dinge so mannigfaltig sein können, wenn sie allein aus reinem Feuer entstanden sind.

37

Zu einer ausführlichen Untersuchung dieser Passagen unter quellenkritischen Gesichtspunkten vgl. zuletzt Montarese 2012, zur Auseinandersetzung mit Heraklit v.a. S. 177f. und S. 182–208.

165

Die Kritik der Ordnung

Die indirekte Frage bringt auf den Punkt, wo und weshalb die Welterklärung Heraklits an ihre Grenzen kommt: Ausgehend von der Vielfalt der Dinge in der Welt, die zugleich impliziert, dass es Unterschiede in der Welt gibt, die diese Verschiedenheit erfassbar machen, kann es unmöglich nur einen einzigen Ursprung, in diesem Fall Feuer, geben. Zwei Aspekte, die für die Konzeptionalisierung von Ordnung von zentraler Bedeutung sind, scheinen bereits auf. Erstens: die Frage nach dem Anfang. Entscheidend ist nämlich, dass an dieser Stelle die variatio der Dinge in der Welt allein mit Blick auf ihre Entstehung thematisiert wird. Zweitens: Die lukrezische Kritik bzw. Frage lässt implizit auch Rückschlüsse auf die Entstehungsprozesse der Dinge zu. Gemäß der lukrezischen Welterfassung kann aus einem Element nicht Verschiedenes entstehen, denn die Eigenschaften dieses Elements bleiben stets präsent, Verschiedenheit tritt hinter Gleichheit zurück (1,647–649): nil prodesset enim calidum denserier ignem nec rarefieri, si partes ignis eandem naturam quam totus habet super ignis haberent. Denn es nützte ja nichts, dass sich das heiße Feuer verdichtete oder verdünnte, wenn die die Teile des Feuers dasselbe Wesen besäßen wie auch schon das Feuer im Ganzen.

Verschiedenheit ist jedoch für das Entstehen und Bestehen der Welt von essentieller Bedeutung. Diese Voraussetzung ist – zumindest nach der Darstellung des heraklitischen Modells durch Lukrez – nur gegeben, wenn man annimmt, dass sich das Ausgangselement verändern kann (1,665–669): Quod si forte alia credunt ratione potesse ignis in coetu stingui mutareque corpus, scilicet ex nulla facere id si parte reparcent, occidet ad nilum nimirum funditus ardor omnis et ˂e˃ nilo fient quae cumque creantur.

665

Wenn sie nun aber vielleicht glauben, dass die Feuer in ihrer Verbindung auf eine andere Weise vergehen und ihre Gestalt verändern könnten, dann wird, freilich wenn sie sich nicht enthalten, das zu tun, die Glut natürlich ganz und gar vergehen und aus dem Nichts wird sich alles entwickeln, was irgend entsteht.

Nach lukrezischen Maßstäben ist die in diesen Versen beschriebene Veränderung ein Ding der Unmöglichkeit. Eine Veränderung des Grundelements Feuer, sei es nun durch Erlöschen (in coetu stingui)38 oder durch den Wandel des Elements zu 38

Vgl. aber Bailey 1947 ad loc. zu einer differenzierten Auseinandersetzung der in diesen Versen beschriebenen Vorgänge (Hervorhebung E.N.): „,[E]xtinguished‘ is the important word for Lucretius’ argument. If Heraclitus had really said that the fire was

166

Die Ordnung der Dinge (I)

einem anderen (mutare corpus), hat weitreichende Konsequenzen: Kann sich nämlich das Grundelement aller Dinge verändern, verändert sich auch die Beschaffenheit von Anfängen. Genau hier liegt der Punkt, an dem die Theorie Heraklits mit der lukrezischen bzw. epikureischen in Konflikt steht. Denn bei aller Bewegung und Veränderung in der Welt muss es eine unveränderbare Konstante, die Atome, geben: aliquid superare necesse est incolume („etwas Unversehrtes muss bestehen bleiben“; 1,672).39 Die Frage, wie aus den Elementen oder Atomen die verschiedenen Dinge der Welt entstehen können, verweist implizit auf die Frage nach den Voraussetzungen und Möglichkeiten von Ordnung. Wenn in diesem Passus nun gegen die Veränderbarkeit und Zerstörbarkeit der materies rerum bei Heraklit argumentiert wird und diese Kritik explizit an die Frage gebunden ist, wie es zur Varianz der Dinge in der Welt kommen kann, so steht dabei eigentlich das Zwischenstadium zwischen Element und Ding, d.h. der Entstehungsprozess selbst im Zentrum. Fasst man die Genese eines Dings einmal als abstrakten Vorgang auf, so steht an dessen Anfang immer etwas Unveränderliches, eine Anzahl unveränderlicher Atome. Wenn sich diese Bestandteile im Gegensatz zum Element des Feuers bei Heraklit nicht verändern und auch über keine Sekundäreigenschaften40 verfügen, die die Eigenschaften der Zusammensetzung determinieren könnten, dann bedeutet dies im Umkehrschluss, dass gerade dem Prozess des Zusammenfügens selbst entscheidende Bedeutung zukommt. Neben dem Aspekt der Differenz und seiner

39

40

extinguished and then became water, his argument would be justified, but the extinction is in fact part of the gradual process of transformation by compression“. Allgemeiner auch schon bei Furley 1989, S. 186: „Lucretius treats the three Presocratic theories […] as rivals to Atomism. He sees them […] as three variations on a single theme – the theme of continuity, the contradictory of atomism“. Die Kontinuität, von der Furley spricht, bezieht sich freilich auf die Beständigkeit eines Elements, wie Wasser oder Feuer, das es im Atomismus nicht gibt. Die Atome ließen sich somit als reine Trägersubstanz für die aus spezifischen Ordnungen resultierenden Eigenschaften beschreiben, wie dies in 2,848–859 in einem Vergleich mit der Herstellung von Parfüm evoziert wird: Damit die jeweilige im Zentrum stehende Substanz (bzw. atomare Eigenschaft) hervortreten kann, muss der Träger so neutral wie möglich sein: nectar […], / cum facere instituas, cum primis quaerere par est, / quod licet ac possis reperire, inolentis olivi / naturam, nullam quae mittat naribus auram, / quam minime ut possit mixtos in corpore odores / concoctosque suo contractans perdere viro, / propter eandem ˂rem˃ debent primordia rerum / non adhibere suum gignundis rebus odorem / nec sonitum, quoniam nil ab se mittere possunt („Wenn du Balsam herstellen möchtest, heißt es vor allem bedacht zu sein, sich, soweit es möglich ist und du es finden kannst, die reine Natur von geruchlosem Öl zu verschaffen, die keinen Dufthauch zur Nase ausströmen lässt, dass sie so die in ihrem Körper vermischten und verkochten Düfte so wenig wie möglich verderben kann, indem sie sie mit ihrem Eigengeruch berührt. Aus demselben Grund dürfen auch die Ursprungskörper der Dinge ihren Geruch und ihren Ton den zu erschaffenden Dingen nicht beigeben, da sie ja nichts von sich ausströmen lassen können“).

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Die Kritik der Ordnung

spezifischen Ausformung ist es damit Ordnung, die an dieser Stelle ins Feld geführt wird, um die Welterklärung Heraklits als unzureichend offenzulegen: Nicht allein, dass die Ausgangsbasis Feuer zu wenig Differenz in der Welt zulässt, da alle Dinge dann Feuer enthielten – damit einher geht auch eine gänzlich andere Form der Entstehung der Dinge, die ganz wesentlich auf der mutatio des Ausgangsstoffes Feuer beruht und nicht auf der Anordnung des Grundstoffes selbst (mutatio statt ordo). Diese beiden Modelle der Welterklärung werden in der Folge (1,675–689) noch einmal explizit zueinander ins Verhältnis gesetzt, und auch hier, in der direkten Gegenüberstellung im Modus der correctio, wird deutlich, dass das tertium dieser Gegenüberstellung in der Ordnung zu finden ist. 5.2.2

Die correctio der Ordnung

Die Einführung der atomistischen Welterklärung als Gegendiskurs zur Welterklärung Heraklits verfährt nach ähnlichen Mustern wie die zu widerlegende Lehre: Es geht um die Frage, woraus die Dinge entstehen, und welche Prozesse bei ihrer Herausbildung zum Tragen kommen (1,675–679): Nunc igitur quoniam certissima corpora quaedam sunt, quae conservant naturam semper eandem, quorum abitu aut aditu mutatoque ordine mutant naturam res et convertunt corpora sese, scire licet non esse haec ignea corpora rerum.

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Da nun ja feststeht, dass es ganz bestimmte Atome gibt, die immer dasselbe Wesen bewahren, und durch deren Weggang und Hinzutreten und veränderte Ordnung die Dinge ihre Beschaffenheit verändern und Körper sich wandeln, weiß man, dass diese Körper der Dinge nicht aus Feuer bestehen.

Lukrez erklärt gleich zu Beginn der Passage die Existenz von certissima corpora und rückt auf diese Weise ein zentrales Merkmal der atomistischen Erklärung in den Mittelpunkt: Es geht nicht um nicht näher bestimmte Bestandteile eines Grundelements, das die Basis der Dinge bildet (vgl. 1,648: partes ignis). Lukrez macht vielmehr von Beginn an die Beschaffenheit der Dinge so explizit wie nur möglich. Die atomistische Welterklärung baut auf der Grundlage der corpora auf, die nicht zuletzt als Metaphern, die sie sind, eine spezifische, wenn auch nicht (teleologisch) gerichtete, aber zumindest implizite Ordnung und Verhältnismäßigkeit zwischen Teil und Ganzem herstellen. Im Fall des Monismus Heraklits war dagegen lediglich zwischen partes ignis und totus ignis (1,648f.) unterschieden worden. Hinzu kommt, dass die corpora jeglicher Beliebigkeit entbeh-

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Die Ordnung der Dinge (I)

ren, da sie als certissima corpora bezeichnet werden.41 Die corpora der Dinge sind ganz bestimmte und damit auch bestimmbare Teilchen, die dadurch auf die zunächst einfach anmutende Tatsache hinweisen, dass Unterscheidbarkeit für die Dinge von Bedeutung ist. Doch noch in einem weiteren Punkt schließen die obigen Verse direkt als correctio an die Lehre des Heraklit an. Wenn nämlich im folgenden Relativsatz die Eigenschaften jener certissima corpora genauer beschrieben werden, dann lassen sich dort deutliche Parallelen zu den Versen ziehen, in denen die natura des monistischen Urstoffs Feuer zur Darstellung kommt. Die Atome zeichnen sich, wie bereits im Superlativ certissimus angelegt, dadurch aus, dass sie stets die gleiche Gestalt behalten (vgl. 1,676). Ganz ähnlich hieß es im Passus zu Heraklit: si partes ignis eandem / naturam quam totus habet super ignis haberent („wenn die die Teile des Feuers dasselbe Wesen besäßen wie auch schon das Feuer im Ganzen“; 1,648f.). Der Unterschied der beiden Modelle tritt hier klar zutage: Während beim ,lukrezischen Heraklit‘ die einzelnen Teile des Feuers (partes ignis; 1,648) in gleicher Weise beschaffen sind wie das Element Feuer (totus ignis; 1,649), Teil und Ganzes somit identisch sind, spielt die natura als Beschaffenheit der einzelnen Elemente eines Dings im atomistischen Modell eine andere Rolle: Die certissima corpora weisen nämlich immer dieselbe Beschaffenheit auf, die nicht an die eines übergeordneten Elements oder Dings gebunden ist. An die Stelle der Indifferenz zwischen Feuerteilchen und Feuer tritt hier also die Differenz zwischen Atom und Ding. Dieses Verhältnis wird in der Folge noch expliziter, wenn Lukrez die Bewegungen der Teilchen und damit den Schwebezustand zwischen den sich ordnenden Atomen und den daraus entstehenden Dingen beschreibt (1,677f.): […] quorum abitu aut aditu mutatoque ordine mutant naturam res et convertunt corpora sese […]. Durch deren [sc. der certissima corpora] Weggang und Hinzutreten und veränderte Ordnung verändern die Dinge ihre Beschaffenheit und Körper wandeln sich […].

Durch die verschieden gearteten Bewegungen der Atome verändern die Dinge ihre Beschaffenheit: mutant naturam res. Im atomistischen Modell sind somit zentrale Unterschiede zum Modell Heraklits zu bemerken: Durch die Erklärungsgrundlage der certissima corpora kann präzise nachverfolgt werden, welche Vorgänge auf der atomaren Ebene vor sich gehen. Die einzelnen Teilchen formen die Dinge durch ihren „Weggang“ (abitu) oder ihr „Hinzutreten“ (aditu) und verändern so die

41

Brown 1984 ad loc. sieht in der emphatischen Setzung des Superlativs eine Absetzungsbewegung: „[P]robably pointing the contrast with the ill-defined bits of fire that constitute the rival primordia“.

Die Kritik der Ordnung

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Ordnung der gesamten Zusammensetzung;42 besondere Aufmerksamkeit verdient, was an die Beschreibung dieser Formierungsmechanismen anschließt. Die Veränderungen auf der atomaren Ebene zeitigen auch Veränderungen auf der Ebene der Dinge. Durch die Junktur mutato ordine, die als Überbegriff für die Resultate der Stoffzunahme oder -abnahme fungiert, werden diese Vorgänge explizit in ein Verhältnis zur veränderten Ordnung der Dinge gesetzt.43 Bei verändertem ordo der atomaren Zusammensetzungen verändern diese ihre Beschaffenheit. Die Entsprechung dieser beiden Mechanismen auf der Ebene der Atome und der Ebene der res schlägt sich auch in der Wortwahl nieder, denn beide Formen der Veränderung werden durch das Verb mutare beschrieben.44 Diese Dopplung reflektiert, dass und wie die beiden beschriebenen Ebenen zusammenhängen. Denn genau genommen handelt es sich, wie durch die (verbale) Identität der Mechanismen angezeigt, nicht um zwei verschiedene Vorgänge, sondern um zwei unterschiedliche Perspektiven auf den gleichbleibenden Mechanismus der Veränderung: Durch einen genaueren Blick auf die Ebene der Atome stellt sich die mutatio naturae, die auf der sichtbaren Ebene der Dinge stattfindet, als eine mutatio ordinis dar.45 Im Gegensatz

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45

Auf die Parallelen in Ep. Hdt. 54 verweist Bailey 1947 ad loc.; Piazzi 2011 ad loc. stellt zudem einen wichtigen Bezugspunkt zur Ebene der Buchstaben her: „[L]ʼanalogia tra le cause della formazione dei corpi e quelle della formazione delle parole: anche in ambito linguistico infatti l’addizione o sottrazione o mutamento d’ordine delle lettere danno luogo a parole differenti“. Mit Brown 1984 ad 1,678 verstehe ich res und corpora als Synonyme. Zwei unterschiedliche Aspekte werden dadurch betont: Die natura der Dinge bezieht sich auf die durch die Ordnung der Atome erzeugten Eigenschaften. Die äußeren Veränderungen sind hingegen auf das corpus eines Dings bezogen. Bailey 1947 ad 678 bemerkt zur Wendung convertunt corpora sese, es handle sich hierbei um „an expansion of mutant naturam“. Wie aber die durch mutare beschriebene Bewegung zwei verschiedene Perspektiven auf die Veränderung der Dinge darstellt, so können auch mutare naturam und convertere corpora als Beschreibungen ein und desselben Prozesses (und nicht, wie bei Bailey als Weiterentwicklung) verstanden werden: In diesem Fall steht die Perspektive auf die Dinge im Zentrum, indem einmal auf ihre abstrakte natura, ihre Beschaffenheit, verwiesen wird, und einmal auf ihre konkrete Körperlichkeit (corpora), die die Dinge selbst verändern (convertere sese). Dass Lukrez das Wort corpora verwendet, um die Dinge zu benennen, und nicht, wie häufiger, die Atome, impliziert mit Blick auf diese (intendierte?) Ambiguität möglicherweise auch eine Absage an die zuvor dargestellte Lehre Heraklits. Dort war die Veränderbarkeit der Grundstoffe ein zentraler Kritikpunkt. Wenn Lukrez nun gerade an dieser Stelle von der Selbsttransformation der corpora auf der Ebene der Dinge spricht, wird durch die verbale Ähnlichkeit die Abgrenzung zum Modell Heraklits besonders deutlich, da mit demselben Wortmaterial eine andere Bedeutung erzeugt wird. Auf diese Verbindungen verweist auch Brown 1984 ad 677: „[T]he repetition in mutato … mutant […] highlights the correspondence between invisible and visible processes“.

170

Die Ordnung der Dinge (I)

dazu steht die natura der Feuerteilchen (partes ignis; 1,648) bei Heraklit, die identisch bleibt mit der natura des Stoffes, den sie bildet (1,648f.): […] si partes ignis eandem naturam quam totus habet super ignis haberent. Wenn die die Teile des Feuers dasselbe Wesen besäßen wie auch schon das Feuer im Ganzen.

Ordnung besteht somit in einer Bewegung der Atome, deren Veränderungen nicht an oder in diesen Teilchen selbst, sondern nur auf der Ebene der res anschaulich werden.46 Die Zusammenfügungen sind in diesem Sinne weniger als statische Ordnungen charakterisiert, als vielmehr in einer bestimmten Weise geordnet. Diese Ordnung (verstanden als Prozess) bedingt, wie die Dinge sich verändern. Daher kann am Ende dieser argumentativen Einheit, gleichsam als Schluss, eine erneute Absage an die Lehre Heraklits stehen: scire licet non esse haec ignea corpora rerum („man weiß, dass diese Körper der Dinge nicht aus Feuer bestehen“; 1,679). Doch dabei belässt es Lukrez nicht. Jene Absage wird im Modus des Irrealis in den folgenden Versen noch einmal aufgenommen und explizit unter dem für das atomistische Modell dargelegten modus operandi rekapituliert. Es ist für die lukrezische Ordnungskonzeption zentral, dass aus einer spezifischen atomaren Ordnung eine Veränderung auf der Ebene der Dinge resultiert, von der die Ursprungsteilchen jedoch nicht betroffen sind und mit Blick auf die Validität des atomistischen Modells auch nicht betroffen sein dürfen.47 Gerade diese Aspekte werden in den folgenden Versen noch einmal durch eine variierende Wiederholung ins Zentrum gerückt (1,680–683): nil referret enim quaedam decedere, abire, atque alia attribui, mutarique ordine quaedam,

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680

Diese Beobachtungen lassen sich mit den Operationen in Verbindung bringen, die Roland Barthes in seiner „Strukturalistischen Tätigkeit“ ([1963] 1966, S. 193) erwähnt: „Indem man das erster Objekt zerlegt, findet man in ihm lose Fragmente, deren winzige Differenzen untereinander eine bestimmte Bedeutung hervorrufen; das Fragment an sich hat keine Bedeutung, ist aber so beschaffen, dass die geringste Veränderung, die man an seiner Lage und Gestalt vornimmt, eine Änderung des Ganzen bewirkt“. Das Verhältnis von Fragment und Ganzem und die Weise, in der Ersteres Letzteres beeinflusst, kann in nahezu identischer Weise auch für die Dinge und die sie konstituierenden Atome beschrieben werden. Vgl. 1,672–674: proinde aliquid superare necesse est incolume ollis, / ne tibi res redeant ad nilum funditus omnes / de niloque renata vigescat copia rerum („Daher muss etwas Unversehrtes bestehen bleiben in den Dingen, damit dir die Dinge nicht gänzlich ins Nichts versinken und aus dem Nichts aufs Neue die Fülle der Dinge sich erhebt“).

Die Kritik der Ordnung

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si tamen ardoris naturam cuncta tenerent; ignis enim foret omnimodis quodcumque crearent. Denn es wäre nicht von Bedeutung, dass etwas zurückwiche, verschwände, anderes wiederum hinzugefügt und manches in seiner Ordnung verkehrt würde, wenn nur alles das Wesen des Feuers bewahrte; denn alles, was auch immer es als Erzeugnis hervorbrächte, wäre Feuer.

Was in diesen Versen verhandelt wird, ist nichts Neues: Der Monismus widerspricht den Prämissen des Atomismus, da nach Heraklit Grundbestandteile und Zusammensetzungen identisch sind. Auch die angenommene Dynamik der generativen Prozesse kann daran nichts ändern. Aus Feuer entsteht nach diesem Modell allein Feuer. Wie diese Absetzung funktioniert, verdient aber genauere Betrachtung, denn sie reflektiert die atomistische Ordnung der Dinge und projiziert sie auf die Ordnung der Dinge bei Heraklit.48 Exakt jene Bewegungen, die wenige Verse zuvor im atomistischen Modell beschrieben wurden, sind hier noch einmal aufgenommen und ins Irreale gewendet. Neben der Bewegung des Abnehmens (decedere, abire in Korrespondenz zu abitu in 1,677) und des Hinzufügens (attribui in Korrespondenz zu aditu in 1,677) wird auch der Aspekt der Ordnung wieder aufgenommen, sogar an derselben Position im Vers (Hephthemimeres) wie oben, allerdings mit dem Unterschied, dass er nicht in ein Verhältnis zu den anderen Dynamiken gesetzt wird, sondern gleichwertig neben ihnen steht. Dennoch zeigt auch diese Konstellation, dass Bewegungen wie auch immer gearteter Teilchen und Ordnung in engem Zusammenhang stehen. Im Kern implizieren diese Verse eine ebenso einfache wie weitreichende Definition dessen, was unter Ordnung zu verstehen sei: Ordnung im Sinne eines (temporären) Zustandes besteht in der Addition oder Subtraktion von einzelnen Teilchen.49 Interessanterweise bleibt die Nennung jener Zusammenfügung als coetus oder concilium jedoch ausgespart. Sie kommt nur in ,partikularer‘ Form zur Darstellung. Darüber hinaus ist auch die syntaktische Anlage dieses Passus aufschlussreich für die darin aufscheinende Ordnungskonzeption. Im Modus des Irrealis heißt es nämlich, dass mit Blick auf die Konstitution verschiedener Dinge die Bewegungsmechanismen des atomistischen Modells keinen Nutzen hätten (nil referret enim quaeadam decedere, abire / atque alia attribui […]; „denn es wäre nicht von Bedeutung, dass etwas zurückwiche, verschwände, anderes wiederum hinzugefügt würde […]“; 1,680f.) und nichts an der Tatsache ändern würden, dass aus Feuer nur Feuer entstehen kann: si tamen ardoris naturam cuncta tenerent („wenn nur alles das Wesen des Feuers bewahrte“; 1,682). Dieser Befund zielt erneut auf die Frage, was im Prozess des ,Zwischen‘ von Grundstoff und Zusammensetzung geschieht: Nach atomistischer Auffassung sind Dinge mehr 48 49

Vgl. Brown 1984 ad 1,680. Vgl. hierzu auch Kap. 6.2 dieser Arbeit.

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Die Ordnung der Dinge (I)

als die Summe ihrer Teilchen. Genau dies veranschaulicht die Kritik am Modell Heraklits und weist damit zurück auf den Anfang des Passus, wo in programmatischer Weise die Materie als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Modellen genannt wurde: Quapropter qui materiem rerum esse putarunt / ignem […] magno opere a vera lapsi ratione videntur („diejenigen, die der Meinung sind, Feuer sei der Grundstoff der Dinge […], scheinen mir erheblich abzukommen vom Weg der Wahrheit“; 1,635–637). Die Ordnung der Dinge beruht daher nicht allein auf ihrer dynamischen Anordnung, auch das Material ist dabei von grundlegender Bedeutung. 5.2.3

Die Effekte der Ordnung

Auf die Ordnung im Irrealis folgt die Ordnung im Realis. Obgleich in den vorangegangenen Versen (1,675–679) bereits ausgeführt wurde, wie durch den veränderten ordo der unveränderlichen certissima corpora die Dinge ihre Erscheinung verändern, schließt der Passus noch einmal mit der deutlichen correctio an der Feuerthese Heraklits (1,684–687): verum, ut opinor, itast: sunt quaedam corpora, quorum concursus motus ordo positura figurae efficiunt ignis mutatoque ordine mutant naturam […].

685

Doch es verhält sich, wie ich meine, folgendermaßen: es gibt Urkörperchen, deren Zusammenstoß, Bewegung, Ordnung, Lage und Gestalt Feuer erzeugt und durch veränderte Ordnung auch ihre eigene Natur verändert […].

Nun spricht ein exponiertes autoritatives ego und kündigt eine prägnante Erklärung dessen an, wie es sich ,wirklich‘ verhält. Dabei wird die Lehre Heraklits, wie bereits eingangs angedeutet, nicht falsifiziert, sondern allein in ihrer mangelnden Finalität offengelegt: Sie ist nicht bis zu Ende gedacht. Die atomistische Theorie bietet dagegen die Möglichkeit, die Dinge bis zu ihrem Ende bzw. bis zu ihrem frühesten Anfang zu verfolgen Diese Erklärung wird nun erweitert, indem nicht mehr allein auf die atomare Natur der Dinge Bezug genommen, sondern dezidiert das Element Feuer, d.h. die Welterklärung Heraklits, durch die atomistische Welterklärung überformt wird. Das Feuer nämlich ist ein Effekt der atomaren Ordnung. Bereits zuvor wurde von den corpora gesprochen, durch deren Bewegung die Dinge sich verändern: quorum abitu aut aditu mutatoque ordine mutant / naturam res („durch deren Weggang und Hinzutreten und veränderte Ordnung verändern die Dinge ihre Beschaffenheit“; 1,676). Nun wird aber diese an spezifische Bewegungen gebundene Veränderung noch aus einer anderen Perspektive beleuchtet, die die Vorgänge abstrakter fasst. In Form einer asyndetischen Rei-

Die Kritik der Ordnung

173

hung werden concursus motus ordo positura figurae genannt, die die Variablen der atomaren Gleichung für die Dinge sind und in einer bestimmten Konstellation auch Feuer hervorbringen.50 Hier geht es nun nicht mehr nur um die Veränderung der Dinge (vgl. das obige mutare), sondern dezidiert um deren Entstehung. Auch Feuer besteht demnach in der bestimmten Ordnung bestimmter Atome. Diese Beobachtung impliziert, dass man hinter die Annahme der bloßen Existenz von Feuer noch zurückgehen kann. Das Feuer und seine Entstehung sind ein Resultat des Zusammenspiels von verschiedenen Mechanismen und Gegebenheiten auf der atomaren Ebene: Feuer existiert daher nicht, Feuer wird gemacht. Hierin wird nochmals deutlich, inwiefern sich tatsächlich von einer Kritik am Monismus Heraklits in De Rerum Natura sprechen lässt. Mit Blick auf die vorliegende Passage kann die konzeptuelle Kritik (Feuer als Grundstoff aller Dinge) auch als strukturelle Kritik gefasst werden, eine Kritik die im Kern auch auf das Konzept von Ordnung zurückführt: Nicht allein, dass aus der monistischen Feuerthese die Erscheinung der sichtbaren Welt nur unzureichend erklärt werden kann; dieses Modell kann auch keine Erklärung für die Diversität und Differenz Welt geben, und es kommt bei der Frage nach dem Anfang der Dinge immer wieder zur gleichen Antwort: Feuer. Gerade an diesem Punkt wird die Rolle der Ordnung sichtbar. Denn die sichtbare Welt ist gewissermaßen ein bloßer Effekt der atomaren Ordnung. Direkt im Anschluss an die Ordnungsmechanismen concursus motus ordo positura figurae, die mit der Schaffung einer spezifischen Ordnung, nämlich der des Feuers, verbunden sind, findet das Zentralwort ordo noch einmal gesonderte Erwähnung: mutatoque ordine mutant / naturam [corpora] (1,686f.). Bereits zwei Mal im Verlauf der in diesem Kapitel nachgezeichneten Argumentation war zu beobachten, dass Bewegung und Ordnung für die Entstehung der Dinge von zentraler Bedeutung sind. Im Unterschied dazu ist nun aber zum einen dezidiert von der Entstehung (efficere; 1,686) des Feuers die Rede und nicht mehr von einer Veränderung der Dinge (abitus, aditus; 1,677; decedere, abire, attribuere; 1,681f.). Zum anderen hat auch die Bedeutung der Ordnung eine Modifikation erhalten, denn es sind nicht mehr die Dinge, die ihre natura infolge einer veränderten Ordnung wandeln, sondern die corpora selbst wandeln die natura. 50

Diese Ordnungsvariablen sind in identischer Form auch in der Buchstabenanalogie im zweiten Buch genannt: Vgl. 2,1013–1022: quin etiam refert nostris in versibus ipsis / cum quibus et quali sint ordine quaeque locata; / […] sic ipsis in rebus item iam materiai / concursus motus ordo positura figurae / cum permutantur, mutari res quoque debent („Ja, auch in unseren eigenen Versen ist es von Bedeutung, mit welchen [anderen Buchstaben] und in welcher Ordnung ein jeder [Buchstabe] steht; […] wenn sich auf diese Weise auch in den Dingen selbst Zusammenstoß, Bewegung, Ordnung, Lage und Gestalt der Materie verändern, so müssen sich auch die Dinge verändern“). Buchstabenordnung und Atomordnung, so zeigt sich, laufen nach denselben Mechanismen ab. Worin sich die beiden Ordnungen dennoch unterscheiden, macht Lukrez im Passus zu den Buchstabenanalogien deutlich. Vgl. dazu Kap. 2 dieser Arbeit.

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Die Ordnung der Dinge (I)

In exakter Wiederholung der Wortfolge aus Vers 1,677f. wird diese minimale Veränderung auch auf der Wortebene abgebildet: mutatoque ordine mutant / naturam res (1,677f.) mutatoque ordine mutant / naturam [sc. corpora] (1,686f.)

Die Wiederholung stellt zugleich eine präzisere Beobachtung der in beiden Versen beschriebenen Veränderung bzw. Entstehung eines Dings dar: Genau genommen verändern nicht die Dinge (res) ihr Wesen (natura), vielmehr verändern die Atome das Wesen der Dinge. 5.3

Die Mechanismen der Ordnung

Die Kritik an anderen philosophischen Welterklärungsmodellen in De Rerum Natura ist im Kern eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Modellen der Ordnung. Im Gegensatz zur Lehre Heraklits liegt das strukturelle Problem der pluralistischen Lehren, als deren Vertreter Empedokles explizit genannt wird,51 nicht in einem Zuviel an Gleichheit (Feuer erzeugt nur Feuer; vgl. 1,635‒704), sondern im Gegenteil, einem Zuviel an Verschiedenheit. Wenn sich die vier Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde in einem stetigen Kreislauf ineinander transformieren, führt dies in letzter Konsequenz zu einer Unterschiedslosigkeit in der Welt, die notwendigerweise ohne einen unveränderlichen Kern auskommt, auf den alles zurückgeführt werden kann; kurz: Der Frage nach einem Ursprung oder Anfang ist unter den Prämissen der Vier-Elemente-Lehre nicht beizukommen (1,783–790):52 et primum faciunt ignem se vertere in auras aeris, hinc imbrem gigni terramque creari ex imbri retroque a terra cuncta reverti, 51

52

785

Gleichzeitig finden sich aber auch Anhaltspunkte dafür, dass Lukrez auf andere Ausprägungen der pluralistischen Lehre Bezug nimmt. Zur Einordnung vgl. Bailey 1947, S. 735. Montarese 2012, S. 46 spricht mit Blick auf die Nennung Empedokles’ in diesem Passus von einem Repräsentanten („representative“) des Pluralismus, was jedoch weitere Ausformungen pluralistischer Lehre nicht ausschließt. Vgl. hierzu ausführlicher Montarese 2012, S. 46–50. Vgl. hierzu auch 1,763–768: Denique quattuor ex rebus si cuncta creantur / atque in eas rursum res omnia dissoluuntur, / qui magis illa queunt rerum primordia dici / quam contra res illorum retroque putari? / alternis gignuntur enim mutantque colorem / et totam inter se naturam tempore ab omni („Wenn außerdem alles sich aus vier Dingen bildet und sich auch wieder in diese vier auflöst, wie kann man da jene mit mehr Recht die Urelemente der Dinge nennen, als umgekehrt die Dinge für die Urelemente jener halten? Von jeher entstehen sie nämlich im Wechsel und verändern ihre Farbe und ihr gesamtes Wesen untereinander“). Eine ausführlichere Diskussion dieser Passage findet sich in Kap. 2.5.1 dieser Arbeit.

