Encyklopädie der Rechtswissenschaft: Band 5 [7., d. neubearb. 2. Aufl. Reprint 2020] 9783112379240, 9783112379233


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German Pages 588 [592] Year 1914

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1. Strafrecht (mit Ausschluß des Militärstrafrechts)
2. Gefängnisrecht und Recht der Fürsorgeerziehung
3. Strafprozeßrecht mit einem Anhang: Kriminalpolizeiliche Tätigkeit
4. Militärstrafrecht und Militärstrafverfahren, Militärisches Disziplinarstrasrecht und Beschwerderecht, Ehrengerichtliches Verfahren
5. Kirchenrecht
6. Völkerrecht
Sachregister
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Encyklopädie der Rechtswissenschaft: Band 5 [7., d. neubearb. 2. Aufl. Reprint 2020]
 9783112379240, 9783112379233

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Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Begründet von

Dr. Franz von Holtzendorff. Äerausgegeben von

Geh. Iuftizrat Dr. Josef Kohler ordentlicher Professor der Rechte in Berlin.

Unter Mitwirkung von: G. K. 3. O.

Anschütz ♦ L. v. Bar ♦ E. Beling ♦ E. Blume ♦ &. Brunner ♦ G. Cohn Crome ♦ S. Dietz ♦ F. Dochow ♦ E. Dörner ♦ K. Flesch ♦ B. Freudenthal Gerstmeyer ♦ O. v. Gierke ♦ P. Leilborn ♦ E. Leymann ♦ Fr. Äiller ♦ L. Laß Lenel ♦ A. Osterrieth ♦ E. Rabel ♦ P. Schoen ♦ G. Struh ♦ LI. Stutz L. Trumpler ♦ K. v. Llnzner ♦ F. Wachenfeld ♦ M. Wolff.

Siebente,

der

Neubearbeitung

zweite

Auflage.

Fünfter Band.

Berlag von

Duncker & Äumblot

und

München u. Leipzig.

I. Gltttentag,

Berlagsbuchhdlg.

&. m. b. Ä. Berlin W 10. 1914.

Alle Rechte Vorbehalten.

Altenburg Piercrsche Hofbuchdructerei Stephan Gelbst & So.

Vorwort. Der Schluß des V. Bandes sollte eine neue Darstellung des Kolonialrechtes von Herrn

Geheimrat Gerstmeyer im Kolonialamt enthalten; die Arbeit war auch bereits eingeleitet, da kamen die welterschütternden Ereignisse, die unsere ganze Erde in Aufruhr brachten und

eine vollständige Neugestaltung unserer Kulturverhältnisse in Aussicht stellen.

Das siegreiche

Deutschland toitb als Kolonialreich eine ganz andere Rolle spielen als bisher und eine welt­ umfassende Macht bilden.

Dann wild auch das deutsche Kolonialrecht einen ganz anderen

Inhalt annehmen; neue Gebiete weiden sich unserer Herrschaft erschließen, und neue Organi­

sationen werden nötig sein.

Eine Darstellung des bisherigen Kolonialrechtes hätte keinen

Sinn mehr. Ist die Entwicklung soweit fortgebildet, daß der neue Rechtszustand zu übersehen ist, so wick) das neue Kolonialrecht als Anhang zu unserer Enzyllopädie nicht mehr auf sich

warten lassen.

Auch ein Zusatz zum Völkerrecht soll dann erscheinen.

Berlin, den 24. September 1914.

Josef Kohler

Inhalt. 3 eite

1.

Strafrecht (mit Ausschluß des Mlitärstrafrechts), von Pwfessor Dr. F. Wachen­

3

feld, Rostock..........................................................................................................................

2. Gefängnisrecht und Recht der Fürsorgeerziehung, von Professor Dr. Berthold

75

Freudenthal, Frankfurt a. M..................................................................................

3. Strafprozeßrecht, mit einem Anhang: Kriminalpolizeiliche Tätigkeit, von Pwfessor

Dr. Ernst Seling, München.....................................................................................115 4. Militärstrafrecht und Militärstrafverfahren, Militärisches Disziplinarstrafrecht und Beschwerderecht, Ehrengerichtliches Verfahren, von Kriegsgerichtsrat Heinrich

Dietz, Rastatt........................................................................................................................207 5. Kirchenrecht, von Geheimen Justizrat Pwfessor Dr. Ulrich Stutz, Bonn .

.

275

6. Völkerrecht, von Pwfessor Dr. Paul Heilborn, Breslau....................................... -toi Sachregister.........................................................................................................................................579

1.

Strafrecht (mit Ausschluß des Militärstrafrechts) von

Professor F. Wachenfeld in Rostock.

Inhaltsübersicht. Einleitung. $

1.

Begriff und Begründung deS Strafrechts, Begrenzung des Themas, Quellen des geltenden RechtS.......................................................................................................................

Seite

6

Allgemeiner Teil. 2. 3.

Iiu scriptum und Gewohnheitsrecht DaS Herrschaftsgebiet der Strafgesetze

CD

§ §

00

Erster Abschnitt: Das Strafgesetz.

Zweiter Abschnitt: Das Verbrechen.

A. Das Berbrechen nach seinen wesentlichen Merkmale«.

5

6.

Das Wesen der Handlung Handlung-- und Verbrechen-einheit und -Mehrheit

8 §

6. 7.

Ausschluß der Rechtswidrigkeit Insbesondere Notwehr und Notstand

J -i—

4.

Ot 00

Erste« Aepttel: Dar Verbrechen al» Handlung. §

w00 *w4

Zweites Kapitel: Das Verbrechen als unerlaubte Handlung.

tfcOO Mayor, zwei Richter, ein Alderman und eine Reihe anderer Leute. Zwischen abgeurteilten Strafgefangenen, bloßen Untersuchungs- und Schuldgefangenen wurde kein Unterschied gemacht. Mit alten Berbrechem saßen Jugendliche, aber auch Betller, Vagabunden, Waisenkinder in demselben Hause wahllos zusammen (sehr anschaulich P. Lene l, Badens Rechtsverwaltung 1913, S. 234). Zu ihnen kamen Geistesgestörte, die zur Erheiterung der übrigen und der etwaigen Besucher der Anstall dienten: „Das Gefängnis ist in dieser Zeit", so sagt Kröhne, „Kloake, Verbrecherschule, Bordell, Spielhölle und Schnapskneipe, nur nicht eine Anstalt im Dienste des Strafrechts zur Bekämpfung des Verbrechens."

d) John Howard und die Amerikaner *.

1. In diesem Stande der Dinge setzt auf der Grundlage der Aufklärung eine zweite Resormperiode ein. Ihr Träger ist John Howard, den vor allem seine Untersuchungen über den „Zustand der Gefängnisse in England und Wales mit einleitenden Bemerkungen und einem Bericht über einige fremde Gefängnisse", 1777 erschienen, unsterblich gemacht haben. 1726 als Sohn eines vermögenden Krämers in London geboren, streng puritanisch erzogen, ohne gelehrte Bildung, — so daß seine Schriften sprachlich vielfach nicht einwandsfrei sind, — sieht er seine Lebensaufgabe von Anfang an darin, Menschenelend zu lindem. Ws er nach dem Lissabonner Erdbeben von England nach Portugal fährt, um zu helfen, wird sein Schiff von Franzosen gekapert. So lernt er als Kriegsgefangener — das ist für sein späteres Wirken entscheidend gewesen — ameignenLeibedieQualendamaligerGefangenschaft kennen. Sheriff seines Grafschaftsgerichtes geworden, durchwandert er ein Jahr lang Englands Gefängnisse. Darauf tote er 1774 vor das Haus der Gemeinen geladen, wo er, schlicht und jeder Sentimentalität bar, über das von ihm Gesehene berichtet und darauf, wie er selbst es ausdrückt, „die Ehre ihres Dankes" hat: Die Gefängnisreform steht damit in England auf der Tagesordnung. Lange weitere Jahre (1775 ff.) durchzieht er wiederholt die Gefängnisse des Kontinents und Englands, bevor er seinen „State of Prisons“ veröffentlicht, der der ganzen damaligen Kulturwelt das Gewissen geweckt hat. Meder und wieder durchreist er die Anstalten des In- und Auslandes, bis er im russischen Cherson 1790, sei es durch Überanstrengung, sei es durch Ansteckung, einem Fieber erlag. „Setzt auf mein Grab eine Sonnenuhr, nichts weiter, und vergeßt mich", soll seine letzte Bitte gewesen sein. Sie ist nicht ganz in Erfüllung gegangen. In welchem Stande körperlichen und geistigen Elends Howard die Gefangenen seiner Zeit fand, ist oben geschildett. Nur in Holland hatte sich noch in seiner Zeit der vorbild­ liche Strafvollzug der Raspel- und Spinnhäuser erhalten, dessen Grundzug er mit dem — von ihm mitgeteilten, nicht, wie man behauptet hat, geschaffenen — Spmche kennzeichnet: „Machet sie fleißig und sie werden ehrlich sein." Er schildett diese Gefängnisse als „so mhig und die meisten von ihnen so rein, daß ein Besucher kaum glauben kann, sich in einem Gefängnisse zu befinden". Auch über Stmskürzung bei Wohlvechalten, ja selbst über Unterbringung der Kinder von Hingerichteten oder von langzeittgen Gefangenen in Waisenhäusem berichtet er. Bon starkem Einfluß auf ihn war ferner das nach holländischem Vorgang auf Betreiben des Vicomte Billain XIV. und auf Grund seiner Pläne erbaute Maison de force in Gent, mit

1 Siehe hierzu Kröhne, S. 32 ff. und F. H. Wines, Punishment and Reformation 1895, S. 122 ff.

Berthold Freudenthal.

gemeinschaftlicher Arbeit bei Tage und nächtlicher Trennung in Zellen, entsprechend dem System von S. Michele, sowie mit besonderen Abteilungen für Männer, Frauen und Kinder. Endlich findet er die Zuchthäuser vonHamburg und B r e m e n zu loben. Im übrigen aber hatten sich unter den wichtigsten Kulturländem jener Zeit Deutschland, England und Frankreich in bezug aus ihre Gefängnisverhältnifse nichts vorzuwerfen. Hollands Einrichtungen haben auf Howards Anschauungen bestimmenden Einfluß geübt. Aus ihn ist es zurückzuführen, wenn der Gedanke an eine Gefängnishygiene allmählich aus­ tauchte, und wenn der der Besserung statt der früheren Peinigung und der Gedanke der E r ziehung durch Arbeit zur Grundlage des Strafvollzuges der ganzen gesitteten Welt geworden sind. JsolierungzurTages-undNachtzcit empfiehlt er als sicherstes Mittel gegen gegenseitige Berschlechtemng und, wo solche Trennung untunlich sei, Klassen­ einteilung mit Beförderung in die höhere Klasse, der leichtere Haft eigen sein müsse, oder Hinab­ rücken in eine härtere Klasse. Auf ihn geht der Bau der ersten englischen Zellgefängnisse, dar­ unter des in Gloucester kraft Gesetzt von 1779 errichteten, zurück.

Unter denen, die sein Süden in England sortsetzten, sei nur Elisabech F r y genannt. Sie hat durch die Macht ihrer Persönlichkeit zur Bessemng der Lage weMcher Gefangener im Straf­ vollzüge und nach der Entlassung viel beigetragen; die Einrichtung von Gefängnisschulen, die Bestellung weMcher Beamten u. a. geht auf sie zurück. 2. Die Gefängnisreform hat in dieser Zeit von Amerika aus nachhaltige Fördemng erfahren, das seitdem immer wieder dem Strafrecht und Strafverfahren, wie dem Vollzüge grundlegende Anregungen gegeben hat. Nicht als ob diesen immer in Amerika selbst g e s ch a f f e n e Gedanken zugrunde lägen. Wohl aber sind sie dort vielfach zuerst in großem Stil erprobt und an die übrigen Kulturländer demnächst weitergegeben worden. Jeden­ falls setzt in dieser Zeit die kriminalpolitische „Wechselwirkung zwischen der alten und der neuen Well" 1 ein, deren wir uns seither erfreuen.

a) Innerhalb des neuen Erdteils geht sie einmal von dem Staate Pennsylvanien aus. In ihm hatte Mlliam Penn, der auf seinen Miffionsreisen die Zuchthäuser Hollands kennen gelernt und bewundert hatte (Wichern IV, 95), bei der Gründung des Staates in seiner Great Law 1682 das holländische System der Erziehung durch Arbeit eingeführt (,all prisons should be workhouses ..‘). Nach seinem Tode unterdrückte England die Reform­ strömung. Kaum aber war die Unabhängigkeit von England erstritten, da lebte die Bewegung wieder auf. Unter quäkerischem Einfluß entstand gegen 1786 die während des Krieges auf­ gelöste Pbiladelphische Gefängnisgesellschaft von neuem. Sie setzte durch, daß durch das um­ fassende Gesetz vom 5. April 1790 beschlossen wurde, mit „unbeschränkter Einsamkeit" als dem System des .solitary confinement* einen Versuch zu machen. Dadurch hoffte das Gesetz „eben­ sosehr zu bessern wie abzuschrecken", in höchst bemedenswerter Weise also Spezial - und Generalprävention zu verbinden, wie es das Ziel der Gefängnisreform ge­ blieben ist und bleiben wird. Jene „uneingeschränkte Einsamkeit" aber führt auf I. H o w a r d zurück, mit dem die Philadelphische Gefängnisgesellschaft vorher nachweislich in Briefwechsel gestanden hat. Sie sollte nur in einer „geeigneten Zahl von Zellen" und nur für ,more hardened and atrocious offenders* angewendet werden. Ob dabei Ausschluß der Arbeit jemals gesetzlich vorgeschrieben war, ist bestritten; an sich würde es quäkerischem Geiste nicht entsprochen haben. Mf der Gmndlage mit Arbeit verbundener Trennung bei Tag und Nacht wurde dann 1821 durch Gesetz der Bau eines „State Penitentiary for the Eastern District“ angeordnet. 1836 war bslä„EasternPenitentiar y“, wie es kurz heißt, auf Cherry Hill in Phila­ delphia vollendet. Hier war die Trennung keine absolute mehr, sie war vielmehr durch den Besuch der Anstaltsbeamten u. a. systematisch durchbwchen (.separate confinement*). Die Anstalt hat von Anfang an schwere Anfeindungen durchgemacht, von den einen, weil Einzelhaft bei Tag und Nacht eine Grausamkeit sei, der gegenüber die „Bastille Frankreichs und die Inquisition Spaniens nur ... schwächliche Muster wären", von den andem, weil ihr der „Ernst der Strafe" abgehe.

1 v. Engelberg, Gerichtssaal 68, 270.

Gefängnisrecht und Recht der Fürsorgeerziehung.



b) Im Staate Neuyork insbesondere entschloß man sich, unter dem Einflüsse der Neuyorier und Bostoner Gefängnisgesellschaft, eine Anstalt zu bauen, in der man die Ge­ fangenen nur bei Nacht trennte, bei Tage aber in Gemeinschaft arbeiten ließ, diese Gemein­ schaft aber dadurch unschädlich zu machen suchte, daß man ihnen ein absolutes und mit der Peitsche durchgeführtes Schweigegebot auferlegte. So entstand 1820 das New York State Prison in Auburn, das in Wahrheit nur eine Emeuemng des Haftsystems von S. Michele und des Maison de force in Gent darstellte, nicht ein neues System, wie in der Regel be­ hauptet toitb.

c) In dem Kampfe der beiden Systeme, desPennsylvanischenderEinzelhast und des Neuyorker (ober Auburner- oder Schweige») Systems der Gemeirschaftshaft mit nächtlicher Trennung, ist dieses in Amerika durch­ aus siegreich geblieben. Nicht zum wenigsten, weil es billiger war als das der Zellbauten. Das System der Einzelhaft aber, im Heimalland Amerika unterlegen, eroberte sich den alten Erdteil Europa. Freilich hat die Einzelhaft in E n g l a n d das Gesicht gewechselt. Dort ist sie nicht, wie im Eastem Penitentiary, das System der Strafvollziehung schlechthin, sondem bei schwerer Freiheitsstrafe nur das Anfangsstadium eines Progressivsystems. Das in den Jahren 1840—42 errichtete Zellgefängnis in Pentonville wurde als Bollzugsanstalt nur für den ersten, mit schwerer Arbeit verbundenen Teil der Strafe bestimmt. Ihm folgte als zweites Stadium die Deportation in die australischen Kolonien und nach deren Aufhebung Gemein­ schaftsarbeit auf englischem Boden unter strenger, jeden Verkehr hindernder Aussicht. Dies zweite Stadium enchält wieder mehrere Unterllaflen; Beföcherung und Degradation in ihnen routbe durch ein Strichsystem (mark System), das Maconochie im Deportationsstrafvollzuge von Westaustralien zuerst angewandt hatte, aus angeblich exatte Grundlage gestellt. Wer zur ersten Klaffe emporgestiegen war, hatte das Recht auf Etteilung eines ticket of leave, d. i. vorläufige oder bedingte Entlassung mit dem Vorbehalte des Mdermfes. Zahl und Dauer der einzelnen Stadien dieses fortschreitenden Strafvollzuges haben wiederholt gewechselt. Seine wesenlliche Bedeutung aber liegt in der allmählichen Mlderung der Freiheitsbeschränkung und damit in der Annähemng an die Freiheit. Doch ist dieser Gedanke in Deutschland schon lange vorher, nämlich im 18. Jahr­ hundert, durch den Gefängnisprediger Wagnitzin seinen historischen Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland" (1791) ausgesprochen worden. Die Überführung in die Freiheit wurde in dem sogenannten irischen System durch eine weitere Stufe, die vor der vorläufigen Enllaffung eingeschoben wurde, noch mehr vermittelt, nämlich durch den Aufenthalt in einer Zwischenanstalt (Intermediate prison). Hier findet für den Gefangenen freierer Verkehr mit der Außenwelt auf Botengängen, Einkäufen usw. statt; er handelt bereits wieder unter eigener Verantworttichkeit. Der Vater dieses Systems war Sir Walter Erosion. Nach seinem Mcktritt ist es freilich seit 1864 auch in Jttand durch das englische System ersetzt worden. Einer der Zwecke der Zwischenanstalt, für die Beschaffung einer geeigneten Stellung vor der Entlastung Gelegenheit und Zeit zu geben, war durch die inzwischen begründeten Vereine zur Fürsorge für Entlassene übernommen Wochen. Auch die Zwischenanstalt ist übrigens schon vocher in Deutschland nicht nur erwogen, sondem auch 1851 als „Übergangsstation" in der mecklenburgischen Anstalt Dreibergen ver-

wirllicht Wochen. e) Deutschland fett dem lt. Jahrhundert.1

Weder das irische, noch das englische Pwgreffivsystem ist im allgemeinen in Deutschland übernommen Wochen. Me es zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Preußen aussah, schildert der Justizminister v o n A r n i m 1803 in einem aufrichtigen und warmherzigen Buche „Bruchstücke über Bechrechen und Strafen". Überall bestand noch die verderbliche Gemeinschaft von

1 Siehe zu allem Folgenden Kröhne und Uber, Die Strafanstalten und Gefängnisse in Preußen 1901 S. VIII ff.

90

Berthold Freudenthal.

alten und jungen, schweren und leichten Verbrechem, Straf» und Untersuchungsgefangenen und die Verbindung von Strafanstalten mit Waisenhäusem, Hospitälem und Irrenanstalten. Im Gefängnisse zu Elbing, einem jener „Lochgesängnisse", fand man bei der amtlichen Be­ sichtigung vier Personen zusammengesperrt, damnter einen wegen Felddiebstahls in Unter­ suchungshaft befindlichen Mann, ferner einen jungen Gefangenen zwischen 14 und 16 Jahren, sowie ein Dienstmädchen von 20 Jahren, das wegen Gesindevergehens noch acht Tage abzu­ büßen hatte. Kein Wunder, wenn sich ein Stadtmagistrat über die Mimentationslasten beklagte, die seiner Gemeinde aus den häufigen Schwängemngen im Gefängnis erwüchsen. Als in der Zeit der Stein-Hardenbergischen Berwaltungsreform die Mnisterien geschaffen wurden, überwies man das Gefängniswesen dem Jnnem, behielt dem Justizminister aber gleichzeitig den erforderlichen Einfluß darauf vor. Dadurch entstanden Reibungen der beiden Ressorts. Infolgedessen wurden dann der Justiz die Jnauisiwriate, die neben der Unter­ suchungshaft freilich auch kürzere Strafen vollzogen, dem Jnnem alle eigentlichen Strafanstalten unterstellt. Mit der Regiemngs-Jnstmktion vom 23. Okt. 1817 war der bis heute twtz Mer Bemühungen fortbestehende Dualismus der preußischen Gefängnisverwaltung festgelegt. Er hat finanziell wie organisawrisch die Fortentwicklung schwer geschädigt. Auch im Königreich Sachsen besteht diese Zweiteilung. Die AnstMen der preußischen Justiz blieben zunächst in ihrem bisherigen Zustande, die des Jnnem wurden militärisch organisiert „wie Bataillone". Entsprechend war für das R a witscher Zuchthaus-Reglement von 1835 „weitester Spielraum in der Behand­ lung des Menschen, peinlichste Behandlung der Verwaltung nach dem vorgeschriebenen Schema kennzeichnend"; „das rechtliche Element in der Strafe findet in demselben an keiner Stelle seinen Ausdmck" (Kröhne 159). In diesem Zeitpunkte beginnt der Einfluß einer reichen deutschen Gefängnisliteratur. — Hier ist der Hamburger Arzt Julius, der Badenser Fueszlin und der hochverdiente Varrentrapp aus Frankfurt am Main zu nennen. Sie fordem — Julius unter dem Einfluß einer amerikanischen Studienreise — die Einführung des Pönitentiar­ systems, d. i. der amerikanischen Einzelhaft. Sie wurde u. a. auch von den Theoretikern Mittermaier, der wie kein anderer die ausländische Bewegung beherrschte, von Röder, beide in Heidelberg, mit Entschiedenheit befürwortet. Wurde es in Preußen um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Reform ernst, so ist dies das Verdienst Friedrich Wilhelms IV. In einer an den Minister des Jnnem gerichteten Kabinettsocher vom 26. März 1842 heißt es: „Nachdem ... Ich Selbst bei Meinem Aufenthalt in London von den dortigen Gefängniseinrichtungen nähere Kenntnis genommen habe, eröffne Ich Ihnen, daß es Meine Absicht ist, das durch die Einrichtung des Mustergefäng­ nisses in England (d. i. Pentonville) modifizierte pensylvanische System bei den von jetzt an zu errichtenden Strafanstalten zu gmnde zu legen". Daran knüpft sich der Befehl, „daß eine Strafanstalt hier in Berlin ganz übereinstimmend mit den Gnrichtungen des Mustergefängniffes in London ... eingerichtet weche". Hiermit war die Einzelhaft gmndsätzlich zum Systenl der künftigen Anstaltsbauten erklärt. So entstand 1844—49 die Zellenstrafanstalt in Moabit bei Berlin. Doch ist die Einzelhaft in ihr nicht wie in England erstes Stadium des Strafvollzuges, sondem, wie in Amerika, der Strafvollzug selbst. Ob dies wirklich, wie u. a. v o n L i s z t2 annimmt, auf Verkennung des englischen Wesens der Einzelhaft bemht, erscheint mir doch zweifelhaft. Jedenfalls kurze Zeit damach war sich W i ch e r n, wie seine Schriften ergeben, der Abweichung und ihres Gmndes voll bewußt ’. Die Absichten des Königs stießen, bis hinauf zu den Mnisterien, auf allgemeinen Wider­ stand. Um so bedeutsamer war cs, daß er in dem Gründer des Rauhen Hauses in Hamburg, eben in Heinrich Wichern, einen Helfer fand. Ihn haben seine Zeitgenossen vielfach als Pietisten schwer angegriffen. Mr können ihm wegen seines durchdringenden Blickes und seiner organisawrischen Veranlagung unsere Bewundemng nicht versagen. Unter harten Kämpfen - v. Liszt, Lehrb. d. D. Strasr. 18. A. 1911, S. 362. • Wichern, Schriften Bd. 4, S. 102.

GefängniSrecht und Recht der Fürsorgeerziehung.

91

verwirklichte er in Moabit das pennsylvanische System der Einzelhaft, deren Zweck er in Ver­ hütung der Verschlechtemng, wie sie aus Gemeinschaftshast folge, nicht freilich in der ihm un­ erreichbar scheinenden Besserung sah. Die von ihm beabsichtigte Durchfübrung der E i n z e l hast in ganz Preußen ist ihm nicht gelungen. Sie inzwischen verwirklicht zu haben, ist das grundlegende Verdienst Karl Kröhnes, der das Gefängniswesen im preußischen Ministerium des Jnnem von 1892- 1913 verwaltet hat. Wenn er zum Ruhme Wicherns gesagt hat, mit diesem sei ,.in die Gefängnisverwaltung Geist gekommen", so hat die Ära Kwhne des Geistes viel hinzugefügt; und sie hat ihn, was noch mehr ist, bei Aufrechterhaltung der erfockeckichen Manneszucht, bei peinlicher Durchfühmng von Ordnung und Sauberkeit in den Anstalten, mit menschlichem Verständnisse für das Los der Gefangenen zu verbinden gewußt. In seiner Zeit ist eine so gwße Zahl von Zellbauten ent­ standen, daß einer der offiziellen Berichte des Ministeriums des Jnnem mit berechtigtem Stolz sagen konnte, es sei die Zahl der verfügbaren Einzelzellen nunmehr ausreichend und «in weiterer Zellenbau vorderhand nicht nötig. Der Stmfvollzug des preußischen Justizministeriums hat gleichfalls wesent­ lichen Ausbau erfahren; seine Fortschritte sind um so höher einzuschätzen, als sie durch die gwße Zahl von kleinen Gefängnissen und von kurzzeitigen, also rasch wechselnden Gefangenen erschwert worden sind. Noch vor der Vollendung von Moabit war unter dem Einflüsse L. vonJagemanns, der auch wieder in Amerika seine Anregungen empfangen hatte, eine badische Zellstwfanstalt in Bruchsal 1848 errichtet worden. Sie hat lange die Bewundemng der Be­ sucher aus aller Herren Ländem gefunden, die sie der Einzelhaft gewann, und hat den Anstoß zu deren Durchfühmng in Baden selbst gegeben. Auch in Württemberg und im GroßherzogtumHessen ging man daran, die Einzelhaft zum Stmfvollzugssystem zu machen. Dagegen hielt man sich in B a y e r n ihr gegenüber zurück. Das Königreich Sachsen schuf ein englischem Bordild angelehntes System der Klassifikation mit Elementen eines Pwgreflivsystems; der Einzelhaft fiel dabei die Stelle einer Disziplinarstrafe zu.

IV. Der jetzige Stand des Strafvollzuges. 8 4. Deutschland. a) Quellen. Die Grundlage des im Reiche zurzeit bestehenden Freibeitsstmfenvollzuges bilden die Bestimmungen des Reichsstmfgesetzbuches in §§ 14 ff. über die wichtigsten unserer Freiheits­ strafen, Zuchthaus und Gefängnis, geben im wesentlichen nur drei Paragraphen Auskunft: § 15, der für Zuchthaus obligawrische Anhaltung zu den eingesührten Arbeiten, also Arbeitszwang ohne Individualisierung vorschreibt; § 16, der bei Gefängnis fakultative und auf Verlangen des Gefangenen obligatorische Anhaltung zu einer seinen Fähigkeiten und Berhältniffen angemessenen Beschäftigung anorbnet, und § 22, der Einzelhaft bei Zuchchaus wie Ge­ fängnis für zulässig erklärt, und zwar bis zu drei Jahren ohne Zustimmung des Gefangenen. Dazu kommen noch einige Vorschriften übet Außenarbeit, zu der Zuchthausgefangene ohne weiteres, Gefängnisinsassen nur mit ihrer Zustimmung herangezogen wecken können, über vorläufige Entlassung, Jugendliche usw. Im übrigen bemht der Freiheitsstrafenvollzug in Deutschland wesentlich nicht auf Reichsgesetz, ja übechaupt nicht auf Gesetzen, sondem auf Vewcknungen, die der Zustimmung der BolEvertretung nicht bedürfen. Dese Vewcknungen wieder sind in Preußen nicht königliche, sondem ministerielle. Ja, sie sind hier nicht einmal einheitlich-ministerielle, sondem — als eine Folge des uns bereits bekannten Dualismus der Gefängnisverwaltung (oben S. 90) — die eine vom Minister des Jnnem, die andere vom Minister der Justiz erlassen. In Bayem und Baden sind es im Gegensatze zu Preußen nicht ministerielle, sondem landesherrliche Vewcknungen. Die Gesamtlage aber ist die, daß die deutschen Einzel­ staaten, voneinander unabhängig, durch bloße Vewcknungen, also ohne ihre Volksvertretung,

92

Berthold Freudenthal.

über den Inhalt und den Vollzug der Freiheitsstrafe insoweit verfügt haben, wie die dürftigen Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuches, zu denen noch die eine und andere der Straspwzeßordnung tritt, nicht reichen. Die Folge davon ist, daß die durch das Strafgesetzbuch für das Reich hergestellte Einheit der Freiheitsfkasen in deren Vollzüge nicht besteht, und doch kommt es auf ihn als auf die Verwirklichung des vom Richter ü chängten Rechtseingriffes schließlich an: „Ein zu Gefängnisstrafe Verurteilter verbüßt unter Umständen eine härtere Strafe als ein Zuchthaus­ gefangener, der von seinem Schicksal in einem Lande mit milderem Regime ereilt Wick" s Ober­ regierungsrat Roßmy). Das natüttiche Bedürfnis nach Vereinheillichung des Vollzugsrechtes hat zwar zu dem im Reichsjustizamt ausgeackeiteten und nach Beratung in einer Sachverständigen-Kommission 1879 von der R ichsregierung dem Bundesrate vorgelegten Entwurf eines Reichs­ gesetzes über die Vollstreckung der Freiheitsstrafen geführt. Ihm zu­ folge sollten die Freiheitsstrafen Zuchchaus und Gefängnis mit Einzelhaft beginnen. Er ist aber schon im Bundesrate gescheitert. Der Gmnd war nicht ausschließlich, wohl aber in erster Linie ein finanzieller: Der Aufwand selbst für eine „nur beschränkte Durchführung der Einzel­ haft" war im ganzen auf 115 Mill. Mark angesetzt wocken, von denen auf Bayern allein 33 bis 35, auf Sachsen 11—12 Mill. Mark entfielen. Im Bundesratsausschusse für Justizwesen war deshalb die obligawrische Einfühmng der Einzelhaft als erstes Stadium des Vollzuges von Zuchchaus- und Gefängnisstrafe durch eine Mehcheit gestrichen wocken, der unter u. a. die Regierungen von Bayern, Württemberg, Hessen und Braunschweig angehötten. Auch der preußische Finanzminister hatte durch Votum vom 4. Febr. 1880, als es sich um die Jnstmktton der preußischen Bundesratsbevollmächttgten handelte, Bedenken geäußert, „die Finanzkraft des Staates auf lange Jahre in außerockentlicher Weise engagiett" zu sehen, zumal „die An­ sichten der Sachverständigen über das Maß und Ziel der Gefängnisreform erheblich auseinander­ gehen". Es erscheine bedenllich, „so enorm kostspielige Einrichtungen auf Beschlüsse zu basieren, deren Prämissen immerhin kontestabel sind". So ist die Vorlage gar nicht mehr an den Reichstag gelangtx. Es war ein gewisser Ersatz der gesetzlichen Regelung, daß sich 1897 die Bundesregiemngen auf eine Reibe von „Grundsätzen" einigten, „welche bei dem Vollzüge ge­ richtlich erkannter Freiheitsstrafen bis zu weiterer gemeinsamer Regelung zur Anwendung kommen" sollten (Zentralbl. f. d. D. Reich 1897 S. 308 ff.). Dabei wurde die Vorlage von 1879 in der Fassung des Bundesratsausschusses für Justizwesen zugrunde gelegt. Ausgeschieden wurden, der amllichen Begründung zufolge (Nr. 54 Session von 1896), „alle Bestimmungen, hinsichtlich deren die Zulässigkeit des Verordnungsweges zweifelhaft" erschien. Folgerichtig trat man dem von v. Iage mann gemachten Vorschläge, sie „inhaltsreicher zu gestalten", nicht näher, „weil das über den Rahmen der Vewcknung hinausgehe und nur im Wege der Gesetzgebung festgestellt wecken könne" (Aktennotiz d. Min. d. Inn. vom 29. Juni 1896). Immerhin ist die große Zahl von einzelstaatlichen Verordnungen, die nachher ergingen, auf diesen „Grundsätzen" aufgebaut. So in erster Linie die preußischen Verordnungen, nämlich dieDienstordnungfürdiedemMinisteriumdesJnnernunterst e l l t e n ©trafon ft alten (d. i. Zuchthäuser) und großen Gefängnisse vom 14. Nov. 1902 (2. Aufl. 1906) und die Gefängnisordnung für die Justizverwaltung vom 21. Dez. 1898; sowie die bayerische Hausordnung für die Strafanstalten vom 20. Sept. 1907. Insgesamt sind es 59 verschiedene Ocknungen, die in den deutschen Einzelstaaten den Strafvollzug regeln. Die alte Kleinstaaterei ist also im deutschen Gesängniswesen des 20. Jahrhunderts noch nicht beseitigt.

• Die Einzelheiten danke ich der durch Güte des Herrn Geheimrat Kröhne mir gewährten Einsicht in die betreffenden Akten des Ministeriums des Innern. Siehe insbes. Nr. 5 der Drucks, d. Bundesrates für 1879/80 S. 2 ff.

Gefängnisrecht und Recht der Fürsorgeerziehung.

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b) Anstaltsarten. I. Vielfach wird nach dem Zwecke der Gefängnisse zwischen Zivil», Polizei und Kriminalgefängnissen unterschieden. Dabei sind unter Zivilgefängnissen die der Vollziehung von Straf» und Zwangshaft gegen Zeugen und Parteien dienenden Anstalten gemeint. Polizeigefängnisse nehmen Personen zu deren eigenem Schutz oder zur Aufrechtechaltung der öffentlichen Sittlichkeit, Sicherheit und Ruhe auf. Kriminalgefängnisse endlich sind entweder als Untessuchungs- oder als Stmfgefängnisse zu verstehen. Diese ganze Scheidung aber ist von geringem praktischem Werte, weil sie nicht durchgeführt wird: Statt in Zivil­ gefängnissen wird die Straf» und Zwangshaft gegen Prozeßbeteiligte meist in StrafgefängNissen, die Untersuchungshaft vielfach in denselben Anstalten wie die vorläufige Festnahme vollzogen. Dagegen lassen sich nach den Einliefemngsbezirken Landes», Provinzial», Be­ zirks-, Kreis-, Ortsgefängnisse usw. unterscheiden, wobei die Namen nicht überall die gleichen sind. Doch erfolgt die Anlieferung keineswegs bloß nach solchen geographi­ schen, sondern auch nach Gesichtspunkten des Wters, der Konfession, der Vorstrafen, der Straf­ dauer usw. Die wichtigste Einteilung ist die in Gefängnisse und Zuchthäuser over, wie deren offizieller Name in Preußen lautet, Stmfanstasten. Freilich kommt es vor, daß eine und dieselbe Anstalt sowohl Zuchthaussträflinge wie Gefangene beherbergt, wodurch im Urteil deS Bolles leicht eine Verwischung des Unterschiedes beider Stmfarten Platz greift. Es sind aber beispielsweise beim preußischen Ministerium des Jnnem jetzt im ganzen nur noch vier Anstalten vorhanden, die beide Strafen zugleich vollziehen. II. Für die Strafe der H a f t besteht keine besondere Art von Anstalten. Sie wird viel­ mehr in Gefängnissen veckiüßt. Dagegen roitb die Strafe der Festungshaft — als custodia honesta — in Festungen oder in anderen dazu bestimmten Räumen vollstreckt. III Im Boidergrunde des Interesses steht die nach der Haftform gemachte Scheidung von Zell» und Gemeinschaftsanstalten. Jenen ist Einzelhaft bei Tag und Nacht, diesen Gemeinschaftshaft bei Tage mit regelmäßiger nächllicher Trennung als Form der Strafverbüßung eigen. Die Zahl der Anstalten überwiegt aber, in denen sowohl Ein­ richtungen für Einzelhaft wie Gemeinschaftsräume vochanden sind. Denn einerseits sind auch in Zellgefängnissen Gemeinschaftsräume allein deshalb unentbehrlich, weil es überall Gefangene gibt, die nicht in Einzelhaft beschäftigt werden können. Anderseits können auch in Gemein­ schaftsanstalten Zellen, vor allem aus psychischen und disziplinären Gründen, nicht ganz entbehrt werden \ Die ganze Frage der Zell- oder Gemeinschaftsanstalten steht im Zusammenhänge mit den in unserem geltenden Recht anerkannten Voltzugsformen. Das Reichsstrafgesetzbuch nämlich hat bestimmt (s. oben S. 91), daß Zuchthaus- und Gefängnisstrafe, für die ganze Dauer wie für einen Teil, in Einzelhaft vollstreckt weiden kann, derart, daß der Gefangene unausgesetzt von anderen Gefangenen gesondert gehalten wird. So besteht nebeneinander Vollsträkung

in Gemeinschafts- und in Einzelhaft. Freilich sind in Preußen seit 1874 vom Ministerium des Jnnem alle neuen Anstalten nach dem System der Einzelhaft errichtet rootbcn, und auch in den alten hat man die Gnzelzellen tunlichst vermehrt. Dabei ist der Gmndsatz der, in Einzelhaft die Untersuchungshaft und einfache Strafhaft, femer aber die Gefängnisstrafen, sowie bei Jüngeren und Erstmaligen auch die Zuchthausstrafe zu vollstrecken. Das hier zugrunde liegende Prinzip geht auf die uns be­ kannte Jnifiative Friedrich Wilhelms IV. zurück (s. oben S. 90). Die Verwaltung des preußischen Justizministeriums hält seit langem, wie berührt, die gleiche Entwicklungsrichtung. In Baden ist Einzelhaft „für alle Strafhäuser, Straf- und Sträflings­ arten durchgeführt außer für Kranke und Professionsdelinquenten" *. Württemberg und Hessen haben die Einzelhaft gleichfalls mehr und mehr verwirklicht, während die bayerische Ent1 ft lein, S. 20. ' E. v. Iag emann in Z. 34, 332 A. 4.

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Wicklung etwas langsamer vor sich geht. Auch die Hansastädte, sowie Mecklenburg und Olden­ burg besitzen Zellgefängnisse. Ten Gefahren der Gemeinschaftshaft, die Kröhne einst als Ausbildung im Verbrechen auf Staatskosten, von Lilienthal' als „ältestes und verwerflichstes" System gekenn­ zeichnet hat, sucht man durch nächtliche Trennung zu begegnen, und zwar womöglich in Schlaf­ zellen, sonst in Schlaflosen. Das mit der Gemeinschaftshaft verbundene, ihre Durchführung ermöglichende Schweigegebot besteht in Preußen noch allgemein. In Baden ist es während der Mahlzeiten aufgehoben. Daß es für zahlreiche nun einmal zusammenlebende Menschen unnatürlich, nur durch unaufhörliche Bestrafungen aufrechtzuhalten, und daß es selbst dann noch eine einzige „offizielle Lüge", weil tatsächlich undurchführbar ist, hat vor Jahrzehnten schon Michern und in neuerer Zeit u. a. Kröhne unumwunden ausgesprochen. IV. Eine neue Gefängnisart wird — ein letztes Verdienst Kröhnes und eines seiner größten — in dem Jugendgesängnisse des preußischen Ministeriums des Innern in Wittlich an der Mosel erprobt1 2. 3 *Es * * ist am 1. August 1912 eröffnet und verwertet, unter selbständiger Anpassung an deutsche Verhältnisse, amerikanisch­ englische Strafvollzugserfahrungen für Gefangene zwischen 18 und 21 Jahren mit einer Strafzeit von einem Jahre oder mehr. Es baut bei vollster Wahrung des Charakters als Straf­ anstalt seinen progressiven Strafvollzug in drei Stufen auf; nur wer sich in der unteren be­ währt hat, wird in die höhere befördert. Die Aussicht auf deren Vergünstigungen wirkt so stack, daß Disziplinarstrafen bisher kaum nötig waren. Tas Ehrgefühl wird peinlich geschont; auch fiskalische Gesichtspunkte treten tunlichst zurück: Der Freiheitsstrafe werden ihr fremde Elemente von Ehren- wie von Vermöge ns st rase ini Vollzüge ferngehalten. Durch Stählung des Körpers, sorgfältigen Schulunter­ richt und Ausbildung in — wenn möglich — mehr als einer gewerblichen Beschäftigung sollen die Voraussetzungen für ein bürgerlich einwandsfreies Leben geschaffen werden 8.

c) Bauten und Beamte *. I. Die technischen Anfordemngen an einen Gefängnisneubau nach den derzeitigen Erfahrungen hat von Engelberg8 dahin zusammengefaßt, daß er „sicher, übersichtlich und gesund" sein müsse. Der Bauplatz muß, so führt er aus, frei liegen und für Bewegung der Gefangenen, wo möglich auch für ihre Beschäftigung mit ©orten- und landwirtschaftlichen Arbeiten, sowie zur Schaffung von Beamtenwohnhäusern gwß genug sein. Der Gefängnis­ bau muß auch bei durchgeführter Einzelhaft neben ausreichend großen und gut lüftbaren Zellen Gemeinschaftsräume für Gefangene, die die Einzelhaft nicht vertragen, enthalten. Der einzelne Gemeinschaftssaal darf keine zu gwße Zahl fassen und muß genügend Luft bieten; bei Nacht muß überdies jedem Gefangenen eine eigene Schlafzelle zur Verfügung stehen. Die Wirtschaftsgebäude, wie Küche, Bäckerei usw. werden vom Hauptgebäude getrennt. Das Gleiche gilt vom Krankenhaus, in dem tuberkulösen und geisteskranken Gefangenen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Kirche muß durch ihre Bauart erhebend Wicken. Für Schulen und Bibliotheken sind genügend umfassende Räume vorzusehen. Was die Arbeiten für den Neubau wie den Umbau von Anstalten betrifft, so führt man sie in Preußen in wachsendem Maße durch die Gefangenen selbst aus. Die Folge davon ist eine sehr erhebliche Kostenersparnis. Die Bauten werden vom Ministerium des Jnnem gmndsätzlich für nicht über 550 Männer oder 300 Frauen eingerichtet; das der Justiz unterscheidet nach der Größe vier Gmppen von Anstalten. 1 v. Lilienthal, Grundriß z. Borl. über d. Strafrecht, 3. Ausl., 1908 S. 49. * Dieser Versuch geht aus meine Denkschrift für den Min. des Inn. bett, die Errich­ tung eines Jugendgesängnisses zurück (abgedruckt in A s ch a s f. Monatsschr. f. Krim. Psych. 9, 577 ff.). 3 Näheres DIZ 18, 134 ff. und Janisch im Arch. f. Rechts- u. Wirtsch. Philos. Bd. 6 Hest 4, besonders aber neuerdings die Etat. d. Min. d. Inn. s. 1911 S. XXV. * Siehe Kröhne und Uber, Strasanst. u. Ges. in Preußen 1901. * v. Engelberg, Gerichtssaal 68, 271.

Gesängnisrecht und Recht der Fürsorgeerziehung.

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Die Anlage ist überall panoptisch — nach dem von B e n t h a m im 18. Jahrhundert erfundenen Plane. Tie Zellen liegen an der Außenseite des Gebäudes, nicht wie in Amerika (back-to-back System) an der Innenseite der Gänge. Jene Anordnung hat den Vorzug, unmittelbaren Zufluß von Licht und Luft zu gewähren, diese den Vorzug größerer Wärme und Sicherheit sowie der Ermöglichung des Baues eines — vom Standpunkte der Bewirt­ schaftung brauchbaren — Ganges zwischen den Zellreihen an deren Rückseite. Ein neuer Bautyp wird zurzeit in Jolliet (Illinois) erprobt. Bei ihm ist die europäische Außenlage der Zellen verbunden mit der Einführung von Glastüren vor den Zellen, so daß, von einem zentralen, stählemen Kommandoturme, der dem eines Kriegsschiffes ähnelt, nicht nur der Überblick, sondem auch der Einblick in die Zellen jederzeit möglich ist (f. Näheres in Survey 27, 1574).

II. Tüchtige Aufseher zu beschaffen, erfordert große und immer wachsende An­ strengungen: „Der Dienst ist schwer und wird knapp bezahlt" (Klein). Um geeignete D i r e k t o r e n für die wichtigsten Zellgesängnisse zur Erziehung Jüngerer und Erstmaliger zu gewinnen, hat das preußische Ministerium des Innern „gehobene" Direktor­ stellen geschaffen; für sie ist Befähigung zum höheren Staats- oder Kirchendienste Voraus­ setzung. Sie sind mit Juristen, Ärzten, Geistlichen besetzt. Die übrigen Mrektoren sind, im Gegensatze zu Bayern und Württemberg, wo sie durchweg Juristen sind, in Preußen über­ wiegend ehemalige Offiziere oder Unteroffiziere. Die Ausbildung erfolgt wesenllich im praktischen Dienst. Eigentliche theore­ tische Fachbildung fehlt in Preußen wie anderswo. Nirgends vielleicht wird der Strafvollzug mit mehr Recht für reformbedürftig erllärt als in diesem entscheidenden Punkt. Es bedarf einer Fachschule für Gefängnisbeamte, wie sie Japan 1890 begründet hat. Ihre Kurse dauem ein Jahr, die Jahreskosten betrugen 1899/1900 mnd 200 000 Mark *. Es fehlt ferner an einer Laufbahn der Gefängnisbeamten, wie sie in der Verwaltung sonst besteht: Das Verhältnis des Staates zu den Gefängnisbeamten bedarf verwaltungsrechtlicher Durchbildung; in beiden Fragen, der der Lauf­ bahn wie der Vorbildung besteht bisher kein Zusammenhang von Gefängnis­ wesen und Verwaltungsrecht. III. Durch Aufsichtskommissionen sucht man hie und da das Laienelement in gewissem Umfange zur Aufficht über die einzelne Anstalt heranzuziehen.

d) Schulen, Seelsorge, Arbeit mtb Disziplin. I. Nach den Bundesratsgrundsätzen von 1897 besteht S ch u l p f l i ch t für Jugendliche, die mehr als sieben Tage im Gefängnisse sind, unbedingt; für Gefangene bis zu 30 Jahren bei mindestens dreimonatiger Strafzeit „tunlichst". Begreift der Unterricht, über die allgemeine Schulbildung hinaus, etwa auch Naturwissenschaften und Sprachen, so nimmt der gebildete Gefangene an ihm gleichfalls teil. Die für die Wirffamkeit des Strafvollzuges höchst be­ deutungsvollen Gefängnisbibliotheken sind zum Teil nur spärlich dottert. II. Überall ist für die Befriedigung des religiösen Bedürfnisses und die Einschaltung der starken, in der Religion liegenden Erziehungsfaktoren Fürsorge getroffen. „Keinem Gefangenen toirb der Zuspruch eines Geisllichen seines Bekenntnisses versagt" (Bdesr. Grds. § 28). Gewissenszwang findet nicht statt. In der Regel ist nur die Beteiligung am Gottes­ dienste vorgeschrieben, die Teilnahme an Beichte und Abendmahl freigestellt. III. Gearbeitet wich entweder im Staatsbetriebe (Regiebetrieb), bei dem staat­ liches Rohmaterial vom Gefangenen bearbeitet und dann vom Staate selbst verwertet wich; oder im Unternehmerbetriebe (Entreprise), bei dem der Staat die Acheitskrast des Gefangenen an Untemehmer vermietet, — ein bedenkliches System, weil es Dritten Einfluß auf den Vollzug gewährt' —; oder schließlich im A k k o r d b e t r i e b e, bei dem der

1 Siehe Ogawa und T o me o l a in: Okuma, 60 Years of New Japan, 1910 S. 304ff., des. aber Stufen (unten S. 101 A. 1) S. 31. * So auch von Liszt, Gefängnisarbeit 1900 S. 9.

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Gefangene mit dem Untemehmer nichts zu tun hat; hier gehen die Rohstoffe des Unter­ nehmers nach Berackeitung im Gefängnis an diesen zurück, wofür der Arbeitslohn als Stücklohn an die Anstalt gezahlt wich. In erster Linie wird für den Bedarf der Anstalt selbst, in zweiter für Reichs- und Staatsbehöcken gearbeitet, — neuerdings u. a. durch die für den Fiskus ergiebige Verwertung des Militär-Altmaterials; durch sie hofft man der freien Arbeit möglichst geringe Konkurrenz zu machen. Landeskulturarbeiten wecken, z. T. in sogenannten „Freiluftzuchthäusern", mit gutem Erfolge stark betrieben (Moorkulturen, Flußreguliemngen, Weinbergsackeiten usw.). Der nach alledem veckleibende Teil von Gefangenen, der beim preußischen Ministerium des Jnnem 1908 nur noch 17,63% gegen 73% im Jahre 1868 umfaßte, wick im öffent­ lichen Ausgebot an Unternehmer vergeben. Dabei Wick zum Schutze der freien Arbeit der Verteilung auf verschiedene Untemehmer und Industrien Aufmerksamkeit geschenkt. Nur 6,3 % sind in den Anstalten des Ministeriums des Jnnem mit „Verlegenheitsarbeiten", wie Sacknähen, Federreißen usw. beschäftigt. Der Anteil am Ackeitsertrage, der dem Gefangenen gutgeschrieben Wick, ist nach den geltenden Bestimmungen als freies Geschenk zu betrachten, auf das kein Recht besteht. Eine Auffassung, die sich aus der Zeit erhalten hat, da er schlechtweg als Ersatz der Strafvollzugs­ kosten vom Staat einbehalten wucke. Sie steht im Gegensatze zur Auffassung des Strafvollzuges alsRechtsverhältnis, derzufolge ein vollwertiger Ackeitslohn der Leistung ent­ sprechen muß, damit nicht zur Freiheitsstrafe im Vollzug eine Vermögensstmfe hinzu­ gefügt wecke (s. oben § 2 III Abs. 3). IV. Die Disziplin armaßregeln* sind von den Gmndsätzen des Bundesmts im ganzen, bei aller notwendigen Energie, in milder Weise geordnet Die wichtigste ist die „einsame Gnsperrung". Die Prügelstrafe, gegen die das Reichsjustizamt schon 1895 Bedenken geäußert hat, ist, wo sie vorher bestand, aufrecht erhalten geblieben. „Wird . . . ockonnanzmäßig . . . geschlagen, so muß beim fünften Hiebe die angespannte Haut platzen und jeder folgende Hieb klatscht in die blutige Masse In den An­ stalten des preußischen Ministeriums des Jnnem beschränkt sie sich aber auf männliche Zucht­ hausgefangene, auf den Fall tätlichen Vergreifens an Beamten und auf 30 Hiebe im Höchst­ maße. 1908 ist nach dem offiziellen Berichte von ihr kein Gebrauch gemacht wocken, 1911 im Ganzen fünfmal. Sie steht also auf dem Aussteckeetat. In Bayem, Württemberg, Baden ist sie abgeschafft. Mit Recht, denn sie veckickt alle Teile, den Gefangenen, den Prügelnden, wie den Exekutionsleiter und bringt die übrigen Anstaltsinsassen in inneren Gegensatz zur Verwaltung. Sachsen kennt noch den bedenklichen * Lattenarrest und engen Arrest. V. Das Gegenstück der Disziplinarmittel, die vorläufige Entlassung*, wird in Preußen verhältnismäßig wenig angewandt. Unter den von einer Beamtenkonferenz befür­ worteten Anträgen wucken 1911 35,2% durch den Justizminister abgelehnt. Die Folge ist, daß die Hoffnung auf vorläufige Entlassung im Vollzüge nicht so stark wirkt, wie sie sollte. In Baden macht man von ihr stärkeren Gebrauch. Der enorme Unterschied „kann nicht darauf bemhen, daß die Gefangenen Preußens so viel schlechtere Menschen wären" (E. von I a g e mann). Überdies wird sie in Baden für Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr, einer An­ regung E. von Jagemanns gemäß, durch die int Gnadenweg erfolgende Beurlau­ bung aus Wohlverhalten ergänzt. Diese ersetzt man in Preußen neuerdings durch bedingte Aussetzung eines Strasteiles. VI. Beschwecken über die Art der Strafvollstreckung entscheidet die Verwaltungsbehörde. Richterliche Entscheidung, wie sie insbesondere zur Vermeidung von Mißtrauen verlangt wird, würde dem Wesen des Strafvollzuges als Rechtsverhältnis entsprechen.

1 • ' • Z. 34,

Siehe dazu Salomon in Aschaffenburgs M. f. Kr.-Ps. 9,6ff., sowie Klein 3.33,653. Zitiert nach Kröhne, S. 354 f. F. Leppmann, Der Gesängnisarzt, 1909 S. 46. Ihre erste Einführung ist das Verdienst v. Holtzendorffs (f. E. v. Jagemann, 349).

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8 5.

Ausland, insbesondere amerikanisches Reformsystem und seine Verbreitung.1

I. Seit in Amerika die Einzelhaft der mit Schweigegebot und nächtlicher Trennung verbundenen Gemeinschaftshaft unterlegen ist (oben S. 89), hat dort, neben zum Teil elenden kleinen Gefängnissen (Jails) und zum Teil allen Staatsgefängnissen (State Prisons), die etwa unseren Zuchthäusern entsprechen würden, sowie neben nicht bemerkenswerten mittleren Gefängnissen (Penitentiaries) ein neues System Gngang gefunden, das als Besserungs­ system (Reformatory System) bezeichnet wird. Trügt nicht alles, so ist es ein System der Zukunft für uns, wie für die Kulturwell überhaupt. Schon seit 1825 bestanden in den Vereinigten Staaten für Jugendliche, im allgemeinen zwischen 7 und 15 oder 16 Jahren, Besserungsschulen (Reform Schools), die etwa unseren Fürsorgeerziehungsanstalten entsprechen, jedenfalls keine Strafanstalten sind. Ihr Erziehungsprinzip ist seit dem ersten amerikanischen Gefängniskongreß in Cincinnati von 18701 auf ältere Jugendliche ausgedehnt worden, nämlich bis zu 25, 30, ja 40 Jahren. Für sie hat man einen neuen Typus von Gefängnissen, die Besserungsgefängnisse (Reform Prisons, Reformator!es) geschaffen. Das erste war das Reformatory eines kleinen Landstädtchens im Staate Neuvork, Elmira. Durch dessen Gründung und jahrzehntelange Ausgestaltung hat sich Zacharias R. Brockway unvergängliche Verdienste errungen. Es ist bald in anderen Staaten der Union nachgeahmt rootben. Unter ihren fortgeschritteneren Einzelstaaten ist jetzt kaum noch einer, der nicht sein Reformatory besäße. Überall liegt der Gedanke zugrunde, daß für jugendliche Gefangene besondereAnst a l t e n nötig sind, daß besondere A b t e i l u n g e n für sie innechcüb gemeinsamer Anstalten die notwendige Differenzierung und Spezialisierung nicht zulassen. Man ist bemüht, diese besonderen Strafanstalten für Jugendliche von den allgemeinen Gefängnissen alten StiE tun­ lichst zu trennen. Die in diesen geübte Vergeltung setzt man nachdrücklich in Gegensatz zu der in jenen erstrebten Erziehung und Besserung, — wenn nicht aus anderem Grunde, so aus dem rein prakttschen, daß es leichter sei, die nach allen Seiten ihres Wesens durchgebildeten Insassen eines Reformatory nach der Entlassung in Stellung zu bringen, als wenn sie mit Gefangenen im alten Sinn identifiziert würden. Aber anderseits wich auch von den Reformschulen (Fürsorgeerziehungsanstalten) scharfe Trennung den Reformgefängnissen gegenüber erstrebt, und zwar hier deswegen, weil diese Reformgefängniffe eben immer, auch in der Auffassung des Volkes, durchaus Straf­ anstalten sind, während man jenen Erziehungsanstalten auch den Schein pönalen Charakters femhält. Der Unterschied in der Erziehungsacheit von Reformschulen und Reformgefängnissen liegt darin, daß diese Freiheitsstrafe vollziehen, also die Freiheit des Insassen beschränken wollen, jene als reine Erziehungsanstalten solche Freiheitsbeschränbmg nicht um ihrer selbst willen, sondern nur insoweit herbeiführen, wie sie vom eigenllichen Erziehungszwecke nicht zu trennen ist. Schärfer sind demgemäß Zucht und Zuchtmittel im Reformgefängnisse. Reformschulen wollen den noch nicht gebildeten Charaller des noch nicht 16 jährigen Übeltäters bilden, Reform­ gefängnisse dagegen den schlechtgebildeten Charakter des über 16 jährigen verbessem; jene be­ trachten formation, d. i. Bildung, diese reformation, d. i. Umbildung, als ihre Aufgabe. Solche Umbildung freilich ist nicht in einem rein innettichen Sinne gemeint, wie es Bessemng im Sinne des alten kirchlichen Strafvollzuges oder des pennsylvanischen Systems war (s. oben S. 84 und 88). Mcht so sehr innere oder moralische oder religiöse, als viämehr 1 Zur Begründung des Folgenden s. Freudenthal, Amerik. Kriminalpol. 1907 und Ders., Unbestimmte Verurteilung in Bergl. Darstell. Deutsch, u. ausl. Straft., Allg. Teil, Bd. 3 1908 S. 282 ff. * Die bahnbrechenden Thesen des Aongr. in Cincinnatt find von F. h. Wines, dem Sohne ihre» Redaktors E. T. W i n e », abgedruckt in Corr, and Prev., Bd. I: Pris. Bef. S. 39 ff. Einen Auszug in deutscher Übersetzung gibt Baernreithers ausgezeichnete» Werk über Jugendfürsorge u. Straft, i. d. Ber. St. 1905 S. 91. Enzyklopädie der RechtSwtfsenfchaft.

7. der Reubearb. 2. Aufl.

Band V.

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äußere oder bürgerliche oder staatliche Besserung wird erstrebtl. Umbildung des sozialen Schädlings zum nützlichen Menschen, des Verbrechers zum gesetzlich lebenden Staats­ bürger ist die Aufgabe. Als gebessert toitb betrachtet, wer sich und die ©einigen auf ehrliche und gesetzliche Weise erhält. Freilich sind hierin, wie nicht weiter ausgeführt zu werden braucht, eben auch reiche innere und ethische Werte eingeschlossen. Ein Strafvollzug, der in diesem Sinne bessern will, darf sich nur an Besserungs­ fähige wenden. So werden schon in der Hauptverhandlung vom Richter dem Bessemngsgefängnis allein die zugewiesen, die er für noch umbildungsfähig hält. Tie anderen stößt er ab, und zwar die Abnormen an eine Krankenanstalt, die Normalen an ein Gefängnis alten Stiles: Tie besserungsfähigen jugendlichen Verbrecher dem Reform­ system, die besserungsunfähigen dem alten Sy st em der Staats­ gefängnisse! Findet man erst im Strafvollzüge heraus, daß Erziehung nicht möglich sei, so ist dann immer noch die Übertragung (transfer) in eine Anstalt anderen Systems möglich. Die Gmndlage der bessernden Strafbehandlung des Reformgefängnisses wird in ein­ gehenden Jntewiews des Direktors mit den ihm neu Eingelieferten geschaffen. Sie erstrecken sich weniger auf die begangene Straftat, als vielmehr aus deren soziale und individuelle Ursachen. Damit wird die Jndividualisiemng erst möglich, durch die der Erfolg der demnächst beginnenden Umbildung bedingt ist. Diese Umbildung umfaßt Körper, Verstand und Charakter zugleich2. Für die Entwicklung des Körpers dient kräftige und reichliche Kost, Bäder, Tumen, Sport und militärisches Exerzieren in Anstaltsregimentem. Der Verstandesausbildung sind allgemein» wissenschaftliche und besondere berufstechnische Kurse gewidmet. Zugleich sorgt man dafür, daß die Gefangenen nicht, wie vielfach in dem alten Systeme, durch Abschließung von der Außen­ welt stumpf und ihr ftentb werden. Maueranschläge über wichtige Tagesereignisse, von den Gefangenen selbst redigierte Anstaltszeitungen, ausgezeichnet ausgestattete Bibliotheken, De­ battierabende usw. wirken nach dieser Richtung. Der Gmndsatz der Charakterbildung endlich ist, daß der Wille des jungen Verbrechers im allgemeinen zu schwach und deshalb zu stählen, nicht wie es im alten System oft geschah, zu brechen ist. Diese Stählung aber erfolgt, indem man ihm Vertrauen schenkt und ihn gleichzeitig Versuchungen aussetzt. Beidem, der Verstandes» wie der Willensbildung, dient endlich die R e l i g i o n. Sie ist in These 9 des Gefängniskongresses in Cincinnati (f. oben S. 97) das wichtigste Besserungsmittel genannt worden, weil sie „das mächtigste in ihrer Mrkung auf des Menschen Herz und sein Leben" sei. Diese Stellung im Reformsystem hat sie noch jetzt. Dem Ziele so umfassender Umbildung dienen drei tief eingreifende, dem Reformsystem eigene Einrichtungen: Progressivsystem, unbestimmtes Strafurteil und vor­ läufige Entlassung. 1. Die Anstalt besteht aus Klassen, regelmäßig drei an Zahl. Der Eintretende wird in die zweite Klasse ausgenommen. Bewährt er sich in ihr die vorgeschriebene Zeit hindurch — meist 6 Monate —, so steigt er zu der ersten auf. Versagt er, so wird er in die dritte degradiert. Je höher die Klasse, um so größer die Annähemng an die Freiheit. Wer sich in der obersten Klasse — im allgemeinen wieder 6 Monate — bewährt, kann vorläufig entlassen werden. Dabei muß durchweg die Bewährung im Strafvollzüge, die man fordert, auf drei Gebieten liegen, in der Schule, im beruflichen Unterricht und in der Disziplin. Sie wird ge­ messen durch ein Strichsystem (mark system), das man in Amerika vielfach als mathematisch exakt bezeichnet. In Wahrheit läßt es im Einzelfalle für die Würdigung der Veranlagung des Gefangenen, damit aber auch für freies Ermessen der Anstaltsverwaltung, den notwendigen freien Raum. Den Anspruch der Exaktheit erhebt es dann aber zu Unrecht. In der Regel ist 1 Ähnlich Sir E. Ruggles-Brise in seinem offiziellen Bericht über den Washingtoner Intern. Gef.-Kongreß von 1910 S. 3. * Die Howard Association, auf deren höchst lehrreiche Reports (London E. C. Devonshire Chambers, Bishopsgate) hier hingewiesen sei, berichtet für 1912 als Ergebnis anthro­ pologischer Untersuchung an etwa 3000 Gefangenen, daß der Verbrecher „an Größe, Gewicht und allgemeiner Intelligenz als unter dem Durchschnitt der freien Bevölkerung stehend" betrachtet werden müsse (S. 40).

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eine Abrechnung über den jeweiligen Stand jedem Gefangenen in seiner Zelle stets vor Augen. So spornt es zweifellos zu guter Führung und zur Vermeidung von Disziplinar­ strafen an. Im amerikanischen Reformsysteme tritt die E i n z e l h a f 1 völlig zurück. Sie hat da nur — außer disziplinärer Funktion — die Ausgabe, den Gefangenen während seiner Ruhepausen und bei Nacht zu bewahren, ist also gar nicht mehr Einzelhaft in unserem Sinne (s. oben S. 93). Die Ausbildung von Körper und Geist erfolgt in Gemeinschaftshaft. Auch mit dem englischen Systeme pwgressiver Folge von Einzelhaft, Gemeinschaftshaft und vorläufiger Entlassung hat das amerikanische Progressivsystem wenig oder nichts gemein. Nicht die Folge der Haftarten ist das dem System Charakteristische, sondem was in der Haft mit dem Ge­ fangenen angefangen wird. Diese positiven erziehlichen Einflüsse, denen man ihn mit aller Macht aussetzt, sind es auch, die das Bedenlliche der Gemeinschaft! haft überwinden Helsen. Nicht ist es das unnatürliche Schweigegebot, das in Amerika vielfach stark eingeschränkt worden ist. 2. Wie die Klasseneinteilung, so folgt zweitens dasunbestimmteStrafurteil' (indeterminate oder indefinite sentence) unmittelbar aus dem Erziehungszwecke. Mr aus­ nahmsweise toitb schon in der Hauptvechandlung, das ist sein Grundgedanke, der Richter bei Verhängung des Strafmaßes mit Sicherheit voraus sagen können, wann das Ziel der Um­ bildung des jungen Verbrechers zum nützlichen Menschen erreicht sein wird. Erst im Straf­ vollzug ist es möglich zu bestimmen, wann die Umbildung erfolgt ist. Mr dann ist es angängig, die geeigneten Maßregeln, die sich ergeben, mit Aussicht auf Erfolg zu ergreifen, wenn die erfockerliche Zeit für die Umbildung der Anstaltsverwaltung zur Verfügung steht. Das ist der Gedankengang, aus dem die Verurteilung hier nicht auf eine Freiheitsstrafe von bestimmter Dauer lautet, sondem zunächst gmndsätzlich in bloßer Überweisung an das Jugendgefängnis besteht. Die Entlassung aus ihm soll durch ein Entlassungsamt (parole board) dann erfolgen, wenn es die Gewähr für vollendete Umbildung zu einem brauchbaren Bürger als gegeben ansieht. Dem Schutze des Gefangenen gegen zu lange Freiheitsentziehung dient es, wenn dabei nach dem geltenden Recht Amerikas überall ein zeitliches Höchstmaß gesetzt wird, über das der Gefangene hinaus unter keinen Umständen in der Anstalt gehalten wecken darf. Er Wick also zur Überweisung an das Reformatory — etwa in Elmira —, jedoch auf nicht länger als — etwa fünf Jahre — vemrteilt. Die unbestimmten Stmfurteile Amerikas sind asso in Wahr­ heit relativ unbestimmte oder, wenn man so lieber will, relativ bestimmte. Me schon des öfteren (f. oben S. 89), haben wir auch hier Anlaß, aufdeutscheQuellen einer berühmt gewockenen amerikanischen Maßnahme mit Entschiedenheit hinzuweisen1 2. Un­ bestimmte Vemrteilung ist in verschiedenster Form dem deutschen Strafrechte früherer Jahr­ hunderte und bis in die Mitte des 19. Jahchundertes bekannt gewesen. Vor allem aber ist E. C. Wines, einer der Führer der amerikanischen Gefängnisreform, insbesondere auf dem Kongreß zu Cincinnati (f. oben S. 97 A. 2), nach dem Zeugnisse seines sachkundigen Sohnes F. H. Wines, durch den Deutschen Obermaier wesenllich beeinflußt wocken. Dieser hatte nur dank der damals in Bayem bestehenden unbestimmten Bemtteilung die zur Nach­ ahmung auffockernden Erfolge in seiner Anstalt ermngen und schon 1836 auf die unbestimmte Vemrteilung aufgebaute Besserungsanstalten in Vorschlag gebracht. 3. Den Stmfvollzug schließt enblid) vorläufige (oder bedingte) Entlassung ab. Sie ist aber nicht, wie bei uns, eine nur ausnahmsweise gewährte Vergünstigung, soickem ein durchaus regelmäßiger Bestandteil des Stmfvollzuges. Wer sich die vorgeschriebene Zeit in der Anstalt gut gefühtt und eine geeignete Stellung draußen in Aussicht hat, Wick vom Enllassungsamte, das zum Tell aus angesehenen Bürgem besteht, enllaffen. Diese Stellung aber besorgt ihm in der Regel die Anstalt selbst, seltener der Kreis seiner Freunde und Bekannten, an den er sich 1 Siehe hierzu Graf Gleispach in d. MonatSschr. f. Krim. Psych. 8, 346ff. und im Ber. ü. d. 7. Int. K. f. krim. Anthr.; vgl. auch Freudenthal, Unbest. Berurt.(oben 6.97 «nm. 1) S. 246 ff. • Den Nachweis f. bei Freudenthal a. a. O. S. 262; siehe aber auch C. G. Wächter, Strafarten, 1832 S. 60 ff. 7»

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wende» darf. Während der Probezeit untersteht er der Anstaltsaufsicht, d. i. wohl­ wollender Fürsorge, nicht Polizeiaufsicht alten Stlles. Diese Schutzaufsicht wird geübt durch Pfleger (parole officers), zumeist Beamte gemeinnütziger Gesellschaften, die mit polizeilichen Befugnissen ausgestattet sind. Nach erfolgreichem Ablaufe der Bewährungsfrist wird der Ge­ fangene endgültig entlassen. Straffe Zucht, schwere Arbeit, vor allem aber Abhängigkeit der Strafzeit von der eigenen Gesamtführung machen den Aufenthalt im Reformgefängnisse zu einem von Verbrechern ge­ fürchteten und geben ihm abschreckenden Charakter in höherem Maß, als ihn der Aufenchalt in Anstalten des alten Systems, insbesondere wegen der von vomherein be­ stimmten Strafdauer, besitzt. Dafür anderseits, daß nicht W i l l k ü r der Gesängnisbehörden über die Länge der Freiheits­ entziehung entscheidet, daß, anders ausgedrückt, nicht Berwaltungsjustiz an die ©teile richteckicher Strafzumessung tritt, roitb durch die Zusammensetzung der Enllaffungsämter gesorgt. Die Anstaltsverwaltung, in erster Linie der Direkwr, hat in ihnen vielfach nicht Sitz und Stimme, sondem ein bloßes Borschlagsrecht, während das richterliche Element in ihnen, und zwar in wachsendem Maße, Vertretung findet. Solche Enllaffungsämter ähneln etwa unseren Schöffen­ gerichten. Vielfach haben die drei Eigmtümlichkeiten des Reformsystems auch in Anstalten alten Systemes, die sogenannten State Prisons, Penitentiaries usw., Gngang gefunden, nicht überall freilich in organischer Weise. Die öffentliche Meinung und vor allem die Sachkundigen in Amerika sehen das neue Gefmtgnissystem als erfolgreich und bereits bewährt an, wiewohl wirklich umfassende Staats­ oder gar Unionsstatistiken hierüber (toie auch sonst vielfach) nicht vorhanden sind. Immerhin ist es ein deutliches Zeichen des Vordringens unseres Systems, daß es 1911 in 17 der angesehensten nordamerikanischen Einzelstaaten eingesührt war, daß kein Staat es je wieder aufgegeben hat, und daß drei Staaten mehr als ein Reformgefängnis geschaffen haben. Ila. Das Resormsystem Amerikas hat seinen Weg, wie nach dem benachbarten Kanada, so auch nach England gefunden. Hier ist es im Borstal System erfolgreich nach­ gebildet woü»en. Zunächst geschah dies lediglich int Wege der Verwaltung: Im Rahmen des ordent­ lichen Strafvollzuges wuche zuerst in Bedford, dann in Borstal bei Rochester (Kent) für Jugendliche zwischen 16 und 21 Jahren ein progressives System dreifacher, nämlich schulmäßiger, gewerblicher und körperlicher Ausbildung in drei Graden eingesührt. Aus dieser rein gefängnistechnischen Steuerung ist die Detention in einer Borstal-Anstalt durch die Prevention of Grüne Act von 1908 zu einer ordentlichen Freiheitsstrafe ge­ worden, als ein neues, gesetzlich anerkanntes Sonderstrafmittel für Jugendliche, die vom Gericht, an Stelle der ordentlichen Strafe, auf eine bestimmte Zeit, aber auf wenigstens ein Jahr und höchstens drei Jahre, einer Borstal-Anstalt zugewiesen werden können. Es ist neuerdings ein­ gehend dargelegt worden \ daß bei ihr, obwohl die in erster Linie vom Bessemngszweck be­ dingte Dauer der Überweisung zur Schwere der Schuld in keinem Verhältnisse zu stehen brauche, voller Strafcharakter gewahrt sei. „Die erziehlichen Zwecke der Boytal-Haft stehen nicht im Widerspruch zu ihrem Strafcharakter" (Kriegsmann). Gleiches gilt von der amerikanischen Überweisung in ein Reformatory. Zur Anstaltsbehandlung tritt musterhaft organisierte Fürsorge für die entlassenen Jugendlichen des Borstal Systems durch Borstal Committees, die in der Borstal Association zusammengefaßt sind.

b) Dem ordentlichen Strafvollzug Englands, der bekanntlich erst 1867 verstaatlicht wurde, ist im übrigen eine Verbindung von Progrestiv- und Klassifiziemngssystem eigen. Dabei ist die Einzelhaft stetig gekürzt worden. Der Klassifikation liegt das beachtenswerte Bestreben zugrunde, durch Bildung zahlreicher Gruppen von Gefangenen möglichst zu individualisieren 2 1 Kriegsmann in d. Mitt. d. Krim. Ber., Bd. 18 S. 506 ss. * Näheres hierzu und zum Folgenden bei Goldschmidt (s. oben S. 77) S. 106 ff.

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Für Gewohnheitsverbrecher ist ferner durch die Prevention of Crime Act von 1908 eine Sicherungshaft vorgesehen, in deren gleichfalls progressivem Vollzüge der Erziehungsgedanke Verwirklichung findet. III. Das Gefängniswesen derenglischen Kolonien steht dem des Mutterlandes nahe. Erwähnt seien hier die australischen Anstalten zur Festhaltung von Gewohnheitsverbrechem auf unbestimmte Zeit (during His Majesty’s pleasure) in Neu Süd Wales, Neu Seeland usw.

IV. Nachdem in Japan das erste Vsdo-Gesängnis, mit Unterabteilungen für je eine soziale Schicht und mit Gemeinschaftshast von je zwölf Insassen auf eine Zelle, errichtet woü>en war, hat 1880 das neue Strafgesetzbuch getrennte Haft für noch nicht 16 jährige, für Erstmalige und für zwei- und mehrmals Bestrafte zwischen 16 und 20 Jahren vor­ geschrieben. Für alle Gefangenen ist Einzelhaft 1889 grundsätzlich zum Vollzugssysteme gewochen. Tatsächlich fehlt es freilich stach an Zellen. Die Grundzüge des Vollzuges regelt kaisechiches Edikt, die einzelnen Instruktionen erläßt das zuständige Ministerium, seit 1900 daS der Justiz. Von Gefängnissen gibt es tatsächlich drei Achen: Polizeigefängniffe, Zwangs­ arbeitsanstalten und Lokalgefängnissel. Dazu kommen vier Jugendgefängnisse, die im Jahre 1903 zur Besserung durch Farmarbeit und Handfechigkeiten errichtet wocken sind *. V. Ein vorzüglich durchgeführtes Zellensystem besitzt Belgien' dank dem ehemaligen Generalinspektor seiner Gefängnisse Ducpötiaux und dem jetzigen A. Prins. Es besteht femer, wenn auch nicht so folgerichtig verwichlicht, in H o ll a n d, sowie, dank dem damaligen Kwnprinzen Oscar, seit 1846 in Schweden. VI. In Frankreich ist, im Gegensatze dazu, die 1844 beschlossene Einführung der Einzelhaft kurz damach, 1852, durch einen übereilten Gegenechaß Napoleons III. endgültig unterbrochen worden. Noch jetzt ist Gemeinschaftshaft bei Tag und Nacht für alle Gefangenen, selbst für die Kurzzeitigen tatsächlich die Regel. Höchst erwähnens- und nachahmenswert ist aber in diesem bedenklichen französischen System die Einrichtung der schon 1839 organisierten Disziplinargerichtshöfe. Sie bestehen aus dem Direkwr und zwei als Beisitzer fungierenden Beamten, weil „eine tadellose Justiz in den Gefängnissen noch notwendiger ist, als in der Gesellschaft" (D u ch L t e l).

VIL Wie Frankreich, so ist Österreich tatsächlich (über die Rechtslage s. unten IX) Gemeinschaftshast eigen, verbunden mit Schweigegebot und hie und da mit nächllicher Trennung. VIII. Der italienische Vollzug bemht wesenllich auf Progressivsystem. Der Einzelhaft folgt gemeinsame Tagesarbeit, auf diese unter Umständen Aufenthalt in einer landwirtschaftlichen oder industriellen Zwischenanstalt und als viertes Stadium abschließend vor­ läufige Entlassung.

IX. Pwgreffivsystem besteht u. a. grundsätzlich im österreichischen, femer im schwedischen Vollzug, in der italienischen reclusione; eine Verbindung von Klassifikations- und Progressivsystem imungarischen,kroatischen und bosnischen Vollzüge, desgleichen in dem Norwegens, Dänemarks, Spaniens usw.

V. 8 6. Zur StrafvoNzugsreform.

a) Methode. Wünsche für die künftige Gestaltung des Stmfvollzuges, die hier freilich auch nicht an­ nähernd erschöpfend vorgetragen werden können, müssen sich auf genauer und vielseitiger Kenntnis der Zustände des bestehenden Vollzuges, vor allem seiner Wirbmg aufbauen. Der Stmfvollzug sieht im Zuchthaus anders aus als im Gefängnis, in einem Staat anders als im anderen, ja

1 Trusen in b. Mitt. b. D. Ges. f. Natur- u. Bölkerkunbe OstafienS, IX. T. 1, S. 21. * Holzman in Z. 36 Heft 1. ' v. Liszt, Straft. Aufs. u. Borft. Bb. 1 S. 515 nennt Belgien mit Recht „bo8 Muster­ land bet Zellengefängnisse".

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hie und da im gleichen Staate bei der einen Verwaltung anders als bei der anderen. Vor allem aber urteilen über seine Mrkungen Beamte vielfach anders als Gefangene. So heißt es denn, sich, soweit irgend tunlich, von allen Seiten her unterrichten. Reiches und vielfach ungehobenes Material hierfür ist in den Jahresberichten der beteiligten preußischen Mnisterien enthalten; dabei sei auf Vorbemerkung und Text zur StatistikderzumRessort desKöniglich PreußischenMinisteriums des Innern gehörenden Strafanstalten und Gefängnisse besonders hingewiesen. Bon grundlegender Bedeutung ist eigene Anschauung. Kein Zufall ist es, daß zum Reformator des Gesängniswesens einst (s. oben S. 87) John Howard geworden ist, dem es durch Leiden in der Gefangenschaft am eigenen Leibe bekannt geworden war. Nur verhältnismäßig wenigen wird es vergönnt sein, sich zu Studienzwecken einmal längere Zeit in einer Anstalt aufzuhalten. Viele dagegen werden in der Lage sein, von Zeit zu Zeit An­ stalten zu besichtigen. Manche Streitfrage, über die eine cheoretische Einigung der Strafrechts­ schulen unerreichbar scheint, löst sich von selbst auf der Grundlage der Kenntnis des wirklichen Vollzuges und auf der Grundlage der Auffassungen der Betelligten. Zu diesen gehören in erster Linie die Gefangenen. Ihr Urteil über die Mrkungen des Vollzuges bedarf dringend der Beachtung. So wenig sie geeignet sind, Fragen zu begutachten, in denen sie parteiisch sind, oder in denen andere Gründe chre Urteilsfähigkeit zweifelhaft machen (man denke etwa an die Frage ihrer Schuld oder Unschuld, der Höhe ihres Strafmaßes usw.), so bedeutungsvoll ist ihre Auffassung etwa in der vielumstrittenen Frage, wie Einzel- und Gemeinschaftshaft auf den Gefangenen wirkt, welche von beiden Haftformen härter ist, welche Mrkung Dunkelarrest, körperliche Züchtigung, Arbeitsentziehung, Außenarbeit usw. haben. Für solche Informationen sind Selbstberichte von Gefangenen und ihre Briefe an die Verwaltung, wie in geeigneter Form und im rechten Zeitpunkt unter ihnen abgehaltene Um­ fragen keineswegs ohne Wert. So dringend im einzelnen strenge Prüfung und Vorsicht in der Verwertung am Platz ist, so unrichtig würde es sein, Büchern wie Jaeger, Hinter Kerkermauem (1906) oder dem bedeutsamen Bericht eines Anonymus, Hinter Schloß und Riegel (1909) u. a. etwa als bloßen Parteidarstellungen jeden Jnformationswert abzusprechen. Schließlich ist es geboten, ausländische Einrichtungen zum Vergleiche mit den unsrigen heranzuziehen. Hier kommt einerseits Rechtsvergleichung in Betracht, wie sie, auf die wahrhaft großzügige Anregung des Reichsjustizamtes, die „Vergleichende Darstellung Deutschen und ausländischen Strafrechtes" in umfassendem Maße angestellt hat, anderseits auch hier wieder Besichtigung fremder Anstalten bei Auslandsreisen. Die Geschichte des Gefängnisrechtes hat uns die Tatsache gelehrt, die wir nie vergessen sollten, daß praktische Anregungen zu größeren Gesängnisreformen zu anderen, wie zu mis zumeist vom Auslande her gekommen sind, und daß hier das amerikanisch-englische Ausland seit mehr als einem Jahchundert am pwduktivsten gewesen ist. Allerdings ist, wie die Berüchichtigung ausländischer Einflüsse, so der Kare Blick für die Errungenschaften unseres eigenen Landes, die Fe st Haltung deutscher Grundlagen und der organische Aufbau auf ihnen Pflicht.

b) Rechtsquellen. Die für den deutschen Vollzug der Freiheitsstrafen maßgebenden Bestimmungen sind, mit geringen uns bekannten Ausnahmen, in den auf freier Vereinbarung der verbündeten Regiemngen beruhenden „Grundsätzen" des Bundesrates von 1897 und in Verwaltungsverord­ nungen der Einzelstaaten enthalten. Nun waren, nach dem Scheitern des 1879er Entwurfes eines Reichsgesetzes über den Vollzug der Freiheitsstrafen, jene „Gmndsätze" freilich erfreulich, und noch jetzt sind sie nützlich. Sic tragen aber erhebliche Mängel an sich. Gewiß ist es staatsrechtlich nicht haltbar, ihnen jede „verbindliche Kraft" abzusprechen1 und sie als bloße „unverbindliche Aufforderung des Bundes1 Kriegsmann, Gefängniskunde S. 140. Treffend v. Jagemann, Z. 34, 329 A. 1., sowie Tambitsch, Verf. d. Deutsch. Reichs, 1910 S. 100.

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rats an die einzelnen Regiemngen anzusehen". Vielmehr haben sich die Regierungen in ihnen verpflichtet, sie bei sich zur Geltung zu bringen, wie das in den einzelstaatlichen Gefängnisocknungen denn auch geschehen ist. Wer freilich sind sie, eben als Vereinbarungen der Re­ giemngen, keine Rechtsnormen. Man war sich auch bei ihrem Erlaffe völlig var, deshalb gewifle Gegenstände in ihnen nicht regeln zu dürfen; das ergibt die oben mitgeteilte Aktennotiz (S. 92), die mit der von uns vertretenen staatsrechllichen Wffassung völlig überein­ stimmt. So sind sie aber, wie korrekt dies auch rechllich war, im Ergebnisse lückenhaft geworden. Es hängt hiermit zusammen, daß sie vorsichtig, ja ängstlich gefaßt sind. Vielfach sehen sie nämlich in erster Linie eine durchaus erwünschte Regelung vor. Zugleich aber schaffen sie selbst die Möglich­ keit ihrer Durchbrechung durch ein einschränkendes „im allgemeinen", „in der Regel", „wenn tunlich" usw. Auch daraus darf ihnen kein Vorwurf gemacht wecken. Von anderem abgesehen, gebot der damalige Zustand des deutschen Gefängniswesens in zahlreichen Einzelstaaten solche Vorsicht. Jetzt aber sind mit besseren Zuständen auch bessere Regelungen möglich und darum notwendig gewocken. Mch die Bewcknungen der Einzelstaaten, die zum Teil auf diesen Grundsätzen beruhen, enthalten nicht Rechtssätze, sondem Verwaltungsbestimmungen. Gleichwohl be­ schäftigen sie sich Mch mit Eingriffen in die Rechtssphüre der einzelnen, bei denen nach konstitutionellem Staatsrechte ff. oben S.79) die Gesetzgebung zuständig gewesen toäte*1. Mm kann nicht zugeben, daß die Einzelstaaten hier den Weg der Gesetzgebung oder den der Berwaltungsvewcknung „völlig souverän" wählen konnten Sie mußten vielmehr den des Gesetzes oder der gesetzlich delegierten sogenannten Rechtsverordnung gehen. Nicht etwa bloß aus Zweckmäßigkeitserwägungen, weil die ftaglichen Eingriffe „so wichtig" sind, oder weil sonst „eine Anomalie" volläge (K r i e g s m a n n S. 142 f.), sondem ff. oben S. 80) aus staatsrechtlichen Gründen. Auch aus dem „besonderen Gewaltsverhältnisse" des Gefangenen'können für ihn keine Pflichten, die über die gesetzmäßig Mferlegten hinausgehen, folgen. Denn dies „Gewalwechältnis" kann rechtswirksam begründete Zuständigkeiten wohl sprachlich zusammen­ fassen; aber es ist nicht Rechtsquelle, die neue Pflichten schaffen kann. Die Folge wäre sonst widerspmchslose Unterwerfung des GefMgenen unter das freie Ermessen der Berwaltungsbehöcke. Hier sind von der Reform des Vollzuges Rechtssätze an Stelle von Verwaltungssätzen zu fockem. Ob diese Rechtsnormen in einem besonderen Stmfvollzugsgesetze des Reiches oder in den hierher gehörenden Paragraphen des allgemeinen künftigen Strafgesetzbuches enthalten sein sollen, wäre dem gegenüber an sich von geringerer Bedeutung, wenn sie nur R e i ch s r e ch t, also für Deutschland einheillich sind. Im ganzen Wick man aber doch sagen müssen, daß im Straf­ gesetzbuch am besten nur die Eigenart der einzelnen Strafarten, alles übrige dagegen in einem Stmfvollzugsgesetze festzusetzen wäre. Soweit es sich freilich um bloße Einzecheiten oder lokale Verschiedenheiten handell, wecken diese vom Gesetze durch ausdrückliche Bestimmung dem Wege der Bewcknung zu überweisen sein. FürDetailssindReichsgesetzezuschweres Geschütz. Wch diese Rechtsvewcknungen sollten, soweit irgeick tunlich, solche des Reiches fein und M die Einzelstaaten nur da abgestoßen wecken, wo die Lage des Falles freies Ermessen der Regiemngen oder Direktionen in den Partikularstaaten erwünscht scheinen läßt. Die Gewähmng freien Spielmumes ist gerade auf unserm Gebiete des Stmfiiollzuges dringend not­ wendig. Sache des Reichsgesetzgebers ist es, die Mtte zwischen Freiheit und Bindung zu finden. Wo es sich nicht um Beschränkungen der Jndividualrechtssphäre handelt, sondem um bloße Vorschriften an die Berwaltungsbehöcken, da bedarf es aus staatsrechtlichen Gründen keiner gesetzlichen Regelung. Ob solche aus anderen Gründen erwünscht ist, muß der Wückigung des Einzelfalles überlassen bleiben. Ebenso, inwieweit Reichs- und einzelstaatliche Verwaltungsbestimmung, inwieweit Einheillichkeit oder Freiheit der Gestaltung am Platz ist.

1 Übereinstimmend Klein in Aschafsenb. Mon. f. Krim-Psych. 6, 132 ff. 1 Kriegsmann, S. 139, zu Unrecht unter Berufung auf Ruck. Völlig im Sinne des Textes, als wertvolle Bestätigung der staatsrechllichen Gefamtauffaffung, der Ber. des BdesratS-AnSsch. f. Justizwesen Nr. 95 f. 1897 S. 1 f. und 10 ff. auch oben S. 92). Kriegsmann verkennt auf S. 162 da» Wesen der BerwaltungSverordnung. • Fleiner, Inst. d. Verwaltung-rechte» S. 149ff.

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e) Haftformen. I. Für die Festlegung der Haftsormen ist de lege ferenda zwischen den kürzeren und den längeren Freiheitsstrafen zu unterscheiden. Entsprechend der Verschiedenheit ihres Zweckes Wick bei der kürzerm Freiheitsstrafe nicht das gleiche Haftsystem angebracht sein wie bei der längeren. Denn die Aufgabe der ersteren kann unter keinen Umständen, wie bei der letzteren, die Bessemng des Täters sein. Will man in der kürzeren Freiheitsstrafe auch nur Verschlechterung des Täters hindem, so ist für sie Einzelhaft geboten. Die Tendenz, die bei uns in Deutschland von den Strafvollzugsverwaltungen überwiegend eingehalten wocken ist, nämlich nach Durchfühmng der Einzelhaft durch Bau von Zellgefängnissen und Schaffung von Zellen überhaupt, ist insoweit für die Gefängnisse der Zukunft durchaus zu billigen. Dies ist auch der Stand­ punkt des (halboffiziellen) Vorentwurfes der Sachverständigen-Kommission zu einem deutschen Strafgesetzbuch« von 1909 § 22, des (privaten) Gegenentwurfes von 1911 § 45 und der ersten Lesung des (offiziellen) Entwurfes von 1913 (DIZ. 16, 724). Anders bei Zuchthaus und den langzeitigen Freiheitsstrafen übechaupt. Ob auch hier Einzelhaft angebracht ist, entscheidet sich nach der Wirkung der Zelle. Ehe wir die Erfahrungen der am Vollzüge der Einzelhaft Beteiligten feststellen, fragm wir nach dem Psycho­ logisch Wahrscheinlichen, d. i. nach dm Empfindungen, die wir selbst vermullich haben würden, wenn man uns für lange Zeit in Einzelhaft unteckrächte. Der Gefangene ist ja doch, wie es in einem Berichte der preußischen Gefängnisverwaltung des Jnnem mit Recht heißt, ein Mensch, qualitativ in nichts verschieden von anderen Nichtgesangenen seines Standes. a) Damach aber muß — eine erschöpfende Behandlung ist hier unmöglich — die Wrkung der Einzelhaft eine verschiedene je nach der Natur des Gefangenen sein: Für die einen ist sic, mit der GemciuschaslShast verglichen, eine Wohltat; das sind einerseits die Unsozialen, die gem allein sind, denen an Aussprache nichts liegt, anderseits die geistig höherstehenden Elemente, denen das Zusammensein mit den Elementen der Gemeinschaftshaft eine Erniedrigung dar­ stellt. Für die anderen ist sie eine ständig sich emeuemde Qual; das sind, von den nicht Vollnormalen abgesehen, die Sozialen, die Verkehr brauchen, denen Einsamkeit schwer oder kaum erträglich ist, und die niedrigen Elemente, die sich mit ihresgleichen wohl fühlen.

b) Nach dem Urteile der Verwaltung wie nach dem von Gefangenen wirkt die Einzelhaft im ganzm verinnerlichend und vertiefend. Sie bessert in diesem Sinne. Wer im Vollzüge solche innere Läutemng erstrebt, den wick die Einzelhaft im allgemeinen befriedigen. Nur muß er sich in der Tat dabei bescheiden und nicht noch weiteres von ihr erwarten. Wer da­ gegen den Gefangenen bürgerlich bessern, d. h. in die Freiheit unter derartigen Bedingungen überführen will, daß er in ihr den Konkurrenzkampf unter günstigeren Aussichten als vor seiner Einliefemng wiederaufnehmen kann, wer um dieses Zieles willen den Gefangenen vor Welt­ fremdheit, Anpaffungsunfähigkeit uitb Menschenscheu dauernd bewahren will, der wick der Einzelhaft als Vollzugssystem bei längeren Freiheitsstrafen nicht das Wort reden können. Denn nicht gestählt und gewappnet, sondern gedrückt und unsicher, voll Angst vor der Selbständigkeit und den in ihr für den ehemaligen Gefangenen zu gewärtigenden Widerständen und Vorurteilen der Außenwelt tritt der Anstaltsinsasse aus der langzeitigen Einzelhaft ins Leben zurück. Dies in erhöhtem Maße, wenn er, wie oben angedeutet, seiner Veranlagung nach den Verkehr mit Menschen seinesgleichen braucht, dessen Mangel also schwerer empfindet als der minder sozial Veranlagte. Der Besuch der Beamten kann, so wertvoll er ist, diese Wirkungen der Einzelhaft erfahrungsgemäß nicht ausgleichen. Ter freie Verkehr mit Gleichstehenden läßt sich dadurch nicht ersetzen, und der günstige Einfluß, der von einer guten und tüchtig vorgebildeten Beamtenschaft erwartet wucke, ist ausgeblieben. Der Widerstand, der unter diesem Gesichts­ punkte gegen die Einzelhaft vor ihrer Einfühmng geleistet wurde, war nach dem Urteile Sach­ verständiger kein unberechtigter. Damit wäre von unserem Standpunkt aus der Einzelhaft für langweilige Freiheitsstrafe der Stab gebwchen. Wohlgemerkt, es wird hier nicht behauptet, daß sie, wie man es häufig

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gellend machen hört, in der Regel gesundheitsschädlich wirke. Das scheint nicht der Fall zu sein, läßt sich vielmehr doch wohl, wenigstens in vielen Fällen, durch rechtzeitige und vorsichttgc Zuziehung des Arztes verhüten. Wohl aber toirb hier behauptet, daß sie bei längerer Freiheits­ strafe vielfach durch Wellentfremdung den Übergang in die Freiheit und den ehrlichen Erwerb erschwert, den Rückfall michin fördert. Nebenbei kommt hinzu, daß die Einzelhaft für langzeillge Freiheitsstrafe sehr kostspielig ist. Vergleicht man die Kosten von Zell- und Gemeinschaftsanstalten, so darf man nicht, wie es in der Regel geschieht, dort von Gefangenen gebaute und hier von freien Arbeitern errichtete Anstallen einstellen. Das reiche Amerika hat (f. oben S. 89) nicht zuletzt aus finanziellen Gründen die Durchführung der Einzelhaft aufgegeben, so daß sie jetzt innerhalb Amerikas nur noch am Ort chrer Entstehung, int Lastern Penitentiary wenigstens offiziell besteht; denn faktisch ist auch dort bei der Überfüllung der Anstalt von Einzelhaft keine Rede mehrl. Für die langzeitige Freiheits-, insbesondere die Zuchthausstrafe empfiehll sich Pro­ gressivsystem. Es verbindet in einem ersten Stadium der Einzelhaft deren Vorzüge mit der Vermeidung ihrer Schäden durch das ihr folgende Stadium der Gemeinschaft, an die sich eine wohlvorbereitete vockäufige Entlassung schließt. Man wird ihm nicht gerecht, wenn man es als „zu kompliziert" und „zu umständlich" von der Hand weist * Auf dies System deutet auch die Rechtsvergleichung. Denn es bestecht mit gewissen Verschiedenheiten in Italien, Eng­ land, Ungam, Kwatien, Bosnien, Finnland uff. Sein Kem, nämlich allmähliche Milderung des Strafzwanges und Annähemng an die Freiheit muß, bei aller hier im übrigen gebotenen Kürze, als berechtigt bezeichnet wecken (s. oben S. 89). So denn auch Borentw. § 22, Gegenentw. § 45; Ansätze dazu siehe auch in den Vorschlägen des Vereins Deutscher Strafanstältsbeamten zu einem Strafvollzugsgesetze von 1911 § 32.

II. Freilich ist auch bei solcher Regelung des Strafvollzugs, nämlich bei E i n z e l h a f t für kürzere, Progressivsystem für längere Freiheitsstrafen, die Voraussetzung jedes Erfolges, daß er von ungeeigneten Elementen entlastet Wick. Zur­ zeit sind noch zu viele Arten von Gefangenen in ihm enchalten, aus die der ockentliche Straf­ vollzug nicht wirken kann, und die dämm auch die Beeinflussung der übrigen beein» trächtigen. Soweit solche Entlastung des Strafvollzugs durch dieReformderStrafmittel, nicht ihres Vollzuges erfolgen muß, gehört ihre eingehendere Behandlung nicht in diesen Rahmen. Der Kampf gegen die „kurze Freiheitsstmfe" und die Fmge ihres Ersatzes durch andere Maßregeln muß daher hier ausscheiden. über die Behandlung der gewohnheits- und gewerbsmäßigen Ver­ brecher darf man zusammenfassend soviel sagen: Nach der an ihnen zuerst zu voll­ streckenden Freiheitsstrafe von längerer Dauer ist eine den Charakter der bloßen Sicherungs­ maßregel tragercke Nachhaft auf unbestimmte Zeit ihnen gegenüber erfockerlich, wenn sie eine Gefahr für die Rechtssicherheit darstellen ’. Sie besteht für Gewerbs- und Gewohnheitsveckrecher in einigen Staaten Amerikas wie Australiens und neueckings in England. In Deutschland ist sie unter vielen anderen von Ebermayer, Kahl, Klein, Kriegsmann, von Liszt, M. E. Mayer, sowie von Freudenthal vertreten und von dem Juristentage, dem GE. § 98, dem E. der Strafrechtskommission in erster Lesung (DIZ. 16, 1519), in Österreich vom E. d. jur. Komm. f. d. StGB, von 1913 § 38 (93er. S. 60) ausgenommen *. Ferner sei hier kurz der Notwendigkeit Erwähnung getan, geistigMinderwertige insoweit aus dem ockentlichen Stmfvollzug auszuscheiden, wie sie für ihn ein Hindemis sind. Unter ihnen sind Gefangene verstanden, die auf einer Zwischenstufe zwischen geistig Gesunden und geistig Kranken stehen. Nicht als ob alle diese Zwischenstufen „untaugliche Objelle" des ockenllichen Strafvollzuges wären. Das Gegenteil bildet die Regel. Wohl aber gibt es unter 1 ' • *

Näher von mir belegt Z. 28, 185 ff. So »lein S. 20. Ähnlich E. d. «. D. Strafanstalt-b. S. 30 «. 1; (. auch Z. 33, 651. So trefflich der Komm.-Entwurs nach Luca- DIZ 16, 1519. Bgl. Kohler, Mod. Recht-probleme (2. Aufl.) S. 42.

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ihnen Elemente, die der Überweisung in „Minderwertigkeits-Abteilungen" (91. Leppmann) bedürften. Daß Gefangene, die im Strafvollzug geisteskrank werden, in besondere Anstalten gehören, bedarf kaum besonderer Erwähnung. Diese Llnstalten aber dürfen keine allgemeinen Irrenanstalten sein. Die Gefahr des Ausbruches allein würde hiergegen entscheiden müssen. Doch tritt daneben auch der Gesichtspunkt einer Diskreditierung dieser nichtkriminellen An­ stalten durch kriminelle Elemente in den Vordergrund. Llnstalten für geisteskranke Verbrecher (Kriminalirrenanstalten) müssen baulich wie Strafanstalten gestaltet, ihr Personal muß in Strafanstalten geschult sein. Die weitaus wichtigste Gruppe aber, die einer Sonderbehandümg im Strafvollzüge bedarf, sind die Jugendlichen.

d) Jugendliche. Nirgends lohnt es sich mehr, alle Kraft des Strafvollzuges einzusetzen, als bei den jugend­ lichen Verbrechern. Einmal sind sie die aussichtsreichsten, well bildungsfähigsten Gefangenen. Bei ihnen schweigen aber auch die der Reform im übrigen vielfach hinderlichen Streitigkeiten der Strafrechtsschulen im wesenllichen durchaus. Es ist die ganz überwiegend herrschende Mei­ nung in Deutschland, daß der Strafvollzug bei ihnen in erster Linie den Zweck der B e s s e r u n g hat. Für die richtige Umgrenzung dieses vielumstrittenen Begriffes heißt es sich erinnern, daß das Gefängniswesen für uns Gefängnisrecht und als solches an die Schranken alles Rechtes gebunden ist. Die Gesinnung des Gefangenen zu ändem ist nicht unmittelbare Sache des Rechtes. Das Recht beeinflußt äußeres Ver­ halten. Darum ist Bessemng im Gefängnisrecht als bürgerliche oder staatliche zu verstehen und als identisch mit Erziehung zu einem den Gesetzen entsprechenden Leben anzusehen1; moralische Besserung dagegen kann das unmittelbare Ziel des Strafvollzuges nicht sein. Jenem Zwecke der Erziehung des jugendlichen Rechtsbrechers zum Staatsbürger ist der Straf­ vollzug in seinen Einzelheiten anzupassen. Dabei handelt es sich freilich nicht bloß, wie man wohl in allzu bescheidener Gestaltung der Vollzugszwecke gewollt hat, dämm, ihnen in der Haft verderbliche Einflüsse fernzuhallen. Tas eigenlliche Ziel besteht darin, neue starke positive Einflüsse in der Richtung ihrer Umbildung in den Strafvollzug einzuschallen. Hierfür können die oben geschilderten amerikanischen Vorbilder, die Reformgefängnisse, brauchbare Fingerzeige bieten, so wenig sie etwa bei uns einfach nachgeahmt oder wahllos in alle Einzelheiten hinein übernommen werden dürften. Gewiß bestehen in Deutschland schon längst wertvolle Ansätze zu einer Sonderbehandlung der Jugendlichen. TerAusbaudieserAnsätzezueinemgeschlossenen SystemvonJugendgefängnissenaberisteinedernächsten,größten und aussichtsreichsten Aufgaben der StrasvoNzugsverwaltung wie der Vollzugsgesetzgebung. Unumgänglich nötig sind in erster Linie besondere A n st a 1 t e n für den Vollzug längerer Freiheitsstrafen an Jugendlichen *. Als solche sind die Freiheitsstrafen von einem Jahr und mehr anzusehen. Hier sind bloße besondere Abteilungen in Anstalten, die auch Erwachsene beherbergen — wir haben solcher Abteilungen für Jugendliche in Preußen sieben unter dem Ministerium des Innern, fünfzehn unter dem der Justiz — kein irgendwie gleichwertiger Ersatz. Tenn weder ist wirlliche Trennung, noch gar wirlliche Erziehung so lange möglich, wie sich die Jugendlichen hier unter ein und demselben Dache mit Erwachsenen befinden. Ta das Ziel dieses Sonderstrafvollzuges, bei Festhaltung des Charakters der Strase und Strafanstalt, Bessemng ist, so sind ihm Besserungsunfähige vom Richter gar nicht erst zu überweisen; und tveim die Bessenmgsunfahigkeit sich erst int Vollzug ergibt, so müssen

1 Ziel des Strafvollzuges im Borstal System ist, „daß der Verbrecher sich des Verbrechens enthalte und ein nützliches und fleißiges Leben führe" (s. 6 Prev. of Cr. Act 1908). • über das erste, auf Progressivsystem aufgebaute Iugendgefängnis Deutschlands und des europäischen Festlandes überhaupt s. oben 2. 94.

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sie nachträglich aus ihm ausgeschieden und den gewöhnlichen Gefängnissen überwiesen weichen. Es tritt hier also, dem Gesetze der Differenziemng entsprechend, zu den bestehenden Arien von Strafanstalten eine neue Art, das Jugendgefängnis, hinzu. Der Vollzug in ihm erfolgt im Progressiv- oder Stufensystem. Je höher die Klasse, in die der Gefangene ausrückt, um so größer seine Freiheiten und damit die Annähemng an die Freiheit selbst. Systematisch richtet sich die Ausbildung auf alle Seiten der Persönlichkeit, also auf den erfahrungsgemäß zumeist unentwickelten und unteremährten Körper, auf den Verstand und den Charakter. Dafür ist an der Spitze der Anstalt ein pädagogisch veranlagter Direkwr er­ forderlich, der, ohne an Auwrität einzubüßen, zwischen sich und den Gefangenen ein auf Ver­ trauen begründetes freundliches Bechältnis herzustellen fähig ist. Auch seine Beamten müssen in diesem Sinne Erzieher, nicht bloße Aufseher oder Schließer sein. Ehemalige Soldaten können geeignete Elemente sein, sie brauchen es aber nicht zu sein. Ja, ihr früherer Beruf legt ihnen erfahmngsgemäß oft eine allzu disziplinäre Auffassung des Strafvollzuges geradezu nahe. Strenge Auswahl unter ihnen ist darum geboten. Ausreichend hohe Gehäller sind die Vor­ aussetzung für die Gewinnung geeigneten Direkwren- und Beamtenmaterials. Dann kann auf die Lückenbüßer erzieherischer Veranlagung, als da sind Prügelstrafe und sonstige ungeeignete Disziplinarmaßregeln, verzichtet werden, wie es das Reichsjustizamt schon in den neunziger Jahren empfohlen hat (f. oben S. 96)'. Das letzte Stadium des Sttafvollzuges muß regelmäßig — und dies gilt zwar in erster Linie, aber nicht ausschließlich für Jugendliche — bedingte Entlassung bilden. Sie ist eines der wichtigsten Elemente des auf Bessemng gerichteten Strafvollzuges. Nach geltendem Recht ist sie erst nach einem Jahr, also nur in den schwersten Fällen, gleichsam als eine Prämie für diese, möglich und tritt verhältnismäßig selten, nämlich nur bei etwa 3% aller Jugendlichen ein. Sie bedarf der Vorbereitung durch Vermittlung einer geeigneten Stellung. Daß hier eine aus dem Rechtsverhältnisse der Gefangenschaft solgendeAufgabe desStaates liegt, haben wir oben (S. 82) gesehen. Sie muß aber auch in ihrem Erfolge durch Schutzaufsicht gesichert sein. Der Jugendliche muß also in der Zeit der vorläufigen Entlassung einem Pfleger und Fürsorger, unter der Kontrolle eines Jugendfürsorgevereins und des Richters, am besten des Jugendrichters, unterstellt sein. Diese Fürsorger können ehrenamtlich sein, in jedem Bezirk aber muß an ihrer Spitze ein bezahlter Fürsorgebeamter stehen. Dringend notwendig scheint, daß dem Strafvollzüge die für die Umwandlung von Verbrechem in Bürger erforderiiche Strafzeit gesetzlich gewährleistet wird. Es ist hierfür beachtenswert, daß 1910 unter den zu Gefängnis verurteilten etwa 26 000 Jugendlichen nur 2 % (522) ein Jahr oder mehr echalten haben. Vom Richter wird man damach die für die Umwandlung nötige Strafzeit nicht erwarten dürfen, überdies aber ist es in der Hauptverhand-

hing nur selten möglich, das Maß dieser Zeit bei dem einzelnen Gefangenen bereits im voraus zu bestimmen. So ist — mit einer Beschränkung durch ein Höchstmaß — Verurteilung bis zur Besserung, unter Überweisung an ein Jugendgefängnis, die aussichtsvollste Form der Bestmfung. Niemand ist an ihr mehr interessiert als die Behörden des Strafvollzuges selbst. Sie hat man bisher vielfach, mangels einer int Einzelfalle genügenden Zeit für die Beeinflussung, vor eine unerfüllbare Aufgabe gestellt, um sie demnächst für deren Nichterfüllung verantwortlich zu machen. Dies sogenannte unbestimmteStrafurteil läßt sich keineswegs etwa durch bestimmte Stmfe mit vorläufiger Entlassung ersetzen. Denn dabei ist nur die Kürzung einer zu langen, aber nicht die Verlängerung einer zu kurzen richteriichen Stmfzeit möglich. Wohl aber sind die Gefahren der unbestimmten Vemrteilung für die bürgerliche Freiheit durch ein gesetzliches Höchstmaß vermeidbar. Über dieses hinaus darf der Jugendliche in der Anstalt nicht fest»

* Bon körperl. Züchtigung als Disziplinarmittel wird im Entw. be8 Set. Deutsch. Strafanst. $ 72 ganz allgemein abgesehen; s. dazu Klein, Z. 33, 663. Über ihre Gesund­ heitsschädlichkeit vgl. F. Leppmann, Der GesängniSarzt S. 64ff.

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gehalten werden. Aus der unbestimmten wird die — übrigens von uns stets allein in Erwägung gezogene — relativ bestimmte Verurteilung. Erwägenswert ist, ob eine Ausdehnung des auf Bessemng gerichteten Vollzuges, über die eigentlichen Jugendlichen hinaus, auf die 18—21 jährigen erwünscht wäre. Der (Segen« entwurf hat dies bejaht (§ 52); es wäre bedauerlich, wenn seine Anregung verloren ginge1. Gerade für sie ist ja auch das Jugendgefängnis in Wittlich bestimmt (s. oben S. 94). Ob die vorläufige Entlassung bei relativ bestimmter Vemtteilung einem alle Garantien richtetticher Unabhängigkeit bietenden Entlassungsamte (v o n L i s z t) — mit einem hohen richter­ lichen Beamten als Vorsitzendem und mit genügender sonstiger Vertretung des richterlichen Elements, sowie daneben mit schöffenartigen Laien — zu übertragen ist oder nicht noch besser dem erkennenden Gerichte selbst (van Hamel), mag hier offen bleiben. Jene Laien totttben das Vertrauen der Allgemeinheit in die Tätigkeit des Entlassungsamtes zweifel­ los echöhen, und von „Berwaltungsjustiz" der Entlassungsinstanz würde in beiden Fällen keine Rede sein können. Größere Öffentlichkeit durch leichtere Zugänglichkeit der Anstalten für Be­ sucher, wie sie in Amerika und England besteht, unmittelbare Käuflichkeit der Anstaltsberichte im Buchhandel, wie sie schon Wichern vorgeschlagen hat, mürben neben der Laien zuziehung segensreich tonten. Großen Vertrauens aber bedarf der Strafvollzug der Zukunft um so mehr, je reicher man ihn wird ausstatten müssen. Die Gesamtausgabe der Reform liegt in dieser Richtung: Der Gefangene muß kraft Gesetzes im Straf­ vollzüge mehr als bisher zu hoffen und zu fürchten haben'. Hängt aber das Schicksal des Gefangenen vom Fortschritte seiner Umbildung ab, so wird die Stellung der Anstaltsverwaltung ihm gegenüber, eben weil er mehr als im heuttgen Voll­ züge zu hoffen wie zu fürchten hätte, beiunbestimmteroder — wie gesagt, von jeher allein in Betracht kommender — relativ bestimmter Verurteilung machtvoller und aussichtsreicher als bisher. Daß diese Utteilsform dem älteren deutschen Rechte bekannt war, ist oben (S. 99) be­ rührt. Sie hat ja auch unter deutschen Einflüssen erst den Weg nach Amerika gefunden. Für sie in ihrem Keme, wenn auch sonst mannigfach voneinander abweichend, haben sich in Deutschland zu den alten gewichttge neue Stimmen erhoben, nicht nur von Theoretikem wie Graf Gleispach, Kriegsmann, M. E. Mayer, Mittermaier u. a., von Richtern wie Hamm, von Jugendrichtem wie Allmenroederund Koehne, sondem auch von Praktikem des Strafvollzuges wie vonBaehr und Stammet, sowie von der höchsten gemeinsamen Instanz der Kulturstaaten in Gesängnissachen, dem Internationalen Ges.»Kongreß, der 1911 in Washington die unbestimmte Vemtteilung pwllamiett hat. Auch E. von Jagemanns „Urteile in Strafzeitstufen" (Z. 34, 351) sind nichts als relativ bestimmte Vemtteilung. Dabei kann, gegenüber den vom Standpuntte der Vergeltung erhobenen Bedenken, die Ausgestaltung zur reinen Erziehungsmaßregel Vorbehalten bleiben; diese würde sich an eine vom Richter in der Hauptverhandlung verhängte zeitlich begrenzte Strafe anschließen.

Nach einem Wotte Fingers' hat die Freiheitsstrafe „den Zenith ihrer Bedeutung" überschtttten. Das ist insofern richtig, als man nach üblen, mit ihr gemachten Erfahmngen, eine Reihe von Maßnahmen gesucht und gefunden hat, durch die man sie unnötig machen will. Dahin gehött die bedingte Strafaussetzung oder ihre höhere Form, die bedingte Vemtteilung, ferner die Schutzaufsicht, die Ausgestaltung der Geldstrafe usw. Sie alle sind, weil sie minder tief eingreifen als die Freiheitssttafe, erfreulich und zu empfehlen. Ein Gesamtutteil über die Zukunft der F r e i h e i t s st r a f e aber ist zurzeit doch noch kaum möglich. Biel dürfte davon abhängen, wie sich das Progressivsystem für lange Freiheitsstrafen und das Reformsystem für jüngere Gefangene bei uns bewähren wird. Auch die Möglichkeit

1 Trefflich der Komm.-E. (1913) in 2. Les. nach Ebermayer TJZ. 18, 608. • Näheres in DIZ. 18, 135 ff. • Finger, Lehrb. b. D. Strafr. Bd. 1 1904 S. 459.

GesängniSrecht und Recht der Fürsorgeerziehung.

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stärkerer Gruppenbildung und damit Individualisierung in der Gemeinschaftshaft, wie sie in England stattfindet \ wiü> hier von Bedeutung sein. Sollten diese Neuerungen die Kraft haben, aus Berbrechem nützliche Menschen zu machen — und das steht zu hoffen —, so wäre für die Freiheitsstrafe der Zenit noch nicht erreicht. Anders, wenn bei uns, wie bisher, nur der Vollzug in Einzel- und Gemeinschaftshast auch in Zukunft in Betracht käme. In dieser Gestalt ist der Wert der Freiheitsstrafe allerdings überschätzt worden. Dann würde sie sich, wie mit Finger anzunehmen ist, alleünngs auf dem absteigenden We befinden.

B. Fürsorgeerziehungsrecht. I. Vorbemerkung. Die Bedeutung der Fürsorgeerziehung ergeben folgende Zahlen: Im Jahrzehnt 1901—10 sind ihr rund 70000 Minderjährige allein in Preußen überwiesen worden. Dadurch entstanden insgesamt rund 70 Mill. Mark Kosten. Am 31. März 1911 standen unter Fürsorgeerziehung in Preußen rund 48000, in Bayem 4000, in Württemberg, Sachsen und Elsaß-Lochringen je 2000 Minderjährige.

II. Allgemeine Grundlage«. 8 7. Rechtliche Natur der Fürsorgeerziehung. Die llare Erkenntnis der Rechts natur der Fürsorgeerziehung ist systematisch, aber vor allem auch praktisch dringend geboten. Denn sie beeinflußt die Gestaltung der Anstalten und chres Verfahrens wesenllich. a) Natüttiche Erzieher des Kindes sind seine Eltem. Sie haben wie das Recht, so die Wicht seiner Erziehung. Versäumen sie die Erfüllung dieser Pflicht, so tritt der Staat statt ihrer ein und übernimmt die Erziehung seinerseits. So ist Fürsorgeerziehung die vom Staat angeordnete Erziehung eines Mnderjährigen in einer fremden Familie oder in einer Anstalt. Nicht einen Eingnff in die Rechte des Kindes, insbesondere etwa in seine Freiheit stellt sie hier­ nach dar, sondem einen Eingnff in Erziehungsrechte. Der in ihr liegende Zwang, der in dem älteren Namen Zwangserziehung erscheint, richtet sich gegen die Eltem, nicht gegen die Kinder. Dem Kinde gegenüber ist ein Att der Fürsorge gegeben, der zu dem jüngeren Namen Fürsorgeerziehung gefühtt hat. Gegen das Kind kann von einem Zwang auch nicht insofern gesprochen weiden, als etwa staatliche Erziehung, mit natürlicher verglichen, strenger sein müßte. Aus dem Wesen der Erziehung heraus muß eine solche Auffassung abgelehnt werden. Ist die Fürsorgeerziehung hiemach ein Eingriff in das Recht der Eltem oder ihrer Ver­ treter, der Vormünder, so kann über ihre theoretisch heißumstrittenen Grenzen gegen­ über der Freiheitsstrafe kein Zweifel bestehen: Die Rechtsgüter, in die beide eingreifen, sind verschiedene, hier die persönliche Freiheit des Gefangenen, dott das Erzichungsrecht der Eltem. Ein System der Fürsorgeerziehung muß hiemach um so höher stehen, je reiner es dies Wesen verwirklicht, je weniger es insbesondere von den ihr wesensfremden Elementen der Freiheitsstmfe in sich enchält.

b) Wie die Gefangenschaft, so ist auch die Fürsorgeerziehung ein Rechtsverhältnis. Denn die in ihr liegenden Beziehungen sind vom Rechte geregelt. Das Recht aber, das sie ordnet, ist, gleichfalls wie dott, weil es Jntereffen der Allgemeinheit in erster Linie zum Gegenstände hat, öffentliches, und zwar Berwaltungsrecht. Die allgemeinen Gmndsätze des Berfassungsrechtes kommen also auf das Rechtsverhältnis der Fürsorgeerziehung genau so zur An­ wendung, wie wir es oben (S. 79 f.) bei der Freiheitsstmfe festgestellt haben. We der Staat 1 Kriegsmann, Gefängnis!. S. 301 ff.

HO

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dort dem Gefangenen, so kann er hier den Eltern und Bormündem an Beschränkung ihrer Rechte so viel, aber auch nur so viel auferlegen, wie k r a f t R e ch t c n s der Richter in der Fürsorgeerziehung verhängt hat. Jeder Rechtseingriff muß hier wie dort unmittelbar oder mittelbar auf Gesetz bemhen.

HI.

8 8. Geschichtliches.1

Das deutsche Recht der Fürsorgeerziehung geht auf den Code Pönal zurück. Dessen Artikel 66 sieht vor, daß Jugendliche unter 16 Jahren, die mangels des Unterscheidungsvermögens (discemement) freigesprochen sind, je nach den Umständen entweder an ihre Eltem zurück­ geschickt oder in eine Besserungsanstalt (maison de correction) untergebracht werden sollen, um dort „während einer solchen Anzahl von Jahren, wie das Urteil bestimmen wird", aber nicht über das 20. Lebensjahr hinaus, erzogen und festgehalten zu werden. Dies änderte die Preußische Kabinettsorder vom 22. Juni 1839 (Gesetzsammlung s. d. Pr. Staaten S. 222) dahin ab, daß das Strafgericht nur zu entscheiden habe, ob der Minderjährige in eine Bessemngsanstalt zu bringen sei, daß die Dauer der Festhaltung dagegen „je nach der Erziehungsbedürftigkeit, nach den unzweideutigen Beweisen der Bessemng, nach der beendeten Ausbildung zu einem ehrlichen Gewerbe und der Gelegenheit zu ehrlichem Unterkommen" durch Ermessen der der Anstalt vorgesetzten Verwaltungsbehörde bestimmt wecken solle. Diese Regelung übemahm § 42 des preußischen Strafgesetzbuches von 1851 und § 56 des Reichsstrafgesetzbuches. Hier ist bestimmt, daß, bei einem Angeschuldigten zwischen 12 und 18 Jahren, der bei Begehung der strafbaren Handlung die zur Erkenntnis ihrer Straf­ barkeit erfockerliche Einsicht nicht besaß und deshalb freizusprechen ist, im Urteil, also vom Straf­ richter, zu bestimmen sei, ob er seiner Familie überwiesen oder in eine Erziehungs- oder Besse­ rungsanstalt gebracht wecken solle. „In der Anstalt ist er so lange zu behalten, als die der Anstalt vorgesetzte Verwaltungsbehörde solches für erforderlich erachtet, jedoch nicht über das vollendete 20. Lebensjahr." Wer das 12. Lebensjahr bei Begehung der Straftat noch nicht vollendet hat, wird von § 55 RStGB. für strafgerichtlich unverfolgbar erklärt. Gegen ihn aber können, seit der Novelle zum StGB, vom 26. Febr. 1876, „nach Maßgabe der landesgesetzlichen Vorschriften" die zur Bessemng und Beaufsichtigung geeigneten Maßregeln getwffen werden. Doch setzt die Unterbringung in eine Familie, Erziehungs- oder Bessemngsanstalt voraus, daß durch vor­ mundschaftsrichterlichen Beschluß die Begehung festgestellt und die Unterbringung für zulässig erklärt ist. War also in 8 56 für die Zwölf- bis Achtzehnjährigen die Zwangserziehung reichsrechtlich a n g e o r d n e t, so ist sie in § 55 für die bis zu 12 Jahre Alten nur reichsrechtlich z u g e l a s s e n. Ihre landesgesetzliche Anocknung für Preußen brachte das Gesetz vom 13. März 1878, betreffend die Unterbringung verwahrloster Kinder, unter der Voraussetzung, daß die Unterbringung „zur Verhütung weiterer sittlicher Verwahrlosung erforderlich sei". Zwangserziehung ohne vor­ gängige strafbare Handlung blieb durchaus den Landesgesetzen überlassen.

8 9.

(Forts.) Die Fürsorgeerziehung seit Erlaß des deutschen bürgerlichen Gesetzbuchesa.

a) Fälle. An den soeben wiedergegebenen Bestimmungen des Strafgesetzbuches (§§ 55, 56) hat das BGB. nichts Wesentliches geändert. Zu jener „älteren strafrechtlichen Schicht" (von Liszt) hat es aber eine bürgerlichrechtliche oder eine sozialpolitische hinzugefügt. Ihr ist eigen, daß die „F ü r s o r g e e r z i e h u n g", wie das preußische Gesetz vom 2. Juli 1900 die Zwangserziehung im Interesse der Zöglinge nennt, insoweit von der vorgängigen Begehung einer objektiv strafbaren Handlung unabhängig ist. 1 Über die ältere Zeit s. Kröhne, Vorwort zu: Erziehungsanstalten für die Jugend, 1901 S. III ff. • Siehe hierzu Goeze, Tie F.-E. in Preußen, 1910.

Gefängnisrecht und Recht der Fürsorgeerziehung.

111

Hiernach kommen unter geltendem Reichsrechte zu den strafrechüichen Fällen der §§ 55, 56 StGB, drei Fälle hinzu. Es handelt sich dabei, mit einer von Kriegsmann (S. 262 f.) berichteten treffenden Terminologie, im ersten um „gute Kinder schlechter Eltern", in den beiden andem um „schlechte Kinder guter Eltem". 1. Durch Verschulden der Eltern wird das geistige oder leibliche Wohl des Kindes gefährdet (§ 1666 BGB ). Hier hat das Bormundschaftsgericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßregeln zu treffen und kann insbesondere die Unterbringung des Kindes zur Erziehung in einer Familie oder einer Erzieh ungs- oder Bessemngsanstalt anordnen. 2. Auch ohne jedes Verschulden, insbesondere etwa des Vormundes, kann bei einem unter Vormundschaft stehenden Kinde das Vormundschaftsgericht diese Unterbringung zur Erziehung cmordnen (§ 1838 BGB ). In beiden Fällen lzu 1 und 2) machen die Ausführungsgesetze von Preußen, Baden u. a. die drohende, Sachsen, Hamburg u. a. die schon vorliegende Verwahrlosung zur weiteren Voraus­ setzung der Fürsorgeerziehung.

3. Die landesgesetzlich bestehenden Vorschriften über Zwangserziehung läßt das BGB. unberührt, — ein Verdienst v. Liszts*, der Internationalen Kriminalistischen Bereinigung und der von ihnen geführten Bewegung. Nur nmß die Zwangserziehung vom Bormundschaftsgericht angeordnet uni* zur Verhütung des „völligen sittlichen Verderbens" notwendig sein (Art. 135 EG. BGB ). Das preußische Fürsorgeerziehungs­ gesetz vom 2. Juli 1900 fügt als Grund des Bedürfnisses die „Unzulänglichkeit der erziehlichen Einwirkung der Mem oder sonstigen Erzieher oder der Schule" an.

b) Beschlußfassung. Den Beschluß auf Unterbringung in Fürsorgeerziehung erläßt, abgesehen von dem Fall des 8 56 StGB., im allgemeinen übemll die Vormundschafts­ behörde. Bocher finden eingehende und vielseiüge Ermittlungen statt. Äei Gefahr im Verzug

ist vorläufige Unterbringung zugelassen, eine prakttsch überaus bedeutsame Maßnahme. c) Die Ausführung der Fürsorgeerziehung liegt in den Einzelstaaten völlig ver­ schiedenen Behörden ob. So in P r e u ß e n den Kommunalverbänden, die auch entscheiden, ob Famllien- oder Anstaltsetziehung eintritt. Für die Unterbringung wird dabei das Be­ kenntnis des Zöglings berücksichtigt. Kommt er in eine Familie, so wird ihm ein Fürsorger bestellt. In Bayern ist die Distriktsverwaltungsbehörde, in Württemberg der Aus­ schuß der Landarmenverbände, in Baden das Bezirksamt, in Hessen das Kreisamt zu­ ständig. d) Die Unterbringung erfolgt in Familien oder, wo dies, wie etwa bei minderjährigen Grotzstadtdimen, unangebracht ist, in A n st a l t e n *. Diese sind teils kasemenarttg, teils nach Familien in Deinen Häuschen (.cottage System1) organisiert und bald geschlossen („feste Anstalten"), bald offen (,open door System1). Die Art der Ausbildung bestimmt sich danach, ob die Zöglinge schulpflichttg oder schulentlassen sind.

e) Die Fürsorgeerziehung ent* et int Falle des §56 StGB, mit dem 20. Lebensjahre, sonst aber in den Einzelstaaten ganz verschieden: so in Preußen mit der Minderjährigkeit, wenn nicht schon vorher durch Beschluß des Kommunalverbandes (eventuell widerruflich) Aus­ hebung erfolgt, in W ü r t t e m b e r g mit dem 18. Jahr, wenn nicht schon vocher die AusHebung durch Beschluß des Bormundschaftsgerichtes endgülttg oder durch Beschluß des Aus­ schusses auf Widermf erfolgt, in Baden mit dem 20. Jahr usw.

f) Die Kosten der Etziehung und des Unterhalles trägt in Preußen der Kommunal­ verband, doch leistet die Staatskaffe einen Kostenzuschuß von zwei Dritteln; in Bayern die Staatskasse zu drei Fünfteln und bei Nichtbayern fünf Fünfteln; in Württemberg der Landarmenverband, dem die Staatskasse die Hälfte ersetzt; in Baden der Armenverband ein Drittel, die Staatskaffe zwei Drittel; in H e s s e n im Unvermögensfalle teils die Armen­ behörde, teils die Staatskaffe.

' Siehe v. Liszt, Straft, «uff. Bd. 1 S. 637Jf. - Sehr gut Petersen in «schaff. M. f. «r. P. 10, 257ff.

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IV. § 10. Zur Reform der Fürsorgeerziehung. I. Unübersichtlich wie die Fälle der Fürsorgeerziehung (f. oben §§8 u. 9) ist, infolge des Jneinandergreifens von Reichs- und Landesgesetzen, das geltende Recht der Fürsorgeerziehung. Ihre Ausführung liegt in den einzelnen Staaten verschiedenen Behörden ob. Vollends zersplittert ist die Staatsaufsicht über sie: Für Preußen allein sind, nach einer offiziellen Aufzählung in der ministeriellen Verfügung vom 12. Mai 1910 betreffend die Fürsorgeerziehung, nicht weniger als sechs Behörden an ihr beteiligt; mit Recht heißt es daselbst, daß „die Gefahr einer gewissen Regellosigkeit . . und einer Beunruhigung der Anstalten" die Folge sei. Die Verfügung sucht in verdienstlicher Weise durch Zusammenschließung der beteiligten Behörden zu gemeinsamen Revisionen einigermaßen zu vereinfachen. Es kommt hinzu, daß zwischen dem die Fürsorgeerziehung anordnenden Richter, insbe­ sondere dem Vormundschafts-, Jugendrichter usw., und ihrer Ausfühmng vielfach der notwendige Zusammenhang fehlt; er weiß vom Schicksale seiner Fürsorgezöglinge häufig nichts, geschweige daß er es beeinflussen kann. Hier sind für die einzelnen Provinzen, so sagt die amtliche Statistik des preußischen Ministeriums des Innern über die Fürsorgeerziehung für 1907 im Anschluß an einen von Koehne schon 1906 gemachten Vorschlag, Kommissionen nötig, bestehend aus Verwaltungsbeamten, Richtem, Pädagogen, psychiatrisch gebildeten Ärzten und geeigneten Frauen. Zwei ihrer Mitglieder würden jeweilig zu revidieren haben, ihre Berichte wären, wie die der Gewerbeaufsichtsbeamten zu veröffentlichen (o. a. O. S. XLIV). Die damit gegebene größere Öffentlichkeit würde, wie anzunehmen ist, das Vertrauen der Mgemeinheit in die Durchführung der Für­ sorgeerziehung erhöhen und deren Behörden damit die Erfüllung ihrer schwierigen Aufgabe eileichtem. II. Dte Setter der Fürforgeerziehungsanstalten und ihr Personal haben sich in einer Anzahl von Fällen als ungeeignet erwiesen. Zwei Fordemngen sind hier, so wenig diese Fälle verallgemeinert werden dürfen, zu betonen: die Sicherung ausreichender Gehälter und die Prüfung der Befähigung; zurzeit mangelt es an Ausbildungsanstalten und daher an fachmäßiger Vorbildung; zur Vorbildung aber gehören insbesondere gewisse psychologisch-psychiatrische Kenntnisse, — schon um der zahlreichen Minderwertigen, in Preußen etwa 70 %, willen. Der jetzige gefängnisartige Charakter vieler Anstalten und der strafartige Charakter ihrer Erziehung widerspricht dem oben (§ 7) festgestellten Wesen der Fürsorgeerziehung. Denn sie ist — wie wir sahen — nicht Beschränkung der Freiheit, sondem Beschränkung von Erziehungsrechten. Damit hängt auch die noch vielfach als notwendig angenommene Abschließung der Zöglinge hinter Schloß und Riegel zur Verhütung ihres Entweichens zusammen, an Stelle des bewährten Systems der „offenen Tür". Ebenso die Anwendung körperlicherZüchtigungund anderer mehr oder weniger „plumper Zwangsmittel", wie der amtliche Bericht des Preußischen Ministeriums des Jnnem für 1909 (S. 41) treffend sagt; sie ist aber neueünngs wieder durch Verfügung vom 25. Dez. 1910 selbst für weibliche Zöglinge — auch nachschulpflichtigen Alters — anerkannt und durch Verfügung vom 31. Okt. 1911 noch verschärft worden, sofern die vorherige Anhömng des Arztes für unnötig ervärt ist. Jede solche Maßregel ist, wie schon bemerkt, nichts als ein mangelhafter Ersatz pädagogischer Fähigkeiten der Anstaltsbeamten, auf den man im Auslande vielfach längst verzichtet hat (vgl. z. B. japanische Erziehungsgmndsätze bei Adolf Matthias', französische bei Fuchs 2). Es ist unerläßlich, die Erfahmngen des Auslandes auch beim Bau neuer Fürsorge­ erziehungsan st alten zu Rate zu ziehen und sie den bewährten deutschen Einrichtungen einzuarbeiten. Hier steht nach dem Urteil der Sachkundigen, wie B a e r n r e i t h e r u. a., das amerikanisch-englische Ausland in allererster Linie. Seine Fürsorgeerziehungs­ anstalten sind reine Erziehungsanstalten. Sie verwirllichen den nichtpönalen Erziehungseingriff am vollständigsten und komnten damit dem Wesen der Fürsorgeerziehung (oben § 7) am nächsten.

' A. Matthias in d. deutsch. Revue, Mürz 1911 S. 8 A. 1; s. Japans Regulat. kor the applicat. ok Prison Law 16. day of June of 41. year of Meiji art. 152 ff., bes. 157 ff. ' L. Fuchs in Bl. f. Gefängnis!. 43, 319 ff.

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GesängniSrecht und Recht der Fürsorgeerziehung.

III. Dringend geboten ist ein modemen Prozeßanforderungen entsprechender Jnstanzenzug bei Beschwerden der Zöglinge oder ihrer Angehörigen. Der judex a quo darf seinen bisherigen Einfluß auf ihre Entscheidung nicht behalten. In Summa ist in diesem Punkte wie in anderen das Rechtsverhältnis der Fürsorgeerziehung — ähnlich dem der Gefangenschaft — durchzubilden mit seinen einander gegenüberstehenden klaren Pflichten und Rechten. Diese Durchbildung aber setzt die Ausgestaltung des Fürsorgeerziehungsrechtes als eines Teiles des öffentlichen Rechtes voraus. Mrd dies ausgestaltete Recht Reichsrecht, kommt cs also zu dem viel geforderten Ettaß eines Reichs«Fürsorgeerziehungsgesetzes, so darf man hoffen, daß die Organisation einheitlicher, geschloßener und dämm erfolgvecheißender Wick als bisher.

C. 8 11. Hilfsanstalten. Zu den Hauptanstalten, die der Vollziehung von Freiheitsstrafe (oben A) oder von Für­ sorgeerziehung (oben B) gewidmet sind, tritt eine dritte Klasse von Anstalten, die sie zu ent­ lasten, ungeeignete Elemente ihnen femzuhalten, geeignete ihnen zuzuführen, sowie den Übergang ins Leben zu sichem bestimmt sind. Hier nur Folgendes:

a) Verwahrungsheime. Zur Unteckringung von Jugendlichen, die in Untersuchungshaft oder Polizeigewahrsam der Gefahr der Berühmng mit älteren, veckorbenen Elementen ausgesetzt sein könnten, sind Berwahrungsheime, den amenkanischenglischen detention homes angelehnt, geschaffen wocken. Ihr Ausbau, vor allem die Organi­ sierung der in ihnen nicht leicht durchzufahrenden Beschäftigung und ihre Berallgemeinemng wücke ein wettvolles Glied in der Kette der Sondereinrichtungen für Jugendliche schaffen. b) Beobachtungsanstalten. Die Fürsorgeerziehung findet teils in Familien, teils in Anstalten statt, die wieder untereinander verschiedenen Charakters sind. Der Erfolg der erziehettschen Behandlung des einzelnen hängt weseittlich von der ttchttgen Auswahl der Erziehungsmethode ab. Ob Familie, ob Anstalt, uitb in letzterem Falle, welche Anstalt im besonderen Falle das Mchtige sei, setzt die Feststellung der Natur des FürsorgezSglinges voraus. Hierfür sind hie und da besondere Anstalten errichtet, in denen er so lange festgehalten wick, bis die Entscheidung über den Weg der Erziehung möglich ist. c) Übergangsstationen. Sie biet en der Überwindung der den Strasenttaflenen oft verhängnisvollen Schwierigkeiten bei der Suche nach bürgetticher Stellung indem sie ihnen in der kttttschen Zeit Aufnahme gewähren.

Schlußwort. Reformvorschlägen zum Vollzüge der Gefängnisstrafe wie der Fürsorge­ erziehung sind wir, ohne sie in den Bockergrund zu schieben, nicht aus dem Wege gegangen; Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung haben uns dabei gefühtt. Für ihre Verwirklichung gill, was zu Anfang dieser Arbeit (und damit schließt sich deren Kreis) festgestellt ist: Cs sind da die Formen des konstitutionellen Staatsrechtes zu wahren; es ist ein konstitutionelles Gefängnis- und Fürsorgeerziehungsrecht zu schaffen, deffen Richt­ linien zu ziehen unsere Aufgabe war. Rechtssätze müssen danach eintteten, wo vockem Verwaltungsbestimmungen genügten. Wahren sie den für jede Verwaltung unentbehttichen Spielraum, so liegt nichts mehr als sie im Interesse aller Teile, — des Staates in erster Linie, seiner Veckände und seiner Beamten, wie der Einzelnen. „Ein König üchtet sein Land auf durch das Recht."

4tt39t(opSble der Recht-wlffenschaft.

7. der Neubearb. 2. Lust.

Bund V.

8

3.

Strafprozeßrecht mit einem Anhang:

Kriminalpolizeiliche Tätigkeit von

Professor Dr. Ernst Bettrrg in München.

Inhaltsübersicht Seite

Einleitung: Begriff deS StrafprozeßrechtS. $ 1.................................................................................................... Abriß der Geschichte de- Strafpro-eßrechts. §2............................................................................... Die Rechtsquellen, bo8 Maß ihrer Geltung unb chre Auslegung. § 3.................................... Da- Herrschaftsgebiet der StrafprozeßrechtSsLtze. § 4..................................................................

119 120 124 125

Erstes Luch: Die Grundbegriffe: Strafklagerecht, Prozetzgegenstand, Prszebfnbjerte, Pr-restverhSltnis. § 5.........................................................

127

Zweite- Kapitel. Der Pro-eßgegenstand. A. Die Zulässigkeit deS Straftechtsweges. $ 6...................................................................... B. Der Gegenstand des einzelnen Prozesses. § 7 .............................................................

128 130

Erstes Kapitel.

DaS Strafklagerecht.

Dritte- Kapitel.

Die Prozeßsubjekte.

A. Begriff. § 8............................................................................................................................. B. Die Lehre von den ordenllichen Strafgerichten. I. Die ordentliche Strafgerichtsbarkeit im allgemeinen. § 9................................... II. Die Gerichtsversonen. § 10........................................................................................... III. Die bestehenden Gerichtsanstalten und ihre Besetzung. § 11............................... IV. Die Formation der Gerichte zu Strafrechtsprechungskörpern. § 12.................. V. Der Geschäftskreis der Gerichte. 1. Im allgemeinen. § 13............................................................................................... 2. Die sachliche Zuständigkeit. § 14.............................................................................. 3. Die örtliche Zuständigkeit (der Gerichtsstand, Forum). § 15.......................... VI. Die Geschästsverteilung. § 16........................................................................................... VII. Das Verhältnis der Gerichte zueinander und zu anderen Behörden. § 17. . C. Die Lehre von den Parteien. I. Die Parteien im allgemeinen. § 18.............................................................................. II. Der Staat als Strafkläger; die Staatsanwaltschajt. § 19...................................

Vierte- Kapitel.

Das ProzeßverhältniS.

§ 20........................................

134 135 136 138 139

140 141 144 145 146

146 148 149

Zweites Buch: Der Prozeßgang. Allgemeiner Teil. Erstes Kapitel. Die obersten Grundsätze. A. Die Offizialmaxime und ihre Durchbrechungen. § 21.................................................... B. DaS Klageformprinzip. § 22................................................................................................... C. Das Jnstruktionsprinzip. § 23............................................................................................... D. Mündlichkeits- und Konzentrationsprinzip. § 24............................................................. E. DaS Prinzip der Öffentlichkeit. $ 25.................................................................................. F. Die prinzipielle Stellung der Staatsanwaltschaft und des Beschuldigten. § 26. .

150 151 152 152 153 153

Zweites Kapitel. Die Prozeßhandlungen. A. Allgemeines. I. Systematik und rechtliche Bedeutung der Prozeßhandlungen. § 27.................. II. Die Fähigkeit zu prozessualem Handeln. § 28........................................................ Fortsetzung: Vertretungs- und Unterstützungsverhältnisse. § 29.......................... Fortsetzung: Verteidigung und Beistandleistung. § 30............................................ III. Form und Zeit der Prozeßhandlungen. § 31........................................................

155 159 160 160 161

117

Ernst Beling, Strafprozeßrecht.

Sette

B. Einzelne Prozeßhandlungen. L Richterliche Entscheidungen. 1. Prozeßerledigende Entscheidungen. a) Im Mgemeinen. § 32.................................................................................... b) Die Rechtskraft irrsbesondere. $ 33............................................................... 2. Laufende Entscheidungen. § 34........................................................................... II. Prozeßrecht-geschäftliches Hardeln der Parteien. 1. Ladung. §35............................................................................................................. 2. Die Klage. § 36.................................................................................................... 3. Rechtsmittel. § 37.................................................................................................... III. Zustellung und Beurkundung. § 38....................................................................... IV. Die Stoffsammlung. 1. Im allgemeinen. § 39............................................................................................ 2. Das Beweisrecht insbesondere. a) Der Gegenstand des Beweises. § 40.......................................................... b) Die BeweiStatigkeit, insbesondere daS Unmittelbarteitsprinzip. § 41 . c) Die Beweismittel und ihre Benutzung. a) Im allgemeinen. $ 42 e.................................................. ß) Die sächlichen Beweismittel. $ 43...................................................... y) Die peinlichen Beweismittel. aa) bb) cc) d)

Zeugen. § 44....................................................................................... Sachverständige. § 45....................................................................... Die Parteien. § 46.......................................................................... Die Beweiswürdigung und die Konsequenzen der BeweiSfragebeantwortung. § 47............................................................................

Dritte- Kapitel. Sicherung-mittel im Gtrafprozeß. A. Übersicht und Einteilung-gesichtspunkte. § 48............................................................... B. Die einzelnen Maßregeln. I. Untersuchungshaft und vorläufige Festnahme. $ 49.......................................... II. Vermögen-beschlagnahme. § 50.................................................................................... III. Jndividualbeschlagnahme. §51................................................................................. IV. Edition-zwang. § 52................................................................................................ V. Durchsuchung. § 53.................................................................................................... VierteKapitel. Änderungen im P ro-eßv erhältniS und Prozeßbeendigung. § 54................................................................................................

Fünftes Kapitel.

Kosten- und Entschädigungsrecht.

§55....

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Besonderer Teil. Überblick über den Gang de -Verfahren-.

§56

183

Zweites Kapitel. D ie einzelnen Verfahren-arten. A. Das regelmäßige Verfahren. I. DaS Vorverfahren. 1. DaS Vorverfahren ohne Voruntersuchung. »/ Äiu» viinuiuun|jvv(i|uijicii. j ui. . ....................................................... b) Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nach Abschluß de- ErmittelungSverfahrenS und da- -lageprüfung-verfahrnn § 88......................... c) Die Entscheidung des Gericht- über die Anllage. § 59......................... 2. DaS Vorverfahren mit Voruntersuchung. § 60..............................................

*****

Erstes Kapitel.

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II. Das Hauptverfahren. 1. Erste Instanz. a) Vorbereitung der Hauptverhandlung. § 61.............................................. b) Die Hauptverhandlung. a) Im Mgemeinen. § 62............................................................................... ß) Die schwurgerichtliche Hauptverhandlung speziell. § 63.....................

187 190

2. Rechtsmittelinstanzen. a) Berufung-verfahren. § 64................................................................................ b) Revisionsverfahren. § 65................................................................................ III. Wiederauftnchme des Verfahrens. § 66....................................................... IV. Die Strafvollstreckung. § 67........................................................................................

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118

Ernst Befing, Strafprozeßrecht. Seite

B. Die besonderen Arten des Verfahrens. I. Privat- und Nebenklage. 1. In ihrer Strafklagefunktion. a) Privatklage. § 68................................................................................................... b) Nebenklage. § 69 ................................................................................................... 2. Die Bußklage. § 70 ................................................................................................... II. Mahnverfahren. § 71....................................................................................................... III. Verwaltungsstrafklage und Berwaltungsnebenklage. $ 72........................................ IV. Absen-verfahren. § 73 ................................ V. Objektives Verfahren. § 74 .......................................................................................... VI. Konsular- und kolonialgerichtliches Verfahren. § 75............................................... VII. Feld- und Forstrügeverfahren. § 76 .........................................................................

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Anhang: Die Technik der st r a fp r o - e s s u a l i s ch e n T a t s a ch e n e r f o r s ch u n g , sog. kriminalpolizeiliche Tätigkeit. § 77 ............................................

204

Einleitung. § 1. Begriff des Strafprozefirechts. I. Das Sttafpwzeßrecht steht in dienender Stellung neben dem materiellen Strafrecht, «S st um des Strafrechts willen da. Das Straftecht krümmt keinem Verbrecher ein Haar. Esbestimmt zwar, der Mörder habe die Todesstrafe, der Dieb die GefängnissKafe verdient, bei (Staat habe einen so oder so gearteten Strafanspruch gegen den Delinquenten, aber die Vebrecherwelt kann dieser papiernen Paragraphen spotten, solange sich das Strafrecht nicht wilend betätigt. Die Jnslebensetzung des Strafrechts ist Aufgabe des Srafprozeßrechts. Prozeß im allgemeinen (processus, Rechtsgang) ist ein Verfahren, eine Gesamtheit 601 Handlungen, die auf die Feststellung und Verwirklichung der vom materiellen Recht geforerten Zustände und Vorgänge (auf Rechtsschutz) gerichtet sind; Strafprozeß oder Stafverfahren (nach früherem Sprachgebrauch Kriminalprozeß, peinliches Verfahren) ist diejklye Prozeßgattung, die der Feststellung und Verwirvichung von Strafansprüchen dient; uni demgemäß ist Strafprozeßrecht (auch formelles Strafrecht genannt) der Inbegriff betrugen Rechtssätze, die bestimmen, in welcher Weise die Strafansprüche festgestellt und recisiert werden sollen. Normales Z i e l des Strafpwzesses ist die Aufdeckung des Strafanspruchs behufs seiner Vewirvichung. Die Strafklage ist somit, zivilprozessualisch gesprochen, kondemnatorische, Leiungsllage. Sie erschöpft sich einerseits nicht in dem bloßen Begehren einer Feststälun g: wo die Verwirvichung des Strafanspruchs ausgeschlossen ist, wie nament­ lich im Falle des Todes des Schuldigen, findet grundsätzlich kein Strafprozeß statt, und das detsche Recht kennt ganz folgerichtig auch keine Rechtsmittel, die bloß „en faveur de la loi“ einelegt würden; andererseits stattet derjenige, der die Sttafklage als konstitutive oder Beoirkungsklage auffaßt, diese mit Kräften aus, die ihr nicht zukommen: nicht erst das Strafurtil soll Schuldige schaffen oder rechtsgestalteiü» wirken, sondern schon die Tat hat den Täter schtdig gemacht; das Strafurteil spricht dies nur antoritattv aus. II. Das Strafprozeßrecht ist, wie das materielle Strafrecht, ein Teil des öffenllichen Rchts. Straftecht mid Sttafpwzeßrecht haben aber ein jedes sein scharf umrissenes Gebiet. Whrend das Sttafrecht die Voraussetzungen und den Jnhall des Strafanspruchs bestimmt, na» ihm also die Strafe lediglich auf dem Papier steht, hat es das Strafpwzeßrecht in keiner Wse mit der Strafbarkeit einer Tat, sondem lediglich mit Ob und Wie der Berfolgbar­ ke t einer Person zu tun. Es ist michin auch unmöglich, daß es Sätze gebe, die gemischten (stvfrechtlichen und stmfpwzessualen) Charakters seien, wie mehrfach behauptet wird; die schrfe Scheidung ist von Mchttgkeit z. B. für StPO. §§ 380, 384 (Revision), für die Frage derRückwirknng neuerlassener Rechtssätze usw.

III. Die sich zum Sttafprozeß zusommenschließenden Handlungen sind überwiegend solye von Behörden und Beamten. Die Einrichtung und anttliche Stellung dieser Sttafjustzorgane wird durch das Strafgerichtsverfassungsrecht geregelt, weicht unen in der Lehre von den Prozeßsubjekten mit zur Darstellung kommt. Literatur zum Strafprozeß: Aus der Zeit vor der RStPO. haben ihren Wert behalten: P la n ck, Systematische Darstellung des deutschen Strafverfahrens auf Grundlage der neueren Stnfprozeßordnungen (1857) und Zachariä, Handbuch des deutschen Strafprozesse-, 2 Bände (1S1, 1868).

Ernst Beling.

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Dem modernen Rechte sind folgende Werte gewidmet: die Lehrbücher von G e y e r (1880), v. Aries (1892), Ullmann (1893), Bennecke (1896), Bennecke-Beling (1900), Rosenfeld (4./6. Aufl. 1912); die „Borlesungen" von Birkmeyer (1898); bei Grundriß von Binding (5. Aufl. 1904); die Abrisse von Dochow (3. Aufl. 1880, Hellweg-Dochow 4. Aufl. 1890); John in der 1.—6. Auflage dieser Enzyklopädie, sowie von v. Lilienthal in BirtmeyerS Enzyklopädie der Rechtswissenschaft (2. Aufl. 1904); die Handbücher Don v. Holtzendorsf (1877—79), mit Beiträgen von Dochow, Fuchs, Geyer, Glaser, v. Holtzendorsf, Hugo Meyer, Meves, v. Schwarze, Ullmann) und Glaser (1883, 1886, nebst Sonderband: Beiträge zur Lehre vom Beweis 1883); die Rechtsfälle von Beling (3. Aufl. 1906), v. Rohland (1904); die Kommentare zur StPO, von BoituS (1877), v. Schwarze (1878), Thilo (1878), v. Bomhard-Koller (1879), Puchelt (1881), Dalcke (2. Aufl. 1881), Dorendors (1881), Keller (2. Aufl. 1882), John (1884—1891), Jsenbart- Samter (1893), Stenglein (3. Aufl. 1898), Mam roth (1900), Löwe-Hellweg (12. Aufl. 1907); die Kommentare zum GBG. von Keller (1877), Hauck (1879) und Thilo (1879); zahlreiche Artikel in v. Stengels Wörterbuch des BerwaltunMechtS (2. Aufl. v. Fleischmann 1912) und in v. Holtzendorffs Rechts­ lexikon (3. Aufl. 1880—1881). In die Technik des Strafprozesses führen ein: die Aktenstücke von Richard Schmidt (3. Aufl. 1904) und v. Hippel (2. Aufl. 1906); ferner Weizsäcker Formularbuch zu den deutschen Prozeßordnungen, 2. Abteilung (1891); v. Marck- Kloß, Die Staatsanwaltschaft (2. Aufl. 1903); Krobitzsch, Verfügungen in Strafsachen (2. Aufl. 1903); Kroschel, Abfassung der Urteile in Strafsachen (7. Aufl. 1911); Herm. Meyer, Protokoll und Urtell (3. Aufl. 1909); Delius, Gericht!. Praxis in Strafsachen (1900); Lucas , Anleitung zur strafrechllichen Praxis (3. Aufl. 1908); Ebert, DaS amtsgerichtliche Dezernat (4. Aufl. 1900). — Uber Politik der Strafrechtspflege: B e l i n g im Handbuch der Politik Bd. I 5. 346 (1912). — Eine besondere Zeitschrift für Strafprozeß gibt es nicht; die dem Strafrecht ge­ widmeten Zeitschriften dienen dem Strafprozeß mit. In der Zeitschrift für die gesamte Straf­ rechtswissenschaft fortlaufende Literaturberichte *.

8 2.

Abrih der Geschichte des Strafprozetzrechts.

Literatur: Die Darstellungen der Rechtsgeschichte überhaupt. Ferner: Rogge, Über Gerichtswesen der Germanen (1820); Dahn, Die Könige der Germanen (1861—1900); Heck, Altfriesische Gerichtsverfassung (1894); Brunner, Die Entstehung der Schwurgerichte (1872); Derselbe, Zeugen- und Jnquisitionsbeweis der karolingischen Zeit (1866); Planck, Das deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter, 2 Bde. (1879); v. Kries, Der Beweis im Straf­ prozeß des Mittelalters (1878); R. Löning , Der Reinigungseid bei Ungerichtsklagen im deutschen Mittelalter (1880); HiS, Strafrecht der Friesen im Mittelalter (1901); Knapp, Das alte Nürnberger Kriminalverfahren bis zur Einführung der Carolina, Z. f. StrRW. XII 200, 443; Knapp, Zenten des Hochstifts Würzburg (1907); Bennecke, Zur Geschichte des deutschen Strafprozesses: DaS Sttafverfahren nach den holländischen und flandrischen Rechten des 12. und 13. Jahrhunderts (1886); Scheel, Das alte Bamb. Strafrecht (1903); Ruoff, Die Rudolfzeller Halsgerichtsordnung von 1606 (1912); Kohler und degli Azzi, Das Florentiner Straftecht deS aIV. Jahrh, mit einem Anhang über den Strafprozeß der italienischen Statuten (1909). — Geib, Geschichte des römischen Kriminalprozesses bis zum Tode Justinians (1842); Zump t, Der Kriminalprozeß der römischen Republik (1871); Mommsen, Das römische Strafrecht (1899). — München, DaS kanonische Gerichtsverfahren und Sttafrecht Bd. I, 2. Aufl. (1874). — Biener, Beiträge zur Geschichte des Jnquisitionsprozesses (1827); Brunnenmeister, Die Quellen der Bambergensis (1878); Schötensack, Strafprozeß der Carolina (1904); R. Schmidt, Die Herkunft deS Jnquisitionsprozesses (1902); Chr. Fr. G. Meister, Ausführliche Abhandlung des peinlichen Prozesses in Deutschland Bd. I (1766—1776, 1796); v. Quistorp, Grundsätze deS deutschen peinlichen Rechts Bd. III, 6. Ausg. v. Roß (1821); Henke, Handbuch des Kriminalrechts Bd. IV (1838); Bauer, Lehrbuch des Strafprozesses (1836 ; 2. Ausg. v. Mörstadt 1848); C. I. A. M i t t e r m a i e r, Das deutsche Sttafverfahren, 4. Aufl. (1845, 1846); Martin, Lehrbuch des Kriminalprozesses, 6. Ausg. von Temme (1867); Abegg, Lehrbuch des gemeinen Kriminalprozesses (1833). — Biener, Das englische Geschworenengericht, 3 Bde. (1862—1856); Feuerbach, über die Gerichts­ verfassung Frankreichs (1826); Faustin H 6 1 i e , Traitö de Pinstruction criminelle, 2. ed. (1866, 1867); Huao Meyer, Tat- und Rechtsfrage (1860); Heinze, Parallelen zwischen der englischen Jury und dem ftanzösisch-deutschen Geschworenengericht (1864); Glaser, Anklage, Wahrspruch usw. im englischen Schwurgerichtsverfahren (1866); Mendelssohn Bartholdy, Imperium deS Richters (1908); Derselbe, Engl. Gerichtswesen im Court of criminal appeal (1909); Weidlich, Englische Strafprozeßpraxis und deutsche Strafprozeßreform (1906); Gerland, Die englische Gerichtsverfassung (1910). — Die in § 1 angeführten Werke von Planck und Z a ch a r i ä. 1 Auf die vorstehend aufgefühtte Literatur sei hiermit ein für allemal verwiesen. In den nach­ stehend bei den einzelnen Paragraphen gemachten Literaturangaben wird auf sie nicht zurückgegriffen.

Strafprozeßrecht.

12t

I. Die germanische Gerichtsverfassung kennzeichnet sich durch ihren demokratischen Charakter: das Urteil sprach die Volksversammlung selbst, der Vorsitzende oder „Richter" war also nicht gleichzeitig „Urteiler", sondem hatte nur die Leitung und den Urteilsvorschlag; im fränkischen Recht wurde ihm später auch der Urteilsvorschlag aus der Hand genommen unb auf die sieben Rachimburgen, weiterhin auf sieben lebenslänglich fungierende Schöffen, scabini, übertragen. Die Gerichtssipmgen waren naturgemäß öffentlich und mündlich. Das Verfahren wurde durch Klage des Verletzten oder feiner Sippe in Lauf gefetzt; ausnahmsweise konnte später in gewissen Fällen der König durch feine Beamten von Amts wegen Verbrechen ver­ folgen lassen (Rügegerichtsbarkeit). Die erste Frage in der Verhandlung war die, ob der Beklagte geständig fei. Wenn ja, so erging ohne weiteres Vemrteilung. Im anderen Falle sprach sich das Urteil darüber aus, wer zu beweisen habe (Beweisurteil), und verhängte Berurteillmg oder Lossprechung demgemäß nur bedingt. Nach Maßgabe des Urteils erfolgte sodann die Beweisaufnahme. Sie bezog sich niemals auf Tatsachen, sondem bestand regel­ mäßig in dem Eide der Partei (gewöhnlich des Beklagten), daß sie im Rechte sei, unterstützt von dem Eide der Eideshelfer, daß der Eid des HouptschwörerS „rein und nicht mein" fei; später traten als Beweismittel die Gottesurteile hinzu. Nach dem Urteile mußte die Partei das Urteil zu erfüllen geloben (fides facta), widrigenfalls sie friedlos gelegt wurde. Ein Instanzen­ zug fehlle naturgemäß; nur konnte der Urteilsvorschlag vor gesprochenem Urteil „gescholten" werden, dergestalt, daß der Scheltende nunmehr durch Zweikampf die Gerechtigkeit seiner Sacheerhärten mußte.

II. In Rom lag die Strafjustiz geraume Zeit bei den comitia centuriata, weiterhin bei den quaeationes („Schwurgerichten"), d. i. Ausschüssen, die, anfänglich nut für den ein­ zelnen Fall niedergefetzt, später zu „quaeationes perpetuae“ toutben. Das kaiserliche Rom brach mit der Laienjustiz und legte vermittelst des siegreichen Vordringens der sog. „extraordinaria cognitio“ nach und nach die Rechtsprechung ganz in die Hände beamteter Richter. Der römische Pwzeß setzte, wie der germanische, die Anllage eines. Anklägers voraus, so jedoch, daß grundsätzlich quivis ex populo zur Klageerhebung legitimiert war. Verhandelt wurde in Rom mündlich und, solange in foro verhandelt wurde, auch öffenllich. Die Grundlageder Bechandlung bildeten die Parteivorträge; an sie schloß sich die durch die Parteien selbst vor sich gehende Vorführung der Beweise an. Der Beweis war, anders als im germanischen Recht, auf Erzielung persönlicher Überzeugung gerichtet; nur toutbc die Aufdeckung der Wahr-

heit durch Zulassung der Folter gefähcket, die freilich gegen gewisse Perfonalklassen, wie Sol­ daten, (Senatoren, höhere Beamte, ausgeschlossen war. Rechtsmittel waren dem älteren römischen Prozeß unbdannt; in der Kaiserzeit bildete sich die appellatio heraus. III. Der römische Prozeß toutbc nach der Völkerwanderung dadurch zum r o m a Ni­ sche n, daß kanonischrechtliche und gewohnheitSrechlliche Elemente in ihn eindrangen. Dieser umgemodelte Prozeß, wie ihn hauptsächlich die italienischen Praküker in ihren Schriften darstellen, zeigt besonders folgende Abweichungen von dem römischen: eines Anklägers — und dies ist die bedeutsamste Neuerung — bedarf es nicht mehr; es tritt das Offizüüprinzip mit JnquisitionSform auf (kanonifchrechtlich in Anknüpfung an fränkisch-normannische Rechtseinrichtungen), so jedoch, daß auch das Auftreten eines Anklägers zulässig bleibt. Der Prozeß, verliert allmtchlich die Eigenschaften der Mündlichkett und Ofsentlichkrtt. In das römische

Beweisrecht dringt aus dem germanischen der Reinigungseid des Beklagten ein; die Folter wird start zur Anwendung gebracht. Allmählich bildet sich eine formale Beweistheorie aus, die dem Richter vorschräbt, unter welchen formalen Voraussetzungen er eine Tatsache glauben oder nicht glauben dürfe.

IV. Durch die Rezeption des römischen Rechts überhaupt fand auch der romanische Pwzeß in Deutschland Eingang, ohne jedoch den einheimischen ganz veckrängen zu können. Der durch diese Duplizität geschaffenen Unsicherheit wurde einigermaßen durch die Gesetz­ gebung abgeholfen. Das wichtigste der hierher gehörigen Gesetzgebungswerte war die Peinliche Gerichtsordnung Karls V., Constitutio Criminalis Carolina Don 1632 (PGO., CCC.). An sie schloß sich der gemeine deutsche Gerichtsgebrauch an; er schuf sodasgemeine deutsche StrafProzeßrecht. Germanischen Traditionen folgend behielt diese- die Schöffen als Urteiler beir

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Ernst Beling.

dem Richter nur die formelle Leitung des Prozesses zuweisend. Da aber die — ungelehrten — Schöffen angesichts der veränderten Zeitverhältnisse der Aufgabe, Recht zu sprechen, nicht ge­ wachsen waren, da sie insonderheit dem rezipierten römischen Recht hilflos gegenüberstanden, so konnte es nicht ausbleiben, daß ihre Tätigkeit zum wesenlosen Scheine herabsank. In allen irgendwie komplizierteren Fällen kam es nämlich zur sog. Aktenversendung an einen Oberhof oder eine Juristenfabütät usw., und das von da eingeholte Gutachten wurde dann nach Rückkunst der Men unverändert als Urteil publiziert, — ein Verfahren, das bereits die Carolina selbst den Gerichten zur Pflicht gemacht hatte. Es leuchtet ein, daß der Prozeß damit im wesenttichen schriftlich und heimlich geworden war; und geringe Reste der Mündlichkeit und Offeittlichkeit, die nach der CCC. noch bestanden, wurden von der weiteren Rechtsentwicklung beiseite geschoben. Das Anklagen im peinlichen Verfahren war bereits nach der CCC. eine nicht eben angenehme Tättgkeit (Kautionspflicht, eventuell Personalhast usw.); und da der Richter die Übeltäter auch „von Amts wegen annehmen" konnte, so erklärt es sich, daß im Laufe der Zeit in praxi lediglich der Jnquisitionsprozeß zur Anwendung kam. Die Inquisition war zunächst, im Anfang jedes Verfahrens, darauf gerichtet, ob überhaupt eine strafbare Handlung vorliege, und wer der Täter sei, inquisitio generalis; dann folgte die inquisitio specialis, gerichtet auf Mmrteilung eines bestimmten Täters. Das Beweisrecht bildete sich im Laufe der Zeit streng formal heraus (probatio plena, semiplena usw.); andererseits trat auch nach und nach eine gewisse Verwilderung ein, insofern die Verhängung einer Berdachtsstrafe zugelassen wurde in Fällen, in denen kein voller Beweis geführt war. Von der Rotter („peinliche Frage") routbe ein ausgedehnter Gebrauch gemacht; zu ihr kam es, wenn entweder ein halber direkter Beweis oder genügsame Indizien vorlagen. Erst den Angriffen von T h o m a s i u s (De tortura e foris Christianorum proscribenda, Halae 1705), Montesquieu, Beccaria usw. wich die Folter allmählich (zuerst in Preußen: 1740 Friedrich der Große). V. Überhaupt wurde durch die sog. Aufklärungsperiode, mehr noch durch die französische Revolution, dem gemeinen Sttafpwzeß in zahlreichen Puntten hart zugesetzt mit dem Erfolge, daß sich am Ende einer steilich jahrzehntelangen Entwicklung zahlreiche Landesgesetze von ihm lossagten und an seine Stelle den sog. „reformierten Sttafpwzeß" setzten (seit 1848). Dieser reformierte Strafprozeß schloß sich in weitgehendem Umfange an das stanzösische Recht und an das diesem zugmnde liegende englische Recht an; vorbildlich war besonders der Code d'instruction criminelle von 1808. Das Bindeglied zwischen Frantteich und Deutschland waren dabei die Rheinlande, die in napoleonischer Zeit die Bekanntschaft mit dem französischen Recht gemacht hatten und dieses auch nach ihrer Wiedewereinigung mit Deutschland nicht aufgeben mochten. Die Reform bezog sich zuvörderst auf die Gerichtsverfassung. Man hatte, wie man meinte, mit der Rechtsprechung durch Beamte üble Erfahrungen gemacht; besonders in politi­ schen Prozessen schien bei ihr jede Garantte für objektive, gerechte Beurteilung zu fehlen. Man forderte daher Unabhängigkeit der Gerichte und von diesem Gmndgedanken aus Heranziehung des Laienelements. Es kam zur Einfühmng der Geschworenengerichte (der Assisen, der Jury). In der Erkenntnis, daß die Entscheidung der Rechtsfrage bei Laien unmöglich gut aufgehoben sein kann, wagte man freilich anfänglich nur, die Beantwortung der Tatfrage in die Hände der Geschworenen zu legen; als sich aber aus der Spaltung der Rechts- und der Tatfrage unlösliche Komplikationen ergaben, überließ man den Geschworenen auch die Rechtsftage. Die reine Laien­ justiz, wie sie in der schwurgerichttichen Verfassung zur Geltung kommt, behielt indessen nicht die Alleinherrschaft; neben ihr trat die schöffengerichtliche Rechtsprechung auf den Plan, bei der Berufsund Laienrichter zusammen als einheitliches Kollegium entscheiden. Ein zweites durch die Reform­ gesetzgebung verwirklichtes Postulat war die Beseittgung des Jnquisitionspwzesses; an seine Stelle trat der Anklageprozeß, indem für die Klägerrolle eine Staatsanwaltschaft ins Leben gerufen wurde. Endlich wurde der schriftliche, mittelbare, geheime Prozeß durch den mündlichen, un­ mittelbaren, öffentlichen ersetzt und die formale Beweistheorie von dem Prinzip der freien Beweiswürdigung abgelöst. Unter den Partikularsttafgesetzen des 18. und des 19. Jahrhunderts sind folgende her­ vorzuheben: a) Noch von den gemeinrechtlichen Prinzipien beherrscht: Codex Maximilianeus juris Bavarici criminalis (1751); Constitutio criminalis Theresiana (1768); Kaiser Josephs II. Bor-

Strasprozeßrecht.

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schüft über Kriminalverfahren (1788); Kaiser Franz' II. Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizeiübertretungen (1803); Preußische Kriminalordnung (1805); Allgemeines Strafgesetz­ buch für das Königreich Bayern (1813). b) Gesetzgebungen mit reformiertem Strafverfahren: Bayrisches Gesetz, bett. Abände­ rungen des ... StGB. (1848); Preußische Verordnung über die Einfühmng des mündlichen und öffentlichen Verfahrens mit Geschworenen in Untersuchungssachen (1849), nebst Zusatz(1849\ jggg J; Thüringische StPO. (1850);

Waldecksches Gesetz, die Einfühmng des mündlichen und öffentlichen Verfahrens... betteffend (1850); Sachsen-AltenburgischeStPO. (1854); SächsischeStPO.(^); Oldenburgische StPO.

(1857); Lübische StPO. (1862); Badische StPO. (1864); Hessisch« StPO. (1865); Preußische StPO, für die neuen Landesteile (1867); Württembergische StPO. (1868); Hamburgische StPO. (1869); Bremische StPO. (1870)l.

VI. Es bestand kein Zweifel darüber, daß auch die Reichsgesetzgebung im wesenüichen bei dem reformierten Sttafprozeß verharren müsse. Waren auch keineswegs alle Neuerungen, die er gebracht, zugleich auch Segnungen, war namentlich die Heranziehung des Laienelements «in schwerer Mißgriff, so stand doch fest, daß, alles in allem genommen, der neue Pwzeß einen Fortschritt über die gemeinrechttiche Zeit darstellte. So standen auch die Entwürfe des Bundes­ rats aus den Jahren 1873 und 1874 durchaus auf dem Boden des reformierten Prozesses und nicht minder die Beratungen des Reichstages über diese Entwürfe. Zweifel und Meinungs­ verschiedenheiten tauchten freilich ttotz dieser grundsätzlichen Übereinstimmung in gwßer Zahl auf, besonders über die Frage, ob die schwersten Berbrechensfälle von Schwurgerichten oder aber von sog. gwßen Schöffengerichten abgeurteilt wecken sollten. Zusammen mit den übrigen „Reichsjustizgesetzen" kam schließlich dieStrafprozeßordnungfürdasDeutsche Reich zustande. Sie trögt das Publikationsdatum des 1. Februar 1877; in Kraft getreten ist sie am 1. Oktober 1879. Die Materialien zur StPO, sind enthalten in der Hahnschen Publikatton „Die gesamten Materialien zu den Reichsjustizgesetzen", Berlin 1877 ff. Gegenüber der lex lata haben sich seither aber, und zwar schon seit den ersten Jahren nach Einfühmng des Gesetzes, Wünsche nach weiterer, umfassender Reform erhoben, ganz besonders nach Einführung der Bemfung im Strafprozeß. Zu einem Resultat hat diese Reformbewegung, wiewohl die verbündeten Regierungen ihr schon mehrfach durch Vorlegung von Entwürfen entgegengekommen sind, bisher nicht geführt; lediglich die Entschädigung un­ schuldig Bestrafter und unschuldig Verhafteter ist erzielt wocken (RGesetze vom 20. Mai 1898 und 14. Juli 1904) und neuerdings die Beseitigung der Praxis, die hinsichüich der Preßdelifte zu einem „fliegenden" oder „ambulanten" Gerichtsstand gelangt war (RGes. vom 7. Juni 1902; s. unten § 15 I). Eine umfassende Reform wurde dadurch eingeleitet, daß 1903 das Reichsjustizamt eine Kommission einsetzte mit dem Auftrag, zu einer Reihe von Fragen, die in einem Fragebogen formuliert waren, Stellung zu nehmen; die Fmcht der Bemtung waren die „Protokolle der Kommission für die Reform des Sttafpwzesses" (2 Bände 1905). 1908 folgte der Entwurf einer StPO., ausgeackeitet vom Reichsiustizamt (ins Italienische übersetzt von Leto 1910); seinen Inhalt übernahm mit geringen Anbetungen der Bundesratsentwurf vom März 1909. Zur Verabschiedung eines neuen Gesetzes kam es jedoch nicht, da die Reichstagsberatungen wegen anderer parlamentarischer Aufgaben nicht zu Ende geführt toutben. Die Reform ist nunmehr bis zur Neugestaltung des materiellen Strafrechts hinausgeschoben. (Fortlaufende Berichte zur Sttafpwzeßreform in der Ztschr. f. Sttaft.-Wissensch.) 1 Bgl. Häberlin, Sammlung der neuen deutschen Strafprozeßordnungen (1852—1853); Sundelin, Sammlung der neueren deutschen Gesetze über Gerichtsverfassung und Straf­ verfahren (1861).

Ernst Beling.

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8 3. Die Rechtsquellen, das Matz ihrer Geltung und ihre Auslegung. Btteretur: Triepel, Böllerrecht und Landesrecht (1899); Posener, Das deutsche Reichsrecht im Verhältnis zum Landesrecht (1900); Arndtin der Zeitschr. f. ZtrRW. Bd. XXII, S. 371; Anschütz, ebenda S. 499. I. Die Quellen des deutschen Strasprozeßrechts sind keine anderen als die des deutschen Rechts übechaupt.

Das will sagen:

1. Deutsches Strafprozeßrecht ist nur dasjenige, das von einheimischen rechtbildenden Faktoren herstammt. Das Völkerrecht als solches bleibt ebenso wie alles ausländische Straf­ prozeßrecht außer Betracht (vgl. unten § 4 II); Staatsverträge sind Quelle deutschen StrafProzeßrechts nur insoweit, als sie durch Publikation nach innen gesetzesgleiche Bedeutung ge­ wonnen haben loder insoweit sie etwa durch deutsche gewohnheitsrechlliche Übung — nach­

stehend 2 — rezipiert sein sollten). 2. Gewohnheitsrecht ist, wiewohl man dies bestritten hat, von gleicher rechtbildender Kraft wie Gesetzesrecht. Bestand doch das gemeine Strafprozeßrecht in weitem Umfang aus Sätzen, die der usus fori geschaffen hatte, und gibt es doch auch heute noch Staatswesen ohne Strasprozeßgesetz lz. B. Kanton Uri). Auch findet sich nirgends int deutschen Recht ein Satz, der strafprozessualem Gewohnheitsrecht die Geltung abspräche. Derzeit wird allerdings ein solches kaum nachweisbar sein; es könnte sich aber recht wohl praeter legem bilden, z. B. in An­ sehung der Vergleiche im Privatklageverfahren, in Ansehung der Strafvollstreckung usw. 3. Die eigenartige staatsrechtliche Gestaltung Deutschlands (Nebeneinanderbestehen des Deutschen Reichs und der deutschen Gliedstaaten) bedingt eine Duplizität des deutschen Straf« Prozeßrechts wie des deutschen Rechts überhaupt. Cs gibt Reichs- und Landesstrafprozeßrecht. a) Das Schwergewicht liegt bei dem Reichsrecht. Den Kem des geltenden ReichSstrafprozeßrechts stellen dar die Strafprozeßordnung (StPO.) vom 1. Februar 1877 nebst ihrem

Einführungsgesetz (EStPO.) und das Gerichtsverfassungsgesetz (GBG.) vom 27"„'^?Uar.n^77

17. Mm 1898 nebst seinem Einführungsgesetz (EGBG.). An diese Gesetze, die zusammen mit der Zivilprozeß ordnung und ihrem Einführungsgesetz die „Reichsjustizgrundgesetze" bilden, gliedem sich als weitere Justizgesetze besonders an: die RechtsanwaltSoümung (RAO.) vom 1. Juli 1878, die 7. Juli 1879 Gebührenordnung für Rechtsanwälte vom das Gerichtskostengesetz (GKG.) vom 18. Juni 1878 30. Juli 1878 17 Mai 1898' bie Gebührenordnung für Zeugen und Sachverständige vom 1? ^fli l898; 24. Juni 1878

die Gebührenordnung für Gerichtsvollzieher vom 29. Juni 1881; die Militärstrafgerichtsordnung

lf.mäi 1898 (MStGO.) vom 1. Dezember 1898 nebst Einführungesetz (EMStGO.); das Gesetz über die Konsulargerichtsbarkeit vom 7. April 1900; das Gesetz über die Rechtsverhältnisse in den Schutz,. , 25. Juli gebieten vom 1900. ” 10. September

Zusammengestellt sind diese Gesetze in dem Werk von Kayser, Die gesamten ReichSjustizgesetze und die sämtlichen für das Reich und in Preußen erlassenen AuSsühmngs- und ErgänzungSgesetze, Verordnungen, Erlasse und Verfügungen. S. auch B i r k m e y e r S. 45 ff. — Textausgaben der StPO, mit Anmerkungen von: Olshausen (2. Ausl. 1905), Stau­ dinger (3. Aust. 1911), Dulde (12. Aust. 1910), Hellweg-Kohlrausch (§§ 176—178 StPO ), sondern auch

b) der, daß die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben hatte, aber das Gericht, sei es auf Antrag des Angeschuldigten, sei es ex officio, Eröffnung einer Voruntersuchung an» ordnet (§§ 176, 200 StPO.). Der Antrag auf Bomntersuchung verfällt der Wlehnung, wenn die Sttafverfolgung überhaupt oder die Bomntersuchung insbesondere unzMssig ist, also eine entsprechende pro­ zessuale Voraussetzung fehlt (das Gesetz — § 178 StPO. — detailliert dies unnötigerweise dcchin: der Anttag könne nur wegen Unzuständigkeit des Gerichts oder wegen Unzulässigkeit der Sttafverfolgung oder der Bomntersuchung oder weil die in dem Anttage bezeichnete Tat unter kein Sttafgesetz falle, abgelehnt werden; Unzuständigkeit des Gerichts und Nichtbenannt­ sein eines Strafgesetzes begründen eben auch Unzulässigkeit pwzeffualischen Vorgehens). Da­ gegen kann aus m a t e r i e l l - sttaftechllichen Gründen keinesfalls eine Wlehnung erfolgen; denn ob oder weshalb nicht eine sttafbare Handlung vorliegt, soll ja erst die Bomntersuchung aufhellen; insonderheit hat die Stärke des Verdachts gänzlich ungeprüft zu bleiben (anders als bei Fassung des Eröffnungsbeschlusses). Das Überführungsmaterial soll ja erst durch die

Bomntersuchung gesammelt werden. Zur Eröffnung der Bomntersuchung zuständig ist in allen Fällen der Untersuchungsrichter (§ 182); ablehnen kann dagegen nur das Gericht (§ 178 S. 2 StPO ). Der Eröffnung geht jedoch in den Fällen ad b die Anordnung des (beschließenden) Gerichts, daß eine Vomntersuchung eröffnet werden solle, voraus. Die Führung der Bomntersuchung liegt prinzipiell ebenfalls in der Hand des Untersuchungsrichters (§§ 182, 184 StPO., § 60 GBG.; vgl. jedoch § 183 StPO.). Die Ausdehnung der Vomntersuchung ergibt sich aus ihrem Zwecke: die Nachforschungen sind bis zu dem Puntte, aber auch nur bis zu dem Punkte durchzuführen, daß sich beurteilen läßt, ob hinreichender Verdacht der Tat vorliegt oder nicht. III. Nach geführter Voruntersuchung kann die Staatsanwaltschaft gemäß § 164 StPO. — oben § 22 — das Verfahren nicht mehr einstellen; sie hat vielmehr nur die Wahl, ob sie (abgesehen von dem Anttage auf Ergänzung der Bomntersuchung) Anllage erheben (bzw. in den Fällen II b die Anklage aufrechterhalten) oder bei dem Gericht die Nichteröffnung des Haupt­ verfahrens beantragen will. Gericht beschließt alsdann — gleichviel was die Staatsanwalt­ schaft beantragt hat — in der Weise wie oben § 69 angegeben mit folgenden Modifikattonen:

1. Die Einstellung des Verfahrens tritt hier auf als „Außerverfolgungsetzung des Angechuldigten".

Strafprozeßrecht.

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2. Statt bet in § 69 II, 3 erwähnten Beschlüffe ergeht Beschluß auf „Ergänzung der BorUntersuchung".

3. Beschließt das Gericht entgegen dem staatsanwaltschaftlichenAnträge aufAußerverfolgungsetzung die Eröffnung des Hauptverfahrens, so ist nachkäglich eine Anklageschrift einzureichen (§ 206 StPO ).

IL Das Hauptverfahren.

1. Erste Instanz. 8 61. a) Borbereitung der Hauptverhandlung.

Der Zeitraum zwischen dem Eröffnungsbeschluß und der Haupwerhandlung ist der „Vor­ bereitung der Hauptverhandlung" gewidmet. Er wird ausgefüllt durch Terminsanberaumung, Ladungen usw. (§§ 212—221 StPO ). In dies Stadium fällt aber auch die sog. „kommissarische" („stellvertretende") Beweiserhebung (§§ 222—224, 232 Abs. 2 StPO.), gewöhnlich als „Bor­ wegnahme eines Teils der Hauptverhandlung" bezeichnet. Es handelt sich hier um Beweis­ erhebungen, die in der Hauptvechandlung vorzunehmen unmöglich oder schwierig wäre; in der Hauptverhandlung wird alsdann lediglich Urkundenbeweis Wer die kommissarische Beweis­ aufnahme erhoben (§§ 250 Abs. 2, 249 i. f., 232 letzter Satz StPO.; vgl. oben § 24 a. E.). Soll die Hauptvechandlung vor dem Schwurgericht stattfinden, so muß spätestens am Tage vor der Hauptvechandlung die Geschworenenspruchliste dem Angeklagten zugänglich ge­ macht werden; wecken dann noch neue Namen auf die Liste gesetzt, so muß dem Angeklagten auch hiewon Mitteilung gemacht wecken (§ 277 StPO ).

b) Die Hauptverhandlung.

8 62. a) 3* tnigemetnen.

Literatur: Sleinfeller, Gericht-saal Bd. XLV S. 366; Meves, Goltd. «rch. Bd. XL S. 291, 416; Miltner, Die Beweisanträge de- Angeklagten in der Haupwerhand­ lung, Das Recht Bd. VI S. 668; Traut, Gericht-saal Bd. LVII S. 309; Derselbe, Gerichttsaal Bd. LIX S. 193; Otter, Goltd. Arch. Bd. XLVII S. 321; Gneist, Bier Fragen zur deutschen Strafprozeßordnung (1874), 124. I. Haupwerhandlung ist die mündliche (und regelmäßig öffenüiche) Verhandlung vor dem erkennenden Gericht behufS Entscheidung über den Prozeßgegenstand. Erforderlich ist in ihr Gegenwart des Gerichts, der Staatsanwaltschaft, in der Regel auch des Angeklagten, sowie unter Umständen des Verteidigers (vgl. im einzelnen §§ 225, 226, 229—230, 246, 145 StPO.; § 178 GBG ). Ohne den Angeklagten kann nur ausnahmsweise verhandelt wecken (Absenzverhandlung), nämlich: a) Wenn der Angeklagte anfänglich zur Stelle war und sich erst — was aber verhindert wecken kann (§ 230 Abs. 1) — während der Haupwerhandlung entfernt, so kann der Rest der Haupwerhandlung ohne seine Gegenwatt stattfinden, vorausgesetzt, daß er bereits zur Sache gehött worden war (§ 230 Abs. 2 StPO ).

b) Bei unentschuldigtem Ausbleiben des Angeklagten trotz ocknungsmäßiger Ladung kann vechandelt wecken, wenn es sich um eine nur mit Geldsttase, Hast oder Ein­ ziehung (einzeln oder kumulattv) bedrohte Tat handett (§ 231 StPO ). c) Bon der Pflicht zum Erscheinen kann der Angeklagte durch Gerichtsbeschluß diSpensiett wecken, wenn er dies beantragt und sein Aufenthalt vom Haupwechmcklungsotte weit entfernt ist, auch voraussichtlich keine andere Strafe als Freiheitsstrafe bis sechs Wochen oder Geldstrafe oder Einziehung (einzeln oder kumuliett) zu erwarten steht. Ist Dispens erfolgt, so kann ohne den Angeklagten verhandelt wecken, sofern er kom­ missarisch oder im Borverfahren ttchtettich als Beschuldigter vernommen wocken ist

(§ 232 StPO.).

Ernst Beling.

