Emanzipation und Antisemitismus: Studien zur 'Judenfrage' d. bürgerl. Gesellschaft 9783647359663, 3525359667, 9783525359662


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Emanzipation und Antisemitismus: Studien zur 'Judenfrage' d. bürgerl. Gesellschaft
 9783647359663, 3525359667, 9783525359662

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KRITISCHE STUDIEN ZUR GESC HIC HTSWISSENSC HAFT

Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Hans-Christoph Schröder, Hans-Ulrich Wehler

Band 15 Reinhard Rürup Emanzipation und Antisemitismus

GÖTTINGEN . VANDENHOEC K & R U P R E C H T • 1975 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Emanzipation und Antisemitismus Studien zur „Judenfrage" der bürgerlichen Gesellschaft

VON

REINHARD RÜRUP

GÖTTINGEN • VANDENHOECK & RUPRECHT • 1975 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Rürup, Reinhard [Sammlung] Emanzipation und Antisemitismus: Studien z. „Judenfrage'' d. bürgerl. Gesellschaft. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 15) ISBN 3-525-35966-7

Umschlag: Peter Kohlhase © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1975. - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. - Satz und Druck: Guide-Druck, Tübingen. Bindearbeit: Hubert & C o., Göttingen

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Inhaltsverzeichnis Vorwort

7

I. Judenemanzipation und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland . II. Die Emanzipation der Juden in Baden

11 37

III. Die Judenfrage* der bürgerlichen Gesellschaft und die Entstehung des modernen Antisemitismus

74

IV. Antisemitismus - Entstehung, Funktion und Geschichte eines Be­ griffs (gemeinsam mit Thomas Nipperdey)

95

V. Zur Entwicklung der modernen Antisemitismusforschung . . . .

115

VL Anhang: Emanzipation - Anmerkungen zur Begriffsgeschichte . .

126

Abkürzungsverzeichnis

133

Anmerkungen

134

Bibliographie zur Geschichte der Judenfrage', der Emanzipation und des Antisemitismus

184

Register

203

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

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Vorwort In den Beiträgen dieses Bandes geht es in erster Linie um den Versuch, die moderne Judenfrage' im Zusammenhang von Aufstieg und Krise der bürgerli­ chen Gesellschaft, vornehmlich des 19. Jahrhunderts, neu zu interpretieren. Un­ ter Judenfrage' verstehe ich dabei im wesentlichen die Frage nach der Stellung der Juden in der modernen, bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft — eine Fra­ ge, auf die höchst unterschiedliche Antworten gegeben worden sind. Historisch und systematisch deutlich unterscheidbar scheinen mir zwei Grundformen die­ ser Judenfrage*, nämlich Emanzipation und Antisemitismus. Während die im Aufstieg befindliche bürgerliche Gesellschaft seit dem späten 18. Jahrhundert ihre Judenfrage' grundsätzlich im Sinne der Emanzipation, d. h. der rechtli­ chen Gleichstellung und sozialen Integration der Juden, stellte, war die Juden­ frage' der in die Krise geratenen bürgerlichen Gesellschaft seit dem späten 19. Jahrhundert durch die Forderung nach erneuter Diskriminierung und Aus­ grenzung der inzwischen emanzipierten Juden, d. h. antisemitisch, geprägt. Dem Zeitalter der bürgerlichen Bewegung, der allmählichen Durchsetzung und Ausformung einer liberal-kapitalistischen Gesellschaft korrespondierte ein Zeit­ alter der Judenemanzipation, währenddessen judenfeindliche Tendenzen le­ diglich Unter- und Gegenströmungen in einer anders gerichteten Gesamtbewe­ gung bildeten. Ganz ähnlich entsprach dann der Krise des bürgerlich-liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems und der relativen Konsolidierung der kapitalistischen Gesellschaft unter neokonservativen und imperialistischen Vor­ zeichen eine Epoche des bürgerlichen Antisemitismus, die schließlich in einer neuen gesellschaftlichen Krise in den faschistischen Antisemitismus mündete. In den hier vorliegenden Studien geht es daher zunächst einmal darum, den Charakter und die Probleme des Emanzipationsvorganges genauer zu untersu­ chen und insbesondere die Zielvorstellungen und Ergebnisse des Gesamtprozes­ ses herauszuarbeiten. Darüber hinaus gelten die Bemühungen vor allem einer befriedigenden Erklärung des Zusammenhangs von Emanzipation und Antise­ mitismus und besonders des erstaunlich plötzlichen Umschlags von der emanzi­ patorischen in die antisemitische Judenfrage'. Schließlich sollen Inhalt und Funktion des modernen Antisemitismus im Zusammenhang der Umformung der bürgerlichen Gesellschaft seit der Krise der 1870er Jahre neu beleuchtet und schärfer gefaßt werden. Im Mittelpunkt der historischen Untersuchung stehen dabei durchweg die deutsch-mitteleuropäischen Verhältnisse — allerdings nicht isoliert, sondern in Fragestellung und Methoden stets auf den internatio­ nalen Vergleich ausgerichtet. Dabei ist es natürlich von Bedeutung, daß Deutschland in der Geschichte der Judenfrage' nicht erst durch die national­ sozialistischen Judenverfolgungen und millionenfachen Morde einen besonde7 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

ren Platz eingenommen hat: es war das Land, in dem nicht nur der Antise­ mitismus entstand und entscheidend geprägt wurde, sondern auch der Gedanke der Emanzipation zuerst formuliert und - noch vor der Französischen Revolu­ tion — in ein politisches Konzept umgesetzt wurde. Emanzipation und Antise­ mitismus sind zweifellos weltgeschichtliche Phänomene, deren je konkrete Problematik in den einzelnen Gesellschaften und Regionen einer spezifischen Untersuchung bedarf, ihre Entstehung ist jedoch in beiden Fallen nicht von den mitteleuropäischen Entwicklungen zu trennen. Die Aufhellung und die systematische Verortung dieser Entstehungsprozesse sind das zentrale Thema des vorliegenden Bandes. Während vor allem der erste und dritte Beitrag relativ weitausgreifende In­ terpretationsentwürfe zur Diskussion stellen, bieten der zweite und vierte Bei­ trag detailliert belegte sozialgeschichtliche bzw. begriffsgeschichtliche Fallstu­ dien. Hinzu kommen eine Skizze der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung - unter besonderer Berücksichtigung des marxistisch-leninistischen Interpreta­ tionsansatzes - und eine Diskussion des Emanzipationsbegriffs in Auseinander­ setzung mit einigen neueren Arbeiten. Dem aufmerksamen Leser wird es nicht entgehen, daß sich in den in verschiedenen Jahren entstandenen Beiträgen ein­ zelne leicht von einander abweichende Wertungen finden. Vor allem hinsicht­ lich des Erfolgs des Emanzipationsprozesses bin ich im Laufe der Jahre immer skeptischer geworden, und auch die Auffassungen zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung und insbesondere zur Geschichte des bürgerlichen Libera­ lismus sind zunehmend vorsichtiger und auch kritischer geworden - ich würde heute nicht mehr so einfach von einem „zur Herrschaft gelangten Libe­ ralismus" in Deutschland oder von einem „Jahrhundert des Bürgers" sprechen. Der Gedanke lag daher nahe, solchen Akzentverschiebungen durch eine inhalt­ liche Überarbeitung der Beiträge Rechnung zu tragen; doch schien es nach reif­ licher Überlegung weder nötig noch wünschenswert, diese Stufen des Inter­ pretationsprozesses nachträglich einzuebnen, zumal der zentrale Beitrag über „Die, Judenfrage' der bürgerlichen Gesellschaft und die Entstehung des moder­ nen Antisemitismus" nicht nur zuletzt verfaßt wurde, sondern auch die ver­ schiedenen Ansätze zu bündeln versucht. Eine Veröffentlichung von „Studien" zu einem Themenbereich kann bei aller sachlichen Konzentration natürlich eine Monographie nicht ersetzen — sie bietet nur eine Zwischenbilanz, ohne den Anspruch abschließender Ergebnisse und Wertungen. Im vorliegenden Falle ver­ bindet sich damit jedoch die Hoffnung, nicht nur einen Beitrag zur Eman­ zipations- und Antisemitismusforschung leisten zu können, sondern zugleich auch einige Anregungen und Anstöße zu der allzu lange vernachlässigten syste­ matischen Beschäftigung mit dem Gesamtvorgang der Entstehung, Ausformung und Krise der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft in Deutschland zu ver­ mitteln. Über die zum Teil nach der Abfassung der einzelnen Beiträge erschienenen neueren wissenschaftlichen Arbeiten gibt die Bibliographie — die nicht ein Ver­ zeichnis der benutzten Literatur bietet, sondern als eine systematisch angelegte

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Arbeitsbibliographie einen selbständigen Beitrag zu diesem Band darstellt — eine möglichst genaue Auskunft. Dabei zeigt sich, daß vor allem die internatio­ nale — und interdisziplinäre — Antisemitismusforschung im letzten Jahrzehnt erheblich vorangetrieben worden ist. Zugleich aber wird auch deutlich, daß es noch immer an Untersuchungen zur Geschichte des modernen Antisemitismus, die über die Ergebnisse von Massing, Pulzer u. a. hinausführen würden, fehlt. Hinzuweisen wäre vor allem auf eine Reihe amerikanischer Dissertationen, die allerdings fast alle noch unveröffentlicht sind; außerdem ist bemerkenswert, daß der österreichischen Entwicklung neuerdings mehrere Untersuchungen gewid­ met sind. Erhebliche Fortschritte sind insbesondere in der israelischen For­ schung erzielt worden, deren Ergebnisse jedoch zu einem nicht geringen Teil nur auf Hebräisch vorliegen und daher den meisten Interessenten sprachlich nicht zugänglich sind. C harakteristisch für die historische Forschung zur ,Ju­ denfrage' insgesamt ist die Tatsache, daß die Geschichte der Emanzipation und des Antisemitismus fast durchweg zwei völlig.von einander getrennte Arbeits­ bereiche darstellen. Antisemitismusforscher sind in der Regel nur wenig mit der Geschichte der Juden und der emanzipatorischen ,Judenfrage' vertraut, wäh­ rend auf der anderen Seite die Geschichte der Emanzipation überwiegend im Rahmen einer mehr oder weniger isolierten jüdischen Geschichte behandelt und kaum einmal in die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge gestellt wird. Fortschritte in der Interpretation des Emanzipationsvorganges sind neuerdings vor allem den Arbeiten von Jacob Katz (Jerusalem) zu verdanken, dessen For­ schungen sich im wesentlichen auf geistesgeschichtliche Aspekte und auf die Anfänge der Emanzipation im späten 18. Jahrhundert konzentrieren. Bei dem kürzlich von Jacob Toury (Tel Aviv) veröffentlichten Buch über den „Eintritt der Juden ins deutsche Bürgertum" handelt es sich um eine Dokumentation, die interessantes Material zur Kenntnis bringt, aber keinen Versuch einer weiter­ führenden sozialgeschichtlichen Interpretation der Emanzipation enthält. Was eine auf den Gesamtvorgang der bürgerlichen Emanzipation bezogene Regio­ nalstudie zu leisten vermag, zeigt unter anderem die kürzlich erschienene Sozial­ geschichte der Judenemanzipation in Westfalen von Arno Herzig (Essen). Im Zusammenhang einer seit längerem geplanten, auch weitgehend vorberei­ teten, aber aus äußeren Gründen zunächst zurückgestellten Gesamtdarstellung der Judenemanzipation in Mitteleuropa war es mir möglich, neben der zeitge­ nössischen Publizistik auch die Regierungs- und Behördenakten der wichtigeren deutschen Staaten vor allem zur Emanzipationsbewegung, zum Teil aber auch zur Geschichte des Antisemitismus auszuwerten. Es handelt sich dabei um die fast ausnahmslos sehr umfangreichen und auch sachlich höchst ergiebigen Be­ stände des Deutschen Zentralarchivs in Merseburg, des Bundesarchivs in Frankfurt und der Staatsarchive in Berlin, Darmstadt, Karlsruhe, Ludwigs­ burg, München und Stuttgart. Hinzu kommen die Protokolle der verschiede­ nen deutschen Landtage, in denen mit großer Intensität über Fragen der Emanzipation — in Preußen auch über den Antisemitismus — debattiert wurde. Es handelt sich gerade dabei um ein außerordentlich interessantes, in der einschlä9 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

gigen Forschung freilich bisher kaum beachtetes Material - wobei zusätzlich die Kommissionsberichte und die Petitionsakten besondere Beachtung verdienen. Eine volle Auswertung dieser Materialien ist bisher nur für Baden erfolgt, des­ sen Untersuchung gerade deswegen als Fallstudie von besonderem Interesse sein mag. Darüber hinaus w a r es jedoch auch für die Ausarbeitung des allgemeinen Interpretationsansatzes und die Formulierung der einzelnen Thesen wichtig, daß sie in Kenntnis dieses reichhaltigen, wenn auch noch nicht voll ausge­ schöpften Materials erfolgen konnten*. Ich nehme deshalb gern die Gelegenheit wahr, um mich auch an dieser Stelle bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die finanzielle Unterstützung bei den im Rahmen des größeren Projektes durchgeführten Archivreisen zu be­ danken. Darüber hinaus habe ich zahlreichen Freunden und Kollegen in Deutschland, den USA und Großbritannien zu danken, mit denen ich Thesen und Ergebnisse meiner Arbeit im Rahmen von Gastvorträgen oder wissen­ schaftlichen Konferenzen diskutieren konnte. Anregungen verdanke ich auch einer Reihe von Studenten in Berlin und Berkeley. Professor Thomas Nipper­ dey (München) bin ich einen besonderen Dank für seine Zustimmung zum Ab­ druck des gemeinsamen Artikels in diesem Band schuldig. Endlich möchte ich zwei Gelehrte besonders erwähnen, deren Zustimmung und Ermunterung mir vor allem im Anfangsstadium dieser Arbeit sehr wichtig gewesen ist: den ver­ storbenen Professor Hans Kohn und Dr. Robert Weltsch, den langjährigen Herausgeber des „Year Book" in London.

* Einzelne Aspekte der in diesem Band aufgeworfenen Fragen sind von mir in­ zwischen in Beiträgen zum deutschen Historikertag in Braunschweig 1974 („Emanzi­ pation und Krise. Thesen zur Judenfrage' in Deutschland 1850-1890") und zum ame­ rikanischen Historikerkongreß in C hicago 1974 („German Liberalism and the Emancipation of the Jews") ein wenig weiter verfolgt worden; beide Texte werden zusammen mit anderen Konferenzbeiträgen 1975 im „Year Book" des Leo Baeck Institute (London) erscheinen.

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I. Judenemanzipation und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland* Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert des europäischen Bürgers, seiner Technik und Industrie, seines Handels und seiner Wirtschaft, seiner Kunst und Wissenschaft. Zwischen 1780 und 1870 ereignete sich jene wirtschaftliche und politische jDoppelrevolution', deren Ergebnis die politische, soziale und kultu­ relle Emanzipation des Bürgertums in Europa war 1 . Dieser Umwälzungsprozeß vollzog sich in England, Frankreich oder Deutschland unter je spezifischen Bedin­ gungen, in unterschiedlichem Tempo und mit ungleichen Mitteln, gleichwohl han­ delt es sich überall um den gleichen Vorgang: die Auflösung der ständisch ver­ faßten, zumeist absolutistisch regierten alteuropäischen Ordnung und die Aus­ bildung einer neuen, bürgerlichen Gesellschaft, deren Parole „Konstitution und Maschine" lautete. Die revolutionierende Kraft vernunftrechtlichen Denkens fand ihren Ausdruck in der Deklaration von Menschen- und Bürgerrechten, in der Forderung nach Verfassung und politischer Freiheit; die wirtschaftliche und soziale Entwicklung verlieh der bürgerlichen Bewegung ihre Dynamik und zugleich den Fortschrittsoptimismus, der trotz Restauration und Reaktion kei­ nen Zweifel an Sinn und Ziel der Geschichte — der Mündigkeit und Selbstbe­ stimmung des Bürgers — aufkommen ließ. „Die Starke des Glaubens und der Überzeugungen, die Macht des Gedankens, die Kraft der Entschlüsse, die Klar­ heit des Ziels, die Ausdauer der Hingebung ist in dem volkstümlichen Lager, alles was einer geschichtlichen Bewegung den providentiellen C harakter, den Charakter der Unwiderstehlichkeit gibt", urteilte Gervinus, selber durchaus Par­ tei, um die Jahrhundertmitte in seiner „Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts"2. Und in einer angesehenen deutschen Enzyklopädie konnte man 1850 lesen, daß „eigentlich die ganze Geschichte der Menschheit als ein großer Emanzipationsprozeß erscheint und alle sozialen und politisch wichtige­ ren Probleme unter den allgemeinen Begriff der ,Emanzipationsfragen' zu bringen sind"3. Alle „Hauptzwecke des Lebens", so heißt es an anderer Stelle, seien auf eine dreifache Emanzipation zu reduzieren: „die ökonomisch-indu­ strielle, die politische und die sittlich-religiöse". In der Tat war, den Zeitgenossen mehr oder weniger bewußt, Emanzipation zu einem konstitutiven Moment der modernen Gesellschaft geworden, zu einem wesentlichen Prinzip ihres Aufbaus: „Die Geschichte dieser Gesellschaft ist die Geschichte ihrer Emanzipation."4 Einen Teil dieses allgemeinen Emanzipationsprozesses der bürgerlichen Ge­ sellschaft — sicherlich nicht den wichtigsten, wohl aber einen der schwierigsten und umstrittensten — bildete die Emanzipation der Juden. Auch dabei handelte es sich um ein gemeineuropäisches Problem, das freilich in jedem Staate sich anders stellte und auch unterschiedlich zu lösen versucht wurde. Der Ablauf

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dieses Emanzipationsvorganges ist unmittelbar verknüpft mit der allgemeinen Entwicklung der modernen bürgerlich-industriellen Gesellschaft: wenn in Mit­ teleuropa zwei Hauptphasen der Judenemanzipation — von 1780 bis 1815 und dann wieder von 1840 bis 1870 — festzustellen sind, so entspricht das durchaus der wechselnden Dynamik der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in diesem Zeitraum, und in mehr als einer Hinsicht spiegelt die Geschichte der Judenemanzipation die besonderen Probleme jedes einzelnen Staates hinsicht­ lich der Entstehung und Ausbildung der modernen Gesellschaft. Gerade am Beispiel der Judenemanzipation wird auch die Gesamtproblematik eines Eman­ zipationsvorganges deutlich, der sich auf die Annahme einer Identität von rechtlicher und realer Freiheit gründete. Da die alte soziale Ordnung rechtlich verfaßt, die Schranken, die sich den neuen Kräften entgegenstellten, rechtlicher Natur waren, galt es zunächst einmal für die gesamte Bewegung ebenso wie für die Juden, diese Schranken zu durchbrechen, die juristischen Fesseln einer vergangenen Welt abzuschütteln. Es zeigte sich dann jedoch bei den Juden be­ sonders deutlich, daß Rechtsgleichheit nicht ohne weiteres die soziale Gleichheit verbürgte, daß auch die neue Gesellschaft vor der Lösung sozialer Probleme stand, die — solange die universelle Emanzipation eine Utopie blieb — nicht durch das bloße Aufsprengen der überlebten Formen zu erreichen war. Als im Gefolge der schweren Wirtschaftskrise der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts dann nicht nur die wirtschaftliche und politische Praxis, sondern auch die Normen des liberalen Systems einer weitverbreiteten Ablehnung verfielen, konnte daher auch die Judenemanzipation wieder in Frage gestellt werden: es entstand die antisemitische Bewegung als die erste große Gegenbewegung gegen die moderne Gesellschaft und gegen die Ideen von 1789. Deutschland kommt in einer Geschichte der europäischen Judenemanzipa­ tion ein besonderer Platz zu. Hier wurde zuerst der Gedanke der Emanzipa­ tion programmatisch ausgesprochen und auch zu verwirklichen gesucht; hier wurde darüber hinaus fast ein Jahrhundert lang die Emanzipations­ diskussion in einer Intensität geführt, wie sie in keinem anderen Lande der Welt zu beobachten ist. Kaum eine andere Frage hat die praktische Politik ebenso wie die öffentliche Meinung jahrzehntelang in gleicher Weise beschäf­ tigt, und keine andere Frage war quer durch alle politischen Lager so umstrit­ ten. Die unterschiedlichsten Lösungsversuche standen in den einzelnen deutschen Staaten auf engem Räume nebeneinander, von einer zunächst vollen, dann teilweise zurückgenommenen Emanzipation in den zeitweise französisch beherrschten Gebieten bis hin zu mittelalterlichen Rechtsverhältnissen noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Es gab Staaten mit einem hohen jüdischen Be­ völkerungsanteil und Staaten mit sehr wenig Juden, Staaten, die wirtschaftlich und politisch relativ weit entwickelt waren, und Staaten, deren traditionelle agrarische Struktur auch im Vormärz noch völlig unverändert war. Auch hierin nahm Deutschland eine Sonderstellung ein: während die politisch und wirt­ schaftlich fortschrittlichsten europäischen Staaten wie England und Frankreich einen nur sehr kleinen jüdischen Bevölkerungsanteil hatten, befanden sich die

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osteuropäischen Gebiete mit ihrer relativ starken jüdischen Bevölkerung in ei­ nem politischen und sozialen Gesamtzustand, in dem sich eine Emanzipations­ frage kaum stellen konnte. Deutschland war daher das Land, in dem sich zu­ gleich das Schicksal der europäischen Juden weitgehend entscheiden mußte. Die Judenemanzipation war kein Kind der reinen Theorie, sondern ein Pro­ dukt des sich seit dem späten 18. Jahrhundert beschleunigenden sozialen Wan­ dels von der alten zur neuen Gesellschaft. Aber sie kam dennoch nicht unver­ merkt, gleichsam von selber, sondern an ihrem Beginn stand ein klares Pro­ blembewußtsein. Die Emanzipation wurde als Aufgabe formuliert, mit einer ganz bestimmten Zielvorstellung, begründet auf eine kritische Situationsanalyse der Gegenwart. Die Diskussion begann im Jahrzehnt vor der Französischen Revolution, wobei jedoch bemerkenswerterweise die bereits erfolgte Aufhe­ bung konfessioneller Schranken in Nordamerika keine Rolle spielte. 1781 er­ schien in Berlin das epochemachende Buch von C hristian Wilhelm Dohm „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden", das eine ungewöhnlich breite und intensive literarische Diskussion entfesselte. 1787 stellte die Akademie in Metz die Preisfrage: „Gibt es Mittel, die Juden glücklicher und nützlicher in Frank­ reich zu machen?", und diese Frage fand, nicht zuletzt unter dem Einfluß der deutschen Diskussion, in Frankreich ebenfalls ein lebhaftes Echo. Aber es wa­ ren nicht nur die Publizisten und Gelehrten, die solche Fragen erörterten, auch die Regierungen griffen sie auf: Joseph II. ging in Österreich voran — seine Verordnungen vom 2. Januar 1782 blieben vorerst die einzigen praktischen Schritte —, bald folgten, von seinem Vorbild angeregt, andere Fürsten, wie vor allem in Baden zu beobachten ist. In Preußen wartete man zunächst ab, da von Friedrich dem Großen in dieser Sache nichts zu erhoffen war; aber schon 1787 begann dann eine Regierungskommission an einem Gesetzentwurf über die künftige Stellung der Juden in Preußen zu arbeiten. Auch in Frankreich schließlich war noch vor der Revolution vom König eine Kommission unter dem Vorsitz Malesherbes'eingesetzt worden, um Reformmaßnahmen zu beraten. Die Lösung der Judenfrage' stand von nun an auf der Tagesordnung der Poli­ tik der europäischen Staaten. Daß es eine Judenfrage' gab, war nichts Selbstverständliches. Jahrhunderte­ lang hatte es in Europa wohl eine Judenpolitik - Judenordnungen und Juden­ abgaben, auch gelegentliche Judenverfolgungen und Ausweisungen - gegeben, aber keine Judenfrage'. Die Juden waren von den Ständen als eine Landpla­ ge* oder von den Fürsten als eine Finanzquelle betrachtet worden, aber sie stellten für ihre Umwelt offensichtlich kein Problem dar, das irgendeine prin­ zipielle Lösung erfordert hätte. Sie lebten außerhalb der ständischen Ordnung, waren aber gleichwohl im Weltbild dieser älteren Zeiten fest verortet: als eine soziale Gruppe mit festen, scheinbar unveränderlichen Merkmalen und als ein unbezweifelbarer Bestandteil der göttlichen Ordnung dieser Welt. Daran än­ derte sich zunächst auch kaum etwas, als seit dem 17. Jahrhundert einzelne jü­ dische Familien zu bedeutendem Reichtum gelangten und als Finanzpartner der Fürsten und des Adels in eine neue Beziehung zu ihrer christlichen Umwelt

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traten. Erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, als sich vor allem in Berlin das hier freilich eine ganz einzigartige Stellung einnimmt - mit der wirt­ schaftlichen auch eine kulturelle jüdische Oberschicht auszubilden begann, ent­ stand ein differenzierteres Bild vom Judentum. Dabei wurde es nun für die weitere Entwicklung entscheidend, daß zur gleichen Zeit die soziale Welt in Bewegung geriet und sich aus den Theorien der Aufklärung ein nicht mehr ständisch gebundenes, säkularisiertes Staatsdenken entwickelte, das es möglich machte, die Judenfrage' in größeren Zusammenhängen zu sehen. Insbesondere in Deutschland eröffnete die lange Friedensperiode nach dem Siebenjährigen Krieg und die ansteigende Agrarkonjunktur seit den siebziger Jahren die Mög­ lichkeit verstärkter innenpolitischer Reformtätigkeit. Merkantilistische und physiokratische Theorien fanden bei den Fürsten und ihren Regierungen ein zunehmendes Interesse, Manufakturen wurden gegründet und landwirtschaftli­ che Techniken verbessert, Rechts- und Verwaltungsreformen ebneten neuen Entwicklungen den Weg, Erziehungsprojekte mannigfachster Art galten der Ausbildung brauchbarer', d. h. mit praktischen Kenntnissen und Fähigkeiten ausgestatteter Bürger. Die Regierungspolitik nicht weniger deutscher Staaten stand unter den Vorzeichen von Reform und Experiment, unterstützt und vor­ angetrieben durch eine aufgeklärte öffentliche Meinung, die sich in einer Flut von gemeinnützigen Zeitschriften und patriotischen Broschüren äußerte. Hin­ ter aller Aktivität stand dabei ein schier unbegrenztes Vertrauen in die Mög­ lichkeiten des Staates als des Initiators und Lenkers aller sozialen Veränderun­ gen, als eines Werkzeuges der Vernunft in einer scheinbar unvernünftig kon­ struierten Welt. Unter diesen Voraussetzungen wurden auch die Juden zum Problem, ent­ stand die moderne Judenfrage' - gestellt als die Frage nach der Stellung der Juden in der modernen Gesellschaft. Dabei bestätigt sich die grundlegende Be­ deutung der allgemeinen Entwicklungstendenzen darin, daß die Judenemanzi­ pation durchaus keine Angelegenheit eines Philosemitismus war. Dohm hat sich stets gegen das Mißverständnis gewehrt, daß er eine „Apologie" des Judentums gesdirieben habe, und auch unter den Vorkämpfern der Emanzipation im 19. Jahrhundert spielen philosemitische Tendenzen eine höchst geringe Rolle. Ausgangspunkt aller emanzipatorischen Bemühungen war weniger Sympathie mit den Juden als Kritik an der gegenwärtigen jüdischen Existenz und die Überzeugung: so wie es ist, kann es nicht bleiben. Der Zustand der Juden und ihre Stellung im Staat wurden als unerträglich empfunden - unerträglich aber nicht nur und nicht einmal in erster Linie für die Juden, sondern für den Staat und die christliche Bevölkerung. Die Juden galten - von einzelnen Ausnahmen abgesehen - auch den Emanzipatoren stets als ein „Übel", als „eine höchst lästi­ ge Bürde unserer Staatsgesellschaft", der man sich entledigen müsse. Sie waren nicht nur durch Religion, Sprache, Kultur und Abstammung von der übrigen Bevölkerung deutlich unterschieden, sondern bildeten auch eine sozial weitge­ hend einheitliche Gruppe. Denn nicht die wenigen reichen, sondern die Masse der armen Juden waren das Problem. Jene Juden, denen bürgerliche Gewerbe 14 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

untersagt waren, die vorwiegend vom sog. „Nothandel'' (Hausier-, Leih-, und Trödelhandel) lebten, deren Armut oft unbeschreiblich war. Sie waren ,Schutz­ juden'; ihre Schutzbriefe jedoch waren jederzeit kündbar, und oftmals bestand nicht einmal für das älteste Kind die sichere Hoffnung auf das Recht der Ehe­ schließung und Niederlassung. Alle Juden, die reichen ebenso wie die armen, waren in Korporationen zusammengefaßt, im politisch-religiösen Verband der einzelnen Landjudenschaften. Sie unterstanden besonderen Rechten, mußten für die von ihnen geforderten Abgaben — in Preußen auch für Diebstahls- und Hehlersachen — solidarisch haften, hatten Anteil weder an den Rechten noch an den Pflichten der übrigen Bürger eines Staates. Sie waren, wie es in einem Ministerialgutachten hieß, „bloß im Staate geduldete Untertanen, die zwar dessen Schutz genießen, aber keine Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft sind"5. Wer hier Abhilfe schaffen wollte, mußte auf neue Wege und Mittel sinnen. Das Aushilfsmittel früherer Jahrhunderte, die Vertreibung der Juden über die Landesgrenzen, war im Zeitalter der Aufklärung nicht anwendbar, es versprach auch keine dauerhafte Lösung. Ebenso wenig war von der Praxis einschränkender Verordnungen und drastischer Strafandrohungen zu erwarten. Entscheidend wurde eine neue Interpretation der jüdischen Existenz und ihrer Ursachen. „Der Jude ist noch mehr Mensch als Jude" 6 — dieser Satz wurde zur Grund­ lage aller neuen Überlegungen. Man war nun auf einmal überzeugt, „daß die Juden von Natur gleiche Fähigkeiten erhalten haben, glücklichere, bessere Menschen, nützlichere Glieder der Gesellschaft zu werden"7, und man hatte auch eine Erklärung dafür, warum diese Fähigkeiten bisher so wenig entwickelt waren. Die Juden waren das Produkt der bisherigen Judenpolitik: ihre Abson­ derung von der übrigen Bevölkerung, ihre ausschließliche Betätigung im Han­ del, ihre vielberufene Neigung zum Schacher und Wucher waren nicht natür­ lich, sondern historisch bedingt und daher auch revidierbar. „Ich kann es zuge­ ben", schrieb Dohm, „daß die Juden sittlich verdorbener sein mögen als andere Nationen; daß sie sich einer verhältnismäßig größern Zahl von Vergehungen schuldig machen als die C hristen; daß ihr C harakter im Ganzen mehr zu Wu­ cher und Hintergehung im Handel gestimmt, ihr Religionsvorurteil trennen­ der und ungeselliger sei; aber ich muß hinzusetzen, daß diese einmal vorausge­ setzte größere Verdorbenheit der Juden eine notwendige und natürliche Folge der drückenden Verfassung ist, in der sie sich seit so vielen Jahrhunderten be­ finden."8 Wer die Juden ändern wollte, mußte die Bedingungen ändern, unter denen sie zu leben hatten. Man mußte sie von den Fesseln der Ausnahmegesetz­ gebung befreien, ihnen den Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft ermöglichen, nur dann würde eine „bürgerliche Verbesserung" möglich sein, würde jene „Verschmelzung" der Juden mit den C hristen eintreten, die als das eigentliche Ziel aller Bemühungen betrachtet wurde. Die ,Judenfrage' war, darin waren sich alle fortschrittlich gesinnten Theore­ tiker und Praktiker einig, nur auf dem Wege der Emanzipation, der Befreiung von den traditionellen Rechtsbeschränkungen, zu lösen. Offen blieb jedoch zu-

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nächst, auf welche Weise diese Emanzipation geschehen sollte. Dohm plädierte grundsätzlich für „vollkommen gleiche Rechte mit allen übrigen Untertanen"9, aber er glaubte zugleich, daß es sich bei der „bürgerlichen Verbesserung" nur um einen langwierigen Erziehungsvorgang handeln könne, den der Staat kon­ trollieren und durch einzelne Erziehungsgesetze - zur Überwindung religiöser Absonderungstendenzen und insbesondere zur Abkehr von der ausschließlichen Beschäftigung mit dem Handel - lenken müsse. Die „Umgießung eines ganzen Volkes"10 erschien als eine Aufgabe, die der Staat - aber auch nur er allein durch zugleich entschiedene und vorsichtige Reformmaßnahmen zu lösen im­ stande war. Auch hier erschien die ,Judenfrage' eingebettet in die allgemeinen Tendenzen der Zeit. „Das große und edle Geschäft der Regierung ist", so hieß es bei Dohm, „die ausschließenden Grundsätze aller dieser verschiedenen Ge­ sellschaften so zu mildern, daß sie der großen Verbindung, die sie alle umfaßt, nicht nachteilig werden, daß jede dieser Trennungen nur den Wetteifer und die Tätigkeit wecken, nicht Abneigung und Entfernung hervorbringen, und daß sie sich alle in der großen Harmonie des Staats auflösen. Sie erlaube jeder dieser besonderen Verbindungen ihren Stolz, auch sogar ihre nicht schädlichen Vorur­ teile; aber sie bemühe sich, jedem Gliede noch mehr Liebe einzuflößen, und sie hat ihre große Aufgabe erreicht, wenn der Edelmann, der Bauer, der Gelehrte, der Handwerker, der C hrist und der Jude noch mehr als dieses, Bürger ist."11 Das war das Bild einer neuen, die Schranken von Ständen, Korporationen und Konfessionen überwindenden Gesellschaft, freilich unter der Führung und Au­ torität des Staates. „Der Staat als Hüter und Diener der bürgerlichen Gesell­ schaft"12 — dieser Grundgedanke der Schöpfer des preußischen Allgemeinen Landrechts tritt auch in der Diskussion der Judenemanzipation immer wieder deutlich hervor. Es gab freilich auch andere Stimmen, von denen nun auch im Hinblick auf die Juden die mächtig wirkende Kraft der Freiheit beschworen wurde. So schrieb zum Beispiel H. F. Diez 1783: „Jede Politur unter Menschen ist von Freiheit ausgegangen. Man schenke sie den Juden, und sie wird in ihnen bald dasjenige verjüngen, was der Druck von Jahrhunderten fast erstickt hatte. Der menschliche Geist in Gesellschaft bedarf zu seiner Pflege fast weiter nichts, als daß er nur nicht eingeschränkt werde. Um Menschen einander ähnlich zu ma­ chen, hat man nur nötig, ihnen Gelegeheit zu geben, ungestört auf einander zu wirken, ohne Ungleichheit der allgemeinen Achtung einzuführen, welche Men­ schen von Menschen entfernt."13 Dagegen aber standen andere Autoren, die die Rolle des Staates noch stärker als Dohm betonten und nur ein sehr vorsich­ tiges Vorgehen für tunlich hielten — „weil man so dem Gang der gemach wir­ kenden Natur folgt, und eine Revolution vermeidet, deren Folgen sich nie vor­ her sicher berechnen lassen"14. F. v. Schuckmann hielt es daher für nötig, zu­ nächst einmal praktische Erfahrungen zu sammeln, wofür ihm die von Dohm abgelehnte Gründung von jüdischen Kolonien besonders geeignet erschien. Ge­ gen eine plötzliche und unvorbereitete Gleichstellung gab er zu bedenken: „Durch plötzliche Vermischung der Juden mit den übrigen Bürgern würde

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wahrscheinlich das Drückende ihrer Lage nicht aufgehoben werden; sie würden von diesen nach dem eingewurzelten Vorurteil doch nicht als Brüder, von ei­ nem großen Teil der Obrigkeiten mit diesen doch nicht gleich behandelt wer­ den, und dawider könnten sie die strengsten und weisesten Verordnungen nicht schützen. Was vermögen diese gegen Vorurteil und ehe der Geist ihrer Ausfüh­ rung in der Nation gereift ist? . . . So lange also das Ganze der Nation die Ju­ den noch für eine schlechtere Menschenart und sich durch ihre Gleichmachung beleidigt hält, so lange das Vorurteil wider sie noch in den Herzen des größten Teils der christlichen Obrigkeit und der das Volk lenkenden Geistlichkeit herrscht; so lange ist es unmöglich, sie durch Gesetze allgemein vor Unterdrük­ kung zu schützen, weil man den inneren Gehalt menschlicher Handlungen, Ton und Gebärden nicht vor Gericht führen kann, und da im gegenwärtigen Fall der größte Teil der jetzt aufgenommenen Juden unleugbar nicht die nöti­ gen Bürgers-Fähigkeiten mitbrächte, so würde sogar solchen Bedrückungen sel­ ten ein Schein des Rechts fehlen, und es wäre zu befürchten, daß so ihre Sache noch weiter zurückgebracht würde, als sie jetzt steht."15 Das waren, wie die Zukunft lehren sollte, gewiß keine unberechtigten Befürchtungen. Der Abbau bestehender Vorurteile war eines der zentralen Probleme jeder Emanzipations­ politik, und auch die Befürworter einer plötzlichen Gleichstellung waren in dieser Frage zwar optimistisch, aber nicht naiv. Selbst Dohm, der die Gleich­ stellung mit erzieherischen Nlaßnahmen — d. h. mit erneuten Beschränkungen und Sonderrechten — verbinden wollte, rechnete damit, daß der Prozeß des so­ zialen Ausgleichs zwischen Juden und C hristen möglicherweise drei bis vier Ge­ nerationen in Anspruch nehmen werde. Auch der allmähliche Abbau der Schranken vermochte dieses Problem jedoch nicht zu lösen — im Gegenteil: in den verbleibenden Rechtsungleichheiten vermochten die Vorurteile eine immer erneute Bestätigung zu finden. Der allmähliche, stufenweise Emanzipationsvor­ gang reproduzierte ständig die Schwierigkeiten, die zu überwinden seine Auf­ gabe sein sollte. In Deutschland setzten sich nicht die von Diez, sondern von die von Dohm oder auch von Schuckmann vertretenen Auffassungen durch. Inzwischen wurde jedoch durch die Französische Revolution die ,Judenfrage' praktisch wie theore­ tisch auf eine neue Ebene gehoben. Zwar hatte selbst die Nationalversammlung zuerst gezögert, sämtlichen französischen Juden die volle Gleichberechtigung zuzugestehen, aber schließlich hatte man sich den auf die Prinzipien der Revo­ lution gestützten Argumenten für die Judenemanzipation doch nicht entziehen können. Das Gesetz vom 13. November 1791 brachte allen französischen Juden die sofortige und uneingeschränkte Gleichstellung. Von nun an gab es zwei Konzeptionen für die Judenemanzipation, für die Deutschland und Frankreich jeweils Pate standen: eine aufgeklärt-etatistische und eine liberal­ revolutionäre. Während man sich in Frankreich mit einem einzigen Emanzipa­ tionsakt begnügt hatte und den sozialen Ausgleich dem freien Spiel der gesell­ schaftlichen Kräfte überließ, hielt man in Deutschland auch weiterhin daran fest, daß der Staat nicht nur ein Rechts-, sondern auch ein Erziehungsinstitut 17 2

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sei und seine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft auch hinsichtlich der Juden wahrzunehmen habe. Das Vertrauen, das man in Frankreich der inte­ grierenden Kraft der Gesellschaft entgegenbrachte, setzte man in Deutschland auf den Staat. Emanzipation sollte hier nicht ein einmaliger Akt, sondern ein langwieriger Prozeß sein. Die volle Gleichstellung sollte erst Abschluß und Krönung des gesellschaftlichen Integrationsprozesses sein. Die Judenemanzipa­ tion wurde so in deutschen Staaten weithin zu einer Sache der Bürokratie, je­ nes fortschrittlich gesinnten und durch die Aufklärung geprägten Teils der Be­ amtenschaft, der sich vielfach als Erzieher des Volkes zur bürgerlich-industriel­ len Gesellschaft verstand und dadurch den spezifischen C harakter der bürgerli­ chen Emanzipation in Deutschland bestimmte. Zu konkreten Reformen kam es in Deutschland vor 1800 nicht mehr. Zwar hatten Josephs II. Bestimmungen im wesentlichen bis zur 48er Revolution Be­ stand, aber sie bewirkten nur wenig und vermochten keinerlei Modellfunktion auszuüben. Die in einzelnen Staaten eingesetzten Kommissionen arbeiteten nur zögernd und ohne rechten Erfolg. Wichtig waren sie oft nur insofern, als sie das Bewußtsein einer »Judenfrage1 wachhielten und durch die von ihnen ange­ forderten Gutachten und Statistiken allmählich auch die mittleren und unteren Verwaltungsbeamten von der Notwendigkeit einer Lösung überzeugten. Ledig­ lich in Berlin kam es zu einer bezeichnenden Zwischenlösung, gleichsam einer Abschlagzahlung an die jüdische Oberschicht im Hinblick auf die immer wie­ der verzögerte allgemeine Gesetzgebung. 1791 erhielt der Berliner Bankier Da­ niel Itzig für sich und sämtliche Nachkommen — das waren faktisch die ein­ flußreichsten jüdischen Familien in Berlin — ein Naturalisationspatent, das ih­ nen die vollen Rechte preußischer Untertanen gewährte. Dadurch wurde die Sonderstellung der Berliner Juden noch einmal unterstrichen: sie waren von bedeutendem wirtschaftlichem Einfluß, zählten in ihren Reihen eine nicht ge­ ringe Zahl angesehener Gelehrter, entwickelten schließlich sogar eine Salonkul­ tur, für die es in Deutschland keinen Vergleich gab. Ihre soziale Stellung er­ laubte es ihnen, nicht einfach auf Initiativen der Regierungen zu warten, sondern selber nachdrücklich einen Emanzipationsanspruch zu erheben. Das gab es zu dieser Zeit kaum irgendwo anders, denn die Hoffaktoren in Süddeutschland waren zwar reich, blieben jedoch vereinzelt und bildeten keine soziale Schicht. Im allgemeinen wurde in der ersten Phase der Judenemanzipation die Emanzi­ pation gewährt und nicht erkämpft. Die Motoren der Entwicklung waren bis weit in den Vormärz hinein die Beamten und nicht die Juden. Wirkliche Fortschritte wurden in Deutschland erst unter dem Einfluß Napo­ leons bzw. der durch ihn bewirkten Erschütterungen und Veränderungen er­ zielt. Zur vollen Emanzipation kam es in allen von Frankreich unmittelbar oder mittelbar beherrschten Gebieten: zuerst in den zu Frankreich geschlage­ nen linksrheinischen Departements, dann im Großherzogtum Berg und im Kö­ nigreich Westfalen (Dekret vom 27.1. 1808). Allerdings war in den linksrhei­ nischen Gebieten auch jener Rückschlag zu verzeichnen, der zu einer dauern­ den Belastung der gesamten liberalen Emanzipationskonzeption wurde: am

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17. März 1808 erließ Napoleon ein Dekret, das den Juden der ostfranzösischen Departements unter dem Vorwurf des volkschädlichen Wuchers eine Reihe von schimpflichen Handelsbeschränkungen auferlegte. Das Dekret wurde als Erzie­ hungsmaßnahme deklariert, und es war zunächst auf zehn Jahre begrenzt, die grundsätzliche Gleichstellung sollte nicht angetastet werden. Dennoch stellte es einen klaren Bruch mit der revolutionären Konzeption dar: auch in Frankreich versuchte damit der Staat regulierend und erziehend einzugreifen; die Aufhebung der Beschränkungen wurde von der vorgängigen ,Besserung' der Juden abhän­ gig gemacht, die Juden waren aufs neue durch einen Sonderstatus aus der Ge­ sellschaft herausgehoben. In den deutschen Emanzipationsdebatten, insbesonde­ re des Vormärz, wurde Napoleon deshalb häufig zum Kronzeugen gegen eine plötzliche Emanzipation erklärt: seine Maßnahme erschien als die faktische Widerlegung des liberalen Emanzipationskonzepts. Für die Mehrzahl der deutschen Staaten ergab sich die Notwendigkeit einer Judengesetzgebung nicht aus einer bestimmten Theorie, sondern aus der Praxis, d. h. aus den allgemeinen Veränderungen ihres Staatsgebietes und seiner inne­ ren Struktur. Die Vergrößerung der Staaten hatte durchweg auch zu einer Zu­ nahme der jüdischen Bevölkerung geführt, zumal gerade in Süddeutschland die Juden sich in den kleinen und kleinsten ehemals reichsunmittelbaren Gebieten in großer Zahl niedergelassen hatten. So hatten etwa Bayern und Württemberg in ihren Stammlanden früher überhaupt keine Juden geduldet, während in den neuerworbenen Gebieten nicht wenige Juden ansässig waren (das gilt vor allem für Bayern, das seit 1815 etwa 50 000 jüdische Untertanen hatte). Hinzu kam, daß in jedem früher selbständigen Gebiet ein anderes Judenrecht galt, so daß sich die Regierungen der neuen Staaten einem unerhörten Wirrwarr von Rechtsordnungen gegenüber sahen. Eine umfassende und einheitliche Regelung war daher schon im Interesse einer straffen Verwaltung und zugleich im Hin­ blick auf die anzustrebende Integration der einzelnen Landesteile unerläßlich. Sie erfolgte konsequenterweise in verschiedenen Staaten im Rahmen der ge­ samten Neuordnung, so zuerst in Baden im Rahmen der sog. Konstitutions­ Edikte von 1807/08, die dann durch eine besondere Juden-Ordnung von 1809 ergänzt wurden. Hier wurden die Juden zu Staatsbürgern erklärt und in ihrer Rechtsstellung wesentlich verbessert, ohne daß freilich eine volle Gleichstellung erfolgt wäre. Auch Bayern schuf 1813 eine einheitliche Regelung für das Kö­ nigreich, die den Juden ebenfalls neue Rechte gewährte, die Idee der Emanzipa­ tion aber doch weitgehend verleugnete. Nicht wenige Staaten verzichteten freilich auch wegen der unabsehbaren Schwierigkeiten einer Neuordnung vor­ läufig ganz auf eine Judengesetzgebung und begnügten sich mit administrati­ ven Regelungen auf der alten Rechtsgrundlage. Zu einer fast uneingeschränk­ ten Emanzipation kam es lediglich im Jahre 1810 in den Herzogtümern An­ halt-Bernburg und Anhalt-Köthen, deren Gesetzgebung ganz singulär dasteht. In Österreich geschah jahrzehntelang nichts, Württemberg, das schon sehr viel früher mit den Vorbereitungen begonnen hatte, kam erst 1828 zu einem allge19 2*

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meinen Judengesetz, andere Staaten wie Sachsen oder Hannover gar erst 1838 bzw. 1842. Einen Sonderfall stellt die preußische Gesetzgebung vom 11. März 1812 dar, da diese weder unter unmittelbarem französischem Einfluß erfolgte, noch aus der Notwendigkeit einer territorialen Neuordnung geboren wurde. Sie knüpfte an die Emanzipationsbestrebungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts an und stand nun im Zusammenhang einer Gesamtreform des preußischen Staates. Im Rahmen der deutschen Emanzipationsversuche stellte sie den ersten wirklichen Höhepunkt dar; die dem Edikt vorangehenden Entwürfe und Gutachten der einzelnen Ministerien und insbesondere der Kultus-Sektion unter Leitung Wil­ helm von Humboldts zeigten ein bemerkenswertes Niveau der Argumentation, zumal einzelne Gutachten in ihren Forderungen weit über die tatsächlich erlas­ senen Bestimmungen hinausgingen. Durch die Städtereform hatten die Juden bereits Bürgerrechte in den preußischen Städten erlangt. Nunmehr galt es, eine dauerhafte Neuordnung zu begründen, die abgestimmt war auf die Ziele der Gesamtreform — „eine wirtschaftlich freie, aber politisch in den Staat einge­ bundene Gesellschaft"16. So wurde die Judenemanzipation zum integrierenden Bestandteil eines großen, unvollendet gebliebenen Reformwerks, jener Revolu­ tion von oben', die die Umwandlung der ständischen Ordnung in die moderne Gesellschaft unter Führung und Kontrolle des Staates zu vollziehen versuchte. Es lag dabei im Wesen jener Gesamtreform begründet, daß man sich trotz eini­ ger entschiedener Ansätze schließlich doch nicht zu einer vollen Gleichstellung der Juden durchringen konnte, sondern auch diesem Edikt die Tendenz eines Erziehungsgesetzes gab. Dennoch erhielten die Juden sehr weitgehende Rechte, und in seinem materiellen Gehalt schien dieses Edikt gar nicht so weit von der französischen Gesetzgebung entfernt. Es bedurfte erst der reaktionären Ver­ waltungspraxis nach 1815, um ganz deutlich werden zu lassen, daß trotz aller Fortschritte auch dieses Gesetz die Grundgedanken der deutschen Emanzipa­ tionsdiskussion nicht überwunden hatte. Daß die Frage der Judenemanzipation in Deutschland dann auch auf dem Wiener Kongreß behandelt wurde, muß zunächst überraschen, da dieses Pro­ blem unter den sonstigen Kongreßthemen recht isoliert steht. Konkreten Anlaß boten die Auseinandersetzungen der Städte Frankfurt, Hamburg, Bremen und Lübeck mit ihren Juden, denen die in der Franzosenzeit gewährten Rechte wieder entzogen werden sollten. Daß sich Metternich, Hardenberg und Hum­ boldt energisch für eine emanzipatorische Gesamtlösung auf Bundesebene ein­ setzten, hatte jedoch andere Gründe: sie waren der Überzeugung, daß nur ei­ ne gleichförmige Gesetzgebung in allen Staaten des Bundes wirklich Erfolg ver­ sprechen konnte. Selbst das vereinte Bemühen von Österreich und Preußen reichte jedoch nicht aus, um einen entsprechenden Beschluß herbeizuführen. Artikel 16 der Bundesakte enthielt lediglich eine allgemeine Zusicherung der Beratung und Entscheidung dieser Frage durch die Bundesversammlung und eine Garantie des gegenwärtigen Rechtsstandes der Juden — wobei allerdings nur die „von" und nicht „in" den einzelnen Staaten gewährten Rechte garan20 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

tiert wurden, was die französische Gesetzgebung praktisch von der Garantie ausnahm. Der Bundestag hat dann in den folgenden Jahren zwar einige halb­ herzige Anläufe unternommen, ist jedoch über vorbereitende Kommissionssit­ zungen nicht hinausgelangt. Der Artikel 16 wurde ebensowenig erfüllt wie das Verfassungsversprechen für die Bundesstaaten in Artikel 13. Die Judenemanzi­ pation blieb auch weiterhin eine Angelegenheit der Einzelstaaten. Die erste Phase der Judenemanzipation war 1815 abgeschlossen. Sie hatte, aufs ganze gesehen, die Unterschiede in den Rechtsverhältnissen der Juden in Deutschland eher vermehrt als vermindert, und sie hatte nur in einzelnen Staa­ ten und stets nur in einem eingeschränkten Sinne eine emanzipatorische Neuordnung gebracht. So viel aber war in diesen Jahren doch deutlich gewor­ den: auch die Staaten, die bisher gezögert hatten, konnten der Frage auf die Dauer nicht ausweichen; auch sie konnten der ,Judenfrage' nicht mehr rein re­ striktiv begegnen, sondern nur durch eine positive Politik, d. h. durch eine Emanzipationsgesetzgebung. Die Entwicklung der Judenemanzipation stand erst an ihrem Anfang. Zunächst freilich begann auch hinsichtlich der Judenemanzipation eine Zeit der Reaktion, die die gleichen Ursachen hatte wie die allgemeine Reaktionsbe­ wegung, die durch wirtschaftliche, vor allem landwirtschaftliche Krisen ausge­ löst, durch die Anfänge sozialen Wandels verschärft und durch die Furcht vor liberalen und demokratischen Bewegungen in ihrer Richtung bestimmt wurde. Die einzelnen Staaten begannen bereits gewährte Rechte auf dem Verwaltungs­ wege zurückzunehmen oder einzuschränken, und von der in Aussicht gestellten Erweiterung dieser Rechte konnte vorläufig keine Rede sein. Zugleich begann, ausgehend von Artikel 16 der Bundesakte, eine neue öffentliche Diskussion über die Juden, und erstmalig wurde diese nun wesentlich durch emanzipa­ tionsfeindliche Stimmen beherrscht. Damit wurde die Kontinuität der durch die Maximen der Aufklärung bestimmten Öffentlichen Meinung durchbrochen, wurde eine emanzipationskritische Öffentlichkeit hergestellt, die sich für die Zukunft als eine schwere Belastung der sozialen Integration der Juden erwei­ sen sollte. Traditionelle Vorurteile gegen die Juden wurden neu belebt, neue kamen hinzu. Daß die Mehrheit des Volkes, insbesondere der Landbevölke­ rung, den Juden nicht günstig gesonnen war und die Emanzipation ablehnte, galt für die folgenden Jahrzehnte im allgemeinen als eine unbezweifelbare Tat­ sache selbst bei den Emanzipationsfürsprechern. „Man kann einem verjährten Vorurteile alle Wurzeln durchschneiden, ohne ihm die Nahrung gänzlich zu entziehen. Es saugt solche allenfalls aus der Luft**, hatte Moses Mendelssohn einmal bemerkt und hatte hinzugefügt: „Mit einem Worte, Vernunft und Menschlichkeit erheben ihre Stimme umsonst; denn graugewordenes Vorurteil hat kein Gehör."17 Gewiß fehlte es auch jetzt nicht an Gegenstimmen, aber die Kontinuität des Vorurteils war nicht mehr zu übersehen. Die Judenfrage' blieb, das war das wichtigste Ergebnis dieser Diskussion, eine Angelegenheit star­ ken öffentlichen Interesses, und dieses Interesse hatte notwendig eine isolierende und damit der allmählichen Eingliederung der Juden entgegenarbeitende Ten21 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

denz. Auch der Staat hatte künftig mit dem Urteil der öffentlichen Meinung zu rechnen, die Erziehung* der Juden war keine bloße Verwaltungssache mehr. Überschattet wurde diese Diskussion 1819 durch die sogenannte „Hep! HepÎ-Bewegung", die sich — ausgehend von einigen Vorfällen in Würzburg — im Spätsommer des Jahres über zahlreiche deutsche Städte und Landschaften verbreitete. Sie brachte Judenverfolgungen, wie es sie seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben hatte. Der materielle Schaden war, aufs ganze gesehen, nicht einmal sehr groß, aber die allgemeine Wirkung dieser Revolte der alten gegen die neue Zeit war doch ungeheuer, indem plötzlich deutlich wurde, daß auch im 19. Jahrhundert Handlungen möglich waren, die man einer längst vergan­ genen Zeit zugehörig erachtet hatte. Sie brachten eine neue, erschreckende Zu­ kunftsperspektive, irritierten den Fortschrittsoptimismus des gebildeten Bürger­ tums, zeigten eine Kehrseite der sozialen Wandlungen, die man nicht vermutet hatte. Denn mit den sozialen Veränderungen und einem dadurch bedingten, durch aktuelle wirtschaftliche Nöte verschärften Krisenbewußtsein hing diese Bewegung allerdings zusammen; sie war keine Antwort auf die rechtliche Bes­ serstellung der Juden, sondern auf die sozialen Erschütterungen durch die Um­ wandlung der Gesellschaft. Für die Judenemanzipation bedeutete sie allerdings darüber hinaus insofern eine wesentliche Belastung, als die Erinnerung an sie über Jahrzehnte hin lebendig blieb, erneut aktualisiert durch die Verfolgungen im Frühjahr 1848, immer im Hintergrund jedoch auch bei allen sogenannten „Exzessen", die in der Regel völlig bedeutungslos waren, aber von den Regie­ rungen ebenso wie von den Juden sehr ernst genommen wurden. Über der Fra­ ge der Judenemanzipation schwebte von nun an, von manchen nicht ohne Ab­ sicht immer wieder beschworen, das Damoklesschwert des ,Volkszorns€. Zwischen 1815 und 1848 verlagerte sich die Emanzipationsdiskussion vor al­ lem in die konstitutionellen Staaten des deutschen Südens und Südwestens. In Österreich und Preußen dagegen verzichtete man bis zur Revolution bzw. bis zum Vorabend der Revolution auf grundlegende Änderungen. Die preußischen Provinziallandtage hatten sich 1824—1828 durchweg negativ zur Frage der Emanzipation geäußert, und auch die Verwaltung schlug einen reaktionären Kurs ein. Einzelne Rechtsgewährungen — z. B. zu akademischen Lehr- und Schulämtern — wurden widerrufen, Auslegungen von strittigen Rechtsbestim­ mungen erfolgten fast ausnahmslos zu Ungunsten der Juden. Das C harakteri­ stikum der preußischen Judenpolitik dieser Jahrzehnte war die erneute Rechts­ unsicherheit: erst durch eine Allerhöchste Ordre vom 30. August 1830 wurde endgültig entschieden, daß das Edikt in den nach 1812 neugewonnenen oder wiedererworbenen Landesteilen — d. h. im größten Teil der Monarchie — keine Gültigkeit besitze. Damit verzichtete man auf die 1812 hergestellte Rechtsein­ heit für das gesamte Staatsgebiet; man begnügte sich in der Regel mit den in den einzelnen Landesteilen vorgefundenen Rechtsbestimmungen und nahm le­ diglich für die Provinz Posen, in der zwei Drittel aller preußischen Juden leb­ ten, 1833 eine Neuordnung vor, die den einzelnen Juden eine Individualeman­ zipation durch den Erwerb eines Naturalisationspatents ermöglichte. Bis 22 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

1847 gelang es nicht, eine gleichförmige Judengesetzgebung für den ganzen Staat einzuführen (und selbst dann wurde für Posen eine Sonderregelung bei­ behalten). In den konstitutionellen Mittelstaaten ergriff man im einzelnen höchst un­ terschiedliche Maßnahmen, im Prinzip — d. h. im Festhalten an der aufgeklärt­ etatistischen Konzeption einer allmählichen Emanzipation - war man sich je­ doch einig. Ihren deutlichsten Ausdruck fand diese Konzeption in dem würt­ tembergischen Juden-Gesetz von 1828. In Stuttgart wurde auch in der Folge­ zeit von der Regierung immer wieder erklärt, es sei einfach nicht wahr, daß „es nichts brauche, als die ursprüngliche Bedrückung aufzuheben. Es sind Miß­ verhältnisse in Folge jener Bedrückung entstanden, die nun an und für sich selbst einen Gegenstand der Bekämpfung bilden und die vor allem beseitigt werden müssen"18. Das hieß konkret: man durfte sich nicht damit begnügen, den Juden den Zugang zu bürgerlichen Gewerben freizugeben, sondern man mußte gleichzeitig Maßnahmen zur Bekämpfung des Schachers, des Not- oder auch des Güterhandels ergreifen - kurz: nicht ein Emanzipationsgesetz, son­ dern nur ein Erziehungsgesetz konnte Erfolge erhoffen lassen. Ähnlich argu­ mentierte man in Bayern noch 1846: „Der Erteilung der Rechte allein gewährt durchaus nichts. Die Umbildung eines Volkes und seines Nationalgeistes, seiner Denk- und Handelsweise, ist vielleicht die schwerste Aufgabe in der Politik und wir erwarten sie tatenlos von der bloßen Aufhebung einiger Schranken, vom Ausspruch einiger Worte."19 Immer wieder zeigte sich ein erstaunliches Vertrauen in die Möglichkeiten und Fähigkeiten des Staates auch im Zeitalter der bürgerlichen Bewegung, das teilweise sogar dahin führte, der Verwaltungs­ praxis den Vorzug vor jeder gesetzlichen Regelung zu geben. Die Regierung werde, so meinte man etwa in der I. Kammer von Hessen-Darmstadt 1823, den „stufenweisen Gang, der bei der Entwicklung menschlicher Fertigkeiten nie übersehen werden darf, sorgfältig verfolgen und auf einem, vielleicht etwas längeren, aber um so sichereren Wege ihren Zweck erreichen. Verfehlen würde sie ihn aber, wenn sie, ohne allmähliche Verbreitung des Besseren, dem Ziel durch gesetzliche Vorschriften entgegeneilte". Und man fügte noch hinzu: „Stören wir daher die Staatsregierung nicht in ihrem besonderen Gange, und greifen wir nicht der Zeit und der Erfahrung vor."*0 Auf der Grundlage sol­ cher Anschauungen, die auch in der II. Kammer zahlreiche Fürsprecher fan­ den, unterblieb im Großherzogtum Hessen-Darmstadt tatsächlich jeder Ver­ such einer umfassenden Gesetzgebung vor der 48er Revolution. In den süddeutschen Landtagen standen, veranlaßt durch Regierungsvorla­ gen oder durch Petitionen, Fragen der Judenemanzipation fast den ganzen Vormärz hindurch zur Debatte. Dabei zeigte sich, daß auch die deutschen Li­ beralen sich nur zögernd bereit fanden, die Judenemanzipation als eine Prinzi­ pienfrage zu behandeln. Auf dem berühmten liberalen badischen Reformland­ tag von 1831 fanden sich in der II. Kammer lediglich zwei Abgeordnete, die für eine volle und sofortige Gleichstellung stimmten. Man fürchtete nicht allein die der Emanzipation abgeneigte Stimmung des Volkes, sondern man vermoch23 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

te sich auch grundsätzlich nicht von der aufgeklärt-etatistischen Auffassung zu lösen, nach der die Juden erst einmal eine „Vorschule" zur Freiheit zu durchlaufen hatten. Darüber hinaus hatte sich eine spezifisch aufklärerisch-li­ berale Abneigung gegen das Judentum entwickelt, die ihren Ausdruck unter anderem in der liberalen protestantischen Theologie fand, die ihre Kritik an der herrschenden Lehre als Kritik am Judentum im C hristentum formulierte. Der Talmud und der traditionelle Rabbinismus waren gerade den Rationalisten und Liberalen ein Greuel; „Unwissenheit, Fanatismus und Abgeschmacktheit" schienen ihnen in besonderer Weise im Judentum konzentriert. Das Judentum hatte jahrhundertelang nicht nur außerhalb der Gesellschaft, sondern gleichsam außerhalb der Geschichte gestanden; es hatte sich - darin lag der eigentliche Anstoß für die Liberalen - beständig dem Fortschritt verschlossen: „Während alles von der Zeit bewegt wird und ihrer Entwicklung und Umgestaltung un­ terliegt, bietet der Jude allein derselben Trotz, steht gleichsam als ein verstei­ nert lebendes Bild einer vergangenen Zeit unveränderlich unter uns und wird hierdurch, wie alles, was der Zeit entgegen ist, widerlich."21 Hinzu kam jener liberale Doktrinarismus, der antipluralistisch akzentuiert war und eine gewisse Gleichförmigkeit der Gesinnungen und des Handelns für die neue Gesellschaft postulierte, wie es vor allem von Rotteck immer wieder betont wurde. Schon in der französischen Nationalversammlung war von Clermont-Tonnerre unmiß­ verständlich gesagt worden, daß man zwar die Juden als Individuen emanzi­ pieren wolle, nicht aber das Judentum. Gewiß, man verlangte weder in Frank­ reich noch in Deutschland, daß die Juden C hristen würden, aber man erwarte­ te doch, daß sie aufhören würden, Juden zu sein. Das Ziel war, wie man in Württemberg 1828 deutlich formulierte - hier freilich vor allem im Hinblick auf den jüdischen Handelsgeist -, „daß der Jude entjudet werde"22. Man machte zwischen Integration' und Assimilation der Juden im allgemeinen kei­ nen Unterschied, bzw. man konnte sich die Integration offensichtlich nur als Assimilation vorstellen. Die erhoffte „Verschmelzung" von Juden und C hristen sollte, den einzelnen Liberalen wohl kaum ganz deutlich bewußt, faktisch eine Lösung der Judenfrage' durch Auflösung des Judentums bewirken. Damit aber kam in die liberalen Emanzipationsdebatten ein Element der Intoleranz, das den Fortgang der Emanzipation nicht unwesentlich erschwerte. Die Auseinandersetzungen um eine religiöse Reform des Judentums, wie sie auch von der innerjüdischen Reformbewegung seit den Tagen David Friedlän­ ders angestrebt wurde, bewegten in erster Linie die zwanziger Jahre. Nach 1830 trat die liberale Forderung nach einer Reformation des Judentums in den Hintergrund, und auch die »christliche' Politik einzelner Staaten in den vierzi­ ger Jahren führte nicht mehr zu dieser Forderung zurück. Es begann eine neue Phase der Diskussion, in der die Gleichstellung der Juden nun nicht mehr al­ lein als Mittel zum Zweck ihrer „bürgerlichen Verbesserung" oder „C ivilisa­ tion" gefordert wurde. Die Judenemanzipation wurde von jetzt an zu einer Frage des Prinzips - wenn nicht in der Realität, so doch in den Forderungen. Der Liberalismus begann wenigstens in einzelnen Vertretern auf der Höhe sei24 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

ner Prinzipien zu argumentieren. Man erklärte, daß nur die Freiheit zur Frei­ heit erziehen könne, daß nur die Aufhebung aller bestehenden Rechtsungleich­ heiten den großen Gedanken der Rechtsgleichheit im Volke befestigen könne, daß ällein die volle Gleichstellung den Forderungen der Zeit und der Gerech­ tigkeit entspreche. Allen Erziehungsabsichten stellte man den Satz entgegen: „Nur aus der Bürger-Freiheit kann die Bürgertugend hervorgehen. Mache man die Juden frei, so werden sie bald alle die Eigenschaften erwerben, die nur in der Freiheit errungen und nur in dieser Freiheit erhalten werden können."" Die Mehrheit konnte sich jedoch noch immer nicht von den Statistiken, d. h. von dem Argument lösen, daß erst Fortschritte nachzuweisen seien, ehe man in der Gesetzgebung weitergehen dürfe, daß jede Plötzlichkeit vermieden werden müsse. Dennoch brach sich mehr und mehr die Überzeugung Bahn, daß die volle Emanzipation letztlich unvermeidlich sei: „Der Versuch, sich gegen die­ selbe im allgemeinen anzustemmen, würde höchstens diese Emanzipation hin­ ausschieben, aber nicht für immer unterdrücken und vereiteln können."24 In der bayerischen II. Kammer fiel 1846 die Bemerkung: „Ich stelle an jeden die Frage, ob er nicht glaubt, daß einmal eine Emanzipation eintritt, und ich höre: Ja, diese Zeit kommt gewiß."25 Die Judenemanzipation war nicht nur eine Forderung der „Zeitungen", wie der bayerische Abgeordnete Sepp polemisch formulierte, sondern durchaus eine Forderung der „Zeit", d. h. der bürgerlich­ liberalen Gesellschaft. Auch die emanzipationsfeindlichen Äußerungen dieser Jahre sind durch dieses Bewußtsein geprägt - es sind Proteste, die vielfach be­ reits mit schlechtem Gewissen und unter vielen Kautelen formuliert wurden, Argumente ohne Zukunft in einer Gesellschaft, die gewillt war, sich auf die Prinzipien von Recht und Freiheit, ohne Bevormundung durch den Staat, zu gründen. Das Ziel der Emanzipationsbemühungen, wie auch immer diese akzentuiert sein mochten, war die soziale Integration der Juden, die ja nicht nur religiöse und ethnische, sondern auch soziale Gruppenmerkmale aufwiesen. Die Juden­ frage' erschien zu einem wesentlichen Teil als eine soziale Frage, da die über­ große Mehrheit der Juden am Ende des 18. Jahrhunderts den ländlichen und städtischen Unterschichten angehörte und durch einen dürftigen Kleinhandel Hausier-, Not- und Trödelhandel - sein Leben fristete. Ein grundlegender Wandel ihrer Lebensverhältnisse konnte nur von einer Änderung ihrer Er­ werbsverhältnisse erwartet werden. Diese Einsicht hatte bereits am Beginn der Emanzipationsdiskussion gestanden, und alle Regierungen wandten diesem Pro­ blem ihr Hauptaugenmerk zu, seit den zwanziger Jahren unterstützt von jüdi­ schen Vereinen zur Förderung des Handwerks und des Ackerbaus unter den Juden. Überall wurde den Juden der Zugang zu den bürgerlichen Gewerben freigegeben - allerdings selten ohne Ausnahmen und vielfach unter Bedingun­ gen, die den praktischen Wert dieser Zugeständnisse erheblich einschränkten (z. B. mangelnde Freizügigkeit auf dem Lande, die die Ausübung erlernter Be­ rufe vor allem in Süddeutschland oftmals unmöglich machte). Die Fortschritte in der Hinwendung zu bürgerlichen Gewerben wurden von den Regierungen 25 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

genau verfolgt und als Bestätigung oder auch als Anlaß zu einer eventuellen Revision ihrer Judenpolitik betrachtet. Die statistischen Materialien schienen den Fortschritt objektiv meßbar zu machen und dadurch der Politik eine soli­ de Basis zu sichern. Nur zu gern gab man sich in Regierungen und Ständever­ sammlungen immer wieder dem Glauben hin, daß Zahlen Argumente ersetzen könnten. In Wirklichkeit waren gerade die Angaben über die Berufe der Juden stets kritisch zu prüfen - die Verwaltungen legten unterschiedlich strenge Maßstäbe an, die Juden gaben oft mehrere Erwerbsarten an, übten erlernte Be­ rufe nicht aus oder betrieben sie lediglich als Nebenerwerb. Allgemeine Ent­ wicklungstendenzen freilich lassen sich trotz solcher Vorbehalte aus den Stati­ stiken durchaus ablesen. Für Preußen liegen sehr detaillierte Daten vor, die auf der Grundlage der Volkszählung von 1843 für den Vereinigten Landtag von 1847 zusammenge­ stellt wurden26. Von den 206 050 preußischen Juden lebten danach 1843 127 414 in Landesteilen mit einer fortgeschrittenen Emanzipationsgesetzgebung (bzw. mit einem Naturalisationspatent in Posen), während 78 636 nur erheb­ lich geminderte bürgerliche Rechte genossen. Von 62 185 erwerbstätigen Juden waren 43,1 % im Handel, 19,3 % in handwerklichen Berufen und 14,3 % als Tagelöhner und Gesinde tätig; hinzu kam eine Reihe von kleineren Gruppen: Gast- und Schankwirte (4,7 % ) , Wissenschaftler, Künstler und Pädagogen (2,7 % ) , Rentiers und Pensionsempfänger (2,7 % ) , Landwirte und Obstbauern (1 % ) , Gemeindebedienstete (1,3 % ) , sonstige selbständige Gewerbe (2,2 % ) , schließlich Almosenempfänger (3,8 %) und Personen ohne bestimmten Erwerb (4,9 % ) . Die große Gruppe der im Handel Tätigen läßt sich weiter aufschlüs­ seln in 1140 Großhändler und Bankiers, 6003 Kaufleute mit offenen Läden, 1358 Lieferanten und Kommissionäre und 13 238 Klein-, Trödel- und Hausier­ händler (wovon wiederum 4499 sich ausschließlich dem Trödel- und Hausier­ handel widmen). Preußen hatte also am Vorabend der Revolution noch 7,3 % sog. Nothändler unter seiner jüdischen Bevölkerung, zu denen aber ver­ mutlich der größte Teil jener 4,9 % ohne bestimmten Erwerb hinzuzurechnen wäre. Um die Sozialstruktur der preußischen Juden genauer zu erfassen, wäre es jedoch unumgänglich, gesonderte Berechnungen für die einzelnen Provinzen anzustellen (wofür das Material vorhanden ist). In Bayern, wo man 1848 57 498 Juden zählte, liegen unter anderem auch Vergleichszahlen von 1822 vor27. Danach waren 1822 1,6 % der bayerischen Juden im Handwerk, 2,3 % in der Landwirtschaft und 95,1 % im Handel (incl. Hausierhandel) tätig; rund 30 % der jüdischen Bevölkerung widmete sich dem Hausierhandel. 1848 hatten sich die Verhältnisse bereits wesentlich geändert: Landwirtschaft 8,1 %, Hand­ werk 24,2 %, Handel 49,6 %, sonstige Berufe 18,1 % ; als Hausierhändler waren freilich noch immer etwa 30 % der jüdischen Gesamtbevölkerung tätig. Für Baden liegen Berufsstatistiken leider nur für 1833 und zum Vergleich für 1816 vor28. Während 1816 noch 89 % der badischen Juden vom Handel oder Not­ handel lebten, widmeten sich 1833 von den 4068 jüdischen Gewerbetreiben­ den 32,5 % dem Handwerk, dem Ackerbau oder den Wissenschaften und Kün26 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

sten, 40,5 % dem ordentlichen Handel und nur noch 27 % dem Nothandel. Für Württemberg schließlich sind Statistiken zu verschiedenen Stichdaten von 1812 bis 1852 erstellt worden29. Hier scheint die Entwicklung am günstigsten ver­ laufen zu sein: während 1812 85,5 % der Juden als Schacherhändler bezeichnet wurden, waren es 1837 nur noch 38,9 % und schließlich 1852 17,7 %; der An­ teil der bürgerlichen Berufe stieg bis 1852 auf 5,4 % in Wissenschaft und Kunst, 10,3 % in der Landwirtschaft und 64,3 % in Handwerk und Handel. Die Statistiken der einzelnen Staaten lassen sich nur schwer miteinander ver­ gleichen, da jeweils andere Berufe zu einer Gruppe zusammengefaßt sind. Den­ noch laßt sich eine allgemeine Entwicklung des sozialen Ausgleichs deutlich er­ kennen, die unterstützt wurde durch ähnliche Tendenzen im Schul- und Bil­ dungswesen. Württemberg hatte die eindeutigsten Erfolge aufzuweisen, und es hatte in der Tat auch die entschiedenste Politik hinsichtlich der erwünschten Änderung der jüdischen Berufsstruktur betrieben; es hatte aber auch unter al­ len hier genannten Staaten die kleinste Judenschaft und war schon deshalb in vieler Hinsicht von vornherein günstiger gestellt. Genauer zu untersuchen wäre auch, welche Bedeutung in diesem Zusammenhang der Tatsache zukommt, daß den Juden Norddeutschlands vielfach der Aufenthalt auf dem platten Lande verwehrt war, während umgekehrt die süddeutschen Juden in der übergroßen Mehrheit zur Landbevölkerung zählten und keinen Zugang zu den Städten hatten. Schließlich bleibt überhaupt die Frage offen, ob und in welchem Um­ fang sich die Wandlungen in der jüdischen Erwerbstätigkeit ohne entsprechen­ de Erziehungsgesetzgebung vollzogen hätten. Es läßt sich darüber nachträglich keine sichere Aussage machen, aber die Vermutung ist nicht von der Hand zu weisen, daß die allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen dieser Jahrzehnte auch ohne alle staatliche ,Erziehung' den gleichen Erfolg bewirkt hätten. Zu nennenswerten Fortschritten in der Gesetzgebung kam es erst durch die Revolution. Eine Wende hatte sich bereits in der Mitte der vierziger Jahre ab­ gezeichnet, als jene dynamische Entwicklung von Wirtschaft und Verkehr ein­ setzte, die den sozialen Wandel in allen Bereichen der Gesellschaft außeror­ dentlich beschleunigte. In mehreren Ständekammern waren noch vor der Re­ volution emanzipationsfreundliche Beschlüsse gefaßt worden; die entsprechen­ den Gesetzentwürfe wurden jedoch nicht mehr vorgelegt, und es blieb damit doch der Revolution vorbehalten, den Fortschritt zu erzwingen. Am Anfang der Revolution standen freilich zunächst nicht Emanzipationsakte, sondern Ju­ denverfolgungen, die an Heftigkeit sogar die Ausschreitungen von 1819 weit übertrafen. In Baden, Hessen, Schlesien und in einzelnen Städten kam es zu Unruhen, deren Ursachen wirtschaftlicher und sozialer Natur - insbesondere Mißernten und Erschütterungen der ländlichen Sozialstruktur durch Reform­ maßnahmen - waren. Nicht allein die Juden, sondern auch reiche Pfarrer und vor allem die grundherrlichen Schlösser und Rentämter waren die Opfer des Aufruhrs - überall drangen „die Schuldner zu ihren C reditoreri", wie es tref­ fend in einem badischen Untersuchungsbericht hieß30. Die revolutionäre 27 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Emanzipationsgesetzgebung konnte aber auch durch solche Ausschreitungen nicht mehr verhindert werden. In mehreren Staaten führte die Revolution zu Gesetzgebungsinitiativen, den allgemeinen Durchbruch brachten dann die im Dezember 1848 von der Frankfurter Nationalversammlung verabschiedeten „Grundrechte des deutschen Volkes", in deren Artikel V es u. a. hieß: „Durch das religiöse Bekenntnis wird der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerli­ chen Rechte weder bedingt noch beschränkt." Diese Bestimmungen wurden von den einzelnen Staaten teils im Rahmen der Grundrechte übernommen, teils auch in die neuen Verfassungen eingebaut - so 1849 in Österreich oder auch vorher schon in Preußen, das gerade 1847 noch ein wesentlich anders akzentuiertes Ju­ dengesetz verabschiedet hatte. Damit schien nach über zwei Generationen das Ziel der Emanzipationsbewe­ gung erreicht, die Gleichstellung der Juden endlich Wirklichkeit geworden zu sein. Die Illusion währte jedoch nur kurze Zeit. Schon allzu rasch zeigte sich, daß mit dem Scheitern der Revolution auch die Judenemanzipation von Rück­ schlägen nicht verschont blieb. In einer Reihe von Staaten wurden mit den „Grundrechten des deutschen Volkes" auch die eben gewährten Rechte der Ju­ den für hinfällig erklärt. Selbst in Staaten, in denen man von einer ausdrückli­ chen Zurücknahme der Rechte absah, herrschte zumindest eine erneute Rechts­ unsicherheit. In Baden hatte man sogar von Anfang an die Gleichstellung auf die politischen Rechte beschränkt und die in der Praxis wichtigeren Ortsbürger­ üchen Rechte - von denen Erwerbsmöglichkeiten, Niederlassung und Familien­ gründung abhängig waren - ausgenommen. Welche Schwierigkeiten noch im­ mer zu überwinden waren, zeigte sich in den bayerischen Emanzipationsdebat­ ten von 1849/50 über einen von der Regierung vorgelegten, eine sofortige volle Emanzipation bezweckenden Gesetzentwurf: während die II. Kammer nach langen Diskussionen den Entwurf nur mit einigen Einschränkungen annahm, lehnte die Kammer der Reichsräte - der Petitionen gegen eine Gleichstellung mit rund 80 000 Unterschriften zugegangen waren - schließlich den ganzen Entwurf rundweg ab. In fast allen Staaten begann man nach dem Scheitern der Revolution sogleich mit einschränkenden Verwaltungsmaßnahmen, und insbesondere die Zulassung zu Staatsämtern in Justiz, Verwaltung und Heer stand jahrelang praktisch nur auf dem Papier. Preußen, das die Gleichberechti­ gung der Konfessionen auch in die revidierte Verfassung von 1850 übernom­ men hatte, bildete in der Reaktionszeit diese Verwaltungspraxis nahezu zur Vollkommenheit aus. Dennoch gab es schon bald keinen Zweifel mehr: allen reaktionären Bestre­ bungen zum Trotz war die Vollendung der Emanzipation in Deutschland greifbar nahegerückt. Die Entwicklung ließ sich verzögern, aber nicht mehr aufhalten. Die technisch-industriellen Fortschritte, die langanhaltende wirt­ schaftliche Hochkonjunktur und die nun praktisch zur Herrschaft gelangenden liberalen Ideen bewirkten eine grundlegende Umgestaltung der gesamten So­ zialverfassung, die sich vor allem in Süddeutschland - Preußen war in dieser Hinsicht ja weit voraus - in der Einführung von Gewerbefreiheit und Freizü28 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

gigkeit, auch in einer Neuordnung der Gemeindeverhältnisse, niederschlug. Noch unter der Herrschaft der politischen Reaktion begann das Zeitalter des Liberalismus, des wirtschaftlichen und sozialen Optimismus und der kapitalisti­ schen Expansion. Die Judenemanzipation wurde zum integrierenden Bestand­ teil der gesamten Neuordnung, ihre Vollendung erschien lediglich als eine not­ wendige Konsequenz aus der gesamten Gesetzgebungsarbeit der Zeit. Man konnte nun nicht mehr „im Prinzip" gegen die Judenemanzipation sein, wenn man sich nicht außerhalb der Normen und Konventionen der neuen Gesell­ schaft stellen wollte. „Seit zehn Jahren ist der Mut verschwunden, der Juden­ emanzipation im Prinzip entgegenzutreten**, bemerkte 1860 sehr treffend der Führer der badischen Liberalen31, und tatsächlich erreichte z. B. Hermann Wagener, Herausgeber der konservativen „Kreuzzeitung'', schon 1856 mit sei­ nem Antrag, die Bestimmungen über die Rechtsgleichheit der Konfessionen in der preußischen Verfassung wieder zu streichen, nicht einmal mehr eine Debat­ te im preußischen Abgeordnetenhaus. Baden schloß die Emanzipationsgesetzge­ bung 1862 ab, Württemberg 1861/64, Bayern hob 1861 endlich den mittelalter­ lichen Matrikelzwang auf; in Norddeutschland - wo auch Preußen immer noch Sonderbestimmungen für Posen aufrechterhalten hatte - wurde eine ein­ heitliche Regelung durch die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes vom 3. Juli 1869 geschaffen: „Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben. Insbesondere soll die Befähigung zur Teilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Ämter vom religiösen Bekenntnis unabhängig sein." Schon vorher war in Österreich mit der liberalen Verfassung vom 21. Dezem­ ber 1867 die - nach der Revolution nicht grundsätzlich aufgehobene, aber praktisch vielfach eingeschränkte - Gleichberechtigung der Juden erneut bestä­ tigt worden. Mit der Übernahme des Bundesgesetzes von 1869 auf das gesamte Reichsgebiet am 16. April 1871 war die Emanzipationsgesetzgebung für Deutschland endgültig abgeschlossen. So war eine Entwicklung zum Abschluß gebracht, die fast ein ganzes Jahr­ hundert früher eingeleitet worden war. Drei Generationen lang hatte man, in zum Teil erbitterten Auseinandersetzungen, um die Judenfrage* und ihre Lö­ sung gerungen: die Emanzipationsforderung hatte dieser Debatte den Stempel aufgedrückt, aber es hatte auch zu keiner Zeit an Gegenstimmen gefehlt. Als während der Revolution und in den ihr folgenden zwei Jahrzehnten die Emanzipation verwirklicht wurde, hatte man endlich auf die alten Diskussio­ nen verzichtet und die Judenemanzipation als das betrachtet, was sie war, nämlich Teil des Entstehungszusammenhangs einer bürgerlich-liberalen Gesell­ schaft. Der zur Herrschaft gelangte Liberalismus hatte die Statistiken beiseite geschoben und sich zur Durchführung eines Prinzips entschlossen - den sozia­ len Ausgleich, der immerhin inzwischen weit fortgeschritten war, dem freien gesellschaftlichen Kräftespiel überlassend. Und es hätte vermutlich wenig mehr als einer Generation bedurft, um der rechtlichen Gleichstellung nun auch den 29 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

vollständigen Abbau aller noch vorhandenen offenen oder latenten Gruppen­ spannungen folgen zu lassen. 1849 hatte der bayerische Minister von der Pfordten bei der Vorlage des Emanzipationsgesetzes erklärt: « . . . ich bin der Ansicht, daß, wenn wir im Jahre 1849 dieses Gesetz sanktionieren, zwar viel­ leicht nicht das Jahr 1850, wohl aber das Jahr 1870 oder 1880 uns dafür dan­ ken wird."32 Eine solche Konzeption setzte freilich immer voraus, daß eine ungestörte Entwicklung stattfinden werde - genau daran aber fehlte es nun in Deutschland. Statt einer Periode ruhiger innenpolitischer Entwicklung auf der Grundlage liberaler Prinzipien folgten drei Kriege, entstand ein übersteiger­ ter, auch innenpolitisch akzentuierter Nationalismus, wurde schließlich ein deutsches Reich gegründet, das auf wesentlich anderen Fundamenten als der li­ beralen Gesellschaft ruhte. Schon nach wenigen Jahren erschütterte eine Wirt­ schaftskrise von bis dahin unbekannten Ausmaßen das neue Reich, und in ih­ rem Gefolge geriet der Liberalismus in eine tiefgreifende Krise, die zugleich zur ersten fundamentalen Krise der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt wur­ de. Das Krisenbewußtsein aber artikulierte sich in einer antiliberalen Bewe­ gung neuen Typs, im Antisemitismus. Die Zeit zwischen Emanzipation und Krise war zu kurz, um die Judenfrage' und die Tatsache, daß es bis in die sechziger Jahre noch immer Judengesetze' gegeben hatte, in Vergessenheit ge­ raten zu lassen. 1861 bereits hatte der bayerische Reichsrat v. Harleß pole­ misch zwar, aber doch nicht ohne sachliche Berechtigung warnend erklärt: „Es ist eine nicht zu leugnende Tatsache, daß alle Phraseologie in den modernen Staatswörterbüchern und sonstigen Pamphleten in Entsetzen erregender Weise hie und da durchbrochen wird von dem Getöse wilder Judenverfolgungen. Und unter dem Firniß der sogenannten C ivilisation liegt ein Abgrund von Bar­ barei verborgen, deren Eruptionen ich fürchte und die wir in unserer soge­ nannten gebildeten Ära nur gar zu leicht wieder erfahren werden."38 Man darf nun gewiß der historischen Entwicklung keine Zwangsläufigkeit unterschieben, als ob etwa die Entstehung des Antisemitismus eine notwendige Folge dieses Emanzipationsprozesses hätte sein müssen, aber eine kritische Re­ flexion der Emanzipationsgeschichte kann doch nicht absehen von der Tatsa­ che, daß der moderne Anisemkismus von Deutschland seinen Ausgang nahm und hier seine spezifische Färbung erhielt. Daß die Judenfrage' schon wenige Jahre nach ihrer scheinbaren Lösung neu, d. h. antisemitisch gestellt werden konnte, ist ein Faktum, das der Erklärung bedarf. In diesem Zusammenhang dürfte es nützlich sein, sich abschließend wenigstens einige spezifische Belastun­ gen der Judenemanzipation in Deutschland kurz zu verdeutlichen. Es handelt sich dabei vor allem um drei Problemkomplexe: 1. die Konzeption einer allmählichen, stufenweisen Emanzipation, 2. das Nebeneinander verschiedener Lösungsversuche in den einzelnen deut­ schen Staaten, 3. den Versuch einer Emanzipation der Juden in einer nicht- oder nur teil­ emanzipierten Gesellschaft. 30 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