175

Die Mechanismen der Ordnung umorem primum, post aera, deinde calorem, nec cessare haec inter se mutare, meare a caelo ad terram, de terra ad sidera mundi. quod facere haud ullo debent primordia pacto. immutabile enim quiddam superare necessest […].

790

Und zuerst lassen sie das Feuer sich in Luft wandeln, dann Regen daraus entstehen und aus dem Regen Erde sich bilden, und alles sodann sich rückwärts aus der Erde verwandeln, erst in das Wasser, sodann in die Luft und schließlich ins Feuer. [Sie sind auch der Meinung,] diese Dinge hörten nie auf, sich untereinander zu verändern, vom Himmel zur Erde nieder zu strömen und wieder von hier zu den irdischen Sternen. Doch dies darf auf keinen Fall bei den Ursprungskörpern geschehen. Etwas Unveränderliches muss nämlich übrigbleiben […].

Es werden hier nicht nur zwei Modelle der Welterklärung einander gegenübergestellt, sondern auch zwei diskursive Strategien: Während mit faciunt (1,783) der epistemologische Zugang der Pluralisten zur Welt als einer gekennzeichnet ist, der – folgt man Bailey und Brown in ihrer Kommentierung des Verses53 – auf reinen Annahmen beruht oder auf einer explizit konstruierten Realität, legt Lukrez seinem Zugang zur Welt andere epistemologische Prämissen zugrunde. Er betrachtet sein philosophisches System gewissermaßen von außen und legt davon ausgehend fest, wie es beschaffen sein muss: immutabile enim quiddam superare necessest. Damit begegnet er zugleich auch einem der zentralen Kritikpunkte an der Vier-ElementeLehre, der in der Frage nach dem Anfang und der Komplexität der Welt besteht: Die Atome dürfen nicht einer ständigen mutatio unterworfen sein, sondern müssen als epistemologischer ,Ankerpunkt‘54 einerseits einen Anfang (re-)konstruierbar machen, andererseits den Faktor der Unterscheidbarkeit, der in der pluralistischen Lehre nicht gegeben ist, in diese und alle weiteren Prozesse und Zustände einführen. Kontinuierliches Ineinanderwechseln eröffnet nämlich die Möglichkeit für eine Vernichtung der Dinge (1,792f.): nam quodcumque suis mutatum finibus exit, continuo hoc mors est illius quod fuit ante. Denn was auch immer sich ändert und seine eignen Grenzen verlässt, ist unmittelbar der Tod dessen, was vorher gewesen ist.

Die von den Atomen in die Welt eingeführte Konstante steht damit auch der Möglichkeit einer völligen Vernichtung aller Dinge entgegen. An diesem Punkt setzt 53

54

Beide fassen facere im Sinne von „annehmen“ („suppose“). Vgl. Bailey 1947, S. 735, Brown 1984 ad loc. Vgl. Kennedy 2013a, S. 167 (Hervorhebung dort), der die Atome als „definitive point of explanatory closure“ bezeichnet: „[Y]ou start out with the atom and you end up with the atom“.

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Die Ordnung der Dinge (I)

die lukrezische Kritik an. Sie unterscheidet sich jedoch in ihrem Modus wesentlich von der vorherigen Kritik an Heraklit. Während gegen ihn ein autoritatives ego den atomistischen Diskurs einführte, verschiebt sich diese Konstellation nun. Die Einführung der Prämisse von der Existenz unzerstörbarer Teilchen, aus denen alle Dinge entstehen und bestehen, erfolgt in einer Anrede an ein tu (1,798–802): quin potius tali natura praedita quaedam corpora constituas, ignem si forte crearint, posse eadem demptis paucis paucisque tributis, ordine mutato et motu, facere aeris auras, sic alias aliis rebus mutarier omnis?

800

Nein, du musst dir vielmehr nur solche Urkörper vorstellen, die, wenn sie zufällig Feuer geschaffen haben, auch die wehende Lüfte herstellen können, indem ein wenig weggenommen und weniges hinzugefügt wird und die Ordnung und die Bewegung geändert werden, und die so eines aus dem anderen sich in allem entwickeln lassen.

Die personae in De Rerum Natura sind, gerade mit Blick auf die Gattungszuschreibung als didaktische Dichtung, bereits eingehend untersucht worden.55 Zweifellos lässt sich auch an dieser Stelle von einem stark didaktisch gefärbten Modus sprechen, in dem ein tu eingesetzt und angesprochen wird.56 Doch auch hier wird deutlich, dass die gemeinhin für das didaktische Setting von De Rerum Natura (re-)konstruierte Konstellation, von Volk als „teacher-student-constellation“57 bezeichnet, stets einer genaueren Einzeluntersuchung bedarf. Denn der Modus der Vermittlung findet in den obigen Versen auf einer grundlegenderen Ebene als der rein didaktischen Vermittlung statt. Als Alternativerklärung wird in Form einer rhetorischen Frage das atomistische Modell der Welterklärung eingeführt. Doch dabei wird nicht (nur) das Faktum der spezifischen Beschaffenheit atomarer corpora im Gegensatz zu den Grundbestandteilen der Dinge in anderen philosophischen Modellen vermittelt. Es wird vielmehr auch der Modus des Erkenntnisprozesses selbst, d.h. die Rezeption und Konstruktion eben dieses Wissens thematisiert. Wenn nämlich gegen die Möglichkeit einer völligen Vernichtung der Dinge die corpora eingeführt werden, so geschieht dies unter den epistemologischen Vorzeichen der Imagination, des Sich-Vorstellens (1,797f.). Die Erklärung der Welt und die Einsicht in ihre Funktionsmechanismen fußt, so wird hier markiert, auf einer je unterschiedlichen Vorstellung oder 55 56

57

Vgl. hierzu insbesondere Volk 2002, S. 26–43, Gale 2004a, S. xi–xv. Diese dialogische Form setzt sich auch im Anschluss an diesen Passus fort, indem das tu seine Skepsis am bislang Dargestellten äußert:,At manifesta palam res indicat‘ inquis ,in auras / aeris e terra res omnis crescere alique‘ („,Aber es liegt auf der Hand‘, so sagst du, ,dass alles nach oben in die Gefilde der Luft, von der Erde sich nährend, emporwächst‘“; 1,803f.). Volk 2002, S. 37.

Die Mechanismen der Ordnung

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Annahme – die Einsicht in die Welt, ihre Bedeutung, so könnte man rezeptionsästhetisch gesprochen zuspitzen, erschließt sich erst im Akt der Rezeption unter bestimmten philosophischen Prämissen. Doch das Verb constituere impliziert noch einen weiteren Aspekt, der über die bloße Vorstellung oder Annahme einer spezifischen Weltordnung hinausgeht und von grundlegender epistemologischer Relevanz ist. In De Rerum Natura wird constituere nicht nur in dem gerade diskutierten übertragenen Sinne verwendet,58 sondern auch ganz konkret zur Bezeichnung der Zusammensetzung der Atome, d.h. zur Bezeichnung eines Konstruktionsvorgangs.59 An dieser Stelle sollte somit nicht allein von einer Vorstellung die Rede sein. Die Verwendung von constituere in diesem Kontext weist vielmehr auch darauf hin, dass die Annahme der Existenz von Atomen, die über bestimmte Eigenschaften verfügen, eine (Voraus-)Setzung, eine bestimmte Konfiguration im System des Epikureismus ist. Für die epistemologisch-didaktische Ausrichtung von De Rerum Natura impliziert dies Folgendes: Die Einsicht in die Welt besteht immer zu einem gewissen Grad in der Fähigkeit zur Vorstellung, zur Imagination der nicht sichtbaren Vorgänge und Bestandteile in der Welt. Was gemeinhin als Didaxe im Sinne der Vermittlung eines spezifischen Sachverhalts bezeichnet wird, manifestiert sich hier als Vermittlung eines spezifischen Vorgehens zur Konstruktion eines spezifischen Sachverhalts. Dessen Ausgangspunkt bildet die Annahme, dass es Atome mit spezifischen Eigenschaften gibt (tali natura praedita quaedam / corpora constituas – „du musst dir vielmehr nur solche Urkörper vorstellen“; 1,798f.). Darüber hinaus markiert die Formulierung corpora constituere gerade mit Blick auf die Verwendung des Verbs in seiner konkreten Bedeutung, dass für die Erklärung der geschilderten Phänomene in der Welt, d.h. die Tatsache, dass sich die Dinge verändern, dabei aber nicht gänzlich zugrunde gehen, ein gewisses Maß an ,Konstruktivismus‘ notwendig ist. Im Kontext der Rede von Konstruktionen kommt auch wieder die Ordnung ins Spiel. Wenn es nämlich darum geht, jene corpora in ihrer (notwendigen) Eigenschaft zu beschreiben, so lassen sich die hier dargestellten Mechanismen allesamt als Ordnungen im dynamischen Sinne verstehen. Die corpora, die nach Lukrez ein funktionsfähiges und widerspruchsfreies Modell zur Erklärung der Welt bieten, sind demnach dadurch ausgewiesen und von den bislang beschriebenen, für unzureichend befundenen Grundstoffen unterschieden, dass sie die unterschiedlichsten Dinge bilden können, ohne sich selbst zu verändern. Von besonderem Interesse für die Untersuchung von Ordnung ist, wie diese Prozesse beschrieben sind. Mit Blick 58

59

Vgl. TLL 4/514,15 s.v. constituo: II translate. Die Lukrezstelle findet sich unter dem Lemma „aliquid ponere, statuere, affirmare, accipere, […] persaepe in argumentando“ (TLL 4,518,49f.). Dies zeigen die Belege in Wachts Konkordanz (1991). Die zwei häufigsten Verwendungensweisen von constituere, entweder in der 2. Pers. Sg. oder in der 3. Pers. Pl., bilden somit die oben gemachte Unterscheidung ab. Für diese eigentliche Bedeutung von constituere vgl. auch TLL 4,510,46f.

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Die Ordnung der Dinge (I)

auf die lukrezische Kritik an der Vier-Elemente-Lehre dienen im folgenden Passus eben jene Elemente zur Veranschaulichung (1,798–801): quin potius tali natura praedita quaedam corpora constituas, ignem si forte crearint, posse eadem demptis paucis paucisque tributis, ordine mutato et motu, facere aeris auras […]?

800

Nein, du musst dir vielmehr nur solche Urkörper vorstellen, die, wenn sie zufällig Feuer geschaffen haben, auch die wehende Lüfte herstellen können, indem ein weniges weggenommen und weniges hinzugefügt wird und die Ordnung und die Bewegung geändert werden […].

Aus Feuer wird Luft, da die corpora die Zusammensetzung und damit auch die Erscheinung und Eigenschaften dieses Dings in der Weise verändern, dass daraus etwas anderes entsteht. Zunächst ist bei dieser Beschreibung aufschlussreich, dass Lukrez diesen Vorgang als zufällig (forte creant) darstellt. Die Entstehung der Dinge wird damit als gänzlich ungerichtet und unbestimmt markiert. Interessant ist in der Folge, dass sich dieses Zufällige in seinen Mechanismen als ein Vorgang der Ordnung zeigt. Wie aus Feuer Luft wird, ist nämlich folgendermaßen beschrieben: posse eadem demptis paucis paucisque tributis / […] facere aeris auras. Drei wesentliche Punkte für die genauere Beschreibung von Ordnung in De Rerum Natura lassen sich aus dieser Darstellung deduzieren. Erstens wird betont, dass es sich um dieselben Grundbestandteile, eadem corpora, handelt, aus denen Feuer oder Luft entstehen und bestehen. Aus Gleichheit entsteht Verschiedenheit. Dies ist unter der Prämisse, dass es sich um die gleichen – oder sogar dieselben – Bestandteile handelt, aus denen die einzelnen Dinge aufgebaut sind, ein wesentlicher Hinweis auf die Bedeutung der Ordnung. Denn nur aus einer unterschiedlichen Anordnung, Kombination und Position dieser gleichen Teilchen kann Unterschiedliches hervorgehen.60 Zweitens ist auch der Prozess der dynamischen Ordnung an dieser Stelle genauer beschrieben:61 Ganz wesentlich beruht die Entstehung bzw. Veränderung von verschiedenen Dingen auf ihrer unterschiedlichen atomaren Ordnung. Mit den Verben demere und tribuere sind die beiden grundlegenden und gegenläufigen Bewegungen genannt. Eine Ordnung besteht also aus einer bestimmten Menge von Teilchen, deren Zusammenstellung, so veranschaulicht es auch der Chiasmus 60

61

Vgl. explizit in 1,685: sunt quaedam corpora, quorum / concursus motus ordo positura figurae / efficiunt ignis […] („Es gibt Urkörperchen, deren Zusammenstoß, Bewegung, Ordnung, Lage und Gestalt Feuer erzeugt“). Brown 1984 ad loc. stellt richtig fest: „[A] more complete summary of the atomic variations responsible for varieties in compounds that was given in the corresponding passage at 677 and 686“.

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Die Mechanismen der Ordnung

demptis paucis paucisque tributis (1,800), eine höchst empfindlich ponderierte und bezogene ist. Denn auch wenn nur wenig hinzugefügt oder weggenommen wird,62 zeitigt diese minimale Umschichtung elementare Veränderungen. Die Beschreibung der Vorgänge ist dabei aber nicht nur rhetorisch pointiert, die Verben demere und tribuere zeichnen vielmehr auch ein Bild von der Genese der Dinge, die rein mechanisch vor sich geht. Das Hinzufügen oder Wegnehmen einzelner Atome, und dies leitet zum dritten Punkt über, macht (facere; 1,801) aus einer Zusammenstellung Feuer oder Luft. Dabei ist die Bewegung hier nicht in der Weise zu verstehen, dass Feuer und Luft sich, wie die vier Elemente, ineinander verwandeln; der Akzent liegt vielmehr auf der Möglichkeit, dass durch dieselben Atome unterschiedliche Elemente entstehen können. Hierbei tritt aber, wie gerade schon angedeutet, der Aspekt des Schöpferisch-Kreativen hinter einer technischen Beschreibung zurück: Luft wird aus der Zusammensetzung der Atome hergestellt. In ähnlicher Weise war schon zuvor in der Passage zu Heraklit das atomistische Modell dem Monismus gegenübergestellt worden. Auch dort wurde die Entstehung des Elements Feuer als ein aus dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren oder Variablen gemachter Effekt dargestellt (1,684–686): sunt quaedam corpora, quorum concursus motus ordo positura figurae efficiunt ignis […].

685

Es gibt Urkörperchen, deren Zusammenstoß, Bewegung, Ordnung, Lage und Gestalt Feuer erzeugt […].

Der Prozess der Ordnung, wie er sich hier darstellt, wird damit als ein mechanischer beschrieben, im Zuge dessen die Dinge hergestellt werden. Wie im Passus zu Heraklit, so kommt auch im Abschnitt zum Pluralismus dem Konzept Ordnung und seinem einschlägigsten Ausdruck, ordo, eine herausgehobene Bedeutung zu: Auch die Kritik, bzw. die correctio der Vier-ElementeLehre, betrifft in ihrem Kern Ordnung. Denn im Anschluss an die Mechanismen der Herstellung von Luft (demptis paucis paucisque tributis; 1,800) folgt, ebenfalls in einer Ablativus-Absolutus-Konstruktion, eine Abstrahierung von der konkreten Ordnung durch Hinzufügung und Wegnahme (ordine mutato et motu; 1,801).63 Wie das Verhältnis der beiden unmittelbar hintereinander stehenden Ablativi Absoluti zu verstehen ist, lässt sich nicht letztgültig bestimmen, und auch die Kommentare schweigen sich darüber aus. Doch gerade mit Blick auf das Muster, das bereits in der Passage zu Heraklit herausgearbeitet werden konnte, kann man die Sinnrichtung in der folgenden Weise deuten: Es handelt sich 62

63

Die Sinnrichtung des Ablativus Absolutus ist an dieser Stelle als temporal oder modal mit kausaler Färbung aufzufassen. Die Junktur ordine mutato bzw. mutato ordine fand sich auch als Zentralkonzept in den beiden zuvor behandelten Passagen (1,677; 1,686).

180

Die Ordnung der Dinge (I)

nicht um eine temporale Verhältnismäßigkeit, sondern dasselbe Phänomen der Ordnung wird zweimal unterschiedlich perspektiviert. Der zweite Ablativus Absolutus (ordine mutato et motu; 1,801) kann als abstrahierender Kommentar zum vorhergehenden (demptis paucis paucisque tributis; 1,800) gelesen werden. Interessant ist nun, dass Lukrez in diesem Zusammenhang neben der veränderten Ordnung (ordine mutato; 1,801) auch die veränderte Bewegung (motu; 1,801) nennt. Damit wird die Verbindung von Ordnung und Bewegung auch in einem konkreten Zusammenhang dargestellt.64 In den Konstellationen, in denen Ordnung bislang betrachtet werden konnte, war sie denn auch als Ordnung in einem dynamischen Sinne, als prozessuales Ordnen, ins Bild gesetzt. Der abschließende Vers ,übersetzt‘ das Gesagte noch einmal in die Sprache des Pluralismus: sic alias aliis rebus mutarier omnis („so lassen sie eines aus dem anderen sich in allem entwickeln“; 1,802). Wie Michael Brown richtig bemerkt, lässt sich hier von einer Generalisierung oder Erweiterung sprechen, da mit res nun „all types of compound“65 aufgerufen sind; gleichwohl zeugt der Infinitiv mutarier davon, dass es auch hier um eine Transformationsbewegung geht, wie sie gerade für die Vier-Elemente-Lehre konstitutiv ist. Wie die Junktur inter se mutare (1,787) verweist auch alias aliis rebus mutarier (1,802) darauf, dass es um die Umwandlung (mutatio) von Dingen geht. In der lukrezischen correctio ist es jedoch allein der ordo, der eine solche Transformationsbewegung durchlaufen konnte (vgl. die Junktur ordine mutato bzw. mutato ordine in 1,677; 1,686; 1,802). Daher ist die Junktur sic mutarier die bereits als Übersetzung beschriebene Interpretation der pluralistischen Lehre unter einer atomistischen Perspektive. Man kann also davon sprechen, dass sich die Dinge ineinander verändern, berücksichtigt man dabei, dass die sichtbare Veränderung auf der Ebene der Dinge durch eine veränderte Ordnung auf der Ebene der nicht sichtbaren Atome zustande kommt. 5.4

Schluss: ,Richtige‘ und ,falsche‘ Ordnung

Die hier untersuchten Passagen weisen an vielen Stellen Berührungspunkte mit dem zweiten Buch auf und können zugleich zeigen, dass eine kontextbasierte Interpretation, so wie sie die umfangreiche Philosophenkritik nahezulegen scheint, nicht alle Implikationen dieses Passus aufzuzeigen vermag. Die Kontexte nämlich, in denen die zuvor besprochenen Verse stehen, werden gemeinhin nicht mit dem zweiten Buch in Verbindung gebracht. Der lange Passus der Philosophenkritik wird von Fragen philosophiehistorischen oder quellenkritischen Interesses zumeist stark vereinnahmt, und der Blick wird dadurch 64

65

Dies hat sich auch schon in der Untersuchung zur Darstellung der epikureischen Grundaxiome ersten Buch und zum clinamen angedeutet. Brown 1984 ad loc.

181

Schluss: ,Richtige‘ und ,falsche‘ Ordnung

verstellt auf die weniger offensichtlichen, aber nicht weniger relevanten Implikationen. Denn die Auseinandersetzung mit anderen philosophischen Schulen hat nicht nur doktrinäre, sondern auch strukturelle Kontakt- bzw. Konfliktpunkte. Aus den Passagen, die sich mit Heraklits Monismus und dem pluralistischen Welterklärungsmodell auseinandersetzen, wurde bereits deutlich, dass diese Auseinandersetzungen strukturell betrachtet in einem Punkt konvergieren: im Problem der ,richtigen‘ und ,falschen‘ bzw. der ,primären‘ und ,sekundären‘ Ordnung.66 Und auch im dritten Komplex der Philosophenkritik, die sich mit Anaxagoras’ Homoiomerie-Lehre befasst,67 steht die Kontrastierung von Ordnungen im Zentrum. Hier geht es im Wesentlichen um die Frage von Mischung und Mischungsverhältnissen in den Dingen, die abschließend in Form einer Analogie, der Analogie von Buchstaben und Atomen, veranschaulicht werden (1,907–912): iamne vides igitur, paulo quod diximus ante, permagni referre eadem primordia saepe cum quibus et quali positura contineantur et quos inter se dent motus accipiantque, atque eadem paulo inter se mutata creare ignes et lignum?

910

Siehst du also nun, dass es, wie wir oben sagten, vor allem wichtig ist, mit welchen anderen und in welcher Lage dieselben Grundelemente verbunden sind, und welche Bewegungen sie untereinander geben und empfangen und wie dieselben, untereinander nur ein wenig vertauscht, Flamme und Stamm erzeugen?

Da dieser Passus bereits ausführlich im Kapitel zu den Buchstabenanalogien68 analysiert wurde, seien an dieser Stelle nur noch einmal die wesentlichen Implikationen für das gerade skizzierte Ordnungskonzept genannt, die an Beobachtungen anschließen, bzw. Beobachtungen wiederholen, die dort gemacht wurden: Lukrez betont, dass es sich immer um dieselben Grundbestandteile handelt, aus denen sich die Dinge zusammensetzen. Damit verweist er auf die Leitthese von Ordnung als Differenz aus Identität, die auch in den anderen oben verhandelten Passagen ein zentraler Ansatzpunkt (vgl. 1,676; 1,800) war. Neben den Atomen selbst sind aber insbesondere deren Verbindungen und Bewegungen von grundlegender Bedeutung. In den in diesem Kapitel untersuchten Passagen nimmt daher die Schilderung eben dieser Bestandteile von Ordnung den größten Raum ein. Während mit der Junktur cum quibus et quali positura contineantur (1,909) auf die statischen Aspekte der Ordnung Bezug genommen wird, verweisen die Verben motus dare bzw. accipere und inter se mutare auf die Dynamik der Ord66 67

68

Vgl. zu dieser These ausführlicher Kap. 2 dieser Arbeit. Nunc et Anaxagorae scrutemur homoeomerian („Nun wollen wir auch die Homoiomerie von Anaxagoras genauer untersuchen“; 1,830) – laut Sedley 1998, S. 48 „a leading contender for the title of Lucretius’ worst line“. Vgl. v.a. Kap. 2.6.2 dieser Arbeit.

182

Die Ordnung der Dinge (I)

nung. Dass aus der mutatio eine creatio werden kann, liegt dabei allein an den Grundbausteinen dieser Ordnung: den unveränderlichen Atomen. Im atomistischen Modell kommt nur ihnen die Fähigkeit zur Veränderung der Ordnung zu und nicht – wie in anderen Welterklärungsmodellen – den Dingen selbst.

6

Die Ordnung der Dinge (II)

6.1

In Ordnung bringen. Atomformen und atomare Verbindungen

Der erste Teil des zweiten Buches (2,1–333) steht im Zeichen der Bewegung. Woran und womit diese Bewegung vollzogen wird, spielt thematisch eine untergeordnete Rolle. Der Hauptakzent liegt vielmehr auf den unterschiedlichen Formen der Bewegung, die zu den Zusammenschlüssen der Atome führen. Auch im Passus der Kinetik finden sich aber zahlreiche Beschreibungen von atomaren Verbindungen und Vergleiche, die nicht nur den Zusammenhang von Bewegung und der Entstehung der Dinge illustrieren, sondern diesen zunächst rein mechanischen Vorgängen auch eine epistemologische Weitung verleihen. In der zweiten Hauptsektion des zweiten Buches, die dezidiert mit den Atomen, ihren Formen und Wirkungen befasst ist, wird die Beschreibung der atomaren Verbindungen dann konkreter. Die primordia rerum und corpora stehen in einem konfliktiven Verhältnis zu Bewegung und Verbindung. Nicht nur die Beschreibung ihrer Bewegungen – z.B. vagari (2,83), nulla quies est reddita corporibus (2,96), resultare (2,98), vexari ab ictu (2,99) –, auch einzelne Illustrationen und Vergleiche zeichnen ein Bild von den Atomen in der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Widerständigkeit. Wenn es heißt, die dicht aneinander gepresste Materie sei „verstrickt in der Verflechtung ihrer eigenen Gestalten“ (indupedita suis perplexis ipsa figuris; 2,102), so beschreibt dies eine Verbindung in extremer Form: Die einzelnen Atome sind aufgrund ihrer unterschiedlichen Beschaffenheit so eng miteinander verflochten,1 dass ihre Verbindung einen hemmenden Effekt hat, d.h. nur schwer wieder auflösbar ist und damit jegliche Form der Bewegung verhindert.2 Obgleich an dieser Stelle eine

1

2

In Ep. Hdt. 43 wird diese spezifische Form der Verbindung (περιπλοκή) in Zusammenhang mit einer allgemeineren Darstellung der Atombewegungen verhandelt: Κινοῦνταί τε συνεχῶς αἱ ἄτομοι τὸν αἰῶνα, […] αἱ δὲ αὖ τὸν παλμὸν ἴσχουσιν ὅταν τύχωσι τῇ περιπλοκῇ κεκλειμέναι ἤ στεγαζόμεναι παρὰ τῶν πλεκτικῶν („Die Atome bewegen sich ununterbrochen die ganze Zeit lang, […] und teils behalten wiederum ihre schwingende Bewegung, wenn sie zufällig miteinander verflochten sind“). Auf diese Form der Verflechtung wird auch an weiteren Stellen in De Rerum Natura Bezug genommen (eine vollständige Auflistung gibt Munro [1886] 1978 ad loc.) und zwar dort, wo es explizit um die Verbindung einzelner Atome geht. Diese unauflösbare Verflechtung ist für die Beschaffenheit mancher Dinge eine innere Notwendigkeit, wie Lukrez in diesem Zusammenhang mit dem Verweis auf Felsen oder Eisen verdeutlicht. Insbesondere die Bezeichnung der Atome als Wurzeln der

184

Die Ordnung der Dinge (II)

Zusammensetzung aus mehreren Atome beschrieben wird, liegt der Schwerpunkt nicht auf dem Faktum der Verbindung an sich, sondern allein auf deren Form und Effekt: Die Verbindungen sind geknüpft an die unterschiedlichen Formen der Atome und die daraus resultierenden Möglichkeiten zur Verflechtung. Gerade dieser Unterschied in der Perspektive – Verbindungen als Dynamik oder als Zusammenspiel aus Dynamik und Materie – erweist sich als leitend für die Darstellung von Ordnung in den beiden Hauptsektionen des zweiten Buches. Das Gegenstück zu diesem gerade beschriebenen Extrem der Bewegung sind Atome, die gar keine Verbindung eingehen (2,109–111): multaque praeterea magnum per inane vagantur, conciliis rerum quae sunt reiecta nec usquam consociare etiam motus potuere recepta.

110

Außerdem schwirrt noch gar vieles im unendlichen Leeren umher, das aus den Verbindungen der Dinge verstoßen wurde und seine Bewegungen, nachdem es wieder [in einen Verbund] aufgenommen wurde, nirgends mehr angleichen konnte.

Hier nun lassen sich ex negativo Rückschlüsse auf die Voraussetzungen und Modi von atomaren Verbindungen ziehen, denn im Zentrum der Verse steht, wie die Atome keine Verbindungen eingehen: Sie können zum einen aus einer bereits bestehenden Verbindung ausgeschlossen werden ([corpora] conciliis rerum sunt reiecta; 2,110), zum anderen gibt es Atome, die keine Verbindung (mehr) eingehen (können): nec usquam / consociare etiam motus potuere recepta (2,110f.). In beiden Fällen hängt die Unmöglichkeit zur Verbindung der Atome mit Bewegung zusammen; sei es, dass Atome aus einer bereits existierenden Verbindung (concilium) ,verstoßen‘ werden – in diesem Fall beendet Bewegung eine Verbindung –, sei es umgekehrt, dass selbst durch Bewegung keine Verbindung von Atomen zustande kommen kann. Zur Veranschaulichung dieser Prozesse greift Lukrez ein weiteres Mal auf Metaphern aus der menschlichen Welt zurück. In diesem Fall beschreiben sie Vorgänge innerhalb menschlicher Gemeinschaften. Das Ausschließen oder Eingliedern von Einzelnen aus einem bzw. in einen Verbund läuft strukturell gedacht auf der Ebene der Menschen in gleicher Weise ab wie auf der Ebene der Atome.3 Nicht der Aspekt des sozialen Miteinanders ist ausschlaggebend, sondern die Tatsache, dass etwas aus Einzelelementen Zusammenhängendes sich erweitern oder vermindern kann. Dynamik ist also ein wesentlicher Bestandteil der atomaren Verbindungen selbst: Im Inneren der Dinge herrscht beständige Bewegung, die dann auch zur

3

Felsen (saxi radices; 2,103) vereint Funktion (corpora als Grundelement) und Beschaffenheit (enge Verknüpfung der corpora untereinander) in einem Bild. Zur Verwendung solcher „social metaphors“ in De Rerum Natura vgl. Cabisius 1985 und Fowler 2002, S. 186 ad 2,111.

In Ordnung bringen. Atomformen und atomare Verbindungen

185

Auflösung einer Verbindung führen kann.4 Ohne Bewegung ist aber auch keine Verbindung möglich. Dynamik ist daher die notwendige, wenngleich, wie die Darstellung in Vers 2,110f. zeigt, nicht hinreichende Voraussetzung für einen Zusammenschluss von Atomen: „An atom to be admitted into a compound body must not only be the right size and shape, but its motions must be adaptable to those of the compound.“5 Wie bereits bei der Untersuchung von Ordnung im ersten Buch aufschien, bleibt auch in diesem Erklärungsmodell zur Entstehung der Dinge ein Stadium, ein Moment des ,Zwischen‘ ungeklärt.6 Wie nämlich wird die Materie zu einem Ding? Es scheint, als sei in der ,Gleichung‘ der Dinge, die bereits Bewegung und Materie enthält, eine Variable ausgespart. Diese Variable kann das spezifische Konzept von emergenter Ordnung in De Rerum Natura ausfüllen. In der zweiten Hauptsektion des zweiten Buches lässt sich diese These noch einmal genauer untersuchen, steht doch nicht mehr die Bewegung als solche im Mittelpunkt,7 sondern die Atome, das Material der Ordnung. Dieser Perspektivwechsel kann daher unter anderen Vorzeichen zur Frage nach Ordnung in De Rerum Natura beitragen (2,333–337): Nunc age iam deinceps cunctarum exordia rerum qualia sint et quam longe distantia formis8 percipe, multigenis quam sint variata figuris; non quo multa parum simili sint praedita forma, sed quia non vulgo paria omnibus omnia constant.

4

5 6 7

8

335

An zwei Stellen in De Rerum Natura ist diese Form der Bewegung zu beobachten: Zum einen im Makrokosmos des Alls: [Summa rerum] ut semel in motus coniectast convenientis, / efficit ut […] („Nachdem die Gesamtheit der Dinge einmal in die rechten Bewegungen geraten ist, bewirkt sie, dass […]“; 1,1030f.); zum anderen auf der Ebene des Mikrokosmos: [N]am sua cuique cibis ex omnibus intus in artus / corpora discedunt conexaque convenientis / efficiunt motus („Denn die eigenen Bestandteile verteilen sich aus allen Speisen in die Glieder hinein eines jeden Dings und wenn sie sich verbunden haben, bewirken sie dort passende Bewegungen“; 2,711–713). Zu den convenientes motus vgl. ausführlicher Kap. 3.4.2.2 dieser Arbeit. Bailey 1947 ad loc. Vgl. hierzu Kap. 5.2.1 und 5.2.2 dieser Arbeit. Vgl. die einleitenden Verse zum vorangegangenen Teil der Kinetik (2,61f.): Nunc age, quo motu genitalia materiai / corpora res varias gignant genitasque resolvant („Lass mich nun weiter betrachten, durch welche Bewegung die stofflichen Ursprungskörper die Vielfalt der Dinge erzeugen und, was sie erzeugt haben, wieder auflösen“). Dieser Vers wird von Giussani 1896 und Deufert 1996 als Interpolation gefasst und daher athetiert. Zu den Argumenten für eine Beibehaltung dieses Verses vgl. aber Bailey 1947 ad loc.

