Ekkehart IV. von St. Gallen 9783110353341, 9783110353143

Ekkehart IV of Saint Gall (c.980–c.1060) was the favorite pupil of Notker III (Notker der Deutsche). This volume seeks t

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German Pages 452 Year 2015

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9783110353143_LHG_Koessinger_I-IV
koessinger_gesamt_neu
000a_Vorwort
000b_Inhaltsverzeichnis1
001_Sonderegger
002_Brunner
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014_Jezierski
015_Klaper
016_Weber
017_Leithe
018_Stotz
019_Smolak
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Ekkehart IV. von St. Gallen
 9783110353341, 9783110353143

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Ekkehart IV. von St. Gallen

Lingua Historica Germanica

Studien und Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Herausgegeben von Stephan Müller, Jörg Riecke, Claudia Wich-Reif und Arne Ziegler

Band 8

Gesellschaft für germanistische Sprachgeschichte e.V.

Ekkehart IV. von St. Gallen Herausgegeben von Norbert Kössinger, Elke Krotz, Stephan Müller

ISBN 978-3-11-035314-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-035334-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038785-8 ISSN 2363-7951 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Noch nie gab es eine Tagung zu Ekkehart IV. von St. Gallen, dem Lieblingsschüler Notkers des Deutschen. Das war der Ausgangspunkt für den Plan zu einer solchen Konferenz, die vom 15. bis 17. November 2012 in Wien stattfand. Dass dies eine Premiere war, erklärt sich nicht zuletzt aus dem Leben und Werk Ekkeharts, das sich von dem seines Lehrers deutlich unterscheidet. Nennt man Notker mit Recht ‚teutonicus‘, so würde dieses Etikett Ekkehart IV. sicher nicht treffend beschreiben. Er war ein ‚latinus‘, der sich nur in wenigen Ausnahmefällen in Glossen der deutschen Sprache bediente – und selbst in diesen Fällen ist Ekkehart IV. als Autor oft umstritten. Sein Wirkungskreis geht über die St. Galler Schule hinaus und so ist sein vielfältiges Werk Gegenstand ebenso vielfältiger Forschungen geworden, die in verschiedenen Fachdisziplinen beheimatet sind. Die Geschichtswissenschaft kennt Ekkehart IV. als Historiograph und Beobachter der St. Galler Klosterkultur. Die Germanistik kennt ihn als Schüler und Nachlassverwalter Notkers des Deutschen, als Übersetzer deutscher Texte ins Lateinische und als Glossator. Für die Mittellatinistik ist er Dichter, Philologe, Kommentator auch seiner eigenen Werke und gelehrter Lehrer. Der Musikwissenschaft ist er Neumenschreiber und exzeptioneller Zeuge der frühmittelalterlichen Musikpraxis. Es ist gerade die Vielfalt, die Ekkehart IV. auszeichnet und ihn zum Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gemacht hat, ohne dass sein Gesamtprofil bislang ausreichend gewürdigt werden konnte. Dazu sollte die Wiener Tagung den Grundstein legen. Methodisch ging das nur in einer Form gelebter Interdisziplinarität. Dass dies gelang, dafür danken wir allererst den Vortragenden, die auch in den Diskussionen die verschiedenen fachwissenschaftlichen Perspektiven ins Gespräch brachten. Die hier vorliegende Druckfassung der Beiträge möge das künftige Gespräch über Ekkehart IV. stimulieren. Vielen gilt es Dank zu sagen: Für die Betreuung der Tagung in Wien Christina Jackel, Lisa Rethage, Dennis Wegener und Sophie Zimmermann. Für Hilfe bei der Drucklegung der Beiträge den Konstanzer Hilfskräften Marina Reichert und Elisabeth Sünder. Für die großzügige Freigabe von Abbildungen der Stiftsbibliothek St. Gallen. Für die Aufnahme des Bandes in die Reihe „Lingua Germanica Historica“ schließlich Jörg Riecke, Claudia Wich-Reif und Arne Ziegler. Elke Krotz, Norbert Kössinger und Stephan Müller

Inhaltsverzeichnis Stefan Sonderegger  Althochdeutsche Annäherungen an Ekkehart IV. propria lingua in conversatione cottidiana et in schola? | 1 Karl Brunner  Quarta Lingua | 25 Ernst Hellgardt  Ekkehart IV. und Notkers Psalter im Cod. Sang. 21 | 33 Stephan Müller  Deutsche Glossen in Notkers Psalter. Oder: Was können wir über die Identität des Notker-Glossators sagen? | 59 Ivan Schuler  Die althochdeutschen Glossen Ekkeharts IV. in den St. Galler Handschriften. Erläuterungen zur Neuedition, zur sprachgeografischen Einordnung und zur paläographischen Analyse | 69 Philipp Lenz  Die Glossen Ekkeharts IV. als paläographisches und methodisches Problem | 95 Heidi Eisenhut  Handschriften mit Spuren Ekkeharts IV. von St. Gallen. Aussagen zur Glossierungsmethode, Glossierungsdichte und zum Charakter der Glossen | 133 Andreas Nievergelt  Ekkehardus glossator – scribens stilo quoque? | 153 Sonja Glauch  Ekkehart und die Werküberlieferung Notkers des Deutschen | 179 Petrus W. Tax  Ekkehart IV. als Nachlassverwalter von Texten Notker Labeos? Eine Hypothese anlässlich einer bemerkenswerten Rubrizierung | 201 Anna Grotans  Ekkehart IV.: Kein zweiter Palatinus | 207

VIII | Inhaltsverzeichnis

Bernhard Zeller  Lokale Eliten im thurgauischen Umfeld des Klosters St. Gallen (8.–11. Jahrhundert): ‚Ekkeharte‘ und ‚Notkere‘ | 231 Ernst Tremp  Zur Neuausgabe von Ekkeharts Casus sancti Galli | 245 Wojtek Jezierski  Speculum monasterii. Ekkehart IV and the making of St Gall’s identity in the Casus sancti Galli-tradition (9th–13th centuries) | 267 Michael Klaper  Ekkehart IV. und die liturgische Musikpraxis des Gallusklosters. Das Beispiel der Te Deum-Tropen | 303 Stefan Weber  Ekkehart IV. und seine Benedictiones ad mensas | 323 Helena Leithe-Jasper  Ekkeharts IV. Versus ad domus domini Mogontinę. Mehr als nur eine Titulisammlung? | 373 Peter Stotz  Verleugnung der Wortkunst als Bekenntnis. Zu den drei confutatio-Gedichten Ekkeharts IV. von St. Gallen | 393 Kurt Smolak  Verba superba. Ein Blick in Ekkeharts IV. Dichterwerkstatt | 421

Stefan Sonderegger

Althochdeutsche Annäherungen an Ekkehart IV. propria lingua in conversatione cottidiana et in schola?

1 Einleitung Mit Ekkehart IV. (nach 980 – nach 1057) befinden wir uns auf einem wichtigen Schnittpunkt zwischen Spätalthochdeutsch und Mittellatein, das heißt zwischen der lingua propria des Umfeldes von St. Gallen wie der meisten Mönche und selbst der vielen Besucher des Reichsklosters im 11. Jahrhundert am damaligen Südwestrand des althochdeutschen Sprachraums sowie der Kirchen-, Literatur-, Urkunden- und Schulsprache Latein, das meint der zu St. Gallen ganz besonders sorgfältig gepflegten klassischen Latinität und lateinischen Bildungstradition, selbst mit Ausblicken ins Griechische, auch bei Ekkehart über seinen Lehrer Notker III. hinaus vermehrt feststellbar. Damit führt jede Auseinandersetzung mit Ekkehart IV. auf das Problem der Sprachsituation zwischen althochdeutscher Volkssprache und mittellateinischer Bildungssprache, das in der Forschung, soweit überhaupt angesprochen, verschieden gewichtet worden ist.1 Indessen hat sich Ekkehart IV. dem Althochdeutschen selbst sozusagen ein Leben lang immer wieder angenähert, ohne selbst ein größeres geschlossenes Werk hinterlassen zu haben, wie in den folgenden Abschnitten zu zeigen sein wird. Althochdeutsche Annäherungen an Ekkehart IV. verstehe ich dabei in einem doppelten Sinn: die wissenschaftliche Analyse von Ekkeharts Verhältnis zum Althochdeutschen wie seine eigenen Zeugnisse zur lingua propria. Was die conversatio cottidiana betrifft, beziehe ich mich als Ausgangspunkt dafür auf den umfangreichen Aufsatz des auch in der St. Galler Überlieferung versierten Historikers Michael Borgolte Conversatio Cottidiana. Zeugnisse zum Alltag in frühmittelalterlicher Überlieferung,2 worin Ekkeharts IV. Casus Sancti Galli eine wichtige Quellengrundlage bilden; allerdings geht Borgolte kaum, eigentlich nur einmal kurz auf die mit dem Alltag im Umfeld eines frühmittelalterlichen Klosters bei aller lateinischen Bildungstradition im althochdeutschen Sprachraum doch eng verbundene Frage nach der tatsächlichen Verwendung der lingua propria ein. Conversatio wird im übrigen beim Glossator von Notkers III. Psalter, in dem ich mindestens als Anreger Ekkehart IV. sehe, zweimal mit lîbuuandil (einmal als Nom. Sg., einmal als Akk. Sg., je lib-uuandil) || 1 Sonderegger 1985, 1987a, 1989; Ochsenbein 1989. 2 Borgolte 1990.

2 | Stefan Sonderegger

erklärt (Einleitung zu Ps. 93), d.h. ‚Lebensweise, Zusammenleben‘, so dass man die lingua propria in conversatione cottidiana althochdeutsch durchaus mit eiganiu sprâhha tagalîhhen lîbuuandils wiedergeben könnte. Im Zusammenhang mit Ekkehart IV. stellt sich außerdem die Frage nach den sprachgestaltenden Persönlichkeiten des Althochdeutschen im Frühmittelalter. Mit Namen sind derer, im Gegensatz zur gleichzeitigen mittellateinischen Literatur, nur sehr wenige bekannt oder aus der Anonymität der Klostergemeinschaften hervorgetreten, wobei zwischen Verfassern und Anregern oder Glossatoren zu unterscheiden ist (Abb. 1).

Abb. 1: Namentlich bekannte Persönlichkeiten althochdeutscher Sprachgestaltung

Was Ekkehart IV. betrifft, wird sogleich erkenntlich, dass dieser im Bezugsbereich von zwei bedeutenden, gerade auch für das Althochdeutsche bedeutungsvoll gewordenen Persönlichkeiten steht, nämlich zwischen Ratpert von St. Gallen – seinem Vorgänger in der Geschichtsschreibung der Casus Sancti Galli wie für die Umdich-

Althochdeutsche Annäherungen an Ekkehart IV. | 3

tung des für das Althochdeutsche verlorenen Gallusliedes – und Notker III. Labeo oder Teutonicus von St. Gallen, seinem hochverehrten magister scholae wie weitgespannten Übersetzer. In den folgenden Abschnitten sollen die Annäherungen Ekkeharts IV. im Einzelnen erläutert werden.

2 Ekkehart IV. als Verehrer Notkers III. Eng mit der Kenntnis von Notkers III. althochdeutschem Übersetzungswerk verbunden sind die Zeugnisse Ekkeharts über seinen Lehrer Notker den Deutschen (ca. 950–1022). Notkers hohe Wertschätzung im Allgemeinen zeigen schon die nekrologischen und chronikalischen St. Galler Quellen des 11. Jahrhunderts wie zum Teil auch später,3 wo Notker u.a. ehrend als besonders herausragender Klosterlehrer genannt wird, so mit Bezug auf seinen Tod am Vorabend des 29. Juni [1022], des Jahrestages des Apostels Petrus: Ob[itus] Notkeri doctissimi atque benignissimi magistri (Variante: Notker amplectendę memorię magister) im Necrologium monasterii sancti Galli.4 Eine wesentliche Vertiefung dieses Bildes von Notker bilden nun die verschiedenen Nennungen Ekkeharts, soweit sie über die Formulierung des bloßen Lehrers (Notkero magistro5; Notkerum magistrum nostrum6) hinausgehen, so schon im Epitaphium7: [...] hîc Notker apertus, Doctrinę fomes, d.h. ‚dazu [gehört] der klare (d.h. die Texte klar erläuternde) Notker, Zunder (hier im Sinn von zündender Betreiber) der Gelehrsamkeit‘.8 Eine Schlüsselstellung innerhalb der Zeugnisse Ekkeharts über Notker bildet der Abschnitt im Gedicht De aliis sincellitis amborum (d.h. ‚Über die anderen Zellengenossen der beiden [Gründer Gallus und Otmar]‘)9, V. 62–6710, wo Ekkehart eine Art Nachruf in Form einer Totenklage11 über seinen Lehrer gedichtet wie zusätzlich in Prosa kommentiert hat, aus der verkürzt der folgende Text betreffend die von Notker übersetzten Werke zitiert sei:12 V. 62 Primus barbaricam scribens faciensque saporem (Glossierung: Teutonice propter caritatem discipulorum plures libros exponens) V. 64 Notker mox obiit, ubi Iob calamo superavit, || 3 Duft 1991a. 4 Baumann 1888, 476. 5 Liber Benedictionum/Egli 1909, 393 (Varia 5). 6 Casus Sancti Galli/Haefele 1980, Cap. 80. 7 Liber Benedictionum/Egli 1909, 405f. (Varia 14). 8 Vgl. zu fomes Mittellateinisches Wörterbuch IV, 362. 9 Duft 1991a, 170. 10 Liber Benedictionum/Egli 1909, 230f. 11 Duft 1991a, 170. 12 Vgl. auch Sonderegger 1987b, 1215f.

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Quem vas in quartum transfundens fecit apertum (Glossierung: librum Iob in quartam linguam exponens) Gregorii pondus dorso levat ille secundus (Glossierung: moralia Teutonice) (Glossierung: ab illo) V. 66 Post Davidis dicta simili iam robore victa (Glossierung: psalterium, in quo omnes, qui barbaricam legere sciunt, multum delectantur. Kisila imperatrix [...] psalterium ipsum et Iob sibi exemplari sollicite fecit)

Mit diesen Versen ist das Wesentliche über Notker gesagt: – das benignissimus ‚allergütigste‘ des St. Galler Necrologiums wird hier erläutert als propter caritatem discipulorum ‚aus Liebe zu seinen Schülern‘ (sc. hat Notker mehrere Bücher erklärend ins Deutsche übersetzt); – die hohe Meisterschaft im gestaltend erklärenden Übersetzen wird als sapor ‚Delikatesse‘, sein Verfahren als apertus ‚zugänglich, verständlich‘ bezeichnet; – anknüpfend an Notkers letzte Übersetzungswerke, nämlich die verlorenen Moralia in Hiob Gregors des Großen und den Psalter mit den katechetischen Stücken im Anhang, wertet Ekkehart Notkers Schriften als neue Leistung der Erhebung der lingua barbarica als quartum vas in den Rang der drei heiligen Sprachen Lateinisch, Griechisch, Hebräisch.13 Nicht verwunderlich, dass Ekkehart IV. Notker III. erstmals als Notker Teutonicus ‚Notker den Deutschen, d.h. den Deutsch Schreibenden‘ genannt hat, so im Distichon am Schluss der einzig vollständig überlieferten Handschrift der Psalterübersetzung Cod. Sang. 21 (12. Jh., aber auf einer verlorenen, noch in Zitaten bezeugten Hs. des 11. Jh. beruhend), wo sich in der Nachschrift dazu Parallelen zur Schilderung des Saiteninstrumentes ahd. rotta in den Casus Sancti Galli Kap. 46 ergeben: NOTKER . TEVTONICVS . DOMINO . FINITVR . AMICVS. GAUDEAT . ILLE . LOCIS . IN PARADYSIACIS.14 („Notker der Deutsche, uns Freund, im Herrn sein Leben erfüllt hat./ Möge jener sich freuen, nun in Himmels Gefild.“)

Was bei Notker nach Ausweis seines werkbiographischen Briefes an Bischof Hugo von Sitten (um 1015) noch schulisch-pädagogischer Zweck war,15 steigert sich bei Ekkehart zur vollen und damit forschungsgeschichtlich erstmaligen Anerkennung von Notkers übersetzerisch-interpretatorischer Leistung. Damit vollzieht sich eine erste explizit ausgesprochene Aufwertung der lingua propria des schulischen Unterrichts zur biblischen quarta lingua selbst für hohe Besuchergeschenke, wie an Kaiserin Gisela. Dies alles gründet bei Ekkehart IV. auf einer umfassenden Annäherung || 13 Dazu Duft 1991a. 14 Text: Notker der Deutsche, Psalter / Tax 1983, 575. Dazu: Notker latinus, Psalter/Tax 1975, 747. 15 Dazu Hellgardt 1979.

Althochdeutsche Annäherungen an Ekkehart IV. | 5

an die althochdeutsche Sprachmeisterschaft seines hochverehrten Lehrers Notker III., welche er so verständnisvoll gewürdigt hat.

3 Ekkehart IV. als erneuernder Übersetzer des althochdeutschen Gallusliedes von Ratpert Innerhalb der althochdeutschen Überlieferung des Klosters St. Gallen befand sich ein Lied zu Ehren des heiligen Gallus, das an dessen Fest am 16. Oktober dem Volke vorgesungen wurde. Verfasser des Liedes war der Mönch Ratpert von St. Gallen (zwischen 840/850–nach 900)16, doch ist es in althochdeutscher Sprache nicht erhalten. Indessen hat Ekkehart IV. dieses erneuernd ins Lateinische übersetzt, damit dessen schöne Melodie nicht verloren gehe. Ekkeharts Umdichtung ist in drei Fassungen überliefert, die nun dank der Zürcher Dissertation von Osterwalder greifbar sind.17 Wir beschränken uns hier auf die für Ekkeharts Annäherung an das Althochdeutsche relevanten Fragen. Die Zeugnisse zum Lied und dessen lateinischer Umdichtung sehen verkürzt zitiert so aus (aus dem Prolog der drei Fassungen, die auch hier Ekkeharts Ringen um literarische Formen und Formulierungen bezeugen)18: A Ratpertus monachus [...] fecit carmen barbaricum populo in laude S. Galli canendum. C Ratpertus monachus [...] fecit [...] carmen barbaricum populo [...] cantitandum. B Ratpertus [...] fecit carmen barbaricum de s. Gallo populo cantandum. A Quod nos [...] quam proxime potuimus in latinum transtulimus. C Quod [...] postea fratrum quidem [...] quam proxime potuit transferens [...]. B Id ipsum nos [...] vertimus in latinvm.

Auf Grund dieser Zeugnisse und unter Beizug weiterer Sprachbelege lässt sich ein Vergleich zwischen der Übersetzungsterminologie Notkers III. und Ekkeharts IV. vollziehen, der so aussieht:19

 

|| 16 Rädle 1989. 17 Osterwalder 1982. 18 Vgl. Osterwalder 1982, 83f. 19 Zu Notkers Terminologie Sonderegger 1987a; für Ekkehart auch die Werke im Liber Benedictionum/Egli 1909 und die Casus Sancti Galli/Haefele 1980.

6 | Stefan Sonderegger

Tab. 1: Notkers III. und Ekkeharts IV. Übersetzungsterminologie Notkers III. Übersetzungsterminologie

Ekkeharts IV. Übersetzungsterminologie

a) vor allem im engeren Sinn vertere

vertere

transferre

transferre

traducere

transfundere20

b) vor allem im weiteren Sinn interpretari

interpretari

(interpretari et) exponere

exponere

(vertere et elucidare)



Damit zeigt sich eine weitestgehende Übereinstimmung dieser Terminologie beim Lehrer Notker und seinem Schüler Ekkehart. Was die Sprachbezeichnung für die lingua propria betrifft, finden sich ebenfalls Parallelen: Tab. 2: Sprachbezeichnungen für die lingua propria bei Notker III. und Ekkehart IV. Notker III.

Ekkehart IV.

teutonice, illud teutonicum ahd. uuir teutones chedên, -en

teutonice, in teutonico, quod Teutones [...] vocant,

(neben: ahd. in díutiscûn u.ä.)

Teutonum linguam

Dagegen verwendet Ekkehart als Sprachbezeichnung im Gegensatz zu Notker für das Deutsche in der Regel barbaricus, barbarice, quod barbari dicunt, quasi barbarus dicat, während barbarismus in Notkers Rhetorik eine fehlerhafte Wortgestalt oder Wendung meint. Dass Ekkehart mit barbaricus (auch carmen barbaricum im Prolog zum Galluslied) nichts Negatives meint, sondern eben nur ‚nicht-lateinisch, einheimisch‘, soweit es die Sprachinhalte betrifft, ist dabei besonders hervorzuheben.21 Eine besondere Annäherung an das Althochdeutsche lässt sich innerhalb Ekkeharts Galluslied-Übersetzung bei den Formen volkssprachlicher oder der Volkssprache angeglichener Namen erkennen. Wir nennen die folgenden Belege mit althochdeutschen oder ans Althochdeutsche angeglichenen Namen: 2. Str. A Chiliano socio (Gl. darüber: sic in teutonico canitur) C Chilian et Theodorus 7. Str. C Hiltibalt accurit (AB diacon; ferner AC Hiltibaldus versbedingt) 8. Str. A Hiltibalt percare (Anruf; BC Diacon)

|| 20 Vgl. oben Abschnitt 2, S. 3. 21 Vgl. Osterwalder 1982, 220f. und Mittellateinisches Wörterbuch I, 1362ff.

Althochdeutsche Annäherungen an Ekkehart IV. | 7

Vgl. in Ekkeharts Ad picturas claustri S. Galli: Hiltibalt (in Vers), diaconus Hiltibalt (Glosse) Vgl. Ekkehart, Casus Sancti Galli: Heribaldus, aber einmal Kap. 55: ut Heribolt post retulit Kap. 50: Chuono [...] Churzibolt [...] cognominatus

Althochdeutsche Namensformen erscheinen vor allem dort, wo sie nicht versbedingt gebunden sind, so auch in der Anrede. Man darf hier sicher direkte Spuren der verlorenen althochdeutschen Fassung Ratperts erblicken, was auch in der Glosse zu Chilian (mit anlautendem Ch- für das K- des irischen Namens) zum Ausdruck kommt.22 Über solche Spuren des Althochdeutschen hinaus lassen sich aus der lateinischen Umdichtung Ekkeharts keine sicheren Rückschlüsse auf Ratperts volkssprachliche Fassung ziehen, was auch der Vieldeutigkeit der damaligen Übersetzungsterminologie entspricht. Zusätzlich sei noch angemerkt, dass Ekkehart nach den St. Galler Quellen zwischen der gehobenen lateinischen Form Ekkehardus und der muttersprachlichen Umgangsform Ekkehart selbst deutlich unterschied.23 Überlieferungsgeschichtlich stellt sich beim Galluslied mit Bezug auf das Althochdeutsche überhaupt die Frage, inwieweit man von einer literarischen Sprachrezeption der lingua propria insgesamt sprechen darf. Eine Analyse besonders auf Grund der Handschriftenüberlieferung zeigt eine relativ breite Rezeption vor allem für Otfrids Evangelienharmonie und Notkers III. Psalter, was wir in Abb. 2 zusammenzufassen suchen.24 Insofern stellt Ekkeharts Rezeption des verlorenen althochdeutschen Gallusliedes keinen Sonderfall dar, freilich außerhalb seiner Umdichtung in lateinische Sprache, welche allerdings Rückschlüsse auf die Wertschätzung selbst literarischer Volkssprache, d.h. eben der Vorlage Ekkeharts, zulässt.

|| 22 Vgl. dagegen die Zweite Würzburger Markbeschreibung um 1000: chirihsahha sancti Kilianes. 23 Duft 1991b, 220. 24 Zu den Handschriften von Notkers Psalter vgl. Glauch 2013, 298f.

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Abb. 2: Literarische Sprachrezeption der lingua propria im Althochdeutschen

Althochdeutsche Annäherungen an Ekkehart IV. | 9

4 Ekkehart IV. als Beobachter besonderer Sprachsituationen Eine weitere Annäherung an das Althochdeutsche darf in Ekkeharts scharfsinnigen Beobachtungen besonderer, auch kontrastiver Sprachsituationen gesehen werden. Liest man Ekkeharts Casus Sancti Galli als Linguist, zumal als germanistischer Philologe, fallen einem neben den eigentlichen althochdeutschen oder auch romanischen Einschüben spontan gesprochener Sprache die nicht wenigen direkten oder indirekten Hinweise auf anvisierte Volkssprachen auf, meist auch im Verhältnis zuoder gegeneinander wie mit deren Bezug zum Latein. Ekkehart hat uns in den Casus eine reiche Fülle diesbezüglicher Beobachtungen hinterlassen, woraus sich auch Hinweise zur lingua propria in conversatione cottidiana ergeben. Der Hintergrund seines lebhaften Interesses für sprachliche Befunde ist natürlich auch in der geographischen Lage St. Gallens mit dessen Nähe zum rätoromanischen Sprachgebiet am Südrand des Althochdeutschen wie des Alemannischen begründet, was schon in der Lebensbeschreibung des heiligen Gallus mit dessen Flucht in das damals noch romanische St. Galler Hochrheintal eine Rolle spielt.25 In diesem Zusammenhang darf auf ein direktes, Ekkehart IV. zugeschriebenes Zeugnis in den Additamenta zu Notkers I. des Dichters Metrum de Vita S. Galli verwiesen werden, wo es im Anschluss an einige dem Gallus unterstellten spekulativen Namenserklärungen aus der Topographie um St. Gallen heißt: Apparet autem in his ipsis fluviorum et montium nominibus Romanos quondam ibi fuisse versatos.26 Ekkehart war demnach die ehemals romanische Grundlage der außerhalb jüngerer Rodungsgebiete – wie die des heremus der ursprünglichen Eremitensiedlung St. Gallen – befindlichen Siedlungsräume der Nordostschweiz durchaus bewusst. Althochdeutsches erscheint ausdrücklich oder wenigstens genannt an den folgenden Stellen in den Casus Sancti Galli, wobei auf bloße Namensformen verzichtet sei, auch wenn sie teilweise volkssprachlich angeglichen sind (so z.B. italienisch Como, Kap. 23, Chumo propians ‚sich Como nähernd‘, dagegen Kap. 37 cum [...] lacuque Cumano ‚Comersee‘, Grundform Cōmon, mit spätahd. ō > ū und alem. k-Verschiebung, ferner mit ahd. Dat. Sg. auf -o zu ahd. Chūma): (1) Kap. 19 Begrüßung des Konstanzer Bischofs Salomon III. vor der Burg Hohentwiel mit den althochdeutschen Worten Heil herro! Heil liebo!, d.h. ‚Gegrüßt seist du Herr, du Beliebter‘. Die althochdeutschen Wörter entsprechen genau den auch bei Notker III. ūberlieferten Formen hêrro ‚Herr, Gebieter‘, héil ‚sei gegrūßt‘, lîebo ‚Geliebter‘.

|| 25 Vgl. Hilty 2001. 26 Berschin 1980, 117.

10 | Stefan Sonderegger

(2) Kap. 41 wird die Erscheinung des Teufels in Hundegestalt geschildert, der auf Hiebe und Prügel durch Notker I. althochdeutsch schrie (barbarice clamans) Auwê mir wê (vociferavit). Ebenso fragte der herbeigeeilte Küster: Quisnam ille erat, inquit, qui awê vociferavit? Auch bei Notker III. sind ahd. áu ‚o, ach‘ sowie uuê ‚wehe‘ bezeugt. (3) Kap. 72 lässt Ekkehart den rätischen Prior und Abt von Pfäfers Enzelin althochdeutsch in rätischem Mund (Rhetianus et minus Teutonus) zum Gelächter der Umstehenden sagen: Cot ilf, erro [...] id est: Deus adiuvat, domine. Solche h-lose Formen finden sich auch in den rätischen Urkunden der St. Galler Überlieferung (z.B. signum Ungari für Hûngaeri, Hûngêri)27 und dies ist auch sonst ein Merkmal romanischer Sprecher bis heute, so auch in den romanisch beeinflussten ahd. Pariser Gesprächen. (4) Von Ekkehart I., Dekan, wird in der köstlichen Badeszene Kap. 88 erzählt, er habe den Badediener wie den welschen Betrüger, welcher sich lahm stellte, aber im heißen Bad entlarvt wurde, auf Deutsch und Romanisch (Teutonice et Romanice) gescholten. In der Szene geht es überdies um das Sprachspiel mit romanisch cald ‚warm, heiß‘ und dessen lautliche Ähnlichkeit im Ahd. (hier ohne Nennung ahd. kalt, bei Notker III. chalt) bei je gegensätzlicher Bedeutung. (5) Kap. 54 wird ein Kampfspiel (ludicrum) mit Messern geschildert, quod Teutones picchin vocant, d.h. das die Deutschen ‚schlagen, einhauen‘ nennen. Ekkeharts picchin entspricht nach seiner Graphematik normalahd. (ana-)bicken (Ahd. Wb. I, 1035f.), frühnhd. bicken (DWB 1, 1809) ‚schlagen, hacken, hauen‘. (6) Kap. 80 tadelt Ekkehart den Rat schlechter Lehrer, vom Deutschen ins Lateinische nach gleicher Wortstellung zu übersetzen: Videte, quomodo disertissime coram Teutone aliquo proloqui deceat, et eadem serie in Latinum verba vertite. Dieses Verfahren nennt Ekkehart decęptio ‚Täuschung, Irrtum‘ (Mlat. Wb. III, 78) und lässt dabei indirekt seines Lehrers Notker III. übersetzerische Profilierung durch Wortumstellung gegenüber der Vorlage aufleuchten. Wir müssen uns mit diesen Hinweisen, das Althochdeutsche direkt betreffend, einstweilen begnügen, ohne auf weitere Zeugnisse zum Romanischen und im Umkreis der Ottonen selbst indirekt zum Altsächsischen einzugehen. Dagegen darf noch auf den allgemeinen Befund in Sachen Volkssprache im damaligen Kloster St. Gallen hingewiesen werden, was erst durch eine bisher noch fehlende linguistisch-kontrastive Analyse der vielen geschilderten Situationen in den Casus vertieft werden könnte. Jedenfalls ergibt sich aus Ekkeharts IV. Casus indirekt, dass die lingua propria eine viel größere Rolle gespielt hat, als durch die schriftlich mittellateinische Überlieferung sichtbar wird. Wie hat man mit den in den Casus genannten cellerarii, den maiores, den Handwerkern im Umfeld, in Küche und Keller, mit den

|| 27 Sonderegger 1971, 159.

Althochdeutsche Annäherungen an Ekkehart IV. | 11

Bauern der Umgebung, zumal nach dem geschilderten Brand des Klosters im Jahr 937, mit den vielen Gästen und Almosenempfängern, mit den Soldaten vorbeiziehender Heere usw. gesprochen, wenn nicht althochdeutsch. Sindolf, Mönch des Klosters, versteht sich nicht aufs Latein. In Kap. 36 der Casus wird er als Lauscher entlarvt, so dass sich Tuotilo, wie es heißt, latialiter, also lateinisch an die Gefährten wandte, um eine Strafaktion in Gang zu setzen. Offenbar hat Sindolf auch althochdeutsche Gespräche seiner Mitmönche belauschen können. Später wird Sindolf Dekan der Werkleute (Kap. 35: a Salomone operariorum positus est decanus), und als solcher brauchte er die lingua propria und kaum das Lateinische. Gehobenes Latein konnten doch nur die wenigsten außerhalb der Klostergeistlichkeit. In der Schule durfte man auf das Latein pochen, vielleicht etwas weniger in der äußeren Schule, wo sich manch ein Weltlicher seine Bildung holte. Schließlich nutzte Ekkeharts Lehrer Notker III. als Erster das Medium der lingua propria als Mittel zum besseren Verständnis des Lateins selbst in der anspruchsvollen Klosterschule, wie wir aus seinem Brief an Bischof Hugo von Sitten wissen, worin es u.a. um Austausch von Buchmanuskripten geht.

5 Ekkehart IV. als althochdeutscher Glossator Ekkehart selbst ist auch als Glossator in die ahd. Sprachgeschichte eingegangen,28 unabhängig von seinem Anteil an der Glossierung von Notkers III. Psalter (dazu unten Kap. 6). Volkssprachliche Glossen stehen dabei in Minderzahl gegenüber seiner überreichen lateinischen Glossierung, insbesondere in seinen eigenen kunstvollen Dichtungen.29 Als Hauptbeispiele ahd. Glossen sind die folgenden Bereiche zu sehen:30 (1) Bezugsbereich der conversatio cottidiana, so besonders Speisen (auch Fischnamen), Lebensmittel.31 (2) Naturbeobachtung, z.B. perfracta tonitrua, ahd. tóniris chláccha ‚Donners Knall‘ (Liber Benedictionum/Egli 1909, 115), hier bezogen auf die Auferstehung Christi (vgl. Ahd. Wb. V, 224). (3) Mythische Volksvorstellungen, so: dissice [...] noctis et incubitores, ahd. scratin ‚Schratten, Nachtgespenster‘ (Liber Benedictionum/Egli 1909, 268). (4) Emphatisch gesprochene Sprache, z.B. Cod. Sang. 159: osianna salua ó. quasi dicas heilô. aut Uuillechomô.32

|| 28 Übersicht bei Bergmann/Tax 2009. 29 Edition in Liber Benedictionum/Egli 1909; vgl. auch Eisenhut 2009. 30 Vgl. auch Osterwalder 1985 mit etwas anderer Einteilung. 31 Dazu auch Borgolte 1990, 346ff. 32 Dazu Hildebrandt 1992.

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(5) Schulwissen, so zur Rhetorik in Cod. Sang. 621 (Orosius): Intentio et Depulsio. uerba Rhetorica sunt. id est Accusatio et Defensio. Sive Impulsio. Barbarice Mâlî unde Uuéri.33 (6) Vergegenwärtigung durch Glossierung latinisierter topographischer Namen des Umkreises von St. Gallen in althochdeutscher Sprache: so erscheint für den Fluss Steinach beim Kloster St. Gallen neben der latinisierten Form Petrosa die althochdeutsche Form Steinaha (Liber Benedictionum/Egli 1909, Register). Im Versgedicht Ad picturas claustri Sancti Galli wird der Fischteich unter dem Wasserfall der Steinach V. 49 laculos Gl. louffim, Vs. 114 (über den Fischfang) Stagnello Gl. in petrose louffin (Liber Benedictionum/Egli 1909, 373 und 373) näher beschrieben. Formal geht es um die Dat. Pl.-Form louffim, welche Ekkehart entsprechend der lateinischen Vorlage (Pl./Sg.) vom Dat. Sg. louffin abhebt. Entsprechend seiner i-haltigen Nebensilbengraphematik für den Kurzvokal e entspricht dies spätalthochdeutsch louffen, als lokativischer Dativ aufzufassen (vgl. Ahd. Wb. V, 1344). Jedenfalls liegt hier das dem später bezeugten schweizerdeutschen maskulinen Laufen, vor allem topographisches Lexem für Stellen unter einem Wasserfall oder an einer Stromschnelle, entsprechende Wort loufe (älter -o) m. vor (Schw. Id. 3, 1141f.) und nicht etwa ein feminines loufa, dessen lokativischer Dativ mit Langvokal selbst bei Ekkehart noch auf -ûn oder -ôn endigen müsste, da bei ihm wie bei Notker III. die gedeckten Langvokale erhalten bleiben (vgl. Carnes conflictas, Gl. kehacchot ‚gehacktes Fleisch‘, zu ahd. hackôn, Liber Benedictionum/Egli 1909, 293). Die Glosse louffim, louffin verdeutlicht über den hier gegebenen lateinischen Zusammenhang den topographischen Ortsbefund an der Gründungsstelle des Klosters St. Gallen, wie er schon in den verschiedenen Vitae Sancti Galli geschildert wird, wo ausdrücklich von einem Strudel, lat. gurges, nicht von einem ruhigen Teich die Rede ist. Wir nennen als Beispiele: – –

Vita vetustissima (Fischwunder): ad gurgitem (zweimal in der Edition von 2012, 33). Walahfrid Strabo, Vita sancti Galli (Ankunft an der Gründungsstelle): dum venissent ad rupem, de qua idem cum impetu descendens gurgitem fecit speciosum (in der Edition von 2012, 48); (Fischwunder) Deinde mittentes in gurgitem rete, coeperunt pisces (in der Edition von 2012, 52).

Demnach ist auch bei Ekkehart, der die Quellen so gut kannte, als Bedeutung von loufe m. ‚Strudel, Fließgewässer unter einem Wasserfall‘ anzusetzen, nicht einfach

|| 33 Dazu Eisenhut 2009, 325–328. Ähnlich in Notkers III. Consolatio-Bearbeitung, II,5: Intentio únde depulsio . díu máchônt ten statum. Ánauáng tes strîtes . héizet intentio . únde depulsio . dáz chît mâlizze . únde uuéri. (Notker der Deutsche, Consolatio/Tax 1986, 60,8–11).

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‚Teich‘, da die Stelle in den topographischen Gesamtzusammenhang der Gallusgeschichte weist. Dieser Bedeutung entspricht zudem der etymologische Befund von ahd. loufo m. (zu ahd. loufan ‚durchlaufen, durchfließen‘ Ahd. Wb. V, 1343).

6 Ekkehart IV. als Autor, zum mindesten als Anreger der Glossierung von Notkers III. Psalter Die umfangreiche Glossierung von Notkers III. Psalter, wie sie vollständig in Cod. Sang. 21 – mit weiteren Spuren in verschiedenen Handschriften – erhalten ist, wurde schon öfter mit Ekkehart IV. als bedeutendstem Schüler Notkers in Verbindung gebracht.34 Zunächst ist dabei festzustellen, dass diese Glossierung auf weite Strecken, so bis über Psalm 100 hinaus – danach keine oder nur noch spärliche Glossen – ein Ausgreifen zur eigentlichen Übersetzung ganzer Sätze oder deren Teile darstellt, wie sie in der Kommentierung der Psalmenverse durch Notker eben erläuternd eingestreut sind, vor allem aus den Evangelien des Neuen Testaments, dazu auch aus den Paulinischen Briefen, sowie gelegentlich aus dem Alten Testament.35 Allein schon der Blick auf eine Seite des Notker-Textes zeigt verschiedene Zitate und deren glossierende Übersetzung (Abb. 3). Damit erhalten wir über die vielen Einzelglossierungen lateinischer Reservate in Notkers Text gegen 300 Übersetzungen von Bibelstellen oder Teilen davon. Nur am Rande sei bemerkt, dass der Bibelvers Gen. 1,31 (auf Abb. 3 in Ps. 91,1) auch bei Ekkehart IV. in einem Gedicht (De duodecim columbis ecclesię, Liber Benedictionum/Egli 1909, 55) lateinisch als Glosse eingefügt ist, wie sich überhaupt die Verschränkung von Text und erläuternder Glossierung zwischen den Zeilen bei Ekkehart und Notkers Psalter – dort mehrheitlich lateinisch, hier fast ausnahmslos althochdeutsch – vergleichen lässt. Bei einer Analyse der Glossierungssprache ist zunächst auf die Nähe und Vergleichbarkeit zu Notkers Diktion, vor allem in stilistischer Hinsicht, hinzuweisen, was eine außergewöhnliche Sprachbeherrschung der lingua propria beweist. Wir müssen uns hier auf wenige Beispiele beschränken: (1) Große Variationsbreite nach Wort- wie Satzglossierung, d.h. Vermeidung stets gleich lautender Glossierungen. So wird z.B. das in den Bibelzitaten häufig lat. crucifige crucifige in Ps. 108,3 ahd. mit chriûzege in henche in wiedergegeben, an anderer Stelle Ps. 56,5 dagegen ahd. mit hâe ín. an daz chriûze stécch in, Ps. 17,48 hâ in hâ in, Ps. 57,7 dagegen hae ín négele ín an chriûze. Solche Beispiele, die oft auch auf Notkers Variationsbreite hinweisen, ließen sich beliebig vermehren. || 34 Besonders bei Sonderegger 1970, 113–123; vgl. die Zusammenfassung bei Bergmann/Tax 2009, 1627–1629 und 1633f. 35 Vgl. das Verzeichnis der zitierten Bibelstellen und anderer Zitate in Notker der Deutsche, Psalter/ Tax 1983, 577–585.

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Selbständig ist der Glossator beispielsweise in der Variation von lat. superbia: Ps. 30,24 úberuuân, Ps. 93,13 uberuuâni f., Ps. 19,7 uberuuânida (je nur Glosse), neben Ps. 18,14 ubermuot (Gl., bei Notker oft úbermûoti neben Adj. úbermûote, auch substantivisch)36; sodann in der Variation von resurrectio (bei Notker allerdings meistens als lateinisches Reservat unübersetzt; außer Symbolum apostolorum ursténdida): neben urstendida auch urstendi f., urstendi n., urstant m. (dazu urstanttach m. dies resurrectionis Ps. 23,1, irstandini f.). Beim Glossator zeigt sich die Tendenz, auch die bei Notker lateinisch verbliebenen Reservate christlicher Terminologie volkssprachlich wiederzugeben: so ascensio ‚Christi Himmelfahrt‘ mit ahd. ûffárt f. (wie schweizerdt. Uffart, Uffert) mit drei Belegen37 Akk. Sg., daneben (Nâh téro ascensione) ûfferte, (sîd sînero ascensione) ûfferte Dat. Sg. (Belege Ps. 63,10, Zusatz; Ps. 7,9; Ps. 46,9). (2) Nachbildung Notkerscher Satzbildung und Stilistik38 (2.1) Nachbildung des lat. A.c.i.: Ps. 146,8 Komm. Zitat 1 Kor. 7,7 Volo enim omnes vos esse sicut me ipsum, Gl. ih uuíle alle man uuesen also mih selben. (2.2) Neuprofilierung der Wortstellung, besonders durch Hervorhebung wichtiger nominaler Begriffe: Ps. 46,10 Komm. Zitat Mt. 8,10 Non inveni tantam fidem in israel, Gl. sélichiro geloubo ne-fánt ih under iúdon nieht. (2.3) Stilisierung durch Stabreimverwendung: z.B. Ps. 118,V. 161 Komm. ungulis torqueo, Gl. ih chrazzon sie mit chrâpfon ‚ich kratze (quäle) sie mit Krallen‘. (2.4) Sentenzartige Formulierung: Ps. 57,11 Komm. Zitat Prov. 21,11 Also der uuîso salomon chit. Stulto pereunte. sapiens astutior fit, Gl. Koûche ferlornemo uuizzet der uuîso. Das heißt: ‚Ist der Tor einmal vernichtet, gewinnt der Weise an Wissen‘. (2.5) Rückbezug auf Notkers lat. St. Galler Traktat (Notker der Deutsche, Die kleineren Schriften/King/Tax 1996, 48–104.: Ps. 64,1 Einl. Komm. Diû uuort hábent dísa constructionem, Gl.: lésa-ríhti (Cassiodor: ordo verborum; Notker: ordo in legendo). Diese Stelle erweist eine vertiefte Kenntnis des Notkerschen Werkes, wie sie für Ekkehart bezeugt ist. Näher an Ekkehart IV. als Glossator von Notkers Psalter gelangen wir bei der Betrachtung der verschiedenen Übereinstimmungen zwischen dem Wenigen, das uns Ekkehart an althochdeutschem Sprachmaterial hinterlassen hat und der Vielfalt der lingua propria in der Psalterglossierung. Bei aller Beschränkung auf wenige Beispiele im Einzelnen können folgende Erscheinungen namhaft gemacht werden:

|| 36 Vgl. Staiti 2000, 164. 37 Vgl. Köbler 1986, 175. 38 Zu den Eigenheiten Notkers vgl. die diesbezüglichen Aufsätze in Sonderegger 2002. Zu Notkers Sentenzen Sonderegger 2013.

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Abb. 3: Notkers III. Psalter mit Glossierung. St. Gallen, Stiftsbibl. Cod. 21, S. 345, Anfang mit Einleitung (erweitert nach Augustinus) von Ps. 92 und Kommentar (nach Augustinus, z.T. nach Cassiodor).

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(3) Übereinstimmungen in Graphematik und Lautsystem (3.1) Akzentsetzung: Im Allgemeinen folgt Ekkeharts Akzentsetzung dem Notkerschen Vorbild. Tendenzweise jedoch ergibt sich eine Annäherung Ekkeharts an die Psalterglossierung, dies in der gelegentlichen Längenbezeichnung bei Fremdnamen (vor allem bei Flexionsformen, z.B. Ekkehart Gen. Kaînis, Liber Benedictionum/Egli 1909, 37 V. 32, Psalterglossierung z.B. Ps. 32,1 Komm. Gen. DAVÎDIS, ferner häufiger Gen. adâmis, Dat. adâme), sodann in der Längenakzentverlegung bei den althochdeutschen Diphthongen auf die zweite Stelle (Ekkehart Cod. Sang. 621 Orosius cupas chuôffa, Psalterglossierung iê, uô). Wichtige Übereinstimmung zwischen Ekkehart und der Psalterglossierung ist die fast durchgängige i-Haltigkeit der Mittel- und in der Regel gedeckten Endsilben für abgeschwächte Vokale der Flexionssilben (vgl. Ekkehart tóniris chláccha ‚Pertracta tonitrua‘, Liber Benedictionum/Egli 1909, 115 Anm. 13, Psalmenglosse Ps. 80,1 Einl. tóniristac ‚Quinta sabbati‘). In beider Gebrauch erscheint gelegentlich spätalthochdeutsch sch für sc (Ekkehart Cod. Sang. 279 fâsche ‚emplastrum‘, Psalmenglosse Ps. 43,25 Komm. flêischlíchen ‚carnalibus‘). (3.2) Lautsystem: Spuren spätalthochdeutscher Auslautverhärtung am gleichen Wortmaterial zeigen Ekkeharts Personennamen auf -balt, -bolt (vgl. oben Abschnitt 3) und die Psalmenglosse Ps. 92,5 uuésent aber balt ‚sed confidite‘ Bibelzitat Joh. 16,33. Im Konsonantismus scheiden Ekkehart wie der Psalmenglossator klar zwischen Reibelaut ch und Affrikata cch (vgl. Ekkehart tóniris chláccha [wie oben], Psalmenglosse Ps. 16,13 irchicchendo ‚recuscitando, erquickend‘. (4) Übereinstimmungen im Bereich lexikalischer Erläuterungen. Noch aussagekräftiger erweisen sich die Übereinstimmungen im Bereich von Lexikon und Namenserklärungen, die wir wie folgt aufschlüsseln können:39 Tab. 3: Übereinstimmungen von Ekkehart IV. und dem Psalmenglossator im Bereich von Lexikon und Namenserklärungen Ekkehart IV.

Psalmenglossator

Cod. Sang. 159: Delicias zart uuort

Ps. 95,10 Komm.: paradysi zart-kártin (bei Notker nicht belegt)

Lib. Bened./Egli 1909, 352, V. 569 Gl.: Machabeus : bellator

Ps. 36,28 Komm.: mit machabeis uuîgmannin

|| 39 Zur Glossaturlexik vgl. z.T. Neese 1966.

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Ekkehart IV.

Psalmenglossator

Lib. Bened./Egli 1909, 144, V. 67 Gl.: Babylon civitas confusionis diaboli quidem (zu confusio ‚Schande, Schandfleck‘, Mlat. Wb. II, 1383f.)

Ps. 4,10 Zusatz: populus babylonię liût scándun. Ps. 64,2 Komm.: in babilonia scantpurch, Ps. 44,11 Zusatz: babylonię scantpurge (bei Notker nicht belegt)

Lib. Bened./Egli 1909, 61, V. 55 Gl. supplantator Iacob (‚Verräter, Betrüger‘)

Ps. 52,7 Komm.: uerus iacob uuârer únderscranch Ps. 83,9 Zusatz: iacob híndirscránchâre (bei Notker nicht belegt)

Lib. Bened./Egli 1909, 158, V. 30 Gl.: Saulus lupus Paulus humilis

Ps. 55,8 Komm. saulus lupus PAVLVS humilis.

Lib. Bened./Egli 1909, 83, V. 19 Gl.: Ille fluit retro: hinc nomen et antea tetro Gl.: a retro fluendo fuit diabolo diabolus retro fluens.40

In verschiedenen Psalmenglossierungen (vgl. Notker-Wortschatz 1955): diabolus niderfal niderrîs, widerfliez, widerflúz, rukkesturz, ‚der Rückwärts-Stürzende‘ (alle nicht bei Notker belegt)

Dazu kommen die vielen Stellen, wo die Kirche als Braut Christi bzw. Christus als Bräutigam der Kirche (ecclesia sponsa u.ä., Christus sponsus futurus, siehe Liber Benedictionum/Egli 1909, Register ecclesia, sponsus) bezeichnet wird, was in der Psalterglossierung sich als brûtsamenunga, brûtsámana f. ‚Kirche, Brautschaft (der Kirche)‘ u.ä. widerspiegelt, ohne dass wir hier die Belege einzeln würdigen können. Dem geographischen Interesse Ekkeharts in seinen verschiedenen Werken entspricht beim Psalmenglossator dessen Lust an ähnlichen Erklärungen, oft mit Verdeutschungen (z.B. zum Roten Meer Ps. 80,6 Zusatz; zum Mittelmeer Ps. 71,8 Zusatz und Ps. 79,10 Komm.; zu Ägypten Ps. 80,11 Komm. ûzzer ęgypto fínstir-lande). In seinem Gedicht In natale sancti Gregorii spricht Ekkehart von den zwei Lebensformen (Liber Benedictionum/Egli 1909, 66 V. 30 u. Gl. 1: Doctor vitarum fuerat factorque duarum, dazu Gl. activę et contemplativę). Diese beiden Lebensformen erscheinen auch in Ps. 32,2 Zusatz: Iéhent Góte án dero zíterun. diû actiuam lîb bezéichenet. Gl.: kuôt-uuerch-lîb. Dann folgt: An demo zên-sêitigen psalterio síngent ímo. daz contemplatiuam uitam bezêichenet. Gl.: ûf-scóuuo lîb. Beide Übersetzungen sind nur hier, nicht etwa bei Notker, belegt. Gemeinsamkeiten ergeben sich auch im Bezug der artes liberales, insbesondere des Triviums, zwischen Ekkehart und dem Psalmenglossator:

 

|| 40 Vgl. Sonderegger 1970, 123.

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Tab. 4: Bezüge zwischen Ekkehart IV. und dem Psalmenglossator im Bereich des Triviums

Ekkehart IV.

Psalmenglossator

grammatica u.ä. (viele Hinweise Lib. Bened./Egli 1909, Register)

Ps. 77,12 Zusatz: tanîs ciuitas [...] déro genitiuus grece ist taneos. Gl.: diû burg [...] sinic uuehsil in grammatiche. in chriêchiscun chit. Ps. 77,43 Komm.: taneos [...] nomen ciuitatis indeclinabile. Gl.: selbnamo dero burch unchêrlich in grammatiche. Ps. 77,43 Komm. Fortsetzung: so uuiêo andere chéden also dâr fóre stât. tanis nominatiuum. taneos genitiuum. Gl.: selbnámin sin. dannenbúrtigin sin. ‚nominativische Bedeutung, genitivische Bedeutung‘ (zum letzteren Ahd. Wb. II, 90, nur beim Glossator). Ps. 38,5 Komm. zur Zahl (zála f.) der Tage Gottes: Diu pręteritum nehábet noh futurum. Gl.: irgángen zît / chunftîg.

rhetorica u.ä. (viele Hinweise Lib. Bened./Egli 1909, Register; Eisenhut 2009, Register, s.v. Trivium und 323–349)

Ps. 9,5 Forts.: Et causam meam. Gl.: causa rethoricum uerbum est. Ps. 44,2 Komm. Daz ist iteratio (Gl. aberunga) des fórderen sinnes ‚Wiederholung‘41, so nur beim Glossator, was in Text und Glossierung noch erläutert wird.

(5) Übereinstimmungen im Bereich emphatischer Rede. Geradezu einzigartig sind die Entsprechungen zwischen Ekkehart und dem Psalmenglossator im Bereich expressiv-emphatischer Rede, die bisher nur von der einen Seite, Ekkeharts nämlich, gewürdigt worden ist, nachdem Hildebrandt 1992 den Nachweis einer angehängten Interjektion ô in den Grußformeln ahd. heilô und Uuillechomô für osianna nachgewiesen hat. Indessen kommt eine solche, um -ô erweiterte Form, auch beim Psalmenglossator vor: Tab. 5: Angehängte Interjektion ô bei Ekkehart IV. und beim Psalmenglossator Ekkehart IV.

Psalmenglossator

Cod. Sang. 159, pag. 72 (Glossen) ó domine. salua gratiose [etc.] Quasi barbarice dicat uuóla hêrro. hêile gnâdigo; osianna salua ó. quasi dicas heilô. aut Uuillechomô. (daneben bei Ekkehart auch heil).

Ps. 69,4 [...] qui dicunt mihi euge euge. [...] diê mir zuô chédent adulando. VVOLA VVOLA [Dazu Glosse:] slech-sprachondo uuola tuôsto uuola tuôsto ‚die mir schmeichelnd zureden: gut tust du, gut tust du!‘

|| 41 Vgl. Lausberg 1960, 731.

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Zweifellos liegt in der sonst althochdeutsch nicht belegten Form tuôsto eine emphatische Verdeutlichung der 2. Ps. Sg. vor, wenn dies auch in Anlehnung an das Subjektpronomen dû, gekürzt du, geschehen konnte, von dem aber kaum eine -ô-Form überliefert ist (doch vgl. Ahd. Wb. II, 705). Weitere Formen emphatischer Ausdrucksweise sind beim Psalmenglossator noch zum Beispiel: Ps. 105,33 Komm. (Bibelzitat): Nunquit de petra hac possumus producere aquam? Gl.: Iâ be Gote. uuir bríngen iû nû sâr ûzzir dísimo steîne uuazzir? Vgl. Ps. 100,4 Zitat: Deus, Gl. iâ Got [...] Ps. 82,8 Komm. utique non deo. sed sibi. Moab. ex patre. Gl.: so êgih kuôt. ni Gote. nube in sélben uzzer fátire. Das lateinische utique ‚jedenfalls, durchaus‘ wird hier durch die Beteuerungsformel althochdeutsch Sô eigi ih guot ‚so möge es mir gut zuteil werden‘ wiedergegeben. Bisweilen fügt der Glossator verdeutlichend daz meînit iz ‚das heißt es‘ Ps. 68,10 Komm. (für lat. Daz ist diû causa) oder ih meîno ‚nämlich, meiner Meinung nach‘ (z.B. Ps. 31,7 Pauluszitat), also mêin ich (Ps. 93,20, Komm.) im Text hinzu, was erweist, dass eine erklärende Persönlichkeit hinter diesem zusätzlichen althochdeutschen Text steht. Geradezu rhythmisches Sprachgefühl erweist der Glossator, offenbar auch verstechnisch geschult, in Ps. 35,10 Komm., wo es über Christus heißt: uuanda er ist lux lucis. unde lumen de lumine, was glossiert wird als liêht liêhtes klánz-liêht fone gelánzeliêhte (bei Notker nicht belegt). (6) Weiterverwendung und z.T. Vertiefung der vielfältigen Sprachbezüge zu Bildungs- wie Nachbarsprachen Ekkeharts IV. wie Notkers III. durch den Psalmenglossator. Was das Griechische betrifft,42 das auch bei Ekkehart wichtiger Bezugspunkt bleibt,43 sei neben den Sprachbezeichnungen44 auf die Verdeutschung von griechisch-lateinisch elemosina durch althochdeutsch armherzich geba ‚Almosen‘ hingewiesen, zweimal Ps. 16,1 Glosse (bei Notker andernorts nur geba f.), ferner auf das auch bei Ekkehart vorkommende anathema (Liber Benedictionum 1909, 325, V. 140; 371 V. 26), griechisch ἀνάθεμα ‚Verfluchung, Verwünschung‘ (auch ‚aufgestelltes Weihgeschenk‘, wie griechisch ἀνάθημα), welche Ps. 41,7 einmal für anathema, einmal für lateinisch abominationem (Mlat. Wb. I, 36) mit ahd. leîtsami bzw. lêitsami f. (auch bei Notker belegt) ‚Verfluchung, Verabscheuung, Greuel, Ekel‘ glossiert wird. Was die Sprachbezeichnungen für lateinisch und romanisch betrifft, stellt der Glossator Ps. 31,9 Komm. dem griechischen camus Gl. in chriêchiscun das lateinische curuum Gl. chrump (chît latine) Gl. in uuálescun gegenüber, während in Ps. 89,4 Komm. von den Romani gesagt wird: Romani chédent uulgariter Gl. in uuálescun (fure decies centum) Gl. zênstunt zênzech. (dêscent) Gl. .i. dûsint. usw. (mit weiteren Beobachtungen).

|| 42 Zu Notker vgl. Sonderegger 2008. 43 Liber Benedictionum/Egli 1909, Register und Eisenhut 2009, Sachregister, 491–496. 44 Sonderegger 2008, 520 und 525.

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Weitere Gemeinsamkeiten wären über die schon oben z.T. besprochenen Namenserklärungen und Namensverdeutschungen zu gewinnen, doch müssen auch hier wenige Hinweise genügen. Ganz im Sinne Ekkeharts dürfte die Glossierung von prouincia und regio in Ps. 106,2 Komm. sein: Glossierung: .s. sicut alemannia Text: Prouincia ist diu lántscaf. Glossierung: .s. sicut tiûregóuue Text: regio ist diû gebiûrda („Provinz, das ist das (verwaltete) Land, eine Region ist die Gegend, nämlich wie der Thurgau“)45

(7) Schlussfolgerung. All diese Übereinstimmungen, aber auch die Voraussetzungen und schulische Weitergabe von Notkers Psalter und dessen zusätzliche Wortund Satzglossierung, zumal in den althochdeutsch so trefflich übersetzten Bibelzitaten, ja der gesamte Bildungshintergrund des Glossators lassen mehr und mehr Ekkehart IV. in den Vordergrund treten, eine mittellateinisch wie auch althochdeutsch schreibende Sprachgestalt in der Nachfolge literarischer wie volkssprachlich geschulter Vorbilder im Kloster St. Gallen und seiner Bücherschätze, eine Persönlichkeit, wie sie unmittelbar nach Notker III. sonst am Ort nicht nachweisbar ist. Wer könnte für so ein bedeutendes Werk zumindest als Anreger und initiierender Mitgestalter denn in Frage kommen, außer Ekkehart IV., der ja nach Tax 1987 auch die Einleitung zu den Stufenpsalmen in Notkers Psalter verfasst hat. Wie sehr das Spätalthochdeutsche dabei nach Modi und Aspekten gemeistert ist, mag noch ein kurzer Blick auf die Übersetzung des Bibelzitats Joh. 9,39 in Ps. 80,5 erweisen, wo Jesus spricht: Ego in iudicium veni in hunc mundum, ut qui non vident videant, et qui vident cęci fiant. Der Glossator übersetzt:46 ih cham umbe urteil héra in uuerlt daz die-dir niêht nesêhint. kesêhen. unde dîe-dir gesêhent plint uuérden. Das heißt: ‚Ich kam um des Gerichtes willen hierher auf die Welt, damit diejenigen, welche nicht sehen, zum Sehen kommen mögen (keséhên, Konj./Opt. 1./3. Ps. Pl.), und diejenigen, welche im Besitz des Sehens sind, mögen blind werden (uuérdên, Konj./Opt. 1, 3. Ps. Pl.).‘ Es geht demnach um eine neue Einstufung des Linguisten, Sprachbeobachters selbst mit Bezug auf Situationen in der lingua propria oder Nachbarsprachen, wie Glossators und lateinischen wie althochdeutschen Erklärers, ja literarischen Gestalters Ekkehart IV., der neben gepflegtester Latinität auch für die ihm schulisch wie kommunikativ vertraute Volkssprache in bewusster Nachfolge Notkers III. wesent|| 45 Notker der Deutsche, Psalter/Tax 1983, 402, 20. Zu Ekkeharts Alemanniam vgl. Casus Sancti Galli/Haefele 1980, Kap. 51. Vgl. auch die Glosse zu Orosius in alemannia bei Eisenhut 2009, 356, Anm. 133. 46 Vgl. Sonderegger 2003, 350.

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lich Neues geschaffen hat. Die in diesem Band vereinigten Beiträge werden ein neues Bild des bedeutenden Historikers, Erzählers, Dichters wie Glossators und Übersetzers sowohl vom Lateinischen ins Deutsche wie umgekehrt in der Nachdichtung des althochdeutschen Galluslieds begründen, in welchem auch die lingua propria einen ihr gebührenden Stellenwert erhalten dürfte.

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Quarta Lingua Manchmal fügt sich beim Blick auf eine altbekannte Quelle ein Bild wie in einem Kaleidoskop, und längst vorliegende Informationen können in aller Vorsicht neu bewertet werden.1 Kaiserin Gisela, die „unentbehrliche Gefährtin“ Konrads II.,2 ließ sich in St. Gallen Notkers Psalter und die Übersetzung der Moralia Papst Gregors des Großen durch Notker den Deutschen abschreiben3; so zumindest berichtet es Ekkehart IV. von St. Gallen.4 Glaubt man dagegen Jodokus Metzler in seinem (noch unedierten aber gut informierten) Chronicon Monasterii S. Galli aus der Zeit um 1600,5 entführte Gisela die St. Galler Exemplare, so dass die Moralia heute verschollen sind und vom Psalter nur eine Schnellabschrift in St. Gallen verblieb.6 Nun, der Psalter passt zur Herrscherin, aber Gregors Moralia, auch wenn es sich wohl nicht um den ursprünglichen Text, sondern um eine der Kurzfassungen von Lathcen oder Taio gehandelt haben mag,7 die in der Edition8 sorgsam ausgewiesen sind? Trotz seines Umfanges fand das Werk – nicht bloß eine Interpretation, sondern auch eine ausufernde Meditation – im Mittelalter breites Interesse. Obwohl es schwierig zu lesen und nicht leicht zu verstehen ist, richtet es sich nach den Vorstellungen des Autors vor allem an Prediger, auf die immer wieder hingewiesen wird.

|| 1 Da es mir bei diesem kurzen Text vor allem darum ging, eine bestimmte Beobachtung zur Diskussion zu stellen, habe ich mich nicht weiters in der aktuellen germanistischen Literatur umgesehen. Diesbezüglich verdanke ich Stephan Müller wertvolle Anregungen, die vor allem in die Anmerkungen 3–6 und 33 eingingen und wofür herzlich gedankt sei. 2 Wipo, Gesta Chuonradi/Breslau 31915, Kap. 4, 25 necessaria comes; vgl. mehrfach Jäschke 1991, zum Zitat 188; Wolfram, 2000, 49–56, zum Zitat 55f. 3 Zu Notkers des Deutschen Übersetzungstätigkeit vgl. seinen Brief von 1015. Aktuelle Edition: Notker der Deutsche, Die kleineren Schriften/King/Tax (1996) 348f.; s. dazu auch den Kommentar bei Hellgardt 1979. Eine Übersetzung von Ehrismann 21932, 421f., zuletzt bei Borgolte 1990, 295–385, zit. 338f. Dort ist auch vom Psalter und von Hiob die Rede, der zu diesem Zeitpunkt erst zu einem Drittel gediehen war. Vermutlich ist Papst Gregors Buch und nicht der biblische Text gemeint. Das Unternehmen sollte dazu dienen, dass die Schüler in St. Gallen Zugang zu den Texten gewännen. Vgl. auch Berschin 1987, 37f. Grundsätzlich zu Notkers Tätigkeit nun Glauch 2013. 4 Nachtrag Ekkeharts zu seinen Rhythmi de Sancto Otmaro im Cod. Sang. 393, S. 155. Ediert, übersetzt und kommentiert durch Hellgardt 2010, 161–203, hier 165–191. 5 Nachweise zum Text der Chronik und weitere Literatur bei Hellgardt 2010, 174f. 6 Zusammenfassend dazu Müller 2004. 7 Lathcen, Laidcenn mac Báith Bandaig († 661) ist erhalten in einer Reichenauer Handschrift des 9. Jahrhunderts, Aug. perg. 134, jetzt Karlsruhe, Landesbibl. Taio war Bischof von Zaragossa im 7. Jahrhundert, wurde aber wenig rezipiert. 8 Gregor der Große, Moralia/Adriaen 1979. Das Werk umfasst in der modernen Edition 1811 Druckseiten. Zum Abschreiben bedurfte es gewöhnlich einer ganzen Schar von Schreibern, McKitterick 1992, 16f. Zum theologischen Gehalt vgl. Greschat 2005.