1. Zu den ganz wenigen und für Deutschland nicht repräsentativen Vertre­ tern einer entschieden liberalen Emanzipationskonzeption gehörte Wilhelm von Humboldt, dessen Gutachten über den Entwurf des preußischen Emanzipa­ tions-Edikts, das er 1809 als C hef der Sektion Kultus im preußischen Ministe­ rium des Innern erstattete, eines der bedeutendsten Dokumente emanzipatori­ schen Denkens überhaupt darstellt34. Ausgehend von der bestehenden „Abson­ derung" und dem Ziel einer „Verschmelzung" der Juden mit den übrigen Staatsbürgern, unterschied Humboldt deutlich „zwei Systeme" hinsichtlich der einzuschlagenden Politik: „das eine, das die Absonderung auf einmal, das an­ dere, das sie allmählich aufheben will." „Gerecht, politisch und konsequent" erschien ihm jedoch allein die sofortige Gleichstellung. Die Emanzipation als Erziehungsvorgang verwarf er schon aus prinzipiellen Gründen, da „der Staat kein Erziehungs-, sondern ein Rechtsinstitut ist". Er machte aber zugleich auch konkrete Bedenken gegen eine nur allmähliche Gleichstellung geltend: „denn eine allmähliche Aufhebung bestätigt die Absonderung, die sie vernichten will, in allen nicht mit aufgehobenen Punkten, verdoppelt gerade durch die neue größere Freiheit die Aufmerksamkeit auf die noch bestehende Beschränkung und arbeitet dadurch sich selbst entgegen." Nur eine konsequente Haltung des Staates könne eine dauerhafte Überwindung der bestehenden Vorurteile bewir­ ken, könne die nötigen psychologischen Voraussetzungen für eine soziale Inte­ gration schaffen: „Mag das Volk auch noch so viele gutgeartete Juden sehen; es wird nie leicht dadurch zu anderen Meinungen über die Juden als solche selbst kommen, sondern die Einzelnen immer nur als Ausnahmen betrachten. Auch soll der Staat nicht gerade die Juden zu achten lehren, aber die inhuma­ ne und vorurteilsvolle Denkungsart soll er aufheben, die einen Menschen nicht nach seinen eigentümlichen Eigenschaften, sondern nach seiner Abstammung und Religion beurteilt und ihn, gegen allen wahren Begriff von Menschenwürde, nicht wie ein Individuum, sondern wie zu einer Race gehörig und gewisse Ei­ genschaften gleichsam notwendig mit ihr teilend ansieht. Dies aber kann der Staat nur, indem er laut und deutlich erklärt, daß er keinen Unterschied zwi­ schen Juden und C hristen mehr anerkennt." Gerade an dieser lauten und deutlichen Aussage aber ließen es die deutschen Staaten jahrzehntelang fehlen. Sie gaben den Juden Rechte, sie erlegten ihnen auch Pflichten auf, sie behandelten sie mancherorts sogar beinahe wie vollbe­ rechtigte Bürger - aber sie hielten stets an dem Unterschied zwischen Juden und C hristen grundsätzlich fest, so gering dieser auch immer geworden sein mochte. Und bei jedem die Rechte der Juden erweiternden, die Emanzipation aber noch nicht abschließenden Gesetz wurde zwangsläufig darauf hingewiesen, daß die Juden für die noch ausstehenden Rechte eben noch nicht „reif" seien. Jeder Fortschritt bedeutete so eine erneute Fixierung des Trennenden und da­ mit eine zumindest teilweise Aufhebung des eben erzielten Erfolges. Hinzu ka­ men andere Probleme: Die allmähliche Gleichstellung ließ zum Teil erhebliche Unterschiede hinsichtlich der rechtlichen und der sozialen Stellung der Juden entstehen, sie baute das schlechte Gewissen der christlichen Bevölkerung ab

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und forcierte ein Anspruchsdenken, das bestimmte Leistungen von den Juden erwartete. „Ein Volk, welches so viele Individuen zahlt, die Fabriken, Ban­ quier-Häuser und Landgüter, ja Rittergüter besitzen", meinte man in Bayern gegen die Emanzipation einwenden zu können, „ein Volk, welches verhältnis­ mäßig so viele reiche Leute in seiner Mitte hat, kann unmöglich so unterdrückt sein, denn sonst hätten sie sich solche Reichtümer nicht erwerben können."85 Auf dem Wege der stufenweisen Gleichstellung konnten so selbst die an sich erwünschten Änderungen in der jüdischen Sozialstruktur zu einem Hemmnis des Fortschritts werden: denn plötzlich galten nicht mehr nur jüdische Armut und Unbildung, sondern auch jüdischer Reichtum und jüdische Intelligenz als Hindernis einer weiteren Rechtsgewährung. Der Versuch, die geschichtliche Entwicklung von Jahrhunderten zu revidieren, ein ganzes Volk umzuformen und in eine anders strukturierte Gesellschaft einzuordnen, bedurfte der Geduld. Die individuelle Àngleichung konnte, das wußten auch die Befürworter einer liberalen Emanzipationskonzeption, mehrere Generationen benötigen. Die Poli­ tik der schrittweisen Emanzipation, die sich selbst als eine Politik der Umsicht und der Geduld verstand, ließ es jedoch gerade an dieser Geduld fehlen, da sie stets Erfolge sehen wollte, ehe sie neue Rechte zugestand. Man wußte theore­ tisch auch bei den deutschen Regierungen sehr gut, daß die eingeleiteten Ent­ wicklungen Zeit brauchen würden, aber man ließ sich immer wieder dazu ver­ leiten, schon nach allzu kurzer Zeit nach Ergebnissen zu fragen. Schon 14 Jah­ re nach dem ersten Emanzipationsgesetz behauptete man in Baden: man habe „ihnen alle Mittel dargeboten, sich wie andere Menschen zu bilden, und ihnen Lohn und Preis im voraus gegeben", mit „vollem Recht" dürfe man daher nun „nach dem Resultat fragen"3*. Erst allmählich stellte sich heraus, daß ein Hauptproblem einer stufenweisen Emanzipation darin lag, daß sie nur sehr schwer zum Abschluß zu bringen war - der erhoffte „schickliche" Augenblick kam nie. Statt dessen wurde mit fort­ schreitender sozialer Umschichtung und wachsender wirtschaftlicher Bedeutung der Juden der Widerstand gegen den Abbau der „letzten Barrieren" in breiten Volkschichten eher größer. Ein Abschluß war daher nur im Rahmen eines gesell­ schaftspolitischen Gesamtkonzepts möglich, für das nicht mehr die „Reife" der Juden, sondern die „Reife" der Verhältnisse ausschlaggebend war. Und in der Tat stand am Ende der Emanzipationspolitik in allen deutschen Staaten schließ­ lich doch jener Schritt, der in Frankreich an ihrem Beginn gestanden hatte. Die deutsche Emanzipationskonzeption hatte sich - mochten Regierungen und Parla­ mente auch noch so oft die Kontinuität ihrer Politik beteuern - letztlich nicht durchhalten lassen. Nicht die Erfolge einer bestimmten Judenpolitik, sondern die allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen hatten den Ab­ schluß der Emanzipationsgesetzgebung bewirkt. Der Politik der allmählichen Gleichstellung aber war es in erster Linie zu verdanken, daß es in Deutschland fast ein Jahrhundert lang eine ,Judenfrage' gab, und zwar nicht nur in der Phantasie von Judenfeinden, sondern in der Wirklichkeit der Politik und Ge­ setzgebung der deutschen Staaten. Humboldt hatte auch mit jenem Satz, der 32 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

den allgemeinen Teil seines Gutachtens abschloß, recht behalten: „Wie man ge­ gen die plötzliche Gleichstellung zu furchtsam ist, so scheint man mir bei der allmählichen, welche die doppelte Gefahr des alten und des neuen 2ustandes zugleich bestehen läßt, indem man sie sich beide zu vermindern einbildet, in der Tat zu kühn."87 2. Die Politik einer allmählichen oder stufenweisen Emanzipation wurde zu­ sätzlich belastet durch das Fehlen einer einheitlichen Politik in den deutschen Staaten. Auch das hatte Humboldt bereits erkannt: daß ein einzelner Staat in dieser Frage, in der es um die Überwindung eingewurzelter Vorurteile ging, kaum etwas ausrichten konnte, solange das Vorurteil im benachbarten Staat noch geduldet und durch die Gesetzgebung in Schutz genommen wurde. Auf dem Wiener Kongreß war daher auch folgerichtig von Österreich und Preußen eine Gesamtlösung für das Gebiet des Deutschen Bundes angestrebt worden, je­ doch ohne Erfolg. Sehr treffend hieß es in einer Denkschrift zu Artikel 16 der Bundesakte: „Wenn hier möglichste Übereinstimmung in Deutschland ge­ wünscht wird, so hat diese gerade hier allerdings einen sehr wichtigen Grund. Denn es ist nicht möglich, in einem Bundesstaate auf eine Verbesserung des bürgerlichen Zustandes der Juden mit völligem Erfolge hinzuwirken, wenn nicht in andern Staaten, wenigstens nach allgemeinen Grundsätzen, gleichför­ mig verfahren wird. Der Kontrast ihrer Lage in den verschiedenen Staaten würde einen stets störenden Einfluß äußern. Vorurteile der Juden und Vorur­ teile gegen die Juden konnten nie gänzlich besiegt werden, wenn noch irgend­ wo das Gesetz sie in Schutz nähme.wS8 Die Debatten in den vormärzlichen Kammern bestätigten diese Thesen ebenso wie die Maßnahmen der Regierun­ gen und Verwaltungsbehörden: nur zu gern und nur zu oft berief man sich auf die Verhältnisse in anderen Staaten, um daraus Schlüsse für die eigene Politik zu ziehen. In Baden verwies man auf das Elsaß, wo man sehen könne, daß auch eine vollständige Emanzipation die Juden nicht bessere; in Württemberg dagegen verwies man auf Baden, um zu demonstrieren, daß jegliche Rechtsge­ währung nur Ungelegenheiten, aber keine Fortschritte bringe; und in nicht we­ nigen Staaten wurde immer wieder auf Preußen mit seiner relativ großzügigen Gesetzgebung von 1812 hingewiesen, um daran die Feststellung zu knüpfen, daß auch dadurch wenig gewonnen worden sei. Die jeweiligen Belastungen al­ ler dieser Gesetzgebungen - die Tatsache etwa, daß das Edikt von 1812 nur in einem kleinen Teil der Monarchie eingeführt und auch dort bereits vielfältig durchlöchert war - wurden nicht gesehen, und noch weniger war man bereit zuzugeben, daß jede Gesetzgebung Zeit brauche, um sich auszuwirken. Man sah den eigenen Versuch schon in irgendeinem Nachbarstaat widerlegt, ehe man begonnen hatte, eigene Erfahrungen zu sammeln. Es ist schwer, einigermaßen befriedigende Antworten auf die Frage nach den Ursachen der Emanzipationsschwierigkeiten in den einzelnen Staaten zu fin­ den. Man ist immer wieder versucht, ganz bestimmte Rechtsbestimmungen für ausschlaggebend zu halten, um gleich darauf festzustellen, daß gerade diese Be­ stimmungen in dem Nachbarland fehlen, ohne daß deshalb wesentlich andere 33 3

Rürup

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Ergebnisse erzielt worden wären. Wörtlich übereinstimmende Gesetzestexte zeitigten höchst unterschiedliche Folgen in den verschiedenen Staaten, da sie auf jeweils andere soziale und rechtliche Verhältnisse einwirkten. Während in Süddeutschland die Judenfrage 1 im wesentlichen im Zusammenhang der Agrar­ entwicklung und der Änderungen der ländlichen Sozialverfassung zu sehen ist, stellt sie in Preußen vor allem ein städtisches Problem dar. Die außerordentli­ che Bedeutung des Ortsbürgerrechtes in Süddeutschland hat in Preußen kaum ein Pendant, in Staaten mit einer mindest teilweisen Gewerbefreiheit und Frei­ zügigkeit stellen sich die Probleme wiederum völlig anders als in solchen mit Zunftverfassung und geringer Mobilität. Jeder Emanzipationsvorgang war da­ her nach seinen besonderen Voraussetzungen konstruiert und mit je eigenen Systemfehlern versehen. Von Einheitlichkeit konnte selbst bei scheinbaren Übereinstimmungen kaum die Rede sein, und es ließen sich keine zwei deut­ schen Staaten nennen, in denen der Prozeß der Judenemanzipation auf genau die gleiche Weise abgelaufen wäre. Hier zeigte sich das Fehlen der nationalen Einheit in der Tat als ein Hindernis des Fortschritts. Wie die ganze bürgerliche Reform nicht eine Angelegenheit eines einzelnen kleinen Staates sein konnte, so auch nicht die Emanzipation der Juden. Die föderalistische Struktur Deutschlands schuf Spannungen und Reibungen, die den emanzipatorischen Absichten durchaus zuwiderliefen. Die Schwierigkeiten der Judenemanzipation spiegeln daher nicht zuletzt auch die Problematik der deutschen Bundesverfas­ sung im Zeitalter der bürgerlichen Bewegung. 3. Als Marx 1844 seine „Einleitung" zur „Kritik der Hegeischen Rechtsphi­ losophie" veröffentlichte, warnte er vor der Illusion, daß die allgemeine, uni­ verselle Emanzipation aus der bloßen Addition partieller Emanzipationen ent­ stehen werde. „In Deutschland", so meinte er, „ist die Emanzipation von dem Mittelalter nur möglich als die Emanzipation zugleich von den teilweisen Überwindungen des Mittelalters. In Deutschland kann keine Art der Knecht­ schaft gebrochen werden, ohne jede Art der Knechtschaft zu brechen. Das gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von Grund aus zu re­ volutionieren."39 Tatsächlich vollzog sich die Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland aber in einzelnen, nicht koordinierten Emanzipa­ tionsvorgängen. Die befreiende Revolution blieb ebenso aus wie eine Gesamtre­ form aus einem Guß, zu der man in Preußen immerhin einmal einen Anlauf unternommen hatte. Der Fortschritt geschah in den Teilbereichen der Gesell­ schaft, oft ohne Bezug zur politischen Entwicklung oder zu anderen Teilberei­ chen. Die Existenz einer Verfassung bedeutete, wie man in den süddeutschen Staaten beobachten konnte, durchaus keine Garantie für eine fortschrittliche Wirtschafts- und Sozialstruktur. Moderne Gemeindeordnung und längst veral­ tete Zunftverfassungen, staatsbürgerliche Rechte und sog. „alte Abgaben" an Standes- und Grundherren, Klöster und Pfarreien standen oft seltsam unver­ bunden nebeneinander. Auch die rechtliche Stellung der Juden befand sich stets in einem Span­ nungsverhältnis zu anderen, teils weiter entwickelten, teils noch mehr zurück34 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

gebliebenen Rechtsverhältnissen. Sie berührte nicht nur eingebildete, sondern gelegentlich auch ganze reale Interessen der christlichen Bürger (Anteil am Ge­ meindenutzen, Armenunterstützung usw.). Solange keine Gesamtreform, keine neue soziale Ordnung verwirklicht wurde, waren Reibungen zwischen den ver­ schieden entwickelten gesellschaftlichen Teilbereichen gar nicht zu vermeiden, ja mußten sich einzelne Emanzipationen gegenseitig behindern. Als in Baden 1831 die fortschrittliche Gemeindeordnung verabschiedet wurde, glaubte man auch hier, den einen Emanzipationsvorgang vom anderen trennen zu können, indem man hinsichtlich der Juden einfach erklärte, es solle vorläufig bei ihren bisherigen Rechten bleiben. Das mochte formal korrekt erscheinen, bedeutete aber eine entscheidende Verschlechterung der Rechtsstellung der Juden und eine völlige Korrumpierung der auf Annäherung von Juden und C hristen zie­ lenden Emanzipationspolitik. Denn durch die neue Gemeindeordnung wurde der alte Unterschied zwischen Vollbürgern und Schutzbürgern aufgehoben, wurden 80 000 Schutzbürger zu Vollbürgern, und allein die Juden, die eben­ falls als Schutzbürger galten, blieben in dem bisherigen Stande. Das aber be­ deutete, daß der Unterschied in den Gemeinden nun nicht mehr Bürger — Schutzbürger, sondern vollberechtigter C hrist - minderberechtigter Jude war. So konnte ein Emanzipationsvorgang den anderen in seinem Kern treffen und verkümmern lassen. Beispiele d;eser Art ließen sich häufen - während die preu­ ßische Gewerbeordnung von 1845 für zahlreiche preußische Juden erhebliche Fortschritte brachte, enthielten die zur gleichen Zeit erlassenen Gemeinde-Ord­ nungen der einzelnen Provinzen wiederum neue Rechtsbeschränkungen, indem den Juden die Übernahme von Gemeindeämtern untersagt wurde. Es fehlte nirgendwo an Widersprüchen in der Gesetzgebung und in der Verwaltungspra­ xis: die erwünschte erzieherische Wirkung konnte jedenfalls auf diese Weise kaum erzielt werden. Nicht zu übersehen ist schließlich, daß sich auch die Opposition gegen die Judenemanzipation u. a. aus der Überzeugung speiste, daß andere Emanzipa­ tionsforderungen ebenso wichtig oder gar vordringlicher seien - und tatsäch­ lich war ja die Judenemanzipation nur ein Emanzipationsvorgang unter vielen. Rotteck, der aus vielerlei Gründen gegen die Judenemanzipation sprach, hatte so unrecht nicht, wenn er behauptete, daß „die Emanzipation der C hristen und die Emanzipation der Deutschen" wichtiger sei als die der Juden: „Die letztere mag stattfinden, wenn die erstere geschehen ist. Geschieht die erstere gar nicht, so ist auch die letztere nicht viel wert."40 Und der Freiherr von C losen be­ gründete seine Kritik an der bisherigen Judenpolitik der bayerischen Regie­ rung, indem er einen eindrucksvollen Katalog anderer ebenfalls nicht in An­ griff genommener Emanzipationen zusammenstellte: „Emanzipation der Kin­ der von Unwissenheit und Aberglauben durch bessere Bestellung der Volks­ schulen; Emanzipation der Jünglinge von einer sechsjährigen C onscriptionszeit, wodurch sie ihrem bürgerlichen Verhältnis entzogen werden; Emanzipation des hochachtbaren Offizierstandes von der politischen Minderjährigkeit, nachdem denselben verboten worden ist, von politischen Angelegenheiten Öffentlich zu 35 3*

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sprechen; Emanzipation des Grundeigentums von der Gebundenheit der Güter und von einer Menge drückender Lasten; Emanzipation der Früchte der Land­ eigentümer von der Tyrannei des Wildes; Emanzipation der Landeigentümer von der C reditlosigkeit durch C reditanstalten; sind solche vorhanden, dann wird der Einfluß der jüdischen Glaubensgenossen im Vieh- und Güterhandel nicht mehr zu fürchten sein; Emanzipation der Gewerbe von dem C oncessions­ wesen; dagegen auch die Emanzipation der Gemeinden von willkürlichen Ein­ griffen der C uratelen; Emanzipation des Geistes, der Presse, von der schmähli­ chen C ensur; Emanzipation der Minister durch ein Gesetz über ihre Verant­ wortlichkeit; Emanzipation des C abinetts von äußerem Einfluß."41 Die Frage der Judenemanzipation durfte - das war damit noch einmal deutlich unterstri­ chen worden - nicht isoliert, sondern mußte im Zusammenhang der gesamten politischen und sozialen Entwicklung betrachtet werden. Das Grundproblem der deutschen Judenemanzipation stellte jene zwischen Fortschritt und Beharren schwankende Politik der deutschen Staaten dar, der es nicht gelang, eine Gesamtkonzeption für den Umbau der Gesellschaft zu entwickeln oder gar zu realisieren. Wo Gemeinde- und Gewerbeordnung, poli­ tische und wirtschaftliche Verfassung, industrielle und handelspolitische Ent­ wicklung nur unzureichend oder gar nicht aufeinander abgestimmt waren, konnte man kaum erwarten, daß gerade die Judenemanzipation in reibungslo­ ser Übereinstimmung mit allen anderen partiellen Emanzipationsvorgängen er­ folgen werde. Die Emanzipation und Integration einer ethnisch, religiös und sozial bestimmten Minderheit in einer nicht- oder nur teilemanzipierten Gesell­ schaft muß daher als ein beinahe unslösbares Problem erscheinen. Die Frage nach der Emanzipation der Juden in Deutschland aber erweitert sich damit notwendig zu einer Frage nach der Emanzipation der Deutschen, d. h, zu einer Frage nach der deutschen Geschichte im Zeitalter der bürgerlichen Revolution.

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II. Die Emanzipation der Juden in Baden* „Jede Zeit hat ihre Aufgabe, und durch die Lösung derselben rückt die Menschheit weiter." Diesen Kernsatz aufklärerisch-liberaler Geschichtsauffas­ sung notierte Heinrich Heine im Jahre 1828 auf dem Schlachtfeld von Marengo, und er stellte sich die Frage: „Was ist aber diese große Aufgabe un­ serer Zeit?'' Seine Antwort lautete: „Es ist die Emanzipation. Nicht bloß die der Irländer, Griechen, Frankfurter Juden, westindischen Schwarzen und der­ gleichen gedrückten Volkes, sondern es ist die Emanzipation der ganzen Welt, absonderlich Europas, das mündig geworden ist und sich jetzt losreißt von dem eisernen Gängelband der Bevorrechteten, der Aristokratie.'' 1 Mit der Revolu­ tion von 1789 hatte ein Zeitalter begonnen, das der Ungleichheit von Gruppen und Individuen den Kampf ansagte, eine neue Gesellschaftsordnung auf der Grundlage von Recht und Freiheit aufzubauen sich anschickte. Es war das Zeitalter der Emanzipation, und als seit 1830 die liberale Bewegung in Europa mit erneuerter Kraft auf den Plan trat, wurde „ Emanzipation " die Parole im KampP. Man kämpfte für die Emanzipation der Gesellschaft vom Staat und des Staates von der Kirche, forderte die Emanzipation der Katholiken, der Ju­ den oder der Frauen, sprach von der Emanzipation der Gemeinden von der Bevormundung durch den Staat oder gar - wie Rotteck - von der Emanzipa­ tion des Bodens vom Zehnten. „Emanzipation" wurde, wie es im Brockhaus 1837 hieß, während weniger Jahre eines jener vieldeutigen „Modewörter", „in de­ nen unsere Journalistik einen ungefähren Anhalt ihrer zerfahrenen Reflexion findet"8. Und schon 1831 erklärte in den Beratungen des badischen Landtags über die „Emanzipation der Gemeinden" ein Vertreter des grundherrlichen Adels, diese „Emanzipation" sei zu einem „Schlagwort" geworden, „für alles das, was man einmal durchsetzen zu müssen glaubt" 4 . Eines der großen Themen dieser umfassenden Emanzipationsbewegung ist die Judenemanzipation, deren Ziel es war, eine seit Jahrhunderten außerhalb der Gesellschaft lebende, durch Religion, Sprache und Volkstum von der Mehrheit deutlich unterschiedene Minorität mit gleichen Rechten und Pflichten in Staat und Gesellschaft zu integrieren5. Außerordentliche Schwierigkeiten standen der Verwirklichung dieses Zieles entgegen, und kaum eine andere Emanzipationsbewegung ist quer durch alle politischen Lager so leidenschaft­ lich diskutiert worden6. Tief verwurzelte Vorurteile und Traditionen waren auf beiden Seiten zu überwinden; eine offene Gesellschaft ohne Schranken von Zünften, Ständen und Kirchen war ihre eine Voraussetzung, ein radikaler Bruch mit der jüdischen Vergangenheit, mit der Identiät von Religions- und Volksgemeinschaft die andere. Deutschland war das Land, von dem die Idee der Judenemanzipation aus37

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ging7, Frankreich das Land, in dem sie zuerst verwirklicht wurde. Mirabeau hatte den Gedanken nach Frankreich getragen8, der Abbé Grégoire hatte ihn aufgenommen9, die Revolution führte ihn zum Siege und stellte ihn zugleich auf eine neue Grundlage10. Seit 1791 konnte man von einer französischen und einer deutschen Emanzipationskonzeption sprechen. Im revolutionären Frank­ reich wurde die Gleichberechtigung ohne jede Einschränkung in einem einzigen Akt gewährt, während der Prozeß des sozialen Ausgleichs dem freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte überlassen blieb11. In Deutschland dagegen wurde die rechtliche Gleichstellung nur schrittweise vollzogen und von dem Fortschritt des sozialen Integrationsprozesses abhängig gemacht. Der Staat behielt hier die Entwicklung jederzeit unter seiner Kontrolle und verstand die volle Emanzi­ pation als krönenden und belohnenden Abschluß eines langwierigen Erzie­ hungsprozesses. Diese Konzeption entstammte der Gedankenwelt des aufge­ klärten Absolutismus, wurde jedoch ohne wesentliche Korrekturen auch in die nachabsolutistische Zeit übernommen. Sie blieb die theoretische Grundlage der deutschen Emanzipationspolitik bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts und wur­ de erst in ihrer letzten_Phase von der aus der französischen Revolution gebore­ nen liberalen Konzeption überwunden. Eine Geschichte der Judenemanzipation als eines sich über anderthalb Jahr­ hunderte erstreckenden Problems der europäischen Geschichte ist bisher ebenso wenig geschrieben worden wie eine Geschichte der Judenemanzipation in Deutschland12. Zwar bietet die reiche jüdische Historiographie aus der Zeit vor 1933 manche Vorarbeiten und im Rahmen der zusammenfassenden Darstellun­ gen von Dubnow, Graetz oder Elbogen auch informative Überblicke über den Ablauf der Ereignisse, aber es fehlt eine eigentliche Problemgeschichte der Emanzipation, die freilich auch über den engeren Bereich der jüdischen Ge­ schichte hätte hinausgreifen müssen13. Die Judenemanzipation gehört nicht nur der Geschichte des Judentums, sondern weit mehr noch der allgemeinen Geschichte an. Sie muß im Zusammenhang der allgemeinen politischen und so­ zialen Emanzipationsbewegung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gesehen, als eines der großen Probleme im Entwicklungsprozeß der modernen Gesell­ schaft verstanden werden. Eine Geschichte der Judenemanzipation sollte zu ih­ rem eigentlichen Gegenstand die Problematik von Staat und Gesellschaft in der Spannung von Stillstand und Bewegung, Restauration und Emanzipation haben, denn erst unter diesen Voraussetzungen wäre ein wirkliches historisches Verständnis dieses tief in die Geschichte der Juden, aber auch in die Geschichte der europäischen Nationen und vor allem Deutschlands eingreifenden Vor­ gangs zu erhoffen. Eine solche umfassende Darstellung bedarf mancher Vorarbeiten, in denen die Probleme genauer gefaßt und der Ablauf der Ereignisse sorgfältig rekon­ struiert werden. Im folgenden soll deshalb zunächst einmal der Versuch unter­ nommen werden, die Problematik der Judenemanzipation in Deutschland in einem enger abgesteckten Rahmen, in der Geschichte eines deutschen Mittel­ staates zu untersuchen. Auch für Baden fehlt bisher eine Problemgeschichte der 38 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Emanzipation14, während die Geschichte der badischen Juden zahlreiche Bear­ beiter gefunden hat15. Die Quellenlage ist verhältnismäßig günstig: auf Grund der reichen Bestände des Badischen Generallandesarchivs zur Geschichte der Ju­ denemanzipation ist es möglich, alle wichtigen Entscheidungen und Maßnah­ men der Regierung wie der mittleren und unteren Behörden im einzelnen zu er­ hellen16. Dazu kommen die Landtagsakten seit 1819, die in den Sitzungsproto­ kollen der beiden Kammern, den Kommissionsberichten und Petitionen ein un­ gewöhnlich reichhaltiges, bisher kaum beachtetes Material bieten17. Die Eman­ zipationsbewegung erstreckt sich in Baden über fast ein Jahrhundert, begin­ nend unter dem Einfluß der allgemeinen Emanzipationsdiskussion im späten 18. Jahrhundert während der aufgeklärten Regierung des Markgrafen Karl Friedrich, vollendet unter dem liberalen Regiment des Großherzogs Friedrich, kurz bevor mit der Verfassung des Norddeutschen Bundes und der Reichsgesetz­ gebung von 1871 die Emanzipation der Juden in ganz Deutschland zum Ab­ schluß gebracht wurde. Ihre Entwicklung ist aufs engste verknüpft mit den einzelnen Phasen der badischen Landespolitik dieses Zeitraumes: zunächst mit der aufgeklärt-absolutistischen Politik in der alten Markgrafschaft und der Neuordnung der staatlichen Verhältnisse in den Jahren des Aufbaus und Aus­ baus des Großherzogtums, dann mit den zögernden, zwischen Fortschritt und Beharren schwankenden Versuchen einer Ausgestaltung des konstitutionellen Staates im Vormärz und den revolutionären Erschütterungen 1848/49, schließ­ lich mit dem Übergang zu einem parlamentarischen System unter Großherzog Friedrich zu Beginn der sechziger Jahre. Ihre Fortschritte sind, vor allem seit der Schaffung des Großherzogtums und dem Beginn eines Verfassungslebens, abhängig von den allgemeinen Fortschritten in der Ausbildung einer neuen, bürgerlich-liberalen Gesellschaftsordnung, und es gibt kaum eines unter den großen innenpolitischen Problemen Badens in dieser Zeit - Gemeindeordnung, Steuerreform und Gewerbeordnung, Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche und Schulpolitik -, das ohne Bedeutung für den Gang der Judeneman­ zipation geblieben wäre18. Eine Geschichte der Judenemanzipation in Baden ist daher immer zugleich auch ein Beitrag zur Geschichte der allgemeinen badi­ schen Politik vom späten 18. Jahrhundert bis in die Jahre unmittelbar vor der Reichsgründung. Wie weit sie darüber hinaus in Problemstellung und Verlauf Modellcharakter für die Geschichte der Judenemanzipation in anderen deut­ schen Staaten beanspruchen kann, sollte in mancher Hinsicht ohne besonderen Hinweis erkennbar sein, wird abschließend freilich erst auf der Grundlage ver­ gleichbarer Untersuchungen beurteilt werden können19.

Anfänge und Voraussetzungen Beginn, Anstoß und Motive der Emanzipationspolitik lassen sich in Baden mit bemerkenswerter Eindeutigkeit feststellen. Am 4. Februar 1782 beauftragte 39 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Markgraf Karl Friedrich seinen Hofrat, gutachtlich darüber zu berichten, „ob und in wie weit dasjenige, was in einer neuen Österreichischen Verordnung und deren Nachtrag wegen der Juden verordnet worden, in hiesigen Landen mit Nutzen zu appliciren und wieferne die Juden zu Erlernung der Handwer­ ker anzuweisen thunlich und räthlich seie, auch wie derselben Nahrungsstand ohne Nachtheil derer übrigen Unterthanen verbessert werden könne***0. Das Datum dieses Erlasses bezeichnet ebenso präzise den Beginn der badischen Emanzipationspolitik wie das Datum des Gesetzes vom 4. Oktober 1862 deren Abschluß. Zwar hatte sich der Hofrat schon seit Mitte der siebziger Jahre um die Errichtung von „teutschen Schreib-, Lese- und Rechen-Schulen" für die Ju­ den in den badischen Landen bemüht - wobei sich besonders Goethes Schwager Schlosser als Oberamtmann in Emmendingen hervortat -, aber das waren ver­ einzelte Versuche geblieben, bemerkenswert eigentlich nur deshalb, weil sich in ihnen schon vor Beginn der allgemeinen Emanzipationsdiskussion zeigt, wie weit der Boden vorbereitet war für weiter ausgreifende Pläne21. Der Über­ gang zu einer neuen Politik, von der „Duldung" zur „bürgerlichen Verbesse­ rung" der Juden vollzog sich nicht mit einem Schlage, aber seit dem Jahre 1782 stand die Lösung der ,Judenfrage' im Sinne aufklärerischer Regierungs­ maximen auf der Tagesordnung der badischen Politik. Der Anstoß dazu kam ohne Zweifel aus Österreich, die Verordnungen Josephs II. wirkten bahnbre­ chend, ohne jedoch die weitere Entwicklung merklich zu beeinflussen - jeden­ falls war in den folgenden Jahren in den Regierungskollegien nicht einmal mehr ihr Inhalt bekannt. Einen nachhaltigen Einfluß auf die Anfänge der ba­ dischen Emanzipationsbewegung und weit darüber hinaus übte dagegen der preußische Kriegsrat und spätere Diplomat C hristian Wilhelm Dohm aus, von dessen epochenmachendem Buch „Über die bürgerliche Verbesserung der Ju­ den" aus dem Jahre 1781 - zwei Jahre nach Lessings „Nathan" - die allgemei­ ne Emanzipationsdiskussion in Deutschland ihren Ausgang nahm". Sein Name und seine Theorien begegnen schon seit Beginn der achtziger Jahre immer wie­ der in den Gutachten der Regierungskollegien, aber auch in den Berichten der Oberamtmänner, und es war durchaus nichts Ungewöhnliches, wenn etwa ein Kammerrat 1795 seine Kritik eines Hofratsgutachtens mit der Bemerkung ab­ schloß: „Dohm mag dagegen sagen, was er will."" Dohm, der mit Mendelssohn befreundet und dem Kreis der jüdischen Auf­ klärer in Berlin verbunden war, hatte in seinem Buch dargelegt, „daß die Ju­ den von Natur gleiche Fähigkeit erhalten haben, glücklichere, bessere Men­ schen, nützlichere Glieder der Gesellschaft zu werden; daß nur die unseres Zeitalters unwürdige Drückung sie verderbt habe; und daß es der Menschlich­ keit und Gerechtigkeit, sowie der aufgeklärtem Politik gemäß sei, diese Drük­ kung zu verbannen und den Zustand der Juden zu ihrem eigenen und des Staates Wohl zu verbessern"". „Menschenliebe und wahres Staatsinteresse" waren ihm, wie ein Zeitgenosse bemerkte'5, „nach einem sehr schönen und wahren Grundsatz eins", von beiden her wußte er die „bürgerliche Verbesse­ rung der Juden" - das wurde nun für mehrere Jahrzehnte zum eigentlichen 40 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Schlagwort der Emanzipationsbestrebungen - überzeugend zu begründen. Er ging von dem Satz aus: „Der Jude ist noch mehr Mensch als Jude'' - und er war überzeugt, daß der Jude auch mehr Bürger als Jude sein werde, wenn man ihm nur die Möglichkeit dazu eröffne". Er betrachtete es ganz allgemein als die Aufgabe seiner Zeit, ständische und religiöse Schranken zu überwinden, alle korporativen Absonderungen innerhalb der Gesellschaft „in der großen Harmonie des Staates aufzulösen"27. Die Befreiung der Juden aus ihrer nahe­ zu rechtlosen Existenz außerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung galt ihm nicht nur als eine Pflicht der Humanität, sondern zugleich als eine aus den Prinzipien des modernen Staates sich ergebende Notwendigkeit. In dieser dop­ pelten Begründung sahen er und seine Nachfolger die immer wieder betonte „Zeitgemäßheit" der Judenemanzipation verankert. Er zog eine klare Tren­ nungslinie zwischen Staat und Kirche und bestritt nachdrücklich, daß die jüdi­ schen Religionsgrundsätze trotz aller Reformbedürftigkeit irgendeine Ein­ schränkung der bürgerlichen Rechte ihrer Bekenner rechtfertigen könnten28. Die außerordentliche Durchschlagskraft erhielt sein Buch jedoch vor allem dadurch, daß er darin eine aus dem pragmatischen Geschichtsdenken der Auf­ klärung erwachsene Theorie entwickelte, die es ihm erlaubte, den sozialen und sittlichen Zustand der Masse der Juden in Deutschland der Wirklichkeit ent­ sprechend - und d. h. in sehr düsteren Farben - zu schildern und gerade daraus nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die Möglichkeit einer „bürgerlichen Verbesserung" zu begründen. „Ich kann es zugeben", schrieb er, „daß die Ju­ den sittlich verdorbner sein mögen als andere Nationen; daß sie sich einer ver­ hältnismäßig größern Zahl von Vergehungen schuldig machen als die C hristen; daß ihr C harakter im Ganzen mehr zu Wucher und Hintergehung im Handel gestimmt, ihr Religionsvorurtheil trennender und ungeselliger sei; aber ich muß hinzusetzen, daß diese einmal vorausgesetzte größre Verdorbenheit der Juden eine nothw«ndige und natürliche Folge der drückenden Verfassung ist, in der sie sich seit so vielen Jahrhunderten befinden."29 Wenn aber die beklagenswerten asozialen Züge des Judentums nichts anderes als die Wirkungen äußerer Bedin­ gungen, Ergebnis seiner Geschichte waren, dann brauchte man ja offensicht­ lich nur diese Bedingungen zu ändern, und das Judentum würde sich aus seiner gedrückten Existenz erheben, alle Fehler der Vergangenheit abstreifen und sich über kurz oder lang in die bestehende Gesellschaft einfügen. Dieser Gedanke ist der Kern der ganzen Argumentation Dohms, und er liegt auch den von ihm geprägten Motiven und Erwartungen der Emanzipationsvorkämpfer bis weit in das 19. Jahrhundert hinein zu Grunde. Die Aufgabe des Staates mußte es dabei sein, den Prozeß der „Umgießung eines ganzen Volkes", wie es gelegent­ lich in den badischen Akten heißt, einzuleiten und zu befördern, indem er Rechte gewährte und Pflichten auferlegte, die dem Ziel einer völligen Einglie­ derung der Juden in die bürgerliche Gesellschaft dienlich waren. Dohm for­ derte zwar grundsätzlich „vollkommen gleiche Rechte mit allen übrigen Un­ terthanen", insbesondere die Aufhebung jeder „beschimpfenden Unterschei­ dung" und den Zugang zu allen bürgerlichen Erwerbszweigen, hielt jedoch in

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der Praxis Ubergangsregelungen mit gewissen Einschränkungen für die Juden für unumgänglich80. Die „bürgerliche Verbesserung" betrachtete er als ein großartiges Erziehungsprojekt, mit Hilfe, aber auch unter Aufsicht des Staates. Einzelne Erziehungsgesetze, z. B. zur Einschränkung des jüdischen Handels, schienen ihm daher unbedingt notwendig, eine vollkommene Gleichstellung würde erst am Ende des sich vielleicht über eine lange Zeit erstreckenden Er­ ziehungsprozesses stehen können: „Es ist möglich, daß manche Fehler so tief gewurzelt sind, daß sie erst in der dritten oder vierten Generation ganz ver­ schwinden werden. Aber dies ist kein Grund, bei der itzigen die Reform nicht anzufangen, weil ohne sie die gebesserte Generation nie erscheinen würde."31 Dohm hatte sich mit seinem Buch nicht nur an das gebildete Publikum, son­ dern ausdrücklich - vor allem mit seinen konkreten Vorschlägen - auch an die Regierungen gewandt. Unmittelbare Erfolge waren ihm bei diesen jedoch kaum vergönnt, und auch in Baden war man noch lange Jahre hindurch nicht bereit, seine Gedanken in die Tat umzusetzen32. Man begnügte sich zunächst damit, weiterhin Vorbereitungen für eine Verbesserung des Schulunterrichts zu treffen, die Juden zur Erlernung unzünftiger Handwerke zu ermuntern und die Probleme einer Zulassung zu zünftigen Gewerben und zum Ackerbau um­ ständlich zu beraten. Zwei Jahrzehnte lang ließ man Gutachten erstatten, for­ derte die Ämter und Oberämter und durch diese auch die Judenvorsteher zu Berichten und gutachtlichen Äußerungen über einzelne Projekte auf, faßte die Ergebnisse dieser Berichte zusammen und erstellte auf dieser Grundlage neue Gutachten, die nach der Beratung in den Regierungskollegien dann wiederum den Amtmännern zur Berichterstattung zugeleitet wurden". Diese Akten, die die Entwicklung der Emanzipationsdiskussion in allen Einzelheiten deutlich werden lassen, wuchsen von Jahr zu Jahr, ohne daß eine Entscheidung fiel. Während anfänglich von den Amtmännern durchweg erklärt wurde, die Juden seien sittlich verdorben und zudem faul und träge, eine Änderung ihres Zu­ standes sei durch keine wie auch immer geartete Maßnahme zu hoffen, zeich­ neten sich im Laufe der Jahre doch ein zunehmendes Interesse und vor allem eine wachsende Vertrautheit mit den Gedankengängen der allgemeinen Eman­ zipationsliteratur ab34. Böswillige und allen Reformabsichten entgegentretende Äußerungen wurden nur ganz vereinzelt laut, ebenso selten allerdings auch Stimmen wie die des Oberamtmanns von Liebenstein, der sich schon 1782 über Dohm hinausgehend - auf den Standpunkt der völligen und uneinge­ schränkten Gleichstellung stellte35. Gegen die Zulassung der Juden zum Hand­ werk wurde auf die Privilegien der Zünfte verwiesen, gegen ihre Beschäftigung in der Landwirtschaft wurde nicht nur ihre „notorische" Abneigung gegen schwere körperliche Arbeit, sondern auch das Überangebot an ländlichen Ar­ beitskräften ins Feld geführt. „Kurz, die ganze schon längst gewünschte Sa­ che", schrieb 1792 das Oberamt Karlsruhe, „hat bei ihrer Übersicht im Detail so viele Schwierigkeiten auf allen Seiten, daß wir uns nicht getrauen, zu deren Ausführung einen unterthänigsten Vorschlag zu machen."36 In den Regierungskollegien konnte man sich über einzelne Vorschläge zur 42 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Gründung von Unterstützungsfonds für jüdische Schüler und Lehrlinge und zur Neuordnung und Ermäßigung des oft drückenden Schutzgeldes hinaus zu keinen durchgreifenden Maßnahmen entschließen. Aufs ganze gesehen tat man eigentlich kaum etwas anderes, als daß man den für die sozialpädagogischen Bestrebungen des Jahrhunderts allgemein charakteristischen Gedanken der „Er­ ziehung zur Industrie" nun auch auf die Juden übertrug. Den entscheidenden Gedanken Dohms, daß eine weitgehende rechtliche Gleichstellung der Besse­ rung vorangehen müsse, hatte man nicht übernommen: von einzelnen Erleich­ terungen abgesehen, wollte man im allgemeinen doch erst Erfolge sehen und dann Belohnungen gewähren. Während es Dohm zugleich um die Juden und den Staat gegangen war, dachten die badischen Regierungsbeamten fast aus­ nahmslos nur an das Interesse des Staates. Bezeichnend dafür ist das im Hofrat benutzte Vokabular, wo man von der „Nutzbarmachung der Juden im Land" oder auch von den „zu ihrer Verbesserung und Unschädlichmachung habenden Absichten" sprach37. Man konnte, wie man oft betonte, die Juden im Zeitalter der Aufklärung nicht mehr wie früher einfach aus dem Lande vertreiben, also mußte man dafür sorgen, daß sie dem Lande möglichst wenig „schädlich" wa­ ren. Der Gedanke der Abwehr einer „Landplage" - „eines nagenden und schädlichen Wurms", wie die Juden in einer Landesordnung von 1588 genannt worden waren - überwucherte nahezu vollständig den wichtigeren und zu­ kunftsträchtigen Gedanken der Integration der Juden in die bürgerliche Ge­ sellschaft. Man suchte ein altes Übel mit neuen Mitteln zu bekämpfen, ohne den Weg einer prinzipiell neuen Politik zu betreten. Vor allem im Rentkam­ merkollegium war man von den Dohmschen Theorien nicht überzeugt: man zweifelte grundsätzlich an der Möglichkeit eines Erfolges durch Zugeständnisse an die Juden und behauptete ganz allgemein, es werde „seit einiger Zeit die Sache aus philosophischer Empfindelei, ohne gehörige politische Erwägung, zu weit getrieben"38. Erst im Laufe der neunziger Jahre gewann der Gedanke der rechtlichen Gleichstellung der Juden allmählich an Boden, wohl nicht zuletzt unter dem Eindruck der Emanzipationsgesetzgebung in Frankreich und bald darauf in den Niederlanden39. Noch 1793 hatte einer der reformfreundlichen Räte aus­ drücklich erklärt, daß „gar nicht davon die Rede ist, daß den Juden gleiche bürgerliche Rechte mit den C hristen beigelegt werden sollen"40. Das änderte sich jedoch in den nächsten Jahren, vor allem unter dem Einfluß des Hofrats Philipp Holzmann, der seit 1797 für die Gleichstellung der Juden in den bür­ gerlichen Rechten und Pflichten eintrat41. Der entscheidende Durchbruch wurde im Jahre 1801 mit einem großangelegten, 400seitigen Gutachten Holz­ manns erzielt, der nun auf der Grundlage der vorangegangenen Gutachten und Berichte ein umfassendes Reformprogramm entwickelte42. Holzmann über­ schrieb sein Gutachten „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden in den Fürstlich Badenschen Landen", und er zeigte nicht nur im Titel seine Überein­ stimmung mit Dohm, dessen Entwurf hier gleichsam in die Praxis umgesetzt wurde. Vom Staatsdenken der Aufklärung her argumentierend, erklärte er 43 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

grundsätzlich, daß „der Genuß bürgerlicher Rechte von allem Glaubensbe­ kenntnis unabhängig sein solle, da beides mit einander in keiner nothwendigen Verbindung steht''. Die dagegen immer wieder aufgeworfene Frage, ob denn die Juden „überhaupt einer bürgerlichen Verbesserung fähig" seien, wurde von ihm in Anlehnung an Dohm vorbehaltlos bejaht. Sie seien keineswegs mehr eine „eigene Menschenrace", und ihre Eigentümlichkeiten seien nicht durch ihre orientalische Herkunft, sondern allein durch ihre Lebensverhältnisse in den vergangenen Jahrhunderten bedingt. Eindringlich begründete er dann die Not­ wendigkeit einer durchgreifenden Änderung dieser Verhältnisse im Interess der Juden, aber auch des Staates und der christlichen Bevölkerung. Als unabding­ bare Grundlage einer solchen Reform galt ihm die Gleichstellung der Juden in den staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten. Einzelne, vorläufig noch not­ wendige Einschränkungen dieser Rechtsgleichheit, die vor allem die Zu­ lassung zum Staatsdienst und das Ortsbürgerrecht in den Gemeinden betrafen, wurden ausführlich begründet48. Alle korporativen Rechte des traditionellen jüdischen Gemeindeverbandes sollten aufgehoben, die Religionsfreiheit garan­ tiert und der jüdische Kultus zugleich der Staatsaufsicht unterstellt werden. Der Bildung der jüdischen Kinder und ihrer Hinführung zu bürgerlichen Beru­ fen sollte die besondere Fürsorge des Staates gelten. Hinter allen Vorschlägen stand der Grundgedanke, daß die Juden trotz aller etwa noch weiter bestehen­ den Einschränkungen künftig „als wirkliche Mitglieder der bürgerlichen Ge­ sellschaft als solcher betrachtet werden". Holzmann schloß seine Reformvor­ schläge mit dem Satz: „Durch die Schwierigkeiten, welche sich deren Ausfüh­ rung entgegen werfen, sollte man sich davon nicht abschrecken lassen, so we­ nig als dadurch, daß man in benachbarten Staaten noch nicht so weit gegangen ist; denn einmal muß doch der Anfang damit gemacht werden, und der gegen­ wärtige Zeitpunkt ist dazu so schicklich, als man denselben nur wünschen mag." Die theoretische Vorbereitung der ersten Phase der Judenemanzipation in Baden war mit diesem Gutachten abgeschlossen44.

Die rechtliche und soziale Lage der Juden um 1800

Die entsprechenden Gesetze ließen freilich noch einige Jahre auf sich war­ ten. Die Zeit nach 1800 war für innere Reformen zunächst durchaus ungünstig. Die badische Politik sah sich größeren Fragen gegenübergestellt, durch die die Probleme der Judenemanzipation in den Hintergrund gedrängt wurden. Die Markgrafschaft wurde zum Kurfürstentum und schließlich zum Großherzog­ tum, Territorium und Einwohnerschaft vergrößerten sich um nahezu das Fünf­ fache. Mit den neuen Gebietsteilen kamen freilich auch neue Juden: ihre Zahl stieg von 2265 im Jahre 1802 auf 14 200 im Jahre 1808, ihr Anteil an der Ge­ samtbevölkerung erhöhte sich von 1,17 % auf 1,5 %45. In dem neuen Großher­ zogtum lebten damit nun fast 8 % aller Juden in Deutschland. Größere An44 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Siedlungen gab es vor allem in den früher pfälzischen Landesteilen, in den Standes- und Grundherrschaften des Kraichgaus und des Baulandes, in der Rheinebene und in einigen Orten des Bodenseegebietes nahe der Schweizer Grenze46. In den badischen Stammlanden, aber auch in einigen anderen Terri­ torien hatte sich ihre Zahl in den letzten drei Jahrzehnten um etwa ein Drittel erhöht, wobei die Zuwanderer aus west- und südwestdeutschen Territorien, in den Oberlanden vor allem aus dem Elsaß, vereinzelt aber auch aus Böhmen oder Polen kamen. Die rechtliche und soziale Lage der Juden in den einzelnen Gebieten war sehr verschieden, am besten in der Pfalz, am schlechtesten in den ritterschaftlichen Gebieten47. Neben Karlsruhe, wo einige bedeutende Hof- und Finanzjuden sa­ ßen, trat nun als zweites jüdisches Zentrum Mannheim, das eine in der Breite wohlhabende und selbstbewußte Judenschaft aufwies48. Mannheim wurde in den folgenden Jahrzehnten zum Zentrum der jüdischen Reformbewegung und zum Vorort der Emanzipationsbestrebungen. Die Masse der Juden wohnte auf dem Lande, in der Regel in außerordentlich ärmlichen Verhältnissen49. Die meisten lebten, da sie vom Handwerk ebenso wie vom Ackerbau seit altersher ausgeschlossen waren, vom Handel mit Vieh, Trödel- und Krämerwaren, Wein und Früchten und vom Geldleihgeschäft, dem „Geldwucher*1. Für die badischen Stammlande sind ihre Gewerbe aus den statistischen Erhebungen des Jahres 1797 genau bekannt50, zusammenfassende Zahlen lassen sich jedoch kaum nennen, da die Bezeichnungen für die einzelnen Handelsarten schwankten, vor allem aber in den meisten Fällen mehrere Erwerbsarten kombiniert wurden (z. B. „Kram- und Viehhandel" oder „alte Kleider und Geldwucher")51. In der gro­ ßen Mehrzahl handelte es sich um ausgesprochenen Nothandel, auch wenn das aus den Listen nicht unmittelbar hervorgeht52. „Geldwucher" und „Viehver­ stellungen" (Viehleihgeschäfte) waren daneben die Hauptbeschäftigungen der Landjuden. Die Klagen über diese Juden waren allgemein, und sie scheinen nicht immer unbegründet gewesen zu sein - ihr Geschäftsgebaren entsprach vielfach der Notwendigkeit, ein Existenzminimum zu sichern, ohne daß eigent­ lich die Möglichkeit dazu gegeben war. Die Rechtsverhältnisse der Juden waren in den vielen, im neugeschaffenen Großherzogtum zusammengeschlossenen Gebietsteilen höchst unterschiedlich, für alle galt jedoch, was Holzmann 1801 hinsichtlich der badischen Juden formu­ liert hatte: „Sie sind bloß im Staate geduldete Unterthanen, die zwar dessen Schutz genießen, aber keine Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft sind."58 Sie waren „Schutzjuden", deren Schutzbriefe jederzeit auf ein Vierteljahr kündbar waren und deren Kinder keinen Rechtsanspruch darauf besaßen, eben­ falls in den Schutz genommen und damit zur Niederlassung im Lande zugelas­ sen zu werden54. Sie waren nicht nur vom Ackerbau und zünftigen Handwer­ ken ausgeschlossen, sondern auch im Handel manchen drückenden Einschrän­ kungen unterworfen. Auch der allgemeine Grundsatz der Gleichheit vor den Gesetzen hatte für sie nur teilweise Geltung. Sie lebten - als „jüdische Nation" - in einem korporativen Verbande, in Landjudenschaft und Bezirken organi45 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

siert, der Schatzung und der niederen Gerichtsbarkeit durch ihre Vorsteher und Rabbiner unterworfen. Zusammenfassend urteilte über ihre Verhältnisse im Jahre 1811 ein Ministerialbeamter: „Diese nach ihren Hauptumrissen in un­ seren verschiedenen Staaten allenthalben ziemlich gleiche Verfassung der Juden schien . . . so ganz eigentlich darauf berechnet zu sein, die Juden von allen üb­ rigen Unterthanen auf immer zu isolieren, sie in ihrem Aberglauben, in ihren Eigenheiten und in ihrer politischen Schädlichkeit zu erhalten und zu bestär­ ken/"

Die Gesetzgebung von 1807—1809 Angesichts der unterschiedlichen und vielfach auch verworrenen Rechtsver­ hältnisse der Juden in den einzelnen Landesteilen war eine grundsätzliche Re­ gelung, auf die man noch in den Organisationsedikten von 1803 verzichtet hatte, nach 1806 unumgänglich geworden. Sie erfolgte im Zusammenhang mit den Konstitutionsedikten von 1807/08, in denen die Verhältnisse von Staat und Kirche, der Gemeinden und Körperschaften, der Standes- und Grundher­ ren, der verschiedenen Stände und der Staatsdiener den veränderten Bedingun­ gen entsprechend neu geordnet wurden56. Daß eine solche Regelung zu diesem Zeitpunkt nur in fortschrittlichem Sinne, in Annäherung an die Emanzipations­ gesetzgebung in den unter französischer Herrschaft stehenden Gebieten er­ folgen konnte, bedurfte nun keiner langen Begründung mehr57. Wichtig aber war, daß die Änderung der Rechtsverhältnisse der Juden jetzt im Rahmen der allgemeinen staatlichen Neuordnung vollzogen und in den Grundgesetzen des neuen Staates verankert wurde. So lautet der § 1 des I. Konstitutionsedikts vom 14. März 1807: „Jeder Mensch, wes Glaubens er sei, kann Staatsbürger­ rechte genießen, so lange er keine Grundsätze bekennt oder übt, die der Unter­ würfigkeit unter den Regenten, der Verträglichkeit mit anderen Staatsbürgern, der öffentlichen Erziehung und den guten Sitten Abbruch tun."58 Damit war auch den Juden der Genuß des Staatsbürgerrechts zugebilligt, da im § 7 des gleichen Edikts das Judentum als eine neben den christlichen Konfessionen „konstitutionsgemäß geduldete" Religion bezeichnet wurde. Das VI. Konstitu­ tionsedikt vom 14. Juni 1808 erklärte dann in § 19 („Recht der Juden") die Juden ausdrücklich zu „erbfreien Staatsbürgern"59. Einschränkend wurde je­ doch festgelegt, daß sie zunächst in den Gemeinden in der Regel nur als Schutzbürger, nicht als Gemeindebürger angenommen werden sollten, „solange sie nicht eine zu gleicher Nahrungsart und Arbeitsfähigkeit mit den christli­ chen Einwohnern hinreichende Bildung im allgemeinen angenommen haben"; außerdem sollten sie „an keinem Ort zur Wohnung zugelassen werden, wo bis hieher noch keine waren, ohne Einwilligung der Ortsgemeinde und besondere Erlaubnis des Regenten". Abschließend hieß es in diesem Paragraphen: „Ihr Bestreben, eine bessere Bildung anzunehmen, wird über die nach und nach

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mögliche Erweiterung und völlige Ausgleichung ihrer Staatsbürgerrechte mit den ortsbürgerlichen entscheiden." Zum eigentlichen Grundgesetz der badischen Juden wurde das Edikt vom 13. Januar 1809 („Konstitutionsedikt der Juden"), das auf der Grundlage der allgemeinen Konstitutionsedikte eine den neuen Verhältnissen angepaßte „Ju­ denorganisation" enthielt60. Ihr Schöpfer, der Geheime Rat Friedrich Brauer, der auch die Konstitutionsedikte entworfen hatte, stützte sich auf die Vorar­ beiten Holzmanns, stand gleichzeitig aber auch unter dem Einfluß der franzö­ sischen Judengesetzgebung91. In seiner Tendenz war das Edikt erklärtermaßen ein Erziehungsgesetz, was in der Präambel in Anlehnung an das VI. Konstitu­ tionsedikt noch einmal deutlich unterstrichen wurde: „Wir C arl Friedrich . . . haben durch Unser sechstes Konstitutionsedikt die Juden Unseres Staats den Christen in den Staatsbürgerlichen Verhältnissen gleich gesetzt. Diese Rechts­ gleichheit kann jedoch nur alsdann in ihre volle Wirkung treten, wenn sie in politischer und sittlicher Bildung ihnen gleichzukommen allgemein bemüht sind; damit Wir nun dieses Bestrebens sicher werden, und inzwischen ihre Rechtsgleichheit nicht zum Nachteil der übrigen Staatsbürger gereiche, so set­ zen und ordnen Wir in dieser Hinsicht folgendes..." Da die jüdische Reli­ gionsverfassung bisher aufs engste mit der nunmehr aufgehobenen korporativen Gemeindeverfassung der Juden verbunden gewesen war, stand an erster Stelle des Edikts die Neuordnung der „kirchlichen Verfassung", die im Sinne einer weitgehenden Angleichung an die Organisationsstruktur der christlichen Kir­ chen erfolgte82. Der nächst wichtige Punkt betraf die Bildung der Jugend: der Schulzwang wurde eingeführt und der Besuch der Ortsschulen zur Pflicht ge­ macht, so lange noch keine eigenen jüdischen Elementarschulen und Lehrer vorhanden waren. Nach der Schulentlassung war jeder Knabe gehalten, einen bürgerlichen Beruf zu erlernen, denn auf den bloßen Nothandel sollte künftig auch die schutzbürgerliche Niederlassung nicht mehr gewährt werden". Der Zugang zu allen Gewerben wurde ihnen „nach den dafür allgemein bestehenden Regeln" gestattet und Zünften und Meistern bei Strafe verboten, ihnen irgend­ welche Hindernisse in den Weg zu legen64. Schließlich wurde die Annahme erblicher Familiennamen vorgeschrieben, wobei sämtliche bisher gebräuchlichen Namen als Vornamen beibehalten werden sollten. Die Neuregelung ihrer Abga­ ben blieb einer besonderen Gesetzgebung vorbehalten. Ein Oberrat der badi­ schen Juden wurde als höchste kirchliche Behörde, zugleich aber auch als eine Art Vertretung der Gesamtjudenschaft gegenüber der Regierung eingesetzt. In seine Hände wurde das Reformwerk gelegt, er hatte über dessen Ausführung zu wachen, mit den Behörden zu verhandeln, die Einzelnen und die Gemein­ den zu ermuntern95. Mit diesem Edikt war in allen wesentlichen Punkten jener Zustand geschaf­ fen, der in Deutschland von den dem Humanitäts- und Staatsdenken der Auf­ klärung verpflichteten Vorkämpfern der Emanzipation seit drei Jahrzehnten gefordert worden war: wesentliche Einschränkungen waren aufgehoben, der Weg zur endgültigen Gleichstellung auf dem Wege der Assimilation gewiesen 47 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

worden. Als erster der nicht unter direktem französischem Einfluß stehenden deutschen Staaten hatte das Großherzogtum Baden die Idee der Judenemanzi­ pation in einem allgemeinen Gesetzgebungswerk in wichtigen Teilbereichen verwirklicht. Interessant ist eine vom Kabinettsministerium veranlaßte redaktionelle Än­ derung des Brauerschen Entwurfs. Brauer hatte statt von „Juden" stets von „Untertanen des mosaischen Religionsbekenntnisses" gesprochen, um - wie er darlegte - „den gehässigen Sektennamen zugleich mit der alten Idee des Vol­ kes, die daran haftet, zu beseitigen und so im Gesetze selbst, das amalgamieren soll, keinen neuen Reiz zum Zwiespalt zu verewigen"6*. Die damit berührte Frage blieb noch Jahrzehnte hindurch von Bedeutung, ehe die Bezeichnung „Jude" schließlich in der Abwehr der irreführenden Bezeichnung „Semit" zu neuer Geltung kam. Der Oberrat nannte sich zunächst „Großherzoglich Badi­ scher Oberrat der Staatsbürger mosaischen Bekenntnisses", bald aber „Oberrat der badischen Isrealiten". Im allgemeinen setzte sich die offizielle Bezeichnung „Israelit" durch, ohne jedoch die traditionelle Bezeichnung „Jude" in der christlichen Bevölkerung, aber auch innerhalb der Judenschaft verdrängen zu können. Kennzeichnungen wie „Handelsjude", „Schutzjude" oder auch der nicht durch die Natur der Sache bedingte, aber bis dahin immer noch übliche Zusatz „Jude" zum Namen wurden allerdings 1823 von der Regierung für den Behördengebrauch ausdrücklich verboten67. Obwohl das Edikt vom 13. 1. 1809 nicht nur „die einmüthige Anerkennung des Auslandes" fand, sondern auch von vielen Seiten als „ein Muster einer wei­ sen und liberalen Gesetzgebung" gerühmt wurde, stieß seine Durchführung auf erhebliche Schwierigkeiten68. Noch im gleichen Jahr hatte sich das Ministe­ rium des Innern in dieser Sache gegen Angriffe der Mittelrheinischen Provinz­ regierung und auch des Kabinettsministeriums unter dem Freiherrn von Reit­ zenstein zu verteidigen, wobei offensichtlich auch allgemein politische und persönliche Gegensätze und Ressortstreitigkeiten eine Rolle spielten69. Von Seiten der Provinzregierung setzte man dem Edikt offenen Widerstand entge­ gen: man sah hier die Juden teils noch mehr verarmen, weil ihre neue kirchli­ che Verfassung zu kostspielig sei70, teils aber auch auf Kosten der C hristen reich werden, einen „Staat im Staate" bilden, alle Nahrungszweige an sich zie­ hen und schließlich die C hristen zu Tagelöhnern herabwürdigen71. Diese Auf­ fassungen fanden ihren Niederschlag dann auch in dem die Verwaltung des Großherzogtums neu ordnenden Organisationsedikt vom 26. November 1809, das sich hinsichtlich der Bürgerannahme der Juden in den Gemeinden in ekla­ tanten Widerspruch zu den vorangegangenen Gesetzen stellte72. Und Ende Fe­ bruar 1810 wurde in der Ministerialkonferenz darüber hinaus sogar beschlos­ sen, eine allgemeine Modifikation des Edikts vom 13. 1. 1809 zu Ungunsten der Juden herbeizuführen. Daß es dazu dann doch nicht kam, war der festen Hal­ tung des Innenministeriums zu verdanken, das mit großem Nachdruck für „Zeit und Geduld" als „die beiden Elemente des gesetzlichen Gedeihens" plä­ dierte: „Gegenstände von diesem Gehalte, wo es sich um die Wirksamkeit auf 48 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

die innere moralische Beschaffenheit, auf Meinungen und Vorurteile der Men­ schen aller Konfessionen handelt, können nur allmählich von den Gesetzen modifiziert werden; und Gesetzen, welche, wie das vorliegende, zu dieser Wirksamkeit bestimmt sind, ist die nöthige Zeit zu gönnen, daß der von ihnen auszustreuende Samen gedeihe und Ernte bringe."73 Brauers Forderung, „geraden und festen Schrittes den Plan fortzugehen, wie er angelegt war", setzte sich nicht zuletzt dank der Unterstützung des Regierungsrats von Müßig durch74. Das Edikt blieb bestehen, und die Gesetzgebung der folgenden Jahre vollzog sich auf seiner Grundlage75. Mit der Gewerbesteuerordnung vom 6. April 1815, durch die die Schutzgelder der Juden aufgehoben wurden, geschah dann auch ein weiterer wichtiger Schritt zur endlichen Gleichstellung76. Im gleichen Jahr noch wurde außerdem von Großherzog Karl anläßlich der An­ stellung eines israelitischen Lehres am Karlsruher Gymnasium bestätigt, daß die Juden grundsätzlich auch zum Staatsdienst zugelasesn seien77. Schon wenige Jahre nach 1809 waren beachtliche Erfolge zu verzeichnen: die Einführung erblicher Familiennamen war abgeschlossen78, die Handelsbü­ cher wurden durchweg in deutscher Sprache geführt. Bei der Ableistung des Militärdienstes hatten sich keine besonderen Schwierigkeiten ergeben78. Der Besuch der christlichen Ortschulen entsprach durchaus den hochgespannten Er­ wartungen, die vielfach befürchteten Reibereien zwischen christlichen und jü­ dischen Kindern waren offensichtlich Ausnahmen geblieben. Auch der Über­ gang zu bürgerlichen Gewerben hatte einen zufriedenstellenden Anfang ge­ nommen: im Jahre 1816 wurden 353 Juden ezählt, die sich einem anderen Be­ ruf als dem Handel zugewandt hatten, davon 54 der Landwirtschaft80. 265 waren als Handwerksmeister oder Gesellen tätig, darunter mehrere, die bereits zünftig aufgenommen waren81. Einzelnen Juden war schon, vor allem im Nie­ derrheinkreis und in den größeren Städten, der Aufstieg in das Ortsbürgerrecht gelungen. Die führenden jüdischen Familien in Karlsruhe gehörten zur guten Gesellschaft, sie waren Mitglieder im Leseverein und im Verein „Museum", Mitbegründer des Badischen Kunstvereins und der „Handelsstube", der Vor­ läuferin der Handelskammer82.

Reaktion und » H e p ! Hep!"-Bewegung von 1819 Dennoch setzten nach 1815 wie allgemein in Deutschland so auch in Baden in der Emanzipationsfrage reaktionäre Bestrebungen ein, die ihren Ausgang von den Verhandlungen des Wiener Kongresses nahmen88. In der badischen Regierung war man nun nicht nur mit den bisher erzielten Erfolgen unzufrie­ den, sondern machte auch aufs neue grundsätzliche Bedenken gegen die bisheri­ ge Emanzipationspolitik geltend. In einem Beschluß des Innenministeriums vom 16. Januar 1818 hieß es daher, „daß dasjenige, was das Edikt von 1809 zu ihrem VortheÜ festsetzt, nicht allein näher bestimmt, sondern sehr be49 4

Rürup

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schränkt werden müsse, wenn die völlige Gleichstellung derselben nicht zum großen Nachtheil der C hristen gereichen solle"84. Man betonte den Gedanken des „christlichen Staates", in dem die Juden „niemals den christlichen Staats­ gliedern ganz gleich gehalten und mit ihnen gleicher Rechte teilhaftig werden" könnten85, und trat auch für eine erneute Beschränkung der Niederlassung für die nachgeborenen Söhne der Juden ein, um ihrer zu starken „Vermehrung", die jetzt immer wieder als eine ernste Gefahr beschworen wurde, entgegenzu­ treten88. So brachte dann auch die badische Verfassung vom 22. August 1818, die jahrzehntelang in Deutschland dem Ideal des freiheitlichen Rechtsstaats am meisten entsprach, in der Frage der Judenemanzipation keine greifbaren Fort­ schritte87. Zwar wurde in § 7 - „die staatsbürgerlichen Rechte der Badener sind gleich in jeder Hinsicht" - die durch die Konstitionsedikte den Juden ge­ währte Gleichstellung bestätigt, aber dieser Grundsatz erfuhr sofort eine we­ sentliche Einschränkung durch den Zusatz: „wo die Verfassung nicht nament­ lich und ausdrücklich eine Ausnahme begründet." Solche Ausnahmen enthiel­ ten die §§ 9 und 19, die die Gleichheit der politischen Rechte und des An­ spruchs auf den Zugang zu den Staatsämtern nur für die drei christlichen Kon­ fessionen aussprachen88. In § 37 wurde außerdem die Wählbarkeit zum Abge­ ordneten der II. Kammer an das christliche Religionsbekenntnis gebunden89. Die Stellung der Juden in den Gemeinden wurde von der Verfassung nicht be­ rührt. Für die Zukunft war es allerdings von grundlegender Bedeutung, daß trotz der genannten Einschränkung der Grundsatz der Rechtsgleichheit nun in der Verfassung verankert worden war. "Auch in Baden war inzwischen die vom Artikel 16 der Bundesakte ausgelö­ ste Diskussion über die rechtliche Gleichstellung der Juden, deren Richtung durch die emanzipationsfeindliche Schrift des Berliner Professors Rühs von 1816 bestimmt wurde, nicht ohne Wirkung geblieben90. Die Heidelberger frei­ sinnigen Professoren Fries und Paulus zählten zu den prominenten Gegnern der Emanzipation, während der Karlsruher Kirchenrat Ewald als ihr Fürsprecher auf­ trat91. Der badischen Regierung kam die emanzipationsfeindliche Agitation angesichts des einmal eingeschlagenen Weges höchst ungelegen. Sie sah ihre Re­ formpolitik gefährdet und ließ Fries' polemische Schrift „Über die Gefährdung des Wohlstandes und des C harakters der Deutschen durch die Juden" konfis­ zieren; ja, man stellte darüber hinaus dem Oberrat ausdrücklich anheim, den Autor wegen Verleumdungen zivilrechtlich zu belangen92. Die Tatsache, daß durch diese Publizistik die Frage der Emanzipation erneut zum Gegenstand lei­ denschaftlicher Öffentlicher Debatten geworden war, ließ sich durch solche Maßnahmen allerdings in Baden ebenso wenig wie in anderen deutschen Staa­ ten aus der Welt schaffen. Anders als im ausgehenden 18. Jahrhundert überwo­ gen nun die kritischen Stimmen, deren Äußerungen allen offenen und mehr noch den heimlichen Gegnern der Emanzipation neue Argumente lieferten. Für die weitere Entwicklung der Emanzipationsbewegung wurde es zu einer schweren Belastung, daß nun mit einer überwiegend negativen Einstellung gerade der ge­ bildeten Bevölkerungsschichten gerechnet werden mußte, die den Prozeß einer 50 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

ungestörten, allmählichen Eingliederung des Judentums in die bürgerliche Ge­ sellschaft von vornherein erheblich erschwerte. Es blieb freilich auch in Baden nicht bei der theoretischen Ablehnung der Emanzipation. Gegen Ende August 1819 wurde auch das Großherzogtum von der plötzlich ausbrechenden, weite Teile Deutschlands erfassenden „Hep! Hep! Bewegung" betroffen. In Karlsruhe und Heidelberg, aber auch in verschiede­ nen Dörfern, kam es zu Ausschreitungen. Häuser und Wohnungen einzelner Juden wurden gestürmt, demoliert und geplündert93. Drohungen, alle Juden zu töten, wurden laut, obgleich in der Praxis die Ausschreitungen vor den Perso­ nen haltmachten. Die Regierung zögerte nicht, den bedrängten Juden ihren Schutz angedeihen zu lassen und ordnete strenge Untersuchungen an, zumal eine Verbindung der Aufrührer mit den „Demagogen" befürchtet wurde94. Die Annahme eines allgemein politischen Hintergrundes der Bewegung erwies sich allerdings bald als falsch. Die Aufrührer waren durchweg Handwerker, Gesellen und Lehrlinge vor allem, dazu Arbeitslose und auf dem Lande ver­ schuldete Bauern95. Wirtschaftliche und soziale Mißstände, verursacht durch die Mißernten von 1816/17, die Krise des Handwerks und die allgemein ver­ schärfte Konkurrenzsituation waren die tieferliegenden Ursachen des Aufruhrs, seine Richtung hatte er aus den Reibereien des Alltags ebenso wie aus der ju­ denfeindlichen Publizistik bekommen. Zusammenfassend hieß es in einem Be­ richt des mit der Untersuchung der Vorfälle betrauten Regierungskommissars aus Heidelberg: „Als Motiv der Judenmißhandlung gibt man allgemein dersel­ ben schnelles Emporkommen in allen Bereichen, deren angebliche Begünsti­ gung durch die Regierung, sodann den Handwerksneid an, weil einigen Juden verstattet wurde, mit Meubles zu handeln. Von revolutionären Verbindungen mit dem Auslande konnte ich dagegen nichts entdecken."96 An allen Orten konnte, teilweise mit Hilfe des Militärs, die Ruhe rasch wiederhergestellt wer­ den, und der materielle Schaden hielt sich im ganzen in überschaubaren Gren­ zen. Viel gewichtiger war der psychologische Schock, den die Ereignisse in breiten Kreisen auslösten und von dem auch diejenigen betroffen wurden, die der Judenemanzipation kritisch gegenüberstanden. Ausschreitungen dieser Art und dieses Umfangs hatte es seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben, sie erschie­ nen den Zeitgenossen als ein Rückfall ins finsterste Mittelalter. Welches Er­ schrecken die „Hep! Hep.'-Bewegung" vor allem unter den Gebildeten bewirk­ te, ist heute - angesichts ganz anderer Erfahrungen - kaum noch vorstellbar, und man muß es in Raheis Briefen97 oder in den Denkwürdigkeiten Varnha­ gens, der 1819 preußischer Geschäftsträger in Karlsruhe war, nachlesen. Dort heißt es u. a.: „Am Ende des August ereignete sich in Deutschland eine Bewegung, die dem Ruhme des-deutschen Volkes, guthmütig und gesittet und des besten Gei­ stes zu sein, häßliche Flecken anwarf, aber in ihm auch einen Zusammenhang, ei­ ne gemeinsame Empfänglichkeit für Anreizungen und Gefühle zeigte, die in sol­ chem Grade bisher nicht vermuthet w a r . . ."98 Es hat in Baden während der zwan­ ziger und dreißiger Jahre noch häufiger sogenannte „Exzesse" und „Neckerei­ en" gegen Juden gegeben, sie blieben jedoch vereinzelt, meist auf bestimmte 51 4•

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Personen oder Vorgänge bezogen, und waren politisch bedeutungslos, jeden­ falls aber mit den Ereignissen von 1819 in keiner Weise zu vergleichen.

Reform und Assimilation bis 1830 Mit dem Zusammentritt des ersten badischen Landtags im Jahre 1819 wurde die Emanzipationsfrage zum Gegenstand parlamentarischer Debatten. Die Aus­ einandersetzungen verlagerten sich aus den Regierungskollegien in die Kam­ mern; Diskussion und Öffentlichkeit, jene Grundforderungen des Liberalismus, erstreckten sich nun auch auf das Problem der Judenemanzipation. In der grundsätzlichen Einstellung gegenüber der Emanzipationsfrage änderte sich al­ lerdings zunächst wenig. Obwohl sich die Kammern in ihrer ersten Adresse an den Großherzog zu dem „großen Grundsatz der Gleichheit der Rechte und Pflichten aller Staatsbürger vor dem Gesetz" bekannt hatten", übernahmen sie hinsichtlich der Juden die bisherige Konzeption, in der die Gewährung wei­ terer Rechte von den erwünschten Fortschritten abhängig gemacht worden war. Der Gedanke, daß die Juden erst eine Phase der Umerziehung durchlau­ fen müßten, ehe ihnen die volle Gleichberechtigung gewährt werden könne, fand lange Jahre hindurch auch unter den liberalen Abgeordneten kaum einen prinzipiellen Gegner. Viele Landtage hindurch wurden die Debatten von der Frage geprägt, ob die Juden inzwischen zur Erlangung weiterer Rechte „reif" geworden seien oder nicht. Fortschritte in der Angleichung an die christliche Bevölkerung und noch vorhandene Mißstände und Unterschiede wurden aufge­ zählt und gegeneinander abgewogen - die Entscheidungen schienen mehr eine Sache der Statistik als der Prinzipien zu sein. Wie sehr sich auf diese Weise die Judenemanzipation für die Liberalen zu einem jener Probleme entwickelte, durch die die Wahrhaftigkeit ihrer politischen Grundsätze in Frage gestellt wurde, trat vor allem seit Beginn der dreißiger Jahre immer deutlicher hervor. Die rechtliche Stellung der Juden in Baden beschäftigte die Landtage von 1819/20 und 1822/23 zunächst im Zusammenhang zweier großer Gesetzge­ bungswerke: dem Edikt über die Standes- und grundherrlichen Rechte vom 16. 4. 1819 und den Entwürfen für eine neue Gemeindeordnung100. Die im § 58 des Edikts vom 16. 4. 1819 vorgesehene Wiedereinführung des halben Ju­ denschutzgeldes in den grundherrlichen Orten wurde einmütig als unrechtmä­ ßige Doppelbesteuerung verurteilt und schließlich mit dem ganzen Gesetz zu Fall gebracht. Im Kommisionsbericht der II. Kammer war dabei betont wor­ den, daß die Kammer umso mehr verpflichtet sei, die bestehenden Rechte der Juden zu schützen, als ihnen „zur Zeit" noch kein Anteil an der Volksvertre­ tung habe bewilligt werden können101. Daß jedoch die Kammer andererseits in ihrer Mehrheit nicht gewillt war, ohne weiteres auf dem Wege der Emanzi­ pationspolitik fortzuschreiten, zeigte sich schon bald in den Beratungen über die Entwürfe der Gemeindeordnung. Zwar fand der Regierungsentwurf von 1820, der in § 12 die Juden von allen Gemeinden auszuschließen beabsichtigte, 52 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

„wo sie nicht bereits durch die Geburt Ansprüche darauf haben"102, zum Teil heftigen Widerspruch, aber man konnte sich doch nicht dazu entschließen, jü­ dische und christliche Schutzbürger in ihren Rechten völlig gleichzustellen. Die Mehrheit der Abgeordneten wollte vielmehr, wie es 1822 im Kommissionsbe­ richt des Abgeordneten Kern hieß, „die christlichen Gemeinden gegen das Zu­ drängen dieser mit unserm ganzen bürgerlichen Zustande in schneidendem Kontrast stehenden Fremdlinge schützen"103. Auf den allgemeinen Stim­ mungsumschwung in den letzten Jahren hinweisend, warnte der liberale Abge­ ordnete Winter aus Heidelberg in der II. Kammer ganz allgemein vor weiteren Zugeständnissen, indem er behauptete, daß „man eben durch dieses allzu schnelle Emporheben der Juden ein altes mir von Grund der Seele verhaßtes Vorurteil, kaum auf dem Wege gewesen, sich zu verlieren, wieder hervor geru­ fen und hervor gereizt hat"104. Ohne Widerspruch zu erregen, stellte 1822 der Abgeordnete Hitzig grundsätzlich fest, daß die in der Verfassung ausgespro­ chene Rechtsgleichheit für die Juden vorläufig keine uneingeschränkte Geltung haben könne105. Zur ersten allgemeinen Debatte kam es 1822/23 anläßlich einer an die II. Kammer gerichteten Petition über die Verbesserung des jüdischen Religions­ und Schulunterrichts106. Dem Geist, in dem die Frage von der Kammer be­ handelt wurde, gab der freisinnige Professor Duttlinger aus Freiburg Aus­ druck, indem er darlegte: „Eine große Zahl unserer Mitbürger seien Juden, und wir hätten Ursache, mit der großen Mehrheit derselben nicht zufrieden zu sein, sowohl in Bezug auf ihre kirchlichen Einrichtungen als in Bezug auf ihr moralisches Verhalten . . . Wenn nicht abermals ein >Hepp Hepp' erschallen solle, so müsse man auf die Verbesserung der Juden ernstlich bedacht sein."107 Man leugnete nicht, daß seit 1809 Fortschritte erzielt worden waren, glaubte aber doch feststellen zu müssen, daß man von der erwünschten Verschmelzung von Juden und C hristen noch weit, und zwar sehr viel weiter, als man erwar­ tet hatte, entfernt sei. Die Schuld sah man jetzt vor allem bei den Juden, deren Religionsgrundsätze noch immer im Widerspruch zur modernen Zeit stünden und jede wahrhaft bürgerliche Bildung verhinderten. Eine gründliche reli­ giöse Reform, die den traditionellen „Abschließungsgeist" austrieb, hielt man für dringend nötig und erklärte: „So lange dies nicht geschieht, werden die Ju­ den, obgleich in größeren Städten verfeinerter und gelehrter, im Ganzen doch immer Juden und in vielfacher Hinsicht national getrennt und abgeschlossen bleiben und höchstens durch die goldene Kette kaufmännischer Unternehmun­ gen und Spekulationen ihren Verkehr mit uns unterhalten."108 So richtete man schließlich an die Regierung die Bitte, eine Kultusreform nach dem Mo­ dell des „Tempelvereins"109 herbeizuführen und gleichzeitig durch die Ausbil­ dung qualifizierter jüdischer Lehrer den Unterricht zu verbessern und die Er­ richtung jüdischer Elementarschulen zu ermöglichen; nach der Durchführung solcher Reformen werde dann der vollen Gleichstellung nichts mehr im Wege stehen, während andernfalls ernsthaft zu prüfen sei, ob nicht auch bereits ge­ währte Rechte wieder zurückgenommen werden müßten110. 53 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Auf den Reaktionslandtagen von 1825 und 1828 wurde diese Debatte - wie so vieles andere - nicht wieder aufgegriffen, und bis 1830 wurde es immer stil­ ler um die Frage der Judenemanzipation. Lediglich das von der II. Kammer einstimmig angenommene Gesetz vom 14. 5. 1828 über die Aufhebung der noch bestehenden „alten Abgaben", die die Juden auf Grund ihrer Religionseigen­ schaft an die Standes- und Grundherren zu leisten hatten, brachte noch einmal einen wesentlichen Fortschritt - mit ihm waren nach dem Leibzoll (1804), dem Schutzgeld (1815) und dem Satzgeld (1825) die letzten Sonderabgaben der Juden aufgehoben, war ihre steuerliche Gleichstellung vollendet111. Inzwischen hatte sich bei den badischen Juden jedoch manches geändert, waren erhebliche Fortschritte im Sinne der Emanzipation gemacht worden. Schon Ende November 1823 war es gelungen, zwischen den Reformern des „Tempelvereins" und der orthodoxen Mehrheit der Juden eine Kultusreform zu vereinbaren, durch die der Prozeß der Verkirchlichung vorläufig abge­ schlossen und auch den Wünschen der II. Kammer weitgehend Rechnung ge­ tragen wurde112. Die Funktionen des Rabbiners wurden denen der christlichen Gemeindepfarrer angeglichen und Gemeindeausschüsse analog den christlichen Kirchenvorständen oder Presbyterien gebildet; in den Gottesdienst wurde eine Predigt in deutscher Sprache eingeführt, traditionelle Unsitten wie das Schau­ keln während des Gebets, das überlaute Beten und die Verwendung profaner Melodien im Gottesdienst wurden abgeschafft; für die Jugend schließlich wur­ de - nach dem Modell der Konfirmation - eine Prüfung des Glaubensbekennt­ nisses angeordnet. So war eine aus der jüdischen Reformbewegung erwachsene, den Zeitverhaltnissen angepaßte Änderung geschaffen, die geeignet war, die re­ ligiösen Vorurteile auf beiden Seiten allmählich abklingen zu lassen. Seit der Mitte der zwanziger Jahre hatte auch ein rascher Ausbau des jüdischen Schul­ wesens begonnen. Bis 1835 entstanden 35 jüdische Elementarschulen, womit fast alle größeren Gemeinden nun ihre eigene Schule besaßen. Die Lehrer er­ hielten ihre Ausbildung auf dem evangelischen Lehrerseminar in Karlsruhe, der Unterricht erfolgte nach den gleichen Prinzipien wie in den christlichen Schu­ len. Der Zustand dieser Schulen wurde von den Regierungsbeamten durchweg als vorzüglich und nicht selten auch als besser als der der christlichen Orts­ schulen bezeichnet113. Auch die Bemühungen, die Juden bürgerlichen Gewerben zuzuführen, nah­ men ihren Fortgang. Kinder mittelloser Eltern erhielten aus Geldern der jüdi­ schen Gemeinden eine Unterstützung zur Erlernung eines Handwerks114, und für die ordentliche Erlernung des Ackerbaus - um die sich seit 1822 ein „Ver­ ein zur Beförderung des Ackerbaus unter den Israeliten" besonders verdient machte - wurden sogar Prämien ausgesetzt, die nach abgeschlossener Lehre den Erwerb eines eigenen Ackers ermöglichen sollten115. Eine Statistik aus dem Anfang der dreißiger Jahre verzeichnete 570 Handwerksmeister, 341 Gesellen, 155 Lehrlinge, 206 Landwirte, 26 Akademiker, 21 „Künstler", 148 Wirte, 630 Handesleute mit offenen Läden, 880 Händler mit Landesprodukten und schließlich 1091 Mäkler, Hausierer und Trödler. 1319 ( = 32,42 %) hatten sich 54 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

also dem Handwerk, dem Ackerbau und den Wissenschaften zugewandt, 1658 ( = 40,76 °/o) betrieben eine Gastwirtschaft oder einen ordentlichen Handel, also ebenfalls ein bürgerliches Gewerbe, 1091 ( = 26,82%) waren auch weiterhin Nothändler116. Das war ein außerordentlich positives Ergebnis im Verlauf von weniger als einer Generation - und blieb es selbst dann, wenn man in Rechnung stellte, daß die Statistik im ganzen ein etwas zu günstiges Bild bot, da häufig neben dem erlernten Beruf und nicht selten auch an seiner Stelle ein Handel betrieben wurde, der dem Nothandel zumindest nahestand117. Das Steuerkapital der Juden betrug 1832 9,5 Millionen fl., was einem pro Kopf-Satz von 497 fl. gegenüber 648 fl. bei der christlichen Bevölkerung ent­ sprach118. Auch wenn man dabei berücksichtigte, daß ein Teil dieser Diffe­ renz sich aus dem Steuersystem, das den Handel begünstigte, erklärte, so änder­ te sich doch nichts an der Tatsache, daß die jüdische Bevölkerung im Durch­ schnitt, besonders aber auf dem Lande, noch immer sehr arm war. In den grö­ ßeren Städten, vor allem in Karlsruhe und Mannheim, entwickelte sich dage­ gen eine wohlhabende und zum Teil sehr einflußreiche jüdische Bevölkerung. Die großen jüdischen Bankhäuser hatten in den Krisenjahren nach der Grün­ dung des Großherzogtums mehr als 50 °/o der insgesamt 20 Millionen fl. Staats­ anleihen aufgebracht, darunter das Bankhaus Haber in Karlsruhe allein 8,5 Millionen119, und jüdischer Unternehmermut und jüdisches Kapital waren in der Folgezeit auch an den bedeutendsten Industriegründungen des Landes beteiligt. David Seligmann, später Freiherr von Eichthal, beschäftigte in seiner Waffen- und Spinnmaschinenfabrik in St. Blasien - einem der großen Indu­ strieexperimente im Zeitalter der Frühindustrialisierung - zeitweise über 500 Ar­ beiter120, und unter Führung des Bankhauses Haber wurden 1836 die drei größten Industrieunternehmungen Badens gegründet: die Zuckerfabrik in Wag­ häusel, die Badische Gesellschaft für Spinnerei und Weberei in Ettlingen und die Maschinenfabrik Keßler in Karlsruhe121. Welche Bedeutung die jüdischen Banken für die badische Wirtschaft hatten, zeigte sich 1848, als mit dem Zu­ sammenbruch der Banken Haber und Kusel in Karlsruhe die drei Großunter­ nehmen in Schwierigkeiten gerieten und nur durch staatliche Stützungsmaß­ nahmen gerettet werden konnten122. In Karlsruhe und Mannheim hatten Ju­ den Sitz und Stimme in den Handelskammern, einzelne hervorragende Persön­ lichkeiten saßen in den von der Regierung berufenen Industriekomitees und ge­ hörten zu den führenden Repräsentanten des neuen Zeitalters von Industrie, Handel und Verkehr123. Alles das war jedoch für den weiteren Verlauf der Emanzipationsbewegung von vergleichsweise geringer Bedeutung gegenüber der wirtschaftlichen und kulturellen Situation der Juden auf dem Lande. Die Emanzipation der Juden wurde mit den Jahren immer stärker zu einem sozialen Problem, zu einem Stadt-Land-Problem. Alle Reformversuche und Assimilationsbestrebungen in­ nerhalb der Judenschaft gingen von den Städten aus, während die Widerstände von den Landjuden kamen, deren allgemeine Lage sich nur wenig geändert hatte und die gegenüber sozialen und religiösen Reformen weitgehend in Passi55 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

vität verharrten. Ihr Bildungsstand war trotz des verbesserten Schulunterrichts noch immer niedrig124, wie der der Landbevölkerung allgemein, und für bür­ gerliche Berufe fehlten ihnen vielerorts die äußeren Voraussetzungen125. Wäh­ rend sich in den Städten allmählich ein sozialer Ausgleich zwischen C hristen und Juden vollzog, blieben auf dem Lande die alten Schranken bestehen, und noch 1845 glaubte sich ein Abgeordneter der II. Kammer zu dem Satz berech­ tigt: „Die Landjuden sind des Landmanns Unglück.''126