186

Die Ordnung der Dinge (II) Doch jetzt höre von mir der Reihe nach, wie die Urkörper aller Dinge beschaffen und wie stark sie in ihrem Aussehen voneinander unterschieden sind; höre auch, wie verschieden sie in mannigfaltigen Gestalten sind; nicht weil viele zu wenig sich ähneln in ihrem Aussehen, sondern weil gewöhnlich nicht alles mit allem identisch ist.

Statt Bewegung steht hier die Frage nach der Beschaffenheit der die Dinge konstituierenden Elemente im Zentrum. Zunächst werden der Anfang der Dinge und die Atome, d.h. zwei Aspekte, die im Wort exordia zusammenfallen,9 in einen noch nicht genauer spezifizierten Zusammenhang gebracht. Ein Aspekt wird aber bereits an dieser Stelle deutlich markiert und stellt so eine Verbindung zu den Passagen im ersten Buch her, in denen die falsche, oder besser: unzureichende Erklärung der Genese der Dinge durch andere philosophische Modelle der Welterklärung einer kritischen Revision unterzogen wurde. Es ist dies der Aspekt der Differenz. Mit den Junkturen exordia distantia formis (2,334), [exordia] variata figuris (2,335) und der in variatio wiederholten Beschreibung der Dinge als einander unähnlich (non vulgo paria omnibus omnia constant; 2,337) wird gleich zu Beginn als zentrale und grundlegendste Eigenschaft der Atome ihre Verschiedenheit akzentuiert.10 Während im ersten Buch noch nicht die Differenz der einzelnen Formen der Atome untereinander, sondern primär die verschiedenen Ausprägungen von Differenz zwischen den Dingen und ihren Konstituenten im Zentrum stand, erhält dieser Aspekt, nämlich die Differenz der Konstituenten, eine detailliertere Beschreibung. Wie sich zeigen wird, führt die Darstellung von Unterschieden auf der Ebene der Atome unweigerlich zu der Frage nach den damit in Verbindung stehenden Modi des Zusammenschlusses, kurz, zu der Frage nach Ordnung. Die Passage aus Epikurs Herodot-Brief, die gemeinhin als Orientierungspunkt für den Passus zu den atomaren Formen in De Rerum Natura gilt, kann nicht nur 9

10

Bailey 1947 ad loc. argumentiert, das Wort exordia sei nicht als „technical term“ zu verstehen, sondern allgemeiner als Anfang zu fassen. Mit Blick auf die weitere Verwendung von exordia in De Rerum Natura (1,149; 2,1062; 5,331, 5,430, 5,471, 5,677) ist dem zuzustimmen; in 2,333‒337 kann jedoch gegen diese generelle Auffassung angeführt werden, dass direkt im Anschluss von den formae und figurae jener exordia die Rede ist. Hier spielt somit auch die konkretere Bedeutung ,Atom‘ eine Rolle. Die Beschreibung kulminiert im letzten Vers des einleitenden Syllabus, wo es heißt: debent nimirum non omnibus omnia prorsum / esse pari filo similique adfecta figura (2,340f.) („Nicht alle dürfen sie freilich völlig ähnlich gestrickt sein und auch nicht die gleiche Gestalt haben“). Mit Blick auf die hier interessierende Frage nach den Modi, in denen sich die Atome zu den Dingen zusammenschließen, bietet insbesondere die Junktur pari filo interessante Ansatzpunkte. Bailey 1947 ad loc. versteht filum als „equivalent of figura“. Gleichwohl bleibt im Bild des Fadens, der die Dinge bildet, der Aspekt der Verknüpfung immer präsent und schließt an die Metaphern des Webens an, die von Lukrez an anderer Stelle zur Beschreibung der atomaren Zusammenfügungen verwendet wird. Zur Webmetaphorik vgl. auch Kap. 1.2.2 dieser Arbeit.

In Ordnung bringen. Atomformen und atomare Verbindungen

187

eine Belegfunktion übernehmen. Die Verbindungen, die sich zum lukrezischen Text ergeben, sind auch unter strukturellen und epistemologischen Gesichtspunkten von Interesse (Ep. Hdt. 42): Πρός τε τούτοις τὰ ἄτομα τῶν σωμάτων καὶ μεστά, ἐξ ὧν καὶ αἱ συγκρίσεις γίνονται καὶ εἰς ἅ διαλύονται, ἀπερίληπτά ἐστι ταῖς διαφοραῖς τῶν σχημάτων · οὐ γάρ δυνατὸν γενέσθαι τὰς τοσαύτας διαφορὰς ἐκ τῶν αὐτῶν σχημάτων περιειλημμένων. Καὶ καθ’ ἑκάστην δὲ σχημάτισιν ἁπλῶς ἄπειροί εἰσιν αἱ ὅμοιαι, ταῖς δὲ διαφοραῖς οὐχ ἁπλῶς ἄπειροι, ἀλλὰ μόνον ἀπερίληπτοι […]. Außerdem sind die unteilbaren und vollen Körper, aus denen die Verbindungen entstehen und in die sie sich auflösen, unfassbar in den Verschiedenartigkeiten ihrer Gestalten. Denn es ist nicht möglich, dass die so vielfältigen Gestaltunterschiede entstanden sind aus denselben, für das begriffliche Denken erfassbaren Gestalten. Und für jede Gestaltung sind die ähnlichen Atome einfach zahlenmäßig unbegrenzt, aber hinsichtlich ihrer Gestaltunterschiede sind sie nicht einfach unbegrenzt, sondern nur unfassbar […].

Diese komplexe Passage beleuchtet den Zusammenhang von Atomen (τὰ ἄτομα), deren Verbindungen (αἱ συγκρίσεις) und Unterscheidung (ἡ διαφορά). Besonders bemerkenswert ist dabei mit Blick auf den lukrezischen Text Folgendes: Epikur verbindet die Frage nach der Verschiedenartigkeit der Atome unmittelbar mit einer epistemologischen Reflexion.11 Die Vielfalt der Atome wird als Verschiedenheit beschrieben, d.h. aus einer Perspektive, die Differenz als – wenngleich definzitäres – erkenntnistheoretisches Kriterium zugrunde legt: τὰ ἄτομα […] ἀπερίληπτά ἐστι ταῖς διαφοραῖς τῶν σχημάτων. Auf die Verschiedenartigkeit der Atomformen wird mit Blick auf andere Verschiedenheiten geschlossen – damit müssen an dieser Stelle die sichtbaren Zusammensetzungen der Atome gemeint sein.12 Die Vielfalt auf der atomaren Ebene ist notwendig, um die der sichtbaren Welt erklären zu können: οὐ γάρ δυνατόν γενέσθαι τάς τοσαύτας διαφορὰς ἐκ τῶν αὐτῶν σχημάτων περιειλημμένων („denn es ist nicht möglich, dass die so vielfältigen Gestaltunterschiede entstanden sind aus denselben für das begriffliche Denken erfassbaren Gestalten“). Die Differenz in der Komplexität, wie sie die Welt beinhaltet, kann aus Gleichheit nicht entstehen.13 Neben der erkenntnistheoretischen Prämisse ,Differenz aus Differenz‘ ist in dieser Passage aber noch ein zweiter Aspekt bemerkenswert, der nicht mehr nur 11

12

13

Asmis 1984, S. 267 misst diesem Abschnitt den Charakter eines impliziten Korrektivs zu. So wende Epikur sich darin zum einen gegen die von den Atomisten vertretene Annahme, die Anzahl der atomaren Formen sei unbegrenzt, zum anderen gegen die im platonischen Timaios analysierte These von einer begrenzten Anzahl von Körperformen. Vgl. Bailey 1926 ad ἀπερίληπτα: „The idea is […] visual: you could not put the varieties of shape together and conceive them as a collection with a boundary round the outside“. Vgl. Kap. 5 dieser Arbeit zur Widerlegung der ,Identitätsphilosophie‘ von Heraklit und Empedokles.

188

Die Ordnung der Dinge (II)

die Ebene der Atome, sondern auch die der Dinge betrifft: Im Prozess der Ordnung der Dinge wird eine wichtige Differenzierung vorgenommen. Denn obgleich identisch geformte Atome in unendlicher Zahl vorhanden sind (ἄπειροι), bedeutet diese unendliche Identität nicht, dass auch die Differenzen der Atome untereinander, d.h. ihre unterschiedlichen Formen, unendlich wären. Diese Differenzen sind nicht ἄπειροι, sondern vielmehr ἀπερίληπτοι. Sie sind also im Wortsinne nicht erfassbar. Die Differenzen, um die es hier geht, liegen damit nicht auf der Ebene der Atome, sondern in deren Wahrnehmung: „In Epicurus’ terminology, the atoms are ,incomprehensible‘ (ἀπεριληπτά) in the number of their shapes; and the reason, he argues, is that the many differences among things cannot come to be from shapes that are ,comprehendedʻ (περιειλημμένων). This explanation indicates that what makes the number of atomic shapes incomprehensible is that the number of perceived differences is too large to permit us to assign a certain number of specific shapes to the atoms.“14

Gerade diese beiden Aspekte, also die epistemologische Bedeutung der Differenz und der Indifferenz im Prozess der Bildung der Dinge, sind auch mit Blick auf die Darstellung der atomaren Formen in De Rerum Natura von besonderer Relevanz. Dies ist nicht nur auf die philosophiehistorische Verbindung der beiden Texte zurückzuführen; in diesen Übereinstimmungen lassen sich vielmehr bestimmte Grundkonstanten ausmachen, die im System des Epikureismus zwar nicht explizit genannt sind, die aber gleichsam aus den gegebenen Axiomen resultieren. Auch in den drei im Folgenden untersuchten Passagen soll die Suche nach jenen Grundkonstanten weiter verfolgt werden. Dabei weist die erste Passage zurück auf die bereits untersuchte natura corporis, d.h. die Beschaffenheit und innere Ordnung des Atoms selbst (Kap. 6.2).15 Die zweite Passage zeigt eine Veranschaulichung von Ordnung, die gerade für die Frage nach dem Verhältnis von Ordnung und ihrem Anderen, der Unordnung, wichtige Ansatzpunkte bietet (Kap. 6.3). Im dritten Passus (Kap. 6.4), in dem sichtbare Transformationsprozesse im Mittelpunkt stehen, lässt sich abschließend noch einmal die Bedeutung des Konzepts von Ordnung für die Genese der Dinge sichtbar machen. 6.2

Die Arithmetik der Ordnung

Bereits im ersten Buch ermöglichte die Sektion zu den minimae partes eine Einsicht in die Ordnung der Atome. Diese Ordnung stellte sich als eine dar, die in besonderem Maße von der Statik und der Unveränderbarkeit der minimae partes ausging; mögliche Prozesse einer Ordnung standen dabei weniger im Fokus. 14 15

Asmis 1984, S. 267. Vgl. Kap. 5.1 dieser Arbeit.

Die Arithmetik der Ordnung

189

Der Passus zu den minimae partes im zweiten Buch von De Rerum Natura hat keinen repetitiven Charakter. Wie sich zeigen wird, bietet diese Sektion in erster Linie einen noch genaueren Einblick in die Mechanismen und Bedingungen der atomaren Ordnung, ist aber auch weiterführend für die Frage nach der Ordnung der Dinge selbst. Diese größere Genauigkeit gegenüber der Passage im ersten Buch rührt daher, dass das Atom nicht mehr allein auf seine Einheit, d.h. seine Unteilbarkeit hin betrachtet wird, sondern auch auf seine spezifische Form hin. Diese beiden Aspekte, die notwendige Einheit und unveränderbare Form des Atoms, bilden den thematischen Rahmen. Anstelle von völliger Beliebigkeit und eines Ungleichgewichts in der Welt, das aus einer variablen Atomform oder unbegrenzten Atomformen resultieren würde, rückt Lukrez ein weiteres Mal den Aspekt einer notwendigen, aber nicht grenzenlosen Differenz in der Welt ins Zentrum (2,512–514): quae quoniam non sunt, ˂sed˃ rebus reddita certa finis utrimque tenet summam, fateare necessest materiem quoque finitis differe figuris. Da dem nicht so ist [d.h. eine stetige Verbesserung oder Verschlechterung derselben Dinge durch die unendliche Anzahl der Atomformen nicht stattfindet], sondern eine den Dingen verliehene, genau bestimmte Grenze auf beiden Seiten das Ganze umfasst hält, musst du gestehen, dass auch der Urstoff sich durch eine begrenzte Anzahl von Gestalten unterscheidet.

Die Begrenzung der Formenvielfalt der Dinge, die certa finis, lässt auch Rückschlüsse auf die Ebene der Atome zu, denn dort ist Differenz ebenfalls notwendigerweise vorhanden. Diese Differenz ist jedoch in sich selbst begrenzt, sodass Unterschiede nur innerhalb eines festen Rahmens, nämlich der beschränkten Zahl von atomaren Formen, möglich sind. Eine unbeschränkte Differenz und damit unüberschaubare Varianz in der Welt wird dadurch ausgeschlossen. Wie diese begrenzte Varianz in den atomaren Erscheinungsformen einerseits, die Unmöglichkeit einer grenzenlosen Differenz andererseits möglich wird, und welche Rolle dabei Ordnung spielt, kann gleichsam am Nullpunkt der Dinge, den minimae partes bestimmt werden. Der Modus, in dem die kleinsten Bestandteile der Atome in den Mittelpunkt gerückt werden, verdient dabei besondere Aufmerksamkeit. Dass die Atome ihre Form nicht verändern, sondern immer dieselbe Größe und dieselben Bestandteile beibehalten, wird in Form eines Experiments veranschaulicht – eines Experiments, in dem die Atome regelrecht aus ihren einzelnen Bestandteilen zusammengebaut werden. Ähnlich wie in 1,798–802, wo die Atome als Konstrukt zur Erklärung der Welt beschrieben wurden,16 so soll auch an dieser Stelle die Anrede an die zweite Person nicht als Generalisierung verstanden werden, sondern, gerade mit Blick 16

Vgl. Kap. 5.3 dieser Arbeit.

190

Die Ordnung der Dinge (II)

auf die doppelte Struktur dieser Passage (das Ineinandergreifen von Veranschaulichung und Vermittlung eines Sachverhalts), als direkte Anrede an ein Gegenüber im fiktiven didaktischen Setting. Der Erwerb von Wissen durch Erfahrung wird hier vorgeführt und als fingiert markiert, wenn die Atome und ihre Bestandteile in ihrer Materialität nicht nur sichtbar, sondern auch greifbar gemacht werden (2,485–492): fac enim minimis e partibus esse corpora prima tribus, vel paulo pluribus auge; nempe ubi eas partis unius corporis omnis, summa atque ima locans, transmutans dextera laevis, omnimodis expertus eris, quam quisque det ordo formai speciem totius corporis eius, quod superest, si forte voles variare figuras, addendum partis alias erit.

485

490

Lass nämlich die Ursprungskörper aus drei winzigen Teilchen bestehen, oder erweitere sie noch um ein paar wenige; sobald du nun auf alle erdenkliche Weise alle Teilchen dieses einen Körpers erprobt hast, was für ein Aussehen eine Ordnung der Gestalt des erwähnten ganzen Atoms gibt, indem du sie zuoberst und zuunterst gesetzt und sie rechts und links vertauscht hast, musst du schließlich, wenn du die Formen dann weiter verändern willst, noch andere Teilchen hinzufügen.

Wie die Formulierung variare figuras (2,491) mit ihren Wiederholungen im weiteren Kontext dieser Passage hervorhebt,17 steht an dieser Stelle die Frage im Zentrum, ob und wie die Atome (corpora) ihre Form bzw. Gestalt (figura) verändern können, bzw. warum sie dazu nicht oder nur bis zu einem gewissen Grad in der Lage sind. Die Möglichkeiten und Bedingungen einer solchen variatio werden nun, wie bereits exponiert, in einer Form von experimentellem Setting durchgespielt.18 Wenn es gleich zu Beginn heißt, fac enim minimis e partibus esse / corpora prima tribus (2,485f.), so lassen sich diese Verse als Vorannahmen oder Instruktionen für das folgende Experiment lesen. Die klare Festlegung auf drei minimae partes, die noch eine begrenzte Möglichkeit zur ,experimentellen Freiheit‘ erhält (vel paulo pluribus auge; 2,486), markiert so, in Kombination mit der Aufforde17

18

Quod quoniam docui, pergam conectere rem quae / ex hoc apta fidem ducat, primordia rerum / finita variare figurarum ratione („Nun da ich dich dies gelehrt habe, verbinde ich damit noch eine Sache, die sich aus diesem bewährt hat, da die Urelemente der Dinge nur in begrenzter Anzahl ihre Formen ändern können“; 2,478–480); inter se multum variare figurae / non possunt („untereinander können sich die Formen nicht allzu sehr unterscheiden“; 2,484f.); si tu forte voles etiam variare figuras („wenn du noch eine weitere Veränderung der Formen möchtest“; 2,494). Beer 2009, S. 138f. liest die Verse 2,485–496 als „abstrahierte und allgemeingültig formulierte Beschreibung von Variation“, die durch das Wortmaterial der Passage und ein Beispiel konkretisiert werde.

191

Die Arithmetik der Ordnung

rung fac, dass es sich um einen konstruierten Zusammenhang handelt. Diese „fiction géometrique“19 ist mit Blick auf ihren modellhaften Charakter in ihrer Komplexität stark reduziert. Dies wird umso deutlicher, vergegenwärtigt man sich nochmals, wie das Verhältnis von corpus und den es konstituierenden minimae partes im ersten Buch konzeptualisiert waren. Dort war es eine unbestimmte Menge von kleinsten Teilchen (minima), die die corpora ausfüllten (1,605f.): inde aliae atque aliae similes ex ordine partes agmine condenso naturam corporis explent […].

605

Daher füllen eins ums andere ähnliche Teilchen geordnet in dichter Reihe das Atom und gestalten es […].

Diese Perspektive auf die minimae partes verdeutlicht die Unterschiede in der Akzentsetzung der beiden Passagen. Während es in der Passage des ersten Buches in erster Linie um die Darstellung der atomaren Einheit und Unteilbarkeit ging, und die minimae partes als bereits zusammenhängende Einheit beschrieben wurden, nimmt Lukrez im zweiten Buch den Prozess der Ordnung innerhalb eines Atoms in den Blick. Bereits der einführende Passus im ersten Buch hat deutlich gemacht, dass die minimae partes als solche nur in einem Rahmen dargestellt werden können, der von Beginn an seinen gemachten Charakter markiert. Sie sind so eng und unauflösbar miteinander verbunden, dass sie als einzelne minimae partes20 nicht existieren, sondern nur im Verbund mit anderen. Zugleich ist jedoch die Prozessualität und Zeitlichkeit, die im Konzept eines Verbundes angelegt ist, im Fall eines Atoms auszuschließen: non ex illarum [sc. partium] conventu conciliata, / sed magis aeterna pollentia simplicitate („doch nicht verbunden wurden sie durch die Versammlung einzelner Teilchen, sondern sie sind durch ihre ewige Einheit mächtig“; 1,611f.). Der ontologische Status des Atoms ist der einer Einheit, und zwar einer Einheit, die theoretisch eine Vielheit ist, praktisch aber nie eine war. Auf die anfängliche Einsetzung der Versuchsbestandteile, der drei minimae partes, folgt das eigentliche Experiment, also eben jener Vorgang, der nur theoretisch erprobt oder imaginiert werden kann, da diese Prozesse in der konstanten Einheit des Atoms nie stattfinden können. Dabei wird zunächst die interne Ordnung eines Atoms als eine Form von Kombinatorik entworfen, an deren Ende der ,praktisch‘ erbrachte Beweis steht, dass die Form eines Atoms nur innerhalb eines spezifischen Rahmens der Ordnung variieren kann, ohne dass sich dabei die Größe des Atoms

19 20

Gaudin 1999, S. 62. Davon zeugt auch die Tatsache, dass es in De Rerum Natura keinen Beleg für eine singularische Verwendung der Verbindung gibt.

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Die Ordnung der Dinge (II)

selbst verändert.21 Für die (drei) gegebenen minimae partes werden vor diesem Hintergrund die möglichen Kombinationen und Anordnungen innerhalb eines Atoms erprobt (2,487–489): nempe ubi eas partis unius corporis omnis, summa atque ima locans, transmutans dextera laevis, omnimodis expertus eris […]. Sobald du nun auf alle erdenkliche Weise alle Teilchen dieses einen Körpers erprobt hast, indem du sie zuoberst und zuunterst gesetzt und sie rechts und links vertauscht hast […].

Der Konstrukt- und Versuchscharakter wird in diesen Versen besonders deutlich, da die Gesamtheit der angewandten Techniken der Atomkonstruktion mit dem Verb experiri bezeichnet und diese Erprobung als Praxis eines Gegenüber inszeniert ist (expertus eris). Zwei komplementäre Formen der kombinatorischen Ordnung, die jeweils Aussagen über den Modus der Bewegung und über die räumliche Disposition der Ordnungsvorgänge enthalten, werden für die minimae partes ausführlicher beschrieben. Mit der Junktur summa atque ima locare ist zunächst eine vertikale Bewegung dargestellt: Die minimae partes können eine Position ganz oben (summa) oder ganz unten (ima) innerhalb des atomaren Verbunds einnehmen. Diese Zuschreibung von festen Orientierungspunkten innerhalb eines Atoms ist eine weitere Vereinfachung des Modells. Dabei spielt auch eine Rolle, wie diese Bewegung charakterisiert ist: Mit locare wird nicht eine kontinuierliche, sondern eine punktuelle Bewegung für diese vertikale Ordnung in Anschlag gebracht. Im Rahmen der hier inszenierten experimentellen Kombinatorik stellt die vertikale Positionierung von minimae partes also eine Möglichkeit zur Veränderung der Form eines Atoms dar. Die zweite Methode ist die der Vertauschung (transmutatio): transmutans dextera laevis (2,488).22 An die Stelle der Vertikalen tritt nun die Bewegung der minimae partes in der Horizontalen, denn ihre Positionen können auch von links nach rechts vertauscht werden. Die intra-atomaren Ordnungsmechanismen greifen, schematisch gesprochen, also auf einer horizontalen auf einer vertikalen Achse und zeichnen auf diese Weise ein geradezu geometrisches Schema der minimae partes. Als Ordnung können diese Mechanismen insofern gefasst werden, als sie eine gerichete Dynamik implizieren, wie die punktuelle Bewegung des Setzens (locare) und die klare Richtungsvorgabe des Verbs transmutare markieren. 21

22

Vgl. hierzu die explizite Erklärung ganz am Ende dieses Passus (2,495f.): ergo formarum novitatem corporis augmen / subsequitur („So folgt die Vergrößerung des Körpers auf die Neuartigkeit der Formen“). Bailey 1947 ad loc. bezieht die transmutatio auf Leukipps τροπή.

193

Die Arithmetik der Ordnung

In diesem Zusammenhang lässt sich nicht nur ein Bezug zu den Grundvoraussetzungen für Ordnung – Bewegung und Material – herstellen, sondern auch zu den Mechanismen der Ordnung, die in den Passagen der Buchstabenanalogien in größerer Ausführlichkeit zur Darstellung kommen. Die Passagen verbindet eine ähnliche Struktur, denn auf die Beschreibung der Ordnungsprozesse23 folgt jeweils die generalisierende Rekapitulation dieser Vorgänge als ordo. Zwischen den beiden Passagen besteht jedoch ein wesentlicher Unterschied: Die in den Buchstabenanalogien beschriebenen Ordnungsprozesse finden auf der Ebene der Atome statt, die hier beschriebenen dagegen auf der Ebene der minimae partes; damit sind diese Ordnungen notwendigerweise auch weniger komplex als die der Atome.24 Die Erprobung der Ordnungsmechanismen, die bis zu diesem Punkt an den minimae partes angewandt wurden, ist jedoch, wie bereits eingangs skizziert, kein Selbstzweck. Sie stehen vielmehr in Zusammenhang mit der These, die den Ausführungen des Lukrez in dieser Passage zugrunde liegt: Die Veränderung der Form eines Atoms ist nur bis zu einem bestimmten Punkt möglich, ohne dass damit eine Vergrößerung der Anzahl von minimae partes einherginge.25 Zu diesem entscheidenden Punkt führt das hier beschriebene Experiment hin. Zunächst wird aber noch ein davor liegender (Erkenntnis-)Schritt explizit gemacht. Die Ordnungsmechanismen fungieren nämlich als notwendiges Wissen über die Art und Weise, wie sich verschiedene atomare Formen erzeugen lassen (2,487–490): ubi […] omnimodis expertus eris, quam quisque det ordo formai speciem totius corporis eius […].

23

24

25

490

Für die Buchstabenanalogien sei hier z.B. auf die folgenden Passagen verwiesen: cum quibus et quali positura contineantur („mit welchen anderen und in welcher Lage [dieselben Grundelemente] verbunden sind“; 1,818); quo pacto verba quoque ipsa / inter se paulo mutatis sunt elementis, / cum ligna atque ignes distincta voce notemus („so bestehen auch die Wörter selbst aus untereinander ein wenig vertauschten Buchstaben, wenn wir Stamm und Flamme mit verschiedenen Lauten bezeichnen“; 1,912–914). Es lässt sich also eine Dreiteilung vornehmen: Ordnungen finden auf der Ebene der minimae partes statt (zu den jeweiligen Atomformen mit beschränkten Kombinationsmöglichkeiten), auf der Ebene der Atome (zu den jeweiligen Dingen mit unbeschränkten Kombinationsmöglichkeiten für verschiedene Formen) und auf der Ebene des Textes bzw. der Buchstaben (beschränkte Kombinationsmöglichkeiten aufgrund beschränkter Form). Die Veranschaulichung dieses Sachverhalts mithilfe einer graphischen Darstellung wurde zuerst von Giussani 1896 ad 2,483 vorgenommen und im Anschluss daran von Bailey 1947, S. 883 aufgegriffen. Die Möglichkeit, aus den im Text gegebenen Informationen ein Modell zu entwerfen, kann noch einmal verdeutlichen, welch klare Instruktionen die Verse enthalten.

194

Die Ordnung der Dinge (II) Sobald du nun auf alle erdenkliche Weise alle Teilchen dieses einen Körpers erprobt hast, was für ein Aussehen eine Ordnung der Gestalt des erwähnten ganzen Atoms gibt […].

Nachdem zuvor mit den Verben locare und transmutare lediglich beschrieben wurde, welche Änderungskategorien innerhalb der Atome zur Anwendung kommen können, werden diese nun konkret mit dem ordo und der forma der Atome in Verbindung gebracht. Mit der futurischen Nachzeitigkeit expertus eris wird das bereits beschriebene experimentelle Setting zunächst modifiziert, denn die eingangs ausgesprochene Aufforderung an ein ,Du‘, jenes Wissen durch eigene Erfahrung zu erwerben (Konstruktion bzw. Aufrechterhaltung der didaktischen Fiktion), wird ersetzt durch die Vorwegnahme jenes Erkenntnismoments. Das Experimentieren unter in ihrer Komplexität stark reduzierten Bedingungen führt nämlich zu der durch Erfahrung gewonnenen Erkenntnis, dass der spezifische ordo der minimae partes dem Atom als Ganzes seine Erscheinungsform verleiht: quam quisque det ordo / formai speciem […] corporis (2,489f.). Der ordo gibt der Gestalt des Atoms (formai corporis) ein spezifisches Aussehen (species). Damit wird an dieser Stelle gerade jener Prozess des ,Zwischen‘, der zuvor für die Ordnung der Dinge aus den Atomen als Leerstelle konstatiert wurde, explizit gemacht. Die Nennung von species und forma ist daher nicht unbedingt, wie Bailey vermerkt, als Tautologie zu verstehen. Vielmehr wird hier mit höchster Präzision ein Prozess dargestellt, den man auch mit dem Konzept der Emergenz beschreiben kann.26 Es wird an dieser Stelle nicht behauptet, der ordo habe einen unmittelbaren Einfluss auf die Gestalt (forma) der Atome. Er gibt ihnen lediglich eine spezifische Erscheinung (species). Die zentrale Rolle, die dem spezifischen ordo der minimae partes zukommt, enthält aber noch weitergehende Implikationen, die insbesondere für die philosophische Grundthese dieses Passus von eminenter Bedeutung sind: Die Menge der minimae partes lässt gemäß den kombinatorischen Möglichkeiten nur eine bestimmte Menge an unterschiedlichen Ordnungen zu: „[T]he permutations will soon come to an end and to increase the shapes new parts must be added“.27 Soll es neue und andere Atomformen, d.h. neue und andere Ordnungen geben, müssen auch die Möglichkeiten zur kombinatorische Varianz durch einen Zuwachs an zu ordnendem Material gegeben sein (2,491f.): si forte voles variare figuras, / addendum partis alias erit („musst du schließlich, wenn du die Formen dann weiter verändern willst, noch andere Teilchen hinzufügen“). Einerseits ist der ordo damit abhängig von der Menge des ihm zur Ordnung zur Verfügung stehenden Materials. Andererseits zeigt aber die Tatsache, dass die Möglichkeiten zur Varianz der Atomformen nur mit Blick auf den ordo der minimae partes veranschaulicht und erklärt werden können. Der ordo hat hier keinesfalls eine untergeordnete Position im Sinne einer abhängigen Variable 26 27

Zum Begriff der Emergenz vgl. Kap. 1.3.3 dieser Arbeit. Munro (1886) 1978 ad loc.

Die Arithmetik der Ordnung

195

inne. Im Gegenteil: Nur ausgehend von der Frage, ob und wie die minimae partes in eine Ordnung überführt werden können, kann auch die begrenzte Größe und unveränderliche Form eines Atoms vor Augen gestellt und erklärt werden. Diese Bedeutung des ordo als wesentlichem Ausgangspunkt wird abschließend noch einmal ganz explizit gemacht (2,492–494): inde sequetur, assimili ratione alias ut postulet ordo, si tu forte voles etiam variare figuras. Daraus wird folgen, dass die Ordnung auf ähnliche Weise noch andere Teilchen verlangt, wenn du die Formen vielleicht noch weiter verändern willst.