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Aber werden die Schüler, die Notker als primäres Publikum angibt,9 einmal Prediger sein? Nun, es gibt solche Aufgaben natürlich im Klosterverband auch. Es gibt darüber hinaus einen lebhaften Diskurs darüber, ob und wo Mönche predigen sollten. Ekkehart IV. von St. Gallen erzählt über einen Mitbruder, der nach einer Tätigkeit als magister scholarum zum Priester geweiht wurde und ein begnadeter Prediger wurde. Daher wurde er zum Leutpriester, publicus populo nostro presbyter, bestellt. Auf die weitgehende Exemption von der Diözese seien aber ‚heutzutage‘ die Bischöfe neidisch, und mit den Erzpriestern, die den Pfarrern zur Aufsicht bestellt waren, gab es offenbar Konflikte.10 Die lagen wohl weniger im geistlichen Bereich als in der Frage, wie Mönche mit den den pastoral tätigen Klerikern zustehenden Einkünften umgehen sollten bzw. ob sie überhaupt welche haben dürften.11 Wenn ja, entstand eben eine Konkurrenzsituation zu den Weltgeistlichen. Das Aufsichtsrecht der Bischöfe über die Predigt in ihrer Diözese war letztlich nicht zu umgehen.12 Sollten die Mönche ihre Gelehrsamkeit, die sie für Gebetsdienst und Kontemplation erworben haben, nicht doch nach außen hin nutzen?13 Papst Gregor sieht das in den Moralia so: 14 Quieti contemplantes sorbeant, quod occupati erga proximos loquentes refundant. […] Conversa mens nec sic pro amore Dei quietem diligat, ut curam proximi utilitatemque postponat. („In aller Ruhe sollten die kontemplativ Lebenden sich zu Gemüte führen, was sie aus ihrem Beruf gegenüber den Nächsten durch Gespräche zurückerstatten. […] Der bekehrte Sinn möge nicht derart aus Liebe zu Gott die Ruhe lieben, dass er die Sorge und den Nutzen für die Nächsten hintanstellt.“)

Vielfach wird erwartet, dass geistliche Personen aus der Ruhe der Kontemplation vúre gên ad fratrum utilitatem et ad publicam actionem,15 zum nutz der brüedere,

|| 9 Borgolte 1990, 339. 10 Casus Sancti Galli/Haefele 31991, 240f. 11 Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke/Winkler, Epistola 397, 774 (374) äußert Bedenken, wenn nur Pfründen geteilt werden und kein Dienst dahinter steht: Quo pacto ibi exigitis, ubi nihil exhibetis? Certe si ita vultis, baptizate nascentes, sepelite morientes, visitate iacentes, copulate nubentes, instruite rudes, corripite delinquentes, excommunicate contemnentes, absolvite resipiscentes, reconciliate paenitentes, et in medio denique ecclesiae aperiat os suum monachus, cuius officium est sedere et tacere. 12 Constable 1996, 227f. 13 Thomas von Aquin, Summa Theologica, II/2 187. 1: Es ist eine von höherer Seite übertragene Gewalt. 14 Gregor der Große, Moralia/Adriaen 1979, 6 XXXVII 56, 326. Beda Venerabilis, In cantica canticorum/ Hurst 1983, 3 V 1, 274: Quibus expletis sequitur vox ecclesiae desiderantis in abdito potius ac silentio contemplationis domino adhaerere quam per laborem praedicationis arma in se furorem que accendere pravorum. 15 Willirams Paraphrase des Hohen Liedes/Seemüller 1878, 15f. zu Cant 2, 14.

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worunter nicht nur die Mitbrüder und -schwestern, sondern die Mitchristen verstanden werden. So wird das stant ûf des Hohen Liedes (2, 10) vielfach so interpretiert, dass es durchaus auch für die kontemplativ Lebenden eine Verantwortung für ihre Nächsten gibt. Darin steckt auch eine Kritik an der Eremitage, wande sie suochent ir eigen vürtrefflîche mêre danne gotes willen.16 Würden sie dabei aber nicht ihre wichtigste Tugend, die simplicitas verlieren? Die ainvalt bedeutet nicht Dummheit, sondern meint, ausgerichtet zu sein auf das eine, wesentliche Ziel. Es kann auch einfach heißen ohne Trug. Maria, die Christi sapientia beherbergte und selbst sapientior cunctis sapientibus war, ist das Vorbild dieser Einfalt.17 Der Weg solle von der Lektüre über Nachdenken und Gebet zur Handlung führen, das Ziel aber sei die [...] contemplatio, in qua, quasi quodam precedentium fructu, in hac vita etiam que sit boni operis merces futura pregustatur. („[...] die Kontemplation, in welcher man, gewissermaßen als Frucht der vorausgehenden Stufen [sc. Studium und Belehrung, Meditation, Gebet und Handeln] schon in diesem Leben einen Vorgeschmack dessen hat, was im zukünftigen Leben der Lohn der guten Werke sein wird.“)18

Auf diese Weise ist also im klösterlichen Bereich eine interne und eine externe Wirkung solcher Übersetzungen abgesichert. Dass Ähnliches auch in der Weltkirche, ausgehend von den Bischöfen, gilt, ist selbstverständlich; vermutlich, weil kein Rechtfertigungszwang bestand, sind die direkten Belege nicht so zahlreich.19 Besser sind wir unterrichtet für England. Im Vorwort von König Alfreds († 899) Übersetzung der Regula Pastoralis Gregors des Großen heißt es: […] the Law was first composed in the Hebrew language, and thereafter, when the Greeks learned it, they translated it into their own language, and all other books as well. And so too the Romans, after they had mastered them, translated them all through learned interpreters into their own language. Similarly all the other Christian peoples turned some part of them into their own language. […] that we can all understand […].

Er schickt je ein Exemplar an seine Bischöfe – das also sind die ersten Propagatoren.20 Ihre Geistlichen sollen in Stand gesetzt werden, das ‚Licht‘ zu verbreiten. Das hatte – symbolisch – der König auch auf andere Weise in England gesichert: Indem er Lampen aus mit Wachs gefüllten Rinderhörnern erfand, die in den damals zugi|| 16 Das St. Trudperter Hohelied/Ohly 1998, 32, 9–17, 88 zur gleichen Stelle; vgl. 69, 1–20, 158; 70, 8– 18, 160 mit Kommentar 932f. 17 Godefridus Admontensis, Homiliae in festa totius anni 66/PL 174 (1854), 973. Vgl. Ijob 1, 1. Auch ein König kann sie besitzen, vgl. Kaiserchronik/Schröder 1895, V. 6138, 194. Boethius, Die Theologischen Traktate/Elsässer 1988, III 7, 36: Omne simplex esse suum et id quod est unum habet. 18 Hugo von St. Viktor, Didascalicon/Offergeld 1997, V 9, 109. 19 Vgl. künftig Diesenberger (in Vorbereitung). 20 Alfred the Great, Asser’s Life of King Alfred/Keynes/Lapidge 1983, 125f.

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gen Kirchen nicht gleich auslöschten.21 Trotz ihrer ‚barbarischen‘ Substanz ähneln sie antiken Leuchten, wie sie oft im Zusammenhang mit den klugen und törichten Jungfrauen abgebildet sind.22 Die Aktivitäten in England waren in St. Gallen sicher bekannt. Wir können sogar einen konkreten Kontakt ausmachen: Im Spätherbst 929 war Bischof Cenwald von Worcester im Reich und besuchte auch St. Gallen.23 In England herrschte Aethelstan († 939), ein Enkel Alfreds des Großen und der erste König, der als Oberkönig über das gesamte Gebiet herrschte, das heute England ausmacht, der erste rex Anglorum. Aethelstan wurde im St. Galler Verbrüderungsbuch eingetragen.24 Der Besuch Bischof Cenwalds wurde in St. Gallen aufgezeichnet.25 Er weilte vier Tage dort und spendete nicht wenig, im Namen des Königs, und bat um die Eintragungen in das Verbrüderungsbuch, die dann tatsächlich erfolgten. Eine Eintragung im Reichenauer Verbrüderungsbuch gibt es auch. Wahrscheinlich hatte er die Prinzessinnen Edgith († 946) und Edgiva begleitet, deren erstere Ottos I. Gemahlin wurde. Vermutlich suchte er auch Reliquien und Bücher – und brachte wohl auch welche mit. Wohl bekannt sind die Aussagen Otfrids von Weißenburg zu seinem Evangelienbuch. Es ist wohl kein Zufall, dass sowohl bei Gregors Moralia als auch hier hochstehende Damen ins Spiel kommen. Sie sind formell neben den geistlichen Vermittlern die zweiten Adressaten für lehrhafte und volkssprachige Texte.26 Otfrids Evangelienbuch ist durch Judith angeregt, [...] ut aliquantulum huius cantus lectionis ludum secularium vocum deleret, et in evangeliorum propria lingua occupati dulcedine, sonum inutilium rerum noverint declinare. („[...] damit der Vortrag dieses heiligen Textes ein wenig die Unterhaltung durch weltliche Lieder zurückdränge und die Menschen, gefesselt von der Süße der Evangelien in der eigenen Sprache, lernten, sich von Gesängen nichtsnutzigen Inhalts abzuwenden.“)

Die Heiden hätten die Taten ihrer Helden in ihrer Sprache gelobt, [...] nos vero, quamvis eadem fide eademque gratia instructi, divinorum verborum splendorem clarissimum proferre propria lingua pigrescere [...]. („[...] wir aber, obwohl vom gleichen Glauben und der gleichen Gnade erfüllt, seien zu träge, sagten sie, den herrlichen Glanz der göttlichen Worte in unserer eigenen Sprache erstrahlen zu lassen.“)

|| 21 Asser, De rebus gestis Afredi/Stevenson/Whitelock 21959, Kap. 104, 90f. Text auch online bei: http://www.thelatinlibrary.com/asserius.html. 22 Etwas in der Größe übertrieben auch im Speculum virginum/Seyfarth 2001, Bild 7 nach S. 436. 23 Keynes 1985, 143–201, Appendix 198–201. Freundlicher Hinweis von Anton Scharer. 24 St. Gallen, Stiftsarchiv Cod. C 3 B 55, S. 77. 25 Cod. Sang. 915, S. 5. Keynes 1985, 198f. 26 Vgl. auch Brunner 2011.

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Die Sprache aber sei barbaries, inculta und indisciplinabilis atque insueta, „barbarisch, ungebildet, undisziplinierbar und ungewohnt für die heiligen Inhalte“.27 Dann geht er auf die Buchstaben ein. Er formt eine eigene Sprachebene, die nicht dem täglichen Usus genau entspricht. Die Volkssprache war weder schriftlich fixiert noch rhetorisch geformt. Er erwähnt im Laufe des Textes ausdrücklich die drei heiligen Sprachen. Dennoch soll Gott auch in dieser gelobt werden.28 Die Widmung an Bischof Salomon von Konstanz ist deutsch. Er lobt zuerst die Feinheit der Sprache bei Griechen und Römern: Wánana sculun Fránkon éinon thaz biwánkon, ni sie in frénkisgon bigínnen, sie gotes lób singen? („Warum sollen die Franken als einzige zurückschrecken vor dem Versuch, in fränkischer Sprache Gottes Lob zu verkünden?“) (I 1,33f., S. 12) Thaz Krístes wort uns ságetun joh drúta sine uns zélitun, bifora lázu ih iz ál, so ịh bi réhtemen scal; Wánta sie iz gisúngun hárto in édilzungun, mit góte iz allaz ríatun, […] Ziu sculun Fránkon, so ich quád, zi thiu éinen wesan úngimah? („Was Christi Worte uns sagten und seine Jünger uns mitteilten, dem gebe ich den absoluten Vorrang, wie es recht und billig ist; denn sie haben ihre Botschaft in einer edlen Sprache vorgetragen; bei allem was sie sagten, war Gott ihr Ratgeber […] Warum sollen nun, wie gesagt, allein die Franken zu so etwas nicht fähig sein?“) (I 1,51–54, S. 12)

Die Franken könnten es ja sonst auch mit den anderen Völkern aufnehmen. Er will nun Gottes Lob singen in frénkisga zungun (V. 114,S. 14).29 Während supragentil lingua theodisca einfach die Volkssprache war, engt sich intragentil der Begriff auf die fränkische Sprache ein.30 Wir können also festhalten: Gisela wird die Moralia wohl an ihre Kapläne weitergegeben haben. Aber die weibliche Gönnerin spielt als Topos für die Legitimation der Übersetzungen, wie später allgemein für nicht akademische lehrhafte Literatur, eine gewisse Rolle. Bei Otfrid wird festgehalten, dass die fränkische Sprache eine édilzunga ist. Im neunten Jahrhundert sprach der Teufel noch Latein, nur der Kaiser

|| 27 Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch, Erdmann/Wolff 1973, Z. 4f. (lateinisches Widmungsschreiben an Liutbert von Mainz); Übersetzung nach der Auswahl von Vollmann-Profe 1987, 17. 28 Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch, Erdmann/Wolff 1973, I, 1, 116, 14. 29 Vgl. Haubrichs 2012, 23–38, bes. 35. Vgl. Haubrichs 2003a und Haubrichs 2003b. 30 Wolfram 2012, 39–59, bes. 43; dort auch zu Otfrid.

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wollte ihn auf Deutsch verjagen.31 Bei Ekkehart IV. schreit er barbarice „Auwê mir wê“32; auch ein Fortschritt. Ekkehart aber geht dann in seinen Anmerkungen noch einen kleinen, aber wesentlichen Schritt weiter: Notker III. habe die Moralia Gregors in quartam linguam übertragen;33 also wird jetzt die fränkische Sprache gleichwertig in die Reihe der heiligen Sprachen gestellt.34 Das entspricht dem politischen Selbstverständnis der Karolinger und Ottonen im Rahmen der Translatio bzw. Renovatio imperii.35 Der Gedanke erscheint bei Ekkehart nicht gerade an einer prominenten Stelle, wird aber wohl einem Diskurs in St. Gallen und vielleicht auch anderswo im Reich entsprochen haben. Er scheint später nicht mehr explizit auf. Aber er dokumentiert ein sehr hohes Anspruchsniveau und erklärt auch ein wenig das hohe Sprachniveau, das uns entgegentritt, sobald wir wieder in größerer Menge deutschsprachige christliche Texte überliefert haben.

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|| 31 Astronomus, Vita Hludovici imperatoris/Tremp, Kap. 64, 552; Geary 2012, 75–80, bes. 78. 32 Casus Sancti Galli/Haefele 31991, Kap. 41, 94. 33 Dies als Erläuterung zu vas [in] quartum, in die Notker den Hiob überführt habe. Auch in seinen (nur frühneuzeitlich erhaltenen) Versen zum Hiob schreibt Ekkehart über Notkers Bearbeitung: Gusta quam sapiant quia quarto vase nec obstant („Wie wird munden der Trank, im vierten Fasse nun schmackhaft.“). Text und Übersetzung bei Hellgardt 2010, 191. 34 Zur politischen Dimension vgl. auch Gregor von Tours, Historiarum libri decem/Giesebrecht/Buchner 1974, Buch VIII, Kap. 1, 160 über die Akklamation König Gunthramns 585 durch ‚Syrer‘ – die wohl griechisch sprachen –, Lateiner und Juden. 35 Vgl. auch Wolfram 2000, 356f.

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32 | Karl Brunner

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Ernst Hellgardt

Ekkehart IV. und Notkers Psalter im Cod. Sang. 21 1 Der Codex Sang. 21, ursprünglich aus dem schweizerischen Kloster Einsiedeln, als einzige Handschrift den Psalter Notkers III. vollständig enthaltend, aber geschrieben erst im zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts,1 ist sicherlich die schönste germanistische Handschrift dieser Zeit. Außer ihrer Ausstattung mit ganzseitigen Bildern und prachtvollen, unterschiedlich hierarchisierten Initialen an den Psalmanfängen und außer dem hohen kalligraphischen Niveau ihrer Schriften2 ist sie insbesondere die einzige Handschrift, welche das Drei-Schichten-Modell (Text – Übersetzung – Kommentar) der Technik, die Notker für seine zweisprachigen Bearbeitungen lateinischer Werke entwickelt hat, in der schriftlichen Gestaltung konsequent ins Bild bringt: die Psalmenverse in Rot, die Übersetzungstexte in Schwarz, die Auslegungstexte ebenfalls schwarz, aber mit Capitalis rustica beginnend. Damit sind nur die Hauptmerkmale der hier angewandten Schriftgestaltung genannt. Die Differenzierung geht in feinen Abstufungen noch sehr viel weiter, aber es würde zu weit führen, wenn ich darüber jetzt bis ins Einzelne berichten wollte.3 Unter den gedruckten Ausgaben bildet einzig die editio princeps in Schilters Thesaurus dieses für Notkers Arbeitstechnik adäquate Verfahren der Verschriftlichung typographisch einigermaßen angemessen ab.4 Dem Text des Cod. Sang. 21 wurde in der Forschung die Sigle R gegeben. Die Abstammung von R in der vorausliegenden Überlieferung hat der Forschung viel Kopfzerbrechen bereitet. Den heute gültigen Kenntnisstand zur Rekonstruktion der Überlieferungszusammenhänge bildet ein Stemma ab, in dem Albert L. Lloyd den seither geltenden Forschungsstand zusammengefasst hat:5

|| 1 Notker der Deutsche, Psalter/Tax 1979, XIX–XX. 2 „Die vollkommene Einheit von Schrift und Schmuck kann nur das Werk eines Meisters sein. […] Dem mit dem Schreiber identischen Miniator des Psalteriums Notkers haben wir uns erlaubt, den Namen Notkermeister zu geben, der diesen zu den besten Buchkünstlern seiner Zeit zählenden Mann würdigen soll. […] Die Variationen zoomorpher und vegetabilischer Elemente in der Initialornamentik des Meisters sind erstaunlich und standen im Vorlagenkreis in dieser Fülle wahrscheinlich nicht zur Verfügung.“ Zitat bei Notker der Deutsche, Psalter/Tax 1979, XX, Anm. 11 aus von Euw 1971. Diese leider unveröffentlichte Arbeit stand mir nicht zur Verfügung. 3 Vgl. ausführlich Notker der Deutsche, Psalter/Tax 1979, XXI–XXII; s. auch Hellgardt 1999, 135–139. 4 Schilter 1726. 5 Lloyd 1958.

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Abb. 1: Stemma zur Überlieferung von Notkers Psalter (nach Lloyd 1958, 68)

Ich betrachte hier nur die zu R führenden Linien. Demnach ist aus dem Archetyp, der verlorenen Originalhandschrift von Notkers Psalter, zunächst eine Kopie S geflossen, die nachträglich mit interlinearen deutschen Glossen zu den lateinischen Wendungen versehen wurde, die in den Kommentarteilen von Notkers Psalter laufend enthalten sind. Von S, also der nachträglich glossierten Handschrift, deren Notkertext dem Original am nächsten stand, hätte sich dann Ekkehart IV., der auch mindestens teilweise als Urheber der nachträglichen Glossen wahrscheinlich ist, eine vielleicht eigenhändig geschriebene Kopie als Privatexemplar beschafft, hier im Stemma als c bezeichnet. Diese Kopie hätte nun außer den nachträglichen Glossen von S weitere, zum Teil sehr auffällige Zusätze enthalten, für die Ekkehart als Autor in Frage kommt. Möglicherweise waren diese Zusätze aber bereits auf der vorausliegenden Stufe Bestandteil einer zweiten Bearbeitung von S, die nach dem Eintrag der erwähnten Glossen mit jenen teils auffälligen Zusätzen bereichert worden wäre, und für die Ekkehart als Autor in Frage kommt. Das Fragezeichen bei c soll anzeigen, dass es unsicher ist, ob diese Handschrift überhaupt je existierte. Am Ende der Entwicklung schließlich steht jedenfalls R, unser Cod. Sang. 21, ob nun direkt geflossen aus dem glossierten und mit weiteren Zusätzen versehenen S, oder

Ekkehart IV. und Notkers Psalter im Cod. Sang. 21 | 35

über c als Kopie Ekkeharts, die mit weiteren Zusätzen über die schon in S vorhandenen Glossen angereichert worden wäre. Von R wurden im 17. Jahrhundert noch mehrmals Abschriften genommen. Eine von ihnen, R*, wurde zur Grundlage der Erstedition in Schilters Thesaurus und ging danach verloren. Erhalten blieb nur R2, eine Abschrift von R*, die sich der dänische Gelehrte Friedrich Rostgaard gemacht hatte. Nach seinem Namen also die Sigle R. Im Zusammenhang der Tradition von Notkers Psalter erwähne ich nur nebenbei eine vielumrätselte überlieferungsgeschichtliche Anekdote, die mit meinem Thema eigentlich nicht viel zu tun hat, denn sie betrifft den Cod. Sang. 21 nur mittelbar.6 Aber immerhin erzählt Ekkehart diese Anekdote, und zwar in Glossen zu dem Erinnerungsgedicht an Notker, das in seinem Liber Benedictionum erhalten ist. Im Jahre 1027, also fünf Jahre nach Notkers Tod, hat die Kaiserin Gisela das Kloster St. Gallen besucht. Bei dieser Gelegenheit erbat sie sich den Psalter Notkers. Deshalb wurde er abgeschrieben, Gisela erhielt das Werk und nahm es mit fort, und in der Folge verschwand das Exemplar, das sie erhalten hatte, spurlos aus der Überlieferung, wenn nicht, wie Steinmeyer einmal vermutete, Notkers Psalter im sogenannten Wiener Notker über Mittelstufen von Giselas Handschrift abstammt. Die Frage ist allerdings, ob Gisela das Original erhielt, das im Stemma als Archetyp figuriert, oder jene Kopie, die man aus gegebenem Anlass herstellte und die in der Forschung mit dem Exemplar identifiziert wurde, das im Stemma die Sigle S erhielt und in St. Gallen zurückgeblieben wäre. Die Frage wäre nun, ob Gisela mit dem Archetyp ein nicht glossiertes und auch keine weiteren Zusätze enthaltendes Exemplar erhielt, oder das glossierte S ohne die Zusätze, die über die Glossen hinausgingen. Nur für c soll ausgeschlossen sein, dass es die Handschrift gewesen wäre, die Gisela erhielt.

2 Nun zu meinem eigentlichen Thema. Der Name Ekkeharts IV. wurde und wird in der Forschung an verstreuten Stellen immer wieder und unter vielerlei Gesichtspunkten im Zusammenhang mit dem Cod. Sang. 21 erwähnt. Die Handschrift ist zwar mindestens zwei bis drei Generationen jünger als Ekkehart, es ist aber die Frage, ob und wie weit Folgen und Spuren seines Wirkens, d.h. seiner Arbeit an Notkers Werk und seiner Auseinandersetzung mit ihm fassbar sind, die dann auf den Vorstufen S und eventuell c stattgefunden haben und ihre Spuren im Cod. Sang. 21 hinterlassen haben müssten. Mein Beitrag setzt sich kein weiteres Ziel, als die entsprechenden Bemerkungen der Forschung möglichst vollständig zusammen zu führen und sie zur Diskussion zu stellen. Dabei werde ich im Grundsatz von Gesichertem zu weniger Gesichertem fortschreiten und nach Möglichkeit die Kontexte wenigstens kurz be|| 6 Hierzu ausführlich mit Literaturhinweisen Hellgardt 2010, 173–180.

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leuchten, in denen die für die Fragestellung einschlägigen Stellen im Cod. Sang. 21 und anderen St. Galler Handschriften stehen, auch die Situierungen auf der jeweiligen handschriftlichen Seite. Den Anfang einer solchen Untersuchung muss aber auf jeden Fall das 87. Kapitel von Ekkeharts Casus Sancti Galli machen. Hier erzählt Ekkehart einen für das Verständnis dieses „köstlichsten Geschichtsbuchs des Mittelalters“ besonders typischen casus, der die seit der Mitte des 10. Jahrhunderts immer wieder umstrittene Regeltreue der St. Galler Mönche dem Geiste, nicht dem Buchstaben nach dokumentieren soll.7 Ekkehart erzählt diesen casus aus Anlass der Erhebung Burkharts I. zum Abt (958–971). Die Erhebung war im Jahre 958 auf Wunsch des Konvents und mit Zustimmung Kaiser Ottos I. zustande gekommen. Die Brüder nennen ihren geliebten Burkhart den Ungeborenen, weil er als Frühgeburt durch Kaiserschnitt zur Welt gekommen und deshalb zeitlebens von besonders zarter Gesundheit war. Burkhart I. also, eben mit Einverständnis Ottos des Großen in einer rührenden Szene zum Abt erhoben, darf, so erzählt Ekkehart hier, mit Erlaubnis, ja sogar auf Befehl Bischof Konrads I. von Konstanz (935–976) Fleisch essen – eigentlich ein eklatanter Verstoß gegen die Regel des heiligen Benedikt. Ekkehart kommentiert das, auf Ps. 105,29 und Ps. 44,9 anspielend so: Quod tamen pace novitatis monachorum, qui irritare (Ps. 105,29) nunc Deum solent in adinventionibus suis, ut multiplicetur in eis ruina, nequaquam dixerim. Quibus tamen licentius erat carnes crudas laniare, quam infanda plura, quę quasi religiosi supersticione quadam scismatica assolent, facere. Nimia est tamen, si auserim dicere, varietas vestis ęcclesię, qua scribitur induere, si utrosque, quos dicimus, suo quidem colore in eam dignatur, ut interdum solet, polimetare. („Ich erwähne dies freilich ganz und gar nicht im Einvernehmen mit den neuerungssüchtigen Mönchen, die jetzt fortwährend Gott erzürnen mit ihren willkürlichen Erfindungen [qui irritare nunc Deum solent in adinventionibus suis], auf daß umso schwerere Plage auf sie komme [ut multiplicetur in eis ruina, Ps. 105,29]. Es stünde ihnen, diesen Neuerern, aber doch [immer noch] besser an, Fleisch – sogar roh – zu zerreißen, als die vielen unaussprechlichen Dinge zu tun, die sie als vorgeblich fromme Leute in einer Art von schismatischem Irrglauben treiben. Allein, wenn ich die Behauptung wagen darf, so geht die Buntheit des Gewandes, in das sich die Kirche hüllt, – wie geschrieben steht, [nämlich in Ps. 44,9] –, doch allzu weit, wenn die Kirche sich herbeilässt, die beiden, die hier gemeint sind, jeden in seiner Farbe darein zu weben, oder, wie es die Kirche manchmal tut, [ihr Gewand] von außen bunt zu färben.“)8

Wohl darf sich die Kirche nach der Deutung von Ps. 44 manchmal, nämlich als Braut Jesu, in kostbare Gewänder kleiden, freilich in solche, die man spirituell zu verstehen hat. Aber alles hat seine Grenze! Auf keinen Fall darf die Kirche den äußerlich bunten Aufputz dulden, den die beiden hier Gemeinten ihr zumuten. Die

|| 7 Zu diesem Thema Hellgardt 2001. 8 Text und Übersetzung nach Casus Sancti Galli/Haefele 1980, 178f.

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beiden, hier ungenannt bleibenden, hätten also, so meint Ekkehart, den wohlbegründeten Fleischdispens Burkharts als einen schlimmen Regelverstoß verdammt, während sie doch selber viel schlimmere und ganz unbegründete Neuerungen propagierten, adinventiones, die Ekkehart unumwunden als schismatische Häresie brandmarkt, welche die Eintracht der Kirche gefährdet, Neuerungen, die offenbar etwas mit der Mönchstracht zu tun haben. Eine scharfe Invektive, die sich Ekkehart hier leistet, voller biblischer und voller Anspielungen auf aktuelle, aus seiner Sicht schlimme Missstände, Anspielungen, die für die klosterinternen Zeitgenossen unmissverständlich gewesen sein werden. Aber insofern hält sich Ekkehart doch vorsichtig bedeckt, als er die beiden verhassten Neuerer hier nicht beim Namen nennt.

3 Anders an weniger prominenter Stelle, wo sich Ekkehart kaum der Öffentlichkeit einer breiteren Leserschaft ausgesetzt sehen muss. Im Cod. Sang. 176, einer Handschrift mit Exzerpten des Eugippus aus Augustins Werken, steht eine autographe Randglosse Ekkeharts9 zu einer Stelle aus Augustins Liber de baptismo. Dort führt Augustin aus, dass ein von der Wunde der Idiolatrie Zerfleischter durch die Taufe und die Aufnahme in die Kirche geheilt werde. Aber an einer viel schlimmeren Wunde leiden die Schismatiker … Hierzu die Glosse Ekkeharts:

Abb. 2: St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 176, S. 298.10

|| 9 Zu den autographen Glossen Ekkeharts in St. Galler Handschriften Dümmler 1869. Ausführlich jetzt Eisenhut 2009 sowie die Artikel von Heidi Eisenhut, Philipp Lenz und Andreas Nievergelt im vorliegenden Band. 10 Diese und alle folgenden Abbildungen nach den online verfügbaren Digitalisaten St. Galler Handschriften im Portal Codices Electronici Sangallenses (CESG).

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Nota quod huiuscemodi et in alii〈s〉 rebus perturbatio grassatur, sicut nouitas Popponis S. Galli cellam in plerisque nobiliter sanam uulnerabat scismatis sui uulnere sęuo et dolendo. („Man bemerke, dass [heutzutage] eine Verirrung dieser Art auch in anderen Dingen wütet, so wie die Neuerung Poppos die in meister Hinsicht auf edle Weise gesunde Zelle des heiligen Gallus verwundete mit der wütenden und schmerzhaften Wunde seines Schismas.“)

Nicht nur die Eigenhändigkeit dieser Glosse, sondern auch der bis ins Einzelne gehende Bild- und Wortgebrauch Ekkeharts verbindet diese Glosse mit der angeführten Stelle aus den Casus Sancti Galli. Hier aber, an gleichsam verborgenem Ort, wo Diskretion und Vorsicht nicht vonnöten sind, wird ein Name genannt: Poppo, das ist der Reformabt des lothringischen Reformklosters Stablo!11

4 Der Name Poppos fällt nicht nur hier. Am Rande von S. 222 des Cod. Sang. 21 mit Notkers Bearbeitung des Psalters steht eine figurale und kalligraphisch in einer Art Urkundenschrift gestaltete lateinische Glosse:

Abb. 3: St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 21, S. 222.

Der Cod. Sang. 21 enthält insgesamt 14 solche, stets lateinische und nicht deutsch glossierte Ziermarginalien,12 deren pretiöse Gestaltung ich im Zusammenhang der ästhetisch insgesamt aufwändigen Ausstattung der Handschrift verstehe. Etliche, längst nicht alle dieser figuralen Randscholien des Cod. Sang. 21 werde ich im Fol|| 11 Zu Poppo von Stablo (978–1048) vgl. George 1994. 12 So auf den Seiten 12, 14, 16, 47, 48, 137, 178, 222, 223, 451, 501 (nicht figural), 513, 550, 559. Die Texte finden sich alle jeweils zur Stelle im zweiten Apparat bei Notker der Deutsche, Psalter/Tax 1979, 1981 und 1983. Besprochen werden hier die Marginalien auf S. 178, 222, 223, und 559; außerdem verwandte Einschaltungen im Cod. Sang. 21 auf S. 26, 27 und 575; ferner eine autographe Marginalie Ekkeharts im Cod. Sang. 176, S. 298.

Ekkehart IV. und Notkers Psalter im Cod. Sang. 21 | 39

genden kurz besprechen, nämlich jene, in denen ein Bezug zu Ekkehart IV. als Autor naheliegt. Das hier vorliegende kommentiert Notkers Auslegung zu Ps. 65,12: Posuisti tribulationes in dorso nostro . inposuisti homines super capita nostra. Dû luôde arbêite ûfen únseren rukke. Vuánnan chamen die? Daz dû ménniscen sáztost úber únseriû hoûbet. Peccatores liêze dû únser walten.

Abb. 4: St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 21, S. 222.

Das Scholion zum Stichwort peccatores bei Notker lautet syntaktisch in Fortführung von Notkers Kommentar als Ergänzungsglosse: „Sünder ließest du walten […].“ Nota. Poponiscos sci〈s〉maticos inter monachos . maxime inter sancti gallenses. („die Popponischen Schismatiker unter den Mönchen, besonders unter den Sankt Gallern.“)

Die peccatores, ein lateinisches ‚Restwort‘ in Notkers Haupttext der Handschrift, bezieht die Randglosse also in aktualisierender Deutung auf die popponischen Reformer. Für den Glossator sind es Schismatiker, die ganz besonders – maxime – unter den St. Gallern walten, Anhänger Poppos, welche die Eintracht im St. Galler Konvent spalten, und eben deswegen werden sie Schismatiker genannt. Peccatores, das lateinische ‚Restwort‘ in Notkers Kommentar, ist hier bezeichnenderweise nicht vom Notker-Glossator – zu ihm später – interlinear verdeutscht, wie es sonst die Regel in dieser Handschrift ist. Statt einer Verdeutschung des lateinischen Wortes steht die lateinische Randglosse. Als Autor der Marginalie ist nach allem, was ich schon ausgeführt habe, Ekkehart IV. höchst verdächtig. Denn im Kontext unserer Stelle begegnet – dieses Mal interlinear – noch eine weitere Glosse (vgl. Abb. 3): uuálaha de stabulov

Daz dû ménniscen sáztost úber únseriû hoûbet […].

40 | Ernst Hellgardt

Auch diese Glosse ist, zumindest zum Teil, lateinisch und kommentiert nicht ein lateinisches Restwort im Notkertext, sondern, was eher ungewöhnlich ist, Notkers deutsches Wort ménniscen teilweise auf lateinisch: de stabulov. Und die Glosse sagt, an welche Menschen der Glossator an dieser Stelle von Notkers Psalter dachte: es sind (teil)lateinisch die uuálaha de stabulov, die verächtlich so benannten „Welschen von Stablo“, dem Kloster, dessen Abt Poppo war, der verhasste Reformabt. Die beiden unmittelbar benachbarten Glossen stehen also inhaltlich im Zusammenhang von Ekkeharts Reform- und Schismatiker-Polemik. Und auch für die Identifizierung des Notker-Glossators mit Ekkehart kann die Kommentierungstechnik dieser Stelle Bedeutung haben. Ekkehart, wenn er denn mit dem Notker-Glossator gleichzusetzen ist, hätte hier auf der Vorlagenstufe des Cod. Sang. 21 einmal, statt das ‚Restwort‘ peccatores zu übersetzen, wie es sonst seine Gewohnheit ist, ursprünglich eine längere lateinische Glosse interlinear angebracht und dann für die Übersetzung des kommentierten Wortes keinen Platz mehr gehabt. Dieses längere lateinische Scholion setzt unser Schreiber an den Rand, die kürzere Glosse, die hier dem deutschen Wort ménniscen, nicht einem lateinischen Restwort Notkers zugedacht ist, kann interlinear stehen bleiben und wie die Marginalie lateinisch sein, hier sogar für das deutsche Bezugswort.

5 An der eingangs besprochenen Stelle der Casus spricht Ekkehart von zwei neuerungssüchtigen Mönchen. Wenn Poppo der eine ist, wer ist dann der andere? Das erfahren wir wiederum aus einer Passage, die nachträglich in den Kontext von Notkers Behandlung des Ps. 21 inseriert ist.

Abb. 5: St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 21, S. 67.

Ekkehart IV. und Notkers Psalter im Cod. Sang. 21 | 41

.s. minna

Si ist . diû uzer manigen ein máchot. Âne die uuâren heretici. unde sint hiûto Richarth Poppo . quorum uterque dicit se sanctum Benedictum quidem esse . et ideo regulam mutasse . et tunicam domini unam in duos Rokkos . et cetera. Neque enim iam nunc mirum est quod diabolus se promisit similem deo esse . cum et membra eius similia sapiant [...]. Der diê habet der ist kehalten. („Sie ist es, die aus Vielem Eines macht. Die hatten die Häretiker nicht. und (ohne sie) sind heute Poppo und Richard, die alle beide behaupten, der heilige Benedikt selbst zu sein und, dass darum die Regel anders geworden sei und sich die eine tunica domini zu duos rokkos gewandelt habe – und so weiter. Es ist ja auch heutzutage schon kein Wunder mehr, dass der Teufel verspricht, Gott ähnlich zu sein, wenn bloß seine Glieder ähnlich riechen […] Der die hat, der ist gerettet.“)

Dass der Einschub von unde sint bis similia sapiant nicht zum Text Notkers gehört,13 ergibt sich zum einen aus den Erwähnungen Richards und Poppos, die beide zu Notkers Zeit noch Unbekannte waren, nicht so zu Ekkeharts Zeit. Es ergibt sich zum andern daraus, dass das Scholion den syntaktischen Zusammenhang von Notkers Satz zerreißt. Wenn es in der hier behandelten Psalmstelle heißt: super uestem meam miserunt sortem („über mein Kleid warfen sie das Los“ [Ps. 21,19]),

so deutet Notker die vestis der Psalmstelle auf die tunica inconsutilis, den ungenähten Rock Jesu. Notker führt aus, dass man diese Tunika bei der Kreuzigung nicht wie die übrigen Kleidungsstücke unter die Häretiker habe verteilen können. Die übrigen Kleider, das sind in Notkers Deutung die sacramenta, unter denen er auch die libregela der Mönche, die Benediktsregel nennt. Vmbe mîna tunicam diê ih ze lîche truôc . diû óbenan nider geuuében uuas . uuúrfen sie lôz . uuer diê ganza háben solti. Vestimenta CHRISTI daz sint sîniu sacramenta . daz chit hêiligmêineda . also baptismum ist . unde missarum solemnia unde múnicho lib-regela. Diu mahten zetêilet uuerden inter hereticos. Aber ein uestimentum uuas daz caritatem bezeichenet . daz niêman netêilta . uuanda caritas ist ungetêilet. („Um meine Tunica, die ich am Leib getragen hatte, und die von oben bis unten durchgewebt war, losten sie, wer die in einem Stück bekommen sollte. Die Kleider Christi, das sind seine Sakramente, das heißt die „Heiliges meinenden Dinge“, wie es die Taufe ist und die Messfeiern und die Lebensregel der Mönche. Das alles konnte unter die Häretiker verteilt werden. Aber es gab ein Kleidungsstück, das die caritas bedeutet, das zerteilte niemand, denn die caritas ist unteilbar.“)

|| 13 Zur Zuschreibung u. a. dieses Einschubs an Ekkehart IV. Notker der Deutsche, Psalter/Tax 1979, XLIII und 67, Apparat zu 20–23.

42 | Ernst Hellgardt

Die Häretiker sind für den Scholiasten nun das Stichwort, zu dem er ein deutschlateinisches, bitterböses Scholion schreibt. Also: ohne die caritas waren die Häretiker. Das ist nun im Cod. Sang. 21 in den Notkerschen Satz so eingeschaltet, dass es dessen ursprünglich textlinguistisch konsistenten Zusammenhang zerstört. Sehr wahrscheinlich war das Scholion aber in der Vorlage marginal aufgezeichnet, mit Verweiszeichen zum Stichwort heretici. Das dürfte etwa so ausgesehen haben: * unde sint hiûto Richarth Poppo . quorum uterque dicit se sanctum Benedic-tum

quidem

esse . et ideo regulam mutas-se . et tunicam

domini

unam in duos Roc-

Vmbe mîna tunicam diê ih ze lîche truôc . diû óbenan nider geuuében uuas . uuúrfen

cos et cetera. Neque

sie lôz . uuer diê ganza háben solti. Vestimenta CHRISTI daz sint sîniu sacramenta .

enim iam nunc mi-

daz chit hêiligmêineda . also baptismum ist . unde missarum solemnia unde múnicho

rum est quod diabo-

lib-regela. Diu mahten zetêilet uuerden inter hereticos. * Aber ein uestimentum uuas

lus se promisit similem deo esse . cum membra eius similia sapiant.

daz caritatem bezeichenet . daz niêman netêilta . uuanda caritas ist ungetêilet. Si ist .s.minna

diû uzer manigen ein máchot. Âne die uuâren heretici. Der diê hábet der ist kehálten.

In diesem ehemaligen, hier in den Text geratenen Randscholion wird also zusammen mit dem uns bereits bekannten Poppo nun auch jener zweite beim Namen genannt, nach dem wir fragten: Richard. Beide, Richard14 und Poppo, sind als führende Persönlichkeiten der Ordensreform bekannt, Richard als Abt von St. Vanne in Nordostfrankreich und vormaliger Schüler Poppos. Es wird den beiden hier vorgeworfen, sich über die Autorität Benedikts und seine Regel erhoben und im Besonderen neue Kleidervorschriften für die Mönche eingeführt zu haben. Die Übereinstimmungen mit der Invektive in Ekkeharts Casus dürfen wohl als groß genug gelten, um Ekkehart als Autor des Scholions für sehr wahrscheinlich zu halten. Auch das hier gebrauchte, ‚anrüchig-ironische‘ Teufelslob stimmt ganz zu dem galligen Stil Ekkeharts als Polemiker. Wenn er diese Marginalie tatsächlich einst in ein Exemplar von Notkers Psalter eingetragen hat, so wird man dieses Exemplar wohl als eines verstehen, das nicht zur Verfügung für jedermann bereit lag, sondern das sich Ekkehart zu seinem sehr persönlichen Gebrauch hergerichtet hatte.15

|| 14 Zu Richard von St. Vanne (1004–1046) vgl. Bulst 1994. 15 In Notker der Deutsche, Psalter/Tax 1979, XLIII meint Tax in diesem Zusammenhang, dass die hier zugrunde liegende Handschrift „etwas anderes als ein normales Exemplar der St. Galler Klosterbibliothek war; Ekkehart hat es vielmehr behandelt und redigiert, als ob es sein eigen wäre.“

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Merkwürdig ist, dass das Scholion in der Handschrift nicht, wie offenbar ursprünglich vorgesehen, als Marginalie erscheint, entsprechend den beiden zuvor besprochenen. Zur Erklärung rechnet Tax mit der Möglichkeit, dass der Kopist ein Verweiszeichen als Einschaltzeichen missverstanden hat.16

6 Viel später und wieder am Rande der Handschrift erscheint eine weitere Marginalie, die für die Frage nach Ekkehart von Interesse ist. idest mit ypocrisi prêitero blátttûn uuîtero chúgelun et mille aliis quibus scismatici nostri irritauerunt deum in adinuentionibus suis. [vgl. Ps. 105,29] Maxime autem in duobus roccis . in quibus diabolus CRVCEM domini per eos delere conatur . ne ea sicut BENEDICTVS instituit monachi uestiantur. Nam cętera eorum abominanda . si non puras conscientias pollui timeremus abuntivs pandere habueramus . Nam et a crapula Gallis ingenita inchoantes . IN MISERANDA . INOPIA . NOS . RELIQVERANT. („das heißt: [wer den Leuten mehr gefallen will als Gott, der tut sich hervor] mit der Heuchelei breiter Tonsuren, weiter Kutten und tausend anderen Dingen, durch die unsere Schismatiker Gott mit ihren Erfindungen erzürnten, am meisten aber mit den zwei Chorröcken, mittels welcher der Teufel versucht, durch sie das Kreuz zu zerstören, damit die Mönche nicht so bekleidet werden, wie es Benedikt vorsah. Denn von dem übrigen ihrer verabscheuungswürdigen Dinge hätten wir mehr auszubreiten,17 wenn wir nicht fürchten würden, reine Gewissen dadurch zu beschmutzen. Denn ausgehend von der angeborenen Trunksucht der Gallier hatten sie uns in erbärmlichem Mangel zurückgelassen.“)

Abb. 6: St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 21, S. 223.

|| 16 Notker der Deutsche, Psalter/Tax 1979, XLIII, Anm. 75. 17 Tax (brieflich) erwägt, ob für habueramus als Emendation habuerimus anzusetzen sei. Ich übersetze dem entsprechend.

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Dies ist eine Stelle aus Notkers Bearbeitung von Ps. 65,15. Der Psalmist lobt Gott für seine Wohltaten und verspricht Dankesgaben. Markhafte Opfer will er darbringen, bis ins Innere seiner Knochen liebt er Gott. daz netuôt áber der . der diên liûten mêr lîchen uuíle* . danne Góte.

So kommentiert Notker, und hier hakt der Glossator bei uuíle mit Verweiszeichen auf seine oben zitierte und in Abb. 6 wiedergegebene Marginalie ein. Wieder ein äußerst giftiger Ausfall gegen ‚unsere Schismatiker‘ und wieder die bekannten Anschuldigungen in der Frage der Mönchskleidung und nun auch ihrer Haartracht. Dass wir auch hier Ekkehart erkennen dürfen, wird darüber hinaus nachdrücklich dadurch unterstrichen, dass hier die gleiche Psalmstelle zitiert wird, wie in der eingangs angeführten Stelle der Casus (s. S. 45): qui irritare nunc Deum solent in adinventionibus suis ut multiplicetur in eis ruina. (Ps. 105,29)

Verächtliche Nennung der ‚Welschen‘ haben wir schon in der (teil-)lateinischen Interlinearglosse zu Ps. 65 kennen gelernt. Der hier erhobene Vorwurf der angeborenen Trunksucht erinnert an die Schilderung des heuchlerischen Sandrat, der sich als Kölner Visitator in St. Gallen zu der Zeit von Abt Notker (971–975) unter anderem schwerster Zechvergehen schuldig gemacht hatte. Ekkehart erzählt am Ende seiner Casus ausführlich davon (Kap. 137–143).

7 Die bis hierher betrachteten, durchweg lateinischen, marginalen wie kontextuellen Scholien-Einträge des Cod. Sang. 21 zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch Bezüge auf Ekkeharts Casus und hier speziell auf seine Polemik gegen die Reformer mehr oder weniger unmittelbar die sehr persönliche redaktionelle Arbeit Ekkeharts an Notkers Psalter belegen können. Das Folgende wird eine Reihe von lateinischen Zusätzen zum Notker-Text behandeln, die man vor diesem Hintergrund mit einiger Wahrscheinlichkeit ebenfalls als Zutaten Ekkeharts ansehen kann, auch wenn der Bezug auf die verhasste Klosterreform dabei keine Rolle spielt. Da sind zunächst zwei kleine Gedichte in leoninischen Hexametern, dem für Ekkehart typischen Versmaß, das er vor allem im Liber Benedictionum anwendet.

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Abb. 7: St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 21, S. 26. QVINQUE MODOS MORBI DEVS ARBITER INTVLIT ORBI . IOB MARIȨ LAZARI PAVLI . FIT QVINTVS HERODI . INSONS IOB SORDET . MARIAM LEPRA DEBITA MORDET . LAUS LAZARVS DOMINO STIMVLVS CVSTODIA PAVLO . QVINTI SEVA MODI MORS ANTIOCHO VEL HERODI

Ich rücke hier dankbar die Übersetzung ein, die mir in liebenswerter Weise Kurt Smolak mit Anmerkungen zur Verfügung gestellt hat:18 Fünf Krankheitsarten brachte Gott, der Sittenrichter, in die Welt: jene des Hiob, der Maria, des Lazarus und des Paulus; die fünfte Art trifft Herodes: Hiob ist unschuldig unrein, Maria (von Magdala) quält verdientermaßen der Aussatz, Lazarus wird zur Ruhmestat für den Herrn, der Stachel (im Fleisch) zum Schutz für Paulus. Der grausame Tod der fünften Art ereilt Antiochos und Herodes. Anmerkungen: 1. Bei Maria muss es sich um eine Legende in der Nachfolge von Lk 8,2f. handeln, wo berichtet wird, dass Maria von Besessenheit durch Jesus geheilt wurde. – Als von Dämonen verursacht galt auch die Lepra; an der Evangelienstelle ist zuvor von der Heilung etlicher Frauen von bösen Geistern und Krankheiten (infirmitates) die Rede.

|| 18 E-Mail vom 19. November 2012.

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2. Lazarus ist wohl der von den Toten Auferweckte aus Joh 11, als dessen Schwester im Mittelalter u.a. auch Maria Magdalena galt (Identifikation mit der bei Johannes in dem Abschnitt erwähnten Maria); die Auferweckung des Lazarus betrachtet Jesus selbst als eine ihm vom Vater gewährte Ruhmestat (Joh 41f.). 3. Dass der ‚Stachel im Fleisch‘ von Paulus als eine Schutzmaßnahme Gottes verstanden wurde, geht aus 2 Kor 12,7 hervor (mit dem Satz virtus in infirmitate perficitur begründet Gott den ‚Stachel‘).

Dieses, das erste der beiden Gedichte, steht im Text des Titulus zu Ps. 8, mit seinen fünf abgesetzten Versen hervorgehoben durch Capitalis rustica. Solche Auszeichnung ist im Cod. Sang. 21 sonst nur Schriftzitaten vorbehalten. Der Text ist eingeschaltet zwischen den Psalmtitulus Pro occultis filii mit Notkers Kommentar dazu und den Beginn des Psalms selbst CONFITEBO TIBI DOMINE. Notker erläutert zum Psalmtitulus, dass Gott im gegenwärtigen Leben Strafen verfügt, deren verborgener Sinn erst am Ende der Zeiten offenbar werden wird. Die nun folgenden, abgesetzt geschriebenen Verse zählen fünf solcher ‚Krankheiten‘ auf, die jeweils für die Leiden einer exemplarischen biblischen Figur stehen. Das Gedichtchen ist schriftlich in den fortlaufenden Notkertext integriert und passt thematisch zu ihm. Dass es aber eine fremde Einschaltung ist, wird sogleich durch seine Versform mit ihrer entsprechenden Stilisierung und dann die Hervorhebung durch Capitalis rustica klar. Der lateinische Text ist nicht deutsch glossiert. Dass Ekkehart Autor des Stückes ist, konnte Tax durch den Hinweis auf Glossen im Liber Benedictionum sehr wahrscheinlich machen.19 Diese Glossen zählen dort nach dem gleichen Konzept wie das Gedicht fünf ‚Krankheiten‘ auf, wenn auch inhaltlich nicht ganz übereinstimmend. Falls es sich ursprünglich um einen Randeintrag gehandelt haben sollte, wäre seine Einfügung in den Text für den Fall verständlich, dass man auch hier Verwechslung eines Verweis- mit einem Einschaltzeichen annehmen wollte. Eher kommt aber wohl in Frage, dass Ekkehart selbst das Stück in den Kontext seines Exemplars von Notkers Psalter inseriert hat, weil es thematisch hier so schön passt.

8 Das zweite der beiden Gedichte ist wieder als figurale Marginalie in die Handschrift eingetragen, unter dem Titel Dictamen diei scolaris cuiusdam DEBITVM.

|| 19 Notker der Deutsche, Psalter/Tax 1979, s. Anmerkung im Apparat 1 zum Text mit Verweis auf Einleitung § 14, hier XLIII.

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Ausschnitt 1: Titel und Vers 1

Ausschnitt 3: Vers 4f.

Ausschnitt 2: Vers 2f.

Ausschnitt 4: Vers 6f.

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Ausschnitt 5: Vers 8f. Ausschnitt 6: Vers 10–12 Abb. 8: St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 21, S. 559. Dictamen diei scolaris cuiusdam DEBITVM Ignis succensus dominique furore repensvs . Incipit hic multis iam nunc in morte sepultis . Debitvs a dignis tamen hic extinguitur ignis . Si spes atque fides faueaNT quae maior et his est . Succensum . nullvs tollit . seu flumine mollit . Flebitur et sero tandem sub uindice uero . ; Missvs in externum numquam remeabit auernum . Qui flammas lacrimis privs has non tinxerit imis . Quam ueniat uindex scelerum seuervs et index . In uanum planget tuba quando nouissima clanget . Fletibus instemvs dominoque domvs uigilemvs . TEMPVS NESCIMVS VIGILES SVPER OMNIA SIMVS .

Auch hier stütze ich mich dankbar auf Übersetzung und Anmerkungen von Kurt Smolak: Gedicht eines Schülers: die Tagesaufgabe Das Feuer, entfacht und vom Zorn des Herrn verfügt, hat hier für viele, die schon jetzt im Tod begraben sind seinen Anfang. Das verdiente Feuer lässt sich dennoch hier von edlen Menschen löschen, sofern Hoffnung und Glaube und sie, die größer ist als diese, ihm hold sind, Einmal entzündet erträgt es keiner, es sei denn, es werde durch Fluss gelinder und zu spät weint man schließlich vor einem wahrhaftigen Richter. Wer in die ewige Unterwelt verbannt (geschickt) wurde, wird durch den Avernus nie zurückkehren.

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Wer diese Flammen nicht mit tief empfundenen Tränen benetzt, bevor der strenge Richter und Beweisführer der Vergehen ankommt, der wird vergeblich weinen, wenn die Posaune der Endzeit erschallt. Lasst uns immer nur weinen und wachsam den Hausherrn erwarten! Wir kennen den Zeitpunkt nicht – seien wir in höchstem Maß wachsam! Anmerkungen: V. 2 hier: im Diesseits – schon jetzt im Tod begraben sind: d.h. im Zustand der Todsünde leben V. 4 die größer ist als diese: nämlich die Liebe; der Vers paraphrasiert 1 Kor 13,13; die Formulierung ist fast identisch mit jener derselben Bibelstelle in Carm. var. II 2. Das Stück, Ekkeharts Brief an seinen Bruder Ymmo De lege dictamen ornandi, behandelt Smolak in diesem Band. Text auch MGH Poetae V, 1.2, 532f., hier V. 38: Te spes atque fides solident quae maior et his est. V. 5: erträgt es: nämlich das Feuer – durch Fluss: Tränenfluss V. 6 vor einem wahrhaftigen: vor einem wirklichen, sein Amt ernst nehmenden Richter V. 7 wird durch den Avernus: zurück durch den Avernus als Eingang in die Unterwelt V. 8: mit tief empfundenen Tränen: aus dem Innersten kommenden Tränen V. 8f.: Tmesis der Temporalkonjunktion prius/quam. V. 9: bezieht sich auf das Jüngste Gericht. V. 12 Zum Appell an die Wachsamkeit Mt 25,1–13 (Gleichnis von den törichten und den klugen Jungfrauen).

Der Text, den Notker hier bearbeitet, ist das Canticum Deuteronomii (Dtn 32,1–43), das sechste aus den Cantica im Anhang seines Psalters. Es ist ein langes Lob-, Strafund Mahngericht, das Moses am Ende seines Lebens als Vermächtnis an das Volk Israel verkündet. Moses rezitiert hier hauptsächlich eine gewaltige Zorn- und Eifersuchtsrede Gottes an sein abtrünniges Volk Israel, dem die schlimmsten Strafen angedroht werden. Notkers von der Vulgata leicht abweichender Text lautet zu Dtn. 32,22: Ignis succensus est in furore meo et ardebit usque ad inferni novissima devorabitque terram cum germine suo et montium fundamenta comburet [...]. (Dtn. 32,22) („In meinem Zorn ist Feuer entbrannt und es wird lodern bis in die unterste Totenwelt, verzehren die Erde und was auf ihr wächst und wird verbrennen die Fundamente der Berge […]).“

Vor dem Stichwort ignis succensus steht ein eingeritztes Verweiszeichen auf das Gedicht am Seitenrand, vor dem es ebenfalls eingeritzt ist; es ist der Entwurf zu einer kunstvollen Initiale.20 Die Verse greifen das biblische Stichwort ignis succensus auf und passen zu dieser Textstelle des Canticum Deuteronomii vollkommen. Sie nehmen das Motiv der höllischen Strafflammen auf, die nur durch die Flut der Reuetränen gelöscht werden können, den Sünder aber gnadenlos vernichten, der zu spät bereut. Das Gedicht ist hier – ähnlich wie sonst viele der Stücke in Ekkeharts Liber Benedictionum – betitelt als Dictamen diei scolaris cuiusdam debitum. Bei Ekkehart

|| 20 Notker der Deutsche, Psalter/Tax 1983, 559, Apparat 1 zu Z. 10 und Apparat 2.

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kommt die gleiche Motivik, besonders die von den Höllenflammen und der sie löschenden Flut von Reuetränen, des Öfteren vor, besonders – in entsprechender Abwandlung freilich – in Notkers Sterbegebet, das als Nachtrag im Liber Benedictionum (in der Handschrift auf S. 246) aufgezeichnet ist.21 Oratio. Versus S. Notkeri Obsecro peccator, tu cor compunge, creator. Tu mihi da multas lacrymis extinguere flammas Et misero dignos inferni perpetis ignes. Salvifica populum clemens extolleque cunctum, Et super ecclesiam tua sit benedictio sponsam. Rex, tibi per cuncta loca tempora, laus sit et ultra.

Für Übersetzung und Anmerkungen greife ich wieder mit Dank auf Anregungen von Kurt Smolak und hier auch von Stefan Weber zurück: Gebet. Verse des Hl. Notker Als Sünder flehe ich: Schöpfer, mache mein Herz reumütig, Gib mir, die vielen Flammen auszulöschen mit Tränen, Und, mir Armseligem, die verdienten Feuer ewiger Hölle! Gütiger, all dein Volk mache heil und führe es empor, Und über der Kirche, deiner Braut, sei dein Segen! Lob sei dir, König, durch alle Räume und Zeiten und drüber hinaus! Anmerkungen: V. 4 empor: in den Himmel V. 4 und 6: mache heil / salvifica: Anklang an Ps. 27,9: salvum fac populum tuum Domine et benedic hereditati tuae! Et rege eos et extolle illos usque in aeternum! Der Psalmvers ist auch in das Te Deum aufgenommen. V. 6: vgl. in Ekkeharts Liber Benedictionum V. 82, den Schlussvers der Confutatio Grammaticȩ: tempora per cuncta cui gloria laus sit et ultra (Glosse zu et ultra: in ęternum). „Der doch recht ungewöhnliche Versschluss, den Ekkehart selbst für erklärungsbedürftig hielt, zusammen mit den anderen übereinstimmenden Wörtern und der Position als jeweils letzter Vers spricht hier mit größter Wahrscheinlichkeit für eine Parallelstelle.“ (Freundlicher Hinweis von Stefan Weber, Erlangen).

Dieses dem sterbenden Notker in den Mund gelegte Reuegebet stimmt bis in wörtliche Entsprechungen zu den Versen unserer Marginalie. Vielleicht hat Ekkehart es zu einem Zeitpunkt verfasst, als es in seinem Liber Benedictionum keine Aufnahme mehr finden konnte und ihm dann einen Platz als Marginalie in seinem Exemplar des Notkerschen Psalters gegönnt. Es kann auch von einem anderen Schüler Notkers stammen. So ließe sich die Autorzuweisung scolaris cuiusdam verstehen.

|| 21 Edition: Wolf 1961, S. 155, Anm. 1; vgl. Hellgardt 2010, 196–197.

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Oder es ist die spätere Schulübung eines der Schüler Ekkeharts, der seine eigenen dictamina magistro debita ja als Vorbilder für seine eigenen St. Galler Schüler gedacht hat.

9 Noch eine der Ziermarginalien möchte ich, diesen Komplex abschließend, besprechen. Sie steht auf dem Rand von S. 178 der Handschrift. Es ist eine Bemerkung zu Ps. 50,11–13. Der Psalmist bittet Gott, sein Angesicht abzuwenden von seinen Sünden, ihm ein reines Herz zu schaffen und einen gerechten Geist (spiritum rectum) in seinen ‚Eingeweiden‘ (in visceribus meis). Notker übersetzt und kommentiert: (12) Cor mundum crea in me deus. Sképhe in mir reîne herza . so rêine . daz ich furder sus nemíssetuôie. Et s p i r i t um r e c t u m innova in uisceribus meis. Vnde g r é h t e n sin . ich mêino r a t i o n e m . den ich sundondo gechrumpta . den geniûuuo in mînen innâhtun […] (13) […] Et spiritum sanctum tuum non auferas a me. Vnde ne-némest dû mír dînen hêligen gêist keîst

fóresago

. daz chît s p i r i t u m p r o p h e t i ę . den ih fóre hábeta . so uuîeo ich ín nû ferscúldet hábe. […] (14) […] Et s p i r i t u p r i n c i p a l i confirma me. Unde geféstino mih mit démo fórderostên gêiste. Vuer ist der? âne Got . fóne demo ge-scríben ist . DEUS SPIRITUS EST […] („[12] Schaff mir ein reines Herz, so rein, dass ich künftig nicht derartig missetue. Und erneuere den s p i r i t u m r e c t u m in meinen Eingeweiden. Und den ‚geraden Sinn‘ – ich meine die r at i o, die ich sündigend krumm machte – den erneuere in meinen Eingeweiden. […] [13] […] Und deinen Geist der Voraussage nimm nicht von mir Geist

Voraussager

das heißt den s p i r i t u s p r o p h e t i a e, den ich früher hatte, wie ich ihn nun schuldhaft verloren habe – [14] Und festige mich durch den s p i r i t u s p r i n c i p a l i s . Und festige mich mit dem vordersten Geist. – Wer ist der außer Gott, von dem geschrieben ist GOTT IST GEIST.“)

Die Marginalie sagt dazu:

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Abb. 9: St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 21, S. 178. Nota tres spiritus . i . Rationis . Prophetię . et principalem. De his tribus interroga iudeum . et nescit responsum.

Die Randbemerkung, auf die im Haupttext kein Zeichen verweist, bezieht sich nicht auf ein spezielles Wort oder auf einen einzelnen Begriff des Textes, sondern auf die Zeilen 1–16 der Seite im Ganzen. Hier fallen die drei Begriffe spiritus rationis, prophetiae und principalis. Nur die beiden ersten haben eine Entsprechung im Psalmentext. Der spiritus prophetiae kommt erst durch Cassiodors Psalmenkommentar in Notkers Auslegung. Er meint auf der litteralen Ebene den Verlust der Prophetengabe, den David, der Psalmist, schuldhaft erlitten hat. Die Trias der Begriffe bildet einen exegetisch-theologischen Komplex,22 dessen Erläuterung eine kleine Abhandlung erfordern würde, die hier nicht geleistet werden kann. Es sei vorerst nur auf die Quellenangaben bei Tax im Notker Latinus verwiesen.23 Ich lese diese Randnote aber im Zusammenhang der Frage nach Ekkeharts Rolle im Bezug auf den Cod. Sang. 21 noch aus einem besonderen Grund. Sie fordert dazu auf, einen Juden nach den drei spiritus zu befragen und sagt voraus, der würde keine Antwort zu geben wissen: De his tribus interroga iudeum . et nescit responsum. Wer ist dieser Jude? Abraham nennt den Ort, an dem ihm das Opfer Isaacs erlassen wurde Jahwe-Jire (Gen 22,14). Die Vulgata hat hier Dominus videt als Übersetzung des Namens. Anscheinend kannte man in St. Gallen den originalen hebräischen Namen. In einem Dictamen magistro des Liber Benedictionum für Palmsonntag begegnet die Wendung de nomina cuncta videntis, und zu diesem Ausdruck kommentiert eine Glosse Ekke-

|| 22 Der Begriff des spiritus principalis spielt bis heute eine wichtige Rolle bei der Formulierung der Liturgie für die Bischofsweihe. Doch darauf ist im Kontext des Notkerschen Kommentars wohl kein Bezug genommen. 23 Notker Latinus, Psalter/Tax 1972 zu 178,2.9 und 178,8.