Der Reformlandtag von 1831 In ein neues Stadium trat die Frage der Judenemanzipation im Jahre 1830, als mit der von der Julirevolution ausgelösten Bewegung die klassische Zeit des vormärzlichen deutschen Liberalismus begann. Von nun an ging es um die Fra­ ge der vollen Gleichstellung127. Der große badische Reformlandtag von 1831 mit seiner entschieden liberalen Majorität erweckte auch bei den Juden neue Hoffnungen, und in zahlreichen Petitionen wurde nun gefordert, daß endlich auch für sie „die Verfassung zur Wahrheit werde"128. Umso größer wurde je­ doch die Enttäuschung über den Verlauf des Landtages und die Beschlüsse der Kammern in dieser Sache. Ludwig Winter, der liberale Präsident des Innenmini­ steriums, der im Prinzip durchaus auf dem Boden des Emanzipationsgedankens stand, erklärte unmißverständlich, daß die Regierung angesichts der allgemei­ nen Zeitumstände nicht gewillt sei, den Juden zur Zeit irgendwelche weiteren Rechte zuzugestehen129. In der II. Kammer wurden lediglich zwei Stimmen für die volle Gleichstellung abgegeben130, und in Übereinstimmung mit der Kammermajorität behauptete der Abgeordnete Rettig: „Die Erfahrung hat ge­ lehrt, daß Konzessionen gegen die Juden sie nicht weiter bringen."131 Man war überzeugt vom „antisozialen Wesen" des Judentums, das in seiner Mehr­ heit noch immer eine eigene „Nation" im Staate bilde, und im Kommissionsbe­ richt war sogar von „Fremdlingen" und „Ausländern" die Rede132. Von allen Seiten wurde die „Angst" der Landbevölkerung vor der Emanzipation, die aus dem „Gefühl des furchtbaren Wuchers und Drucks durch die Juden" geboren sei133, beschworen, und der katholische Pfarrer Herr rief emphatisch aus, er wolle seinen Gemeinden lieber die C holera mit nach Hause bringen als die Ju­ denemanzipation184. Dem Einwand, daß weder das Verhalten noch die Zahl der Juden eine so übertriebene Furcht rechtfertige, begegnete dann der Diakon Fecht mit dem Satz: „Darin liegt eben das Furchtbare, daß eine Million sich vor 18 000 Menschen fürchten muß."135 Selbst entschiedene Vertreter des Fortschritts waren gegen jedes Zugeständnis, und den nicht zu übersehenden Widerspruch dieser Haltung zu den liberalen Grundsätzen räumte der Abge­ ordnete Rindeschwender mit der Bemerkung aus, es gehe hier um die „Grenzli­ nie zwischen Philanthropie und Gesetzgebungspolitik"138. Unter dem Einfluß des liberalen Heidelberger Theologen Paulus, dessen Denkschrift der Kammer

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verlesen wurde137, einigte man sich schließlich dahin, eine radikale religiöse Reform des Judentums als notwendige Voraussetzung jeder weiteren Rechtsge­ währung zu bezeichnen. In der jüdischen Religion und insbesondere im Tal­ mud mit seinen vermeintlichen Staats- und gesellschaftsfeindlichen Grundsätzen glaubte man nun den eigentlichen Grund aller Mißstände entdeckt zu haben. Weit über die Wünsche der Kammer von 1823 hinausgehend, forderte man von der Regierung die Einberufung einer Landesversammlung der badischen Juden, die unter anderem die Verlegung des Sabbaths, die Aufhebung der Spei­ segesetze, den Verzicht auf das Hebräische und auch auf die Beschneidung als „Zeichen der Nationalabsonderung", vor allem aber eine Reinigung oder Ver­ urteilung des Tamud beschließen sollte138. Mit dieser Forderung aus dem Geiste eines doktrinären Rationalismus, der in schroffem Gegensatz zu der von wahrhafter Toleranz geprägten Gesetzgebung Karl Friedrichs stand, war der für das Judentum kritische Punkt der ganzen Emanzipationsbewegung erreicht. Hier war keine Konzession mehr möglich, wenn nicht die Kassandrarufe der Orthodoxen in Erfüllung gehen, mit der jü­ dischen Nationalgeschichte auch die jüdische Religion untergehen sollte. Der Oberrat erklärte es für eine „Verleugnung der höheren Menschennatur" und den „Todeskeim für alle religiöse Gefühle", wenn „Änderungen in dem Kir­ chen- oder Religionssystem in der Absicht zur Erreichung zeitlicher Vortheile, und seien sie auch von der höchsten politischen Wichtigkeit", vorgenommen würden - ganz abgesehen davon, daß die jüdischen Religion keine verbindli­ chen theologischen Entscheidungen einer wie auch immer gearteten Versamm­ lung kenne138. „Man nennt uns ein Schachervolk", äußerte ein Oberratsmit­ glied, „allein mit unserer Religion wollen wir dennoch nicht schachern."140 Und in einer Eingabe mehrerer jüdischer Gemeinden hieß es treffend: „. . . jene, welche sich erlauben, solche Hauptpfeiler unserer Religion zu ver­ nichten, sind in der Tat keine Juden mehr und tragen bloß noch den falschen Namen Juden, die hochherzige Begünstigung einer Emanzipation würde alsdann nicht an Juden, sondern an Nicht-Juden erteilt werden."141 Das Innenmini­ sterium erkannte denn auch diesen Standpunkt an und verzichtete auf die Durchführung der Landesversammlung, zumal man die Überzeugung gewon­ nen hatte, daß „bei diesem fest am Alten klebenden Volke einzelne Neuerun­ gen stückweise, gleichsam unvermerkt, immer eher durchgesetzt werden kön­ nen, als irgend eine umfassende, in die Augen fallende Reform"142]. Die II. Kammer dagegen hielt an ihren - wenn auch später modifizierten - Forde­ rungen den ganzen Vormärz hindurch fest und bewirkte dadurch ganz gegen ihren Willen, daß auch als notwendig erkannte Reformen von den Juden nur zögernd in Angriff genommen wurden, da man selbst den Schein einer Konzes­ sion vermeiden wollte143. Kaum weniger bedeutsam waren die Beschlüsse des Landtags von 1831 in den Beratungen der neuen Gemeindeordnung und des Bürgerrechtsgesetzes144. Nachdem die allgemeine Emanzipationsdebatte bereits abgeschlossen war, stell­ te man nun den Grundsatz auf, daß die Rechtsverhältnisse der Juden durch die 57 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

neuen Gesetze weder im Guten noch im Schlechten eine Abänderung erfahren sollten145. Praktisch führte dieser Grundsatz jedoch zu einer entscheidenden Verschlechterung dieser Rechtsverhältnisse. Eine der wichtigsten Neuerungen der Gemeindeordnung betraf die Aufhebung des Unterschieds zwischen Orts­ bürgern ( = Vollbürgern) und Schutzbürgern, den man mit Recht als ein mit den Prinzipien des Verfassungsstaates im Widerspruch stehendes „Überbleibsel der Vorzeit" betrachtete. Damit wurden mit einem Schlage in Baden 80 000 Schutzbürger zu Ortsbürgern, d. h. sie erhielten volle politische Rechte in den Gemeinden und zugleich Anspruch auf Teilnahme am Gemeindenutzen146. In­ dem man aber die Juden von dieser Regelung ausnahm, blieben sie künftighin die einzigen, die nur das Schutzbürgerrecht besaßen - der Unterschied in den Gemeinden war nun nicht mehr Ortsbürger-Schutzbürger, sondern vollberech­ tigter C hrist und minderberechtigter Jude. Das war eine Entscheidung, die die ganze bisherige Emanzipationskonzeption, die auf allmähliche Annäherung be­ rechnet war, in ihrem Kern traf. Über die Tragweite dieser Entscheidung konnte man sich auch kaum im unklaren sein, wenn auch die Tatsache, daß man von einer nur vorläufigen Ausschließung sprach, manchen Liberalen beru­ higen mochte147. Schon 1819 war in der Beratung des ersten Entwurfs der Ge­ meindeordnung die zentrale Stellung der Gemeinde in der liberalen Gesell­ schaftskonzeption deutlich umrissen worden. „Es ist wohl schon oft gesagt worden", hatte der Abgeordnete Föhrenbach ausgeführt, „daß die Erziehung des Staatsbürgers von dem Gemeindebürger ausgehen müsse. Der Mensch lebt zuerst in der Familie, dann in seiner Gemeinde und endlich im Staat. In jenem mittlern Kreise ist es aber eigentlich, wo das gesellschaftliche Leben sich in ihm entfaltet, durch tausendfache Berührungen, von deren Beschaffenheit seine Richtung abhängt und der Sinn, den er mit sich in das Staatsleben hinüber­ trägt. Ist dieser einmal erschlafft, niedergedrückt oder in unnatürlichen For­ men verkrüppelt, so wird er nie mehr in freier Richtung zu einer kräfti­ gen Bewegung sich aufschwingen."148 Auf Grund der neuen, liberalen und in ganz Deutschland als vorbildlich geltenden Gemeindeordnung blieben die badi­ schen Juden nun aber tatsächlich auf die Lebenskreise von Familie und Staat be­ schränkt und von der Teilnahme an dem so wichtigen mittleren Bereich ausge­ schlossen. Das wurde noch dadurch unterstrichen, daß in § 13 der Gemeinde­ ordnung die Wählbarkeit zum Bürgermeister und in den Gemeinderat an das christliche Glaubensbekenntnis gebunden und selbst den Juden, die bereits das Ortsbürgerrecht erworben hatten, jede Teilnahme an der Gemeindeselbstver­ waltung verwehrt wurde149. Und noch eine weitere, folgenreiche Rechtsbeschränkung wurde auf der Grundlage des Status quo-Prinzips fixiert: während im § 17 des Bürgerrechts­ gesetzes jedem badischen Staatsbürger das Recht zugesprochen wurde, in jeder Gemeinde des Großherzogtums die bürgerliche Aufnahme zu verlangen, sofern er die allgemeinen gesetzlichen Bedingungen erfüllte, wurde auch hier für die Juden lediglich auf die ältere Gesetzgebung verwiesen. Das bedeutete, daß alle Gemeinden, in denen es bisher keine Juden gegeben hatte, ihnen auch weiterhin 58 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

verschlossen blieben, und daß auch die Übersiedlung in andere, bereits von Ju­ den bewohnte Gemeinden nur in Einzelfällen möglich war150. Da nur in 173 von 1555, d.h. in 11 % aller badischen Gemeinden Juden lebten, blieb ihnen der größte Teil des Landes mit Städten wie Konstanz, Freiburg, Offenburg und Lahr somit gänzlich versperrt, und mit geringen Ausnahmen waren sie ge­ zwungen, in den Gemeinden zu bleiben, in denen sie ein angeborenes Bürger­ recht besaßen151. Indem so ihre Streuung über das Land hin verhindert wur­ de, blieben ihrer Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaft auch weiterhin enge Grenzen gezogen, die zu den Absichten der Emanzipationsgesetzgebung in einem unübersehbaren Widerspruch standen. Der vielbeklagte Gruppencharak­ ter einer „fest in sich abgeschlossenen Nation", von dem gerade auf dem Land­ tag von 1831 oft genug die Rede war, wurde auf diese Weise künstlich konser­ viert, und auch der häufige Rückfall aus einem erlernten Gewerbe in den Nothandel hatte eine seiner Hauptursachen darin, daß in den von den Juden bewohnten ländlichen Gemeinden die Ausübung bürgerlicher Berufe immer nur für eine kleine Zahl möglich war. Sehr scharf hatte Ludwig Winter, der Vater der neuen Gemeindeordnung, die Folgen einer Gesetzgebung, die den Juden im Gegensatz zu den C hristen die Freizügigkeit verweigerte, schon 1820 als Abge­ ordneter beleuchtet: „Sie zerstört mit einem Schlag, was der weise Karl Fried­ rich mit Sorgfalt und Humanität begonnen hat und was seither mit gleicher Sorgfalt gefördert worden ist. Sie bildet aus den Juden eine Klasse von Staats­ leibeigenen, die ihr Leben lang an die Erdscholle gebunden sind, auf welche sie die Geburt hingeworfen hat, sie ist ein Eingriff in die Konstitution, indem sie die den Juden vorher zugestandene Gleichheit mit den übrigen Staatsbürgern zernichtet. . .'' l52 Aber selbst ein so hervorragender Vertreter des Geheimrats­ liberalismus wie Winter handelte nun als Minister anders, als er als Abgeordne­ ter gefordert hatte. Der Reformlandtag von 1831 hatte für die Judenemanzi­ pation keine Fortschritte, sondern Rückschritte gebracht; er hatte unerfüllbare Forderungen aufgestellt und neue Trennungswände zwischen C hristen und Ju­ den errichtet, die trotz ihres provisorischen C harakters mehr als drei Jahrzehn­ te lang Bestand haben sollten.

Der vormärzliche Liberalismus und das Problem der Emanzipation Jeder der nun folgenden Landtage bis 1848 hatte sich mit der Emanzipa­ tionsfrage zu befassen153. Unbeirrt durch alle Mißerfolge legten Oberrat, Ge­ meindevorstände und einzelne Juden immer wieder ihre Petitionen vor, in de­ nen neben den politischen Rechten - insbesondere der Zulassung zum Staats­ dienst - nun auch die Gleichstellung in den gemeindebürgerlichen Rechten ein­ dringlich gefordert wurde154. Die Haltung der II. Kammer änderte sich je­ doch nicht: immer wieder wurde gegen eine Minderheit von etwa 15 Stimmen beschlossen, unter Hinweis auf den Kammerbeschluß von 1831 und dessen Be-

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stätigung im Jahre 1833 über die Petitionen zur Tagesordnung überzugehen. Lediglich die L Kammer machte sich 1833 den Gedanken der vollen Emanzi­ pation zu eigen und überwies bei Stimmengleichheit durch die Entscheidung des amtierenden Präsidenten Fürst zu Fürstenberg die Petitionen mit „einer be­ sonders angelegentlichen Empfehlung" an das Staatsministerium155. In der II. Kammer, deren konservative Mitglieder zum größten Teil ohnehin gegen jede weitere Rechtsgewährung stimmten, entwickelte sich dagegen die Frage der Ju­ denemanzipation mehr und mehr zu einem Prüfstein der liberalen Prinzipien. Die Debatten erreichten eine ungewöhnliche Schärfe, die Gegensätze gingen schon auf dem Landtag von 1833 quer durch das liberale Lager: Rotteck, v. Itzstein, Sander und Rindeschwender zählten zu den Wortführern der emanzipationsfeindlichen Mehrheit der liberalen Abgeordneten, Welcker, Bekk, Duttlinger, später vor allem Bassermann und Mathy waren die prominenten Vertreter der Minderheit, an deren Seite seit 1846 mit Brentano, Hecker und Kapp dann die Führer der Radikalen traten156. Rotteck versuchte von Anfang an, die Notwendigkeit einer baldigen Lösung der Emanzipationsfrage ganz allgemein zu bestreiten und dadurch einer grund­ sätzlichen Entscheidung, deren Problematik ihm durchaus bewußt war, aus dem Wege zu gehen. So erklärte er gleich 1833 als Berichterstatter der Peti­ tionskommission, neben „der großen, das ganze Gemüt beherrschenden Angele­ genheit, Bewahrung der Konstitution", handele es sich bei der Judenemanzi­ pation doch nur um „einen untergeordneten, jedenfalls minder wichtigen Ge­ genstand"157. Und als im Verlauf der Debatte der Abgeordnete Bekk von den „für die verfassungsmässige Bildung des Volkes guten Folgen" einer Emanzipa­ tion der Juden - „indem durch die Entfernung dieser Rechtsungleichheit die Idee der Rechtsgleichheit sich immer mehr bestärkt" - gesprochen hatte158, kam Rotteck noch einmal auf seinen Gedanken der notwendigen Rangordnung verfassungspolitischer Ziele zurück: „Zum Schluß betone ich, daß ich die Emanzipation der C hristen und die Emanzipation der Deutschen zur Zeit noch für wichtiger halte, als die der Juden. Die letztere mag stattfinden, wenn die erstere geschehen ist. Geschieht die erstere gar nicht, so ist auch die letztere nicht viel wert."159 Während die Minderheit der liberalen Kammermitglieder mit dem Abgeordneten Bader die Emanzipation der Juden als „eine dringende Notwendigkeit der konstitutionellen Verfassungen und eine unabweisbare For­ derung der fortschreitenden Kultur, der Zivilisation und des Zeitgeistes" be­ trachtete160, suchte die Mehrheit ganz im Sinne Rottecks in immer neuen An­ sätzen darzulegen, daß es sich hier nicht um eine Frage des Prinzips, sondern nur um einen Gegenstand praktisch-politischer Erwägungen handeln könne. Man polemisierte stets aufs neue gegen „das Wortgepränge" und die „schönen Redensarten" der Emanzipationsfreunde161, und man widersprach nicht ein­ mal, als ein konservativer Abgeordneter in diesem Zusammenhang von den „Phrasen einer ebenso schwülstigen wie bodenlosen Rechtsphilosophie" sprach162. Nur ganz wenige Liberale gingen so weit, sich eindeutig und rückhaltlos ge60 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

gen die Emanzipation auszusprechen, indem sie etwa, wie der Abgeordnete Sander, plötzlich als Anhänger des „christlichen Staates" auftraten und den Befürwortern der Emanzipation die Aufforderung entgegenschleuderten, doch lieber gleich „die Fahne des Atheismus aufzupflanzen''163. Von der Mehrheit wurde dagegen niemals die Emanzipation als solche abgelehnt, sondern immer nur die Emanzipation zum gegenwärtigen Zeitpunkt und unter den gegebenen Umständen. Man dachte hier ebenso wie in manchen anderen Emanzipations­ fragen - beispielsweise der Frage der Gewerbefreiheit - noch immer in obrig­ keitsstaatlichen Kategorien und konnte sich, allen liberalen Theorien zum Trotz, nicht von der Vorstellung lösen, daß die Freiheit erst am Ende eines er­ folgreich abgeschlossenen Erziehungsprozesses stehen könne164. Von Land­ tag zu Landtag glaubte man daher aufs neue prüfen zu müssen, ob inzwischen irgendwelche Fortschritte auf seiten der Juden zu verzeichnen seien, die eine Weiterführung der Emanzipationsgesetzgebung rechtfertigen würden. Das Er­ gebnis solcher Prüfungen jedoch fiel immer wieder zu Ungunsten der Emanzi­ pation aus, zumal ja auch von den emanzipationsfreundlichen Abgeordneten nicht bestritten wurde, daß nach wie vor Unterschiede zwischen Juden und Christen bestanden und der Prozeß des sozialen Ausgleichs noch lange nicht abgeschlossen war. Religion und Nationalität der Juden, so wurde immer wie­ der behauptet, stünden noch immer ihrer Verschmelzung mit den C hristen ent­ gegen und machten eine volle Gleichstellung vorerst unmöglich. „Ich sage aber", erklärte Rotteck 1833, „daß das Motiv der einstweiligen Beschränkung der israelitischen Rechte einen sehr tiefgehenden und durchaus unwiderlegli­ chen Grund hat, darum, weil der Staatsverband als ein inniger Verein eine ge­ wisse Gleichförmigkeit oder Verschmelzung der Gesinnungen und Neigungen fordert, und die Juden können diese echt soziale Meinung und Gesinnung zu uns nicht haben. Nur dann können sie sie haben, wenn sie aufhören, Juden zu sein, nach dem strengen, starren Sinn des Worts, weil die jüdische Religion eine solche ist, die nach ihrem Prinzip eine Feindseligkeit oder wenigstens Scheu gegen alle andern Völker enthält und geltend macht, wogegen die christ­ liche Religion den C harakter hat, daß sie eine allgemeine Verbrüderung aller Völker auf Gottes weiter Erde will."165 Die Argumentation, die schon den Kammerbeschluß von 1831 herbeigeführt hatte, blieb in ihrem Kern unverän­ dert: ohne Reformation des Judentums keine Emanzipation der Juden. Es gab noch ein zweites, immer wiederkehrendes Argument gegen die Eman­ zipation: „das Volk will es nicht." Die Mehrheit der badischen Bevölkerung, vor allem der Landbevölkerung, war, wie von niemandem bestritten wurde, ge­ gen die Emanzipation der Juden. Welche Befürchtungen und Vorurteile in weiten Kreisen des Volkes verbreitet waren, wurde 1840 sehr anschaulich von dem Abgeordneten Kuenzer - einem der Fürsprecher der Judenemanzipation in dem Bericht der Petitionskommission geschildert: „Im allgemeinen herrscht im Volke eine große Abneigung gegen die Israeliten und eine ängstliche Scheu vor ihnen, die sich auf die allgemeine Unzufriedenheit mit ihrem C harakter und Betragen gründen. Man fürchtet es als Folge der fraglichen Gleichstellung,

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daß die Israeliten sich in allen Gemeinden des Landes ansiedeln und daselbst überall anwachsen werden, zahlreich wie der Sand am Meere; daß sie an allen Orten den Handel und alle vorteilhaften und gewinnreichen Gewerbe an sich ziehen und aber, wie bisher, Ackerbau und Handwerksbetrieb verachtend und scheuend, diese in ihrer bei dem Volke verhaßten Handelsweise behandeln werden; daß sie überall auf den bekannten bisherigen, ebenso verhaßten Wegen ihre christlichen Mitbürger zu ihren Schuldnern machen und in ein solches Ab­ hängigkeitsverhältnis zu sich bringen werden, in welchem sie mit diesen und dem Vermögen derselben nach Willkür verfahren können, und daß sie in allen Gemeinden in Folge ihrer grenzenlosen Gewinnsucht alle gewinnbringenden Schlechtigkeiten verirrter oder verworfener Leute unterstützen und begünsti­ gen und durch alles dieses den sittlichen und ökonomischen Zustand aller Ge­ meinden zu Grunde richten werden. Man sieht mit Angst in die Zukunft, wie diese gefürchteten Israeliten nach und nach sich in alle Gemeinde-Ämter und Öffentlichen Staatsdienste eindrängen, und wie sie als Bezirksbeamte und Rich­ ter auf eigene Weise funktionieren; ja, man ängstigt sich schon mit dem Ge­ danken, wie ein solcher verhaßter Israelite dereinst als Finanzminister mit den Staatsgeldern und öffentlichen Fonds schalten und walten werde. - Dieses, meine Herren! sind die Ansichten und Befürchungen der Mehrheit unseres Vol­ kes von den Israeliten und ihrer Gleichstellung mit den C hristen in unserm Großherzogtum."166 Während sich Kuenzer und mit ihm die Minderheit der liberalen Abgeord­ neten jedoch ungeachtet dieser Volksstimmung für die Emanzipation als eine Forderung des Rechts und der politischen Vernunft aussprachen, war für die mei­ sten badischen Liberalen das Urteil des „Brockhaus" von 1844 sehr zutreffend: „Liberale, denen es um die Volksgunst zu tun ist, haben meist Bedenken getra­ gen, sich offen und entschieden für die Juden zu erklären; denn populair ist die Sache der Juden nicht."187 So berief man sich nun auf das Mandat des Abgeordneten, der nicht nur nach allgemeinen Grundsätzen und eigener Über­ zeugung zu urteilen, sondern auch die Wünsche und Gesinnungen seiner Auf­ traggeber zu berücksichtigen habe168. Vor allem aber verschanzte man sich hinter dem Begriff der „Öffentlichen Meinung", der in der liberalen Theorie eine so hervorragende Rolle spielte und doch zugleich so wenig fest umrissen war169. Die „öffentliche Meinung", so wurde behauptet, sei zunächst nichts anders als die Meinung der Mehrheit der Bevölkerung, die Stimme des Volkes. Gewiß könne das Volk auch einmal falschen Meinungen anhängen, aber doch niemals auf die Dauer, und bei einer so „unzweifelhaften festen öffentlichen Meinung", wie sie in der Frage der Judenemanzipation bestehe, könne von ei­ ner Irreführung des Volkes jedenfalls nicht die Rede sein. Den liberalen Grundsätzen der Emanzipationsfürsprecher gewissermaßen das „gesunde Volksempfinden" entgegenhaltend, erklärte 1837 der Abgeordnete Sander: „Die Erfahrung aller Zeiten hat dagegen mit lauter Stimme schon oft gelehrt, daß die Völker über das, was ihnen Not tut, was.ihre Stufe der Bildung ver­ langt, weit besser unterrichtet sind, als man ihnen zuzutrauen pflegt und selbst 62 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

jene glauben mögen, welche, zu einer schwindelhaften Höhe hinaufgeschraubt, ihre unklaren, voreiligen Ansichten als die einzig wahren und guten erblicken und die Meinungen der auf dem festen Boden bestehender Tatsachen Befindli­ chen als Vorurteile und Überbleibsel längst verschollener Zeiten verschrei­ en."170 Gegen eine solche „realpolitische" Verzerrung des liberalen Begriffs der Öffentlichen Meinung wandten sich allerdings die Befürworter der Emanzi­ pation mit großer Entschiedenheit. Schon 1835 hatte Welcker Rotteck den Satz entgegengehalten: „Es ist nicht die öffentliche Meinung, sondern altes Vorurteil"171, und 1837 führte er dazu noch einmal aus, „Pöbelleidenschaft" und „Hepp! Hepp!" seinen keine „öffentliche Meinung"172. Er forderte jetzt die „C horführer der öffentlichen Meinung" auf, endlich ihre Pflicht zu tun, und führte zugleich auf den klassischen Begriff der öffentlichen Meinung zu­ rück, indem er darlegte: „Nur dasjenige, was mit den ewigen Grundsätzen der Gerechtigkeit und den ewigen Grundlagen der Religion von dem Volk als übereinstimmend erkannt wird, erkenne ich als Öffentliche Meinung." Richtig­ stellungen solcher Art blieben jedoch völlig wirkungslos: die Fronten verhärte­ ten sich von Landtag zu Landtag, Argumente schienen ihre Kraft, Prinzipien ihren Sinn verloren zu haben. Schon 1837 glaubte sich der Abgeordnete Schaaff zu der Bemerkung berechtigt: „Es können schöne Reden gehalten, Meisterstücke der Rhetorik vor Augen gestellt, interessante wissenschaftliche Darstellungen, das Gemüt ergreifende philanthropische Deduktionen vorge­ führt werden, aber etwas Neues werden wir nicht hören."173 Und 1845, nach anderthalb Jahrzehnten ergebnisloser Auseinandersetzungen, faßte Welcker sei­ ne Eindrücke schließlich in dem Satz zusammen: „Es bleibt mir nach dem, was bisher verhandelt wurde, kaum etwas anderes übrig, als der Ausdruck des Schmerzes, daß jedesmal [.. .] bei der Verhandlung dieser Frage der Ruhm der badischen zweiten Kammer und vorzüglich der Ruhm der liberalen Opposition sich verhüllt."174 Wenn die Kammerdebatten überhaupt ein positives Ergebnis aufzuweisen hatten, so bestand es darin, daß sich im Laufe der Auseinandersetzungen im­ mer deutlicher eine auf die liberalen Prinzipien gegründete Emanzipationskon­ zeption herausbildete, die sich über die auf dem Gedanken von Leistung und Belohnung beruhende Theorie des aufgeklärten Absolutismus erhob. Der Grundsatz, daß die volle Entfaltung aller menschlichen Kräfte nur in der Frei­ heit möglich, daß Freiheit „die Bedingung der geistigen und sittlichen Erhe­ bung und der sozialen Vervollkommnung des Menschen" sei175, wurde nun auch für die Juden in Anspruch genommen. Die oft geforderte Assimilation, so führte man aus, werde eine Folge der Emanzipation sein, könne aber niemals zu ihrer Bedingung gemacht werden. Schon 1833 hatte deshalb der Abgeordne­ te Merk gefordert, „die Israeliten in die Masse der christlichen Bevölkerung hineinzuwerfen, damit sie, vom Strome fortgerissen, gleich dem in einem Fluß­ bett hinwallenden Kiesel sich abrunden und dem Bestehenden sich einfü­ gen"176. Und der Abgeordnete Bader hatte in der gleichen Debatte dargelegt: wenn man von den Juden verlange, sie sollten sich erst einmal auf eine höhere

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Stufe der Bildung stellen, so erinnere ihn das an jene Fürsten, die den unter­ drückten Völkern, die Freiheit und Verfassung fordern, zurufen: Ihr seid noch nicht reif dazu, bildet euch erst.. .177 Auf der Grundlage solcher klassisch li­ beralen Anschauungen erhob sich dann die Minorität der Kammer zu der For­ derung einer sofortigen und uneingeschränkten Gleichstellung. „Wenn alle Ju­ den schlecht wären, was sie aber nicht sind", formulierte 1845 der Abgeordne­ te Mez, „so will ich dennoch sie emanzipieren, ich will ihnen Freiheit geben, so gut ich kann, so gut ich sie habe, weil ich sie bessern will, und weil in mir die Überzeugung lebendig ist, daß man nur in der Freiheit, das heißt in dem Besitz und Genuß würdiger Zustände, wahrhaftig gedeihen kann."178

Die Wende von 1846 und die Revolution In all den Jahren der Debatten zwischen 1833 und 1845 war die Entwick­ lung nicht stehen geblieben. Der Assimilationsprozeß hatte vor allem in den Städten weitere Fortschritte gemacht, und im Unterrheinkreis waren zahlreiche Juden als Ortsbürger aufgenommen und einzelne sogar zu Gemeindeämtern zu­ gelassen worden179. Für Kultus und Schulwesen war die volle rechtliche Gleichstellung durch Gesetze Wirklichkeit geworden180. Es war jedoch nicht diese Entwicklung, die auf dem Landtag von 1846 dem Emanzipationsgedan­ ken endlich zum Siege verhalf. Während sich noch 1845 nur eine Minderheit von 15 Abgeordneten für die Emanzipation ausgesprochen hatte, waren im fol­ genden Jahr nach der Neuwahl des Landtags die Stimmverhältnisse genau um­ gekehrt: jetzt brachten es die Emanzipationsgegner nur noch auf eine Minori­ tät von 16 Stimmen. Dieser bemerkenswerte Umschwung hatte vor allem zwei Ursachen: die durch die Deutschkatholiken veranlaßte, aber die Juden mit ein­ schließende Motion des Abgeordneten Zittel auf Religionsfreiheit von 1845181 und eine damit zusammenhängende Meinungsänderung bei den Wortführern der Radikalen, die 1846 verstärkt in die Kammer einzogen. Die Motion Zittel hatte eine große Erregung im Lande hervorgerufen, der Kampf gegen die Herrschaftsansprüche der römisch-katholischen Kirche, für die Rechte einer unterdrückten Minderheit, ließ alle liberalen Leidenschaften erwachen, und es mußte im Verlauf dieser Agitation immer deutlicher der schreiende Wider­ spruch zwischen den hier mit so viel Emphase vorgetragenen Prinzipien und der Behandlung der Judenfrage' hervortreten. Vor allem im Lager der Radikalen begann man die Konsequenzen zu zie­ hen182. Am 7. August 1846 legte der Mannheimer Abgeordnete Brentano, ei­ ner der Führer der Demokraten, der Kammer den Bericht der Petitionskommis­ sion vor, in dem nun einstimmig die volle Gleichstellung in den politischen und gemeindebürgerlichen Rechten gefordert wurde183. Nur das Vorurteil, das war jetzt auch die Überzeugung der Kammermajorität, stand der Emanzipa­ tion noch entgegen. So äußerte der liberale Abgeordnete von Soiron: „Meine

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Meinung . . . ist die, daß zwar der Judenhaß nicht mehr besteht, daß aber an dessen Stelle ein gewisser Widerwille getreten ist, der eben mit uns geboren und zum Teil uns anerzogen worden ist", und er folgerte, daß, „wenn man sich demgemäß von diesem Widerwillen gegen die Juden ganz frei macht, am Ende alle Gründe, die gegen die Emanzipation gebraucht werden, in Nichts verfal­ len. Jagen Sie den Bocksfuß (den Widerwillen) fort, und man wird nicht mehr sagen können, das Judentum sei staatsgefährlich."184 Für die Radikalen wurde die Deutung dieses Vorurteils jetzt zu einem Bestandteil ihrer allgemeinen Analyse der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Baden. Als einer ihrer Wortführer stellte der Abgeordnete Kapp den Satz auf, daß die Juden fast ausschließlich dort verhaßt seien, wo „man das Volk gegen sie fanatisiert, um den Haß, den es auf schwärzere Naturen werfen würde, von diesen abzu­ lenken", und er forderte Zustände, „welche den Nothandel und den Wucher nicht selbst erzeugen, d. h. Zustände ohne Bauernnot, ohne blutsaugende Steu­ ern, ohne Monopole etc. Sach- und zeitgemäß organisiere man die Arbeit, schütze man die kleine Industrie, und mit dem christlichen Wucher wird auch der jüdische abnehmen!"185 Friedrich Hecker schließlich, der offen bekannte, es sei „schwer, sich loszureißen von den Vorurteilen der Jugend, von der Tra­ dition, von der historischen Übertragung, die uns mehr oder weniger gefangen nehmen", versuchte eine sozialpsychologisch-politische Deutung des traditio­ nellen Verhaltens: „In Staaten, wo keine wahre Freiheit herrscht, wo wir uns täglich erdrückt fühlen von der Last des Polizeistaats, tut es wohl, wenn man noch einen sieht, der schlechter gestellt ist, den man verachten und knuffen, an dessen Mißhandlung man sich etwas erholen kann von der täglichen Bedrük­ kung und Verkümmerung des Polizeistaats. In der Unfreiheit der Staaten, in dem Druck, in der Verkümmerung liegt es, warum wir die Juden nicht eman­ zipieren wollten. Indem wir die Juden knufften, glaubten wir uns selbst freier und höher stehend. Das ist das Rätsel der Sphinx in dieser Frage . . ."186 Die Emanzipationsfrage war für die Radikalen jetzt zu einem grundsätzlich poli­ tischen Problem geworden, das im Tiefsten mit der in schneidenden Worten und bald auch in Taten - bekämpften gesellschaftlichen und politischen Situa­ tion der Gegenwart verbunden war. Die gemäßigten Liberalen, von denen ein Teil schon immer für die Emanzipation eingetreten war, konnten unter diesen Umständen nicht zurückstehen - die volle Gleichstellung wurde zur Forderung der gesamten liberalen und demokratischen Opposition187. Eine Gesetzesvorlage auf Grund dieses Kammerbeschlusses kam allerdings nicht mehr zustande. Wechsel im Ministerium und schließlich der Ausbruch der Revolution verhinderten die Ausführung188 - die Emanzipationsfrage geriet in den Sturm der revolutionären Ereignisse. Diese zeigten zunächst ein ganz ande­ res Gesicht, als man nach der Debatte von 1846 hätte erwarten sollen. Die Bauernaufstände im März 1848 begannen mit Judenverfolgungen, in denen der totgesagte Judenhaß wiederzuerstehen schien189. Vor allem im Kraichgau und im Odenwald blieb kaum ein von Juden bewohntes Dorf verschont: Häuser wurden geplündert und demoliert, Geld und falsche Quittungen erpreßt, ganze 65 5

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Familien zur Flucht gezwungen. Die Verfolgungen übertrafen an Heftigkeit und Umfang die von 1819 erheblich. Es handelte sich aber nicht wie damals um den plötzlichen Ausbruch eines spezifischen Judenhasses, sondern vielmehr um den ganz allgemeinen, verzweifelten Versuch einer gewaltsamen Beseitigung konkreter wirtschaftlicher und sozialer Mißstände, in die unter anderen auch die Juden verstrickt waren190. Es war kein Zufall, daß sich die Aufständi­ schen gleichermaßen gegen Juden, grundherrliche Schlösser und Rentkammern wandten; auch reiche Pfarrer wurden nicht verschont, und überall waren, wie es in einem Bericht aus der Gemeinde Freudenberg hieß, „die Schuldner zu ih­ ren C reditoren gedrungen"191. Die allgemeine Ursache der allenthalben in Deutschland entstandenen Agrarunruhen lag in den großen Mißernten von 1845/46, die mit allen ihren Folgeerscheinungen eine zum Teil unvorstellbare Not auf dem Lande hervorgerufen hatten. In Baden kamen besondere Umstän­ de hinzu, die die Situation in vielen Gebieten des Großherzogtums verschärf­ ten und insbesondere für die Juden verhängnisvoll wurden. Das Zehntablö­ sungsgesetz von 1833 hatte hier die davon betroffenen Bauern in großem Um­ fang zu Schuldnern der Juden werden lassen, die ihnen die Ablösungsgelder vorgestreckt hatten192. Diese finanzielle Belastung war gerade für die ärmeren Bauern im Odenwald von vornherein außerordentlich drückend, und sie wurde in den Krisenjahren untragbar. Gleichzeitig waren aber die von der Krise na­ türlich mitbetroffenen Juden vielfach gezwungen, auf die Rückzahlung der Kredite zu drängen. Konflikte waren unvermeidlich: die Juden, die mit ihren Forderungen den Bauern nun häufig als die neuen Herren erschienen, konnten geradezu zur Personifikation der ganzen Misere werden - sie wurden beinahe zwangsläufig die ersten Opfer des Aufruhrs193. In der II. Kammer wurde am 14. Februar eine Motion des Abgeordneten Brentano auf sofortige Zulassung der Juden zum Vollgenuß der politischen und bürgerlichen Rechte angekündigt194. Schon vierzehn Tage später war sie jedoch - sehr zum Schaden der Emanzipation - von den revolutionären Ereig­ nissen überholt worden. Am 2. März wurden die von den Demokraten einge­ brachten 12 Revolutionsforderungen fast einstimmig beschlossen, deren dritte dahin ging, „daß alle Beschränkungen politischer Rechte aus dem Grund, daß ein Staatsbürger einer bestimmten Konfession angehöre, aufgehoben . . . wer­ den"195. Mitte März lag bereits ein entsprechender Gesetzentwurf vor, der Anfang April von der Kommission mit der Bemerkung, eine lange Begründung sei „Zeitverschwendung", zur unveränderten Annahme empfohlen wurde: „Es sind keine Hindernisse mehr zu besiegen; der mächtige Ruf der Zeit hat sie alle mit einem Male darnieder geworfen."196 Die Zustimmung der Kammer erfolg­ te am 13. Mai ohne lange Debatte bei einer einzigen Gegenstimme. Schwierig­ keiten tauchten erst im Verlauf der weiteren Behandlung des Entwurfes auf. Die I. Kammer, deren Kommission trotz einiger Bedenken dem Entwurf im Prinzip zustimmte, verfolgte in Übereinstimmung mit den Wünschen des Mini­ steriums Bekk eine Verschleppungstaktik. Man erklärte, zunächst die Reichsge­ setzgebung abwarten zu wollen, war jedoch vor allem darauf bedacht, jeden

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Anlaß zu neuen Unruhen in der Bevölkerung zu vermeiden. Auch das wieder­ holte Drangen der II. Kammer, namentlich des späteren Ministers Lamey, blieb dieser Taktik gegenüber erfolglos. Erst am 13. Februar 1849 wurde der Ent­ wurf bei vier Gegenstimmen auch in der I. Kammer verabschiedet197. Aus­ drücklich der künftigen Gesetzgebung vorbehalten blieb jedoch die Regelung der gemeindebürgerlichen Rechte, womit man warten wollte, bis - wie der Ab­ geordnete Zittel formulierte - „die jetzige, den Israeliten ungünstige sehr stür­ mische Aufregung vorbei ist"198. Angesichts der mit dieser Frage verbundenen materiellen Interessen, insbesondere hinsichtlich der Teilnahme am Bürgernut­ zen, hielt man es für ganz unmöglich und letztlich auch dem Interesse der Ju­ den zuwiderlaufend, in Zeiten so schwerer politischer Erschütterungen irgend­ einen Lösungsversuch zu wagen. Auch die Frankfurter Reichsverfassung vom 28. März 1849, die Anfang Mai im badischen Gesetzblatt publiziert wurde, be­ wirkte in dieser Hinsicht keine Änderung mehr, obwohl in Artikel V der Grundrechte (§ 146) die Unabhängigkeit des vollen Genusses der „bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte" vom Religionsbekenntnis verkündet worden war 199 . Die Revolution brachte den Juden, die in den politischen Kämpfen in ihrer großen Mehrheit auf der Seiten der gemäßigten Liberalen und der großherzog­ lichen Regierung gestanden hatten200, damit nicht den erhofften Abschluß der Emanzipationsgesetzgebung, sondern wiederum nur eine Teillösung. Die Bedeu­ tung der politischen Rechte - der Zulassung zum Staatsdienst, der Wählbarkeit zu Abgeordneten und - für Gemeindebürger - nun endgültig auch zu Gemein­ deämtern - war gewiß nicht gering, mit der Vertagung der Gleichstellung in den gemeindebürgerlichen Rechten blieb jedoch ein entscheidendes Problem der ganzen Emanzipationsfrage ungelöst201.

Rechtliche und soziale Entwicklung bis 1860 Die Jahre nach der Revolution waren, wie vorauszusehen, der Vollendung der Emanzipation wenig günstig, und selbst die eben erworbenen politischen Rechte konnten oft nur in den größeren Städten realisiert werden. Bis zum Jahre 1852 war noch keine Zulassung eines Juden zum Staatsdienst erfolgt202. Der Landtag zeigte sich bis 1860 wenig geneigt, die Frage der gemeindebürgerli­ chen Rechte zu entscheiden, obwohl 1850 von dem Abgeordneten von Soiron in der II. Kammer deutlich genug darauf hingewiesen worden war, daß die Stellung der Juden zur Gemeinde mit ihrer Stellung zum Staat nunmehr „in einem solchen Kontrast" stehe, „daß es keiner Worte bedürfen wird, um den­ selben näher darzulegen"203. Man fürchtete unabsehbare Komplikationen und glaubte, das für den badischen Staat damit verbundene Risiko nicht verant­ worten zu können. Als Berichterstatter der Kommision führte 1851 der konser­ vative Abgeordnete Rettig hierzu aus: „Die politische Lage unseres engeren 67 5*

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Vaterlandes und die kaum beruhigte Stimmung in demselben machen es uns zur Pflicht, alles zu vermeiden, was in den Gemeinden Reibungen und Zer­ würfnisse erregen oder Unzufriedenheit mit den Beschlüssen der Kammer und den Maßregeln der Regierung erzeugen könnte. Der Mißmut würde umso grel­ ler hervortreten, wenn die Regierung in die unangenehme Notwendigkeit ver­ setzt würde, im Vollzug der Kammerbeschlüsse die Ansprüche der Israeli­ ten durch Zwangs- und Exekutivmaßnahmen gegen renitierende Gemeinden durchzusetzen und Gewalttätigkeiten, welche, aus diesem Anlaß an Juden ver­ übt, sicherlich nicht ausbleiben würden, zu bestrafen. Der für uns so wichtige öffentliche Glauben, daß es Baden gelungen sei, sich nach bestandenen heftigen Erschütterungen in kurzer Zeit wieder zum Zustand einer gesetzlichen Ordnung und Selbständigkeit emporzuarbeiten, könnte dadurch von neuem gestört wer­ den."204 Im Zusammenhang solcher realpolitischen Erwägungen, die seit 1831 in der Behandlung der Judenemanzipation ja auch bei den Liberalen immer wieder aufgetaucht waren, wurde dann auch nicht unterlassen, auf die Ent­ scheidung der 48er Kammer - „der wohl niemand den Vorwurf allzu großen Konservatismus' machen wird" - gegen die gemeindebürgerlichen Rechte zu verweisen205. Eine Änderung zugunsten der Juden vollzog sich dagegen in Regierung und Verwaltung seit der Regierungsübernahme durch Großherzog Friedrich im Jahre 1852. Zahlreiche Unterscheidungen zwischen Juden und C hristen wur­ den in der Verwaltungspraxis fallen gelassen, und allmählich erfolgten auch die ersten Zulassungen zum Staatsdienst208. In Karlsruhe, Mannheim und Hei­ delberg, aber auch in manchen kleineren Orten erlangten die Juden jetzt fast ausnahmslos das Gemeindebürgerrecht, und immer häufiger wurden auch Ju­ den in Gemeindeämter gewählt207. Im Schulwesen und auf dem Gebiet der allgemeinen und wissenschaftlichen Bildung waren die früheren Unterschiede ganz verschwunden208. Religiöse Spannungen waren im Verhältnis zur christ­ lichen Umwelt kaum noch zu bemerken, die zum Teil heftigen Auseinanderset­ zungen zwischen Reformpartei und Orthodoxie - in denen der vormärzliche Li­ beralismus noch stets Partei ergriffen hatte - blieben eine rein innerjüdische Angelegenheit209. Nicht zu übersehen waren dagegen die noch immer bestehenden Unterschie­ de im Gewerbewesen: die kaufmännischen Berufe und der Kleinhandel waren bei den Juden nach wie vor eindeutig vorherrschend - was sich begründete aus tradi­ tionellen Neigungen, aus den allgemeinen Zeittendenzen, die von Handwerk und Ackerbau weg zu Handel, Industrie und Verkehr wiesen, und schließlich aus den durch die fehlende Freizügigkeit bedingten Einschränkungen für zahl­ reiche vom örtlichen Bedarf abhängige handwerkliche Berufe210. Diese Unter­ schiede fielen besonders bei der jüdischen Landbevölkerung ins Auge, und noch auf dem Landtag von 1860 glaubte man geradezu zwei Klassen von Juden - in den größeren Städten einerseits und den kleineren Städten und Dörfern ander­ seits - unterscheiden zu können211. Allerdings waren auch hier trotz aller Rückständigkeit manche Fortschritte zu verzeichnen. Noch war der Nothandel 68 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

zwar nicht verschwunden, aber er hatte sich doch rückläufig entwickelt, und auf dem Landtag von 1860 wurden erstmals auch von Abgeordneten ländlicher Wahlbezirke positive Urteile über die Gesamtentwicklung auf dem Lande ab­ gegeben. „Diejenigen, die nicht genau mit der Sache bekannt sind", führte der konservative Abgeordnete Schaaff, der auf vielen Landtagen gegen die Juden­ emanzipation gestimmt hatte, in der II. Kammer aus, „stellen sich immer einen Juden vor mit einem Sack auf dem Rücken, eine Geis am Bändel und das Angst­ rohr im Genick, wie er einem Bauern etwas abgezwackt und ihn überlistet, gleich wie man sich einen Schacherjuden vorstellt. Solche Personen gibt es aber sehr wenige mehr im Lande . . ."212 Den nie verstummenden und in der Regel sehr übertriebenen Klagen über den Wucher der Landjuden wurde nun auch einmal die sonst immer übersehene soziale Funktion dieser Geldleihgeschäfte ge­ genübergestellt: „.. . manchem C hristen ist schon durch den sogenannten Juden­ wucher aufgeholfen worden, während ihm sein christlicher Mitbürger ohne Wu­ cher eben nichts gegeben hat." Und auch die allgemeine Bildung der jüdischen Landbevölkerung sei keineswegs mehr so schlecht, wenigstens nicht im Ver­ gleich mit der übrigen Landbevölkerung, als man gemeinhin annehme: „Die Is­ raeliten aus dem letzten Decennium sind auf dem Lande so gebildet, als ein christlicher Bürger und Bauer auf dem Lande gebildet ist." Der Zustand der Juden auf dem Lande möge in mancher Hinsicht noch unbefriedigend sein, so faßte Schaaff seine Bemerkungen zusammen, er könne aber durchaus nicht mehr irgendeine Ausschließung von den Rechten ihrer christlichen Mitbürger rechtfertigen. Er fand mit dieser Auffassung in der Kammer keinen grundsätz­ lichen Widerspruch mehr.

Die „neue Ära" und die Vollendung der Emanzipation In ihre letzte Phase trat die Emanzipationsbewegung im Frühjahr 1860, als Großherzog Friedrich mit Stabel und Lamey die liberalen Führer der beiden Kammern mit der Regierungsbildung beauftragte und zugleich ankündigte, daß es die Aufgabe der neuen Regierung sein werde, „alle Teile des Ganzen zu dem Einklänge zu vereinigen, in welchem die gesetzliche Freiheit ihre segen­ bringende Kraft bewähren kann"213. Zwar konnte sich der Landtag 1860 noch zu keinem Entschluß durchringen, aber die Mehrheit der Abgeordneten stimmte doch darin überein, daß Gewerbefreiheit und Freizügigkeit, deren ge­ setzliche Einführung für den nächsten Landtag erwartet wurde, auch für die Juden uneingeschränkte Geltung haben sollten214. Die Entscheidung für die Vorlage eines Gesetzentwurfs, der den endgültigen Abschluß der Judenemanzi­ pation bringen sollte, fiel bereits Anfang August 1860 in einem Briefwechsel zwischen dem Großherzog und Lamey215. Lamey wußte, daß eine solche Ge­ setzgebung noch immer unpopulär sein würde. Er hielt sie jedoch für eine un­ abweisbare Forderung der Gerechtigkeit und zugleich auch für eine politische 69 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Notwendigkeit. „Die ganze Anlage unserer staatlichen Zustände verträgt es nicht mehr", schrieb er, „daß eine Klasse von Untertanen um eines so wenig zu­ treffenden Merkmals willen, wie der äußerlich bekannte Glaube es ist, von ei­ ner Reihe rechtlicher Befugnisse ausgeschlossen bleibt." „Ja stünden sie selbst menschlich tiefer als die christliche Bevölkerung, so bliebe ihr Ausschluß vom gemeinen Recht eine Ungerechtigkeit, denn er träfe auch die Gebildeten, Redli­ chen, Fleißigen um der Schlechten willen, während bei der christlichen Bevöl­ kerung die doch zahlreich genug vorhandenen Rohen und Unsittlichen um der Besseren willen mit gleichen Rechten versehen sind." Teillösungen, das betonte Lamey dem Großherzog gegenüber nachdrücklich, waren jetzt nicht mehr mög­ lich, nur die „gänzliche Emanzipation" konnte das Ergebnis des geplanten Ge­ setzgebungswerkes sein. Überraschend ist jedoch, daß selbst ein Mann wie Lamey, dem die Vollendung der Judenemanzipation in Baden vor allen anderen zu dan­ ken ist, in diesem Zusammenhang noch die Bemerkung machte: „Aber freilich, eine gewisse Abneigung muß jedermann überwinden, um sie sich gleichzustellen. Sie haben eben für uns Deutsche etwas uns Fremdes von unangenehmer Beschaf­ fenheit," Er setzte freilich gleich hinzu: „Dagegen sind sie aber Staatsbürger; wir betrachten sie als Deutsche, als Badener und müssen die Konsequenzen daraus ziehen." Am Ende des sich über fast ein Jahrhundert erstreckenden Emanzipa­ tionsprozesses zeigte sich so noch einmal ganz deutlich, daß die Emanzipation der Juden ihrem Wesen nach keine Angelegenheit eines Philosemitismus war216. Am 20. Januar 1862 wurde dem neuen Landtag, dem mit Dr. Rudolf Kusel aus Karlsruhe der erste jüdische Abgeordnete angehörte, von Lamey der Ent­ wurf eines „Gesetzes über die bürgerliche Gleichstellung der Israeliten" vorge­ legt217. Er sah die Erhebung der jüdischen Schutzbürger zu Gemeindebürgern und die Aufhebung aller Unterschiede in den gemeindebürgerlichen Rechten vor, unter Berücksichtigung einer fünfjährigen Übergangszeit hinsichtlich des Anspruchs auf den Bürgernutzen und der Übernahme des bisher der Kultusge­ meinde verbliebenen jüdischen Armenwesens durch die Ortsgemeinden218. In Verbindung mit den Bestimmungen der schon früher vorgelegten Gesetzent­ würfe über Gewerbefreiheit und Freizügigkeit, die keinerlei Ausnahmeregelun­ gen für die Juden mehr enthielten, sollte durch diesen Entwurf die volle Emanzipation Wirklichkeit werden. In der Begründung des Entwurfes ging die Regierung von vornherein von der Annahme aus, daß mit prinzipiellen Ein­ wänden jetzt nicht mehr zu rechnen sei, es sich also nur um die „Frage der Zweck- und Zeitgemäßheit" handeln könne219. Dazu wurde im einzelnen aus­ geführt: „Die politische Gärung hat einer ruhigeren, gelauterteren Anschauung über die gegenseitigen Rechte der im Staat vorhandenen Stände und Einzelnen Platz gemacht, die Überzeugung, daß nur die möglichst freie Entfaltung der Individualkräfte zur größeren Vollkommenheit des Ganzen führe, ist mehr und mehr durchgedrungen; auf der andern Seite ist, dank einer Reihe von Um­ standen, der durchschnittliche Wohlstand der Bevölkerung des Landes auf ei­ nem Punkt angelangt, wo auch etwaigen ökonomischen Bedenken kein ent70 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

scheidendes Gewicht beigelegt zu werden braucht; dazu kommt, daß die Frei­ zügigkeit im Handel und Gewerbe, welche wohl noch auf diesem Landtage zum gesetzlichen Grundsatze erhoben wird, und von welcher die Israeliten nicht ausgeschlossen werden können noch sollen, den letztern eine neue Bahn für die Entwicklung ihrer Kräfte und die Annäherung an christliche Sitten und Lebensart eröffnen und zur Beseitigung der etwa noch vorhandenen vereinzel­ ten Vorurteile und Leidenschaften gewiß mächtig beitragen wird."220 In kla­ rer und umsichtiger Weise wurde so in wenigen Sätzen das Emanzipationspro­ blem in den Zusammenhang der liberalen Regierungspolitik und der allgemei­ nen Zeitströmungen gestellt. Die alte Frage, ob die Juden denn nun wirklich reif für die Emanzipation geworden seien, wurde mit der allgemeinen Bemer­ kung beiseite geschoben, daß sie die „Vorschule" nunmehr seit fünfzig Jahren mit Erfolg durchlaufen hätten. Statistische Nachweise, auf die man früher so viel Wert gelegt hatte, schienen nun völlig entbehrlich. Nicht die Reife der Ju­ den - oder auch der C hristen, von der Lamey 1860 in diesem Zusammenhang gesprochen hatte - wurde erörtert - die „Zeit" war reif für den Abschluß des Emanzipationswerkes, das allein war jetzt entscheidend. In dieser Argumenta­ tion erwies sich der endgültige Durchbruch der liberalen Ideen, die Abkehr von der aufgeklärt-absolutistischen Emanzipationskonzeption. Die Gewährung der rechtlichen Gleichstellung wurde zu einer Frage des Prinzips und blieb nicht länger ein Gegenstand der Staatspädagogik. Der Staat hatte nicht zu er­ ziehen und, je nach Umständen, zu belohnen oder zu bestrafen, er hatte auch den Juden gegenüber nichts anderes zu tun, als Hemmnisse zu beseitigen und Voraussetzungen zu schaffen für die freie Entfaltung des Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft. Die soziale Integration der Juden konnte keine Auf­ gabe des Staates mehr sein, sondern nur noch Aufgabe der Gesellschaft selber. Im freien gesellschaftlichen Kräftespiel mußte sich vollenden, was der Staat be­ gonnen hatte. Den Kommissionsbericht erstattete in der II. Kammer der Historiker Ludwig Häusser, der Führer der liberalen Kammermajorität221. Er gab einen großan­ gelegten Überblick über die bisherige Gesetzgebung, die früheren Kammerde­ batten und die Entwicklung des badischen Judentums bis zur Gegenwart. Ein­ gehend beschäftigte er sich mit dem gegen das Gesetz entfesselten Petitions­ sturm, den er treffend als eine nicht nur gegen die Juden, sondern gegen das ganze liberale System und die Prinzipien der modernen Gesellschaft gerichtete Agitation charakterisierte222. Daß Widerstände gegen die Emanzipation noch immer vorhanden waren, war freilich nicht zu bezweifeln: sie hatten ihre Ur­ sachen in den überlieferten Vorurteilen ebenso wie ganz konkreten materiellen Interessen. Die religiöse Abneigung spielte kaum noch eine Rolle, und wenn ge­ legentlich noch einmal die alte Diskussion um den Talmud auflebte, so hatte das durchaus keine religiösen Gründe mehr. Häusser bezeichnete es sogar als eine „Tatsache, daß der Übertritt der Israeliten zum C hristentum sie in den Augen des Volkes noch keineswegs emanzipiert; sie sind nach der populären Ansicht auch dann noch nicht Christen, sondern ,getaufte Juden*". Und er setzte 71 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

hinzu: „Es liegt dieser Anschauung etwas vollkommen Richtiges zu Grunde. Mit dem Wechsel der Religion ändert nach der Ansicht des Volkes der Israelit die natürliche Eigentümlichkeit nicht, die ihn vom C hristen scheidet; er mag konfessionell zu den letzteren gehören, in allem übrigen bleibt er, was er vorher gewesen."223 Häusser war nicht mehr mit Dohm davon überzeugt, daß die Juden ein auschließlich durch Umweltbedingungen geprägtes Volk seien; er stellte statt dessen fest, es fehle „vorerst noch jeder Maßstab, um mit Sicherheit zu ermessen, was ihr Naturell verschuldet hat und was ihre Unterdrückung"224. In diesem Zusammenhang griff er auch den neuen „Race"-Begriff auf, der sich nicht zuletzt deshalb anbot, weil man im Augenblick der Vollendung der Eman­ zipation nicht mehr gut von einer jüdischen „Nation" sprechen konnte - wo man früher von „nationalen Eigentümlichkeiten" der Juden gesprochen hatte, sprach Häusser nun von den Eigentümlichkeiten der „jüdischen Race"225. Es zeigte sich in solchen Überlegungen und in der Terminologie, die freilich noch gar nicht fi­ xiert war, auf überraschende Weise, wie sehr zur gleichen Zeit, in der die Emanzipationsbewegung zum Siege geführt wurde, neuen Theorien und Ideo­ logien schon der Boden bereitet war226. Für Häusser handelte es sich dabei freilich allein um Probleme der Wissenschaft, die für die zur Entscheidung an­ stehenden politischen Fragen ganz belanglos bleiben mußten. Auch er stand ohne Vorbehalt auf dem Boden der liberalen Emanzipationskonzeption, und nicht zuletzt aus diesem Grunde konnte er sich unter den gegebenen Umstän­ den auch auf eine kritische Diskussion der theoretischen Voraussetzungen der älteren Emanzipationsbewegung einlassen. Er schloß seinen Bericht mit einem Appell an die Abgeordneten: „Daß Vorurteile bestehen, ist nicht zu leugnen; aber sie werden ebenso bestehen nach zwanzig und dreißig Jahren, falls wir uns dazu herbeilassen sollten, den provisorischen Zustand, wie er besteht, aber­ mals um einige Jahrzehnte zu verlängern. Einmal muß die Gesetzgebung sich über diese Vorurteile und Antipathien hinwegsetzen; es erscheint uns besser, daß es jetzt geschehe, wo ohnedies ein wesentlicher Teil unserer übrigen Arbeit auf diese Entscheidung hindrängt."227 Die Beratungen in der II. Kammer brachten trotz einer großen Rednerliste keinerlei Überraschungen mehr228. Bei prinzipieller Einstimmigkeit bewegte sich die Debatte lediglich um die Frage, wie man am besten „jede Plötzlichkeit und Gewaltsamkeit des Übergangs" vermeiden könne. Vor allem die Möglich­ keit, daß vielleicht schon in wenigen Jahren die Gemeindeverhältnisse durch die Umwandlung der alten Bürgergemeinde zur modernen Einwohnergemeinde grundsätzlich neu geregelt werden würden, gab den Ausschlag, die Übergangs­ zeit von 5 auf 10 Jahre zu verlängern. Mit dieser Änderung wurde der Ent­ wurf dann einstimmig verabschiedet. Zu längeren Debatten kam es noch in der I. Kammer, obwohl auch hier kein prinzipieller Widerspruch gegen die Juden­ emanzipation mehr laut wurde229. Der Geist, in dem die Frage behandelt wur­ de, war schon im Kommissionsbericht deutlich geworden, dessen erster Satz lau­ tete: „Der geschichtliche Prozeß, welcher sich derzeit in den Kulturländern Eu­ ropas vollzieht, wird sich zu einem sehr wesentlichen Teile dahin charakterisie72 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

ren lassen, daß, nachdem das Mittelalter im Prinzip längst schon überwunden ist, der Gegenwart die Aufgabe zufiel, eben dasselbe Mittelalter immer und im­ mer wieder zu überwinden in der Praxis." 230 Strittig war vor allem die Frage, ob die Regierung überhaupt das Recht habe, neue Ansprüche auf das Gemein­ deeigentum zu begründen, d. h. ob der Bürgernutzen privatrechtlicher oder Öf­ fentlichrechtlicher Natur sei. Nachdem diese Frage von der Mehrheit in Über­ einstimmung mit der herrschenden Rechtslehre im Sinne des öffentlichen Rechts beantwortet war, erfolgte auch in dieser Kammer die Verabschiedung bei drei Gegenstimmen231. Am 4. Oktober 1862 wurde das Gesetz vom Großherzog unterzeichnet, am 15. Oktober schon trat es in Kraft232. Es bedeutete den endgültigen Abschluß der Judenemanzipation in Baden, nachdem durch die inzwischen ebenfalls ver­ abschiedeten Gesetze über die Einführung der Gewerbefreiheit und der Freizü­ gigkeit bereits alle übrigen Rechtsbeschränkungen aufgehoben worden waren233. Das Emanzipationsgesetz lag, wie in den Kammern mit Recht betont worden war, in der Konsequenz der beiden anderen Gesetzgebungswerke, und es wird mit Bedacht geschehen sein, daß es erst als letztes vorgelegt und beraten wur­ de234. Gewerbefreiheit, Freizügigkeit und Judenemanzipation waren - zusam­ men mit der Verwaltungsreform von 1863 - die bedeutendsten Ergebnisse des großen liberalen Reformlandtags von 1861 bis 1863. Sie bildeten eine innere Einheit, in der sich der Wille zu erkennen gab, eine liberale Gesellschaftsord­ nung aufzubauen, die dem einzelnen unter dem Schutz des Rechtsstaates die Möglichkeit zur vollen Entfaltung aller seiner Kräfte bot. Wie die Ansätze zu einer „bürgerlichen Verbesserung" der Juden den inneren Notwendigkeiten des aufgeklärten Absolutismus entsprochen hatten, so war die Vollendung der Emanzipation eine notwendige Folge des zur Herrschaft gelangten Liberalis­ mus235. Die Geschichte der Judenemanzipation ist zugleich eine Geschichte des Aufstiegs und der Durchsetzung der bürgerlich-liberalen Gesellschaft - wie dann die Geschichte des Antisemitismus, als gegenemanzipatorische Bewegung, eine Geschichte der Krisen und des Niedergangs dieser Gesellschaft ist.

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III. Die Judenfrage' der bürgerlichen Gesellschaft und die Entstehung des modernen Antisemitismus* Die These, daß der moderne Antisemitismus ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ist und aus den Strukturen und Tendenzen dieser Gesellschaft begriffen werden muß, dürfte in der wissenschaftlichen Dis­ kussion heute kaum noch ernsthaft bestritten werden. Man ist sich einig dar­ über, daß es trotz einer scheinbaren räumlichen und zeitlichen Universalität der Judenfeindschaft seit hellenistischer Zeit keine Kontinuität eines ,ewigenc Antisemitismus gibt, daß vielmehr die religiös und wirtschaftlich motivierte, durch den einzigartigen Minderheitsstatus der Juden bedingte Judenfeindschaft der vorbürgerlichen abendländisch-christlichen Welt deutlich vom Antisemitis­ mus des 19. und 20. Jahrhunderts unterschieden werden muß. Allerdings sind die historisch-systematischen Voraussetzungen und Ursachen, Entstehung und C harakter dieses modernen Antisemitismus weit weniger ge­ klärt, als es bei einem flüchtigen Blick auf einzelne Forschungsergebnisse zu­ nächst scheinen mag. Während Massing und Putzer die „Vorgeschichte" bzw. „Entstehung" des politischen Antisemitismus in Mitteleuropa im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ansetzen, spricht Sterling von den „Anfängen" des politi­ schen Antisemitismus im deutschen Vormärz und entdeckt Hertzberg schließ­ lich die „Ursprünge" des modernen Antisemitismus im Denken der französi­ schen Aufklärung1. Auch hinsichtlich dessen, was das qualitativ Neue im mo­ dernen Antisemitismus ist, gibt es eine Fülle von Aspekten, die jeweils unter­ schiedlich akzentuiert werden, ohne daß eine eindeutige Gewichtung zu erken­ nen ist: die Säkularisierung des christlichen Judenhasses, die Entwicklung einer totalitären antisemitischen Rassentheorie, der nationalistische Kulturantise­ mitismus, die politische Organisation antisemitischer Bewegungen, die Instru­ mentalisierung des Antisemitismus in den allgemeinen politischen Auseinander­ setzungen, die Lösung des Antisemitismus von tatsächlichen Minderheitsproble­ men und Gruppenkonflikten, der manichäische C harakter des Antisemitismus durch die Hypostasierung der ,Judenfrage' zum Kernproblem des wirtschaftli­ chen, politischen und kulturellen Lebens, der ,Rückfall' hinter die durch Auf­ klärung und bürgerlich-liberale Bewegung erkämpften Positionen2. Insgesamt ist die moderne Forschung durch die wachsende Tendenz charak­ terisiert, Antisemitismus nicht länger isoliert, sondern im Zusammenhang ge­ samtgesellschaftlicher Entwicklungen und Probleme zu interpretieren3. Der Ausgangspunkt der neueren Antisemitismusstudien ist in der Regel nicht mehr die Situation der Juden, sondern sind die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Antisemitismus möglich machen. Im Vordergrund des Interesses steht die sozia­ le und politische Funktion des Antisemitismus, stehen Manipulation und In74

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strumentalisierung antisemitischer Strömungen zugunsten anders gearteter, von der Judenfrage' völlig unabhängiger Interessen. Die weithin akzeptierte Grundannahme dieses Forschungsansatzes ist die These, daß der Antisemitismus nicht - wie es seinem Selbstverständnis entsprechen würde - durch eine Juden­ frage' ins Leben gerufen worden sei, sondern daß vielmehr umgekehrt erst der Antisemitismus die moderne Judenfragec geschaffen habe4. Hinzu kommt die weitere Grundannahme, daß es Konflikte und Krisen in der Gesellschaft gibt, die sich einer Lösung ohne grundlegende Systemänderungen entziehen und da­ her bei den jeweils Herrschenden ein Bedürfnis nach Verschleierung der Ursa­ chen der Mißstände und Kanalisierung und Ablenkung der Unzufriedenheit auf ,Sündenböcke' entstehen lassen5. Freilich läßt dieser Forschungsansatz die Frage offen, warum denn gerade die Juden als ,Sündenböcke' ausgesondert wurden, wenn es keine ,Judenfrage' gab, an die solche manipulierten antise­ mitischen Bewegungen anknüpfen konnten8. Ohne die erheblichen Fortschritte zu leugnen, die durch die Betonung des manipulativen und instrumentalen C harakters des Antisemitismus erzielt wor­ den sind, scheint es doch notwendig, der Entwicklung der Judenfrage' in der bürgerlichen Gesellschaft größere Aufmerksamkeit zu schenken, als es bisher üblich ist, wenn man die historischen Dimensionen und die systematischen Zu­ sammenhänge des modernen Antisemitismus nicht unzulässig verkürzen will. Die nachfolgenden Überlegungen sollen dazu einen Beitrag liefern, indem in ihnen versucht wird, das Verhältnis der bürgerlichen Gesellschaft Mitteleuro­ pas, d. h. in erster Linie Deutschlands, zu den Juden vom späten 18. Jahrhun­ dert bis zur Krise der 1870er Jahre in seinen Grundzügen genauer zu bestim­ men7. I. Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die These, daß erst mit dem Beginn des bewußt vorangetriebenen Transformationsprozesses von der stän­ disch-feudalen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft im späten 18. Jahr­ hundert eine Judenfrage' entstanden ist. Jahrhundertelang waren die Juden unterdrückt und isoliert, gehaßt und ver­ achtet worden8. Der christlichen Bevölkerung galten sie in der Regel als ein von Gott verdammtes, sittlich verkommenes Volk, dessen wucherische Ge­ schäftspraktiken eine Plage für jedes Land bedeuteten; die Fürsten benutzten sie als Objekt und Instrument ihrer Finanz- und Ausbeutungspolitik. Die Bezie­ hungen zwischen den Juden und ihrer nichtjüdischen Umwelt waren seit dem Mittelalter ganz auf den Ökonomischen Bereich eingeschränkt. Da den Juden das zünftige Handwerk und der ordentliche Handel verschlossen und der Er­ werb von Grund und Boden untersagt waren, widmeten sie sich fast aus­ schließlich dem Trödel- und Hausierhandel und dazu dem Geld- und Kreditge75 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

schäft. In diesem Sektor übernahmen sie Funktionen, die innerhalb der stän­ disch-feudalen Gesellschaft von kaum jemand anderem wahrgenommen wur­ den9. Ihr Minderheitscharakter war dadurch zugleich religiös und ökonomisch geprägt: Ein Jude war nicht nur der einzige Nichtchrist in einer christlichen Ge­ sellschaft, sondern auch der Prototyp des Trödlers und Geldhändlers in einer agrarisch-handwerklichen, statischen und nicht auf Gewinn ausgerichteten Wirtschaft. Ihre rechtliche Stellung war höchst ungesichert: Sie waren gegen hohe Abgaben temporär »geduldete* Untertanen, standen außerhalb der ständi­ schen Gliederung der Gesellschaft und lebten in sozialer und kultureller Isolie­ rung unter besonderen Judenrechten'. Die Judenpolitik' der Fürsten und Stände beschränkte sich auf Zulassung, finanzielle Ausbeutung und Ausweisung der Juden; Angriffe auf Leib und Leben der Juden waren selten geworden. Eine prinzipielle Änderung des Verhältnisses zwischen Juden und Christen wur­ de weder von den Juden erwartet, noch von der christlichen Gesellschaft in Betracht gezogen. Die soziale Existenz der jüdischen Minderheit galt der Mehrheit als ,lästig' und zugleich unveränderlich: man konnte die Juden schlimmstenfalls über die Landesgrenzen abschieben, man konnte sie aber nicht ändern. Die Stellung der Juden als eine aus der ständischen Gesellschaft ausge­ grenzte* religiöse und wirtschaftliche Minderheit schien ein für alle Mal fixiert, dem geschichtlichen Wandel entzogen. Es gab Judenordnungen' und Judenpo­ litik', aber es konnte unter diesen Voraussetzungen keine Judenfrage' geben. Die Juden bildeten kein Problem, das einer grundsätzlichen Lösung zu bedür­ fen und offen zu sein schien. Das änderte sich im ausgehenden 18. Jahrhundert. Im Jahrzehnt vor der Französischen Revolution gab es plötzlich eine Judenfrage', die ihren Aus­ druck fand in einer 1781 von Dohm in Berlin ausgelösten, breiten literarischen Diskussion über die „bürgerliche Verbesserung der Juden", in Akademiepreis­ fragen (Metz 1787), in staatlichen Reformkommissionen (Baden, Preußen, Frankreich, Toscana u. a.) und in ersten Reformedikten (Österreich 1782)10. Die überlieferte jüdische Existenz erschien nun mit einem Mal problematisch, eine tiefgreifende Änderung im Verhältnis der Juden zur christlichen Gesell­ schaft wurde für nötig und zugleich auch für möglich erklärt. Der Anstoß dazu ging nicht von den Juden aus, auch nicht von einem plötzlichen, uner­ klärbaren Philosemitismus. Entwicklungen innerhalb des Judentums waren al­ lerdings insofern von Bedeutung, als sich an sie bestimmte Erwartungen derje­ nigen knüpften, die nun eine Judenfrage' aufwarfen. Dabei handelt es sich vor allem um zwei Vorgänge: einmal die Herausbildung einer jüdischen Finanzari­ stokratie, einer schmalen, ökonomisch einflußreichen Schicht seit dem 17. Jahr­ hundert, die die potentielle wirtschaftliche Bedeutung der Juden repräsentier­ te11; zum anderen die Bildung einer ebenfalls sehr schmalen kulturellen Ober­ schicht, die die geistige Isolierung des Judentums durchbrach und aktiven An­ teil am aufklärerischen Bildungsprozeß nahm12. In beiden Fällen handelte es sich zunächst nur um Randerscheinungen, die nichts daran änderten, daß die Masse der Juden weiterhin arm und ungebildet war, sie ließen aber nun auch 76 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

im aschkenasischen Judentum Mitteleuropas Entwicklungsmöglichkeiten sicht­ bar werden, die bis dahin den sephardischen Juden in Bordeaux, Amsterdam und London vorbehalten schienen, deren wohlhabende und kultivierte Ober­ schicht zu den Trägern und Prototypen des Handelskapitalismus der vorindu­ striellen Zeit zahlte und auch ohne rechtliche Gleichstellung längst weitgehend assimiliert und integriert worden war. Ursache und Triebkraft der um 1780 einsetzenden Versuche, die Verhältnisse der Juden grundlegend neu zu ordnen, war der sich beschleunigende Transfor­ mationsprozeß von der feudalen Ständegesellschaft zur bürgerlichen Klassenge­ sellschaft, war die Hinwendung zu einer bewußten Politik des gesellschaftli­ chen Wandels13. Unter den Vorzeichen des aufgeklärten Absolutismus' wurde in zahlreichen Staaten eine aktive Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik ent­ wickelt, die sich am Merkantilismus und teilweise auch schon an der Freihan­ delslehre orientierte. Ihr Ziel war, den Theoretikern und Praktikern mehr oder weniger deutlich bewußt, die Ausbildung einer bürgerlichen Gesellschaft ohne die Schranken von Ständen, Korporationen und Kirchen, gestützt auf die Frei­ heit des Individuums und des Eigentums, getragen vom ökonomischen Fort­ schritt und der freien Konkurrenz der gesellschaftlichen Kräfte. Es entsprach dabei den politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten Mitteleuropas, daß als Motor und Regulator des Transformationsprozesses der Staat - als bürokra­ tischer Wohlfahrtsstaat - angesehen wurde. Nicht ein selbstbewußtes Handels­ oder Finanzbürgertum, sondern ein aufgeklärt-liberales Beamtentum war Ini­ tiator und für lange Zeit Träger der bürgerlichen Emanzipationsbewegung was der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft in Mitteleuropa das spezifi­ sche Gepräge gab. Im Rahmen einer solchen Politik war es unvermeidlich, auch den Platz der Juden neu zu bestimmen: Die Judenfrage' stellte sich als die Frage nach der Stellung und Funktion der Juden in der zu realisierenden bürgerlichen Gesell­ schaft. Populationistische Theorien und ausgeprägt antikorporative Tendenzen der Reformer bauten ebenso wie etwa die beginnende Kapitalisierung der Landwirtschaft in Ost- und Norddeutschland die Widerstände gegen eine Ein­ beziehung der Juden in die Gesellschaft ab und lenkten den Blick auf die mög­ liche »Nutzbarmachung' der Juden, die Einbeziehung ihrer potentiellen Han­ dels- und Finanzkapazität in die neue Wirtschaftspolitik. Auch den Juden wurde nun eine von Natur aus gleiche Fähigkeit wie allen anderen Menschen zuerkannt, nützliche Glieder der Gesellschaft zu sein. Ihre gegenwärtige Exi­ stenz erschien nicht länger als Ausdruck einer unveränderlichen Natur, sondern als das Ergebnis ihrer Geschichte, als das Resultat von Haß, Verfolgung, Un­ terdrückung und Isolierung. Erst die verfehlte Judenpolitik' der Vergangen­ heit hatte, so argumentierte man nun, die Juden geschaffen, die zum Gegen­ stand des Hasses und der Verachtung ihrer christlichen Umwelt geworden wa­ ren; eine Änderung dieser Politik, eine Veränderung der rechtlichen und sozia­ len Bedingungen jüdischer Existenz, würde daher auch die Juden ändern. Ohne Ausnahmegesetze, die ihre Ausgrenzung' aus der christlichen Gesellschaft fi77 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

xierten, würden auch sie als Individuen in die allgemeine Bürgergesellschaft aufgehoben werden. II. Die Judenfrage' der bürgerlichen Gesellschaft wurde als Emanzipationsfra­ ge gestellt, als Frage nach der Möglichkeit einer gleichberechtigten Einbezie­ hung der Juden in die entstehende neue Gesellschaft14. Das Ziel der Bestre­ bungen war die volle Integration der jüdischen Minderheit, war die Umwand­ lung des Judentums zur Konfession, die-in einem säkularisierten Staat ohne öf­ fentliche Relevanz sein würde. Daß diese Integration möglich und wünschens­ wert war, bildete den Kerngedanken aller Reformer. Unterschiedliche Auffas­ sungen gab es dagegen über die Mittel und Wege dahin. Unbestritten war, daß an die Stelle der Sonderrechte und Rechtsbeschränkungen der Juden die Gleichheit der Rechte und Pflichten mit den übrigen Bürgern treten mußte. Über die Durchführung dieser ,Emanzipation( aber gab es verschiedene Vor­ stellungen. In Mitteleuropa vertraten nahezu alle Theoretiker und Praktiker der Judenemanzipation das Konzept einer stufenweisen, allmählichen Emanzi­ pation, einer möglichst engen Koppelung von Emanzipation und Assimilation. Nach einer ersten Teilemanzipation, die den Juden den Weg in die bürgerliche Gesellschaft öffnete, sollte jede weitere Rechtsgewährung vom jeweils erreich­ ten Grad der Assimilation bzw. Normalisierung' der Juden abhängig sein. Nur ein solches System von Vorgabe und Kontrolle schien die erwünschte , Verschmelzung' der Juden mit den Christen zu gewährleisten. Dieses Konzept bedeutete natürlich zugleich, daß die Emanzipation eine Aufgabe des Staates, d. h. konkret der Bürokratie, sein mußte, da allein der Staat in der Lage sein würde, einen langwierigen kollektiven Erziehungsvorgang zu planen und zu kontrollieren. Genau an diesem Punkt wurde das aufklärerisch-bürokratische Emanzipa­ tionskonzept von der Französischen Revolution entscheidend verändert. Obschon zögernd und nicht ohne Widerstände auch im Lager der bürgerlichen Revolu­ tion, wurde im Herbst 1791 allen französischen Juden die volle und uneinge­ schränkte Gleichstellung gesetzlich zugestanden. Während in den Jahren vor der Revolution kaum irgend jemand in Europa an eine sofortige volle Emanzi­ pation zu denken gewagt hatte, konnte man sich in der Nationalversammlung den Konsequenzen der revolutionären Prinzipien und dem Anspruch der Ver­ fassung nicht entziehen. Man schob schließlich alle pragmatischen Erwägungen beiseite und traf bewußt eine prinzipielle Entscheidung. Damit gab es in Euro­ pa künftig zwei Konzeptionen für die Emanzipation der Juden: eine aufkläre­ risch-bürokratische und eine revolutionär-liberale bzw. eine deutsche und eine französische. Während man sich in Frankreich mit einem einmaligen Akt der Emanzipation begnügte und bürgerliche Verbesserung', Assimilation und Inte­ gration dem freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte überließ, hielt man in 78 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Deutschland an der Vorstellung eines staatlich gelenkten Erziehungsprozesses fest, der durch die volle Emanzipation erst seine abschließende Krönung finden sollte. Das Vertrauen, das man in Frankreich der integrierenden Kraft der bür­ gerlichen Gesellschaft entgegenbrachte, setzte man in Deutschland auf den Staat als den Agenten des Fortschritts. Bemerkenswert ist, daß weder in Deutschland noch in Frankreich die je spe­ zifische Konzeption voll durchgehalten wurde. In Frankreich bedeutete das Dekret Napoleons von 1808 einen klaren Bruch mit der revolutionären Eman­ zipationskonzeption. Auch dort griff nunmehr der Staat regulierend ein, indem er unter dem Vorwurf des Wuchers die rechtliche Sonderstellung der Juden er­ neuerte und ihre Aufhebung von einer vorher nachzuweisenden ,Besserung' ab­ hängig machte15. Wenn auch dieses Dekret nur zehn Jahre lang in Kraft war, so kam ihm doch entscheidende Bedeutung insofern zu, als dadurch der Prozeß des sozialen Ausgleichs, der Zeit und Geduld erforderte (zumal vermehrte so­ ziale Spannungen in einer Übergangszeit geradezu unvermeidlich waren) ab­ rupt unterbrochen wurde und alte und neue Vorurteile gegen die Juden durch den Eingriff des Staates gleichsam offiziell beglaubigt wurden. In Deutschland wie in Frankreich galt das Napoleonische Dekret jahrzehntelang als schlagen­ des Argument gegen eine zu rasche Gleichstellung der Juden. In Deutschland blieb die Politik der stufenweisen, allmählichen Emanzipa­ tion fast drei Generationen lang beinahe völlig unbestritten. Auch die Libera­ len der vormärzlichen Kammern machten sich diese Konzeption fast aus­ nahmslos zu eigen. Der pragmatisch orientierte Reformliberalismus des deut­ schen Vormärz scheute hier wie auf anderen Gebieten vor jeder prinzipiellen Entscheidung zurück. Immer wieder versuchte man in Übereinstimmung mit den Regierungen die bereits erzielten Fortschritte im Assimilationsprozeß der Juden festzustellen, um danach die Möglichkeit weiterer Rechtsgewährungen zu bemessen. Selbst die Revolution von 1848/49 brachte nicht überall im Deut­ schen Bund die volle Gleichstellung, und wo sie durch Verfassung oder Gesetz ausgesprochen worden war, wurde sie in der Regel nach dem Scheitern der Re­ volution widerrufen oder wenigsten in der Praxis weitgehend zurückgenom­ men19. Zum Abschluß der Emanzipationsgesetzgebung kam es erst, als sich im Verlaufe der fünfziger und sechziger Jahre der wirtschaftliche und in begrenz­ tem Umfang auch der politische Liberalismus durchsetzte. Im Zusammenhang mit den allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Reformen wurde nun ohne größere Widerstände auch die volle rechtliche Gleichstellung der Juden endlich verwirklicht: durch die österreichische Verfassung von 1867, durch Ge­ setzgebungen der süddeutschen Staaten seit 1861, durch das Emanzipationsge­ setz des Norddeutschen Bundes von 1869 und schließlich durch die Reichsge­ setzgebung vom April 1871. In dieser Schlußphase war endlich auch die so lange zäh festgehaltene deutsche Emanzipationskonzeption aufgegeben worden. Denn die Gleichstellung wurde nicht ausgesprochen, weil man den Assimüa­ tions- und Integrationsprozeß für vollendet gehalten hätte, sondern weil man aus grundsätzlichen Erwägungen Rechtsungleichheiten auf der Basis von Reli79 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

gionsunterschieden nicht länger für tragbar hielt und im Zuge der allgemeinen Reformen auch die Judenfrage' endlich vom Tisch haben wollte. Die Statisti­ ken wurden beiseite geschoben - es war der allgemeine Entwicklungsstand der bürgerlichen Gesellschaft, der den definitiven Abschluß der Judenemanzipa­ tion erforderlich machte. Überblickt man den Verlauf der Emanzipation im ganzen, so wird deutlich, daß man von einem „Zeitalter der Judenemanzipation" sprechen kann, von ei­ nem klar abgrenzbaren Zeitraum zwischen etwa 1780 und 1870. Das gilt auch, wenn man über den deutsch-mitteleuropäischen Bereich hinausblickt. Die vereinzelten Gleichstellungen von Juden in den amerikanischen Kolonien (Su­ rinam Act 1665, Plantation Act 1740) können dabei ebenso wie die Gleichstel­ lung der Juden bei der Gründung der Vereinigten Staaten außer Betracht ge­ lassen werden, da sie ohne Einfluß auf die europäische Entwicklung blieben; auch von dem gescheiterten Versuch, den Juden 1753 in England durch Gesetz die individuelle Naturalisation zu ermöglichen, gingen keine wesentlichen An­ stöße aus17. Erst ab 1780 wurde die Judenfrage' zum Gegenstand theoreti­ scher Auseinandersetzungen und praktischer Politik, ab 1791 für rund zwei Jahrzehnte unter dem beherrschenden Einfluß der französischen Emanzipa­ tionsbestrebungen. Die unter französischer Herrschaft außerhalb Frankreichs durchgesetzten Emanzipationsakte (in Oberitalien, im Herzogtum Warschau oder im Königreich Westfalen) waren jedoch, abgesehen von den Niederlanden, nicht von Dauer. Erste Schritte der Emanzipation wurden in fast allen Staaten im früheren 19. Jahrhundert getan, der Abschluß aber ließ vielfach auch nach 1848 noch auf sich warten. Die Daten für Preußen-Deutschland und Öster­ reich sind bereits genannt. 1870 wurde die Emanzipation der Juden in Italien abgeschlossen. Ein Jahr später kam es auch in Großbritannien, wo es seit 1830 eine Emanzipationsdebatte gegeben hatte, zur endgültigen Gleichstellung (al­ lerdings waren die rechtlichen und sozialen Einschränkungen der Juden hier niemals so gravierend wie in Mitteleuropa). 1874 wurde durch die neue Bun­ desverfassung in der Schweiz die volle Emanzipation ausgesprochen. Den krö­ nenden Abschluß dieser Entwicklung bot schließlich der Berliner Kongreß von 1878, auf dem von den europäischen Großmächten - entsprechend den Bemühun­ gen zahlreicher jüdischer Organisationen - die rechtliche Gleichstellung der Juden in den neuen südosteuropäischen Staaten durchgesetzt wurde18. Es fehlte da­ nach nur noch Rußland, das in den sechziger Jahren die Rechte seiner jüdi­ schen Bewohner in einigen Punkten erweitert hatte, von einer wirklichen Emanzipation aber noch weit entfernt war19. Dieses Zeitalter der Judenemanzipation ist zugleich, vor allem in Deutsch­ land, das Zeitalter der bürgerlich-liberalen Bewegung, des Aufstiegs und der Ausformung der bürgerlichen Gesellschaft, der Durchsetzung der kapitali­ stisch-industriellen Produktionsweise, der Etablierung liberaler Normen und Institutionen, der Ausbildung des Nationalstaates und der Entwicklung einer säkularisierten, national geprägten Kultur. Dieser Prozeß vollzog sich nicht ohne Widersprüche und Krisen, er war weder unangefochten noch gleichmäßig

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im Tempo, aber er prägte die Geschichte dieses Zeitraums, drückte allen ande­ ren Entwicklungen seinen Stempel auf. Die deutsche Entwicklung ist besonders dadurch gekennzeichnet, daß nicht ein zur Herrschaft gelangtes Bürgertum die bürgerliche Gesellschaft realisierte, sondern ein Staatswesen, das sich in erster Linie auf eine feudale Aristokratie und eine bürgerliche Bürokratie stützte. Die bürgerlich-liberale Bewegung wurde durch einen Klassenkompromiß zwischen Aristokratie und Bürgertum geprägt und befand sich, noch ehe sie ihre eigenen politischen Ziele erreicht hatte, bereits in der Defensive gegenüber einer demo­ kratisch-sozialistischen Bewegung. Der Durchbruch der Industrialisierung zwi­ schen 1850 und 1873, der Abschluß der liberalen Wirtschafts- und Sozialrefor­ men und die Gründung des Nationalstaates bezeichnen in Deutschland in praktisch-politischer Hinsicht den Höhepunkt und zugleich auch den Abschluß des Zeitalters der bürgerlichen Emanzipation. Die Judenemanzipation war ein Teil dieses allgemeineren Prozesses, sie war in ihren Problemstellungen, ihrem Tempo und ihren Resultaten abhängig vom Entwicklungsgang der bürgerlichen Gesellschaft. Nicht die Entwicklungen in­ nerhalb des jüdischen Lagers, nicht die Argumente der Emanzipationsfürsprecher und auch nicht die Äußerungen der Judenfeindschaft, die nie völlig verstumm­ ten, entschieden über den Verlauf der Judenemanzipation, sondern die Erfolge und Niederlagen der bürgerlichen Emanzipationsbewegung. So lange sich die bürgerliche Bewegung im Aufstieg, in der historischen Offensive befand, so lange war die Judenfrage' Emanzipationsfrage. Auch wenn Liberale und vor­ märzliche Demokraten zögerten, die unbedingte Gleichstellung auszusprechen, blieb doch die Emanzipation und Integration stets das unbezweifelte Ziel ihrer Politik. Und selbst unter den Gegnern der Emanzipation herrschte im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipation die Erwartung vor, daß die Emanzipation der Juden zwar verzögert, aber langfristig nicht verhindert werden könne.