In den vorangegangenen Versen wurde, ausgehend von der praktischen Erprobung bestimmter Ordnungsformationen, zunächst die Grundprämisse der inneratomaren, ,partikularen‘ Kombinatorik anschaulich. Demnach sind die Möglichkeiten für neue Ordnungsformationen (und damit für neue Atomformen) abhängig von den zur Verfügung stehenden kombinationsfähigen Elementen. Implizit wurde damit aber auch verdeutlicht, dass je nach Menge dieser Elemente ihre Kombinationsmöglichkeiten begrenzt sind. Jenseits dieser Grenze lässt sich gemäß den Gesetzmäßigkeiten einer jeden Kombinatorik das Kombinationsspektrum nur dann vergrößern, wenn auch die Menge der Elemente und damit die Komplexität der erzeugten Ordnung vergrößert wird – in diesem Fall durch das Hinzufügen weiterer minimae partes (vgl. si forte voles variare figuras, / addendum partis alias erit; 2,493). Diese spezifische Kombinatorik der minimae partes wird direkt mit dem Konzept des ordo verbunden, das zuvor als generalisierender Überbegriff für die dargestellten Ordnungsmodi (locans, transmutans; 2,498) fungierte. In diesem Abschnitt, so signalisiert es das einleitende inde sequetur (2,492), werden die vorangegangenen Einzelsegmente und Einzelbeobachtungen (summa atque ima locare; 2,488; quam det ordo speciem; 2,490f.) zusammengeführt. Der vorweggenommene Schluss, der aus dem vorherigen Experiment resultiert, impliziert einerseits eine Generalisierung, andererseits eine komplementäre Perspektive auf die intra-atomare Kombinatorik: Wie in dem beschriebenen und in seiner Komplexität stark reduzierten Versuchsfeld die Form der Atome durch konkrete Operationen verändert werden kann (2,485–492), so ist diese Bezüglichkeit von ordo und forma auch noch grundsätzlicher zu fassen. Im Unterschied zum ordo, der im Rahmen des Experiments durch die beschriebenen Ordnungsmechanismen dem Atom seine spezifische Gestalt gab (vgl. 2,490), ist der Handlungsrahmen des ordo an dieser Stelle ein anderer. Wenn es heißt, dass die Ordnung noch „andere Teilchen verlangt, wenn du die Formen vielleicht noch weiter verändern willst“ (alias [sc. partes] […] postulet ordo, si tu forte voles etiam variare figuras; 2,493), wird dezidiert vom ordo die Veränderung der Form abhängig gemacht. Diese Veränderung ist nur möglich, wenn die Kombinationsmöglichkei-

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Die Ordnung der Dinge (II)

ten, d.h. die Anzahl der zur Kombination zur Verfügung stehenden Elemente erhöht wird.28 Eben dieser Mechanismus bildet aus einer rein inhaltlichen Perspektive das argumentative telos der Passage: Die Anzahl der unterschiedlichen Atomformen ist begrenzt, gerade weil, wie in der Passage zu den minimae partes im ersten Buch dargelegt wurde, die interne Ordnung der Atome unveränderlich ist. Das hier vorgestellte Versuchsszenario veranschaulicht diese für die epikureische Doktrin zentrale Prämisse und greift dabei nicht nur in elementarer Weise auf das Konzept von Ordnung zurück. Dieses Szenario modifiziert das Ordnungskonzept auch, indem die Modi einer Ordnung, die in diesem Fall eine intra-atomare Ordnung ist, in ganz konkreter Weise zur Darstellung gebracht und in ihren Grenzen und Möglichkeiten durchgespielt werden. In diesem Zusammenhang verdient auch eine spezifische Konfiguration, die die Junktur postulet ordo (2,493) evoziert, noch eingehendere Betrachtung. Während nämlich zuvor ordo als formerzeugende, gebende Instanz konzeptualisiert war, steht ordo hier in Zusammenhang mit einer komplementären Bewegung: Die Veränderung der atomaren Form ist gebunden an eine Veränderung auf der Ebene der minimae partes. Ein bereits bestehender ordo benötigt weitere Elemente, um Veränderungen zu bewirken. Dies beleuchtet die Genese von Form nun also noch einmal aus einer anderen Perspektive: Nicht nur, dass der ordo der minimae partes eine spezifische Form erzeugt, die variatio der Formen ist auch an einen ordo gebunden, und zwar an einen konstanten ordo, der den Grad und die Beschaffenheit seiner Komplexität selbst steuert, indem er die zur Veränderung notwendigen Elemente integriert – auf dieselbe Weise, wie oben durch die Ordnungsmechanismen locare und transmutare explizit gemacht wurden. Dass der ordo hier ,fordert‘ oder ,verlangt‘, stellt das Bedingungsgefüge klar: Vor der Veränderung der Form steht die Notwendigkeit einer Erweiterung der Ordnung – die regulierende Instanz ist dabei dezidiert die Ordnung des Atoms selbst. Ordnung stellt sich in ihrer statischen wie auch dynamischen Ausprägung ganz wesentlich als Kombinatorik dar. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass das Kombinieren der minimae partes dezidiert als Ordnung bezeichnet wird: Die aus der Stellung und transmutatio der einzelnen intra-atomaren Teilchen erzeugten Verbindungen, die die spezifische Form eines Atoms hervorbringen, sind unter dem Konzept des ordo zusammengefasst. Hervorzuheben ist auch, dass sich im Konzept des ordo, wie es sich an dieser Stelle darstellt, zwei verschiedene Ebenen treffen, denn einerseits steht ordo in Verbindung mit der quantitativen und mechanischen Kombinatorik der minimae partes, die in eine bestimmte Ordnung gebracht werden (locans, transmutans; 2,488); andererseits erzeugt dieser ordo in seiner spezifischen Ausprägung qualitative Effekte, denn er disponiert die äußere Erscheinung des Atoms, die forma corporis. Eben diese Mitteloder Zwischenstellung des ordo ist es, die ihn eng an das Konzept der Emergenz 28

Vgl. dazu Munro (1886) 1978 ad 2,485.

197

Die Berechenbarkeit der Ordnung

anschließen lässt. Emergent sind nämlich zumeist Eigenschaften, d.h. bestimmte Qualitäten. Diese emergenten Eigenschaften zeichnen sich vornehmlich dadurch aus, dass sie nicht unmittelbar aus dem gegebenen Grundstoff hervorgehen und in ihm angelegt sind, wie z.B. das keimende Wachstum von Pflanzen. Der Übergang von den quantitativen Eigenschaften der (an sich eigenschaftslosen) minimae partes zu den qualitativen Eigenschaften der Atome findet hier im Rahmen der Ordnung statt. Der ordo wird zum Ort der Emergenz, an dem und in dem, pointiert formuliert, Mechanik zu ,Aisthetik‘ wird. Diese Beobachtungen und Schlüsse können jedoch (noch) nicht generalisiert werden, denn die Ordnungsprozesse, die hier beschrieben wurden, finden auf einer Ebene statt, die unterhalb der atomaren Ordnung liegt: Es steht die Ordnung des Atoms selbst im Fokus, d.h. eine virtuelle Ordnung, ein theoretisches Konstrukt. Was die Sektion der minimae partes mit Blick auf die Frage nach dem Ordnungskonzept in De Rerum Natura jedoch zulässt, sind Überlegungen konzeptueller und methodologischer Art, denn in der Kontrastierung ähnlicher Ordnungsvorgänge auf zwei ,ontologisch‘ geschiedenen Ebenen, der intra- und extraatomaren Ordnung, können auch die Spezifika der atomaren Ordnung deutlicher konturiert werden. 6.3

Die Berechenbarkeit der Ordnung

Der Blick in die Atome hat vor allem Aufschluss über die potentiellen Dynamiken der Ordnung auf der Ebene der minimae partes gegeben. Im folgenden Abschnitt rückt nun wieder die Ordnung der Dinge ins Zentrum, wenn Lukrez zeigt, dass die Formenvielfalt der Atome zwar begrenzt, die Menge der Atome einer spezifischen Form aber unbegrenzt ist (2,547–550): quippe etenim sumam hoc quoque uti finita per omne corpora iactari unius genitalia rei, unde ubi qua vi et quo pacto congressa coibunt materiae tanto in pelago turbaque aliena?

550

Freilich, ich möchte nämlich noch Folgendes annehmen: Die Urkörper eines jeden Dings sind [in ihrer Menge] begrenzt und werden durch das All geschleudert. Woher, wo, wodurch und wie werden sie zusammenkommen in einem solch großen Stoffmeer und fremdem Getümmel?

Die einführenden Verse eröffnen einen Diskurs, der als fingiert, d.h. Erkenntniskonstrukt markiert ist (sumam […] uti). Darin ähnelt dieser Anfang den Eingangsversen zum Passus der minimae partes, in denen ebenfalls ein bestimmtes

198

Die Ordnung der Dinge (II)

Experimentalsetting geschaffen wurde.29 Aus den Elementen der epikureischen Doktrin wird somit erneut ein experimenteller Raum geschaffen. Darin können einzelne Elemente so zueinander in Bezug gesetzt werden, dass daraus gleichsam ex negativo30 die Realität der epikureischen Welterklärung aufscheint. An diese Eröffnung schließt die Grundfrage an: Wie kann es zu einem Zusammenschluss der Atome in einem Ding kommen, wenn es nur eine begrenzte Anzahl von Atomen im unendlichen All gibt? Für die Frage nach der Ordnung der Dinge lassen sich bereits daraus zentrale Anhaltspunkte aufzeigen, geht es doch darum zu erfassen, wie ein bestimmtes Ding entstehen kann: corpora unius genitalia rei (2,458). Der Raum spielt dabei eine nicht unwesentliche Rolle, denn der entscheidende Punkt des hier eröffneten Szenarios liegt in der Gegenläufigkeit genau der Parameter, die im ersten Buch von De Rerum Natura als Grundbestandteile des epikureischen Alls eingeführt wurden: Raum und Materie.31 Wenn nicht beide in einem im weitesten Sinne ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen, d.h. wenn nicht jeweils Raum und Materie unbegrenzt sind, gerät das gesamte System in ein Ungleichgewicht, dessen Konsequenzen hier aufgezeigt werden. Endliche Materie in einem unendlichen Raum (finita per omne corpora; 2,547f.) macht die Ordnung der Atome zu einem Vorgang unter erschwerten Bedingungen, denn es herrscht ein Zustand, den man zweifellos als chaotisch bezeichnen kann. Im Bild des „Materialmeeres“ (materiae pelagus; 2,550), das den wenige Verse später folgenden Vergleich mit einem Schiffbruch bereits andeutet,32 und in der Junktur turba aliena (2,550) werden dabei zwei unterschiedliche Aspekte des Chaotischen hervorgehoben: chaotische Masse und chaotische Bewegung. In pelagus, das die riesigen Wassermassen des Meeres bezeichnet, ist die ungerichtete und unablässige Bewegung der unüberblickbaren Masse von Atomen ins Bild gesetzt. Da nach Lukrez die Ordnung der Atome gerade nicht in dieser Weise abläuft, führt dieses Bild zu der in konzeptueller Hinsicht bemerkenswerten Konstellation, dass Ordnung zwar Bewegung benötigt, dass aber für diese Bewegung die Unruhe und Richtungslosigkeit, wie sie im Bild des Meeres evoziert wird, wiederum nicht förderlich ist. Daneben wird mit der Formulierung turba aliena die Bewegung in einer Weise dargestellt, die den Akzent auf das diese Bewegung konstituierende Material setzt, verweist turba doch immer auf eine bewegte Masse.33 Nicht ausschließlich in diesem Bild liegt jedoch die Information über die für Ordnung 29

30

31 32 33

Vgl. 2,485: fac enim minimis e partibus esse / corpora prima tribus („Lass nämlich die Ursprungskörper aus drei winzigen Teilchen bestehen“). Unter rhetorischen Gesichtspunkten ist dies als reductio ad absurdum bzw. als apagogischer Vergleich zu fassen. Zu einer Übersicht über die Beweismethoden des Epikureismus vgl. Kullmann 1980. Vgl. Kap. 3 dieser Arbeit. Vgl. Bailey 1947 ad loc.; Schindler 2000, S. 103f. Vgl. OLD s.v. turba, -ae; Zu den Implikationen von turba als „Menschenmasse“ vgl. zudem Cabisius 1985, S. 111.

199

Die Berechenbarkeit der Ordnung

notwendigen Parameter; es gilt hierbei insbesondere auch die Qualifizierung dieser Masse durch das Adjektiv aliena mit einzubeziehen. Für die Formierung eines spezifischen Dings, so legt diese Beschreibung nahe, sind spezifische Atome notwendig und nicht solche, die diesem „fremd“ sind. Cyril Bailey versteht turba aliena in diesem Zusammenhang daher auch als „atoms of different kinds, unsuitable for the formation of the ,one unique thing‘“.34 Die Genese einer Ordnung ist demnach – zumindest mit Blick auf ihr Material – nicht gänzlich zufällig. Bestimmte Atome sind daher neben nicht-chaotischer Bewegung diejenigen Ordnungsparameter, die sich aus der Bildlichkeit des Stoffmeeres ex negativo deduzieren lassen. Neben dieser impliziten Ordnungstheorie führen die Verse 2,549f. aber auch explizit die Problemkomplexe an, die aus der angenommenen zahlenmäßigen Begrenzung der Atome resultieren: unde ubi qua vi et quo pacto congressa coibunt materiae tanto in pelago turbaque aliena?

550

Woher, wo, wodurch und wie werden sie zusammenkommen in solch einem großen Stoffmeer und fremdem Getümmel?

Die Ordnung der Atome, die hier durch congressa und coibunt zunächst ganz allgemein als eine Form des ,Zusammen‘ (con- …) beschrieben wird, erhält noch eine wesentliche Konkretisierung, denn Lukrez differenziert sie in verschiedene Problemkomplexe aus (unde ubi qua vi et quo pacto). Der Zusammenschluss von Atomen ist daher abhängig von verschiedenen Faktoren, die in dem hier eröffneten Szenario in ihrer Unmöglichkeit offenkundig werden. Zwei Hauptfelder lassen sich unterscheiden: Durch die Verbindung unde und ubi (coire) rücken Raum und Bewegung in den Fokus, durch qua vi und quo pacto (coire) der Modus des Zusammenschlusses. In der chaotischen atomaren Bewegung, wie sie im Bild des pelagus materiae evoziert ist, stehen der Ort und der Ursprung einer atomaren Zusammenfügung ebenso in Frage wie die Art und Weise dieser Zusammenfügung selbst, wobei durch qua vi die Voraussetzung für einen Zusammenschluss von Atomen auch explizit an einen externen Parameter gebunden ist. Für eine Ordnung ist demnach nicht nur maßgeblich, dass es einen Raum gibt, in dem die Atome sich zusammenfinden können. Es bedarf auch interner und externer Parameter, die diese Zusammenfügung modifizieren. Die Gesamtheit dieser Parameter erhält in der Folge noch eine Pointierung: Die in den Eingangsversen aufgeworfene Frage nach den Modi der Ordnung wird zwar nicht beantwortet, zumindest eine mögliche Antwort wird aber ausgeschlossen: non, ut opinor, habent rationem conciliandi (2,551) („Meiner Mei-

34

Bailey 1947 ad loc.

200

Die Ordnung der Dinge (II)

nung nach haben sie kein Ordnungsvermögen“).35 Wie können die Implikationen der Junktur ratio conciliandi die Bedingungen und Möglichkeiten von Ordnung, die bislang herausgearbeitet wurden, nun noch genauer konturieren? Was den Atomen in diesem Szenario fehlt, ist die Möglichkeit und Fähigkeit, Verbindungen einzugehen. Die dezidierte Benennung dieses Mangels legt nahe, dass es sich dabei, im Gegensatz zu den bereits dargestellten Parametern (Raum und Modus der Ordnung), um etwas handelt, das in den Atomen selbst liegt. An dieser Stelle soll jedoch nicht von einer ratio des Atoms im Sinne eines Vernunftvermögens oder einer Denkart der Ordnung die Rede sein. Die Ordnung der Atome ist kein rationaler Akt in dem Sinn, dass die corpora über eine Form von implizitem Wissen verfügten, wie sie sich zu den Dingen zu ordnen hätten. Ordnung ist nicht in ihnen angelegt und determiniert. Ebenso wenig verfügen die Atome, wie bereits im ersten Buch zur Darstellung kam, über einen intuitiven Ordnungssinn (1,1021f.):36 nam certe neque consilio primordia rerum ordine se suo quaeque sagaci mente locarunt […]. Denn nicht planvoll haben sich die Urelemente der Dinge, jedes seiner Ordnung gemäß, mit Spürsinn zusammengefunden […].

Die begrenzte Anzahl von Atomen im unbegrenzten All, die sich in einem chaotischen Zustand befinden, verfügt also nicht über das, was für eine Ordnung, wie sie sich hier ex negativo darstellt, von Nöten wäre. Die ratio conciliandi ist daher der Gegenentwurf zum Chaos der Atome im Raum. Was den Atomen fehlt, ist ein Modus der Zusammenfügung, d.h. ein Modus der Ordnung, der bestimmten Maßregeln oder Prinzipien unterliegt. Durch die Konzeptualisierung als ratio erhält die Ordnung der Atome eine Ordnung. Sie wird als berechenbar, als Resultat einer bestimmten Methode, und damit auch als etwas beschreibbar, das über einen gewissen Grad an Verallgemeinerbarkeit verfügt. Damit soll nicht postuliert werden, es gebe in De Rerum Natura die eine Form der Ordnung, nach der alle Dinge erzeugt würden. Was in der ratio conciliandi vielmehr aufscheint, ist die Versicherung, dass Ordnung kein 35

36

Zu den unterschiedlichen Auslegungen des Begriffs ratio vgl. u.a. Bailey 1947 ad loc: „[M]eans of coming together“. Bailey 1947, S. 605f. unternimmt den Versuch einer Klassifizierung von ratio im ersten Buch von De Rerum Natura und unterscheidet dabei fünf Grundbedeutungen: 1.) „reasoning, understanding, thinking“, 2.) „system, philosophy“, 3.) „account, theory“, 4.) „,workings‘ of nature“, und, von Bailey als häufigste Verwendung ausgemacht, 5.) „way, means“. Obgleich diese Form der kontextbasierten Bedeutungs(re)konstruktion nie Anspruch auf Übertragbarkeit erheben kann, weisen Baileys Definitionsversuche ratio im Kern als eine Form epistemischer Praxis aus. Die Wortfeldstudie von Hawtrey 2001 erörtert ebenfalls das Bedeutungsspektrum, bezieht aber die in Rede stehende Junktur der ratio conciliandi nicht mit ein. Zur einer ausführlichen Diskussion dieser Passage vgl. Kap. 3.4.2.2 dieser Arbeit.

201

Die Berechenbarkeit der Ordnung

reines Zufallsprodukt ist, und dass trotz der unermesslichen Vielfalt der Dinge, trotz des unendlichen Raumes und der unendlichen Masse an Atomen die Entstehung der Dinge nicht der gleichen unermesslichen Varianz unterliegt. Wie Gail Cabisius herausgearbeitet hat, wird dieser Kontrast zwischen der chaotischen Masse und dem geordneten Zustand der Atome auch sprachlich markiert, da Lukrez mit den Verben congredi, coire und conciliare (2,549ff.) Formen des Zusammenkommens benennt, die insbesondere auch menschliche Zusammenkünfte beschreiben.37 Was der Mangel an ratio conciliandi tatsächlich bewirkt, schließt sich in einem Vergleich an, der das Bild des atomaren pelagus (2,550) wieder aufnimmt und in ein pelagus im ursprünglichen Sinne transformiert: das Meer (2,552–560): […] sed quasi naufragiis magnis multisque coortis disiectare solet magnum mare transtra cavernas antemnas proram malos tonsasque natantis, per terrarum omnis oras fluitantia aplustra ut videantur et indicium mortalibus edant, […], sic […].

555

Sondern wie wenn nach schweren und vielfachen Schiffbrüchen das weite Meer Ruderbänke, Spanten, Rahen, Masten und Bug und schwimmende Riemen gewöhnlich auseinanderschleudert, sodass man an allen Küsten der Erde die Heckzier antreiben sieht und sie ein [mahnendes] Zeichen für die Sterblichen geben, […] so […].

Das Chaos eines unendlichen Raumes, in dem sich nur vereinzelte, da in endlicher Menge vorhandene Atome befinden, wird mit einem Schiffbruch verglichen, bei dem das Meer (magnum mare; 2,554) die Einzelteile des zerstörten Schiffes verstreut.38 Wie Claudia Schindler bemerkt hat, impliziert dieser Vergleich auch eine Verkehrung, denn „[e]r illustriert […] nicht die Unmöglichkeit der Vereinigung […], sondern die Zerstörung des einmal bereits zusammengefügten Artefakts“.39 Bei genauerer Betrachtung dieses Bildes und der Strukturierung des Vergleichs wird jedoch deutlich, dass es sich hierbei nicht um eine Inkonsistenz oder 37

38

39

Vgl. Cabisius 1985, S. 111. Shearin 2015, S. 77 macht zudem eine treffende Beobachtung zur tatsächlichen Bildhaftigkeit der Sprache: „The language here does not form a simile, an analogy, or even a metaphor, if by metaphor we mean that there is some other, literal way to name the atomic movement under consideration. At the same time, the political connotations of the words in this passage remain alive, not only in the sense that Lucretius uses terms the previously have other significations but also in that he deploys them in a fashion that in no way closes off those other significations “. In den Versen 2,556–559 schließt sich noch eine moralische Digression an, in der unvermittelt eine Warnung vor den Gefahren des Meeres ausgesprochen wird. Schindler 2000, S. 104 (Hervorhebung dort).

202

Die Ordnung der Dinge (II)

einen fehlgeleiteten Vergleichsmechanismus handelt. Das Bild ist vielmehr konsistent mit der diesem Passus zugrunde gelegten Aussage, wonach unter bestimmten Voraussetzungen gerade keine Ordnung der Atome zustande kommen kann: Die Bewegung des con- soll hier in ihrer Unmöglichkeit offengelegt werden. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass der Kern dieser Passage richtigerweise im Präfix dis- liegt: Das tertium comparationis des Vergleichs ist nicht con-, sondern dis-. Betrachtet man die Struktur dieses Passus noch genauer, so wird deutlich, dass die anfangs gestellte Frage nach den Modi der Verbindung (unde ubi qua vi et quo pacto; 2,559) nicht Bestandteil des Vergleichs selbst ist: Erst an die Konstatierung einer fehlenden ratio conciliandi schließen die beiden Vergleichsebenen an, denn die Atome werden mit den im Meer verstreuten Einzelelementen des zerstörten Schiffes verglichen (2,560–564): sic tibi si finita semel primordia quaedam constitues, aevum debebunt sparsa per omnem disiectare aestus diversi materiai, numquam in concilium ut possint compulsa coire nec remorari in concilio nec crescere adaucta […].

560

So müssten auch dir, wenn du einmal annimmst, dass bestimmte Atome [in ihrer Anzahl] begrenzt sind, die verschieden gerichteten Fluten des Stoffes diese [Atome], auf alle Ewigkeit verstreut, versprengen. Die Folge: Sie könnten niemals zusammengetrieben in einen Verbund zusammenkommen und nicht in diesem Verbund bleiben oder wachsen, nachdem sie vermehrt wurden […].

Nicht ohne die erneute Markierung des Konstruktcharakters dieses Szenarios (sic tibi si […] constitues) rückt Lukrez die Ebene der Atome in den Blick. Nun steht aber nicht die Frage im Zentrum, wie sich die Atome zu den Dingen verbinden können, vielmehr folgt eine Beschreibung, wie unter den gegebenen Ordnungsparametern die beiden Grundbestandteile (unendlicher Raum und endliche Materie) miteinander ,reagieren‘ können. Tatsächlich ist auf dieser Vergleichsebene, wie von Schindler bereits festgestellt wurde,40 eine gewisse Inkonsistenz des Bildes auszumachen. Denn die Atome, die an dieser Stelle beschrieben werden, sind nicht aus einem Verbund gelöst, wie es das Bild des Schiffbruchs evoziert, sondern zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie nie Teil einer Verbindung waren. In einer Wiederholung des Bewegungsverbs, das auch wenige Verse zuvor zur Beschreibung der durch das Meer zerstreuten Wrackteile verwendet wurde (disiectare; 2,553 bzw. 2,562), wird nun die Bindungsunfähigkeit der Atome dargestellt. Unter den gegebenen Bedingungen befinden sich die primordia in einem Zustand der permanenten und ungeordneten Bewegung (aevum […] sparsa per omnem; 2,561), wobei an dieser Stelle nicht geklärt werden kann, ob die primordia sparsa sich 40

Schindler 2000, S. 104.

Die Berechenbarkeit der Ordnung

203

schon immer in diesem Zustand der dauerhaften Unverbundenheit befanden, oder ob mit den Partizip sparsa auf einen davor liegenden Zustand der Verbindung Bezug genommen wird. Auch in der Beschreibung des Stoffes (aestus diversi materiai; 2,562) finden sich Entsprechungen zwischen den Vergleichsebenen. Nicht nur verweisen mare (2,553) und aestus (2,562) aufeinander,41 sondern auch der Vergleich mit dem Schiffbruch und das Anfangsszenario des materiae pelagus (2,550): In der Gegenüberstellung dieser beiden Beschreibungen tritt noch einmal deutlich zutage, worin das tertium des Vergleichs liegt: Während nämlich zunächst in Frage stand, wie die Atome im atomaren Chaos zusammenfinden können (unde ubi qua vi et quo pacto; 2,549), wird dann eine Erklärung dafür gegeben, dass sie nicht zusammenfinden können. Hier stellt sich auch nicht mehr die Frage nach den Möglichkeiten, unter denen eine atomare Verbindung zustande kommen kann. Es wird vielmehr die Antwort darauf gegeben, warum dies nicht möglich ist: aevum debebunt sparsa per omnem / disiectare aestus diversi materiai („die verschieden gerichteten Fluten des Stoffes müssten diese [Atome], auf alle Ewigkeit verstreut, versprengen“; 2,561f.). Die chaotische Masse der unverbundenen Atome verhindert jegliche Form von Ordnung. Durch die Qualifizierung als aestus diversi werden diese Auslöser von Bewegung, die selbst Bewegung sind, nämlich in ein synchrones Verhältnis zu ihren Effekten gesetzt: aestus diversi erzeugen die Bewegung des disiectare, d.h. Eigenbewegung und erzeugte Bewegung stimmen in ihrer Richtung, dem dis-, überein. Diese Bewegung des dis-, so hat sich bereits gezeigt, ist den Modi der Ordnung diametral entgegengesetzt. Betrachtet man, wie die Folgen dieser Gegenbewegung beschrieben sind, wird dies wird noch einmal besonders deutlich (2,563f.): numquam in concilium ut possint compulsa coire nec remorari in concilio nec crescere adaucta […]. Sie könnten niemals zusammengetrieben in einen Verbund zusammenkommen und nicht in diesem Verbund bleiben oder wachsen, nachdem sie vermehrt wurden […].

Was in diesen Versen unter den gegebenen Bedingungen nur in negierter Form dargestellt werden kann, ist nichts anderes als die Essenz der Ordnung in De Rerum Natura. Die drei unterschiedlichen atomaren ,Aggregatzustände‘ nämlich,42 die hier genannt sind, fassen gleichsam in nuce die Aspekte von Ordnung zusammen, die im Verlauf dieses Passus und der zuvor betrachteten Abschnitte in unterschiedlicher Ausprägung immer wieder sichtbar wurden. Mit der Junktur in concilium compulsa coire rückt zunächst Ordnung als Dynamik in den Fokus, wobei nicht allein die Bewegung des Zusammengehens markiert (vgl. auch oben 41 42

So auch bei Bailey 1947 ad loc. Bailey 1947 ad loc. spricht von „three stages“.

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Die Ordnung der Dinge (II)

congressa coire; 2,549; ratio conciliandi; 2,551), sondern diese Bewegung durch compulsa (vgl. congressa; 2,549) in ihrem Modus noch genauer charakterisiert wird. Die Ordnung der Dinge besteht somit in einer Bewegung und einem Anstoß zu dieser Bewegung. Neben dem Prozess der Ordnung rückt aber auch Ordnung als Statik in den Blick (remorari in concilio). Nachdem die Atome sich in ein concilium zusammengefunden haben, erwähnt Lukrez nicht zuletzt auch einen Zustand, in dem die Atome in eben diesem concilium verbleiben und ihre Größe verändern können (crescere adaucta). 6.3.1

Glomeramen in unum. Ordnung, Mischung, Ballung

Die atomaren Ordnungen stellten sich bislang zumeist als dynamische Ordnung, d.h. als Prozess des Ordnens dar. Das statische Moment der Ordnung nahm hingegen weniger Raum ein. In erster Linie mag dies auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass eine statische Ordnung in De Rerum Natura immer nur eine Momentaufnahme sein kann, sind die Atome doch immer in Bewegung, selbst wenn sie sich in atomaren Verbünden zusammengefunden haben. Nur an wenigen Stellen in De Rerum Natura lässt sich eine Ordnung beobachten, in der Lukrez die Atome in einer – zumindest temporären – statischen Verbindung darstellt. Erste Anhaltspunkte, wie eine solche Ordnung beschaffen ist, konnte der Blick in die Atome, auf die Ordnung der minimae partes liefern, wo die Unveränderbarkeit der einzelnen Atomform (figura) von der spezifischen Zusammensetzung einer bestimmten Anzahl von minimae partes hergeleitet wurde. Die interne Ordnung des Atoms ist per se eine statische. Die Erkenntnisse, die aus den Passagen über die minimae partes gewonnen wurden, sind aber für die Untersuchung der statischen Formen von atomaren Ordnungen nur bedingt weiterführend, denn die Ordnung der minimae partes kann nicht ohne weiteres auf die atomare Ordnung der Dinge übertragen werden. Deren Ordnung ist nur temporär und zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie sich, im Gegensatz zur Ordnung im Inneren des Atoms, wieder auflösen kann. Auf interne Ordnung der Dinge geht Lukrez insbesondere in dem Teil des zweiten Buches ein, der die Formen und Verbindungen der Atome zum Gegenstand hat. Als Ausgangspunkt für die Untersuchung dieser Ordnung der Dinge kann die folgende Feststellung dienen, die die Relevanz von Ordnung für De Rerum Natura noch einmal deutlich macht (2,581–585): Illud in his obsignatum quoque rebus habere convenit et memori mandatum mente tenere, nil esse, in promptu quorum natura videtur, quod genere ex uno consistat principiorum, nec quicquam quod non permixto semine constet. 585 Hierbei ist man sich einig, Folgendes als besiegelt zu betrachten und als Weisung gut im Gedächtnis zu behalten: Es gibt nichts, dessen Wesen man offen sieht, was

205

Die Berechenbarkeit der Ordnung

nur auf einer Art von Atomen gründet, und auch nichts, was nicht aus vermischten Samen besteht.

Lukrez erklärt nun nicht mehr, wie die Dinge entstehen, sondern wie sie bestehen (consistat; 2,584; constet; 2,585). Notwendig für das Bestehen der Dinge sind Atome unterschiedlicher genera, wie es in Erweiterung der anthropomorphen Metaphorik in Bezug auf die Atome heißt.43 Daraus ergibt sich, dass Ordnung nicht in und durch Gleichheit besteht, sondern in und durch Differenz; eine Differenz, die auf der Mischung verschiedener, d.h. sich voneinander unterscheidender Atome beruht: [convenit … mente tenere, nil esse …] nec quicquam quod non permixto semine constet (2,585). Diese Ordnung der Dinge ist eine, auf die man aus der sichtbaren Erscheinung der Dinge selbst schließen kann (in promptu; 2,583), ohne dass deren atomare Ordnung sichtbar wäre. Die Atome bilden die Erklärungsgrundlage für die Beschaffenheit und Eigenschaften der Dinge. Die Dinge wiederum geben aber Aufschluss über eben diese Erklärungsgrundlage (vgl. 2,583f.). Diese Verweisstruktur hat auch Auswirkungen auf die Annäherung an den Ordnungsbegriff, denn die Ordnung der Atome, aus denen sich die Dinge bilden, beruht nicht auf Einheit, Einheitlichkeit oder Symmetrie, sondern ganz wesentlich auf Unterschieden, die dadurch entstehen, dass die verschiedenen Atomformen miteinander vermischt werden (permixto; 2,585). Genaueren Aufschluss darüber, wie diese Mischung funktioniert und wie die daraus resultierende Ordnung beschrieben werden kann, gibt eine Passage, in deren Zentrum die Opposition von Identität und Differenz auf der Ebene der Atome steht. Auch hier erfolgt der Schluss auf die Ebene der Atome, wo die unterschiedlichen atomaren Formen die Unterschiede der Dinge nach außen hin konstituieren, von eben diesen konkret erfahrbaren Phänomenen in der Lebenswelt (2,683–687): nidor enim penetrat qua fucus non it in artus, fucus item sorsum, ˂sorsum˃ sapor insinuatur sensibus; ut noscas primis differre figuris. dissimiles igitur formae glomeramen in unum conveniunt et res permixto semine constant.