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harts die Erläuterung eines Juden, der ihm die Bedeutung des hebräischen Ausdrucks erklärt hat – usque huc ‚in seinem Horizont‘: in monte dominus videbit (1. Mos. 22,14) Hucusque Iudeus Hierosolimis natus, ut ait, et nutritus et in pascha post luminis adventum a patriarcho cum multis aliis baptizatus.24 („Soweit der aus Jerusalem gebürtige Jude, der (in St. Gallen?) aufgezogen und zu Ostern bei Sonnenaufgang vom Bischof mit vielen anderen (Juden?) getauft wurde.“)

Könnte es nicht sein, dass unsere Marginalie zu Notkers Bearbeitung von Psalm 50 dazu auffordert, diesen getauften Juden, den es offenbar in Ekkeharts Umgebung gab, nach dem Sinn der tres spiritus zu fragen, aber bloß um zu erweisen, dass er als Jude nur nach seinem Wissen – hucusque – antworten könne, mit dem er hier überfragt wäre: et nescit responsum. Den geistlichen Sinn der litteralen Namensetymologie vermag er nicht zu erfassen. Wenn dem so ist, hätten wir auch mit dieser Marginalie eine Spur von Ekkeharts Arbeit am Notkerschen Psalter. Warum? Usque huc Iudeus – das Stichwort mag überleiten zu einer weiteren Spur der Bearbeitung des Notkerschen Psalters durch Ekkehart. Die Wendung erscheint auch im Zusammenhang der ausführlichen Einleitung zu den Stufenpsalmen (Ps. 119[120]–133[134]).25 Da heißt es am Beginn: Eînen iudeum in sîna uuîs uuízzigen frâgeta man . uuannan cantica graduum so genámot uuârin.26

Und nachdem der Jude die Bezeichnung cantica graduum für die 15 ‚Stufenpsalmen‘ nach seinem Wissen erklärt hat, geht es achtungsvoll vor seiner litteralen Weisheit weiter: Vsque huc iudeus quantum ad corticem non credo SPERNENDVS.27

– jetzt aber mit einer spirituellen, im besonderen anagogischen Einleitung als Vorab-Erläuterung der Stufenpsalmen, einer Einleitung, die sich in aller Bescheidenheit vornimmt, die Sache aus christlichem Wissen nicht nur ad corticem, sondern darüber hinaus ad medullam zu erklären. Weiter brauche ich mich bei dieser Sache nicht aufzuhalten. Denn Petrus Tax hat in einer eigenen Arbeit ausführlich dargetan, dass man die Einleitung zu Notkers Stufenpsalmen (Ps. 119[120]–133[134]) sehr wahrscheinlich für eine Arbeit Ekkeharts ansehen darf.28 Auch hier handelt es sich um ein – dieses Mal sehr langes, den Umfang einer Randglosse bei weitem überschrei-

|| 24 Liber Benedictionum/Egli 1909, 99 (Nr. XVIII, Glosse zu V. 34). 25 Cod. Sang. 21, S. 480-484; Notker der Deutsche, Psalter/Tax 1983, 480–484. 26 Cod. Sang. 21, S. 480; Notker der Deutsche, Psalter/Tax 1983, 481, Z. 24–25. 27 Cod. Sang. 21, S. 481; Notker der Deutsche, Psalter/Tax 1983, 481, Z. 13–14. 28 Tax 1987.

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tendes – Inserat in den Text der Notkerschen Psalterbearbeitung, ein Inserat, das auch gleich durch die Form seiner Verschriftlichung erkennen lässt, dass es sich hier um einen Einschub handelt.29

10 Nun endlich komme ich, freilich nur ganz kurz, auf den vielleicht größten Komplex der Ekkehartschen Redaktion des Notkerschen Psalters im Cod. Sang. 21, auf den sog. Notker-Glossator. Ekkehart ist es, dem man bekanntlich die interlineare deutsche Glossierung und teilweise auch Kommentierung der vielen lateinischen ‚Restwörter‘ in den Kommentaren der sog. ‚Mischprosa‘ Notkers zuschreibt, die manchmal, wir sahen es, sogar Deutsches auf Lateinisch erläutert. Im Einzelnen wäre zu dieser Glossierung vieles zu sagen. Ich muss und kann mich hier aber vorerst auf das beziehen, was Petrus Tax sehr vorsichtig in der Einleitung zu seiner Ausgabe des Notkerschen Psalters gesagt hat.30 Endgültig geklärt ist demnach dieser vielschichtige Bearbeitungskomplex nicht, doch gibt es in der Forschung kaum ernsthafte Zweifel, dass die Redaktion Ekkeharts hier zumindest eine wichtige Rolle gespielt hat. Auch auf die viel optimistischere Darstellung von Stefan Sonderegger sei hier verwiesen.31 Für ihn steht die Identität des Notker-Glossators fest: Ekkehart. Sonderegger hat für diese Auffassung viele beeindruckende Argumente beigebracht, alles auf der Grundlage umfassender Materialsammlungen, deren versprochene, bisher noch unterbliebene Ausbreitung eine Freude für die Forschung zu Notkers Psalter und die Ekkehartforschung wäre.

|| 29 Dazu kann hier nur auf das Digitalisat des Cod. Sang. S. 480–483 in den CESG verwiesen werden. 30 Notker der Deutsche, Psalter/Tax 1979, XLII–XLIV. Dort heißt es zusammenfassend: „Ich kann nicht umhin, mir die Glossierung in Notkers Psalter eher als ein kompliziertes und vielschichtiges Endprodukt vorzustellen, an dem nicht nur Ekkehard und einige seiner St. Galler confratres, sondern auch viele andere Geister mitgearbeitet haben können. Ich denke auch, dass es jetzt noch möglich ist, zumindest einige dieser Schichten philologisch und bedeutungsmäßig zu unterscheiden und näher zu charakterisieren.“ 31 Sonderegger 1971, 113–123, besonders 123: „Mit diesen Hinweisen, die […] in einer größeren Arbeit später ausführlicher zur Darstellung kommen sollen, glauben wir die Verfasserschaft [der Glossen zu Notkers Psalter, Ergänzung E. H.] um vieles näher an Ekkehart IV. gebracht zu haben, als es bisher möglich schien.“

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11 Zum Schluss ist es aber wirklich ein ‚Muss‘, der Subscriptio des Cod. Sang. 21 zu gedenken.

Abb. 10: St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 21, S. 575. NOTKER . TEUTONICVS . DOMINO . FINITVR . AMICVS . GAVDEAT . ILLE . LOCIS . IN . PARADYSIACIS .

Dazu die metrische Übersetzung von Kurt Smolak: Notker der Deutsche, dem Herren ein Freund, er findet sein Ende. Freude sei ihm gegönnt an paradiesischem Ort!

Das Distichon ist zuerst an dieser Stelle überliefert, sehr viel später dann als Nachtrag im Liber Benedictionum nach einer Leerzeile zusammen mit dem sogenannten Gedicht über die drei Notkere und Notkers Sterbegebet. Als Autor aller drei Gedichte hat Alfred Wolf Ekkehart sehr wahrscheinlich gemacht.32 Im Zusammenhang mit dem Sterbegebet muss man den Zweizeiler als Fürbittgebet Ekkeharts für Notker verstehen und von diesem Zusammenhang her dürfte die Überlieferungsgemeinschaft von Sterbe- und Fürbittgebet ursprünglich sein. Die Sonderüberlieferung im Psalterkodex ist erst sekundär.33 Aber man kann in ihr – und besonders in ihr – ein weiteres Merkzeichen der redaktionellen Arbeit Ekkeharts am Psalter Notkers erkennen. Hier freilich, am Ende der Psalterhandschrift muss das Distichon nicht als Fürbittgebet Ekkeharts für Notkers Seelenheil genommen werden, möglich ist es wohl zumindest auch, Notker […] finitur […] auf die Vollendung der Psalterbearbeitung zu beziehen.

12 Ich fasse ganz kurz zusammen. Der Cod. Sang. 21 bietet eine beträchtliche Fülle von Indizien dafür, dass sich Ekkehart in vielerlei Hinsicht mit Notkers Psalter befasst

|| 32 Wolf 1961; vgl. zum Komplex dieser drei Gedichte Hellgardt 2010, 191–198. 33 Vgl. hierzu auch Notker der Deutsche, Psalter/Tax 1979, XLIII, Anm. 76.

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hat. Dies kann als in seiner Art einmaliges Zeugnis für die sehr persönliche, im Kontext mittelalterlicher Frömmigkeit private Lektüre eines mittelalterlichen Gelehrten und Mönchs gelten, wobei der Begriff ‚privat‘ fast im modernen Sinn aufgefasst werden könnte. Auf der Ebene schulwissenschaftlicher, nicht nur sprachlichphilologischer Gelehrsamkeit bewegen sich die deutschen Glossen des NotkerGlossators. An anderen Stellen werden wir in den rein lateinischen, nicht deutsch glossierten Randscholien auf Ekkeharts lateinische und theologische Gelehrsamkeit, auf seine persönlichen Empfindlichkeiten und Liebhabereien aufmerksam, wieder anders auch, wenn er seinen eigenen Gedichten oder denen seiner Schüler bzw. ehemaligen Mitschüler in der Form der Randglosse oder sogar des Inserats in den Notkerschen Text einen Platz in Notkers Psalter einräumt – immer anonym. Dort, wo Ekkehart das Thema der Mönchsreform berührt, ist die Sache geradezu politisch brisant. Sie trägt besonders hier eine deutlich persönliche und vor allem gefährlich polemische Note. Dies konnte sicherlich nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschehen. Daraus ergäbe sich der Schluss, dass Ekkehart ein nur durch ihn und für ihn persönlich annotiertes Exemplar des Notkerschen Psalters besaß, etwa eine Kopie des Notkerschen Originals, die er eigenhändig für sich hergestellt hatte und von der dann der Cod. Sang. 21 abstammt. Aber zum Schluss sei doch immerhin die Frage nicht unterdrückt: Was und wie vieles ist innerhalb dieses Fragenkomplexes immer noch reine Spekulation?

Literaturverzeichnis Bulst, Neithard (1994), Richard von St. Vanne, in: Lexikon des Mittelalters 7, 819f. CESG – Codices Electronici Sangallenses. http://www.cesg.unifr.ch/de/index.htm (29. Mail 2015). Casus Sancti Galli (1980), Ekkehardi IV. Casus Sancti Galli. Editionis textum paravit Hans F. Haefele. Ekkehard IV., St. Galler Klostergeschichten. Übersetzt von Hans F. Haefele (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe X), Darmstadt. Dümmler, Ernst (1869), Ekkehart IV. von St. Gallen, in: ZfdA 14, 1–73. Eisenhut, Heidi (2009): Die Glossen Ekkeharts IV. von St. Gallen im Codex Sangallensis 621 (Monasterium Sancti Galli 4), St. Gallen. Euw, Anton von (1971), Die Buchmalerei im Kloster Einsiedeln vom 10. bis 12. Jahrhundert. Habil.Schrift, Köln. George, Philippe (1994), Poppo von Stablo, in: Lexikon des Mittelalters 7, 102. Hellgardt, Ernst (1999), ‚Singet dem Herrn ein neues Lied.‘ Die Bearbeitung des 95. [96.] Psalms bei Notker dem Deutschen. In: Horst Brunner u.a. (Hgg.), helle döne schöne. Versammelte Arbeiten zur älteren und neueren deutschen Literatur. Fs. Wolfgang Walliczek (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 668), Göppingen, 131–166. Hellgardt (2001), Die casus Sancti Galli Ekkeharts IV. und die Benediktsregel. In: Beate Kellner u.a. (Hgg.), Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur (Mikrokosmos 64), Frankfurt a. M. u.a., 27–50.

Ekkehart IV. und Notkers Psalter im Cod. Sang. 21 | 57

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Stephan Müller

Deutsche Glossen in Notkers Psalter Oder: Was können wir über die Identität des Notker-Glossators sagen? Die Überlieferung von Notkers Psalter ist eine verworrene und verwirrende Geschichte, die so richtig kompliziert schon im Jahr 1027 wurde. Nach dem 26. Juli und wohl vor dem 19. August1 dieses Jahres nämlich besuchte Kaiserin Gisela mit ihrem Sohn Heinrich St. Gallen. Das war ein wichtiger Besuch der in diesem Jahr gekrönten Kaiserin – und sie verließ St. Gallen nicht mit leeren Händen. Laut Ekkehart IV. erbat sie sich Abschriften von Notkers Psalter und der Bearbeitung des Hiob2 durch Notker den Deutschen.3 Der oft sehr gut informierte Jodokus Metzler (1574–1639) dagegen berichtet, dass Gisela nicht Kopien der Handschriften anfertigen ließ, sondern – sehr zum Missfallen der Mönche – die Originale entführt habe (asportaverit). Nur vom Psalter, so Metzler, wurde eine Schnellabschrift genommen, an deren Rand zu lesen stehe, dass sie quatuordecim intra dies fuisse descriptum4, also in nur 14 Tagen angefertigt worden sei. Das passt so gut zum mutmaßlichen Zeitraum des kaiserlichen Besuchs, dass ich geneigt bin dem noch nicht edierten Chronicon Sancti Galli des Jodokus Metzler Glauben zu schenken.5 Man kann nur darüber spekulieren, warum Ekkehart das nicht berichtet: Er war wohl selbst zu dieser Zeit in Mainz und es ist vielleicht keine abwegige Spekulation, dass er selbst die Kaiserin auf die Schriften Notkers aufmerksam machte. Die einzige autobiographische Passage seiner Casus erzählt im 66. Kapitel immerhin von einem Zusammentreffen mit Gisela. Wie dem auch sei – und gerne würde ich weiter über das Verhältnis von Ekkehart und Gisela spekulieren –, es scheint sich gut ins Bild zu fügen, dass der Hiob verschollen ist und vom Psalter keine alte und gute St. Galler Haushandschrift existiert, obwohl dies bei den restlichen Großwerken Notkers der Fall ist.6 Der heute in St. Gallen liegende Codex 21 (= Sigle R) jedenfalls stammt aus || 1 Am 26. Juli urkundet Gisela in Ulm. Im August in Basel, wobei ihr Gatte Konrad II. danach am 19. August in Zürich urkundet. 2 Es ist nicht klar, wie diese Bearbeitung aussah und was ihr genau zu Grunde lag. Sie ist spurlos verschwunden. 3 So in den Erläuterungen zu seinem Liber Benedictionum. Ausführlich zur Stelle Hellgardt 2010, 173–180. 4 Nach der ungedruckten Chronik Metzlers zitiert bei Scherrer 1875, 10. 5 Müller 2005. Dieser Beitrag wurde vor der Drucklegung stark gekürzt, dabei ist die Argumentation, die auf der Dauer des Aufenthalts der Kaiserin aufbaut, weggefallen, aber wenigstens weist der Artikel keine größeren sachlichen Fehler auf, die sich in der deutschen Übersetzung von 2007 ohne mein Zutun und Wissen eingeschlichen haben. 6 Grundsätzlich zu Notker und der Überlieferung seiner Werke (mit Literatur) Glauch 2013.

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dem 12. Jahrhundert und dürfte in Einsiedeln geschrieben worden sein.7 Die ominöse Handschrift S, die uns aus humanistischen Zeugnissen zum Teil noch bekannt ist,8 könnte die Schnellabschrift des Psalters gewesen sein, an der man in St. Gallen weiter arbeitete, wobei Ekkehart selbst natürlich ein heißer Kandidat für die Benutzung von S ist.9 All das ist nicht unwichtig, wenn man über die Glossierung von Notkers Psalter grundsätzlich nachdenken will. Forschungsstand ist nämlich, dass ausgehend von S lateinisch und althochdeutsch glossiert wurde. Die sekundären Spuren von S nämlich weisen Glossen auf, wobei die lateinische Glossierung und Kommentierung sich dann in mehreren Handschriften nachweisen lasse, während sich die deutschen Glossen nur in R, also im Sangallensis 21 wiederfinden.10 Für diese deutschen Glossen setzt man in der Forschung oft eine Autorinstanz an, die man einfach ‚Notker-Glossator‘ nennt und nicht selten wird diese Autorinstanz mit Ekkehart IV. gleichgesetzt. Hinter dieser Gleichsetzung steckt die Vorstellung, dass Ekkehart nach seiner Rückkehr nach St. Gallen die Handschrift wohl für seinen Unterricht benutzte und dabei das Werk seines Lehrers zu Ende brachte. In Notkers Psalter blieben ja viele lateinische Wörter und Wendungen stehen, die durch die Glossen nun ebenfalls übersetzt wurden. Daneben finden sich auch lateinische Zusätze und Kommentare, die in R teilweise am Rand, teilweise in den Text integriert zu finden sind. Der Schüler vollendet das Werk seines Lehrers: Eine schöne Geschichte, die aber vielleicht doch zu schön ist, um wahr zu sein. Nun sind Autorzuweisungen immer eine spekulative Angelegenheit. Wie bei allen Spekulationen entscheidet über deren Geltung, wie plausibel sie gemacht werden und – das ist entscheidend – wer das tut. Im Falle der Identität von NotkerGlossator und Ekkehart hat das zuletzt Stefan Sonderegger unternommen und zweifelsohne eine Reihe starker Argumente vorgebracht.11 Dass Ekkehart IV. irgendwie mit der Glossierung von Notkers Psalter im Sangallensis 21 zu tun haben könnte, das ist sicher nicht unmöglich, ja sogar wahrscheinlich. Auch wenn Ekkehart IV. nur in Ausnahmefällen ein teutonicus war,12 könnte es doch eine Wiederaufnahme der Arbeit des Lehrers gewesen sein, wenn er weiter an Notkers Psalter arbeitete, und das wiederum ginge gut zusammen mit dem eingangs geäußerten Verdacht, Ekkehart könnte hinter dem Interesse der Kaiserin Gisela für

|| 7 http://www.paderborner-repertorium.de/15459 (11.4.2014) mit Literatur und Link auf das Digitalisat. 8 Eine Zusammenstellung dieser Zeugnisse bei Hertenstein 1975. 9 Zur Überlieferung des Psalters Lloyd 1958 und die Einleitung von Notker der Deutsche, Psalter/ Tax 1979. 10 Vergleiche dazu das Stemma bei Lloyd 1958, 68 sowie den Beitrag von Ernst Hellgardt in diesem Band. 11 Sonderegger 1970, 113–123. 12 Zum Werk Ekkeharts Haefele 1980. Darüber hinaus Eisenhut 2009, 419–424, die Handschriften mit Einträgen Ekkeharts zusammenstellt.

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den Psalter stecken. Kurz: Man wird nicht grundsätzlich ausschließen können, dass Ekkehart IV. mit den Glossen in Zusammenhang steht.13 Aber sicher ist eben auch, dass nicht alle Glossen auf Ekkehart zurückgehen können, wie Wolf14 wahrscheinlich gemacht und Tax15 meines Erachtens eindeutig gezeigt hat. Auch wenn dabei mit lateinischen Glossen argumentiert wird, legt allein schon diese Tatsache sehr nahe, dass wir es nicht mit nur einem Autor der Glossen zu tun haben, sondern dass die Sache „vielschichtig“ und „kompliziert“ ist, und dass „auch andere Geister“ mitgewirkt haben werden – um es mit den Worten von Tax zu sagen.16 R ist eben eine späte Handschrift und auch in R wurde an der Glossierung weitergearbeitet, warum sollte das nicht auch bereits in den Vorstufen von R der Fall gewesen sein? Ausgehend von dieser ersten Relativierung der Geschlossenheit der Glossierung in R will ich die Frage aufwerfen, ob uns die überlieferten Glossierungen zu Notkers Psalter erlauben, sinnvoll nach der Identität des Notker-Glossators zu fragen. Es wird sich dabei zeigen, dass die Vorstellung vom Verhältnis der überlieferten Glossierungen untereinander weit weniger klar ist, als man das gerne hätte. Dies gilt schon für die Annahme, dass S die Grundlage von R gewesen sei, denn so eindeutig ist das Verhältnis von R und den erhaltenen Spuren von S nicht. Es gibt doch deutliche Abweichungen und ich will dabei drei Fallgruppen unterscheiden und Beispiele dafür geben: (1) Es fehlen Glossen in R, die in den Spuren von S belegt sind: In Ps. 2,11 fehlt die Glosse chuninga zu reges in R.17 In Ps. 59,6 und 107,7 steht in S die Übersetzung gitriwin zu fideles: In R fehlt das lateinische Wort bei Ps. 59,6 ganz und bei Ps. 107,7 ist es nicht glossiert.18 (2) Es gibt Glossen in R, die in den Spuren von S nicht auftauchen: In R wird bei Ps. 91,13 iusti mit diê rehtin glossiert, in S fehlt diese Glosse.19 (3) Die Glossen von R unterscheiden sich von den Glossen, die für S belegt sind: Das wäre bei der Glossierung in Ps. 50,6 der Fall, wenn Marquard Freher, einer der humanistischen Gewährsmänner, Fone wuochere tinero wambo schreibt und in R glossiert ist: von den vchir buchis.20 Wobei hier problematisch ist, dass die Glosse in R von späterer Hand ist. Wenn sie in S also nicht gestanden haben mag, dann würde der Fall für die Gruppe (2) stehen.

|| 13 Eine ausgewogene Darstellung des Forschungsstandes bieten Bergmann/Tax 2009. 14 Wolf 1961. 15 Notker der Deutsche, Psalter/Tax 1979, XLII, Anm. 71. 16 Notker der Deutsche, Psalter/Tax 1979, XLIV. 17 Hertenstein 1975, 230. 18 Hertenstein 1975, 234 und 261. 19 Hertenstein 1975, 237. 20 Hertenstein 1975, 257.

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Die Quellenbasis ist natürlich sehr spärlich und in den humanistischen Zeugnissen von S könnte in die mögliche Vorlage eingegriffen worden sein.21 Doch das erklärt nicht so eindeutige Befunde wie jene, dass S im Unterschied zu R „regelrechter akzentuiert gewesen sein“ muss „und einen älteren Lautstand“ repräsentiert.22 R und S weichen also nicht nur bei der Glossierung voneinander ab, und auf dieser Grundlage ist es methodisch waghalsig, von einem (wenn auch indirekten)23 abschriftlichen Zusammenhang zwischen R und S auszugehen. Es ist etwas passiert zwischen S und R und das ist sicher weder verwunderlich noch ein philologisches Problem, aber es entzieht der Ekkehart-These doch den Boden: Je mehr man die Glossierung als einen dynamischen Prozess begreifen muss, umso mehr werden ‚Autorspekulationen‘ hinfällig oder zumindest komplexer. Bei der Diskussion der Glossierung von Notkers Psalter hat man auch davon abgesehen, R in Bezug zu anderen Glossierungen von Notkers Psalter zu setzen, was mir aber ebenso problematisch zu sein scheint, wie von einer direkten Beziehung zwischen R und S auszugehen, zumal damit einmal mehr die Sonderrolle von R zum Ausgangspunkt der Argumentation gemacht wird. Im Gegenteil scheint mir gerade der Blick auf parallele Überlieferungsträger der Glossierungen für die Frage nach dem Notker-Glossator sehr hilfreich zu sein. Umfangreicher glossiert sind von den Handschriften des Notkerschen Psalters nur R24 und das Fragment X, das heute mit der Signatur Cod. 905/0 in der Stiftsbibliothek von St. Paul im Lavanttal liegt und das aus dem 1. Viertel des 13. Jahrhunderts stammt.25 Nur noch das Fragment A hat eine deutsche Randglosse [Aschaffenburg, Stiftsbibl., Ms. Pap. 24, Bl. 398 (= hinterer Spiegel)]26, wobei es sich hier eher um eine Gebetsanweisung zum Psalter handelt, die in R nicht belegt ist und mit Notkers Arbeit wenig zu tun hat. Für die glossierten Zeugnisse R und X gilt nun mit Lloyd,27 dass die Glossen in R in keinem stemmatologischen Zusammenhang mit den anderen glossierten Handschriften von Notkers Psalter stehen. Schon Sonderegger hat hier berechtigte Bedenken angemeldet, wenngleich ohne diese näher auszubreiten,28 und Tax konkre-

|| 21 Gerade den Glossen hat aber Freher offensichtlich ein dezidiertes Interesse entgegengebracht und macht wiederholt darauf aufmerksam, wenn etwas interlineariter steht, z.B. Hertenstein 1975, 259 zu Ps. 85,7. 22 Hertenstein 1975, 198. 23 Notker der Deutsche, Psalter/Tax 1979, XLI. 24 Ich gehe dabei davon aus, dass die Abschrift, die Simon de la Loubère 1675 in St. Gallen nahm, eine direkte Abschrift von R ist. Siehe dazu Lloyd 1958, 65–68. 25 Unter http://www.mr1314.de/1403 (11.4.2014) der Eintrag im Marburger Repertorium mit weiterer Literatur. 26 Unter http://www.paderborner-repertorium.de/2389 (11.4.2014) der Eintrag im Paderborner Repertorium mit weiterer Literatur. 27 Lloyd 1958, 37. 28 Sonderegger 1970, 119.

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tisiert die Zweifel dann weiter, nur dass ihm in der Einleitung der Psalterausgabe der nötige Raum für eine weiter ausholende Argumentation fehlte.29 Auch ich kann hier keine grundlegende Untersuchung zu den Glossen in X vorlegen, die sicher lohnend wäre. Für das Problem der Identität des Notker-Glossators ist die Frage nach der Abhängigkeit von X und R aber von einigem Belang, denn die Unterschiede zwischen X und R würden dann genau jene Überlieferungsdynamik bezeugen, die Fragen nach einem ‚Autor‘ der Glossierung konterkariert. Beobachten wir deshalb das Verhältnis von X und R nochmals jenseits der herrschenden Meinung: Sicher ist, dass es viele Koinzidenzen gibt. Vergleicht man darüber hinaus X und R mit der Fassung des Wiener Notker30 (W), dann sieht man, dass die Übersetzung der lateinischen Residuen bei Notker offensichtlich keine großen Spielräume ließ, will man nicht von einem direkten Vorlagenzusammenhang von R und W ausgehen. Und selbst wenn man das tut, dann zeigt sich, dass ein Vergleich von R, X und W für jene Passage, in der R und X parallel glossiert sind, auch einen Zusammenhang zwischen X und W nahelegen könnte. Um das zu demonstrieren, hier ein tabellarischer Vergleich der Glossen von R und X sowie, soweit vorhanden, die Entsprechungen in W.31 Tab. 1: Gegenüberstellung der Glossierung in R, X mit den Entsprechungen in W Glosse in R

Glosse in X

Übersetzung in W

17,37 caritas



mínne32

minna

17,39 carnales delectationes

flêiscliche luste

vleiscliche gelvste

die lihnamenlichun

uox fidelium

stimma kelôubígero –

uox christi



div stimme

diu stimma christi

legibus

êon

eon

–33

17,40 uirtute temperantiae



tvgent der mæzekeite tugendo dero

persona

stál

nemmede

Lateinisches Wort in Notkers Ps.-Bearbeitung (nach R)

giridi diu stimma dero gloubegen

messameungi […]34

|| 29 Notker der Deutsche, Psalter/Tax 1979, XLII. 30 Ich zitiere nach der Ausgabe von Firchow 2009. 31 R und X nach Notker der Deutsche, Psalter/Tax 1979, 53–56 und 53a–56a. W nach Firchow 2009, 53–56. 32 X hat hier nach der Übersetzung von Et non sunt infirmata uestigia mea eine Ergänzung, die in R und W gleichermaßen fehlt und die glossiert ist: da von . wan caritas (Glosse: mínne) mít ín ist. 33 In W fehlt auch das legibus, der Text ist also defekt. 34 Eckige Klammern markieren Passagen, die als ganze in W nicht vorkommen.

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Lateinisches Wort in Notkers

Glosse in R

Glosse in X

Übersetzung in W

Ps.-Bearbeitung (nach R) PATIENTIĘ

kedulte

gedvlti

[…]

FORTITUDINE

starchi

sterki

[…]

vbe wir ín lazin

[…]

17,44 SI DIMISERIVS EVM VIVVM . Lazen uuir in hína SĘCVLVM POST ILLVM IBIT

lebenten so uólget lebenden div werlt gat ímo alliû de uuerlt. alliv nah ime.35

gentium

tiêto

diete

diete

ecclesię



kristenheiti



17,45 gentium



die::36

diete

corporaliter

in lîchamin

liblich

lihnamolichen

iudeis



íudon

iuden

17,46 noua gratia

niúuuen genâdon

nivver gna

gnada niuuon

in ueteri testamento noui

in déro altun êo

ín der altvn :iv vnge.

[…]

17,46 ueteris testamenti

dero niúuun

der nivvun



der altvn :::ˊgvnge

[daz meino ich in dero alten e]

adinuentionibus

urdâhtin

vrdahtunge

[…]

DE NON LOTIS MANIBVS DE

fóne hánt-tuálon

vnde vone hænde

[…]

CAL〈I〉CIBVS

fóne fázuuéscon

vngwæschenen vnde

17,48 populos gentium

liûte diêto

daz l::ˊt der diete

CRVCIFIGE CRVZIFIGE

há in há in

crivcege ín crivcege ín […]

von hant-vazzen die diete

17,49 in passione

martro

an der mar er

resurrectione

urstendido

an der vrstende

in dero urstendidi

17,50 in populis christianis

undir Christanen

in christanen livten

in den christene

liûtin

in dero martira

liuten

psalmum

salmin

[…]

–37

gentibus

under diêten

in den dieten

in den dieten

17,51 gentibus



dieten

den dieten

Zunächst fallen die häufigen Entsprechungen auf: Wenn X glossiert, wo in R Glossen fehlen, dann geht X (bis auf den Fall kristenheit für ecclesię, Ps. 17,44) mit W zusammen, so wie auch R und W zusammengehen, wenn in X eine Glosse fehlt.

|| 35 X hat hier im lateinischen Text aus dem Psalmenkommentar des Augustinus nicht ibit, sondern vadit. 36 Zwei unlesbare Buchstaben, aber man kann wohl von diete ausgehen. 37 Hier findet sich ein ähnlicher Kommentar in W und R, der in X fehlt. R: Daz chit . ich ketûon . daz siê dir iéhent . unde dir psalmum singent. W: daz chuit . ih getuon daz si dir singent unde iehent.

Deutsche Glossen in Notkers Psalter | 65

Weder ein eindeutiger Zusammenhang zwischen X und W, noch einer zwischen R und W lässt sich so erschließen. Wir haben vielmehr ein offenes, von den denkbaren Möglichkeiten indes bereits beschränktes Feld von Übersetzungsmöglichkeiten vor uns und mit Blick auf die Lexik ist das ein so homogenes Feld, dass es müßig zu fragen wäre, ob hier (direkte oder indirekte) Abschreibeverhältnisse vorliegen. Mit Blick auf den Textbestand von X fällt auf, dass es gegenüber R (und auch W) eine Wendung mehr und eine weniger gibt: Zuerst zum Textzusatz: In der Kommentierung von Ps. 17,37 wird ergänzt: da von wan caritas (Glosse: mínne) mít ín ist. Und in der Kommentierung von Ps. 17,50 fehlt (im Vergleich zu R, W hat Ähnliches38): Daz chit . ich ketûon . daz siê dir iéhent . unde dir psalmum singent, was durch den Kommentar des Cassiodor inspiriert sein könnte.39 Der Zusatz füllt, wie mir scheint, eine Lücke in der Kommentierung und denkt dabei den Anfang nur zu Ende: Wenn die Weite, in die der Psalmist seinen Fuß setzt, die caritas ist, dann folgt daraus, dass das, was seinen Fuß vom Wanken abhält, ebenfalls die caritas ist, auf der er sich bewegt. Für diesen Zusatz muss man keine Quelle ansetzen, er scheint mir im Gestaltungsspielraum des Schreibers von X zu liegen. Auch dass der Zusatz die Glossierung caritas : minne enthält, spricht nicht dagegen, denn sie wiederholt nur die Glosse aus dem vorangegangenen Satz, so wie X stur (fast identische) Glossierungen wiederholt, auch wenn R das nicht tut. Ein anderes Beispiel in X hierfür ist diete in 17,44 und 17,45 und dieten in 17,50 und 17,55, wo in R jeweils auf die Wiederholung verzichtet wird. X ist dabei einfach nur ein wenig redundanzfreudiger (wenn man es negativ formuliert) oder (wenn man es positiv haben will) konsequenter. Jetzt zu dem fehlenden Satz: Hier fehlt kein wirklich wichtiger, sondern vielmehr der arg spitzfindige Gedanke, dass der Psalmist, wenn er unter den Menschen Psalmen singt, auch diese Menschen zum Psalmensingen bringt. Die Streichung spricht eher für die Eigenständigkeit von X, das wohl nicht an einer Vorlage klebte. Stärkere Abweichungen finden wir in vier Fällen und diese hebt auch Lloyd hervor. Sie sind seine Kronzeugen dafür, dass die Glossen in X und R nicht zusammenhängen.40 Mir scheinen die Belege jedoch nicht in diesem Sinne belastbar zu sein. Dass in der Kommentierung von Ps. 17,48 das CRVCIFIGE CRVZIVIGE aus Lukas 23,21 in R mit há in há in und in X mit crivzege ín crivzege ín übersetzt wird, trennt nicht X von R, da R diese Alternative (die der Vorstellung von Kreuzigung wohl näher kommt) nämlich selbst belegt: Das CRVCIFIGE CRVZIVIGE wird in R nochmals || 38 Der Text in Fußnote 37. 39 Notker Latinus, Psalter/Tax 1972, 57. 40 Lloyd 1958, 37. Die hohe Zahl von Zusatzglossen in X, die Lloyd hier ebenfalls hervorhebt, ergibt sich daraus, dass in X auch Teile von Ps. 118 überliefert sind, die in R nicht glossiert sind. Dies aber spricht eher dafür, dass in R die Übernahme der Glossen aus der Vorlage im letzten Teil der Handschrift aufgehört hat, obwohl noch Glossen in der Vorlage gestanden haben könnten.

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in der Kommentierung von Ps. 108,3 zitiert und ist dort glossiert mit: chriûzege in henche in.41 Das ist also kein guter Beleg für die Unabhängigkeit von X und R. Wenn, das ist das zweite Beispiel, in Ps. 17,45 corporaliter in R mit in lîchamin und in X mit liblich glossiert wird, dann ist das keine wirklich radikale lexikalische Umentscheidung, die mit R als Vorlage nicht denkbar wäre. liblich und Formen von lichamo sind für das Althochdeutsche jeweils gut als Übersetzungsgleichungen von ‚Körper‘, ‚körperlich‘ belegt, liblich setzt sich dann als Adjektiv durch, sodass X hier mehr den mittelhochdeutschen Sprachstand repräsentiert.42 X greift hier also ein, ohne dass man von einer substantiellen Veränderung sprechen kann, sondern wohl eher von einer Angleichung an den aktuellen Sprachgebrauch des frühen 13. Jahrhunderts. Ähnliches könnte man – um zum dritten Beleg zu kommen – für die Ersetzung von stál mit nemmede als Übersetzung von persona in der Kommentierung von Ps. 17,40 annehmen. stal ist in dieser Bedeutung nämlich für das Mittelhochdeutsche nicht belegt und das verwundert nicht, denn stal (‚Stelle‘) kann nur in ganz bestimmten Kontexten persona repräsentieren, wie das Sehrt im Notker-Glossar als Bedeutungsansatz für stal formuliert: „Stelle (meistens in der Redensart ex persona, in persona: an Stelle von, im Namen)“43. Tatsächlich gibt es diese Verwendung nur bei Notker und für die genannten Redewendungen als Übersetzungsgleichung für persona nur beim Notker-Glossator.44 Wenn in den althochdeutschen Wörterbüchern also für stal der Bedeutungsansatz ‚Person‘ angeboten wird, dann wird hier ein singulärer Gebrauch in einem singulären Zusammenhang generell zu einer Bedeutungsmöglichkeit erhoben, die aber jenseits dieses Kontextes kaum eine war. Wenn X hier also ersetzt, dann weicht X von einer absoluten Sonderlösung der potentiellen Vorlagenglossierung ab, die keine Nachfolger gefunden hat und im 13. Jahrhundert den Schreiber vielleicht etwas ratlos machte. Lloyds letzter Beleg für die Unabhängigkeit von X und R ist die Übersetzung eines Zitats aus dem Psalmenkommentar des Augustinus zu Ps. 17,44: SI DIMISERIUS EVM VIVVM . SĘCVLVM POST ILLVM IBIT.45 Genauer besehen, sind aber auch hier die Unterschiede nicht wirklich substantiell und gut nachvollziehbar: R: Lazen uuir in hína lebenten so uólget ímo alliû de uuerlt. X: vbe wir ín lazin lebenden div werlt gat alliv nah ime.

X trägt mit vbe eine Übersetzung für SI nach, die in R fehlt, und ändert die Satzgliedfolge, ohne die Lexik anzugreifen. Nur bei der Wahl des Verbs weicht X ab, || 41 Notker der Deutsche, Psalter/Tax 1983, 400. 42 Lexer 1872, 1933. 43 Notker-Glossar 1962, 201. 44 Notker-Wortschatz 1955, 479 weist 10 Stellen nach, darunter 7 mal eine Glossierung von persona. Die 3 Belege von Notker selbst bedeuten immer ‚Stelle‘ im Sinne von ‚an Stelle von‘. 45 Notker Latinus, Psalter/Tax 1972, 55f.

Deutsche Glossen in Notkers Psalter | 67

indem er aus dem uólget ein gat […] nah macht. Diese lexikalische Abweichung geht einher mit einem lexikalischen Unterschied im lateinischen Text, wo statt ibit ein uadit steht. Einer Veränderung des lateinischen Textes folgt eine Veränderung der deutschen Glossierung. Ich kann diese Koinzidenz zunächst nur festhalten. Inhaltlich tut sich dadurch nicht viel, außer dass in X wörtlicher die Semantik von uadit (und das wäre auch der Fall für ibit) wiedergegeben wird. Auch dieser Fall ist gut mit einer produktiven, mitdenkenden und aktualisierenden Rolle des Schreibers von X erklärbar, die wir auch hinter den anderen Beispielen vermuteten. Eine zusätzliche Quelle jedenfalls ist für die Gestalt in X nicht zwingend anzunehmen. Ich will nicht behaupten, dass R oder eine mit R verwandte Handschrift unbedingt die Vorlage von X gewesen sein muss. Das ist zwar möglich und ich halte eine wie auch immer geartete Vermittlung der Glossen über eine schriftliche Vorlage für höchst wahrscheinlich. Wie immer diese Vermittlung aber auch ausgesehen haben mag, die erhaltenen Zeugnisse stehen eben gemeinsam für ein komplexes Bild der Glossierungstradition, die man nicht nur aus R alleine ablesen sollte. X sollte bei der Bewertung der Glossierung eine prominentere Rolle spielen: Die Glossierung in R ebbt ja nach Ps. 108 fast völlig ab, während in St. Paul neben Ps. 17,37–51 auch Ps. 118,170–120,1 überliefert ist. Die Passage, die in R fehlt, kann man also nicht mit der Glossierung in X vergleichen, aber konzediert man einen wie auch immer gearteten schriftlichen Traditionszusammenhang, dann sollte man ganz besonders die Glossen in X zu Ps. 118,170–120,1 stärker in der Erforschung der Psalterglossierung berücksichtigen. Das ist eine Forschungsaufgabe, die für meine Argumentation indes nicht erheblich ist. Für mich stehen X und der Vergleich mit R (und W) jetzt schon deutlich genug für eine dynamische Entwicklung, für spontane Erweiterungen, Streichungen, Modifikationen bei den Glossen, die trotz einer gewissen – und gewiss nicht zu unterschätzenden – Stabilität Spielraum für Vieles ließen. Ich fasse zusammen: Die Glossierung von Notkers Psalter, also die Reaktion auf die lateinischen Residuen, die Notker in seiner Bearbeitung stehen ließ, sind uns nicht nur in R überliefert. Schon die Spuren von S weichen ab und mit X haben wir eine Glossierung vor uns, die man nicht – wie bisher üblich – aus der Diskussion herausnehmen kann. Weder Vorlagentreue noch Unabhängigkeit kann (und sollte) man dabei nachweisen. Nimmt man den Vergleich mit W hinzu, dann wird deutlich, dass man sich bei der Glossierung von Notkers Psalter in einem beschränkten Möglichkeitsspektrum bewegte, sodass die Frage nach einem ‚Autor‘ der Glossierung an der komplexen und dynamischen Sachlage vorbeigeht. Die Beobachtung und weitere Untersuchung dieses komplexen Feldes ist eine noch offene Aufgabe, die uns viel über die Rezeption des Psalters verraten kann. Eine vergleichende funktionale und sprachliche Untersuchung der Psalterglossierung(en) scheint mir ohnehin eine reizvollere Aufgabe zu sein als die Jagd nach einem Autor der Glossierung. All die vorgebrachten Argumtente sprechen gegen den Versuch, in den Glossen von R einen – und die Betonung liegt auf ‚einen‘ – Notker-Glossator zu suchen.

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Ekkehart IV. mag ein Teil des Glossierungsprozesses gewesen sein, dessen Komplexität ich hier nur andeuten konnte, mehr – so befürchte ich – können wir nicht sagen.

Literaturverzeichnis Bergmann, Rolf und Tax, Petrus W. (2009), Ekkehart IV. von St. Gallen als Glossator. In: Rolf Bergmann/Stefanie Stricker (Hgg.), Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch, Berlin/Boston Bd. 2, 1620–1634. Eisenhut, Heidi (2009), Die Glossen Ekkeharts IV. von St. Gallen im Codex Sangallensis 621. (Monasterium Sancti Galli 4), St. Gallen. Firchow, Evelyn (2009), Der Codex 2681 aus dem bayerischen Kloster Wessobrunn um 1100. Diplomatische Textausgabe der Wiener Notker Psalmen, Cantica, Wessobrunner Predigten und katechetischen Denkmäler. Hg. von Evelyn Scherabon Firchow unter Mitarbeit von Richard Louis Hotchkiss, Hildesheim/Zürich/New York. Glauch, Sonja (2013), Notker III. von St. Gallen. In: Rolf Bergmann (Hg.), Althochdeutsche und altsächsische Literatur, Berlin/Boston, 293–315. Haefele, Hans F. (1980), Ekkehart IV. von St. Gallen. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hg. von Kurt Ruh u. a., Berlin/New York, Bd. 2, 455–465. Hellgardt, Ernst (2010), Notker magister nostrę memorię hominum doctissimus et benignissimus. Bemerkungen zu den ältesten Lebenszeugnissen über Notker den Deutschen. In: Stephan Müller / Jens Schneider (Hgg.), Deutsche Texte der Salierzeit – Neuanfänge und Kontinuitäten im 11. Jahrhundert. (MittelalterStudien 20), München, 161–203. Hertenstein, Bernhard (1975), Joachim von Watt (Vadianus), Bartholomäus Schobinger, Melchior Goldast. Die Beschäftigung mit dem Althochdeutschen von St. Gallen in Humanismus und Frühbarock. (Das Althochdeutsche von St. Gallen 3), Berlin/New York. Lexer, Matthias (1872), Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 1, Leipzig. Lloyd, Albert L. (1958), The Manuscripts and Fragments of Notker’s Psalter. (Beiträge zur deutschen Philologie 17), Giessen. Müller, Stephan (2005), Scriptorium. August 1027: Empress Gisela visits St. Gall. In: David E. Wellbery, u. a. (Hgg.), The New History of German Literature, Cambridge/Mass., 28–33. Müller, Stephan (2007), August 1027. Kaiserin Gisela besucht Sankt Gallen. In: David E. Wellbery, u. a. (Hgg.), Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur, Berlin, 65–71. Notker der Deutsche (1979), Der Psalter. Psalm 1–50. Hg. von Petrus W. Tax. (Die Werke Notkers des Deutschen. Neue Ausgabe 8, Altdeutsche Textbibliothek 84), Tübingen. Notker der Deutsche (1983), Der Psalter. Psalm 101–150, die Cantica und die katechetischen Texte. Hg. von Petrus W. Tax. (Die Werke Notkers des Deutschen. Neue Ausgabe 10, Altdeutsche Textbibliothek 93), Tübingen. Notker Latinus (1972), Die Quellen zu den Psalmen. Psalm 1–50. Hg. von Petrus W. Tax. (Die Werke Notkers des Deutschen. Neue Ausgabe 8 A, Altdeutsche Textbibliothek 74), Tübingen. Notker-Glossar (1962). Ein Althochdeutsch – Lateinisch – Neuhochdeutsches Wörterbuch zu Notkers des Deutschen Schriften von Edward H. Sehrt, Tübingen. Notker-Wortschatz (1955). Das gesamte Material zusammengetragen von Edward H. Sehrt und Taylor Starck. Bearbeitet und hg. von Edward H. Sehrt und Wolfram K. Legner, Halle (Saale). Scherrer, Gustav (1875), Verzeichnis der Handschriften der Stiftsbibliothek von St. Gallen, Halle. Sonderegger, Stefan (1970), Althochdeutsch in St. Gallen, Sigmaringen (Biblioth. Sangallensis 6). Wolf, Alfred (1961), Ekkehard IV. und Notker Labeo. In: Studia Neophilologica 33, 145–158.

Ivan Schuler

Die althochdeutschen Glossen Ekkeharts IV. in den St. Galler Handschriften Erläuterungen zur Neuedition, zur sprachgeografischen Einordnung und zur paläographischen Analyse

1 Einleitung Auch wenn Ekkehart IV. und sein Werk – vorwiegend die Casus Sancti Galli und der Liber Benedictionum sowie seine zahlreichen lateinischen Glossen – immer wieder im Fokus der Wissenschaft gestanden sind, so fehlen bis anhin wissenschaftliche Analysen, die seine rund 80 althochdeutschen Glossen paläographisch und sprachgeografisch eingehend untersucht haben, auch wenn immer wieder erwähnt wird, dass seine Schrift eigentümlich und charakteristisch ist. Die volkssprachigen Glossen Ekkeharts IV. waren zwar bis anhin immer wieder Gegenstand der Forschung, wurden dann allerdings doch eher marginal behandelt. Der neueste Aufsatz, der eine allgemeine Übersicht über das volkssprachliche Glossenwerk Ekkeharts IV. liefert, stammt aus dem Jahre 2009. Rolf Bergmann und Petrus W. Tax legen den Schwerpunkt darin jedoch eher auf die Glossierung von Notkers Psalter und liefern des Weiteren lediglich eine knappe Zusammenstellung über seine althochdeutschen Glossen. Der grösste Teil seiner volkssprachigen Glossen ist ausserdem lediglich im nun fast mehr als hundertzwanzig-jährigen Werk von Elias Steinmeyer und Eduard Sievers ediert (StSG., passim: Cod. Sang. 102, 110, 143, 159, 162, 166, 168, 174, 245, 260, 279, 393, 454 und 578). Des Weiteren finden sich noch Editionen bei Hattemer (1844ff.: Cod. Sang. 176)1 Mayer (1975: Cod. Sang. 175 und 280) und Bergmann (2000: Cod. Sang. 176). Im Rahmen einer Lizentiatsarbeit2 bot sich nun die Gelegenheit, Ekkeharts IV. volkssprachige Glossen dialektal und paläographisch zu analysieren. Primäres Ziel war hingegen eine Neuedition, die sämtliche, für die Sprachgeschichte relevanten Informationen enthält.

|| 1 Zusätzlich beinhaltet Hattemers Werk Editionen von Glossen folgender Handschriften: Hattemer 1844ff., Bd. I, 255–256 zu Cod. Sang. 159; 282–283 zu Cod. Sang. 174; 337–344 78 Cod. Sang. 393, 174 und 168; 403–423 zu Cod. Sang. 102, 110, 143, 162, 166, 169, 245, 279, 454 und 578; Bd. III, 598–601 zu Cod. Sang. 393. 2 Schuler 2010.

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Im Folgenden sollen vorerst zusammenfassend die Resultate dieser Untersuchung erläutert werden. Anschliessend werden einige Beispiele aus dem GlossenFundus Ekkeharts IV. aufgezeigt. Hierbei handelt es sich nicht gezwungenermassen um eine exemplarische Auswahl. Vielmehr zeigt sie einige Trouvaillen aus der umfassenden althochdeutschen Hinterlassenschaft Ekkeharts IV.

2 Erläuterungen zu den Quellen Die Auswahl der Handschriften basiert auf der Auflistung von Andreas Nievergelt.3 Rolf Bergmann und Petrus W. Tax führen in ihrer Auflistung zwar noch die beiden Handschriften Cod. Sang. 276 (BStK.-Nr. 215) und Cod. Sang. 579 (BStK.-Nr. 236) auf,4 die Zuweisungen zu Ekkeharts Hand gelten in diesen Handschriften allerdings als sehr unsicher.5 Aus diesem Grund wurden diese Handschriften nicht berücksichtigt. Die Handschrift Cod. Sang. 621 (BStK.-Nr. 237) wurde eingehend von Heidi Eisenhut im Rahmen ihrer Dissertation untersucht.6 Diese Handschrift wurde deshalb ebenfalls nicht in die Analyse miteinbezogen, auch wenn die Online-Edition der Handschrift wichtige sprachhistorische Informationen nicht aufführt.7 Auch nicht in die Untersuchungen miteinbezogen wird Notkers Psalter, für dessen umfangreiche althochdeutsche und lateinische Glossierung Ekkehart IV. vermutet wird.8 Der Text ist uns lediglich in einer Einsiedler Abschrift aus der Mitte des 12. Jahrhunderts überliefert (Cod. Sang. 21). Analysiert wurden also folgende 17 Handschriften: Cod. Sang. 102 (BStK.-Nr. 180; enthält 1 althochdeutsche Glosse), 110 (182; 1 Glosse), 143 (190; 1 Glosse), 159 (191; 19 Glossen), 162 (192; 2 Glossen), 166 (193; 3 Glossen), 168 (194; 1 Glosse), 174 (195; 4 Glossen), 175 (196; 1 Glosse), 176 (256b; 1 Glosse), 245 (209; 4 Glossen), 260 (211; 2 Glossen), 279 (217; 4 Glossen), 280 (218; 1 Glosse), 393 (227; 23 Glossen), 454 (230; 3 Glossen) und 578 (235; 3 Glossen).

|| 3 Vgl. Nievergelt 2009, 1475. 4 Vgl. Bergmann et Tax 2009, 1622–1624. 5 Vgl. Nievergelt 2009, 1475. 6 Vgl. Eisenhut 2009. 7 Vgl. http://orosius.monumenta.ch. Es fehlen insbesondere die Verweise auf althochdeutsche Wörterbücher, sowie grammatikalische Informationen zu den Interpretamenten. 8 Vgl. hierzu z.B. Bergmann et Tax 2009, 1627–1633.

Die althochdeutschen Glossen Ekkeharts IV. in den St. Galler Handschriften | 71

3 Erläuterungen zur Methode 3.1 Zur Neuedition der althochdeutschen Ekkehart-Glossen Eine neue Edition der Ekkehart-Glossen soll zum Ziel haben, sämtliche für die germanistische Sprachgeschichte relevanten Informationen zu enthalten. Sie setzt sich demnach folgendermassen zusammen: – Signatur, BStK.-Nr. und Verweis auf Gustav Scherrers Verzeichnis (1875) – Zugeordnete Nummer (Diese Zuteilung folgt der Reihenfolge von StSG., also in der Regel der Reihenfolge, in welcher die Glossen in der jeweiligen Handschrift auftauchen. Eine Ausnahme bildet die Glosse Nr. 159:19, die in StSG. an einer anderen, weiter hinten als die übrigen Glossen des Cod. Sang. 159 aufgeführten Stelle erwähnt wird.9) – Ort der Glosse im Codex (Seitenzahl, allenfalls Spalte und Zeile) – Lateinischer Textausschnitt, in welchem das Lemma enthalten ist, auf welches sich die Glosse bezieht, wobei das Lemma mit fetter Schrift gekennzeichnet wird – Angaben zur zitierten Edition des glossierten Textausschnittes – Editionen des jeweiligen Lemmas und Interpretaments – Verweis auf frühere Editionen in Klammern – Weitere Informationen zur Glosse (genaue Lage, eventuelle Rasurspuren, Verweiszeichen etc.) – Grammatikalische Bestimmung der Glosse, standardisierte Schreibweise in der Grundform, neuhochdeutsche Übersetzung(en) – Verweise auf die althochdeutschen Wörterbücher AWB., SchW., GSp., EWA., StWG., SchG. und RSV. – sofern die Wörter in diesen aufgeführt sind – Allenfalls Hinweis auf gleichbedeutende Ekkehart-Glossen in den hier analysierten Handschriften. Im Folgenden werden die Glossen mit einer Nummer gekennzeichnet, die sich folgendermassen zusammensetzt: vor dem Doppelpunkt steht die Zahl der in St. Gallen üblichen Signatur und nach dem Doppelpunkt die der Glosse in der vorliegenden Edition zugewiesene Nummer innerhalb der Handschrift. So wird zum Beispiel der ersten Glosse des Cod. Sang. 245 (seginsa) die Nummer 245:1 zugeteilt, der zweiten Glosse desselben Codex (ter héuil) die Nummer 245:2 etc. Die Reihenfolge der Handschriften wiederum folgt jener, wie sie im Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften (BStK.) vorliegt.

|| 9 Die Glossen 159:1–18 befinden sich in StSG. II, 326, 27 bis II, 327, 33, während Glosse Nr. 159:19 in StSG. II, 336, 1 zu finden ist.

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3.2 Erläuterungen zur Methode in der dialektalen Analyse Im Folgenden sind die von Ekkehart glossierten Handschriften aufgeführt, deren Glossen dialektal bestimmt sind. Dem Alemannischen zugeordnet werden die Interpretamente der Codices Sang. 102 (vgl. BStK.: I: 472), 110 (vgl. BStK.: I: 476), 245 (vgl. BStK.: II: 513), 279 (vgl. BStK.: II: 522), 393 (vgl. BStK.: II: 542) und 454 (vgl. BStK.: II: 547). Die Glossen der Handschrift Cod. Sang. 143 sind dem Oberdeutschen zugeordnet (vgl. BStK.: I: 487). Die sprachgeografischen Einordnungen wurden von Bergmann und Stricker selbst vorgenommen: „In zahlreichen Fällen findet sich in der Glossenliteratur jedoch keine Dialektangabe. Falls die Glossen dennoch eindeutige Dialektmerkmale aufweisen, wird eine eigene Bestimmung vorgenommen. Diese ist daran zu erkennen, dass sie ohne Quellenangabe erscheint.“10 Dies ist bei sämtlichen oben angegebenen Codices der Fall. Die von Bergmann und Stricker vorgenommene Einordnung bedarf allerdings einer genauen Überprüfung, da eine methodische Erläuterung der für die Bestimmung relevanten Dialektmerkmale nicht gemacht wird. Zudem wurden scheinbar sämtliche Glossen einer Handschrift dem Alemannischen zugeordnet, wenn bereits eine oder mehrere Glossen eines Codex alemannische Merkmale aufweisen, ohne dabei jedoch die Glossen paläographisch dahingehend zu untersuchen, ob die Einträge eines Codex tatsächlich alle von derselben Schreiberhand stammen. Es ist deshalb unumgänglich, auch auf die scheinbar sprachgeografisch bereits eingeordneten Glossen einzugehen. Es muss beachtet werden, dass zur Zeit Ekkeharts IV. eine zunehmende Angleichung der verschiedenen Dialekte im Gang war, was die dialektale Einordung erschwert. „Im Verlaufe der ahd. Sprachentwicklung ist mit einem zunehmenden fränkischen Einfluss auf das Oberdeutsche zu rechnen, der sich in Lautlehre und Wortschatz bis zu Notker von St. Gallen im 11. Jh. zeigt [...]“.11 Trotzdem können sich vereinzelt althochdeutsche Wörter auf Grund lautlicher, morphologischer oder auch lexikalischer Merkmale einordnen lassen. Für eine grosse Anzahl jedoch ist eine Einstufung in einen konkreten Dialektraum auf Grund linguistischer Elemente nur bedingt oder nicht möglich. In solchen Fällen soll die paläographische Analyse als Hilfsmittel eingesetzt werden. Wenn es sich also mit grosser Wahrscheinlichkeit um die Hand Ekkeharts IV. handelt, kann auch davon ausgegangen werden, dass die Wörter dem alemannischen Sprachraum zugeordnet werden können.

|| 10 BStK. I, 99. 11 Sonderegger 2003, 66; vgl. auch ebd., 30–31.

Die althochdeutschen Glossen Ekkeharts IV. in den St. Galler Handschriften | 73

3.3 Erläuterungen zur Methode in der paläographischen Analyse Das wohl wichtigste Hilfsmittel zur paläographischen Bestimmung der EkkehartGlossen ist die Dissertation von Heidi Eisenhut.12 Die paläographischen Untersuchungen in der Analyse der volkssprachigen Ekkehart-Glossen stützen sich ausschliesslich auf dieses Werk, welches eine ausführliche Auflistung paläographischer Merkmale der Hand Ekkeharts IV., bzw. Abbildungen der Buchstaben, die auf Grund des Autographen Cod. Sang. 393 und der von ihr untersuchten Glossen der Handschrift Cod. Sang. 621 gemacht wurde, enthält.13 Die Hand Ekkeharts IV. gilt als sehr charakteristisch. Sowohl in den Untersuchungen Eisenhuts als auch in den eigenen Beobachtungen hat sich dies in einigen Punkten immer wieder bestätigt. Im Allgemeinen sind folgende Beobachtungen zu machen:14 – die Schrift Ekkeharts IV. ist relativ gross und weist eine starke Linksneigung auf – prinzipiell kann man von einer eher unschönen Schrift sprechen, der man jedoch die geübte Hand und eine gewisse Sorgfältigkeit ansieht – einzelne Federstriche zur Ausführung der Buchstaben sind oft unverbunden (offener Kopf des e, offener Bauch des b, Schäfte des u voneinander gelöst, Bögen des o getrennt etc.) – bei Buchstaben mit langen Schäften (p, d, q) sind oft Lagenschwankungen zu beobachten – oftmals reichen die Schäfte einzelner Buchstaben unter die Schreiblinie – die Minuskeln der Nasale n und m weisen einen Abstrich beim zweiten Schaft auf. Zudem sind die ersten Schäfte oftmals verlängert – bei der Minuskel a reicht der Bauch oft bis zum oberen Winkelschenkel – die g-Minuskel weist durchgehend eine Öffnung bei der unteren Schlinge auf, die zudem oftmals eine starke Rechtsneigung vorweist – im Allgemeinen sind die Akzente stark nach rechts verschoben. Der Zirkumflex ist ein längliches Halboval, das schräg nach rechts oben weist.

|| 12 Eisenhut 2009. 13 Die Auflistung findet sich in Eisenhut 2009, 210–211, die Abbildungen im Appendix 8 auf 431– 432. 14 Vgl. Eisenhut 2009, 210–212.

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4 Übersicht zu den Resultaten der paläographischen Analyse und der dialektalen Untersuchung Der Übersichtlichkeit halber wurden die ermittelten Resultate der paläographischen Analysen in drei Klassen eingeteilt. Zur Klasse 1 gehören Glossen, die paläographische Merkmale aufweisen, die für die Hand Ekkeharts IV. charakteristisch sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie von ihm stammen, ist also relativ gross. Der Klasse 2 sind Glossen zugeordnet, die paläographische Merkmale zeigen, die teilweise charakteristisch sind für die Hand Ekkeharts IV. Andererseits gibt es auch Merkmale, die atypisch sind für seine Hand. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Glossen von ihm stammen, ist zwar da, aber eher unsicher. Die Glossen, die der Klasse 3 zugewiesen werden, enthalten atypische paläographische Merkmale für die Hand Ekkeharts IV. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Glossen von ihm geschrieben wurden, ist relativ klein. Die oben vorgenommenen sprachlichen und paläographischen Analysen liefern folgende Ergebnisse: Cod. Sang.

BStK.-Nr.

Sprachgeografische Einordnung

BStK. Einordnung

Hand Ekkeharts IV.

102 110 143 159 162 166

180 182 190 191 192 193

unbestimmbar unbestimmbar oberdeutsch alemannisch unbestimmbar oberdeutsch

alemannisch alemannisch oberdeutsch unbestimmt unbestimmt unbestimmt

168 174

194 195

unbestimmt unbestimmt

175 245 260

196 209 211

279 280 393 454 578 176

217 218 227 230 235 256b

alemannisch alemannisch; 174:2, suegelare: unbestimmbar alemannisch alemannisch 260:1: alemannisch; 260:2: unbestimmbar alemannisch unbestimmbar alemannisch alemannisch alemannisch alemannisch

Klasse 1 Klasse 3 Klasse 1 Klasse 1 Klasse 1 166:1 und 166:2: Klasse 1; 166:3: Klasse 3 Klasse 1 Klasse 1; 174:2, suegelare: Klasse 3 Klasse 1 Klasse 3 260:1: Klasse 1; 260:2: Klasse 3 Klasse 1 Klasse 1 Klasse 1 Klasse 3 Klasse 1 Klasse 2

unbestimmt alemannisch unbestimmt alemannisch unbestimmt alemannisch alemannisch unbestimmt unbestimmt

Die althochdeutschen Glossen Ekkeharts IV. in den St. Galler Handschriften | 75

Eine dialektale Analyse der Ekkehart-Glossen sieht sich, wie bereits erwähnt, mit dem Problem konfrontiert, dass im beginnenden 11. Jahrhundert die verschiedenen Dialekte zunehmend analoge lautliche Entwicklungen zeigen. Versucht man nun die Ekkehart-Glossen rein auf Grund lautlicher Merkmale dialektal einzuordnen, so zeigt sich schnell einmal, dass nur ein geringer Teil klar dem Alemannischen zugeordnet werden kann. Es ist die Kombination mit der paläographischen Untersuchung, die hier schlüssigere Ergebnisse liefert. Der Rückschluss, dass die Glossen, die der Klasse 1 zugeordnet wurden, also mit grosser Wahrscheinlichkeit von der Hand Ekkeharts IV. stammen, dementsprechend auch dem alemannischen Dialekt zugeteilt werden können, ist durchaus berechtigt. Dies ergibt im Endeffekt folgendes Resultat: Die Glossen der Handschriften Cod. Sang. 102, 143, 159, 162, 166 (ausser 166:3), 168, 174, 175, 260 (ausser 260:2), 279, 280, 393, 454, 578 und 176 sind dem alemannischen, die der Handschrift 245 dem oberdeutschen und die Glossen Nr. 110:1, 166:3 und 260:2 keinem Dialektraum zuzuordnen. Die insgesamt 74 Glossen, die analysiert wurden, enthalten 79 Lexeme, bzw. 91 verschiedene syntaktische Wörter. Bei insgesamt zehn Glossen (13 Lexeme, bzw. 14 syntaktische Wörter) hat die paläographische Analyse ergeben, dass neun ziemlich sicher nicht und eine vielleicht nicht von Ekkehart IV. geschrieben wurden. Das heisst, dass bei den Glossen Nr. 110:1, 166:3, 245:1–4, 260:2 und 454:1–3 die Wahrscheinlichkeit relativ gross ist, dass sie nicht von ihm geschrieben wurden, während die Zuordnung bei der Glosse Nr. 176:1 unsicher ist. Damit verbleiben 63 Ekkehartglossen mit 66 Lexemen und 77 syntaktischen Wörtern (wobei die Glosse Nr. 176:1 in dieser Zählung nicht miteinbezogen wurde).

5 Einige ausgewählte Beispiele In den folgenden Beispielen wird jeweils zu Beginn des Kapitels die jeweilige Edition, bzw. die jeweiligen Editionen aufgeführt. Die Abbildungen zu den Glossen finden sich im Anhang.