III. Es ist nun freilich nicht zu übersehen, daß der Abschluß der Emanzipations­ gesetzgebung nur für eine sehr kurze Zeit die Illusion schuf, die bürgerliche Gesellschaft habe ihre ,Judenfragee ein für alle mal gelöst. Fast ohne zeitlichen Abstand trat im Deutschen Reich eine antisemitische Bewegung auf den Plan, die die Judenfrage 1 neu und anders zu stellen versuchte - und die damit inso­ fern erfolgreich war, als um 1880 niemand in Deutschland mehr daran zweifeln konnte, daß es wieder eine ,Judenfrage' gab, die in den allgemeinen politischen Auseinandersetzungen der Zeit eine Rolle spielte. Das wirft einerseits und in erster Linie die Frage auf nach den Änderungen in der gesamten wirtschaftli­ chen, gesellschaftlichen und politischen Situation, die eine solche Entwicklung überhaupt möglich machten, und zwingt andererseits zu einer Überprüfung der Annahme, daß die Emanzipation der Juden tatsächlich erfolgreich abgeschlos81 6

Rürup

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sen worden war. Die Frage nach Erfolg oder Mißerfolg der Judenemanzipa­ tion mag kaum abschließend zu beantworten sein, sie muß aber gestellt wer­ den, wenn man die Entstehung des Antisemitismus, der Judenfrage' des späte­ ren 19. Jahrhunderts, richtig in den Griff bekommen will. Es gilt daher, sich zunächst einige der Schwierigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Juden­ frage' befriedigend zu lösen, zusammenfassend zu verdeutlichen. Als außerordentlich problematisch erweist sich bei näherer Analyse die in Mitteleuropa eingeschlagene Politik der stufenweisen, allmählichen Emanzipa­ tion. Sie hielt für die gesamte Dauer des Prozesses trotz aller Fortschritte im einzelnen prinzipiell an einem Unterschied zwischen Juden und C hristen in bürgerlicher Hinsicht fest. Damit bedeutete jede partielle Emanzipation zu­ gleich eine Bestätigung der fundamentalen Ungleichheit, eine Verfestigung der überlieferten Vorstellung über einen qualitativen Unterschied zwischen Juden und C hristen auch im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipation20. Die Emanzi­ pation der Juden wurde nicht - gemäß dem bürgerlichen Grundsatz der Rechtsgleichheit aller Menschen - als Anspruch und Notwendigkeit akzeptiert, sondern dem politischen Kalkül von Regierungen und Parlamenten unterwor­ fen. Die schrittweise, zögernde und oft in sich widersprüchliche Emanzipa­ tionspolitik begünstigte in starkem Maße die ohnehin verbreitete Auffassung, daß die Emanzipation ein Entgegenkommen seitens der christlichen Gesell­ schaft, kein Recht, sondern ein Vorschuß auf künftige Leistungen bzw. eine Belohnung für soziales Wohlverhalten sei. Die Emanzipation sollte verdient werden, indem die Juden die Erwartungen der Mehrheit erfüllten. Betrachtete man die Sache so, dann mußte die Emanzipation auch jederzeit widerrufbar erscheinen, sobald sich die Umstände änderten oder die Juden sich der zuge­ standenen Rechte ,unwürdig'' erwiesen. Die Emanzipation der Juden stand da­ mit, selbst nach ihrem formalen Abschluß, unter der permanenten Drohung der Revision, und es ist kein Zufall, daß in den 1870er Jahren in Deutschland auch außerhalb des Lagers der eigentlichen Antisemiten immer wieder von den »ge­ täuschten Erwartungen' der christlich-deutschen Majorität die Rede war. Die Emanzipationspolitik selber hatte eine Einstellung gefördert, die ihre Ziele langfristig gefährdete. Verdeutlichen läßt sich diese Problematik hinsichtlich der Bemühungen um eine Änderung der jüdischen Berufs- und Erwerbsverhältnisse. Im Sinne des angestrebten ,Normalisierungsprozesses' galten die größten Anstrengungen des Staates und auch jüdischer Organisationen dem Versuch, die Juden verstärkt dem Handwerk und der Landwirtschaft zuzuführen21. Das war - obschon Er­ folge gar nicht einmal ausblieben - ein höchst problematisches Unterfangen in einer Zeit, in der gerade diese Wirtschaftsbereiche von strukturellen und zeit­ weise auch konjunkturellen Krisen betroffen waren. Die kapitalistische Wirt­ schaftsstruktur, die liberale Wirtschaftspolitik, die Industrialisierung und die zunehmende Mobilität der Gesellschaft begünstigten in hohem Maße den Han­ del und die nichthandwerkliche Produktion, und es war kaum zu erwarten, daß ausgerechnet in der jüdischen Bevölkerung - die durch ihre traditionelle 82 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Erwerbstätigkeit relativ günstige Voraussetzungen hinsichtlich der neuen Ent­ wicklungen hatte - sich ein gegenläufiger, langfristig zukunftsloser Trend durchsetzen würde. Ganz ähnlich verhielt es sich mit der beginnenden Verstäd­ terung, die aus naheliegenden Gründen ebenfalls die Juden in ungleich höhe­ rem Grade erfaßte und damit neue Disproportionalitäten schuf. Beide Ent­ wicklungstendenzen führten zwar nicht zu einer objektiven Verschärfung von Gruppenspannungen, aber sie belasteten das Verhältnis von Juden und Christen dadurch, daß ausdrücklich und immer wieder neu andere Erwartun­ gen an die Emanzipation geknüpft worden waren. Es gab keinen zwingenden Grund für eine uneingeschränkte soziale Homogenität von Minderheit und Mehrheit - durch die Politik der sozialen Normalisierung' als Vorbedingung der Gleichstellung wurden jedoch Ansprüche geweckt, die sich auch nach dem unter anderen Voraussetzungen erfolgten Abschluß der Emanzipationsgesetzge­ bung nicht einfach abschütteln ließen. Es war daher kein Wunder, daß eine der ersten Forderungen der Antisemiten in den siebziger Jahren die Wiedereinfüh­ rung der ,Judenstatistik' war. Die Emanzipation der Juden war, wie wir gesehen haben, ein Teilphänomen des Übergangs von der ständisch-korporativ verfaßten Gesellschaft mit ihrer statischen Wirtschaftsordnung zur entstehenden industriell-kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft. Die vielfältigen strukturellen Probleme, die sich für weite Bevölkerungsschichten während dieser Übergangszeit stellten, verbanden sich nun mit den besonderen Schwierigkeiten, die durch das Auftauchen jüdi­ scher Konkurrenten in ihnen vorher verschlossenen Berufen wie auch in ihnen zuvor versperrten Landschaften und Gemeinden verursacht wurden. Häufig erschienen die Juden dadurch als die wahren Repräsentanten der bürgerlichen Gesellschaft, und zwar gerade dort, wo man sich zu den Benachteiligten und Opfern dieser Entwicklung zählte. Der Jude wurde zur Symbolfigur der bür­ gerlich-kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft - freilich nicht bei ihren Trä­ gern, sondern bei ihren Kritikern, den bedrohten Gesellschaftsschichten auf der einen Seite, den radikalen (demokratischen oder sozialistischen) Theoretikern auf der anderen Seite22. Das Bild des jüdischen ,Wucherers' der ständischen Gesellschaft verwandelte sich in das des Kapitalisten' der bürgerlichen Gesell­ schaft, antijüdische und antikapitalistische Ressentiments potenzierten sich ge­ genseitig. Dabei kann nicht bestritten werden, daß die Juden in der Tat als Gruppe erhebliche Startvorteile beim Übergang zur kapitalistischen Wirtschaft hatten und daß sie insbesondere den vorbürgerlichen Klassen und Schichten wirtschaftlich zunächst deutlich überlegen waren. Allerdings wurde dies von den Zeitgenossen eben nicht als ein Übergangsproblem begriffen, sondern als permanente Bedrohung mißverstanden. Die wirtschaftlichen Nöte der in die Defensive geratenen Schichten wurden darüber hinaus allzu gern auf die Emanzipation der Juden zurückgeführt statt auf die Durchsetzung des kapita­ listischen Wirtschaftssystems. War somit einerseits die Entfaltung der bürger­ lich-kapitalistischen Gesellschaft die unerläßliche Voraussetzung der Juden­ emanzipation, so bedeutete andererseits die Tatsache, daß die Juden in eine ent83 6*

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stehende Konkurrenzgesellschaft eingegliedert werden mußten, eine erhebliche Belastung des Emanzipationsvorgangs. Sie waren von vornherein potentielle ,Sündenböcke' für wirtschaftliche Krisen23. Der nahezu ein Jahrhundert währende Emanzipationsprozeß wirkte allein schon durch seine Dauer einer befriedigenden Lösung der Judenfrage' entge­ gen. Die soziale Integration einer ungeliebten, auch unbequemen Minderheit bedurfte der Stetigkeit und Ungestörtheit, um die aktuellen Reibungen zu über­ winden und die alten Vorurteile abzubauen. Stattdessen war die Juden­ frage' drei Generationen lang Gegenstand leidenschaftlicher öffentlicher Dis­ kussionen, parlamentarischer Debatten und staatlicher Maßnahmen24. Sie stand im Scheinwerferlicht des Öffentlichen Interesses und gewann zugleich mehr und mehr den Anschein eines zeitlosen Problems. Die antijüdischen Ste­ reotypen der Vergangenheit gerieten nicht in Vergessenheit, sondern wurden immer wieder neubelebt. Das traditionelle ,Bild' des Juden verstellte auch noch gegen Ende des Emanzipationszeitalters nicht wenigen den Blick auf die jüdi­ sche Wirklichkeit25. Angesichts der Tatsache, daß es hundert Jahre lang eine Judenfrage' gab - als ein reales Problem, nicht als ein Phantasiegebilde von Judenfeinden -, kann es kaum überraschen, daß sie unter veränderten gesell­ schaftlichen und politischen Gegebenheiten wenige Jahre nach ihrem scheinbar endgültigen Abschluß erneut aufgeworfen werden konnte. Das Grundproblem der Judenemanzipation bestand darin, daß sie nicht in eine bürgerliche Revolution oder eine konsequente Gesamtreform - zu der man in Preußen immerhin einen Anlauf unternommen hatte - eingebettet war. Nicht nur die Emanzipation der Juden, sondern auch die bürgerliche Emanzi­ pation insgesamt vollzog sich stufenweise, in einer Fülle von Einzelvorgängen, die nicht oder nur notdürftig koordiniert waren. Weder waren die politischen und sozialen Reformen aufeinander abgestimmt, noch faßten auch nur in Teil­ bereichen - etwa Gemeindeordnung und Gewerbeordnung - die Maßnahmen hinreichend ineinander. Die Judenfrage' war nur eins unter vielen Emanzipa­ tionsproblemen und sicherlich nicht das wichtigste. Das Argument mancher Li­ beralen war daher nicht von der Hand zu weisen, daß eine Emanzipation der Juden einfach nicht sinnvoll sei, so lange die ,Deutschen' und die ,C hristen' nicht emanzipiert, die Ziele der bürgerlichen Emanzipation nicht allgemein durchgesetzt seien. In der Praxis aber wurde dessen ungeachtet der Versuch unternommen, die Judenemanzipation in einer nicht bzw. nur in Teilbereichen emanzipierten Gesellschaft durchzuführen. Das brachte zusätzliche Spannun­ gen gegenüber anderen, vorübergehend zurückbleibenden oder rascher voranei­ lenden Gruppen. Die Tatsache, daß längst überfällige Reformen in anderen Be­ reichen noch ausstanden, verstärkte auch die Widerstände gegen die Gleichstel­ lung der Juden, die unter diesen Umständen leicht als Privilegierung interpre­ tiert werden konnte. Je länger die Rechtsgleichheit für die Juden verzögert wurde, um so größer wurden außerdem in manchen Schichten die an ihre Ge­ währung geknüpften Befürchtungen. Die mit den Jahren wachsende Diskre­ panz zwischen der steigenden wirtschaftlichen, zum Teil auch kulturellen Be84 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

deutung vieler Juden und ihrer fortdauernden minderen Rechtsstellung wirkte sich nicht nur zugunsten der emanzipatorischen Tendenzen aus, sondern er­ weckte auch Vorstellungen von jüdischer ,Macht' und von der Notwendigkeit einer Aufrechterhaltung der ,letzten Schranken'. In einer in sich widersprüchli­ chen, nur partiell realisierten bürgerlichen Gesellschaft gab es eine ständige Ver­ suchung, die Emanzipation nicht als Gleichstellung zu akzeptieren, sondern als Machtergreifung' der Juden zu denunzieren26. In Deutschland darf auch die konfessionelle Spaltung in diesem Zusammen­ hang als erschwerendes Moment nicht übersehen werden. So lange Protestanten oder Katholiken gegenüber der jeweils herrschenden Konfession nicht gleichbe­ rechtigt waren, war es kaum denkbar, daß die Juden gleiche Rechte erhalten konnten. Eine Emanzipation der Juden vor der ,Emanzipation der C hristen' hätte unter diesen Umständen in der Tat eine Privilegierung bedeutet27. Schließlich stellte auch die territoriale Zersplitterung Deutschlands eine Bela­ stung für die Emanzipationspolitik dar. Denn Vorurteile - um deren Überwin­ dung es ja nicht zuletzt ging - können nicht in kleinen und kleinsten Territori­ en überwunden werden: Die rechtliche Gleichstellung in einem einzelnen Terri­ torium kann keine ungestörte Integration einleiten, wenn in den Nachbarlän­ dern die Juden weiterhin als ungleich und von minderer bürgerlicher Qualität betrachtet werden28. Auch in der Geschichte der Judenemanzipation erweist sich das Fehlen des Nationalstaates im Zeitalter der bürgerlichen Bewegung als ein Hemmnis des sozialen Fortschritts. Das Ziel der Emanzipationspolitik war die gesellschaftliche Integration der Juden. Diese Integration aber war den aufgeklärten Beamten ebenso wie den liberalen Politikern nur als Assimilation vorstellbar. Man erwartete, ausgespro­ chen oder unausgesprochen, von der Emanzipation die Auflösung der sozialen Identität der Juden. Man verlangte von ihnen nicht gerade, daß sie C hristen würden, aber man rechnete doch darauf, daß sie aufhören würden, Juden zu sein". ,DejudaisÌerung' war ein in diesem Sinne gern gebrauchtes Schlag­ wort80. Im bürgerlich-liberalen Denken der Emanzipationszeit gab es noch keinen Ansatz für eine Minderheitenpolitik, die auf die dauernde Existenz einer gleichberechtigten Minderheit abgezielt hätte. Alle Gruppen und Korporatio­ nen sollten sich auflösen in die freien Individuen einerseits und die »große Har­ monie' der Gesellschaft bzw. des Staates andererseits. Schon während der Französischen Revolution war klargestellt worden, daß man zwar die Juden als Individuen emanzipieren wolle, nicht aber das Judentum, nicht die Juden als religiös-soziale Gruppe. Trotz aller Auflösungserscheinungen innerhalb des Judentums und trotz aller Assimilationstendenzen bildeten aber die Juden auch am Ende des Emanzipationszeitalters noch immer eine soziale Gruppe mit einer unübersehbaren Gruppenidentität. Man hatte versucht, den Begriff J u d e ' zugunsten von ,Israelit' oder Staatsbürger mosaischen Glaubens' in Vergessen­ heit geraten zu lassen81, aber das Judentum schien schließlich doch immer noch mehr als eine Konfession zu sein. Selbst im Lager der Liberalen kamen Zweifel auf, ob ein Jude wirklich ausschließlich durch seine Religion definiert 85 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

sei, ob die Judenfrage' tatsächlich, wie man immer wieder behauptet hatte, al­ lein eine Frage der religiösen Toleranz oder Intoleranz sei. So stellte sich zum Abschluß der Emanzipationsgesetzgebung auch unter diesem Aspekt eine laten­ te Gefährdung der Emanzipation heraus. Denn angesichts der Tatsache, daß die Befürworter der Emanzipation immer wieder die Erwartung ausgesprochen hatten, daß die Juden sozusagen spurlos' in der deutschen Staats- und Kultur­ nation aufgehen würden, lag es nahe, die erhalten gebliebene Gruppenidentität als ,Staat im Staate' oder ,Fremdkörper' in der nationalen Kultur anzugrei­ fen32. Faßt man alle diese Überlegungen zusammen, so dürfte deutlich sein, daß die im Aufstieg befindliche bürgerliche Gesellschaft zwar in einem langwieri­ gen und mühsamen Prozeß die Emanzipation zu einem formalen Abschluß ge­ bracht, ihre Judenfrage' aber nicht wirklich befriedigend und dauerhaft gelöst hat. Die Emanzipationskonzeption und die jahrzehntelange Verzögerung der rechtlichen Gleichstellung waren nicht zufällig, sondern Ausdruck der allge­ meinen Schwierigkeiten dieser mitteleuropäischen bürgerlichen Gesellschaft, ihre Probleme zu lösen. Sie spiegelten die etatistisch-bürokratische, pragmati­ sche und kompromißorientierte Politik der bürgerlichen Bewegung in Deutsch­ land, die Problematik eines auf Teilmodernisierungen hin angelegten Ent­ wicklungsprozesses der bürgerlichen Gesellschaft, der nicht mit einem klaren Herrschaftsanspruch des Bürgertums verbunden war. Es kann unter diesen Umständen kaum bezweifelt werden, daß auch nach Abschluß der Emanzipa­ tionsgesetzgebung das Schicksal der Juden noch immer erheblichen Belastungen ausgesetzt war. Allzu lange hatte man gezögert, eine klare, prinzipienfeste Haltung einzunehmen, allzu wenig hatte man getan, um überlieferte antijüdi­ sche Stereotypen abzubauen, und schließlich hatte man allzu viele illusionäre Erwartungen erweckt und von der jüdischen Minderheit Dankbarkeit' im Sin­ ne einer völligen Anpassung an Denk- und Verhaltensweisen der Mehrheit er­ wartet. Die rechtliche, vor allem aber die soziale Stellung der Juden war of­ fensichtlich noch für längere Zeit in hohem Maße krisenanfällig. Freilich wäre es falsch, eine Art historischer Zwangsläufigkeit etwa in der Art anzunehmen, als ob der moderne Antisemitismus der 1870er Jahre mit Notwendigkeit auf einen solchen Emanzipationsprozeß habe folgen müssen. Es ist durchaus denkbar, daß eine längere Periode ruhiger innerer Entwicklung unter der Herrschaft bürgerlich-liberaler Prinzipien und auf der Basis anhalten­ der wirtschaftlicher Prosperität zu einem dauerhaften Ausgleich, zu einer defini­ tiven Lösung der Judenfrage' im emanzipatorischen Sinne geführt hätte - und der mangelnde Erfolg judenfeindlicher Publizistik, das rasch nachlassende öffent­ liche Interesse an der Judenfrage' in den wenigen verbleibenden Jahren bis zum Ausbruch der großen wirtschaftlichen Krise können als Argument in dieser Richtung gelten. Gerade diese Bedingungen eines ,Ausreifens' der Emanzipa­ tion aber fehlten in Deutschland. Nicht nur die Wirtschaft geriet in eine unge­ ahnt schwere Krise, auch die bürgerlich-liberale Bewegung kam zum Stillstand, verlor ihre politischen Positionen und büßte darüber hinaus die Dominanz ihrer 86 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

politischen und sozialen Normen in der öffentlichen Meinung ein. Es zeigte sich jetzt, daß die Lösung der Judenfrage 1 durch die bürgerliche Gesellschaft zu spät erfolgt war, daß ihr nun die Zeit mangelte, durch die sie die ihr noch feh­ lende Stabilität hätte gewinnen können. Die gesamtgesellschaftliche Entwick­ lung - nicht die Entwicklung der Juden - wurde für das weitere Schicksal der Judenfrage' entscheidend.

IV. 1873 begann die sog. ,Gründerkrise', die allerdings nicht auf Deutschland beschränkt, sondern Teil einer Weltwirtschaftskrise war, die ein Zeitalter der Repression' einleitete - wobei der Repressive* C harakter der Entwicklung sich vor allem im Wirtschaftsklima, in den Befürchtungen und Erwartungen aus­ drückte, während Industrialisierung und wirtschaftliches Wachstum trotz kri­ senhafter Störungen und Hemmungen weiter und zum Teil in raschem Tempo voranschritten. Es handelte sich um eine weltweite Überproduktionskrise, ausge­ löst durch Überspekulation und Bankenkrisen, die vor allem die industrialisier­ ten bzw. in raschem Industrialisierungsprozeß befindlichen Staaten traf. Diese Krise erfaßte das Deutsche Reich stärker als andere europäische Staaten; zu­ gleich hatte sie hier, was noch wichtiger ist, die einschneidendsten außerökono­ mischen Folgen33. In Deutschland war die Entwicklung seit 1850 durch die anhaltende, von den zyklischen Krisen von 1857 und 1866 kaum erschütterte Hochkonjunktur der ,Industriellen Revolution' ebenso wie durch eine langdauernde agrarische Hochkonjunktur bestimmt. Seit 1869 kam es zu einer immer stärkeren Überhit­ zung der Konjunktur, die in eine durch wirtschaftspolitische Entscheidungen, nationales Hochgefühl und Kapitalüberfluß forcierte Überspekulation einmün­ dete, in den ,Gründungs*-Boom der frühen siebziger Jahre. So war der Einbruch der Krise in Deutschland schärfer, der Schock stärker, da der Optimismus grö­ ßer, die Erwartungen ungemessener als in anderen Staaten gewesen waren. Hin­ zu kam, was oft übersehen worden ist, daß in Deutschland in besonderer Weise die konjunkturelle Krise mit einer strukturellen Krise zusammentraf, die in den Jahren der Hochkonjunktur lediglich überdeckt oder auch bewußt nicht zur Kenntnis genommen worden war. Die Ausbildung der liberal-kapitalisti­ schen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung war nur zögernd und wider­ sprüchlich vollzogen und erst am Vorabend der Krise zu einem gewissen Ab­ schluß gebracht worden. Die durch die Änderung der ländlichen Sozialverfas­ sung, durch Gemeindereformen, Gewerbefreiheit und Freizügigkeit aufgewor­ fenen sozialstrukturellen Probleme waren daher bei Krisenausbruch noch kei­ neswegs gelöst. Andererseits waren durch den im internationalen Vergleich re­ lativ späten Beginn der Jndustriellen Revolution' in Deutschland das Tempo und die soziale Durchschlagkraft der Industrialisierung außerordentlich hoch. Die fortgeschrittene industrielle Technik und die langfristig positive konjunk-

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turelle Trendperiode bewirkten ein rapides wirtschaftliches Wachstum und for­ cierten den Übergang von der agrarischen zur industriellen Gesellschaft. Mit der Geschwindigkeit des Industrialisierungsprozesses aber wuchsen auch die ,sozialen Kosten', verschärften sich die Übergangsprobleme der im Umbau be­ findlichen Gesellschaft. Das gilt vor allem für die ,Anpassung' der Sozialstruk­ tur, aber auch der politischen Verfassung, des Herrschaftssystems an die verän­ derten Verhältnisse, und es gilt in noch höherem Maße für die sozialpsychische Bewältigung des stürmischen sozialen Wandels. Mit dem Zusammenbruch der industriellen Konjunktur und stärker noch mit dem Beginn der strukturellen Agrarkrise seit 1876 traten diese Probleme offen zutage34. Der durch den »Gründerkrach' ausgelöste Schock reichte weit über den Kreis der unmittelbar Betroffenen hinaus: im gewerblichen Mittelstand, der zwar Spe­ kulationsverluste erlitten hatte, in seiner Produktion zunächst aber kaum beein­ trächtigt war, bei den festbesoldeten Beamten und auch in der Landwirtschaft, die in den ersten Jahren noch nicht unmittelbar betroffen war. Das Krisenbe­ wußtsein übertraf in vielen Bereichen bei weitem die aktuellen Kriseneinbrü­ che. Unsicherheit und Pessimismus griffen um sich, eine allgemeine Unzufrie­ denheit beherrschte die öffentliche Meinung. Symptomatisch war die Reaktion auf den Mißerfolg der deutschen Industrieprodukte auf der Weltausstellung in Philadelphia 1876, als der Slogan ,billig und schlecht' auf die deutschen Aus­ stellungsstücke gemünzt wurde35. Die »Stimmungen und Verstimmungen' (K. Hillebrand) artikulierten sich in einer vagen Kapitalismus-Kritik, die sich in erster Linie gegen den ,Geist' des Kapitalismus, den ,Tanz um das goldene Kalb', das Finanz- und Handelskapital richtete. Die Markt- und Produktions­ mechanismen des industriell-kapitalistischen Systems blieben weithin unbegrif­ fen. Für die politischen Folgen der Krise war es von grundlegender Bedeutung, daß der bürgerliche Liberalismus in den sechziger Jahren zwar zur herrschen­ den Ideologie, nicht aber zur allein ausschlaggebenden politischen Kraft ge­ worden war. Es gab trotz Verfassung und allgemeinem Wahlrecht nur eine Be­ teiligung der Bürger an der Macht im Staat, nicht aber einen bürgerlichen Staat. Die Konsistenz und Dominanz der vorbürgerlichen Elemente im Herr­ schaftssystem der deutschen Staaten und des Reiches war in den Jahren der wirtschaftlichen Hochblüte und der Gründung des nationalen Staates unter li­ beralen Parolen nur verdeckt worden. Mit dem Ausbruch der Krise zeigte sich, daß das liberale Bürgertum im Konfliktfall noch immer nicht stark genug war, um sich gegen Monarchie und Aristokratie durchzusetzen. Die Krise traf im politischen Bereich eine nur in ihren Oberflächenphänomenen liberale Gesell­ schaft. Nur deshalb war es möglich, die wirtschaftliche Krise erfolgreich für einen politischen Umschwung gegen den Liberalismus auszunutzen. Unterstützt wurde dieser Umschwung durch einen Funktionswechsel des Nationalismus. Auch in Deutschland war der Nationalismus ursprünglich ein Instrument der bürgerlichen Emanzipation im Kampf gegen die ständisch-feu­ dale Gesellschaft gewesen, freilich von Anfang an zugleich geprägt durch die

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Wendung gegen den äußeren Feind36. Das Scheitern der bürgerlichen Revolu­ tion ließ dann seine Bedeutung für den materiellen Fortschritt des Volkes in den Vordergrund treten und beförderte das Auseinandertreten von nationalen und liberalen Bestrebungen. Mit der Verwirklichung des Nationalstaates durch die Macht und die Interessen des preußischen Staates wurde schließlich der Nationalismus zum innenpolitischen Programm. Von den konservativen Kräf­ ten adaptiert, wurde er zur Staatsideologie, zum Kampfinstrument gegen die sogenannten ,Reichsfeinde', zur Waffe auch gegen liberale bürgerliche Forde­ rungen. Dieser aggressive konservative Nationalismus war die Reaktion auf eine nationale Identitätskrise der siebziger Jahre, auf den Umschlag von natio­ naler Euphorie zu Gesellschafts- und Kulturkritik, auf die Erfahrung der Dif­ ferenz von erträumter nationaler Harmonie und realen sozialen Spannungen, Konflikten und Krisen. Er verschärfte die Krisenmentalität und beförderte die Umsetzung allgemeiner Unzufriedenheit in politische Entscheidungen gegen den bürgerlichen Liberalismus. Angesichts dieser wirtschaftlichen und politischen Gesamtentwicklung kann es kaum überraschen, daß in den siebziger Jahren erneut eine Judenfrage' auf­ geworfen wurde — nun allerdings mit antiliberaler und antiemanzipatorischer Stoßrichtung. Das politische und soziale Klima dieser Krisenjahre bot geradezu klassische Voraussetzungen für die Suche nach ,Sündenböcken', die das Unver­ standene erklärbar und das Ungewollte revidierbar machen konnten. Zwar richteten sich die Aggressionen auch gegen den politischen Katholizismus, die sozialistische Arbeiterbewegung und nationale Minderheiten, aber dennoch wurde ein erheblicher Teil der kollektiven Unlustgefühle seit der Mitte der siebziger Jahre und vor allem seit 1879 auf die Juden abgelenkt. Seit 1874/75 gab es, eingeleitet durch O. Glagau und die ,Gartenlaube', eine anschwellende Literatur der antijüdisch akzentuierten Gesellschafts- und Kulturkritik. 1875 wurde in den Pressekampagnen der konservativen ,Kreuzzeitung' und der ka­ tholischen Zeitungen antijüdisches Ressentiment bewußt politisch instrumenta­ lisiert und zur Diffamierung der herrschenden Politik benutzt. 1879 - das Jahr, in dem der Begriff »Antisemitismus' in Umlauf kam37 - brachte mit der radikalen, rassistischen Publizistik W. Marrs, mit den Massenversammlungen der ,Berliner Bewegung' des Hofpredigers Stoecker und mit dem durch Treitschke ausgelösten ,Antisemitismusstreit' der Intellektuellen den ersten Hö­ hepunkt der neuen judenfeindlichen, antisemitischen Agitation, die sich fort­ setzte in der Gründung antisemitischer Organisationen und der Unterschriften­ sammlung für eine ,Antisemiten-Petition', die im November 1880 eine ausführ­ liche Debatte im preußischen Abgeordnetenhaus auslöste, in der nicht wenige Konservative und Zentrumsvertreter im Sinne Stoeckers und Treitschkes argu­ mentierten38. Wenn den Juden in diesen Jahren der Krise eine ,Sündenbock'-FunktÌon übertragen werden konnte, so bedarf das noch einer weiteren Erklärung. Denn es ist eins, daß eine Gesellschaft ein Bedürfnis nach ,Sündenböcken' hat, und es ist ein anderes, daß bestimmte Gruppen - die Juden waren ja nicht die einzi-

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gen - diese Funktion tatsächlich übernehmen. Es können nicht beliebig ,Sün­ denböcke' ernannt werden, sondern es bedarf dazu besonderer Voraussetzun­ gen. Im Falle der Juden, sind diese Voraussetzungen vor allem durch Ablauf und Ergebnisse des Emanzipationsprozesses gegeben. Der aufsteigenden bürger­ lichen Gesellschaft war es in Deutschland nicht gelungen, ihre Judenfrage' als Emanzipationsproblem völlig zu lösen, eine gesicherte Integration zu verwirk­ lichen; durch die sich über ein Jahrzehnt erstreckenden Auseinandersetzungen hatten sich alte und neue Stereotypen der Judenfeindschaft verfestigt, war das Bewußtsein einer Judenfrage' tief verwurzelt worden, galt die Stellung der Juden in der bürgerlichen Gesellschaft als problematisch und nicht selbstver­ ständlich. Die Aspekte der Emanzipationspolitik und ihrer Resultate, an die eine antisemitisch gestellte Judenfrage' anknüpfen konnte, sind in unserer Analyse des Emanzipationsprozesses im einzelnen herausgearbeitet worden. Daneben ist noch einmal zu betonen, daß die noch vorhandenen gruppenspezi­ fischen Merkmale der Juden eine unleugbare Nähe zu den in der Krise so hef­ tig beklagten Zügen der kapitalistischen Gesellschaft aufwiesen. Sie waren weit überproportional im Bankwesen, im Handel und der Presse vertreten, sie wa­ ren in weit höherem Maße als andere Bevölkerungsgruppen in den Städten, vor allem den großen Städten zu Hause, sie nutzten energisch die Aufstiegs­ möglichkeiten der neuen Gesellschaft und repräsentierten in besonderem Maße die neue räumliche und soziale Mobilität, sie waren ihrer Situation entspre­ chend Wortführer der Traditionskritik und einer säkularisierten Kultur und Gesellschaft - sie waren, nimmt man alles in allem, als soziale Gruppe unbe­ streitbar Repräsentanten des liberal-kapitalistischen Wirtschaftssystems und der bürgerlichen Moderne. Dieser Gruppencharakter war unproblematisch, so lange die wirtschaftliche Entwicklung ungebrochen positiv war und die bür­ gerlich-liberalen Normen die öffentliche Meinung beherrschten. Die Dispro­ portionalitäten gegenüber der christlichen Bevölkerung waren nicht von der Art, daß sie von sich aus eine neue Judenfrage' hätten auslösen können. Unter den Vorzeichen einer gesamtgesellschaftlichen Krise und eines tiefgreifenden ideologischen Klimawechsels reichten sie jedoch aus, einer einmal aufgeworfe­ nen Judenfrage' den notwendigen Schein von Berechtigung zu leihen und zu­ gleich die Judenfrage* ins Zentrum der gesamten Gesellschafts- und Kulturkri­ tik treten zu lassen. Bei der durch den Antisemitismus geschaffenen Judenfrage' der siebziger Jahre handelte es sich nicht um eine Wiederaufnahme der älteren, emanzipato­ rischen Judenfrage*, sondern um einen qualitativ neuen Sachverhalt. Der mo­ derne Antisemitismus ist nicht nur chronologisch, sondern auch sachlich ein postemanzipatorisches Phänomen. Er findet die rechtliche Gleichstellung als ein Faktum vor und wendet sich gegen das emanzipierte Judentum. Seine J u ­ denfrage' ist nicht mehr die Frage nach der Emanzipation der Juden, sondern - wie es in vielen Wendungen heißt - die Forderung der „Emanzipation von den Juden"39. Die gemeinsame Basis für die Antisemiten aller Schattierungen ist die Behauptung, daß das emanzipierte Judentum eine Macht darstelle, ge90 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

gen die man sich in einem Abwehrkampf befinde. In seinem Selbstverständnis ist der moderne Antisemitismus zunächst eine Abwehrbewegung gegen jüdi­ schen Einfluß und Herrschaftsanspruch. Es geht nicht mehr um die Eingliede­ rung der unterprivilegierten Juden in die bürgerliche Gesellschaft, sondern um die Zurückweisung einer angeblichen Beherrschung dieser Gesellschaft oder zu­ mindest gewisser Bereiche dieser Gesellschaft durch die Juden40. Radikale und gemäßigte Richtungen des Antisemitismus unterscheiden sich dadurch, daß die einen sich mit der Forderung nach einer sozialen ,Eindämmung* des jüdischen Einflusses ohne Revision der rechtlichen Gleichstellung begnügen, wahrend die anderen nicht nur eine angebliche ,Fehlentwicklung' kritisieren, sondern Aus­ nahmegesetze fordern und prinzipiell jede Möglichkeit der Integration bestrei­ ten. Insgesamt hatten sich die Frontstellungen in der Judenfrage' grundlegend verändert: Während vor dem Abschluß der Emanzipationsgesetzgebung die Befürworter der Emanzipation und Integration in der Offensive waren und ju­ denfeindliche Polemiken kaum mehr als Rückzugsgefechte darstellten, gingen in den siebziger Jahren die antisemitischen Kräfte zum Angriff über und dräng­ ten die Verfechter der bürgerlichen Gleichberechtigung in die Defensive. Im Zeitalter der Emanzipation waren die judenfeindlichen Äußerungen - in denen sich nahezu alle einzelnen Bestandteile der späteren antisemitischen Doktrinen nachweisen lassen - fast durchweg konkret auf die Juden und ihre Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft bezogen worden. Man hatte die Rolle der Juden in der Gesellschaft für verderblich erklärt, aber man hatte in der Regel nicht vorgegeben, daß man durch eine bestimmte Lösung der Judenfra­ ge' andere, allgemeinere Probleme lösen könne, daß eine Erkenntnis der J u ­ denfrage' eine Erkenntnis der politischen und sozialen Grundfragen der jewei­ ligen Gegenwart ermögliche. Seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre nun wurde der radikale Antisemitismus zur Weltanschauung', und auch der gemä­ ßigte Antisemitismus der Konservativen wies zumindest eine starke Tendenz zur ,Weltanschauung' auf. Antisemitismus ist mehr als ein antijüdisches Pro­ gramm, mehr als eine judenfeindliche Bewegung. Er zielt nicht nur auf die Aufhebung der Emanzipation und die soziale ,Ausgrenzung' der Juden (der sy­ stematische Massenmord ist, obwohl durch manche Formulierung nahegelegt, in jener Zeit noch nicht vorstellbar), sondern glaubt, über die Judenfrage* die Gesamtheit der aktuellen Probleme lösen zu können. Er offeriert ein Erklä­ rungsmodell für die nicht verstandenen Entwicklungstendenzen der bürgerli­ chen Gesellschaft und suggeriert damit zugleich Lösungsmöglichkeiten für die wirtschaftliche, politische und kulturelle Krise der Gegenwart. Er bietet das Zerrbild einer Gesellschaftstheorie und ist mit seinem Versuch einer einfachen' Erklärung der Verhältnisse Ausdruck des Theoriedefizits der in die Krise ge­ ratenen bürgerlichen Gesellschaft41, Dabei tritt der manichäische Ansatz des Antisemitismus bereits deutlich hervor, indem nicht nur die Welt in ,Gut' und ,Böse' eingeteilt, sondern die Verwirklichung des ,Guten' allein durch die Zer­ störung und Vernichtung des ,Bösen* vorgestellt wird42. Dieser Ansatz findet sich nicht nur bei den radikalen Antisemiten, sondern in abgeschwächter Form 91 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

auch bei denjenigen, die etwa die ,ZersetzungserscheÌnungen' in Kultur und Sitte durch das Aufwerfen der Judenfrage', durch die Zurückdrängung jüdi­ schen Einflusses glaubten angemessen bekämpfen zu können. Im Rassismus be­ kommt diese Auffassung dann - ebenfalls noch in den siebziger Jahren - ihre scheinwissenschaftliche Grundlage, die die totalitären Tendenzen des Antise­ mitismus entscheidend verstärkt43. Judenverfolgungen vergangener Jahrhunderte hatten ebenso wie antijüdische Publikationen und Petitionsbewegungen im Zeitalter der Emanzipation stets auch politische Funktionen, indem sie von den Ursachen vorhandener Mißstän­ de ablenkten und inhaltlich unbestimmte Proteststimmungen sich gegen die Ju­ den entladen ließen. In den siebziger Jahren wurde nun die Judenfrage' ganz bewußt als ein Instrument in den politischen Auseinandersetzungen eingesetzt. Konservativen wie Katholiken ging es nicht in erster Linie um die Lösung ei­ ner wie immer gearteten Judenfrage*, sondern um die Mobilisierung von Mas­ sen und die Diffamierung des Gegners in ihrem Kampf gegen das herrschende liberale System44. Die Funktion eines solchen manipulierten und instrumentali­ sierten Antisemitismus war eindeutig: Er ermöglichte eine Kritik an den ge­ gebenen Verhältnissen, ohne deren reale Grundlagen in Frage zu stellen; er at­ tackierte den ,Geist' des Kapitalismus, das Bank- und Börsenwesen, nicht die kapitalistische Wirtschaftsordnung selber; er bedrohte Personen statt Instutio­ nen; er äußerte eine radikale Kritik an den Mißständen eines bekämpften Sy­ stems, ohne mit revolutionären Konsequenzen zu drohen. Die Absicht und Funktion des konservativen und klerikalen Antisemitismus der siebziger Jahre war die Unterstützung einer antiliberalen, konservativen Systemänderung; der Angriff auf die Juden war eine Form der zulässigen, gefahrlosen Opposition im preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat. Daneben entstand gegen Ende der siebziger Jahre ein selbständig organisierter, radikaler Antisemitismus, der sich als eine antiliberale und antisozialistische, zugleich aber auch als eine antikon­ servative und antiklerikale Bewegung verstand. Hier handelte es sich um eine Protestbewegung, für die der Antisemitismus nicht nur Mittel im politischen Kampf, sondern Inhalt und Zweck ihres Kampfes war. Diese radikale Haltung brachte ihr das Mißtrauen und die Ablehnung der konservativen Kräfte und der Regierung ein; das änderte aber nichts daran, daß auch der selbständig or­ ganisierte Antisemitismus die objektive Funktion hatte, die realen Ursachen ge­ sellschaftlicher Spannungen und Konflikte zu verschleiern und potentielle re­ volutionäre Energie zu kanalisieren und abzuleiten. Wahlerfolge stellten sich in begrenztem Umfang - für diesen Antisemitismus erst gegen Ende der achtzi­ ger und Anfang der neunziger Jahre ein, aber selbst dann war er niemals stark genug für eine selbständige Politik45. Entscheidend dafür, daß der Antisemitismus der siebziger Jahre zu mehr als einem beliebigen, folgenlosen Randphänomen der Krise werden konnte, ist die Tatsache, daß die ,Gründerkrise' in Deutschland einen säkularen Trendwechsel nicht nur in der Konjunktur, sondern auch in der Politik einleitete. Ausgelöst durch die wirtschaftliche Depression, geriet die bürgerliche Gesellschaft in 92 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Deutschland in ihre erste fundamentale Krise. Bis zum Beginn der siebziger Jahre war die bürgerlich-liberale Bewegung trotz aller ihrer Niederlagen und Kompromisse stets im Angriff gewesen. Die Geschichte erschien als eine Ge­ schichte des Fortschritts und die Gesellschaft freier, mündiger Bürger als ihr Ziel. Konservative Theorie und Politik war geprägt durch die Abwehr eines als übermächtig empfundenen bürgerlichen Zeitgeistes', und über allen konser­ vativen Positionen lag der Schatten der Resignation. Auch die politischen Gegner standen unter dem Druck der bürgerlichen Postulate von 1789. Das alles än­ derte sich nun unter dem Einfluß der Krise. Der ökonomische Optimismus, der zur Übernahme liberaler Wirtschaftstheorien bis weit ins konservative Lager hinein geführt hatte, wurde jäh zerstört; hier wirkte sich langfristig die durch den Druck des amerikanischen und russischen Getreides verursachte strukturel­ le Agrarkrise besonders nachhaltig aus. Die durch den konjunkturellen Zusam­ menbruch verschärften sozialen Spannungen vermehrten die Zweifel an der Weisheit liberaler Gesetzgebungspolitik. Hinzu kamen die ungelösten Integra­ tionsprobleme des eben erst geschaffenen Nationalstaates, kam die Aushöhlung liberaler Prinzipien durch Kulturkampf und Sozialistengesetz. Dieser Krise der liberalen Politik standen auf der anderen Seite das ungebro­ chene politische System des auf das monarchische Prinzip, Heer und Bürokra­ tie gestützten Obrigkeitsstaates und die unerschütterte, soziale Vorrangstellung der feudalen Aristokratie, vor allem in Preußen, gegenüber, die nun ihre Chan­ ce sahen, sich vom Druck der bürgerlich-liberalen Bewegung zu befreien. Bis­ marcks Bruch mit den Liberalen und deren Wahlniederlagen 1878/79 bedeute­ ten daher mehr als eine nur vorübergehende Änderung der politischen Konstel­ lation. Sie markierten das Ende einer Epoche - einer Epoche, die zwar nicht durch die Herrschaft des politischen Liberalismus charakterisiert war, aber dennoch eine Epoche der aufsteigenden, sich entfaltenden bürgerlich-liberalen Gesellschaft gewesen war. Es handelte sich 1878/79 nicht um bloße Wahlnie­ derlagen der liberalen Parteien: das gesamte Wert- und Normensystem des Li­ beralismus war ins Wanken geraten. Es schien nun plötzlich eine offene Frage zu sein, ob die Weltgeschichte wirklich die Geschichte des liberalen Fortschritts sei oder ob nicht vielmehr der bürgerliche Liberalismus nur die Ideologie einer ganz bestimmten Epoche gewesen sei, die nun von einem postliberalen Zeitalter abgelöst werde. Das Zeitalter der bürgerlichen Emanzipation war abgeschlos­ sen, und zwar ohne daß die liberalen Ziele und Forderungen voll erfüllt gewe­ sen wären; es folgte nun zunächst eine Periode der konservativen Stabilisierung der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft unter dem Primat des Obrigkeits­ staates. Wenngleich dem Antisemitismus in den entscheidenden politischen Auseinan­ dersetzungen der siebziger Jahre nur eine relativ geringe Bedeutung zukam, traten in ihm doch Tendenzen deutlicher hervor, die in anderen politischen Gruppierungen und Meinungen verdeckt blieben. Der politische Systemwechsel 1878/79 war begleitet von einer in unterschiedlichen Ausformungen auftreten­ den, in ihrem Selbstverständnis postliberalen Protestbewegung gegen die Grund93 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft - gegen die Postulate der Menschen­ und Bürgerrechte, gegen die liberal-kapitalistische Wirtschaftsordnung und ge­ gen eine säkularisierte, traditionskritische Kultur. Die antisemitische Bewegung bildete den radikalen Kern dieser Protesbewegung, die mehr und anders war als eine konservative Reaktion auf den bürgerlichen Liberalismus. Der Antise­ mitismus war antiliberal und antisozialistisch, ohne konservativ zu sein, er zeigte antikapitalistische Tendenzen, ohne revolutionär zu sein, er war antima­ terialistisch, ohne religiös gebunden zu sein - kurz, er war eine vielfältig schil­ lernde Anti-Bewegung, deren positive Zielsetzungen widersprüchlich und un­ klar waren und sich lediglich in der Forderung nach einer ,Lösung der Juden­ frage' bündelten46. Der moderne Antisemitismus ist im Übergang von einer Epoche der bürgerli­ chen Gesellschaft zu einer neuen entstanden. In einer Gesellschaft, in der der bürgerliche Liberalismus immer mehr in die Defensive gedrängt wurde, in der demokratische und sozialistische Bewegungen unterdrückt wurden und konser­ vative und neofeudalistische Interessen und Meinungen dominierten, hatte er seinen Platz und seine Funktion. Zwar gelang es ihm nicht, die Gesetzgebung entscheidend zu beeinflussen, aber er war eine soziale Tatsache, wie immer auch seine politische Bedeutung schwanken mochte. So lange das System politisch stabil blieb, der Staat uniezweifelte Autorität genoß, übte der Antisemitismus systemstabilisierende Funktionen aus, ohne seinen eigenen Zielen sichtbar näher zu kommen. Es gelang ihm jedoch, durch die Verbreitung »gemäßigter' antise­ mitischer Vorstellungen und Verhaltensweisen in großen Teilen der Bevölke­ rung das Bewußtsein einer Judenfrage' wachzuhalten und zur gleichen Zeit die auf Vernichtung zielende rassistische Doktrin in den Sekten und Zirkeln der radikalen Antisemiten des Kaiserreichs weiterzuentwickeln. Beide Ent­ wicklungen wurden in ihrem vollen Umfang erst erkennbar, als in einer neuen gesamtgesellschaftlichen Krise der bürgerliche in den faschistischen Antisemitis­ mus umschlug.

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IV. Antisemitismus - Entstehung, Funktion und Geschichte eines Begriffs* (gemeinsam mit Thomas Nipperdey) Das Wort Antisemitismus' ist eine Neubildung aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Seit der Antike und zumal seit der frühchristlichen Zeit hat es in Europa eine Judenfeindschaft gegeben, die wesentlich vom Religionsgegen­ satz bestimmt war. Im Mittelalter bildete sich infolgedessen eine ständische Ab­ sonderung der Juden heraus, die Glaubensgemeinschaft wurde zur isolierten Lebensgemeinschaft, die religiöse Judenfeindschaft verband Sich mit der Feind­ schaft gegen eine außerhalb der ständischen Gesellschaft stehende Gruppe. Das Wort ,Antisemitismus' meint demgegenüber eine grundsätzlich neue judenfeind­ liche Bewegung, die sich seit dem Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts zunächst in Deutschland, Österreich und Ungarn, dann vor allem in Frankreich und unter anderen Bedingungen in Rußland und anderen ost- und südosteuro­ päischen Ländern ausbreitete. Deutschland ist das Ursprungsland dieser Bewe­ gung und zugleich die Heimat des Begriffs ,Antisemitismus', der von hier aus — vielfach ausdrücklich als aus dem Deutschen übernommenes Fremdwort be­ zeichnet - rasch in andere Sprachen eindrang: antisemitism (engl), antisémi­ tisme (franz.), antisemitismo (span., ital, antisemitizm (russ.), antiszemitiz­ mus (ungar.), antisemitism (rumän.) usw. Als Schöpfer des Begriffs ,Antisemitismus" gilt im allgemeinen der deutsche Schriftsteller Wilhelm Marr, dessen judenfeindliche Agitationstätigkeit 1879/80 ihren Höhepunkt erreichte; Belege für diese Annahme sind jedoch nicht vorge­ legt worden. Die Wortbildung ,antisemitisch' ist bereits 1865 im Rotteck/Wel­ ckerschen „Staatslexikon" nachzuweisen, wo das „Königtum unter den Juden als eine antisemitische Geburt" bezeichnet wurde1. Es handelt sich dabei jedoch um eine zufällige und folgenlos gebliebene Formulierung, die etwa dem im glei­ chen Jahr im „Staatswörterbuch" von Bluntschli/Brater zu belegenden „unsemi­ tisch" entspricht2. Ähnlich dürfte es sich auch mit einer gelegentlich behaupte­ ten, aber nicht nachgewiesenen frühen Verwendung des Wortes durch Ernest Renan verhalten3, denn von einem etwaigen Wortgebrauch bei Renan gibt es jedenfalls keine Kontinuität zu dem um 1880 in der politischen Diskussion auf­ tauchenden Begriff. Auch in Frankreich gilt Marr als der Schöpfer des Wortes »Antisemitismus*4.

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1., Semitismus' und der säkulare Begriff des Juden als Voraussetzungen Sprach- und sachlogische Voraussetzung der Entstehung des Begriffs Antise­ mitismus* ist die Bildung und allgemeine Verbreitung des Begriffs ,Semitismuse. Der Begriff ,Semiten' entstammt der theologisch-historischen Literatur des spä­ ten 18. Jahrhunderts. Es wurde vermutlich 1771 von A. L. von Schlözer im Anschluß an die Völkertafel im ersten Buch Moses, Kap. 10 geprägt5 und we­ nige Jahre später von J . G. Eichhorn in die Sprachwissenschaft eingeführt („Se­ miten" bzw. „semitische Stämme" als Träger der „semitischen Sprache")6. Die neuen Begriffe bürgerten sich in der Sprachwissenschaft rasch ein und fanden trotz naheliegender Einwände - die „semitische" Sprachfamilie und die als Nachkommen Sems genannten Völker sind keineswegs identisch - auch Ein­ gang in die Völkerkunde7. Zugleich wurde mit diesen Begriffen „Geist und Charakter" dieser Völker, die Summe ihrer Begabungen und Leistungen, der Typus ihrer Kultur beschrieben (z. B. von C hr. Lassen und E. Renan)8. Gobi­ neau9 hat dann durch den entschiedenen und terminologisch fixierten Gebrauch des Begriffs ,Rasse' die linguistisch-ethnologischen Begriffe naturalistisch fun­ diert, aus dem geschichtlichen Volkscharakter wurde ein Rassencharakter. Gleichzeitig mit dem Begriff ,Semiten' wurden die ebenfalls der Sprachwis­ senschaft entstammenden Begriffe ,Indo-Europäer', ,Indogermanen', ,Arier' in die allgemeine Terminologie der Geisteswissenschaften aufgenommen; beide Sprachgruppen wurden auch als Völkergruppen einander gegenübergestellt. Die Verschiedenartigkeit wurde sehr bald als eine Verschiedenwertigkeit verstanden, das „Semitentum" wurde zur dunklen Folie für die positiv akzentuierte Dar­ stellung des Wesens der indo-europäischen bzw. arischen Völker10. Die Orien­ talisten Paul de Lagarde und Adolf Wahrmund haben in Deutschland aus die­ ser wissenschaftsgeschichtlichen Tradition heraus ihre entschiedene Judenfeind­ schaft entwickelt11. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden dann diese spe­ kulativen Begriffe der linguistischen und ethnologischen Wissenschaften in den allgemeinen Sprachgebrauch der Gebildeten übernommen und zugleich in die politische Diskussion eingeführt. Das Bluntschli/Bratersche (1857, 1865) und das Rotteck/Welckersche (4. Aufl. 1865) Lexikon enthalten entsprechende Artikel12. Bei Bluntschli wurden „Arier" und „Semiten" zwar gemeinsam vor allen ande­ ren Völkergruppen herausgehoben, aber alle positiv verstandenen Werte wur­ den den Ariern zugeschrieben, während die Semiten negativ charakterisiert wurden; die Arier waren danach zur Herrschaft und Zivilisierung der Welt be­ rufen. Beide Gruppen wurden im Anschluß an Gobineau mit dem Terminus der Rasse als biologischer Abstammungseinheit beschrieben13. Gleichzeitig mit dieser Entwicklung veränderten die Begriffe Jude* und Ju­ dentum* ihren Sinn. Bis zum Ende des 18, Jahrhunderts war der Begriff Jude* durch die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft definiert. Zwar wurden die Juden als Lebens- und Abstammungsgemeinschaft auch als ,Volk* bezeich­ net, aber dieses Volk war durch seine Religion konstituiert. Daneben wurde das 96 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Wort J u d e ' seit dem Mittelalter als Synonym für eine vor allem in der jüdi­ schen Minorität verbreitete Art von Geschäftsgeist als Schimpfwort gebraucht. Bei diesem Wortgebrauch konnte man, wie die alte Rede von „beschnittenen und unbeschnittenen Juden" zeigt, auch über den Kreis der Religions- und Volkszugehörigen hinausgehen; der Begriff blieb aber auf das Verhältnis einer ständischen Gesellschaft und ihrer Wirtschaftsgesinnung zu einer außerhalb die­ ser Gesellschaft stehenden Gruppe bezogen, und er blieb noch in seiner Erweite­ rung an die Religionszugehörigkeit gebunden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts gewannen die Begriffe Jude c und Judentum' eine säkulare und nicht-ständisch gebundene Bedeutung. Zunächst freilich inten­ sivierte sich die theologische Auseinandersetzung mit dem Judentum. Die prote­ stantische Theologie der Aufklärung, des Idealismus und des Liberalismus und die Religionsphilosophie verstanden bei ihren Versuchen einer Neuinterpreta­ tion des Christentums das, was ihnen anstößig war, als Erbe des Judentums, ge­ gen das die eigentliche Wahrheit des C hristentums neu zur Geltung zu bringen sei. Diese Theologie war daher von Semler über Hegel, Fichte und Schleierma­ cher bis zum Theologen Lagarde ausgesprochen antijudaistisch. Indem nun diese Theologie das C hristentum anthropologisierte, wurde auch Judentum' zu einer nicht nur theologischen, sondern auch anthropologischen Kategorie. Zugleich wurde ein „Geist" des Judentums konstruiert, der weit über den Bereich des Re­ ligiösen hinaus das Insgesamt des politischen, sozialen und kulturellen Lebens der Juden einheitlich verstehbar machen sollte. Der Geist des Judentums wurde als Volks- und Nationalgeist oder (und) als weltgeschichtliches Prinzip aufge­ faßt und blieb, gerade mit seiner negativ kritischen Tendenz, keineswegs auf das Judentum des Alten Testaments beschränkt. Diese Konstruktion ermöglichte die allmähliche Ablösung des Begriffs Judentum' von der Religion14. In Phi­ losophie und Wissenschaft wurden solche Deutungen, im allgemeinen mit mehr oder minder negativen Wertungen verbunden, vielfach üblich15. Die Hyposta­ sierung einer historisch festgestellten Eigenschaft zum „Wesen" des Judentums haben dann vor allem zahlreiche Sozialisten vorgenommen. Sie knüpften an die ältere Identifikation von Jude und Wucher etc. an und übertrugen diese Bezie­ hung aus der ständischen in die bürgerliche Gesellschaft; dabei verwendeten sie den Begriff Jude' von vornherein in einem eindeutig säkularen Sinn. Zumal in Frankreich hat sich im Anschluß an Fourier, besonders bei Toussenel und Le­ roux, die Identifikation des als Nation aufgefaßten Judentums mit Handel, Banken, Kapitalismus und Ausbeutung ausgebildet16. In Deutschland sind für diese Position die Thesen von Karl Marx aus seinem Aufsatz „Zur Judenfrage" von 1844 charakteristisch17. Die Juden seien weder Religionsgemeinschaft noch Volk, ihre „Nationalität" eine „schimärische . . .: Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheimnis der Religion im wirklichen Juden. Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld". Das gelte auch für die Religion: ihre Grundlage sei „das praktische Be-

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dürfnis, der Egoismus . . . Der Gott der Juden hat sich verweltlicht, er ist zum Weltgott geworden. Der Wechsel ist der wirkliche Gott des Juden". Inzwischen sei „der praktische Judengeist zum praktischen Geist der christlichen Völker" geworden; „. . . aus ihren eigenen Eingeweiden erzeugt die bürgerliche Gesell­ schaft fortwährend den Juden." Das Judentum sei „der höchste praktische Aus­ druck der menschlichen Selbstentfremdung"18. Auch in der fast ein Jahrhundert währenden Diskussion um die Judeneman­ zipation hat sich der Begriff des Juden allmählich säkularisiert. Seit dem späten 18. Jahrhundert wurden die Juden allgemein als „Nation" mit einem besonde­ ren „Nationalcharakter" bezeichnet. Während die Befürworter der Emanzipa­ tion diese besondere „Nationalität" als Folge der Unterdrückung ansahen und aufheben wollten, indem sie das Judentum auf bloße Religion oder Konfession reduzierten, betonten die Gegner der Emanzipation gerade den ursprünglichen, keineswegs von außen erzwungenen Sondercharakter der jüdischen „Nationali­ tät". Sie gaben der Nationalität neben der Religion ein eigenes Gewicht, stell­ ten sie mit der Zeit über die Religion und lösten sie schließlich ganz von ihr. So galten die Juden als „Volk im Volk", als „Staat im Staat", als „Nation in der Nation"19. Die Juden sind „ein durchaus fremdes Volk", schrieb Arndt, und es komme darauf an, „den germanischen Stamm so sehr als möglich von fremd­ artigen Bestandteilen rein zu erhalten"20. Und Hegel, der sich gegen solche Tendenzen wandte, bemerkte doch, daß die Juden „sich nicht bloß als eine be­ sondere Religionspartei, sondern als einem fremden Volke zugehörig ansehen sollten"21. Der rationalistische Theologe Heinr. Eberh. Gottlob Paulus ver­ öffentlichte 1831 im Kampf um die Judenemanzipation in Baden eine Schrift: „Die jüdische Nationalabsonderung nach Ursprung, Folgen und Besserungsmit­ teln", und der Judenfeind Schopenhauer bemerkte 1851: „Jüdische Konfes­ sion*" sei „ein grundfalscher . . . Ausdruck , . . Vielmehr ist Jüdische Nation' das richtige."22 Solche Auffassungen finden sich seit den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts in der Publizistik aller Richtungen, blieben aller­ dings zunächst in der Minderheit. Ähnlich wie der Begriff Rationalität' wurde etwas später auch der Begriff ,Race* im Sinne der Abstammungsgemeinschaft gebraucht23. Nur bei einer Minderheit aber, zumal natürlich bei den Judenfeinden, hatte der Begriff einen unaufhebbar deterministischen C harakter; für die Mehrheit derjenigen, die das Wort gebrauchten, war ,Rasse' offenbar nur ein Faktor neben anderen, ge­ schichtlichen, religiösen oder sozialen Faktoren, denen im allgemeinen und auf die Dauer höhere Bedeutung zugemessen wurde. Daher konnten die Liberalen den Begriff der Rasse nach der Jahrhundertmitte anscheinend leichter adaptie­ ren als den einer jüdischen Nation. Im Sinne dieser neuen Tendenzen, das Judentum zu definieren, gab es dann im allgemeinen Sprachgebrauch eine terminologische Differenzierung: für die „bloße" Religionszugehörigkeit setzte sich die offizielle Bezeichnung ,Israelit' durch24; daneben aber blieb bei C hristen und Juden die Bezeichnung Jude* ge­ bräuchlich, und mit ihr meinte man etwas mehr als die Religionszugehörigkeit. 98 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Audi getaufte Juden wurden vielfach von Juden und Christen weiterhin als J u ­ den' bezeichnet. W. Menzel konnte in seiner Polemik gegen das „Junge Deutsch­ land" ohne weiteres vom „Jungen Palästina" sprechen25. Auch im liberalen Bürgertum verbreitete sich der neue Begriff vom Juden, der entscheidend durch die Abstammung bestimmt war. So bemerkte z. B. der liberale Historiker L. Häusser 1862 zu dem populären Wort von den „getauften Juden": „Mit dem Wechsel der Religion ändert nach Ansicht des Volkes der Israelit die natürliche Eigentümlichkeit nicht, die ihn vom C hristen scheidet; er mag konfessionell zu den letzteren gehören, in allem übrigen bleibt er, was er vorher gewesen."26 Häusser hielt diese Ansicht durchaus nicht für falsch, auch für ihn war es „in erster Linie die Verschiedenheit der Race", durch die die Abneigung der christ­ lichen Bevölkerung gegen die Juden bedingt war. Unter liberalen Prämissen mußten solche Überlegungen jedoch im allgemeinen politisch und rechtlich fol­ genlos bleiben. Bluntschli z. B. hob in seinem Artikel „Juden" trotz einer „rassi­ schen" Interpretation und der außerordentlich negativen Wertung der „Semi­ ten" ausdrücklich hervor, daß aus Rassenunterschieden keinerlei rechtliche Kon­ sequenzen mehr gezogen werden könnten, und er setzte hinzu: Die Juden „sind längst keine . . . Volksfremden" mehr, „sondern Volksgenossen. Die Juden sind in Deutschland zu Deutschen . . . geworden"27. Seit Beginn der siebziger Jahre wurde dann der Begriff ,Semit* immer häufi­ ger als modisches, halbwissenschaftliches Synonym für J u d e ' verwandt. Dieser neue Wortgebrauch blieb im allgemeinen unreflektiert, hatte jedoch eine ganz spezifische Bedeutung. Denn der Begriff ,Semit' gab dem neuen Begriff des Ju­ den, der durch die Abstammung bestimmt war, sprachlich Ausdruck. 1879 er­ klärte z. B. der jüdische Historiker H. Bresslau, daß er, obwohl er den Begriff ,Semit' als sachlich falsch und irreführend ablehnen müsse, „den Ausdruck Jude nur zur Bezeichnung der Abkunft, nicht der Religion anwenden" werde: „Um jedes Mißverständnis auszuschließen, bemerke ich, daß ich diejenigen im Sinne dieser Erörterungen als Juden betrachte, deren beide Eltern als Juden geboren sind."28 Otto Glagau, der der Meinung war, bei den Juden handle es sich „we­ niger um den Glauben als um die Race", schrieb von einem Gründungsunter­ nehmer, er habe alle Konkurrenten überflügelt: „und doch ist er nicht einmal semitischer, sondern bloß germanischer Abkunft." Andere Autoren begnügten sich mit dem zusammenfassenden Begriff „Semiten"29. ,Semitismus' konnte schließlich in diesem Sinne im „Brockhaus" als eine „Bezeichnung für das aus­ schließlich vom ethnologischen Standpunkt aus betrachtete Judentum" definiert werden30. In die im 19. Jahrhundert entstandenen säkularen Begriffe des Juden und des Judentums waren viele der in der Tradition der abendländischen Judenfeind­ schaft erwachsenen negativen Vorstellungen eingegangen. Die Begriffe boten sich daher schon im frühen 19. Jahrhundert als Inbegriff des Negativen an: „Was man Verwerfliches und Verhaßtes wahrnehmen oder erdichten mochte - Zer­ störendes und Vaterlandfeindliches im Gebiete der Politik, Unsittliches in dem der Moral oder der Ästhetik, Frivoles, dem C hristentum und allen Heiligen 99 7*

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Feindliches in dem der Religion — das . . . wurde den Juden oder jüdischem Wesen, jüdischem Hasse, jüdischen Leidenschaften, jüdischer Frechheit' usw. zu­ geschrieben."31 Solche negativen Wertungen und Vorstellungen dominierten in der Blütezeit des proemanzipatorischen Liberalismus keineswegs, sie waren oft nur unterschwellig virulent, aber sie waren vorhanden. Und sie prägten nun ins­ besondere den Bedeutungsgehalt der in den siebziger Jahren sich verbreitenden Begriffe ,Semiten', ,Semitentum' und ,Semitismus'32. ,Semit* (oder Jude') konnte einfach als abwertende Bezeichnung gebraucht werden33. Insbesondere aber gewannen die vereinzelten Ansätze zur Identifikation von Judentum und Modernität nun erheblich an Gewicht und Resonanz und ver­ banden sich zu einem einheitlichen Vorstellungskomplex. Alle Komponenten der Moderne und der eigenen Gegenwart, die man negativ bewertete, konnten mit den Begriffen ,Semitismus', ,Semitentum', »semitisches Wesen', ,semitische Ta­ lente', semitischer Geist' verknüpft werden. ,Semitismus' usw. war mehr als nur das „vom ethnologischen Standpunkt betrachtete Judentum", es war ein Zerr­ bild der Moderne34. ,Semitismus' war Synonym oder Ursache für den Kapita­ lismus, für die aus den Bindungen von Zünften, Ständen und Kirchen sich be­ freiende bürgerlich-liberale Gesellschaft, für ihre antagonistische und plurali­ stische Struktur, für die Auflösung der Tradition, für die Traditionskritik der Literaten, für die Macht der Presse, für linksliberale, aufklärerische und west­ lich-demokratische, ja auch schon für sozialistische Ideen, für den „Materialis­ mus" und die „Veräußerlichung" der Zivilisation, schließlich für den vermeint­ lichen Mangel an nationaler Integration, an wahrem Deutschtum im Reich von 1871. Diese Identifikation von Modernität und Judentum hing mit der modernen ,Judenfrage' zusammen. Emanzipation der Juden und Ausbildung der Moderne waren gleichzeitig verlaufen. Die Emanzipation, die nicht nur Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft, sondern auch innere Ablösung vom traditionellen Ju­ dentum bedeutete, hatte ein „neues" Judentum geschaffen. Die soziokulturelle Assimilation war aber noch keineswegs vollendet, und darin hatten bestimmte Besonderheiten der jüdischen Minorität, die traditionskritische Position der jüdi­ schen Intelligenz, die im Vergleich zum Gesamtvolk disproportionale Berufsver­ teilung der Juden und ihre spezifische Wirtschaftsgebarung ihre Ursache. Der Anteil der Juden am kapitalistischen System, am kritischen Journalisten- und LÌteratentum und an politisch linksstehenden Führungsgruppen war relativ hoch, das Judentum stand in einer charakteristischen „Nähe" zu den Einrichtun­ gen der Moderne. Die von den Judengegnern vorgenommene Identifikation von Judentum und Modernität ist allerdings allein als Reaktion auf solche Nähe nicht zu erklären, die entscheidende Rolle spielten vielmehr alte Judenfeind­ schaft, Vorurteile gegen die Minorität und Opposition gegen die Moderne über­ haupt. Für die siebziger Jahre nun ist der Gebrauch des Begriffs ,Semitismus' oder entsprechender Begriffe vor allem Ausdruck einer Fundamentalkritik an den Prinzipien und Erscheinungsformen der modernen liberalen Gesellschaft. So ur100 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

teilte Treitschke 1879 in diesem modernitätskritischen Sinn: „Unbestreitbar hat das Semitentum an dem Lug und Trug, an der frechen Gier des Gründer-Unwe­ sens großen Anteil, eine schwere Mitschuld an jenem schnöden Materialismus unserer Tage, der jede Arbeit nur noch als Geschäft betrachtet und die alte ge­ mütliche Arbeitsfreudigkeit unseres Volkes zu ersticken droht."35 In den „Ära"Artikeln der „Kreuz-Zeitung" von 1875 war die damalige Politik des Reiches als „Judenpolitik" und als „Banquiers-Liberalismus unter semitischer Führung" diffamiert worden36, und Glagau meinte: „Das Judentum ist das angewandte, bis zum Extrem durchgeführte Manchestertum . . . Die soziale Frage ist wesent­ lich Gründer- und Judenfrage."37 Dühring schließlich schrieb: „Warum ist der Deutsche Geist gegenwärtig so unheimisch bei sich selbst? Weil er sich nicht bloß in der Religion, sondern auch im Geistesleben und namentlich in der Literatur vergessen und an das Judentum veräußert hat."38 Manche der Kritiker gingen so weit, von einer drohenden oder wirklichen Herrschaft des Judentums über Deutschland und die Welt zu sprechen, so Marr im Sommer 1879: „Ich bin über­ zeugt, ich habe ausgesprochen, was Millionen Juden im stillen denken: Dem Se­ mitismus gehört die Weltherrschaft."39 Und C onstantin Frantz schloß 1876 eine Polemik gegen den „allgemeinen Materialismus, den Kultus des Erfolges", die Verdrängung des C hristentums mit den Worten: „Wer regiert denn nun eigentlich im neuen Reiche? und wozu haben die Siege von Sadowa und Sedan gedient, wozu sind denn die Milliarden erbeutet, wozu wird Kultur gekämpft, wenn nicht vor allem zur Beförderung der Judenherrschaft? Und da will man uns von dem Aufschwung unserer Nationalität reden, wo viel mehr ein rechter Deutscher vor diesem verjudeten Neudeutschtum einen förmlichen Ekel empfin­ den möchte."40 Es kann kaum überraschen, daß sich das Schlagwort ,Semitismus' in Deutsch­ land in den siebziger Jahren unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise, des Kul­ turkampfes und des Niedergangs des Liberalismus mit großer Schnelligkeit ver­ breitete: mit Recht konnte man 1879 den Begriff „Semitentum als neudeutschen Jargon" charakterisieren41. Angesichts der seit Mitte der siebziger Jahre einset­ zenden, zunächst vor allem von Konservativen und Zentrumspublizisten42 ge­ tragenen judenfeindlichen Bewegung konnte die Bildung eines entsprechenden Gegenbegriffs beinahe nur noch eine Frage der Zeit sein.

2. Entstehung und Verbreitung des Begriffs Antisemitismus' Im Spätsommer 1879 schwoll die judenfeindliche Bewegung zumal in Berlin erheblich an; Stoecker hielt seine ersten judenfeindlichen Reden (19. 9. 1879: „Unsere Forderungen an das moderne Judentum") und verhalf damit der Be­ wegung zum Durchbruch in die Öffentlichkeit der politischen Versammlungen und zur Massenwirksamkeit; Treitschke veröffentlichte im November 1879 sei­ nen ersten Artikel zur Judenfrage und machte damit die Bewegung zum Thema 101 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

der allgemeinen publizistischen Diskussion, machte sie gesellschaftsfähig. „Der Kappzaum der Scham war dieser ,tiefen und starken Bewegung' abgenom­ men."43 In diese Zeit fällt die Entstehung des Begriffs Antisemitismus'. Der erste bisher bekannte Beleg findet sich in der „Allgemeinen Zeitung des deut­ schen Judentums" vom 2.9. 1879, wo die Ankündigung eines „antisemitischen Wochenblatts" durch Marr erwähnt wurde. Diese Stelle ist insofern über­ raschend, als Marr selber nur eine „socialpolitische" bzw. „antijüdische", nicht aber eine „antisemitische" Wochenschrift angekündigt hatte44. Die Formulie­ rung antisemitisch' dürfte daher von dem Mitarbeiter der „Allgemeinen Zei­ tung" entweder selbst geprägt oder aber - wahrscheinlicher - in Berlin, wo­ her die Meldung stammte, aufgegriffen worden sein. Es ist zu vermuten, daß der Begriff im Frühherbst 1879 im Umkreis Marrs in Berlin entstanden ist, ein eindeutiger Beleg dafür ist jedoch nicht beizubringen. Die Bildung des Wortes lag „in der Luft", und Marrs Name ist schon von Zeit­ genossen in diesem Zusammenhang genannt worden; es darf jedoch nicht über­ sehen werden, daß Marr auch im Spätjahr 1879 durchweg noch die Vokabel „antijüdisch" und erst von 1880 an „antisemitisch", diese aber auch dann nicht ausnahmslos, gebrauchte45. Eine programmatische Einführung des Begriffs fin­ det sich bei ihm ebensowenig wie an anderer Stelle. Der Begriff wurde weder definiert noch kommentiert, war jedoch in der Praxis für jedermann hinreichend verständlich. Sicher ist, daß der Begriff ,Antisemitismus' nicht wie der Begriff ,Semitismus' aus der Wissenschaft stammte, sondern gleich als politisches Schlag­ wort geprägt wurde, und zwar zunächst als Selbstbezeichnung einer Parteirich­ tung. Ende September 1879 wurde in Berlin durch Inserate zur Bildung einer „antisemitischen" Liga aufgerufen, Anfang Oktober erschienen die „Statuten des Vereins ,Antisemiten-Liga'"46. Diese „Antisemiten-Liga", die wenig mehr als ein Schattendasein führte, erregte die Aufmerksamkeit auch der großen libera­ len Zeitungen, die im Spätjahr 1879 mit immer neuen Berichten und Meldungen über die „Liga" aufwarteten. Wenn Marr 1880 feststellte, sie sei „in Wahrheit mehr ein Name als eine Kraft"47, so war damit die Bedeutung dieses Vereins sehr genau bezeichnet: die „Antisemiten-Liga" beschäftigte die Phantasie, trug den Gedanken einer Sammlungsbewegung gegen den ,Semitismus' in weite Kreise und machte den Begriff Antisemitismus' binnen weniger Wochen popu­ lär48. Der endgültige Durchbruch des neuen Schlagwortes fällt in das Jahr 1880. Während man 1879 durchweg noch von der „antijüdischen Bewegung", der „Ju­ denhetze", dem „Judenkrieg", dem „neugermanischen Judenhaß", „Judenfein­ den" oder „judenfeindlichen Schriften" sprach, änderte sich das im folgenden Jahr deutlich. Treitschke hatte 1879 nur an einer einzigen Stelle von „Antisemi­ tenvereinen" gesprochen. Mommsén war dagegen ein Jahr später das Vokabular schon ganz geläufig: „die Mißgeburt des nationalen Gefühls, der Feldzug der Antisemiten" (4); „Adolf Wagner, auch ein entschiedener Antisemit" (5 f.); „der eifrige Antisemit" (13); „ein richtiger verbissener Antisemit" (14). Inzwischen war mit ,Philosemit' auch schon ein von den Antisemiten geprägter Gegenbe102 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

griff entstanden49. Mommsen sprach von „pro- und antisemitischen Stimmun­ gen (15), und Treitschke polemisierte im Spätjahr 1880 bereits gegen den „blin­ den philosemitischen Eifer der Fortschrittspartei"50. Für die Durchsetzung des Begriffs Antisemitismus' wurde besonders die gegen die rechtliche und soziale Stellung der Juden gerichtete Petitionsbewegung von 1880/81 von Bedeutung: die von über 250 000 Bürgern unterzeichnete Petition wurde im politischen Sprachgebrauch ziemlich allgemein als „Antisemiten-Petition" bezeichnet; sie führte weite Kreise des deutschen Volkes dahin, sich mit der ,Judenfrage' und den Forderungen der Antisemiten zu beschäftigen51. Während die „Allgemeine Zeitung des deutschen Judentums" sich noch im August 1880 von den Begriffen Antisemiten' und ,antisemitisch' durch Anführungszeichen distanzierte, wurde diese Übung schon zum Jahresende aufgegeben. 1881 erschienen dann bereits mehrere Publikationen, die den Begriff Antisemitismus' in irgendeiner Form im Titel führten52, und 1884 folgte ihnen die erste „Geschichte" des Antisemitis­ mus unter dem Titel „Die antisemitische Bewegung in Deutschland"53. Von den Gegnern und von neutralen Beobachtern wurden jetzt alle Vertreter antijüdi­ scher Tendenzen als „Antisemiten" charakterisiert; bei den Vertretern dieser Tendenzen selbst gab es Unterschiede: Treitschke hat sich nie als „Antisemit" bezeichnet oder gefühlt; Stoecker hat sich zwar nie vom Antisemitismus distan­ ziert, hat aber seine Bewegung im allgemeinen - im Unterschied zu den un­ kirchlichen rassischen Antisemiten - als, „antijüdisch" oder „christlich-sozial" bezeichnet54; seine Anhänger aber, wie z.B. H. Leuss und H. v. Gerlach, ver­ standen sich wiederum als „Antisemiten".

3. Bedeutung und Funktion des Begriffs ,Antisemitismus' Eine eigentliche Diskussion um den Begriff ,Antisemitismus' hat es nicht gege­ ben. Lediglich die „Allgemeine Zeitung des deutschen Judentums" protestierte in aller Form gegen den Begriff mit seinem „Schein der Wissenschaftlichkeit", mit dem man sich außerhalb des geschichtlichen Begriffs der Nationalität stelle: „Sollte mit diesem klingenderen Wort doch nur der ganz gemeine Judenhaß verdeckt und der öffentlichen Meinung insinuiert werden, daß es nur [!] einen Kampf gegen die Rasse gelte, daß man mit ihm [dem Kampf] auf nationalem Boden stehe."55 Noch in dem gleichen Aufsatz wurde jedoch resignierend fest­ gestellt: „Aber das Wort hat sich bei Feind und selbst bei Freund eingebürgert, und da behalten wir es der Kürze wegen vorläufig bei."56 Von Deutschland aus wurde der Begriff Antisemitismus' rasch in andere Län­ der getragen. In Österreich ist er bereits zu Beginn der achtziger Jahre nach­ weisbar, ebenso in Ungarn, wo es schon Mitte der siebziger Jahre erste Ansätze zu einer judenfeindlichen Organisation gegeben hatte57; in Frankreich findet er sich ebenfalls seit Beginn der achtziger Jahre, so z. B. in dem Titel einer kurz­ lebigen Zeitschrift „L'Antisémitique" von 1883 oder in E. Drumonts Plan einer 103 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

„Alliance antisémitique universelle" von 188658. Die Bedeutung des Begriffs Antisemitismus' blieb jedoch in diesen Ländern ebenso vage wie in Deutsch­ land. „Bei den verschiedenen Strömungen, die alle in den Antisemitismus aus­ liefen", schrieb 1884 E. Lehnhardt, „war ein bestimmter, faßbarer Begriff mit dem Wort Antisemitismus gar nicht zu verbinden."59 Man konnte von einem nationalen, einem sozialen, einem religiösen und einem rassischen Antisemitis­ mus60 oder von „der Richtung des Antisemitismus, welche sich Mäßigung und Zurückhaltung zur Aufgabe gemacht" habe, und dem „extremen und gewalttä­ tigen Antisemitismus"61, von den „radikalen Antisemiten" und einem „vernünf­ tigen Antisemitismus" nationaler und christlich-sozialer Prägung sprechen62; neben den konservativen Antisemitismus Stoeckers trat schon 1880 der radikal antikonservative, demokratische Antisemitismus Henricis, und in den späten achtziger Jahren bezeichneten die Radikalen die Gemäßigten bereits als „Schein­ antisemiten" oder „falsche Antisemiten" und polemisierten gegen einen „Talmi­ Antisemitismus" oder gegen den „Quartalsantisemitismus" der Mitläufer63. In Frankreich konstatierte Leroy-Beaulieu in ähnlichem Sinne: „L'antisémitisme est, en même temps, une guerre de religion, un conflit de races, une lutte de classes."64 Gerade in seiner Unbestimmtheit aber lag, wie S. W. Baron treffend herausgearbeitet hat, zunächst die besondere Stärke des Begriffs ,Antisemitis­ mus' und damit seine politische Funktion: „The very term ,anti-Semitism' be­ came a source of strength to those who gathered under it. . . Such an omnibus term could easily cover a multkude of motives and impulses."65 Antisemitismus', soviel stand für die verschiedenen Anhängergruppen wie für die Gegner fest, meinte Feindschaft gegenüber Juden und Judentum, und zwar in einem von der traditionellen Judenfeindschaft, wie sie etwa gleichzei­ tig in Ost- und Südosteuropa noch anzutreffen war, durchaus unterschiedenen Sinn. Der Begriff definierte nicht nur einen alten Feind in neuer Weise, sondern beschrieb mit der neuen Definition einen neuen Feind. Zunächst: Antisemitis­ mus' benannte die säkular gewordene Verhaltensform der Judenfeindschaft und ihre Ideologie; er richtete sich nicht gegen die Religion der Juden und basierte nicht auf der Religion der C hristen, die Religionsfrage und die theologische Le­ gitimierung wurden sekundär. Sodann, das ist das Entscheidende: Der Antise­ mitismus verstand sich als eine Reaktion auf die durch die Emanzipation neu und anders gestellte Judenfrage', und er war, das ist die Wahrheit dieses Selbst­ verständnisses, eine post-emanzipatorische Bewegung. Der unmittelbare „Zweck der Antisemiten-Liga" sei es, „die uns widerwärtigen Juden wieder in die Schranken zurückzuweisen, welche eine unbedachte Gesetzgebung zu unserem Schaden aufgehoben hat"66. Der Antisemitismus richtete sich nicht mehr gegen eine ständisch abgesonderte, relativ machtlose Gruppe mit eigenen Lebensfor­ men; er richtete sich auch nicht mehr gegen den bloßen Anspruch dieser Gruppe, in die Gesellschaft aufgenommen zu werden, sondern er richtete sich gegen eine nunmehr der Gesellschaft selbst zugehörige und mächtig gewordene, wenn auch nicht voll assimilierte Gruppe. Diese Tatsache wurde - trotz des Widerspruchs der Liberalen, die im Antise104 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

mitismus nichts anderes als die Reaktivierung alter Vorurteile sahen67 - auch außerhalb des Lagers der eigentlichen Antisemiten im allgemeinen anerkannt: „Die antisemitische Bewegung . . . ist durch den immer mehr wachsenden wirt­ schaftlichen und politischen Einfluß der von den früheren Schranken befreiten jüdischen Bevölkerung veranlaßt und strebt danach, diese Schranken wieder aufzurichten und die Juden aus den öffentlichen Ämtern zu verdrängen, ja sie ganz zu vertreiben."68 Der Kampf gegen scheinbare oder tatsächliche jüdische Machtpositionen in der Gesellschaft, gegen die sogenannte „Judenherrschaft", war es, in dem sich die Antisemiten aller Richtungen einig waren. „Der wahre >CulturkampP nicht gegen die Religion der Juden, nicht gegen die gesamte Ju­ denschaft, aber gegen den Christentum und deutsches Wesen bedrohenden jüdi­ schen Geist und gegen die unserem nationalen Wohlstande tödliche jüdische Geldherrschaft ist dringend notwendig geworden und glücklicherweise auch schon weithin populär."69 1894 hieß es bündig im „Staatslexikon" der Görres­ gesellschaft: „Juda ist eine Macht. Der Antisemitismus setzt sich derselben ent­ gegen."70 Diese Formel deckte ebenso die Ziele der radikalen, schon im biologi­ schen Sinne rassisch denkenden Antisemiten, wie die der konservativen oder christlich-sozialen Antisemiten, die weniger die Juden als den „jüdischen Geist", den „Semitismus" bekämpften und die Juden bei Wahrung ihrer formalen Rechtsstellung „nur" aus den staatlichen Ämtern (Schule, Justiz) verdrängen wollten. Die bei der Wahl des Begriffs »Antisemitismus' prätendierte Wissenschaftlich­ keit, mit der an die Stelle der älteren naiv-emotionalen Judenfeindschaft eine reflektierte und theoretisch begründete Position gesetzt werden sollte, hat sich im allgemeinen Sprachgebrauch nicht durchgesetzt. Nur einige der Theoretiker des rassischen Antisemitismus sahen in der „Wissenschaftlichkeit" der neuen Be­ wegung ein wesentliches Moment. Sozialer Träger der unter dem Begriff des Antisemitismus vereinten Bewegung waren Gruppen, die sich durch das liberal­ kapitalistische System benachteiligt fühlten: Handwerker, Kleinhändler und ein zunächst noch geringer Teil der Landwirte, sowie Angehörige der alten Füh­ rungs- und Bildungsschichten, deren Aussichten im Gefüge der Gesamtgesell­ schaft durch die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung bedroht zu sein schienen; dazu kamen die ideologisch - vom integralen Nationalismus, von der romantisch-pessimistischen Kulturkritik, von der Sorge um die christliche Le­ bensgestaltung des Volkes oder vom Antiliberalismus und Antikapitalismus motivierten Kräfte. Die Frage, warum gerade diese Gruppen Träger der Bewe­ gung des Antisemitismus geworden sind, ist Gegenstand zahlreicher soziologi­ scher Theorien. So hat man den Antisemitismus der Gebildeten als einen kollek­ tiven Nationalstolz interpretiert, der ihre Deklassierung durch die kapitalistisch­ industrielle Schicht und das Trauma ihrer erzwungenen Identifikation mit dem ehemals bekämpften Obrigkeitsstaat kompensierte71. Oder es wird diesen Schichten in einer Krise ein besonderes Maß von Orientierungslosigkeit zuge­ schrieben, weshalb sie für die vom Antisemitismus gebotene Situationserklä­ rung und Verhaltensregelung spezifisch anfällig seien72. Die begriffsgeschicht105 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

liche Analyse kann solche Theorien weder diskutieren noch um eine weiotere Theorie vermehren. Der Antisemitismus verstand sich als Reaktion auf die moderne Judenfrage'. Aber der Rekurs auf die Judenfrage' kann das Phänomen in keiner Weise zu­ reichend erklären. Soziologisch wie ideologisch ist der Antisemitismus eine Pro­ testbewegung gegen die Ideen von 1789, gegen die liberale Staats- und Gesell­ schaftsordnung und die mit ihr verbundene kapitalistische Ordnung. Die wirt­ schaftliche und soziale Krise nach dem Gründerkrach hatte in Deutschland den Boden für eine solche Bewegung bereitet. Hochkonservative und Teile des Zen­ trums hatten sie um 1875 zum Kampf gegen Bismarck und die Nationallibera­ len benutzt, ihre Zeit war schließlich gekommen, als sich 1878/79 die große in­ nenpolitische Wende in Deutschland vollzog. Denn die antisemitische Agitation von Treitschke über Stoecker bis zu Marr und Dühring galt mit ihren nationali­ stischen, kulturkritischen, monarchisch-konservativen, christlichen, antikapitali­ stischen oder antisozialistischen Argumenten den Juden als den exponierten Vertretern der „modernen" Entwicklung, des liberalen Systems. Die traditionel­ len Vorurteile gegen die Juden verflochten sich mit dem Kampf gegen den Libe­ ralismus. Lagarde z. B. meinte: „Juden und Liberale sind naturgemäß Bundes­ genossen, denn jene wie diese sind nicht Naturen, sondern Kunstprodukte: Wer nicht will, daß das Deutsche Reich der Tummelplatz der homuneuli werde, der muß gegen Juden und Liberale . . . Front machen."73 Über die katholische Agi­ tation von 1875 urteilte eine jüdische Zeitung: „Indem sie auf die Juden los­ schlagen, glauben sie, den ganzen modernen Staat, die ganze liberale Tendenz der Gesellschaft" zu treffen74. Und Ludwig Bamberger konstatierte 1880: „Der Angriff gegen die Juden ist nur eine Diversion im heutigen großen Feldzug ge­ gen den Liberalismus."75 Die deutschfreisinnige Partei und ihre Nachfolgerin­ nen schließlich hießen bei den Antisemiten nur die „Judenschutztruppe"76. Aber nicht nur in seiner konkreten politischen Frontstellung, sondern auch in seinem innersten Kern war der Antisemitismus eine antiliberale Bewegung. Es war kein Zufall, daß Treitschke 1879 in seinem ersten antisemitischen Artikel „gegen die weichliche Philanthropie unseres Zeitalters" polemisierte und fest­ stellen zu können glaubte, daß durch die Entwicklung der letzten Jahre „der naive Glaube an die unfehlbare sittliche Macht der Bildung" erschüttert sei und „Tausende zum Nachdenken über den Wert unserer Humanität und Aufklä­ rung gezwungen" worden seien77. Schon wenige Monate später polemisierte M. Busch im Namen der Selbsterhaltung der Völker „gegen doktrinäre ,Huma­ nität* und empfindsam angekränkelten Kosmopolitismus" und malte die Aus­ weisung aller Juden aus Deutschland aus78, zog H. Naudh gegen die Bildung und die Lehre von der grundsätzlichen Gleichheit der Menschen zu Felde79; und Lagarde erklärte bündig: „Mit der Humanität müssen wir brechen: denn nicht das allen Menschen Gemeinsame ist unsere eigenste Pflicht, sondern das nur uns Eignende ist es. Die Humanität ist unsere Schuld, die Individualität unsere Aufgabe."80 Angst und Sorge um die Nation und um die überlieferte Kultur, um die mon106 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

archische Verfassung und um die traditionelle Sozialordnung und den durch sie garantierten Status wurden die bestimmenden Faktoren. Demgegenüber erschien der selbstverständliche Wert der Gleichheit ebenso fragwürdig wie die Werte der Humanität und der Aufklärung und eine an diesen Werten orientierte Bil­ dung. Der Antisemitismus ist darum zugleich Symptom und Folge der Tatsache, daß die Wertvorstellungen der bürgerlich-liberalen Welt ihre Verbindlichkeit zu verlieren begannen, ist Symptom einer Krise der modernen Gesellschaft. Weit über den Rahmen des Parteipolitischen hinaus konnte der Antisemitismus des­ halb von Anfang an als eine Ideologie der Unzufriedenheit mit der modernen Gesellschaft und des Widerspruchs gegen ihre konstitutiven Prinzipien fungie­ ren. Trotz des Antiliberalismus ist der Antisemitismus keine konservative Bewe­ gung, so sehr er auch politisch den Konservativen zugute kam. Er enthielt we­ sentliche demokratisch-revolutionäre Elemente81, ist zugleich aber auch von vornherein eine ausgesprochen antisozialistische Bewegung. Der Antisemitismus muß darum als ein Phänomen sui generis angesehen werden. Der Antisemitismus ist nicht nur eine antiliberale, sondern zugleich auch eine nationalistische Bewegung. Treitschkes Forderung an die „israelitischen Mitbür­ ger" war, „sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche füh­ len", seine Erwartung richtete sich auf „ein gekräftigtes Nationalgefühl"82. Marr gab als Grund für die Macht der Juden an, daß „das Gefühl einer deut­ schen Nationalität, geschweige eines deutschen Nationalstolzes in den germa­ nischen Ländern nicht existierte"83, für Stoecker war das christlich-soziale Motiv ebenso integrierender Bestandteil seines Antisemitismus wie für Henrici und Böckel das deutsch-nationale84. Besonders deutlich ist das bei Lagarde ausge­ sprochen: „Ganz abgesehen von dem Inhalte des Judentums ist es unerwünscht, weil es fremd ist und durchaus als etwas Undeutsches und Widerdeutsches emp­ funden wird . . . Jeder uns lästige Jude ist ein schwerer Vorwurf gegen die Echt­ heit und Wahrhaftigkeit unsres Deutschtums . . . Je schärfer wir unseren C ha­ rakter als Nation . . . ausbilden, desto weniger Platz bleibt in Deutschland für die Juden . . . Deutschland muß voller deutscher Menschen und deutscher Art werden, so voll von sich wie ein Ei: dann ist für Palästina kein Raum in ihm."85 Mommsen nannte den „Feldzug der Antisemiten" 1880 die „Mißge­ burt des nationalen Gefühls" und sprach von einem „selbstmörderischen Trei­ ben des Nationalgefühls"86. Und Bamberger meinte: „Gerade der C ultus der Nationalität . . . artet leicht dahin aus, den Haß gegen andere Nationen zum Kennzeichen echter Gesinnung zu machen. Von diesem Haß gegen das Fremd­ artige jenseits der Grenze bis zum Haß gegen das, was sich etwa noch als fremd­ artig in der eigenen Heimat ausfindig machen läßt, ist nur ein Schritt."87 Die Unsicherheit des deutschen Nationalbewußtseins und das Bemühen, die Gewißheit der nationalen Identität ständig zu intensivieren, mündete zum Teil in den Antisemitismus: das noch Fremdartige des nicht voll assimilierten Juden­ tums, seine wirklichen und seine vermeintlichen internationalen Beziehungen wurden zu etwas Unerträglichem, ja, der „Jude" wurde zu einem Gegenbild 107 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

konstruiert, dem gegenüber erst die Nation - über alle Stammes-, Klassen- und Konfessionsgegensätze hinweg - mit sich selbst sollte identisch werden können. In diesem Sinne ist der Antisemitismus ein Symptom für die Loslösung des radi­ kalen und integralen Nationalismus von dem gemäßigten Nationalismus der Liberalen.