685

Duft dringt nämlich dort in die Glieder, wohin Farbe nicht geht, Farbe wiederum gelangt gleichermaßen auf ihre Weise zu den Sinnen, ebenso Geschmack; so erkennst du: Sie unterscheiden sich in ihren Atomformen. Unähnliche Gestalten kommen also zu einem Knäuel zusammen und so formen sich die Dinge aus vermischten Samen.

43

Vgl. Bailey 1947 ad loc.: „[G]enus […] has become the technical word for atoms of the same shape“.

206

Die Ordnung der Dinge (II)

Die Unterschiede der Sinneswahrnehmung von Geruch (nidor), Purpurfarbe (fucus) und Geschmack (sapor) gewinnen hier elementare epistemologische Relevanz für die unterschiedlichen Atomformen und damit auch für deren Zusammensetzungen. Das erkenntnistheoretische Grundmuster dieser Form der Welterklärung lässt sich auf die einfache Formel ,Differenz aus Differenz‘ bringen. Doch das Konzept der Differenz steht hier nicht isoliert, sondern mündet wie schon zuvor,44 in die Darstellung und Erklärung einer Ordnungsformation: dissimiles igitur formae glomeramen in unum / conveniunt (2,686f.). Neben der Beschreibung, dass Unähnliches in einen Verbund eintritt, sind hier insbesondere die folgenden Aspekte von ordnungstheoretischem Interesse: Die Atomform (figura) steht metonymisch für das gesamte Atom. Das ist insofern bemerkenswert, als die Atome in De Rerum Natura als Metaphern beschrieben sind, die teils dem Bereich des Physiologisch-Anthropomorphen entlehnt sind (semina, corpora, materies), teils, auf einer abstrakteren Ebene, dem Bereich von (technischen) Ursprungs- und Anfangskonzepten (primordia, exordia).45 Wenn daher der Akzent auf der Form der Atome als eine ihrer Grundeigenschaften (neben Bewegung und Gewicht) liegt, rückt die Qualität des Atoms und damit auch die Qualität der durch die Atome erzeugten Zusammenfügungen in den Vordergrund. Doch nicht nur darin lassen sich Anhaltspunkte für die Beschreibung und Konzeption statischer Ordnungen in De Rerum Natura finden. Zwar ist die Bewegung der Atome auch an dieser Stelle nicht gänzlich ausgeklammert (conveniunt; 2,687), doch sie mündet, ähnlich wie bereits die Konzeptualisierung der Atome als formae zum Ausdruck brachte, in die Darstellung eines statischen Bildes: dissimiles igitur formae glomeramen in unum conveniunt (2,687). Die hier beschriebene atomare Zusammenfügung wird von Lukrez mit der Junktur glomeramen in unum beschrieben. Nicht allein, dass durch die Kontrastierung von dissimiles (formae) und (glomeramen) in unum Ordnung als Übergang von Differenz zu Einheit beschrieben wird; gerade der Begriff des glomeramen selbst lässt eine weitere Ausdifferenzierung des Ordnungsbegriffs zu.46 Zum einen ist der Aspekt der Ganzheit bzw. Einheit hervorzuheben, in dem die notwendige Verschiedenheit der einzelnen Bestandteile aufgeht. Zum anderen wird diese Form der Zusammenfügung, betrachtet man den Wortstamm von glomeramen näher, als eine beschrieben, die nicht nur in einem unspezifischen ,Zusammenhängen‘ besteht, sondern in einer spezifischen Form, einem glomus

44

45 46

Vgl. die beiden nahezu identischen Verse 2,585 (nec quicquam quod non permixto semine constet – „und [es gibt] auch nichts, was nicht aus vermischten Samen besteht“) und 2,687 (res permixto semine constant – „die Dinge bestehen aus vermischten Samen“). Vgl. hierzu ausführlich Kap. 1.3.1 dieser Arbeit. Zu einer präzisen Überschau über den Gebrauch von glomeramen und seinem verbalen Derivat conglomerare (nur in 2,154) vgl. Fowler 2002, S. 225f.

Die Berechenbarkeit der Ordnung

207

(„Knäuel“).47 Während Cyril Bailey diesen Aspekt unkommentiert und die Bestimmung von glomeramen im Unspezifischen belässt,48 erweist es sich als weiterführend, auch diesen Punk in das Konzept von Ordnung einzubeziehen. Die Atome formieren sich zu einem Verbund, der jenes in Zusammenhang mit der Dynamik der Atome herausgearbeitete Streben zum Zustand eines con- nun noch weiter akzentuiert: Es ist eine „Ballung“,49 also eine in erster Linie runde Form. Dies bedeutet nicht, dass die Grundkonzeption einer Ordnung in De Rerum Natura letztlich in einer kugelförmig harmonisierten und um ein Zentrum gruppierten Verbindung der verschiedenen Atome besteht; was im Bild des glomeramen vielmehr anschaulich wird, ist die Dichte und Komplexität der atomaren Verbindungen, die ein nach außen hin abgeschlossenes Ganzes bilden. 6.3.2

Anything goes? Die ratio der Ordnung

6.3.2.1 Creare und conservare. Perspektiven auf Ordnung Die verschiedenen, an den atomaren Zusammensetzungen der Dinge beteiligten Aspekte, stehen nicht nur als einzelne deskriptive Sequenzen nebeneinander; sie werden auch – ganz am Ende des Abschnitts, der die Atomformen und ihre Verbindungen zum Gegenstand hat – zusammen reflektiert und auf diese Weise noch einmal genauer ausdifferenziert.50 Bis zu diesem Punkt seiner Argumentation hat Lukrez die Möglichkeiten und Grenzen der Formen der Ordnung, seien sie nun statisch oder dynamisch, nicht explizit ausgelotet. Der Beitrag zur Ordnungskonzeption von De Rerum Natura, den der im Folgenden diskutierten Passus leistet, liegt gerade darin, dass Ordnung nicht mehr nur unter allgemeinen, deskriptiven Gesichtspunkten verhandelt wird, sondern die geschilderten Vorgänge unter präskriptiven Vorzeichen noch einmal rekapituliert werden. So steht auch programmatisch zu Beginn die Absage an die Beliebigkeit von Zusammensetzungen: Nec tamen omnimodis conecti posse putandum est / omnia („trotzdem darf man nicht glauben, dass alles sich auf jede Weise verbinden könnte“; 2,700f.). Die Prozesse der atomaren Verknüpfungen erhalten nun eine explizite Einschränkung; es gibt kein anything goes im 47

48

49

50

In seiner Grundbedeutung ist glomus das Wollknäuel (vgl. TLL 6/2,2061,33–47 s.v. glomus, -eris) und kann daher auf einer ähnlichen Bildebene wie die Metaphorik des Webens angesiedelt werden. Vgl. Bailey 1947 ad loc.: „,collection‘, ,group‘, ,mass‘, but without any technical sense of ,molecule‘“. Übersetzung von Büchner (1956) 2008; Diels (1923) 32013 wählt die Übertragung „Knäuel“. Die Grundeigenschaften des glomeramen liegen in seiner Rundheit und Dichte (vgl. TLL 6/2,2058,22–29 s.v. glomeramen, -inis). Ähnlich auch Bailey 1947, S. 914: „This paragraph is a modification or limitation of the previous paragraph and indeed of the general ideas of the section“.

208

Die Ordnung der Dinge (II)

lukrezischen Modell der Ordnung, sondern klare Grenzen.51 Für die Konsequenzen einer Ordnung ohne Grenzen findet Lukrez eindrückliche Bilder,52 doch erst seine abstrakteren Erklärungen geben Einblicke in die Funktionsmechanismen der unterhalb jeder konkreten Anschauung liegenden atomaren Ordnungen (2,707–710): quorum nil fieri manifestum est, omnia quando seminibus certis certa genetrice creata conservare genus crescentia posse videmus. scilicet id certa fieri ratione necessust.

710

Aber nichts dergleichen geschieht, wie man deutlich erkennt, da wir sehen, dass alles bestimmten Samen und einer bestimmten Mutter entstammt und seine Art sich bewahren kann, auch wenn es wächst. Dies muss natürlich nach bestimmten Regeln geschehen.

Die beiden zentralen Aspekte von Ordnung, Dynamik und Statik, werden hier mit Blick auf die zuvor dargestellte Unmöglichkeit bestimmter Verbindungen zueinander in Bezug gesetzt. Sowohl das Entstehen als auch das Bestehen einer jeden Zusammensetzung ist danach an bestimmte Atome geknüpft. Mit der Junktur seminibus certis certa genetrice (2,708) wird zunächst der Aspekt der Entstehung in den Fokus gerückt, dabei akzentuiert die chiastische Stellung den zentralen Aspekt dieser Ordnung, das certum, auch formal.53 Damit bestimmte Dinge entstehen können, sind bestimmte Atome notwendig, wie durch semina certa und certa genetrix auf zwei unterschiedlichen konzeptionellen Ebenen zum Ausdruck kommt.54 Durch semina als Metapher für die Atome wird das Material der 51

52

53

54

Vgl. Kap. 3 dieser Arbeit zu Grenzen und Grenzenlosigkeit im lukrezischen All. Zur Bedeutung des Konzepts der Grenze im Epikureismus vgl. v.a. De Lacy 1969 und Segal 1992. Vgl. dazu die Verse 2,701–706: nam vulgo fieri portenta videres, / semiferas hominum species existere et altos / interdum ramos egigni corpore vivo / multaque conecti terrestria membra marinis, / tum flammam taetro spirantis ore Chimaeras / pascere naturam per terras omniparentis („Denn sonst würdest du überall die Entstehung von Ungeheuern sehen, halb Mensch, halb Tier, und [du würdest auch sehen], wie bisweilen lange Äste aus einem lebendigen Körper heraus in die Höhe wachsen, und wie sich viele Glieder von Landtieren mit denen von Seetieren verbinden; dann auch, wie die Natur auf der Erde, die alles hervorbringt, Chimären nährt, die aus ihrem scheußlichen Maul Flammen schnauben“). Bereits Asmis 2008, S. 144 betont diese Affinität zu Unterscheidungen in De Rerum Natura und bindet sie zurück an die ethischen Implikationen des Gedichts: „Unlike Epicurus, Lucretius gives much attention to the differentiation of created kinds. As I see it, Lucretius highlights this demarcation by the concept of treaties. By situating the human being within the natural world as a finite domain of power, held in relation with all other kinds by powers of its own, he raises humans to a condition like that of the gods“. Zu den semina certa vgl. auch Kap. 3.2.1 dieser Arbeit.

Die Berechenbarkeit der Ordnung

209

Ordnung beschrieben, durch certa genetrix ist der Prozess, d.h. die Herausbildung der Ordnung ins Bild gesetzt.55 Statt Beliebigkeit steht am Anfang der Dinge somit Bestimmtheit: Die Ordnung der Atome zu Dingen beruht nicht allein auf der Bewegung des con-, sondern auch auf der Zusammensetzung von spezifischen Atomformen, d.h. auf der Umsetzung eines spezifischen Bauplans.56 Die Qualifizierung der Atome als semina certa ließe sich somit aus einer systematischen Perspektive auch als eine Form der Komplexitätsreduktion im Prozess der Ordnung der Dinge bezeichnen. Zugleich impliziert diese durch die wiederholte Nennung des Zentralwortes certus betonte Einschränkung, die eine Einschränkung der Beliebigkeit, aber auch der Möglichkeiten zur variatio ist, dass es an dieser Stelle nur um die Entstehung bestimmter Dinge geht. Wenn aber bestimmte Dinge aus bestimmten semina entstehen, so bewirkt dies auch eine starke teleologische Aufladung der hier geschilderten Ordnungsprozesse. Auch an anderer Stelle in De Rerum Natura ließ sich eine solche Unterwanderung der antiteleologischen Ausrichtung durch Elemente beobachten, die Kontingenz und Zufall mit teleologischen Elementen der Welterklärung verbinden.57 Wie Anthony Long in seiner Studie „Chance and natural law in Epicureanism“58 im Detail herausgearbeitet hat, kann man das Verhältnis von Zufall und Determinismus bei Epikur und auch bei Lukrez aber nicht in einfache Dichotomien trennen. Die Übergänge sind vielmehr an einigen Stellen fließend, insbesondere auch, da immer zu unterscheiden ist, was genau determiniert ist, z.B. qualitative oder quantitative Zielpunkte.59 Wenn somit bestimmte Dinge an die Zusammensetzungen aus bestimmten Atomen gebunden sind, ist dies nicht als philosophische Inkompatibilität zu beurteilen, sondern vielmehr damit zu erklären, dass die Ordnung der Atome für ein Ding vorgegeben ist; dass sich die Atome dann tatsächlich zu einem spezifischen Ding ordnen, ist aber nicht vorbestimmt, sondern vielmehr vom zufälligen Aufeinandertreffen der entsprechenden Atome abhängig. Wie bereits einleitend skizziert, wird neben der Entstehung der Dinge in den Versen 2,707‒710 auch eine Aussage darüber getroffen, wie sie in der einmal erzeugten Zusammenfügung Bestand haben können. Neben creare (creata, 2,708), so zeigt sich, steht auch conservare (2,709) in engem Zusammenhang mit der Frage nach den Grenzen und Möglichkeiten von Ordnung. Die semina certa bilden die wesentliche Voraussetzung dafür, dass die einmal hergestellten Ordnungen, d.h. die jewieligen Dinge, (länger) Bestand haben: [omnia] conservare

55

56 57 58 59

Zu den verschiedenen Ausgestaltung des Weiblichen in De Rerum Natura vgl. Nugent 1994, Clayton 1999, Fowler 2002. Vgl. dazu Long 1977, S. 82. Vgl. Kap. 4 dieser Arbeit. Long 1977. Vgl. hierzu auch Asmis 2008.

210

Die Ordnung der Dinge (II)

genus crescentia posse videmus („wir können sehen, dass [alles] seine Art sich bewahren kann, auch wenn es wächst“; 2,709).60 An dieser Stelle gilt es nun, den Begriff der Ordnung noch einmal einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Bislang wurden unter dem Konzept der Ordnung Vorgänge gefasst, durch die die spezifischen Bewegungen und Verbindungen von Atomen sichtbar wurden. Die Konzeptualisierung von Ordnung in der einleitenden Erklärung dieses Passus (2,700f.) unterscheidet sich aber von dem Modus, in dem die Ordnung der Dinge zumeist zur Darstellung kam. Die primär deskriptiven Marker für Ordnung, wie coire, concilium oder auch glomeramen (2,686), rücken in den Versen (2,707–710) in den Hintergrund; damit geht auch eine Veränderung der Perspektive auf die Ordnung einher. Wenn nämlich zunächst nur die einzelnen Atome (semina) in den Blick genommen werden und diese durch das Adjektiv certus eine größtmögliche Spezifikation und Differenzierung erhalten, dann operiert diese Beschreibung der Atome auf einer anderen Ebene als zuvor: Sie ist nicht mehr rein deskriptiv, gewissermaßen von einem systeminternen Beobachter abhängig, sondern von einem Beobachter, der so weit Distanz zu den Dingen und ihrer Ordnung behält, dass er deren Ordnung aus einer abstrakteren Perspektive beschreiben kann. Durch semina certa wird nämlich einerseits eine Konkretisierung in Form einer Beschränkung herbeigeführt, andererseits aber erhält der Prozess der Ordnung auf diese Weise eine Generalisierung, die im letzten Vers des vorliegenden Passus besonders deutlich zutage tritt: scilicet id certa fieri ratione necessust („dies muss natürlich nach bestimmten Regeln geschehen“; 2,710). Die certa ratio verweist auf die ratio conciliandi (2,551). Dieses Ordnungsvermögen wird von Lukrez jedoch nur im Modus des ex negativo benannt, denn gerade die Unmöglichkeit von Ordnung, die aus der Konstellation einer begrenzten Menge von Atomen im unbegrenzten Raum des Alls resultiert, sollte veranschaulicht werden. Unter solchen Voraussetzungen verfügen die Atome gerade nicht über die ratio conciliandi. Dass die atomaren Ordnungen unter anderen Voraussetzungen aus einer solchen ratio hervorgehen, hat die Analyse der Verse 2,707–710 zeigen können. Wenn hier von einer ratio die Rede ist, die durch ihr Attribut certa an die konkreten semina certa (2,708) anschließt, betont Lukrez die Absage an jegliche Beliebigkeit einer Ordnung und fixiert diese auf einer abstrakteren Ebene. Eine Ordnung muss demnach bestimmten Regeln, oder allgemeiner gesprochen, bestimmten Einteilungen folgen.

60

Vgl. Bailey 1947 ad loc.: „Not only must things be originally composed of the right classes of atoms, but only atoms of those classes will be able to join the compound and so cause growth“.

Die Berechenbarkeit der Ordnung

6.3.2.2

211

Eadem ratio res terminat. Gesetz und Ordnung

Die Modi der Ordnung und der Verstetigung von Ordnung, die zuvor in konkreten Prozessen (creare und conservare; 2,708f.) und durch spezifische semina zur Darstellung kamen, werden, wie bereits im Übergang der Beschreibungsebene vom konkreten semen (2,708) zur ratio (2,710) sichtbar, sukzessive abstrakter. Waren bis zu diesem Punkt noch die beiden zentralen Aspekte, also atomare Statik und Dynamik, an eine bestimmte ratio gebunden, so rückt in der Folge die ratio selbst in den Mittelpunkt. Nachdem Lukrez veranschaulicht hat, dass nur bestimmte Atome an der Entstehung bestimmter Dinge beteiligt sind, schließt er zunächst das Bild des sich nährenden Körpers an: Auch der Prozess der Verdauung besteht demnach darin, dass die dem Körper zugeführte Nahrung in einzelne Elemente differenziert und passende Elemente miteinander verbunden werden (2,711–717).61 Wie die Beschreibung der semina certa, so schließt auch dieser deskriptive Passus mit einer generalisierenden Reflexion (2,718f.): sed ne forte putes animalia sola teneri legibus hisce, eadem ratio res terminat omnis. Doch denke nicht etwa, dass nur beseelte Geschöpfe an jene Gesetze gebunden sind, dieselbe Regel legt alle Dinge fest.

Die Beschränkungen, denen die Varianz der atomaren Ordnung unterliegt (vgl. nec tamen omnimodis conecti posse putandum est / omnia – „trotzdem darf man nicht glauben, dass alles sich auf jede Weise verbinden könnte“; 2,700f.), werden hier noch weiter generalisiert, wenn Lukrez sie nicht nur auf die Entstehung der belebten, sondern aller Dinge (res omnis; 2,719) bezieht. Darüber hinaus wird auch die ratio dieser Vorgänge reflektiert. Die Passage unterscheidet sich von den vorangegangenen dadurch, dass sie keinen deskriptiven, sondern einen präskriptiven Beschreibungsmodus aufweist. Seine präskriptive Prägung erhält der Modus, in dem die Ordnung der Atome beschrieben ist, gerade durch die Beschränkung und Spezifizierung, die in der emphatischen Eliminierung des incertum durch ein certum liegt. Dass nicht alles mit allem verbunden werden kann, ist nicht sinnlich wahrnehmbar, sondern stellt sich als Gesetzmäßigkeit und als ratio der Ordnung des lukrezischen Kosmos dar. Das Verhältnis von lex und ratio verdient gerade mit Blick auf die Implikationen für Ordnungen genauere Betrachtung. Elizabeth Asmis hat in ihrer Studie „Lucretius’ New World Order. Making a Pact with Nature“62 bereits wichtige terminologische und begriffliche Klärungen zum Feld der legislativen Terminologie (insbesondere zu lex und foedus) in De Rerum Natura geleistet. Ein besonderes Verdienst ihrer Studie liegt darin, die scheinbare Widersprüchlichkeit zwi61 62

Vgl. Bailey 1947, S. 915. Asmis 2008.

212

Die Ordnung der Dinge (II)

schen dem Antideterminismus der epikureischen Philosophie und ihre Rekurrenz auf Konzepte der Gesetzmäßigkeit zu problematisieren. Für Asmis ist insbesondere das Konzept der Naturgesetzmäßigkeit (foedera naturai) von Bedeutung: „Nature’s treaties set limits to the powers of all things, while allowing each thing to flourish with powers of its own. […] Natural treaties are not deliberate. Lucretius explicitly warns the student against thinking that the atoms ,have made compacts‘ with each other. Instead, they fall spontaneously into enduring patterns as the result of clashing with each other in countless ways. Lucretius seems intent on blocking a misunderstanding of the term ,treaty‘ by pointing out that the natural order of things is not planned by a reasoning mind.“63

Die Naturgesetze, so hebt Asmis hervor, determinieren die Entstehungsbedingungen der Dinge, nicht die Dinge selbst.64 Wenn die in den Versen 2,711‒722 beschriebenen (körperlichen und atomaren) Ordnungsvorgänge und Ordnungsschemata somit als von spezifischen leges abhängig markiert sind (teneri legibus; 2,719), führt dies nicht zu einer deterministischen Subversion der natura rerum, sondern zeigt zweierlei: Zum einen, dass die Herausbildung einer Ordnung unter bestimmten Voraussetzungen stattfindet (dies führt auf den Aspekt der leges, der auch bei Asmis im Mittelpunkt steht65), zum anderen, dass diese Vorgänge der Ordnung nicht völlig beliebig ablaufen,66 sondern unter bestimmten Gesichtspunkten klassifiziert oder zumindest zusammengefasst werden können. Nicht nur die belebte Natur, sondern buchstäblich alles unterliegt diesen Möglichkeiten und Beschränkungen: eadem ratio res terminat omnis („dieselbe Regel legt alle Dinge fest“; 2,719). Die unterschiedlichen Ordnungsprozesse und Ordnungsgesetze lassen sich demnach auf einen Begriff bringen: ratio. Nicht unterschiedliche, sondern eine, dieselbe Regel (eadem ratio), die sich konkret in unterschiedlichen leges ausbildet, gilt für die Entstehung aller Dinge. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass auch der Effekt der ratio selbst als Beschränkung konzeptualisiert ist: ratio res terminat. Zusätzliches Gewicht erhält diese Junktur, bezieht man mit ein, dass sie einen programmatischen Bezugspunkt im ersten Buch von De Rerum Natura hat.67 In der Beschreibung der Grenzüberschreitung des Graius homo Epikur nimmt Lukrez eine philosophische und methodologische Positionsbestimmung vor (1,72–77):68 63 64

65 66 67 68

Asmis 2008, S. 149. Vgl. Asmis 2008, S. 146. Zur Diskussion der Möglichkeit epikureischer Gesetzmäßigkeiten vgl. auch de Lacy 1969 und Long 1977 (ausgehend von einer kritischen Auseinandersetzung mit den Thesen de Lacys). Vgl. zu dieser Passage auch Asmis 2008, S. 146. Vgl. Asmis 2008, S. 149. Vgl. Asmis 2008, S. 143. Zu den poetologischen und epistemologischen Implikationen dieses Bildes vgl. v.a. de Lacy 1969, Kennedy 2002 und Kennedy 2013a.

213

Die Berechenbarkeit der Ordnung extra processit longe flammantia moenia mundi atque omne immensum peragravit mente animoque, unde refert nobis victor quid possit oriri, quid nequeat, finita potestas denique cuique quanam sit ratione atque alte terminus haerens.

75

Er setzte den Fuß weit über die flammenden Mauern des Weltalls und durchstreifte das unendliche All mit mutiger Gesinnung; von dort bringt er uns als Sieger mit, was entstehen kann, und was nicht, und wie schließlich jedem sein Vermögen begrenzt ist und der tief eingelassene Grenzstein.

In dieser epistemologische Urszene des Epikureismus stehen die Möglichkeiten und Beschränkungen des Werdens der Dinge im Zentrum.69 Besondere Emphase liegt dabei auf den Grenzen der Entstehungsmöglichkeiten, die als tief versenkter Grenzstein (alte terminus haerens; 1,77) ins Bild gesetzt sind. Diese den Dingen inhärente Begrenzung gibt im Umkehrschluss auch an, welche Dinge entstehen können. Doch nicht nur das: Der indirekte Fragesatz geht auch von der Frage aus, auf welche Weise Dinge eine Begrenzung haben können. Eben diese Verbindung zu einer Grenze liegt auch der in Rede stehenden Passage aus dem zweiten Buch zugrunde (2,718f.), wenn die Grenzen und Möglichkeiten der atomaren Verbindungen an eine spezifische Regelung gebunden sind. Nicht die Grenze, sondern eine Grenze muss bestimmt werden. Dass die Atome nicht alle in gleicher Weise Verbindungen eingehen können, bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass sie nur eine Verbindung eingehen können. Ordnung, so zeigt sich damit, determiniert nicht und ist nicht im Sinne einer Festlegung determiniert, sondern Ordnung (ist) begrenzt. Wie sich diese für die Entstehung aller Dinge identische ratio, die in einer spezifischen Ordnung spezifischer Atome besteht, mit Blick auf eben diese atomare Natur der Dinge bestimmten lässt, zeigen die den Passus beschließenden Verse noch einmal (2,720–722): nam veluti tota natura dissimiles sunt inter se genitae res quaeque, ita quamque necessest dissimili constare figura principiorum […].

720

Denn wie die erschaffenen Dinge ihrer Natur nach einander allesamt vollkommen unähnlich sind, so besteht notwendigerweise auch jedes einzelne aufgrund der unähnlichen Gestalt seiner Ursprungsteilchen […].

69

Brown 1984 ad loc. verweist darauf, dass referre nicht allein als Übermittlung von Informationen zu verstehen sei, sondern auch die Implikation eines „triumphing general“ mit seiner Siegesbeute evoziere. Vgl. dazu weiterführend Buchheit 1971.

214

Die Ordnung der Dinge (II)

Aus einer anderen Perspektive als bisher werden nun die Ordnung der Dinge und ihre Bestimmtheit noch einmal rekapituliert. Bis zu diesem Punkt bildete die certa ratio den Mittelpunkt: Bestimmte Mechanismen und Atome bringen bestimmte Dinge hervor. Nun lässt sich diesbezüglich eine Verschiebung erkennen, die noch genauer ausdifferenziert, wie die Dinge aus bestimmten Atomen entstehen. Die Bestimmtheit, die jede Beliebigkeit ausschließt, gründet auf Verschiedenheit, d.h. auf einer durch Vergleichen hergestellten Unterscheidung (vgl. dissimilis). Der vergleichende Blick (veluti […] ita) auf die Ebenen von res und primordia wird von Lukrez kausal mit dem Vorhergehenden verbunden. Für die Bestimmung des Verhältnisses von Bestimmtheit (semina certa; 2,708) und Differenz (dissimilis figura principiorum; 2,722) impliziert dies Folgendes: Die ratio (eadem ratio; 2,719) kann die Gesetzmäßigkeiten für die Verbindungen der Atome vorgeben und bestimmen, welches die spezifischen semina der spezifischen Dinge sind, gerade weil die Dinge aus unterschiedlichen Atomen bestehen. Die Gleichheit der Methode der Ordnung beruht somit auf der Differenz ihres Materials. Die Entstehung der Dinge kann nur nach derselben Regelhaftigkeit erfolgen, weil die einzelnen Elemente, die innerhalb dieser Vorgaben die Dinge bilden, sich unterscheiden. Im Rahmen der Bestimmtheit bleibt Raum für Unbestimmtheit erhalten. Dass es sich hierbei aber nicht um eine unbeschränkte Differenz handelt, die wieder in Beliebigkeit münden würde, wird im Folgenden noch einmal ganz explizit und mit Blick auf die Ebene der Atome ausgeschlossen:70 Nachdem die zugrunde gelegte These von der ratio der Ordnung zunächst auf der Ebene der sichtbaren Dinge und dann mit Blick auf die Dinge und die sie konstituierenden Atome erklärt wurde, ist nun der höchste Grad an Abstraktion erreicht (2,723f.):71 non quo multa parum simili sint praedita forma, sed quia non vulgo paria omnibus omnia constant. Nicht weil zu wenige [Atome] ähnliche Formen besäßen, sondern weil gewöhnlich nicht alles mit allem identisch ist.

Zwei Aspekte werden hier mit Blick auf die Atome, ihre Gestalt und ihre Ordnung noch einmal ausgeführt: Zum einen, dass die Anzahl der Atome, die eine bestimmte Form haben, unbegrenzt ist, zum anderen, dass die Dinge nicht alle aus den gleichen Atomen bestehen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass unterschiedliche Dinge durchaus formgleiche Atome enthalten können. So fasst auch Bailey den komplexen Gedankengang dieser Verse zusammen: „Though not all combinations are possible, this does not mean that any given class of atoms can only enter into one class of created things. Many of the classes 70 71

Darauf verweist auch Rumpf 2003, S. 143 Anm. 57. Wie Snyder 1980, S. 84 hervorhebt, besteht an dieser Stelle durch die wörtliche Wiederholung der Verse 2,336f. eine enge Verbindung zu den Buchstabenanalogien.

Die Berechenbarkeit der Ordnung

215

which create man, for instance, will also take their place in the formation of a beast, or even a tree or a rock. […] [T]here are no exclusively man- or tree- or rock-particles.“72

Die Feststellung, dass Gleiches in Verschiedenem vorhanden ist, stellt sowohl inhaltlich als auch intratextuell eine enge Verbindung zu zwei anderen Passagen des zweiten Buches her. Ganz zu Beginn des Abschnitts zu den Atomformen, der hier zu seinem Abschluss kommt, wurde deren Vielfalt bereits mit den identischen Versen erklärt.73 Neben dieser Rahmung des Passus durch Verse, die die beiden für die Formen von Atomen zentralen Prämissen formulieren, besteht für die zweite intratextuell verbundene Passage eine andere Verweisstruktur. Sie ist keine identische Verswiederholung, sondern eine strukturelle Variation. Die folgenden Verse sind nämlich Teil einer der Passagen, in denen Buchstaben und Atome qua Analogie verbunden werden. Über die Anordnung der Buchstaben des Textes zu Wörtern wird dabei die folgende Aussage getroffen, die den Zusammenhang von Form und Kombination noch einmal in anderer Weise perspektiviert und auch verdeutlicht, was dieser thematische Komplex zur Beschreibung von Ordnungen beitragen kann (2,692–694): non quo multa parum communis littera currat aut nulla inter se duo sint ex omnibus isdem, sed quia non vulgo paria omnibus omnia constant. Nicht weil sich nicht auch häufig gemeinsame Buchstaben fänden oder weil nicht auch zwei aus ganz denselben bestehen könnten, sondern weil gewöhnlich nicht alle mit allen identisch sind.

Auch wenn es Wörter gibt, die teilweise gemeinsame Buchstaben haben, d.h. gleiche Formen der Ursprungselemente vorhanden sind, bedeutet dies nicht, dass sich dadurch die gleichen Zusammensetzungen bilden. Erst eine spezifische Ordnung, nämlich die Anordnung der einzelnen Buchstaben zu Wörtern, erzeugt aus der (partiellen) Identität Verschiedenheit. Wie zentral diese Differenz auf der Ebene der Atome für die gesamte Erscheinung der Welt ist, wie weitreichend somit die Mechanismen der Ordnung sind, die auf den begrenzten und verschiedenen Formen der Atome beruhen, zeigt abschließend noch einmal ein Blick in die sichtbare Erfahrungswelt. Das bereits oben beschriebene Muster ,Differenz aus Differenz‘,74 bei dem von der 72 73

74

Bailey 1947 ad loc. Vgl. 2,335–337: percipe, multigenis quam sint variata figuris; / non quo multa parum simili sint praedita forma, / sed quia non vulgo paria omnibus omnia constant („Höre nun, wie mannigfaltig sie sind durch ihre verschiedenartigen Gestalten; nicht weil zu wenige [Atome] ähnliche Formen besäßen, sondern weil gewöhnlich nicht alles mit allem identisch ist“). Vgl. Kap. 2.7, Kap. 5.1.1 und Kap. 6.1 dieser Arbeit.