5.1 Beispiel 1: Cod. Sang. 102 (Glosse 102:1) Cod. Sang. 102 (BStK.-Nr. 180; Scherrer 1875, S. 39; vgl. Abb. 1) 1. S. 77, Z. 19 (16) (...) qui sanctum ecclesiae vestimentum / (17) impietate sua scindunt et unitatem divinae potesta / (18) tis individuam separare cupientes sacrilego morsu (19) praetiosum fidei velamen obrodunt. (Ambrosius, De spiritu sancto, [Buch 1, Kap. XVIII]: CSEL 79, S. 84, Z. 73–76)

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obrodunt – ūmbē – grúmmônt (StSG. II, 25, 16) Die Glosse steht direkt über dem Lemma. Sie beginnt über dem ersten o- des Lemmas und endet vor dem nachfolgenden Wort. Der Querstrich des 1. Vokals steht oberhalb zwischen dem -u- und -m-, jener des 2. Vokals leicht nach rechts verschoben über der Mitte des -e-. Der Akzent des zweiten -u- steht über dem ersten -m-, der Zirkumflex des -o- ist über dem -n- geschrieben. Hinter der Glosse steht ein . ūmbē- grúmmônt: 3. Pers. Pl. Präs. Ind. sw. V. ahd. umbi-grummōn ‚an etwas herumnagen‘, ‚zernagen‘ – AWB. V, Sp. 439–440; (SchW., S. 141); StWG., S. 241; SchG. IV, S. 64; RSV. II, S. 58. Die Glosse der Handschrift Cod. Sang. 102 wird dem alemannischen Dialekt zugeschrieben.15 Da es sich bei der Glosse Nr. 102:1 um den bis anhin einzigen Beleg für das althochdeutsche Wort umbi-grummōn handelt, liegt dieser Schluss auch nahe, wenn angenommen wird, dass sie von einem alemannischen Schreiber, namentlich von Ekkehart IV., verfasst wurde. Trotzdem sind lautliche Merkmale, die auf einen spezifischen Dialekt hinweisen, in dem Wort ūmbē- grúmmônt nicht deutlich auszumachen. Das zu e abgeschwächte i des Präfixes ist für die Zeit um das Jahr 1000 keine Besonderheit eines spezifischen Dialektes mehr.16 Auch das inlautende b, an Stelle der stimmlosen Variante p, weist zwar auf die Möglichkeit einer alemannischen Schreibweise hin,17 ist allerdings im beschränkten Rahmen auch im Bairischen18 und sehr häufig im Fränkischen19 zu beobachten. Ein weiteres mögliches Indiz für das Alemannische wäre die Konjugationsendung -nt, wenn das Wort in der 2. Pers. Pl. Ind. Präs. flektiert wäre. Da sich das Interpretament allerdings auf das lateinische Wort obrodunt (3. Pers. Pl. Ind. Präs. Aktiv) bezieht, ist es wohl ziemlich sicher, dass die Flexion im althochdeutschen Wort übernommen wurde. Wie die folgende Auflistung einiger paläographischer Merkmale der Schreiberhand zeigt, dürfte es sich bei Glosse Nr. 102:1 wahrscheinlich um die Hand Ekkeharts IV. handeln. Allg.

b e g m

Die Schrift ist sehr sorgfältig, weist aber gebrochene und zum Teil eckige Formen auf (bei folgenden Buchstaben erkennbar: e, g, sowie zweites und drittes m). Kleinere Unregelmässigkeiten sind zu erkennen. Der Halbkreis ist nicht mit dem Schaft verbunden. Fast aufgelöste Rundung mit einem praktisch senkrechten Querbalken, der deutlich über den oberen Bogenabschluss hinausreicht. Die untere Schlinge ist offen und weist eine leichte Rechtsneigung auf. Bei allen Buchstaben enthalten die zweiten Schäfte Abstrich-Serifen.

|| 15 Vgl. BStK. I, 472. 16 Vgl. BRG. §59. 17 Vgl. BRG. §136, A3. 18 Vgl. BRG. §136, A1. 19 Vgl. BRG. §135, A3.

Die althochdeutschen Glossen Ekkeharts IV. in den St. Galler Handschriften | 77

n o t u

Der zweite Schaft weist eine Abstrich-Serife auf. Beim ersten ist eine leichte AnstrichSerife zu erkennen. Der Buchstabe ist mit zwei Strichen geschrieben. Unten rechts sind die Bögen nicht miteinander verbunden. Gebogener und deutlicher Abstrich. Die linke Hälfte des Querbalkens ist rund halb so gross wie die rechte. In beiden Buchstaben weisen beide Schäfte Anstrich-Serifen auf.

Auffallend ist die ausführliche Akzentuierung der Glosse. Alle vier Vokale tragen Akzente und es wurden drei verschiedene Akzentzeichen benutzt: ein Akut, ein Zirkumflex und zwei Querstriche. Letztere, die der Schreiber bei den ersten Vokalen des Präfixes gesetzt hat, sind in den althochdeutschen Ekkehart-Glossen eher ungewöhnlich. In seinen lateinischen Texten und Glossen kommt dies bisweilen vor, allerdings haben diese dann ausnahmslos die Funktion einer Abbreviatur. Nur eine weitere althochdeutsche Glosse, Nr. 159:11, enthält einen Querstrich. Deutlich ist hingegen, dass die Akzente rechts über den Buchstaben stehen, auf die sie sich beziehen. Dies ist ein relativ typisches Merkmal für die Hand Ekkeharts IV. Die Helligkeit der Tinte, mit der die Akzente geschrieben wurden, ist zudem dieselbe wie des Wortes selber, was ein Hinweis darauf ist, dass die Akzente nicht nachträglich gesetzt wurden.

5.2 Beispiel 2: Cod. Sang. 110 (Glosse 110:1) Cod. Sang. 110 (BStK.-Nr. 182; Scherrer 1875, S. 41–42; vgl. Abb. 2) 1. S. 213, Z. 7 (7) Istarum quoquae avium combinatio [in der Edition combinationem] in sacrificium / (8) offerri mandavit, qui nil omnio in obla / (9) tione Die praeelarum, nisi cum / (10) fideles copore et spiritu sanctificati Domino offerentur. (Justus von Urgel, Kommentar zur Bibel [734, 44]: PL 67, Sp. 972, A, Z. 5–9) combinatio – zuuêivnga (StSG. II, 347, 14) Das Interpretament beginnt über dem -i- des Lemmas und endet über dem ersten -s- des Wortes sacrificium. Der Zirkumflex steht über der rechten Hälfte des -eund reicht bis zum nachfolgenden -i-. zuuêivnga: Nom. Sg. oder Akk. Sg. st. F. ahd. zweiunga ‚Paarung‘ – (SchW., S. 441); StWG., S. 774; SchG. XI, S. 478. Auch wenn die Glosse dem alemannischen Dialekt zugeordnet wird,20 zeigt sie doch kaum lautliche Merkmale, die darauf hinweisen würden. Da es sich bei dieser Glos-

|| 20 Vgl. BStK. I, 476.

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se um den einzigen bis anhin bekannten Beleg für dieses Wort handelt, sind zudem keine Vergleiche möglich. Einen einzigen, wenn auch ungenauen, Hinweis liefert allenfalls der Diphthong ei. Das Zahlwort zwei wird in Komposita oftmals als zwi- geschrieben.21 Notker hingegen schreibt dies wie das Simplex.22 Es handelt sich bei der Glosse Nr. 110:1 zwar nicht um ein Kompositum, aber die Kombination des Numerals mit einer substantivischen Endung kann durchaus auch in diesem Bereich angesiedelt werden. Wenn nun aber angenommen wird, dass die Glosse im 11. Jahrhundert geschrieben wurde, wird dieses Merkmal eher hinfällig, da sich in dieser Zeit auch im fränkischen und bairischen Sprachraum entsprechende Beispiele finden. Ob es sich bei zuuêivnga also tatsächlich um ein alemannisches Wort handelt, kann auf Grund der lautlichen Analyse nicht eindeutig gesagt werden. Es ist zweifelhaft, ob die Glosse von Ekkehart IV. stammt, da die Glosse Merkmale aufweist, die sehr atypisch sind für seine Hand. Vor allem die Schreibweise der Minuskel z weicht stark von der üblichen Schreibweise, wie sie in den Autographen und weiteren Glossen Ekkeharts IV. zu beobachten sind, ab. Das z in der Glosse Nr. 110:1 ist in drei Strichen geschrieben: einem nach oben geöffneten Halbkreis für den oberen Querbalken; ein schräger Strich, der von rechts oben nach links unten verläuft und einem nach unten geöffneten Halbkreis für den unteren Querbalken. Ekkehart schreibt diesen Buchstaben jedoch üblicherweise mit zwei Strichen – einem oberen Querbalken und einer c-förmigen Schlaufe, deren Bauch auf der Zeile zu liegen kommt.

5.3 Beispiel 3: Cod. Sang. 159 (Glossen 159:2, 159:3, 159:18 und 393:4) Eine ausführliche althochdeutsche Ekkehart-Glossierung weist der Cod. Sang. 159 auf. Insgesamt beinhaltet die Handschrift 19 althochdeutsche Glossen, die der Hand Ekkeharts IV. zugeschrieben werden können. Ausserdem weisen einige Glossen dialektale Merkmale auf, die sich sprachgeografisch dem Alemannischen zuordnen lassen. So zeigen zum Beispiel die Glossen Nr. 159:2, 159:3 und 159:18 mit der Schreibweise ch für qu ein charakteristisches Merkmal für den alemannischen Dialekt. Auch andere Glossen weisen Lautmerkmale auf, die diese zumindest dem oberdeutschen Sprachraum zuteilen lassen. Da sämtliche Glossen allerdings wahrscheinlich von Ekkehart IV. stammen, also demselben Schreiber, kann der Schluss gezogen werden, dass alle Glossen dem Alemannischen zugeordnet werden können.

|| 21 Vgl. BRG. §270, A2. 22 Vgl. BRG. §270, A2.

Die althochdeutschen Glossen Ekkeharts IV. in den St. Galler Handschriften | 79

Eine Besonderheit stellen die Glossen Nr. 152:2, 159:3 und 159:18 dar. Cod. Sang. 159 (BStK.-Nr. 191; Scherrer 1875, S. 59; vgl. Abb. 3) 2. S. 71, Sp. 2, Z. 31 bis S. 72, Sp. 1, Z. 1 (71, 2, 31) in Hebraeo legitur: / (72, 1, 1) anna adonai, osianna, anna ado / (72, 1, 2) nai, aslianna; baruch abba basem (72, 1, 3) adonai. (Hieronymus, Epistulae [Ep. XX]: CSEL 54, S. 106, Z. 3–5) in hebreo legitur. anna. adonai. osianna. anna. adonai. aslyena. baruc. abba. basen. adonai, – Quasi barbarus dicat uuóla hêrro. hêile gnâdigo. () osianna salua ó. qasi dicas heilô. aut Uuillechomô (StSG. II, 326, 28 und 53–54 – 327,1–3) Der erste Teil der Glosse (Quasi barbarus dicat uuóla hêrro. hêile gnâdigo.) steht am Blatt 72 oben links und beginnt ca. 2 cm vom linken Blattrand und endet ca. 1 cm über dem zweiten -a des zweiten anna. Zwischen der 1. Zeile und dem ersten Teil der Glosse steht eine weitere lateinische Glosse, deren Tinte deutlich dunkler ist. Diese beginnt über dem -o- von adonai und endet knapp vor dem ersten -n- des zweiten anna (dnē saluagranosē). Über dem ersten -n- des ersten anna und dem zweiten -ndes zweiten anna steht jeweils ein -ό-. Der zweite Teil der Glosse (osianna salua ó. qasi dicas heilô. aut Uuillechomô.) steht links marginal neben der 1. und 2. Zeile der 1. Spalte. Die Glosse erstreckt sich über 3 Zeilen: (1) osianna salua ó. (2) qasi dicas heilô. (3) aut Uuillechomô. uuóla: Interj. ahd. wola ‚wohlan!‘ – SchW., S. 425–426; GSp. I, Sp. 834–835; EWA. IV, Sp. 986–987; StWG., S. 744; SchG. IX, S. 268. hêrro: Nom. (Vok.) Sg. sw. M. ahd. hērro ‚Herr‘ – AWB. IV, Sp. 1001–1008; SchW., S. 158; GSp. IV, Sp. 991–993; EWA. IV, Sp. 986–987; StWG., S. 271–272; SchG. IV, S. 292–293. Vgl. Glosse 393:4. hêile: 2. Pers. Sg. Imp. sw.V. ahd. heilen ‚erretten‘ – AWB. IV, Sp. 828–832; SchW., S. 153; GSp. IV, Sp. 867–869; EWA. IV, Sp. 895–898; StWG., S. 821; SchG. IV, S. 234; RSV I, S. 66–67. gnâdigo: Adv. ahd. ginādig ‚barmherzig‘, ‚mild‘, ‚geneigt‘ – SchW., S. 247; GSp. II, Sp. 1028–1029; EWA. IV, Sp. 895–898; StWG., S. 214; SchG. VII, S. 8. heilô: Interj. oder Nom. (Vok.) Sg. sw. M. flekt. Adj. ahd. heil ‚gesund‘, ‚unverletzt‘, ‚sei gegrüsst!‘, ‚Heil!‘ – AWB. IV, Sp. 810–812; SchW., S. 153; GSp. IV, Sp. 861– 863; EWA. IV, Sp. 895–898; StWG., S. 262; SchG. IV, S. 232. Vgl. Glosse 393:4. Uuillechomô: Interj. oder Nom. (Vok.) Sg. sw. M. ahd. williquemo, willikomo ‚Willkommener‘,‚Willkommen‘ – (SchW., S. 417); GSp. IV, Sp. 673; StWG., S. 730; SchG. XI, S. 157.

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Cod. Sang. 159 (BStK.-Nr. 191; Scherrer 1875, S. 59; vgl. Abb. 4) 3. S. 72, Sp. 2, Z. 7–8 (2, 6) siue interiectionem, quae apud Grae / (2, 7) cos ponitur Απεσεσιν ωσανναι et est in σώσον δή / (2, 8) cuius interpretationem Latinus sermo / (2, 9) non exprimit. (Hieronymus, Epistulae [Ep. XX]: CSEL 54, S. 107, Z. 8–9) Απεσεσιν ωσανναι – apesesin osanne. Sic apud téutones23 uuillechomo (StSG. II, 327, 4–5) Die Glosse beginnt über Zeile 7 der 2. Spalte. Das Interpretament über Z. 7 ist unregelmässig über die Zeile verteilt. Das -ape- steht über -Απε-, -se- über -σ-, -sin- über -εσι-, -o- über -ω-, -san- über -σα-, -ne- über -να-. -sica- steht marginal rechts neben dem Schriftspiegel. -pud téutones uuillechomo- beginnt über der 8. Zeile der 2. Spalte und endet über dem -n- des Wortes latinus. uuillechomo: Interj. oder Nom. (Vok.) Sg. sw. M. ahd. williquemo, willikomo ‚Willkommener‘, ‚Willkommen‘ – (SchW., S. 417); GSp. IV, Sp. 673; StWG., S. 730; SchG. XI, S. 157. Cod. Sang. 159 (BStK.-Nr. 191; Scherrer 1875, S. 59; vgl. Abb. 5) 18. S. 349, Sp. 2, Z. 27–28 (2, 27) [...] ut ita dicam, / (2, 28) uernaculum linguae genus: / (2, 29) si ad verbum interpretor, ab / (2, 30) surde resonant; [...] (Hieronymus, Epistulae [Ep. LVII]: CSEL 54, S. 510, Z. 19–20) (si ad uerbum interprętor absurde resonant) – Sicut Vuíllochomo. Voluntatis ventor: (StSG. II, 327, 31–33) Die Glosse steht ungefähr 0.5 mm marginal rechts neben den Zeilen 27 und 28 der zweiten Spalte. Die erste Zeile der Glosse beinhaltet den Teil sicut Vuíllochomo (Wobei das cut durch die Ligatur c mit übergeschriebenem Querstrich geschrieben ist), der zweite Voluntatis ventor. Der erste Teil steht rechts neben dem Zwischenraum der Zeilen 27 und 28, der zweite neben der Zeile 28. Vuillochomo: Interj. oder Nom. (Vok.) Sg. sw. M. ahd. williquemo, willikomo ‚Willkommener‘, ‚Willkommen‘ – (SchW., S. 417); GSp. IV, Sp. 673; StWG., S. 730; SchG. XI, S. 157.

|| 23 Der Akut bei téutones liegt über dem -u-. Es wäre also durchaus auch denkbar, dass der Schreiber diesen Buchstaben akzentuiert hat. Da jedoch Ekkehart IV. die Akzente stark rechtsverschoben setzte, ist die hier verwendete Variante wahrscheinlicher.

Die althochdeutschen Glossen Ekkeharts IV. in den St. Galler Handschriften | 81

Auch im Cod. Sang. 393 findet sich ein Beleg für Uuillechomo: Cod. Sang. 393 (BStK.-Nr. 227; Scherrer 1875, S. 134; vgl. Abb. 6) 4. S. 18, Z. 8 (8) Augusto infanti sit Osanna chereque tonanti. (Ekkehart IV. Liber Benedictionum [Teil A, Kap. II]: Egli, LB, S. 23, Z. 9) Osanna chereque tonanti – úuillichomo24 heil herro (StSG. II, 159, 13–14) Der Wortteil uuil- steht über dem Teil Osan- des Lemmas. Der Rest des Wortes (–lichomo) beginnt über dem zweiten -a- von Osanna und endet über dem zweiten e- von chereque. Der zweite Teil der Glosse, heil herro, ist näher an den Text geschrieben als der erste und steht zudem auf Rasur. Die Schrift deutet ausserdem darauf hin, dass hier die Feder gespalten sein musste, da die Striche bisweilen doppelt verlaufen. úuillichomo: Interj. oder Nom. (Vok.) Sg. sw. M. ahd. williquemo, willikomo ‚Willkommener‘, ‚Willkommen‘ – (SchW., S. 417); GSp. IV, Sp. 673; StWG., S. 730; SchG. XI, 157. Vgl. Glossen 159:2, 159:3 und 159:18. heil: Adv. ahd. heil ‚gesund‘, ‚unverletzt‘, ‚sei gegrüsst!‘ – AWB. IV, Sp. 810– 812; SchW., S. 153; GSp. IV, Sp. 861–863; EWA. IV, Sp. 895–896; StWG., S. 262; SchG. IV, S. 232–233. Vgl. Glosse 159:2. herro: Nom. (Voc.) Sg. sw. M. ahd. hērro ‚Herr‘ – AWB. IV, Sp. 1001–1008; SchW., S. 158; GSp. IV, Sp. 992–993; EWA. IV, Sp. 986–987; StWG., S. 271; SchG. IV, S. 292–294. Über die Gründe dieser differenzierenden Schreibweise kann nur spekuliert werden. Eine Möglichkeit ist die, dass die Glossen jeweils relativ spontan verfasst wurden und wichtiger Bestandteil im Schulunterricht des Klosters gewesen sind: Und man hat den Eindruck, dass er an manchen Stellen in seiner Handschrift einfach auf deutsch notiert hat, was er bei der Vorbereitung der nächsten Unterrichtsstunde jeweils nachgeschlagen oder aufgefrischt hatte, und das dann vortrug, dann eventuell auch einiges, was im lebendigen Austausch im Klassenzimmer an mehr oder weniger spontan gegebenen Versuchen zur Verdeutschung aufkam, behielt oder mitschrieb.25

|| 24 Bei StSG.: uuillichomo. zwischen den beiden u ist allerdings deutlich ein Akzent zu erkennen, der, auf Grund der bei Ekkehart-Glossen üblichen rechtsverschobenen Akzentsetzung, dem ersten u- zugeordnet werden kann. Die Tintenfarbe dieses Akzentes ist dieselbe wie die der Glosse und unterscheidet sich in der Helligkeit leicht vom darüberliegenden Text. Dies schliesst aus, dass es sich bei diesem Akut um eine Verlängerung des darüberliegenden Schaftes aus dem Text handelt. 25 Bergmann et Tax 2009, 1631.

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5.4 Beispiel 4: Cod. Sang. 168 (Glosse 168:1) Cod. Sang. 168 (BStK.-Nr. 194; Scherrer 1875, S. 60–61; vgl. Abb. 7) 1. S. 122, Z. 16 (15) Raptum est aurum, dicunt, de aure mulieris et cucurrit / (16) sanguis, et positum est aurum in trutina vel statera, / (17) et praeponderavit multum de sanguine. (Augustinus Sermones [VII, 1 S. 1440]: PL 35, Sp. 1440, Z. 1–4) in trutina – .i. librę scafa (StSG. II, 40, 7) Die Ligatur für id est beginnt über dem -n von in. Der lateinische Teil des Interpretaments (librę) steht über dem Wortteil -rut-, der althochdeutsche Teil über der Endsilbe -ina des Interpretaments. Das e ist nur schwer lesbar. Es scheint, als wäre der Schreiber an dieser Stelle mit der Feder abgerutscht. scafa: Dat. Sg. st. F. ahd. scafa ‚Waage‘ – (SchW., S. 303); GSp. VI, S. 449–450; StWG., S. 530; SchG. VIII, S. 262–263. Die Glosse Nr. 168:1 enthält keinerlei lautlichen Merkmale, die sie in einen bestimmten Dialekt einordnen lassen. Lexikalisch hingegen kann ein Bezug zu diesem Sprachraum hergestellt werden. Als Bedeutung ist […] ‚Waage‘ anzugeben. Die Bildung hat im Althochdeutschen wie im Mitteldeutschen keine direkte Parallele. Sie stellt sich aber wohl am ehesten neben das althochdeutsche Wort scaf, das unter anderem das Mass bezeichnet und gerade bei Notker überliefert ist. Fernerhin kann die Glosse womöglich mit dem schweizerdeutschen Schaffe verbunden werden. Dieses schwach flektierende Maskulinum bezeichnet unter anderem ein bestimmtes Gewicht von Milchprodukten. Die Glosse von der Hand Ekkeharts IV. ist somit sicher nicht mit scafa ‚Schiff‘ zu verbinden, sondern in einem Wörterbuch mit einem eigenen Artikel zu buchen.26

Dass die Glosse Nr. 168:1 nicht mit ‚Schiff‘ zu übersetzen ist, ist klar. Allerdings leitet sich der schweizerdeutsche Begriff Schaffe eher von dem schwachen Maskulinum scaffo ab. Es ist möglich, dass der Schreiber mit dem Begriff scafa wohl eher an die waagschalenähnliche Form eines kleinen Schiffes oder eines Gefässes dachte und diesen Terminus dementsprechend als synonymen Ausdruck für eine Waage benutzt hat.27 Die Glosse weist paläographische Merkmale auf, die der Hand Ekkeharts IV. zugeschrieben werden können.

|| 26 Meineke 1991, 144–145. 27 Vgl. StWG., 530, welcher folgende neuhochdeutschen Bedeutungen für scaffo angibt: Schöpfer, Schöpfgefäss, Geschirr.

Die althochdeutschen Glossen Ekkeharts IV. in den St. Galler Handschriften | 83

Allg. a b c f s

Sehr unregelmässige, unruhige Schrift. Die Bäuche reichen bis zu den oberen Winkelschenkeln. Krümmung der oberen und unteren Winkelschenkel. Der angesetzte Halbkreis ist an beiden Enden nicht mit dem Schaft verbunden. Die Oberlänge des Schaftes ist leicht verstärkt. Trotz Unterbruch im oberen Teil ist der Buchstabe sorgfältig gerundet. Der Schaft geht über die Zeile hinaus. Der Abstrich reicht unter die Zeile.

Während der Untersuchung hat sich im Cod. Sang. 168 eine Besonderheit ergeben. Bei einer Einsichtnahme des Cod. Sang. 168 und der Glosse Nr. 168:1 im Speziellen verzeichnete Andreas Nievergelt folgenden Fund: Cod. Sang. 159 (BStK.-Nr. 191; Scherrer 1875, S. 59) 1b. S. 122, Z. 16 (15) Raptum est aurum, dicunt, de aure mulieris et cucurrit / (16) sanguis, et positum est aurum in trutina vel statera, / (17) et praeponderavit multum de sanguine. (Augustinus Sermones [VII, 1 S. 1440]: PL 35, Sp. 1440, Z. 1–4) in trutina – scafa (Neufund) „Interlinear über -a ue- von trutina uel steht fein mit Griffel (B. 1) eingeritzt scafa, mit nicht ganz sicherem s, kleines c über -a, unziales a, f leicht nach links geneigt. Die Glosse ist schwierig zu sehen und zu entziffern, bei geeignetem Licht aber lesbar. Die Schichtung ist nicht materiell zu klären. Die Glosse erinnert an eine Feder-Griffel-Glosse von Froumund.“ (persönliche Notiz von Andreas Nievergelt). scafa: Dat. Sg. st. F. ahd. scafa ‚Waage‘ – (SchW., S. 303); GSp. VI, S. 449–450; StWG., S. 530; SchG. VIII, S. 262–263. Wer die Griffelglosse wann eingetragen hat, kann nicht gesagt werden. Es kann allerdings vermutet werden, dass sie kaum von Ekkehart IV. geschrieben wurde, da bis anhin keine Griffeleinträge bekannt sind, die von ihm stammen und deshalb auch der Rückschluss gezogen werden kann, dass er den Griffel nicht als Glossierungsinstrument benutzt hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass seine Federglosse eine Reaktion auf den Griffeleintrag ist, ist gross. Dies würde auch erklären, weshalb scafa das einzige althochdeutsche Wort ist, das im gesamten Codex enthalten ist, d. h. die Absicht Ekkeharts IV. war nicht, den lateinischen Begriff trutina in die Volkssprache zu übersetzen, sondern den Griffeleintrag mit der Feder zu visualisieren und zusätzlich mit einem lateinischen Begriff zu ergänzen.

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5.5 Beispiel 5: Cod. Sang 393 (Glossen 393:15, 393:16, 393:17, 393:23 und 159:11) Auch im Cod. Sang. 393, dem Liber Benedictionum, der von Ekkehart IV. selbst verfasst wurde, sind zahlreiche althochdeutsche Federglossen auszumachen, die mit grosser Wahrscheinlichkeit von ihm selbst verfasst wurden. Insgesamt sind 23 althochdeutsche Einträge enthalten. Auf Grund der paläographischen Merkmale ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass sämtliche althochdeutschen Glossen von der Hand Ekkeharts IV. stammen. Da zusätzlich in einigen Glossen lautliche Merkmale auftreten, die charakteristisch für das Alemannische sind, kann der Rückschluss gezogen werden, dass die Glossen des Cod. Sang. 393 dem alemannischen Sprachraum zugeordnet werden können. Dies zeigt sich zum Beispiel bei der oben bereits erwähnten Glosse Nr. 393:4 (úuillichomo), die eine für das Alemannische typische Schreibweise mit ch für qu aufweist.28 Dabei fällt auf, dass der Glossator auch verschiedene Glosseneinträge verfasst hat, die sich alle innerhalb eines bestimmten semantischen Feldes bewegen. So zum Beispiel zum Thema Fische. Cod. Sang. 393 (BStK.-Nr. 227; Scherrer 1875, S. 134; vgl. Abb. 8) 15. S. 186, Z. 19 (19) Fortis in esocem mittat benedictio vocem. (Ekkehart IV. Liber Benedictionum [Teil B]: Egli, LB, S. 285, Z. 45) esocem – lahs (StSG. II, 159, 34) Das Interpretament beginnt über dem Zwischenraum der Buchstaben -o- und -cdes Lemmas und endet über dem -e-. lahs: Akk. Sg. st. M. ahd. lahs ‚Lachs‘ – AWB. V, Sp. 596–597; SchW., S. 203; GSp. II, Sp. 163; StWG., S. 358; SchG. V, S. 451–452. Cod. Sang. 393 (BStK.-Nr. 227; Scherrer 1875, S. 134; vgl. Abb. 9) 16. S. 187, Z. 8 (5) Sit salsus piscis bonus almarinus in ęscis. (Ekkehart IV. Liber Benedictionum [Teil B]: Egli, LB, S. 287, Z. 52) almarinus – harinch (StSG. II, 159, 35) Das Interpretament beginnt über dem -m- des Lemmas und endet über dem -u-. Der Federstrich ist bisweilen doppelt geführt. harinch: Nom. Sg. st. M. ahd. hāring ‚Hering‘ – AWB. IV, Sp. 715; (SchW., S. 150); GSp. IV, Sp. 1076; EWA. IV, Sp. 831–832; StWG., S. 255; SchG. IV, S. 171–172.

|| 28 Vgl. BRG §107, A2

Die althochdeutschen Glossen Ekkeharts IV. in den St. Galler Handschriften | 85

Cod. Sang. 393 (BStK.-Nr. 227; Scherrer 1875, S. 134; vgl. Abb. 10) 17. S. 187, Z. 16 (11) Hunc rubricum coctum, factor, fore fac benedictum. (Ekkehart IV. Liber Benedictionum [Teil B]: Egli, LB, S. 287, Z. 60) rubricum – ruten29 (StSG. II, 159, 36) Die Glosse beginnt über dem Zwischenraum der Wörter hunc und rubricum und endet über dem -r- des Lemmas. Sie steht auf Rasur und ist nur schwach lesbar. ruten: Akk. Sg. sw. M. ahd. rōto ‚Rotforelle‘ – (SchW., S. 282); GSp. II, Sp. 487; StWG., S. 493; SchG. VII, S. 486. Cod. Sang. 393 (BStK.-Nr. 227; Scherrer 1875, S. 134; vgl. Abb. 11) 23. S. 244, Z. 18 (18) Stagnello palmos esox capitur duodenos. (Ekkehart IV. Liber Benedictionum [Teil E]: Egli, LB, S. 378, Z. 114) esox – lahs (StSG. II, 160, 23) Die Glosse beginnt über dem -s- des Lemmas und endet über dem -x. lahs: Nom. Sg. st. M. ahd. lahs ‚Lachs‘ – AWB. V, Sp. 596–597; SchW., S. 203; GSp. II, Sp. 163; StWG., S. 358; SchG. V, S. 451–452. Auch im Cod. Sang. 159 findet sich zudem ein Eintrag, der Fischnamen enthält. Cod. Sang. 159 (BStK.-Nr. 191; Scherrer 1875, S. 59; vgl. Abb. 12) 11. S. 197, Sp. 2, Z. 16 (2, 13) [...] qui uix milio et cybario / (2, 14) pane rugientem saturare uentrem / (2, 15) poteram, nunc similiam et mella fasti (2, 16) dio, noui et genera et nomina pisci / (2, 17) um, [...] (Hieronymus, Epistulae [Ep. LII]: CSEL 54, S. 425, Z. 16–18) nomina piscium – lanprêdā. illanchent. Rôten: (StSG. II, 327, 20–22) Die Glosse beginnt über dem ersten n- von nomina und endet ca. 3 mm vor dem rechten Blattrand. lanprêdā: Akk. Sg. oder Nom. Pl. sw. F. ahd. lamprēda ‚Lamprete‘, ‚Neunauge‘ – AWB. V, Sp. 601–602; SchW., S. 203; GSp. III, Sp. 709; StWG., S. 359; SchG. V, S. 454–456. illanchent30: Akk. Sg. oder Nom. Pl. sw. M. ahd illanko ‚Renke‘, ‚Illanke‘ – AWB. IV, Sp. 1487; (SchW., S. 173); StWG., S. 299; SchG. V, S. 17.

|| 29 Bei StSG.: rutin. Der vierte, nur schwach lesbare Buchstabe hat hingegen Merkmale, die eher auf ein e hinweisen. Zum einen ist schwach eine auslaufende Schleife erkennbar, zum anderen befindet sich oberhalb des Schaftes ein Querstrich, der wahrscheinlich den Querbalken darstellt. Eine Endung -in würde zudem dem Auslautgesetz widersprechen und auch von der Form her keinen Sinn ergeben (vgl. BRG. §221). Es ist ausserdem relativ unwahrscheinlich, dass der Glossator das Interpretament mit einem Gen. oder Dat. Sg. wiedergibt.

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Rôten: Akk. Sg. oder Nom. Pl. sw. M. ahd. rōto ‚Rotforelle‘ – (SchW., S. 282); GSp. II, Sp. 487; StWG., S. 493; SchG. VII, S. 486. Vor allem im Liber Benedictionum und im Cod. Sang. 159 finden sich mehrere Beispiele von Glossengruppen, die sich innerhalb eines bestimmten semantischen Feldes bewegen. Auch hier darf angenommen werden, dass die Handschriften jeweils intensiv in den monastischen Unterricht miteinbezogen wurden und sich die Übersetzungen aus einer regen Auseinandersetzung mit den jeweiligen semantischen und grammatikalischen Besonderheiten der lateinischen Schriften ergeben haben.31

5.6 Beispiel 6: Cod. Sang. 454 (Glosse 454:3) Cod. Sang. 454 (BStK.-Nr. 230; Scherrer 1875, S. 148–149; vgl. Abb. 13) 3. S. 291, Randtext, Z. 2 (2) Piscem XII · Christu · palmorum longum · in fluuiolo quodam paruissimo comprehendit. (Ado von Vienne, Martyrologium, marginaler Beitext, eigene Edition) () in fluuiolo quodam paruissimo – steinah (StSG. II, 1, 16–17) Das Interpretament ist eine Glosse zu einem längeren lateinischen Zusatztext, der links oben beginnt und am rechten Rand des Blattes bis zur 11. Zeile des Haupttextes fortgesetzt wird. Die Glosse steht über der 2. Zeile dieses Randtextes. Sie beginnt über dem -a- von paruissimo und endet auf dem zweiten -i- desselben Wortes. steinah: Nom. Sg. st. F. Flussname ahd. steinaha ‚Steinach‘ – GSp. VI, Sp. 690; StWG., S. 589. Bei der Glosse Nr. 454:3 müssen der Randtext und die Glosse paläographisch separat betrachtet werden, da das Interpretament Merkmale aufweist, die atypisch für die Hand Ekkeharts IV. sind. Der Randtext hingegen ist wahrscheinlich von der Hand Ekkeharts IV. geschrieben.

|| 30 Es stellt sich die Frage, weshalb Ekkehart IV. den Fischnamen Illanke, und dadurch indirekt den Flussnamen Ill, erwähnt. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass er mit diesem Namen während seiner Reise nach Mainz in Kontakt kam. Allenfalls führte ihn diese durch das Elsass, das von der linksrheinischen Ill durchflossen wird. 31 Vgl. Bergmann et Tax 2009, 1631.

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Einige Merkmale des Randtextes sind folgende: Allg. a e g m n

Buchstaben mit langen Schäften (f, p, q, s) reichen bis unter die Zeile und weisen Positionsschwankungen auf. Ungleichmässige Schrift, die in hellbrauner Tinte gehalten ist. Die Bäuche reichen vielfach bis zu den oberen Winkelschenkeln. Abstriche durchwegs senkrecht oder sie fehlen vereinzelt. Die unteren Schlingen sind offen und haben eine starke Rechtsneigung. Abstrich-Serifen bei den zweiten Schäften. Vereinzelt haben die ersten Schäfte Tendenz zur Verlängerung. Abstrich-Serifen in den zweiten Schäften. Erste Schäfte haben oftmals Tendenz zur Verlängerung.

Die Glosse hingegen weist unter anderem folgende Merkmale auf: Allg.

a e h i n s t

Die Tinte ist heller als diejenige des Grundtextes. Sehr sorgfältige, gleichmässige Schrift. Die Buchstaben sind sehr eng beieinander geschrieben, was im Falle des ersten Wortteils (stein-) sogar dazu führt, dass die Buchstaben ineinander verkeilt sind. Sorgfältig gerundeter Bauch. Der obere Winkelschenkel ist deutlich gezeichnet. Ein Abstrich fehlt. Der Buchstabe sieht wie ein c aus. Der erste Schaft enthält eine leichte Abstrich-Serife. Der zweite Schaft enthält einen langen Abstrich, der deutlich unter die Zeile reicht. Der Buchstabe wird vermutlich lediglich mit einem langen Abstrich am unteren Bogen angedeutet. Beim zweiten n enthalten beide Schäfte Abstrich-Serifen und sie enden alle auf der Zeile. Die oberen Bogen sind eckig gehalten. Der Schaft endet auf der Zeile. Der Buchstabe ist senkrecht gehalten. Der Abstrich schliesst senkrecht an den Schaft an und ist nicht gebogen. Der Querbalken ist oben am Schaft angesetzt.

Die Hand der Glosse Nr. 454:3 unterscheidet sich zudem deutlich von derjenigen der anderen zwei Glossen im Codex. Die relativ deutliche Schrift und insbesondere die kompakte Schreibweise des Diphthongs -ei- könnten ein Hinweis darauf sein, dass die Glosse von einem mittelhochdeutschen Schreiber stammt. Im Cod. Sang. 393 findet sich ebenfalls ein Beleg für den Flussnamen Steinach (Glosse Nr. 393:21). Zum Lemma riuum ist volkssprachlich steinaha notiert. In diesem Fall ist hingegen die paläographische Zuweisung zur Hand Ekkeharts IV. eindeutiger.

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5.7 Beispiel 7: Cod. Sang 176 (Glosse 176:1) Cod. Sang. 176 (BStK.-Nr. 256b; Scherrer 1875, S. 63) 1. Innere Seite des hinteren Buchdeckels, Z. 7 des Schmähverses auf Grimoald im unteren Teil der Seite ( 7) Crimalto fratrum facetiori V X X V VIII I XVII XVIIII ..... .......... .......... ..... ........ . ................. ......... ........32 (Ekkehart IV., Schmähvers auf Grimoald: Hattemer, Denkmahle, Bd. I, S. 412) cloph runa (Hattemer, Denkmahle, Bd. I, S. 412; Bergmann, Kleinigkeiten, S. 39) In dem fraglichen Vers ist der Name des Verfassers Ekkehart in einer Punktgeheimschrift verschlüsselt, in der für jeden Buchstaben so viele Punkte stehen wie seiner Position im Alphabet entsprechen [...]. Über den Punkten in der betreffenden Anzahl steht die jeweilige Zahl, also: V = e, X = k, X = k, V = e, VIII = h, I = a, XVII = r, XVIIII = t. Über dem ganzen Eintrag steht die Interlinearglosse chloph  runa  Der erste Zwischenpunkt ist allerdings nicht vorhanden, worin mit B. Bischoff ein Kompositum zu sehen ist, das er mit ‚Klopfrunen‘ wiedergibt. Im Hinblick auf die heutige Bedeutung des Wortes Rune ‚Zeichen der von den Germanen benutzten Schrift‘ ist eine derartige Übersetzung allerdings nicht akzeptabel; es müsste dann eher ‚Klopfbuchstabe‘ gewählt werden. Da für runa und verwandte Wörter im Althochdeutschen jedoch nur Bedeutungen im semantischen Feld ‚Geheimnis‘ belegt sind, ist eher die Bedeutung ‚geheimes Klopfzeichen‘ anzunehmen. Das Wort ist in jedem Fall eine semantisch einleuchtende Interlinearglosse, jedoch zu keinem lateinischen Lemma, sondern zu der besonderen Geheimschrift und der mit ihr offenbar verbundenen Geheimsprache.33

chloph runa: Nom. Sg. st. F. chloph runa ‚geheimes Klopfzeichen‘ – (SchW., S. 189); StWG., S. 498f.; SchG. V, S. 262. Auf Grund der Schreibweise für die Affrikata pf, sowie wegen verschobenem germanischen k zu ch im Anlaut, kann die Glosse eindeutig dem alemannischen Dialekt zugeordnet werden.34 Wie bereits eingangs erwähnt, ist unsicher, ob es sich bei der Glosse Nr. 176:1 um einen Eintrag Ekkeharts IV. handelt.35 Eine genaue Bestimmung kann diesbezüglich auch nicht gemacht werden, da einzelne Buchstaben typische paläographische Merkmale der Hand Ekkeharts IV. aufweisen, andere allerdings wiederum relativ atypische. Die Buchstaben r und u zeigen Ähnlichkeiten mit denen, die Ekkehart IV. || 32 Zu sehen sind bei diesem chiffrierten Buchstaben nur siebzehn Punkte. Hinter der unteren Punktreihe befindet sich jedoch eine radierte Stelle. 33 Bergmann 2000, 39. 34 Vgl. BRG. §131, A4 und §144. 35 Vgl. Nievergelt 2009, 1475.

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unter anderem in seinem Autograph und in seinen Glossen schreibt. Eher atypisch sind hingegen die anderen Buchstaben, wie die folgende Ausführung zeigt: Allg. a c h n o p

Die Schrift ist nicht schön und gleichmässig. Die Tinte ist heller als der Grundtext. Die Striche – fast Buchstaben – (mit Ausnahme des zweiten h) sind klar verbunden. Schräggestellter Schaft, der die Form eines modernen, schräggestellten s hat, relativ kleiner Bauch, der bis zum oberen Winkelschenkel reicht. Die Rundung ist nicht sehr sorgfältig ausgeführt, der Buchstabe hat eine längliche Form. Die zweiten Schäfte werden im Abstrich leicht nach links gezogen. Keine Abstrich-Serife beim zweiten Schaft. Mit einem Strich geschrieben. Relativ kleiner Halbkreis, der sehr weit oben an den Schaft anschliesst.

Es fehlen zudem jegliche Art von Akzenten, die vor allem im zweiten Wortteil (runa) zu erwarten wären. Dies ist natürlich nur bedingt ein Hinweis darauf, ob es sich bei der Glosse tatsächlich um einen Eintrag von Ekkehart IV. handelt. Im Gegensatz zur althochdeutschen Glosse zeigt der Text selbst paläographische Merkmale, die typisch für die Hand Ekkeharts IV. sind. Im Folgenden sind diese Merkmale aufgelistet: Allg a g m n s z

Die Schrift ist unregelmässig und weist eckige und zum Teil gebrochene Formen auf. Die Bäuche reichen bis zu den oberen Winkelschenkeln. Bisweilen offene untere Schlinge, die eine Rechtsneigung aufweist. Abstrich-Serifen bei den zweiten Schäften. Die ersten Schäfte sind vielfach länger als die zweiten. Bisweilen sind die ersten Schäfte länger als die zweiten. Die Schäfte reichen vielfach unter die Zeile. Typische Schreibweise mit einer horizontalen Wellenlinie als oberer Querbalken und einer Schlaufe, die daran anschliesst.

6 Schluss Die Anzahl der althochdeutschen Wörter, die von Ekkehart IV. stammen, ist zwar relativ gering. Zählt man allerdings die lateinischen Glossen und Kommentare hinzu, so ist sein Gesamtwerk als Glossator doch sehr umfangreich. Dies ist auf jeden Fall ein Hinweis darauf, dass sich Ekkehart IV. immer wieder intensiv mit den Texten auseinandersetzte. Vor allem an seinem Werk, dem Liber Benedictionum im Cod. Sang. 393, hat er über einen langen Zeitraum immer wieder gearbeitet. Dies zeigt sich auch an den zahlreichen Rasurspuren im Text selbst, sowie in den interlinearen und marginalen Glossen und Kommentaren. Gerade die zahlreichen Korrekturen seines Textes sowie der althochdeutschen und lateinischen Glossen zeigen zudem, dass er bestrebt war,

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so genau wie möglich zu übersetzen und kommentieren. Es gibt demnach, wie in der Analyse ersichtlich ist, kaum Interpretamente, die nicht mit der Flexion der Lemmata übereinstimmen. Es fällt auf, dass Ekkehart IV. sehr darum bemüht war, althochdeutsche Wörter zu akzentuieren. Auch wenn er das von seinem Vorgänger Notker III. eingeführte System nicht konsequent weitergeführt hat, so ist doch erkennbar, dass ihm das Setzen von Akzenten ein grosses Anliegen war. Dies zeigt sich einerseits bei der grossen Menge an akzentuierten Wörtern und andererseits darin, dass Wörter, die auf Grund der paläographischen Analyse nicht von ihm stammen, möglicherweise nachträglich von ihm akzentuiert wurden. Die vorliegende Arbeit beschränkte sich in vielfacher Hinsicht auf einen kleinen Teilbereich in der Ekkehartforschung. Nur schon die Auswahl von 17 Codices, die hier untersucht wurden, stellt eine klare Einschränkung des Gebiets dar. Zudem beschränkte sich die Untersuchung lediglich auf die althochdeutschen Wörter, die, im Vergleich zu den lateinischen Glossen und Kommentaren Ekkeharts IV., den geringeren Teil ausmachen. Eine umfassende Analyse sämtlicher lateinischer, wie auch althochdeutscher Ekkehart-Glossen wäre ein mittelfristig begrüssenswertes Ziel. Vor allem die Frage, ob Ekkehart für die Glossierung von Notkers Psalter verantwortlich ist, bedarf noch einer kritischen literaturwissenschaftlichen und historisch-linguistischen Untersuchung. Die zukünftige Beschäftigung mit Ekkeharts IV. schriftlichem Werk müsste vor allem auch im interdisziplinären Bereich weitergeführt werden. Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Nachfolger Notkers III. aus germanistischer, mittellateinischer, paläographischer, literaturwissenschaftlicher und historischer Sicht dürfte wohl noch einige Fragen zum mittelalterlichen Klosterbetrieb, Schrifttum und Sprachstand beantworten.

Die althochdeutschen Glossen Ekkeharts IV. in den St. Galler Handschriften | 91

7 Bibliographie 7.1 Quellen Cod. Sang. 102 = St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 102 (BStK.-Nr. 180). Cod. Sang. 110 = St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 110 (BStK.-Nr. 182). Cod. Sang. 143 = St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 143 (BStK.-Nr. 190). Cod. Sang. 159 = St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 159 (BStK.-Nr. 191). Cod. Sang. 162 = St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 162 (BStK.-Nr. 192) Cod. Sang. 166 = St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 166 (BStK.-Nr. 193). Cod. Sang. 168 = St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 168 (BStK.-Nr. 194). Cod. Sang. 174 = St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 174 (BStK.-Nr. 195). Cod. Sang. 175 = St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 175 (BStK.-Nr. 196). Cod. Sang. 176 = St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 176 (BStK.-Nr. 256b). Cod. Sang. 245 = St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 245 (BStK.-Nr. 209). Cod. Sang. 260 = St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 260 (BStK.-Nr. 211). Cod. Sang. 279 = St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 279 (BStK.-Nr. 217). Cod. Sang. 280 = St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 280 (BStK.-Nr. 218). Cod. Sang. 393 = St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 393 (BStK.-Nr. 227). Cod. Sang. 454 = St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 454 (BStK.-Nr. 230). Cod. Sang. 578 = St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 578 (BStK.-Nr. 235).

7.2 Editionen zu den glossierten Texten CSEL 79 = Ambrosius Mediolanensis: De spiritu sancto libri tres, De incarnationis dominicae sacramento, recensuit Otto Faller (1964). (Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum, Vol. 79). Wien. PL 35 = Aurelius Augustinus: Sancti Aurelii Augustini, Hipponensis Episcopi, Opera omnia, post Lovaniensium theologorum recensionem castigata denuo ad manuscriptos codices Gallicos, Vaticanos, Belgicos, etc., necnon ad editiones antiquiores et castigatiores, opera et studio monachorum Ordinis Sancti Benedicti e congregatione S. Mauri (1841). (Patrologia Latina, Vol. 35). Paris. PL 67 = Dionysius Exiguus: Dionysii Exigui, Viventioli, Trojani, Pontiani, S. Caesarii Arelatensis episcopi, Fulgentii Ferrandi et Rustici, quorum prior Carthaginensis, posterior Romanae Ecclesiae diaconus, necnon Justi, Facundi, Urgellensis et Hermianensis episcoporum, Opera omnia...accurante J.-P. Migne (1865). (Patrologia Latina, Vol. 67). Paris. Egli, LB = Egli, Johannes (1909): Der Liber Benedictionum Ekkeharts IV. nebst den kleineren Dichtungen aus dem Codex Sangallensis. (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 31, Folge 4, Bd. 1). St. Gallen. CSEL 54–56 = S. Eusebius Hieronymus: Epistulae, ed. Isidorus Hilberg (1996). Erweiterte und ergänzte Ausgabe. (Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum, Vol. 54 (Epp. 1–70); Vol. 55 (Epp. 71–120); Vol. 56 / 1 (Epp. 121–154); Vol. 56 / 2 (Indices). Wien.

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7.3 Althochdeutsche Wörterbücher, Grammatiken, Glossenkataloge und Glossen-Editionen AWB. = Althochdeutsches Wörterbuch. Aufgrund der von Elias von Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen im Auftrag der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig begründet von Elisabeth Karg-Gasterstädt u. Theodor Frings, hg. v. Rudolf Grosse (1968ff.). Bd. I–V [6. Lieferung, bis kumil]. Berlin. BStK. = Bergmann, Rolf und Stricker, Stefanie (2005): Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften. 6 Bde. Berlin. Bergmann 2000 = Bergmann, Rolf (2000): Zehn St. Galler Kleinigkeiten. Glossen zu allem möglichen ausserhalb von Texten. In: Plangg, Guntram A et Thurnher, Eugen (Hgg.): Sprache und Dichtung in Vorderösterreich: Elsass, Schweiz, Schwaben, Vorarlberg: ein Symposium für Achim Masser zum 65. Geburtstag am 12. Mai 1998. Innsbruck. S. 36–39. BRG. = Braune, Wilhelm und Reiffenstein, Ingo (2004): Althochdeutsche Grammatik. Bd. 1: Lautund Formenlehre. Tübingen. GSp. = Graff, Eberhard Gottlieb (1834–1842): Althochdeutscher Sprachschatz oder Wörterbuch der althochdeutschen Sprache. Bde. I–VI. Berlin. Hattemer 1844ff. = Hattemer, Heinrich (Hg.) (1844–1849): Denkmahle des Mittelalters. S[ankt] Gallen’s altteutsche Sprachschätze. 3. Bde. St. Gallen. EWA. = Lloyd, Albert L. und Springer, Otto (1988ff.): Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen. 4 Bde. Göttingen. Mayer 1975 = Mayer, Hartwig (1975): Althochdeutsche Glossen. Nachträge zu Bergmann, Rolf: Verzeichnis der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften. Toronto. RSV. = Raven, Frithjof Andersen (1963–1967): Die schwachen Verben des Althochdeutschen. 2 Bde. (Beiträge zur deutschen Philologie, 18, 36). Giessen. Scherrer 1875 = Scherrer, Gustav (1875, Nachdruck 1975): Verzeichnis der Handschriften der Stiftsbibliothek von St. Gallen. Halle. SchG. = Schützeichel, Rudolf (2004): Althochdeutscher und Altsächsischer Glossenwortschatz. 12 Bde. Tübingen. SchW. = Schützeichel, Rudolf (2006): Althochdeutsches Wörterbuch. (6. Auflage). Tübingen. StWG. = Starck, Taylor und Wells, John Christopher (1972): Althochdeutsches Glossenwörterbuch (mit Stellennachweis zu sämtlichen gedruckten althochdeutschen und verwandten Glossen). Heidelberg. StSG. = Steinmeyer, Elias und Sievers, Eduard (1968–1969): Die althochdeutschen Glossen. 5 Bde. Berlin (Nachdruck der Ausgabe: Dublin 1879–1922).

7.4 Forschungsliteratur Bergmann et Tax 2009 = Bergmann, Rolf und Tax, Petrus W. (2009): Ekkehart IV. von St. Gallen als Glossator. In: Bergmann, Rolf und Stricker, Stefanie (Hgg.): Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie – Ein Handbuch. Berlin und New York. Bd. II, S. 1620–1634. Eisenhut 2009 = Eisenhut, Heidi (2009): Die Glossen Ekkeharts IV. von St. Gallen im Codex Sangallensis 621 (Monasterium Sancti Galli 4). St. Gallen. Hildebrandt 1992 = Hildebrandt, Reiner (1992): Uuillechomô! Ekkeharts IV. beliebte Grussformel. In: Burger, Harald et al. (Hrsg.): Verborum amor. Studien zur Geschichte und Kunst der deutschen Sprache. Festschrift für Stefan Sonderegger zum 65. Geburtstag. Berlin. S. 238–248.

Die althochdeutschen Glossen Ekkeharts IV. in den St. Galler Handschriften | 93

Meineke 1991 = Meineke, Birgit (1991): Althochdeutsche –scaf(t)-Bildungen. (Studien zum Althochdeutschen, Bd. 17). Göttingen. Nievergelt 2009 = Nievergelt, Andreas (2009): St. Galler Glossenhandschriften. In: Bergmann, Rolf und Stricker, Stefanie (Hgg.): Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie – Ein Handbuch. Berlin und New York. Bd. II, S. 1462–1527. Schuler 2010 = Schuler, Ivan (2010): Die althochdeutschen Glossen Ekkeharts IV. in den St. Galler Handschriften. Neuedition, sprachgeografische Einordnung und paläographische Analyse. Unveröffentlichte Lizentiatsarbeit. Zürich. Sonderegger 2003 = Sonderegger, Stefan (2003): Althochdeutsche Sprache und Literatur. (3. Auflage). Berlin.

7.5 Onlinequellen Die elektronischen Quellen werden in dieser Arbeit in den jeweiligen Verweisen mit der vollständigen Internetadresse wiedergegeben. Benutzt wurden folgende zwei Quellen: –

St. Gallen, Stiftsbibliothek, www.e-codices.unifr.ch (sämtliche Verweise wurden am 26.8.2013 zum letzten Mal überprüft): Abb. 1: St. Gallen Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 102, S. 77 (www.e-codices.unifr.ch). Abb. 2: St. Gallen Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 110, S. 213 (www.e-codices.unifr.ch). Abb. 3: St. Gallen Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 159, S. 72 (www.e-codices.unifr.ch). Abb. 4: St. Gallen Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 159, S. 72 (www.e-codices.unifr.ch). Abb. 4: St. Gallen Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 393, S. 18 (www.e-codices.unifr.ch). Abb. 5: St. Gallen Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 159, S. 349 (www.e-codices.unifr.ch). Abb. 7: St. Gallen Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 168, S. 122 (www.e-codices.unifr.ch). Abb. 8: St. Gallen Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 393, S. 186 (www.e-codices.unifr.ch). Abb. 9: St. Gallen Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 393, S. 187 (www.e-codices.unifr.ch). Abb. 10: St. Gallen Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 393, S. 187 (www.e-codices.unifr.ch). Abb. 11: St. Gallen Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 159, S. 197 (www.e-codices.unifr.ch). Abb. 12: St. Gallen Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 454, S. 291 (www.e-codices.unifr.ch). Abb. 13: St. Gallen Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 176, bindingF (www.e-codices.unifr.ch).



Eisenhut, Heidi: Die Glossen Ekkeharts IV. im Codex Sangallensis 621: Elektronische Edition, http://orosius.monumenta.ch (26.8.2013).

Philipp Lenz

Die Glossen Ekkeharts IV. als paläographisches und methodisches Problem 1 Einleitung Der Paläographie kommt in der Erforschung der Glossen Ekkeharts IV. eine Schlüsselrolle zu, weil sie als Kriterium für die Zugehörigkeit gewisser Sprachdenkmäler zu einem bestimmten Kanon dient. Angesichts dieser grossen Bedeutung erstaunt es, dass sich die Forschung – mit der Ausnahme von Heidi Eisenhut1 und Ivan Schuler2 – in den letzten Jahrzehnten kaum mit der Methode der Paläographie und den Problemen der Zuweisung von Texten und Glossen an Ekkehart IV. beschäftigt hat. Zudem hat wohl seit der breit angelegten Untersuchung des Skriptoriums des Klosters St. Gallen von Albert Bruckner3 niemand mehr versucht, den gesamten St. Galler Handschriftenbestand, der um die Codices dispersi zu ergänzen wäre, nach lateinischen und althochdeutschen Glosseneinträgen von Ekkehart IV. zu durchsuchen.4 Stattdessen behilft sich die Forschung entweder mit der Zusammenstellung vornehmlich kumulativer Listen unter Verzicht auf eigenhändige Überprüfung der Handschriften und ohne ausdrücklichen paläographischen Befund oder sie beschränkt sich auf bekannte Textträger von althochdeutschen Glossen.5 Der ungebremste Drang zur Zuweisung von Glossen des 11. Jahrhunderts an Ekkehart IV.,6

|| 1 Eisenhut 2009; 2013. 2 Schuler 2010; zudem sein Beitrag in diesem Band. 3 Bruckner 1936; 1938. 4 Die gründlichen Untersuchungen von Andreas Nievergelt konzentrieren sich (bis anhin) auf die systematische Durchsicht der Handschriften mit althochdeutschen Glossen des 8. und beginnenden 9. Jahrhunderts. Vgl. aber den über diese Zeit hinausgehenden einschlägigen Beitrag von Nievergelt 2009b. 5 Vgl. einerseits die verschieden aufwendig gestalteten jüngeren Zusammenstellungen bei Osterwalder 1982, 52–53, Anm. 2 und 1985, 73, Anm. 5, Weber 2003, 308, Bergmann/Tax 2009, 1622–1624, Eisenhut 2009, 419–424 und Froschauer 2012, 35–42. Vgl. andererseits die mindestens teilweise bzw. gänzlich auf der Autopsie der Handschriften mit althochdeutschen Eintragungen beruhenden Untersuchungen von Bergmann/Stricker 2005, Nr. 180, 182, 190–196, 209, 211, 215, 217, 218, 227, 230, 235–237, 256b und Schuler 2010. Keinerlei paläographische Diskussion findet in den Einzelstudien von Hildebrandt 1992 und Leithe-Jasper 2002 und 2007 statt. 6 Die Anzahl der Handschriften, die Ekkehart IV. zugeschriebene Eintragungen enthalten, hat sich seit Lehmann 1941, 369 mittlerweile ungefähr verdoppelt. Vgl. Froschauer 2012, 35–42. Nur Schuler 2010 hat die Anzahl zugewiesener Glossen vermindert. Man vgl. zu diesem Problem die Mahnung von Bischoff 1974, 5 vor der überstürzten Zuweisung von Handschriften an ein Skriptorium, welche auf die unvorsichtige Zuschreibung von Glossen an Ekkehart IV. übertragen werden kann: „Metho-

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kombiniert mit dem Desinteresse der Forschung für andere zeitgenössische, aber anonyme St. Galler Glossatoren führt dazu,7 dass jener bisweilen als selbstreferentielles Wissenschaftskonstrukt erscheint, welches der Bündelung verschiedener intellektueller Praktiken und geistiger Erzeugnisse fast eines Jahrhunderts im Galluskloster dient.8 Die Defizite in der paläographischen Erforschung der Glossen Ekkeharts IV. erhellt die (unveröffentlichte) Lizentiatsarbeit von Schuler.9 Bei seiner paläographischen Überprüfung von althochdeutschen Glossen in einer Auswahl von 17 Handschriften ist er zum Schluss gelangt, dass ein Dutzend der über 70 bislang Ekkehart IV. zugewiesenen althochdeutschen Eintragungen in diesen Handschriften mit grosser Wahrscheinlichkeit von jemand anderem stammen und drei Handschriften hinsichtlich der althochdeutschen Glossierung gänzlich auszuscheiden seien. Der unbefriedigende Forschungsstand mag auch daher rühren, dass der ideale Erforscher der Glossen von Ekkehart IV. nicht nur in der lateinischen, griechischen und althochdeutschen Philologie sowie in dem Schulkanon der Septem artes liberales, sondern auch in der Paläographie und in der Kodikologie bewandert sein und die Schaffenskraft zur Bewältigung des gesamten St. Galler und eventuell Mainzer Korpus an möglichen Text- und Schriftzeugnissen des Gelehrten besitzen sollte.10 Während die Verbindung zwischen der mittellateinischen und der althochdeutschen Forschung ausdrücklich gefordert11 und ihr Fehlen gerügt worden ist,12 || discher Grundsatz sollte bei jeder Studie über ein Skriptorium die scharfe Abtrennung alles nicht genügend gesicherten oder gar sichtlich fremden Schriftgutes sein; eine Vernachlässigung dieses Prinzips führt notwendigerweise zu einer Verfälschung des historischen Bildes, und die unbegründete Ausschliessung einer Handschrift ist leichter wieder gut zu machen als die voreilige Aufnahme, auf die weitertragende Schlüsse gebaut werden.“ 7 Zum allgemein lückenhaften und gerade aus paläographischer Sicht unbefriedigenden Stand der Erforschung der St. Galler Glossen vgl. Nievergelt 2009b, 1469–1470. 8 Eine weitere Stufe der Glossenzuweisungen an Ekkehart IV. betreffen die geschätzten 7’000 hauptsächlich althochdeutschen, angeblich im zweiten Viertel des 11. Jahrhunderts verfassten Glossen im Psalter Notkers III., welche wie der Grundtext erst in einer späteren, im 12. Jahrhundert in Einsiedeln erstellten Abschrift vorliegen. Diese von Sonderegger 1970, 51–56, 113–130 vor langer Zeit aufgenommene und begründete und von Tax 2011, 223–224 kürzlich vehement verteidigte Zuweisung beruht folglich keineswegs auf paläographischen, sondern auf sprachlichen, stilistischen, inhaltlichen und kontextuellen Erwägungen und vor allem auf der Ansicht, nur Ekkehart IV. habe eine derart meisterhafte, kunstvolle und seinem Lehrer Notker III. würdige Bearbeitung der Psalmen hervorbringen können. Vgl. dazu weitere Literaturangaben bei Grotans 2006, 7, Anm. 10– 14; 93, Anm. 205 und Hellgardt 2009, 340, Anm. 14. Zur möglichen Kenntnis und Überarbeitung des mittellateinischen Waltharius-Epos durch Ekkehart IV., welche die jüngere Forschung vorsichtig, aber zunehmend zu bejahen scheint, vgl. die bei Patzold 2013, 300, Anm. 18 zitierte Literatur sowie ausführlich Beckmann 2010, 125–160. 9 Schuler 2010, 117–118 und passim. 10 Vgl. Tax 2011. 11 Bergmann/Tax 2009, 1633; Froschauer 2012, 43.

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scheint die im Verhältnis zu den beiden vorgenannten Disziplinen marginale Rolle paläographischer Reflexionen im Wissenschaftsdiskurs rund um die Glossen Ekkeharts IV. niemanden zu stören.13 Wer eine definitive Liste aller von Ekkehart IV. geschriebenen Glossen erwartet, welche die heute existierenden und um mindestens zwei weitere Handschriften zu erweiternden kumulativen Zusammenstellungen ersetzen würde, den werden die nachfolgenden Ausführungen enttäuschen.14 Wie aus dem Titel hervorgeht, beschäftigt sich diese Untersuchung hauptsächlich mit grundlegenden Fragen und nicht mit den zahlreichen Einzelzuweisungen. Dies liegt auch daran, dass unserer Ansicht nach das Thema der Glossen Ekkeharts IV. tief in einer bestimmten Forschungstradition verankert ist und viele methodische Probleme birgt, derer sich die Wissenschaft nicht immer bewusst zu sein scheint und die einer grundsätzlichen Klärung bedürfen.

2 Historiographische, methodische und paläographische Probleme Ekkehart IV. († ca. 1060) wird in einem Atemzug mit weiteren berühmten St. Galler Mönchen wie Sintram († nach 895), Folchart († nach 898), Ratpert († ca. 911), Tuotilo († nach 912), den drei Notkeren (Notker I. † 912, Notker II. † 975, Notker III. † 1022) und seinen drei Namensvettern (Ekkehart I. † 973, Ekkehart II. † 990, Ekkehart III. † erste Jahrzehnte des 11. Jahrhunderts) genannt. Mit ihm neigt sich die Reihe grosser Gelehrter und Schöpfer des früh- und hochmittelalterlichen Gallusklosters zu Ende, welche in der gegenwärtigen Historiographie über dieses Kloster eine wichtige Rolle spielen.15 Als Verfasser der ersten Fortsetzung der von Ratpert begonnenen Casus Sancti Galli hat Ekkehart IV. selbst viel zur Kenntnis und Berühmtheit der meisten der genannten St. Galler Mönche beigetragen. In der Passage zur Herstellung des Evangelium longum16 durch Tuotilo und Sintram sowie in den Gelehrtenpor|| 12 Tax 2011. 13 Die marginale Rolle der Paläographie äussert sich neben der fehlenden Reflexionstiefe rein äusserlich in dem relativ knapp bemessenen Raum für ihre Behandlung und in der geringen Anzahl an fachspezifischen bibliographischen Verweisen. 14 Die oben in Anm. 5 genannten Zusammenstellungen wären um die von Hoffmann 1986, 399, 476 vollzogenen möglichen Handzuweisungen zu ergänzen. Es handelt sich um Zürich, Zentralbibliothek, Ms. Rh. 44, S. 5, Z. 14–28, so auch schon Nievergelt 2009b, 1475, Anm. 39 und um Göttingen, Universitätsbibliothek, Hs. theol. 99, f. 163v–164r, Z. 5. Zu einem weiteren Eintrag Ekkeharts IV. in Cod. Sang. 915 siehe ebenfalls Hoffmann 1986, 368, Anm. 3. Siehe zusätzlich Anm. 31 im Beitrag von Andreas Nievergelt in diesem Band. 15 Vgl. z.B. Sonderegger 1970, 51, 119; Duft 1991a; Ochsenbein/Schmuki 1992. 16 Cod. Sang. 53.