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In allen diesen Absenzsällen weicht aber die Gestaltung der Haupwerhandlung in nichts ab von der Präsenzverhandlung, nur daß natürlich die persönliche Anhörung des Angeklagten hinwegfällt. Kontumazialcharakter nimmt das Verfahren in keinem Punkte an. Es gilt also keineswegs ein Satz Wie der des Code d’inatr. crim. art. 186: „8i le prtvenu ne comparait pas, il sera jug6 par dtifaut“ (im Verfahren vor den Zuchtpolizeigerichten), oder wie der der Zivilpwzeßordnung § 331: „Beantragt der Kläger gegen den im Termin zur mündlichen Verhand­ lung nicht erschienenen Beklagten das Bersäumnisurteil, so ist das tatsächliche mündliche Vorbringen des Klägers als zugestanden anzunehmen. Soweit dasselbe den Klageantrag rechtfertigt, ist nach dem Anträge zu erkennen..." Vielmehr wird die Beweisaufnahme ganz in der ge­ wöhnlichen Weise durchgeführt, und lediglich nach ihrem Ausfall richtet sich der Inhalt des Absenzurteils. Die Leitung der Hauptverhandlung liegt in der Hand des Vorsitzenden und mit ihr die Vernehmung des Angeklagten und die Beweisaufnahme (§ 237 StPO ). Durch diese Vorschrift ist der Hauptverhandlung volle Einheillichkeit gesichert. Die StPO, hat — und zwar mit Recht — aus dem Klageformprinzip nicht die Konsequenz gezogen, daß der Haupwerhandlung der Typus einer Parteienverhandlung aufgedrückt werden müsse, vielmehr die Klageform, die ja doch eben nur Form ist, dem Interesse an Klarheit und zielbewußter Erforschung der Wahrheit ge­ opfert. Den berechtigten Interessen der Parteien ist dadurch Rechnung getragen, daß sie nicht allein fortwährend zu hören sind (§ 256), sondem ihnen auch zu gestatten ist, Zeugen und Sach­ verständigen Fragen vorzulegen (§ 238). Zudem hat die StPO, dem „Kreuzverhör" des eng­ lischen Rechts in der Weise Raum gegeben, daß „die Vemehmung der von der Staatsanwaltschäft und dem Angeklagten benannten Zeugen und Sachverständigen der Staatsanwaltschaft und dem Verteidiger auf bereit übereinstimmenden Antrag von dem Vorsitzenden zu überlasten" ist (§ 238 StPO ). Diese Bestimmung gehört aber zu den gänzlich abgestorbenen Sätzen der StPO., oder richtiger: sie hat niemals Leben empfangen. Die Erwägungen, denen sie ihre Entstehung verdankte, erwiesen sich als stark doktrinär, die Praxis hat sich mit dem Kreuzverhör nicht befreundet, — und es ist gut so! In der Leiwngsgewalt ist der Vorsitzende souverän. Nur muß er beisitzenden Richtern, Schöffen und Geschworenen gestatten, durch Fragen an die Zeugen und Sachverständigen mit einzugreifen, nachdem er selbst die Vemehmung beendet hat (§ 239 StPO ), und durch Gerichtsbeschluß können die Maßregeln des Vorsitzenden, insoweit sie gesetzlich unzulässig sind, inhibiert wewen (§ 237 Abs. 2; vgl. § 241). Die Signatur der strafpwzessualen Haupwerhandlung ist demnach von der der zivil­ prozessualen „mündlichen Verhandlung" insofern wesentlich verschieden, als im Strafprozeß das eigentlich verhandelnde Subjekt nicht die Parteien sind, sich also die Prozeßhandlungen nicht an den Parteivortrag als ihren Mttelpunkt angliedem, sondem vielmehr das richterliche Handeln den Mttelpunkt bildet. Dies ist die nattirliche Folge der Jnstruktionsmaxime (oben § 23). Deshalb wird auch die Hauptverhandlung von vomherein nicht auf die Anklage, sondem auf den gerichtlichen Eröffnungsbeschluß als ihr Fundament gestellt. Ein einleitender Anklage­ vortrag durch den Ankläger (wie ihn der Code d’instr. criminelle art. 315 kennt) fehlt im deutschen Recht, ebenso natürlich auch ein Defensivvortrag des Beschuldigten: eine Regelung, die mit Rücksicht auf die dadurch verbürgte größere Objekllvität der Verhandlung durchaus beifallswert erscheint. Die Pwzeßhandlungen in der Hauptverhandlung folgen in nachstehender Reihenfolge aufeinander: 1. Aufms der Zeugen und der Sachverständigen,

2. Vernehmung des Angeklagten zur Person,

3. Verlesung des Eröffnungsbeschlusses, 4. Vemehmung des Angeklagten zur Saä)e, 5. Beweisaufnahme, 6. Schlußvorträge der Parteien, 7. Abschließende Entscheidung des Gerichts.

Strasprozetzrecht.

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II. Tie Beweisaufnahme in der Haupwerhandlung (§§ 243—256 StPO.) wird namentlich von folgenden Sätzen beherrscht: 1. Alle zur Stelle befindlichen Zeugen und Sachverständigen, insoweit sie ordnungs­ mäßig „geladen" (nicht bloß „gestellt") sind, müssen vernommen, alle ottmungsmäßig zur Stelle gebrachten sächlichen Beweismittel müssen benutzt werden, auch insoweit das Gericht diese Beweisaufnahmen für überflüssig hält. Ausnahmsweise kann das Schöffengericht solche Beweismittel unbenutzt lasten; ebenso das L a n d gericht als Berufungsinstanz in Ubertretungsund Privatklagesachen; endlich jedes Gericht bei Verzicht beider Patteien (§ 244 StPO). 2. Die Benutzung weiterer als der zur Stelle befindlichen Beweismittel kann der Borritzende, falls nicht dadurch eine Aussetzung der Haupwerhandlung erfordettich wird, und in jedem Falle das Gericht anordnen (§ 243 Abs. 2, 3 StPO ).

3. Ablehnung eines parteiseitig gestellten Beweisanttages kann nur durch Beschluß des Gcrichtsganzen erfolgen (§ 243 Abs. 2 StPO ).

® ist selbstverständlich, daß solche Ablehnung nur aus Gründen, nicht willkürlich erfolgen darf. Berechtigt ist die Ablehnung zunächst immer, wenn ein gehöriger Beweisantrag nicht vorliegt, so, wenn der Antragsteller kein Beweisthema namhaft macht (z. B. der Angeklagte behartt, wie in der Praxis häufig vorkommt, lediglich dabei, das Gericht möge „seine Zeugen" vemehmen, ohne anzugeben, was sie denn eigenllich bekunden sollen); oder wenn er das Beweis­ mittel nicht so bestimmt bezeichnet, daß eine Ausführung der Beweisaufnahme möglich wird (z. B. er beruft sich auf einen Zeugen, der bei dem inkriminietten Vorfall zugegen gewesen sein soll, besten Namen und Aufenthalt er aber nicht angeben kann). Eine Ablehnung ist ferner am Platze, wenn das in Bezug genommene Beweismittel von einem relattven (oder gar abso­ luten) Beweisverbot getroffen wird (z. B. der Antragsteller beruft sich auf einen von der Amts­ verschwiegenheitspflicht nicht entbundenen Beamten rücstichllich einer von der Verschwiegen­ heitspflicht getroffenen Tatsache). Abzulehnen sind ferner Beweisanträge, deren Beweisthema dem Gericht unerheblich erscheint, so daß sich, auch wenn die unter Beweis gestellte Tatsache als wahr angenommen wird, das GesamWeweisergebnis nicht ändert (z. B. der eines Geld­ diebstahls Angellagte, gegen den zahlreiche Indizien vorliegen, beantragt Beweiserhebung darüber, daß er einige Tage nach dem Diebstahlstage sich von einem Dritten eine Mark geborgt habe; Ablehnung ist statthaft mit der Motiviemng, daß dieser Umstand feine Richtigkeit haben möge, aber im Zusammenhalt mit den bisher gewonnenen Indizien die Überzeugung von der Täterschaft nicht zu erschüttern vermöge, da die Aufnahme des Darlehns von einer Mark recht wohl int augenblicklichen Kleingeldmangel ihren Grund haben könne). Abgelehnt werden tarnt endlich die Beweiserhebung über Tatsachen, die zwar erheblich sind, aber vom Gericht schon für erwiesen angesehen werden (z. B. entgegen der Annahme des Eröffnungsbeschlusses behauptet der Angellagte unter Berufung auf einen neuen Zeugen, nicht mit einem gefährlichen Werk­ zeug, sondern nur mit der Hand geschlagen zu haben, und das Gericht hat die gleiche Überzeugung bereits aus der bisherigen Beweisaufnahme gewonnen). Abgesehen hiervon muß allen Beweisanträgen Rechnung getrogen werden. Ein durchaus falscher Standpunkt wäre es, wollte das Gericht danach fragen, ob es vielleicht schon vom G e g e n t e i l der unter Beweis gestellten Tatsache durch die bereits vorgeführten Beweis­ mittel überzeugt sei, so daß die Sache „schon genügend aufgeklärt sei". Das würde daraus hinauslaufen, daß dem Beweisgegner, also regelmäßig dem Angeklagten, der direlle Gegen­ beweis einfach abgeschnitten würde! Ist nicht alles sich bietende Beweismaterial dem Gericht vorgeführt worden, so bleibt eine Tatsachenfeststellung mit der Jrrtumsmöglichkeit behaftet. In seinen eigenen Geschäften kann man sich wohl mit einer unvollständigen Information be­ gnügen, weil sich hier jeder zufrieden geben kann, wenn e r es für gut hält. Der Richter im Sttafprozeß darf das aber nicht, weil er nicht mhen und rasten darf, bis er a l l e Erkenntnis­ quellen der Wahrheit, so viele ihrer zu finden sind, ausgeschöpst hat. Deshalb hat der Richter stets, wenn objektiv die Möglichkeit eines anderen Ergebnisses als des bisher gewonnenen besteht, die gebotene Fährte zu verfolgen, mag er persönlich auch noch so sehr überzeugt fein, daß die Wahrheit von ihm schon jetzt gefunden sei. Am allerwenigsten darf der Richter dem angebotenen Beweismittel, bevor er es benutzt hat, den Glauben versagen und um deswillen den gestellten

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Ernst Beling.

Beweisantrag ablehnen. Dies auch dann nicht, wenn das Gericht die Unglaubwürdigkeit auf persönliche Verhältnisse (Verwandtschaft des Zeugen mit dem Angeklagten usw.) gründen will; wenn das Reichsgericht in solchem Falle eine Ablehnung gutheißt, so übersieht es, daß der in abstracto noch so unglaubwürdige Zeuge in concreto doch sehr vertrauenswürdig sein, und seine Vernehmung das bisherige Beweisergebnis umwerfen kann. Auch eine Abwägung des an­ gebotenen Beweismittels gegenüber den schon benutzten darf nicht im voraus vorgenommen werden in der Tendenz, das angebotene Beweismittel unbenutzt zu lassen. Selbst wenn 99 Zeugen übereinstimmend eine Tatsache bekundet haben, kann sich durch Vemehmung des hundertsten Zeugen eine totale Umwälzung des Beweisfragestandes ergeben. Etwas ganz anderes ist es, wenn etwa die Vemehmung eines vom Tatort 50 Schritt entfernt gewesenen Augenzeugen mit der Begründung abgelehnt wird, daß dessen Bekundung gegen die Wahmehmung von zehn schon vemommenen, unmittelbar am Tatorte selbst befiMich gewesenen Zeugen nicht auskommen könne. Hier wird nicht der beantragte Beweis als unglaubhaft unterdrückt, sondern es wird die T a t s a ch e, daß sich der Sachverhalt in einer Entfemung von 50 Schritt anders dargestellt habe, als bisher zur Sprache gebracht, alsunerheblich charakterisiert. Es liegt also hier der oben erörterte Fall vor, daßdasBeweisthemaalswahr angenommen, ihm aber ein Einfluß auf die richterliche Meinungsbildung abgesprochen wird.

III. Zum Schlußvortrag (Plaidoyer) berechtigt sind beide Parteien, und zwar an erster Stelle die Staatsanwaltschaft. Ms die von dem Angellagten gegebenenAusführungen ist die Staats­ anwaltschaft zu erwidem befugt. Das letzte Wort gebührt dem Angellagten (§§ 257, 258 StPO.).

IV. Den Gegenstand der Urteilsfindung bildet (abgesehen von § 211 StPO.; oben § 59IV a) die im Eröffnungsbeschlusse bezeichnete Tat in ihrer Eigenschaft als „die Strafsache" (§ 263 StPO.; vgl. oben §§ 6, 7.). Andere Taten können nur unter den Voraussetzungen des §265 StPO, auf Gmnd einer Jnzidentanklage mit abgeurteilt werden (oben §59IV b). Nicht bindend für das erkennende Gericht ist dagegen (wegen der Einheitlichkeit der Straffache) die juristische Würdigung der Tat, wie sie der Eröffnungsbeschluß enchält; nur ist der Angellagte vorkommenden­ falls auf Berändemngen des rechtlichen Gesichtspunkts (fälschlich so genannte „Klageändemng" oder „Klagebessemng") hinzuweisen (§ 264 StPO.). Im Hinblick auf die Einheitlichkeit der Strafsache versteht sich auch von selbst, daß Verschiebungen im Tatsachenmaterial nicht aus­ geschlossen, vielmehr voll zu berücksichtigen sind. V. Fehlt eine Urteilsvoraussetzung, oder ist die Sache noch nicht spmchreif, so schließt der Termin mit einem Beschluß ab, z. B. auf Unzuständigkeitserklämng (§ 270 StPO.), Ver­ tagung usw.; nach erfolgter Vertagung muß, dem Konzentrationsprinzip gemäß, eine total neue Hauptverhandlung mit neuer Verlesung des Eröffnungsbeschlusses, neuer Beweisauf­ nahme usw. erfolgen. (Anders bei kurzen, d. h. sich nicht über den vierten Tag hinaus erstreckenden „Unterbrechungen", § 228 StPO.) Zu einer Vertagung hat es zu kommen, wenn die Ladungsfrist (§ 216 StPO.) gegen den Angellagten nicht gewahrt ist; wenn das Gericht mehr Beweismaterial, als zur Stelle befiMich und ohne Aussetzung erreichbar ist, für nötig hält; wenn ein an Stelle eines aus­ gebliebenen bestellter neuer Verteidiger die Vertagung zwecks Vorbereitung verlangt, und Unter­ brechung der HauptverhaMung nicht genügend erscheint (§ 145 StPO.); wenn sich der juristische Gesichtspunkt gegenüber dem Eröffnungsbeschluß ändert und entweder infolge der veränderten Sachlage eine Aussetzung zur genügenden Vorbereitung der Anllage oder der Verteidigung angemessen erscheint oder der Angellagte die Aussetzung verlangt, indem er einen neu hervorgetretenen, ein schwereres Strafgesetz oder einen Straferhöhungsgrund bedingenden Umstand bestreitet usw. VI. Unzulässig ist die Abhaltung einer Hauptverhandlung gegen eine Person des Beurlaubten­ standes oder eine gleichgestellte Person, solange sie zum Dienst einberufen ist (§ 9 Abs. 1 Satz 2 MStGO.).

§ 63. ß) Die schwurgerichtliche Hauptverhandlung speziell. Literatur: Heinze, Goltd. Arch. Bd. XIII S. 616, Bd. XIV S. 1; Die Prinzipien des braunschweigischen Strafprozesses, drei gutachtliche Berichte des Herzog!. Obergerichts Wolffenbüttel; Die Rechtsfindung im Geschworenen-

Strafprozeßrecht.

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gericht, Anl. 5 zu den Motiven des Entwurfs einer deutschen StPO.; H. Meyer, Tat- und Rechtsfrage im Geschworenengericht (1860); Glaser, Schwurgerichtliche Erörterungen (2. Aufl. 1875); v. Bar, Recht und Beweis im Geschworenengericht (1865); Binding, Die drei Grundfragen zur Organisation des Strafgerichts (1876); Saide, Fragestellung und Verdikt (2. Aufl. 1898); Bischoff, Goltd. Arch. Bd. XLII S. 349, XLVI S. 1; Freuden­ stein, Goltd. Arch. Bd. XXXIII S. 369; Otter, Goltd. Arch. XLVII S. 321, XLVIII S. 321; Kalau v. Hofe, Der Vorsitz im Schwurgericht (2. Aufl. 1912); Otter, Das Ver­ fahren vor den Schwur- und den Schöffengerichten (1907); Lazarus, Die sog. Schuld­ ausschließungsgründe usw., erörtert an dem Verfahren vor dem Schwurgericht (1911); Otter, Die Formulierung der Schwurgerichtsfragen, im Gerichtssaal Bd. LXIV S. 55; Görres, Der Wahrspruch der Geschworenen, und seine psychologischen Grundlagen, in Jurist.-psychiatr. Grenzfragen, Bd. I (1903); Feddersen, Das Schwurgericht (1907); MittermaierLiepmann, Schwurgerichte und Schöffengerichte (seit 1908).

Die Hauptverhandlung vor den Schwurgerichten weicht von der gewöhnlichen HauptverhaMung in folgenden Punkten ab: I. Die Hauptverhandlung beginnt hier mit der Bildung der Geschworenenbank durch Auslosung der Geschworenen aus der Spmchliste, woran sich die Vereidigung der Geschworenen anschließt (§§ 278-288 StPO.). Die Auslosung vollzieht sich so, daß der Vorsitzende die Namen der Geschworenen aus der Urne zieht in der Reihenfolge, in der er sie zu greifen bekommt, und daß nach Aufruf eines jeden Namens die Staatsanwaltschaft und der Angellagte eine etwaige Ablehnung zu erllären haben, und zwar die Staatsanwaltschaft zuerst. Mlehnungen sind so viele zulässig, als nicht das Zustandekommen der Geschworenenbank vereitelt wird, d. h. es müssen jeden­ falls zwölf Geschworene (und, wenn Ergänzungsgeschworene zugezogen werden, noch so viel Geschworene, als zur Ergänzung herangezogen werden) übrigbleiben. Zur Auslosung kann gescholten werden, wenn von den 30 auf der Spruchliste stehenden Geschworenen nach Aus­ scheidung der kraft Gesetzes ausgeschlossenen mindestens 24 anwesend sind. Die Zahl der zulässigen Mlehnungen schwankt also zwischen 12 (24—12) und 18 (30—12). Zwischen Staats­ anwaltschaft unb Angeklagtem werden die Mlehnungen gleichmäßig verteilt; beläuft sich deren Zahl auf 13,15,17, so hat der Mgellagte eine Wlehnung mehr als die Anllagebehörde. Sind der Angellagten mehrere, so üben sie die Wlehnung gemeinschaftlich aus; kommt eine Einigung zwischen ihnen nicht zustande, so werden die Mlehnungen unter sie verteilt, und zwar, wenn es nicht anders geht, durch Los. Für jede Hauptverhandlung wird eine besondere, aber auch nur eine Geschworenen­ bank gebildet (arg. § 278 StPO.); die Zahl der Sitzungstage ist gleichgültig. Erstreckt sich eine Hauptverhandlung auf mehrere Sitzungstage, so ist selbstverstäMich nicht für jeden Tag eine neue Bank zu bilden. Stehen umgekehrt an einem Sitzungstage mehrere Strafprozesse hintereinander zur VerhaMung, so ist im Prinzip für jeden Strafprozeß eine neue Bank zu bilden. In letzterer Beziehung sieht jedoch § 286 eine Ausnahme vor.

II. Alle auf das Prozeßverhältnis, das Strafklagerecht und die Prozeßgestaltung bezüglichen Entscheidungen (Beschlüsse, Formalurteile) sind Sache der drei Berufsrichter (des „Gerichtshofs"). Findet der Gerichtshof das Prozeßverhältnis mangelhaft, so stellt er das Verfahren ein; die Geschworenenbank tritt alsdann gar nicht in Tätigkeit. In der S a ch e selbst entscheiden:

1. über die Schuldfrage und die Frage nach mildernden Umständen die Geschworenen, und zwar (entgegen dem englischen, dem französischen und dem preußischen Recht) nicht bloß in tatsächlicher, sondem auch in rechllicher Beziehung, Tatfrage und Rechtsfrage (§ 81 GVG., §§ 262, 297 StPO.); 2. über die Straffrage mit Msnahme der Frage nach mildernden Umständen (und über die Frage nach den sonstigen im Strafpwzeß zu verhängenden Maßregeln: Buße, Über­ weisung in eine Besserungsanstalt usw.) der Gerichtshof. III. Auf die Beweisaufnahme folgt die Fragestellung an die Geschworenen (§§ 290—298 StPO.). Die Fragen werden durch den Vorsitzenden entworfen, endgültig festgestellt durch den Gerichtshof. Wird die Stellung einer Frage beantragt, so kann das Gericht sie nur aus Rechtsgründen ablehnen. Die Fragen müssen so gestellt werden, daß ihre Beantwortung mit

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Ernst Beling.

„Ja" oder „Nein" möglich ist. Deshalb sind echte Alternativfragen, das sind solche, bei denen ein „oder" im Sinne von aut unterläuft, unmöglich und nur insoweit eine Frage mit „oder" zulässig, als dieses „oder" die Bedeutung von sive hat (so „in oder gleich nach der Geburt" [§ 217 StGB.) zulässig). Mehrere Taten des Angeklagten dürfen ebensowenig wie die Taten mehrerer Angeklagten in eine Frage zusammengefaßt werden: kollektive Fragestellung ist unzulässig. Die Formuliemng der Fragen muß sich durchweg genau an die Worte des materiellen Straf­ rechts anschließen. Niemals fehlen darf die Hauptfrage; sie fragt, ob der Angeklagte schuldig sei im Sinne des Eröffnungsbeschlusses. Die juristische Formuliemng muß mit den Worten des betreffenden Strafgesetzes im eigenüichen Sinne unter Hinzufügung der „Erscheinungsform" der Tat (Versuch, Anstiftung usw.) geschehen. Die Tat ist dabei derart zu individualisieren, daß sie von anderen unterschieden ist. Daneben muß aber auch eine Spezialisierung für zulässig erachtet wecken, wiewohl dies bestritten ist, d. h. eine Hinzufügung der faktischen Um­ stände, in denen die Rechtsbegriffe gefunden wecken sollen. Die Hauptfrage lautet also z. B.:

„Ist der Angeklagte schuldig, am 13. Januar 1902 in Berlin einen Menschen, nämlich den Fabrikwächter Phylax aus Berlin, getötet und die Tötung mit Überlegung ausgeführt zu haben?" Ergibt sich die Möglichkeit einer vom Eröffnungsbeschlusse abweichenden rechtlichen Auf­ fassung der Tat, so wick eine H i l f s f r a g e gestellt für den Fall der Verneinung der Haupt­ frage. Ihr Bau ist der gleiche wie der der Hauptfrage („Ist der Angeklagte schuldig —?"). Möglicherweise können zu der Hauptfrage oder zu der Hilfsfrage für den Fall ihrer Bejahung Nebenfragen hinzutreten; das sind Fragen, mittelst deren einzelne Umstände der Tat zur Beantwortung verstellt wecken (nämlich: mildernde Umstände; die zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht bei Jugendlichen und TaubsMmmen (vgl. Code d'instr. crim. art. 340: „L’accu86 a-t-il agi avec discemement“?]; Strafaufhebungsgründe; Strafminderungs­ und -erhöhungsgründe [§§ 295, 297, 298 StPO.f). Außer den soeben aufgesührten, in eine Nebenfrage zu nehmenden Pattikelchen darf aus der Schuldftage, sie sei Haupt- oder Hilfsfrage, nichts zum Behufe gesondetter Fragefonnulierung herausgenommen wecken. Die Frage: „Ist der Angeklagte schuldig —?" umfaßt die Schuld­ ftage voll, einschließlich der Momente der Rechtswidrigkeit, der Schuldhafttgkeit, der Straf­ barkeil usw.; es ist unzulässig, eine Separatfrage nach Notwehr, Tmnkenheit, Eigenschaft als Abgeordneter usw. zu stellen. Die Nöttgung für die Geschworenen, alle diese Momente zu prüfen, liegt bereits in dem: „Ist der Angeklagte schuldig —?* Alle diese Punkte gehören zu den sog. subintelligenda. Denn zur Herstellung der Frageformel dienen, wie oben gesagt, lediglich das Strafgesetz im eigentlichen Sinne (insoweit also StGB, in Frage steht, §§ 80 ff.) und die Sätze über die „Erscheinungsform" der Tat. Andere als die bisher genannten sub­ intelligenda sind z. B ferner die aus §§ 3 ff. zu beurteilenden Umstände internationalstrasrechtlichen Charakters, feinet die Anwendbarkeit eines älteren oder jüngeren Strafgesetzes (§ 2 StGB ). Sache der Rechtsbelehmng (siehe IV) ist es, die Geschworenen aus die in der Frage nicht ausgedrückten subintelligenda hinzuweisen.

IV. An die Fragestellung schließen sich die Plaidoyers der Parteien, aber lediglich mit Bezug aus die an die Geschworenen gestellten Fragen, an (§ 299 StPO ). Es folgt hieraus die sog. Rechtsbelehmng, die der Vorsitzende den Geschworenen erteilt. Diese Rechtsbelehmng ist nicht identtsch mit dem sog. R6sum6 des früheren französischen Rechts (Code d'instruct. crimin. art. 336: Le prfeident r&umera l'affaire; il fera remarquer aux jurfe les principales preuves pour ou contre l’accusd). Vielmehr besteht die Rechtsbelehmng lediglich in einem die tatsächliche Seite des Falles nicht mit würdigenden „Expose“: einer Belehrung über die einschlägigen rechtlichen Gesichtspunkte (§ 300 Abs. 1 StPO.). Gebunden sind die Geschworenen an die Rechtsbelehmng nicht (anders nach englischem Recht), d. h. sie haben sich über den Inhalt und die Tragweite der anzuwendenden Rechtssätze selber ihre Meinung zu bilden, sie können den Rechtssatz anders auslegen, als es der Vorsitzende tut; selbstverständlich ist dagegen, daß sie, wie jeder Richter, an die anzuwendenden Rechtssätze und Rechtsbegrisfe selbst durchaus gebunden sind.

Strasprozeßrecht.

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Eine gutgemeinte, aber nicht unbedenkliche Bestimmung des Gesetzes verwehrt allen Beteiligten jede Erörterung über die erfolgte Rechtsbelehmng (§ 300 Abs. 2 StPO.).

V. Sodann fällen die Geschworenen chren Spmch (Wahrspmch, Beü>itt), indem sie die an sie gestellten Fragen beantworten und den Spmch durch den Mund des Obmanns „kund­ geben". Bei der Abstimmung entscheidet bie im § 262 StPO, geforderte Zweidrittelmaforität in Ansehung der Schuldfrage, in Ansehung der Frage nach mildernden Umständen einfache Majorität; dem Muster des englisch^nnerikanischen Rechts, welches Einstimmigkeit des Berditts verlangt, ist das deutsche Recht nicht gefolgt. Bei der Bemeinung mildernder Umstände ist daher anzugeben, daß diese Entscheidung mit mehr als sechs Stimmen, bei jeder anderen dem Angevagten nachteiligen Entscheidung, daß sie mit mehr als sieben Stimmen gefaßt ist ((§§ 301 bis 306 StPO.). Erscheint dem Gerichtshof der kundgegebene Spmch formell inkorrekt oder sachlich (d. h. in Ansehung seiner Vollständigkeit, seiner DeuÜichkeit oder seiner inneren Harmonie) mangel­ haft, so orbnet er ein Berichtigungsverfahren an, d. h. die Geschworenen haben dem Mangel abzuhelfen; sie sind dabei, wenn der Mangel ein sachlicher war, an keinen Teil chres früheren Spmches gebunden (§§ 309-312 StPO.). VI. Ist ein mängelloser Spmch erzielt, so wird er dem Angeklagten — der in dem Zeit­ punkt, in dem sich die Geschworenen zur Beratung zurückziehen, aus dem Sitzungszimmer entfernt, jetzt aber wieder vorgelassen wird — „verkündet". Lautet er auf „Nicht schuldig, so spricht der Gerichtshof den Angeklagten sofort ohne weiteres frei. Lautet er auf „Schuldigt, so erhalten nach der BeMndung des Spmches zunächst die Parteien das Wort, und erfolgt dann erst das Urteil des Gerichtshofes (§§ 314 ff ). Regelmäßig kann sich der Gerichtshyf dem Geschworenenspmch nicht entziehen, sondem hat auf ihm aufzubauen. Eine Ausnahme gilt für den Fall, daß das Gericht einstimmig dafür hält, daß sich die Geschworenen in der Haupt­ sache zum Nachteil des Angeklagten geirrt haben; alsdann erfolgt Verweisung der Sache vor das Schwurgericht der nächsten Periode zwecks erneuter Verhandlung (§ 317; sog. Kassation des Geschworenenspmchs). VII. Die abzufassende Urteilsurkunde enthält wie das im nicht-schwurgerichllichen Ver­ fahren ergangene Urteil Kopf, Tenor, Gründe und Unterschrift. Die Gründe können natürlich nur die des G e r i ch t s h o f s sein, d. h. sich nur auf die Straffrage (und zwar mit Ausschluß der Frage nach mildernden Umständen) beziehen, sie erhalten aber einige Vollständigkeit durch die Bezugnahme auf den Geschworenenspmch, der also gewissermaßen dem Urteil einverleibt wird (§ 316 StPO.). Auch so fteilich bleibt ein großes Manko: die Gründe, die zu dem Ge­ schworenenspmch geführt haben, bleiben ewig verschleiert, — auch dies ein Umstand, der zm Beseitigung der Schwurgerichte drängt.

2. Rechtsmittelinstanzen.

8 64. a) Berufungsverfahren.

Literatur: v. Schwarze, Die zweite Instanz im mündlichen Strafverfahren (1862); Derselbe, Gerichtssaal Bd. XXXV S. 385, Bd. XXXVII S. 1; « oitus, Kontroversen «d. II S. 395; « ronecker, Goltd. Arch. Bd. XXXIX S. 119. — «gl. Jur. LitBl. VI 193. VII 25.

I. Die Berufung (Appellation) ist heute nur gegen Urteile der Schöffengerichte und der Amtsgerichte gegeben (§§ 354, 211 StPO.). Die auf Einführung der Bemfung gegen Strafkammemrteile gerichtete Reformbewegung toirb jedoch voraussichtlich mindestens dann durch­ dringen, wenn, wie wahrscheinlich, die Strafkammern hn Sinne schöffengerichtlicher Organi­ sation umgestaltet werden.

II. Die Bemfung ist ein unbeschränktes Rechtsmittel, Verstöße aller Art können mittels Ihrer gerügt werden; namenllich ist mittels ihrer auch die Tatfragebeantwortung anfechtbar. IIL Das Berufungsgericht — die Strafkammer — prüft in den durch die Anfechtung bezeichneten Grenzen (§§ 368, 359; vgl. jedoch 343 StPO.) den ganzen Sach- und Stteitstand Enzyklopädie der Rechtswissenschaft.

7. der Neubearb. 2. Aufl.

Band V.

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mit völliger Freiheit genau wie die erste Instanz. Nova finden gleichviel, ob von den Parteien angeführt oder nicht, unbeschränkte Berücksichtigung (§ 364 StPO.). In der bemfungsinstanzlichen Hauptverhandlung wecken die Ergebnisse des bisherigen Bersahrens durch ein Mitglied de- Gerichts als Berichterstatter vorgetragen. Die Beweisaufnahme folgt im allgemeinen den die erstinstanzliche Beweisaufnahme beherrschenden Sätzen; jedoch kann in Abweichung vom Unmittelbarkeitsprinzip die Aussage eines Zeugen oder Sachverständigen durch Verlesung seiner in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung prockkvllierten Aussage ersetzt werden, wenn nicht neue Ladung erfolgt oder beantragt ist. Beim Schlußvortrag hat den Bortritt der Be­ schwerdeführer (§§ 366-367 StPO.). IV. Die Entscheidung des Bemfungsgerichts lautet: 1. wenn die Berufungsvoraussetzungen nicht gewahtt sind, auf Verwerfung der Berufung als unzulässig durch Beschluß (nach anderer Meinung durch Urteil); 2. wenn die Berufung zulässig ist, aber die Bemfungsinstanz zu demselben Ergebnis gelangt, wie die erste Instanz: auf Verwerfung der Bemfung als unbegründet durch Urteil; 3. wenn die Berufung zulässig ist und das Berufungsgericht zu einem anderen Ergebnis als das Untergericht gelangt: auf Aufhebung des Bockerurteils und regelmäßig eigene neue Entscheidung (ausnahmsweise fakultative Zurückverweisung in die Borinstanz) durch Urteil (§§ 363, 369 StPO.). Ar beachten ist das Beckot der reformatio in peius (§ 372 StPO.; vgl. aber § 343). Oben §371. V. Ausbleiben des Angeklagten in der Haupwerhandlung zieht, wenn er es war, der die Berusung eingelegt hatte, sofortige Verwerfung dieses seines Rechtsmittels in contumaciam nach sich. War die Bemfung von der Staatsanwaltschaft eingelegt, so Wick gegen den aus. gebliebenen Angeklagten in abeentie, aber regelrecht, verhandelt oder die Borfühmng oder Beschaffung des Angeklagten angeocknet (§ 370 StPO.).

8 65. b) Revisionsverfahren. Literatur: Lamm, Da» Rechtsmittel der Revision (1881); K. Schmidt, Der § 380 S1.P.O. (1885); S. Löwenstein, Einlegung und Begründung der Revision(1000);Fried­ länder, Arch. s. Bffenti. R. Bd. XIII S. 132 (1998); Beling, Revision wegen Ver­ letzung einer Rechtsnorm über das Verfahren im Strafprozeß, in der Festschrift für Binding, Bd. H (1911).

I. Die Revision (nach früherer Terminologie Nichtigkeitsbeschwerde) ist gegeben gegen Urteile der Strafkammern (erstinstanzliche wie zweitinstanzliche) und der Schwurgerichte (§ 374 StPO.). II. Die Revision ist ein beschränktes Rechtsmittel: mittels Revision läßt sich nicht be­ mängeln, daß die dem Urteilssyllogismus als tatsächliche Urteilsbasis angehörenden Tatsachenfeststellungen des angefochtenen Urteils unrichtig seien, vielmehr nur gerügt werden, daß

1. (innerer Urteilsverstoß) der Inhalt des untergerichtlichen Urteils an einem Rechts­ irrtum leide, sog. materiellrechlliche Rüge; oder

2. (äußerer Urteilsverstoß) das Urteil vermittels eines Prozeßverstoßes gewonnen, also trotz Fehlens einer Urteilsvoroussetzung gefällt oder trotz Fehlens einer Urteilsqualitätsvoraussetzung so wie geschehen gefällt wocken sei, sog. Prozeßrüge. Richtet sich die Revision gegen ein berufungsgerichtliches Sttaflammemrteil, so ist sie (ver­ fehlterweise) noch mehr eingeengt: Pwzeßrügen sind dann, mit Ausnahme nur der Rügen aus § 398, ausgeschlossen. § 380 StPO. Im Gebrauch des Rechtsmittels ist die Staatsanwaltschaft stark eingeengt: sie kann einmal die Verletzung von Rechtsnormen, die lediglich zugunsten des Angeklagten gegeben sind, nicht zum Behufe einer dem Angeklagten nachteiligen Aufhebung des Urteils geltend machen (§ 378); ünd sie hat gegenüber einem auf einem ocknungsmäßig zustande gekommenen Veckikt beruhenden Schwurgerichtsurteil die Revision nur insoweit, als sie die gesetzwidrige Stellung oder Nicht«

Strafprozeßrecht. stellung von Fragen rügt oder einen der in § 377 \ * Revisionsgrande (unten VI) geltend macht (§ 379).

195 3, 6 StPO, aufgeführten absoluten

III. Zu den Revisionsvoraussetzungen gehören außer frist- und formgerechter Einlegung die Revisionsanträge, d. h. die Rechtfertigung des Rechtsmittels durch Angabe des begangenen Verstoßes, und zwar bei Prozeßrügen durch spezialisierte Angabe, während bei materiellrechtticher Rüge die Angabe genügt, daß der UrteilSinhatt rechtsirrig sei (5§ 381—385 StPO ). IV. Die Hauptverhandlung vor dem Revisionsgericht charakterisiert sich besonders durch das Fehlen einer Beweisaufnahme im technischen Sinne: die tatsächliche Urteilsbasis des Vorder» urteilS bleibt für das RevisionSgencht bindend, soweit sie nicht durch einen gerügten Prozeßverstoß gewonnen ist, und sinkt, wenn letzteres der Fall ist, derart zusammen, daß sie, falls Kausalzusammen­ hang vorliegt (unten VI), auf Grund einer Zurückverweisung von der Borinstanz von neuem autzubauen ist. Nova können hinsichtlich der Utteilsbasis in der Revisionsinstanz nicht eingefühtt werden. Dagegen hat das Revisionsgericht alle für einen gerügten Prozeßverstoß relevanten Tatsachen sestzustellen (Feststellungsfreiheit, kein eigenttiches Beweisrecht; vgl. oben § 39).

Eingeleitet wird die Hauptverhandlung durch den Vortrag des ernannten Berichterstatters, woran sich die Plaidoyers der Parteien, soweit sie erschienen sind — der Anwesenheit des An» geflößten bedarf es nicht —, anschließen (§§ 390, 391 StPO ). V. Das RevisionSgencht hat die Sache nicht in vollem Umfange nachzuprüfen (§ 392 StPO ). 1. Ist die Revision auf eine Prozeß rüge gestützt, so kann das RevisionSgencht lediglich den speziell gerügten Verstoß nachprüfen. 2. Ist die Revision auf sog. materiellrechttiche Rüge gestützt, so ist zu prüfen, ob irgendeine — vom Beschwerdeführer gerügte oder nicht gerügte — Verletzung eines für den Urteilssyllogismus bedeutsamen Rechtssatzes erkennbar ist.

VI. Der Revisionsangriff ist erfolgreich, wenn sich bei der vorstehend geschilderten Prüfung wirklich eine Verletzung ergibt u n d das untergerichtliche Urteil als auf dieser beruhend erkannt wird (Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß und dem Urteil). ES bedarf aber dabei nur der Möglickkeit einer Verletzung oder eines Kausalzusammenhangs. So mit Recht die herrschende Meinung und die ständige Praxis des Reichsgerichts. Denn eine auch nur möglicherweise gesetzwidrige Entscheidung ist nicht existenzberechtigt. Ganz ohne Rücksicht auf den Nachweis eines Kausalzusammenhangs greifen die sog. absoluten RevisionSgründe (§ 377 StPO.) durch (Mängel im Richterpersonal; Unzuständigkett; Fehlen einer notwendigen Person in der Hauptverhmidlung; Verletzung des Ofsentlichkeitsgrundsatzes; Fehlen von Entscheidungsgründen; unzulässige Beschränkung der Verteidigung).

VII. Für die Abstimmung des Revisionsgerichts kann logischerweise nichts anderes gelten als für die Abstimmung im allgemeinen. Somit ist stets die zu treffende Entscheidung totaliter zur Abstimmung zu bringen, es wirt» darüber abgestimmt, ob das Bort»emrteil aufgehoben Wertren soll oder nicht, und nicht darüber, ob der eine oder andere Aufhebungs­ grund vorliege. Nimmt ein Teil der Richter Durchgreifen der Rüge Nr. 1 an, ein zweiter Durchgreifen der Mge Nr. 2, ein dritter Durchgreifen der Rüge Nr. 3, so ist das Borderurteil aufzuheben, wiewohl für keinen der Aufhebungsgründe, für sich allein betrachtet, eine Majorität vochanden ist. Demnach kommt es auch im Revisionsgericht so wenig wie anderwärts zu einer Abstimmung über die abstrakte Rechtsfrage. Selbsckerständlich ist, das das Revisionsgericht nicht anders als die Gerichte erster Instanz Entscheidungen, die die Schuldfrage in einer dem Angülagten nachteiligen Weise beantworten, nur mit Zweidrittelmajorität fällen kann (§ 262 StPO.). VIII.

Die Entscheidung des Revisionsgerichts lautet aus

1. Verwerfung der Revision als unzulässig durch Beschluß (nach anderer Meinung Urteil), wenn die Revisionsvoraussetzungen fehlen (§ 389 StPO);

2. Verwerfung der Revision als unbegründet durch Urteil, wenn die Revision Mässig, aber grundlos ist. Hiecher gehören folgende Fälle: a) Es ist ein Verstoß überhaupt nicht erkennbar; b) der Verstoß kann vom Revisionsgericht nicht berücksichtigt wecken (z. B. der Beschweckeführer hat 13*

Ernst Beling.

196

lediglich — unbegründeter Weise — einen Prozeßverstoß gerügt, während eine Rüge aus dem materiellen1 uMjt begründet sein würde, aber nicht angebracht worden ist; oder der Verstoß liegt an ein^echnLeren Stelle des Verfahrens als da, wo die Prozeßrüge einsetzt); c) der Verstoß erweist sich ani unschädlich für das Urteil — mangelnder Kausalzusammenhang —, abgesehen natürlich den absoluten Revisionsgründen.

3. Ist Revision dagegen zulässig und begründet, so erfolgt Aufhebung des Vorder» Urteils und^ie jelmäßig Zurückverweisung der Sache in die Vorinstanz (ausnahmsweise eigene

pwzeßerled^geide Entscheidung des Revisionsgerichts): §§ 393—397 StPO. Im Falle der Zurückverw^ldng ist für die neue untergerichlliche Entscheidung die Rechtsauffassung des zurück» verweisendsunrevjsionsgerichllichen Urteils bindend (§ 398 Abs. 1 StPO.) und reformatio in peius verbr tc (§ 398 Ws. 2). Die Fn schlichen Unterlagen, auf denen sich die neue untergerichlliche Entscheidung aas? baut, könnesälle nach Inhalt des revisionsgerichtlichen Urteils verschieden sein. Es ist nämlich einmal mä ie >, daß die Zurückverweisung unter Auftechterhaltung der bisherigen tatsächlichen Feststellungich, erfolgt; dies dann, wenn der Fehler, um dessen willen das Vorderurteil vom Revisionsgd e't aufgehoben wocken ist, die tatsächlichen Feststellungen unberührt läßt. In diesem Falpthchr zu fällende Urteil geschaffen werden, neh

§ 66.

III. Wiederaufnahme des Verfahrens.

Literatur:

Goltdammer in seinem Archiv Bd. VI S. 515; Remeis, Die Wieder­ aufnahme im Strafverfahren (1864); v. Kries, Goltd. Arch. Bd. XXVI S. 169ff.; Saide, Goltd. Arch. Bd. XXXIV S. 81; Ditzen, Gerichtsfaal Bd. XLVII S. 126, Ztschr. f. StrRW. Bd. XVIII S. 53; Rosen blatt, Gerichtsfaal Bd. LIII S. 450, Ztschr. f. StrRW. Bd. XXIII 580; West, Ztschr. f. StrRW. Bd. XVI S. 247, Gerichtsfaal Bd. LVI S. 180, LXI S. 147; Woermann, Das Wiederaufnahmeverfahren und die Entschädigung unschuldig Berurtellter (1899). I. Die Wiederaufnahme des Verfahrens ist ein Rechtsbehelf, der auf die ausnahmsweise Beseitigung eines rechtskräftigen Urteils abzielt (im Sinne der StPO, also kein „Rechtsmittel", früher als „außerordentliches Rechtsmittel" bezeichnet). Die Wiederaufnahme durchbricht also die res iudicata. Ihrem Wesen nach steht sie in direktestem Gegensatz zur Revision: es handelt sich bei ihr niemals um Rechtsrügen, sondern stets um Geltendmachung neuer Tatsachen. Die Gesetzgebungen sind regelmäßig bei der Zulassung dieses Rechtsbehelfs sehr zurückhaltend, um die Autorität des res iudicata nicht zu erschüttern. In gewissem Umfange freilich konnte sid) der Gesetzgeber dem Postulat einer Hintansetzung der Rechtskraft nicht entziehen, da er nicht flagrante Ungerechtigkeiten, die sich nach der Rechtskraft enthüllen, durch die Autorität des Gesetzes stützen soll (oben § 33 II a. E.).

IJ. Die Wiederaufnahmegründe der StPO, belaufen sich auf fünf im Falle der „günstigen Wiederaufnahme" (§ 399), auf vier im Falle der „ungünstigen Wiederaufnahme" (§ 402). Die Aufzählung dieser Gründe in §§ 399, 402 ist natürlich limitativ gemeint. Dabei muß es sich stets darum handeln, das Urteil in Ansehung des angewandten Strafgesetzes selbst aus den Angeln zu heben; bei gleichbleibendem Strafgesetz lediglich eine Ändemng der Strafe im Wieder­ aufnahmewege herbeiführen zu wollen, geht nicht an (§ 403 StPO.). Die Wiederaufnahmegründe im einzelnen sind folgende: 1. Die günstige Wiederaufnahme findet statt: a) wenn eine in der Haupwerhandlung zuungunsten des Angeklagten als echt vor­ gebrachte Urkunde fälschlich angefertigt oder verfälscht war; b) wenn durch Beeidigung eines zuungunsten des Angellagten abgelegten Zeugnisses oder abgegebenen Gutachtens der Zeuge oder Sachverständige sich einer vorsätz­ lichen oder fahrläfligen Verletzung der Eidespflicht schuldig gemacht hat:

Strafprozeßrecht.

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c) wenn bei dem Urteil ein Richter, Geschworener oder Schöffe mii oirit hat, der sich in Beziehung auf die Sache einer strafbaren AmtspflichtvM"sung schuldig gemacht hat, vorausgesetzt, daß letztere nicht von dem Bemrt^tzUn selbst ver­ anlaßt ist; ten

d) wenn ein zivilgerichtliches Urteil, auf das das Strafurteil gegrü t war, durch ein anderes, rechtskräftig gewordenes Urteil aufgehoben rootben >et

e) bei Beibringung neuer Tatsachen und Beweismittel (jedoch ist unter.' fern Gesichts­ punkte ein schössen gerichtliches Urteil nur dann angreifbar, *efcnn der Ver­ urteilte jene nova früher nicht gekannt hat oder ohne Verschultem nicht geltend machen konnte). 1 n 2. Die ungünstige Wiederaufnahme findet statt:

a) wenn sich eine in der Hauptverhandlung zugunsten des Angevagi als echt vor­ gebrachte Urkunde als gefälscht oder verfälscht herausstellt; 1 6

b) wenn durch Beeidigung eines zugunsten des Angeklagten abgelt n Zeugnisses oder abgegebenen Gutachtens der Zeuge oder Sachverständige sich «len^ vorsätzlichen oder fahrlässigen Besetzung der Eidespflicht schuldig gemacht hat^r

e) wenn bei dem Urteil ein Richter, Geschworener oder Schöffe mii oirkt hat, der sich in Beziehung auf die Sache einer strafbaren Amtspflichtvd^tzung schuldig gemacht hat; !e6u d) wenn der Freigesprochene gerichllich oder außergerichüich ein glai »ürdiges Tat­ geständnis ablegt. 'wü Ein jeder dieser Wederaufnahmegründe wM scharf in seiner Besonder, t erfaßt sein; behauptet z. B. der Angeklagte unter Anfühmng eines neuen Zeugen A, daß dit in der Haupt­

verhandlung vernommener Zeuge B unrichtig ausgesagt habe, so liegt an sich lediglich Fall 1 e vor; Fall Id nur dann, wenn der Angellagte dem Zeugen B Meineid oder fahrlässigen Falsch­ eid (nicht bloß objektiv unrichtige Aussage) zur Last legt. Dies ist besonders wichtig wegen 1404 StPO., wonach ei nauf die Behauptung einer straf bare «Handlung gegründeter Wiederaufnahmeantrag nur dann zulässig sein soll, wenn wegen dieser HandKing eine rechtskräftige Vemrteilung ergangen ist, oder wenn die Einleitung oder Durchführung eines Stmfverfahrens aus anderen Gründen als wegen Mangels an Beweis unmöglich ist. Die Anwendbarkeit dieses Paragraphen ist durchaus zu beschränken auf die Fälle 1 a—c und 2 a—c, wie dies jetzt auch ganz überwiegend angenommen wirt'. III. Die strafprozessuale Wiederaufnahme ist — im Gegensatz zur zivilprozessualen — cm keine Frist gebunden. Sie hat keinen Devolutiveffell und selbstverständüch keinen Suspensiveffekt; doch kann die Strafvollstreckung ausgesetzt weiden (§§ 407, 400 StPO.).

IV. Wiederaufnahmegericht ist grundsätzlich eben das Gericht, gegen dessen Urteil sich der Wederaufnahmeantrag richtet. Dem Zentralisationsprinzip, dem die französische Gesetz­ gebung und unsere RMStGO. vom 1. Dezember 1898 huldigen (Mederaufnahmegericht ist in Frankreich der Kassationshof, im Militärstrafprozeß das Reichsmilitärgericht), ist die StPO, nicht gefolgt. Im Gegenteil begünstigt § 407 StPO, eine weitgehende Dezentralisation, indem er in gewissen, genauer angegebenen Fällen die R e v i s i o n s gerichte, auch wenn ihr Urteil Objekt des Mederaufnahmeangriffs ist, von der Mederaufnahmefunktion entlaßet und diese den Borinstanzen zuweist.

V. Das Verfahren gliedert sich in das Zulaffungsverfahren, welches in einen Beschluß, durch den der Mederaufnahmeantrag als unzulässig verworfen wirt', oder in einen Zulassung-oeschluß auslaufen kann. Letzterenfalls folgt nunmehr ein Beweisaufnahmeverfahren und nach dessen Abschluß entweder ein Beschluß, durch den der Antrag als unbegründet verworfen wird, oder ein Wedereröffnungsbeschluß; an den Medereröffnungsbeschluß schließt sich das erneute Hauptverfahren an (§§ 407—413 StPO ). Die neue Hauptverhandlung ist ein novum iudieium ohne Beschränkung aus den geltend gemachten Wiederaufnahmegrund; nur ist, wie bei den Rechtsmitteln, reformatio in peius ausgeschlossen (§ 413 tos. 2).

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Ohne Hauptverhandlung tarn «S prinzipiell zu einer Sachentscheidung nicht kommen, ausgenommen zwei Fälle der Freisprechung: eine Freisprechung muß, wenn der Angeklagte tot ist, und sie k a n n gegen den lebenden Angeklagte bei Zustimmung der Staatsanwaltschaft s o s o r t auf Grund des Beweisaufnahmeverfahrens, also ohne Wiedereröffnung, ausgesprochen wecken (§ 411).

8 67.

IV. Die Strafvollstreckung.

Literatur: Weichert, Grundzüge der Strafvollstreckung (1902); (Balde und G enzmer, Handbuch der Strafvollstreckung und Gefängni-verwallung (2. Uufl. 1889); (Balde, Gefängnisordnung f. die Justizverwaltung in Preußen (1899): Klein, Vorschriften über Per« Wallung und Strafvollzug in den preußifchen Justizgefängnissen, 2. Aust. (1910); Jastrow Solid. Arch. Bd. XXXIII S. 29; Jinmler, das. S. 162; I. Weber, Vollstreckung von Vermögensstrafen in den Nachlaß (1900); Sollenscher, Solid. Arch. Bd. XLVII S. 270. Die Strafvollstreckung erfolgt nach Eintritt der absoluten Rechtskraft (vorher nur eventuell Bollstreckungssicherung nach §§ 325,326 StPO.); eine vorläufige Vollstreckbarkeit gibt es im Straf. Prozeß nicht: § 481 StPO. (Eine Ausnahme bildet § 125 Abs. 1 der Seemannsordnung vom 2. Juni 1902). Formale Vollstreckungsvoraussetzung ist eine vom Gerichtsschreiber erteilte, mit der Bescheinigung der Vollstreckbarkeit versehene beglaubigte Abschrift der Urteilsformel (§ 483). Die zu vollstreckende Strafe bemißt sich nach dem Bollstreckungstitel; doch ist auf eine zu vollstreckende Freiheitsstrafe unverkürzt diejenige Untersuchungshaft anzurechnen, die der Angeklagte erlitten hat, seit ihm gegenüber die subjektiv-relative Rechtskraft des Urteils eingetreten ist (§ 482). Regelrecht ist die Sttafvollstreckung unverzüglich nach Rechtskraft zu bewirken. Doch tritt, teils obligatorisch, teils fabütativ, Aussetzung der Vollstreckung ein, wenn einer der in §§ 485, 487, 488 genannten Strafaufschubsgründe vorliegt. Vollstreckungsorgan ist die Staatsanwaltschaft (mit Ausschluß der Amtsanwälte) (§ 483 StPO ), doch kann durch die Landesjustizverwaltungen die Vollstreckung in Schöffensachen den Amtsrichtern übertragen werden (§ 483 Abs. 3). Daß die Bollstreckungsbehörde die Sttafvollstreckung selbst zur Ausführung brächte, ist nicht vorgeschrieben, regelmäßig erfolgt die Ausführung der Vollstreckung, der „Strafvollzug", durch besondere Strafvollzugsorgane (Gefängnisverwaltung, Scharfrichter usw.). Entscheidungen des Gerichts werden notwendig zur Beseitigung von Zweifeln über die Gmndlagen der Sttafvollstreckung (§§ 490, 493), zur nachträglichen Substitution einer Freiheitsstrafe an Stelle einer nicht beitreibbaren Geldstrafe (§ 491), zur nachträglichen Zurück­ führung der in getrennten Urteilen ausgeworfenen Einzelstrafen auf eine (Gesamtstrafe (§ 492 StPO.).

Die besonderen Arten des Verfahrens. I. Privat- und Nebenklage.

1. In ihrer Strafklagefunktion. 8 68. a) Privatklage.

Literatur: Gneist, Vier Fragen zur deutschen StPO. (1874), 16 ff.; Binding , Die drei Grundfragen der Organisation des Strafgerichts (1876); Menzel, Privatklage (1880); Kronecker, Goltd. Arch. Bd. XXXIII S. 1; Anlage 4 zu den Motiven der StPO.; v. Schwarze, Erörterungen aus dem deutschen Strasprozeßrechte (1880) 20ff.; v. Liszt, Gerichtssaal 1878 S. 187; R. Schmidt, Staatsanwalt und Privatlläger (1891); Simonson, Goltd. Arch. Bd. XXXVIII S. 145; Frese, Ztschr. s. StrRW. Bd. V S. 683; Bd. XII S. 824; Freudenstein, System der Ehrenkränkungen (1880); Kade, Privatklage (1900); Thiersch, Anwendungsgebiet und rationelle Gestaltung der Privatklage (1901); Jonas, Widerklage (1893); Gerland, Systemat. Stellung des Privatllageverfahrens, im Gerichts­ saal Bd. LX S. 157; Debler, Wesen und Wirkungen der Sühneverfuchsvorschrift im Privatklageverfahren (1907); Breith, Die Widerklage nach § 428 StPO. (1908); Beling, Staat--

Strafprozeßrecht.

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flegebelitte im Privatklageverfahren, in den Blättern für Rechtsanwendung, Vd. LXXIV S. 6*7, 679; Otker, Konkurrenz von Privatklagerechten, in der Festschrift für Burckhard (191n); v. Birkmeyer, Zur Auslegung des § 432 der StPO., im Gerichtssaal, Bd. LXXIX S. 97. I. Privatklage ist zugelassen bei Beleidigungen, Körperverletzungen und Handlungen unlauteren Wettbewerbes, insoweit sie Antragsdelifte sind (§ 414 StPO.; beachte § 416; $ 28 RGes. vom 7. Juni 1909). Der Kreis der möglichen Prozeßobjekte ist also im Privatklageverfahren quantitativ geringer als im Staatsklageprozeß, insofern nicht alles, was im allgemeinen Strafprozeßgegenstand sein kann, auch Privatklagepwzeßgegenstand sein kann. Mit dieser Beschränkung besteht aber Jdentttät der Prozeßgegenstände im Privatklage- und int Staatsklageprozeß. In beiden handelt es sich (oon den Nebenansprüchen abgesehen) umdenstaatlichenStrafanspruch, und nicht etwa handelt es sich im Privatklageprozeß um Verhängung einer Privatstrase. II. Die Hauptabweichungen des Privatklageverfahrens gegenüber dem regulären Ver­ fahren sind folgende:

1. Als klagende Partei tritt nicht der Staat, sondem ein Privater auf (oben § 18 II, III) nämlich a) der Verletzte (§ 414, Abs. 1; beachte Abs. 3) oder

b) einer der neben dem Verletzten selbständig Strafantragsberechttgten (§ 414 Abs. 2, oben § 21II lb). Sind mehrere Personen hinsichttich einer und derselben Sttafsache privatklageberechtigt, so kann von Hause aus eine jede selbständig klagen, doch ist nach Erhebung der Möge seitens eines Berechtigten den übrigen nur noch der Beitritt dazu offen (§ 415 StPO.). Die Privatklage ist erhebbar, ohne daß zuvor die Staatsanwaltschaft vergeblich um Er­ hebung der Staatsklage angegangen worden sein müßte; die Privatklage ist im deutschen Recht nicht eine „subsidiäre", sondem eine „Prinzipale". Sie dient im deutschen Recht nicht alS all­ gemeines (= auf alle Delikte bezügliches) Mittel zur Herbeiführung der Bestrafung im Falle deS Nichteinschreitens der Staatsanwaltschaft; diesem Zwecke dient vielmehr das KlageprüfungSverfahren (oben § 581). Der Privatkläger hat int allgemeinen Anspruch darauf, ebenso zugezogen und gehört zu werden, wie im tegulöten Verfahren die Staatsanwaltschaft zugezogen und gehött wird (vgl. aber §§ 425, 426). Die Staatsanwaltschaft braucht nicht mitzuwirken, sie kann es aber, und sie kann sogar die Verfolgung übemehmen mit der Wirkung, daß von jetzt ab in den Formen des Staatsklageverfahrens weiterzuprozedieren ist (§ 417 StPO ). Nach dem Tode des Privatklägers kann eine Sukzession in dessen Parteiwlle stattfinden, wenn die Privatklage auf die Behauptung einer Verleumdung (§187 StGB.), mit Ausschluß der Kreditgefährdung, gestützt war. Sukzessionsberechtigt sind Ellem, Kinder und Ehegatte des verstorbenen Privatklägers (ohne Rücksicht auf ihre Erbenqualität). Der Prozeh­ fortsetzungswille muß sedoch innerhalb zweier Monate, vom Tode des Privatklägers an ge­ rechnet, bei Gericht erklärt werden (§ 420 StPO.). 2. Prozeßvoraussetzung ist bei Beleidigungen, wenn beide Teile im selben Gemeindebezirk

wohnen, daß erfolglos Sühne versucht worden ist (§ 420 StPO.). 3. Der Beschuldigte kann bei wechselseitigen Beleidigungen oder Körpewerletzungen gegen den Privatkläger bis zur Beendigung der Schlußvorträge in erster Instanz nach §428 StPO. Widerklage erheben.

4. Stellt sich die Unzulässigkeit der gewähtten Prozeßart in der Hauptvechandlung heraus, so ist das Verfahren durch Formalurteil einzustellen (§ 429 StPO.); es bleibt alsdann der Staatsanwaltschaft unbenommen, die Sache im Staatsllageversahren anhängig zu machen, da ja das Formalurteil keinerlei klagekonsumierende Wirkung äußert (oben § 33II).

5. Die Zulässigkeit eines Absenz- und Kontumazialverfahrens ist gegenüber dem Staats» klageversahren erweitert (§ 431 StPO ). III. Um die Privatklage dreht sich in der Theorie seit geraumer Zeit ein eigentümlicher Streit; von der einen Seite roirb Erstreckung der Privatklage auf zahlreiche andere Delikte (HauSfriedensbmch, Sachbeschädigung usw.) gefordett, von der anderen völlige Beseitigung der Privat-

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finge. Erwägt man, daß die Privatklage in vMg unmotivierter Weise ein prwatrechllichzivilprozessualeS Moment in den Stmfpwzeß hineinträgt, daß die Verfechtung des staatlichen Strafanspruchs durch eine Privatperson immer abnorm ist, so rottb man der Abschaffung der Privätfiage um so Mehr das Wort reden müssen, als die vielfach gerühmte Entlastung der

Staatsanwaltschaft durch die Zulassung der Privatklage auf Kosten der Gerichte und des recht­ suchenden Publikums erfolgt. Die Gesetzgebung der nächsten Zeit robb indessen wahrscheinlich die entgegengesetzte Richtung einschlagen und den Kreis der privatklagefähigen Delikte nicht unbeträchüich erweitern.

8 69.

b) Rebenklage.

Literatur: Stenglein, Gerichtssaal Bd. XXXV S. 271; Zimmermann, @e* richtSsaal 8b. XXXVI S. 497; Oppenheim, StebenHage (1889); Wolfsing, Recht­ liche Stellung de»Nebenklägers (1900); Rosenfeld, Rebenklage (1900). — S. auch Glaser, Der AdhäsionSprozeß, ÄL Schr. 8b. I S. 656; Ortloff, Der Adhäsionsprozeß (1864).

L Die Nebenklage in ihrer Funktion als Strafklage ist das Auftreten einer Privatperson oder einer Staatsbehöwe auf klägerischer Seite neben der Staatsanwaltschaft in einem auf öffentliche Klage hin anhängigen Verfahren behufs Betreibung der Bestrafung des Beschuldigten. Sie ist nicht eine „Klage" in dem oben § 36 entwickelten Sinne, da sie die Sache nicht erst anhängig macht, sondem sie schon anhängig vorfindet. Immerhin ist sie Betätigung eines, wenn auch bedingten und beschränkten Strafklagerechts und nicht bwß, wie öfter angenommen wird, eines bloßen Unterstützungs- (Jnterventwns-) Rechts. Denn die nebenklägerischen Prozeßhandlungen gewinnen Bedeutung nicht bwß kraft Zustimmung oder Nichtwiderspruchs der Staatsanwaltschaft, sondern aus eigener Kraft; der Widerspruch der Staatsanwaltschaft vermag sie nicht zu ersticken. Das Nebenklagerecht steht zu 1. jedem Privatklageberechtigten, 2. demjenigen, der durch ein Klageprüfungsverfahren die Erhebung der öffentlichen Klage durchgesetzt hat, wofern die Tat gegen sein Leben, seine Gesundheit, seine Freiheit, seinen Personenstand oder seine Vermögensrechte gerichtet war, 3. dem Prätendenten eines Bußanspmchs (§§ 435, 443 StPO.). (Über den vierten Fall, den der Verwaltungsnebenllage [§ 467 StPO ), s. unten § 72.) IL Der Nebenkläger ist keineswegs, wie manche annehmen, Vertreter des Staates, auch nicht bloßer Parteigehilfe (s. oben I), sondem Kläger neben dem Staat, Zweitlläger, Neben­ partei, ähnlich dem streitgenöffischen Nebenintervenienten des Zivilpwzesses. Seine Rechte sind int allgemeinen dieselben wie die eines Privatklägers (§ 437 StPO.) (wohingegen ihn die StPO, nirgends mit den Pflichten eines Privatklägers belastet). Der Eintritt in die Stellung als Nebenkläger vollzieht sich bei einem ursprünglich als Privatkläger Aufgetretenen ipso iure in dem Falle, daß die Staatsanwaltschaft die Privatklagesache übemimmt (§ 417 Ws. 3 StPO.); sonst erfolgt der Eintritt in diese Stellung durch Anschlußerklärung, auf die hin das Gericht über Zulassung oder Nichtzulassung der Nebenllage beschließt (§ 436 StPO.). Die Prozedurform ändett sich durch den Eintritt des Nebenklägers nicht; es wird in den Formen des Staatsklageverfahrens, nicht des Privatllageverfahrens fortprozediett.

8 70. 2. Die Bußklage.

83gL die Literatur zu § 69.

Ferner: Otker im Gerichtssaal Bd. LXVI S. 321.

Den gemeinrechtlichen Adhäsionsprozeß, vermittelst dessen an eine Strafsache eine konnexe Zivilsache angegliedert wurde, hat die StPO, nicht ausgenommen. Für Zivilsachen der Zivil­ rechtsweg vor dem Zivilrichter, für Sttaflachen der Sttaftechtsweg vor dem Strafrichter! Etwas anderes ist es, daß gewisse zivilrechlliche Ansprüche geradezu zu Teilen einer Sttaffache erklätt worden sind (oben § 6 IV). Hierher gehört namentlich der Bußanspmch. Diese Ein-

Strafprozeßrecht.

201

fllidxnutfl eines zivilrechüichen Elements in eine Strafsache machte natürlich gewisse Sonderbestimmungen für das Verfahren notwendig. Eine Buße kann nur demjenigen Berechtigten zugesprochen werden, der sie im Prozeß ausdrücklich begehrt. Das Bußbegehren kann erhoben wecken (§§ 443, 446 StPO.): 1. in Form der Privatklage (so jedoch, daß die Privatklage niemals b l o ß auf Buße ge­ richtet, sondem das Bußbegehren nm mit der Prwat st r a f klage kombiniert sein kann); 2. in Form der Nebenklage. Der Bußkläger ist als solcher Hauptpartei, und zwar alleinige Partei (unter Ausschluß der Staatsanwaltschaft). Der Prozeß ist trotz der zivilrechüichen Natur der Buße ein Strafprozeß. TS müssen daher die materiellrechtliche Beurteilung und die Prozedur hier ganz besonder­ scharf auseinandergehalten wecken. MateriellrechÜich ist das bürgerliche Recht maßgebend (Verzicht, Zahlung, Aufrechnung, Hingabe an Zahlungs Statt usw.), für die Form des Ver­ fahrens dagegen nicht die ZPO., sondem die StPO. (Geständnis, Anerkenntnis, Parteieid, Anwaltszwang, Beweislast usw.). Doch modifiziett § 445 StPO, dies in einem bedeutsamen Punkte, insofern der zivilprozessualische Satz Iudex ne e&t ultra petita partium auf den Buß­ prozeß übertragen wick.

8 71.

II. Mahnverfahren.

Literat«: v. Schwarze, Erörterungen I (1880) S. 1; Tischer, Der Strafbefehl (1884): Schulpenstein, Solid. Arch. Bd. XXIX S. 444; Huther, Solid. Arch. vd. XXXVII S. 137, Bd. XL S. 112; Gerland, Ztschr. f. SirRW. Bd. XIII S. 224; Zimmerte, GerichtSsaal Bd. L S. 44; Friedländer, Ztschr. f. SirRW. »d. XVIII S. 496, 667; Katzenstein, Mitteil. d. Intern. Krim. Verein. Bd. X S. 169; W. Mittermaier, das. S. 608; Levis, Ztschr. f. SirRW. Bd. XIX S. 319; Botin», Solid. Arch. «d. XXIX S. 93; Arndt, Ztschr. f. SirRW. «d. V S. 277; L ö b e, Zollstrafrechi (4. «ufl. 1912); Bonnenberg, Strafverf. in Zoll- und Steuersachen (2. Aust. 1899); Haven« stein, Zollgesetzgebung des Reichs (2. Aust. 1906); Katzenstein, Das preuß. Ges., bett, da» BerwaliungSstrasverfahren, vom 26. Juli 1897 (1907); Merkel, Da» Bers. bei Zuwiderhand­ lungen gegen die Borschrisien über die Erhebung öffenllicher Abgaben usw. im Königr. Sachsen (1891); GrnSberg, Zurücknahme des Etnspmch» und de» Antrag» auf gerichlliche Entscheidung, Da» Recht, »d. VI S. 619. Mahnverfahren ist ein schriftliches Verfahren, das zur Verhängung einer Sttafe ohne mündliche Hauptverhandlung führt, so jedoch, daß dem Beschuldigten gegen die so ergangene Entscheidung ein Rechtsbehelf zusteht, vermittelst besten er die Hinüberleitung der Straffache in das ockenlliche Verfahren erzielt. Das Mahnverfahren stellt sich asto als ein Versuch dar, die Angelegenheit ohne Hcmptverhandlung abzumachen. Hierher gehören: 1. der amtsrichteüiche Strafbefehl, anfechtbar mittelst „Einspmchs" (§§ 447—452 StPO.);

2. die polizeüiche Strafverfügung, anfechtbm mittelst „Anttags auf gerichttiche Entscheidung" (§ 6" EStPO., §§ 453—458 StPO.); 3. der administrative Strafbescheid in Zoll- und Steuerstraffachen, anfechtbm ebenfalls durch „Antrag auf gerichlliche Enffcheidung" (§ 6 * EStPO., §§ 459—469 StPO ). Ad 1. Ein Strafbefehl ist zulässig in den zur ursprünglichen Zuständigkeit der Schöffen­ gerichte gehörenden Straffachen (mit Ausnahme der in § 27 8-8 GVG. bezeichneten Vergehen), so jedoch, daß durch Strafbefehl höchstens Geldstrafe von 150 M. oder Freiheitsstrafe von sechs Wochen, sowie Einziehung festgesetzt wecken kann. Dem Klageformprinzip gemäß kann da» Gericht niemals ex officio einen Strafbefehl erlassen, sondem immer nur auf Süttrofl der Staatsanwaltschaft, der eine irreguläre Form der Klageerhebung darstellt. Trägt der Amt», richter Bedenken, dem Anträge zu enffprechen, so behandett er den Antrag, wie wenn er eine Anklage wäre, und eröffnet — hinreichenden Beckacht der Tat vorausgesetzt — das Haupt­ verfahren vor dem Schöffengericht. Wick ein Strafbefehl nicht durch Einspruch frist- und formgerecht angefochten, so erlangt er die Wirkung eines rechtskräftigen Urteils (oben § 33II).

Ernst Beling.

902

Wick dagegen Einspruch eingelegt, so kommt es zur Haupwechandlung; der Strafbefchl verwandelt sich alsdann gewissermaßen in einen Eröffnungsbeschluß. Die Haupwerhandbmg gestaltet sich im allgemeinen so, wie wenn kein Strafbefehl, sondem ein regulärer Eröffnungs­ beschluß vorangegangen wäre (namentlich ist das Gericht bei der Urteilsfällung an den in dem Strafbefehl enthaltenen Ausspruch nicht gebunden); jedoch ist der Angeklagte befugt, sich durch einen Verteidiger vertreten zu lassen, und andererseits ist er, wenn er nicht selber erscheint, genötigt, sich vertreten zu lasten, weil sonst der Einspmch ohne Eingehen auf die Sache selbst verworfen Wick. Ad 2. Die Partikulargesetzgebungen sind durch § 6 * EStPO., § 463 StPO, ermächtigt, den Polizeibehöcken in Übertretung-fällen (nicht Vergehens- oder Beckrechensfällen) die Festsetzung von Strafen bis zwei Wochen Hast oder Geldstrafe (bis 160 Mk.) sowie Einziehung zuzuweisen. Gebrauch gemacht haben von dieser Befugnis z. B. Preußen, Württemberg und Sachsen, nicht Bayem und Hessen. Die polizeiliche Strafverfügung wick, wenn gegen sie ein Antrag auf gerichlliche Entscheidung nicht angebracht wick, vollstreckbar; der materiellen Rechtskraft aber bleibt sie unteilhaftig. Trägt der Beschuldigte dagegen auf gerichlliche Entscheidung an, so wick zm Haupwechandlung geschritten, in der sich der Angellagte durch einen Verteidiger vertteten lasten darf. Das Urteil folgt den gewöhnlichen Regeln. Eigentümlichkeiten weist nur der Fall auf, daß nach Auffassung des erkennenden Gerichts die juristische Qualifikation der Tat eine polizeiliche Strafverfügung nicht zuließ; hier ist lediglich auf Aufhebung der Strafverfügung zu erkennen, und das weitere einem auf Klage neu anhängig zu machenden Verfahren zu überlasten, StPO. § 468. Ad 3. Bei „Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften über die Erhebung östenllicher Abgaben und Gefälle" kann ein auf Geldstrafe lautender Strafbescheid erlassen wecken, insoweit das Landesrecht auf Grund des § 6 3 EStPO. die Verwaltungsbehörde dazu ermächtigt hat. Ein Sttafbescheid, gegen den der Beschuldigte nicht auf gerichlliche Entscheidung angetragen hat, ist vollstreckbar, jedoch der materiellen Rechtskraft so wenig fähig wie die polizeiliche SttafVerfügung. Ist die im Sttafbescheid festgesetzte Geldstrafe nicht beitreibbar, so erfolgt Sub­ stituierung der an ihre Stelle zu setzenden Freiheitsstrafe in einem gerichtlichen Anhangsverfahren, StPO. § 463.. Wird dagegen ein Antrag auf gerichlliche Entscheidung gegenüber dem Strafbescheid gestellt, so findet eine Haupwerhandlung statt, die den gewöhnlichen Regeln folgt. Anders als im Verfahren nach polizeilicher Strafverfügung untersteht hier der Prozeßgegenstand voll der Kognition des Gerichts (also auch wenn sich herausstellt, daß die Tat gar nicht strafbescheids­ fähig ist, ergeht doch Sachurteil).

§ 72.

III. Berwaltungsstrafklage und Verwaltungsnebenklage.

Literatur: Die zu § 71 angegebenen Schriften von Arndt, Löbe, Bonnenberg, Merkel, Havenstein, Katzen st ein sowie die Literatur zu § 69. I. In Zoll- und Steuersachen kann die Verwaltungsbehörde, wenn die Staatsanwalt­ schaft es ablehnt, die Klage zu erheben, selbst bei Gericht anllagend vorgehen; das Verfahren gestaltet sich dann nach dem Vorbild des Privatklageverfahrens (§§ 464—466 StPO.). II. In Zoll- und Steuersachen, in denen die Staatsanwaltschaft die Klage erhoben hat oder ein Sttafbescheid erlassen war und der Beschuldigte auf gerichlliche Entscheidung ange­ tragen hat, kann die Verwaltungsbehörde in nebenllägerischer Funktion der Staatsanwaltschaft an die Seite treten (§ 467 StPO ). Sie ist alsdann Nebenorgan des Staates als Klägers.

§ 73.

IV. Absenzverfahren.

Literatur: Hugo Meyer, Strafverfahren gegen Abwesende (1869); £ r 11 o f f, Goltd. Arch. Bd. XIX S. 492, 590. I. In ganz geringfügigen Sttafsachen, nämlich wenn die den Gegenstand der Unter­ suchung bildende Tat nur mit Geldstrafe und Einziehung oder einem von beiden bedroht ist, kann gegen einen Abwesenden nach vorgängiger öffentlicher Ladung ein Hauptverfahren samt Haupwerhandlung (sowie Kosten- und Geldsttafvollstreckungssichemng) stattfinden (§§ 318 bis 326 StPO.); in schwereren Sachen ist gegen den Abwesenden dagegen nur ein Beweissicherunzs-

Strafprozeßrecht.

M3

verfahren zulässig (und Bermögensbeschlagnahme zwecks Herbeiführung der Gestellung; oben $ 601): $$ 327—337 IL Eine besondere Regelung hat das Absenzverfahren gegen Wehrpflichtflüchtige erfahren (jj 470—476 StPO.). ES ist ein auf einer schriftlichen Erklärung der Kontrollbehöche basierenbü schematisch sich abspielendes Verfahren, das ohne weitere Voraussetzungen gleichzeitig gegen mdjtere Personen behufs ungetrennter Verhandlung und Entscheidung gerichtet werden könn.

8 74.

V. Objektives Verfahren.

Literatur: Söbner, Die Maßregel der Einziehung (1892); Friedländer, Das

objektive verfahren (1890); Glücksmann, Die Rechtskraft der strafproz. Entscheidung über Einziehung und Unbrauchbarmachung (1898); Herschel, ebenso (1899); Schötensack, Der KonfiSkationSprozeß (1906); Hugo Mayer, Das objektive verfahren auf Privatklage (1910).

Unter „objektivem Verfahren" versteht man das sich in den Formen eines — wenn auch irregulären — Strafprozesses bewegende Verfahren, das auf „selbständige" Verhängung einer Einziehung oder Unbrauchbarmachung (§ 42 StGB, und verwandte Gesetzesbestimmungen) abzielt. Es ist zulässig, wenn die Verurteilung oder Verfolgung einer bestimmten Person nicht ausführbar ist. Die Klage erscheint hier als Antrag auf (Anleitung und Durchführung des objek­ tiven Verfahrens. Sie kann von der Staatsanwaltschaft wie vom Privatkläger echoben werden (§ 477 StPO ). Ihr Gegner ist jeder Einziehungs- (usw.) Betwffene, d. i. wer einen rechtlichen Anspruch auf den Einziehung-- (usw.) Gegenstand hat. Jeder Einziehungs- (usw.) Betroffene ist Ouasiangeklagter und hat daher Parteipflichten und Parteirechte (§§ 478—479 StPO.). Des­ halb ist auch namenüich der Grundsatz des rechüichen Gehörs strikt zur Anwendung zu bringen (von der herrschenden Meinung bestritten). Den Pvszeßgegenstand bildet ein Äisschnitt aus einer Bollstraffache, nämlich eben nur die Frage der Verhängung einer Einziehung oder Unbrauchbarmachung. Insoweit sich dieser Ausschnitt mit der Vollstraffache deckt, liegt Jdentttät der Sache vor, darüber hinaus Nichtidentttät. Hiemach bemißt sich die Rechtskraft des im objektiven Verfahren ergangenen Urteils.

§ 75. VI. Aonfttlar« und kolonialgerichtliches Verfahren. Literatur: Lipp mann, -onsularjurisdikt. im Orient (1898): Heilborn, Goltd. Arch. Bd. XLVII S. 363; Borwerk, KonsulargerichtSbarkeiUgefetz (1906); Dörr, Deutsches Kolonialstrafprozeßrecht, in der Ztschr. f. Kolonialpolitik 1908 S. 660; Bauer, Strafrechts­ pflege über die eingeborenen in den deutschen Schutzgebieten, im Arch. f. öffenll. Recht Bd. XIX S. 32; Dörr, Die Geltung der RStPO. in den deutschen Schutzgebieten, in der Ztschr. f. Kolonialpolitik 1912 S. 11. I. Der konsulargerichtliche Prozeß kennt keine Staatsanwalffchast und folgt daher (ab­ gesehen von der Privatklage) der Jnquisttionsmaxime. Die Rechtsmittel gegen konsulargericht­ liche Enffcheidungen sind beschränkt. Bemfungs- und Beschwerdegericht ist (abgesehen von den Beschweren gegen Enffcheidungen des Konsuls) das Reichsgericht. Schwurgerichte sind dem Konsularprozeß fremd; konsularische Schwurgerichtssachen sind im Inland« abzuurteilen. — Kmfulargerichtsbarkeitsgesetz vom 7. April 1900. II. Das Schutzgebietsgesetz vom 9. November 1900 überträgt im allgemeinen die das konsulargerichlliche Verfahren beherffchenden Grundsätze auf das kolonialgerichlliche, läßt aber zugunsten Kaiserlicher Bewrdnung gerade in den Hauptpunkten ein Blankett offen; das Blankett ist auSgefüllt wocken, und es ist durch Kafferliche Vewchnung die Mitwirkung einer Staats­ anwalffchast vorgeschrieben, dem Kolonialgericht auch für Schwurgerichtssachen Zuständigkeü üediet>en und ein Bemfungs- und Beschwecheinstanzenzug innerhalb der Schutzgebiete ein­ gerichtet Wochen.

8 76. VII. Verfahren in Feld- und Forftrügesachen. Literatur: vaillant, Das Forstrügeverfahren (1908); Hümmer, Das rechtSrhnnilsch-bayrifche Forstrügeverfahren (1908). Dem Landesrecht ist durch § 3 Abs. 3 EStPO. freigegeben, für Feld- und Forstrügesachen ei» besonderes Verfahren anzuochnen. Bon dieser Ermächttgung ist in den einschlägigen Partikular­ gesetzen z. B. in dem Sinne Gebrauch gemacht Wochen, daß die Feld- und Forstrügesachen durch

Trust Beling.

204

Strafbefehl unter dem Vorbehalt mündlicher Einspmchserhckung in einem sofort eventualiter anberamnten Hauptverhandlungstermin erledigt wecken; daß diese Sachen periodisch und miteinander veckunden auf Grund eines selb» oder forstbehöcklich geführten Rügeregisters ab­ gemacht wecken; daß ein Beamter der Forstverwaltung usw. die amtsmuvaltschaftlichen Funk­ tionen wahmimmt; daß die Feld» und Forstschutzbeamten als Zeugen unter Berufimg auf ihren Diensteid aussagen usw.

8 77.

Anhang:

Die Technik der strafprozessnalischen Tatsachenerforschnng, sog. kriminalp olizellich e Tätigkeit.

Literatur: Ortloff, Lehrbuch der Kriminalpolizei (1881); Riceforo, Die Kriminalpolizei und ihre Hilf»wissenschaften (1909); H. Groß, Die Erforschung de» Sach­ verhalt» strafbarer Handlungen (3. Aufl. 1909); Derselbe, Handbuch für Untersuchung», richter (5. Lust. 1908); Weingart, Kriminaltaktik (1904); Stieber, Praktische» Lehr­ buch der Kriminalpolizei (1860); Avt-Lallement, Da» deutsche Gaunertum (1868 bi» 1862); Klaußmann, Berliner Gauner (1888); Lindenau, in der Ztfchr. f. StrRWiss. Bd. XXII S. 287, XXIV S. 381; Paul, Handbuch der kriminalistischen Photographie (2. Ausl. 1900); Schneickert, Signalementslehre (I. Reiß, Da» gesprochene Porträt, II. Schneickert, JdentitätSfeststellung ohne Signalement; 1908); Schneickert, Grapho­ logie, Ztfchr. f. StrRWiss. Bd. XXXIII S. 637; Günther, Da» Rotwelsch des deutschen Gauner» (1906); Weingart, Handbuch für da» Untersuchen von Brandstiftungen (1895); Zell, Der Polizeihund al» Gehilfe der StrafrechtSorgane (1909); Windt-Kodicek, Daktyloskopie (1904); Klatt, Die Körpermessung der Verbrecher nach Bertillon und die Photographie al» die wichtigsten Hilfsmittel der gerichtlichen Polizei sowie Anleitung zur Aufnahme von Fußspuren (1902); Klage», Die Probleme der Graphologie (1910); Derselbe, Prinzipien der Charakterologie (1910); Poppse, Graphologie (1908). — Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik, seit 1898, hrSgeg. von H. Groß. Vgl. auch: Der Pttaoal der Gegenwart, HrSgeg. von Frank, Roscher und Schmidt (erscheint in fort­ laufenden Heften).

I. Die Gestalt, in der ein Lebensvorkommnis, das schließlich als Beckrechensfall abge­ urteilt wick, zum ersten Male in den Bereich der Wahrnehmung tritt oder sonst die Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist häufig nicht so, daß alsbald alle Tatsachen klarlägen, die für ein bejahendes oder vemeinendes richterliches Urteil erforderlich sind. Sehr häufig liegt von dem hypothetischen Verbrechensfall bei der ersten Kunde nur ein Teil der unmittelbar relevanten Tatsachen (oben §40II) zutage (z.B. esist eine Leiche mit einer Schußwunde aufgefunden wocken), oder es fehlen diese sogar völlig, und sind nur spärliche Indizien (oben §40112) aufgetaucht (z. B. ein Mensch wick vermißt). Dann ist von der ersten Kunde bis zu dem umfassenden Aufbau der tatsächlichen Urteilsbasis ein weiter Weg; es gilt, Schritt für Schritt die erforderlichen ergänzenden Lebenskonkreta dazu zu ermitteln. Diese Aufgabe der fortschreitenden Wissenserweiterung fällt in erster Linie und vomehmlich der Polizei zu (vgl. oben § 19 VIII). Die ihr gewidmete Tättgkeit wird daher gewöhnlich als kriminalpolizeiliche Tättgkeit bezeichnet. Doch ist diese Bezeichnung nur eine denominatio a potiori. Denn die in Rede stehende Tätigkeit ist gegebenenfalls auch von der Staatsanwaltschaft und vom Untersuchungs- oder Ermittelungsttchter zu entfalten; auch der erkennende Richter kann in die Lage kommen, „kriminalpolizeilich" tätig zu werden: wiewohl die Sttaffache in der HauptVerhandlung von den Ermittelungsanfängen weit entfernt ist, kann doch auch jetzt noch, besonders infolge überraschender Wendungen, die Notwendigkeit zum Fortspüren Auftreten; endlich können auch andere Interessenten veranlaßt sein, gleiche Wege einzuschlagen, so namentlich der Privatlläger, aber auch der Angellagte (in negativer Richtung, auch zur Ablenkung des Beckachts auf andere in posittver Richtung). Das Wesen der Aufspürtätigkeit ist hier überall das gleiche. Die kriminalpolizeiliche Tättgkeit ist Objekt rechtlicher Regelung insofern, als ihr überall da, wo sie die Interessensphäre anderer Personen als des Forschenden in Mitleidenschaft zieht, rechtliche Schranken gezogen sind (vgl. namenllich oben §§ 48—53). Soweit das nicht der Fall ist und innerhalb der rechtlichen Schranken handelt es sich dagegen bei ihr nur um die K u n st oder Technik der zweckmäßigen Wissenserweiterung. Die Kriminalpolizeiwissenschast ist daher kein Teil, sondern nur eine wenn auch wichttge Hilfswissenschaft der Strafprozeßrechtswissenschaft.

Strafprozehrecht.

305

II. Den Inhalt der Kriminalpolizeiwiffenschaft bilden Regeln der Lebenserfahrung darüber, wie man an einem gegebenen Bewußtseinsinhalt als den Ausgangspunkt neue Kenntnisse anzuschließen vermag. Um von dem Ausgangspunkt (der Kenntnis des lückenhaften Tatsachenmaterials) zu dem Endziel: der Bereitstellung von Beweismitteln auch über die noch fehlenden direkt relevanten oder Jndiztatsachen für den Urteiler zu gelangen, sind zunächst diese fehlenden Tatsachen als Objekt der eigenen Selbstvergewifferung ins Auge zu fasten. Für die Zwecke dieser Selbstvergewiffemng lehrt die Erfahrung des Lebens mancherlei: 1. Sie lehrt Erfahrungszusammenhänge zwischen der gesuchten Tatsache, wenn sie wahr ist, und gewissen Begleiterscheinungen oder vor oder nach ihr liegenden Vorgängen oder Zuständen, von denen aus auf jene im Wege des Jndizienschlusses gefolgert werden kann, so daß es vorteil­ haft ist, das Augenmerk auf sie zu richten (Lebensgepflogenheiten der Diebe usw.). 2. Sie lehrt weiter Regelsütze kennen, die zu wissen vorteilhaft ist, um (nicht wie bei 1. Folgerungen aus ihnen zu ziehen, sondem) dem Suchen nach Personen (im Sinne ihres Habhaftwerdens) oder Sachen Erfolg zu geben (z. B. Kenntnis von Fluchtpraktiken). 3. Sie lehrt namentlich die Mechode kunstmäßigen Vorgehens kennen, nach der der Suchende zweckmäßigerweise verfährt, um von einem Gegebenen aus weitere Kenntniffe hinsichtlich des konkreten Falles zu erlangen, besonders die Werkzeuge, Apparate usw. und die Art und Weste ihrer Verwendung. 4. Sie lehrt endlich — als Gegenstück zu 3. — die Mechoden der Wahrheitsverwirmng und -verschleiemng, wie sie von feiten der Täter usw. geübt werden, und deren Unschädlich» machung. III. Im Dienste der Auffpürtätigkeit kann das gesamte Erfahrungswissen der Menschheit von Bedeutung werden. Besonders häufig kommen für die Strafrechtspflege in Betracht: 1. von anthropologischen Kenntnissen: die Handschriftenkunde, die Kenntnis der Gaunerspräche, der Bilderschrift der Bettler usw. (Zinken), der Gestensprache, des Aberglaubens, der Eigentümlichkeiten der Zigeuner, der Tawerdeckungstriks, der Praktikn zur Veränderung des Aussehens (falscher Bart, falsches Haar usw.), der Simulationen (von Schwerhörigkeit usw.); speziell bei Diebstählen die Kenntnis der Kniffe von Taschendieben usw., bei Falschspiel die Kenntnis der Wichen Praktiken usw. 2. Bon physikalisch-chemischen Kenntnissen: die Fußspurenkunde (Deutung der Entstehung, Mckschlüffe von ihrer Form usw. auf die Person und deren Eigenschaften), Kenntnis des Unter­ schiedes von Menschen- und Tierblut, Kenntnis des Mechanismus von Schußwaffen; für die Erkundung von Gewalttaten an einer Person die Kenntnis der Entstehung von Wunden, von Strangulationsmarken, der Einwirkung von Giften; für die Erkundung von Abtreibungen die Abtteibungsmittelkunde; für die Erkundung von Diebstählen die Kenntnis von Dietrichen, Pech» pflastem, Brechwerkzeugen, zigeunerischen Wursangeln usw.

IV. Techniken, die für die kriminalistische Auffpürtätigkeit werwoll sein können, sind namentlich die Anthropometrie, insbesondere die Bertillonage; die Fingerabdruckverwertung (Daktyloskopie); die Abrichtung und Verwendung von Hunden (Polizeihunden); das Skizzieren, Modellieren, Photographieren; das Abformen, Abklatschen von Fußspuren mit Gips usw.; das Verfahren zur Konservierung von Leichenteilen, Blustpuren usw.

4.

Militärstrafrecht »>a> Militärstrafverfahren, Militärisches Disziplinarstrasrecht und Beschwerderecht, Ehrengerichtliches Verfahren

Heinrich Dietz, Kriegs-erichlsrat bei der 28. Division Zweigstelle Rastatt.

Inhaltsübersicht Militärstrafrecht. A. Ltalew«-.

2,it,

Schrifttum.......................................................................................................................................................211 L GeschichllicheS; Quellen................................................................................................................................214 II. Wesen und Zweck deS MllitärstrafrechtS........................................................................................... 214 III. Einteilung deS MStGB............................................................................................................................... 214 IV. Zusammenhang deS MStGB. mit anderen Gesetzen, besonders Strafbestimmungen. . 214 V. Das Herrschaftsgebiet des MMtärstrafgesetzbuchS.

B. Allgemeiner Lett. I. Die verbrecheris che Handlung.

1. 2. 3. 4.

Der Begriff deS Berbrechens...............................................................................................................217 Das Berbrechen als schuldhafte Handlung........................................................................................218 Besondere Erscheinungsformen des Verbrechens...........................................................................219 Außerhalb deS normalen gesetzlichen Tatbestandes stehende Umstünde..................................220

II. Die Strafe. 1. Hauptstrafen................................................................................................................................................... 221

a) Die einzelnen Hauptstrafen...............................................................................................................222 b) Das WertverhÄtniS der Frecheitsstrafen untereinander........................................................ 222 c) Die Vollstreckung der Freiheitsstrafen........................................................................................ 222 2. Nebenstrafen

...............................................................................................................................................223

a) Allgemeine..........................................................................................................................................223 b) Im einzelnen..........................................................................................................................................223

III. D ie Anwendung der Strafe auf das Berbrechen.

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Bedingte Anwendung der Strafe..................................................................................................... 224 Strafmilderungsgrünoe............................................................................................................................224 Strafschärfungsgründe............................................................................................................................224 Zusammentreffen von Handlungenund Gesetzen.............................................................................226 Strafzumessung......................................................................................................................................... 226 Verjährung...................................................................................................................................................227

6. Besonderer Dell. I. Strafbare II. Strafbare III. Strafbare IV. Strafbare

Handlungen gegen Handlungen gegen Handlungen gegen Handlungen gegen

die Pflichten der Unterordnung................................................ 228 die Pflichten der Überordnung..................................................... 228 die Verpflichtung zur Treue..........................................................229 das Eigentum..........................................................................................230

Milttürstrafverfahren.

erster Teil, eiuleitung. Schrifttum....................................................................................................................................................... 231 Ziff. 1. Geschichtliches. Quellen................................................................................................................. 232 Ziff. 2. Zur Auslegung der MStGO......................................................................................................... 233

215

Heinrich Dietz, Militärstrafrecht und Militärstrafverfahren.

zweiter Zeit

209

Die maßgebenden Personen de- Strafverfahrens (Prozeßsubjekte).

Erster Abschnitt. Der Gerichtsherr als Träger der Gerichtsbarkeit. Bist Zif. Bi fBiss.

3. 4. 5. 6. 7.

Biff.

8.

Seite

Die Militärgerichtsbarkeit als Ausfluß der Kommandogewalt ............................... Umfang der Militärgerichtsbarkeit.......................................................................................... Der Gerichtsherr und seine Organe..................................................................................... DaS Reichsmllitärgericht............................................................................................................ Die Militürjustizverwaltung...................................................................................................

234 236 237 241 241

Zweiter Abschnitt. Der Beschuldigte und seine Verteidigung. 242

Dritter Teil. Erster Abschnitt.

DaS Verfahren.

Allgemeine Grundsätze.

l. 13. 14. . 15. . 16. . 17. . 18.

Untersuchungsgrundsatz......................................................................................................................243 Strafverfolgungszwang.................................................................................................................243 Einheitlichkeit der Verhandlung; Mündlichkeit, Unmittelbarkeit. Schriftliche Be­ urkundung der Prozeßvorgänge ............................................................................................... 244 Wahrheitserforschung. Beschränkung auf die zur Anklage stehende Tat. Beweis­ erschöpfung. Freie Beweiswürdigung ..................................................................................244 Öffentlichkeit des Verfahrens........................................................................................................ 244 Gerichtssprache................................................................................................................................... 246 Ausschließung und Ablehnung von Gerichtspersonen............................................................246 Entscheidungen und Verfügungen............................................................................................... 246 Fristen, Wiedereinsetzung, Termine.............................................................................................. 246 Rechtshilfe............................................................................................................................................ 245

[iff. 19. jiff. 20.

Maßregeln zur Sicherung der Person der Beschuldigten.................................................. 246 Maßregeln zur Sicherung des Beweises.................................................................................. 246

tiff. 21. tiff. 22.

Die allgemeinen Beweisgrundsätze........................................................................................... 247 Die einzelnen Beweismittel........................................................................................................ 247

iff. 23. iff. 24.

Das Ermittlungsverfahren............................................................................................................. 248 Die Anklageverfügung, -erhebung................................................................................................ 248

Zweiter Abschnitt.

Die Zwangsgewalt im MilitSrstrafverfahren.

Dritter Abschnitt.

Vierter Abschnitt.

I

25. 26. 27. 30. 28. 31. 29. 32. Biff. 33.

iff. iff. iff. Biff. iff. Biss. iff. Bist

Der Beweis.

Das Verfahren in erster Instanz.

Die Vorbereitung der Hauptverhandlung.............................................................................. 249 Fünfter Abschnitt. Die Rechtsmittel. Die Hauptverhandlung ..................................................................................................................... 249 Das Urteil............................................................................................................................................. 249 Allgemeines........................................................................................................................................ 250 Die Strafverfügung .......................................................................................................................260 Die Rechtsbeschwerde ....................................................................................................................... 261 Verfahren gegen..................................................................................................................................... Abwesende......................................................................................................... 261 260 Die Berufung Die Revision.........................................................................................................................................262

Sechster Abschnitt.

Die Wiederaufnahme des Verfahrens.

Biff. 34.....................................................................................................................................................................

Siebenter Abschnitt. Biff* 36. Biff. 36.

252

Strafvollstreckung und Kosten.

Die Strafvollstreckung......................................................................................................................263 Die Kosten des Verfahrens........................................................................................................263

Anhang.

Feld- und Bordoerfahren.

Biff. 37.....................................................................................................................................................................

Enzyklopädie der Rechtswissenschaft.

7. der Reubearb. 2. Aufl.

Band V.

14

263

210

Heinrich Dietz, Militärstrafrecht und Mllitärstrafverfahren.

Das militärische Disziplinarftrafrecht. Schrifttum i . 1. Wesen und Bedeutung deS Disziplinarstrafrechts............................................................ i . 2. Quellen................................................................................................................................... Umsang der Disziplinargewalt. Abgrenzung vom Kriminalstrasrecht . . 3. Sacklicker l Umfang der Disziplinarstrafgewalt............................................................ i . 4. Persönlicher i rf. 6. Disziplinarstrafen.................................................................................................................. tf. 6. Disziplinarvorgesetzte.......................................... i . 7. Die AuSübuna der Disziplinarstrafgewalt . . iff. 8. Beschwerde über verhängte Disziplinarstrafen

266 266 266 266 267 268 260 260 261

Das militärische Beschwerderecht. Schrifttum......................................................................................................................................... Quellen. Bedeutung des Beschwerderechts..................... Voraussetzung der Beschwerde.............................................. DaS Anbringen der Beschwerde.............................................. Zurücknahme der Beschwerde................................................... Aufklärung des Sachverhalts.................................................. Die Entscheidung........................................................................ Weitere Beschwerde................................................................... Mißbrauch deS Beschwerderechts............................................. Beschwerdeführung der Beamten des Heeres (der Marine) Schlußwort............................................................... .....................

262 262 263 263 264 264 264 264 266 266 266

Die militärische Ehrengerichtsbarkeit. Schrifttum 266 Wesen und Zweck des ehrengerichllichen Verfahrens.................................................... 267 Quellen........................................................................................................................................267 ä 6* Rechtliche Natur der Ehrengerichtsverordnungen............................................................ 267 Abgrenzung vom Dihiplinarstrafrecht..................................................................................267 Abgrenzung vom Kriminalstrafrecht......................................................................................268 Abgrenzung von anderen staallich eingesetzten Ehrengerichten und dem amtlichen Disziplinarverfahren.................................................................................................................. 268 Die Zuständigkeit der Ehrengerichte..................................................................................... 268 Persönliche- Geltungsgebiet..................................................................................................268 Arten der Ehrengerichte.......................................................................................................... 268 Bildung der Ehrengerichte...................................................................................................... 260 Ehrenrat........................................................................................................................................269 Der Kommandeur...................................................................................................................269 Der Befehlshaber.......................................................................................................................270 Borerhebungen...........................................................................................................................271 Förmliches Verfahren....................................................... 271 Auslegung der EhrB..................................................................................................................273 Ehrenhändel................................................................................................................................273

Militärstrafrecht. Schrifttum: A. «efchichte. Karl Friccius, Geschichte des Deutschen, inSb. deS Preußischen Arieasrechts, Berlin 1848. Brauer, Das Militärstrafrecht der Römer, Arch. Krim. R. F. N. 1863, ErgänzungSheft S. 43 biS 56. I. Ortwein v. Molitor, Die Kriegsgerichte und MlitLrstrafen, Wien 1866. Damianitsch, Studien über das Mlitärstraftecht usw., Wien 1862. Dangelmaier, Die mllitärischen Berbrechen und Bergehen usw., Jrrsbruck 1884. Derselbe, Militärrechtliche und militärethische Abhandlungen, Wien und Leipzig 1893. IähnS, Geschichte der AriegSwissenschasten, München und Leipzig, 89—91. Dangelmaier, Geschichte des Militärstrafrechts, Berlin 1891 (Sonderabdruck aus Jahrb. füt Armee u. Marine Bd. 79). Erben, Ursprung und Entwicklung der deutschen Kriegsartikel, Mitt. d. Inst. f. öst. GeschForschg., TraBd. 6, Innsbruck 1900 und sonstige Arbeiten. Beck, Die ältesten Artikelsbriefe für das deutsche Fußvolk, München 1908. Derselbe, Beiträge Artikelsbriefe, Duellmmwate, Reiterrecht, Spießreckt im HandwMlR. v. B o n i n, Grundzüge der Rechtsverfassung in den deutschen Heeren zu Beginn der Neuzeit, Weimar 1904. v. B onin, Zur Geschichte deS Kriegsgerichtswesens, Rastatt 1912.

B. Erläuterungen (des. Kommentare) zum MStGB. v. Koppmann und Weigel, Kommentar zum MStGB., München 1903. EndreS, Handausgabe -um MStGB., Würzburg 1903. Schlay er, Mlitärstraftecht in Hue de Grais’ Handb. b. Gesgeb., Berlin 1904. Herz und Ernst, Sttafrecht der Militärpersonen (Handbuch) Berlin 1906. Dieselben, Kommentar -um MStGB., 2. Aufl., Berlin 1908. Elsner v. Gronow u. Sohl, Mlitärstraftecht (Handbuck), Berlin 1906. Rotermund, 2, Kommentar zum MStGB., Hannover^4909. Posener, RechtSlexikon 1910. Romen und Rissom, Kommentar zum MStGB., Berlin 1912. Die-, Handwörterbuch deS MlitärrechtS, Rastatt 1912. Dietz, Taschenbuch des Militärrechts für Kriegszeiten, 2. Auf!., Rastatt 1913.

AuS der älteren Literatur: Fleck, Kommentar zum Preuß. MStGB. 1864. Oberniedermayr, Kommentar -. Bayr. MStGB., München 1870. Becker, Kommentar zum MStGB. 1877. olmS, 3, Sttafrecht und Sttafprozeß für Heer und Marine, Berlin 1892.

C. Sefauttdarstellrmgeu. Hecker, Lehrbuch des Militärstrafrechts, Stuttgart 1887. M. E. Mayer, Deutsches Mlitärstraftecht (fystem.), Leipzig 1907. Lelewer, Grundriß des Militärstrafrechts (Ost-Ung.) Wien 1909. Knapp zusammenfassend: Seufsert, DaS Mlitärstraftecht in der Strafgesetzgebung der Gegenwart. 1894 1, 69—83. Birkmeyer, Mlitärstraftecht m seiner Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, 2, Berlin 1904 S. 1203—1232. Weiffenbach in dieser Enzyklopädie 1904, S. 409—426.

212

Heinrich Tietz.

D. Rechtsprechung. Entscheidungen des Reichsmllitärgerichts 1902 ff., bisher 17 Bände. Kritische Besprechungen dazu von B elin g (ZStW. Bd. 24), Ditzen (Goltd. Arch. Bd. 52 u. 53). Gerland (Krit. B. Schr. Bd. 45, Gerichtss. Bd. 69). Rissom (Gerichtss. Bd. 73, 75, 76, 78, 79; Arch. MUR. Bd. 1—5). Prüfungsergebnisse des RMG. (den Gerichtsstellen zugänglich gemacht und tellw. im Hauptnach­ schlagebuch (Generalregisterl zu Bd. 6—10 veröffentlicht).

E. Zeitschriften. Archiv für Mllitärrecht (herausgegeben von Dietz), seit 1909 (I. Bensheimer, Mannheim). Sammlung militürrechtlicher Abhandlungen und Studien (herausgegeben von Dietz) seit 1911 (Greiser, Rastatt).

F. «riminalstattstit. Dietz, Die Militärstrafrechtspflege im Lichte der Kriminalstatistik, Oldenburg 1908, mit öfteren Nachträgen. Diese und sonstige Literatur nachgewiesen im HandwMilR. unter Kriminal­ statistik für Heer und Marine.

G. Wettere Nachweisungen des Schrifttums, vor allem der Vorarbeiten, einzelner Darstellungen, Abhandlungen, Schriften allgemeinen Inhalts, Reformfragen siehe besonders bei Romen und Rissom, MStGB., ferner Literaturberichte im Arch. MilR. Bd. 1—5; in Bd. 1—3 Zusammenstellung militärrechtlicher Literatur nach Personen. Katalog der Bibliothek des Reichsmilitärgerichts, verfaßt von Bibliothekar Prof. Dr. Maas, Berlin 1913.

A. Einleitung. I. Geschichtliches. Quellen. Die Geschichte des Militärstrafrechts kann in dieser knappen Darstellung nur angedeutet werden. Der jeweilige Stand der Heeresversassung und des allgemeinen Rechts war bei allen Völkem für seine Entwicklung entscheidend. So kann es nicht wundernehmen, daß bei den Römern, dem Soldaten- und Juristenvolke, ein wissenschaftlich durchgebildetes Militär­ recht (jus militare im Gegensatz zum jus paganorum, auch zivilrechtlich bedeutsam: Soldaten­ testament, peculium castrense) ynb Militärstrafrecht bestand (ausgebildetes System in der Gesetzgebung Justinians). Es unterschied schon nach Art der heutigen Militärstrafgesetze rein militärische, gemeine und militärisch ausgezeichnete strafbare Handlungen*. In der durch eiserne Strenge (Ab schreckungsgrundsatz) aufrechterhaltenen Heeresdisziplin lag das Geheimnis der ge­ waltigen Erfolge Roms. „Romani imperii custos severa castrorum disciplina“ (Valerius Maximus). Mit dem Sittenverfall im Römerreiche verfiel nach und nach auch die Disziplin des Heeres (Empömngen der Prätorianer), die schließlich noch von den fremden Soldaten am besten gewahrt wurde („nihil est validum in exercitibus nisi quod extemum“, Tacitus annal. 1. III, c. 40). Das Kriegsrecht der Germanen, auch und) im fränkischen Reich, war Gewohnheit; recht mit vorwiegend privatrechtlichem Charakter (Bußzahlung an die Geschädigten) ohne ein heitliche Gestaltung; dieselbe Übeltat wurde je nach den Volksrechten verschieden behandelt.

Nur einzelne schwere Straftaten (Untreue gegen den König, Mord am Heerführer) wurden durd) öffentliche Strafe geahndet. Es folgt das Militärrecht der lehnsrechtlichen Periode (Verpsiichtung der Vasallen zum Kriegsdienst), des Ritterwcsens (von Bedeutung für die Entwicklung der Ehr auffassung im Osfizierkorps) mit den eigens für einzelne Kriegszüge erlassenen Gesetzen (wichtig:

1 „Militum delicta sive admissa aut propria sunt militibus aut cum caeteris communia. Proprium militare est, quod quis uti miles admittit“ (1. 2. D. 49, 16). „Quaedam delicta pagano aut nullam aut leviorem poenam irrogant, militi vero graviorerat: (1. 14, D. 48, 19).

Militärstrafrecht und Militärstrasversahren.

213

Heeresgesetze Friedrichs I. für den ersten Krieg gegen Mailand 1158). Für rein militärische Straftaten scheint zunächst Gewohnheitsrecht bestanden zu haben; doch kommen besondere Strafbestimmungen zum Vorschein im Reichsgesetz, vom Nürnberger Reichstag 1431 für einen Feldzug gegen Böhmen erlassen, und vor allem im Sempacher Brief, 1393 in Zürich festgesetzt und beschworen (Fahnenflucht, Feigheit, Plünderung). Mt dem Aufkommen des Söldnerwesens schlossen sich an die Überlieferungen und an die allgemeinen Rechtsquellen die Artikelsb r i e f e an, die zunächst im wesentlichen die Pflichten des Soldaten aufzählen, die Strafbar­ keit ihrer Verletzung als selbstverständlich voraussetzen und die Strafart unbestimmt lassen (KrieMrtikel Maximilians I. aus 1508), und erst später (Kriegsarttkel Maximllians II., solche für Fußknechte und für die Reiterei 1570 zum Reichsgesetz erhoben) ausführliche Bestimmungen und Strafen bei Militärdelikten (Plündemng, Beutemachen, Fahnenflucht im Felde, In­ subordination) enthalten. Den Arttkelsbriefen liegen die Söldnereide zugrunde, die dem Treugelöbnis der Vasallen nachgebildet waren. Die Strafen waren, um die sehr gelockerte Manns­ zucht auftechtzuerhalten, überaus streng (meist Todesstrafe), was dazu führte, daß sie vielfach nicht vollzogen wurden und wirkungslos waren. Die Strafrechtsnormen der Carolina griffen ein, wo die Kriegsartikel versagten. Von den vielen Kriegsartikeln, die in den Gebietsteilen des Reiches erlassen wurden, sind als besonders bedeutsam für die deutsche Rechtsentwicklung die Kriegsartikel Gustav Wolfs aus 1621 zu nennen; sie haben—unter Wegfall aller Reste eines zweiseitigen Vertrags — den ausgeprägten Charakter eines Strafgesetzes; die Scheidung des Artikels für Knechte und Reisige ist beseitigt. Aus dem Kriegsrecht war jetzt ein Strafrecht geworden, das der Soldat überallhin mit sich nahm. Diese Kriegsarttkel wurden vom Großen Kurfürsten 1656 für Brandenburg und Preußen in der Hauptsache übernommen und bildeten die wesentliche Grundlage für die spätere preußische Mlitärgesetzgebung. 1713 folgten in Preußen neue Kriegsarttkel für Unteroffiziere und Mannschaften, 1726 ein besonderes Dienst­ reglement für Offiziere (emeuert 1788). Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden die Kriegsortifcl ohne wesentliche Fortbildung wiederholt erneuert (1749, 1797 im Anschluß an das Allgemeine Landrecht, nach dem die gemeinen Straftaten der Soldaten von den Militär­ gerichten zu behandeln waren), doch sind die ©trafen immer milder geworden. Das 18. Jahrhundert zeigt folgende gerichüiche ©trafen: Todesstrafe: durch Verbrennen, Bierteilung durch das Rad, den Strang, das Schwert, durch Erschießen; Frecheitsstrafen: Zuchthaus, Festungs­ haft, Schanzarbeit, Stockhaus, Profossenarrest; Leibesstrafen: Staupenschlagen durch den Scharfttchter, Prügelstrafe, Gassenlaufen, Krummschließen, Brandmarkung; Ehrenstrafen: Ehrlosigkeitserklärung, Verlust des Dienstgrades; Bermögensstmfen. Die Napoleonischen Kriege und der siegreich durchbrechende Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht führten zur Mildemng (Humanisierung) des Militärstrafrechts int Anfang des 19. Jahrhunderts (Hebung des Ehrgefühls durch Abschaffung der körperlichen Züchtigung — Ausnahme bei Soldaten II. Klasse —, bessere Behandlung usw.). Danach setzten die Be­ strebungen ein, das Recht in Gesetzbüchern zusammenzufügen. In Bayern wurde int Anschluß an Feuerbachs berühmtes bürgerliches Strafgesetzbuch durch AB. vom 19. Aug. 1813 der erste entscheidende Schritt getan (ergänzende Dienstvorschrift aus 1823); in Württem­ berg wurde am 20. Juli 1818 ein MStGB., das preußische MStGB. wurde am 3. Apnl 1845, das sächsische int Jahre 1855 erlassen. Ein neues MStGB. wurde in Sachsen int Anschluß an das preußische ant 4. Nov. 1867 erlassen; in den übrigen Staaten des Norddeutschen Bundes wurde durch Verordnung des Königs von Preußen vom 29. Dez. 1867 das preußische Recht eingeführt. Bayem erhielt am 29. April 1869 ein neues MStGB. Die Einheit der deutschen Armee (und Marine) in bezug auf die militättschen ©trafsatzungen brachte das Militär st rafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 20. Juni 1872. Man konnte ihm nachsagen, daß es unter den Militärgesetzen aller Kultur­ staaten die mildesten und humansten Bestimmungen aufweise. Der erste Entwurf zu diesem Gesetz war von dem hochverdienten preußischen Generalauditeur Fleck auf der Grundlage des preußischen Rechts und unter besonderer Berücksichttgung des bayrischen ausgearbeitet und dann von einem aus Offizieren und Militärjuristen gebildeten Ausschuß beraten worden. Der aus den Beratungen hervorgegangene Entwurf II wurde vom Bundsrat mit wenigen Änderungen angenommen und am 28. April 1872 dem Reichstage als Entwurf III vorgelegt. Ein Em-

Heinrich Dietz.

214

führungsgesetz und eine vom Geh. Justizrat Keller und dem Stadtrichter Dr. Rubo aus­ gearbeitete Begründung war beigegeben. In einem Ausschuß, aus 21 Mitgliedern des Reichs­ tags bestehend (Vorsitzender: der Abgeordnete Generalfeldmarschall Graf v. Moltke), wurde der Entwurf beraten. ES kam zu lebhaften Auseinandersetzungen. Das Gesetz wurde am 8. Juni 1872 vom Reichstage mit sehr gwßer Mehrheit, tags darauf vom Bundesrat an­ genommen, am 20. Juni von Kaiser Wilhelm I. vollzogen. Er trat am 1. Okt. 1872 (auch in Elsaß-Lochringen) in Kraft. Die geschichtliche Entwicklung des Militärstrafrechts einschließlich der Gerichtsverfassung und deS Verfahrens aller Zellen und Völker weiter zu verfolgen, wird eine lohnende Aufgabe der Zublnst sein. Sie ist in umfassender Weise bis heute noch nicht dargestellt. Das Straf­ recht der waffenfähigen Männer als des staatserhaltenden und staatenbildenden Teiles der Menschheit ist praktisch in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrtausenden vielleicht der wichtigste Tell der Rechtsbildung gewesen; ihm nachgehen heißt dazu beitragen, das innere Leben, die Wesensart und die Entwicklung der Böller zu erschließenT. dl

Wesen und Zweck des MUitärftrafrechts.

Das Militärstrafrecht ist ein Sonderrecht, ein Standesstrafrecht. Besondere Strafrechtsnormen für das Heer aufzustellen, ist, wie auch die Geschichte lehrt, eine staalliche Notwendigkeit. Die bewaffnete Macht soll den Staat schützen; sie ist das Werk­ zeug seiner Macht. Aus dieser Aufgabe ergeben sich die besonderen Pflichten des Soldatenstandes, die militärischen Bemfs- und Standespflichten; ihrer Verletzung muß, wenn nicht disziplinäre Beurteilung ausreicht, durch die staalliche Strafe begegnet werden (militärische Verbrechen und Vergehen). Soweit freilich der Soldat nur Kulturnormen verletzt, die der Staat ganz allgemein schützt, besteht kein Gmnd, ihn dem allgemeinen staatlichen Straftecht zu entziehen (siehe unter V, 4). Die bewaffnete Macht ist eine Zusammenfassung vieler Kräfte zu einer einzigen; die Zusammenfassung ist nur möglich durch eiserne Disziplin. Was diese bedeutet, hat uns kurz und bündig kein Geringerer als Generalfeldmarschall Graf v. Moltke gesagt: „Autorität von oben und Gehorsam von unten; mit einem Worte, Disziplin ist die Seele der Armee." So ergibt sich auch mühelos der eigentliche Zweck des Militärstraftechts: die Rechts­ ordnung des Heeres (der Marine), d. i. vor allem die Disziplin zu schützen, die ein Rechtsgut der Nation ist, nicht des Heeres (M. E. Maye r).

m. Einteilung des Militärstrafgesetzbuchs für das Deutsche Reich. Das MStGB. besteht aus 166 Paragraphen, von denen 1—13 einleitende Bestimmungen, 14—55 den I. Teil „Von der Bestrafung im allgemeinen" enthalten; der II. Teil handelt von den einzelnen Verbrechen und Vergehen und deren Bestrafung: Titel I §§ 56—152 11 Ab­ schnitte: militärische Verbrechen und Vergehen der Personen des Soldatenstandes; Titel II §§ 153,154: militärische Verbrechen und Vergehen der Militärbeamten; Titel III §§ 155—161: Strafbestimmungen für Personen, welche den Militärgesetzen nur in Kriegszeiten unterworfen sind; Titel IV §§ 162—166: Zusatzbestimmungen für die Marine. — Dazu das Einführungsgesetz (3 Paragraphen).

IV. Zusammenhang des MStGB. mit anderen Gesetzen, besonders Straf« besttmmungen. Für die militättsche Strafrechtspflege sind bedeutsam: 1. das Strafgesetzbuch vom 15. Juni 1871, alle übrigen Strafgesetze des Reichs, daneben das Landesstrafrecht?. Das gemeine Strafrecht ist grundsätzlich auf den Soldaten anwendbar;

1 Bgl. Dangelmaier, Geschichte des Militärstrafrechts; Bartolomäus, „Militär­ strafrecht, Geschichte des —" im Handw. MUR. * Uber die eigentümliche Stellung der Militärgerichte bei Anwendung des Landesstrafrechts . Arch. MUR. 3, 135, 198, 321.

MilitLrstrafrecht und Militärstrafverfahren.

215

das militärische Sonderrecht geht aber vor und ergänzt auch die gemeinrechtlichen Bestimmungen. Andererseits wird es aber wieder aus dem gemeinen Strafrecht erklärt und ergänzt. Bgl. § 10 StGB.; §§ 2, 3 MStGB. (M). — Leitender Gedanke bei Abfassung des M. war, es in seinem systematischen Mfbau tunlichst dem StGB, anzupassen, es mit dessen leitenden Gedanken und dadurch mit den neueren Anforderungen der Strafrechtswissenschaft in Einklang zu bringen, beides aber nur insoweit, als die besonderen Bedürfnisse des Heeres und die als oberstes Gesetz geltende Rücksicht auf die Erhaltung der Disziplin damit vereinbar erschienen;

2. die Reichsgesetze, durch die die allgemeine Wehrpflicht, die Verfassung und innere Einrichtung des Heeres und der Marine, chre Ergänzung und überhaupt die Rechtsverhältnisse der Militärpersonen näher geregelt weiden. Bor allem gehört hiecher neben den B ü n d n i s Verträgen und Militärkonventionen das Reichsmilitärgesetz vom 2. Mai 1874 mit zahlreichen Ergänzungsgesetzen und Ausführungsbestimmungen (Wehrocknung, Heerocknung, Marineordnung usw.); 3. die Militärstrafgerichtsordnung vom 1. Dez. 1898 (siehe Militärstrafverfahren) und die Reichsstrafprozeßordnung vom 1. Febr. 1877; 4. die Disziplinarstrafordnung für das Heer und die für die Marine nebst ergänzenden Bestimmungen (siehe Disziplinarstrafrecht, vgl. Beschwerderecht);

6. die Verordnungen über die Ehrengerichte der Offiziere und Sanitätsoffiziere des Heeres und der Marine (siche ehrengerichtliches Verfahren); 6. die Kriegsartikel (für das Heer vom 22. Sept. 1902, für die Marine vom 10. Jan. 1908); sie sind heute keine Rechtssätze mchr, sondem lediglich eine Wichtenlchre für den Soldaten;

7. im Kriege völkerrechtliche Vereinbarungen, vor allem das Ab­ kommen über die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges vom 18. Oft. 1907 (RGBl. 1910 S. 82 u. 107) und die seekriegsrechtlichen Abkommen vom gleichen Tage (RGBl. 1910 S. 283).

V. Das Herrschaftsgebiet des MS1GB. 1. Das persönliche Geltungsgebiet (ist im Gesch nicht llar umgrenzt); vgl. §3 ff.

a) Ohne Einschränkung gilt das M. für die dem aktiven Heere angehörenden Personen «) die Soldaten des Friedensstandes; ß) die zum Dienst einberufenen Soldaten des Beurlaubtenstandes (§ 6 3R., § 38 RMilG.; wichtig: RMG. 9 179); y) die Kriegsfreiwilligen und die zum Kriegsdienst aufgebotenen Offiziere und Mann­ schaften (§ 38 RMilG.); v vo). Doch gelangte dies System, keine grundsätzliche, sondem eine lediglich durch das Beharrungs­ vermögen der tatsächlichen Verhältnisse bedingte praktische Lösung des durch die Anerkennung der Kirche aufgeworfenen Problems, im Westen nicht zu dauernder Herrschaft. Der aus dem Welltaumel rasch erwachende Episkopat (Ambrosius) benützte den Zerfall der abendländischen Reichshälfte unter Roms Führung zur Anbahnung der von Augustin theoretisch begründeten Selbständigkeit, ja Überordnung der Kirche.

H i n s ch i u s , Kr. III § 185, IV §§ 221, 252, 253; Loening I 20 ff.; Alivisatos, Die kirchliche Gesetzgebung des Kaisers Justinian I., Stud. z. Gesch. d. Theol. von Bonwetsch und Seeberg, 17. H., 1913; Knecht, Die Religionspolitik des Kaisers Justinian, 1896; Riccobono, L’influenza del cristianesimo nella codificazione di Giustiniano, Riv. di scienza „Scientiau V, 1909; Cristianesimo e diritto privato, Riv. di diritto civile, III, 1911; Goetz, Kirchen­ rechtliche und kulturgeschichtliche Denkmäler Altrußlands nebst Geschichte des russischen Kirchen­ rechts, Stutz, Kr. A., 18. u. 19. H., 1905, Staat und Kirche in Altrußland, 1908, Zur Frage nach dem Umfang der kirchlichen Gerichtsbarkeit im vormongolischen Rußland, Z. f. osteurop. Gesch. III, 1913; Pfannmüller, Die kirchliche Gesetzgebung Justinians, 1902; v. Schubert, Staat und Kirche von Konstantin bis Karl den Großen, Kieler Festrede, 1906; Boyd, The ecclesiastical edictys of the Theodosien code, Studies in history . . . of Columbia University, XXIV, 2, 1905; C o nr a t (C o h n), Westgotischer und katholische Auszüge des 16. Buches des Theodosianus, Z.1 f. RG. 1,1911; Gelzer, Das Verhältnis von Staat und Kirche in Byjanz, H. Z. LXXXVI, 1901; P argoire, L’6glise byzantine de 527 ä 847, Bibi, de l’enseign. de l’hist. eccl., 1905; Sesan, Kirche und Staat im römisch-byzantinischen Reiche I, 1911; Lübeck, Die Laien­ herrschast in der griechisch-orthodoxen Kirche, Hist.-pol. Bl. CXLIV, 1909; Balkenhol, Die kirchenrechtlichen Anschauungen des heil. Ambrosius, Kath. LXVIII, 1888. 2. I n den germanischen Gemeinwesen. Auch die Germanen wußten von Haus aus nichts anderes, als daß die öffentliche Pflege der Beziehungen zur Gottheit

1 Staatszuschüsse und Erbfähigkeit seit Konstantin; Ajylrecht seit 399 (B i n d s ch e d l e r, Kirchliches Asylrecht. Immunitas ecclesiarum localis und Freistätten in der Schweiz, Stutz, Kr. A., 32. u. 33. H., 1906; Groll, Die Elemente des kirchliä)en Freiungsrechtes, Stutz, Kr. Ä., 75. u. 76. H., 1911); Befreiung von den munera sordida bis 441; gemeine Kriminalvergehen der Bischöfe gehören zunächst vor die Synode und erst nachher vor das weltliche Gericht. 1 Der Tod wird als Ketzerstrafe noch von Augustin verworfen. • Nack) Eusebius ist Konstantin zotvo; Leo I. an Kaiser Leo 457: sacerdotalis

«et apostolicus tuae pietatis animus; Chalccdonense 451: Marcian sacerdos Imperator.

Kirchenrecht.

299

Ausgabe der Obrigkeit sei. Auch sie erstrebten daher die Einigung von Kirche und Staat unter der Herrschast des letzteren. Doch blieb bei den arianischen Germanen die Eingliederung des kirchlichen Fremdkörpers begreiflicherweise lose, und der Übertritt sührte, wo nicht, wie bei den

Langobarden, der politische Gegensatz zum Oberhaupt der Kirche im Wege stand, leicht zu einer Vorherrschaft der Geistlichkeit, wenn auch in nationaler Abgeschlossenheit (so bei den Westgoten feit 589). Zu einer vom Königtum beherrschten Landeskirche brachten .es dagegen die katho­ lischen Franken. Die Merowinger gewannen nicht bloß Einfluß aus die Besetzung der bischöflichen und erzbischöflichen Stühle (oben S. 295 A. 1), sie veranlaßten vielmehr auch oder gestatteten den allerdings unregelmäßigen Zusammentritt von Landessynoden, denen gegenüber ihnen ein Veto zustand, und deren Beschlüsse nur durch ihre Bestätigung weltlich wirksam wurden, wie sie auch daneben ein einseitiges Gesehgebungsrecht über die Kirche ausüblen. Anderseits vermag die Kirche nicht nur die Sonderstellung der Bischöse (vgl. S. 298 A. 1) in Kriminalsachen zu behaupten (Freisprechung durch die Synode verbindet den weltlichen Richter), sondern sogar im Edikt Ehlotars 11. von 614 das Zugeständnis zu erzielen, daß Priester und Diakonen nach dem welt­ lichen Kriminalpwzeß, aber vor der Strasverhängung einem (nicht präjudiziellen) kirchlichen Disziplinarverfahren unterworfen werden sollen. So das germanische Gegenstück zum römischen Staatskirchenrecht, wie jenes das Ergebnis einer Abfindung älterer nationaler Anschauungen mit dem Novum der Kirche.

Werminghoff, BG. §§ 3—7; Thierry, RScits des temps Mörovingiens, 2 vol., 1840 (seither oft aufgelegt); L o e b e l l, Gregor von Tours 1869; Loening , Geschichte I ■500 ff., II 3 ff., 129 ff., 171 ff.; H i n s ch i u s , Kr. 11 § 118, III §§ 177, 187, IV §§ 259, 260; Hauck, Die Bischofswahlen unter den Merowingern, 1883; Vacandard, Les ölections ■tipiscopales sous les Mtirovingiens, R. q. h. LXIII, 1898, auch in seinen Ütudes de crit. et d’hist. eccL, 1905; Stutz, Arianismus und Germanismus (§ 7); v. Schubert, Staat und Kirche in den arianischen Königreichen (§ 7); Granier, Le Concile d’Agde, 1907; Zeil ler, Les äglises arianes de Rome ä röpoque de la domination gothique, M. d’a. d’h. XXIV, 1904; Crivellucci, Les 6v6ch6s d’Italie et l’invasion lombarde, Studi stör. XIII, 1905; Ro­ be r ti, Dei beni appartenenti alle cittä dell’Italia settentrionale delle invasioni barbariche al sorgere dei communi, 1913 (auch im Arch. giur. und dazu Arch. stör. ser. V, 36, 1905); M a g n i n , L’6glise Wisigothique au 7 6 siöcle, Bibi, d’hist. rel. 1912; 0 o u 11 w e 11, The saxon church and the Norman conquest, (Handb. of Engi Church hist. 1), 1909; Cabrol, L’Angleterre chrötienne avant les Normands, Bibi, de l’enseign. d’hist. eccl., 1909; Beissel, Umwandlung heidnischer Kultstätten in christliche, St. M.-L. LXIX, 1905; Lau, Die angel­ sächsische Missionsweise im Zeitalter des Bonifaz, Kieler theol. Diss., 1909; Grisar, Rom und die fränkische Kirche vornehmlich im 6. Jahrhundert, Z. f. I. Th. XIV, 1890; Vaes, La papauÜ et Föglise franque ä l’öpoque de Gregoire le Grand, R. h. e. VI, 1905; Sohm, Die geistliche Gerichtsbarkeit im fränkischen Reich, Z. f. Kr. IX, 1870; Rißt, Der Gerichtsstand des Klerus im fränkischen Reich, 1886, Zur Geschichte des chlotarischen Edikts von 614, M. d. I. s. ö. G., 3. Ergänzungsbd., 1890/94.

Drittes Kapitel.

Das germanische Kircheurecht. 8 16. Charakter und Herrschaftsdauer. Bald geriet die Kirche in Berührung auch mit dem germanischen Rechts Zunächst als Römerin austretend und anerkannt ’, unterliegt sie mit ihrem Recht (nicht mit der Lehre) allmählich dem übermächtigen Einsluß ihrer germanischen Umgebung. In merowingischer Zeit langsam vorbereitet, beginnt die Herrschast des Germanismus in den Tagen Karl Martells und erzeugt, den vorhandenen Rechtsstoss nebst originell-kirchlichen Neubildungen vorübergehend sich angleichend, eine dritte Schicht kirchlichen Rechtes. Diese verleugnet ihre Herkunst von

1 Ribuarisches Volksrecht um 630: ecclesia vivit lege Romana. Dieser Grundsatz trat für die persönlichen Rechtsverhältnisse der Kleriker in Gallien seit dem Beginn, in Italien seit dem Ende des 8. Jahrhunderts außer Kraft und wurde für die kirchlichen Institute vom 9. an wegen des Untergangs ihrer Rechtspersönlichkeit und ihrer Unterstellung unter das Sachenrecht (§ 23) mehr und mehr unpraktisch; v. Wretschko, De usu breviarii Alariciani forensi et scholastico, 1905, auch in Theodosiani libri XVI edd. Mommsen et Meyer I, 1; Eonrat (Cohn), Römisches Recht bei Papst Nikolaus I., N. A. XXXVI, 1911.

300

Ulrich Stutz.

unten und außen nicht, trägt vielmehr ein ausfallend unkirchliches, ja unchristliches Gepräge an sich. Die Einzelnen stehen für dies Recht durchaus im Vordergrund, und es eignet ihm ein stark wirtschaftlicher Zug, was ihm einen ausgesprochen subjektiven und privalrechtlichen Charakter verleiht. Mit Hilfe des wieder heworgezogenen altkirchlichen Rechtes von dem reformierten Papsttum untergraben, sinkt die Herrschaft des Germanismus um 1150 mit der Geburt der Kirchenrechtswiffenschast in den Staub. Manche seiner Einrichtungen leben noch jahrhundertelang als machtvolles deutsches Kirchenrecht fort. Aber das germanische Gepräge des Ganzen ist für immer dahin.

Stutz, Eigenkirche (§ 7); Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte II, I8V2, z 96, Grundzüge verdeutschen Rechtsgeschichte*, 1913, § 20, sowie in dieser Encyklopädie I S. 94 f.; Schröder, Deutsche Rechtsgeschichte e, 1907, § 21; Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands, besonders II ' u. «, III, *u. *, 1906—1912; K. Maurer, Vorlesungen über altnordische Rechtsgeschichte, II, Über altnordische Kirchenverfassung und Eherecht, 1908; Herwegen, Germanische Rechtssymbolik in der römischen Liturgie, Beyerles Deutschr. Beiträge VIII, 11, 1913.

8 17. Quellen. Um das Kirchenrecht so, wie es in dieser Periode tatsächlich gegolten hat, wirklich kennen zu lernen, muß man sich an die Fülle der Urkunden und Formeln (oben I, S. 82ff.; dazu libei diurnus, Formelbuch der päpstlichen Kanzlei, unter Hadrian I. im wesentlichen abgeschlossen) halten. Daneben kommen die Beschlüsse der Reichs- und Teilkonzilien in Betracht sowie die Diözesansynoden, von denen letztere bloß Zeugnisse kirchlicher Übung, erstere in karolingischer Zeit nicht mehr als kirchliche Forderungen, in nachkarolingischer dagegen wahres Kirchenrecht sind. Die capitularia ecclesiastica (1. und 2. Buch der Sammlung des Ansegis 827, oben I S. 82) enthalten, was von den synodalen Wünschen vor den Augen des Königs als Gesetz­ gebers der Kirche Gnade gesunden, indes die capitularia mundana einigen kirchlichen Be­ stimmungen sogar die Geltungskrast weltlichen Rechts verleihen. Dem praktischen Kirchendienst dient das Sendhandbuch (um 906) Reginos, weiland Abtes zu Prüm in der Eisel, sowie das auch von anderen systematischen Sammlungen (z. B. von Ivo von Chartres, t 1116, im Decretum und in der Panonnia) zum Muster genommene, für Wormser Bedürfnisse frei zurecht­ gemachte Decretum (1008—1012?) des Bischoss Burchaü) von Worms.

Conrat (Cohn), Geschichte der Quellen und Literatur des römischen Rechts im früheren Mittelalter, I, 1891; Rabani Mauri (Abt von Fulda, t 856 als Erzbischof von Mainz) de institutione clericorum libri III, ed. Knoepfler ’, 1901: Walahfridi Strabonis (t 849, Abt von Reichenau) libellus de exordiis et in cremen tis rerum ecclesiasticarum, in M. G. h. Capitularia II, 1897; Th. Sickel, Liber diurnus Romanorum pontificum, 1889, und in Wiener Ak. S. B., phil.-hist. Kl., CXVII, 1889; Duchesne, Le über diurnus, B. 6. d. ch. I, II, 1891; Hart­ mann, Die Entstehungszeit des über diurnus, M. d. I. f. ö. G. XIII, 1892; Kösters, Studien zu Mabillons römischen Ordines, Freiburger phil. Tiss., 1905; Dubois, De conciüis et theologicis disputationibus apud Francos Carolo Magno regnante habitis, ThSse, 1903; W erminghofs, Verzeichnis der Akten fränkischer Synoden von 742—918, N. A. XXIV und XXVI, 1899 und 1901, und auch XXVII, 1902, Zu den fränkischen Reformsynoden des 8. Jahrhunderts, N. A. XXXII, 1907, Zu den bayrischen Synoden am Ausgang des 8. Jahrhunderts, Festschrift f. Brunner, 1910; Koeniger, Beiträge zu den fränkischen Kapitularien und Synoden, A. s. k. Kr. LXXXVII, 1907; Krause, N. A. XIX, 1894, und vor allem M. G. h. Concilia II 1, 2, 1906, 1908, Concilia aevi Karolini I ed. Werminghoff; Schannat et Hartzheini, Concilia Germaniae, 11 Bde., 1759 ff.; Conrat (Cohn), Die lex Romana canonice compta, 1904; Fournier, L’origine de la collection Anselmo dedicata, MGlanges Girard, 1912; Reginonis abbatis Prumiensis libri duo de synodalibus causis et ecclesiasticis disciplinis, ed. Wasserschieben, 1840; Wawra, De Reginone Prumiensi, Breslauer kath.-theol. D.ss., 1900; Hauck, Über den über decretorum Burchards von Worms, Sachs. Gesellsch. d. Wissensch.. 1894; Koeniger, Burchard I. von Worms und die deutsche Kirche seiner Zeit, Veröfs. aus dem Münchner kirchenhist. Sem. II, 7,1905; Diederich , Das Dekret Bischof Burchards von Worms I, Breslauer kath.-theol. Diss., 1908; Fournier, fitudes critiques sur le dticret de Burchard de Worms, N. r. h. XXXIV, 1910 (auch sep.), Le d6cret de Burchard de Worms, R. h. e. XII, 1911 (auch sep.), De quelques collections canoniques issues du däcret de Burchard, in MManges Paul Fabre, 1902, Observations sur diverses recensions de la collection canonique d’Anselme de Lucques, Annales de l’universite de Grenoble XIII, 1901, Les collections canoniq ies attribu6es k Yves de Chartres, B. 6. d. ch. LVII, LVIII, 1896—97, Yves de Chartres et le droit canonique, Compte rendu du 4'* congres scientifique international des cathol. 5° se:t., Fribourg, 1895, und R. q. h. LXIII, 1898; Schmidt, Ter hl. Ivo, Bischof von Chartres,

Kirchenrechr.

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Stud. u. Mitt, aus dem Wiener kirchengesch. Sem., 7. H., 1911; I; Thaner, Anseimi collectio canonum I, 1906; Wolf v. Glanvell, Die Kanonessammlung des Kardinals Deusdedit I, 1905; Sdralek, Wolfenbüttler Fragmente, 1891.

Von einer radikal-kirchlichen Gegenströmung geht neben den Fälschungen des Benedill Levita (um 847) und der capitula Angiliamni (über Kleriker-, besonders Bischossanllagen) namentlich aus die um 850 im Weflfrankenreich angesertigte, 865 von Nikolaus 1. zitierte Samm­ lung der Dekretalen (und fiongilien)1 des Pseudoisidor (Jsidorus wegen Benutzung der Jsidoriana — § 10 —, Mercator wegen des bei der Fälschung der Vorrede zugrunde gelegten, dem 5. Jahrhundert angehörigen Marius Mercator). Ihre Bedeutung für diese Periode ist übrigens gering; dem fränkischen Staatskirchentum und überhaupt der Laienherrschast in der Kirche, gegen die sie sich richtet, tut sie wenig Abbruch, und für das Papsttum, dessen Hervor­ kehrung dem Fälscher selbst nur Mittel zum Zweck ist, wird sie erst später ein wertvoller Rechts­ titel der Weltherrschaft. Seckel, Studien zu Benediktus Levita I—VII, NA. XXVI, 1900, XXIX, 1904, XXXI, 1905, XXXIV, 1909, XXXV, 1909, 1910; Hinschius, Decretales Pseudoisidorianae, 1863; Maassen, Pseudoisidorische Studien 1, 2, Wiener Ak. S. B., phll.-hist. Kl., CVIII, CIX, 1884/5; v. Simson, Die Entstehung der pseudoisidorischen Fälschungen in Le Mans, 1886, und in H. Z. LVIII, 1892; Lurz, Über die Heimat Pseudoisrdors, 1898, und dazu Gietl, im H. Jb. XX, 1899; Fournier, Etüde sur les fausses d6cr6tales, R. h. e. VII, 1906 (auch sep.); Lot, Etudes sur le rdgne de Hugues Capet, Thdse, 1903, La question des fausses d6cr6tales, R. h. XCIV, 1907; Villien, Les fausses d6cr6tales, Dict. de th6ol. cath., IV, 1908; ©edel, Pseudoisidor, Hauck-Herzogs Realenzykl. • XVI, 1905 (wo auch reiche Literatur), Statuta Bonifatii, N. A. XXIX, 1904, Die ältesten Canones von Rouen, Hist. Aufs. f. Zeumer, 1910. Über Hinkmar von Reims sowie Nikolaus I. und Pseudoisidor: Weizsäcker, Z. f. hist. Th. XXVIII, 1858, und Lea in Papers of the American society of church history VIII, 1897; A. B. Müller, Zum Verhältnis Nikolaus' I. und Pseudoisidors, N. A. XXV, 1900; Schrörs, Papst Nikolaus I. und Pseudoisidor, H. Jb. XXV, 1904, Die pseudoisidorische exceptio spolii bei Papst Nikolaus I., H. Jb. XXVI, 1905; Perels, Zur Frage nach dem Verhältnis zwischen Nikolaus I. und Pseudo­ isidor, N. A. XXX, 1905, Ein Berufungsschreiben Papst Nikolaus I., N. A. XXXII, 1907.

8 18.

Das Eigenkirchenwesen.

1. DieEigenlirche. Zuerst und am wirksamsten trug die Eigenkirche germanisches (nicht bloß deutsches = westgermanisches) Recht in die Kirche hinein. Es ließ2 aus dem Eigen­ tum an einer Kirche, d. h. am Altorgmnd, eine volle, grundsätzlich unbeschränkte, vermögens­ rechtliche und geistliche Herrschast entspringen. Allen (ost- und west-)germanischen Stämmen (auch den nordischen Heiden) bekannt und dadurch sowie durch seinen Bau3 den Ursprung in den einsachen Verhältnissen der urgermanischen Hausordnung (§ 7) verratend, regt sich das Eigenkirchenwesen bei jedem einzelnen Stamm sofort nach dessen Eintritt auch in die katholische Kirche, indem es dem Bischof zugunsten des Grundherrn den wirtschaftlichen Ertrag der Kirche sowie die ihm im Westen bisher nicht bestrittene Ernennung des Geistlichen zu entwinden sucht. Bei den meisten ehemaligen Arianern vom katholischen Episkopat mit Erfolg niedergekämpst (westgotischer Kompromiß nach Art des späteren Patronats), aber von den Langobarden in gewohnter rücksichtsloser Nichtachtung der Hierarchie kurzerhand durchgesetzt, behauptet es sich bei den direkt vom Heidentum zum Katholizismus übergehenden, für die weitere abendländische • Die echte, offizielle Zitierquelle des altkirchlichen Rechtsstoffs ist seit 774 die damals von Hadrian I. an Karl den Großen überreichte Dionysio-Hadrian». • Im Gegensatz zur byzantinischen Kaisergesetzgebung, die nur auf die Stiftung abstellte und, lediglich um deren Durchführung eher zu erreichen, dem Stifter und dessen Erben eine gewisse Fürsorge und die Befugnis zubilligte, den Geistlichen als den Verwalter der Stiftung vorzu­ schlagen; ZhiShman, DaS Stifterrecht, 1888; Cotlarciuc, Stifterrecht und Kirchen­ patronat im Fürstentum Moldau und in der Bukowina, Stutz, Kr. A., 47. H., 1907. • Kirche, Kirchengut und kirchliche Einkünfte erscheinen als Zubehör des Altars, und zwar seit der Anwendung des Beräußerungsverbots darauf als eisernes. Ein Hinzutritt kann nur durch Übereignung — germanische Zweckschenkung — an den Herrn für dieses sein örtliches Sonder­ vermögen (in Bayern als dessen res ecclesiastica — Gegensatz: popularis oder saecularis possessio des Betreffenden — bezeichnet) erfolgen; Stutz, Das Eigenkirchenvermögen, Festschrift f. Gierke, 1911.

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Ulrich Stutz.

Entwicklung maßgebenden Franken und bedroht das bischöfliche Regiment schon 650 ernstlich. Die kirchliche Anarchie des ausgehenden 7. und des beginnenden 8. Jahrhunderts (über 80 Jahre keine Synoden und Erzbischöfe, jahrzehntelang keine oder nur unkirchliche Bifchöse!) verhilft ihm zum Siege und spielt ihm mit den Säkularisationen Karl Martells und Pippins einen gwßen Teil der aus römischer Zeit stammenden Kirchen in die Hände. Auf dem Fiskalgut \ aus den Gutem der zu ihren Landkirchen lediglich in Eigentumsbeziehungen stehenden Klöster und aus den Besitzungen der weltlichen Gwßen, überall erheben sich oder entstehen Eigenkirchen (im Bistum Chur über 200 gegen 31 bischöfliche). Das bischöfliche Regiment wird fast ganz aus die Stadt zurückgedrängt. Stutz, Geschichte des kirchlichen Benesizialwesens 11,1895, Eigenkirche (§ 7), Gott. Gel.Anz. 1904 Nr. 1, Karls des Großen divisio von Bistum und Grafschaft Chur, Hist. Aufs. f. Zeumer, 1910 (auch sep.), Art. Eigenkirche, Eigenkloster, Hauck-Herzogs Realencykl. • XXIII1913 (wo ausführliche Literaturangaben), auch Art. Patronat, ebenda XV, 1904; Riedner, Hist.-pol. Bl. CXXVIII, 1911; Pollock and Maitland, The history of English law1 1898, I p. 497; Stengel, Art. Eigenkirche in Rel. in Gesch. u. Gegenwart II, 1910; v. Schwerin, Art. Eigenkirche in Hoops, Reallexikon I, 1912; Werminghoff, BG. § 14; Hat sch ek, Englische Berfassungs­ geschichte, 1913 S. 147 ff.; Hinfchius, Kr. II § 128; Bondroit, De capacitate possidendi ecclesiae necnon de regio proprietatis vel dispositionis dominio (481—751) I, Löwener theol. Diss., 1900; Galante, La cöndizione giuridica delle cose sacre, I, 1903, II diritto di patronato ed i documenti longobardi, Studi in onore di... Scialoja I, 1905, Elementi di diritto ecclesiastico (auch in Encicl. giur. ital.) 1909, Per la storia giuridica della Basilica di 8. Marco, Z. 1 f. RG. II, 1912, Giuspatronato (uud) in der Encicl. giur. ital.), 1913; Thomas, Le droit de proprUtä des laiques sur les äglises et le patronage laique au moyen-äge, B. 6. h. 6. XIX, 1906; Addy, Church and Manor, 1913; Gutmann, Die soziale Gliedemng der Bayern, Abhdl. aus dem Straßburger staatswiss. Seminar, H. 20,1906; Roth, Die Säkularisation des Kirchenguts unter den Karolingern, Münchner H. Jb., 1865; Dümmler, Uber den Dialog de statu sanctae ecclesiae, Berliner Ak. S. B., 1901; Longnon, Le polyptyque de Pabbaye de Saint-Germain-des-Pr6s (verbesserte Neuauflage der Ausgabe und Einleitung von Guörard), 2 Bde., 1886—95.

Die karolingische Kirchenresorm erstrebt nicht die Beseitigung, sondem die Einfügung des Eigenkirchenwesens in die, so gut es geht, wiederherzustellende kirchliche Ordnung. Eine reiche Eigenkirchenaesetzgebung erkennt das Eigenkirchenrecht grundsätzlich und in seinen prak» tischen Folgen an (Übertragbarkeit von Kirche und Kirchengut als Ganzes durch Berkaus, Tausch, Schenkung; freie Vererblichkeit ohne Sachteilung; Genuß der Betriebsüberschüsse; Emennung des Geistlichen) und sucht bloß die schlimmsten Auswüchse (Zerstückelung des Kirchenguts; übermäßige Ausbeutung; Anstellung Unfreier als Geistliche und willkürliche Absetzung der letzteren) abzustellen sowie eine gewisse Oberhoheit des Bischofs (Zustimmung zur Besetzung; Visitations­ recht; Synodalbesuch und Abgabenpslicht des Eigenkirchenprieflers) zu erwirken. So wird das Eigenkirchenrecht dem fränkischen und durch eine römische Synode Eugens II. von 826 dem italienischen Kirchenrecht einverleibt und behauptet sich twtz der wiederholten Angriffe der radikal­ kirchlichen (pfeudoisidorischen) Kreise (Synode von Valence 855) dank der Verteidigung durch Erzbischof Hinkmar von Reims (Gutachten de ecclesiis et capellis um 860 für Karl den Kahlen) und wegen der Übermacht der damit verknüpften materiellen Interessen. Für diese gewinnt jetzt auch der Episkopat Verständnis und behandelt die ihm gebliebenen Gotteshäuser vom 9. Jahrhundert an als bischöfliche Eigenkirchen. Selbst in die römisch gebliebenen Teile Italiens 1 Für dessen Kirchen sollten nach dem capitulare de villis, das nach Dopsch (§ 18, 3d) im Jahre 794 von Ludwig dem Frommen für die ihm als Unterkönig von Aquitanien zurückgegebenen Krongüter erlassen wurde, aber in der Hauptsache wohl nur vorschrieb, was überhaupt für die karo­ lingische Domänenverwaltung galt, die Geistlichen ausschließlich aus dem fiskalischen Gutspersonal oder aus der Hofkapelle genommen werden. Unter letzterer verstand man zunächst die Hosgeistlichkeit mit dem Hosbischof oder Erzkaplan an der Spitze, aber bald auch ben Klerus der könig­ lichen Pfalzen, insbesondere denjenigen der Marienkirche in Aachen. Dieser Hof- und Pfalzklerus war ähnlich wie die Militärgeistlichkeit von heute (§§ 81, 112) exemt. Aus ihm nahmen die Könige nicht selten die Bischöfe. Doch ging diese Organisation, die dem Episkopate Ludwigs des Frommen ein Dorn im Auge war, in den karolingischen Teilreichen im Laufe des 9. Jahrhunderts in eine Reihe von königlichen Stiftsgeistlichkeiten auseinander, welche um die zu königlichen Stiftern werden­ den Psalzkapellen sich gruppierten; Lüders, Capella, Tie Hoskapelle der Karolinger, Arch. f. Urkundenforsch. II, 1908.

Kirchenrecht.

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bringt bas Eigenlirchenrechl ein unb beherrscht von nun an im ganzen Abendland zunächst bie nieberen Regionen bei Kirche von ber Psarrei an abwärts völlig.

Über Hinkmar von Reims: v. Noorden, 1863, Schrörs, 1884; die collectio de ecclesiis, Hrsg, von Gundlach, in Z. f. Kg. X, 1889, und beiGaudentius, Bibliotheca juridica II, 1892; für England: Reichel, The „Domesday“ Churches, Transactions of the Devonshire Association XXX, 1898; Hatschek, Eilglische BG. (§ 18,1). 2. DasEigeniloster. Auch zum Kloster (claustrum) gehört eine Kirche (basilica, monasterium, Oratorium) für den Gottesdienst der Mönche und Nonnen. Ihr Borsteher pflegt der regelmäßig mit Priester- oder Diakonatsweihe versehene Abt zu sein. Schon früh verfällt, während für die inneren Beziehungen die Regel Benedikts und das an sie anknüpfende lokale Gewohnheitsrecht (consuetudines) sich behauptet, die Klosterkirche mit dem Kloster als Zubehör gerade so dem germanischen Eigentum wie die Weltkirche. Neben die römischen Klöster mit Körperschaftsrechten und einem frei gewählten, bischöflich bestätigten Abt treten die germanischen Eigenklöster. Über sie und ihre Verwaltung verfügt der Herr (Schenkung und Tausch schon im 7. Jahrhundert nicht selten); sie werden gleich den Eigenlirchen als nutzbare Gegenstände selbst an weibliche Laien verliehen, und ihr Eigentümer ober Leiheinhaber setzt den Vorsteher. Die Klosterinsassen wiederum sind mancherorts dem Abt ober der Äbtissin kraft einer Art ger­ manischer Selbst- ober Drittübergabe auf deren Lebenszeit unterworfen, so daß die Ergebung beim Vorfleherwechsel erneuert werden muß; speziell in der suebisch-westgotischen Kirche wurde eine auf den Hl. Fruktuosus von Braga zurückgehende und an den westgotischen Untertaneneid anklingende ursprüngliche Klostergründungsformel bald auch bei der Beurkundung der Abtswahl, und der Proseß zugrunde gelegt. Mehrere Klöster oder Kloflerkolonien (cellae, prioratus, Obödienzen) konnten vermittelst Sachveckindung einem freien Hauptkloster oder dessen Vor­ steher (Erzabt) als dem Henn des Hauptklosters und der übrigen Klöster angehören. Noch mehr als bei den Weltkirchen machten bei den Klöstern die Bischöfe diese Rechtssorm sich dienstbar. Ihnen entging man durch Begebung in Eigentum und Schutz des Papstes. Päpstliche Eigen­ klöster (mit Zins in indicium proprietatis) wecken zur Reform an Cluni, Camaldoli, Ballombrosa u. a. übertragen.

ßoening, Geschichte II 374 ff.; Luchaire, Manuel §§ 40—54; Werminahoff^ BG. zz 15, 39, 40; Fastlinger, Die wirtschaftliche Bedeutung der bayerischen Klöster in der Zeit der Agilulfinaer, 1902; Stosiek, DaS Verhältnis Karls des Großen zur Klosterordnung mit be­ sonderer Rücksicht auf die Regula Benedicti, Greifswalder Phil. Diss., 1909; Koschek, Die Kloster­ reform Ludwigs des Frommen, Greifswalder Phil. Diss., 1908; AlberS, Die Reformsynode von 817, Bened. St. M. XXVIII, 1907, Consuetudines monasticae I—V, 1900—1912, L’abbä de Fulde, primat de Vordre b6n6dictin en Allemagne et en France, R. b6n. XVII, 1900, Une nouveile ödition des consuetudines Sublacenses, ebenda XIX, 1902, Le plus ancien coutumier de Cluny, ebenda XX, 1903, Les consuetudines Sigiberti abbatis, 1904 (auch ebenda XX, 1903), Untersuchungen zu den älteren Mönchsgewohnheiten, Beröff. tu d. Münchener kirchenhist. Sem. II, 8, 1905; Kainz, Consuetudines Schyrenses, Bened. St. M. XXIV, 1903, XXV, 1904, XXVI, 1905; Berlidre, Les coutumes monastiques des 8® et 9« sidcle, R. b£n. XXV, 1908; Herwegen, Das Pactum des hl. Fruktuosus von Braga, Stutz, Kr. A., 40. H., 1907; eigl, Die welUichen Oblaten des hl. Benedikt, Bened. St. M. VI, 1885; Besse, L’ordre e Cluny et son gouvemement, ebenda 1,1905; Rothenhäusler, Zur ältesten cluniaeensischen Abtwahl, Bened. St. M., XXXIII, 1912; Anger, Chapitres g6n6raux de Cluny, Rev. Mab. VIII, 1912; Sackur, Die Cluniacenser, 2 Bde., 1892 ff.; Walter, Bernardi I abbatis speculum monachorum, 1901; d1 Arbois de Jubainville, Stüdes sur V6tat Interieur des abbayes cisterciennes, 1858; Winter, Die Cistercienser des nordöstlichen Deutschlands, 3 Bde., 1868—71; Hessel, Cluny und Macon, Z. f. Kg. XXII, 1901; Blumenstok, Der päpstliche Schutz im Mittelalter, 1890, und dazu Hinschius V § 282 sowie S. 971 ff.; D a u x , La protection apostolique au moyen äge, R. q. h. LXXI, 1902; Kraaz , Die päpstliche Politik in Berfassungs- und BermögenSfragen deutscher Klöster im 12. Jahrhundert, Leipziger phil. Diss., 1902; Graßhoff, Langobardisch-fränkisches Klosterwesen in Italien, Göttingen phll. Diss., 1907; Boigt, Die königlichen Eigenklöster im Langobardenreiche, 1909; Hüfner, Das Rechtsinstitut der klösterlichen Exemtion in der abendländischen Kirche, A. f. k. Kr. LXXXVI, 1906, LXXXVII, 1907; Vendeuvre, L’exemption de visite monastique, Thdse, 1906, La libertas royale des communautös religieuses au Ile siöcle, N. r. h. XXXIII, 1909, XXXIV, 1910; Tomek, Studien zur Reform der deutschen Klöster im 11. Jahrhundert I, 1910, Die Reform der deutschen Klöster vom 10.—12. Jahrhundert, Bened. St. M. XXXII, 1911; Schreiber, Kurie und Kloster im 12. Jahrhundert, I, II, Stutz, Kr. A., 65.—68. H., 1910 (dazu Brackmann, Gött. Gel. Anz. CLXXV, 1913, Nr. 5, und B r a n d i, Z. - f. RG. II, 1912); Rieger, Die^

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Ulrich Stutz.

Dekretale Recepimus litteras bei Blumenstok u. Schreiber, Bened. St. M. XXXII, 1911; Les ne, Nicolas I. et les libertäs des monastöres de Gaule, M. a. XXIV, 1912; Brackmann, Studien und Borarbeiten zur Germania pontificia I, 1912; Pivano, Le immunitä ecclesiastiche, Fest­ schrift f. Friedberg, 1908; Stengel, Tie Immunität I, 1910, Zur Geschichte der Äirchenvogtei und Immunität, Biertäj. f. Soz. u. Wirtsch. Gesch. X 1912; Kroell , L’immunite franque, 1910; Hirsch, Die Klosterimmunität seit dem Jnvestiturstreit, 1913. 3. EigenlirchlicheBezüge. Die mit ihm verbundenen Einnahmen waren es, die das Eigenkirchenrecht begehrenswert und die Eigenlirchengründung, zugleich ein gottwohlgesälliges Werl, zur beliebten mittelalterlichen Kapitalanlage machten. Außer den Diensten und Zinsen, die der Geistliche bei besetzter Kirche zu leisten hatte, warf nämlich die Eigenkirche, -ton unrechtmäßig gewonnenen Einkünften abgesehen, ab:

a) die Zwischennutzung, den Ertrag der erledigten Kirche (abgerechnet die Kultkosten der Zwischenzeit) bis zur Wiederbesehung, dem Eigentümer als solchem ohne weiteres zukommend, aber später (§ 23) feudalisiert, auf Jahr und Tag ausgedehnt und mit dem besonderen Namen jus regaliae bezeichnet. G. I. Phillips, Das Regalienrecht in Frankreich, 1873; Luchaire, Manuel § 31; M i c h e 11 e t, Du droit de regale, Th äse, 1900; Stutz, Art. Regalie, Hauck-Herzogs Realencykl. • XVI, 1905; Simo ns feld, Zur Geschichte Friedrich Rotbarts, Münchener Ak. S. B., phiL-hist. KL, 1909, Nr. 4.

b) Die Spolien. Der Amtserwerb der Geistlichen mehrte auch bei der Eigenkirche das (hier grundherrliche) Kirchenvermögen. Dem unfreien Geistlichen gegenüber hatten die Herren außerdem das Herrenrecht aus das Ganze oder einen Teil des Nachlasses. Als ihnen von der mit dem Staat verbündeten Kirche freie Geistliche ausgezwungen wurden, halsen sie sich unter Benutzung allkirchlicher Vorschristen, die dem Geistlichen geboten, einen Bruchteil seines Nach­ lasses der Kirche zuzuwenden, mit der (in Italien schriftlichen) Zusicherung des Ganzen oder -eines Teils der Fahrhabe im Leihevertrag. Daraus wurde, seit der zweiten Hälste des 9. Jahr­ hunderts nachweisbar, ein aus Gewohnheitsrecht beruhender Anspruch, später als ius spolii bezeichnet.

Eisenberg, Das Spolienrecht, Marb. jur. Diss., 1896; Tangl, Die Vita Bennonis und Has Regalien- und Spolienrecht, NA. XXXIII, 1908. c) Die Stolgebühren. Die Annahme eines Entgelts für geistliche Amtshandlungen, eine bereits durch Gregor 1. verurteilte Unsitte, gewann mit dem Eigenkirchenwesen eine rechtliche Grundlage. Denn bei den Eigenkirchen war die Gebührenerhebung überliefert (Leichensangs­ kauf bei den nordischen Eigentempeln) und hing mit dem Wesen der Eigenkirche als einem Privatunternehmen zusammen, zu dem außer dem Herrn eine größere oder kleinere Gemeinde frei­ willig oder gezwungen sich hielt. Für Begräbnis, Taufe, Einsegnung der Ehe, Abendmahl, Beichte und letzte Ölung wurden jetzt oder später Gebühren, iura stolae, erhoben, die nicht bloß der Unterstellung unter die Simonie nicht verfielen, sondern schließlich 1215 von Innozenz 111. -geradezu als laudabilis consuetudo bezeichnet wurden. Noch im heutigen Recht spiegelt sich der Widerstreit altkirchlicher und germanisch-heidnischer Anschauung wider: Stolgebühren dürfen nicht vor der Amtshandlung gefordert (altkirchlich), müssen aber hinterher, nötigenfalls aus Klage hin, entrichtet werden (germanisch). Stutz, Art. Stolgebühren, Hauck-Herzogs Realencykl. 3 XX, 1907. d) Der Zehnt, im 5. Jahrhundert von Hieronymus u. a. aus dem Alten Testament über­ nommen, im folgenden Jahrhundert (Synode von Macon 585) bei Strafe der Exkommunikation kirchlich und seit Pippin (in Bayem seit Tassilo) — wahrscheinlich als Preis, den die weltlichen. "Machthaber des Frankenreichs an die geistlichen von den gemeinsamen Untertanen zahlen ließen, um, ohne das eingezogene Kirchengut zurückgebeil zu müssen, die Wiederausrichtung der frän­ kischen Kirche zu ermöglichen — auch staatlich geboten, knüpfte ebenfalls an alleigenkirchliche Gedanken (nordischer Tempelzoll) an. Das karolingische Gebot kam namentlich den Fiskallirchen zugute, an die der Zehnt der Fiskalländereien fiel. Nicht mehr dem Bischof, fondern den einzelnen (Taus-) Kirchen wurde eben gezehntet. Also gewährte der Zehnt, aus den die inzwischen nach dem Frankenreich gelangten römischen Teilungsvorschristen (§ 14 a. E.) Am

Kirchenrecht.

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Wendung sanden, selbst bei gewijjenhajler Verwaltung, durch das Kleriker- und Kirchenvierlel dem König mindestens eine Erleichterung seiner Besoldungs- und Kultuslast. Nach längerem Bemühen und Kamps gegen die bis dahin ängstlich gewahrten Rechte der alten, einst bischöflichen Kirchen erreichten auch die übrigen Grundherren 818/19 als Gegenleistung für gewisse Auflagen (§ 20, 1) das Zehntrecht für ihre entsprechenden Kirchen und damit eine bei an­ wachsender Bevölterung immer reicher fließende Einnahmequelle, die zur Kolonisation durch Kirchgründung geradezu anspornte. Übrigens haben die Laien auch vermittelst des Lehens­ rechtes selbst bischöfliche und Kloflerzehnten an sich zu bringen gewußt; kaum eröffnet, wurde die reiche Einnahmequelle des Zehnten der Kirche alsbald wieder entwunden.

L o e n i n g , Geschichte II 676 ff.; Stutz, Benefizialwesen I §§ 17, 18, Das karolingische Zehntgebot, Z.1 s. RG. XXIX, 1908; Brandileone, A proposito dell’ultimo canone del concilio Foroiuliano, 1905; Loy, Der kirchliche Zehnt im Bistum Lübeck, Kieler Phil. Diff., 1909; V i a r d , Histoire de la dime ecclösiastique, principalement en France jusqu’au d6cret de Gratien, ThSse, 1909; Perels, Die kirchlichen Zehnten im karolingischen Reiche, Berliner Phil. Diss., 1904, Die Ursprünge des karolingischen Zehntrechts, Arch. f. Urkundenforsch. III, 1911; Tangl, Forschungen zu Karolinger Diphimen, Arch. f. Urkundenforsch. II, 1910, Zum Osna­ brücker Zehntstreit, Hist. Aufs. f. Zeumer, 1910; Philippi, Forst und Zehnte, Arch. f. Urkunden­ forsch. II, 1910, Zehnten und Zehntstreitigkeiten, M. d. I. f. ö. G. XXXIII, 1912; Les ne, La dime des biens ecclftsiastiques aux 9° et 10® siAcles, R. h. e. XIII, 1912, XIV, 1913; v. JnamaSternegg, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, I *, 1909, II, III1,2,1891—1901; Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter, 3 Bde. in 4 Teilen, 1885—86; Dopsch, Die Wirtschastsentwicklung der Karolingerzeit vornehmlich in Deutschland I, II, Weimar, 1912/3; vgl. Lit. zu § 34.

8 19. Die Dezentralisation des Bistums. Der Germanismus veranlaßt oder fördert wenigstens die Unterteilung der ehemals ein­ heitlichen Diözese. 1. Die Landpsarrei. Ohne eine gewisse Abstufung der kirchlichen Anstalten und ihrer Geistlichkeit war die kirchliche Versorgung des platten Landes durch Außenflationen der Kathedrale aus die Dauer nicht durchführbar. Schon 506 unterschied das westgotische Nationalkonzil zu Agde von den schlichten Basiliken und Oratorien (nachmals tituli seil, minores) die Haupt­ oder Tauskirchen (ecclesiae oder plebes baptismales), in denen an Sonn- und Festtagen der ordentliche Gemeindegottesdienst stattsand *, und von deren Borstehem (aichipiesbyteri etwa seit 650) zu Ostern (und Psingflen) getauft wurde. Und zu Ende des 7. Jahrhunderts ist in Gallien und Spanien, ja selbst im bistumsreichen Italien der Gmnd zu einer umfassenden ländlichen Seelsorgeorganisation gelegt. Da unterbricht das Eigenkirchenrecht, die Taufkirchenordnung sprengend (deshalb seither nur ausnahmsweise ein Zusammenhang der neuen Psarrei mit dem weltlichen Bezirk) oder sie (nicht in Italien) sich alsbald unterwersend, die Entwicklung und gibt ihr eine neue Wendung. Zumal nach dem Erwerb des Zehnten (§ 18, 3 d), der auch unter Karl dem Großen eine bessere, wennschon noch lange nicht durchgreifende Sprengelabgrenzung veranlaßt, wird das Psarrecht durchaus als Gerechtsame gefaßt. Durch bischöf­ lichen Bann (§ 21, 1) begründet und den weltlichen Gewerbebann- und Zwangsrechten ver­ wandt, soll es jetzt vor allem der grundherrlichen Kirche die Kundschaft und damit die Einnahme sichern, eine Entwicklung, welche die Bischöfe nicht bloß mit gesöckert, sondem auch für ihre Kirchen fruchtbar gemacht haben.

Hatch-Harnack, Grundlegung (§ 9); Hinschius, Kr. II § 90,1; Loening, Geschichte II 346ff.; Luchaire, Manuel §§ 1—3; Werminghoff, BG. §§ 13, 38; Stutz, Benefizialwesen I §§ 4, 5, 14, Art. Pfarrei in Hauck-Herzogs Realencykl. • XV, 1904; Imbart de la To ur, Les paroisses rurales, 1900 (dazu Stutz, Gött. GA. 1904 Nr. 1); Vacandard, Un 6v8que m6rovingien (S-Ouen) R. q. h. LXIX, 1901, S.-Victrice de Rouen, 1903; Wariohez, Les origmes de l’Sglise de Toumai, Löwener Diff., 1902; G o s s e s , Merowingisch en Karolingisch Utrecht,Bijdragen voor vaderlandsche geschiedenis IVreeks D IX, 1910; Zorell, DieEntwilllung des Parochialsystems, A. f. k. Kr. LXXXII, 1902; SB. Schulte, Die Entwicklung der Parochial1 Bezeichnender Übergangssprachgebrauch: parochia = Bistum, aber auch — ländliche Hauptkirche; dioecesis = Landkirche, aber auch = Bistum; vgl. Stolz, Ilapotxfa, parochia und parochus, Th. Q. LXXXIX, 1907, Zur Geschichte des Terminus parochus, Th. Q. XCV, 1913, und Stutz, Parochus, Z.' f. RG. I, 1911, II, 1912, III, 1913. Snz,klori>d>« der Rechtswissenschaft. 7. der Neubearb. 2. Aufl. Band V. 20

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Verfassung in Schlesien im Mittelalter, Zeitschr. s. Gesch. Schlesiens XXXVI, 1902; IosteS , Die münsiersche Kirche vor Liudger, Zeitschr. f. vaterl. Gesch. u. Altett. von Westfalen LXII, 1904; Gasquet, Parish life in mediaeval England, 1906; Hätschel, Englische BG. (§ 18, 1) S. 147 ff., 262 ff. Böttger, Diözesan- und Gaugrenzen Norddeutschlands, 4 Bde., 1875—76; Fall, Die dedicatio und terminatio ecclesiaeim 8. bis 11. Jahrhundett, A. f. l Kr. LXXXIX, 1909; Brandi, Gött. G.A. 1908, Nr. 1 u. Zeitschr. d. Hist. Ber. f. Niedersachsen, 1909; Flach, Les origines de Pancienne France III, 1904 p. 100 ss.; Pirchegger, Die Pfarren als Grundlage der polittsch-militärischen Einteilung der Steiermark, A. f. ö. G. CII, 1913.

2. Stadtpfarrei und Stift. Die römisch-kirchliche Ordnung, auf dem Platten Lande durch das Eigenlirchenwesen und die damit verbundenen Neuerungen beseitigt, behauptet sich noch geraume Zeit in der Bischossstadl. Ihre Geistlichen sind bestellt und leben den kano­ nischen Vorschriften gemäß (canonice — Gegensätze: iegularitei, d. h. klösterlich und incanonice, d. h. wie der unbotmäßige Eigenkirchenklerus — vivere), haben ihren Namen canonici aber doch wohl von dem Verzeichnis, canon oder matiicula, in das sie wie die von der Kirche unterstützten Witwen und Armen eingetragen sind. Durch eine Art mönchischer Organisation (für Metz: Regel des Bischofs Chwdegang um 760, für das ganze Frankenreich die darauf fußende Aachener Regel von 816) wird insbesondere der Stadtklerus zum Kapitel (capitulum, capitulares vom kapitelweisen Vorlesen der Regel), an der Domkirche zum Dom- oder Kathedralkapitel (canonicus --- Domherr oder -kapitular) mit dem Propst, praepositus (dem bisherigen bischöflichen Archidialon), und feit ca. 850 mit dem Dekan, decanus (dem früheren bischöflichen aichipresbyter = Ersten der Priester), an der Spitze, an anderen größeren Stadtkirchen zum Stifts- oder Kollegiatkapitel (canonicus = Stifts- oder Chorherr) mit entsprechenden Vorstehern. In diesen Stiftskirchen wurde, indes die Kathedrale weiterhin für Pfarrhandlungen der ganzen Diözese offenstand, regelmäßig der städtische Pfarrgottesdienfl gehalten. Die Stistspröpste, später in ihrer Vertretung die Kustoden, besorgten die Pfarrseelsorge in den seit dem 9. Jahr­ hundett nachweisbaren städtischen Kollegiatparochien, während die übrigen Kanoniker wochen­ weise den Gottesdienst versahen (hebdomadarii) und den Chordienst in den horae canonicae verrichteten, eine Doppelsunktion, für die bisweilen Doppelkirchen eingettchtet wurden. Trotz des Bestrebens, das nachmals das Reformpapsttum betätigte, sie in Benediktinerinnenklöster zu verwandeln, behaupteten sich im Süden, namentlich aber im Westen Deutschlands und in den angrenzenden französischen Gebieten zahlreiche Kanonissenstifter (mit zugehöttgem Kanoniker­ kapitel), deren Vorsteherinnen, Äbtissinnen, weil mit Diakonissenweihe versehen und zum Klerus (Diözesansynoden) gehörig, zur Ehelosigkeit verpslichtet waren, indes die Stiftsdamen, nach dem eigenen Statut lebend und zum Chordienste verbunden, jederzeit austreten und sich verehelichen konnten.

H i n s ch i u s , Kr. II §§ 80, 90111; L u c h a i r e , Manuel §§ 32, 39; Werminghoff, BG. § 38; Chrodegangi Metensis episcopi . . . regula canonicorum, ed. Schmitz 1889; Ebner, Zur regula canonicorum des heil. Chrodegang, R. Q. V, 1891; Werminghoff, Die Beschlüsse des Aachener Konzils von 816, N. A. XXVII, 1902; Doll, Die Anfänge der altbayerischenDomkapitel, Münchener theol. Diss., 1907 (auch in Deutinger u. Schlecht, Beitr. z. Gesch. d. Erzbist. München X); Schäfer, Pfarrkirche und Stift im deutschen Mittelalter, Stutz, Kr. A., 3. H., 1903, Frühmittelalterliche Pfarrkirchen und Pfarreinteilung in römisch­ fränkischen und italienischen Bischofsstädten, R.Q. XIX, 1905, Die Kanonisfenstifter (oben § 5 und dazu Levison, Westdeutsche Zeitschr. XXVII, 1908), Kanonissen und Diakonissen (§ 5); Beyerle , Geschichte des Chorstifts und der Pfarrei St. Johann zu Konstanz, 1908; Macc i, Le vicinie di Bergamo, 1884; Liebe, Die kommunale Bedeutung der Kirchspiele in den deutschen Städten, 1885; Falk, Zur Geschichte der Psarreinteilung in den Städten, A. s. k. Kr. LXVIII, 1892; vgl. auch die Lit. zu § 30, 4 und 31, 1, und Stolz, Th. Q. XCIII, 1911, S. 323 f. 3. Dekanate, Archipresbyterate, Archidiakonate. Der Untergang der merowingischen Baptismalorganisation und das Nebeneinander von zahlreichen Landpsarreien macht, zunächst im Westsrankenreich \ in karolingischer Zeit eine Zusammenfassung zu Dekanaten (mit Kalendarkapiteln) unter Dekanen nötig, während in Deutschland vorerst ein neuer Chorepiskopat2 und ein jüngerer Landarchipresbyterat (an Mutterkirchen) denselben 1 In Italien behauptet sich der alte Landarchipresbyterat. • Die westsränkischen Chorbischöfe wurden mit Hilfe Pseudoisidors vom Diözesanepiskopat beseitigt.

Kirchenrecht.

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Dienst (Aussicht und Bußdisziplin) tut. Für die (Send-) Gerichtsbarleit aber entsteht hier, seit im 10. Jahrhundert die zu Fürsten werdenden Bischöje sich noch mehr als bisher durch weltliche Geschäste in Anspruch genommen sehen, und seit auch das bischöfliche Gerichtslehen als nutzbares Recht begehrenswert erscheint, der ländliche Archidialonat (im Trierischen und anderswo trotz mangelnder Weiherechte als Chorepislopat bezeichnet). An den Dompropst sowie an Stifts­ pröpste und bald auch an Domherren vergeben bzw. mit den Stistspropfleien diesen Vorbehalten oder Stistem und Klöstem übertragen, umsaßt er im übrigen Deutschland meist die Psarreien (und damit die Dekanate) eines Gaues oder eines Bistumviertels (Worms, Speier), während in Sachsen, das in der weltlichen und in der kirchlichen Gerichtsverfassung eine Sonderstellung einnimmt, jede (regelmäßig in einer Urpjarrei liegende) Send- (wie Ding») Statt mit ihrem Bezirk einen Archidialonat sür sich bildet. Luchaire, Manuel § 12; Werminghosf, BG. §§ 37,38; Sägmüller, Die Ent­ wicklung deSArchipresbyterats und Dekanats, Tübinger Univ.» Proar., 1898; Faure, L’archiprttre, Thdse, 1911; Weizsäcker, Der Kampf gegen den Chorepiskopat, 1859; Hinschius, Kr. II § 851; Falk, Die Mainzer Weihbischöfe deS 9. Jahrhunderts, H. Jb. XXVIII, 1907; Hin­ schius, Kr. II $$ 86n~v, 90 H; Luchaire, Manuel $$ 9—11; Werminghosf, BG. 5§ 12, 13; Hilling, Die Entstehungsgeschichte der Münsterschen Archidiakonate, Münst. theol. Diss., 1902, Beiträge zur Geschichte der Berfassung und Verwaltung des Bistums Halberstadt im Mttelalter: I. Die Halberstädter Archidiakonate, 1902; Glasschröder, Das Archidialonat in der Diözese Speier, A. Z. R. F. X, 1902; Bastgen, Die Entstehungsgeschichte der Trierer Archidiakonate, Breslauerkath.-theol. Diss., 1906; Baumgartner, Geschichte und Recht de» Archidiakonates der oberrheinischen Bistümer mit Einschluß von Mainz und Würzburg, Stutz, Kr. A., 39. H., 1907; Hübner, Die salzburgischen Archidiakonatsvnoden, Deutsche Geschichts­ blätter XI, 1910; Naumann, Zur Geschichte der Archidiakonate Thüringen», Z. f. Kg. in der Provinz Sachsen IX, 1912; Krieg, Der Kampf der Bischöfe gegen die Archidiakone im Bistum Würzburg, Stutz, Kr. A., 82. H., 1913.

8 20. Das kirchliche Benefizialwefen. Mit der Eigenkirche zog die Leihe in das Kirchenrecht ein. 1. Benefizium. An die Stelle des widerruflich angeflellten, in strenger wirtschaft­ licher Abhängigkeit befindlichen bischöflichen Beamten trat auf dem Lande (allgemein seit dem 8. Jahrhundert) der zunächst ebenfalls einer Willkürherrschaft preisgegebene, freie oder unfreie Privatgeiflliche des Grundherrn. Sein im Mefselefen und in sonstigen kirchlichen Verrichtungen bestehender Dienst unterschied sich rechtlich in nichts von dem des herrschaftlichen Müllers oder ackerbauenden Grundholden. Und nur den Mißbrauch solcher Auffassung hat man kirchlicherseits bekämpft. Unter Ludwig dem Frommen forderte und erreichte der Episkopat im Kirchen« kapitular von 818/19 das Gebot ausschließlicher Anstellung von Freien und der Gewähmng eines Ezistenzminimums, indem für die Kirche samt Kirchhof, Psarchaus und Pfarrgarten, sür den Zehntanteil des Geistlichen und die Oblationen und außerdem für eine ganze Hufe Kirchenland kein anderer als geistlicher Dienst getan, also namentlich kein Zins entrichtet toetben sollte, während vom übrigen die Erhebung von Leiheabgaben dem Herm nach wie vor stetstand. Bon nun an war das beneficium, die freie Leihe des fränkischen Rechts, die gegebene Anstellungssorm. Mit ihm erreichte der Episkopat, da es, wo nicht die bei Kirchen gegenstands­ lose und kirchlicherseits verpönte Kommendation mit der aus ihr entspringenden Basallität dazutrat, den Herrensall nicht kannte, zugleich die Lebenslänglichkeit des Dienstverhältnisses aus feiten des Eigenkirchenprieflers. Das Benesizialrecht des Geistlichen1 war das Komple­ ment des grundherrlichen Kircheneigentums, bei mißbräuchlicher Teilverleihung' sowie in­ folge der durch das angeführte Kirchenkapitular veranlaßten, seit dem 10. Jahrhundert häufigen Scheidung von Fabrik- oder Lichtergut einerseits und von Benesizialvermögen anderseits' freilich nicht immer ein Komplement von gleicher räumlicher Ausdehnung des Objekts. Die Leihe geschah diesseits der Alpen mündlich, in Italien regelmäßig schriftlich * 1 Auch Teilpacht, colonia partiaria, Libellar- und sonstiges Leiherecht kommt vor. • Es wurde — besonders in Italien — nicht selten die Kirche bloß mit einem Drittel der dazu gehörigen Güter und Einkünfte verliehen. • Die Bezeichnung dos oder Widem kommt für beides vor. • Die cartula ordinationis wurde allmählich aus einer Bestallungsurkunde römischen zu einer Leiheurkunde germanischen Kirchenrechts.

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durch Investitur vermittelst Kirchenbuch, Stab und ähnlicher Symbole. Verleiher war der Grundherr, der den Geistlichen (nach bischöflicher Prüsung und mit bischöflicher Genehmigung) ernannte und von ihm eine Gabe (exeninm) oder Leihegebühr (conductus) bezog. Dem Herrn wird auch der Dienst in Gestalt der Besorgung der Kirche und der Versorgung der Kirchgenosjen geleistet. Dem Bischos (dem Archidiakon und dem Dekan) bleiben nur Aussicht, Gerichtsbarkeit und Abgabenrecht. Das Leiherecht enthält wie auch sonst die Befugnis zur Weitergabe im Ganzen (Asterleihe) oder zum Teil. Daher nach allmählicher Zunahme des Landkirchenguts die Unsitte der Bestellung diensttuender, zeitlicher oder ständiger Verweser (vicarii temporales oder perpetui) unter Vorbehalt des Rektorats, d. h. der Ehren, rechtsgeschästlichen Vertretung und Haupteinkünste.

Stutz, Geschichte des kirchlichen Benesizialwesens I (§ 18), Tas Eigenkirchenvermögen (§ 18), Art. Eigenkirche, Ägenkloster (§ 18); Luchaire, Manuel §§ 7, 8; Schupfer, Degli ordini sociali e del possesso fondiario appo i Longobardi, Wiener Ak. S. B., phU.-hist. Kl., XXXV, 1860; de Hinojosa, La fraternidad artificial en Espaüa, Riv. de archivos, 1905; Pivano, Consortium o societas di chierici e laici ad Ivrea nei secoli IX e X, Studi ... in onore di . . . Ciccaglione I, 1909; CUment, Recherches sur les paroisses et les fabriques au commencement du XIII« siede, M. d’a. d’h. XV, 1895. 2. Präbende. In der Bischossstadt und sür das aus römijch-merowingijcher Zeit herstammende Bistumsvermögen dauerte zunächst die vorgermanische bischöfliche Zentralverwaltung mit ihren Stipendien fori, durch das mönchische Zusammenleben (mensa et massa communis) höchstens gesteigert. Seit dem 9. Jahrhundert (in Köln unter Erzbischof Günther vor 866) kam es aber nach und nach in allen Diözesen zu der ums Jahr 1000 wohl allgemein durchgesührten Abschichtung des Domslifts und der übrigen Stifter (Kapitels- und Stistsgut mit einem Teil der bisher bischöflichen Landkirchen) vom Bischos (der ihm verbleibende Rest heißt mensa episcopalis, Taselgut), bisweilen unter Zugrundelegung der durch die Samm­ lungen des altkirchlichen Rechtes (§ 10 und S. 291 A. 2) auch über die römische Kirchenprovinz hinaus bekannt gewordenen Vierteilung (schon 813 Quartradizierung in Verona). Und als bald daraus die Natural- und Geldreichnisje des einzelnen Kanonikers 1 durch die Leihe eines Stistshofs, curia, samt Gütern und Gefällen (Kanonikat) ersetzt wurden, verfiel der letzte Rest altkirchlicher Gütereinheit dem dezentralisierenden Benesizialwesen. Abgesehen von nebensäch­ lichen Besonderheiten wie der periodischen Neuverteilung der praebendae und der Einbehaltung eines Teils des Ertrags zu täglicher Verteilung (distributio quotidiana, Präsenzgeld) im Interesse der Förderung der Residenz, unterschied sich diese jüngere praebenda nicht vom beneficium. weshalb im Deutschen die Bezeichnung Pfründe sür beide Anwendung sand und findet.

Stutz, Benesizialwesen (§ 18) I, 320 ff., 368 f., Lehen und Pfründe, Z. 2f. RG. XX, 1899; Luchaire, Manuel §§ 27, 37; Werminghosf, BG. §§ 8, 12; Lormeau, Des menses äpiscopales en France, Th6se, 1905; Les n e , L’origine des menses dans le temporel des eglises et des monasteres de France au 9e stecle, Mem. . .. des fac. cath. de Lille, 7 e fase., 1910; Pöschl, Bischofsgut und Mensa episcopalis I, II, III 1, 1908—1912. 3. Ämterleihe. Schließlich begegnet auch in der Kirche eine wahre Ämterleihe. Insbesondere wird seit dem 11. Jahrhundert die selbständige Gerichtsbarkeit, die der Tom­ propst, in solcher Funktion mit Vorliebe archidiaconus genannt, und andere, gleich ihm mit der Vertretung des Bischofs (als missi) in den Sendgerichten betraute Domherren (archidiaconi minores) erringen (§ 19,3), wegen der damit verbundenen Einkünfte (Verpslegung, Sendschilling, Sendhaser) als beneficium betrachtet und durch Investitur verliehen -.

Werminghoff, BG. § 37; Hilling, Beiträge (§ 19, 3).

1 Praebenda = Stipendium im Gegensatz zum beneficium. wie zuvor schon in der fränki­ schen Gutswirtsd)ast der victus et vestitus der Tagwerker praebenda, Provende, genannt wurde im Gegensatz zur Hofstelle, dem bäuerlichen beneficium. 1 Bei Archidiakonaten, die Stiftern oder Klöstern zugewiesen (später einverleibt) sind, bedarf der an Stelle des verhinderten Stistsvorstehers — z. B. einer Abtissin — Amtende der bischöf­ lichen Bannleihe.

Kirchenrecht.