216

Die Ordnung der Dinge (II)

Erfahrungswelt auf die Ebene der Atome geschlossen wurde, erhält nun eine Perspektivierung aus der entgegengesetzten Richtung: Die Differenz, die auf der Ebene der Atome durch die unterschiedlichen atomaren Formen vorhanden ist, bildet sich auch in der sichtbaren Welt ab (2,725–729): semina cum porro distent, differre necessust intervalla vias conexus pondera plagas concursus motus, quae non animalia solum corpora seiungunt, sed terras ac mare totum secernunt caelumque a terris omne retentant.

725

Weil die Samen ferner verschieden sind, müssen sich auch ihre Zwischenräume, ihre Bahnen und Verknüpfungen, ihr Gewicht, ihre Schläge, ihre Zusammenstöße und ihre Bewegungen unterscheiden; dies alles trennt nun nicht nur die Körper beseelter Geschöpfe, sondern scheidet auch das Meer in seiner Gesamtheit und das Land voneinander und hält den Himmel in Gänze von der Erde entfernt.

Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass von der Ebene der Atome auf die Ebene der sichtbaren Dinge geschlossen und dabei auch einbezogen wird, warum diese Rückschlüsse möglich sind. Lukrez stellt nämlich dar, wie Differenz auf der Ebene der Dinge sichtbar wird und macht deutlich, worin die Verbindung zwischen der atomaren und dinglichen Welt bestehen kann: „Different classes of atoms imply further differences in all the features of a combination“.75 Diese Differenz unterliegt einem Prozess der Übertragung. Dadurch, dass sich die Atome in ihrer Form voneinander unterscheiden (semina distent; 2,725), gleichen sich auch alle weiteren mit den Atomen verbundenen Parameter nicht: differre necessust / intervalla vias conexus pondera plagas / concursus motus (2,725–727). Die hier genannten Aspekte bilden eine erweiterte Auflistung oder Variation der Parameter, die ganz am Ende des zweiten Buches, im Passus der Buchstabenanalogien, explizit den Bezug zwischen den Buchstaben und der Ordnung der Dinge herstellen (2,1019–1022): sic ipsis in rebus item iam materiai [intervalla vias conexus pondera plagas] concursus motus ordo positura figurae cum permutantur […].

1020

Wenn sich auf diese Weise auch in den Dingen selbst Zusammenstoß, Bewegung, Ordnung, Lage und Gestalt der Materie verändern, so müssen sich auch die Dinge verändern […].

Dies ist, so könnte man mit Blick auf die vorangegangene Diskussion pointiert zusammenfassen, die ratio conciliandi, deren immer gleiche Parameter durch die 75

Bailey 1947, S. 914.

Die Berechenbarkeit der Ordnung

217

verschiedenen Atome zu spezifischen Verbindungen und Ordnungen führen. Die Verbindung zu den Buchstabenanalogien ist jedoch nicht rein assoziativ; auch die textkritische Behandlung dieser Verse kann zeigen, wie die beiden Passagen miteinander in Verbindung stehen. Der obige Vers 2,1020 ist in den beiden Handschriften OQ überliefert, wird von Lachmann allerdings athetiert.76 Auch wenn es sich allem Anschein nach wirklich um eine Interpolation handelt, zeigt die Verbindung eben dieser beiden Verse und Kontexte: Unabhängig davon, ob es sich um Atome handelt, die nach spezifischen Parametern geordnet werden, oder um die Buchstaben eines Textes – ähnliche Mechanismen kommen an ganz unterschiedlichen Stellen zum Tragen. Ihre unmittelbare Verknüpfung hat in der Interpolation ihren sichtbarsten Ausdruck gefunden. Doch nicht allein, dass durch diese Parameter der Zwischenraum zwischen der Ebene der Atome und der der Dinge sichtbar gemacht wird; er erhält auch eine noch genauere Spezifizierung (2,727–729): quae non animalia solum corpora seiungunt, sed terras ac mare totum secernunt caelumque a terris omne retentant. Dies alles trennt nun nicht nur die Körper beseelter Geschöpfe, sondern scheidet auch das Meer in seiner Gesamtheit und das Land voneinander und hält den Himmel in Gänze von der Erde entfernt.

Die Eigenschaften der Atome und die damit verknüpften Parameter sind verschieden (distare, differe; 2,725). Auf der Ebene der Dinge ,machen‘ diese Eigenschaften nun den Unterschied, wie die Verben seiungere, scernere und retentare markieren. Dass dieses Unterscheiden sich nicht nur auf einen Bereich der Welt erstreckt (non animalia solum corpora), sondern deren Gesamtheit umfasst, lässt sich pointiert als die Veranschaulichung der ,einen‘ ratio (eadem ratio; 2,719) beschreiben, die zuvor bereits in abstrakter Weise eingeführt wurde.77 Dabei ist nicht nur die Parallelität im Aufbau der Passagen von Relevanz, nehmen doch beide ihren Ausgang von der Feststellung, dass die ratio auf die gesamte Welt, sei sie nun belebt oder unbelebt, Einfluss nimmt. Auch die ratio in ihrem stets gleichbleibenden Begrenzungsmodus (vgl. 2,719) wird gewissermaßen wiederholt, indem mit der Reihung der Parameter, die mit den Atomen verbundenen sind (intervalla, vias, conexus etc.), nun eben jene Modi expliziert werden, die bei der Entstehung der Dinge in ihrer Ausprägung zwar variieren, nicht aber gänzlich ausgespart werden können. Dies ist der Rahmen für die ,unbestimmte Bestimmtheit‘ der Atome, die aufgrund ihrer unterschiedlichen 76 77

Zu einer ausführlicheren Darstellung vgl. Kap. 2.8.2 (Anm. 175) dieser Arbeit. Vgl. 2,718f.: Sed ne forte putes animalia sola teneri / legibus hisce, eadem ratio res terminat omnis („Doch denke nicht etwa, dass nur beseelte Geschöpfe an jene Gesetze gebunden sind, dieselbe Regel legt alle Dinge fest“).

218

Die Ordnung der Dinge (II)

Formen und Ordnungsmodi in der Lage sind, gänzlich unterschiedliche Dinge zu erzeugen, auf der Grundlage eben jener ratio aber nur in einem bestimmten Rahmen die Möglichkeit haben, Verbindungen einzugehen.78 Die unterschiedlichen Modi der Ordnung, wie sie von den unterschiedlichen Atomformen ihren Ausgang nehmen, kommen also auf der Ebene der Dinge dadurch zum Ausdruck, dass diese unterschieden bzw. unterscheidbar werden – und zwar letztlich, wie die schrittweise ,Vergröberung‘ des Unterscheidungsfilters zeigt, in einfachen binären Strukturen (vgl. animalia corpora seiungere, terras ac mare secernere oder caelum a terris retentare; 2,727–729). Ordnung wird somit an diesem Punkt zu Unterscheidung. Abstrahiert man vom konkreten Inhalt dieser Passage, so kann man mit Blick auf die Zentralbegriffe Ordnung, Differenz und Identität noch folgende Überlegungen bzw. Beobachtungen anschließen: Es lassen sich zwei Muster ausmachen, nach denen Identität und Differenz sich zueinander verhalten. Zum einen lässt sich von einer ‚Differenz aus Differenz‘ sprechen: Aus der Differenz auf der atomaren Ebene resultieren Differenzen in der Welt. Zum anderen gibt es aber auch das Muster einer ,Differenz aus Identität‘: Aus der unveränderlichen ratio der Verbindungsmodi geht auch Differenz hervor. Die Ordnung der Atome liegt dabei gleichermaßen der Entstehung von Differenz oder Identität zugrunde. 6.4

Über das Auflösen

Bislang wurden fast ausschließlich solche Ordnungsprozesse betrachtet, die zu einer Ordnung führten. Dies ist aber nicht auf einen gelenkten Selektionsprozess bei der Auswahl der hier untersuchten Passagen zurückzuführen, sondern bildet gleichsam das Zentrum von De Rerum Natura ab: die Entstehung der Dinge. Mit Blick darauf, dass jene Ordnungen in einem zeitlosen Raum stattfinden, in dem es keinen Anfang und kein Ende, sondern nur Kontinuität und Veränderung gibt, kann sich genau genommen auch keine atomare Ordnung aus dem Nichts bilden. Es gibt stets ein ,Vor‘ der Ordnung. Eine solche Ordnung vor der Ordnung wird in den folgenden Versen explizit beschrieben. An die Beobachtung, dass Holz oder ein Acker durch die Einwirkung des Regens in einen verwesungsähnlichen Zustand übergeht, schließt sich eine für die Betrachtung von Zeit und Ordnung elementare Bemerkung an (2,898–901): et tamen haec, cum sunt quasi putrefacta per imbres, vermiculos pariunt, quia corpora materiai

78

Auf dieses Potential von Begrenzungen weist de Lacy 1969, S. 107 hin: „In physics […], as in ethics, the knowledge of limits is of central importance. The doctrine of limits has for the Epicurean still another advantage. It permits variation within the limits. There is room for individual differences and even for spontaneity and freedom“.

219

Über das Auflösen antiquis ex ordinibus permota nova re conciliantur ita ut debent animalia gigni.

900

Und doch bringen diese [sc. Holz und die Ackerscholle], wenn sie durch Regengüsse gleichsam verwesen, Würmchen hervor, weil die Urelemente des Grundstoffs, durch die neuen Umstände aus ihren bisherigen Ordnungen gerissen, sich so vereinigen, wie Lebendiges gezeugt werden muss.

Am Anfang steht die Beobachtung, dass aus einer Sache eine andere entsteht, die von dieser einerseits vollkommen verschieden, andererseits aber in irgendeiner Weise mit ihr verbunden ist. Man könnte an dieser Stelle auch von einer natürlichen Metonymie sprechen, deren metonymischer Charakter sich auf der Ebene der Atome offenbart. Lukrez lehnt den Gebrauch von Metonymien nicht ab, macht aber deutlich, dass gerade aufgrund der Benennung von Natürlichem durch Götter (z.B. das Meer als Neptun oder die Erde als Mutter) die Gefahr besteht, falscher Frömmigkeit anheimzufallen.79 Er beschreibt diesen Abfall zum Götterglauben als einen physischen Prozess, bei dem die Seele gleichsam berührt (contingere; 2,680) und so verführt wird. Der alleinige Wortgebrauch kann also unmittelbar Einfluss auf Geist und Seele nehmen. Auch diese beiden Ebenen, Sprache und Geist, stehen gewissermaßen in einem Kontiguitätsverhältnis, da sich nur so die Einflussnahme von Wörtern auf den Götterglauben eines Menschen erklären lässt: Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die epikureische und lukrezische Epistemologie von physischer Berührung ausgehend gedacht ist,80 kann die Metonymie also in einem ganz grundsätzlichen Sinn ein erkenntnisförderndes Instrument sein. In einem Weltmodell, das nur aus Materie besteht, kann alles durch alles berührt werden und unterliegt einer ,globalen Kontiguität‘.81

79

80

81

Die theoretische Reflexion (2,655‒[680]) des Metonymie-Problems findet sich ganz am Ende des Exkurses zum Magna-Mater-Kult (2,600‒660): hic siquis mare / Neptunum Cereremque vocare / constituet fruges et Bacchi nomine abuti / mavult quam laticis proprium proferre vocamen, / concedamus ut hic terrarum dictitet orbem / esse deum matrem, dum vera re tamen ipse / religione animum turpi contingere parcat. („Wenn nun manch einer geneigt ist, das Meer Neptun und Feldfrüchte Ceres zu nennen und lieber den Namen des Bacchus falsch gebraucht, als die eigentliche Benennung der Flüssigkeit zu verwenden, mag es ihm auch gestattet sein, fortwährend vom Erdkreis als der Mutter der Götter zu sprechen, sofern er selbst seinen Geist nur wirklich rein erhält von der Schmach religiöser Glaubensbefleckung“). Am pointiertesten in 2,434f.: tactus enim, tactus, pro divum numina sancta, / corporis est sensus („Nur durch Berührung nämlich, Berührung! – bei den Mächten des Himmels – entsteht jedes Empfinden des Körpers“). Beer 2009, S. 176 kommt aus einer semiotisch grundierten Perspektive zu einem ähnliche Schluss: „Die Beobachtung, dass in De Rerum Natura das Verb videre zur Bezeichnung sowohl der visuellen Wahrnehmung als auch des Erkenntnisprozesses steht, ver-

220

Die Ordnung der Dinge (II)

Die Kontiguität zwischen Holz bzw. Erde und Würmern besteht in der Ordnung ihrer Atome. Wie die Wendung antiquis ex ordinibus (2,900) impliziert, steht vor der neuen Verbindung, die die Atome eingehen, bereits eine andere Ordnung. Diese aus einzelnen corpora bestehende Ordnung wird in einem ersten Schritt (corpora […] permota nova re; 2,899f.) in eine Bewegung gesetzt, die diese Ordnung dergestalt verändert, dass, wie der nächste Schritt der Beschreibung darlegt, ihre einzelnen Bestandteile sich in einer spezifischen Weise verbinden (corpora […] conciliantur; 2,899‒901). Gail Cabisius hat in ihrer Studie zu „social metaphors“ in De Rerum Natura darauf hingewiesen, dass diese Passage viele sprachliche Bezüge zu Mechanismen menschlicher Gesellschaften aufweist. Die Metaphern, so Cabisius, beschreiben „the reorganization of a society after the old order has been overthrown or drastically altered“.82 Die Wortverbindung nova res verweise in diesem Kontext auf res novae, den Ausdruck für einen Umsturz. Auch im Begriff der ordines macht Cabisius eine Verbindung zur menschlichen Gesellschaft aus: „The ordines metaphorically might be the classes of Roman society, the senatorial, equestrian, and plebeian“. Die Bezüge sind nicht von der Hand zu weisen, und doch kann Cabisius’ Form der Allegorese aufzeigen, wo die Problemstellen einer solchen Erklärung liegen: Die Festlegung dieser Metapher nicht nur auf die menschliche, sondern die römische Gesellschaft verstellt den Blick auf die weiteren Implikationen, die das metaphorische Sprechen über atomare Verbindungen hier beinhaltet. In Cabisius’ Versuch, ein kohärentes Bild aus den einzelnen Metaphern herzustellen, scheint die Gefahr einer semantischen Vereinheitlichung auf, die die strukturellen Implikationen der Metapher vernachlässigt. Die Ordnung vor der Ordnung wird, wie Lukrez beschreibt, zunächst aufgelöst, dann verbinden sich ihre Bestandteile in neuer Weise. Auch auf der sichtbaren Ebene der Dinge resultieren aus dieser Ordnung neuartige Gestalten. Der Akzent der Beschreibung liegt dabei auf dem, was zuvor als ,Unbestimmtheit in der Bestimmtheit‘ bezeichnet wurde:83 Aus dem gleichen oder ähnlichen Material kann bei verschiedener Ordnung Verschiedenes entstehen. Diese bestimmende Rolle, die der geordneten Verbindung der Atome als Voraussetzung für die Entstehung der Dinge und ihrer Eigenschaften zukommt, akzentuieren besonders deutlich auch die folgenden Verse (2,931–936): Quod si forte aliquis dice, dumtaxat oriri posse ex non sensu sensum mutabilitate, […]

82 83

weist demnach genau auf diese besonders enge und möglichst unmittelbar gehaltene Verbindung von Zeichen und Bezeichnetem im epikureischen Analogieverfahren“. Der gesamte Passus bezieht sich auf Cabisius 1985, S. 112 Vgl. Kap. 6.3.2.2 dieser Arbeit.

221

Über das Auflösen huic satis illud erit planum facere atque probare non fieri partum nisi concilio ante coacto, nec quicquam commutari sine conciliatu.

935

Sollte nun einer behaupten, allein durch Veränderung könne aus Empfindungslosigkeit Empfindung entstehen, […] wird es genügen, ihm durch Beweise deutlich zu machen, dass nur dann eine Geburt erfolgt, wenn vorher eine Vereinigung stattgefunden hat, und dass sich nichts ohne [eine vorherige] Verbindung verändern kann.

Vor der Herausbildung oder Veränderung eines spezifischen Dings steht seine Ordnung, die durch ante (2,935) sogar dezidiert als chronologische Abfolge markiert ist.84 Sowohl die Entstehung als auch die Veränderung eines Dings ist somit an einen spezifischen Zusammenschluss von Atomen gebunden, ohne den keine weitere Entwicklung möglich ist. Doch wie wird nun der gegenteilige Prozess, die Auflösung der Ordnung der Dinge dargestellt, und was lässt sich hieraus für die weitere Konturierung des Ordnungskonzepts in De Rerum Natura schließen? Wie bereits eingangs skizziert, kommen die Auflösungserscheinungen einer Ordnung in De Rerum Natura weniger häufig und weniger detailliert zur Darstellung als deren Entstehung. Doch auch sie lassen sich mit den bereits herausgearbeiteten Ordnungsparametern verbinden. Auflösungserscheinungen auf der Ebene der Dinge werden hier als Gegensätze zu den ,generativen‘ Funktionen von Ordnung präsentiert (2,947–951): dissoluuntur enim positurae principiorum et penitus motus vitales impediuntur, donec materies, omnis concussa per artus, vitalis animae nodos a corpore solvit dispersamque foras per caulas eiecit omnis.

950

Denn die Positionen der Ursprungsteilchen lösen sich auf und die Lebensregungen tief drinnen werden gehemmt, bis der in sämtlichen Gliedern erschütterte Grundstoff die Lebensbande der Seele vom Körper entknotet und die Seele hierauf zerstreut und durch alle Poren nach außen presst.

Der Tod eines Lebewesens durch eine plötzliche äußere Einwirkung (ictus; 2,944), bedeutet nichts anderes als die Veränderung seiner atomaren Ordnung. Diesen Vorgang schlüsselt Lukrez präzise in die einzelnen Stadien der Dekomposition auf: 84

Diese Prozesshaftigkeit lässt sich, wie auch Bailey 1947 ad loc. deutlich macht, bereits an den beiden Termini der Ordnung festmachen, die in diesem Passus verwendet werden: concilium und conciliatus. Bailey beschreibt conciliatus als statisches Resultat des prozesshaften concilium. Diese Unterscheidung lässt sich auch mit den Beobachtungen von Munro (1886) 1978 ad loc. plausibilisieren, denn „in the three other passages where conciliatus occurs, it signifies a union already formed“.

222

Die Ordnung der Dinge (II)

„The position of the atoms is upset; their motions are checked; then the soul-clusters in the body are dissolved; and finally the soul is driven out of the body“.85 Da der Prozess der Zusammenfügung in umgekehrter Reihenfolge geschildert wird, ist für die Frage nach Ordnung das erste Stadium der Auflösung von besonderem Interesse, denn es ist der statischen (und temporär stabilen) Ordnung des einmal gebildeten Dings noch am nächsten: dissoluuntur positurae principiorum (2,947). Der Modus, in dem die Atome bis zum Punkt ihrer Auflösung verbunden waren, wird hier als Position oder Stellung beschrieben. Wie sich bereits gezeigt hat, wird das Wort positura in den ersten beiden Büchern von De Rerum Natura häufig in den Passagen verwendet, die eine hohe ordnungstheoretische Relevanz besitzen. So spielt die positura der Atome sowohl in den Abschnitten, in denen Buchstaben und Atome in ein analogisches Verhältnis gebracht werden, als auch dort, wo die Verbindungen der Atome zu den Dingen unter genauerer Beobachtung stehen,86 eine wichtige Rolle. Ausgehend von der Verwendung in den Buchstabenanalogien bezieht sich positura auf die Lage der Atome zueinander. Deren Stellung ist demnach ein wesentlicher Parameter der Ordnung. Wenn die unterschiedlichen Positionen der Atome zueinander durch äußere Einflüsse verändert werden können, impliziert dies im Umkehrschluss für die Konzeption von Ordnung, dass eine atomare Zusammenfügung aus unterschiedlichen Arten der Anordnung bestehen kann (positurae). Es stellt sich die Frage, wie, ausgehend von dieser Beobachtung, der Vorgang der Auflösung (dissoluuntur […] positurae; 2,947) zu verstehen ist: (Wie) löst sich eine Stellung auf? Die ungewöhnliche Formulierung ist nicht zwangsläufig als Katachrese im Sinne eines falschen Wortgebrauchs zu bezeichnen, auch wenn die Übersetzungen eine Tendenz zur Glättung des Ausdrucks zeigen.87 Beate Beer deutet katachretische Wendungen in De Rerum Natura nicht als fehlerhaften Gebrauch der konventionalisierten Sprache, sondern als notwendige Neuschöpfungen, die der Neuheit des Gegenstands geschuldet sind.88 Wenn der Tod eines Lebewesens als eine Auflösung atomarer positurae beschrieben wird, entwirft dies das Bild einer Verbindung, deren einzelne Bestandteile nicht nur verbunden, sondern auch in einer bestimmten Position zueinander angeordnet sind. Diese Position kommt in Unordnung. Dass diese Verbindung im Fall der Seele besonders geartet ist, legt das Metaphernfeld des Verwebens nahe, das bereits im Verb dissolvere aufscheint und im Bild des sich auflösenden Knotens explizit wird. Bei der Beschreibung des Aufbaus der Seele im dritten Buch greift Lukrez ebenfalls auf diese Bildlichkeit zurück. Er setzt die im Ver85 86 87

88

Bailey 1947 ad loc. Vgl. 1,685; 1,818; 1,909 (alle zur Buchstabenanalogie); 2,1018. Diels (1923) 32013: „Denn dann lösen sich auf die Lagen der Urelemente“; Büchner (1956) 2008: „Auf wird nämlich getrennt der Ursprungskörperchen Gefüge“; Bailey 1947 behält die lukrezische Bildlichkeit bei: „The positions of the first-beginnings are broken up“. Vgl. Beer 2009, S. 246f.

Über das Auflösen

223

gleich zu den anderen Dingen unendlich feine Beschaffenheit der Seele als „zartes Gewebe“ (tenuis textura; 3,209) ins Bild, dessen Atome mit den Bestandteilen des Körpers verknüpft sind: ergo animam totam perparvis esse necessest / seminibus, nexam per venas viscera nervos („Also muss die Seele, verknüpft mit Adern, Eingeweide und Sehnen, in ihrer Gesamtheit aus winzigen Atomen bestehen“; 3,216f.).89 Neben ungewöhnlichen sprachlichen Wendungen, die der Schwierigkeit, nicht Sichtbares zu veranschaulichen, Ausdruck verleihen, greift Lukrez also auch auf bekannte Metaphorik zurück, um auf diese Weise die Andersartigkeit seines Beschreibungsgegenstandes zu betonen, sie aber zugleich auch einsehbar zu machen. Beim Tod eines Lebewesens gerät nicht nur die Ordnung der Materie durcheinander, sondern auch die Ordnung der Bewegung (penitus motus vitales impediuntur; 2,948). Die motus vitales (2,948) beschreiben die atomaren Eigenbewegungen, denen bei der Ordnung der Atome zu Verbünden eine wichtige Rolle zukommt. Im Kontext von im Entstehen begriffen Ordnungen erhielt diese Form der Bewegung bereits eine genauere Beschreibung: Die einzelnen Atome bzw. ihre Formen und auch ihre Bewegungen benötigen eine Art der Übereinstimmung, um als motus convenientes eine zumindest temporär stabile Verbindung eingehen zu können.90 Diese dynamische Seite der Ordnung wird bei einer Auflösungsbewegung gestört oder verhindert (motus impediuntur; 2,948), was zur Folge hat, dass die Bewegungen der Atome nicht mehr zusammenstimmen und außer Kontrolle geraten (materies concussa per artus; 2,949).91 Die bestehenden Verbindungen lösen sich auf diese Weise auf, beginnend bei den loseren Verbindungen der Atome, bis schließlich auch die Verbindung von Körper und Seele getrennt wird. In der Metapher des gelösten Knotens (nodos solvere; 2,950) wird das in dieser Passage vorherrschende Bildfeld des Auflösens von Verbundenem noch einmal besonders eindrücklich vor Augen geführt. Interessanterweise belässt Lukrez die Beschreibung des Todes der Seele aber auf dieser metaphorischen Ebene. Die Seelenatome werden nicht erwähnt. Durch die vorherrschende Metaphorik des Auflösens lässt sich auch die Beschaffenheit von Verbindungen, die an anderer Stelle durch conciliare, coire oder concilium konzeptualisiert sind, genauer charakterisieren. Während in den anderen Büchern von De Rerum Natura die Verbindungen der Atome untereinander besonders häufig durch diese ,sozialen Metaphern‘92 veranschaulicht werden, verwendet Lukrez sie äußertst sparsam zur Beschreibung der Seele.93 Auch dieser kontextabhängige Metapherngebrauch kann zeigen, wie Lukrez dem Prob89

90 91 92 93

Auf die enge, auch sprachliche Verbindung von 2,944–963 mit Darstellung der Seele im dritten Buch weist auch Bailey 1947, S. 951 hin. Zu den Versen 1,1021–1030 vgl. Kap. 3.4.2.2 dieser Arbeit. Vgl. zur Bewegung der Ordnung auch die oben besprochene Passage 2,898–901. Vgl. Cabisius 1985. Begriffe wie concilium (3,805), conciliare (3,865) coire (3,395), turba (3,928) kommen im dritten Buch nur sehr vereinzelt vor, coetus wird nicht verwendet.

224

Die Ordnung der Dinge (II)

lem der Darstellbarkeit der Seele begegnet. Wenn die Zusammenfügungen der Seele mit dem Körper als Verknotungen bezeichnet werden, so wird dadurch die besondere Dichte, aber auch die besondere Form dieser Verbindungen hervorgehoben, die ihrer besonderen Funktion zuzuschreiben ist. Neben der völligen Auflösung stellt Lukrez aber auch die temporäre Unordnung einer Ordnung dar. Diese Ordnung lässt sich am besten als im Wortsinn emotionalisierte Ordnung beschreiben, denn in der Gegenüberstellung zweier einander entgegengesetzter Empfindungen – Schmerz (dolor) und Freude, (voluptas), den beiden Extrempunkte der epikureischen Ethik94 – treten die Spezifika dieser Ordnung besonders deutlich hervor (2,963–966): Praeterea quoniam dolor est ubi materiai corpora vi quadam per viscera viva per artus sollicitata suis trepidant in sedibus intus, inque locum quando remigrant, fit blanda voluptas, scire licet […].

965

Außerdem: Weil Schmerz entsteht, wenn die Körper des Stoffes, durch irgendeine Gewalteinwirkung im lebendigen Fleisch und den Gliedern erschüttert, sich hin und her bewegen im eigenen, innersten Sitz, und weil angenehme Freude eintritt, wenn sie wieder an ihren Platz zurückkehren, muss man wissen, dass […].

Beide Empfindungen sind abhängig von der räumlichen Verortung ihrer Atome. Schmerz entsteht, wenn corpora in eine andere als die ihnen eigene Bewegung gesetzt werden und sich so bewegen, dass sie, wie im Verb remigrare zum Ausdruck kommt, ihren ursprünglichen Platz verlassen. Die Beschreibung der Bewegungen der Atome (sollicitare, trepidare) changiert dabei zwischen einem konkreten und einem übertragenen Wortgebrauch. Denn sollicitare und trepidare bringen einerseits eine physische Bewegungen zum Ausdruck, andererseits sind diese Bewegungen unlösbar mit bestimmten Empfindungen verbunden: Erschüttern bedeutet auch Beunruhigen, ebenso wie hin und her Wandern ein Ausdruck von Verwirrung und Aufregung ist.95 Durch ihren materialen Charakter können die Atome mit ihrer einfachen, physischen Bewegung auch jene psychischen, mit Schmerz einhergehenden Bewegungen anstoßen. Dass die Atome über bestimmte Plätze (sedes) innerhalb der Seele verfügen und an diese zurückkehren, zeigt: In einer Verbindung nehmen die Atome einen Platz ein, und zwar einen, der ihnen notwendigerweise in diesem Gefüge zukommt, heißt es doch, dass ein Atom an diesen Platz zurückkehrt. Was Lukrez 94 95

Vgl. Bailey 1947, S. 953. Vgl. OLD s.v. sollicito 1: „To disturb with repreated attacks […]. b (transf.) to subject to constant physical pressure“ (die Lukrezstelle ist aufgeführt unter 4: „To stir (physical things) into life or activity“); vgl. OLD s.v. trepido 1: „To act in a state of alarm or trepidation, panic“ (die Lukrezstelle ist aufgeführt unter 3: „To tremble, quiver, shake or sim“).

Über das Auflösen

225

mit der Zuweisung und Erhaltung eines spezifischen Ortes beschreibt, ist nichts anderes als der Platz eines Atoms in einer Ordnung. Hier ist nun der bemerkenswerte Umstand zu beobachten, dass eine Ordnung nicht in eine andere Ordnung transformiert wird, sondern dass dezidiert zwischen Ordnung und einer NichtOrdnung unterschieden wird. Schmerz ist somit der temporäre Zustand der Unordnung. Dies ist daher eine der in den ersten beiden Büchern von De Rerum Natura seltenen Passagen, in denen atomare Mechanik und Ethik in ihrer Verbindung offengelegt werden, denn Ordnung erhält hier eine Wertung (eine implizite Wertung, da über die Wertigkeit von dolor und voluptas an dieser Stelle keine explizite Aussage getroffen wird). Fest steht jedoch: Nicht-Ordnung bewirkt zu Vermeidendes und Ordnung Erstrebenswertes: inque locum quando remigrant, fit blanda voluptas (2,966). Bereits in der vorangegangenen Passage, in der der Tod als eine Auflösung der Ordnung beschrieben wurde, lag ein besonderer Akzent auf der räumlichen Verortung der Atome: Während bei der Beschreibung der positura principiorum („Positionen der Ursprungsteilchen“; 2,947) die Positionen der Atome und deren Funktion beim Tod eines Lebewesens im Fokus standen, rückt Lukrez mit den sedes und loci (2,965f.) der Atome bei der Entstehung von Schmerz die spezifische Verortung eines Einzelatoms ins Zentrum und macht auch deutlich, welche Konsequenzen die Umordnung dieses Einzelelements für das Ganze hat. Auf die Unterschiede dieser beiden Passagen weist auch Bailey hin: „[T]he vis […] disturbs them [sc. the atoms], but does not move them quite away from their natural abode, so that they can return again to their place“.96 Dieser Blick auf die Ordnung hat einem Aspekt der Ordnungskonzeption, der bislang kaum zum Thema war, genauere Kontur verleihen können: Raum und Räumlichkeit der Ordnung. Den Atomen kommt innerhalb einer Verbindung ein spezifischer Platz zu, was durch positurae (2,947), sedes oder locus (2,965f.) eine je unterschiedliche Perspektivierung erhält. Wird dieses räumliche Gefüge verändert, verändert sich auch die Ordnung in unterschiedlicher Weise bis hin zur Auflösung (2,947–951) oder temporären Unordnung (2,963–966). Dass in diesem Zusammenhang nicht zuletzt Ordnung und voluptas zueinander in Bezug gesetzt werden, zeigt, dass im Begriff der Ordnung auch ethische Aspekte angelegt sind.

96

Bailey 1947, S. 953.