4. Entwicklungen im Kaiserreich Seit 1879/80 entstanden in Deutschland antisemitische Parteien und Samm­ lungsbewegungen. Das neue Schlagwort wurde jedoch außer in der „Antisemi­ ten-Liga" nur im „Deutschen Antisemitenbund" von 1884 aufs Panier geschrie­ ben; die antisemitischen Parteien verzichteten zunächst auf diese Etikettierung. Unabhängig vom jeweiligen Parteienamen wurden jedoch die Mitglieder dieser Parteien im allgemeinen nicht nur von Gegnern und Neutralen als „Antisemi­ ten" bezeichnet, sondern sie nannten sich - abgesehen von einem Teil von Stoeckers „C hristlich-Sozialer Partei" - auch selber so, und seit der Mitte der achtziger Jahre trat in der antisemitischen Bewegung dann auch offiziell der Be­ griff ,Antisemitismus' immer starker in den Vordergrund. 1885 gründete Th. Fritsch die „Antisemitische C orrespondenz", die seit Frühjahr 1888 als „C en­ tral-Organ der deutschen Antisemiten" erschien; 1886 wurde mit der „Deut­ schen Antisemitischen Vereinigung" ein provisorischer Dachverband geschaffen; 1887 ließ sich der hessische Antisemitenführer O. Böckel nach seiner Wahl in den Reichstag als erster Abgeordneter im Reichstagsalmanach als „Antisemit" eintragen88. „Wir deutschen Antisemiten" wurde zur geläufigen Wendung89, und Marr sprach sogar von seinen „lieben Mitantisemiten"90. 1891 wurde von liberalen Kreisen der „Verein zur Abwehr des Antisemitismus" gegründet. Unter den eigentlichen Antisemiten, für die der Antisemitismus das Zentral­ stück ihres politischen Programms war, gab es hinsichtlich der Organisation des Antisemitismus zwei Standpunkte. Für Böckel galt nur derjenige als Antisemit, der sich für die Aufhebung der Judenemanzipation und zugleich für wirtschaft­ liche und soziale antikapitalistische und antifeudale Reformen einsetzte91. Diese Bestimmung tendierte auf die Bildung einer fest abgegrenzten geschlossenen Partei. Dagegen vertrat Theodor Fritsch den Standpunkt, daß der Antisemitis­ mus in erster Linie als parteipolitisch nicht gebundene Weltanschauung interpre­ tiert werden müsse: es sei die Aufgabe der antisemitischen Bewegung, nicht eine besondere Partei zu bilden, sondern möglichst alle Parteien mit dem „antisemi­ tischen Gedanken" zu durchdringen92. Auf dem Bochumer „Deutschen Antise­ mitentag" von 1889 setzte sich zunächst der Gedanke der Antisemitenpartei durch, jedoch wurde der Begriff antisemitisch' als ausschließlich negativ kriti­ siert93. Die neue Partei wurde schließlich „Antisemitische deutsch-soziale Par­ tei" genannt. Ein Jahr später jedoch gründete Böckel eine „Antisemitische Volkspartei", und als 1890 fünf antisemitische Abgeordnete in den Reichstag ge108 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

wählt wurden »nannten sich vier von ihnen unter Böckeis Führung „Fraktion der Antisemiten"04; schon 1893 änderte aber auch Böckel den Namen seiner Partei in „Deutsche Reformpartei"95. Das Jahr 1893 brachte mit 2,9 % der Stimmen bei der Reichstagswahl und 16 Abgeordneten den Höhepunkt des parteipolitischen Antisemitismus älterer Prägung. Auch für die folgenden Jahre - bis zu den Wahlen von 1907 - las­ sen sich noch zahlreiche antisemitische Abgeordnete nennen, aber das eigentliche antisemitische Parteiwesen entwickelte sich stark rückläufig96. Ständige Partei­ spaltungen, die minimale Wirksamkeit im Reichstag, die geringe Integrität der Führer und vor allem die Wirtschaftsentwicklung, die auch dem kleinen Mittel­ stand die Anpassung an das industriell-kapitalistische System erlaubte - das waren die wesentlichen Gründe für den Rückgang der antisemitischen Parteien. Die antisemitischen Gruppen wurden zu sektenähnlichen Gebilden. Sie haben freilich gerade in dieser Sektenexistenz den Antisemitismus 1) zu einem umfas­ senden „System", das Erklärung und Lösung aller Weltprobleme bot, entwik­ kelt; sie haben ihn 2) in der Nachfolge der radikalen Antisemiten der Entste­ hungszeit endgültig mit der biologisch-deterministisch aufgefaßten, pseudowis­ senschaftlich gewordenen Rassenlehre verbunden; sie haben 3) seine Ziele radi­ kalisiert: an die Stelle der Zurückdrängung des jüdischen Einflusses und der Stellung der Juden unter Fremdenrecht traten mehr oder minder explizit die Forderungen nach Ausweisung oder Vernichtung der Juden97; sie haben 4) im Zuge der ansteigenden Klassenkämpfe die antisozialistische Komponente ihrer Ideologie verstärkt: neben den „jüdischen" Kapitalismus trat - im Anschluß an manche älteren Vorbilder, z. B. Dühring — gleichgewichtig der „jüdische" So­ zialismus, und zwischen beiden wurde eine imaginäre Einheit konstruiert. Th, Fritsch mit seiner Zeitschrift „Der Hammer" und seinem „Antisemitenkatechis­ mus"98 kann als Exponent dieser Gruppe gelten. Von diesem sektiererischen Antisemitismus distanzierte sich die überwiegende Mehrheit des deutschen Bürgertums. Der Begriff Antisemitismus' hatte als Name und Schlagwort jener Richtungen im Bürgertum keinen guten Klang; die extremsten Formen des Antisemitismus waren als „Radauantisemitismus" dis­ qualifiziert. Wichtiger als Parteien und Sekten wurde für den Antisemitismus eine Reihe von Verbänden, in denen sich der Antisemitismus mit mittelständi­ scher Wirtschafts- und Sozialpolitik oder mit Nationalismus und Imperialismus verband: die 1893 gegründete mächtige Interessenvertretung der deutschen Landwirtschaft, der „Bund der Landwirte", der zumal in seiner Dorfagitation und in seiner Publizistik ausgesprochen antisemitisch war; die wichtigste Ge­ werkschaftsorganisation der Angestellten, der 1893/95 von Parteiantisemiten gegründete „Deutschnationale Handlungsgehilfenverband"99, der weniger in der Propaganda als dadurch, daß er keine Juden aufnahm, antisemitisch orien­ tiert blieb; die „Vereine deutscher Studenten", die sich im Zusammenhang mit der Antisemitenpetition gebildet hatten; und schließlich der „Alldeutsche Ver­ band", der, nachdem der aus dem völkisch-antisemitischen Deutschbund hervor­ gegangene H. C lass 1908 den Vorsitz übernommen hatte, sich immer eindeuti109 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

ger zum Antisemitismus bekannte. Auch ein Teil der Korporationen und Bur­ schenschaften ging mehr oder minder offen zum Antisemitismus über. Der feu­ dal und traditionell bestimmte Antisemitismus des Offizierskorps wirkte über das Institut des Reserveoffiziers gerade auf die jüngere nationalistische Intelli­ genz und verstärkte die Tendenz zur antisemitischen Ideologie100. Für die Ausbreitung einer den Antisemitismus begünstigenden Haltung wa­ ren sodann bestimmte ideologische Entwicklungen wichtig. Die Kulturkritik von Lagarde und Langbehn, die das Unbehagen an der Moderne mit antisemitischem Einschlag formulierte, fand um die Jahrhundertwende große Resonanz101. Rassetheorien - im Anschluß an die Rezeption und Übersetzung Gobineaus durch den Lagarde-Schüler L. Schemann102 und die Vorstellungen des Sozial­ darwinismus - fanden popularisiert Eingang in die allgemeine Bildung; der große Erfolg des aus dem Bayreuther Wagnerkreis hervorgegangenen H. St. Chamberlain mit seinem Buch „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" (1899) ist dafür symptomatisch. Nationalistische, mittelständische, kulturkritische und antiliberale Tendenzen verbanden sich in dieser Situation immer stärker mit rasseantisemitischen Gedanken. Die Rassetheorien fixierten endgültig den biolo­ gischen Sinn des Begriffs ,Rassec und erhoben ihn zum obersten Erklärungsprin­ zip der geschichtlichen Welt: der Begriff der Rasse wurde historisiert undideo­ logisiert, ehe er politisiert wurde. Mit der Historisierung des Rassebegriffs voll­ endete sich die Naturalisierung der politisch-sozialen Welt. Das Volk war nicht mehr religiös konstituiert, seine Eigenart war nicht mehr durch Geschichte, Spra­ che und Kultur bedingt, sondern durch die Rasse bestimmt: ,Volk' hörte auf, ein geschichtlicher Begriff zu sein, wurde zum bloßen Naturbestand. Damit aber wurde jede Assimilation, an die noch Treitschke geglaubt hatte, unmöglich: die Abkehr vom Liberalismus wurde zur Abkehr von der europäischen und christ­ lichen Tradition, wenn die Entwicklung des Menschen aus individuellem Willen gegenüber dem Faktor Blut und Rasse kaum noch Bedeutung hatte. Verbände einerseits und kultur- und zeitkritische Theorien andererseits ha­ ben antisemitische Vorstellungen in größeren Teilen der Gesellschaft, wenn auch zumeist in abgeschwächter Form, virulent gemacht. Auch wo solche Vorstellun­ gen nicht akzeptiert wurden, galten sie vielfach doch als mögliche, nicht illegi­ time Positionen, denen man nicht mehr grundsätzlich Widerstand leistete. Schließlich breitete sich darüber hinaus auch ein „latenter", nicht weiter theore­ tisch expliziter Antisemitismus aus, etwas, was F. Naumann als „antisemitische Gesellschaftsstimmung" charakterisierte103, also die Beibehaltung und Fixie­ rung oder die Erneuerung antijüdischer Vorurteile, die ihre potentielle Recht­ fertigung in jenen antisemitischen Theorien hatten. Selbst bei den liberalen Par­ teien dieser Zeit lassen sich antisemitische Stimmungen und Rücksichten auf an­ tisemitische Wähler nachweisen104. Die Haltung der Sozialdemokratie gegenüber dem Antisemitismus blieb zu­ nächst schwankend. Zwar lehnte F. Engels 1890 den Antisemitismus „als eine Reaktion mittelalterlicher, untergehender Gesellschaftsschichten gegen die mo­ derne Gesellschaft ab"105, gleichzeitig aber schrieb F. Mehring in der „Neuen

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Zeit": „Über den Brutalitäten, welche der Antisemitismus, mehr in Worten als in Taten, gegen die Juden begeht, darf man die Brutalitäten nicht übersehen, welche der Philosemitismus, mehr in Taten als in Worten, gegen jeden begeht, der, sei er nun Jude oder Türke, C hrist oder Heide, dem Kapitalismus wider­ strebt."108 Man wandte sich einerseits gegen die Antisemiten als „die Vertreter der Antikultur" (W. Liebknecht)107, glaubte aber andererseits: „Ja, die Herren Antisemiten ackern und säen, und wir Sozialdemokraten werden ernten. Ihre Erfolge sind uns also keineswegs unwillkommen."108 In diesen Zusammenhang gehört auch der zu Unrecht A. Bebel zugeschriebene, wohl aus Österreich stam­ mende Satz: „Der Antisemitismus ist der Sozialismus des dummen Kerls."109 Auf dem Parteitag von 1893 erst nahm die Partei endgültig und eindeutig ab­ lehnend zum Antisemitismus Stellung, und in der Praxis erwies sich dann die sozialistisch organisierte Arbeiterschaft als die einzige große Bevölkerungs­ schicht, die dem Antisemitismus gegenüber fast vollständig immun war. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte sich die Situation äußerlich be­ ruhigt: die radikalen Antisemitenparteien waren verschwunden, die wilden Ver­ sammlungen und Pressekampagnen hatten aufgehört, der Grundsatz der gesetz­ lichen Gleichberechtigung war trotz mancher gesellschaftlichen Diskriminierung zu keiner Zeit ernsthaft gefährdet worden. Gleichwohl war der Antisemitismus auf lange Sicht nicht ohne Wirkung geblieben: ein latenter Antisemitismus war weit verbreitet, und große Teile der wilhelminischen Gesellschaft hatten Be­ standteile des „antisemitischen Gedankens" in ihr Weltbild aufgenommen. Die­ ser Antisemitismus hatte keine bestimmte Zielsetzung, kein konkretes Pro­ gramm, keine praktischen Konsequenzen, aber er war eine mögliche und mit an­ deren Positionen kombinierbare „weltanschauliche" Position geworden. Die Be­ ziehung auf die ,Judenfrage1 hatte sich bei diesem „weltanschaulichen" Antise­ mitismus gelockert; er wurde deshalb auch durch die tatsächliche Entwicklung der Judenfrage*, die fortschreitende Assimilation der Juden, nur wenig beein­ flußt.

5. Der Begriff ,Antisemitismus' im Nationalsozialismus Diese Situation änderte sich mit der Niederlage Deutschlands im Ersten Welt­ krieg und der Revolution: der latente Antisemitismus wurde - im Zeichen der Suche nach einem „Sündenbock" - aktuell. Der Antisemitismus bestimmte die Agitation radikal nationalistischer Gruppen, die ihre Schlagworte aus dem Ar­ senal der älteren antisemitischen Literatur entnahmen, ohne ihrerseits neuex Ele­ mente hinzuzufügen, und diese Agitation fand breite Resonanz. Entscheidend für die weitere Entwicklung wurde die Verbindung von Antisemitismus und Nationalsozialismus. Hitler, der unter dem Eindruck des österreichischen Anti­ semitismus eines Lueger und Schönerer vom „schwächlichen Weltbürger zum fa­ natischen Antisemiten" geworden war110, wollte den epigonalen Antisemitis-

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mus seiner politischen Gesinnungsgenossen in einen „planmäßigen Antisemitis­ mus" verwandeln111. Das gelang ihm in dreifacher Hinsicht: 1. Hitler hat die Theorie des Antisemitismus konsequent systematisiert. Dem „älteren Scheinan­ tisemitismus, der fast schlimmer war als überhaupt keiner", wurde von Hitler ein „wissenschaftlicher Antisemitismus" entgegengestellt112. Seine ,Wissenschaft­ lichkeit* wurde gesichert durch den Einbau in eine radikale Rassentheorie mit universalem Anspruch. Die Rassentheorie wurde zur einzigen Basis des Antise­ mitismus gemacht. 2. Der Antisemitismus der nationalsozialistischen Politik sollte nicht mehr „weltanschaulich" unverbindlich sein, sondern er sollte sich auszeichnen durch Konsequenz und Praxis, d. h. „auf die Entfernung der Juden überhaupt zielen"113. 3. Schließlich gab Hitler dem Antisemitismus einen an­ deren und neuen Stellenwert, indem er die „Judenfrage" ins Zentrum seines Kampfes rückte. Er versuchte gerade mit dem Antisemitismus dem „deutschen Volk in dieser Frage den großen, einigenden Kampfgedanken zu schenken"114. Der Jude wurde zum wichtigsten Antisymbol der nationalsozialistischen Pro­ paganda, in der nun die verschiedenen Stoßrichtungen eines nationalen, wirt­ schaftlichen, kulturellen und biologischen Antisemitismus und alle Unzufrieden­ heiten mit dem liberal-demokratischen System gebündelt wurden. In diesem Sinne hat dann, wie Hitler darlegte, „die nationalsozialistische Bewegung die Judenfrage ganz anders vorwärtsgetrieben. Sie hat es vor allem fertiggebracht, dieses Problem aus dem engbegrenzten Kreise oberer und kleinbürgerlicher Schichten herauszuheben und zum treibenden Motiv einer großen Volksbewe­ gung umzuwandeln"115. Der Antisemitismus wurde zum Bestandteil eines umfassenden politischen Konzepts. Dabei richtete Hitler seinen Antisemitismus nicht nur gegen das deut­ sche Judentum, sondern gegen das „internationale Judentum", gegen „Juda" bzw. „Alljuda": der Antisemitismus bekam im Nationalsozialismus eine welt­ geschichtliche Dimension im Sinne eines manichäischen Weltbildes. Obgleich nach der Machtergreifung Hitlers zunächst in Deutschland und wäh­ rend des Krieges dann im größten Teil Europas dieser Antisemitismus skrupel­ los in die Praxis umgesetzt wurde, geriet der Begriff ,Antisemitismus' über­ raschenderweise in Mißkredit. 1935 gab das Reichspropagandaministerium eine Anweisung an die deutsche Presse: „Das Propagandaministerium bittet, in der Judenfrage das Wort antisemitisch oder Antisemitismus zu vermeiden, weil die deutsche Politik sich nur gegen die Juden, nicht aber gegen die Semiten schlecht­ hin richtet. Es soll stattdessen das Wort antijüdisch gebraucht werden."116 Das war eine eindeutige, mit außenpolitischen Rücksichten begründete „Sprachrege­ lung", der noch im gleichen Jahr die Anweisung, „arisch" durch „deutschblütig" zu ersetzen, parallel ging117. Ganz unerwartet kam diese Maßnahme nicht, und sie hatte auch nicht nur außenpolitische Gründe: in der Propaganda der sog. „Kampfzeit" der NSDAP, in den Äußerungen Hitlers und schließlich in den offiziellen Verlautbarungen des „Dritten Reiches" war ebenso wie im internen Sprachgebrauch der Nationalsozialisten selten von „Semiten", vielmehr fast im­ mer von „Juden" die Rede. Auch die Begriffe ,Antisemitismus' und ,antisemi112 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

tisch', die in den politischen Auseinandersetzungen der Zeit jedermann geläufig waren, waren im Sprachgebrauch der Nationalsozialisten seltener, als man ver­ muten würde. Der ,Antisemitismus' als „Weltanschauung" war ein integrieren­ der Bestandteil der nationalsozialistischen „Weltanschauung" geworden, der Antisemitismus' als politische Bewegung war in der nationalsozialistischen „Be­ wegung" aufgegangen: wer Nationalsozialist war, war in der Regel auch Anti­ semit, aber er hatte keinen Grund mehr, sich besonders als solchen zu bezeich­ nen. 1944 machte man schließlich im „Handbuch der Judenfrage" — dem alten „Antisemitenkatechismus" Fritschs — noch den vergeblichen Versuch, das „un­ zutreffende Schlagwort" »Antisemitismus' durch den Begriff „Antijudaismus" zu ersetzen118. Im Zusammenhang mit der Vernichtung des deutschen und europäischen Ju­ dentums, der furchtbaren „Realisierung" des radikalen rassischen Antisemitis­ mus, spielte deshalb die Vokabel Antisemitismus' keine oder nur eine neben­ sächliche Rolle: man sprach vom „Kampf oder von „Aktionen gegen die Ju­ den", von einer „Endlösung der Judenfrage", von „Sonderbehandlung" usw.119. Der Begriff Antisemitismus' war zwar nicht völlig außer Gebrauch - selbst Hitler verwandte ihn noch während des Krieges gelegentlich in seinen „Tischge­ sprächen"120 -, aber er wurde angesichts eines systematischen Massenmordens objektiv unbrauchbar. Daneben findet sich aber auch der in seiner Tendenz durchsichtige Versuch, Antisemitismus und „Endlösung" voneinander zu tren­ nen. So schrieb z. B. Höss, der Kommandant von Auschwitz, in den Aufzeich­ nungen aus der Zeit der Gefangenschaft: „Heute sehe ich auch ein, daß die Ju­ denvernichtung falsch, grundfalsch war. Gerade durch diese Massenvernichtung hat sich Deutschland den Haß der ganzen Welt zugezogen. Dem Antisemitismus war damit gar nicht gedient, im Gegenteil, das Judentum ist dadurch seinem Endziel viel naher gekommen."121 ,Antisemitismus' war für Höss definiert als Kampf gegen die Vorherrschaft des Judentums: die Massenvernichtungen hat­ ten sich nach seiner Interpretation lediglich als ein untaugliches Mittel in diesem Kampf erwiesen, sie sagten daher nichts aus über die Richtigkeit und Zuverläs­ sigkeit des Antisemitismus.

Ausblick Das Wort Antisemitismus' ist nach 1945 in Deutschland zweifellos häufiger gebraucht worden als in den zwölf Jahren vorher. Wissenschaft, Publizistik und Pädagogik haben den Antisemitismus als ein Schlüsselphänomen analysiert. Da­ bei ist die Bedeutung des Begriffs Antisemitismus' außerordentlich erweitert worden: er meint nicht mehr nur die antijüdische Bewegung seit dem ausgehen­ den 19. Jahrhundert - die man nun meist als „modernen Antisemitismus" be­ zeichnet -, sondern alle judenfeindlichen Äußerungen, Strömungen und Bewe­ gungen in der Geschichte. Antisemitismus ist so zu einem „Synonym für eine un113 8

Rürup

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freundliche oder feindselige Haltung den Juden gegenüber" geworden122. Ver­ suche, die ältere, nicht rassisch bestimmte Judenfeindschaft als Antijudaismus' oder ,Antimosaismus' vom modernen Antisemitismus abzusetzen, sind praktisch erfolglos geblieben: im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich der Begriff ,Anti­ semitismus* in seinem weitesten Sinne im wesentlichen durchgesetzt. Auch die Wissenschaft wird diesen Sprachgebrauch berücksichtigen müssen; für ein ange­ messenes historisches Verständnis des Phänomens Antisemitismus' kann sie je­ doch auf den älteren, engeren Begriff nicht verzichten123.

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V. Zur Entwicklung der modernen Antisemitismusforschung" 1, Antisemitismus: Begriff und Sache Inhalt und Bedeutung des 1879 in Deutschland geprägten und von dort in andere Sprachen übernommenen Begriffs „Antisemitismus" sind nicht ganz ein­ deutig. Zu unterscheiden sind ein engerer und ein weiterer Antisemitismus-Be­ griff: während der weitere Begriff unabhängig von den jeweiligen Ursachen, Formen und Funktionen jegliche Judenfeindschaft im Laufe der Geschichte umfaßt, bezeichnet der engere Begriff eine ganz bestimmte, historisch und sy­ stematisch von der älteren Judenfeindschaft deutlich unterscheidbare Doktrin und Bewegung im 19. und 20. Jahrhundert. Versuche einer klaren sprachlichen Differenzierung (z. B. „Antijudaismus" für die ältere Judenfeindschaft) sind bisher erfolglos geblieben; um den Antisemitismus im engeren Sinne zu be­ zeichnen, bedient man sich daher in der Regel des Terminus „moderner Antise­ mitismus". Eine ablehnende oder feindliche Haltung der nichtjüdischen Umwelt gegen­ über dem ,auserwählten Volk' ist spätestens im Zeitalter des Hellenismus nach­ weisbar; sie fand ihren Niederschlag auch in der römischen Literatur vor und nach der Zerstörung des jüdischen Staates, und sie bestimmte schließlich die jü­ dische Existenz in der abendländisch-christlichen Welt (weniger dagegen in den vom Islam beherrschten Gebieten) bis in das Zeitalter der bürgerlichen Revolu­ tion (vgl. die informativen Überblicke über die Judenfeindschaft in einzelnen Ländern und Zeitaltern in den großen jüdischen Enzyklopädien1). Die Äuße­ rungen der Ablehnung oder Feindseligkeit wechselten: sie reichten von der rechtlichen und sozialen Unterprivilegierung bis zu offenem Haß und bluti­ gen Verfolgungen. Die Ursachen dafür waren religiöser, später auch wirt­ schaftlicher Art, verschärft durch den permanenten und damit einzigartigen Minderheitenstatus der Juden, der zugleich Beweis für die Unmöglichkeit einer sozialen Integration zu sein schien. Eine qualitative Änderung im Verhältnis der nichtjüdischen Umwelt zu den Juden begann im späten 18. Jh. in Europa und Nordamerika: mit der Idee der Emanzipation war erstmalig die Möglichkeit einer positiven Lösung der Juden­ frage' gegeben. Bis etwa 1870 wurde in Europa, mit Ausnahme Rußlands und Teilen Südosteuropas, die rechtliche Gleichstellung der Juden (mit dem Ziel ei­ ner Integration durch Assimilation) durchgesetzt. Die traditionelle Judenfeind­ schaft verlor an Bedeutung, an ihrer Stelle entwickelte sich nunmehr der mo­ derne Antisemitismus, der „Antisemitismus im Zeitalter der Industrialisierung" (H. Rosenberg). Dieser Antisemitismus richtete sich gegen die rechtliche und soziale Gleichstellung der jüdischen Minorität, sein unmittelbares Ziel war die 115 8*

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Verhinderung oder Aufhebung der Emanzipation, wobei die Judenfrage' zu einem Kernproblem des politischen und sozialen Lebens hypostasiert wurde. Die Juden wurden nun prinzipiell für ein nicht assimilierbares Element in Staat, Gesellschaft und Kultur erklärt, von dem eine schädliche Wirkung auf die nichtjüdische Umwelt ausgehe. Für den modernen Antisemitismus kann man daher definieren: „Antisemit ist, wer den Juden die Fähigkeit zur natio­ nalen und kulturellen Strukturzugehörigkeit abspricht, ihre kulturelle, soziale, religiöse und moralische Minderwertigkeit behauptet und dabei im Wirken des Judentums eine Schädigung nationaler und ethnischer Strukturen erblickt, woraus sich die Bekämpfung des Judentums ableitet."2 Der moderne Antisemitismus entstand in einer historischen Situation in Mittel­ europa, die bestimmt war durch die Industrielle Revolution mit ihren politischen und sozialen Folgen. Die eigentliche Entstehungsphase ist durch die 1873 einset­ zende Wirtschaftskrise und den damit zusammenhängenden Zusammenbruch des Liberalismus in Deutschland bezeichnet. Der Antisemitismus gehört in den Zusammenhang der antiliberalen Protestbewegungen, die in Deutschland am frühsten und schärfsten auftraten, aber bald auch andere Länder erfaßten. An­ tisemitische Bewegungen modernen Typs wurden außer im Deutschen Reich zunächst vor allem in Österreich und Ungarn, gegen Ende des Jahrhunderts auch in Frankreich (Dreyfus-Affaire) virulent, während die gleichzeitigen Po­ grome in Rußland noch in den Zusammenhang der älteren, vorindustriellen Ju­ denfeindschaft gehörten. Deutschland ist nicht nur das Ursprungsland des mo­ dernen Antisemitismus, sondern es war auch weiterhin entscheidend für die Ausbildung einer antisemitischen Doktrin, die sich auf eine pseudowissenschaft­ liche Rassenlehre stützte und auf dieser Basis eine manichäische Weltdeutung unternahm. Erfolge im Sinne einer vollständigen oder teilweisen Zurücknahme der Emanzipation blieben der antisemitischen Bewegung in Europa zunächst ver­ sagt; es gelang ihr jedoch, erneut eine ,Judenfrage' zu schaffen, die wenige Jahre zuvor durch die Emanzipation endgültig gelöst zu sein schien. Krieg und Niederlage schufen nach 1918 in Deutschland und Österreich, teilweise auch in den neuen ostmitteleuropäischen Staaten, die Voraussetzung für eine verschärf­ te antisemitische Agitation. Der ,völkische' Antisemitismus der Nationalsoziali­ sten wurde zum Kernstück ihrer politischen Propaganda. Mit der ,Machter­ greifung' in Deutschland 1933 änderte der Antisemitismus noch einmal seinen Charakter. Er wurde zur Herrschafts- und Integrationsideologie des national­ sozialistischen Systems und mündete schließlich in einen bis dahin unvorstellba­ ren „Vernichtungsantisemitismus" (A. Silbermann), der eine „Endlösung" im Genocid suchte. War der bürgerliche Antisemitismus eine diffuse Protestideo­ logie gewesen, die durch den Kampf gegen die Juden Entwicklungstendenzen und -kräfte der modernen Gesellschaft zu treffen versuchte, so wurde der fa­ schistische Antisemitismus (der in dieser Form allerdings nur in Deutschland ausgebildet wurde) zu einem Instrument totaler Herrschaft über Juden wie Nichtjuden, indem die manichäische Interpretation der Welt in praktische Poli116 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

tik und Herrschaft und schließlich in die planmäßige Vernichtung von Millionen Juden umgesetzt wurde. Nach 1945 bestand für kurze Zeit die Hoffnung, daß die Niederlage des Fa­ schismus und das Entsetzen über die Vernichtungslager ein Überleben des Anti­ semitismus, in welcher Form auch immer, unmöglich machen würden. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Zwar sind die Widerstandskräfte gegen den Antisemitismus gewachsen, aber seine Bekämpfung und Überwindung bleibt auch weiterhin eine Aufgabe.

2. Marxistische Positionen 2.1. Die sozialistische Arbeiterbewegung

Ausgangs- und Richtpunkt der marxistischen Antisemitismusinterpretation ist die Abhandlung des jungen Marx von 1843 „Zur Judenfrage". Hier gelang es Marx, über die Kritik der Judenfrage' erstmalig zu einer prinzipiellen Kri­ tik der bürgerlichen Gesellschaft durchzustoßen. Ohne die Notwendigkeit ei­ ner Emanzipation der Juden zu leugnen, bestritt er die Möglichkeit ihrer Ver­ wirklichung auf dem Boden der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse. Er versuchte statt dessen zu zeigen, daß eine Gesellschaft geschaffen werden müsse, in der eine Judenfrage' nicht mehr möglich sei. Dabei glaubte er nachweisen zu können, daß das kapitalistische System identisch mit einem „Judentum" sei, das sich nicht mehr auf Religion, sondern auf „Geld" und „Schacher" gründe. Auf Grund dieser Identifikation formulierte er schließlich seine zentrale The­ se: „Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum" - d. h. vom Privateigentum, von der konsum­ tiven Bedeutung von „Geld" und „Schacher" für die moderne Gesellschaft3. Die Judenfrage 1 hatte für Marx jedoch nicht den C harakter eines selbständi­ gen Problems; es ist daher auch kein Zufall, daß er in seinen späteren Arbeiten nicht mehr auf sie zurückgekommen ist. Keineswegs einheitlich ist die Stellungnahme zu Judenfrage' und Antise­ mitismus in der internationalen sozialistischen Bewegung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Der Zusammenhang zwischen Kapitalismus und modernem Judentum und die exponierte Stellung zahlreicher Juden in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung forderten zur Kritik heraus, die vielfach nicht nur antika­ pitalistisch, sondern auch antijüdisch akzentuiert war. E. Silberner hat daher geglaubt, in seiner allerdings nicht immer überzeugenden Studie „Sozialisten zur Judenfrage" „das Bestehen einer langanhaltenden antisemitischen Tradition im modernen Sozialismus" nachweisen zu können4 - beginnend mit Fourier und Proudhon, über führende deutsche, österreichische und belgische Sozialisten bis hin zu rassenantisemitischen Vorstellungen bei französischen Sozialisten des spä­ ten 19. Jahrhunderts. 117 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

In der sozialistischen Arbeiterbewegung bestand zunächst, ungeachtet einer ge­ nerellen Ablehnung des Antisemitismus, eine Unsicherheit in der politischen Beurteilung der antisemitischen Bewegung seit dem Ende der siebziger Jahre. Man erkannte die wirtschaftlichen und sozialen Ursachen dieser Bewegung und interpretierte sie als eine antikapitalistische Strömung, die zwar auf einer fal­ schen theoretischen Analyse beruhe, aber reale gesellschaftliche Konflikte wi­ derspiegele und daher objektiv revolutionierend wirken werde. Diese Auffas­ sung wurde u. a. in Österreich von V. Adler, in Frankreich von B. Lazare, in Deutschland von A. Bebel vertreten, sie verdichtete sich schließlich in der (ver­ mutlich von F. Kronawetter geprägten) Formel vom Antisemitismus als dem „Sozialismus des dummen Kerls"5. Während F.Engels 1890 den Antisemitis­ mus als „eine Reaktion mittelalterlicher, untergehender Gesellschaftsschichten gegen die moderne Gesellschaft" verurteilte8, warnte F. Mehring gleichzeitig vor dem liberalen Philosemitismus, der „um kein Haar besser" sei als der Anti­ semitismus: „Wenn dieser den Kapitalismus zu bekämpfen behauptet, indem er die Juden verfolgt, so behauptet jener, die Juden zu schützen, indem er den Kapitalismus durch dick und dünn verteidigt."7 Die Auseinandersetzungen um den Antisemitismus wurden als eine innerka­ pitalistische Angelegenheit interpretiert, durch die sich die revolutionäre Ar­ beiterbewegung nicht in ihrer eigentlichen Zielsetzung beirren lassen dürfe. Eine Resolution in diesem Sinne wurde 1891 in Brüssel von der II. Internationalen verabschiedet. Auch die deutsche Sozialdemokratie lehnte es ab, „ihre Kräfte im Kampf gegen die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung durch fal­ sche und darum wirkungslos werdende Kämpfe gegen eine Erscheinung zu zersplittern, die mit der bürgerlichen Gesellschaft steht und fallt" 8 . Zugleich wurde jedoch in Bebeis Parteitagsrede - die neben Marx' Aufsatz „Zur Ju­ denfrage" zum zweiten klassischen Text in der marxistischen Antisemitismusdis­ kussion wurde - eine zusammenfassende Analyse vorgenommen und eine ent­ schiedene Verurteilung des Antisemitismus ausgesprochen. Mit diesem Doku­ ment war die theoretische Auseinandersetzung der revolutionären Arbeiterbe­ wegung mit dem Antisemitismus praktisch abgeschlossen. Auch von Lenin und der bolschewistischen Partei wurde diese Auffassung in allen wesentlichen Punkten geteilt. Antisemitische Bestrebungen und Pogrome wurden entschieden verurteilt, die antijüdischen Traditionen in Rußland und deren teilweise erneute Entfesselung in der Revolution erschienen Lenin als eine ernste politische Gefahr9. Nach 1920 begann in der Sowjetunion eine in­ tensive Aufklärungsarbeit zur Überwindung antisemitischer Traditionen, die allerdings nicht konsequent durchgehalten wurde. Theoretisch wird bis heute in der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten der Antisemitismus entschieden verurteilt; dennoch sind antisemitische Ressentiments auch in die­ sen Staaten nicht verschwunden und durch „antizionistische" Bewegungen seit der Gründung des Staates Israel teilweise wieder aktualisiert worden.

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2.2. Die marxistisch-leninistische Wissenschaft Es entspricht dieser allgemeinen theoretischen Position, daß die marxistisch­ leninistische Wissenschaft den Problemen des Antisemitismus bis heute nur ge­ ringe Aufmerksamkeit gewidmet hat. Die Antisemitismusforschung gilt nicht als dringlich; man begnügt sich mit den als richtungweisend akzeptierten Auf­ sätzen von Marx und Bebel, ergänzt durch einige wenige ältere Studien von K. Kautsky, F. Kahn und O. Heller und einzelne Beiträge von DDR-Wissen­ schaftlern (H. Görschier, W. Heise, D. Fricke).) Im Vordergrund des wissen­ schaftlichen Interesses steht allein die Frage nach der Funktion des Antisemitis­ mus im Klassenkampf. Der Begriff „Antisemitismus" wird weit gefaßt: der manipulative C harakter des Antisemitismus im Interesse der jeweils herrschen­ den Klasse wird auch für die vorindustrielle Zeit konstatiert. Besondere Be­ deutung wird der „historischen Kontinuität in der Entwicklung der antisemi­ tischen Theorie und Praxis" beigemessen: sie wird erklärt durch die Kontinui­ tät der Ausbeuterordnung, die gesellschaftliche Mißstände produziert, deren wahre Ursachen jedoch zu verschleiern gezwungen ist10. Antisemitismus kann daher rein funktional definiert werden als „feindliche Einstellung, Hetze gegen Juden, die der Ablenkung der Volkmassen von den Mißständen der Ausbeuter­ ordnung dient"11. Wesen und Funktion des Antisemitismus sind jeweils historisch konkret zu bestimmen: „Der C harakter des Antisemitismus wird von den ökonomischen und politischen Zielen der Ausbeuterklassen, von der Stärke der Klassenkräfte und der davon abhängigen Form und Härte des Klassenkampfes bestimmt."12 Mit Marx und Bebel wird dem Antisemitismus die Qualität eines selbständigen Problems bestritten: „Es gibt keinen Antisemitismus schlechthin, sondern im­ mer nur als eine Seite der Herrschaftsmethoden der herrschenden Klasse."13 Der Aufgabe, C harakter und Funktion des Antisemitismus in der jeweiligen hi­ storischen Situation genau zu analysieren, hat sich die kommunistische Ge­ schichtswissenschaft bisher jedoch nicht unterzogen. Sie beruhigt sich vorläufig bei relativ allgemeinen Aussagen, z. B. der Unterscheidung zwischen einem an­ tiliberalen und antikapitalistischen Antisemitismus der vorimperialistischen Zeit und einem in erster Linie antisozialistisch akzentuierten Antisemitismus im Zeitalter des Imperialismus. Auch die Funktion des Antisemitismus im Faschismus und der Zusammen­ hang zwischen Antisemitismus und Völkermord sind bisher nur selten reflek­ tiert und noch gar nicht gründlich untersucht worden. Man hat erkannt, daß die demagogische Funktion des Antisemitismus in der nationalsozialistischen Agitation noch nicht die Praxis der Volksausrottung zu erklären vermag: der Antisemitismus diente nicht nur der „Ablenkungs- und Aufputschungsdemago­ gie"14, auch nicht nur der Stabilisierung des Herrschaftssystems im Innern durch Terror, sondern er war zugleich integraler Bestandteil der imperialisti­ schen Expansionspolitik. Das „System der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen" und das „System der Ausrottung des Menschen durch den Men-

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sehen" werden als zwei Seiten der gleichen kapitalistischen Ordnung betrach­ tet15. Die „Endlösung" ist daher nur im Gesamtzusammenhang der nationalso­ zialistischen Eroberungs- und Versklavungspolitik zu verstehen: die Juden wa­ ren nur das erste Opfer in einem System, das „einer Sphäre willkürlicher Ver­ nichtung als Herrschaftsinstrument" bedurfte16. Fragen nach den subjektiven Motiven der Antisemiten, nach der Funktion des Antisemitismus für den Antisemiten liegen außerhalb des Interessenbereichs der kommunistischen Wissenschaft. Die Aufgabe, einen besonderen Beitrag zur Überwindung des Antisemitismus zu leisten, stellt sich dieser Wissenschaft nicht. Die These, daß der Antisemitismus zugleich mit dem Kapitalismus ver­ schwindet, laßt jede isolierte Bemühung sinnlos und überflüssig erscheinen. Einzig L. Kolakowski hat 1956 darauf aufmerksam gemacht, daß der Antise­ mitismus eine Gefahr auch innerhalb einer sozialistischen Gesellschaft darstel­ len kann, daß die Überwindung überlieferter antisemitischer Vorurteile daher eine Aufgabe auch der sozialistischen Erziehung sein muß17.

3. Bürgerliche' Antisemitismusforschung 3,1. Allgemeine Forschungsentwicklung Die ersten Versuche einer kritischen Theorie der älteren Judenfeindschaft, ihrer Ursachen, Erscheinungsformen und Wirkungen, entstanden im späten 18. Jahrhundert (C . W. Dohm, Grégoire, Mirabeau). Gegen die bis dahin prak­ tisch unbezweifelte Auffassung, daß die Ursache der überlieferten Judenfeind­ schaft bei den Juden selbst zu suchen sei, stellte man nun die These, daß die Juden als ein Produkt ihrer Geschichte, d. h. als ein Produkt des Hasses, der Verfolgung und der Unterdrückung zu betrachten seien. In der Umkehrung des Kausalitätsverhältnisses zwischen Juden und Judenfeindschaft wurde die Möglichkeit einer Lösung der Judenfrage 4 durch „Emanzipation", d. h, durch eine positive Änderung der sozialen Bedingungen jüdischer Existenz, entwik­ keit. Ein knappes Jahrhundert lang, bis zum Abschluß der Judenemanzipation in West- und Mitteleuropa, blieb diese Theorie dominierend. Erst in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstand eine antisemitische Theorie, die sich jener emanzipatorischen Theorie radikal entgegenstellte und unter Aufnahme rassen­ theoretischer Elemente eine dualistische Weltanschauung konstruierte, in der das Judentum schlechthin zum Prinzip des Bösen in der Weltgeschichte erklärt wurde (W, Marr, E. Dühring). Diese Doktrin und die zugleich in Mitteleuropa entstehende (im einzelnen sehr unterschiedlich geprägte) antisemitische Bewe­ gung stellten nicht nur eine politische, sondern auch eine wissenschaftliche Herausforderung dar. Den ersten politischen Analysen (L. Bamberger, Th. Mommsen u. a.) folgten ernsthafte Versuche einer theoretischen Durchdrin120 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

gung des neuen Phänomens jedoch erst in den neunziger Jahren (A. Leroy-Beau­ lieu, B. Lazare, H. Bahr; gleichzeitig also mit der Ausbildung der sozialisti­ schen Antisemitismustheorie und der Entwicklung der zionistischen Position). Die in zahlreichen europäischen Ländern nach dem Ersten Weltkrieg zu be­ obachtende Verschärfung der antisemitischen Agitation und die Entwicklung eines neuen völkischen' Antisemitismus gaben den Anstoß zu ersten Versuchen der Analyse mit neuen wissenschaftlichen Methoden: Gruppensoziologie (F. Bernstein), Sozialpsychologie (A. Zweig), Organisationsgeschichte (K. Wawrzinek), hinzu kamen Ansätze zu einer psychoanalytischen Interpreta­ tion und der Versuch einer zusammenfassenden Deutung durch H. Valentin (1936). Mit dem Beginn faschistischer Herrschaft in Italien und vor allem in Deutschland begann schließlich die Episode einer Wissenschaft, die sich nicht mehr kritisch zum Antisemitismus stellte, sondern auf dem Boden antisemi­ tischer Theorien arbeitete (W. Frank; Forschungen zur Judenfrage). Ihr heutiges theoretisches Niveau erreichte die kritische Antisemitismusfor­ schung unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Judenverfolgungen und des millionenfachen Mordes. Bereits 1942 wurden in den USA zwei grundle­ gende Sammelwerke veröffentlicht, die in der Zusammenfassung der verschie­ denen Sozialwissenschaften ("Jews in a Gentile World") und in der Kombina­ tion von systematischer und historischer Analyse ("Essays on AntisemÍtism") eine solide Ausgangsbasis für weitere Forschungen schufen. Wegweisend wurden die von M• Horkheimer und S. H. Flowerman herausgegebenen „Studies in Preju­ dice", darunter die bahnbrechende Studie „The Authontarian Personality" von Th. W. Adorno u. a. (1950). Man begann nun, den Antisemitismus als eine „so­ cial disease" zu analysieren (M. Ginsberg, E. Simmel). Psychoanalyt;sche Me­ thoden und Modelle gewannen zunehmend an Bedeutung und fanden ihren Niederschlag in den Versuchen einer „Psychoanalyse des Antisemitismus" (bzw. der Antisemiten) von J.-P. Sartre, R. M. Loewenstein, N. W. Ackerman u. M. Jahoda. Allgemeine soziologische Reflexionen von T. Parsons bis A. Silber­ mann und H.-P. Bahrdt haben ihre Ergänzung in wichtigen empirischen Un­ tersuchungen gefunden (J. Robb, J . Galtung, P. Schoenbach). Eine vorläufige Zusammenfassung von Ergebnissen und Problemstellungen der Forschung lei­ stete 1962 ein Kongreß der „Deutschen Gesellschaft für Psychotherapie und Tiefenpsychologie" unter Leitung von A. Mitscherlich, wobei insbesondere Fra­ gen der Aufklärung und Prophylaxe erörtert wurden18. Die Entwicklung der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung hat seit dem Zweiten Weltkrieg auch die Geschichtswissenschaft wesentlich beein­ flußt. Zahlreiche gründliche Studien galten der Erforschung der Judenfeind­ schaft in Antike (R. Marcus, M. Simon, J . Isaac) und Mittelalter (J. Parkes, J . Trachtenberg, N. Cohn, B. Blumenkranz), das Hauptinteresse der histori­ schen Forschung richtete sich jedoch auf den modernen Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Die ersten, teilweise bedeutenden Versuche einer zusam­ menfassenden historischen Analyse standen unter der Frage nach Voraussetzun­ gen und Bedingungen des totalitären Antisemitismus und des Völkermords 121 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

(E. G. Reichmann, H. Arendt, A. Leschnitzer). Daneben entwickelte sich eine historische Spezialforschung, die sich vor allem auf Deutschland konzentrierte (richtungweisend P. W. Massing, dann E. Sterling, M. Broszat, H.-C . Gerlach, K. Felden, P. G. J . Pulzer u. a.). Neben differenzierenden geistesgeschichtlichen und ideologiekritischen Studien (F. Stern, N. Rotenstreich, A. Hertzberg) zeig­ te sich ein auffälliger Mangel an Untersuchungen der sozio-ökonomischen Zu­ sammenhange in der Geschichte des modernen Antisemitismus: seit den Studien von B. D. Weinryb (1942) und W. Gurian (1942) erst wieder H. Rosenberg (1967). Nur zögernd wandte sich die Forschung einer genaueren Untersuchung der Beziehungen zwischen Antisemitismus und „Endlösung" zu. Im Vorder­ grund stand zunächst die Ermittlung von Daten und die Rekonstruktion von Vorgängen im Rahmen der „Endlösung" (G. Reitlinger, R. Hilberg). Eine kri­ tische Reflexion dieses Geschehens mußte dagegen notwendig den Rahmen ei­ ner rein historischen Analyse sprengen (M. v. Brentano; Zur Analyse des fa­ schistischen Antisemitismus). Eine besondere Literatur ist vor allem in den letzten Jahren der Problematik eines spezifisch christlichen Antisemitismus und der Frage nach theologischen Wurzeln antisemitischer Vorurteile gewidmet worden (G. Salzburger, J . Isaac, W.P.Eckert u.a.; G. Lenski, E. Olson, C . Y. Glock u. R. Stark). Dem ent­ spricht auf der anderen Seite eine spezifisch jüdische Literatur, die von der Po­ sition des Monotheismus eines ,äuserwählten Volkes' aus argumentiert (F. Lovsky, J . Jéhouda). Die auf 5 Bände geplante umfassende Geschichte des Antisemitismus von L. Poliakov (1955 ff.) ist noch nicht abgeschlossen.

3.2, Ergebnisse der Forschung

Abgesehen von den religiös begründeten Auffassungen einzelner jüdischer Autoren besteht in der gesamten modernen Forschung Einigkeit darüber, daß die Annahme eines ewigen Antisemitismus, einer unauflösbaren Koppelung zwischen jüdischer Existenz und Antisemitismus weder historisch noch theore­ tisch haltbar ist. Die scheinbare zeitliche und räumliche Ubiquität des Antise­ mitismus hat vielmehr dazu geführt, der Frage nach den jeweiligen gesellschaft­ lichen Ursachen, den individuellen und kollektiven Motivationen und den Er­ scheinungsformen des Antisemitismus immer größere Aufmerksamkeit zu wid­ men. Damit verlagerte sich zugleich das wissenschaftliche Interesse von der Be­ schäftigung mit der Geschichte der Juden auf die Untersuchung der Antisemi­ ten und der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Antisemitismus möglich mach­ ten. Die wissenschaftliche Widerlegung antisemitischer Theorien zählt heute nicht mehr zu den Aufgaben der Forschung. Soweit es einer solchen bedurfte, ist sie bereits in der unmittelbaren Auseinandersetzung im 19. und frühen 20. Jahrhundert erfolgt. Die dem modernen Antisemitismus unterlegten rassen­ theoretischen Auffassungen von E. Dühring bis H. F. K. Günther sind von der 122 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

anthropologischen Forschung als unhaltbar erwiesen worden, und zwar ebenso hinsichtlich ihrer Methoden wie ihres Anspruchs (K. Salier). Ansätze zu einer Typologie des Antisemitismus, nach der etwa zwischen reli­ giösem, wirtschaftlichem, politischem und kulturellem Antisemitismus zu unter­ scheiden wäre, blieben bisher unausgeführt. Eine solche Typologie könnte auch lediglich eine Hilfskonstruktion darstellen, die immer wieder zugunsten ande­ rer Kriterien durchbrochen werden müßte - z. B. in der Unterscheidung zwi­ schen einem oppositionellen Antisemitismus (in Mittel- und Westeuropa) und einem offiziellen, gouvernementalen Antisemitismus (im zaristischen Rußland, später unter anderen Bedingungen in den faschistischen Herrschaftsgebieten), zwischen einem untheoretischen sozialen Antisemitismus und einem doktrinä­ ren Rassen-Antisemitismus, zwischen bürgerlichem und faschistischem Antise­ mitismus. Eine der wesentlichen Einsichten der modernen Forschung besteht gerade darin, daß antisemitische Doktrinen und Bewegungen nicht aus dem je­ weiligen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang isoliert werden dürfen, daß auch die systematische Analyse die Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes nicht aus dem Auge verlieren darf. Der historischen Forschung ist es gelungen, vor allem Entstehung, C harakter und Funktion des Antisemitismus im 19. Jahrhundert weitgehend zu klären. Das Ursachengeflecht für die Entstehung des modernen Antisemitismus bilde­ ten die industrielle Revolution, die wirtschaftliche Depression, eine nationale und kulturelle Identitätskrise und der Niedergang des Liberalismus in Mittel­ europa seit der Mitte der siebziger Jahre. Der Antisemitismus richtete sich ge­ gen das emanzipierte Judentum und damit gegen das Prinzip der Emanzipa­ tion. Als eine anti- und in ihrem Selbstverständnis postliberale Bewegung stell­ te die antisemitische Agitation um 1880 in Deutschland die erste nichtkonser­ vative Gegenbewegung gegen die Prinzipien der modernen Gesellschaft dar. Zu schwach zu einer selbständigen Politik, wurde die antisemitische Bewegung im Interesse der herrschenden politischen und sozialen Kräfte manipuliert und instrumentalisiert (P. W. Massing). In seiner Entstehung ein Produkt der Krise, war der Antisemitismus auch weiterhin abhängig von den langfristigen Kon­ junkturentwicklungen der Wirtschaft (H. Rosenberg). Seine objektive Funk­ tion änderte sich nicht: der Antisemitismus lenkte ab von den tatsächlichen Ursachen sozialer Konflikte und Krisen und bot zugleich ein Ventil für kollek­ tive Unzufriedenheit und Agressionstriebe (modifizierte „Sündenbocktheorie" bei E. G. Reichmann). Die Fruchtbarkeit soziologischer Konzepte wie Vorurteil, Stereotyp, Gruppenkonflikt, Minorität usw. für die Antisemitismusforschung hat sich nicht zuletzt in den historischen Studien erwiesen. Die Irrationalität des Phä­ nomens Antisemitismus ist nur mit Hilfe der Kenntnis sozialer Strukturen und Mechanismen methodisch zu durchdringen. Der moderne Antisemitismus ist ein Produkt der bürgerlich-industriellen Gesellschaft und ist aus den Gegebenhei­ ten und Tendenzen dieser Gesellschaft zu begreifen. Soziologische Theorien und Methoden bilden daher nicht nur eine Voraussetzung historischer Studien, 123 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

sondern auch eine notwendige Ergänzung psychologischer Untersuchungsme­ thoden bei der Durchführung empirischer Erhebungen über den Antisemitismus der Gegenwart. Eine wesentlich vertiefte Erkenntnis von Wesen und Bedeutung des Antise­ mitismus ist der sozialpsychologischen und tiefenpsychologischen Forschung zu verdanken. In den Untersuchungen zur „autoritären Persönlichkeit" ist gelun­ gen, ein psychisches Porträt des Antisemiten zu zeichnen, die Funktion des An­ tisemitismus für den Antisemiten naher zu bestimmen. Eine zunächst unspezifi­ sche Vorurteilsbereitschaft in einer „autoritaten" Persönlichkeitsstruktur mün­ det in die Übernahme antisemitischer Stereotypen; der Jude wird dabei zu ei­ ner „lediglich funktionellen und kategorialen Figur, die in der Aufnahme der Projektionen eine Abreaktion im Sinne einer Befreiung von Schuld ermög­ licht"19. Die „soziale Krankheit" Antisemitismus ist ebenso als individuelle wie als Gruppenneurose beschreibbar, jedoch mit der Einschränkung, daß der Antisemit sich gerade nicht der Vielfalt neurotischer Abwehrmechanismen be­ dient, sondern ausschließlich der Projektion auf den Juden. Der Umschlag vom individuellen zum kollektiven Antisemitismus erfolgt unter dem Druck als un­ erträglich empfundener sozialer, ökonomischer oder politischer Probleme. Dabei ist unter den Antisemiten allerdings stets eine Vielfalt von Typen zu unterschei­ den - „bei denen angefangen, die nur in Klischees denken und Konformisten aus Berechnung sind, über die, welche sich Wahnvorstellungen über die Juden machen, bis zu der gefährlichsten Gruppe, deren Feindseligkeit offen in verbre­ cherische Handlungen umschlägt"20. Mit der Übertragung von Modellen aus der Individualpsychologie auf kol­ lektive Erscheinungen wie den Antisemitismus ist es möglich geworden, neue und weiterführende Interpretationsmodelle zu konstruieren, die freilich groß­ teils noch der Erprobung bedürfen. In der Aufnahme einiger Beobachtungen von S. Freud ist z. B. versucht worden, den Antisemitismus als „eine Variante ödipaler Beziehungen" zu interpretieren21. Auf der Suche nach einer „psycho­ genetischen Grundlage für die Ausartungen des Antisemitismus im Hitlerreich" ist die Hypothese aufgestellt worden, daß ab 1930 die „jugendlichen Anhänger der Nazibewegung deshalb auf die angsterregende Ökonomische Notlage mit Regression reagiert haben, weil sie am Ende des ersten Weltkrieges aufwuchsen und damals ihr Ich und Überich durch die Abwesenheit des Vaters und durch den aktuellen Notstand der Familie und die damit verknüpfte erhöhte Ver­ ängstigung der Mutter besonderen, pathologisch wirksamen Einflüssen ausge­ setzt waren"22. Solche Hypothesen erfordern eine genaue Prüfung - die Ge­ schichtswissenschaft müßte sie als eine positive Herausforderung akzeptieren. Es wird schließlich das Zusammenwirken historischer, Ökonomischer, sozio­ logischer und psychologischer Wissenschaft erfordern, wenn die Funktion des Antisemitismus für den Nationalsozialismus und darüber hinaus Ursachen und Motive der „Endlösung" begreifbar werden sollen. Gesichert sind bisher ledig­ lich die Daten des Massenmordes, die Zuständigkeiten und Verantwortlichkei­ ten. Unzweifelhaft ist auch die zentrale Bedeutung des Antisemitismus in der 124 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

nationalsozialistischen Propaganda und Herrschaftsausübung. Die These, daß der Antisemitismus „von vornherein potentielle Endlösung" sei23, ist jedoch ebenso wenig abgesichert wie die These, daß das nationalsozialistische System aus seinem manichäischen Ansatz heraus „unabwendbar auf totale Vernich­ tung" tendierte24. Dem steht noch immer die u. a. von E, G. Reichmann ver­ tretene Auffassung gegenüber, daß zwischen Antisemitismus und Judenvernich­ tung kein Kausalitätsverhältnis konstruiert werden könne - eine Auffassung, die allerdings ebenfalls nicht mehr als eine noch zu beweisende Hypothese dar­ stellt.

4. Schlußbemerkung Eine vergleichende Diskussion marxistisch-leninistischer und bürgerlicher Forschung erübrigt sich angesichts des fast vollständigen Mangels an marxi­ stisch-leninistischen Arbeiten. Die wissenschaftliche Erforschung des Antise­ mitismus hat sich bisher praktisch unter Ausschluß der kommunistischen Wis­ senschaft vollzogen. Prinzipielle Hindernisse für eine Übernahme der wichtig­ sten Forschungsergebnisse durch die marxistisch-leninistische Wissenschaft sind jedoch nicht erkennbar. Umgekehrt ist die funktionale Interpretation des An­ tisemitismus, wie sie in der sozialistisch-kommunistischen Theorie entwickelt worden ist, inzwischen längst Bestandteil auch nichtkommunistischer Antise­ mitismusinterpretationen geworden. Für die marxistisch-leninistische Wissenschaft wird der Antisemitismus ver­ mutlich auch künftig ein zweitrangtges Problem bleiben, dessen Lösung nur durch die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft möglich scheint. Die nichtkommunistische Wissenschaft dagegen geht von der Notwendigkeit einer Bekämpfung des Antisemitismus in der jeweils gegebenen Gesellschaft aus, und zwar selbst dann, wenn sie bestrebt ist, diese Gesellschaft grundlegend zu ver­ ändern. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Antisemitismus zielt des­ halb nicht nur auf Analyse, sondern auch auf Therapie, nicht nur auf die Er­ kenntnis, sondern zugleich auch auf die Aufhebung ihres Gegenstandes. Antise­ mitismusforschung ist in ihrem Selbstverständnis insofern stets praktische Wis­ senschaft - ob sie es auch in der Wirklichkeit sein kann, ist allerdings eine Fra­ ge, die noch der Beantwortung harrt.

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VI. Anhang: Emanzipation - Anmerkungen zur Begriffsgeschichte* Es ist in der wissenschaftlichen Literatur verschiedentlich darauf hingewie­ sen worden, daß die Begriffe „Emanzipation der Juden" bzw. „Judenemanzi­ pation" erst ab etwa 1830 im allgemeinen Sprachgebrauch zu verzeichnen sind, obwohl die dadurch bezeichnete Sache zu diesem Zeitpunkt bereits ein halbes Jahrhundert alt war1. Bis dahin hatte man in der Publizistik, in den parlamen­ tarischen Debatten, den Petitionen wie auch in den Akten der Regierungen und Verwaltungsbehörden im allgemeinen von der „bürgerlichen Verbesse­ rung" der Juden, gelegentlich von ihrer „Naturalisierung", oft auch von ihrer „Gleichstellung" oder einfach von der Regelung ihrer „Rechtsverhältnisse" bzw. ihrer „bürgerlichen Verhältnisse" gesprochen. Der gemeinsame Nenner der im einzelnen höchst unterschiedlichen Konzepte und Maßnahmen in der Judenfrage' dieser Jahrzehnte war die Absicht, die Juden zu ändern und sie mehr oder weniger rasch in die allgemeine Gesellschaft einzubeziehen. „Die äl­ tere Gesetzgebung wollte die Juden verbannen, die neue Gesetzgebung will sie verbürgern", hieß es, diese Tendenzen treffend zusammenfassend, 1820 in ei­ nem Gutachten des württembergischen Innenministeriums2. Alle Regierungen des Deutschen Bundes waren sich darin einig, daß die traditionellen Verhält­ nisse der Juden für die christlichen Bürger und auch die Interessen der Staats­ verwaltung ebenso unhaltbar seien wie für die Juden selber. Die Erwartungen hinsichtlich des möglichen Erfolges einer Emanzipations- und Integrationspoli­ tik waren allerdings sehr verschieden. Doch auch die Skeptiker leugneten in der Regel nicht, daß eine „bürgerliche Verbesserung" nötig sei und dauerhaft nur auf Grund einer Neuregelung der Rechtsverhältnisse der Juden im Sinne der sozialen Integration erhofft werden könne. Entstehung und Bedeutung des Begriffs „Emanzipation der Juden" sind vor einigen Jahren von J . Katz in einer weit ausholenden, gelehrten Abhandlung näher untersucht worden3. In Übereinstimmung mit den vereinzelten Hinwei­ sen in der älteren Literatur ist auch Katz zu dem Ergebnis gekommen, daß der Begriff erstmalig in der Schrift von W. T. Krug, Über das Verhältnis verschie­ dener Religionsparteien zum Staate und über die Emanzipation der Juden, Jena 1828, gebraucht worden sei und sich von da aus in den folgenden Jahren, besonders seit 1830, rasch verbreitet habe4. Zugleich ist von ihm der Zusam­ menhang dieser Begriffsbildung mit der zu Anfang des Jahrhunderts einsetzen­ den Debatte um die „C atholic emancipation" in England bzw. Irland, die zum Emanzipationsgesetz von 1829 führte, herausgearbeitet worden. Unabhängig von diesen Forschungen sind inzwischen auch R. Koselleck und K. M. Graß in einer ungewöhnlich material- und gedankenreichen Abhandlung zur Geschichte 126 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

des Begriffs „Emanzipation" hinsichtlich der „Judenemanzipation" zu der glei­ chen Feststellung gelangt: auch sie verweisen auf Krug, der 1828 „den Aus­ druck wohl als erster auf die Juden anwendete''5. In dem von mir bearbeiteten archivalischen Quellenmaterial zur Geschichte der Judenemanzipation bin ich nun auf eine Reihe von Belegen gestoßen, die es erlauben, diese Thesen teils zu präzisieren, teils auch zu korrigieren. So findet sich zum Beispiel bereits 1817 in den württembergischen Regierungsakten die Bemerkung, daß „selbst für das wahre Heil der Juden . . . eine so plötzliche Emancipation und völlige Gleichstellung" nicht rätlich sei - eine Formulierung, die 1820 in einem Beschluß des Geheimen Rates wieder aufgenommen wurde6. Auch in Bayern äußerte das Ministerium des Innern schon im März 1818 - an­ läßlich der Beratungen über die Verlängerung des Napoleonischen Dekrets von 1808 in der bayerischen Pfalz - Bedenken gegen „eine augenblickliche gänzli­ che emancipation der Israeliten", und eine ganz ähnliche Formulierung findet sich im Protokoll des Bayerischen Staatsrates im April 1818 in der Kritik „ei­ ner plötzlichen Emanzipation der Juden" nach französischem Vorbild7. Auch in Preußen läßt sich die Wendung „Emancipierung der Juden" schon Anfang der zwanziger Jahre mehrfach nachweisen. So betonte das Staatsministerium 1822 bei der Vorlage eines Entwurfs der „Juden-Ordnung" für die Provinz Posen, dieser sei das Ergebnis „sorgfältiger Prüfung der Gründe, welche sowohl für als gegen die Emancipirung der polnischen Juden preußischen Anteils auf­ gestellt werden können"8. Im gleichen Jahr wurde in einem Gutachten des Staatsrates zu diesem Entwurf festgestellt, „daß die allgemeine Emancipirung der Juden, sofern der letzteren bürgerliche Verbesserung dadurch bezweckt worden, den Erwartungen, unter welchen sie stattgefunden, durchgehends nicht entsprochen habe"9. 1827/28 findet sich der Begriff „Emanzipation" auch in den Berichten einzelner preußischer Oberpräsidenten. So waren für den Oberpräsidenten von Westfalen, Ludwig von Vincke, zum Beispiel die „früheren Emancipations-Versuche Joseph II. gänzlich verunglückt", und er warnte vor der „plötzlichen Verleihung gleicher bürgerlicher Rechte", wie sie unter französischer Herrschaft mit offensichtlich negativem Erfolg versucht worden sei; nach der bisherigen Geschichte und Lage der Juden, erklärte Vincke ganz grundsätzlich, könne „nicht erwartet werden, daß sie durch die blo­ ße, ohne alle Vorbereitung erklärte Gleichstellung in den bürgerlichen Rechten mit den C hristen auch eben so gute Staatsbürger wie diese sein werden"10. Aber nicht nur in Regierungsakten, sondern auch in Eingaben von Ständen und Korporationen an Regierungen oder Landtagskammern läßt sich der Be­ griff schon vor Krug nachweisen. So war im Januar 1827 in einer Eingabe der Stände des Großherzogtums Posen „von der vollkommenen Emancipation der Juden" - die man entschieden ablehnte - die Rede11. Und unter den zahlrei­ chen Petitionen, die durch die Vorlage und Beratung des württembergischen „Juden-Gesetzes" von 1828 veranlaßt wurden, findet sich der Begriff „Eman­ cipation" ebenso in der sehr polemischen, judenfeindlichen Eingabe des Han­ dels- und Gewerbestandes der Stadt Tübingen wie auch in einer ganz ähnli-

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chen Bittschrift der Handlungs- und Gewerbetreibenden des Oberamts Böblin­ gen vom 17. Februar 1828, in der auf die angeblich „verderblichen Folgen der Emanzipation der Juden" in Baden hingewiesen wurde, wo inzwischen „der größte und beste Teil kaufmännischer Gewerbe in ihrem Besitz" sei12. Da Katz die These, daß die Begriffsbildung direkt auf Krug zurückzuführen sei, mit dem Hinweis abzustützen versucht hat, daß der Begriff „Emanzipation" sich noch 1828 weder in den württembergischen Landtagsprotokollen noch in der publizistischen Diskussion um den Gesetzentwurf finde13, sei schließlich noch vermerkt, daß der Begriff in den Landtagsdebatten zwar keine große Rolle spielte, gleichwohl aber nicht unbekannt war. So sprach etwa der Abge­ ordnete Hoffacker, der gegen die Erweiterung der Rechte der Juden Stellung nahm, in der Zweiten Kammer durchaus von „einer allgemeinen Emancipation der Juden", von der er nichts anderes erwartete, als „daß die C hristen für die nächste Zeit noch übler daran waren als vorher"14. Es ist also unbestreitbar, daß der Begriff der „Emanzipation" weder 1828 erstmals auf die Judenfrage' bezogen wurde, noch auf eine einzige Quelle zu­ rückgeführt werden kann. Andererseits bleibt es richtig, daß der Ausdruck „Emanzipation der Juden" erst mit dem Beginn der dreißiger Jahre zum Schlagwort und zur jedermann vertrauten und geläufigen Bezeichnung des Problems wurde. Auch stehen die hier angeführten Belege bisher nicht stellver­ tretend für eine Vielzahl anderer Formulierungen, obwohl weitere Nachfor­ schungen zweifellos noch andere Funde ergeben würden. Dennoch ist es bemer­ kenswert, daß sich der Begriff nicht nur im möglicherweise ganz individuellen oder auch durch juristische Reminiszenzen geprägten Sprachgebrauch einzelner Beamter, sondern auch in Kollegialprotokollen und schließlich auch in Petitio­ nen findet, deren Text immerhin für diejenigen, deren Unterschrift man er­ hoffte, voll verständlich sein mußte. Auffällig ist darüber hinaus, daß der Be­ griff - im Gegensatz zu naheliegenden, auch in der Literatur anzutreffenden Vermutungen - zunächst keineswegs als Kampfbegriff im Sinne der Emanzipa­ tion aufgegriffen worden ist, sondern sich in den bisher vorliegenden Belegen vielmehr durchweg im Zusammenhang kritischer oder ablehnender Stellung­ nahmen zur Judenemanzipation findet. Während der Begriff „Emanzipation" allgemein und auch in der Judenfrage' schon 1833 als ein „Modewort" der bürgerlichen Bewegung galt, das als politisches Schlagwort ein aggressives Po­ tential entfaltete, fehlte dieser Kontext offenbar noch in der unmittelbar voran­ gehenden Zeit vollständig15. Vergegenwärtigt man sich die allgemeinen Ergebnisse der begriffsgeschichtli­ chen Untersuchung von Koselleck/Graß, kann es allerdings nicht besonders überraschen, daß der Ausdruck „Emanzipation der Juden" schon vor 1828/30 anzutreffen ist. So ist von Koselleck/Graß gezeigt worden, daß der dem römi­ schen Recht entstammende Begriff der „emancipatio", der die Entlassung aus der väterlichen Gewalt, den Übergang in die zivilrechtliche Selbständigkeit bezeichnete, auch im 18. Jahrhundert noch als spezifischer Rechtsbegriff nach­ weisbar ist. Daneben entwickelte sich jedoch vor allem in Frankreich, aber 128 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

auch in Deutschland, ein nicht juristischer Wortgebrauch, wobei „sich emanzi­ pieren' Verstöße gegen die Normen der ständisch-feudalen Gesellschaft, die Anmaßung „ungebührlicher Freiheiten" bezeichnete, während sich gleichzeitig in England auch schon ein positiv gefaßter, politisch-philosophischer Begriff der „emancipation" feststellen laßt. Im ausgehenden 18. Jahrhundert führten dann in Deutschland die aufklärerische Theorie einerseits und die Erfahrung der Französischen Revolution andererseits ebenfalls zu einer Politisierung des EmanzipationsbegrirTs, die von Koselleck/Graß negativ bei Wieland, positiv bei Georg Forster nachgewiesen wird. „Emanzipation" wurde bereits als ein zugleich normativer und entwicklungsgeschichtlicher Begriff gebraucht. Im Zeitalter der Französischen Revolution konnten Inhalt und Bewegung der Ge­ schichte als „Emanzipation" interpretiert werden, und Görres sprach 1814 nicht nur von einem „sich emanzipirenden Dritten Stand", sondern auch vom „Geiste dieser nun wirklich sich emanzipirenden Zeit"16. Allerdings halten auch Koselleck/Graß trotz dieser höchst interessanten Er­ gebnisse an der These fest, daß „Emanzipation" erst um 1830 zu einem poli­ tisch relevanten Begriff, zur Parole der sich erneuernden bürgerlichen Bewe­ gung wurde. Der Begriff beherrschte die politischen Auseinandersetzungen vor allem in der Periode zwischen der Julirevolution in Frankreich und den Revo­ lutionen von 1848/49, während er danach zwar nicht verschwand - auch in der Geschichte der Judenemanzipation nicht - , aber doch seinen besonderen Stellenwert, seine Funktion als politischer Leitbegriff einbüßte. Einen ersten, lurchaus antizipatorischen Höhepunkt in dieser Geschichte des Begriffs stellt der Versuch Heinrich Heines von 1828 dar, die eigene Gegenwart als ein Zeit­ alter der Emanzipation, d. h. konkret als den Prozeß der Herauslösung einer bürgerlichen Welt aus der ständisch-feudalen Privilegienordnung, zu interpre­ tieren17. Noch aufschlußreicher ist ein zu Unrecht vergessener Grundsatzarti­ kel „Emanzipation" im „Allgemeinen Lexikon" von Ersch-Gruber 1840, in dem K. H. Scheidler es unternahm, Geschichtsphilosophie und politische Theorie der liberalen Bewegung von dem Begriff und Konzept der Emanzipation her syste­ matisch neu zu bestimmen18. (Es handelt sich hier übrigens meines Wissens um den einzigen zeitgenössischen Lexikonartikel, der dem Gesamtphänomen der Emanzipation im Vormärz gewidmet ist, während ansonsten die Enzyklopädi­ en nur Einzelvorgänge wie die Emanzipation der Katholiken, der Juden, der Frauen oder des Staates von der Kirche behandelten und unter dem Stichwort „Emanzipation" nicht mehr als Verweise auf diese Sonderartikel enthielten ein Tatbestand, der nicht nur begriffsgeschichtlich bemerkenswert ist.) Scheid­ ler interpretierte nun die gesamte Weltgeschichte als einen Emanzipationspro­ zeß, als allmähliche Überwindung ungerechtfertigter Abhängigkeitsverhältnisse in allen Bereichen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens. Auch er be­ tont jedoch, daß die politisch-sozialen Auseinandersetzungen der eigenen Ge­ genwart in ganz besonderer Weise als Emanzipationskampf verstanden werden müßten. Schließlich ist in diesem Zusammenhang auch auf den jungen Karl Marx hinzuweisen, der in seinen Artikeln „Zur Judenfrage" und „Zur Kritik 129 9

Rürup

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der Hegeischen Rechtsphilosophie" gerade in der Auseinandersetzung mit dem liberalen Emanzipationsbegriff seine prinzipielle Kritik der bürgerlichen Gesell­ schaft entwickelte und der als bloß politisch kritisierten bürgerlichen Emanzi­ pation den Gedanken einer universellen, menschheitlichen Emanzipation ent­ gegenstellte19. Fragt man nun, warum der Emanzipationsbegriff in dem Zeitraum zwischen 1830 und 1848 eine so überragende Bedeutung gewann, so bedarf es zunächst keiner langen Begründung, daß es nahelag, den verfassungspolitischen Kampf des deutschen Liberalismus als einen Emanzipationskampf im engeren Sinne, d. h. als einen Kampf um die politische Mündigkeit des Bürgertums zu inter­ pretieren. Hinzu kam, daß der Begriff zugleich in besonderer Weise geeignet schien, die politischen Problemstellungen des gesamtgesellschaftlichen Wandels in Richtung auf die moderne, bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft zu be­ zeichnen, da es dabei ja in der Tat ganz wesentlich um die Überwindung von Rechtsbeschränkungen, um die Zertrümmerung der ständisch-feudalen Privile­ gienordnung ging, die der Entfaltung der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und auch kulturellen Kräfte hemmend im Wege stand. Wenn man von der „Emanzipation des Bodens vom Zehnten'' oder von der „Emanzipation der Gemeinden" sprach, so war der Begriff durchaus konkret und spezifisch, da es hierbei in erster Linie um die Abschüttelung der rechtlichen Fesseln einer älte­ ren Gesellschaft ging; gleichzeitig verwies der Begriff aber auf den inneren Zu­ sammenhang, die Richtung und den Sinn der gesellschaftlichen und politischen Bewegung: auf die Emanzipation des Bürgertums, d. h. die Realisierung einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Nicht zuletzt dürfte der Erfolg des Be­ griffs aber auch dadurch bedingt sein, daß er zu einem Zeitpunkt, in dem sich die bürgerliche Bewegung bereits stärker zu differenzieren begann, in der Lage war, die unterschiedlichen Interessen hinsichtlich der Radikalität und des Tem­ pos der erstrebten Änderungen zugunsten einer gemeinsamen Frontstellung ge­ gen die Repräsentanten der alten Ordnung zu integrieren. „Emanzipation" war in der vormärzlichen Situation so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner aller auf Veränderung drängenden Gruppen - so lange sie sich gemeinsam in der Opposition befanden und von der unmittelbaren Einwirkung auf die po­ litischen und gesellschaftlichen Entscheidungen ausgeschlossen waren. Das än­ derte sich dann grundlegend mit der achtundvierziger Revolution und ihrem Scheitern einerseits und der Durchsetzung einer bürgerlichen Klassengesell­ schaft seit der Mitte des Jahrhunderts andererseits, so daß für die politische Funktion des Emanzipations-Begriffs als einer Integrationsparole der bürgerli­ chen Bewegung schon bald alle Voraussetzungen fehlten. Die zunehmende Dif­ ferenzierung der sozialen Interessen und der politischen Positionen erforderte nun präzisere und je spezifischere Begriffe und Konzepte20. Im Hinblick auf die besondere Funktion des Emanzipationsbegriffs in der Judenfrage' scheint mir die von Koselleck/Graß herausgearbeitete Tatsache besonders wichtig, daß ''Emanzipation" sowohl einen einmaligen Akt der rechtlichen Gleichstellung, als auch einen Prozeß im Sinne der Rechtserweite-

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rung und der alimählichen Realisierung von Freiheit bezeichnen konnte. Gera­ de diese Doppeldeutigkeit könnte einer der Hauptgründe dafür sein, daß der Begriff in der Judenfrage' seit 1830 eine so dominierende Rolle spielte. Denn man kann nicht behaupten, daß mit dem veränderten Sprachgebrauch ein neues Konzept, eine grundsätzlich andere Politik hinsichtlich der Integration der Juden verbunden worden wäre. Die Unentschiedenheit des Begriffs zwi­ schen einem klaren und unteilbaren Rechtsakt und einem allgemeinen Prozeß ermöglichte es jedoch den in der Judenfrage' oft zögernden liberalen und de­ mokratischen Wortführern der bürgerlichen Bewegung, für die Emanzipation der Juden eintreten zu können, ohne gleichzeitig einer sofortigen und uneinge­ schränkten Gleichstellung das Wort reden zu müssen. Selbst in einer scheinbar ganz eindeutigen Definition der Judenemanzipation, wie sie 1837 im „Staats­ Lexikon" gegeben wurde, läßt sich diese Ambivalenz noch beobachten: „So wie das Wort Emancipation überhaupt eine solche gesetzliche Handlung be­ zeichnet, durch welche jemand aus dem bisherigen Zustande der Rechtsbe­ schränkung in den des vollen, überhaupt nach allgemeinen Grundsätzen zuläs­ sigen Rechtsgenusses versetzt wird, so versteht man unter der Emancipation der Juden die Gleichstellung derselben mit den übrigen Staatsbürgern in den politischen und bürgerlichen Rechten."21 Auch das Wort „Gleichstellung" klärte nicht eindeutig, ob es sich um einen einmaligen Vorgang oder lediglich um einen gerichteten Prozeß handelte. Wer sich im Vormärz für die „Emanzi­ pation" der Juden aussprach, plädierte im allgemeinen tatsächlich nur für eine Erweiterung ihrer Rechte bzw. für eine Gleichstellung in bestimmten Berei­ chen, nicht aber für die unverzügliche Abschaffung sämtlicher Ausnahmebe­ stimmungen. Angesichts dieser spezifischen Unschärfe des Begriffs konnte es kaum aus­ bleiben, daß es auch zu Debatten darüber kam, ob die Juden zu einem be­ stimmten Zeitpunkt bereits emanzipiert waren oder nicht. So meinte zum Bei­ spiel Friedrich Römer im Stuttgarter Landtag 1836 über das „Juden-Gesetz" von 1828: „Damals wurden die Juden emancipirt, und heute handelt es sich nicht sowohl von ihrer Emancipation, als nur von einer Ausdehnung dersel­ ben"22, wobei er ganz offensichtlich einen Emanzipations-Begriff gebrauchte, der mehr an den Zugangschancen der Juden zur bürgerlichen Gesellschaft als an ihrer Rechtsgleichheit orientiert war. Wohl in ähnlichem Sinne konnte ein anderer Abgeordneter 1845 erklären, daß die Juden „ja in der Hauptsache schon emancipirt" seien23 - obwohl ihre volle Gleichstellung auch in Würt­ temberg noch fast zwei Jahrzehnte auf sich warten ließ. Auch das preußische Edikt von 1812 wurde später oft als „Emanzipationsedikt" bezeichnet, ob­ schon gar nicht zu übersehen war, daß es trotz der bedeutenden Rechtserweite­ rungen von einer Rechtsgleichheit für die Juden noch weit entfernt war. Vor allem die Gegner der Judenemanzipation wußten sich diese Unklarheit des Be­ griffs bald zunutze zu machen, indem sie auf die wirtschaftlichen Leistungen und Erfolge der rechtlich noch immer diskriminierten Juden hinwiesen und daraus den Schluß zogen, daß sie praktisch längst emanzipiert, ja in der sich 131 9*

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ausbreitenden kapitalistischen Wirtschaft sogar privilegiert seien und ganz ge­ wiß keiner weiteren „Emanzipation" mehr bedürften. Bei Fürsprechern und Gegnern der Emanzipation bürgerte es sich schließlich mehr und mehr ein, von „Emanzipation" einerseits und „voller Emanzipation" andererseits zu sprechen, d. h. von einzelnen Schritten innerhalb eines Prozesses und von dessen endgül­ tigem Abschluß. Gerade in der Judenfrage' treten daher neben den posi­ tiven Aspekten des Begriffs der „Emanzipation" im Sinne der bürgerlichen Bewegung auch seine Schwächen deutlich hervor, indem sein unscharfer und allzu pauschaler C harakter dazu beitrug, manche Problemstellungen zu ver­ dunkeln und teilweise auch die Fronten zu verwirren.