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§ 21. Der Bischof und das Diözesanrechi. Hatte das Eigcnlirchenwesen in Gestalt einer viellöpsigen Laienherrschajt innerhalb des Bistums überhaupt erst gegen den Bischof das Gegen-, ja Übergewicht geschaffen, durch das die Bildung eines wahren Diözesanrechts nicht bloß möglich, sondem selbst dem zuvor absoluten Episkopat gemdezu erwünscht wurde, so sörderte der Germanismus auch sonst den rechtlichen Ausbau der Diözese. Stutz, Eigenkirche (§ 7). 1. Die bischöfliche Amtsgewalt im allgemeinen. Seit der zweiten Halste des 9. Jahrhunderts macht sich die in den deutschen Bistümem später zu unbestrittener Herrschaft gelangende germanischrechtliche Vorstellung geltend, daß der Bischof die Diözese (aber auch der Papst die Kirche) mit seinem Bann, bannus episcopalis (daneben bannus sancti Petri oder papalis), regiere, also mit der obrigkeitlichen Besugnis, bei Strase zu gebieten und zu verbieten. AIs ordentliche Bannflrase erscheint dabei die gwße Exkommunikation, die infolge dieser Ent­ wicklung eine weit über das Gebiet des eigentlichen Straf- und Disziplinarstrasrechts hinaus­ gehende Verwendung und, samt dem durch sie geschaffenen Zustand, ihre bis heute übliche deutsche Bezeichnung erhält (daneben Absetzung bei Sterilem, Fastenstrafen und namentlich Geldbußen, diese auch bei Mißachtung päpstlicher Banngeboie). Zunächst nur eine neue Rechts­ form für die Vorgefundene bischöfliche Gewalt, beeinflußt diese Bannisiemng unter den ver­ änderten kirchlichen Lebensverhältnissen mit der Zeit doch auch den Inhalt der bischöflichen Befugnisse.

Hinschiue, Kr. V § 279; Hilling, Die bischöfliche Banngewalt... in den sächsischen Bistümern, A. f. 1. Kr., LXXX, LXXXI, 1900/01. 2. DerBischofunddieGesetzgebung; Diözesansynode. In Gestalt des Berordnungsbanns behauptet der Bischof auch jetzt sein ausschließliches Gesetzgebungsrecht. Die seit dem letzten Viertel des 6. Jahrhunderts (Auxerre) nachweisbare, aber erst seit dem 9. zu kirchlicher Bedeutung gelangende Diözesansynode (ordentlicherweise zwei im Jahr), an welcher die hohe und niedere Bislumsgeistlichkeit, die Äbte (auch Äbtissinnen), ja selbst Laien (im 12. und 13. Jahrhundert besonders die freien und dann auch die unfreien Ritter **) teil­ nehmen, nimmt regelmäßig nur die bischöflichen Erlasse ‘ zur Kenntnis, gibt auch Weistümer über geltendes Recht ab, vermag aber bloß hier und da eine wahre Mitwirkung bei der bischöf­ lichen Gesetzgebung zu erlangen. Das überlieferte arbiträre, generelle und spezielle Strafsatzungsrecht des Bischofs wird durch die Bannisiemng geradezu gefestigt, ebenso wie seine Besugnis, Ausnahmen (Exemtionen) zu schassen. Dem Inhalt nach dient das Diözesanrecht wesentlich der Durchsührnng und dem Ausbau der kirchlichen Ordnung, wie sie in karolingischer Zeit die Kapitularien und später die selbständig gewordenen (§ 17) höheren Synoden anstrebten, von welch letzteren übrigens gegen Ende unserer Periode das vorher der kirchlich beeinflußten weltlichen Gesetzgebung überlassene Eherecht mehr und mehr an sich gezogen wird, wie denn auch seit dem 11. Jahrhundert die kirchliche Gerichtsbarkeit der Ehe sich bemächtigt.

Hinschius, Kr. III, § 178; Werminghoff, BG. § 47; Sdralek, Die Straßburger Diözesansynoden, Straßb. Th. St. II, 1897; Hilling, Die westfälischen Diözesansynoden, Münst. Phil. Diss., 1898, Gegenwart und Einfluß der Geistlichen und Laien auf den Diözesansynoden, A. s. k. Kr. LXXIX, 1899; Savagnone, Le origini del sinodo diocesano e l’Interpretatio, Studi in onore di... Brugi, 1910; Freisen, Geschichte des kanonischen Eherechts (§ 14); Hazeltine, Zur Geschichte der Eheschließung nach angelsächsischem Recht, Festgabe f. Hübler, 1905; Leicht, Nota al X. eanone del concilio Forojuliese (796), 1905; Opet, Brauttradition und KonsensgespräH in mittelalterlichen Trauungsritualen, 1910, Die Anordnung der Eheschließungs­ publizität im Capitulare Vemense, Festschrift f. Gierke, 1911; Fahrner, Geschichte der Ehe­ scheidung I, 1903. Bgl. die Lit. zu § 31, 2. 1 Daher wurden Edle und Ministerialen zusammen als homines synodales bezeichnet. • Capitals episcoporum, z. B. Theodulfs von Orlöans um 800, Haitos von Basel 807—23, Hinkmars von Reims 852, 856, Richulss von SoissonS 889 u. a., am besten verzeichnet von Werminghoff, R.A. XXVI, XXVII 1901/02, S. 665 ff., 576 ff.; siehe auch Seckel, R. A. XXIX, 1904, S. 287 ff.

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Mrich Stutz.

3. Der Bischof und die Gerichtsgewalt; Sendgerichte, Streitund Strafverfahren; Strafrecht. Die im Mittelalter wichtigste Funktion der kirchlichen Regierungsgewalt (diese heißt davon bis heute iurisdictio), den Gerichtsbann, vermochte der Bischof nicht ungeteilt zu behaupten. Er bleibt grundsätzlich der ordentliche Richter 1 in streitigen und Strafsachen und richtet (später durch seinen Offizial) im bischöflichen Send oder in der Diözesansynode. Aber während er im 9. Jahrhundert in Person und im 10. wenigstens durch Vertreter in Verbindung mit der Visitation des Bistums alljährlich in den Urpsarreien den dem fränkischen Rügegericht nachgeahmten 1 ordentlichen Send hält, in dem sieben Send» geschworene (sie übernehmen später auch die Funktionen der Sendschösfen, also der Urteilsinder) von Amts wegen die ihnen zur Kenntnis gekommenen kirchlichen Vergehen rügen, geht dem Bischof seit dem 11. Jahrhundert mit dem ordentlichen Sendbann der Hauptbestandteil erstinstanzlicher Straf- und Gerichtsgewalt über die Laien an die Archidiakonen jüngerer Ordnung (§ 19, 3) verloren, so daß er nur Oberinstanz und Richter für vorbehaltene Verbrechen wie Ketzerei und peicussio cleiicorum (unten S. 331 A. 3) usw. bleibt. Hinschius, Kr. V §§ 286, 288; Dove, Die fränkischen Sendgerichte, Z. s. Kr. IV, V, 1864/66; Koeniger, Die Sendgerichte in Deutschland I, Beröff. a. d. Münchner kirchenhist. Sem. III 2, 1907, Bom Send, insbesondere in der Diözese Bamberg, 70. Bericht des hist. Ber. für Bamberg, 1912, Quellen zur Geschichte der Sendgerichte in Deutschland, 1910; Lingg, Geschichte des Instituts der Pfarrvisitation, 1888; Knoke, Historisch-dogmatische Untersuchung der Verwendung weltlicher Strafen gegen Leben, Leib, Vermögen, Freiheit und bürgerliche Ehre im kirchlichen Strafrecht ... der vorgratianischen Zeit, 1895.

Das Verfahren, namentlich in Strafsachen, nähert sich dem germanischrechtlichen in so fern an, als, wenigstens wenn der Ankläger keinen oder keinen vollen Beweis erbringt, der Angeklagte, auch der geistliche, durch Reinigungseid (mit Eideshelsern) sich sreizuschwören hat (Gottes­ urteil nur bei den Laien!), und als der Ossizialprozeß bei Offenkundigkeit mehr als früher hervor, tritt. Im Strafrecht macht sich der germanische Einfluß besonders in der Verwendung des Banns zu Vollstreckungszwecken bemerkbar sowie darin, daß aus ihm selbständige Strafen wie (Lokal-) Interdikt, Versagung des kirchlichen Begräbnisses, und — seit der zweiten Hälfte des 11. Jahr­ hunderts — Huldentzug (indignatio papae) abgezweigt werden. Auch ist es gewiß kein Zufall, wenn der Straseintritt mit der Tat (censurae latae sententiae) in einer Zeit auskommt, der die Jpsojure-Wirkung der Handhasten Tat3 ganz geläufig ist, und wenn die Versagung der communicatio iorensis, d. h. der Fähigkeit, vor Gericht anders denn als Beklagter auszutreten, zu den bisherigen Wirkungen des Bannes in einer Periode hinzutritt, in der nach weltlichem Recht die Rechtsfähigkeit vomehmlich als Gerichtssähigleit sich äußert. Im Bußwesen, das bei össentlich bekannten schweren Sünden wieder die öffentliche Buße, für die gebeichteten die private kennt, bewirkt der germanische Einfluß die Möglichkeit einer Ablösung durch Geld und die weitere der Gesamtbuße also z. B. unter Zuziehung von Knechten. Hinschius, Kr. IV § 258, V §§ 261—263 H, 1, 266—270, 274—276, 284; Esmein, Les ordalies dans l’Sglise gallicane au 9? stecle, 1898; Vacandard, L’öglise et les ordalies, jetzt auch in seinen fitudes de crit. et d’hist. eccl. 1905; Franz, Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, 2 Bde., 1909; K ö st l e r, Der Anteil des Christentums an den Ordalien, Z. • s. RG. II, 1912, Huldentzug als Strafe, Stutz, Kr. A., 62 H., 1910; Ehrmann, Der kanonische Prozeß nach der Collectio Dacheriana, A. f. k. Kr. LXXVII, 1897; Cremer, Die Wurzeln des Anselmschen Satisfaktionsbegriffes, Th. St. Kr. LIII, 1880, Der germanische Satisfaktionsbegriss in der Bersöhnungslehre, ebenda LXVI, 1893; v. Möller, Die Anselmsche Satisfaktion und die Buße des germanischen Strafrechts, Th. St. Kr. LXXII, 1899; Funke, Die Satisfaktions­ theorie des h. Anselm von Canterbury, Kg. Studien von Knöpsler u. A. VI, 3, 1903; Heinrichs, Die Genugtuungstheorie des hl. Anselmus von Canterbury, Forsch, z. christl. Lit.- u. Dogmengesch. IX 1, 1909; L e a , A history of auricular confession and indulgences in the latin church, I—III 1896; Kirsch, Zur Geschichte der katholischen Beiä)te, 1902; Koeniger, Die Beicht nach Caesarius von Heisterbach, Beröff. aus dem Münchner kirchenhist. Sem. II, 10, 1906; Kurt­ scheid, Das Beichtsiegel in seiner geschichtlichen Entwicklung, 1912. Vgl. auch die Lit. zu §§ 8, 31, 2. 1 Eine Sondergerichtsbarkeit entwickelt sick) z. B. für den Kapitelspropst in Kapitelssachen, Hinschius, Kr. V § 278. ' Oben I S. 96 f. ’ Dem seit der fränkischen Zeit aufgekommenen Bindungsverfahren würde die Herbeiführung einer Deklarationssentenz entsprechen.

Kirchenrecht.

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4. Der Bischof und die Verwaltung. Der bischöfliche Bann, gerade als Friedensbann (z. B. zur Sicherung des Sprengels und dcr Einkünfte sür eine Kirche bzw. deren Herrn) zuerst bezeugt, erweitert stch bald zu einem Berwaltungsbann. Aber die Archidialonen wissen den Sendbann im Lause der Zeit auch aus das Gebiet der Verwaltung auszudehnen, so daß dem bischöflichen Verwaltungsbann ein aus ihm abgeleiteter, aber nunmehr zu eigenem Recht bestehender archidialonaler zur Seite tritt. Er dient zur Visitation, gibt das Recht der Zustimmung (z. B. zur Gründung von Pfarreien) und eine sreiwillige Gerichtsbarleit auf, kirch­ lichem und immer weiteren weltlichen Gebieten **.

8 22. Aaifer(Aönig»)tnm und Papsttum. In den unteren Schichten hatte sich der Germanismus mit elementarer Gewalt selbst Bahn gebrochen, der oberen bemächtigte er sich, wenigstens in Deutschland, nach und nach durch das deutsche König- und Kaisertum. J a f f 6 , Regest» pontificum Romanorum •, 2 Bde. (—1198), 1885—88; v. P f 1 u g k • Harttung, Acta pontificum Romanorum inedita, 3 Bde., 1881—1888; Kehr-Brack­ mann, Regest» pontificum Romanorum, Italia pontificia, I—VI, 1906—1913, Germania pontificia I, 1911 (dazu Brackmann, Studien — oben $ 18, 2); Langen, Geschichte der römischen Kirche von Leo I. bis Nikolaus I., 1885, von Nikolaus I. bis Gregor VII., 1892; Schäfer, Deutsche Geschichte *, 2 Bde., 1912. Ohne mit den Überlieferungen der Merowinger zu brechen, bahnten doch die Karolinger, die im Bund mit dem Papsttum (Gutachten des Zacharias) 751 des Königtums sich bemächtigt und, nach mehreren Hilfszügen zugunsten der bedrängten Päpste, 774 das Langobardenreich samt dem römischen Patriziat erworben hatten, eine engere Betckindung mit der von ihnen gewissermaßen aus das Reich ausgedehnten fränkischen Landeskirche an. Auch BonisazenS Bestreben, die deutschen Gebiete in strengster Unterordnung unter den römischen Stuhl kirchlich zu organisieren und die gallischen ebenso zu reorganisieren (sein Gehorsamseid gegenüber Gregor II. 722), mußte vor den gegebenen Verhältnissen Haltmachen; die Medecherflellung (Bonifaz 742 Erzbischof * mit Sitz in Mainz; später auch Erzbischöfe von Köln, Trier und Salz­ burg) erfolgte gerade nur so weit im römischen Sinne, als es die karolingischen Herrscher sür gut fanden. Es begann eine völlige Vermengung weltlichen und geistlichen Wesens unter der formellen Vorherrschaft des ersteren (Reichslagssynode), aber weitestgehender sachlicher Berück­ sichtigung des letzteren 8. Ja, unter Karl dem Großen, zumal nachdem er Weihnachten 800 in Anerkennung seiner tatsächlichen Machtstellung aus der Hand Leos III. (aber a Deo coionatus I) die Kaiserkrone empfangen, gewann, von des Herrschers überwältigender Persönlichkeit getragen, in fränkischer Form das Ideal germanisch-christlicher Weltherrschaft glanzvolle Gestalt. Daneben war wohl sür die Glaubens- und eine weitgehende moralische Autorität der mit Karl persönlich befreundeten Päpste Raum*, aber nicht sür einen Rechtsprimat. Dies um so weniger, als das päpstliche Machtgebiet (Anfänge des Kirchenstaats) durch ein völkerrechtlich verwendetes fränkisches Schutz- (Kommendations-) und Jmmunitätsverhältnis den Reichen Karls angegliedert war, und der Papst nach der Begründung des Kaisertums zum ersten Reichsmetwpoliten (Testament Karls von 811) herabsank. Mochte man auch päpstlicherseits bei diesen Vorgängen von anderen Voraussetzungen ausgegangen sein — mit einer Diskrepanz deutscher und römischkurialer Auffassung muß man seit jener Zeit bis aus den heutigen Tag in allen deutsch-römischen Fragen rechnen —, so entschied eben tatsächlich doch Karls aus dem fränkischen Herkommen fußende Auffassung.

1 Das Nebeneinander von gräflichem und archidiakonalem bzw. offüiolem Friedewirken bei Grundstücksübereignungen hat örtlich und zeitwellig geradezu zu einer Verdrängung des welllichen Beamten geführt. • Jetzt kommt die Bezeichnung episcopus suffraganeus für den Provinzialbischos auf. • Durch diese Rücksichtnahme und dadurch, daß auch bei solcher Herrschaft deS Staates üb« die Kirche nach echt deutscher Art die Pflicht mit dem Recht als verbunden, ja ihm vorangestellt gilt, unterscheidet sich das karolingische Staatskirchentum sehr wesentlich vom Byzantinismus. • Doch hat Karl gelegentlich auch in Lehrfragen entscheidend mitgesprochen.

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Hinschius, Kr. 1§26 b., II § 76, III §§ 173, 177, 178, V § 287; Werminghofs, BG. §§ 9, 10, 16, 17, 49; Jhome, La question mtitropolitaine dans Ftiglise fran^aise au temps de Charlemagne, 1897; (siete, Die Entwicklung des Metropolitanwesens in Frankreich bis Bonifaz, 1900; Lesne, La Hierarchie 6piscopale (742—882), M6m. et trav. ... des fac. cath. de Lüle I, 1905 (und dazu Vaes, R. h. e. VII, 1906 p. 633 ss), Hincmar et Fempereur Lothaire, R. q. h. LXXXV1II, 1905; Nürnberger, Die römische Synode von 743, A. f. k. Kr. LXXIX, 1899 und Ausgabe 1898; Codex Carolinus ed. Gun dl ach in M. G. h. Epistolae III, 1892; Haller, Die Quellen zur Geschichte der Entstehung des Kirchenstaates, 1907, Die Karolinger und das Papsttum, H. Z. CVIII, 1911; Ketterer, Karl der Große und die Kirche, 1898; v. Wickede, Die Bogtei in den geistlichen Stiftern des fränkischen Reichs, Leipziger Phil. Diss., 1886; Senn, L’institution des avoueries eccUsiastiques en France, 1903, L’institution des vidamies en France, 1907; Morin, Les avoueries ecclösiastiques en Lorraine, Thdse, 1907; Perga­ ment, L’avouerie eccläsiastique beige des origines ä la p6riode bourguignonne, Thdse, 1M7; Heilmann, Die Klostervogtei im rechtsrheinischen Teil der Diözese Konstanz, Görres-Ges. Sekt. f. Rechts- n. Sozialwiss., 3. H., 1908; W. Eickel, Die Kaiserwahl Karls des Großen in M. d. I. f. ö. G. XX, 1899, Die Kaiserkrönungen von Karl bis Berengar, H. Z. LXXX, 1898; Sackur, Ein römischer Majestätsprozeß und die Kaiserkrönung Karls des Großen in H. Z. LXXXVII, 1901; Ohr, Die Kaiserkrönung Karls des Großen, 1904, sowie Z. f. Kg. XXVI, 1905 u. HB. VIII, 1905, aber auch Hampe, Z. f. Kg. XXVI, 1905; Döllinger, Das Kaisertum Karls des Großen, Münchner Hist. Jb., 1865 und in s. akadem. Borträgen; Ottolenghi, Della dignitä imperiale di Carlo Magno, 1897 (dazu W. Sickel in Gött. GA. 1897 Nr. 11); Bay et, Les Glections pontificales sous les Carolingiens, R. h. XXIV, 1884; Heim­ buch e r, Die Papstwahlen unter den Karolingern, 1889; Dopffel, Kaisertum und Papst­ wechsel unter den Karolingern, 1889; Brunner und Zeumer, Die Konstantinische Schenkungs­ urkunde, 1888, und Hauck, Kg. II3 u- 4 S. 18 N. 1; Hartmann, Geschichte Italiens II S. 157—249 sowie Friedberg, Kr. § 12 N. 7: Die Literatur über die Schenkungen Pippins und Karls, und dazu Schesfer-Boichorst in M. d. I. f. ö. G. V. 1884, X, 1889, Loening, H. Z. LXV, 1890; Schnürer, Die Entstehung des Kirchenstaates, 1894; Duchesne, Les Premiers temps de F6tat pontifical 3, 1904; Gundlach , Die Entstehung des Kirchenstaates, Gierkes Unters. H. 59, 1899; Hubert, Etüde sur la formatiern des etats de F6glise, R. h. LXIX, 1899; Crivellucci, Delle origini dello stato pontificio, Studi storici X, 1901; E. Mayer, Die Schenkungen Constantins und Pipins, D. Z. f. Kr. XIV 1904 (auch sep.); Schnürer u. Ulivi, Das Fragmentum Fantuzzianum, 1906; Schnürer, Zum Streit um das Fragmentum Fantuzzianum, H. Jb. XXIX, 1908; Schäfer, Die Bedeutung der Päpste Gregor II. (715—731) und Gregors III. (731—741) für die Gründung des Kirchenstaates, Münst. Phil. Diss., 1913; Hartmann, Grundherrschaft und Bureaukratie im Kirchenstaat vom 8. bis 10. Jahrhundert, Viertels. f. Sozial- u. Wirtschg. VII, 1909; Perels, Päpstliche Patri­ monien in Deutschland zur Karolinger- und Sachsenzeit, Hist. Aufs. f. Zeumer, 1910; Päpstliche Patrimonien in Bayern, Hist.-pol. Bl. CLI, 1913. Aber die theatralische Einheit von Karls Herrschaft war nur eine Episode, teils, weil sein Erbe mehr schien, als es war, teils, weil seine Erben seine Krast nicht besaßen. Unter ihrer Miß­ wirtschaft wandelten fich die Anschauungen namentlich der geistlichen Kreise, die einst mit denen Karls fich mehr oder weniger gedeckt hatten, und verfielen nach und nach aus die Scheidung weltlichen und geistlichen Wesens, um schließlich dieses über jenes zu erhöhen. Doch für das Gegenstück von Karls Gottesstaat, für die päpstliche Weltherrschaft, waren die Zeit und das Papsttum selbst noch nicht reif; das Pontifikat des machtvollen Nikolaus 1.1 erscheint mehr nur als Programm für eine noch ferne Zukunft. Der römische Stuhl, der Unterstützung einer Welt­ macht beraubt, wird zum Streitobjekt der römischen Adelssraktionen (Herrschaft der beiden Theodorae und der Marozia) und verfällt noch größerem Niedergang als die karolingische Macht. In Deutschland aber entwickelt sich, da man praktisch den Boden der karolingischen Gesetzgebung nie verlassen hatte, und weil die Alt- bzw. Edelsreien im Bunde mit Reich und Krone die höheren Regionen der Kirche mehr oder weniger ausschließlich beherrschten, bei größerer Selbständigkeit der kirchlichen Organe in einzelnen Punkten (§ 17) ein so kräftiges und leistungsfähiges Landeskirchentum wie nie zuvor; seine Grundpfeiler waren die weltlichen Einrichtungen Königtum Stand und Eigentum. Um diese Landeskirche, gegenüber dem Stammesherzogtum für ihn eine wesentliche Stütze, noch völliger zu beherrschen, nahm Otto der Große 962 die Kaiserwürde wieder aus, die ihm nach den damaligen Abmachungen (pactum Ottonis cum Johanne Xll.) auch einen maßgebenden Einfluß aus das Papsttum sichern sollte. Und als dann nach einem

1 Er griff mit Erfolg in Lothars II. Ehehandel ein und demütigte Hinkmar von Reims, den mächtigsten'fränkischen Kirchenfürsten; S d r a l e k, Hinkmars von Reims kanonistisches Gutachten über die Ehescheidung Lothars II., 1881.

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Zwischenregiment mehr schwärmerisch (Otto 111.) oder genügsam veranlagter (Heinrich II., Konrad II.) Herrscher mit Heinrich 111. (1039—56) der machtvollste der deutschen Kaiser Ottos Nachfolge antrat, erreichte auch das germanische Kirchenrecht den Höhepunkt seiner Herrschaft. Solmi, 8 tato e chiesa secondo gli scritti politici da Carlo magno fino al concordato di Worms in Bibi, dell’ Arch. giur. II, 1901; Ohr, Der karolingische Gottesstaat, Leipziger phll. Diss., 1902; Kleinclausz, L’empire carolingien, ses origines et ses transformations, Thdse, 1903; Lilienfein, Die Anschauungen von Staat und Kirche im Reiche der Karo­ linger, Heidelberger Abh. von Marcks und Schäfer, 1902; Flach, La royauU et Ftiglise en France (9*—11® siöcle), R. h. 6. IV, 1903, Les origines de Pancienne France, III, 1904; Richterich, Papst Nikolaus I., R. intern, de th6ol. IX—XI, 1901—1903; Greinacher, Die Anschauungen des Papstes Nikolaus I. über das Verhältnis von Staat und Kirche, Abh. z. mittl. u. neueren Gesch. von v. Below, Finke, Meinecke, 10. H., 1909; Pivano, 8tato e chiesa da Berengario I ad Arduino (888—1015), 1908 und Arch. stör. ital. XLIII, 1909; W. Sickel, Alberich II. und der Kirchenstaat, M. d. I. f. ö. G. XXIII, 1902; Fed eie, Ricerche per la storia di Roma e del papato nel sec. X, Arch. della R. soc. Romana di storia patria XXXIII, 1910, XXXIV, 1911; Merkert, Kirche und Staat im Zeitalter der Ottonen, Breslauer phll. Diss., 1905; Ficker, Das deutsche Kaiserreich und seine universalen und nationalen Beziehungen, 1861; v. Sybel, Die deutsche Nation und das Kaiserreich, 1861; Niehues, Geschichte des Verhältnisses zwischen Kaisertum und Papsttum im Mittelalter I', II, 1877—87; Heinemann, Das Patriziat der deutschen Könige, 1888; Th. Sickel, Das Privllegium Ottos I. für die römische Kirche von 962, 1883; Hinschius, Kr. I 27 1, n, III § 177; Floß, Die Papstwahl unter den Ottonen, 1858; Marlens, Die Besetzung des päpstlichen Stuhls unter Heinrich III. und IV., Z. f. Kr. XX—XXII, 1885—89; v. Pflugk-Harttung, Die Papstwahlen und das Kaisettum (1046—1328), Z. f. Kg. XXVII, 1906; Schulte, Der Adel und die deutsche Kirche im Mittelalter, Stutz, Kr.A., 63. u. 64. H., 1910 (dazu Werminghoff, ß.3 f. RG. I, 1912 und die reiche, bei Schulte und bei Werminghoff, BG. § 30 verzeichnete Spezial­ literatur); Werminghoff, Die Kirche Deutschlands im früheren Mittelalter und ihre Be­ ziehungen zur allgemeinen Kirche, Deutsche Monatshefte II, 1907; Lerche, Die Privilegierung der deutschen Kirche durch Papsturkunden bis auf Gregor VII., Arch. f. Urkundenforschung III, 1911.

8 23. Die Ausdehnung des Eigenkirchenrechts auf die höheren Kirchen. Die Übertragung der selbständigen (römischen) Klöster in die Munt des Königs vermittelte ihre Umwandlung in Eigenllöfler. Der dadurch herbeigesührte Tod ihrer Rechtspersönlichleit wurde vorbereitet durch den Zwischenzustand der Rechtssubjeltivität des Heiligen. Ihn machten auch die Bistümer durch, die zunächst, selbst in ganz deutschem Gebiet, nach römischem Recht gegründet wurden, deren Persönlichkeit aber den Deutschen unsaßbar blieb. Das Herrenrecht setzte hier bei der schon in merowingischer Zeit, aber aus rein össentlichrechNichen Gesichts­ punkten vom Königtum geübten Ernennung der Bischöse ein, die das karolingische Königtum trotz gegenteiliger Verheißung im Kirchenkapitular von 818/19 behauptete *. Dazu kamen seit Karl dem Großen bedeutende Abgaben, servitia, die an den König zu leisten waren, sowie sonstige königliche Rechte, z. B. der Beräußerungskonsens gegenüber dem Reichskirchengut. Bald erhielten diese Besugnisse eine einheitliche Grundlage in der sich ihnen unterschiebenden Eigenlirchenidee. Zunächst wurde seit dem Ende des 9. Jahrhunderts die Besetzung des Bistums in die Form der Leihe der Domkirche nebst zugehörigen Gütern und Rechten mit dem Bischossflab, seit dem 11. auch mit dem Ring gebracht, und dieser Akt bald und immer offener (regelmäßig seit dem Ausgange des 10. Jahrhunderts) als Investitur betrachtet und bezeichnet. Zwischen, und Nachlaßnutzung, also weitere Äußerungen der Eigenkirchenidee (§ 18, 3 a, b) finden gleichfalls ganz unmerklich Eingang bei den Reichskirchen (daher ins iegaliae). Noch fehlte in Deutschland, wo alle Bistümer reichsunmittelbar waren *, die Versügungsbesugnis, die an den französischen Mediatbistümem durch Berkaus, Berausflattung, Brautgabe und Verpfändung fleißig betätigt wurde. Doch wäre es vielleicht auch in Deutschland noch so weit gekommen — Heinrich II. ging mit dem Bistums- und Klostergut rücksichtslos genug um — und jedenfalls fehlte nicht viel, daß unter Heinrichs 111. und ähnlicher Kaiser Hand die noch in die Ge­ stalt des Patriziats sich kleidende Herrschaft über den römischen Stuhl (1046 drei Papstabsetzungen

1 Nur für wenige Bistümer gestatteten königliche Privilegien die Wahl. 1 Borübergehend war Arnulf von Bayern durch Heinrich I. die Ernennung der bayerischen Bischöfe notgedrungen zugestanden worden.

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und Anerkennung des entscheidenden kaiserlichen Einflusses durch Siemens 11.) zum (rigenkirchen­ recht wurde. Da erkannte das durch Heinrich III. reorganisierte und mit cluniacenjischen Idealen erfüllte Papsttum dank Hildebrands genialer Einsicht, der Leos IX. erster Reimser Kanon von 1049 sowie Humbert von Selva Candida und Petrus Tamiani vorgearbeitet hatten, die Gefahr und das Eigenkirchenwesen als dessen Wurzel und benützte die Ohnmacht des in die Hand des unerfahrenen Kindes Heinrich gelangten Königtums, um das Eigenkirchenrecht zu beseitigen. Stutz, Eigenkirche (§ 7), Art. Eigenkirche, Eigenkwster (§ 18); Brunner, Grundzüge (§ 16), § 36 und oben I S. 117 s., Schröder, Rechtsgeschichte (§ 16) § 45; Hinschius, Kr. II 5§ 120; Luchaire, Manuel §§ 19—23, 14»—14S, 274—279: Werminghoff, BG. §§ 10, 24, 25; I. Ficker, Über das Eigentum des Reichs am Reichsrirchengut, Wiener Ak. S. B., phil.-hist. Kl., LXXII, 1872; Fischer, Das Patriziat Heinrichs III. und Heinrichs IV. 1908; Hirsch, Der Simoniebegriff und eine angebliche Erweiterung desselben im II. Jahr­ hundert, A. f. k. Kr. LXXXVI, 1906, Die Auffassung der fimonistischen und schismatischen Weihen im 11. Jahrhundert, besonders bei Kardinal Deusdedit, A. f. k. Kr. LXXXVII, 1907, Kardinal Deusdedits Stellung zur Laieninvestitur, A. f. k. Kr. LXXXVIII, 1908; Drehmann, Papst Leo IX. und die Simonie, Goetz' Beitr. z. Kulturg. 2. H., 1908; Beissel, Der Bischofsstab, St. M.-L. LXXV, 1907; Imbart de la Tour, Les tiections Gpiscopales dans l’äglise de France (814—1150), 1891; Fournier, Yves de Chartres (§ 17); Doize, Les 61ections Spiscopales en France avant le concordat, Btudes 1906; Holtzmann, Französische Berfassungs­ geschichte, 1910 S. 138 ff.; Haenchen, Das Kölner Wahlprivileg, Prog. d. Realg. i. E. zu Lichtenberg, 1911; Tenckhoff, Die westfälischen Bischosswahlen bis zum Wormser Konkordat, 1912; Weise, Königtum und Bischosswahl im fränkischen und deutschen Reich vor dem Investitur­ streit, 1912t

8 24. Der Untergang des germanischen Hirchenrechts. Die Erkenntnis, daß das Eigenkirchenrecht die niederen und die höheren Kirchen gefährde, führte zur Teilung des Angriffs.

Stutz, Eigenkirche (§ 7) und Art.: Eigenkirche, Eigenkloster (§ 8); Scharnagl, Der Begriff der Investitur in den Quellen und der Literatur des Jnvestiturstreites, Stutz, Kr. A., 56. H., 1908; Bernheim, Quellen zur Geschichte des Jnvestiturstreites', I, II, 1913; das reiche Streitschriftenmaterial des Jnvestiturstreits findet man im Abdruck in drei Bänden Libelli de Ute imperatorum et pontificum der M. G. h., 1891—1897 und in literargeschichtlicher uub systematischer Verarbeitung bei Mirbt, Die Publizistik im Zeitalter Gregors VIL, 1894; Imbart de la Tour, La polämique religieuse et les publicistes ä l’ßpoque de Gregoire VII, in seinen Questions d’hist. soc. et rel., 1907; de Ghellinck, La litt6rature polömique durant la quereile des investitures, R. q. h. CXIII, 1913. Um nicht zugleich mit dem Königtum die gesamte Laienaristokratie sich zu verseinden, verzichtet die kuriale Politik zunächst (Synode von Gewna 1078) aus die Bekämpfung des niederen Eigenkirchenwesens und begnügt sich damit, durch das neu eingeschärste und verschärfte Zölibats­ gebot, das jetzt durch Aufwiegelung der Gemeinden gegen die verheirateten Geistlichen (Borbild die Mailänder Pataria) zum erstenmal eigentlich praktisch gemacht wird, sowie dadurch, daß sie den Klerikersöhnen die Weihen versagt (defectus natalium), den Verlust des niederen Kirchen­ guts abzuwenden, der infolge des Übergangs der Erblichkeit vom Lehen aus die verwandte

Pfründe droht.

Außerdem wird in möglichst vielen Fällen die freiwillige Übertragung von

Kirchen an geistliche Subjekte erstrebt. Giesebrecht, Die Gesetzgebung der römischen Kirche zur Zeit Gregors VII., Münchener H. Jb., 1866; H i n s ch i u s, Kr. I § 19; Freisen, Eherecht (§ 14); Dresdner, Kulturund Sittengeschichte der italienischen Geistlichkeit im 10. und 11. Jahrhundert, 1890; Sturm Höfel, Gerhoh von Reichersberg über den Sittenzustand der zeitgenössischen Geistlichkeit, Progr. d. Leipz. Thomasschule, 1888; Barth, Hildebert von Lavardin (1056—1133) und das kirchliche Stellenbesetzungsrecht, Stutz, Kr. A., 34.-36. H., 1906; Hatschek, Englische BG. (§ 18, 1) S' 155 ff.; S a 11 e t, Les reordinations, 1907; Luchaire, La sociGte fran^aise au temps de Philippe-Auguste, 1909.

Dagegen wird der Kamps gegen das der Verwirklichung nahe höhere Eigenkirchenwesen alsbald ausgenommen. 1078 verbietet Gregor VII. jede Laieninvestitur, besonders aber die in Bistümer durch den König. Der Verlaus des Kampfes erklärt sich dadurch, daß das Königtum zwar wohlerworbene Rechte und begründete Interessen \ aber in einer zu ihrer Überspannung 1 Denn die sächsischen und salischen Kaiser hatten die Bischöfe nur deshalb mit Grafschaften und vielen Hoheitsrechten bedacht, weil sie auf dies nichterbliche, unter dem Einfluß des Königs

Äirchenrecht.

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führenden, eigenmächtig angemaßten Form verteidigte, indes das Papsttum mit seinem rücksichtslosen Eingriff in positives staatliches Recht nicht bloß um die Existenz der Kirche, sondem auch gegen eine überlebte privat-, ja vermögensrechtliche Vergewaltigung öfsentlichrechtlichcr Verhältniffe ankämpste. Die grundsätzlich richtige Lösung des Vertrages von Sutri 1111: Der König verzichtet aus die Investitur, der Papst aber befiehlt den deutschen Bischöfen, alle Hoheits­ rechte und Güter dem Reich zurückzuflellen, die ihren Bistümern seit Karls des Großen Tagen zugewendet worden, mutete den Bischöfen um eines doktrinären Postulates willen den Verzicht aus ihre reichssürstliche Stellung zu, den sie leisten weder wollten noch konnten. Die für die Folgezeit endgültige Lösung brachte das Wormser Konkordat von Heinrich V. und Kalixt II. (zwei Urkunden: das Calixtinum mit den Zugeständnissen des Papstes, das privilegium Heinrici mit denen des Kaisers) im Sinn einer kaiserlichen Bermittlungspartei: 1. Freie kanonische Wahl insbesondere der Bischöfe durch Klerus und Volk (seit Innozenz II. 1139 tritt, um die dem König gebliebenen Rechte möglichst zu schmälern, das Kirchengesetz für das ausschließliche Wahlrecht der Domkapitel ein) bei persönlicher Anwesenheit des Königs oder seines Wahlkommissärs, jedoch ohne simonistische oder gewalttätige BeeinflussungT. 2. Investitur mit dem Scepter in die weltlichen Güter und Hoheitsrechte (iegalia = temporalia) durch den König in gehöriger Form, also gegen Treueid und Mannschaft, homagium. 3. Investitur durch Ring und Stab in das geistliche Amt durch die kirchliche Autorität (vorerst also durch den Metropoliten) im Zusammen­ hänge mit der Konsekration. 4. Diese soll in Deutschland der Investitur mit dem Scepter nachfolgen, so daß der König die Rechtmäßigkeit der Wahl zu prüfen und es vielleicht damit in der Hand hatte, ob der Gewählte Vollbischof wurde oder nicht. In Italien und Burgund gehen dagegen Weihe und geistliche Investitur voran und soll die weltliche binnen 6 Monaten der Weihe nachfolgen. Hauck, Die Entstehung der bischöflichen Fürstenmacht, Leipziger Univ.-Progr., 1891; Hinschius, Kr. II §§ 122—124; Werminghoff, BG. §§ 26, 32; Schmidlin, Das Investitur­ problem, A. f. k. Kr. LXXXVII, 1907; B. M o n o d, Essai sur les rapports de Pascal II. avec Philippe I., B. 6. h. 6. sc. hist. 164 fase. 1907, L’ölection 6piscopale de Beauvais 1100—1104 (auch m M6m. de la soc. acad. de l’Oise XIX), 1908, La question des investitures ä l’entrevue de Chalons, R. h. CI, 1909; Kumsteller, Der Bruch zwischen Regnum und Sacerdotium in der Auffassung Heinrichs IV. und seines Hofes, Greifswalder Phi*.. Diss., 1912; Löffler, Die west­ fälischen Bischöfe im Jnvestiturstreit, Münster. Beitr. z. Gesch. XIV, 1903; Schäfer, Zur Be­ urteilung des Wormser Konkordats, Berliner Ak. Abh., 1906; Rudorfs, Zur Erklärung des Wormser Konkordats, Zeumers Q. u. St. 14, 1906; Kopfermann, Das Wormser Konkordat im deutschen Staatsrecht, Berl. pbil. Diss., 1908; Bernheim, Das Wormser Konkordat und seine Borurkunden, GierkeS Unters. 81. H., 1906, Die praesentia regis im Wormser Konkordat, H. B. 1907; Sägmüller, Die Konstantinische Schenkung im Jnvestiturstreit, Th. Q. LXXXIV, 1902; Boerger, Die Belehnung der deutschen geistlichen Fürsten, Leipziger ©tut), z. Gesch. VIII, I, 1901; Buchner, Die Reichslehentaxen vor dem EÄaß der Goldenen Bulle, H. Jb. XXXI, 1910; v. Below, Die Entstehung des ausschließlichen Wahlrechts der Domkapitel, Hist. Studien XI, 1883, und dazu für Magdeburg Schum in den Hist. Aufs, für Waitz 1886, für Trier Speyer 1888, für Hildesheim Häntzsche, A. f. k. Kr. LXXI, 1894; Laehns, Die Bischofswahlen in Deutschland von 936—1056, Greifswalder Phil. Diss., 1909; Schuler, Die Besetzung der Bis­ tümer bis auf Bonifaz VIII., Berliner Phil. Diss., 1909; Martini, Die Trierer Bischofswahlen vom Beginn des 10. bis zum Ausgang des 12. Jahrhunderts, Eberinas hist. Stud. LXXII, 1909; Brennich, Die Besetzung der Reichsabteien (1138—1209), Greifswalder Phil. Diss., 1908;

stehende geistliche Reichsfürstentum sich besonders verlassen zu können glaubten. Dieses war übrigens, vermutlich seit Heinrich II., mit dem Erzbischöfe von Mainz, der als primas Germaniae damals der Konsekrator des deutschen Königs war, an der Spitze auch zur Antellnahme an der Königs­ wahl, bis dahin ein rein wellliches Geschäft, gelangt. Nachdem seit 1028 der Mainzer das Erst­ krönungsrecht an den Kölner verloren hatte, behauptete er sich doch im Besitze der zur Zeit der Einstimmigkeitswahl wichtigsten Erststtmme und trat dann mit Köln und Trier in den Kreis der ausschließlich wahlberechtigten Kurfürsten ein, um schließlich, nach Einführung der Mehrheits­ wahl, durch die Goldene Bulle von 1366 mit dem Wahlvorsitz die nunmehr wichtigste Letztstimme zugebilligt zu erhalten. Stutz, Der Erzbischof von Mainz und die deutsche Königswahl, 1910, Die rheinischen Erzbischöfe und die deutsche Königswahl, Festschrift f. Brunner, 1910. 1 Bei zwiespältigen Wahlen sollte der König die Entscheidung zugunsten der Partei herbei­ führen, die nach Rat und Urteil des Metropoliten und der Provinzialbischöfe die pars sanier (§ 30, 4) war; Schäfer, Consilio vel iudicio = mit mimte oder mit rechte, Berliner Ak.S.B., 1913.

316

Ulrich Stutz.

Polzin, Die Abtswahlen in Reichsabteien (1024—1056), Greifswalder phil. Tiss., 1908; Geselbracht, Das Verfahren bei den deutschen Bischosswahlen in der 2. Hälfte des 12. Jahr­ hunderts, Leipziger Phil. Diss., 1905; Schwartz, Die Besetzung der Bistümer Reichsitaliens unter den sächsischen und salischen Kaisern (951—1122), 1913; vgl. die Lil. zu § 30, 4. Dem Untergang des niederen Eigenkirchenrechts, dessen Bekämpfung nunmehr vom Papsttum ausgenommen wurde, hatten die Verhältnifse vorgearbeitet. Das übersättigte Kirchem eigentum hatte sich in lauter Einzelrechte ausgelöst (ius fundi mit Bezug aus den Boden; ins praesentationis, conductus, petitionis, patronatus, auch donum oder investitura ecclesiae in Bezug aus Besetzung und Pfründenleihe, ius iegaliae und spolii, § 18, 3 a, b; ius decimationis bezüglich des Zehnten). Gratian und aus ihm fußend Alexander 111. hatten ein leichtes Spiel, wenigstens in der Theorie die bisherige Basis germanischer Eigenherrschast zu beseitigen und an dessen Stelle das Patronatrecht zu setzen, das sich aus die von ihr selbst dem Umjang nach zu bestimmende Dankbarkeit der Kirche für die Stiftung stützen sollte. Stutz, Eigenkirche (§ 7), Art. Eigenkirche, Eigenkloster (§ 18), Gratian und die Eigen­ kirchen, Z.'f. RG. I, 1911 mit Nachtrag II, 1912; Maitland, Corporation sole, The law quarterly review, LXIV, 1900; Hatschek, Engl. BG. (§ 18, 1) S. 160 ff., 313 ff.

Viertes Kapitel.

Das kanonische Recht. § 25. Die päpstliche Weltherrschaft. Teils aus kirchlichem Interesse, teils und vor allem, weil nur eine kirchliche Spitze von unbestrittener sittlicher Autorität die Ausgaben erfüllen konnte, die sie ihr zudachten, entrissen die salischen Kaiser das Papsttum der Versumpfung, der es wiederum verfallen war (Crescentier und Tuskulaner, Benedikt IX.), und verhalfen ihm durch Übergabe an die streng cluniacensische Richtung zu neuem Aufschwung. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands, III3 u. 4, 1906, IV, 1903, V 1, 1911; K. Müller, Christentum und Kirche Westeuropas im Mittelalter, Hinnebergs Kultur der Gegenwart I, 4, 1 », 1909; Ehrhard, Das Mittelalter und seine kirchliche Entwicklung, 1908; Gregorovius, Ge­ schichte der Stadt Rom im Mittelalters 8 Bde., 1903 ff.; v. Reumont, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, 4 Bde., 1867—70; Lvserth , Geschichte des späteren Mittelalters (1197 bis 1492), 1903; Hampe, Deutsche Kaisergeschichte im Zeitalter der Salier und Staufer', 1912. Doch Roms frische Kraft richtete sich bald gegen sie. Noch 1059, als Nikolaus II. und die römische Synode die Papstwahl neu ordneten und die Entscheidung darüber den Kardinal­ bischösen einzuräumen trachteten, wirkte die Erinnemng an Heinrichs III. Herrschermacht wenigstens so weit nach, daß man die Einholung der kaiserlichen Genehmigung noch vor der Weihe vorschrieb. Sehr bald glaubte man, selbst diese Rücksicht nicht mehr nehmen zu müssen. Tie Machteinbuße, die das Königtum unter dem nicht untüchtigen, aber durch schlechte Erzieher verdorbenen und erst allmählich sich zurechlsindenden Heinrich IV. erlitt, verschob das Verhältnis zugunsten des Papsttums, das gerade damals in Gregor VII. (Hildebrand) einen Träger besaß, der mit höchster, sittlicher Größe einen starren Eiser sür das wirkliche oder vermeintliche alt­ kirchliche Recht (Pseudoisidcr) verband. Das Ergebnis seines Pontifikats war ein politischer Mißerfolg — er starb am 25. Mai 1085 zu Salerno im Exil1 —, aber auch eine gewaltige Stärkung der moralischen und rechtlichen Stellung des Papsttums. Diese auszunützen und jenen wettzumachen, verstanden Gregors Nachfolger, denen vorübergehend die Schwäche der Gegner in die Hände arbeitete, vor allem Lothars des Sachsen sträfliche Nachgiebigkeit und Gleichgültigkeit, welche die von Heinrich V. im Wormser Konkordat errungenen Erfolge preisgab, so daß Friedrich Barbarossa aus die Reaktion behuss Wiedererlangung der Konkordatsrechte

1 Sein letztes Wort: Dilexi iustitiam et udi iniquitatem, propterea niorior in exilio ist nicht genügend bezeugt, charakterisiert aber trefflich den Mann, den sein freund Petrus Damiani einen „heiligen Satan" genannt hat.

Kirchenrecht.

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sich beschränken mußte, ohne neue kirchenpolitische Ziele stecken zu können. Namentlich kam aber den Päpsten die Wiedergeburt der Rechtswissenschaft zugute. Die Zeit der großen Juristen aus dem päpstlichen Stuhl (Alexander III., Innozenz 111. und IV.) und um ihn hebt an; Theo­ logen wie Thomas von Aquino (1225—74) wandeln in mancher Hinsicht nur die von jenen gewiesenen Bahnen.

Zum decretum Nicolai vgl. namentlich Hinjchius , Kr. I § 27 m; Scheffer» Boichorst, Die Neuordnung der Papstwahl, 1879, und in M. d. I. f. ö. G. VI, 1885; Grauert im H. Jb. 1,1880, XIX, 1898, XX, 1899 und Meyer v. Knonau in den Jahrbüchern Heinrichs IV. u. V., I, 1891, Exk. 7, v. Pflugk-Harttung, Das Papstwahldekret des Jahres 1059, M I. j. ö. G. XXVII, 1906, sowie bei Friedberg, St. § 59 N. 7. Monumenta Gregoriana cd. J a f f 6 in Bibi, rerumGermanicarum II, 1865; Werminghoff, BG. §§ 26, 27, 42; Martens, Gregor VII., 2 Bde., 1894; Scheffer-Boichorst, Kaiser Friedrich I. letzter Streit mit der Kurie, 1866; Ribbeck, Friedrich I. und die römische Kurie, 1881; Hinschius, Kr. II § 122, V § 286; Wolfram, Friedrich I. und das Wormser Konkordat, 1883, und Zum Wormser Kon­ kordat, Z. f. Kg. VIII, 1886; Hauck, Friedrich Barbarossa als Kirchenpolitiker, Leipziger Univ.Progr., 1898; Peters, Charakteristik der inneren Kirchenpolitik Friedrich Barbarossas, Greifswalder phil. Diss., 1909, Die äußere Kirchenpolitik Friedrich Barbarossas, Wiss. Bell. z. Bericht d. Kl. St. Johannis zu Hamburg, 1910; Caro, Die Beziehungen Heinrichs VI. zur römischen Kurie, Rostocker phll. Diss., 1902; Pomtow, Über den Einfluß der altrömischen Vorstellungen vom Staat auf die Politik Friedrichs I., Hall. phll. Diss., 1885; Hashagen, Otto von Freising als Geschichtsphllosoph und Kirchenpolitiker, Leipz. Studien VI, 2, 1900; Schmidlin, Die kirchen­ politischen Ideen des 12. Jahrhunderts, A. f. k. Kr. LXXXIV, 1904; Graefe, Die Publizistik in der letzten Epoche Friedrichs II., Heidelberger Abhdl., 1909; Hofmeister, Studien über Otto von Freising, N. A. XXXVII, 1912; B a u m ann , Die Staatslehre des h. Thomas von Aquino, 1873; Thoemes, Divi Thomae Aquinatis opera et praecepta quid valeant ad res ecclesiae politico-sociales, 1875; Zeiller, L’idäe de l’fitat dans Saint Thomas d’Aquin, 1910; Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode I, II, 1909, 1911; de Ghellinck, Theologie et droit canon au 11« et au 12« stecle, Stüdes CXXIX, 1911; Kuhlmann, Der Gesetzesbegriff beim hl. Thomas von Aquin im Lichte des Rechtsstudiums seiner Zeit, 1912 (dazu Heyer, Z.'f.RG. II, 1912); Gillmann, Die Siebenzahl der Sakramente bei den Glossatoren, Kath. LXXXIX, 1909 (dazu XCII, 1912 Bd. 1, S. 453 ff. und H e y e r, Theol. Revue XI, 1912 Sp. 189 ff.), Der „sakramentale Charakter bei den Glossatoren Rufinus, ... und in der Glossa ordinaria des Dekrets, Kath. XC, 1910; de Ghellinck, Le traitS de Pierre Lombard sur les sept ordres ecclSsiastiques, R. h. 6. X, 1909, XI, 1910. Die Glanzzeit des mittelalterlichen Papsttums ist da. Zunächst überwiegt durchaus die ideale Richtung, der auch nach Gregor Päpste wie Urban II., Alexander III., Innozenz III. und IV. aus vollster Überzeugung anhängen (Kreuzzüge), wennschon natürlich nicht, ohne zu­ gleich sehr reale Nebenzwecke zu verfolgen. Man beansprucht die Unterwerfung der Welt unter das Papsttum, aber in erster Linie, um so das Reich Gottes zu verwirklichen (Durchführung des altkirchlichen Zinsverbotes). In so fern läßt sich der mittelalterlichen päpstlichen Weltherr­ schaft weder Größe noch mannigfaches Verdienst im einzelnen absprechen. Die sinnliche Auf­ fassung des Gottesreiches, die dabei zutage tritt \ teilte sie mit fast dem ganzen Mittelalter, das geistige Macht nur verstand, wenn sie sich leiblich äußerte'. Doch wurde ihr gerade dies und der Umstand zum Verhängnis, daß die Päpste und ihre Gehilfen der Vollkommenheit, die solch eine ideale Ausgabe bei ihnen voraussetzte, immer weniger entsprachen. Friedrich II. gegen­ über, der in seinem sizilianischen Lieblingsreich, den Zeiten voraneilend, den aufgeklärten Despotismus vertrat, indes er anderswo den Eifer seiner Zeit in der Verfolgung der Ketzer nicht bloß teilte, sondern durch Einführung der Strafe des Feuertodes noch überbot (1224 für die Lombardei), wie er auch zu dem Zugeständnis der Steuerfreiheit von Klerus und Kirchengut sich herbeiließ, erfocht das Papsttum seine letzten Triumphe. Immer mehr traten die religiösen Beweggründe und Gesichtspunkte zurück. Vollends unter Bonifaz VIII. siegte der Jurist aus dem päpstlichen Stuhl über den Theologen; die Macht wurde der Kirche, die sich damit an Stelle des weltlichen Gemeinwesens setzte, zum Selbstzweck. Die Entartung der päpstlichen Welt-

1 Christus sagt: Mein Reich ist nicht von dieser Welt; das meint er aber nur de facto, well man ihm eben nicht gehorcht, nicht de iure, lehrt Heinrichj,von Cremona um 1300. 1 Aegidius von Rom meinte um 1300, nur der irdische Besitz sichere die Kirche vor Gering­ schätzung durch die Laien.

Ulrich Stutz.

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Herrschaft war vollendet und damit ihr Untergang besiegelt; ihre unverhüllteste und folge­ richtigste Formulierung, Bonifaz V11L Bulle Unam sanctam 1 *vom 18. November 1302, wurde ihr zur Grabschrift.

Langen, Geschichte der römischen Kirche von Gregor VII. bis Innozenz III., 1893; Reuter, Geschichte Alexanders III., 3 Bde., 1860—1864; Hurter, Geschichte Papst Innozenz III., P, 1841, IP, 1842, IIP, 1843, IV, 1842; Luchaire , Innocent III., 6 vol. 1904—1908; P ru tz, Kulturgeschichte der Kreuzzüge, 1883; Hinschius, Kr. V §§ 287 a. E.; B r i d r e y , La condition juridique des croisäs, 1900; Pissard, La guerre sainte en pays chr6tien, 1912; Gottlob, Kreuzablaß und Almosenablaß, Stutz, Kr. A., 30. u. 31. H., 1906; Koeniger, Der Ursprung des Ablasses, Festgabe s. Knöpsler, 1907; Paulus, Die Ablässe der römischen Kirchen vor Innozenz III., H. Jb. XXVIII, 1907, Mittelalterliche Absolutionen als angebliche Ablässe, Z. f. k. Th. XXXII, 1908, Die ältesten Ablässe für Almosen und Kirchen­ besuch, ebenda XXXIII, 1908, Die Anfänge des sog. Ablasses von Schuld und Strafe, ebenda XXXVI, 1912, Der sog. Ablaß von Schuld und Strafe im späteren Mittelalter, ebenda XXXVI, 1912, Zum Verständnis eigentümlicher Ablaßurkunden, H. Jb. XXXIV, 1913, Brückenablässe, Hist.-pol. Bl. CLI, 1913, Der erste Jubiläumsablaß, Theol. u. Glaube V, 1913; Kirsch, Der Portiunkula-Ablaß, Th. Q. LXXXVIII, 1906 (auch sep.); Lemmens, Die ältesten Zeug­ nisse für den Portiunkula-Ablaß, Kath. LXXXVIII, 1908; Köhler, Das Verhältnis Friedrichs II. zu den Päpsten seiner Zeit, Gierkes Unters. H. 24, 1888; Rodenberg, Kaiser Friedrich II. und die deutsche Kirche, Hist. Aufs. f. Waitz, 1886; Halbe, Friedrich II. und der päpstliche Stuhl, 1888; Hampe, Kaiser Friedrich II., 1899; Zorn, Umfang und Organisatton des päpstlichen Eingreifens in Deutschland unter Friedrich II., Badener Programm 1908, 1909; Hinschius, Kr. V § 286; Aldinger, Die Neubesetzung der deutschen Bistümer unter Innozenz IV., 1900; Krabbo, Die Besetzung der deutschen Bistümer unter Friedrich II., Eberings Hist. Stud. XXV, 1901, Die ostdeutschen Bistümer, besonders ihre Besetzung unter Kaiser Friedrich II., Eberings Hist. Stud. L1II, 1906; Weber, Der Kampf zwischen Papst Innozenz IV. und Kaiser Friedrich II., 1900; Geffcken, Die Krone und das niedere deutsche Kirchengut unter Friedrich II., Leipziger phil. Diss., 1890; Finke, Aus den Tagen Bonifaz VIII., 1902, Acta Aragonensia I, II, 1908; Berchtold, Die Bulle Unam sanctam, 1887 (dazu G r a u e r t, H. Jb. IX, 1888); Martens, Das Vatikanum und Bonifaz VIII., 1888; Ehrmann, Dw Bulle Unam sanctam, 1896; Funk, Zur Bulle Unam sanctam, in seinen Kg. A. I.

8 26.

Quellen und Literatur.

1. Decretum Giatiani. Unter Benutzung älterer systematischer Sammlungen stellte der Kamaldolensermönch zu St. Felix und Naborius in Bologna Grattan um 1140 eine neue, umfassende Sammlung des älteren, echten und gefälschten kirchlichen Rechtsstosss her. Als Lehrer des von ihm neben der übrigen Theologie zu einem eigenen Lehrfach (theologia practica externa?) erhobenen kanonischen 1 Rechtes begnügte er sich aber damit nicht, sondem versuchte, durch verbindende Bemerkungen (paragraphi, später dicta Giatiani genannt) nach scholastischer Methode die Widersprüche des Materials zu beseitigen (daher der ursprüngliche Titel Concordia discordantium canonum) und die Anordnung des Ganzen klarzulegen. Sein Werk, auch als Decreta, später Decretum Gratiani bezeichnet, wurde deswegen von der sich alsbald bildenden Schule rezipiert und verdrängte die alten Sammlungen. Ohne je Gesetzeskraft zu erlangen 3, hat es doch hier und da zur Wiedererweckung vergessener und zu gewohnheits­ rechtlicher Gemeingeltung ehemals partikulärer Rechtssätze geführt.

v. Schulte, Geschichte der Quellen und Literatur des kanonischen Rechts von Gratian bis aus die Gegenwart, 3 Bde. in 4 Teilen, 1875—1880; Tardif, Histoire des sources du droit canonique, 1887; Mocci, Nota storica giuridica sul decreto di Graziano, 1904; Gaudenzi, L’etä del decreto di Graziano, Studi e mem. p. 1. storia dell’universitz di Bologna I 1, 1907; Brandileone, Le statue di Graziano et di Niccolo de Tudeschis nel monastero di S. Procolo in Bologna, Festschrift f. Friedberg, 1908; Pometti, II Decretum di Graziano nei suoi precedenti storici e nelle sue conseguenze storico-ecclesiastiche, 1910; Stutz, Gratian und 1 Nämlich: ecclesiam catholicam et ipsam apostolicam urgente fide credere cogimur et teuere mit dem Schlußsatz: Porro subesse Romano pontifici omni humanae creaturae declaramus dicimus et definimus omnino esse de necessitate salutis. • Canonum alii sunt decreta pontificum, alii statuta conciliorum, lehrt Gratians dictum zu c 2 D III. 3 Die aufgenommenen Quellen behielten also ihre ursprüngliche Geltungskraft, und zahl­ reiche darin enthaltene Aussprüche der Kirchenväter und anderer nichtgesetzgeberischer Autoritäten blieben ohne solche.

Kirchenrecht.

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die Eigenkirchen (§ 24); Heyer, Ter Titel der Kanonessammlung Gratians, Z.' f. RG. II, 1912; SLgmüller, Die Idee Gregors VII. vom Primat in der päpstlichen Kanzlei, Th. Q. LXXVIII, 1896; P. Fournier, Deux controverses sur les origines du Dtcret de Graden, R. d’hist. et de litt. rel. III, 1898; Thaner, Abälard und bfe kanonische Recht ..., 1900; Hüfser, Beiträge zur Geschichte der Quellen des Kirchenrechts und des römischen Recht- im Mittelälter, 1862.

Zitiert wird das Deiret regelmäßig nach c(anon)1 und D(istinctio), und zwar der erste, in 101 (100) Distinctiones und innerhalb derselben wieder in canones zerfallende Teil aus» nahmslos und ausschließlich, z. B. o 1 v (oder Bist.) XXII. Der zweite Teil dagegen, ent. haltend 36 Rechtssälle, Causae, die zu einzelnen Rechtsfwgen, quaesliones, und Antworten daraus, canones, Anlaß geben, folgt der Regel nur für den als 3. quaestio der 33. Causa ein­ geschobenen tiactatus de paenitentia, also eine Abhandlung über das Bußwesen, und zwar mit dem Zusatz de paen. z. B. c 2 D 1 de paen., während er im übrigen nach dem einzelnen in causa und quaestio enthaltenen canon ausgesührt wird, z. B. c 1 C Xll q 1. Dafür gilt die Regel wieder ausnahmslos für Teil 111 über Kultus und Sakramente, aber hier mit dem Zusatz de cons(eciatione), z. B. c 1 v I de cons. Warum die Teile, partes, dabei nicht besonders genannt zu toetben brauchen, ergibt sich aus dem Mitgeteilten von selbst.

2. Dekretalensammlungen. Gralian Halle päpstliche Dekretalen bis zu Inno« zenz II. (1139) ausgenommen. Die zahlreichen nachher ergangenen und immer wichtiger werdenden päpstlichen Erlasse wurden, nachdem sie eine Zeit lang einzeln umgelousen waren (daher extravagantes seil, decretales) bald in verschiedenen Sammlungen vereinigt, von denen, weil von der Schule rezipiert und für die großen offiziellen Sammlungen grundlegend, die wichtigsten die quinque compilationes antiquae waren und unter ihnen besonders bedeutsam die prima, das Breviarum extravagantium, eine zwischen 1187 und 1191 verfaßte Privat­ arbeit des Propstes Bernhard von Pavia. Friedberg, Quinque compilationes antiquae, 1882, Die Kanonessammlungen zwischen Gratian und Bernhard von Pavia, 1897; Singer, Reue Beiträge über die Dekretalensamm­ lungen vor und nach Bernhard von Pavia, Wiener Ak. S. B., phll-hist. Kl., CLXXI, 1, 1913 (Heft 2 wird die Compilatio Romana des Bernhard von Eompostella enthalten und ist für 1914 zu erwarten); Schönsteiner, Die Collectio Claustroneoburgensis, Jb. des Stiftes Kloster­ neuburg II, 1909; ©edel, Kanonistische Quellenstudien I, D. Z. f. Kr. IX, 1900, Über drei Kanonessammlungen des ausgehenden 12. Jahrhundert-, R. A. XXV, 1900.

a) Decretales Gregorii IX. (Liber Extra, abgekürzt X). Gregor IX. be­ auftragte, um eine übersichtliche und umsassende Quelle des päpstlichen Rechtes zu schassen und es dem lokalkirchlichen wie dem weltlichen gegenüber wirksam in den BoÄergrund zu rüden, den Dominikaner Raimund von Peüasorte, seinen Kaplan und Pönitentiar, mit der Herstellung einer neuen Sammlung. Ihr Berfasser legte die quinque compilationes zugrunde, insbesondere deren Fünsteilung (Versschema: index-kirchliche Regierung, iudicium = bürgerliches und Berwaltungsflreitverfahren, clerus = Geistlichkeits- und Vermögensrecht, sponsalia = Eherecht, crimen = Strafrecht mit Straf- und Tisziplinarstrafversahren), fügte die Dekretalen Gregors IX. hinzu **, zerteilte die einzelnen Stüde zum Zwed der Einreihung in Bücher und Titel, entfemte durch Interpolation Widersprüche und kürzte manche Erlasse, besonders durch Weglassung des Tatbestandes (daher partes decisae, auf die jeweilen ein et intra hinweist). Die Publikation (Bulle Bex pacificus) erfolgte 1234 durch Übersendung an die Universitäten Bologna und Paris. Alle nicht in die Sammlung (oder das Dekret) ausgenommenen, das gemeine Recht betreffenden Dekretalen, also auch die quinque compilationes antiquae, wurden außer Kraft gefetzt. Neben dem Dekret (daher Liber extra) und anders als es bilden die Dekre­ talen Gregors IX. ein einheitliches Gesetzbuch. Man zitiert: c(aput)3 1 X de electione 16. 1 Richtiger wäre capitulum. Denn so bezeichnete Gratian selbst und nach ihm die Schule die einzelne Stelle. Diese Benennung erscheint auch deshalb passender, well daS Dekret außer canones auch leges und $ät erstellen enthält und ein c. zuweilen mehr als einen Quellenbeleg umfaßt. H e y e r Z.' f. RG. II, 1912 S. 341 Anm. 3. • Die compilatio tertia von Petrus Collivarinus war bis 1210 (Innozenz III.), die quinta bis gegen 1226 (HonoriuS III.) gegangen. • Auch hier wäre die Auflösung mit capitulum richtiger.

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Ulrich Stutz.

Felten, Papst Gregor IX., 1889; Brem, Papst Gregor IX. bis zum Beginn seines Pontifikats, Heidelberger Abhdl., 32. H., 1911.

b) Liber sextus. Unter Bonifaz VIII. wurde eine weitere Sammlung Bedürfnis, welche die inzwischen ergangenen Seketalen ausnahm, deren Zusammenstellung ohne Erlaubnis des römischen Stuhls Gregor IX. untersagt hatte. Nach hergebrachter Weise sünsgeleilt, wurde sie 1298 durch Versendung an die Universitäten publiziert (Bulle Sacrosanctae), als sechstes den süns Büchern der Gregoriana angereiht und Liber sextus genannt. Auch sie ist exklusiv, nimmt aber die ausdrücklich vorbehaltenen (decretales reservatae) und von Bonisaz VIII. er­ lassenen, nicht verarbeiteten Dekretalen vom Entzug der Geltungskraft aus. Man zitiert: c(aput) 1 de consuetudine in VI0 I 4 oder c 1 in VI0 de consuetudine I 4. Nilles, über den Titel der Tekretalensammlung Bonifaz VIII., A. f. k. Kr. LXXXII, 1902; Göller, Zur Geschichte des zweiten Lyoner Konzils und des Lider sextus, R.Q XX, 1906.

c) Das Gesetzbuch der Clementinae ließ Klemens V. aus den Beschlüssen des allgemeinen Konzils von Vienne 1311 und seinen eigenen Dekretalen herstellen. Die Verössentlichung wurde 1314 durch den Tod des Papstes unterbrochen, so daß Johann XXII. 1317 eine neue Publikation der revidierten Sammlung durch Versendung an die Universitäten ver­ anlaßte (Bulle Quoniam nulla). Die Klementinen, gleichfalls fünf Bücher, lassen die nicht aus­ genommenen Dekretalen in Geltung. Man zitiert: c(aput) 1 de poenis V 8 in Gern, oder dein, c 1 de poenis V 8. d) Offizielle Sammlungen tarnen nicht mehr zustande. Es war eine Privatarbeit des französischen Kanonisten Jean Chappuis, wenn er 1500 in seiner Ausgabe des Sextus unb der Klementinen den letzteren gleichzeitige und jüngere Dekretalen in zwei Sammlungen ansügte, nämlich: 20 Dekretalen Johanns XXI1. in 14 Titeln, zitiert z. B. c(aput) 1 de verborum significatione in Extrav. loh. XXII. XIV., als Extravagantes Iohannis XXII. und 74 andere (bis Sixtus IV. 1471—84) als Extravagantes communes in hergebrachter Fünf­ teilung, wobei jedoch das vierte Buch de sponsalibus leer steht (vacat), zitiert z. B. c(aput) 1 de electione in Extrav. comm. 1 3. Selbstverständlich blieb die Geltungskraft der einzelnen Dekretalen durch die Aufnahme unberührt.

Göller, Die Publikation der Extravagante: Cum inter nonnullos Johanns XXII., R.Q. XXII, 1908. Schon die Konzilien von Konstanz und Basel sprachen von den authentischen Tanunlungen als corpus iuris (canonici), und seit Gregor XIII. wurde diese Bezeichnung für die vier Sammlungen des Dekrets, des Liber Extra, des Liber sextus und der Klementinen als Ganze? offiziell \ Dabei derogiert innerhalb desselben die spätere Sammlung, innerhalb des Dekret? und der Extravaganten — die übrigen Teile gelten als einheitlich — die spätere Stelle der früheren. Der Text des Ganzen wurde aus Veranlassung Gregors XIII. durch eine Kommission von Kardinälen und Gelehrten, die sogenannten correctores Romani, revidiert und darnach 1582 eine offizielle Ausgabe veranstaltet. Aus den zahlreichen Ausgaben des Corpus iuris canonici sind besonders hervorzuheben bie von Richter, 2 Bde., 1839 (auch in M igne, Patrol. lat. CLXXXVII, 1855), und von Fried berg, 2 Bde., 1879/81 (das Dekret im ursprünglichen, nicht im verbesserten römischen Text' Laurin, Introductio in Corpus iuris canonici, 1889. 3. DieKanonistik. Im Zusammenhang mit der wiedergeborenen römischen Juris­ prudenz und von ihr nachhaltig beeinflußt entsteht in Bologna eine ihr und der Theologie gegen über selbständige kirchliche Rechtswissenschaft, die an Ruhm ihre ältere Schwester bald erreicht.

M u t h e r , Römisches und kanonisches Recht im deutschen Mittelalter, 1871; Teckel, Beiträge zur Geschichte beider Rechte im Mittelalter, I, 1898; Ott, Tas Einbringen des kanoni1 Die Unterscheidung von corpus iuris clausum — ohne Extravaganten — unb non clausum — mit ihnen — beruht auf einem Mißverständnis.

Kirchenrecht.

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schen Rechts, seine Lehre und wissenschaftliche Pflege in Böhmen pnd Mähren während des MittelaUers, Z? f.RG. III, 1913; Thaner, Die literargeschichtliche Entwicklung der Lehre vom error qualitatis redundans in personam und vom error conditionis, Wiener Ak. S. B., phil.-hist. Kl., CXLII, 1900. Neben die Legiflen treten: a) Delretisten, die Glossen zum Dekret zwischen die Zeilen (glossae interlineares) oder an den Rand (marginales) schreiben, in summae seinen Text erilären oder seinen Stoss syste­ matisch verarbeiten, in monographischen Traktaten einzelne Rechtsgebiete, besonders den Prozeß (ordo iudiciarius) und das Eherechl, darstellen und in casus und quaestiones an Rechts­ süllen die praktische Anwendung der canones lehren. So namentlich Paucapalea, nach dem 166 nachträgliche Zusätze im Dekret (darunter Dist. 73 der pars I) gewöhnlich als paleae 6ezeichnet werden \ Rolandus Bandinellus (nachmals Alexander III.), Rusinus (als Bischos von Assisi t um 1190), Stephan von Toumai (t 1203), Johannes von Faenza (f 1190), Sicardus von Cremona, Bazianus (der erste J. ü. D. f 1197), Huguccio (t 1210), Johannes Teutonicus (t nach 1245, Versasser der nachmals von Bartholomäus von Brescia überarbeiteten glossa ordinaria), Guido de Baysio (t 1313).

Maassen, Paucapalea, Wiener Ak. S. B., phil.-hist. Kl., XXXI, 1869; seine Summa herausneben 1890 von v. Schulte ; M o c c i, Documenti inediti sul canonista Paucapalea, Atti a R. Accad. di Torino XL, 1906; Gillmann, Paucapalea und Paleae bei Huguccio, A. f. k. Kr. LXXXVIII, 1908; Thaner, Die Summa magistri Rolandi, 1874; Gietl, Die Sen­ tenzen Rolands, nachmals Papstes Mexander III., 1891; Singer. Die summa decretorum des Magister Rufinus, 1902; v. Schulte, Die Summa deS Stephanus Tornacensis, 1891; Singer, Beiträge zur Würdigung der Dekretistenliteratur, A. f. k. Kr. LXIX, 1893, LXXIII, 1896; Ott, Die Rhetorica ecclesiastica, Wiener AL S. B., phil.-hist. Kl., CXXV, 1892; Roman, Summa d’Huguccio . . . Causa XXVII quaestio I, N. r. h. XXVII, 1903; v. Schulte, Johannes Teutonicus (Semeca, Zemeke), Z. f. Kr. XVI, 1881; L e i c h t, Per la storia della Glossa al decreto di Graziano, 1906' G illmann, Die Abfassungszeit der Dekret­ glosse deS Clm. 10244, A. f. k. Kr. XCII, 1912, XCIII, 1913. b) Dekretaliflen, das Dekretalenrecht in ähnlicher Weise bearbeitend. Es ragen besonders hewor Bernhard von Pavia (f 1213), Tankred (f 1234/6), Sinibald de Fiesco (Innozenz IV., 1 1264), Heinrich von Susa (Hostiensis, 11271), Wilhelm Duranti (t 1296), Franz Zabarella (f 1417), Nikolaus de Tudeschis (t 1463, abbas Siculus oder Panormitanus). Die glossa ordi­ naria zum Liber Extra rührt her von Bernhard de Botone (t 1263), die zum Sextus und den Klementinen von Johannes Andreae (t 1348).

Laspeyres, Bernardi Papiensis summa decretalium, 1860; Wunderlich, Tancredi Summa de matrimonio, 1841; Helssig, Eine bisher übersehene Schrift deS Henricus HostiensiS, D. Z. f. Kr. XIV, 1904; v. Wretschko, Em Traktat deS Kardinals HostienfiS mit Glossen, betreffend die . .. Bischof-wohl, D. Z. f. Kr. XVII, 1907, Der Traktat des Laurentius de Somercote . . . über die . . . Bischofswahlen (1264), 1907.

8 27.

Charakter and Herrschaftsdauer des kanonischen Recht».

Zweimal vier Jahrhunderte hatte das kirchliche Recht unter dem überragenden Einfluß der römischen und der germanischen Welt gestanden, von der es umgeben war. Jetzt, wo die Kirche in Gestalt des Papsttums die weltbeherrschende Macht toutbc, konnte es sich zum erstenmal und so wie seither nie wieder srei entfalten. Jetzt routbe es auch, örtliche Beschränkung ab­ flreisend, weil im wesentlichen päpstlich, ein gemeines und universales Recht. Aus der llberlieserung übernahm es einen Stoss, der außer einem Grundstock kirchlicher Prinzipien öffentlichrechtliche (römische) und privatrechtliche (germanische) Elemente in glücklichem Gleichgewicht vereinigte. Diesen Schatz der Überlieferung arbeitete es mit den Mitteln einer eigenen, un­

geschichtlich nivellierenden, aber den Stoss um so rücksichtsloser dogmatisch bezwingenden — anfänglich selbst den Päpsten gegenüber souveränen — Wissenschaft durch, die ihm eine unübertrefflich seine Durchbildung und eine seltene Eleganz der Erscheinung verlieh. Und es ver­ mehrte ihn um eine gewaltige Fülle neuer Sätze und Einrichtungen, die, dank der obfohlten

' Dagegen rührt die Einteilung des Dekrets nicht von chm, sondern von Gratian selbst her. 7. der Reubearb. 2. Ausl. Band V. 21

EnhhklopSdte der Rechtswissenschaft.

322

Ulrich Stutz.

Berfügungsmacht und der eminenten praktischen Einsicht seiner Schöpfer, vor deren Forum damals die ganze Welt Recht juchte, einen einheitlichen, großen Zug, eine seltene technische Vollendung sowie eine wunderbare Geschmeidigkeit und Anpassungsfähigkeit aufweisen \ So erreicht das kanonische Recht, dessen Bildung mit dem Abschluß der ossiziellen Teile des Corpus iuris canonici sich vollendet, eine juristische Vollkommenheit, die es als den klassischen Ausdruck der katholisch-kirchlichen Rechtsidee bis aus den heutigen Tag erscheinen läßt. Darum, und weil sie die Erinnerung an die Zeiten höchster Macht ungetn preisgibt, hält die ohnedies Neuerungen abholde Kirche, die mit den verschiedensten Kuliurverhältnissen und mit dem Wechsel der Zeilen hoffend rechnet, in der Hauptsache am kanonischen Rechte immer noch fest. Soweit es nicht durch neueres kirchliches Recht, insbesondere von Konkordaten, ersetzt ist, wird es dämm auch für Deutschland zur Anwendung gebracht, falls die staatliche Macht dies nicht verhindert. Friedberg, Das kanonische und das Kirchenrecht, D. Z. f. Kr. VIII, 1898; Stubbs, The history of the Canon Law in England, 1887; Maitland, Roman Canon Law in the chorch of England, 1898; Pollock and Maitland, The History of English law (18, 1) 1,111, s.; Holdsworth, The Ecclesiastical Courts in England, auch in Select Essays in Anglo-Amencan Legal History, 1907, A history of English Law I, 1903, p. 352 ss.; Galante, L’efficacia del dintto canomcoin Inghilterra, Vol... in onore di Federico Ciccaglione I, 1909; Ogie, The Canon Law in Mediaeval England, 1912; Hätschel, Englische BG. (§ 18,1) S. 308 ff., 320 ff.; Davis, The Canon Law in England, Z.» f. RG. III, 1913; Wolf v. Glanvell, Studien au- dem kanonischen Privatrecht, 1897, Die letztwilligen Verfügungen nach gemeinem kirchlichen Recht, 1900; Schneider, Das kirchliche Zinsverbot und die fünde Praxis im 13. Jahrhundert, Festgabe f. Finke, 1904, Neue Theorien über daS kirchliche Zinsverbot, Biertelj. f. Soz. u. Wirtschg. V, 1907; Lessel, Die Entwicklungsgeschichte der kanonistischscholastischen Wucherlehre im 13. Jahrhundert, jur. Diss. von Freiburg L d. Schw., 1905; Schaub, Der Kampf gegen den Zinswucher, 1905; Hansen, Der englische Staatskredit unter König Eduard III., Hans. Geschichtsbl. XVI, 1910; Haring, Die Schadensersatzpflicht der Erben für Delikte des Erblassers nach lan. Recht, Theol. Stud. b. Leo-Ges., 1903; Siciliano-Villanueva, Leggi e canoni in materia di diritto privato, Studi ... in onore di . . . Scialoja II, 1905; vgl. auch die Lit. zu § 34.

8 28. Das Papalsystem. Dem ganzen späteren Mittelalter steht nichts so fest, als daß die Zweiheit der geistlichen und weltlichen Lebensordnung, nach ihm nicht bloß historisch gegeben, sondem im göttlichen Ratschluß liegend, in der Einheit des göttlichen Urgrunds sich auslösen (ad unum reduci) müsse. W erminyhoss, BG. § 21; Friedberg, De finium in ter ecclesiam et civitatem regundorum iudicio, 1861, Die mittelalterlichen Lehren über das Verhältnis von Staat und Kirche, Z. f. Kr. VIII, 1869; Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 3. Bd., 1881; Maitland, Political theories of middle age by Gierke, 1900; Bernheim, Politische Begriffe des Mittelalters im Lichte der Anschauungen Augustins, D. Z. f. Gw. VII, 1897, Die augustinische Geschichtsanschauung in Ruotgers Biographie des Erzbischofs Bmno von Köln, Z.' f. RG. II, 1912; Bernhard, Die zwei Schwerter Gottes auf Erden, 1897; Michael, Beitrage zur Geschichte des mittelalterlichen Staatsrechts, Z. f. k. Th. XXVI, 1902; Hauck, Der Gedanke der päpstlichen Weltherrschaft bis auf Bonifaz VIII., Leipziger Univ.-Progr., 1904; R. W. C a r 1 y 1 e and A. J. Carlyle, A history of mediaeval political theory in the West I, II, 1903, 1909; Grauert, Magister Heinrich der Poet und die römische Shine, Münchener Ak. Abhdl., philos Phil. u. hist. Kl., XXVII, 1, 2, 1912. 1 Wie sehr übrigens auch hierbei älteres weltliches Recht noch nachwirkte, zeigt z. B. da­ durch den Einfluß der Pariser Schule zur Herrschaft gelangte Sponsalienlehre, die, indem hier Verlöbnis (sponsalia de futuro) und Ehe (sponsalia de praesenti) beide dem Oberbegriff der Sponsalien unterstellt wurden, deutlich die Herkunft aus fränkisch-germanischer Anschauung ver­ rät, für die das Verlöbnis der unentbehrliche Erstbestandtell der Eheschließung war. Ebendahin gehört die Lehre vom ius ad rem, die, wenn auch bereits bei Sinibaldus Fliscus (§ 26, 3 b) sich ankündigend und unter Bonifaz VIII. in der Kanonistik zu vollem Durchbmche gelangt, richtiger Ansicht nach in germanischrechtlichen Verhältnissen des kirchlichen und weltlichen Rechtes Wurzel:, v. Brünneck, über den Ursprung des sog. ius ad rem, 1869; Groß, Das Recht an der Pfründe, 1887; Heymann, Zur Geschichte des ius ad rem, Festschrift f. Gierke, 1911. Und daß der annus gratiae, d. h. die Überlassung des Pfründeeinkommens an den Klerikernachlaß währen) einer bestimmten Gnadenzeit, aus der Gewere des letztwilligen Treuhänders hervorgegange^ ist, hat C a i 11 e m e r , ExScution testamentaire, 1901 gezeigt; vgl. auch v. Brünneck, Zur Geschichte und Dogmatik der Gnadenzeit, Stutz, Kr. A., 21. H., 1905.

Kirchenrecht.

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Aus staatlicher Seite hat man — abgesehen von einem vereinzelt dastehenden normannischen Steriler, dem sogenannten Anonymus von York, der im Schutz des die staatliche Superiorität mit ruhiger Sicherheit behauptenden Wilhelms des Eroberers daraus die Vergottung der staat­ lichen Gewalt (Theokratie) folgerte1 — diese Einheit nur im überirdischen Haupt gesucht oder in der einträchtigen Zusammenarbeit, der concordia inter sacerdotium et tegnum, und infolge­ dessen den unmittelbar göttlichen Ursprung und damit die Gleichordnung beider Gewalten, eventuell mit dem Notrecht gegenseitiger Vertretung gelehrt. So sagt der Sachsenspiegel, beide, der Papst und der Kaiser, hätten jeder sein geistliches oder weltliches Schwert direkt von Gott. Boehmer, Kirche und Staat in England, 1899, Die Fälschungen Erzbischof Lanfranls von Canterbury, Studien z. Gesch. d. Theol. und Kirche VIII, 1, 1902; Hatschet, Englische BG. (5 18, 1) S. 166 ff., v. Amira, Die Dresdener Bilderhandschrist de- Sachsenspiegels, I, 1902, Taf. 7 mit Beilage; Gütschow, Innozenz III. und England, Hist. Bibl. XVIII, 1904.

Für die kirchliche Partei dagegen und für das von ihr geprägte kanonische Recht ergab das argumentum unitatis die Überordnung der Kirche. Sie ist eben die Einheit, in die das weltliche Gemeinwesen, an sich das Werk des Teufels und der Sünde **, sich einstigen muß, um als Teil der göttlichen Weltocknung gelten zu können. Der Kirche fleht die Substanz (dominium) auch der weltlichen Gewalt zu; Beweis dafür ist die allgemeine Zehntpflicht und für England, Irland, Wales, Schweden, Norwegen, aber auch Polen, Ungarn', Istrien, Dalmatten und Teile von Rußland der (in Dänemark freiwillige) Peterspsennig (denarius sancti Petri), eine von jedem Haus zu entrichtende Steuer. Die Kirche aber wird regiert von Christus und auf Erden von dessen Statthalter (vicarius Petri, Christi, Bei, bei Bernhard von Clairveaux: potestate Petrus, unctione Christus, bei Ägidius von Rom: papa quodammodo Deus est), dem Papst. Vom Papst, dem König der Könige, empfangen Kaiser und Könige, kirchlich gespwchen ad Ministerium, staatsrechtlich ad benefieium (Hadrian IV. und sein Kardinallegat Roland, der spätere Alexander III., 1167 aus dem Reichstag zu Besanyon), lehenrechtlich ad feudum, zionistisch ad dominium utile, ihr Herrscherrecht; er, der Papst, hat beide Schwerter, das geistliche, um es zu behalten, das weltliche, um es weiterzugeben, damit es von der weltlichen Gewalt im Dienste der geistlichen gesührt »erbe (Schwabenspiegel und Bulle Unam sanctam). Nur hin­ sichtlich des Umsangs und Grundes dieser Überlassung kann man auf kirchlicher Seite eine gewisse

Entwicklung der Ansichten seflflellen. Der noch vorwiegend prattisch gerichtete GregorianismuS dachte überhaupt mehr an die einzelnen Konsequenzen (dictatus papae Gregors VII., dessen Hauptpostulate zusammensassend). Erst die Späteren, durch die Gegner gezwungen, dem weltlichen Gemeinwesen einen primären Wirkungskreis zuzugestehen, und anderseits darauf bedacht, durch Einschränkung der terrena und möglichste Ausdehnung des kirchlichen Noteingrisssrechtes (Dekretale Innozenz III. Per venerabilem von 1202 ♦) die päpstliche Herrschaft zu er­ weitern, haben die Abgabe des weltlichen Schwertes einerseits als durch die Würire der Kirche und ihrer Diener (sacerdotium: regnum -- Seele: Leib, — oben S. 290 A. 1 — Sonne: Mond, Gold: Blei) geboten, anderseits als durch die Entsündigung der Welt (ratione peccati) resolutiv bedingt erklärt. All diese Schranken verflüchtigen sich aber nach und nach, besonders im Einzelsall der Anwendung so, daß schließlich die ecclesia die Christenheit auch nach ihrer welllichen Seite

1 In kecker Umkehrung des GregorianismuS lehrt er, daß, well mundus und ecclesia identisch, der gesalbte und gekrönte König vicarius Dei, ja als Amtsträger Gott selbst fei, dessen Werke er aus Erden treibe, und dessen Kirche, Reich, Volk er regiere. Ihm komme deshalb das Kirchen­ regiment, ihm auch die Übertragung des Amtes an den priesterlichen Kleinkönig durch Ring und Stab zu, • Quis nesciat reges et duces ab iis habuisse principium, qui Deum ignorantes superbia rapinis perfidia homicidiis postremo univerais sceleribus mundi principe diabolo videlicet agitante super pares scilicet homines dominari caeca cupiditate et intolerabili praesumtione affectaverunt? So Gregor VII. • Interessantes neues Material über die Beziehungen der Kurie zu den Kirchen Ungarns bringen die Monumente Romana episcopatus Vesprimiensis I—IV, 1896—1908. • Überall certis causis inspectis temporalem iurisdictionem casualiter exercemus.

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hin völlig absorbiert (Jalob von Viterbo: die Kirche ist der Staat ico/v?). Das kirch­ liche Gegenstück zu Karls des Gwßen Weltherrschast*1 ist fertig, die Theokratie abgelöst durch die Hiewkratie. Werminghoff, BG. § 42; 3a(für, Der Dictatus Papae und die Kanonensammluna des DeuSdedll, N. A. XVIII, 1893; Hirsch, Leben und Werke des Kardinals Deusdedit, A. f. k. Kr. LXXXV, 1905, Die rechtliche Stellung der römischen Kirche und des Papstes nach Kardinal Deusdedit, A. f. k. Kr. LXXXVIII, 1908; Kulot, Die Zusammenstellung päpstlicher Grundsätze (dictatus papae) im Register Gregors VII., Greifswalder phll. Diss., 1907; Peitz, DaS Originalregister Gregors VII., Wiener Ak. S. B., phil.-hist. Kl., CLXV, 1911; Blaut, Studien zum Register Gregors VII., Arch. s. Urfundenforschung, IV, 1912; Caspar, Studien zum Register Gregors VIL, N. A. XXXVIII, 1913; Molitor, Die Dekretale Per venerabilem, 1876; Sagmüller, Die Idee von der Kirche als Imperium romanum, Th. Q. LXXX, 1898; Jensen, Der englische PeterSpfennig und die Lehenssteuer aus England und Irland im Mittel­ alter, 1903; Daux, Le denier de Saint-Pierre, 1907.

Völlige Einigkeit herrschte kirchlicherseits über die praktischen Äußerungen dieser Papstlichen Weltherrschaft, z. B. über das Recht des Papstes: 1. Fürsten, auch den Kaiser, ein- und abzusetzen und von ihnen auch äußerliche Unterwürfigkeit (Fußkuß, Steigbügelhallen) zu ver­ langen; 2. über sie im Fall des Ungehorsams die Strafe der Entbindung der Untertanen vom Treueid zu vechängen (1076 und 1080 gegen Heinrich IV., 1119 gegen Heinrich V., 1167 gegen Friedrich 1., 1245 gegen Friedrich II ); 3. über die weltlichen Territorien, etwa durch Verleihung, zu verfügen; 4. Gesetze zu geben und von der weltlichen Macht gegebene aufzuheben (1215 Verdammung der englischen Magna Charta durch Innozenz 111. Bulle Etsi carissimus); 5. über Krieg und Frieden zu entscheiden; 6. Freie zu vettnechten (Gregor XI. 1376 gegen die Florentiner). H i n s ch i u s , Kr. V §§ 261, 264; Werminghoff, BG. § 22; Hauck, Deutschland und die päpstliche Weltherrschaft, Leipziger Univ.-Progr., 1910, Kg. Deutschlands V 1, 1911; v. Wretschko, Der Einfluß der fremden Rechte auf die deutsche Königswahl, Z.'f. RG. XX, 1899; Kentenich, Der päpstliche Approbationsanspruch und die goldene Bulle, H. B. XI, 1908; Zeumer, Die goldene Bulle Kaiser Karls IV., 2 Bde., Zeumers Q. u. St. II 1, 2, 1908; Hugelmann, Die deutsche Königswahl im Corpus iuris canonici, Gierkes Unters. 98. H., 1909; Stutz, Der Erzbischof von Mainz (oben § 24 S. 314 A. 1), Die rheinischen Erzbischöfe und die deutsche Königswahl (§ 24 S. 314 A. 1); Krammer, Das Kurfürstenkolleg von seinen Anfängen bis zum Zusammenschluß im Renser Kurverein, Zeumers Q. u. St. V I, 1913; E. Michael, Walther von der Bogelweide und seine Sprüche gegen den Papst, Z. f. f. Th. XXIX, 1905; Dresdener Bilderhandschrift des Ssp. (oben zu Abs. 2), Taf. 7 mit Bell, und dazu W. Michael, Uber die Formen des unmittelbaren Bettehrs zwischen den deutschen Kaisern und souveränen Fürsten im 10.—12. Jahrhundert, 1888. über Rudolf von Habsburg und Gregor X.: Zisterer, 1891, Otto, 1895; Redlich, Rudolf von Habsburg, 1903. Niemeier, Untersuchungen über die Beziehungen Albrechts I. zu Bonifaz VIII., Eberings Hist. Stud. XIX, 1900; Renken, Hat König Albrecht I. dem Papste Bonifaz Vlll. einen Lehenseid geleistet? Hall. phll. Diss., 1909; Eichmann, Acht und Bann im Reichsrecht des Mittelalters, Görres-Ges. Sekt. f. Rechts- u. Sozialw. 6. H., 1909, Kirchenbann und Königswahlrecht im Sachsenspiegel, H. Jb. XXXI, 1910, Das Exkommunikationsprivileg des deutschen Kaisers im Mittelaller, fl.1 s. RG. I, 1911, Die Ordines der Kaiserkrönung, Z.' f. RG. II, 1912; Brosch, Bonifaz VIII. und die Republik Florenz, Z. f. Kg. XXV, 1904.

8 28.

Der päpstliche Primat.

Nur vom Dörfer Anonymus (§ 28) als römische Anmaßung bestritten, wird jetzt der päpstliche Primat im weitesten Umfang geltendes Recht. Der Papst (papa heißt seit Gregor VII. nach gesetzlicher Vorschrift nur noch der römische Bischof) erscheint als der von Gott gesetzte Herr auch der Kirche; in ihm verkörpert sie sich Hinsichtlich der Weihegewalt gelangt dies dadurch 1 Nicht zum mittelalterlichen Kaisertum, das trotz Universalität und enger Verbindung mit der Kirche mehr die Verwirklichung nationaler Ideale erstrebte, wenn auch, dem echt mittelalter­ lichen Autoritätsbedürfnis entsprechend, zeitweise in Anlehnung an die antike Kaiseridee und unter Benutzung antiker, mit dem Wiedererwachen des römischen Rechtes zusammenhängender Titel und Wendungen. 1 Aegidius von Rom um 1285: papa qir potest dici ecclesia.

Kirchenrecht.

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zum Ausdruck, daß er bei der Messe allein überall und immer das Pallium tragt *; hinsichtlich, der Regierungsgewalt deutet darauf die Tiara, eine Mitra, seit 1059 mit einer Kwne (legnum), seit Bonifaz VIII. mit zwei, seit Benedikt XII. mit drei (triiegnum). Die seit Sergius IV. (1009) eingebürgerte Sitte des Namenswechsels soll nicht nur das Borbild des Petrus nach­ ahmen, sondem emanzipiert auch den Papst formell von seiner vorpontifikalen Vergangenheit (532 Merkurius: Johann II., 955 Oktavian, Enkel der Mawzia: Johann XII.). Gewählt wird der Papst fortan ohne laikale Mitwirkung von einem kirchlichen Kollegium, den römischen Kardinalen, wozu aber, nachweisbar seit 1012, auch auswärtige Erzbischöfe und Bischöfe er­ nannt werden, und in einem Wahlverfahren, das gegenüber dem hergebrachten, auch in Rom ehedem angewandten der Bischosswahl nunmehr seine eigenen Wege geht (Zweidrittelsmehrheit seit Alexander III. auf dem Laterankonzil 1179, Konklave — § 68 — seit Gregor X. aus dem Konzil von Lyon 1274); und er nimmt nunmehr eine Stellung ein, die in und außerhalb der Kirche ihresgleichen nicht hat. Zwar für die Weihegewalt ist er materiell nicht mit höherer Be­ fähigung bedacht als jeder Bischof, unterscheidet sich aber doch von diesem durch die Universalität der Ausübungsbesugnis, indem er überall und zu jeder Zeit alle Weihen erteilen kann. Dies bringt eben seine Jurisdiktion mit sich, und für sie tritt denn auch seine überragende Stellung in jeder Richtung zutage.

J a f f 6, Regesta (§22), Kehr, Regesta (§22); Potthast, Regesta pontificuin (1198—1304), 2 Bde., 1874—1875; Rodenberg, Epistolae saec. XIII e regestis pontificuin Romanorum selectae, M. G. h.» 3 Bde., 1883—1894. Vgl. auch die Quellenangaben bei W e r m i n g h o f f, BG. §§ 42, 43; Döllinger, Das Papsttum, 1892, Papstfabeln des Mittel­ alters, 1890; Harnack, Über die Herkunft der 48 (47) ersten Päpste, Berliner Ak. S. B., 1904; F. Fournier, La papauti devant l’histoire, 2 voL, 1899, 1900; W ü s ch e r - B e c ch i, Der Ursprung der päpstlichen Tiara und der bischöflichen Mitra, R.Q. XIII, 1899; Müntz, La tiare pontificale du 8 6 au 16 e sidcle, M6m. de l’institut nat de France (Ac. des ins er. et belleslettres), XXXVI, 1898; Knöpfler, Die Namensänderuna der Päpste, Compte rendu du 4e congres scient. des cath., 5« sect., 1898; Buschbell, x)ie professiones fidei der Päpste, Münst. phü. Diss. (auch R.Q. X), 1896; Lulv öS, Die Entstehung der angeblichen professio fidei Bonifaz' VIII., M. d. I. f. ö. G. XXXI, 1910; HinschiuS, Kr. I § 28; Werminghoff, BG. §§ 18,43; Z o e p f s e l, Die Papstwahlen (11.—14. Jahrhundert), 1871; Grauert, Papstwahlstudien, H. Hb. XX, 1899, und dazu Michael, Z. f. k. Th. XXIII, 1899; Gill­ mann, Die simonistiscke Papstwahl nach Huguccio, A. f. k. Kr. LXXXIX, 1909, Die Designation des Nachfolgers durch den Papst nach dem Urteil der Dekretglossatoren des 12. Jahrhunderts, A. f. k. Kr. XC, 1910; Sägmüller, Ein angebliche- Papstwahldekret Innozenz' II. 1139, Th. Q. LXXXIV, 1902; C h r o u st , Das Wahldekret AnalletS II., M. d. I. f. ö. G. XXVIII, 1907; Hamp e, Ein ungedruckter Bericht über das Konklave von 1241, Heidelberger Ak. S. B., phil.-hist. Kl., 1913: Sternfeld, Da- Konllave von 1280 und die Wichl MattinS IV. (1281), M. d. I. f. ö. G. XXXI, 1910; Asal, Die Wahl Johanns XXII., Abh.z. mittl. u. neuer. Gesch. von v. Below, Finke, Meinecke, XX, 1910; Bliemetzrieder, Gutachten... über Urbund VL Wahl, Bened. St. M. XXX, 1909, Traktat des Kardinal- ElziariuS de Sabrano über Urbans VI. Wahl, ebenda XXX, 1909; Eine . . . Verteidigung der Wahl Urbans VI., Mitt. d. Ber. f. Gesch. d. Deutschen in Böhmen XLVII, 1909; Lulv ös, Die Machtbestrebungen des Kardinalats bis zur Aufstellung der ersten päpstlichen Wahlkapitulation, Q. u. F. XIII, 1910, Päpstliche Wahl­ kapitulationen, Q. u. F. XII, 1909; Baumgarten, Bon den päpstlichen Kaplänen um die Mitte de- 13. Jahrhunderts, A. f. k. Kr. XCI, 1911, Beiträge zur Erforschung der Eidesformel des Vicarius Urbis, A. f. k. Kr. XCI, 1911. 1. Das päpstliche Gesetzgebungsrecht. Der Papst schafft das gemeine Rechts Denn die Synoden, auf denen seit Leo IX. 1049 die Päpste gewöhnlich zu Oflem oder im Beginn der Fastenzeit eine größere Anzahl auch nichtitalienischer Bischöfe in Rom, ober wo sich die Kurie gerade aufhielt, zu versammeln pflegten (Papalsynoden), waren von ihnen nicht nur präsidiert, sondem auch völlig abhängig und dienten lediglich der Stärkung und all» gemeinen Durchsetzung des päpstlichen Gesetzgebungsrechtes. Ihre letzte, die nach dem Wormser Konkordatsabschluß versammelte glänzende erste Lateransynode von 1123, hat nachmals dasAnsehen

1 Innozenz III.: quoniam assumptus est in plenitudinem ecclesiasticae potestatis; siehe oben S. 295 A. 2. 1 Mt dem Zitat: Romanus pontifex iura omnia in scrinio pectoris sui censetur habere wollte Bonifaz VIII. nur sagen, vom Papste werde vorausgesetzt, daß er bei der Gesetzgebung mit voller Kenntnis des gemeinen Kirchenrechtes vorgehe; G illm a nn , Romanus pontifex ... habere, A. f. k. Kr. XCII, 1912.

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eines allgemeinen Konzils erlangt und eröffnet den Reigen der mittelalterlichen ölumenifchen Synoden (zweites Lateranlonzil: Innozenz II. 1139, drittes: Alexander III. 1179, vieUcs: Inno­ zenz III. 1215, erstes Lyoner: Innozenz IV. 1245, zweites Lyoner: Gregor X. 1274, erstes von Vienne: Klemens V. 1311), die eben nichts anderes als erweiterte Papalfynoden waren (wirklich ölumenifch eigentlich nur Lyon 11.). Nicht sowohl für die Entscheidung von Lehrstreitigleiten als für die Kreuzzugssache, die Unionsverhandlungen mit den Griechen und vor allem für die Weiterbildung des kirchlichen Rechtes tätig, werden sie von den Päpsten berufen *, und, unter ihrem Vorsitz so tagend, daß Kardinäle und Bischöfe entscheidende, Äbte und Prälaten bloß bewtende Stimme haben, erscheinen sie lediglich als durchaus abhängiger Senat der Päpste, wie denn auch ihre Beschlüsse als unter Beirat und Zustimmung der Synode erlassene päpstliche Delrete sich geben'. Desgleichen haben die Legaten der Päpste zur Durchführung des von ihren Austraggebern gesetzten Rechtes in den einzelnen Ländern, besonders in Frankreich und Burgund (in Deutschland um 1118 zu Köln und Fritzlar zur Bannung Heinrichs V.) während des 11. und 12. Jahrhunderts Synoden abgehalten (Legatensynoden). lltzinschius, Kr. I § 31, III §§ 170, 173—176, 185 f.; W e r min g h o s f, BG. §§ 51,52; Hauck, Die Rezeption und Umbildung der allgemeinen Synode im Mittelalter, H. B. 1907; Lübberstedt, Die Stellung des deutschen Klerus aus päpstlichen Generalkonzilien von Leo IX. bis Gregor VII., Greifswalder Phil. Diff., 1911; Auer, Studien zu den Reformvorfchristen für das zweite Lyoner Konzll, Freiburger phll. Difs., 1910; L u c h a i r e , Innocent III et le quatrUme Concile de Latran, R. h. XCVII, XCVIII, 1908 und dazu W e r n e r , R. A. XXXI, 1906 S. 577 ff.; Norden, Das Papsttum und Byzanz (§ 12 und dazu Haller, H. Z. IC, 1907), Prinzipien für eine Darstellung der kirchlichen Unionsbestrebungen im Mittelalter, H. Z. CII, 1909.

Inhaltlich erhielt die päpstliche Gesetzgebung, für die noch Gregor VII. die Kanones älterer Konzilien in gewissem Sinn als Schranke hotte gelten lassen, die volle Freiheit durch die bald siegreiche Lehre Gratians, den Papst binde nur das ius naturale, d. h. die Moralvorschriften des alten und die göttlich geoffenbarten Rechtssätze des neuen Testaments^, und es verstehe sich bei den Synodalkanones der Vorbehalt des päpstlichen Stuhls, also dessen Verfügungsbesugnis von selbst (Gratians dictum nach c 16 C XXV q 1: Sacrosancta Romana ecclesia ius et auctoritatem saciis canonibus inpertit, sed non eis alligatur; habet enim ius condendi canones). Bon da war nur noch ein Schritt bis zur völligen Selbständigkeit päpstlicher Gesetzgebung. Innozenz III. und Honorius III. vermittelten ihn, indem sie die Sammlungen ihrer Dekretalen 1210 und 1226 wenigstens zum Gebrauch in Unterricht und Rechtsprechung nach Bologna oder an die Universitäten und Gerichte überhaupt sandten (III. und V. compilatio antiqua). Bollzogen hat ihn schließlich, als die Rezeption dieser Sammlungen ohne Schwierigkeit von Statten ging, Gregor IX., dem Bonifaz VIII. und Klemens V. bzw. Johann XXII. gefolgt sind (§ 26). So fest stand jetzt die Befugnis des Papsttums, der Kirche in voller Unabhängigkeit das Recht zu setzen, daß selbst die päpstlichen Kanzleiregeln als Quelle gemeinen Kirchenrechts (für Deutsch, land sreilich nur in einigen Punkten) betrachtet wurden, d. h. die Jnflmktionen für das päpstliche Regiemngspersonal, die jeweilen nach einem Pontifikatswechsel erneut und vermehrt, schließlich aber unter Nikolaus V. aus einer Art edictum tralaticium zu einem perpetuum wurden.

Brie, Die Lehre vom Gewohnheitsrecht I, 1899; Erler, Der über cancellariae apostolicae (1380), 1880; v. 011enthal, Die päpstlichen Kanzleiregeln von Johann XXII. bis Rikolaus V., 1888; Tangl, Die päpstlichen Kanzleiorbnungen von 1200—1500, 1894; Förstemann, Novae constitutiones audientiae von 1375, 1897; Wahrmund, Die consuetudines curiae Romanae, A. f. k. Kr. LXXIX, 1899; v. Hofmann, Zur Geschichte der päpstlichen Kanzlei, vornehmlich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, Berliner phil. Diss., 1904; Meister, Die Geheimschrift im Dienste der päpstlichen Sune, 1906; Baumgarten, Das päpstliche Siegel­ amt, R.Q. XXI, 1907, Bon der apostolischen Kanzlei, Görres-Gef., Sekt. s. Rechts- u. Sozuüwiss. 4. H., 1908, Beiträge zur Liste der Vizekanzler, R.Q. XXIV, 1910; Jansen, Zum päpstlichen Urkunden- und Taxwesen, Festgabe f. Heigel, 1903; Schnitze, Zum Taxwesen der 1 Friedrich I. macht 1160 als Nachfolger von Konstantin, Theodosius, Justinian, Karl dem Großen und Otto dem Großen am Reick noch einen verunglückten Versuch zur Berufung einer allgemeinen Synode. • De consilio fratrum nostrorum et sacro approbante concüio decrevimus; in den Dekretalensammlungen in der Form: Alexander III. in concilio Lateranensi. • Ius naturae est, quod in lege et evangelio continetur, sagt Gratian im princ. von D. I.

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päpstlichen Kanzlei unter Eugen IV., R. A. XXXVIII, 1913; Schmitz-Kallenberg, Practica cancellariae apostolicae saec. XV exeuntis, 1904; Göller, Mitteilungen und Unter­ suchungen über da- päpstliche Register- und Sanzleiwesen, Q. u. F. VI, VII 1904, Die Kom­ mentatoren der päpstlichen Kanzleiregeln, A. f. k. Kr. LXXXV, 1905, LXXXVI, 1906, Zur Stellung des Korrektor- in der päpstlichen Kanzlei, R.Q. XIX, 1905, Zur Geschichte de- bischöf­ lichen BenesizialwesenS und der päpstlichen Kanzleiregeln unter Benedikt XIII., A. f. k. Kr. LXXXVII, 1907, Aus der Kanzlei der Päpste und ihrer Legaten, Q. u. F. X, 1907; Jackowski, Die päpstlichen Kanzleiregeln und ihre Bedeutung für Deutschland, A. f. k. Kr. XC, 1910; Sch walm, Das Formelbuch des Heinrich Bucglant, 1910.

Jedoch auch in einem unbeschränkten Privilegien- und Dispensationsrecht ossenbart sich nunmehr der gesetzgeberische Absolutismus des Papsttums. Hatte ehedem der apostolische Stuhl nur dauernde Begünstigungen in Gestalt abweichender subjektiver Rechte oder als Bestätigungen regelmäßiger erteilt, die nicht einfach widerrufen werden lonnten, so lehrte Gratian, der Papst könne krast seiner gesetzgeberischen Autorität aus gerechtfertigten Ursachen Privilegien jederzeit zurücknehmen. Das veranlaßte die Kurie, seit Gregor VII. überhaupt nur noch salva Sedis Apostolicae auctoritate, also vorbehaltlich anderweitiger Verfügung des apostolischen Stuhls zu privilegieren. Weniger rasch entwidelte sich die ausschließliche Befugnis des Papstes, vom gemeinen Recht zu dispensieren. Ursprünglich jede Begründung regelwidrigen Rechtes be­ zeichnend, sand die dispensatio bei Ivo von Chartres (§ 17) größere Beachtung und durch Grattan die Anerkennung als ein mit dem Gesetzgebungsrecht zusammenhängendes Institut. Rusin (§ 26,3 a) bezeichnete sie dann zuerst als casualis derogatio, d. h. als Aufhebung der Wirkungen eines Rechtssatzes für einen einzelnen Fall. Und nunmehr gewinnt auch, durch zahlreiche An­ fragen in Rom seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts vorbereitet, die Anschauung Boden, daß nur der Papst, und zwar in demselben Umfang, wie er es sehen, auch vom gemeinen Recht dispensieren könne, eine Anschauung, die, von Innozenz III. ausgenommen, namentlich infolge der gesetzgeberischen Tätigkeit der päpstlichen Urheber der Dekretalensammlungen so sehr sich befestigte, daß die Dispensationsbesugnis der Bischöfe und Provinzialsynoden nunmehr als Ausnahme erschien. H i n s ch i u i, Kr. III 189 n, V; #. Scheurl, Der DiSpenfationSbegrifs des kanonischen Recht-, Z. f. Kr. XVII, 1882; © sieglet, Dispensation, DiSpensationSwesen und DiSpenfationSrecht 1,1901 (Forts, im A. f. k. Kr. LXXVIII, 1898): T haner, Über Entstehung und Be­ deutung der Formel salva sedis apostolicae auctoritate, Wiener AI. 6. B., Phil.-htst> ÄL, LXXI, 1872; Sägmüller, Zur Entstehung und Bedeutung der Formel Salva sedis apostolicae auctoritate, Th. Q. LXXXIX, 1907; Schreiber, Kurie und Kloster ($ 18, 2); Göller, Walter Murner von Straßburg und das päpstliche Dispensationsverfahren im 14. Jahrhundert, Z.'f.RG. II, 1912.

2. Die oberflrichterliche Gewalt der Päpste. Selbst ohne Richter über sich — papa a nemine iudicatur, ein altes, von Gelasius I. 493 ausgestelltes Postulat (vgl. 1. Kor. 2,15), wich seit dem 12. Jahrhundert unbestritten geltendes Recht — ist der Papst der höchste Richter aller seiner ttrchlichen Untertanen (subditi), der Geistlichen und auch der Laien, selbst der Kaiser und Könige. Er namentlich verhängt generell Exkommunikationen, und ihm ist bei besonders schweren Berbrechen (zuerst durch Innozenz II. 1131 bei percussio clericorum, unten S. 331A. 3) die Absolution Vorbehalten. Solche Resewationen wechen seit dem 14. Jahr­ hundert häufiger und seit Urban V. 1363 unter reichlicher Vermehrung selbst durch Delikte, dio bloß die weltliche Herrschaft des Papstes betreffen (Seeraub in italienischen Gewässern, Hinderung der Zufuhr von Lebensmitteln nach Rom, Bemächtigung von kirchenstaatlichen Rechten und Bezügen u. a. m.), immer wieder am Gründonnerstag (Bulle In Cena Domini) feierlich ein­ geschärft. Umgekehrt steht den Päpsten, gleichfalls seit dem 12. Jahrhundert, anerkanntermaßen das Begnadigungsrecht zu. Bor allem aber werden sie mit Angelegenheiten der streitigen Gerichts­ barkeit in Menge besaßt. Für diese vomehmlich bildet sich-nunmehr unter der theoretischen Mitarbeit der wmanisierenden Kirchenrechtsschule das Institut der Delegation aus und der Begriff der iurisdictio delegata, d. h. der einer Person besonders übertragenen RechtsprechungSund Regierungsgewalt im Gegensatz zu der mit dem Amt gegebenen iurisdictio oidinaria. Seit Alexander III. werden die päpstlichen Reflripte Legion, die Bischöfen, Äbten und anderen Geist­ lichen die Untersuchung und oft auch die Entscheidung an Papstes Statt übertragen, zur Erleichtemng der kurialen Geschäftslofl, die sonst nicht zu bewältigen wäre, da es eine auS-

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gebildete päpstliche Behöwenorganisation noch nicht gibt (bloße Palatialbehöcken*; daneben die alte, ehedem mit Archiv und Bibliothek verbundene, unter einem Kanzler flehende, im 13. Jahchundert einem nicht-kawinalizischen Vizekanzler und schließlich seit dem Avignoneser Ausenthalt endgültig dem KaÄinal Vizekanzler unterstellte cancellaria). Hierbei erhielten die kommittierten Richter durch das Kommissorium leitende, meist neue Grundsätze mit, die, wenn sie sich bewährten, beibehalten und schließlich dem Dekretalenrecht einverleibt wurden. Eine Unterart der Delegaten bildeten die von den Päpsten sür Klöster und Universitäten zum Schutz ihrer Rechte und Güter bestellten Konsewatoren. HinschiuS, Kr. I 55 21 n, nie, 41, 51, V § 266 n zz 269, 277, 283, 285; Werminghoff, BG. $5 17, 19, 45; Keller, Die sieben römischen Pfalzrichter im byzantinischen Zeit­ alter, Stutz, Kr.A., 12. H., 1904: Hirschfeld, Das Gerichtswesen der Stadt Rom vom 8. bis 12. Jahrhundert, Arch. f. Urkunoenforsch. IV, 1912; Hilling, Felinus Sandeus, Auditor der Rota, A. f. k. Kr. LXXXIV, 1904, Die römische Rota und das Bistum Hildesheim, Grevings ReformationSgesch. Studien, 6. H., 1908; G öller, Zur Geschichte der Rota Romana, A. f. k. Kr. XCI, 1911, Wilhelm Horborch und die Decisiones antiquae der Rota Romana, A. f. I. Kr. XCI, 1911; F. E. Schneider, Zur Entstehungsgeschichte der römischen Rota als Kollegialgericht, R.Q. Supplh. XX, 1913; Breßlau, Handbuch der Urkundenlehre I 1912; Kehr, Scrinium und Palatium, M. d. I. f. ö. G. 6. Ergz^bd., 1901; Merores, Zur Frage der senniarii sanctae Romanae ecclesiae, M. d. I. s. ö. G. XXXIV, 1913; C i p o 11 a , La cancellaria e la diplomatica pontificia da 8. Siricio a Celestino III, 1902;P flugk-Harttung, über Archiv und Register der Päpste, Z. s. Kg. XII, 1891, Die Bullen der Päpste bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, 1901; Steinacker, Das älteste päpstliche Registerwesen, M. d. I. f. ö. G. XXIII, 1902; öernik, DaS Supplikenwesen an der römischen Kurie, Ich. d. Stiftes Klosterneuburg IV, 1912; Lea, A Formulary of the Papal Penitentiary, 1892; Haskins, The sources for the history of the papal Penitentiary, The Am. Journ. of Theol. IX, 1905; Göller, Die päpstliche Poenitentiarie, 2 Bde., Bibl. d. preuß. hist. Inst., 1907—1911, Das alte Archiv der päpstlichen Poenitentiarie, R.Q. Supplh. XX, 1913; C h o u e t. La saertie ptinitencerie apostolique. I. 1908.

3. Das oberste Verwaltungsrecht des Papstes äußert sich nunmehr: a) in allgemeinen Verfügungen über die Liturgie, durch die z. B. von Urban IV. 1264 und mit vollem Erfolg durch Klemens V. 1312 das Fronleichnamsfest eingeführt, wie auch die römische Liturgie gegenüber der ambwsianischen und der mozarabischen oder westgotischen be­ günstigt wurde und gegenüber örtlichen Eigentümlichkeiten mehr und mehr sich durchsetzte. Hierher gehört ferner die Ausbildung des ausschließlichen, der Mithilfe einer Synode nicht be­ dürftigen päpstlichen Kanonisationsrechtes seit Alexander III. (erste päpstliche Heiligsprechung 993 durch Johann XII. betressend^Bischos Ulrich von Augsburg). HinschiuS, Kr. IV §§ 199* 211, 212, 213; Stückelberg, Geschichte der Reliquien

in der Schweiz, 2 Bde., 1902—1908; Kellner, Heortologie 8, 1911; Freisen, Manuale Curatorum secundum ns um ecclesie Roskildensis, 1898, Liber agendarum ecclesie et dioecesis Sleszwicensis, 1898, Manuale Lincopense, 1904, Die katholischen Ritualbücher der nordischen Kirchen, Beverle, Deutschr. Beiträge III 2, 1909; F6rotin, Le Liber ordinum en usage dans l’telise Wisigothique, 1904; Franz, Das Rituale von St. Florian, 1904, Das Rituale des Bischofs Heinrich von Breslau, 1912; Stapper, Die älteste Agende des Bistums Münster, 1905. b) In einer obersten Ämtergewalt. Der Papst ist kirchenrechtlich allein befugt, Bistümer und sonstige höhere Ämter zu errichten und zu verändern; doch läßt man sich die Mitwirkung der weltlichen Obrigkeit besonders zur Dotierung kirchlicherseits widerstandslos gefallen. Der Papst allein kann Ausnahmen vom ordentlichen Kirchenverband schassen in Gestalt von Exem­ tionen von Klöstern gegenüber dem Diözesanbischos, von Bistümern gegenüber dem Metropoliten. Er erteilt auch den Universitäten, die nunmehr unter Verdrängung der Stifts- und Klosterjchulen die theologisch-juristische Ausbildung des Klerus übemehmen, Stistungsbriese. Doch waren gerade die wichtigsten studia generalia, Bologna und Paris, keine päpstlichen Stif­ tungen. Seit dem 12. Jahrhundert sodann beginnen die Päpste Empfehlungen und Anweisungen an Besetzungsberechtigte zugunsten einzelner Personen in zunehmend befehlender Form aus-

1 Die sieben römischen Pfalzrichter, nämlich 1. primicerius notariorum, Vorsteher der Re­ gionarnotare und Minister des Auswärtigen; 2. secundicerius notariorum, zweiter Kanzlei­ vorsteher; 3. arcarius für die Einkünfte; 4. saccellarius für die Ausgaben; 5. protoscriniarius, Vorsteher der Urkundenschreiber; 6. primicerius defensorum an der Spitze der Advokaten und der Patrimonialverwaltung; 7. nomenclator, Zeremonienmeister, auch für die Gnadengesuche; da­ neben namentlich der vicedominus sür den Palast und die cubicularii, adelige Kammergeistliche.

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zustellen, und zwar seit Alexander 111. auch für nichterledigle Pfründen. Daraus entwickelt sich unter Cölestin 111. 1191—98 die Selbstvornahme der Verleihung und unter Innozenz 111. die trotz vielfachem bischöflichem und anderem Widerstand erfolgreiche Inanspruchnahme eines aus die päpstliche plenitudo potestatis gegründeten allgemeinen Besetzungs- (Provisions-, aber auch Anwartschastserteilungs-)Rechtes. Durch die Delretalen Gregors IX. sanktioniert, nimmt der Mißbrauch päpstlicher Pwvisionsmandate unter Innozenz IV. auch für Bistümer einen solchen Umfang an, daß Klemens IV. 1265 angesichts des wachsenden Widerstands aus die regel­ mäßige Preisgabe der ja praktisch doch nicht durchführbaren Ausübung des allgemeinen Be­ setzungsrechtes und aus die dem römischen Stuhl noch vorteilhaftere Reservation bestimmter Kategorien (zunächst der benelicia in curia, nämlich durch den Tod ihres Inhabers in Rom oder innechalb zweier Tagreisen = 20 römischer Miglien davon vacantia) verfällt, ein Vorbehalt, den die Nachfolger von Klemens, insbesondere Johann XXI1. (Bulle Ex debito 1316 und Exsecrabilis 1317) sowie Benedikt XII. (Ad regimen 1335) energisch erweiterten. Dementsprechend roitb auch die Versetzung, tianslatio, die Genehmigung eines Verzichts, renuntiatio, wenigstens von Bischöfen, sowie die Gutheißung jeder mit einer Belastung verbundenen Psründenausgabe, lesignatio cum reservatione pensionis, als päpstliches Vorrecht angesehen. Endlich übt der Papst auch die oberste kirchliche Aussicht; ihr dient die seit Gregor VII. üblicher werdende und durch das Dekretalenrecht allgemein statuierte bischöfliche Pflicht der regelmäßigen Romreise, der visitatio liminum seil, sanctorum apostolorum Petii et Pauli.

H inschiuS, «r. II k l02, Ili zz 144,161, 166 l, IV « 230, 241; P a u l s e n, Die Gründüng der deutschen Universitäten, H. Z. XLV, 1881, Die deutschen Universitäten, 1902; Denifle, Die Universitäten deS Mittelalters I, 1885; Kaufmann, Geschichte der deutschen Universi­ täten, 2 Bde., 1888—96; R a s h d a 11, The Universities of Europa in the Middle Ages, 2 vol, 1896; Meyhöfer, Die kaiserlichen Stiftungsprivilegien für Universitäten, Arch. s. Urkunden­ forschung iV, 1912; Lux, Constitutionum Apostolicarum de generali benenciorum reser­ vatione (1265—1378) collectiv et interpretatio, Breslauer kath.-theol. Diff., 1904, Die Besetzung der Benesizien in der BreSlauer Diözese durch die Päpste von Avignon, 1906; Göller, Die päpstlichen Reservationen, HinnebergS Intern. Wochenschrift IV, 1910; Baier, Päpstliche Pro­ visionen für niedere Pfründen biS 1304, Finkes Borref. Forsch. 7. H., 1911; Sägmüller, Die visitatio liminum bis Bonifaz VIII., Th. Q. LXXXII, 1900. c) Sehr wichtig würbe die päpstliche Ordenshoheit. Der Schutzbrief der alten Zeit (mit Besitzflandbeflätigung sowie Begräbnis- und Abtwahlprivileg) und die Exemtion (eventuell mit Weiheprivileg und Verleihung der Pontisikalinfignien) würben nunmehr ausgebaut zu einem reichen Privilegienrecht und dieses wieberum zur systematischen, wenn auch schonenden Zurückdrängung des bischöflichen Einflusses und der Macht der Vögte, zur Bildung oder Fördemng von Klosterverbänden benützt. Zu dem Benediktinerorden und feinen Abzweigungen **, die durch die Einrichtung der dienenden Laienbrüder (fraties conversi oder laici; dafür keine Ministe­ rialen !) neben den mindestens Subdiakonatsweihe besitzenden Bollmönchen, conventualea, und von Generalkapiteln neben dem Generalabi eine organisatorische Erweiterung erfahren hatten, traten außer den durch die Kreuzzüge ins Leben gerufenen Ritterorden * namentlich die Bettel­ orden der Franziskaner oder Minderbrüder (Franz von Assisi, t 1226) und der Dominikaner oder Predigermönche (Dominikus t 1221)3. Diese bereicherten nicht bloß das OÄensrecht um eine Anzahl neuer Einrichtungen (endgültige Ausgestaltung des feierlichen Eintrittsaites 1 Außer den Cluniacensern (§ 18, 2) und im Zusammenhang mit ihnen die Karnaldolenser. (Romuald, 1018) und Ballombrosaner (Gualbert, f 1073) sowie namentlich die Cistercienser (Ttteaux 1098; Charta charitatis 1119) und die Karthäuser (Bruno von Köln, 1084), Francke, Romuald von Camaldoli und seine Reformtätigkeit zur Zeit OttoS III., EberingS Hist. Stud. CVII, 1913. • Templer (1118), Johanniter (1130), Deutschherren (1191); Körner, Die Templerregel auS dem Altfranzösischen übersetzt, 1902; Schnürer, Die ursprüngliche Templerregel, St. u. D. III 1, 2, 1903, Zur ersten Organisation der Templer, H. Jb. XXXII, 1911; Prutz, Die exemte Stellung des Hofpitaliterordens, Münchener Ak. S. B., philos.-phil.-hist. Kl., 1904, Die Autonomie des Templerordens, ebenda 1905, Die finanziellen Operationen der Hospitaliter, ebenda 1906, Die geistlichen Ritterorden, 1908; Finke, Papsttum und Untergang deS Templer­ ordens I, II, FinkeS Borreformationsg. Forsch. 4. u. 5. H., 1907; Delaville le Roulx, Mäanges sur Vordre de Samt-Jean de Jerusalem, 1910. • Karmeliter! (1245), Augustinereremiten (1256). Die Franziskanernonnen (bestätigt 1253) nennen sich nach der heil. Klara von Assisi Klarissen; Lemmens, Die Anfänge des Klarissen-

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der piofessio ieligiosa mit den drei Gelübden der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams; Annahme von männlichen und weiblichen Tertianern, die in der Welt verbleibens Ordensgeneral mit Provinzialorganisation und Ausdehnung der örtlichen Beschränkung der Verbindungskrast der Gelübde, stabilitas loci, aus den ganzen Orden), sondern machten das Mönchtum über­ haupt erst volkstümlich, ja vermöge ihrer Seelsorgetätigkeit (seit 1250), die sie allerdings, auch in Deutschland, bald in ernste Konflikte mit der Psarrgeistlichleit brachte, zu einem der einslußreichsten Faktoren des mittelalterlichen Volkslebens. Es war dämm von Wichtigkeit, daß gerade bei diesen Orden wegen der auch für das Ganze geforderten Vermögenslosigkeit * das bei den Ritterorden ausgenommene Ersordemis päpstlicher Genehmigung, für die Franziskaner 1209 bzw. 1223, für die Dominikaner 1216, endgültige Anerkennung sand, und daß diese neueren Orden durch den vom Papst emannten Generalobern als universale Hilssmächte der universalen Kirche eng verbunden blieben. Luchaire, Manuel $§ 68—61, 63; Werminghoff, BG. §§ 39, 40; Messing, Papst Gregors VII. Verhältnis zu den Klöstem, Greifswalder phll. Diss., 1907; Adamczyk, Die Stellung des Papstes Honorius II. (1124—1130) zu den Klöstem, Greifswalder phil. Diss., 1912; Schreiber, Kurie und Kloster (§ 18); E. Hoffmann, Das Konverseninstitut des Cisterzienserordens, 1906; Lindner, Fünf Prozeßbücher süddeutscher Benediktinerabteien I—IV, 1909—1911; Egger, Geschichte der Äuniazenserklöster in der Westschweiz, 1907; Berlidre, Les origines de Citeaux et Vordre bönödictin au 12* siöcle, R. h. e. I, II, 1900/01, La congrägation de Bursfeld, R. b6n. XVI, 1899; Linneborn, Die Bursselder Kongregation wahrend der ersten hundert Jahre ihres Bestehens, Deutsche Geschichtsbl. XIV, 1912, Die Re­ formation der westfälischen Benediktinerklöster im 16. Jahrhundert, Bened. St. M. XX—XXII, 1899—1901; Hase, Franz von Assisi, 1856; Sabatier, Vie de S. Francois *•, 1911, deutsche Übersetzung von L i s c o , 1897; Goetz, Die Quellen zur Geschichte des h. Franz von Assisi, Z.f.Kg. XXII, 1901, Die ursprünglichen Ideale des h. Franz von Assisi, H. B. VI, 1903; Bullarium Franciscanum I—IV mit Supplement 1759—1780, V—VII des. von Enbel, 1898—1904; Reuter-Eubel, Bullarii Franciscani epitome, 1909; Holzapfel, Hand­ buch der Geschichte des Franziskanerordens, 1909; Schlager, Beiträge zur Geschichte der kölnischen Franziskaner-Ordensprovinz, 1904; Balthasar, Geschichte des Armutsstreites im Franziskanerorden, Finkes Borref. Forsch. 6. H., 1911; Regula antiqua fratrum et sororum de poenitentia seu tertii ordinis 8. Francisci ed. Sabatier, 1901; Götz, Die Regel des Tertiarierordens, Z. f. Kg. XXIII, 1902; Mandonnet, Les origines de l’ordo de poenitentia, Compte rendu du 4* congrds scientif. des cath., 5 sect., 1898; K. Müller, Zur Geschichte des Bußbrüderordens, Z. f. Kg. XXIII, 1902; Die Anfänge des Minoritenordens, 1886 (dazu Ehrl e, in A. f. L. u. Kg. III, 1887); Eubel, Geschichte der oberdeutschen Minoritenprovinz, 1886, Geschichte der kölnischen Minoriten-Ordensprovinz, 1906; Monumenta ordinis fratrum Praedicatorum historica I, III—V, VIII—X, 1897—1903; Denifle, Die Konstitutionen des Predigerordens von 1228, A. f. L. u. Kg. L 1885; Reichert, Feier und Geschäftsordnung der Provinzialkapitel deS Dominikanerordens, R.Q. XXI, 1907; Bünger, Ein DominikanerProvinzialkapitel (1400), Z. f. Kg. XXXIV, 1913; Barker, The Dominican order and convocation, 1913; Greven, Die Anfänge der Beginen, Finkes Borref. Forsch. 8. H., 1912; Hinschius, Kr. IV § 227; Paulus, Welt- und Ordensklems beim Ausgange des 13. Jahr­ hunderts im Kampfe um die Pfandrechte, Gött. phll. Diss., 1900, Die Stellung des Würzburger Pfarrklerus zu den Mendikantenorden während des Mittelalters, Theol.-prakt. Monats­ schrift I, 1891; Eubel, Zu den Streitigkeiten bezüglich des ins parochiale im Mittelalter, R.Q. IX, 1895; Hefele, Die Bettelorden und das religiöse Volksleben Ober- und Mittelitaliens im 13. Jahrhundert, Goetz, Beiträge z. Kulturgesch. 9. H., 1910; Wiesehoff, Die Stellung der Bettelorden in den deutschen freien Reichsstädten, Münst. phll. Diss., 1906; Opladen, Die Stellung der deutschen Könige zu den Orden im 13. Jahrhundert, Bonner phll. Diss., 1908.

Dies die Fülle der päpstlichen Gewalt aus ihrem Höhepunkt. Sie führt auch zur Aus­ bildung des Legationsrechtes. Nachdem nämlich bereits in römischer und in fränkischer Zeit die Päpste an den byzantinischen und den karolingischen Hof Gesandte, apocrisiarii oder responsales, mit politischen und kirchlichen Aufträgen abgeordnet hatten, verwandten sie seit Gregor VII., allerdings nicht selten unter starkem Widerstand der lokalkirchlichen und der weltlichen Gewalt, ordens, R. Q. XVI, 1902; Lempp, Die Anfänge des Klarissenordens, Z. f. Kg. XXIII, 1902 (dazu XXIV, 1903, S. 321 ff.); Wauer, Entstehung und Ausbreitung des Klarissenordens, 1906. 1 Leo XIII. und Pius X., selbst Tertiarier des hell. Franziskus, haben 1883 und 1912 die franziskanische Tertiarierregel den Bedürfnissen der Gegenwart entsprechend reformiert. 1 Nach Nikolaus III. (1279) steht überhaupt aller Besitz der Minderbrüder, nach Johann XXII. (1322) wenigstens der Immobiliarbesitz samt den Bibliotheken im Eigentum der römischen Kirche.

Kirchenrecht.

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mit Vorliebe Kardinäle als Legaten, um in den verjchiedencn Ländem entweder einzelne Ge­ schäfte oder die Wahrnehmung der päpstlichen Rechte im ganzen zu besorgen. Diesen gab die Schule seit etwa 1300 aus Gmnd einer schon von Innozenz IV. gemachten Unterscheidung den Namen legati a latere 1 *im * Gegensatz zu den legati missi oder nuntii sedis apostolicae (14. Jahr­ hundert), denen gleich jenen eine von der päpstlichen abgezweigte iurisdictio ordinaiia zukam, aber bloß eine geminderte, im Gegensatz zur vollen der anderen (doch auch hier nicht für cauaae maioies). Legati perpetui oder nati aber werden jetzt Primaten oder Erzbischöse (z. B- von Köln) mit einer eigenmächtig erworbenen, meist kirchlich nur geduldeten allgemeinen Bertretungsmacht.

Hinschius, Är. I $$ 68—71, 76; Werminghoff, BG. § 42; Grosse, Der Ro­ manns legatus nach der Auffassung Gregors VII., Hall. phil. Diss., 1900; Marx, Zur Reform­ tätigkeit des Sardinallegaten Otto von St. Nikolaus, A. f. k. Lr. LXXXV, 1906; Massino, Gregor VII. in seinem Verhältnis zu seinen Legaten, Greifswalder phll. Diss., 1907; Rueß, Die rechtliche Stellung der päpstlichen Legaten bis Bonifaz VIII., Görres-Ges. Sett. f. RechtSu. Sozial»., 13. H., 1912; Zimmermann, Die päpstliche Legation in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, Görres-Ges. Sett. f. Rechts- u. Sozial». 17. H., 1913, Die päpstliche Legation zu Beginn deS 13. Jahrhunderts im Dienste der Kreuzpredigt, Inquisition und Kollektorie, R.Q. Supplh. XX, 1913.

8 30.

Kirchenverfassung und Klerus.

Das pseudoisidorische Ideal der Befreiung der Kirche von der Herrschaft der Laien wird im allgemeinen auch für den übrigen kirchlichen Organismus verwirklicht. ®n Klerus, dessen Ergänzung ein ausgebildetes Weiherecht (Jrregularitätenlehre) regelt, dessen wirtschaftliche Sicherung die Vorschrift eines Titels1 und das seit Innozenz 111. für untergeordnete Grade allerdings nicht mehr ausrechterhaltene Verbot absoluter Ordinationen anstrebt, der von der Familie durch das Zölibatsgebot (§ 24), von der Welt z. B. durch das Verbot des Studiums der Medizin und des weltlichen Rechts losgelöst, aber dafür durch weitgehende Privilegien wie das privilegium immunitatis, d. h. der Steuerfreiheit (§ 24), fori, d. h. der Befreiung vom todtlichen Gericht, competentiae, d. h. der beschrankten Vollstreckbarkeit gegen das geistliche Ein­ kommen begünstigt und durch das privilegium canonis8 geschützt ist, leitet, in den höheren Weihestufen, ordines sacri oder maiores, wozu seit Innozenz III. auch der Subdiakonat zählt, mit einem unauslöschlichen, übernatürlichen Charakter ausgestattet, die Herde der Laien.

Gams, Seriös episcoporum (bi- 1885), 2 Bde., 1873—86; E u b e 1, Hierarchie catholica medii aevi I •, 1913, II, 1901, III, 1910; M. Fournier, L’tiglise et le droit romain au 13e siöcle, N. r. h. XIV, 1890, XV, 1891; Gillmann, Zur Geschichte des Gebrauchs der Aus­ drücke „irregularis“ und „irregularitas“, A. f. k. Kr. XCI, 1911 (erweitert auch sep.), Weibliche Kleriker nach dem Urtell der Frühscholastik, A. f. k. Kr. XCIII, 1913; Pollock and Mait­ land, The History of English law (§ 18, 1) I, p. 433; Bader, Der Klerus und sein Recht nach dem Zürcher Richtebrief, 1902; Poncet, Les privildges des clercs au moyen-&ge, Thtae, 1901; Siciliano-Villanueva, Studi sulle vicende del foro ecdesiastico nelle cause dei chierici.. . dalla fine del impero carolingico al sec. XIV, 1896, 1901. 1. Der Kardinalst. Obwohl weder eine besondere Weihe- noch jurisdiktionelle Stufe bildend, gewinnen die römischen Kardinäle4,* neben ** denen es noch andere, in Deutschland

1 HostiensiS (§ 27, 3 b): intelliguntur pars corporis do mini. 1 Ursprünglich ----- Wahrzeichen (Kreuz), dann = Kirche, Amtsbezüge und feit Innozenz III. gesicherte- Einkommen überhaupt. Hinschius, Kr. I § 8 und oben S. 297 A. 5. 1 c 29 C XVII q 4 (Clermont 1130, Lateran II 1139):* Si quis suadente diabolo huius sacrilegii vicium incurrerit, quod in clericum vel monachum violentas manus iniecerit, anathematis vinculo subiaceat, et nullus episcoporum illum praesumat absolvere — Vorbehalt der Absolution — nisi mortis urgente periculo, donec apostolico conspectui presentetur et eius mandatum suscipiat. 4 cardo = Türangel, Hauptpunkt, also cardinalis: einer Hauptkirche in hervorragender Stdlung angehörig. Den roten Hut tragen die Kardinale seit 1245, Grauert, Magister Heinrich der Poet (§ 28) S. 107 f., 235 ff. Das älteste erhaltene Verzeichnis der römischen Kardinalste bei Kehr, Italia pontificia (§ 22) I p. 3, und darnach beiWerminghoff, VG. § 19 letzte Anm. BrixiuS, Die Mitglieder des Kardinalskollegiums von 1130—1181, Straßburger Phil. Diss., 1912.

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z. B. trierische, kölnische, ja sogar Aachener gibt, als Wähler, ständige Gehilfen, Berater, fratres und Gesandte des Papstes (§ 29), aber auch als Jnterimsregenten der Kirche den ersten Rang nach dem Papst, mit dem sie seit Nikolaus IV. 1289 (Bulle Caelestis altitudo) die wichtigsten kurialen Einkünfte zur Hälfte teilen.

H i n s ch i u s , Kr. I § 32; Wenck , Das Kardinalskollegium, Pr. Jbb. LIII, 1884 und Rel. in Gesch. u. Gegenw. III, 1912; Werminghoff, VG. §§ 19, 43, 44, 45; Sägmüller, Die Tätigkeit und Stellung der Kardinäle bis Bonifaz VIII., 1896, und Th. Q. LXXX, 1898 (dazu Wenck Gött. GA. CLXII, 1900, und dagegen wieder S ä g m ü l l e r , Die oligarchischen Tendenzen des Kardinalskollegs Th. Q. LXXXIII, 1901, Zur Tätigkeit und Stellung der Kardinäle bis Papst Bonifaz VIII., Th. Q. LXXXVIII, 1906); Kirsch, Die Finanzverwaltung des Kardinalkollegiums im 13. und 14. Jahrhundert, Kg. St. II, 4, 1895; Baumgarten, Untersuchungen und Urkunden über die Camera collegii cardinalium von 1295—1437, 1898, Aus Kanzlei und Kammer, 1907; Göller, Die constitutio: Ratio iuris und ihre Bedeutung für die camera apostolica, R. Q. XVI, 1902, Zur Stellung des päpstlichen Kamerars unter Klemens VII., A. f. k. Kr. LXXXIII, 1903; Kirsch, Note sur deux fonctionnaires de la chambre apostolique au 13 e siede, Melanges Paul Fabre, 1903 (vgl. auch § 34). 2. Die Metropolitangewalt. Dafür wird das ins metropoliticum der Erz­ bischöfe (archiepiscopus aber auch ein ausgezeichneter Bischof ohne Provinz und Metropolitan­ gewalt) von dem universalen Papsttum systematisch beschnitten und in Abhängigkeit gebracht; am Schluß unserer Periode büßen sie z. B. das Bestätigungs- und Weiherecht für die Sussragane ein, und schon seit Gregor VII. ist der Erwerb der Weiherechte vom Palliumempfang abhängig gemacht. Die orientalischen Patriarchate leben infolge der Kreuzzüge, in Unterordnung unter Rom (1215: Gehorsamseid, Palliumbezug), freilich nur vorübergehend, wieder aus; Landes­ primate wie der Mainzer, Trierer und Salzburger bedeuten nicht viel mehr als Titel.

H i n s ch i u s , Kr. II §§ 76, 77, III § 173; Luchaire, Manuel §§ 13—18; Werming­ hoff, VG. § 31 mit einer Übersicht über die Gliederung der deutschen Kirche im Mittelalter, §§ 38, 48; Hübner, Die Provinzialsynoden im Erzbistum Salzburg, Deutsche Geschichtsbl. X, 1909, XIV, 1913. 3. Der Bischof, Ordinarius, dioecesanus, dessen jurisdiktionelle Zuständigkeit unter Klemens IV. (1265—68) und Bonifaz VIII. genauer bestimmt wird (Weiheermächtigungen, litterae dimissoriae durch den episcopus proprius — § 64 — seit Innozenz III.), gewann, soweit nicht die zahlreichen Exemtionen seine Regierungsgewalt örtlich oder für bestimmte Personen­ kreise (Orden!) einschränkten, wieder die alte überragende Stellung, allerdings in strenger Unterordnung unter den Papst (apostolicae sedis gratia episcopus feit dem 11. Jahrhundert; seit 1059 auch der von Gregor IX. an gemeinrechtliche, den Lehenseid nachahmende Obödienzeid). Doch werden die durch das germanische Recht für die Diözesanämter und -geistlichen ge­ schaffenen Rechtsgarantien zwar der Handhabung durch die Laien entzogen, aber nicht beseitigt. Nach römischem Muster bestellte Indices delegati, die im 13. Jahrhundert statt des Bischofs in den süddeutschen Bistümern kollegialisch Recht sprechen, werden daselbst bald ersetzt durch bischöf­ liche Einzelrichter, officiales principales (daneben officiales foranei für Teilgebiete) nach fran­ zösischem Vorbild, wie sie die norddeutschen Diözesen als kraft Benefizialrechtes bestellte Ver­ treter seit der zweiten Hälfte des genannten Jahrhunderts von vornherein und ausschließlich kennen. Sie sind auf Widerruf eingesetzte Amtsträger mit Gehalt und mit mandierter iurisdictio ordinaria (daher Wegfall beim Tode des Bischofs und Appellation nicht an diesen, sondern an die höhere Instanz) für die streitige und die freiwillige Gerichtsbarkeit sowie für Verwaltungs­ geschäfte.

Hinschius, Kr. III §• 1561; Werminghoff, VG. §§ 26, 27, 34,36,37,47; Fournier, Les officialites au moyen-äge, 1880; Barth, Das bischöfliche Beamtentum im Mittelalter, Zeitschr. d. Harzver. XXXIII, 1900; Riedner, Das Sp derer Offizialatsgericht, Mitt, d .hist. Ver. d. Pfalz, 29., 30. H., 1907 (auch sep.); O b e r, Die Entstehung des bischöflichen Hofrichteramtes, Straßb. Diözesanblatt, 1909; Hilling, Die Offiziale der Bischöfe von Halber­ stadt, Stutz, Kr. A., 72. H., 1911; vgl. auch die Lit. zu §§ 32, 40, 3; Evelt, Die Weihbischöfe von Paderborn, 1869, mit Nachtrag von 1879; Berliere, Les eveques auxiliaires de Cambrai et de Tournai, de Therouanne, de Liege, Rev. bened. XX, 1903, XXI, 1904, XXIV, 1907, XXIX, 1912 (alle drei auch separat); Curschmann, Die Diözese Brandenburg, 1906; Wenck, Die Stellung des Erzstiftes Mainz im Gange der deutschen Geschichte, Zeitschr. f. Hess. Gesch. XLIII,

Kirchenrecht.

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1909* Hauck, Die Entstehung der geistl. Territorien, Abh. d. Leipziger Ges. d. Miss, phil.-hist. Kl. 1909 u. Kg. Deutschlands V S. 66 f.; R i e d e r , Römische Quellen zur Konstanzer Bistumsaeschichte, 1908; Schmaltz, Die Begründung und Entwicklung der kirchlichen Organisation MeÄenburgs im Mittelalter, Jbb. d. Ver. f. Mecklenburg. Gesch. LXXII, 1908; Holder, Zur Geschichte der Basler Synodal- und Diözesanstatuten, Kath. Schweizerbl., 1904; Hauck, Die angeblichen Mainzer Statuten von 1261 und die Mainzer Synoden des 12. und 13. Jahrhunderts, Theol. Studien f. Zahn, 1908; Hübner, Die Passauer Diözesansynoden, 1911; Seppelt Die Breslauer Diözesansynode von 1446, 1912; vgl. die Lit. zu §§ 19, 3 und 21, 2, 3. 4. DieDomkapitel, gleich den Kollegiatstiftem nach Auslösung der vita communis und allgemeiner Verweltlichung seit dem Ende des 11. Jahrhunderts wenigstens zum Teil mönchisch 1 und nunmehr unter Verzicht aus weltlichen Einzelbesitz organisiert (canonici reguläres2 neben den saeculares), erhalten dem Bischof gegenüber eine ähnliche, nur machtvollere Stellung wie das Kardinalskollegium gegenüber dem Papst. Sie wählen ihn, wobei für alle Kapitels­ beschlüsse das Erfordernis der pars maior (absolutes Mehr) et sanior (größere kirchliche Zweck­ bewußtheit) gilt. Sie setzen ihm bei Geisteskrankheit einen coadiutor (seit Innozenz III.), oder werden von ihm befragt, falls er sich alters- oder krankheitshalber selbst einen Gehilfen nimmt; doch ist ein coadiutor cum iure succedendi stets vom Papst zu erbitten. Sie stehen ihm bei der Regierung des Bistums zur Seite, und zwar unterscheidet die Schule seit dem 13. Jahrhundert zwischen den Fällen des bloßen Consilium (wichtige Verwaltungsakte, Erlaß von Diözesan­ statuten u. a. m.) und denen des consensus (z. B. bei alienatio bonorum, innovatio beneiiciorum, d. h. Veränderung der Kirchenämter), in welchen beiden Nichteinholung und in welch letzterem Nichterteilung Nichtigkeit nach sich zieht. Sede vacante verwalten sie, in corpore oder im Turnus, die Diözese und die bischöfliche mensa; seit Bonifaz VIII. geht eben die bischöfliche Jurisdiktion alsbald nach der Erledigung auf das Kapitel über. Für die Besetzung der Kapitels­ pfründen gilt, eventuell nach vorangegangener, dem Anciennitätsprinzip folgender Option der vorhandenen canonici für das vakante Kanonilat, gemeinrechtlich das ius simultaneae collationis, alfo gemeinschaftlicher Bestellung durch Bischof und Kapitel; die Kapitelsstatuten gehen aber vor, und regelmäßig haben (wie bei manchen Klöstern) nur Angehörige des Herrenstandes Zutritt. Neben Vollkanonikern mit votum in capitulo, stallum in choro (Chorstuhl) und praebenda (daher c. in fructibus et floribus) stehen minderberechtigte (c. in herbis, eventuell in pulvere), besonders Anwärter, domicellares. Denn da seit dem 13. Jahrhundert die Kapitel geschlossen (clausa), d. h. auf eine bestimmte Pfründenzahl festgelegt waren, wurde die Erteilung von Anwartschaften, exspectantiae, üblich. Unter den Vollkanonikern wiederum unterschied man die Inhaber der Dignitäten (z. B. Propstei, Dechantei, Kustodie § 19, 2) mit Jurisdiktion und Ehrenvorrang, denen freilich in Deutschland ost auch der choriepiscopus u. A. ohne Jurisdiktion zugezählt wurden, und die der Personate 3, d. h. wohl der Kanonikate, mit denen ursprünglich Pfarrstellen an stiftischen Kirchen verbunden waren, später einfach derjenigen, die auf den Ehrenvorrang beschränkt waren, sowie die bloßen officia, welch letztere aber nicht mit den seit dem 13. Jahrhundert zahlreichen ständigen vicariae (zunächst für Bischof und Dignitäten) verwechselt werden dürfen, deren Inhaber gleich den chori socii (zur Vertretung beim Chor­ dienst) als Präsenz oder sonstwie organisiert, dem Kapitel zur Seite standen wie etwa die Geellen der Meisterschaft in den Zünften, nur ohne die Aussicht aus Aufrücken.

Mayer, Thesaurus novus iuris ecclesiastici, 4 Bde. 1791—95; Hinschius, Kr. II §§ 80in, 81i, 82 i, 88i, 89 114, 126; Luchaire, Manuel §§ 56, 57; W e r m i n g h o f f, VG. §§ 27, 32, 34, 35, wo auch reiche Literaturangaben; Schulte, Der Adel und die deutsche Kirche (§ 22) mit der von ihm und von Werminghoff, Z.3 f. RG. I, 1912 angeführten Lit.; Schäfer, Pfarrkirche und Stift (§ 19, 2); M o r i n , Reglements inGdits du pape 8. Gregoire VII pour les chanoines rßguliers, R. ben. XVIII, 1901; Winter, Die Prämonstratenser des 12. Jahr­ hunderts, 1865; Sägmüller, Die Bischofswahlbei Gratian, Görres-Ges. Sekt. f. Rechts-u. Sozialw. 1. H., 1908; Roland, Les chanoines et les dections du 11e au 14 e siede, 1909; Brunner, 1 Nach cluniacensischem Muster, so die Kongregation von St. Viktor bei Paris, oder nach cisterciensischem, so die Prämonstratenser (1120 PrSmontrS von Norbert gegründet). 2 Die Regel war aus den Schriften Augustins zusammengestellt; daher der Name AugustinerChorherren. 3 Beide werden in Deutschland zu den praelati gerechnet, während nach Dekretalenrecht dazu neben Nbten nur Bischöfe und höhere Jurisdiktionsinhaber gehören.

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Die Wahllapitulationen der Bischöfe von Konstanz, Z. f. Gesch. d. Lberrheins LII, 1898; Abert, Die Wahllapitulationen der Würzburger Bischöfe, Arch. d. hist. Ber. von Unterfranken, XLVI, 1906; Weigel, Die Wahllapitulationen der Bamberger Bischöfe, 1909; Stimming, Die Wahllapitulationen der Erzbischöfe . . . von Mainz, 1909; Kremer, Studien zur Geschichte der Trierer Wahllapitulationen, Wesweutsche Zeitschr., 16. Ergh., 1911; v. Wretschko, Zur Frage der Besetzung de- erzbischöflichen Stuhles in Salzburg, Mitt. d. Ges. f. Salzburger Landeskunde XLVII, 1907; Haid, Die Besetzung des Bistums Brixen (1260—1376), Publ. d. österr. hist. Inst. II, 1912; Fuchs, Die Besetzung der deutschen Bistümer unter Papst Gregor IX. und bis zum Regierungsantritt Papst Innozenz' IV., Berliner Phil. Diss., 1911; vgl. auch die Lil. zu § 24. I. Gierke, Darf bei Kapitelswahlen hinsichtlich der Feststellung der absoluten Majorität der contemptus mit in Anschlag gebracht werden? D. Z. f. Kr. X, 1901; v. Wretschko, Die electio communis bei den kirchlichen Wahlen im Mittelalter, D. Z. f. Kr. XI, 1902; Friedens­ burg, Jnformativprozesse über deutsche Kirchen in vortridentinischer Zeit, Q. u. F. aus ital. Arch. I, 1898; Sägmüller, Der priesterliche Ordo des Archipresbyters (Dekans), H. Jb. XXIX, 1908; Zschokke, Geschichte des Metropolitankapitels -um hl. Stephan in Wien, 1895; Brackmann, Urkundliche Geschichte des Halberstadter Domkapitels im Mittelalter, Gott. Phil. Diss., 1898; v. Brunn, gen. v. Kauffungen, Das Domkapitel von Meißen im Mittel­ alter, Leipziger Phil. Diss. (auch Mitt. d. Ber. f. d. Gesch. d. Stadt Meißen VI), 1902; Maring, Diözesansynoden und Domherren-Generalkapitel des Stiftes Hildesheim, Q. u. Darst. Gesch. Niedersachsens, XX, 1906; Gnann, Beiträge zur Berfassungsgeschichte der Domkapitel von Basel und Speier, Freiburger Diöz.-Arch. XXXIV, 1906 (auch Tübinger Phil. Diss.); B a st g e n , Die Geschichte des Trierer Domkapitels im Mittelalter, GörreS-Ges. Sekt. f. Rechts- u. Sozialw. 7. H., 1910; v. Kohlhagen, Das Domkapitel des alten Bistums Bamberg, 1907; Görres, Da- Lütticher Domkapitel, Berliner phll. Diss., 1907; Müller, Das bremische Domkapitel, Greifs­ walder phll. Diss., 1907; Ohlberger, Geschichte des Paderborner Domkapitels, Münst. Phil. Diss. (auch Beitt. z. Gesch. Niedersachsens, 28. H.), 1911; Leuze, Das Augsburger Domkapitel, Zeitschr. d. hist. Ber. f. Schwaben XXXV, 1909; Biskemp, Das Mainzer Domkapitel bizum Ausgang des 13. Jahrhunderts, Marburger Phil. Diss., 1909; Starflinger, Die Ent­ wicklung der Domvogtei in den altbayerischen Bistümern I, Münch, phll. Difi., 1908, II, Ludwigs­ hafener Proar., 1909; Riedner, Besitzungen und Einkünfte des Augsburger Domkapitels, Arch. f. Gesch. d. Höchst. Augsburg, I, 1909; Hagemann, Das Osnabrücker Domkapitel, Greifswalder phll. Diss., 1910; Not 1 arp, Die Vermögensverwaltung des münsterischen Dom­ kapitels, Münst. phll. Diss., 1909, Zur Wirtschaftsgeschichte des münsterschen Domkapitels, West­ deutsche Zeitschrift XXIX, 1910; Range, Die Entwicklung des Merseburger Domkapitel, Greifswalder phll. Diss., 1910; Bückmann, Das Domkapitel zu Berden, Beitr. f. d. Gesch. Niedersachsens, 34 H., 1912; Pottel, Das Domkapitel von Ernlland, Königsberger phll. Diss., 1912: Weber, Das Domkapitel von Magdeburg bis 1567, Hall. Phil. Diss., 1912; Schäfer, Die Kanonissenstister (§ 6). 5. SonstigesÄmterrecht; Inkorporation. Neben den Temporalien des Amtes (beneiicium) kommen nunmehr die Spiritualien (officium) und die damit verbundenen öffentlichen Amtspflichten (z. B. zur Residenz seit 1179) wieder mehr zur Geltung, wiewohl die kirchlichen Stellen auch weiterhin schlechtweg als beneficia bezeichnet werden und über­ haupt dem weltlichen Lehensverband nunmehr eine kirchliche, im Papste gipselnde Feudal­ hierarchie gegenübertritt (Devolutionsrecht § 73). Damit hängen zusammen das Unwesen der Amterhäufung, der die römische Synode von 1059 und nach ihr das 3. und 4. Laterankonzil, namentlich wegen des Mißbrauchs der den Päpsten eingeräumten Dispensationsbesugnis, um­ sonst entgegentreten *, und das andere der Verleihung von Kommenden, d. h. von Psründen nicht zu Amts-, sondern zu bloßen Nutzungszwecken, seit 1274 verboten, aber ebenfalls selbst an höheren Benesizien und an Abteien vom Papsttum immer wieder geübt. Dazu kam die Inkorporation, entstanden durch die Aufrechterhaltung des im übrigen beseitigten Eigenkirchenrechts zugunsten der Klöster und durch den systematischen Ausbau desselben unter dem neuen Namen mit Gestattung der bisher verbotenen Verwendung von Regularen oder bloßen Vikaren (§ 20,1) bei den den Klöstern gehörigen Kirchen. Mithin bedeutete die Neueinverleibung einer Pfarrkirche vor allem den Untergang ihrer Rechtspersönlichkeit und den Anfall ihres Ver­ mögens an das begünstigte Institut (Kloster, Stift, Universität, Spital). Das Pfarramt blieb erhallen und wurde durch einen vicarius perpetuus mit Psarreigenschaft versehen, den der Be­ günstigte präsentierte und notdürftig zu erhalten hatte (portio congrua). So bei der incorporatio quoad temporalia oder minus plena. Bei der weitergehenden incorporatio quoad temporalia 1 Nach zuverlässigen Angaben des 15. Jahrhunderts kamen Häufungen von 200—300 Pfründen in einer Hand vor.

Kirchenrecht.

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et spiritualia oder pleno iure verschwand auch das Pfarramt; das Kloster usw. als solches war fortan Pfarrer und versah den Dienst durch einen exponierten Mönch (Expositur) oder einen von ihm ernannten amovibeln Bilar. Endlich war unter Umständen auch die Einverleibung der bischöflichen Jurisdiktionsrechte möglich, incorporatio plenissimo iure. Die durch diese Maß­ regeln bezweckte Einziehung des niederen Weltlirchenguts zugunsten der Klöster wurde in jedem Fall erreicht. H i n s ch i u s , Kr. III §§ 143, 168 i, 16S l; Werminghoss, BG. § 38; Eubel, In commendam verliehene Abteien (1431—1503), Bened. St. M. XXI, 1900; Hins chius, Zur Geschichte der Inkorporation, in den Berliner Festgaben für Hefster, 1873, und in seinem Kr. II § 109; Schneller, Die Inkorporation, 1900; Woltersdorf, Die Rechtsverhält­ nisse der Greifswalder Pfarrkirchen im Mittelalter, 1888; Stutz, Das Münster zu Freiburg i. Br., 1901, Gratian und die Eigenkirchen (§ 24); Froger, Une abbaye (S. Calais) aux 14® et 16® siicles, R. q. b. LXXI, 1902; Schneider, Der Traktat De limitibus parochiarum deS Konrad von Megenberg, H. Jb. XXV, 1904; Baier, Ein Beitrag zur Geschichte und Bedeutung der Exemtion, Z. f. Gesch. d. Oberrheins LXIV, 1910, Aus Konstanzer Domkapitelsprotokollen (1487—1624), Z. f. Gesch. d. Oberrheins, LXVI, 1912: Wagner, Die Kirchenbaulasten für inkorporierte Kirchen im Mainzer Erzbistum, D. Z. f. Kr. XXII, 1912.

8 31.

Die Laien.

Die Laien kommen fast nur noch als Regiemngsobjekte in Betracht. 1. Patronatrecht; er st e Bitte. Wo es nicht angeht, ihren Einfluß ganz zu beseitigen, wird er wenigstens rechtlich unschädlich gemacht. Der an Stelle des Eigenkirchen­ rechts getretene Patwnat, natürlich auch Geistlichen zugestanden, toirb von Alexander III. als ins spirituali adnexum erklärt, was seine Unterstellung unter die kirchliche Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit und praktisch die Verfügung der Kirche über seinen Inhalt mit der Möglichkeit einer allmählichen Herabminderung bedeutet. In Anknüpfung an ehemalige Zubehörkirchen von Fronhöfen usw. wird in Deutschland der dingliche, mit dem jeweüigen (Unter-) Eigentum an einem Grundstück veckundene Patwnat durchaus Regel. In den Patwnat kleiden sich jetzt auch ehemalige freie Gemeindewahlrechte. Die städtischen Bürgerschaften präsentieren den von ihnen gewählten Pfarrer entweder direkt an den Bischof oder durch den Stadtherm alS Patwn, dem gegenüber sie ein Subpräsentations- oder Nominationsrecht besitzen. Sie greifen übrigens, zumal nachdem sie die durch Inkorporation in die Stifter (§§ 19, 2; 30, 6) ihres alten Stiftungsguts beraubten Kirchen neu dotiert haben, auch kräftig in die Kirchengutsverwaltung ein (städtische Kirchenfabriken). Endlich nehmen, mindestens seit dem 13. Jahrhundert, und zwar ohne anders als vorübergehend um die kirchliche Anerkennung sich zu bemühen, die deufichen Kaiser und Könige, bald auch die geistlichen und weltlichen Landesherren das Recht in Anspruch, einmal nach ihrer Krönung bezw. nach dem Regierungsantritte von jedem verleihungsberechtigten Stift oder Kloster die Übertragung einer Pfründe oder eines Vikariats (gelegentlich auch an

niederen Kirchen) an eine von ihnen bezeichnete Person, den precista, oder dessen Aufnahme als Kanoniker, Mönch oder Nonne zu verlangen, ius primariarum precum1. * * Hinschius, Kr. n §§ 128 m, 129, 111 § 141; W e r min g h o f f, BG. §§23,28,29,38; Stutz, Eigenkirche (§ 7), Münster zu Freiburg (§ 30, 6), Z.8 f. RG. III, 1913; Rietschel, Die Städtepolitik Heinrichs des Löwen, H. Z. CII, 1909; Wahrmund, DaS Kirchenpatronatrecht und seine Entwicklung in Österreich, 2 Bde., 1894—96; Schindler, Zur geschichtlichen Entwicklung deS Laienpatronats und deS geistlichen Patronats nach germanischem und kanonischem Recht, A. f. k. Kr. LXXXV, 1906; Lossen, Pfälzische Patronatpfründen vor der Reformation, Freiburger Diöz.Arch. XXXVIII, 1910; Künstle, Die deutsche Pfarrei und ihr Recht zu Ausgang des Mittelalters, Stutz, Kr. A., 26. H., 1906; Kallen, Die oberschwäbischen Pfründen des BiStumS Konstanz unb ihre Besetzung (1276—1608), Stutz, Kr. A., 46. u. 46. H., 1907; A. O. Meyer, Studien zur Vorgeschichte der Reformation aus schlesischen Quellen, Breslauer phll. Diss., 1907; K. Müller, Die Eßlinger Pfarrkirche im Mittelalter, Württ. Biertelj.H. XVI, 1907; Rauscher, Die Prädikaturen Württembergs vor der Reformation, Württ. Jbb. f. Statist., 1908; Mehring, Stift Lorch, Quellen zur Gesch. einer Pfarrkirche, Württ. Gesch.-Q. XII, 1911; Berbig, Die Messen und deren Einkommen bei der St. Morizkirche zu Coburg, D. Z. f. Kr. XX, 1911; Schiller,

1 Darüber wird demnächst auf Grund reichen Quellenmaterials in Stutz, Kr. A. handeln: Bauer, Das Recht der Ersten Bitte bei den deutschen Königen und Fürsten bis zum BaSler Konzil.

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Ulrich Stutz.

Bürgerschaft und Geistlichkeit in Goslar (1290—1365), Stutz, Kr. A., 77. H., 1912; Schmidt, Urkunden und Akten aus dem Dekanatsarchiv Stilfes (1300—1810), 1912; Heck, Das Kirchen­ wesen der Stadt Hanau a. M., Z. f. Hess. Gesch. XLVI, 1912; Heepe, Die Organisation der Altarpfründen an den Pfarrkirchen der Stadt Braunschweig im Mittelalter, Göttinger Phil. Diss. (auch im Jb. d. Gesch.-Ver. f. d. Herz. Braunschweig XII), 1913: Keussen, Topographie der Stadt Köln im Mittelalter, 2 Bde., 1910; Tamassia, Chiesa e populo, Arch. giuridico XLVI, 1901; Moresco, Le parrochie gentilizie genovesi, Riv. ital. per le scienze giur. XXXI, 1902; Schweizer, Das Gemeindepatronatsrecht in den Urkantonen, Z. f. Schweiz. Recht XLVI, 1905; Müller,. Das Kirchenpatronatsrecht im Kanton Zug, Geschichtsfreund der V Orte, LXVII, 1912; Dobiache-Rojdestvensky,Lavie paroissiale en France au 13 e Mele, 1911; Arens, Der Über Ordinarius der Essener Stiftskirche, 1908; Falk, Die pfarramtlichen Aufzeichnungen des Florentius Diel zu . . . Mainz, Erläuterungen zu Janssens Gesch. IV, 3, 1904; Greving, Joh. Ecks Pfarrbuch, Grevings Reformationsgesch. Studien, 4./5. H., 1908; Löhr, Methodisch-kritische Beiträge zur Geschichte der Sittlichkeit des Klerus ... am Ausgang des Mittel­ alters, Grevings Reformationsgesch. Studien, 17. H., 1910, sowie Schäfer, R. Q. XX, 1906, XXIII, 1909; Hashagen und Sauerland, Westdeutsche Zeitschrift XXIII, 1904, XXVII, 249 ff., 1908; Störmann, Die städtischen Gravamina gegen den Klerus am Ausgang des Mittel­ alters und in der Reformationszeit, Münst. Phil. Diss., 1912; Uhlirz , Die Rechnungen des Kirch­ meisteramts vom h. Stephan zu Wien (1404—1535), I, II, 1902; Kothe, Kirchliche Zustände Straßburgs im 14. Jahrhundert, 1903; Bredt, Das Eigentum am Straßburger Münster. 1903; Coulin, Eine neue Urkunde König Sigmunds und ihre Bedeutung für die Kenntnis des preces primariae, M. d. I. f. ö. G. XXXIII, 1912, Hatschek, Englische VG. (§ 18,1) S. 262 ff., 313 f. 2. Sonst werden die Laien vom Klerus nur geleitet1. Im Buß­ wesen behält Innozenz III., seitdem die Mindestvorschrift österlicher Beichte und Kommunion besteht (praeceptum paschale), die Sündenvergebung dem Priester vor, dessen Absolutions­ sentenz wie das germanische Urteil der Leistung, nämlich den Bußwerken, vorangeht, also Zwischen- und Endurteil zugleich ist. In anderer Beziehung erhält die Kirche die Herrschaft über laikale Lebensverhältnisse durch die von Petrus Lombardus und Thomas von Aquino zu unbestrittener Anerkennung gebrachte Sakramentsnatur der Ehe. Denn diese bedingt die Unter­ stellung der Ehe nicht bloß unter die kirchliche Gerichtsbarkeit, die sich ja schon geraume Zeit angebahnt hatte, sondern auch unter die kirchliche Gesetzgebung. Es entwickelt sich ein reiches und fein durchgebildetes kanonisches Eherecht, das zwar für die Eheschließung nichts abträgt, sondem im Gegenteil mit der von ihm in den germanischrechtlichen Gebieten zum Sieg ge­ brachten, verflüchtigten römischen Formlosigkeit eher einen Rückschritt herbeiführt, wie auch die nach ihm vermöge vermuteten affectus maritalis gegebene Möglichkeit, das Verlöbnis (sponsalia de futuro) durch copula carnalis in die Ehe (sponsalia de praesenti) überzuführen, Bedenken erregt, das aber anderseits, indem es die Gleichstellung von Mann und Weib er­ zwingt, die Verwandtenehen zurückdrängt und dem Prinzip der Unauflöslichkeit der Ehe zum Sieg verhilft, ein bleibendes Verdienst um die sittliche Hebung der Ehe erwirbt. Freilich wird die fast einer Verunmöglichung gleichkommende Erschwerung der Scheidung nur erkauft durch eine gewaltige Steigerung der Annullationsgelegenheit; die Lehre von den Ehehindernissen erlangt eine ungeahnte Ausgestaltung.

Hinschius, Kr. IV § 203ui; W ermingh off, VG. § 41; K. Müller, Der Um­ schwung in der Lehre von der Buße während des 12. Jahrhunderts, Theol. Abhdl. für Weiz­ säcker, 1892; Kirsch, Der sacerdos proprius in der abendländischen Kirche vor 1215, A. f. k. Kr. LXXXIV, 1904; Bruders, Die allmähliche Einführung läßlicher Sünden in das Bekenntnis der Beichte, Z. f. k. Th. XXXIV, 1910; Laurain, De ^Intervention (§5); Gromer, Die Laienbeicht im Mittelalter, Veröff. a. d. Münchner kirchenhist. Sem. III 7, 1909 und dazu Gillmann, Kath. XCIII, 1913; Haring, Die Armensünderkommunion, 1912 (dazu Gillmann, A. f. k. Kr. XCIII, 1913); Schmitz, Sühnewallfahrten im Mittelalter, Bonner phil. Diss., 1910; Cox, The sanctuaries and sanctuary seekers, 1911; Heath. Pilgrim life in the middle ages, 1911; Friedberg, Das Recht der Eheschließung, 1865; Sohm, Das Recht der Eheschließung, 1875; Freisen (§ 14); Es mein, Le mariage en droit canonique, 2 vol.., 1891; Brandileone, Saggi sulla storia della celebrazione del matrL monio in Italia, 1906; Chenon, Recherches historiques sur quelques rites nuptiaux, N. r. h. XXXVI, 1912; v. Hörmann, Die Desponsatio impuberum, 1891, Quasiaffinität, I, II 1, 1897, 1906; Scharnagl, Das feierliche Gelübde als Ehehindernis, Straßburger Theol.

1 Die Bulle: Unam sanctam nimmt nicht bloß jeden Christen, sondern omnis humana creatura für die Beherrschung durch den Papst in Anspruch; Juden und Heiden sind nicht in, wohl aber sub ecclesia. Endemann, Studien in der romanisch-kanonistischen Wirtschafts- und Rechtslehre I, 1874, II, 1883; Hinschius, Kr. V § 280.

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Studien IX, 1908; v. Hussarek, Die bedingte Eheschließung, 1892; Köstler, Die väterliche Ehebewilligung, Stutz, Kr. A., 51. H., 1908; Sehling, Zur Lehre von den Willensmängeln im kanonischen Recht, Erlanger Festschrift, 1901; Schoen, Beziehungen zwischen Staat und Kirche auf dem Gebiet des Eherechts, Göttinger Festschr. f. Regelsberger, 1901; Fahrner (§ 21, 2); Dumas, Histoire de Findissolubilite du mariage en droit frantjais, These, 1902, Böckenh off, Die römische Kirche und die Speisesatzungen, Th. Q, LXXXVIII, 1906, Speise­ satzungen mosaischer Art in mittelalterlichen Kirchenrechtsquellen, 1907; vgl. auch die Lit. zu §§ 21, 2, 3, 26, 3 und 87.

§ 32. Die streitige Gerichtsbarkeit. Die Ehesachen machen einen Hauptbestandteil der Streitgegenstände aus, die nach dem Dekretalenrecht, weil rein geistlicher Natur (causae mere spirituales), vor den geistlichen Richter gehören. Mit den Patronat- (§ 31,1), Pfründ- und Zehntstreitigkeiten zieht er auch Verlöbnis-, Dotal-, Status-, Testaments- und mit einem Eid bestärkte Vertragsangelegenheiten als spiritualibus annexae oder mixtae vor sein Forum, wozu dann noch die Streitigkeiten der miserabiles personae, also der Armen, Witwen, Waisen, Kreuzfahrer, kommen, von Rechtsverweigerungs­ fällen und den causae clericorum, die, wenigstens wenn der Beklagte Kleriker war, selbst­ verständlich vom geistlichen Gericht beansprucht wurden, ganz abgesehen. Diese Ausdehnung der geistlichen Gerichtsbarkeit begegnete zwar in den Städten einer zum Teil erfolgreichen Opposition, fand aber im allgemeinen Anklang, weil das schriftliche Verfahren und die durch die Verkrüppelung der weltlichen Gerichtsbarkeit erst zu voller Wertschätzung gelangende Sicher­ heit der Vollstreckung sie dem Rechtsuchenden erwünscht machten. Luchaire, Manuel §§ 65, 279; Werminghoff, VG. § 28; v. BethmannHollweg, Der Civilprozeß des gemeinen Rechts, VI, 1, 1874; Jacobi, Der Prozeß im Decretum Gratiani und bei den ältesten Dekretisten, Z? f. RG. III, 1913; Ott, Kirchliche Gerichts­ barkeit, Osterr. Staatswörterbuch 2, III, 1907; Groß, Die Beweistheorie im kanonischen Prozeß, 2 Teile, 1867, 1880; Wahrmund, Der Parvus Ordinarius, A. f. k. Kr. LXXXI, 1901, Actor et reus, A. f. k. Kr. LXXIX, 1899, Quellen zur Geschichte des römisch-kanonischen Prozesses im Mittelalter I, 1905—07, II, 1, 1913; Beauchet, Origines de la juridiction ecclesiastique et son developpement en France jusqu’au 13e siede, N. r. h. VII, 1883; P. Fournier, Les conflits de juridiction entre Peglise et le pouvoir sSculier (1180—1328), R. q. h. XXVII, 1880; Rieder, Das geistliche Gericht des Hochstifts Konstanz in Zürich, A. f. k. Kr. LXXXIII, 1903; Tadra, Acta iudiciaria consistorii Pragensis, I—VII (1373—1424), 1893 ff. (auch im Historicky Archiv); Ulanowski, Acta capitulorum necnon iudiciorum ecclesiasticorum selecta (Gnesen-Posen 1403—1530), I, 11 (— Mon. medii aevi hist, res gestas Poloniae illustr. XIII. XVI) 1894, 1902; Maschke, Aus dem Urteilsbuch des geistlichen Gerichts Augsburg, Festgabe f. Hänel, 1907; G 6 n e s t a 1, Le Procds sur l’ßtat de eiere, Ücole prat. des Hautes Stüdes, Sect. de sc. rel., 1909; Ober, Die Rezeption der kanonischen Zivilprozeßsormen. . . im geistlichen Gericht zu Straßburg, A. f. k. Kr. XC, 1910; vgl. auch die Lit. zu § 30, 3.

§ 33. Strafrecht und Strafverfahren, Ketzerinquisition. Auch das kanonische Strafrecht ist universal und, wennschon nur von Fall zu Fall ent­ standen, wissenschaftlich durchgebildet. Doch dient auch es der Beherrschung der Welt, deren Obrigkeit sich ihrer Aufgabe ja so wenig gewachsen zeigt, daß die Kirche ihr sogar die Friedens­ bewahrung abnimmt im Institut des Gottesfriedens, treuga Dei (in Südfrankreich seit 1040) mit seinen gebundenen Tagen (Donnerstag bis Montag) und seinem Dauerschutz für Leute und Werkzeuge des Friedens (Bauern, Arbeitsgerät). Und es ist ausgesprochen hierarchisch, geht also namentlich aus auf den Schutz der kirchlichen Amtsträger und des kirchlichen Eigen­ tums (Qualifizierung des Raubs, Diebstahls und der sonstigen Verletzung von Kirchengut) und erstrebt besonders im Disziplinarstrafrecht die Durchführung des Zölibats, die Sicherung der Freiheit der kirchlichen Wahlen, die Ahndung der Simonie. Für solche Zwecke benutzt es un­ bedenklich auch Strafmittel, die Unschuldige mittreffen, wofür die häufige Verwendung des Lokalinterdikts, zumal als interdictum ambulatorium, d. h. für den jeweiligen Aufenthaltsort des Verbrechers, und die Bestrafung der Nachkommen für Delikte ihrer Vorfahren (seit dem 13. Jahrhundert bei Ketzerei) Beispiele sind. Auch die Verhängung der Exkommunikation zu Exekutionszwecken für Geldforderungen (z. B. der Kurie auf Verleihungsgebühren) begreift sich nur vom Standpunkt der mittelalterlichen Vermengung geistlicher und materieller Dinge aus. Gerade die übertriebene Härte veranlaßte aber auch wieder Abschwächungen, die schließlich Enzyklopädie der Rechtswissenschaft. 7. der Neubearb. 2. Ausl. Band V. 22

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die Strafmittel abstumpften. So mußte für den Fall des Interdikts zunächst durch Privilegien, dann aber allgemein durch Bonifaz VIII. die Spendung des Bußsakramentes, das Messelesen bei verschlossenen Türen und die Abhaltung öffentlicher Festgottesdienste gestattet werden.

H i n s ch i u s , Kr. V §§ 265, 271—275, 281; Huberti, Studien zur Rechtsgeschichte der Gottesfrieden und Landfrieden, 1892; Byloff, Das Verbrechen der Zauberei (crimen magiae), 1902; S c h i a p p o 1 i, Responsabilita penale senza dolo o colpa nel diritto canonico, Studi ... in onore di . .. Scialoja, II, 1905; Vaca ndard, Etüde historique et critique sur le pouvoir coercitif de l’Eglise, R. du clerge frang. XLV 1905, XLVI, 1906 (auch sep. 1907); K r e b i e h 1 , The interdict, its history and its Operation, 1909; Weber, A history of simony in the Christian church, 1909; Vernay, Le Liber de excommunicacione du Cardinal Berenger Fredol, 1912 (und dazu V i o 11 e t, in der Histoire litter. de la France XXXIV, 1911, p. 1 ss.) Die päpstliche und die bischöfliche Strafgewalt werden gesteigert, wogegen die priesterliche nunmehr verschwindet. Bei der Exkommunikation wird die auf den Verkehr mit dem Gebannten gesetzte Strafe auf die excommunicatio minor ermäßigt. Die Amtsenthebung spezialisiert sich dank der Verkirchlichung des Benefizialwesens in die drei Arten der suspensio ab ordine, ab officio, a beneficio, wie auch die Amtsentsetzung bei häufiger werdender privatio beneficii in die schlichte depositio und in die mit dem Verlust der geistlichen Standesrechte verbundene, die Ausliefer­ barkeit an den weltlichen Richter nach sich ziehende, feierlich und ausdrücklich verhängte degradatio (seit Innozenz III.) auseinandergeht. Auf Gratian führt sich zurück die infamia ecclesiastica, der seit Bonifaz VIII. namentlich der tätliche Angreifer eines Kardinals verfällt. Im Straf­ verfahren gelangen Neuerungen von weltgeschichtlicher Bedeutung zum Durchbruch. Zunächst hat nunmehr jedem auf Exkommunikation gerichteten Verfahren eine dreimalige Mahnung (monitio evangelica oder canonica) voraufzugehen. Die Einleitung des Strafverfahrens aber geschieht nach Innozenz' III. epochemachender Bestimmung auf dem Laterankonzil 1215 ent­ weder per accusationem (alter Anklageprozeß) oder per denunciationem, indem nach fruchtloser caritativa correctio, d. h. Mahnung zur Besserung, der Richter durch die Denunziation zum Einschreiten von Amts wegen veranlaßt wird, oder endlich per inquisitionem, wofür clamosa insinuatio, also wiederholte Verzeigung, oder publica fama, d. h. Diffamation durch Gerücht Voraussetzung ist, und worauf das Offizialverfahren (aber nie auf degradatio) anhebt. Mit letzterem ist das Jnquisitionsverfahren Gemeingut des abendländischen Prozeßrechts geworden. Ohne Verfahren trat Bestrafung ein bei notorium (delicta manifesta, quae iudiciarium ordinem non requirunt; hier kam es zu einer bloßen Promulgationssentenz) oder bei freiwilliger Unter­ werfung. Beweismittel war namentlich der Reinigungseid mit Helfern, purgatio canonica (Gegensatz: p. vulgaris .durch Gottesurteil). Das Verfahren richtete sich seit dem 12. Jahr­ hundert, insbesondere wegen Ketzerei, auch gegen Tote und konnte zur Ausgrabung des Leichnams aus der geweihten Erde führen (aber auch Absolution von Toten). H i n s ch i u s , Kr. V §§ 261, 262, 264, 278, 280, 282, 284, 285; Hausmann, Geschichte der päpstlichen Reservatfälle, 1868; R. Schmidt, Die Herkunft des Jnquisitionsprozesses, Frei­ burger Festschrift, 1902; Lex, Das kirchliche Begräbnisrecht, 1904.

Die furchtbarste Verirrung der mittelalterlichen Zwangskirche wurde die Ketzerinquisition, die ihren Anfang nahm, als seit dem 12. Jahrhundert häretische Bewegungen, wie die der fran­ zösischen Katharer (daher Ketzer), in bedrohlicher Weise um sich griffen 1, und das Papsttum, anfänglich in Konkurrenz mit den bisher zuständigen Bischöfen, die Ketzerverfolgung in die Hand zu nehmen sich veranlaßt sah (1227 Gregor IX.). Zunächst wurden für die Aufspürung der Ketzer päpstliche Inquisitoren aus dem Dominikaner-, dann auch aus dem Franziskaner­ orden bestellt, welche bald auch die Rechtsprechung übernahmen. Das Verfahren wies gegen­ über dem gewöhnlichen per inquisitionem die Besonderheit auf, daß die Namen des Anklägers und der Zeugen verschwiegen werden mußten, daß auch Infame und sonst Zeugnisunfähige als Zeugen zugelassen wurden, und daß man, nötigenfalls unter Anwendung der Folter, unter allen Umständen ein Geständnis zu erzielen suchte. Die ordentliche Ketzerstrafe war seit Friedrich II. (§ 25) die durch die weltliche Obrigkeit zu vollziehende Verbrennung. In Deutsch1 Im Zusammenhang hiermit fand Wohl auch die refolutiv bedingte Taufe Aufnahme ins Dekretalenrecht.

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land haben der Fanatismus und das blutige Ende des ersten Ketzerrichters, Konrad von Marburg (1231—33), wenigstens die heilsame Wirkung gehabt, daß man noch ein Jahrhundert lang von päpstlichen Ketzerrichtern verschont blieb.

Hinfchius, Kr. V §§ 286, 289—97; Hansen, Zauberwahn, Inquisition und Hexen­ prozeß im Mittelalter, 1900, Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hexenwahns, 1901; L e a , A history of the Inquisition of the Middle Ages I—III, 1888 (französisch von Reinach, 3 vol., 1900/02, deutsch von Hansen , 3 Bde., 1905—13, und dazu Baumgarten, Die Werke von Henri Charles Lea, 1908); Fredericq, Corpus documentorum inquisitionis haereticae pravitatis Neerlandicae I—V, 1889—1906; Ficker, Die gesetzliche Einführung der Todesstrafe für Ketzerei, M. d. I. f. ö. G. I, 1880; Henner, Beiträge zur Organisation und Kompetenz der päpstlichen Ketzergerichte, 1890; Theloe, Die Ketzerverfolgungen im 11. und 12. Jahrhundert, Abh. z. Mittl. und Neueren Gesch. von v. Below, Finke, Meinecke, 48. H., 1913; Havet, L’heresie et le bras seculier au moyen äge jusqu’au 13e siede, 1881; Mulinier, L’inquisition dans le midi de la France, 1880, L’Eglise et la societe cathare, R. h. XCIV, 1907; T a n o n , Histoire des tribunaux de l’inquisition en France, 1893; Douais, La formule: communicato virorum bonorum consilio des sentences inquisitoriales, M. a. XI, 1898, S.-Raymond de Penafort et les heretiques, ebenda XII, 1899, Documents pour servir ä l’histoire de l’inquisition dans le midi de France, 2 vol., 1901, La procedure inquisitoriale en Languedoc au 14e siede, 1900, L’inquisi­ tion, sesorigines,saprocedure, 1909; Vacandard, L’inquisition, 1909, Laquestionalbigeoise, 1910 (auch in seinen Etudes de critique et d’hist. rel.); M a i 11 e t, L’Eglise et la repression sanglante de l’heresie, Bibi, de lafac. de ph.il« de Liege XVI, 1909; de Cauzons, Histoire de l’inquisition en France 1,1909, II, 1912; Braun, Die Bekämpfung der Ketzerei in Deutschland, A. f. Kulturgeschichte IX, 1912; Brunner, Ketzerei und Inquisition in der Mark Brandenburg, 1904; Flade, Römische Inquisition in Mitteldeutschland, Beitr. z. sächs. Kg., 11. H., 1896, Das römische Jnquisitionsverfahren in Deutschland bis zu den Hexenprozessen, 1903; vgl. auch die Lit. zu § 29, 2 und 3 b, § 30, § 40; Krauß, Im Kerker vor und nach Christus, 1895.