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traits von Notker I., Tuotilo, Ratpert und Notker II. schildert er besonders ausgiebig ihre Leistungen in Dichtung, Musik, Malerei, Schreib- und Schnitzkunst sowie ihre Tüchtigkeit als Lehrer und lässt die Zeit der vorangehenden Mönchsgenerationen buchstäblich in vollem Glanz erscheinen.17 Die Absicht Ekkeharts IV., die guten alten Zeiten den von ihm missbilligten monastischen Reformen der Gegenwart unter Abt Nortpert (1034–1072) entgegenzustellen, ist allgemein bekannt.18 Das Weiterwirken seines personenzentrierten Erzählmodells – wie auch desjenigen der Hagiographie der Gründerväter19 – in den heutigen Darstellungen zum mittelalterlichen Galluskloster wird jedoch kaum jemals thematisiert.20 Eine Ausnahme ist Andreas Haug, der in seinem Abriss über die Forschungslage der mittelalterlichen Musikgeschichte des Klosters St. Gallen dieses häufig übergangene Problem – zusammen mit den Problemen der Konzentration der Überlieferung in St. Gallen und ihrer Einordnung in die Gesamtüberlieferung – direkt ausgesprochen hat. Seine Ausführungen haben grundsätzlich über die Musikgeschichte hinaus Gültigkeit, weshalb sie hier im Wortlaut zitiert werden sollen: Die Verlegenheit, zwischen der historischen und der historiographischen Bedeutung des bedeutungsvoll erscheinenden Orts nicht unterscheiden zu können, überspielte selbst seriöse Forschung oft durch blosse Panegyrik oder entzog sich ihr durch Fokussierung auf Detailbefunde. Hinzu kommt, dass die klostereigene Geschichtsschreibung Sankt Gallens den Werken seiner Dichter und Musiker fast die gleiche Aufmerksamkeit beimisst wie den Taten seiner Äbte. Zahlreich wie in keinem anderen Ort entlässt sie Autoren von Musik und Texten aus der Anonymität liturgischer Überlieferung und assoziiert die Namen mit individuellen oder pseudoindividuellen künstlerischen Physiognomien. Gegen die Suggestivkraft dieser Selbstdarstel-

|| 17 Kap. 22 (Tuotilo, Sintram), 33–34, 46 (Notker I., Ratpert, Tuotilo), 80 (Ekkehart I., Notker III.), 95 (Ekkehart III.), 123 (Notker II.), 128, 131 (Ekkehart II.) gemäss Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 52013, 56–59, 76–79, 102–105, 166–169, 194–195, 238–241, 248–249, 253–255. Weitere Erläuterungen und Verweise bei Tremp 2005, 385–398. Zur Bedeutung der Persönlichkeiten in den Casus Ekkeharts IV. im Sinn einer „Palette positiver wie negativer Mönchstypen“ vgl. Patzold 2013, 305–309, hier zitiert 308. 18 Vgl. Tremp 2005, 385–398; Patzold 2013, 300–305. 19 Zur bescheidenen und fast vollständig auf das Kloster beschränkten Wirkungsgeschichte der Casus Ekkeharts IV. und sämtlicher Casus vor der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts vgl. Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 52013, 462–463 und Ratpert, Casus Sancti Galli/Steiner 2002, 81–102, vor allem 102–115. Die damals einsetzende dichtere Überlieferung steht im Zusammenhang mit der bewussten Förderung identitätsstiftender Texte und Kulte unter dem Pfleger und Abt Ulrich Rösch (1457–1491). Vgl. dazu Lenz 2014, 346, 362–376. Zu den Vitae und Miracula Kolumbans des Jüngeren, Gallus, Otmar und Notker I. vgl. Berschin 1999, Schmuki 1999, 194–195 und Schmuki/ Schnoor/Tremp 2011, 11–23, 60 sowie 194–196, 199 (Literaturangaben). 20 Zu den mindestens teilweise auf den St. Galler Reformator und Chronisten Joachim von Watt (1484–1551) zurückgehenden personenzentrierten Darstellungen der Geschichte des Gallusklosters in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts vgl. Lenz 2014, 83, 118–119.

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lung der mittelalterlichen Abtei war eine für Anekdotisches empfängliche, konkretistisch denkende Geschichtsschreibung nicht immun.21

In der früh- und hochmittelalterlichen Schriftgeschichte St. Gallens entfällt ebenfalls ein beträchtlicher Teil des Forschungsinteresses auf einige wenige Individuen, die dank der aussergewöhnlich guten Quellenlage namentlich fassbar werden. Mehrere St. Galler Mönche sind in Kolophonen und anderen Eintragungen in (selbst oder von anderen geschriebenen) Handschriften (Winithar, Wolfcoz, Hartmut, Folchart, Notker I., Ekkehart IV.), in chronikalisch-annalistischen und anderen Werken (Hartker) sowie in subskribierten Urkunden (Wolfcoz, Folchart, Notker I.) als Schreiber bezeugt.22 Die Liste liesse sich problemlos um weniger bedeutende Schreiber verlängern. Ein Grundanliegen der Forschung zum St. Galler Schriftwesen besteht darin, einzelne Handschriften, Seiten, Zeilen und Glossen (und eventuell Urkunden) den namentlich bekannten Schreibern zuzuweisen. Es verwundert deshalb nicht, dass vor allem die Mönche Winithar, Wolfcoz und Hartmut, aber auch Ekkehart IV. die Geschichte der Schrift und manchmal der Buchausstattung im Kloster St. Gallen vom letzten Drittel des 8. bis zum zweiten Drittel des 11. Jahrhunderts weitgehend strukturieren, und Hartmut und Wolfcoz sogar ihre Namen einem bestimmten Schrifttyp, der „Hartmut-Minuskel“ und der „Wolfocz-Schrift“, liehen.23 In der Paläographie steht dieser personenzentrierte Forschungsansatz in einem spannungsreichen Verhältnis zum ebenfalls etablierten, strukturell ausgerichteten Paradigma der Schreibschule,24 welches für St. Gallen vor allem im grossen Werk von Bruckner25 zum Tragen kommt.26 Obschon offenbar keine verbindliche Definition der Schreibschule existiert,27 bestehen keine Zweifel, dass diese gerade an ihren

|| 21 Haug 1998, 948–949. 22 Neben dem älteren Werk von Bruckner 1936; 1938 siehe die jüngeren, manchmal korrigierenden Nachweise dazu bei Rankin 1991; Berschin 1994; 2005, 19–22, 80–82; Scarpatetti 1995; Scarpatetti 1999; Hoffmann 2001, 48–49 mit Anm. 156; Zeller 2006; Euw 2008, 113–114, 394–399, 499–502 und passim; Maag 2013, 2. 23 Zum sogenannten Wolfcoz-Evangelistar vgl. nun kritisch Maag 2013. 24 Ein solches Spannungsverhältnis zwischen Schreiber und Schreibschule bzw. zwischen Individuum und Struktur betrifft nicht nur Ekkehart IV. und sein Umfeld, sondern z.B. auch Wolfcoz und die traditionell mit ihm assoziierten Handschriften. In diesem Fall wurde es dahingehend aufgelöst, dass man statt von einem einzigen Schreiber Wolfcoz von einer „Wolfcoz-Schrift“, von einem „Wolfcoz-Kreis“ und von „Wolfcoz und seinen Mitbrüdern“ spricht und sozusagen einen Mittelweg einschlug. Vgl. Scarpatetti 1995, 38–45; Euw 2008, 46–49; nun kritisch Maag 2013. 25 Bruckner 1936; 1938. 26 Weitere (strukturell ausgerichtete) Untersuchungen zum St. Galler Skriptorium finden sich bei Daniel 1973, 11–43 und Hoffmann 1986, 366–370. 27 Erstaunlicherweise haben Bruckner 1936, 1938, Bischoff 1974, 1980 und Hoffmann 2004 (vgl. auch 1986) den Begriff der Schreibschule weder definiert noch erläutert, obwohl er in den Titeln steht und die Schreibschulen den eigentlichen Forschungsgegenstand ihrer epochalen Werke dar-

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– und nur dank ihren – überindividuellen Schriftcharakteristiken erkennbar ist. Laut Hartmut Hoffmann hat sich gerade in St. Gallen „der Schulstil“ noch im 10. und 11. Jahrhundert besonders markant durchgesetzt und erhalten.28 Angesichts dessen ist bemerkenswert, dass Ekkehart IV., der schon in jungen Jahren ins Kloster kam und nach eigener Aussage die dortige Schule unter dem einheimischen Mönch Notker III. besuchte,29 laut gängiger Meinung über eine ausgeprägt individuelle Schrift verfügt habe, die nicht repräsentativ für die Schreibschule sei. Allerdings steht der verbreitete Befund, die Schrift Ekkeharts IV. sei leicht zu erkennen und unverwechselbar, im Widerspruch mit der offensichtlichen Mühe, eine definitive Liste aller seiner eigenhändigen Schriftzeugnisse zu erstellen.30 Die eingangs erwähnten zunehmenden Glossenzuweisungen an Ekkehart IV. gründen mindestens teilweise auf der Vorliebe der Forschung für diese Person. Diejenigen, die einen personenzentrierten Ansatz wählen, haben ein doppeltes Interesse daran, die Anzahl der Glossen anzuheben bzw. sich bei einer unklaren Glosse zugunsten einer Urheberschaft Ekkeharts IV. auszusprechen. Erstens vergrössern sie dadurch das zu untersuchende Glossenkorpus und zweitens steigern sie die geistigen und schöpferischen Leistungen Ekkeharts IV., deren Nachweis in den meisten Arbeiten, die seinen Namen im Titel führen, als eines der Ziele gelten

|| stellen. In der englischsprachigen Arbeit von Parkes 1982 wird zwar der im dortigen Titel analog verwendete Begriff „Scriptorium“ ebenfalls nicht definiert, aber im Lauf der Darstellung inhaltlich gefüllt und mindestens implizit reflektiert. In seinen Ausführungen zur Erkennbarkeit eines Skriptoriums (oder einer Schreibschule) verweist er auf „the remarkable degree of consistency within the handwriting of individual scribes, and the close similarities which exist between the handwriting of different scribes“ (Parkes 1982, 20), welche sich in den Handschriften des 8. Jahrhunderts von Wearmouth-Jarrow feststellen lassen. Eine ähnliche Äusserung findet sich im jüngsten Werk von Hoffmann 2012, 168: „Die Paläographie des frühen und hohen Mittelalters beruht u.a. auf der Grundvoraussetzung, dass ein Schreiber oder eine Schreiberin in jugendlichem Alter in einer Stiftsoder Klosterschule den Gebrauch der Feder gelernt hat, dass der Schreibstil, der ihm (bzw. ihr) dort beigebracht worden ist, sich durch gewisse Eigenheiten von dem Stil der anderen Schulen unterscheidet und dass die später von ihm geschriebenen Bücher (oder Buchteile) aufgrund solcher Merkmale als Produkte seiner Schule erkannt werden können.“ Newton 1999, 1, Anm. 2 verwendet in seiner voluminösen Monographie einen äusserst weiten Skriptorium-Begriff, der „the totality of the book production and its process“ umfasst. Folglich untersucht er nicht nur die für Montecassino typischen Merkmale und die Entwicklung der Schrift, sondern auch die verwendeten Materialien, das Layout, die Ausstattung und die Buchmalerei, den Prozess und die Organisation des Abschreibens, die Interpunktion und weitere graphische Markierungen sowie die Einbände. 28 Hoffmann 2004, 6; vgl. 1986, 367. 29 Siehe dazu Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 52013, 169. Vgl. auch Haefele 1980, 456. 30 Bruckner 1938, 46, Anm. 239: „in seiner charakteristischen Minuskel leicht erkennbar“; Bruckner 1938, 47: „Da indessen Ekkehart IV. eine ganz ausgeprägte individuelle Handschrift besitzt, so lässt sie sich zu chronologisch-paläographischen Vergleichen nicht besonders gut verwenden“; Duft 1991b, 217: „Ekkehart mit seiner unverwechselbaren Schrift“; Bergmann/Tax 2009, 1621: „relativ leicht erkennbar“; ähnlich auch Eisenhut 2009, 210.

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kann.31 Ob sich die Forscher tatsächlich und bewusst oder unbewusst durch dieses doppelte Interesse leiten lassen, bleibe dahingestellt. Eine eindrückliche Illustration dieses methodischen Problems bietet Eisenhut in ihrer monumentalen Untersuchung der Glossierung der Historiae adversum paganos des Orosius in Cod. Sang. 621.32 Da ihr junges Werk den Höhepunkt der personenzentrierten Forschungstradition und die ausführlichste Behandlung der Schrift Ekkeharts IV. darstellt, zudem die Rezensenten ihre paläographischen Schlussfolgerungen ausdrücklich gutgeheissen oder mindestens stillschweigend gebilligt haben, drängt sich eine gründliche Auseinandersetzung mit diesem Werk auf.33 Zwar richtet sich unsere Aufmerksamkeit und Kritik nur auf rund zwanzig Seiten34 der knapp vierhundertseitigen Darstellung, doch sind jene Teil derjenigen zwei oder drei Kapitel, welche mehrere Rezensenten für besonders wichtig erachtet haben.35 Eisenhuts paläographische Argumentation für die Zuweisung von zwei Glossenschichten – statt wie bisher der einen36 – an Ekkehart IV. gründet vornehmlich auf der Unterscheidung zwischen einer älteren (m2) und einer jüngeren Hand (m3) des St. Galler Mönchs und teilweise auf ihrer Feststellung, Ekkehart IV. habe bei der Glossierung seine Schrift derjenigen der zu bearbeitenden älteren Handschrift angepasst.37 Unabhängig davon, ob man diesen Schlussfolgerungen zustimmen will oder nicht, scheint es uns geboten, auf ihre Implikationen zu verweisen. Durch dieses Vorgehen werden nämlich Möglichkeiten geschaffen, Hände trotz unterschiedlicher Schriftmerkmale derselben Person, Ekkehart IV., zuzuweisen und somit die ihm zuzurechnenden Glossen von ca. 2‘500 auf ca. 5‘500 mehr als zu verdoppeln. Im Zentrum der paläographischen Diskussion wird Cod. Sang. 393 stehen, der gemeinhin als Autograph Ekkeharts IV. gilt. Insofern fügt sich unsere Untersuchung auch in die lange Reihe von Fragestellungen zu den mittelalterlichen Autographen ein.38 Diese reichen von der heutigen Faszination für autographe Texte, die teilweise auf einem anachronistischen, neuzeitlichen Bild des Autors beruht,39 über deren

|| 31 Eine Ausnahme stellt Schuler 2010 dar, der stets eine wohltuende Distanz zu Ekkehart IV. wahrt und sich durch dessen „Genie“ nicht vereinnahmen lässt. 32 Eisenhut 2009, 210; vgl. auch 2013. 33 Neben den bei Eisenhut 2013, 100, Anm. 11 vermerkten Rezensionen haben wir diejenigen von Vaciago 2010 und Lukas 2012 geprüft. Froschauer 2012, 49, 51 folgt ebenfalls Eisenhut 2009. 34 Eisenhut 2009, Unterkapitel 4.2.5. 35 Vgl. Kössinger 2009; Tax 2011, 211. 36 m3; vgl. z.B. Scarpatetti 2003, 221. 37 Eisenhut 2009, 203–223. 38 Zur Definition und Abgrenzung von Autographen vgl. Hoffmann 2001, 2–8, hier zitiert 2: „Unter einem Autograph verstehen wir ein Pergament, auf das ein Autor seinen eigenen Text mit eigener Hand geschrieben hat.“ 39 Vgl. Schmidt 1994, 137–139.

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Bedeutung und Implikationen für die Editionswissenschaft40 und über die Möglichkeit des Nachvollzugs der Arbeitsweise des Autors bis hin zum grossen Problem der Erkennbarkeit von Autographen.41 Die gelehrte und schöpferische Tätigkeit Ekkeharts IV. steht zu Beginn einer vom 11. bis zum 12. Jahrhundert reichenden Epoche, aus welcher die Anzahl der überlieferten Autographen stark zunimmt.42 Das Entstehungsmilieu der Schriften Ekkeharts IV. ist freilich noch weitgehend traditionell verankert und grundsätzlich verschieden von den spätmittelalterlichen Verhältnissen der Buchherstellung, welche durch die Universitäten, das billigere Papier, die kursive Schrift als Alternative zur kalligraphischen Textualis (und Rotunda), die Ausweitung der Schriftlichkeit und den privaten Bücherbesitz geprägt waren.43 Unter den Faktoren, welche den Entstehungsprozess und die Bearbeitung von handschriftlichen Texten zur Zeit Ekkeharts IV. direkt beeinflussten, seien folgende genannt: erstens die Verwendung von Wachstafeln und Pergamentresten als provisorischen Textträgern und der Gebrauch von kostbarem Pergament für Ab- und Reinschriften, auf welchem Rasuren und Griffeleintragungen möglich waren;44 zweitens die Verwendung der (späten) karolingischen Minuskel, deren Buchstaben häufig in mehreren Federzügen und durch Absetzen der Feder ausgeführt wurden;45 drittens die häufig (in synchroner oder diachroner Hinsicht) kollektive Buchherstellung im klösterlichen Skriptorium, wo die Verfasser auf Gehilfen zurückgreifen konnten und am ehesten die Korrekturen ihrer Werke eigenhändig vorgenommen zu haben scheinen oder mindestens in dieser Funktion am ehesten fassbar werden;46 viertens der grundsätzlich kollektive Bücherbesitz in Klöstern.

3 Die materiellen und methodischen Grundlagen für die Bestimmung der Schrift Ekkeharts IV. Ausgangspunkt für jegliche Beschäftigung mit der Schrift Ekkeharts IV. ist der sogenannte Liber Benedictionum in Cod. Sang. 393.47 Spätestens seit Ildefons von Arx || 40 Vgl. Honemann 2000, 821–824. 41 Vgl. Chiesa/Pinelli 1994; Hoffmann 2001; Golob 2013. 42 Vgl. Hoffmann 2001, 59–60; Petrucci 2007, 169. 43 Vgl. Derolez 2003; Schneider 2009. 44 Vgl. Gasparri 1994, 4; Bischoff 2009, 28–30, 62; Andreas Nievergelt in diesem Band. 45 Vgl. Derolez 2003, 47–55. 46 Vgl. Holtz 1994, 159–160; Hoffmann 2001, 3, 43–45; Petrucci 2007, 166–168; Bischoff 2009, 62– 64; Holtz 2013. 47 Zum Inhalt vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909; Haefele 1980, 457–462; Weber 2003, 13–61, 82– 87; Leithe-Jasper 2010. Inhaltlich besonders gut erforscht wurden in den vergangenen Jahrzehnten die Versus ad picturas domus domini Moguntinae, auch als Mainzer Tituli bekannt, in Cod. Sang. 393,

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(† 1833), dem verdienstvollen Erforscher der St. Galler Geschichte und Klosterbibliothek,48 gilt die Handschrift – der Grundtext und die marginalen und interlinearen Eintragungen – als Autograph des St. Galler Mönchs, Dichters und Geschichtsschreibers.49 Seiner Beurteilung folgten zahlreiche Gelehrte, teils mit, teils ohne Begründung.50 Häufig begnügten sie sich in ihren Untersuchungen mit einem Verweis auf oder einem Vergleich mit Cod. Sang. 393, den sie ohne weitere Ausführungen schon fast axiomatisch als Autograph Ekkeharts IV. bezeichneten.51 Seit der erstmals 1920 erschienenen Gesamtschau von Paul Lehmann haben auch weitere Studien der vergangenen Jahrzehnte offenbart, dass die traditionelle Qualifizierung einer Handschrift als Autograph einer gründlichen Prüfung häufig nicht standhält, besonders wenn sie aus dem Früh- oder Hochmittelalter stammt.52 So vermochte Lapidge in seiner Untersuchung keine der angeblichen autographen Handschriften von neun irischen und angelsächsischen Gelehrten des 8. bis 10. Jahrhunderts mit Sicherheit zu bestätigen.53 Desgleichen kam Hoffmann in seiner über 60-seitigen Studie über frühmittelalterliche Autographe zum Schluss, dass die eigenhändige Niederschrift des Texts oder einiger Zeilen durch ihren Verfasser in den meisten Fällen als unsicher oder unwahrscheinlich zu gelten hat.54 Diese Ergebnisse alleine gebieten es, die auf von Arx zurückgehende Qualifizierung von Cod. Sang. 393 als Autograph eingehend zu überprüfen, d.h. sämtliche Indizien dafür zu sammeln und zu beurteilen.

|| S. 197–238; vgl. dazu die anregenden Studien von Arnulf 1997, 201–228 und Leithe-Jasper 2002; 2007. Leider sind ihre abgedruckten Editionsbeispiele fehlerhaft und werden der komplexen Überlieferungslage mit zwei Glossen- bzw. Korrekturschichten, die sie nirgends unterscheiden oder erläutern, nicht gerecht. So fehlen z.B. bei Arnulf 1997, 205 bei V. 35 über colubrum und labrum die Glossen se esse und ad loquendum von der Hand B (zu den Händen vgl. unten Kapitel 4) und die Glosse labrum von der Hand C sowie bei V. 39 über speciem die Glosse malum von der Hand B gemäss Cod. Sang. 393, S. 198, Z. 17, S. 199, Z. 2. Leithe-Jasper benutzte offenbar ebenfalls die von ihr als ungenügend (Leithe-Jasper 2002, 60) eingestufte Edition von Liber Benedictionum/Egli 1909, hier 321, 327, so dass z.B. nicht ersichtlich wird, dass bei V. 81 das Wort en und bei V. 175 die Wörter fraus atque nicht im Grundtext stehen (Leithe-Jasper 2007, 366, dort als V. 79 gezählt, 369, dort als V. 173 gezählt), sondern von der Hand C interlinear hinzugefügt wurden, im letzten Fall möglicherweise als Reaktion auf eine in Folge einer Rasur zu Satzbeginn entfallene Silbe gemäss Cod. Sang. 393, S. 201, über Z. 4, S. 204 über Z. 18. Die Handschrift ist wie 500 andere Codices der Stiftsbibliothek St. Gallen digitalisiert und online einsehbar unter: http://www.e-codices.unifr.ch (Stand 15.12.2013). 48 Vgl. Duft 1994. 49 Cod. Sang. 393, auf dem vorderen Spiegelblatt: liber benedictionum […] scriptus et correctus manu Ekkehardi IV; auf dem hinteren Vorsatzblatt recto: pag. 2 Ekkehardus IV. author [!] et scriptor huius codicis … 50 Zuletzt Froschauer 2012, 44. 51 Vgl. z.B. Eisenhut 2009, 210 mit Anm. 124. 52 Lehmann 1941. 53 Lapidge 1994. 54 Hoffmann 2001.

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Diejenigen wenigen Forscher, die sich um den Nachweis für die eigenhändige Niederschrift des Liber Benedictionum durch Ekkehart IV. bemühten, stützten ihre Argumentation vornehmlich auf das dreimalige Vorkommen des abgekürzten Namens Ekkeharts,55 welches schon von Arx in der Handschrift selbst vermerkt hatte.56 Die erste Nennung erscheint im Titelblatt auf S. 2 in der in orangefarbener Capitalis rustica geschriebenen Widmung an den Mönch und späteren Abt Johannes von St. Maximin bei Trier, dessen Abbatiat nur ungefähr ein Jahr von 1035 bis 103657 dauerte: (1) Iohanni diacono monacho sancti Maximi, post eius coenobii abbati, Ekk prespiter indignus et ultimus sancti Galli monachus.58

Eine weitere Nennung Ekkeharts steht in der ersten Zeile der alliterativen Verse auf S. 256, welche dem St. Galler Abt Purchart II. (1001–1022) gewidmet sind.59 Der gekürzte Name ist in derselben Tinte wie der übrige Text, freilich ein wenig grösser, von einer unten als A bezeichneten Hand geschrieben: (2) Pagina Purchardo placeat, prępostulat Ekk.60

Schliesslich wird Ekkehart in einer interlinearen Glosse zu einem Gedicht (Carmen 44) auf S. 155 oberhalb und unterhalb der letzten Zeile genannt, das neben St. Galler Heiligen und weiteren Vätern auch Notkers III., seines 1022 verstorbenen Lehrers, gedenkt. Die Glosse stammt von einer später als B bezeichneten Hand: (3) Mihi quoque dicere solebat: Roga, Ekk, clauigerum cęli, ut tibi aperiat.61

Neben den Zueignungen an die Äbte Johannes von St. Maximin bei Trier und Purchart II. von St. Gallen beweist die Rühmung der drei Notkere und der drei älteren Ekkeharte in derselben Handschrift, dass es sich bei der Kürzung Ekk in den

|| 55 Dümmler 1869, 31; Chroust 1904; Osterwalder 1982, 60; Duft 1991b, 216–219. 56 Cod. Sang. 393, auf dem vorderen Spiegelblatt und dem ersten Vorsatzblatt recto. 57 Ladewig 1883, 81–83, 133–135. 58 Cod. Sang. 393, S. 2. Liber Benedictionum/Egli 1909, 3. Zu dieser Edition vgl. die kritischen Bemerkungen und verzeichneten Rezensionen bei Schulz 1941, 199–201. 59 Ihm hat Ekkehart IV. in Cod. Sang. 393 auf S. 261 auch ein Epitaph gewidmet. Liber Benedictionum/ Egli 1909, 403–405. Vgl. Duft/Gössi/Vogler 1986, 1288. 60 Cod. Sang. 393, S. 256, Z. 3. Liber Benedictionum/Egli 1909, 393, Z. 1; Strecker 1937, 547. Vgl. Schulz 1941, 213–214. 61 Cod. Sang. 393, S. 155, oberhalb und unterhalb von Z. 19. Liber Benedictionum/Egli 1909, 232, Z. 2, Anm. 2.

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obigen Zitaten nur um Ekkehart IV. handeln kann. Sie werden sowohl im Grundtext der Hand A erwähnt als auch von der Hand B in Cod. Sang. 393 glossiert.62 Ferner existieren zwei Texte ausserhalb von Cod. Sang. 393, die von Ekkehart IV. verfasst wurden und mit der Kürzung Ekk überschrieben sind. Der erste Text ist ein Gedicht, das er seinem Bruder Immo, dem Abt von Münster im Gregoriental (Elsass), widmete und das in Cod. Sang. 621 auf S. 352 überliefert ist: (4) Ymmoni fratri, post abbati, Ekk. De lege dictamen ornandi.63

Ausserdem steht am Ende von Cod. Sang. 626 auf S. 313 dasselbe alliterative Gedicht wie im schon behandelten Cod. Sang. 393 auf S. 256; der Name des Dichters ist in jenem freilich in einer sogenannten bfk-Geheimschrift verschlüsselt (d.h. die Konsonanten F und b stehen für die vorausgehenden Vokale E und a): (5) Pagina Purchardo placeat, prępostulat Fkkbrt [= Ekkart].64

Schliesslich befinden sich auf dem hinteren Spiegelblatt von Cod. Sang. 176 drei mit einer Skizze eines Gefässes verbundene Kurzgedichte über einen gewissen Crimalt. Darauf folgt eine Widmung an denselben Mitbruder von Ekkehart, dessen Name in Form von Klopfrunen bzw. von Punkten mit übergeschriebenen römischen Ziffern verschlüsselt ist.65 Neben den Nennungen Ekkeharts IV. glaubt die Forschung, zwei weitere deutliche Hinweise für die eigenhändige Niederschrift von Texten durch den Dichter gefunden zu haben. Es sind dies einerseits der unfertige Charakter und die mehrmalige Überarbeitung des Liber Benedictionum, andererseits die drei unterschiedlichen, in verschiedenen Handschriften überlieferten, aber angeblich von derselben Hand geschriebenen Redaktionen des Galluslieds.66 Obschon alle diese Erklärungen plausibel sind, liefern sie noch keinen endgültigen Beweis für das Niederschreiben von Cod. Sang. 393 durch Ekkehart IV. Wir sehen uns hier mit der schwierigen Frage der Erkennbarkeit eines Autographen, der Überprüfbarkeit seiner Authentizität und der anzuwendenden bzw. anwendbaren

|| 62 Cod. Sang. 393, S. 153, Z. 18: Quis canat Ekkehardos Notkeris non mage tardos? (= Hand A); S. 153, über Z. 18: tres und tribus (= Hand B). Liber Benedictionum/Egli 1909, 225, Z. 24 = Hand A; mit Anm. 12 und 13 = Hand B. Vgl. Duft 1991b, 217–218 mit Anm. 38–43. 63 Cod. Sang. 621, S. 352. Strecker 1937, 532–533. Vgl. Schulz 1941, 218 mit Anm. 1; Haefele 1980, 458–459; Eisenhut 2009, 194–199 sowie ihre elektronische Edition. 64 Cod. Sang. 626, S. 313, Z. 1. Siehe oben Anm. 60. Vgl. überdies Osterwalder 1982, 79 und Andreas Nievergelt in diesem Band in seiner Anm. 77 gegen Duft 1991b, 218. 65 Duft 1991b, 218–219; Schmuki/Ochsenbein/Dora 2000, Nr. 60. 66 Vgl. Dümmler 1869, 10; Chroust 1904; Schulz 1941, 203–204, 234; Osterwalder 1982, 59–61; Osterwalder 1985, 80, Anm. 28.

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Beurteilungskriterien konfrontiert.67 Die Erwähnung eines Verfassers einer Widmung bzw. eines Gedichts bedeutet per se noch nicht, dass jener diese auch eigenhändig in die erhaltenen Handschriften eintrug. Es ist a priori nicht auszuschliessen, dass Ekkehart IV. jemanden mit der Abschrift seiner Dichtungen beauftragte oder dass jemand aus eigenem Antrieb diese abschrieb und vielleicht sogar überarbeitete, zumal Schulz für einige Gedichte aus textkritischen und inhaltlichen Gründen ältere, nicht mehr erhaltene Konzepte und Vorlagen annahm.68 Hinsichtlich des Haupttexts – im Gegensatz zu den Korrekturen, Glossen und Überarbeitungen – sei auch an die verbreitete mittelalterliche Praxis des Diktats bzw. der eigenhändigen Niederschrift von verfassten Texten auf Wachstafeln oder Pergamentstücke als vorläufige Textträger und Vorlagen für eine Abschrift durch einen anderen Schreiber erinnert.69 Eine Ableitung der eigenhändigen Niederschrift allein aufgrund der Nennung Ekkeharts scheint hingegen für die erwähnte Glosse (3) in Cod. Sang. 393 auf S. 155 zulässig zu sein. Dort erinnert sich der Schreiber nämlich persönlich, wie Notker ihn, d.h. explizit Ekkehart, zu ermahnen pflegte, den Himmelspförtner um Einlass zu bitten. In diesem Fall ist es sehr wahrscheinlich, dass Ekkehart IV. den Eintrag selber vornahm. Wendet man strengste Kriterien an, dann muss dieser Eintrag, der einzig verbürgt von Ekkehart IV. stammt, Ausgangspunkt für alle weiteren paläographischen Überlegungen sein. Die hier besprochene Glosse (3), in der sich Notker III. in direkter Rede an Ekkehart IV. wendet, wird durch eine orangefarbene, in derselben Schrift wie der Grundtext und die Überschriften geschriebene Marginalie von der Hand A auf S. 184 gestützt. An dieser Stelle wird wie anderswo in der Handschrift ein Text auf eine vom Schulmeister geforderte Übung zurückgeführt.70 Während andernorts Notker (III.) mit Namen erwähnt wird, fehlt an dieser Stelle zwar sein Name (wie derjenige Ekkeharts IV.), doch steht die Erläuterung zum Entstehungsprozess wiederum in subjektiver Formulierung, so dass sie sich bestens mit dem Schüler-Lehrer-Verhältnis

|| 67 Die möglichen Beurteilungskriterien sind von Fall zu Fall verschieden, weil die vermeintlichen Autographe manchmal nur wenige nutzbare und variierende Merkmale aufweisen und der Entstehungszusammenhang unterschiedlich gut dokumentiert ist. Neben den Buchstabenformen, dem Duktus, den Kürzungen und den Ligaturen sind zusätzliche graphische Markierungen, die Interpunktion, die Orthographie, die Grammatik, der Stil und weitere sprachliche und dichterische Qualitätsmerkmale sowie externe Bezeugungen in anderen Werken des Verfassers oder durch Dritte zu erwähnen. Vgl. Gasparri 1994, 9–12, 17–18; Holtz 1994; Lapidge 1994. Hinsichtlich der sprachlichen Charakteristiken wurde von Lapidge 1994, 114–115, 118, 128 die Ansicht vertreten, dass der Autor eines Texts, wenn er ihn selber schrieb, wohl kaum Fehler in der Rechtschreibung, der Interpunktion und im Versmass beging, weil er den Text bestens verstanden haben muss. 68 Schulz 1941, 202, 213, 231–232. 69 Vgl. Gasparri 1994, 4; Bischoff 2009, 28–30, 62. 70 Cod. Sang. 393, S. 66, über Z. 13 o Notker, S. 136, neben Z. 1–3 Dictamen diei Notkero magistro, S. 184, neben Z. 5–17. Liber Benedictionum/Egli 1909, 195, Z. 45, 195, Z. 87, 279, Z. 49, Anm. 6.

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zwischen Ekkehart IV. und Notker III. sowie mit der später eigenen Lehrtätigkeit von Letzterem vereinbaren lässt:71 (6) Dictamen debitum magistro. Hoc et cetera que scripsi ipse scribi iussit in cartis suis in quibus ea post inveniens in hac sceda pro locis ascripsi, ut iuuenes nostros in id ipsum adortarer.72

In den folgenden Kapiteln wird uns die Frage der Unterscheidung verschiedener Hände bzw. Schreiber immer wieder beschäftigen. Es ist deshalb angebracht, nach den handschriftlichen Zeugnissen als Grundlagen für die Bestimmung der Schrift Ekkeharts IV. auch einige methodische Fragen der Händescheidung aufzuwerfen. Dass dieses Thema nur angetönt und nicht zufriedenstellend behandelt werden kann, hängt neben dem beschränkten Platz nicht zuletzt mit dem Forschungsstand und den inhärenten Problemen des Untersuchungsgegenstands zusammen. Obschon die Unterscheidung von verschiedenen Händen in einer Handschrift und die Identifizierung gleicher Hände in mehreren Handschriften neben der Schriftgeschichte, dem Entziffern und Transkribieren, Datieren und Lokalisieren von handschriftlichen Texten und Glossen zu den Grundaufgaben der Paläographie gehören, haben sich die Spezialisten nur selten im Detail dazu geäussert.73 Erschwerend kommt hinzu, dass unter den wenigen Paläographen, die sich mit diesen Fragen eingehend beschäftigt haben, weder Einigkeit über die Kriterien der Händeunterscheidung noch über die entsprechende Terminologie herrscht.74 Unbestritten dürfte hingegen sein, dass der Schriftvergleich auf so vielen Kriterien wie möglich beruhen sollte und dass unter den Buchstabenformen, Kürzungen und Ligaturen besonders die komplexen dafür geeignet sind.75 Des Weiteren ist klar, dass die Eigenart von Glossen – ihre Positionierung in Bezug auf ein zu glossieren|| 71 Siehe oben Anm. 29. 72 Cod. Sang. 393, S. 184, neben Z. 5–17. Liber Benedictionum/Egli 1909, 279, Z. 49 mit Anm. 6. Vgl. dazu Dümmler 1869, 3; Schulz 1941, 231–232; Eisenhut 2009, 5–6; Hellgardt 2009, 341. 73 Die verbreiteten jüngeren deutschen Handbücher der Paläographie wie Bischoff 2009, 67–69 und Schneider 2009, 100–102 widmen dieser wichtigen Frage relativ wenig Raum; Bischoff liefert interessante Reflexionen, aber kaum praktische Hilfestellungen zur Lösung des Problems. Eine ausführliche Synthese der Kriterien zur Händescheidung bietet das Kollektivwerk von Géhin 2005, 103–115. Eine konzise mustergültige Analyse von verschiedenen gleichzeitigen frühmittelalterlichen Händen findet sich z.B. bei Parkes 1982, 6–12. Siehe auch die allgemeinen Überlegungen und die konkreten spätmittelalterlichen Beispiele zur Identifizierung von Schreiberhänden bei Powitz 2005, 29–42. 74 Siehe die wissenschaftliche Auseinandersetzung zwischen d’Haenens 1975, Ornato 1975 und Gilissen 1975. Zu den verschiedenen Bedeutungen des Begriffs „Duktus“ siehe z.B. d’Haenens 1975, 183–184 über „ductus“ als Abfolge und Richtung der Federzüge eines Buchstabens und „style“ als dessen individuelle Ausgestaltung in grosser Zahl, Gilissen 1975, 237–241 über „ductus essentiel“ et „ductus complet“ und Bischoff 2009, 72–73 mit Anm. 4 über die „Struktur“ der Buchstaben im Sinn der Abfolge der Federzüge und „Ductus“ als Summe der „Eigenschaften des individuellen Schreibstils“. 75 Vgl. Géhin 2005, 103–115; Powitz 2005, 31–32; Schneider 2009, 101–102.

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des Wort, das Fehlen einer Linierung, die manchmal variierenden Platzverhältnisse, der gebrochene Schriftrhythmus, die meistens relativ kleine Schrift – die für Texte zur Verfügung stehenden Kriterien der Händeunterscheidung zusätzlich einschränkt.76 Schriftmerkmale wie der Schriftwinkel (d.h. der Winkel zwischen den Druckstrichen und der horizontalen Linierung), das (ohnehin schon kontrovers diskutierte) Verhältnis von Höhe und Breite eines Buchstabens, die Schwere oder Leichtigkeit der Federzüge bzw. der Kontrast von Druck- und Haarstrichen, die Wortabstände und – mindestens bei kurzen Glossen – die Interpunktion eignen sich schlecht oder überhaupt nicht für eine solche Analyse. Die Schriftanalyse wird sich somit vornehmlich auf die Formen der Buchstaben, Abkürzungen und Ligaturen sowie auf die Abfolge und die Gestaltung der entsprechenden Federzüge beschränken müssen. Ziel der Händescheidung und der Herstellung eines Schreiberprofils muss es sein, möglichst viele Kriterien einzubeziehen und die Schrift des untersuchten Schreibers mit zeitgleichen Erzeugnissen desselben Skriptoriums in Kontrast zu setzen. Eine Schrift ist nur einmalig oder charakteristisch im Vergleich zu anderen Schriften. Dass die Zuweisung einer oder einzelner Glossen mit beschränktem Buchstabenrepertoire an einen bestimmten Schreiber manchmal kaum möglich ist, ergibt sich aus dem oben Gesagten von selbst. Die Forderung der Germanistik, die althochdeutschen Glossen immer im Verbund mit den (meistens bei Weitem zahlreicheren) lateinischen zu untersuchen, dient somit nicht nur der sprachlichen und inhaltlichen Kontextualisierung der Glossen,77 sondern dürfte häufig geradezu eine Voraussetzung sein für ihre (nachvollziehbare) paläographische Ein- und Zuordnung. Eine zusätzliche Schwierigkeit in der Identifizierung eines Schreibers über längere Zeit und in verschiedenen Schriftzeugnissen liegt darin, dass die Schrift eines Individuums nicht unbedingt eine absolute Konstante darstellt, sondern aufgrund vieler Faktoren variieren kann. Die Beherrschung verschiedener Schriftarten (Urkunden- und Buchschriften, kursive und kalligraphische Schriften, Auszeichnungs-, Text-, Glossen- und Musiknotationsschriften), ihre inhaltlich-funktional differenzierte und durch die Platzverhältnisse bedingte Verwendung, die Schreibgeschwindigkeit, mangelnde physische und psychische Konstanz des Schreibers (Ermüdungserscheinungen etc.), sodann die Schreibmaterialien, die Abnutzung und die Auswechslung der Feder und der Tinte, ebenso ein wechselndes Umfeld (Übertritt in ein anderes Kloster mit anderen Schreibgewohnheiten, Wanderjahre) bzw. wechselnde Einflüsse, eine bewusste Schriftreform und schliesslich steigendes Alter können die Schrift eines Individuums beeinflussen und ihren Wandel veran-

|| 76 Vgl. Schmidt 1994, 143; Nievergelt 2009a. 77 Vgl. z.B. Bergmann 2003; Bergmann 2009; Sonderegger 1970, 123.

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lassen.78 Dieses zwar plausible, aber im Früh- und Hochmittelalter nur für ganz wenige Fälle konkret und zweifellos nachgewiesene Phänomen darf jedoch nicht dazu verleiten, unbedacht möglichst viele verschiedene Schriften einer bekannten historischen Person zuzuschreiben.

4 Zur Paläographie des Cod. Sang. 393 Cod. Sang. 393 weist von S. 3 bis 246 grundsätzlich dasselbe Layout und die drei gleichen Hände auf. Eine erste Hand A schrieb in grosser Schrift, in meistens dunkelbrauner Tinte und normalerweise mit breiter Feder die jeweils 19 blindlinierten Zeilen.79 Von ihr dürften auch die orangefarbenen Majuskeln zu Zeilenbeginn und die orangefarbenen Überschriften zwischen oder neben den Textzeilen stammen, die wohl nach der Niederschrift des Grundtexts,80 manchmal auf knapp bemessenem Raum oder unvorhergesehen eingetragen wurden. Eine Hand B brachte mehr oder weniger durchgehend interlineare und selten marginale Glossen an. Bald sind es relativ ausführliche Erläuterungen in vollen Sätzen, bald sind es kurze, nur aus || 78 Vgl. Spunar 1976, 62, 68; Géhin 2005, 104–105; Nievergelt 2005a, 270–278; Powitz 2005, 32–33; Bischoff 2009, 68–68; Hoffmann 2012, 166–171. Die Fortentwicklung des Schriftbildes insgesamt und einiger Buchstabenformen sowie der zeitlich variierende Gebrauch von Kürzungen und Ligaturen im Leben eines Schreibers sowohl im Sinn des Fortschritts als auch der Archaisierung der Schrift (oder der Vergröberung der Schrift in Folge von Alter und Fehlsichtigkeit) wurden besonders eindrücklich für den Benediktinermönch Bernard Itier (1163–1225) aus der Abtei Saint-Martial von Limoges aufgrund datierter Einträge und datierter autographer Texte nachgewiesen. Siehe d’Alverny 1995; vgl. Bischoff 1967b, 157, Anm. 11; den bibliographischen Hinweis auf Erstere verdanke ich Herrn Dr. Christoph Egger, Institut für Österreichische Geschichtsforschung, Wien. Die Schriftentwicklung eines Zeitgenossen von Bernard Itier, nämlich des Regensburger Kanonikers Hugo von Lerchenfeld (1167/1168–1216), lässt sich dank den annalistischen Einträgen in seinem Notizbuch ebenfalls nachvollziehen. Siehe Bischoff 1967b, 157–158. In ähnlicher Weise, aber unseren Erachtens auf weniger sicherem Grund glaubte Bischoff 1967a (vgl. auch Schmidt 1994, 139–141; Hoffmann 2001, 32–35), in Cod. Sang. 878 die Hand von Walahfrid Strabo in vier unterschiedlichen Ausprägungen entsprechend vier zeitlichen Phasen seines Schaffens erkennen zu können. Ein weiteres frühmittelalterliches Beispiel zitiert Parkes 1982, 20 und 29, Anm. 78; ein spätmittelalterliches liefert Spunar 1976. Hoffmann 2012, 168–170 hat kürzlich den Fall Otlohs von St. Emmeram († ca. 1070), eines ungefähren Zeitgenossen von Ekkehart IV., aufgegriffen und die aufgrund seiner Wanderjahre variierende Schrift des „Einzelgängers“ besprochen. Schliesslich hat Newton 1999, 74 bzw. 2, 324 und passim neben der Beherrschung verschiedener, funktional differenzierter Schriftarten durch denselben Schreiber und der gleichzeitigen Verwendung alter und neuer Schriften im selben Kloster auch die bewusste, innerhalb weniger Jahre durchgeführte Reform der Schrift im Kloster Montecassino zwischen 1065 und 1075 nachgewiesen. 79 Ausnahmsweise mit dünnerer bzw. zugespitzter Feder z.B. Cod. Sang. 393, S. 172, 185. 80 Siehe z.B. Cod. Sang. 393, S. 37, Z. 9 und S. 62, Z. 12, wo die orangefarbene Überschrift umgeben ist von Eintragungen der Hand C, sodann S. 101, Z. 14–15, wo die Hand C auf eine teilweise getilgte Überschrift schrieb.

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einem oder einigen Worten bestehende Glossen. Ferner schrieb eine Hand C mit breiter Feder über die genannten Seiten verteilt zahlreiche Eintragungen in meist hellbrauner, manchmal aber auch brauner oder graubrauner Tinte. Es handelt sich um Korrekturen auf Rasur, die einzelne Buchstaben oder ganze Zeilen betreffen, sowie um kürzere oder längere interlineare und marginale Ergänzungen. Ob die Eintragshand B oder C zuerst schrieb, konnten wir nicht feststellen. Gewissheit, dass Cod. Sang. 393 ein Autograph von Ekkehart IV. ist, kann nur der paläographische Nachweis erbringen, dass alle diese Texte und Eintragungen von derselben Person wie die subjektiv formulierte Glosse über und unter der letzten Zeile des Grundtexts auf S. 155 geschrieben wurden. Die Aufgabe wird durch die Fülle des Vergleichsmaterials der drei Text- und Glossenschichten der Hände A, B und C erleichtert. Zudem können wir uns auf die Schriftanalysen von Steffens,81 Chroust,82 Osterwalder,83 Eisenhut84 und Schuler85 stützen, welche die auffälligsten Merkmale der Ekkehart IV. zugeschriebenen Schrift(en) herausgearbeitet haben. Der Vergleich wird hingegen durch die unterschiedliche Schriftgrösse der Hände A, B und C sowie die häufig undeutlichen, auf Rasur angebrachten Schriftzüge der Hand C erschwert. Wir verzichten überdies auf eine systematische Analyse aller Buchstabenformen und beschränken uns auf die wichtigsten und aussagekräftigsten paläographischen Merkmale. Ausgangspunkt bildet S. 155 der Handschrift (siehe Abb. 1) mit der subjektiv formulierten Glosse der Hand B.86 Ein wichtiges Charakteristikum dieser Schrift ist die Erkennbarkeit der einzelnen Federzüge in einem Buchstaben; die Bogen sind häufig nicht völlig geschlossen und die Federzüge fliessen häufig nicht ganz ineinander über. Dieses Merkmal tritt besonders bei dem Buchstaben b auf, wo der Bauch häufig oben und manchmal unten offen bleibt,87 bei geradem d, wo der Bauch mit einem feinen, rechtwinklig zum Schaft stehenden Strich vollendet wird und ebenfalls nicht immer völlig geschlossen wird,88 sodann bei e, dessen Kopf häufig nicht geschlossen ist, weil sich der Schreiber mit einem unten nach rechts auslaufenden Schaft und einer Art hochgestellter, gedrungener arabischen Ziffer 2 begnügte,89 aber auch bei weiteren Buchstaben wie c und o.90 Der Buchstabe d ist || 81 Steffens 1903. 82 Chroust 1904. 83 Osterwalder 1982, 61–64. 84 Eisenhut 2009, 210–213, 431–432; 2013, 106–109. 85 Schuler 2010, 138–141. 86 Im Folgenden handelt es sich immer um Beispiele (und nicht um eine systematische Sammlung von Belegen) aus Cod. Sang. 393. Sofern möglich wurden sie der abgebildeten S. 155 (siehe Abb. 1) entnommen, ansonsten einer oder mehreren willkürlich ausgewählten Seiten derselben Handschrift. 87 S. 155, über Z. 8 absque dubio. 88 S. 155, über Z. 12 die, über und unter Z. 19 dicere. 89 S. 155, über Z. 11 teutonice, über und unter Z. 19 dicere.

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grundsätzlich mit geradem Schaft geschrieben; bei unserer Durchsicht der Handschrift sind wir nur viermal auf ein unziales d gestossen.91 Ebenfalls markant gestaltet sind die Buchstaben m und n. Der erste Schaft und weniger stark der zweite Schaft von m reichen unter die Grundlinie; zudem sind beide (von oben nach unten) nach links gezogen; der zweite nimmt gelegentlich beinahe eine krallenförmige Form an. Der erste Schaft in n geht ebenfalls (von oben nach unten) nach links unter die Grundlinie.92 Die untere Schleife von g bleibt offen.93 Der Schaft des Buchstabens a ist manchmal stark linksgeneigt und erreicht dann fast einen Winkel von 45 Grad.94 Die Buchstaben f und langes s besitzen beide links am Schaft auf der Höhe der Mittellinie einen Knopf und beide reichen ziemlich weit unter die Grundlinie. Ihre Oberlängen neigen überdies stärker nach rechts als die übrigen Schäfte. Der Buchstabe f unterscheidet sich von dem langem s einzig dadurch, dass er mit dem nachfolgenden Buchstaben über einen Querstrich auf der Höhe der Mittellinie verbunden ist.95 Unter den Kürzungen ist – neben -ū96 – auf - am Wortende für -um hinzuweisen,97 desgleichen auf eine v-s-Ligatur am Wortende in Form eines v mit hochgestelltem s.98 In den Glossen der Hand B treten ferner gelegentlich untergestellte verbundene Buchstaben auf, nämlich an h und m angehängtes i.99

|| 90 S. 155, über Z. 10 cor, über Z. 12 obiit. Vgl. Osterwalder 1982, 61; Eisenhut 2009, 210–211, 431–432. 91 S. 41, über Z. 3 decem, S. 45, über Z. 8 diabolum, S. 123, über Z. 10 ad, S. 241, über Z. 15 dimitte. 92 S. 155, über Z. 16 omnes. 93 S. 155, über Z. 14 linguam, unter Z. 19 Roga, clauigerum. 94 S. 155, über Z. 8 labia, absque, unter Z. 19 Roga. 95 S. 155, über Z. 19 assiduus, unter Z. 19 solebat, ipse faciet. 96 S. 155, unter Z. 19 eū. 97 S. 50, Z. 11 reuocat, S. 59, Z. 19 mult, S. 113, über Z. 11 rotund, S. 155, über Z. 9 decan, S. 176, Z. 16 Rubrik Debit, S. 220, über Z. 2 Hieronim. 98 S. 59, Z. 2 intvs, Z. 5 exiliamvs, Z. 10 locutvs, S. 111, über Z. 18 tardvs, S. 115, über Z. 10 primvs, S. 200, über Z. 8 primvs. 99 S. 180, über Z. 19 hominis und unter Z. 19 his, S. 220, über Z. 2 Hieronimum. Ebenso schon Chroust 1904, hingegen nicht erwähnt bei Osterwalder 1982, 63–64 und Eisenhut 2009, 210–212, 432. Zum angehängten i vgl. Daniel 1973, 19–20, 31.

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Abb. 1: St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 393, S. 155 (Originalgröße 20,5 x 16 cm).

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Die beiden anderen Hände A und C teilen die meisten Merkmale von B. Dies trifft besonders auf die neben -ū 100 verwendete Kürzung - für -um am Wortende,101 die vs-Ligatur mit hochgestelltem s am Wortende,102 das unten angehängte i103 sowie die Verwendung des halbunzialen d zu. Ebenfalls identisch sind die unter die Grundlinie reichenden Schäfte von f und langem s.104 Die Buchstaben b,105 c,106 d,107 e108 und o109 mit ihren erkennbaren Federzügen, die Buchstaben m110 und n111 mit ihren nach links, unter die Grundlinie laufenden ersten und zweiten Schäften sind grundsätzlich in gleicher Weise ausgeführt, auch wenn gewisse Merkmale wie das Absetzen der Feder innerhalb eines Buchstabens nicht durchgehend gleich ausgeprägt erscheinen. Der wahrscheinlich grösste Unterschied zwischen der Hand B und den beiden Händen A und C begrifft den Buchstaben g. Während Erstere die untere Schleife eigentlich immer offen liess, tendierten Letztere häufiger dazu, sie fast oder ganz zu schliessen.112 Ob neben der Hand B die Hände A und C Ekkehart IV. zuzuweisen sind, lässt sich auch nach ihrer paläographischen Untersuchung nicht einfach beantworten. Die Schwierigkeit liegt vor allem darin, dass die drei Hände A, B und C nicht gleichwertige Schriften schrieben, sondern solche, die sich nach ihrer Grösse, ihrer Anlage und ihrem Bestimmungszweck als Text-, Glossen- und Korrekturhände unterschieden. Kriterien wie das Gesamtbild, das Layout, die Wortabstände, die Interpunktion und das Verhältnis zur blindlinierten Grundlinie entfallen somit. Argumente existieren aufgrund der beschränkten paläographischen Beurteilungskriterien sowohl für als auch wider das eigenhändige Niederschreiben der gesamten Handschrift durch Ekkehart IV. Einerseits ist die abweichende Gestaltung der unteren Schleife von g nicht unbedingt auf verschiedene Schreiber zurückzuführen, sondern sie resultiert vielleicht aus der kleineren Schriftgrösse und aus dem leicht || 100 Hand A: S. 155, Z. 9 Ekkehardū. 101 Hand A: S. 155, Z. 9 illacrimat; Hand C: S. 49, Z. 17 Registr, S. 137, über Z. 7 flat, über Z. 11 dict. 102 Hand A: S. 155, Z. 1 premonitvs, pacificatvs; Hand C: S. 182, über Z. 18 pignvs, S. 201, neben Z. 9 natvs. Alle drei Hände scheinen übrigens nur ausnahmsweise v zu Wortbeginn zu verwenden, z.B. Hand A S. 169, Z. 9 virginitati, Hand B S. 136, über Z. 4 vt und Hand C S. 159, über Z. 4 vexauit. 103 Hand A: S. 38, Z. 14 minister, Z. 15 crimina; Hand C: S. 151, über Z. 15 flamina, S. 209, Z. 18 nigellam. Mindestens bei der Hand C ist auch angehängtes a anzutreffen, so S. 43, Z. 19 habere, S. 151, über Z. 15 flamina. 104 Hand A: S. 155, Z. 2 lętissime, Z. 6 sensus; Hand C: S. 155, über Z. 3 pacificos, Z. 16 simili. 105 Hand A: S. 155, Z. 11 barbaricam; Hand C: S. 167, unter Z. 19 ubi. 106 Hand A: S. 155, Z. 11 scribens; Hand C: S. 155, über Z. 2 cultor, über Z. 3 pacificos. 107 Hand A: S. 155, Z. 9 Ekkehardū, Z. 15 secundus; Hand C: S. 155, über Z. 2 domini. 108 Hand A: S. 155, Z. 7 pacem; Hand C: S. 155, über Z. 2 ueri. 109 Hand A: S. 155, Z. 16 robore; Hand C: S. 155, über Z. 1 proditor. 110 Hand A: S. 155, Z. 3 homo, semper amicos; Hand C: S. 155, über Z. 2 mallet. 111 Hand A: S. 155, Z. 6 neque carnis; Hand C: S. 155, über Z. 1 nudaret. 112 Hand A: S. 155, Z. 4 gestis, Z. 19 magnus; Hand C: S. 158, Z. 7 signis.

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kursiven, flüchtigeren Charakter der Glossen der Hand B.113 Andererseits lassen sich identische Buchstabenformen nicht nur durch denselben Schreiber, sondern auch durch die Ausbildung an derselben Schule und in derselben Schrifttradition erklären. Nicht zuletzt aus inhaltlichen Gründen, nämlich der subjektiv formulierten Bezugnahme auf ein Schüler-Lehrer-Verhältnis in der besprochenen Überschrift (6), welches sich mit demjenigen zwischen Ekkehart IV. und Notker III. deckt, tendieren wir dazu, die Hand A des Grundtexts ebenfalls seinem Verfasser, dem Dichter Ekkehart IV., zuzuweisen. Bei der Identifizierung der Hand C mit Ekkehart IV. ist zunächst Zurückhaltung angesagt, weil sie sich nicht nur nach Tintenfarbe und Feder, sondern auch nach Schriftgrösse und Korrektur- bzw. Glossierungsverhalten grundsätzlich und konsequent von der Hand B unterscheidet. Die Hand C mit ihrer breiten, grossen Schrift, den häufigen Rasuren und den rücksichtslosen Eintragungen ohne Respekt für den Grundtext steht der Hand B mit ihren kleinen, feinen, sich dem Grundtext unterordnenden Glossen diametral entgegen. Die Handhabung von zwei prinzipiell verschiedenen Eintragungsarten durch Ekkehart IV. liesse sich unserer Meinung nach nur durch eine absichtliche inhaltlich-funktionale Differenzierung der Eintragungen plausibel erklären,114 deren Nachweis noch aussteht und hier nicht mit der erforderlichen Gründlichkeit geleistet werden kann. Doch scheint bereits ein kurzer Blick in Cod. Sang. 393 eine solche inhaltlich-funktionale Differenzierung der beiden Eintragungsschichten nahezulegen: Hand B schrieb vorwiegend Wort- und Satzerklärungen und inhaltliche Kommentare als Zusätze zum Grundtext,115 während Hand C meistens den Grundtext selber korrigierte, ersetzte und um neue Verse und Versteile als Zusätze oder als mit vel eingeleitete Alternativen erweiterte.116 Dass Letztere deshalb eine grössere Schrift und eine andere Tinte wählte und dem bestehenden Text an den zu korrigierenden oder zu ergänzenden Stellen weniger Rücksicht zollte, erscheint durchaus logisch und plausibel.

|| 113 Zu diesem Problem vgl. Derolez 2003, 54: „[…] the adoption of a very small size of handwriting almost automatically induces the scribe to simplify his letter forms and to emphasize certain features […].“ 114 Vgl. allgemein Nievergelt 2009a, 273–274. Vgl. auch die funktions- und raumbezogene graphische Differenzierung der spontanen Marginal- und Interlineareintragungen von der gepflegten Textschrift des Florus von Lyon gemäss Holtz 1994, 163–164; 2013, 87. 115 S. 155, Z. 8 labra, darüber labia, S. 167, Z. 4 ossa uiri, darüber reliquias eius. 116 S. 155, Z. 3 Sic homo pacificos [für lętitiam] petit sibi semper amicos [für amicam], S. 167, Z. 9 Cum für Hinc, S. 155, über Z. 1 und Z. 2 (vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 228, Z. 48, 229, Z. 49, 50, 52), S. 167, über Z. 15, 16, 17 und unter Z. 19 (vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 256, Z. 35, 36, 37, 257, Z. 3), S. 53, Z. 16 … benedicta superuenit in te, darüber als zehnsilbige Alternative vel veniet benedicta super te, Z. 17 subumbrat, darüber als dreisilbige Alternative vel umbrabit, S. 171, Z. 12 Tecla, darüber als zweisilbige Alternative vel uirgo (vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 79, Z. 20–21, 261, Z. 46).

Die Glossen Ekkeharts IV. als paläographisches und methodisches Problem | 115

Ein Vergleich der von Osterwalder117 vorgeschlagenen und mit Beispielen unterlegten Glossentypologie und der ebenfalls illustrierten Erläuterungen zu den Glossen in den Versus ad picturas domus domini Moguntinae von Leithe-Jasper118 mit dem handschriftlichen Text in Cod. Sang. 393 bekräftigt unsere Hypothese. Die Hand B schrieb 17 von 18 syntaktischen Komplettierungen und Richtigstellungen, sämtliche acht Erläuterungen zu Begriffen sowie mindestens elf von dreizehn Verweisen auf Bibelstellen und Autoritäten.119 Einige von Arnulf120 und Leithe-Jasper121 abgedruckte und inhaltlich ausgewertete Auszüge aus den Versen zeigen im Vergleich mit der Handschrift, dass die Glossen mehrheitlich von der Hand B stammen und dass die Hand C fast ausschliesslich Korrekturen des Grundtexts auf Rasur sowie mit vel eingeleitete Alternativen und Ergänzungen von Versen und Versteilen zwischen den Zeilen oder am Seitenrand schrieb.122 Wie oben erwähnt hat die Forschung die Schrift Ekkeharts IV. als individuell und leicht erkennbar sowie als zeituntypisch und rückwärtsgewandt bezeichnet,123 ohne jedoch explizit einen Vergleich vorzunehmen oder ein Korpus von Handschriften als Referenz zu definieren. Laut Hoffmann gibt es aus dem 11. Jahrhundert nur wenige ungefähr datierbare Handschriften des St. Galler Skriptoriums, die zum Vergleich mit der Hand B (und der Hände A und C) herangezogen werden können.124 Es handelt sich einerseits um die schönen liturgischen Handschriften, die Sigebert von Minden (1022–1036) für seinen Dom aus dem Kloster St. Gallen bestellte, andererseits um den auf tieferer Stilebene um die Mitte des 11. Jahrhunderts geschriebenen Schlussteil der sogenannten Annales Sangallenses in Cod. Sang. 915 auf S. 226– 234.125

|| 117 Osterwalder 1985, 74–75. 118 Leithe-Jasper 2002; 2007. 119 Überprüft wurden in Cod. Sang. 393 die bei Osterwalder 1985, 74–75 unter 1.1 bis 1.3 genannten Verse, die alle von der Hand B glossiert wurden, sodann die bei Leithe-Jasper 2002, 54 in Anm. 19– 22, 23–24 und 25 genannten Verse, wovon einzig V. 260 (dort jedoch der Grundtext schon von der Hand C ergänzt) von der Hand C glossiert wurde und V. 490 und V. 493 unklar sind, schliesslich die bei Leithe-Jasper 2007, 363 in Anm. 11 angeführten Verse, wovon V. 317 (= V. 319) vielleicht von der Hand C glossiert wurde und V. 488 und V. 491 (= 490 und 493) unklar sind. 120 Arnulf 1997, 205–206. 121 Leithe-Jasper 2002, 55–56. 122 Arnulf 1997, 205–206: V. 29 mit einer alternativen Verszeile der Hand C, Cod. Sang. 393, unten auf S. 198 ergänzt, und V. 39, dessen zweite Hälfte morsu – dulcem von der Hand C auf Rasur geschrieben wurde, Cod. Sang. 393, S. 199, Z. 2. Leithe-Jasper 2002, 55–56: Von den dort in Anm. 31–50 genannten Glossen stammen einzig Anm. 38 (Wortwiederholung), 45 (vel) und 49 (vel recreto) von der Hand C, die übrigen von der Hand B. 123 Bruckner 1938, 46, Anm. 239, 47; Eisenhut 2009, 210; Bergmann/Tax 2009, 1621. 124 Hoffmann 1986, 368. 125 Zu Cod. Sang. 915 siehe Autenrieth 1977. Zu den übrigen genannten Handschriften und einem Karlsruher Fragment siehe die Erläuterungen und Abbildungen bei Hoffmann 1986, 91, 375 [Abb. 189], 376 [Abb. 190], 381 [Abb. 194], 398 [Abb. 215 und 216]. Vgl. auch Hoffmann 2012, 198–208.

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Die wichtigsten Unterschiede dieser Schriften zu den in Cod. Sang. 393 vorhandenen Händen sind der häufige Gebrauch des unzialen d, sodann die Schäfte von f, langem s, m und n, die auf der Grundlinie enden sowie in zwei Fällen der gelegentliche Gebrauch des runden s am Wortende.126 Im Gegensatz zur Hand B und konsequenter als die Hände A und C ist das g in jenen Codices unten geschlossen. Die auf tieferem Niveau ausgeführte Handschrift Cod. Sang. 915, S. 226–234 weist neben den oben genannten Unterschieden auch erwähnenswerte gemeinsame Merkmale mit den Händen A, B und C auf, darunter die Kürzung - am Wortende, die v-s-Ligatur mit hochgestelltem s am Wortende sowie das an m und n angehängte i.127 Der Vergleich der Hände A, B und C mit zeitgenössischen Schriften führt zu einem zwiespältigen Ergebnis. Einerseits verwendeten die drei genannten Hände sehr traditionelle Buchstabenformen wie m und n mit stark nach links, teilweise krallenförmig gekrümmten Schäften, andererseits hatten sie das unziale d als Doppelform zum halbunzialen d im Gegensatz zu zeitgenössischen St. Galler Schreibern bereits aufgegeben.128 Die unter die Grundlinie reichenden Schäfte von f und langem s sowie das unten offene g verdienten eine genauere Untersuchung. Es scheint uns nämlich möglich, dass diese Eigenschaften weniger ein altertümliches Merkmal sind als Ausdruck eines niedrigeren oder für die Glossen leicht flüchtigeren Schreibstils.129

5 Ein weiteres prominentes Beispiel für Ekkehart IV. zugeschriebene Glossen: Cod. Sang. 621 Rein quantitativ überragen die über 8‘000 Ekkehart IV. zugewiesenen eigenhändigen Eintragungen in Cod. Sang. 621 alle weiteren erhaltenen selbstgeschriebenen Schriftzeugnisse ausserhalb des Liber benedictionum bei Weitem.130 Die Handschrift mit den Historiae adversum paganos des Orosius ist auch deshalb von grossem Interesse, weil sich unter den Glossen und Nachträgen mehrere programmatische Äusserungen zur Textbearbeitung, nämlich drei Hinweise zum Vergleich der Hand|| 126 Rundes s in Hoffmann 1986, Abb. 194 und 216. Nur in Hoffmann 1986, Abb. 215 reichen die Schäfte von f und langem s ein wenig unter die Grundlinie; zudem ist das g dort nicht immer vollständig geschlossen. 127 Zu Letzterem siehe z.B. Cod. Sang. 915, S. 227, Z. 3 von unten minima. 128 Zu diesen Buchstabenformen, ihrer Ausbildung im letzten Drittel des 9. Jahrhunderts und ihrer Weiterentwicklung in St. Gallen vgl. Hoffmann 1986, 368–369 und Scarpatetti 1999, 52–61. 129 Vgl. dazu Bischoff 2009, 161, 163–164 und Derolez 2003, 54. Die bei Scarpatetti 1999, 52–55 abgebildeten St. Galler Handschriften (hohen und mittleren Stils) des letzten Drittels des 9. Jahrhunderts weisen schon alle ein unten geschlossenes g auf. 130 Vgl. oben Anm. 8. Cod. Sang. 621 ist ebenfalls digitalisiert und online einsehbar unter: http://www.e-codices.unifr.ch (Stand 15.12.2013).