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Abkürzungsverzeichnis DZAM GLA HStAM HStAS Ms. N. F. Reg.bl. StALu VfZ Year Book ZGO

Deutsches Zentralarchiv, Abteilung Merseburg Badisches Generallandesarchiv Karlsruhe Bayerisches Hauptstaatsarchiv München Württembergisches Hauptstaatsarchiv Stuttgart Maschinenschrift Neue Folge Regierungsblatt Württembergisches Staatsarchiv Ludwigsburg Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Year Book des Leo Baeck Institute (London) Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins

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Anmerkungen 1. Judenemanzipation und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland * Dieser Beitrag wurde - unter dem gleichen Titel - zuerst in dem Werk: Gedenk­ schrift Martin Göhring. Studien zur europäischen Geschichte, hg. v. E. Schulin, Wiesba­ den 1968, S. 174-199, veröffentlicht; eine englische Version erschien unter dem Titel „Jewish Emancipation and Bourgeois Society" im Year Book des Leo Baeck Institute (London), Bd. 14, 1969, S. 67-91. Für die freundliche Zustimmung zum Wiederab­ druck danke ich dem Verlag Franz Steiner, Wiesbaden; der Text ist im wesentlichen unverändert. 1 Vgl. hierzu vor allem E• Hobsbawm, Europäische Revolutionen, Zürich 1962.-Bei der hier vorgelegten Skizze handelt es sich um Vorüberlegungen zu einer Problemge­ schichte der Judenemanzipation in Deutschland. Sie beruhen auf dem Studium der preußischen, bayerischen, württembergischen, badischen und hessen-darmstadtischen Akten, der zeitgenössischen Publizistik und vor allem der Landtagsprotokolle. Aus Raumgründen und im Hinblick auf die geplante größere Arbeit verzichtete ich im fol­ genden auf Auseinandersetzungen mit der Literatur und auch auf weiterführende Hin­ weise und begnüge mich mit dem bloßen Nachweis der Zitate. 2 G. G. Gervinus, Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts [1852], hg. v. H. Körnchen, Berlin 1921, S. 188 f. 3 K. H. Scheidler, Art. „Judenemancipation", in: Allgemeine Encyclopädie der Wis­ senschaften und Künste, hg. von Ersch, J . S. u. Gruber, J . G., Section 2, Bd. 27, Leipzig 1850, S. 254; vgl. auch K. H. Scheidler, Art. „Emancipation", ebda., Section 1, Bd. 34, Leipzig 1840, S. 2-12 (dort auch die im Text folgenden Formulierungen). 4 F. Steinbach, Art. „Emanzipation", in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2, Göttingen 19583, Sp. 451. 5 Gutachten des badischen Hofrats Philipp Holzmann von 1801: Badisches Gene­ rallandesarchiv Karlsruhe 74/3691. 6 C . W. Dohm, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Berlin 1781, S. 28, 7 Ebda., S. 130. 8 Ebda., S. 34. 9 Ebda., S. 110. 10 So gelegentlich in den badischen Akten, vgl. unten, S. 41. 11 Dohm, S. 26. 12 R. Koselleck, Staat und Gesellschaft in Preußen 1815-1848, in: W. C onze (Hg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz, Stuttgart 1962, S. 81. 13 H. F. Diez, Über Juden. An Herrn Kriegsrath Dohm zu Berlin, in: Berichte der alleemeinen Buchhandlung der Gelehrten, Bd. 1, 1783, S. 326 f. 14 F. v. Schuckmann, Über Judenkolonien. An Hrn. Geheimen Rath Dohm, in: Ber­ linische Monatsschrift, Bd. 5, 1785, S. 54. 15 Ebda., S. 55 f. 16 Vgl. Koselleck, S. 85. 17 M.Mendelssohn, Vorrede zu: Manasseh Ben Israel, Rettung der Juden, Berlin 1782, S. XIX f. 18 Min. d. Innern v. Schlayer: Württ. II. Kammer, 4. 5. 1836, S. 59. 19 Ausschuß-Bericht des Frhrn. v. Gumppenberg: Bayer. II. Kammer, 1846, 7. Bei­ lagen-Bd./S. 125.

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Anmerkungen zu Seite 23-37 20 Ausschuß-Bericht v. Wreden: Hess.-darmst. I. Kammer, 18.11.1823, Beilage LXIV, S. 9. 21 Motive zum württembergischen Gesetzentwurf „Über die öffentlichen Verhält­ nisse der Israeliten": Württ. II. Kammer, 1824, 4. außerordentl. Beilagenheft, S. 97. 22 Kommissions-Bericht v. Schlitz: Württ. II. Kammer, 1828, 2. außerordentl. Bei­ lagenheft, S. 12. 23 Abg. Schott: Württ. II. Kammer, 4. 5. 1836, S. 38. 24 Abg. Lotheißen: Hess.-darmst. II. Kammer, 30. 5.1836, S. 8. 25 Abg. Sattler: Bayer. II. Kammer, 7. 5.1846, S. 254. 26 Beilagen der Denkschrift zu dem Entwürfe einer Verordnung über die Verhältnis­ se der Juden (1847), Teil B: Deutsches Zentralarchiv Merseburg, Rep. 169 B 1 A, B 2. 27 Bayer. II. Kammer, 1850, 3. Beilagen-Bd., S. 5-7 (die Mimstenalakten sind im II. Weltkrieg vernichtet worden). 28 Bad. II. Kammer, 27. 9. 1833, Bd. 14, S. 287 ff., und Generallandesarchiv Karls­ ruhe 236/953. 29 Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Geh. Rat III, G 195. 30 Generallandesarchiv Karlsruhe 318/2 (Zug. 1897 Nr. 10). 31 Brief A. Lameys an Großherzog Friedrich v. 3.8.1862: Generallandesarchiv Karlsruhe, Großherzogl. Famlienarchiv 13, Korrespondenz mit Staatsmin. Lamey. 32 Bayer. II. Kammer, 10. 12. 1849, S. 511. 33 Bayer. I. Kammer, 7. 5. 1861, Bd. 1, S. 356. 34 Gutachten vom 17. 7. 1809, Text: I. Freund, Die Emanzipation der Juden in Preußen, Bd. 2, Berlin 1912, S. 269-282; auch in: W. v. Humboldt, Gesammelte Schrif­ ten, Bd. 10, Berlin 1903, S. 97-115. 35 Bayer. II. Kammer, 7. 5. 1846, Bd. 9, S. 150. 36 Kommissionsbericht Dollmätsch: Bad. II. Kammer 1823, Bd. 11, S. X. 37 Freund, Bd. 2, S. 275. 38 Denkschrift (ungezeichnet und undatiert) „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden": Geh. Staatsarchiv München, Kasten grün 90/96. 39 K. Marx, Die Frühschriften, hg. v. S. Landshut, Stuttgart 1953, S. 223 f. 49 Bad. II. Kammer, 27. 9. 1833, Bd. 14, S. 366 f. 41 Bayer. II. Kammer, 5. 11. 1831, 22. Bd., S. 98 f.

II. Die Emanzipation der Juden in Baden * Diese Abhandlung ist zuerst unter dem Titel „Die Judenemanzipation in Baden" in der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Bd. 114, 1966, S. 241-300, er­ schienen; der Abdruck erfolgt im wesentlichen unverändert. 1 H. Heine; Reisebilder aus Italien (1828), in: Sämtliche Werke, hg. v. E.Elster, 3. Bd., 4. Aufl., Leipzig o. J . , S. 275. 2 Zur Geschichte des Begriffs „Emanzipation": H. Schulz, Deutsches Fremdwörter­ buch, 1. Bd., Straßburg 1913, S. 170 f., und O. Ladendorf, Historisches Schlagwörter­ buch, Straßburg 1906, S. 65 und S. 149 f. Schon in den zwanziger Jahren gelegentlich gebraucht, gewann das Wort seine eigentliche Bedeutung erst im Zusammenhang der allgemeinen politischen Diskussion seit 1830. - Der Begriff „Emanzipation der Juden" bzw. „Judenemanzipation" tauchte wohl erstmalig in den Schriften von W, T. Krug im Jahre 1828 auf, setzte sich allgemein jedoch ebenfalls erst seit 1830 durch. Bereits 1833 in der badischen II. Kammer als „Modewort" charakterisiert, wurde er von den Gegnern der Judenemanzipation häufig abgelehnt, weil er eine übertriebene Vorstel-

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Anmerkungen zu Seite 37-38 lung von den Rechtsbeschränkungen der Juden erwecke und unangemessene Assozia­ tionen („Negersklaven") auslöse. 1842 erklärte dann der Abg. Züllig in der Juden­ emanzipationsdebatte der badischen II. Kammer: „Was das Wort Emancipation be­ trifft, so will ich fortfahren, mich der Kürze wegen desselben zu bedienen, weil das Übertriebene, Vorwurfsvolle und offenbar Falsche, welches diesem Wort als einem ur­ sprünglichen Parteiwort anklebte, durch den Gebrauch so abgeschliffen worden ist, daß man nichts mehr davon bemerkt. Verba valent ut nummi" (II. Kammer, 4. Bd., S. 133). 8 Konversationslexikon der Gegenwart I, 1152, zit. nach H. Schulz, S. 170. 4 Frhr. v. Goler, I. Kammer, 2. Bd., S. 387. Von der „Emancipation der Gemein­ den" war übrigens schon 1822 in der badischen II. Kammer die Rede (1. Bd., S. 76,

III). 5

1837 definierte K. Steinacker: „So wie das Wort Emancipation überhaupt eine solche gesetzliche Handlung bezeichnet, durch welche Jemand aus dem bisherigen Zu­ stande der Rechtsbeschränkung in den des vollen, überhaupt nach allgemeinen Grund­ sätzen zulässigen Rechtsgenusses versetzt wird, so versteht man unter der Emancipa­ tion der Juden die Gleichstellung derselben mit den übrigen Staatsbürgern in den poli­ tischen und bürgerlichen Rechten" Art, „Emancipation der Juden", in: Staats-Lexikon, hg. v. C . v. Rotteck u. C . Welcker, 5. Bd., Altona 1837, S. 22. Das eigentliche Ziel der Emanzipationsbewegung in Deutschland war jedoch die Assimilation und Integra­ tion des Judentums; die rechtliche Gleichstellung wurde teils als ihre Voraussetzung, teils als ihre Krönung betrachtet. Auf Grund eines so erweiterten Verständnisses der Emanzipation konnte z. B. Welcker schon 1831 im badischen Landtag von der „inne­ ren Emancipation" der Juden sprechen. 6 Allein für die Zeit bis 1848 sind im deutschen Sprach- und Kulturbereich über 3000 Titel bibliographisch erfaßt worden: V. Eichstädt, Bibliographie zur Geschichte der Judenfrage (1750-1848), Hamburg 1938. Schon 1837 konnte K. Steinacker mit Recht schreiben: „Unter allen Fragen des öffentlichen Interesses gibt es nicht leicht eine andere, welche eine so reichhaltige Literatur darbietet. .." 7 Grundlegend war das Buch von C , W. Dohm, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Berlin 1781 (s. Anm. 22); gleichzeitig begannen die ersten praktischen Re­ formversuche unter Joseph II. Die Gleichstellung der Juden in Nordamerika hatte in Europa wenig Beachtung gefunden, und auch literarischen „Vorläufern" - z. B. John Toland, Reasons for Naturalizing the Jews in Great Britain and Ireland, London 1714 - war keine nachhaltige Wirkung beschieden. 8 Sur Moses Mendelssohn, sur le réforme politique des Juifs, Straßburg 1787; Mira­ beau, der Mendelssohn und Dohm in Berlin kennengelernt hatte, schrieb sein Buch in enger Anlehnung an deren Schriften. 9 Essai sur la régénération physique, morale et politique des Juifs, Metz 1789; Grégoires Schrift wurde von der Kgl. Ges. d. Wiss. u. Künste in Metz preisgekrönt, die 1787 die Frage ausgeschrieben hatte: „Gibt es Mittel, die Juden glücklicher und nützlicher in Frankreich zu machen?" 10 Noch 1788 war eine Regierungskommission unter dem Vorsitz von Malherbes zusammengetreten, um praktische Reformmaßnahmen zu beraten; bevor sie ihre Arbei­ ten abschließen konnte, brach die Revolution aus: 1790 erlangten zunächst die sog. portugiesischen, am 13. 11. 1791 dann alle französischen Juden die volle Gleichberech­ tigung, soweit sie den Bürgereid leisteten. 11 Es kann in diesem Zusammenhang außer acht bleiben, daß 1808 von Napoleon noch einmal gewisse Ausnahmebestimmungen auf zunächst zehn Jahre geschaffen wur­ den; durch die NichtVerlängerung dieser Bestimmungen im Jahre 1818 wurde die volle Rechtsgleichheit wiederhergestellt. 136 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 38-40 12 Es ist wohl kein Zufall, daß die einzige neuere Arbeit, die einen größeren Zeit­ raum des Emanzipationszeitalters zusammenfassend behandelt, nicht der Emanzipa­ tionsproblematik, sondern dem Antisemitismus gewidmet ist: E. Sterling, Er ist wie Du. Aus der Frühgeschichte des Antisemitismus in Deutschland (1815-1850), München 1956. Gerade die als vordringlich empfundene Beschäftigung mit dem Phänomen des Antisemitismus hat nach 1945 wesentlich dazu beigetragen, die Problematik der Juden­ emanzipation fast völlig in Vergessenheit geraten zu lassen. 15 Statt einzelner Literaturangaben sei hier verwiesen auf den nützlichen, mit Lite­ raturhinweisen versehenen Artikel „Emanziptaion" in der Encyclopaedia Judaica, 6. Bd., Berlin 1930, S. 557 ff. 14 Die Studie von S. Täubler-Stern, Die Emanzipation der Juden in Baden, in: Ge­ denkbuch zum 125jährigen Bestehen des Oberrates der Isrealiten Badens, Frankfurt 1934, S. 7 ff., kann hier trotz mancher Verdienste nicht in Betracht kommen, zumal in ihr nur die erste Phase der Emanzipation behandelt ist. Daneben mag eine Darstellung erwähnt werden, deren Tendenz deutlich genug im Titel zum Ausdruck kommt: E. Franz, Der jüdische Marsch zur Macht. Eine Quellensammlung als Beitrag zur Judenemanzi­ pation (1806-1933), Karlsruhe 1943. 15 Hervorzuheben sind die zusammenfassenden, aus den Quellen erarbeiteten Ge­ schichten von A. Lewin, Geschichte der badischen Juden seit der Regierung Karl Friedrichs (1738-1909), Karlsruhe 1909, und B. Rosenthal, Heimatgeschichte der badi­ schen Juden seit ihrem geschichtlichen Auftreten bis zur Gegenwart, Bühl 1927, die auch für das Zeitalter der Emanzipation wertvolle Materialien enthalten. 18 Vornehmlich herangezogen wurden die teilweise sehr umfangreichen einschlägi­ gen Akten der folgenden Abteilungen: 74 (Baden Generalia), 77 (Pfalz Gen.), 78 (Bruchsal Gen.), 115 (Hochberg); 233 (Staatsministerium), 236 (Innenministerium), 237 (Finanzministerium), 239 (Verwaltungsgerichtshof), 313 (Kreisregierungen); außer­ dem die Akten der Landeskommissare, zahlreicher Bezirksämter und Städte, schließlich einzelne Stücke aus Nachlässen, Korrespondenzakten usw. Jüdische Quellen fehlen lei­ der fast ganz: das Oberratsarchiv ist seit dem II. Weltkrieg verschollen; Nachlässe, Korrespondenzen, Tagebücher, Erinnerungen usw. liegen, von geringfügigen Ausnah­ men abgesehen, ebenfalls nicht vor. Die innerjüdische Problematik der Emanzipation, die allerdings in den Werken von Lewin und Rosenthal eingehend gewürdigt worden ist, kann deshalb heute nur noch im Spiegel der Behördenakten erfaßt werden. 17 Die Landtagsakten befinden sich ebenfalls im Generallandesarchiv: Abt. 231. Die Sitzungsprotokolle sind gedruckt: Verhandlungen der ersten und zweiten Kammer der Ständeversammlung des Großherzogthums Baden, 1819 ff.; seit der Revolution von 1848/49 wurden allerdings keine Wortprotokolle mehr veröffentlicht, so daß für die folgenden Jahre auch die ungedruckten Stenographischen Protokolle im Landtagsar­ chiv herangezogen werden müssen. 18 Vgl. allgemein W. Fischer, Staat und Gesellschaft Badens im Vormärz, in: Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815-1848, hg. v. W. C onze, Stuttgart 1962, S. 143-171. 19 Vergleiche auf Grund der bisher vorliegenden Literatur müssen als sehr proble­ matisch bezeichnet werden, da nur wenige wirklich zuverlässige Daten zur Verfügung stehen. Auf vergleichende Betrachtungen werde ich daher im folgenden weitgehend verzichten; ich hoffe, sie in absehbarer Zeit im Rahmen einer thematisch weiter ge­ spannten und auf eigene Quellenstudien gestützten Untersuchung zur Geschichte der Judenemanzipation nachholen zu können. 20 Protokoll des Geh. Rats vom 4. 2. 1782 (61/1708). Durch die erwähnten Verord­ nungen Josephs II. waren den Juden neben dem Besuch der Schulen und Universitäten u. a. der unzünftige Handwerksbetrieb als Schneider, Schuster, Maurer und Zimmer-

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Anmerkungen zu Seite 40-42 mann, die Ausübung freier Künste, der Betrieb von Fabriken und unter besonderen Voraussetzungen auch der Ackerbau gestattet worden: Systematisch-chronologische Sammlung aller jener Gesetze und Verordnungen, die von ältesten Zeiten her bis auf 1795 für die vorderösterreichischen Lande erlassen worden sind und jetzt noch beste­ hen, hg. v. J . Petzek, 8. Bd., 2. Abt., Freiburg 1796, S. 104 ff. - Für den Zusammen­ hang der beginnenden Emanzipationspolitik mit der allgemeinen badischen Landespoli­ tik dieser Jahre vgl. W. Windelband, Die Verwaltung der Markgrafschaft Baden zur Zeit Karl Friedrichs, Leipzig 1916; daneben auch B. Beinert, Geheimer Rat und Kabi­ nett in Baden unter Karl Friedrich (1738-1811), Berlin 1937, S. 60 ff., und C . F. Ne­ benius, Karl Friedrich von Baden (aus dem Nachlaß hg. v. F. v. Weech), Karlsruhe 1868, S. 129 ff. 21 Die Bemühungen um die Errichtung jüdischer Schulen in Karlsruhe und in der Markgrafschaft Hochberg begannen 1774 und führten schon im folgenden Jahr zu er­ sten Erfolgen (115/199; 357/4218). Schlosser wies in diesem Zusammenhang mehrfach darauf hin, daß im Interesse der gesamten Bevölkerung auch eine Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Juden erwünscht sei. Er bemerkte in seinem Bericht vom 18. 2. 1775: „Mit aller Verehrung, die ich für die Schulanstalten habe, kann ich doch die Anmerkung nicht verwerfen, die mir einer von den Vorstehern [der Juden] machte, da ich ihm das Schulprojekt eröffnete, daß es ihm lieber wäre, wenn man ihm Gelegenheit zum leben als zum lernen gebe." 22 Eine neue, verbesserte Auflage erschien 1783, gleichzeitig mit einem 2. Teil des Buches, in dem Dohm sich mit seinen Kritikern auseinandersetzte. Über Dohm: K. G. Bruchmann, in: Neue Deutsche Biographie, 4. Bd., Berlin 1959, S. 42 f., dort auch die ältere Literatur. Zur Diskussion über die „bürgerliche Verbesserung": Eichstädt, S. 8 ff., und F. Reuss, C hristian Dohms Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden" und deren Einwirkung auf die gebildeten Stände Deutschlands, Phil. Diss. Leipzig 1891, 23 Gutachen des Kammerrats Junker vom 20. 6. 1795 (74/3693). 24 Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, 1781, S. 130. 25 F. v. Schuckmann, Über Judenkolonien, in: Berlinische Monatsschrift, hg. v. F. Gedicke und T. E. Biester, (Januar) 1785, S. 51. 26 Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, 1781, S. 27 f. 27 Ebd., S. 26. In der Argumentation Dohms trat u. a. eine deutliche Tendenz ge­ gen die Zünfte hervor, deren Bedeutung gerade durch die Zulassung der Juden zum Handwerk weiter gemindert werden könne. Diese Überlegung spielte dann auch in Ba­ den eine gewisse Rolle, so z. B. in dem großen Gutachten Holzmanns von 1801, aber auch später im Innenministerium. Die mit einer solchen Tendenz in der Praxis verbun­ denen Komplikationen mochten unter den Voraussetzungen des absolutistischen Poli­ zeistaates gering geschätzt werden, mußten jedoch unter den veränderten Bedingungen des 19. Jahrhunderts die Versuche einer gesellschaftlichen Integration der Juden von vornherein aufs schwerste belasten. 28 Ebd., S. 16 ff. 29 Ebd., S. 34; er setzte hinzu: „Wir waren immer die Herrschenden, uns lag es da­ her ob, dem Juden menschliche Gefühle dadurch einzuflößen, daß wir ihm Beweise der unsrigen gäben; wir mußten, um ihn von seinen Vorurteilen gegen uns zu heilen, die eigenen zuerst ablegen. Wenn diese also noch jetzt den Juden abhalten, ein guter Bür­ ger, ein geselliger Mensch zu sein, wenn er Abneigung und Haß gegen den C hristen fühlt, wenn er sich durch die Gesetze der Redlichkeit gegen ihn nicht so gebunden glaubt, so ist dies Alles unser Werk" (S. 38 f.). 30 Ebd., S. 110 ff. 31 Ebd., S. 87.

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Anmerkungen zu Seite 42-43 32 Zur Geschichte der Juden in den 1771 vereinigten Markgrafschaften Baden-Dur­ lach und Baden-Baden: J . A. Zehnter, Zur Geschichte der Juden in der Markgraf­ schaft Baden-Baden, in: ZGO, N. F., Bd. 11, 1896, und ders., Zur Geschichte der Ju­ den in der Markgrafschaft Baden-Durlach, in: ZGO, N.F., Bd. 12, 1897 und Bd. 15, 1900. - Die Zahl der Juden in Baden betrug 1782 knapp 2000; eine „Summarische Ta­ bell" vom 15. 6. 1776 (74/3704) erfaßte 1892 Personen (319 Männer, 342 Frauen, 536 Knaben, 430 Mädchen, 128 männliche und 137 weibliche Dienstboten). Größere An­ siedlungen gab es vor allem in Karlsruhe (384 Juden) und in den Oberämtern Hoch­ berg (249) und Badenweiler (227). An Schutzgeldern wurden jährlich etwa 6000 fl. gezahlt (die Sätze variierten zwischen 5 fl. und 40 fl., lagen in der Regel jedoch bei 20-25 fl.); außerdem hatten die Juden auch die gewöhnlichen Abgaben an den Staat und verschiedene örtliche Sonderabgaben zu leisten. 33 Die Gutachten und Berichte sind fast vollständig erhalten: 74/3689-93. Berichte der Ämter und Oberämter wurden 1782, 1792, 1797 und 1799 eingeholt. Der Gedanke einer Zulassung der Juden zum Handwerk und zum Ackerbau wurde auf Grund der Berichte von 1782 zunächst wieder fallen gelassen; statt dessen beschränkte man sich in den folgenden Jahren auf die Fragen des Schulwesens und erwog daneben nur noch die Hinführung der Juden zu unzünftigen Handwerken und den sog. freien Künsten. Erst seit 1792 wurde die Diskussion um die „bessere Organisation des jüdischen Nährstan­ des" im Hofrat energischer vorangetrieben. Nun schaltete sich auch die Rentkammer ein, wo jedoch die Akten, trotz vielfacher Mahnungen des Hofrats, fast fünf Jahre lang unerledigt liegen blieben. 1798 wurden dann wegen der Schulfragen auch der Kirchenrat und durch diesen die Spezialate gutachtlich herangezogen. Mit dem Gut­ achten des Hofrats Holzmann und einer gemeinsamen Konferenz von Hofrat und Rentkammer am 14. 10. 1801 fanden schließlich die Beratungen ihren Abschluß. 1798 war auch die Karlsruher Judenschaft mit der Bitte an die Regierungen herangetreten, „daß bei der besseren Organisation der Judenschaft Gleichheit der bürgerlichen Vor­ teile als Basis angenommen werde". 34 Schon 1782/83 wurde in drei Berichten (v. Liebenstein, Birkenfeld; Schlosser, Emmendingen; Kroeber, Winningen) Dohms Buch erwähnt; Schlosser schrieb aller­ dings am 8. 1. 1783: „Wir haben über die Sache nachgedacht und das beste, was Dohm erst kürzlich darüber geschrieben hat, genau überlegt. Wir finden aber nirgends etwas - in unseren Verhältnissen - anwendbar." 1792/93 finden sich in fast allen Be­ richten, auch wo Dohms Name nicht erwähnt wird, seine Gedankengänge. 35 Bericht Liebensteins aus Birkenfeld vom 27. 12. 1782; ähnlich dann auch in sei­ nem Bericht aus Emmendingen vom 30. 5. 1792 (L. war der Vater Ludwig v. Lieben­ steins, des liberalen Führers der ersten badischen Landtage). 35 Bericht vom 8. 7. 1792 (74/3689). 37 Z. B. Hofratsprotokoll vom 13. 1. 1799; ganz ähnlich war auch in einem Gut­ achten von 1793 davon die Rede, die Juden „dem Lande so wenig als möglich schäd­ lich zu machen". 38 So noch am 20. 6. 1795 der Kammerrat Junker. „Generalverordnungen gehen noch gar nicht an", schrieb er weiter, „man kompromittiert sich damit, und es mag noch so wenig herauskommen, so gibt man den Juden das Recht zu Prätensionen, die man nicht mehr abweisen kann. Man gebe immer mehr, so wie sie es durch ihr Verhal­ ten verdienen" (74/3693). 39 Die Auswirkungen der französischen Emanzipationsgesetzgebung auf Baden scheinen jedoch im ganzen gering gewesen zu sein; direkte Einflüsse lassen sich jeden­ falls bis zur Rheinbundzeit nicht feststellen. Wenn es 1817 in einem schon durch den Geist der Reaktion geprägten Gutachten über die Emanzipation in Frankreich und den Niederlanden hieß, noch sei „der praktische Wert jener Kinder des Sturms nicht hin-

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Anmerkungen zu Seite 43—44 länglich geprüft, als daß man da, wo es die Not nicht gebeut, sich danach richten möchte" (236/6051), so dürfte damit weitgehend auch die Auffassung der badischen Beamten im ausgehenden 18. Jahrhundert wiedergegeben sein. Die Nahe zum Elsaß, wo es eine zahlenmäßig starke jüdische Landbevölkerung gab, mochte bei dieser Di­ stanz gegenüber der revolutionären Emanzipationsgesetzgebung ebenfalls eine Rolle spielen: noch in den Landtagsdebatten der dreißiger Jahre wurde häufig damit argu­ mentiert, daß man ja gerade im Elsaß beobachten könne, daß die volle Gleichstellung durchaus nicht die Wirkungen erziele, die man sich auf Seiten der Emanzipations­ freunde von ihr verspreche. 40 Baumgärtner, 8. 5. 1793 (74/3689). 41 Holzmann erwies sich in seinen Gutachten als ein ungewöhnlich gut mit der Ge­ samtproblematik vertrauter Mann; die Literatur war ihm geläufig, er kannte neben Dohm u. a. auch die Schriften von Mendelssohn, Friedländer und Michaelis. Sein er­ stes größeres Gutachten war vom 28. 8. 1797 datiert (74/3689). 42 Text des Gutachtens: 74/3691; datiert: „im Februar und März 1801". 43 So sollten sie von öffentlichen Ämtern im allgemeinen ausgeschlossen bleiben, „solange die Religionsverfassung mit unserer Staatsverfassung in Verbindung steht"; trotz des Grundsatzes, daß ihnen alle, auch die zünftigen Gewerbe offen stehen, soll­ ten sie von Fall zu Fall Einschränkungen unterworfen werden, um „Übersetzungen" zu vermeiden, mit denen niemandem geholfen sei. Erstmalig wies Holzmann auch dar­ auf hin, daß die Juden mit den staatsbürgerlichen Rechten nicht zugleich ortsbürgerli­ che Rechte, sondern nur die Rechte der Hintersassen und Schutzbürger erhalten wür­ den. Das war eine Regelung, die sich unter den gegebenen Verhältnissen - auch ein großer Teil der christlichen Untertanen hatte in den Gemeinden nur Schutzbürgerrech­ te - gleichsam von selbst ergab, die aber bei der rechtlichen und sozialen Stellung der alten Bürgergemeinde in Baden von großer Bedeutung für den Verlauf der Emanzipa­ tion werden konnte. 44 Das Gutachten fand die Zustimmung des Hofrats- und auch des Rentkammer­ kollegiums, wenn auch einschränkend bemerkt wurde, es sei sehr wichtig, „hierin stu­ fenweise und langsam zu Werke zu gehen" (74/3691). - Inzwischen waren auch von der Kurpfälzischen Regierung Schritte zur „bürgerlichen Verbesserung" der Juden ein­ geleitet worden. Am 9. 6. 1801 hatte die Landjudenschaft ihre Bitte um bürgerliche Gleichstellung und Befreiung von drückenden Lasten vorgetragen. Am 16. 6. 1801 for­ derte die Regierung die Städte und Oberämter zu gutachtlichen Berichten über die Frage der „Veredelung" dieser „Menschen-C lasse" auf. Die vorliegenden Berichte, de­ nen teilweise die Gutachten der Gemeinden beiliegen, zeigen durchweg eine emanzipa­ tionsfreundliche Tendenz, wenn auch über die zu ergreifenden Maßnahmen sehr unter­ schiedliche Meinungen geäußert wurden (77/3034). 45 Die Markgrafschaft Baden hatte nach den Angaben von A. J . V. Heunisch, Das Großherzogthum Baden, historisch-politisch-topographisch beschrieben, Heidelberg 1857, S. 32, im Jahre 1802 192 634 Einwohner, darunter 2265 Juden; 61,52% waren lutherisch, 36,58% katholisch, 0,64% reformiert, 0,09% Mennoniten und 1,17% Ju­ den. Nach der offiziellen Zählung vom Dezember 1808 hatte das Großherzogtum Ba­ den 924 307 Einwohner, darunter 14 200 Juden; jetzt waren 66,6 % katholisch, 24,9 % lutherisch, 6,7 % reformiert, 0,3 % Mennoniten und 1,5 % Juden (ebd., S. 54). - In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lag dann die Bevölkerungszunahme bei den Juden deutlich über dem Landesdurchschnitt: von 1817-1861 war eine Zunahme von 51,2 % gegenüber einer Gesamtbevölkerungszunahme von 35,5 % zu verzeichnen (nach: Das Großherzogtum Baden, Karlsruhe 1885, S. 334). In dem vom Badischen Statistischen Landesamt herausgegebenen Werk: Die Religionszugehörigkeit in Baden in den letzten 100 Jahren, Freiburg 1928, werden folgende Zahlen zur jüdischen Bevölkerungsent-

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Anmerkungeri zu, Seite 44-45 wicklung gegeben (in Klammern der Anteil an der Gesamtbevölkerung): 1825: 17577 (1,6%), 1852: 23699 (1,7%), 1875: 26492 (1,7%), 1900: 26132 (1,4%), 1925: 24064 (14 % ) • 46 Die jüdische Bevölkerung verteilte sich auf insgesamt 173 Gemeinden des Groß­ herzogtums; davon entfielen nach einer Statistik des Oberrats der badischen Israeliten von 1810 (236/6050) auf die Oberrheinprovinz 13, die Mittelrheinprovinz 38 und die Unterrheinprovinz 122 (hier eingeteilt in „Distrikte": Heidelberg mit 26, Bischofsheim mit 23, Bretten mit 17, Mosbach mit 19, Wertheim mit 22 und Merchingen mit 15 Ge­ meinden). 1825 gab es in Baden 16 Gemeinden mit 200 und mehr jüdischen Bewoh­ nern (nach: Die Religionszugehörigkeit..., S. 118 ff.): Mannheim (1456), Karlsruhe (893), Gailingen (596), Breisach (438), Heidelberg (349), Schmieheim (325), Randegg (289), Merchingen (250), Altorf (244), Eichstetten (227), Wangen (224), Bühl (222), Neidenstein (215), Sulzburg (207), Emmendingen (204), Hoffenheim (200). Einen jüdi­ schen Bevölkerungsanteil von über 2 % hatten 1825 die Amtsbezirke: Sinsheim (6,4 % ) , Konstanz (5 % ) , Adelsheim (4,5 % ) , Mannheim (4,5 % ) , Wiesloch (3,8 % ) , Bretten (3,5 % ) , Lahr (2,7 % ) , Weinheim (2,5 % ) , Mosbach (2,4 % ) , Buchen (2,3 % ) , Karlsru­ he (2,2 % ) , Tauberbischofsheim (2,2 % ) . 47 Vgl. hierzu: Lewin, S. 51 ff.; Rosenthal, S. 59 ff.; L. Löwenstein, Geschichte der Juden in der Kurpfalz, Frankfurt 1895; ders., Geschichte der Juden am Bodensee und Umgebung, Konstanz 1879; C . Th. Weiß, Geschichte und rechtliche Stellung der Juden im Fürstbistum Straßburg, besonders in dem jetzt badischen Teile, Bonn 1896; Täubler­ Stern, S. 13 ff. (mit weiteren Literaturangaben). 48 Tätigkeit und Bedeutung der badischen Hoffaktoren sind auf Grund eingehender Quellenstudien zusammenfassend dargestellt von H. Schnee, Die Hoffinanz und der moderne Staat, 4. Bd., Berlin 1963, S. 43 ff.; über die pfälzischen Hoffaktoren, über die allerdings sehr viel weniger bekannt ist: ebd., S. 178 ff. Zu den großen, weit in das 19. Jahrhundert hinein einflußreichen Familien gehörten um 1800 in Karlsruhe: Model­ Mayer, Reutlinger, Kusel, Seligmann (Frhr. v. Eichthal), Haber, Ettlinger, Levi; in Mannheim: Ladenburg, Hohenemser, Dinkelspiel, Nauen, Mayer u. a. m. Kulturge­ schichtlich interessante Details zur Geschichte der Karlsruher Juden bei F. Hirsch, Hun­ dert Jahre Bauen und Schauen, 2 Bde., Karlsruhe 1928/32. Die Juden gehörten zu den großen Bauherren der Stadt Karlsruhe (u. a. erbaute Reutlinger das spätere Palais Für­ stenberg); die 1798 erbaute Synagoge, der erste Monumentalbau Friedrich Weinbren­ ners, zählte zu den Sehenswürdigkeiten der Residenzstadt. 49 Nach einer von Holzmann 1801 aufgestellten Tabelle (74/3691) betrug das Ge­ samtvermögen der Juden in der Markgrafschaft Baden 749 405 fl., was einem durch­ schnittlichen Vermögen von 1850 fl. pro Haushalt und 343 fl. pro Kopf entsprechen würde. Läßt man jedoch die völlig aus dem Rahmen fallenden Zahlen für das Ober­ amt Karlsruhe (93 Haushalte bzw. 551 Personen mit einem Gesamtvermögen von 415 350 fl.) außer acht, so ergibt sich ein durchschnittliches Vermögen von nur 1070 fl. pro Haushalt und 204 fl. pro Kopf. Zwar gab es auch in den kleineren Städten und Landgemeinden einige jüdische Vieh- und Kramhändler mit einem Vermögen von mehreren 1000 fl., in vielen Landgemeinden betrug jedoch das pro Kopf-Vermögen we­ niger als 100 fl. (detaillierte Angaben hierzu in den Berichten der Ämter und Oberäm­ ter von 1797: 74/3704). Zu berücksichtigen ist bei diesen Berechnungen freilich, daß die Vermögensangaben häufig nur Schätzwerte darstellten bzw. auf den Berechnungs­ grundlagen der jüdischen Gemeindeumlagen (der sog. Judenschatzung) beruhten. Im allgemeinen wurden jedoch die Angaben von den Amtmännern nicht beanstandet; le­ diglich in Pforzheim ergab sich eine bemerkenswerte Differenz zwischen den jüdischen Angaben von 17 500 fl. Gesamtvermögen und den städtischen Schätzungen von 65 100 fl. 50 74/3704; ähnliche Erhebungen wurden 1801 in der Pfalz aufgestellt, die Anga-

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Anmerkungen zu Seite 45—47 ben über die Gewerbe sind dort jedoch meist allgemeiner gehalten (77/3034). Neben Viehhandel, Kramhandel und „Geldwucher" wurden in Baden häufig genannt: Handel mit Leder, Eisen und Alteisen, Kleidern, Spezereiwaren, Sackhandel und Hausierhan­ del oder einfach „geringer Handel" („mit lauter alten Sachen betreibt er einen Han­ del", „handelt was ihm unter die Hände kommt"). Nicht Handel treibende Gewerbe gab es nur vereinzelt; einige Metzger und Schuhmacher, 2 Seifensieder und Lichterma­ cher, 2 Goldsticker, 1 Petschierstecher, 2 Schlosser (in Grötzingen), einige Frauen, die sich mit Stricken ernährten, und schließlich Rabbiner, Vorsänger, Schulmeister, Stores­ schreiber usw. 51 Die allgemeine Problematik einer jüdischen Gewerbe- und Vermögensstatistik ist überzeugend herausgearbeitet in einem Bericht des Bruchsaler Judenvorstehers Bonfil Levi vom 25. 4. 1785 nach Speyer (78/578): „Diese Punkte sind nicht möglich so ge­ nau zu bestimmen, indem die wenigsten Juden an gewisse Händel sich binden; heute läßt sich einer in diesen, morgen in einen andern Handel ein, und verläßt den er­ stern, je nachdem einer C redit, Vermögen und Gelegenheit dazu hat, und wie ihm ein Handel vor- oder zurückschlägt. - Ebenso unmöglich ist es auch, eines Juden Vermö­ gen bestimmt angeben zu können, indem keiner liegende Gründe besitzet, sondern alles Vermögen bei den meisten in ihrem Handel versteckt ist, wodurch einer bald glück­ lich, bald unglücklich, heute arm, morgen reich, und kurz reich, kurz arm sein und werden kann, zumalen ein Jud sein Geld oder seine Waren lange borgen und endlich seine Forderungen öfters gar verlieren und dabei verderben muß." 52 Als Nothandel kann man allgemein einen solchen Handel bezeichnen, der ohne ausreichendes Kapital und geregelten Geschäftsgang aus „Not", d. h. in Ermangelung jeder anderen Erwerbsmöglichkeit, zur Fristung der dringendsten Lebensbedürfnisse betrieben wurde. In § 19 des Edikts vom 13. 1. 1809 wurden unter den Nothandel gerechnet: die „Mäklerei" (Ausmittlung und Vermittlung von Handelsgelegenheiten), insbesondere die „Viehmäklerei", der Hausierhandel, der Trödelhandel (Ein- und Verkauf alter Waren) und der Leihhandel (Geldverleih im kleinen auf Faustpfänder oder Pfandscheine). 53 Vgl. zum folgenden: J . M. Holzmann, Über das rechtliche Verhältnis der Juden im Badischen, in: Magazin von und für Baden, Jg. 1802, 1. Bd., S. 72 ff., 2. Bd., S. 34 ff.; der sehr informative Aufsatz beruht im wesentlichen auf dem Gutachten Phi­ lipp Holzmanns von 1801. 54 Üblich war es, daß der älteste Sohn einen Schutzbrief erhielt, der ihn zu Heirat und Niederlassung berechtigte; ein Rechtsanspruch darauf bestand jedoch nicht. In der Praxis verfuhr man im allgemeinen allerdings nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes, und auch nacheeborene Söhne konnten häufig einen Schutzbrief erhalten. 55 Regierungsrat von Müßig, Gutachten vom 17. 9. 1811 (236/6050). 56 Vgl. W. Andreas, Geschichte der badischen Verwaltungsorganisation und Verfas­ sung in den Jahren 1802 bis 1818, Leipzig 1913, und E. Arndt, Vom markgräflichen Patrimonialstaat zum großherzoglichen Verfassungsstaat Baden, in: ZGO, Bd. 101, 1953, S. 156 ff. u.S. 436 ff. 57 Inzwischen war am 20. 1. 1804 endlich auch in Baden der Juden-Leibzoll aufge­ hoben worden (Reg. Bl. 1804, Nr. 4, S. 21). 58 Erstes C onstitutions-Edict, die Kirchliche Staatsverfassung des Großherzogthums Baden betreffend, Karlsruhe 1807. 59 Reg. Bl. 1808, Nr. 18 u. 19, S. 145 ff. 60 Reg. Bl. 1809, Nr. 6, S. 29 ff.; Original (nach dem zahlreiche Druckfehler des Reg. Bl.s zu berichtigen sind) mit Unterschrift und Siegel: 230/77. Das Edikt trat zum 1. 7. 1809 in Kraft. 61 Über Johann Nikolaus Friedrich Brauer s. W. Andreas, in: Neue Deutsche Bio-

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Anmerkungen zu Seite 47—48 graphie, 2. Bd., Berlin 1955, S. 542 f., dort auch die ältere Literatur, Die Vorgeschich­ te des Edikts vom 13. 1. 1809 ist nicht mehr im einzelnen zu erhellen, da die entspre­ chenden Akten offensichtlich schon bald nach Erlaß des Edikts - wie aus Bemerkun­ gen in anderen Akten hervorgeht - verloren gegangen sind. Auf das Vorbild der fran­ zösischen und der westfälischen Gesetzgebung, vor allem hinsichtlich der kirchlichen Organisation der Juden, wies Brauer selber in den Jahren 1810/11 mehrfach hin (236/6050). 62 § 1 des Edikts bezeichnete das Judentum nun nicht mehr - wie das I. Konstitu­ tionsedikt - als „konstitutionsmäßig geduldete" Religion, sondern als „einen eigenen konstitutionsmäßig aufgenommenen Religionstheil unserer Lande". Das bedeutete nach der Interpretation des Regierungsrats von Müßig (17.9. 1811), daß die „jüdische Kir­ che" damit „auf immer und ohne Aufkündigungsvorbehalt" im Großherzogtum zuge­ lassen war (236/6050). 63 Zulässig blieb der Nothandel nach § 20 und § 21 des Edikts in zwei Fällen: 1. für diejenigen, die sich bisher vom Nothandel ernährt und das 21. Lebensjahr bereits überschritten hatten; 2. als Nebenerwerb, wenn lokale oder auch persönliche Verhält­ nisse es unmöglich machten, sich allein durch das erlernte ordentliche Gewerbe zu ernäh­ ren. In beiden Fällen mußte eine Nothandelskonzession erworben werden. Im Jahre 1810 hatten in der Oberrheinprovinz auf Grund dieser Bedingungen 244 von insge­ samt 410 Erwerbstätigen eine Konzession erhalten (236/952). Für die beiden anderen Provinzen Hegen keine entsprechenden Zahlen vor. 64 Hierzu hatte schon § 23 des VI. Konstitutionsedikts bestimmt: „Niemand kann um irgend einer Religion willen von der Erlernung und Ausübung irgend eines Gewer­ bes durch die Zünfte oder Meister bei Verlust ihrer Meisterrechte ausgeschlossen wer­ den." Vgl. R. Goldmann, Die rechtlichen Grundlagen der badischen Gewerbegesetzge­ bung im 19, Jahrhundert, Rechts- und staatswiss, Diss. Freiburg 1953 (Ms.), S. 10 f. 65 Zusammensetzung, Tätigkeitsbereich und Arbeitsweise des Oberrats wurden im einzelnen festgelegt in den §§ 34-41. Die Stellung des Oberrats gegenüber Gemeinden und Behörden erfuhr eine wesentliche Stärkung durch eine Verordnung vom 4. 5. 1812, die einen vom Großherzog ernannten Ministerialkommissar mit der verantwortli­ chen Leitung der Oberratsgeschäfte betraute; nur in reinen Religionsangelegenheiten hatte der Ministerialkommissar kein Stimmrecht. Eine weitere Änderung brachte dann eine Verordnung vom 5. 3. 1827: statt wie bisher in Plenum und Ausschuß wurde der Oberrat jetzt in eine Administrations-, eine Religions- und eine Schulkonferenz ge­ gliedert. Diese Organisation blieb im wesentlichen bis zum Ende des Emanzipations­ zeitalters erhalten. - „Nicht bloß der Secretair, sondern im Grunde die Seele des Oberrats", wie L. Winter dem Staatsministerium am 24. 8. 1830 berichtete (33/31325), war Naphtali Epstein (1782-1852), ein Mann, der allgemeine wissenschaftliche Bil­ dung mit großen theologischen Kenntnissen verband und ein würdiger Repräsentant des sich erneuernden Judentums war. Seinem vorsichtigen, aber unermüdlichen Reform­ streben war zu einem wesentlichen Teil jene „innere Emanzipation" der Juden, von der Welcker gesprochen hatte, zu verdanken. Wenige Jahre vor seinem Tode würdigte das Innenministerium seine Verdienste mit den Worten: er habe es sich „zur Lebens­ aufgabe" gemacht, „die Lage der Israeliten zu verbessern, ihre Verhältnissen zu ordnen und sie zur Gleichstellung mit den Christen vorzubereiten", und er sei „sein langes Le­ ben hindurch diesem Ziele treu geblieben" (28. 12. 1849; 33/31325). Eine biographische Skizze bietet S. Reichenberger, Oberrat Naphtali Epstein, in: Gedenkbuch zum 125jährigen Bestehen des Oberrats der Israeliten Badens, S. 105 ff. 69 Vgl. Lewin, S. 102; zu dem „gehässigen Sektennamen" vgl. Holzmann 1801: es sei „der Name Jude in dem Munde eines Christen schon etwas, das einen Schimpf und Verachtung in sich faßt". - Noch 1846 mußten die Juden von Neckarbischofsheim 143 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 48-49 Klage darüber führen, daß sie vom Gemeinderat „offiziell" als „Schutzjuden" bezeich­ net »und demgemäß behandelt" wurden (Petition vom 3. 6. 1846: 236/6053). 67 Erlaß des Innenministeriums vom 3. 10. 1823 (236/6051); ein entsprechender Er­ laß des Justizministeriums erging am 22. 10. 1823. - Die Frage kam auch in den fol­ genden Jahrzehnten nie ganz zur Ruhe. So erhob z. B. der Oberrat am 1. 9. 1842 Be­ schwerde gegen eine Verordnung des Mittelrheinkreises, in der von den „von einer Ju­ denbande aus dem Elsaß ausgeübten Betrügereien" die Rede war; der Oberrat begrün­ dete seine Beschwerde damit, daß ja auch in anderen Fällen niemals von einer „Ka­ tholikenbande" gesprochen werde (236/6052). 68 Äußerungen der Zustimmung und des Widerspruchs in den Akten des Innenmi­ nisteriums (236/6049 f.). Wie weit die oft wiederholte Behauptung zutrifft, daß das Edikt vorbildlich für die Judenordnungen zahlreicher anderer deutscher Staaten ge­ worden sei, müßte erst noch genauer untersucht werden. Im badischen Landtag wurde es seit 1819 immer wieder als eines der schönsten Denkmale der weisen und humanen Politik Karl Friedrichs gefeiert. 69 236/6048; in den Auseinandersetzungen herrschte zeitweise ein ganz ungewöhn­ lich scharfer Ton. Vgl. allgemein F. Schnabel, Sigismund von Reitzenstein, der Begrün­ der des badischen Staates, Heidelberg 1927. 70 Bedenken gegen die zentralisierte kirchliche Organisation der Juden und deren Kosten, die für kleinere Landgemeinden viel zu hoch seien, wurden am 10. 6. 1809 auch von der Regierung der Oberrheinprovinz erhoben. Die Regierung der Mittel­ rheinprovinz und auch das Kabinettsministerium wandten sich vor allem gegen die Er­ richtung des Oberrats, der den Traditionen des Judentums zuwiderlaufe, zu teuer und überhaupt gänzlich überflüssig sei; Kultus- und Schulangelegenheiten könnten ohne weiteres wie bisher den einzelnen Synagogengemeinden überlassen bleiben. In der Ab­ wehr dieser Angriffe stellte Brauer am 13.12.1811 noch einmal seine Konzeption deut­ lich heraus: „Niemals werden die Kultusverbesserungen der Juden gedeihen, wenn man den Unterhalt der Synagoge und Erziehungserfordernisse einzelnen Lokalgemein­ den heimweiset; das ist nicht vorteilhafter, als wenn man den Rheinbau oder dergl. et­ was einzelnen Gemeinden auf den Hals legen wollte. Nationalbildung ist Nationalsa­ che und muß durch Nationalkräfte erreicht werden" (236/6050). 71 Schon am 15. 7. 1809 hatte die Regierung der Mittelrheinprovinz behauptet, als „Staat im Staate" würde das Judentum nach der neuen Ordnung „das Mark des Hauptstaates nach und nach auszusaugen Anlaß und Gelegenheit finden"; am 21. 11. 1809: durch die geplanten Förderungsmaßnahmen für den Übergang der Juden in bür­ gerliche Gewerbe werde „in wenigen Jahren alles Gewerb in den Händen der Juden sein" (236/6049). - Unvermeidliche lokale Konflikte, die sich - zumal bei den Metz­ gern - aus der veränderten Konkurrenzsituation ergaben, sind in mehreren Berichten von unteren Behörden anschaulich geschildert: 236/6050, 72 In diesem Edikt war im Gegensatz zu Geist und Wortlaut der Organisationse­ dikte die aus früheren Judenordnungen bekannte Unterscheidung zwischen den Rechten erst- und nachgeborener Söhne der Juden wieder aufgenommen worden. So wurde die schutzbürgerliche Annahme eines Erstgeborenen den Ämtern, die der Nachgeborenen dagegen den Bezirksämtern zugesprochen, und zwar unter Bedingungen, die für einen großen Teil der nachgeborenen Söhne die Verweigerung der Annahme zur Folge haben mußten. 73 Innenministerium an das Staatsministerium, 11. 1. 1810 (236/6049). 74 Aufsätze Brauers vom 13.12. und 18.12.1811; Gutachten v. Müßigs über „die Rechtsverhältnisse der Juden und die Revision der hierunter ergangenen neueren Ge­ setze" vom 17. 9. 1811 (236/6050). Müßig wurde 1812 zum ersten Ministerialkom­ missar beim Oberrat ernannt.

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Anmerkungen zu Seite 49 75 Brauer hatte am 18. 12. 1811 seinen „alten Plan" folgendermaßen skiziert: „A. Das VI. Konstitutions-Edikt zeichnet den Grundriß der Rechte und Pflichten der Ju­ den im Vorübergehen; B. das organische Edikt [v. 13. 1. 1809] über die Judenverfas­ sung zeichnet den Aufriß derselben nach allen ihren Verhältnissen; C . einzelne organi­ sche Ministerialausschreibungen führen den Bau nach dem Aufriß aus.'' - Diesem Plan entsprachen zunächst die beiden Verordnungen vom 4. 5. 1812 (Reg. Bl. Nr. 19, S. 102 ff.) über „die nähere Bestimmung des jüdischen Kirchenregiments'' (s. Anm. 65) und über „die gemeinde- und schutzbürgerliche Annahme der Juden" (darin wurde die Unterscheidung zwischen erst- und nachgeborenen Söhnen wieder aufgehoben und ge­ nerell die Annahme der Juden durch die Bezirksämter verfügt). 76 Reg. Bl. 1815, Nr. 5, S. 21 ff.; § 2 lautete: „Mit dem Eintreten des neuen Steu­ er-Fußes hören alle bisherigen Grund-, Häuser-, Gewerbe-, Bürger-, Fahrnis- und Vieh-Steuern, sowie die Schutzgelder der Juden, überhaupt alle bisherigen direkten Steuern auf." Der Paragraph wurde - nach einigen Jahren der Unsicherheit - so aus­ gelegt, daß für die Juden nur die Schutzgelder aufgehoben waren, alle übrigen alten Abgaben (Satzgelder, Abgaben an Standes- und Grundherren) aber neben der neuen Gewerbesteuer weiterbestanden (Verfügung des Staatsministeriums vom 26. 6. 1823). 77 Im I. Konstitutionsedikt § 8 war bereits bestimmt worden, daß Staatsbürger, die nicht einer der drei christlichen Konfessionen angehörten, „von exekutiven Dienststel­ len des Staates nicht ausgeschlossen sind''. Da jedoch von Anfang an Unklarheiten darüber bestanden, was „exekutive Stellen'' seien, waren die Juden praktisch weiterhin vom Staatsdienst völlig ausgeschlossen geblieben. 78 Vgl. dazu die gründliche Untersuchung von E. M. Dreifuß, Die Familiennamen der Juden, unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Baden zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Emanzipation, Frankfurt 1927. 79 Die Edikte über die Kriegspflichtigkeit vom 15. 3. 1808 und die Konskriptions­ gesetze vom 29. 9. 1808 und 28. 6. 1812 galten für die Juden ebenso wie für alle an­ deren Staatsbürger. Die Verordnung über „die Aufhebung der Milizfreiheiten" vom 13. 2. 1808 bestimmte in den §§ 1 und 8 ausdrücklich, daß die Juden genauso wie die Christen in die Auswahl genommen bzw. zur Aufbringung der Werbekosten herangezo­ gen werden sollten. Schwierigkeiten wegen des Dienstes der Milizsoldaten am Sabbath wurden bald behoben (vgl. Lewin, S. 119 f.). 80 „Tabellarisches Verzeichnis derjenigen Israeliten in dem Großherzogthum Baden, welche sich seit dem Jahre 1809 auf ein anderes bürgerliches Gewerbe als auf den Handel, nämlich ein wissenschaftliches Fach, ein Handwerk oder den Ackerbau gelegt haben. Gefertigt im Jahre 1816": 236/953. Bei 15706 jüdischen Einwohnern im Jahre 1816 entsprechen 353 Erwerbstätige, die sich nicht dem Handel oder dem Nothandel widmeten, einem Anteil von ca. 11 % aller jüdischen Gewerbetreibenden. Neben den 319 in Handwerk und Ackerbau Tätigen wurden 6 Fabrikanten (Waffen- und Spinn­ maschinen-, Krapp-, Karten-, Schreibmaterialien- und 2 Tuchfabriken), 4 „Künstler" (Graveur, Modellstecher, Musiker und Schriftsetzer), 4 „Schreiber" (2 Aktuare, 1 Kanzlist des Karlsruher Polizeiamtes, 1 Oberratsekretär) und 20 wissenschaftlich ge­ bildete Männer (7 Mediziner, 5 Juristen, 2 Philologen, 2 Philosophen und vier andere Studierende) aufgeführt. Die Akademiker waren in der Mehrzahl, aber nicht aus­ schließlich in Karlsruhe und Mannheim wohnhaft, ebenso zahlreiche Handwerker. Ak­ kerbau wurde vornehmlich im Bodenseeraum (Randegg und Gailingen) und im Unter­ land getrieben. 81 Die größten Kontingente unter den Handwerkern stellten die Metzger (86), Schuhmacher (49), Schneider (39) und Seifensieder (16); außerdem gab es 7 Tuchma­ cher, 6 Bäcker, 4 Goldsticker, 4 Uhrmacher, je 3 Buchbinder, Goldarbeiter, Hauderer, Hutmacher, Kammacher, Schlosser und Wirte, je 2 Bierbrauer, Bortenwirker,

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Anmerkungen zu Seite 49-50 Bürstenmacher, Gerber, Glaser, Leimsieder, Leineweber, Sattler, Schönfärber und Schreiner, je 1 Buchhändler, Dreher, Gürtler, Kübier, Küfer, Pottaschsieder, Säck­ ler, Silberarbeiter, Stricker, Strumpfweber, Wachszieher, Zeugschmied und Zuckerbäk­ ker. - „Zünftig aufgenommen" waren vor allem Metzger; „auf Wanderschaft" befan­ den sich u. a. 1 Schlosser, 1 Bäcker und 1 Goldsticker. - Im Innenministerium (Gut­ achten v. Baur) wurde 1817 im Vergleich mit den Gewerbeverhältnissen im Dreisam­ kreis errechnet, daß der Zahl von 15706 jüdischen Staatsbürgern eigentlich eine Zahl von 540 jüdischen Handwerkern gegenüber stehen müßte (236/6051). Die auf Grund dieser Berechnung geübte Kritik scheint jedoch unberechtigt; es muß vielmehr als ein beachtlicher Erfolg betrachtet werden, daß innerhalb weniger Jahre, bei dem Ausfall fast der ganzen älteren Generation, im Handwerk schon etwa 50 % des errechneten Satzes erreicht worden waren. Starke Unterschiede, durch vielerlei Ursachen bedingt, zeigten sich allerdings noch in der Aufgliederung der Gesamtzahl der Handwerker nach einzelnen Berufen. 82 Frhr. v. Eichthal, Oberrat und Hofbankier Haber, Oberrat Kusel und Hoffaktor Reutlinger gehörten dem „Museum", dem vornehmsten Verein im ganzen Großherzog­ tum, als Mitglieder an (Verzeichnis der Mitglieder des Museums, Karlsruhe 1815); Ha­ ber und Kusel waren auch Gründungsmitglieder des Kunstvereins (Abt. 69, Akten des Bad. Kunstvereins, Fasz. 71/72). Unter den 28 Gründungsmitgliedern der „Handelsstu­ be" (1813) befanden sich u. a. Kusel, Model, Homburger, Levi, Willstätter, Seligmann (L. Kölsch, Die Geschichte der Handelskammer für die Kreise Karlsruhe und Baden, Karlsruhe 1925, S. 17); für Mannheim vgl. A. Blaustein, Die Handelskammer Mann­ heim und ihre Vorläufer, Mannheim 1928, passim). 83 Vgl. S. W. Baron, Die Judenfrage auf dem Wiener Kongreß, Wien 1920, und E. Sterling, Er ist wie Du. Aus der Frühgeschichte des Antisemitismus (1815-1850), Mün­ chen 1956. 84 236/6051; am 29. 5. 1818 war sogar in einem Ministerialbeschluß von den „nur vom Schweiß der C hristen lebenden Juden" die Rede. Der Umschwung zur schroffen Reaktion in der Behandlung der Judensachen vollzog sich mit der Übernahme der (provisorischen) Leitung des Innenministeriums durch den Ministerialdirektor Frhr. v. Sensburg. Sensburg, der in seiner Jugend die Taufe genommen hatte und später aus speyerischen in badische Dienste übernommen worden war, war ein entschieden kon­ servativ gesinnter Mann (vgl. F. v. Weech, in: Badische Biographien, 2. Teil, S. 295 ff.). 85 Das eindrucksvollste Dokument dieser Auffassungen ist der über 150 Seiten star­ ke „Vortrag über die Bestimmung der bürgerlichen Verhältnisse und Religionsverfas­ sung der Juden, zunächst in Beziehung auf das Großherzogthum Baden" von E, v. Baur im Dezember 1817 (236/6051). 86 Beschluß des Innenministeriums vom 29. 5. 1818 (236/6051): die Schutzbürger­ rechte sollten künftig nur noch auf den Erstgeborenen vererbt und den nachgeborenen Söhnen eines Juden nur unter besonderen Bedingungen gewährt werden. 87 „Verfassungs-Urkunde für das Großherzogthum Baden" (Reg. Bl. 1818, Nr. 18, S. 101 ff.). 88 § 9: „Alle Staatsbürger von den drei christlichen C onfessionen haben zu allen Civil- und Militärstellen und Kirchenämtern gleiche Ansprüche." § 19: „Die politi­ schen Rechte der drei christlichen Religionstheile sind gleich." Der § 9 wurde zunächst dahin interpretiert, daß durch ihn die Juden von allen Staatsämtern ausgeschlossen sei­ en; in diesem Falle hätte ein Verstoß gegen Artikel 16 der Bundesakte vorgelegen, da den Juden bereits 1807 (s. Anm. 77) der Zugang zu „exekutiven Dienststellen des Staates" eröffnet worden war. Seit 1830 setzte sich dann die Interpretation durch, daß durch den § 9 zwar kein Anspruch der Juden begründet, dem Großherzog aber auch 146 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 50-51 nicht das Recht genommen sei, nach èigenem Ermessen Juden zum Staatsdienst zuzu­ lassen. Praktisch blieben jedoch die Juden auch dann noch von allen Staatsämtern aus­ geschlossen. 89 Dagegen war nach § 36 die Wahl von Juden zu Wahlmännern zulässig. Das ak­ tive Wahlrecht der Juden war in keiner Weise beschränkt. 90 F. Rühs, Über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht, Berlin 1816 2 ; Baur bezog sich 1817 in der Einleitung seines Vortrags ausdrücklich auf Rühs, Fries und Dresch, die Wortführer der emanzipationsfeindlichen Richtung, daneben auch auf die ebenfalls kritischen Schriften von Paulus und Schmidt-Phiseldeck, wäh­ rend er von den emanzipationsfreundlichen Autoren Ewald und C . A. Buchholz (?) nannte. 91 J . F. Fries, Über die Gefährdung des Wohlstandes und des C harakters der Deut­ schen durch die Juden, Heidelberg 1816; H. E. G. Paulus, Beiträge von jüdischen und christlichen Gelehrten zur Verbesserung der Bekenner des jüdischen Glaubens, Frank­ furt 1817; ders., Beurtheilende Übersicht der über die Ansprüche der Frankfurter Ju­ denschaft auf das dortige Bürgerrecht kürzlich erschienenen Hauptschriften, Heidel­ berg 1817 (weitere Veröffentlichungen von Paulus zur Emanzipationsfrage erschienen in den 20er und 30er Jahren); J . L. Ewald, Ideen über die nöthige Organisation der Israeliten in christlichen Staaten, Karlsruhe 1816; ders., Der Geist des C hristentums und des ächten Volkstums, dargestellt gegen die Feinde der Israeliten, Karlsruhe 1817; von den badischen Juden beteiligte sich an den Auseinandersetzungen nur S. Zimmern, Versuch einer Würdigung des Angriffs des Herrn Prof. Fries gegen die Juden, Heidel­ berg 1816; erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch noch eine Schrift des badischen Ministerialdirektors E. Ph. Frhr. v. Sensburg, Welche Hindernisse stehen der bürgerli­ chen Verbesserung der Juden in den deutschen Bundesstaaten entgegen, und wie sind sie zu heben, damit der Art. 16 der Bundes-Acte in Erfüllung kommen kann? Karlsru­ he 1821 (dagegen dann noch einmal Ewald, 1821). 92 Vgl. Lewin, S. 177; die Haltung der badischen Regierung dürfte sich u. a. auch aus der Tatsache erklären, daß Fries schon früher mit seiner allgemeinen politischen Gesinnung in Karlsruhe Anstoß erregt hatte. 93 Genaue Untersuchungsberichte liegen für die Vorgänge in Heidelberg vor: 236/5505. 94 Erlaß des Innenministeriums vom 31. 8. 1819 (339/928): die bisherigen „Excesse" in verschiedenen Gegenden Deutschlands und auch im Großherzogtum „lassen befürch­ ten, daß es auch in solchen Gemeinden, die sich bisher ruhig verhielten, zu ähnlichen Auftritten kommen möchte, die schlechterdings nicht geduldet werden dürfen, weil der Staat jedem Untertan, welches Glaubens er sei, Schutz seiner Person und seines Eigen­ tums schuldig ist, und weil dergleichen Bewegungen, wenn sie auch im Anfang uner­ heblich und unbedeutend scheinen sollten, zu Vorfällen führen können, welche die öf­ fentliche und allgemeine Sicherheit gefährden und alsdann ohne Anwendung schwerer Strafmaßnahmen nicht zu beseitigen sind". 95 Im allgemeinen wurden bei den Unruhen auch politisch enttäuschte Studenten unter den Anstiftern vermutet; in Heidelberg waren es jedoch gerade die Studenten, die unter Anführung der Professoren Daub und Thibaut eine Sicherheitswache für die Juden einrichteten. Von der Bürgerschaft wurde dieses Eingreifen zum Teil übel auf­ genommen, und in einem Bericht des Untersuchungskommissars vom 30. 8. hieß es so­ gar: „Eigentlich ist über das Benehmen der Bürgerschaft gegen die Akademiker mehr zu wachen, als über jenes gegen die Juden; letztere scheinen ganz, wenigstens für den Augenblick, vergessen." 96 Bericht vom 30. 8. 1819; weitere Motive wurden in dem Bericht vom 1. 9. er­ wähnt: „Haß gegen das Gedeihen der Juden, Handwerksneid, das von mehreren aus147 10* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 51-53 wärtigen Städten gegebene Beispiel und endlich die von lange her vorbereitete Auflö­ sung aller Ordnung und Polizei". 07 Rahel Varnhagen, die 1816-1819 in Karlsruhe lebte, schrieb am 29. 8. 1819 an ihren Bruder, den Schriftsteller Ludwig Robert: „Ich bin gränzenlos traurig: und in einer Art, wie ich es noch gar nicht war. Wegen der Juden. Was soll diese Unzahl Vertriebener thun. Behalten wollen sie sie: aber zum Peinigen und Verachten; zum Judenmauschel' Schimpfen; zum kleinen dürftigen Schacher; zum Fußstoß und Trep­ penrunterwerfen. Die Gesinnung ist's, die verwerfliche, gemeine, vergiftete, durch und durch faule, die mich so tief kränkt, bis zum herzerkaltendsten Schreck. Ich kenne mein Land! Leider. Eine unselige Kassandra! Seit drei Jahren sag' ich: die Juden wer­ den gestürmt werden; ich habe Zeugen. Dies ist der Deutschen Empörungsmuth. Und wie so? Weil es das gesittetste, gutmüthigste, friedliebendste, Obrigkeit ehrendste Volk ist; was es zu fordern hätte, weiß es nicht: nur Unterrichtete unter diesem Volk möch­ ten es ihm lehren: unter diesen sind aber viele Ungebildete, mit rohen Herzen; wo auch Raum für Neid ist, gegen eine große Zahl solcher - Juden -, die man kraft Reli­ gionsauswüchsen als untergeordnete Wesen hassen, verachten und verfolgen durfte. Ei­ nige weise Fürsten Deutschlands, und lange Zeit, in der immer Irrthümer untergehen, hatten dieser Ausrede ein Ende gemacht. Die gleißnerische Neu-Liebe zur christlichen Religion (Gott verzeihe mir meine Sünde!), zum Mittelalter, mit seiner Kunst, Dich­ tungen und Gräueln, hetzen das Volk zu dem einzigen Gräuel, zu dem es sich noch, an alte Erlebnisse erinnert, aufhetzen läßt! Judensturm. Die Insinuationen, die seit Jahren alle Zeitungen durchlaufen; die Professoren Fries und Rühs, und wie sie hei­ ßen; Arnim, Brentano, ,Unser Verkehr', und noch höhere Personen mit Vorurtheilen. Es ist nicht Religionshaß: sie lieben ihre nicht, wie sollten sie andere hassen; - wozu die Worte, die ich ohne Ende häufen kann; es ist lauter Schlechtes; in That und Mo­ tiv; und nicht die That des Volkes, dem man Hep schreien lehrte . . . " (zit. nach Varn­ hagen von Ense, Denkwürdigkeiten des eignen Lebens. Die Karlsruher Jahre 1816-1819, Neuausgabe v. H. Haering, Karlsruhe 1924, S. 370.). 98 Ebd., S. 368. 99 II. Kammer, 1819, 1. Bd., S. 61 ff. 100 Über das Edikt vom 16. 4. 1819: Arndt, S. 499 f.; über die verschiedenen Ent­ würfe der Gemeindeordnung und deren Beratung auf den Landtagen bis 1831: A.-W. Blase, Die Einführung konstitutionell-kommunaler Selbstverwaltung im Großherzog­ tum Baden, Phil. Diss. Freiburg 1938, S. 59 ff. 101 Vgl. hierzu besonders den Kommissionsbericht von L. Winter über den Antrag Knapp, das Edikt vom 16. 4. 1819 nicht in Vollzug zu setzen: II. Kammer, 1819, 5. Bd., Anlage S. 1 ff. 102 Text des Entwurfs: II. Kammer, 1820, 1 Bd., S. 70 ff. Die Veröffentlichung dieses Entwurfs rief unter den badischen Juden große Unruhe hervor, die auch über die Grenzen des Landes hinausgriff. Da sich auch in Frankfurt „das Gerücht ausbrei­ tete, die Verfassung der Juden im Großherzogtum würde eine ihnen nachteilige Ände­ rung erleiden", wandte sich am 29. 1. 1821 M. A. von Rothschild an den badischen Staatsminister von Berstett mit der Bitte, „keine Änderung zu gestatten, die uns wie­ der herabsetzen und in den Druck vergangener Zeiten bringen könnte". Rothschild be­ gründete seine Intervention u. a. damit, daß die badische Judengesetzgebung nicht nur in Frankfurt bisher immer als vorbildlich gegolten haben und eine Änderung die­ ser Gesetze nicht ohne Einfluß auf die Haltung anderer Staaten in der Emanzipations­ sache bleiben werde. Berstett antwortete am 5. 2. 1821, daß alle Besorgnisse unbegrün­ det seien und die badische Regierung nicht von dem einmal eingeschlagenen Wege ab­ weichen werde (Korrespondenz v. Berstett: 48/380). 103 II. Kammer, 24. 5. 1822, 2. Bd., Beilage S. XXVI ff. Im Regierungsentwurf

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Anmerkungen zu Seite 53-54 von 1822 wurden die Juden wie im VI. Konstitutionsedikt von 1808 von allen Ge­ meinden ausgeschlossen, in denen bisher noch keine Juden lebten; diese Bestimmung fand auch die Zustimmung der Kammer. Für alle anderen Gemeinden war die Ent­ scheidung über die Niederlassung der Juden den Regierungsbehörden vorbehalten, um damit gegen die Ausschließungstendenz der Gemeinden wenigstens eine gewisse, wenn auch sehr eingeschränkte Freizügigkeit für die Juden zu sichern; diese Bestimmung wurde jedoch von der Kammermehrheit mit der Begründung abgelehnt, daß man die Gemeinden vor dem Zudringen unerwünschter Juden schützen und es ihnen selber überlassen müsse, ob und welche Juden sie aufnehmen wollten (3. Bd., S. 223 ff.). - Es erübrigt sich, diese Debatten, die sich auch auf die Fragen des Wahlrechts in den Ge­ meinden erstreckten, im einzelnen zu verfolgen, da erst 1831 - und dann auf der Grundlage eines neuen Entwurfs - die Gemeindeordnung verabschiedet wurde. 104 II. Kammer, 10. 8. 1820, 5. Bd., S. 75; dagegen erklärte allerdings der Abge­ ordnete Duttlinger, daß nur die unbeirrte Fortsetzung der einmal begonnenen Emanzi­ pationspolitik von Erfolg sein könne: „Man hasse und verfolge ihn [den Juden] und verlange, daß er Teilnahme und Liebe für uns habe; man unterdrücke ihn und klage ihn an, daß er sich nicht erhebe; man stoße ihn und werfe ihm vor, daß er nicht vor­ anschreite ; man wolle Bürgertugenden von ihm und entziehe ihm die Rechte des Bür­ gers; man verlange Fortbildung des Juden und entziehe ihm die Mittel, die allein dazu führen könnten; man schließe ihn aus, weil er nicht gebildet sei, und lasse ihn ungebil­ det, weil er ausgeschlossen sei'' (ebd., S. 71 f.). 105 II. Kammer, 1822, 3. Bd., S. 225 ff. 106 II. Kammer, 15. 6. 1822, 3. Bd., S. 338 ff.; nachdem der Abgeordnete Duttlin­ ger eine entsprechende Motion eingebracht hatte, wurde die Beratung am 27. 1. 1823 wiedereröffnet (13. Bd., S. 104 ff.); den Kommissionsbericht, der sehr stark von dem Vortrag v. Baurs von 1817 beeinflußt war, erstattete der Abgeordnete Dollmätsch am 11. 1. 1823 (11. Bd., Beilage S. I ff.). 107 II. Kammer, 15. 6. 1822, 3. Bd., S. 346 ff. (in indirekter Rede protokolliert). 108 Abgeordneter Hitzig, 27. 1. 1823, 13. Bd., S. 107. 109 Ein „Tempelverein", der nach Hamburger Vorbild eine Reform des Gottesdien­ stes (u. a. Einführung der deutschen Sprache) anstrebte, wurde 1819 in Karlsruhe ge­ gründet. An seiner Spitze standen die Oberräte Haber und Kusel; von der Mehrheit der Juden wurden diese Reformtendenzen jedoch abgelehnt, so daß es zeitweise zu scharfen Auseinandersetzungen kam. 110 Adresse der II. Kammer an den Großherzog vom 27, 1. 1823: 23/1429; in der I. Kammer konnte die Sache vor Ende des Landtages nicht mehr beraten werden. 111 Die Satzgelder, die bei der Niederlassung in Standes- und grundherrlichen Orten zu zahlen waren, wurden aufgehoben durch Art. 1, Ziff. 4 des Gesetzes vom 14. 5. 1825 (Reg. Bl. 1825 Nr. 8, S. 48 f.). Das Gesetz vom 14. 5. 1828 (Reg. Bl. 1828 Nr. 7, S. 71) wurde der II. Kammer am 29.3.1828 vorgelegt und am 30.4.1828 beraten (2. Bd., S. 344 ff.). Der Gesamtwert der durch dieses Gesetz aufgehobenen Abgaben wurde auf ca. 2500 fl. berechnet - „in der Tat", wie der Regierungskommissar von Böckh aus­ führte (1. Bd., S. 310 ff.), „eine Kleinigkeit für die jüdische Bevölkerung des Großher­ zogtums, und doch eine drückende Last für die einzelnen, die sie zu tragen haben". Es handelte sich dabei um alte Jurisdiktionsgefälle, Äquivalente für Fronden, Kultus­ abgaben (Synagogengeld usw.), Gewerbeabgaben (Zungen- oder Stichgeld), Neujahrs­ gelder, Zuckerhüte u. a. m. 112 Text der Übereinkunft: 357/2545; ausführlich dazu Lewin, S. 206 ff. - In die­ sem Zusammenhang sei erwähnt, daß eine eigentliche Taufbewegung in Baden aus­ blieb. Nur in einigen Familien der jüdischen Oberschicht - und auch da meist erst in der zweiten Generation - wurde der Übertritt zum Christentum vollzogen. 149 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 54-55 113 Zum jüdischen Schulwesen vgl. die gründliche Studie von B. Rosenthal, Die jüdi­ schen Volksschulen in Baden, in: Gedenkbuch zum 125jährigen Bestehen des Oberrats der Israeliten Badens, S. 127 ff. Berichte über das Schulwesen finden sich in zahlrei­ chen Akten des Innenministeriums und der mittleren und unteren Behörden; auch im Landtag wurden wiederholt sehr positive Urteile über das jüdische Schulwesen abgege­ ben. 114 Die Bemühungen um die Errichtung eines Unterstützungsfonds für arme jüdi­ sche Kinder, die sich dem Handwerk, dem Ackerbau oder den Wissenschaften widmen wollten, begannen in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts; sie wurden 1809 vom Oberrat aufgegriffen, führten aber erst 1816 zum Erfolg. In den Jahren 1817-1820 wurden aus dem vom Oberrat verwalteten Fonds 42 Lehrlinge unterstützt (236/6060). Während diese Unterstützungsmaßnahmen von der Regierung lebhaft gefördert wur­ den, erregten sie bei einem Teil der christlichen Bevölkerung Unwillen, da man die Juden auf diese Weise zu sehr begünstigt glaubte. 115 Der Ende 1821 von angesehenen Karlsruher Juden unter Führung des Oberrats gegründete und am 24. 1. 1822 vom Ministerium genehmigte Verein (Jahresbeitrag 11 fl.) wollte nicht zuletzt „endlich den Vorwurf beseitigen, als gehören die israelitischen Glaubensgenossen nur zur verzehrenden und nicht zur arbeitsameren und produzieren­ den Klasse der Landbewohner" (231/1429). 116 Nach den Angaben des Abgeordneten Bekk am 27. 9. 1833 in der II. Kammer (14. Bd., S. 287 ff.). Bekk war seit 1832 Ministerialkommissar beim Oberrat; da sich in den Regierungsakten kein Hinweis auf entsprechende statistische Erhebungen findet, ist anzunehmen, daß diese vom Oberrat durchgeführt wurden. Die gleichen Zahlen la­ gen auch dem Kommissionsbericht in der I. Kammer am 4. 9. 1833 (3. Bd., S. 38 ff.) zu Grunde. Weitere Daten bei L. Ladenburg, Die Gleichstellung der Israeliten Badens mit ihren christlichen Mitbürgern, Mannheim 1833. 117 Das Direktorium des Neckarkreises berichtete dem Innenministerium am 21. 7. 1831, daß dort von 79 Juden, die seit 1821 Unterstützungen zur Erlernung eines Handwerks erhalten hatten, nur noch ein einziger als Meister und 16 ihren Beruf als Gesellen ausübten, alle anderen aber wieder dem Nothandel nachgingen oder Lumpen sammelten (236/6051). Diese Zahlen können allerdings nicht als repräsentativ gelten, zumal es sich vorwiegend um Bewohner der armen Gemeinden des Odenwaldgebietes, wo das Handwerk in der Tat oft seinen Mann nicht ernährte, gehandelt haben dürfte. l18 Kommissionsbericht in der II. Kammer am 3. 6. 1831 (8. Bd., S. 107); vgl. Schnee, 4. Bd., S. 86. Bei den errechneten Sätzen ist zu berücksichtigen, daß ein sehr hoher Prozentsatz des jüdischen Kapitals auf Karlsruhe und Mannheim entfiel, so daß das durchschnittliche Steuerkapital der jüdischen Landbevölkerung sehr viel niedriger anzusetzen ist (vgl. dazu Anm. 49). 119 Genaue Zahlen bei Schnee, 4. Bd., S. 85 f.; vgl. allgemein F. Hecht, Bankwesen und Bankpolitik in den süddeutschen Staaten 1819-1875, 1. Bd., Jena 1880, S. 96 ff. 120 Über St. Blasien unterrichtet eingehend W. Fischer, Der Staat und die Anfänge der Industrialisierung in Baden 1800-1850, 1. Bd., Berlin 1962, S. 209 ff. 121 Vgl. W. Kaiser, Die Anfänge der fabrikmäßig organisierten Industrie in Baden, in: ZGO,N. F., Bd. 46, 1933, S. 612 ff.; F. Kistler, Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Baden 1849 bis 1870, Freiburg 1954, S. 87 f. und 102 ff.; Einzelbeispie­ le für die wachsende Zahl jüdischer Fabriken (besonders Zigarrenfabriken in Mann­ heim) und Handelshäuser bei Lewin, S. 265 f.; für Mannheim vgl. Blaustein, S. 92 ff. 122 Zur sog. „Dreifabrikenfrage** von 1848, die sehr grundsätzliche gesellschaftspo­ litische Fragen aufwarf, vgl. Fischer, Industrialisierung, S. 380 ff., und H. Locher, Die wirtschaftliche und soziale Lage in Baden am Vorabend der Revolution von 1848, Phil. Diss. Freiburg 1950 (Ms.), S. 131 ff. Als Hauptursache des Zusammenbruchs der

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Anmerkungen zu Seite 55-56 Haberschen Bank, der den des Bankhauses Kusel nach sich zog, wurde die über die Kräfte der Bank gehende Kreditgewährung an die genannten Großunternehmen be­ trachtet. Die Nachfolge der Banken Haber und Kusel trat dann seit Mitte der fünzi­ ger Jahre in Karlsruhe das Bankhaus Homburger an. Zur Bedeutung der jüdischen Bankhäuser W. H. Ladenburg und H. C . Hohenemser in Mannheim für die wirt­ schaftliche Entwicklung des Mannheimer Raumes vgl. Blaustein, S. 36. 123 Dem 1833 von der badischen Regierung zur Vorberatung des Anschlusses an den Zollverein einberufenen Sachverständigenkomitee gehörte u. a. Frhr. von Eichthal an, der entgegen seinen eigenen Interessen in St. Blasien energisch für den Anschluß eintrat (vgl. Fischer, Industrialisierung, S. 130 ff., dort auch einige sehr interessante Diskussionsbemerkungen Eichthals). In Mannheim gehörte W. L. Ladenburg 1835 zu den Gründern eines Komitees für den Eisenbahnbau (Blaustein, S. 95). Louis von Ha­ ber in Karlsruhe, der auch Friedrich Lists Zollvereinsblatt finanziell unterstützte (Lo­ cher, S. 70), gründete 1841 gemeinsam mit Vetter-Koechlin den badischen Industrie­ verein; er gehörte zu den wirtschaftspolitisch führenden Vertretern der jungen Groß­ industrie (Fischer, Industrialisierung, S. 177 f.). Über die Handelskammern in Karlsru­ he und Mannheim vgl. die Studien von Kölsch und Blaustein; bei Blaustein auch An­ gaben über die wirtschaftlich bedeutsame Tätigkeit Mannheimer Juden in den dreißi­ ger und vierziger Jahren. In Karlsruhe wurde J . Kusel wiederholt ins Präsidium der Handelskammer gewählt (1819, 1830, 1833). - Die Bedeutung des jüdischen Handels­ standes in Karlsruhe läßt sich auch an den verschiedenen Statutenentwürfen der Han­ delskammer ablesen: so sollten 1827 die christlichen Kaufleute 6 und die jüdischen 2 Vertreter in den Ausschuß wählen, 1835 sogar die christlichen Kaufleute nur 4, die jü­ dischen aber wiederum 2; erst 1840 entfiel dann jede konfessionelle Unterscheidung (Kölsch, S. 26 u. 37). 124 Auf dem Lande wurde auch noch - anders als in den Städten - der sog. „jü­ disch-deutsche Dialekt" gesprochen, gegen den sich eine Verordnung des Oberrats vom 4. 4. 1834 richtete. Gerade die Spracheigentümlichkeiten unterstrichen auf dem Lande immer wieder die noch vorhandenen Gruppenmerkmale der jüdischen Bevölkerung und gaben Anlaß zu Mißtrauen und „lieblosen Verhöhnungen" (236/6052). 125 Dem Übergang der jüdischen Landbevölkerung zum Handwerk waren insofern von vornherein enge Grenzen gesetzt, als in den Dörfern und kleinen Landstädten dem Handwerk allgemein, insbesondere aber den ausschließlich vom örtlichen Bedarf ab­ hängigen Handwerken, nur geringe Verdienstmöglichkeiten offen standen. Da der Übergang in andere, dem jeweiligen Handwerk günstigere Gemeinden den Juden nur in Ausnahmefällen, praktisch aber so gut wie gar nicht möglich war, blieb die Rück­ kehr zum Nothandel oft der einzige Ausweg für den jüdischen Handwerker. Das galt in besonderem Maße für die von den Juden bevorzugten Berufe wie Metzger, Schuh­ macher, Schneider und Bäcker, die zu den stark „übersetzten" Gewerben zählten (vgl. Fischer, Industrialisierung, S- 303). Der Übergang zum Ackerbau wurde fast nur dann vollzogen, wenn eigener Boden bearbeitet werden konnte; als Tagelöhner waren die Juden kaum tätig, sie wurden - wie aus verschiedenen Berichten hervorgeht, - von den Bauern auch nicht gern genommen. So lange die traditionellen Vorurteile gegen die Juden noch weiter bestanden, konnte schließlich gerade der jüdischen Landbevölkerung die „Freiheit" des Handels trotz aller Nachteile noch immer begehrenswert erscheinen. 126 Der Abgeordnete Fauth in seinem Kommissionsbericht am 18. 2. 1845 (13. Beila­ genheft, S. 359). Dabei ging es allerdings nicht nur um die kleinen Nothändler, son­ dern auch und gerade um die vermögenderen jüdischen Viehhändler und „Wucherer". So zeichnete z. B. der Abgeordnete Fecht seinen Kammerkollegen am 8. 7. 1831 ein wahres Schreckensbild: „Sehen Sie . . . wie hier die Israeliten, und zwar die wenigen Reichen, durch ihren Viehhandel, Vieheinstellen Einfluß auf das Land ausüben, sehen 151 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 56-57 Sie im Geiste diesen Israeliten, stolz auf sein Vermögen, voranreiten und hinter ihm seine Satrapen, die bereit sind, das letzte Stück Vieh aus den Ställen der armen Bür­ ger herauszuführen; mag der ausgezogene Bürger ihm nachfluchen, die Mutter ihm nachweinen - ihn rührt es nicht. Durch diesen Handel wird manche Gegend ganz aus­ gesogen . . . " (II. Kammer, 14. Bd., S. 230 f.). In den Kammerdebatten trat von Land­ tag zu Landtag stärker die Problematik der jüdischen Landbevölkerung in den Vor­ dergrund, und nicht wenige Abgeordnete ländlicher Wahlbezirke beriefen sich in ihren Reden gegen die Emanzipation immer wieder auf ihre „Erfahrung". 127 Das gilt nicht nur für Baden, sondern für alle Staaten- des Deutschen Bundes. Der überragende Wortführer der politisch-publizistischen Diskussion wurde jetzt Ga­ briel Rießer, der es verstand, die Forderungen der Juden mit den allgemeinen Forde­ rungen des Liberalismus überzeugend zu verbinden. Seine Stimme blieb auch in Baden nicht ungehört, und sein Name begegnet vielfach in den Kammerdebatten. Rießer setz­ te sich auch direkt mit den Verhandlungen der badischen II. Kammer auseinander: Kritische Beleuchtung der in den Jahren 1831 und 1832 in Deutschland vorgekomme­ nen ständischen Verhandlungen über die Emancipation der Juden, Aitona 1833. 128 Im Vordergrund stand 1831 die Forderung der politischen Gleichstellung. In der großen, von Epstein verfaßten und von den angesehensten badischen Juden unter­ zeichneten Petition vom 17. 4. 1831 wurde das „zweite Schöpfungswort unserer politi­ schen Gleichstellung* erbeten (231/1423). 129 I. Kammer, 22. 8. 1831, 2. Bd., S. 341. Winter befürchtete vor allem juden­ feindliche Unruhen. Daneben spielte aber für die Haltung der Regierung wie auch der Kammern die allgemein gegen Ende der zwanziger Jahre bemerkbare Enttäuschung über die bisherigen Erfolge der Emanzipationsgesetzgebung eine Rolle. Am 5. 8. 1828 hatte das Innenministerium dem Ministerium des Auswärtigen berichtet, man sei ange­ sichts der Entwicklung während der vergangenen zwei Jahrzehnte „versucht zu zwei­ feln, ob jemals der Zweck der Gesetzgebung des Jahres 1809 erreicht werde", jeden­ falls aber sollten die badischen Erfahrungen „andere Regierungen vorsichtig im Bewil­ ligen machen" (233/1021). 130 Beratungen der II. Kammer am 3. 6. 1831 (8. Bd., S. 12-97); für die volle Gleichstellung stimmten die Abgeordneten Speyerer und Grimm, 131 Am 8. 7. 1831 in der Beratung der Gemeindeordnung (14. Bd., S. 229). 132 Bericht der Petitionskommission, erstattet durch den Abgeordneten Rettig am 3. 6. 1831, 8. Bd., S. 99-125. 133 So der Abgeordnete Welcker am 3. 6. 1831, 8. Bd., S. 59; Welcker, der schon 1833 für die Emanzipation eintrat, stützte sich in seiner Argumentation sehr auf Pau­ lus, „den achtungswürdigen Verfechter der politischen und religiösen Freiheit", und hob sogar die bekannte Schrift von Rühs aus dem Jahre 1816 rühmend hervor, da man aus ihr richtige Ansichten über die Geschichte der Juden gewinne. 134 Ebd., S. 80 ff. 135 Ebd., S. 39. 136 Ebd., S. 89 ff. 137 Denkschrift vom 25. 4. 1831, gedruckt: H. E. G. Paulus, Die jüdische Natio­ nalabsonderung nach Ursprung, Folgen und Besserungsmitteln. Oder über die Pflich­ ten, Rechte und Verordnungen zur Verbesserung der jüdischen Schutzbürgerschaft, Heidelberg 1831. In dem Begleitschreiben an die II. Kammer formulierte Paulus, für den die Juden „noch immer eine fremde, sich sondernde Nation" bildeten, einige be­ merkenswerte Grundsätze, die offensichtlich von der Mehrheit der Kammer übernom­ men wurden: „Auch der aufmunterungswürdigste Liberalismus hat seine Gefahren. Die wohlwollende Freisinnigkeit kann in ein ultra übergehen durch Bewilligungen, welche das Besserwerden hindern. Zu befürchten ist dies, wofern der Erzieher oder die ihm