§ 34. Das Vermögensrecht. Die Beseitigung der germanischen Eigenherrschaft über höhere und niedere Kirchen be­ wirkt, daß die Kirchen samt dem mit ihnen verbundenen, in Benefizial- und Fabrikgut (§ 20, 1) geschiedenen Sondervermögen regelmäßig aus unselbständigen Stiftungen zum Eigentum ent­ sprechender kirchlicher Rechtssubjekte werden. Nicht aus der Stiftung des altrömischen Rechtes, mit der seit Jahrhunderten der Zusammenhang unterbrochen war, sondern aus germanischer Wurzel ist somit die kirchliche und mittelbar die bürgerliche Anstalts- und Stistungspersönlichkeit hervorgegangen, wenn auch natürlich mitgefördert durch die wiedererwachte Rechtswissenschaft. Doch auch das kanonische Abgabenwesen knüpft in mehrfacher Beziehung an germanische Einrichtungen an. Der Zusammenhang der bischöflichen bzw. archidiakonalen (§ 20, 3) und der gräflichen Prokurationen und sonstigen Hebungen springt in die Augen. Das Spolienund Regalienrecht wird von den Bischöfen und schließlich auch von den Päpsten übemommen als ius deportus (in Avignon annalia genannt) auf den Nachlaß oder einen Teil davon (ferto, d. h. ein Viertel) und auf die ganzen oder halben fructus medii temporis. Eine Leihabgabe lebt fort in der aus der Provinz übernommenen und bei der Kurie als annatae Bonifadanae ausgebauten Abgabe des halben (taxierten) Ertrags des ersten Jahres (primi fructus) von den durch den Papst nicht im Kardinalskonsistorium verliehenen Pfründen, während die vom Bischof verliehenen die primi fructus an diesen schuldeten. Die sogenannten servitia wurden von jedem erhoben, dem der Papst ein Bistum oder sonst eine Prälatur in consistorio verlieh, und zwar als servitia communia in Gestalt einer an die Kurie zu zahlenden, ein für allemal festgesetzten Summe, die zur Hälfte dem Papst und zur Hälfte den Kardinälen zugute kam (§ 30, 1; daher auch der Name), und als daneben dem Dienst- und Kanzleipersonal verfallende Nebengebühren, servitia minuta. Außerdem hat die Kurie, die, einer hinreichend fundierten und organisierten Finanzverwaltung entbehrend und große Mittel auch für nichtkirchliche Zwecke verwendend, einen gewaltigen und zum Teil begehrlichen Beamtenapparat bestreiten mußte, durch Pallien­ taxen, Kreuzzugssteuern und auf andere Weise die Mittel der Kirchen und Gläubigen schließlich so in Anspruch genommen, daß es kaum ein Gebiet kirchlichen Lebens gab, an das nicht Geld­ fragen geknüpft waren, die sich immer rücksichtsloser vordrängten. Die Temporalisierung des kirchlichen Instituts gipfelte im kirchlichen Fiskalismus.

Werminghoff, VG. §§ 34, 42; Samarian, La jurisprudence pontificale en matiere de droit de depouille (1350—1400), M. d’a. d’h. XXII, 1902; Baril, Le droit de l’eveque aux meubles des intestats etudie en Normandie, These, 1911; Samarian et 22*

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uirtct) (LMtz.

M o 11 a t, La fiscalite pontificale en France au 14 e siede, BibL 6. ecoles fran$. d’Athenes et de Rome, XCVI, 1905; Kirsch, Die Annalen, H. Jb. IX, 1888, Die päpstlichen Kollektorien in Deutschland während des 14. Jahrhunderts, 1894, L’administration des finances pontificales au 14? siede, R. h. e. I, 1900, Die Verwaltung der Annalen unter Clemens VI., R. Q. XVI, 1902, Die päpstlichen Annaten in Deutschland während des 14. Jahrhunderts I, 1903; Gottlob, Aus der Camera apostolica des 15. Jahrhunderts, 1889, Die päpstlichen Kreuzzugssteuern des 13. Jahrhunderts, 1892, Die Servitientaxe im 13. Jahrhundert, Stutz, Kr. A., 2. H., 1903, Kuriale Prälatenanleihen im 13. Jahrhundert, Vierteljahrsschr. f. Sozial- und Wirtschg. I, 1903; Fabre-Duchesne, Le Über censuum, I, II, 1889 ff., und Etüde sur le 1. c., 1892, La perception du eens apostolique, M. d’a. d’h. XVII, 1897; Daux, Le eens pontifical dans l’egüse de France, R. q. h. LXXV, 1904; Göller, Der Über taxarum der päpstlichen Kammer, Q. u. F. VIII, 1905, Die Einnahmen der apostolischen Kammer unter Johann XXII., Vat. Quellen und Forsch, d. Görres-Ges. I, 1910; Schäfer, Die Ausgaben der apostolischen Kammer unter Johann XXII. nebst den Jahresbilanzen von 1316—75, ebenda II, 1911; Hennig, Die päpst­ lichen Zehnten in Deutschland, 1909; Clergeac, La curie et les beneficiers consistoriaux, etude sur les communs et menus Services (1300—1600), These, 1911; Keller, Die Verschuldung des Hochstifts Konstanz im 14. und 15. Jahrhundert, Freiburger Diöz.-Archiv XXX, 1902; Holzapfel, Die Anfänge der Montes Pietatis (1462—1515), 1903; Muller, Der Haushalt des Utrechter Domkapitels um 1200, Westdeutsche Zeitschr. XXII, 1903; Kirchhoff, Die Organi­ sation des Osnabrücker Kirchenvermögens in der Zeit des 12. bis 14. Jahrhunderts, Münst. phil. Diss., 1910; Ott, Die Abgaben an den Bischof .... in der Diözese Konstanz bis zum 14. Jahr­ hundert, Tübinger Phil. Diss., 1907 (auch im Freiburger Diöz.-Arch. XXXV); Viar d, Histoire de la dime ecclesiastique dans le royaume d’Arles et de Vienne au 12e et 13e siecles, Z.3f. RG. I, 1911, Histoire de la dime ecclesiastique dans le royaume de France aux 12 e et 13 e siecles, 1912, L’evolution de la dime ecclesiastique en France aux 14 e et 15 © siecles, 3.3 f. RG. III, 1913; Haensel, Die mittelalterlichen Erbschaftssteuern in England, D. Z. f. Kr. XIX, 1909, XX, 1911; Falco, Le disposizioni ,,pro anima“ 1911; Brandileone, I lasciti per l’anima, Mem. del R. Istituto Veneto XXVIII 7, 1911; vgl. die Lit. zu §§ 18, 2 d, 27 und 41.

Fünftes Kapitel.

Die Umbildung des kanonischen Rechts zum katholischen Kirchenrecht. § 35. Die kirchliche und staatliche Reaktion gegen das Papalsystem. So kühn das Papalsystem die dem Gesetz der Zeitlichkeit entrückte Gottheit für sich in Anspruch genommen hatte, die Vergänglichkeit alles Irdischen bewährte sich auch an ihm. Überspannt durch die Bonisazianer (Ägidius von Rom, Jakob von Viterbo, Heinrich von Cremona, Augustinus Triumphus), wurde es alsbald erfolgreich bekämpft von Philipp dem Schönen und dessen Legisten (Johann von Paris und Peter Dubois) sowie vor allem durch Dante (1265bis 1321) De monarchia und durch den Defensor pacis (um 1325) der bei Ludwig dem Bayern Schutz findenden Pariser Professoren Marsilius von Padua1 und Johann von Jandun, während der später diesem Kreise sich zugesellende Wilhelm von Oeeam mehr ein Notrecht der weltlichen Gewalt geltend machte. Der Sturz der mittelalterlichen Papstmonarchie ließ nicht lange auf sich warten. Das große Schisma (1378—1417) strafte die Einheit, von deren Voraussetzung das System ausgegangen war, selbst für das kirchliche Gebiet Lügen. Die unwürdige Abhängige keit, in die das Papsttum, insbesondere gegenüber der französischen Krone, geriet (Aufenthalt in Avignon, sogenanntes babylonisches Exil, 1305—77), stellte die behauptete Superiorität an den Pranger. Der Mißbrauch der Binde- und Lösegewalt und der geistlichen Strafen zu welt­ lichen Zwecken (Bann um Geldschuld; Schuldbriefe mit Exkommunikationsklausel, sogenannte obligationes de nisi) verhärtete oder empörte die Seelen. Die Verderbnis an Haupt und Gliedem, der freilich nicht alle Teile in demselben Maße und in jedem Stück verfielen, war ein grausamer Hohn auf die Göttlichkeit des Systems und seiner klerikalen Träger. Alles rief nach Reform. Aber man erwartete sie nicht vom Papsttum, sondern vom allgemeinen Konzil in Verbindung mit der weltlichen Macht.

1 Dieser lehrte u. a.: das im Konzil versammelte Volk habe allein legislative Gewalt, die Gemeinden sollten ihre Priester wählen, diese und die Bischöfe ständen sich dem Wesen ihres Amtes nach gleich, auf Grund göttlicher Einsetzung sei der Papst weder das Oberhaupt der Christen­ heit noch auch nur der katholischen Kirche.

Kirchenrecht.

341

Scholz, Die Publizistik zur Zeit Philipps des Schönen, Stutz, Kr. A., 6.—8. H., 1903, Marsilius von Padua und die Idee der Demokratie, Zeitschr. f. Politik I, 1907, Studien über die politischen Streitschriften des 14. und 15. Jahrhunderts, Q. u. F. XII, 1909, Unbekannte kirchen­ politische Streitschriften aus der Zeit Ludwigs des Bayern (1327—54), I, II, 1911/12 (Bibl. d. preuß. hist. Inst.); Zeck, Der Publizist Pierre Dubois, 1911; C h i a p e 11 i, Dante in rapporto alle fonti del diritto ed alla letteratura giuridica del suo tempo, Arch. stör. ital. XLI, 1908; Gaugusch, Staat und Kirche nach Dantes Schrift De monarchia, Th. Q. XCV, 1913; Kern, Dantes Gesellschaftslehre, Viertel;, f. Soz. u. WG. XI, 1913; Ercole, Impero e Papato nella tradizione giuridica bolognese e nel diritto pubblico italiano del Rinascimento, Atti .... della R. deputazione di storia patria per le provinzie di Romagna, 1911; Cipolla, II papato nelle opere di Dante, 1900; Riezler, Die literarischen Wider­ facher der Päpste zur Zeit Ludwigs des Baiers, 1874; (kartelliert, Marsilius von Padua „Defensor Pacis“, 1. Buch, 1913; K. Müller, Der Kampf Ludwigs des Baiern mit der römischen Kurie, 2 Bde., 1879 f.; Gayet, Le grand schisme d’Occident, I, II, 1889; Valois, La France et le grand schisme d’Occident, 4 vol., 1896—1902; L i z e r a n d , Clöment V et Philippe IV le Bel, 1910; M o 11 a t, Les papes d’Avignon, 1912; Kaiser, König Karl V. und die große Kirchenspaltung, H. Z. XCII, 1903; Ranke, Geschichte der romanischen und germanischen Völker, 1494—1514 3 sämtliche Werke 33/4, 1885; Gierke, Johannes Althusius a, Gierkes Unters. H. 7, 1902; Loserth, Geschichte des späteren Mittelalters (§ 25), Wiclifs Lehre vom wahren und falschen Papsttum, H. Z. IC, 1907; Werner, Die Reformation des Kaisers Sigmund, 3. Erg.-H. d. A. f. Kulturgeschichte, 1908; v. Bezold, Die Lehre von der Volkssouveränität während des Mittelalters, H. Z. XXXVI, 1876; vgl. auch die Lit. zu § 44.

§ 36.

Die Reformkonzilien und ihr Mißerfolg.

Auf Berufung der Kardinäle, die den beiden Gegenpäpsten Benedikt XIII. und Gregor XII. anhingen, trat 1409 die erste der mittelalterlichen Resormsynoden zu Pisa zusammen, um, aller­ dings ohne Erfolg, die sich befehdenden Päpste abzusetzen und, nach der Neuwahl Mexanders V. durch die vereinigten Kardinäle beider ehemaliger Obödienzen, mit diesem ein weiteres all­ gemeines Konzil zur Vornahme der Reform in Aussicht zu nehmen. Die hierdurch betätigte Überordnung des Konzils über den Papst trat noch mehr hervor auf dem wesentlich von König Sigismund als advocatus ecclesiae1 *betriebenen und im Einverständnis mit Johann XXIII. nach Konstanz ausgeschriebenen Konzil (1414—18), auf dem bei erweitertem Stimmrecht — es stimmten auch Prälaten, Äbte und Gelehrte sowie die geistlichen Prokuratoren weltlicher Fürsten— und bei Abstimmung nach Nationen — eine deutsche, französische, englische, italienische, seit 1416 auch eine spanische8 — nicht bloß Glaubensstreitigkeiten entschieden und die Lehren Wiclifs und Hussens verdammt sowie das Schisma beseitigt wurden 3, sondern auch der Satz zur Ver­ kündung gelangte, daß das allgemeine Konzil, das sich nach dem decretum Frequens zunächst nach fünf und dann nach sieben, später aber alle zehn Jahre regelmäßig versammeln sollte, als Vertretung der Gesamtkirche seine Gewalt unmittelbar von Christus habe, so daß ihm selbst der Papst in Glaubenssachen, bei der Beseitigung des Schismas und hinsichtlich der allgemeinen reformatio in capite et membris Gehorsam schuldig sei. Das Reformationsgeschäft, zu Konstanz begonnen und teils in gemeinsamen Reformbeschlüssen, teils in päpstlichen Konkordaten mit der deutschen, den vereinigten romanischen 4 und der englischen Nation besorgt, setzte 1431—43 das später nur noch als Rumpfsynode sich hinschleppende Basler Konzil fort, neben welchem 1437—49 die Papalsynode von Ferrara-Florenz tagte (1439 Union mit den Griechen). Auf diesem Basler Konzil, das durch nochmalige Erweiterung des Stimmrechts — es stimmten in den vier Deputationen (nicht mehr Nationen!) auch Doktoren und Lizentiaten beider Rechte und bloße Priester mit — ein stark demokratisches Gepräge erhielt, wurde der von Konstanz übemommene Satz: Concilium superat papam geradezu zum Dogma erhoben, was freilich Eugen IV. 1439 durch die Nichtigerklärung der Beschlüsse beantwortete5. * *Jedoch selbst einem

1 Daher auch seine spätere Teilnahme. 8 Auch das Kardinalskolleg hatte eine Stimme. 3 Die Wahl Martins V. erfolgte nach Absetzung Benedikts XIII. und Johanns XXIII. durch ein besonderes, aus den Kardinälen und Bischöfen zusammengesetztes Wahlkellegium. * Für diese beiden wurde jetzt die Bestätigung der Bischöfe und Abte als päpstliches Recht festgestellt. 3 Überhaupt werden sämtliche Reformkonzilien, soweit ihre Beschlüsse nicht unter päpstlicher Mitwirkung zustande gekommen oder hinterher bestätigt worden sind, bis auf den heutigen Tag von der kurialen Theorie nicht als ökumenisch anerkannt.

342

Ulrich Stütze

Papsttum von mittelmäßiger Leistungsfähigkeit und mit sittlich tiefftehender Trägerschast (Borgia) war der vielköpfige, zu ständischer und nationaler Sonderinteressenvertretung hinneigende konzi­ liare Apparat nicht gewachsen, zumal er sich auch nicht auf eine wenigstens anscheinend so feste und klare Schriftgrundlage stützen konnte wie der kirchliche Monarch L Hinschius, Kr. III §§ 171, 144 v und I § 28; Werminghofs, BG. § 53; Bliemetzrieder, Das Genercllkonzll im großen abendländischen Schisma, 1904; Valois, Le pape et le Concile, 2 vol., 1909; Kneer, Tie Entstehung der konzlliaren Theorie, R.Q. Supplh. I., 1893; Bliemetzrieder, Über die Konzllsbewegung zu Beginn des großen abendländischen Schismas, Bened. St. M. XXXI, 1910; Arqnil1 i 6 r e , L’origine des thäories conciliaires, Acad. d. scienc. mor., Compte-Rendn CLXXV, 1911, L’appel au Concile sous Philippe le Bel et la genäse des thäories conciliaires, R. q. h. LXXXIX, 1911; Hirsch, Die Ausbildung der konziliaren Theorie im 14. Jahrhundert, Theol. Stud. d. Leo-Ges. 8. H., 1903; Gelier, L’idäe de räforme ä la cour pontificale du Concile de B&le au concile du Latran, R. q. h. LXXXVI, 1909; Göller, König Sigismunds Kirchenpolitik (1404—13), 1902; Monumenta conciliorum generalium sec. XV, 2 Bde., 1857—73; Hübler, Die Konstanzer Reformation und die Konkordate von 1418, 1867; Finke, Forschungen und Quellen zur Geschichte des Konstanzer Konzils, 1889, Acta concilii Constantiensis 1, 1896; I. Keppler, Die Politik des Kardinalskollegiums in Konstanz, Münst. Phil. Tiss., 1899; Truttmann, Das Konllave auf dem Konzll zu Konstanz, 1899; Betz, Die Annatenverhandlung der natio gallicana des Konstanzer Konzils, Z. f. Kg. XXII, 1901; Göller, Zur Geschichte der apostolischen Kanzlei auf dem Konstanzer Konzll, R.Q. XX, 1906; v. Pslugk-Harttung, Die Wahl des letzten kaiserlichen Gegenpapstes (Nikolaus V.), Z. f. Kg. XXII, 1901; Calmette, L’älection du pape Nicolas V, M. d’a. d’h. XXIII, 1903; Kehrmann, Die Capita agendorum, Hist. Bibl., 1903; Rohde, Berfasser und Entstehungszeit der Capita agendorum, Z. s. Kg. XXXIV, 1913; Concilium Basiliense, Studien und Quellen, Hrsg, von Haller u. A., I—V, VII, 1896—1910; Lazarus, Das Basler Konzll, seine Berufung und Leitung, seine Gliederung und seine Behördenorganisation, Eberings Hist. Stud. C, 1912; Eubel, Die durch das Basler Konzll geschaffene Hierarchie, R.Q. XVI, 1902; Haller, Die Kirchenreform aus dem Konzll zu Basel, Prot. d. Hauptvers. d. Gesamtv. der deutschen Gesch.- u. Altert.-Pereine, 1910; Pärouse, Le Cardinal Louis Aleman et la fin du grand schisme, 1904; P. V. V a n n u telli, II concilio di Firenze, 1899; Norden (§ 29, 1).

Nur in Frankreich, wo vielleicht die selbständige Haltung Englands gegenüber dem Papsttum (1164 Heinrichs II. Konstitutionen von Clarendon) zum Vorbild genommen wurde (Statute of Provisors von 1351, erneuert und verschärft 1365, 1391) wurden die meisten Basler Beschlüsse einschließlich des Satzes von der Superiorität des Konzils mit einigen selbständig vorgenommenen Änderungen von einer Nattonalsynode zu Bourges gutgeheißen und durch Karls VII. prag­

matische Sanktton von Bourges am 7. Juli 1438 bestätigt. Doch hat ihre Ermngenschaften später ein 1516 von Leo X. und Franz I. vereinbartes Konkordat zwischen Papst und König aufgeteilt. Dagegen gelang es in Deutschland nach vorheriger beschränkter Annahme durch die Mainzer Akzeptation von 1439 zunächst der geschickten und skrupellosen1 *Politik Eugens IV., dank der Uneinigkeit Fttedttchs III. und der Fürsten, am 5. Februar 1447 durch die sogenannten Fürstenkonkordate (ein Breve und drei Bullen) die Ergebnisse des Basler Konzils unter Umgehung einer Anerkennung des neuen Konziliarrechts zu beschneiden3. Ja, Nikolaus V. wußte durch das sogenannte Mener (oder Aschaffenburger) Konkordat mit Friedttch III. (ein gemeinsames Schriftstück!) vom 17. Februar 1448 die Basler Ermngenschaften vollends zunichte zu machen4.

Hinschius, Kr. III §§ 171, 177; Werminghofs, BG. § 25; Holtzmann, Fran­ zösische BG. (§ 23) S. 434 ff.; Haller, Ter Urspmng der gallikanischen Freiheiten, H. Z. XCI, 1 Der literarische Hauptvertreter des Papsttums war der spanische Predigerkardinal Torquemada (Turrecremata) mit seiner Summa de ecclesia et eius auctoritate um 1450, während den Konzilsstandpunkt der allerdings später zu Eugen IV. unter Widermsung seiner früheren Ansicht übergehende Nikolaus von Kues (an der Mosel) in seiner Concordantia catholica vertrat. Diese beiden waren übrigens die ersten, die Zweifel an der Echtheit Pseudoisidors äußerten; sie gaben ihnen aber keine Folge. E h s e s , Der Reformentwurs des Kardinals Nikolaus Cuianus, H. Jb., XXXII, 1911: Albert, Nikolaus von Kues und seine Stellung zu der Lehre vom päpst­ lichen Primat, Festgabe f. Grauert, 1910. s Bald nachher wird durch Calixt III. die Ansicht vertreten, die Konkordate bänden nur die Nationen, nicht aber die Kurie als Verleiherin des Privilegs. 8 In einem geheimen Salvatorium widerrief Eugen IV. am 5. Februar 1446 alle Zugeständnisse. 4 Z. B. wird das päpstliche Besetzungsrecht für niedere Benefizien in den ungeraden Monaten (menses papales) nunmehr anerkannt.

Kirchenrecht.

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1903, Papsttum und Kirchenresorm I, 1903, Die pragmatische Sanktion von Bourges, H. Z. 6111, 1909; Valois , Histoire de la Pragmatiaue Sanction de Bourges sous Charles VII, Arch. de Pbist. rel. IV, 1906, Concordats antörieurs ä celui de Francois I * r, R. q. h. LXXVII, 1905; Thomas, Le concordat de 1516 I—III, 1910; Imbart de la Tour, Les origines de la R6forme, le gallicanisme et la rest&uration papale, la pr6 paration du Concordat de 1516, Correspondant, 1905; Martin, L’assemblSe de Vincennes de 1329 et ses cons6quences, 1909; D e n i f 1 e , La däsolation des 6glises, monastöres et hOpitaux en France vers le milieu du 15e siöcle I, II, 1897—99; Fueter, Religion und Kirche in England im 15. Jahrhundert, 1904; Hatschek, Englische BG. (§ 18, 1) S. 162 ff., 309 ff.; Werminghoff, Nationalkirchliche Bestrebungen im deutschen Mittelalter, Stutz, Kr. A. 61. H., 1910; vgl. Lit. zu § 50 S. 383 A. 2.

8 37. Die Wiedererhebung des Papsttums; das Konzil von Trient. Trotz Beseitigung des Schismas (der Basler Felix V. letzter Gegenpapst) hörten die Be­ rufungen an ein allgemeines Konzil, obschon 1459 durch Pius II. (Bulle Exsecrabilis) mit Exkommunikation bedroht, nicht auf, auch nicht, nachdem Julius II. und Leo X. 1512—17 wiedemm ein in den Geleisen der mittelalterlichen Papstsynode sich bewegendes fünftes Lateran­ konzil 1 — stimmberechtigt nur Prälaten, Abstimmung nach Köpfen, Publikation in Form päpstlicher Anordnung sacro approbante concilio — veranstaltet hatten. Ranke, Die römischen Päpste in den letzten vier Jahrhunderten ", 3 Bde., sämtliche Werke 37—39,1900; Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters ‘ I—VI, 1899 ff.; Ehrhard, Der Katholizismus und das 20. Jahrhundert im Lichte der kirchlichen Entwicklung der Neuzeit, 12. Taus., 1902; Souchon, Die Papstwahlen von Bonifaz VIII. bis Urban VI., 1888, Die Papstwahlen in der Zeit des großen Schismas, 2 Bde., 1898; Hinschius, Kr. III § 1721—iv.

Da kam Abhilfe auf inoffiziellem Wege, indem die von Luther und den übrigen Refor­ matoren entfachte Bewegung mit elementarer Gewalt die überlieferte Verquickung von Glauben und Recht und mit ihr das mittelalterliche Kirchentum für ihre Anhänger beseitigte. Da sie aber nur zur Kirchentrennung und nicht zur Umbildung, sondem zur Abstoßung des katholischen Kirchenrechts führte, macht sie in dessen Geschichte keinen Einschnitt, wiewohl sie auch in dieser Hinsicht nicht ganz ohne Rückwirkung blieb. Denn sie beraubte für Jahrhundette die auch nach der katholischen Gegenreformation in der Mnderheit katholisch verbliebene und fortan den leitenden kirchlichen Kreisen wegen der Berührung mit der Ketzerei stets mehr oder weniger verdächtige deutsche Nation fast ganz ihres bisherigen Einflusses auf die Entwicklung der Gesamt­ kirche. In Recht und Kult geriet die katholische Kirche von nun an immer mehr in die Hände der Romanen und der 1534 von dem Spanier Jgnattus von Loyola gegründeten, 1540 von Paul III. (Bulle Regimini militantis ecclesiae) approbierten Gesellschaft Jesu, die bis heute „das Mal ihrer Geburt in dem Spanien des 16. Jahrhunderts in ihrer eigenartigen politischen und religiösen Physiognomie deuttich an der Sttme trägt". Und sodann hat die Reformation der konziliaren Bewegung endgülttg den Todesstoß versetzt und dem auf die Wiederherstellüng seines Absolutismus bedachten Papsttum wirksam in die Hände gearbeitet. G o t h e i n, Ignatius von Loyola, 1895; Thompson, Saint Ignatius Loyola, 1909; Meyer, Die Missionspläne des Ignatius von Loyola und die Gründung des Jesuitenkollegs in Messina im Jahre 1548, H. Z. CI, 1908; Cr6tineau-Joly, Histoire de la Compagnie de J6sus ', 6 Bde., 1859; Boehmer, Die Jesuiten', 1913 (auch französisch, übersetzt von Monod*, 1910), wo auch die neueste Lit. zur Geschichte des Jesuitenordens in den außer­ deutschen Ländern verzeichnet ist; Duhr, Jesuitenfabeln *, 1899, Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge, 3 Bde., 1907—13; Stoeckius, Forschungen zur Lebensordnung der Gesellschaft Jesu im 16. Jahrhundert I, II, 1910/11, Die Reiseordnung der Gesellschaft Jesu im 16. Jahrhundert, Heidelberger Ak. S. B., Phil.- hist. Kl., 1912; Braunsberger, Canisii epistolae et acta I—VI, 1896—1913.

Das allgemeine Konzil zu Trient', wiederholt ausgeschrieben und von 1545—63 mit langen Unterbrechungen tagend, stellte sich, obschon eine Erörterung des Verhältnisses von 1 Es hat die gegenüber Frankreich 1306 zurückgenommene Bulle Unam sanctam (c 2 de priv. in Extrav. comm. V 7) als gemeines Kirchenrecht ausdrücklich aufiechterhalten. * Richt ein Dutzend Deutsche standen über dritthalbhundert anderen, meist italienischen und spanischen Konzllsvätern gegenüber. Ehses, Die Vertretung des deutschen Episkopates aus dem Trienter Konzil 1545—47, Görres-Ges., 3. Vereinsschrift f. 1912.

344

Ulrich Stutz.

Papst und Konzil im Hinblick auf die Protestanten1 *geschickt 3 vermieden wurde, sogar formell durchaus unter päpstlichen Einfluß. Nicht nur wurde ihm von päpstlichen Legaten präsidiert, und war es aus die Beratung der von ihnen gemachten Vorlagen beschränkt, auf welche hin die Beschlüsse * — wie seit Konstanz Mich, in Plenarversammlungen (congregationes generales) vorbereitet und formuliert und in feierlichen sessiones publicae zur Abstimmung gebracht;

stimmberechtigt: Kardinäle, Bischöfe, Äbte und Ordensgenerale, aber, mit einer speziellen Aus­ nahme, keine Prokuratoren Abwesender — ergingen, die, soweit sie die Reform und die kirchliche Disziplin betrafen, durch eine Generalklausel als unter Vorbehalt der päpstlichen Autorität (Dispensationsmöglichkeit!) gefaßt bezeichnet wurden*. Vielmehr unterstellte das Konzil am Ende alle seine Beschlüsse der päpstlichen Bestätigung, die denn auch am 26. Januar 1564 (Bulle Benedictus Deus) erfolgte. Aber auch inhaltlich erfocht auf ihm das Papsttum einen vollen Sieg. Die dogmatischen Beschlüsie, die, in 12 von den 25 Sessionen beschlossen, in Dekreten niedergelegt, in canones zusammengefaßt und unter Andwhung des Anathems publi­ ziert wurden, präzisierten in scharfem Gegensatz zum Protestantismus die Ergebnisse der mittel­ alterlich-scholastischen Theologie, z. B. in der Sakramentenlehre, für die nunmehr die Siebenzahl und der Sakramentscharatter von Ehe, Ordinatton und Firmung dogmatisch sichergestellt wurden. Und die in den decreta de reformatione niedergelegten Reformbeschlüsse von zehn Sessionen, wozu in 868810 XXIV noch das besondere decretum de reformatione matrimonii mit dem cap. 1 Tametsi4 5vom 11. November 1563 kam, brachten manche wichtige und wirttiche Verbesserung, aber, ohne Erhörung der letztmals von der katholischen Pattei auf dem Nürnberger Reichstag 1522 formulierten gravamina nationis Germanicae, durchaus im Sinn einer um die Bischöfe und durch sie um das Papsttum zu vollziehenden monarchischen Konzentration. Dem Papsttum wurde überdies eine Reihe von sehr wichtigen, aber nicht erledigten Gegenständen wie Kate­ chismus 6, Index e, Missale7, Brevier8 zu selbständiger Erledigung überlassen. ES hat denn auch weiterhin, teils durch Auslegung, Anwendung und Dispensation von Tttenter Beschlüssen, wofür Pius IV. 1564 (Motuproprio Alias nos nonnullas) die römische Congregatio cardinalium concilii Tridentini interpretum einsetzte, teils durch zahllose eigene gesetzgebettsche Erlasse, von denen Beneditt XIV. die seinigen 1746 noch einmal zur Benutzung als Rechtsquelle an die Universität Bologna sandte, die gemeinkirchliche Rechtsbildung in der Hand behalten.

Hinschius , Kr. I 8 65, III § 172 V—vii; Concilium Tridentinum, diariorum, actorum, epistularum nova collectio ed. Soc. Goerres. I, II (ed. Merkle), 1901, 1911, IV, V (ed. Ehses) 1904, 1911 und dazu Merkle, Z. - f. RG. II, 1912 S. 345 ff.; DruffelBran di, Monumenta Tridentina I (5 Hefte), 1899; Susta , Die römische Kutte und das Konzil von Trient I—III, 1904—11; Ancel, Paul IV. et le Concile, R. h. e. VIII, 1907; Canones et decreta Concilii Tridentini edd. Richter et Schulte, 1853; S a r p i, Istoria del concilio di Trento 1619, deutsch von Winterer8, 4 Bde., 1844 ff.; Pallavicino, Istoria del concilio di Trento 1652 ff., deutsch von K l i t s ch e , 8 Bde., 1836—36; Galante, Kultur­ geschichtliche Bilder aus der Tttenter Konzilszeit, 1911; Swoboda, DaS Konzil von Tttent, sein Schauplatz, Verlauf und Ertrag8, 1913; Carcereri, II concilio di Trento della traslazione a Bologna alla sospensione, 1910; Mumm, Die Polemik des Mattin Chemnitz gegen das Konzil von Tttent I, 1905; B r a u n s b e r g e r , Pius V. und die deutschen Katholiken, St. M.-L. 1 Es haben es nur 1551 einige evangelische Stände unter kaiserlichem Druck für kurze Zeit beschickt. 1 Eingeführt mit: Sacrosancta oecumenica et generalis Tridentina synodus in Spiritu sancto legitime congregate praesidentibus in ea eisdem tribus apostolicae sedis legatis declarat etc. 3 Ut in his salva semper auctoritas sedis apostolicae et sit et esse intelligatur. 4 Nämlich dubitendum non est clandestina matrimonia libero contrahentium consensu facta rate et vera esse matrimonia, .... nihilominus sancta Dei ecclesia ex iustissimis causis illa semper detestete est atque prohibuit. 5 Pius V. 1566. 4 Verzeichnis der verbotenen Bücher, erstmals unter Pius IV. 1564 erschienen; Reusch, Die Indices librorum prohibitorum des 16. Jahrhunderts, Bibl. d. Lit. Ver. in Stuttgart CLXXVI, 1886. 7 Bon Pius V. 1670, verbessert 1604 und 1634. Das Pontisikale von Klemens VIII. 1596, verbessert 1644, vermehrt 1752; das Ceremoniale der Bischöfe von Klemens VIII. 1600, verbessert 1660, 1727, revidiert 1762; das Rituale von Paul V. 1614, revidiert 1762. 8 Revision des von Gregor IX. 1241 herrührenden durch Pius V. 1668, verbessert 1602, 1631.

Kirchenrecht.

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CVIII, Erg.-H., 1912; Grisar, Die Frage des päpstlichen Primates und des Ursprunges der bischöflichen Gewalt auf dem Konzil von Trient, Z. f. !. Th. VIII, 1884; Gebhardt, Die Gravamina der deutschen Nation', 1895; Stutz, Parochus (§ 19 S. 305 A. 1); Sägmüller, Die Geschichte der Congregatio Concilii vor dem Motuproprio Alias .... von 1564, A. f. t. Kr. LXXX, 1900; M ayer, Das Konzll von Trient und die Gegenreformation in der Schweiz, I, II, 1900/03; Reinhardt und Steffens, Studien zur Geschichte der katholischen Schweiz im Zeitalter Carlo Borromeos, 1911.

8 38. Die Aitdje und der souveräne Staat; ständige Nuntiaturen. Natürlich suchte das Papsttum diese seine wiedergewonnene kirchliche Machtstellung als­ bald auch zur Erneuerung der früheren Weltherrschaft zu benutzen. Hier aber mit völligem Mißerfolg, twtzdem die Jesuiten Bellarmin (1542—1621)1 und Suarez (1548—1617) • das mittelalterliche, eine potestas directa des Papstes über die Temporalien invowierende System zu der Lehre von der päpstlichen potestas indirecta abschwächten, welche dem Papst die Sub­ stanz der weltlichen Gewalt absprach, um mit einem päpstlichen Aufsichts- und Kvrrektionsrecht gegenüber religions- und kirchenhinderlichen Maßnahmen der Regierungen der Kirche und ihrer Gesetzgebung doch die Superiorität praktisch zu wahren (Glaubenszwang, privilegium fori et immunitatis, Vorrang des kirchlichen Rechts und Möglichkeit päpstlicher Ungültigkeitserklämng weltlicher Gesetze beibehalten). Zwar, wo es sich um neue Verhältnisse und ihren Vorteil handelte, ließen sich die Staaten, namentlich in der ersten Zeit, päpstliche Weltmachtfprüche, wenigstens mitunter, gefallen. So hat Alexander VI. 1493 durch die Bulle Inter cetera divinae die Neue Welt zwischen Spanien und Portugal geteilt. Wer wie später über diesen, so ist die Geschichte auch über andere, freilich zum Teil nur als Rechtsverwahmngen gedachte päpstliche 9ßte einfach zur Tagesordnung übergegangen, so über die Exkommunikation Heinrichs VIII. und Elisabeths von England sowie die Entbindung von der Untertanentreue ihnen gegenüber durch Paul III. (Konst. Eius qui 1535, Redemptor 1538) und Pius V. (Regnans in excelsis 1570), so ferner über die Kassation des Westfälischen Friedens durch Innozenz X. (Zelo domus Dei 1648) und über die Anfechtung der Erhebung Preußens zum Königreich (Konsistorialrede Klemens' XI. 1701). Selbst die Einrichtung ständiger Nuntiaturen, (Venedig 1500, Kaiserhof 1513), Luzern 1578, Graz 1580, Men 1581, Köln 1584, Brüssel 1597, die, außer den kirchlichen Zwecken der Überwachung der Bischöfe und der Leitung der Protestantenmission, namentlich der weltlichen Poliük des Papsttums dienten, hat den Päpsten wohl vielfache Ge­ legenheit auch zu innerpolitischer Einmischung, aber nie mehr die Möglichkeit der Weltbeherrschung verschafft. Vollends als der modeme, auf den Souveränitätsbegriff sich stützende Staat überall dem Papsttum entgegentrat, und die katholischen Mächte es unter Klemens XIV. 1770 selbst zur Unterlassung der Publikation der 1627 endgültig abgeschlossenen Exkommunikationsbulle In Cena Domini (§ 29, 2) sowie 1773 (Bulle Dominus ac redemptor) zur Aufhebung des Jesuitenordens nötigten, da war an die Mederbelebung der Papstherrschaft über die Temporalien nicht mehr zu denken. In demselben 18. Jahrhundert, da das kirchliche Recht durch die Theorie und Praxis Benedikts XIV.8 eine bis dahin unerreichte Vollendung erhielt, vollzog sich end­ gültig seine Umwandlung aus einem geistlichen Weltrecht zum Sonderrecht der weitaus größten, aber auch im Wendland längst nicht mehr einzigen christlichen Kirche; das kanonische Recht (ins canonicum) wurde zum bloßen katholischen Kirchenrecht (ins ecclesiasticum4* 3 *Cathoticorum). **

1 De sumino pontifice libri V. in den Disputationes de controversiis christianae tidei, 3 Bde., 1571—83, zunächst auf den Index gesetzt, und De potestate summi pontificis in rebus temporalibus contra Bardaium, 1604. Timpe, Die llrchenpolitischen Ansichten und Be­ strebungen de» Kardinal» Bellarmin, Kirchengesch. Abh. von Sdralek 111, 1905; de la Ser­ viere, Les idtes politiques du Cardinal Bellarmin, R. q. h. LXXXII, 1907, LXXXIII, 1908, La thiologie de BeUarmm, Bibi, de thSol. hist, de l’Inst. cath. de Paris, 1908. • Defensio fidei catholicae et apostolicae adversus AngUcanam sectam, 1613. • Prospero Lambertini von Bologna schrieb besonder» De servorum Dei beatificatione et beatorum canonizatione (1734/38) und als Papst sein Meisterwerk, De synodo dioecesana libri XIII (1748). • Dgl. Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft II, 1884 S. 89,

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Friedberg, Die Gränzen zwischen Staat und Kirche, 1872; v. Ranke, Tie Idee der Bolkssouveränität in den Schriften der Jesuiten ’, sämtliche Werke Bd. 24, 1877; Ziekursch, Papst Clemens' XL Protest gegen die preußische Königswürde, Festgabe s. Heigel, 1903; Bota, Der Untergang des Ordensstaates Preußen und die Entstehung der preußischen Königswürde, 1911; Hinschius, Kr. I § 72, V § 303; A. O. Mayer, England und die katholische Kirche unter Elisabeth 1., Bibl. d. preuß. hist. Inst. VI, 1911; Hatschek, Englische BG. (§ 18,1) S. 549 ff.; Ritter, Das römische Kirchenrecht und der Westfälische Friede, H. Z. CI, 1908; Pieper, Zur Entstehungsgeschichte der ständigen Nuntiaturen, 1894, Tie päpstlichen Legaten und Nuntien I, 1897. über die vom Preuß. hist. Institut in Rom und von der Görresgesellschaft bisher heraus­ gegebenen Nuntiaturberichte aus Deutschland siehe K n ö p s l e r , Kg. S. 634 N. 1 sowie neuestens Cardauns, Nuntiaturen Morones und Poggios, Legationen Farneses und Cervinis (1539—40), 1909, Gesandtschaft Campegios, Nuntiaturen Morones und Poggios (1540—41), 1910, Berichte vom Regensburger und Speierer Reichstag 1541, 1542, Nuntiaturen Berallos und Poggios, Sendungen Farneses und Sfondratos, 1912; Friedensburg, Nuntiatur des Bischofs Pietro Bertano von Fano (1548—49), 1910; A. O. Meyer, Die Prager Nuntiatur des Giovanni Stefano Ferreri und die Wiener Nuntiatur des Giacomo Sera (1603—06), 1911—13; Schweizer, Die Nuntiatur am Kaiserhofe, 2. Hälfte, Antonio Puteo in Prag 1587—89, 1912; Cauchie , L’extension de la juridiction du nonce de Bruxelles (1781), Bull, de la comm. royale d’hist. de Belgique LXXII, 1903; Richard, Les origines de la nonciature de France, R. q. h. LXXVIII, 1905, Origines des nonciatures permanentes, R. h. e. VII, 1906, Origines de la nonciature de la France (1513 bis 1521), R. q. h. LXXX, 1906, LXXXV, 1909, Le secret du pape, un 16gat apostolique en France (1742—56), R. q. h. XCII, 1912; Maere, Les origines de la nonciature de Flandre, R. h. e. VII, 1906; Biaudet, Les nonciatures apostoliques per­ manentes jusqu’en 1648, Ann. Acad. Scient. Fennicael. II 1, 1910.

§ 39. Das Slaalskirchenlum. Wer selbst aus kirchlichem Gebiet wurde das katholische Recht in seiner Geltung nunmehr sehr beschränkt.

1. AußerhalbDeutschlands. Schon die vorreformatorischeZeit hatte Anfänge eines Landeskirchentums gezeitigt und den laikalen Gewalten von neuem in Gestalt eines Not­ rechts die Möglichkeit gegeben, im Fall der Verwahrlosung in die kirchlichen Verhältnisse ihrer Territorien, z. B. durch Visitationen und Reformationen oder gar Aufhebungen von Klöstern sowie durch Beschränkung des Erwerbs der toten Hand (leges de amortizando, zuerst, seit dem 13. Jahrhundert, in den Städten) sich einzumischen. Ta damals und später im 16. sowie im 17. Jahrhundert während der Religionskriege das Papsttum der Unterstützung durch die katholischen Landesherren dringend bedurfte, sah man sich zu weiteren Zugeständnissen genötigt. Diese er­ folgten zum Teil in einer wenigstens der Form nach die Präwgativen der Kirche wahrenden Art. Als weltlicher legatus natus papae nahm der König beider Sizilien, allerdings eigenmächtig, mit Erfolg primatiale Jurisdiküonsrechte in Anspruch (monarchia Sicula von dem seit Ferdinand dem Katholischen üblichen Titel monarca = Inhaber der gesamten, auch der geistlichen Ge­ walt). Ebenso der König von Ungam, weswegen seit der Verleihung durch Klemens XIII. 1758 Maria Theresia und ihre katholischen Nachfolger für die Stephanskrone den Titel „Apostolische Majestät" führen L Dahin gehört auch die Einräumung eines Nominations-, d. h. maßgebenden Borschlagsrechtes für Bischofsstühle und Kanonikate durch päpstliches Jndult an katholische Fürsten trotz der jede Beeinflussung durch einen Laien ausschließenden kanonischen Bestimmungen, so 1447 für Friedrich III. (persönlich, an den jeweiligen Herzog von Österreich erst seit Sixtus IV. 1480) für einzelne Bistümer seiner österreichischen Erblande und an Kurfürst Friedrich II. von Brandenburg für die schon zuvor unter brandenburgische Landesherrlichkeit geratenen bischöflichen Kirchen von Havelberg, Brandenburg und Lebus (Preis für die Konkordate, §36), an Spanien durch ein Konkordat von 1482 und an Frankreich im Konkordat von 1516 für die spanischen und französischen Bischofsstühle, 1690 und 1716 an Portugal für die portugiesischen. In anderen 1 Noch heute hat der König von Ungarn gewisse kirchliche Prärogativen, z. B. das Recht, sich das apostolische Kreuz vortragen zu lassen. Auch ernennt er aus 33 ehemals ungarische Bistümer. Allein die betreffenden ungarischen Pfarrer werden von Rom nur als solche anerkannt, nicht als Bischöfe, so daß z. B. auf die 3 (jetzt dalmatinischen, aber zu den 33 ehemals ungarischen gehörenden) Bistümer Sebenico, Beglia und Pharos, unter Ignorierung der ungarischen episcopi electi dieser Titel, stets andere (vom Kaiser von Österreich als solchem nominierte) Bischöfe instituiert werden (A. f. k. Kr. LXXII, 1894, S. 401).

Kirchenrecht.

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Fällen erfolgte die Ausgestaltung der fürstlichen Rechte über die Kirche im Mderstreit mit ihr. So namentlich in Frankreich. Hier war man darauf bedacht, die Interessen der Krone mit den» jenigen eines ihr dienstbaren Nationalkirchentums (§ 41) zusammen in Schutz zu nehmen1. Hier hat denn auch zuerst eine Ordonnanz Ludwigs XL von 1475 ganz allgemein die vorgängige Vorlegung der päpstlichen Erlasse zum Zweck der Verhinderung ihrer BeröffenÜichung und Turchfühmng im Fall eines Verstoßes gegen die französischen Interessen gefordert (placetum regium), indes den Synoden gegenüber das Erfordernis der Genehmigung des Zusammentritts denselben Dienst tat. Fast gleichzeitig wurde im Anschluß an die Pragmatische Sanktion von Bourges (§ 36) der sogenannte appel comme d’abus, der Sache nach schon geraume Zeit vorher vorhanden, systematisch ausgebaut und im 16. Jahrhundert (Ordonnanz von Villers-Cotterets 1539) gesetzlich geregelt (recursus ab abusu). Er ging an die Parlamente genannten Gerichts­ höfe und richtete sich gegen jeden Eingriff der geistlichen Strasgewalt in das weltliche und das vom Staat oder unter seinem Schutz geregelte kirchliche Recht. Beide Einrichtungen haben sich trotz päpstlicher Pwteste und Verbote in Frankreich behauptet **, wie denn z. B. das Tridentinum infolge Verweigemng des Plazets nicht als solches, sondem nur in einzelnen Bestimmungen durch königliche Ordonnanzen in Geltung trat. Beide Einrichtungen fanden auch in Spanien, den Niederlanden, den beiden Sizilien und in Sardinien Eingang. H i n s ch i u s , Kr. 1 § 71, II $ 126, III § 190, VI § 376; Holder, Das kirchliche Vermögensrecht des Kantons Freiburg (Amortisationsgesetze) 1902, Die neueren Forschungen zur Geschichte der staatlichen Amortisationsgesehgebung, A. s. k. Kr. LXXXIV, 1904; Tourny ol du Clos, Les amortissements de la propriM eccl6siastique sous Louis XIII „(1639—40) Tböse, 1912; Döber 1, Der Ursprung der Amortisationsgesetzgebung in Bayern, Forsch, zur Gesch. Bayerns X, 1903; Sentis, Die Monarchia Siculo, 1869; S c a d u t o , 8tato e chiesa nelle due Sieilie, 1887 ;Caspar, Die Gründungsurkunden der sizilianischen Bistümer und die Kirchenpolitik Graf Rogers, Berliner Phil. Diss., 1902, Roger II. und die Gründung der normannisch-sizilischen Monarchie, 1904; Kirsch, Das durch Benedikt XIV. 1753 mit Spanien abgeschlossene Konkordat, A. f. k. Kr. LXXX, 1900; Holtzmann, Französische BG. (§23) S. 434ff.; Desdevises du Dezert, L’figlise et l’fitat en France, 2 vol., 1907—09; Viollet, Le roi et ses ministres pendant les trois derniers stecles de la monarchie, 1912; D u b r u e 1, Innocent XI et l’extension de la R6gale, R. q. h. LXXXI, 1907; Delannoy, La juridiction ecctesiastique en mattere b6n6ficiale sous l’ancien r6gime I, 1910; F 6 b u r e , L’application du Concile de Trente et l’excommunication pour dettes en Franche-Comt6, R. h. GUI, 1910; Galante, II diritto di placitazione e l’economato dei benefici vacanti in Lombardia, 1894; Peluso, II diritto di placitazione nelle due Sieilie dai Normanni al concordato del 1818, 1897; DellaPorta, II diritto di placitazione in Piemonte, I, 1903; Petri, Geschichte des Placets, Erlanger jur. Diss., 1899; Rena rd, L’appel comme d’abus, 1896; Combet, Louis XI et le Saint-Stege (1461—83), 1903.

2. Praktisches Staatskirchentum im älteren Deutschland. Im Deutschen Reich und seinen Territorien fanden, wenn man von der österreichischen Entwicklung seit dem 17. Jahrhundert absieht, Plazet und recursus ab abusu nur vereinzelt Anwendung. Hier besaßen die Landesherren schon früh eine starke kirchliche Stellung. Sie stützte sich teils auf die Advokatie, welche namentlich bei ihrer Anwendung auf Klöster in den letzten Zeiten des Eigenkirchenrechtes diesem manchewrts stark angeglichen worden war und eine Reihe von Befugnissen, die, wie das Regalien- und Spolienrecht, aus jenes Wurzel erwachsen waren, übernommen hatte, um sie nach dessen Falle gegenüber einfachen Kirchen und gegenüber Klöstern ausrechtzuerhalten; teils baute sie sich auf Überreste des Eigenkirchenrechtes selbst aus. Dieses

war nur, soweit das geistliche Amt (officium) in Betracht kam, dem Patronatrecht unterlegen. Bezüglich der Temporalien führte es als Kirchenlehensherrlichkeit auch weiter ein wenig be­ merktes, aber um so kräftigeres Dasein. Als nun die Landeshoheit sich ausbildete und allmäh­ lich eine Erweitemng der Staatsaufgaben (Polizeiverordnungsrecht) nach sich zog, griff sie diese Kirchenlehensherrlichkeit gleich anderen öffentlichrechtlichen Bestandteilen des deutschrechtlichen Gmndeigentums auf und führte sie durch ihr dominium eminens hindurch dem öffentlichen Recht zu (int Norden z. B. seit dem 13. Jahrhundert im Deutschordensland und in der Mark Branden­ burg, im Süden seit dem 14. Jahrhundert in den habsburgischen Gebieten; vgl. das Urbar von

• Loqueville (um 1690): En France le roi est chef de tont le corps politique, dont lteglise est membre ; Pithou (1694): Le roi, dans la pratique, est plus chef de Iteglise que le papen France. * Fönö 1 on meinte sogar: abus Enormes des appela comme d’abus.

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1302 ff. und zahlreiche Urkunden, worin die Herzöge sich den Patronat ratione ducatus zu­ schreiben). Ja, sie wußte sich durch den wenigstens im Norden oft mit einzelnen Kirchen ver­ bundenen und dem Patwnat gleichfalls unterstellten Landarchidiakonat (in Friesland wird er vom laikalen Etheling selbst ausgeübt!) sogar jurisdiktionelle Befugnisse zu sichem. So ergänzte sich das aus der Advokatie stammende Notrecht fast überall durch zahlreiche Stellenbesetzungs ­ und Kirchengutsverfügungsrechte, wie denn die Landesherren unbedenklich Inkorporationen selbst vorgenommen haben, z. B. die österreichischen Erzherzöge Mbrecht und Sigismund 1456—60 für die zu gründende Universität Freiburg. Schon um die Mitte des 14. Jahrhunderts hatte Herzog Rudolf IV. von Österreich das ihm nachmals überall von den Landesherren nachgespwchene Wort geäußert: „In meinem Lande will ich Papst, Erzbischof, Bischof, Archidialon, und Dekan sein", und in der Folgezeit entstand das allerdings gerade für dieses Gebiet wenig zutreffende Sprichwort: Dux Cliviae est papa in territoriis suis, ein Grundsatz, der nach der Reformation unter dem Einfluß des evangelischen landesherrlichen Kirchenregiments1 noch eine Steigemng erfuhr. NamenÜich in Bayem unter Herzog Maximilian I. (1595—1651) und ganz besonders unter Maximilian Joseph III. (1745—77) wurde dieses mehr praktisch gerichtete Staatskirchentum nach allen Richtungen hin energisch gehandhabt; es äußerte sich z. B. in zahlreichen Klosterreformationen und -säkularisationen und in der Errichtung eines Religions-, später Geistlichen Rats (1557—1802) für die landesherrliche Behandlung der Kirchensachen. Werminghofs, BG. §§ 27, 28, Neuere Arbeiten über das Verhältnis von Staat und Kirche in Deutschland während des späteren Mittelalters, H. B. 1908; Rodenberg, Kirche und Staat im Mittelalter und die Entstehung der sogenannten Landeskirchen des 15. Jahrhunderts, Mittellungen des Vereins f. Schleswig-holst. Kg. V, 1911; Maaa und Schweizer, Das habsburgische Urbar I, II, in den Quellen z. Schweizer Geschichte XIV, XV, 1894, 1899; Stutz, Das Habsburgische Urbar und die Anfänge der Landeshoheit, Z.* f. R.G. XXV, 1904; v. Brünneck, Beiträge zur Geschichte des Knchenpatronats in den deutschen Kolonisationslanden I (Ost- und Westpreußen), 1902, II (Mark Brandenburg), 1904, Die Ver­ bindung des Kirchenpatronats mit dem Archidiakonat, Hall. Festgabe f. Fitting, 1902; Priebätsch, Staat und Kirche in der Mark Brandenburg am Ende des Mittelalters, Z. f. Kg. XIX bis XXI, 1899—1901; Hennig, Die Kirchenpolitik der älteren Hohenzollern in der Mark Brandenburg und die päpstlichen Privilegien von 1447, 1906; v. Sommerfeld, Zur Ge­ schichte des Verhältnisses von Staat und Kirche in der Mark Brandenburg während des Mittelalter- und der Reformationszeit, Festschrift f. Delbrück, 1908; Kalkoff, Die Beziehungen der Lohenzollern zur Kurie unter dem Einfluß der lutherischen Frage, Q. u. F. IX, 1906; v. Schubert, Die Entstehung der schleswig-holsteinischen Landeskirche, 1895 (auch in der Zeitschr. der Gesellsch. f. schleswig-holstein. Geschichte XXIV, 1894), Kirchengeschichte Schleswig-Holsteins I, Schrift d. Ber. f. schlesw.-holst. Gesch. I 3, 1907; Wetzstein, Die Gründung der evangelischen Landes­ kirche in Mecklenburg, 1900; Weißbach, Staat und Kirche in Mecklenburg in den letzten Jahr­ zehnten vor der Reformation, Jbb. d. Ber. s. mecklenb. Gesch. LXXV, 1910; Martens, Tie hannoversche Kirchenkommission, ihre Geschichte und ihr Recht, Stutz, Kr. A., 79 u. 80. H., 1913; Geß, Die Klostervisitationen des Herzogs Georg von Sachsen, 1888, Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzogs Georg von Sachsen I, 1905; Cardauns, Zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen, Q. u. F. X, 1907; Pallas, Die Entstehung des landesherrlichen Kirchen­ regiments in Kursachsen, Reue Mitt. XXIV, 1910; Zieschang, Die Anfänge eines landes­ herrlichen Kirchenregiments in Sachsen am Ausgang des Mittelalters, Beitr. z. sächs. Kg. XXIII, 1910; Stieve, Das kirchliche Polizeiregiment in Baiern, 1876; Reinhard, Tie Kirchenhoheitsrechte deS Königs von Bayern, 1884; Mayer, Die Kirchenhoheitsrechte des König- von Bayern, 1884; Dyroff, Die Entwicklung des bayerischen Staatskirchenreckts bezüglich des Ortskirchenvermögens bis 1817, Ann. d. deutschen Reichs XXXVIII, 1905; Mitterwieser, Geschichte der Stiftungen und des Stiftungsrechtes in Bayern, Forschungen z. Gesch. Bayerns XIV, 1906; Lossen, Staat und Kirche in der Pfalz im Ausgang des Mittel­ alters, Finke, Borreform. Forsch. III, 1907; Hansen, Westfalen und Rheinland im 15. Jahr­ hundert, Publ. a. d. preuß. Staatsarch. XXXIV, 1888; Kuhl, Der Jülicher Kirchenstreit im 15. und 16. Jahrhundert, 1902; Redlich, Jülich-Bergische Kirchenpolitik am Ausgang des Mittelalters und in der Reformationszeit, 3 Bde. (Publ. d. Ges. f. rhein. Gesch.), 1907—13; Ko?, Die kirchenrechtlichen Verhältnisse der früher reichsunmittelbaren Fürst!. Fürstenbergischen Latoe im 16. Jahrhundert, Münstersche jur. Diss., 1908; Meister, Die Kirchenpolitik der Grasen ton Fürstenberg im 16. Jahrhundert, Freiburger Phil. Diss. (auch im Freiburger Diözes.-Arch. XXXVII), 1909; Wülk und Funk, Die Kirchenpolitik der Grafen von Württemberg bis 1495, Darst. a. d. Württ. Gesch. X, 1912; Steinhäuser, Die Klosterpolitik der Grasen von Württemberg bis Ende des 15. Jahrhunderts, Bened. St. M. XXXIV, 1913; Eichmann, Der recursus ib 1 Vgl. Brandenburg-Preußens ius episcopale auch den katholischen Untertanen gegenüber.

Kirchenrecht.

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abusu nach deutschem Recht, Gierkes Unters. H. 66,1903; Beres, Der Mißbrauch der geistlichen Amtsgewcüt, Würzburger jur. Tiss., 1907; Warnkönig, Die staatsrechtliche Stellung der katho­ lischen Kirche in den katholischen Ländern des deutschen Reichs im 18. Jahrh., 1855; M. Lehmann und G r a n i e r, Preußen und die kathol. Kirche seit 1640, 9 Bde. (bis 1807) 1878—1902, in den Publikationen aus den k. preuß. Staatsarchiven; Hiltebrandt, Preußen und die Römische Kurie I (1625—1740), 1910, Preußen und die römische Kurie in der zweiten Hälfte des 17. Jahr­ hunderts, O. u. F. XI, 1908; LasheyreS, Geschichte und heutige Verfassung der katholischen Kirche Preußens I, 1840; Dittrich, Geschichte des Katholizismus in Altpreußen von 1525 bis zum Ausgang deS 18. Jahrhunderts I, II, 1901/03 (auch in der Zeitschr. f. Gesch. Ermlands); F. Schröder, Zur Brandenburgischen Kirchenpolitik am Riederrhein, H. Jb. XXIV, 1903; Lochmann, Friedrich der Große, die schlesischen Katholiken und die Jesuiten seit 1756, 1903; Hegemann, Friedrich der Große und die katholische Kirche in den reichsrechtlichen Territorien Preußens, 1904; Westerburg, Preußen und Rom an der Wende des 18. Jahrhunderts, Stutz, Kr. A.,48. H., 1908; Rohrer, Das Waldmannsche Konkordat, Jb. s. Schweizer Gesch. IV, 1879; Egli, Die zürcherische Kirchenpolitik von Waldmann bis Zwingli, ebenda XXI, 1896; Pesta­ lozzi, Tas zürcherische Kirchengut in seiner Entwicklung zum Staatsgut, Zürcher jur. Diss., 1903; Wymann im Boll, storico della Svizzera ital. XXIV, 1903; Tobler, Das Verhältnis von Staat und Kirche in Bern (1521—1527), Festgabe f. Meyer v. Knonau, 1913; vgl. auch die Lit. zu § 31,1.

3. Josephinismus. Zum System erhoben wurde das Staatskirchentum unter Beihilfe des damals blühenden Naturrechts (Paul Joseph von Riegger1 aus Freiburg, Professor in Wien) und in konsequenter Turchsührung des absoluten Polizeistaats auch für die kirchlichen Lebensbeziehungen der Untertanen von Joseph II. für Österreich2, wo schon Maria Theresia und vor ihr Ferdinand I. mit dem Ausbau des im späteren Mittelalter (durch die Babenberger und Otakar) angebahnten Landeskirchentums begonnen hatten. Durch das nach seinem Begründer benannte System des Josephinismus (Instruktion des Fürsten Kaunitz 1781) wurde die Kirche zur staatlichen Erziehungs- und Polizeianstalt, wurden ihre Diener zu Staatsbeamten. Die kirchliche Zentralstelle ignorierte es möglichst, wurden doch die Bischöfe angewiesen, an Stelle des Papstes in Ehesachen zu dispensieren; der einheimischen Bischöfe bediente man sich fast nur noch für Weiheakte. Mles übrige besorgte mit emsiger Geschäftigkeit und mit einem Gfer, der, z. B. in der Förderung der weltpriesterlichen Seelsorge sowie in der Reguliemng der durch die geschichtliche Entwicklung arg verwirrten Bistumsorganisation nicht ohne wertvollen Erfolg blieb, aber noch öfter mangels gehöriger Rücksichtnahme auf gegebene Verhältnisse seine Wirkung verfehlte und wegen seiner Kleinlichkeit Schaden stiftete, die staatliche Kirchenbehörde, die das religiöse und kirchliche Leben der Untertanen bis ins kleinste Detail hinein bevormundete. Sie errichtete Pfarreien und versuchte sich sogar, allerdings ohne vollen Erfolg, in der eigenmächtigen Errichtung und Neuumschreibung von Bistümem. Sie besetzte dieselben, auch wo ihr ein No­ minationsrecht nicht indulgiert war, und ernannte auf Gmnd eines nunmehr aus der Souveränität hergeleiteten landesherrlichen Patronatrechts alle ständigen Kirchendiener. Sie sorgte für die Ausbildung des Klerus in staatlichen Generalseminaren, verfügte im Geiste der Aufllärung über die Ordnung des Gottesdienstes, damit er „mit voller Auferbaulichkeit" gehalten weiden könne (Mschaffung des Prunkes, Einfühmng neuer Gesänge, Verbot der Aussetzung von Reliquien, Beschränkung der Festtagsbeleuchtung und der Wtarprivilegien, letzteres, um nicht dem Ablaßwesen Vorschub zu leisten), und hob die beschaulichen Orden auf, die wegen Nutz­ losigkeit nicht existenzberechtigt seien. Ihr Vermögen wurde zu einem unter anderem für die Dotiemng von Seelsorgestellen verwendeten „Religionsfond" vereinigt, an den auch 1773 das Vermögen der österreichischen Jesuiten überging. H e i g e l, Deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Auflösung des deut­ schen Reiches, 1906; H i n s ch i u s, Kr. III § 178, IV § 233; Krabbo , Die Versuche der Baben­ berger zur Gründung einer Landeskirche in Österreich, Arch. f. österr. Gesch. XCIII, 1903; Srbik,

1 Seine Institutiones iurisprudentiae ecclesiasticae, 1765, die das ius maiestaticum circa sacra möglichst weit ausdehnten, wurden 1776 für den Ärchenrechtsunterricht als obligatorisches Lehrmittel erklärt. 1 Ähnlich wirkte in dem österreichischen Toskana Josephs Bruder Leopold, unter dem auch die berühmte Reformsynode von Pistoja 1786 abgehallen wurde, deren dogmen- und kirchenrechts­ widrige Beschlüsse (z. B. votum decisivum der Psarrgeistlichkeit auf der Diözesansynode) Pius VI. durch die Bulle Auctorem fidei 1794 verdammte.

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Die Beziehungen von Staat und Kirche in Österreich während des Mittelalters, 1904; Sammlung der K. K. landesfürstlichen Gesetze und Verordnungen in Publico-ecclesiasticis, 11 Bde., 1782 bis 1801; Petzek, Systematisch-chronologische Sammlung der politisch-geistlichen Gesetze für die vorderösterreichischen Lande, 8 Bde., 1796; Geier, Die Durchführung der kirchlichen Reformen Josephs II. im vorderösterreichischen Breisgau, Stutz, Kr. A., 16. u. 17. H., 1905; Gothein, Der Breisgau unter Maria Theresia und Joseph 11., Neujahrsbl. d. bad. hist. Komm., 1907; Franz, Studien zur kirchlichen Reform Josephs II. mit besonderer Berücksichtigung des vorderösterreichischen Breisgaus, 1908; KuSej, Joseph II. und die äußere Kirchenverfassung Jnnerösterreichs, Stutz, Kr. A., 49. u. 50. H., 1908; Holder, Beiträge zur Geschichte der Amortisationsgesetzgebung unter der Regierung der Kaiserin Maria Theresia, A. f. k. K. LXXXIV, 1904; Hittmair, Der Josephinische Klostersturm im Lande ob der Enns, 1907; Gnau , Die Zensur unter Joseph II., 1911; Schönsteiner, Religion und Kirche im josephinischen Staatswesen, Jb. des Stiftes Klosterneuburg IV, 1912; Scaduto, Stato e chiesa sotto Leopolde I, 1885; Rodolico, 8tato e Chiesa in Toscana durante la Reggenza Corense, 1910; Büchi, Ein Menschenalter Reform der Toten Hand in Toskana, Eberings Hist. Stud. XCIX, 1912; Guglia , Geschichte der Bischofs­ wahl in den deutschen Reichsstistern unter Joseph II., M. d. I. f. ö. G. XXXIV, 1913; (Zirkel), Das landesherrliche Patronatrecht, eine neue Erfindung, 1804, Geschichte des Patronatrechts in der Kirche, 1806; Ludwig, Weihbischof Zirkel von Würzburg, 2 Bde., 1904/06; Hinschius, Das landesherrliche Patronatrecht, 1856, und Kr. III § 151.

§ 40. Der nachkanonifche Ausbau des katholischen Äirchenrechts. 9luf kanonischer Grundlage, aber nicht ohne erhebliche Umgestaltungen zum Teil prinzi­ pieller Natur wurde das katholische Kirchenrecht in der nachkanonischen Periode ausgebaut. 1. Die Organisation der römischen Kurie war vomehmlich das Werk Sixtus' V. Zunächst verlieh er dem Kardinalskollegium — seit 1567 gibt es nur noch römische Kardinäle — eine festere Verfassung (Konstitutionen Postquam vorus 1686 und Roligiosa sanctorum 1587 u. a. mit der Maximalzahl 70, einem Optionsrecht der in Rom residierenden für jeden frei werdenden besseren Titel und mit der Emennung durch den Papst). Weiter hat er ältere Kurialbehörden zwar beibehalten, neben der Cancellaria z. B. den Gerichtshof der Romana Rota 1 (seit 1331), die Verwaltungs- und Gerichtsbehörde in Finanzsachen, genannt Camera Apostolica, mit einem Kardinal als Kämmerer (Camerlengo), das Bußamt der Pönitentiarie, organisiert seit 1338, und die Datarie, die Gnadenbehörde zur Vorbereitung und Ausfertigung (datare) der Dispensen (mindestens seit Martin V. 1417—31). Aber er fügte ihnen unter der Bezeichnung „Kongregationen" eine neue Schicht von zunächst 15 Kurialbehörden in Gestalt von ständigen Kardinalsausschüssen hinzu (Immensa aetemi 1587), unter die er auch das Sanctum Officium, die römische Zentralstelle für Verfolgung der Häresie, durch Paul III. 1542 (Licet ab initio) auf Betreiben Caraffas und Loyolas errichtet, als Congregatio Romanae et universalis inquisitionis, sowie die von Pius V. für die Handhabung des Bücherverbots (§ 37) gegründete Behörde als Congregatio indicis librorum prohibitorum einreihte. Durch eine Reihe von Erlassen hat später Benedikt XIV. diese Organisation vervollkommnet. Schon vorher aber hatte die Betrauung des jeweiligen Kardinalnepoten mit der Besorgung der politischen Geschäfte zur Entstehung der Secretaria Status geführt, deren Chef seit 1692 ein Kardinal­ staatssekretär ist.

Hinsä)ius, Kr. I 34 m, 45, 46, 49, 50, 52—54; vgl. die Lit. zu § 68; Herre, Papsttum und Papstwahl im Zeitalter Philipps II., 1907; Schweitzer, Zur Wahl Alexanders VI., H. Jb. XXX, 1909, Zur Geschichte der Reform unter Julius III., Görres-Ges., 3. Vereinsschrist f. 1907; P a r o 1 i n i, Adriano VI, 1913; Hübner, Sixtus V., 2 Bde., 1871; Sägmüller , Die Anfänge der diplomatischen Korrespondenz, H. Jb. XV, 1894; Hilling, Die Errichtung des Notarkollegiums an der römischen Rota durch Sixtus IV. (1477), Festgabe f. Finke, 1904; Hilgers, Der Index der verbotenen Bücher, 1904; Ancel, L’activitti rtiformatrice de Paul IV, Le choix des cardinaux, R. q. h. LXXXVI, 1909, La seerätairerie pontificale sous Paul IV, R. q. h. LXXIX, 1906; Tome, Ptol6m6e Gallio, Cardinal de Cöme, 6tude sur la seerötairerie et sur la politique des papes au 160 siöcle, 1907; Göller, Zur Geschichte des pävstlichen Sekretariats, Q. u. F. XI, 1908; Richard, Origines et däveloppement de la Secr6tairerie d’Etat apostolique (1417 bis 1823), R. h. e. X, XI, 1910; Baumgarten, Fiat ut petitur, RO. XXIV, 1910; Scholz, Eine humanistische Sd)ilderung der Kurie (1438), Q. u. F. XVI, 1H3 u. A. f. Kulturg. X, 1913.

1 Bon dem runden Sitzungstisch?

Berühmt wurden die decisiones Rotae.

Kirchenrecht.

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2. DerMissionsorganismus. Mt der Errichtung einer neuen, in ihren An­ fängen auf Gregor XIII. zurückgehenden Kongregation durch Gregor XV. (Bulle Inscrutabili, 1622) als Zentralstelle für die gesamte Mission (auch unter den Pwtestanten), der sogenannten Congregatio de Propaganda fide, hängt aufs engste zusammen die Schöpfung eines dem ordent­ lichen Provinzial- und Bistumorganismus der terrae Sedis Apostolicae für die terrae missionis zur Seite tretenden Missionsorganismus, ausgezeichnet durch gwße Anpaffungsfähigkeit und straffe Zentralisation. Aber auch ein reiches, anfänglich von Fall zu Fall ausgebildetes, später auf Gmnd der vorliegenden Einzelurkunden planlos um- und ausgestaltetes Fakultätenrecht wurde nicht nur für die Nuntien und Orden, sondem vor allem auch im Dienste der Heiden- und der Protestantenmission entwickelt. Ordnung brachte in dasselbe eine durch Urban VIII. ver­ anlaßte und 1633—38 durchgeführte Revision und Kodifikation. Außer General- und Spezial­ regeln für die Fakultätenvergabung wurden fünf General- und ebenso viele Spezialformulare hergestellt. Aus Formular III gingen die deutschen Nuntiatur- und die Quinquennalfakultäten hervor, die seit 1640 namentlich den westdeutschen Bischöfen immer auf fünf Jahre durch die In­ quisition, seit 1765 durch die Propaganda verliehen und unter anderem zur formellen Behauptung primatialer Rechte gegenüber dem Episkopalismus benutzt wurden. Dieses subjektiv geprägte Missionsrecht verdrängte, auch innerhalb des ordentlichen Kirchentums, mehr und mehr das kanonische Regelrecht und bahnte eine Verjüngung des letzteren an, in ähnlicher Weise wie im 19. Jahrhundert das bürgerliche Recht durch die Ausnahme von Handelsrecht verjüngt worden ist. M e j e r, Die Propaganda, 2 Telle 1852/53; Mergentheim, Die Quinquennalfakul­ täten pro foro externe, ihre Entstehung und Einführung in deutschen Bistümern, I, II, Stutz, Kr. A., 52—55. H., 1908, Zur Entstehungsgeschichte der Quinquennalfakultäten, Z.' s. RG. II, 1912; H j n s ch iu s, Kr. I § 60, II § 97; W o ke r, Geschichte der norddeutschen FranziskanerMission, 1880, Aus norddeutschen Missionen, 1884; Pieper, Die Propaganda-Kongregation und die norddeutschen Missionen im 17. Jahrhundert, 1885, Gründung und erste Einrichtung der Propaganda-Kongregation, Akten des 5. internst. Kongr. kath. Gelehrter, 1900, 1901; Schmidlin, Rom und die Missionen, R.Q. Supplh. XX, 1913.

3. Die ordentliche Bistumsverfassung wurde durch das Tridentinum ebenfalls schärfer angezogen. Die Rechte der immer mehr zu Mtregenten für die Fürst­ bistümer werdenden Domkapitel wurden selbst sede vacante (durch die obligatorische Bestellung eines Kapitelsvikars) beschränkt. Der dem Bischof gefährliche Archidiakonat wurde beseitigt und behauptete sich nur in Nordwestdeutschland, vor allem in Mainz, Köln, Trier, Münster, Paderbom, Osnabrück, wo auch der Send im 17. und zum Teil noch im 18. Jahrhundert eine neue Blüte (Sendhandbücher) erlebte. Sonst trat an die Stelle des Archidiakonats der aus dem Offizial des Bischofs erwachsene Generalvikar, als Regiemngsgehilfe vom Bischof ebenso ab­ hängig wie der Weihbischof1 als Gehilfe im Gebiet der Weihegewalt. Die durch die Entwicklung der Weihestufen und des Amterwesens vemrsachte Schwächung der Stellung des bischöflichen Seelenhirten wurde durch das Tridentinum in der Weise geschickt wettgemacht, daß die Ver­ waltung des wichtigsten Seelsorgemittels, des Bußsakraments, außer im Sterbefall (in articulo mortis), in dem nicht bloß die iurisdictio interna des Pfarrers, sondem sogar die Weihe jedes Priesters zur Absolution ausreicht, von einer widermflichen, immer nur auf Zeit erteilten bischöf­ lichen Konzession, approbatio pro cura (bei nichtbischöflicher Amtsverleihung institutio autorizabilis) abhängig gemacht wurde. Aber auch den zahlreichen Exemten gegenüber erfuhr die bischöfliche Macht eine Verstärkung. Dem Bischof sollten päpstliche Auffichtsrechte, die ihm kraft einer vom Gesetz ein für allemal erteilten Delegation (tamquam Sedis Apostolicae delegato) den Diözesanen gegenüber eingeräumt wurden, wo nötig, auch gegen die Exemten kraft Dele­ gation zustehen (etiam tamquam Sedis Apostolicae delegato). Übrigens regelten das Trienter Konzil und Benedikt XIV. (Inter multa 1747) gerade die Stellung dieser Exemtm näher. Sie sollten entweder bloß passiv eximiert, d. h. der Jurisdiktion des Ordinarius oder Metwpoliten entzogen und, unter ideeller Zurechnung zu der auf das Gebiet zwischen Pisa und Capua be1 Seit dem 14. Jahrhundert wurden als solche namentlich episcopi in partibus infidelium verwendet, d. h. Bischöfe von Diözesen, die Nichtchristen, insbesondere den Muselmanen, in die Hände gefallen sind, auf deren Stühle aber trotzdem immer wieder Nachfolger der seinerzeit ge­ flohenen Amtsträger ernannt werden.

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schränkten römischen Kirchenprovinz, direkt dem Papst unterstellt sein. Oder die Exemtion mar auch aktiv, so daß die Exemten selbst die Jurisdiktion erhielten, und zwar entweder bloß personal, für sich und ihren (Kloster*) Verband, oder territorial, mit einem sonst zur Diözese gehörigen Territorium: uneigentliche praelati nullius (dioeceseos), oder mit einem völlig aus dem Diözesan­ verband herausgehobenen territorium separatum: eigentliche praelati nullius, wie heute noch z. B. die Abte von Einsiedeln und St. Moritz in der Schweiz, von Mehrerau in Österreich und von Martinsberg in Ungam *. Endlich sollten Inkorporationen von Pfarrkirchen ohne päpst­ liche Genehmigung unwirksam sein, wodurch deren Beschränkung bezweckt und erreicht wurde2 Hinschius, Är. I § 22 m*, II §§ 86 n, 87 l, 96, IV § 203; Werminghoff, BG. §§ 36, 37; H o y e, Etüde sur Fhistoire des exemtions, R. h. e. I, 1900; über Wechbischöfe vgl. Hinschius, Kr. II § 85 in, und v. Bunge, Livland, die Wiege der deutschen Weih­ bischöfe, 1875, sowie für einzelne Bistümer z. B. H e i st e r für Köln, 1843, Tibus für Münster, 1862, Koch für Erfurt, 1865, in Z. f. thür. Gesch. VI, E v e l t für Paderborn, 1869, Möller für Osnabrück, 1887, Schrader für Minden, 1897, Falk, in A. Z. N. F. III, 1892, und Rattinger, Kath. LXXV, 1, 1895 für Mainz, Haid, im Freiburger Diöz.-Arch. VII, IX, 1873—75 für Konstanz, Reininger, 1875 für Würzburg sowie die Lit. zu § 30, 3; Kujot, Visitationes archidiaconatus Pomerianae 1897—99; Iungnitz, Die eanctio pragmatica des Bischofs Franz Ludwig von Breslau, 1900, Bisitationsberichte der Diözese Breslau, I—IV, 1902—08; Holder, Les visites pastorales dans le diocöse de Lausanne (16*—17e siScle), 1903; Hahn, Visitationen und Bisitationsberichte aus dem Bistum Straßburg in der -weiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Z. f. Gesch. d. Oberrheins, XXV, 1910, XXVI, 1911; Schwarz, Die Akten der Visitation des Bistums Münster aus der Zeit Johanns von Hoya (1571—73), Geschichts­ quellen des Bistums Münster VII, 1913; S ch m i d l i n, Die kirchlichen Zustände in Deutschland vor dem Dreißigjährigen Krieg nach den bischöflichen Diözesanberichten an den Hl. Stuhl I—III, 1908—10, Die innerösterreichische Gegenreformation und die bischöflichen Romberichte, Hist.-pol. Bl. CXLV, 1910; Dengel, Berichte von Bischöfen über den Stand ihrer Diözesen, Forsch, u. Mitt. z. Gesch. Tirols, III, 1907, IV, 1908; Wolf, Historische Abhandlung von den geistlichen Kommissorien im Erzstist Mainz, 1797; Krusch, Studie zur Geschichte der geistlichen Juris­ diktion und Verwaltung des Erzstifts Mainz, Z. d. hist. Ber. f. Niedersachsen, 1897; Martens, Die hannoverische Kirchenkommission (§ 39, 2); Hensler, Verfassung und Verwaltung von Kurmainz um 1600, Straßburger Beiträge zur n. Gesch., II, 1, 1909; Veit, Kirchliche Reform­ bestrebungen im ehemaligen Erzstift Mainz, St. u. D. VII, 3, 1910; Löhr, Die Verwaltung des Kölnischen Großarchidiakonates Xanten am Ausgange des Mittelalters, Stutz, Kr. A., 59. u. 60. H., 1909; Koeniger, Vom Send (§ 20, 3); Krieg, Der Kampf der Bischöfe (§ 19); Ebers, Die Archidiakonal-Streitigkeiten in Münster im 16. und 17. Jahrhundert, Z.'f RG. III, 1913; Wolf, Aus Kurköln im 16. Jahrhundert, 1905; Kuhl, Der Landdechant von Jülich im 18. Jahrhundert, Rhein. Geschichtsbl. VI, 1902; Hahn, Die kirchlichen Reformbestrebungen des Straß­ burger Bischofs Johann von Manderscheid (1569—99), Fickers Q. u. F. z. Kg. von Elsaß-Lothringen, 3. H», 1913; Simon, Tie Verfassung des geistlichen Fürstentums Fulda (Fuldaer Geschichtsbl.), 1912; Henkel, Die kirchliche Organisierung des Pfarrllerus der Diözese Hildesheim in den letzten 150 Jahren (Pfarrzirkel u. TekanatSordnung), Beitr. f. d. Gesch. Niedersachsens XXXV, 1912.

4. Das Klerikerrecht. Tie vom Tridentinum vorgeschriebene Ablegung eines Glaubensbekenntnisses gewährleistet die Rechtgläubigkeit wie der Bischöfe so aller Seelsorge­ geistlichen. Tie Durchführung des im Gegensatz zu den Protestanten streng festgehaltenen Ehe­ verbots und der Residenzpflicht wird durch energische Maßregeln gesichert. Neue Titelvorschriften (bald nach dem Tridentinum der titulus mensae, insbesondere principis, und titylus missionis) sorgen für das Auskommen der Weiheempfänger. Vor allem aber wird für die theologische und praktische Ausbildung der künftigen Geistlichen nach dem Vorbild der jesuitischen Kollegien3 das bischöfliche (tridentinische) Seminar eingesührt. Hinschius, Kr. III §§ 157, 158, IV §§ 231, 232; Ebses, Kirchliche Resormarbeiten unter Papst Paul III. vor dem Trienter Konzil, R. Q. XV, 1901; Neu, Beitrag zur Ge'chichte des Coelibats, Z. f. Kg. XXI, 1900; I. Meyer, Ursprung und Entwicklung des Tischtitels, 1 Den deutschen, z. B. Fulda, Kempten, Berchtesgaden, Ellwangen u. a., hat die Säkulari­ sation des 19. Jahrhunderts ein Ende gemacht. 1 Infolge derselben Säkularisation hörten die meisten alten Inkorporationen ebenfalls aus. Doch sind zurzeit der Universität Freiburg z. B. nod) drei katholische Pfarreien inkorporiert. Außerdem wurden int Laufe des 19. Jahrhunderts gelegentlich neue Inkorporationen verfügt, so z. B. 1821 bis 1827 diejenige der Freiburger Münsterpfarrei in das dortige Domkapitel. Über ein Beispiel aus allerneuester Zeit, die Inkorporierung der Pfarre Seckau in die dortige Benediktimrattei (1888), vgl. A. f. k. Kr. LXXXVII, 1907. * Z. B. des Collegium Romanuni, 1551, und des Germanicum, 1552, beide in Rom; S'e inHuber, Geschichte des Kollegium Germanikum-Hungarikum ’, I, II, 1906.

Kirchenrecht.

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A. s. k. Kr. III, 1858; Lingg , Geschichte des Tridentinischen Psarrkonkurses, Bamberger Progr., 1880; Laurentius, Zur Entwicklung und zum heutigen Bestände des titulus missionis, A. f. L Kr. LXXXVI, 1906; Schmidlin, Geschichte des Priesterseminars im Bistum Basel, 1911. 5. TasOrdensrecht. Die älteren Orden hatten sich in der Reformationszeit mehr oder weniger als unzuverlässig erwiesen. Neben sie traten neue, die mit frischen Kräften teils der Behauptung, teils der Wiederausdehnung des Katholizismus dienen wollten. Noch vor dem Trienter Konzil half Caraffa, nachmals Paul IV., damals Bischof von Theate (Chieti), den zur Bekämpfung der Ketzer bestimmten Theatinewrden ins Leben mfen, indes von den Franziskanem 1528 der volkstümlichste neue Orden, die Kapuziner, sich abzweigte. Wer Epoche, auch in der Geschichte des Ordensrechtes, machten nur die Jesuiten (§ 37). Einmal, indem sie unter Berschärfung der Gehorsamspflicht1 ein viertes Gelübde hinzufügten, das zu unbedingter Unter­ werfung unter den römischen Stuhl, wohin immer er den Einzelnen im Dienste der Mssion senden würde, verpflichtete, also die schon vorher (§ 29, 3 c) verflüchtigte stabilitas loci auch int weitesten Sinn (stabilitas provinciae oder gar religionis) vollends beseitigte. Und sodann durch die Lebenslänglichkeit ihres in Rom residierenden Generals, der, selbst beauffichtigt und bei Pflichtvergessenheit durch die Generalkongregation absetzbar, über jedes einzelne GesellschaftsMitglied durch die Provinziale, Rektoren und Superioren, die gleichfalls unter Kontwlle stehen, in kurzen Zeiträumen eingehenden Bericht zu erhalten hat. Seicher entstandene Dtben1 ahmten dies Vorbild, insbesondere auch hinsichtlich des ersten Punktes, nach. Vor allem aber war es maßgebend für die lockere, ordensähnliche Form der Kongregationen 8, die seit dem 16. Jahr­ hundert in zahllosen Wwendungen, namentlich auch für das weMche Geschlecht *, begegnet, und für die Brüderschaften und Vereine der in der Welt und ihrer bürgerlichen Tätigkeit Ver­ bleibenden, die unter kirchlicher Leitung das Weltleben mit kirchlichen Grundsätzen zu durchsetzen bestrebt sind, eines der wichtigsten Machtmittel der katholischen Kirche in der Neuzeit. Werminghofs, BG. §§ 39, 40, 41; Kratz, Das vierte Gelübde in der Gesellschaft Jesu, Z. s. k. Th. XXXVII, 1913; A. Müller, Die Kölner Bürger-Sodalität (1608—1908), 1909; Duhr, Zur Geschichte der Marianischen Kongregationen in Deutschland, St. M.-L. LXXVIII, 1910; Muth, Die Kongregation unserer lieben Frau von Trier, Welfchnonnenlloster, 1907; Sicard, La vieilJe France monastique, R. des Deux-Mondes LXXIX, 1909; Sinneborn, Die Reformation der westfälischen Benediktinerllöster (§ 29, 3 c); Eberl, Geschichte der bayerischen Kapuzinerprovinz (1593—1902), 1902; Monumente historica societetis Jesu, seit 1894; Institutum societatis Jesu, 3 Bde., 1892—93; Goetz, Lazaristen und Jesuiten, 1898, Jesuiten und Jesuitinnen, 1901; Durtelle de St. Sauveur, Recherches sur Fhistoire de la throne de la mort civile des religieux des origines au 16« siicle, Thise, 1910.

6. Das Eherecht wird vom tridentinischen decretum Tametei (§ 37) durch die Auf­ stellung einer für die Gültigkeit der Ehe wesentlichen Eingehungsform verbessert (also regelmäßig keine matrimonia elendestina = formlose, offenkundige oder geheime, Ehen mehr!). Die Geltung des Dekrets, dem nach katholischer Auffassung auch die Pwtestanten als ketzerische Kirchen­ mitglieder unterworfen waren, wurde suspendiert für Ehen von solchen und für gemischte in Holland und Belgien durch die Benediktina, eine Deklaration Benedikts XIV. von 1741, für die gemischten auch in der Diözese Breslau durch die Klementina, eine Instruktion Klemens XIII. von 17658. Anderseits führte die Glaubensspaltung zu dem erst streng, im 18. Jahrhundert dagegen milde gehandhabten Hindemis der gemischten Ehe (impedimentum mixtae rebgionis).

Zur Geschichte des caput Tametsi in der alten Erzdiözese Mainz, Kath. LXXXVIII, 1908; Bassibey, De la elendestinits dans le mariage, 1904; v. Hörmann, Die Triden» trnische Trauungssorm in rechtshistorischer Beurteilung, 1904; Fleiner, Die Tridentinische Ehevorschrist, 1892; Beit, Das Trienter Ehedekret Tametsi und seine Promulgation in dem Erzstift Mainz, Kath. LXXXIII, 2, 1903; Falk, Wann wurde das Trienter Ehebekret Tametsi 1 Die Ordensangehörigen sollen nach den Ordenskonstitutionen gehorchen, perinde ac si cadaver essent, quod quoquo versus ferri et quacunque ratione tractaii se sinit, jedoch nur in Dingen, in quibus nullum manifestum est peccatum. 1 Z. B. die Piaristen, 1597. • Z. B. die Redemptoristen (Alfons von Liguori), 1749, Lazaristen, 1624/31 (Binzenz von Paul). • Barmherzige Schwestern (Binzenz von Paul) 1633/68. • Weitere Suspensionen für preußische Gebiete siehe bei H ü b l e r, Eheschließung und ge­ mischte Ehen in Preußen, 1883 S. 51 ff., 91 ff. 23 Enzyklopädie der Rechttnnfsenschaft. 7. der Neubearb. 2. Aufl. Band V.

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in der Erzdiözese Mainz rechtsgültig verkündet, Kath. LXXXIII, 1, 1903, Die Ehe am Ausgange des Mittelalters, Erl. zu Janssens Gesch. VI, 1908; Äo ebner, Die Eheauffassung des aus­ gehenden deutschen Mittelalters, A. f. Kulturgesch. IX, 1911; Rodocanachi, Le mariage en Italie ä l’epoque de la renaissance, R. q. h. LXXVI, 1904; Meydenbauer, Zur Frage der gemischten Ehen in Schlesien in den Jahren 1740—50, Q. u. F. III, 1900. 7. Strafrecht und Prozeß. Die Jnanspmchnahme der Evangelischen als ketze­ rischer Mitglieder der katholischen Kirche bleibt angesichts der Notwendigkeit täglichen Zusammen­ lebens nur möglich durch die übrigens schon gegenüber den vorreformatorischen Gebannten von der Konstitution Martins V. 1418 Ad evitanda getroffene Milderung, daß die Verkehrs­ sperre bloß im Verhältnis zu namentlich, d. h. durch konstitutives Urteil oder Deklarationssentenz mit deutlicher Bezeichnung Gebannten, den sogenannten excommunicati vitandi, besteht \ nicht zu den übrigen, den excommunicati tolerati. Sonst bewegt sich das kirchliche Strafrecht, wenn man vom Zurücktreten des generellen Lokalinterdikts (für lange Zeit letzte, erfolglose Anwendung gegen Venedig 1606) und des interdictum ambulatorium sowie vom Aufkommen neuer Strafen, wie der Strafversetzung, translocatio (einer Abart der alten privatio beneficii), der jesuitischen geistlichen Strafexerzitien, der Amtsenthebung ohne Verfahren auf Gmnd der Überzeugung des Ordinarius von der Schuld eines Klerikers an einem geheimen Vergehen (suspensio ex informata conscientia), endlich von neu aufkommenden Delikten, wie der Lesung verbotener Bücher, absieht, durchaus in der hergebrachten Richtung. Ja, es verschärft sich eher noch, z. B. durch die Fiktion des Rückfalls bei gewissen schweren Fällen der Ketzerei, wie etwa bei Leugnung der Gottheit Christi (Paul IV. Cum quorundam, 1555, bestätigt 1568, 1603). Insbesondere zeigt sich dies in dem entsetzlichen Aufschwung, den, allerdings nicht in Deutsch­ land, gerade jetzt die schmachvolle Einrichtung der Ketzerinquisition erlebte, die in Spanien noch dazu staatlich, mit einer Landeszentralbehörde an der Spitze, organisiert wurde (spanische In­ quisition, seit 1483, aufgehoben erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts in ihrem italienischen, 1834 in ihrem spanischen Anwendungsgebiet). Ein nicht minder trauriges Erbe des durch die Kirche auch in diesem Punkt entscheidend bestimmten Mittelalters (Thomas von Aquino, Kon­ stitution Summis desiderantes, 1484, von Innozenz VIII., Malleus maleficarum oder Hexen­ hammer von Heinrich Jnstitoris und Jakob Sprenger 1486) war der Hexenwahn. Katholische und Evangelische verfielen ihm in gleicher Weise und haben ihn im 16. und 17. Jahrhundert in grauenerregendem Wetteifer auf dem Wege des Hexenprozesses in zahllosen Hexenverbrennungen betätigt. Anderseits wird das Asylrecht beibehalten (Gregor XIV. Cum alias von 1591) und nur die Zahl der casus excepti vermehrt, in denen asylunwürdige Verbrecher mit kirchlicher Ermächtigung herausgeholt werden können.

H i n s ch i u s , Kr. V §§ 298—349, VI §§ 383—393; Soldan-Heppe-Bauer, Ge­ schichte der Hexenprozesse 3, 2 Bde., 1912; Riezler , Geschichte der Hexenprozesfe in Baiern, 1896; D ettling , Die schweizerischen Hexenprozesse (1571—1753), Mitt. d. hist. Ver. f. d K. Schwyz, XV, 1905; Hansen, Der Hexenhammer, seine Bedeutung und die gefälschte Kölner Approbation von 1487, Westd. Zeitschr. XXVI, 1907, Heinrich Jnstitoris, ebenda XXVI, 1907, Die Kontroverse über den Hexenhammer und seine Kölner Approbation, ebenda XXVII, 1908; Paulus, Hexenwahn und Hexenprozeß, vornehmlich im 16. Jahrhundert, 1910; Pastor, Allgemeine Dekrete der römischen Inquisition (1555—97), H. Jb. XXXIII, 1912 (auch sep.); Schäfer, Beiträge zur Geschichte des spanischen Protestantismus und der Inquisition im 16. Jahrhundert, 3 Bde., 1902, Die älteste Jnstruktionensammlung der spanischen Inquisition, Erg.-H. z. Archiv f. Ref.-Gesch. 1904; Lea, History of the Inquisition of Spain, 4 Bde., 1906 (deutsch in 3 Bdn. von Müllendorff, 1911/12), The inquisition in the Spanish Dependencies, 1908; Buschbell, Reformation und Inquisition in Italien um die Mitte des 16. Jahrhunderts, Quellen und Forsch, d. Görres-Ges., XIII, 1910; Caro, Die spanische Inquisition, Neue Heidel­ berger Jbb. XXVII, 1911; F a v a r o , Galileo e l’inquisizione, documenti del processo Galileano, 1907; Garzend, Si Galilöe pouvait juridiquement §tre torture, R. q. h. XC, 1911, XCI, 1912; Bindschedler, Kirchliches Asylrecht (8 15); G r ö l l, Elemente des kirchlichen Freiungs­ rechtes (§ 15); vgl. die Lit. zu § 33. Die Gerichtsverfassung wird in dieser Periode durch zwei Institute bereichert, die eine sachverständigere und eine sicherere Justiz bezwecken, nämlich durch die iudices in partibus, inländische Delegaten für die Ausübung der höchsten, drittinstanzlichen Rechtsprechungsgewalt

1 Auch die Verfestung und die Achtung sollten nach Ssp. Ldrs. I 66 § 3 namentlich geschehen; vgl. Planck, Das deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter II, 1879 S. 294, 306.

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des Papsttums, und durch den öffentlichen Ankläger, procurator fiscalis, der den französischen procureur du roi auf kirchlichem Gebiet nachahmt. Durch den letzteren erleidet, während der alte Anklagepwzeß und mit ihm auch die purgatio canonica (§ 33) verschwindet, das Denunzia­ tionsverfahren in so fern eine Umwandlung, als die denuntiatio evangelica (§ 33) in Abgang kommt und das Ofsizialverfahren meist durch den promotor fiscalis in Bewegung gesetzt wird. Für die Zuständigkeit der kirchlichen Strafgerichte endlich wird seit dem 15. Jahrhundert die Schulunterscheidung von crimina mere ecclesiastica im Gegensatz zu den mere tivilia und von delicta mixti fori maßgebend. Bei letzteren, wie z. B. Gotteslästerung, Entführung, Fleisches­ verbrechen, Meineid, soll Prävention entscheiden.

H i n s ch i u s , Kr. I § 21 in.

§ 41. Episkopalismus, Gallikanismus, Febronianismus. Die gemeinrechtliche Entwicklung war zwar zugunsten des Papsttums ausgefallen, jedoch zu einer ausdrücklichen und maßgebenden Entscheidung gegen die Superiorität des zum all­ gemeinen Konzil versammelten Episkopats, den sogenannten Episkopalismus, war es nicht ge­ kommen. Deshalb vermochte dies Reformsystem partikularrechtlich noch Jahrhunderte lang sich zu behaupten. Vor allem in Frankreich, wo es mit staatskirchlichen Elementen zu einem Nationalkirchentum sich verband und als solches durch das Königtum kräftig geschützt wurde (§ 39, 1). Das Gmndgesetz dieses sogenannten Gallikanismus1 waren die vier Artikel der declaratio cleri Gallicani (Bossuet) von 1682, nämlich: 1. Die Gewalt des Papstes erstreckt sich nicht auf das bürgerliche und weltliche Gebiet, so daß der König ihm in temporalibus nicht untersteht2 und von ihm nicht abgesetzt werden kann. 2. Mer selbst in geistlichen Dingen ist die päpstliche Gewalt in Frankreich durch die Beschlüsse des Konstanzer Konzils über die kon­ ziliare Superiorität beschränkt. 3. Sie ist ferner an die Konzilien überhaupt und an die gallikanischen Gewohnheiten gebunden. 4. In Glaubenssachen entscheidet der Papst, doch so, daß ohne Zustimmung der Kirche seine Dekrete nicht irreformabel sind. Seine wissenschaftliche Verarbeitung fand der Gallikanismus in den Libertez de l'eglise Gallicane von Pierre Pithou 1594, einer privaten, aber bald von der Praxis als autoritativ behandelten Arbeit. Überhaupt knüpfte sich daran in Frankreich eine hohe Blüte kirchenrechllicher, auch historischer Wissenschaft3; ihre hervorragendsten Vertreter waren Etienne du Pasquier, 11615, Jacques Sirmond, 11651, Pierre Dupuy, 11651, Jacques Godefroy, 1 1652, David Blondel, 1 1655, Pierre de Marca, t 1662, Louis Thomassin, f 1697, Etienne Baluze, t 1718, u. A. m.

Hinschius, Kr. I 8 22; Mention, Documents relatifs aux rapp orts du clerg6 avec la royautS (1682—1789), 2 voL, 1893, 1903; G. Hanotaux et J. Hanoteau, Introduction zum Recueil des instructions dorniges aux ambassadeurs ... de la France VI, XVII (Rome, I, II), 1 Seine Kehrseite war eine selbst vom Papsttum kaum erreichte Verfolgungssucht gegen Andersgläubige, insbesondere gegen die Hugenotten (vgl. vor allem die Einleitung zur declaratio), deren Höhepunkt mit dem 1685 erfolgten Widerruf des Edikts von Nantes von 1598, das die Protestanten geschützt hatte, keineswegs erreicht wurde, eine Schroffheit, die teils einem auf die Spitze getriebenen Territorialismus, teils dem Bestreben entsprang, Rom gegenüber das, was man sich in Dogma und Disziplin ihm gegenüber erlaubte, auf andere Weise wieder gutzumachen. 2 Innozenz III. hatte in der Bulle Per venerabilem (§ 28) gegen den Kaiser und die Legisten erklärt, daß Rex Francorum superiorem in temporalibus non agnoscit. Das spätere französische Königtum benutzte dann diesen Satz in erster Linie gegen das Papsttum. Vgl. übrigens auch das deutsche Reichsgesetz Licet juris von 1338 (bei Zeumer, Quellensammlung z. Gesch. d. deutsch. Reichsverf?, 1913 S. 184): Imperator ... in temporalibus superiorem non habet in terris. Als man gegen das französische Regalienrecht geltend machte, der Kaiser besitze ein solches auch nicht, wandte freilich der Generaladvokat Le Bret ein, der französische König sei eben mächtiger als jener, sage doch Baldus im Gons. 218: rex Francorum est quidam deus corporalis et stella matutina in medio nubis meridionalis, Michellet, Regale (§ 18, 3 a) p. 101. 3 Von italienischen Kirchenrechtslehrern verdienen außer Bellarmin (§ 38), Lambertini (S. 345 A. 3), Mansi und Ferraris (§ 61, S. 280) genannt zu werden: Paolo Lancelotti, t 1590, Paolo Sarpi, t 1623, Prospero Fagnani, f 1678, Carlo Sebastiano Berardi, f 1768, Pietro Ballerini, t 1769, Francesco Antonio Zaccaria, t 1795. Von Spaniern ragen außer Suarez (§ 38) hervor Antonio Agostino, t 1568, Thomas Sanchez, t 1610, Manuel Gonzalez Tellez, t 1649, von Portu­ giesen Agostino Barbosa, f 1649.

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durch. Daß der Kampf statt durch innere Überwindung durch Erdrückung mittelst der Organi­ sation durchgefochten wurde, und daß es dabei nicht ohne schwere Schädigung wahrer Wissen­ schaft abging 1f brachte dem mit der Geschichte der Kirche Vertrauten keine Überraschung; auch im einzelnen bediente man sich althergebrachter Kampfesmittel (Dekret Lamentabili der Jnquisitionskongregation vom 3. Juli 1907 mit einem neuen, 65 Sätze vemrteilenden Syllabus, Bücherzensur, Antimodemisteneid 2). Dabei übersah man freilich, unpolitisch und undiplo­ matisch, wie man bei diesem in den Dienst der Heilsaufgabe der Kirche gestellten Vorgehen mehr oder weniger mit Absicht war, nur zu leicht die Wirkung solcher Maßnahmen auf das Ganze des katholischen Kirchenkörpers und auf die Außenwelt, wie man es auch an dem richtigen Ver­ ständnis für die Verschiedenheit der Lage in den einzelnen Herrschaftsgebieten der Kirche fehlen ließ. Die Folge war, daß, was am einen Orte die Heilung bewirken sollte, am anderen die Krankheit erst hervorries3, und daß bei den Außenstehenden, insbesondere bei den deutschen Staatsregiemngen, denen zu nahe zu treten gerade Pius X. bei aller Wahmng katholischer Gmndsätze in gewollter, auf die Stärkung der religiös-kirchlichen Stellung bedachter Selbstbeschränkung fernes lag als irgendeinem seiner Vorgänger 4, Anstoß erregt und ihnen Anlaß zu erfolgreicher Zurückweisung gegeben wurde5.

V i o 11 e t, L’infallibilitG du pape et le syllabus, 1904; Eucken, Harnack, Hauck, Herrmann, Köhler, Mausbach, Meurer, Schnitzer in Hinnebergs Jntemat. Wochenschrift H, 1908; Heiner, Der neue Syllabus Pius' X.2, 1908, Der Modemismus und die kirchlichen Maßregeln gegen denselben, A. f. k. Kr. LXXXIX, 1909, Die Maßregeln Pius' X. gegen den Modernismus, 1910; Schnitzer, Der katholische Modernismus, Z. s. Politik V, 1912; Kübel, Geschichte des katholischen Modemismus, 1909; Gisler, Der Modernismus, 1912; Besse, Le syllabus, FSglise et les libertös, 1913; Houtin, Histoire du modernisme catholique, 1913; Anrich, Der moderne Ultramontanismus in seiner Entstehung und Ent­ wicklung, 1909. Vor allem aber trachtete Pius X. dawach, der Verwirmng des durch den Schutt von Jahr­ hunderten überdeckten kirchlichen Rechtes, aus der freilich die Restauration des 19. Jahrhunderts

1 Die wissenschaftlich bedeutendste Darstellung der alten Kirchengeschichte, die der Katholi­ zismus hervorgebracht hat, Duchesne, Histoire ancienne de l’ßglise (§ 1), wurde zuerst von der Konsistorialkongregation unterm 1. September 1911 für die italienischen Seminare verboten und dann unterm 22./24. Januar 1912 von der Jndexkongregation verurteilt und auf den Index gesetzt. 2 Über diese uub andere, von Pius' X. Enzyklika Pascendi vom 8. September und Motuproprio Praestantia Scripturae vom 18. November 1907 sowie Motuproprio Sacrorum Antistitum vom 1. September 1910 gegen den Modernismus verhängte disziplinäre Maßregeln siehe unten im geltenden Recht. (S. 443.) 8 In Deutschland hatte der Modernismus vor dem Vorgehen gegen ihn kaum einen Vertreter. 4 Pius' X. Konstitution Provida vom 18. Januar 1906 und das unter ihm ergangene Dekret der Konzilskongregation Ne temere vom 2. August 1907 sind es gewesen, die, ohne den katholischen Gmndsatz der Zugehörigkeit aller rite Getauften zur katholischen Kirche auf­ zugeben, jene die deutschen Mischehen, dieses die akatholischen Christenehen der ganzen Welt auch bei bloß bürgerlichem Eheabschluß als vollgültig anerkannt und so den nach katholischer Auffassung beiden bisher anhaftenden Makel des Konkubinats von ihnen genommen haben. Auch ver­ zeichnet die Geschichte der katholischen Kirche bis jetzt keine autoritative päpstliche Äußerung, die in der Anerkennung, wenn auch nicht des evangelischen Kirchentums, so doch des evangelischen Bekenntnisses so weit geht wie Pius' X. Enzyklika Singular! quadam vom 24. September 1912 betreffend die christlichen Gewerkschaften. Es ist dies um so bemerkenswerter, als der Papst in derselben gegenüber der katholischen Arbeiterschaft, als deren oberster Seelenführer er gerade bei dieser Gelegenheit besonders bestimmt auftritt, erklärt: Quidquid homo christianus (d. h. der Katholik) agat, etiam in ordine rerum terrenarum, non ei licere bona negligere quae sunt supra naturam, immo oportere, ad summum bonum, tamquam ad ultimum finem, ex christianae sapientiae praescriptis, omnia dirigat: omnes autem actiones eins, quatenus bonae aut malae sunt in genere morum, id est cum iure naturali et divino congruunt aut discrepant, i u d i c i o et iurisdictioni Ecclesiae subesse . . . Causam socialem controversiasque ei causae subiectas de ratione spatioque operae, de modo salarii, de voluntaria cessatione opificum, non mere oeconomicae esse naturae, proptereaque eiusmodi, quae componi, posthabita Ecclesiae auctoritate, possint... und als auch er (Handschreiben an Kardinal Fischer, Erzbischof von Köln, vom 30. Oktober 1906 übereinstimmend mit der Erklärung des Kardinals Vannutelli auf dem Essener Katholikentag) den Katholiken nur zuerkennt libertatem quoad ea, quae religionem non attingunt. Oben § 42 S. 363 A. 2.

Kirchenrecht.

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mit großem Geschick für die Kirche Gewinn zu ziehen verstanden hatte, ein Ende mad)en1 und die kirchliche Rechtslage durch Abstoßung von veraltetem, noch mehr aber durch Neueinschärfung und Neubelebung von hintangesetztem, gelegentlich auch durch Umbildung von noch geltendem, ja in beschränktem Maße sogar durch Neuschöpfung von durch die veränderten Zeitverhältnisse gefordertem kirchlichen Recht zu klären. Schon zu Anfang seines Pontifikats ergingen, zu­ nächst geheim gehalten, in diesem Sinne umfassende Gesetze über die Papstwahl2. Und bereits unterm 19. März 1904 wurde durch das Motuproprio Arduum sane munus3 4die Neukodi­ fikation des gesamten katholischen oder, nach dem durch die Kurie festgehaltenen Sprachgebrauche, kanonischen Rechtes angeordnet und durch die Einsetzung einer päpstlichen Kodifikations­ kommission 5 6vorbereitet, und zwar im Sinne des päpstlichen Programms Omnia instaurare in Christo, verstanden im Sinne der katholischen Uberliefemng und der oben dargelegten, durch das Vatikanum endgültig besiegelten Verquickung von Glauben und Recht7. Seither wurde mit Macht an dem gewaltigen Werke gearbeitet. Wie verlautet, hat 1912 ein erster und 1913 ein zweiter und ein dritter Teil dem Episkopat zur Begutachtung vorgelegen 8, und sind andere im Entwürfe ganz oder nahezu fertiggestellt. Einzelne Gegenstände, deren Regelung entweder besonders wichtig, schwierig oder dringend erschien, oder bezüglich welcher man erst aus der Praxis Erfahmngen für die endgültige Gestaltung sammeln und die Aufnahme durch die Gläubigen wie durch die Außenstehenden erproben wollte, wurden vorweg behandelt (Eheschließungsrecht, Reform der Kurie9, Promulgation der kirchlichen Gesetze und Erlasse, Neuordnung der Verwaltung der suburbikarischen Bistümer, Ab- und Versetzung der Pfarrer auf dem Verwaltungswege, Neu­ einschärfung des geistlichen Gerichtsstandes, Neuordnung des römischen Vikariats u. o.10). Dar­ nach zu schließen, wird das Hauptwerk ein durchaus konservatives Gepräge tragen und im wesent­ lichen einfach die Ermngenschaften der kirchlichen Rechtsentwicklung des 19. Jahrhunderts, an die Gegenwart mehr oder weniger angepaßt, verzeichnen. Ob es überhaupt, ganz oder wenigstens zum Teil, zustande kommen, und ob es, wenn in Kraft gesetzt, in der kirchlichen Rechtsgeschichte

* Hoch, Papst Pius X., ein Bild kirchlicher Reformtätigkeit, 1907. 2 Unten § Co. 3 Acta 8. Sedis XXXVI, 1904 p. 549 88., A. f. k. Kr. LXXXIV, 1904, D. Z. f. Kr. XIV,

1904. 4 Der kirchliche Rechtssatz, besonders der vom allgemeinen Konzil, aber auch der vom Papst gesetzte, wird eben auch noch heute Kanon genannt. 5 Unten § 69 S. 420 A. 1 und R u f f i n i, La codificazione del diritto ecclesiastico, Studi ... in onore di ... Scialoja II, 1905; Sägmüller, Die formelle Seite der Neukodi­ fikation des kanonischen Rechts, Th. Q. LXXXVII, 1905; Boudinhon, De la codification du droit canonique, Can. cont. XXVIII, 1905; Friedberg, Ein neues Gesetzbuch für die katho­ lische Kirche, D. Z. f. Kr. XVIII, 1908 (auch Leipziger jur. Fakultäts-Programm, 1907). 6 S. 364. Materien wie das Verhältnis von Kirche und Staat, die Konkordate u. a. scheinen allerdings nicht kodifiziert werden zu sollen, wohl damit ein direkter Zusammenstoß mit dem Staate und infolgedessen das Scheitern des Unternehmens vermieden wird, und weil es in diesen Dingen doch in erster Linie auf die Abmachungen im Einzelfall ankommt. 7 Meine auf streng geschichtliche Erfassung auch der neuesten Entwicklung gegründete, schon in der vorigen Auflage dieses Grundrisses durch die Überschrift dieses Kapitels angedeutete und in der 1902/03 niedergeschriebenen ersten Hälfte dieses Paragraphen zum Ausdruck gebrachte Er­ wartung, daß das Vatikanum über kurz oder lang eine kirchliche Gesetzgebungsära im Gefolge haben werde, ist durch das wenige Wochen nach dem Erscheinen meiner Darstellung erlassene Motuproprio und durch die Gesetzgebung Pius' X. bestätigt worden. 8 A. f. k. Kr. XCIII, 1913 S. 167. 9 Indem Pius X. die Rota und andere Behörden, die im Laufe der Zeit wesentlich den Zwecken des Kirchenstaats dienstbar geworden waren und seit dessen Untergang mehr als dreißig Jahre lang in Trümmern gelegen hatten, für rein kirchliche Zwecke wiederherstellte, gab er, wenigstens durch die Tat, zu verstehen, daß er mit der Wiederherstellung des Temporales nicht mehr ernstlich rechne, wohl aber in noch höherem Maße als seine Vorgänger gewillt sei, dessen Verlust durch innere Kraftsteigerung und damit verbundene Erhöhung des Ansehens und Einflusses nach außen wettzumachen. Formell und offiziell bleibt der Gegensatz von Vatikan und Quirinal fortbestehen und muß es im Interesse beider Teile; denn besser als das italienische Garantiegesetz und alle anderen Auskunftsmittel wahrt er für die katholische Welt die internationale Stellung des Papst­ tums und dessen Unabhängigkeit gegenüber dem italienischen Staate. 10 Falco, II novissimo diritto della chiesa cattolica, Riv. di diritto pubbl. I Nr. 5/6, 1910; Hilling, Die Reformen des Papstes Pius X., 2 Bde., 1909, 1912.

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Sechstes Kapitel.

Das vatikanische Kirchenrecht. 8 42. Die Wiederherstellung der Kirchenverfassung und die Erneuerung der gemeinrechtlichen Primatialgewalt. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts befand sich die Organisation der katholischen Kirche in einem Zustand der Auflösung, der demjenigen des fränkischen Kirchentums zu Karl Martells Zeiten nicht unähnlich war. Jetzt wie damals kam es zunächst zum Wiederaufbau.

v. Treitschle, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 5 Bde. 1879—94, besonders III 198 ff., 406 ff., IV 683 ff., V 276 ff.; Brück, Geschichte der katholischen Kirche in Deutsch. land' I, II, III—IV 1, 2 (bearbeitet von Kißling),), 1902—1908; sioyiu, L'Allemagne religieuse, Le catholicisme, I—IV, 1905—1909; Funk,, Katholisches Christentum und Kirche in der Reuzeit, HinnebergS Kultur der Gegenwart I, 4,1,1906; Ehrhard, Katholisches Christen­ tum und Kirche Westeuropas in der Neuzeit, ebenda • 1909; Ripp old, Handbuch der neuesten Kirchengeschichte II *, 1883, Kleine Schriften zur innern Geschichte des Katholizismus I, II, 1899; Sell, Die Entwickelung der kacholischen Kirche im 19. Jahrhundert, 1898, Katholizismus und Protestantismus, 1908; Forbes, L’iglise catholique au 19* siicle, 1903; Ritter, Les äglises chr6tiennes an matin du 20* sidcle, 1912; Kremer-Auenrode, Aktenstücke zur Geschichte des Verhältnisses von Staat und Kirche im 19. Jahrhundert, 3 Teile, 1873—80 (auch im Staats­ archiv von Aegidi und Klauhold XXIII, XXIV mit 2 Suppl.); Friedberg, Die Gränzen (§ 38); Fleiner, Über die Entwicklung des katholischen Kirchenrechts im 19. Jahr­ hundert, 1902. Er vollzog sich vor allem mit Hilfe des ncubelebten, für die Massen stets an die Formen der historisch überlieferten Bekenntniskirchen gebundenen, religiösen Sinnes, an dessen Medererstehen die Übersättigung mit Aufklärung, die Nöte der napoleonischen Stiege, später auch die Romantik wirksam arbeiteten. Er vollzog sich weiter unter der diesmal, entsprechend dem Charatter des modemen Staates, selbswerständlich durchaus eigennützigen Mitwirkung der Regierungen, die im Interesse der Wiederherstellung geordneter Zustände im Jnnem sich deranlaßt sahen, ihren katholischen Untertanen wieder zu einer kirchlichen Organisatton zu ver­ helfen, und die zur Neubegründung oder Wiederherstellung ihrer Rechte der Kirche und des Papsttums als der Zentralsonne der Legittmität nicht glaubten entbehren zu können. Hierbei war es von besonderer Bedeutung, daß Napoleon zur Sanierung der im Kehraus der franzö­ sischen Revolutton in größte Verwirrung gebrachten inneren Verhältnisse Frankreichs, zur Legittmatton der von ihm usurpierten und noch zu usurpierenden Gewalt und als Wettzeug für seine hochfliegenden euwpäischen Herrschaftspläne die Kirche brauchte und mit ihr am 15. Juli 1801 ein Konkordat schloß. In seinen Einzelheiten für den kirchlichen Teil keineswegs besonders günstig und durch die von Napoleon am 8. April 1802 eigenmächtig mit ihm zusammen veröffenttichten Articles organiques1 in der praktischen Anwendung erheblich gefährdet, wahtte es doch selbst dem Mlgewaltigen gegenüber das Prinzip und den Grundstock kirchlicher sowie päpstlicher Rechte, und zwar schon zu einer Zeit, als die Schläge, welche die Kirche treffen sollten, noch nicht einmal alle niedergegangen waren. Als dann vollends der gefährlichste Gegner fiel, und die Kutte es nur noch mit Heineren und kleinsten zu tun hatte, die zwar nicht übel Lust, aber um so weniger Geschick und Energie zeigten, napoleonische Ansprüche zu machen, wurde das französische Konkordat die Brücke, über die das päpstliche Recht in Europa, auch in Deutsch­ land, von neuem Einzug hielt. Nicht zum mindesten durch die erfolgreiche Arbeit des Papsttums selbst. Diesem hatte die Mißhandlung durch den Korsen neue Sympathien zugefühtt, indes die würdige Haltung Pius' VII. sein moralisches Ansehen hob. Nach Rom zurückgekehrt, wo er am 7. August 1814 (Bulle Sollicitudo animarum) alsbald den Jesuitenorden wiederherstellte, aber auch die kuttalen Behörden, insbesondere für die Jnquisitton und den Index, erhielt der Papst, bei dem nunmehr wiederum die Gesandten der Mächte, in erster Linie der österreichische, 1 Der Papst protestierte in einer im Konsistorium vom 23. Mai 1802 gehaltenen Allokation. Vgl. B o u 1 a y de la Meurthe, Recueil des protesta tions de la Cour de Rome contre les articles organiques, Coll, de textes pour servir ä l’Stude et ä l’enseignement de Fhistoire, 1905.

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sich einfanden, vom Wiener Kongreß seine alte Stellung samt dem Kirchenstaat und gewisien Ehrenrechten (die Nuntien geborene Doyens der diplomatischen Korps) wieder zurück. Nur die Restauration der alten deutschen Kirche wurde abgelehnt, wogegen die Kurie abermals protestierte. Bedeutete schon das Kongreßergebnis einen Sieg der päpstlichen Diplomatie, so verstand es diese, unter Pius VII. geleitet durch den genialen Kardinalstaatssekretär Consalvi, später unter Leo XII. und nachmals unter Gregor XVI. mit nicht geringem Geschick vertreten durch den dasselbe Amt bekleidenden Bemetti, mit größter Gewandtheit und zähester Ausdauer in jahrzehntelanger Verhandlung mit den deutschen Regierungen Schritt für Schritt neue Erfolge zu erringen. Durch das bayerische Konkordat und die deutschen Zirkumskriptionsbullen, die beim geltenden Recht zu behandeln sein werden, erhielt das kacholische Deutschland von neuem eine bischöfliche Verfassung. Dabei interessiert in diesem Zusammenhang nicht die Tat­ sache selbst, sondem ihre Verumständung. Nicht bloß liefen Bestimmungen mit unter wie der erste Artikel des bayerischen Konkordats über die Stellung des Kacholizismus im allgemeinen oder der dreizehnte daselbst über die Unterstützung der kirchlichen Bücherzensur oder die auch anderwärts wiedertehrenden in betreff der Durchführung der Seminarbildung des Klerus, welche staatlich gewährleistete Rechte anderer Konfessionen oder der einzelnen Untertanen oder doch staatliche Interessen verletzten, und deren sich die Regierungen nur durch das zweifelhafte Mittel eigenmächtiger Zusätze oder der Nichtplazetierung zu erwehren vermochten. Mchtig war vor allem, daß man staatlicherseits von der anfänglich gehegten josephinischen Idee ein­ seitiger Regelung dieser Dinge hatte abgehen müssen, feinet daß Rom, weil hinter dem ehe­ maligen deutschen Sonderkirchenrecht kein Episkopat und kein Klerus mehr stand, der es wirksam zu vertreten vermochte, auf Gmnd des papalen gemeinen Rechts verhandeln konnte, und endlich, daß die kacholische Kirche Deutschlands das, was für sie und ihren neuen Episkopat erreicht wurde, Rom und dessen Gegengewicht gegen den Staatsabsolutismus verdankte. Daß dieser und seine Bureaukratie sich weiterhin mit einer Energie, die einer besseren Sache wert gewesen wäre, auf veraltete staatskirchenrechlliche Anschauungen und ganz besonders auf deren oft überaus lleinliche Einzelanwendung versteiften, «beitete den Bestrebungen nach möglichster Neubelebung des altkirchlichen Rechtes wirtsam in die Hände. An den Kölner Wrren, die durch die Neueinschärfung des strengen katholischen Mischehenrechtes veranlaßt toutben und durch das Ungeschick der preußischen Regiemng, welche statt persönlicher Garantien schrislliche erstrebte, 1841 mit einem staallichen Mißerfolg endeten, war denn auch nicht die schließliche Freigabe der einzelnen kirchlichen Bestimmung die Hauptsache, die über kurz oder lang doch hätte erfolgen müsien, sondem daß der Streit zu jahrelanger Agitation und Aufregung, zu einer heftigen Reibung von Kirche und Staat, zu einem festen Zusammenschluß weiter katholischer Kreise und zu einer kräftigen Neubelebung kirchlichen Rechtsbewußtseins Anlaß gab. Und doch leinte man anderswo auch jetzt noch nichts. Am Oberrhein, wo der neue Episkopat noch lange durchaus staatstreu und wohlgesinnt war und auf dem loyalen Weg von Bitten und Vorstellungen die doch schon durch die veränderte Zeillage geforderte größere Bewegungs­ freiheit für die Kirche zu erlangen suchte, hätte sich die Gelegenheit geboten, das überlebte abso­ lutistische Staatskirchentum rechtzeitig zu mildem und allmählich in die Gestalt einer bloßen staatlichen Kirchenhoheit überzuführen. Jedoch die Regiemngen, denen es keineswegs an Wohlwollen, um so mehr aber an Einsicht und Sachkunde gebrach, hielten, in der Meinung, daß die staatliche Vorherrschaft nur in der hergebrachten Form sich behaupten laste, so lange hartnäckig damn fest, bis schließlich in Freiburg und Rottenburg Bischöfe sich fanden, die, ihres Klerus und eines gwßen Teils der Bevöllemng sicher, in offener Auflehnung dem staallichen Recht das kanonische gegenüberstellten. Wurden auch schlieUich nach dem Fall der unter dem Einfluß des österreichischen Konkordats vom 18. August 1855 eingegangenen Konventionen in den Jahren 1860 (Baden) und 1862 (Württemberg) die Rechtsverhältniffe der katholischen Kirche auf der Gmndlage der staatlichen Souveränität und der daraus fließenden staallichen Kirchenhoheit durch Staatsgesetz geregelt, so mußte dies doch wiedemm unter Übernahme oder Freigabe von viel neubelebtem Kirchenrecht geschehen. M e j e r, Zur Geschichte der römisch-deutschen Frage *, 3 Bde., 1885; Ruck, Die Sendung des Kardinals de Bayane nach Paris (1807—08), Heidelberger Ak. Abhdl., phil.-hist. Kl., I, 1913; Wittichen, Zu den Verhandlungen Württembergs mit der Kurie 1808, Q. u. F. VI, 1904,

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Ulrich Stutz.

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Inzwischen war auch die Kirchenrechtswissenschaft neu erstanden. Da es an Verständnis dafür mangelte, hatte noch C. F. Eichhom, der 1831/33 mit der historisch-juristischen Bearbeitung auch dieses vor und nach ihm oft bloß als theologisches Hilfsfach behandelten Gebietes den Anfang machte und ein wissenschaftliches System dafür schuf \ mit seinem Unternehmen bei weitem nicht den Erfolg erzielt, der ihm in der Wissenschaft des deutschen Rechtes beschieden war. Jedoch zehn Jahre genügten, um dem durch Klarheit, Methode und kirchliches Verständnis ausgezeichneten, seit 1842 immer wieder in neuen Auflagen1 2 erscheinenden Lehrbuch E. L. Rich­ ters einen durchschlagenden Erfolg zu sichem. Richters Hauptverdienst aber war die Begründung einer hervorragenden kirchenrechtlichen Schule. Aus ihr hat in der zweiten Hälfte des Jahr­ hunderts Paul Hinschius gerade für das katholische Kirchenrecht jenes Werk geschaffen, das, 1 Grundsätze des Kirchenrechts der katholischen und der evangelischen Religionspartei in Deutschland, 2 Bde. 2 Zuletzt 1886 in achter, von Dove und Kahl besorgter.

Kirchenrecht.

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an Reichtum insbesondere des historischen Stoffs und an dessen juristischer Durchdringung alle früheren Gesamtbearbeitungen unserer Disziplin weit überragend, der deutschen Wissenschaft auch auf diesem Gebiet die unbestrittene Führung verschaffte.

Über Eichhorn: v. Schulte, 1884 und Landsberg, Geschichte der deutschen Rechts­ wissenschaft III, 2, 1910, Text S. 253 ff., 269, Noten S. 110 ff., 114; He ymannin Liebmann, Tie juristische Fakultät der Universität Berlin, 1910 S. 7 ff. Über Richter: Schulte, Z. f. St. V, 1866 und Geschichte ($ 26, 1) III, 2 S. 210 ff.; Dove, Z. s. Kr. VII, 1867 und in HauckHerzogs Realenzykl.3 *XVI, ** 1905, vor allem aber Hinschius, Z. f. RG. IV, 1864 sowie Lands­ berg a. a. O. Text S. 570ff., Noten S. 251 ff.; Heymann a. a. O. S. 38 f. Über Hinschius: S e ck e l in Hauck-Herzogs Realenzykl.3 VIII, 1900; Stutz, Allg. D. Biogr. L, 1905, Die kirch­ liche Rechtsgeschichte (oben S. 279); Landsberg a. a. O. Text S. 584 ff., Noten S. 258 ff.

Noch wichtiger war, daß 1848 der absolute Staat unterging, um dem konstitutionellen Rechtsstaat mit dem Prinzip der Selbstverwaltung Platz zu machen. Niemandem kam der Umschwung so zugute wie der katholischen Kirche. Die Selbstbeschränkung, die der Staat sich auferlegte, gab ihr ein weites Gebiet frei1; die Bestimmtheit ihrer Ziele und das Vorhandensein einer bewährten, auch an modeme Verhältnisse leicht anzupassenden Organisation setzten sie instand, die Selbstregierung sogar in weiterem Umfang zu übernehmen, als sie ihr zuerkannt war. Besonders in Preußen. Die deutschen Gmndrechte von 1848 hatten den Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche ausgesprochen2. Ohne diesen mitübernehmen zu wollen, aber auch ohne die staatlichen Hoheitsrechte über die Kirche festzulegen, verleibte Preußen, dessen König Friedrich Wilhelm IV. schon 1841 eine besondere katholische Abteilung im Kultus­ ministerium geschaffen hatte, welche zum mindesten in den Bau eines modernen, paritätischen und der Neutralität in kirchlichen Dingen entgegengehenden Staates organisch nicht hinein­ paßte, eine Anzahl der Frankfurter Sätze den Verfassungen von 1848 und 1850 ein. Die Folge war nicht bloß eine weitere Erstarkung des kirchlichen Rechtes, sondern vor allem eine allmähliche Verschiebung des Verhältnisses von Staat und Kirche im Sinne einer Nebenordnung beider für die Vorstellung weiter katholischer Kreise. So kam es 1873 zu dem heftigen, als Kulturkampf bekannten Konflikt, zu dessen Aufnahme freilich Bismarck auch deswegen sich entschloß, weil er vorübergehend der damals allgemein, besonders von den Theologen, aber auch von manchen Juristen genährten Überschätzung der praktischen Bedeutung von päpstlicher Unfehlbarkeit und

päpstlichem Universalepiskopat verfiel. Kampfmittel waren die sogenannten preußischen Mai­ gesetze 8 mit ihren zahlreichen, wenig geschickten Strafbestimmungen und einer Reihe von llber1 So z. B. auch die geistliche Gerichtsbarkeit, nur nicht mehr mit bürgerlicher Wirkung. Siehe darüber eine von der Bonner Juristenfakultät 1912 gekrönte Preisschrift von K a a s, Die geist­ liche Gerichtsbarkeit in Preußen während des 19. Jahrhunderts mit besonderer Berücksichtigung der Kölner Kirchenprovinz, die 1914 in Stutz, Kr. A., erscheinen wird. 1 Art. V § 14. „Heber Deutsche hat volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren. § 15. Jeder Deutsche ist unbeschränkt in der gemeinsamen, häuslichen und öffentlichen Übung seiner Religion. Berbrechen und Vergehen, welche bei Ausübung dieser Freiheit begangen werden, sind nach dem Gesetze zu strafen. $ 16. Durch das religiöse Bekenntnis wird der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte weder bedingt noch beschränkt. Den staatsbürgerlichen Pflichten darf dasselbe keinen Abbruch tun. § 17. Jede Religionsaesellschaft ordnet und verwaltet chre Angelegenheiten selbständig, bleibt aber den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen. Keine Religionsgesellschaft genießt vor anderen Vorrechte durch den Staat; es besteht fernerhin keine Staatskircke. Neue Religion-gesell­ schaften dürfen sich bilden; einer Anerkennung ihres Bekenntnisses durch oen Staat bedarf eS nicht, j 18. Niemand soll zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit gezwungen werden. § 19. Die Formel des Eides soll künftig lauten: So wahr mir Gott helfe. $ 20. Dre bürgerliche Gültigkeit der Ehe ist nur von der Vollziehung des Zivllaktes abhängig; die kirchliche Trauung kann nur nach der Vollziehung des Zivllaktes stattfinden. Die Religionsverschiedenheit ist kein bürgerliches Ehe­ hindernis. § 21. Die Standesbücher werden von den bürgerlichen Obrigkeiten geführt." Wörtlich übereinstimmend die Reichsverfassung vom 28. März 1849, Art. V, §§ 144—161. 3 Schon am 8. Juli 1871 wurde durch Allh. E. die Aufhebung der katholischen Abteilung im Kultusministerium verfügt. Dann erhielt am 5. Aprll 1873 A. 15 der Verfassung: „Die evan­ gelische und die römisch-katholische Kirche sowie jede andere Religionsgesellschaft ordnet und ver­ waltet ihre Angelegenheiten selbständig," den Zusatz: „bleibt aber den Staatsgesetzen und der gesetzlich geordneten Aufsicht deS Staates unterworsen", während ein Zusatz zu A. 18 eine Ausführungsgesetzgebung in betreff Borblldung, Anstellung und Entlassung der Geistlichen und Religionsdiener sowie der Grenzen der kirchlichen Disziplinär-

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Ulrich 8tup.

griffen in das rein geistliche Gebiet. Seinen dramatischen Höhepunkt erreichte der Konflikt, als am 7. August 1873 Pius IX. an Kaiser Wilhelm ein Schreiben richtete, worin der Papst mit einer zumal diesem Empfänger gegenüber schlecht angebrachten Schwffheit und Unverhülltheit von neuem die alte Identifizierung nicht bloß des Katholizismus, sondem geradezu des Papalismus mit dem Christentum vollzogx, und als der sieggekrönte evangelische Heldenkaiser ihm darauf unterm 3. September eine deutsche Antwort gab2. Der Kampf, der — eigentlich ohne Not — auch Baden und Hessen in Mitleidenschaft zog, erschütterte die kirchlichen Verhält­ nisse schwer und schädigte um einer schablonenhaft durchgeführten Parität willen die als solche gar nicht beteiligte evangelische Kirche auf das empfindlichste mit. Er gefährdete aber, ohne die Opposition wirksam zu treffen, auch die Ordnung des staatlichen Lebens. Und vor allem begann er in seinem Verlauf Zwecken zu dienen, die zu unterstützen weder in der Aufgabe noch im richtig verstandenen Interesse des Staates liegt. So brach denn Bismarck, dem Leo XIII., seinen Vorgänger nicht nur durch diplomatisches Geschick und Weite des Blicks 3, sondem auch durch pmktische Klugheit und Mäßigung weit überragend, gleich beim Antritt seines Pontifikats (1878) die Geneigtheit zur Herbeifühmng einer Verständigung zu erkennen gegeben hatte, 1880—57 den Kampf mit sicherer Überlegenheit langsam wieder ab4. Das, worauf es ankam, gewalt in Aussicht stellte. Die eigenllichen Maigesetze befaßten sich 1. mit der Vorbildung und An­ stellung der Geistlichen und brachten u. a. das sogenannte Kulturexamen zum Zwecke des Nachweises der erforderlichen allgemeinwissenschastlichen Bildung sowie die Anzeigepflicht bei kirchlicher Amts­ übertragung mit dem Rechte des Einspmchs für die Staatsbehörde; 2. mit der kirchlichen Disziplinar­ gewalt und der Errichtung eines Gerichtshofes für kirchliche Angelegenheiten; 3. mit den Grenzen des Rechtes zum Gebrauch kirchlicher Straf- und Zuchtmittel; 4. mit dem Austritt aus der Kirche. Es folgten 1874—78 weitere Gesetze, z. B. über die Verwaltung erledigter katholischer Bistümer, über die Einstellung der Leistungen aus Staatsmitteln für die römisch-katholischen Bistümer und Geistlichen, über die Orden und Kongregationen, über die kirchliche Vermögensverwaltung in den katholischen Gemeinden und ferner, am 4. Mai 1874, das sogenannte Reichs-Expatriierungsgesetz. 1 Alle Anordnungen, welche seit einiger Zeit von der Regierung Eurer Majestät getroffen werden, zielen immer mehr auf die Zerstörung des Katholizismus hin. ... Man sagt mir, daß Eure Majestät die Haltung Ihrer Regierung nicht billige und die Strenge der Maßregeln gegen die katholische Religion nicht gutheiße. ... Wenn Eure Majestät ... es nicht billigt, daß von Ihrer Regierung aus der begonnenen Bahn weiter fortgeschritten wird und die harten Maßregeln gegen die Religion Jesu Christi vervielfältigt werden, .... wird Eure Majestät dann versichert sein, daß dieselben nichts anderes zu Wege bringen, als den Thron Eurer Majestät selber zu unterwühlen? Ich spreche mit Freimut; denn die Wahrheit ist mein Panier, und ich spreche, um einer meiner Pflichten in erschöpfendem Maße nachzukommen, die mir auferlegt, Allen das Wahre zu sagen und auch dem, der nicht Katholik ist; denn jeder, welcher die Taufe empfangenhat, gehört in irgend einer Art und in irgend einer Weise, welche zu erörtern jetzt kein Anlaß ist, gehört, sage ich, dem P a p st e a n." 1 Der Kaiser belehrt zunächst den Papst über die staatsrechtliche Unmöglichkeit eines Aus­ einandergehens von Krone und Regierung in Gesetzgebung und Verwaltung und beschwert sich dann über die politischen Umtriebe eines Teils seiner katholischen Untertanen, die es ihm erschwerten, Ordnung und Gesetz in seinen Staaten ausrechtzuerhalten, wie es sein Beruf als christlicher Monarch fordere. „D i e R e l i g i o n I e s u C h r i st i h a t, wie Ich Eurer Heiligkeit vor Gott bezeuge, mit diesen Umtrieben nichts zu tun, auch nicht die Wahrheit, zu deren von Eurer Heiligkeit angerufenem Panier ich mich rückhaltslos bekenne. Noch eine Äußerung in dem Schreiben Eurer Heiligkeit kann ich nicht ohne Widerspruch übergehen, wenn sie auch nicht auf irriger Berichterstattung, sondern aus Eurer Heiligkeit Glauben beruht, die Äußerung nämlich, daß jeder, der die Taufe empfangen hat, dem Papst angehöre. Der evan­ gelische Glaube, zu dem Ich Mich, wie Eurer Heiligkeit bekannt sein muß, gleich Meinen Vorfahren und mit der Mehrheit Meiner Untertanen bekenne, gestattet uns nicht, in dem Verhältnis zu Gott einen anderen Vermittler als unseren Herrn Jesum Christum anzu nehme n." 3 Sie offenbarte sich u. a. auch in der Öffnung des vatikanischen Archivs, die gerade für die Erforschung der Geschichte des Kirchenrechts von größter Wichtigkeit war und schon jetzt zu einer erheblichen Bereicherung unseres Wissens geführt hat; Berger, L6on XIII et les 6tudes historiques, B. e. d. ch. LXIV, 1903; Buschbell, Das Vatikanische Archiv und die Bedeutung seiner Erschließung durch Papst Leo XIII., Frankfurter zeitgem. Broschüren XXII, 1903. 4 Der durch die Novellen zur preußischen Gesetzgebung geschaffene Zustand ist unten bei der Darstellung des geltenden Staatskirchenrechts zu berücksichtigen. Eine kurze Übersicht des ein­ schlägigen Gesetzesmaterials gibt Kahls Lehrsystem § 15, eine vollständige Zusammenstellung H i n s ch i u s in seiner von 1873—87 reichenden kommentierten Ausgabe der preußischen Kirchen­ gesetze, wozu noch Z. f. Kr. XVIII, 1883, S. 166 ff. zu vergleichen ist.

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eine kräftige Kirchenhoheit des Staates, war durchgesetzt und wirkungsvoll behauptetnie ist sie seither in deutschen Landen praktisch mehr in Frage gestellt, vielmehr bis in die neueste Zeit mit Erfolg betätigt worden1 2. Gerade der gesicherte Besitz tatsächlicher Vorherrschaft war es, der nunmehr den deutschen Staaten die Herbeifühmng eines friedlichen Modus vivendi auch mit der kacholischen Kirche und den Ausbau ihres Staatskirchenrechts im Sinne einer besseren Durchfühmng der bloßen Kirchenhoheit ermöglichte. Mrd erst die Überzeugung davon allgemein wetden, daß Verschiedenheit des Glaubens, des Kultus und auch der kirchlichen Ein­ richtungen, weit entfernt, ein nationales Unglück zu sein, im Rahmen eines konfessionell neutralen, starken Staats in Wahrheit eine Quelle gegenseitiger Förderung und kultureller Überlegenheit zu sein vermag, so werden im laufenden Jahrhundert auch die konfessionelle Verbittemng und andere, unvermeidliche, aber üble Folgen siegreich überwunden werden, welche die kirchen­ politischen Kämpfe der Vergangenheit zurückgelassen haben.

Neundörfer, Der ältere deutsche Liberalismus und die Forderung der Trennung von Staat und Kirche, A. f. k. Kr. LXXXIX, 1909; Poschinger , Verhandlungen zwischen Preußen und dem päpstlichen Stuhle unter Friedrich Wilhelm IV. und Pius IX. (1863/54), Deutsche Revue XXXI, 1906; Gerlach, Das Verhältnis des preußischen Staates zu der katholischen Kirche *, 1867; Duhr, Aktenstücke zur Geschichte der Jesuitenmissionen in Deutschland (1848—72), 1903; Friedberg, Die Grundlagen der preußischen Kirchenpolitik unter Friedrich Wilhelm IV., 1882; Hinschius, Die Stellung der deutschen Staatsregierungen gegenüber den Beschlüssen des vatikanischen Konzils, 1871; Hahn, Geschichte des Kulturkampfs, 1881; F. L. Schulte, Geschichte des Kulturkampfs in Preußen, 1882; Siegfried (Cathrein), Aktenstücke bett, den preußischen Kulturkampf, 1882; v. Bar, Staat und katholische Kirche in Preußen, 1883; Bachem, Preußen und die katholische Kirche 4, 1876, Die kirchenpolitischen Kämpfe in Preußen, 1910; Baumgarten-Jolly, Staatsminister Jolly, 1897; v. Bismarck, Gedanken und Er­ innerungen, 2 Bde., 1898; v. Mittnacht, Erinnerungen an Bismarck, I, 1904 S. 68; v. Liede­ rn a n n, Aus sieben Jahrzehnten, I, II, 1906/09; Goyau, Bismarck et l'£glise, Le Culturkampf I, II, 1911 (zu Ende geführt R. des Deux mondes LxXXIII, 1913); Kißling, Geschichte des Kulturkampfs im Deutschen Reiche, I, 1911 (dazu Rothenbücher, Z.' f. RG. II, 1912); Dittrich, Der Kulturkampf imErmlande, 1913; v. Wertheimer, Andrassy und Bismarcks Kulturkampf, Deutsche Revue XXXVIII, 1913; Rachfahl, Windthorst und der Kulturkampf, Preuß. Jbb. CXXXV, 1909; Hüsgen, Windthorst', 1911; Briefe Windthorsts, Hrsg, von Pfülf, St. M.-L. LXXXII, LXXXIII, 1912; de Cesare, II dottor Schloezer e la fine del Cultur* kampf, Nuova antologia, 1891; Curtius, Kurt v. Schloezer, 1912; Crispoltie Aureli, La politica di Leone XIII da Luigi Galimberti a Mariano Rampolla, 1912.

8 43. Die Splrilualisierung des Airchenrechls. Die kirchenrechtliche Arbeit des 19. Jahrhunderts erschöpfte sich auch auf katholischem Gebiet keineswegs in der bloßen Reproduktion. Im einzelnen fehlte es ja nicht an Rückfällen ins Mittelalter. So, wenn Pius IX. am 22. Juni 1868 das österreichische Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867, welches das Konkordat von 1855 zum Teil beseitigt hatte3, feierlich verdammte oder durch die Enzyklika Quod nunquam vom 5. Februar 1875 die preußischen Maigesetze kurzweg für ungültig erklätte oder gar am 8. Dezember 1864 gleichzeitig mit der Enzyklika Quanta cura einen Syllabus complectens praecipuos nostrae aetatis errores ver-

1 Der am 18. Juni 1876 aufgehobene Art. 16 der preußischen Berfassung ist selbst in der erweiterten Gestalt von 1873 (oben S. 361 A. 3) nicht wiederheraestellt worden; doch entspricht chm die in Geltung stehende preußische Einzelgesetzgebung. Auch die katholische Abtellung im Kultusministerium erstand selbstverständlich nicht wieder. Die Anzeigepflicht der geistlichen Oberen und das Einspruchsrecht des Staates sind mit einigen Einschränkungen und Milderungen in Geltung geblieben. ' Z. B. dadurch, daß die Bekanntmachung der für die Evangelischen und für manche deutschen Fürstenhäuser kränkenden Borromäusenzyklika Pius' X. Editae semper vom 26. Mai 1910 in deutschen Diözesananzeigeblättern und von deutschen Kanzeln verhütet, daß eine ausdrückliche Erllärung (Schreiben des Kardinalstaatssekretärs Merry del Bal an den Kardinal Kopp, Fürst­ bischof von Breslau, vom 10. Februar 1911) über die Unanwendbarkeit der kirchlichen Vorschriften betteffend den sogenannten Anttmodernisteneid auf die ausschließlich an staatlichen Universitäten tättgen Theologieprofessoren erwirkt und der Besuch der gemeinrechtlichen Reaktivierung deS privilegierten Gerichtsstandes der Geistlichen (Motuproprio Pius' X. Quantavis diligentia vom 9. Oktober 1911) für Deutschland abgewehrt wurde; vgl. Wiegand, Kirchliche Bewegungen der Gegenwart, eine Sammlung von Aktenstücken, I, 1907, II, 1908. • Die völlige, staatsgesetzliche Beseitigung erfolgte am 7. Mai 1874.

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Ulrich Stutz.

öffentliche, der 80 (übrigens schon bei anderer Gelegenheit oetutteitte) Sätze und mit ihnen so ziemlich alle Errungenschaften unserer Zeit, darunter Hauptgrundsätze des geltenden Staatsrechls, zensurierte. Diese Me erhielten gerade nur so weit Bedeutung, als man es für nötig fand, sich für oder wider sie zu erregen; praktisch haben sie weder das Verhältnis von Kirche und Staat noch auch das Kirchenrecht selbst irgendwie beeinflußt. Dagegen vollzog sich, zunächst in aller Stille, ein folgenschwerer Umschwung in anderer Richtung. Seit Beginn des Jahr­ hunderts wurde das Schwergewicht der kirchlichen Macht langsam, aber sicher in das spirituelle Gebiet hinübergerückt, ein Prozeß, der sich beschleunigte, als die Kirche — nicht durch eigenes Verdienst, sondern im Gegenteil sehr wider ihren Stollen — des letzten temporellen Ballasts in Gestalt des ihr Ansehen schwer schädigenden Kirchenstaates stückweise enlledigt wurde, bis das Temporale am 20. September 1870 von der Landkarte verschwand. Die immer wiederholten Pwteste dagegen (z. B. Enzyllika Respicientes vom 1. November 1870) vermögen nicht über den Gewinn hinwegzutäuschen, welchen die Kurie mit größtem Geschick aus dieser Enttemporalisierung zu ziehen verstand. Man lernte eben nach und nach doch einsehen, daß es heutzutage einer potestas directa und eines dominium directum nicht mehr bedarf, damit ein gewichtiges Wort in katholischem Sinn mitgesprochen weiden kann, da ja der konstitutionelle Rechtsstaat in Gestalt der Gewissens- und Kultussreiheit, des Versammlungs-, Vereins- und parlamentarischen Wahlrechts selbst die Mittel zur Verfügung stellt — und wenn er sich nicht selbst aufheben will, zur Verfügung stellen muß —, die es jeder, also auch der katholischen Welt­ anschauung ermöglichen, sich politisch zur Geltung zu bringen. Und anderseits verkannte man nicht, daß nunmehr eine Zeit gekommen sei, die für geistige Macht ein volles Verständnis besitzt: lehrte doch die Geschichte der Neuzeit mit ihren Staatsumwälzungen beredt, daß auch äußere Machtmittel heutzutage gerade nur so weit reichen wie der Glaube an ihren Träger. Diese geistige Macht galt es zu organisieren. Tas konnte nur geschehen durch einen weiteren Schritt auf dem über anderthalb Jahrtausende langen Weg der Verquickung des Rechts mit dem Glauben, der dafür, weil religiöses Leben stets das Bewußtsein der Abhängigkeit von einer Autorität in sich schließt, die denkbar sicherste Grundlage abzugeben schien. So gelangte man wenige Wochen vor dem Untergang des Kirchenstaates auf dem seit 1869 versammelten vatikanischen Konzil1 am 18. Juli 1870 zu der constitutio Pastor aeternus. Sie dogmatisierte den Primat, erkannte dem Papst einen in jeder Diözese mit dem Ortsbischof konkurrierenden Universalepiskopat sowie, als Lehrer der Stott ex cathedra sancti Petri, im Gebiet des Glaubens und der Sittenlehre die Unfehlbmckeit zu, alles Dinge, die im letzten Gmnde schon im mittelalterlichen Papalsystem gelegen hatten, aber für die damalige Zeit, die nur greifbare Macht verstand, ein wies Kapital gewesen waren. Jetzt wurde es fruchtbar. Zwar Heinere Kreise, die sich an die neue Lehre nicht gewöhnen konnten, oder denen weder der Gedanke der Katholizität noch derjenige der Autorität über alle Schwierigkeiten hinweghalf, fielen ab. Jedoch der bereits anläßlich der eigenmächtigen Definition des Dogmas der unbefleckten Empfängnis Mariä (Bulle Ineffabilis Deus vom 8. Dezember 1854) erprobte Episkopat und die erdrückende Mehrheit der Gläubigen unterwarfen sich, änderte sich doch praktisch am bestehenden Zustand nichts. So wurde die Allianz von religiöser Überzeugung und kirchlichem Rechtsbewußtsein, in der — und in der allein — die praktische Bedeutung des Vatikanums liegt, glücklich vollzogen; sie wird der katho­ lischen Kirche die wertvollsten Dienste leisten, wo immer und solange der Glaube die verstärkte Beschwerung durch das Recht erträgt, sichert sie ihr doch in Zeiten des Kampfs eine vereinte oder doch altemative Reaktion zweier elementarer Kräfte, indes die kirchlichen Einrichttmgen selbst, des Zwangs zu formellen Übergriffen und der ehedem verhängnisvollen Verquickung mit Geld und Geldeswert entledigt, nicht mehr so leicht wirksame Angriffspunkte bieten.

Stutz, Die kirchliche Rechtsgeschichte (oben S. 279), Der neuste Stand des deutschen Bischosswahlrechtes, Stutz, St. A., 58. H., 1909, S. 87 ff., 136 f.; Löffler, Papstgeschichte von der französischen Revolution bis zur Gegenwart, 1911; Labanca, Saggi storici e biografici, 1912; Hourat, Genäse historique du syllabus ’, 1901; Heiner, Der Syllabus, 1905; Schiappoli, La politica ecclesiastica del conte di Cavour, 1898; Tessitore, ll conte di Cavour e le corporazioni religiöse, 1911 (weitere Lit. unten in der letzten Anm. zu $50); de Cesare, Roma e lo Stato del Papa del ritorno di Pio IX al XX settembre, 1907; Leti,

1 Es wurde am 20. Oktober 1870 wegen der vorangegangenen Ereigniffe auf unbestimmte Zeit vertagt.

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Roma e Io stato pontificio dal 1849 al 1870, Studi storici XX, 1912; v. Schlözer, Römische Briefe', 1913; Hüsfer, LebenSerinnerungen, 1912 S. 241 ff., 254 ff., 280 ff.; Hins chius, Ar. III $ 172 vni; Acta et decreta sacrorum conciliorum recentiorum (coli. Lacensis) seit 1870, 7 Bde., darin t. VII, 1890: Das Vatikan. Konzil; Roskoviny, Romanus pontifex, 16 Bde., 1867/79; Döllinger, Das Papsttum (Neubearbeitung des anonymen: Janus, Der Papst und das Konzll), 1892, Kirche und Kirchen, Papsttum und Kirchenstaat, 1861; Acton, Zur Geschichte des vatikanischen Konzils, 1871; Friedberg, Sammlung der Aktenstücke zum vatikanischen Konzil, 1872; Friedrich, Tagebuch, geführt während des vatikanischen Konzils', 1873, Geschichte des vatikanischen Konzils, 1877, Ignaz v. Döllinger, 3 Bde., 1899—1901; v. Schulte, Der Altkatholizismus, 1887; Sammlung der kirchlichen und staatlichen Vorschriften für die alt­ katholische Kirchengemeinschaft, 1878, mit Rachtr. 1882; C e c c o n i, Storia del concilio del Vaticano, 4 vol., 1872—79, deutsch von Molitor, 1873; Granderath, Geschichte des vati­ kanischen Konzils, I—III, 1903—06; Mirbt, Die Geschichtschreibung des vatikanischen Konzils, H. 3.CI, 1908; Ehrhard,DerKatholizismus (§37); Bigener, Gallik.u.epifk. Strömungen(§41). i'3 Vorerst machte freilich das Papsttum von der durch die vatikanischen Beschlüsse ge­ steigerten und gesicherten Machtfülle keinen unmittelbaren Gebrauch. Leo XIII. war vor allem darauf bedacht, die ehemalige Gegnerschaft, soweit sie in der Kirche verblieben war, entweder zu überzeugen oder doch durch ruhige Überlegenheit zum Schweigen zu bringen, auch die nichtkatholische Welt nach Möglichkeit an die neue Lage zu gewöhnen und durch diplo­ matische Erfolge das Ansehen der Kirche und des päpstlichen Stuhles zu heben. Demgemäß beobachtete sein Pontifikat auch auf dem Gebiete der kirchlichen Gesetzgebung die vorsichtigste Zurückhaltungx. Kein Wunder, daß unter der fünfundzwanzigjährigen Regierung dieses Papstes das Papsttum einen so glanzvollen Aufstieg erlebte, wie man ihn noch kurz vorher nicht für möglich gehalten hätte, und daß beim Tode Leos XIII. (1903), zumal wenn man die Fesseln in Betracht zog, die gerade die Temporalisiemng dem mittelalterlichen Papsttum für die praktische Verwirklichung seiner Ideale angelegt hatte, das Urteil sich rechtfertigte, es sei twtz personaler und materieller Beschränkung machwoller als in der Gestalt der damaligen katho­ lischen Rechtskirche das organisierte Christentum noch nie in Erscheinung getreten. Jedoch dem äußeren Prestige entsprach nicht durchweg der innere Kräftezustand. Der Bruch mit Frankreich (1904)2, den Leo XIII. und seine Ratgeber nur durch weitestgehende Nach­ giebigkeit künstlich hintangehalten hatten, war unvermeidlich und würde gleich dem im Zu­ sammenhang mit dem politischen Umschwung stehenden Zusammenbruch in Portugal (1911) früher oder später doch eingetreten sein, wie immer man sich in Rom verhalten hätte; von einem Standpunkt aus, dem die religiöse und kirchliche Wiedergeburt jener Länder über alles geht, war vielleicht, angesichts des rapiden Mckgangs des zur Erneuerung unerläßlichen Grundstocks katholischer Gläubigkeit und Kirchlichkeit, ein rasches und mutiges Betreten des Leidensweges das Richtigste. Auch sonst drohten die religiösen Interessen Schaden zu nehmen; in den «manischen wie zuvor in den angelsächsischen Gebieten' der Kirche unter­ grub eine vielfach in bestem Glauben und in der Hoffnung auf religiöse Wedergewinnung der entkirchlichten Welt vertretene, vielfach aber auch mit gewollter Zweideutigkeit verfochtene, nur zum Teil von wissenschaftlichem Geiste getragene Umdeutung der kacholischen Lehre und Anpaffung derselben an den Zeitgeist (Modemismus) die Grundlagen des Glaubens. Boll pastoralen Eifers * griff auch hier Leos XIII. Nachfolger * ebenso tatkräftig wie schonungslos 1 Vorarbeiten zu einem Teile der von feinem Nachfolger ins Werk gefetzten kirchlichen Re­ formen dürften bereits unter Leo XIII. gemacht gewesen fein. Für die kirchenrechtsgeschichtliche Beurteilung ist aber nicht dies das Entscheidende, sondern die Tatsache, dah man sich unter dem Pontifikate Leos XIII. nicht dazu entschloß, damit hervorzutreten und die Widerstände zu über­ winden, die einer solchen bereits vom vatikanischen Konzll geforderten tiefeinfchneidenden Neu­ ordnung begreiflicherweise sich entgegenstellten. Über den kirchenrechtlichen Ertrag von Leos XIII. Pontifikat siehe Segeffer, Leo XIII. und das Kirchenrecht, A. f. k. Kr. LXXXIII, 1903; Hilling, Die Gesetzgebung Leos XIII. auf dem Gebiete des Kirchenrechts, A. f. k. Kr. XCIII, 1913. • Lit. darüber in § 55. • Gegen den sog. Amerikanismus ist gerichtet Leos XIII. Schreiben Testern benevolentiae an den Kardinal Gibbons vom 22. Januar 1899. ‘ Charakteristisch dafür auch das Motuproprio Cum omnes Catholicos betreffend die Aus­ wandererseelsorge vom 15. August 1912. ' de Waal, Papst Pius X.', 1904; Schmidlin, Papst Pius X., Frankfurter zeitgem. Brofch., 1903; Sentzer, Pius X., 1908; de Colleville, Pie X intime, 31« mille, 1911.

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durch. Daß der Kampf statt durch innere Überwindung durch Erdrückung mittelst der Organi­ sation durchgefochten wurde, und daß es dabei nicht ohne schwere Schädigung wahrer Wissenschast abging \ brachte dem mit der Geschichte der Kirche Bettrauten keine Überraschung; auch im einzelnen bediente man sich althergebrachter Kampfesmittel (Dekret Lamentabili der Jnquisitionskongregation vom 3. Juli 1907 mit einem neuen, 65 Sätze vemtteilenden Syllabus, Bücherzensur, Antimodernisteneid *). Dabei übersah man freilich, unpolitisch und undiplomattsch, wie man bei diesem in den Dienst der Heilsaufgabe der Kirche gestellten Vorgehen mehr oder weniger mit Absicht war, nur zu leicht die Wirkung solcher Maßnahmen auf das Ganze des katholischen Kirchenkörpers und aus die Außenwelt, wie man es auch an dem richtigen Ver­ ständnis für die Verschiedenheit der Lage in den einzelnen Herrschaftsgebieten der Kirche fehlen ließ. Die Folge war, daß, was am einen Otte die Heilung bewirken sollte, am anderen die Krankheit erst hervorrief3, und daß bei den Außenstehenden, insbesondere bei den deutschen Staatsregiemngen, denen zu nahe zu treten gerade Pius X. bei aller Wahmng katholischer Gmndsätze in gewollter, auf die Stärkung der religiös-kirchlichen Stellung bedachter Selbst­ beschränkung femer lag als irgendeinem seiner Vorgänger4, Anstoß erregt und ihnen Anlaß zu erfolgreicher Zurückweisung gegeben wurde5. V i o 11 e t, L’infallibilit6 du pape et le syllabus, 1904; Eucken, Harnack, Hauck, Herrmann, Köhler, MauSbach, Meurer, Schnitzer in Hinnebergs Internat. Wochenschrift II, 1908; Heiner, Der neue Syllabus Pius' X.1,* 1908, Der Modernismus und die kirchlichen Maßregeln gegen denselben, A. f. k. Kr. LXXXIX, 1909, Die Maßregeln Pius' X. gegen den Modernismus, 1910; Schnitzer, Der katholische Modernismus, Z. f. Politik V, 1912; Kübel, Geschichte des katholischen Modernismus, 1909; Gisler, Der Modernismus, 1912; Besse, Le syllabus, l'äglise et les libert6s, 1913; H o u t i n , Histoire du modernisme catholique, 1913; Anrich, Der moderne Ulttamontanismus in seiner Entstehung und Ent­ wicklung, 1909.

Vor allem aber trachtete Pius X. darnach, der Verwirmng des durch den Schutt von Jahrhundetten überdeckten kirchlichen Rechtes, aus der freilich die Restauration des 19. Jahrhundetts 1 Die wissenschaftlich bedeutendste Darstellung der alten Kirchengeschichte, die der Katholi­ zismus hervorgebracht hat, Duchesne, Histoire ancienne de l'äglise (§ 1), wurde zuerst von der Konsistorialkongregation unterm I. September 1911 für die italienischen Seminare verboten und dann unterm 22./24. Januar 1912 von der Jndexkongregation verurteilt und aus den Index gesetzt. • über diese und andere, von Pius' X. Enzyklika Pascendi vom 8. September und Motuproptto Praestantia Scripturae vom 18. November 1907 sowie Motuproprio Sacrorum Antistitum vom 1. September 1910 gegen den Modernismus verhängte disziplinäre Maßregeln siehe unten im geltenden Recht. (S. 443.) • In Deutschland hatte der Modernismus vor dem Borgehen gegen ihn kaum einen Venreter. 4 Pius' X. Konstitution Provida vom 18. Januar 1906 und das unter ihm ergangene Dekret der Konzilskongregation Ne temere vom 2. August 1907 sind es gewesen, die, ohne den katholischen Grundsatz der Zugehörigkeit aller rite Getauften zur katholischen Kirche auf­ zugeben, jene die deutschen Mischehen, dieses die akatholischen Christenehen der ganzen Web auch bei bloß bürgerlichem Eheabschluß als vollgültig anerkannt und so den nach katholischer Ausfessung beiden bisher anhaftenden Makel des Konkubinats von ihnen genommen haben. Auch ver­ zeichnet die Geschichte der katholischen Kirche bis jetzt keine autoritative päpstliche Äußerung, die in der Anerkennung, wenn auch nicht des evangelischen Kirchentums, so doch des evangelischen Bekenntnisses so weit geht wie Pius' X. Enzyklika Singular! quadam vom 24. September 1912 betreffend die christlichen Gewerkschaften. Es ist dies um so bemerkenswerter, als der Pcvst in derselben gegenüber der katholischen Arbeiterschaft, als deren oberster Seelenführer er gerate bei dieser Gelegenheit besonders bestimmt auftritt, erklärt: Quidquid homo christianus (b. l. der Katholik) agat, etiam in ordine rerum terrenarum, non ei licere bona negligere quae sunt iupra naturam, immo oportere, ad summum bonum, tamquam ad ultimum finem, ex christianae sipientiae praescriptis, omnia dirigat: omnes autem actiones eius, quatenus bonae aut malae sint in genere morum, id est cum iure naturali et divino congruunt aut discrepant, i u d i c i) et lurisdictioni Ecclesiae subesse . . . Causam socialem controversiasque ei ciusae subiectas de ratione spatioque operae, de modo salarii, de voluntaria cessatione opificum non mere oeconomicae esse naturae, proptereaque eiusmodi, quae componi, posthabita Ecchsiae auctoritate, possint... und als auch er (Handschreiben an Kardinal Fischer, Erzbischof von äöln, vom 30. Oktober 1906 übereinstimmend mit der Erklärung des Kardinals Vannutelli aw dem Essener Katholikentag) den Katholiken nur zuerkennt libertatem quoad ea, quae religionen non attingunt. Oben § 42 S. 363 A. 2.

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mit großem Geschick für die Kirche Gewinn zu ziehen verstanden hatte, ein Ende zu machen1 und die kirchliche Rechtslage durch Abstoßung von veraltetem, noch mehr aber durch Neueinschärfung und Neubelebung von hintangesetztem, gelegentlich auch durch Umbildung von noch geltendem, ja in beschränktem Maße sogar durch Neuschöpfung von durch die veränderten Zeitverhältnisse gefordertem kirchlichen Recht zu klären. Schon zu Anfang seines Pontifikats ergingen, zu­ nächst geheim gehalten, in diesem Sinne umfassende Gesetze über die Papstwahl2. Und bereits unterm 19. März 1904 wurde durch das Motuproprio Arduum sane munus3 4die Neukodi­ fikation des gesamten katholischen oder, nach dem durch die Kurie festgehaltenen Sprachgebrauche, kanonischen Rechtes angeordnet und durch die Einsetzung einer päpstlichen Kodifikations­ kommission 5 6vorbereitet, 7 und zwar im Sinne des päpstlichen Programms Omnia instaurare in Christo, verstanden im Sinne der katholischen Überlieferung und der oben § dargelegten, durch das Vatikanum endgültig besiegelten Verquickung von Glauben und Rechts Seither wurde mit Macht an dem gewaltigen Werke gearbeitet. Wie verlautet, hat 1912 ein erster und 1913 ein zweiter und ein dritter Teil dem Episkopat zur Begutachtung vorgelegen 8, und sind andere im Entwürfe ganz oder nahezu fertiggestellt. Einzelne Gegenstände, deren Regelung entweder besonders wichtig, schwierig oder dringend erschien, oder bezüglich welcher man erst aus der Praxis Erfahrungen für die endgültige Gestaltung sammeln und die Aufnahme durch die Gläubigen wie durch die Außenstehenden erproben wollte, wurden vorweg behandelt (Eheschließungsrecht, Reform der Kurie 9, Promulgation der kirchlichen Gesetze und Erlasse, Neuordnung der Verwaltung der suburbikarischen Bistümer, Ab- und Versetzung der Pfarrer auf dem Verwaltungswege, Neu­ einschärfung des geistlichen Gerichtsstandes, Neuordnung des römischen Vikariats u. q.10). Dar­ nach zu schließen, wird das Hauptwerk ein durchaus konservatives Gepräge tragen und im wesent­ lichen einfach die Errungenschaften der kirchlichen Rechtsentwicklung des 19. Jahrhunderts, an die Gegenwart mehr oder weniger angepaßt, verzeichnen. Ob es überhaupt, ganz oder wenigstens zum Teil, zustande kommen, und ob es, wenn in Kraft gesetzt, in der kirchlichen Rechtsgeschichte

* Hoch, Papst Pius X., ein Bild kirchlicher Resormtätigkeit, 1907. 2 Unten § 68. 3 Acta S. Sedis XXXVI, 1904 p. 549 88., A. f. k. Kr. LXXXIV, 1904, D. Z. f. Kr. XIV,

1904.

4 Der kirchliche Rechtssatz, besonders der vom allgemeinen Konzil, aber auch der vom Papst gesetzte, wird eben auch noch heute Kanon genannt. 5 Unten § 69 S. 420 A. 1 und Ruffini, La codificazione del diritto ecclesiastico, Studi ... in onore di ... Scialoja II, 1905; Sägmüller, Die formelle Seite der Neukodi­ fikation des kanonischen Rechts, Th. Q. LXXXVII, 1905; Boudinhon, De la codification du droit canonique, Can. cont. XXVIII, 1905; Friedberg, Ein neues Gesetzbuch für die katho­ lische Kirche, D. Z. f. Kr. XVIII, 1908 (auch Leipziger jur. Fakultäts-Programm, 1907). 6 S. 364. Materien wie das Verhältnis von Kirche und Staat, die Konkordate u. a. scheinen allerdings nicht kodifiziert werden zu sollen, wohl damit ein direkter Zusammenstoß mit dem Staate und infolgedessen das Scheitern des Unternehmens vermieden wird, und weil es in diesen Dingen doch in erster Linie auf die Abmachungen im Einzelfall ankommt. 7 Meine auf streng geschichtliche Erfassung auch der neuesten Entwicklung gegründete, schon in der vorigen Auflage dieses Grundrisses durch die Überschrift dieses Kapitels angedeutete und in der 1902/03 niedergeschriebenen ersten Hälfte dieses Paragraphen zum Ausdruck gebrachte Er­ wartung, daß das Vatikanum über kurz oder lang eine kirchliche Gesetzgebungsära im Gefolge haben werde, ist durch das wenige Wochen nach dem Erscheinen meiner Darstellung erlassene Motuproprio und durch die Gesetzgebung Pius' X. bestätigt worden. 8 A. f. k. Kr. XCIII, 1913 S. 167. . 9 Indem Pius X. die Rota und andere Behörden, die im Laufe der Zeit wesentlich den Zwecken des Kirchenstaats dienstbar geworden waren und seit dessen Untergang mehr als dreißig Jahre lang in Trümmern gelegen hatten, für rein kirchliche Zwecke wiederherstellte, gab er, wenigstens durch die Tat, zu verstehen, daß er mit der Wiederherstellung des Temporales nicht mehr ernstlich rechne, wohl aber in noch höherem Maße als seine Vorgänger gewillt sei, dessen Verlust durch innere Kraftsteigerung und damit verbundene Erhöhung des Ansehens und Einflusses nach außen wettzumachen. Formell und offiziell bleibt der Gegensatz von Vatikan und Quirinal fortbestehen und muß es im Interesse beider Teile; denn besser als das italienische Garantiegesetz und alle anderen Auskunftsmittel wahrt er für die katholische Welt die internationale Stellung des Papst­ tums und dessen Unabhängigkeit gegenüber dem italienischen Staate. 10 Falco, II novissimo diritto della chiesa cattolica, Riv. di diritto pubbL I Nr. 5/6, 1910; Hilling, Die Reformen des Papstes Pius X., 2 Bde., 1909, 1912.

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einen Schlußstein ober die Grundlage eines neuen Aufschwungs bilden wird, muß die Zukunft lehren. Der Eindmck auf die Zeitgenossen kann nicht entscheiden. Reformen sordem immer Widerspruch heraus. Jedoch die Klugheit vermeidet zwar die Kritik, aber nur die Tatkraft macht Geschichte. So könnte es, zumal wenn wieder mehr politisch und diplomatisch gerichtete Nach­ folger es verständen, das durch die inneren Krisen und die Reformen gestörte Gleichgewicht innerhalb des katholischen Erdenrunds wiederherzustellen, ohne die Ermngenschaften des Vor­ gängers preiszugeben, ganz wohl geschehen, daß für die Nachwelt nicht das Pontifikat Leos XIII. zu einem Markstein der kirchlichen Rechtsgeschichte würde, sondem das Papsttum Pius' X.

Zweiter Titel. Geschichte des evangelischen Kirchenrechts. Erstes Kapitel.

Die Reformation und das deutsche Staatskirchenrecht. § 44. Die Zeil des reformatorischen Enthusiasmus. Aus der Tiefe einer in schwerer Gewissensnot um ihr Heil in Christo ringenden Seele wurde die Reformation geboren. Martin Luther, der am 10. November 1483 zu Eisleben geborene Augustinereremit von Mttenberg, der lange vergeblich auf dem hergebrachten kircklicheu Weg ben Frieden mit Gott gesucht, sand ihn endlich durch die Wiederentdeckung des paulinischen Evangeliums von der Rechtfertigung allein durch den Glauben. Die von ihnl entfachte Bewegung war und blieb zunächst nur religiös. Weder eine Kirchenverbesserung strebte Luther an, wie vor ihm und neben ihm 1 manche Reformer, noch stand ihm eine Er­ neuerung der gesamten, auch der theologischen Bildung int Vordergrund des Interesses, wie den Humanisten. Freiheit für die neue, die unverfälschte Heilsbotschaft war das einzige, was er begehrte. v. Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation •, 6 Bde., 1881 ff., sämtl. Werke Bd. 1—6; Janssen-Pastor, Geschichte des deutschen Volks seit dem Ausgange des Mittelalters I—IV ", V—VI ", VII—VIII", 1897—1904; v. Bezold, Staat und Gesellschaft des Reformationszeitalters, Hinneberg, Kultur der Gegenwart II, 5,1,1908, Geschichte der deutschen Reformation (Oncken, AG. III, 1), 1890; Hermelink, Die religiösen Resormbestrebungen des deutschen Humanismus, 1907; Berger, Die Kulturaufgaben der Reformation', 1908; Wernle, Renaissance und Reformation, 1912; Troeltsch, Renaissance und Reformatton, H. Z. CX, 1913; Corpus Reformatorum, bis jetzt 89 Bde.; Schriften des Vereins für Reformations­ geschichte, seit 1883, bis jetzt 102 Hefte, und Archiv für Resormationsgeschichte, seit 1903, bis jetzt 10 Bde. u. 4 Ergzsbde; Luthers Werke, Erlanger Ausgabe, z. T. in 2. Aufl., z. Z. 67 Bde., 1867 ff., Weimarer Ausgabe, 1883 ff., bis jetzt 49 Bde. mit Ergzsbden., enthaltend Tischreden und deutsche Bibel., Ausgabe für das deutsche Haus von B u ch w a l d u. A.', 10 Bde., 1905, in Auswahl von O. C l e m e n , 2 Bde., 1912; Lutherbiographien von Köstlin-Kawerau', 2 Bde., 1903; Kold e », 2 Bde., 1884-93; Lenz', 1897; Hausrath, 2 Bde., 1903/4; Denifle-Weiß,2 Bde. und 2 Ergzsbde., 1904—09; Grisar 3 Bde., 1911/12; Boehmer 1910; Giffert, 1911.

Dieser Freiheit stand der Gmndstock des überlieferten kanonischen Rechtes als die Ursache des von ihm bekämpften furchtbaren Gewissensdruckes im Wege. Gegen ihn hat Luther mit der ganzen Wucht seiner gewaltigen Persönlichkeit angekämpst. Ter Ablaßhandel und die damit verbundene Schädigung gewissen- und emsthafter Seelsorge forderte in den 95 Thesen vom 31. Oktober 1517 den Protest seiner gereinigten Auffassung von Buße und Heiligung heraus. Noch läßt er die Jurisdiktion des Papstes gelten. Aber dessen Lehrgewalt will er bald nicht mehr anerkennen. Und dann beginnt 1518 gegen ihn der Ketzerprozeß, der am 16. Oktober dieses Jahres zu seiner appellatio a papa male informato ad papam melius informandum, seil 1 Vgl. das Gutachten Jakob Wimpfelings von 1510 über die Reform der Kirche.

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Dem Januar 1520 zu längerer Verhandlung bei der Kurie, am 15. Juni 1520 zur Verdammung von 41 seiner Lehrsätze in der Bulle Exsurge Domine bei gleichzeitiger monitio caritativa, am 3. Januar 1521 zur großen Exkommunikation durch die Bulle Decet Romanum, am 8./25. Mai nach furchtloser Verteidigung auf dem Wormser Reichstag in der seit der constitutio cum principibus ecclesiasticis von 1220 vorgeschriebenen Folge zur Acht führt. Jetzt verwirft er, zumal er sich von der Fälschung wichtiger päpstlicher Rechtstitel wie der konstantinischen Schenkung inzwischen überzeugt und die Unhaltbarkeit anderer Gmndlagen der päpstlichen Gewalt dank weiterem Schriftstudium erkannt hat, auch den primatus iurisdictionis und darüber hinaus das ius divinum, ja überhaupt die sichtbare Kirche. Jetzt erkennt er die Schristwidrigkeit des Standespriestertums, dem er den Grundsatz des freien, unvermittelten Zutritts jedes Christen­ menschen zu Gott, das religiöse (nicht verfassungsrechtliche!) Prinzip des allgemeinen Priester­ rums gegenüberstellt, wodurch auch die bisherigen Laien zu Vollchristen erhoben werden. Schließlich fallen ihm auf dem Gipfelpunkt reformatorischer Begeisterung, wie er ihn in den Schriften des Jahres 1520 „An den christlichen Adel deutscher Nation", „De captivitate Babylonica“ und „Von der Freiheit eines Christenmenschen" erreicht, auch alle übrigen, mit der Freiheit des Evangeliums nicht vereinbarten katholischen Einrichtungen dahin, so das meiste von der Sakramentslehre, so Fasten, Wallfahrten, Mönchtum, Zölibat (1525 seine Ehe mit der ehemaligen Nonne Katharina von Bora), Bann und Interdikt. Mit der Bulle Exsurge und dem Corpus iuris canonici verbrennt er am 10. Dezember 1520 das Rechtschristentum; dessen Vertreter, der Papst, wird ihm geradezu der Antichrist. Das persönliche Glaubenschristentum ist aufgerichtet. C r i s t i a n i, Du Luthäranisme au Protestantisme (1517—28), 1911; Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, H. Z. XC, 1906, Prote­ stantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, in Hinnebergs Kultur der Gegenwart I 4, 1 ', 1909; Loofs, Luthers Stellung zum Mittelalter und zur Neuzeit, 1907 (auch in den deutschevang. Blättern); Löffler, Tetzel, Deutsche Geschichtsbl. XIV, 1913; K. Müller, Luthers römischer Prozeß, Z. f. Kg. XXIV, 1903; A. Schulte, Die römischen Verhandlungen über Luther 1520, mit Nachtrag Q. u. F. VI, 1903, Die Fugger in Rom, 2 Bde., 1904; Kalkoff, Forschungen zu Luthers römischem Prozeß, Bibl. d. preuß. hist. Inst, in Rom, II, 1905 und Z. f. Kg. XXV, 1904, Zu Luthers römischem Prozeß, Der Prozeß des Jahres 1518,1912; Greving, Zur Verkündigung der Bulle Exsurge Domine, Grevings Reformationsgesch. St. u. T. XXI, XXII, 1912; v. Schubert, Die Vorgeschichte der Berufung Luthers auf den Reichstag zu Worms 1521, Heidelberger Ak. S. B., phil.-hist. Kl., 1912; M. Lehmann, Luther vor Kaiser und Reich, in seinen Hist. Aufsätzen 1911; Wrede, Der erste Entwurf des Wormser Edikts, Z. f. Kg. XX, 1900; Kalkoff, Die Entstehung des Wormser Edikts, 1913; Brieger, Zwei bisher unbekannte Entwürfe des Wormser Edikts, Leipziger theol. Fak.-Progr., 1910; Köstlin, Luthers Lehre von der Kirche, 1853; Kolde, Luthers Stellung zu Konzil und Kirche, 1876; Sohm, Kr. I, §§ 34, 35; R i e t s ch e l, Luthers Anschauung von der Unsichtbarkeit und Sicht­ barkeit der Kirche, Th. St. K., LXXIII, 1900; Behm, Der Begriff des allgemeinen Priester­ tums, 1912.

Um letzterer Tat willen heißt er der Reformator, während er vom Standpunkt des kano­ nischen Rechtes aus allerdings als Revolutionär erscheint. Nicht vom Standpunkt des Rechtes überhaupt aus. Auch für die Kirche hat er dessen Daseinsberechtigung und Notwendigkeit nie bestritten; er hat sich nur, weil durchaus innerlich gerichtet und hinsichtlich des äußeren Gangs seiner Sache von einem großartigen Gottvertrauen beseelt, erst gar nicht und später bloß ungern, durch bittere Erfahrungen belehrt, dämm bekümmert. Und auch nicht von dem Standpunkt aus, auf den er, an die mittelalterliche Auffassung von der Christenheit und ihren Schwertem oder Regimenten anknüpfend, auf Grund seines Schriftverständnisses gelangt war, nämlich, daß äußere Ordnung nur von der weltlichen Obrigkeit zu handhaben sei. In letzterer Hinsicht war es von Bedeutung, daß auch die Verhältnisse ihn auf die Obrigkeit anwiesen. Aber nicht auf das Reich, dessen damaliges Oberhaupt, Karl V., weder für die religiöse noch für die nationale Seite von Luthers Sache Verständnis besaß. Das Schwergewicht lag längst nicht mehr bei ihm, sondem in den Territorien. Deren Herrscher waren entweder, wie Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen (1486—1525), selbst von der Reformation innerlich berührt, oder sie wurden doch durch die BolKtümlichkeit der Bewegung zu einer zuwartenden Haltung gezwungen. Ihr Bestreben mußte sein, die Durchfühmng des Wormser Edikts hintanzuhalten (Aufschübe oder Jnterime der Reichstage von Nürnberg, 1523 und 1524). Unterdessen breitete sich die Enzyklopädie der Rechtswissenschaft. 7. der Neubearb. 2. Aufl. Band V. 24

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Reformation zu Stadt und Land gewaltig aus. Doch suchte inzwischen der religiöse und der soziale Radikalismus in Gestalt der Täuferei und der Bauembewegung sich ihrer zu bemächtigen. Luchers überragender Persönlichkeit gelang es, seine Sache beider zu erwehren. Aber damit nahm auch der enthusiastische Schwung der Bewegung ein Ende. Gleich dem Christentum der nachapostolischen Zeit trat die Reformation in das Stadium der Ernüchterung und damit der äußeren Einrichtung.

Gefscken, Staat und Kirche nach Anschauung der Reformatoren, 1879; Lenz, Das Verhältnis der reformatorischen Doktrinen zur politischen Gewalt, Ak. Festrede, 1894; G. M ü l l e r , Luthers Stellung zum Rechte, 1906; Brandenburg, Martin Luthers Anschauung vom Staate und der Gesellschaft, Schrift, d. Ber. f. Res.-Gesch. H. 70, 1901; v. Schubert, Reich und Reformation, Heidelberger akad. Rede, 1910; Laemmer, Analecta Romana, 1861, Monumenta Vaticana, 1861, Meletematum Romanorum mantissa, 1875; Cornelius, Geschichte des Münsterischen Aufruhrs, 2 Bde., 1855—60; Barge, Andreas Bodenstein von Karlstadt, 2 Bde., 1905, 1906, Luther und Karlstadt in Wittenberg, H. Z. XCIX, 1907; K. Müller, Luther und Karlstadt, 1907.

8 45. Die Evangelischen eine eigene Religionspariei und laisächlich geduldet. Nach den Ereignissen des Jahres 1520, insonderheit nach Aufgabe der Messe, des MittelPunkts katholischer Gottesverehrung, im Jahre 1523, ließ sich Luthers und des konservativeren Melanchthon anfänglicher Anspruch, die eine, alte, katholische, wenn auch nicht römische Kirche fortzusetzen, nicht mehr mit Erfolg aufrechterhalten. Der Reichstag von Speier 1529 mit seiner aus möglichste Einschränkung auch des vorläufigen evangelischeil Besitzstandes berechneten Schroff­ heit veranlaßte am 19./25. April alle deutschen Stände und Städte, die der neuen Lehre anhingen, zu dem gemeinsamen Protest, der ihnen den Gesamtsondernamen „Protestanten" ein­ trug. Freilich legten das Marburger Gespräch vom 1.-—4. Oktober und der nicht beglichene Wendmahlsstreit alsbald den Grund zur dauernden Trennung der schweizerischen Reformation Zwinglis von der deutschen. Aber dieser wenigstens gab schon der Augsburger Reichstag von 1530 Gelegenheit, mit einem eigenen Bekenntnis hervorzutreten, der confessio Augustana, samt der von den mehr schweizerisch gerichteten Städten Straßburg, Konstanz, Lindau und Memmingen eingereichten Tetrapolitana (gegen beide katholische confutationes), ein Bekenntnis, das Melanchthon 1531 in der Apologie aufrechterhielt x. Seither gehen die deutschen Evan­ gelischen unter der Bezeichnung „Augsburgische Konfessionsverwandte". Melanchthon, Loci communes, Hrsg, von Plitt und Kolbe', 1900; Ellinger , Philipp Melanchthon, 1902; Heuser, Die Protestation von Speier, 1904; Ney, Die Appella­ tion und Protestation der evangelischen Stände auf dem Reichstage zu Speier, Q. z. Gesch. d. Protest. 5, 1906; Kolde, Die Augsburgische Konfession ', 1911, Die älteste Redaktion der Augs­ burger Konfession, 1906; T s ch a ck e r t, Die unveränderte Augsburgische Konfession, 1901; Thiele, Die Augsburgische Konfession, 1909; Gußmann, Quellen u. Forschungen zur Geschichte des Augsburgischen Glaubensbekenntnisses, I, 1911; I o h. Ficker, Die Konsutation des augsburgischen Bekenntnisses, 1892.

Schon vorher hatte der Speierer Reichsabschied von 1526 bestimmt, „in Sachen der Religion und des Wormser Edikts solle jeder Stand mit seinen Untertanen so leben, regieren und es halten, wie er es gegen Gott und die Kaiserliche Majestät zu verantworten sich getraue". Damit war die tatsächliche Duldung andersgläubiger Stände in dem zunächst noch als notwendig katholisch angesehenen Reiche erzielt, ein Erfolg, den auch spätere, weniger günstige Reichstags­ beschlüsse nicht rückgängig zu machen vermochten. Femer war, indem man mit, d. h. für und gegenüber seinen Untertanen Stellung nehmen zu wollen erklärte, der Grundsatz: Cuius regio, cius religio, also die Übereinstimmung von landesherrlichem und Untertanenbekenntnis für alle Beteiligten, auch die evangelischen Stände, als selbstverständlich anerkannt. Und endlich setzte man damit, daß man nicht mehr auf das Reich, aber auch nicht auf die Einzelnen, sondern auf die Stände abstellte, bei diesen, auch bei den evangelischen, das hergebrachte Recht des Religionsbannes im weiteren Sinn voraus, nur daß es jetzt aus einem Notrecht auf bloßes Ein­ greifen in die äußere Ordnung (ins reformandae disciplinae) mehr ein ordentliches, wenn auch

1 Später (1544) kamen als Bekenntnisschrift noch die schmalkaldischen Artikel von 1537 hinzu.

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nur zeitweilig zur Anwendung gelangendes Recht auf positive Religionsbestimmung wurde (ius reformandi cultus). Damit war die Sache der Reformation von Rechts wegen in die Hände der Fürsten und Städte gegeben und das evangelische Landeskirchentum angebahnt.

v. Bonin, Die praktische Bedeutung des ius reformandi, Stutz, Kr. A., 1. H., 1902; Greiff, Das staatliche Reformationsrecht, Erlanger jur. Diss., 1902.