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schrift mit (zwei) anderen Textexemplaren und eine Aufforderung Notkers (III.) zur Korrektur der Handschrift ([…] Domnus Notkerus abradi et utiliora iussit in locis asscribi […]), befinden.131 Es sei jedoch vorausgeschickt, dass die angebrachten erklärenden und kommentierenden Glossen bei Weitem die angedeuteten Textkollationen und Korrekturen übersteigen,132 unabhängig davon, ob alle Bemerkungen den Grundtext betreffen oder ob sich eine Bemerkung auf eine bereits vorhandene Glossenschicht (m2) bezieht.133 Eisenhut hat minutiös alle Merkmale der von ihr als m2 und m3 bezeichneten Glossenhände in Cod. Sang. 621 untersucht sowie die Gemeinsamkeiten mit den Schriften in Cod. Sang. 393 herausgearbeitet. m3 rechnet sie mit Sicherheit Ekkehart IV. zu, während sie offenbar bei m2 nicht völlig sicher ist.134 Gemäss Eisenhut ist die ältere Hand m2, die rund 5‘500 Glossen schrieb, unserer Hand B sehr ähnlich, während die jüngere Hand m3, die ungefähr 2‘500 Eintragungen verantwortete, mit unserer Hand C übereinstimmt.135 Unsere eigene Durchsicht der S. 40–50, 90–110, 150–170, 280–290 und 330–340 von Cod. Sang. 621 hat zu folgenden Ergebnissen geführt. Die Hand m2 schrieb häufig die Kürzung - und die v-s-Ligatur mit hochgestelltem s am Wortende.136 Daneben ist bei ihr ausnahmsweise das unten angehängte i anzutreffen.137 Sie verwendete zudem unziales d und halbunziales d wohl ungefähr gleich häufig, jedoch schwanken die Proportionen zwischen ihnen innerhalb des Codex.138

|| 131 Cod. Sang. 621, S. 310a, Z. 15–18, S. 333b, Z. 1–4, S. 351b nach Textende unten beigefügt. Sie stammen alle von der sogenannten Hand m3. Zu diesen Äusserungen in Cod. Sang. 621 und zu vergleichbaren in Cod. Sang. 159 und 174 vgl. schon Dümmler 1869, 2, 18, 21 und nun ausführlich Eisenhut 2009, 229–239, besonders 230–231, 233, 237–239 und Hellgardt 2009, 340–341. 132 Vgl. die Glossentypologie und die entsprechend aufgeschlüsselte Zusammenstellung sämtlicher Glossen von Eisenhut 2009, 257–258, 433. 133 Der Korrekturauftrag Notkers kann sich entweder auf den Grundtext oder auf eine schon vorhandene Glossenschicht (m2) beziehen, indessen die beiden anderen textkritischen Äusserungen eindeutig den Grundtext betreffen. Vgl. Eisenhut 2009, 230–233. 134 Eisenhut 2009, 205 (m3 im Gegensatz zu m2 explizit Ekkehart IV. zugewiesen), 210, 213, 214 („dass es paläographisch keinen Grund gibt, eine Autorschaft Ekkeharts auch von m2 auszuschliessen“), 223 (Identifizierung von m2 mit Ekkehart IV. „nicht nur paläographisch möglich, sondern inhaltlich betrachtet sehr wahrscheinlich“). 135 Eisenhut 2009, 205, 210. 136 Cod. Sang. 621, S. 159 (siehe Abb. 2), über Z. 26a tant, über Z. 21b ciui, über Z. 23b suar rer; ebenso z.B. S. 42a, über Z. 3 ist, S. 48a, über Z. 11 e, S. 92a, über Z. 17 incept, S. 100b, über Z. 25 mult, S. 286b, über Z. 23 destruend; S. 159, über Z. 21b univscuique; ebenso z.B. S. 50b, über Z. 16 mulvs, S. 92a, über Z. 23 idonevs, S. 100a, über Z. 11 vervs, S. 334, über Z. 19 attalvs. 137 Cod. Sang. 621, S. 159, über Z. 21b univscuique (das erste i untergestellt); ebenso z.B. S. 93b, neben Z. 12 animalem, S. 108b, über Z. 23 philippi (das erste i untergestellt). 138 So erscheint in Cod. Sang. 621 auf S. 150 das unziale d häufiger als das halbunziale und auf S. 159 verwendet m2 sogar ausschliesslich das unziale d (sogar über halbunzialem d wie auf S. 159a, ad über Z. 9a ad), während auf S. 280–290 das Gegenteil der Fall ist.

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Abb. 2: St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 621, S. 159 (Ausschnitt Schriftspiegel; Originalgröße 26 x 23 cm).

Im Unterschied zu m2 schrieb die Hand m3 offenbar durchgehend gerades d und niemals rundes d, sie benutzte fast ausnahmslos die Kürzung -ū und nicht - und verzichtete grundsätzlich auf die v-s-Ligatur. Auf den oben genannten 70 Seiten haben wir kein einziges unziales d, nur drei Kürzungen - sowie nur eine einzige

Die Glossen Ekkeharts IV. als paläographisches und methodisches Problem | 119

v-s-Ligatur bei m3 feststellen können.139 Neben der unterschiedlichen Tintenfarbe, der abweichenden Schriftgrösse und dem verschiedenen Korrektur- bzw. Glossierungsverhalten ergeben sich somit zusätzlich drei bedeutende Unterschiede in der Verwendung der Doppelform eines Buchstabens und einer Kürzung sowie im Gebrauch einer Ligatur. Tab. 1: Doppelformen von Buchstaben, Kürzungen und Ligaturen Cod. Sang. 393

Cod. Sang. 621 (aufgrund von S. 40–50, 90–110, 150–170, 280–290, 330–340)

A Halbunziales d

m2 Unziales und halbunziales d Kürzung: -ū und - v-s-Ligatur häufig Selten unten angehängtes i Nach ca. 1000 [und vor 1022]140

Kürzung: -ū und - v-s-Ligatur Unten angehängtes i

B (= Ekkehart IV.) C Halbunziales d Halbunziales d (nur 4x unziales d) Kürzung: Kürzung: -ū und - -ū und - v-s-Ligatur v-s-Ligatur Unten angeUnten angehängtes i hängtes i Nach 1022, 1027 und 1035

m3 Halbunziales d Kürzung: -ū (nur 3x -) – (nur 1x v-s-Ligatur) – [Nach 1031 bis]141 um 1057

Eisenhut war sich der paläographischen Unterschiede zwischen m2 und m3 bewusst und erklärte sie vorwiegend zeitlich. Dass die Schrift eines Individuums nicht nur gemäss der Stilebene und der Funktion der geschriebenen Texte variieren, sondern auch eine zeitliche Entwicklung durchlaufen kann, ist bekannt.142 Demnach hätte Ekkehart IV. die Orosius-Handschrift nicht kontinuierlich über längere Zeit, sondern in zwei zeitlich auseinanderliegenden Phasen glossiert. Aufgrund der Erwähnung des Martyriums von Papst Viktor II. in einer Glosse von m3 gegen Ende der Handschrift steht fest, dass diese Hand nach dem Monat Juli 1057 noch Einträge vornahm.143 Für m2 hat Eisenhut aufgrund von zwei Glossen lediglich einen terminus post quem um die Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert herleiten können.144 Insofern besteht von sich aus keine Notwendigkeit, m2 mit Eisenhut der ersten Schaffensphase Ekkeharts IV. bis zum Tod Notkers III. 1022 zuzuordnen.

|| 139 Siehe die v-s-Ligatur in Cod. Sang. 621 auf S. 106a über Z. 13 magnvs, die Kürzung auf - auf S. 48b über Z. 11 ostrear, auf S. 103b neben Z. 9 grecor und auf S. 289 über Z. 11 octigentesim, wobei in den ersten beiden Fällen m3 ein von m2 geschriebenes Wort auf Rasur teilweise korrigierte. Der Befund von Eisenhut 2009, 210 weicht von dem unsrigen etwas ab. 140 Nach Eisenhut, von uns aber in Frage gestellt. 141 Nach Eisenhut, von uns aber in Frage gestellt. 142 Siehe oben Anm. 78. 143 Dümmler 1868, 1–2; Eisenhut 2009, 208–209. 144 Eisenhut 2009, 221–222.

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Die These der zweistufigen Kommentierung und Korrektur von Cod. Sang. 621 weicht jedoch nicht unwesentlich vom eigentlichen Erklärungsmodell ab, das eine langfristige Entwicklung der Schrift einer Person postuliert, welche idealerweise und in einigen wenigen Fällen tatsächlich in mehreren (und nicht nur zwei) Entwicklungsstadien fassbar wird. Statt einer Entwicklungslinie lassen sich in der Orosius-Handschrift nur zwei verschiedene Hände (m2 und m3) feststellen, die konstant bleiben und sich nicht fortentwickeln. Dass gerade die jüngere Hand, die sicherlich noch 1057 aktiv war, den berühmten Korrekturauftrag des bereits 1022 verstorbenen Notker III. in Cod. Sang. 621 auf S. 351 vermerkte, mag ebenfalls überraschen.145 Eine weitere Stütze für die These einer zweistufigen Bearbeitung der Historiae adversum paganos durch Ekkehart IV. glaubt Eisenhut in den Parallelen zwischen den Glossenhänden in Cod. Sang. 621 und denjenigen in Cod. Sang. 393 gefunden zu haben.146 In der Tat sind sich die vorwiegend kleinen, dezenten, dunklen Einträge von m2 und B einerseits und die mit breiter Feder und heller Tinte, häufig auf Rasur und mit weniger Respekt für den Grundtext geschriebenen Glossen und Korrekturen von m3 und C – mindestens was den Gesamteindruck betrifft – verblüffend ähnlich (siehe Abb. 1 und 2). Gegen die Parallelsetzung der beiden Glossenschichten in Cod. Sang. 393 und Cod. Sang. 621 sind jedoch ernsthafte paläographische, chronologische und inhaltliche Einwände vorzubringen. Zunächst sei auf die paläographischen Abweichungen zwischen den Händen m2 und B einerseits und zwischen den Händen m3 und C hingewiesen. m2 unterscheidet sich aufgrund des Gebrauchs des unzialen d als Alternative zur halbunzialen Form nicht nur von m3, sondern auch von sämtlichen Händen, einschliesslich B, in Cod. Sang. 393.147 Das fast vollkommene Fehlen von rundem d in Cod. Sang. 393 wiegt umso schwerer, als nicht nur m2 in Cod. Sang. 621, sondern auch andere Ekkehart IV. zugewiesene Glossen in weiteren Handschriften das unziale d aufweisen.148 m3 weicht vor allem durch den Verzicht auf die Kürzung - und auf die v-s-

|| 145 Vgl. dazu Grotans 2006, 66–67 mit Anm. 99. 146 Eisenhut 2009, 210. 147 Eisenhut 2009, 210–211 vertritt die Ansicht, Ekkehart IV. habe deshalb neben geradem d auch rundes d benutzt, weil er seine aktuelle Schrift der älteren Schrift des Grundtexts, wo das runde d vorkommt, angepasst habe. Dagegen ist einzuwenden, dass m2 generell häufiger als der Schreiber des Grundtexts unziales d benutzt und oft gerade auch dort unziales d in der Glosse schreibt, wo der Grundtext ausschliesslich halbunziales d verwendet. Es lassen sich zahlreiche Beispiele finden, wo m2 unter Verwendung von unzialem d ein Word des Grundtexts glossiert, welches ausschliesslich halbunziales d verwendet: z.B. Cod. Sang. 621, S. 48a, Z. 11 libidini[bus] (halbunziales d), darüber delectationibus (unziales d), S. 100b, Z. 11 destitutos, darüber derelictos, S. 150a, Z. 12 infando [naufragio], darüber dolenter dicendo, Z. 20 in uniuersos egit, darüber numidas et mauros, S. 152b, Z. 5 darent romanis, darüber [per annos XX] penderent, S. 154a, Z. 3 insultandum, darüber illudendum, S. 159a, Z. 9a ad, darüber ad. 148 Cod. Sang. 143, S. 156, über Z. 16 und 19 jeweils scilicet decipit von derselben Hand wie die Ekkehart IV. zugeschriebene althochdeutsche Glosse über Z. 7; Cod. Sang. 159, S. 349b, über Z. 4

Die Glossen Ekkeharts IV. als paläographisches und methodisches Problem | 121

Ligatur von A, B und C ab. Es bestehen somit nicht nur Unterschiede zwischen m2 und m3, sondern auch zwischen diesen und den Händen A, B und C, so dass für die Zuweisung sämtlicher Hände an eine einzige Person bzw. an Ekkehart IV. Zweifel aufkommen. Ein zweiter Einwand ergibt sich aus der Datierung der Hände m2 und B, welche angeblich derselben Glossierungsphase und demselben Schreiber zugehören. Eisenhuts Annahme, die „Jugendhand“ m2 habe vor 1022 Cod. Sang. 621 glossiert, steht im Widerspruch mit der zweifelsfreien Datierung der Hand B nach 1022, 1027 und 1035.149 Die bisherigen Ausführungen lassen sich auf zwei mögliche Widersprüche reduzieren. Falls m2 Cod. Sang. 621 vor 1022 glossierte, was möglich, aber entgegen dem von Eisenhut erweckten Eindruck nicht nachgewiesen ist, dann folgt daraus ein chronologischer Widerspruch zur angeblich identischen Eintragshand und Eintragsphase in Gestalt von B in Cod. Sang. 393. Sollte m2 entgegen Eisenhut nach 1022 Eintragungen in den Historiae adversum paganos vorgenommen haben, sieht man sich mit einem schwer nachvollziehbaren unterschiedlichen Gebrauch des unzialen d durch m2 und B konfrontiert. Dies ist umso störender, als in diesem Szenario die beiden Hände derselben Schaffensperiode Ekkeharts IV. zuzuordnen sind und überdies die These der Anpassung von m2 an die ältere Schrift der Vorlage mit unzialem d unserer Meinung nach zu verwerfen ist.150 Schliesslich betont Eisenhut, dass Glossen nicht nur allein aufgrund paläographischer, sondern auch aufgrund inhaltlicher Kriterien Ekkehart IV. zuzuschreiben sind.151 Sie versucht also, den manchmal nicht eindeutigen paläographischen Befund durch den „Schreibstil oder Wiederholungen von Worten und Gedanken, die sich im Autograph spiegeln, dem Unterricht Notkers entnommen sein könnten“ als Zuweisungskriterien zu ergänzen und ihre These zu unterstützen.152 Als Beispiel erläutert sie ausgiebig die sogenannte astrolapsus-Glosse zu Orosius 1.141 in Cod. Sang. 621 auf S. 60a sowie zwei Verse samt Glossen in Cod. Sang. 393 auf S. 36, die ebenfalls vom Astrolabium handeln.153

|| cacoxidian von derselben Hand wie die Ekkehart IV. zugeschriebene althochdeutsche Randglosse auf derselben Seite. In diesen beiden Handschriften steht im Grundtext überdies immer gerades d, so dass sich die Theorie einer Anpassung der Glossenschrift an den Grundtext wiederum nicht bewahrheitet. Zur Zuschreibung der althochdeutschen Glossen an Ekkehart IV. vgl. Bergmann/Stricker 2005, Nr. 190; Bergmann/Tax 2009, 1622; Eisenhut 2009, 420. 149 Zu den termini post quem 1022 und 1035 siehe oben bei Anm. 58, 61–62. Zum Jahr 1027 siehe die von der Hand B eingetragene Glosse in Cod. Sang. 393 auf S. 155 über Z. 16, welche auf den Besuch der Kaiserin Gisela in jenem Jahr anspielt. Liber Benedictionum/Egli 1909, II und 231, Z. 67. 150 Siehe oben Anm. 147. 151 Eisenhut 2009, 214. 152 Ähnlich schon Sonderegger 1970, 118–123 und Osterwalder 1985, 73, Anm. 5. Inwiefern sich die von Letzterem geforderten Zuschreibungskriterien der Sprache und des Stils bei lateinischen Glossen (!) im konkreten Fall als brauchbar erweisen, bleibe dahingestellt. 153 Eisenhut 2009, 214–222.

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Es ist offensichtlich, dass bei einem solchen Vorgehen das Problem eines Zirkelschlusses besteht. Zudem ist dieser Ansatz wiederum überaus personenzentriert: (Das Genie) Ekkehart IV. hat als einziger St. Galler Mönch seiner Generation Kenntnis vom Astrolabium bzw. von der gelehrten Astrolabium-Literatur. Wäre es nicht möglich oder sogar sinnvoller, von einem überindividuellen Wissen um das Astrolabium im Kloster St. Gallen auszugehen, zumal Eisenhut154 selber die Häufung der Erwähnungen dieses Instruments in den Schriften ab ca. 1025 festhält und von einem regelrechten Astrolabiumkult in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts im fränkischen Raum spricht sowie den Unterricht Notkers III. als Ort der Wissensvermittlung anführt?155 Das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Struktur, das in der paläographischen Beurteilung zwischen dem Schreiber und dem Skriptorium herrscht, wurde somit um eine neue Dimension, nämlich um die Beziehung zwischen dem individuellen Gelehrten bzw. Genie und der Schule bzw. dem Schulund Gelehrtenwissen, erweitert. Als Ergebnis der Untersuchung der Glossen in der Orosius-Handschrift gilt festzuhalten, dass sich die Ekkehart IV. zugewiesenen Hände m2 und m3 in Cod. Sang. 621 untereinander und gegenüber denjenigen in Cod. Sang. 393 hinsichtlich gewisser Doppelformen, Kürzungen und Ligaturen systematisch unterscheiden, und dass sich Eisenhuts Erklärungsmodell für diese Unterschiede, d.h. die Anpassung der Glossenschrift an den älteren Grundtext und vor allem die Postulierung einer „Jugendhand“ und einer „Altershand“ sowie die (zeitliche) Parallelsetzung der beiden Glossenschichten in den besagten Handschriften, nicht aufrechterhalten lässt. Wir werden uns dem Vorwurf aussetzen, das von uns zertrümmerte umfassende und harmonische Erklärungsmodell von Eisenhut nicht gleichwertig ersetzen, sondern einzig zwei mögliche Konsequenzen aufzeigen zu können. Falls man aufgrund der dargelegten paläographischen Unterschiede davon ausgeht, dass nicht sämtliche Hände Ekkehart IV. zuzuweisen sind, drängt sich die Frage auf, ob m2 oder m3 oder sogar beide jenem abzusprechen seien. Aus inhaltlichen, aber nicht absolut zwingenden Gründen wird man wohl dahin tendieren, ihm (wie dies traditionell geschehen ist)156 am ehesten m3 zuzuschreiben. Von dieser Hand stammen nicht nur die Glossen zur Textemendation und zum Korrekturauftrag Notkers III.,157 sondern auch die behandelte Überschrift (4) am Ende der Orosius-Handschrift, welche eine Widmung Ekkeharts IV. an seinen Bruder, den späteren Abt Immo von Münster im Gregoriental, enthält.158 Freilich liesse sich auch hier einwenden, dass Notker III.

|| 154 Eisenhut 2009, 219, 214. 155 Zum Problem des personenzentrierten Ansatzes vgl. auch die Rezension von Lukas 2012. Die Rezensentin bezweifelt in vielen Fällen, dass die Glossen Ekkeharts IV. seine persönlichen Wertvorstellungen und seine persönliche Lebenswelt widerspiegeln. 156 Vgl. Eisenhut 2009, 227. 157 Siehe oben bei Anm. 131. 158 Siehe oben bei Anm. 63.

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seinen Auftrag an einen anderen Schüler oder Mönch hätte richten können und ein anderer Schreiber als Ekkehart IV. die Widmung hätte abschreiben bzw. eintragen können. Falls man hingegen trotz der paläographischen Unterschiede zwischen den Händen und trotz der Mängel und Widersprüche im Erklärungsmodell von Eisenhut an der Zuweisung sämtlicher Hände an Ekkehart IV. festhalten möchte, ergeben sich zwei Notwendigkeiten bzw. Schlussfolgerungen. Entweder müsste man die paläographischen Varianten nachvollziehbar und unter neuen Gesichtspunkten erklären oder man müsste sich damit abfinden, dass die Paläographie offenbar ihre Grenzen erreicht und als Zuweisungskriterium von Glossen an Ekkehart IV. nicht taugt. Wenn sich nämlich eine Hand in verschiedener Kombination (s. Tab. 1) von Handschrift zu Handschrift und von Glossenschicht zu Glossenschicht im Gebrauch einer Doppelform eines Buchstabens und einer Kürzung sowie in der Verwendung einer Ligatur unterscheiden kann, dann bleiben nicht mehr viele Kriterien übrig, um einer zügellosen Zuweisungspraxis von Glossen aus demselben Skriptorium ungefähr desselben Zeitraums Einhalt zu gebieten.

6 Ergebnis und Lösungsansatz Im Fahrwasser der Casus Sancti Galli von Ekkehart IV. und aufgrund der besonders guten frühmittelalterlichen Quellen- und Überlieferungslage hat die Forschung zum Kloster St. Gallen häufig einen personenzentrierten Ansatz gewählt. Eine Frucht davon sind die Forschungen über Ekkehart IV. und seine Glossen. Das Problem besteht weniger im Ansatz selber als im unreflektierten Umgang damit. Dieser Sachverhalt hat dazu geführt, dass der historische Ekkehart IV. zu einem Konstrukt der Wissenschaft aufgeblasen wurde, welches andere – freilich unbekannte oder anonyme – schöpferische und gelehrte Mönche des 11. Jahrhunderts, die zweifelsohne existierten und z.B. in den exegetischen und metrischen Glossen zu den Paulinischen Briefen in Cod. Sang. 64 greifbar werden,159 zu erdrücken droht.

|| 159 Die marginalen und interlinearen Glossen in Cod. Sang. 64 stammen von mehreren Händen des zweiten Drittels des 11. Jahrhunderts (vgl. Einleitung und Teiledition von Bischoff 1984, 35–48; Hoffmann 2012, 201–203), die sich ihrerseits eindeutig (z.B. durch die aufrechten Schäfte von m, n, f und langem s, durch manchmal mitgeschriebene Luftlinien zwischen den Buchstaben, durch die offenbar häufige Verwendung von v zu Wortbeginn [z.B. S. 59, über Z. 1 vos und Z. 2 vno] etc.) von der Hand Ekkeharts IV. unterscheiden. Die Bedeutung der Klosterschule(n) und der dort tätigen Lehrer und Schüler sowie der Bildung insgesamt im Kloster St. Gallen bis über die Mitte des 11. Jahrhunderts hinaus (vgl. Ochsenbein 1999; Grotans 2006, 49–109) sowie die Produktivität des Skriptoriums dieser Zeit, als über 40 Handschriften geschrieben wurden und neben anonymen auch neun namentlich bekannte Schreiber tätig waren (vgl. Bruckner 1938, 47), legen ebenfalls nahe, dass ausser Ekkehart IV. weitere Zeitgenossen Eintragungen in Handschriften vornahmen.

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Die paläographische Grundlage für die Glossenzuschreibung an Ekkehart IV. liefert die Eintragshand B in Cod. Sang. 393. Eine Glosse dieser Hand schildert unten auf S. 155 in subjektiver Erzählperspektive, wie Notker (III.) ihn, Ekkehart (IV.), direkt anzusprechen pflegte. Diese Glosse und die gesamte ihr entsprechende Glossenschicht sind deshalb mit grosser Sicherheit Ekkehart IV. zuzuweisen und eignen sich (im Gegensatz zur Schrift des Grundtexts) bestens zum Vergleich mit anderen Glossen. Die beiden anderen Hände, d.h. die Hand A des Grundtexts und die Hand C als weitere Eintragshand, verwenden grundsätzlich dieselben Buchstabenformen, Kürzungen und Ligaturen wie die Hand B. Aus diesen und z.T. inhaltlichen Gründen tendieren wir dazu, die Hände A und C ebenfalls Ekkehart IV. zuzuweisen. Es wurde die Hypothese formuliert, dass sich die unterschiedliche Tintenfarbe, Federbreite, Schriftgrösse und Eintragungsart der drei Hände auf ihre inhaltlich-funktionale Differenzierung im Sinn einer Texthand, einer kommentierenden Glossenhand und einer Korrektur- und Ergänzungshand zurückführen lassen, die in unterschiedlichen Arbeitsschritten am Werk waren. Die verbreitete „absolute“ Charakterisierung der Schrift Ekkeharts IV. als altertümlich und rückwärtsgewandt hat die vorangehende Untersuchung, die erstmals explizit einen Vergleich mit anderen zeitgenössischen St. Galler Handschriften anstellte, teils bestätigt und teils entkräftet. Während die paläographische Analyse von Cod. Sang. 393 zu verwertbaren, eigentlichen Ergebnissen geführt hat, ist dies bei Cod. Sang. 621 nicht der Fall. Unsere Untersuchung verharrt weitgehend in der Dekonstruktion der bisherigen Forschung, indem sie die Mängel und Widersprüche in Eisenhuts Erklärungsmodell sowie die paläographischen Unterschiede zwischen den Ekkehart IV. in den genannten beiden Handschriften zugeschriebenen Händen, insbesondere hinsichtlich der „Jugendhand“ m2 und der „Altershand“ m3, entlarvt. Die ernüchternde und unbefriedigende Bilanz beschränkt sich darauf, drei mögliche Folgerungen festzuhalten: erstens die Aberkennung der Urheberschaft Ekkeharts IV. einer oder mehrerer ihm zugewiesener Glossenhände (am ehesten m2), zweitens die Notwendigkeit eines neuen Erklärungsmodells für die paläographischen Unterschiede in der Schrift Ekkeharts IV. oder drittens die Untauglichkeit der Paläographie als Methode der Glossenzuweisung im Umfeld des St. Galler Gelehrten. Dieses trostlose Ergebnis beleuchtet in aller Deutlichkeit die grossen Probleme und Schwierigkeiten, welche sich aus der Wahl einer personenzentrierten Perspektive für die Untersuchung von Glossen ergeben. Der vielleicht grösste Nachteil dieses auf Ekkehart IV. fokussierten Forschungsansatzes besteht darin, dass der erste Schritt in dieser Vorgehensweise, nämlich die praktische Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes bzw. die Zuweisung der Glossen an Ekkehart IV., gleichzeitig mit vielen Unsicherheiten, kaum vollständig lösbaren Problemen und vielleicht sogar mit subjektiven Unabwägbarkeiten behaftet ist,160 welche die nachfolgenden

|| 160 Vgl. Powitz 2005, 41: „Ein subjektives Element wird sich nie ganz fernhalten lassen.“

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Arbeitsschritte und Ergebnisse grundlegend beeinflussen. Eisenhuts „Jugendhand“ m2 illustriert dieses Problem der frühzeitigen, aber unsicheren Weichenstellung in besonders dramatischem Ausmass: Weist man die Hand Ekkehart IV. zu, so vermehren sich das Glossenkorpus und die Leistung des St. Galler Mönchs als Glossator um mehr als das Doppelte. Im umgekehrten Fall werden sie mehr als halbiert.161 Vor allem aber sähe sich die Forschung mit einem niemals gewürdigten, aber noch produktiveren Glossator (m2) als Ekkehart IV. konfrontiert! Die Lösung besteht unserer Meinung nach darin, den personenzentrierten Zugriff auf die Glossen durch einen strukturellen und funktionalen zu ersetzen. Eine derartige Strukturgeschichte der Glossierungspraxis sowie der Handschriftenbearbeitung und -benutzung im 11. Jahrhundert (oder in einem anderen Zeitraum) im Kloster St. Gallen müsste mit der Sichtung der Handschriften (oder einer thematisch begründeten Auswahl), dem Auffinden und Erfassen vorhandener Eintragungen beginnen, um danach eine paläographisch bestimmte Typologie der Hände und der Glossenschichten zu erstellen, welche mit einer ebenfalls zu schaffenden, mindestens rudimentären inhaltlich-funktionalen Glossentypologie (z.B. erklärende und kommentierende, korrigierende und ergänzende Eintragungen) zu vergleichen wäre. Darauf könnten schliesslich weitere inhaltliche, sprachliche und historische Untersuchungen aufbauen. Die Vorteile eines solchen Vorgehens liegen auf der Hand. Das Problem der paläographischen Unklarheiten und Zweifelsfälle in der Händeidentifikation bzw. Händeunterscheidung würde weitgehend entschärft. So wäre die (hypothetische) Frage, ob weitgehend, aber nicht absolut identische (imaginäre) Hände X, Y und Z drei unterschiedliche Schreiber oder drei Glossenschichten desselben Schreibers repräsentieren, nicht von prioritärer Bedeutung; ein Entscheid für das eine oder das andere würde die nachfolgende Arbeit nicht nachhaltig in verschiedene Richtungen beeinflussen. Das Profil einer Hand bzw. einer Glossenschicht ergäbe sich nicht aufgrund einer oder mehrerer dahinterstehender Persönlichkeiten, sondern aufgrund des Inhalts und der Funktion der ihr zugehörigen Eintragungen. Aus dieser Warte wäre es z.B. wichtig, explizit darauf zu verweisen, dass einzig die Hand m3 lectio-Hilfen und textkritische Äusserungen in der Orosius-Handschrift notierte und sich somit klar von der Hand m2 abhebt.162 Der zweite Vorteil läge in der Berücksichtigung der zahlreichen Glossen ungefähr derselben Zeit, die sicherlich oder möglicherweise nicht von Ekkehart IV.

|| 161 Ein ähnliches Problem in vergleichbarer Grössenordnung stellt die Zuschreibung der ungefähr 7‘000 Glossen an Ekkehart IV. im Psalter Notkers III. dar. Siehe oben Anm. 8. 162 Eisenhut scheint an einer inhaltlich-funktionalen Differenzierung der Hände m2 und m3 kein Interesse gehegt zu haben. Vgl. Eisenhut 2009, 203–223, 300–301. Gleichwohl findet man einen Hinweis auf eine solche in Form der lectio-Hilfen, welche die Autorin ausschliesslich m3 zuordnet. Siehe Eisenhut 2009, 205–206. Zu den textkritischen Äusserungen, die alle von m3 eingetragen wurden, siehe oben Anm. 131.

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stammen. Neben m2 wären z.B. die von Schuler163 und von Bergmann/Tax164 Ekkehart IV. abgesprochenen althochdeutschen Glossen, des Weiteren die exegetischen und anderen kommentierenden, manchmal in leoninischen Hexametern abgefassten lateinischen Glossen zu den Paulinischen Briefen in Cod. Sang. 64,165 sodann viele weitere in den Handschriften verstreute lateinische Glossen,166 darunter häufig Korrektureinträge,167 und schliesslich die von Andreas Nievergelt in diesem Band untersuchten Griffelglossen betroffen. Zu bedenken wäre zudem die Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes über die eigentlichen Glossen hinaus. Wie mehrere Studien gezeigt haben, kann es sich unter Umständen lohnen, nicht nur Texten, Worten und Buchstaben, sondern sämtlichen mit Feder, Farbstift oder Griffel eingetragenen graphischen Zeichen und Zeichnungen gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.168 Darunter fallen Skizzen und Kritzeleien, Verweise und Korrekturzeichen, die Hervorhebungen von Textpassagen (z.B. durch Nota-Zeichen) und die Markierung von Exzerpten, die möglicherweise für das Verfassen von anderen Werken verwendet wurden. Der Einbezug von ganzen Traktaten und Kompilationen, welche während des Untersuchungszeitraums auf den Seitenrändern älterer Handschriften in kleinerer und ein wenig kursiver Schrift nachgetragen wurden, wäre wohl mindestens aus paläographischer Sicht und bezüglich einer möglichst umfassenden Funktionsbestimmung von Se|| 163 Schuler 2010, 117–118. 164 Bergmann/Tax 2009, 1622 bei Cod. Sang. 159. 165 Vgl. Bischoff 1984, 35–48. 166 Siehe z.B. Hoffmann 1986, 383, der in der in St. Gallen geschriebenen Handschrift Leiden, Universitätsbibliothek, Cod. Voss. Lat. Q. 33 eine Hand auf f. 53rv und f. 58rv bemerkt hat, die ähnlich wie Ekkehart IV., aber schöner geschrieben habe. Grotans 2006, 236 bei Anm. 130, 299 bei Anm. 64 erwähnt graphische Lesehilfen und weitere lateinische Glossen und Korrekturen von Zeitgenossen Ekkeharts IV. Schuler 2010, 32, 41 57, 83, 87 vermutet aufgrund eigener Beobachtungen lateinische Glossen von anderen Schreibern als Ekkehart IV. in Cod. Sang. 102, 159, 162, 279, 280. 167 Lateinische Korrektureinträge, deren Schrift eindeutig verschieden von derjenigen Ekkeharts IV. ist, finden sich z.B. in Cod. Sang. 159, S. 18, über Z. 1 [intelle]ge (beide Schleifen des g völlig geschlossen und durch eine kurze Vertikale verbunden); dies gilt wohl auch für die beiden weiteren Eintragungen in derselben Tinte über Z. 10 quod, über Z. 14 et und über Z. 27 prope, S. 349, über Z. 16 [ordin]em. Verschiedene Glossen- und Korrekturschichten sind zudem in Cod. Sang. 280 z.B. auf S. 228 und 230 auszumachen und stammen wohl von drei verschiedenen Schreibern. Neben den meist interlinearen Glossen in heller Tinte sind marginale Quellenangaben (ex libro …) in dunkler Tinte und von spitzer Feder (siehe auch das unten geschlossene g mit kleinem Kopf auf S. 228 neben Z. 4) sowie eine sorgfältige Korrekturhand (S. 230, neben Z. 14 consiliatus, S. 310, über Z. 22 timent), die vielleicht mit der Texthand identisch und somit älter ist, auszumachen. 168 Siehe dazu Holtz 1994, 151–155; Lapidge 1994, 121, 125; Andreas Nievergelt in diesem Band; Letzterer versammelt in seinem Kapitel 3.2 auch relevante Belege für Griffelglossen, -zeichen und -skizzen in Cod. Sang. 621 gemäss Eisenhut 2009. Die Verwendung von bestimmten Handschriften als Arbeitsexemplaren und die eigenhändige Annotation derselben lassen sich einige Jahrzehnte nach dem Tod Ekkeharts IV. im Bodenseeraum für Bernold von Konstanz († 1100) nachweisen. Vgl. Stöckly 2000, 2–12, 49–61.

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kundäreintragungen ebenfalls von Interesse.169 Ob sich eine solche arbeitsintensive Untersuchung sämtlicher Benutzerspuren in der St. Galler Handschriftenkultur des 11. Jahrhunderts wirklich ausbezahlt, müsste sich freilich erst noch erweisen. Unbestreitbar scheint uns hingegen der Nutzen der oben geschilderten Mitberücksichtigung zusätzlicher zeitgenössischer Glossen (im engeren Sinn) und ihrer paläographischen und inhaltlich-funktionalen Kategorisierung, denn sie würden es ermöglichen, die Glossen (eines ohnehin schon entschlackten) Ekkeharts IV. mit anderen St. Galler Glossenkonglomeraten zu vergleichen und realistischer zu beurteilen. An die Stelle der absoluten Perspektive träte, wie schon bei der Charakterisierung der Schrift Ekkeharts IV., eine relative und vergleichende Betrachtungsweise der Glossierungspraxis oder -praktiken. Um einen solchen Ansatz in letzter Konsequenz zu verfolgen, wäre es nötig, die althochdeutschen Eintragungen nicht nur mit den lateinischen in derselben Handschrift, sondern auch mit der weit grösseren lateinischen Glossenüberlieferung – die dank der Pionierleistung von Eisenhut für Cod. Sang. 621 ediert vorliegt und im Detail untersucht wurde,170 sonst aber wie anderswo weitgehend vernachlässigt wurde171 – in anderen Handschriften zu konfrontieren.

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|| 169 Ein Beispiel dafür liefert eine im 9. Jahrhundert in St. Gallen entstandene Dionysio-Hadriana (Cod. Sang. 671). Im 11. Jahrhundert trugen mindestens zwei Schreiber auf insgesamt fast hundert Seiten Exzerpte aus dem Dekret Burchards von Worms und den Beginn eines theologischen Traktats Lanfrancs von Canterbury auf den Seitenrändern und auf leeren Seiten nach, manchmal übrigens unter Verwendung von auffallend elongierten Schäften. Vgl. Lenz/Ortelli 2014, XVI–XVII, 6–13. 170 Eisenhut 2009. 171 Zur Vernachlässigung der lateinischen Glossen vgl. Grotans 2006, 52 bei Anm. 15 und Froschauer 2012, 35–42 die letzte Spalte zur Editionslage.

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Heidi Eisenhut

Handschriften mit Spuren Ekkeharts IV. von St. Gallen Aussagen zur Glossierungsmethode, Glossierungsdichte und zum Charakter der Glossen

1 Einleitung In einem frühmittelalterlichen Kloster passte nicht in seine Zeit, wer einen Text schrieb wie die Casus Sancti Galli Ekkehardi IV., einen humorvollen Text, der einzelne Charaktere einer Klostergemeinschaft skizzierte und damit eine Materie, die traditionell anders erzählt wurde, neu und kreativ interpretierte.1 In einem frühmittelalterlichen Kloster passte nicht in seine Zeit, wer ein Schriftbild hatte, das einen individuellen Charakter trug, wer innerhalb der großen Masse der geschult Schreibenden als Individuum erkennbar blieb. Ekkehart IV. von St. Gallen, geboren um 980, verstorben nach 1057, ist nicht nur Autor der Casus Sancti Galli und ein Schreiber, Korrektor und Glossator, dessen Hand anders ist als die Hände seiner Zeitgenossen, Ekkehart zeigte auch als Dichter – etwa der Benedictiones ad mensas – und wohl als Notator – in der Erweiterung des St. Galler Tropenbestands – neue Ansätze und Experimentierfreude.2 Obwohl sein von ihm verehrter Lehrer Notker III. Labeo deutsche Texte und Kommentare hinterließ, schrieb Ekkehart als Gelehrter vorwiegend in Latein. Sein Schaffen war den Notkeren und Ekkeharten und all den anderen bekannten St. Galler Mönchspersönlichkeiten verpflichtet, die, so unterschiedlich sie waren, die monastischen Ideale der disciplina und caritas befolgten, die, so Ekkehart, dem Kloster seine spezifisch st. gallische Ausprägung verliehen hatten in früherer Zeit. In ihren Biographien sah er verschiedene Möglichkeiten realisiert, der Regula Benedicti gemäß zu leben, auch wenn deren Auslegung manchmal recht frei war: Individuell, der natura gemäß, und doch regelkonform und von Nächstenliebe beseelt – diese Ideale verteidigte er schriftlich in seinen Klostergeschichten, während innerhalb der Klostermauern

|| 1 Siehe den Beitrag von Ernst Tremp in diesem Band sowie Ekk. CsG (Haefele). 2 Siehe die Beiträge von Stefan Weber und Michael Klaper in diesem Band. Über Leben und Werk Ekkeharts IV. vgl. Eisenhut 2009, 85–101, Literaturüberblick 85, Anm. 66. Jüngere Literatur zusammengefasst in der 2013 erschienenen 5. Aufl. von Ekk. CsG (Haefele), ergänzend dazu auch Hellgardt 2009; Jezierski 2010; Schulz 2011, 586–617 (mit Kommentar und Übersetzung der Benedictiones ad mensas); Lozovsky 2013; Stotz 2013; Eisenhut 2013a und 2013b.

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Reformbestrebungen im Gange waren, denen er mit Misstrauen begegnete.3 Ob er wohl deshalb – wohl bei nachlassendem Augenlicht – die Handschriften seiner Vorgänger mit Fleiß immer weiter korrigierte und glossierte, um wenigstens das überlieferte Schrifttum in gutem Zustand und bisweilen angereichert durch sein Wissen der Nachwelt zu hinterlassen? Sein eigenwilliges und unermüdliches Arbeiten vor allem auch in der Zeit nach seiner Rückkehr aus Mainz, in seinen letzten gut 25 Lebensjahren, führte dazu, dass seine Altershand gut erkennbar ist und seine Spuren als ‚Ekkehartglossen‘ einer Persönlichkeit zuzuordnen sind. Im vorliegenden Beitrag steht ebendieser Ekkehardus glossator4 im Zentrum des Interesses. Als Erstes wird seine Methode der Glossierung aufgezeigt. In einem zweiten Kapitel wird die Glossierungsdichte in den einzelnen Handschriften, in denen Spuren von Ekkeharts Hand vermutet werden, betrachtet, bevor abschließend der Charakter der Glossierung thematisiert wird. Es wäre ein Desiderat, den gesamten St. Galler Handschriftenbestand des 8. bis 11. Jahrhunderts – insgesamt gegen 450 Handschriften – auf Spuren von Ekkeharts Hand zu untersuchen, wurde schon wiederholt festgehalten.5 In meiner Dissertation zu den Glossen Ekkeharts IV. von St. Gallen im Codex Sangallensis (= Cod. Sang.) 621, dem reich glossierten Orosiuscodex in der Stiftsbibliothek St. Gallen, habe ich in Appendix 4 die Liste derjenigen Handschriften veröffentlicht, in denen gemäß Sekundärliteratur Glossen von Ekkeharts Hand vorkommen bzw. vorkommen sollen.6 Unter Einbezug der codices dispersi aus Zürich und einer Handschrift, die heute in der Kantonsbibliothek Vadiana in St. Gallen liegt, ergibt das eine Zahl von 63 Handschriften, in denen solche Spuren vermutet werden. Dank e-codices.ch sind mittlerweile 61 dieser 63 Handschriften als Digitalfaksimiles online verfügbar.7

|| 3 Hierzu zuletzt der 2013 erschienene Nachtrag von Steffen Patzold, in: Ekk. CsG (Haefele), 299–314. Vgl. auch den Beitrag von Ernst Tremp in diesem Band. 4 Vgl. Osterwalder 1985. 5 Zuletzt Walter Berschin in Rahmen einer interdisziplinären Tagung zu Gallus vom 5.–8. September 2012 in St. Gallen. 6 Eisenhut 2009, 419–424, elektronische Edition der Glossen Ekkeharts IV. im Cod. Sang. 621 unter http://orosius.monumenta.ch (= Glossenedition), online seit 2006 (Stand: 01.01.2010). Siehe auch Froschauer 2012 (Forschungsstand vor 2009). Das Verzeichnis der Handschriften mit Eintragungen Ekkeharts IV. hat sie von http://orosius.monumenta.ch übernommen und durch die Datierungen der Hss. sowie der Editionsvermerke aus dem BStK ergänzt. Am 01.07.2014 startete das Projekt „Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften. Digitale Erschließung der in Buchform veröffentlichten Daten und Erhebung der Daten zu den Nachtragshandschriften in einer Datenbank“ unter der Leitung von Bergmann/Stricker, http://glossen.ahd-portal.germ-ling. uni-bamberg.de. 7 e-codices – Virtuelle Handschriftenbibliothek der Schweiz, http://www.e-codices.ch (Stand: 28.05.2014).

Handschriften mit Spuren Ekkeharts IV. von St. Gallen | 135

2 Die Methode der Glossierung

8

Die Methode der Handschriftenkollation als Bestandteil der karolingischen Renaissance im frühen 9. Jahrhundert ist gut dokumentiert und untersucht.9 Ein Beispiel aus dem St. Galler Umfeld ist die Arbeitsweise des Reichenauer Gelehrten Walahfrid Strabo.10 Walahfrid überprüfte in Fulda bei Hrabanus Maurus Handschriften im Hinblick auf eine neue verbesserte Abschrift. Im Unterschied zu Walahfrids Vorgehensweise war Ekkeharts Ziel nicht eine neue verbesserte Abschrift – diese lag ja dank der Produktionsblüte im St. Galler Kloster des 9. Jahrhunderts in der Regel vor. Ekkehart verstand sich nicht primär als Scriptor; er war Korrektor und Glossator.11 Die Ergebnisse der Kollation – seiner recensio, seiner Musterung, seines Abgleichs mit anderen Textträgern –, trug er direkt in die St. Galler Handschriften ein. Bei der Durchsicht des Grundtextes, bei der lectio, ging er vor, wie andere vor ihm das auch taten. Er baute kurze Verständnishilfen lexikalischer, grammatischer und syntaktischer Art in den Text ein. Er korrigierte Orthographie – v.a. bei geografischen Namen, Sachbegriffen und Personennamen –, Grammatik, ergänzte textgliedernde Elemente (Satzzeichen) und wies auf Textvarianten hin (zum Beispiel mit alibi oder vel). Methodisch wird hierbei von emendatio, von Verbesserung oder Vervollkommnung gesprochen.12

Abb. 1: Beispiel einer Schreiberäußerung (St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 169, S. 120)

|| 8 Zusammenfassung aus Eisenhut 2009, 229–243 (= Kap. 4.4). 9 Vgl. Becker/Licht 2014. 10 Vgl. von Büren 1996. 11 Vgl. Osterwalder 1982 und 1985. 12 V.a. Glauch 2000 und Hehle 2002 als Basis für Eisenhut 2009, 236–239.

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Perscriptum atque emendatum – „genau und ausführlich niedergeschrieben und von Fehlern bereinigt“,13 hat ein Schreiber und Korrektor – es war nicht Ekkehart IV. – am Ende einer codicologischen Einheit in einem St. Galler Volumen mit Predigten von Augustinus mit Tinte eingetragen. Solche Beispiele sind immer wieder anzutreffen bei der Autopsie von Handschriften. Sie lassen einen nicht nur der Methode auf die Spur kommen, sie bringen einen auch in Verbindung mit individuellen und teilweise auch emotionalen Äußerungen derjenigen meist anonymen Personen, die sich mit den Texten befassten. Über das Emendieren hinausgehend ergänzten die Korrektoren und Glossatoren bei ihrer Arbeit häufig Unverständliches inhaltlich in einem interlinearen oder marginalen ‚Sachapparat’. Methodisch ist hierbei die Rede von der enarratio, der Erklärung, mündlichen Auslegung oder Interpretation, und von der explanatio, der Verdeutlichung und Versinnlichung. Auch die vierte Stufe der grammatischen Textarbeit, das iudicium, die Beurteilung der ästhetischen Qualitäten bzw. des moralischen und philosophischen Werts eines Textes, konnte Bestandteil eines marginalen Sachapparats sein. Ein solcher Apparat trägt insofern Merkmale moderner Editionen, als er sogar Rückverweise auf verwendete Quellen enthalten kann (lege Livium). Wie nahe ein mittelalterlicher Apparat modernen Editionen kommen kann, zeigt sich am Beispiel eines Vergleichs des Ekkehartschen ‚Apparats’ zum Grundtext von Orosius mit dem Apparat von Marie-Pierre Arnaud-Lindet in der Budé-Edition der Historiae adversum paganos aus den Jahren 1990f.14: Tab. 1: Vergleich zwischen Glossierung und modernem Anmerkungsapparat (Eisenhut 2009, 236). S. in Cod. Sang. 621

Grundtextlemma(ta)

Glosse = ‚Sachapparat’

Anm. Oros. (AL I): 89, 207

71b17 71b20 71b22

2,3,7. in rege libidinum] 2,3,7. in rege] 2,3,7. uoluptatis]

sardanaballo. honorio. sardanaballi.

Sardanapale. Honorius.

71b22f.

2,3,7. furoris]

arbati.

71b23f.

2,3,7. christiani fuere]

gothi.

71b24

2,3,7. christiani]

romani.

71b25

2,3,7. christiani]

petrus et paulus et caeteri.

L’arianisme des Gots, pourtant condamné par Orose, […].

Die Übereinstimmungen mit den Anmerkungen in der modernen Edition zeigen, dass die Funktion solcher Glossen eine erklärende und deutende war; sie waren in

|| 13 Cod. Sang. 169, S. 120. 14 Oros. (AL) I–III.

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der Absicht gesetzt, dem Leser einen zum Verständnis aufbereiteten Text zu bieten.15 Das untrennbare Zusammenspiel von nachvollziehender Lektüre, Korrektur und Erklärung, wo der Text dunkel war, zeichnet die Arbeitsweise des Korrektors und Glossators Ekkehart aus. Auch Notkers III. deutsche Textbearbeitungen waren – so konstatierte Christine Hehle in ihren Arbeiten über Ekkeharts Lehrer16 – methodisch diesem Vorgehen abgeschaut: Notker formte in einem ersten Schritt den Grundtext nach den Regeln der septem circumstantiae17 um (constructio in legendo). Er ergänzte ihn mit kurzen Erklärungen grammatischer und lexikalischer Art (lectio/enarratio), übersetzte (interpretatio) und schob Erläuterungen ein, die lateinisch, althochdeutsch oder in einer Mischform auftreten konnten und den Grundtext kommentieren. „Diese umfassende Technik der Texterschließung“, schreibt Hehle, lehnt sich an die Glossierungspraxis an, die sich im Frühmittelalter zur dominierenden Methode der Erarbeitung, Speicherung und Vermittlung von Wissen entwickelt hat und traditionellerweise monolingual lateinisch praktiziert wird.18

Bei der Untersuchung der Methode Ekkeharts muss die überlieferte antik-frühmittelalterliche Tradition einerseits und der Notkersche Umgang mit Texten andererseits im Blickfeld behalten werden. Was sich vorwegnehmen lässt, ist die Beobachtung, dass Ekkehart in keinem der von ihm bearbeiteten Texte je die Absicht eines Notker hatte, eine kommentierte volkssprachige Übersetzung – etwa zu Gunsten von Schülern – zu liefern.19 Einige Glossen von Ekkeharts Hand beleuchten seine Vorgehensweise und Absicht bei der Arbeit an Grundtexten. Ein erstes Beispiel ist die Note in Cod. Sang. 174, S. 1. Sie ist sozusagen der methodische Vorspann zur Arbeit an dieser Handschrift mit Briefen von Augustinus: liber optimus . nimis autem uitiose scriptus; hunc ego quidem corrigere20 per me . exemplar aliud non habens . si poteram temptaui . ergo . ubi minus potui r literam apposui . nihil autem . nisi ubi certissimus eram . abradere uolui; Omnia uero quae ascripsi . sanioris lectoris arbitrio reliqui. – („Das ist ein vorzügliches Buch, es ist aber allzu fehlerhaft geschrieben. Ich habe versucht, wenn ich es vermochte, dieses Buch selbständig (per me [als nachträglicher Einschub]) zu korrigieren; ein anderes Exemplar hatte ich nicht zur Verfügung. So habe ich, wo ich weniger sicher war, den Buchstaben r hingesetzt; nichts habe ich, wo ich nicht ganz sicher war, tilgen

|| 15 Vgl. als Beispiele auch Glossenedition, Oros. 2,14,1 (86a28, 86b1 (2x)). 16 Vgl. Hehle 2002 und 2003. 17 Eisenhut 2009, 328–330 und Glossenedition, Oros. 1,1,17 (35a26ff.). 18 Hehle 2003, 187–190. 19 Vgl. Eisenhut 2009, 237. 20 Zur Auslegung der frz. Termini corriger (= der philologische Terminus dafür wird mit contaminer angegeben) und interpoler vgl. von Büren 1996, 31.

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wollen. Alles aber, was ich (bei)geschrieben habe, habe ich dem Urteilsvermögen des verständigen Lesers überlassen.“)21

Abb. 2: Methodischer Vorspann von Ekkehart IV. in einer Augustinushandschrift (St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 174, S. 1)

Ekkehart hat gemäß eigener Aussage den Cod. Sang. 174 ohne Zuhilfenahme von Vergleichsexemplaren korrigiert. Bei Unsicherheiten hat er durch ein (marginales) r für require (in anderen Hss. auch rq oder rd), im Sinne von ‚das ist nochmals anzuschauen’, auf die entsprechenden Stellen aufmerksam gemacht. Keine Tilgung sei grundlos erfolgt. Ekkehart IV. zeigte dadurch seinen souci philologique,22 der für ihn Antrieb gewesen sein dürfte. Dieser souci ließ ihn auch immer wieder über frühere Korrektoren, die nicht exakt arbeiteten, Urteile aussprechen; so im Cod. Sang. 207, S. 66 (r[equire] scriptor non peccat[or est], sed corrector), oder im Cod. Sang. 175 zu einer unsauber radierten Stelle

|| 21 Eisenhut 2009, 239, dort auch Lit. zu Cod. Sang. 174, S. 1. 22 Von Büren 1996, 50.

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male deletvm est .in. | Sed et alias incautus erat . qui hunc librum uelud corrigebat. – Dieses ‚in’ ist nicht richtig getilgt worden. Und auch sonst war derjenige, der dieses Buch korrigierte, unvorsichtig.23

Abb. 3: Ekkeharts IV. Urteil über einen früheren Korrektor (St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 175, S. 64)

Abb. 4: Selbstironische Bemerkung Ekkeharts IV. über einen Fehler seinerseits (St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 159, S. 330)

Selbstironisch und humorvoll geißelte er aber nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst. Im Cod. Sang. 159 notierte er an den linken Seitenrand: Corrector . risus parat hîc . sapiens sibi visus.24 – Mit corrector meinte er sich selbst. Er machte sich über seinen im Korrektureifer erfolgten Fehler lustig, im Grundtext eines Hieronymusbriefes das Wort aduersario durchgestrichen und erst dann festgestellt zu haben, dass es eigentlich richtig gewesen wäre.25 Er umrahmte den Begriff und schrieb ihn zur Sicherheit interlinear nochmals neu. Als bemerkenswertes Detail ist festzuhalten, dass in der modernen Edition des Hieronymusbriefes adversario fehlt [respondeant aduersario aliter Cod. Sang. 159 respondeant aliter Hier. epist. 49 (in: CSEL 54: 367)]. Der fragliche Begriff entspricht einer suppletiven Glosse, die in den

|| 23 Cod. Sang. 175, S. 64; weitere Beispiele bei Dümmler 1869, 20–22. 24 Cod. Sang. 159, S. 330. 25 Vgl. Eisenhut 2009, 229f.

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Grundtext gerutscht war. Gerade an diesem Beispiel zeigt sich sehr illustrativ die philologische Textarbeit Ekkeharts. Als Zwischenergebnis, das Ekkehart nicht pauschal als Glossator oder Korrektor zeigt, ist festzuhalten, dass der philologisch arbeitende Mönch in dieser Funktion eigentlich auch ein Editor war. Den Auftrag, am Beispiel der unter Abt Hartmut vor 883 geschriebenen St. Galler Orosiushandschrift editorisch tätig zu sein, also diese Handschrift zu lesen, zu verbessern und Nützliches in Form eines ‚Apparats’ zu ergänzen, hatte ihm vor 1022 sein Lehrer Notker III. gegeben: „Vieles in diesem Buch wurde durch die Einfalt von jemandem, der von sich selber überzeugt war, ganz schlecht eingetragen“, notierte er auf der letzten Seite der St. Galler Orosiushandschrift, „Herr Notker hat befohlen, es auszuradieren, und jenen Orten Nützlicheres beizufügen. Und so habe ich unter Beizug zweier Exemplare, das, was ich mit Gottes Hilfe vermochte, gemäß der Einsicht/dem Urteil [iudicium] dieses so großen Mannes getan.“26

Abb. 5: ‚Editorische’ Schlussnotiz im Cod. Sang. 621, S. 351b.

|| 26 Glossenedition, Cod. Sang. 621, S. 351b; vgl. auch Eisenhut 2009, 230f.

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3 Glossierungsdichte Beim Durchblättern der 63 Handschriften, in denen Spuren von Ekkeharts Hand vorkommen sollen, hat sich nicht nur gezeigt, dass einige Codices, darunter z.B. der recht dicht glossierte Cod. Sang. 136 aus der Mitte des 9. Jahrhunderts, eine Handschrift mit vielfältigen Spuren, auch mit vielen Griffelspuren, wieder von der Liste zu streichen sind. – Es hat sich auch gezeigt, dass sich ein genaues Hinsehen lohnt. Erwähnt sei hier das Beispiel von Cod. Sang. 276, einer Handschrift mit verschiedenen Werken von Alkuin, entstanden in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts: Gemäß BStK.-Nr. 215 soll Seite 275 eine deutsche Ekkehartglosse (caritas] minna) tragen. Rein paläographisch passt diese Note eher nicht zu Ekkehart IV.

Abb. 6: Deutsche Interlinearglosse minna zu caritas im Grundtext (St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 276, S. 275)

Beim Blättern in der Handschrift sind dann aber doch Ekkehartsche Spuren zu finden, jedoch nur in der ersten kodikologischen Einheit bis S. 148, zum ersten Mal deutlich auf den S. 34 und 35 – weiter vorne sind es höchstens Einzelbuchstaben zur Korrektur, deren Schreiberzuweisung ohne weitere Indizien kaum möglich ist. Auf S. 40 transliterierte der St. Galler Mönch griechische Wörter im Grundtext. Es sind verschiedene Tintenfarben zu beobachten, was auf verschiedene Bearbeitungsstufen hinweist. Auf S. 75 unten findet sich eine typische Interlinearglosse von Ekkeharts Hand.27 Schließlich folgen auf den S. 95–100 wenige Ekkehartsche Spuren, vor allem Korrekturen. Weiter unten gibt es nur noch auf S. 124 eine für sich alleine stehende Glosse (deum] bonum), die zu Ekkehart passt. Die ganze erste kodikologische Einheit ist mit lectio-Hilfen interpungiert, und zwar nach einem Schema, das zu Ekkehart IV. führen könnte, mit einem Punkt und Häkchen (. ✓) als abschließendem Satzzeichen sowie mit der Ergänzung eines Strichs unter einen mittig gesetzten Punkt als rhetorische Zäsur,28 jeweils in der Glossenhandtinte. Die zweite kodikologische Einheit ohne weitere Ekkehartglossen beginnt auf S. 150 und trägt keine lectio-Hilfen.

|| 27 Vgl. Eisenhut 2009, 210–213. 28 Vgl. Grotans 1997.

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Das Beispiel von Cod. Sang. 276 steht für die Schwierigkeit der Zuweisungen einerseits und unterstreicht andererseits das Desiderat, alle Codices Sangallenses, die vor 1060 geschrieben worden sind, nach Ekkehartglossen zu durchforsten. Die Handschrift ist einzig der Zuschreibung durch Bergmann wegen überhaupt als Handschrift mit Ekkehartglossen unter die 63 Handschriften gerutscht. Das Durchblättern hat somit einen neuen Befund zutage gefördert. Und die spärliche Glossierung dieser Handschrift? Wie verhält es sich damit im Vergleich mit Ekkeharts Ruf als Glossator? Als Resümee lässt sich festhalten, dass die bisherigen Untersuchungen am St. Galler Handschriftenbestand gezeigt haben, dass es lediglich zwei durchgehend sehr dicht glossierte und drei durchgehend, wenn auch nicht sehr dicht, aber doch mit zahlreicheren ausführlicheren lateinischen Glossen versehene Handschriften gibt, an denen die Persönlichkeit des Glossators gut abzulesen ist.29 Die beiden ausführlich glossierten Werktexte sind Ekkeharts IV. Autograph, der Liber Benedictionum, entstanden in der 1. Hälfte des 11. Jahrhunderts, überliefert als Cod. Sang. 393, und der Orosiuscodex Sang. 621, entstanden vor 883. Bei den drei anderen handelt es sich um die Codices Sangallenses 159 (mit Hieronymus, Epistolae; Origenes, Homiliae; Cassiodor, De anima), 174 (mit Ratperts Galluslied; Augustinus, Sermones in evangelium Johannis) und 279 (mit Florus von Lyon, Collectaneum ex Augustino in epistolas Pauli ad Romanos), deren Grundtexte im 9. und 10. Jahrhundert im Kloster St. Gallen abgeschrieben worden waren. Würde Notkers Psalter, Cod. Sang. 21, der nur in einer Abschrift des 12. Jahrhunderts überliefert ist, auch noch dazugezählt, so läge eine sechste Handschrift, die als glossierter Werktext die Persönlichkeit des Glossators fassen lässt, vor. Es wäre zu schön, wenn bekannt wäre, wie hoch der Anteil Ekkeharts IV. an den Glossen in dieser Handschrift ist.30 Diese kaum lösbare Frage ist für die germanistische Forschung nicht ohne Relevanz: Ohne Cod. Sang. 21 gibt es keinen ‚deutschen Ekkehart’, sondern ‚nur’ einen Lateiner, der ab und an deutsche Wendungen in seine lateinischen Texte und Glossen einfließen lässt31 sowie das deutsche Galluslied Ratperts ins Lateinische zurückübersetzt.32 Der 356 Seiten umfassende und gut 7400 lateinische Interlinear- und Marginalglossen, über 870 Korrekturspuren und Varianten, 61 Ergänzungen von Auslassungen sowie zusätzliche jüngere Spuren ausweisende Cod. Sang. 621 trägt 16 althochdeutsche Glossen, das sind 0,2 Prozent des gesamten Glossenmaterials, von denen wiederum nur sechs für sich allein stehen.

|| 29 Vgl. Eisenhut 2009, 97f. 30 Vgl. Dümmler 1869, 28f.; Sonderegger 1970, 113–123. 31 Solche Wendungen betreffen meist Alltägliches, etwa Worte der Liebe und Zärtlichkeit (Cod. Sang. 159, S. 197), geografische Termini sowie Sachbegriffe, etwa aus den Themenfeldern Medizin, Nautik, Handwerk und Wohnen. 32 Vgl. Osterwalder 1982.