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Anmerkungen zu Seite 57-58 ähnliche Gesetzgebung Vorteile, welche erst aus Besserung folgen sollen, früher ge­ währt, als das Besserwerden ernstlich gewollt und verwirklicht sich beweist" (231/1423). Die Judenemanzipation mußte - das war der eigentliche Sinn dieser Sätze - als ein Problem erkannt werden, dessen Lösung nicht von liberalen Prinzipien, son­ dern nur von den Praktiken des aufgeklärt-absolutistischen Staates zu erwarten war. In der Frage der Judenemanzipation durfte nicht Prinzipienpolitik, sondern mußte „Realpolitik" getrieben werden. Diese Auffassung setzte sich 1831 in der II. Kammer nahezu vollständig durch, und sie bestimmte auch die Auseinandersetzung auf den fol­ genden Landtagen. 138 8. Bd., S. 96 f. u. 120 f.; die Forderung einer religiösen Reform wurde von der Kammer einstimmig verabschiedet, ohne daß allerdings die erwähnten Einzelforderun­ gen ausdrücklich in den Beschluß einbezogen wurden. Der in dieser Entscheidung zu­ tage tretende liberale Doktrinarismus, der gegen unverstandene kultische Traditionen und eine rationalistischer Kritik nicht standhaltende Theologie zu Felde zog, war in seiner Tendenz nicht spezifisch antijüdisch, er äußerte sich vielmehr auch in den Re­ formforderungen, die in diesen Jahren gegenüber den christlichen Kirchen erhoben wurden. Hinsichtlich des Judentums stützte er sich nicht zuletzt auf die innerjüdischen Auseinandersetzungen, die seit der von David Friedländer vorgetragenen Kritik des Talmud und der Zeremonialgesetze nicht zur Ruhe gekommen waren. Entscheidend war allerdings, daß mit dem Kammerbeschluß von 1831 der Versuch einer Zwangsre­ form eingeleitet wurde, indem man die politische Gleichstellung von religiösen Konzes­ sionen abhängig machte. Hierfür vermochten auch die allgemeinen kirchenpolitischen Grundsätze des Liberalismus keine Rechtfertigung mehr zu bieten - und schon auf dem Landtag von 1833 distanzierte sich auf Grund dieser Einsicht eine gewichtige Minderheit der Liberalen von den Beschlüssen von 1831. 139 Schreiben des Oberrats an das Innenministerium vom 3. 12. 1832 (236/6051). 140 Zitiert von dem Abgeordneten Bekk am 27. 9. 1833 in der II. Kammer (14. Bd., S. 291). 141 Eingabe der jüdischen Gemeinden von Buchen, Heinstadt, Eberstadt, Wertheim u. a. vom 30. 11. 1832 (236/6051). 142 Bericht des Innenministeriums an das Staatsministerium vom 24. 2. 1833 (236/6051). 143 So hieß es z. B. in einer Petition der Mannheimer Juden vom 11. 12. 1843: „Zudem zwingt uns gerade der Beschluß dieser hohen Kammer, auf alle Reformen, die etwa uns selbst als zeitgemäß und ausführbar erscheinen, vorerst zu verzichten, um selbst den Anschein zu vermeiden, als wollten wir durch dieselben die politische Gleichstellung erkaufen" (231/1425). 144 Gesetz über die Verfassung und Verwaltung der Gemeinden vom 31. 12. 1831 (Reg. Bl. 1832, Nr. 8, S. 81 ff.); Gesetz über die Rechte der Gemeindebürger und die Erwerbung des Bürgerrechts vom 31. 12. 1831 (Reg. Bl. 1832, Nr. 8, S. 117 ff.). Die Rechte der Juden wurden in den folgenden Sitzungen beraten: II. Kammer, 31. 5. 1831 (7. Bd., S. 230 ff.) und 8. 7. 1831 (14. Bd., S. 201 ff.); I. Kammer, 22. 8. 1831 (2. Bd., S. 324 ff.) und 27. 8. 1831 (3. Bd., S. 7 ff.). 143 Anträge Rottecks am 7. 6. 1831 in der Beratung der Gemeindeordnung und am 8. 7. 1831 in der Beratung des Bürgerrechtsgesetzes (II. Kammer, 14. Bd., S. 257 f.). Diese einstimmig angenommenen Anträge fanden ihren Niederschlag in § 54 des Bür­ gerrechtsgesetzes („Von dem Bürgerrecht der Israeliten"): „In Bezug auf die bürgerli­ che Rechte der Israeliten findet weder das gegenwärtige, noch das Gesetz über die Verfassung der Gemeinden eine Anwendung. Es bleiben daher die bestehenden Gesetze hinsichtlich ihres Rechtsverhältnisses zu den Gemeinden in Kraft." 146 Den 80 000 Schutzbürgern standen 1831 in Baden 120 000 Ortsbürger gegen153 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 58-59 über. Vgl. Blase, S. 113 ff., und K. A. Germann, Französische und preußische Einflüsse auf die erste badische Gemeindeordnung im Jahre 1831, Rechts- und staatswiss. Diss. Freiburg 1949 (Ms.), S. 98 ff.; Fischer, Staat und Gesellschaft Badens im Vormärz, S. 156 f. (mit weiteren Literaturhinweisen). 147 Man hatte den § 54 vor allem damit begründet, daß die zuvor geforderten reli­ giösen Reformen der Juden abgewartet werden müßten, ehe über ihre gemeindebürger­ lichen Rechte endgültig beschlossen werde könne. Eine Entscheidung erwartete man schon für den nächsten Landtag. Ludwig Winter gab darüber hinaus in der I. Kammer der Überzeugung Ausdruck, daß sich bis dahin „auch die Gemüter hinsichtlich der Ju­ den beruhigt haben dürften" und die Regierung dadurch freier in ihren Entschlüssen sein werde (2. Bd., S. 340 ff.). 148 II. Kammer 1819 (Kommissionsbericht), 7. Bd., Beilage S. 3. Im Staatslexikon, 5. Bd., Altona 18472, S. 478 f., schrieb C . v. Rotteck in dem Artikel „Gemeindeord­ nung": „Dieselbe enthalt die sicherste Grundlage und die zuverlässigste Gewährlei­ stung des Lebensglücks aller Staatsbürger, weil die Berührung mit der Gemeindeobrig­ keit und die von dieser auf alle Interessen des Bürgers täglich ausgehende Wirksamkeit für weitaus den größten Teil der Nation fühlbarer und einflußreicher ist als die Orga­ nisation und Tätigkeit der Zentralstaatsgewalt." 149 Nach § 10 des VI. Konstitutionsedikts von 1808 war das passive Wahlrecht für die Gemeindeämter nur an das Ortsbürgerrecht, nicht an eine Konfession gebunden; obwohl nun nach § 54 des Bürgerrechtsgesetzes die Bestimmungen der neuen Gemein­ deordnung die Rechte der Juden nicht berühren sollten, wurde doch der § 13 so auf­ gefaßt und in der Praxis lange gehandhabt, daß durch das in ihm formulierte Prinzip künftig auch die jüdischen Gemeindebürger von den Gemeindeämtern ausgeschlossen seien. In den Gemeindeausschuß hatten dagegen schon seit dem provisorischen Gesetz über die Gemeindeausschüsse vom 23. 8. 1821 (Reg. Bl. Nr. 14, S. 95 ff.) auch jüdische Schutzbürger gewählt werden können. 150 Zwar konnten die Juden nach den Bestimmungen des VI. Konstitutionsedikts theoretisch auch in solchen Gemeinden aufgenommen werden, in denen bisher keine Juden ansässig waren; die dafür notwendige Einwilligung der Gemeinde wurde jedoch praktisch nie gegeben, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die Gemeinde mit der Aufnahme eines einzigen Juden bereits ihr Zustimmungsrecht, das als ein wertvolles Privileg betrachtet wurde, verloren hätte. Auch die Übersiedlung in eine bereits von Juden bewohnte Gemeinde war nur unter Schwierigkeiten möglich, da die Regierungs­ behörden mit entsprechenden Genehmigungen sehr vorsichtig waren; noch 1860 konnte in der II. Kammer festgestellt werden, daß von dem Recht, den Juden das Bürgerrecht in einer fremden Gemeinde gegen deren Willen zu erteilen, niemals Gebrauch gemacht worden sei (6. Beilagenheft, S. 182). 151 Die Religionszugehörigkeit in Baden in den letzten 100 Jahren, S. 118 ff.; die Zahlen finden sich auch in den Regierungsakten und den Kommissionsberichten der Kammern. Während bis 1862 die Gesamtzahl der badischen Gemeinden auf über 1800 anstieg, erhöhte sich die Zahl der Gemeinden mit jüdischer Bevölkerung im gleichen Zeitraum nur auf 191. 152 II. Kammer, 10. 8. 1820, 5. Bd., S. 63 f. 153 II. Kammer, 27. 9. 1833 (14. Bd., S. 279-370); 27. 8. 1835 (8. Bd., S. 146-156); 15. 7. 1837 (6. Bd., S. 269-299); 17. 7. 1840 (14. Bd., S. 180-183); 22. 8. 1842 (4. Bd., S. 114-139); 18. 2. 1845 (12. Bd., S. 74-84); 21. 8. 1846 (9. Bd., S. 46-74). Die I. Kammer beschäftigte sich nur in einer einzigen Sitzung mit der Juden­ emanzipation; 4. 9. 1833 (3. Bd., S. 38-75). 154 Im Vordergrund der Kammerdebatten stand allerdings bis 1848 noch die Frage der politischen Gleichstellung. - Die erste nichtjüdische Petition, unterzeichnet von 154 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 60 über hundert angesehenen Mannheimer Bürgern, wurde 1839 eingereicht; auch danach blieben Petitionen christlicher Bürger jedoch selten (231/1423). 155 Schon 1831 hatten sich bei der Beratung der Gemeindeordnung und des Bürger­ rechtsgesetzes u. a. der Konstanzer Bistumsverweser Frhr. v. Wessenberg, der Geheime Rat Frhr, v. Rüdt und Staatsminister Frhr. v. Türckheim für eine stärkere Gleichstel­ lung der Juden ausgesprochen. 1833 wurde die Emanzipationsfrage als eine Sache des Prinzips aufgefaßt und entschieden. Schon im Kommissionsbericht (Zeil) hieß es: „Es handelt sich nicht sowohl um die Ehre der Juden, als um die Ehre der C hristen, wel­ che hier zeigen müssen, ob ihre Gesetzgebung Kraft hat und ob es ihnen mit den so viel gepriesenen Grundsätzen der Zivilisation Ernst ist" (S. 38 ff.). Die Debatte galt fast ausschließlich der Frage, ob die Petitionen dem Staatsministerium nach dem Antrag der Majorität der Kommission „mit Empfehlung" oder nach dem Antrag der Minori­ tät „mit nachdrücklicher Empfehlung" überwiesen werden sollten. Für den Minoritäts­ antrag sprachen sich Fürst zu Fürstenberg, Frhr. v. Rüdt, Geh. Hofrat Rau und Prof. Zeil aus; da nur 14 Mitglieder der I. Kammer in der Sitzung anwesend waren, genüg­ ten 7 Stimmen, einschließlich der des Vorsitzenden, um den Antrag der Minorität durchzubringen. 156 Auch unter den Vertretern der liberalen Minderheit waren zunächst nur weni­ ge, die einer sofortigen vollen Emanzipation das Wort redeten. Zurückhaltend zeigte man sich vor allem in der Frage der gemeindebürgerlichen Gleichstellung der Juden, da damit ganz konkrete materielle Interessen der christlichen Bevölkerung verknüpft waren (Teilnahme am Bürgernutzen, Verschärfung der gewerblichen Konkurrenz bei er­ weiterter Freizügigkeit der Juden). 157 27. 9. 1833, 14. Bd., S. 386. In diesem Sinne wurde von Rotteck umständlich dargestellt, daß auf diesem Landtag die Vorlage eines neuen Gesetzes über die Presse­ freiheit und eines Gesetzes gegen willkürliche Einkerkerungen wichtiger sei und die Regierung deshalb nicht noch mit einer Vorlage zur Judenemanzipation belastet wer­ den solle. Außerdem dürfe auch eine Änderung der Verfassung, wie sie bei einer Emanzipation der Juden nötig würde, grundsätzlich nur in den dringendsten Fällen wozu die Judenemanzipation nicht zu rechnen sei - geschehen. 158 Ebd., S. 299; Bekk war in dieser Debatte der wichtigste Sprecher der Minorität. 159 Ebd., S. 366 f. Die praktischen Konsequenzen einer solchen Argumentation wa­ ren schon 1831 deutlich geworden, als man die neue Gemeindeordnung nicht durch die Gleichstellung der Juden belastet wollte und der „Emanzipation der Gemeinden" den Vorrang gegenüber der Emanzipation der Juden zubilligte. 160 Ebd., S. 321. 161 Z. B. im Kommissionsbericht (Sander) vom 15. 7. 1837, 6. Bd., S. 307. Der Versuch, die Emanzipationsfrage aus dem Bereich liberaler Prinzipien herauszuhalten, wurde 1833 besonders in der Argumentation Rottecks deutlich. So versuchte er den Ausschluß der Juden vom passiven Wahlrecht mit dem allgemeinen Satz zu begrün­ den, daß einem nur wenig beschränkten aktiven Wahlrecht immer eine umso stärkere Beschränkung des passiven Wahlrechts gegenüber stehen müßte, Ausschließungen also grundsätzlich gar nicht zu vermeiden seien (S. 364). Oder er legte weitläufig dar: Rechtsbeschränkungen gebe es schließlich nicht nur für Juden, sondern auch für Frau­ en, Knechte und Proletarier, und wenn man einfach gar keine Unterschiede mehr aner­ kennen wolle, so solle man sich doch gleich die „rote Jakobinermütze aufsetzen" (S. 353 ff.). - Rotteck scheute sich auch nicht, sogar den Bundestag gegen die Emanzipa­ tion ins Feld zu führen, indem er es 1835 für „bedenklich" erklärte, irgend etwas in dieser Frage zu unternehmen, ehe der Bundestag ein allgemeines Gesetz erlassen habe (27. 8. 1835, 8. Bd., S. 153). 155 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen ZU Seite 60-62 162

Schaarï als Berichterstatter der Petitionskommission am 27. 8. 1835, 8. Bd., S.

181.

163 15. 7. 1837, 6. Bd., S. 296. Für den »christlichen Staat* hatte der liberale Abge­ ordnete Rindeschwender schon 1831 gesprochen, und auf den folgenden Landtagen wurde dieser Gedanke dann wiederholt von konservativen Abgeordneten vorgetragen; 1845 stand er sogar im Mittelpunkt des von dem konservativen Abgeordneten Fauth erstatteten Kommissionsberichts (18. 2. 1845, 13. Beilagenheft, S. 353 ff.). Von diesem Standpunkt aus wurde - auch von einzelnen Liberalen - der Judenemanzipation ein klares „Nein" oder „Niemals" entgegengesetzt. 164 Zur Diskussion über die Gewerbefreiheit vgl. Fischer, Industrialisierung, S. 72 ff., Goldmann, S. 16 ff., und S. Löttgen, Motive der badischen Gewerbegesetzge­ bung im 19. Jahrhundert bis zur Gewerbefreiheit 1862, Rechts- und staatswiss. Diss. Freiburg 1950 (Ms.), S. 16 ff. Bei grundsätzlicher Zustimmung hatte z. B. 1822 Lud­ wig Winter gegen die Gewerbefreiheit eingewandt, daß das badische Volk „noch nicht vorbereitet genug" sei, und ganz ähnlich forderte auch Nebenius 1831, daß der Gewer­ befreiheit zuerst eine bessere Gewerbebildung vorangehen müsse. Auch 1840 hieß es noch in der II. Kammer: „Der Bürgerstand hat noch nicht die Stufe erreicht, daß er einer angemessenen Gewerbefreiheit würdig ist" (zit. nach Fischer, Industrialisierung, S. 77). - In den Beratungen über die Gewerbefreiheit wurde eine gesellschaftspolitische Kon­ zeption deutlich, in der sich die Mehrheit der Liberalen und der Konservativen einig war: die bevorzugte Förderung des gewerblichen Mittelstandes. Dieser Mittelstand, so hieß es 1845 im Kommissionsbericht der II. Kammer, „bildet die Grundfeste der Staatsgesellschaft in sittlicher, ökonomischer und politischer Hinsicht und kann sich in keiner von diesen drei Beziehungen von der Staatsgesellschaft lossagen, ohne seine ei­ gene Existenz zu gefährden" (zit. nach Fischer, S. 80). Eine solche Auffassung konn­ te auf die Frage der Judenemanzipation nicht ohne Einfluß bleiben, wenn sie auch in den Debatten selbst niemals in den Vordergrund trat. Die Juden gehörten ja gerade nicht diesem Mittelstand an: die große Mehrheit gehörte zu den Unterschichten, wäh­ rend die vermögenderen Juden in den Städten teilweise schon wieder die „Übermacht der großen Kapitale" repräsentierten. Die soziale Schichtung der Juden konnte daher kaum dazu angetan sein, bei den liberalen Volksvertretern besondere Sympathien für sie zu wecken. 165 27. 9. 1833, 14. Bd., S. 362 f.; in dieser Argumentation wirkten deutlich die Auffassungen nach, die Paulus 1831 in seiner Denkschrift entwickelt hatte. Immer wie­ der wurde zwischen 1831 und 1848 in der II. Kammer die jüdische Religion in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen gerückt, wurden vor allem Inhalt und theologi­ sche Verbindlichkeit des Talmud mit großer Leidenschaft - und meist unzureichenden Kenntnissen - diskutiert. 166 17. 7. 1840, 14. Bd., S. XIX; Kuenzer, der diese Befürchtungen zwar für sehr übertrieben, aber doch nicht für „eine bloße Gespensterfurcht" hielt, stellte im Namen der Kommission den Antrag auf empfehlende Überweisung der Petitionen an das Staatsministerium. Damit hatte sich zum ersten Mal die Petitionskommission der II. Kammer für die Emanzipation ausgesprochen. Allerdings hatte Rotteck wohl recht mit der Behauptung, daß es sich dabei um ein nur durch den Zufall der Zusammenset­ zung der Kommission bedingtes Ereignis handelte; jedenfalls wurde in dieser Sitzung ein Antrag (Rotteck) auf Abstimmung ohne Diskussion angenommen und dann mit 31:17 Stimmen der Übergang zur Tagesordnung unter dem üblichen Verweis auf die früheren Kammerbeschlüsse beschlossen. 167 Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände, 4. Bd., (Ar­ tikel „Emanzipation der Juden"), Leipzig 18449, S. 688. Daß es sich bei den liberalen Gegnern der Emanzipation nicht zuletzt um eine Frage der „Popularität" handelte,

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Anmerkungen zu Seite 62-63 wurde auch in Baden häufig und wohl nicht zu Unrecht behauptet. Der Vorwurf, sich in dieser Sache ausschließlich an der Volksmeinung zu orientieren, seine Prinzipien der Volksgunst zu opfern, wurde vor allem gegen Rotteck immer wieder erhoben. Rück­ blickend schrieb 1860 August Lamey, der liberale Präsident des Innenministeriums in einem Brief an den Großherzog (vgl. Anm. 215): „Selbst die Partei, welche die Ideen des sog. Fortschritts, des Liberalismus, des Radikalismus usw. vertrat, verleugnete ihr Prinzip zum großen Teil, wenn es sich um die Juden handelte. Freilich mag der Um­ stand stets in erheblichem Grade mitgewirkt haben, daß die Abgeordneten große Scheu hatten, bei ihren Wählern Anstoß zu erregen, und sich bewußt waren, daß der Bürger und der Bauer, welcher die Grundsätze gern von der realen Seite auffaßt, der Judenemanzipation nicht gewogen ist." 168 Rotteck sprach schon in der Emanzipationsdebatte von 1831 ausführlich über das Mandat des Abgeordneten; als politischer Theoretiker hatte er sich grundsätzlich dafür entschieden, im Konfliktsfall den Wünschen der Auftraggeber den Vorrang ein­ zuräumen, und er behauptete diese Position nun auch in der Frage der Judenemanzi­ pation (3. Bd., S. 109). Während die Mehrheit der liberalen Abgeordneten sich in der Frage der Judenemanzipation dieser Auffassung anschloß, entschied sich jedoch schon 1831 der Abgeordnete Grimm nach eingehender Darlegung der Konfliktsituation gegen die Wünsche seiner Auftraggeber und für seine eigene Überzeugung. 169 Zu dem Argument, daß die öffentliche Meinung der Judenemanzipation entge­ genstehe, bemerkte K. Steinacker im Staatslexikon (4. Bd., Leipzig 18462, S. 327 f.): „Bei der Unbestreitbarkeit des obersten Grundsatzes im konstitutionellen Staatsrechte, daß der Rechtsstaat derjenige sei, in welchem die Staatsgewalt in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Volkswillen gehandhabt werde, und bei der Unleugbarkeit der Tatsache, daß eine aufrichtige, menschenfreundliche Annäherung der C hristen an die Juden sich allerdings noch keineswegs allgemein geltend gemacht hat, ist jener Einwurf um so mehr von praktischer Wichtigkeit, als sich nicht bezweifeln läßt, daß manche der edlern Gegner gerade durch ihn zu ihrem Widerstände gegen die Emanzipation veranlaßt oder doch darin bestärkt sind." Bei näherer Untersuchung würde sich frei­ lich ergeben, fuhr Steinacker fort, „daß jeder mit der Emanzipation gern zufrieden sein würde, wenn er nur die Gewißheit hätte, daß sein Fach, sein Gewerbe, seine Be­ schäftigungsweise den Juden nach wie vor verschlossen bleiben solle". Einer solchen „auf Eigennutz beruhenden öffentlichen Meinung" aber dürfte die Gerechtigkeit nicht weichen: „Was die Gerechtigkeit gebietet und eine vernünftige Politik nicht widerrät, das kann am Ende auch eine gehörig geläuterte und belehrte öffentliche Meinung nicht verweigern wollen . . . " - Vgl. allgemein zur Problematik des Begriffs der öffentlichen Meinung: L. Gall, Benjamin C onstant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz, Wiesbaden 1963, S. 57 ff. und J . Habermas, Strukturwandel der Öffentlich­ keit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962. 170 15.7. 1837,6. Bd., S. 308 f. 171 27. 8. 1835, 8. Bd., S. 154 f. 172 15. 7. 1837, 6. Bd., S. 284 f.; ebd. auch das folgende Zitat. 173 Ebd., S. 270. Gelegentlich gab es freilich doch noch etwas Neues, so z. B. die Behauptung des Abgeordneten Fauth, daß die Juden die „Tagespresse" beherrschten (18, 2. 1845, 13. Beilagenheft, S. 363). Fauth stellte auch fest, daß die „Wortführer der Israeliten" in Baden Liberale geworden seien, „zur Zahl jener gehören, welche sich die Gebildeten, Aufgeklärten, Freisinnigen nennen". Noch zu Beginn der dreißiger Jahre war dagegen von liberalen Abgeordneten häufig behauptet worden, daß die Ju­ den weniger dem Liberalismus als dem „Absolutismus" zuneigten. 174 18.2. 1845, 12. Bd., S. 78. 175 So im Kommissionsbericht (Kuenzer) 1840, 14. Bd., S. XX. 157 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 63-64 27.9. 1833. 14. Bd.. S. 281. Ebd., S. 319; in der gleichen Sitzung stellte der Abgeordnete Trefurt grundsätz­ lich fest: „Der Vorwurf der Unreife, so weit er einer Gesamtheit, sei es eine religiöse oder eine politische Gesamtheit, gemacht wird, ist immer unwahr und unrecht" (S. 324). 178 18. 2. 1845, 12. Bd., S. 78. 179 Für den Aufstieg einzelner Juden vom Schutzbürger zum Gemeindebürger lie­ gen leider keine genauen Zahlen vor. 1831 wurde in der II. Kammer die Zahl der jü­ dischen Gemeindebürger nur auf etwa 100 geschätzt, was ungefähr 3 % der jüdischen Bevölkerung gewesen wären. In den folgenden Jahren muß sich die Zahl jedoch rasch vergrößert haben, denn in den Kammerdebatten wurde nun häufiger darauf hingewie­ sen, daß zahlreiche Juden das Gemeindebürgerrecht erhalten hätten. - In diesem Zu­ sammenhang mögen auch die Ergebnisse einer Kriminalstatistik für die Jahre 1829 bis 1844 erwähnt werden: bei einem jüdischen Bevölkerungsteil von 1,66 % waren 1,75 % aller Angeklagten und 1,20 % aller Verurteilten Juden; die Freisprüche betrugen bei Protestanten 42,7 %, bei Katholiken 43,6 % und bei Juden 61,3 % (Heunisch, S. 450). Bei der Beurteilung dieser Zahlen wird man jedoch sehr vorsichtig sein müssen: man wird weder den höheren Prozentsatz bei den Angeklagten allein einer judenfeindlichen Umwelt zur Last legen dürfen, noch den niedrigeren Prozentsatz bei den Verurteilten allein auf das Konto einer unparteiischen Justiz buchen können. Ausschlaggebend dürfte vielmehr der unterschiedliche Anteil der Juden an den einzelnen Delikten sein, wofür jedoch leider keine Zahlen zur Verfügung stehen. 180 Durch das Gesetz über die Stellung der Volksschullehrer vom 28. 8. 1835 (Reg. Bl. Nr. 45, S. 245 ff) waren die jüdischen Lehrer den christlichen vollkommen gleich­ gestellt worden; zur Schulgesetzgebung vgl. N. Epstein, Die Rechtsverhältnisse der öf­ fentlichen israelitischen Schulen im Großherzogtum Baden, Karlsruhe 1843 (mit einem Verzeichnis aller jüdischen Schulen). 1833 wurde erstmalig für den jüdischen Kultus ein jährlicher Staatsbeitrag von 1500 fl. in das Budget aufgenommen und damit die letzte Ungleichheit auf kirchlichem Gebiet beseitigt. 181 Motion des Abgeordneten Zittel „auf Gestattung einer Religionsfreiheit, wie sie der gegenwärtige religiöse Bildungsstand und das wohlverstandene Interesse des Staats und der Kirche selbst unabweislich fordern", begründet in der II. Kammer am 15. 12. 1845 (6. Beilagenheft, S. 33-45). Zittel stellte den Antrag auf uneingeschränkte Religionsfreiheit einschließlich aller politischen und bürgerlichen Rechte für alle badi­ schen Staatsbürger; angesichts der bekannten Einstellung der Kammer in der Frage der Judenemanzipation hielt er es jedoch für nötig, einen Hilfsantrag zu formulieren, durch den nur den Bekennern der christlichen Religion die volle Rechtsgleichheit ge­ währt werden sollte. In der anschließenden Diskussion (1. Bd., S. 136-149) traten je­ doch zahlreiche Abgeordnete (Bassermann, Mathy, Mez, Welcker u. a.) für den die Ju­ den einschließenden Hauptantrag ein. - Über die badische Politik und die deutsch-ka­ tholische Bewegung vgl. M. Scholtissek, Die innere Verwaltung Badens unter Minister Bekk in der vormärzlichen Zeit, Phil. Diss. München 1959 (Ms.), S. 98 ff. Zur libera­ len Deutung der durch die deutsch-katholische Bewegung ausgelösten geistig-politi­ schen Krise vgl. G. G. Gervinus, Die Mission der Deutsch-Katholiken, Heidelberg 1845. 182 So trat z.B. Hecker, der noch 1845 mehrfach gegen die Judenemanzipation ge­ sprochen hatte, 1846 mit großer Entschiedenheit für sie ein. Vgl. dazu auch: F. Hek­ ker, Die staatsrechtlichen Verhältnisse der Deutschkatholiken mit besonderem Hinblick auf Baden, Heidelberg 1845. 183 7. Beilagenheft, S. 331-344. In wenigen Sätzen wurde in dem Bericht die ganze Inkonsequenz der bisherigen Politik aufgedeckt: „Hindert nun die Lebensweise der Is176

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Anmerkungen zu Seite 65-66 raeliten dieselben nicht, Militärarzt oder Unteroffizier zu werden, warum soll sie die­ selben hindern, Offizier zu sein; können die Israeliten als Rechtspraktikanten richterli­ che Funktionen versehen, warum können sie nicht wirkliche Richter werden, ist ihre Lebensweise kein Hinderungsgrund für sie, in Mannheim Bürger zu werden, warum denn in Freiburg? Und steht sie ihrem Eintritte in den Ausschuß nicht entgegen, war­ um ihrer Wirksamkeit im Gemeinderate?" (S. 342). - In der Debatte am 21. 8. 1846 er­ gänzte der Abgeordnete C hrist den Bericht noch durch einige statistische Hinweise: nicht nur sei die Kriminalstatistik sehr günstig für die Juden, auch Ehescheidungen habe es in den letzten 20 Jahren nur 2 gegeben und 18 % unehelichen christlichen Kindern stünden nur 2,1 % jüdische gegenüber; im Militär dienten gegenwärtig etwa 100 Ju­ den, und in vielen Gemeinden des Unterrheinkreises habe sich eine „tatsächliche Emanzipation" durch Bürgerannahmen und Übertragung von Gemeindeämtern vollzo­ gen. Es gehe jetzt nur noch darum, auch für die oberen Landesteile das gesetzlich ein­ zuführen, „was sich in den unteren Bezirken von selbst gestaltet hat" (9. Bd., S. 46 ff.). 184 21. 8. 1846, 9. Bd., S. 61 ff. Brentano hatte bereits in seinem Kommissionsbe­ richt ausgeführt: „Ja, offen gesagt, nur das Vorurteil steht den Juden als feindliche Schanze gegenüber, das Vorurteil, welches seine Grundlage in dem zartesten Kindesal­ ter erhält, wo der unreife Knabe seinen Gespielen verachten zu dürfen glaubt, weil er Sohn eines Juden ist, wo er sieht, wie er diesen seiner Geburt, nicht seines Glaubens wegen - denn von einem solchen kann hier wohl noch keine Rede sein - ungestraft mißhandeln und beschimpfen darf, das Vorurteil, welches schwer der Mann überwäl­ tigt, wenn er das Gift in frühester Jugend eingesogen hat" (S. 432 f.). 185 Ebd., S. 69. Kapp forderte in diesem Zusammenhang u. a• statt eines Gesetzes gegen die Juden ein Gesetz gegen den Wucher. Diese Forderung nach einem allgemei­ nen Wuchergesetz war schon seit den ersten Landtagen immer wieder vergeblich erho­ ben worden; erst am 24. 5. 1880 wurde ein entsprechendes Reichsgesetz erlassen. 186 Ebd., S. 63; Hecker betonte ausdrücklich, daß man bereit sein müsse, in dieser Angelegenheit auch einmal gegen die Volksmeinung zu handeln. Er wies außerdem darauf hin, daß die „Sonderung der Stände" in Baden mindestens ebenso scharf sei, wie die Absonderung der Juden von den C hristen. 187 Der Kommissionsantrag wurde mit 35:16 Stimmen angenommen; für ihn stimmten auch frühere Emanzipationsgegner wie v. Itzstein und Rindeschwender, ge­ gen ihn stimmten u. a. die Abgeordneten Buß, Knapp, Rettig und Schaaff. 188 Es ist allerdings nicht zu entscheiden, ob die Regierung überhaupt gewillt war, einen Gesetzentwurf vorzulegen; entsprechende Akten fehlen. 189 Zu den am 4. März beginnenden Judenverfolgungen vgl. F. Lautenschlager, Agrarunruhen in den badischen Standes- und Grundherrschaften im Jahre 1848, Hei­ delberg 1915, S. 38 ff.; Lewin, S. 279 ff.; Sterling, S. 192; einzelne Berichte (u.a. aus Bruchsal und Neckarbischofsheim) auch in den Verhandlungen der II. Kammer am 9. 3. 1848 (3. Bd., S. 108 ff.). 190 Zur wirtschaftlichen Lage der badischen Landbevölkerung, vor allem in den nördlichen Landesteilen, vgl. Lautenschlager, S. 24 ff.; Locher, S. 93 ff. und 169 ff. In der badischen Regierung war man der Meinung, daß die Verfolgungen u. a. durch die Emanzipationsforderungen der II. Kammer (s. unten) ausgelöst worden seien, vgl. Scholtissek, S. 36 f. Der preußische Gesandte v. Arnim berichtete am 5. 3. 1848 aus Karlsruhe, ebenfalls einen Zusammenhang zwischen Emanzipation und Verfolgung an­ deutend: „Das Gesindel feiert nach seiner Weise die Emanzipation der Juden durch die Zerstörung - Jerusalems" (zit. nach V. Valentin, Geschichte der deutschen Revolu­ tion von 1848/49, 1. Bd., Berlin 1930, S. 344). 191 Bericht vom 11. 3. 1848: 318/2 (Zugang 1897 Nr. 10). Am 8. 3. 1848 berichtete 159 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 66-67 das Bezirksamt Mosbach: „Der Anlaß zu diesen Verfolgungen ist Haß, weil die be­ treffenden Israeliten teils Wucherer sind, teils dafür gehalten werden." Ähnlich ein Be­ richt aus Neckarbischofsheim vom 5. 3. 1848, wo man überzeugt war, daß die Ursache der Verfolgungen „nur in dem Drucke ihrer Schuldner" zu suchen sei. In Walldürn wurde zuerst das Haus des Pfarrers, dann das Haus eines Juden gestürmt; in Weiten­ heim mußte ein Lehrer flüchten, der Geld auf Faustpfänder ausgeliehen hatte - Bei­ spiele dieser Art ließen sich häufen. In mehreren Orten wurden die Juden gezwungen, schriftlich auf bereits erworbene oder durch die Emanzipation zu erwartende Rechte, vor allem den Anspruch auf den Bürgernutzen, zu verzichten. 192 Zur Entwicklung des 2ehntablösungsprozesses und zur Höhe der bis 1848 dafür aufgebrachten Kapitalien vgl. A. Kopp, Zehentwesen und Zehentablösung in Baden, Frei­ burg 1899, S. 117 ff.; zur Verschuldung der ländlichen Bevölkerung und zur Aufnahme von Krediten vgl. Locher, S. 22 f. und 107 ff. 193 Im April 1848 wurden während der Osterwoche noch einmal Judenverfolgun­ gen größeren Ausmaßes befürchtet; sie blieben jedoch aus, und auch im weiteren Ver­ lauf der revolutionären Ereignisse kam es nur noch vereinzelt zu Ausschreitungen ge­ gen Juden. Schon am 8. 3. 1848 hatten in Mannheim einige Abgeordnete der II. Kam­ mer, darunter Hecker, v. Itzstein, v. Soiron, Bassermann und Mathy, einen Aufruf ge­ gen die Judenverfolgungen erlassen, in dem es u.a. hieß: „Nur Diener der Reaktion oder von ihnen Irregeleitete vermögen zu Judenverfolgungen die Hand zu bieten, wie sie nie ein freies Land, wohl aber der Despotismus kannte" (abgedruckt in: Aus dem Nachlaß von Karl Mathy, hg. v. L. Mathy, Leipzig 1898, S. 124 f.; auch bei Sterling, S. 183 f.). Am 9. 3. 1848 stellte sich die II. Kammer einstimmig hinter diesen Aufruf (3. Bd., S. 108); Auszüge aus der Debatte bei F. Lautenschlager, Volksstaat und Ein­ herrschaft. Dokumente aus der badischen Revolution 1848/1849, Konstanz 1920, S. 44 ff. 194 14. 2. 1848, 2. Bd., S. 135; vgl. dazu die 13 Petitionen der Mannheimer Bürger vom Januar 1848, in denen u. a. gefordert wurde, daß den Juden „ungesäumt der Vollgenuß der bürgerlichen und politischen Rechte eingeräumt" werde (231/1423). 195 6. Beilagenheft, S. 354 f.; die Vorlage eines entsprechenden Gesetzentwurfes wurde am 4. 3. 1848 zugesichert (6. Beilagenheft, nach S. 356). - Wie in der Motion Zittel von 1845 waren auch in diesem Antrag und in dem daraufhin vorgelegten Ge­ setzentwurf gleichermaßen die Juden und die Deutsch-Katholiken berücksichtigt. 19fl Kommissionsbericht (Zittel) vom 7. 4. 1848, 7. Beilagenheft, S. 103 f.; Beratung des Gesetzentwurfes am 13. 5. 1848: 5. Bd., S. 137-151. 197 Der Kommissionsbericht wurde in der I. Kammer am 30. 6. 1848 von dem Geh. Rat und Domkapitular v. Hirscher erstattet; obwohl zahlreiche Bedenken („christli­ cher Staat") geltend gemacht und eine vorausgehende allgemeine Regelung des Ver­ hältnisses von Staat und Kirche gefordert wurde, hatte sich die Kommission schließ­ lich für den Entwurf entschieden - „indem sie glaubt, daß der allgemeinen Strömung der Zeit Rechnung zu tragen sei" (2. Beilagenheft, S. 154-159). Die Beratung des Ent­ wurfs wurde ausgesetzt, wobei man in völliger Übereinstimmung mit dem Innenmini­ sterium handelte (so Bekk am 19. 12. 1848 in der I. Kammer). - Das Gesetz wurde am 17. 2. 1849 erlassen (Reg. Bl. Nr. 7, S. 75 ff.). 198 Kommissionsbericht vom 7. 4. 1848, 7. Beilagenheft, S. 103; für die Regierung erklärte Bekk am 13. 5. 1848 vor der II. Kammer, daß eine Gleichstellung in den ge­ meindebürgerlichen Rechten vorerst nicht erfolgen könne. 199 Publikation der Reichsverfassung im Reg. Bl. v. 9. 5. 1849, Nr. 24, S. 245 ff.; die Grundrechte waren bereits im Reg. Bl. v. 18. 1. 1849, Nr. 2, S. 13 ff., publiziert, gleichzeitig auch die zum Vollzug nötigen Gesetze angekündigt worden. Zunächst hat­ te bei verschiedenen Regierungsbehörden Unsicherheit darüber bestanden, ob durch die 160 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 67-68 Frankfurter Grundrechte auch der § 54 des Bürgerrechtsgesetzes aufgehoben sei. „So­ bald aber die politischen Verhältnisse die Anwendbarkeit der Grundrechte in Zweifel stellten", so wurde 1850 der II. Kammer berichtet, „seien die alten Meinungen mit doppelt fühlbarer Strenge hervorgetreten" (9. 11. 1850, 7. Beilageheft, S. 122). Die Frage des passiven Wahlrechts der jüdischen Gemeindebürger wurde endgültig in der revidierten Gemeindeordnung vom 25. 4. 1851 (Reg. Bl. Nr. 30, S. 329 ff.) zu ihren Gunsten entschieden, nachdem am 5. 6. 1849 bereits in einem Erlaß des Innenministe­ riums an die Kreisregierungen verfügt worden war, daß gemäß § 146 der Reichsver­ fassung jüdischen Gemeindebürgern das passive Wahlrecht zu Gemeindeämtern nicht mehr verweigert werden könne (236/6052). 200 Nähere Einzelheiten hierzu bei Lewin, S. 218 ff. 201 Hinsichtlich der gemeindebürgerlichen Rechte der Juden galten noch immer die Bestimmungen des VI. Konstitutionsedikts von 1808, des Edikts vom 13. 1. 1809, des Edikts über die Bürgerrechte vom 1. 2. 1809 und des Edikts vom 4. 5. 1812 über die orts- und schutzbürgerliche Annahme der Juden. Die nach dem Gesetz vom 17. 2. 1849 für die Juden noch weiter bestehenden Rechtsbeschränkungen wurden am 11. 2. 1860 in einem Bericht des Innenministeriums (Frhr. v. Stengel) in fünf Punkten zu­ sammengefaßt: „1. Sie können an keinen Orten, wo noch keine Juden wohnen, ohne Einwilligung der betreffenden Gemeinde und der Staatsbehörde sich niederlassen. 2. Sie sollen regelmäßig nur Schutzbürgerschaft erlangen und haben 3. auf dessen Erlan­ gung wie auf diejenige des Ortsbürgerrechts, in einer fremden Gemeinde, auch wenn sie die gesetzlichen Erfordernisse nachweisen, kein Recht, wie solches den christlichen Staatsangehörigen zusteht. 4. Die von ihnen zum Erwerb des Ortsbürgerrechts zu er­ füllenden Bedingungen sind teilweise schwerer, als die den christlichen Konfessionen gesetzten; endlich 5. hinsichtlich der Gemeindelasten nehmen sie bezüglich der Armen­ unterstützung eine besondere, hinsichtlich der Haltung öffentlicher Schulden eine eini­ germaßen erschwerte Stellung ein" (233/1021). 202 Bericht des Innenministeriums vom 20. 1. 1852 (233/1021). 203 9. 11. 1850, 7. Beilagenheft, S. 122. 204 31. 1. 1851, 7. Beilagenheft, S. 538; über die Stimmung des Volkes berichtete Rettig u.a.: „Diese Gereiztheit gegen die Israeliten ist dermalen auf dem Lande gestei­ gert aus dem einfachen Grunde, weil während der verflossenen Jahre der Verwirrung die Zahlungen überhaupt und insbesondere an die Israeliten ins Stocken geraten waren und nun mit verstärkter Tätigkeit gerichtlich betrieben werden'' (ebd.). — Die Kommis­ sion stellte 1851 den Antrag auf Übergang zur Tagesordnung; angenommen wurde je­ doch ein Antrag der Abgeordneten v. Soiron und Welcker, der die Aufhebung des § 54 bei fortdauernder Beschränkung der Freizügigkeit und des Rechts auf Teilnahme am Bürgernutzen vorsah. Gegen diesen deutlich aus der Verlegenheit geborenen An­ trag, der lediglich auf eine Scheinemanzipation hinauslief, erhob sich allein der Abge­ ordnete Lamey, dessen Antrag auf eine volle Gleichstellung, lediglich unter Berück­ sichtigung einer Übergangszeit, jedoch keine Unterstützung fand (Protokoll, S. 227 f.). Die I. Kammer verweigerte am 1. 2. 1851 nach kurzer Beratung dem Beschluß der II. Kammer (Antrag v. Soiron) ihre Zustimmung (2. Beilagenheft, S. 361 f.). 205 Kommissionsbericht (Rettig) vom 31. 1. 1851, 7. Beilagenheft, S. 536. Bis 1860 wurde die Frage der Judenemanzipation von den Kammern nicht mehr behandelt. Le­ diglich 1856 lagen der II. Kammer Petitionen der Heidelberger und Mannheimer Syn­ agogenräte vor; der Antrag der Petitionskommission auf Übergang zur Tagesordnung wurde am 17. 4. 1856 ohne Diskussion angenommen (Protokoll, S. 174). 206 Vgl Lewin, S. 297 ff.; hinsichtlich der Zulassung zum Staatsdienst erfolgte der eigentliche Durchbruch jedoch erst seit dem Beginn der „neuen Ära". 207 In der Petition des Heidelberger Synagogenrats vom 31. 3. 1856 wurde er-

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Anmerkungen zu Seite 68-69 wähnt, daß es in Heidelberg „längst keine israelitischen Schutzbürger mehr" gab und in Mannheim derzeit sogar 10 jüdische Bürger Gemeindeämter innehatten (231/1423), Für Karlsruhe und Mannheim wurde 1860 u.a. im Kommissionsbericht des Abgeord­ neten Schwarzmann festgestellt, daß in beiden Städten „schon längst" alle Juden volle Bürgerrechte erhalten hatten (6. Beilagenheft, S. 185). 208 So hieß es z.B. im Bericht der Petitionskommission von 1860: daß die Juden „den C hristen an Bildung nachstehen, wird niemand behaupten wollen" (6. Beilagen­ heft, S. 185). Im Schulwesen gab es keine Probleme mehr: in 48 Gemeinden bestanden jetzt gut eingerichtete jüdische Volksschulen, in den übrigen Gemeinden wurde von den jüdischen Kindern die allgemeine Ortsschule besucht. Im evangelischen Lehrerse­ minar in Karlsruhe wurden jährlich »neben 75 evangelischen etwa 10 jüdische Lehrer ausgebildet (vgl. R. Dietz, Die Gewerbe im Großherzogtum Baden, Karlsruhe 1863, S. 62). Der Anteil der jüdischen Kinder an höheren Bürgerschulen und Gymnasien war auch in den kleineren Städten erstáunlich groß, so betrug er z.B. 17% in Müllheim, 27 % in Buchen, 10 % in Bruchsal (vgl. Lewin, S. 295). 209 Obwohl die Regierung in den Auseinandersetzungen zwischen Orthodoxen und Reformjuden verschiedentlich als Richter angerufen wurde, verzichtete sie allmählich darauf, aus politischen Gründen einseitig die Reformpartei zu unterstützen. Am 30. 12. 1862, wenige Wochen nach dem Abschluß der Emanzipationsgesetzgebung, erklärte Lamey dann grundsätzlich, daß der Staat nicht befugt sei, „über die innere Berechti­ gung der verschiedenen Bestrebungen im Schöße des Judentums ein Urteil zu fällen oder einer derselben zur Repression der andern mittelbar oder unmittelbar den weltli­ chen Arm zu leihen" (233/11807). Damit hatte der Geist der Emanzipation auch auf kirchenpolitischem Gebiet überzeugenden Ausdruck gefunden, hatte sich der badische Liberalismus endgültig von den Reformforderungen der II. Kammer zwischen 1831 und 1846 distanziert. - Zur inneren Entwicklung des badischen Judentums seit der Mitte des Jahrhunderts vgl. Lewin, S. 318 ff., und Rosenthal, Heimatgeschichte, S. 333 ff. 210 Leider liegen für die Jahre ab 1830 keine statistischen Angaben über die Ge­ werbeverhältnisse der Juden mehr vor. 1860 mußte der Abgeordnete Schwarzmann als Kommissionsberichterstatter mitteilen, daß er „aus neuerer Zeit keine Notizen" über die Gewerbe der Juden habe erhalten können und deshalb noch einmal auf die Zahlen von 1833 (!) zurückgreifen müsse: Stenograph. Protokoll der II. Kammer, 16. 5. 1860, S. 5 (231/32). Auch in den Regierungsakten finden sich durchweg nur allgemeine Be­ merkungen über die Gewerbeverhältnisse der Juden; gewisse Rückschlüsse auf die Si­ tuation um 1860 kann man jedoch auch aus den statistischen Erhebungen um 1900 (vgl. Anm. 235) ziehen. 211 So z.B. der Abgeordnete Faller am 2. 8. 1860: Stenograph. Protokoll, S. 39 ff. (231/33); während der Debatten von 1860 wurde von den meisten Rednern ausdrück­ lich darauf hingewiesen, ob sie ihre Anschauungen über die Juden nur in der Stadt oder auch auf dem Lande gewonnen hatten. 212 Ebd., S. 96 ff.; dort auch die folgenden Zitate. SchaafT stellte sich 1860 auf den Standpunkt, daß die allgemeine Entwicklung jetzt soweit fortgeschritten sei, daß auch von einer konservativen Position aus keine Bedenken mehr erhoben werden könnten. Seine Überlegungen in einen allgemeineren Zusammenhang stellend, formulierte er: „Es ist immer der Grundsatz des Konservatismus, dem ich huldige, daß man mit den Ver­ besserungen nur langsam vorwärtsgeht und nicht stehen bleibt; denn das ist das Prinzip des Konservatismus: Man geht vorwärts, aber mit Bedachtsamkeit" (S. 93). 213 Sog. Osterproklamation Großherzogs Friedrich vom 7. 4. 1860: Großherzog Friedrich von Baden. Reden und Kundgebungen, hg. v. R. Krone, Freiburg 1901, S. 45 f. Zur „neuen Ära" in Baden vgl. L. Blum, Staatsminister August Lamey. Ein badi162 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 69-70 scher Politiker der Reichsgründungszeit, Heidelberg 1934; H. Baumgarten und L. Jol­ ly, Staatsminister Jolly. Ein Lebensbild, Tübingen 1897; A. Hausrath, Zur Erinnerung an Julius Jolly, Leipzig 1899, S. 48 ff.; H. Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1950, S. 415 ff. 214 Der II. Kammer lagen die Petitionen von 55 badischen Synagogenräten um Auf­ hebung des § 58 (früher 54) des Bürgerrechtsgesetzes vor. Den Bericht der Petitions­ kommission erstattete der Abgeordnete Schwarzmann (6. Beilagenheft, S. 178-187); in der Beratung der Kammer am 16. 5. 1860 (Stenograph. Protokoll, S. 3 ff.: 231/32) wurden dann auf Antrag der Minorität der Kommission (Schaaff) die Petitionen zur Motion erhoben. Der zweite Kommissionsbericht wurde ebenfalls von Schwarzmann erstattet (6. Beilagenheft, S. 327-334), der unter Hinweis auf die für den nächsten Landtag erwartete Gewerbegesetzgebung den „Übergang zur motivierten Tagesord­ nung" beantragte; von der Minorität wurde dagegen ein Antrag auf Aufhebung des § 58 bei Beschränkung des Rechts auf Teilnahme am Bürgernutzen und Belassung der Armenfürsorge bei der Synagogengemeinde gestellt. Die Beratung erfolgte am 2. 8. 1860 (Stenograph. Protokoll, S. 1 ff.: 231/33). Prinzipielle Einwände gegen die Juden­ emanzipation wurden nicht mehr erhoben, stattdessen aber vielfache Bedenken gegen eine größere Freizügigkeit, die Teilnahme am Bürgernutzen und die Übernahme der jüdischen Armenfürsorge durch die politische Gemeinde geltend gemacht. Die Mehr­ heit der Abgeordneten war entschlossen, die Entscheidung noch einmal hinauszuschie­ ben, obwohl Lamey als Präsident des Innenministeriums schon in der Debatte am 16. 5. 1860 sehr energisch auf einen klaren Entschluß gedrängt hatte. „Die Frage über die Emanzipation der Israeliten ist eine Frage des Rechts" erklärte Lamey nun noch ein­ mal, und gegen die Mehrheit gewandt, fuhr er fort: „Zuweilen ist es allerdings un­ dankbar, solcher Frage des Rechts offen ins Antlitz zu schauen, wenn man gegen Vor­ urteile kämpfen soll, also undankbar dann, wenn man den Satz aufstellen kann, daß die christliche Bevölkerung selbst noch nicht reif ist zur Emanzipation der Juden" (S. 127). Trotz Lameys eindringlichem Appell wurde jedoch gegen nur 15 Stimmen der Antrag der Majorität angenommen. 215 Am 1. 8. 1860, einen Tag vor der zweiten Kammerdebatte, schrieb Großherzog Friedrich aus Rippoldsau an Lamey, er habe soeben den Kommissionsbericht über die als Motion behandelten Petitionen der Synagogenräte erhalten und bitte um Auskunft darüber, wie die Regierung sich in dieser Angelegenheit zu verhalten gedächte. In dem Brief hieß es weiter: „Ferner ersuche ich Sie um Ihren Ausspruch darüber, ob Sie es nicht auch für angemessen halten würden, dem Minoritätsantrag entgegenzukommen. Mir scheint nämlich die Erlassung eines solchen Gesetzes schon aus dem Grunde als er­ wünscht, weil die Gewährung größerer Freiheit auf allen Gebieten des Staates und der Kirche folgerichtig es erfordert, auch den Israeliten einen größeren Grad von Unab­ hängigkeit zu verleihen, welche immer noch hinlänglich beschränkt wird durch das Recht der Gemeinden, die Bürgerannahme zu bestimmen. Auch aus politischer Rück­ sicht scheint mir diese größere Freigebung geraten, da die Israeliten stets einflußreiche Personen in den großen, wie in den kleinen Gemeinden sind und es daher nützlich ist, sie zufrieden zu wissen" (52/VII, Nachlaß Lamey. Konv. L, Fasz. 1). Lamey, der sich ja schon als Abgeordneter seit 1848 wiederholt für die Emanzipation ausgesprochen hatte, griff diese Anregung sofort auf und teilte dem Großherzog in seiner Antwort vom 3. 8. 1860 mit, daß er gewillt sei, einen Gesetzentwurf vorzubereiten, durch den die volle Gleichstellung verwirklicht werden würde (Großherzogl. Familienarchiv 13, Korrespondenz mit Staatsminister A. Lamey). 218 Schon Dohm hatte es ausdrücklich als ein Mißverständnis bezeichnet, daß er, dem es allein um die „bürgerliche Verbesserung" der Juden gegangen sei, eine „Apologie der Juden" geschrieben habe (C . W. v. Dohm, Denkwürdigkeiten meiner Zeit, 2. Bd., 163 11*

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Anmerkungen zu Seite 70-71 Lemgo 1815, S. 283 ff.). Vgl. auch L. Börne, Briefe aus Paris, 6. Teil, Hamburg 1834, S. 50: „Um ihnen zu helfen, muß man ihre Sache mit dem Recht und den Ansprü­ chen der allgemeinen Freiheit in Verbindung bringen. Man muß nur immer gelegent­ lich, unerwartet von ihnen sprechen, damit der ungeneigte Leser gezwungen werde, sich damit zu beschäftigen, weil es auf seinem Wege liegt. Ich meine auch, es wäre auf diese Weise leichter die Juden zu verteidigen, jedem der keine blinde Liebe für sie hat. Ich habe oft und warm für sie gesprochen! hätte ich sie aber isoliert, wäre mir die Gerechtigkeit gar zu sauer geworden". 217 Text: II. Kammer, 4. Beilagenheft, S. 241-243; Begründung des Entwurfs: ebd., S. 244-248. Zum Regierungskommissar, der die Vorlage im Landtag zu vertreten hatte, wurde Ministerialrat v. Dusch ernannt. 218 Die Übergangsregelungen dienten einer möglichst schonenden Behandlung der »pekuniären Interessen** der einzelnen Gemeinden. Die Frage des Armenwesens war insofern in diesem Zusammenhang von Bedeutung, als die Armenunterstützung in Ba­ den grundsätzlich von der Heimatgemeinde des Bedürftigen zu leisten war. Das be­ deutete, daß den Gemeinden, in denen die Juden bisher ansässig waren, aus ihrer Erhebung zu Gemeindebürgern erhebliche finanzielle Belastungen erwuchsen, die auch dann bestehen blieben, wenn einzelne Juden ihren Wohnsitz in einer fremden Ge­ meinde nahmen, ohne sich dort bürgerlich niederzulassen. Die Versorgung der jüdischen Armen wäre also im wesentlichen allein jenen 11 % aller badischen Gemeinden zur Last gefallen, in denen im Jahre 1862 Juden bürgerlich aufgenommen waren. Auch die Frage des Bürgernutzens spielte in den badischen Gemeinden seit altersher eine besonders wichtige Rolle, und noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren 1250 von 1583 Gemeinden im Besitz von Allmendnutzung (vgl. Kistler, S. 185, und B. Ellering, Die Allmenden im Großherzogtum Baden. Eine historische, statistische und wirtschaftliche Studie, Tübingen 1902). In der II. Kammer war am 2. 8. 1860 darauf hingewiesen worden, daß in fast allen von Juden bewohnten Gemeinden Bürgernutzen, und zwar teilweise von erheblichem Wert, existierte (Stenograph. Protokoll: 231/33). 219 Sehr treffend hatte Lamey über das Verhalten der II. Kammer von 1860 in seinem Brief an den Großherzog bemerkt: „Seit den letzten zehn Jahren ist der Mut ver­ schwunden, der Judenemanzipation im Prinzip entgegenzutreten. Allein, was man nicht mehr von der rechtlichen Seite zu negieren gewagt hat, das sucht man von Seiten der Zweckmäßigkeit, der momentanen Zeitgemäßheit in Frage zu stellen. Die Frage, so sagt man, muß zu Gunsten der Juden gelöst werden, allein es ist jetzt nicht an der Zeit 220 II. Kammer, 4. Beilagenheft, S. 245. Zur wirtschaftlichen und sozialen Situation in Baden zu Beginn der sechziger Jahre vgl. allgemein die materialreiche Studie von Kistler. 221 6. Beilagenheft, S. 125-140. 222 Der II. Kammer lagen insgesamt 194 Petitionen mit zusammen 18 100 Unter­ schriften gegen das Emanzipationsgesetz vor. Bei 180 dieser Petitionen handelte es sich um ein lithographiertes Formular, das Ende Januar an alle Gemeinden anonym („Freunde der Regierung, des Volkes und des Vaterlandes") verschickt worden war. Noch einmal wurden in diesem Formular die alten, gegen Talmud und Zeremonial­ gesetze gerichteten Beschuldigungen wiederholt, zugleich aber auch die wirtschaftlichen »Gefahren" in grellen Farben gemalt. So hieß es nach einem Hinweis auf den jüdischen Bevölkerungsanteil u.a.: „ . . . soll nun diesem einen Teil durch völlige Gleichstellung unbedingt gestattet werden, sich gleich einer Schmarotzerpflanze über die andern 64 auszubreiten - sich in jeder Gemeinde mit Vermögen und reichen Armenstiftungen niederzulassen? Teil hieran zu nehmen und ihr Wesen wie bisher zu treiben? - Soll dieser eine Teil das Privilegium besitzen, vom Schweiße der übrigen 64 zu leben? 164 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 71-72 Dies würde selbst vom zügellosesten Fortschritte nicht gebilligt werden" (Text: 231/1423). Ja, man scheute sich nicht, auf frühere Judenverfolgungen hinzuweisen und dabei zu bemerken: „Was schon geschehen ist, kann wiederkehren!" Erfolg hatte diese Agitation fast nur in den Landgemeinden, und zwar zu einem großen Teil in solchen, in denen bisher keine Juden ansässig waren. So kamen aus dem Oberrhein­ und Seekreis mit ihrer geringen jüdischen Bevölkerung allein 80 bzw. 46 Petitionen, aus dem Unterrhein- und Mittelrheinkreis dagegen nur 41 bzw. 27. - Die Urheber dieser Petitionsbewegung blieben unbekannt. In der II. Kammer und auch in der Karlsruher Zeitung, die seit dem 21. 2. 1862 mehrfach hierüber berichtete, wurden lediglich einige Andeutungen gemacht, die auf eine Verbindung zu den seit dem kir­ chenpolitischen Streit von 1859/60 in Opposition stehenden katholischen Kreisen wie­ sen. Man war überzeugt, daß die Petitionsbewegung ihrer Intention nach nicht nur gegen die Juden, sondern allgemein gegen die liberale Regierung und ihre Politik ge­ richtet und s o ' - gewollt oder ungewollt - den Interessen der katholischen Opposition dienlich war. Zweifellos gab es auch, wie sich zuerst in den vierziger Jahren gezeigt hatte, Elemente eines spezifisch katholischen Widerstandes gegen die Emanzipation. Im badischen Kulturkampf schließlich wurde die Polemik gegen die Judenemanzipation zu einem Kampfmittel der antiliberalen katholischen Agitation: „Das Volk hat kein Ver­ langen nach Gewerbefreiheit, nach Hausieren, nach Berechtigung der Juden, sich überall anzusiedeln, gehabt, aber die Kammer hat solches beschlossen" („Aufgebot an alle römisch-katholischen Männer in Baden", Wahlflugblatt, 1865). Vgl. dazu allge­ mein: L. Gall, Die partei- und sozialgeschichtliche Problematik des badischen Kultur­ kampfes, in: ZGO, Bd. 113, 1965, S. 151 ff. 223 6. Beilagenheft, S. 134. Häusser knüpfte an diese Betrachtungen die wichtige Schlußfolgerung: „Damit ist aber auch die ganze Anomalie unseres Verfahrens gerich­ tet; während die Gründe der Abneigung keineswegs religiöser Natur sind, ist es doch der Wechsel des religiösen Bekenntnisses, der den Juden die völlige Gleichheit bürger­ licher Rechte sofort erwirbt." 224 Ebd., S. 135. 225 Häusser führte u.a. aus: „Die Juden sind ein orientalisches Volk und prägen diesen Ursprung nicht nur in ihrer äußeren Erscheinung aus, sondern lassen ihn auch mannigfach in ihrer Lebensweise, Sitte und Beschäftigung erkennen. Was viele, religiös durchaus tolerante C hristen von ihnen abstößt, ist ohne Zweifel in erster Linie die Verschiedenheit der Race, die wohl auch sonst Völker des gleichen Weltteils anti­ pathisch zueinander stellt" (S. 134). Auch im Kommissionsbericht der I. Kammer von Prof. A. Schmidt war von der „Eigentümlichkeit ihrer Rasse" die Rede, ja die Juden - als „ein Zweig des semitischen Stammes" - wurden als „Fremdlinge im Blut" den germanischen und romanischen Völkern gegenüber bezeichnet (2. Beilagenheft, S. 152). Den Rassenunterschied anstelle des Religionsunterschieds arbeitete schließlich auch Bluntschli noch einmal heraus (I. Kammer, Protokoll, S. 96). 226 Eine genauere Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Emanzipation und Antisemitismus würde vermutlich für die Entstehungsgeschichte des modernen Anti­ semitismus wichtige neue Gesichtspunkte ergeben. Vor allem wäre einmal die Frage zu untersuchen, ob nicht Eigenart und Verlauf des Emanzipationsprozesses in Deutsch­ land wesentlich dazu beigetragen haben, daß Deutschland zum Ursprungsland des modernen Antisemitismus werden konnte. 227 6. Beilagenheft, S. 137. 228 II. Kammer, 25. 4. 1862, Protokoll, S. 193-197; Stenograph. Protokoll, S. 4-157 (231/39). Häusser bezeichnete im Verlauf der Debatte nach einem Rückblick auf den Landtag von 1831 den Abschluß der Emanzipation als „ein eklatantes Beispiel" dafür, „daß der Fortschritt keine bloße Theorie ist" (S. 61). Und Lamey unterstrich noch 165 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 72-73 einmal die prinzipielle Bedeutung des Gesetzes: „Wir stellen in diesem Gesetz nicht bloß die Israeliten den C hristen bürgerlich gleich, wir geben nicht bloß ein Emanzi­ pationsgesetz für die Israeliten, sondern auch eines für die C hristen; denn schauen Sie auf alle geschichtlichen Ereignisse der Welt, ob nicht immer noch mit Notwendigkeit die Frage, welches politische Prinzip in einem Lande tadellos durchgeführt war, über das Geschick des ganzen Staats entschieden hat" (S. 55). 229 I. Kammer, 3. 6. 1862, Protokoll, S. 91-96; Stenograph. Protokoll, S. 2-116 (231/817). 230 Kommissionsbericht (Prof. A. Schmidt), 2. Beilagenheft, S. 151. 231 Da die I. Kammer eine kleine Änderung des Entwurfs hinsichtlich der Bestim­ mungen über das Armenwesen vorgenommen hatte, mußte sich die II. Kammer am 12. 6. 1862 noch einmal mit der Sache befassen (Stenograph. Protokoll, S. 14-49: 231/41); damit war die Beratung des Entwurfs jedoch endgültig abgeschlossen. 232 „Gesetz die bürgerliche Gleichstellung der Israeliten betreffend", Reg. Bl. v. 7. 10. 1862, Nr. 48, S. 450 ff.; Original mit den Unterschriften des Großherzogs, Lameys und der Kammerpräsidenten: 230 g/1371. 233 Gesetz über Aufenthalt und Niederlassung vom 4. 10. 1862, Reg. Bl. v. 7. 10. 1862, Nr. 48, S, 445 ff.; Gewerbegesetz für das Großherzogtum Baden vom 20. 9. 1862, Reg. Bl. v. 24. 9. 1862, Nr. 44, S. 409 ff. 234 Das Gewerbegesetz wurde am 6. 12. 1861 vorgelegt, das Freizügigkeitsgesetz am 18. 12. 1861; das Gesetz über die bürgerliche Gleichstellung, das einer wesentlich ge­ ringeren Vorbereitung bedurfte, wurde dagegen erst am 10. 1. 1862 vorgelegt. In der II. Kammer begannen die Beratungen über das Freizügigkeitsgesetz am 21. 3. 1862, über das Gewerbegesetz am 27. 3. 1862; über das Emanzipationsgesetz wurde am 25. 4. 1862 beraten. In den Beratungen der beiden allgemeinen Gesetzgebungswerke spielte die Frage der Juden kaum eine Rolle; es war von vornherein klar, daß Aus­ nahmebestimmungen nicht mehr möglich sein würden. 235 Zur Frage der sozialen Integration des badischen Judentums seit dem Emanzi­ pationsgesetz von 1862 können hier nur noch einige allgemeine Hinweise gegeben werden. Am auffälligsten war die starke Verstädterung, die Wanderungsbewegung aus den jüdischen Landgemeinden in die großen Städte. 1880 lebten bereits 56,9 % der badischen Juden in den Städten (27,9 % in den fünf größten Städten), während der Anteil der Städter an der Gesamtbevölkerung nur 31,3 % betrug. Sog. „Mischehen" blieben bei den Juden bis in den Ersten Weltkrieg hinein sehr viel seltener als bei den Christen. Wesentliche Veränderungen in der Berufsstruktur des badischen Judentums ergaben sich nur in den Städten, wo allerdings auch weiterhin kaufmännische Berufe deutlich vorherrschten. Auf dem Lande zeichnete sich eher eine rückläufige Entwick­ lung ab, da die qualifizierten jüngeren Männer zu einem großen Teil in die Städte abwanderten; detaillierte Angaben dazu bei A. Blum, Enquete über die wirtschaftliche Lage der jüdischen Landbevölkerung in Baden. Ergebnisse einer Erhebung vom Jahre 1900, in: Jüdische Statistik, Berlin 1903, S. 191 ff., und J . Moses, Statistische Erhe­ bungen über die Berufswahl der jüdischen Jugend in Landgemeinden Badens, ebd., S. 202 ff. Die Klagen über „jüdischen Wucher" wurden geringer, verstummten aber nie ganz (vgl. A. Buchenberger, Der Wucher auf dem Lande im Großherzogtum Baden, in: Der Wucher auf dem Lande, Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 35, Leip­ zig 1887, S. 17 ff.). Von großer symbolischer Bedeutung war schließlich die Tatsache, daß mit Moritz Ellstätter, der von 1868 bis 1893 an der Spitze des badischen Finanzministeriums stand, erstmalig in Deutschland ein Jude in ein Ministeramt be­ rufen wurde. Der politische Antisemitismus, dem die liberale Regierung von Anfang an energisch entgegentrat, erlangte, abgesehen von einigen Einzelerfolgen in den neunziger Jahren, in Baden nur geringe Bedeutung. 166 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 74-75 III. Die Judenfrage* der bürgerlichen Gesellschaft und die Entstehung des modernen Antisemitismus * Dieser Beitrag ist zuerst unter dem Titel „Kontinuität und Diskontinuität der Judenfrage' im 19. Jahrhundert. Zur Entstehung des modernen Antisemitismus** in: Sozialgeschichte heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag, hg. v. H.-U. Wehler, Göttingen 1974, S. 388-415, veröffentlicht worden; der Abdruck er­ folgt im wesentlichen unverändert. 1 P. W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt 1959; P. G. J . Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Öster­ reich 1867-1914, Gütersloh 1966; E. Sterling, Judenhaß. Die Anfänge des politischen Antisemitismus in Deutschland (1815-1850), Frankfurt 19692; A. Hertzberg, The French Enlightenment and the Jews, New York 1968. 2 Neben den bereits genannten Werken s. E. G. Reichmann, Flucht in den Haß. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe, Frankfurt 19692; H. Arendt, Antisemitism, New York 1968 ( = The Origins of Totalitarianism, Teil I, mit neuem Vorwort); A. Leschnitzer, The Magic Background of Modern Anti-Semitism, New York 1956; J . Parkes, Antisemitismus, München 1964; u. vor allem H. Rosenberg, Moderner Antise­ mitismus und vorfaschistische Strömungen, in: ders., Große Depression und Bismarck­ zeit, Berlin 1967, S. 88-177. Ergänzend noch immer die älteren Sammelwerke: Essays on Antisemitism, hg. v. K. S. Pinson, New York 19462; Jews in a Gentile World. The Problem of Antisemitism, hg. v. J . Graeber u. S. H. Britt, New York 1942. Wichtig unter den neueren Sammelwerken: Judenfeindschaft, hg. v. K. Thieme, Frankfurt 1963; Antisemitismus, hg. v. H. Huss u. A. Schröder, Frankfurt 1965; Kirche und Syn­ agoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden, hg. v. K. H. Rengstorf u. S. v. Kortzfleisch, 2 Bde., Stuttgart 1970. L. Poliakovs „Histoire de l'antisémitisme" (Bd. 1 ff., Paris 1955 ff.) ist noch unabgeschlossen. Zur allgemeinen Diskussion über C ha­ rakter und Funktion des Antisemitismus s. außerdem J . P. Sartre, Betrachtungen zur Judenfrage, in: ders., Drei Essays, Frankfurt 1966, S. 108-90; M. Horkheimer u. T. W. Adorno, Elemente des Antisemitismus, in: dies., Dialektik der Aufklärung, Frank­ furt 1969, S. 177-217; A. Silbermann, Zur Soziologie des Antisemitismus, in: Psyche, Bd. 16, 1962, S. 246-254; H. P. Bahrdt, Soziologische Reflexionen über die gesell­ schaftlichen Voraussetzungen des Antisemitismus in Deutschland, in: Entscheidungs­ jahr 1932, hg. v. W. E. Mosse u. A. Paucker, Tübingen 1965, S. 133-155. 8 Wegweisend für diese Entwicklung ist Rosenbergs eindringliche und differenzierte Interpretation des „Antisemitismus im Zeitalter der Industrialisierung", in der die Ent­ wicklung des Antisemitismus voll in die Gesamtanalyse von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik Mitteleuropas einbezogen und insbesondere der Zusammenhang von kon­ junkturellen Trendperioden, zyklischen Krisen und Antisemitismus herausgearbeitet worden ist. Zur Forschungsgeschichte s. meine Skizze unten S. 115 ff. 4 Vgl, Sartre, S. 186: „Die Judenfrage ist durch den Antisemitismus entstanden und wir müssen den Antisemitismus abschaffen, um sie zu lösen.** Diese These bestimmt auch die Ausgangsposition der psychoanalytischen Antisemitismusdeutungen: R. M. Loewenstein, Psychoanalyse des Antisemitismus, Frankfurt 1968; Psyche, Bd. 16, 1962, S. 241-317 (Kongreßbericht mit Beiträgen von A. Mitscherlich, B. Grunberger, M. Wangh, W. Hochheimer u. a.); s. auch E. Simmel (Hg.), Anti-Semitism, New York 1946, und die von M. Horkheimer u. S. H. Flowerman herausgegebenen „Stu­ dies in Prejudice'', bes. T. W. Adorno u. a., The Authoritarian Personality, New York 1950 (dt. gekürzt Amsterdam 1968) u. N. W. Ackermann u. M. Jahoda, Anti­ Semitism and Emotional Disorder, New York 1950.

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Anmerkungen zu Seite 75-78 5 Der funktionalistische Interpretationsansatz, der auch in der westlichen Forschung eine wichtige Rolle spielt (Massing u. a.)> ist in der marxistisch-leninistischen Antise­ mitismusinterpretation verabsolutiert worden. Der Antisemitismus wird ausschließlich von seiner Funktion her definiert als „feindliche Einstellung, Hetze gegen die Juden, die der Ablenkung der Volksmassen von den Mißständen der Ausbeuterordnung dient" (Kleines politisches Wörterbuch, Berlin 1967, S. 42). Vgl. dazu die Analysen von H. Gorschler, Die revolutionäre Arbeiterbewegung und ihr Verhältnis zum Antisemitis­ mus, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Leipzig, Gesell.- u. sprachwiss. Reihe, Bd. 14, 1965, S. 539-551; W. Mohrmann, Antisemitismus. Ideologie und Ge­ schichte im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Berlin 1972; ganz ähnlich im Ansatz schon A. Bebel, Sozialdemokratie und Antisemitismus, Berlin 1894. 6 So schon Reichmann, S. 36 ff. 7 Dabei stütze ich mich, ohne künftig hierauf im einzelnen zu verweisen, vor allem in den ersten Abschnitten auf Ergebnisse der in diesem Band ebenfalls abgedruckten Studien: Die Emanzipation der Juden in Baden, und: Judenemanzipation und bürger­ liche Gesellschaft in Deutschland. Anregungen für die weitere Bearbeitung der Thema­ tik verdanke ich den Teilnehmern der von mir in Berlin und Berkeley abgehaltenen Seminare zur Judenfrage'. 8 Zur älteren Geschichte der Juden s. allg. S. W. Baron, A Social and Religious His­ tory of the Jews, Bd. 1-14, New York 1952-19692; für Deutschland I. Elbogen u. E. Sterling, Die Geschichte der Juden in Deutschland, Frankfurt 1966. 9 Vgl. die Analyse von A. Leon, Judenfrage und Kapitalismus, München 1971; dazu auch R. Straus, Die Juden in Wirtschaft und Gesellschaft, Frankfurt 1964. In diesem Zusammenhang ist auch die von W. Sombart (Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1911) ausgelöste Debatte über die Bedeutung der Juden für die Entwicklung des Kapitalismus zu erwähnen. Dazu auch M. Beard, Anti-Semitism - Product of Eco­ nomic Myth, in: Graeber/Bntt (Hg.), S. 362-401. 10 Für Frankreich liegt eine vorzügliche Sammlung der einschlägigen Materialien vor: La Revolution Française et l'émancipation des Juifs, 8 Bde., Paris 1968; dazu vor allem Z. Szajkowski, Jews and the French Revolutions of 1789, 1830 and 1848, New York 1970; Hertzberg, S. 314-368. Für Deutschland fehlt eine vergleichbare Samm­ lung; reichhaltige bibliographische Daten bei V. Eichstädt, Bibliographie zur Geschich­ te der Judenfrage, Bd. 1: 1750-1848, Hamburg 1938; preußische Dokumente bei I. Freund, Die Emanzipation der Juden in Preußen, 2 Bde., Berlin 1912; für Österreich s. R. Kestenberg-Gladstein, Neuere Geschichte der Juden in den böhmischen Ländern, Bd. 1, Tübingen 1969. 11 Vgl. H. Schnee, Die Hoffinanz und der moderne Staat, 6 Bde., Berlin 1953-1967; S. Stern, The C ourt Jew, Philadelphia 1950; F. L. C arsten, The C ourt Jews, in: Year Book of the Leo Baeck Institute, Bd. 3, 1958, S. 140-156. 12 Vgl. J . Katz, Exclusiveness and Tolerance, New York 1962; M. A. Meyer, The Origins of the Modern Jew, Detroit 1967; H. M. Graupe, Die Entstehung des moder­ nen Judentums, Hamburg 1969. 13 Zu diesem Prozeß s. L. Bergeron u. a., Das Zeitalter der europäischen Revolu­ tion 1780-1848, Frankfurt 1969; E. Hobsbawm, Europäische Revolutionen, Zürich 1962; R. R. Palmer, Das Zeitalter der demokratischen Revolution, Frankfurt 1970; R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, 1786-1848, Stuttgart 1967; W. Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur, Hamburg 19662; H. Mottek, Wirtschaftsge­ schichte Deutschlands, Bd. 1-2, Berlin 1968/692. Zum aufgeklärten Absolutismus' s. F. Härtung, Der aufgeklärte Absolutismus, in: Historische Zeitschrift, Bd. 180, 1955, S. 15-42. 14 Informative Skizze des internationalen Emanzipationsprozesses: S. W. Baron, Jew-