7

Schluss

7.1

Die Ordnung der Welt – Rückblick

Die Darstellung und das Konzept von Ordnung in einem Werk zu untersuchen, dessen Sicht auf die Welt gemeinhin als antiteleologisch, antideterministisch und dem Zufall verpflichtet gilt, erscheint zunächst als ein Widerspruch in sich selbst. Schließlich legt gerade die Rede von der Ordnung der Welt meist nahe, dass dort Faktoren wie Vorhersehbarkeit, Stabilität oder Konstanz den Gang des Ganzen lenken. In der vorliegenden Arbeit sollte gezeigt werden, dass in De Rerum Natura diese Formen der Ordnung nicht zum Tragen kommen, dass man sich aber dennoch nicht vom Begriff der Ordnung verabschieden muss, wenn man erfassen will, was im lukrezischen Kosmos vor sich geht. Gerade weil in De Rerum Natura die Welt aus der Perspektive eines Epikureers in den Blick genommen wird, weil also, geht man an die Grundlagen dieser Welt, buchstäblich alles mit der Existenz der Atome und ihrem Verhalten erklärt werden kann, tritt Ordnung auf den Plan. Diese atomare Ordnung zeichnet sich dadurch aus – und begegnet so auch dem konventionellen Ordnungsbegriff im oben skizzierten Sinn ‒, dass sie in erster Linie dynamisch verfasst ist. Eine Ordnung, die nie dauerhaft sistiert ist, sondern deren einzelne Bestandteile in ständiger Bewegung sind, steht in Einklang mit den epikureischen Prämissen und zeigt, wie diese scheinbare Widersprüchlichkeit in das System des Epikureismus integriert werden kann. Die Rede von Atomen ermöglicht es, nicht nur der Erklärung der Welt, sondern auch dem Ordnungsbegriff in De Rerum Natura eine valide Grundlage zu verschaffen. Zugleich stellen die Atome aber auch deren größtes Problem dar, denn nur wenn die nicht sichtbare Ebene der Atome einsehbar gemacht werden kann, ist das didaktisch-epistemologische telos des Gedichts, die Vermittlung und Erklärung der Phänomene (in) der Welt, erreicht. Im Begriff der Einsehbarkeit scheint bereits die Lösung für diese epistemologische Aporie auf. Einsehbar muss die Ordnung der Welt nämlich in einem doppelten Sinn sein: verstehbar und anschaulich. Daraus erklärt sich die Bedeutung, die in De Rerum Natura der Sprache zukommt. Insbesondere diejenigen sprachlichen Formen spielen für Lukrez eine zentrale Rolle, die Relationierungen herstellen, also Verschiedenes verbinden können. Vergleiche, vor allem aber Metaphern und Analogien sind für die Darstellung und damit auch für das Verständnis und die Konzeptualisierung von Ordnung wesentlich. Am Beginn der vorliegenden Untersuchung standen die Buchstabenanalogien, denn in ihnen tritt die Bedeutung der sprachlichen Vermittlung ebenso klar zutage wie die Bedeutung der Ordnung. Die Buchstabenanalogien bilden

228

Schluss

zudem auch einen Sonderfall der Phänomenologie der Ordnung: Es können dort zwei ontologisch verschiedene Formen von Ordnung beobachtet werden, die einander qua Analogie gegenübergestellt sind. Nicht die Ordnung von Atomen allein oder die Vorgänge in der sichtbaren Welt, sondern die Ordnung der Atome und die der Buchstaben werden miteinander verbunden. Es konnte nicht nur gezeigt werden, dass im Zentrum dieser Analogien die Veranschaulichung atomarer Ordnung durch die Ordnung von Buchstaben steht (Ordnung als dubium der Analogie), sondern auch, dass gerade in der Gegenüberstellung dieser beiden Ordnungen die Analogie an ihr Ende gelangt. Die reine Anschauung der Buchstaben reicht nämlich nicht aus, um die Ordnung der Atome zu illustrieren. Dies führte auf die Ausdifferenzierung des Ordnungskonzepts in Anordnung (für die Ebene der Buchstaben) und Ordnung (für die Ebene der Atome). Trotz dieses Defizits der Buchstaben ließ sich auch eine Überlegenheit der Ordnung der Buchstaben gegenüber der der Atome ausmachen. Zunächst seien hier jedoch noch einmal die Gemeinsamkeiten von Atomen und Buchstaben zusammengefasst: Sowohl der ,Vorrat‘ der Buchstaben als auch der der Atome ist unbegrenzt; sowohl Buchstaben als auch Atome verfügen über spezifische Formen, deren Anzahl begrenzt ist; nicht zuletzt sind sowohl Atome als auch Buchstaben in der Lage, ein ,Mehr‘ zu erzeugen, das nicht mehr auf die ursprüngliche Zusammensetzung aus elementa zurückzuführen ist. Die emergenten Eigenschaften, über die die Dinge verfügen, können mit der Bedeutung der aus Buchstaben zusammengesetzten Wörter in ein analogisches Verhältnis gesetzt werden. Doch nur die Anordnung der Buchstaben kann ein ,Mehr‘ erzeugen, das in der Lage ist, die Ordnung der Atome erfassbar zu machen. Hierin liegt ihre Überlegenheit. Neben den unterschiedlichen Mechanismen von Ordnung, dem lukrezischen ,Kompositionalitätsprinzip‘, wie es in den Buchstabenanalogien zur Anschauung kommt, hat sich daher Emergenz als passgenauer Begriff für die Beschreibung der Ordnung der Dinge in De Rerum Natura erwiesen. Nachdem im Kapitel zu den Buchstabenanalogien die Relevanz des Ordnungsbegriffs für De Rerum Natura aus dem Text heraus deutlich gemacht werden konnte, galt es, die Formen der Ordnung selbst genauer in den Blick zu nehmen. Erst im zweiten Buch von De Rerum Natura stehen die Zusammensetzungen der Atome zu den Dingen und ihre unterschiedlichen Formen im Fokus. Diese Beschreibung der Ordnung erwies sich als so voraussetzungsreich, dass sie ohne den Einbezug des ersten Buches nicht zu leisten war, zumal sich auch dort bereits erste, einfache Ordnungen beobachten ließen. Diese Ordnungen sind jedoch noch keine atomaren Ordnungen, sondern solche, die aus den beiden im ersten Buch eingeführten Grundbestandteilen des Kosmos bestehen: Materie und Leere. Die Unterscheidung von Materie und Leere, d.h. die notwendige Tatsache, dass Materie nicht Leere ist und umgekehrt, bildet eine Grundordnung, die ihren sichtbarsten Ausdruck in der Existenz von Grenzen findet. Gleichzeitig betont Lukrez aber, dass in den Dingen Materie und Leere vermischt sein müssen, da nur so, aus beiden Bestandteilen, etwas entstehen kann, das die Eigenschaft

Die Ordnung der Welt – Rückblick

229

besitzt, sich zu bewegen (vgl. 1,381–383). Ganz am Ende des ersten Buches wird, um die Unbegrenztheit der Materie darzustellen, schließlich auch die Zusammenfügung der Materie zu einem Ding beschrieben (1,1021‒1027) und hierbei werden bereits zwei wesentliche Implikationen des Ordnungskonzepts von De Rerum Natura benannt. Zum einen bezeichnet Lukrez die Zusammenfügungen der Atome dezidiert als ordo (1,1022) und dispositura (1,1027) – auch Zentralbegriffen in Buchstabenanalogien –, zum anderen sind auch die Modi benannt, nach denen sich eine Ordnung bildet: Durch das Austesten verschiedener Bewegungen und Verbindungen gelangen die Atome schließlich in temporär statische Ordnungsformationen, wie z.B. unsere Welt (vgl. 1,1026‒1030). Die Ordnung der Dinge ist also nicht beliebig, denn es gibt, wie der Versuchscharakter verdeutlicht, bestimmte Ordnungsmuster (dispositurae) für bestimmte Dinge. Da aber durch die ständige Bewegung der Atome nicht festgelegt ist und festgelegt werden kann, wann diese Verbindung eintritt, ist die Ordnung nicht determiniert. Neben dieser Einsicht in die Vorformen und einfachen Formen der Ordnung gab das erste Buch auch Aufschluss über eine andere Ordnung: die der Erzählung selbst. Aus einer narratologischen Perspektive muss nämlich danach gefragt werden, wie die raum-zeitliche Unendlichkeit des in De Rerum Natura Dargestellten erzählerisch fassbar gemacht und in eine rezipierbare Ordnung gebracht werden kann – eine Frage, die gerade vor dem didaktischen Hintergrund von De Rerum Natura essentiell ist. Es zeigte sich, dass Lukrez für die Darstellung seines Gegenstands einen nicht-linearen Erzählmodus wählt, indem er die einzelnen Aspekte seiner Lehre, wie z.B. die Existenz von Materie und Leere oder die epikureischen Grundaxiome, in einzelne plot-Bestandteile zerlegt und diese Sequenzen aneinanderreiht. Mit Blick auf diese ,Kurzerzählungen‘ wird einerseits deutlich, dass die Gattung der didaktischen Dichtung Anteil an größeren Erzählformen hat, dass sie aber andererseits durch die Modifikationen nie ganz mit der Gattung der Großerzählung schlechthin, dem Epos, zur Deckung kommt. Die zentrale Rolle der Bewegung für Ordnung in De Rerum Natura wurde im Kapitel zum clinamen zunächst ausführlich dargestellt. In De Rerum Natura gibt es zwei Formen der Ordnung: zum einen den regelmäßigen Fall der Atome im unendlichen All, zum anderen die Verbindung der Atome zu den Dingen. Das clinamen, per se Moment der Unordnung, zerstört nun einerseits erstere Ordnung, ermöglicht aber dadurch erst letztere. Ordnung ist damit nicht nur abhängig von der Bewegung, die es den Atomen ermöglicht, Verbindungen einzugehen, sondern davon, dass ihre Ordnung durch Unordnung gestört wird. Ohne die Abweichungsbewegung gäbe es keine Kollisionen der Atome untereinander, die Voraussetzung für ihre Zusammenfügungen sind. Durch das clinamen, so wurde deutlich, lässt sich einem ganz grundlegenden Problem des Epikureismus beikommen – dem des Anfangs einer Ordnung. Denn die gänzlich unbestimmbare raum-zeitliche Verortung des clinamen hebt nicht nur jeglichen Determinismus auf, sie führt auch einen freischwebenden Anfang ein, der jeder Ordnung vorausgehen muss. In De Rerum Natura ist die Herausbil-

230

Schluss

dung einer Ordnung somit nicht einem Muster unterworfen, das von anfänglicher Unordnung ausgeht und graduell immer weiter geordnet wird – im Gegenteil: Ordnung in De Rerum Natura geht von einer ersten Ordnung aus und wird, nach temporärer Unordnung, zu einer zweiten Ordnung, der Ordnung der Dinge. Auch dies verdeutlicht, wie Lukrez seinen Ordnungsbegriff gegen deterministisch grundierte Ordnungen abgrenzt, und wie er zugleich ein kohärentes System ,seiner‘ Ordnung schafft. Das Kernstück dieser Arbeit bildete der an die Kinetik anschließende Passus des zweiten Buches, der die genauere Bestimmung der Atome in Bezug auf ihre Form und ihre Eigenschaften zum Thema hat. Die folgenden thematischen Komplexe bilden das Kondensat der dort beschriebenen Ordnungen: Formen der Ordnung und Modi der Ordnung. Die Zusammensetzungen der Atome erhalten im zweiten Buch eine genauere Ausdifferenzierung. Sie sind nicht nur in ihrem zugrunde gelegten Ordnungskonzept konkreter, sondern geben auch genaueren Aufschluss über den Prozess der Ordnung selbst. Der erste Zentralbegriff ist der der mutatio bzw. des mutare. Besonders deutlich tritt die Implikation dieses Ordnungskonzepts in der Junktur mutatoque ordine mutant res naturam („bei veränderter Ordnung verändern die Dinge ihre Beschaffenheit“; 2,677) hervor. Hier wurde sichtbar, dass die Veränderung einer bereits bestehenden Ordnung einen unmittelbaren Einfluss auf die Ebene der res hat: Verändert sich der ordo der Atome, verändert sich auch die Erscheinung des daraus zusammengesetzten Dings. Im Gegensatz zu dieser dynamischen Seite der Ordnung und ihren Effekten rückt der Ordnungsbegriff der positura die statische Seite der Ordnung ins Zentrum. Als Bestimmung der Lage, in der die einzelnen Atome zueinander angeordnet sind, spielt die positura eine ganz wesentliche Rolle bei der Bestimmung des Ordnungskonzepts in De Rerum Natura, denn in der Form der Ordnung, die sich auf die Position der einzelnen Elemente dieser Ordnung bezieht, wird sichtbar, dass Ordnung ein relationaler Begriff ist.1 Bei veränderter Relation verändert sich nicht nur das Ordnungsgefüge, sondern, wie oben im Zusammenhang mit der mutatio bereits in generalisierter Form beschrieben, auch die Erscheinungsform der res: Was genau bei einem ordo mutatus verändert ist, ist die Position der Elemente zueinander. An diese Beobachtung lässt sich der Komplex der Modi der Ordnung anschließen. Was hier, insbesondere mit Blick auf den ordo mutatus und die veränderte res beschrieben wurde, sind die emergenten Eigenschaften der Dinge. Über die spezifische Ordnung der Atome werden Dinge mit spezifischen Eigenschaften und Erscheinungsformen erzeugt, die jedoch – und das wurde in der Auseinandersetzung mit dem Monismus Heraklits besonders deutlich – nicht mehr auf ihre Ursprungselemente zurückgeführt werden können. Ordnung bewirkt somit 1

Dies kann auch als Erklärungsansatz dafür dienen, dass die Termini zur Bezeichnung der Atome in De Rerum Natura stets im Plural stehen.

Die Ordnung der Welt – Rückblick

231

Emergenz und zeitigt spezifische Effekte der atomaren Ordnung auf der Oberfläche der Dinge (vgl. 1,684f.: sunt quaedam corpora, quorum concursus motus ordo positura figurae / efficiunt ignis – „es gibt Urkörperchen, deren Zusammenstoß, Bewegung, Ordnung, Lage und Gestalt Feuer erzeugt“). Die Untersuchung der sprachlichen Vermittlung dieser Formen und Modi von Ordnung spielte ebenfalls eine zentrale Rolle bei der Bestimmung der Ordnungskonzeption von De Rerum Natura. Die Grundbestandteile einer jeden Ordnung, die Atome, werden von Lukrez nicht mit dem griechischen Begriff atomos bezeichnet, sondern durchgängig durch andere Bilder veranschaulicht. Ob als semina rerum oder als corpora – die sprachliche ,Belebung‘ der an sich unbelebten Materie eröffnet Lukrez die Möglichkeit, auch die mit der Materie in Verbindung stehenden Aspekte der Ordnung, wie Bewegung, Verbindung oder Auflösung in diese Bildlichkeit zu integrieren und das schöpferische Potential, das der unbelebten Materie innewohnt, gleichzeitig mit zum Ausdruck zu bringen. Die Atome werden so zu Akteuren – in den meisten Fällen durch corpora veranschaulicht –, deren Handeln mit dem Handeln menschlicher corpora in bestimmten Bereichen der menschlichen Lebenswelt wie Politik oder Krieg vergleichbar ist. Die biologisch-physiologischen Metaphern, die sich um die Metapher der semina gruppieren, bringen, im Gegensatz zu den Personifizierungen der Atome, das schöpferische Potential der atomaren Verbindungen zum Ausdruck. Die Ordnungen, die so beschrieben werden, sind also einerseits in ihrem Ordnungsprozess veranschaulicht, wie sich auch in der politischen Metaphorik zeigt, verweisen aber andererseits auf das ,Mehr‘, d.h. die emergenten Eigenschaften, die aus ihren Verbindungen hervorgehen – wie an einer Pflanze nicht mehr das Aussehen ihrer Samen nachvollzogen werden kann. Neben diesem Metaphernkomplex des Belebten, so hat diese Studie gezeigt, gibt es aber noch einen weiteren, nicht weniger präsenten Bereich, der Ordnung in De Rerum Natura sprachlich ins Bild setzt: Die Ordnungen der Atome werden als Additionen, Subtraktionen, mutationes oder mixturae dargestellt (vgl. v.a. 1,798–802; 2,485–492), also als mechanische Operationen. Mit Blick auf den didaktisch-vermittelnden Gestus von De Rerum Natura sind besonders die Passagen hervorzuheben, in denen Lukrez eine Anleitung zum Bau eines Atoms bzw. eines Dings gibt (fac enim minimis e partibus esse / corpora prima tribus – „lass nämlich die Ursprungskörper aus drei winzigen Teilchen bestehen“; 2,485f.; transmutans dextera laevis – „indem du sie [sc. die minimae partes] rechts und links vertauscht hast“; 2,488). Hier wird die Ordnung nicht mehr nur anschaulich, sie wird geradezu greifbar gemacht, da die genauen Handlungsanweisungen zu einer Immersion des Rezipienten in das Beschriebene führen: Man kann durch die klaren Richtungsangaben und einfachen Verbalhandlungen beinahe physisch nachvollziehen, wie die Einzelteile zusammenzusetzen sind. Die Ordnung der Dinge wird so, einerseits vermittelt durch die politisch-physiologische Metaphorik, in ihrer Funktion und ihrem Ziel anschaulich, nämlich: Neues durch Verbindungen zu erschaffen; andererseits wird die Ordnung durch die mechanistische

232

Schluss

Beschreibung, die nicht metaphorisch, d.h. nicht in einem übertragenen Sinn zu verstehen ist, als etwas Unbelebtes, aber unmittelbar Zugängliches dargestellt. Diese sprachliche Ebene veranschaulicht, was bleibt, wenn man nicht uneigentlich, sondern eigentlich über die Ordnung der Atome spricht. Die beiden ganz unterschiedlichen Strategien zur Darstellung der Ordnung der Welt bilden ab, was Atome für Lukrez sind: die unbelebten Bausteine der Welt, die zugleich das Leben in der Welt hervorbringen. Daher ist die Welt, die in De Rerum Natura zur Darstellung kommt, auch eine, die von Emergenz und nicht von Reduktionismus geprägt ist. 7.2

Die Ordnung der Welt – Ausblick

Da die gesamte Welt und alles in ihr Befindliche aus Atomen besteht, gibt es auch ganz unterschiedliche Ausprägungen von Ordnung, die Lukrez in ihrer Vielfalt zur Darstellung bringt. Im folgenden Ausblick sollen daher noch spezifische Formen der Ordnung, die sich in den verbleibenden vier Büchern von De Rerum Natura finden, in kurzen, schlaglichtartigen Skizzen vorgestellt werden. Die menschliche Seele, deren Beschaffenheit und Vermögen im dritten Buch ausführlich erörtert wird, kann als eine Spezialform von Ordnung gelten. Die anima ist für die Frage nach Ordnung besonders interessant, weil sie im ganzen Körper verteilt und mit den fleischlichen Teilen des Körpers eng verbunden ist (cetera pars animae per totum dissita corpus […] – „über den ganzen Körper ist der übrige Teil der Seele verteilt […]“; 3,143; ergo animam totam perparvis esse necessest / seminibus, nexam per venas viscera nervos – „Also muss die Seele in ihrer Gesamtheit aus winzigen Atomen bestehen, verknüpft mit Adern, Eingeweiden und Sehnen“; 3,216f.). Es handelt sich hierbei um eine Ordnung mit einer großen Ausdehnung, deren Bestandteile aber aus einer spezifischen Form der ohnehin winzigen Atome bestehen. Lukrez bezeichnet auch die Seelenatome mit gängigen Metaphern wie semina, corpora oder primordia. Für die Beschreibung einer bestehenden Ordnung greift er aber auf das Bild der textura (3,209) zurück.2 Über die Metapher des Gewebes kann die feine Beschaffenheit der Seele und ihre weite Ausdehnung innerhalb des Körpers erfasst werden. Zugleich können, in einer Erweiterung der Gewebemetapher auch die bereits erwähnte enge Verbindung der Seele mit dem Körper ins Bild gesetzt und weitere Bereiche eingebunden werden: Körper und Seele sind durch ihre Grundelemente ineinander verschlungen (implexis principiis; 3,331) oder miteinander verknüpft (coniunctam naturam; 3,349), physiologisch gewandt sind sie miteinander verwurzelt (communibus inter se radicibus haerent; 3,425).

2

Zu diesem Passus vgl. auch Kap. 6.4 dieser Arbeit. Zur textura als poetologische und konzeptuelle Metapher vgl. Beer 2009, S. 221‒231; Johncock 2016, S. 263‒265.

Die Ordnung der Welt – Ausblick

233

Der Frage, wie die Seele aus der Ordnung der verschiedenen Seelenatome aber tatsächlich aufgebaut ist, begegnet Lukrez in Form einer recusatio (3,258‒261): Nunc ea quo pacto inter sese mixta quibusque compta modis vigeant rationem reddere aventem abstrahit invitum patrii sermonis egestas; sed tamen, ut potero summatim attingere, tangam. Nun liegt mir sehr daran zu schildern, wie diese Teilchen untereinander vermischt sind und auf welche Weise geordnet sie sich kraftvoll regen; gegen meinen Willen versagt mir die Armut unserer Sprache, diesen Vorsatz auszuführen. Aber ich will, so gut ich kann, das Wichtigste streifen.

Die sprachliche Unschärfe, auf die Lukrez in diesen Versen hinweist, ist nicht nur rein topisch zu verstehen, wurden die Seele und ihre Beschaffenheit doch in den Passagen, die der recusatio vorausgehen, bereits dargestellt und anschaulich gemacht. Der Grund für die lukrezische Sprachlosigkeit liegt möglicherweise im Beschreibungsmodus, der nun angekündigt wird. Auf einer metaphorischen Ebene lässt sich die Ordnung der Seele darstellen, weil sich durch die Funktionsweise der Metapher bestimmte Aspekte im Unkonkret-Assoziativen halten lassen (z.B. die Vorstellung einer engen Verbindung durch textura). Wenn es aber darum geht, nicht bildhaft, sondern konkret über die Ordnung der Seelenatome zu sprechen, d.h. ihre Mechanik, ähnlich wie die der minimae partes darzustellen,3 erweisen sich die sprachlichen Mittel als defizitär. Dies ist insofern bedeutsam, als Lukrez in De Rerum Natura auf die unzureichenden Ausdrucksmöglichkeiten der lateinischen Sprache, die egestas linguae, nur ganz zu Beginn seines Werks eingeht (1,136‒139; 1,830‒833). Die Spracharmut wird dort in Bezug zu einer Transferleistung aus einer anderen Sprache gesetzt: sei es generell in Bezug auf die Schwierigkeit, die griechische Philosophie im Lateinischen angemessen darzustellen oder konkret in Bezug darauf, dass es im Lateinischen kein Äquivalent für das griechische Wort homoiomeria gibt.4 Im dritten Buch wird die egestas patrii semonis nun aber dezidiert mit einer inhaltlichen Problematik in Verbindung gesetzt: Die Ordnung der Seele ist so komplex, dass die sprachlichen Mittel, die Lukrez jenseits bildlicher Darstellungsweisen zur Verfügung stehen, diese konsequenterweise nicht fassen können. Eine weitere Sonderform atomarer Ordnung, das simulacrum, stellt Lukrez im vierten Buch dar (4,29‒32): 3 4

Vgl. Kap. 5.1 dieser Arbeit. Kennedy 2002, S. 67 (Hervorhebung dort) verweist darauf, dass die Übersetzungsleistung des Lukrez gegenüber der Erkenntnisleistung der griechischen Atomisten nicht abgewertet werden sollte: „[I]n certain respects, the challenges he faces can be regarded as comparable as he seeks to re-present these ,discoveries‘ in a language which has no ready-made vocabulary for atomism.“

234

Schluss nunc agere incipiam tibi, quod vehementer ad has res attinet, esse ea quae rerum simulacra vocamus; quae, quasi membranae summo de corpore rerum dereptae, volitant ultroque citroque per auras […]. Nun will ich beginnen, dir die Lehre dazulegen, die in engem Bezug zu diesen Dingen steht: Es gibt etwas, das wir Abbilder der Dinge nennen; wie von der Oberfläche der dinglichen Körper abgerissene Häutchen fliegen sie bald hierhin bald dorthin umher in den Lüften […].

Im Bild der von den Dingen abgelösten Häutchen treten gleich zwei für die Ordnung der simulacra wesentliche Aspekte hervor.5 Es handelt sich um atomare Verbindungen, die äußerst fein sind, aber dennoch ein zusammenhängendes Ganzes bilden. Dies haben die simulacra mit der Seele gemeinsam. Auch ausgehend von der sprachlichen Ebene lässt sich eine Verbindung zwischen diesen beiden Formen der Ordnung herstellen, da sowohl die Seele als auch die simulacra als textura, textum oder textus d.h. als Gewebe, beschrieben werden (vgl. z.B 4,158; 4,196; 4,728), deren Feinheit Adjektive wie subtilis oder tenuis noch betonen.6 Der Metaphernkomplex des Webens bzw. Verwebens, der in seiner Bildlichkeit fortgesetzt wird, wenn vom Faden (filum), die Rede ist, aus dem die simulacra gebildet sind (vgl. 4,88), ermöglicht es aber nur bedingt, genaueren Aufschluss über die Ordnung der simulacra zu erhalten. Die Besonderheit dieser Ordnung liegt nämlich darin, dass sie die Verdopplung einer Ordnung ist. Wie durch die Metapher der sich ablösenden membranae ins Bild gesetzt, sind die simulacra Abbilder der Dinge: tenuis quoque debet imago / ab rebus mitti summo de corpore rerum („ein dünnes Bild muss von den Dingen ausgesendet werden von der Oberfläche der Körper“; 4,63f.). Genauer gesagt, sind die simulacra aber die Abbildung der atomaren Ordnung der Dinge. Wenn sie sich nämlich als „outermost layer of atoms“7 von der Oberfläche des Gegenstands lösen, behalten sie die Ordnung bei, in der sie sich dort befanden (4,67‒69): praesertim cum sint in summis corpora rebus multa minuta, iaci quae possint ordine eodem quo fuerint et formai servare figuram […]. Zumal da sich doch an der Oberfläche der Dinge viele zarte Körperchen befinden, die in derselben Ordnung fortgeschleudert werden können, wie die, die sie zuvor hatten, und die die Form ihrer Gestalt bewahren [...].

5

6 7

Für eine Diskussion der Theorie der simulacra bzw. εἴδωλα bei Epikur vgl. Dalzell 1974, S. 22‒32. Vgl. Snyder 1983, S. 42. Bailey 1947 ad 4,51.

Die Ordnung der Welt – Ausblick

235

Wie es möglich ist, dass die simulacra die Ordnung ihres Ausgangsgegenstands beibehalten, und ob sie dieselbe Größe und Ausdehnung besitzen, darauf geht Lukrez nicht ein.8 Einen Hinweis kann aber die folgende Überlegung geben (4,54‒62): Da die Dinge auch für das Auge sichtbare Körper entsenden, wie z.B. Rauch oder die Häutungen von Insekten zeigen, können auch die simulacra sich weiter ausdehnen oder mehr verdichten als ihr Ausgangsgegenstand. Dass Lukrez in der Darstellung der simulacra besonders auf die Dichte und Festigkeit ihrer Ordnung abhebt, sie also immer als bereits Zusammenhängendes beschreibt – einzelne Atome der simulacra werden nicht erwähnt –, liegt in der weitergehenden Funktion der simulacra. Für die epikureische Erkenntnistheorie sind sie von elementarer Bedeutung, da durch die Annahme von Abbildern plausibilisiert werden kann, dass die Sinneseindrücke, die unmittelbar von den Dingen ausgehen, wahr sind. Wenn sich nämlich die Ordnung der Atome nicht ändert, die atomare Ordnung eines Dings also identisch ist mit der seines simulacrum, wird erklärbar, dass der Mensch einen unmittelbaren, sinnlichen Zugang zu den Dingen hat. Von besonderer Bedeutung für die Frage nach Ordnung in De Rerum Natura ist zweifellos auch die Kosmogonie zu Beginn des fünften Buches (5,91‒508), da sich hier eine Ordnung von einem anfänglichen Chaos zu einem Kosmos, einer Ordnung par excellence entwickelt. Die Prozesse und Mechanismen, die in den ersten beiden Büchern von De Rerum Natura mit Blick auf die Ebene der Atome beschrieben wurden, kommen nun in einem konkreten Fall zur Darstellung und Anwendung. Die kosmische Ordnung beginnt mit dem Chaos. Anders als nämlich in den ersten beiden Büchern werden im fünften Buch nicht die Grundlagen der epikureischen Physik eingeführt und ein Universum ohne Anfang und ohne räumliche Grenzen dargestellt; gleichsam exemplarisch, als zusammenhängende Erzählung, schildert Lukrez, was aus dem Zusammenwirken jener Prinzipien und Axiome entstehen kann. Seine Kosmogonie setzt dort an, wo bereits die Möglichkeiten zu einer Ordnung gegeben sind. Die Herausbildung von ersten Ordnungen ist jedoch keiner planenden Vernunft zuzuschreiben, sie beruht vielmehr auf dem Prinzip des Versuchens (5,422‒425).9 Diese Mechanismen, aber auch bestimmte Beschreibungsmodi, binden die Darstellung der Kosmogonie eng an das erste Buch zurück, denn dort wurde die atomare Ordnung der Dinge unter ganz ähnlichen Gesichtspunkten beschrieben.10 Zwei miteinander zusammenhängende Aspekte seien an dieser Stelle herausgegriffen: Gleichheit und Grenzen. Im Prozess der Kosmogonie gehen die Atome irgendwann Verbindungen ein, die als Ausgangspunkt für größere Zusammensetzungen dienen (5,427‒431): 8

9 10

Godwin 21992 ad loc. nimmt die folgende Präzisierung vor: „[C]orpora suggests replicas of the thing itself, but ,tiny‘ does not mean that they are smaller than the source in shape and outline, merely that they are wafer-thin“. Vgl. dazu Kap. 3.4.2.2 dieser Arbeit. Darauf verweist z.B. auch Bailey 1947, S. 1380: „The paragraph hangs logically together“; ausführlicher Gale 2009 ad 419–441.

236

Schluss propterea fit uti […] tandem conveniant ea quae convecta repente magnarum rerum fiunt exordia saepe, terrai maris et caeli generisque animantum.

430

Deshalb geschieht es, dass […] die Ursprungsteilchen, plötzlich zusammengebracht, zusammenkommen. Sie werden häufig zum Anfang großer Gebilde, wie von Erde, Meer, Himmel und von Lebewesen.

Anders als noch im ersten Buch beschreibt Lukrez diese Verbünde aber nicht als abstrakte Ordnungsgefüge (vgl. tandem deveniunt in talis disposituras; 1,1027), sondern als Anfänge (exordia) für konkrete Dinge.11 Wenn sich aus dem chaotischen Wirbel der Atome eine Ordnung bildet, dann zeichnet sich diese dadurch aus, dass sie zugleich verbindet und trennt, und auf diese Weise die einzelnen Dinge klarer hervortreten lässt (5,443‒447): diffugere inde loci partes coepere paresque cum paribus iungi res et discludere mundum membraque dividere et magnas disponere partis, hoc est, a terris altum secernere caelum, et sorsum mare […].

445

Darauf nun begann die Zerstreuung der einzelnen Teile. Es schlossen sich gleiche Dinge mit gleichem zusammen und es schied sich die Welt voneinander. Glieder sonderten sich ab und die Hauptelemente bildeten sich. Das heißt: Der hohe Himmel trennt sich von der Erde ab und hiervon das Meer […].

Nicht alles kann sich mit allem verbinden.12 Auch dieses Prinzip hat Lukrez im zweiten Buch bereits für die Ebene der Atome beschrieben,13 an dieser Stelle im fünften Buch erfährt es aber eine Konkretisierung. Denn wenn sich Gleichartiges verbindet (paresque / cum paribus iungi res; 5,443f.), bedeutet dies im Umkehrschluss, dass diese Ordnung auf Abgrenzung beruht. Eine erste, grundlegende Ordnung in einem Kosmos besteht also darin, Einteilungen vorzunehmen. Diese Mechanismen ähneln der Darstellung des unendlichen Alls im ersten Buch, wo

11

12

13

Die primordia (5,422), die das logische Subjekt des Sinnabschnitts 5,418‒431 bilden, wandeln sich im Verlauf des Passus also zu exordia (5,430). Das Material (primordia) wird zur Funktion (exordia). Bailey 1947, S. 1382 und Gale 2009 ad loc. verweisen auf auf die enge Verbindung dieses Gedankens mit der Darstellung der Kosmogonie bei Empedokles. Dazu ausführlicher Garani 2007, S. 171. Nec tamen omnimodis conecti posse putandum est / omnia („Trotzdem darf man nicht glauben, dass alles sich auf jede Weise verbinden könnte“; 2,700f.). Vgl. dazu Kap. 6.3.2.1 dieser Arbeit.