Die zweite Generation evangelischer Landesherren stellte sich zur Reformation mehr politisch. Luther mußte sich den Schutz seiner Sache durch das Bündnis von Schmalkalden (1531) gefallen lassen. Zeitweise die Gmndlage einer imposanten Machtstellung der Evan­ gelischen (Nümberger Religionsfrieden von 1532), wurde es später die Quelle mancher, auch moralischer Verlegenheiten, so namentlich 1540 durch die Doppelehe Landgraf Philipps von Hessen, die Luther, um den mächtigen Verbündeten nicht dem Gegner in die Arme zu treiben (der Kaiser verzieh tatsächlich später), durch Beichtrat im geheimen zuzulasten sich veranlaßt sah, was ihm allerdings sein Schriftprinzip (Patriarchenpolygamie) erleichterte, aber doch nicht, ohne daß er gegen seine innere Überzeugung handeln mußte. Der durch dynastische Interessen veranlaßte Abfall des Herzogs Moritz von Sachsen brachte die Evangelischen im Schmalkaldischen Kriege, vor dessen Ausbruch Luther am 18. Febmar 1546 in seiner Vater­ stadt starb, in große Bedrängnis und führte 1548 zu dem diesmal den Katholischen vorteil­ haften Augsburger Interim (nur Priesterehe und Laienkelch zugestanden), das, in Süddeutsch­ land gewaltsam durchgeführt, die evangelische Sache schwer schädigte. Da bewirkte Moritz von Sachsen, der in seinen Landen nicht aufgehört hatte, die evangelische Sache zu fördem, vom Kaiser plötzlich abschwenkend, einen völligen Umschwung. v. Schubert, Bündnis und Bekenntnis 1629/30, Schrift, b. Ber. f. Ref.-Gesch., H. 98, 1908; Paulus, Luthers Lebensende, 1896; N. Müller, Zur Geschichte des Interims, Jb. f. Brandenb. Kg. V, 1908; Rockwell, Die Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen, 1904; Köhler, Die Doppelehe Landgraf Philipps von Hessen, H. Z. XCIV, 1906; Brieqer, Luther und die Nebenehe des Landgrafen Philipp von Hessen, Preuß. Jbb. CXXXV, 1909; Ißleib, Das Interim in Sachsen, N. A. f. sächs. Gesch. XV, 1894; Bossert, Das Interim in Württemberg, Schrift, d. Ber. f. Ref.-Gesch., H. 46, 47, 1896; Wolf, Das Augsburger Interim, D. Z. f. Gw. II, 1898; Herrmann, Das Interim in Hessen, 1901; Setzling, Die Kirchengesetzgebung unter Moritz von Sachsen, 1899.

§ 46. Die rechtliche Anerkennung des neuen Glaubens und dessen Behauptung gegenüber der katholischen Gegenreformation. Trotzdem Moritz in der Schlacht von Sievershausen 1553 den Tod fand, gingen die von ihm 1552 im Passauer Vertrag für die Evangelischen errungenen Vorteile über in den end­ gültigen Augsburger Religionsfrieden vom 25. September 1555. Mit ihm hörte die evangelische „Religion" reichsrechtlich auf, als Ketzerei zu gelten. Denn das auf den mittelalterlichen Ge­ danken des einheitlichen Corpus christianum gestützte Erfordernis der religiösen Uniformität des Reichs wurde jetzt aufgegeben. Doch eine eigentliche Religionsfreiheit gewährte auch den Ständen der Friede nicht. Mr die alte und die „Augsburgische Konfessions-Religion" wurden anerkannt, und nur zugunsten der einen oder der anderen sollte auch das Reformationsrecht geübt werden (nicht auch zugunsten des Zwinglianismus!), so daß an die Stelle der einen einfach zwei Zwangskirchen traten. Immerhin gab es fortan auch für die altgläubigen Stände zum neuen Glauben einen wenigstens indirekt zugestandenen Übertritt. Bloß sollte derjenige eines geistlichen Standes nicht auch den Verlust des betreffenden Bistums oder Stifts für die Katholischen im Gefolge haben; die Wtgläubigen hätten sonst nicht bloß zahlreiche weitere Macht­ verluste zu gewärtigen gehabt, sondem wären Gefahr gelaufen, sich aus Mangel an den nach ihrem Kirchenrecht erforderlichen Titeln und Pfründen von den notwendigen kirchlichen Obern entblößt zu sehen. So der geistliche Vorbehalt, reservatum ecclesiasticum, der aber nicht als vereinbart, sondem lediglich als kraft kaiserlicher Gewalt auserlegt galt und von den Evangelischen nicht anerkannt wurde. Weiter suspendierte der Frieden für diese die geistliche Jurisdiktion der Bischöfe und das Patronatrecht der nicht reichsunmittelbaren geistlichen Stände, was sie 24*

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fortan vor Belästigungen durch ihre früheren geistlichen Ebern sicherstellte und den Landes­ herren die Anhandnahme des Kirchenregiments auch rechtlich ermöglichte. Endlich wurde den Untertanen gegenüber dem landesherrlichen Reformationsrecht die Auswanderungsbefugnis, ius emigrandi, gewährleistet.

Barge, Tie Verhandlungen zu Linz und Passau und der Vertrag von Passau im Jahre 1552, 1893; Kühns, Zur Geschichte des Passauer Vertrags, 1905; Bonwetsch, Geschickte des passauöchen Vertrages von 1552, 1907; Ritter, Ter Augsburgische Religionsfriede, Hist. Taschenb., 1886; Wolf, Der Augsburger Religionsfriede, 1890; Brandi, Der Augsburger Religionsfriede, 1896, Passauer Vertrag und Augsburger Religionsfriede, H. Z. XCV, 1905; Adler, Der Augsburger Religionssriede und der Protestantismus in Österreich, Festschrift f. Brunner, 1910; Rieker, Die rechtliche Stellung der evangelischen Kirche Deutschlands, 1893. Tie Ruhe, die dieser Frieden den Augsburgischen brachte, zeitigte, zusammen mit der durch ihn sanktionierten Trennung von den außerdeutschen Protestanten, bei den deutschen Evangelischen Lehrstreitigkeiten, die durch die Konkordienformel vom 25. Juni 1580 nicht völlig aus der Welt geschafft wurden. In diese Zeit fällt auch ein siegreiches Vordringen des Cal­ vinismus im Deutschen Reich (§ 51). Von größter staatskirchenrechtlicher Bedeutung wurde es, daß Kurfürst Johann Sigismund von Brandenburg, als er 1613 zum reformierten Be­ kenntnis übertrat (confessio Marchica 1614), als erster von seinem Religionsbann, wie er nach dem älteren strengen Recht des Augsburger Religionsfriedens es zwar nicht durfte, aber nach der neuem Praxis gekonnt hätte und zunächst auch zu tun geneigt war, zugunsten seines neuen Bekenntnisses keinen Gebrauch machte, sondem seine Untertanen, von denen nur kleine Teile frei­ willig übertraten, beim Luthertum beließ. Jetzt beschränkte sich im Gegensatz zu den Calvinischen die sich gem als die Reformierten in besonders vollkommenem Sinne bezeichneten, der ur­ sprünglich beiden Richtungen von bcn Gegnern gemeinschaftlich beigelegte Name Lutheraner aus die Anhänger des deutschen Reformators. Anderseits bezeichneten sich fortan die deutschen Reformierten, soweit sie die äußere Ordnung der Lutherischen beibehielten, ebenfalls als Augs­ burgische Konfessionsverwandte. Doch geriet die ^Reformation überhaupt bald ins Stocken Ja, es gelang dem durch das Tridentinum gesammelten Katholizismus, wieder Boden zu ge­ winnen und namentlich auch das Territorialprinzip samt dem wieder zur Anwendung gelangen­ den Ketzerrecht gegen die Evangelischen zu kehren. Ter nunmehr entbrennende 30 jährige Religionskrieg führte zunächst 1629 zu einem kaiserlichen Restitutionsedikt, das den Augsburger Religionsfrieden in katholischem Sinn restriktiv interpretierte. Hatte schon im 16. Jahrhundert die Gegnerschaft des universalen Papsttums und vor allem der intemationalen österreichischen Hausmacht die Evangelischen in die angesichts des nationalen Charakters ihrer Sache mißliche Lage versetzt, im Ausland Hilfe zu suchen, so trieb sie jetzt eben diese internationale österreichische Gegnerschaft nicht bloß zum Bündnis mit dem immerhin in erster Linie als Vorkämpfer des evangelischen Glaubens sich fühlenden Schwedenkönig Gustav Adolf, dessen mit dem Tod auf dem Schlachtfeld zu Lützen am 16. November 1632 besiegeltes Werk die Rettung des nord­ deutschen Protestantismus war, sondem sogar in die unnatürliche Verbindung mit dem katho­ lischen Frankreich, ja mittelbar mit dem als italienischer Fürst von Habsburg bedrohten Papst (Urban VIII.). So war es auch ein europäischer und unter der Garantie außerdeutscher Mächte stehender Friedensschluß, der dem Religionskrieg ein Ende machte. v. M ü h l e r, Geschichte der evangelischen Kirchenversassung in der Mark Brandenburg, 1846; Brandes, Geschichte der kirchlichen Politik des Hauses Brandenburg, I, II, 1872; Zorn, Die Hohenzollern und die Religionsfreiheit, 1896; Pahnke, Abraham Scultetus in Berlin, Forsch, z. Brandenb. u. Preuß. Gesch. XXIII, 1910; Heppe, Ursprung und Geschichte der Be­ zeichnungen reformierte und lutherische Kirchen, 1859; Tschackert, Die Entstehung der luthe­ rischen und der reformierten Kirchenlehre, 1910; Fabricius, Kirchliche Organisation und Verteilung der Konfessionen im Bereich der heutigen Nheinprovinz um 1610, 4 Karten (Ge­ schichtlicher Atlas der Rheinprovinz VI), 1903, mit 3 Erläuterungsbänden 1909, 1913; Ranke, Zur deutschen Geschichte vom Religionsfrieden bis zum 30 jährigen Krieg s, sämtl. Werke Bd. 7, 1888; Ritter, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges, 3 Bde., 1889—1908; Wolf, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation I, 1889; Gothein, Staat und Gesellschaft der neueren Zeit (Gegenreformation), Hinneberg, Kultur der Gegenwart II, 5, 1, 1908; Literatur über die Gegenreformation in den einzelnen Territorien bei Friedberg, Kr. § 29, N. 8; T u p e tz, Ter Streit um die geistlichen Güter und das Restitutionsedikt, 1883; Gebauer, Kurbrandenburg und das Restitutionsedikt, 1899;

Uirchenrecht.

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Günter, Das Restitutionsedikt von 1629 und die katholische Restauration Alt Württembergs, 1901; Dersch, Das Restitutionsedikt in Hessen, Zeitschr. d. Ber. f. Hess. Gesch. XL, 1907; Smend, Das Reichskammergericht I, Zeumers Q. u. St. IV, 3, 1911; Arndt, Tie Kirchen­ ordnung des Schwedenkönigs Gustav Adolf für die Stifter Magdeburg und Halberstadt 1632, D. Z. f. Kr. XI, XII, 1902.

8 47. Der Westfalische Frieden und das deutsche Slaalskirchenrecht bis zum Beginn des IS. Jahrhunderts. Aus den Verhandlungen mit Frankreich und dem Papst in Münster, mit Schweden in Osnabrück ging am 14./24. Oktober 1648 der Westfälische Frieden hervor. Für die kirchlichen Verhältnisse kommt nur das Osnabrücker Friedensinstrument, Instrumentum Pacis Osnabrugense (I.P.O.), in Betracht, gegenüber der zu erwartenden und auch wirklich erfolgten päpstlichen Ungültigkeitserklärung (§ 38) von vornherein durch die Vereinbarung ihrer allseitigen Nichtbeachtung geschützt. Emminghaus, Corpus iuris Germanici 1844 ff.; Meyer-Zöpfl, Corpus iuris confoederationis Germanicae 3 Bde., 1869; Zeumer, Quellensammlung ' (§ 41 S. 356 A. 2); Pütter, Der Geist des westphälischen Friedens, 1796; Rieker, Rechtliche Stellung der evang. Kirche (§ 46).

Auf Grund des zunächst als Staatsvertrag, seit dem jüngsten Reichsabschied von 1654 aber auch als Reichsgrundgesetz geltenden Westfälischen Friedens sollte:

1. unter den Ständen Parität herrschens aber nur zugunsten der reichsrechllich an­ erkannten kacholischen und augsburgischen Religion, also nicht auch für andere (Sekten). Durch authentische Interpretation des Augsburger Religionsfriedens von 1555 und demnach mit rück­ wirkender Kraft werden auf Betreiben des Großen Kurfürsten die deutschen Reformierten mit unter die Augsburgischen Konfessionsverwandten subsumiert und als solche anerkannt, so daß fortan die augsburgische Religion offiziell in zwei Konfessionen zerfällt. In Religions­ sachen soll es auf dem Reichstag keine Majorisierung geben, vielmehr zunächst ein Auseinander­ gehen, itio in partes, nach Religionen (Corpus Evangelicorum und C. Catholicorum) stattfinden, und hierauf eine Erledigung nur durch amicabilis compositio zulässig sein; Jmmich, Geschichte des europäischen Staatensystems von 1660—1789, 1905; Land­ wehr, Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten, 1894; Philippson, Der Große Kurfürst, I, II, 1897—1902; Richter, Die Verhandlungen über die Aufnahme der Reformierten in den Religionssrieden zu Osnabrück, Leipziger phll. Diss., 1906; Keller, Die staatsrechtliche An­ erkennung der reformierten Krrche auf dem westfälischen Friedenskongreß, Bonner Festgabe f. Krüger, 1911; B o g e l, Der Kampf auf dem westfälischen Friedenskongreß um die Einführung der Parität in der Stadt Augsburg, 1900.

2. das reservatum ecclesiasticum, das von den Evangelischen ehedem abgelehnt worden war, nunmehr für und gegen beide Teile reichsgesetzlich gelten, nachdem es die Evangelischen infolge der Gegenreformation auch für sich als Bedürfnis erkannt hatten, doch so, daß — im Interesse der Evangelischen und des von ihnen vorher erworbenen, besonders norddeutschen Bistums- und Stiftsgutes — nicht über 1624 zurückgegangen, also namentlich nicht auf die Zeit des Passauer Vertrages, wie katholischerseits früher verlangt wurde, zurückgegriffen werden sollte; 3. es bei der Suspension der Jurisdiktion katholischer Kirchenobem auch weiterhin sein Bewenden haben und ebenso bei dem Satz Cuius regio, eius religio, desgleichen bei dem daraus entspringenden ius inspiciendi cavendi, dem obersten Aufsichts- und Abwehrrecht über die Kirchen und ihre Angehörigen, dem ius advocatiae oder Kirchenschutzrecht, sowie bei dem jetzt regelmäßig hier mituntergebrachten ius reformandi. Doch wurde auch das Auswanderungsrecht beibehalten und die Auswandemng erleichtert. Und für den Fall, daß der Landesherr von seinem Recht, andersgläubige Untertanen auszutreiben, keinen Gebrauch machte, wurde ihm untersagt, sie irgendwie in ihren bürgerlichen Ehren zu kränken. Der Frieden sicherte ihnen — z. B., aber nicht lediglich — Rechtsgleichheit in Handel und Gewerbe, Erbrecht, bürgerliche 1 Aequalitas exacta mutuaque ... ita, ut, quod uni parti iustum est, alten quoque iustum sit.

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Achtung und ein ehrliches Begräbnis ausdrücklich zu. Bei bloßem Konfessionswechsel des evangelischen Landesherm wurde, unter reichsgesetzlicher Gutheißung der brandenburgischen Praxis, das Erfordernis der Übereinstimmung von landesherrlichem und Unters anenbekenntnis überhaupt aufgegeben; 4. die Religionsübung verschiedene, durch die an den Frieden sich anlehnende Wissenschaft und Praxis noch verfeinerte Abstufungen haben. Man unterschied: a) die devot io domestica, den Hausgottesdienst, und zwar entweder bloß als Simplex mit hausväterlicher Andacht ohne Zuziehung eines Geistlichen (so nach der späteren, restriktiven Praxis für die bloß Geduldeten), wobei jedoch der Besuch öffentlichen Gottesdienstes in der Nachbarschaft freistand, oder als qualificata, also mit einem Geistlichen (so anfänglich wohl für alle, später nur für frei­ willig bevorzugte Geduldete), b) das exercitium religionis, die Religionsübung, und zwar als p rLv a t u rn, d. h. als das Recht zur Gemeindebildung, aber unter Beschränkung der betreffenden Kirche auf die Stellung eines privaten Vereins, und zum Gemeindegottes­ dienst, aber bei verschlossenen Türen, oder als publicum, also mit Erhebung zur Staats­ kirche, wodurch das Kirchenrecht öffentliches Recht, die Kultuskosten Staatslasten wurden, und mit dem Recht zu öffentlicher Gottesverehrung (Türme, Glocken, Prozessionen);

Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit nach seiner geschichtlichen Entwicklung und heutigen Geltung in Deutschland, 1891; Sägmüller, Der Begriff des exercitium re­ ligionis publicum ... privatum und der devotio domestica im Westfälifchen Frieden, Th- Q. XC, 1908; Montagrin, Histoire de la tolärance religieuse, 1906. 5. das Reformationsrecht, wie schon zu 3. bemerkt, fortbestehen und mit der Landeshoheit (nicht mit dem Patronat) verbunden \ der landesfürstlichen Hoheit anhängig (Prager Frieden 1635) sein. Mit dem Recht selber wurde aber aus der vorangegangenen gewohnheitsrechtlichen Entwicklung dessen Beschränkung übernommen. Es sollte keine Verfügungsbefugnis über die Lehre und wesentliche Teile des Kultus mehr geben. Es war nur noch ein ius reformandi exercitium religionis. Auch für die katholischen Stände war nunmehr das Ketzerrecht beseitigt, und für die evangelischen, die zwar von Anfang an, außer wo mit der Glaubensverschiedenheit aufrührerische und sektiererische Agitation (Täuferei, Bauemaufstand) sich verbanden, weder Glaubens- noch Bekenntniszwang geübt, wohl aber Religionspolizei getrieben hatten (Verbot der Messe, Gebot der Schließung katholischer Kirchen sowie der Teilnahme am evangelischen Gottesdienst und Unterricht, die ja — nach Luther — den Andersgläubigen nichts schade; also keine reformatorische Toleranz im mobemen Sinn, aber auch kein kanonischer, gegen die innere Überzeugung gerichteter Zwang!), wurde nunmehr die Intoleranz auch in dieser abgeschwächten Gestalt unmöglich gemacht. Nur der Pfarrzwang mit seinen Formvorschriften und steuerrechtlichen Folgen blieb auch ferner für und gegen beide Teile bestehen. Im übrigen unterschied man fortan im Resormationsrecht: a) das ius receptionis oder der Aufnahme, die in der rechtsnot­ wendigen oder freiwilligen Gewährung des exercitium religionis bestand, aber bei bloßem Konfessionswechsel des evangelischen Landesherm auf die unwiderrufliche Einrichtung von Hosund anderen Gemeinden auf Kosten der Angehörigen des neuen landesherrlichen Bekenntnisses beschränkt war, b) das ius tolerandi zur unfreiwilligen, später (Nichtaugsburgischen gegenüber) auch freiwilligen Duldung mit Gewähmng der devotio domestica; c) das ius reprobandi, den Religionsbann im engeren Sinn, d. h. die Befugnis, Andersgläubige aus seinem Gebiet nicht zu dulden, sondem zur Auswandemng zu zwingen;

Köhler, Reformation und Ketzerprozeß, 1901; Nathusius, Zur Geschichte des Toleranzbegrifss, Greifsw. Studien f. Cremer, 1895; Hermelink, Der Toleranzgedanke im Reformationszeitalter, Schrift d. Ber. f. Res.-Gesch., H. 98, 1908; Paulus, Protestantismus und Toleranz im 16. Jahrhundert, 1911; Völker, Toleranz und Intoleranz im Zeitalter der Reformation, 1912. 6. dieser Religionsbann aber seine Schranke finden an dem Stand auch nur eines Tages des Normaljahrs (annus decretorius) 1624. Jede der reichsrechtlich anerkannten Religionen mußte überall, außer in den österreichischen Erblanden, bezüglich des exercitium

1 Cum statibus immediatis cum iure territorii et superioritatis ex communi per üotum Imperium hactenus usitata praxi etiam ius reformandi exercitium religionis competat ...

Kirchenrecht.

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religionis und der annexa exercitii (Konsistorien, Schul- und Kirchenämter, Patwnatsrechte) auch vom andersgläubigen Landesherm im damaligen Stande belassen oder in ihn zurückversetzt werden. Für die Reichsunmittelbaren sollte aber der 1. Januar 1624 alsNormaltag (dies decretorius) und für die Evangelischen untereinander der Zeitpunkt des Friedensschlusses maß­ gebend sein. In allen diesen Fällen mußte also eventuell exercitium religionis privatum oder publicum gewährt werden, während sonst der Landesherr die Wahl zwischen Reprobation, Toleranz oder gar Rezeption hatte.

Skalsky, Zur Geschichte der evangelischen Kirchenverfalsung in Österreich bis zum Toleranzpatent, 1898 (auch im Jb. d. Gesellsch. s. d. Gesch. d. Protest, in Österreich). In der Folgezeit hat wie schon aus dem Bisherigen ersichtlich, die Theorie wie die Praxis dies Recht weiter entfaltet. So bildete sich eine Reichsobservanz, die beim dinglichen Kirchenpatwnat gegenseitig auch den Andersgläubigen zur Ausübung zuließ. So entstanden ferner im Anschluß an den Westfälischen Frieden, aber auch nicht selten unter grober Verletzung desselben (Pfälzer Simultaneum von 1698, auf Grund des Ryswiker Friedens, nur unvollkommen rückgängig gemacht durch die von Preußen erzwungene Religionsdeklaration von 1705) Simultan­ verhältnisse an Kirchen, Kirchhöfen, Pfründen, zunächst Gebrauchs (Ertrags-) Gemeinschaften ver­ schiedener Religionen oder Konfessionen. Weiter duldete namentlich Brandenburg-Preußen auch Sekten und Joseph II. in den österreichischen Erblonden Augsburgische und Helvetische Konfessionsverwandte (Toleranzedikt von 1781). Ja, das Preußische Mgemeine Landrecht gewährte 1794, über das Wöllnersche Religionsedikt von 1788 hinausgehend, Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Möglichkeit des Übertritts von einem christlichen Bekenntnis zum anderen auch für den einzelnen Untertan und, mit Genehmigung des Staats, die Befugnis zur Gemeindebildung. Die bestehenden Kirchengesellschaften aber zerfielen nach ihm in „ausdrücklich aus­ genommen e", d. h. bevorrechtete, und in „geduldete" mit bloßem exercitium religionis privatum. Zwischen beide schob die Praxis noch „konzessionierte" (Herrenhuter, Mennoniten) mit geringerem Recht als dem der erstgenannten ein. Das ius reprobandi, der Religionsbann, war damit aufgegeben (außer bezüglich des Verbots des Übertritts zum Juden­

tum). Da auch in Bayern 1800 eine ähnliche Beschränkung des ius reformandi erreicht wurde, konnte der Reichsdeputationshauptschluß von 1803 von Reichs wegen die neuen Landesherren der säkularisierten Gebiete verpflichten, deren bisherige Religionsübung, auch soweit der West­ fälische Friede sie nicht schützte, unverändert zu belassen, eine Vorschrift, über welche die Rhein­ bundstaaten in der Akzessionsurkunde zum Rheinbund in bemerkenswerter Weise noch hinaus­ gingen, indem sie dem katholischen Kult überall den evangelischen gleichstellten.

Schulte, Erwerb des Patronats durch Richtkatholiken, A. f. k. Kr. VII, 1862; Dove, Zur Streitfrage, ob Evangelische Patronate über katholische Kirchen zu erwerben fähig sind, Z. f. Kr. II, 1862; Pariset, L’6tat et les 6glises en Prasse sous Fridftic-Guillaume Ier (1713—40), Th6se, 1896; Stolze, Aktenstücke zur evangelischen Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms I., Jb. s. brandenburgische Kg. I, 1904' P i g g e, Die Toleranzanschauungen Friedrichs des Großen, Münst. phil. Diss., 1899, Die religiöse Toleranz Friedrichs deS Großen nach ihrer theoretischen und praktischen Seite, 1899; Stille, Zur Geschichte der religiösen Duldung unter den Hohenzollern, Progr. Sondershausen, 1889; Hubrich, Staat und Kirche in der preußischen Monarchie am AuSganae des 18.Jahrhunderts, BerwaltungSarchiv XX, 1912, XXI, 1913; Frank, Das Toleranz­ patent Josephs II., 1882; Kolde, Das bayerische ReligionSedikt von 1803 und die Ansänge der protestantischen Landeskirche in Bayern', 1903; Winkelmann, Die rechtliche Stellung der außerhalb der Landeskirche stehenden Religionsgemeinschaften in Hessen, Gießener jur. Diss., 1911.

Zweite- Kapitel.

Das lutherische Kirchenrecht und seine Quellen. 8

48. Die praktische Einrichtung des lutherischen Kirchenwesens.

Schon 1524/25 toutbe von dem Zwickauer Pfarrer Hausmann u. a. die erste Anregung zu einer Organisation des evangelischen Kirchenwesens gegeben. Doch erst der Bauemkrieg, in dem die aufrührerischen Rotten freie Pfarrwahl sowie nötigenfalls das Recht der Absetzung, die Mschaffung des kleinen Zehntens u. a. m. forderten, brachte, zusammen mit anderen Übeln

Ulrich Stutz.

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Erfahmngen, Luther von seiner noch 1526 in der Vorrede zur deutschen Messe wiederholten ursprünglichen Absicht ab, jeder Gemeinde ihre Einrichtung zu überlassen und auf alle äußere Einförmigkeit zu verzichten, und machte ihn empfänglich für organisatorische Anregungen. Go ehe, Zur Überlieferung der zwölf Artikel, H. B. 1904, Tie Entstehung der zwölf Artikel, Neue Jbb. f. d. Nass. Altert. XIII, 1904; Stolze, Ter deutsche Bauernkrieg 1908, Zur Geschichte der zwölf Artikel, H. Z. CVIII, 1912; Boehmer, Urkunden z. Gesch. d. Bauern­ krieges, Kl. Texte von Lietzmann L, LI, 1910; Drews, Der Einfluß der gesellschaftlichen Zu­ stände auf das kirchliche Leben, Zeitschr. s. Theol. u. Kirche XVI, 1906, Entsprach das Staatskirchentum dem Ideale Luthers? Z. Th. K. XVIII, Erg.-H., 1908; Hermelins, Zu Luthers Gedanken über Jdealgemeinden und von weltlicher Obrigkeit, Z. s. Kg. XXIX, 1908; Barge, Frühprotestantisches Gemeindechristentum in Wittenberg und Orlamünde, 1909; K. Müller, Kirche, Gemeinde und Obrigkeit nach Luther, 1910; Richter, Geschichte der evangelischen Kirchenverfassung in Deutschland, 1851; Wasserschleben, Die Entwicklungsgeschichte der evangelischen Kirchenverfassung in Deutschland, Gießener Festrede, 1861; Mejer, Zum Kirchen­ recht des Reformationsjahrhunderts, 1891; Buchwald, Die evangelische Kirche im Jahr­ hundert der Reformation, 1901.

1. Pfarrei. Ganz von selbst vollzog sich die Übernahme des Pfarramts (samt dem Patwnat daran) und der Pfarrei als des Objekts der pfarrlichen Tätigkeit. Nur verschwanden jetzt die durch die Inkorporation, die Kommenden und ähnliche Mißbräuche so zahlreich ge­ wordenen Vikare samt den bloßen Altarbenefiziaten, um wirklichen Pfarramtsinhabern Platz zu machen. Soweit die Pfarrstellen für die Pastoration nicht ausreichten, gab man den Pfarrern Diakonen oder Helfer zur Seite, die zwar der Aufsicht und Leitung jener untergeordnet, aber der geistlichen Befähigung nach ihnen gleichgestellt waren. Stutz, Luthers Stellung zur Inkorporation und zum Patronat, Z.' s. RG. I, 1911.

2.

Landesherrliches

Kirchen regiment;

K i r ch e n v i s t t a t i o n e n.

Für die höhere Organisation wiesen Luthers Anschauung, der Geistliche dürfe nur verbo, nicht vi Humana regieren, und der Speierer Reichsabschied in gleicher Weise auf die weltlichen Obrig­ keiten, die Landesherren und Stadlmagistrate, hin. Sie sollten für die äußere Ordnung auch der kirchlichen Angelegenheiten sorgen; ihnen wollte — um es kanonistisch auszudrücken — Luther das geistliche Schwert wenigstens in dominium utile oder ad ministerium, zur Aus­ übung im Dienst der Kirche, übertragen wissen. Aber sie sollten hierfür stets den Rat der Theo­ logen, wenn auch nicht mit rechtlicher Verbindlichkeit, anhören und möglichst befolgen (domi­ nierender Einfluß der Wittenberger Tl)eologen, maiores Wittenbergenses genannt). Und vor allem in Sachen der Lehre und der Sakramentsverwaltung sollten nur die geistlichen Organe zuständig sein, ein Vorbehalt, der allerdings von den ^Regierungen oft genug nicht beachtet worden ist. Mit alledem arbeitete Luther mit auf das landesherrliche Kirchenregiment hin, das ohnedies der Zeitrichtung entsprach und immer mehr als notwendig sich erwies mitsamt seinen Luther sonst wenig sympathischen Juristen. Im weiteren Verfolg einer schon in der Schrift „An den christlichen Adel" ausgesprochenen Auffordemng ersuchte er Ende 1526 den Kurfürsten Johann von Sachsen, „da päpstlicher und geistlicher Zwang und Ordnung aus sei", und alle Klöster und Stifter dem Kurfürsten als dem „obersten Haupt" in die Hände gefallen, in aller Form um Vornahme einer Kirchen- und Schulvisitation. Damit begannen die sächsischen Kirchenvisitationen, für deren erste schon 1527 eine kurfürstliche Instruktion ausgegeben wurde, die namentlich die Reform von Pfarr- und Schuldienst, das kirchliche Vermögen und die Aussicht zum Gegenstand hatte. Kleinert, Grundsätze ev. Kirchenverfassung, in Zur christl. Kultus- u. Kulturgeschichte 2, 1908; v. Scheurl, Luthers Lehre von der kirchlichen Gewalt, in seiner S. kr. A.; D i e ck h o f s, Luthers Lehre von der kirchlichen Gewalt, 1865; S o h m, Kr. I 34—36; Lorenz, Luthers Einfluß auf die Entwicklung des evangelischen Kirchenregiments, 1891; Brieger, Tie kirch­ liche Gewalt der Obrigkeit nach der Anschauung Luthers, Z. Th. K. II, 1892; Beß, Luther und das landesherrliche Kirchenregiment, 1894; Brandenburg, Zur Entstehung des landes­ herrlichen Kirchenregiments im albertinischen Sachsen, H.B. IV, 1901; Holl, Luther und das landesherrliche Kirchenregiment, Z. Th. K. XXI, 1911, 1. Erg.-H.; Katzer, Tie Kirchen­ inspektionen der sächsischen evangelisch-lutherischen Landeskirche, Z. s. Kg. XXIII, 1902; Burkhardt, Geschichte der sächsischen Kirchen- nnb Schulvisitationen, 1879; Kayser, Tie Reformationsvisitationen in den Welfischen Landen (1542—1544), 1897; N. Müller, Tie Kirchen- und Schulvisitationen im Kreise Belzig 1530 und 1534, Jb. s. brandend. KG. I, 1904;

Kirchenrecht.

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Pallas, Die Registraturen der Kirchenvisitationen im ehemals sächsischen Kurlreise I, 1906 ff.; Flemming, Die Akten der ersten Visitation im Hochstist Merseburg (1544—1545), Zeitschr. d. Ber. f. Kg. in der Prov. Sachsen III, 1906; Schmidt, Die Kirchen« und Schulvisitationen im sächsischen Kurkreise (1555), Schrist. d. Ber.f.Ref.-Gesch.H. 90,1906; Parisius, Der Versaster der Brandenburgischen Bisitations- und Konsistorialordnung von 1573, Jb. f. Brandend. Kg. IV, 1907; Heine, Die ersten Kirchenvisitationen im Köthener Lande während der ReformationSzeit, Beitr. z. anhalt. Gesch. XIV, 1907; Berbig, Zu den Akten der kursächsischen Visitationen von 1528/9 und 1535/6, D. Z. s. Kr. XXI, 1912.

3. Superintendenten und Konsistorien. Für die Aufsicht über die Geistlichen wurden aus der SDtitte derselben Superattendenten (superintendens hergebrachte Übersetzung von ^mixoitos, z. B. auch als landesherrliches Aufsichtsorgan für die Wiener Universität) bestellt (erster 1525 in Stralsund), denen auch, in schwierigen Fällen im Verein mit den Amtmännern, den Ortspsarrem und Gelehrten, die Ehesachen überlassen waren, während bei besonderer Mchtigkeit der Kurfürst selbst zu entscheiden hatte. Die Superattendenten standen unter den Visitatoren, für die Melanchthon 1528 ein eigentliches Visitationsbuch „Unterricht der Visitatoren" verfaßte. Bald begegnen die Visitationen (vier für die vier Kreise) als ordent­ liche Einrichtung des kursächsischen Kirchenwesens. Wer auf die Dauer genügten diese nicht­ ständigen Behörden nicht. Namenllich für die Eherechtspstege bedurfte man ständiger Behörden; denn die Überlassung der Ehesachen an die einzelnen Superattendenten erwies sich auf die Dauer als untunlich. Wso wurde zunächst „zum Anfang" 1539 in Wttenberg ein Konsistorium eröffnet, für das 1542 ein nie zum Gesetz erhobener, tatsächlich aber befolgter Entwurf einer Konsistorialordnung entstand. Das Konsistorium, dessen Mitglieder, zwei Theologen (Justus Jonas und Johann Agricola) und zwei Doktoren der Rechte (Kilian Goldstein und Basilius Monner) als juristische Sachverständige (nicht als Laienvettretung!), vom Kurfürsten emannt wurden, war, obwohl es den Zeitgenossen als kirchliche Amtsstelle galt, zunächst eine landes» herrliche Behörde für die Rechtsprechung, später auch für die Verwaltung in der Kirche als besonderem Arbeitsgebiet der landesherrlichen Verwaltung, wie es auch historisch an Stelle der weggefallenen bischöflichen Gerichtsbehörde (consistorium) trat. Im albertinischen Sachsen errichtete, nachdem der Versuch, die bischöfliche Organisatton beizubehalten, gescheitert war, Herzog Moritz 1545 die beiden Konsistorien von Meißen und Merseburg, von denen letzteres 1550 nach Leipzig verlegt wurde, indes General-, Parttkular- und Lokalvisitationen an Ott und Stelle nebst Bisitattonssenden am Wohnott des Visitawrs (synodi) weiter abgehalten wurden. Endlich gab Kurfürst August der sächsischen Kirche die endgültige, auch im emestinischen Sachsen rezipiette Organisatton, indem er 1580 über den (Spezial«) Superintendenten Generalsupettn« tendenten für das ganze Land bestellte (ein Wittenberger schon seit 1533, daneben ein Leipziger) und von den drei Konsistotten zu Wttenberg, Leipzig und Meißen das letztere unter gleichzeittger Verlegung nach Dresden den beiden anderen als Oberkonsistottum überordnete. Bei ihm sollten sich auch die Generalsupettntendenten mit einigen Räten jähttich zweimal zu General­ senden versammeln. Die Zentralisatton der gesamten landesttrchlichen Verwaltung bei einer Behörde war dem Vorbild Wütttembergs nachgeahmt, wo unter dem Einfluß und in Ausbau der burgundisch-österreichischen Behördenorganisation 1553/59 für die kirchliche Verwaltung (nicht für die Rechtsprechung, die Chor- oder Ehegettchten anvettraut war) der Hofrat, um geist­ liche Mitglieder verstättt, als Kirchenrat für die ganze Landesttrche amtete. Im übrigen wurde die kursächsische Organisatton für das ganze lutherische Deutschland vorbildlich, mich da, wo man zuerst eigene Wege gegangen war. G. Müller, BersassungS- und Berwaltungsgeschichte der sächsischen Landeskirche, Beitr. z. sächs. Kg. IX, X, 1894f.; Dibelius, Die Dresdener Superintendenten, ebenda XV, 1901; Zimmermann, Die Entwicklung der Kircheninspektionen, 1530—1800, ebenda XVI, 1903; Ludwig, Zur Entstehungsgeschichte der Lokalvisitattonen, des „Synodus" und des Ober­ konsistoriums in Sachsen, ebenda XXI, 1908; Frauer, Rechtliche Stellung des wütttem« bergischen Konsistoriums, geschichtlich entwickelt, D. Z. f. Kr. XVII, 1907; K. Müller, Die Anfänge der Konsistorialverfassung im lutherischen Deutschland, H.Z. CII, 1909; Martens, Die hannoversche Kirchenkommission (§ 39, 2); W. S o h m, Ein Bedacht zu einem Straßburger Chorgericht (1546), Festschrift s. Brieger, 1912; Sohm, Kr. I § 38; Setzling, Die Kirchen­ gesetzgebung (§45); Gefscken, Zur ältesten Geschichte und ehegerichtlichen Praxis des Leip­ ziger Konsistoriums, D. Z. s. Kr. IV, 1894; Walther, Die burgundischen Zentralbehörden unter Maximilian I. und Karl V., 1909; Wintterlin, Geschichte der Behördenorganisation in Württemberg, I, 1904, II, 1906.

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Ulrich Stutz.

So in Hessen. Dessen Gebiet wurde nach der Reformation in sechs Diözesen eingeteilt, an deren Spitze sechs, erstmalig vom Landesherm ernannte, in der Folgezeit von ihren Pfarrem gewählte und landesherrlich nur bestätigte Superintendenten standen. Sie hatten eine sehr selbständige regimentliche Stellung, versammelten die Pfarrer ihrer Diözesen vollzählig zu Partikularsynoden und traten, jeder mit einigen von ihnen, unter dem Borsitz des landesherr­ lichen Statthalters und dem Beisitz etlicher Räte sowie eines Professors der Theologie alljährlich zur Generalsynode zusammen, der höchsten Kirchen r e g i m e n t s behörde, der auch das Recht, die Pfarrer zu ernennen, zustand. Doch wurde diese Generalsynode seit 1582 wegen der Lehr­ streitigkeiten zwischen Lutheranem und Calvinisten nicht mehr zusammenberufen. 1599 errichtete Landgraf Moritz zu Kassel ein Konsistorium, das sie überflüssig machte, und 1610 wurde unter Aufhebung desselben zu Marburg ein Landeskonsistorium errichtet. C r e d n e r , Philipps des Großmütigen hessische Kirchenreformationsordnung, 1852; Hochhuth, Geschichte der hessischen Diözesansynoden (1569—1634), 1893; W. Köhler, Hessische Kirchenverfassung im Zeitalter der Reformation, Gießener jur. Diss., 1894; Friedrich, Luther und die Kirchenverfassung der Reformatio ecclesiarum Hassiae, Gießener jur. Diss., 1894, Die Entstehung der Reformatio ecclesiarum Hassiae von 1526, 1905; Köhler, Die Entstehung der Reformatio ecclesiarum Hassiae von 1526, D. Z. f. Kr. XVI, 1906; Drews, Curtius und Friedrich, Grundfragen der evangelischen Kirchenverfassung, 1911; Beß, Die Ent­ wicklung der hessischen Kirche unter Pbilipp dem Großmütigen, Z. f. Kg. XXXIII, 1912; Diehl, Zur Entwicklungsgeschichte der Konsistorien in Hessen-Darmstadt im 17. Jahrhundert, D. Z. f. Kr. XII, 1902.

In Brandenburg und Preußen trat ein Teil der Bischöfe zum evangelischen Glauben über, und es schien hier die bischöfliche Organisation — allerdings unter dem Landesherm, da die Bistümer landsässig waren oder wurden (§ 39, 1) — wenigstens für das geistliche Amt als Pfarramt höherer Ordnung erhalten bleiben zu können. Da jedoch zwei von den brandenburgischen Bischöfen beim katholischen Glauben verharrten und mit dem dritten Schwierigkeiten sich ergaben, übemahm auch in Brandenburg 1543 ein Konsistorium (zu Kölln an der Spree) das Kirchenregiment und ein Generalsuperintendent die bischöflichen Funktionen, indes in Preußen 1587 das bischöfliche Amt erlosch, und zwei Konsistorien (zu Königsberg und Saalfeld) die kirchliche Regiemng besorgten (ein preußisches Oberkonsistorium erst 1750!)*. Die Konsistorialverfassung wurde zur lutherischen Kirchenverfassung schlechthin, in kleineren Landes­ kirchen freilich so, daß die Konsistorien nicht formiert waren, d. h. aus Sparsamkeitsrücksichten und wegen Mangels an Beschäftigung einfach aus einer Staatsbehörde unter Huzug geistlicher Beisitzer für kirchliche Geschäfte gebildet wurden. Schoen, Das evangelische Kirchenrecht in Preußen, I, 1903 §§ 3, 4, II, 1910; Haupt, Der Episkopat der deutschen Reformation, 1863; Schling, Einleitung zu einer Ausgabe von evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts im Herzogtum Preußen, Festschrift s. Fried­ berg, 1908 sowie in Bd. IV der in der Lit. zu Nr. 4 dieses Paragraphen ausgeführten Ausgabe; Hintze, Die Epochen des evangelischen Kirchenregiments in Preußen, H. Z. XCVII, 1906.

In den Städten, mitunter auch in bloß landsässigen, übemahm der Rat das Kirchen­ regiment, vermöge der damals noch ungeschwächten städtischen Autonomie. Als Regiments­ behörde fungierte ein bisweilen unter Mitwirkung von Geistlichkeit und Bürgerschaft bestellter 1 Für die Armeeseelsorge, in betreff deren schon 1656 ein Articuls-Briesf des Großen Kur­ fürsten ergangen war, wurde von Friedrich I. 1692 ein besonderes Feldkonsistorium errichtet. Durch das Militär-Consistorial-Reglement von 1711 machte Friedrich Wilhelm I. den Feldprobst neben dem Konsistorium, dessen ständiger Beisitzer er wurde, zum obersten geistlichen Vorgesetzten aller Milüärgeistlichen in Kirchen- und Schulsachen und löste so das Militärkirchenwesen vom Verbände der Landeskirche los. Vervollkommnet wurde dessen Organisation durch Friedrichs des Großen Militär-Consistorial-Reglement von 1751. Langhaeuser, Das Milüärkirchenwesen im kur­ brandenburgischen und Kgl. preußischen Heer, Straßburger jur. Diss., 1912; Freisen, Das Militärkirchenrecht in Heer und Marine, 1913; v. Bonin, Zur Geschichte der Heeresseelsorge, D. Z. f. Kr. XXI, 1912; Heinrichs, P. Raimundi 0. P. Annales conventus Halberstadiensis, eine Chronik der Militärseelsorge, Q. u. F. z. Gesch. des Dominikanerordens, 8. H., 1913; Raegele , Abt Benedikt Rauh von Wiblingen, Feldpropst der bayerisch-kaiserlichen Armee im Dreißig­ jährigen Kriege, R.Q. Supplh. XVIII, 1911; Bielik, Geschichte der k. k. Militärseelsorge, 1901.

Kirchenrecht.

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Superintendent oder eine Art von Konsistorium, gebildet aus Geistlichen und Laienx. Erst seit im 17. und noch mehr im 18. Jahrhundert der Landesherr auch gegenüber den Städten die kirchenobrigkeitliche Leitungsgewalt in Anspmch nimmt und der Rat über die Gemeinde sich stellt, werden die kirchlichen Verwaltungsbefugnisse der Städte allmählich besonderer Be­ gründung (durch Patronat u. a.) bedürftig. Frantz, Die evangelische Kirchenverfassung in den deutschen Städten des 16. Jahrhunderts, 1876; Baum, Magistrat und Reformation in Straßburg, 1887; Drommershausen, Beitrag zur Geschichte des landesherrlichen Kirchenregiments in den evangelischen Gemeinden zu Frankfurt a. M., Progr. d. Lessing-Gymn. zu Frankfurt a. M. 1897; Hans, Gutachten und Streitschriften über das ius reformandi des Rats vor und während der Einführung der offiziellen Kirchenreform in Augsburg (1534—1537), 1901; Freitag, Die rechtliche Stellung der evange­ lischen Kirche im alten Danzig, D. Z. f. Kr. XIV, 1904; Riedner, Die Entwicklung des städtischen Patronats in der Mark Brandenburg, Stutz, Kr. A., 73. und 74. H., 1911; W. Sohm, Die Schule Johann Sturms und die Kirche Straßburg, Hist. Bibl. XXVII, 1912. Weitere Lit. über Berlin und die übrigen brandenburgischen Städte unten §§ 113, 127.

4. Kirchen- und Eheordnung. Alle diese Einrichtungen wurden getroffen in Kirchenordnungen, Landesordnungen, Abschieden, die, unter theologischem Beirat verfaßt, und anfangs auch mit landständischer Mitwirkung zustande gekommen, vom Landesherm oder von seinen Visitatoren und Konsistorien erlassen wurden. Sie sind im 16. und auch im 17. Jahr­ hundert die hauptsächlichsten Quellen des evangelischen Kirchenrechts und vielfach untereinander verwandt. Meist zerfielen sie in zwei Teile, in Lehrbestimmungen, Credenda, einerseits und in Agenda anderseits, d. h. Gottesdienst-, Berfassungs-, Zucht-, Ehe-, Schul-, Armen- und Vermögensordnung. Spezialvewrdnungen bezeichnen sich als Konsistorial-, Polizei- und Ehe­ ordnungen. Im Gegensatz zu Luther, der in Ehesachen mit der Schrift auskommen zu können gloubte (deshalb — David und Bathseba — z. B. seine Verwerfung des impedimentum adulterii) und dämm vom kanonischen Eherecht nichts wissen wollte (Kampf gegen die Unter­ scheidung von sponsalia de futuro und de praesenti und Beseitigung aller ersteren, sofern nicht bedingt, zugunsten der letzteren) traten die Juristen für ein teils an das altkirchliche sich an­ schließendes, teils neues Eherecht ein, das z. B. die Scheidung vom Bande außer wegen Ehebruchs auch wegen böslicher Verlassung, ja — und hier tat Luther selbst mit — wegen anderer, als quasi desertio konstruierter Tatbestände zuließ. Dies Eherecht kam gleich dem Kirchen­ zuchts- und späteren eigentlichen Strafrecht, das mit dem Bann (auch als excommunicatio maior mit Verkehrssperre, aber stets nur bis zur Besserung) und mit Ermahnungen, öffenüichen Bußen, Ausschluß vom Abendmahl und Verweigemng des kirchlichen Begräbnisses als Folgen seiner Nichtachtung operierte, im Lauf des 16. Jahrhunderts zur Entfaltung; es hat zu Anfang des 18. Jahrhunderts zu einer eigenen Eheschließungsform mit kirchlicher Trauung, d. h. konsti­ tutivem Zusammensprechen durch den Geistlichen, geführt. Endlich fand auch das kanonische Recht, soweit es nicht gegen die evangelische Lehre und Ordnung verstieß, nachträglich wieder Eingang 2. Richter, Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhundert-, 2 Bde., 1846; Setzling, Die evangelischen Kirchenordnungen I—V, 1902—1913; ältere Sonderausgaben siehe bei Friedberg, Kr. § 44 R. 9; Hänselmann, Kirchenordnung f. d. Stadt Braun­ schweig (1528), 1885; Wehrmann, Die pommersche Kirchenordnung (1535), 1893; Westermayer, Die Brandenburgisch-Rürnbergische Kirchenvisitation und Kirchenordnung (1528 bis 1633), 1894; Eberlein, Die evangelischen Kirchenordnungen Schlesiens im 16. Jahrhundert, Silesiana, Festschrift f. Grünhagen, 1898; Schnell, Die mecklenburgischen Kirchenordnungen, Jbb.f.Mecklenb.Gesch. LXIII, 1898, LXIV, 1899; Knodt, Die älteste evangelische Kirchenordnung

1 Bon städtischen Konsistorien haben sich als Mediatkonsistorien die zu Breslau und Stralsund bis aus den heutigen Tag erhalten. Bgl. Konrad, Das evangelische Kirchenregiment des Breslauer Rats in seiner geschichllichen Entwickelung, 1898, Der schlesische Majestätsbrief Kaiser Rudolfs v. I. 1609 in s. Bedeutung f. d. stöbt. Konsistorium u. d. evang. Kirchengemeinde Breslaus, 1909; WieSzner, Das Konsistorialrecht der Stadt Breslau in seiner geschichtlichen Entwicklung, Zeitschr.d. Ber. f. Gesch. Schlesiens XLIV, 1910; Braun, Städtisches Kirchenregiment in Stralsund, D. Z. f. Kr. X, 1901; Schoen, Pr. Kr. I (§ 48, 3) S. 31 f., 36 f., 71 A. 1, 261 ff. 1 In dem Kampfe -wischen den Theologen und Juristen ist das böse Sprichwort: „Juristen böse Christen" gefallen. Siehe darüber Stintzing 1875 und im ersten Bande seiner Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft S. 72, 100, 273, 275, 319, 590; auch Köhler, Luther und die Juristen, 1873. .

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Ulrich Stub.

für Nassau (1536), D. Z. f. Kr. XIV, 1904; Schwabe, Studien z. Entstehungsgeschichte der kur­ sächsischen Kirchen- und Schulordnung von 1580, Neue Jbb. s. d. klajs. Altert. VIII, 1905; Friedensburg, Die Kirchenordnung Kurfürst Joachims in katholischer Beleuchtung, Jb. f. brandenburgische Kg. V, 1908; Michelsen, Tie schleswig-holsteinische Kirchenordnung von 1542 I, Schrift, d. Ber. j. schlesw.-holst. Kg. I 5, 1909; Scholz, Bugenhagens Kirchenordnungen in ihrem Verhältnis zueinander, A. f. Res.-Gesch. X, 1913; Kahl, Ter Rechtsinhalt des Konkordienbuchs (auch in der Berliner Festgabe s. Gierke), 1910; v. Scheurl, Luthers Eherechts­ weisheit, in seiner S. kr. A.; Schoen, Beziehungen zwischen Staat und Kirche aus dem Gebiet des Eherechts, Göttinger Festschrift s. Regelsberger, 1901; Albrecht, Verbrechen und Strafen als Ehescheidungsgrund nach evangelischem Kirchenrecht, Stutz, Kr. A., 4. H., 1903; Ehr­ hardt, La notion du droit naturel chez Luther, in ßtudes de th6ol.... publiees par les prof. de la fac. de thäol. prot. de Paris, 1901; Bachmann, Geschichte der Kirchenzucht in Hessen von der Reformation bis zur Gegenwart, 1912; Kolb, Die Geschichte des Gottesdienstes in der evangelischen Kirche Württembergs, 1913.

5. Das Landeskirchen tum. Durch all dies wurde allmählich auch den luthe­ rischen Pwtestanten die sichtbare Kirche als ein die unsichtbare, wahre, umschließender äußerer Verband wieder eine Realität. Dies kündigt sich schon dadurch an, daß Luther den kirchenregimentlichen Akt der Bestellung eines Geistlichen, den er 1535 in Wittenberg einführte, und für den er 1537 ein Ordinationsformular verfaßte, nicht mehr, wie noch die Augustana, auf die einzelne Gemeinde bezog, sondern auf die Kirche als Gesamtheit. Aber auch in der Stellung des Kirchenguts äußerte es sich. Gewiß, die Vereinfachung des Kults, die viel Kirchengut entbehrlich machte, gab den Landesherren manchen Anlaß, sich zu bereichem. Auch bestritt Luther selbst der Obrigkeit nicht das Recht, das Kirchenvermögen zur Verwaltung zu ver­ einigen \ und die Überschüsse über den kirchlichen Bedarf für weltliche Zwecke zu verwenden (Jnkameration). Aber daß es der Substanz nach Eigentum der Kirche bleibe und ihr nicht entfremdet werden dürfe, haben auch die Reformatoren gelehrt. Noch bei Melanchthon kam denn auch der Begriff der sichtbaren Kirche deutlich zum Ausdruck, wennschon zunächst in dem Gedanken einer einheitlichen kirchlichen Anstalt. Doch schloß sich die evangelische Kirchen­ bildung immer enger an die Territorien an: soviel evangelische Stände und Städte, soviel evangelische Kirchen, deren jede in ihrem Territorium möglichst die einzige „Zwangsversiche­ rungsanstalt für die Ewigkeit" zu sein bestrebt war. Und sie vollzog sich fast nur dem Namen und Begriff nach. Die sichtbare lutherische Kirche entstand bloß, um binnen kurzem tatsächlich und praktisch im Staat auszugehen, indes der Staat, der nach der Erwartung der Reforma­ toren von den Grundsätzen der Reformation sich hätte leiten lassen sollen, seinerseits je länger desto weniger dieser Anfordemng entsprach. Eine neue, mit kirchlichen Sätteln erzeugte, bewußt an die Antike, unbewußt vielleicht auch an nachwirkende germanische Vorstellungen sich an­ lehnende Form des Staatskirchentums bahnte sich an. Ter katholische Gallikanismus erhielt sein deutsch-evangelisches Gegenstück, und beide gerieten nach und nach in den Dienst des macht­ voll werdenden Staatsabsolutismus.

R i e t s ch e l, Luther und die Ordination 2, 1889; Hennecke, Zur Gestaltung der Ordi­ nation mit besonderer Rücksicht... der lutherischen Kirche Hannovers, Forsch, z. Gesch. Nieder­ sachsens I, 1906; Drews, Die Ordination, Prüfung und Lehrverpflichtung der Ordinanden in Wittenberg 1535, D. Z. s. Kr. XV, 1905, Der evangelische Geistliche, Mon. z. Kulturgesch. XII, 1905; Lambert, La doctrine du minist&re eccläsiastique d’apres les livres symboliques de l’6glise luthörienne, These, 1894; Thomas, Die Anschauungen der Reformatoren vom geistlichen Amt, Leipziger phil. Tijs., 1901; Blanc, L’id6e de Teglise d’apres les reformateurs et les confessions de foi, 1900; E i n i ck e, Über die Verwendung der Klostergüter im Schwarz­ burgischen zur Zeit der Reformation, Zeitschr. des Vereins f. thür. Gesch., XIII, 1903; Hermelink, Geschichte des allgemeinen Kirchenguts in Württemberg, Württ. Jbb. s. Statistik, 1903, Die Änderung der Klosterversassung unter Herzog Ludwig, Württ. Vierteljahrsheste, N. F. XII, 1903, Papst Klemens XII. und die Kirchengüter in protestantischen Landen, Z. f. Kg. XXIV, 1 Ein Beispiel, wie man sich die Verwaltung des „gemeinen Kasten" für Kirchen-, Schulund Spitalzwecke dachte, gibt die bekannte Kastenordnung von Leisnig 1523; Lietzmann, Die Wittenberger (1522) und Leisniger (1523) Kastenordnung, in s. Kl. Texten H. XXI, 1907; Koppmann, Die Ordnung des gemeinen Kattens von 1567, Beitr. z. Gesch. d. Stadt Rostock IV, 1904; Berbig , Der „gemeyne Casten" zu Coburg im Visitationsjahr 1529, T. Z. s. Kr. XVIII, 1908; vgl. auch v. Brünneck, Beiträge 39, 2) II S. 79 ff., 113 ff. und Bossert , Tie Liebestätigkeit der evangelischen Kirche Württembergs von der Zeit des Herzogs Christoph bis 1650, Württ. Jbb. f. Statistik 1906/07; Barge, Tie älteste evangelische Armenordnung, H.V. XI, 1908.

Kirchenrecht.

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1903; Ernst, Tie Entstehung des Württembergischen Kirchenguts, Württ. Jbb. f. Statistik, 1911; Schweizer, Tas Basler Kirchen- und Schulgut in seiner Entwicklung bis zur Gegenwart, Basler Zeitschr. s. Gesch. und Altert. IX, 1910; Bächtold , Geschichte des Kirchenguts im Kanton Schasshausen, 1911; Loserth, Das Kirchengut in Steiermark im 16. und 17. Jahrhundert, 1912; Wolff, Tie Säkularisierung und Verwendung der Stifts- und Klostergüter in HessenKassel unter Philipp dem Großmütigen und Wilhelm IV., 1912; Muth, Tas evangelische Stift St. Arnual in Saarbrücken, 1908; du Mesnil, Das Stift St. Arnual, 1911; Muth, Der St. Arnualer Stistssonds und sein Eigentumsträger, 1911; Jüngst, Das Stift St. Arnual, 1911; vgl. Pestalozzi (§ 30, 2) und die Lit. zu § 44.

§ 49. Die theoretische Rechtfertigung der lutherischen Äirchenverfassung; Dreistandelehre. Mt den ersten Ansätzen des praktischen Landeskirchentums übernahmen die Resormatoren vom ausgehenden Mttelalter gewisse Begründungen seiner Daseinsberechtigung, die allerdings erst durch sie größere Bedeutung erlangten. Sie sahen in der weltlichen Obrigkeit einmal den custos utriusque tabulae, der beiden mosaischen Gesetzestafeln, also namentlich auch priori« tabulae, der ersten, welche die auf das Verhältnis der Menschen zu Gott bezüglichen Gebote enthält. Aus dieser custodia ließen sie eine dauernde, ständige Fürsorge (im Gegensatz zu dem nur gelegentlich praktisch werdenden ius reformandi) für die wahre Religion, die reine Lehre und den rechten Gottesdienst hervorgehen. Und sie erblickten in der Obrigkeit das membrum praecipuum ecclesiae, das vornehmste Glied der Christenheit, und verpflichteten sie als solches zum Gngreifen besonders in außerordentlichen Fällen.

v. Scheurl, Das Wächteramt über beide Tafeln, in seiner S. kr. A.; Sohm, Kr. I § 37; Brandenburg, Luthers Anschauung vom Staat (§ 44). Mt dem evangelischen Kirchenrecht wuchs aber auch eine evangelische Kirchenrechtswissen­ schaft heran, welche diese mehr theologische Begründung durch eine juristische ersetzte. Diese bediente sich gleichfalls einer Anschauung, die in das ausgehende Mttelalter (Wiclif, Hus) und durch es ins Mtertum (Plato) zurückreichte, aber, wie wir schon sahen, auch von den Reforma­ toren geteilt wurde, nämlich der Lehre von den drei Ständen (triplex ordo hierarchicus). Nach ihr zerfiel die Christenheit in drei (zwei) Regimente oder Stände: a) in den Status politicus, das weltliche Regiment, die christliche Obrigkeit zur Aufrechterhaltung des ordo politicus, b) den Status ecclesiasticus, das geistliche Regiment, Prediger und Theologen, denen der ordo ecclesiasticus anvertraut ist, und c) in den, weil für das politische Leben nicht bedeutsam, oft über­ gangenen status oeconomicus sive domesticus, den gemeinen Mann, den Hausvaterstand, der Weib, Haus, Hof, den ordo domesticus, regiert und dem Ganzen für Nahrung sorgt.

Fürstenau, Wiclifs Lehren von der Kirche und der weltlichen Gewalt, 1900; Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, II, 1884, S. 208; Köhler, Die altprotestantische Lehre von den drei kirchlichen Ständen, Z. f. Kr. XXI, 1886.

Indem mit dieser Ständelehre die geschichtlichen Tatsachen auf dreifache Art kombiniert wurden, ergaben sich drei Systeme. 1. Nach dem einen, dessen Hauptvertreter besonders die Brüder Stephani 1599 und 1611, Reinkingk 1616, der Jurist Benedikt und der Theologe Johann Benedift Carpzov 1649 und 1696 sowie Strpf 1694 waren, stand die Kirchengewalt eigentlich dem status ecclesiasticus zu, dessen Angehörige demnach allein in den Kirchenbehörden hätten sitzen sollen, während der status oeconomicus bloß zu gehorchen hatte. Nur durch den Passauer Vertrag, den man in den Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts unrichtig dahin deutete, er habe eine Über­ tragung oder Restitution der bischöflichen Rechte an die Landesherren verfügt, sei der status politicus in den Besitz des Kirchenregiments gekommen. So das Episkopalsystem, dessen Name gleich der späteren Bezeichnung landesherrlicher Summepiflopat auf den bereits reformatorischen Sprachgebrauch von ius episcopale im Sinn einer der weltlichen Obrigkeit in geistlichen Dingen positiv zustehenden Leitungsgewalt zurückgeht. Es bedeutet einen Rückfall in kanonistische Vorstellungen. 2. Die religiös-theologische Weltanschauung des Mttelalters, die auch die Reformawren geteilt haben, wich seit etwa 1650 der natürlichen, auf unserem Gebiet speziell der naturrecht-

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Ulrich Stutz.

lichen. Aus einer Seite der christlichen Weltordnung wurde jetzt die Kirche zu einer innerstaat­ lichen Korporation oder Anstalt, woraus sich unter anderem die Möglichkeit eines Neben­ einanders mehrerer Religionen ergab. Zu dieser Anstalt setzte man den Staat in Beziehung durch das Territorialsystem (Pufendorf, 1687, Thomasius, 1695, Just. Henning Böhmer, 1674—1749 *, Johann Jakob Moser, f 1785). Nicht über das Innere der Religion, wohl aber über das Ästlßere hat der Status politicus kraft Territorialitätsrechtes wie über alle in sein Gebiet hineinragende Verhältnisse zu bestimmen, also auch dann, wenn das Staats­ oberhaupt katholisch ist (1725 vergeblicher Protest des Corpus Evangelicorum). Doch bleibt ihm in diesem Fall bloß die Substanz des Rechtes, nicht die Ausübung (kursächsische Reversalien von 1697 anläßlich des Übertritts Friedrich Augusts von Sachsen). Der Status ecclesiasticus, in Lehr- und inneren Kirchenangelegenheiten relativ selbständig, ist der Staatsgewalt bezüglich der äußeren Ordnung unterworfen; der Status oeconomicus hat auch hier nur zu gehorchen. 3. Ihn bringt zu Ehren das K o l l e g i a l s y st e m, in der Behandlung der Kirche als einer dem Staat eingegliederten Rechtsperson und in der Bezeichnung der Rechte des Staats in Sachen der Religion als iura circa sacra mit dem Territorialsystem übereinstimmend, aber die Kirche als Verein (collegium aequale) betrachtend, so daß das Schwergewicht prinzipiell dem status oeconomicus als Inhaber der Vereinsgewalt, iura collegialia, gebührt. Die Kirchen­ diener erschienen damach als Vereinsbeamte, und der Landesherr konnte die Kirchengewalt, ius in sacra, nur kraft stillschweigenden oder ausdrücklichen Auftrags und unter der Aufsicht des kirchlichen Vereins innehaben. Hauptvertreter dieses mit dem Preußischen Allgemeinen Landrecht sich berührenden, aber erst im 19. Jahrhundert ganz praktisch werdenden Systems waren Pfaff, 1719, Wiese, t 1824, Schleiermacher, 1768—1835, Puchta, f 1846. S o h IN, Kr. I $ 40; $R i e l e r , Rechtliche Stellung (§ 46); Mertel, DuS protestantische Kirchenrecht des 18. Jahrhunderts, Ztschr. f. luth. Theol. XXI, 1860; Stintzing-Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft II, 1884 S. 91,111, 206, III, 1, 1898 S. 18 f., 61, 84, 147 s., 276, 308, 329; Ziekursch , August der Starke und die katholische Kirche (1697 bis 1720), Z. s. Kg. XXIV, 1903; Hiltebrandt, Die polnische Königswahl von 1697 und die Konversion Augusts des Starken, Q. u. F. X, 1907; Haacke, Der Glaubenswechsel Augusts des Starken, H. B. X, 1907; Frantz, Das katholische Direktorium des Corpus Evangelicorum, 1880; Mosapp, Die Württembergischen Religionsreversalien, 1894.

Drittes Kapitel.

Das reformierte Kirchenrecht und feine Quellen. § 50. Die reformierten Kirchen außerhalb des Reichs. Machte die deutscher Innerlichkeit entspmngene Tiefe des religiösen Gehalts die Stärke von Luthers Reformation aus, so offenbarte sich die Größe des reformierten Protestantismus in der Form, auf dem äußeren Gebiet, also im Recht. Mcht umsonst ist es nicht das an staatliche Bande gefesselte Luthertum gewesen, das den Protestantismus durch die Welt trug, sondern das reformierte Kirchentum. Allerdings nicht dasjenige Zwinglis (14&4—1531). Wiewohl nüchterner und in Fragen der Organisation praktischer als Luther, ist er doch im wesentlichen zu demselben Ergebnis ge­ langt wie der deutsche Resormator. Angesichts der Energie, mit welcher der Rat von Zürich sich der Sache der Reformation und Zwinglis annahm, und des Geschicks, mit dem er sie zur Grundlage einer weit ausschauenden Politik machte, verzichtete Zwingli auf seinen ursprüng­ lichen Gedanken, die Einzelgemeinde (Kilchhöre), in der er die Grundform der sichtbaren Kirche erblickte, zum Eckpfeiler einer selbständigen kirchlichen Organisation zu machen. Die Folge war ein noch weiter gehendes und zäheres Staatskirchentum als in Deutschland. Tie zweimal jährlich sich versammelnde Geistlichkeitssynode beschäftigte sich fast nur mit der Zensur über ihre Mit1 Jus ecclesiasticum Protestantin!!), 5 Bde., 1714—1737. Es ist bezeichnend für die Be­ deutung, welche das kanonische Recht bei diesen lutherischen Kirchenrechtslehrern wieder gewonnen hat, daß Böhmers Werk, unter den kirchenrechtlichen Leistungen des 18. Jahrhunderts eine der hervorragendsten, der Titelfolge der Tekretalen sich anschloß.

Kirchenrecht.

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glichet. Der Rat regelte alle kirchlichen Dinge, auch Lehrangelegenheiten, bis ins kleinste Detail hinein. Nur eine beratende Stimme hatten die Examinatoren beider Stände (seit 1532), der spätere Kirchenrat, aus vier Ratsmitgliedem, den Theologieprofessoren und zwei Stadtpfarrern unter dem Vorsitz des Obristpfarrers oder Antistes bestehend \

FIeischlin, Schweizerische Reformationsgeschichte I, 1909; Egli, Schweizerische Reformationsgeschichte I, 1910; Huldreich Zwinglis Werke, herausg. von Schuler und Schultheß, 8 Bde. mit Suppl., 1828—1861, neue Ausgabe von Egli, Finsler und Köhler, bis jetzt 3 Bde. (I, II, VII), 1906 ff.; Analecta reformatoria ed. Egli I, II, 1899/1901; Egli, Zwingliana, seit 1897; Finsler, Zwingli-Bibliographie, 1897; Stähelin, Huldreich Zwingli, 2 Bde., 1895—1897; Kreutzer, Zwinglis Lehre von der Obrigkeit, Stutz, Kr. A., 57. H., 1909; v. Schultheß-Rechberg, Luther, Zwingli und Calvin in ihren Ansichten über das Verhältnis von Staat und Kirche, Zürcher Beiträge z. Rechtswiss., 1909; Blösch, Geschichte der schweizerischen reformierten Kirchen, 2 Bde., 1898/99; Stuckert, Kirchenkunde der refor­ mierten Schweiz, Clemen, Stud. z. prakt. Theol. IV 2, 1910; Straub, Rechtsgeschichte der evangelischen Kirchgemeinden der Landschaft Thurgau unter dem eidgenössischen Landfrieden, 1902; Bader, Die Reformation und ihr Einfluß auf das Zürcherische Recht, Theol. Zeitschr. aus der Schweiz XIX, 1902: Baltischweiler, Die Institutionen der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich, Zürcher Beitr. z. Rechtswiss., 1905; Schweizer, Die Be­ handlung der zürcherischen Klostergüter in der Reformationszeit, Theol. Zeitschr. aus der Schweiz II, 1886: Pestalozzi, Zürcherisches Kirchenaut (§39,2); de Quervain, Kirchliche und soziale Zustände in Bern unmittelbar nach Einführung der Reformation, 1906; vgl. Lit. zu $ 39,2. Anders die welsche Kirche Calvins (1509—64). Von Genf aus verbreitete sie sich über Frankreichs die Niederlande31,4* England * und Irland, besonders aber über Schottland* und Nordamerika6, ferner über Polen, Ungarn und Siebenbürgen. Dabei wurden überall, außer in England, wo die Staatskirche trotz calvinischen Bekenntnisses und calvinischer Lehre die bischöfliche Berfassung beibehielt (anglikanische Kirche), die von Calvin in seiner Institutio religionis christianae von 1536 und besonders 1543 aufgestellten und in Genf durch die Ordonnances eccUsiastiques de Genfcve 1541 verwirklichten Berfassungsgrundsätze durchgeführt. C a 1 v i n i opera edd. Baum , Cunitz, Reusa, im Corp. Ref., 59 Bde., 1834—1900; Lefranc, Jean Calvin, Institution de la religion chrötienne, B. 6. h. 6. CLXXVI, 1911, CLXXVII, 1912; E r i c h s o n , Bibliographia Calviniana, 1900 (auch im Corp. Ref. t. 86, 87); Kamp schulte, Johann Calvin, 2 Bde., 1869—1899; Cornelius, Historische Arbeiten, 1899; K. Müller, Calvins Bekehrung, Nachrichten d. Gött. Ges. d. Miss., phil.-hist. Kl., 1905; Doumergue, Jean Calvin I—IV, 1899—1911; Bossert-Krollick, Johann Calvin, 1908; Holl, v. Schubert, Simons, Wernle u. A., Calvinreden aus dem Jubiläumsjahr 1909; Hundeshagen, Beiträge zur Kirchenverfassungsgeschichte I, 1864; Sohm, Kr. I § 39; Rieker, Grundsätze reformierter Kirchenverfassung, 1899; Makower, Die Berfassung der Kirche von England, 1894; Hätschel, Englische BG. (§ 18,1) S. 649 ff., 744 ff.; Weingarten, Die Revolutionskirchen Englands, 1868; Robert Ellis Thompson, A History of the Presbyterian Churches in the United States, 1895; Zimmermann, Elisa­ beth und die Aufrichtung der englischen Staatskirche, R.Q. XXII, 1908; Siegmund-Schultze, Die anglikanische Kirchengemeinschaft, D. Z. f. Kr. XIX, 1909; Plummer, The church of England in the 18. Century, 1911; Pearson, Der älteste englische Presbyterianismus, Heidel­ berger theol. Diss., 1912.

1 Bekenntnisschriften sind: die 1. Helvetische (2. Basler) Konfession von 1636 und besonders die 2. Helvetische von Bullinger 1566, auch von Beza für Gens und den Calvinismus angenommen; E. F. K. Müller, Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche, 1902. 1 1666 erstes Consistoire in Paris, 1569 ebenda erste Nationalsynode und confessio Gallicana nebst der Kirchenordnung, discipline eccläsiastique; K. M ü l l e r, Calvin und die Anfänge der französischen Hugenottenkirche, Preuß. Jbb. XLI, 1903; Imbart de la Tour, Les origines de la Rlforme I, II, 1905, 1909; Hauser, Etüde sur la R6forme frangaise, 1909; Holtz­ mann, Französische BG. (§ 33) S. 460 ff.; v. Hoffmann, Die Reform der Discipline ecclssiastique,D.Z.f.Kr. XVIII, 1908; Pannier, L’Eglise r£form6e de Paris sous Henri IV, 1911. 1 1661 confessio Belgica, 1564 Kirchenordnung, 1568 Synode zu Wesel und besonders 1571 zu Emden; Knüttel, Acta der particuliere Synoden van Zuid-Holland, 1621—1700, 1908. 4 John Knox, 1606—72; 1660 The Confession of faith professit and belevit be the Pro­ testantin within the Realme of Scotland und The First Book of Discipline, 1681 The Second Buik of Discipline, 1643 Westminstersynode mit einem neuen Bekenntnis, Westminster Confession of Faith, und einer neuen Kirchenordnung The Form of Presbyterial Church Government, Grundgesetze für die Folgezeit 1689/90. • Verschiedene presbyterianische und reformierte Kirchen.

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Ulrich Stuy.

Die spätmittelalterliche Anschauung von der einheitlichen Christenheit mit ihren Sedi­ menten und Ständen, die entweder das weltliche Gemeinwesen der Kirche auslieferte (kano­ nisches Recht) oder die Kirche dem weltlichen Gemeinwesen (Luthertum), wird aufgegeben. Dem Staat wird von Anfang an eine sichtbare, die unsichtbare mitumfassende Kirche zur Seite gestellt. Sie kann mit dem Staat, wenn auch er, wie er soll, dem göttlichen Wort sich unter­ stellt und seine Obrigkeit dem rechten, d. h. calvinischen Glauben anhängt, sich verbinden (Genfer Schrifttheokratie). Cs kann aber auch, wenn der Staat sich gegen das Wort Gottes oder seine Einrichtungen gleichgültig oder gar feindlich verhält, an die Stelle der Verbunden­ heit „ein beziehungsloses Nebeneinander" treten. Calvins Kirche steht auf eigenen Füßen und vermag auch ohne den Staat, ja trotz ihm auszukommen. Sie scheut in letzter Linie nicht vor der völligen Trennung vom Staat zurück \ Tenn sie, das Königreich Christi, ist nicht bloß die Genossenschaft, welche die zur Seligkeit Vorherbestimmten2 schon hienieden heiligt (daher die ausgiebige Kirchenzucht!). Vielmehr stellt sie sich dar als ein sozialer Organismus (daher ihre primäre Zuständigkeit für die Armenpflege) und als ein Gemeinwesen für sich, das selb­ ständig (daher möglichst kein Patronat!) seine Aufgabe, den Kampf gegen die Unheiligkeit der Welt, zu erfüllen beansprucht. Als menschliche Gemeinschaft hat sie Recht und Verfassung, und zwar eine bestimmte, allein richtige, diejenige nämlich, die Schrift und Urchristentum kennen oder vielmehr nach Calvins Meinung kannten. Das Erfordernis der Schriftmäßigkeit gilt bei Calvin nicht, wie bei Luther, bloß für die Lehre, sondern auch für die Organisation. Diese besteht aus: 1. den vier Ämtem der Pasteurs, Docteurs, A n c i e n s und D i a c res. Die Pastoren, in Genf von den Geistlichen mit staatlicher Genehmigung, in der französischen Kirche von den Provinzialsynoden gewählt, haben Wort und Sakrament zu versehen. Die Tottoren, ohne Gemeindeamt, sind berufen, als Theologen die Schrift zu erklären, und über die Reinheit der Lehre zu wachen: sie werden mancherorts nach zürcherischem Vorbild durch Propheten beauffichtigt. Die Ältesten, in Genf von der befreundeten weltlichen Obrigkeit aus ihrer Mitte emannt, und in den sranzöfischen sowie den niederländisch-rheinischen Gemeinden (in den letzteren nach Benennung durch die Gemeinden) kooptiett, handhaben die Kirchenzucht, indes die Diakonen der Armenpflege sich widmen. Die beiden ersten Ämter sind mit Geistlichen besetzt, die beiden anderen, um ein Gegengewicht gegen jene zu bilden, mit Laien; alle sind Diener Christi, alle stehen sich gmndsätzlich gleich; 2. Koll e g i a lb eh ö rd e n; Consistoire , Colloque, Synode national. Zn der einzelnen, als Genossenschaft gedachten Gemeinde (keine Pfarrei im katholischen und lutherischen Sinn!) treten die Ältesten mit dem Pastor, in der französischen, niederländischen und rheinischen Kirche auch mit den Diakonen zum Presbyterium oder Konsistorium zusammen, um den Pastor zu überwachen und mit ihm unter der Controlle der Gemeinde die Kirchenzucht zu üben, der sich jedes Mitglied bei der Aufnahme, also beim Übertritt oder bei der Konfir­ mation, vettraglich unterworfen hat, jedoch nur mit rein geistlichen Mitteln (im äußersten Fall mit dem Bann = Ausschluß vom Abendmahl), aber freilich mit der Möglichkeit einer Über­ weisung an die weltliche Obrigkeit für ein auch staatlich anerkanntes Delikt (Mchael Seweto 1553 wegen antitrinitarischer Ketzerei lebendig verbrannt). In der Gemeinde gibt es außer dem Consistoire keine Kirchenbehörde, wohl aber über ihr in Gestalt der aus Gemeindevettretern, je einem geistlichen und einem weltlichen, gebildeten Regierungskollegien der gemischten Synoden, zunächst der Klassikalversammlungen, Colloques, für die Klassen ' F r. L. K r a u s hat das Nichtige getroffen, als er, zuletzt in seinem „Cavour", 1902, dessen Prinzip Chiesa libera in stato libero durch den Neuenburger Theologen Alexandre Vinet (Biographie von Rambert3, 2 Bde. 1876, Schumann, 1907) aus den Calvinismus zurücksührte. Siehe auch R u f f i n i, Le origini elvetiche della formula del Conte di Cavour: Libera Chiesa in libero Stato, Festschrift f. Friedberg 1908, La giovinezza del Conte di Cavour I, II, 1912. 8 Und demgemäß auch in ihren weltlichen Unternehmungen Bewährten; Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, A. f. Sozialwifsenschaft XX, 1905, XXI, 1906 und dagegen Rachfahl, Calvinismus mit) Kapitalismus, Hinnebergs Intern. Wochenschrift III, 1909, IV, 1910, wo auch weitere Lit., aber auch wieder Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen ( = Gej. Schriften I), 1912.

Sachenrecht.

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(Diözesen), darüber eventuell der Provinzialsynoden und in letzter Linie namentlich der General­ oder Landessynode, Synode national. Sie sind zuständig für Lehre und Recht, wählen, aber nur als primum inter pares, ihren Vorsitzenden, den Moderator, der, eventuell mit Beisitzem als collegium qualificatum, auch die Regierungsgeschäfte der Zwischenzeit bis zur nächsten Synode führt. Dagegen verwirft der Calvinismus jedes ständige Regierungs- und Auf­ sichtsamt. C h o i s y , La thdocratie k Gendve au temps de Calvin, 1897, L’dtat chrdtien k Gendve au temps de Th. de Böze, 1903; M a r t i n , La Situation du catholicisme k Gendve, 1909; Heiz, Calvins kirchenrechtliche Ziele, Theol. Zeitschr. aus der Schweiz X, 1893; Elster, Johann Calvin als Staatsmann, Gesetzgeber und Nationalökonom, Jbb. s. Nationalökonomie XXXI, 1878; W erdermann, Calvins Lehre von der Kirche, Bonner ev.-theol. Diss., 1909; Beyerhaus, Studien zur Staatsanschauung Calvins, Neue Studien von Bonwetsch und Seeberg, 1911; Faurey, Le droit eccldsiastique matrimonial des Calvinistes frangais, 1910; Galante, La teoria delle relazioni fra lo 8tato e la Chiesa secondo Riccardo Hooker (1554—1600), Fest­ schrift f. Friedberg, 1908; v. Hoffmann, Das Kirchenverfassungsrecht der niederländischen Reformierten bis 1618/19, 1902.

8 51. Sie reformierten Kirchen Deutschlands. Bon den Niederlanden her gelangte der Calvinismus an den Rhein. Zunächst ent­ wickelten sich nach und nach aus der deutsch-ostfriesischen Pwvinz des Verbandes der niederländisch-reformierten Kirche die beiden Verbände der reformierten Kirchen von Kleve, Mark, Jülich und Berg einerseits und der ostfriesischen anderseits. Jener gab sich 1654 eine all­ gemeine Kirchenordnung für Kleve und Mark, die 1662 vom Großen Kurfürsten bestätigt und in umgearbeiteter Gestalt unter brandenburgischem Schutz auch in Jülich und Berg dem katholischen Hause Pfalz-Neuburg gegenüber mit Erfolg behauptet wurde; die calvinische Ber­ fassungsform wurde im wesentlichen beibehalten, die niederrheinische reformierte Kirche blieb Freikiühe. In dem ostfriesischen Verband erhielt sich zunächst der von dem Polen und ersten

Emdener Superintendenten (1543) Johannes von Lasco eingesetzte Kirchenrat sowie der coetus, dieser anfangs als regelmäßige Versammlung aller, später wenigstens der reformierten Geist­ lichen Ostfrieslands. Als die Superintendentur einging, übernahm er auch das Kirchen­ regiment. Doch wurde 1599 ein landesherrliches Konsistorium in Aussicht genommen, daS freilich den Reformierten (mit den Lucheranem gemeinsam) erst die preußische Herrschaft 1751 brachte.

v. Hoffmann (§ 50); Setzling, Die ostsriesische Kirchenordnung von 1535, D. Z. f. Kr. IV, 1894; Raunin, Die Kirchenordnungen deS Johanne- Laski, D. Z. f. Kr. XIX, 1909; Snethlage, Die älteren Presbyterial-Kirchenordnungen der Länder Jülich, Berg, Cleve, Mark *, 1850; Simons, Niederrheinisches Synodal- und Gemeindeleben „unter dem Kreuz", 1897, Synodalbuch, die Akten der Synoden und Quartierkonsistorien in Jülich, Cleve, Berg (1570 bis 1610), 1909, Generalsynodalbuch, die Akten der Generalsynoden von Jülich, Cleve, Berg und Mark (1610—1793), 1910. Eine noch engere Verbindung ging die calvinische presbyterial-synodale Verfassung mit der lutherisch-landesherrlich-konsistorialen außer in Preußen, wo 1713 ein beständiges refor­ miertes Kirchendirektorium eingerichtet wurde, in der Pfalz ein. Hier trat Kurfürst Friedrich III. mit seinem Lande über (Heidelberger Katechismus 1562, Kirchenordnung 1563, Kirchenrats­ instruktion 1564, Kirchenedikt 1570). Dabei wurden zwar in den Gemeinden Presbyterien (Kirchenkollegien) errichtet. Aber die Klassikal- und die unregelmäßig sich versammelnden Generalsynoden waren reine Geistlichkeitsversammlungen und entbehrten, auch hierin von den reformierten Synoden fundamental sich unterscheidend, kirchenregimentlicher Befugnisse. Denn diese standen für die Klasse einem Inspektor oder Superintendenten und darüber für die ganze Kirche einem Kirchenrat (drei Theologen und drei Räte) unter dem Landesherrn zu.

Gümbel, Geschichte der protestantischen Kirche der Pfalz, 1885; Rott, Friedrich II. von der Pfalz und die Reformation, Heidelberger Abhdl. 4. H., 1904; Lang, Der Heidelberger Katechis­ mus, 1907; v. Hoffmann, Eine pfälzische Kirchenordnung der Emdener Synode, Ref. Kirch.S. XXXI, 1908; Junghans, Die Kirchenvisitationen der Hanauer evangelisch-reformierten . t im 18. Jahrhundert, 1893. enrtOopibl« der Rechtßwiffenschast. 7. der Reubearb. 2. XuH. Banb V. 25

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Von den Fremden- (Refugianten-, französischen) Gemeinden endlich brachte es nur die auch deutsche Glieder umfassende Konföderation der reformierten Gemeinden in Niedersachsen (zu Braunschweig, Celle, Göttingen, Münden, Bückeburg und Altona) zu größerer Bedeutung, die sich 1703 dem Glaubensbekenntnis und der Disziplin der Kirche von Frankreich unter­ stellte. Sie behielt auch nach Abstreifung des französischen Gepräges ihr reformiertes Freikirchentum bei. Hugues, Die Konfoederation der reformierten Kirchen in Niedersachsen, 1873; Brandes, Die Konfoederation der reformierten Kirchen in Niedersachsen, 1896 (auch Geschbl. d. deutschen Hugenottenvereins VI 1, 2); Ebrard, Die französisch-resormierte Gemeinde in Frankfurt a. M. (1554—1904), 1906; Besser, Geschichte der Frankfurter Flüchtlingsgemeinden, Hallesche Abh. z. neueren Gesch., 43. H., 1906.

Viertes Kapitel.

Der Ausbau des deutschen evangelischen Kirchenrechts im 19. Jahrhundert. 8 52.

Staatliche Kirchenhohett und landesherrliches Kirchenregiment.

Die Umwälzungen, die Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts erlebte, blieben auch für die evangelische Kirche nicht ohne nachhaltige Mrkung. Ter Reichsdeputationshauptschluß machte der für Preußen bereits durch den Erwerb Kleves (1609 bzw. 1666), Geldems (1713), Schlesiens sowie durch die Teilung Polens beseitigten konfessionellen Geschlossen­ heit auch für die süddeutschen Territorien ein Ende. Ein Teil des hergebrachten Staats­ kirchenrechts wurde nunmehr unanwendbar; insbesondere trat, da und dort schon vor­ bereitet (Preußisches Landrecht von 1794 mit seinem für alle Untertanen ohne Unter­ schied des Bekenntnisses verbindlichen staatlichen Eherecht; Anerkennung der Protestanten in Bayem 1800/01), nunmehr in allen größeren Staaten an Stelle der bloß ständischen die individuelle christliche Parität; auch dem einzelnen Untertan des einen christlichen Bekenntnisses sollte fortan recht sein, was dem des anderen recht war. Selbst einer Mehrheit von christlichen Religionsgesellschaften gegenüber mußte man jetzt staatlicherseits eine paritätische Stellung einnehmen. Man half sich, indem man die bisher wenig prak­ tische, naturrechtliche Unterscheidung von Kirchenhoheitsrechten, iura circa sacra, und kirchenregimentlichen Befugnissen, iura in sacra, zur Anwendung brachte. Den Rechten, die dem Staat als solchem und unveräußerlich jeder Religionsgemeinschaft gegenüber zukamen, ganz besonders aber im Verhältnis zu den bevorrechteten, den Kirchen, stellte man, indem man wenigstens theoretisch die Kirchen nicht mehr als bloße Teile des Staatswesens auffaßte, die weitergehenden Befugnisse gegenüber, die hergebrachterweise dem Landesherrn über die evan­ gelische Landeskirche seines Territoriums zustanden und kirchenregimentlicher Natur waren (in Baden schon das erste Konstitutionsedikt von 1807). In dieser Weise ging namentlich Preußen vor, das 1808 während der Kriegsnöte die alte Konsistorialverfassung mit Einschluß des Kriegs­ konsistoriums und des Feldprobstes (S. 378 A. 1) beseitigt hatte, dann aber nach ver­ schiedenen Versuchen dazu gelangte, die Wahrung der Kirchenhoheitsrechte ausschließlich dem 1817 errichteten Ministerium für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten sowie den Oberpräsidien zu überweisen, indes die evangelische Kirchengewalt, soweit es sich nur um Jntema handelte, zur vertretungsweisen Ausübung Provinzialkonsistorien (seit 1818 mit je einem Generalsuperintendenten als Mitglied, seit 1832 auch wieder ein Feldprobst) anvertraut wurde. Diese standen allerdings auch unter den Oberpräsidenten und dem Kultusminister, bedeuteten aber doch einen ersten Schritt zur Loslösung der kirchlichen Verwaltung von der staatlichen \ Überhaupt lernte man lmd) und nach für das Ver­ hältnis zur evangelischen Kirche im Landesherrn zwei Personen unterscheiden, den Träger 1 Der badische Oberkirchenrat, damals eine Staatszentralmittelstelle unter dem Ministerium des Innern, hatte dagegen bis 1860 die Aufgabe, das ius in sacra und die iura circa sacra zu­ gleich wahrzunehmen.

Kirchenrecht.

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und das oberste Organ der Staatsgewalt einerseits und den Inhaber des Kirchenregiments oder, nach episkopalistischer Ausdmcksweise, des Summepistopats anderseits, eine Unter» sckeidung, die auch dadurch einen gewissen tatsächlichen Rückhalt gewann, daß die Deutsche Bundesakte Art. 14 den Standesherren ihre früheren kirchenregimentlichen Befugnisse, wenn auch unter der Aufsicht des Landesherrn und innerhalb der Landeskirche, gewähr­ leistete Doch kam die Verschiedenheit der beiden Stellungen den maßgebenden Instanzen erst 1848 zu vollem Bewußtsein. Damals schien zunächst der Übergang zum Konstitutionalis­ mus zugleich das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments zu bedeuten, wie denn auch der auf das Wohl der evangelischen Kirche eifrig bedachte Friedrich Mlhelm IV., der schon 1845 „die Konsistorien wieder zu wahren Kirchenregimentsbehörden erhoben hatte", zeitweilig zur Abgabe wenigstens der „bischöflichen Rechte in die rechten Hände" bereit war. Da fanden theologische Kreise, die, nach der vorangegangenen Entwicklung wohl nicht ohne Gmnd, an der Fähigkeit der evangelischen Kirche, nach jahrhundertelanger Unselbständigkit ohne weiteres ihre Angelegenheiten wirklich autonom zu verwalten, verzweifelten, die erlösende Formel, das landesherrliche Kirchenregiment sei eine Frage der inneren Verfassung der evangelischen Kirche und ein Dienst an ihr, den die Obrigkeit als vomehmstes Glied der Kirche tue (Hengstenbergs Evangelische Kirchenzeitung). Die letztere Begründung versagte nun allerdings gänzlich, und zwar nicht bloß da, wo der Landesherr kacholisch war. Jedoch die Macht der Tatsachen über­ wand selbst die Bedenken der schärfer blickenden Juristen, insbesondere des auch für das evan­ gelische Kirchenrecht führenden Richter (§ 42), hatte doch von ihnen schon zuvor Puchta gelehrt, dem Landesherm gebühre das evangelische Kirchenregiment zwar, weil er Staatsoberhaupt sei, aber nicht als solchem. Und eine Reihe praktisch werwoller Ermngenschaften zeitigte die veränderte Auffassung immerhin. Am 29. Juni 1850 schuf Friedrich Mlhelm IV. für die Landeskirche der damaligen preußischen Pwvinzen im evangelischen Oberkirchenrat eine oberste kirchenregimentliche Behörde, die dem Landesherm als Träger und Organ des Kirchenregiments direkt untersteht2, indes die staatlische Mnisterialbehörde, zumal seit 1876 auch die dem Kultus­ ministerium und den Regiemngen bis dahin verbliebenen Extema auf die Kirchenbehörden übergegangen sind, auf die Wahmng der Kirchenhoheitsrechte beschränkt bleibt (ebenso seit 1860 in Baden). Diese Einrichtung läßt die Vereinigung der beiden Stellungen in der Person des Landesherm, die zunächst bloß als eine — wenn auch durchaus nickt ungewöhnliche — juristische Konstruktion erscheint3, praktische Realität gewinnen, da die getrennte ressortmäßige Vorbereitung und Vertretung der höchsten Entschlüsse eine allseitige Berücksichtigung der verschiedenen in Betracht kommenden Gesichtspunkte und Interessen hinreichend gewährleistet. Aus der obengedachten Auffassung ergab sich aber auch die Fernhaltung der ja nunmehr aus den verschiedensten Religionsangehörigen zusammengesetzten staat­ lichen Volksvertretung vom Kirchenregiment. Zunächst regierte vielmehr der Landesherr die Kirche weiter absolut. Doch mußte er sich, teils unter dem Einfluß des staatlichen Vorbilds, teils in Medererweckung reformierter Gedanken, teils aus modem-kirchlichen Erwägungen bald eine Beschränkung gefallen lassen, aber so, daß damit nicht ein Gegensatz, sondem eine Erweitemng und Verstärkung des einheitlichen kirchlichen Organismus, namentlich auch für das Gebiet der Verwaltung, geschaffen wurde. N i p p o l d, Handbuch der neuesten Kirchengeschichte III * 1, 2, 1890—96; Sohm, Kr. I § 41; Troeltsch, Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, in Hinnebergs Kultur

1 Nicht in den radikaler verfahrenden Baden und Württemberg, wohl aber in Preußen und Hannover wurde, und zwar zugunsten des Stolbergischen Hauses (unter Aufrechterhaltung der Rezesse von 1714, 1738, 1755), hiervon wirklich Gebrauch gemacht. Noch heute bestehen so gräflich Stolbergische Mediatkonsistorien zu Wemigerode, Stolberg und Roßla, die, im übrigen direkt dem preußischen Oberkirchenrat unterstellt, seit 1874 auch vom magdeburgischen königlichen Konsistorium in gewisser Beziehung abhängen, fetnei das königliche und gräflich Stolberg-Stolbergische Konsistorium zu Neustadt und Hohnstein, das jetzt unter dem Landeskonsistorium in Hannover und mit diesem unter dem preußischen Kultusminister steht. Vgl. Schoen (§ 48, 3) I 45 f., 71 A. 1, 260 ff. ' Eine außerordentlicherweise 1846 einberufene preußische Generalsynode hatte bereit- zu der dann 1848 bewerkstelligten, aber alsbald wieder rückgängig gemachten Errichtung eines noch dem Ministerium unterstellten Landeskonfistoriums den Anstoß gegeben. » Das duas personas sustinere ist eine altgeläufige juristische Auskunft.

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der Gegenwart I, 4, P, 1909; Foerster , Tie Entstehung der preußischen Landeskirche unter der Regierung Friedrich Wilhelms III., 2 Bde., 1905—1907; Wendland, Die Religiosität und die kirchenpolitischen Grundsätze Friedrich Wilhelms III. in ihrer Bedeutung für die Geschichte der kirchlichen Restauration, 1909; Riedner, Die Ausgaben des preußischen Staats für die evangelische Landeskirche der älteren Provinzen, Stutz, Kr. A., 13. und 14. H., 1904, Ter Begriff der innerkirchlichen Angelegenheiten (auch in der Jenaer Festgabe f. Thon), 1911; Richter, König Friedrich Wilhelm IV. und die Berfafsung der evangelischen Kirche, 1861; Theinert, Ein Beitrag zur rechtlichen Kennzeichnung der Konsistorial- und Synodalverfassung der alt­ preußischen evangelischen Landeskirche, Gott. jur. Diss. (erweitert im Berwaltungsarchiv XVI), 1907; Seeberg, Die Kirche Deutschlands im 19. Jahrhundert«, 1912; Goyau, L’Allemagne religieuse, Le pro testen tisme, 1898 (deutsch mit statistischen Ergänzungen von Kind, 1906); Ecke, Die evangelischen Landeskirchen Deutschlands im 19. Jahrhundert (Theol. Schule Albrechts Ritfchls II), 1906; Schoen, Preußisches Kirchenrecht (§ 48, 3) §§ 5, 6; Rieker, Rechtliche Stellung (§ 46), Die Krisis des landesherrlichen Kirchen­ regiments in Preußen, D. Z. f. Kr. X, 1901; W oltersdors, Das preußische Staatsgrund­ gesetz und die Arche, 1873; Die Entwickelung der evangelischen Landeskirche der älteren preußischen Provinzen seit der Errichtung des Ev. Oberkirchenrats, Jublläumsschrift, 1900; Loesche, Bon der Toleranz zur Parität in Österreich (1781—1861), 1911.

§ 53. Die Angleichung von Luthertum «nd Calvinismus in Lehre und Ver­ fassung; Anionen, Verbindung der presbyterial-synodalen mit der landesherrlich-konsistorialen Verfassung. Die schweren Heimsuchungen, die zu Anfang des 19. Jahrhunderts Deutschland trafen, bereitsten auch bei den Evangelischen eine Neubelebung des religiösen Sinnes. Dies und der Umstand, daß jetzt in mehreren Staaten Lutherische und Reformierte kacholischen Minder- oder gar Mehrheiten sich gegenübersahen, bahnte dem schon geraume Zeit vorbereiteten Gedanken der Union beider Bekenntnisse den Weg. Bloße Vereinigungen unter ein und demselben Regiment gab es mitunter schon im 16. Jahrhundert (Ostfriesland 1599), andere wurden durch die Veränderungen der napoleonischen Zeit veranlaßt (badisches Konstitutionsedikt von 1807). Solche Regimentsunionen begegnen noch heute in Württemberg, im Gwßherzogtum Hessen und in Sachsen-Weimar. Weiter geht, wenn auch nicht ohne Schranken, die fakultative altpreußische Union die Friedrich Wilhelm III. am 27. September 1817 als schönste Frucht des begeistert gefeierten Reformationsjubiläums ins Leben treten lassen konnte; einheitliche Kirchenverwaltung und Wendmahlsgemeinschaft in sich schließend, stellt sie sich (allerdings erst seit 1834 infolge nachträglicher einschränkender Auslegung) regelmäßig als sogenannte Kultusunion dar, bei der es wohl noch besondere lutherische und besondere reformierte Gemeinden gibt (daneben steht die Freikirche der separierten Lutheraner), doch so, daß die Konfessionsverschiedenheit nicht zur Verweigerung der Gemeinderechte und besonders des Abendmahlsgenusses in einer Gemeinde anderen Bekenntnisses berechtigt. Am weitesten geht die Union da, wo sie zur Lehr- oder Konsensunion sich steigert, indem der übereinstimmende Inhalt der Bekenntnisse als gemein­ schaftliche Lehrgrundlage zu Kultus- und Rechtsgemeinschaft Hinzutritt, so daß es bei der An­ stellung eines Geistlichen auf die Herkunft aus der Union oder der einen oder anderen Kon­ fession nicht ankommt (Baden 1821, Rheinbayern, Anhalt, Nassau, Waldeck, Birkenfeld).

Nitzsch, Urkundenbuch der evangelischen Unionen, 1853; Eltmann, Die evangelische Union in Preußen, 1867; Rietschel, Tie Gewährung der Abendmahlsgemeinschaft, 1869; Zezschwitz , Die kirchlichen Normen berechtigter Abendmahlsgemeinschaft, 1869; Hoffmann, Die Einführung der Union in Preußen und die Separation der Altlutheraner, 1903; Steinecke, Diaspora der Brüdergemeine in Deutschland I, 1905; Waltersdorf, Zur Geschichte der evangelisch-kirchlichen Selbständigkeitsbewegung (auch in Protest. Monatsheften) 1905; Kalb, Kirchen und Sekten der Gegenwart, 1905; Müller, Tie selbständige lutherische Kirche in den Hessischen Landen, 1906; Happach, Zur Frage der Gemeinschaftsbewegung in der lutherischen Tiöze'e Oberhessen, 1909; Uhlhorn, Geschichte der deutsch-lutherischen Kirche, 2 Bde., 1911; Fried­ berg, Das geltende Bersassungsrecht der evangelischen Landeskirchen, 1888, § 4; Schoen, Preußisches Kirchenrecht (§ 48, 3) I § 16. Hatte schon bei seiner ersten Aufnahme in Deutschland der Calvinismus fast überall eine Einfügung in den Rahmen des lutherischen landesherrlich-konsistorialen Regimentes sich ge­ fallen lassen müssen, so führte jetzt die Vereinigung von Elementen, die während Jahrhunderten

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in völliger Abgeschlossenheit, ja zum Teil in schwffem Gegensatz zueinander gelebt hatten, mit der Zeit notwendig auch zu einem gewissen Austausch und Ausgleich in verfassunMechtlicher Hinsicht. So in Baden schon in der 1821 mit der Union eingeführten Kirchenverfassung \ die zwischen dem altbadisch-lucherischen episkopal-konsistorialen System und dem presbyterialsynodal modifizierten der reformierten Pfälzer vermittelte. Bon ganz besonderer Bedeutung aber wurde die rheinisch-westfälische Kirchenordnung vom 5. März 1835 die nach langer Ver­ handlung der preußischen Regierung mit den kirchlichen Organen der beiden Provinzen unter „Berücksichttgung der verschiedenen, dott bisher geltenden Kirchenordnungen und der ein­ geholten Gutachten der dorttgen Synoden für alle Gemeinden beider Konfessionen" in Kraft trat. In ihr echiellen im Gegensatz zu anderen derarttgen Ausgleichen die reformietten Ver­ fassungselemente das Übergewicht. Übet der Gemeinde mit einem Presbyterium oder Kirchen­ vorstand und eventuell mit noch einer zweiten, größeren Repräsentatton steht die Kreisgemeinde, vettreten durch ein gemeinsames Presbytenum (Kreissynode), mit einem von ihr gewählten Direttorium (Superintendent, Assessor, Skriba). Die Kirchengemeinden derselben Provinz bilden die Pwvinzialgemeinde, ebenfalls mit einem Presbyterium (Provinzialsynode) sowie mit einem auf sechs Jahre gewählten geistlichen Präses und einem ebensolchen Assessor. Da­ neben stehen aber ein landesherrlich bestellter geistlicher Aufsichtsbeamter der Generalsuperin­ tendent, und das Konsistorium, dessen geistlicher Direktor jener ist, beide unter dem Ministerium der geistlichen Angelegenheiten. Jacobson, Geschichte der Quellen des evangelischen Kirchenrechts der Provinzen Rhein­ land und Westfalen, 1844; Lechler, Geschichte der Presbyterial- und Synodalversassung, 1854; Heppe, Die presbyteriale Synodalverfassung der evangelischen Kirche in Rorddeutschland, 1868; Bluhme, Codex des rheinischen evangelischen Kirchenrechts, 1870; Bluhme-HälschnerKahl, Rheinisch-westfälische Kirchenordnung', 1891; Müller-Schuster, Kirchenordnung für die evangelischen Gemeinden der Provinz Westfalen und der Rheinprovinz *, 1892; Lüttgert, Evangelisches Kirchenrecht in Rheinland und Westfalen, 1905, mit erstem Nachtrag, 1910; Richter, Kommentar zur rheinisch-westfälischen Kirchenordnung in der Fassung der neuen amtlichen Aus­ gabe vom 5. Januar 1908, 1908; Uckeley, Die rheinisch-westfälische Kirchenordnung, LietzmannS Kl. Texte CIV, 1912.

Auf diese rheinisch-westfälische Kirchenordnung griff man zurück, als nach 1848 die Or­ ganisation der kirchlichen Selbstverwaltung notwendig und die BerwiMchung des nunmehr entdeckten, angeblich reformatorischen Gemeindeprinzips die Pawle wurde. Sie selbst erfuhr zuvor am 13. Juni 1853 noch eine Revision (weitere am 27. April 1891 mit Ergänzungen vom 1. Juli 1893 und vom 29. September 1897, neueste, zum ersten Male in amllicher Ausgabe bekanntgemachte Fassung vom 5. Januar 1908). In Preußen schritt man 1861—64 überall zur Errichtung von . Kreissynoden, 1869 traten zuerst außerordentliche Provinzialsynoden zu­ sammen, und am 10. September 1873 erging eine evangelische Kirchengemeinde- und Synodal­ ordnung für die alten Provinzen, indes 1875 eine außerordentliche Generalsynode berufen wurde, welche die Generalsynodalordnung vom 20. Januar 1876 zeitigte. Die Ver­ waltung der kirchlichen Extema ging 1876/77 von dem Kultusminister und den Provinzialregiemngen an den evangelischen Oberkirchenrat und die Konsistorien über. In ähnlicher Weise gemischt organisiert waren oder wurden die übrigen Landeskirchen in der preußischen Monarchie (Hannover, lutherische Kirche 1864, reformierte 1882; Kurhessen 1885; Nassau 1877; Frankfurt 1899; Schleswig-Holstein 1876). Andere Landeskirchen waren schon vorangegangen oder folgten nach (Oldenburg 1849/53, Braunschweig 1851/1909, Württemberg 1851/54, 1867, Baden 1861/1904, Sachsen 1868/1873, Hessen 1874/1909, Lippe 1890/1910). Ein neuer, den Bedürfnissen der Gegenwart entsprechender evangelischer Verfassungstypus ist so entstanden; er dürste, zumal wenn es trotz der fast unübersteiglichen Hindemisse gelingen sollte, die lose Verbindung, welche zwischen den evangelischen Landeskirchen die seit 1851 zusammentretende Eisenacher Kirchenkonferenz angebahnt hat, zu einem Bund der deutschen evangelischen Kirchen auszubauen (Deutscher evangelischer Kirchenausschuß seit 1903) und so in Nachholung dessen, was das Reformationszeitalter versäumte und versäumen mußte, der bedauerlichen Zersplittenmg, dem Kleinleben und mancher Engherzigkeit ein Ende zu machen, der evangelsschen Kirche * In Bayern sogar bereits 1818.

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für ihre äußere Entwicklung im laufenden Jahrhundert eine glückliche Zukunft verbürgen. Daß an Stelle der bisher fast allgemeinen Unterschätzung äußerer Ordnung eine die evangelische Freiheit beeinträchtigende Überschätzung treten werde, ist nicht zu befürchten, lebt doch in aller Evangelischen Überzeugung unerschütterlich das Bewußtsein, daß nicht Form und Formel die feste Burg evangelischen Christentums sind, sondem einzig die persönliche Gewiß­ heit einer vom Truck des Gesetzes freien, allein im Glauben wurzelnden Gotteskindschaft in Christo Jesu. Schoen, Preußisches Kirchenrecht (§ 48, 3) I §§ 7—10; Herrmann, Tie notwendigen Grundlagen einer die konsistoriale und synodale Ordnung vereinigenden Kirchenversassung, 1862; v. Kirchenheim, Emll Herrmann und die preußische Kirchenverfassung, 1912; Uckeley, Die Generalsynodalordnung, Lietzmanns Kl. Texte 011,1912; B e e ck, Die Abschaffung des Seniorats in der bremischen Kirche, Z. f. Kg. XXVI, 1905, Geschichte der reformierten Kirche Bremens, 1909; R e u s s , Les äglises protestantes d’Alsace pendant la Involution (1789—1792), 1905; Krüger, Die geschichtliche Entwicklung der Berfassung der Kirche augsburgischer Konfession von Elsaß-Lothringen von 1789—1852, 1913; Dove, Deutsche evangelische Kirche und Eisenacher Konferenz, Z. s. Kr. XII, 1874; Rietschel, Die Frage des Zusammenschlusses der deutschen evangelischen Landeskirchen, 1900; Denkschrift, den Zusammenschluß der deutschen evangelischen Landeskirchen betr., 1901; Braun, Zur Frage der engeren Bereinigung der deutschen evangeli­ schen Landeskirchen, 1902; Mirbt, Der Zusammenschluß der evangelischen Landeskirchen Deutschlands, Marburger Ak. Rede, 1903; Schiele, Die kirchliche Einigung des evangelischen Deutschland im 19. Jahrhundert, 1907; Foerster, Die Rechtslage des deutschen Protestantis­ mus, 1900, Der evangelische Sinn unserer Kirchenverfassung, H. z. Christi. Welt LI, 1904; Bezner, Unser evangelisches Kirchenwesen, Bibl. d. Rechts- und Staatskunde, 1905; Caspari, Die ge­ schichtlichen Grundlagen des gegenwärtigen evangelischen Gemeindelebens ', 1908; Friedrich, Der Ausbau des Protestantismus zur Weltkirche, Z. f. Pol. III, 1910; Warneck, Abriß einer Geschichte der protestantischen Missionen', 1910; Weill, Le protestantisme fran^ais au 19e sidcle, R. de synthdse hist. XXIII, 1911; Kraushaar, Bersassungsformen der lutheri­ schen Kirche Amerikas, 1911.

Zweiter Teil.

System des Kirchenrechts. Bon Lehr- und Handbüchern, die außer beiden konfessionellen Rechten auch das Staats­ kirchenrecht behandeln, sind neben denen von Richter (S. 360 A. 2; et).), von Hinschius (S. 279, ev.) und von Friedberg (S. 279 ev.; italienisch bearbeitet von Rusfini, 1893) hervorzuheben: Kahl (ev.), Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik I, 1894, und Kirchenrecht, in Hinnebergs Kultur der Gegenwart II, 8', 1913; v. Schulte (altk.), Lehrbuch des katholischen' und evangelischen 1 Kirchenrechts, 1886; Bering (L), Lehrbuch des katholischen, orientalischen und protestantischen Kirchenrechts', 1893; Zorn (ev.), Lehrbuch des Kirchenrechts, 1888; S c h i a p p o 1 i, Manuale del diritto ecclesiastico, 2 vol., 1902; Galante, Elementi di diritto ecclesiastico (auch in Encicl. giur. italiana) 1909. Deutsche Zeitschriften: oben S. 279; ausländische: Rivista di diritto ecclesiastico del Regno (R. d. d. e.) seit 1890. Über das Kirchen­ recht als Lehrfach: Riedner, Kirchenrecht als akademische Disziplin, 1904.

Erster Titel.

Allgemeine Lehren. 8 54. Recht und Kirche. Die Kirche im Rechtssinn verbindet zu gemeinsamer Verehrung Gottes im Namen Christi alle diejenigen, die in der Auffassung der christlichen Offenbamng übereinstimmen. Sie ist also eine organisierte Gemeinschaft von Menschen. Wie in jeder solchen, stellt sich vermöge der dem Menschen innewohnenden Idee des Gerechten alsbald eine Überzeugung davon ein, was eine vemünftige Ordnung des kirchlichen Lebens erfordere. Und es verbindet sich damit der Wille, die solcher Überzeugung entsprechende Ordnung auch wirklich herzustellen. Ausdrücklich oder stillschweigend erklärt, wird dieser Wille zum Recht. Tas Recht ist mithin für die Kirche

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schon durch deren Eigenschaft als organisierte Menschengemeinschaft gegeben. Es ist ihr ebenso unentbehrlich und ursprünglich wie jedem organisierten menschlichen Verband. Allerdings nicht mit jedem geschichtlich gegebenen Kirchenverband hat sich das Recht gleich innig verbunden. Gerlach, Logisch-juristische Abhandlung über die Definition des Kirchenrechts, 1862; Groß, Zur Begriffsbestimmung und Würdigung des Kirchenrechts, 1872; O. Mejer, Ist das Recht einer freien Bereinskirche Recht im juristischen Sinn? Z. s. Kr. XI, 1873; Bierling , Das Wesen des positiven Rechts und das Kirchenrecht, Z. f. Kr. XIII, 1875; Friedrich, Zur Begriffsbestimmung des Kirchenrechts, D. Z. f. Kr. XVI, 1906. Gegen die These von S o h m , Kr. I: „Das Kirchenrecht steht im Widerspruch zum Wesen der Kirche", außer K a h l I § 5 nament­ lich B e n d i x , Kirche und Kirchenrecht, 1895; Reischle , Sohms Kirchenrecht, 1895; Zeer­ leb e r , Kirche und Recht, 1895; Köhler, Über die Möglichkeit des Kirchenrechts, D. Z. f. Kr. VI, 1897.

Die das ganze Erdenrund umspannende Organisation der katholischen Kirche ist begrifflich Rechtskirche (§ 63). Kirche im Lehrsinn und Kirche im Rechtssinn fallen bei ihr zusammen, da Christus sie nach katholischer Lehre als Rechtsanstalt geschaffen \ und ein auf die Eingebung des Heiligen Geistes zurückgeführter Teil der Tradition sie mit ausgebaut hat. Für die reformierte Auffassung ist nicht sowohl der Gedanke der Göttlichkeit als derjenige der Schriftgemäßheit entscheidend. Gne bestimmte, die neutestamentliche und urchristliche Verfassung gleich dem Urchristentum zu reproduzieren, dazu ist die Kirche berufen, deren Or­ ganisation, wenigstens nach altreformierter Auffassung, mithin als gegeben und wesentlich erscheint. S o h m , Kr. I 8§ 34, 39, 41; R i e k e r , Grundsätze (§ 46); Hönig , Der katholische und der protestantische Kirchenbegriff, 1894; Rohnert, Kirche, Kirchen und Sekten, 1901.

Dagegen haben die eingangs entwickelte, untergeordnete, nur aus dem Wesen der Kirche als menschlicher Verband entspringende Bedeutung Recht und Verfassung der lutherischen Landeskirchen. Diese sind somit an eine bestimmte Organisation weder dogmatisch noch historisch gebunden. v. S ch e u r l, Die geistliche und die rechtliche Kirche, in seiner S. kr. A.; K ö st l i n , Das Wesen der Kirche•, 1872; Seeberg, Der Begriff der christlichen Kirche, I, 1885; Bleibtreu, Die evangelische Lehre von der sichtbaren und unsichtbaren Kirche, 1903; Happel, Richard Rothes Lehre von der Kirche, 1909; Knoke , Recht und Pflicht der evangelischen Kirche, 1912; Waitz, Das Wesen der evangelischen Kirche, 1913.

In jedem Fall entspringt das Kirchenrecht, d. h. der Inbegriff der Rechtssätze, die nach der erklärten Überzeugung einer kirchlichen Gemeinschaft deren Leben bestimmen sollen, einer Überzeugung. Diese geht entweder dahin, Gott oder sein Sohn oder der Heilige Geist hätten selbst ein Bestimmtes als Recht zu halten befohlen (katholisches ius divinum), oder dahin, solche Ordnung entspreche nach der geschichtlichen Erfahmng am besten dem göttlichen Willen (refor­ miertes Berfassungsrecht), oder endlich, eine freie, hier aber noch mehr als auf weltlichem Gebiet mittelbar das Walten Gottes verratende Vemunft heische solche Ordnung (katholisches ius humanum, lutherisches und modernes evangelisches Kirchenrecht). Schoenborn, Kirche und Recht, Cornicelius, Internat. Monatsschrift, Februar 1912.

Ml dieser Überzeugung wurzelt das Kirchenrecht einzig und allein in der kirchlichen Gemeinschaft. Gerade es liefert den Beweis dafür, daß das Recht nicht ein Erzeugnis des Staates und von dessen Gnaden ist, wie eine, wenn auch nicht mehr herrschende, so doch heute noch verbreitete, im absoluten Staat und dessen Staatskirchentum wurzelnde Lehre will. Viel­ mehr entsteht es und setzt es sich zu einem guten Teil durch unabhängig vom Staat. Freilich, heutzutage, wo dieser begrifflich und tatsächlich die Vormacht ist, stehen äußere Zwangsmittel nur für die Durchführung des vom Staat anerkannten, auch staatlichen Rechts zur Verfügung, von dem außer dem ausdrücklich oder stillschweigend geduldeten das stillschweigend oder ausdrück­ lich verworfene Kirchenrecht wohl zu unterscheiden ist. Jedoch die Erzwingbarkeit bedingt zwar die Vollendung, aber keineswegs das Wesen des Rechts, das ja in der gwßen Mehrzahl seiner

1 Trident, sess. VI de iustif. can. 21: Si quis dixerit, Christum Jesum a Deo hominibus datum fuisse ut redemptorem, cui fidant, non etiam ut legislatorem, cui obediant, anathema sit.

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Anwendungsfälle durch freiwillige Unterwerfung betätigt wird. Und so hat denn auch das 19. Jahrhundert, indem es, zum Teil unter energischem Widerstreben des Staates, eine Fülle von Kirchenrecht erzeugte oder wiederbelebte, die Tatsache der Selbständigkeit der kirchlichen Rechtserzeugung und Rechtsgeltung in ein Helles Licht gestellt. Noch jetzt stehen wir also einer Zweiheit des Rechtes gegenüber, und widmen wir uns mit gutem Grund dem Studium der Rechte. Freilich im mittelalterlichen Sinn existiert das ius utrumque nicht mehr. Heute kann keine Rede mehr sein von zwei Rechten, deren eines die geistliche und das andere die weltliche Seite eines christlichen Weltganzen beherrscht, oder — noch besser im Sinne des Mittelalters ausgedrückt — deren eines vom geistlichen Regiment, der Hierarchie, und deren anderes vom weltlichen Regiment, der Feudalmonarchie, getragen wird. Wohl aber lebt die Zweiheit fort in der Weise, daß neben dem staatlichen Recht ein Sonderrecht der kirchlichen Lebensbeziehungen steht, das jenem zwar tatsächlich, jedoch nur in lokaler Beschränkung und nur teilweise, unterworfen sein kann, begrifflich aber und der Hauptsache nach auch positiv selbständig erscheint.

v. Scheurl, Die Selbständigkeit des Kirchenrechts, Z. f. Kr. XII, 1874; Stutz, Die kirchliche Rechtsgeschichte (oben S. 279) S. II ff., 37 ff.; Jellinek, Der Kamps des alten mit dem neuen Recht, Heidelberger Univ.-Progr., 1907 (auch AuSgew. Schriften I, 1911 S. 329 ff.). Ist so das Kirchenrecht mit dem staatlichen Recht nicht zusammenzubringen, so darf auch die Unterscheidung des letzteren in privates und össenlliches Recht aus jenes nicht angewendet werden. Nur soweit es in der erwähnten Weise ins staatliche Gebiet erhoben wird, findet die Unterscheidung auch aus das Kirchenrecht Anwendung. Das vom Staat anerkannte kirchliche Versassungs- und Verwaltungsrecht nimmt an der Öffentlichkeit, das vom Staat anerkannte, die privaten Beziehungen der Kirche und ihrer Teilverbände regelnde Recht (so namentlich manche Einrichtungen und Bestimmungen des kirchlichen Vermögensrechtes) nimmt an dem bürgerlichen Charakter des staatlichen Rechtes teil.

Jacobson, Kirchenrechtliche Versuche II, 1833: Über den Begriff des öffentlichen Rechts und über das Kirchenrecht als Tell desselben.

Mes Recht und so auch das kirchliche ist positiv. Das sogenannte Naturrecht oder speziell das natürliche, d. h. das aus der Natur der kirchlichen Lebensbedingungen sich ergebende Kirchen­ recht spielte zwar in der Literatur des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts eine große Rolle. Auch wird ein ius divinum naturale im Sinn einer von Gott in der Natur kund­ gegebenen, mit den geoffenbarten Moralsätzen identischen Ordnung heute noch von katholischer Seite behauptet. Beides hat gegenüber einem die geschichtlichen Tatsachen vergewaltigenden Absolutismus, der dem Staat die ausschließliche Befähigung, Recht zu setzen, zuschrieb, zeit­ weise heilsam gewirkt. Wer all dies sogenannte kirchliche Naturrecht stellt sich, sofern man damnter nicht einfach staallich nicht anerkanntes, positives Kirchenrecht versteht, lediglich als Rechtsüberzeugung oder gar nur als Rechtspostulat heraus, dem es, um Recht zu sein, an der erforderlichen ausdrücklichen Erllärung oder stillschweigenden Betätigung gebricht, oder als Moralvorschrift, die zwar für das kirchliche Recht bindende Richtschnur, jedoch nicht dieses selbst ist. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie I, 1892; Cathrein, Recht, Natur­ recht und positives Recht *, 1909, Naturrccht und positives Recht, St.M.-L. LXIX, 1905. Daß und weshalb endlich Kirchenrecht, ius ecclcsiasticum, und kanonisches Recht, ius canonicum, nicht zusammenfallen, ergibt sich ohne weiteres aus unserer Darstellung der Ge­ schichte des Kirchenrechts, welche die Verengerung aufweist, die das heutige Kirchenrecht gegen­ über dem kanonischen Recht erfahren hat, aber auch die gleichzeitige Erweitemng durch das Hinzukommen von viel neuem katholischen und dem ganzen evangelischen Recht.

§ 55. Staat und Kirche. Ohne organisierte Gemeinschast kein Recht. Eine solche Gemeinschaft zwischen Staat und Kirche gibt es nicht, weder tatsächlich noch dem Begriff nach. Tas mittelalterliche unum corpus christianum, dem Imperium und sacerdotium organisch sich eingliederten, ist längst

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untergegangen. Die Staaten, die an Stelle jenes, die Kirchen, die an Stelle von diesem getreten sind, setzen Imperium und sacerdotium weder einzeln noch zusammengenommen fort und fügen sich keiner höheren Einheit mehr ein. Ter modeme Staat beschränkt sich grundsätzlich auf das Diesseits; er ist das Gemeinwesen, das die irdischen Lebensbeziehungen seiner Angehörigen, und nur sie, diese aber in sachlicher Unbegrenztheit umspannt. Um* gekehrt zielt jede christliche Kirche auf das Jenseits ab; wohl ist sie ein irdischer Verband, aber nur zu gemeinschaftlicher Fördemng ihrer Mitglieder in deren überirdischer Bestimmung. Schon unter den Kirchen ist die Zusammenfassung zu einer höheren Gemeinschaft ausgeschlossen, da jede, prinzipiell ausschließlich, das Heil allein oder doch am besten zu vermitteln beansprucht. Vollends ein zwischen-staatlich-kirchlicher Verband muß als ein Ding praktischer und theoretischer Unmöglichkeit erscheinen. Ja noch mehr: die modemen Staaten und die Kirchen sind über­ haupt inkommensurable Größen. Kaufmann, Das Wesen des Bölkerrechts und die clausula rebus sic stantibus, 1911, S. 153 ff.

Hieraus folgt, daß über Staat und Kirche niemals eine Ordnung rechtlichen Charakters besteht oder auch nur bestehen könnte. Die Berührungen beider sind lediglich zufällige, niemals begriffsnotwendige, unter keinen Umständen organische. In ihrem eigentlichen Wirkungskreis berühren sich Staat und Kirche überhaupt nur deshalb, weil sie zum Teil dieselben Angehörigen haben. Daneben gibt es allerdings Grenzgebiete, die beide Teile für sich in Anspruch nehmen, und zwar jeder auf Gmnd seiner Rechtsordnung. Gerade bei der Grenzreguliemng findet aber leicht eine Überschreitung des ©ebieteS statt, innerhalb dessen die betreffende Norm Recht zu sein beanspruchen kann. In solchen Fällen steht man vor formellem, staatlichem oder kirch­ lichem Recht, während materiell überhaupt kein Recht, sondem ein staatliches Machtgebot gegen­ über der Kirche oder ein kirchlicher Machtanspmch gegenüber dem Staat vorliegt. Nur wenn es über Staat und Kirche einen beide umfassenden Verband gäbe, der Kollisionsnormen auf­ stellen könnte, ließe sich der Konflikt beider Rechte nach Rechtsgmndsätzen beheben. So aber, da es sich nicht einmal um Gemeinwesen derselben Art handelt, entscheidet allein die Macht. Hieraus ergeben sich kaum je Unzuträglichkeiten im Verhältnis zu den evangelischen Kirchen, die — um davon abzusehen, daß die geschichtliche Entwicklung ihnen in Deutschland dieselbe Spitze gegeben hat wie dem Staat —, weil in nachmittelalterlicher Zeit angesichts der weckenden Staatssouveränität entstanden, den Staat als alleinigen Machtträger aneckennen. Mr wenn der moderne Staat sich so weit vergäße, daß er sich in die Verwaltung von Wort und Sakrament einmischen, nach calvinistischer Auffassung auch, wenn er die Kirche hindem wollte, sich schriftgemäß einzurichten, nur dann würde für die evangelische Kirche und ihre Glieder die Pflicht erstehen, Gott mehr gehorchend als den Menschen gegen die staalliche Einmischung Widerstand zu leisten. Wohl aber besteht auf weiten Grenzgebieten ein grundsätzlicher, unver­ söhnlicher Gegensatz zwischen dem souveränen modemen Staat und der über ein Jahrtausend­ hinter dessen Anfänge zurückreichenden katholischen Kirche. Für kürzere oder längere Zeit praktisch überbrückt, führt er immer wieder zu Konflikten, bei denen die Kirche schon deswegen nicht unfähig zu erfolgreichem Mderstand ist, weil stets nur ein Leiner Teil ihrer universalen Organisation in das Gebiet des betreffenden Staates hineinreicht, indes das Schwergewicht ihrer Macht außerhalb der staallichen Herrschaftssphäre liegt. Nach dem Gesagten entscheidet in solchem Konflikt allein die Macht, aber freilich eine Macht nicht im Sinne roher, physischer Gewalt, sondem in demjenigen einer geistigen, durch äußere Zwangsmittel nur unterstützten Vorrangstellung, die den Gesetzen der Sittlichkeit unterworfen ist und von der Übereinstimmung mit dem Zeitbewußtsein abhängt. Dies stets sich vor Augen zu halten, ist die Pflicht der Politik, die allein das Verhältnis von Staat und Kirche regelt. Gladstone, Der Staat in seinem Verhältnis zur Kirche, 1843; Laurent, L’ßglise et l’fitat, 1868; Liberatore, La Chiesa e lo Stato, 1871; Sohm, Das Verhältnis von Staat und Kirche, Z. f. Kr. XI, 1873; Zeller, Staat und Kirche, 1873; Geffcken, Staat und Kirche in chrem Verhältnis geschichtlich entwickelt, 1876 (dazu Fromann, Z.f.Kr. XIV, 1879, XV, 1880); Maassen, Neun Kapitel über freie Kirche und Gewisfenssrecheit, 1876; Martens, Die Beziehungen der Überordnung, Nebenordnung und Unterordnung zwischen Kirche und Staat, 1877; Minghetti, Stato e chiesa*, 1878, deutsch 1881; Hinschius,

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Allgemeine Darstellung der Verhältnisse von Staat und Kirche, in Marquardsens Handbuch I 1, 1883; Knitschky, Staat und Kirche, 1886; Feral, La Conception de l’6tat d’aprös l’6glise romaine, Th6se, 1901; Maurenbrecher, Staat und Kirche im protestantischen Deutsch­ land, 1886; Kahl, Die Verschiedenheit der katholischen und evangelischen Anschauung von Staat und Kirche, 1886; Rieker, Staat und Kirche nach lutherischer, reformierter, moderner Anschauung, H.B. 1,1898, Protestantismus und Staatskirchentum, D. Z. s. Kr. VII, 1897; Kolde, Der Staatsgedanke der Reformation und die römische Kirche, 1903; Sägmüller, Kirche und Staat, 1904; O. Mayer, Staat und Kirche, Hauck-Herzog, Realenzykl.' XVIII, 1906; Harnack, Protestantismus und Katholizismus in Deutschland, Preuß. Jbb. CXXVII, 1907: Köhler, Katholizismus und moderner Staat, 1908; H dring, Kirche und Staat, 1907; Bocken­ hoff, Katholische Kirche und moderner Staat, 1911. Kirchenpolitische, nicht Rechtssysteme sind auch die Tenkformen, auf welche die Wissenschaft die verschiedenen Gestalten gebracht hat, die das Verhältnis von Staat und Kirche zu verschiedenen Zeiten und in den verschiedenen Gebieten kraft positiver staallicher oder kirchlicher Bestimmung annahm oder hätte annehmen sollen. Sie dienen dem Verständnis, aber — gleich den Systemen des ehelichen Güterrechtes — vielfach auch der Auslegung sowie dem praktischen und theoretischen Ausbau der einzelnen Festsetzungen. Und sie bewegen sich — auch darin den -Gütersystemen des Eherechts ähnlich — zwischen den beiden Extremen der Verbindung und der Scheidung des politischen und religiösen Gebietes. Die Einheit oder doch eine innige Verbindung streben an das der Geschichte angehörige System des Jneinanderaufgehens beider Sphären zugunsten des Staates (Byzantinismus, kawlingische Theokratie, sächsisch-salische Kirchenherrschaft und älteres katholisches, besonders josephinisches sowie evangelisches Staatskirchentum), femer das System völliger Einheit zu­ gunsten der Kirche (Hierokratie des Papalsystems, abgeschwächtes Kirchenstaatstum der potestas indircota), das tatsächlich ebenfalls der Geschichte angehört, aber mit dem übriger: iua canonicum Don der katholischen Kirche als mhendes Kirchenrecht weiter mitgeführt wird 1 und in der Genfer Schrifttheokratie seinerzeit ein evangelisches Gegenstück besaß, endlich das System des christ­ lichen Staats. Das letztere, praktisch nie verwirklicht, sondem durch die Heilige Allianz oon 1815 nur angeregt2 und seit 1847 (Fr. I. Stahl, Thiersch u. a.) oft literarisch und parlamen­ tarisch verfochten, sucht sich mit dem Vorhandensein einer Mehrheit gleichberechtigter christ­ licher Konfessionen so abzufinden, daß es das Gemeinchristliche aus den verschiedenen Bekennt­ nissen und kirchlichen Einrichtungen heraushebt und zu dessen Verwirllichung den Staat ver­ pflichtet. Praktische Konsequenzen sind also z. B. Taufzwang für die Kinder christlicher Eltem, obligatorische kirchliche Eheschließung, christliche Organisation der Schule, streng durchgesührtes Sonn- und Feiertagsgebot und in negativer Hinsicht Verbot der Ehen zwischen Christen und Juden und Beseitigung der Judenemanzipation, wie überhaupt Nichtchristen gegenüber zwar eine beschränkte Toleranz, nicht aber die Einräumung politischer Rechte (aktives und passives parlamentarisches Wahlrecht, Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter) statthaft erscheint. Tas System, ungeeignet, seinen Zweck, die möglichste Erhaltung christlicher Religiosität, zu verwirllichen, und wegen der damit verbundenen Einmischung des Staates in rein religiöse Angelegenheiten unerträglich, scheitert, von allem anderen abgesehen, schon daran, daß es ein nichtkonsessionelles Massenchristentum, womit der Staat rechnen könnte, nicht gibt und nicht geben kann.

Stahl, Ter christliche Staat 2, 1858; v. Scheurl, Der christliche Staat, in seiner L. kr. A.; Hergenröther, Katholische Kirche und christlicher Staat, 1872; Dieckhoss, Staat und Kirche, 1872; v. Mühler, Grundlinien einer Philosophie der Staats- und Rechtslehre nach evangelischen Prinzipien, 1873; Thiersch, Über den christlichen Staat, 1876. Bon den Systemen sodann, welche die Scheidung der staatlichen und kirchlichen Sphäre anstreben, ist das radikalste dasjenige der sogenannten Trennung von Staat und Kirche oder

1 Pius' IX. Syllabus th. 24 verwirft den Satz: Ecclesia vis inferendae potestatem non habet neque potestatem ullam temporalem directam vel indirectam. * Der Deutsche Bund führte sein Grundgesetz allerdings unter Berufung auf die „allerheiligste und unteilbare Dreieinigkeit" ein und gab sich so als offiziell christlich. Jedoch das Schwergewicht «mch für die Kirchengesetzgebung lag nicht in ihm, sondern in den Einzelstaaten, und diese gaben sich nicht als christliche aus.

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des Freikirchentums. Zu Hause, wenn auch nicht vollständig durchgeführt1 ist es in den Ver­ einigten Staaten von Nordamerikas die eben keine kirchliche Vormacht mit altbegründetem Besitz, wohl aber eine unter dem Einfluß reformierter Separationstendenzen entstandene, weit­ gehende kirchliche Zersplitterung vorfanden. In Belgien gilt das System auf Gmnd der Ver­ fassung von 1831, die es aber in Art. 117 zuungunsten des Staates durch die Bestimmung durch­ bricht, daß der Staat die Besoldungen und Gnadengehälter der Kultusdiener auf eigene Kosten zu zahlen habe. In Italien bildete die freie Kirche im freien Staat das Pwgramm Cavours 3, konnte jedoch, da Italien nach der Wegnahme des Temporales im Garantiegesetz vom 13. Mai 18714 in seinem eigenen Interesse dem Heiligen Stuhl gewisse Sicherheiten für die Behauptung von dessen internationaler Stellung nach innen wie nach außen zu geben sich veranlaßt sah, bloß zum Teil verwirklicht werden. Zuungunsten der Kirche, namentlich unter Beibehaltung einer ausgiebigen Kultuspolizei, hat Frankreich, nachdem es zuvor durch das Vereinsgesetz vom 1. Juli 1901 noch auf dem Boden des konkordatären Rechts und des Staatskirchentums die Orden und Kongregationen mit Ausnahme weniger ermächtigter aufgelöst und aus seinen Grenzen verbannt hatte 6, durch das Trennungsgesetz vom 9. Dezember 1905 die Kirchen zu entstaatlichen und völlig in die Sphäre des privaten Rechts zu verweisen sich veranlaßt gesehen; infolge des Widerstandes der katholischen Kirche, die sich weigerte, die in dem Trennungsgesetze vorgesehenen Kultusvereine oder auch nur Vereine des gemeinen Rechtes für Kultzwecke zu bilden, ist freilich dieser gegenüber der Versuch, selbst die privatrechtlichen Kultorganisationen staaüich zu bevormunden, gescheitert, und hat sich die katholische Kirche, zunächst allerdings um den Preis weitgehender Desorganisation und erheblicher finanzieller Schwierigkeiten, unter notgedmngenem Einlenken des Staates (Gesetze und Dekrete vom 2. Januar, 28. März 1907, 13. April 1908, 30. Januar, 12. Juli 1909) ein größeres Maß von Freiheit zu sichem gewußt, als es ihr ursprünglich zugedacht war 6. Dagegen haben in einer den Kirchen wohlwollenden 1 Sonst gäbe es keinen Feiertagszwang, keine Möglichkeit der Ablösung der militärischen Dienstpflicht aus Gründen des religiösen Bekenntnisses (Quäker), keine gottesdienstliche Eröffnung des Kongresses. Klein, La Separation aux State-Unis, histoire, lois, coutumes, documents, 1908; Haupt, Staat und Kirche in den Bereinigten Staaten von Nordamerika, Clemen, Stud. z. prakt. Theol. III 3, 1909. • Auch die meisten englischen Kolonien, z. B. Australien, Neu-Seeland u. a., kennen es in dieser nordamerikanischen Gestalt. • Bgl. oben S. 384 A. 1. 4 2. Titel. Bom Verhältnis des Staates zur Kirche: Keine Beschränkung des Zusammen­ tritts von Kirchenversammlungen, keine Nominatton oder Präsentation bei Besetzung von beneficia «naiora (aber Jndigenat und bis zum Erlaß eines Kirchengutsgesetzes Exequatur für die Einführung in die Temporalien der höheren und niederen Benefizien außerhalb Roms und der suburbikarischen Bistümer), kein Treueid der Bischöfe gegenüber dem König, kein Plazet außer zu Verfügungen über Kirchengut, kein recursus ab abusu in geistlichen und Disziplinarangelegenheiten. Galante, L’Exequatur e il Placet (auch in der Encicl. giur. ital.), 1910; Savagnone, Sulla revocabiliU dell Exequatur e del Placet, 1905 (auch in Riv. di Legisl. compar.), Bernareggi, L’Exequatur, 1913. 1 Zum Bereinsaesetz vgl. Waldeck-Rousseau, Associations et Congrögations, 1901; Trouillot-uhapsal, Du contrat d’association, 1902; R u f f i n i, La lotta contre le congregazioni religiöse in Francia, 1902; Leroy-Beaulieu, Les congrägations religieuses, le protectorat et Finfluence fran^aise au dehors, Revue des Deux mondes XIV, 1903; Erythropel, Das Recht der weltlichen Vereine und geistlichen Orden in Frankreich, 1904; s. Ouch Estanyol y Colom, Algunas consideraciones sobre el derecho de asociacion, 1907. • Zur französischen Trennungsgesetzgebung (D. Z. f. Kr. XV, 1906; auch sev.) Sägrnüller, Die Trennung von Kirche und Staat, 1907 (auch A. f. k. Kr. LXXXVI, 1906); Cavagnis, De concordato Napoleonico pro Gallia, de articulis organicis, de Lege 9. Dec. 1905 separationis Reipublicae Galliae ab Ecclesia, 1906; Sabatier, A propos de la Separation • 1906 (deutsch: Zur Trennung der Kirchen vom Staat, 1907); Friedrich, Die Trennung von Staat und Kirche in Frankreich, 1907; P1 a n e i x , L’figlise et l’Etat: leur Separation en France, 1906; Geigel, Die Trennung von Staat und Kirche in Frankreich, 1902; Fardis und Prost im Jahrbuch des öffentlichen Rechts II, 1908; A m b r o s i n i, Diritto ecclesiastico francese odiemo (1880 bis 1908), 1909; Lüttge, Die Trennung von Staat und Kirche in Frankreich und der französische Protestantismus, 1912; Schnitzer, Trennung von Kirche und Staat in Frankreich, Internat, kirchl. Zeitschr. II, 1912; vor allem Combes, Die französische Republik und die Trennung von Kirche und Staat, Deutsche Revue XXX 3, 1905; Briand, Rapport fait ä la Chambre sur la Separation des Sglises et de l’Etat sowie das vom Vatikan als Supplement zu Acta 8. Sedis

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Ulrich Stutz.

Form die Trennung durchgeführt Brasilien (1896), Genf (30. Juni 1907) und, auf das vermögensrechüiche Gebiet beschränkt, Basel-Stadt (6. März 1910) *. Denn, folgerichtig durch­ geführt, bedingt das System unter Verzicht auf alle und jede Kirchenhoheit samt den daraus fließenden Auffichtsrechten die Gleichstellung der Kirchen mit gewöhnlichen nichtprivilegierten Vereinen (bloße Vereinshoheit). Als Privawerein (ev. mit Treuhändern, trustees, z. B. dem Bischof, dem Generalvikar, dem Pfarrer und einem Laien als Vertretem eines trust und, für das kirchliche Eigentum, mit der Einrichtung der Corporation sole, d. h. der juristischen Persönlichkeit der Einheit der aufeinanderfolgenden Amtsträger), mit den Angehörigen als bloßen Mitgliedern, mit den Kirchenbeamten als bloßen Bereinsdienern, mit dem Kirchen» recht, soweit es mit der Bereinsgesetzgebung verträglich, als bloßem Vereinsstatut, befreit von der Einmischung des Staates (keine staatliche Mitwirkung bei der Besetzung bischöflicher Stühle, keine staaüichen theologischen Fakultäten) steht nach diesem System auch die katholische Kirche da, die eine solche Trennung prinzipiell verwirftdie aber, wo sie besteht, über kurz oder lang dank ihrer vortrefflichen Organisation und vermöge ihrer den Vereinsrahmen mit Leichtigfeit sprengenden sozialen Bedeutung sie sehr wohl sich zunutze zu machen weiß. Das System ist mit Rücksicht auf die Vergangenheit der christlichen Kirchen, ihre innige Verknüpfung mit dem Volkstum und die daraus für den Staat sich ergebende Unmöglichkeit, sich ihnen gegenüber gleichgültig zu verhalten, zumal in dem konfessionell gespaltenen Deutschland, auch vom staatlichen Standpunkt aus zu verwerfen. Mehr den Standpunkt einer von gegenseitigem Wohlwollen getragenen Gleichordnung vertritt die namenllich von Görres, v. Ketteler, Reichens­ perger und anderen, besonders katholischen Schriftstellern der neuesten Zeit verfochtene Koordi» nationsthorie. Sie läßt beide Gewalten rechtlich gleich stehen, die Kirche völlig unabhängig auf kirchlichem, den Staat souverän auf staallichem Gebiet. Grenzstreitigkeiten sollten durch Konkordate beseitigt werden. Diese Theorie, im Verhältnis des Staates zur evangelischen Kirche nicht verwendbar, und in Wahrheit ein Versuch, die katholische Kirche vor irgendwelcher Unter­ ordnung unter den Staat zu bewahren, ist, wie die Erfahrungen lehren, die man in Österreich unter dem Konkordat, in Preußen vor dem Kulturkampf damit machte, praktisch unbrauchbar. Denn wie in der Ehe, so muß in jeder Zweiheit der eine Teil schließlich das entscheidende Wort sprechen, also entwä>er der Staat oder — und dabei landen die Koordinationstheoretiker regel­

mäßig, weil sie die Kirche als Verband für überirdische Zwecke höher» einschätzen als den bloß diesseitigen Staat — die Kirche, womit einfach das alte Kirchenstaatstum, wenn auch in ab­ geschwächtester Gestalt (potestaa directiva), wieder erreicht wird. Da aber tatsächlich in Deutsch­ land der staaüichen Macht und dem staatlichen Recht die Entscheidung zufällt, erscheint für die Gegenwart als allein zutreffend ein System, das diese Tatsache zum Ausdmck bringt, ander­ seits aber die kirchliche Selbständigkeit, soweit dies mit der staatlichen Selbstbehauptung irgend­ wie verträglich ist, achtet. Meses System, das den Scheidungsgedanken in möglichster Berück­ sichtigung der durch die gemeinsame Vergangenheit und die Gemeinschaft der beiderseittgen Angehörigen gegebenen Verknüpfung beider Gemeinwesen realisiert, ist dasjenige der staat­ lichen Kirchenhoheit.

V i n e t, MSmoire en faveur de la libertä des caltes, 1826; Mejer , Die deutsche Kirchen­ freiheit, 1848; Gareis und Zorn, Staat und Kirche in der Schweiz, 2 Bde., 1877/78; Nippold, Die Theorie der Trennung von Kirche und Staat, 1881; G a g 1 i a n i, Droit eccl6siastique civil beige I, 1903; Görres, Athanasius, 1838; Reichensperger, Kulturkampf oder Friede *, 1876; v. Hertling, Recht, Staat und Gesellschaft, 1906; Harleß, Staat und Mrche, 1870; Maitland, Corporation sole (§ 24); Rothenbücher, Die Trennung XXXVIII, 1906 veröffentliche Weißbuch: La Separation de ffiglise et de l’fitat en France, Expose et documents, Rome 1905. Weitere Literatur oben §§41, 42 und Berichte von Genest al in D. Z. f. Kr., zuerst XXII 1913. 1 Schlitz, Die Folgen der Trennung von Kirche und Staat in Brasilien St. M.-L. LXX, 1906; Burckhardt, Neuzeitliche Wandlungen des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche in der Schweiz, Pol. Jb. d. schweiz. Eidgen. XXIV, 1910; Speiser, Staatliche Neuordnung des Verhältnisses von Kirche und Staat in den schweizerischen Kantonen Genf und Basel, A. f. k. Kr. XCII, 1912; Galante, La separazione dello 8tato dalla Chiesa nel paese di Galles (Wales} Z. - s. RG. I, 1911. * Pius' IX. Syllabus th. 55 verdammt den Satz: Ecclesia a statu statusque ab ecclesia seiungendus est.

Kirchenrecht.

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von Staat und Kirche, 1908 (dazu Kahl, Hinnebergs Internat. Wochenschrift, 1908), Wand­ lungen in dem Verhältnisse von Staat und Kirche in der neueren Zeit, Jb. d. öffentL Rechts III, 1909; Troeltsch, Die Trennung von Staat und Kirche, der staatliche Religionsunterricht und die theologischen Fakultäten, 1907; Huber, Trennung von Kirche und Staat, in Wissen und Leben III, 1911; Luz - atti, Freiheit des Gewissens und Wissens, Studien zur Trennung von Kirche und Staat, übersetzt von Bluw stein, 1911; Hauck, Die Trennung von Kirche und Staat, 1912; de Narfon, La Separation des figlises et de F15 tat (Bibi. g6n. des Sciences soc. XL), 1912; Falco, 11 concetto giuridico di separazione della chiesa dallo stato, 1913; del G i u d i c e , La separazione tra Stato e Chiesa come concetto giuridico, 1913. Vgl. auch die seit 1905 im Bulletin mensuel de la Soci6te de Legislation comparee erscheinenden kurzen Berichte über die Wandlungen des Verhältnisses von Staat und Kirche in den verschiedenen Ländern.

8 56. Die Aonlorbate. Im weiteren Sinn bezeichnet man als Konkordate Wmachungen zwischen der weltlichen und der geistlichen Gewalt über die Stellung der Kirche in dem betreffenden Staat. Im engeren Sinn findet nach der herrschenden Lehre die Bezeichnung „Konkordat" bloß Anwendung auf Vereinbarungen, die zwischen dem Staatsoberhaupt einerseits und dem Papste anderseits ge­ troffen toetben, und in denen, wenigstens im Prinzip, eine allgemeine Regelung der Verhält­ nisse der kacholischen Kirche enthalten ist *. Bloße Abmachungen über einzelne Gegenstände, wie die Umschreibung von Bistümem, die nur zum Erlaß staatlich anerkannter Kirchengesetze v (Zeitschr. d. byz. Instituts in Athen), 1909.

8 100.

Di« Erledigung der Hirchenämter.

Kirchenämter werden mit dem Wllen des Inhabers erledigt durch Verzicht (renuntiatio), höhere aber nur mit Einwilligung des Papstes, niedere mit solcher des Bischofs. Der Verzicht heißt resignatio, wenn er nicht pure geschieht, sondern z. B. unter Vorbehalt einer Rentenzahlung aus der Psründe (r. cum reservatione pensionis). Ohne oder gegen den Wllen des Inhabers erfolgt die Erledigung durch Tod, Absetzung (§ 91), Verlust der Amtsfähigkeit (z. B. infolge Konfeffwnswechsels) und nach dem Dekret der Konsistorialkongregation lllaxima cura betreffend die amotio administrativa ab officio et beneficio curato vom 20. August 1910, durch das eine schon früher, wenn auch nur schüchtem angebahnte Praxis zum Gesetz echoben und eingehend geregelt worden ist, durch Versetzung von Pfarrem, selbständigen Psarrekwren und Kumten, aber auch von vicarii perpetui und Dessewants oder Sukkursalpsarrern (die in so fern kirchen­ rechtlich besser gestellt sind als ehedem) auf eine andere Pfarrei oder Stelle oder in den Ruhestand mit Pension auf dem Berwaltun^wege, aber nur wegen 1. Geisteskrankheit, 2. Un­ erfahrenheit und Unwissenheit, 3. Taubheit, Erblindung oder eines anderen, minbeftens auf lange hinaus untauglich machenden Gebrechens, 4. Hasses der Gemeinde, der (ob gerechtfertigt oder nicht) eine gedeihliche Amtsführung ausschließt, 5. Verlustes des guten Rufes, 6. Ver­ brechens, dessen Bekanntwerden zum Ärgemis der Gemeinde zu erwarten steht, 7. nachlässiger Vermögensverwaltung zum schweren Schaden der Kirche, 8. Versäumnis der pfarwmüichen Pflichten, 9. Ungehorsams gegen den Bischof in wichtiger Sache twtz zweimaliger Mahnung in der Form der monitia canonica. Leistet der Betreffende nicht innerhalb von 10 Tagen der regelmäßig schriftlich und nach Beschluß mit zwei Examinawren (§§ 76, 95) an ihn ergangenen Aufforderung zur Amtsniederlegung Folge, so kommt es zu einem inneünözesanen, schriftlichen und kontradikwrischen Verfahren (Beschwerde an die Konsistorialkongregation wegen Verschuldens des Bischofs bleibt selbstverständlich vorbehalten) in erster Instanz vor dem Bischof und den beiden dienstältesten Examinawren und, wenn auf die von diesen ausgespwchene Amtsenthebung hin Rekurs erhoben wird, zur Revision in zweiter Instanz vor dem Bischof und den beiden dienstältesten Konsulwren (§ 76). Vgl. auch die Erläutemng des preußischen Epiflopats vom 14. Dezember 1910, A. f. k. Kr. XCI, 1911 .H

Hinfchius, Kr. III §§ 160—166; Gillmann, Die Resignation der Benefizien,N901 (auch im A. f. k. Kr. LXXX, LXXXI); Kaskel, Zur Lehre von der rechtlichen Natur des kirch­ lichen Amtertausches nach kanonischem Recht, D. Z. f. Kr. XXI, 1912; Heiner, Die remotio

Kirchenrecht.

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oeconomica oder die AmtSversetzung eines Pfarrers aus dem Verwaltungswege, A. f. !. Kr. LXXVII, 1897, LXXXV, 1906; Linneborn, Die Entfernung eines Pfarrers auS dem Amte aus dem Verwaltungswege, Theologie und Glaube II, 1910; de Gennaro, La rimozione dei parrod in via disciplinare, 1910; Cappello, De administrativa amotione parochorum, 1911; Hilling, Die Amtsenthebung der Pfarrer im Verwaltungswege (auch im Kath. XCI), 1911; Liefen, Zur Vorgeschichte des Dekrets bett. Amtsenthebung eines Pfarrers, MünsterischeS Pastoralblatt XLIX, 1911; Prümmer, Das neue Dekret über die Versetzung der Pfarrer, Theol.-prakt. Q. LXIV, 1911; Schmelcher, DaS Dekret des 8. Cover. Conaist, de amo­ tione administrativa, 1911; v. Wysocki, Das Dekret Maxima enra, A. f. k. Kr. XCII, 1912; Gerhardinger, Die amotio administrativa und daS österreichische Staat-recht, D. Z. f. Kr. XXI, 1912.

Achte- Kapitel.

Die Verwaltung des kirchlichen Vermögens. 8 101.

Die Erwerbsfähigkeit der Kirche.

Nach kirchlichem Recht steht das kirchliche Eigentum den einzelnen kirchlichen Instituten (Gesamtkirche, Bistum, Pfarrei, Benefizium, Baufonds) oder Verbänden (Domkapitel, Land» kapitel) als juristischen Personen zu (JnstiMtentheorie), nicht der ganzen Kirche ausschließlich (Gesamtkirchentheorie). Die Weihe entrückt die zu gottesdienstlichen Zwecken bestimmten Gegen­ stände dem Eigentum nicht. Die konsekrietten Sachen (res consecratae) und die benedizierten (r. benedictae) werden als res sacrae nur dem Profangebrauch (z. B. einer Kirche als Salz­ magazin, eines Kelches als Trinkgeschirr) entzogen und denjenigen Rechten, die einen solchen involvieren würden *. Die Verletzung dieser Gebrauchsbeschränkung ist Sacrilegium reale. An Kirchenstühlen und Begräbnisplätzen ist die Einräumung eines MietrechtS oder eines durch Kauf auf längere Zeit erworbenen Gebrauchsrechtes zulästig. HinschiuS, Kr. IV $§ 206, 218, 222—224; Meurer, Der Begriff und Eigentümer der heiligen Sachen. 2 Bde., 1886: Posckinger, Da- Eigentum am Kirchenvermögen, 1871; Stuckv, Da- Eigentum am Kirchengut, Zürcher jurist. Diss., 1893/94; Eotlarciuc, Subjekt de- Kirchenvermögens in der morgenländischen Kirche. D. Z. f. Kr. XIX, 1909; Freisen, Korporation-rechte der katholischen Gemeinden in den kleineren protestantischen deutschen Bundes­ staaten, insbesondere in der Residenzstadt Sondershausen, A. f. k. Kr. LXXXV, 1906; Ammann, Die kirchliche Rechtspersönlichkeit im Großherzogtum Baden, A. f. üff. R. XXIV, 1908 (auch Freiburger jur. Diss.); Schmitt, Die Stellung der badisch-rechtlichen Kirchengemeinde gegen­ über dem katholischen Kirchenrecht, A. f. k. Kr. XCIII, 1913: Kiene, (WürttemberglscheS) Katholisches Pfarrgemeindegesetz vom 14. Juni 1887/22. Juli 1906, 1906; Meurer, Bayerische- Kirchenvermögensrecht I, II, 1899, 1901, Kirchenstiftumg und Kirchengemeinde, 1910, Grundfragen auS dem Entwurf einer bayerischen Kirchenaemeindeordnung, 1909; Tretzel, Die Kirchengemeinde nach bayrischem Recht, A. f. k. Kr. LXXXVI, 1906, LXXXVII, 1907; Piloty, Die Kirchengemeindeordnung im Geiste deS bayerischen Entwurf-, 1908, Die Kirchen­ gemeindeordnung im bayerischen Landtag, A. d. off. R. XXVI, 1910; v. Moreau , Der Wirkungs­ kreis der bayerischen Kirchenverwaltung nach geltendem Recht und nach dem Entwurf der Kirchen­ gemeindeordnung, 1912; Hellmuth, Die bayerische Kirckengemeindeordnung, A. f. k. Kr. XCIII, 1913; Pfeufer, Die Kirchengemeindeordnung für daS Königreich Bayern vom 24. September 1912, D. Z. f. Kr. XXIII, 1913, und die Kommentare von D y r o f f, 1912/13, Frank, 1912/13; Lampert, Zur rechtlichen Behandlung deS kirchlichen Eigentum- in der Schweiz, MonatSschr. f. christl. Eozialref., 1904, Die kirchlichen Stiftungen, Anstalten und Körperschaften nach schweizerischem Recht, 1912; C r o u z i 1, Questions de droit civil et eccUsiastique. De la location des sifcges d’tglise, 1903; Bogeng, Erwerb-beschränkungen juristischer Personen, 1908; Brandileone, Le pensione ecclesiastiche e le rendite perpetue, Riv. di dir. eccl., 1906, I lasciti per l’amina (§ 34); Falco, Le disposizioni pro anima ($ 34).

1 Ein erlaubte- Gebrauchsrecht ist dagegen zulässig. So sichert seit dem Übergang des Gotte-Hause- in städtisches Eigentum eine beschräntte persönliche Dienstbarkeit nach BGB. 1090 ff. den Gebrauch der Jefuiten-(oder Univerfität--)Kirche durch die Universität Freiburg bzw. durch deren theologische Fakultät.

Ulrich Stutz.

456 8 102.

Das kirchliche vermögen.

Das kirchliche Vermögens res ecclesiasticae, umfaßt namentlich das Finanzvermögen der Kirche für Kultus- und Verwaltungskosten, speziell die Kirchenfabrik, fabrica ecclesiae, den meist als Ggentum einer besonderen juristischen Person sich darstellenden Baufonds, Kirchen­ ländereien, Kirchhöfe, Land- und Stadtkapitelsgut, Domkapitelsvermögen, Seminarfonds, Diözesanhilfsfonds, Demeritensonds, Anstaltsfonds, Klostergut (res religiosae), endlich die Pfründstiftungen im weiteren Sinn, wie das Benefizialvermögen der Pfarrei und anderer Pfründen, das bischöfliche Tafelgut, mensa episcopalis. Lampert, De criterio juridico qualitatis ecclesiasticae bonoroum in definiendo patrimonio ecclesiae, 1906 (auch in Rasse gna giuridica ecclesiastica); Marx, Das Kirchenvermögens­ recht mit besonderer Berücksichtigung der Diözese Trier, 1897; Bogt, Das kirchliche Vermögens­ recht *, 1910; Meurer, Baierisches Kirchenvermögensrecht (§ 101); Geber, Die Kirchhöfe bei den aus vorfranzösischer Zeit stammenden Kirchen im Gebiet des rheinischen Rechts, 1894, Der Eigentumsstreit wegen der Kirchhöfe auf der linken Rheinseite, 1910; Goes, Die Friedhofs­ frage, 1906, Zur Rechtslage der Konfessionen auf den Friedhöfen, D. Z. f. Kr. XX, 1911; Hawelka, Studien zum österreichischen Friedhofsrecht, 1904; Falco, II riordinariamento della proprietä ecclesiastica, progetti italiani e sistemi germanici, 1910; vgl. die Lit. zu § 101.

8 103.

Kirchliche Gebühren und Steuern im besonderen.

Dem Pfarrer steht regelmäßig ein Anspmch auf Stolgebühr zu, iura stolae, für die Vor­ nahme kirchlicher Amtshandlungen (Taufe, Aufgebot, Eheeinsegnung, Begräbnis) und die Aus­ stellung der Bescheinigung darüber (die Eucharistie, die letzte Ölung und gewöhnlich auch die Beichte sind gebührenfrei). Die Höhe der Gebühr beruht auf Herkommen oder Diözesantaxe. Die Bomahme der Amtshandlung darf nicht von der Zahlung, von der übrigens Arme befreit sind, abhängig gemacht werden. Der Zehnt, als Personalzehnt vom Einkommen überhaupt in Deutschland nicht rezipiert, ist auch in seinen übrigen Formen, nämlich als gwßer Feldzehnt (decima praedialis maior) von Halmfrüchten und Wein, kleiner Feldzehnt (d. pr. minuta) von Wurzelgewächsen und Baumfrüchten, als Blutzehnt (d. sanguinalis) auf das zehnte Stück Jungvieh, auf Butter und Käse usw., infolge Umwandlung in Geldabgaben (Fixation und Aberration) sowie Ablösung fast überall beseitigt. Wohl aber haben sich manchewrts ärarische und kommunale Leistungen, die aus der mittelalterlichen Verquickung weltlicher und kirchlicher Herrschaft und Gemeinde herrühren, als Natural-, insbesondere Holzkompetenzen öffenllich- oder privatrechllicher Natur, als Almendnutzungen und öffentliche Fronden erhalten. 1 Als bürgerlicher Ausfluß der kirchlichen Stellung steht es im Staat unter dessen Recht, hinsichtlich der Verwaltung unter öffentlichem, sonst unter privatem, an dessen Unverletzlichkeit es tellnimmt. Uber die Rechts- und Eigentumsfähigkeit bestimmt heutzutage einzig und allein der Staat; die Frage nach dem Eigentümer des Kirchenguts ist also eine zivinstische Frage. Doch erledigt sie das staalliche Recht regelmäßig durch ausdrückliche oder stillschweigende Anerkennung der vom Sirchenrecht als Eigentumsttäger bereitgestellten Subjekte. So auch das Preußische Allgemeine Landrecht, dessen Bestimmung II 11 § 170: „Kirchen und andere dahin gehörige Ge­ bäude sind (ergänze: wenn -wischen Katholiken und Evangelischen streitig) ausschließend das Eigen­ tum der Kirchengesellschaft, zu deren Gebrauche sie bestimmt sind" allerdings von der Theorie wie von der Praxis (zuletzt E. d. OVG. vom 23. Januar 1911, XL, 1911 S. 109 ff.) meist dahin gründlich mißverstanden worden ist, daß das Gesetzbuch ganz allgemein das Eigentum den Kirchen­ gemeinden zuerkenne. Man kann, mit Rücksicht aus die Unterbringung im 11. Titel, höchstens sagen, die Bestimmung denke sich da- Eigentum von Kirchengesellschaften oder Gemeinden als häufig zutreffende Voraussetzung; jedenfalls schließt sie andere Kirchengutseigentümer nicht aus. H ü b l e r , Der Eigentümer des Kirchenguts, 1868; v. Schilgen, Der Eigentümer des Kirchen­ vermögens nach Preuß. AL., A. f. k. Kr. LXX, 1893; Stutz, Das Preußische AL. und der Eigen­ tümer des Kirchenguts, Festgabe f. Hübler, 1906; Schoen, Pr. Kr. (§48, 3) II S. 436 ff. In Bayern ist auch die ganze katholische Kirche im Land als Änheit als Rechtssubjekt anerkannt. Für den Verkehr (z. B. Vermächtnisse) ist BGB. maßgebend. Einzelstaatliche Amortisationsgesetzgebungen haben den Erwerb durch die Kirche, soweit er 6000 Mk. übersteigt, Beschränkungen unterworfen; EG. z. BGB. Art. 86.

Kirchenrecht.

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Woker, Recht der preußischen Bischöfe, für ihre Diözesen die Höhe der Stolgebühren zu bestimmen; Heiner, Wer hat die Höhe der Stolgebühren zu bestimmen?, beide im A. f. k. Str. XCII, 1912; Meurer, Das Zehnt- und Bodenzinsrecht in Bayern, 1898.

Die Bischöfe erheben für die Ausfertigungen ihrer Behörden Kanzleitaxen, gelegentlich wohl auch noch ein scminaristicum zur Beisteuer ans Seminar oder eine Notsteuer, subsidium charitativum oder cathedraticum. Sonst sind aber infolge der Staatsbeiträge und -Zuschüsse und der mit Bewilligung des Staates oder infolge Vereinbarung mit ihm auferlegten Orts­ und Diözesan- (Preußen 1903, 1905) oder Gesamtkirchensteuern, die als Zuschlag und in Prozenten zu den Staats- und Kommunalsteuem1 erhoben werden, die alten, nur auf der Geist­ lichkeit lastenden Steuem unpraktisch geworden. Der Papst bezieht von den deutschen Bistümern die Annalen (§ 34), die, in den Zickunskriptionsbullen fixiert und im bayrischen Konkordat anerkannt, in mnden Summen, zu denen bei Erzbistümem noch die Pallientaxen kommen, von den Staatsregierungen getragen werden Der heutige Peterspfennig ist eine freiwillige Kollekte. Fellmeth, Kirchliches Finanzwesen (j 57); Moresco, I tributi ecclesiastici nella scienza della finanza, Festschrift f. Friedberg, 1908; Schmedding und Tourneau, Kom­ mentar zu dem Gesetze bett, die Erhebung von Kirchensteuern, 1905; Schmedding, Objektive und subjektive Voraussetzungen für die Erhebung von Kirchensteuern in den katholischen Kirchenaemeinden Preußens, A. f. k. Kr. LXXXVI, 1906; Eris olli und Schultz, Die preußischen Kirchensteuergesetze 1907; Freyer, Der Staat und die Kirchensteuer in Deutschland, A. f. k. Str. LXXXVII, 1907, LXXXVIII, 1908; Giese, Deutsches Kirchensteuerrecht, Stutz, Kr. A., 69.-71. H., 1910.

8 104. Die »aulast. Die Baulast für die Instandhaltung der kirchlichen Gebäude und für Ersatzbauten tragen, falls die Kirchenfabrik bzw. deren Erträge nicht ausreichen, nach gemeinem Recht bei den Kathedralkirchen der Bischof und das Kapitel, der Kathedral- und der Diözesanklerus, an letzter Stelle aber die Diözesanen, bei den Pfarrkirchen diejenigen, die Einkünfte von ihnen beziehen, michin ein allfälliger patronus fnictuarius, Zehntherren, der Benefiziat salva coiurrua (§ 30, 6), also nur mit dem Überschuß über das für die Diözese festgesetzte Mindesteinkommen, und zwar alle diese zu entsprechenden Teilen gemeinschaftlich, zweitsubsidiär sodann der Patton ohne Einkünfte (patronus meretalis). doch so, daß bei Weigerung ihm bloß das Pattonattecht ab« erkannt werden kann, endlich die Pfarrlinder. Versagen auch diese, so muß die Kirche auf­ gegeben und das mit ihr verbundene Amt supprimiert und einem benachbarten zugeteill wecken. Doch trifft das Partikularrecht vielfach abweichende Bestimmungen und teilt die Baulast für Kirchenschiff, Chor, Turm Verschiedenen zu. Bei Pfarchäusem trägt der Pfarrer die laufenden Reparaturen; sonst gilt für sie wie für Pertinenzfriedhöfe (um die Kirchen) das eben dargestellte Recht. Bei Kathedralen tragen mangels einer Fabrik Bischof und Kapitel die Baulast; in Alt­ preußen wick seit 1821 zu diesem Zwecke auch eine Kathedralsteuer erhoben. Permaneder, Die kirchliche Baulast*, 1890; Mandel, Die primäre Baulast an den Pfründegebäuden in Altbayern, 1908; Gruber, Die kirchliche Baupflicht nach Eichstätter Diözesanobservanz, 1911; Schmitt, Kirchenbaupflicht nach gemeinem und badischem Recht, 1912; Muth, Die französisch-rechtlichen Pfarreien nach der vermögensrechtlichen Seite, 1893.

8 105. Die Berwattimg «nd BerLußerung de» Kirchengutes. Das Bistumsvermögen verwaltet der Bischof, der auch im übrigen die Aufsicht hat, das Kapitelsgut das Kapitel, gewöhnlich durch den Propst oder Dekan bzw. einen Ökonomen oder 1 In dem badischen (nicht-hohenzollerischen) Teil der Erzdiözese Freiburg wird, seit ein älteres staatliches Gesetz, daS die Erhebung einer allgemeinen Kirchensteuer gestattet, 1899 auch als kirchliches Recht rezipiert worden ist, eine solche nach Maßgabe der BewMgung durch eine katholische Kirchensteuerverttetung (vier Fünftel Laien, ein Fünftel Geistliche) erhoben. Die Steuervertretung, eine bemerkenswerte Reubildung innerhalb der katholischen Organisatton, wird von den weltlichen Gemeindestiftungsräten und von kombinierten Geistlichkeitskapiteln gewählt. Eine ähnliche Einrichtung besteht ebenfalls seit 1899 in Hessen.

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eine mit der bischöflichen persönlich vereinigte Bureauverwaltung, das Land- und Stadtkapitels, vermögen der Kümmerer, das Pfarrvermögen der Pfarrer mit abhängigen laikalen Kirchengutsverwaltem1 (vitrici, Kirchenvögte, «meier, -meister usw.). Nur bewegliche Kirchenvermögensstück und solche, die heckömmlich immer wieder ausgeliehen werden (res infeudari solitae), dürfen veräußert oder — was ebenfalls als alienatio gilt — durch langfristige Berträge verliehen wecken. Sonst ist eine Veräußerung oder Be­ lastung nur ex iusta causa (necessitas, evidens utilitas, Christiana caritas) Mässig. Deren Bochandensein muß nach Anhömng der Interessenten ein bischöfliches decretum de alienando seltenen *; für Veräußerung von Kathedralgut, bischöflichem Tafelgut (§ 20, 2) und Bistumsvermögen Wick die Zustimmung des Kapitels, für Pfarckotalgutsweggabe die des Patrons erfockert. Darüber hinaus ist bei Tafelgutsveräußemng und, nach Pauls II. Bulle Ambitiosae vom 1. März 1468 (c un. de red. eccl. non allen, in Extrav. conun. III. 4), übechaupt bei Ver­ äußerung von wertvollem Kirchengut Einholung der päpstlichen Genehmigung vorgeschrieben (aber Fakultäten und Jndulte). Eine unrechtmäßige Veräußerung ist nach Kirchenrecht • nichtig; die Nichtigkeit kann von der veräußernden Kirche selbst geltend gemacht wecken *. Bröckelmann, Die Verwaltung des Kirchen« und Pfründenvermögens in den lath. Kirchengemeinden Preußens, 1898; ‘PeRly, Tö dvaitalAorpfotov tr,t ixxlrfoiaienstjahr). Darüber hinaus geht ost ein Anspmch auf den Sterbemonat oder das Sterbequartal. Über seinen Nachlaß kann der Geistliche auch nach Kirchenrecht frei verfügen; doch ist er im Gewissen verpflichtet, die Kirche zu bedenken. Die Früchte der erledigten Pfründe (fimctus intercalares) fließen jetzt meist in einen Jnterkalarfonds für allgemein kirchliche Bedürfnifle. Groß, DaS Recht an der Pfründe, 1887; Galante, II beneficio ecdesiastico, 1896; Brandts, DaS Nutzungsrecht des Pfarrers an den Grundstücken der Pfründe, Göttinger jur. Diff., 1889; Ober, Die Art des Nutzungsrechte- der Pfarrer am Pfarrhofe nach elsaß-lothringischem StaatSkirchenrecht, A. f. k. Kr. XCIII, 1913; Glattfelter, DaS preußische Gesetz betr. daDiensteinkommen der katholischen Pfarrer, 1898; Tourneau, DaS preußische Gesetz betr. daDiensteinkommen der katholischen Pfarrer vom 26. Mai 1909, A. f. k. Kr. XC, 1910; über den­ selben Gegenstand auch Porsch im A. f. k. Kr. LXXVIII, 1898; Meurer, Aufbesserungsrecht und Aufbesserungspolitik auf dem Gebiet de- bayerischen Pfründenwesens, 1900, Das Gehalts­ recht der Pfarrer in Preußen, 1910; Geigel, Pfründennießbrauch zufolge des BGB., D. Z. f. Kr. VIII, 1898, und dazu Meurer, Bayerische- KirchenvermügenSrecht, II, 1901, S. 286 ff. Siehe auch die Lit. zu § 101; H oll w eck, Da- Testament der Geistlichen nach kirchlichem und bürgerlichem Recht, 1900; vgl. auch A. f. k. Kr. LXXXIII, 1903, S. 364 ff.

Vierter Titel.

Das deutsch-evangelische31 Kirchenrecht. * Außer den zu Tit. 1 angeführten Lehr- und Landbüchern kommt vor allem das grundlegende Werk von Friedberg, DaS geltende BerfasfunaSrecht der evangelischen LanoeSkirchen in Deutschland und Österreich, 1888 (BR.) in Betracht und daneben Köhler, Lehrbuch deS deutsch­ evangelischen Kirchenrechts, 1896 sowie als Darstellung deS wichttgsten ParttkularrechtS Schoen, Preußisches Sachenrecht (Pr. Kr.) I, II, ($ 48, 3).

Erste- Kapitel.

Die Rechtsquellen. 8 107. Kirchen« and Staatsgesetz, HewohnheUsrecht,

Corpus iuris canonici.

Die Heilige Schrift und die Bekenntnisse gelten in den deutschen, auch in den reformiert beeinflußten Kirchen nur als Richtschnur, nicht als Rechtsquellen. Doch enthalten die Bekennt, nisse (§§ 45 und 46, wozu noch die seit der Aufnahme in das Konkordienbuch im Jahre 1580 ebenfalls als Bekenntnisschrift betrachteten Lutherischen Katechismen kommen; §§ 50, 51, 46) gewisse leitende Grundsätze, die zum Teil in die Landcskirchengesetzgebung und das landesllrchliche Gewohnheitsrecht übergingen. Solche Gewohnheit, deren Träger aber alle Mtglieder der einzelnen Kirche, nicht bloß die Geistlichen sind, deren Rationabilität sich nach evangelischen Gmndsätzen bemißt, und für die das Erfockemis der Dauer während der Verjährungszeit nicht 1 Daneben sind jetzt von großer Wichtigkeit die teils aus staatlichen, teils miS kirchlichen Mitteln fließenden Aufbesserungen gering besoldeter Geistlicher auf ein Mindestgehalt von 1800 Mk. (Preußen, Bayern, Baden, Elsaß-Lothrmgen), zu denen dann noch DienstalterSzulagen kommen. Also ein gemischtes System von Pfründen und Gehalt. Bgl. jetzt für Preußen das Gesetz betr. das Diemsteinkommen der katholischen Pfarrer vom 26. Mai 1909, für Bayern den Ministerial» erlaß vom 7. September 1902, «. f. k. Kr. XC, 1910 S. 667 ff., LXXXIII, 1903 S. 136 ff., für Elsaß-Lwthringen daS Gesetz vom 15. November 1909, A. f. k. Kr. XC, 1910 S. 365 ff. • Dieser erfolgt bei Lebzeiten stets in den kanonischen Formen der renuntiatio oder der resignatäo (§ 100), bewirkt aber bisweilen wie nach staatlichem Beamtenrecht die Fälligkeit eiiteS eigentlichen Ruhegehaltsanspruchs; vgl. z. B. das interessante Pensionsstatut für die Geistlichen der Diözese Rottenburg vom 3. Dezember 1901, A. f. k. Kr. LXXXIII, 1903 S. 173 ff. • Durch Kabinettsorder Friedrich Wilhelms III. vom 1. März bzw. 3. April 1821 wurde auf Anregung Schleiermachers die Bezeichnung „Protestanten", da sie aus der Zeit der konfessionellen Streitigleiten herrühre (also nur zeitgeschichlliche Bedeutung habe), für die preußische Landes» kirche amtlich beseitigt und durch „Evangelische" ersetzt.

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gilt, hat auch sonst evangelisches Kirchenrecht geschaffen, und zwar wegen weitgehender Über­ einstimmung in religiöser und nationaler Denkweise vielfach gemeinsames (nicht gemeines!) Recht. Als gemeinsames, übereinstimmendes Gewohnheitsrecht gilt femer noch heute subsidiär das kanonische Recht in der evangelischen Kirche mit der oben S. 379 gemachten Einschränkung, und soweit nicht die neuere Kirchengesetzgebung oder jüngeres Gewohnheitsrecht für einzelne Materien oder übechaupt es ausschließen. Die Gesetzgebung selbst ist entweder eine rein staat­ liche über und in der Kirche (beide Mecklenburg, Sachsen-Altenburg), wogegen, wenn dieser Zustand auch dem modemen Kirchenhoheitssystem widerspricht, zumal vom älteren evangelischen Standpunkt aus, der dem Staat die äußere Ordnung auch in der Kirche überließ, wenigstens ein formales Bedenken nicht besteht. Oder es ist das kirchliche Grundgesetz Bestandteil der Staatsverfassung und kann infolgedessen wohl kirchlich ausgebaut, aber nicht, außer im Wege der Staatsgesetzgebung, abgeändert werden (Bayem). Oder es beruht auf absoluter kirchenregimentlicher Gesetzgebung (Sachsen-Koburg-Gotha, Schwarzburg-Rudolstadt, Lübeck, Bremen). Oder es ist selbstäiwiges (Preußen, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Sachsen-Weimar, Oldenburg, Braunschweig, Sachsen-Meiningen, Anhalt, Waldeck, Lippe, Hamburg), wenn auch in gewissem Maße staatlich beauffichtigtes (§ 59) und staatsgesetzlich bestätigtes Kirchengesetz bzw. Kirchenverordnung, kirchliche Dienstweisung oder Gemeindestatut. Friedberg, Die geltenden Berfassungsgesetze der evangelischen deutschen Landeskirchen, 1886, und 4 Ergänzungsbände 1888—94, Fortsetzung inzwischen in d. D. Z. s. Kr.; Hübler, KirchenrechtSquellen (S. 279) §§ 27—31; Friedberg, BR. $ 2; Schoen, Pr. Äs. I. §§ 2, 11, 12; Jacobson, Geschichte der Quellen des evangelischen KirchenrechtS der Provinzen Preußen und Posen, 1837—39 (vgl. $ 53); v. Scheurl, Die Rechtsgeltung der Symbole, in seiner S. kr. A., Kirchliches Gewohnheitsrecht, ebenda; Lüttgert, Gibt es ein unmittelbar an­ wendbares gemeines evangelisches Kirchenrecht?, Göttinger jur. Diss., 1862.

Zweite- Kapitel.

Die Verfassung. 8 108.

Kirche und Kirchengewalt.

Kirche im Rechtssinn ist nach evangelischer Auffassung die innerhalb menschlicher Ord­ nung (Gemeinde, Staat, Reich, Nation) in Erscheinung tretende und an rechter Wort- und Sakramentsverwaltung äußerlich erkennbare Gemeinschaft der an Gott in Jesu Christo Glaubenden. Ihr ist als solcher (nicht dem Einzelnen, auch nicht dem Geistlichen unmittelbar!) von Gott die Gewalt der Schlüssel, potestas clavium, gegeben, d. h. die Befugnis, das Evangelium zu predigen, die Sakramente zu verwalten sowie Sünden zu vergeben und zu behalten, auch die nowrisch Gottlosen durch das Wort auszuschließen. Jeder kann sich in ihr das Heil selbst vermitteln und ist an sich befähigt, die der Kirche übertragene Vollmacht auszuüben (allgemeines Priestertum); ein mit besonderer geistlicher Befähigung begabter priesterlicher Stand (Klerus) verträgt sich mit der evangelischen Auffassung nicht. Jedoch der Ordnung halber müssen solche da sein, die von Bemfs wegen für die Kirche in Ausübung von deren Gewalt tätig werden. Deshalb hat die Kirche nach göttlichem Ratschluß ein Predigtamt, Ministerium verbi divini. Ihm und nur ihm ist die Wort- und Sakramentsverwaltung anvertraut (aber Nottause bei den Lutherischen). Aber auch die Gewalt, sich zu regieren (potestas regiminis), hat die Kirche. Sie überließ sie freilich anfangs dem weltlichen Regiment und konnte das; denn die äußere Ownung kommt für sie allein deshalb in Betracht, weil sie auch menschlicher Verband ist, hat also für sie nur untergeordnete Bedeutung. Jedoch seit geistliches und weltliches Regiment und ihr Zusammen­ gehen aufgehört haben, und dieses, in den Staat übergegangen und durch die Parität zur grundsätzlichen Neutralität gelangt, selbst die Geneigtheit, die Kirche von sich abzuschichten und eigner Verwaltung zu überlassen, bekundet hat, ist die Ggenverwaltung der Regierungsgewalt für sie nicht nur zur Notwendigkeit, sondern geradezu zur Pflicht geworden, weil das wellliche

Kirchenrecht.

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Gemeinwesen die Voraussetzungen nicht mehr erfüllen kann, unter denen die Kirche von der Selbstregierung absah und absehen durste. Darüber, wie sie von dieser ihrer Selbstverwaltung Gebrauch machen soll, bestehen keine göttlichen Vorschriften (Mangel eines ins divinum). Nur darf die rechte Wort- und Sakramentsverwaltung nicht beeinträchtigt, und muß jede un­ evangelische Verquickung von Glauben und Recht vennieden werden. Friedberg, VR. §§ 6—8.

8 109.

Die kirchlichen Verbände.

An sich stellt schon die Einzelgemeinde nach evangelischer Auffassung die Kirche dar. Jedoch weder nach früherem noch nach geltendem Recht erscheint sie derart als die Gmndform der Kirche im Rechtssinn, daß der höhere und höchste kirchliche Verband nur als Bund solcher Kitzchen, als Gemeindenkonföderation erschiene. Vielmehr wurde regelmäßig das Regiment des Landesherm in Religionssachen zu der Gmndlage, auf der die Bildung der evangelischen Kirchen im Rechtssinn sich aufbaute. Die evangelischen Kirchen sind nach geschichtlicher Entwicklung landesherrliche, ja Territorialkirchen. Im heutigen Recht spiegelt sich dies darin wider, daß Kirchen von Terriwrien, die aufgehört haben, politisch ein Sonderdasein oder doch ein selbständiges zu führen, fortbestehen, sofern nur eine regimentliche Trägerschaft weiter in sou­ veräner Stellung für sie fortlebt. Folgendes sind nämlich die deutsch-evangelischen Kirchenverbände: 1. die Kirche der neun älteren preußischen Pwvinzen (vor 1866); innerhalb derselben stehen sich die Kirchen der sieben östlichen Provinzen (Ostpreußen, Westpreußen, Brandenburg, Pommem, Posen, Schlesien, Sachsen) sowie der Hohenzollerschen Lande1 einerseits und die­ jenige der beiden westpreußischen Provinzen (Westfalen und Rheinprovinz) anderseits, welch letztere ihre ältere, presbyterial-synodale Verfassung, wenn auch mit einiger Angleichung, be­ wahrt hat, in einer gewissen Sonderstellung gegenüber, indes alle zusammen durch die Union ihr charakteristisches Gepräge echalten gegenüber 2. der lucherischen und 3. der reformierten Kirche der Provinz Hannover (erstere seit 1873/82 mit dem Jadegebiet, seit 1885 mit WilhelmsHafen) sowie 4. der lutherischen Kirche von Schleswig-Holstein, zu der (seit 1892) Helgoland gehört, mit der lutherischen Kirche des Kreises Herzogtum Lauenburg; 5. der evangelischen Kirche (lutherische, reformierte und unierte Gemeinden) von Nassau (Konsistorium Wiesbaden); 6. der ebensolchen Kirche des Konsistoriums zu Kassel (ehemals Kurheffen) und 7. den evan­ gelischen (lutherischen und reformierten) Kirchengemeinschaften zu Frankfurt a. M. nebst den Landgemeinden. Das Kirchenwesen dieser 1866 hinzugekommenen Gebiete wird als pwvinzielles Landeskirchentum bezeichnet. Dabei hat sich seit den vierziger und fünfziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts ein Sprachgebrauch gebildet, der als preußische Landeskirche im weiteren Sinn alles zusammenfaßt, was, wenn auch nicht einheitlich organisiert, unter dem Kirchenregiment des Königs von Preußen steht, so daß dazu auch die Jmmediatgemeinden, Militärgemeinden, ausländischen Gemeinden a, Anstaltsgemeinden (in Straf-, Erziehungs- und anderen Anstalten) gehören. Und in allemeuester Zeit scheint mit der Gnrichtung gewisser einheitlicher Fondsverwaltungen für sämtliche preußische Landeskirchen, ja eventuell auch für ausländische Gemeinden, ein erster Anfang zu einer verfassungsrechtlichen Einigung gemacht zu sein; 8. die pwtestantische Kirche Bayerns diesseits (rechts) des Rheins (seit 1853 neben den lutherischen Synoden eine reformierte); 9.(seit 1848/9) die vereinigte Pwtestantische (unierteKirche) der Rheinpfalz; 10. die lutherische Kirche des Königreichs Sachsen?; 11. die gleichfalls lutherische * Hohenzollern gehörte früher kirchlich zur Rheinprovinz, ist seit 1898 als selbständiger Kreis­ synodalverband den Provinzialsynodalverbänden angerecht und der preußischen Landeskirche eingegliedert und heute nur noch kirchenregimentlich durch Unterstellung unter das rheinische Konsistorium in Koblenz mit der rheinischen Kirche verknüpft. ‘ Ein Verzeichnis der preußischen Auslandgemeinden bei S ch o e n, Pr. Kr. I S. 241 N. 6 und im Preuß. Hof- und Staatshandbuch beim Ev. Oberkirchenrat. Vgl. auch M i r b t, Die preußische Landeskirche und die AuSlanddiaspora, Deutsch-Evangelisch im Auslande, VI, 1907. über die preußische Landeskirche und die äußere Mission s. Schoen, Pr. Kr. II § 99. • Auch dieser sind Auslandgemeinden angegliedert; Sächsisches Kirchengeseh vom 12. März 1908. Bezüglich der reformierten Gemeinden im Königreich Sachsen vgl. die Vers, vom 3. Juli 1909.