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Die anderen zehn sind in lateinische Glossen eingebettet und gehören als solche der Kategorie der sogenannten ‚Kontextglossen’ an.33 Nach einer summarischen Prüfung der 63 Handschriften, in denen Spuren von der Hand Ekkeharts IV. enthalten sein sollen34 und unter Abzug von Cod. Sang. 21, einer Abschrift aus dem 12. Jahrhundert, zeigt sich, dass bei 37 Handschriften, namentlich bei den St. Galler Codices 102, 140, 143, 146, 148, 159, 162, 166, 168, 174, 175, 176, 178, 191, 206, 207, 245, 260, 264, 276, 279, 280, 281, 333, 393, 454, 565, 578, 614, 621, 626, 627, 670, 830 sowie bei Ms. 294 der Vadianischen Sammlung, Kantonsbibliothek Vadiana St. Gallen, und den Mss. C 41 und C 74a der Zentralbibliothek Zürich die Zuschreibung zutrifft bzw. zutreffen dürfte. Keine eindeutigen Zuweisungen sind möglich bei Cod. Sang. 129 ohne Glossen, jedoch mit fünf Zeilen allenfalls Ekkehartscher Provenienz (S. 275), Cod. Sang. 915, in dem die Annales Sangallenses Maiores enthalten sind (z.B. S. 212 und 214) sowie Cod. Sang. 211, dessen drei neumierte erste Seiten an Ekkehart IV. erinnern.35 Ebenfalls schwierig zu beurteilen sind die Spuren in Ms. C 98 der Zentralbibliothek Zürich, Cod. Sang. 96 und Cod. Sang. 282. Letzterer ist kaum glossiert; er trägt nur wenige Transliterationen griech./lat. und vereinzelte Korrekturen. Auf den S. 114 und 144 gibt es zwei umfassendere Marginalien von der Hand des Korrektors, bei denen nicht auszuschließen ist, dass sie von Ekkehart IV. herrühren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht von Ekkeharts Hand sind Anteile an der reichen Glossierung der Codices Sangallenses 136 und 820, obwohl gerade der Letztere auf S. 60 zwei kleine Korrekturen und Nota-Vermerke von Ekkeharts Hand zeigen könnte: neben der charakteristischen Ergänzung der S. 60–62 durch das oben erwähnte Häkchen (✓) bzw. einen Strich je über bzw. unter einen mittig gesetzten Punkt als rhetorische Zäsur. Von der Liste zu entfernen sind die Codices Sangallenses 17, 103, 110, 139, 147, 164, 169, 177, 198, 225, 250, 274, 552, 557, 564, 579 und 1398b. Dieser Befund zeigt auch, dass eine absolute Gewissheit schwierig ist und bleiben wird. Bei der Untersuchung der rund 450 St. Galler Codices, die aus der Zeit zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert überliefert sind, wird sich vermutlich quantitativ wenig mehr als das oben Genannte ergeben; inhaltlich hingegen könnte der eine oder andere Neufund, wenn in manchen Fällen nicht eindeutig Ekkehart IV., so doch wenigstens den Umgang mit der St. Galler Tradition weiter dokumentieren. Was sich eindeutig festhalten lässt: Die Anzahl der stark von Ekkehart glossierten Handschriften wird sich nicht mehr vermehren. Diese bleibt bei zwei bemerkenswerten und drei weiteren nennenswerten gering. Anders ausgedrückt: Ekkehart IV. hat als Glossator lediglich in fünf Handschriften sein Wissen hinterlassen und diese durch seine Additamenta zu Wissensspeichern gemacht. Aus dem am intensivsten

|| 33 Vgl. Eisenhut 2009, 117f., 250–254. 34 Eisenhut 2009, 419–424 = Appendix 4. 35 Bruckner 1938, 83; Berschin u.a. 1999, 35 mit Anm. 28.

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bearbeiteten Codex mit fremdem Grundtext, dem St. Galler Orosius, sind im 12. Jahrhundert drei Abschriften in süddeutsch-schweizerischen Klöstern hervorgegangen: der Cod. 1009 in Engelberg, der seinerseits mit hoher Wahrscheinlichkeit Vorlage für Min. 60 in Schaffhausen war, von dem schließlich wenig später Cod. Hist. 2° 410 in Zwiefalten (heute in Stuttgart) abgeschrieben wurde. Die drei Codices tragen 88, 87 bzw. 28 Prozent des St. Galler Glossenmaterials.36 Auch die verschollene Vorlage von Cod. Sang. 21 ist st. gallischer Provenienz. Wie bei den drei Orosiusexemplaren sind Grundtext und Glossen von Notkers Psalter im 12. Jahrhundert im süddeutsch-schweizerischen Kulturraum als Einheit abgeschrieben worden. Nach all diesen Ausführungen ergibt sich doch eine etwas veränderte Ausgangslage in Bezug auf die Anzahl Spuren, die Ekkehart in St. Galler Codices hinterlassen hat. – Die individuelle Hand Ekkeharts, die häufig große Glossen und Rasuren hinterließ und sich nicht an Zeilengrenzen hielt, die Hand, die in seiner letzten Lebensphase dominierend war und häufig eine blassbraune Tinte zeigt, die auch als die ‚Ekkehart-Hand’ par excellence gilt, weil sie dieses eingangs erwähnte anachronistische Element enthält, hat dazu geführt, dass blasse, große und flüchtig hingeworfene Glossen in manchen Fällen allzu voreilig einfach Ekkehart zugeschrieben wurden. – Unter den 37 Handschriften mit fast sicheren bis eindeutigen Ekkehartspuren befinden sich nur zwei, die sehr dicht und weitere drei, die dicht glossiert sind. – Alle anderen tragen bedeutend weniger, teilweise sogar nur einzelne Spuren von seiner Hand. Diese lassen Ekkeharts Arbeit vor allem als sein Bemühen um einen korrekten Grundtext erscheinen. Sie tragen allenfalls wenige gewichtigere Marginalien, sonst aber kaum Inhalte, die über das im Grundtext Gesagte hinausgehen und Ekkeharts vielschichtige Persönlichkeit fassbar machen.

4 Charakter der Glossierung Die lateinischen Spuren von Ekkeharts Hand in den fünf dichter glossierten Codices lassen sich funktional in die fünf Typen einteilen, die – basierend auf Osterwalder (1985), Wieland (1983) und anderen – auch dazu dienten, das Glossenmaterial im Orosiuscodex zu ordnen. In diesem verteilen sie sich prozentual wie folgt: 1) Korrekturen und Varianten 11 % (emendatio), 2) Lexikalische Glossen 24,4 % (lectio, enarratio), 3) Grammatische Glossen 0,8 % (lectio, enarratio), 4) Syntaktische Glossen 30,2 % (lectio), 5) Kommentarglossen 33,6 % (enarratio, iudicium) (vgl. Eisenhut 2009: Kap. 4.6, Übersicht 257f.). Die Typen 1 und 2 sind zusätzlich je hierarchisch

|| 36 Eisenhut 2009, 304–320, 434.

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einstufig (z.B. 2A, 2B) weiter unterteilt. Der für die inhaltliche Analyse aufschlussreichste Glossentyp 5 ist hierarchisch zweistufig aufgegliedert: Tab. 2: Auszug aus dem Klassifikationssystem der Kommentarglossen in Cod. Sang. 621 (vgl. Eisenhut 2009: 257f.) 5A Interpretierende Glossen: Spontane erklärende Zusätze, die kein bemerkenswertes Sach- oder Spezialwissen preisgeben (1406 = Zahl der Glossen in Cod. Sang. 621) 5B Interpretierende Glossen: begründende oder zweckbezeichnende Absicht, kurz quia-Glossen (183) 5C1 Kommentare mit formalem Merkmal: persönliche Meinungsbekundungen im Sinne einer Äußerung des Zweifels (mirum-Glossen) (14) 5C2 Kommentare mit formalem Merkmal: Aufforderung, etwas zu tun: ecce-, lege-, vide-, require-, quaere- und Nota-Glossen (167) 5D Etymologische Glossen (23) 5E1 Enzyklopädische Glossen: Geographie (260) 5E2 Enzyklopädische Glossen: Personennamen, Völkernamen (275) 5E3 Enzyklopädische Glossen: unbekannte (Fach-)Termini (Sachkunde) (77) 5E4 Enzyklopädische Glossen: umfangreichere Erläuterungen, Ergänzungen, Annahmen, Beobachtungen und/oder Wertungen (236) 5F1 Verweise auf Traditionen ohne Quellenangabe (140) 5F2 Verweise auf einen Autor mit Quellenangabe (37) 5F3 Versteckte wörtliche Zitate ohne formalen Hinweis (33)

Nach Abzug der inhaltlich wenig aussagekräftigen Glossen der Typen 5A und 5C2 ergibt sich eine Anzahl von 1278 Kommentarglossen – 15 % des Glossenmaterials im Orosiuscodex –, deren nähere Betrachtung besondere Interessenfelder des Glossators wie ‚Erziehung und Bildung’, die ‚bewohnte Erde mit regionalen Eigenheiten’, ‚Handlungsmaximen und Orientierungsmuster’, ‚Militärisches’, ‚Römisches’ und die ‚Lebenswelt des Glossators’ aufdecken.37 Hinter der Glossatorenhand zeichnen sie das Bild einer Persönlichkeit, die ihre überlieferten Textvorlagen benutzte, um ihren eigenen Zugang zur Welt bestärkt zu finden. Die Kommentare widersprechen den alten Autoren nicht. Im Gegenteil, der inhaltliche Gleichschritt mit den auctoritates – mit den Vätern Ambrosius, Hieronymus und Augustinus, den Historiographen Orosius und Flavius Josephus oder dem Philosophen und Mathematicus Boethius und letztlich auch mit dem Klosterlehrer Notker III. – diente dem Glossator, sich in seiner Weltsicht bestätigt zu sehen.38 Ekkehart IV. griff sich Reizsätze, -wendungen oder -wörter aus dem Text heraus, um den Inhalt unterstreichend eine Anekdote,

|| 37 Vgl. Eisenhut 2009, Kap. 5.2–5.7; Stotz 2013. 38 Vgl. Ekk., LB (Egli), XXIV.

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eine Episode oder eine Beobachtung zu annotieren. Die Anreicherung der Grundtexte mit lokalem Wissen aus dem Kloster St. Gallen und mit Inhalten aus seinen persönlichen Interessenfeldern illustriert die anregende Wirkung, welche die Grundtexte der genannten auctoritates auf den Korrektor und Glossator ausübten. Ein Zeugnis von Ekkeharts Hand, welches das soeben Resümierte untermalt, ist eine Glosse aus Cod. Sang. 159, dort zur Reizwendung quod sibi prodest einem Hieronymusbrief beigeschrieben. Sie lautet wie folgt: Certe annas et cayphas . seducentes infelicem iudam . fecerunt quod sibi utile existimabant; Volo in cartulis meis quaslibet ineptias scribere . commentari de scripturis . remordere ledentes . dige[re]re stomachum . in locis me exercere communibus . et quasi limatas ad pugnandum sagittas reponere. – („Gewiss sonderten Hannas und Kajaphas den unglücklichen Judas ab; sie taten, was sie für sich als nützlich erachteten. Ich möchte in meinen kleinen Aufzeichnungen (chartulae) alle beliebigen (törichten) Einfälle niederschreiben, Betrachtungen zu Schriftwerken anstellen, Verletzende ebenfalls verletzen, den Unwillen in geordneter Weise zum Ausdruck bringen, mich im Gebrauch von Topoi einüben und gleichsam sorgsam bereitete Pfeile zum Kämpfen als Antwort senden.“)39

Abb. 7: Angeregt durch die Wendung quod sibi prodest im Grundtext notierte Ekkehart an den unteren Rand, was ihm an seiner Tätigkeit nützlich erscheint (St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 159, S. 347)

|| 39 Eisenhut 2009, 237f.

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Die Wendung quod sibi prodest im Grundtext hatte Ekkehart zum Einschub bewogen, preiszugeben, was in seinen Augen an seiner eigenen Tätigkeit nützlich war (sibi utile existimare). Die Quintessenz kommt eigenwillig eigenständig daher: Ekkehart behielt sich vor, alles Mögliche, wozu ihn die Lektüre anregte, festzuhalten, seien es über den Grundtext hinausgehende Betrachtungen und Vertiefungen des Gelesenen, seien es Entgegnungen auf Sticheleien, Kränkungen, denen auf ebendieser Ebene eine Antwort zu geben war, seien es Äußerungen des Unwillens, allgemeine „Themen, zu beliebiger Entwicklung und Abwandlung geeignet“, oder gar Herausforderungen zum rhetorischen Kräftemessen, letzteres formuliert in einer militärischen Bildersprache (pugnare, sagittae). Aus diesen Glossenzeilen spricht die Person Ekkeharts, wie sie die Forschung aus den Casus sancti Galli kennt und ihrer Eigenwilligkeit und nicht klassifizierbaren Beliebigkeit wegen auch immer wieder getadelt hat. In seinem Autograph, dem Cod. Sang. 393 (Liber Benedictionum),40 sowie in den Codices Sangallenses 621, 159, 174 und 279 spiegelt sich diese Arbeitsweise in den Kommentarglossen, deren Inhalt über das im Grundtext Gesagte hinausgeht. Dabei zeigt sich in zahlreichen Fällen Ekkeharts Sinn für Verbildlichungen, Ausschmückungen und Anekdoten, wie in der Glosse zu Oros. 3,23,20 (128b6f.) cruentissimo inter se proelio digladiati sunt, die wie folgt lautet: preliabantur usque adeo . ut comminus gladiis vterentur – „sie kämpften so lange, dass sie Mann gegen Mann von den Schwertern Gebrauch machen mussten“. Keine Quelle zu den hier angesprochenen Diadochenkriegen gibt das von Ekkehart Annotierte wieder; es war vielmehr die Phantasie, die – angeregt wohl durch das Verb digladiari – zum dramatischen Zweikampf mit Schwert abschweifte.41

5 Ausblick Das kritische Sichten der Liste, in der 63 Handschriften verzeichnet sind, die mit Spuren von Ekkeharts IV. Hand versehen sein sollen, die Schwierigkeiten einer definitiven Zuordnung zum Glossator Ekkehart sowie die Feststellung, dass letztlich doch nur in fünf Handschriften die Eigenheiten der Glossatorenpersönlichkeit klar zum Ausdruck kommen, haben mich zur Überzeugung geführt, dass weniger die eindeutige Zuschreibung an eine Hand von Bedeutung ist. Vielmehr geht es darum, wenigstens die inhaltlich aussagekräftigen Kommentarglossen der erwähnten Liste in erster und des St. Galler Handschriftenbestands des 8. bis 11. Jahrhunderts in

|| 40 Die Edition besorgte 1909 Johannes Egli. In jüngster Zeit erschienen kommentierte Neueditionen einzelner Teile und Übersetzungen, zuletzt der Benedictiones ad mensas (Ekk., Benedict. ad. mensas), Schulz 2011, und der Versus ad picturas Domus Domini Mogontinae (Ekk., Vers. pict.). 41 Weitere Beispiele für ‚Phantasieglossen’, siehe Glossenedition zu Oros. 3,23,63 (132b10f., 132b11), 4,11,6 (153a1f.) und 4,11,7 (153a5) oder 5,4,1 (180b12f., 180b13f., 180b16).

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zweiter Linie zu edieren, um daraus den spezifisch st. gallischen Charakter des Umgangs mit der Überlieferung und dem Weiterentwickeln des Tradierten herauszulesen. Dieser ‚spezifisch st. gallische Charakter’ kann als Fallbeispiel für den Umgang mit Texten in einem Reichskloster mit günstiger Überlieferungssituation im erwähnten Zeitraum gelesen werden.42 Die hohe Anzahl der auf e-codices.ch elektronisch verfügbaren Handschriften macht diese Plattform für die Forschung am St. Galler Bestand sehr attraktiv. Seit 2013 besteht die Möglichkeit, pro Handschrift zusätzliche bibliographische Angaben zu ergänzen sowie Annotationen beizufügen.43 Im Sinne einer kollaborativen Edition von volkssprachigen wie lateinischen Glossen des St. Galler Handschriftenbestands könnten innerhalb der forschenden communitas Prioritäten formuliert, verbindliche Editionsrichtlinien vereinbart und veröffentlicht und das Annotationswerkzeug mit Blick auf Glosseneditionen weiterentwickelt werden. Wie nützlich ein solcher Austausch innerhalb der interdisziplinär zusammengesetzten Forschergemeinschaft wäre, sei am Beispiel der letzten hier zitierten Glosse gezeigt, die sich im Cod. Sang. 146 auf S. 112 befindet. Bei der Zuschreibung an Ekkehart IV. bleiben Fragezeichen. Trotzdem passt die Glosse inhaltlich in sein Universum und in seine Zeit, ins 11. Jahrhundert, namentlich zu seinem Interesse auch für Musik, das sich etwa in den Glossen auf den S. 221 und 227 von Cod. Sang. 159, die von seiner Hand sind, zeigt. Bei der Note in Cod. Sang. 146 handelt es sich um eine Marginalie zur Wendung gratias tibi deus . gratias tibi . uera una trinitas im Grundtext von Quodvultdeus. Der Glossator ergänzte: Ecce locus unde antiphonam sumpsit Hucpaldus Gratias tibi deus . gratias tibi uera una trinitas. Die angesprochene Antiphon ist ein weit verbreitetes Stück, das auch im Cod. Sang. 390, S. 102, dem sogenannten ‚Hartker-Codex‘, aus der Zeit um 1000 überliefert ist.44 Bemerkenswert ist die Autorzuschreibung durch den Glossator: Mit Hucpaldus ist Hucbald von Saint-Amand (ca. 840/850–930), ein Autor und Komponist von Gesängen, gemeint. Die Zuschreibung von Gratias tibi Deus an Hucbald steht bisher für sich alleine, ist aber insofern von Interesse, A) als damit offenbar wird, dass der westfränkische Autor Hucbald in St. Gallen als Komponist bekannt war, und B) als es sich dabei insgesamt um eine der frühesten Zuschreibungen von Gesängen an Hucbald zu handeln scheint. Da die Handschrift zu Beginn des 9. Jahrhunderts in St. Gallen geschrieben worden ist, wären nun nächste Schritte, der Frage nachzugehen, ob die Glossierung im Cod. Sang. 146, die ins 10./11. Jahrhundert gehört, weitere Verbin-

|| 42 Vgl. hierzu auch den Tagungsbericht Karolingische Klöster. Wissenstransfer und kulturelle Innovation, Scholz 2013, in dem das Beispiel des Reichsklosters Lorsch im Zentrum vergleichbarer Fragestellungen stand. 43 Siehe http://www.e-codices.unifr.ch/en/info/annotation_tool (30.05.2014). 44 Mit herzlichem Dank an Michael Klaper für diese Auskunft. Auch die nachfolgenden Ausführungen zu Hucbald gehen auf sein musikwissenschaftliches Fachwissen zurück. Nachgewiesen ist die Antiphon im CAO, Hesbert 1968, Nr. 2977.

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dungen zum westfränkischen Kulturraum zulässt und ob die Neumierung dort zu verorten sein könnte oder ihrerseits ‚st. gallisch’ und vielleicht sogar ‚ekkehartisch’ ist.

Abb. 8: Eine Glosse von Ekkehart IV. oder von einem anderen St. Galler Glossator des 10./11. Jahrhunderts? Die Hand ist weniger wichtig denn der Inhalt: die Neumierung einerseits und die Autorzuschreibung an den Komponisten Hucbald von Saint-Amand andererseits. Editionen solcher Glossen wären sehr wünschenswert. (St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 146, S. 112)

Mit diesem Fragenbündel, das sich bei der Betrachtung der neumierten Marginalie in Cod. Sang. 146 öffnet, schließe ich meine Ausführungen ab. Ekkeharts IV. Glossen mitsamt den Zuschreibungen an seine Hand fordern heraus: Die interdisziplinäre Diskussion darüber wird dann besondere Früchte tragen, wenn die Glossen in Editionen – ergänzend zu den digitalfaksimilierten Überlieferungsträgern vorzugsweise in damit verknüpften elektronischen Datenbanken – zur Verfügung stehen.

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Handschriften mit Spuren Ekkeharts IV. von St. Gallen | 151

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8 Handschriften – Engelberg, Stiftsbibliothek Cod. 1009 – Schaffhausen, Stadtbibliothek Min. 60 – St. Gallen, Stiftsbibliothek Cod. Sang. 17 Cod. Sang. 21 Cod. Sang. 96 Cod. Sang. 102 Cod. Sang. 103 Cod. Sang. 110 Cod. Sang. 129 Cod. Sang. 136 Cod. Sang. 139 Cod. Sang. 140 Cod. Sang. 143

Cod. Sang. 146 Cod. Sang. 147 Cod. Sang. 148 Cod. Sang. 159 Cod. Sang. 162 Cod. Sang. 164 Cod. Sang. 166 Cod. Sang. 168 Cod. Sang. 169 Cod. Sang. 174 Cod. Sang. 175 Cod. Sang. 176 Cod. Sang. 177 Cod. Sang. 178 Cod. Sang. 191 Cod. Sang. 198 Cod. Sang. 206 Cod. Sang. 207

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Cod. Sang. 211 Cod. Sang. 225 Cod. Sang. 245 Cod. Sang. 250 Cod. Sang. 260 Cod. Sang. 264 Cod. Sang. 274 Cod. Sang. 276 Cod. Sang. 279 Cod. Sang. 280 Cod. Sang. 281 Cod. Sang. 282 Cod. Sang. 333 Cod. Sang. 393 Cod. Sang. 454 Cod. Sang. 552 Cod. Sang. 557 Cod. Sang. 564 Cod. Sang. 565 Cod. Sang. 578 Cod. Sang. 579 Cod. Sang. 614

Cod. Sang. 621 Cod. Sang. 626 Cod. Sang. 627 Cod. Sang. 670 Cod. Sang. 820 Cod. Sang. 830 Cod. Sang. 915 Cod. Sang. 1398b – St. Gallen, Kantonsbibliothek Vadiana, Vadianische Sammlung Ms. 294

– Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek Cod. Hist. 2° 410 (olim Zwiefalten) – Zürich, Zentralbibliothek C 41 C 74a C 98

Andreas Nievergelt

Ekkehardus glossator – scribens stilo quoque? 1 Einleitung und Fragestellung 1.1 Handschriftenbenützer Ekkehart Die Bekanntheit Ekkeharts IV. von St. Gallen rührt zu nicht unwesentlichen Teilen davon her, dass wir verhältnismässig viel autographisches Material von ihm zu besitzen glauben. Die Anzahl an „Ekkehart-Handschriften“ – so nenne ich in der Folge Handschriften, in denen Ekkeharts1 Hand von der Forschung erkannt wurde – ist gross (sieh unten in Kap. 2.3). Gemessen am Anteil an Handschriften besteht ein beträchtlicher Teil dessen, was als autographisches Material Ekkeharts betrachtet wird, in Spuren, die die Schreiberhand eines Handschriftenbenützers zurückliess. Es handelt sich um Annotationen unterschiedlicher Art, je nachdem, ob sich ihr Schreiber als Revisor respektive Korrektor, oder als Kommentator respektive Glossator betätigte.2 Der Glossierung bediente sich Ekkehart bekanntlich als eines vielfältigen Instrumentariums, um sich in stilistischen und inhaltlichen Fragen zu einem Text zu äussern.3 Vielfalt spielt sich dabei im Rahmen unterschiedlicher sprachpragmatischer Formen ab, mit denen Ekkehart präzisierend und erklärend auf den Grundtext reagierte, nicht aber in der Verwendung auch unterschiedlicher schreibtechnischer Mittel. Alle bisher Ekkehart zugewiesenen Glossen sind, wie auch seine

|| 1 In der Folge meint einfaches Ekkehart immer Ekkehart IV. von St. Gallen. 2 Dem Sammelbegriff Annotation kann der in der Forschung im Zusammenhang mit Ekkehart des Öfteren anzutreffende Terminus Note entsprechen. Die Unterscheidung der Annotationen in sprachliche und textkritische Korrekturen ist im Bereich der Textrevision nicht immer leicht durchzuführen und fällt zudem im Bereich der Kommentierung in Glossen und Scholien je nach verwendetem Glossenbegriff ganz unterschiedlich aus. Zu dem in der Germanistik enger definierten Glossenbegriff und zu erweiterten Glossenbegriffen der jüngeren Forschung sieh beispielsweise Stricker 2009, Eisenhut 2009, 105–111 und Schiegg 2015, 7–10. Mit einem Glossenbegriff, wie ihn Cinato 2009, 432 etabliert, der Glossieren definiert als Prozess allen peritextuellen Zuwachses mit dem Ziel, die im Haupttext enthaltene Information zu präzisieren und zu diversifizieren, können wir Ekkeharts annotierte Kommentierungen insgesamt als glossographische Angelegenheit bezeichnen. Zu den umfangreichen Korrektur- und Textrevisionsarbeiten in St. Gallen ab der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts, unter Teilnahme von Ekkehart, sieh Bruckner 1936, 52, Bruckner 1938, 29f. 3 Zu Untersuchungen und Darstellungen der Glossierungsverfahren und Glossentypen bei Ekkehart IV. sieh unter anderem Osterwalder 1985 und Eisenhut 2009, 254–298.

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Korrekturen und textkritischen Notate, mit Feder und Tinte eingetragen.4 Dieser Umstand wurde nie hinterfragt, ist aber keineswegs selbstverständlich.

1.2 Alternative Schreibtechniken Der Bereich der Annotationen und Sekundärtexte war im Mittelalter auch ein Bereich, in welchem mehrere Schreibtechniken zum Einsatz kamen. Neben Federn und Tinten verwendete man hier auch Griffel und Farbstifte, und elementare Noten wie einfache Markierungen wurden auch mit dem blossen Fingernagel angebracht.5 Im Unterschied zu Tinteneintragungen sind farblose, auf Verformung des Pergaments beruhende Eintragungen wie diejenige von Schreibgriffeln, unscheinbar und nur bei günstiger Streiflichtbeleuchtung zu erblicken. Das hat es mit sich gebracht, dass bei neuzeitlichen Untersuchungen von Handschriften Eintragungen von Griffeln in weiten Teilen nicht bemerkt und daher in die Untersuchungen nicht mit einbezogen wurden. Dass dasselbe Schicksal auch den Farbstifteintragungen widerfuhr, hat seinen Grund darin, dass diese trotz ihrer Färbung in den meisten Fällen sehr schwach und ebenfalls schlecht sichtbar sind. Durch die mit Griffel eingetragenen Glossen haben die alternativen Schreibtechniken bekanntlich zumindest für die Erforschung historischer Volkssprachen einige Bedeutung erlangt, was insbesondere in der Althochdeutschforschung deutlich wird.6 Doch verdienten sie in ihrer vielfältigen Erscheinung die Beachtung auch manch anderer Forschungsrichtung.7

|| 4 Die Angabe bei Eisenhut 2013, 97, Ekkehart habe „vereinzelt auch Griffelspuren in St. Galler Handschriften hinterlassen“, ist aus der Luft gegriffen. Sie wird an der betreffenden Stelle weder ausgeführt, noch mit Belegen gestützt. In anderen Arbeiten Eisenhuts zu Ekkehart IV. wird sie nie geäussert. 5 Vgl. Steinmann 2013, 158, 251; Nievergelt 2013b, 63. 6 Unter den althochdeutschen Sprachdenkmälern sind hauptsächlich die Glossen betroffen. Zur Bedeutung der Einritzungen in der althochdeutschen Glossographie sieh Glaser/Nievergelt 2009, 228f. Was die althochdeutschen Texte anbelangt, so kennen wir abgesehen von wenigen isolierten kürzeren Sätzen keine mit Griffel geschriebenen. Doch weisen die althochdeutschen Texte da und dort frühe Rezeptionsspuren in Form von Griffeleintragungen auf. Als Beispiele sind die Griffeleinträge in der Wiener Otfrid-Handschrift aufzuführen, vgl. Kleiber/Hellgardt 2004, 26, 38f., 136f., 142 sowie im Apparat, oder Griffelmarkierungen in der Zürcher Hausbesegnung, vgl. Nievergelt 2013a, 535. Eingeritzte Annotationen sind auch bei Glossen und Federproben zu beobachten, etwa die Unterstreichung mit Griffel der ersten vier Buchstaben in der ungeklärten Marginalie lxrfbrbnt in St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 552. (Zu weiteren Eintragungen in dieser Handschrift siehe unten.) Auch die althochdeutsche Benediktinerregel in St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 916 ist mit Griffel bearbeitet worden, indem bei einer fehlerhaft übersetzten Stelle mit Griffel eine althochdeutsche Nachbesserung eingetragen wurde. Vgl. Nievergelt im Druck. Vgl. dazu St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 578, unten in Kap. 3.3. 7 Sieh dazu grundlegend Bischoff 1966. Zur Verwendung des Griffels in St. Gallen sieh Nievergelt 2013b.

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1.3 Schrieb Ekkehart auch mit dem Griffel? Tatsächlich kommen bei gezielten Nachforschungen neben den Federeintragungen einer Handschrift regelmässig auch Eintragungsschichten zum Vorschein, die von Griffeln stammen. In Anbetracht dessen ist überall dort, wo über zweitere nichts bekannt ist, ganz grundsätzlich danach zu fragen, ob vielleicht welche vorhanden sind und das, was in einer Handschrift mit Feder und Tinte geschrieben ist, eventuell um Eingeritztes zu ergänzen ist. Das bedeutet, dass auch bei der Beschäftigung mit einer Ekkehart-Handschrift jeweils die Frage zu stellen ist, ob sie Einritzungen enthält. Ein positiver Befund zieht in einem solchen Fall die Frage nach sich, ob diese Einritzungen mit Ekkehart in Verbindung gebracht werden können. Und sollte Ekkehart nicht nur mit Feder und Tinte, sondern auch mit dem Griffel gearbeitet haben, wäre allenfalls – auch in weiteren Handschriften – noch unbekanntes autographisches Material zu entdecken. Die Frage ist nur: Hat er das?

2 Vorklärungen Die Beantwortung der Frage, ob Ekkehart auch mit dem Griffel auf Pergament geschrieben hat, erfordert zwei Vorklärungen. Die erste besteht darin zu überprüfen, ob grundsätzlich die Möglichkeit besteht, in einer Griffeleintragung die Hand Ekkeharts zu identifizieren. Die zweite besteht in der Abklärung, was für Material in eine derartige Untersuchung aufzunehmen ist. Der ersten Vorklärung stellen sich zwei paläographische Hauptprobleme. Das erste besteht in der Problematik der Identifikation von Ekkeharts Hand, das zweite im Fehlen einer Paläographie der Griffelschreibtechnik. Schreiben mit Griffel auf Pergament und die Schriften von Griffeleintragungen sind auch von paläographischer Seite nur unzureichend erforscht. Die zweite Vorklärung sieht sich konfrontiert mit der Schwierigkeit, dass das einschlägige Material noch wenig erforscht ist und deshalb möglicherweise stark unvollständig vorliegt. Das bedeutet, dass nebst der Befragung von bekannten Griffeleintragungen nach einer allfälligen Verbindung mit Ekkehart auch Suchaktionen grösseren Ausmasses nach unbekannten durchzuführen sind.

2.1 Die Problematik der Handidentifikation Ekkeharts paläographischer Fingerabdruck ist alles andere als ein gesichertes Forschungskapital. Das zeigt spätestens der Beitrag von Philipp Lenz in diesem Band in aller Deutlichkeit: An Handschriften, welche lange Zeit als sakrosankt autograph galten, sind dringliche Fragen zu stellen. Ausserhalb der Autographen – und insbesondere bei so kurzen Einträgen wie Glossen – gestaltet sich die Zuweisung einer

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Eintragung an Ekkeharts Hand zudem als besonders heikel. Bei seinem Postulat, „der sanktgallische Bestand müsste einmal systematisch nach sicheren und allenfalls möglichen Glossen Ekkeharts IV. durchgearbeitet werden“, nennt Osterwalder8 als Hauptkriterien für eine Identifikation „Sprache und Stil, paläographischer Befund“. Was hier methodisch scheinbar sinnvoll getrennt wird, sind im Grunde genommen zwei für Handzuweisungen ganz unterschiedlich taugliche Kriterien. Sprachliche und inhaltliche Argumente können bei der Handanalyse in die Irre führen, denn begründet man mit ihnen allein Ekkeharts Urheberschaft von Federglossen, begibt man sich auf besonders unsicheren Grund. Zitations- und Kopiervorgänge gestalten hier Autorschafts- und Schreiberfragen höchst undurchsichtig. Sprachliche und stilistische Merkmale von Ekkeharts Glossen können aus den Autographen zwar erschlossen werden, wie dies Osterwalder9 und Eisenhut10 typologisch vorführen, doch kann auch mit Hilfe einer solcherart gewonnenen Typologie bei Glossen – insbesondere ausserhalb autographischer Kontexte – keineswegs direkt auf Ekkeharts Autorschaft, geschweige denn auf den paläographischen Sachverhalt von Ekkeharts Hand geschlossen werden.11 Es bleibt damit nur die paläographische Analyse. Zu Ekkeharts Schrift gibt es verhältnismässig viele schriftkundliche Äusserungen12, längst nicht alle stammen jedoch von ausgewiesenen Fachleuten. Bei den ausführlicheren Arbeiten handelt es sich um Beschreibungen der Schrift der Textautographen und nicht der Glossen, mit Ausnahme vielleicht bei Eisenhut anhand des ‚Glossenautographen‘ Cod. 621. Der autographe Charakter ist auch hier für einen Teil der Glossen allerdings diskutabel, ein Vorbehalt schon aus der älteren Forschung,13 den Eisenhuts paläographische Argumentation nicht ausräumen kann.14 Die bis und mit Eisenhuts Untersuchung gebotenen Darstellungen von Ekkeharts Schrift besitzen sämtlich hauptsächlich deskriptiven Charakter. Noch immer fehlt eine systematische Untersuchung der || 8 Osterwalder 1985, 73, Anm. 5. 9 Osterwalder 1985, 79–81. 10 Eisenhut 2009, 227–229, 254–298. 11 Anders in Eisenhut 2009, 214, wo für Schreiberzuweisungen die inhaltliche Analyse als notwendige Ergänzung zur paläographischen betrachtet wird. Sieh dazu die Ausführungen im Beitrag von Philipp Lenz. 12 Die detailliertesten bei Chroust 1904, Osterwalder 1982, 59–64, Eisenhut 2009, 210–213, 430–432. 13 Vgl. unter anderen Scarpatetti 2003, 220 „glossiert von der mit hellerer Tinte operierenden Hand Ekkeharts IV. und weiteren verschiedenen des 9.–11. Jhs.“ Auch steht die Urheberschaft Ekkeharts für sämtliche ahd. Glossen der Handschrift nicht fest, vgl. Bergmann/Stricker 2005, 2, 555; Bergmann/Tax 2009, 1624. Schon in Hattemer 1847, 601 wird sie als nicht sicher bezeichnet: „glossen von Ekkehard dem vierten?“ Vgl. insbesondere StSG: IV, 453: „z. T. von der Hand Ekkehards IV“ und StSG: II, 358, die Glossen II, 358, 24.52, 359, 1.3. nicht Ekkehart zugewiesen. Eine sprachlich begründete Einschätzung steht noch aus, zumal in Schuler 2010 die ahd. Glossen dieser Handschrift nicht berücksichtigt sind. 14 Eisenhut 2009, 203–214. Sieh dazu die neueste kritische Beurteilung der Glossen in Cod. 621 durch Philipp Lenz in diesem Band.

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Hand Ekkeharts. Solange keine Studie aus einer Betrachtungsweise vorliegt, die den verwendeten Schrifttyp in seiner historischen Entwicklung, dessen regionalschulische Prägung im Bild der St. Galler Schreibergenerationen der fraglichen Zeit und die individuelle und situative, etwa funktionale Handhabung methodisch auseinanderhält, kann auch die Hand Ekkeharts noch nicht als systematisch beschrieben gelten.15 Das Unterfangen, mutmassliche oder irgendwelche Glossen und Noten ausserhalb der Autographen-Codices anhand paläographischer Merkmale Ekkeharts Hand zuzuweisen oder abzusprechen, ist in sporadischer Weise zwar des Öfteren, aber kaum je in der erforderlichen analytischen und historischen Schärfe geschehen.16 Eine Ausnahme stellen die Bemühungen Schulers dar, das in der Forschung kontrovers behandelte Korpus von Ekkeharts deutschen Glossen nach paläographischen Gesichtspunkten zu sichten und zu ordnen.17 In der Frage der Zuweisung solcher „aussenstehender“ Eintragungen lässt sich beobachten, dass in der Forschung zwar eine lebhafte Diskussion geführt wird und längst nicht alle vorkommenden Zuweisungen unumstritten sind,18 dass jedoch bis in die neueste Literatur herein eine so weitverbreitete wie suspekte Vertrautheit mit Ekkeharts Hand vorherrscht, wie schon die Apostrophierung bei Hattemer19 als „sehr kenntlich“ und jüngst die Passage in Bergmann/Tax20 „Seine [Ekkeharts] Hand ist zwar relativ leicht zu erkennen, […]“ zeigen.21 Es macht zudem misstrauisch, dass die Hand Ekkeharts in paläographischem Rahmen nicht nur schriftmorphologisch, sondern auch auffällig häufig schreibtechnisch, anhand der benutzten Schreibfedern und Tinten, bestimmt wurde. An Ekkeharts Hand haftet das am Liber Benedictionum gewonnene Bild, dass sie häufig mit einer schlechten, gespaltenen Feder und/oder mit dünnen Tinten geschrieben habe, Merkmale, die sich im visuellen Gedächtnis eines Betrachters vordergründig stark einprägen. Zur Unterscheidung verschiedener Schichten im Falle einer Autographenhandschrift und dann im Verbund mit weiteren Gesichtspunkten mag dieses Merkmal verwendbar sein22, nicht aber bei Glossen ausserhalb dieser Kontexte. Viele von diesen wurden Ekkehart zugedacht, nur weil sie mit einer gespaltenen Feder in bleicher Tinte geschrieben wurden, und es fällt auf, wie oft in den (seltenen) Fällen, wo Zuweisungen begründet werden, dies mit Hinweis auf die || 15 Einen ersten Ansatz zur Demontage des Wissenschaftskonstrukts von Ekkeharts Hand sowie zu einer strukturellen Neubeurteilung bietet der Beitrag von Philipp Lenz in diesem Band. 16 Zu dem eher sorglosen Einbezug der Paläographie bei der Erforschung von Ekkeharts Glossen sieh den Beitrag von Philipp Lenz in diesem Band. 17 Schuler 2010, 12, 33f., 36f., 39f., 55f., 59f., 63f., 67, 71f., 74, 78f., 81f., 86, 88, 103f., 108–110, 113, 115f., 138–141. Sieh auch den Beitrag Schulers in diesem Band. 18 Sieh Eisenhut 2009, 419. 19 Hattemer 1844, 255. 20 Bergmann/Tax 2009, 1621. 21 Sieh dazu im Beitrag von Philipp Lenz. 22 Vgl. Osterwalder 1982, S. 76–78; Eisenhut 2009, S. 210.

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Tinte geschieht.23 Tintenfarbe und schadhafte Federn sind aber keine primären Kriterien der Handzuweisung.

2.2 Eingeritzte Schrift als heisses Eisen der Paläographie Die mittelalterliche Schrift mit Griffel auf Pergament ist in auffallendem Kontrast zu ihrer Verbreitung paläographisch ungenügend erforscht.24 Im Unterschied zur Federschrift fehlen uns auch zeitgenössische Zeugnisse dazu, ob und allenfalls wie das Schreiben mit Griffel auf Pergament gelehrt wurde. Da von Ekkehart keine Griffeleintragungen bekannt sind, muss bei der Überprüfung, ob eine Einritzung von ihm stammen könnte, eingeritzte Schrift zwangsläufig ausgehend von Federschrift beurteilt werden. Mehrere Faktoren erschweren indes einen direkten Vergleich mit Federschrift. Die Schreibtechnik mit Griffel (Deformation des Schriftträgers) unterscheidet sich physikalisch sehr stark von der Federtechnik (Auftrag eines Zweitmaterials auf den Schriftträger), was nicht ohne Auswirkung auf die Schriftgestaltung ist. Die Richtungen, in welche Bewegungen ausgeführt werden können, sind bei einem spitzen Griffel zwar ähnlich, da diesem sich wie der Feder stossende Bewegungen verweigern. Ein stumpfer Griffel ist in dieser Hinsicht aber beweglicher und der Feder überlegen. Dass ein Schreiber, der von der Feder zum Griffel griff, auch andere Buchstabenformen wählte, ist denkbar,25 bislang aber nicht schlüssig nachgewiesen geworden. An Griffelschriften kann man zumindest feststellen, dass die Aufteilung von Einzelzügen in Buchstabenformen mit Griffel anders organisiert wurde. Besonders gut lässt sich dies in Einträgen verfolgen, in denen eingestochene Punkte die Schriftzuggrenzen markieren.26 Zum paläographischen Studium der Technik ist ein direkter Vergleich zwischen einer individuellen Federschrift und Griffelschrift nach Möglichkeit an Eintragungen durchzuführen, für welche die Handidentität schon in hohem Mass wahrscheinlich ist. Dabei ist an Einträge zu denken, die sowohl mit Griffel, als auch mit Feder geschrieben wurden, beispielsweise mit Griffel vorskizzierte Textpassagen oder Glossen, doch darf auch hier natürlich nicht a priori und lediglich aus pragmatischen Überlegungen von derselben Urheberschaft ausgegangen werden.

|| 23 Vgl. bei Dümmler 1904, 25, Anm. 3, wo die Glossen in Cod. 626 anhand der gelblichen Tinte mit denjenigen in Cod. 621 verglichen werden. Eine „mit zu wenig oder blasser Tinte“ gefüllte Feder wird auch bei Bergmann/Tax 2009, 1621 als Erkennungsmerkmal aufgeführt. 24 Zur Schreibtechnik und ihrer Erforschung sieh Nievergelt 2007, 61–92 mit weiterführender Literatur. 25 Vgl. die v-Schreibungen für u in den Griffelglossen in München, BSB Clm 18547b. Nievergelt 2007, 155. 26 Vgl. die Griffelglossen in München, BSB Clm 14286. Nievergelt 2013c, 402, Anm. 69.

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Die Zurückhaltung von Seiten der Paläographie, eingeritzte Schriften paläographisch auszuwerten, wird oft damit begründet, dass durch die Technik die Buchstabenformen verzerrt würden.27 Im Bild der Belege lässt sich das nicht bestätigen, sondern es zeigt sich vielmehr, dass mit Griffel in der Mehrzahl der Fälle kontrolliert, ja gekonnt geschrieben werden konnte. Eine paläographische Auswertung von Einritzungen kann deshalb durchaus Resultate liefern. Diese können in der Ermittlung der Buchstabentypen, ihrem Aufbau und ihren Verbindungen erzielt werden. Einschränkungen ergeben sich dagegen in der dynamischen Analyse (Duktus und Schreibgeschwindigkeit, Schreibdruck), und wenig bis gar keine Möglichkeiten bieten sich bei einer ergonomischen bzw. ergometrischen Fragestellung (Schriftwinkel), also auf den Gebieten, auf welchen die Mehrzahl der individuellen Merkmale zu suchen sind. Es bleibt zu konstatieren, dass uns zur Ermittlung von Ekkeharts Hand in Griffeleintragungen die wichtigsten Vorarbeiten – eine profunde Analyse seiner Hand und eine Paläographie der Griffeltechnik – noch fehlen. Gewissheit könnten deshalb vorderhand nur explizite Zeugnisse geben, etwa eine eingeritzte Subskription. Ich beschränke mich daher im Folgenden darauf, einen Lagebericht zu den Griffelschichten in Ekkehart-Handschriften zu geben und zu überlegen, ob sie mit Einträgen Ekkeharts in Verbindung gebracht werden können.

2.3 Überlegungen zur Korpuserstellung Einschlägiges Material kann sich grundsätzlich in jeder Handschrift befinden, die in Ekkeharts Hände gelangt sein konnte und auf uns gekommen ist. Das Unterfangen, die betreffenden Handschriften zu versammeln, ist hingegen schwerlich durchführbar. Was Ekkehart alles gelesen haben mochte, ist aus seinen Zitierungen nur indirekt auszumachen,28 und wir wissen auch dann oft nicht, welches die konkreten Textträger waren. Für die Materialbeschaffung liegt es deshalb nahe, sich in Handschriften auf die Suche zu machen, aus welchen die Forschung bereits Ekkeharts Hand gemeldet hat. (Wie oben festgehalten wurde, handelt es sich durchwegs um Tinteneinträge.) Obwohl es nicht naheliegend erscheinen könnte, Eintragungen eines Schreibers in alternativer Technik dort zu suchen, wo dieser schon mit Feder arbeitete, ist dieses Vorgehen schon allein damit zu rechtfertigen, dass dadurch nicht gänzlich ohne Anhaltspunkte verfahren werden muss. In die Diskussionen um Zuweisungen mische ich mich weitmöglichst nicht ein und rechne gleichzeitig damit, nicht wenige Handschriften in die Untersuchung aufgenommen zu haben, die mit Ekkehart in Tat und Wahrheit nichts zu tun haben. Das Korpus gibt lediglich das

|| 27 Vgl. Bischoff 1928, 154. 28 Vgl. auch Eisenhut 2009, 99.

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Angebot des Forschungsstands wieder. Seine Relevanz hängt von dessen Ausmass an Konsistenz ab. Die Anzahl an Handschriften, in welchen Forscher die Hand Ekkeharts gesichtet haben, ist recht gross. Allein die Aufstellung bei Eisenhut29 umfasst 62 Codices,30 in denen Spuren Ekkeharts gemeldet sind.31 Die Zuweisungen verteilen sich allerdings recht unterschiedlich. Für immerhin 40 Codices existieren nach Eisenhut32 mindestens zwei Zuschreibungen, eine Zahl, die sich indes in gewisser Weise reduziert, wenn man erkennt, dass manche Zuweisung auch einfach abgeschrieben ist. Eine Zahl von über 60 Handschriften wird zudem mächtig, wenn man bedenkt, wieviel Zeit eine gründliche Untersuchung der Pergamentoberfläche eines ganzen Codex erfordert. Eine Autopsie zur Ermittlung von Griffeleintragungen ist erfahrungsgemäss sehr zeitintensiv.33 Ich beschloss daher, die Untersuchungen insbesondere auf Ekkehart-Handschriften zu konzentrieren, zu denen die Zuweisungen einen gewissen Konsens in der Wissenschaft vermitteln. Natürlich wurden auch alle Ekkehart-Handschriften, zu denen mir aus der Forschung bereits Angaben zu Griffeleintragungen vorlagen, untersucht. Zudem sah ich ein paar Handschriften mit Texten Notker des Deutschen ein, die sein Schüler Ekkehart theoretisch in der Hand gehabt haben könnte. Mittels kursorischer Durchsichten versuchte ich, einen Einblick in möglichst viele der fraglichen Handschriften zu gewinnen.

|| 29 Eisenhut 2009, 419–423. 30 Bei Bergmann/Tax 2009, 1621 61. 31 Sieh auch Eisenhut 2009, 97. Die Aufstellung ist um vereinzelte Meldungen und Mutmassungen zu ergänzen, beispielsweise die Hinweise durch Bernhard Bischoff auf die Handschriften Zürich, Zentralbibliothek Mss. C 37 und C 41 in seinen hinterlassenen Notizen. MGH Poetae 5, 553, Apparat zu Nr. 72, Weber 2003, 94 und Anm. 340, vgl. auch Mentzel-Reuters (Hrsg.) 1997, 191; die Zuweisung einer Marginalie in St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 556 an Ekkehart in Grotans 2006, 140; die Andeutungen betreffend die Handschrift Zürich, Zentralbibliothek Ms. Rh. 44 in Bruckner 1940, 40. 32 Eisenhut 2009, 424. 33 Allein eine kursorische Durchsicht eines Codex mit 150 Blättern kann einen halben Tag in Anspruch nehmen. Bei einem positiven Befund ist eine Detailuntersuchung an die Hand zu nehmen, die je nach materieller und optischer Qualität der Eintragungen mehrere Arbeitstage benötigt und schnell auch auf mehrere Wochen anwachsen kann. Wird bei einer kursorischen Durchsicht nichts gefunden, heisst das eigentlich noch gar nichts, da Griffeleintragungen leicht übersehen werden können. Theoretisch müsste man in jedem Fall eine akribische Untersuchung durchführen, um grösstmögliche Gewissheit zu erlangen.

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3 Untersuchung 3.1 Überblick über das Korpus Ich habe die folgenden 58 Handschriften eingesehen: Die in der Stiftsbibliothek St. Gallen aufbewahrten Codices 102, 103, 110, 129, 136, 139, 140, 143, 146, 147, 148, 159, 162, 166, 168, 174, 175, 176, 178, 191, 198, 207, 211, 225, 245, 260, 276, 279, 280, 281, 282, 333, 393, 454, 552, 556, 557, 565, 578, 579, 614, 621, 626, 627, 670, 818, 820, 825, 830, 872, 915, 1398b, St. Gallen, Kantonsbibliothek Vadiana, Vadianische Sammlung 294 und die Handschriften der Zürcher Zentralbibliothek Mss. C 37, C 41, C 74a, C 98 und C 121.34 Einzelne Handschriften habe ich mir genauer angeschaut (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 136, 159, 176, 557, 579, Zürich, ZB Mss. C 41, C 121), die Mehrzahl leider aber nur kursorisch (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 198, 280 und Zürich, Zentralbibliothek Ms. 74a nur in Stichproben). Keinen Befund an Griffeleintragungen oder nur vereinzelte Winzigkeiten wie Punkte oder Interpunktionszeichen ergab die Durchsicht der Codices St. Gallen, Stiftsbibliothek 102, 139, 143 und 148, die aus dem 10. und 11. Jh. stammen, aber auch die der älteren Codices St. Gallen, Stiftsbibliothek 174, 191, 207 und die älteren Teile in Cod. 614. Wenige und mir nicht lesbare Einritzungen enthalten St. Gallen, Stiftsbibliothek 140, 162 und 276. Ganz wenige Farbstifteinträge weist St. Gallen, Stiftsbibliothek 147 auf.

3.2 Die Autographen Im „Autographen“ St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 393, dem sogenannten Liber Benedictionum, habe ich gar keine Griffeleintragungen gesehen. Sehr reich an Griffeleinträgen ist dagegen der „zweite Autograph Ekkeharts“,35 der in weiten Teilen von Ekkehart glossierte Orosiuscodex 621 der Stiftsbibliothek aus dem 9. Jahrhundert.36 Die Griffeleintragungen sind in der Forschung schon länger bekannt.37 Eisenhut bietet die neueste und ausführlichste Behandlung38. Bei den Griffeleinträgen

|| 34 Ich danke den Leitern und Mitarbeitern der Stiftsbibliothek St. Gallen, der Kantonsbibliothek St. Gallen, Vadianische Sammlung und der Zentralbibliothek Zürich herzlich, dass ich die handschriftlichen Originale untersuchen durfte. 35 In Eisenhut 2009, 396 so bezeichnet. 36 Zu den Ekkehart zuzuweisenden Glossenschichten sieh oben in Kap. 2.1. 37 Zangemeister 1882, XX; sieh Eisenhut 2009, 207f. Hinweise auf die Einritzungen gibt auch Bruckner 1938, 114. 38 Eisenhut 2009, 188–190, 203, 205, 208, 259–262, 264f., 301, 393.

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handelt es sich um marginal angebrachte Kapitelüberschriften.39 Zudem enthält die Handschrift eingeritzte Vorschreibungen zu Variantenglossen, nicht geklärte Griffel-Verweise,40 Reklamanten, Markierungen von Wörtern oder Buchstaben sowie Zeichnungen. An interlinearen Griffeleintragungen ist zusätzlich eine Neumenzeile zu erwähnen.41 Diese Griffeleintragungen sind früh,42 im Falle der Kapitelüberschriften vielleicht mit der Entstehung des Codex verbunden, und es deutet – wie der Untersuchung Eisenhuts zu entnehmen ist – nichts auf eine Verfasserschaft Ekkeharts hin. Zum Codex St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 168, dessen Ekkehart-Texte mancherorts als autograph bezeichnet werden,43 sieh unten in Kap. 3.3.

3.3 ‚Ekkehart-Handschriften‘ mit althochdeutschen Griffelglossen Ein paar Handschriften mit Federeinträgen, die Ekkeharts Hand zugewiesen werden, tragen althochdeutsche Griffelglossen. In keinem der Fälle ist Ekkehart als Schreiber dieser Griffelglossen nachzuweisen. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 136: Die Zuweisung von Noten in dieser Handschrift an Ekkeharts Hand geht allein auf Bruckner zurück44, übernommen in Bergmann/Stricker45, ohne die Zuweisung dabei auch auf althochdeutsche Glossen zu beziehen.46 Die Handschrift enthält neben den 6647 althochdeutschen Federglossen rund 20 althochdeutsche Griffelglossen,48 dazu zahlreiche lateinische. Ganz abgesehen davon, dass die Ansicht Bruckners mir nicht nachvollziehbar ist,49 zeigen die althochdeutschen Griffelglossen keine Verbindungen zu den Federglossen, während die lateinischen Griffelglossen oftmals Skizzen zu Federglossen sind. Trotz eines reichen Angebots an Griffelglossen macht es keinen Sinn, hier nach Ekkeharts

|| 39 Eisenhut 2009, 188f. Wie Eisenhut vermutet, ist die Anzahl der Griffelüberschriften tatsächlich wesentlich höher als 62 und nimmt – entgegen Eisenhuts Angabe S. 301 – gegen hinten auch nicht deutlich ab. 40 Bei Eisenhut 2009, 190–192, 262–264 lud–Glossen genannt; gleich mehrere S. 36f. 41 S. 75a, Z. 24, über qui perdidit. 42 In der Untersuchung bei Eisenhut 2009, 205 und passim der ersten Schicht (m1) zugewiesen. 43 Hattemer 1844, 411; Osterwalder 1982, 48. Vgl. auch Bruckner 1936, 67. Sieh Näheres dazu im Beitrag von Philipp Lenz. 44 Bruckner 1938, 71, ohne Nennung eines Beispiels. 45 Bergmann/Stricker 2005, 484. 46 Vgl. auch Bergmann/Tax 2009, 1621. 47 65 bei StSG: 2, 484f., eine davon, nach Schulze 1928, 103 zwei Glossen, altirisch. Zwei neugefundene althochdeutsche Federglossen jüngst nachgetragen bei Kiser 2013, 11–13, 23f. 48 Vgl. Stricker 2009b, 1646. 49 In Bergmann/Tax 2009, 1621 ist Ekkeharts Hand in Cod. 136 gar als „mehr oder weniger sicher identifiziert“ bezeichnet.

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Griffelhand zu suchen, solange seine Federhand ebenda nicht feststeht. Im Zusammenhang mit Ekkehart erwähnenswert ist der eingeritzte Eintrag lud (Iud?) auf S. 200, marg. unten, der an entsprechende eingeritzte Einträge in St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 621 erinnert.50 St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 168: Einen interessanten Fall bildet S. 122, Z. 16 die althochdeutsche Glosse scafa (StSG: II, 40, 7). Auf derselben Stelle der Ekkeharts Hand zugewiesenen Federglosse51 liegt eine Skizze mit Griffel, ebenfalls scafa lautend.52 Indem die Federglosse die einzige althochdeutsche im Codex ist und Ekkehart weitere, lateinische Glossen aufzeichnete, die nicht von Griffelskizzen unterlegt sind, ist zu fragen, ob er die Griffelglosse vorgefunden hatte und ins Reine schrieb. Ob er die Skizze selber anfertigte, ist völlig offen und paläographisch nicht zu belegen. Schuler53 vermutet, dass die Griffelglosse nicht von Ekkehart stammt, von ihm aber in Tinte nachgeschrieben und um einen lateinischen Begriff ergänzt worden sei. Das könnte bedeuten, dass Ekkehart in dieser Handschrift nur wegen der eingeritzten Glosse auch volkssprachig glossierte. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 557: Die Handschrift ist bekannt als althochdeutsche Glossenhandschrift dank zweier althochdeutscher Federglossen auf S. 233 und 248 (StSG: II, 760, 8. 27). Die Zuweisung der deutschen Glossen an Ekkeharts Hand stammt allein von Egli;54 sie wäre mit der sprachlichen und zeitlichen Bestimmung bei Thies 1994, 476f. als spätalthochdeutsche Glossen mit Spezifika des Notkerschen Sprachgebrauchs zu vereinbaren. Eisenhut55 hält die Zuschreibung für die erste Glosse für möglich, verwirft sie aber für die zweite Glosse und zieht sie insgesamt in Zweifel. Die Handschrift enthält auch eine althochdeutsche Griffelglosse: Sie steht S. 241, marg. rechts neben Z. 13, (pseudoforum) – halturli. Textbezug: (13) Uidi postea ad pseudoforum monasterii / (14) ipsius adductum energuminum (Sulp. Sev. dial. 3, 14, 1; PL: 20, 219C). Die Glosse steht zu lat. pseudoforum (monasterii) ‚(geheime) Hintertür‘. halturli: (Akk. Sg.?) st. N. ahd. hālturlī, ‚Geheimtürchen‘. Zum Vorderglied vgl. Adv. ahd. hālīgo, hālingun ‚heimlich‘, ‚verborgen‘ (AWB: 4, 629; EWA: 4, 768f.) sowie die Komposita hālsuuert und hālscara (AWB: 4, 645, 642). Die drei althochdeutschen Feder- und Griffelglossen sind untereinander nicht schlüssig zu verbinden, sondern scheinen vielmehr drei isolierte Eintragungen zu sein, vermutlich keine von ihnen von Ekkehart. An weiteren Griffeleintragungen ist S. 12, marg. links die Zeichnung eines Mannes zu erwähnen. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 579: Der Codex enthält Annotationen, deren Zuweisung an Ekkehart umstritten ist. Sie stammt, als fraglich gekennzeichnet, von || 50 Vgl. Eisenhut 2009, 190–192, 205, 257, 261–264 sowie oben in Kap. 3.2. 51 Die Zuweisung bei StSG: II, 40, Anm. 6 und Schuler 2010, 67. 52 Vgl. die Edition bei Schuler 2010, 65f. 53 Schuler 2010, 66. 54 Vgl. Eisenhut 2009, 422. 55 Eisenhut 2009, 422.

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Bruckner56, übernommen in Bergmann/Stricker57, Weber58 und Eisenhut59, während andere, z. B. Scarpatetti60, sie in Abrede stellen. In Bergmann/Stricker61 wird die Möglichkeit in Betracht gezogen, in beiden althochdeutschen Federglossen Ekkeharts Hand zu sehen, während Bruckner nur eine der beiden Glossen, die Interlinearglosse pînón über dem Textwort uexare62 auf S. 103, Z. 8,63 als Beispiel aufführt.64 Die Federglosse pînón ist auf eine Griffelglosse auf derselben Stelle geschrieben, bei welcher es sich jedoch nicht um eine gleichlautende Skizze zur Federglosse handelt. Die Federglosse erschwert die Entzifferung, doch ist die Griffelglosse zu Beginn anders, nämlich als lẹ.on zu lesen. Diese Griffelglosse ist Teil einer Textglossierung mit mehreren Griffeln, die rund 40 Glossen umfasst, ein Viertel davon althochdeutsche.65 Ob die Federglosse pînón von einer Hand, die auch lateinische Marginalien eintrug, durch die Griffelglosse angeregt wurde und vielleicht als Korrektur gedacht war, ist schwer zu sagen. Eine allfällige Verbindung der Griffelglossen mit Ekkehart ist völlig offen. Vereinzelte althochdeutsche Griffelglossen enthalten zudem St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 159, 225, 915 und 1398b.66 Die Zuweisung von Noten an Ekkehart in den Cod. 225, 557 und 915 ist in der Forschungsliteratur je nur an einer Stelle geäussert worden,67 breiter abgestützt ist sie nur für Cod. 159 (dazu unten in Kap. 3.5.). In jeder dieser Handschriften stehen die althochdeutschen Griffelglossen an anderen Stellen als die allfälligen Einträge Ekkeharts. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 578: Keine Griffelglosse, aber eine Griffeleintragung zu einer althochdeutschen Federglosse weist diese Handschrift auf: Die Ekkeharts Hand zugeschriebene68 und gemäss AWB: IV, 134f. verschriebene althochdeutsche Federglosse chénnôn69 ist mit Griffel schräg durchgestrichen.

|| 56 Bruckner 1938, 113. 57 Bergmann/Stricker 2005, 553. 58 Weber 2003, 76, Anm. 307. 59 Vgl. Eisenhut 2009, 422, hier mit Fragezeichen versehen. 60 Scarpatetti 2003, 98f. 61 Bergmann/Stricker 2005, 554. 62 Athanasius, Vita Antonii, Kap. 72. 63 StSG: II, 736, 54; Hattemer 1844, 420b. 64 Bruckner 1938, 113. 65 Edition durch A. Nievergelt in Vorbereitung. 66 Zu St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 225 sieh Nievergelt 2009, 54–58, zu St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 915 sieh Nievergelt 2011, 313, zu St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 159 und Cod. 1398b sieh Nievergelt 2013c, 385. 67 Vgl. Eisenhut 2009, 422f. 68 StSG: IV, 453, 4; Schuler 2010, 111. 69 StSG: II, 744, 9.

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3.4 ‚Ekkehart-Handschriften‘ mit althochdeutschen Federglossen Die Frage nach Ekkeharts Urheberschaft von althochdeutschen Federglossen ist jüngst bei Bergmann/Tax70 sowie Schuler71, der das Thema auch im vorliegenden Band behandelt, neu erörtert worden. Hier nur zwei Ergänzungen: Zürich, ZB Ms. C 37: Auch in dieser althochdeutschen Federglossenhandschrift wurde Ekkeharts Hand gesichtet.72 Für die drei bislang bekannten Federglossen73 gibt es allerdings keine Anhaltspunkte für die Hand Ekkeharts. Das gilt – trotz auffälliger Akzentschreibung in der zweiten Glosse – auch für zwei weitere interlineare Federglossen, beide von derselben Hand, die bisher übersehen worden waren: 1) fol. 5v, Z. 15, fidicula – seitili (GL: II, 105, 22), die Glosse interlinear über -idic- des Lemmas eingetragen. Nom. Sg. st. F. ahd. seitilī ‚kleine Saite‘, ‚kleines Saiteninstrument‘, Dim. von entweder sw. M. ahd. seito, st. sw. F. ahd. seita, oder st. N. ahd. seit ‚Saite‘, ‚Saiteninstrument‘ – GSp: IV, 159; der althochdeutsche Diminutiv wohl unter Einfluss der lateinischen Wortbildung im Lemma entstanden. 2) fol. 10r, Z. 22, interlunium – mânuuenti· (GL: II, 50, 3), die Glosse interlinear über dem Lemma, über a ein langgezogener Zirkumflex. Nom. Sg. st. F. ahd. mānwentī ‚Mondwende‘, ‚Zeit des Neumonds‘, Kompositum aus sw. M. ahd. māno ‚Mond‘ – AWB: VI, 254f. und st. F. ahd. wentī ‚Wende‘, das Zweitglied analog belegt in st. F. ahd. sunnawentī ‚Sonnenwende‘ in London, BM Ms. Add. 30861, fol. 24v, solsticia – sxnnfxxfndkn.74 Die Handschrift enthält auch wenige interlineare und marginale Griffeleintragungen, von denen das mir Lesbare lateinisch ist. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 626: Dem Korpus der althochdeutschen Federglossen Ekkeharts75 könnte man allenfalls noch die Federglosse S. 130, Z. 3, pannonius – · i · ungar · beifügen und allenfalls auch das latinisierte ahd. mango in der Glosse S. 177, Z. 11, interlinear, huius tormenti – ·i· balistę . quam teutones mangonē uocant ·.76 Die Handschrift enthält S. 313 Ekkeharts Versus alphabetici mit dem geheimschriftlichen Eintrag Fkkbrt.77 Auf S. 2 steht gut lesbar ein zweizeiliger Eintrag von spitzem Griffel (paratus esto israęl in occursum di quoniam / uenit formans montes).78 || 70 Bergmann/Tax 2009, 1620–1634. 71 Schuler 2010. 72 Marginalien, beispielsweise fol. 13r, 129v. Notizen Bernhard Bischoff. Vgl. Krotz 2014, 419–421. 73 Siewert 1985, 111. 74 Thoma 1951, 252. 75 Zu den Annotationen in dieser Handschrift bietet die Forschung zahlreiche Zuschreibungen an Ekkehart. Vgl. Eisenhut 2009, 290, 423, 435. 76 Hattemer 1844, 421. Sieh unten dazu auch die Marginalie in St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 245. 77 = Ekkart. Vgl. Osterwalder 1982, 79. Die Erklärung bei Duft 1985, 88, der Ekkbrt liest, dass „ungewollt aus h ein b geworden und das a ausgefallen“ sei, ist unwahrscheinlich. 78 Gregorius Magnus, Liber responsalis sive antiphonarius, Responsoria infra eamdem hebdomadam; PL: 78, 731C. Der Eintrag teilweise entziffert bei Scarpatetti 2003, 231.