237

Die Ordnung der Welt – Ausblick

Lukrez zunächst ebenfalls eine einfache Unterscheidung zwischen Materie und Leere zum Ausgangspunkt für alle weiteren Entwicklungen machte. Wie ein Blick auf eine Passage im zweiten Buch deutlich machen kann (2,725–729), ist die differenzierende Ordnung im Kosmos aber nur möglich, weil wesentlich komplexere Vorgänge der Ordnung auf der Ebene der Atome stattfinden: semina cum porro distent, differre necessust intervalla vias conexus pondera plagas concursus motus; quae non animalia solum corpora seiungunt, sed terras ac mare totum secernunt caelumque a terris omne retentant.

725

Weil die Samen ferner verschieden sind, müssen sich auch ihre Zwischenräume, ihre Bahnen und Verknüpfungen, ihr Gewicht, ihre Schläge, ihre Zusammenstöße und ihre Bewegungen unterscheiden; dies alles trennt nun nicht nur die Körper beseelter Geschöpfe, sondern scheidet auch das Meer in seiner Gesamtheit und das Land voneinander und hält den Himmel in Gänze von der Erde entfernt.

Die Gegenüberstellung der beiden Passagen kann durch die inhaltlichen und formalen Responsionen besonders gut veranschaulichen, wie die einzelnen Erklärungsebenen in De Rerum Natura ineinandergreifen und auf diese Weise nicht zuletzt zeigen, wie eng die einzelnen Teile des Gedichts, trotz der klaren Trennung in Bucheinheiten, miteinander verbunden sind. Das sechste Buch, das verschiedene Naturphänomene vornehmlich meteorologischer Art erklärt, ist inhaltlich eng mit dem fünften Buch verbunden, unterscheidet sich davon aber in einem wesentlichen Punkt: Während dort die Regelmäßigkeit bestimmter natürlicher Phänomene (z.B. Tag und Nacht, astronomische Konstellationen) im Zentrum steht, verhandelt das sechste Buch die unregelmäßigen oder ganz unvorhersehbaren (z.B. Blitze, Erdbeben).14 Um diese, die menschliche Seelenruhe gefährdenden Naturerscheinungen in einen rationaleren Kontext überführen zu können, verweist Lukrez immer wieder auf die atomare Beschaffenheit der Welt. Er geht dabei von der sichtbaren Welt aus und leitet die Phänomene von bestimmten Verhaltensweisen oder der Beschaffenheit spezifischer Atome ab. So lässt sich z.B. die Durchschlagskraft eines Blitzes dadurch erklären, dass er aus besonders kleinen und schnellen Atomen besteht (6,225‒229): hunc tibi subtilem cum primis ignibus ignem15 constituit natura minutis mobilibusque corporibus, cui nil omnino obsistere possit. transit enim validum fulmen per saepta domorum, clamor ut ac voces, transit per saxa, per aera […]. 14 15

Vgl. Bailey 1947, S. 1551. Zum Polyptoton ignibus ignis vgl. Godwin 1991 ad loc.

225

238

Schluss Dieses unter den Feuerarten feinste Feuer hat dir die Natur aus winzigen und beweglichen Atomen zusammengefügt; nichts auf der Welt kann sich ihm widersetzen. Denn der gewaltige Blitz durchbricht das Gemäuer der Häuser, wie das Geschrei und die Stimme, er dringt durch Fels und Metalle […].

Wie genau der Blitz jedoch aus den einzelnen Atomen zusammengefügt ist, wie also die atomare Ordnung eines Blitzes beschaffen ist, darüber trifft Lukrez keine Aussagen. Dieses Muster findet sich an vielen Stellen im sechsten Buch: Die Ebene der Atome wird nur insofern einbezogen, als sie etwas Sichtbares, wie das Feuer des Blitzes oder den Regen, der aus den Wolken fällt (6,495‒512), in seinen Eigenschaften plausibel und in seiner Irregularität verstehbar machen kann.16 Anders verhält es sich jedoch mit Erscheinungen, die keine unmittelbaren Rückschlüsse auf ihre Beschaffenheit zulassen, wie z.B. der Magnet (6,906‒1089).17 Um die magnetische Anziehungskraft zu erklären zu können, so macht Lukrez ganz explizit, ist ein bestimmtes Vorwissen erforderlich (6,940f.): […] firmare necessest nil esse in promptu nisi mixtum corpus inani. […] Es ist notwendig zu bekräftigen, dass es nichts Wahrnehmbares gibt außer mit Leerem gemischte Atome.

Die Erklärung, die auf dieser Grundlage erfolgt, beschreibt die unterschiedlichen Bewegungen der Atome (6,998‒1021). Das Verhältnis der Beschreibung der sichtbaren Phänomene des Magnetismus zu den dafür verantwortlichen, nicht sichtbaren Atomen unterscheidet sich aber von dem oben für das Beispiel des Blitzes beschriebenen.18 Dort fungiert der zumeist kurze Verweis auf die corpora, elementa oder semina als ,Signal‘. Ist das Wort einmal genannt, ruft es die wesentlichen Eigenschaften der Atome auf und markiert dadurch klar: Ein Blitz beruht auf dem Zusammenspiel kleinster, unbelebter Teilchen, die sich so zusammenfügen oder trennen, dass dadurch bestimmte Effekte auf der Ebene der sichtbaren Welt erzeugt werden. Indem Lukrez zur Erklärung des Magnetismus explizit auf das von ihm vermittelte Vorwissen um die Beschaffenheit der Atome rekurriert – er spricht unter anderem von praeposta (6,999), „Gedankengerüsten“ – und die Vorgänge auf der atomaren Ebene auch ausführlich beschreibt, macht 16

17

18

Eine mögliche reduktionistische Vorstellung, wonach Feuer aus Feueratomen besteht, liegt hier jedoch nicht vor, denn Lukrez spricht z.B. von den Atomen des Feuers (semina ardoris, 6,180) oder den Atomen des Wassers (semina aquai; 6,497). Eine hilfreiche Übersicht über die Behandlung des Magnetismus bei Epikur gibt Bailey 1947, S. 1705f. Darauf verweist implizit auch Bailey 1947, S. 1962: „Lucr[etius] no doubt treats the phenomenen at length, partly because of its traditional celebrity, but more because it can be explained, as he thinks, by a subtle use of the principles of atomic movement and combination which have already been laid down“.

Die Ordnung der Welt – Ausblick

239

er deren zentrale Funktion noch einmal besonders deutlich. Die Ordnung der Atome, d.h. ihre Bewegungen und Verbindungen, können die Phänomene der Welt nicht nur anschaulich, sondern auch einsehbar machen (6,532‒534): perfacilest tamen haec reperire animoque videre omnia quo pacto fiant quareve creentur, cum bene cognoris elementis reddita quae sint. Wie dies alles nun wird und warum es entsteht, ist nicht schwierig aufzuspüren und geistig sich nahe zu bringen, sofern du nur die Bedeutung erfasst hast, die den Urelementen verliehen ist.

Bibliographie Siglenverzeichnis ANRW

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Indizes Wörter διάρθρωσις ‒ 36‒38. ἐπιτήδειος ‒ 36f. θέσις ‒ 39, 78‒80. μετάστασις ‒ 36‒38, 42. παρέγκλισις ‒ 140. περιοχή ‒ 41f. περιπλοκή ‒ 38, 42, 183 Anm. 1. πρόληψις ‒ 60f. πρόσθεσις ‒ 36f., 42. στοιχεῖον ‒ 77. σύγκρισις ‒ 40, 80, 187. συμφυλία ‒ 40‒42. σύνοδος ‒ 40, 42. συστροφή ‒ 40f. σχῆμα ‒ 78–80. τάξις ‒ 39, 78, 80. abitus / aditus ‒ 168, 171, 173. certus / incertus ‒ 86, 103, 116, 143f., 148, 150, 167f., 208‒211. clinamen ‒ 43, 47, 53, 139–150, 152, 229. - declinare / declinatio / inclinare ‒ 43, 57, 144., 149. coetus ‒ 40f., 72, 129f., 134, 171. conciliare / concilium ‒ 19, 21f., 40, 43, 122, 155, 199‒204, 210, 223. constituere ‒ 73, 100, 177, 202. conveniens / convenire ‒ 19, 136 Anm. 95, 223. convertere ‒ 101f., 169 Anm. 44. disponere / dispositio / dispositura ‒ 15, 51f., 132f., 135, 229, 236. elementum ‒ 76‒80, 83, 86f., 93‒96, 103, 105, 228. figura ‒ 79, 190, 195, 204, 206. foedera (naturai) ‒ 16, 21f., 35, 150, 212. forma ‒ 194‒196, 206.

glomeramen ‒ 206f. ignis / lignum ‒ 59, 61f., 80 Anm. 106, 91, 93‒96, 167f., 170, 231. miscere / mixtura / admiscere / commiscere / permiscere ‒ 73f., 82, 85, 88‒ 90, 120f. mit Anm. 50, 163, 205, 231. mutare / mutatio / permutare / transmutare ‒ 12, 85, 88f., 93‒95, 101f., 105f, 133, 145, 166‒169, 173‒175, 179f., 182, 192, 194‒196, 230f. pars ‒ 167f., 170. - minimae partes ‒ 151‒161, 188‒ 197, 204, 231. ratio (conciliandi) ‒ 120, 200‒204, 210‒ 214, 216‒218. significare ‒ 100, 104. similis / dissimilis ‒ 66, 68, 205, 214. simulacrum ‒ 18, 29, 58, 87 Anm. 130, 233‒235. solvere / dissolvere ‒ 130, 222. tangere / tactus ‒ 161 Anm. 31, 219 Anm. 80. texere / textura / textus ‒ 23f., 233f. turba / turbare ‒ 19, 198f., 223 Anm. 93. variare / variatio / varius ‒ 97, 165, 186, 190, 196, 209. verba ‒ 51f., 83, 86, 95, 98, 102

Namen und Sachen Abbild / abbilden ‒ 29, 39, 56, 87, 162, 234f. Abweichung / abweichen ‒ 43 Anm. 167, 132, 139, 141, 143‒150, 229. Ähnlichkeit / ähnlich ‒ 45, 62f., 66‒68, 86 Anm. 126, 90, 105, 115f. Anm. 34, 169 Anm. 44, 220. S. auch Gleichheit.

252 All ‒25, 45, 47 Anm. 192, 108f., 119, 124‒128, 136f., 145, 161, 198, 200, 229. Analogie ‒ passim, v.a. 55‒57, 63‒69, 76f., 81‒83, 86f., 228. S. auch Buchstaben / B.analogie. Anaxagoras ‒ 69, 76 Anm. 92, 88‒91, 162, 164, 181. Anfang ‒ 23f. mit Anm. 78, 46, 48, 50, 53, 70, 90f., 107‒118, 137f., 143, 145f., 148‒150, 154f., 165f., 172‒ 175, 206, 209, 229, 235. Anordnung ‒ 13, 26, 39, 51, 78‒80, 84‒ 87, 93, 96, 98, 103, 133, 167, 172, 178, 192, 215, 222, 228. Anschaulichkeit / Veranschaulichung ‒ 10, 19f., 43, 55, 65, 75‒81, 106, 117, 127, 131f., 145, 184, 217, 223, 228, 231. Anthropomorphisierung ‒ 28, 132, 205f. Antideterminismus ‒ 212, 227. S. auch Determinismus. Antiteleologie / a.teleolog. ‒ 14, 33, 209. S. auch Teleologie. Aristoteles / aristotelisch ‒ 33‒35, 40, 42f., 77, 79‒81, 120 Anm. 51, 140 Anm. 5. Autopoiesis ‒ 47f., 137 Anm. 97. Axiom / Grundaxiom, epikureisches ‒ 53, 109‒114, 138, 188, 229, 235. Barthes, Roland ‒ 29, 85, 87 Anm. 130, 170 Anm. 46. Bedeutung / Bedeutungsbegriff ‒ 24, 59, 65, 77‒81, 84f. Beliebigkeit / beliebig ‒ 67f., 70, 135, 162, 167, 189, 207, 209f., 212, 214, 229. Beobachter / beobachten ‒ 48, 73, 106, 126f., 210. Blumenberg, Hans ‒ 115 Anm. 32. Buchstaben / B.analogie ‒ passim, v.a. 55‒ 106. Chaos / chaotisch ‒ 16, 28f., 31, 42, 117, 141, 198‒201, 203, 235f. S. auch Unordnung. Cicero ‒ 43f., 51, 68, 139.

Indizes ,Davor‘ ‒ 48, 50, 107, 111, 117, 137, 154. S. auch Zeit. Deleuze, Gilles ‒ 143. Demokrit ‒ 39 mit Anm. 147, 78‒80, 158 Anm. 24. Determinismus / determiniert ‒ 32, 135, 139f., 200, 209, 212f., 229f. S. auch Antideterminismus. Didaxe / didaktisch ‒ 13, 25, 28f., 51, 53, 58f., 110 Anm. 13, 114, 117, 176f., 190, 194, 227, 229. Differenz ‒ 69‒73, 75f., 78, 80, 84f., 88, 96‒99, 104f., 118, 122, 124, 126f., 158, 161f., 164, 167f., 181, 186‒189, 205f., 214‒216, 218. S. auch Verschiedenheit. Dynamik / dynamisch ‒ passim. Eigenschaft ‒ 10, 16f., 42, 48f., 65, 71‒ 73, 79, 82, 88‒91, 117, 120, 122, 125, 131, 135, 146, 151f., 159f., 162f., 165f., 177f., 186, 197, 205f., 217, 220, 230f., 238. S. auch Emergenz. - eigenschaftslos ‒ 48, 162, 197. Emergenz / emergente Eigenschaften ‒ 16f., 48f., 72f., 90, 94, 100, 120f. Anm. 51, 161‒163., 185, 194, 196f., 228, 230‒232. S. auch Reduktionisus Empedokles ‒ 20f., 69, 71f., 82 Anm. 110, 88, 90, 92 Anm. 146, 120f. mit Anm. 51, 164, 174. Epistemologie ‒ 17, 31, 161, 219. Erkenntnis / Erkenntnistheorie ‒ 18, 29, 60f., 63‒65, 122, 194, 197, 235. Erzählung / erzählerisch / Erzählbarkeit ‒ 48, 53, 107f. mit Anm. 5, 109f., 114f., 138, 156, 229. S. auch Narratologie. Etymologie / etymologisch ‒ 9 Anm. 3, 23, 113. Experiment / experimentell ‒ 134f., 138, 189‒195, 198. Feuer ‒ 62, 73, 91‒95, 164‒174, 231, 238 Anm. 16.

Indizes Foucault, Michel ‒ 44‒46, 63, 86 Anm. 126. Gattung ‒ 110 Anm. 13, 176, 229. S. auch Didaxe. Genette, Gérard ‒ 52 Anm. 214. Gesellschaft, menschliche ‒ 20, 32, 34, 42, 220. Gesetz / Gesetzmäßigkeit ‒ 16, 22, 143, 150, 195, 211f., 214. Gleichheit ‒ 73‒75, 83f., 97‒100, 104f., 165, 174, 178, 187, 205, 214, 236. S. auch Ähnlichkeit. Grenze / Begrenzung ‒ 41f., 47 Anm. 192, 55, 63, 67, 83, 86f., 107f., 121‒124, 126‒128., 152, 160‒162, 197‒200, 208, 213, 217, 228, 235f. - Grenzenlosigkeit / Unbegrenztheit ‒ 25, 108, 124‒128, 134, 145, 189, 197, 210, 228f. Hayek, Friedrich August von ‒ 20 Anm. 57, 46‒49, 79 Anm. 101. Heraklit ‒ 36 Anm. 133, 69, 92 Anm. 146, 164‒176, 179, 181, 230. Holz ‒ 62, 91‒95, 218, 220. Homoiomerie ‒ 88‒91, 93f., 162, 181, 233. Identität / identisch ‒ 69‒72, 168, 171, 181, 188, 205, 218, 235. Immersion ‒ 231. Katachrese ‒ 222. Kombination / Kombinatorik ‒ 19, 79, 81f., 86f., 93, 97, 101, 103, 160 Anm. 30, 178, 191‒196, 215. Komplexität / komplex ‒ 26, 49, 82, 86f., 91, 96, 106, 164, 187, 195f., 207, 233, 237. - K.reduktion ‒ 87, 127, 156 Anm. 19, 191, 193f., 209. Konstrukt / Konstruktion ‒ 109, 114, 176f., 189, 192, 194, 197, 202. Konstruktivismus / konstruktivistisch ‒ 111, 177. Kontiguität ‒ 52, 219f. S. auch Metonymie.

253 Kontingenz / kontingent ‒ 15f., 31, 53, 135, 143, 148. S. auch Zufall. Kosmogonie ‒ 38, 53, 114, 235. Kosmologie / kosmologisch ‒ 17f., 21, 32, 34f., 40, 140, 142, 147. Kosmos ‒ passim. - Makrokosmos / Mikrokosmos ‒ 27, 55, 146, 185 Anm. 4. Lachmann, Karl ‒ 13 Anm. 13, 105 Anm. 175, 217. Laktanz ‒ 31f. Leukipp ‒ 39 mit Anm. 147, 77‒79, 158 Anm. 24. Luhmann, Niklas ‒ 47f., 118, 124 Anm. 60, 126f., 137 Anm. 97. Mechanik / mechanisch ‒ 9, 15f., 28, 42, 66, 74f., 79, 82, 179, 196f., 225, 233, 236. Metapher - biologisch-vitalistische M. ‒ 27, 42, 131, 136, 146. - M. des Flechtens ‒ 34 Anm. 121, 38, 42, 183f. - politische M. ‒ 21, 46f., 184, 221. - M. des Webens ‒ 22‒24, 113, 130, 207 Anm. 47, 223, 232. Metonymie ‒ 206, 219. S. auch Kontiguität. Mischung / mischen ‒ 73‒75, 82, 85, 89‒91, 93, 120, 163, 181, 205. Narratologie / narratologisch ‒ 25f., 52 Anm. 215, 108f. mit Anm. 4, 159, 229. S. auch Erzählung. Ordnung ‒ passim. S. auch Anordnung, Chaos, dispositio, Emergenz, Unordnung. Organismus ‒ 19, 35, 131. Orientierung / O.punkt ‒ 115, 192. Philodem ‒ 44, 65f., 69, 106 Anm. 177. Platon / platonisch ‒ 33‒35, 39f., 42f. plot / story ‒ 25, 29, 59, 109, 114, 229.

254 Pluralismus / pluralistisch ‒ 69‒75, 88f., 174f. mit Anm. 51, 179‒181. Poetik ‒ 56, 58, 87 Anm. 128. Poetologie / poetologisch ‒ 24, 58, 77 Anm. 93, 113, 212 Anm. 68. Quine, Willard ‒ 111. Quintilian ‒ 66, 68, 75. Reduktionismus / reduktionistisch ‒ 16, 27f., 49, 90, 100, 232, 238 Anm. 16. Repräsentation / repräsentieren ‒ 18, 27, 35, 45, 57, 59, 62, 104. Saussure, Ferdinand de ‒ 84, 95 Anm. 154. Schiffbruch ‒ 126 Anm. 67, 198, 201‒203. Selbstbezüglichkeit / Selbstreferenz ‒ 56, 77 Anm. 93, 81, 87. Semiotik / semiotisch ‒ 58f., 60f., 85, 91, 95. S. auch Zeichen Serres, Michel ‒ 139, 141f., 143 Anm. 18, 144 Anm. 27. Setzung ‒ 110f., 113f., 117, 138, 156, 177. S. auch Differenz Signifikant / Signifikat ‒ 59‒61, 84. S. auch Zeichen. Sinneswahrnehmung ‒ 17, 61, 161, 206. Skepsis / skeptisch ‒ 17 Anm. 42, 60f., 68f. mit Anm. 72, 139. Statik / statisch ‒ passim. Stoa / Stoizismus ‒ 33‒35, 42f. Struktur ‒ 18, 29f. - Strukturalismus ‒ 29, 85, 118. - Strukturalistische Tätigkeit ‒ 29, 85, 87 Anm. 130, 170 Anm. 46. Synonym ‒ 24, 29, 169 Anm. 43. System ‒ 46f. mit Anm. 191 u. 192, 85, 109‒111, 117, 175, 198, 230. - Systemtheorie ‒ 47f., 111, 118. Teleologie / teleologisch ‒ 15, 26, 33, 37, 49, 130, 157, 167, 209. S. auch Antiteleologie. Topos ‒ 29, 56, 233.

Indizes Unordnung ‒ 16, 26, 31, 53, 136, 139, 141f., 188, 222, 225, 229f. Unsichtbarkeit / unsichtbar ‒ 9f., 64, 81, 83, 102, 104, 115, 132, 136. Ursprung ‒ 48, 70, 108, 117, 133, 139, 141, 144, 147‒150, 174, 199, 206. Variable ‒ 74, 160 Anm. 30, 173, 179, 185, 189, 194. Variation / Varianz ‒ 89, 96, 101, 133, 166., 186, 189f., 194, 196, 201, 211, 215f. Vergleich / vergleichen ‒ 35, 39, 62f., 97, 145, 158, 166 Anm. 40, 198, 201‒203, 214, 227, 231. Verschiedenheit ‒ 65, 74, 81f., 84, 86, 89, 91, 98, 100, 105, 120f. Anm. 51, 165f., 174, 187, 205f, 214f., 220, 227. S. auch Differenz. Vier-Elemente-Lehre ‒ 70, 73, 174f., 178‒180. Waldenfels, Bernhard ‒ 30, 49‒51. Wiederholung / Wiederholungsstruktur ‒ 25, 93, 102, 170, 174, 202, 215. Wissen ‒ 45, 61, 64, 111, 163, 190, 193f., 200. Zeichen / Zeichentheorie ‒ 59‒61, 81, 84, 95, 104. S. auch Signifikant / Signifikat - Zeichenmodell ‒ 61, 84f. mit Anm. 118, 95 Anm. 154. Zeit / Zeitlichkeit / Z.raum / Z.struktur ‒ 25, 42, 45, 108, 114, 129, 135f., 138, 143f., 154, 156, 218. - Z.losigkeit ‒ 108 Anm. 5, 156, 218. Zufall / zufällig ‒ 32, 37, 53, 116, 144, 148, 150, 178, 199, 209, 227. S. auch Kontingenz ,Zwischen‘ / Raum des ,Z.‘ ‒ 89, 100, 106, 144, 159, 171, 185, 194, 196.

Indizes

Stellen Anaxagoras DK 59 B 11

89 Anm. 133

Aristoteles De an. 1,2,404 158 Anm. 24 gen. corr. 315b 5‒15 79 gen. corr. 328a 5‒15 120 Anm. 51 metaph. 985b 13‒19 39 Anm. 147, 78 pol. 1,1253a 33 Anm. 115 Cicero fin. 1,19 43 mit Anm. 167, 139 nat. deor. 1,96 68 nat. deor. 1,97f. 68 Empedokles DK 31 B 8 DK 31 B 23

120 Anm. 51 82 Anm. 110

Epikur Diog. Laert. 10,33 60 Anm. 33 Ep. Hdt. 40 116 Anm. 37 41 125f. Anm. 64 42 40 Anm. 151, Anm. 152, 129 Anm. 76, 187 43 38, 140 Anm. 6, 183 Anm. 1 48 39 54 169 Anm. 42 56‒59 153 57 153 58 154 Anm. 10 58f. 64f. 76 60 Ep. Pyth. 88 41 89f. 36 115 40 Anm. 153 fr. 305 Us. (= Aët. 2,4,10) 35

Laktanz inst. 3,17,17

31f.

255 Lukrez 1,72‒77 212f. 1,136‒139 233 1,146‒150 111‒114 1,168 115 Anm. 34 1,169‒173 115f., 123 1,184f. 41 Anm. 157 1,329f. 117, 159 Anm. 29 1,334‒339 119 1,375‒377 120 Anm. 48 1,377 120 1,381‒383 119‒121, 229. 1,419‒421 119 Anm. 47 1,511‒517 121‒123 1,524‒527 123f. 1,599‒604 156 1,599‒614 152‒160 1,605f. 156‒158, 191 1,611f. 155, 191 1,615‒620 160f., 162 1,628‒634 160 Anm. 30 1,635‒637 172 1,635‒638 164f. 1,635‒920 69, 164 1,645f. 164f. 1,647‒649 165 1,648 167f., 170 1,648f. 167f., 170 1,649 168 1,665‒669 165f. 1,672 166 1,672‒674 170 Anm. 47 1,675‒679 167‒170, 172 1,675‒689 89, 167 1,676 168, 172, 181 1,677 171, 173, 179 Anm. 63, 180 1,677f. 168f., 174 1,679 170 1,680‒683 170‒172 1,680f. 171 1,681f. 173 1,682 171 1,684f. 231 1,684‒686 179 1,684‒687 172‒174 1,685 178 Anm. 60, 222 Anm. 86. 1,686 173, 179 Anm. 63, 180

256 (Fortsetzung Lukrez) 1,686f. 173f. 1,763‒768 69‒73, 174 Anm. 52 1,770‒781 69, 71 1,775‒777 72f. 1,783 175 1,783‒790 174f. 1,787 180 1,790 71 1,792f. 175f. 1,794‒796 71 Anm. 79 1,798‒802 176‒178, 189, 231 1,803f. 176 Anm. 56 1,814 82 1,814‒816 81‒83, 133 1,817 73 1,817f. 93, 103 1,817‒822 72‒75 1,818 103, 193 Anm. 23, 222 Anm. 86 1,818f. 86 1,820 74‒76, 97 1,820f. 100 Anm. 162 1,820–822 74f. 1,822 73f., 85 1,823 76, 102 1,823f. 81‒83, 102 1,823‒826 75–77 1,823‒829 91, 104 1,824 56, 82f., 97 1,825f. 84, 95 Anm. 152 1,826 84 1,827 85, 133 1,827‒829 84‒88 1,829 87 Anm. 127, 97 1,830 181 Anm. 67 1,830‒833 233 1,876‒879 88–90 1,881‒883 89 Anm. 134 1,894‒896 90f. 1,901‒903 91‒93 1,904‒907 91 Anm. 143 1,907‒912 61 Anm. 39, 93f., 181f. 1,107‒914 76 Anm. 92 1,908 97 1,909 181, 222 Anm. 86 1,911f. 93f. 1,911‒914 80 Anm. 106

Indizes 1,912 59 1,912‒914 94‒97, 193 Anm. 23 1,919f. 163 Anm. 34 1,925f. 83f. 1,958f. 125f. 1,965‒967 126f. 1,984‒987 127f. 1,1008‒1013 123f. Anm. 59 1,1014‒1020 129f. 1,1016 129, 135f. 1,1021f. 200f. 1,1021‒1023 131f. 1,1021‒1027 229 1,1022 132, 134, 229 1,1024‒1027 132‒135 1,1024‒1028 138 1,1026‒1030 229 1,1027 229, 236 1,1027‒1031 135f. 1,1030f. 185 Anm. 4 1,1032‒1034 137 1,1035‒1041 137 2,61f. 185 Anm. 7 2,67f. 159 Anm. 29 2,102 183 2,109–111 184f. 2,116–120 158 Anm. 24 2,202 43 2,216‒220 142‒145 2,216‒250 140 2,217 43, 142f., 146 2,221f. 43 2,221‒224 145f. 2,243 144 2,244f. 43f. Anm.167 2,251 148, 150 2,251f. 148f. 2,251‒260 147‒150 2,251‒293 140 2,333‒337 185f. mit Anm. 9 2,333–729 156 2,335–337 215 Anm. 73 2,340f. 186 Anm. 10 2,434f. 161 Anm. 31, 219 Anm. 80 2,485 198 Anm. 29 2,485f. 156 Anm. 19, 190, 231 2,485‒492 190‒195, 231

257

Indizes (Fortsetzung Lukrez) 2,485‒499 156 2,488 192, 195f., 231 2,491–497 194f. 2,512–514 189 2,547–550 197–291 2,551 199f. 2,552–560 201f. 2,560–564 202–204 2,581–585 204f. 2,600–660 219 Anm. 79 2,677 230 2,683–687 205–207 2,686f. 98, 206 2,687 102, 206 mit Anm. 44 2,688‒691 98 2,688‒699 76 Anm. 92, 97 Anm. 157 2,689 56, 98 2,692‒694 98f., 215 2,695‒698 105 2,695‒699 99f. 2,700f. 207, 210f., 237 Anm. 13 2,701–706 208 Anm. 52 2,707–710 208–211 2,711–713 185 Anm. 4 2,718f. 211–213, 217 mit Anm. 77 2,720–723 213f. 2,725‒729 216–218, 237 2,848‒859 166 Anm. 40 2,898–901 218–220 2,931–936 220f. 2,947–951 221–225 2,963–966 224f. 2,976‒979 162f. 2,980‒983 162 2,986 163 2,1002‒1009 101f. 2,1007 101, 104 2,1007f. 103 2,1009 101, 103 2,1013‒1022 76 Anm. 92, 173 Anm. 50 2,2013 103 2,1015f. 100 Anm. 162, 104 2,1017f. 105 2,1019‒1022 11f., 105f. 216f. 2,1021 57 2,1048‒1051 126 Anm. 66

3,143 3,209 3,216f. 3,258‒261 3,331 3,349 3,425 4,88 4,29‒32 4,54‒62 4,63f. 4,67‒69 4,158 4,196 4,469‒472 4,728 5,91‒508 5,418–431 5,422‒425 5,427‒431 5,443‒447 5,1028 5,1088 5,1445 6,180 6,225‒229 6,495‒512 6,497 6,532‒534 6,940f. 6,998‒1021 6,999

232 223, 232 223, 232 233 232 232 232 234 233f. 235 234 234 234 234 69 Anm. 72 234 235 236 Anm. 11 235 235f. 236f. 61 61 61 238 Anm. 16 237f. 238 238 Anm. 16 239 238 238 238

Philodem De sign. 30,37‒39 De sign. 28,25‒29

66 Anm. 58 66

Platon Gorg. 507e‒508a Tim. 30a Prot. 322b

34 39f. 33 Anm. 114

Quintilian inst. 1,6,3f. inst. 1,6,4

66f. 75

eva marie noller

Die Ordnung der Welt noller Die Ordnung der Welt

isbn 978-3-8253-6842-5

noller

Die Ordnung der Welt

ukrez’ De Rerum Natura beschreibt und erklärt den Kosmos und alles in ihm Befindliche als geordnete Zusammensetzung von Atomen. Diese ebenso einfache wie grundlegende Feststellung dient als Ausgangspunkt der vorliegenden Studie. In einer Lektüre der in den ersten beiden Büchern von De Rerum Natura entwickelten Atomlehre wird herausgearbeitet, wie sich ein spezifisch lukrezischer Ordnungsbegriff im Spannungsfeld von Statik und Dynamik konturiert. Im Zentrum der Studie steht die sprachliche Verfassung dieser Ordnungsformen. Untersucht wird, wie es mittels der Figuren der Analogie, der Metapher und des Vergleichs gelingt, die unsichtbare Ebene der Welt anschaulich zu machen und so den atomaren Kosmos als einen geordneten zu vermitteln. Dazu werden u. a. die Buchstabenanalogien und die Kinetik auf ihre Ordnungs- und Darstellungsprinzipien hin untersucht. Diese werden in einem Ausblick auf das gesamte Werk als elementare Bestandteile der ästhetischen, philosophischen und didaktischen Verfassung des lukrezischen Lehrgedichts erkennbar.

Darstellungsformen von Dynamik, Statik und Emergenz in Lukrez’ De Rerum Natura