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Anmerkungen zu Seite 79-83 ish Emancipation, in: Encyclopaedia of the Social Sciences, Bd. 7, 1932, S. 394-99; dazu die wichtigsten Dokumente bei R. Mahler, Jewish Emancipation, New York 1941; s. auch S. W. Baron, Étapes de Témancipation juive, in: Diogène, Bd. 29, 1960, S. 69-94, und für die erste Phase R. Mahler, A History of Modern Jewry, 1780-1815, New York 1971; zur Begriffsgeschichte J . Katz, The Term Jewish Emancipation' Its Origin and Historical Impact, in: A. Altmann (Hg.), Studies in l9th C entury Jew­ ish Intellectual History, C ambridge/Mass. 1964, S. 1-16. Für Deutschland jetzt J . Toury, Der Eintritt der Juden ins deutsche Bürgertum, Tel Aviv 1972; R. Weltsch, Aus dem Jahrhundert der Judenemanzipation, in: ders., An der Wende des neuzeitli­ chen Judentums, Tübingen 1972, S. 81-93; E. Hamburger, Juden im öffentlichen Le­ ben Deutschlands, Tübingen 1968; S. Wenzel, Jüdische Bürger und kommunale Selbst­ verwaltung in preußischen Städten 1808-1848, Berlin 1967; H. Fischer, Judentum, Staat und Heer in Preußen im frühen 19. Jahrhundert, Tübingen 1968; H. Krohn, Die Juden in Hamburg 1800-1850, Frankfurt 1967; H. Strauss, Pre-Emancipation Prussian Policies Towards the Jews, 1815-1847, in: Year Book of the Leo Baeck Institute, Bd. 11, 1967, S. 107-136; wichtig noch immer S.W.Baron, Die Judenfrage auf dem Wiener Kongreß, Wien 1920. Für Polen jetzt A. Eisenbach, Kwestia rownó-üprawenie­ nia Zydów w Królestwie Polskim, Warschau 1972; für England V. D. Lipman, The Age of Emancipation, in: dies, (Hg,), Three C enturies of Anglo-Jewish History, C am­ bridge 1961, S. 69-106; s. außerdem die in Anm. 10 genannte Literatur. 15 Zur Politik Napoleons s. Szajkowski, S. 919-970 (ergänzt durch eine Bibliogra­ phie zur Judenfrage' in Frankreich 1801-1815, ebd., S. 971-1016); R. Anchel, Na­ poleon et les Juifs, Paris 1928; F. Pietri, Napoleon et les Israélites, Paris 1965. 18 Vgl. S. W. Baron, The Impact of the Revolution of 1848 on Jewish Emancipa­ tion, in: Jewish Social Studies, Bd. 11, 1949, S. 195-248; zur politischen Aktivität der Juden in der Revolution s. J . Toury, Die politischen Orientierungen der Juden in Deutschland, Tübingen 1966, S. 47 ff.; Hamburger, S. 120 ff., 170 ff. 17 Aufschlußreich hierzu T. W. Perry, Public Opinion, Propaganda, and Politics in l8th C entury England. A Study of the Jew Bill of 1753, Cambridge/Mass. 1962. 18 N. M. Gelber, Jüdische Probleme beim Berliner Kongreß 1878, in: R. Weltsch (Hg.), Deutsches Judentum, Stuttgart 1963, S. 216-252. 19 Vgl. S. W. Baron, The Russian Jews under Tsars and Soviets, New York 1964; L. Greenberg, The Jews in Russia, New Haven 1966. 20 In diesem Sinne argumentierte schon W. v. Humboldt in einer Denkschrift von 1809: „denn eine allmähliche Aufhebung [der rechtlichen Ungleichheit] bestätigt die Absonderung, die sie vernichten will, in allen nicht aufgehobenen Punkten, verdoppelt gerade durch die neue größere Freiheit die Aufmerksamkeit auf die noch bestehende Beschränkung und arbeitet dadurch sich selbst entgegen" (Ges. Schriften, Bd. 10, Ber­ lin 1903, S. 100). Er schloß seine Kritik mit dem Satz ab: „Wie man gegen die plötzli­ che Gleichstellung zu furchtsam ist, so scheint man mir bei der allmählichen, welche die doppelte Gefahr des alten und des neuen Zustandes zugleich bestehen läßt, indem man sie sich beide zu vermindern einbildet, in der Tat zu kühn" (S. 104). 21 Vgl. Toury, Eintritt, S. 235 ff.; s. auch oben, S. 25 f. 22 In Frankreich formulierte z.B. P. Leroux: „:. . es ist klar, daß wir, wenn wir von Juden sprechen, den jüdischen Geist meinen, den Geist des Profits, der Gewinn­ sucht, des Eigennutzes, den Geist des Handels und der Spekulation, mit einem Wort, den Bankgeist" (zit. nach E. Silberner, Sozialisten zur Judenfrage, Berlin 1962, S. 45). Leroux diagnostizierte: „Auf den Feudalbaron, diesen Krieger und Zerstörer, ist der Jude gefolgt, der schlaue Ausbeuter: Krieg für Krieg, mit verschiedenen Waffen, ein jeder die seinen" (S. 48). 1845 erschien in Paris A. Toussenel, Les Juifs, rois de l'épo­ que. In Deutschland schrieb K. Marx 1843 („Zur Judenfrage"): „Suchen wir das Ge169 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 84-85 heimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheimnis der Re­ ligion im wirklichen Juden. Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Judentums? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld" (Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin 1957, S. 372). Marx glaubte das so definierte Judentum mit dem kapitalisti­ schen System identifizieren zu können und forderte daher die „Emanzipation der Menschheit vom Judentum", d. h. vom Kapitalismus, als Voraussetzung für eine wirk­ liche Emanzipation der Juden. Auch die bürgerliche Linke, etwa die badischen Demo­ kraten, betrachtete die Juden teilweise als Symbol der von ihnen abgelehnten wirt­ schaftlichen und sozialen Verhältnisse. 1850 betonte R. Wagner den Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Kapitalismus und der Stellung der Juden: „Von der Wendung unserer gesellschaftlichen Entwicklung an, wo, mit immer unumwundener Anerkennung, das Geld zum wirklich Macht gebenden Adel erhoben wurde, konnte den Juden, denen Geldgewinn ohne Arbeit, d. h. der Wucher, als einziges Gewerbe überlassen worden war, das Adelsdiplom der neueren, nur noch geldbedürftigen Ge­ sellschaft, nicht nur nicht mehr vorenthalten werden, sondern sie brachten es ganz von selbst dahin mit" (Das Judenthum in der Musik, in: Neue Zeitschrift für Musik, Bd. 33, 1850, S. 104). 23 Die Bedeutung der langfristigen konjunkturellen Trendperioden für die Entwick­ lung der Judenfrage' ist zuerst herausgearbeitet worden von A. Menes, Die Judenfra­ ge im Lichte der Konjunkturentwicklung, in: Jüdische Wohlfahrtspflege u, Sozialpoli­ tik, N. F., Bd. 4, 1933/34, S. 5-15; dazu jetzt in erster Linie Rosenberg, S. 88 ff. 24 Die Bibliographie von V. Eichstädt verzeichnet bis 1848 über 3000 Titel zur J u ­ denfrage' im deutschen Sprachraum. Im vormärzlichen Süddeutschland wurde die J u ­ denfrage' auf nahezu jedem Landtag ausführlich erörtert; hinzu kamen die zahlrei­ chen Petitionen für und gegen die Emanzipation (organisiert vom katholischen Klerus wurden 1850 in Bayern 80 000 und 1862 in Baden 18 000 Unterschriften gegen die Emanzipation gesammelt; sie kamen überwiegend aus Gemeinden und Landesteilen, in denen keine Juden ansässig waren). Für die Forderung nach Ausnahmegesetzen und sozialer Diskriminierung der Juden in den 70er Jahren kann die Tatsache nicht hoch genug veranschlagt werden, daß es eben in den 60er Jahren noch zahlreiche Judenge­ setze' in Deutschland gab. 25 1840 klagte G, Ricsscr: „Was man Verwerfliches und Verhaßtes wahrnehmen oder erdichten mochte, - Zerstörendes und Vatcrlandsfeindliches im Gebiet der Poli­ tik, Unsittliches in dem der Moral oder der Ästhetik, dem C hristentum und allen Hei­ ligen Feindliches in der Religion - das . . . wurde den Juden oder Jüdischem Wesen, jüdischem Hasse, jüdischen Leidenschaften, jüdischer Frechheit' usw. zugeschrieben" (Ges. Schriften, Bd. 4, Frankfurt 1868, S. 133). 1880 bezeichnete der Abgeordnete Dr. Meyer aus Breslau es im preußischen Abgeordnetenhaus als eine „Tatsache, daß man den Namen Jude' überhaupt schon als ein Brandmal gebraucht, daß man sagt, man sei mit dem Menschen, den Bestrebungen, den Tendenzen, den Gedanken desselben fer­ tig, sobald man behauptet hat, der Mann sei ein Jude, sei ein Semit" (Stenographische Berichte . . ., Haus der Abgeordneten, Bd. 1, 1881, S. 255). Zur Entwicklung der anti­ jüdischen Stereotypen in der Literatur s. E. K. Bramstedt, Aristocracy and the Middle­ Classes in Germany. Social Types in German Literature 1830-1900, C hicago 19642, S. 132-149; G. L. Mosse, The C risis of German Ideology, New York 1964, S. 126-145; ders., Germans and ïews, New York 1970, S. 34-60, 61-76. 26 Schon 1843 wurde von einer „Herrschaft der Juden in der deutschen Tagespres­ se" gesprochen (Toury, Orientierungen, S. 11); ähnlich auch 1845 im badischen Land­ tag (s. oben S. 157). In der bayerischen II. Kammer wurde 1846 argumentiert: „Ein Volk, welches so viele Individuen zählt, die Fabriken, Bankier-Häuser und Landgüter, 170 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 85-87 ja Rittergüter besitzen, kann unmöglich so unterdrückt sein, denn sonst hatten sie sich solche Reichtümer nicht erwerben können" (s. oben S. 32). In Baden wurden 1840 in ei­ nem die Emanzipation befürwortenden Kommissionsbericht die Befürchtungen der Be­ völkerung formuliert: „Man sieht mit Angst in die Zukunft, wie diese gefürchteten Is­ raeliten nach und nach sich in alle Gemeinde-Ämter und öffentlichen Staatsdienste eindrängen, und wie sie als Bezirksbeamte und Richter auf eigene Weise funktionieren; ja, man ängstigt sich schon mit dem Gedanken, wie ein solcher verhaßter Israelit der­ einst als Finanzminister mit den Staatsgeldern und öffentlichen Fonds schalten und walten werde" (s. oben S. 62). R. Wagner schließlich behauptete 1850: „Ganz unver­ merkt ist der ,Gläubiger der Könige' zum »König der Gläubigen' geworden, und wir können nun das Nachsuchen dieses Königs um Emanzipation nicht anders als unge­ mein naiv finden, da wir uns vielmehr in die Notwendigkeit versetzt sehen, um Eman­ zipation von den Juden zu kämpfen. Der Jude ist, nach dem gegenwärtigen Stande der Weltdinge, wirklich bereits mehr als emanzipiert; er herrscht, und wird so lange herrschen, als das Geld die Macht bleibt, vor der all unser Tun und Treiben seine Kraft verliert" (S. 102). 27 Dieser häufig übersehene, für die Emanzipationsproblematik in Deutschland au­ ßerordentlich wichtige Aspekt bedarf noch der genaueren Untersuchung. 28 Dieser Gesichtspunkt wurde bereits auf dem Wiener Kongreß von 1815, als Österreich und Preußen sich intensiv, aber erfolglos um eine Gesamtlösung der Juden­ frage' im Rahmen des Deutschen Bundes bemühten, klar ausgesprochen (vgl. oben S. 33). 29 Die Taufe spielte im Rahmen der Emanzipationspolitik eine bemerkenswert ge­ ringe Rolle; die verbreiteten Vorstellungen von einer ,Taufepidemie' sind stark über­ trieben, allerdings ist der relative Anteil der wirtschaftlichen und kulturellen Ober­ schicht der Juden an der Gesamtzahl der Übertritte zum C hristentum außerordentlich hoch. Vgl. allgemein N. Samter, Judentaufen im 19. Jahrhundert, Berlin 1906; A. Me­ nes, Die Taufbewegung in Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, War­ schau 1929. 30 Die aus diesen Vorstellungen resultierende Intoleranz der Liberalen und Demo­ kraten ist von Sartre für die spätere Zeit nachdrücklich betont worden: der Demokrat „will ihn als Juden vernichten, um ihn als Menschen zu erhalten, als allgemeines ab­ straktes Subjekt der Menschen- und Bürgerrechte. Auch der liberalste Demokrat ist nicht frei von Antisemitismus. Er ist dem Juden insoweit feindlich gesinnt, als dieser es wagt, sich als Jude zu fühlen" (S. 136). 31 Zur Begriffsgeschichte s. unten S. 96 ff. 32 Vgl. allgemein hierzu J . Katz, A State within a State. The History of an Anti­ Semitic Slogan, Proceedings of the Israel Academy of Sciences and Humanities, Bd. 4 (3), Jerusalem 1969, S. 29-58. 33 S. allg. H. Mottek, Die Gründerkrise, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1966/1, S. 51-128; Rosenberg; H.-U. Wehler, Bismarck und der Imperialismus, Köln 19723; M. Nitzsche, Die handelspolitische Reaktion in Deutschland, Stuttgart 1905 (noch immer sehr nützlich); W.Zorn, Wirtschafts-und sozialgeschichtliche Zusammen­ hänge der deutschen Reichsgründungszeit (1850-1879), in: Historische Zeitschrift, Bd. 197, 1963, S. 318-342; H. Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht, Köln 1966; K. E. Born, Wirtschaftsentwicklung und Wirtschaftsstil im ersten Jahrzehnt nach der Reichsgründung, in: K.-H. Manegold (Hg.), Wissenschaft, Wirtschaft, Technik, Mün­ chen 1965, S. 173-89; s. außerdem noch H. Bartel und E. Engelberg (Hg.), Die groß­ preußisch-militaristische Reichsgründung 1871, 2 Bde., Berlin 1971/72; T. Schieder u. E. Deuerlein (Hg.), Reichsgründung 1870/71, Stuttgart 1970; M. Stürmer (Hg.), Das 171 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 88-89 kaiserliche Deutschland, Düsseldorf 1970; G. R. Mork, Bismarck and the Kapitula­ tion' of German Liberalism, in: Journal of Modern History, Bd. 43, 1971, S. 59-75; R. M. Berdahl, C onservative Politics and Aristocratic Landholders in Bismarckian Germany, in: Journal of Modern History, Bd. 44, 1972, S. 1-20. 34 Zum Problem der verspäteten' Industrialisierung s. allg. A. Gerschenkron, Eco­ nomic Backwardness in Historical Perspective, C ambridge/Mass. 1962; zu den poli­ tisch-sozialen Folgen in Deutschland: T. Veblen, Imperial Germany and the Industrial Revolution, Ann Arbor 1966; Rosenberg, S. 59 ff.; Wehler, S. 122 ff. 35 Die antisemitische Umsetzung einer solchen Kritik lag unter den gegebenen Ver­ hältnissen nahe und wurde u. a. von A. Stoecker in seiner Rede vom 19. 9. 1879 vor­ genommen: „Die Devise ,billig und schlecht' kommt zum großen Teil auf ihre [der Juden] Rechnung" (Unsere Forderungen an das moderne Judenthum, als Flugblatt ge­ druckt). Im Reichstag wurde 1879 das modische, polemisch gebrauchte Adjektiv se­ mitisch* als „wohlfeil und schlecht" bezeichnet (s. unten S. 176). 36 Vgl. allg. C . v. Krockow, Nationalismus als deutsches Problem, München 1970; L. Gall, Die ,deutsche Frage' im 19. Jahrhundert, in: 1871 - Fragen an die deutsche Geschichte (Ausstellungskatalog, Berlin 1971), S. 19-52; s. auch W. Sauer, Das Problem des deutschen Nationalstaates, in: Politische Vierteljahresschrift, Bd. 3, 1962, S. 159-186; H. Grebing, Nationalismus und Demokratie in Deutschland. Versuch einer hi­ storisch-soziologischen Analyse, in: I. Fetscher (Hg.), Rechtsradikalismus, Frankfurt 1967, S. 31-65; T. Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, Bd. 206, 1968, S. 529-585; R. M. Berdahl, New Thoughts on German Nationalism, in: American Historical Review, Bd. 77', 1972. S. 65-80. 37 S. unten S. 101 ff.; ergänzend zur Begriffsgeschichte, allerdings mit einem abwei­ chenden Interpretationsansatz: J . Toury, ,The Jewish Question'. A Semantic Approach, in: Year Book of the Leo Baeck Institute, Bd. 11, 1966, S. 85-106; s. auch A. Bein, The Jewish Parasite. Notes on the Semantics of the Jewish Problem, ebd., Bd. 9, 1964, S. 3-40. 38 Zur Geschichte des Antisemitismus im Kaiserreich s. neben den bereits genannten Arbeiten von Rosenberg, Massing, Pulzer und Mohrmann: K. Wawrzinek, Die Entste­ hung der deutschen Antisemitenparteien 1873-1900, Berlin 1927; W. Gurian, Antise­ mitism in Modern Germany, in: Pinson (Hg.), S. 218-265; A. Bein, Der moderne Anti­ semitismus und seine Bedeutung für die Judenfrage, in: Vierteljahrcshcfte für Zeitge­ schichte, Bd. 6, 1958, S. 340-360; H. Schleier u. G. Seeber, Zur Entwicklung und Rolle des Antisemitismus in Deutschland 1871-1914, in: Zeitschrift für Geschichtswissen­ schaft, Bd. 9, 1961, S. 1592-1597; K. Felden, Die Übernahme des antisemitischen Stereo­ typs als soziale Norm durch die bürgerliche Gesellschaft Deutschlands (1875-1900), phil. Diss. Heidelberg 1963 (Ms.); H.-G. Zmarzlik, Der Antisemitismus im Zweiten Reich, in: Geschichte in Wissenschaft u. Unterricht, Bd. 14, 1963, S. 273-286; H. M. Klinkenberg, Zwischen Nationalismus und Liberalismus, in: Monumenta Judaica, Köln 1963, S. 309-384; I. Fischer, Zur Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland, in: Antisemitismus, S. 9-33; F. Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern 1963, bes. S. 88 ff., 174 ff.; D. Fricke, Antisemitische Parteien 1879-1894, in: ders. (Hg.), Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, Bd. 1, Leipzig 1968, S. 36-40; H.-J. Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatis­ mus im wilhelminischen Reich, Hannover 1966, S. 111-140; I. Hamel, Völkischer Ver­ band und nationale Gewerkschaft, Frankfurt 1967, bes. S. 14-122; Wehler, S. 470 ff.; U. Lohalm, Völkischer Radikalismus, Hamburg 1970, S. 27-76; R. Lill, Katholizismus nach 1848, in: Kirche und Synagoge, Bd. 2, S. 358-420; E. Zechlin, Die deutsche Poli­ tik und die Juden im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1969, bes. S. 21-58, 516-567; W. 172 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 90-92 Jochmann, Die Ausbreitung des Antisemitismus, in: Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923, hg. v. W. E. Mosse u. A. Paucker, Tübingen 1971, S. 409-510. 39 So z. B. O. Glagau, Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin, Bd. 1, Leip­ zig 18764, S. 344; auch die ,Germania' sprach von der „Emanzipation der C hristen von den Juden" (vgl. Wawrzinek, S. 13). Ähnliche Formulierungen auch in den Reden Stoeckers oder in der sog. Antisemiten-Petition („die Emanzipation des deutschen Vol­ kes von einer Art Fremdherrschaft"); in diesem Sinne auch Titel und Inhalt von W. Marr, Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum, Bern 1879. 40 Die ,Germania* erklärte am 9710. 1875 in ihrem Leitartikel: „Der wahre ,C ultur­ kampf nicht gegen die Religion der Juden, nicht gegen die gesamte Judenschaft, aber gegen den C hristentum und deutsches Wesen bedrohenden jüdischen Geist und gegen die unserem nationalen Wohlstande tödliche jüdische Geldherrschaft ist dringend not­ wendig geworden und glücklicherweise auch schon weithin populär." 1876 schrieb C . Frantz: „Wer regiert denn nun eigentlich im neuen Reiche? und wozu haben die Siege von Sadowa und Sedan gedient, wozu sind denn die Milliarden erbeutet, wozu wird Kultur gekämpft, wenn nicht vor allem zur Beförderung der Judenherrschaft? Und da will man uns von dem Aufschwung unserer Nationalität reden, wo viel mehr ein rech­ ter Deutscher vor diesem verjudeten Neudeutschtum einen förmlichen Ekel empfinden möchte" (Literarisch-politische Aufsätze, München 1876, S. XVII). Die Einschätzung des Antisemitismus als einer postemanzipatorischen Abwehrbewegung fand sogar Ein­ gang in die allgemeinen Lexika: „Die Antisemitische Bewegung . . . ist durch den im­ mer mehr wachsenden wirtschaftlichen und politischen Einfluß der von den früheren Schranken befreiten jüdischen Bevölkerung veranlaßt und strebt danach, diese Schran­ ken wieder aufzurichten und die Juden aus den öffentlichen Ämtern zu verdrängen, ja sie ganz zu vertreiben" (Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 1, 1893, S. 684). Im „Staatslexikon" der Görres-Gesellschaft hieß es: „Juda ist eine Macht. Der Antise­ mitismus setzt sich derselben entgegen" (Bd. 3, 1894, S. 530). 41 Die These stand bereits im Mittelpunkt der zeitgenössischen sozialdemokratischen Antisemitismusanalysen. Vgl. auch Sartres Auffassung, „daß der Antisemitismus eine bourgeoise und mystische Darstellung des Klassenkampfes ist, und daß er in einer Ge­ sellschaft ohne Klassen nicht bestehen könnte" (S. 187). F. Stern (Money, Morals, and the Pillars of Bismarck's Society, in: C entral European History, Bd. 3, 1970, S. 64) sprach im Hinblick auf die Krise der 70er Jahre von einer Art ,antisemitischer Dolch­ stoßlegende*. 42 Vgl. Sartre, S. 127 ff.; M. v. Brentano, Die Endlösung - Ihre Funktion in Theo­ rie und Praxis des Faschismus, in: Antisemitismus, S. 49 f. 43 Zur Ausbildung der Rasse-Vorstellungen bis hin zu den 70er Jahren einige Hin­ weise unten S. 98 f. Vgl. allgemein M. D. Biddis, Racial Ideas and the Politicsof Prejudi­ ce, 1850-1914, in: Historical Journal, Bd. 15, 1972, S. 570-82; J . Barzun, Race. A. Study in Superstition, New York 1965; L. L. Snyder, The Idea of Racialism, Prince­ ton 1962; E. Voegelin, Rasse und Staat, Tübingen 1933; ders., Die Rassenidee in der Geistesgeschichte, Berlin 1933; J . Müller, Die Entwicklung des Rassenantisemitismus in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, Berlin 1940; K. Salier, Die Rassenlehre des Nationalsozialismus in Wissenschaft und Propaganda, Darmstadt 1961. Wichtig hierzu auch: H.-U. Wehler, Sozialdarwinismus im expandierenden Industriestaat, in: Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. v. I. Geiss u. B. J . Wendt, Düsseldorf 1973, S. 133-142; H. W. Koch, Der Sozialdarwinismus, München 1973; H.-G. Zmarzlik, Der Sozialdarwinismus in Deutschland als geschichtliches Pro­ blem, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Bd. 11, 1963, S. 246-273. 44 Hierzu insbesondere die Ergebnisse von Massing und Pulzer. 45 Politische Breitenwirkung erzielte der Antisemitismus vor allem durch die stark 173 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 94-96 antisemitisch geprägten großen Interessenverbände und Agitationsvereine der 90er Jah­ re wie den Bund der Landwirte, den Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband oder den Alldeutschen Verband. 49 Rosenberg hat im Hinblick auf den Antisemitismus in der Zeit der ,Großen De­ pression* von „vorfaschistischen Strömungen" gesprochen; es spricht einiges dafür, ein­ mal ernsthaft zu prüfen, ob man nicht einen Schritt weiter gehen und den in den 70er Jahren entstehenden Antisemitismus als eine Frühform des Faschismus bezeichnen könnte - als eine erste, noch nicht voll ausgebildete und durch die unerschütterte Au­ torität des Obrigkeitsstaates blockierte Erscheinungsform faschistischer Reaktion auf die Krise der bürgerlichen Gesellschaft. IV. Antisemitismus - Entstehung, Funktion und Geschichte eines Begriffs (gemeinsam mit Thomas Nipperdey) * Die Studie ist zuerst als Artikel „Antisemitismus", in: Geschichtliche Grundbe­ griffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache, hg. v. O. Brunner u. a., Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 129-153, erschienen. Dem Ernst Klett Verlag, Stuttgart, danke ich für die freundliche Genehmigung des Wiederabdrucks; der Text ist im wesentlichen unverändert. 1 G. Weil, Art. „Semitische Völker", in: Staatslexikon, hg. v. C . v. Rotteck u. C. T. Welcker, Bd. 13, Altona 18653, S. 328. In der 1. und 2. Aufl. fehlen entspre­ chende Artikel. 2 F. Hitzig, Art. „Semitische Völker und semitisches Recht", in: Deutsches Staatswör­ terbuch, hg. v. J . K. Blunschtli u. K. Brater, Bd. 9, Leipzig 1865, S. 398. 3 Vgl. Jüdisches Lexikon, hg. v. G. Herlitz u. B. Kirschner, Bd. 1, Berlin 1927, S. 331; ebenso S. W. Baron, A Social and Religious History of the Jews, Bd. 2, New York 1937, S. 287; von hier aus ist diese Vermutung in zahlreiche andere Arbeiten übernommen worden. 4 Vgl. F. Byrnes, Antisemitism in Modern France, Bd. 1, New Brunswick 1950, S. 81. 5 A. L. v. Schlozer, Fortsetzung der Allgemeinen Welthistorie, Bd. 31, Halle 1771, S. 281; vgl. W. Frhr. v. Soden, Art. „Semiten" in: Religion in Geschichte und Gegen­ wart, Bd. 5, Göttingen 19613, Sp. 1690; F. Schmidtke, Art. „Semiten", in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9, Freiburg 1964*, S. 653 ff. 8 J . G. Eichhorn, Einleitung in das Alte Testament, Bd. 1, Leipzig 1787, S. 45 ff.; vgl. dazu auch E. Renan, Histoire générale et système comparé des langues sémiti­ ques, Bd. 1, Paris 1855, S. 2. 7 Vgl. Rheinisches C onversations-Lexikon, Bd. 7, Köln/Bonn 1827, S. 280, Art. „Linguistik"; J . Hübner, Reales Staats- und Zeitungslexicon, Bd. 4, Leipzig 182831, S. 249, Art. „Semitische Sprachen". 8 C . Lassen, Indische Alterthumskunde, 4 Bde., Bonn 1847-61; E. Renan, Etudes d'histoire réligieuse, Paris 18625; ders., Histoire générale (s. Anm. 6). Vgl. auch seine anderen Werke: Le judaisme, comme race et comme religion, Paris 1883, u. Histoire du peuple d'Israel, 5 Bde., Paris 1887-94. 9 J . A. C omte de Gobineau, Essai sur l'inégalité des races humaines, 4 Bde., Paris 1853-55; fast genau hundert Jahre nach Rousseaus berühmtem „Essai". 10 Vgl. die in Anm. 8, 9 u. 11-13 genannten Schriften, sowie allgemein: The Jewish Encyclopedia, Bd. 1, New York 1901; Neudruck 1964, S. 641 ff. 11 Vgl. z. B. P. de Lagarde, Die Religion der Zukunft (1878) u. Die graue Interna­ tionale (1881), in: Deutsche Schriften, München 19404, S. 255 ff., S. 367; Lagarde be-

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Anmerkungen zu Seite 96-99 nutzte differenzierend die Begriffe Juden' und ,Semiten*. A. Wahrmund, Das Gesetz des Nomadenthums und die heutige Herrschaft der Juden (1887), Berlin 18922; Wahr­ mund sprach vom „Asiatismus" und vom „Nomadentum" der Juden. 12 Vgl. Anm. 1., 2. u. 13. 15 J . K. Bluntschli, Art. „Arische Völker und arische Rechte", in: Deutsches Staats­ wörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1857, S. 319 ff. - Auch ein Jude, M. Hess, übernahm, wenn auch mit anderem Akzent, diese Gegenüberstellung: Dynamische Stofflehre, Paris 1837, S. 32 f., S. 36; vgl. auch Anm. 23. 14 Vgl. G. W. F. Hegel, Theologische Jugendschriften, hg. v. H. Nohl, Tübingen 1907, S. 243 ff.; L. Feuerbach, Das Wesen des C hristentums, Leipzig 1841, Kap. 12; B. Bauer, Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz, Bd. 1, Zürich 1843, S. 71: Der Jude müsse, um Mensch zu werden, seine Religion und das „Schimäre Privilegium seiner Na­ tionalität' ganz und gar aufgeben; ders., Die Judenfrage, Braunschweig 1843. - Zu den Junghegelianern s. E. Sterling, Er ist wie du. Aus der Frühgeschichte des Antisemi­ tismus in Deutschland 1815-1850, München 1956, S. 111 ff.; zur anthropologischen Verwendung des Wortes Jude' in der Populärliteratur vgl. ebd., S. 76. 15 Vgl. H. Leo, Vorlesungen über die Geschichte des jüdischen Staates, Berlin 1828; A. Schopenhauer, Parerga 2 (1852), in: Sämtliche Werke, Bd. 6, Wiesbaden 19472, S. 402 ff. 16 Dazu E. Silberner, Sozialisten zur Judenfrage, Berlin 1962, S. 16, 46, 57 u. pas­ sim. Schon der Saint-Simonist Enfantin hat, freilich positiv, definiert: „die Juden, das ist der Handel", ebd., S. 14. 17 K. Marx, Zur Judenfrage, in: K. Marx u. F. Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1964, S. 347ff.; die Schrift richtete sich gegen die Abhandlung Bruno Bauers zur Juden­ frage'; freilich war das Thema der Judenfrage* nur Anlaß, das allgemeine Thema der Emanzipation zu behandeln. 18 Ebd„S. 348, 372 f., 374 f. 19 Eine Fülle von Belegen, die freilich oft ungenau zitiert und nicht chronologisch fixiert sind, bei Sterling, Er ist wie du, passim. 20 E. M. Arndt, Ein Blick aus der Zeit auf die Zeit, Germanien (d. i. Frankfurt) 1814, S. 188. 21 Hegel, Rechtsphilosophie, § 270, Anm. 22 Schopenhauer, Parerga 2, in: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 280. 23 Zum Gebrauch der Begriffe ,Race', .Racenreinheit', »orientalisches Blut' etc. im Vormärz vgl. Sterling, Er ist wie du, S. 47, 81, 98 f., 113 (Gutzkow), 126, 130 ff., 139 ff. Der „Telegraph für Deutschland" sprach schon 1841, S. 547 vom „Vorurteil der Race". Zur Verwendung des Begriffes ,Rasse' für die Juden vgl. R. Wagner, Das Ju­ dentum in der Musik (1850), in: Ges. Schriften und Dichtungen, Bd. 5, Leipzig 1873, S. 83 ff., u. B. Bauer, Art. „Das Judentum in der Fremde", in: H. Wagener, Staats- und Gesellschaftslexikon, Bd. 10, Berlin 1862, S. 614 ff. In den siebziger Jahren war der Rassebegriff, etwa bei Dühring, Marr und Naudh, aber ebenso bei Moses Hess schon ganz scharf ausgeprägt. 24 Zum Kampf um die eigentliche Benennung zur Zeit der beginnenden Emanzipa­ tion - Juden', ,Israeliten', ,Hebräer', ,Mosaisten' - vgl. für Preußen A. Stern, Ab­ handlungen und Aktenstücke zur Geschichte der preußischen Reformzeit, Leipzig 1885, S. 246, 255, 260. 25 W. Menzel in: C ottasches Literaturblatt, 1837, S. 93 u. ö.; vgl. G. Riesser, Jüdi­ sche Briefe, 2 Bde., Berlin 1840/42, passim; auch: ders., Ges. Schriften, hg. v. M. Isler, Bd. 4, Frankfurt 1868, S. 37 ff. 28 L. Häussser, in: Verhandlungen der Zweiten badischen Kammer 1861-63, 6. Bei­ lagenheft, S. 134. 175 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 99-101 27 J . K. Bluntschli, Art. „Juden", in: Deutsches Staatswörterbuch, Bd. 5, Leipzig 1860, S. 444. 28 H. Bresslau, Zur Judenfrage, Sendschreiben an Herrn Professor Dr. Heinrich von Treitschke, Berlin 1880, S. 5; jetzt in: Der Berliner Antisemitismusstreit, hg. v. W. Boeh­ lich, Frankfurt 1965, S. 54. Vgl. E. Dühring, Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage, Karlsruhe 1881, S. 4: „Wenn ich im Folgenden kurzweg von Juden rede, so brauche ich diese Bezeichnung in ihrem natürlichen Sinn, also für Abstammung und Race". Dühring sprach auch schon von „Halb- und Viertelsjuden oder auch Dreiviertel­ juden" neben „Vollblutjuden": ebd., S. 144. 29 O. Glagau, Der Börsen- und Gründungs-Schwindel in Berlin, Leipzig 1876, S. 317, 343; vgl. Die deutsche Wacht, März 1880, S. 281: „Semiten. Juden oder getaufte Ju­ den." Auch Bismarck sprach im Sommer 1879 davon, er wolle „den rechten Flügel der Nationalliberalen . . . von den Semiten . . . [Lasker und Bamberger] trennen"; zit. L. Frhr. v. Ballhausen, Bismarck-Erinnerungen, Stuttgart 1920, S. 163 f. 30 Brockhaus, Konversationslexikon. Allgemeine deutsche Realencyclopaedie, Bd. 14, Leipzig 189514, S. 847; ähnlich H. J . Meyer, Neues Konversations-Lexikon für alle Stände, Bd. 15, Leipzig 18975, S. 899: „Semitismus, Bezeichnung für die Gesamt­ heit der Juden als Volksstamm, ohne Rücksicht auf die Religion." 31 Riesser, Jüdische Briefe (1840), in: Ges. Schriften, Bd. 4, S. 133. 32 Für Frankreich vgl. Silberner, S. 65, über den Gebrauch von ,Arier' und ,Semit' bei den Blanquisten Ende der sechziger Jahre. 33 Im preußischen Abgeordnetenhaus z. B. erwähnte der Abg. Dr. Meyer (Breslau) am 22. 11. 1880, es sei eine „Tatsache, daß man den Namen Jude' überhaupt schon als ein Brandmal gebraucht, daß man sagt, man sei mit dem Menschen, den Bestrebungen, den Tendenzen, den Gedanken desselben fertig, sobald man behauptet hat, der Mann sei ein Jude, sei ein Semit"; Stenographische Berichte des Preuß. Abgeordnetenhauses, Berlin 1881, Bd. 1, S. 255. 34 Vgl. die Äußerung des Abg. Dr. Meyer (Breslau), ebd.: „Man sagt, man fasse un­ ter dem Namen Judentum' gewisse kranke und verwerfliche Bestrebungen der Zeit zu­ sammen." 35 H. v. Treitschke. Unsere Aussichten (1879), zit. nach Boehlich, S. 9. 38 Kreuz-Zeitung (1875), Nr. 148 ff. 37 O. Glagau, Der Bankerott des Nationalliberalismus und die „Reaktion", Berlin 1878, S. 71, zit. nach P. W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt 1959, S. 10. Ähnlich Naudh: das Judentum sei „die Religion des Manchester­ tums"; H. Naudh [d. i. H. G. Nordmann], Professoren über Israel (1880), zit. nach Boehlich, S. 186. 88 Dühring, Judenfrage, S. 32. 39 W. Marr, Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht confessio­ nellen Standpunkt aus betrachtet, Bern 1879, S, 46 ff. Zum häufigen Gebrauch des Wortes ,Semitismus' vgl. ders., Vom Jüdischen Kriegsschauplatz. Eine Streitschrift, Berlin 1879, S. 3 ff. 40 C . Frantz, Literarisch-politische Aufsätze, München 1876, S. XVII. 41 M. Joël, Offener Brief an Heinrich von Treitschke (1879), zit. nach Boehlich, S. 22 f. Im Sommer 1879 bezeichnete der Abgeordnete Löwe (C albe) im Reichstag das Epitheton „semitisch" als „wohlfeil und schlecht", Stenographische Berichte des Deut­ schen Reichstages, Berlin 1879, Teil II, Bd. 1, S. 1074, und wenige Monate später er­ klärte H. Bresslau in seiner Antwort an Treitschke diesen Gebrauch des „neuerdings in Aufnahme gekommenen Ausdrucks Semit" als bloße „Konzession an einen zwar popu­ lären, aber darum nicht minder ungenauen Sprachgebrauch"; Zur Judenfrage, S. 5, u. Boehlich, S. 54. Belege dieser Art ließen sich häufen.

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Anmerkungen zu Seite 101-103 ]42 Über die antijüdische Literatur und Publizistik der siebziger Jahre vgl. Massing, Vorgeschichte; außerdem K. Wawrzinek, Die Entstehung der deutschen Antisemitenpar­ teien 1873-1890, Berlin 1927; P. G. J . Pulzer, Die Entstehung des politischen Antise­ mitismus in Deutschland und Österreich 1867-1914, Gütersloh 1966. 43 T. Mommsen, Auch ein Wort über unser Judenthum, Berlin 18803, S. 11; auch Boehlich, S. 220. 44 Allgemeine Zeitung des deutschen Judentums v. 2. 9. 1879, S. 564; Marr hatte in der 1. Aufl. seiner Broschüre „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum", die erstmals im Frühjahr 1879 (nicht 1873, wie immer wieder behauptet) bei C ostenoble in Bern erschien, auf dem Einband eine „socialpolitische Wochenschrift** angekündigt (ebenso 3. Aufl.; in der 5. u. 12. Aufl., ebenfalls 1879, fehlt diese Ankündigung). In einer weiteren Schrift im Sommer 1879 „Vom Jüdischen Kriegsschauplatz" erwähnte er selber die frühere Ankündigung einer „antijüdischen Wochenschrift" (S. 19 f.); gleich­ zeitig forderte er jetzt zur Bildung einer „antijüdischen Vereinigung** auf (S. 23). 45 Zu Marrs Sprachgebrauch vgl. seine Broschüren: Der Sieg des Judenthums (s. Anm. 39); Vom Jüdischen Kriegsschauplatz (s. Anm. 39); Wählet keine Juden! Der Weg zum Sieg des Germanenthums über das Judenthum. Ein Mahnwort an die Wähler nichtjüdischen Stammes aller Konfessionen, Berlin 18792. Diese Broschüren lagen alle bereits im August 1879 vor, der Begriff ,Antisemitismus* findet sich in ihnen nicht. Von November 1879 bis März 1880 redigierte Marr „Die deutsche Wacht. Monatsschrift für nationale Kulturinteressen (Organ der antijüdischen Vereinigung)", Berlin (bei O. Hent­ ze); im Spätjahr 1879 findet sich das Wort antisemitisch' vereinzelt, seit Anfang 1880 dann häufiger in der „Deutschen Wacht", ohne daß der veränderte Sprachgebrauch irgendwie begründet wurde. Im Frühjahr 1880 begann Marr dann mit der Herausgabe von „Antisemitischen Heften" (C hemnitz 1880). 46 Der Aufruf zur Bildung einer „Antisemiten-Liga" erschien als Inserat in der „Vos­ sischen Zeitung" v. 26. 9. 1879; am 27. 9. 1879 wurde er in der „Germania" im redaktio­ nellen Teil abgedruckt, wobei im Kommentar auch von einer „antisemitischen Liga" ge­ sprochen wurde. Die Statuten erschienen Mitte Oktober: Statuten des Vereins „Anti-Se­ miten-Liga", Berlin (O. Hentze), Anfang Oktober 1879 (7 Seiten). Die „Antisemiten­ Liga", die von Marr schon im Sommer 1879 gefordert worden war (s. Anm. 44), ent­ stand nach einer Darstellung der „Deutschen Wacht" (April 1881) „besonders unter Marr's Mitwirkung" (S. 18). Insofern ist es sachlich sicherlich nicht unberechtigt, Marrs Namen mit der Entstehung und Verbreitung des Begriffs Antisemitismus' in Verbin­ dung zu bringen. 47 W. Marr, Der Judenkrieg, seine Fehler und wie er zu organisieren ist. Antisemi­ tische Hefte 1 (C hemnitz 1880), S. 15; die „Antisemiten-Liga" hielt 1879 lediglich eine einzige öffentliche Veranstaltung ab. 48 Schon Mitte Oktober 1879 veröffentlichte ein Anonymus eine Persiflage auf die „Antisemiten-Liga": Der Anti-Verjüdelungsverein. Ein Komisches Epos von 10 Gesän­ gen von Julius Simplex. - Am 28. November inserierte in der „Vossischen Zeitung" bereits ein „I. antisemitisches Restaurant". 49 Treitschke, Unsere Aussichten, zit. nach Boehlich, S. 7. Mommsen, Judenthum (s. Anm. 43); auch Boehlich, S. 211, 213, 221 ff. 50 Treitschke, Zur inneren Lage am Jahresschlüsse (1880), zit. nach Boehlich, S. 225. 51 Text der Petition: Schulthess, Geschichtskalender, München 1880, S. 208 ff,; vgl. dazu die Verhandlungen im Preuß. Abgeordnetenhaus am 20./22. 11. 1880: Sten. Ber. (1881), Bd. 1, S. 226 ff. mit zahlreichen Beispielen für den Sprachgebrauch in der Ju­ denfraee'. 52 P. C assel, Die Antisemiten und die evangelische Kirche, Berlin 1881; K. Fischer,

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Anmerkungen ZU Seite 102-106 Antisemiten und Gymnasiallehrer. Ein Protest, Berlin 1881; L. Quidde, Die Antisemi­ tenagitation und die deutsche Studentenschaft, Göttingen 18812, u. a. 53 E. Lehnhardt, Die Antisemitisdie Bewegung in Deutschland, besonders in Berlin, nach Voraussetzungen, Wesen, Berechtigung und Folgen dargelegt. Ein Beitrag zur Lö­ sung der Judenfrage, Zürich 1884. 54 Vgl. A. Stoecker, Sozialdemokratisch, sozialistisch und christlich-sozial (1880), in: Christlich-Sozial, Reden und Aufsätze, Berlin 18902, S. 215 ff.; W. Frank, Hofprediger Adolf Stoecker und die christlich-soziale Bewegung, Hamburg 19352, S. 83, 229. 55 So in einem Rückblick am 25. 7. 1882, S. 489. Einwände gegen den Begriff ,Semi­ tismus' s. S. 134; vgl. L. Bamberger, Deutschthum und Judenthum (1880), bei Boehlich, S. 159. 56 Vgl. auch den Leitartikel von L. Philippson, Wie steht es gegenwärtig um den „Antisemitismus"? (26.4. 1881), S. 267 f. Da von einzelnen Organisatoren der studen­ tischen „Antisemiten-Petition" 1880 gegen die Bezeichnung ,Antisemiten' protestiert worden war, schlug Quidde, S. 17, vor, sie statt dessen „Semitophoben oder vielleicht am passendsten Semitoklasten" zu nennen. 57 Belege für Österreich bei Pulzer, S. 123 ff. 58 Vgl. Byrnes, S. 135, 233; 1882 erschien bereits in der „Revue politique et litté­ raire" ein Aufsatz unter dem Titel „La question antisémitique" (ebd., S. 111). - Die Wirkung der Vorgänge in Deutschland ist belegbar in zwei Aufsätzen von H. Kuhn, La question juive en Allemagne, in: Revue du monde catholique, Bd. 71, 1881, S. 70 ff., 147 ff. 59 Lehnhardt, S. 56. 60 Stoecker, vgl. Antisemitische C orrespondenz (Januar 1888), S. 21. 81 W. Frhr. v. Hammerstein (1885), zit. bei Frank, Stoecker, S. 137. 82 Lehnhardt, S. 70, 94. 83 „Scheinantisemiten" bzw. „falsche Antisemiten" nannte Böckel (1887) die Ver­ treter des konservativen, christlich-sozialen Antisemitismus Stoeckerscher Prägung; zit. bei Wawrzinek, S. 67. 2u „Talmi-Antisemitismus" vgl: Talmi-Antisemitismus. Von einem zielbewußten Antisemiten [d.i. H. Frhr. v. Schorlemer], Großenhain 1895; „Quartals­ antisemitismus" s. Antisemitische C orrespondenz, Bd. 3 (Januar 1888) S. 5. 64 A. Leroy-Beaulieu, Les juifs et rantisémitisme. Israel chez Ies nations, Paris 18938, S. 12. 85 Baron, History of the Jews, Bd. 2, S. 296. 88 Naudh, Professoren, zit. nach Boehlich, S. 183. 87 Vgl. z. B. Bamberger, Deutschthum, vgl. Boehlich, S. 161. 88 H. J . Meyer, Neues Konversations-Lexikon für alle Stände, Bd. 1, Leipzig 18935, S.684. 89 Germania, Leitartikel v. 9. u. 10.9. 1875 (Nr. 207 u. 208). Im selben Sinne argu­ mentierten Stoecker und seine „C hristlich-Soziale Partei". 70 Staatslexikon, Bd. 3, Freiburg 1894, S. 530. 71 H. P. Bahrdt, Soziologische Reflexionen über die gesellschaftlichen Voraussetzun­ gen des Antisemitismus in Deutschland, in: Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik, hg. v. W. E. Mosse u. A. Paucker, Tübingen 1965, S. 135 ff. 72 W. Gurian, Antisemitism in Modern Germany, in: Essays on Antisemitism, hg. v. K. S. Pinson, New York 19462, S. 218 ff. 75 Lagarde, Die graue Internationale, in: Deutsche Schriften, S. 370 f. 74 Allgemeine Zeitung des Judentums (1875), S. 1, zit. nach J . Toury, Die politi­ schen Orientierungen der Juden in Deutschland. Von Jena bis Weimar, Tübingen 1966, S. 250. 178 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 106-110 Bamberger, Deutschthum, zit. nach Boehiich, S. 156. Toury, Orientierungen, S. 206. Der Ausdruck wurde auch von Juden gebraucht. Treitschke, Unsere Aussichten, zit. nach Boehiich, S. 5 f. 78 M. Busch, Beiträge zur Beurteilung der Judenfrage, in: Die Grenzboten, Bd. 39, 1880, H. 1, S. 557. 79 Naudh, Professoren, zit. nach Boehiich, S. 184. 80 Lagarde, Programm für die konservative Partei Preußens (1884), in: Deutsche Schriften, S. 433. 81 Böckel und Ahlwardt führten ihre Wahlkämpfe mit der Parole „Gegen Junker und Juden", vgl. Massing, S. 93 u. ö\; Antisemiten-Spiegel, Danzig 19Q02, S. 401. 82 Treitschke, Unsere Aussichten, zit. nach Boehiich, S. 5, 8, 12. 83 Marr, Der Sieg des Judenthums, S. 11. 84 Stoecker, zit. nach Massing, S. 35, 61; Henrici, ebd., S. 81 f.; Liebermann, ebd., S. 82; O. Böckel, Die Juden, die Könige unserer Zeit, Leipzig 188713. 85 Lagarde, Die Stellung der Religionsgesellschaften im Staate (1881), in: Deutsche Schriften, S. 291, 370; ders., Programm, ebd., S. 423 f. Schon 1853 schrieb er: „Es ist un­ möglich, eine Nation in der Nation zu dulden. Und eine Nation sind die Juden"; Über die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik, ebd., S. 30. Rasseantisemit war La­ garde nicht, er hielt eine Assimilation, freilich nur bei Aufgabe der jüdischen Religion, für möglich. 86 Mommsen, Judenthum, S. 4, vgl. Boehiich, S. 211. 87 Bamberger, Deutschthum, zit. nach Boehiich, S. 157. 88 Wawrzinek, S. 76. 89 So in der „Antisemitischen C orrespondenz" (Januar 1888). 90 Antisemitische C orrespondenz v. 1. 10. 1888, S. 11. Es erschienen außerdem „Anti­ semitische Volkskalender" (1888), „Neue Lieder patriotischen und antisemitischen In­ halts" (1888) u.a. 91 Vel. Wawrzinek, S. 67. 92 Fritsch trat zeitweise aber auch für eine Partei mit eigenen Abgeordneten ein, „um den latenten Antisemitismus aus den alten Parteien herauszugären"; Antisemitische C or­ respondenz v. 1. 10. 1888; zit. nach Wawrzinek, S. 72. 93 Diskussionsbeitrag P. Försters, zit. nach Wawrzinek, S. 75. 94 Wawrzinek, S. 82, Anm. 54. 95 In Österreich bildeten sich ebenfalls antisemitische Organisationen, aber weder die radikalen und alldeutschen Rasseantisemiten um Schönerer noch die antisemitische christlich-soziale Partei Luegers nahmen den Begriff in ihren Namen auf. Für die Ver­ wendung des Begriffs Antisemitismus' vgl. E. v. Rudolf [d. i. Rudolf v. Elmayer-Ve­ stenbrugg], Georg Ritter von Schönerer, der Vater des politischen Antisemitismus, Mün­ chen 1936, S. 58 (für 1887), u. R. Kralik, Karl Lueger und der christliche Sozialismus, Bd. 1, Wien 1923. S. 52 (für 1890), S. 198 (christlicher Antisemitismus). 96 Die in der Literatur zumeist benutzten Wahlstatistiken sind irreführend, weil von der Fraktion der Wirtschaftlichen Vereinigung im Reichstag ausgegangen wird; deren Mitglieder waren aber nur z. T. Antisemiten. 97 Parteitag der Deutschen Reformpartei 1899: Schulthess' Europäischer Geschichts­ kalender, S. 69 ff. 98 Seit der 26. Aufl. 1907 hat er den negativen Titel fallen gelassen und das Werk „Handbuch der Judenfrage" genannt. 99 Das Wort ,deutschnational* war bis 1914 im allgemeinen völkisch-antisemitisch gemeint: deutsch-nationale Vereine schlössen Juden von der Mitgliedschaft aus. 100 C lass bezeichnete sich selbst als Antisemit: „Mit meiner Wahl in die Hauptlei­ tung kam der erste entschiedene Antisemit in diese Körperschaft"; H. C lass, Wider den 75

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Anmerkungen zu Seite 110-113 Strom, Leipzig 1932, S. 88. - Zur Haltung des Offizierkorps vgl. das Gutachten des „Verbandes der Deutschen Juden": Das jüdische Bekenntnis als Hinderungsgrund bei der Beförderung zum preußischen Reserveoffizier, he. v. M. T. Loewenthal, Berlin 1911. 101 Vgl. hierzu Pulzer, S. 69 fT., S. 189 ff., u. allgemein F. Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Bern 1963. 102 Gobineau, Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen, dt. v. L. Schemann, 4 Bde., Stuttgart 1898-1901; vgl. Anm. 9; Schemann gehörte zum Bayreuther Wagner­ kreis. Übrigens hat schon Bluntschli Gobineau benutzt (s. Anm. 13). 103 p Naumann, Die Leidensgeschichte des deutschen Liberalismus (1908), in: Werke, Bd. 4, Köln/Opladen 1964, S. 292. 104 Hierzu Toury, Orientierungen, S. 181 f., 206, u. einige Bemerkungen bei Pulzer, S. 159 f., zu Mitgliedschaften von Liberalen in Vereinen und Organisationen, die keine Juden aufnahmen. Die Beziehungen der Nationalliberalen zum „Bund der Landwirte" und ihre Stichwahlunterstützung für antisemitische Kandidaten gehören in denselben Zusammenhang. Die „Kreuz-Zeitung" sprach 1888 vom „Privat-Antisemitismus" man­ cher Freisinnigen und Sozialdemokraten; vgl. Antisemitische C orrespondenz v. 15. 10. 1888. 105 Brief Engels' v. 9.5.1890, zit. nach V. Adler, Aufsätze, Reden und Briefe, Bd. 1, Wien 1922, S. 7; vgl. auch Silberner, S. 154; Pulzer, S. 213. 106 F. Mehrine, in: Die Neue Zeit, Bd. 9/2, 1890/91, S. 587. 107 W. Liebknecht, Reichstaesrede v. 30. 11. 1893, zit. nach Silberner, S. 209. 108 Liebknecht, Rede über den Kölner Parteitag, Bielefeld 1893, S. 28; vgl. Silberner, S. 205. 109 Hierzu die eindeutige Äußerung Bebeis bei H. Bahr, Der Antisemitismus, Berlin 1893, S. 21. 110 A. Hitler, Mein Kampf, München 193354, S. 69. 111 Ebd., S. 628. 112 Beide Formulierungen ebd., S. 132. Eine interessante Variante dieses Begriffs in einer Rede v. 13. 8. 1920, zit. bei H. Buchheim u. a., Anatomie des SS-Staates, Bd. 2, Öl­ ten 1965, S. 307; ähnlich in einem Brief v. 16.9.1919, zit. bei E. Deuerlein, Hitlers Eintritt in die Politik und die Reichswehr, in: VfZ, Bd. 7, 1959, S. 203 f. 113 In dem in Anm. 112 zit. Brief heißt es am Schluß über den „Antisemitismus der Vernunft: Sein letztes Ziel aber muß unverrückbar die Entfernung der Juden über­ haupt sein". 114 Hitler, Mein Kampf, S. 628 f. 115 Ebd. 119 Anweisungen der Pressekonferenz der Regierung des Dritten Reiches v. 22. 8. 1935, zit. nach C . Berning, Vom „Abstammungsnachweis" zum „Zuchtwart". Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 1964, S. 14. 117 Runderlaß des Reichs- und Preußischen Ministeriums des Innern v. 26. 11. 1935, zit. nach Berning, S. 22. - Zu Jude bzw. Jüdisch' im Sprachgebrauch des National­ sozialismus vgl. V. Klemperer, Die überwältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Phi­ lologen. „LTP, Darmstadt 1949, S. 187 ff. 118 T. Fritsch, Handbuch der Judenfrage, Leipzig 194449, S. 18 u. passim; die Kritik am Begriff Antisemitismus' findet sich auch schon in früheren Auflagen, aber der Er­ satzbegriff ,Antijudaismus' fehlt noch in der 48. Aufl. von 1943. 119 Vgl. J . Wulf, Aus dem Lexikon der Mörder. „Sonderbehandlung" und verwandte Wörter in nationalsozialistischen Dokumenten, Gütersloh 1963. 120 Vgl H. Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941-1942, hg. v. P. E. Schramm, Stuttgart 1963, S. 361, 472. 121 R. Höss, Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen, hg. v. 180 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Anmerkungen zu Seite 114-118 M. Broszat, Stuttgart 1958, S. 148. Vgl. Höss' Bemerkung über die antisemitischen Het­ zereien des „Stürmer": „Die Zeitung hat viel Unheil angerichtet, sie hat dem ernsthaf­ ten Antisemitismus nicht genutzt, sondern im Gegenteil bösen Abbruch getan"; ebd., S. 109. 122 Silberner, S. 290; um eine irreführende Ausweitung des Begriffs handelt es sich jedoch, wenn Silberner definiert: „Antisemit ist jedermann, der den Juden feindselig ge­ sinnt ist, unabhängig davon, ob seine Anklage ganz oder teilweise stimmt oder einfach grundlos ist"; ebd., S. 291. 123 In dem nach Abschluß des Manuskripts erschienenen Buch von I. Elbogen, Ein Jahrhundert jüdischen Lebens. Die Geschichte des neuzeitlichen Judentums, hg. v. E. Littmann, Frankfurt 1967, S. 635 wird erwähnt, daß der jüdische Journalist Moritz Steinschneider beansprucht habe, das Wort »Antisemitismus' zuerst gebraucht zu haben, und zwar in einem persönlichen Brief, in dem er sich gegen Renans Auffassungen vom Charakter der „Semiten" gewandt habe. Diese Mitteilung dürfte sich auf mündliche Überlieferung gründen, sie enthält weder Quellenangaben noch eine Datierung; eine Verbindung von einem eventuellen Wortgebrauch bei Steinschneider zur politischen Be­ griffsbildung von 1879 ist nicht zu erkennen. V. Zur Entwicklung der modernen Antisemitismusforschung * Die vorliegende wissenschaftsgeschichtliche Skizze wurde 1969 für das Sammel­ werk „Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie" verfaßt. Dem C harakter dieser Enzyklopädie entsprechend wurde u. a. der Versuch un­ ternommen, die marxistisch-leninistischen Interpretationsansätze deutlich herauszuarbei­ ten, obwohl ihr Beitrag zur Entwicklung der internationalen Antisemitismusforschung bis heute erstaunlich gering ist. - Bei dem vorliegenden Abdruck wurde auf das ur­ sprüngliche Manuskript zurückgegriffen, das für den Erstabdruck in der Enzyklopädie (Bd. 3, Freiburg 1970, Sp. 381-382 u. 395-408) aus redaktionellen Gründen nicht un­ wesentlich verändert werden mußte. In den Anmerkungen werden lediglich die im Text zitierten Stellen belegt. Die dem Beitrag in der Enzyklopädie beigegebene umfangreiche, systematisch gegliederte Bibliographie wird hier nicht noch einmal gesondert abgedruckt: sie ist in die Gesamtbibliographie dieses Bandes aufgegangen, die zugleich die seit 1969 erschienene Literatur enthalt und insofern auch eine wichtige Ergänzung dieser Skizze darstellt. Für die freundliche Genehmigung des teilweisen Wiederabdrucks danke ich dem Verlag Herder, Freiburg. 1 G. Deutsch, Anti-Semitism, in: The Jewish Encyclopedia, Bd. 1, New York 1901 (Neudruck 1964), S. 641-49; R. Seligmann, Antisemitismus, in: Encyclopaedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2, Berlin 1928, S. 956-1104; Artikel „Anti-Semitism", in: The Universal Jewish Encyclopedia, Bd. 1, New York 1939, S. 341 bis 409. 2 A. Silbermann, Zur Soziologie des Antisemitismus, in: Psyche, Bd. 16, 1962, S. 252 f. 3 K. Marx u. F. Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1964, S. 373. 4 E. Silberner, Sozialisten zur Judenfraee, Berlin 1962, S. 290. 5 H. Bahr, Der Antisemitismus. Ein internationales Interview, Berlin 1894, S. 21. 8 K. Marx u. F. Engels, Werke, Bd. 22, Berlin 1963, S. 50. 7 Die Neue Zeit, Bd. 9, 2, 1890/91, S. 586. 8 Resolution des Kölner Parteitags von 1893, zit. nach A. Bebel, Sozialdemokratie und Antisemitismus, Berlin 1894, S. 25. 9 W. I. Lenin, Über die Judenfrage, Berlin 1932 (Kleine Lenin-Bibliothek, Bd. 8).

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Anmerkungen zu Seite 119-127 10 H. Görschier, Die revolutionäre Arbeiterbewegung und ihr Verhältnis zum Anti­ semitismus, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl Marx-Universität Leipzigs Ge­ sellsch.- u. sprachwiss. Reihe, Bd. 14, 1965, S. 540. 11 Kleines politisches Wörterbuch, Berlin 1967, S. 42. 12 Görschier, S. 542. 13 W. Heise, Antisemitismus und Antikommunismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 9, 1962, S. 1426. 14 Ebd., S. 1435. 15 Ebd., S. 1433. 16 Ebd., S. 1439. 17 L. Kolakowski, Die Antisemiten. Fünf keinesfalls neue Thesen als Warnung, in: ders., Der Mensch ohne Alternative, München 1964, S. 181-190. 18 Referate, Diskussion und Resolution in: Psyche, Bd. 16, 1962, S. 241-317. 19 B. Grunberger, Der Antisemit und der Ödipuskomplex, in: ebd., S. 260. 20 R. M. Loewenstein, Psychoanalyse des Antisemitismus. Frankfurt 1968, S. 21. 21 Grunberger, S. 268. 22 M. Wangh, Psychoanalytische Betrachtungen zur Dynamik und Genese des Vor­ urteils, des Antisemitismus und des Nazismus, in: Psyche, Bd. 16, 1962, S. 279 f. 23 M. v. Brentano, Die Endlösung - Ihre Funktion in Theorie und Praxis des Fa­ schismus, in: Antisemitismus. Zur Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft, hg. v. H. Huss u. A. Schröder, Frankfurt 1965, S. 41. 24 Zur Analyse des faschistischen Antisemitismus, in: Diskussion, Nr. 17, 1965, S. 13.

VI. Anhang: Emanzipation — Anmerkungen zur Begriffsgeschiebhe * Erstveröffentlichung. 1 S. oben S. 37; bes. O. Ladendorf, Historisches Schlagwörterbuch, Straßburg 1906, S. 65 u. 149 f. 2 HStAS, Geh. Rat III, G 195: Min. d. Innern, Stuttgart, 1. 10. 1820. 3 J . Katz, The Term Jewish Emancipation': Its Origin and Historical ïmpact, in: A. Altmann (Hg.), Studies in Nincteenth-C entury Jewish Intellectual History, Cambridge, Mass, 1964, S. 1-25; jetzt in: J . Katz, Emancipation and Assimilation. Studies in Modern Jewish History, Farnborough, Hants. 1972, S. 21-45 (hiernach im folg. zitiert). 4 Katz, S. 36 ff.; die Schrift von Krug erschien zuerst in: Minerva, Bd. 148, 1828, S. 161-200, wurde aber noch im gleichen Jahr als Buch veröffentlicht. Vgl. u. a. V. Eichstät, Bibliographie zur Geschichte der Judenfrage, Bd. 1: 1750-1848, Hamburg 1938, S. 70 (zu Krug): „Führt den Ausdruck ,Emanzipation' in das deutsche Schrift­ tum ein." 5 R. Koselleck u. K. M. Graß, Artikel „Emanzipation", in: Geschichtliche Grundbe­ griffe, hg. v. O. Brunner, W. C onze u. R. Koselleck, Bd. 2, Stuttgart 1975 (im Druck; ich zitiere nach dem Manuskript, das mir dank des freundlichen Entgegenkommens von Professor Koselleck zugänglich war); hier: Bl. 43. 6 HStAS, Geh. Rat III, G 195: Beschluß des Geheimen Rats v. 29. 11. 1820, in dem aus einem Gutachten des Königlichen Obertribunals v. 18. 11. 1817 zitiert wird. 7 HStAM, Staatsrat 430: Protokoll des Staatsrats v. 6.4.1818 (Vortrag von der Becke); Schreiben des Min. d. Innern an das Justizministerium v. 21. 3. 1818 (zit. ebd.). 8 DZ AM, Rep. 77, tit. 30, Gen. 35, Bd. 2: Sitzung des Staatsministerium vom 13.2.1822.

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Anmerkungen zu Seite 127-131 9 Ebd., Bd. 3: Gutachten der Abteilungen des Königlichen Staatsrats... über den Entwurf einer Juden-Ordnung für .. . Posen (1822). 10 DZAM, Rep. 77,tit. 30, Gen. 75, Bd. 1; Gutachten des Oberpräsidenten v. Vincke, Münster, 4.2. 1827; der Begriff „Emancipation" findet sich auch im Gutach­ ten des Oberpräsidenten Baumann, Posen, 18.1. 1828 (ebd., Bd. 2). 11 Ebd., Bd. 2: Proposition der Stände des Großherzogtums Posen v. 21. 12.1827. 12 StALu, LN, F 36, 1. 13 Katz, S. 37. - K. weist übrigens selber - ohne jedoch diesem Befund weitere Beachtung zu schenken - darauf hin, daß sich der Begriff „Emancipierung" schon in der „Actenmäßigen Darstellung des Bürgerrechtes der Israeliten zu Frankfurt a. M." (Rödelheim 1816) finde, die Ludwig Börne zugeschrieben wird. Vgl. dazu auch A. Her­ zig, Judentum und Emanzipation in Westfalen, Münster 1973, S. 95, mit einem Zitat aus Börnes Schrift „Über die Juden" (1819): „der Kampf des Judentums um die Eman­ zipation" sei „das Paradigma der Befreiung des Menschen schlechthin" (dort zit. nach L. Börne, Sämtliche Schriften, he. v. I. u. P. Rippmann, Bd. 1, Düsseldorf 1964, S. 874). 14 Verhandlungen in der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg im Jahre 1828, 3. Heft (Sitzung v. 21. 2. 1828), S. 679 f. 15 Vgl. u. a. oben S. 135 f., besonders auch die dort zitierte Äußerung über „Emanzi­ pation" als ein „ursprüngliches Parteiwort"; s. auch den im bayerischen Landtag 1831 aufgestellten Katalog von allgemeinen „Emanzipations"-Forderungen, oben S. 35 f. Den hier festgehaltenen Beobachtungen für die Zeit vor 1830 entspricht es, daß auch in den bemerkenswert reaktionären „Erläuterungen" des preußischen Geh. Oberregierungs­ rats Karl Streckfuß zu dem „Entwurf einer Judenordnung für die Preußische Monar­ chie" von 1829, in dem praktisch jede Emanzipationskonzeption aufgegeben wurde, der Begriff „Emancipation" mehrfach begegnet (DZAM, Rep. 77y tit. 30, Gen. 85, Bd. 1). 18 Alle Belege zu diesem Absatz bei Koselleck/Graß, Bl, 1-21, deren Interpretation hier auch im wesentlichen übernommen ist. 17 H. Heine, Reisebilder aus Italien, in: Sämtliche Werke, hg. v. E. Elster, 3. Aufl., 3. Bd., Leipzig o. J., S. 275 f.; vgl. in diesem Zusammenhang auch die oben S. 35 zitierte Äußerung Rottecks über die „Emanzipation der C hristen" und die „Emanzipation der Deutschen". 18 Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, hg. v. J . S. Ersch u. J . G. Gruber, Section 1, Bd. 34, Leipzig 1840, S. 2-12; Scheidler verfaßte später auch einen umfangreichen und instruktiven Artikel über die „Judenemanzipation": ebd., Sec­ tion 2, Bd. 27, Leipzig 1850, S. 253-315. 19 K. Marx u. F. Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1964, S. 347-377. 20 Eine ähnliche Interpretation bietet sich m. E. auch an, um die Wiederbelebung des Begriffs „Emanzipation" im Rahmen der studentischen Bewegung und der außerparla­ mentarischen Opposition in Deutschland in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, die Integrationsfunktion des Begriffs, seinen Verschleiß als „Modewort" und schließlich auch seinen politischen Bedeutungsverlust zu erklären. 21 K. Steinacker, Artikel „Emancipation der Juden", in: Staats-Lexikon, hg, von C. v. Rotteck und C. Welcker, 5. Bd., Altona 1837, S. 22. 22 Verhandlungen in der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg, 49. Sitzung v. 4. 5. 1836, S. 56. 23 Ebd., 57. Sitzung v. 6. 6. 1845, S. 5 (Abg. Holzinger).

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Bibliographie zur Geschichte der Judenfrage', der Emanzipation und des Antisemitismus Vorbemerkung: Obwohl die Bibliographie in der vorliegenden Form rund 500 Titel umfaßt, ist sie das Ergebnis einer strengen Auswahl aus der ständig wachsenden und von einem einzelnen Wissenschaftler kaum noch zu überschauenden Literatur in diesem Arbeitsgebiet. Die Auswahl ist von der Absicht bestimmt, dem Benutzer den gesamten Forschungsbereich möglichst differenziert zu erschließen und ihm einen relativ zuver­ lässigen Zugang zum gegenwärtigen internationalen Forschungsstand zu eröffnen. Quel­ lenschriften zur Geschichte der Judenfrage und des Antisemitismus sind deshalb in der Regel nicht aufgenommen worden. Ältere wissenschaftliche Veröffentlichungen haben nur dann Berücksichtigung gefunden, wenn sie entweder durch neuere Forschungen noch nicht überholt worden sind oder aber in der Forschungsentwicklung eine besondere Rolle gespielt haben. Das Schwergewicht der Auswahl liegt bei der Judenfrage c der bürger­ lichen Gesellschaft bis zum Beginn des Faschismus unter besonderer Berücksichtigung Mitteleuropas. Darüber hinaus ist jedoch versucht worden, auch für die allgemeine europäische und die außereuropäische Entwicklung so viel Literatur aufzunehmen, daß zumindest für vergleichende Studien eine Grundlage geboten wird. Besondere Auf­ merksamkeit ist außerdem der Erfassung soziologischer und psychologischer Arbeiten gewidmet worden, um den interdisziplinären C harakter der modernen Antisemitismus­ forschung deutlich herauszuarbeiten. Aus der Fülle von Veröffentlichungen zur jüdi­ schen Geschichte sind nur solche Arbeiten ausgewählt worden, die für ein Verständnis der Judenfrage' unentbehrlich sind, wobei vor allem der jüdischen Sozialgeschichte seit dem späten 18. Jahrhundert besondere Beachtung geschenkt wurde. Hinsichtlich der nationalsozialistischen Judenpolitik', der Verfolgungen und des Massenmordes in Deutschland und Europa muß ebenso wie hinsichtlich der Ideologie und des Herr­ schaftssystems des Nationalsozialismus weitgehend auf die laufend erscheinende Biblio­ graphie der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" verwiesen werden. Für die jüdische Geschichte kann außerdem ergänzend auf die umfangreiche jährliche Bibliographie im „Year Book" des Leo Baeck Institute (London) hingewiesen werden, die u. a. umfas­ sende Angaben über orts- und regionalgeschichtliche wie auch personengeschichtliche Literatur enthält und insgesamt durch ein Register vorzüglich erschlossen ist. Die der allgemeinen Bibliographie vorangestellten Verzeichnisse der wichtigsten jüdischen Enzy­ klopädien und der einschlägigen Periodica sind vor allem deshalb hier zusammengestellt worden, weil selbst in der Fachliteratur häufig eine mangelnde Kenntnis dieser Hilfs­ mittel zu beobachten ist.

1. Allgemeine Nachschlagewerke zur Geschichte des Judentums Encyclopaedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1—10, (A bis L), Berlin 1928—1934 (mehr nicht erschienen). Encyclopaedia Judaica, Bde. 1—16, Jerusalem 1972. The Jewish Encyclopedia. A Descriptive Record of the History, Religion, Literature, and C ustoms of the Jewish People from the Earliest Times, 12 Bde., New York 1901—1906 (Neudruck: New York 1964). The Standard Jewish Encyclopedia, Jerusalem 1958/59. 184

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The Universal Jewish Encyclopedia, 10 Bde., New York 1939—1948. Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bän­ den, 5 Bde., Berlin 1927—1930. Lexikon des Judentums, Gütersloh 1967. Wininger, S. (Hg.), Große Jüdische National-Biographie, 7 Bde., Czernowitz 1925—1936.

2. Zeitschriften und Informationsblätter zur Geschichte des Judentums und der Judenfrage' Germania Judaica. Arbeitsinformationen über Studienprojekte auf dem Gebiet des deutschen Judentums und des Antisemitismus, Köln 1963 ff. Germania Judaica. Mitteilungsblatt der Kölner Bibliothek zur Geschichte des Juden­ tums, N. F., Köln 1962 ff. Historia Judaica, Bde. 1—22, New York 1938—1960. Jewish Social Studies, New York 1939 ff. Leo Baeck Institute. Bulletin, Tel Aviv 1957/58 ff. Leo Baeck Institute. Year Book, London 1956 ff. Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, Bde. 1—83, Breslau (Frankfurt) 1851—1939 (Gesamtregister: Tübingen 1969). Patterns of Prejudice. A Bimonthly on International Anusemitism, Radical Right Move­ ments and C ounter-Activities, London 1967 ff. Revue des études juives, Paris 1880 ff.; N. F., Paris 1937 ff. Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden, Bd. 1—16, Berlin 1905—1920; N. F., Bde. 1—3, Berlin 1924—1926. Zeitschrift für die Geschichte der Juden, Tel Aviv 1964 ff. Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland, Bde. 1—5, Braunschweig 1892 —1897; N. F., Bde. 1—7, Berlin 1929—1937. Wiener Library. Bulletin, London 1946 ff.

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Register Ackermann, N. W. 121 Adler, V. 118 Adorno, T. W. 121 Ahlwardt, H. 179 Allgemeine Zeitung des deutschen Juden­ tums 102 f. Alliance antisémitique universelle 104 alte Abgaben 54, 149 Amsterdam 77 Anhalt-Bernburg 19 Anhalt-Köthen 19 Antijudaismus 113-115 - theologischer 97 Antikapitalismus 83 f., 88 Antisemiten-Liga 102 Antisemiten-Petition 89, 103 Antisemitismus - allgemein 74 f., 91-94, 104-108, 115117, 122 - als Abwehrbewegung 90 f., 104 f., 173 - u. Antiliberalismus 106 f., 116, 123 - u. Antisozialismus 109 - u. Arbeiterbewegung 117-120 - in Baden 166 - Begriff 89, 95-116, 181 - u. „Endlösung" 113, 119 f., 122, 124 f. - Entstehung 30, 81, 86 f., 116 - u. Faschismus 174 - Funktion 92, 94, 112, 119, 123, 168 - Hitlers A. 111 f. - u. „Judenfrage** 75, 167 - im Kaiserreich 108, 111 - u. Kapitalismus 120 - u. Klassenkampf 119 f., 173 - u. konjunkturelle Entwicklung 87 f., l23>, 167 - Kontinuitätsprobleme 74, 86 f., 90 f., 95, 104 f., 115 f., 119 - u. Krise 87-94, 106-108 - latenter A. 110 f. - u. Nationalismus 106 f. - Organisation des A. 108-111, 179 - als postemanzipatorisches Phänomen 90 f., 104 f. - u. Psychoanalyse 121, 124 - Theorie des A. 120 f. - soziale Träger 105 f.

- Typologie 119, 123 - u. Verbände 109 f., 173 f. - als Weltanschauung 91 f., 108-111, 113 Antisemitismusforschung 74 f., 115-125 Arendt, H. 122 Arier 96 Armenwesen, jüdisches 70, 164 Arnim, S. v. 159 Assimilation 24, 63 f.,.85 f. Aufklärung 14-18,41 aufgeklärter Absolutismus 73, 77 aufklärerisch-liberale Kritik am Judentum 24 Auschwitz 113 Baden 19, 23, 26-29, 32, 35, 37-73, 76, 128, 135-166 Bader, K. 60, 63 Bahr, H. 121 Bahrdt, H.-P. 121 Bamberger, L. 106 f. Baron, S. W. 104 Bassermann, F. D. 60, 160 Bayern 19, 23, 25 f., 28 f. Bebel, A. 111, 118 f. Bekk, J . B. 60, 66, 150, 155 Berg, Großherzogtum 18 Berlin 14, 18, 89, 102 Berliner Kongreß 80 Bernstein, F. 121 Bevölkerungsentwicklung, jüdische 44 f., 50, 138-142 Bismarck, O. v. 106, 176 Blumenkranz, B. 121 Bluntschli, T. K. 99, 165 Böblingen 128 Böckel, O. 107-109, 178 f. Böhmen 45 Börne, L. 164, 183 Bordeaux 77 Brauer, F. 47-49 Bremen 20 Brentano, L. 60, 64, 66, 159 Brentano, M. v. 122 Bresslau, H. 99, 176 Broszat, M. 122 bürgerliche Gesellschaft 11, 16, 77 203

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„bürgerliche Verbesserung" 15, 40-42, 44 Bürokratie und Emanzipation 18, 77 (s. auch Rolle des Staates) Bundesakte, Artikel 16 20 f., 50 Bundestag 21 Busch, M. 106 Büß, F . J . v . 159 Catholic Emancipation 126 Chamberlain, H. S. 110 Class, H. 109 Clermont-Tonnerre, S. de 24 Closen, K. Frhr. v. 35 Cohn, N. 121 Daub, K. 147 Deutschkatholiken 64 Deutschland 7 f., 12 f., 17-19, 24, 30-38, 79, 116 deutschnational 179 Diez, H. F. 16 f. Dohm, C . W. 13-17, 40-44, 72, 76, 120, 139, 163 Drumont, E. 103 Dubnow, S. M. 38 Dühring, E. 101, 106, 109, 120, 122, 176 Dusch, G. Frhr. v. 164 Duttlinger, J . G. 53, 60, 149 Ediert, P. W. 122 Eichhorn, T. G. 96 Eichthal, D. Frhr. v. 55, 151 Elbogen, I. 38 Ellstätter, M. 166 Elsaß 45, 140 Emanzipation - Begriff 15, 35-37, 126-132, 135 f. - bürgerliche E. 11 f., 34-37, 59 - Epoche 37, 80 f., 93 f. - als historischer Prozeß 11 f., 129 f. Emanzipation der Juden - allgemein 12-14, 37 f. - Anfänge 13, 18, 39 f., 42 - Begriff 126-132 - Befürchtungen der christlichen Bevölke­ rung 48, 56,61 f., 85, 128, 144 - spezifische Belastungen in Deutschland 30-36 - Dauer des Prozesses 17, 30, 42 - Diskussion 13, 21 f., 50 f., 136 - Ergebnisse 82-87 - als Erziehungsprojekt 16-18, 22, 25, 27, 31, 35, 42, 46 f., 52,61, 71, 77 f. - u. Freiheit 16, 25, 63 f.

- u. Interessenkonflikte 35 f., 164 - u. Konfessionsspaltung 85 - politische Konzeptionen 17-19, 24 f., 30-33, 38, 42 f., 48, 52, 59, 63 f. 71, 78 f., 82 f., 140 - Landtagsverhandlungen 23-25, 52-54, 59-73 - Fehlen des Nationalstaats 33 f., 85 - Phasen 12, 21, 29 f. - als Teilaspekt allgemeiner Emanzipation 11 f., 16, 19 f., 28-30, 34-36, 38. 60, 69-73, 80-86, 163 - Theorie 15-18, 31, 40-42, 44, 77-79 - u. territoriale Neuordnung 19 - Voraussetzungen 37 - u. sozialer Wandel 13 f., 28 f., 77 - u. Zunftwesen 138 Engels, F. 110, 118 England 12, 80 Epstein, N. 143, 152 Erziehungsgesetze 16, 20, 23 Ettlingen 55 Ewald, J . L. 50, 147 Familiennamen 47, 49 Fecht, G. B. 56 Felden>K. 122 Fichte, J . G. 97 Flowerman, S. H. 121 Föhrenbach, M. 58 Forster, G. 129 Fourier, C . 97, 117 Frank, W. 121 Frankfurt 20 Frankreich 12 f., 17-19, 24, 32, 38, 43, 76, 78, 80, 103, 116 Frantz, C . 101 Freibure 59 Freizügigkeit 69-71, 73 (s. auch Obersiedlungsrecht) Freud, S. 123 Fricke, D. 119 Friedländer, D. 24, 153 Friedrich d. Große 13 Friedrich, Großherzog v. Baden 39, 6870, 163 Fries, J . F. 50 Fritsch, T. 108 f., 113 Fürstenberg, K. E. Fürst zu 60 Galtung, J . 121 Gemeindeämter 58, 64, 67 f., 154, 159 Gemeindebürgerrechte 44, 48, 52 f., 57 f., 64, 67 f., 70, 140, 158 f., 161 f.

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Gerlach, H. v. 103 Gerlach, H.-C . 122 Gervinus, G. G. 11 Gesellschafts- u. Kulturkritik 89 f., 100 f., 110, 173 Gewerbefreiheit 69-71, 73 Gewerbeverhältnisse, Übergang zu bür­ gerlichen Gewerben 23, 25-27, 42, 45, 47, 49, 54 f., 68, 82 f., 140, 143, 145 f., 150 f., 162 Ginsberg, M. 121 Glagau, O. 89, 99, 101 Glock, C . Y. 122 Gobineau, J . A. C omte de 96, 100 Görres, J . 129 Görschier, H. 119 Graetz, H. 38 Graß, K. M. 126, 128, 130 Grégoire, H. 120 Grimm, A. L. 157 Gründerkrise 87 f„ 92 f. Gruppencharakter der Juden 53, 59, 82 f., 85 f., 90, 100 Günther, H. F. K. 122 Gurian, W. 122 Haber, L. v. 149, 151 Haber, S. v., Bankhaus 55 Häusser, L. 71 f., 99, 165 Hamburg 20, 149 Handelskammer 49, 55, 151 Hannover 20 Hardenberg, K. A. Fürst v. 20 Harleß, A. v. 30 Hecker, F, 60, 65, 160 Hegel, G. W. F. 97 f. Heidelberg 51, 68, 147, 162 Heine, H. 37, 129 Heise, W. 119 Heller, O. 119 Henrici, E. 104, 107 Hepp!-Hepp!-Bewegung 22, 49-53, 63, 147 f. Herr, F. J . 56 Hertzberg, A. 74, 122 Herzig, A. 9 Hessen 27 Hessen-Darmstadt 23 Hilberg, R. 122 Hillebrand, K. 88 Hitzig, F. 53 Hoffacker, Abg. 128 Hoffaktoren 18, 141 Holzmann, P. 43-45, 47

Horkheimer, M. 121 Humboldt, W. v. 20, 31-33, 169 Integration der Juden 18, 24 f., 78, 84 f. Intoleranz, liberale 24, 56 f. Isaak, J . 121 f. Israelit, Begriff 48, 98 Italien 80 Itzig, D. 18 Itzstein, J . A. v. 60, 159 f. J a h o d a , M . 121 J é h o u d a , J . 122 Joseph II., Kaiser 13, 18, 40, 127 Juden - Begriff 48, 72, 85, 96-101, 143 f., 165, 170, 175 f. - „getaufte Juden" 71 f., 99 - u. Frühindustrialisierung 55, 151 - als soziale Gruppe 13-15, 25 f. - u. Kapitalismus 53, 66, 77, 82-84, 90, 97 f., 105, 117 f., 169 f. - u. Mittelstand 156 - als Nation 45, 56 f., 59, 72, 98 - Oberschicht 13 f., 18, 76 f. - u. Politik 157 - u. Presse 157 - in vorbürgerlicher Welt 13 f., 75 f. „Judendeutsch" 151 Judenemanzipation (s. Emanzipation der Juden) Judenfeindschaft, vorbürgerliche 115 f., 121 „Judenfrage" - allgemein 7, 14 f., 32, 77, 81 - u. bürgerliche Gesellschaft 75 - Entstehung 13 f., 76 - Periodisierung 76-78 Judentum - Auflösung, Aufgabe des J . 24, 61, 171 - Begriff 96 f. - u. C hristentum 24, 97 - u. soziale Frage 101 - als Konfession 79 - u. Modernität 100 Judenverfolgung 22, 27 f., 30, 51 f., 65 f., 159 f., 165 Kahn, F. 119 Kapp, J . G. C . 60, 65 Karl, Großherzog v. Baden 49 Karl Friedrich, Großherzog v. Baden 39 f., 47, 57, 59 Karlsruhe 42, 49, 51, 54 f., 68, 162 205

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Katholizismus 89, 165, 173 Katz, J . 9, 126 Kautsky, K. 119 Kern, J . 53 Kohn, H. 10 Kolakowski, L. 120 Kolonien, jüdische 16 f. Konfessionsstatistik, Baden 140 f. Konservatismus 162 Konstanz 59 Koselleck, R. 126, 128, 130 Kreuzzeitung 89, 101 Kriminalstatistik 158 f. Krise der bürgerlichen Gesellschaft 30, 87-89, 92-94 Kritik am Judentum 41-43 Kronawetter, F. 118 Krug, W. T. 126 f. Kuenzer, D. 61 f. Kultus, jüdischer 64-158 - Kultusreform 54, 144 (s. auch religiöse Reform) Kusel, Bankhaus 55 Kusel, J . 149, 151 Kusel, R. 70 Ladenburg, W. L. 151 Lagarde, P. de 96 f., 107-110 Lahr 59 Lamey, A. 29, 67, 69-71, 157, 161, 163165 Landbevölkerung 21, 27 Landjuden, jüdische Landbevölkerung 45, 55 f., 68 f., 151 f., 166 Landjudenschaften 15 Langbehn, A. J . 110 Lassen, C . 96 Lazare, B. 118, 121 Lehr- und Schulämter 22, 49 Leibzoll 54 Lenin, W. I. 118 Lenski, G. 122 Leroux, P. 97, 169 Leroy-Beaulieu, A. 104, 121 Leschnitzer, A. 122 Lessing, G. E. 40 Leuss, B. H. 103 Liberalismus, Liberale 23-30, 52, 56-65, 79, 88 f., 93 f, 104 f., 162, 171, 180 - liberale Vorbehalte gegenüber Juden und Emanzipation der Juden 60-63, 70, 72, 156 f. Liebenstein, Frhr. v. 42 Liebknecht, W. 111

linksrheinische Gebiete 18 f. Löwe-Calbe, W. 176 Loewenstein, R. M. 121 London 77 Lovsky, F. 122 Lübeck 20 Lueger, K. 179 Malesherbes, C . G. 13 Mandat des Abgeordneten 62 Manichäismus 91 f., 112 Mannheim 45, 55, 68, 160, 162 Marcus, R. 121 Marr, W. 89, 95, 101 f., 106-108, 120, 177 Marx, K. 34,97, 117 f., 129, 169 Massing, P. W. 9, 74, 122 Mathy, K. 60, 160 Mehring, F. 110, 118 Mendelssohn, M. 21, 40 Menzel, W. 99 Metternich, K. Fürst v. 20 Metz 13, 76 Mez, K. 64 Meyer, Dr. (Breslau) 170, 176 Militärdienst 49, 145 Minderheitenpolitik 85 f. Minderheitscharakter der Juden 76, 115 Mirabeau, H. G. de 38, 120 Mitscherlich, A. 121 Mommsen, T. 102 f., 107, 120 Müßig, v., Reg. Rat 49 Napoleon I. 18 f., 79 Nationalismus 88 f., 173 Nationalsozialismus u. Antisemitismus 111-113, 116 f., 119 f. Naudh, H. 106 Naumann, F. 110 Nipperdey, T. 10 Nordamerika 13 Norddeutschland 29 Nothandel 15, 47, 142 f. Niederlande 43, 80 Oberitalien 80 Oberrat der badischen Juden 47, 57, 143 Odenwald 65 f. Öffentlichkeit, öffentliche Meinung 21 f., 50 f., 62 f., 84, 157 Österreich 13, 19 f., 22, 28 f., 33, 40, 76, 79, 103, 116, 137 f. Offenburg 59 Olson, E. 122 Osteuropa 104

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Parkes, T. W. 121 Parsons, T. 121 Parteien, antisemitische 108 f., 111 Paulus» H. E. G. 50, 56, 98, 152 f. Petitionen 28, 56, 59 f., 71, 127, 153-155, 160-165, 170 Pfalz 45, 127, 140 Pfordten, L. Frhr. v. d. 30 Philadelphia 88 Philosemitismus 14, 70, 76, 102 f., 111, 118 Plantation Act 80 Polen 45 Poliakov, L. 122 Posen, Provinz 22 f., 29, 127 Preußen 13, 15, 20, 22 f., 26, 28 f., 33 f., 76 Proudhon, P. J . l i r Pulzer, P. G. J . 9, 74, 122 Radikale 64 f. Rasse, Race 31, 44, 72, 96, 98 f., 103, 110, 165 Rassismus, Rassentheorie 92, 109 f., 112, 117, 122 f. Rechtsstaat 157 Rechtsverhältnisse der Juden vor der Emanzipation 15, 45 f., 76 religiöse Reform des Judentums 24, 47, 53 - als Voraussetzung der Emanzipation 57, 61, 153 Reichmann, E. G. 125 Reitlinger, G. 122 Reitzenstein, S. Frhr. v. 48 Renan, E. 95 f., 181 Rettie, F. 56, 67, 159, 161 Revolution, französsche 17 f., 85, 136 Revolution, industrielle 87 f. Revolution 1848/49 27 f., 65-67, 79 Rießer, G. 152, 170 Rindeschwender, I. 56, 60, 156, 159 Robb, J . 121 Robert, L. 148 Römer, F. 131 Romantik 148 Rosenbere, H. 115, 122 f. Rotenstreich, N. 122 Rothschild, M. A. v. 148 Rotteck, C . v. 24, 35, 37, 60 f., 63, 155, 157 Rüdt, F. Frhr. v. C ollenberg 155 Rühs, F. 50, 147 Rußland 80, 116

Sachsen 20 Salier, K. 123 Salonkultur 18 Salzburger, G. 122 Sander, A. 60-62 Sartre, J . P. 121, 167, 171, 173 SchaafF, F. T. 63, 69, 159, 162 Scheidler, K. H. 129 Schemann, L. 110 Schleiermacher, F. 97 Schlesien 27 Schlözer, A. L. v. 96 Schlosser, J . G. 40, 139 Schmidt, A. 165 Schoenbach, P. 121 Schönerer, G. Ritter v. 179 Schopenhauer, A, 98 Schuckmann, F. v. 16 f. Schul- und Bildungswesens, jüdisches 27, 40, 47, 49, 53 f., 64, 68 f., 158, 208 Schutzgelder 43, 49, 52, 54, 139 „Schutzjuden", Schutzbriefe 15, 45, 142, 144 Schweiz 80 Seligmann, D., s. Frhr. v. Eichthal Semitismus, Semiten, semitisch 96-101, 165, 176 Semler, S. 97 Sensburg, E. P . Frhr. v. 146 Sepp, J . N . 25 Silbermann, A. 116, 121 Silberner, E. 117 Simmel, E. 117 Simon, M. 121 Soiron, A. v. 64, 67, 160 f. Sowjetunion 118 Sozialdemokratie u. Antisemitismus 110 f., 117 f. Sozialstruktur, jüdische 32, 170 f. Sprachforderungen 45 St. Blasien 55 Staat - christlicher Staat 50, 61, 160 - Rolle des Staates 14, 16-19, 23, 31, 38, 41 f., 71, 77-79 - „Staat im Staate" 48, 86, 98 Staatsdienst 28, 44, 49, 67 f., 105, 140, 145-147, 161 Stabel, A. 69 Stark, R. 122 Statistik, allgemeine 26 f., 142 Steinacker, K. 157 Steinschneider, M. 181 Sterling, E. 74, 122 207

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Stern, F. 122 Steuerkapital der Juden in Baden 55 Stoecker, A. 89, 101, 103 f., 106 f., 172 Stuttgart 23 Süddeutschland 18 f., 22, 27-29, 34, 79 Südosteuropa 80, 104 Sündenbock, -theorie 75, 84, 89 f., 111,123 Surinam Act 80 Taufe, Taufbewegung 149, 171 Tempelverein 53 f., 149 Thibaut, A. F. J . 147 Toscana 76 Toury, J . 9 Toussenel, A. 97 Trachtenberg, J . 121 Treitschke, H. v. 89, 101-103, 106 f. Trennung von Staat und Kirche 41, 43 f. Tübingen 127 Türckheim, H. Frhr, v. 155 Übersiedlunesrecht 58 f., 68, 148 f., 154 Ungarn 103, 116 Unterstützung für jüdische Schüler und Lehrlinge 43, 54, 150 Valentin, H. 121 Varnhagen, R. 51, 148 Varnhagen v, Ense, K. A. 51 Vereine, Juden als Mitglieder 49 Vereinigte Staaten 80 Vermögensverhältnisse der Juden in Baden 141 Verstädterung 83, 166 Vincke, L. v. 127

Volksstimmung, Volksmeinung 23 f., 6:63, 157, 159, 161 Vormärz 23-27 Vorurteil - allgemein 17, 21, 53, 64 f., 159 - Abbau, Bekämpfung 17, 31-33, 48 f. 72, 84 f. - sozialpsychologische Deutung 65 - Vorurteilsforschung 124 Wagener, H. 29 Waghäusel 55 Wagner, A. 102 Wagner, R. 170 f. Wahlrecht 155, 161 Wahrmund, A. 96 Warschau, Herzogtum 80 Wawrzinek, K. 121 Weinryb, B. D. 122 Welcker, C . T. 60, 63, 152, 161 Weltsch, R. 10 Wessenberg, J . H. Frhr. v. 155 Westfalen, Königreich 18, 80 Wieland, C M . 129 Wiener Kongreß 20 f., 33 Winter, C . F. 53 Winter, L. 56, 59 Wirtschaftskrise 87 f. Wucher, Geldleihgeschäfte 15, 45, 56, 62, 65 f, 69, 79, 83, 151 f., 159, 166 Württemberg 19 f, 23 f., 27, 29, 33 Würzburg 22 Zittel, K. 64, 67 Zweig, A. 121

208 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

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K R I T I S C H E STUDIEN ZUR

GESC HIC HTSWISSENSC HAFT

1. Wolfram Fischer • Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industria­ lisierung. Aufsätze — Studien — Vorträge 1972. 547 Seiten 2. Wolfgang Kreutzberger • Studenten und Politik 1918—1933. Der Fall Freiburg im Breisgau 1972. 239 Seiten 3. Hans Rosenberg • Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz 1972. 142 Seiten 4. Rolf Engelsing • Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschich­ ten 1972. 314 Seiten 5. Hans Medick • Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Ge­ sellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichts­ philosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith. 1972. 330 Seiten 6. Die große Krise in Amerika. Vergleichende Studien zur politischen So­ zialgeschichte 1929—1939. Mit Beiträgen von Willi Paul Adams, Ellis W. Hawley, Jürgen Kocka, Peter Lösche, Hans-Jürgen Puhle, Heinrich Au­ gust Winkler, Hellmut Wollmann. Herausgegeben von Heinrich August Winkler 2973. 243 Seiten 7. Helmut Berding - Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen 1807—1813 1973. 160 Seiten 8. Jürgen Kocka • Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914—1918 1973. X, 230 Seiten 9. Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge. Mit Beiträgen von Gerald D. Feldman, Gerd Hardach, Jürgen Kocka, C harles S. Maier, Hans Medick, Hans-Jürgen Puhle, Volker Sellin, Hans-Ulrich Wehler, Bernd-Jürgen Wendt, Heinrich August Winkler. Herausgegeben von Heinrich August Winkler 1974. 223 Seiten 10. Hans-Ulrich Wehler ■ Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus. Studien zur Entwicklung des Imperium Americanum 1865—1900. 1974. 426 Seiten 11. Sozialgeschichte Heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburts­ tag. 36 Beiträge. Hrsg. von Hans-Ulrich Wehler 1974. 669 Seiten 12. Wolfgang Köllmann • Bevölkerung in der industriellen Revolution. Stu­ dien zur Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. Jhdt. 1974. 286 Seiten mit zahlreichen Schaubildern 13. Elisabeth Fehrenbach - Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoleon i. d. Rheinbundstaaten 1974. 226 S. 14. Ulrich Kluge * Soldatenräte und Revolution. Studien zur Militärpolitik in Deutschland 1975.518 Seiten 16. Hans-Jürgen Puhle • Politische Agrarbewegungen in kapitalistischen Indu­ striegesellschaften. Dtschld., USA und Frkr. im 20. Jhdt. 1975. Etwa 480 Seiten 17. Siegfried Mielke • Der Hansa-Bund für Gewerbe, Handel und Industrie 1909—1914. Der gescheiterte Versuch einer antifeudalen Sammlungspolitik 1975. Etwa 330 Seiten VANDENHOECK & RUPREC HT IN GÖTTINGEN UND ZÜRIC H © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3

Egmont Zechlin Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg 1969. 600 Seiten, Leinen „ . . . Lehrreich ist es, bei Zechlin nachzulesen, welche Spannungen im jüdischen Lager innerhalb und außerhalb der Reichsgrenzen zwischen den orthodox­ religiös, den nationalzionistisch und den karitativ-assimilatorisch ausgerichte­ ten Organisationen bestanden haben, namentlich, wenn es um das Ostjudentum ging . . . Darum kann der jüdische Rezensent nur mit einem Gefühl echter Bewunderung die Bemühungen des nichtjüdischen Autors verfolgen, diese für den Außenstehenden so schwer verständlichen und, rückblickend betrachtet, tief tragischen Auseinandersetzungen gerecht abwägend darzustellen. Ein solches Verständnis hat während des Weltkrieges auf deutscher und vielfach auch auf deutsch-jüdischer Seite nicht bestanden. Aus diesem Mangel erklärt sich nicht unwesentlich das Scheitern der deutschen Judenpolitik während des Krieges . . .'' Ernst Fraenkel I Die Zeit Jürgen Schlumbohm Freiheitsbegriff und Emanzipationsprozeß Zur Geschichte eines politischen Wortes 1973. 96 Seiten, kart. (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1382) Rolf Engelsing Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands 1973. 212 Seiten, kart. (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1381) Hans Rosenberg Die Weltwirtschaftskrise 1857—1859 Mit einem Vorbericht 1974. XXV, 210 Seiten, kart.

(Kleine Vandenhoeck-Reihe 1396)

Hans-Ulrich Wehler Das Deutsche Kaiserreich 1871—1918 (Deutsche Geschichte. Herausgegeben von Joachim Leuschner, Band 9) 1973. 272 Seiten, kart. (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1380) Hans-Ulrich Wehler Krisenherde des Kaiserreichs 1871—1918 Studien-zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte 1970. 437 Seiten, kart. VANDENHOECK & RUPREC HT IN GÖTTINGEN UND ZÜRIC H © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35966-3