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Württembergs; 12. die vereinigte evangelisch-pwtestantische Kirche Badens; 13. die evangelische (lutherische, reformierte, unierte) Kirche Hessen-; 14. die evangelische Kirche beider Mecklen­ burg (gesondertes Kirchenregiment, aber gemeinsames Oberkirchmgericht); 16. Sachsen-Weimar (lutherische und reformierte Gemeinden); 16. Sachsen-Koburg-Gotha (gesondertes Regiment); 17. Sachsen-Altenburg; 18. Sachsen-Meiningen; 19. die lutherische Kirche von Braunschweig; 20. die unierte von Anhalt; 21. die Kirchen des Herzogtums Oldenburg, des Fürstentums Lübeck und des Fürstentums Bickenfeld (nur in dem Kirchenregiment des Großherzogs von Olden­ burg eine Einheit bildend); 22. die luchecksche Kirche von Schwarzburg-SonderShausen und 23. die ebensolche von Schwarzburg-Rudolstadt; 24. die unierte von Waldeck und Pyrmont 26. die lutherischen Landeskirchen von Reich ältere Linie und jüngere Linie; 26. die lutherische von Schaumburg-Lippe; 27. die reformierte des Fürstentums Lippe; 28. die luiherische Kirche des lübeckischen Staates; 29. Bremen: die vorwiegend lutherischen Stadtgemeinden sind autonom mit gemeinsamer Vertretung; die reformierten, lutherischen und unierten des Landgebiets sind dem Kirchenregiment des Senats unterworfen; 30. die lutherische Kirche im hamburgischen Staat; 31. Elsaß-Lochringen, lutherische Gemeinden mit einem Obeckonsistorium und Direktorium, reformierte ohne einheitliches Organ, beide formell nicht unter landesherrlichem Kirchen­ regiment. Dazu kommen in den einzelnen Terriwrien noch freie lutherische oder reformierte Gemeinden und die niedersächsische Konföderation (5 61). Zwischen diesen Verbänden bestand zunächst keine andere Verbindung als der Kartellverband der Eisenacher Konferenz (§ 53; Organ: Allgemeines Kirchenblatt, A. Kbl.). Dieser Zusammenschluß hat sich aber seit 1903 durch die Bildung eines ständigen „Deutschen evangelischen Kirchenausschusses" (§ 53; als Organ 1912 gleichfalls A. Kbl. in Aussicht genommen) verdichtet, der aus 15 von bet Kirchen­ konferenz, d. h. von den Abgeordneten der betreffenden Kirchenregierungen aus der Mitte der Konferenz entsandten Mitgliedern besteht (Altpreußen 3, Neupreußen 2, Bayern, Sachsen, Württemberg je 1, alle übrigen in Gruppen zusammen 7). Er soll unbeschadet des Bekenntnis­ standes, der Verfassung und des landesherrtichen Kirchenregiments der einzelnen Kirchen die Einheiüichkeit der Entwicklung fördem und die gemeinsamen evangelisch-kirchlichen Interessen im In- und Auslande wahmehmen **. Damit hat der Verband der evangelischen Landeskirchen eine festere Gestalt anzunehmen begonnen. Schneider, Kirchliches Jahrbuch, seit 1873 bis jetzt 40 Bde.; Drews, Evangelische Kirchenkunde (bis jetzt I Königreich Sachsen, 1902, II Schian, Provinz Schlesien, 1903, IIILudwig, Baden, 1907, IV Beck, Bayern, 1909, V Glaue, Thüringen, 1910); WerckSHagen, Der Protestantismus in Wort und Bild am Ende des 19. Jahrhunderts, 2 Bde., 1900 ff.; Priebe, Kirchliches Handbuch für die evangelische Gemeinde, 1912; Grebe, Geschichte der hessischen Renitenz, 1906; Losch, Zur Geschichte der hessischen Renitenz, Z. f. Kg. XXVII, 1906; Witzel, Die Wahrheit über die hessische Renitenz, 1909; Friedberg, BR. $ 1; Schoen, Pr. Kr. I jj 1, 6—10; Jacobson, Das evangelische Kirchenrecht des preußischen Staates, 2 Bde., 1864—66; Ritze-Gebser, Die Bersassungs- und BerwaltungSgesetze der evangelischen Landeskirche in Preußen', 1912; Lilge, Die Gesetze und Berordnungen über die evangelische Kirchenverfassung in den älteren Provinzen der preußischen Monarchie, 1896; Goßner, Preußi­ sches evangelisches Kirchenrecht, 1898; Riedner, Grundzüge der Berwaltungsorganisation der altpreußischen Landeskirche, 1902; Gebser, Kirchgemeinde-, Synodalordnung ... und General­ synodalordnung ..., 1906; Lü11gert, Die evangelischen Kirchengesetze der preußischen Landes­ kirche, besonders in Rheinland und Westfalen, 1911; Giese, Die Kirchengesetze der evangelischreformierten Kirche der Provinz Hannover, 1902; 6 halybaeuS, Sammlung der Borschriften... bett, das Schleswig-Holsteinische Kirchenrecht1902; Wagner, überschau über da- gemeine und bayerische protestantische Kirchenrecht, 1892; Mietet, Die rechtliche Stellung der refor­ mierten Gemeinden im rechtsrheinischen Bayern, 1911; Spohn, Kirchenrecht der vereinigten evangelisch-protestantischen Kirche im Großherzogtum Baden, 2 Bde., 1871—75; Köhler, Hessische- evangelisches Kirchenrecht mit Nachtrag, 1884—90; Eger und Friedrich, Kirchenrecht der evangelischen Kirche im Großherzogtum Hessen 1,1913, II, 1911; Schmidt, MecklenburgSchwerinscheS Kirchenrecht, 1908; Ortloss, Die Kirchenverfassungen im Großherzogtum SachsenWeimar-Eisenach, D. Z. s. Kr. XIII, 1903; Müller, Zusammenstellung der die evangelische Landeskirche des Herzogtums Anhalt betreffenden Gesetze und Konsistorialversügungen, 1904; Teichmüller, Die evangelische Landeskirche im Herzogtum Anhalt, 1905; v. Hinüber,

1 Das ins in sacra wird vom Konsistorium für den Fürsten, nicht wie das ius circa sacra laut Mzessionsvertrag für den König von Preußen ausgeübt. • Geschäftsordnung vom 18. Februar 1904, A. Kbl. LIII, 1904.

Kirchenrecht.

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Kirchenrechtliches Handbuch für die evang.-lutherische Landeskirche des Fürstentum- SchaumburgLippe, 1912; Beneke, Die Berfassungsreform der Kirche Augsburgischer Konfession in ElsaßLothringen, 1909; Fleiner, Die Verfassungsänderung in der Kirche Augsburaischer Konfession von Elsaß-Lothringen, D. & f. Kr. XIX, 1909; Foerster, Die Verfassung der evangelischen Kirche in Deutschland (auS d. Prot. des S. Weltkongr. f. freie- Christentum), 1910.

8 110.

Das landesherrliche Kirchenregimeni.

Das landesherrliche Kirchenregiment ist die historisch gegebene, durch vielfache Beckienste um die Kirche und aus Zweckmäßigkeitsgründen auch heute noch praktisch gerechtfertigte, aber

theoretischer Begründung sich entziehende Befugnis und Pflicht des Landesherm, in der evan­ gelischen Kirche die Kirchengewalt (potestas regiminis) auszuüben, das Recht und die Pflicht zu oberster Leitung der Kirche (schief als Summepiswpat, im hamburgischen Staat bloß als Schutzrecht bezeichnet). ES fließt nicht aus der Souveränität und ist kein Bestandteil der Staats­ gewalt, sondern ein frei erworbenes Annex derselben, etwa wie auf staatlichem Gebiet die deutsche Kaiserwücke mit der Trägerschast der Kwne Preußens sich verbindet. Deshalb steht es auch dem katholischen Landesherm zu (zurzeit in Bayem und Achsen). Doch soll er es nicht per-

sönlich ausüben. Vielmehr sind in Sachsen mindestens drei (evangelische) Minister, darunter der Kultusminister, in evangelicis beauftragt \ während alleckings in Bayem, wo eben das protestantische Kirchentum erst im 19. Jahrhundert im katholischen Staate zugelaffen und organi­ siert tootben ist, das katholische Bekenntnis des Landesherm ignoriert roiti>, und dieser durch das Oberkonsistorium in München bzw. das Konsistorium in Speier (für das linksrheinische Bayem) das landesherrliche Kirchenregiment, doch so, daß bei wichtigen Angelegenheiten die Entscheidung des Königs eingeholt werden muß, im wesentlichen nicht anders ausübt als der evangelische Landesherr. Diesem kommt natückich überall nicht bloß die Trägerschast der Kirchengewalt zu. Vielmehr ist er auch deren oberstes Organ. Jedoch nur einen Teil der Ausübung behäst er sich vor (Resewatrechte). Dahin gehörten z. B. die Ausübung der gesetz­ gebenden Gewalt, die Berufung, Vertagung, Schließung und Auflösung der Landessynoden, die Besetzung der kirchenregimenllichen Behöben, in kleineren Kirchen auch der Pfarrer, die oberste Arstanz in Beschweckesachen und die Anocknung von Generalvisitationen der ganzen Kirche. Doch ist in den meisten und wichtigsten Landeskirchen der Landesherr auch bei Aus­ übung des reservierten Teils der Kirchengewalt beschränk und an die Zustimmung von Landesoder (für Provinzialkirchengesetze) von Provinzialsynoden bei der Gesetzgebung wie auch bei anderen Regierungsatten gebunden. Friedberg, BR. $$ 9—13; Schoen, Pr. Kr. I jj 17, 18; v. Scheurl, Die AuSübungSweise deS landesherrlichen Kirchenregiments in s. S. kr. A.; Mejer, Die Grundlagen des lutherischen Kirchenregiments, 1864, Das Rechtsleben der deutschen evangelischen Landes­ kirchen, 1889; Kielet, Die evangelische Kirche Württemberg» in chrem Verhältnis zum Staat, 1887, Sinn und Bedeutung des landesherrlichen KirchenregnnentS, 1902, Das landesherrliche Kirchenregiment in Bayem, D. Z. f. Kr. XXIII, 1913; Höfling, Grundsätze evangelisch­ lutherischer Kirchenverfassung', 1863; Steinmeyer, Der Begriff deS KirchenregnnentS, 1879; Kawerau, Uber Berechtigung und Bedeutung des landesherrlichen Kirchenregiment», 1887: Zorn, Da» landesherrliche Kirchenregiment nach der Ansicht der Reformatoren und im Hinblick auf den modemen Staat, Z. f. Kr. XII, 1874; Schoen, Das LandeSkirchentum in Preußen (auch im BerwalwngSarchiv), 1898.

§ 111.

Die kirchenregimenllichen Behörden.

Insbesondere aber hat der Landesherr den nicht vorbehaltenen Teil seiner Gewalt (iura vicaria) nur an evangelische KirchenbehöÄen zur Ausübung zu übertragen, deren Bestand teils staats- und kirchengesetzlich (Preußen, Bayem, Sachsen, Württemberg, Braunschweig, Anhalt, 1 In Württemberg ist seit 1898, bezw. 1912, für den Fall der Zugehörigkeit deS Landesherm zu einer anderen als der evangelischen Konfession die Ausübung deS Kirchenregiments durch eine evangelische Kirchenregiemng vorgesehen (zwei evangelische Staatsminister oder Chefs der BerwaltungSdepattementS, der Präsident des Konsistorium-, der Präsident der Landessynode und der dienstülteste Generalsuperintendent unter dem evangelischen Staatsminister oder Chef deS Kirchendepartements, eventuell aber unter einem gewühlten Mitglied als Borstand). Ein An-

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Meiningen) oder nur kirchengesetzlich (Baden, Hessen, Oldenburg, Weimar) gewährleistet und bestimmt, und deren Zuständigkeit fest abgegrenzt ist. Mer Gruppen lasten sich in dieser Hinsicht unter den heutigen deutschen Kirchenverfaffungen unterscheiden. 1. Die oberste Kirchen­ regimentsbehörde ist jetzt noch staatlich (Minister der geistlichen Angelegenheiten) in den neuen preußischen Provinzen, Hannover ausgenommen, in Koburg-Gotha, Fürstentum Lübeck, Reuß jüngerer Linie. 2. Nur die sacra interna (§ 52) sind einer kollegialischen Kirchenbehörde über­ tragen, die externa einer Ministerialbehörde (Weimar, Altenburg, Meiningen, die beiden Schwarzburg, Lübeck, Bremen). 3. Es besteht eine kirchliche Kollegialbehörde, aber sie ist, ins­ besondere im Verkehr mit dem Landesherm, der obersten Staatsbehörde unterstellt (Ober­ konsistorium in Bayem, Konsistorium in Württemberg, Landeskonsistorium in Hannover). 4. Die oberste Kirchenbehörde ist rein kirchlich und steht unmittelbar unter dem Landesherm (Oberkirchenrat in Altpreußen, Oldenburg, Baden, Oberkonsistorium in Hessen; das Landeskonsistorium in Dresden übt das Kirchenregiment für die in evangelieis beauftragten Minister aus). In größeren Kirchen ist der kirchliche Behöü>enapparat in der Weise untergegliedert, daß unter der Zentralbehörde als oberster Instanz Provinzialkonsistorien stehen (Altpreußen, Hanno­ ver, Schleswig-Holstein, Hessen-Nassau, Bayem), welche die kirchlichen Angelegenheiten eines Konsistorialbezirks (Pwvinz *) erledigen, indes die Oberbehörde die Aufsichts- und Rekurs­ instanz über ihnen bildet und namentlich die landeskirchlichen Angelegenheiten besorgt. In Bayem freilich sind die Konsistorien zu Ansbach und Bayreuth nur die lokale Exekutive und untere Aufsichtsbehörde der zentmlen. SämÜiche genannten Behörden sind Kollegialbehörden. Ihre Mitglieder ernennt der Landesherr. Sie werden mit Geistlichen, Verwaltungs- und Justizbeamten besetzt; den Vorsitz hat regelmäßig einer der letzteren (mit dem Titel: Präsident). Staatsbehörden sind sie, außer wo die kirchlichen Angelegenheiten noch der Staatsbehörde oder einer Abteilung bei dieser über­ tragen sind, nicht, wohl aber öffentliche Behörden; dagegen sind die ihnen angehörigen juristischen Räte unmittelbare Staatsbeamte, welche der Staat der Kirche in Nachwirkung der früheren Verquickung beider, die in dieser Beziehung noch ebensowenig gelöst ist wie in anderen, geradeso stellt, wie etwa das Reich die Reichsbankdeamten der Aktiengesellschaft der Reicl)sbank. Friedberg, BR. §§ 14—17; S ch o e n, Pr. Kr. I §§ 19, 20; S ch m i d t, Die recktliche Stellung des sächsischen evangelisch-lutherischen Landeskonsistoriums, Leipziger jur. Diss., 1907; Riedner, Ausgaben (§ 52); Theinert, Beitrag (§ 52); Ketteler, In welchem Sinne sind in Preußen die Kirchenbeamten öffentliesse Beamten?, Münsterische jur. Preisschrift, 1911; Anschütz, Preußische Verfassungsurkunde (vor § 57) I S. 320 ff.

8 112. Superintendenten und Generalsnperintendenten (evangelischer Feld» probst und Marineprobst) im besonderen. Das unterste kirchenregimentliche und ein Einzelorgan (in Kurhessen aber damnter noch Metwpolitane) ist der (Spezial-)Superintendent (Dekan, Ephor, Probst), der vom Landes­ herm (in der lutherischen Kirche Hannovers vom Landeskonsistorium) aus den Psarrem des Superintendenturbezirks 2 (Diözese) ernannt, in Rheinland-Westfalen, Baden, Hessen dagegen von der betreffenden Synode gewählt wird und überall da in Tätigkeit tritt, wo es persönlicher Einwirkung bedarf, insbesondere auch in der Aufsicht über die Geistlichen und die Gemeinden 8. bringen der kirchenregimentlichen Geschäfte an den König findet nicht statt. Rur der Präsident und die Mitglieder des Konsistoriums sowie die evangelischen Hofprediger werden aus Borschlag und Anbringen vom König ernannt. 1 In Preußen mit Sitz in Königsberg, Danzig, Stettin, Posen, Breslau, Magdeburg, Berlin (für dieses ist seit 1895 eine besondere Abteilung im brandenburgischen Konsistorium eingerichtet), Münster, Coblenz; Hannover, Aurich; Kiel; Cassel; Wiesbaden; Frankfurt a. M. • Preußische Exemtionen davon siehe bei Schoen, Pr. Kr. I 265 s. Insbesondere sind die Domkirche zu Berlin sowie die Hof- und Garnisonkirche zu Potsdam direkt dem Oberkirchenrat unterstellt. Vgl. Müller, Die Gründung und der erste Zustand der Domkirche ... in KölnBerlin sowie Die Statuten des Doms zu Köln-Berlin, Jb. s. Brandenburgische KG. II, III, 1906. • In Sachsen, Hannover und Württemberg wird aber der Superintendent auch im Verein mit einem staallichen Verwaltungsbeamten als sog. Kircheninspettion, als Kirchenkommissariat

Kirchenrecht.

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Die Superintendenten (Prädikat: Hochwürden) führen auf den Kreis(Diözesan-)synoden ben Borsitz, versammeln (Baden, Württemberg) die sämtlichen GeiMchen ihres Dekanats zu Pfarr­ konferenzen und Pfarrsynoden behufs Behandlung wissenschaftlicher und praktischer Fragen sowie Besprechung von geistlichen Berufs- und Standesangelegenheiten, schmieren, leiten die Pfarrwahlen, treffen Jnterimsanochnungen (bei Behinderung oder Vakanzen) unb visi­ tieren die ihnen untergebenen Pfarrer und Gemeinden. Nochdeutsche Kirchen (besonders die größeren, aber unter anderem auch Braunschweig, Sachsen-Kvburg, Lippe res. und Schaumburg-Lippe und als bloßen Titel z. B. Anhalt, Atenburg, Reuß jüngere Linie), aber auch süd­ deutsche (z. B. Württemberg) kennen in neuerer Zeit auch toiebet das Amt eines General­ superintendenten (Altpreußen, je drei für Brandenburg (davon einer für Berlins1 und Sachsen, sonst für jede Pwvinz — § 109 — regelmäßig einer; Hessen drei; Naffau einer; SchleswigHolstein zwei; Hannover, ein reformierter' und vier lutherische'; Württemberg sechs, die das Konsistorium zum Synodus verstärken, Sitz im Landtag und gleich dem Oberhof- und dem Sttstsprediger den Titel Prälat4 haben). Sie sitzen meist zugleich in den Pwvinzialkonsistorien bzw. in der einzigen Landeskirchenbehöü>e, und zwar mit dem Recht, falls sie über­ stimmt werden, die betreffende Sache an den Oberkirchenrat zu bringen, haben die Aufficht über ihre Bezitte (Provinzen) und deren Supenntendenten, sollen diese und deren Pfarreien visitteren und über sie berichten, führen die Supenntendenten ein und schmieren manchewrts auch die Pfarrer, wohnen den (Pwvinzial-)Synoden bei mit dem Recht, aus ihnen das Wott zu nehmen und Anträge zu stellen, und sind manchewrts auch geborene Mitglieder der Landes(General-)synode. Ihre Amtstracht ist ein schwarzer Talar mit silbernem Brustkreuz '; in Alt­ preußen haben sie den Rang der Räte 2. Klaffe. Friedberg, BR. $ 18; Schoen, Pr. Kr. I $ 21, II $71; W. I. Schmidt, Der Wirkungs­ kreis und die WirnmgSart der Superintendenten, 1837; Gebser, Die Verwaltung deS Ephoralamtes in den sieben östlichen Pwvinzen der preußischen Monarchie, 1913. Außerhalb der ochentlichen landeskirchlichen Organisation (aber mit Sitz und Sümme im preußischen Oberkirchenrat) als ausführende Stelle des Ministeriums der geistlichen An­ gelegenheiten, des Krie^ministeriums und des Evangelischen Oberkirchenrates sicht in einer

Art Generalsuperintendentenstellung der vom König frei entminte evangelische Feldprobst für das preußische Landheer, die kaiserliche Marine und die Schutztruppen. Er ist gleichfalls Mssichts- und Bisitationsorgan und versammelt alle Jahre eine Konferenz der Militäwberpfarrer (24, bei jedem Armeekorps bzw. Geschwader einer), die in Superintendentenstellung (in den altpreußischen Pwvinzen mit Sitz und Sümme in den Konsistorien und dem Titel Konsistorialrat) über den Militärgeistlichen der Armeekorps und Geschwader (über 100) stehen und sie jähttich zu einer Militärpfarrkonferenz einberufen. Der Feldprobst ernennt, versetzt und entoder als gemeinschaftliche» Oberamt zum Zweck der Beauffichttgung der Gemeinden und Kirchen­ vorstände, aber auch der Einführung der Geistlichen tätig. Zimmermann, Die Entwüllung der Kircheninspektionen, Beite, z. Sächs. Kg., 16. £>., 1903; Marten», Die hannoversche Kirchenkommisswn (39, 2). Für die sächsische Oberlausch, wo e» keine Ephoren oder Superintendenten gibt, besorgt die Kreirhauptmannschaft in Bautzen, verstärtt durch ein von den in evangelicis eauftragten Ministern ernannte» geiilliche» Mitglied gewiffermaßen al» nichtsormierte» Konsistorium zugleich die Konsistorial- und die Inspektion»geschäite, während in den Bierstädten mit letzteren Stadtrat und Pastor primarius al» Inspektion betraut sind. 1 Der brandenburgische Generalsuperintendent der Reumatt Hot in dem ersten Geistlichen zu Lübben einen Stellvertreter al» Bizegeneralsuperintendenten für die Lausch. • In Aurich. * In Hannover, Stade und Hildesheim für den Bezitt de» hannoverschen Provinzialkonsiftorium» und in Aurich beim dottigen Konsistorium, da» übrigens zugleich Kirchenregimentsbehöch« für die lucherische Kirche (unter dem Landeskonsistorium) und für die reformierte (dirett unter dem Kultusminister) ist. Im Bezitt des Konsistorium» zu Frankfutt a. M. gibt e» weder einen Generalsuperintendenten noch einfache Supenntendenten. * In Baden ist der Prälat einfach der erste Geistliche de» Lande». Im Großherzogtum Hessen führen die drei den Dekanen vorgeowneten Generalsuperintendenten bloß den Titel Superintendent. • Die Generalsuperintendenten, denen im Lauf de» 19. Jahrhunderts von den preußischen Königen der Bischofstitel verliehen worden ist, trugen da» Kreuz in Gold und hatten da» Prädikat: Hochwürdiger. 1829 hat Friedrich Wilhelm III. den Königsberger Generalsuperintendenten Borowsks sogar zum Erzbischof ernannt. RicoloviuS, Die bischöfliche Würde in Preußen» evangelischer Kirche, 1834; S ch o e n, Pr. Kr. I 7S «. 1 und 278 «. 3. 6iHpno»8Me bet Rechtswissenschaft. 7. bet Reubearb. 2. Aast.

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läßt alle Divisions- und Garnisonspfarrer; die Militäroberpfarrer ernennt der König frei auf einen durch Vermittlung des Kriegs- und des Kultusministeriums ihm vom Feldprobst zu machenden Vorschlag. 1903 ist durch eine evangelische Kirchenoümung für die Marine auch das entsprechende Amt eines Marineprobstes (vorläufig vom Feldpwbst nebenamllich mit verwaltet) vorgesehen worden; als Marineoberpfarrer sollen die beiden Stationspfarrer und der Flottenpfarrer sowie die Ersten Pfarrer unter mehreren zu einer selbständigen Kommando, behörde kommandierten Marinegeisllichen gelten.

Friedberg, BR. $ 1; Schoen, Pr. Kr. l ©. 25, 69, 74 und $ 22: Richter, Die evangelische milttänirchliche Dienstordnung, 1903; Riedner, Die Bedeutung oe» MilitürkirchenwesenS für das BerhältniS von Staat und Kirche, Zeitschr. f. Politik I, 1907, und Lit. ju § 81.

8 113. Die Pfarrer und Ihre Gehilfen. Ein einziges Amt, mit dem sich wohl eine Verschiedenheit von Rang und Titel (Ober­ pfarrer, Archidiakon, Prälat usw.) und der äußeren Stellung (Hauptpfarrer und Hilfsgeistlicher) nicht aber eine Verschiedenheit der geistlichen Befähigung verträgt, ist in der evangelischen Kirche eingesetzt, um Wort und Sakrament, überhaupt um alle geistlichen Handlungen zu verwalten, das minieterium verbi divini. Seine otbentließe Erscheinungsform ist das Pfarramt. Der Pfarrer (ständiger Pfarrvikar) leitet im Auftrage der (Landes-) Kirche die einzelne Orts- oder Pfarrgemeinde (Parochie, Kirchspiel), besorgt den Gottesdienst, die Seelsorge, die Verwaltung der Sakramente, predigt, unterrichtet im Jugend- und Konfirmandenunterricht und führt die Kirchenbücher. Mch für des evangelischen Pfarrers Zuständigkeit gilt der Satz: „Quisquis est in parochia, est etiam de parochia.“ Doch wird der Pfarrzwang nicht bloß durch ältere Befreiungen zugunsten von Beamten, Adeligen usw. und durch neuere Exemtionen, wie die­ jenige der Mllitärgemeinden, durchbrochen, sowie durch das in Städten oft hergebrachte Parochialwahlrecht, wonach man sich zu einer Wahlpfarrei halten kann, um die sich mit einer Territorial­ gemeinde oder ohne eine solche auf diese Weise ein Personalverband bildet. Melmehr ist in neuerer Zeit der Pfarrzwang auch sonst gemildert und auf Aufgebot und Begräbnis beschränkt worden. Und stets kann das Pfarckind durch den zuständigen Pfarrer vermittelst eines Er­ laubnis-, Entlaffungs- oder Losscheines für die Vornahme der betreffenden Amtshandlung durch einen an sich nicht zuständigen Geistlichen freigegeben werden. Mehrere Pfarrer baden im Zweifel gleiche Stellung; daneben gibt es Hilfsprediger, und zwar entweder mit selb­ ständigem Wrkungskreis, aber in Unterordnung unter den Pfarrer, oder als abhängige Hilfs­ geistliche.

Friedberg, $«. $$ 19,23—25; Schoen, Pr. Kr. II §$60, 65, 75,76,84,85,86; W e izsäcker, Juristischer Wegweiser für Knchenbau und Parochialtellung in den sieben östlichen Pro­ vinzen der Landeskirche Preußens, 1891; Kieker, Die rechtliche Natur des evangelischen Pfarr­ amts, 1891; Riedner, Die Mitwirkung des ersten Geistlichen bei der Besetzung der Diakonats­ stellen in den Städten der Provinz Brandenburg, D. Z. f. Kr. XV, 1905; Fleiner, Die Mit­ wirkung des Propste- zu St. Petri bei den Wahlen der Prediger der St. Petri-Kirche zu Cöln an der Spree, Jb. f. Brandenburgische Kg. V, 1909; Die Kirchenbücher der Mark Brandenburg, Beröff. d. Ber. f. Gesch. d. Mark Brandenburg I, II, 1905; Preußisches Pfarrarchiv, Zeitschrift für Rechtsprechung und Verwaltung auf dem Gebiete der evangelischen Landeskirchen, seit 1909, bis jetzt 5 Bde.; Heymann, Parochialänderung und Katholizitäts-Prinzip nach kurhessischem Kirchenrecht, 1906.

Geistlicher wird man durch die Ordination (in Württemberg erst seit 1855). Diese stellt sich nach dem in § 108 Ausgeführten als der kirchenregimentliche Akt dar, durch den die Kirche für den Betreffenden das feierliche Zeugnis darüber ablegt, daß er fähig sei, das bei ihm wie bei jedem gläubigen Christen schon vorhandene Priestertum auszuüben, und wodurch sie weiter ihm die allgemeine Bevollmächtigung erteilt, die Schlüsselgewalt in ihrem Namen und Auftrag zu verwalten. Einen übematürlichen und unauslöschlichen Charakter gibt sie nicht; sie kann auch wieder entzogen oder freiwillig aufgegeben werden. Dagegen hat der evangelische Geist­ liche kraft staallichen Rechts während der Dauer seines Amtes gewisse Standesrechte, dieselben wie der katholische (oben S. 414 A. 2) piit Ausnahme der Befreiung von der militärischen Dienstpflicht; auch die Standespflichten sind, abgesehen von der Verpflichtung zur Ehelosigkeit und

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zum Bieviergebet, ähnliche. Insbesondere haben die Geistlichen Residenz zu halten. Über den Stand ihrer Gemeinden haben sie schriftliche Berichte einzureichen; visitiert werden sie mit denselben von den Superintendenten, bisweilen unter Mitwirkung synodaler Organe. Staats­ beamte sind sie nur, wo das evangelische Staatskirchentmn noch fortbesteht; wo die Kirche ver­ selbständigt ist, erscheinen sie lediglich als öffentliche Beamte.

Literatur zu § 48, 5; Schoen, Pr. Kr. II $5 58—60, 71.

8 114. Die Gemeinde und ihre Vertretung. Die Gemeinde, nach altlutherischer, an die kacholische sich anschließender Auffassung mehr nur das Objekt der pfarramtlichen Tätigkeit und nach der privatrechtlichen Seite hin universitas bonorum, nach reformierter dagegen von Anfang an „aktives Subjekt zur Herstellung des Gottes­ reiches Ms Erden" und universitas personarum, ist heute derjenige evangelisch-kirchliche Verband, in dem unter Leitung eines Pfarrers oder mehrerer der kirchliche Dasein^weck, insbesondere die christliche Gottesverehrung, in örtticher oder ausnahmsweise in persönlicher Beschränkung (Personal-, z. B. Militärgemeinden) zur Erfüllung gebracht wird. Die Gemeinde bringt die Kirche in einfachster Form zur Erscheinung; aus zusammenhängenden oder isolierten (Diaspora-) Gemeinden baut sich die Gesamtlandeskirche auf; nur durch die Gemeinde, als Gemeindemitglied, nimmt auch der Einzelne an der Gesamtkirche teil. Die Gemeinde ist der Gesamtkirche ein- und untergeottmet. Anderseits kommt ihr gegenwärttg regelmäßig für ihren Bereich das Recht der Selbstverwaltung zu. Damit hat auch die alleinige Leitung durch den Pfarrer wenigstens im äußeren Dienst aufgehött. Vielmehr besitzt die Kirchgemeinde für die Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten regelmäßig zwei Selbstverwaltungsorgane.

1. Der Gemeindekirchenrat (Kirchenvorstand, Presbyterium), dessen ge­ borenes Mitglied und regelmäßiger Vorsitzender der Pfarrer ist (mehrere wechsel im Vorsitz» oder dieser gebühtt dem Ältesten an Mter bzw. im Dienst), und zu welchem außerdem eine An­ zahl von auf Zeit (3, 4, 6 Jahre) gewählten Gemeindegliedem, Ältesten, Kirchenvorstehern (darunter der Kirchenrechner oder Rendant) gehört. In Preußens ösllichen Pwvinzen steht die Wahl des Gemeindekirchenrates der Gemeinde zu. Für die aktive Wählbarkeit (Wahlrecht) toitb gefowert männliches Geschlecht, Volljährigkeit oder ein höheres Wter (24, 25 Jahre), Selbständigkeit, Gemeindewohnsitz von bestimmter Dauer (Preußen östliche Provinzen 1 Jahr, Rheinland und Westfalen 3 Monate), Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte, Erfüllung der kirchlichen Abgabenpflicht, ehrbarer Lebenswandel ohne Verachtung von Gottes Wort und ungesühntes Ärgernis, oft auch Eintragung (einmalige oder jeweilen emeuerte) in die Ge­ meindeliste. Die passive Wählbarkeit oder Wählbarkeit im engeren Sinne setzt voraus ent­ weder dasselbe oder ein echöhtes Mer (Altpreußen 30) und besondere kirchliche Befähigung, entweder positiv als ehrbarer, frommer und angesehener Mann, oder negativ als ein solcher, der sich nicht beharüich vom Gottesdienst und Sakramentsempfang ferngehalten hat. Mfgabe des GemeindekirchenratS ist die Pflege des religiösen und kirchlichen Lebens in der Gemeinde, die Teilnahme an der Handhabung der Kirchenzucht, die Mitwirkung bei Gemeindekirchenfeiem, die Sorge für den Unterricht der Jugend und die Pflege der Gemeindekranken und -armen. Er wirkt femer mit bei der Bestellung der Geistlichen, stellt die niederen Kirchendiener an, hand­ habt die Disziplin über sie und beteiligt sich bisweilen bei den Visitationen; auch stehen ihm die Verwaltung des kirchlichen Vermögens und die Verfügung über die Kirchengebäude zu, besonders zu anderen als gottesdienstlichen Zwecken (z. B. Konzerten), oft auch das Wahlrecht zu höheren, synodalen Bettretungen. Er vetttttt die Gemeinde gegenüber dem Kirchenregiment, den Synoden und gegenüber Dtttten.

2. Die Gemeindevertretung. Meist steht jetzt neben dem Gemeindekirchen­ rat noch ein weiteres Gemeindeorgan, die Gemeindevertretung oder -repräsentation. Das aktive und passive Wahlrecht ist gewöhnlich ebenso abgegrenzt wie für jenen, und die Amtsdauer der Mitglieder dieselbe. In kleineren Gemeinden und da, wo die Verfassung eine Gemeinde­ vertretung nicht vorsieht, tritt bisweilen statt eines solchen Gemeindeausschusses die Versamm­ lung aller stimmberechügten Gemeindemitglieder ein. Regel ist, daß die Gemeindevettretung

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nur zusammen mit dem Gemeindekirchenrat unter dem Borsitz des Pfarrers berät und beschließt. Sie verstärkt also diesen und gibt die Zustimmung für wichtigere Angelegenheiten, wie die Fest­ stellung und Entlastung des Gemeindeetats, Ettoerb und Veräußerung von Gmndeigentum, Anlehensaufnahme, Beschlußfassung über Neubauten oder Prozeßführung, Bewilligung von Ortskirchensteuern, Festsepmg von Gebühren, Ausstattung neuer und Aufbesserung alter Stellen. In Rheinland und Westfalen wählt sie auch das Presbyterium \ in der ganzen altpreußischen Landeskirche außerdem die Abgeoümeten zur Kreissynode und in Vertretung der Gemeinde den Pfarrer. Gemeindekirchenrat und Gemeindevertretung sind öffenlliche Behörden, Kirchenälteste und Gemeindevettreter öffenlliche Beamte.

Friedberg, BR. §5 28—32, 34—39; S ch o e n, Pr. Kr. 1 25—32; Braun, Über die Gemeindemitgliedschast in der Landeskirche, Z. f. Kr. XXI, 1886, Staatsangehörigkeit und Einpfarrung, ebenda XXII, 1889; Mejer, Die Richtzugehörigkeit konfession-verwandter Aus­ länder zu den inländisch-landeskirchlichen Gemeinden, ebenda XXII, 1889; Rehm, Der MitaliedschaftSerwerb in der evangelischen Landeskirche und landeskirchlichen OrtSgemeinde Deutsch­ lands, ebenda XXIV, 1892; Frantz, Die Wahlberechtigung der Geistlichen bei den kirchlichen Gemeindewahlen, 1885; Rade, Der gegenwärtige Stano der kirchlichen Gemeindeorganisation, 1900; Schian, Die evangelische Kirchengemeinde, Clemen, Studien z. prall. Theologie I 4, 1907; Scheibe, Die rechtliche Stellung des Kirchenvorstandes in der evangelisch-lutherischen Landeskirche des Königreichs Sachsen, Leipziger jur. Diss., 1906; Kelber, DaS gemeindliche Element in der evangelisch-lutherischen Kirche deS rechtsrheinischen Bayerns, Erlanger jur. Diss., 1907; Behl, Die Organisation der Kirchengemeinden der evangelischen Landeskirchen Preußens im Vergleich mit der Organisatton der polittschen Gemeinden, Rostocker jur. Diss., 1911; Barchewitz, Gesamtkirchengemeinden in Großstädten, Leipzig 1912.

8 115.

Die Synoden.

Seit der Verbindung der landesherrlich-konsistorialen mit der presbyterial-synodalen Verfassung wird die llrchenregimentliche Leitung der höheren llrchlichen Verbände durch synodale Organe ergänzt und beschränk *

1. DieKreissynode (Altpreußen, Rheinland, Westfalen), Bezirks- (Hannover) Probstei- (Schleswig-Holstein) oder Diözesansynode (Baden), Konvent (Ham­ burg) ist die Synode für die Gemeinden eines Superintendentursprengels oder einer Diözese3. Sie besteht aus dem Superintendenten oder Dekan, der meist gebomer Vorsitzender ist, und aus den Geistlichen, d. h. Pfarrem oder ein Pfarramt vikarisch Verwaltenden, sowie aus gleich oder doppelt so vielen welllichen Mitgliedern. Diese weltlichen Abgeordneten werden regel­ mäßig von den Kirchenvorständen, in Altpreußen von den vereinigten Gemeindeorganen (und zwar in Rheinland und Westfalen lediglich aus deren zeiügen oder ehemaligen Mitgliedem) gewählt, und zwar zunächst aus jeder Einzelgemeinde so viele, als aus ihr Geistliche zur Synode gehören, und dazu aus den größeren Gemeinden noch weitere, der Seelenzahl entsprechend. In Hannover und Baden geschieht die Wahl der welllichen Deputietten allein durch die welt­ lichen Kirchenältesten. Sie erfolgt auf eine bestimmte Anzahl von Jahren (zwei in Baden, drei in Allpreußen). Wählbar sind entweder nur zeitige oder ehemalige Älteste (Hannover, Baden) oder (so in Altpreußen für das Mehr gegenüber der Geistlichkeit) überhaupt angesehene, llrchlich erfahrene und verdiente Männer des Kreises. Die Kreissynoden treten alljährlich zusammen. 1 Nach der rheinisch-westfälischen Kirchenordnung wählt, wenn ein Mitglied des Presby­ teriums oder der Reprüsentatton vor Ablauf der Amtsdauer ausscheidet, nicht die Repräsentation bzw. die Gemeinde den Ersatzmann, sondern das Presbyterium bzw. die Repräsentatton selbst. Da solches Ausscheiden in der Zwischenzeit und die Wiederwahl des Ersatzmanns bei der Erneue­ rungswahl die Regel blldet, entscheiden tatsächlich nicht die Repräsentationen bzw. die Gemeinden über die Zusammensetzung der engeren Gemeindekörperschaften, sondern diese ergänzen sich wie in altteformierter Zeit durch Zuwahl selbst. • Für die Auslandgemeinden sind seit 1900 Pfarrkonferenzen vorgesehen, denen Gemeinde­ deputierte beitteten können. ■ Sämtliche Berliner Kirchengemeinden sind seit 1895, unbeschadet ihres Verhältnisses zu ihren Kreissynoden, zu einem Gesamtverband mit einer Stadtsynode vereinigt, die an Stelle der früheren vereinigten Berliner Kreissynoden trat. Ähnliche Gesamtverbände können auch anderswo gebildet werden; Friedberg, BR. § 40; Schoen, Pr. Kr. 1 § 33 mit II S. 668.

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Außer der Begutachtung der Vorlagen der kirchlichen Behöben und der Einreichung von Anträgen zur Föllrerung des kirchlichen Lebens liegt ihnen ob die Aufsicht über die Anstalten für christliche Liebesweck, die Aufsicht oder Mitaufsicht über die GeiMchen, Ältesten und anderen Kirchendiener, die Aufsicht über die Verwaltung des Kirchenvermögens unb die Verteilung der Beiträge der Gemeinden zur Synodallasse. Ihre Beschlüsse bedürfen in Altpreußen ton« sistorialer BeMigung. Der Kreissynode entspricht ein Kreisshnodalverband. Er hat in Alt­ preußen juristische Persönlichkeit (jedoch ohne passive Darlehnsfähigkeit **) und toiti) bei nicht­ versammelter Kreissynode durch den Kreissynodalvorstand vertreten, d. h. durch den Super­ intendenten als Vorsitzenden und vier von der Synode gewählte Beisitzer, worunter mindestens ein Geistlicher; er hat mitunter auch bei der Visitation mitzuwirken. 2. Die Provinzialsynode, eine mittlere Synodalvertretung, findet sich nur in Altpreußen, Rheinland und Westfalen. Sie tritt alle drei Jahre zusammen und besteht: 1. aus den von den Kreissynoden oder Synodalverbänden der Provinz gewählten Abgeordneten; ihre Zahl beträgt das Dreifache der Wahlkreise der Provinz, well in jedem Wahlkreis ein Ab­ geordneter aus den GeiMchen, ein zweiter aus den zeitigen oder ehemaligen Mitgliedem der Gemeinde« oder Synodallörperschasten und (nicht in Rheinland und Westfalen!) ein dritter von den an Seelenzahl stäckren Kreissynoden aus den angesehenen, kirchlich erfahrenen und ver­ dienten Männem der Provinz zu wrchlen ist, 2. aus einem von der theologisch«! Fakultät der Provinzialuniversität deputieren ordentlichen Professor, 3. aus landesherrlich entminten Mit­ gliedem, deren Zahl aber ein Sechstel der erstgenannten Abgeollmetenkategorie nicht übevsteigen darf. Im Gegensatz zu der bloß begutachtenden Stellung der Diözesansynode hat di« Pwvinzialsynode ein Zustimmungsrecht zum Erlaß von Pwvinziallirchengesetzen *, zur Ein­ führung von Religionslehrmitteln, Gesangbüchern und Agenden der Provinz, zu kirchlichen Pwvinzialumlagen. Auch hat sie zwei bis drei Abgeordnete zu den theologischen Prüfungen zu deputieren. Der Pwvinzialsynode entspricht ein Pwvinzialsynodalverband mit juristischer Persönlichkell (ohne passive Dallehnsfähigkeit). Er will) vertreten durch daS Konsistorium und den Pwvinzialsynodalvorstand, d. h. den gleichzeitigen Synodalpräses und höchstens sechs, zur Hälfte geistliche, zur Hälfte wellliche Mitglieder; die Vorstandsmitglieder verstäckn bei be­ stimmten Anlässen als außewü>enlliche Beisitzer mit vollem Stimmrecht das Konsistorium. 3. Die General« oder Landessynode tritt ollrentlicherweise alle sechs Jähre zusammen. Sie findet sich auch in den außerpreußischen Landeskirchen mit gemischter Organi­ sation und besteht in Altpreußen 1. aus 151 (Baden 48) von den Provinzialsynoden gewählten Mitgliedem (nicht unter 30 Jahren), von jeder Pwvinzialsynode eine der Seelenzohl des Pwvinzialverbandes entsprechende Anzahl, und zwar ein Drittel aus den Geistlichen der Landes­ kirche, das zweite aus zeitigen oder ehemaligen Mitgliedem der Synodal- oder Gemeindeorgane und das dritte aus angesehenen, kirchlich erfahrenen und bedienten Männem der Landeskirche (in Baden 24 geiMche, gewähtt von den Geistlichen der Diözesansynode, und 24 wellliche, ge­ wählt in jeder Diözese von Wahlmännem, welche die Kirchenällesten zu diesem Zweck bestellen), 2. aus je einem deputieckn oll>entlichen Pwfessor der sechs evangelisch-theologischen Fakultäten der Landesuniversitäten, 3. aus sämllichen Generalsuperintendenten (in Baden dem Prälaten), und 4. aus 30 landesherrlich ernannten Mitgliedem (in Baden 7, darunter ein Heidelberger Theologiepwfessor, so daß die zweite Kategorie hier wegfällt). Die Generalsynode hat das Recht, zu landeskirchlichen Gesehen zuzustimmen, sofem diese betreffen: die kirchliche Lehvsreiheit, die Verpflichtung der GeiMchen auf das Bekenntnis bei der Ordination, die Einführung 1 Der Berliner Stadtsynodalverband ist aber ausdrücklich auch zur Aufnahme von Anleihen ermächtigt. • Veränderungen der revidierten Kirchenordnung von Rheinland und Westfalen können von den Provinzialsynoden dieser Provinzen allein beschloflen und durch bloße Bestätigung der Kirchenregiemng in Kraft gesetzt werden. Wird diese Kirchenordnung durch ein beabsichtigtes l a n d e S kirchliches Gesetz bettoffen, so müssen die beiden genannten Provinzialsynoden ent gut­ achtlich gehört werden, während eS sonst (außer bei Einführung agendarischer Normen, für die im ganzen Bereiche der altpreußischen Landeskirche geradezu die Zustimmung der betreffenden Provinzialsynode erforderlich ist) von dem Ermessen der Kirchenregiemng abhängt, ob sie zuvor die Provinzialsynoden gutachtlich anhören will. Und wenn beide Synoden übereinstimmend sich ablehnend verhalten, so bleiben die beiden Provinzen von dem Geltungsbereiche der betreffenden landeskirchlichen Vorschrift ausgenommen ($ 10 der GSO.).

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allgemeiner agendarischer Normen, Religionslehrmittel und Gesangbücher für die Landes­ kirche, die Feiertagsordnung, die Kirchenzucht, die Disziplinargewalt über Geistliche und niedere Kirchendiener, die Anstellungsfähigkeit und die allgemeinen Grundsätze über die Ämterbesetzung, die kirchliche Trauordnung; außerdem steht ihr die Aufsicht zu über das allgemeine Kirchen­ vermögen und über die kirchlichen Einnahmen, die Beschlußfassung über allgemeine, regelmäßig sich wiederholende Kollekten und die Zustimmung zu den Auslagen für die Zwecke der Landes­ kirche, die Prüfung der Pwvinzialsynodalbeschlüsse vom Standpunkt der landeskirchlichen Ein­ heit aus und die Erteilung der Bestätigung für sie. Die Generalsynode hat das Beschwerde-, Petitions- und Jnformationsrecht. Die Leitung der Synode führt ein Synodalpräsidium (so in Altpreußen, in den neuen Provinzen ein Vorstand, mit dem Synodalvorstand identisch aber nur in Frankfurt) mit einem Präsidenten, Vizepräsidenten und vier Schriftführern. Am Schluß wird ferner für die Zwischenzeit (6 Jahre) gewählt a) ein Synodalvorstand oder Synodal­ ausschuß (7 Mitglieder) und b) ein Synodalrat (18 Mitglieder), die zusammen den General­ synodalrat bilden (in Baden einfach ein Synodalausschuß von vier Mitgliedern). Dem Vor­ stand liegt die Vorbereitung der Arbeiten für die nächste Generalsynode ob und die Vollziehung der Beschlüsse der verflossenen. Auch verwaltet er die Synodalkasse, und kontrolliert er die Vermögensverwaltung des Oberkirchenrats. Dieser hat jenen zuzuziehen und sich durch ihn zu erweitern bei der Feststellung der Gesetzentwürfe für die Generalsynode, bei Vorschlägen zu Generalsuperintendenturen, bei vermögensrechtlichen Angelegenheiten der Landeskirche und bei der Beratung und Antragstellung über den Anschluß ausländischer deutscher Gemeinden an diese. Die Landeskirche bildet nämlich als juristische Person den der Generalsynode entsprechenden Verband. Der Generalsynodalrat (also mit 25 Mitgliedern) endlich soll jedes Jahr einmal berufen werden zur Beratung landeskirchlicher Angelegenheiten mit dem Oberkirchenrat in denjenigen Fällen, in denen die Kirchenregiemng seinen Beirat für die Aufstellung leitender Grundsätze für notwendig hält. Theinert, Beitrag (§ 52); Marcus, Der rechtliche Charakter der Generalsynode in der evangelischen Landeskirche Preußens, 1909; Riedner, Die rechtliche Natur der General­ synode der älteren Provinzen, Preußisches Pfärrarchiv I, 1909, Leonhardt, Die rechtliche Stellung der Landessynode im Königreich Sachsen, 1904.

Die Generalsynode kann nach Anhörung des Synodalvorstandes auch zu außerordent­ licher Tagung einberufen werden, desgleichen die Provinzialsynode mit Zustimmung ihres Vorstandes und die Kreissynode, diese auf Anregung des Konsistoriums oder mit dessen Ge­ nehmigung durch den Vorsitzenden. Wie sich schon aus dem dortigen Fehlen von Provinzialsynoden ergibt, steht in den neu­ preußischen Provinzen, in Baden, Hessen, Oldenburg die Generalsynode unmittelbar über den Kreis- oder Diözesansynoden. Auch tritt bei ihnen (für Baden oben angedeutet) eine ent­ sprechende Vereinfachung des Generalsynodalapparates ein, wozu etwa noch hinzuzufügen ist, daß die Wahlkörper in Hannover und Schleswig-Holstein aus mehreren Bezirks- oder Probsteisynodalsprengeln zusammengesetzt sind, daß in Hannover der Präsident des Landeskonsistoriums geborenes Mtglied ist, und daß in Hannover und Sachsen neben dem Theologie- auch ein Kirchenrechtsprofessor Sitz in der Synode hat. Überall bilden die Zustimmung zu landeskirchlichen Gesetzen und die Steuerbewilligung die wichtigste Befugnis. Friedberg, VR. §§ 41—53; Schoen, Pr. Kr. I §§ 19, 24, 34—47; Riedner, Grundzüge (§ 109); Hinschius, über die juristische Persönlichkeit der Synodalkassen in der evangelischen Landeskirche der älteren preußischen Provinzen, Juristische Abhandlungen, Berliner Festgabe f. Beseler, 1885.

Drittes Kapitel.

Das Gesetzgebungsrecht. § 116.

Gesetzgebung und Dispensation.

Das Gesetzgebungsrecht hat der Landesherr als Träger der Kirchengewalt \ entweder unbeschränkt oder in der Ausübung gebunden an synodale Mitwirkung, doch so, daß er, soweit 1 Die Formel der Veröffentlichung lautet: „Wir X, von Gottes Gnaden König von Preußen, verordnen unter Zustimmung der Generalsynode". Früher wurde hinzugefügt: „nachdem durch

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diese Mitwirkung nicht vorgeschrieben ist, Kirchenrecht von sich aus auf dem Wege der Ver­ ordnung setzen kann, im Bereiche des Kirchengesetzes allerdings lediglich in der Zwischenzeit, wenn ein Notstand vorliegt (in Altpreußen nur mit dem Generalsynodalvorstand und unter Bezug­ nahme auf dessen Mitwirkung), und bloß durch vorläufige (Not-) Verordnungen, die der nächsten Generalsynode vorzulegen und außer Wirksamkeit zu setzen sind, falls sie deren Zustimmung nicht erlangen. Das Bekenntnis muß ein christliches und evangelisches bleiben; in dieser Be­ schränkung bezieht sich das Gesetzgebungsrecht auch darauf (nicht in Hannover, Württemberg). Die Publikation der Gesetze durch den Landesherm erfolgt entweder in einem besonderen kirchlichen Gesetzes- und Verordnungsblatt (Preußen, Baden) oder im staatlichen. Das Inkraft­ treten erfolgt mit der Publikation, in Preußen aber erst 14 Tage nach Ausgabe der betreffenden Nummer des Gesetzesblattes.

Der Landesherr hat auch das Dispensationsrecht, aber nicht für die mit den Synoden vereinbarten Gesetze, außer im Fall eines ausdrücklichen Vorbehalts. Die Dispensationsbefugnis ist zum Teil als ins vicarium den Kirchenregimentsbehörden, in weniger wichtigen Fällen sogar den Superintendenten übertragen. Friedberg, VR. § 12; S ch o e n , Pr. Kr. I §§ 11, 12, II §§ 69, 70; Bierling , Gesetzgebungsrecht evangelischer Landeskirchen im Gebiet der Kirchenlehre, 1869; Kries, Die preußische Kirchengesetzgebung, 1887; Friedmann, Geschichte und Struktur der Notstands­ verordnungen unter besonderer Berücksichtigung des Kirchenrechts, Stutz, Kr. A., 5. H., 1903; Rebitzki, Das Verordnungsrecht des Königs, insbesondere das Recht der Notverordnung nach preußischem Landeskirchenrecht, D. Z. f. Kr. XXII, 1913.

Viertes Kapitel.

Die Verwaltung der Schlüsselgewalt. § 117.

Sakramente und Gottesdienst.

Das regelmäßig vom Pfarrer, in Fällen der Not auch von anderen, nichtgeistlichen Kirchenmitgliedem gespendete Taufsakrament, zu dem unkirchliche Persönlichkeiten nicht als Paten zugelassen werden (Katholiken werden meist nicht zurückgewiesen), gibt die kirchliche Mitgliedschäft. Doch wird das kirchliche Aktivbürgerrecht erst durch die (nichtsakramentale) Erneuerung und Bestätigung des Taufgelübdes in der Konfirmation erworben nach vorherigem Unterricht und vollendetem 14. Lebensjahr. Sie gibt die Befugnis zur Teilnahme am Abendmahl und zur Patenschaft. Die kirchlichen Selbstverwaltungswahlrechte sind an die § 114,1 aufgeführten Erfordernisse geknüpft. Ein Austritt oder Übertritt nach erreichtem Diskretionsjahr (§ 57 a. E.) ist möglich, da die evangelische Kirche nicht beansprucht, die einzige Kirche und die alleinselig­ machende zu sein. Das Abendmahl wird unter beiderlei Gestalt gespendet. Der Geistliche ist befugt, solche, die das Sakrament nicht, ohne Anstoß zu erregen, empfangen könnten (Trunkene usw.), öffentlich zurückzuweisen; in anderen Fällen administrativer Zurückweisung (z. B. wegen ärgerlichen Wandels) ist die Zustimmung der Kirchenbehörde einzuholen. In der lutherischen Kirche ist eine Privatbeichte zulässig; hat sie statt, so wird das Beichtgeheimnis auch staatlicher­ seits, wie bei den katholischen Geistlichen, respektiert (oben S. 437). Schoen, Pr. Kr. II §§ 67, 68, 78, 79, 80; Ri e t s ch el, Gilt die Taufe als ausschließ­ licher Akt der Aufnahme in die Kirche? D. Z. f. Kr. XVII, 1907 und dazu derselbe sowie E i b a ch , ebenda XVIII, 1908.

Zum evangelischen Gottesdienst gehört als wesentlicher Bestandteil die Predigt; mit Genehmigung des Pfarrers können auch Predigtamtskandidaten, mit Genehmigung des Superdie Erklärung unseres Staatsministeriums festgestellt worden, daß gegen dieses Gesetz von Staats wegen nichts zu erinnern ist". Dieser Zusatz fällt seit 1895 weg, nicht aber dessen Voraussetzung, die vorgängige Vorlage an das Staatsministerium (so bei Gesetzesentwürfen der Generalsynode und der Provinzialsynoden) oder an den Kultusminister (nach Annahme kirchenregimentlicher Vorlagen durch die Synode). Siehe oben § 59 a. E. und über die staatsrechtliche Gewährleistung gewisser Kirchenverfassungen §§ 107, 111.

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intendenten sogar Theologiestudierende predigen. Der übrige Gottesdienst ist nach der Agende zu halten. In Altpreußen können neue agendarische Bestttnmungen der Landes- oder Prvvinzialkirchengesetze, soweit sie die Sakramente betreffen, in der Einzelgemeinde ohne Zustim­ mung der Gemewdeorgane nicht in Kraft treten. Die kirchliche Festtagsoünmng bestimmt das Kirchenregiment, in Altpreußen das Kirchengesetz.

ietlefc, Kirche und Amt, 1853: Schoen, Pr. Kr. II §§ 75—77,86,99,100; Riedner, erhältniS der Landeskirche zur inneren Mission, Pfarrarchiv IV, 1912.

ä

8 118. Die Lehre und die Ausbildung der Geistlichen. Die Kirche und chr Lehramt haben Gottes Wort zu lehren. „Wenn auf Grund von Tat­ sachen die Annahme gerechtfertigt erscheint, daß ein GeiMcher in seiner amttichen oder außer­ amtlichen Lehrtäügkett mit dem Bekenntnis der Kirche dergestalt in Widerspruch getreten ist, daß seine fernere Mrksamkeit innechalb der Landeskirche mit der für die Lehrverkündigung allein maßgebenden Bedeutung des in der Heiligen Schrift verfaßten und in den Bekenntnissen be­ zeugten Wortes Gottes unvereinbar ist", so kommt es in Preußen (alte Provinzen *) im Falle der Erfolglosigkeit eines vorangehenden persönlichen Beilegungsversuches zu einem Feststellungs­ verfahren vor dem „Spruchkollegium für kirchliche Lehrangelegenheiten" (13 Mitglieder, nämlich Präsident, dessen »Micher Stellvertreter und geiMcher Vizepräsident sowie dienstältestes geist­ liches Mitglied des Evangelischen Oberkirchenmtes, 2 auf Vorschlag desselben unter Mitwirkung des Generalsynodalvorstandes vorgeschlagene, vom König benannte ordentliche Professoren der Theologie, 3 von der Generalsynode gewählte Mitglieder, der Generalsuperintendent und 3 Provinzialshnodaldeputierte der Provinzialkirche d«S Amts- oder Wohnsitzes des zu Be« utteüenden, diese gleich den Generalsynodaldeputierten jeweilen auf eine sechsjährige General­ synodalperiode zum voraus bestellt). In der Schlußentscheidung ist „nach freier, aus dem ganzen Inbegriff der Verhandlungen und Beweise geschöpfter Überzeugung festzustellen oder für nicht festgestellt zu erklären, daß eine weitere Wirksamkeit des Geistlichen innechalb der Landeskirche mit der Stellung, die er in seiner Lchre zum Bekenntnisse der Kirche einnimmt, unvereinbar ist." Ungünstiger Ausgang bewirtt Erledigung des von dem GeiMchen belleideten Kirchenamtes, Wegfall der Rechte des geisllichen Standes (Wiederbeilegung dem Oberkirchenrat vorbehalten) und Ersatz des Diensteinkommens oder Ruhegehalts durch ein Jahrgeld im Bettage des letzteren. Gelchrt wird in der Predigt und im kirchlichen Religions(Jugend- und Konfirmanden-)unterricht, aber auch im Religionsunterricht an den öffenllichen Schulen, welche die evangelische Kirche nicht von Rechts wegen zu religiöser Beaufsichttgung für sich beanspmcht, auf die jedoch durch Eüeilung von Religionsunterricht in irgendeiner Form einzuwiiken zu ihrer Aufgabe gehört. Keine kiohlichen, wohl aber im Menst der kirchlichen Interessen stehende Gnrichtungen sind die Anstallen der sogenannten inneren Mission und der christlichen Liebestätigkeit. Das Recht, über die Ausbildung ihrer GeiMchen zu bestimmen, steht auch der evange­ lischen Kirche zu. Besondere Bildungsanstalten beanspmcht sie nicht, verlangt vielmehr Gym­ nasialbildung und dreijähriges Universitätsstudium. Die schwierige Fmge, wie das Interesse der theologischen Wissenschaft an der Freiheit ihrer Forschung und Lehre und dasjenige zu ver­ einigen seien, das die Kirche an der Bewahrung ihres Lehramts vor theologischen Doktrinen hat, die entweder nur das subjekttve Besitztum Einzelner oder bestimmter Richtungen oder noch nicht so abgellätte und gesicherte Errungenschaften sind, daß sie in den kirchlichen Lehrschatz über­ gehen können, sucht das geltende Recht dadurch zu lösen, daß es die gutachlliche Anhörung der obersten Kirchenregimentsbehörde (Oberkirchenrat in Altpreußen, Oberkonsistorium in Bayem, Landeskonsistorium in Sachsen) vor der Ernennung von ordenüichen und außewrdenllichen Professoren der Theologie vorschreibt. Zur praktischen Ausbildung bestehen dagegen Prediger­ seminare unter kirchlicher Aufsicht (obligatorisch nur in Herbom und Friedberg; andere in Witten-

1 Kirchengesetz betreffend das Verfahren bei Beanstandung der Lehre von GeiMchen vom 16. Mä» 1910 und Geschäftsordnung des Spruchkollegiums vom 31. Mai 1911, A. Kbl. LIX, 1910, LX, 1911; ebenda Urteil vom 7. Juli 1911 gegen Pfarrer Jatho in Köln.

Kirchenrecht.

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berg, Berlin, Loccum, Hannover, München, Leipzig, Heidelberg, Schwerin, Wolsenbüttel, totenbürg, Soest und Erichsburg). Auch Lthrvillniate bei erpwbten Geistlichen dienen diesem Zweck. Friedberg, LR. j 19; S ch o e n, Pr. Kr. II i§ VS, LS, 96, 100; Kahl, BekenntniSgebimdenheit und Lehrfreiheit, 1897, und D. Z. f. Kr. VIII, 1898 über die gleichnamige Schrsst vom A g r i e o l a, 1898; Mulert, Die Lehrverpflichtung in der evangelischen Kirche Deutsch­ land» *, 1906; Löber, Die im evangelischen Deutschland geltenden Ordinationrverpflichtungen, 1906; Harnack, Da» neue kirchliche Spruchkollegium, Preuß. Jbb. CXXXVIII, 1909; Hubrich, Da» Berfahren gegen Geistliche bei Lebrirrungen, 1909; Kahl, Da» neue preußische Jrrlehregefetz, Deutsch-Evangelisch I, 1910; Riedner, Gedanken über Zwang, in Human. Gymnas. und moderne» Kulturleben, Festschr. f. d. Erfurter Gymnasium, 1911.

Fünfte- Kapitel. Kirchenzucht und Disziplinarstrafgewalt. 8 119. Die Kirchenptchl. Die Kirchenzucht ist das Borgehen der evangelischen Kirche gegen Verschlungen chrer Glleder, die durch Gotteslästerung, Ehebruch, Unzucht, Berletzung christlicher und kirchlicher Pflichten offenbares Argemis erregen. Sie vollzieht sich durch Ermahmmgen und bei deren Erfolglosigkeit durch Strafen, die in Minderung oder Entziehung kirchlicher Mitgliedschafts­ rechte bestehen. Die neueren Kirchengesetze suchen sie wieder zu beleben. Die Handhabung der Zuchtgewalt liegt bei den Gemeiiwen und deren Gemeindellrchenräten, aber unter Vor­ behalt des Rekurses gegen ihre Entscheidungen an den Kreissynodalvorstand (Altpreußen, Rhein­ land, Westfalen). Die rheinisch-westfälische Kirchenoümung bezeichnet als Zuchwergehen laster­ haften und offenbar gottlosen Wcmdel sowie ausdrückliche Verwerfung und Verspottung des Nützlichen Glaubens in bestimmten, schriftlichen oder mündlichen Erklärungen oder öffenflichen Handlungen. Dazu kommen aber weiter seit dem PStG, vom 6. Februar 1876 und der 6ntstaatlichung der Taufe, Konfirmation und Trauung kirchliche Bestimmungen, welche die Be­ obachtung dieser Bestandteile der kirchlichen Ordnung strafrechtlich zu sichem bezweckten. Dem­ nach kann gegen Eltern, die ihre Kinder nicht taufen und tonfitmteten lassen, gegen Gatten, welche für chre Ehe nicht die kirchliche Einsegnung nachsuchen oder die Verpflichtung eingehen, ihre sämllichen Kinder in einer anderen Konfession erziehen zu lassen, namenttich mit Entzug des.Stimm- und Wahlrecht-, der Entziehung der Befähigung jut Taufpatenschaft, dem toiSschluß vom Abendmahl vorgegangen werden (Preußen alle Provinzen, Hannover, SchleswigHolstein, Bayem, Sachsen, Baden, Mecklenburg). Doch hat ein Mahnverfahren vorauszugehen, und bei nachträglicher Erfüllung der versäumten Pflicht hat die Wiederherstellung der ent­ zogenen Rechte stattzufinden (Zensur, eventuell Begnadigung). Von älleren Strafen ist lokal noch in Übung die Versagung des Brautkranzes bei Trauungen von Deflorierten. Nament­ lich aber toitb bei Selbstmord von Zurechnungsfähigen das llrchliche Begräbnis ganz oder doch jede Feierlichkeit dabei untersagt. Dagegen gilt Anottmung der Feuerbestattung nicht als Verstoß gegen die llrchliche Zucht; es ist deshalb z. B. in Altpreußen dem Geistlichen freigestellt, dabei, ober alleÄinA! nur vor der Überführung des Sarges in den Berbrennungsapparat, amtlich mitzuwirken. S ch o e n, Pr. Kr. II §j 73, 82; U h l h o r n, Die Kirchenzucht nach den Grundsätzen der lutherischen Kirche, 1901; Feldweg, Die Kirchenzucht, eine Aufgabe der Lokalgemeinde, D. Z. f. Kr. XX, 1911; Thümmel, Die Verfügung der kirchlichen Bestattungsfeier, 1902; Rdldeke, Die kirchliche Beerdigung der Selbstmörder, 1903; Riedner, Zur Frage der kirchlichen Kom­ petenz auf dem Gebiete des Begräbniswesens in Preußen, D. Z. f. Kr. XV1II, 1908; Winkler, Zur Frage der Zulässigkeit der Bersagung des llrchlichen Begräbnisses ... infolge der unter­ bliebenen Trauung deS zur evangelischen Landeskirche gehörigen Berstorbenen, BerwaltungSarch. XVI, 1908.

8 120. Da» Disziplinarstrafrecht. Für die Ahndung von Amtsvergehen der evangelischen Geistlichen sind die Kirchenregimentsbehött>en zuständig, in Preußen die Konsistorien in erster, der Oberllrchenrat1 bzw. 1 Entscheidungen, z. B. vom 21. Juni 1912 gegen Pfarrer Traub in Dortmund, im A. Lbl.

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der Kultusminister in zweiter Instanz, eventuell unter Zuziehung des Provinzialsynodal­ ausschusses bzw. des Generalsynodalvorstandes, doch so, daß in Preußen (ölte Provinzen) nicht mehr wegen Irrlehre disziplinär eingeschrittor toitb, sondern nur noch, wenn das Bekenntnis oder die Dtbmmgcn der Kirche herabgewüüngt sind, und daß bei Zusammentrefsen von Disziplinarund Jrrlehreverfahren letzteres ausgesetzt und im Falle der Dienstentlassung im Disziplinar­ wege nicht durchgeführt tote. Anderswo sind dafür eigene gemischte Gerichtsbehörden ge­ bildet (Oldenburg, Braunschweig), oder cS verhängt der Landesherr selbst die Strafe auf Antrag der Kirchenbehörde (Bayern, Württemberg). Die Strafen sind: Warnung, Berweis, Geldstrafe, Enthebung vom Amt und Gehall oder bloß von diesem auf Zeit, Strafversetzung, zwangsweise Zurruhesetzung mit geringerem Ruhegehalt, Amtsentsetzung oder Dienstentsetzung mit Verlust der Standesrechte. Die Kirchenregimentsbeamten weichen von den staallichen Disziplinar­ behörden für nichtrichterliche Beamte, die niederen Kirchenbehörden teils durch die Kirchen­ regimentskollegien, teils durch die Gemeindeorgane diszipliniert. Der Kreissynodalvorstand ist Disziplinackehörde für die Gemeindekirchenvertreterl. Friedberg, BR. § 23; Schoen, Pr. Kr. II § 72; M e u r e r, Der Begriff des kirch­ lichen Strafvergehens nach den Rechtsquellen des Augsburgischen Bekenntnisses, 1883.

Sechste- Kapitel.

Das Ämterrecht. 8 121.

Die Arten der kirchlichen Ämter.

Die kirchlichen Ämter sind entweder ktrchenregimentliche, und zwar, abgesehen von der Superintendentur und Generalsuperintendentur, bei der das Regimentsamt mit dem geisüichen in einer Person sich vereinigt, und von der kirchenregimentlichen Stellung, die bisweilen noch der staalliche Kultusminister hat, Kollegialämter wie die Räte- und Beisitzerstellen in den Konsistorien und Oberkirchenräten. Daneben stehen die Presbyterial- und Synodalämter und vor allem das geistliche Amt, insbesondere das Pfarramt. Wie nach kanonischem Recht, so sind auch nach evangelischem absolute Ordinationen für die Regel unzulässig; gewöhnlich fällt die Dtbümtion mit dem ersten Amtsantritt zusammen und wird, z. B. nach rheinisch-westfälischem Recht, in der Gemeinde des Ordinanden vollzogen. Doch wird für Missionare und zum Hilfs­ dienst in der Landeskirche Ausersehene eine Ausnahme gemacht. Schoen, Pr. Kr. II §§ 41, 58, 66.

8 122. Die Errichtung, Veränderung und Aufhebung der Kirchenämter. An sich ist zur Errichtung und Aufhebung kirchenregimenllicher Ämter der Landesherr befugt, doch kann von etatrechllichen Gesichtspunkten aus eine Mitwirkung der Synoden erforder­ lich sein. Letzteres tritt auch dann ein, wenn es sich um kirchenregimenttiche Behörden handelt, die kirchengesetzlich festgelegt sind Bei geistlichen Ämtem, für welche kein Reservatrecht des Landesherm besteht (wie in Bayern, Baden, Hessen) ist die oberste Kirchenbehörde zuständig *. Die Gemeinden oder ihre Vertretungen, manchewrts auch die Kreissynoden, sind zu hören; in Baden, Hessen, Oldenburg bedarf es eines Kirchengesetzes. Schoen, Pr. Kr. II § 74; Koch, Trennung und Bermögensauseinandersetzung dauernd vereinigter Kirchen- und Schulämter in Preußen, 1910.

8 123.

Die Verleih««- der Kirchenämter.

Kirchenregimenttiche Ämter verleiht der Landesherr kraft Resewatrechts, und zwar in Altpreußen auf gemeinsamen Vorschlag des Oberkirchenrats und des Mnisters der geistlichen 1 Die oben S. 407 angeführten staatskirchenrechtlichen Schranken bestehen natürlich euch hier. • Über die Wirkung staatsgesetzlicher Festlegung siehe oben S. 460, 463. * Die staatliche Mitwirkung ist dieselbe wie für katholische Ämter.

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Angelegenheiten; ebenso ist z. B. in Baden der Generalsynodalausschuß zur Vorbereitung der Besetzung von Oberkirchenratsstellen mit dieser Behöcke berufen. Der Landesherr ernennt aber auch (in Altpreußen unter Zuziehung des Kultusministers auf Vorschlag des verstärkten — § 115 — Oberkirchenrats, in Wiesbaden des ebensolchen Konsistoriums) die Generalsuper­ intendenten und ernennt oder bestätigt (im Falle der Wahl durch die Kreis- oder Diözesansynode) die einfachen Superintendenten. Für das geistliche Amt roitb außer Taufe und männlichem Geschlecht gefordert: 1. körper­ liche Gesundheit und Rüstigkeit, 2. ein gewisses Mer (25, 24, 21 Jahre), 3. makelloser Ruf und volle bürgerliche Ehre, 4. Bekenntnis zum Kirchenglauben (in unierten Kirchen zur lucherischen oder reformierten Konfession). Eine Verpflichtung auf Schrift und Bekenntnis wich in irgend­ welcher Form überall gefordert, frellich weder im Sinne einer Zustimmung zur Wortinspiration, noch int Sinne einer juristischen Verpflichtung. In Preußen vollzieht sie sich durch die Zustim­ mung des Ochinanden zu der das Glaubensbekenntnis mitenthaltenden Ockmationshandümg, in Baden richtet sich darauf eine besondere Ochinationsfrage, anderswo wich noch schriftliche oder eidliche Verpflichtung verlangt, 5. wissenschaftliche Vorbildung. Zu deren Feststellung dienen gewöhnlich zwei, beim Konsistorium unter Teilnahme von Synodalabgeochneten vorgenommene Prüfungen, die wissenschaftliche, examen pro candidatura sive pro licentia concionandi, welche die Predigtbefugnis gibt, und die wissenschafllich-praktische, examen pro mini­ sten«) sive pro munere, durch welche die Befähigung zur Bekleidung des geistlichen Amtes etworben nritbl. Die Aufsicht über die Kandidaten stützt dem Konsistorium zu und Wick im Einzelnen ausgeübt durch den Superintendenten ihres Wohnsitzes. Mr die Besetzung der Ämter gilt zunächst als Grundsatz, daß die Gemeinden mindestens das Recht haben, gegen Lehre, Leben und geistige Gaben eines ihnen ^gedachten Pfarrers Einspruch zu erheben Zu diesem Zwecke besteht mancherorts die Einrichtung der Probe­ predigt, die anderwärts umgekehrt untersagt ist. Besetzungsberechtigt ist regelmäßig der Landes­ herr als Inhaber des Kirchenregiments, und zwar entweder in Person auf Vorschlag einer Behöcke oder durch die Regimentsbehöcke (in Preußen die Konsistorien). Das landesherckiche Besetzungsrecht ist beschränkt: 1. dadurch, daß gewisse Stellen, die eine Lokation als bessere auf­ weist, nur an Geistliche von einer bestimmten Anzahl von Dienstjahren vergeben wecken dürfen (Preußen, Bayern, Baden), 2. durch die Mitwirkung synodaler Organe; so hat in Baden der durch den Generalsynodalausschuß verstärkte Obeckirchenrat mitzuwirken; 3. endlich durch das Patwnatrecht. Friedberg, «R. $$ 19—21; Schoen, Pr. Jh. II « 54r-66.

8 124. Das Palronalrechl. Originelle evangelisch-rechlliche Bestimmungen über den Kirchenpatronat brachte ein sächsisches Kirchengesetz vom 28. April 1898 **. Danach sind unfähig zur Ausübung des Patwnatrechtes Personen, die vom Landeskonsistorium wegen Simonie 4 des Rechtes veckustig erüärt wucken, oder deren Recht wegen Beckachts der Simonie einstweilen suspendiert ist, welche sich wegen eines Beckrechens oder Vergehens, das nach den Strafgesetzen die Entziehung der bürge»-

1 Die staatlichen Erfordernisse sind dieselben wie für die kacholischen Kirchendiener (oben S. 449 A. 1). In Preußen fällt das staatliche Einspruchsrecht regelmäßig fort, well die Mitglieder der Kirchenregimentsbehörde sämllich vom König ernannt werden. • Einsprüche gegen die Lehre wecken (ev. zusammen mit solchen gegen Gaben und Wandel) in Altpreußen von dem Spruchkollegium auf dem Wege des JrrlehreverfahrenS erledigt (§ 118). • Daß man auch ohne neue positive Bestimmungen auf Grund des kanonischen Patronat­ rechtes zu Ergebnissen kommen kann, die dem kirchlichen Rechtsgefühl der Gegenwart entsprechen, lehrt die Entscheidung de» Reichsgericht», 3. Zivilsenat vom 20. Oktober 1906 betr. Verlust deS (dinglichen) Patronats zu Lönstadt für die Person de» zeitigen Inhaber» wegen Unwürdigkeit, D. Z. f. «r. XVI, 1906. • Eine in Reuvorpommern und Rügen einst im Schwang gewesene eigentümliche Art evan­ gelischer Simonie behandelt WolterSdorf, Die Konservierung der Psarr-Witwen und -Töchter bei den Pfarrern und die durch Heirat bedingte Berufung, D. Z. f. Kr. XI, 1901, XIII, 1903.

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lichen Ehrenrechte zur Folge haben kann oder muß, in Untersuchung befinden, oder welche zu Zuchthaus oder neben einer Gefängnisstrafe zum Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte der» urteilt sind (auf die Dauer dieses Verlustes), welche kraft eigener Erklärung (also nicht Käst Er­ klärung der Eltem!) vom evangelisch-lutherischen oder vom reformierten Bekenntnis zur römischkatholischen Kirche oder vom lutherischen zum reformierten Bekenntnis übergetreten sind, feinet alle, welchen das Landeskonsistorium die Ausübung des Patronats entzogen hat, weil sie durch chr Vechalten ein mit der Würde des Patwnats nicht zu vereinbarendes öffentliches Ärgernis gegeben haben, endlich Gemeinschuldner während des Konkurses. Der dingliche Patronat aber ruht für Grundstücke, die einer Zwangsverwaltung unterliegen oder sich im Besitz einer juristischen Person oder Gesellschaft befinden, welche vorwiegend Erwerbs- oder wirtschaft­ liche Zwecke verfolgt. Mit der Ausübung Beauftragte müssen der Landeskirche angehören und dieselben Ersowemiffe erfüllen. Im übrigen ist von allen evangelischen Rechten der Unterschied von geistlichem und welllichem Patwnat aufgegeben, oder er ist praktisch bedeutungslos. Die Präsentationsfrist beträgt 6, 4 oder 2 Monate. Ein Nachpräsentations- oder Bariationsrecht besteht nicht; der Präsentierte echält durch die Lokation (so, well im älteren Recht die Prä­ sentation sich oft wieder zu einer Emennung gesteigert hatte) des Patwns ein ius ad rem, das durch kirchenregimentliche Bestätigung zum ius in re wird. Der Inhalt des Patwnats, besonders die cura beneficii, ist oft erweitert; der Patwn fitzt selbst im Gemeindekirchenrot oder kann einen Allesten ernennen; auch wirkt er bei der Kirchengutsverwaltung mit, und hat er (Preußen, öst­ liche Pwvinzen), wenn lastenpflichtig, die Zustimmung zur Pwzeßfühmng zu gebe«. Dafür hat er aber oft über das kanonische Recht hinaus, das im übrigen gerade für das Patronatrecht pmktisch ist, erhebliche Lasten zu trogen. S r i e b b e r a / «8». $$ 22, 33: Schoen, Pr. Kr. I $ 29, II $$ 49—52; Njedner, Die Entwicklung deS Patronats der fteilölmischen Hofbesitzer im Marienburger Werber, D. Z. f. Kr. VIII, 1898; Frevtag, Das Kirchenpatronatsrecht bet Kölmer in ben Marienburger Werbern, D. Z. f. Kr. XII, 1902; Bonnoh, Die Prinzipien bes sächsischen PatronatgesetzeS vom 28. April 1898 in ihrer Entwicklung unb in ihrem Verhältnis zum geltenden Recht, Leipziger jur. Diss., 1905; Albert, Das Kirchenpatronatsrecht in bet evang.-lutherischen Landeskirche des Königreichs Sachsen, 1908; Hansult, Das Patronat in bet evangelischen Landeskirche in Hessen, Gieß. jur. Diss., 1898, unb dazu beit, in D. Z. f. Kr. X, 1901, XII, 1902; Gönner unb Sester, Badisches Patronatrecht (§ 98); Hellmar, Das Patronat nach Landes- unb Provinzieckrecht, 1850; Dömming, Die Rechtsstellung bes Kirchenpatrons im Geltungs­ gebiete bes A. L. Rs., 1901; Frantz, Die Patronatsbefugnisse in bezug auf den Gemeindenrchenrat, 1883; Dove, Ist ein bet griechischen Kirche angehöriger Besitzer eine- patronat­ berechtigten Gutes zur Ausübung des Patronatrechts aus eine evangelische Pfarrstelle befähigt?, Z. f. Kr. II, 1862; Stockmann, Patronat bei BethauSkirchen (auch im Ev. Kirchenbl. für Schlesien), 1904; v. Sonin, Die Kollatur bei schlesischen Bethausgemeinden, D. Z. s. Kr. XXII, 1912. Bgl. auch Lit. zu § 113.

8 125. Das Geineindervahlrech». Über das erwähnte Ablehnungsrecht oder Einwendungsrecht (votum negativum, in Hannover Lokation genannt) hinaus steht mitunter den Gemeinden ein positives Wahlrecht zu, ein beschränktes, wenn ihnen die Kirchenregimentsbehöcke eine bestimmte Anzahl von Kandi­ daten vorzuschlagen und sie daraus einen auszuwählen haben (Baden 6), oder ein freies. Wo einer Gemeinde das Wahlrecht nicht von alters her (als historisches) in jedem Besetzungsfalle zukommt, ist der Übergang von der früheren, ausschließlich kirchenregimentlichen Besetzung zur Gemeindewahl meist dadurch gemildert, daß ein Wechsel stattfindet. Das eine Mal besetzt die Kirchenbehörde, das andere Mal wählt die Gemeinde (in Hannover aus einem Dreie» Vorschlag des Kirchenvorstandes, in Schleswig-Holstein aus drei vom Konsistorium Präsentierten) oder die vereinigten Gemeindeorgane, so in Altpreußen, wo aber das Kirchenregiment außer in dem nach S. 475 A.. 2 zu behandelnden Falle einer nach vorläufiger Prüfung nicht unbegründet erscheinenden Beanstandung der Lehre die auch anderwärts erforderliche Bestätigung aus jedem vemünftigen und zu motivierenden Grunde versagen darfl; auch ist in Altpreußen 1 Beanstandungen wegen Mangels an Übereinstimmung mit dem Bekenntnisse bet Kirche sind in Preußen (alte Provinzen) vom Konsistorium durch den Oberkirchenrat an daS Spruch­ kollegium zur Erledigung im Jrrlehreverfahren (§ 118) zu bringen.

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durch Gesetz vom 12. Mai 1912 die kirchenregimentliche Besetzung gegenüber bisherigen reinen Wahlpsarreien (bei Patronatspfarrern erst nach Erlaß eines die patwnaüsche Besetzung be« schränkenden Staalsgesetzes) dadurch wieder ausgedehnt rootbcn, daß, falls Dotationen, Renten oder Bechilfen, deren Jahreswert die Hälfte des Stelleneinkommens erreicht, aus landeskirch­ lichen oder staallichen Fonds gewährt werden, die Kirchenbehörde abwechselnd mit dem sonstigen Besetzungsberechtigten besetzt. Übrigens sind von der Besetzung durch Wahl meist solche Stellen

ausgenommen, mit denen kirchenregimenlliche Funktionen veckunden sind (Pfarreien mit Superintendenturen u. a.) und (in Mtpreußen seit 1912) für den betreffenden Fall neu er­ richtete Pfarrstellen, zu denen staalliche oder kirchliche Fonds ein Biertel des Gründungsauf­ wandes beigetragen haben, sowie solche, die durch kirchenobrigkeitliche Maßnahmen (Disziplinarspmch, Erkenntnis des Spmchkollegiums) und, was ihnen gleichsteht, erledigt sind. Friedberg, BR. $ 22; Schoen, Pr. Kr. II §5 56, 57; Miller, Die Pfarrerwahl in der evangelischen Kirche in Ungarn, D. Z. f. Kr. XVII, 1907.

8 126.

Die Erledigung der Kirchenämter.

Zu den auch in der evangelischen Kirche anwendbaren Grundsätzen des kanonischen Rechts treten hinzu die Emeritierung (Mtpreußen), der Amtsverlust wegen festgestellter Irrlehre (§ 118) und richtiger Ansicht nach auch in Preußen, besonders in Hannover (luth.), jedenfalls aber in manchen mittel- und süddeutschen Landeskirchen die Bersetzung im Jntevesse des Dienstes. Der auf sein Ansuchen wegen körperlicher oder geistiger Unfähigkeit oder Erreichung eines be­ stimmten Alters (70 Jahre) Emeritierte behält die kirchlichen Standesrechte der Geistichen und kann mit Ellaubnis des zuständigen Pfarrers Amtshandlungen (Taufen, Trauungen) vomehmen. Dagegen verliert der Geistliche, der zur Vermeidung oder Erledigung eines Jrrlehreverfahrens oder aus anderen Gründen bei voller Dienstfähigkeit auf sein Amt verzichtet, diese Rechte. Mcht als Strafe, sondem auf dem Verwaltungswege findet bei Unfähigkeit oder Gebrechlichkeit auch eine Emeritierung wider Willen statt, aber mit den Wirkungen der begründet nachgesuchten freiwilligen Zurruhesetzung. Für die nichtgeistlichen Regimentsstellen gelten die Grundsätze der Pensionierung von staallichen Verwaltungsbeamten. Friedberg, BR. § 23; S ch o e n, Pr. Kr. Il §§ 60, 64.

Siebente- Kapitel. Die Verwaltung des Kirchenvermögens. 8 127.

Besonderheiten gegenüber dem katholischen Recht.

Weil von dem Lehrgegensatz unabhängig, weist das evangelische Kirchenvermögensrecht vielfache Übereinstmmung mit dem kacholischen auf. Bezüglich der Eigentumsfähigkeit ist wie für jenes auf die Jnsttutentheorie abzustellen. Die Weihe ist nur ein festlicher Akt, so daß eine Gebrauchsbeschränkung sich lediglich aus der gottesdienstlichen Bestimmung der betreffenden Gegenstücke selbst ergibt. Die Stolgebühren, infolge der Entfremdung vielen Kirchenguts in der evangelischen Kirche lange Zeit eine noch stärker als in der kacholischen ausgebildete Wnnahmequelle, simd infolge der Personenstandsgesetzgebung von 1875 zunächst beschränkt und seither mit staatlicher Hilfe mancherorts abgelöst worden. Für besondere Verrichtung der Amtshandlungen, z. B. für Taufen im Hause, wecken aber twtzdem Gebühren echoben.

Schoen, Pr. Kr. II §§ 83, 87, 88, 95 und die $ 102 S. 456 «. 1 angeführte Lit.; Crisoltli-Schultz, Berwaltungsordnung für daS kirchliche Vermögen in den öfUichen Pro­ vinzen den preußischen Landeskirche, 1904; Gebser, Berwaltungsordnung für das kirchliche Bermögem . . . 1904. über die Gehalts- und PenfionSverhältnisfe und die Stolgebührenfrage vgl.Chronnk der Christi. Welt 1902, Nr. 43—45; Stutz, Art. Stolgebühren (§18, 3 c.); Fritsch, Zur Pfarngemeindefrage, GrünhutS Zeitschr. XXXIV, 1907, XXXV, 1908. DaS Baulastrecht ist bei sonstiger Übereinstimmung mit dem tridenttnischen Recht zum Teil dadwrch erweitert, daß die Gemeinden Fron(Hand- und Spann-)dienste zum Kirchenbau

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zu leisten haben, und daß der Patwn schon als solcher baulastpflichtig ist. Bei Stadtkirchen läßt ihn das preußische Recht ein Drittel, bei Landkirchen zwei Drittel tragen. Im Pfründenrecht hat z. B. Baden die Erleichtemng getroffen, daß die Pfründen von einer Zentralpfarrkaffe verwaltet werden, von der dann der Geistliche den Geldbetrag seiner Einkünfte echält. Preußen, wo die Kirchgemeinde die Einkünfte des Stellenvermögens, sofern es nicht an den Stelleninhaber verpachtet ist, bezieht, besitzt seit 1898 eine mit Rechtspersönlich­ keit cmsgestattete AlterSzuIage- sowie eine Ruhegehaltskaffe für die evangelischen Geistlichen sümüicher preußischen Landeskirchen, bei denen die einzelne Pfarrstelle versichert Wick, mit der Wirkung, daß dem Geistlichen in bestimmten Zeiträumen zu seinem von der Gemeinde zu gewährenden Grundgehall (mindestens 2400—6000 Mk.) Alterszulagen zugebilligt wecken, die ihn mit 24 Dienstjahren auf 6000 M. bringen, und daß er bei seiner Versetzung in den Ruhe­ stand ein entsprechendes lebenslängliches Ruhegehalt echält *. Da der evangelische Geistliche regelmäßig verehelicht ist, haben die Bestimmungen über Steckezeit und Beckienstjahr (Gnadenzett) für ihn und seine Hinteckliebenen eine echöhte Bedeutung. Zugunsten der letzteren kommt noch die Gnadenzeit von einem Viertel-, halben oder ganzen Jahr hinzu, während deffen der Wtwe und den unversorgten Kindem namenllich der Genuß der Amtswohnung veckleibt. Auch Pfarr-Witwen- und -Waffenkaffen bestehen in manchen Kirchen zur Versorgung der Hinter­ bliebenen (in Preußen seit 1895 der mit juristischer Persönlichkeit versehene Pfarr-Witwenund -Waisenfonds für alle in der Monarchie vereinigten Landeskirchen * Am selbständigsten hat die evangelische Kirche das Besteuerungs- (Preußen 1905, neue Provinzen 1906) und Verwaltungsrecht (Verwaltungsordnungen, d. h. Dienstweisungen für die mit der Verwaltung betrauten Organe, für Preußen östliche Provinzen 1893, Westfalen 1902, Rheinprovinz 1909) ausgebildet * Jenes wird für Gemeindebedürfniffe von den Gemeinde­ organen, für die höheren Veckände von den betreffenden Synoden (in Bayern Steuersynoden seit 1908) unter Mitwirkung der Regimentsbehöcken geübt. Entsprechend ist die Zuständigkeit für die Verwaltung geocknet. Doch treten auf den höheren Stufen die Regimentsbehöcken (Konsistorien, Oberkirchenrat bzw. Kultusminister) mehr hervor. Friedberg, BR. §23; Schoen, Pr. Kr. 11 861—63,Sfr-94,96, «7; Burkharb , Zur Lehre von der kirchlichen Baupflicht, 1884; Fischer, Die Kirchen- und Pfarrbaulast der Stadt Berlin, 1898; Weise, Der Streit um die kirchliche Baulast in der Kurmark Brandenburg, insbesondere Berlin, D. Z. f. Kr. XIII, 1903; Rackwitz, Die Kirchenbaupflicht ber Branden­ burgischen Konsistorialordnung von 1573, Schrift, d. Ber. f. Gesch. d.Neumark XX, 1907; Holtze, Die brandenburgische Konsistorialordnung von 1573 und ihre Kirchenbaupflicht, Schrift, o. Ber. f. Gesch. Berlins, 39. H., 1904; Urteil des LammergerichtS vom 13. März 1903 in Sachen der Stadt­ gemeinde Berlin contra Kirchgemeinde St. Markus wegen Kirchenbaulastpflicht, 1903; Riedner, Städtisches Patronat (§48, 3); Uibeleisen, Die Rechtsverhältnisse der Kirchenstühle, D. Z. f. Kr. VIII, 1898; Waltersdorf, Zur Handhabung des Kirchstuhlrechts, D. Z. f. Kr. VIII, 1898; Freytag, Die rechtliche Natur der Hufenumlage für kirchliche Zwecke in den evangelischen Kirchspielen des Danziger Werders, D. Z. f. Kr. XVIII, 1908.

Achte- Kapitel.

Das Trauungsrecht. 8 128. Die evangelische Trauung, ihre Voraussetzungen und ihre Wirkling. Die evangelische Kirche erkennt das staatliche Eherecht mit Einschluß des Scheidungsrechtes, wie es nunmehr im BGB. niedergelegt ist, und die danach geschlossenen Ehen an. Sie verlangt aber, daß ihre Mitglieder zum Eintritt in diesen Stand, den sie zwar nicht für ein Sakrament, wohl aber für der göttlichen Ordnung besonders unterstellt erachtet, den göttlichen Segen 1 Preußische ev. Pfarrbesoldungsgesetze und ebensolche Ruhegehaltsordnungen vom 26. Mai und 14. August 1909 nebst Staatsgesetz vom selben Tage. Die Mittel für die Austesserung werden wie für die katholische Geistlichkeit z. T. von den Kirchen selbst aufgebracht, teils durch Staats­ und Gemeindezuschüsse beschafft. 1 In betreff des Anspruchs der preußischen Pfarrwitwen und -waisen auf Witwen- und Waisengeld s. die preußischen Kirchengesetze vom 26. Mai 1909. 8 Für Sachsen vgl. jetzt das Staatsgesetz vom 11. Juli 1913.

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erbitten und selbst staaüich zulässige Ehen vermeiden, wenn diese nach christlichen Gmndsätzen unstatthaft sind. Nur da, wo dies nicht der Fall ist, darf sie den erbetenen Segen spenden und bekunden, daß die Ehe, wie sie die Gatten christlicher Ordnung unterstellen zu wollen erllätt haben, den kirchlichen Anforderungen entspreche. Sonst, z. B. bei der Eheschließung mit einem Nichtgetauften, bei gröblicher Verletzung des vietten Gebotes, bei der Medewerheiratung solcher, die aus einem Gmnde, der nach kirchlicher Prüfung und gemeiner Auslegung der evangelischen Kirche als sündhaft erscheint, geschieden worden sind, bei Zusage der religiösen Erziehung aller zu erwartenden Kinder in einem anderen Glauben, sei es, von wem diese Zusage ausgeht, sei es wenigstens, wenn der evangelische Mann sie abgibt, sowie aus den erwähnten kirchenzuchtLchen Gründen bei Verachtung des chrisvichen Glaubens oder lastechaftem Wandel, tritt nach neuestem evangelischem Recht ein Trauungshindemis ein. Der Ermittlung solcher Hindernisse dient das Aufgebot, das aber zugleich in Gestalt der Aufsoü>erung zur Fürbitte eine echt evange­ lische inhallliche Bereichemng erfahren hat. In Altpreußen, Hannover (ref.) und Wiesbaden hat zunächst der angegangene Geistliche über das Vorhandensein oder Nichtvochandensein eines Trauungshindernisses zu befinden, und wird der Kreissynodalvorstand bezw. der Gemeinde­ kirchenrat nur im Abweisungsfalle auf Beschwere des Betroffenen hin damit befaßt. Anderswo ist, namenllich für die Trauung Geschiedener, von vornherein das Konsistorium zuständig. Schoen, Pr. Kr. II $ 81; v. Scheurl, Das gemeine deutsche Eherecht, 1882, Christ­ liche Eheschließung, in seiner S. kr. A., Die Scheidungsgründe eines christlichen EherechtS, ebenda; Sohn», Die obligatorische Civilehe, 1880; Kahl, Cwilehe und kirchliches Gewißen, Z. f. Kr. XVIII, 1883; v. Schubert, Die evangelische Trauung, 1890, Obligatorische und fakultative Zwilche, Zeitschr. f. prakt. LHeologie 1, 1896; Stutz, Was bedeutet der Übergang zum Eherecht des BSB. für die evangelische Kirche, insbesondere Baden»?, 1899; Schoen, Beziehungen 848, 4): Albrecht, Berbrechen und Strasen (§ 48, 4); Ebeling, über Ehescheidung und e kirchliche Trauung bei Ehen geschiedener Personen, Th. St. K. LXXVI 1, 1903; Brauer, Kirchliche Trauungsfragen nach dem Rechte der preußischen Landeskirche, D. Z. f. Kr. XVI, 1906; Kröner, $ 1312 BGB. und $ 9 fl. 3 und 4 des Trauungsgesetzes für den Konsistorialbezirr Kassel vom 27. Mai 1889, D. Z. f. Kr. XIX, 1909; Heß, Jnsidien und Sävitten al» EhescheidungSgrund, Greifswalder jur. Dist., 1912.

6.

Völkerrecht von Dr. Paul Heilborn, o. o. Professor der Rechte in Breslau.

Inhaltsverzeichnis. Seite Einleitung (§§ 1—5): Begriff, Rechtsnatur, Geltungsgebiet, geschichtliche Entwicklung, Quellen des Völkerrechts......................................................................................................... 484 Erste- «mH: Da» materielle Völkerrecht. L Allgemeiner Teil.

Erstes Kapitel: Die Subjekte: Der Staat als völkerrechtliche Person (§§ 6-—8), Beginn und Ende der Persönlichkeit (§ 9), Die Organe der Staaten (§§ 10—11) . . . 499 Zweites Kapitel: D i e Objekte (§12)...................................................................... 509 Drittes Kapitel: D i e Rechtsgeschäfte (§§ 13—15).......................................... 509 n. Besonderer Teil.

Erstes Kapitel: Die absoluten Rechtsverhältnisse: A. DaS Recht an der eigenen Person (§ 16) .............................................................................. 312 B. Das Gebietsrecht (§§ 17—23): Begriff, Umfang, Beschränkungen, Erwerb und Verlust der Gebietshoheit.....................................................................................................................513 C. Das Recht in Ansehung der Menschen: I. Allgemeine Lehren (§§ 24^-28): Staatsangehörigkeit, Rechtsverhältnisse im all­ gemeinen, Die Staatsangehörigen im Ausland, Die Fremden, Asylrecht und Aus­ lieferung ................................................................................................................................ 521 II. Besondere Rechtsverhältnisse: 1. DaS Beamtenrecht (§§ 29—39): Staatshäupter, Gesandte, Konsuln, Halbdiplo­ maten usw., Der Papst............................................................................................. 529 2. Die Angehörigen christlicher in nichtchristlichen Staaten (§ 40) ........................ 537 3. Die Unterdrückung des Sklavenhandels (§41)..........................................................539 D. Das Schiffsrecht (§§ 42—44): Kauffahrteischiffe, Kriegsschiffe, Luftschiffe.......................539 Zweites Kapitel: Das O b l i g a t i o n e n r e ch t: A. Allgemeine Lehren (§ 45).................................................................................................. 543 B. Einzelne Forderungsrechte: aus Verträgen (§§ 46—50), aus unerlaubten Handlungen (§ 51), aus anderen Tatsachen (§ 52)................................................................................... 545 Drittes Kapitel: Die Rechtsnachfolge der Staaten (§ 53)................ 550

Zweite» «mH: Formelles Völkerrecht. Da» Verfahren. Einleitung (§ 54).................................................................................................................. 552 I. Das gütliche Verfahren (§ 55)....................................................................... 552 II. Das gewaltsame Verfahren: A. Selbsthilfe ohne Krieg (§§ 56—57): Repressalien, Intervention .... 554 B. Der Krieg: I. Krieg und Kriegsrecht im allgemeinen (§§ 58—61)....................................... 557 II. Beginn des Krieges (§ 62)................................................................................... 560 III. Die Kriegführung (§§ 63—69): Aktiver und passiver Kriegstand, Kriegsmittel gegen feindliche Personen und Sachen, Die Besetzung feindlichen Gebiets und ihre Wirkungen, Das Postliminium, Kriegsverträge..........................................561 IV. Rechte der kriegführenden und der neutralen Staaten gegeneinander (§§ 70 — 75): Im allgemeinen, das neutrale Gebiet, der neutrale Handel . . . . 571 V. Die Beendigung des Krieges (§ 76) ............................................................... 577

Quellensammlungen. Dumont: Corps universel et diplomatique du droit des gens, 8 Bde., Amsterdam-Haag 1726/31, Ergänzung 1739; Schmauß: Corpus iuris gentium academicum, Leipzig 1730/31, Fortsetzung von Wenck, 1781/96; G. F. v. Martens: Recueil des principaux traitäs d’alnance, de paix, de trdve, de neutralitä, de commerce etc., 7 Bde., Göttingen 1791/1801; Fort­ setzungen unter den Titeln: Supplements au recueil, nouveau recueil, nouveaux Supplements, nouveau recueil general, 1., 2., 3. Serie, jetzt herausgegeben von Triepel; Descamps und Renault: Recueil international des traites du 20^me siede, Paris 1901 ff.; Fleisch­ mann: Böllerrechtsquellen in Auswahl, Halle a. S. 1905; v. Rohland: Böllerrechtsquellen (2), Freiburg L B. 1908; Strupp: Urlunden zur Geschichte des Böllerrechts, 2 Bde., Gotha 1911, Ergänzungsheft 1912; Das Staatsarchiv, Sammlung offizieller Aktenstücke zur Ge­ schichte der Gegenwart, begründet von Aegidi und Klauhold, Leipzig 1861 ff.; Archives diplomatiques, recueil mensuel de diplomatie et d’histoire, Paris 1861 /76, 1880 ff.; Tetot: Repertoire des traites de paix, de commerce, d’alliance etc., 2 Bde., Paris 1866/67; Fortsetzung von Ribier, 2 Bde., 1895/99.

Literatur. 1. AltereWerle. Grotius:ve iure belli ac pacis libri tres, Paris 1625; Pufen b o r f: Iuris naturae et gentium libri octo, Lund 1672; Wolff: Ius gentium methodo seien* tifica pertractatum, Halle 1749, Institutiones iuris naturae et gentium 1750; Sattel: Le droit des gens ou principes de la loi naturelle appliqu6s ä, la conduite et aux affaires des nations et des souverains, London 1758. 2. Deutsche. G. F. v. M ar t e n s: Präcis du droit des gens moderne de PEurope (3), Göttingen 1821; Klüber: Europäisches Völkerrecht (3 ed. Mörstadt), Schaffhausen 1851; Hess ter: Europäisches Bötterrecht der Gegenwart (8 ed. Geffcken), Berlin 1888; v. Holtzen dorff: Das europäische Böllerrecht, in den früheren Auflagen dieser Encyklopädie (5 ed. Stoerl), 1889; Handbuch des Völkerrechts auf Grundlage europäischer Staatspraxis, ed. v. Holtzendorff, 4 Bde., Berlin-Hamburg 1886/89; Gareis: Institutionen des Böller­ rechts (2), Gießen 1901; v. Ullmann: Böllerrecht (2), Tübingen 1908; v. Liszt: Das Böller­ recht systematisch dargestellt (9), Berlin 1913; v. Martttz: Böllerrecht in „Die Kultur der Gegen­ wart, Systematische Rechtswissenschaft", Berlin-Leipzig 1906; Handbuch des Völker­ rechts, ed. Stier-Somlo, Stuttgart 1912ff. 3. Schweizer, Niederländer und Belgier. Bluntschli: Das moderne Völkerrecht der zivllisierten Staaten als Rechtsbuch dargestellt (3), Nördlingen 1878; Rivier: Lehrbuch des Böllerrechts (2), Stuttgart 1899, Principes du droit des gens, 2 Bde., Paris 1896; d e £ out et: Het stellig volkenrecht, 2 Bde., Haag 1910; NyS: Le droit international (2), 3 Bde., Brüssel 1912. 4. Franzosen. Pradier FodsrS: Traitä de droit international public europäen et amöricain, 8 Bde., Paris 1885/1906; BonfilS: Manuel de droit international public (droit des gens) (6 ed. FauchilleL Paris 1912, übersetzt von Grah, Berlin 1904; Despagnet: Cours de droit international public (4 ed. Boeck), Paris 1910; Msrignhac: Traitä de droit public international, 3 Bde., Paris 1905/12. 6. Engländer. Hall: A treatise on international law (6 ed. Atlay), Oxford 1909: Lawrence: The principles of international law (4), London 1911; Westlake: International law, 2 Bde., Cambridge 1904/07; Oppenheim: International law (2), 2 Bde., London 1912; Baty: International Jaw, London 1909. 6. Nordamerikaner. Wheaton: Elements of international law, 3. englische Ausgabe ed. Boyd, London 1889; Halleck: International law (4 ed. Baker und Drucquer), 2 Bde., London 1908; Taylor: A treatise on international public law, Chicago 1901; Moore: A digest of international law, 8 Bde., Washington 1906; Davis: The elements of international law, New Hork-London 1908; Wilson und Tucker: International law (5), New Port 1910; Wilson: Handbook of international law, St. Paul Minn. 1910; Hershey: The essentiale of international public law, New Uork 1912.

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Paul Heilborn.

7. Italiener. Fiore: Tratte to di diritto internazionale pubblico (3), 3 Bde., Turin 1887/91, 11 diritto internazionale codificato (4), Turin 1909; Olivi: Manuale di diritto inter­ nazionale pubblico e private (2), Mailand 1912; Diena: Princip! di diritto internazionale, 1. Bd.: Diritto internazionale pubblico, Neapel 1908. 8. Spanier und Südamerikaner, de Olivart: Tratado de derecho internacional püblico (4), 4 Bde., Madrid 1903/04; Calvo: Le droit international thöorique et pratique (4), 6 Bde., Paris 1887/96; Cruchaga: Nociones de derecho international (2), Santiago de Chile 1902. 9. Russen. Fr. v. Martens: Völkerrecht, das internationale Recht der zivilisierten Staaten, deutsche Ausgabe ed. Bergbohm, 2 Bde., Berlin 1883/86. 10. Reben den vorstehenden Lehrbüchern des Völkerrechts sind folgende Werke zu nennen: Westlake: Chapters on the principles of international law, Cambridge 1894; Heilborn, Das System des Völkerrechts, entwickelt aus den völkerrechtlichen Begriffen, Berlin 1896; Hol­ land: Studies in international law, Oxford 1898; Wilhelm Kaufmann: Die Rechts­ kraft des internationalen Rechts, Stuttgart 1899; Triepel: Völkerrecht und Landesrecht, Leipzig 1899; Rehm: Allgemeine Staatslehre, Freiburg i. B. 1899; Jellinek: Allgemeine Staatslehre (2), Berlin 1906; v. Rohland: Grundriß deS BötterrechtS (3) (Literatur), Frei­ burg i. B. 1913. 11. Zeitschriften: Revue de droit international et de 16gislation compatee, GentBrüssel 1869 ff. (zit.: Rev.); Archiv des öffentlichen Rechts, Freiburg L B.-Tübingen 1886 ff.; Zeitschrift für internationales Privat- und Strafrecht, jetzt: Zeitschrift für internationales Recht, Leipzig 1891 ff. (zit.: BöhmsZ.); Revue g6n£rale de droit international public, Paris 1894 ff. (zit.: Rev. G6n.); Rivista di diritto internazionale, Rom 1906 ff.; Zeitschrift für Völkerrecht und Bundesstaatsrecht, Breslau 1907 ff. (zit.: ZVölkR.); Jahrbuch des Völkerrechts (im Erscheinen).

Einleitung. 8 1. 1. Begriff des Völkerrechts. Der Mensch ist seiner Natur nach auf die Gemeinschaft seiner Mitmenschen angewiesen: er bedarf ihrer zur Befriedigung seiner geistigen und materiellen Bedürfnisse. Ubi societas, ibi ius est. Ein dauernder Verkehr, eine Lebensgemeinschaft vieler Menschen ist auch bei geringer Kultur ohne Recht undenkbar. Zunächst treten die Menschen in Stammes-, weiter in Staatsverbänden auf. Diese Gemeinschaft mag anfänglich zur Befriedigung der wesentlichen Bedürfnisse genügen; dann bedarf sie allein rechtlicher Oümung. Auf die Dauer erweist sich eine solche Beschränkung aber als zu eng. Der Verkehr geht über die staatlichen Grenzen hinweg. Es entwickeln sich Beziehungen zwischen den einzelnen Angehörigen verschiedener Staaten wie auch zwischen den Bölkem und Staaten selbst. Das Volk als Ganzes hat Interessen, die es nach außen hin führen, und der Staat ist der berufene Beschützer der Interessen des Volk und seiner einzelnen Glieder. Die Ent­ wicklung der Kultur hängt zum wesentlichen Teile von dem Verkehr mit der Außenwelt ab, und sie fördert wiedemm das Bedürfnis nach auswärtigem Verkehr. Wie die Geschichte lehrt, haben Kulturvölker sich nie auf sich selbst beschränkt; sie stehen stets mit einer mehr oder minder großen Zahl anderer Völker in regelmäßigem Verkehr, in wahrer Lebensgemeinschaft. Nach vorüber­ gehender Anwendung um die Mtte des 16. beginnt die dauernde Absperrung Chinas von der Außenwelt erst mit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts; sie bezeichnet aber wahrlich keinen Kulturfortschritt. Je enger die Gemeinschaft verschiedener Völker sich gestaltet, desto notwendiger bedarf sie rechtlicher Regelung, einer über den einzelnen Staat hinausreichenden, internationalen Ordnung. Dabei sind indessen die Beziehungen zwischen den einzelnen Menschen, Geuossenschasten und Korporationen einerseits und die Beziehungen zwischen den Staaten anderseits zu unterscheiden. 1. Eine besondere internationale Rechtsordnung zur Regelung der Beziehungen zwischen den Angehörigen verschiedener Staaten ist int allgemeinen nicht notwendig. Es genügt die Feststellung, daß sie der Rechtsordnung dieses oder jenes der beteiligten Staaten unterstehen. Theoretisch sucht die Doltrin des internationalen Privat- und Strafrechts zu ermitteln, welcher

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nationalen Rechtsordnung int einzelnen Fall der Vorzug gebühre, — praktisch bestimmt jeder Staat zunächst durch seine Gesetzgebung, welche RechtsvechÄtnisse er seiner Herrschaft unter­ stellen, nach welcher Rechtsordnung er sie regeln will. (Vgl. jedoch § 27.) Bei dieser Kom­ petenzabgrenzung findet er nur an der Rechtssphäre anderer Staaten eine Schranke. Ent­ steht hierbei ein Konflikt, so ist es ein solcher zwischen den beteiligten Staaten, nicht zwischen ihren Angehörigen. 2. Notwendig ist dagegen eine besondere Rechtsocknung zur Regelung der Beziehungen zwischen den Staaten selbst. Das innerstaatliche Recht (das Landesrecht) versagt hier. Aber auch die Staaten stehen in unmittelbarer und fortdauernder Berührung miteinander. Ihre Gemeinschaft bedarf deshalb gleichfalls rechtlicher Regelung. Sie ist durch das Völkerrecht oder internationale öffentliche Recht geschaffen. Das Völkerrecht ist der Inbegriff der Rechtsnormen für das Verhalten der Staaten oder staatsähnlichen Verbände als solcher zueinander. 1. Das Völkerrecht ist eine Rechtsordnung für eine Mehrheit von Staaten. Das Landes­ recht hat zur notwendigen Voraussetzung immer nur das Bestehen des einen Staats, für dessen Bereich es erlösten wurde. Gingen alle Böller der Eide in einem einzigen Weltstaat auf, so gäbe es nur Landesrecht; für ein Völkerrecht wäre kein Raum. 2. Das Völlerrecht regelt nur die Beziehungen von Staaten, welche miteinander dauernd und grundsätzlich friedlich Verkehr Pflegen; denn nur sie bilden eine Gemeinschaft, welche recht­ licher Oidnung fähig und bedürftig ist. Milde ein Staat sich von der Außenwelt vollständig absperren, so könnte es für ihn kein Völkerrecht geben. 3. Das Völkerrecht regelt nur das Vechalten der Staaten als solcher zueinander, d. h. die Verhältniffe, in welche der Staat in seiner Eigenschaft als Staat eintritt. Privatrechlliche Geschäfte zwischen Staaten untediegen ihm nicht. 4. Das Völlerrecht regelt nur das wechselseitige Vechalten der Staaten, weder das der Menschen noch das zwischen Staat und Mensch. Als Rechtssubjekte kennt das Völkerrecht allein die Staaten. Trotzdem gilt auch hier der Satz: omne ius hominum causa constitutum. Nur int Interesse der Menschen pflegen die Staaten Verkehr. Jenseits der Heimat, fremden Staaten gegenüber sichert das Böllerrecht dem Menschen Schutz. Aber es betrachtet chn nicht als Sub­ jekt von Rechten, sondem als Objekt staallicher Herrschaft und staatlichen Schutzes (vgl. unten § 12). Ebensowenig sind Rechtssubjekte int Böllerrecht die Völker als solche unb unabhängig von staatlicher Organisation. Der Ausdmck „Völkerrecht" ist nicht genau, aber durch jahr­ hundertealtes Herkommen geheiligt. Die staatlich organisierten Böller weiden vom Böller­ recht als individuelle, durch ihre Organisation bestimmte und geschiedene Personeneinheiten angesehen; für gesonderte Bollsstämme innerhalb der Staaten ist kein Raum. Die Beziehungen zu unabhängigen Bollsstämmen, welche es noch nicht zu staallicher Organisation gebracht haben, sind dagegen völkerrechtlicher Natur, sobald sie überhaupt rechllicher Regelung unterworfen sind. Nach der Aufteilung des größten Teils der Ecke unter die Kolonialmächte gibt es nur noch wenig unabhängige Stämme (vgl. §§ 3 und 4; de Lauter 1 41/42).

§ 2. 2. Die Rechtsnatur des BSlkerrecht». Literatur. Austin: The province of jurisprudence determined (2), London 1861; Bierling: Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe, Bd. 1, Gotha 1877 — Juristische Prinzipien­ lehre, Freiburg L B. und Leipzig 1894 ff.; Lasfon: Prinzip und Zukunft des Völkerrechts, Berlin 1871 — Zorn: Staatsrecht deS Deutschen Reichs 1 (2) 497 ff.; Triepel 103 ff.; Jellinek 364/68; Bekker: Deutsche Juristenzeitung 1912 S. 19/20; Geffcken jun.: DaS Gesamtinteresse als Grund­ lage des Staats- und Völkerrechts, Leipzig 1908, S. 30ff.; Higgins: The binding force of inter­ national law, Cambridge 1910; Schücking: Der Staatenverband der Haager Konferenzen, Leipzig 1912; Wehberg: Da- Problem eine- internationalen Staatengerichtshofs, Leipzig 1912.

Das Völkerrecht ist positives, geltendes Recht. Es ist aber zugleich die Rechtsordnung einer unabhängigen, keiner höheren Gewalt unterworfenen Staatengesellschaft. Deshalb weist es erhebliche Verschiedenheiten vom Landesrecht der einzelnen Staaten auf.

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Paul Hellborn.

Das Landesrecht wird vom Staat für die seiner Herrschaft Unterworfenen erfassen. In Streitfällen entscheidet der Staat durch seine Gerichte mit verbindlicher Kraft für die Beteiligten, was Recht ist. Durch seine Organe erzwingt er die Erfüllung der Pflichten. Uber den Staaten gibt es dagegen weder eine gesetzgebende noch eine richtende noch eine zwingende Gewalt. Des­ halb ist mitunter behauptet worden, das Völkerrecht sei kein positives Recht. Man will ihm nur die Bedeutung eines Naturrechts oder einer Staatenmoral zugestehen. Mt Unrecht. Die Leugner des Böllerrechts fassen ausschließlich das modeme Landesrecht, insbesondere das Privat- und Strafrecht, dessen Entstehung, pwzeffuale Feststellung und Erzwingung ins Auge. Sie übersehen aber folgendes: 1. Die gegenwärtigen Einrichtungen in den einzelnen Staaten sind das Erzeugnis einer geschichllichen Entwicklung; diese aber wies in früheren Zeiten gwße Ähnlichkeit mit dem Bölleimcht auf. 2. Der Begriff des positiven Rechts darf nicht aus dem allein hergeleitet wecken, was einzelnen Rechtsgebieten in einer Epoche hoher Entwicklung eigentümlich ist. 3. Auch heute ist der Staat nicht allmächtig; der theoretisch feststehende Zwang zur Befolgung der Rechtsnormen versagt nicht selten in der Praxis. — Me erwähnten Eigen­ tümlichkeiten des Böllerrechts beweisen nur, daß es unvollkommener ist als andere Rechtsgebiete. Sie enllleiden es aber nicht der wesentlichen Merkmale des positiven Rechts. 1. Das Völkerrecht ist positives Recht, obwohl es nicht von einem den Staaten übergeordneten Gesetzgeber geschaffen wird. Das Recht ist eine prinzipiell gerechte Regel für das Vechalten der Menschen oder Staaten zu­ einander. Diese Definition gibt keine Antwort auf die Frage, von wem das Recht ausgehe. „Die Staaten selbst sind die das Völkerrecht setzenden Autoritäten und zugleich die von ihm verpflichteten Subjekte." Sie unterwerfen sich ihm freiwillig, erkennen es als bindend für ihre Beziehungen an, weil sie zusammen leben müssen, und weil die als gerecht aufgestellte Rechtsocknung kraft ihres Inhalts für sie absoluten Wert und verpflichtenden Chamkter hat. Selbst jede Staatsgewalt besteht nur mit und durch den Mllen der Beherrschten. Die innerstaatliche Rechtsocknung kann deshalb auch nicht auf die herrschende Gewalt allein zurückgeführt wecken. Diese Gewalt ist nur das von den Beherrschten anerkannte Organ zur Schaffung des Rechts. Das, was sie als Recht proklamiert, ist nicht um dieser Proklamation willen Recht, sondem nur, weil es von denjenigen als Recht aneckannt Wick, für die es maßgebend sein soll. Die naturrechlliche Schule eckannte hingegen als Recht nur an, was von einem maß­ gebenden, übergeockneten Mllen als Recht gesetzt war. Sie vermochte indessen nicht zu erllären, warum der übergeocknete Mlle die Beherrschten verpflichte. Nach ihrer Anschauung kann ferner ein Verein sich nie Recht setzen. Bor allen Dingen aber übersah sie, daß das Recht zuerst immer als Gewohnheitsrecht auftritt. Seine verbindliche Kraft schöpft das Gewohnheits­ recht sicherlich nicht aus einem übergeockneten Mllen. Mnn das Gesetzesrecht an seine Stelle tritt, so wick nur die Form der Entstehung geändert, aber kein neuer Rechtsbegriff geschaffen. Auch das Völkerrecht ist zuerst als Gewohnheitsrecht entstanden. Es ist noch jetzt zum wesent­ lichen Teile Gewohnheitsrecht. Als solches weist es keine Unterscheidungsmerkmale vom privattechtlichen Gewohnheitsrecht aus.

2. Das Völkerrecht ist positives Recht, obwohl es keine rich­ tende Gewalt über den Staaten gibt. Staatsstreitigkeiten können einem Schiedsgericht zur Entscheidung unterbreitet wecken. Diese Möglichkeit ist hier nicht in Be­ tracht zu ziehen, denn das Schiedsgericht setzt freiwillige Unterwerfung der Parteien voraus. Das Urteil des staatlichen Gerichts hingegen ist ohne eine solche Unterwerfung nach allgemeinem Landesrecht maßgebend. Der Richter wendet das Recht an, aber er schafft es nicht. Das Recht muß vorhanden sein, ehe es ein zu seiner Klarlegung berufenes Gericht geben kann. Wohl bilden unparteiische Gerichte die beste Gewähr für eine unparteiische Entscheidung von Streitigkeiten, Vollkommen­ heit ist aber nicht immer erreichbar. In der Geschichte tritt der Richter erst auf, wenn das Ge­ meinwesen sich in die Streitigkeiten der einzelnen einmischt. Anfänglich überließ es sie privater Regelung; trotzdem gab es schon ein Recht. 3. Das Völkerrecht ist positives Recht, obwohl es keineZwangsgewalt überden Staaten gibt.

Völkerrecht.

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a) Die Erfüllung völkerrechtlicher Pflichten ist im Wege der Selbsthilfe erzwingbar. Der verletzte Staat darf seine Rechte selbst wahrnehmen. Besitzt er die hieyu erforderlichen Macht» mittel nicht, so bleibt der Rechtsbmch im einzelnen Fall allerdings ungeahndet; denn ein höheres Zwangsorgan gibt es nicht. Die Erfüllung völkerrechllicher Pflichten ist demnach minder sicher gewährleistet als die Erfüllung anderer Rechtspflichten. Die Durchsetzung des Rechts im Wege der Selbsthilfe ist indessen mit dem Begriff des positiven Rechts nicht unvereinbar; sie ist im Gegenteil dem staatlichen Zwang stets vorangegangen. Bekannt ist die Auffaffung des germa­ nischen Rechts: die schwere Missetat ist Friedensbmch und setzt den Verbrecher entweder der Feindschaft des Verletzten und seiner Sippe oder der des Gemeinwesens aus. Im ersteren, dem Regelfall, war die Selbsthilfe erlaubt. Noch im Mittelalter war das Fehderecht vielfach ein gesetzlich anerkanntes und an bestimmte Voraussetzungen geknüpftes Sättel zur Durchsetzung von Rechtsansprüchen. Vgl. den Mainzer Landfrieden vom 15. August 1235, ut nemo sibi vindicet sine iudicis auctoritate, § 5; Goldene Bulle cap. 17 § 2; Reformation von 1442 § 1. b) Die Erzwingbackeit ist kein dem Rechtsbegriff wesenlliches Merkmal. Es gibt unzweifel­ hafte Rechtsnormen, deren Befolgung nicht erzwungen wecken kann und darf: die Normen des konstitutionellen Staatsrechts, welche die Machtfülle des Monarchen einschränken; die Normen des Strafrechts sind auch für den Monarchen veckindlich, obwohl jeder Zwang aus­ geschlossen ist; der Satz: „Du sollst nicht stehlen" gilt auch für Ehegatten im Bechältnis zueinander, für Verwandte aufsteigender Linie im Verhältnis zu solchen absteigender Linie; twtzdem schließt das deutsche Strafrecht in diesen Fällen die Bestrafung des schuldigen Ehegatten oder Aszenbenten aus, nicht aber die der Teilnehmer (StGB. 247). Garantien für die Beobachtung der völkerrechllichen Normen bieten die öffenlliche Meinung, die Meinungsäußerung anderer Staaten, vor allem aber das den Staaten innewohnende Gemeinschafts- und Rechtsgefühl sowie der derzeitige Bestand des Völkerrechts selbst: jeder Staat steht zu den anderen in einer unendlichen Fülle von Rechtsbeziehungen, welche er nicht zu zer­ reißen vermag. Die Anerkennung des Böllerrechts haben die Staaten zu unzähligen Malen unzweideutig ausgesprochen. 1. Bei Staatsstreitigkeiten wird die Geltung des Böllerrechts nicht in Abrede gestellt, sondem nur darüber verhandelt, ob eine bestimmte Norm auf den Fall anwendbar und wie sie «mszulegen sei.

2. Begeht ein Staat einmal einen Rechtsbruch, so stellt er doch seine Pflicht zur Be­ obachtung des Rechts nicht in Abrede; mit Hilfe juristischer Deduktionen sucht er vielmehr seiner Handlung den Schein des Rechts zu geben und huldigt so noch dessen Macht.

3. In vielen Erllärungen der Staaten ist die allgemeine Geltung des Böllerrechts aus­ drücklich anerkannt: Pariser Kongreßakte vom 30. März 1856 Art. 7 — Einleitung zur Pariser Seerechtsdellamtion vom 16. April 1856 — Generalakte der Berliner Kongokonferenz vom 26. Februar 1885 Art. 9 — Einleitung der Haager Abkommen über die friedliche Schlichtung intemaüonaler Streitigkeiten und über das Landkriegsrecht sowie der Londoner Seekriegsrechtsdellaration (vgl. auch deren einleitende Bestimmung). Tatsächlich erfüllen die Staaten ihre Rechtspflichten viel regelmäßiger und pünktlicher als die einzelnen Menschen. Die vereinzelten Fälle der Pflichwerletzung fallen aber öffentlich auf; sie wecken in unbegründeter Weise verallgemeinert und liefern dann Stoff zu Klagen über das Verhalten der Staaten, über die Kraftlosigkeit des Völkerrechts.

§ 3.

3. Geltungsgebiet des Völkerrechts.

I. Es kann mehrere Böllerrechtsocknungen geben. Verschiedene Staatengruppen bilden dann je einen Kreis und erkennen besondere Regeln als für sich bindend an. Die für alle Staaten einer bestimmten Gruppe geltenden Rechtssätze dicken das gemeine Völkerrecht. Daß es ein solches gibt, wick zu Unrecht geleugnet. Das gemeine Böllerrecht muß von einem neugebildeten sowie von einem zu jener Gruppe hinzutretenden Staat« in seiner Gesamtheit anerkannt wecken (vgl. § 9). Partikuläres Völkerrecht gilt nur für diejenigen Staaten, welche die cknkrete Norm anerkannt haben.

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Paul Heilborn.

Die Entstehung des Böllerrechts ist keine Sache reiner Mlllür.

Sie setzt voraus:

a) eine derartige Entwicklung des Begehrs, daß dessen Regelung nach Zufall und Laune sich als unmöglich herausstellt. Die Rechtsordnung erscheint als eine Notwendigkeit. Es entsteht der „Rechtstrieb" (Sturm: Gewohnheitsrecht, 1900); b) eine Kulturgemeinschaft: im wesentlichen gleiche Anschauungen über Recht und Unrecht, über Pflichterfüllung. Daraus entspringt das Vertrauen, daß der andere Teil die Rechtsnorm nicht nur zu seinem Vorteil ausbeuten, sondem ihr auch dann nachleben toetbe, wenn sie seiner Selbstsucht entgegentreten sollte. Das Recht ist ein Erzeugnis menschlichen Geistes und menschlichen Wllens. Die Be­ dingungen seines Entstehens lasten sich deshalb nicht erschöpfend angeben. Die soeben aufgestellten Voraussetzungen des Völkerrechts ziehen ein solches nicht mit Notwendigkeit nach sich. Vielfach haben sich die Böller mit religiösen Satzungen beholfen: der Gesandte, der Fremde übechaupt steht unter dem Schutze der Götter. Oft war die Selbstsucht der einzelnen Staaten startet als die Bedürfnisse des Verkehrs und der Kultur.

II. Das Völlerrecht der modemen Kulturstaaten entwickelte sich anfänglich unter den auf antiker Kultur gegrlwdeten christlichen Staaten germanischer und romanischer Nation in Euwpa. Sie waren durch Verkehr und Kultur fest aneinander gefügt. Ihnen schlossen sich später die flämischen Staaten Europas ay. Mit Rücksicht auf seinen Ursprung heißt unser Völker­ recht das euwpäische Völlerrecht oder das öffentliche euwpäische Recht. Diese Bezeichnung hat aber nur noch geschichtliche Berechtigung; das Geltungsgebiet ist bedeutend erweitert. Es umsaßt gegenwärtig alle Staaten Europas und Amerikas, femer Japan, China, Siam und Persien. Hierzu ist zu bemerken: a) Die Kolonie» eines Staats sind völkerrechtlich Bestandteile des Mutterlandes; das Völlerrecht findet auf sie in gleicher Weise wie auf das Mutterland Anwendung. Die aus Kolonien entstandenen unabhängigen Staaten Amerikas traten deshalb ohne weiteres in die euwpäische Völlerrechtsgemeinschaft ein.

b) Die Türkei wurde auf dem Pariser Kongresse (Art. 7 der Kongreßakte vom 30. März 1866) der Vorteile des öffentlichen euwpäischen Rechts teilhaftig ertlärt. Bis zum Jahre 1856 waren ihre Beziehungen zu den übrigen Staaten Europas folgendermaßen geregelt:

1. Für gewisse Angelegenheiten hatte sich ein Sonderrecht gebildet, z. B. für die Stellung der Konsuln und Untertanen der christlichen Staaten in der Türtei, für die Schiffahrt durch Bosporus und Dardanellen. 2. Einzelne Sätze des euwpäischen Völkerrechts waren bereits im Verkehr mit der Türtei zur Annahme gelangt, aber sie waren vereinzelt geblieben; eine Berufung auf andere Sätze war ausgeschlossen. Der Pariser Kongreß hat das Sonderrecht bestehen lassen. Soweit es nicht in Frage kommt, finden auf den Bertehr zwischen der Türtei und den sechs übrigen Vertragsmächten seitdem alle Regeln des gemeinen euwpäischen Völkerrechts Anwendung, welche im Verkehr der christlichen Staaten untereinander ausgebildet sind. Die Aufnahme der Türtei in die euwpäische Völlerrechtsgemeinschaft ist von den aus dem Pariser Kongreß nicht vertretenen Staaten anerkannt worden.

c) Eine förmliche Aufnahme asiatischer und afrikanischer Staaten in die euwpäische Völkerrechtsgemeinschaft hat nicht stattgefunden. Nach Herstellung eines regelmäßigen Vertehrs int 19. Jahrhundert nahmen Persien und die ostasiatischen Staaten den euwpäischen gegenüber eine Stellung ein, wie die Türtei sie bis zum Jahre 1856 innegehabt hatte : neben einem aus­ drücklich vereinbarten Sonderrecht galten noch einzelne, nachweislich anertannte Normen des gemeinen Völkerrechts. Für Japan ist das Sonderrecht mit dem 17. Juli 1899 erloschen und das gemeine Völlerrecht schlechthin in Kraft getreten. In China, Siam und Persien besteht das Sonderrecht fort; im übrigen ist jetzt das gemeine Völlerrecht auch für den auswärtigen Vertehr dieser Staaten maßgebend: bei der Bedeutung des auf den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 geschaffenen Werkes ist in der Einladung zu, in der Teilnahme an ihnen, in Verbindung mit der teilweisen Ratifikation der auf ihnen entstandenen Abkommen der Beweis

Völkerrecht.

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dafür zu ecklicken, daß die beteiligten Mächte sich wechselseitig als Mitglieder der nämlichen Völkerrechtsgemeinschaft anerkennen. — Zu anderen Staaten — wie Äthiopien, Liberia und Marokko — bestehen nur vereinzelte Verkehrs- und Rechtsbeziehungen. Die Staaten europäischer Kultur können sich ihnen gegenüber nur auf die nachweislich anerkannten Normen bemfen.

8 4. 4. Geschichtliche Entwicklung. Literatur. Ward: Enquiry into the foundation and history of the law of nations,. 1795; Wheaton: Histoire des progr6s du droit des gens en Europe et en Am6rique depuis la paix de Westphalie jusqu’A nos jours (4), 2 Bde., Leipzig 1865; Laurent: Etudes sur Fhistoire de FhumanitA Histoire du droit des gens et des relations internationales, 18 Bde., Brüssel 1855ff.; Pierantoni: Trattato di diritto intemazionale, Bd. 1, Rom 1881; Walker: A history of the law of nations, Bd. 1, Cambridge 1899; Nys: Le droit de la guerre et les pricurseurs de Grotius, Brüssel 1882; Nys: Les origines de la diplomatie et le droit d’ambassade jusqu’ä Grotius, Brüssel 1884; Rys: Les origines du droit international, Brüssel 1894; Nys: Stüdes de droit inter­ national et de droit politique, Brüssel 1896; Kräusle: Die Entwicklung der ständigen Diplomatie, Leipzig 1885; v. Scala: Die Staatsverträge des Altertums, Leipzig 1898; Lameire: Theorie et pratique de la conquSte dans Fanden droit, 3 Bde., Paris 1902/05; CybichowSki: Das antike Völkerrecht, BreSlau 1907; Wheeler: Etüde sur Fhistoire primitive du droit international, Rev. 40 5/30; Schücking: Die Organisation der Welt, Festgabe für Laband, Tübingen 1906; Dubois: Le prindpe d*6quüibre et le Concert europien, Paris 1909; Phillipson: The international law and custom of andent Greece and Rome, 2 Bde., London 1911; Schücking: Der Staatenverband der Haager Konferenzen, Leipzig 1912; Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, Bd. 1 Abschnitt 1; Jellinek 280—323; v. Bezold, Gothein, Koser: Staat und Gesellschaft der neueren Zen, die Kultur der Gegenwart II V 1, Berlin u. Leipzig 1908. I. Die Grundlagen. Bon jeher haben Staaten Kriege geführt, Gebietserwer­ bungen gemacht, Verträge geschlossen. Die hierbei im Mertum beobachteten Formen weisen in mancher Hinsicht Ähnlichkeit auf mit denen der modemen Welt. Ein geschichtlicher Zu­ sammenhang ist aber nicht ohne weiteres gegeben. Für einzelne Gebräuche tottb sich ein solcher freilich nachweisen lassen. An dieser Stelle können indessen nicht alle Umstände klargelegt wecken, welche auf das euwpäische Völkerrecht der Gegenwart eingewirkt haben. Die bedeutendsten Tatsachen sind:

1. die Verkehrs- und Kulturgemeinschaft der germanischen und «manischen VölkerEuwpas im Mittelalter; 2. die Entstehung des modemen Staats. Dem Islam gegenüber fühlten sich die christlichen Nationen als eine Einheit. Dieser Gedanke konnte durch eine entgegengesetzte Sonderpolitik zeitweise veckunkelt, aber nicht ver­ wischt wecken. Die Kreuzzüge legen beredtes Zeugnis für ihn ab. Aber nicht nur im Gegen­ satz zu den Mohammedanem tritt jene Einheit hewor. Sie wurzelt vielmehr in verschiedenen Faktoren, welche die euwpäischen Völker innerlich zusammenschlossen. Als solche Faktoren hebt Holtzendorff mit Recht hewor: die Ausbreitung der Germanen über einen gwßen Teil Euwpas, die gleichmäßige Herrschaft der einen Kirche, Lehnswesen und Rittertum, die städtische Gemeindefreiheit und den Handel (Handbuch des Völkerrechts Bd. I). Durch diese teils realen^ teils idealen Mächte ist eine Verkehrs- und Kulturgemeinschaft geschaffen wocken; sie dauert bis auf unsere Tage fort und hat sich über einen gwßen Teil der Welt ausgedehnt. Unmittelbar praktische Bedeutung für die Ausbildung des Völkerrechts erlangte indessen nur der internationale Handelsverkehr der freien Städte. In ihm — zunächst an den Gestaden des Mittelmeers — haben sich wichtige Rechtssätze ausgebildet; in ihrer Fortentwicklung machen sie noch heute einen wesentlichen Bestandteil des Völkerrechts aus: das Seerecht und das Kon­ sulatwesen. Unter den mittelalteckichen Seerechtssammlungen nimmt das Consolato del maie den ersten Platz ein. Zur Herstellung einer Verkehrs- und Kulturgemeinschaft unter den Bölkem Euwpas haben die weit veckreiteten ständischen Einrichtungen und das Papsttum erheblich beigetragen. Sie haben aber der Ausbildung des modemen Völkerrechts — so wie dieses sich entwickelt hat — in mancher Hinsicht auch entgegengewirkt. Als Lehnsherr nahm der Papst eine direkte Ober­ herrschaft über eine Reihe bedeutender Staatswesen in Anspmch. Als geistliches Oberhaupt

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sortierte er Gehorsam von allen weltlichen Gewalten (vgl. die Bulle Unam sanctam vom Jahre 1302; c. 1 Extrav. comm. 1,8). Diesen Ansprüchen auf Weltherrschaft traten theoretisch die des Kaisers, praktisch das Selbständigkeitsgefühl aller Landesherren gegenüber. Die wellliche Politik machte den Papst zum Verbündeten der Vasallen gegen ihren Lehnsherrn. Er war eine außerhalb des Staats stehende Macht und gebot den Untertanen eventuell Mdersetzlichkeit gegen ihren Staat. Eine unabhängige, keiner höheren Gewalt unterworfene Staatsgewalt routbe weder von außen, vom Papste, noch im Innern von den Vasallen anerkannt, welche unter Berufung auf ihn den Gehorsam verweigerten. Der mittelalterliche Staat beruhte, wie Ranke sagt „auf einer Freiheit des Individuums und der Korporationen, die jeden Einfluß der zentralen Gewalten sorgfältig abzuwehren suchte". Er „war noch nicht geschlossen, sondem seine Geisllichkeit von einem entfernten Oberhaupt abhängig, sein Adel und seine Städte dergestalt gespalten, daß es jeder mehr mit seinen Standes­ genossen in anderen Ländem als mit seinen Mitbürgern in demselben Lande hielt" (Ranke: Die Osmanen und die spanische Monarchie 176). Die Freiheit des Individuums war freilich keine allgemeine, wie im modernen Staat, dafür aber eine um so größere auf feiten der ein­ zelnen bevorrechteten Personen. Ihre und der Stände Frecheit und Selbständigkeit traten der Staatsgewalt entgegen. Sie standen zwischen dem Landesherm und der Masse der Unter­ tanen. Im inneren Kampf zersplitterten sich die Äröfte. Jedes größere auswärtige Unter­ nehmen hing davon ab, ob die Vasallen und wiederum deren Astervasallen der Lehnspfljcht entsprachen oder nicht. Für die Entwicklung des Völkerrechts war deshalb die Überwindung des ständischen Staats­ wesens und der päpstlichen Machtansprache von größter Bedeutung. Die entscheidenden Tat­ lachen fallen in das Zeitalter der Reformation, in die Zeit vom Ende des 15. Jahrhunderts bis 1648. Die kirchliche Spaltung setzte der Weltherrschaft des Papstes ein Ende. In protestantischen Ländem wurde sie nicht mehr anerkannt. Aber auch das Bechältnis des Papstes zu den katho«tischen Staaten änderte sich: zur Unterdrückung der Ketzer war er auf die Fürsten angewiesen; die Stärkung der landesherrlichen Gewalt entsprach oft seinen Interessen. Der modeme Staat ist in Italien entstanden. Nach dem von Kaiser Friedrich II. in seinem Königreich beider Sizilien gegebenen Borbilde richteten sich die zahlreichen Gewaltherrschaften auf italischem Boden im 14. und 15. Jahrhundert: durch „bewußte Berechnung aller Mittel", durch ausschließliches Handeln nach Zweckmäßigkeit erlangten die Tyrannen „fast absolute Machtvollkommenheit innerhalb der Staatsgrenzen". Dem einen Machtzweck mußte alles sich fügen und dienen. Die bedeutenderen Stadttepubliken tourben nach gleichen Grundsätzen regiert (Burckhardt). Der in Italien zuerst verwirklichte Gedanke des Einheitstaats hat dann in Frankreich, Spanien und England die Herrschaft erlangt. Im Anschluß an Holtzendorff (Handbuch des Völkerrechts 1377/9; vgl. auch Jellinek a. a. O.) seien als charakteristisch sowohl für den modemen Einheitstaat wie auch für die völkerrechtliche Entwicklung folgende Punkte heworgehoben: 1. die Einheitlichkeit und Unteilbarkeit des Staatsgebiets. Die in der Hand eines Herr­ schers vereinigten Landesteile bilden nicht mehr rechtlich getrennte politische Gemeinwesen, die nur durch die Einheit des Landesherm zusammengehalten werden, aber jederzeit im Wege der Erbteilung oder sonstwie auseinanderfallen können. Sie werden vielmehr zu einem einheit­ lichen Staatswesen verschmolzen, sollen unter allen Umständen vereinigt bleiben und auch nicht in Form des Lehnsverbandes einem andem sich unterordnen;

2. die gleichmäßige Unterwerfung aller Landesbewohner unter die Staatsgewalt. Ihrer Durchfühmng können persönliche oder Standesvorrechte nicht mehr entgegengehalten werden. Nur durch manchen Rechtsbmch löste sich der Staat von den mittelalterlichen VerhälMissen los. Die Bemfung der (Stofen Egmont und Hoorn auf die den Rittem des goldenen Vließes zustehende Sondergerichtsbarkeit wies Alba mit dem charakteristischen Ausspmch zurück, daß er a connu et connait de cette cause par Commission de Sa Majestii, comme son souverain seigneur de ce pays et non comme chef de Vordre de la Toison d’or (Ranke a. a. O. 376). Mit Beseitigung dieser Vorrechte ging die der Abhängigkeitsverhältnisse Hand in Hand, wenigstens

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soweit sie die durchgreifende Herrschaft der Staatsgewalt hinderten. Es wird ein allgemeines, für alle Staatsgenossen gleichmäßig geltendes Landesrecht möglich; 3. die Einheillichkeit der militärischen Gewalt. Der Staatsgewalt ist jedermann gleich­ mäßig unterworfen; von ihr wird jedermann gleichmäßig geschützt. Bewaffnete Selbsthilfe und Privatkriege werden verboten. Der Staat aber schafft sich ein „von dem Zufall der Lehnstreue unabhängiges" Heerwesen. In Deutschland hat sich dieser Umschwung nur innerhalb der einzelnen reichsständischen Terriwrien, auch hier aber im wesentlichen erst nach dem Dreißigjährigen Kriege vollzogen. In dem Maße, in welchem die Staaten im Jnnem sich zusammenschlossen, erlangten sie die Kraft zu auswärtiger Politik. Es beginnen die Kämpfe um Erhaltung des europäischen Gleichgewichts. II. Das Völkerrecht im Resormationszeitalter bis zum West­ fälischen Frieden. Mit der Ausbildung des modemen Staats vollzieht sich die des völkerrechtlichen Subjekts. Es ist der Staat; er allein ist es. Wie im Jnnem, so untersagt er seinen Untertanen auch den Krieg nach außen hin. Daß die Bölkerrechtsfähigkeit des Staats nicht an seine oder seines Herrschers Legitimität geknüpft sei, stand wenigstens in Italien fest. Wer auch die Königin Elisabeth hatte bereits 1578 einen ständigen Gesandten bei den Generalstaaten, noch ehe sie deren Souveränität formell anerkannt hatte (Krauske 108). In Deutsch­ land gewährte der Religionsfriede von Augsburg 1555 den Reichsständen, nicht den Unter­ tanen, freie Wahl zwischen «mgsburgischer und katholischer Konfession, erkannte mithin grundsätzlich beide als gleichberechtigt an. Unter den völkerrechtsfähigen Staaten ergaben sich Unterschiede damus, daß ein Teil

von ihnen noch in lehnrechtticher Whängigkeit von anderen stand. Den Titel ambasciatore erkannte Karl V. nur den Gesandten von Königen und der Republik Venedig zu, nicht den Verrettem von Staaten und Fürsten, deren Souveränität durch irgendein Lehnsvechältnis beschräntt wäre. Im 17. Jahrhundert wollten die Generalstaaten nur hinter gekrönten Häuptem und Venedig zurückstehen; vor den abhängigen deutschen Kurfürsten beanspmchten sie den Vor­ rang lKrauske 155, 214). Die wichtigste Rechtsbildung in dieser Periode ist neben dem modemen Staat selbst seine Folgeerscheinung: das ständige Gesandtschaftswesen. Mit dem Einheitstaat in Italien entstanden, vomehmlich von Venedig ausgebildet, hat sich die neue Einrichtung im Zeitalter Fertnnands des Katholischen in Spanien, Frankreich, England und Österreich eingebürgert. Gegen Ende des 16. Jahchunderts drang sie zu den nöMichen Ländem vor; im 17. Jahrhundert wurde sie auch hier allgemein Mich (Krauske). Das ständige Gesandtschaftswesen erleichterte den Wschluß von Staatsverträgen ungemein, führte aber zu einer wichttgen Neuerung auf diesem Gebiete. Früher hatte die dem Unter­ händler erteilte Vollmacht genügt, um den Fürsten bzw. den Staat zu verpflichten. Ferdinand der Katholische hat 1503 wohl zuerst den Gmndsatz aufgestellt: der von seinem Gesandten ab­ geschlossene Vertrag binde nur, nachdem er von ihm, dem König, noch genehmigt sei. Vom Standpunkt der damaligen Zeit aus mag das Verhalten des katholischen Königs als Rechtsbmch oder Treulosigkeit erscheinen. Die Staatspraxis ist ihm aber gefolgt, weil sein Grundsatz den Bedürfnissen des Staats entsprechend befunden wurde. Einzelne Materien des Völkerrechts, vor allem das Kriegsrecht, auch das Gesandtschafts­ und Zeremonialwesen, Bündnisse und Repreflalien, werden in dieser Periode oft zum Gegenstand wissenschaftlicher Bearbeitung gemacht. Hugo Gwttus aber in seinem 1625 ver­ öffentlichten Werke de iure belli ac pacis libri tres erfaßt nicht nur das Völkerrecht als eine Ge­ samtheit zusammenhängender Rechtsvorschriften, sondem macht diese Erkenntnis zum Gemein­ gut der Menschheit. III. Das Völkerrecht vom Westfälischen Frieden bis zum Wiener Kongreß (1648—1815). Gegen die Zersplitterung der Kräfte im ständischen Staat des Mittelalters hatte das Reformationszeitalter durch Schaffung des Einheitstaats in gesunder Weise reagiert. Die Blüteperiode des fürstlichen Wsolutismus führte den Gedanken der Staats­ allmacht in rücksichtsloser Weise durch. Sie überspannte chn, sofern die persönliche M- und

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Übermacht des Herrschers zu einer Identifizierung seiner Interessen mit denen des Staats führte. Das Wort „L’Etat c’est moi“ ist typisch. Nach Belieben griff der Staat in die Interessen seiner Bürger ein, wo sein eigener Vorteil es zu gebieten schien (Verkauf deutscher Untertanen zum Dienst in der englischen Armee). Aber er förderte sie auch nach Kräften, wenn dieser es gebot: die staatliche Handelspolitik spielte eine große Rolle. In Frankreich führte Colbert das Merkantilsystem mit viel Geschick durch; in England fand es seine Verkörperung in der be­ rühmten Navigationsakte Cromwells von 1651. Eine Staatsgewalt, die sich im Innern alles erlaubt, ist nicht gewillt, sich nach außen hin Schranken aufzuerlegen: Mazarins Theorie von den natürlichen Grenzen Frankreichs, die Reunionen Ludwigs XIV. Das Völkerrecht war noch nicht sehr gefestigt; seine Entwicklung weist wenig große Momente auf. Wenn die Diplomaten zusammenkamen, so bewährte sich das Zeit­ alter der Allongeperücke und des Zopfes vor allem in endlosen Rang- und Etikettestreitigkeiten. Immerhin ist manches Wichtige erreicht und manches Samenkorn in die Erde gesenkt worden, welches im 19. Jahrhundert zur Blüte kommen sollte. Der Westfälische Friede ist der erste europäische Staatsakt. An den Verhandlungen nahmen fast alle wichtigen Staaten teil. Förmlich anerkannt wurde die Unabhängigkeit der Schweiz und der Niederlande, d. h. zweier Verbände von Staaten, welche sich im Wege der Empörung gebildet hatten. Für Deutschland wurde die Gleichberechtigung der drei Konfessionen und die Fähigkeit der Reichsstände zur Eingehung von Bündnissen — nur nicht gegen Kaiser und Reich, den Landfrieden und den Westfälischen Frieden — ausgesprochen. Durch die Vereinbarung mit Frankreich und Schweden erhielten diese Bestimmungen völkerrechtliche Bedeutung. Frank­ reich und Schweden, ein katholischer und ein protestantischer Staat, verbürgten sich ebenmäßig für die Aufrechterhaltung der religiösen Gleichberechtigung und erklärten jeden Widerspmch für nichtig, möge er von geistlicher oder weltlicher Seite, aus dem Reich oder von außerhalb her erhoben, auf kanonisches Recht oder Konzilienschlüsse gestützt werden. (Instr. Pacis Osnabr. Art. 5 § 1, Art. 17 § 2, Dumont VI 1, 473, 488.) Die Ansprüche des Papstes waren beiseite geschoben. Der Protest Innozenz' X. vom 26. November 1648 (ebenda 463) konnte daran nichts ändern. — Mit der Bündnisfähigkeit war den Reichsständen auch die zur Kriegführung gegeben; sie hatten beschränkte völkerrechtliche Rechtsfähigkeit erlangt. Ihre Staatsgewalt wurde als Landeshoheit bezeichnet. Den Ausdruck „Souveränität" hatte der Kaiser ausdrücklich zurück­ gewiesen, weil er allein Souverän im Reiche sei. (Mejer: Einleitung in das deutsche Staats­ recht (2), § 21 A. 13.) Nach dem zu Münster und Osnabrück gegebenen Beispiel haben die Staaten sich fortan oft zur Beratung gemeinsamer Angelegenheiten auf Kongressen vereinigt: Pyrenäenkongreß, 1659, Aachen 1668, Nymwegen 1678, Ryswick 1697, Utrecht 1713, Aachen 1748. Es wurde regelmäßige Staatspraxis, Fragen von allgemeiner Bedeutung in dieser Weise zu behandeln. Der Kreis der Völkerrechtsgemeinschaft wurde erweitert, als Rußland seit Peter dem Großen sich regelmäßig und aktiv an den europäischen Staatsangelegenheiten beteiligte. Das Verhältnis zur Türkei erfuhr wesentliche Ändemngen. Nach der Schlacht von Zenta (1697} hörten die Osmanen auf, von Tributen zu reden; in den Besprechungen über den Frieden von Karlowitz (1699) unterwarfen sie sich einer regelmäßigen Unterhandlung mit der anderen, als gleichberechtigt anerkannten Partei (Ranke a. a. O. 57, 80). Zu Passarowitz wurde im Jahre 1718 neben dem Friedensvertrage ein regelrechter Handels- und Schiffahrtsvertrag für den wechselseitigen Verkehr zwischen dem Kaiser und dem Sultan geschlossen, während die früheren Kapitulationen immer nur die Stellung der Untertanen christlicher Mächte in der Türkei ge­ regelt hatten. Von einem „ewigen" Frieden war noch keine Rede. Mit den Ungläubigen ver­ einbarten die Muselmanen höchstens Waffenstillstände auf bestimmte Zeit. Die Friedensverträge von Karlowitz und Passarowitz wurden teils schon als solche, teils als armisticia bezeichnet und sollten nur 25 bzw. 24 Jahre in Geltung sein. Im Laufe des 18. Jahrhunderts hat sich dann die Türkei zum Abschluß regelrechter Friedensverträge verstanden. Die republikanische Regiemng Englands mußte sich ihre Anerkennung erringen. Cromwell wurde allgemein als „Vater der Illoyalität" betrachtet (Ranke). Neben Spanien gebärdeten sich namentlich die selbst aus der Revolution hervorgegangenen Generalstaaten als die Wächter der Legitimität. Die Macht des Protektors siegte indessen über diese Vomrteile. Bald wurden

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seine Gesandten allgemein empfangen; 1654 konnte er mit Schweden, 1657 mit Frankreich ein Bündnis schließen. Die auf Erhaltung des europäischen Gleichgewichts gerichtete Politik erhielt ihre theo­ retische Begründung namentlich durch Mnelon. Nach seiner Lehre darf kein Staat eine solche Übermacht erlangen, daß Freiheit und Unabhängigkeit der anderen dadurch gefährdet werden; um es zu verhindern, dürfen die bedrohten Staaten sich verbünden; selbst wenn die Übermacht in rechtmäßiger Weise erworben werde, müsse das Recht des einzelnen dem natürlichen Recht aller auf Sicherheit nachstehen. Mnelon wollte hiermit nur die Verteidigung rechtfertigen. Seine Theorie lieferte aber einen bequemen Deckmantel für gewinnsüchtiges Vorgehen. Gegen jede im Wege rechtmäßiger Thronfolge, durch Heirat oder Erbvertrag herbeigeführte Gebietsvergrößemng konnte interveniert werden; man behauptete ein Recht, sie zu untersagen, oder man forderte „Kompensationen". Ihre Erlangung war nicht selten das Ziel der Wünsche. In Verbindung mit dem Merkantilsystem führte der Gedanke der Staatsallmacht zu dem Bestreben, den fremden Verkehr im Inland nach Möglichkeit zu beschränken, den eigenen Ver­ kehr mit dem Ausland aber zu kräftigen. Nach der Navigationsakte vom Jahre 1651 durften überseeische Waren in England nur auf englischen, europäische Waren auch nur auf englischen oder auf den Schiffen des Landes eingeführt werden, in dem diese Waren ihren Ursprung hatten. Der Schiffahrtsverkehr auf den Flüssen war schon in früheren Zeiten mit hohen Zöllen belastet worden. Mit dieser Einnahmequelle begnügte man sich nicht mehr. In den Hauptverträgen von Münster und Osnabrück wurde zwar die Freiheit der Schiffahrt auf Rhein und Weser unter den alten Bedingungen und Zöllen anerkannt; nach ihrem Vertrage mit Spanien vom 30. Ja­ nuar 1648 Art. 14 waren die Niederlande aber berechtigt, die Schelde, die Kanäle von Sas und Zwyn, sowie andere Mündungen daselbst zu sperren, d. h. jeglichen Verkehr zwischen Antwerpen und dem Meere zu hindern (Dumont V11 S. 431). Die Schiffahrt durch Sund und Belte ge­ stattete Dänemark nur gegen Erlegung hoher Zölle. Während England und die Niederlande den fremden Handel im eigenen Lande nach Möglichkeit unterdrückten, waren sie, wie auch Schweden, eifrig bestrebt, den Sundzoll zu beseitigen. Schweden war 1645—1720 von ihm -befreit, die Holländer nur 1649—1653. Die Bemühungen waren immer nur auf Sonder­ vorteile, nicht auf allgemeine Freiheit der Schiffahrt gerichtet. Im Jahre 1649 bedangen sich die Holländer ausdrücklich aus, daß die ihnen zugestandene Befreiung vom Zolle keinem anderen, nicht bereits befreiten Staate gewährt würde. Der Unterdrückung des fremden Handels dienten ouch die Ansprüche auf „Eigentum" an größeren Teilen des Ozeans. England hat sie in dieser Periode mit besonderem Nachdruck zur Geltung gebracht. Die Ausbreitung des eigenen Handels im Auslande wurde durch Verträge gefördert. Für den Schutz der Untertanen mußte aber auch gesorgt werden; das Gesandtschafts- und Konsularwesen diente diesem Zweck. Letzteres war im Mittelalter nur eine Angelegenheit der freien Städte gewesen. Nunmehr bestellten die größeren Staaten Konsuln im Auslande; der Konsul wird Beamter des Heimatstaats. Vor­ bildlich war die französische Marineordonnanz von 1681. Die bedeutendsten Umwandlungen haben sich im Kriegsrecht vollzogen.

1. Der Kriegsgefangene war im Mittelalter häufig Privatgefangener desjenigen, der sich seiner Person bemächtigt hatte. Jedenfalls hing, von besonderen Fällen abgesehen, sein Schicksal ganz vom Willen des Gewalthabers ab. Die Freiheit erlangte er regelmäßig nur gegen Lösegeld. Dies konnte während des Krieges, mußte aber keineswegs bei dessen Beendigung geschehen. Mit dem Verschwinden der Privatkriege und dem Aufkommen der Staatsheere gerät der Gefangene in die Gewalt des feindlichen Staats allein. Dieser hat über ihn zu be­ stimmen und erhält das Lösegeld. Von mittellosen Söldnem konnte es nicht erpreßt werden; wohl aber hatte der Staat ein Interesse, seine in Gefangenschaft geratenen Truppen bald­ möglichst wiederzubekommen. Er zahlt also das Lösegeld. Schon während des Krieges werden mitunter Kartelle über die Auswechslung von Gefangenen geschlossen. In den Friedensverträgen wird die Freilassung aller Gefangenen, zunächst gegen, später auch ohne Lösegeld, bedungen. Die Gefangennahme feindlicher Personen geschieht nicht mehr zum Zweck der Bereichemng, sondern lediglich zur Schwächung der feindlichen Kriegsmacht. Mit Beendigung des Krieges fehlt demnach jeder Titel zur Aufrechterhaltung der Gefangenschaft. So wurde in der zweiten Hälfte des 17. und im 18. Jahrhundert die Entwicklung des modernen Grundsatzes angebahnt:

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der Gefangene darf nicht getötet wecken; mit Beendigung des Krieges sind alle Gefangenen freizulassen. 2. Die friedliche Bevölkerung des feindlichen Landes. Die von den Heeren Ludwigs XIV. begangenen Greueltaten sind bekannt; auch während des Siebenjährigen Krieges verübten Russen und Österreicher noch viele Grausamkeiten. Im 18. Jahchundert wurde es aber Grund­ satz: die kriegerische Gewalt wendet sich im Landkriege vomehmlich gegen die feindlichen An­ griffs- und Berteidigungsmittel, d. h. gegen das feindliche Heer und die Befestigungen, nicht gegen die friedliche Bevölkemng des feindlichen Landes. Sofern sie sich wirklich friedlich ver­ hält, ist sie in ihrer Person und in ihrem Eigentum nach Möglichkeit zu schützen. (Dattel III 8 §§ 145/8. — ALR. I 9 § 197. — Vertrag zwischen Preußen und den Bereinigten Staaten vom 10. IX. 1785 Art. 23; Martens, Recueil (2), IV 47.) Mit dem Gedanken des Einheit­ staats und des Staatskrieges wurde es anderseits unvereinbar, daß ein Teil des Volks selbständig über sein Schicksal entschied. Aus der Übergabe einer feiMichen Stadt konnte der Sieger nicht mehr das Recht zu deren Einverleibung in sein Gebiet herleiten. 3. Die Neutralität. Dem Kriegführenden ist jedes Mittel willkommen, welches ihm zum Siege verhilft, mag es den Feind oder einen Dritten treffen. Die Klugheit gebietet indessen oft eine Beschränkung der kriegerischen Gewalt auf den Feind. RechÜich wucke ihre Ausdehnung auf die am Kriege nicht teilnehmenden — neutralen — Staaten erst in neuerer Zeit unzulässig. Die Neutralität hat sich im Anschluß an den modemen Staat und dessen Terriwrialgewalt ent­ wickelt. Wer am Kriege nicht teilnimmt, will ihn auch von seinem Gebiet femhalten. Schon im Zeitalter der Königin Elisabeth war der Begriff der Neutralität wohlbekannt. Im Frieden von Münster (§ 3) versprachen der Kaiser und der König von Frankreich, die wechselseittgen Feinde in keiner Weise zu unterstützen (Dumont VI 1 S. 451). Der Ausgangspunkt der Neutralität, die Nichtteilnahme am Kriege, wucke dann erblickt, daß der Neutrale dem einen Kriegführenden keine Begünstigung angedeihen lassen dürfe, welche dem Gegner schaden könne; folglich konnte er beiden Teilen die nämliche Begünstigung erweisen, ihnen z. B. die Benutzung seines Ge­ biets, insbesondere den „unschuldigen" Durchmarsch gestatten. Mt der Unpatteilichkeit wurde es noch nicht sehr stteng genommen. Einzelne, nur dem einen Knegführenden erwiesene Be­ günstigungen wucken als unvollständige Neutmlität entschuldigt. Der Benachteiligte durfte sie hindem, die Neutralität selbst aber nicht in Frage stellen. Nur langsam brach sich der Gmndsatz Bahn, daß eigentliche Kriegsakte, Schlachten, Wegnahme von Schiffen, in neutralem Gebiet schlechthin unzulässig sind. Mächtige Staaten benutzten den Seekrieg gern, um auch den Handel der Neutralen em­ pfindlich zu schädigen: die sämtlichen Küsten des Feindes wucken auf dem Papier für blockiett etflärt, die dorthin segelnden neutralen Schiffe als Blockadebrecher weggenommen. Waren, deren der Feind bedurfte, wucken zur Kriegskonterbande gestempelt und ihre Zufühmng den Neutralen untersagt. Für den Fall, daß neutrales Gut auf feindlichem Schiff oder feindliches Gut auf neutralem Schiff verfrachtet war, hielt England das schon vom Consolato del mare aufgestellte System fest: feindliches Gut ist auf neutralem Schiff der Wegnahme unterworfen, neutrales Gut auf feindlichem Schiffe frei. Die französische Praxis handhabte lange Zeit hin­ durch folgende Regel: wenn Schiff oder Ladung feindlich ist, so sind beide zu konfiszieren; 1744 wurden neutrale Schiffe für frei erklärt, auch wenn sie feindliches Gut fühtten; doch wurde diese Regel nur auf diejenigen Staaten angewendet, mit denen sie vereinbart war. (Dgl. Perels: Das intemationale öffentliche Seerecht [2] 225/26.) Für die Neutralen war sowohl die englische wie die französische Praxis nachteilig; am schlimmsten aber war, daß die beiden Seemächte ver­ schiedenen Grundsätzen huldigten, und daß es seit der Niederzwingung der holländischen Seemacht keinen Staat gab, der auch nur einer jener beiden Mächte zur See gewachsen war. Eine Ber­ einigung der anderen Staaten konnte allein Wandel schassen. Das beabsichtigte Rußland, als es im Jahre 1780 die „erste bewaffnete Neutralität" mit Schweden und Dänemark zustande bmchte. Es wurden folgende Sätze aufgestellt: 1. Der neutrale Seehandel mit den Plätzen der knegführenden Staaten ist frei. 2. Mit Ausnahme der Kriegskonterbande ist feindliches Gut auf neutralem Schiff frei. 3. Kriegskonterbande sind nur die in Verträgen als solche anerkannten Gegenstände. 4. Ein Hafen gilt nur dann als blockiert, wenn das blockierende Geschwader in seiner Nähe sich aufhält, so daß die Einfahtt offensichtlich mit Gefahr veckunden

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ist. 5. Neutrale Schiffe dürfen nur aus gerechtem Anlaß und auf offenkundige Tatsachen hin angehalten werden; die Wurteilung soll schnell erfolgen, das Verfahren einheitlich, rasch und gesetzmäßig sein; den zu Unrecht Ungehaltenen ist Schadensersatz zu gewähren. — Zur Durch­ setzung dieser Regeln sollten die verbündeten Staaten Waffengewalt aufbieten. Die Nieder­ lande, Preußen, Österreich, Portugal und beide Sizilien traten der bewaffneten Neutralität bei; Frankreich erkannte ihre Gmndsätze an. Die zweite bewaffnete Neutralität vom Jahre 1800 wiederholte sie noch einmal. Bei dem Wderspmch Englands konnten sie indessen noch keine praktische Geltung erfragen; sie hatten mehr symptomatische Bedeutung. Für die Fort­ bildung des Völkerrechts im 19. Jahrhundert haben sie aber die Grundlage geschaffen. Be­ sondere Beachtung verdient auch ALR. I 9 §§ 205 ff., 212/19, II 8 §§ 2084/40.

IV. Das Völkerrecht vom Wiener Kongreß bis zur Gegenwart. An dem Grundsatz unbedingter Souveränität haben die Staaten im 19. Jahrhundert fest­ gehalten, sich aber vielfach bei deren Ausübung sowohl den Untertanen wie auch anderen Staaten gegenüber beschränkt. Die Pwklamation der Menschenrechte in Amerika hat in fast allen Staaten Europas zu konstitutionellen Einrichtungen geführt. Der Untertan ist Staatsbürger geworben: er äußert einen — wenn auch bescheidenen — Einfluß auf die Entstehung des Staatswillens, und er hat dem Staat gegenüber eine rechllich bestimmte Freiheitsphäre. Die Anerkennung der Menschenrechte hat auch seine Stellung zu fremden Staaten erheblich beeinflußt. Die französische Revolution hatte die sich ausdehnende Kraft der Ideen bewiesen und gezeigt, daß die inneren Vorgänge in einem Staat für andere Staaten nicht immer gleich­ gültig sein können. Die Kriege Napoleons I. hatten ganz Euwpa in Mitleidenschaft gezogen und die einzelnen Staaten einander genähert. Die Heilige Mianz — gegründet von Öster­

reich, Preußen und Rußland am 26. September 1815 Wartens: Nouv. Bee. II 656), praktisch ausgedehnt auf England am 20. November 1815 (ebenda 734) und auf Frankreich am 4./12. No­ vember 1818 (ebenda IV 556/60) — wollte alle Angelegenheiten von allgemeiner Bckeutung durch gemeinschaftliches Vorgehen regeln. Als solche allgemeine Angelegenheiten betrachtete sie auch gewisse innere Vorgänge, insbesondere Empörungen innerhalb der einzelnen Staaten. Sie beurteilte diese vom Standpunkt der Legitimität aus, d. h. sie unterstützte, eventuell durch bewaffnete Jntewention, die bestehenden, vom Mener Kongreß eingesetzten Gewalten: Kon­ gresse zu Aachen 1818, Troppau 1820, Laibach 1821, Verona 1822. Was in Neapel, Sardinien und Spanien gelungen war, sollte auch bei den von Spanien abgefallenen Kolonien in Amerika ins Werk gesetzt wecken. Dieser Versuch scheiterte an dem Widerstand der Bereinigten Staaten. In seiner berühmten Botschaft vom 2. Dezember 1823 erklärte Präsident Monroe jede gewalt­ same Unteckrückung der in Amerika gebildeten, von den Vereinigten Staaten als unabhängig anerkannten Staaten für ein unfreundliches Verhalten gegen die Bereinigten Staaten selbst. Schon vorher hatte sich England gegen die Jntewention in die innerspanischen Angelegenheiten erflärt; auf Monroes Botschaft hin erkannte es die Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien Spaniens an. Durch ihre reaktionäre Tendenz und die ständige Jntewentionspolitik ist die Heilige Mianz mit Recht vermsen. Ihrem unberechtigten Vorgehen lag aber ein berechtigtes Gemeingefühl, die Anerfennung einer Interessengemeinschaft (Gareis) zugrunde. Die Notwendigkeit, gewisse Angelegenheiten gemeinschaftlich zu regeln, hat sich im 19. Jahrhundert immer wieder herausgestellt. Mit der Zunahme der Bevölkewng und des Verkehrs, mit der Erleichtewng der Beckindungen durch die neuen Verkehrsmittel wuchsen die Interessen der einzelnen Staaten und die gemeinsamen Interessen, aber auch die Konflikte. Die Zahl der Kongresse und Konferenzen hat sich bedeutend vermehrt. Sie sind unter zwei Gesichtspunkten zu betrachten: 1. Wie früher dienten sie der Beilegung schwebender Streitfragen, der Ausgleichung der Macht- und Interessengegensätze: der Mener Kongreß hatte 1815 die durch die französische Revolution und das Kaiserreich heworgemfenen Stömngen zu beseitigen, die Staaten und ihren Besitzstand neu zu ocknen. Die erwähnten Kongresse von 1818—1822 sollten dieses Werk erhalten und befestigen. Nach den Unabhängigkeitskämpfen der Griechen und Belgier wurde die Lostrennung ihrer neuen Staaten von der Türkei bzw. den Mederlanden in langen Kon­ ferenzen zu London und Konstantinopel 1827—1828 bzw. zu London 1830—1832 geregelt.

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Von 1840—1878 hatte sich das euwpäische Konzett vornehmlich mit der orientalischen Frage zu beschäftigen, zunächst im Jahre 1840 mit der Auseinandersetzung zwischen dem Sultan und Mehemet M, dem Pascha von Ägypten. Im Anschlüsse hieran wurde durch Vertrag vom 13. Juli 1841 die Schließung des Bosporus und der Dardanellen für alle fremden Kriegsschiffe vereinbatt (Fleischmann 39). Nach dem Krimkriege hatte der Pariser Kongreß die Zustände nuf der Balkanhalbinsel zu reformieren. Der Meerengenfrage und dem Schwarzen Meer wie auch der Donauschiffahtt galt 1871 die Londoner Konferenz. Der letzte russisch-türkische Krieg zog 1878 den Bettiner Kongreß nach sich; er regelte von neuem die Zustände aus der BalkanHalbinsel. 2. Auf den Kongressen und Konferenzen wurden im 19. Jahrhundert häufig auch objekttve Rechtsnormen für den Bettehr der Staaten geschaffen. Bon den Bestimmungen des Westfälischen Fttedens abgesehen, hatten ähnliche Vereinbarungen aus fttlheren Jahchundetten meist nur kurze Geltung gehabt, waren auch nur für zwei oder drei Staaten maßgebend gewesen, so die^nelfach wiedettehrenden Festsetzungen der Kriegskonterbandeartikel. Die Sätze der be­ waffneten Neutralität blieben auf dem Papier stehen. Im Wege ausdrücklicher Vereinbarung hat sich dagegen im 19. Jahrhundert eine gwße Anzahl von Staaten zu einer Reihe wichtiger Rechtsnormen auf die Dauer bekannt. Der Wiener Kongreß hat in dieser Hinsicht ein rühm­ liches Beispiel gegeben: a) Er stellte den Gmndsatz der freien Schiffahtt auf allen, das Gebiet mehrerer Staaten trennenden oder durchlaufenden Strömen auf und arbeitete Schiffahrtsatten für Rhein, Neckar, Main, Mosel, Maas und Schelde aus: Kongreßatte vom 9. Juni 1815 Art. 108—117 und Anlage 16 (Mattens: Nouv. Ree. II 427 ff., 434/49). An die Stelle der größtmöglichen Beschränkung des fremden Vettehrs war das Pttnzip der „offenen Tür" ge­ treten. — b) Die Abschaffung des Negerhandels routbe im Prinzip beschlossen: Anlage 15 e aus Belgien 1831/39 und Luxemburg 1867 sowie auf einzelne Gebietsteile anderer Staaten aus­ gedehnt: Korfu, Paxo, Suezkanal. Sodann wurden besondere Regeln über die Att der Kttegfühmng vereinbatt: die vier Sätze der Pattser Dettaration vom 16. April 1856 über das Seekttegsrecht (Fleischmann 57); die Genfer Konvention von 22. August 1864 über den Schutz der Verwundeten und Kranken im Felde sowie über den des Sanitätspersonals (ibid. 69), revidiert 1906; die Petersburger Dettaration vom 11. Dezember 1868 über die Verwendung von Sprenggeschossen im Kttege (ibid. 88). Ein am 20. Oktober 1868 unternommener Versuch der Vervollständigung und Ausdehnung der Genfer Konvention auf den Seektteg blieb zunächst erfolglos; das nämliche Schicssal teilte der zu Brüssel 1874 ausgearbeitete Entwurf einer Kon­ ventton über das Landkttegsrecht. Die Vollendung dieses Wettes blieb den Haager Fttedenskonferenzen von 1899 und 1907 (RGBl. 1901S. 393,1910 S. 5) Vorbehalten. Noch über weitere

Völkerrecht.

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Materien des Land» und Seekriegsrechts wurde aus ihnen ein Einverständnis erzielt. Den Abschluß sollte eine Bereinbamng über das für Handel und Schiffahrt der Neutralen wichtige Prisenrecht bringen; die hierüber von zehn Seemächten ausgearbeitete Londoner Seekriegs» rechtsdellaration vom 26. Februar 1909 und das an ihr Jnkmfttreten gebundene Haager Ab­ kommen über die Errichtung eines intemationalen Prisengerichtshofs sind indessen einstweilen am Widerstand des englischen Oberhauses gescheitert. — Außer den kriegsrechtlichen Abkommen routbe auf der ersten Haager Konferenz noch eine Bereinbamng über die friedliche Erledigung intemationaler Streitfälle unterzeichnet; sie regelt u. a. die Errichtung eines Schiedshofs im Haag, an welchen streitende Mächte sich jederzeit wenden können. Die zweite Konferenz hat dieses Abkommen vewollkommnet und ihm ein noch nicht ratifiziertes Projekt der Errichtung eines ständigen Schiedsgerichtshofs sowie ein Abkommen über die Beschränkung der Anwendung von Gewalt bei der Eintreibung von Bertragsschulden hinzugefügt. Die älteren der hier aufgezählten Kongresse und Konferenzen waren nur von euwpäischen Staaten beschickt. Als Präsident Monwe eine euwpäische Einmischung in amerikanische An­ gelegenheiten zurückwies, erklärte er zugleich, die Bereinigten Staaten rofitben sich in Fragen der europäischen Politik nicht einmischen. In Verfolg dieses Gmndsatzes haben sie sich erst an den neueren. Recht schaffenden Konferenzen beteiligt. An der Brüsseler Antisklavereikonserenz nahmen auch der Kongostaat und Persien, an der ersten Haager Konferenz Mexiko, China, Japan und Persien, an der zweiten 44 Staaten teil. Ihrerseits haben sich die Staaten Amerikas zu Sonderkongressen in Washington 1889, Mexiko 1901, Rio de Janeiro 1906 und Buenos Aires 1910 vereinigt (Martens: NRG6n. 3° S. 4 114—254). Die Kongresse sind ein hochbedeutsames Mittel für die Fortbildung des Böllerrechts gewoÄen. Aber die auf ihnen entfaltete Tätigkeit machte nur einen Teil dessen aus, was geleistet ist. Die Msdehnung des Verkehrs auf Afrlla, Asien und, die Südsee erweiterte den Kreis der das Böllerrecht anerkennenden Staaten und führte zur Bildung neuer Rechtsnormen im Wege der Gewohnheit. In durchgreifender Weise touti>e die Stellung der Menschen zu fremden Staaten refor­ miert. Die Maßnahmen zur Unterdrückung des Sklavenhandels und zur Humanssiemng des Kriegsrechts erfolgten in ihrem Interesse. Schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts fielen die der Bewegungs» und Berfügungsfreiheit aufeckegten Vermögensbeschränkungen: Abschoß und Nachsteuer. Bewegungsfreiheit und Rechtsschutz genießt der Mensch in allen zivilisierten Staaten fast unbeschränkt; auch der Religionsübung bereiten nur wenige Staaten Hindemisse. In anderer Weise ist dem Rechtsschutz durch die zur allgemeinen Übung gewockene Auslieferung flüchtiger Veckrecher Genüge geschehen. Darüber hinaus ist den geistigen und materiellen Interessen der Menschen durch die sogenannte intemationale Verwaltung (L. v. Stein) eine umfassende Förderung zuteil gewoü>en. Im Wege gegenseitiger Verständigung, freiwilliger Selbstbeschränkung haben sich die einzelnen. Staaten zu einer gemeinsamen, die Wohlfahrt ihrer Bürger bezweckenden Tätigkeit vereinigt: Eisenbahn-, Post», Telegraphen» und Münzverträge, Sanitätskonventionen, Verträge über den Schutz des geistigen unb gewerblichen Eigentums, über das intemationale Privatrecht u. a. m. Im Jahre 1785 schrieb Ompteda: „Die Berträge der Böller bestehen gewöhnlich in Friedensschlüssen und solchen Traktaten, welche sich auf Krieg und Frieden beziehen." In der Gegenwart nehmen die Veckehrsverträge der Zahl nach unzweifelhaft den ersten Rang ein. Diese Tassache zeigt, auf welchem Gebiet die Staaten jetzt ihre wichtigste internationale Aufgabe erblicken. Indem das Böllerrecht den Staatsbürgem Bewegungsfreiheit und Schutz für ihre Person und ihre Rechte fast aus der ganzen @ti>e gewährleistete, schien es bei oberflächlicher Betrachtung kosmopolitischen Ideen zu huldigen. Das hat es nicht getan; denn es schützt nicht den Menschen als solchen, sondem nur den Staatsangehörigen, auch ihn nicht gegen seinen Heimatstaat. Ebenso­ wenig hat es sich zu einem Recht der Rassen entwickelt, wie die Nationalitätscheorie wollte. Vgl. Mancini: Della nazionalitA come fondamento del diritto delle genti, 1851 (Diritto internazionale. Prelezioni, Neapel 1873). Wohl hat der nationale Einheitsgedanke Staaten wie Italien und das Deutsche Reich geschaffen. Aber der Gedanke der nationalen Unabhängigkeit hat gemischte Staaten, wie Österreich, in schwere innere Kämpfe verwickelt. Ihre Beendigung im Sinne der Nationalitätstheorie würde den einzelnen Deinen Rassen nur eine scheinbare Un­ abhängigkeit gewähren. In Wahrheit müßten sie sich den mächtigen Nachbam doch untewrdnen. Enzyklopädie der Rechtswissenschaft. 7. der Reubearb. 2. AuN. Band V. 32

Paul Hellborn.

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8 5.

5. Quellen des Völkerrechts.

Literatur. Bergbohm: Staatsverträge und Gesetze als Quellen des Völkerrechts, Dorpat 1877; Jellinek: System der subjektiven ösfenllichen Rechte (2), Freiburg i. B. 1906, S. 203 ff., 312 ff.; Rippold: Der völkerrechtliche Beitrag, Bern 1894, S. 18/64; Wilhelm Kauf, mann a. a. O. und: Weltzuckerindustrie und internationale- und koloniales Recht, Berlin 1904, Erich Kaufmann: Das Wesen d«S Böllerrechts und die clausula rebus sic stantibus, Tübingen 1911; Triepel 27/103; Schuppe: Das Gewohnheitsrecht, Breslau 1890; Brie: Die Lehre vom Gewohnheitsrecht, Breslau 1899; Sturm: Revision der gemeinrechtlichen Lehre vom Gewohnheits­ recht, Leipzig 1900, und: die psychologischen Grundlagen des Rechts, Hannover 1910; Anzilotti, Rivista 1 40/7; Cavaglieri: La consuetudine giuridica internationale, Padua 1907; Diena: Considerazioni critiche su alcune teorie del dintto internationale, Turin 1908, S. 5/25; Huber, Jahrbuch des össentlichen Rechts 4 56 und: Gemeinschaft-- und Sonderrecht unter Staaten, Gierke-Festschrift, Weimar 1911, S. 817/50; Stammler: Theorie der Rechtswissenschaft, Halle a. S. 1911; Grosch, GrünhutsZ. 38 583/94; v. Bar, ArchRPHüos. 6 145; Stahl: Rechtsphllosophie (5), 21; Windscheid: Pandektenrecht (8), 1 $$ 15 ff.; Dernburg: Pandekten (6), 1 §§ 26 ff.; Gierke: Deutsches Privatrecht Bd. I.

I. Die Arten der Rechtsquellen. Die Entstehung eines Rechtssatzes ist an die Entstehung einer Rechtsüberzeugung und an die Erklämng des Rechtssatzes als Recht ge» bunden (vgl. Gierke 126). Ein Staat allein kann Völkerrecht nicht schassen; er hat über andere keine gesetzgebende Gewalt; aus seiner einseitigen Erklämng erlangen andere auch keinen An» spmch gegen ihn, roitb er nicht verpflichtet, es bestehe denn schon eine entsprechende Norm. Nur durch gemeinschaftliche Ecklärung der Staaten wird Völkerrecht hervorgebracht. Die gemeinschasüiche Erklämng kann mit Worten erfolgen: gesetztes Recht, Bereinbamng, oder durch Handlungen im Wege der Übung: ungesetztes oder Gewohnheitsrecht. Als Bölkerrechtsquellen sind diese beiden Formen seiner Erscheinung zu besprechen. 1. Die Bereinbamng tritt in der Form eines Staatsvertrags in die Erscheinung. Ein solcher Vertrag kann Rechtsquelle wie Rechtsgeschäft sein. Immer beruht er auf zweierlei Normen des Gewohnheitsrechts: a) auf den Normen über den Abschluß von Staatsverträgen (vgl. §§ 13, 15), b) auf dem Satz pacta sunt servanda: rechtsgültig abgeschlossene Verträge sind für die Kontrahenten verbindlich. Diese Normen gelten für beide Arten von Verträgen gemeinschaftlich. In größeren Bertragsinstmmenten finden sich rechtsgeschäftliche und rechtsetzende Bestimmungen nicht selten vereinigt, so in der Wiener Kongreßakte. Der Vertrag ist Rechtsgeschäft, wenn er auf die Begründung, Erhaltung, Abändemng oder Aufhebung sub­ jektiver Rechte gerichtet ist. Er ist Rechtsquelle, wenn mehrere Staaten eine Rechtsregel formu­ lieren und sich zu deren Befolgung wechselseitig verpflichten. Vgl. jedoch Jellinek und Triepel a. a. £>., anderseits Erich Kaufmann 160/71. 2. Der Begriff des Gewohnheitsrechts ist im Völkerrecht der nämliche wie in anderen Rechtsgebieten. Es ist das von einer Gemeinschaft tatsächlich und dauemd aus Überzeugung seiner Notwendigkeit als Recht geübte Recht. Ws übende Personen kommen nur Staaten in Betmcht, als Übung lediglich im Staatenverkehr vorgenommene Handlungen, nicht die­ jenigen, welche sich ausschließlich auf die inneren Verhältnisse des einzelnen Staats beziehen. II. DieKraftderRechtsquellen. 1. Verhältnis zwischen Gewohnheitsrecht und Bereinbamng. Das Völkerrecht hat sich anfänglich nur im Wege der Gewohnheit ent­ wickelt; es ist auch jetzt zu erheblichem Teil Gewohnheitsrecht. Die Wirksamkeit beider Rechts­ quellen ist die gleiche: ein Satz des Gewohnheitsrechts kann durch Bereinbamng aufgehoben werden und umgekehrt: das Gewohnheitsrecht hat dewgawrische Kraft auch gegenüber der Bereinbamng. Jeder Rechtssatz kann sowohl durch Bildung eines entgegenstehenden neuen Satzes wie durch einfache desuetudo außer Kraft gesetzt werden.

2. Das Geltungsgebiet der Rechtsquellen. Jeder Rechtssatz ist zunächst nur maßgebend für diejenigen Staaten, welche ihn im Wege der Gewohnheit oder Bereinbamng geschaffen haben. Die völkerrechtlichen Normen bilden sich meist in kleinerem Kreise aus. Ihr Geltungs­ gebiet erweitert sich wiedemm durch Gewohnheit oder ausdrückliche Übereinkunft. In den rechtsetzenden Vereinbamngen der neueren Zeit wird oft der Beitritt (Akzession) anderer Staaten für zulässig erllärt, oder es wird eine Ausfordemng zum Beitritt an sie gerichtet. Alsdann genügt die einseitige Beitrittserllämng, während sie in anderen Fällen noch angenommen werden

Völkerrecht.

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muß. Der einzelne Rechtssatz kann für einige Staaten durch Gewohnheit, für andere durch Vereinbarung Geltung erlangt haben.

III. DieErkenntnisdesBölkerrechts. Das Bertragsrecht ist in Urkunden verzeichnet. Vereinbarungen toetben regelmäßig amtlich bekanntgegeben. Sie sind in den Sammlungen der Staatsverträge zum Abdruck gebracht; vgl. das Verzeichnis S. 483. Diese Sammlungen enchalten zugleich die rechtsgeschäftlichen Verträge, in neuerer Zeit oft auch die diplomatischen Depeschen und Protokolle. Die Kenntnis des Gewohnheitsrechts wird aus den geschichtlichen Präzedenzfällen gewonnen sowie aus der ausdrücklichen Anerkennung oder Nicht­ anerkennung bestimmter Sätze in den Staatsvechandlungen und rechtsgeschäfllichen Verträgen. Eine geschichtliche Betrachtung der letzteren liefert viele werwolle Aufschlüsse über das Gewohnheitsrecht. Die diplomatischen Depeschen und Prowkolle enthalten das Material zum VerMldnis der Verträge. Die Gesetze der einzelnen Staaten und die Entscheidungen chrer Gerichte dürfen nur mit Vorsicht zur Erkenntnis des Gewohnheitsrechts herangezogen werden. Mitunter roirb bei nämliche Gegenstand von verschiedenen Staaten im Wege der Gesetzgebung oder Verocknung gleichmäßig geregelt: Prisenreglements, Seestraßenordnungen. Doch ist genau zu unterscheiden, ob lediglich das Gute übernommen oder in Anerkennung einer völkerrecht­ lichen Verpflichtung gehandelt toutbe. Das Gesetz als solches ist nie Bölkerrechtsquelle, denn es ist die Anocknung eines Rechtssatzes für den eigenen Bereich des einzelnen Staats, ein Befehl an seine Untergebenen. Er roitb dadurch anderen Staaten zur Befolgung seines eigenen Ge­ setzes nicht verpflichtet; noch weniger kann er ihnen Verpflichtungen auferlegen. Da ein Staat Mein Völkerrecht nicht zu schaffen vermag, so sind auch die Entscheidungen seiner Gerichte dazu nicht imstande. Nur indirekt können sie auf die Bildung einer völkerrechtlichen Gewohnheit Einfluß üben. Eine Gesamtkodifikation des Völkerrechts im Wege der Vereinbarung ist möglich, aber der zu überwindenden Schwierigkeiten halber für absehbare Zeit nicht zu erwarten. Die bisherige Entwicklung weist auf den Weg der Partialkodifikation hin. Ihn wecken voraussichllich auch die amerikanischen Staaten beschreiten, welche im Sommer 1912 mit umfassenden Kodi­ fikationsarbeiten beginnen sollten. Vgl. Alvarez: La codification du droit international, Paris 1912.

Erstes Buch: Das materielle Völkerrecht. I. Allgemeiner Teil. Erstes Kapitel: Die Subjekte. A. Der Staat als völkerrechtliche Person. 8 6.

1. Begriff «nd Eigenschasten de» Staats.

Literatur. Die Lehrbücher über allgemeine Staatslehre und Staatsrecht und die da­ selbst angeführten Werke über den Staat. Heilborn: DaS völkerrechlliche Protektorat, Berlin 1891, S. 44 ff. I Begriff. Der Staat ist älter als das Völkerrecht. Es setzt den Staatsbegriff und mit ihm den Unterschied zwischen Staat und Kommunalveckand als gegeben voraus. Der Staat ist die mit ursprünglicher oder eigener Herrschermacht ausgerüstete Gebietskörperschaft (Jellinek). Wesentlich sind ihm: 1. ein bestimmtes Volk, 2. ein von diesem dauemd bewohntes Gebiet, 3. eine äußere Organisation des gemeinsamen Lebens; sie dient zur Erfüllung des Gemeinzwecks; sie ermöglicht die Mldung eines Gemeinwillens. Das Recht betrachtet den Staat als Beckandseinheit und als Person, d. h. als ein selb­ ständiges, von der Summe seiner Untertanen verschiedenes, rechts- und handlungsfähiges Wesen. 32*

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Paul Heilborn.

So auch das Völkerrecht. Als Personen kennt es aber nur die Staaten, nicht die Verbände innerhalb der Staaten. Nicht jeder Staat ist völkerrechtliche Person (§ 9). Die völkerrechtliche Persönlichkeit ent­ behren neben den gänzlich isolierten auch die Staaten ohne eigene auswärtige Beziehungen. Die einzelnen Staaten der Nockamerikanischen Union können als solche mit fremden Staaten keinen Verkehr pflegen; er ist der Union Vorbehalten; die einzelnen Staaten können keine völker­ rechtlichen Rechte erwecken, keine Pflichten auf sich nehmen, sind auch nicht deliktsfähig. II. Die Souveränität. Der von der französischen Staatsrechtswissenschast aus­ gebildete Begriff der Souveränität bezeichnet „die Eigenschaft des Staats als höchstes, herr­ schendes Gemeinwesen". Als solches ist er keiner fremden Herrschaft unterworfen, aber allen Menschen und Korporationen auf seinem Gebiet übergeocknet. Fremden Staaten gegen­ über tritt das negaüve Meckmai, die Freiheit von fremder Herrschaft, zunächst hervor. Die Böllerrechtswissenschast kann aber bei dieser Betrachtungsweise nicht stehen bleiben. Der Staat lebt in einem Kreise durch Rechtsgemeinschast veckundener Staaten; er ist keinem fremden Wllen unterworfen, aber er findet seine Schranke an der Rechtssphäre anderer Staaten; er hat nicht volle Freiheit, sondern nur die vom Völkerrecht gestattete Freiheit, also höchstens die nämliche Freiheit wie alte anderen Staaten. Weiter aber hat er auch posittv die völkerrechlliche Rechts- und Handlungsfähigkeit: er kann Träger völkerrechtlicher Rechte und Verpflichtungen sein; er kann mit völkerrechtlicher Wckung handeln. Hier sind Abstufungen denkbar, und sie kommen auch tatsächlich vor. Ein Staat mit beschränkter Rechts» oder Geschäftsfähigkeit ist in gewisser Hinsicht einem fremden Staat unterworfen, hat die vom Völkerrecht gewährte Freiheit nicht im ganzen Umfang. Dagegen hat sie der Staat mit voller völkerrechtlicher Rechts- und Handlungsfähigkeit; er ist sui iuris, souverän im völkerrechtlichen Sinne. Nichtsouverän sind Staaten ohne völlerrechtliche Rechts- und Handlungsfähigkeit: die einzelnen Staaten der Nock­ amerikanischen Union; halbsouverän sind 1. Staaten von beschränkter Rechts- oder Geschäfts­ fähigkeit, 2. geschäftsunfähige, aber rechtsfähige Staaten.

III. Die Gleichheit*. Souveräne Staaten haben volle völkerrechtliche Rechts­ und Handlungsfähigkeit. Sie muß bei allen notwendig die gleiche sein. Daraus ergibt sich die Gleichheit aller souveränen Staaten in völkerrechtlichen Beziehungen. Sie entspricht der in modemen Verfassungen veckündeten Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und will ebensowenig wie diese die tatsächlichen Machwerhältnisse beseitigen oder gar leugnen. Der kleine Staat kann die nämlichen Rechte erwecken wie der gwße; er kann Rechtshandlungen mit gleicher Mckung vomehmen. — Folgerungen: a) Kein souveräner Staat ist v-rpflichtet, den von anderen ausgebildeten Völkerrechtssatz anzueckennen. An den Konferenzen zur Regelung von Rechts- und Berwaltungsangelegenheilen nehmen die Beinen Staaten regelmäßig teil. b) Kein souveräner Staat kann von der Regelung der Angelegenheiten ausgeschlossen wecken, an denen er interesiieck ist. Aachener Pwtokoll vom 15. November 1818 Nr. 4 (Fleisch­ mann 25). Infolge ihrer Weltpolitik sind die Gwßmächte an den Angelegenheiten fremder Staaten zwar öfter interessiert als die Beinen Mächte, sie sind aber nicht berechtigt, die An­ gelegenheiten dritter Staaten ohne deren Mitwirkung, allgemeine Angelegenheiten unter Aus­ schluß der dabei interessierten Beinen Mächte zu regeln. Die europäischen Großmächte haben dem mehrfach zuwidergehandelt. Ein Versuch wucke 1883 von Rumänien zurückgewiesen. Aus der zweiten Haager Friedenskonferenz erstrebten sie einen Vorrang bei der Besetzung des internationalen Prisengerichtshofs. Gwßmächte sind die jeweilig durch ihren tatsächlichen Einfluß — nicht etwa durch erhöhte Rechts- oder Handlungsfähigkeit — ausgezeichneten Staaten, in Europa zurzeit: das Teutsche Reich, Osterreich-llngam, Frankreich, Großbritannien, Italien und Rußland.

c) Ungleichheiten bestehen nur zu Recht, wenn und soweit sie vereinbart wurden, nur mit dem Einverständnis des benachteiligten Staats. Ebenso verhält es sich mit völkcrrecht1 Huber: Die Gleichheit der Staaten (Rechtswissenschaftliche Beiträge, juristische Festgabe des Auslands zu Kohlers 60. Geburtstag), Stuttgart 1909; Rev. 31 273 ff., 32 5 ff.

Völkerrecht.

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lichen Einschränkungen der inneren Unabhängigkeit. Die Bestimmungen in Art. 29 Abs. 5 ff. und in Art. 44 des Berliner Vertrages vom 13. Juli 1878 (RGBl. 307) konnten nur in Kraft treten, nachdem sie von Montenegro bzw. Rumänien angenommen waren: Montenegw durste bis 1909 weder Kriegsschiffe besitzen noch eine Kriegsflagge führen; in Rumänien soll niemand wegen seines religiösen Glaubens oder Bekenntnisses von dem Genuß der bürgerlichen und politischen Rechte ausgeschlossen werden. Vgl. Art. 5, 27 und 35 für Bulgarien, Montenegw und Serbien. d) Kein Staat ist der Gerichtsbarkeit eines anderen unterworfen. Par in parem non habet iurisdictionem. Unzulässig sind Klagen gegen einen fremden Staat aus völkerrechtlichen Verbindlichkeiten, aus obrigkeitlichen Men und aus Anleiheverträgen. . Ausgeschlossen ist auch ein Stmfverfahren gegen fremde Staaten, selbst wenn die Deliktsfähigkeit juristischer Personen sonst anerkannt ist. Bestritten ist dagegen die Anwendbarkeit des aufgestellten Satzes auf gewöhnliche Zivilpwzesse, in denen ein fremder Staat als privatrechtliche Person (Fiskus) Partei ist. Er ist im Ausland wohl nur unterworfen: 1. dem sonnn rei sitae für unbewegliche Sachen, 2. dem formn, welches er selbst für den einzelnen Streitfall durch Echebung der Klage oder txümrch anerkannt hat, daß er als Beklagter die Unzuständigkeit des Gerichts nicht geltend gemacht hat *.

e) Kein souveräner Staat kann den Vorrang vor einem anderen beanspmchen. Der Grundsatz der Gleichheit beherrscht den geschäfllichen und zeremoniellen Verkehr der Staaten (Ehrenerweisungen, Schiffsgruß). Nur die höfische Etikette unterscheidet noch Staaten mit und ohne königliche Ehren; auf Republiken ist dieser Unterschied ohne Künstelei nicht übertragbar. Der Halbsouveräne rangiert hinter dem ihm übergeordneten Staat; Ausnahme: Bulgarien auf der Haager Konferenz 1907; Rev. Gin. 16 527/8.

8 7.

2. Die Halbsouveränen Staaten.

Literatur. Jellinek: Die Lehre von den Staatenverbindungen, Wien 1882; Brie: Theorie der Staatenverbindungen, BreSlau 1886; Heilborn: DaS völkerrechtliche Protektorat, Berlin 1891; Bornhak: Einseitige Abhängigkeitsverhältnisse unter den modernen Staaten, Leipzig 1896; Engelhardt: Les protectorats anciens et modernes, Paris 1896; Despagnet: Essai sur les K' ctorats, Paris 1896; Gairal: Le protectorat international, Paris 1896; Boghitchtvitch. ouveränität, Berlin 1903; v. Grünau: Die staatS- und völkerrechtliche Stellung Ägyptens, Leipzig 1903; v. Düngern: Das Staatsrecht Ägyptens, Graz 1911; Finnland und Rußland: Die internationale Londoner Konferenz vom 26. gebt.—1. März 1910, Leipzig 1911; Rev. Gin. 2 683, 3 26, 166, 613, 5 207, 15 624, 17 56; ZBölkR. 2 376.

Die Halbsouveränität besteht entweder in einer Beschränkung der völkerrechllichen Rechts­ fähigkeit oder in einer Beschränkung der Geschäftsfähigkeit bzw. in Geschäftsunfähigkeit. Beide Arten der Halbsouveränität können bei einem Staat zusammentreffen; doch ist dies zufällig. Deliktsfähig sind alle halbsouveränen Staaten. Staaten in ähnlicher Lage wie die halbsouveränen der Gegenwart hat es zu ollen Zeiten gegeben. Die historische Betrachtung hat vom LehnSwesen auszugehen. Die lehnrechlliche Verbindung zwischen dem Herm (Suzerän) und dem Vasallen ist auf das Verhältnis von Staats­ haupt zu Staatshaupt übertragen worden. Sie entstammt aber einer Zeit, welche den völkerrechtlichen Souveränitätsbegriff nicht kannte, und läßt sich diesem ebensowenig einordnen, wie die nwbemen Halbsouveräne unter den lehnrechtlichen Typus gebracht weiden können. Der Herr schuldete dem Vasallen Schutz und Treue; dieser war ihm zu Treue, Ehrerbietung, Hofund Kriegsdienst verbunden. Das Verhältnis konnte so locker sein, daß der Vasallenstaat nach heutigen Begriffen als souverän zu bezeichnen wäre. * v. Bar: Theorie und Praxis des internationalen Privatrechts 2 660 ff.; BöhmSZ. 3 275 ff.; Loening: Gerichtsbarkeit über fremde Staaten und Souveräne, Halle a. S. 1903; Anzilotti, Rivista 5 473; Fall Hellfeld 1909: Entscheidung des preußischen KompetenzaerichtShofS vom 25. Juni 1910 in den Rechtsgutachten über „Zwangsvollstreckung gegen fremde Staaten und Kompetenzkonflikt" von Brie, Fischer und Fleischmann, BreSlau 1910. Weitere Gutachten: Triepel, ArchOsfR. 28 212, Kohler, Laband, Meili und Seuffert, ZBölkR. 4 309/448; Fischer; Die Verfolgung vermögensrechtlicher Ansprüche gegen ausländische Staaten, Leipzig 1912.

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I. Die beschränkt rechtsfähigen Staaten haben völkerrechtliche Per­ sönlichkeit nur in beschränktem Umfang; in mancher Hinsicht erscheinen sie als Teil eines größeren, ihnen übergeordneten Staats; sie wecken von ihm nicht vertreten, sondem von seinen Handlungen wie eine staatliche Pwvinz betwffen. Insoweit sind „ihre Persönlichkeit und ihr staatlicher Charakter ausgeschlossen". Verträge wecken vom Oberstaat nicht zugleich im Namen des Unter­ staats geschloffen, erstrecken ihre Mrkung aber auf ihn, sofern ihm die entsprechende Rechts­ fähigkeit abgeht. Der mffisch-türkische Friedensvertrag vom 8. Februar 1879 (Martens: N. R. G6n. 2. S. 3 468) erwähnt Ägypten nicht, obwohl dessen Truppen unter dem Obeckefehl und der Fahne des Sultans am Feldzug teilgenommen hatten; Ägypten war ohne weiteres in den Friedensverttag eingeschloffen. Beschränkt rechtsfähige Staaten entstehen einmal, wenn Pwvinzen eines größeren Staats eine gewiffe staatliche Selbständigkeit erringen, ohne zu voller Unabhängigkeit zu gelangen: ihre Rechtsfähigkeit erstreckt sich nut auf die ihnen zugewiesenen Angelegenheiten; im übrigen bleiben sie Teile des Oberstaats. Ober- und Unterstaat dicken zusammen den Staatenstaat. (Vgl. die Darstellung des Staatsrechts.) Einen anderen Fall stellt die Gründung eines Bundesstaats (§ 8) dar, sofern dieser die völkerrechlliche Persönlichkeit der ihm eingegliedetten Staaten nicht völlig aufhebt (Amerika), sondem in beschränktem Umfang bestehen läßt: das neue Deutsche Reich. — Beispiele der ersteren Art liefern: 1. Die Staaten des alten Deutschen Reichs (vgl. § 4). Preußen und Österreich waren streng genommen nur in ihren nicht zum Reich gehörigen Besitzungen souverän. Die Beckindung der Staaten mit dem Reich beruhte zum großen Teil noch auf lehnrechllichen Gmndsätzen.

2. Die Vasallenstaaten der Türkei: die Donaufürstentümer Mockau, Walachei, Serbien und Bulgarien; seit 1878 sind Rumänien und Seckien, seit 1909 ist Bulgarien souverän. — Ferner Ägypten seit 1866. Diese Staaten hatten bzw. haben beschränkte Fähigkeit zum Erwerb von Rechten und Pflichten durch Vettrag. Fähigkeit zur Untechaltung dipckmatischer Be­ ziehungen war bzw. ist ausgeschlossen. Die vasallitische Unterordnung ckmmt zum Ausdruck im Tribut, in der Bestättgung des Herrschers durch den Suzerän (der Khedive kann sogar abgesetzt werden), zum Teil auch in der Pflicht, einen Vettreter am Hofe des Suzeräns zu unterhalten, und in der Kriegsdienstpflicht Ägyptens. Durch die britische Besetzung und die Einfühmng einer intemattonalen Finanzverwaltung ist die Stellung Ägyptens sehr verwickelt gewocken. II. Die geschäftsunfähigen und die beschränkt geschäftsfähigen Staaten. Erstere können Rechtsgeschäfte nicht vomehmen; ihre Handlungen sind völker­ rechtlich wirkungslos; sie bedürfen eines Vettreters — des Oberstaats —, der für sie handelt. Die beschränkt geschäftsfähigen Staaten können gewisse Rechtsgeschäfte selbständig vomehmen; bei anderen wecken sie entweder vom Oberstaat vettreten, oder sie handeln zwar seckst, ihre Handlung ist aber nur wirksam, wenn die Genehmigung des Oberstaats hinzutritt. Der Oberstaat ist hier Vettreter des Unterstaats, d. h. eine von ihm verschiedene Person. Handelt er im eigenen Namen, so Wick er allein berechtigt und verpflichtet. Für den Unterstaat kann er rechtliche Wirkungen nur dadurch erzeugen, daß er ein Rechtsgeschäft in dessen Namen vomimmt bzw. das von diesem vorgenommene Rechtsgeschäft genehmigt. Alsdann wird lediglich der Unterstaat berechtigt und verpflichtet; seine Persönlichkeit geht nie in der des Oberstaats auf. Die Verbindung zwischen dem Oberstaat und dem geschäftsunfähigen oder beschräntt geschäftsfähigen Unterstaat tritt in der Gegenwatt meist, aber nicht notwendig in der Form des Protektorats auf: der Oberstaat übernimmt den Schutz des Unterstaats dritten Staaten und Empörem gegenüber. Dafür erhält er Einfluß auf die Leitung der auswättigen Angelegen­ heiten des Unterstaats. In neuerer Zeit sind die Oberstaaten bestrebt, die Unterstaaten der Geschäftsfähigkeit ganz zu entlleiden. Die auswättige Vertretung wird dann durch ihre Ge­ sandten und Konsuln besorgt; im Gebiet der Unterstaaten finden sich wohl Konsuln, aber keine Gesandten dritter Staaten. Dem Oberstaat gegenüber ist der Unterstaat voll geschäftsfähig; es gibt niemand, der ihn hier vettreten könnte. Seine inneren Angelegenheiten werden vom Pwtektorat an sich nicht berühtt. Meist erwittt aber der Oberstaat noch ein Jntewentionsrecht (§ 57) aus diesem Gebiet. Übt er eine wirkliche Herrschaft im Schutzgebiet aus, so ist das völkerrechtliche in ein staatsoder kolonialrechtliches Pwtektorat übergegangen (§ 22 Z. 5 c).

Völkerrecht.

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Der lehnrechtliche Typus ist hier einem modemen, rein völkerrechüichen gewichen: an Stelle der wechselseitigen persönlichen Treupflicht zwischen Suzerän und Vasall ist die Ver­ tragspflicht der Staaten getreten. Der Oberstaat schuldet dem Unterstaat noch Schutz, dieser ist aber zur Heerfahrt nicht mehr verbunden, an den Kriegen des Oberstaats teilzunehmen nicht verpflichtet. Auch Ehreünetung und Hofdienst liegen ihm nicht mehr ob; er entrichtet keinen Tribut. Nicht er untechält einen Vertreter am Hofe des Suzeräns, sondem der Oberstaat sendet einen Residenten zum Unterstaat. Dieser Resident übt den Einfluß des Oberstaals auf die aus­ wärtigen und, soweit zulässig, auch auf die inneren Angelegenheiten des Unterstaats aus. Kollektivproteklorat Osterreich-Ungarns, Preußens und Rußlands über Krakau 1816/46; Protektorate Englands über die Jonischen Inseln 1815/63 (Einverleibung in Griechenland), über Afghanistan 1879, über die Transvaalrepublik 1881/84, über Zanzibar 1890; Protektorate Frank­ reichs über die Gesellschaftsinseln 1842/80, über Kambodscha 1863 (neuer Vertrag 1884), über Annam 1874 (n. B. 1884), über Tunis 1881 (n. B. 1883), über Madagaskar 1885/96; über Marokko 1912; Kollektivprotettorat Deutschlands, der Bereinigten Staaten von Amerika und Englands über Samoa 1889/99, Protektorat der Bereinigten Staaten über Cuba 1903, Japans über Korea 1905/10. — Die ehemalige Südafrikanische Republik (Transvaal) entwickelte sich im Jahre 1884 aus einem geschäftsunfähigen zu einem beschränkt geschäftsfähigen Staat. Die Schutzpflicht Englands uno sein Einfluß auf die auswärtigen Angelegenheiten des Unterstaats wurden aber so beschränkt, daß die Verbindung dem ProtektoratStypuS nicht mehr entsprach.

8 8.

3. Die Staatenverbindungen.

Literatur. Vgl. zu § 7. — Borel: Stüde sur 1a souverainetä et l’Etat ftdäratif, Bern 1886; Le Für: Etat föderal et conf6d6ration d’Etats, Paris 1896; Huber: Die Entwicklungsstufen des Staatsbegrisss (Zeitschr. s. Schweizer Recht, RF. 23), Basel 1903; Ebers: Die Lehre vom Staaten­ bunde, BreSlau 1910; Aal! und Gjelsvil: Die norwegisch-schwedische Union, Breslau 1912; Windisch: Die völkerrechtliche Stellung der deutschen Einzelstaaten, Leipzig 1913; ZBölkR. 1 237; ArchOfsR. 27 288; Jahrbuch des ösfentlichen Rechts 3 28/9, 4 72/3; Österreichische Rundschau Bd. 23.

Die Staatenveckmdungen sind bereits in der Darstellung des Staatsrechts geschildert worden. Dort ist auch gesagt, welche von ihnen staats-, welche völkerrechüicher Natur sind. Die völkerrechtliche Rechts- und Handlungsfähigkeit der Staatenveckindung selbst und der einzelnen zu ihr vereinigten Staaten richtet.sich nach den hier in den §§ 6 und 7 erörterten Grundsätzen. 1. Die Personalunion. Die zufällige Bereinigung zweier Staaten unter dem nämlichen Herrscher hat auf ihre Selbständigkeit, auf ihre völkerrechtliche Rechts- und Hand­ lungsfähigkeit keinen Einfluß. Die Handlung des einen ist für den anderen ohne Mrkung.

2. Die Realunion und der Staatenbund sind dauernde, aus mehreren Staaten bestehende Gemeinschaften zur gesamten Hand zur Wahmehmung bestimmter gemeinsamer Interessen, insbesondere zur Aufrechterhaltung des inneren Friedens und zu gemeinschaft­ licher Verteidigung gegen die Außenwelt (Ebers 268 ff., 308/14; dazu Gierke: Privatrecht 1 §§ 79/80). Im Staatenbund wecken die gemeinsamen Angelegenheiten von einem besonderen Bundesorgan, in der Realunion von dem den unierten Staaten gemeinschaftlichen Organ er­ ledigt. Die Gemeinschafter bilden keine neue Person, treten aber, soweit die Gemeinschaft reicht, als Gesamtmacht auf: sie handeln gemeinschaftlich, haben keine «Änderrechte und -pflichten, sondern nur Gesamtrechte und -pflichten. Infolgedessen kann der einzelne Staat seinen Anteil an einem der Gemeinschaft zustehenden Recht auf einen dritten Staat nicht übertragen, sofern eine Übertragung überhaupt zulässig ist. Ebensowenig kann er einen gemeinsam geschlossenen Vertrag für sich allein aufkündigen. Innerhalb seiner Sondersphäre handelt jeder Gemein­ schafter selbständig. Die einzelnen Mitglieder des Deutschen Bundes haben viele Sonder­ verträge mit fremden Mächten geschlossen, — das Bundesverhältnis berührten sie nicht. Auch bei der Realunion kommen Sonderverträge vor. — Die Gemeinschaft zur gesamten Hand mindert •bie Souveränität der veckündeten Staaten nicht. Ihre Beschränkungen wurzeln in der Eigen­ art der von ihnen zur gesamten Hand erwockenen Rechte uni* Pflichten, nicht in ihrer Rechts­ oder Handlungsfähigkeit.

3. Beim Bundesstaat sind zwei Typen zu unterscheiden, je nachdem die auswärtigen Angelegenheiten ausschließlich zur Zuständigkeit des Bundesstaats oder zum Teil auch zu der

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Paul Hellborn.

der Gliedstaaten gehören. Im ersteren Fall sind die Gliedstaaten, wie bereits erwähnt, nichtsouverän, im letzteren beschränkt rechtsfähig. Der Bundesstaat selbst ist stets souverän, weil er die Kompetenzkompetenz besitzt; im Wege der Gesetzgebung kann er seine Zuständigkeit erweitern, auch die Wahrnehmung der auswärtigen Angelegenheiten ganz in seine Hand nehmen; er kann den Gliedstaaten die Bölkerrechtsfähigkeit entziehen.

4. Der Staatenstaat hat die Kompetenzkompetenz nicht ohne weiteres. Ihren mohammedanischen Vasallenstaaten gegenüber hat die Türkei sie mehrfach in Anspruch ge­ nommen. Den Donaufürstentümern und Bulgarien gegenüber hatte sie sie seit 1856 bzw. 1878 nicht ; denn die Stellung dieser Vasallenstaaten war durch Vetträge mit den euwpäischen Mächten geregelt. Während der Bundesstaat seinem Wesen nach aus der Bereinigung der Gliedstaaten zu einer neuen Person besteht, war die teilweise Eingliedemng der Vasallenstaaten in die Türkei eine zufällige Erscheinung. Die Türkei war auch ohne ihre Vasallenstaaten eine vollkommen rechts- und handlungsfähige völkerrechlliche Person.

§ 9. B. Beginn «nd Ende der Persönlichkeit. Literatur. Le Normand: La reconnaissance des Etats et ses diverses applications, Paris 1899; Diena: Considerazioni critiche 26/35 (vgl. zu $ 5); Anzilotti, Rivista 1 173/5, 4 237, 6 1, 345; Brie: Entstehung und Untergang der Staaten, Handbuch der Politik 1 66/73. I. Beginn. Das Völkerrecht hat es nur mit bereits entstandenen Staaten zu tun. Es setzt den Staat voraus und fragt nicht, ob er auf friedlichem oder gewaltsamem Wege entstanden ist. Legittme Staaten gibt es nicht. Ein Staat ist entstanden, wenn ein Volk auf dem von ihm bewohnten Gebiet sich zu einer Bett>andseinheit mit eigener Herrschermacht organisiert hat. Diese Tatsache bedarf der Feststellung durch die Mtstaaten in Form der Anerkennung. a) Hat sich ein neuer Staat im Bereich der bisherigen Völkerrechtsgemeinschaft selbständig gebildet — aus einem Volk und auf einem Gebiet, welche bisher Bestandteile eines anderen Gliedes der Völlerrechtsgemeinschaft waren —, so haben die Mtstaaten nur zu beurteilen, ob ein endgülüger Zustand geschaffen, ob die neue Organisation hinreichend gefestigt ist. Be­ jahendenfalls ist die Anerkennung Pflicht. Bei gewaltsamer Losreißung muß der Kampf aber erst beendet sein. Vorzeittge Anerkennung der Aufrührer wäre unzulässige Aberkennung der Herrschaft des angegriffenen Staats über das von den Aufrührem in Anspruch genommene Gebiet. Die Einsetzung einer Regiemng vollendet die Staatsgründung noch nicht. b) Wird im Einverständnis der beteiligten Mächte eine friedliche Staatsgründung be­ absichtigt, so kann der zukünftige Staat für den Fall seiner Entstehung im voraus anerkannt werden. Diese Anerkennung wird unter einer aufschiebenden Bedingung ausgespwchen; denn ein Staat kann nicht auf dem Papier entstehen. c) Konstitutive Bedeutung hätte die Anerkennung eines Staats auf völlerrechtlichem Neuland; es wäre in Wahrheit Ausdehnung des Geltungsgebiets des Völkerrechts (§ 3). Die Anerkennung erfolgt entweder ausdrücklich oder durch konlludente Handlungen: Aktnahme vom Regierungsantritt des Staatshaupts (§ 10 III), Abschluß von Verträgen, Ent­ sendung oder Empfang von Gesandten.

II. Die völkerrechtliche Persönlichkeit erlischt: a) Ohne Untergang des Staats: wenn er unter Verzicht auf Bölkerrechtsfähigkeit in einen Bundesstaat eintritt: die einzelnen Staaten der Nordamerikanischen Union im Jahre 1787, die schweizerischen Kantone 1848. b) Durch Untergang des Staats. Theoretisch sind drei Möglichkeiten gegeben: Unter­ gang des Volks, Verlust des Gebiets und Untergang der eigentümlichen Staatsorganisation. Prakttsche Bedeutung hat nur letztere Att. Sie tritt ein: 1. kraft Vertrages: zwei Staaten schließen sich zu einem neuen, dritten Staat zusammen, oder der eine willigt in seine Einverleibung in den andem: Einverleibung Schottlands in Eng­ land 1707, der hohenzollernschen Fürstentümer in Preußen 1849;

2. kraft einseitigen Rechtsakts des Staats, der sich einen anderen friedlich oder gewaltsam einverleibt. Friedlich wurden Toskana, Parma, Modena von Sardinien, gewaltsam von ihm

Völkerrecht.

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Neapel, von Preußen Hannover, Kurhessen, Hessen-Nassau und Frankfurt einverleibt. Hierher gehört auch die dritte Teilung Polens. Die Einverleibung auf Gmnd eines Krieges (debellatio) kann erst erfolgen, wenn der Krieg beendet, d. h. der Widerstand der feindlichen Truppen und auch der des Bekundeten endgültig gebrochen, die besiegte Staatsgewalt in ihrem gesamten Gebiet durch die des Siegers verdrängt ist. Eine frühere Einverleibungseiklärung — so die Gwßbritanniens vom 1. September 1900 in Ansehung der Burenrepubliken — kann nur als suspensiv bedingte betrachtet wecken (Kaufmann: Zur Transvaalfrage, Berlin 1901, S. 23 ff.). Die völkerrechtliche Bedeutung der Einverleibung Wick dadurch nicht geändert, daß dem einverleibten, aber des Staatscharakters entkleideten Gebiet einzelne eigene Gerechtsame be­ lassen wecken. Ebensowenig erhält ein einverleibtes Gebiet durch Einräumung solcher Staats­ charakter (Finnland). III. Gebietsveränderungen und Umgestaltungen der inneren Organisation eines Staats haben auf die völkerrechtliche Persönlichkeit keinen Einfluß Der Staat bleibt der nämliche; in seinen völkerrechüichen Rechten und Pflichten tritt keine Um­ gestaltung ein.

a) Gebietserwerb und Gebietsverlust sind als Vermögenserweck bzw. Vermögensverlust zu betrachten. So auch die Staatspraxis; a. A. namenttich Fricker: Gebiet und Gebietshoheit, Tübingen 1901. Gebietsveränderungen berühren die Persönlichkeit des Staats ebensowenig wie Änderungen in dem gegenwättigen Bestand seiner Untertönen; hier findet ein unaufhör­ licher Wechsel statt, nicht nur durch Geburten und Todesfälle, sondem auch durch Eintritt von Ausländem in den Staatsveckand, durch Austritt von Inländern aus ihm. Die Staalspraxis hat das Königreich Italien als identtsch mit Sackinien angesehen: die Rechte und Berbindlichkeiten Sackiniens blieben bestehen, erstreckten sich auch auf die neuerwockenen Länder; deren Rechtsverhältnisse nahmen dagegen ein Ende, soweit nicht Sukzession (§ 53) stattsand. Contra: Rivista < 1 ff.

b) Umgestaltungen der inneren Organisation „ändem die Form, aber nicht das Sein" des Staats. Handelt er nunmehr durch ein anderes Organ, so ist er doch darum derselbe ge­ blieben. Twtz aller inzwischen eingetretenen Berändemngen ist die heutige französische Republik mit dem Königreich des 18. Jahrhunderts identtsch. Ob die Umgestaltungen auf gesetzlichem oder revolutionärem Wege erfolgen, ist völkerrechtlich ohne Belang. Die völkerrechüichen Rechte und Pflichten bleiben unberührt» Les trait6s ne perdent pas leur puissance quels que soient les changements qui interviennent dans Forganisation Interieure des peuples (Londoner Pro­ tokoll vom 19. Februar 1831, Martens: N. R. lt 197; vgl. 199). Die neue Regierung muß. die völkerrechtlich bedeutsamen Handlungen ihrer Vorgängerin anerkennen.

C. Die Organe der Staaten. 8 10. 1. Das Staat-haupt. Literaturangaben bei Heilborn, System 138, Ullmann 247/8, Laband, Staatsrecht 2 (kH 125. Ferner: Kaufmann a. a. O., Triepel 236 ff.; Schanz er: II diritto di guerra e dei trattati negli Statt a governo rappresentativo, Turin 1901; Walther: Das Staatshaupt in den Republiken, Breslau 1907; Anzilotti, Rivista 5 3/46; Schoen, ZVölkR. 5 400/431.

I. Begriff. Der Staat kann nur durch Menschen handeln. Gewisse Menschen haben die Fähigkeit, durch ihren Willen Staatswillen zu erzeugen. Diese Fähigkeit ist ihnen durch Rechtssatz verliehen; eine Rechtsnorm erklärt ihren in amüicher Eigenschaft geäußerten Wllen zum Staatswillen. Diese Menschen sind die Organe des Staats. Ihr amtlicher Mlle ist kein vom Staatswillen verschiedener Mlle. Das Staatsorgan ist nicht der Vertreter, welcher an Stelle des Staats handelt, sondem der Staat handelt selbst durch sein Organ. Staatshaupt im völkerrechtlichen Sinne ist das oberste Organ des Staats für den aus­ wärtigen Verkehr. Es braucht staatsrechtlich nicht den gleichen Rang zu haben. Staatshaupt des Deutschen Reichs im völkerrechüichen Sinne ist jedenfalls der Kaiser. In Republiken sind ost die Sommern oder auch das Volk selbst das oberste Staatsorgan, aber regelmäßig nicht für

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den auswärtigen Bekehr; in ihm wirken sie nicht mit: sie geben fremden Staaten gegenüber keine Willenserklärungen ab, handeln nicht für den Staat.

II. Die Person des Staatshaupts. Sie wird von jedem Staat selbst be­ stimmt; deshalb sind verschiedene Möglichkeiten denkbar; insbesondere kann auch eine gesetz­ gebende Körperschaft zum völkerrechtlichen Staatshaupt gemacht wecken; es ist gegenwärtig nicht der Fall. A. In Monarchien ist der Monarch Staatshaupt. Er ist es aus eigenem Recht, immer ruck notwendig, solange er übechaupt regiert. Die Bezeichnung des Monarchen als Souverän weist auf die Anschauungen früherer Zeiten zurück. Die Souveränität steht nicht ihm, sondem dem Staat zu. Ist der Monarch an der Regiemng behindert, so tritt ein Regent an seine Stelle. Die Handlung der Regenten ist Staatshandlung wie die des Monarchen und ohne Rücksicht auf dessen Süllen. Von der Titulatur abgesehen, hat er auch persönlich die nämliche Stellung Ivie der Monarch. B. In Republiken ist Staatshaupt entweder eine physische Person — Präsident, oder wie sie sonst heißen mag — oder ein Kollegium, d. h. die ideale Gnheit einer Mehrheit von Menschen. 1. Der Präsident steht als völkerrechtliches Staatshaupt dem Monarchen gleich. Die zeitliche Beschränkung seiner Regiemng ist ebenso unerheblich wie die staatsrechüiche Unter» ocknung unter ein Parlament. Es macht nichts aus, ob er für seine Amtshandlungen staats­ rechtlich zur Verantwortung gezogen wecken kann, ob er bei der Gesetzgebung mitwirkt oder nicht. 2. Die kollegiale Behöcke ist als solche Staatshaupt: in der Schweiz der Bundesmt, in den deutschen Hansestädten die Senate. Die Mitglieder des Kollegiums einschließlich des Vor­ sitzenden haben nicht die Stellung eines SlaalShauptS. Dem Ausland gegenüber sind sie — je nach der Art ihres Auftretens — Staatsbeamte oder Privatpersonen. Nicht ihr Wille ist der Wille des Staats, sondem der verfassungsmäßige Beschluß des Kollegiums.

III. Wechsel in der Person des Staatshaupts. Ein neues Staatshaupt notifiziert seinen Regiemngsantritt regelmäßig den auswärtigen Staatshäuptem. Hieckon nehmen diese M, indem sie ihm zum Regiemngsantritt förmlich gratulieren. In gleicher Weise ivick beim Beginn einer Regentschaft verfahren. Beide Handlungen — die Notifikation des Regiemngsantritts und die Wtnahme — haben rechtliche Bedeutung: durch sie wick die Legiti­ mation des neuen Staatshaupts als völkerrechüiches Organ des Staats festgestellt. Die Zuständigkeit zu völkerrechtlichem Handeln für den Staat bedarf alleckings nicht der Äneckennung fremder Staaten; denn jeder Staat bestimmt sein Oberhaupt selbst. Die staats­ rechtliche Berufung zur Herrschaft beweist aber deren Ergreifung völkerrechtlich noch nicht. ‘ Die fremden Staaten müssen wissen, wer fortan für jenen Staat handeln wecke. Hat ein Staat von der Notifikation einmal Akt genommen, so kann er Unkenntnis nicht mehr behaupten. Anderseits verleiht die Aktnahme fremder Staaten dem neuen Herrscher keine Legiümität. Nicht die Rechtmäßigkeit, sondem die Tatsache seiner Regiemng und deren völkerrechtliche Wirk­ samkeit wick anerkannt. Ob ein neues Staatshaupt auf gesetzlichem oder revolutionärem Wege zu seiner Stellung gelangt, ist innere Staatsangelegenheit und deshalb völkerrechtlich ohne Bedeutung. Aus die Notifikation des Regiemngsantritts hin ist die Aktnahme Pflicht, wenn der Staat, von dessen neuem Oberhaupt die Notifikation ausgeht, Völkerrechtsgenosse ist, auch kein Zweifel über die tatsächliche Nachfolge besteht. Ein Entscheid zwischen Prätendenten kann von dritten Staaten nicht gefällt werden. Der Ausbmch einer Empömng ist innere Staatsangelegenheit und entzieht dem bereits regierenden Staatshaupt die Fähigkeit zu völkerrechtlichem Handeln für den Staat solange nicht, als es überhaupt noch regiert. Erst mit tatsächlicher Absetzung oder Abdankung erlischt seine Organstellung, dann aber notwendig. Ter Staat kann nicht zwei ver­ schiedene, einander feindlich entgegengesetzte Staatshäupter haben. IV. Die Zuständigkeit des Staatshaupts. Das Staatshaupt hat das ius repraesentationis omnimodae, d. h. es ist zuständig zur Vomahme aller völkerrechtlichen Handlungen, welche für den Staat — je nach seiner Rechts- und Handlungsfähigkeit — über­ haupt vorgenommen werden können; sie sind Staatshandlungen, wenn sie vom Staatshaupt

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nach Maßgabe der heimischen Staatsverfassung vorgenommen sind. Es tritt nach außen immer als handelndes Organ — selbst oder durch von ihm abhängige Vertreter — auf, auch wenn staatsrechtlich noch die Mitwirkung anderer Organe vorgeschrieben ist. In den Republiken und den konstitutionellen Monarchien der Gegenwart bindet die Ver­ fassung das Staatshaupt vielfach an die Zustimmung gesetzgebender Körperschaften bei Vor­ nahme einzelner völkerrechtlicher Handlungen, insbesondere bei Kriegserklärungen und beim Abschluß von Verträgen, in den Bereinigten Staaten von Amerika auch bei der Emennung von Gesandten. Ost wild ferner zu allen Regierungshandlungen die Gegenzeichnung eines verantwortlichen Ministers erfordert; diese Vorschrift erstreckt sich auch auf die dem Ausland gegenüber vorzunehmenden Regierungshandlungen. Der Minister — welches immer seine völkerrechtliche Stellung sein mag (§ 11) — ist insoweit ein staatsrechtlich vom Oberhaupt un­ abhängiges Organ; denn die Gegenzeichnung kann ihm nicht aufgedmngen werden. Vielfach wurde solchen Berfassungsbestimmungen schlechtweg Bedeutung für die völkerrechtliche Zu­ ständigkeit des Staatshaupts beigemessen. Doch ist (Nippold, Beling, Ullmann, Triepel, Liszt, Schoen) folgendermaßen zu unterscheiden: Entweder will die Verfassung dem Staatshaupt nur die staatsrechlliche Verpflichtung auferlegen, in den bezeichneten Fällen die parlamentarische Zustimmung usw. einzuholen; die Nichterfüllung dieser Verpflichtung ist dann ohne Einfluß auf die Gültigkeit des völlerrechllichen Geschäfts. Oder der ohne die verlangte Mtwirkung geäußerte Mlle des Staatshaupts ist nach der Verfassung überhaupt nicht Staatswille; seine Erklärung kann deshalb auch fremden Staaten gegenüber nicht als Erklärung des Staatswillens gelten. Welche Auffassung im einzelnen Fall zutrifft, ist aus der konkreten Verfassung zu entnehmen. Nach alter Praxis handeln die Staatshäupter im eigenen Namen, nicht in dem ihres Staats. Juristisch sind aber ihre Handlungen solche des Staats. Berechtigt und verpflichtet wird deshalb nur der Staat. Nur an ihn können fremde Staaten sich halten. Das handelnde Staatshaupt können sie aus seinen Regierungsakten persönlich nicht in Anspruch nehmen, auch nicht, wenn es in das Privalleben zurückgetreten ist. Die vom Staatshaupt urkundlich abgegebenen Willenservärungen bedürfen keiner Be­ glaubigung.

8 11.

2. Andere Staatsorgane und Gehilfen des Staatshaupts.

Literatur. Hübler: Die Magistraturen des völlerrechllichen Verkehrs (Gesandtschaftsund Konsularrecht) und die Exterritorialität, Berlin 1900; ©io reell: Le consul, Paris 1909, und: Consular cases and opinions, Washington 1909; Pillaut: Manuel de droit consulaire, Paris 1910; Rev. 40 78, 44 5; Rivista 4 9. Vgl. seiner Literatur zu §§ 29, 31, 36. I. Als völkerrechtliche Staatsorgane sind neben dem Staatshaupt nam­ haft zu machen: 1. Militärische Befehlshaber im Kriege sind zuständig zum Abschluß von Verträgen rein militärische», nicht politischen Inhalts, z. B. Kapitulationen und Wafsenmhe. Ihre Zuständig­ keit erstreckt sich nur auf ihren persönlichen und räumlichen Befehlsbereich; sie besteht ausschließlich in Kriegszeiten.

2. Legitime Kombattanten (§ 63) sind im Kriege zuständig zur Ausübung der kriegerischen Gewalt. Diese Staatsorgane sind vom Staatshaupt abhängig: ihre Zuständigkeit schränkt die seinige nicht ein, wird vielmehr durch seine Willenserklärung begründet und aufgehoben. Sie sind aber Staatsorgane; die innerhalb ihrer Zuständigkeit von ihnen vorgenommenen Hand­ lungen sind Staatshandlungen, ob sie dem Mllen des Staatshaupts entsprechen oder nicht. II. Gehilfen des Staatshaupts. Die hier namhaft zu machenden Per­ sonen, in der Regel Staatsbeamte, sind keine völlerrechllichen Organe des Staats. Durch ihren Willen erzeugen sie keinen Staatswillen; ihre Willenserklärung hat völlerrechtlich nur Be­ deutung, wenn und soweit sie dem Mllen des Staatshaupts entspricht, ihn zum Ausdruck bringt oder von ihm genehmigt will). Sie erfüllen die Geschäfte, welche ihnen vom Staatshaupt aufgetragen werden. Dabei ist das Staatshaupt frei. Deshalb ist nur das Mich« darzustellen.

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A. Der Minister der auswärtigen Angelegenheiten. Im Auf­ trag des Staatshaupts führt er die Geschäfte seines Staats mit fremden Staaten; ihm unter» stehen alle in auswärtigen Angelegenheiten tätigen Beamten seines Staats; er verhandelt mit den Agenten fremder Staaten, wohnt auch meist den Audienzen der fremden Gesandten bei seinem Staatshaupt bei; von ihm, in der Regel mit seiner Unterschrift, gehen die diplomatischen Depeschen aus. Zu seiner Unterstützung und Vertretung dienen die Beamten des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten. B. Der Gesandte ist ein mit diplomatischem Charakter bekleideter, öffentlich be» glaubigter Vertreter eines Staats bei einem anderen Staat. Der diplomatische Charakter be­ zieht sich auf die Vorrechte des Gesandten im Empfangstaat. Man unterscheidet: 1. Geschäfts- und Zeremonialgesandte; die letzteren vertreten ausschließlich im höfischen Verehr, bei Hochzeiten, Krönungsfeierlichkeiten usw.; 2. ständige und nichtständige Gesandte. Die nichtständigen Gesandten haben einen bestimmten Austmg auszurichten; mit Erledigung dieses Auftrags ist die Mssion beendet. Der ständige Gesandte hat den Absendestaat auf unbestimmte Zeit beim Empfangsstaat zu ver­ treten und alle Angelegenheiten wahrzunehmen, für welche nicht besondere Vertreter, z. B. ein nichtständiger Gesandter, bestellt werden. Im allgemeinen scheiden aus dem Kreis der ihm übertragenen Geschäfte alle den Konsuln zugewiesenen aus. Doch werben gewisse An­ gelegenheiten sowohl dem Gesandten wie dem Konsul anvertraut: Schutz der Angehörigen des Heimatstaats und seiner wirtschaftlichen Interessen, standesamlliche Funktionen, Erteilung und Visierung von Pässen, Überwachung der Ausführung der Staatsverträge. Die politischen Angelegenheiten werden regelmäßig dem Gesandten vorbehalten und dem Konsul nur dann übertragen, wenn der Heimatstaat im fremden Staat keine Gesandtschaft unterhält. C. Der Konsul ist ein öffentlich beglaubigter, ständiger Vertreter des Msendestaats beim Empfangstaat mit lokal beschränktem Wirkun^kreise. Nur in ganz Heinen Staaten, wie

Monaco, sind die auswärtigen Mächte je durch einen Konsul vertreten; in größeren Staaten unterhalten sie deren mehrere, aber immer nur einen ständigen Gesandten. Der wesentliche Unterschied zwischen Gesandten und Konsuln besteht nicht in ihren Funktionen, sondern in ihrer persönlichen Stellung (§§ 31 ff.). — In seinem Bezirk hat der Konsul einmal die wirtschaftlichen Interessen des Absendestaats wahrzunehmen und dessen Angehörige dem Aufenthaltstaat gegen­ über zu schützen, sodann die Staatsgewalt des Msendestaats über die Untertanen auszuüben. Die letztere, zum Teil auch dem Gesandten übertragene Tätigkeit ist innerstaatlicher Natur, aber dadurch eigenartig, daß sie in fremdem Staatsgebiet ausgeübt wich. In der Regel bestimmen die Staatsverträge, in welchem Umfang es geschehen darf. Hierher gehören: die Polizeigewalt über die heimischen Schiffe, Fürsorge für den Nachlaß, Gewähmng von Rechtshilfe an die heimi­ schen Gerichte, freiwillige Gerichtsbarkeit, in den meisten nichtchristlichen Staaten auch die Konsulargerichtsbarkeit über die Angehörigen des christlichen Heimatstaats. — Mitunter ein Konsul zugleich als diplomatischer Agent beglaubigt. D. Die Halbdiplomaten. Mit diesem Namen werden alle ins Ausland ent­ sendeten, mit der Besorgung auswärtiger Staatsgeschäfte beauftragten Personen bezeichnet, welche nicht als Gesandte oder Konsuln beglaubigt sind. Sie können eine ständige oder vor­ übergehende, eine offene oder eine geheime Mssion haben. Als Halbdiplomaten sind namentlich zu nennen: 1. Kommissare zur Regelung solcher Angelegenheiten, für welche es technischer Kenntnisse bedarf: Grenzfestsetzungen, Mschluß von Handels-, Eisenbahn-, Post-und Telegraphenverträgen; 2. offizielle Agenten der Staaten, welche die Kosten einer förmlichen Gesandtschaft scheuen; 3. offiziöse Agenten von Staaten ohne Gesandtschaftsfähigkeit (§ 31) und einer de facto Regierung, d. h. einer aufständischen, als kriegführende anerkannten Partei (§ 59 III). Von anderen Staaten werden solche Agenten empfangen, aber meist nicht entsendet. In den Staaten ohne Gesandtschaftsfähigkeit sind die souveränen Staaten durch Konsuln vertreten. Die unter A—D genannten Personen stehen in dienstlichem, durch das heimische Staats­ recht geregeltem Verhältnis zu dem Staat, dessen Geschäfte sie besorgen. Die Stellung des Mnisters der auswärtigen Angelegenheiten wird ausschließlich durch das heimische Staats-

Völkerrecht.

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recht geregelt, sofern er nicht vorübergehend zu einer Mission bei einem fremden Staat be­ glaubigt wird (Berliner Kongreß 1878). Er hat seinen Amtssitz in der Hauptstadt des Heimat­ staats. Gesandte, Konsuln und Halbdiplomaten haben ihn dagegen stets im Empfangstaat. Ihre persönliche Stellung zu diesem bestimmt sich nach Völkerrecht (§§ 31 ff.).

Zweites Kapitel. Literatur.

§ 12. Die Objekte.

ArchOsfR. 22 416; ZBölkR. 1 579, 2 1; Rev. 43 5, 131, 539; Rev. Gin.

16 50, 16 57, 18 94, 19 598. Objekte völkerrechtlicher Rechte sind die der Herrschaft der Subjekte — der Staaten — unterworfenen Dinge und Wesen. Staatlicher Herrschaft sind unterwerfbar:

1. Teile der Erdoberfläche: Festland, Inseln, Flüsse, Binnenseen und der Saum des Meeres längs der Küste. Dieser Saum kann höchstens auf Kanonenschußweite vom Ufer aus erstreckt wecken, weil nur so eine dauernde tatsächliche Herrschaft über das Meer möglich ist. Im 18. Jahrhundert trugen die Kanonen drei Seemeilen (5556 m) weit. Gegenwärtig Wick der Saum nach Seemeilen berechnet, und zwar meist noch aus drei Seemeilen. Der jenseits gelegene Ozean ist res extra commercium: kein Staat kann ein Recht an ihm erwecken, andem Staaten den Gebrauch untersagen. Das offene Meer oder die hohe See ist frei; sie untersteht auch nicht einem gemeinsamen Recht, einem Kondominat aller Staaten. Die früher von einzelnen Staaten, namentlich von England, erhobenen Ansprüche sind aufgegeben. Nur ver­ tragsmäßig können sich Staaten zu Leistungen auf hoher See veiPflichten; ein Recht am Meere erlangt die Gegenpartei dadurch nicht.

2. Die Menschen. Sie sind staatsrechtlich Rechts- und Pflichtsubjekte. Die Normen des Völkerrechts wenden sich aber nicht an sie, gewähren ihnen keine Rechte, gebieten und ver­ bieten ihnen nichts. Sie regeln die Beziehungen der Staaten zueinander. In diesen Be­ ziehungen ist der Mensch das Objekt staatlicher Herrschaft und staatlichen Schutzes, denn der Berechtigte darf das seiner Herrschaft unterstellte Objekt gegen rechtswidrige An- und Eingriffe schützen. In dem völkerrechüichen Rechtsverhältnisse zwischen Staat und Staat handelt es sich immer um die Frage: Welche Einwirkung auf den Menschen darf der eine Staat dem anderen verbieten, welche muß er hinnehmen? In den Staatsverträgen räumen freilich die Parteien den Untertanen des Mitkontrahenten scheinbar eine Reihe von Rechten ein. In Wahrheit er­ langt aus solchem Vertrage nur der andere Staat den völkerrechüichen Anspruch aus entsprechende Behandlung seiner Angehörigen, aus Gewährung staatsrechüicher Rechte an sie. Die Rechte des Menschen gegen einen fremden Staat mögen in Erfüllung einer völkerrechtlichen Beckindlichkeit gegen den Heimatstaat gewährt sein; sie werden aber nur gewährt durch das Landesrecht des fremden Staats, sind deshalb innerstaaüicher Natur. Gegen rechtswidrige Behandlung stehen mithin dem Ausländer lediglich die Rechtsmittel zu Gebote, welche das Landesrecht des fremden Staats gewährt. Die völkerrechtlichen Rechtsmittel kann allein der Heimafftaat er­ greifen. Dazu ist er völkerrechüich berechtigt, aber nicht verpflichtet. Auf die völkerrechüichen Ansprüche zugunsten seiner Untertanen kann er nach freiem Belieben verzichten.

Drittes Kapitel: Die Rechtsgeschäfte. 8 13.

1. Allgemeine Erfordernisse.

Literatur. Neubecker: Zwang und Notstand in rechtsvergleichender Darstellung 1, Leipzig 1910; Grosch: Der Zwang im Völkerrecht, Breslau 1912.

Völkerrechtliches Rechtsgeschäft ist die auf Begründung, Wändemng, Erhaltung oder Aufhebung eines völkerrechüichen Rechts gerichtete Willenserklärung. — Zur Bomahme eines Rechtsgeschäfts ist erforderlich: 1. Rechtsfähigkeit, d. h. Fähigkeit des Staats zum Erweck des konkreten Rechts, zur Über­

nahme der speziellen Beckindllchkeit (§ 7 I).

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2. Geschäftsfähigkeit (§ 7 II). 3. Die Willenserklärung muß abgegeben werden vom zuständigen Staatsorgan oder von einem bevollmächtigten Vertreter. Bis zur Abgabe der Mllenserklämng kann die Voll­ macht widermsen toetben. Die ohne Vollmacht sowie die unter Überschreitung der Vollmacht abgegebene Erklärung bedarf der Genehmigung durch das zuständige Staatsorgan. Bei Hand­ lungen von Staatsbeamten innechalb des ihnen gewöhnlich zugewiesenen Geschäftskreises gilt das Stillschweigen des Staatsorgans als Genehmigung, sobald es von der Handlung Kenntnis erlangt hat und die Nichtbestätigung aussprechen konnte. 4. Die Willenserklärung muß frei abgegeben wecken und dem Süllen des handelnden oder vertretenen Staatsorgans entsprechen. a) Zwang. Das Völkerrecht gestattet den Staaten die gewaltsame Selbsthilfe und deren Androhung in bestimmtem Umfang (§§ 56 ff.). Folglich kann ein Staat seine Willenserllämng als erzwungen nur anfechten, wenn der Zwang nicht erlaubt war. Rechtswidrig sind Andwhung und Anwendung veckotener Gewaltmittel, insbesondere die Abnöttgung einer Willenserllämng durch Gewalt oder Dwhung gegen die Person eines Staatsvettreters. Die Willenserllämng eines Staatshaupts in Kriegsgefangenschaft ist nicht ohne weiteres erzwungen. Gegenwättig wick aber der Staat, dessen Oberhaupt in Kriegsgefangenschaft geraten ist, eine Regentschaft einsetzen; das gefangene Staatshaupt kann dann für den Staat nicht mehr handeln. b) Irrtum und Betmg. Nur ein wesentlicher und unvermeidlicher Irrtum über den Inhalt der abgegebenen Willenserklärung berechtigt zu deren Anfechtung, auch wenn der Jntum durch Betmg heckorgemfen war. Im allgemeinen kann sich jeder Staat über die in Be­ tracht kommenden Verhältnisse unterrichten; er weiß, daß ihn der Gegner übeckotteilen möchte. Die Unerfahrenheit und Sorglosigkeit seiner Organe und Vertreter muß er selbst trage». Die Anfechtung ist ferner nur dann zulässig, wenn sowohl der Vettreter wie das Vertretene Organ sich im Irrtum befanden. 5. Die Abgabe der Willenserklärungen unterliegt im allgemeinen keinen Formvorschriften: sie kann mündlich, schrisllich und durch konlludente Handlungen erfolgen. Soweit der Wille nicht durch eine konkludente Handlung erllärt wird, ist indessen schriftliche Mitteilung durchaus üblich; denn die handelnden Menschen wechseln, die Staaten aber sollen berechttgt und ver­ pflichtet, Mißverständnisse verhüten werden. Für einzelne Rechtsgeschäfte, z. B. für die Okkupation und die Verhängung einer Blockade, bestehen besondere Formvorschriften.

6. Die Mllenserllämng muß einen möglichen und erlaubten Inhalt haben. Rechts­ geschäfte, welche unmöglich erfüllt werden können, sind nichtig; der physischen steht die juristische Unmöglichkeit gleich: Abtretung einer Pwvinz. die dem Abtretenden nicht gehört. Nichtig sind ferner Rechtsgeschäfte, welche anerkannten Verbotsnormen des Völkerrechts Widerstreiten, endlich unsittliche Geschäfte. Welche Geschäfte diesen Charatter haben, läßt sich nur von Fall zu Fall entscheiden. Die Rechtsgeschäfte sind einseitige oder zweiseitige, Verträge, je nachdem sie die Willerlsertlärung eines oder die wechselseitige mehrerer Staaten bedingen. An dieser Stelle sind sie nur insoweit zu besprechen, als sie Sättel zur Begründung, Abänderung, Erhaltung oder Auf­ hebung von Rechten verschiedener Art sind.

8 14. 2. «inseitige Rechtsgeschäfte. I. Die Anerkennung ist selbständiger Verpflichtungsgmnd. Die Fähigkeit zur Übemahme der konkreten Verpflichtung vorausgesetzt, genügt der in der Anerkennung ausgespwchene Wlle des Staats zur Begründung seiner Verpflichtung, zur Entstehung des ent­ sprechenden Rechts. Eine causa ist nicht erforderlich. Daher ersetzt die Anerkennung die dem Völkerrecht unbekannte Verjähmng: ist eine Andemng der Rechtslage nicht nachweislich auf rechtmäßigem Wege herbeigeführt, so reicht die Anerkennung der ^Betroffenen hin, um sie zur rechtmäßigen zu machen. — Neben den Verträgen ist sie das wichtigste völkerrechtliche Rechtsgeschäft. Sie erfolgt sehr häufig stillschweigend: durch wissentliche Duldung, durch Nichteinlegung des erforderlichen Protestes.

Böllerrecht.

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II. Der Protest, die Rechtsverwahrung, dient zur Erhaltung von Rechten. Er wird eingelegt, wenn einem Eingriff in die eigene Rechtssphäre, der Entstehung eines fremden Rechts vorgebeugt werden soll. Der pwtestierende Staat erklärt, daß er das von dem anderen Staat behauptete Recht, den von ihm geschaffenen Zustand nicht anerkenne. Der Pwtest schließt die stillschweigende Anerkennung aus. Er muß eingelegt werden, wenn dem Stillschweigen dieBedeutung einer Anerkennung zukommen würbe: 1. Staat A macht dem Staat B amtliche Mitteilung von ein m Rechtsgeschäft, z. B. von der Okkupation einer Insel, von dem Abschluß eines Vertrages mit C; oder er macht davon Mit­ teilung, daß er dem B gegenüber ein bestimmtes Recht in Anspruch nehme, ein von B behauptetes Recht für die Zukunst nicht anerkennen weide. Stimmt B eine solche „Notifikation" entgegen, so muß er Pwtest einlegen, wenn er die neue Rechtslage nicht anerkennen will. In der Ver» weigemng der Annahme kann dagegen ein Pwtest erblickt weiden.

2. Auch ohne vorangegangene Notifikation muß aber wohl Pwtest eingelegt werden, wenn ein Staat von einem in seine Rechte eingreifenden völlerrechllichen Rechtsgeschäft oder von der Behauptung eines ihn verletzenden Rechts Kenntnis erhält. Treu und Glauben sortiern die Erhebung von Widerspruch; volenti non fit iniuria. Reaktion des Deutschen Reichs gegen den Mawkkovertrag vom 8. April 1904. Die Wirkung des Pwtestes erlischt, wenn das Recht, gegen dessen Begründung er gerichtet wurde, nachträglich anerkannt wirt». Das geschieht häufig stillschweigend: Staat A protestiert gegen die Okkupation einer Insel durch B, läßt ihn aber gewähren. Der Pwtest steht aus dem. Papier. Gegen die Begründung des französischen Pwtektomts über Tunis im Jahre 1881 legte die Türkei Pwtest ein, duldete aber später dessen Ausübung.

III. Der Verzicht bebatf der Annahme nicht. Bei einem mit Besitz verbundenen Recht ist Verzicht im Zweifel erst anzunehmen, wenn der Besitz aufgegeben wirt'.

8 15.

3. Der Staatsvertrag.

Literatur. Jellinek: Die rechüiche Natur der Staatenverträge, Wien 1880; Ripp old: Der völkerrechtliche Vertrag, seine Stellung im Rechtssystem und seine Bedeutung für das inter­ nationale Recht, Bern 1894; Kaufmann: Die Rechtskraft des internationalen Rechts.

Staatsvertrag ist der zwischen zwei oder mehreren Staaten in Ausübung ihrer Herrscher­ macht geschloffene Vertrag, nicht der Vertrag zwischez einem Staat und einer Privatperson oder Koywration. Der Vertrag — das Rechtsgeschäft wie die rechtsetzende Vereinbarung (§ 5, I) — wird geschloffen durch die wechselseitige Erklämng des auf denselben Zweck gerichteten, einander ergänzenden oder übereinstimmenden Willens der Parteien. Die Erllämngen können wiederum müMich, schriftlich oder durch konkludente Handlungen abgegeben wertien. Die schriftliche Form ist durchaus die Regel: Auswechslung von diplomatischen Depeschen oder Briefen der Staatshäupter, gemeinsame Unterzeichnung eines Pwwkolls, Ausfertigung einer förmlichen Bertragsurtunde. Ob die zusammengehörigen Eicklärungen in einer Utfunbe zusammengefaßt oder in Haupt» und Nebenvertrag getrennt sind, ist unerheblich. Die in Pwtokollen abgegebenen Zusatzerllärungen bilden Bestandteile des Vertrags. Die Bedeutung mündlicher Nebenabreden richtet sich nach dem Mllen der Parteien. Die Wllenserllämng wird vom zuständigen Staatsorgan oder seinem hierzu bevoll­ mächtigten Vertreter abgegeben. Die Erklämng eines nicht bevollmächtigten Vertreters bedarf schon nach den im § 13 dargelegten Grundsätzen nachträglicher Genehmigung. Auf Grund fest­ stehender Praxis ermächtigt die dem Unterhändler gewöhnlich erteilte Vollmacht aber auch nur zur Unterzeichnung eines Vertragsentwurfs, nicht zur Abgabe einer bindenden Willenservärung. In Ermangelung einer besonderen Vollmacht zur Schließung eines Vertrags soll der Unterhändler nur versuchen, auf Grund der ihm erteilten Weisungen ein Einverständnis mit den Bertretem des anderen Staats zu erzielen; durch die Unterzeichnung eines Pwwkolls oder einer förmlichen Vertragsurkunde, durch die Auswechslung dipwmatischer Depeschen wird nur die rechtlich noch nicht bedeutsame Tatsache des Einverständnisses der Unterhändler bezeugt.

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Paul Heilborn.

Tie Abgabe der bindenden Erklärung bleibt den zuständigen Staatsorganen Vorbehalten. Der Bertragsschluß erfolgt entroebet ausdrücklich durch Auswechslung der Genehmigungs- (Statist* kations») Erklärungen der Staatsorgane oder durch konkludente Handlungen: beiderseitiger Beginn der Erfüllung oder Nichtanzeige der Verwerfung des Vertrags. Wurde die Auswechslung der Genehmigungserklärungen nicht vorgesehen, so ist das Staatsorgan Imst der dem Unterhändler erteilten Vollmacht zu unverzüglicher Mitteilung verpflichtet, falls es den Entwurf nicht ge­ nehmigt. Den Staatsorganen bleibt es unbenommen, ihre Unterhändler zur Abgabe bindender Erklärungen, zur Abschließung von Betträgen zu bevollmächtigen. Es kommt auch vor; im Zweifel ist aber das Gegenteil als gewollt anzunehmen (§ 4, II). Der Grund hierfür liegt einmal in der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Staatsinteressen, in der Gefahr, welche ein Irrtum des Unterhändlers über den Inhalt der ihm «teilten Weisungen für den Staat heraus­ beschwören würde. Weiter kommt folgendes in Betracht: da es keinen Richter über den Staaten gibt, muß jedes Staatsorgan allein beurteilen, ob sein Unterhändler sich innerhalb d« ihm er­ teilten Vollmacht gehalten hat. Käme der Vertrag durch Unterzeichnung der Unterhändler zustande, so wäre damit noch keine Sichecheit geschaffen: ein Staatsorgan könnte den Bettrag anfechten, weil der Unterhändler die Vollmacht überschritten habe. Schließlich bedarf nach Staatsrecht ein großer Teil der Verträge der Zustimmung der Kammern. Es empfiehlt sich deshalb, die parlamentattsche Genehmigung einzuholen, bevor dem anderen Staat eine bindende Erklärung abgegeben wiü>. Punktationen haben im Zweifel keine verbindliche Kraft. Soll ihnen eine solche zuteil werden, so witt> meist ein Präliminarvertrag geschlossen. Er ist ein wahrer Vertrag und enchält die bereits vereinbatten Grundzüge des Abkommens; nur die Ausführung der Einzelheiten bleibt dem Endvertrage Vorbehalten (§ 76, III). Die Staatsverträge werden auch als Abkommen, Übereinkommen oder Konventionen bezeichnet. Ein juttstischer Unterschied besteht nicht. Eine Bekanntmachung der Staatsverträge ist völkerrechtlich nicht erforderlich; sie binden nur die Bettragspatteien und sind von diesen gekannt. Sache des Staats ist es, ob und wie er seine Untertanen von den Bestimmungen der Verträge in Kenntnis setzen will. Staatsrechllich ist eine Verkündung oft geboten, weil ein Teil der Vertragsbestimmungen Gesetzes­ kraft erhalten muß.

II. Besonderer Teil. Die völkerrechtlichen Rechte stehen dem Staat teils gegen jedermann, d. h. gegen alle Staaten als Rechtsgenossen, teils nur gegen einen oder einzelne bestimmte Staaten zu; die ersteren sind absolute, die letzteren obligatorische Rechte. Dementsprechend sind die absoluten und obligatorischen Rechtsverhältnisse getrennt barzustellen.

Erstes Kapitel: Die absoluten Rechtsverhältnisse.

8 16. A. Das Recht an der eigenen Person. Literatur. Jellmek: System 316/21; Heilborn: System 279/306; Pillet, Rev. Gen. 5 66, 236, 6 503; Cavaglieri: I drritti fondamentali degli Stati nella societä internazionale, Padua 1906; Diena: Considerazioni critiche 35/44; Erich Kaufmann: Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sic stantibus 193/204. Jeder Staat hat Anspmch daraus, daß alle anderen Staaten sich einer Verletzung seiner Person entölten, jeden Angriff gegen ihn selbst, seine Bestandteile, Organe und Vertreter unterlassen. Zu den Angriffen gehören auch die Beleidigungen und Achtungsverletzungen. Die Norm, welche den Angriff untersagt, tritt außer Kraft:

1. wenn ein Staat ein Recht zum Eingriff in die Sphäre eines anderen erwachen hat,

2. wenn und soweit das Völkerrecht die Selbsthilfe gestattet.

Völkerrecht.

513

Im übrigen ist jeder An- und Eingriff, jede Verletzung eines fremden Staats rechtswidrig. „Kein Staat", sagt Jellinek, „kann rechtlich von einem anderen etwas fordern oder ihn recht­ mäßig zu etwas zwingen als auf Grund eines Rechtssatzes."

B. DaS Gebietsrecht. 8 17.

1. Begriff der Gebietshoheit.

Literatur. Heimburger: Der Erwerb der Gebietshoheit, Bd. I, Karlsruhe 1888; Preuß: Gemeinde, Staat, Reich als GebietSkörperschasten, Berlin 1888; Banst in HirthS Annalen des Deutschen Reichs 1898, S. 641 ff.; Fricker: Gebiet und Gebietshoheit, Tübingen 1901; Laband: Das Staatsrecht des Deutschen Reichs, 1 (5) 190 ff.; Cavaglieri: n diritto internationale e il rapporto giuridico tra 8tato e territorio, Pisa 1904; Diena: Conriderarioni critiche 46/69 (vgl. Rivlsta 2 306); Erich Kaufmann: Auswärtige Gewalt und Kolonialgewalt in den Bereinigten Staaten von Amerika, Leipzig 1908; Ghirardini: La sovraniU territoriale nel diritto inter­ nationale, Cremona 1913; ArchOffR. 9 1, 20 313, 21 428, 22 416, 28 464.

Die völkerrechtliche Gebietshoheit ist das ausschließliche Herrschaftsrecht des Staats an einem bestimmten Teil der Erde. Es gründet sich auf die Zugehörigkeit des Gebietsteils zum Staat. Gegen alle anderen Staaten hat der Berechtigte den Anspruch aus Unterlassung jeder Einwirkung auf sein Gebiet, welche sie nur als Staaten — durch Ausübung von Hoheitsakten — vomehmen könnten. Er selbst benutzt allein das Gebiet zur Enffaltung staallichen Lebens; nur er darf Hoheitsakte auf ihm vornehmen. Die vMerrechlliche Gebietshoheit ist ein dingliches Recht, aber von dem Eigentum an Grund und Boden so verschieden, wie staatliche und private Herrschaft eS find; erstere schließt u. a. die völlerrechlliche Verfügung über das Gebiet sowie die Herrschaft über die Menschen auf dem Gebiet in sich. Beide Rechte können an dem nämlichen Teil der Erde bestehen; beide können, müssen aber nicht dem nämlichen Staat zustehen. Die Gebietshoheit ist gegen fremde Staaten gerichtet, das Ggentum gegen die der innerstaallichen Rechtsoidnung unterworfenen Rechtsgenoffen. Das Eigentum an Grund und Boden im diesseitigen Staatsgebiet kann auch ein fremder Staat erwerben, ohne daß die Gebietshoheit geändert tofltbe: Erwerb eines Grund­ stücks zum Eisenbahnbau, zur Anlage einer Kohlenstation. Die Gebietshoheit schließt nicht jede Einwirkung eines fremden Staats auf das Gebiet aus, sondem nur die eigentümlich staatliche; die Rechte eines Privatmanns kann auch der Staat an dem fremder Gebiets­ hoheit unterworfenen Grundstück erwerben. Umgekehrt kann er die Gebietshoheit ohne Eigentum erlangen. Der Übergang des Eigentums erfolgt nach bürgerlichem der der

Gebietshoheit nach Völkerrecht. An dem nämlichen Gebiet kann mehreren Staaten die Gebietshoheit zustehen: 1. im Bundesstaat, 2. im Fall des Kondominats, des gemeinschaftlichen Erwerbs der Gebietshoheit durch mehrere Staaten: Kondominat Preußens und Österreichs über Schleswig, Holstein und Lauenburg nach dem Mener Frieden 1864.

8 18.

2. Umfang -er Gebietshoheit.

Literatur, a) DaS Waffergebiet. Harburger: Der strafrechtliche Begriff Inland, Nördlingen 1882; PerelS: Das internationale öffentliche Seerecht der Gegenwart (2), Berlin 1903; Jmbart Latour: La mer territoriale au point de vue thiorique et pratique, Pans 1889; Schücking: Das Küstenmeer im internationalen Recht, 1897; Olivieri: H dintto dello 8tato sul mare territoriale, Genua 1902; Fleischmann: Wörterbuch des deutschen Staat»- und Berwaltungsrecht» 2 (2), 702; Rev. 25 417, 26 209, 386, 43 639, 45 163; Rev. Gin. 5 264, 309; AnnDR. 1886 S. 278; ArchOffR. 22 176, 416: ZBölkR. 1 679. 5 74, 167; Rivista 5 109. — Schiedsspruch vom 23. Oktober 1909 über die Grenze des schwedischen und norwegischen Wasser­ gebiet» bei MartenS N. R. Gin., 3. Ser., 3 86. — b) Da» Luftgebiet. Fauchille: Le domaine airien et le rigime juridique des airostats, Paris 1901; Meili: Da» Luftschiff im internen Recht und Völkerrecht, Zürich 1908; Grünwald: Da» Luftschiff in völkerrechtlicher und strafrecht­ licher Beziehung, Hannover 1908; Alex Meyer: Die Erschließung de» Luftraum» in chren recht­ lichen Folgen, ferner: Die Luftschiffahrt in kriegSrechUicher Beleuchtung, Frankfurt a. M. 1909; Fleischmann: Grundgedanken eine» Lustrechts, München 1910; Catellani: II dintto aereo, Turin Enzyklopädie der Rechtswissenschaft.

7. der Reubearb. 2. Aufl.

Band V.

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Paul Heilborn.

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1911; Hazeltine: The law of the air, London 1911; Kohler: Lustfahrtrecht, Berlin 1912; Koehne: Wörterbuch des deutschen Staat-- und Verwaltung-recht- 2 (2) 796; ArchOffR. 19 87, 24 190, 477, 28 262; AnnDR. 1909 181; ZBölkR. 4 472, 688, 5 167, 394; BöhmsZ. 19 468; Rev. G6n. 16 76, 17 56, 163, 18 473, 684. Die Gebietshoheit des Staats muß notwendig Land und Luftraum umfassen; sie kann sich auch auf Wasserraum erstrecken.

I. Das Landgebiet eines Staats besteht aus den seiner Gebietshoheit unter­ worfenen Ländern, Festland und Inseln. Geschlossenheit ist nicht erforderlich. Zum Staats­ gebiet im völkerrechllichen Sinne gehören auch Kolonien, Schutzgebiete in fremden Weltteilen, vorausgesetzt, daß die Gebietshoheit über sie begründet, nicht nur ein Borrecht vor einzelnen anderen Staaten durch Beitrag erworben ist (§ 22, 5). Ob die Kolonien staatsrechtlich als In­ land oder Ausland, ihre Bewohner als Staatsbürger oder als Fremde angesehen weihen, ist ohne Belang. Zum Landgebiet gehört semer das Erdinnere, begrenzt durch die von den Staats­ grenzen aus lausenden Erdradien.

II. Das Wassergebiet besteht aus Eigen- und Küstengewässern:

A. Eigengewässer sind die Flüsse, Süßwasserseen und Binnenmeere (Kaspisches Meer), semer Meeresbuchten und -busen, Reeden und Haffe, überhaupt diejenigen Teile des Meeres, „deren Einfahrt so eng ist, daß sie vom Küstenland aus gesperrt werden kann" (Asowsches Meer).

B. Die Küstengewässer werten durch den gewöhnlich auf drei Seemeilen bemessenen Saum des Meeres längs der Küste und vor den Eigengewässem gebildet Wie das Landgebiet dient auch das Wassergebiet zur Entfaltung staatlichen Lebens; natur­ gemäß ist sie auf jenem intensiver als auf diesem. Ein weitgehender Unterschied zwischen Land-

und Wassergebiet zeigt sich im Kriege.

Die Regeln des Seckriegsrechts finden auf Kriegs-

Handlungen im Wassergebiet wie auf hoher See, aber nicht auf Flüsse (abgesehen von der MeeresMündung) und die nur mittels Flußschiffahrt zugänglichen Binnengewässer Anwendung.

III. Das Luftgebiet umfaßt den Luftraum über dem Land» und Wassergebiet. Zu Unrecht folgern namentlich romanische Autoren die Freiheit des Luftraums aus der des Meeres. Der Luftraum ist unentbehrlich zum staatlichen wie zum menschlichen Leben. Seine Benutzung regelt der Staat, soweit es ihm notwendig erscheint: Bewrdnungen über Telegraphen­ verkehr, über das Berhalten ausländischer Luftschiffe!, über die Einhaltung bestimmter Routen, gegen die Spionage. Die Betätigung der Herrschaft im Luftraum selbst ist mit Hilfe von Steil­ schüssen möglich. Die Interessen des funkentelegraphischen Verkehrs und der Luftschiffahrt verdienen Berücksichtigung, können aber die Zugehörigkeit des Luftraums zur Erdoberfläche nicht verdunkeln. IV. Die Staatsgrenzen. Die Gebietshoheit besteht immer nur in Ansehung bestimmter Teile der Erte; ihre Ausdehnung wird durch die Grenze sestgestellt. Sie trennt das Staatsgebiet von dem Gebiet anderer Staaten oder von staatenlosem Gebiet. Bei Gebirgen ist im Zweifel die Wasserscheide die Grenze. Gegen das Meer hin pflegt in neuerer Zeit nicht mehr der höchste Flut-, sondem der niedrigste Ebbestand, bisweilen der jeweilige Flutstand als Grenze zu gelten. Künstliche Grenzen sind:

a) sichtbare Zeichen: Mauern, Gräben, Grenzsteine, Schlagbäume, schwimmende Tonnen; b) gedachte Linien: Grenzbestimmungen nach geographischen Breiten- und Längen­ graden. Bei Wasserläufen kommen drei verschiedene Grenzfestsetzungen vor: entweder bildet der eine Userrand die Grenze, der Fluß gehört ganz dem einen Staat (sehr selten). Oder die Grenze wird durch Teilung des Flusses oder Flußbettes gewonnen. Das ist die alte Regel: sie ist im Zweifel noch jetzt bei Bächen und nicht schiffbaren Flüssen maßgebend. Bei schiffbaren Flüssen ist seil dem Frieden von Luneville (1801) meist die Mittellinie des tiefsten Stromlaufs, der Tal­ weg, die Grenze; die Benutzung des Stwms wird dadurch beiden Staaten in gleicher Weise ermöglicht; nur zu diesem Zweck wirt der Talweg als Grenze angenommen; verläßt der Fluß sein Bett, so ist die Mittellinie des Betts entscheidend. Auf Brücken bildet im Zweifel deren Mitte die Staatsgrenze (vgl. RGSt. 9 370).

Völkerrecht.

615

Bei den von mehreren Staaten begrenzten Seen (Bodensee) spricht die Vermutung für Realteilung; ein Kondominat der Uferstaaten wird im Interesse klarer Regelung der Verhüll» nisse gem vermieden. Die Grenze der Eigenwässer Wick vielfach durch den Punkt bestimmt, an welchem die Ufer sich vom Meere aus zuerst auf zehn Seemeilen nahem.

3. Beschränkungen -er Gebietshoheit.

8 19.

a) Im allgemeinen.

Literatur. Clauß: Die Lehre von den StaatSdienstbarkeüen, Tübingen 1884; Brie: Staatsdienstbarkeiten, Wörterbuch des deutschen Berwaltungsrechts; Schmidt: Der schwedisch­ mecklenburgische Psandvertrag über Stadt und Herrschaft Wismar, Leipzig 1901; Perrinjaquet: Des cessions temporaires de territoires, Paris 19Ä: Gsrard: Des cessions d6guis6es de temtoires, Paris 1904; Hollatz: Begriff und Wesen der Staatsservituten, Diss., Breslau 1908; Land­ mann: Die europäischen Handelskolonien in China, Diss., Marburg 1911; Haager Schiedsspruch über die nockatlantische Küstenfischerei vom 7. September 1910: ZBölkR. 5 96; Rev. 37 63, 43 6, 131, 314; Rev. G6n. 6 113, 16 316, 19 421.

L Die Beschränkbarkeit der Gebietshoheit. Die Gebietshoheit ist beschränkt, wenn der berechtigte Staat eine bestimmte staaüiche Einwirkung auf sein eigenes Gebiet zugunsten anderer Staaten Unterlasten oder die staaüiche Einwirkung eines oder mehrerer fremder Staaten dulden muß. Die Beschränkung kann int Interesse der allgemeinen Freiheit bestehen, nach gemeinem Völkerrecht jedem Staat obliegen oder durch das ius in re allen» eines anderen Staats heckeigesührt sein. Es gibt keine Regeln darüber, welche Beschränkungen mit dem Bestand der bisherigen Gebietshoheit vereinbar sind, welche sie erlöschen lassen. Der Berechtigte kann sich allen denk­ baren Beschränkungen unterwerfen; solange bei Abschluß des Rechtsgeschäfts der Mlle nur aus eine Beschränkung gerichtet ist, behält er die Gebietshoheit, mag deren Ausübung auch in wesentlichen Richtungen auf einen fremden Staat übergegangen sein. In der Staatspraxis wird die Abtretung der Gebietshoheit nicht selten verschleiert, in den Schein der Begründung eines ius in re allen» gekleidet, eines Verwaltgngs-, Nutzungs- oder Pachtrechts. Es gilt aber das, was gewollt ist. Bei den einschlägigen Rechtsgeschäften ist deshalb zu untersuchen, ob sie als solche emst gemeint sind oder ob unter einem simulierten ein dissimuliertes Rechtsgeschäft sich veckirgt. Den Ausschlag geben folgende Erwägungen: a) Kann nach dem Wlllen der Parteien der Staat, dessen Gebietshoheit scheinbar nur beschränkt ist, sie noch an einen dritten Staat über­ tragen, oder steht diese Befugnis dem Staat zu, der scheinbar nur ein ius in re allen» erwecken hat? b) Als wessen Untertanen gelten die Bewohner des betreffenden Gebiets im auswärtigen Verkehr?

II. Die Staatsdienstbarkeiten, dauernde Beschränkungen der Gebiets­ hoheit eines Staats zugunsten eines andem. Sie gehen akttv und passiv auf die Gebiets­ nachfolger über, obligatorische Rechte und Pflichten nicht (§ 46). A. Affirmative Staatsdienstbarkeiten: 1. Das Recht der Etappenstraße, das Recht des Staats, bewaffnete Truppen durch fremdes Gebiet marschieren zu lassen. 2. Das Besatzungs­ recht, d. h. das Recht, einen bestimmten Platz des fremden Gebiets mit Truppen dauernd zu besetzen. 3. Wrtschastliche und Berkehrsdienstbarkeiten: Post-, Eisenbahn-, Telegraphengerechügkeiten, Holz- und Fischereirechte. Eine Staatsdienstbarkeit besteht nur dann, wenn der Berechtigte bei Ausübung seines Rechts die eigene Staatsgewalt betätigt; bloß ein obliga­ torischer Anspruch ist vorhanden, wenn er sich bzw. seine Untertanen hieckei der Staatsgewalt des Verpflichteten unterwirft. Bei wirtschaftlichen Berechtigungen ist letzteres im Zweifel anzunehmen: eit. Schiedsspruch a. a. O. 104/5. B. Negative Staatsdienstbarkeiten: 1. Die dauernde Entfestigung gewisser Plätze oder Gegenden: Hüningen, Pariser Friede vom 20. November 1815, Art. 3 (Fleischmann 21). Ferner: Berliner Kongreßakte, Art. 11 u. 52 (nicht ausgeführt), 29 (abgeändert 1909). — 2. Wüst­ legung von Grenzdistrillen, Friede von Adrianopel vom 14. September 1829 Art. 3 (Fleisch­ mann 29/30).

Paul Heilborn.

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III. Höchstpersönliche Berwaltungs- und Nutzungsrechte. Ein Staat erwirbt das Recht, fremdes Staatsgebiet zu besetzen und zu verwalten, eventuell auch die Nutzungen für sich zu ziehen. Das fremde Gebiet toitb mitsamt den Bewohnern der Staats­ gewalt des Berechtigten unterworfen, gehört aber nach wie vor dem Verpflichteten; die Be­ wohner bleiben dessen Untertanen. Bei den Dienstbackeiten weiden sie dagegen dem Berechtigten nicht untergeoümet: Besetzung und Verwaltung Cyperns durch England, Bosniens und der Herzegowina durch Osterreich-Ungarn (beendigt durch die Annexion 1906/9, Strupp 2 24/32), Kiautschous durch das Deutsche Reich (Fleischmann 287), Wei-hai-weis durch England, PortArchurs durch Rußland, später Japan (Friede von Portsmouth 27. 8./5. 9. 1905 Art. 5, Strupp 2 140). Diese Rechte sind stets höchstpersönliche. Der Belastete will sie nicht irgend­ einem Staat, sondem nur diesem einen einräumen. Der Berechtigte kann sein Recht deshalb an einen Dritten nicht abtreten. Zieht er sich aus dem Gebiet zurück, so wird die Gebietshoheit des belasteten Staats ohne weiteres unbeschränkt. Tatsächlich dienen diese Rechtsvechältniffe zur Vorbereitung einer aus politischen Gründen vertagten Gebietsabtretung. IV. Das Pfandrecht, das Recht, fremdes Staatsgebiet zur Sichecheit für die Erfüllung einer Foüerung in Besitz zu nehmen. Der Gläubiger erlangt nur das Recht zum Besitz, nicht die Fähigkeit, sich eventuell durch Verkauf des Pfandes Befriedigung zu verschaffen. Er behält den Besitz, bis ihm die geschuldete Leistung zuteil toitb. Das Pfandrecht kommt mit Übertragung der Berwaltungs- und Nutzungsrechte und ohne solche vor. Ost wurde es zur Sicherung für die Geldschuld eines Staats an den anderen begründet. Vgl. Versailler Friedenspräliminarien vom 26. Februar 1871 Art. 3, Frankfurter Friede vom 10. Mai 1871 Art. 7 u. 8 (Fleischmann 98, 101/2). Zur Sicherung einer Leistung politischen Inhalts toutben Teile des französischen Staatsgebiets in Art. 5 d«S Pariser Friedens vom 20. November 1815 verpfändet (ebenda 21). — Die Verpfändung Wismars seitens Schwedens an Mecklenburg-Schwerin ist erledigt durch Stockholmer Verträge vom 20. Juni 1903 (ebenda 339). 8 20.

b)

Beschränkungen im Interesse der Schiffahrt.

Literatur. Engelhardt: Du rtgime conventionnel des fleuves internationaux, Paris 1879, und: Histoire du droit fluvial conventionnel, Paris 1889; Orban: Etüde de droit fluvial international, Paris 1896; Stoerk: Studien zum See- und Binnen-SchiffahrtSrecht, in Stengels Wörterbuch des deutschen BertoaltungSrechts, Ergänzungsband III, Freiburg i. B. 1897; Ghica: Des droits de p6age aux Portes de fer, Paris 1899; Strifower: Donau und Elbe (österreich. Staatswörterbuch) 1907; Huber: Rechtsgutachten über die Gebietshoheit an längsgeteilten Grenz­ flüssen, Zürich 1906, und: Internationales Wasserrecht (Schweizerische Wasserwirtschaft, Bd. 3/4), Zürich 1911; Gorianow: Le Bosphore et les DardaneUes, Paris 1910; Arias: The Panama Canal, London 1911: den Beer Poortugael: La neutraliti sur l’Escaut, Haag 1911; Demorgny: Laquestion du Danube, Paris 1911; ArchOsfR. 21 467, 29 63; ZBöllR. 1 29, 169, 4 208,5 187; Rev. 43 20; Rev. G6n. 17 197, 281, 649, 609, 624, 19 710; Rivista 5 561. — Reichsgesetz vom 24. Dezember 1911, bett, den Ausbau der deutschen Wasserstraßen und die Erhebung von Schiffahrtsabgaben (RGBl. 1137). I. Die Flüsse. Kraft seiner Gebietshoheit darf der Staat die Benutzung des ihm gehörigen Flußlaufs nach Belieben regeln. Insbesondere kann der stwmabwärts gelegene Staat dem stwmauswärts gelegenen und besten Angehörigen den Zugang zum Meere ver­ sperren oder ihn an die Erlegung hoher Mgaben binden. An diesem System hielten die Staaten im 17. und 18. Jahrhundert fest. Die erste französische Republik hat mit ihm in Euwpa gebwchen, indem sie am 16. November 1792 den Grundsatz aufstellte: qu’une Nation ne saurait sans injustice prStendre au droit d’occuper exclusivement le eanal d’une rivi6re et d’empecher que les peuples voisins qui bordent les ri vages sup&rieurs ne jouissent du meme a van tage. Durch eine Reihe von Verträgen verschaffte Frankreich diesem neuen Gmndsatz Geltung. In Verfolg des Art. 5 des Pariser Friedens vom 30. Mai 1814 (Martens: N. R. 21) hat der Wiener Kongreß Schiffahrtsakten für Rhein, Neckar, Main, Mosel, Maas und Schelde ausgearbeitet (Anlage 16 der Wiener Kongreßakte, ebenda 436), zugleich aber auch allgemeine Grundsätze über die Freiheit der Schiffahrt aus den in ihrem schiffbaren Laus das Gebiet mehrerer Staaten trennenden oder durchlaufenden Strömen aufgestellt (Kongreßakte Art. 108—116, ebenda 427). Diese allgemeinen Grundsätze sind nicht ohne weiteres auf andere Flüsse anwendbar, sondem

Völkerrecht.

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erst auf Gmnd eines Ausführungsvertrags der Uferstaaten. Zum Abschluß solcher Verträge nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze haben sich die Kongreßmächte aber wechselseitig verpflichtet. Das neue internationale Flußschiffahrtsrecht rourbe int Lauf des 19. Jahrhunderts noch auf folgende Ströme zur Anwendung gebracht: Elbe, Weser, Oder, Weichsel, Riemen, Po, Pruch, Donau, Amazonenstrom, Rio de la Plata, Kongo und Niger. Aus diesen Strömen ist die Handelsschifsahrt von dem Punkte an, an dem die Schiffbar­ keit beginnt, bis ins Meer hinein und umgekehrt für jedermann frei. Die Küstenschiffahrt (Kabotage, d. h. Beförderung der Güter von einem zum anderen Hafen des nämlichen Staats) ist nicht unbedingt frei. Zur Schiffahrt gehört die notwendige Bauchung des UferS, insbesondere des Leinpfads, und das Anlegen. Die Abgaben sollen keine Einnahmequelle für die Staaten bilden, sondern nur die Unterhaltungskosten decken; sie sind für alle Flaggen gleich; in der Regel werden sie von den Uferstaaten gemeinschaftlich festgestellt, können dann nicht einseitig erhöht werden (Rhein und Elbe?). Durchgangszölle weiden nicht echoben. Stapel- und Um­ schlagsrechte sind abgeschafst. Rur insoweit ist die Gebietshoheit der Uferstaaten zugunsten der allgemeinen Freiheit eingeschränkt. Die fremden Staaten haben keine Dienstbarkeit er­ wachen: die Schiffe unterstehen der Staatsgewall des Uferstaats. Im Interesse der Echaltung und einheillichen Regulierung des Stromlaufs haben sich die Uferstaaten vielfach wechselseitig zu obligatorischen Leistungen verpflichtet, auch Kommissionen zur Fassung gemeinsamer Be­ schlüsse und zur Überwachung der Ausführung eingesetzt. Internationale, nicht auf die Ufer­ staaten beschränkte Kommissionen sind' für Donau und Kongo vorgesehen, aber nur für erstere ins Leben getreten. — Auf dem Duero, Tajo, St. Lorenz und Rio Grande del Rorte steht die Schiffahrt nur den Angehörigen der Uferstaaten frei. Der 1792 aufgestellte Grundsatz ist über die Schiffahrt hinaus auf sonstige Wassernutzung, insbesondere zur Gewinnung von Kraft, sinngemäß zu erstreiken; „wo eine zweckmäßige Aus­ nutzung des Wassers nur durch Beanspruchung mehrerer Gebiete erzieft toerben kann, muß das Zusammenwirken der beteiligten Staaten auch hierzu gesichert weiden" (Huber). II. Die Kanäle. Die künstlichen Verbindungsstraßen zwischen zwei Weltmeeren unterstehen der Gebietshoheit des Staats, in dessen Gebiet sie erbaut sind. Er kann chre Be­ nutzung ausschließlich regeln (Nord-Ostseekanal). Aus der Eröffnung einer neuen Wasserstraße erwachsen ihm keine Pflichten gegen fremde Staaten; niemand ist gehalten, diese Wasserstraße zu benutzen. Andere Gesichtspunkte üerbtenen Berücksichtigung, wenn der Kanal wesenllich mit fremdem Gelde erbaut ist. Die Kapital- und Zinsfockerungen der Gläubiger können als­ dann durch eine engherzige Berkehrspolitik wie auch durch Kriegsereigniffe erheblich gefähidet weiden. Bald nach Eckauung des Suezkanals machte sich deshalb das Bedürfnis nach einer besonderen, dem Belieben des Uferstaats entrückten Ocknung geltend. Sie wurde geschaffen durch den zu Konstantinopel am 29. Oktober 1888 unterzeichneten Vertrag (Fleischmann 220). Der Kanal steht bat Kriegs- und Handelsschiffen aller Staaten nicht nur in Friedens-, sondern auch in Kriegszeiten offen. Es darf in ihm kein Krieg-recht ausgeübt, keine Beschädigung vor­ genommen, keine Blockade über ihn verhängt wecken. Der Kanal und seine Zugangshäfen dürfen nicht zum Stützpunkt für militärische Operationen dienen, es seien denn solche von seilen des Sultans oder des Khckive zur Verteidigung Ägyptens oder zur Aufrechthaltung der öffent­ lichen Ocknung erfockerlich. Da- Suezkanalabkommen diente in mehrfacher Hinsicht als Vockild bei der Auseinander­ setzung zwischen England und der Nockamerikanischen Union über den von letzterer zu eckauenden Panamakanal. Nach dem Vertrage vom 18. November 1901 (Fleischmann 321; dazu Vertrag mit Panama vom 18. November 1903, ebenda 322; europäische Mächte sind bisher nicht bei­ getreten) soll der Kanal neutral sein, bat Kriegs- und HandÄsschiffen alter Staaten unter völlig gleichen Bedingungen — ohne Bevorzugung der amerikanischen Schiffahrt! (ZBölkR. I, 407. offen stehen; Kriegsrecht darf daselbst nicht ausgeübt wecken. Den Bereinigten Staaten steht der Erlaß von Reglements sowie die Aussicht über den Kanal einschließlich militärischer Polizei zu. Neuerdings haben sie den Kanal befestigt. III. Küsten- und Eigengewässer. Die Durchfahrt durch fremde Küsten­ gewässer steht den Handelsschiffen aller Staaten, den Kriegsschiffen nur insoweit frei, als die

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Küstengewässer die Fahrstraße für den intemationalen Bekehr bilden. Aus sicher- und gesundheitspolizeilichen Gründen kann die Durchfahrt verboten werden; sie schließt die Gewinnung von Meeresprodukten und den Betrieb der Küstenfrachtfahrt nicht ein (Fleischmann 270 A. 7). Die Eigengewässer darf der Staat fremden Schiffen versperren, wenn er sich nicht durch Vertrag zur Öffnung gebunden hat. Tatsächlich wird in Friedenszeiten höchstens die Einfahrt in einzelne Kriegshäfen verboten, wenn man von vorübergehenden, sicher» und gesundheits­ polizeilichen Maßregeln absicht. Schiffen in Seenot darf die Einfahrt nicht verweigert werden. Meerengen können Eigengewässer eines oder mehrerer Staaten, Küstengewässer mehrerer Staaten, in der Mitte auch offenes Meer sein. Sofern sie zwei offene Meere verbinden, steht die Durchfahrt allen Handels- und Kriegsschiffen frei. Die Eigengewäsier sind insoweit den Küstengewäffern gleichgestellt. Die Sperrung des Sundes und der Belte ist durch den Kopen­ hagener Vertrag vom 14. März 1857 (Fleischmann 58) und einige anschließende Verträge auf­ gehoben. Bosporus und Dardanellen sind dagegen fremden Kriegsschiffen verschlossen, solange sich die Pforte im Frieden befindet, obwohl das Schwarze Meer zum mindesten seit 1871 offenes Meer ist (Londoner Vertmg vom 13. März 1871, ebenda 93). Diese „alte Regel" des ottomanischen Reichs ist im Interesse des Weltfriedens von den Gwßmächten mit der Türkei vertraglich festgesetzt. Die Türkei selbst darf fremden Kriegsschiffen nur in drei genau bestimmten Fällen die Einfahrt in die Meerengen gestatten. Vgl. Art. 2 des Londoner Vertrages vom 13. März 1871 und den Zusatzvertrag zur Pariser Kongreßakte vom 30. März 1856 (ebenda 55/6). Zugangsstraßen zu geschloffenen Meeren — die Straße von Kertsch — darf der Ufer­ staat sperren.

IV. Luftgebiet.

Vom Fall der Not abgesehen braucht der Staat ausländischen

Luftschiffen zurzeit weder das Landen auf seinem Gebiet noch die Benutzung seines Luftraums zu gestatten, auch nicht zum Zweck der Durchfahrt. Dem unleugbaren Berkehrsbedürfnis steht das ebenso unleugbare Sicherheitsbedürfnis der Terriwrialgewalt gegenüber. Die Gefahr (Spionage, Beschädigung durch Herabfallen) ist größer als bei der Durchfahrt durch Küstengewäffer. Die der Pariser diplomatischen Konferenz 1911 nicht gelungene Ausgleichung der entgegengesetzten Interessen (Rivista 5 279) wird bei längerer Praxis herzustellen sein.

4. Erwerb und Verlust der Gebietshoheit.

8 21.

a) Abgeleiteter Erwerb.

Literatur. Stoerk: Option und Plebiszit bei Eroberungen und Gebietsabtretungen, Leipzig 1879; Gelöste: Trait6 de Pannexion au territoire frangais et de son dSmembrement, Paris 1880; Fusinato: Le mutazioni territorial!, Turin 1886; Freudenthal: Die Volksabstimmung bei Gebietsabtretungen und (Eroberungen, 1891; Appleton: Des effets de l’annexion de territoires sur les dettes de l’Etat d6membr6 ou annexe, Paris 1895; Huber: Die Staatensuccession, Leipzig 1898; Matzen: Die nordschleswigsche Optantenfrage, und: Das Indigenatsrecht im Wiener Frieden, Kopenhagen 1904/6; dazu Vertrag vom 11. Januar 1907 bei Martens: N. R. 0Ln., 3. Ser., 1 632; BöhmSZ. 11 205; ArchOffR. 29 39. Der Erwerb der Gebietshoheit ist ein abgeleiteter, wenn er sich auf die Gebietshoheit eines anderen Staats gründet; der Erwerber wird dessen Rechtsnachfolger. Der Erwerb ist ein ursprünglicher, wenn er sich nicht auf die Gebietshoheit eines anderen Staats gründet. Der abgeleitete Erwerb vollzieht sich durch Gebietsabtretung; sie ist das Rechtsgeschäft, durch welches ein Staat die Gebietshoheit über sein Gebiet oder einen Teil desselben auf einen anderen Staat überträgt. Erforderlich ist Abschluß eines Vertrags und Besitzübertragung. Nicht erfoü»erlich ist eine causa. Die Fähigkeit vorausgesetzt, genügt der auf die Gebietsabtretung gerichtete Wille. Die juristische Natur des Rechtsgeschäfts ist auch unabhängig davon, ob und welche Gegenleistung erfolgt. Einteilungen der Gebietsabtretungen in Kauf, Tausch, Schen­ kung usw. sind wertlos. Die verspwchene Gegenleistung muß selbstverständlich erfolgen. Wirkungen der Gebietsabtretung (vgl. § 53): 1. Der Erwerber wird Rechtsnachfolger des Vorgängers; er erwirbt also die Gebietshoheit so, wie sie diesem zustand: nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet. Dingliche Ansprüche dritter Staaten aus das Gebiet bleiben unberührt, insbesondere Vorkaufs- und Sewitutrechte: res transit cum euere: Hüningen,

Völkerrecht.

519

Chablais und Faucigny. Umgekehrt gehen die mit dem abgetretenen Gebiet verknüpften Servitut­ rechte auf den Erwerber über.

2. Die Rechtsnachfolge erstreckt sich auch auf die Bewohner des abgetretenen Gebiets, soweit sie Angehörige des Vorgängers waren; sie wechseln die Staatsangehörigkeit, werden Untertanen des Erwerbers. Gestützt auf frühere Beispiele mildert die Praxis des 19. Jahr­ hunderts die hierin liegende Härte gern durch den Vorbehalt der Options- und Auswanderungsfreiheit: die Bewohner des abgetretenen Gebiets dürfen das Land des Erwerbers binnen be­ stimmter Frist verlassen, nachdem sie erklärt haben, daß sie die alte Staatsangehörigkeit be­ wahren wollen. Die privatrechtlichen Rechtsverhältnisse der Bewohner werden weder von der Gebietsabtretung noch von der Auswandemng berührt. Die eine Zeitlang namentlich in Frankreich viel verfochtene Plebiszittheorie ist auch von den neueren französischen Forschern (Bonfils, Chrstien, Despagnet) aufgegeben. Nach ihr hätte die Bevölkerung des abzutretenden Gebiets durch Abstimmung zu entscheiden, ob die Ab­ tretung stattfinden solle oder nicht. Hiebei ist übersehen, daß ein Teil des Staats dem Staat selbst nicht übergeordnet sein kann. Durch Versagung ihrer Zustimmung würde feinet die Be­ völkerung des abzutretenden Gebiets den nach Frieden verlangenden Staat zur Fortsetzung des Krieges zwingen. Die Staatspraxis erachtet die Volksabstimmungen nicht für erforder­ lich; nur ausnahmsweise hat man sie aus Zweckmäßigkeitsgründen zugelassen. 8 22.

b) Ursprünglicher Erwerb.

Literatur. Heimburger: Der Erwerb der Gebietshoheit, Karlsruhe 1888; Salomon: L’occupation des territoires saus maitre, Paris 1889; Jtze: Etüde tMorique et pratique sur l’occupation comme mode d’acquSrir les territoires en droit international, Paris 1896; Riböre: Les occnpations fictives dans les rapports internationaler, Bordeaux 1897; Hasenjäger: Der völkerrechtliche Begriff der Interessensphäre und des Hinterlandes, Dist., Greifswald 1907; Erich Kaufmann: Auswärtige Gewalt und Kolonialgewalt In den Bereinigten Staaten von Amerika, Leipzig 1908; Groussac: Les iles Malouines, Buenos Aires 1910; Jerusalem: Über völkerrecht­ liche Erwerbsgründe (Festgabe der Juristenfakultät Jena für Thon), Jena 1911; ArchOffR. 6 193; Rev. 18 113, 244,433,573, 19 371, 23 243, 24 170, 25 58, 27 417,474, 36 365,604, 37 53, 42 434; Rev. G6n. 1 103, 2 400, 6 113,10 651, 14 148, 15 78, 16 117, 649; Rivista 6 34,193. «gl. ferner die Literatur des Kolonialrechts.

Der ursprüngliche Erwerb der Gebietshoheit vollzieht sich durch Besitzergreifung: An­ eignung, Okkupation. 1. Gegenstand der Okkupation ist nur staatenloses Gebiet. Staatenlos ist einmal das ehemalige Gebiet einer untergegangenen, durch Krieg oder Selbstauslösung vemichteten Staats­ gewalt. Staatenlos ist feinet das Gebiet, welches der Gebietshoheit eines Staats oder aner­ kannten Stammes noch nicht unterstellt war. Die frühere Ansiedlung von Privatpersonen, welchem Staat sie auch angehören mögen, steht der Okkupation ebensowenig entgegen wie die nicht anerkannter Stämme. Die Frage, ob Staaten zur Okkupation des von diesen Stämmen bewohnten Landes berechttgt sind, kann nicht das Völkerrecht, sondem nur die Moral beantwotten. Das Völkerrecht erblickt in solchem Stamm keine völkerrechtliche Person, sondem eine Mehrheit von Menschen, überläßt dagegen der Häuptting eines anerkannten Stammes einem Staate Land, so erwirbt letzterer es derivaüv. Der Eintritt in ein Schutzverhältnis (unten 5 c) hat aber nicht die Bedeutung einer Gebietsabtretung.

2. Die Okkupation ist völkerrechtliches Rechtsgeschäft, sie kann demnach nur von einem Staat vorgenommen werden. Der Vertreter muß, wie immer, Vollmacht haben, oder seine Handlung muß nachträglich genehmigt werden. Die Vollmacht zur OKupation wird nicht selten Kolonialgesellschaften übettragen. Privatpersonen und «gesellschaften können für sich nicht okkupieren, wohl aber können sie einen neuen Staat gründen: der deutsche Orden in Preußen, Liberia, Serawak.

3. Die Okkupationshandlung ist Besitzergreifung. Päpstliche Schenkung (die Bulle Wexanders VI. von 1493), erste Entdeckung, Entsendung von Missionaren, Anlage privater Kolonien stehen der Besitzergreifung nicht mehr gleich. Die auf solche Titel in früheren Zeiten gegründeten Ansprüche haben nur noch Geltung, wenn sie von anderen Staaten anerkannt sind

620

Paul Heilborn.

Die Anerkennung kann ab« widerrufen weiden, wenn die beanspruchte Gebietshoheit längere Zeit hindurch nicht betätigt roitb. Bon Ländern, die er selbst in keiner Weise benutzt, kann der Staat andere auf die Dauer nicht ausschließen. Treu und Glauben erfordem indesien, daß der Widerruf der Anerkennung zunächst angekündigt, daß dem bettoffenen Staat eine ange­ messene Frist gewährt werde, die früher anerkannte Gebietshoheit nunmehr zu betätigen. (Karolinenstreit zwischen Deutschland und Spanien 1885.) Für eine neue Okkupation ist er­ forderlich:

a) tatsächliche Besitzergreifung; die Okkupation mich „effektiv" sein. Im Gegensatz zur privatrechtlichen Aneignung kann die staatliche Besitzergreifung sich nur durch einen staatlichen Herrschaftsakt betätigen. Art. 35 d« Kongreßakte vom 26. Februar 1885 verlangt deshalb mit Recht die Einsetzung einer „Obrigkeit, welche hinreicht, um erworbene Rechte zu schützen". Eine einmalige symbolische Besitzergreifung durch Aufhissen von Fahnen u. dgl. genügt nicht. Der Staat muß Organe einsetzen, weiche seine Staatsgewalt dauernd betätigen. b) Der Wille muß auf Begründung der Gebietshoheit gerichtet sein. Besetzung eines Landstrichs ohne diesen Willen ist keine Ollupation: Errichtung wissenschaftlicher Bwbachtungsstationen, Festsetzung ein« miliLrischen Expedition zu vorübergehendem Zweck. c) Aus der Natur der Okkupation als Betätigung staallicher Herrschaft folgt, daß sie wahrnehmbar sein muß. Für Okkupationen an der Küste des afrikanischen Festlands schreibt Art. 34 der Kongoakte Notifikation an die Signatarmächte vor. Diesen soll Gelegenheit gegeben werden, ihre etwaigen Ansprüche sofort geltend zu machen. Die Notifikation soll demnach Klarheit über die Rcchtsvechältnisse schäften. Sie ermöglicht aber fern« den Erwerb eines Vorrechts auf Okkupation weiterer Landstriche (vgl. unten 5 b). 4. Wirkungen der Okkupation: a) Der Erweck« begründet nur die völkerrechtliche Gebietshoheit allen anderen Staaten gegenüber. Die privatrechüichen Eigentumsverhältnisse bleiben unberührt. Dies gilt sowohl für die Eingeborenen wie für die Angehörigen dritter Staaten. Die Obrigkeit soll ja hinreichen, um erworbene Rechte zu schützen. Auch aus die eigentümliche Organisation des im erwockenen Gebiet wohnenden Stammes übt die Okkupation keinen Einfluß aus.

b) Die Gebietshoheit wird nur soweit erwocken, als die Besitzergreifung sich räumlich restreckt. Regelmäßig Wick zunächst ein kleines Stück Landes der staaüichen Herrschaft unter­ stellt und diese allmählich ausgebreitet. Der Erwecker nimmt aber stets mehr Land in Anspmch, als er auf einmal okkupieren kann: das orographisch oder hydwgraphisch mit dem bereits er­ wockenen zusammenhängende Land. Neueckings hat man behauptet, dem Erwecker eines Küstenstrichs gehöre das hinter diesem befindliche Land in der Breite der okkupierten Küste (Hinterland). GnerseitS haben solche Ansprüche nie allgemeine Anerkennung gefunden; ander­ seits hat man ihnen eine gewiffe Berechtigung nicht absprechen können. Das Völkerrecht kennt mehrere Mittel zur Erlangung eines Vorrechts auf Okkupation bestimmter Landstrecken. Damit wird es den erwähnten Ansprüchen gerecht. 5. Vorrechte auf Okkupation. Der Anspmch, ein bestimmtes Gebiet allein zu okkupieren, andere Staaten von dessen Okkupation auszuschließen, Wick erwocken: a) durch Abgrenzung der Interessensphären. Sie geschieht durch Vertrag zweier Staaten; ein jeder verpflichtet sich dem anderen, in dessen Interessensphäre keine Okkupationshandlung vorzunehmen. Äe Abgrenzung der Interessensphären ist ein obligawrisches Rechtsgeschäft

und bindet nur die Vertragsparteien; es kann noch anderen Zwecken dienen und ist deshalb im Obligationenrecht (§ 49) zu besprechen; b) durch Notifikation des beanspmchten Vorrechts und darauf erfolgende Anerkennung desselben. Rach Okkupation eines Heineren Gebiets macht der Erwecker den anderen Staaten hiervon förmliche Mitteilung und gibt zugleich cm, in welchem größeren Umfang er das benach­ barte Gebiet becmspmcht. Die Unterlassung von Widerspmch ist Anerkennung des Anspruchs von feiten der benachrichtigten Staaten. — (Anhang 1 zum Protokoll 8 der Berliner Kongo­ konferenz vom 31. Jcmuar 1885, Staatsarchiv 45 179 ff.) Wick die Ausdehnung der Ollupation aus das ganze beanspmchte Land dauemd unterlassen, so ist Aufkündigung der Aneckennung zulässig (vgl. oben z. 3);

Völkerrecht.

521

c) durch Erweck einer Schutzherrschast über einen eingeborenen Stamm oder eine Kocknialgesellschast (vgl. § 7). Der Schutzvertrag verpflichtet den Staat zum Schutz des Stammes gegen andere Staaten, folglich darf er die Okkupation des vom Stamm bewohnten Landes durch andere Staaten nicht ducken. Er selbst kann okkupieren, sofern er die dem Stamm zugesagten Freiheiten unangetastet läßt; hierdurch begründet er ein staats» oder kolonialrechtliches Protekwrat. Dagegen können die aus dem Schutzvertrag erworbenen Rechte ebensowenig wie das Borrecht auf Okkupation einem anderen Staat übertragen werden: der Stamm hat sich in den Schutz dieses einen Staats begeben, nur ihm persönlich Rechte zu­ gestanden. Das Deutsche Reich hätte deShack seine Schutzherrschast über Mtu an England nicht abtreten dürfen; Art. 2 des Vertrags vom 1. Juli 1890 (Staatsarchiv 61 151). Als im Staat gebildete und von ihm anerkannte Gesellschaften stehen die Kocknialgesellschaften wie die einzelnen Staatsangehörigen völkerrechllich unter dem Schutz des Heimat­ staats. Das ohne staatlichen Auftrag auf staatenlosem Gebiet von ihnen erworbene Land kann aber noch von einem anderen Staat okkupiert wecken; nur muß dieser die erworbenen Privat­ rechte der Kocknialgesellschast anerkennen und schützen. Anders verhüll es sich, wenn der Heimat­ staat die Kocknialgesellschast samt ihren Erweckungen seinem Protekwrat unterstellt. Das ist durchaus die Regel und zulässig, solange kein anderer Staat das betreffende Land okkupiert oder ein Vorrecht auf Okkupation an ihm erwocken hat. Durch Unterstellung der Kocknialgesellschaft unter sein Protriktorat erklärt der Heimatsckat: er wolle die Gesellschaft nicht nur in ihren Prckatrechten und in ihrer Erwerbstätigkeit schützen, sondem er betrachte das von ihr erwockene Land als seine staatüche Interessensphäre, wecke daher eine Okkupation seitens anderer Sckaten nicht ducken. Ihm seckst ist die Okkupation Wickerum unveckoten. Zu nennen sind die zahlreichen englischen und die deutschen Kocknialgesellschaften. Letztere nchmen jetzt nur noch eine privatrechüiche Stellung ein. Das aus beiden Arten des Protektorats hergeleitete Borrecht auf Okkupation ist anderen Staaten gegenüber jedenfalls dann erwocken, wenn die Begrtdrdung des Protektorats an­ gezeigt und ohne Mderspruch gcklieben ist. Bei Pwtekckraten an den Küsten des afrikanischen Festllmds ist die Notifikation nach Art. 34 der Kongoakte unerläßlich.

8 23. e) «erlust der «ckietshohett. Der Berckst der Gebietshoheit tritt ein:

1. durch Gebietsabtretung (§ 21);

2. durch Emanzipation: Abfall eines Teils der Bckökkemng und Gründung eine- neuen Staats. So haben die euwpäischen Staaten fast alle amerikanischen Köcknien verioren; 3. durch Besitzaufgabe. Bei unfreiwilliger Entsetzung durch Eingckorene geht die GckietShoheit erst unter, wenn der Entsetzte sich beochigt, nach Kenntnisnahme die Ölittel zur Wieder­ erlangung des Besitzes nicht ergreift. Ist er hierzu zurzeit nicht imstande, so muß er anderen Staaten gegenüber seine Rechte sich ausdrücklich vockehallen, widrigenfalls Verzicht angenommen wick. Die stillschweigende Entgegennahme der Notifikatckn hindert dagegen andere Staatvr, sich ihrerseits in Besitz des jenem entrissenen Landes zu setzen; die Regeln über die Aufkündigung einer Anerkennung (§ 22 Z. 3) finden auch hier Anwendung. — Faschodastreit zwischen England und Frankreich 1898.

C. Da- Recht in Ansehung der Menschen.

I. Allgemeine Lehren.

8 24. 1. Die Staatsangehörigkeit. Literatur, v. Gerber: Grundzüge des deutschen Staatsrechts (3), 46ff., 226ff.; Jellinek: System der subjektiven öfsenllichen Rechte (2); Bendix: Fahnenflucht und Verletzung der Wehrpflicht durch Auswanderung, Leipzig 1906; Sieber: Das Staatsbürgerrecht im inter­ nationalen Verkehr, 2 Bde., Bern 1907; Bisocchi: Acquieto e perdita di nazionxliti nella lerielazione comparata e nel diritto internationale, Mailand 1907; Jsay: Die Staatsangehörigkeit

522

Paul Heilborn.

der juristischen Personen, Tübingen 1907; Cahn: Das ReichSgesetz über die Erwerbung und den Verlust der Reich-« und Staatsangehörigkeit (3), Berlin 1906; v. Martitz: AnnDR. 1875; ArchSssR. 12 200, 317, 29 188; ZBölkR. 1 53, 614, 2 209; VerwArch. 20 1; Rev. 39 711, 40 285,401, 525, 43 233; Rev. G6n. 16 57; Rivista 6 109.

I. Begriff und Bedeutung. Staatsangehörigkeit ist die dauemde Zugehörig­ keit eines Menschen zu einem bestimmten Staat. Sie ist nicht unlösbar, aber unabhängig von dem Aufenthalt des Menschen in dem räumlichen Bereich der Staatsherrschaft. Kraft der Zu­ gehörigkeit ist der Mensch einmal, und das ist das erste, dem Staat dauernd unterworfen: er roitb durch den Staatswillen rechüich gebunden; sodann hat er eine Reihe von Rechten gegen den Staat, insbesondere den Anspruch auf Schutz. Der staatsrechtlichen Unterwerfung ent­ spricht nach außen hin das völkerrechlliche Recht des Staats an der Person seines Untertans; es sichert ihm die Ausübung der eigenen Herrschaft sowie den Schutz des Angehörigen gegen rechtswidrige Eingriffe fremder Staaten. Das Recht des Heimatstaats gründet sich auf die Zugehörigkeit des Menschen zu seinem Staatsverbande; jedes Recht eines fremden Staats bedarf ihm gegenüber, besonderer Begründung. In den Beziehungen zwischen einem Staat und dem Angehörigen eines anderen Staats ist die Staatsangehörigkeit des Fremden in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: 1. Gehört der Ausländer einem fremden Staat an, so müssen die Rechte dieses Staats geachtet weü>en. Jeder Staat hat Anspmch darauf, daß seine Angehörigen den besonderen Vertragsbestimmungen, eventuell dem allgemeinen Völkerrecht entsprechend behandelt werden.

2. Mll ein Staat für einen im Ausland rechtswidrig behandelten Menschen eintreten, so bildet dessen Staatsangehörigkeit die Legitimation für den schützenden Heimatstaat. 3. Die persönliche Rechts- und Handlungsfähigkeit des Ausländers sowohl aus kein Gebiet des öffentlichen wie des Privatrechts richtet sich in vielen Fällen nach seinem Heimatrecht. Immer ist demnach die Staatsangehörigkeit des einzelnen Fremden festzustellen. II. Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit. Gebietserwerb bzw. »Verlust führt sür die Bewohner des betreffenden Gebiets nach Völkerrecht den Wechsel der Staatsangehörigkeit herbei (§ 21). Im übrigen wird deren Erwerb und Verlust durch die Gesetzgebung der einzelnen Staaten geregelt, d. h. jeder Staat bestimmt einseitig, welche Menschen ihm zugehören. Erwerbsgründe sind: Abstammung von, Legitimation durch einen Inländer, Verheiratung einer Frau mit einem Staatsangehörigen, Geburt im Inland, Aufnahme eines Ausländers in den Staatsverband, sei es ausdrücklich, sei es durch Anstellung im Staatsdienst. Die Staatsangehörigkeit geht verloren: durch Entlassung aus dem Staatsverband auf Antrag, durch Ausstoßung, durch längeren, nach dem bisherigen deutschen Recht durch zehnjährigen Aufenchalt im Ausland, durch Erwerb einer fremden Staatsangehöngkeit (Code civil, Art. 17), insbesondere durch Verheiratung einer Inländerin mit einem Ausländer, durch Legitimation eines Kindes seitens eines Ausländers. In der Ausgestaltung dieser und ähnlicher Erwerbs- und Berlustgründe ist der Staat frei, solange er nicht in die Rechtssphäre anderer Staaten eingreift. Unzulässig ist die Zwangs­ naturalisation eines fremden Staatsangehörigen; sie wäre eine rechtswidrige Vergewaltigung der Persönlichkeit. Statthaft ist dagegen die Naturalisation eines fremden Staatsangehörigen mit dessen Einverständnis. Die Zustimniung des Heimatstaats ist nicht erforderlich; seine Rechte roetben aber durch die Naturalisation nicht beeinträchtigt. Sein vom fremden Staat auf­ genommener Untertan hat doppelte Staatsangehörigkeit, bis die ältere nach dem Recht des Heimatstaats erlischt. Die amerikanischen Staaten sind allerdings der Meinung, die ältere Staatsangehörigkeit erlösche durch Erwerb einer neuen. Allgemeiner Grundsatz ist das aber noch nicht, wenngleich die Nordamerikanische Union eine Anzahl entsprechender Abkommen durchgesetzt hat (Fleischmann 80, Mattens: N. R. G6n. 3 0 Ser. 3 233/47, 4 250). Für den einzelnen Menschen ist die Anettennung der Staatsangehöngkeit vielfach staats­ rechtliche Pflicht. Ein Recht zum Einttttt in den, zum Austtttt aus dem Staatsverband kann er nur nach dem Landesrecht eines Staats erwerben. Den Austtttt aus dem Staatsverband gestatten gegenwärtig die meisten Staaten unter zwei Bedingungen: a) Erfüllung der bereits begründeten Pflichten gegen den Staat, insbesondere Ableistung der militättschen Dienstpflicht.

Völkerrecht.

523

b) Auswanderung binnen bestimmter Frist. Der Untertan soll die Vorteile der staatlichen Gemeinschaft nicht genießen, wenn er sich den Pflichten sür die Zukunft entzieht.

III. Die Heimatlosen, d. h. Menschen ohne Staatsangehörigkeit. Sie sind nicht Objekte völkerrechtlicher Rechte und völkerrechtlichen Schutzes der Staaten. Ihre Beziehungen zu jedem einzelnen Staat werden lediglich durch dessen Landesrecht geregelt. Sie werden von dem einzelnen Staat anderen Menschen gegenüber, sie werden von seiner Rechtsordnung ge­ schützt, insoweit sie auf alle Menschen Anwendung sindet. Sie werden aber nicht gegen den Staat geschützt, denn hinter ihnen steht kein schützender Staat. Einer Zwangsnaturalisation steht nichts im Wege. Es ist gleichgültig, ob der Heimatlose niemals einem Staat angehört oder die ehemalige Staatsangehörigkeit eingebüßt hat. Mit ihrem Untergang ist auch das Schutz­ recht erloschen. Anderseits sind die Heimatlosen auch nicht zur Beobachtung des Völkerrechts verpflichtet; es wendet sich nicht an sie. Die von zivilisierten Staaten zum Schutz von Heimat­ losen oder gegen solche ergriffenen Maßregeln — Befreiung von Sklaven, Maßnahmen gegen Sklavenhändler und Seeräuber, Strafexekutionen gegen Barbaren—fallen nicht unter das Völker­ recht. Sie sind rechüich unveödotene Handlungen natürlicher Selbst- und Nächstenhilfe.

8 25.

2. Die Rechtsverhältnisse im allgemeinen.

Der Staat herrscht über seine Untertanen zu seinem eigenen und zu ihrem Besten; er erstrebt nicht nur seinen Vorteil, sondem gewährt auch ihnen die Möglichkeit zur Entfaltung ihrer Anlagen und Kräfte, zur Erreichung wüünger Lebenszwecke. Dazu ist in erster Linie erforderlich Schutz für die Person und ihre Rechte sowie ein gewisses Maß von Freiheit. Soweit das Leben der Untertanen sich nicht ausschließlich innechalb der heimischen Staatsgrenzen ab­ spielt, will der Staat ihnen auch im Auslande die Verfolgung ihrer erlaubten Lebenszwecke sichern, sie vor Ungerechtigkeit und Willkür schützen. Das Völkerrecht trägt dem Rechnung. Cs verpflichtet die Staaten, in ihrem Landesrecht den Angehörigen anderer Staaten Schutz fürihre Personund i h r e R e ch t e zuteil werden zu lassen. Diese Verpflichtung recht« fertigt sich damit, daß der Heimatstaat in fremdem Staatsgebiet Hoheitsakte nicht selbst vor­ nehmen, mithin seine Angehörigen dort nicht durch unmittelbares Eingreifen schützen darf. Der fremde Staat ist allein in der Lage, Schutz zu gewähren (Triepel 335). Die Wicht zum Schutz fremder Staatsangehöriger in ihrer Person und in ihren Rechten erstreckt sich deshalb nicht nur auf das Staatsgebiet, sondem auch auf andere Gebietsteile, von denen die diesseitige Staatsgewalt fremde Staatsgewalten ausschließt: Pwtektoratsgebiete, der occupatio bellica unterworfene Länder, ferner auf die Nationalschiffe (§§ 42, 43). Hierauf hat der Heimatstaat Anspruch. Der Schutz der Person und ihrer Rechte bildet die GmMage sür die Stellung der Angehörigen eines Staats zu anderen Staaten*, gleichviel, wo der einzelne Angehörige sich aufhält. 1. Der Schutz der Person. Der Staat muß den Angehörigen eines anderen Staats oB Person, d. h. als Rechtssubjekt, anerkennen und schützen. Ausgeschlossen ist damit die Behandlung als Sklave. Unbedingt genießt der Fremde strafrechtlichen Schutz; als vermögens- und prozeßfähig ist er grundsätzlich anerkannt; die Einzelheiten bleiben der Darstellung im § 27 vorbehalten. Den Mädchenhandel bekämpfen Abkommen vom 18. Mai 1904 und vom 4. Mai 1910 (RGBl. 1905 S. 695, 1913 S. 31).

2. Der Schutz der Rechte. Welche Rechte des Fremden ein Staat als wohlerwogen anerkennt und schützt, bestimmt sich in Ermangelung eines Staatsvertrags nach seinem Landes­ recht. Die Doktrin des intemationalen Privatrechts ist nicht ohne weiteres verbiMich, gelangt aber in Verträgen und in der Gesetzgebung immer mehr zur Anerkennung. Vgl. die Haager Wkommen vom 12. Juni 1902 (Fleischmann 330) und vom 17. Juli 1905 (RGBl. 1912 S. 453, 475, 1913 S. 249), ferner die Brüsseler Übereinkommen vom 23. September 1910 zur einheit1 Richt Schutz in anderen Staaten, sondern Schutz auch in der Heimat gegen gewerbliche Ausnutzung bzw. Schädigung der Gesundheit bezwecken die Abkommen vom 26. September 1906 über das Verbot der Nachtarbeit der gewerblichen Arbeiterinnen und über das Verbot der Ver­ wendung von weißem (gelbem) Phosphor zur Anfertigung von Zündhölzern (RGBl. 1911 S. 5, 17; vgl. Reinsch: Public international unions, Boston 1911, S. 42/9).

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Paul Heilborn.

lichen Feststellung von Regeln über den Zusammenstoß von Schiffen, über die Hilfsleistung und Bergung in Seenot (RGBl. 1913 S. 49,567,581). Selbstverständlich beschränkt sich der Schutz nicht auf die im Inland erworbenen Rechte. Nur die Urheberrechte an Werken der Kunst und Wissen­ schaft, an gewerblichen Erfindungen usw. genießen im Ausland noch nicht schlechthin Schutz. Zahlreiche Staatsverträge haben ihn aber gewährt. Vgl. namentlich die Pariser Übereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums vom 20. März 1883 (Fassung vom 2. Juni 1911, RGBl. 1913 S. 209) und die revidierte Bemer Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst vom 13. November 1908 (RGBl. 1910 S. 965). Kein Staat ist gehalten, der Person und den Rechten fremder Staatsangehöriger weiteren Schutz angedeihen zu lassen als bei seinen eigenen Untertanen. Gleichstellung mit diesen ist das Höchste, was erreicht werden kann. Ausnahmen hiervon kommen nur im Bereich der Konsular­ gerichtsbarkeit vor (§ 40). Schränkt aber ein Staat die den Ausländem bisher zugestandene Rechts- und Handlungsfähigkeit, z. B. die Fähigkeit zum Erwerb von Gmndeigentum, ein, so darf er die nach seiner älteren Gesetzgebung wohlbegründeten Rechte ohne Entschädigung nicht aufheben. Auch der Zwang zur Veräußemng der erworbenen Rechte binnen bestimmter Frist (so Rußland hinsichtlich des Gmndeigentums) ist als genügend nicht zu erachten. Schwierig ist die Anwendung dieser Grundsätze auf den Fall des Staatsbankerotts. Das zweite Haager Abkommen vom 18. Oktober 1907 verbietet die Anwendung von Waffengewalt gegen einen fremden Staat bei der Eintreibung von Vertragsschulden für Untertanen, solange die Möglich­ keit schiedsrichterlicher Erledigung besteht (vgl. Art. 53 des ersten Abkommens). Die Verpflichtung zum Schutz fremder Staatsangehöriger in ihrer Person und in ihren Rechten ist nicht an die Fortdauer normaler, freundschaftlicher Beziehungen zum Heimatstaat geknüpft. Bei Abbruch des diplomatischen Verkehrs, bei Ausbruch des Krieges werden die Angehörigen des Gegners nicht rechtlos. Sie werden regelmäßig dem Schutz eines dritten Staats unterstellt und sind nach allgemeinem Völkerrecht zu behandeln, wenn die Bestimmungen der besonderen Verträge aufgehoben oder suspendiert werden. Seiner Pflicht zum Schutz der Fremden in ihrer Person und in ihren Rechten entspricht der Staat in zweifacher Weise: 1. vorbeugend durch Schaffung der erforderlichen Gmndlagen im Wege der Gesetzgebung und Verwaltung, durch tatsächliche Abwendung von Gefahren; 2. zurückdämmend, indem er dafür sorgt, daß vorgekommene Angriffe und Verletzungen strafrechtlich geahndet, daß auf zivilprozessualem und administrativem Wege dem Fremden Recht werde wie dem Einheimischen. Kein Staat kann strafbare Handlungen völlig ausschließen, jeden Verbrecher einfangen oder dafür sorgen, daß jeder Schuldner dem Gläubiger rechtzeitig zahle. Solange ein Staat vorbeugend und zurückdämmend das nach der Erfahrung Mögliche und im Leben gesitteter Staaten Übliche zum Schutze der Person und der Rechte Fremder tut, erfüllt er seine Pflicht, fällt ihm ein Verschulden nicht zur Last. Schützt ein Staat dagegen die Person oder die Rechte eines fremden Staatsangehörigen nicht in dem erforderlichen Umfang, so verletzt er die Rechte des Heimatstaats. Dieser macht seinen eigenen Anspruch geltend, wenn er seines Untertans sich annimmt. Unter normalen Verhältnissen darf dies erst geschehen, wenn der Untertan von den nach dem Landesrecht des fremden Staats zulässigen Rechtsmitteln im Prozeß- oder im Verwaltungswege ohne Erfolg Gebrauch gemacht hat. Diese Rechtsmittel sind ja gerade zum Schutz des Rechts gewährt; führen sie zum Ziel, so hat der fremde Staat seine Pflicht erfüllt. Im Falle ausdrücklicher Rechtsverweigerung oder ungewöhnlicher Rechtsverzögerung, wie auch bei direkten rechtswidrigen Eingriffen einer Staatsbehörde, kann indessen der Heimatstaat sofort die diplomatische Beschwerde erheben, eventuell zur Selbsthilfe schreiten.

§ 26. 3. Die Staatsangehörigen im Ausland. I. Auswanderung und Rückkehr. Es gibt kein allgemeines Recht des Menschen, seinen Aufenthalt auf der Erde da zu nehmen, wo es ihm beliebt. Der moderne Staat läßt Reisen seiner Untertanen unbeschränkt zu, die Auswandemng, die dauernde Ver­ legung des Wohnsitzes in das Ausland, gestattet er aber regelmäßig erst nach Erfüllung der

Völkerrecht.

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militärischen Dienstpflicht. Völkerrechtlich ist es dem Staat unbenommen, die Auswandemng überhaupt zu untersagen und zu verhindern. Die Verbannung von Staatsangehörigen ist nur ausführbar, wenn ein fremder Staat den Verbannten aufnimmt; der Heimatstaat darf seine Untertanen fremden Staaten nicht zuschieben, auch dann nicht, wenn er ihnen die Staatsangehörig­ keit genommen hat. Ob der Untertan ein Recht zur Rückkehr in die Heimat hat, ist eine staatsrechtliche Frage. Völkerrechtlich ist der Staat zur Aufnahme seiner Angehörigen verpflichtet, wenn fremde Staaten sich ihrer entledigen wollen; denn er nimmt die Herrschaft über sie, anderen Staaten gegenüber ein Recht an ihnen in Anspruch. Die Aufnahmepflicht erstreckt sich nach moderner Vertragspraxis auch auf ehemalige Staatsangehörige, solange sie eine andere Staatsangehörig­ keit nicht erworben haben. II. Die Personalhoheit. Wo immer er sich befinden mag, ist der Untertan der Herrschaft des Heimatstaats unterworfen, in Gemäßheit des heimischen Staatsrechts zum Ge­ horsam verpflichtet. Die Personalhoheit erlischt erst mit der Staatsangehörigkeit; sie wird aber vielfach beschränkt und in ihrer Ausübung gehemmt durch die Territorialhoheit des Aufenthalts­ staats, d. h. desjenigen Staats, in dessen Gebiet der Untertan zurzeit weilt (§ 27). Die Personal­ hoheit betätigt sich einmal in Anforderungen des Heimatstaats an seine Untertanen im Aus­ land. Zwang darf in fremdem Staatsgebiet regelmäßig nicht ausgeübt, der Untertan erst zur Verantwortung gezogen werden, wenn er wieder in die Gewalt des Heimatstaats gelangt ist. Sodann wird die Personalhoheit auf fremdem Staatsgebiet in gewissen Fällen auch unmittelbar zur Geltung gebracht. Dies setzt Duldung des fremden Staats oder einen durch Vertrag er­ worbenen Anspruch voraus.

A. Anforderungen des Heimatstaats an seine Untertanen im Ausland: 1. Er gebietet die Rückkehr, wenn er der Untertanen bedarf: zur Erfüllung der Wehrpflicht und in Kriegs­ zeiten. 2. Er gebietet die Entrichtung von Steuem. 8. Er fordert auch im Ausland Gehorsam gegen seine Strafgesetze und verfolgt die von seinen Angehörigen daselbst begangenen Ver­ brechen. 4. Er verbietet den Eintritt in fremden Staats- und Militärdienst. B. Die unmittelbare Ausübung der Personalhoheit ist auf staatenlosem Gebiet nur durch die Normen des Schiffsrechts (§§ 42, 43) beschränkt. In fremdem Staatsgebiet wird sie, soweit zulässig, durch die Gesandten und namentlich durch die Konsuln gehandhabt. 1. Der Heimatstaat übt im Ausland mit Bewilligung des Aufenthaltstaats freiwillige Gerichtsbarkeit aus, um seinen Angehörigen die Vomahme von Rechtshandlungen, die Regelung ihrer Angelegenheiten nach den Vorschriften des heimischen Rechts und mit Wirksamkeit für die Heimat zu ermöglichen: Ausstellung öffentlicher Urkunden in privaten Angelegenheiten, Auf­ nahme von Testamenten und Notariatsurkunden, Eheschließung, Beurkundung des Personen­ stands, Fürsorge für den Nachlaß.

2. Der Heimatstaat übt Polizeigewalt und streitige Gerichtsbarkeit insoweit aus, als der Aufenthaltstaat zu seinen Gunsten darauf verzichtet hat. Die Personalhoheit kann jederzeit voll und ganz wirksam werden, sobald ihr eine fremde Territorialhoheit nicht entgegensteht. Die Polizeigewalt wird namentlich über Schiffe in fremden Gemässem, sie und die streitige Gerichtsbarkeit in den Konsulargerichtsbezirken geübt (§§ 40, 42).

§ 27.

4. Die Fremden.

Literatur. Cailleux: La question chinoise aux Etats-Unis et dans les possessions des puissances europeennes, Paris 1898; v. Conta: Die Ausweisung aus dem Deutschen Reich usw., Berlin 1904; v. Overbeck: Niederlassungsfreiheit und Auswanderungsrecht, Karlsruhe 1907; Heinrichs: Deutsche Niederlassungsverträge und Übernahmeabkommen, Berlin 1908; Salvy: L’immigration aux Etats-Unis, Paris 1908; Langhard: Die politische Polizei der schweizerischen Eidgenossenschaft, Bern 1909; Martini: L’expulsion des etrangers, Paris 1909; v. Frisch: Das Fremdenrecht, Berlin 1910; ArchOffR. 23 123; ZVölkR. 4 62, 5 278, 478; Rev. 25 286, 29 428, 31 554, 32 435, 35 547, 39 711; Rev. Gen. 14 636; ArchRPHilos. 6 514. I. Die Territorialhoheit. Der Ausländer ist im fremden Staatsgebiet der staatsrechtlichen Herrschaft, der Rechtsordnung des Aufenthaltstaats unterworfen, gleichviel

526

Paul Heilborn.

ob der Eintritt in das Gebiet freiwillig oder unfreiwillig erfolgt. Die Herrschaft über den Fremden gründet sich auf dessen Aufenthalt im Gebiet; sie endigt mit ihm. Der Fremde wird als subditus temporarius bezeichnet. In seinem Gebiet her^cht der Staat allein; deshalb kann die

Personalhoheit des Heimatstaats nur mit Bewilligung des Ausenchaltstaats unmittelbar aus­ geübt werden. Deshalb geht die Territorialhoheit vor. Für Heimatlose ist sie allein maßgebend. Fremden Staatsangehörigen gegenüber wird sie durch die Verpflichtung zum Schutz der Person und ihrer Rechte beschränkt. Der Fremde ist der Rechtsordnung des Aufenthaltsstaats Gehorsam schuldig und genießt deren Schutz. Er ist dem Inländer aber nicht völlig gleichgestelll. 1. In den allgemein menschlichen Verhältnissen bildet die Gleichstellung gegenwärtig die Regel; denn die Staatsangehörigkeit ist bei ihnen nebensächlich, so in Stmf-, Privat- und Prozeßrecht. Doch kommen auch hier Unterschiede vor: die privatrechtliche Rechts- und Handlungssähigkeit toitb, wie erwähnt, oft nach dem Heimatrecht beurteill; manche Staaten schließen die Ausländer vom Erwerb des Gmndeigentums aus; Untersuchungs- und Personalhast sind in weiterem Umfang als bei Jnländem zugelassen; der Fremde muß dem Inländer Sicher­ heit für die Pwzeßkosten leisten, wenn er eine Klage gegen ihn erheben will. Vgl. jedoch das Haager Abkommen über den Zivilpwzeß vom 17. Juli 1905 (RGBl. 1909 S. 410). — ®te Gleich­ stellung erstreckt sich semer auf die allgemeinen Lasten: Abgaben, Steuern, Einquartierung, Hilfeleistung bei Unglückssällen, Teilnahme an Zwangsgenossenschaften. Verträge sichern den Ausländem die Niederlassungsfreiheit, den Handels- und Gewerbebetrieb, neuerdings auch die Teilnahme an der Arbeitewersichemng meist unter den nämlichen Bedingungen wie den Jnländem. Schließlich genießen sie in der Mehrzahl der Staaten freie Religionsübung. 2. Bon der Teilnahme am politischen Leben sind die Fremden dagegen ausgeschlossen. Die Rechte und Freiheiten der Staatsbürger stehen ihnen nicht oder nur mit Einschränkungen bzw. widermflich zu: Wahlrecht, Vereins-, Versammlungs-, Petitions- und Preßfreiheit. Ebensowenig liegen ihnen die staatsbürgerlichen Pflichten ob: Militär-, Gerichts- oder sonstiger Staatsdienst.

II. Das Betretenund Verlassendes Gebiets. Der Mensch hat oft ein erhebliches Interesse am Betreten des fremden Staatsgebiets, am Verweilen auf ihm. Dieses Privatinteresse ist als berechtigt und schutzbedürftig anerkannt, soweit ihm nicht das öffentliche Interesse des fremden Staats entgegensteht. Das Staatsinteresse kann Ab- und Ausweisung aus folgenden Gründen gebieten: 1. Wegen der Gefahr der Einschleppung von Seuchen; in der Regel genügt eine Quaran­ täne und Zurückweisung der nachweislich Kranken. Über Sanitätskonventionen vgl. Ullmann 412, Liszt 245, Reinsch a. a. O. 57 ff. 2. Wegen der Persönlichkeit der einzelnen Fremden: Hilflose, Unbemittelte, Verbrecher, Vagabunden, Huren, Zuhälter, die politisch „Lästigen", d. h. Personen, welche durch politische Agitation die Sicherheit des Aufenthaltstaats oder sein Verhältnis zu einem anderen Staat gefährden, ohne sich strafbar zu machen.

3. Die Eigenart des Staatswesens ist unverträglich mit der Ansammlung größerer Massen von Ausländem einer bestimmten Nationalität. Hier kommt es zu Massenausweisungen: im Kriege Ausweisung der Untertanen des Gegners. Femer Ausweisung der nichtpreußischen Polen aus Preußen 1886. Rechtswidrig ist dagegen die Ab- bzw. Ausweisung des Fremden zur Verhindemng des wirtschaftlichen Wettbewerbs, zum Vorteil der einheimischen Konkurrenz. Auch hier Gleich­ stellung der Fremden mit den Staatsbürgem in wirtschaftlichen, Ungleichheit in öffentlichen Verhältnissen! Die Verhindemng der Chineseneinwandemng in den Vereinigten Staaten seit 1894 scheint auch den wirtschaftlichen Wettbewerb einschränken zu sollen. Am freiwilligen Verlassen des Staatsgebiets darf der fremde Staatsangehörige nicht gehindert werden, es sei denn, daß ein Strafverfahren gegen ihn schwebt, oder daß er noch Ver­ pflichtungen zu erfüllen hat. Willkürliche Zurückhaltung wäre Verletzung der Person in ihrer Freiheit. Der Abziehende darf sein Hab und Gut frei von jeder Nachsteuer mitnehmen. III. Der Güter- und Verkehrsschutz. Mit dem Interesse am Betreten des fremden Staatsgebiets geht Hand in Hand das an Ein-, Durch- und Ausfuhr von Waren sowie

Völkerrecht.

527

das auf Verkehr im Wege der Post und Telegraphie. In ersterer Hinsicht ist eine allgemeine Aneckennung der Schutzwürdigkeit des Interesses nicht erfolgt und mit Mcksicht auf die wichti­ geren handelspolitischen Interessen nicht zu erwarten; nur durch befristete Sonderverträge wild der Handelsverkehr geregelt. Über den Eisenbahnfrachtverkehr ist ein internationales Übereinkommen am 14. Okwber 1890 (RGBl. 1892 S. 793, vgl. 1906 S. 515) unterzeichnet worden. Der Nachrichtenverkehr ist in umfassender Weise gesichert durch den aus dem all­ gemeinen Postverein vom 9. Oktober 1874 am 1. Juni 1878 hervorgegangenen Weltpostverein (vgl. den Vertrag vom 26. Mai 1906, RGBl. 1907 S. 593), durch den allgemeinen Telegraphen­ verein vom 17. Mai 1865 und durch die Funkentelegraphenverträge vom 3. November 1906 u. 5. Juli 1912 (RGBl. 1908 S. 411, 1913 S. 373). Vgl. Reinsch a. a. O. 15 ff.

8 28.

5

Asylrecht und Auslieferung.

Literatur. Billot: Traitt de 1’extradition, Paris 1874; v. Holtzendorff: Die AusUeferung der Verbrecher und das Asylrecht, Berlin 1881; Bernard: Trait4 tMorique et pratique de 1’extradition (2), Paris 1890; Lammasch: Auslieserungspflicht und Bsylrecht, Leipzig 1887; v. Martitz: Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 2 Bde., Leipzig 1888, 1897; Delius: Das Auslieferungsrecht, Hannover 1899; Fleischmann: Auslieferung und Rachelle nach deutschem Kolonialrecht, Berlin 1906; ArchOffR. 25 1,27 247; BöhmsZ. 17 43, 379, 18 398, 22 228; ZVöllR. 5 202 und Beiheft, 6 239; Rev. 43 370; Rev. G6n. 3 5, 12 516, 17 449, 18 303; Marlens: N. R. G6n., 3. Ser., 4 744.

L Der Staat ist berechtigt, Fremden ein Asyl zu gewähren: er schützt sie nicht nur gegen Angriffe anderer Menschen, gegen Eingriffe seiner eigenen Behörden, fonbetn auch gegen andere Staaten. Das Asylrecht des Staats toitb nur durch die Ausliesemngspflicht beschränkt. Der Mensch hat aber keinen Anspruch ouf Asyl (Fall Savarkar 1910/11). II. Auslieferung ist die Überlieferung eines Menschen von Staat zu Staat zum Zweck der Strafverfolgung oder der Strafvollstreckung. Durch die Auslieferung leisten die Staaten einander Beistand, Rechtshilfe. Der Beckrecher, wenigstens der gewöhnliche Verbrecher, ist des Schutzes nicht würdig; er hat seine Strafe verdient. Daß dem Verbrechen die Strafe folge, ist ein gemeinsames Interesse der Kulturstaaten. Der einzelne Staat aber hat kein Interesse daran, dem „Auswurf fremder Länder" eine Zufluchtstätte zu bereiten; er würde dadurch zur Entsittlichung der eigenen Bevöllemng beitragen. Noch im 18. Jahrhundert war indessen das Mßtrauen gegen fremde Strafrechtspflege zu groß, waren die Bürgschaften für gerechte Ab­ urteilung zu gering, die Strafen zu hart, oft auch zu willkürlich, als daß eine gleichmäßige, von festen Rechtsnormen geregelte Auslieferungspraxis sich hätte bilden können. Das geschah erst auf Grund des belgischen Ausliefemngsgesetzes vom 1. Oktober 1833; es stellte die Ausliefemng unter den Grundsatz der Gegenseitigkeit, untersagte die Auslieferung eigener Untertanen und politischer Verbrecher.

III. Die Auslieferung setzt voraus, daß ein Staat einen in fremdem Gebiet befindlichen Menschen wegen eines Beckrechens verfolgt. Eine Pflicht zur Ausliefemng besteht nur kraft Vertrages oder besonderer Zusicherung. Gwßbritannien, die Bereinigten Staaten von Amerika und einige andere Staaten tiefem nur aus, wenn sie dazu verpflichtet sind. Die Wicht erstreckt sich lediglich auf die im Ausliefemngsvertrag aufgezählten bzw. zum Inhalt der Zusichemng gemachten Verbrechen. Sie ist weiter an folgende Bedingungen geknüpft: 1. Der ersuchende Staat muß zur Aburteilung des Stmffalls zuständig sein, und zwar sowohl nach eigenem Recht, wie nach dem des ersuchten Staats. Nur im ersteren Fall kann er selbst einen Strafanspmch gegen den Verbrecher behaupten; nur in letzterem Fall erkennt der ersuchte Staat einen Stmfanspmch an.

2. Der Anspruch kann nur auf die Begehung einer bestimmten Handlung gestützt werden; diese Handlung aber muß nach dem Recht beider Staaten strafbar sein. Ausliefemng ist nicht Überlieferung zu beliebiger Verfügung, sondem Rechtshilfe. Nur aus der Verletzung seiner Rechtsordnung erwächst dem Staat ein Anspruch auf Strafe. Der ersuchte Staat aber kann nicht ausliefem, wenn die Handlung nach seiner eigenen Gesetzgebung — nach den hier nieder­ gelegten Anschauungen über Recht und Unrecht — nicht strafbar ist.

Paul Heilborn.

3. Der Strafanspruch des ersuchenden Staats darf nicht erloschen sein. Dies ist der Fall, wenn nach dem Recht eines der beiden Staaten Verjährung eingetreten ist; vom Standpunkt des ersuchten Staats aus ferner dann, wenn die Tat von ihm selbst oder von einem dritten Staat abgeurteilt und auf Freisprechung erkannt oder die Strafe verbüßt bzw. erlassen ist.

4. Das Verbrechen darf nicht im Gebiet des ersuchten Staats begangen sein. es selbst.

Er straft

5. Die beschuldigte Person muß auslieferbar sein. Angehörige des ersuchenden Staatund Heimatlose sind es regelmäßig (vgl. V). Im übrigen sind zu unterscheiden: a) Angehörige des ersuchten Staats. England und die Bereinigten Staaten von Amerika lehnen die Ausliefemng nicht grundsätzlich ab, weil sie regelmäßig nur die im Inland begangenen Verbrechen strafen. Die alleren Staaten verweigem diese Ausliefemng: sie schützen ihre Unter­ tanen gegen fremde Staaten, strafen sie aber selbst wegen der im Ausland begangenen Verbrechen;

b) Angehörige dritter Staaten. Ihre Auslieferung wurde nur in wenigen Betträgen an die Zustimmung des Heimatstaats gebunden. Häufiger ist dessen Benachttchttgung vorgeschtteben, um ihm die rechtzeitige Erhebung von Widerspruch zu ermöglichen.

6. Die dem Beschuldigten zur Last gelegte Tat darf kein polittsches Verbrechen sein. Der Grund hierfür liegt (vgl. v. Martitz) in der Verschiedenheit der politischen Einttchtungen und in der Möglichkeit ihres Wechsels. Der unbeteiligte Staat sieht das Verbrechen mit anderen Augen an als der angegriffene. Der Verbrecher hat vielleicht für Einrichtungen gekämpft, die dem Zufluchtsstaat Äs besonders heilig gelten, die im angegriffenen Staat durch rechtlose Gewatt beseitigt sind oder über Nacht eingefühtt werden können. Das politische Verbrechen mag sich „lediglich als Kampfmittel im Dienst des Rechts gegen Gewalt und Unterdrückung darstellen". „Die formell rechtmäßige Verfolgung des Flüchttgen kann einer materiellen Un­ gerechtigkeit Vorschub leisten." Im Sinne des Auslieferungsrechts sind politische Verbrechen: a) die rein politischen Verbrechen. Sie richten sich „gegen die politische Gesamtorgani­ sation des Volks": gegen Existenz und Unabhängigkeit des Staats, die Verfassung, das Staats­ haupt und seine Fmnilie, gegen gesetzgebende Körperschaften; b) die mit politischen zusammenhängenden (konnexen) Verbrechen: gemeine Verbrechen, „welche zu dem Endzweck verübt tootben sind, ein anderweitig begangenes politisches Delikt vorzubereiten oder zu vollenden, seine Vollendung zu etteichtem, ihm den Erfolg zu sichern, seine Straflosigkeit zu vermitteln." Den Hauptfall bilden die in einem Bürgerkrieg begangenen Verbrechen;

c) die gemischten Verbrechen; sie „tasten neben der politischen auch die private Rechts­ sphäre an": Königsmott». Anfänglich von den rein politischen Verbrechen nicht geschieden, routben sie aus Anlaß eines mißlungenen Attentats auf Napoleon III. (Fall Jacquin 1854) zum Teil besonderer Behandlung unterworfen. Das belgische Gesetz vom 22. März 1856 stellte folgenden Grundsatz auf: Ne sera pas räputä d61it politique, ni fait connexe L un semblable däit, Fattentat contra la personne du chef d’un gouvemement ötranger ou contra celle des membres de sa famille, lorsque cet attentat constitue le fait seit de meurtre soit d’aasaesinat, soit d’empoisonnement. Diese belgische Attentatsklausel ist dem Sinne nach in die überwiegende Mehrheit aller Auslieferungsvetträge ausgenommen worden. Insoweit zählen verbrecherische Anschläge gegen das Leben der Staatshäupter und Prinzen nicht mehr zu den politischen Ver­ brechen, wohl aber alle anderen gemischten Delikte. Nicht angenommen ist die belgische Attentatsllausel von Gwßbritannien, Italien und der Schweiz. Vgl. jedoch 8 10 des eidgenössischen Ausliefemngsgesetzes vom 22. Januar 1892. 7. Das Auslieferungsbegehren muß darauf gestützt werden, daß der Beschuldigte der ihm zur Last gelegten Tat überführt oder doch verdächtig ist. Der Beweis hierfür wird durch Vorlegung des vemtteilenden Ettenntnisses gefühtt, wenn ein solches bereits ergangen ist. Andemfalls muß der Verdacht durch einen Haftbefehl oder durch den Beschluß über Ver­ setzung des Beschuldigten in Anllagestand bescheinigt werden.

IV. Das Verfahren. Das Auslieferungsbegehren wird auf diplomatischem Wege gestellt, d. h. durch den Gesandten des ersuchenden Staats beim Minister der auswättigen Angelegen-

Bökerrecht.

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heilen des ersuchten Staats. Zugleich wird die vorläufige Festnahme des Beschuldigten be­ antragt. Der ersuchte Staat prust: 1. die Identität der bezeichneten mit der beschuldigten Person, 2. ob die Bedingungen der Auslieferung erfüllt sind. In England und in den Bereinigten Staaten von Amerika werden auch die materiellen Beweise für die Schuld oder den Verdacht geprüft. Stets wird dem Beschuldigten die Möglichkeit gegeben, die Unzulässigkeit der Ausliesemng darzutun. Der Auszuliefemde roitb an die Grenze gebracht und dort den Behötten des ersuchenden Staats übergeben. Der Transport durch das Gebiet eines dritten Staats — die Durchlieferung — kann nur mit dessen Zustimmung erfolgen. V. Die Rechtsfolge der Auslieferung. Die Auslieferung ist ein Zwangsakt und erfolgt ohne Rücksicht auf die Einwilligung des Ausgeliefetten. Der Verfolgte wird dem ersuchenden Staat zugefühtt, um wegen einer bestimmten Beschuldigung abgeurteilt zu weiden, bzw. behufs Vollstreckung einer bestimmten, bereits erkannten Stmfe. Der ersuchte Staat will ihn aber nicht auf Gnade oder Ungnade in die Hände des ersuchenden Staats geben, sondem Rechts­ hilfe leisten. Deshalb darf der ersuchende Staat den Ausgeliefetten nur wegen derjenigen Tat verfolgen bzw. nur diejenige Stmfe an ihm vollstrecken, wegen welcher die Auslieferung be­ willigt wutte. Dieser Grundsatz der Spezialität der Ausliesemng etteidet zwei Ausnahmen:

1. wenn der ersuchte Staat nachträglich die Verfolgung wegen anderer Verbrechen oder die Vollstreckung anderer Stmfen genehmigt;

2. wenn der Ausgelieferte in die weitere Verfolgung oder Vollstreckung einwilligt, ent­ weder ausdrücklich oder dadurch, daß er freiwillig im Lande verbleibt oder in dasselbe zurückkehtt, nachdem er es verlassen hatte. Nur unter einer dieser beiden Voraussetzungen ist auch die weitere Ausliesemng an einen dritten Staat zulässig.

II. Besondere Rechtsverhältnisse. 1. Da» »eamtenrecht. 8 29. ») Einleitung. Literatur. Harburger: Der strafrechtliche Begriff Inland, Nördlingen 1882; v. Bar: Theorie und Praxis des internationalen Privatrechts, Hannover 1889,-. 2 621 ff.; v. Heyking: L’extemtorialit6, Berlin 1889; Strifower: Exterritorialität, im Österreichischen StaatSwörterbuch 1894; Föraud-Giraud: Etats, sonverains, peraonnel diplomatique et consnlaire devant les tribunaux Strangers, Paris 1895; Beling: Die strafrechtliche Bedeutung der Exterritorialität, BreSlau 1896; Hübler: Die Magistraturen des völkerrechtlichen Bettehr» (Gesandtschaft»- und Konsularrecht) und die Exterritorialität, Berlin 1900; Loening: Die Gerichtsbarkeit über fremde Staaten und Souveräne, Halle a. S. 1903; ZBölkR. 6 201.

Im Ausland ist der Fremde in erster Linie der Staatsgewalt und der RechtSottnung des Aufenchaltstaats unterworfen (§ 27). Diese allgemeine Regel ist nicht unbedingt anwendbar auf Staatsbeamte, welche Staatsgeschäfte im Gebiet eines anderen Staats zu besorgen haben. Der Verkehr der Staaten bringt es notwendig mit sich, daß die Beamten des einen das Gebiet des andem in amtlicher Eigenschaft betteten. Soll der Bettehr nicht völlig untechunden wetten, so muß man ihnen die Erfüllung ihrer Aufgabe ermöglichen. Der Beamte hat die Rechte und Interessen seines Staats dem fremden Staat gegenüber wahrzunehmen; er muß diesem in Streitfällen entgegentreten. Das kann er nur tun, wenn er für sich und seine Angehörigen nichts zu fürchten hat; eine Verschuldung seines Heimatstaats darf an ihm und den ©einigen nicht geahndet werden. Eine Aktion gegen ihn als Privatperson soll aber auch die Repräsentation des Heimatstaats nicht verhindem. Der Gmndsatz: ne impediatur legatio sichert dem Staats­ beamten einen besonderen Schutz wie auch die Freiheit zur Erfüllung seiner Mission. Er findet nicht nur auf fremde Staatsbeamte im technischen Sinne, sondem auch auf fremde Staats­ häupter Anwendung. Kmst dieses Gmndsatzes genießen beide Klassen im Ausland die Vor­ rechte der Unvettetzlichkeit und der Exterriwrialität. 1. Die Unvettetzlichkeit schützt gegen vettrecherisches Handeln und gegen alle Eingriffe des Empfangstaats aus die Person des Unverletzlichen (§ 34 I). Gegen verbrecherische Angriffe Enzyklopädie der Rechtswissenschaft. 7. der Reubearb. L. Aufl. Band V. 34

Paul Hellborn.

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ist nach modemem Völkerrecht jeder fremde Staatsangehörige zu schützen. Der besondere Schutz der unverletzlichen Person besteht hier zum Teil in härterer Ahndung einzelner, gegen sie ge­ richteter Angriffe (Beleidigungen), sodann in der Unzulästigkeit der Verweisung aus den Weg der Privatklage: der verpflichtete Staat muß die Bestrafung des Schuldigen selbst herbeiführen, jofetn er überhaupt eine amüiche Verfolgung von Verbrechen kennt. 2. Die Exterritorialität umfaßt eine Reihe verschiedenartiger Privilegien auf dem Gebiet der Gerichtsbarkeit, des Polizei-, Steuer- und Verwaltungsrechts wie der Religionsübung. Der Name des Vorrechts stammt von der Fiktion des Gwtius her, die Gesandten seien so an­ zusehen, als ob sie sich außechalb des Gebiets (extra temtorium) des Empfangstaats befänden. (Grotius II 18 § 4.) Die einzelnen bevorrechteten Personen genießen diese Vorrechte nicht in gleichem Um­ fang. Sie selbst haben auch nach Völkerrecht keinen Anspruch darauf; einen solchen hat nur der Heimatstaat; sie erhalten einen Anspmch erst durch das Landesrecht des fremden Staats. Nicht um ihrer Person, sondern um ihres Amtes Willen, im Interesse des Heimatstaats sind sie bevorrechtet. 8 30.

d) Die Staat-häupter.

Die Vorrechte der Unverletzlichkeit und der Exterriwrialität stehen den StaatShäuptem in gleichem Umfang wie den Gesandten zu. Die Darstellung des Inhalts soll deshalb int Ge­ sandtschaftsrecht erfolgen. Ein Staatshaupt genießt die Vorrechte im fremden Staat unter folgenden Voraussetzungen: 1. Das Staatshaupt muß von dem fremden Staat anerkannt sein; 2. zwischen dem Heimatstaat und dem fremden Staat muß Friede bestehen; 3. das Betreten

des Staatsgebiets, das fernere Verweilen daselbst darf dem reisenden Staatshaupt nicht ver­ boten sein; 4. das Staatshaupt darf nicht persönlich Untertan des fremden Staats sein, auch nicht in dessen Diensten stehen. Es ist unerheblich, ob Monarchen und Regenten zu amtlichen oder privaten Zwecken reisen. Tie private und die amtliche Persönlichkeit sind nicht zu trennen. Auch wenn sie inkognito auftreten, ist darin kein Verzicht auf die Vorrechte, sondem nur auf die üblichen Empfangsfeierlich­ keiten zu eMicken. Den republikanischen Präsidenten will die herrschende Meinung dagegen die Vorrechte nur dann zugestehen, wenn sie amüich reisen. Der Unterschied in der staatsrecht­ lichen Stellung ist indessen völkerrechllich ohne Bedeutung. Die Staatspraxis würde es sicherlich nicht dulden, wenn gegen einen zum Kurgebrauch in Karlsbad oder Kissingen weilenden Prä­ sidenten Gerichts- oder Polizeizwang geübt werden sollte. Soweit der reisende Monarch im Ausland Regierungsgeschäfte erledigen kann, dürfte das Völkerrecht dem Präsidenten das nänüiche nicht verwehren. An dem Vorrecht der Staatshäupter nimmt das Gefolge und die Dienerschaft teil. Den Monarchen und Regenten sind auch die sie begleitenden Familienmitglieder gleichgestellt; reisen diese allein und nicht in Staatsgeschäften, so genießen sie Befreiungen nur nach der Contitas gentium. Ehemalige Staatshäupter haben auf Vorrechte keinen Anspruch, denn sie sind keine Staats­ häupter. — Uber die Mitglieder des eidgenössischen Bundesrats und der hanseatischen Senate vgl. § 10 II B. e) Die Gesandten.

§ 31.

a) Erfordernisse der Gesandtenstellung.

Literatur. Esperson: Diritto diplomatico, Bd. I, Turin 1872; Lehr: Manuel theorique et pratique des agents diplomatiques et consulaires, francjais et Strangers, Paris 1888; Probier Fodsrs: Cours de droit diplomatique (2), Paris 1899; Guesalaga: Derecho diplomatico y consular, Buenos Aires 1900; Heinze: Die Belagerung der Pekinger Gesandtschaften, Heidelberg 1901; Dumont: Über die sog. Nebenrechte der diplomat. Agenten, Diss., Bern 1908; Contuzzi: Trattato teorico-pratico di diritto consolare e diplomatico, 2 Bde., Turin 1910/11; Tobar y Bor­ gono: L’asüe interne devant le droit international, Paris 1911; ArchOssR. 28 454; ZBölkR. 2 31, 5 Beiheft 1, 6 311; Rev. 39 90, 42 112, 43 86; Rev. G6n. 13 103, 14 159, 175, 17 558, 572. Vgl. ferner Literatur zu § 29.

Völkerrecht.

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Unterhändler, Bevollmächtigte kann jedermann absenden und empfangen. Die völker­ rechtliche Stellung eines Gesandten (§ 11 II B) ist aber an folgende Erfordemisse geknüpft:

1. Aktive Gesandtschaftsfähigkeit des Wsendestaats, passive Gesandtschaftsfähigkeit des Empsangstaats. Erstere ist die Fähigkeit, Gesandte mit dem Anspruch auf Anerkennung des diplomatischen Charakters zu ernennen. Passive Gesandtschastsfähigkeit ist die Fähigkeit, durch Gewähmng der diplomatischen Vorrechte an fremde Gesandte sich der Verantwortlichkeit für deren Tun zu entschlagen. Die Ausübung der passiven Gesandtschaftsfähigkeit äußert auch dritten Staaten gegenüber Wirkung: aus Handlungen des Gesandten im Gebiet des Empfang­

staats können sie grundsätzlich nicht diesen, sondem nur den Absendestaat in Anspmch nehmen, während im allgemeinen derjenige Staat verantwortlich ist, in dessen Gebiet eine verletzende Handlung vorgenommen rouibe. Als vollkommen rechts- und handlungsfähig haben die souveränen Staaten aktive wie passive Gesandtschaftsfähigkeit. Bei den Halbsouveränen Staaten ist der jedesmalige Umfang der Beschränkung entscheidend. Die Staaten des alten Deutschen Reic^ hatten aktive und

passive Gesandtschastsfähigkeit erlangt; den Vasallenstaaten der Türkei wurde sie dagegen aus Anlaß des Falls Rosen in Belgrad 1875 abgesprochen. In den meisten Bundesstaaten kommt die Gesandtschaftsfähigkeit nur der Zentralgewalt, im Deutschen Reich auch den einzelnen Staaten zu (§ 8).

2. Ernennung des Gesandten durch das zuständige Organ des Wsendestaats. Über die Befähigung der Persönlichkeit entscheidet das emennenbe Staatsorgan nach freiem Ermessen. Das Völkerrecht enthält hierüber keine Vorschriften. 3. Legitimation des Gesandten; hierzu dienen: die Pässe, das Beglaubigungsschreiben (Kreditiv) und die Vollmacht zur Vornahme von Staatsgeschäften bestimmter Art. 4. Der Empfang des Gesandten seitens des Staats, bei dem er beglaubigt wurde. Eine Pflicht zum Empfang besteht nicht. Um Zurückweisungen zu vermeiden, geht deshalb der förm­ lichen Emennung meist eine vertrauliche Wfrage voraus, ob die in Aussicht genommene Per­ sönlichkeit genehm sei. Gegenwärtig empfängt kein Staat einen eigenen Untertan als Ge­ sandten eines fremden Staats; denn die Wahrnehmung der Rechte und Interessen eines fremden Staats gegen den Heimatstaat ist mit den Pflichten eines Untertans oft nicht vereinbar. Für Konsuln ist dieser Gesichtspunkt noch nicht anerkannt. Der Empfang eines Gesandten hat vierfache Bedeutung: a) der Nachweis der Legitimation wird anerkannt; b) die Ausübung der Funktionen roitb zugelassen, sofern es einer Zulassung bedarf: Ausübung der Personalhoheit Wer die Staatsangehörigen; c) dem Gesandten werden staatsrechtlich die Vorrechte gewährt, ouf deren Einräumung der Wsendestaat völker­ rechtlich Anspruch hat; d) dritten Staaten gegenüber wird der Empfangstaat von der Ver­ antwortlichkeit für das Tun des Gesandten befreit. 8 32.

ß) Beginn und Ende der Gesandtenstellung.

I. Beginn. Nach seiner Ankunft am Ort der Mission ersucht der Gesandte den Mnister der auswärtigen Angelegenheiten des Empfangstaats um Anberaumung einer AWienz zur Überreichung seines Beglaubigungsschreibens. Nach dem Datum dieser Anmeldung richtet sich seine Wciennität (§ 34IV). Die Antrittsaudienz findet bei dem Staatshaupt bzw. Regenten, die eines Geschäftsträgers bei dem Mnister der auswärtigen Angelegenheiten statt: der Ge­ sandte überreicht sein Beglaubigungsschreiben, eventuell auch die Vollmacht, mit einer An­ sprache; es wird in gleicher Form entgegengenommen. Das ist der Empfang. Mt ihm tritt der Gesandte in seine Stellung ein.

II. Die Mission endet mit dem Tode des Gesandten, durch Wbemfung seitens des Wsendestaats, bei einem nichtständigen Gesandten mit Erledigung des Wstrags, fenter: 1. durch Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Absende« und Empsangstaal oder auch nur zwischen diesem und dem Gesandten. Die diplomatischen Beziehungen werden abgebrochen mit Beginn des Krieges, ferner bei schweren Rechtsverletzungen bzw. bei Verweigerung der Sühne, endlich zwischen dem Empfangstaat und dem Gesandten, wenn dieser sich persönlich 34«

Paul Heilborn.

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eine Pflichwerletzung hat zuschulden kommen lassen. Die Form für den Abbruch ist entweder die Erklärung, daß man die Mffwn als beendet ansehe, oder die Zurückfordemng bzw. Zu­ stellung der Paffe, unter Umständen auch die ausdrückliche Ausweisung des Gesandten;

2. durch Untergang eines der beiden Staaten. Beim Wechsel in der Person eines der beiden Staatshäupter sichren die Gesandten die Geschäfte weiter, bis ihnen die Vollmacht aus­ drücklich oder durch Bestellung eines Nachfolgers entzogen wird. Der Gesandte eines abgesehen Staatshaupts kann nur noch als Privatbevollmächtigter angesehen weiden, sobald das neue Staatsoberhaupt ihm einen Nachfolger bestellt hat. Gesandtschaftlicher Verkehr mit zwei Prä­ tendenten ist ausgeschloffen. Empfang eines Gesandten ist Anerkennung des entsendenden Staatshaupts; ebenso die Entsendung eines Gesandten Anettennung des besendeten Staats­ haupts.

III. Nur Unteckrechung, aber kein Ende der Mffion tritt ein, wenn der diplomatische Verkehr zeitweilig eingestellt, der Gesandte aber auf seinem Posten belasten wird. Sowohl bei Eintritt von Mßhelligkeiten wie von inneren Umwälzungen, deren Ausgang ungewiß ist, kann in dieser Weise verfahren wecken. Da die Mffion als forckauernd angesehen wird, so veckleibt der Gesandte im Genuß seiner Vorrechte unb seiner Anciennität.

K 33.

-f) Die Pflichten des Gesandten.

Der Gesandte steht in dienstlichem, durch das heimische Staatsrecht geregeltem Verhältnis zum Absendestaat. DoS Völkerrecht ordnet nur seine Stellung zum Empfangstaat.

1. Die Rechtsordnung des Empfangstaats ist für den Gesandten maßgebend, soweit nicht Befreiungen Platz greifen. Insbesondere darf er den strafrechtlichen Normen, den zur Aufrecht­ erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ocknung erlastenen polizeilichen Vorschriften nicht zuwiderhandeln. Kraft des Vorrechts auf Exterriwrialität sind zwar die Rechtsfolgen der Zuwidechandlung für ihn nicht die nämlichen wie für einen Privatmann. Die Pflicht zur Befolgung der Normen liegt ihm aber auch ob. Daraus ergibt sich für ihn die Unzulässigkeit einer Beamtenbestechung zur Ermittlung von Nachrichten. Der hier aufgestellte Gmndsatz ist freilich sehr bestritten. Die Exterriwrialität wäre indeffen unetträglich, wenn der Gesandte allen Gebown eines geockneten staatlichen Zusammenlebens Hohn sprechen könnte. Die Be­ schwecke beim Absendestaat und der an ihn gerichtew Antrag auf Bestrafung des Gesandten müffen sich darauf stützen, daß dieser einer für ihn maßgebenden Norm zuwidergehandelt habe. Der Empfangstaat ist aber nur dann verletzt, kann sich nur dann beschweren, wenn seine eigene Norm übertreten wucke. 2. Der Gesandte darf sich in die inneren Angelegenheiten des Empfangstaats nicht ein­ mischen, weil der Wsendestaat selbst hierzu nicht berechttgt ist. Nur sofern diesem ausnahms­ weise eine Jntewentton gestattet ist (§ 57), kann er sie durch den Gesandten vomehmen.

3. Der Gesandte darf geschäfttichen Verkehr nur mit den vom Empfangstaat bezeichneten Personen pflegen. Für die drei ersten Gesandtenklassen lomnten das Staatsoberhaupt und der Mnister der auswättigen Angelegenheiten des Empfangstaats, für die titelte Klasse nur der letztere, außeckem für alle Gesandten die zu UnterhaMungen bestimmten Beamten des Mnisteriums der auswättigen Angelegenheiten in Betracht. Der Gesandte darf sich ohne be­ sondere Erlaubnis nie an ein anderes Mnistettum oder an eine niedere Behöcke wenden. Es ist nicht Sache des fremden Gesandten, sondem des Empfangstaats, zu bestimmen, welche Be­ hörde ihn im einzelnen Fall zu vettreten hat.

§ 34.

6) Die Vorrechte des Gesandten.

I. Die Unverletzlichkeit. Sie ist das älteste, schon im Mertum vielfach anettannte Vorrecht. Sie hatte besondere Bedeutung, solange die Pflicht zum Schutz aller fremden Staatsangehöttgen nicht anettannt war. Sie macht noch heute jeden Angttff des Empfang­ staats gegen die Person des Gesandten zu einem rechtswidttgen. Infolgedessen darf der Ge­ sandte nicht zum Gegenstand einer Repreffalienhandlung gemacht werden (§ 56), es sei denn, daß mit ihr gerade die dem eigenen Gesandten zugefügte Rechtswidrigkeit erwidett werden

Völkerrecht.

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soll. Außerdem ist auch gegen den Gesandten Notwehr und Ausweisung zulässig. Leistet er dem Befehl zum Verlaffen des Staatsgebiets nicht Folge, so kann er zwangsweise über die Grenze gebmcht werden.

II. Die Exterritorialität.

1. Für die Ausübung seiner amtlichen Tätigkeit ist der Gesandte dem Empfangstaat in keiner Weise verantworüich, weder staats-, noch straf- oder zivilrechtlich. Die amlliche Tätig­ keit will» im Namen des vertretenen Staats geübt. Dieser trägt dem Empfangstaat gegenüber die Verantwortung. Erteilt er einen Befehl, der nach Völkerrecht nicht erteilt wecken durfte, so ist die Ausführung auf feiten des Gesandten immer noch amlliche Tällgkeit.

2. Der Gesandte ist der Gerichtsbarkeit des Empfangstaats nicht unterworfen. Unverbind­ lich sind für ihn alle Normen, welche die Unterwerfung unter die Gerichtsbarkeit zur Voraus­ setzung haben, 'z. B. die Normen über Erscheinungs- und Zeugenpflicht. Nicht nur der Zwang ist etwa gegen ihn ausgeschloffen, sondern die Norm wendet sich nicht an ihn. Im einzelnen ist folgendes zu bemerken:

a) Unzulässig ist jedes Strafverfahren gegen einen fremden Gesandten, auch jede einzelne Verfolgungshandlung, mag sie vom Richter, Staatsanwalt oder der Polizei ausgehen, ins­ besondere jede Verhaftung und Durchsuchung der Person. Strafbare Handlungen des Gesandten berechttgen nur zur Ausweisung und zur Fockerung der Aburteilung durch den Absendestaat; dieser ist hierzu verpflichtet, falls die Handlung nach seinem Recht strafbar ist. Nach Beendigung der Mffion muß dem Gesandten hinreichende Zeit zum Verlaffen des Landes gewährt wecken. b) Unzulässig ist jeder Zivilprozeß gegen einen fremden Gesandten sowie jede Zwangs­ vollstreckung. Klagen gegen ihn müssen bei den zuständigen Gerichten des Absendestaats an­ gebracht wecken. Der Gesandte ist nur dem Forum rei s'tae in Ansehung unbeweglicher Sachen unterworfen. Zustellungen erfolgen hier auf diplomatischem Wege.

3. Der Gesandte ist keinem administrallven Zwangsverfahren unterworfen. Erfüllt er ihm obliegende Verbindlichkeiten öffenllich-rechüicher Natur nicht, so kann nur eine Beschwecke an den Absendestaat eingegeben wecken. Unzulässig ist auch ein Berwaltungsstreiwerfahren. 4. Die Lokalimmunität. Sie soll die persönliche Freiheit des Gesandten, die Unverletzlich­ keit seiner Archive und die ungestörte Ausübung des Bemfs gewährleisten. Deshalb dürfen die Beamten des Empfangstaats das Gesandtschaftshotel zur Vornahme von Amtshandlungen nicht betreten, geschweige denn solche daselbst vornehmen: Zustellungen, Durchsuchungen, Be­ schlagnahme, Verhaftungen. Das Hotel ist aber nicht real-ezsterritorial; die in ihm sich ab­ spielenden Ereignisse (Veckrechen, Geburten usw.) wecken nicht so angesehen, als hätten sie im Gebiet des Absendestaats stattgefunden. Der Gesandte darf ferner Verbrechern kein Asyl gewähren. In Bürgerkriegen gilt eine Ausnahme als zulässig. — Die Unverletzlichkeit der Archive erstreckt sich auf die amllichen Schriftstücke, welche der Gesandte beim Betreten des Landes mit sich führt, und von Rechts wegen auch auf die an ihn eingehenden Postsachen und Depeschen. Das Reisegepäck Wick deshalb keiner zollamllichen Behandlung unterworfen (vgl. zu 5). Die Unverletzlichkeit der Archive endet nicht mit der Mffion des Gesandten. In solchem Fall wecken sie durch ihn selbst, durch einen Gesandtschaftsbeamten oder durch den Gesandten einer befreundeten Macht sichergestellt. 5. Die Abgabenfreiheit. Der Gesandte ist befreit von der Entrichtung persönlicher ©teuern, mögen sie vom Staat oder von der Gemeinde echoben wecken: Einkommen-, Vermögens-, Kopfsteuern. Entrichten muß er Gmnd- und Gebäude-, Handels- und Gewerbesteuem, Ge­ bühren und indirekte Steuern. Früher genoß er allgemein Zollfreiheit; doch ist diese in den meisten Staaten aufgehoben bzw. abgelöst; es unterbleibt nur die Durchsuchung des Reise­ gepäcks. 6. Das Kapellenrecht. Der Gesandte darf in seinem Hotel eine Kapelle haben, von seinem Pfarrer Gottesdienst abhalten und andere kirchliche Handlungen vomehmen lassen, auch wenn die Abhaltung dieses Gottesdienstes im Empfangstaat sonst veckoten ist. Zu dem Gottesdienst darf er alsdann Angehörige des Empfangstaats nicht zulaffen. Dieses Vorrecht hat nur in wenigen, namentlich südamerikanischen Staaten noch prakttsche Bedeutung.

Paul Heilborn.

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III. Gerichtsbarkeit über das Gesandtschaftspersonal, Familie und Gefolge. Begeht eine der im § 35 zu nennenden Personen eine strafbare Handlung im Gebiet des Emp­ fangstaats, so ist der Gesandte zur vorläufigen Festnahme und Ablieferung an den Absendestaat berechtigt. Er kann auch den Tatbestand durch Vernehmung des Schuldigen und anderer ihm untergebener Personen feststellen.

IV. Rangverhältnisse. Dem Range nach zerfallen die Gesandten in vier Klassen (Wiener Reglement vom 19. März 1815 und Aachener Protokoll vom 21. November 1818, Fleischmann 18/19): 1. Botschafter, ambassadeurs, Legaten und Nuntien; 2. Gesandte int engeren Sinne, envoyte, bevollmächtigte Minister, Internuntien; 3. Ministerresidenten, sofern sie bei dem Oberhaupt des Empfangstaats beglaubigt sind; 4. Geschäftsträger, chargSs d’affaires. Zu ihnen gehören auch die nur beim Minister beglaubigten Ministerresidenten. Diese Einteilung hat fast nur zeremonielle Bedeutung für den höfischen Verkehr. Der Geschäftsträger wird vom Minister des Auswärtigen beim Minister des Auswärfigen beglaubigt, während die drei ersten Klaffen vom Staatshaupt beim Staatshaupt beglaubigt werden. Der dem Botschafter zugeschriebene Repräsentativcharakter führt zu dem besonderen Vorrecht, daß er sich unter Umgehung des Ministers der auswärfigen Angelegenheiten in jeder Sache direkt an das Oberhaupt des Empfangstaats wenden darf. Wer auch dieses Vorrecht hat nur in ab­ soluten Monarchien eigentlichen Wert. Die verschiedenen, bei einem Staat beglaubigten Gesandten rangieren unter sich nach Klassen, innerhalb der Klaffen nach der Anriennität an dem betreffenden Platze. Die bei einem Staate beglaubigten Gesandten bilden zusammen das „diplomatische Korps". Der älteste Gesandte der höchsten Rangklaffe ist der Doyen, d. h. der Wortführer des diplomatischen Korps im schfistlichen und mündlichen Verkehr; an katholischen Höfen ist jedoch der Nuntius, nicht aber der Internunttus, stets Doyen. Das diplomafische Korps tritt gewöhnlich zu zere­ moniellen Zwecken, nur in Ausnahmefällen zu gemeinsamen diplomafischen Schritten zusammen. V. Einen persönlichen Anspruch auf die ihm gebührenden Vorrechte erlangt der Gesandte erst durch den Empfang (§ 31, 4). Ter Absendestaat kann aber für ihn Unverletzlichkeit und Exterritorialität vom Betreten bis zum Verlassen des Gebiets des Empfangstaats fotbem, falls dieser nicht vorher erklärt hat, er werde den Gesandten nicht empsangen. Nur der Absendestaat kann auf die Vorrechte verzichten, weil sie um seinetwillen dem Gesandten zustehen. Er kann den Verzicht aber durch den Gesandten aussprechen, diesem auch die Entscheidung im einzelnen Fall übertragen.

VI. Sehr bestritten ist das Vechältnis des Gesandten zu dritten Staaten, deren Gebiet er aus dem Wege nach oder von dem Ort der Miffion durchreist. Von der einen Seite wird ihm hier gar kein Vorrecht, von der anderen das der Unverletzlichkeit zugeschrieben. Die letztere Ansicht dürste zutreffen, vorausgesetzt, daß die Durchreise nicht verboten ist, und daß es sich nur um eine „unschuldige" Durchreise, nicht um Aufenthalt handelt. Dafür spricht schon die Be­ handlung der Kuriere (§ 38). Vgl. das italienische Garantiegesetz vom 13. Mai 1871 Art. 11 3.

§ 35.

e) Das Gesandtschaftspersonal, Familie und Gefolge.

I. Das Gesandtschaftspersonal besteht aus den dem Gesandten zur Unter­ stützung seiner amtlichen Tätigkeit beigegebenen Personen: Gesandtschafts- bzw. Botschastsräte, «sekretäre, diplomatische und technische Attaches, Dolmetscher, Bureaubeamte; auch Pfarrer und Arzt, wenn sie vom Absendestaat der Mission beigegeben sind. Das Gesandtschaftspersonal gehört zur amtlichen diplomatischen Vertretung des Absendestaats beim Empfangstaat. Mit Ausnahme des Kapellenrechts genießt es Unverletzlichkeit und Exterritorialität wie der Ge­ sandte. Nur der Absendestaat kann darauf verzichten, aber wiedemm dem Gesandten die Entscheidung übertragen. Der Gesandte überreicht dem Minister des Empfangstaats eine Liste des Gesandtschastspersonals.

II. Die Familiedes Gesandten, d. h. seine Ehefrau und die den Hausstand teilenden nahen Verwandten. Ihnen stehen Unverletzlichkeit und Exterriwrialität um der Person des Gesandten willen zu (§ 29). Folglich kann er hier jederzeit verzichten, und endet die bevor-

Völkerrecht.

535

rechtete Stellung mit seinem Tode; herkömmlich wird sie aber noch eine gewisse Zeit lang belassen. III. Das Gefolge im persönlichen Dienst des Gesandten: Hauslehrer, Dienerschaft. Für diese Personen besteht kein Anspmch auf Vorrechte. Im Interesse des Gesandten Wecken sie ihnen aber meist eingeräumt, sofern sie nicht Angehörige des Empfangstaats sind.

d) Die Konsuln. 8 36.

a) Beginn und Ende der konsularischen Stellung.

Literatur. Esperson: Diritto diplomatico, Bd. II, Mailand 1874; v. Koenig: Hand­ buch des deutschen Konsularwesens (7), Berlin 1909; v. Martens: Das Konsularwesen und die Konsularjurisdiktion im Orient, Berlin 1879; Lippmann: Die Konsularjurisdiktion im Orient, Leipzig 1898; Strisower: Konsularverträge im Österreich. Staatswörterbuch, 1907; Rev. 38 479, 717. Bgl. ferner Literatur zu §§ 11, 29, 31. I. Beginn. Die Fähigkeit zur Unterhaltung konsularischen Verkehrs setzt zum mindesten beschränkte Geschäftsfähigkeit, aber nicht Gesandtschaftsfähigkeit voraus.

A. Die Ernennung erfolgt durch den Absendestaat. Das Völkerrecht enthält wiederum keine Vorschriften über die Befähigung zum Amt eines Konsuls. Man unterscheidet: 1. Wahlkonsuln: aus den am Konsularsitz wohnhaften Personen, insbesondere Kauf­ leuten, ausgewählte Konsuln. Sie brauchen nicht Angehörige des emennenden Staats, können sogar Untertanen des besendeten Staats sein. Die Übemahme des Amts hindert den Fort­ betrieb der kaufmännischen Tätigkeit nicht.

2. Bemfskonsuln, technisch gebildete Beamte. Sie werden ins Ausland entsendet, um einen bestimmten Konsulatsposten zu bekleiden, sind daselbst nur als Beamte des Absendestaats tätig

B. Die Legitimation erfolgt durch das vom Staatshaupt vollzogene Emennungspatent. Der Gesandte des Wsendestaats — in Ermangelung eines solchen der Konsul selbst — reicht es beim Minister der auswärtigen Angelegenheiten des Empfangstaats ein und sucht die Erteilung des Exequaturs nach. C. Die Zulassung des Konsuls durch Erteilung des Exequaturs. Nur kraft Staatsvertrags oder besonderer Zusicherung besteht eine Pflicht zur Zulassung von Konsuln überhaupt sowie zur Zulassung eines Konsuls für den in Aussicht genommenen Platz. Die einzelne Persönlichkeit kann zurückgewiesen wecken, wenn sie nicht genehm ist. Die Erteilung des Exequaturs (Placet, Berat) entspricht dem Empfang des Gesandten. Sie ist ein staaüicher Berwaltungsakt und hat folgende Bedeutung: 1. Der Nachweis der Legitimation wird anerkannt; 2. die Ausübung der Funktionen Wick zugelassen; 3. dem Konsul wecken staatsrechüich die Vorrechte gewährt, auf deren Einräumung der Absendestaat nach Völkerrecht Anspmch hat; 4. durch das Exequatur — eine Urkunde — legitimiert die Zentralgewalt des Empfangstaats den Konsul vor den Lokalbehöcken. Erst nachdem dies geschehen, darf der Konsul in Tätigkeit treten.

II. Ende der konsularischen Stellung: 1. Tod des Konsuls; 2. Abberufung oder Ab­ setzung durch den Absendestaat; 3. Entziehung des Exequaturs durch den Empfangstaat. Aus Erfordern müssen die Gründe angegeben werden; 4. Lostrennung des Amtssitzes vom bis­ herigen Staatsveckand. Das Exequatur der verdrängten Staatsgewalt wird wirkungslos; 5. Untergang eines der beiden Staaten; 6. regelmäßig auch durch Ausbmch des Krieges zwischen Absende- und Empfangstaat. Ausnahme 1864. 8 37.

ß) Die rechtliche Stellung des Konsuls.

I. JnchristlichenStaatenundinIapan. Die Konsuln sind der Territorialhoheit des Empfangstaats unterworfen, müssen insbesondere vor seinen Gerichten Recht nehmen, können bestraft wecken, und es findet Zwangsvollstreckung gegen sie statt. Der Grundsatz ne impediatur legatio hat aber auch hier zu einzelnen Vorrechten geführt; sie sind regelmäßig in den Konsulawerträgen kodifiziert. Des femeren ist auch hier die Unverantwortlichkeit für die Amtshandlungen zu betonen.

Paul Heilborn.

536

1. Die Staatshandlungen werden vom Konsul wie vom Gesandten in Vertretung des Absendestaats vorgenommen; er ist ihm und dieser dem Empfangstaat verantwortlich. Indessen st der Konsul dem Empfangstaat gegenüber nur staatsrechtlich, nicht aber strafrechtlich unverantwortlich. Überschreitet er seine Machtbefugnisse, ohne sich strafbar zu machen, so kann ihm ledig­ lich das Exequatur entzogen werden. Eine strafbare Handlung wird aber nie durch die Berufung auf amtlichen Auftrag gedeckt.

2. Die Unverletzlichkeit der Archive. Die amüichen Schriftstücke des Konsuls dürfen von den Behörden des Empfangstaats nicht eingesehen, durchsucht oder beschlagnahmt weiden. Bei Wahlkonsuln ist jedoch räumliche Trennung des Archivs von den Privatpapieren vor­ ausgesetzt. 3. Befreiungen vom Gerichtszwang sind in den Verträgen vielfach vereinbart, weil die ungehinderte Ausübung der konsularischen Tätigkeit wichtiger scheint als die Durchsühmng gewisser Zwangsmaßregeln. Im einzelnen finden sich mannigfache Unterschiede zwischen Berufs» und Wahllonsuln, durchweg zugunsten der ersteren: a) Befreiung von Untersuchungshaft in Strafsachen, vorausgesetzt, daß den Gegenstand der Untersuchung nicht ein Verbrechen oder eine Tat bildet, welche nach der Landesgesetzgebung von den Schwurgerichten abzuurteilen ist; b) Befreiung von der Personalhaft; sie tritt bei Handelsschulden der Wahlkonsuln nie ein; c) Befreiung von der Pflicht, als Zeuge persönlich vor Gericht zu erscheinen. 4. Die Berufskonsuln sind vielfach von Militäreinquartierung, von Personal-, Mobiliarund Luxussteuern befreit, mögen sie vom Staat oder von der Gemeinde auferlegt sein. 5. Rangverhältnisse. Die Konsulatsvorsteher zerfallen in drei Klassen: Generalkonsuln, Äoufuln und Vizekonsuln. Die an einem Platze befindlichen Konsuln rangieren untereinander wie die Diplomaten: nach Klassen und innerhalb der Klassen nach der Anciennität am Platz. Der älteste Konsul der obersten Klasse ist Doyen des Konsularkorps.

II. In nichtchristlichen Staaten genießen die Konsuln die diplomatischen Vorrechte. Außerdem üben sie Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt über Angehörige und Schutz­ genossen des Absendestaats (§ 40). In Japan haben diese Vorrechte mit dem 17. Juli 1899 ihr Ende erreicht.

8 38.

e) Halbdiplomate«, Grenzbeamtr, Kuriere und Truppe».

1. Werden Halbdiplomaten (§ 11IID) zugelassen, so greift auch in Ansehung ihrer der Grundsatz ne impediatur legatio Platz. Sie werden, wenn auch amtlich, so doch nicht öffentlich empfangen. Daraus ergibt sich, daß ihnen nur dem Empfangstaat selber, nicht aber Privatpersonen gegenüber Vorrechte zustehen können. Ihre Stellung ist wenig geklärt. Meist wird ihnen, und wohl mit Recht, Unverletzlichkeit gegenüber dem Empfangstaat zugeschrieben. Dadurch ist auch ein Strafverfahren ausgeschlossen. Zulässig sind dagegen Klagen von Privat­ personen gegen die Halbdiplomaten. Für die Amtshandlung ist allein der Absendestaat ver­ antwortlich. 2. G r e n z b e a m t e, d. h. die zur Vermittlung des täglichen Grenzverkehrs berufenen Zoll- und Polizeibeamten. Aus Anlaß des Falls Schnaebele (vgl. Triepel 311 ff.) hat die deutsche Regierung anerkannt, daß die geschäftlichen Zusammenkünfte solcher Agenten als unter der süllschweigenden Zusicherung freien Geleits stehend anzusehen seien. Ihre Anwesenheit auf fremdem Staatsgebiet darf demnach nicht zur Zustellung von Ladungen, zu Verhaftungen, Durchsuchungen und Beschlagnahmen benutzt werden. Das freie Geleite setzt aber friedliches Verhalten voraus; es erlischt, wenn der fremde Beamte eine strafbare Handlung, z. B. Spionage, begeht, während er im diesseittgen Staatsgebiet verweilt. Kehrt er später noch einmal unter dem Schutz des freien Geleits zurück, so darf er aus der früheren Handlung nicht in Anspruch genommen werden.

3. Die Kuriere vermitteln den Verkehr der Gesandten mit dem Absendestaat. In Friedenszetten sind sie in allen durchreisten Ländem unverletzlich, sofern ihnen das Betreten des Gebiets nicht verboten ist. Ihr Gepäck toiti) nicht durchsucht.

Völkerrecht.

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4. Truppen dürfen in Friedenszeiten das Gebiet eines fremden Staats nur mit dessen Ettaubnis oder in Ausübung eines besonderen, dem Heimatstaat zustehenden Rechts betreten. In diesem Fall sind sie unverletzlich und exterritorial. Die bewaffnete Macht eines Staats untersteht nur ihm selbst. Auf Privatreisen sind Militärpersonen Privatpersonen und dürfen fremdes Staatsgebiet regelmäßig nicht in Uniform betreten.

8 39.

Anhang: Der Papst.

Literatur, v. Holtzendorff im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und RechtsÄdeS Deutschen Reichs 4, 303 ff.; Borst: Della aitaazione attuale della Santa Sedetto internationale, 1886; Bompard: Le pape et le droit des gens, 1888; Jmbart Latour: La Papaut6 en droit international, Paris 1893; Olivart: Aspecto international de la cuestion romana,. 4 Bde., Barcelona 1893/95; Rev. 15 113, 37 ISS, 39 90; Rev. G6n. 6 281, 7 369, 14 176,18 689.

Die katholischen Staaten und die Staaten mit katholischer Bevölkemng haben Anspruch darauf, daß Italien die Unabhängigkeit und Freiheit des Papstes für seine Person, im Verkehr mit ihnen und bei Ausübung seines geistlichen Amts anerkenne und achte. Seit Jahrhunderten unterhielten die Staaten Verkehr mit dem Papst nicht nur als Obechaupt des Kirchenstaats, sondem auch und vomehmlich mit ihm als Oberhaupt der kacholischen Kirche. Letztere Be­ ziehungen sind durch die Einverleibung des Kirchenstaats nicht unterbrochen worden und dursten nicht unterbrochen werden, solange der italienische Staat den Papst im Lande ließ. Sie konnten aber nur dann in alter Weise fortgeführt werden, wenn der Papst nicht in Abhängigkeit von der italienischen Regiemng geriet. Deshalb durfte sie ihn nicht als Untertan behandeln, sondem mußte ihm eine bevorrechtete Stellung einräumen. Diese Pflicht hat sie sofort anerkannt (Rundschreiben Visconti-Venostas vom 18. Oktober 1870, Staatsarchiv 29 246). Zu ihrer Erfüllung wurde das Gesetz vom 13. Mai 1871 über die Vorrechte des Papstes und des heiligen Stubls und über die Beziehungen des Staats zur Kirche — das sog. Garantiegesetz (Fleisch­ mann 107) — erlassen. Ohne Staatshaupt zu sein, hat der Papst nach diesem Gesetz die Stellung, die Vorrechte eines Staatshaupts in fremdem Staatsgebiet. 1. Die Person des Papstes. Sie ist heilig und unverletzlich, genießt den näm­ lichen strafrechtlichen Schutz wie der König von Italien; es weiden ihr die monarchischen Ehren erwiesen und der Vorrang vor kacholischen Staatshäuptern zuerkannt. Dem Papst ist eine jährliche Rente ausgeworfen. Er darf eine Leibwache halten, hat den Meßbrauch an den apostolischen Palästen (Vatikan, Lateran und Kastell Gandolfo). Sie sind samt ihrem wissen­ schaftlichen und Kunstinventar unveräußerlich, abgabenfrei und nicht expwpriierbar. Kein Staatsbeamter darf diese Paläste oder die Gebäude, in betten der Papst sich auchält, zur Vor­ nahme einer Amtshandlung betreten. Gleiches gilt für die Räume, in denen ein Konkave oder Konzil tagt.

2. Die Freiheit der Papstwahl und die Unabhängigkeit des Kirchen­ regiments sind gesichert. 3. Der Verkehr mit auswärtigen Regierungen: Die von fremden Staaten beim Papst beglaubigten Gesandten sind int ganzen Königreich den beim italienischen Staat beglcmbigten Gesandten gleichgestellt. Die Gesandten des Papstes bei fremden Regiemngen genießen in Italien während der Reise nach und von dem Ort ihrer Mission die her­ kömmlichen Vorrechte (§ 34 VI). Seine Kuriere werden wie die auswärtiger Kabinette behandelt. Schließlich ist auch die den Post- und Telegraphenanstalten übergebene Korrespondenz gesichett. Als Staatsgesetz kann das Garantiegesetz nach Maßgabe des italienischen Berfassungs­ rechts jederzeit aufgehoben und abgeändett wecken. Die völkerrechllichen Pflichten Italiens gegen die anderen Staaten bleiben aber davon unberühtt.

§ 40.

2. Die Angehörigen christlicher Staaten in nichtchristlichen Staaten.

Literatur. Rey: La protection diplomatique et consulaire dans les ichelles du Levant et de Barbarie, Paris 1899; Caleb: Die Konsulargerichtsbarkeit in Bulgarien, Straßburg 1903; Hinkley: American consnlar Jurisdiction in the Orient, Washington 1906; Politis: Les capitulations et la justice repressive ottomane 4 propos de l’affaire Ions, Paris 1906; Steen de Jehay:

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Paul Heilborn.

De la Situation lögale des sujets ottomans non musulmans, Brüssel 1906; Strisower: Konsular­ gerichtsbarkeit im Österreich. Staatswörterbuch, 1907; Barduzzi: La giurisdizione consolare nelle terre islamiche, Turin 1910; BöhmsZ. 12 306; ZBölkR. 4 598; Rev. 8 573, 19 1, 38 52, 119, 363; Rev. Gin. 6 341, 13 408, 14 5, 506, 534, 15 329, 541, 17 276; Rivista 1 509, 2 201, 256, 517, 4 250, 6 428. Während des Mittelalters schützten die südeuropäischen Handelsstädte ihre Angehörigen in der Fremde, indem sie ihre Staatsgewalt durch die Konsuln unmittelbar zur Ausübung brachten. Zu dem Zwecke vereinbarten sie Konsularprivilegien: die Ortsobrigkeit verzichtete in weitgehendem Maße auf Gerichtsbarkeit und Zwangsgewalt über die Ausländer, der Konsul aber hatte für Ruhe und Ordnung unter seinen Schutzbefohlenen zu sorgen, strafbare Hand­ lungen zu ahnden, die Rechtsstreitigkeiten zu schlichten. Dabei kam stets das heimische Recht zur Anwendung. Im christlichen Europa wurde diese Sonderstellung der Ausländer allmählich vom Territorialitätsprinzip verdrängt: die Fremden wuü>en dem Recht und der Gerichtsbarkeit des Aufenthaltstaats unterworfen; die Konsulargerichtsbarkeit hörte auf. In den mohammeda­ nischen Mittelmeerländern und in der Türkei hat sie sich dagegen für die Angehörigen christlicher Staaten erhalten. Das Recht des Korans fand auf Christen keine Anwendung. Auch waren die Kulturgegensätze zu groß. Die Sonderstellung wurde durch Kapitulationen geregelt, d. h. durch staatsrechtliche Erlasse der Sultane, welche auf Vereinbarungen mit den christlichen Mächten beruhten. Mit der Erweiterung des Weltverkehrs wurde dieses System im 19. Jahrhundert vertragsmäßig auf andere nichtchristliche Staaten übertragen: China, Japan, Korea, Siam, Persien, Maskat, Sana, Zanzibar, Madagaskar, Samoa. In all diesen Ländern sollten die Angehörigen christlicher Staaten Rechtsschutz wie in der Heimat genießen, weil eine Unter­ stellung unter das Recht des Aufenthaltstaats wegen der Verschiedenheit des Rechts und bei

bet Unsicherheit der Rechtsanwendung ausgeschlossen erschien.

Die Angehörigen christlicher

Staaten unterstehen deshalb daselbst in wesentlichen Richtungen nicht der Territorialhoheit des fremden Staats, sondern der Personalhoheit des Heimatstaats. Sie wird durch die Konsuln ausgeübt. (Vgl. das deutsche Gesetz über die Konsulargerichtsbarkeit vom 7. April 1900, RGBl. S. 213.) 1. Die Konsulargerichtsbarkeit wird ausgeübt teils durch den Konsul als Einzelrichter, teils durch ein aus dem Konsul als Vorsitzendem und mehreren Laienrichtern als Beisitzern be­ stehendes Konsulargericht, teils auch durch Schwurgerichte. Die Berufung geht in der Regel an ein höheres Gericht des Heimatstaats. Zur Anwendung kommt das heimische Recht, nach ihm regelt sich das Verfahren, soweit in beiden Hinsichten nicht Sonderbestimmungen erlassen sind. Die Organisation der Konsulargerichtsbarkeit ist Sache des Heimatstaats.

2. Der Konsulargerichtsbarkeit unterworfen sind die Angehörigen des Heimatstaats und Schutzgenossen. In gemischten Sachen, d. h. in Prozessen zwischen Angehörigen verschiedener Staaten, gilt meist die Regel actor sequitur forum rei: die Sache wird je nach der Person des Beklagten vor dessen Konsulargericht bzw. vor dem Gericht des Aufenthaltstaats erledigt. Mit dem Gericht ist auch das anzuwendende Recht gegeben. 3. Aushebung oder Einschränkung der Konsulargerichtsbarkeit.

a) Tie Konsulargerichtsbarkeit ist neuerdings ausgehoben oder erheblich eingeschränkt in den von türkischer Herrschaft befreiten, christlichen Ländern, sowie in den einem christlichen Staats­ wesen unterstellten, nichtchristlichen Ländern, ferner in Japan und Korea, weil der erforder­ liche Rechtsschutz durch die Ortsgerichte verbürgt ist. In vollem Umfang besteht die Konsular gerichtsbarkeit noch in Abessinien, China, Marokko, Persien, Siam und der Türkei. b) In Ägypten ist die Konsulargerichtsbarkeit eingeschränkt durch die seit 1. Februar 1876 auf Grund von Vereinbarungen bestehenden internationalen Gerichtshöfe. Sie sind mit ein­ heimischen und fremden Richtern besetzt. Es gibt drei Gerichte erster Instanz und einen Appell­ hos in Alexandria. Für diese Gerichte sind besondere Prozeßordnungen und Gesetzbücher in Anlehnung an das französische Recht ausgearbeitet worden. Sie sind zuständig: a) in Zivilsachen für alle Streitigkeiten über in Ägypten belegene Grundstücke, es seien denn beide Parteien Ägypter; ferner für alle anderen Streitigkeiten zwischen Angehörigen verschiedener Staaten, einschließlich der Ägypter;

Völkerrecht.

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ß) in Straffachen für Konkursdelikte und die Polizeiübertretungen der Fremden, sowie für alle Verbrechen und Vergehen, welche von den Mitgliedern der internationalen Gerichts« Höfe oder gegen sie, im Amt oder in Beziehung auf das Amt, begangen sind.

8 41. 3. Die Unterdrückung des Sklavenhandels. Literatur. Gareis: Das heutige Völkerrecht und der Menschenhandel, Berlin 1879, und: Der Sklavenhandel, das Völkerrecht und das deutsche Recht, 1884; Scherling: Die Be­ kämpfung von Sklavenraub und Sklavenhandel, Breslau 1897; Kaysel: Die Gesetzgebung der Kulturstaaten zur Unterdrückung des afrikanischen Sklavenhandels, Breslau 1906; ©teile: La traite n6gri6re aux Indes de Castille, 2 Bde., Paris 1906; Queneuil: De la traite des noirs et de l’esclavage, 1907; ArchvffR. 1 3; Rev. 22 317, 23 660, 38 762. Das Völkerrecht regelt die inneren Angelegenheiten der Staaten nicht. Es überläßt jedem Staat, ob er einen Teil seiner Untertanen in Sklaverei versetzen will oder nicht. Angehörige anderer Staaten dürfen aber nicht zu Sklaven gemacht wecken (§ 25). Seit dem Wiener Kon­ greß ist das Völkerrecht ferner dem Sklavenhandel entgegengetreten (§ 4 IV 2). Die ergriffenen Maßnahmen sind der Fürsorge für die des Schutzes bedürftigen, aber ohne weiteres nicht teil­ haftigen Heimatlosen entsprungen und haupffächlich den Regem zugute gekommen. Die tat­ sächliche Unteckrückung des Sklavenhandels mußte lange Zeit hindurch vorwiegend auf dem Meere erfolgen. Die zu dem Zweck eingeführten, eigenartigen Normen sind im Schiffsrecht zur Darstellung zu bringen (§ 42). Neueckings sind aber allgemeine Normen aufgestellt, ist auch dem Sklavenhandel zu Lande entgegengetreten wocken: 1. Die Generalakte der Berliner Kongokonferenz vom 26. Febmar 1885 (Fleischmann 195) bestimmt int Art. 9: Nach den Grundsätzen des Völkerrechts, wie solche von den Signatar­ mächten anerkannt wecken, ist der Sklavenhandel veckoten, und sind die Operationen, welche zu Lande oder zur See diesem Handel Sllaven zuführen, ebenfalls als verboten anzusehen. Die Kolonien der Signatarmächte und die unter ihrem Pwtekwrat stehenden Länder dürfen weder als Markt noch als Durchgangsstraße für den Handel mit Sklaven, gleichviel welcher Rasse, benutzt wecken. Die Mächte verpflichten sich, dem Handel ein Ende zu machen und die Sklaven­ händler und «jäget zu bestrafen.

2. Die Generalakte der Brüsseler Antisklavereikonferenz vom 2. Juli 1890 (Fleischmann 226) erblickt mit Recht das wirksamste Mittel zur Unteckrückung des Sklavenhandels in der Einfühmng fester, geockneter Verhältnisse, einer ständigen und starten Regiemngsgewalt in den­ jenigen Ländem, in denen der Sklavenhandel seinen Urspmng hat. Dadurch wecken die Sklaven­ jagden und Sklaventransporte verhindert. Umfaßende Maßregeln zur Absaugung der Trans­ porte, namentlich an den Küsten des afrikanischen Äontinettfd und auf dem Meere, sind ver­ einbart, für die Rückbeförderung oder Unterbringung der befreiten Sklaven ist Fürsorge getroffen. Persien, die Türkei und Sansibar haben sich besonders verpflichtet, in ihren Gebieten die (An-, Durch» und Ausfuhr von, den Handel mit afrikanischen Sklaven zu verhindem, die ein­ geführten in Freiheit zu setzen. Den übernommenen Verpflichtungen zur Bestrafung der Sklavenjäger und -Händler hat das Deuffche Reich durch das Gesetz vom 28. Juli 1895 (RGBl. 425) entsprochen.

D. Das Schiffsrecht.

8 42.

1. Die Kauffahrteischiffe.

Literatur. Vgl. zu § 18. Ortolan: Rigles internationales et diplomatie de la wer (4), Paris 1864; Schiattarella: Del territorio nelle sue attinenze colla legge penale, Siena 1879; Stoert: Studien zum See- und Binnen-Schiffahrtsrecht, Wörterbuch des deutschen Berwaltungsrechts, Ergänzungsband III, Freiburg i. B. 1897, S. 191 ff.; Pereis: Verhalten der See­ schiffe bei unsichtigem Wetter nach dem internationalen Seestraßenrecht, Marine-Rundschau 1897/98, und: Das allgemeine öffentliche Seerecht im Deutschen Reich. Sammlung der Ge­ setze und Verordnungen, Berlin 1901; Stiel: Der Tatbestand der Piraterie, Leipzig 1906; ArchSffR. 21 272, 22 416; ZBöllR. 3 166; Rev. 22 360, 28 461, 29 196, 40 341, 481; Rev. G6n. 667, 10 316, 17 408; Rivista penale 71 H. 5.

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Paul Heilborn.

I. Die Nationalität. Der Staat schützt regelmäßig die Sachen als solche nicht, sondem nur seine und seiner Untertanen Rechte an ihnen. Die Rechte an einem Seeschiff aber bedürfen einheitlichen Schutzes, auch wenn sie Angehörigen verschiedener Staaten zu­ stehen. Nach nwdemem Böllerrecht ist jeder Staat berechtigt, alle Rechte an einem Schiff ohne Mclsicht auf die Nationalität der Berechtigten seinem Schutz zu unterstellen, sofern er damit nicht in die Rechtssphäre anderer Staaten eingreist. Die Unterstellung unter staatlichen Schutz geschieht durch Verleihung der Nationalität an das Schiff. Mit dieser grundlegenden Tatsache — Übernahme des Schutzes der am Schiff begründeten Privatrechte — verbinden sich aber nach Böllerrecht gewichtige Folgen für Schiffsbesatzung und Reisende:

a) Solange sie auf dem Schiff verweilen bzw. im öffentlich-rechtlichen Schiffsverband stehen, sind sie persönlich der Herrschaft und dem Schutz des Flaggenstaats unterworfen, teils ausschließlich, teils neben der Herrschaft eines anderen Staats; b) der Flaggenstaat ist anderen Staaten für ihre Handlungen verantwortlich, soweit er die ^Betätigung einer fremden Staatsgewalt untersagen darf. In heimischen Gewässem ist das Schiff in heimischem Staatsgebiet. Die Menschen auf dem Schiff sind der Staatsgewalt des Flaggenstaats ebenso unterworfen wie auf besten Land­ gebiet. Besonderer Betrachtung bedarf nur das Schiff auf offenem Meer und in fremden Gewässem. Die Bedingungen für die Verleihung der Nationalität werden in der staallichen Gesetz­ gebung geregelt. Am meisten Anllang hat das englische System gefunden: die Nationalität wird nur demjenigen Schiffe verliehen, welches ausschließlich im Eigentum von Staatsangehörigen steht. So auch das deutsche Gesetz, betressend das Flaggenrecht der Kauffahrteischiffe vom 22. Juni 1899 (RGBl. 319); vgl. dazu das Gesetz vom 29. Mai 1901 (RGBl. 184). Das Nationalschiff führt die Flagge des Heimatstaats. Die Berechtigung hierzu wie auch die Nationalität selbst wird durch die Schiffspapiere nachgewiesen; sie sind öffentliche, von der zuständigen Behörde des Flaggenstaats ausgestellte Urkunden. Das Schiff muß sie bei sich führen. Den Kauffahrteischiffen stehen andere Privatschiffe, insbesondere Lustjachten, gleich, wenn sie nach der heimischen Gesetzgebung zur Führung der Nationalflagge berechtigt sind. II. Schiffe auf offenem Meer. Die hohe See gehört keinem Staat; es darf auf ihr aber keine Anarchie herrschen. Eine jederzeitige Kontrolle ist nicht möglich; auch die Selbsthilfe muß jedoch im Interesse der Ordnung grundsätzlich ausgeschlosten sein. Schiffe auf offenem Meer unterstehen deshalb der Herrschaft des Flaggenstaats; er trägt insoweit auch die Verantwortung für die Rechtsverletzungen auf dem Schiff und von ihm aus; er ist zur Be­ strafung der Schuldigen verpflichtet. Fremden Staaten und ihren Schiffen ist im Frieden jede Anhaltung und Durchsuchung, jede Wegnahme von Personen und Gütem, allgemein jede Selbst­ hilfe verboten, solange das Schiff in friedlicher Seefahrt begriffen ist. Nach herrschender Lehre soll das Schiff auf offenem Meer deshalb Teil des Staatsgebiets, schwimmender Gebietsteil sein. Diese Ansicht ist aus zwei Gründen zu verwerfen:

1. Während ihres Aufenthalts in fremden Eigengewässem sollen die Schiffe nicht als Staatsgebiet betrachtet werden. Sie können diese Eigenschaft aber nicht beständig vetiieren und wieder erwerben; insbesondere ist nicht einzusehen, wie das Schiff durch Verlassen eines fremden Hafens zum Staatsgebiet werden soll. Die Besatzung und die Reisenden unterstehen immer dem Flaggenstaat. Seine Rechte sind auf offenem Meer durch kein anderes Recht, in fremden Eigengewässem aber durch die Terriwrialhoheit des Uferstaats eingeschränkt. Hierin und nicht im Gebietscharakter des Schiffs besteht der Unteffchied in der Stellung auf offenem Meer und in fremden Gewässem.

2. Auch auf offenem Meer versagt der Schutz der angeblichen Gebietshoheit, wenn das Schiff zu nicht friedlicher Seefahrt benutzt wird: zum Seeraub, zur Zufühmng von Kriegs­ konterbande (§ 73), zum Blockadebruch (§ 75). Das feindliche Verhalten nicht des Flaggenstaats, sondem der Privatpersonen läßt also das Schutzrecht hinwegfallen. Das ist mit dem Begriff der Gebietshoheit nicht vereinbar, wohl aber mit dem Schutz der friedlichen Seefahrt. Regelmäßig darf allerdings nur der Flaggenstaat Hoheitsakte auf dem Schiffe aus offenem Meer vomehmen. Er übt seine Staatsgewalt unmittelbar mit Hilfe visitierender Kriegsschiffe

Völkerrecht.

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sowie durch den mit Polizeigewalt bekleideten Kapitän aus. We schon angedeutet, erleidet diese Regel aber Ausnahmen, sowohl im Krieg wie auch im Frieden. Nur die letzteren sind hier zu besprechen: 1. Nach allgemeinem Völkerrecht.

a) Zulässig ist die Verfolgung eines Schiffs auf das offene Meer hinaus, wenn sich die Mannschaft in den Gemässem eines fremden Staats eines Verbrechens schuldig gemacht hat. b) Der Seeraub: der gegen ein Schiff ohne staatliche Ermächtigung begangene gewalt­ same Angriff, um sich das Schiss, Güter oder Menschen rechtswidrig zuzueignen. Der Seeraub auf offenem Meer entzieht dem Schiff den Flaggenschutz. Jedes Kriegsschiff ist berechtigt, sich des Piratenschiffs gewaltsam zu bemächtigen und die Mannschaft zur Bestrafung abzuführen. Jeder Staat ist zur Bestrafung der Seeräuber berechtigt. Seeraub in staatlichen Gemässem berechtigt hingegen nur zur Notwehr; im übrigen ist der Uferstaat verantwortlich. 2. Nach partikulärem Völkerrecht. Zur Erleichterung der Kontwlle haben sich die Staaten in Verträgen vielfach das Recht zur Anhaltung, Durchsuchung und Aufbringung ihrer Kauf­ fahrteischiffe zugestanden. Die Maßnahmen dürfen regelmäßig nur von den besonders dazu ermächtigten Kriegsschiffen ergriffen wecken. Das angehaltene Schiff ist in einen Hafen seines eigenen Staats zu bringen; ihm gebührt die Wutteilung.

a) Die Unterdrückung des Sklavenhandels zur See. Rach vielen Einzelverträgen mucke von Preußen, Österreich, Frankreich, Gwßbritannien und Rußland am 20. Dezember 1841 ein gemeinsamer Vertrag über die Bekämpfung des Sklavenhandels unterzeichnet, von Frank­ reich jedoch nicht mtifiziert (Fleischmann 41). An Stelle Preußens ist das Deutsche Reich in diesen Vertrag am 29. März 1879 eingetreten. In ihm Wick der Sklavenhandel als Seeräuberei erklärt; der Versuch, ihn zu betreiben, entzieht den Schiffen der Signatarmächte den Flaggen­ schutz. Das Anhaltungsrecht darf in einer bestimmten Zone auf dem Atlantischen und auf dem Indischen Ozean ausgeübt wecken. Das in unerlaubter Wesse oder ohne zureichenden Beckacht durchsuchte und aufgebmchte Schiff ist zu ensschädigen. Auf der hier geschaffenen Grundlage hat die Brüsseler Antisklavereiakte vom 2. Juli 1890 Art. 20/71 ein umfassendes und die Einzelheilen sorgfältig berücksichtigendes Reglement für die Unteckrückung des Sklavenhandels auf dem Indischen Ozean ausgeackeitet. Frankreich hat wiedemm die Anhaltung und Durch­ suchung seiner Schiffe nicht zugestanden. b) Die Regelung der Hochseefischerei auf der Nocksee, Haager Vertrag vom 6. Mai 1882 (Fleischmann 178). — Ferner: Die Unteckrückung des Branntweinhandels unter den Nockseefischem auf hoher See, Haager Vertrag vom 16. November 1887 (ibid. 218).

c) Der Kabelschutz, Pariser Vertrag vom 14. März 1884, unterzeichnet von 26 Staaten (ibid. 189). Die Aufbringung der betroffenen Schiffe ist hier ausgeschlossen. Die Rechte der Kriegführenden sind nicht beschränkt. Der Regelung besonders bedürftig ist das Seestraßenrecht, weil an sich kein Schiff auf hohem Meer an einen bestimmten Kurs gebunden ist. EinheiÜiche Vosschriften über das Aus­ weichen, über das Verhalten bei unsichtigem Wetter sind unerläßlich zur Verhütung von Zu­ sammenstößen. Die Regelung ist jedoch nicht durch Staatsvertrag, sondern durch Gesetze bzw. Berocknungen der einzelnen Staaten erfolgt, zunächst in Anlehnung an das englische Recht, später auf Gmnd intemationaler Verständigung; vgl. die Kaiserliche Berocknung vom 5. Februar 1906 (RGBl. 120).

III. Schiffe in fremden Gewässern.

A. Schiffe in fremden Eigengewässern. Sie sind mit den auf ihnen befindlichen Menschen der Terriwrialhoheit des Uferstaats unterworfen; die Hersschaft des Flaggenstaats über die Schiffsbesatzung und die Reisenden Wick nicht unteckwchen, aber be­ schränkt; sie kann sogar begründet wecken, wenn ein neuer Schiffsmann oder ein neuer Reisender im fremden Hafen in dieses Bechältnis eintritt. In erster Linie bringt aber der Uferstaat seine Terriwrialhoheit ebenso zur Geltung wie über Fremde in seinem Landgebiet. An diesem Grund­ satz hält namenttich England fest. In den Kvnsulargerichtsbezirken ist dagegen die TerritorialHoheit nach den hier allgemein geltenden Regeln beschränkt. In den meisten euwpäischen und

Paul Heilborn.

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amerikanischen Staaten ist ein mittleres System zur Annahme gelangt, auch vielfach in Ver­ trägen besonders geregelt: in die inneren Angelegenheiten an Bord der fremden Schisse mischt sich der Uferstaat nicht ein, es sei denn, daß die Rübe oder öffentliche Ordnung am Lande oder im Hafen durch Vorfälle an Bord der Schiffe gestört wird, oder daß ein Landesangehöriger oder eine nicht zur Schiffsmannschaft gehörige Person beteiligt ist. Die Aufrechterhaltung der Ordnung an Bord liegt in diesem Fall dem Konsul des Flaggenstaats ob. Er prüft das Recht des Schiffs zur Fühmng der Flagge, entscheidet, wenigstens vorläufig, alle Streitig­ keiten zwischen Kapitän und Mannschaft und ist mit weitreichender Polizei-, auch Polizei­ strafgewalt, ausgerüstet.

B. Schiffe in fremden Küstengewässern. Nehmen sie hier Aufenthalt, „gehen sie vor Anker," so sind sie der Terriwrialhoheit des Uferstaats wie in den Eigengewässern unterworfen. Nach dem Gesetz über die Gerichtsbarkeit in britischen Gewäffem vom 16. August 1878 (Territorial Waters Jurisdiction Act. 1878, 41 & 42 Vict. c. 73, The public general Statutes passed in .... 1878 S. 579 ff.) nimmt England die gleichen Rechte über die seine Kastengewässer nur durchfahrenden Schiffe in Anspmch. Dieses Gesetz hat viel Widerspmch herausgefordert. Oft wird behauptet, solche Schiffe seien dem Uferstaat überhaupt nicht unterworfen, seien exterriwrial. Das geht zu weit; vgl. auch das deutsche Gesetz über die Untersuchung von See­ unfällen vom 27. Juli 1877 § 2 (RGBl. 549). Eine feste Praxis hat sich noch nicht gebildet. Empfehlenswert dürfte es sein, Handlungen an Boü> der durchfahrenden fremden Schiffe der Terriwrialhoheit des Uferstaats nur dann zu unterwerfen, wenn ihre Wirkungen sich über das Schiff hinaus erstrecken: unbefugter Fischfang, Zusammenstöße usw.

g 43.

2. Die Kriegsschiffe.

Vgl. die Literatur zu § 42; ferner: ArchvfsR. 1 461, 677; Rev. 26 378; Rev. G4n. 12 645.

Das Kriegsschiff dient zur Entfaltung der Militärhoheit des Flaggenstaats. Die Besatzung bildet einen Teil seiner bewaffneten Macht. Durch sie, durch den ihr erteilten militärischen Befehl wird das Schiff zum Kriegsschiff. Es legitimiert sich durch den militärischen Charakter seiner Besatzung, äußerlich durch Flagge und Wimpel, äußersten Falls durch die Segewrder, den militärisch-staatlichen Auftrag des Kommandanten. In Ausübung seiner Staats- und folglich seiner Mlitärhoheit ist der Staat weder der Gerichtsbarkeit noch sonstwie der Herrschaft eines fremden Staats unterworfen: par in parem non habet iurisdictionem (§ 6III d). Begeht er dabei eine Rechtsverletzung, so ist sie völkerrechtlicher Natur und auf völkerrechtlichem Wege zu ahnden. Solange Schiff und Besatzung zur Ausübung der Militärhoheit dienen, unterstehen sie deshalb ausschließlich dem Flaggen­ staat; er ist für die Handlungen seiner militärischen Macht verantwortlich. Dies gilt nicht nur für Kriegsschiffe auf offenem Meer und während der Durchfahrt durch fremde Küstengewässer, sondern auch während ihres Aufenthalts daselbst und in fremden Eigen­ gewässern, einschließlich der Häfen. Die Einfahrt in Eigengewässer kann zwar sicherlich unter­ sagt werden (§ 20 III), sofern der Userstaat sich nicht durch Vertrag zur Öffnung gebunden hat. Ms dem Schiff ist die Besatzung aber stets exterriwrial in dem nämlichen Sinne wie andere exterritoriale Personen: ebensowenig wie der Gesandte darf sie die allgemeine Rechtsordnung des Uferstaats verletzen; insbesondere muß sie die Hafenordnung und die sonst für Schiffe er­ lassenen Vorschriften beobachten. Soweit aber Befreiungen für andere Exterritoriale Platz greifen, kommen diese Vorrechte auch der Besatzung des Kriegsschiffs aus ihm zu. Das Betreten des Landes ist nicht ohne weiteres gestattet. Geschieht es außerdienstlich, so hat die Mannschaft keine Vorrechte. Die dann von ihr an Land begangenen Straftaten kann der Uferstaat aburteilen. Die Übeltäter darf er feswehmen. Nur aus Höflichkeit werden sie oft dem Schifsswmmandanten zur Bestrafung abgeliesert. Nicht bloß die Besatzung, sondem auch das Schiff selbst dient aber zur Ausübung der Mlitärhoheit des Flaggenstaats. Deshalb darf es niemand ohne Erlaubnis des Kommandanten betreten, darf er jeden Schiffsfremden von ihm wegweisen. Auch die Staatsgewalt des Ufer­ staats macht vor dem fremden Kriegsschiff halt; seine Beamten dürfen nicht hinauf. Der Kom-

Böllerrecht.

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Mandant ist indessen zur GewLhmng eines Asyls ebensowenig berechtigt wie der Gesandte in seinem Hotel. Haben Verbrecher sich auf das Schiff geflüchtet, so muß er sie auf Verlangen, der Uferbehöiden ausantworten oder zum mindesten wegweisen. Die Gewährung eines Asyls auf dem Kriegsschiff wird nur in drei Fällen, und auch in diesen bei weitem nicht allgemein, für zulässig erachtet: 1. wenn der Flüchtling Untertan des Flaggenstaats ist; 2. wenn er sich der Sklaverei entziehen will; 3. in Amerika, wenn er wegen politischer Verbrechen verfolgt wird^ namenüich bei Gelegenheit von Aufständen im Uferstaat. In diesem dritten Fall ist die Asyl­ gewährung so häufig vorgekommen, daß man wohl von einer beständigen Praxis sprechen darf.

8 44. 3. Die Luftschiffe. Literatur. Bgl. zu $ 18, ferner: Rev. G6n. 18 628, 684, 19 414 über die Arbeiten des Institut de droit international und über die Beschlüsse der internationalen juristischen Lustschisffahrtskongresse; Atti e relazioni des Veroneser 1. congresso giuridico internationale per ü regolamento della locomozione aerea 1910, Verona 1911; Reglements einzelner Staaten im Anhang, von Kohlers Luftfahrtrecht.

Böllerrechlliche Regeln über die Behandlung der Luftschiffe sind unerläßlich, aber trotz privater Vorarbeiten auf der Pariser diplomatischen Konferenz 1911 noch nicht zur Ausbildung gelangt. Als vorbildlich gilt das Seeschiffsrecht. Der Unterschied zwischen MilitärsStaats-)und Privatschiffen besteht auch hier. Luftschiffe bedürfen wie Seeschiffe der Nationalität, d. h. der Unterstellung unter Schutz und Herrschaft des Flaggenstaats. Ihre Nationalität und ihren Charafter müssen sie bei Tag und bei Nacht durch bestimmte Signale ausweisen. Mit dem Ein­ tritt in fremdstaatlichen Luftraum geraten Privatluftschiffe gleichfalls unter die Herrschaft der Territorialgewalt; doch sind deren Rechte und die des Flaggenstaats gegeneinander abzugrenzen. Uber die Zulassung ausländischer Luftschiffe in den staatlichen Luftraum vgl. §20IV. Erforder­ lich ist endlich die Ausbildung eines Luftstraßenrechts, die Regelung des Ausweichens und des Verhaltens bei unsichtigem Wetter.

Zweites Kapitel: Das Obligationsrecht. § 48. A. Allgemeine Lehre». Literatur. Jellinek: Die rechtliche Natur der Staatenverträge, Wien 1880; Stoerkr Staatsverträge, in v. Stengels Wörterbuch deS deutschen BerwaltungSrecbtS, Bd. II; Nipvold: Der völkerrechtliche Vertrag, seine Stellung im Rechtssystem und seine Bedeutung für das inter­ nationale Recht, Bern 1884; Cavaglieri: La funzione della clausola „rebus sic stantibus“ nei trattati intemazionali, Archivio giundico, 1903; Bruno Schmidt: Uber die völkerrechtliche clausula rebus sic stantibus, Leipzig 1907; Jacomet: La guerre et les traitta, Paris 1909; Philippsonr The effect of war on contracts, London 1909; Cavaretta: Lo stato di necessitit nel diritto inter­ nationale, Palermo 1910; Billerbeck: Der Einfluß des Kriegsbeginns und deS Friedensschlusses auf die zwischen den kriegführenden Staaten vor dem AuSbruch des Kriege- aeschlossenen Ver­ träge, Dys., Breslau 1911; Erich Kaufmann: Das Wesen deS Völkerrecht- und die clausula rebus. sic stantibus, Tübingen 1911; Reinsch a. a. O. 169 ff.; ArchOffR. 9 23, 669; ZVölkR. 4 449; Rev. 19 37, 23 188, 590, 25 213, 26 204; Rev. G6n. 17 6; Rivista 6 398.

I. Obligationen sind Rechtsverhältnisse, „deren Inhalt in dem Anspruch auf eine Leistung gegen eine oder einzelne bestimmte Personen oder in den Ansprüchen der Parteien auf gegen­ seitige Leistung besteht" (Kipp). Dieser int Privatrecht ausgebildete Begriff der Obligation ist and) für das Völkerrecht anzuerkennen. Als Gläubiger und Schuldner kommen nur Staaten in Betracht. Die Leistung ist entweder ein Tun oder ein Dulden oder ein Unter­ lassen. Bermögenswert ist nicht erforderlich. Es gibt aber rein völkerrechlliche Obligationen, die lediglich auf Geldzahlungen gerichtet sind, so Schadensersatzfordemngen aus unerlaubten Handlungen.

II. Durch Vertrag werden nur die Vertragsparteien selbst, d. h. die Staaten, berechtigt und verpflichtet, nicht aber ihre Organe und Untertanen. Dritte, am Vettragschluß nicht teil­ nehmende Staaten werden durch ihn gmndsätzlich nicht berührt. Sollen die Wirkungen eines-

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Paul Heilborn.

Vertrages sich auf einen dritten Staat erstrecken, so bedarf es des Beitritts. Der Beitritt ist «in neuer Vertrag zwischen den ursprünglichen Vertragsparteien auf der einen und dem bei­ tretenden Staat auf der anderen Seite. die Vermittlung. Eine Verpflichtung zur Annahme des vom Vermittler gemachten Vorschlag- besteht ebensowenig wie eine Verpflichtung, die Waffen oder auch nur die Kriegs­ rüstungen bis zur Beendigung der Vermittlungstätigkeit ruhen zu lassen, es sei denn das Gegen­ teil besonders vereinbart. Über gute Dienste und Vermittlung vgl. das Haager Abkommen zur friedlichen Erledigung intemationaler Streitfälle vom 18. Okwber 1907 Art. 2—8.

c) die Retorsion: Erwiderung einer Unbilligkeit mit einer zweiten; die erste Unbilligkeit soll damit vergolten, ihr Urheber zu deren Abstellung veranlaßt werden. Eine sehr gewichtige Waffe! Wer die Retorsionshandlung ist an sich erlaubt; sie kann also vorgenommen werden, ohne daß ihr eine Unbilligkeit voraufgegangen wäre. Hauptbeispiel sind die Zollkriege zwischen Staaten ohne Zollvertrag.

§ 55.

I. Das gütliche Verfahren.

Haager Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle vom 18. Oktober 1907 Art. 9—90. TraitSs g6n6raux d’arbitrage communiquGs au bureau international de la cour permanente d’arbitrage, 1. Serie, Haag 1911. Literatur. Boghitchevitch: Die Enquete-Kommissionen, Festgabe für Hübler 1905; Rev. G6n. 12 161, 351, 19 149. Zur Einführung in die sehr umfangreiche Schiedsgerichts-Literatur vgl. das Verzeichnis in dem zit. Kommentar von Wehberg und in dessen „Problem eines inter­ nationalen Staatengerichtshofs". — Lapradelle und Politis: Recueil des arbitrages internationaux 1, Paris 1905; Lammasch, Jahrb. des öffentl. Rechts 1912; Ralston: International arbitral law and procedure, Boston u. London 1910; Balch: International courts of arbitration (4), Phila­ delphia 1912; BöhmsZ. 19 497; ZVölkR. 6 219; Rev. 26 204, 42 595; Rev. G6n. 6 533, 16 437, 689.

Nichtpolitische Staatsstreitigkeiten bemhen auf einer Meinungsverschiedenheit über die tatsächlichen Vorgänge oder (bzw. und) deren rechtliche Beurteilung. Hieraus ergeben sich die zur gütlichen Erledigung dienlichen Mittel:

I. Die Einsetzung einer internationalen Uniersuchungskom­ mission zur Erleichterung der Beilegung von Streitigkeiten durch Aufklärung des

Völkerrecht.

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Tatbestands schlägt das Abkommen Art. 9—36 für den Fall vor, daß die Parteien sich auf diplomalischem Wege nicht haben einigen können. Ein sehr häufiger Fall! Jeder Staat hält nur den Tatbericht seiner eigenen Organe für maßgebend; die direkten Parteiverhandlungen kommen dann über eine beiderseitige Wederholung der eigenen tatsächlichen Behauptungen und das danach anwendbare Recht nicht hinaus. Die Kommission soll die streitigen Tatsachen durch eine unparteiische und gewissenhafte Prüfung in kontradiktorischer Verhandlung aufklären; die Parteien haben ihr alle Mittel und Erleichterungen zu gewähren, welche zur vollständigen Kennt­ nis und genauen Würdigung der maßgeblichen Tatsachen notwendig sind lVorlegung von Men, Gestellung von Zeugen usw.). Die Kommission beschließt nach Stimmenmehrheit und erstattet einen Bericht, welcher sich auf die Feststellung der Tatsachen beschränkt und den Parteien Entschließungsfreiheit darüber läßt, welche Folge dieser Feststellung zu geben ist. 1904/5 Inter­ nationale Untersuchungskommission zur Aufklärung des Vorfalls an der Doggerbank (Beschießung der Hüller Fischerboote durch die mffische Kriegsflotte, Rev. G6n. 12 Doc. 4, Martens: NRG. 2. Ser. 38 641—716).

II. Rechtsstreitigkeiten zwischen Staaten können durch ein Schiedsgericht ent­ schieden wecken. Das von der zweiten Haager Konferenz entworfene Abkommen über die Errichtung eines internationalen Prisengerichtshofs — eines wahren Gerichtshofs —, ist nicht perfekt gewocken1. Steht die Ehre, Unabhängigkeit oder Existenz eines Staats auf dem Spiel, so ist es noch nie zum Schiedsverfahren gekommen. Meist nehmen die Verträge diese Fälle ausdrücklich aus (Ehre- und Jntereffenllausel).

A. Der Schiedsvertrag. Eine Verpflichtung, Staatsstreitigkeiten schiedsrichter­ licher Entscheidung zu unteckreiten, besteht nur kraft Staatsvertrags. Ein solcher Vertrag Wick entweder mit Mcksicht auf einen bereits schwebenden, bestimmten Streitfall und zu dessen Er­ ledigung (Schiedsvertrag i. e. S., Kompromiß, Art. 52) oder im voraus für etwa entstehende Streitfälle (Art. 39) abgeschlossen. Dieses Schiedsabkommen kann sich auf alle oder nur auf Streiügkeiten einer bestimmten Art beziehen. Vgl. den von 17 amerikanischen Staaten am 30. Januar 1902 geschlossenen Vertrag über schiedsrichterliche Entscheidung der Streitigkeiten aus Schadensersatzansprüchen im Interesse der Untertanen (Martens: NRG. 2. Ser. 81 261, 33 143). Das Schiedsabkommen wird häufig einem Vertrage, z. B. einem Handelsverträge, als kompromissarische Klausel beigefügt. Es bezieht sich dann auf alle Streiügkeiten über Aus­ legung und Anwendung dieses Vertrags. Das Schiedsabkommen verpflichtet die Parteien beim Eintritt eines einschlägigen Streit­ falls, den Schiedsvertrag abzuschließen und sich dem Spruch des Schiedsrichters „nach Treu und Glauben zu unterwerfen" (Art. 37). Der Schiedsvertrag muß den Streitgegenstand, die Person der Schiedsrichter oder die Art ihrer Emennung und den Umfang ihrer Befugnisse be­ zeichnen; auch durch ihn verpflichten sich die Parteien, „sich dem Schiedsspmch nach Treu und Glauben zu unterwerfen" (Art. 52). Art. 53 soll verhindern, daß die Ausfühmng eines Schiedsabkommens an der Verständigung über den Schicksvertrag scheitere. B. DasSchiedsgericht. Die Parteien einigen sich entweder selbst über die Person der Schiedsüchter oder übertragen die Auswahl einer dritten Macht. Emannt wurden: Staats­ häupter, Staatsmänner oder Juristen, endlich Kollegien von solchen. Nach Art. 41—50 des Abkommens ist im Haag ein ständiger, allen Mächten offenstehender Schiedshof gebildet. Zu ihm entsendet jede Signatarmacht „höchstens vier Personen von anerkannter Sachkunde in Fragen des Völkerrechts" als Mtglieder. Wollen zwei Parteien sich an den Schiedshof wenden, so haben sie — in Ermangelung besonderer Vereinbarung — aus der Gesamtzahl der Mitglieder je zwei Schicksrichter zu ernennen; diese wählen ihren Obmann; bei Stimmengleichheit wick er durch eine oder mehrere unbeteiligte Mächte emannt (Art. 45). Der Obmann ist Vorsitzender des Schiedsgerichts. Es hat regelmäßig seinen Sitz im Haag. Während der Ausübung ihres Amts und außerhalb ihres Heimallandes genießen die Mtglieder die diplomatischen Vorrechte und Befreiungen.

1 Über den zentralamerikanischen Gerichtshof vgl. Vertrag vom 20. Dezember 1907, Martens: NRG., 3. Ser., 3 105. Rev. G6n. 16 99.

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III. Das Verfahren richtet sich nach den Bestimmungen des Schiedsvertrags, in zweiter Linie nach den Beschlüssen des Schiedsgerichts. Das Verfahren vor dem Haager Schieds­ gericht (Art. 51—85) besteht aus: a) dem Vorverfahren zur Auswechflung der Schriftsätze und Mitteilung der Mten und Urkunden — und b) der mündlichen Verhandlung vor dem Gericht. Die Beratung des Schiedsgerichts erfolgt geheim, jede Entscheidung nach der Mehrheit der Mitglieder. Ter Schiedsspmch ist mit Gründen zu versehen und zu verkünden. Ein abgekürztes, grundsätzlich nur schriftliches Verfahren sehen Art. 86—90 vor. Die Kompetenz des Schiedsgerichts bestimmt sich nach dem Schiedsvertrag, es hat ihn aber selbständig auszulegen. Ter Entscheidung sind die von den Parteien abgeschlossenen Ver­ träge, das partikuläre und das gemeine Völkerrecht zugmnde zu legen. In Ansehung der Parteien entscheidet der Schiedsspmch das Streitverhältnis endgültig und mit Ausschließung der Bemfung. Streitigkeiten über Auslegung oder Ausführung des Schiedsspmchs entscheidet im Zweifel das Schiedsgericht (Art. 82). Eine Revision des Schiedsspmchs muß im Schiedsvertrag vorbehalten sein; sie ist an eine im Vertrag gleichfalls sestzusetzende Frist und an das Vorbringen neuer, bisher unbekannter Tatsachen gebunden; sie erfolgt durch das nämliche Schiedsgericht. — Für dritte Staaten hat der Schiedsspmch keine Wirksamkeit. Sie können sich jedoch an dem Verfahren beteiligen, wenn es einen von ihnen mitunterzeichneten Vettrag zum Gegenstand hat. Alsdann ist der Spmch auch für sie bindend.

11. Das gewaltsame Verfahren. A. Selbsthilfe ohne Krieg. § 56.

1. Die Repressalien.

I. Repressalie ist die Erwidemng einer Rechtswidrigkeit durch eine andere, um die Be­ seitigung des rechtswidrigen Zustands, eventuell auch die Leistung von Schadensersatz und Genug­ tuung zu erzwingen. Zu diesem Zweck ist die Vomahme einer sonst rechtswidrigen Handlung gestattet; als Repressalie — d. h. wenn deren Voraussetzungen gegeben sind — ist sie nicht rechts­ widrig. Für den durch die Repressalie zugefügten Schaden ist deshalb weder Ersatz noch Genug­ tuung zu leisten. Die Ergreifung von Repressalien setzt voraus:

1. ein völkerrechtliches Delikt (§ 51), d. h. der zu Repressalien greifende Staat muß von einem anderen schuldhaft und rechtswidrig verletzt sein. Ob die Staatsgewalt unmittelbar oder mittelbar in ihren Angehörigen verletzt ist, hat keine Bedeutung; 2. Weigemng des schuldigen Staats zur Erfüllung seiner Deliktsverbindlichkeit. Diese Weigemng kann nur angenommen werden, wenn er von dem Verletzten zur Leistung von Schadensersatz bzw. zur Genugtuung vergeblich aufgefordert wurde. Nach modemem Völkerrecht ist zur Ergreifung von Repressalien nur der Staat befähigt, und zwar regelmäßig nur der souveräne; an Stelle des Halbsouveränen handelt der übergeordnete Staat. Die im Mittelalter unter bestimmten Voraussetzungen zulässigen Repressalien von Privatpersonen wären gegenwärtig strafbar.

II. R^e Pressalienhandlungen. Während zur Retorsion — Erwidemng einer Unbilligkeit durch eine andere (§ 54) — jede nicht verbotene Handlung dienen kann, kommen nur an sich verbotene Handlungen als Repressalien in Betracht. Allgemein ausgeschlossen sind die Akte kriegerischer Waffengewalt: Beschießung von Plätzen usw. Sie dürfen nur im Kriege vorgenommen werden. Umgekehrt sind die im Kriege als unnütz verbotenen Handlungen (Ge­ fangensetzung friedlicher Untertanen des Gegners) dämm noch nicht als Repressalien unstatt­ haft. — Als positive Repressalie wird die Vomahme einer sonst verbotenen Handlung (Beschlag­ nahme von Schiffen), als negative die Unterlassung einer sonst gebotenen Handlung (Nicht­ zahlung einer Schuld) bezeichnet. Als wichtigste Repressalienhandlungen seien genannt: 1. die Beschlagnahme von Gutem und Fordemngen des zu zwingenden Staats auf dem Gebiete des verletzten. Staatsverträge schließen die Beschlagnahme von Eisenbahnwagen aus;

Völkerrecht.

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2. die Beschlagnahme von Gutem und Fordemngen der Untertanen. Das Embargo, die Beschlagnahme von Staats- oder Privatschiffen, wird jetzt durch viele Verträge untersagt; über das Embargo bei Beginn des Krieges vgl. § 62; 3. Maßregeln gegen die Person der Unter­ tanen des verletzenden Staats: Entziehung von Rechten, Ausweisung, Gesangensetzung als Geiseln. Der einzelne muß nötigenfalls für die Sünden seines Staats büßen. Nur das Vor­ recht der Unverletzlichkeit gewährt auch hiergegen Schutz; 4. Weigerung der Vertragserfüllung, Aufkündigung von Verträgen; 5. Besetzung von Teilen des fremden Staatsgebiets; 6. die Friedensblockade. Blockade ist die Wspermng des Verkehrs für einen bestimmten Teil der fremden Küste durch Aufstellung von Seestreitkrästen *. Ursprünglich nur eine Kriegsmaßregel, ist die Blockade seit Anfang des 19. Jahrhunderts häufig zum Zweck der Repressalie wie auch der Intervention in Friedenszeiten zur Anwendung gebracht worden. Wie die Kriegsblockade, muß sie effektiv und bekannt sein (§ 75). Der Blockadebruch darf mit Gewalt verhindert werden. Der Blockadebrecher (das Schiff) roiti* mit Beschlag belegt, aber nicht zur Prise gemacht. In der Theorie wurde die Zulässigkeit der Friedensblockade oft angefochten, weil sie dritte Staaten schädige, diese aber nur im Kriege eine Beeinträchtigung ihres Verkehrs hinnehmen müßten. Nach beständiger Staatspraxis ist indessen die Friedensblockade als erlaubtes Mittel der Selbst­ hilfe anzusehen. Mehrfach wurde mit ihrer Hilfe ein Krieg verhütet. In neuerer Zeit hat man mitunter den Interessen. der unbeteiligten Mächte dadurch Rechnung getragen, daß man ihren Schiffen Ein- und Ausfahrt gestattete: Blockade Griechenlands 1886. Im Venezuela­ streit 1902 behaupteten die Vereinigten Staaten, diese Beschränkung sei der Friedensblockade wesentlich. Ist der Zweck der Repressalie — Schadensersatz und Genugtuung — erreicht, so sind die vechängten Maßregeln aufzuheben. Für den durch sie zugefügten Schaden haftet der Repres­ salien übende Staat nicht (Protokoll vom 13. Februar 1903 Art. 7, Staatsarchiv 68 297). Sache des verletzenden Staats ist es, ob er die durch die Repressalien des Verletzten betroffenen Untertanen entschädigen will oder nicht.

8 57. 2. Die Intervention. Literatur. Bemer: Intervention, Bluntschlis Staatswörterbuch 5 341/64; Strauch: Zur Jnterventionslehre, Heidelberg 1879; v. Floeckher: De Pintervention en droit international 1896; Moore, Digest 6; Dunning: Die neuesten Anwendungen der Monroedoktrin, Philos. Diss., Heidelberg 1908; Moulin: La doctrine de Drago, Paris 1908; Pohl: Der Monroe-Vorbehalt, Festgabe der Bonner Jurist. Fakultät für Krüger, 1911; Alvarez: Le droit international amiricain, Paris 1910, und: La codification du droit international, Paris 1912; Sa Bianna: De la non-existence d’un droit international am6ricain, Rio de Janeiro 1912; Cavaglieri: L’intervento nella sua definizione giuridica, Bologna 1913; Deutsche Revue 23 2 (1898), 366, 29 (1904) 278; ArchvfsR. 30 407; Rev. 26 416,45 60; Rev. G6n. 3137,329,4 577,746,17 468,19 73; Rivista789. I. Begriff. Intervention ist das nichtkriegerische, zwangsweise Eingreifen eines oder mehrerer Staaten in fremde Staatsangelegenheiten. Es sind das entweder die inneren An­ gelegenheiten eines anderen Staats oder die wechselseitigen Beziehungen mehrerer fremder Staaten: Intervention Deutschlands, Frankreichs und Rußlands gegen den Frieden von Shimonoseki zwischen China und Japan 1895. Zwang wird angewendet, wenn das Begehren mit Gewalt durchgesetzt oder mit der Drohung verbunden wiü>, der Intervenient werde es nötigenfalls mit Gewalt durchsetzen. Ms Einmischung in fremde Angelegenheiten ist das Jnterventionsbegehren als solches nicht auf eine Leistung an den Intervenienten oder auf Duldung einer Handlung desselben, sondern auf ein bestimmtes Verhalten zweier anderer Staaten zueinander, bzw. auf ein bestimmtes Verhalten eines anderen Staats in seinen inneren Angelegenheiten, gerichtet: A untersagt dem B, eine Provinz an C abzutreten bzw. seine absolute Verfassung in eine konstitutionelle umzuwandeln. Mt dem Interventions­ begehren verbinden sich aber häufig Entschädigungsfordemngen für den Fall, daß ersterem nicht entsprochen, oder daß es zurückgezogen werden sollte. 1 So Staudacher: Die Friedensblockade, Leipzig 1909. Vgl. ferner Söderquist: Le Blocus maritime, Stockholm 1908; BöhmsZ. 19 63; Rev. 29 474, 30 606; Rev. G6n. 11 362.

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Paul Heilborn.

Die Intervention ist Verletzung fremder Unabhängigkeit und deshalb verboten. Aus­ nahmen greifen nach allgemeinen Regeln Platz, wenn ein Staat ein Recht zum Einschreiten erworben hat, so vielfach die Oberstaaten den Unterstaaten gegenüber. Teils auf Vertrag, teils auf Gewohnheitsrecht ist das Recht der europäischen Großmächte gegründet, zugunsten der christ­ lichen Untertanen der Hohen Pforte in die inneren Angelegenheiten der Türkei sich ein­ zumischen. (Rolin-Jaequemyns, Rev. 1876. — Berliner Vertrag vom 13. Juli 1878 Art. 61, Fleischmann 148). Erst wenn kein derartiges Recht, anderseits auch kein Krieg in Frage steht, taucht das eigentliche Jnterventionsproblem auf. II. Z u l ä s s i g k e i t. Die Staatspraxis weist eine ungeheure Zahl von Interventionen auf. Unter Berufung auf den Grundsatz der Nichtintervention hat man sie oft samt und sonders für unzulässig erklärt. Damit hat man sich aber vom Boden des geltenden Völkerrechts entfernt. Die Staaten haben auf die Intervention als Mittel der Selbsthilfe nicht verzichtet, weil „das formal durchaus berechtigte Verhalten" eines Staats innerhalb „seiner völkerrechtlich anerkannten Freiheitsphäre" eine „praktisch gefährdende oder schädigende Wirkung auf die Interessen" eines anderen zu äußern vermag (Ullmann). So kann ein rechtmäßiger Gebietszuwachs dem ver­ größerten Staat eine Übermacht verschaffen, durch welche andere Staaten aufs emstlichste be­ droht werden. (Eingreifen Englands und der Niederlande in den spanischen Erbfolgekrieg, Bestrebungen zur Erhaltung des Gleichgewichts.) Gegen derartige Bedrohungen und Schädi­ gungen gewährt das Völkerrecht in der Intervention ein Hilfsmittel. Dasselbe ist unentbehrlich, weil das Völkerrecht den Staat nicht schlechthin, insbesondere nicht gegen Krieg, schützt. Voraus­ setzung der Intervention ist demnach ein den Intervenienten bedrohendes oder schädigendes, aber an sich erlaubtes Verhalten des oder der Staaten, gegen welche die Intervention sich richtet. Rechtswidrigkeiten werden nicht mit einer Intervention, sondern mit Erhebung des Anspruchs auf Schadensersatz und Genugtuung beantwortet; zur Leistung dessen ist der Schuldige ver­ pflichtet. Da aber dem Staat, gegen welchen die Intervention sich richtet, keine Rechtswidrig­ keit zur Last fällt, so ist er auch nicht gehalten, dem Jnterventionsbegehren Folge zu geben. Nur im Notstand, d. h. zum Schutz wesentlicher Interessen ist die Intervention statthaft; ihr Zweck ist die Beseitigung der Gefahr oder des Schadens. Unzulässig sind Interventionen zum Zwecke des Gewinns (Intervention Napoleons III. in die mexikanischen Wirren). Das Bestehen einer bestimmten Regiemngsform in einem Staat ist nicht als Bedrohung eines anderen Staats zu erachten, solange keine „aggressive Propaganda" zum Zwecke ihrer Einfühmng in andere Staaten getrieben wird (Ullmann). Die Interventionen der Heiligen Allianz waren deshalb unzulässig. Durch Bürgerkriege können Interventionen anderer Staaten hervorgerufen werden, wenn deren Untertanen Schaden erleiden: die durch den Aufruhr angegriffene Staats­ gewalt kann hierfür meist nicht verantwortlich gemacht werden (§ 51 III) und ist mitunter nicht imstande, die Ordnung wiederherzustellen. (Vertrag zwischen Frankreich, England und Rußland „pour la pacification de la Grece“ vom 6. Juli 1827, Fleischmann 32).

III. Die Monro edoktrin ist enthalten in der Botschaft, mit welcher Präsident Monroe der Jnterventionspolitik der Heiligen Allianz entgegentrat (§ 4 IV). In ihr wider­ setzte er sich der Intervention europäischer Mächte in amerikanische Angelegenheiten sowie dem Erwerb neuer Länder seitens europäischer Staaten auf dem amerikanischen Kontinente. In letzterem Anspruch lag eine unzulässige Intervention, da ein jeder Gebietserwerb nicht ohne weiteres als Bedrohung der Vereinigten Staaten angesehen werden konnte. Unter ständiger Bemfung auf die Monroedoktrin haben die Vereinigten Staaten seitdem sich oft in die Regelung der Angelegenheiten europäischer und anderer amerikanischer Staaten eingemischt, mit der größten Entschiedenheit in den britisch-venezolanischen Grenzstreit 1895/96.

IV. Jnterventionsmittel. Das Jnterventionsbegehren wird auf diplomatischem Wege gestellt. Als Zwangsmittel dienen: die Besetzung fremden Staatsgebiets und die Friedensblockade (§ 56.) Wird aus Anlaß der Intervention gegen fremde Aufrührer Waffengewalt angewendet, so ist dies kein Krieg im völkerrechtlichen Sinne: Einschreiten der europäischen Mächte gegen die chinesischen Boxer 1900.

Völkerrecht.

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B. Der Krieg.

I. Krieg und Kriegsrecht im allgemeinen. § 58. 1. Begriff des Krieges. Abkommen 3—13 der zweiten Haager Friedenskonferenz vom 18. Oktober 1907 (nur zum Teil ratifiziert) — Londoner Erklärung über das Seekriegsrecht vom 26. Februar 1909 (noch nicht ratifiziert). Literatur. Vgl. vor § 54. Kant: Entwurf zum ewigen Frieden, 1795; Lafson: Das Kulturideal und der Krieg (2), Berlin 1906; Steinmetz: Die Philosophie des Krieges, Leipzig 1907; Schücking: Die Organisation der Welt (Festgabe für Laband), Tübingen 1908; v. Stengel: Wellstaat und Friedensproblem, Berlin 1909; Rapisardi-Mirabelli: II significato della guerra nella scienza del diritto internazionale, Rom 1910; ZVölkR. 4 129; Rivista 5 47; Die Friedens­ warte, Berlin-Leipzig 1899 ff. — Boidin: Les lois de la guerre et les deux Conferences de la Haye, Paris 1908; Endres: Die völkerrechtlichen Grundsätze der Kriegführung zu Lande und zur See, Berlin 1909; Holland: Letters to „The Times“ upon war and neutrality, London 1909. — Kriegs­ gebrauch im Landkriege, kriegsgeschichtliche Einzelschriften, herausgegeben vom Großen General­ stab, Berlin 1902; Merignhac: Les lois et coutumes de la guerre sur terre, Paris 1903; Albert Zorn: Das Kriegsrecht zu Lande, Berlin 1906; Holland: The laws of war on land, Oxford 1908; Spaight: War rights on land, London 1911; Rev. 2 643, 3 282. — Perels: Das internationale öffentliche Seerecht (2), Berlin 1903; Philipp Zorn: Die Fortschritte des Seekriegsrechts durch die zweite Haager Friedenskonferenz (Festgabe für Laband), Tübingen 1908; Dupuis: Le droit de la guerre maritime d’apres les Conferences de la Haye et de Londres, Paris 1911. — Ariga: La guerre sino-japonaise, Paris 1896; Takahashi: Gases on international law during the chino-japanese war, Cambridge 1899. — Lawrence: War and neutrality in the far east (2), London 1904; Hershey: The international law and diplomacy of the russo-japanese war, New Nork 1906; Ariga: La guerre russo-japonaise au point de vue Continental et le droit international, Paris 1908; Takahashi: International law applied to the russo-japanese war, London 1908; Leroux: Le droit international pendant la guerre maritime russo-japonaise, Paris 1911. Krieg ist der von Staaten mit Waffengewalt geführte Kampf. Im Gegensatz zu Re­ pressalien und nichtkriegerischer Intervention setzt er die tätige Mitwirkung mindestens zweier Staaten voraus. Der Krieg ist ein Mittel der Selbsthilfe zur Durchsetzung von Rechten und Interessen der Staaten (§ 54). Sein Ziel ist die Beugung des gegnerischen Willens zur Anerkennung bzw. Befriedigung der diesseitigen Ansprüche. Es gibt keine völkerrechtlichen Kriegsursachen, keine Regeln darüber, wann Krieg geführt werden, wann er nicht geführt werden dürfe. Führt ein Staat Krieg, so greift er nicht nur den Gegner an, sondem setzt auch sein eigenes Selbst voll und ganz ein, verzichtet er auf den völkerrechtlichen Schutz für seine eigene Person. Das steht ihm frei. Krieg ist deshalb vorhanden, sobald fähige Staaten mit Waffengewalt kämpfen. Dieser Kampf wird durch die Normen des Kriegsrechts geregelt.

§ 59. 2. Die Fähigkeit zur Kriegführung, Kriegsparteien. Literatur. Wiesse: Le droit international applique aux guerres civiles, Lausanne 1898; Rougier: Les guerres civiles et le droit des gens, Paris 1903; Rev. Gen. 3 277,13 136, 16 99, 18 666, 19 344. I. Im Mittelalter war das Fehderecht des einzelnen Menschen grundsätzlich anerkannt; nur die Ausübung war vielfach an besondere Voraussetzungen geknüpft. Der modeme Staat hat seinen Untertanen die bewaffnete Selbsthilfe untersagt; er schützt ihre Rechte. Die Fähig­ keit zur Kriegführung haben nur Staaten, die souveränen unbedingt als vollkommen rechtsund handlungsfähige Personen. Nichtsouveränen Staaten (§ 6 II) geht diese Fähigkeit dagegen ab, weil sie keine völkerrechtlichen Subjekte sind, der Krieg aber nach modemer Auffassung eine völkerrechtliche Handlung ist. Der Sezessionskrieg der Südstaaten gegen die Zentralgewalt und die Nordstaaten innerhalb der nordamerikanischen Union (1861—1865) war deshalb kein Krieg im völkerrechtlichen Sinne, sondem ein Bürgerkrieg (vgl. zu III). Die Fähigkeit halb­ souveräner Staaten zur Kriegfühmng richtet sich nach den besonderen Bestimmungen über die Rechts- und Handlungsfähigkeit des halbsouveränen im einzelnen Fall.

Paul Heilborn.

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II. Privatpersonen können keine Kriege führen. Zur Verfolgung ihrer Ansprüche sind sie aus den Rechtsweg und auf den Schutz ihres Heimatstaats angewiesen. Anwendung von Waffengewalt gegen einen fremden Staat — mag sie berechtigten eigenen Interessen oder idealen poliüschen Bestrebungen dienen — ist ihnen verboten und wird vom angegriffenen, eventuell auch vom Heimatstaat als Verbrechen bestraft: Major Schill 1809, Garibaldis Expedi­ tion nach Sizilien 1860. Den gleichen Charakter hat die gewaltsame Auflehnung von Unter­ tanen gegen die eigene Staatsgewalt. Der Bürgerkrieg ist kein Krieg. Weder sind die Auf­ rührer als Kombattanten (§§ 63,65) zu behandeln, noch kommt im Verhältnis zu dritten Staaten das Neutralitätsrecht zur Anwendung. Die Niederwerfung des Aufstands ist innere Staats­ angelegenheit. III. Die Behandlung eines Bürgerkriegs als innere Staatsangelegenheit ist nicht immer möglich, wenn die Rechte und Interessen dritter Staaten durch ihn emsthast in Mitleidenschaft gezogen werden. Mehrfach haben unbeteiligte Mächte deshalb die Aufständischen als krieg­ führende Partei anerkannt und sich selbst für neutral erklärt. Diese Anerkennung der Aufständischen ist nicht an eine Einwilligung der angegriffenen Regiemng, wohl aber an folgende Bedingungen geknüpft:

A. Die Aufständischen müssen ein bestimmtes Gebiet wirllich besitzen, auf ihm die Herr­ schaft vermittelst einer organisierten Regiemng ausüben und von dort aus den Krieg gegen die angegriffene Regiemng führen, so daß der Bürgerkrieg von dem zweier Staaten sich tat­ sächlich nur durch den Namen unterscheidet. B. Der fremde Staat muß ein rechlliches Interesse an der Anerkennung der Auf­ ständischen als kriegführende Partei haben. Ein rechtliches Interesse kann nur der Staat haben, welcher durch seine Untertanen unmittelbaren Verkehr mit dem Gebiet der Aufständischen unterhält: die angegriffene Regiemng ist nicht imstande, diesen Verkehr zu schützen, und lehnt — unter Berufung auf den Notstand — gern jede Verantwortung für Übergriffe ab. Der fremde Staat hat das Interesse, für die Taten der aufständischen Truppen irgend jemand verantworllich machen zu können. Die stets mit einer Neutralitätserllämng verbundene Anerkennung der Aufständischen als kriegführende Partei spricht weder die Rechtmäßigkeit der Erhebung noch die Anerkennung eines neuen Staats aus. Durch sie erlangen die Aufständischen dem Anerkennenden gegen­ über für die Dauer des Kampfes lediglich die rechtliche Stellung, welche ein Staat in seiner Eigenschaft als Kriegspartei hat. Ihr Verhältnis zur angegriffenen Regiemng wiü> nicht ge­ ändert; diese sieht sie nach wie vor als Rebellen an. Die Anerkennung hat ferner zur Folge, daß auch die angegriffene Regiemng dem anerkennenden Staat gegenüber die Rechte einer Kriegspartei ausüben darf. Das Neutralitätsrecht kommt demnach zur Anwendung. Ins­ besondere können neutrale Handelsschiffe auf hoher See angehalten und wegen Blockadebmchs oder Zufühmng von Kriegskonterbande (§§ 73, 74) weggenommen werden. Durch die An­ erkennung der Aufständischen als kriegführende Partei wird endlich die angegriffene Regiemng von jeder Verantwortung für die Handlungen jener frei. Dafür kann der anerfennenbe Staat sich an die aufständische Regiemng selbst halten.

§ 60.

3. Die Neutralität.

Literatur. Hautefeuille: Des droits et des devoirs des nations neutres en temps de guerre maritime (3), 4 Bde., Paris 1868; Ortolan: Rtigles internationales et diplomatie de la mer (4), Paris 1864; Geßner: Le droit des neutres sur mer (2), Berlin 1876 Kleen: Lois et usages de la neutrality, 2 Bde. Paris 1898/1900; Schweizer: Geschichte der schweizerischen Neutralität, 2 Bde., Frauenfeld 1895; Hill: The Conception and realization of neutrality, Bi m 1902; Schöpfer: Le principe juridique de la neutrality et son Evolution dans l’histoire du diu t de la guerre, Lausanne 1904; Berraes: Les lois de la guerre et la neutrality, 2 Bde., Brüssel 1906; Ottolenghi: II rapporto di neutralitä, Turin 1907; Huber: Das Neutralitätsrecht in seiner neuesten Gestaltung (Festgabe der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät Zürich für den Schweizer Juristenverein), Zürich 1908; Wicker: Neutralization, Oxford 1911; Baldassari: La neutralizzazione, Rom 1912; Descamps: L’fitat neutre ä, titre permanent, Paris 1912; Rev. 39 253; Rev. Gyn. 12 577, 13 92, 14 517.

Völkerrecht.

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I. Im Altertum und Mittelalter kannte der Kriegführende nur Freunde und Feinde. Mmählich setzte sich in neuerer Zeit der Gedanke durch, daß die am Kriege nicht teilnehmenden Staaten weder das eine noch das andere sind. Gmndsätzlich berührt sie der Krieg nicht. Der kriegerischen Operationen halber ist aber eine Fortsetzung ihres friMichen Verkehrs mit beiden Kriegführenden nicht vollständig durchzuführen. Die Interessengegensätze der kriegführenden und der unbeteiligten Staaten haben im Lauf der Jahrhunderte eine gewisse Ausgleichung erfahren durch Ausbildung der Neutralität. Die Neutralität ist ein besonderes, obligatorisches Rechtsverhältnis zwischen jedem der kriegführenden und jedem der am Kriege nicht teilnehmenden, neutralen Staaten. Inhaltlich besteht es in wechselseitigen Ansprüchen auf Untertassung von Kriegführung nach Maßgabe der einzelnen, hierfür ausgebildeten Normen: der Neutrale muß sich jeder Handlung enthalten, welche nach Völkerrecht als Teilnahme am Kriege gilt, und der Kriegführende darf ihn in den Krieg nicht verwickeln, seine Operationen gegen ihn nicht richten. Mit Ausbruch eines Krieges treten die nicht teilnehmenden Staaten von Rechts wegen in das Verhältnis der Neutralität, ohne daß es einer besonderen Erklämng bedarf. Die Erfüllung der besonderen Neutralitätspflichten liegt ihnen aber erst ob, wenn sie den Beginn des Krieges erfahren haben (3 0 Haag. Abk. 2). Die Neutralität ist regelmäßig eine freiwillige. Ausnahmen finden statt: 1. wenn ein Staat die Neutralität für einen bestimmten Krieg im voraus zugesichert hat; 2. in den Fällen der ewigen Neutralität (vgl. zu III).

II. Arten der Neutralität gibt es nicht. Insbesondere wird die Leistung beschränkter Kriegshilfe nicht mehr als unvollständige Neutralität angesehen. Hat ein Staat sich im voraus dazu verpflichtet, so hat er keinen Anspruch auf Neuttalität: Durchmarsch englischer Truppen durch portugiesisches Gebiet im südafrikanischen Kriege. Die sog. wohlwollende Neutralität darf sich nur auf diplomaüschem Gebiet betätigen (v. Liszt). Von bewaffneter Neutralität spricht man, wenn ein Staat Truppen aufstellt, um seine Neutralität zu schützen. III. Die ewige Neutralität der Schweiz, Belgiens und Luxemburgs beruht auf Ver­ trägen dieser Staaten mit den interessierten anderen Mächten, insbesondere mit den Großmächten (§ 4 IV). In diesen Verträgen haben die ewig neutralen — neutralisierten — Staaten sich dauernd verpflichtet, weder einen Krieg zu beginnen noch an dem Kriege anderer Staaten teilzunehmen, es werde denn ihre Neutralität verletzt. Die anderen Vettragspatteien — die neutralisierenden Staaten — müssen sich ihrerseits jeder Kriegführung gegen den neutralisierten Staat dauernd enthalten. Unzulässig ist demnach die lll>ernahme von Verbindlichkeiten, welche eine Verpflichtung zur Kriegführung nach sich ziehen können, insbesondere die Eingehung eines Bündnisses und die llbemahme einer Garantie seitens des neutralisierten Staats oder die Eingehung eines Bündnisses gegen ihn. Die ewige Neutralität ist im allgemeinen Interesse eingeführt und regelmäßig auch von anderen als den neutralisierenden Mächten anerkannt worden: der schwache neutralisierte Staat soll nicht den Interessen eines mächtigen Nachbars dienstbar gemacht unb dadurch die Begehrlichkeit oder die Besorgnis der anderen Nachbam geweckt werden. Unzulässig ist deshalb femer der Eintritt des neutralisierten Staats in ein dauemdes Abhängigkeitsverhältnis zu einem anderen Staat. — Eine einseitige Aufkündigung der ewigen Neutmlität ist nach allgemeinen Gmndsätzen ausgeschlossen. Uber die Garantie vgl. § 47. Eine Beschränkung der Souveränität — der Rechts- und Geschäftsfähigkeit — ist in der ewigen Neutralität nicht zu erbliden. Die Verpflichtungen sind obligatorischer Natur. Die Neutmlisierung verfolgt den Zweck, die Unabhängigkeit des neutralisierten Staats ausrecht« zuerhaften. Er bleibt kriegsfähig; nur soll er einen Krieg nicht beginnen. Sobald seine Neu­ tralität verletzt oder bedwht wird, darf er auch Bündnisse zu deren Aufrechterhaltung schließen.

Urkunden. Für die Schweiz: Erllärung der Wiener Kongreßmächte vom 20. März 1815: Beitrittserklärung der Schweiz vom 27. Mai 1815; Anerkennung der Großmächte vom 20. November 1815. Für Belgien: Verträge vom 15. November 1831 Art. 7, 25 (Martens NR. 11 390) und vom 19. April 1839 Art. 7. Für Luxemburg: Vertrag vom 11. Mai 1867. Für den früheren Kongostaat: Art. 10 der Generalakte der Berliner Kongo-Konferenz vom 26. Februar 1885. Dazu Mitteilung des Kongostaats an die Mächte vom 1. August 1885 (Martens NRG. 2* S. 16 585; im übr. Fleischmann 22, 35, 78, 200).

Paul Heilborn.

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§ 61. 4. Das Kriegsfeld. Literatur.

Boeckner: Der Kriegsschauplatz, Berlin 1911; Rev. 44 569.

Kriegsfeld, Kriegsschauplatz, Kriegstheater ist derjenige Teil der Erde, auf welchem Krieg geführt wird. Krieg darf geführt werden: 1. auf dem Land-, Luft- und Wassergebiet der krieg­ führenden Staaten; 2. aus offenem Meer, denn es gehört niemand. Auf dem Land-, Luftund Wassergebiet der neutralen Staaten darf dagegen keine Kriegshandlung vorgenommen werden. — Das Kriegsfeld kann durch Vertrag beschränkt werden: 1. durch Übereinkommen der kriegführenden Staaten, daß der Krieg nur auf bestimmten Gebietsteilen geführt oder auf ihnen nicht geführt werden darf. Versailler Waffenstillstand vom 28. Januar 1871 Art. 1 Abs. 7 (Martens NRG. 10 Ser. 19 626). Vgl. Kongoakte vom 26. Febmar 1885 Art. 11 (Fleischmann 200);

2. durch dauernde Neutralisierung bestimmter Gebietsteile: die Vertragsparteien ver­ zichten ein für allemal darauf, militärische Operationen auf diesem Gebiet oder gegen dasselbe zu untemehmen; es ist so zu betrachten, als ob es einem neutralen Staat gehörte.

a) Chablais und Faucigny, Wiener Kongreßakte v. 9. Juni 1815 Art. 92; b) das Schwarze Meer, Pariser Kongreßakte v. 30. März 1856 Art. 11, Londoner Vertrag v. 13. März 1871 Art. 1; c) die von der europäischen Donaukommission an der unteren Donau geschaffenen, die von der nicht ins Leben getretenen Kongokommission am Kongo zu schaffenden Werke und Anlagen, Schisffahrtsakte für die Donaumündungen v. 2. Nov. 1865 Art. 21, zit. Londoner Vertrag Art. 7, Kongo­ akte Art. 25; d) der Suezkanal, Konstantinopeler Vertrag v. 29. Okt. 1888; e) der Panamakanal, Vertrag v. 18. Nov. 1901 (Fleischmann 14, 52, 93, 75, 205, 220, 321); f) Korfu und Paxo, Vertrag v. 29. März 1864 Art. 2; g) Magalhaesstraße, Vertrag v. 23. Juli 1881 Art. 5 (Martens NRG. 1 • Ser. 18 63, 2 • Ser. 12 491).

§ 62. II. Beginn des Krieges. Literatur. Maurel: La dticlaration de guerre, Paris 1907; Gregory: Interest on debta where intercourse between debtor and creditor is forbidden by a state of war, London 1909; Soughimoura: La dßclaration de guerre, Paris 1912; Rev. 17 19, 37 517; Rev. G6n. 13 725, 14 302; Rivista 1 185. I. Eine Ansage des Krieges vor Eröffnung der Feindseligkeiten, Kriegserklämng im technischen Sinne — bedingt in Form des Ultimatums — wurde in manchen Jahrhunderten für erforderlich erachtet, bildete auch in neuerer Zeit die Regel, galt aber nicht als unerläßlich. Die Absicht, mit dem anderen Staat Krieg führen zu wollen, konnte auch durch Eröffnung der Feindseligkeiten kundgegeben werden: Einmarsch Friedrichs des Gwßen in Sachsen 1756, eng­ lische Praxis. Das Haager Abkommen über den Beginn der Feindseligkeiten schreibt eine vorausgehende, unzweideutige Benachrichtigung in Form einer motivierten oder einer be­ dingten Kriegserklämng vor.

II. Sobald die Kriegserklämng überreicht bzw. unbedingt geworden ist, treten die eigen­ tümlichen Normen des Kriegsrechts für das Verhältnis der kriegführenden Staaten in Kraft; durch sie werden die mit ihnen unvereinbaren Normen des Friedensrechts, — aber auch nur sie, — für die Dauer des Krieges außer Anwendung gesetzt. — Das Neutralitätsrecht erlangt Geltung, sobald die neutralen Staaten vom Kriegszustand Kenntnis gewonnen haben (vgl. § 60).

III. Der Beginn des Krieges zieht regelmäßig eine Reihe landesrechtlicher Maßnahmen nach sich: Rückbemfung der Untertanen, Beschränkungen der Auswandemngsfreiheit, des Handels mit dem feindlichen Land, Ausfuhrverbote. Letztere können auch den Handel mit neutralen Staaten treffen und sind trotz der Vertragsbeziehungen mit Rücksicht auf den Not­ stand (§ 51 III) statthaft. IV. Im Verhältnis der kriegführenden Staaten untereinander hört der diplomatische und meist auch der konsulare Verkehr auf. Aber nicht alle Rechtsbeziehungen erlöschen. Ins­ besondere werden die Untertanen des Feindes nicht rechtlos. Sie werden dem Schutz eines befreundeten Staats unterstellt (§ 48). Ihre Person und ihre Rechte sind nach wie vor zu schützen. Ihre Ausweisung gilt als zulässig (Frankreich 1870, Türkei 1897, 1912). Sofem

Völkerrecht.

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sie am Kriege nicht teilnehmen, sind sie aber keine Feinde im technischen Sinne. Anders die englisch-amerikanische Auffassung. Die Haager Landkriegsordnung Art. 23 h verbietet aber ausdrücklich „die Aufhebung oder zeitweilige Außerkraftsetzung der Rechte und Fordemngen von Angehörigen der Gegenpartei oder die Ausschließung ihrer Klagbarkeit" *1. Soweit das Privateigentum der Wegnahme unterworfen ist, beginnt die Befugnis hierzu erst mit dem Eintritt des Kriegsrechts. Seit dem Krimkrieg werden indessen den feindlichen Kauffahrteischiffen regelmäßig einige Wochen Frist gewährt, um sich in Sicherheit zu bringen. Das 6° Haager Abkommen verbietet die Einziehung eines feindlichen Kauffahrteischiffs, welches sich bei Beginn des Krieges in einem Hafen des Gegners befindet, gestattet aber die Beschlag­ nahme ohne, die Anforderung gegen Entschädigung. Ein feindliches Kauffahrteischiff, welches den letzten Abfahrtshafen vor Beginn des Krieges verlassen hat und in Unkenntnis der Feind­ seligkeiten auf See betroffen wird, soll entweder gleicher Behandlung unterliegen oder gegen Entschädigung zerstört werden dürfen. Letztere Entschädigungspflicht wurde deutscherseits nicht anerkannt, weil Beschlagnahme oder Anforderung nur den Staaten zugute kommen könne, welche in allen Teilen der Welt Stützpunkte zur Unterbringung der Schiffe haben. Unter das Abkommen fallen nicht Schiffe, deren Bau ersehen läßt, daß sie zur Umwandlung in Kriegs­ schiffe bestimmt sind. Für die feindliche Ware auf dem Schiff gelten die nämlichen Regeln wie für das Schiff selbst. — Zum Zweck der Geheimhaltung von Nachrichten ist die vorübergehende Zurückhaltung feindlicher und neutraler Schiffe im Hafen statthaft: anet de prince oder polizei­ liches Embargo, den Neutralen gegenüber aus dem Gesichtspunkte des Notstands zu rechtferttgen. Der Einfluß des Krieges auf obligatorische Verbindlichkeiten, insbesondere auf solche aus Verträgen, wurde § 45 IV a besprochen.

III. Die Kriegführung.

§ 63. 1. Aktiver und passiver Krieg stand. Literatur. Lieber: Guerrilla parties, Neuyork 1862; Ärenander: Sur les conditions, n6cessaires seien le droit des gens, pour avoir en guerre le droit d’etre considere et traite comme soldat, Paris 1882; Catellani: Condizioni ed effetti giuridici dello stato di guerra, Venedig 1906; Higgins: War and the private citizen, London 1912; Wilms: Die Umwandlung von Kauffahrtei­ schiffen in Kriegsschiffe, Tübingen 1912; ZVölkR. 6 19; Rivista 1 525. I. Kriegführende Personen sind die Staaten. Ihre Organe zur Kriegführung sind die Truppen. Die Untertanen als solche sind keine Feinde mehr, wenn sie nicht zum Heer gehören. A. Die Angehörigen des Heeres haben aktiven Kriegstand. Sie sind dazu berufen, den Widerstand des Gegners mit den im Krieg zulässigen Mtteln zu brechen; sie sind aber auch dem kriegerischen Angriff ausgesetzt. Man unterscheidet: 1. die Kombattanten; sie haben persönlich zu kämpfen;

2. die Nicht-Kombattanten; sie gehören zum Heer, haben aber nicht zu kämpfen, sondern lediglich den Verwaltungs-, Gerichtsdienst usw. zu versehen: Intendantur-, Gerichts- und Sanitätspersonal, Feldgeistliche. Zu den Nicht-Kombattanten gehören ferner die dienstlich beim Heer weilenden Zivilbeamten: Minister des Auswärtigen, Post- und Telegraphenbeamte. Gleichgestellt werden die zum Heer zugelassenen Armeelieferanten, Marketender und Zeitungs­ korrespondenten (Landkriegsordnung 13). Weil sie selbst nicht kämpfen, dürfen die NichtKombattanten absichtlich weder getötet noch verwundet werden. Weil sie aber zum Heer gehören und einen Bestandteil der zum Schaden des Feindes aufgestellten Kriegsmacht ihres Staats bilden, sind sie der Kriegsgefangenschaft ausgesetzt (ibid. 3). Nur die Feldgeistlichen und das Sanitätspersonal sind nach der Genfer Konventton und dem an sie sich anschließenden Haager Abkommen hiewon befreit (§ 65 III).

1 Über den Versuch, die englische Praxis diesem klaren Wortlaut gegenüber aufrecht zu erhalten vgl. Oppenheim: Die Zukunft des Völkerrechts (Festschrift für Binding 1), 1911; Z. VölkR. 1 353, 5 384, 6 213; Böhms Z. 23 21, 118; Rev. 45 197; Rev. Gen. 18 249, 19 120. Enzyklopädie der Rechtswissenschaft. 7. der Neubearb. 2. Aufs. Band V. 36

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B. Die nicht zum Heer gehörige Bevölkemng des feindlichen Landes hat passiven Krieg­ stand: sie ist nicht dazu bemsen, dem Feinde Widerstand entgegenzusetzen, und sie darf es nicht; sie muß sich friedlich vechalten. Well sie keinen Widerstand leistet, darf sie vom Feinde auch nicht angegriffen roetben. Sie muß aber die mit dem Krieg untrennbar verknüpften Lasten tragen: Einquartierung, Requisitionen und Kontributionen, Verwüstung der Felder und Häuser in der Schlacht. II. Als kriegführende Personen können allein die Staaten Organe zur Kriegfühmng bestellen. Nur durch staallichen Auftrag wird der einzelne Mensch legitimer Kombattant, d. h. zur Bomahme von Kriegshandlungen ermächtigt. Dieser Auftrag kann ihm individuell oder allgemein, z. B. durch Berufung bestimmter Bevölkemngsllassen, — er kann auch Ausländem erteilt werden. Einzelne Staaten verbieten ihren Untertanen den Eintritt in die Armee einer fremden, kriegführenden Macht; vgl. die britische foreign enlistment act 1870 § 4. Zum Nach­ weis des staallichen Auftrags muß der einzelne Kombattant Uniform oder doch ein bestimmtes, aus der Feme erkennbares Abzeichen trogen. Hieran erkennt der Gegner, daß er einen Feind vor sich hat, den er bekämpfen darf, von dem er angegriffen werden darf. Zu den legitimen Kombattanten gehören demnach alle Angehörigen der regulären Armee, der festen taktischen Verbände des Staats, ohne Unterschied zwischen Land- und Seestreitkräften. Auch die irregu­ lären Truppen — Miltzen, Freiwilligenkorps, Besatzung von Kaperschiffen — können legitime Kombattanten sein. Für Milizen und Freiwilligenkorps im Landkrieg erfotbert Landkriegsoibnung 1:1. daß jemand an ihrer Spitze steht, der für seine Untergebenen verantwortlich ist; 2. daß sie ein bestimmtes, aus der Feme erkennbares Wzeichen tragen; 3. daß sie die Waffen offen führen und 4. bei ihren Unternehmungen die Kriegsgesetze und -gebräuche beobachten. Kaperschiffe waren von Privatpersonen zum Seekrieg ausgerüstete Schiffe. Die staat­ liche Ermächtigung wurde tn dem für etne bestimmte Person ausgestellten Kaperbries erteilt. Die Kaperei wurde für Privatrechnung, d. h. in Bereichemngsabsicht betrieben und „artete nicht selten in wirtlichen Seeraub aus; Übergriffe, unrechtmäßige Plünderungen sind stets an der Tagesordnung gewesen" (Perels). Die von der nordamerikanischen Union allerdings noch nicht angenommene Pariser Äerechtsdellaration vom 16. April 1856 hat deshalb die Kaperei

verboten. Bon einer Ausnutzung der brauchbaren Kauffahrteischiffe zu Kriegszwecken wollten die Staaten dämm aber nicht Wstand nehmen. Das 7® Haager Abkommen gestattet die UmWandlung eines Kauffahrteischiffs in ein Kriegsschiff, sucht aber — namentlich im Interesse der Neutralen — Garantien gegen einen Mckfall in die Kaperei zu schaffen: Einreihung in die Kriegsmarine, militärische Disziplin, Unterstellung unter direkten Befehl und Verantwortlichkeit der Kriegsmacht usw. Über die Zulässigkeit der Umwandlung auf offenem Mer wurde keine Einigung erzielt: die „Smolensk" und „Petersburg" im ostasiatischen Kriege. Für die Handlungen der von ihm zur Kriegfühmng ermächtigten Personen ist der Staat verantwortlich (Landkriegsabkommen 3).

III. Für den Fall der Mssenerhebung bestimmt Landkriegsordnung 2: „Die Bevöllemng eines nicht besetzten Gebiets, die beim H e r a n n a h e n des Feindes aus eigenem Antrieb zu den Waffen greift, um die eindringenden Truppen zu bekämpfen, ohne Zeit gehabt zu haben, sich nach Art. 1 zu organisieren, wird als kriegführend betrachtet, wenn sie die Waffen offen führt und die Gesetze und Gebräuche des Krieges beobachtet". Staatlicher Auftrag ist hier also nicht erforderlich. In den vom Feind bereits besetzten Gebieten ist die Massenerhebung verboten.

2. Die Krieg smittel. § 64.

a) Im allgemeinen.

Literatur. Oppenheim: Die Zukunft des Völkerrechts a. a. O. 194/5; Cybichowski: Studien zum internationalen Recht, Berlin 1912; vgl. zu § 51. Kriegsmittel sind die Maßnahmen zur Besiegung des Gegners, speziell die zur Über­ windung seiner Widerstandskräfte — seiner Angriffs- und Verteidigungsmittel — dienenden Maßnahmen (Lueder). Als solche Kriegsmittel kommen Gewalt und List in Betracht. Die Kriegführenden dürfen sie anwenden, soweit nicht ein besonderes Verbot entgegensteht; sie

Völkerrecht.

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haben „kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mttel zur Schädigung des Feindes" (Landkriegsoümung 22). In der Aufstellung von Schranken für die Anwendung von Gewalt und List wich mit Recht das wirksamste Mttel zur Humanisiemng des Krieges echlickt. Die leitenden Gesichtspunkte sind: 1. die Gewalt ist erlaubt, soweit sie zur Erreichung des Kriegszwecks notwendig ist. Jede hierzu nicht erforderliche Gewalttat ist vechoten. Wo die Widerstandskraft gebrochen ist, erscheint die nachfolgende Vemichtung als überflüssige und deshalb unzulässige Grausamkeit. Hiernach sind zwar die furchtbarsten Maffentötungen erlaubt, dagegen ist die Wahl einer besonders qual­ vollen Todesart vechoten, wenn der Zweck auf anderem Wege erreicht roetben kann. Durch den Kriegszweck nicht geboten und deshalb grundsätzlich vechoten ist die Gewalt gegen die fried­ liche Bevölkemng des feindlichen Landes und — wenigstens im Landkrieg — gegen ihr Privat­ eigentum.

2. „Kriegslisten und die Anwendung der notwendigen Mttel, um sich Nachrichten über den Gegner und das Gelände zu verschaffen, sind erlaubt" (Landkriegsordnung 24). Vechoten ist jeder Mßbrauch der Formen und Zeichen, welchen nach Kriegsrecht eine besondere Bedeutung zukommt: Mißbrauch der feindlichen Uniform oder Abzeichen, der Parlamentärsahne, des roten Kreuzes (ibid. 23 k). Unettaubt ist ferner der Bruch eines mit dem Gegner geschloffenen Vertrages. Auch dem Feinde gegenüber kommt das Repreffalienrecht zur Geltung. Biele Kriegs­ rechtsregeln behalten ein Notrecht besonders vor. Den formulierten Satzungen gegenüber sollte im übrigen die Berufung auf den Notstand ausgeschlossen »erben: gewisse Handlungen sind schlechthin verboten. A 65.

b) Kriegsmittel gegen feindliche Personen.

Literatur. Adler: Die Spionage, Marburg 1906; Liepmann: Der Kieler Hasen im Seekrieg, Berlin 1906; Roch oll: Die Frage der Minen im Seekrieg, Marburg 1910; du Pagart: Le prisonnier de gaerre dans la gaerre continentale, Paris 1910; Phllit: La gaerre airienne, Montpellier 1910; Probst: Die Kriegsgefangenen nach modernem Böllerrecht, Diss. Greifswald 1911; BöhmSZ. 16 121; Rev. 32 151, 36 445, 38 567, 706, 39 211, 299; Rev. Gin. 6 297, 14 197, 17 630.

I. Die Kombattanten (Landkriegsordnung 23 a—e). Als Organe des Gegners zur Kriegführung sind die feindlichen Kombattanten dem Angriff ausgesetzt. Sie dürfen kampf­ unfähig gemacht werden. Das hierzu Notwendige ist erlaubt, mehr ober nicht. Wer durch Gefangennahme kampfunfähig gemacht ist oder sich fteiwillig ergibt, darf deshalb nicht mehr verwundet oder getötet werden. Ebenso ist die absichtliche Tötung des durch eine Verwundung kampfunfähig Gewogenen unerlaubt. Unzulässig ist demnach die Erklämng, daß kein Packon gegeben werde. Verboten ist die Anwendung von Mtteln, welche den Tod oder qualvolle Leiden des einzelnen notwendig hettieiführen, obgleich die Verwundung genügt, um ihn kamps­ unfähig zu machen: Gift oder vergiftete Waffen, das Schießen mit Glas, gehacktem Blei, Sprenggeschoffe und mit entzündlichen oder brennbaren Stoffen gefüllte Geschosse von weniger als 400 g Gewicht (Petersburger Deklaration vom 11. Dezember 1868, Fleischmann 88). Vgl. ferner die zweite und dritte „Erklärung" der Mächte auf der ersten Haager Konferenz (ibid. 318). Verboten ist weiter die meuchlerische Tötung und Verwundung. Erlaubt ist dagegen die Ver­ wendung von Granaten und Shrapnels, das Jn-die-Luft-Sprengen ganzer Schiffe und Truppen­ körper. Nicht im Jntereffe der feindlichen Stteitkräfte, sondem wegen der Gefahr für die fried­ liche, insbesondere für die neutrale Schiffahrt unterliegt die Verwendung unterseeischer Minen gewissen Einschränkungen. Abhängige Minen, welche vom Ufer aus durch Zündleitungen zur Explosion gebracht roetben, behält die Macht, welche sie legt, durchaus in der Hand. Anders die selbsttättgen Kontaktminen, welche keine Verbindung mit dem Lande haben und sich durch bloße Berühmng mit einem Schiffskörper entladen. Das 8° Haager Abkommen gestattet ihre Verwendung nur bei Beobachtung bestimmter Vorsichtsmaßregeln; indeffen ist deren Wirk­ samkeit pwblemattsch. Der Gefahr einer Blockade durch Mnen statt durch Streitkräfte ist nicht hinreichend vorgebeugt. Die Zuläffigkeit von Treibminen überhaupt sowie von Kontaktminen 36*

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Paul Heilborn.

auf offenem Meer kann um so weniger als endgültig anerkannt betrachtet weiden, als das Abkommen mit Rücksicht auf die Unfertigkeit der Materie nur auf sieben Jahre in Kraft gesetzt ist. Der ostasiatische Krieg hat die große Blutung der Frage gezeigt.

IL Die Kriegsgefangenschaft (Landkriegsordnung Sicherungsmaßregel zur Schwächung der feindlichen Streitkräfte.

4/20).

Sie

ist eine

A. Gewisse Personen müssen eventuell zu Gefangenen gemacht, d. h. sie dürfen keiner härteren Behandlung unterzog«» werden, wenn sie in Feindesgewalt geraten: das Oberhaupt des feindlichen Staats, die Kombattanten, die Nicht-Kombattanten und die ihnen gleichgestellten Personen (§ 6312) mit Ausnahme der Feldgeistlichen und des Sanitätspersonals (vgl. unten III). Zu Kriegsgefangenen dürfen ferner gemacht weiden:

1. die Mannschaften an Bold der genommenen feiMichen Kauffahrteischiffe, sofern sie Untertanen des feiMichen Staats oder Offiziere sind. Über Enllassung auf Ehrenwort (vgl. zu 6) 11° Haager Abkommen 5/8.;

2. Zivilbeamte des feindlichen Staats, sofem sie eine die Kriegfühmng unterstützende Tätigkeit entfalten, auch wenn sie sich nicht beim Heer aufhalten; 3. Privatpersonen nur zum Zweck der Gehennhaltung von Operationen und Nachrichten und nur so lange, als dieser Zweck es erfordert. Zu Kriegsgefangenen werden nicht gemacht, sondem strafrechllich verfolgt:

1. Freibeuter und Marodeure. Freibeuter sind Personen, welche Kriegshandlungen vornehmen, ohne zu den legitimen Kombattanten zu gehören. 2. Spione (Landkriegsordnung 29/31). B. Die Kriegsgefangenen unterstehen der Staatsgewalt des feindlichen Staats und den Gesetzen, Vorschriften und Befehlen, die in dessen Heer gelten. Sie werden an einem ihm genehmen Ott interniert mit der Verpflichtung, sich nicht über eine bestimmte Grenze hinaus zu entfernen. Eine Einschließung ist nur zMssig, wenn düngende Rücksichten der Sicherheit sie gebieten. Die Flucht kann mit Gewalt gehindert, aber nur disziplinarisch, nicht geüchllich bestraft werden; auch die disziplinaüsche Bestrafung ist nur zMssig, wenn der Entwichene er­ griffen wird, bevor er seine Truppen wieder erreicht oder das von den ihm feiMichen Truppen besetzte Gebiet veüassen hat. Die persönliche Rechts- und Geschäftsfähigkeit des Kriegsgefangenen erleidet keine Mnderung. Alles, was ihm persönlich gehört, verbleibt sein Eigentum, ausgenommen Waffen, fßfetbe und Schriftstücke militärischen Inhalts. Der Unterhalt liegt dem Staat ob, in taffen Gewalt der Gefangene sich befindet. Er kann aber Unteroffiziere und Gemeine zu Acheiten verwenden, welche in keiner Beziehung zu den Kriegsuntemehmungen stehen. In diesem Fall sind die Unterhaltskosten von dem Ver­ dienst in Wzug zu bringen. Gleiches gilt, wenn die Gefangenen für andere Verwaltungen oder für Privatpersonen Arbeiten verrichten.

C. Nach Beendigung des Krieges sind die Gefangenen alsbald zu entioffen; die strafgerichtlich Verfolgten können bis zur Beendigung des Verfahrens bzw. der Sttafvollstreckung zurückbehalten weiden. Während des Krieges werden Gefangene häufig auf Ehrenwott ent­ lassen. Sie dürfen dann gegen den Staat, der sie auf Ehrenwott entlassen hat, und gegen taffen Vettckntate in diesem Kriege die Waffen nicht wieder tragen. Die Ubemahme dieser Ver­ pflichtung kann nicht gefotbert werben. Die Freilassung auf Ehrenwott soll auch nur geschehen, wenn die Gesetze des Staats, dem der fteizulassende Kombattant angehött, die Ubemahme der Verpflichtung gestatten. Wer der übernommenen Verpflichtung zuwiderhandelt, verliert für den Fall, daß er wieder ergriffen wird, das Recht auf Behandlung als Kriegsgefangener und kann bestraft werden. III. Der Schutz der Verwundeten und Kranken. Genfer Konvention v. 22. August 1864, neue Fassung v. 6. Juli 1906; Materialien bei Mattens N RG. 3 S. 2 323—653. — 10 • Haager Abkommen. — Haager Abkommen v. 21. Dez. 1904 über die Lazarettschiffe. — Lueder: Die Genfer Konvention, Erlangen 1876; Meurer: Die Genfer Konvention und ihre Reform, München 1906; Fauchille u. Politis: Manuel de la CroixRouge, Paris 1908; ZBölkR. 1 521; Rev. G6n. 6 291, 13 629, 19 229.

Völkerrecht.

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A. Jede Kriegspartei ist verpflichtet, die Verwundeten und Kranken des Feindes ebenso wie die eigenen zu schützen, aufzunehmen und zu versorgen; gleiches gilt für die Schiffbrüchigen. Die so in Feindesgewalt geratenen Personen sind Kriegsgefangene. Im Seekrieg hat der Krieg­ führende mit Rücksicht auf den Raummangel und die Schwierigkeit der Pflege die Wahl, ob er die von ihm gefangengenommenen Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen feschalten, nach einem eigenen, neutralen oder selbst feindlichen Hafen befördern ttriö. In letzterem Fall dürfen die so in ihre Heimat entlassenen Kriegsgefangenen während der Dauer des Krieges nicht mehr dienen.

B. Der Aufnahme und Verpflegung dienen zu Lande die beweglichen Sanitätsformationen und die stehenden Anstallen des Sanitätsdienstes; sie sind zu achten und zu schützen, d. h. nicht zu beschädigen und in ihrer Zweckbestimmung zu «halten. Unbeschadet dieser Pflicht kann sich der (Segnet die Ausrüstung der stehenden Anstalten aneignen, während er die der beweglichen nur vorübergehend benutzen darf. Die Räumungstransporte sind letzteren gleichgestatt. Lazarettschiffe müssen von einem der kriegführenden Staaten oder mit staallichem Auftrag bzw. unter staallicher Aussicht ausgerüstet sein. Den amllichen Auftrag kann auch ein neutraler Staat erteilen. Der Name des Schiffs ist den Kriegführenden vor der Verwendung als Lazarett­ schiff anzumelden. Lazarettschiffe dürfen nicht zu militärischen Zwecken benutzt wecken; sie dürfen die Bewegungen der Kriegsschiffe nicht hindern; die Kriegsparteien haben ein Aufsichts­ und Durchsuchungsrecht über sie. Die Lazarettschiffe müssen den Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen beider Teile ohne Unterschied der Nationalität Beistand gewähren; dafür sind sie zu achten: sie dürfen nicht weggenommen wecken; wohl aber dürfen es die auf ihnen wie die auf Privatschiffen befindlichen Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen. Rehmen Privat­ schiffe Verwundete, Kranke oder Schiffbrüchige auf, so ist eine Wegnahme des Schiffs aus diesem Anlaß unstatthaft. C. Das geistliche, ärztliche und Lazarettpersonal ist unvettetzlich und darf nicht kriegs­ gefangen gemacht wecken. Gleichgestellt ist das Personal der anerkannten und zugelassenen freiwÄigen Hilfsgesellschaften. In Feindesgewalt hat das Personal seine Verrichtungen fort­ zusetzen; wenn seine Mitwirkung nicht mehr erfockettich ist, so ist es zu seinem eigenen Heer oder in die Heimat zurückzusenden; es darf sein Privateigentum mitnehmen.

D. Als Zeichen der Unvettetzlichkeit dient das rote Kreuz auf weißem Felde, welches nur mit Erlaubnis der zuständigen Militäckehöcke gefühtt wecken darf. Das Personal trägt eS als Binde um den Arm, Sanitätsformationen, Sanitätsanstalten und Lazarettschiffe führen es alS Fahne bzw. Flagge neben der Nationalfcchne bzw. -flagge. Lazarettschiffe müssen außeckem durch einen bestimmten Anstrich kennttich sein. IV. Die Parlamentäre. Landkriegsordnung 32/4. — Parlamentär ist der durch eine weiße Fahne kennlliche, zu Unterhandlungen mit dem Gegner abgesandte Bevollmächtigte einer Kriegspartei. Der Parlamentär ist unvettetzlich nach dem Grundsatz ne im* pediatur legatio, ebenso der ihn begleitende Spielmann, Fahnenträger und Dolmetscher. Eine Verpflichtung zum Empfang von Pattamentären besteht nicht. Der Gegner darf alle erfocker» lichen Maßregeln treffen, um den Pattamentär zu verhindern, seine Sendung zur Einziehung von Nachttchten zu benutzen; er ist berechttgt, bei vorkommendem Mißbrauch den Pattamentär zeitweilig zurüitzuhalten. Das Borrecht der Unvettetzlichkeit ettischt, wenn der bestimmte, unwidettegbare Beweis vottiegt, daß der Pattamentär seine bevorrechtigte Stellung dazu benutzt hat, um Verrat zu üben oder dazu anzustisten. — Im Seektteg erstreckt sich der Schutz der Pattamentäre auf die sie führenden Kartellboote.

8 66.

e) Krieg-mittel gegen feindliche Sachen.

I. Feindliche Plätze. Landkriegsocknung 25/8; 9° Haager Abkommen. Ort­ schaften wie einzelne Gebäude sind dem kttegettschen Angriff nur ausgesetzt, wenn sie zum Mderstand benutzt, d. h. verteidigt wecken oder dem Gegner beim Angriff als Deckung dienen.

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Angriffsmittel sind die Belagerung und die Beschießung. Den Fall eines Sturmangriffs aus­ genommen, soll die Beschießung der Ortsobrigkeit vorher angelündigt wecken, soweit dies in den Kräften des Belagerers steht. Der Beschießung sind nicht nur die Festungswerke ausgesetzt; nach Möglichkeit sollen aber geschont wecken die dem Gottesdienst, der Kunst, Mssenschast und Wohltätigkeit gewidmeten Gebäude, geschichlliche Denkmäler, Krankenhäuser und Sammelplätze für Verwundete und Kranke. Diese Gebäude und Sammelplätze sind durch besondere, sichtbare und dem BÄagerer vorher bekanntgegebeue Zeichen kenntlich zu machen. Der Schutz fällt weg, wenn jene Gebäude oder Sammelplätze gleichzeitig zu einem militärischen Zweck Ver­ wendung finden: Observatorium auf der Plattform des Straßburger Münsters 1870. Die Gestattung freien Abzugs für die Zivilbevölkerung kann vom Belagerer bewilligt, aber auch verweigert wecken. Ist die Ortschaft in die Gewalt des Belagerers gelangt, so dürfen die Festungswerke noch zerstört wecken, damit sie bei einer Wendung des Kriegsglücks nicht noch einmal als Widersdmdsmittel ausgenutzt wecken. Jede weitere Gewalttat gegen die Ortschaft ist aber veckoten, weil sie dem Kriegszweck nicht mehr dienen wücke. Insbesondere darf die Ortschaft, selbst wenn sie im Sturm genommen ist, der Plünderung nicht preisgegeben wecken. — Seestreitkräfte sollen eine Ortschaft nicht aus dem Grunde beschießen, weil vor ihrem Hafen unterseeische selbsttätige Kontaktminen gelegt sind (dieses Beckot hat eine Reihe von Seemächten, u. a. Deutschland, nicht angenommen). Sie dürfen dagegen militärische oder für Kriegszwecke nutzbare Anlagen einer unverteidigten Ortschaft und die im Hafen liegenden Kriegsschiffe eventuell beschießen, — die Ortschaft selbst nur, wenn sie sich weigert, die ihrer Leistungs­ fähigkeit angemessenen, von der feiMichen Flotte augenblicklich benötigten Lebensmittel oder Vorräte zu tiefem. II. Das feindliche Vermögen im Landkrieg.

Keller: Requisitionen und Kontributionen, Frauenfeld 1898; Schiemann: Die Rechtslage öffentlicher Banken im Kriegsfall, Diss. Greifswald 1902; Pont: Les rSquisitions müitaires en temps de guerre, Paris 1905: Nowacki: Die Äsenbahnen im Kriege, Zürich 1906; Wehberg: Das Beuterecht im Land- und Seekrieg, Tübingen 1909; Albrecht: Requisitionen von neutralem Privat­ eigentum, Diss. Bonn 1912; Dicker, Unterliegt die Reichsbank im Kriegsfall dem Beuterecht des FeindeS? Diss. Erlangen 1912; Hofer: Der Schadensersatz im Landkriegsrecht, Tübingen 1913; ZBölkR. 6 Beiheft 1; Rev. 38 274, 406, 442.

Die kriegerischen Operationen richten sich gegen die Angriffs- und Verteidigungsmittel, nicht gegen die friedlichen Bewohner des feindlichen Landes. Eingriffe in das Vermögen von Privatpersonen und Beschädigung desselben haben zu unteckleiben. Dieser Gmndsatz ist indessen nur für den Landkrieg anerkannt, und auch hier gilt er nicht unbeschränkt. Veckoten sind alle durch die militärischen Operationen nicht gebotenen Beschädigungen. Veckoten ist ferner das Beutemachen, d. h. die Wegnahme oder Wnötigung ftemder beweglicher Sachen in Zueignungs­ absicht. Dieses Verbot erstreckt sich auch auf das Privateigentum des feiMichen Staatshaupts und der gefangenen und gefallenen Kombattanten. Unterworfen sind der Aneignung nur: 1. das dem feindlichen Staat gehörende bewegliche Eigentum, soweit es geeignet erscheint, den Kriegsuntemehmungen zu dienen: Bargeld, Wertbestände, Waffen, Pfecke, Munition, Ausrüstungsstücke, Lebensmittel, Beföckemngsmittel (Landkriegsordnung 53); 2. die den feindlichen Kombattanten gehörenden Waffen, Pfecke und Schriftstücke militärischen Inhalts (ebenda 4). Nur der Beschlagnahme sind unterworfen Beföckemngsmittel — mit Ausnahme der durch das Seerecht geregelten Fälle —, Waffenniederlagen und Kriegsvorräte, welche Privat­ personen gehören (53*). Unterseeische Kabel, welche feindliches mit neutralem Gebiet ver­ binden, dürfen in Feindesland nur im Notfall beschlagnahmt oder zerstört wecken (54). In diesen Fällen besteht Anspmch auf Schadensersatz. Eisenbahnmaterial, das aus neutralen Staaten kommt, wie auch neutrale Schiffe, welche in das Gebiet eines der kriegsührenden Staaten gekommen sind, dürfen nur im Notstand und nur gegen volle Entschädigung mit Be­ schlag belegt oder weggenommen wecken (Angarie, 5° Haager Abkommen 19). Als Privateigentum ist zu behandeln das Eigentum der Gemeinden und der dem Gottesdienst, der Wohltätigkeit, dem Unterricht, der Kunst und Wissenschaft gewidmeten Anstalten, auch wenn diese dem feindlichen Staat gehören (Landkriegsordnung 56). Das unbewegliche

Völkerrecht.

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Eigentum des feindlichen Staats darf im übrigen nur benutzt, aber nicht angeeignet und, von den militärischen Operationen abgesehen, weder beschädigt noch zerstört wecken. Eingriffe in das Privateigentum sind zulässig in Form von Requisitionen und Kontribu­ tionen (ibid. 49/52). Die Zulässigkeit ergibt sich aus der Kriegsnotwendigkeit; die Maßregeln dürfen nur mit Ermächtigung des Befehlshabers und nicht zum Zweck der Bereicherung oder zur Schädigung der Bevölkerung des feiMichen Landes vorgenommen wecken.

1. Requisitionen: Natural- und Dienstleistungen können von Gemeinden oder Einwohnern nur für die Bedürfnisse des feindlichen Heeres gefockert wecken. Sie dürfen für die Bevölkerung nicht die Verpflichtung enthalten, an Kriegsuntemehmungen gegen ihr Vaterland teilzunehmen. Naturalleistungen sind so viel wie möglich bar zu bezahlen; andemfalls sind dafür Empfangs­ bescheinigungen auszustellen.

2. Kontributionen, Zwangsauflagen, kommen vor als Kriegssteuem und als Strafgelder bei Verletzungen des Kriegsrechts. Über jede Zwangsleistung ist eine Empfangsbescheinigung

auszustellen. Den Requisitionen und Kontributionen wie auch der Einquartiemngslast sind die Be­ wohner des feiMichen Landes unterworfen, gleichviel ob sie Untertanen des feindlichen oder eines neutralen Staats sind. III. Das feindliche Vermögen im Seekrieg.

Literatur. Perels: Die nordamerikanische Instruktion für Blockadeschisfe und Kreuzer, Marine-Rundschau 1899 Heft 8/9; Holland: A manuel ok naval prize law, London 1888; Naval war code der Bereinigten Staaten von Amerika von 1900 (BöhmsZ. 11 385); Duboc: Le droit de vielte et la guerre de courae, Paris 1901; Röpcke: Das Seebeuterecht, Leipzig 1904; Giordana: Le proprieti privata nelle guerre marittime, Turin-Rom 1907; Bentwich: The law ok private property in war, London 1907; Niemeyer: Prinzipien des SeekriegSrechtS, Berlin 1909, Das Seekriegsrecht nach der Londoner Deklaration, Berlin 1910; Beruften: Das Seekrieg-recht, Berlin 1911; Pohl: Deutsche Prisengericht-barkeit, Tübingen 1911; Hirschmann: Das internationale Prisenrecht, München 1912; BöhmsZ. 12 51, 17 303, 21 123; ZBölkR. 2 144; Rev. 39 149. — Kramer: Die unterseeischen Telegraphenkabel in Kriegszeiten, Leipzig 1903; Scholz: Krieg und Seekabel, Berlin 1904; Jouhannaud: C&bles sous-marins, Paris 1904; Zuculin: I cavi sottomarini e il telegrafo senza filo nel diritto di guerra, Rom 1907; ArchOffR. 16 414; BöhmsZ. 14 382, 17 160; ZBölkR. 6 Beiheft 2; Rev. G6n. 8 681. Der Seekrieg Wick auf offenem Meer und in den Gewässem der kriegführenden Staaten geführt. Hier gilt das Beuterecht; ihm ist das feindliche Staats- und Privateigentum unter­ worfen. Feindliches Privateigentum sind:

1. die feindlichen Kauffahrteischiffe, d. h. Schiffe, welche laut Zertifikat zur Führung der feindlichen Flagge berechtigt sind (Londoner Ervämng 57). Die bisherige englisch-ameri­ kanische Praxis zählte hiecher auch Schiffe, die ganz oder zum Teil im Eigentum von Angehörigen des Gegners oder von Bewohnem seines Gebiets standen. Der neutrale oder feindliche Charakter eines Schiffs bestimmt sich nach seiner Nationalität zur Zeit der Anhaltung durch einen Krieg­ führenden. Nach englisch-amerikanischer Praxis war es den Neutralen nicht verwehrt, Schiffe zu kaufen, die bisher in feindlichem Eigentum standen. Nur mußte der Kauf ernsthaft sein; das Gegenteil wucke vermutet. Die französische Praxis erkannte dagegen nur die vor Beginn des Krieges erfolgte Eigentumsübertragung an. Die Londoner Erklärung 55/56 erkennt den Übergang zur neutralen Flagge an, wenn er nicht heckeigeführt ist, um den mit der Eigen­ schaft eines feiMichen Schiffs veckundenen Folgen zu entgehen; die Beweislast ist ein­ gehend geregelt. — Der Wegnahme sind nicht unterworfen: Kartellboote, Lazarettschiffe, mit religiösen, wisienschaftlichen oder menschenfreundlichen Aufgaben betraute Schiffe, aus­ schließlich der Küstenfischerei oder der keinen Lokalschiffahrt dienende Fahrzeuge (110 Haager Abkommen 3, 4);

2. die auf feindlichem Schiff befiMiche feindliche Ware. Die feindliche oder neutrale Eigenschaft der Ware an Bock eines feindlichen Schiffs bestimmt sich nach der Eigenschaft des Eigentümers; keine Einigung wucke bisher darüber erzielt, ob für die feiMiche oder neutrale Eigenschaft des Eigentümers die Staatsangehörigkeit oder der Wohnsitz maßgebend sein soll. Die feiMiche Eigenschaft der Ware wick vermutet (Londoner Erklärung 57/60). — Mit Aus-

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nähme der Kriegskonterbande § 73) sind dagegen frei: a) die feindliche Ware auf neutralem Schiff, b) die neutrale Ware auf feindlichem Schiff (Satz 2 und 3 der Pariser Seerechtsdeüaration vom 16. April 1856, Fleischmann 57), c) Briefpostsendungen auf feindlichem wie neutralem Schiff (11* Haager Abkommen 1, 2).

Die dem Beuterecht unterworfenen feindlichen Staatsschiffe gehen in das Eigentum des Rehmestaats wer, sobald sie nach der Wegnahme in Sichecheit gebracht sind; das Eigentum an Privatschiffen und deren Ladung tohb dagegen nur durch Richterspruch wertragen.

In Ausübung des Prisenrechts dürfen die Streitkräfte der Kriegführenden die Nationalität und Ladung jedes Kauffahrteischiffs auf dem Seekriegsfeld feststellen. Es geschieht mittels Anhaltung und Durchsuchung. Sucht das Schiff zu entkommen, so kann es mit Gewalt zum Anhalten gebracht werden. Die Beschlagnahme findet statt, wenn mit Gewalt Widerstand geleistet wurde, ferner wenn sich bei Prüfung der Papiere ergibt, daß diese gefälscht oder un­ vollständig sind, oder daß das Schiff doppelte Papiere verschiedenen Achalts hat, oder daß es ein feindliche- ist oder Konterbande (§ 73) mit sich führt. Das beschlagnahmte Schiff ist sodann ausptbringen, d. h. in einen Hafen des Nehmestaats oder seines Verbündeten zu bringen und dort vor ein Prisengericht zu stellen. Mr im Mtstand darf die Aufbringung durch Verkauf oder Zerstörung des Schiffs ersetzt wecken.

Die Prisengerichte sind von den kriegführenden Staaten eingesetzte Gerichte. Sie haben Wer die Rechtmäßigkeit der Wegnahme fremder Schiffe und deren Ladung zu entscheiden: ob Schiff und Ladung bzw. eins von beiden als gute Prise verfallen, oder ob sie freizugeben sind. Die Entscheidung wick also von dem Gericht des Nehmestaats oder seines Verbündeten gefällt. Das Verfahren ist dem feindlichen Interessenten gegenwer (vgl. aber Lond. Erkl. 59) ein Reklameprozeß, d. h. „soweit die Unrechtmäßigkeit der Aufbringung nicht klar zutage liegt, haben die Interessenten, deren Eigentum auf dem Spiel steht, dieselbe zu beweisen". „Die als ver­ dächtig aufgebrachten Schiffe wecken für gute Prise erklärt, sobald der gegen sie vorliegende Beckacht nicht beseitigt wick" (Perels). Meist ist Bemfung an ein höheres Gericht zugelasien. Gegen die Entscheidung des nationalen Gerichts wollte das nicht ratifizierte 12° Haager Ab­ kommen 4* bet feindlichen Privatpersonen in engen Grenzen Rekurs an den geplanten inter­ nationalen Prisengerichtshof gestatten. Mit der Rechtskraft des Urteils wick die Prise Eigentum des RehmestaatS. Ob er sie oder einen Wertanteil dem Kaptor Werlassen will, steht in seinem Belieben.

8 67.

3. Die Besetzung feindlichen Gebiets und ihre Wirkungen.

Landkriegsordnung 42/56. — Literatur. Loening: Die Verwaltung deS GeneraläouvernementS im Elsaß, Straßburg 1874; Fsraud-Giraud: Occupation militaire, recours i raison es dommages causis par la gaerre, Paris 1881; Tharleville: La validiti juridique des actes de Foccupant en pays occupi, Paris 1902; Sichel: Die kriegerische Besetzung feindlichen Staats­ gebiets, Difs. Frankfurt a. M. 1905; Rowacki, vgl. zu § 66; Rev. 38 442; Rev. G6n. 16 134,18 22; Rivista 4 250, 257, 5 181, 373. Feindliches Gebiet ist besetzt, wenn es in die Gewalt der eindringenden Truppen des Gegners gebracht ist. Soweit seine Gewalt reicht und tatsächlich ausgewt wick, kann der Gegner die Regiemng des besetzten feindlichen Gebiets übernehmen: occupatio bellica. Er erwickt keine Gebietshoheit (Tripolis 1912; das Annexionsdekret vom 5. Nov. 1911 (Strupp, Erg.-H. 90) wucke erst nach dem Friedensschluß anerkannt, BöhmsZ. 23 1), sondern nur den Besitz und mit ihm eine Reihe von Regierungsrechten und -pflichten; ihr Fortbestand ist an den deS Besitzes geknüpft.

Der Okkupant Wemimmt die Regiemng im Jntereffe seiner Kriegfühmng. Diese selbst soll im besetzten Gebiet unteckleiben; es soll ihm wohl als Stützpunkt bei seinen Operationen dienen, der Kriegführung des Gegners aber keine Hilfsquellen mehr bieten. Die Truppen des Okkupanten sollen im besetzten Gebiet Sichecheit genießen. Soweit diese Zwecke es bedingen, überkommt der Okkupant die Rechte einer Staatsgewalt; anderseits hat er für Mhe und Ord­ nung zu sorgen, den friedlichen Bewohnem des Gebiets Rechtsschutz und Sichecheit zu ge­ währen.

Völkerrecht.

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1. Die Gesetzgebung. Soweit die Sicherheit und die Bedürfnisse des Okkupanten, seiner Armee und seiner Zivilbeamten es erfordem, kann er die heimische Gesetzgebung im besetzten Gebiet außer Kraft setzen und die einschlägigen Verhältnisse durch eigene Berocknungen regeln. Für seine Truppen und seine Beamten ist allein sein Recht maßgebend. Aber auch Angriffe gegen sie und gegen seine Verwaltung wecken nach seinem Recht und von seinen Behöcken geahndet. Im Interesse seiner Armee kann er ferner die heimische Zollgesetzgebung suspen­ dieren. Für die Bewohner des okkupierten Landes in ihrem Verhältnis untereinander bleibt dagegen grundsätzlich das heimische Recht maßgebend. 2. Die Verwaltung. a) Die Behöcken. Die oberste Behöcke im besetzten Gebiet ist notwendig eine vom Okkupanten eingesetzte Militär« oder Zivilverwaltungsbehöcke. Durch sie Wick die Tätigkeit jeder Behöcke der heimsschen Staatsgewalt, die nicht innechalb des besetzten Gebiets chren Sitz hat, abgeschnitten (Loening). Die Behöcken innerhalb des besetzten Gebiets können zum Weitemrbeiten nicht gezwungen, aber vom Okkupanten in ihrer Tätigkeit belassen wecken. Soweit sie ihre Funktionen einstellen oder derselben vom Okkupanten enchoben wecken, hat dieser eigene Behöcken einzusetzen. b) Die Einnahmen und Ausgaben. Der Okkupant darf sich die Einnahmen des besetzten Gebiets aneignen, soweit sie sonst in die Kaffe der verdrängten Staatsgewalt oder in eine öffent­ liche Kaffe außerhalb des olkupierten Landes fließen würden. In entsprechendem Maße muß er die Kosten der Verwaltung tragen. Die Echebung der sonst an die veckrängte Staatsgewalt zu entrichtenden Steuem, Zölle und Abgaben soll möglichst nach Maßgabe der für chre Er­ hebung und Berteilung geltenden Vorschriften erfolgen. Andere Abgaben dürfen nur zur Ver­ waltung des besetzten Gebiets oder zur Deckung der Bedürfnisse des Heeres von dem Okblpanten echoben wecken. Zu den Einnahmen gehören auch die aus dem unbeweglichen Staatsvermögen, insbesondere aus Domänen und Forsten: ihre Bewirtschaftung hat nach den Regeln des Met­ brauchs zu erfolgen, d. h. der Okkupant darf sich nur den Ertrag aneignen, muß aber den Grundstock unangetastet lassen. Eine Veräußerung des unbeweglichen Staatseigentums ist unzulässig, weil sie Aneignung voraussetzt.

c) Die Verkehrsmittel unterstellt der Okkupant seiner Verwaltung oder doch seiner Auf­ sicht. Die Einnahmen kann er sich nur aneignen, wenn sie sonst dem sedcklichen Staat zufließen wücken. 3. Die Bewohner des besetzten Gebiet- haben Anspruch auf Schutz und frickliche Be­ handlung, wenn sie sich selbst friedlich verhalten. „Die Ehre und die Rechte der Familie, daS Leben der Bürger, daS Privateigentum, die religiösen Überzeugungen und die gottesdienst­

lichen Handlungen sollen geachtet wecken." Die Landesbewohner müssen jede Schädigung des Ollupanten unterlassen: Angriffe gegen dessen Truppen unb Beamte, Zerstörung oder Beschädigung der Wege, Brücken urb Verkehrsmittel, Unterstützung der heimischen Kriegsmacht durch Zuzug oder Übermittlung von Nachrichten. Kmst des passiven Kriegstandes (§ 63 I B) müssen die Bewohner deS besetzten Gebiets die EinquartierungAast, eventuell auch die Ver­ pflegung der fremden Truppen und Beamten, auf sich nehmen. Kraft seiner Regierungs­ rechte kann der Okkupant die Bomahme öffentlicher Arbeiten (Stege- und Brückenbau) von ihnen fockem und erzwingen. Das von ihm besetzte Gebiet bleibt für ihn aber fremdes Gebiet. Deshalb darf er die Bevölkerung weder zur Ableistung eines Treueids noch zur Teilnahme an den Knegsuntemehmungen gegen ihr eigenes Land (23 *), auch nicht zur Erteilung von Auskunft über das Heer oder die Berteidigungsmittel des Heimatstaats (44) zwingen. Letzteres Verbot ist vom Deutschen Reich und von einigen anderen Staaten nicht angenommen. Mdersetzen sich die Landesbewohner den erlaubten Ansockerungen des Okkupanten, oder schädigen sie ihn durch Angriffe, so können sie von ihm strafrechtlich verfolgt wecken. Doch darf die Strafe nur die Schuldigen treffen. „Keine «Strafe in Geld oder anderer Art darf über eine ganze Bevöllerung wegen der Handlungen einzelner vechängt wecken, für welche die Be­ völkerung nicht als miwerantworllich angesehen wecken kann." «Sehr bestritten ist es, ob der Ollupant das Wohlverhalten der Bevölkerung durch Entnahme von Geiseln sichern darf. Die

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soeben angeführte Bestimmung der LandkriegsoÄnung wird diese Maßregel jedenfalls sehr einschrSnken.

Als Bewohner des besetzten Gebiets müssen Angeaörige neutraler Staaten die Lasten der occupatio bellica in gleicher Weise tragen wie die Untertanen des feindlichen Staats.

8 68.

4. Das Postliminittm.

Literatur. Focherini: II postliminio nel moderno diritto internazionale, Modena 1908; Mittels: Römisches Privatrecht 1 127. Der Begriff des Postliminiums ist dem römischen Recht (Dig. 49, 15) entlehnt. Im modernen Recht bedeutet er Wiedereinsetzung in den früheren Stand nach Aufhebung der feindlichen Gewalt,. Das ius postliminii kommt zur Anwendung, sobclld ein Gebietsteil, die Bevölkemng, einzelne Personen oder Güter, welche in feindliche Gewillt geraten waren, von dieser wieder befreit werden (Kirchenheim). Voraussetzung ist, daß der Feind nur eine tatsächliche Gewalt erlangt hat, und daß diese wieder beseitigt ist. Ausgeschlossen ist die An­ wendung des ius postliminii, sobald eine vom Völkerrecht anerkannte Rechtsverändemng statt­ gefunden hat: bei den dem Beuterecht unterworfenen Gegenständen nach erfolgtem Übergang des Eigentums. Wick» eine solche Sache dem Feind wieder abgenommen, so wird neues Eigen­ tum begründet: der ehemalige Eigentümer kann die Wiedereinsetzung in den früheren Stand iure postliminii nicht begehren. Das Postliminium kann während des Krieges und nach seiner Beendigung Platz greifen, sobald die Befreiung aus feindlicher Gewalt eintritt. Die meisten Rechtsverhältnisse sind innerstaatlicher Natur.

1. Das personenrechtliche Postliminium hat geringe Bedeutung, weil die Rechts- und Geschäftsfähigkeit des Gefangenen durch die Gefangenschaft nicht beeinträchtigt wird, weil die Gefangenschaft selbst mit dem Kriege von Rechts wegen ihr Ende erreicht.

2. Das privatrechlliche Postliminium findet statt in Ansehung aller in Feindesgewalt geratenen Sachen. Die früher begründeten Rechte, z. B. ein Pfandrecht, können wieder geltend gemacht bzw. beansprucht werden. Wird eine Prise befreit, ehe die vemrteilende Entscheidung Rechtskraft erlangt hat, so ist sie dem Eigentümer zurückzugeben, weil das Eigentum noch nicht erloschen ist. Doch erkennen Staatsgesetze das Recht des Eigentümers mitunter nur unter der Bedingung an, daß er dem Kapwr eine entsprechende Belohnung oder Entschädigung gewährt (ALR. I 9 88 203, 208/10).

3. Das öffentlich-rechtliche Postliminium nach Beendigung der occupatio bellica (8 67). Die verdrängte Staatsgewalt tritt wieder in Tättgkeit, sobald und soweit der Gegner das besetzte Gebiet räumt, während des Kriegs oder nach dessen Beendigung. Die abgesetzten oder außer Dienst getretenen Staatsbeamten nehmen ihre Funkttonen wieder auf. Die suspendierten heimischen Gesetze und Verordnungen treten ohne weiteres in Kraft, die vom Okkupanten erlassenen wetden hinfällig. Rechtsbeständig bleiben dagegen die einzelnen von ihm vorge­ nommenen Verwaltungshandlungen, die Verfügungen über das Staatseigentum, vorausgesetzt, daß er sich innerhalb der Grenzen seiner Zuständigkeit gehalten hat. Rechtsbeständig bleibt auch seine Rechtspflege.

8 69.

5. Kriegsverträge.

Kriegsverträge sind die zwischen den kriegführenden Patteien während des Krieges ge­ schlossenen Verttäge. Ihre verpflichtende Kraft regelt sich nach den allgemeinen Normen. Über die Zuständigkeit zum Abschluß solcher Verträge vgl. 8 11 L Zu nennen sind: Kartelle über Auswechslung von Gefangenen, über Post- und Telegraphen­ verkehr, über die Neutralität gewisser Plätze. — Die Kapitulationen haben die Übergabe von Festungen, Truppenteilen und Schiffen zum Gegenstand; sie enthalten Bestimmungen über die Behandlung des übergebenen Platzes, der Festungswerke, der Tmppen und des Kriegs-

Völkerrecht.

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Materials. Militärische Befehlshaber können nur die militärische Gewalt, nicht die Gebiets­ hoheit übertmgen (Landkriegsockmung 35, Rev. G6n. 14 601). Der Waffenstillstand (ibid. 36/41) ist ein Vertrag über vorübergehende oder voüäufige Einstellung der Feindseligkeiten. Er wird als Wasfenmhe bezeichnet, wenn er für kurze Frist zu einem bestimmten, bald erreichten Zweck, wie Bestattung der Gefallenen, geschlossen wird. Er kann ein allgemeiner oder örtlich begrenzter sein. Der WaffenMstand verpflichtet begrifflich zur Einstellung der Feindseligkeiten, d. h. zur Unterlassung von Angriffshandlungen (Ullmann). Es ist Sache der Parteien, im einzelnen festzusetzen, welche Beziehungen sie auf dem Kriegs­ schauplatz untereinander und mit der Bevölkemng unterhalten können. Der WaffenMstand beginnt mit dem festgesetzten Termin, eventuell mit dem Moment des Abschlusses. Die einzelnen Truppenkörper sind hiervon zu benachrichtigen und haben erst von erlangter Kenntnis an die Feindseligkeiten einzustellen. Der WaffenMstand endet mit dem festgesetzten Termin, eventuell nach Aufkündigung. Jede schwere Verletzung des Waffenstillstands durch eine der Par­ teien gibt der anderen das Recht, ihn „auch vorzeitig" zu kündigen, in dringenden Fällen sogar das Recht, „die Feindseligkeiten sofort wieder auszunehmen". Besetzung der Bedingungen durch einzelne, zur Kündigung nicht zuständige Personen ist kein Bmch des WaffenMstands, sondem gibt nur Anspruch auf Bestrafung des Schuldigen und Schadensersatz.

IV. Rechte der kriegführenden und der neutralen Staaten gegeneinander. 6 • und 13* Haager Abkommen (hier zit. Abk. I bzw. II); Londoner Seekriegsrechtserklärung. Bgl. die Literatur zu $ 60; Einicke: Rechte und Pflichten der neutralen Mächte «n Seekrieg, Tübingen 1912; ArchOffR. 30 204; Rev. 4 472, 45 173. — Scholz: Drahtlose Telegraphie und Neutralität, Berlin 1905; Meili: Die drahtlose Telegraphie im intern. Recht und Bölkerrecht, Zürich 1908; Rev. 38 586; Rev. G6n. 13 58, 16 76, 261.

8 70.

1. Im allgemeinen.

Wie im § 60 ausgeführt wurde, muß der neutrale Staat sich jeder Handlung enthalten, welche nach Bölkerrecht als Teilnahme am Kriege gilt, darf anderseits der Kriegführende ihn nicht in den Krieg verwickeln, seine Operationen gegen ihn nicht richten. Das Bölkerrecht unter­ scheidet scharf zwischen Handlungen, welche der neutrale Staat selbst nicht vomehmen darf, und solchen, welche er hindern muß. Manche ihm verbotene Handlungen dürfen seine Untertanen vomehmen, ohne daß er dafür verantwortlich gemacht weiden könnte. Der neutrale Staat darf den Kriegführenden weder Truppen noch Waffen, Kriegsschiffe, Munition, Pferde, Lebens­ mittel oder Geld liefern (Abk. II6). Seinen Untertanen ist dies aber nicht ohne weiteres unter­ sagt (Wk. I, II 7). Schlechtweg verboten ist nur die staalliche Unterstützung; als solche gilt die Unterstützung durch unmittelbare Handlung des neutralen Staats und durch Preisgabe seines Gebiets zu kriegerischem Zweck. Das Gebiet ist vom Staat untrennbar; die Untertanen sind es nicht. Auf ihre Gefahr hin können sie die Kriegführenden unterstützen, indem sie in ihre Armeen eintreten oder ihnen durch den Handel Vorteile verschaffen (Wk. I 6, 8). Über den neutralen Handel vgl. §§ 72/5. Der neutrale Staat roütbe seine Pflichten nur dann verletzen, wenn er seinen Mgehörigen die Begünstigung des einen Kriegführenden gestatten, die des anderen untersagen wollte (Wk. I, II 9. — Zulassung der Kriegsanleihen zu den Börsen!). Verletzt der neutrale Staat schuldHasterweise seine Verbindlichkeiten, so ist er haftpflichtig nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze (§ 51); er kann aber auch sofort als Feind behandelt werden. Umgekehrt darf er eine Verletzung seiner Rechte keinem der Kriegführenden gestatten; denn auch das wäre Begünstigung. Er muß also seinerseits auf Mederherstellung des früheren Zustands und — je nach Lage des Falls — auf Schadensersatz bzw. Genugtuung bestehen, wenn er nicht dem anderen Kriegführenden verantwortlich werden will. Bei Verletzung seiner Rechte kann er aber auch seinerseits die Neutralität aufgeben und am Krieg teilnehmen (Wk. I 10, II 26).

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8 71. 2. Das neutrale Gebiet. Literatur. Heilborn: Rechte und Pflichten der neutralen Staaten in bezug auf die während des Kriege- auf chr Gebiet übertretenden Angehörigen einer Armee und das dorthin gebrachte Kriegsmaterial der kriegführenden Parteien, Berlin 1888; Gabarit: Questions de neutralitt maritime soulevies per la guerre russo-japonaise, Paris 1906; EurtiuS: Des navires de guerre belligirants dans les eaux neutres, Bordeaux 1907; Pilidi: Le combustible en temps de guerre, Pans 1909; ArchLsfR. 20 167; Rev. G6n. 16 289, 660, 19 40.

Das neutrale Gebiet darf in keiner Weise zu Kriegszwecken dienen. In ihm ist der neutrale Staat Herr; er braucht deshalb eine solche Benutzung nicht zu dulden. Er darf sie aber auch nicht gestatten, muß sie hindem (Abk. II25); sonst würde er sich einer Beistandsleistung schuldig machen, seine Neutralität verletzen. Neutralitätswidrige Handlungen von Privatpersonen muß der neutrale Staat anderseits nur strafen, wenn sie auf seinem Gebiet begangen wurden (Abk. I 5). Hieraus folgt: I. Die kriegführenden Parteien dürfen auf neutralem Gebiet keine Kriegsrüstungen vornehmen, militärische Operationen nicht vorbereiten. Daselbst ist demnach verboten:

a) die Bildung von Kombattanten-Korps, von Freischaren und Flibustierexpeditionen, die Eröffnung von Werbestellen (Wk. 14). Freilich braucht der neutrale Staat den Bewohnern seines Landes den Zuzug zu den kriegführenden Armeen nicht zu untersagen (Abk. I 16/8); nur den Angehörigen seines eigenen Heeres darf er eine Beteiligung nicht erlauben;

b) die gänzliche oder teilweise Ausrüstung oder Bewaffnung eines zum Kreuzen oder zur Teilnahme an feindlichen Unternehmungen bestimmten Schiffs für eine kriegführende Partei, ingleichen das Auslaufen eines solchen Schiffs aus neutralem Gebiet, wenn es dort zu kriegerischer Verwendung ganz oder teilweise hergertchtet ist. Der neutrale Staat hat die ihm zur Beifügung stehenden Mittel anzuwenden, um jede Zuwiderhandlung zu vechindem: die drei Regeln von Washingwn, Vertrag vom 8. Mai 1871 Art. 6 (Fleischmann 96), Alabama­ streit. Abk. II 8. II. Das neutrale Land» und Wassergebiet darf nicht zum Stützpunkt für militärische Operationen dienen (zweite Regel von Washingwn, Abk. II 5); den Kriegführenden ist deshalb die Errichtung funkentelegraphischer usw. Stationen verboten, nicht aber die fernere Benutzung der dem öffentlichen Verkehr übergebenen Anlagen (Wk. I 3, 8, II 5). Ms neutralem Gebiet dürfen ferner Kriegshandlungen nicht vorgenommen weiden. Verboten sind demnach (Wk. II 2) Schlachten auf neutralem Gebiet, die Verfolgung eines Schiffs in neutralen Gewässern, die Wegnahme von Schiffen und Gütern daselbst. Ist ein Akt der letzten Art vorgenommen, so muß der neutrale Staat die Prise befreien bzw. sich ausantworten lassen und sie seinerseits dem Beschädigten überliefem (Wk. II 3). III. Das neutrale Landgebiet darf von Angehörigen der kriegführenden Armeen auch nicht zum Durchmarsch benutzt wecken, mögen sie einzeln oder in Massen wmmen. (Vgl. § 60II.) Jede Benutzung des neutralen Gebiets ist ein militärischer Vorteil und deshalb unzulässig. Veckoten ist aus dem nämlichen Grunde auch der Transport von Munitions- und Berpflegungswlonuen durch neutrales Gebiet. Der neutrale Staat ist indessen nicht nur zur Zurückweisung berechtigt, sondem er darf Material wie Menschen auch vor Feindesgewalt schützen und auf» nehmen. Dann muß er aber dafür Sorge tragen, daß sie im gegenwärtigen Kriege nicht mehr Verwendung finden. Das Kriegsmaterial ist mit Beschlag zu belegen, die Truppen sind mög­ lichst weit vom Kriegsschauplatz zu verwahren, so daß sie das neutrale Gebiet während der Dauer des Krieges nicht wieder verlassen können. Der neutrale Staat kann sie in Lagem vevwahren, sie auch in Festungen oder anderen geeigneten Orten einschließen. Er hat für Ernähmng, Belleidung und Krankenpflege nach Maßgabe der Genfer Konvention Sorge zu tragen. Die Kosten der Berwahmng sind ihm nach dem Friedensschluß von dem Staat zu ersetzen, dessen Truppen er verwahrt hat. Eine Ausnahme von diesen Grundsätzen findet statt: 1. zugunsten der entwichenen Kriegsgefangenen und der von den Ubergetretenen mitgebrachten Kriegsgefangenen; sie wecken mit Betreten des neutralen Gebiets frei, denn der neutrale Staat darf sie nicht für den Gegner bewachen; 2. zugunsten der Verwundeten und Kranken: der neutrale Staat kann ihren Durchzug durch sein Gebüt gestatten, unter dem Vorbehalt, daß

Völkerrecht.

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die zur Beföckerung benutzten Züge weder Kriegspersonal noch Kriegsmaterial mit sich führen. Er ist in solchen Fällen verpflichtet, die erforderlichen Sichecheits- und Auffichtsmaßregeln zu treffen. Die der Gegenpartei angehörigen Verwundeten oder Kranken, die unter solchen Um« ftdnben von einer der Kriegsparteien auf neutrales Gebiet gebracht werden, sind von dem neutralen Staat betört zu bewachen, daß sie nicht von neuem an den Kriegsuntemehmungen teilnehmen können. Das ist ein Kompromiß, um die Abschiebung der Verwundeten und Kranken nach neutralem Gebiet zu erleichtem (Abk. I 2, 11/5). Im Kriege 1870/71 trat die Bourbakische Armee, 80000 Mann stark, auf schweizerisches Gebiet über: Konvention von Verriöres vom 1. Februar 1871. IV. Der neutrale Staat darf Kriegsschiffen und Prisen gestatten, seine Küstengewässer zu durchfahren und sich der von ihm bestellten Lootsen zu bedienen. Aufenthalt in neutralen Häfen, Reeden und Küstengewässern soll Kriegsschiffen grundsätzlich nur viemndzwanzig Stunden gestattet werden (diese Beschränbmg hat Deutschland nicht angenommen), es sei denn eine Berlängemng wegen Beschädigungen oder wegen des Zustands der See erforderlich. In einem und demselben Hafen (Reede) dürfen sich höchstens drei Kriegsschiffe eines Kriegführenden zu gleicher Zeit befinden. Treffen Schiffe der Gegner im neutralen Hafen zusammen, so darf die zuletzt absegelnde Partei den Hafen erst verlaffen, wenn vierundzwanzig Stunden seit der Abfahrt der ersten Partei verstrichen sind. — In neutralen Häfen und Reeden dürfen die Kriegs« schiffe nur ihre Seetüchtigkeit, nicht die Kriegstüchtigkeit wiedecherstellen und verbeffem; also darf auch die Besatzung nicht ergänzt weiden. Der Vorrat an Lebensmitteln darf bis zum regelmäßigen Friedensbestand ergänzt wecken, der an Feuemngsmaterial soweit erfockerlich zur Erreichung des nächsten heimischen Hafens. Nach einer von Deutschland nicht angenommenen Regel darf ein Schiff, welches einmal Feuerungsmaterial schalten hat, in den Häfen der näm­ lichen neutralen Macht seinen Bedarf erst nach drei Monaten erneuern (Abk. II10/20). Prisen darf der Zutritt zu neutralen Häfen und Reeden gestattet wecken: 1. um bis zur Entscheidung des Prisengerichts in Verwahrung gehalten zu wecken; dies soll der Zerstömng von Prisen vockeugen; 2. wegen Seeuntüchttgkeit, wegen ungünstiger See sowie wegen Mangels an Feuemngsmaterial oder an Vorräten, bis zur Behebung dieser Hindernisse. Bei hiernach unerlaubtem Aufenthalt muß der neutrale Staat die ihm zur Verfügung stehenden Sättel an« wenden, um die Prise mtt ihrer Besatzung zu befreien, die vom Kaptor aus sie gelegte Be­ satzung aber zu internieren (Abk. II 21/3). Bei entsprechendem Verhalten eines Kriegsschiffs ist der neutrale Staat berechtigt, es zu desarmieren, d. h. es unfähig zu machen, während der Dauer des Krieges in See zu gehen, und die Besatzung zu internieren (ibid. 24). Zahlreiche Fälle im ostasiattschen Krieg. Verwundete, Kranke und Schiffbrüchige, welche von einem neutralen Kriegsschiff aus­ genommen oder von einem Kriegführenden im neutralen Hafen mit Genehmigung der Ortsbehöcke ausgeschifft wocken sind, hat der neutrale Staat auf Kosten ihres Heimatstaats für die Dauer des Krieges zu internieren (10° Haager Abk. 13, 15). Auch diese Bestimmung sott die Abschiebung auf neutrales Gebiet erleichtem.

3. Der neutrale Handel. Bgl. die Literatur zu § 60 und zu § 66 III. Marstrand-Mechlenburg: Das japanische Prisen­ recht, Berlin 1908; Ozanam: La juridiction internationale des prises maritimes, Paris 1910; Krauel: Preußen und die Freiheit neutraler Güter auf feindlichen Schiffen (Gierke-Festschrift), BreSlau 1910; ArchvffR. 26 513; Rev. 33 623, 38 434.

8 72.

a) Die allgemeinen Grundsätze.

I. Die neutralen Staaten sollen in den Krieg nicht verwickelt wecken. Das gilt nicht nur für die Staaten selbst, sondern auch für ihre Untertanen. Sie können insbesondere währerck des Krieges Handel treiben: denn der Handel ist an sich ein friedliches Gewerbe. Im 18. Jahr­ hundert Würbe der Krieg noch oft dazu benutzt, neben dem feindlichen auch den neutralen Handel zu schädigen. Ein solches Vorgehen ist im 19. Jahrhundert durchaus unzulässig gewocken. Der neutrale Staat kann jede Stömng des friedlichen Handels seiner Untertanen untersagen.

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Hiermit ist bereits die Grenze angedeutet, bis zu welcher der neutrale Handelsverkehr frei ist: er muß friedlich sein. Wer meinem Feinde hilft, ist mein Feind. Der neutrale Staat ist nicht gehalten, seinen Angehörigen die Unterstützung einer kriegführenden Partei zu verbieten; er ist hierfür auch nicht verantworüich. Wie aber der Staat die Rechte der Privatpersonen am Schiff nur schützen kann, sofern das Schiff zu friedlicher Seefahrt verwendet will» (§ 42 II), so kann auch der neutrale Staat den Hmrdelsverkehr seiner Untertanen nur schützen, soweit er friedlich ist. Feindlichen Handel treiben sie aus ihre Gefahr hin. Die kriegführenden Parteien können Maßnahmen dagegen treffen. Diese Mwehrmaßregeln dürfen sich aber nur richten gegen die Mittel und Gegenstände des feindlichen Handels, d. h. gegen Schiff und Ware, nicht gegen die Person des neutralen Handeltreibenden. Sofem er nicht im Gewallgebiet des benachtelligten Kriegführenden wohnt, begeht er kein Berbrechen, sondem eine an sich erlaubte, den Kriegführenden allerdings schädigende Handlung (Abk. I 18). Damm setzt anderseits die Repression des schädigenden Handels ein Verschulden des Handeltreibenden nicht voraus. Sie Freiheit des neutralen Seehandels ist durch die Pariser Seerechtsdellamtion anerkannt und geschützt (vgl. § 66 III). Grundsätzlich sind frei neutrale Schiffe, neutrale Güter auf feind­ lichen wie neutralen Schiffen und feindliche Güter auf neutralen Schiffen. Die Freiheü fällt jedoch hinweg, wenn der neutrale Handel bestimmten, als feindlich anerkannten Zwecken dient — Zuführung von Kriegskonterbande, neutralitätswidrige Unterstützung —, oder wenn er auf bestimmtem, als feindlich anerkanntem Wege betrieben roirb: Blockadebruch. II. Daß auch neutrale Schiffe auf dem Kriegsschauplatz der Anhaltung und Durchsuchung unterworfen sind, wurde bereits im § 66 III erwähnt. Diese Maßnahmen sind notwendig, weil die Nationalität und, bei Bedacht der Kriegskonterbande, auch die Ladung des Schiffs festgestellt weiden muß. Die Durchsuchung ist Postschiffen gegenüber durch das 110 Haager Abkommen (1, 2) eingeschränkt; sie ist unzulässig, wenn neutrale Handelsschiffe unter Geleit eines Kriegsschiffs ihrer Flagge fahren (Lond. Erv. 61, 62). Hat ein neutrales Schiff gewalt­ samen Widerstand geleistet, oder ergibt die Durchsuchung, daß es Kriegskonterbande zuführt, den Gegner neutrafttätswidrig unterstützt oder eine Blockade bricht, so wird es mit Beschlag belegt. Es ist in einen Hafen zu bringen. Das Prisengericht entscheidet über die Rechtmäßig­ keit der Beschlagnahme sowie über die Einziehung oder Freigabe von Schiff und Ladung. Der gewaltsame Widerstand entzieht dem Schiff den Flaggenschutz; es Wick) wie ein feindliches behandelt. Wird die Beschlagnahme des Schiffs oder der Waren vom Prisengericht nicht be­ stätigt, so haben die Beteiligten Anspmch auf Schadensersatz; es sei denn, daß ausreichende Gründe für die Beschlagnahme Vorgelegen haben (Lond. Erv. 63, 64). III. Ausnahmsweise darf ein beschlagnahmtes neutrales Schiff, welches der Einzichung unterliegen würde, zerstört werden, wenn die Aufbringung das nehmende Kriegsschiff einer Gefahr aussetzen oder den Erfolg der Operation, worin es derzeit begriffen ist, beeinttächtigen könnte. Im prisengerichllichen Verfahren hat die nehmende Kriegsmacht alsdann zunächst den Nachweis zu führen, daß einer dieser Ausnahmefälle vorlag, in welchen die Zerstörung zulässig ist, widrigenfalls sie die Schiffs- und Ladungsinteressenten ohne weiteres zu entschädigen hat. Gelingt der Nachweis, so tommt es zu dem gewöhnlichen Verfahren über die Recht­ mäßigkeit der Wegnahme (Lond. Erv. 48/54).

IV. Die bisher allein bestehenden nationalen Prisengerichte sind in erster Linie an das ihnen gesetzte Landesrecht gebunden, können das Völkerrecht nur insoweit und in derjeiigen Auslegung anwenden, wie es das Landesrecht vorschreibt. Bei der Erregung in Krie^zeiten können sie sich auch nicht immer von nationalen Vorurteilen freihalten, sind sie unwillkirlich geneigt, die öffentlichen Interessen des eigenen Staats höher zu stellen als die Privatinteiessen der Ausländer. Diese Nachteile wollte das noch nicht ratifizierte 12° Haager Abkommen durch Schaffung eines internationalen Prisengerichtshofs beseitigen. Er sollte aus fünfzehn, von den verschiedenen Signatarmächten ernannten Richtern bestehen und als Berufun^instanz über den nationalen Prisengerichten fungieren. Das internationale Verfahren sollte immer zulässig f; in, wenn die nationale Entscheidung neutrales Staats- oder Privateigentum beträfe, ausnahmsweise auch wenn sie feindliches Eigentum beträfe. Tie Anrufung des intematioralen Prisengerichtshoss sollte deshalb den feindlichen Untertanen nur in engen Grenzen freistchen.

Völkerrecht.

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Seinen Entscheidungen sollte dieser Gerichtshof in erster Linie das zwischen den beteiligten Staaten bestehende Vertragsrecht, sodann das allgemeine Völkerrecht, in letzter Linie die all« gemeinen Grundsätze der Gerechtigkeit und Billigkeit zugmndelegen. Vgl. Zusatzpwtokoll vom 19. Sept. 1910 (Rev. G6n. 18 Doc. 11).

8 73.

b) Die Kriegskonterbande.

Literatur. Lehmann: Die Zufuhr von Kriegskontrebande-Waren, Kiel 1877; Wiegner: Die Kriegskonterbande, Berlin 1904; Strisower: Kriegskonterbande (österreich. Staatswörterbuch), 1907; Hold v. Ferneck: Die Kriegskonterbande, Wien 1907; Beckenkamp: Die Kriegskonterbande, BreÄau 1910; BöhmsZ. 10 433, 11 385; ZBölkR. 2 231, 4 Beiheft 1; Rev. 25 7, 124, 239, 389, 26 214, 460, 44 221; Rev. G6n. 11 353.

Kriegskonterbande (Lond. Erkl. 22/44) ist die einer Kriegspartei zur See zugeführte, zur Kriegführung benötigte Ware.

I. DieNaturderWare. Die Freiheit des neutralen Handels stände auf dem Papier, wenn jede Ware zur Konterbande gestempelt wecken könnte. Eine Unterstützung der Kriegspartei ist nur in der Zuführung dessen zu ecklicken, was sie zum Kriege bedarf. Konteckande sind: a) unbedingt alsabsoluteKonterbandedie sog. res quae in dello tantnm usum habent, das Kriegsmaterial (Waffen, Munition, Ausrüstungsstücke, Sprengstoffe); im einzelnen: «) die im Art. 22 aufgezählten, ß) andere, ausschließlich für den Krieg verwendete Gegenstände und Stoffe, falls sie vom Kriegführenden in die Liste der absoluten Konteckande mittels einer den Mächten bekanntgegebenen Erklärung ausgenommen sind; b) eventuell als relative Konterbande die res ancipitis usus, welche sowohl für kriegerische wie für fnedliche Zwecke verwendbar sind (Lebensmittel, Feuerungsmaterial, Fahrzeuge, Geld usw.); im einzelnen: a) die im Art. 24 aufgezählten, ß) andere, für kriegerische wie für fnedliche Zwecke verwendbare Gegenstände und (Stoffe bei Aufnahme in die Liste und entsprechender Bekanntmachung. Zu einer festen Abgrenzung der Konteckandeattikel ist es nicht gekommen. Der Ent­ wicklung der Technik und der Eigenatt des einzelnen Krieges muß Rechnung getragen wecken. Die einseitige Erklämng eines Kriegführenden haben die Neutralen aber nur dann anzuerkennen, wenn die namhaft gemachten Gegenstände oder (Stoffe für kriegerische Zwecke verwendbar find (Att. 27); gewisse Gegenstände und Stoffe sind ausdrücklich ausgeschloffen (Att. 28/29).

II. Die Bestimmung der Ware muß feindlich sein, d. h. sie muß dem Feinde zugefühtt werden. Im Handel der Neuttalen untereinander sowie im Handel von einem feindlichen nach einem neutralen Platz gibt es keine Konteckande.

a) Absolute Konterbande««?» unterliegen der Beschlagnahme, wenn bewiesen wick, daß ihre Bestimmung das feindliche oder vom Feind besetzte Gebiet oder die feindliche Streit­ macht ist, gleichviel, ob noch eine Umladung oder ein Landtransport stattfinden muß (einheit­ liche Reise!). b) Relative Konterbande»»««» unterliegen der Beschlagnahme nur, wenn 1. ihre Be­ stimmung für den Gebrauch der Streitmacht oder der Verwaltungsstellen des feindlichen Staats bewiesen wick, und sie sich 2. auf einem Schiff mit feindlicher Bestimmung befinden, d. h. auf einem Schiff, welches nach feindlichem oder vom Feinde besetztem Gebiet oder zur feindlichen Streitmacht segelt und die Konteckande nicht in einem neutralen Zwischenhafen ausladen soll. Die Erfüllung der ersten Bedingung genügt, die Theorie von der einheitlichen Reise kommt zur Anwendung, wenn das feindliche Lmck keine Seegrenze hat: südafrikanischer Krieg — Fall „Doelwyck" 1896. Die Beweislast hat Lond. Erkl. 30/36 genau geregelt.

III. Die Rechtsfolgen. Der Tatbestand der Konteckandezufuhr ist gegeben, sobald das Schiff mit der dem Feind bestimmten Konterbande absegelt. Zur Feststellung dieses Tackestands ist erforderlich, daß die Konterbande auf dem Schiff außerhalb neutraler Gewässer betroffen wick. Nach deren Löschung darf gegen das Schiff nichts unternommen wecken. Rechtsfolgen find: a) Beschlagnahme und Ausbringung von Schiff und Ladung, Ein-

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leitung des prisengerichtlichen Verfahrens; b) Einziehung der Konterbandeartikel; c) Einziehung der Mcht-Konterbandewaren, nur wenn sie dem Eigentümer der Konterbande gehören; d) Ein» ziehung des Schiff-, wenn die Konteckande mehr als die Hälfte seiner Ladung ausmacht; die Konterbandezuführung bildet dann einen erheblichen Teil seiner Untemehmung. War die Absicht der Konterbmidezufühumg nicht vochanden, so werden die Konterbandeartikel nur gegen Entschädigung, das Schiff und der Rest der Ladung überhaupt nicht eingezogen (Art. 43).

8 74. e) NentralttttSwtdrige lluterstützuug. Diese Bezeichnung umfaßt zwei verschißene Gruppen von Handlungen neutraler Kauf» fayrteischiffe (Lond. Erkl. 45/7). Für die Gruppenbildung maßgebend sind die Rechtsfolgen. Von ihnen ist deshalb auszugehen: I. Das neutrale Schiff unterliegt der Behandlung, welche ein neutrales, der Einziehung wegen Kriegskonterbande unterworfenes Schiff erfahren würde: 1. wenn es die Reise eigens zum Zweck der Beförderung einzelner Personen der feindlichen Streitmacht oder zur Nach­ richtenbeförderung im Interesse des Feindes ausführt; vgl. Marquardsen, Der Trentfall, Er­ langen 1862; 2. wenn es wissentlich eine geschlossene feindliche Truppenabteilung oder einzelne Personen befördert, welche während der Fahrt die Opemtionen des Feindes unmittelbar — z. B. durch Signale — unterstützen.

II. Das neutrale Schiff unterliegt der Behandlung, welche es als feindliches Kauffahrtei­ schiff erfahren würde: 1. wenn es sich unmittelbar an ben Feindseligkeiten beteiligt; 2. wenn es sich unter dem Befehl oder unter der Aufsicht eines von der feindlichen Regierung an Bord gesetzten Agenten befindet; 3. wenn es von der feiMichen Regierung — z. B. aö Kohlenschiff — gechartert ist; 4. wenn es derzeit ausschließlich zur Beförderung feindlicher Truppen oder zur Nachrichtenbeförderung im Interesse des Feindes bestimmt ist. In allen Fällen verfällt die dem Eigentümer des Schiffs gehörende Ware gleichfalls der Einziehung. Auch wenn das Schiff der Beschlagnahme nicht unterliegt, kann jede auf ihm betroffene, in die feindliche Streitmacht eingereihte Person zum Kriegsgefangenen gemacht werden.

8 75.

d) Die Blockade.

Land. Erkl. 1/21. — Literatur: Fauchille: Du blocus maritime, Laris 1882; Lar» nazza-Amari: Del blocco marittimo, 1897; Güldenagel: Verfolgung u. Rechtsfolgen des Blockadebruch-, Tübingen 1911; BöhmsZ. 17 1; ZBölkR. 4 Beiheft 1; Rev. G6n. 10 603; vgl. auch § 56 A. 1.

Blockade (vgl. § 56 II 6) ist „die Absperrung des Verkehrs für einen bestimmten Teil der feiMichen Küste durch Aufstellung von Seestreitkräften". Sie ist eine erlaubte Kriegsmaßregel; die Neutralen dürfen sich ihr nicht widersetzen, wenn ihre Erfordernisse erfüllt sind. Wer twtz bestehender Blockade die Einfahrt in den oder die Ausfahrt aus dem blockierten Platz zu bewerkstelligen sucht, der unternimmt die Vereitlung einer rechtmäßigen Kriegsoperation, der schädigt die blockierende Macht, unterstützt ihren Gegner. Woraus die Ladung des Schiffs besteht, ist gleichgültig.

I. Das Bestehen einer Blockade. 1. Sie muß nach dem vierten Satz der Pariser Seerechtsdevaration effektiv sein, d. h. durch eine hinreichende Streitmacht aufrechterhalten werden, um den Zugang zum blockierten Gebiet in Wirklichkeit zu verhindem. Entscheidendes Kenn­ zeichen ist, daß jedes Ein- und Auslaufen mit Gefahr verbunden ist. Die Blockade besteht nur so lange, als sie effektiv ist. Sie hört auf, wenn das blockierende Geschwader den ©tonbort freiwillig verläßt. Anders, wenn es wegen schlechten Wetters sich zeitweise entfernt hat. 2. Die Blockade muß förmlich ervärt und bekanntgemacht sein. Dies ist für ihre Rechtswirksamleit unerläßlich, denn sie ist keine selbstverständliche Folge des Krieges, a) Die Erklärung bestimmt den Tag des Beginns, die räumlichen Grenzen der Blockade und die Frist, welche den neutralen Schiffen zum Auslaufen gewährt werden muß. Den Zugang zu neutralen Häfen und Küsten darf das Blockadegeschwader nicht versperren, b) Tie Bekanntgabe erfolgt an die neutralen Regierungen, an die Ortsbehörden behufs Weitergabe an die zuständigen Konsuln, eventuell

Böllerrecht.

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aß Spezialnotifikation an ein Schiff, welches sich dem blockierten Hafen nähert, falls es von dem Nestchen der Blockade keine Kenntnis hat, diese Kenntnis auch nicht (vgl. zu II) vermutet werden kann.

II. Blockadebmch ist der bei wirklicher oder vermuteter Kenntnis des Bestehens der Blockade unternommene Versuch, die Einfaqrt zu dem blockierten Platz oder die Ausfahrt aus ihm zu bewerkstelligen. Die Kenntnis der Blockade wich bis zum Beweis des Gegenteils ver­ mutet, wenn das Schiff einen neutralen Hafen nach Ablauf angemessener Zeit seit Bekanntgabe der Blockade an die diesen Hafen innehabende Macht verlassen hat. Rach europäisch-kontinentaler Praxis kann Blockadebmch nur im Bereich des Blockadegeschwaders begangen toetben, d. h. durch den Versuch, die Ein- oder Ausfahrt mit List oder Gewalt zu bewerkstelligen. Die englisch-amerikanische Praxis echlickt Blockadebmch bereits in dem Absegeln nach dem blockierten Platz. Diese Anschauung ist nicht zu billigen, denn das Absegeln ist keine Störung der KriegsOperationen. Nach Land. Erkl. 17 darf die Beschlagnahme neutraler Schiffe wegen Blockade­ brachs nur innerhalb des Aktionsbereichs der Kriegsschiffe stattfinden, welche beauftragt sind, die tatsächliche Mrksamkeit der Blockade sicherzustellen. Blockadebmch liegt nicht vor: 1. wenn das Schiff durch Seenot gezwungen in den Bereich des Blockadegeschwaders kommt; 2. wenn es sich derzeit auf der Fahrt nach einem nicht blockierten Hafen befindet, wie auch immer die spätere Bestimmung von Schiff oder Ladung sein mag. Keine einheilliche Reise! Fall Springbock.

III. Rechtsfolgen. Der Blockadebrecher darf beschlagnahmt und zu dem Zweck über den Bereich des Blockadegeschwaders hinaus verfolgt toetben. Die Beschlagnahme ist nicht mehr zulässig, wenn die Verfolgung aufgegeben oder die Blockade aufgehoben ist. Das Prisen­ gericht entscheidet, ob Blockadebmch begangen ist. Alsdann ist das Schiff stets verfallen. Die Ladung wird eingezogen, wenn nicht nachgetoiesen wird, daß der Befrachter zur Zeit der Ver­ ladung der Ware die Absicht des Blockadebmchs weder gekannt hat noch kennen konnte.

§ 76. V. Die Beendigung deS Krieges. Die Beendigung des Krieges wird herbeigeführt: I. durch Vemichtung eines der kriegführenden Staaten (debellatio): Kurhessen, HessenNassau, Hannover und Frankfurt 1866. Der Sieger verleibt sich das Gebiet des untergegangenen Staats ein. Es findet Rechtsnachfolge statt (§§ 9, 53); II. durch wechselseitige Willenserklärung der kriegführenden Staaten. Der Wlle, den Krieg zu beendigen, kann ausdrücklich oder durch konkludente Handlungen erklärt werden. Ersterenfalls roitb ein Friedensvertrag geschloffen; letzterenfalls werden die Feindseligkeiten dauernd eingestellt: Preußen und Liechtenstein 1866, Frankreich und Mexiko 1866. Mese Be­ endigungsart ist ungewöhnlich. Werden die Truppen nicht zurückgezogen, so verbleiben Erobemngen dem Sieger: es entscheidet der status quo post bellum (res luerant). Die Streit­ fragen, die den Krieg veranlaßten, sind nicht immer ausgetragen; sie bleiben dann auf dem status quo ante bellum. Die Einstellung der Feindseligkeiten kann aber auch bei dem einen Staat Verzicht auf die früher erhobenen Ansprüche bedeuten.

III. Der Abschluß eines Friedensvertrags ist die regelmäßige Form der Beendigung des Krieges. Ihm geht meist ein Waffenstillstand (§ 69), oft auch ein Präliminarfriede (§ 15) voran. Als paix pure et simple bezeichnet man denjenigen Friedensvertrag, welcher sich auf das essentiale negotii, die Vereinbarung aber die Wiedecherstellung des Friedens, beschränkt. Fast immer enthalten die Friedensverträge in der Neuzeit mehr; insbesondere regeln sie auch die Art, in welcher die friedlichen Beziehungen wieder ausgenommen weiden sollen: Wiederherstellung der alten Bertragsverhältniffe usw. — Dem Inhalt nach unterscheidet man all­ gemeine und besondere Vertragsbestimmungen. Die Mrlungen des Friedensschluffes richten sich in erster Linie nach dem Inhalt des Vertrages. Als allgemeine Mrkungen sind hervorzuheben: der Friede ist wiederhergestellt, das Kriegsrecht tritt, auch den Neutralen gegenüber, außer Kraft; Kriegshandlungen dürfen nicht mehr vorgenommen, rückständige Requisitionen nicht mehr eingefordert, Prisen nicht mehr Enzyklopädie der Rechtswissenschaft.

7. der Reudearb. 2. Aufl.

Band V.

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Paul Heilborn, Völkerrecht.

vemrteilt werden. Aus verspäteten Kriegshandlungen einzelner haftet der Staat nach all­ gemeinen Grundsätzen. Im Zweifel gilt die Mederherstellung des früheren Zustands als ge­ wollt; deshalb sind alle Ewberungen herauszugeben, soweit nicht Eigentumsübergang statt­ gefunden hat oder das Gegenteil vereinbart ist. Die einzelnen Gegenstände sind aber in dem Status quo post bellum herauszugeben. Eine Haftung wegen Untergangs oder Berschlechtemng kann nur bei Überschreitung der kriegsrechllichen Befugnisse stattfinden. Über das Postliminium vgl. § 68. Die Streitfragen, welche den Krieg veranlaßt hatten, gelten als erledigt. Als erledigt gelten aber auch alle Ansprüche wegen Besetzung des Kriegsrechts zwischen den kriegführenden Staaten selbst wie auch zwischen, einem von ihnen und den Untertanen des anderen, mögen letztere privat- oder strafrechtlicher Natur sein. Diese Amnestie gilt auch ohne besondere Ver­ einbarung als gewollt, weil sonst Krieg aus Krieg entstehen und ein dauernder Friedenszustand unmöglich sein würde (Heffter). Besondere BÄeutung (v. Liszt) kommt der Amnestie bei Gebietsabtretungen zu: der Erwerber darf die Bewohner des abgetretenen Gebiets wegen militärischer oder politischer Handlungen während des Krieges nicht verfolgen (Frankfurter Friede vom 10. Mai 1871 Art. 2 Abs. 2, Fleischmann 100, Friede von Ouchy 1912). Die Amnestie bezieht sich weder auf Ansprüche, die mit dem Krieg nicht im Zusammenhang stehen, noch auf Ansprüche, die während des Krieges rechtmäßig begründet wurden, sich nicht auf Ver­ letzung des Kriegsrechts stützen, noch endlich auf Ansprüche zwischen Kriegführenden und Neutralen.

Sachregister. Anklageprinzip 151. Anklageschrift 184. Anklageverfügung 248 s. Annalia 339. Annatae Bonifacianae 339. Annus decretorius 374. — discretionis 402. Anschuldigung, falsche 69. Ansegis, Sammlung 300. Anstiftung 27, 29 f., 219. Antimodernisteneid 363 Anm. 2. Antrag 42 ff. Abolition 44. — auf Einleitung eines objek­ Absenzverfahren 202 f. tiven Verfahrens 165. Absenzverhandlung 187 f. — auf Erlaß eines Strafbefehls Absicht 21. 165. Absolution 446. — auf Voruntersuchung 165. Absorptionsprinzip 39. Anwaltszwang 159. Abstimmung 249. Apocrisiarii 330. — nach Gründen 162. Apostasia a regula sive a Abtreibung 49. monachatu 431. Accedo 418. Apostolicae sedis gratia epi— nemini 418. scopus 332. Achtungsverletzung 228. Apprehensionstheorie 53. Acta sedis Apostolicae 435. Aprobatio pro cura 351. Actio libera in causa 20. Arbeitshaus 35. Advocatiae 373. Arbeitsstrasen 259. Advocatus ecclesiac 341. Archidiakon 306. Aedificatio 452. Archidiaconi minores 308. Affectus maritalis 336. Archidiakonat 306. Afterleihe 308. Archipresbyter 305. Agent provocateur 30. Argumentum unitatis 323. Akklamation 418. I Arrest 222. Akkusationsmaxime 150. Arrestbuch 68. Akolythen 285. I Arreststrafen 259. Alienatio bonorum 333. i Articles organiques 358. Allianz, heilige 394. Ämter, als Kurialbehörden 421. Artikelsbriefe 213. Assignatio fundi 452. Ämterleihe 308. Asylrecht 12, 298, 354. Ämterrecht, der Kirche 447. — und Auslieferung 527. — (der evangel. Kirche) 474. Attentatsklausel, belgische 12. Amnestie 44. Amotio administrative, ab of­ Auflauf 67. ficio et beneficio curato 454. Aufreizung z. Klassenkampf 61. Aufruhr 67. Amtsanmaßung 68. Auftrag, im Völkerrecht 546. Amtsanwaltschast 148. Augenschein 173, 247. Amtsenthebung 345, 446. Augenscheinsobjekt 173. Amtsgerichte 138, 139. Augsburgische Konfessions-Reli­ Amtsgerichtspräsidenten 138. gion 371. Amtsgewalt, bischöfliche 309. Ausbeutung 56. Amtsverbrechen 71 f. Ausbildung, theologisch-juri­ Amtsverlust 224. stische 328. Anathema 295. Ausführung 24. Aneignungsdelikte 52 ff. Ausgleichvorschlag 273. Anerkennung, als Berpflichtungsgrund, im Völkerrecht Auslegung der MStGO. 233 s. 510. Auslieferung 12, 527. Auslieferungsbegehren 528. Angarie 550, 566. Auslosung der Geschworenen Angeklagter 134, 242. 191. Angeschuldigter 132. Angilramni capitula 301. I Ausschluß der Rechtswidrigkeit I 17. Anklage 165, 184.

A. Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte 35, 223. — einzelner Ehrenrechte 36. Aberratio ictus 22. Abgabenfreiheit der Gesandten 533. Abgeleiteter Erwerb, der Ge­ bietshoheit 518. Ablehnung von Gerichtspersonen

Aussetzung 48. Auswanderung u. Rückkehr 524. Ausweisung 35. Außerverfolgungsetzung des An­ geschuldigten 186.

V. Back-to-bock System 95. Bande 27. Bankbruch 57. Bann, kleiner 446. Bannus episcopalis 309. Bannus sancti Petri 309. Basilica 303. Baulast, kirchliche 457. Beamtenrecht, im Völkerrecht 529. Beatificationes 415. Bedingungen d. Strafbarkeit 128. Befehl 221. — in Dienstsachen 17. Begnadigung 44. Beginn und Ende der Ge­ sandtenstellung 531. Begräbnis, kirchliches, Ver­ sagung 310. Begünstigung 27. Behörden, kirchenregimentliche 463. Beihilfe 27, 29. Beisitzer 140. Beistandsleistung 160. Belagerungszustand 216. Beleidigung 51. — Vorgesetzter 228. Belügen des Vorgesetzten 228. Benediktina 353. Benedict Levita, Fälschungen 301. Beneficium titulatum 448. — (uneigentliches) 448. — vel officium vacans 448. Benefizialvermögen, Verwal­ tung 458. Benefizialwesen, kirchliches 307. Beobachtungsanstalten 113. Beratung 249. Bereicherungsdelikte 55 ff. Berichterstatter 140. Berichtigungsverfahren 193. Berufsnchter 136. Berufung 166, 251 f. Berufungsverfahren 193 f. Beschädigung und Preisgabe von Dienstgegenständen 230. Beschimpfung Verstorbener 52. Beschlagnahme 180 f., 246 f. — im Völkerrecht 566. — von Druckschriften 181. Beschränkbarkeit der Gebiets­ hoheit 515.

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Sachregister.

Beschuldigte 134, 242. Breviarum extravagantium 319. Beschwerde 166, 167. Breviarium, Romanum 414. — sofortige 167. Briefsperre 180. Beschwerdeführer 166. Bruderschaften 433. Beschwerdeführung der Militär- Brüssler Übereinkommen 623. (Marine-) Verwaltung 266. Bulle 409. Beschwerderecht, militärisches I — Ad dominier gregis custo262 f. diam 423. — Caclestis altitudo 332. Beschwerde über verhängte Disziplinarstrafen 261 f. — De salute animarum 423. — weitere 264. — dominus ac redemptor 345. Besetzung feindlichen Gebiets — Etsi pastoralis 414. 568. ' — exsecrabilis 343. — der Kapitelstellen 451. — exsurge Domino 369. Besserungsanstalt 35. — Impensa Romanorum 423. Besserungsgefängnisse 97. , — Ineffabilis Deus 364. Besserungsschulen 97. i — per venerabilem 323, 355 Besserungssystem 97. ! Anm. 2. ‘ — Provida sollersque 423. Bestechlichkeit 230. Bestechung 72. — regimini militantis eccleBetrug 55 f. siae 343. Betteln 71. — Sacrosantae 320. Bettelorden der Franziskaner i — Sollicitudo animarum 358. oder Minderbrüder 329. | — Unam sanctam 318, 323. Beurkundung 167 f. Bundesstaat 603. Beurlaubung auf Wohlverhalten ! Bündnis 545. 96. ! Buße 31, 37, 243, 437. Bewährungsfrist 100. Bußbücher 295. I BubNaae 200 f. Beweis 247 f. Beweisaufnahme in der Haupt­ i E. verhandlung 189 f. Beweiserhebung,stellvertretende Caesaropapismus 298. 152 187. Ii PoKvIwiim Ql K Calixtinum 315. i Cancellaria 328. Beweiserschöpfung 244. i Canones 319. Beweisfrist 173. Beweislast 172. — ad Gallos 291. Canonici reguläres 333. — materielle 178. — saeculares 333. Beweismittel 173 f. Canonicus 306. — persönliche 174 ff. Canonisationes 415. — sachliche 173 f. Capitula episcoporum 309. Beweisrecht 171 f. Beweisregeln, gesetzliche 177. Capitulares 306. Capitularia mundana 300. Beweistätigkeit 172 f. — ecclesiastica 300. Beweisverbote, absolute 171. Capitulum 306. — relative 173. Beweiswürdigung, freie 177, Caritativa correctio 338. 244. Cartula ordinationis 307. Casualis derogatio 327. Bewußtlosigkeit 20. Bewußtsein der Rechtswidrig­ Casus 321. keit 21. Causae 319. — mere spirituales 337. Bezirkssynode 468. Bigamie 59. Cellae 303. Censura 295, 446. Billigkeitstheorie 164. Bischof 284, 296, 309, 426. Censurae latae sententiae