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3.5 ‚Ekkehart-Handschriften‘ mit lateinischen Griffeleintragungen Im Gegensatz zu den volkssprachigen Glossen gibt es im Bereich des Lateinischen in den Ekkehart-Handschriften reichlich Eingeritztes, und auch einige Berührung von Griffeleintragungen mit den Ekkehart zugewiesenen Eintragungsschichten. Diese Phänomene spielen sich zur Hauptsache in den Korrekturschichten ab und sind in einer ganzen Reihe von Handschriften zu finden. Besonders häufig sind sie in den zwei Handschriften St. Gallen Stiftsbibliothek, Cod. 159 und 176: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 159: In dieser Handschrift sind etliche griechische – oft verschriebene – Wörter von Ekkehart (?) interlinear in lateinischer Schrift wiedergegeben worden.79 Solche Umschriften hat Ekkehart in der Handschrift schon antreffen können, etwa S. 79 marg. oben mit Tinte und Griffel (in der linken Spalte von Ekkehart ergänzt?). Zusammenhänge zwischen Ekkeharts Eingreifen und den früheren Einträgen sind allerdings nicht klar. – Daneben gibt es einige interessante Momente in der Textrevision: Ekkehart hat Korrekturen am lateinischen Text angebracht. Der Text weist auch eine ältere, durchgängige Korrekturschicht mit Griffel auf, die sich da und dort mit den Tintenkorrekturen trifft. Die Treffpunkte der beiden Schichten zeigen verschiedene Formen von Doppelglossierung: – Auf S. 156 wurde verschriebenes iucta mit Feder und Griffel zu iuncta korrigiert. Die Federeintragung gibt das ganze Wort wieder, während der Griffeleintrag lediglich den fehlenden Buchstaben -n- ergänzt. (n mit Griffel steht über -uc-.) Die Korrektur ist im Resultat also identisch, die Mittel aber sind verschieden. – Ein ähnlicher Fall findet sich S. 317a, Z. 6, zur Textstelle qui exordia als Griffelkorrektur ab exordio, marg. oben angebracht, mit Verweisungszeichen über der fehlerhaften Stelle und als interlineare Federkorrektur, ab über ex- und o über -a, die Federkorrektur mutmasslich von Ekkeharts Hand. Für die zeitliche Abfolge lassen sich jeweils verschiedene Szenarien vorstellen. (Hat der Federkorrektor die unscheinbare bzw. die marginale Einritzung nicht gesehen und die Stelle als noch nicht verbessert angesehen?) – Korrekturnotate wohl von Ekkeharts Hand sind auch an Textwörtern anzutreffen, die mit Griffel glossiert wurden. Ebenfalls auf S. 156a, Z. 23 findet sich dazu das folgende Beispiel: Das Textwort trucidamur ist mit Griffel abgeändert in traducimur (das Textwort mit Griffel unterliniiert, die Korrektur interlinear darüber). Der Federkorrektor hat indes a zu e und damit das Textwort zu trucidemur abgeändert (ebenfalls durch Unterstreichen und interlineare Überschreibung). Während mit Griffel das falsche Textwort80 berichtigt wird, verändert die Federkorrektur nur die grammatische Form (Indikativ zu Konjunktiv geändert). – Ebenfalls zweimal nachbear-

|| 79 Vgl. beispielsweise S. 41; Eisenhut 2009, 249 und Anm. 271. Zu Ekkeharts Griechischkenntnissen vgl. Dümmler 1869, 22 und Liber Benedictionum/Egli 1909, XXXVI. 80 Vgl. Ed. traducimur; PL, 70, 1287B.

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beitet ist das Textwort pactus auf S. 165a, Z. 6. Es ist mit Griffel unterstrichen und interlinear mit Tinte überschrieben mit req pactus. Dem Tinteneintrag folgt ein überaus deutlicher Griffeleintrag, der bis in die rechte Spalte hineinreicht: non pactus sed pulsus.81 Die Positionierung der interlinearen Einträge deutet darauf, dass die Griffeleintragung die spätere sein könnte, was indes die Funktion der Unterstreichung nicht erklärt. Es ist zumindest sehr wahrscheinlich, dass hier die Einträge zusammenhängen, dass vielleicht zuerst das Federnotat erfolgte und danach mit Griffel die Korrektur eingetragen wurde.82 – Dass Ekkehart bzw. der Federglossator tatsächlich eine Griffelglosse quasi mitberücksichtigt hat, könnte eine Stelle auf S. 159b, Z. 20f. zeigen: Der Text (20) … Contra aduersalis vel prospe/ (21) re mediabilis opponitur forti/ (22) tudo statt Contra adversa vel prospera remedialis opponitur fortitudo83 weist gleich zwei Fehler auf. Von Z. 20 zu Z. 21 müsste es prospera heissen und mit remediabilis weitergehen. Mit Griffel ist re vor mediabilis ergänzt, mit Tinte das Schluss-e von prospere zu a korrigiert worden. Der Federglossator hätte das folgende Wort vielleicht auch korrigiert, wenn es nicht schon mit Griffel korrigiert gewesen wäre. – Ein weiteres Beispiel einer mehrschichtig korrigierten Textstelle findet sich auf S. 192b, Z. 10. Eine korrupte Textstelle ist, interlinear mit Griffel vorskizziert (die fehlerhafte Stelle mit Griffel unterstrichen) und mit Feder ausgeführt, mit dem korrekten Textwort moerim (Name des Hirten Moeris) korrigiert worden. Auf die Korrektur folgt interlinear von anderer Hand (Ekkehart?) mit dem Federeintrag vel memoriam eine recht unverständliche Reaktion auf die Verschreibung. – In Codex 159 gibt es also ein paar Stellen, an denen es zumindest möglich ist, dass Ekkeharts Federkorrekturen und Griffelkorrekturen in Abhängigkeit voneinander entstanden sind. Auf dieselben Fehler wurde mit Griffel und Feder meist verschieden eingegangen. Wo der Text zu korrigieren war, erweisen sich die Griffeleinträge als textkritische Korrekturen, während die Federeinträge sich nicht mit der Restituierung des korrekten Textes abzugeben scheinen, sondern assoziative Gedankengänge widerspiegeln84. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 176: Der in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts entstandene Codex enthält auf der Innenseite des Rückendeckels Carmina von Ekkehart sowie den berühmten „Klopfrunen“-Eintrag zu Ekkeharts verschlüsseltem Namen85 sowie eine Reihe von Annotationen, von denen etliche Ekkehart zugeschrieben wurden, darunter auch längere Marginalien. – Der Codex birgt auch zahlreiche Griffeleinträge. Längere Marginalien gibt es auch eingeritzte, eine besonders

|| 81 Vgl. Ed. impetus; PL, 70, 1294B. 82 Es ist fast nicht denkbar, dass die Griffeleintragung in ihrer Deutlichkeit von einem späteren Korrektor nicht hätte wahrgenommen werden können. 83 Cassiodor, De anima, V; PL, 70, 1290B. 84 Textkritische Korrekturen durch Ekkehart gibt es natürlich auch. Vgl. unter vielem anderem z. B. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 565, S. 218, Z. 20f. 85 Vgl. Bergmann 2000, 39.

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deutlich eingetragene in 8 Zeilen auf S. 25 (Si quis uirtutes / que prima sit in/ spicit omnes. Sola / pudica loco pallet / dilectio summo / Nam nihil optan/ dum quā semper / ames qđ amandū), doch weist nichts auf einen Zusammenhang mit den Tintenmarginalien hin. (Griffel- und Tintenmarginalien befinden sich nicht an denselben Stellen, und eine allfällige Übereinstimmung von Händen ist nicht zu sichern.) – Des weiteren wurde der Text mit Griffel korrigiert (z. B. S. 220a, Z. 33, Griffelkorrektur; S. 283a, Z. 36, Griffelkorrektur; S. 371b, Z. 14, Griffeleintrag). Mehrere Passagen kommen mit Griffel und mit Feder bearbeitet vor, und an wenigen Stellen treffen die beiden Schichten aufeinander. Mit wenigen Ausnahmen (z. B. die mit Griffel vorskizzierte Federkorrektur S. 158b, Z. 7) sind die Einträge nicht identisch. Ein paar Beispiele: – S. 160a, Z. 26 wurde reg mit Kürzungszeichen (= regnum) um den Federeintrag nvm ergänzt. Dieser Federeintrag steht auf einer Griffeleintragung, die mit deutlichem a beginnt. Leider ist der Griffeleintrag wegen der Federeintragung unleserlich geworden, doch ist ersichtlich, dass keine Identität herrscht, der Federglossator also nicht die Griffeleintragung in Tinte ausführte. – Auch an einer anderen Stelle, S. 245b, Z. 38, zeigt sich, dass mit Griffel in einer anderen Weise korrigiert wurde als mit Feder (der Federeintrag aber wohl nicht von Ekkehart). Über seruent steht mit Griffel ui, mit Feder iba. – Feder und Griffel treffen sich auch in Transliterationen von in griechischer Schrift geschriebenen Textwörtern (z. B. S. 184, marg. links). Ekkehart hat diese verbreitete Gepflogenheit86, die vielleicht als Lesehilfe diente, offenbar übernommen87 und im Cod. 176 zur Korrektur fehlerhafter Wörter genutzt. Die Transliteration mit Griffel S. 184, marg. links ist mit einer Federfassung gepaart, die aber gerade nicht von Ekkehart geschrieben scheint. Zudem sieht es so aus, als ob diese Griffeleintragung gar die Federeintragung zu verbessern hatte. – Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass auch im Cod. 176 für keine Griffeleintragung zu sichern ist, dass sie von Ekkehart stammen könnte. Wo Griffel und Federschichten sich treffen, war entweder Ekkehart nicht beteiligt, oder aber die Schichten scheinen sich nicht aufeinander zu beziehen. In einer Reihe weiterer Handschriften wiederholen sich die beschriebenen Fälle: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 103: einige Griffeleinträge, zumeist Korrekturen, zahlreiche z. B. S. 181. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 110: Einige Federglossen sind mit Griffel vorskizziert (z. B. S. 8, Z. 20, vel circulo, die Griffeleintragung marg. links; S. 10, Z. 10,

|| 86 Solche Transliterationen griechischer Wörter sind in St. Gallen schon vom 8. Jahrhundert an recht häufig anzutreffen, und dies fast noch häufiger mit Griffel als mit Feder eingetragen. 87 Vgl. oben in St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 159, dazu auch St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 162, S. 72f., eine Transliteration möglicherweise durch Ekkeharts Hand; zweifelhaft St. Gallen, Stiftsbibliothek 282, S. 200a, Z. 32, St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 670, S. 407a, Z. 27. Diesbezüglich zu erwähnen ist auch die Handschrift Zürich, Zentralbibliothek Ms. C 74a, die vielleicht von Ekkehart korrigiert wurde, vgl. Steinmann 2013, 208, und zahlreiche solche Umschriften mit Feder aufweist.

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atque mit Griffel und Feder interlinear, mit Griffel atqueinse marg. links; S. 14, Z. 17, hoc mit Griffel und Feder; S. 67 mehrere Korrekturen mit Griffel und Feder, marg. mit e markiert), ebenso die Textergänzung S. 77, marg. unten. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 129: Etliche Graeca sind in lateinischer Schrift aufgelöst (von verschiedenen Händen), auf S. 227 bei einer Hand mit Griffelskizzen unterlegt. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 146: S. 292 ist marg. unten eine zweizeilige lateinische Marginalie eingeritzt, marg. links oben ein geflügelter Löwe mit Griffel gezeichnet. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 166: S. 268, Z. 23, neben einer Federkorrektur marg. links sed in corporales und interlinear ac que ist marginal mit Griffel sedaque eingeritzt. S. 434b steht ein Griffeleintrag in Auszeichnungsschrift.88 St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 175: S. 14b, Z. 19 wird mit Griffel und Feder ganz verschieden auf den Text reagiert. Ein interlinearer Griffeleintrag dat cas bietet eine grammatische Angabe, während über percipiendo eine interlineare Federeinfügung ad (über per-) und vm (über -o, Punkt unter o) den Text zu ad percipiendum abändert89. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 178: S. 303a, Z. 14 ist eine Federglosse mit Griffel vorskizziert. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 211: S. 150 ist marg. unten eine Stelle aus der Bibel (2. Petrusbrief 2,7f.) eingeritzt. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 245: Der Text wurde nebst mit Tinte (teilweise von Ekkehart) auch mit Farbstift korrigiert und ergänzt. Einige Beispiele: S. 209, marg. rechts neben Z. 13 mit Farbstift die Korrekturangabe peccata; S. 221, marg. rechts neben Z. 6, Farbstift- und Federkorrektur; desgleichen S. 499, Z. 16 und 18; S. 503, marg. unten 3 zusätzliche Textzeilen, zuerst mit Farbstift, dann darauf mit Tinte geschrieben; S. 364, marg. links neben Z. 10 mit Farbstift philosophos als Korrektur zum Textwort filios sowie weitere Korrekturen auf dieser Seite; S. 505, interlinear eine Reihe von Korrekturen mit Farbstift, z.T. auch Tinte; interlineare Tinten- und entsprechende marginale Griffel- oder Farbstiftkorrekturen auch S. 333, Z. 5, S. 512, Z. 19 und S. 522, Z. 23, 26; S. 370, marg. links neben Z. 7 ist mit Griffel die Scholie sulphur ue/ ro quia ůs di/ mergit simul exurit eingetragen, S. 369, marg. rechts neben Z. 11, mit Einfügungszeichen caractirem (vor bestiae). S. 364 wechseln sich marg. links die Verweise r mit Feder und e mit Farbstift.90 S. 70, marg. links

|| 88 Zu den Griffelzeichnungen in dieser Handschrift siehe Nievergelt 2013b, 63f. 89 Ed. percipiendo (Augustinus, De trinitate; PL: 42, 821). 90 Zu den Einritzungen auf S. 513 sieh Nievergelt 2013b, 63. Ekkehart (bzw. ego quidam) gibt in St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 174, Z. 1 an, gesetzt zu haben, wo ihm Korrekturen nicht gelangen. Sieh Steinmann 2013, 208.

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neben Z. 13 weist der Federglossator (mutmasslich Ekkehart) auf ein deutsches Wort im Text hin (mangones)91. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 260: Die Handschrift enthält zwei Federglossen, deren eine nach Schuler 2010: 81 von Ekkehart stammen könnte, deren zweite jedoch bestimmt nicht. S. 213 steht marg. rechts ein dreizeiliger lateinischer Griffeleintrag; weitere lateinische Griffel- und Farbstiftmarginalien finden sich auf S. 222 und 234 jeweils marg. links. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 279: Der von Ekkehart annotierte Codex trägt eine Reihe von Farbstiftkorrekturen. (S. 12, Z. 3 treffen Farbstift- und Federkorrektur zusammen.) Wie in St. Gallen, Stiftsbibliothek 565 – sieh unten in diesem Kap. – und andernorts wird mit marginal eingeritztem e (= emenda) auf Fehler hingezeigt. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 281: Die Handschrift ist nebst mit Feder auch mit Griffeln und Farbstiften korrigiert worden. S. 186b, Z. 3 ist verschriebenes filius mit Griffel spiritus und mit Feder sps korrigiert. S. 526a, Z. 5 ist das Textwort mater mit Griffel mittels ris zu matris verbessert (Ed. matris; Augustinus, Sermo 191, In natali domini, 1,2; PL: 38, 1010), während der Federglossator (Ekkehart?) mit der Ergänzung na (materna) eine eigene Variante einbringt. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 333: Die Handschrift weist zahlreiche Farbstiftkorrekturen, z. B. S. 114b, 227a, 341b und längere Textergänzungen mit Farbstift auf, z. B. S. 147, marg. oben und unten, S. 149, marg. oben; S. 200, marg. oben, S. 340f., marg. oben. Die Farbstifteinträge haben keine Berührung mit den mutmasslich von Ekkehart stammenden Annotationen. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 454: Fast keine Griffeleintragungen enthält das eigentliche Martyrologium, in welchem in Federeinträgen Ekkeharts Hand identifiziert wurde: Eine einzelne eingeritzte Kapitelzahl S. 38, marg. links, Korrekturen und Ergänzungen S. 220a, Z. 6, S. 226b, Z. 21, marg. rechts, S. 228, Z. 25 im Mittelsteg, S. 237b, Z. 7. Dagegen enthält das vorangehende Kalendarium über 40 Griffel- und Farbstifteinträge mit zu den Federeinträgen weiteren Märtyrernamen. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 552: Nebst einer Reihe von – zum Teil verschmierten – lateinischen Tintenmarginalien in bfk-Geheimschrift (z. B. S. 263, 264, 270) weist diese Handschrift auch ein paar Griffel- und Farbstift-Annotationen auf, beispielsweise Zahlzeichen-Auflösungen mit Schwarzstift92, Korrekturen mit Griffel (teilweise mit Tinte überschrieben) und lateinische Griffelglossen, z. B. S. 141, Z. 18, über intra se interficere. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 556: Die Handschrift trägt eine Handvoll Einritzungen wie Zeichnungen und marginale Kritzeleien, dazu auch ein paar eingeritzte || 91 Ecce Teutonicvm verbvm, mit Verweiszeichen. Hattemer 1844, 416. Vgl. dazu oben zu St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 626 in Kap. 3.4. Zur Erklärung von Ambrosius Autpertus’ Schreibstil aus seiner deutschen Herkunft durch einen Federglossator auf S. 36, marg. links neben Z. 4, vgl. Grotans 2006, 127f. 92 S. 15, Z. 20 und 22.

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Textkorrekturen, z. B. S. 16, Z. 15, S. 30, Z. 1, S. 393, Z. 8. Sehr deutliche Eintragungen mit stumpfem Griffel finden sich S. 31, Z. 15, efugi& über eua- von euadit, und S. 39, Z. 7, prosternere über prostrare, das mittels e und ne auch mit Tinte korrigiert ist. S. 19, Z. 9 ist nach Textschluss der Anfang eines Alphabets eingeritzt. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 565: Die Handschrift enthält Federkorrekturen am Text, die Ekkehart zugewiesen werden. Im älteren vorderen Teil kommt es zu Doppelglossierungen von Griffel- und Federeinträgen, zweitere mutmasslich von Ekkehart. S. 58, Z. 18, interlinear über quoniam ist eine Federeintragung presumeret auf eine längere Griffeleintragung geschrieben worden, die auf fuisset endet. Der vordere Teil der Griffelglosse ist wegen der Tintenglosse nicht mehr lesbar. Die Eintragungen sind offensichtlich nicht identisch. Dagegen steht S. 74, Z. 22, über meretur eine Federkorrektur re, die auf derselben Stelle mit Griffel identisch vorgeschrieben ist, ein Fall, der sich S. 206, Z. 9, interlinear über angustiae mit je einer interlinearen Griffel- und Federglosse, beide astutię, wiederholt. Hat der Federglossator hier Griffelskizzen ins Reine geschrieben? (Die zu korrigierenden Stellen sind oftmals marginal mit eingeritztem e angezeigt.) St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 578: Wenige Griffeleinträge: Lateinische Einritzungen stehen S. 293, marg. oben und unten, S. 91b, Z. 13 ist mit spitzem Griffel bei diac̅ die Kürzung mit ono aufgelöst, und S. 287 sind marg. unten zwei Gesichter gezeichnet. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 627: Interlineare Doppeleinträge mit Griffel und mit Feder, zweitere vielleicht von Ekkehart, finden sich beispielsweise S. 78a, Z. 9; S. 79a, Z. 15; S. 167b, Z. 6 und S. 205a, Z. 13. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 670: Neben vielen Korrekturen mit Feder (teilweise von Ekkehart?) nur wenig Einträge mit Griffel (z. B. S. 153a, Z. 15, über in sua eps). S. 20b, Z. 25 über est stehen aufeinander eine Griffel- (e[?]) und eine Federeintragung (esset). Etliche Initialen sind mit verschiedenen Griffeln vorskizziert (z. B. S. 287, 366, 370, 374). St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 820: Die Handschrift ist interlinear und marginal ausgiebig mit Griffel bearbeitet worden. Bei diesen Eintragungen handelt es sich zur Hauptsache um Marginalien und Interlinearglossen, die nachträglich mit Feder ins Reine darübergeschrieben wurden. Sieh dazu Nievergelt 2007, 776 und Anm. 84, auch 84, Anm. 72 und 967, Tafel XI. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 830: Die Handschrift enthält nebst Noten von Ekkehart, die recht umfangreiche Begleittexte bilden können, etliche Griffeleintragungen, unter denen ebenfalls längere Marginalien sind, bei denen es sich allerdings um Exzerpte aus dem Haupttext handelt: S. 389, Z. 2, marg. rechts Exzerpt aus

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Z. 2; S. 410, marg. links neben Z. 15ff. und Z. 23ff. zwei längere Exzerpte; S. 413, marg. rechts neben Z. 7–4; S. 414, marg. links Text aus Z. 11.93 Zürich, Zentralbibliothek Ms. C 41: Die Handschrift enthält auf dem auf den hinteren Buchdeckel aufgeklebten Deckblatt acht Hexameter, die Bischoff Ekkeharts Hand zuschrieb94. Es finden sich zahlreiche lateinische Umschriften griechischer Textwörter, eingeritzt auf den Blatträndern.95 In gleicher Weise wurden interlinear mit Griffel lateinische Kürzungen aufgelöst, z. B. fol. 82v, Z. 18, über dt mit Griffel dicitur. Zudem sind etliche Korrekturen mit Griffel zu finden (z. B. fol. 86v, 156r, 170v, 184v, 245r, 245v). St. Gallen, Kantonsbibliothek Vadiana, Vadianische Sammlung 294: S. 251 ist die erste Zeile in Tinte eine Zeile höher mit Griffel vorgeschrieben. Zürich, Zentralbibliothek Ms. C 98: fol. 16r, marg. oben steht eine Textzeile mit Farbstift.

3.6 Griffeleintragungen in ‚Notker-Handschriften‘ Auf Anregung aus der Diskussionsrunde an der Ekkehart-Tagung habe ich auch Handschriften aus dem 11. Jh. mit Schriften Notkers des Deutschen in die Untersuchung miteinbezogen. Bei den darin befindlichen Griffel- und Farbstifteintragungen handelt es sich zur Hauptsache um Textkorrekturen. Vieles davon ist längst bekannt. Es gibt keine Hinweise auf eine Urheberschaft des Notker-Schülers Ekkehart. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 818: S. 103, rechts neben Z. 20 steht mit Griffel in zeitgenössischer Schrift eine Korrektur zum althochdeutschen Werktext.96 S. 18, marg. unten ist ein lateinischer Schreibermahnvers eingeritzt.97 St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 825: S. 10, Z. 29, auf dem zweiten u von uuanda steht mit Griffel ein Akut; ein Feder-Akut steht über dem ersten a. Marginal sind an zahlreichen Stellen Nota-Zeichen () eingeritzt, z. B. S. 7, marg. rechts neben Z. 4, 9, 17, 21, 25 und 28, ebenso e.98 S. 38v, Z. 12, wo interlinear habint eingefügt wurde, steht marg. links ein Griffelkreuz. S. 272, marg. oben sind kopfständig mit Griffel zwei Köpfe gezeichnet.

|| 93 Lateinische Griffelglossen z. B. S. 389, Z. 11, marg. links; S. 390, Z. 6, 17, marg. links und interlinear, S. 417, marg. rechts neben Z. 17. 94 MGH Poetae 5, 553, Apparat zu Nr. 72; Weber 2003, 94 und Anm. 340; die Handzuweisung bei Mohlberg 1951, 353 mit Fragezeichen versehen. Den Hinweis auf „Glossen von Ekk. IV. auf fol. 31r“ bei Eisenhut 2009, 423 kann ich am handschriftlichen Original nicht nachvollziehen. (Ist die Marginalie unten gemeint?). 95 Vgl. Nievergelt 2007, 83, Anm. 66 und 966, Tafel X. 96 GSp, I, LIX; Glaser/Nievergelt 2009, 203f. und Anm. 6. 97 Nievergelt 2013b, 62. 98 Für emenda. Vgl. King/Tax 1986, XXXI und im 1. Apparat.

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St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 872: Der Text wurde da und dort mit Farbstift korrigiert. S. 5, Z. 4 ist der Korrektureintrag gebarda mit Farbstift vorgeschrieben (teilweise?; sichtbar ist noch ḍa). S. 10, Z. 5 ist die Textkorrektur auf Rasur interlinear mit Farbstift angegeben: chnivrigen. (Ebenfalls mit Farbstift vorskizziert sind lateinische Korrekturen Z. 9 und 16.) S. 235 steht marg. unten ein mir nur in Teilen lesbarer, wahrscheinlich lateinischer Farbstifteintrag. Zürich, Zentralbibliothek Ms. C 121: Das Boethius-Fragment Notkers des Deutschen wurde mit Farbstift99 an etlichen Stellen korrigiert100 (Schreibungen geändert, Wörter ersetzt oder nachgetragen101), scheinbar nach dem Text in St. Gallen, Stiftsbibliothek 825, doch soll nach King/Tax102 der Cod. 825 nicht die Vorlage gewesen sein. In Notkers De Syllogismis steht fol. 41v, Z. 16 interlinear über Melius mit Farbstift ebenfalls eine Textergänzung, wohl als Fortsetzung des Ausdrucks ter ursuoh im Text: tero geiihte103, eine Eintragung, die mit Blick auf die Eintragungen von demselben Schreibinstrument im Boethius-Bruchstück die Hypothese nahelegt, dass dem Korrektor auch zu De Syllogismis eine Vorlage zur Verfügung gestanden hat, eine Handschrift, die wir nicht kennen.104

4 Die Resultate zusammenfassende Schlussbemerkungen Die in weiten Teilen exemplarisch und stichprobenweise durchgeführte Untersuchung hat keine Evidenz erbracht, dass Ekkehart mit Griffel auf Pergament gearbeitet hat. Explizite Eintragungen wie Subskriptionen mit Selbstnennung wurden nicht gefunden. Da gleich mehrere systematische paläographische Vorarbeiten – Vorklä-

|| 99 Scherabon Firchow 2003, XXXV und King/Tax 1996, 294 erkennen einen Griffel. Griffeleintragungen enthält die Handschrift nur sehr wenige. Beispielsweise ist S. 45r, marg. unten ein Teil des Titels von Z. 14 eingeritzt. 100 Sehr unwahrscheinlich ist dagegen, dass, wie Scherabon Firchow 2003, XXXV glaubt, „Hinweise auf die Aussprache“ gegeben werden. Auch eingefügte Einzelbuchstaben (z. B. f über u) entsprechen immer exakt den Schreibungen in Cod. 825. 101 Die Eintragungen sind im allgemeinen gut lesbar. Dennoch wurden bis heute nicht alle ediert. Hattemer 1847, 130, Anm. 3 gibt noch an, dass fol. 50v, Z. 18 unde in der Zürcher Handschrift fehle und übersieht – so wie auch alle anderen Farbstifteinträge – dabei die interlineare Farbstifteintragung unde. Bei Kelle 1886, 308, Anm. 2 wird die Eintragung („sie ist ober der Zeile eingekratzt“) erwähnt. Inzwischen sind fast alle Eintragungen in den Apparaten der Editionen von King/Tax 1986 und Scherabon Firchow 2003, 148a–151a zu finden. 102 King/Tax 1986, XXXI 103 Also: ter ursuoh tero geiihte. King/Tax 1996, 294, Anm. zu Z. 16 lesen unverständliches „tero ::nahtat“. 104 Es scheint mir übrigens erwähnenswert, dass bei den Farbstifteinträgen die Akzente fehlen.

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rungen zu den St. Galler Schriften des 11. Jahrhunderts, zur Hand Ekkeharts und zur Griffelschreibtechnik – noch ausstehen, ist die Möglichkeit, Griffeleintragungen in seriöser Weise der Schreiberhand Ekkeharts zuzuweisen, vorderhand nicht gegeben. In den Handschriften, die von Ekkehart wahrscheinlich oder vielleicht benutzt wurden, sind fast regelmässig etliche Griffeleintragungen zu ermitteln. Sie bestehen in einigen althochdeutschen und lateinischen Glossen, isolierten Marginalien, zur Hauptsache jedoch in Korrektureinträgen. All dies kennen wir auch von Ekkeharts Hand. Einige der Ekkehart zugewiesenen Annotationen stehen zusammen mit Griffeleinträgen auf der jeweils selben Stelle. Mancherorts sind Feder- und Griffeleintrag dabei identisch, vielerorts verschieden. In keiner Handschrift kommen Griffel- und Federannotationen nur gepaart vor. Der häufigere Fall ist vielmehr der, dass sie sich unabhängig voneinander in der Handschrift verteilen. Wenn sie zusammentreffen, wird dies meist durch einen Fehler im Haupttext bewirkt. Ob Ekkehart hier selber einritzte, auf vorhandene Griffeleinträge reagierte, sie sich zu Nutze machte oder durch sie zur Korrektur angeregt wurde, oder aber das Korrigieren unterliess, weil schon Griffelkorrekturen da waren, lässt sich nirgendwo eindeutig bestimmen. Einige seiner Federeinträge zeichnen sich dadurch aus, dass sie die fehlerhafte Textstelle zum Anlass nehmen, einen – nicht immer nachvollziehbaren – eigenen Gedanken zu entwickeln. Auch sinnentstellende Verschreibungen werden dabei stehen gelassen.105 Diese Vorgehensweise lässt sich in keiner der Griffeleintragungen nachzeichnen und kann darum als charakteristisch für den Federglossator gelten, für den auch längere Annotationen wie Scholien kennzeichnend sind. Die mit Griffel und Farbstift geschriebenen Marginalien bestehen dagegen häufig in Textexzerpten und damit vielleicht in Schreibübungen und nur selten in eigentlichen Scholien. Ekkehart zeigt sich also weiterhin als Korrektor und Glossator, der mit Tinte und Feder arbeitete. Tatsächlich passen – wenn wir uns seine Art zu arbeiten vor Augen führen – weder das tendenziell langsam verlaufende Schreiben mit Griffel, noch ein stufenweises, planmässiges Vorgehen über Griffelskizzen zu Federreinschriften so recht zu ihm. Ekkeharts Arbeitsweise scheint – nach dem Eindruck, den der Textautograph vermittelt – eine eher direkte, schnelle, zugriffig-impulsive, mittlerweile flüchtige gewesen zu sein. Korrekturen hat er nötigenfalls auch mittels Rasur und anderen Tilgungsmethoden angebracht. Hinweise auf rasches Arbeiten kann man vielleicht in den Abklatschen seiner Eintragungen sehen, an Stellen also, wo er weitergeblättert haben muss, ohne das Trocknen der Tinte abzuwarten.106 Auch in fehlerhaften Schreibungen, etwa in den volkssprachigen Glossen, z. B. in St. Gallen, || 105 Sieh in St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 159. 106 Vgl. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 276, S. 123, Z. 12, Abklatsch von S. 124; St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 281, S. 69, Z. 5a, Abklatsch von S. 68; S. 255, Abklatsch der Marginalie von S. 254. Ähnliche Stellen auch in St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 626 passim und besonders verschmiert in St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 280, S. 106f.

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Stiftsbibliothek, Cod. 578, S. 97a, Z. 27107, mag man Eile respektive Flüchtigkeit erkennen.108 Als Handschriftenbenützer, der nicht vom Griffel Gebrauch machte, kann Ekkehart aber auch einfach ein Kind seiner Zeit gewesen sein. Fragen zur Verwendung des Griffels im 11. Jahrhundert in St. Gallen sind nicht abschliessend zu beantworten, solange die entsprechenden Untersuchungen jener Handschriftenbestände noch fehlen. Die geschichtliche Entwicklung der Griffelverwendung ist bislang überhaupt erst im Rahmen der althochdeutschen Glossographie genauer betrachtet worden. Auch hier steht ihre Erforschung aber noch in den Anfängen. Noch unerforscht ist die Entwicklung der Farbstiftglossierung. Für die volkssprachigen Glossen zeichnet sich ab, dass das Phänomen der Griffelglossierung im 8. Jahrhundert und zu Beginn des 9. Jahrhunderts sehr häufig ist und dann abklingt. Ende 10. Jahrhundert – erste Hälfte 11. Jahrhundert ist an einzelnen Orten ein Wiederaufleben der Praxis zu beobachten, recht deutlich in Tegernsee, wo das Glossieren mit Griffel (und Farbstift) mit einer Renaissance der Textglossierung einhergeht. Zum Griffelgebrauch ausserhalb der Glossographie sind dagegen erst vereinzelte Aussagen möglich. Zu St. Gallen lässt sich festhalten, dass ein reger Gebrauch des Griffels sich in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts im Bereich der Textkorrekturen zeigt. Zahlreiche Griffelkorrekturen in den Ekkehart-Handschriften sind in diese Zeit zu stellen. Für die Zeit Ekkeharts weisen die Farbstiftkorrekturen in einigen EkkehartHandschriften (z. B. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 333) und den Handschriften mit Notkers des Deutschen Werken109 darauf, dass der Farbstift als Arbeitsinstrument bei der Textrevision damals eine bestimmte Rolle gespielt haben musste. Ekkeharts Hand ist in den Griffel- und Farbstifteintragungen in St. Galler Handschriften also nicht ausfindig zu machen. Gleichwohl ist nicht grundsätzlich auszuschliessen, dass einige Griffel- und Farbstifteintragungen tatsächlich von Ekkehart stammen könnten. Noch sind wir aber nicht so weit, den Nachweis dafür erbringen zu können.

|| 107 chénnôn statt chernôn; auch -n korrigiert. Vgl. AWB: IV, 134f. und oben in Kap. 3.3. 108 Die paläographische Bestimmung seines Schreibtempos steht allerdings noch aus. Zu den Möglichkeiten, Schreibgeschwindigkeit bei Tinte auf Pergament bei geschulten Schreibern zu untersuchen gibt es aus der Paläographieforschung andere Ansichten als die in Eisenhut 2009, 214 geäusserten, vgl. beispielsweise Eder 1972, 13, auch 36. 109 St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 872, Zürich, Zentralbibliothek Ms. C 121.

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5 Literatur AWB = Althochdeutsches Wörterbuch (1968ff.), Auf Grund der von Elias von Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig begründet von Elisabeth Karg-Gasterstädt und Theodor Frings. Bde. I–VI. Berlin. Bergmann, Rolf (2000), Zehn St. Galler Kleinigkeiten. Glossen zu allem möglichen ausserhalb von Texten. In: Guntram A. Plangg & Eugen Thurnher (Hrsg.), Sprache und Dichtung in Vorderösterreich. Elsass – Schweiz – Schwaben – Vorarlberg – Tirol. Ein Symposion für Achim Masser zum 65. Geburtstag am 12. Mai 1998. (Schlern-Schriften 310). Innsbruck. Bergmann, Rolf, Stricker, Stefanie (Hrsg.) (2005), Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften. 6 Bde. Berlin. Bergmann, Rolf, Tax, Petrus (2009), Ekkehart IV. von St. Gallen als Glossator. In: Rolf Bergmann & Stefanie Stricker (Hrsg.), Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch. Bd. 2. Berlin, 1620–1643. Bischoff, Bernhard (1928), Nachträge zu den althochdeutschen Glossen. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 52, 153–167. Bischoff, Bernhard (1966), Über Einritzungen in Handschriften des frühen Mittelalters. In: Bernhard Bischoff: Mittelalterliche Studien. Ausgewählte Aufsätze zur Schriftkunde und Literaturgeschichte. Bd. 1. Stuttgart, S. 88–92. Bruckner, Albert (1936), Scriptoria Medii Aevi Helvetica. Denkmäler schweizerischer Schreibkunst des Mittelalters. Bd. 2. Schreibschulen der Diözese Konstanz. St. Gallen I. Genf. Bruckner, Albert (1938), Scriptoria Medii Aevi Helvetica. Denkmäler schweizerischer Schreibkunst des Mittelalters. Bd. 3. Schreibschulen der Diözese Konstanz. St. Gallen II. Genf. Bruckner, Albert (1940), Scriptoria Medii Aevi Helvetica. Denkmäler schweizerischer Schreibkunst des Mittelalters. Bd. 4. Schreibschulen der Diözese Konstanz. Stadt und Landschaft Zürich. Genf. Chroust, Anton (Hrsg.) (1904), Monumenta Palaeographica. Denkmäler der Schreibkunst des Mittelalters. I. Serie. Lieferung 16. München, Tafel 6 und die entsprechenden Texte. Cinato, Franck (2009), Les gloses carolingiennes à l’Ars Prisciani : méthode d’analyse. In: Marc Baratin, Bernard Colombat, Louis Holtz (Hrsg.), avec la collaboration éditoriale de Christine Melin: Priscien. Transmission et refondation de la grammaire, de l’antiquité aux modernes: état des recherches à la suite du colloque international de Lyon, 10–14 octobre 2006. (Studia Artistarum 21) Turnhout, 429–444. Dümmler, Ernst (1869), Ekkehart von St. Gallen. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 14, N.F. 2, 1–73. Duft, Johannes (1985), Ekkehardus – Ekkehart. Wie Ekkehart IV. seinen Namen geschrieben hat. Adolf Reinle, Ludwig Schmugge, Peter Stotz (Hrsg.): Variorum munera florum. Latinität als prägende Kraft mittelalterlicher Kultur. Festschrift für Hans F. Haefele zu seinem sechzigsten Geburtstag, Sigmaringen, 83–90. Eder, Christine Elisabeth (1972), Die Schule des Klosters Tegernsee im frühen Mittelalter im Spiegel der Tegernseer Handschriften. (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 83). München. Egli, Johannes (Hrsg.) (1909), Der Liber Benedictionum Ekkeharts IV. nebst den kleineren Dichtungen aus dem Codex Sangallensis 393. (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 31). St. Gallen. Eisenhut, Heidi (2009), Die Glossen Ekkeharts IV. von St. Gallen im Codex Sangallensis 621. (Monasterium Sancti Galli 4). St. Gallen. Elektronische Edition der Glossen: http://orosius.monumenta.ch (Stand 1.01.2014).

Ekkehardus glossator – scribens stilo quoque? | 177

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Sonja Glauch

Ekkehart und die Werküberlieferung Notkers des Deutschen Fast alles, was wir über den St. Galler Lehrer Notker III. als Person wissen, verdankt sich direkt oder indirekt seinem Schüler Ekkehart. Sichtbar wird dies nicht zuletzt an der Häufigkeit, mit der Ekkeharts Name in jeder Handbuchdarstellung Notkers erscheint.1 Das legt die Frage nahe, ob Ekkehart auch in der Verbreitung von Notkers Schriften eine Rolle gespielt habe, ob wir ihn uns mithin als Multiplikator der Schriften seines verehrten Lehrers vorstellen dürfen? Mein Beitrag soll dieser Frage nachgehen. Es liegt in der Natur der Sache, dass der Fragen und Mutmaßungen mehr sein werden als der definitiven Antworten. Der Ausgangspunkt sei kurz umrissen: 1. Berühmt ist Ekkeharts eigenhändiger interlinearer Hinweis auf ein zweizeiliges Autograph Notkers im Orosius-Codex Sang. 621, S. 321: Has duas lineas amandas domnus Notkerus scripsit . Viuat anima eius . in domino. (Abb. 1). Diesen Hinweis dürfte er, wofür die Tintenfarbe und die Schriftgröße sprechen, erst im Alter im Zuge seiner intensiven Korrekturen und Glossierungen des Grundtextes (Orosius’ Historiae adversum paganos) eingetragen haben.2 Den Auftrag zur Überarbeitung hatte er von Notker erhalten, wie er in seiner Subskription zur Glossatur bekundet:

Abb. 1: Cod. Sang. 621, S. 321.

|| 1 Der neueste Übersichtsartikel Glauch 2013. Speziell zu den Lebenszeugnissen über Notker: Hellgardt 2010. 2 Eisenhut 2009, 199.

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Plura in hoc libro fatuitate cuiusdam ut sibi uidebatur [sapientis] male sane asscripta . Domnus Notkerus abradi et utiliora iussit in locis asscribi; Assumptis ergo duobus exemplaribus quae deo dante ualuimus . tanti uiri iudicio fecimus.3

Beide Eintragungen sind der charakteristischen Altershand Ekkeharts zuzuordnen. Bedenkt man, dass dieser bis mindestens ins Jahr 1057 an dem Codex arbeitete,4 spricht aus diesen Vermerken eine anhaltend hohe Wertschätzung seines Lehrers. 2. Heidi Eisenhut hat in ihrer Studie über die Orosius-Glossierung im Detail auf viele Einzelstellen hingewiesen, in denen Ekkehart Begriffe oder Gedanken notiert, die sich auch in Notkers Schriften finden lassen,5 so dass man hier eine Wirkung des Lehrers auf den Schüler unterstellen kann. An einzelnen Stellen ist „direkt zu belegen, dass der Schüler Ekkehart wiedergab, was er einst im Unterricht erworben hatte“. Entsprechendes gilt für Ekkeharts Praxis, lateinische Texte im Zuge seiner Glossierungsarbeit vereinzelt mit syntaktischen Lesehilfen in Form von Hinweisen wie suspensio, demissio zu versehen. Diese Praxis ist laut Anna Grotans womöglich „unique to St. Gall“6; vor Ekkehart hatte Notker sie eingesetzt und in dem sog. St. Galler Traktat beschrieben.7 Natürlich muss man in Rechnung stellen, dass manche Referenzen auf Standardwissen der monastischen Gelehrsamkeit verweisen und den allgemeinen sanktgallischen Usus der schulischen Textarbeit reflektieren können. Nicht jede Übereinstimmung muss immer gleich eine Erinnerung an Notkers Unterricht sein. Soviel ist dennoch klar: Ekkehart stellt sich in eine Tradition und artikuliert seine Wertschätzung für diese Tradition; und gerichtet scheint diese Wertschätzung sowohl auf die Person des Lehrers wie auf die Inhalte von dessen Lehre. 3. Notker hatte Schulaufgaben Ekkeharts auf Pergamentblätter abschreiben lassen und verwahrt, die Ekkehart später, d.h. wohl nach Notkers Tod, in dessen Unterlagen wiederfand.8 Dass er sie an sich nahm, ist insofern wahrscheinlich, als er solche Schuldichtungen in seinen Liber Benedictionum einfließen ließ. Das impliziert, dass Ekkehart derjenige war – oder einer derjenigen –, die 1022 oder wenige Jahre später Notkers Nachlass durchsahen. Hinsichtlich des Umfangs und Inhalts von Notkers cartae gibt es meines Wissens sonst keinerlei Indizien.

|| 3 Cod. Sang. 621, S. 351. Vgl. auch Eisenhut 2009, 231 und Abb. auf S. 401. 4 Ebd., 209. 5 Ebd., z.B. 323–332, 334–336, 346f., 384 und vgl. den Registereintrag zu Notker III.; das Zitat 326. 6 Grotans 2006, 235. 7 Ausführlich Grotans 2006, 179–197, 226–233. Die Zuschreibung des Traktats an Notker beruht auf Indizien, sie ist aufgrund der Überlieferungsgemeinschaft in beiden Handschriften, der Quellenbenutzung und des Stils aber hochwahrscheinlich, vgl. Tax 2002, 411–441. 8 Dictamen debitum magistro. hoc et cetera quę scripsi, ipse scribi iussit in cartis suis, in quibus ea post inueniens in hac sceda pro locis ascripsi, ut iuuenes nostros in id ipsum adortarier; Liber Benedictionum/Egli 1909, 279 (Cod. Sang. 393, S. 184).

Ekkehart und die Werküberlieferung Notkers des Deutschen | 181

4. Gewöhnlich geht man davon aus, dass die erhaltenen Abschriften der Werke Notkers erst nach dessen Tod angefertigt wurden.9 Unter wessen Aufsicht? War da also ein Nachlassverwalter, der für Reinschriften sorgte? Wer kann das gewesen sein? Hier ist wieder ein Faktum anzuführen, auf das Anna Grotans aufmerksam gemacht hat: Die oben erwähnten syntaktischen Gliederungs- und Lesehilfen, die nur sehr sporadisch in Notkers Übersetzungswerken auftreten,10 sind in den Handschriften fast immer in den Text eingebettet, nur einmal (Cod. Sang. 872, S. 80) sind sie interlinear nachgetragen.11 „It is likely that in this case the voice cues were not in the original, since it is highly doubtful that a scribe would forget to copy them three times (and thus have had to add them in the margin [genauer: interlinear, S.G.] later).“ Dies führt Grotans zu der Vermutung, „the occasional voice instruction could have been added at a later date – either as a gloss or integrated into the text – when Notker’s texts were copied, perhaps under Ekkehard’s guidance.“ Denkbar wäre freilich auch, dass diese syntaktischen Hinweise in den Vorlagenexemplaren generell nur interlinear eingetragen waren und bei der Abschrift in den laufenden Text einbezogen werden sollten, was meist gelang, aber vom Schreiber an einer Stelle übersehen wurde. Diese Ausgangslage lässt spontan die Vermutung aufkommen, am ehesten könne da wohl Ekkehart eine Rolle gespielt haben. Diese Vermutung verschwistert sich dann sogleich mit der älteren Vermutung vor allem Stefan Sondereggers, Ekkehart sei der Glossator von Notkers Psalter gewesen,12 auch dies eine Art von Nachlassbetreuung. Diesen Vermutungen soll der folgende Beitrag nachgehen.

|| 9 Da die Handschriften selbst nicht so genau (vor oder nach 1022) datiert werden können, sind es eher sekundäre Argumente, die ins Feld geführt wurden, so insbesondere die unterschiedliche Genauigkeit, mit der die Schreiber die Notkersche Orthographie (Akzentuierung und Anlautgesetz) für das Althochdeutsche befolgten. Über die Konsequenz und Strenge, mit der unter Notkers persönlicher Aufsicht gearbeitet worden sein würde, wissen wir aber nichts. Tax setzt sie sicher mit Recht eher gering an: „Mir scheint also, daß Notkers Haltung den Schreibern gegenüber pragmatisch und duldsam war [...] es ist anzunehmen, daß der benignissimus magister der weniger idealen Wiedergabe seiner deutschen Texte ein großes Verständnis entgegengebracht hat“, Notker der Deutsche, Consolatio/Tax 1986 [= Nb], LIV–LV. Über das Verdikt, die Notker-Handschriften seien sämtlich nach dem Tod des Verfassers angefertigt worden, muss deshalb wohl neu nachgedacht werden. Klar ist nur: es tauchen einzelne Hände in mehreren Codices auf. Das dürfte dafür sprechen, dass die zentralen Notker-Codices (Cod. Sang. 242, 818, 825, 872, Cod. Zürich C 98, C 121) in einem überschaubaren Zeitraum von maximal vielleicht 10, 15 Jahren hergestellt wurden. Aber auch wenn Notker zu diesem Zeitpunkt noch lebte, ist es womöglich eher unwahrscheinlich, dass er im hohen Alter selbst noch Aufsicht über die Arbeiten führte. So wird man in jedem Fall eine mit dem Werk vertraute Person als Schriftleiter des Projekts ‚Reinschriften der Notker-Übersetzungen für die eigene Bibliothek‘ vermuten dürfen. 10 Übersicht Grotans 2006, 228, Anm. 107. 11 Grotans 2006, 231; die folgenden beiden Zitate 233 und Anm. 120. 12 Sonderegger 1970, 113–123.

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Die Lage ist auch seit einigen Jahren eine leicht veränderte: Denn seit Petrus Tax es wahrscheinlich gemacht hat, dass Notker auch der Verfasser von drei größeren rein lateinischen Schriften zur Rhetorik und Dialektik war,13 ist Notkers Werk sozusagen gewachsen, und diese Werke könnten den Interessen Ekkeharts eher entsprochen haben als die Übersetzungswerke. Darüber hinaus hat man jetzt aufgrund des Projekts e-codices – Virtual Manuscript Library of Switzerland (www.ecodices.unifr.ch/) auf einen großen Teil der sanktgallischen Handschriften digitalen Zugriff. Das scheint die beste Ausgangslage, um nach Berührungen zwischen Notker und Ekkehart direkt in den Handschriften zu suchen. Ich habe mich nur im Bereich der sogenannten kleineren Schriften Notkers umgetan, und ich muss wohl vorausschicken, dass meine Ergebnisse weder in Zahl noch in Bedeutung dem entsprechen, was ich mir erhofft hatte.

1 Kurze Darstellung von Notkers Werk Tab. 1: Überblick über die Überlieferung von Notkers Werk 1.

‚Große Übersetzungen‘ (lat.–ahd.) Boethius, Consolatio

1 Hs. + 1 Exzerpt, frühes 11. Jh., StG

Martianus Capella

1 Hs., frühes 11. Jh., StG

Aristoteles, Kategoriai

2 Hss., frühes 11. Jh., StG

Aristoteles, Peri hermeneieas

1 Hs., frühes 11. Jh., StG

Psalter Hiob

1 Hs., 12. Jh, Einsiedeln + Fragmente von ca. 11 Hss. + spätere Überarbeitungen –

Principia arithmeticae (?)



Boethius, De sancta trinitate (?)



2. ‚Kleine Schriften‘ (meist lat., teilw. mit geringeren ahd. Anteilen) Distributio omnium specierum nominum inter cathegorias Aristotelis Quomodo VII circumstantie rerum in legendo ordinande sint De arte rhetorica

Z, G + 4 Hss. 11./12. Jh. Z, G, G* D*, H, G + 2 in Bibliothekskatalogen nachgewiesene lothr./frz. Hss.

|| 13 Tax 2002. Die Distributio omnium specierum nominum inter cathegorias Aristotelis, der Traktat Quomodo VII circumstantie rerum in legendo ordinande sint und De dialectica sind in Notker der Deutsche, Die kleineren Schriften/King/Tax 1996 ediert [= Nkl]; Notker Latinus, Die kleineren Schriften, King/Tax 2003 [=NklLat].

Ekkehart und die Werküberlieferung Notkers des Deutschen | 183

2. ‚Kleine Schriften‘ (meist lat., teilw. mit geringeren ahd. Anteilen) De partibus logicae

D, G, H*, E*, F*, Exzerpte in 2 Hss.

De dialectica

Z, S2, G

De syllogismis

D

De definitione

E*, D*

Computus (lat.)

1 Hss. 11. Jh. StG, 4 Hss. 11./12. Jh. + 2 in Bibliothekskatalogen nachgewiesene lothr./frz. Hss. 1 Hs. frühes 11. Jh. (Isny)

Computus (ahd.)

F, 4 Hss. 11./12. Jh. aus Tegernsee, Merseburg, Regensburg, Augsburg G

De musica (ahd.) Notkers Brief

Legende:

Z = Zürich C 98, 11. Jh., aus St. Gallen D = Zürich C 121, 11. Jh., aus St. Gallen E = Wien, pal. lat. 275, 11. Jh. F = Cod. Sang. 242, 11. Jh. G = Brüssel, Kgl. Bibl., cod. 10615–10729, 12. Jh. H = München, clm 4621, 11. Jh., aus Benediktbeuern S2 = Cod. Sang. 820, 11. Jh. Unterstrichen: Hausüberlieferung Fett: Ahd. Bestandteile * = Unvollständige Textzeugen

Zunächst ein paar Sätze zu Notkers Werk. In Tabelle 1 sind einige Angaben vor allem zur Überlieferung zusammengestellt.14 Eine erste Gruppe bilden die Übersetzungsbearbeitungen von Texten, die Lektüre im Schulunterricht waren, sozusagen Primärliteratur darstellten. In der Textgestalt sind sie sich alle sehr ähnlich mit ihrer Segmentierung des Ausgangstextes, der satzweisen lateinischen Wiedergabe + Übersetzung ins Althochdeutsche + Kommentierung. Wie man sehen kann, ist die Überlieferung dieser Bearbeitungen mit Ausnahme des Psalters sehr schmal; einige sind ganz verloren, die Mehrzahl ist in einem einzigen und zwar Sanktgaller Exemplar erhalten. Die Handschriften von Consolatio, Martianus Capella und Aristoteles liegen zeitlich recht nah beieinander, es gibt auch einige Überschneidungen in den Schreiberhänden.15

|| 14 Zur Überlieferung der einzelnen Werke vgl. Glauch 2013, dort ist auch weitere Literatur verzeichnet. Dokumentiert ist die Überlieferung auch ausführlich in der Textausgabe von King/Tax 1996. 15 Eine skrupulöse Übersicht über die Schreiberhände bietet Grotans 2000, 101–117.

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Anders sieht es bei den kleineren Schulschriften aus, die man eher als Sekundärliteratur beschreiben kann und die sich in ihrer sprachlichen Gestalt sehr unterscheiden; von rein lateinischen bis rein althochdeutschen Texten ist alles dabei. Auch das Darstellungslevel reicht von Einführung und Überblick bis zu anspruchsvoller Problemdiskussion. Die Überlieferung hat auch hier ihr Zentrum im St. Gallen des frühen 11. Jahrhunderts, reicht aber auch darüber hinaus. Die weiteste Verbreitung fanden der lateinische Computus, die althochdeutsche De Musica und die konzise Übersicht über die Inhalte der aristotelischen Logik-Schriften, De partibus logicae.

2 Redaktionelle Überarbeitung von De partibus logicae? Zunächst sei einer Vermutung nachgegangen, die Petrus Tax hinsichtlich De partibus logicae [Nl] geäußert hat: „Der N[otker] L[atinus] zu 193,2–6 legt nahe, dass Ekkehart IV. bei der Zusammenstellung oder Redaktion des St. Galler Textes eine Rolle gespielt hat.“16 Notkers De partibus logicae bietet einen knappen und elementaren Abriss der Dialektik; besonderes Augenmerk liegt auf den sechzehn loci argumentorum der Topik, die mit lateinischen Zitaten und althochdeutschen Sprichwörtern exemplifiziert werden. Dieser Schultext wirkt im Vergleich mit Notkers sonstigen Schriften zur Rhetorik und Dialektik eigentümlich, weil er teils in FrageAntwort-Form verfasst ist, was nicht Notkers sonstiger Darstellungsweise entspricht. Auch die Gliederung durch Überschriften, wie Notker sie immer praktiziert, fehlt. Tax äußert deshalb die Vermutung, es könne eine rein lateinische Version in St. Gallen existiert haben oder dorthin gebracht worden sein, die dann zu oder nach Notkers Zeit um die deutschen Beispiele vermehrt wurde. „Falls Nl als eine Art St. Galler Schularbeit betrachtet werden kann, könnte man sich vorstellen, dass sie unter Ekkehart IV., der ja mit Notkers Werk wie auch mit dessen Quellenmaterial innig vertraut war und ihm wohl kurz nach 1031 als Klosterlehrer nachfolgte, angefertigt wurde.“17

|| 16 King/Tax 2003, NklLat, 117. Konkret geht es hier um folgende Stelle: [Argumentum] A dissimili. Non si holeribus (Gemüse) uesci licet propterea ellebore (Nieswurz) aut cicuta (Schierling) herbis uenenosis uesci oportet. Differt namque multum inter hortulanas et agrestes Nec sic alea (Würfel) sicut trocho (Spielreif) ludendum est. Dissimilis est enim simplex et contentiosus ludus (Nl 193,3–6). Ob allerdings wirklich der von Tax angeführte „nicht unverwandte“ Passus aus Ekkeharts Benedictiones ad mensas (Liber Benedictionum/Egli 1909 308,205–309,209) als Indiz für Ekkeharts redaktionelles Eingreifen gelten kann, lasse ich einmal dahingestellt. 17 Tax 1996, Nkl, LXXII.

Ekkehart und die Werküberlieferung Notkers des Deutschen | 185

Ein Argument ist für Tax besonders die gereimte Form eines der lateinischen Beispiele,18 des argumentum a comparacione bzw. a pari: A pari . ut apostolus ait. Quoniam qui talia agunt digni sunt morte. Et non solum qui faciunt . sed et qui consentiunt facientibus Item Merito diues ille guttam aquae non impetrauit . qui micas panis lazaro negauit. bilo tûo bezzeres né-wâne. (Nl 194,13–18.)

Die beiden Beispiele ab item tauchen in derselben Kombination in Notkers Consolatio-Übersetzung auf; im Kontext der Frage, was der Begriff moralitas bedeute und inwiefern er auch Gottes Handeln zukomme, bringt Notker am Ende des 4. Buches der Consolatio den Hinweis: Álso beatus gregorius moraliter mánôt . an sînero omelia . dáz kót témo neuuólta gében guttam aquę . tér demo ármen negáb micam panis. Fóne díu chád ter saluator. Eadem mensura qua mensi fueritis . remetietur uobis . Témo gehíllet táz prouerbium. Úbele tûo . bézeren neuuâne. (Nb 231,6–9) („Wie auch der selige Gregorius in seiner Homilie als moraliter anführt, dass Gott demjenigen einen Tropfen Wasser nicht gewähren wollte, der dem Armen kein Bröckchen Brot gab. Deshalb sagte der Heiland: Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden. Damit stimmt das Sprichwort überein: Handle schlecht, erhoffe dir nichts Besseres.“)

Das macht nun tatsächlich den Eindruck, als sei Notkers Consolatio der gebende und der Logik-Traktat der nehmende Part. Aber ob die Umwandlung des GregoriusZitats19 in eine prägnante gereimte Form (immerhin führt Notker in der BoethiusBearbeitung die Stelle auf Althochdeutsch an, so dass man ihr nicht entnehmen kann, ob auch Notker sie in der reimenden Form kannte, was ja möglich wäre) wirklich ein Indiz für die Beteiligung Ekkeharts darstellt, scheint mir doch zweifelhaft. Ich bin fast sicher, dass man eine Quelle für diese sprachliche Formung finden wird, wenn man sie suchte. Der Satz aus der Gregorius-Homilie ist für den Text einer Antiphon genutzt worden, die auch in St. Gallen um 1000 im Hartker-Antiphonar überliefert ist: Dives ille guttam aque petiit qui micas panis Lazaro negavit (CAO 2258; Cod. Sang. 391, S. 232). Das Zitat in Notkers De partibus logicae steht in seiner Formulierung dieser Antiphon deutlich näher als der Homilie, dem Ursprungstext. Darüber hinaus lässt sich eine Version des Satzes mit dem Reim impetravit : negavit auch in viel späterem Schrifttum nachweisen, was ich als ein Indiz verstehen möchte, dass diese Reimversion auch einen anderen Ursprung als bei Ekkehart bzw. in

|| 18 Tax 1996, Nkl, LXVf. mit Anm. 5: „Doch könnte Notker der Verfasser beider Texte [Nb und Nl] sein. Allerdings ist Notker im Gegensatz zu anderen St. Galler Schriftstellern nicht dafür bekannt, daß er sein Quellenmaterial in Reime bringt.“ 19 Gregorius Magnus, XL Homiliae in evangelia, 40, 5 (Migne Patrologia Latina 76, 1306f.): Dives enim iste qui vulnerato pauperi mensae suae vel minima dare noluit, in inferno positus, usque ad minima quaerenda pervenit. Nam guttam aquae petivit, qui micas panis negavit.

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St. Gallen haben könnte: Juste guttam aquam petiit nec impetravit, qui micam panis Lazaro negavit.20

3 Überlieferungswege aus St. Gallen hinaus Wie zuerst Ernst Hellgardt gebührend hervorgehoben hat, zeichnet sich in der Überlieferung der ‚kleinen‘ Artes-Schriften ein westdeutsch-lothringisch-französischer Überlieferungsstrang ab,21 der schon deswegen bedeutsam ist, weil er auch den Verfassernamen Notker mittradiert, was sonst fast nirgends der Fall ist. Es geht zum einen um den Codex Brüssel, Kgl. Bibl., 10615–10729 (G) aus St. Eucharius-Matthias in Trier, und zum anderen um zwei Einträge in Bibliothekskatalogen, einmal im Kloster St. Symphorian in Metz, wo im 11. Jahrhundert ein/das Excerptum Notgeri de retorica. Compotus Notgeri. nachgewiesen ist, und in der Zisterzienserabtei Pontigny in der Champagne, wo angeblich noch im 17. Jahrhundert dieselben beiden Texte vorhanden waren.22 Und zuletzt wird man die erhaltenen Abschriften der Distributio in Codices in Rouen, Paris und Rom zu diesem Strang rechnen dürfen. Deren Herkunft ist nicht genau ermittelt; die vatikanische Handschrift soll in Fleury Mitte des 11. Jahrhunderts geschrieben sein, die Pariser Handschrift zeigt Echternacher und Lütticher Hände um 1100. Einige dieser Exemplare hängen sicherlich genetisch miteinander zusammen. Rhetorik und Computus sind zweimal gemeinschaftlich genannt, übrigens auffälligerweise auch in Notkers Brief gemeinschaftlich genannt (darauf hat schon Hellgardt 1979 hingewiesen). Auch die Betitelung excerptum findet sich in Metz ebenso wie in dem ehemals Trierer Codex G. Im Hinblick auf die Abschriften der Distributio hat Tax eine nähere Zusammengehörigkeit von Vaticanus und Rouen ermittelt;23 beide brechen auch fast an derselben Stelle ab, offenbar gehen sie auf eine auch schon unvollständige Vorlage zurück. Auf welchem Weg können nun die Vorlagen in diesen Raum gelangt sein? Echte Anhaltspunkte scheint es nicht zu geben, man ist also wieder auf Vermutungen angewiesen. Eine Richtung, in die man denken kann, ist der Empfänger des Briefes, Bischof Hugo von Sitten oder Sion in der Westschweiz. Notkers Brief bezeugt, dass dieser Mann an Artes-Fachliteratur interessiert war. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er zusammen mit dem Brief einige der Schriften erhielt. Datiert ist der Brief nicht, aber er dürfte im letzten Lebensjahrzehnt Notkers geschrieben worden sein.

|| 20 A Lapide 1697, Kap. 21. 21 Hellgardt 1979. 22 King/Tax 1996, Nkl, LIIf. und CVI. 23 King/Tax 1996, Nkl, XXXVII.

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Diese Richtung wäre einmal gründlicher nachzuverfolgen; da es hier um Ekkehart geht, jedoch nicht hier und heute. Ekkehart hatte Verbindungen nach Trier. Die Gesänge auf den hl. Remaclus und den hl. Maximin in seinem Liber Benedictionum würdigen zwei Wirkungsstätten seines Freundes Johannes, dem die ganze Sammlung gewidmet ist. Johannes war Mönch in Stablo gewesen und war Diakon in St. Maximin in Trier, als Ekkehart ihn wohl während seiner Mainzer Zeit kennenlernte, und er war später, genauer bis 1035, Abt dort.24 Ein Bücheraustausch ist aber nur in der umgekehrten Richtung belegt; die St. Galler Bibliothek besitzt mit dem Cod. Sang. 830 mindestens ein Exemplar, das Ekkehart intensiv benutzt hat und das in Mainz in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts geschrieben sein soll.25 Aber da die Mainzer Buchbestände sehr fragmentarisch erhalten und kaum erschließbar sind, sagt das nicht unbedingt viel darüber aus, wie stark sanktgallische Texte in Mainz rezipiert worden sind und ob Ekkehart dabei eine Rolle gespielt hat. Sieht man sich nun die Textensembles in den Notker-Handschriften näher an (vgl. Tab. 2), dann ergeben sich für mich keine klaren Indizien für irgendwelche Abhängigkeiten untereinander. Der Metzer Codex scheint dem ehemals St. Galler Cod. Zürich C 121 (D) am ehesten zu ähneln, weil die Überschrift Quis sit dialecticus in beiden Manuskripten vorkommt und man in diesem Kontext auch die abschließende Pars quaedam de philosophia als Pendant zu De difinitione philosophiae (D, Bl. 55v–58v) betrachten könnte. Überhaupt ist der Codex C 121 im Hinblick auf Texttransfer vielleicht interessant. Er enthält die einzige Abschrift von De syllogismis. Das ist eine lateinischalthochdeutsche Abhandlung, die ein rein lateinisches Gegenstück in De dialectica besitzt. Petrus Tax hat eine Erklärung für dieses scheinbare Duplikat vorgeschlagen: mit seinen teils recht weltlichen Beispielen und seinen uulgares syllogismi (Syllogismen des Volkes) könnte die Schrift für die äußere Schule bestimmt gewesen sein, Tax meint: vor allem für Laien, d.h. für künftige Richter, Rechtsanwälte oder Verwalter.26 Vom Charakter der Darstellung her schließt De partibus logicae als weiterer Bestandteil des Codex sich hieran schön an.

|| 24 Dümmler 1869, 4f. 25 Vollständiges Digitalisat und Beschreibungen unter http://www.e-codices.unifr.ch/en/list/one/ csg/0830. 26 King/Tax 2003, NklLat, 141f.

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Tab. 2: Sammelhandschriften mit sanktgallischer/Notkerscher Artes-Literatur (die sicher oder vermutlich Notker zuzuschreibenden Texte sind fettgedruckt) Metz (in einem Katalog

G = Brüssel, Kgl. Bibl.,

des 11. Jhs. nachgewiesen) cod. 10615–10729

Z = Zürich C 98

D = Zürich C 121

von ca. 5 sanktgallischen

von ca. 7 meist sanktgalli-

Händen

schen Händen De syllogismis

Commenta Boethii in

Notkers Brief

Distributio

Perihermeniis

Excerptum rhetorice

De Dialectica

O sator terrarum celique

libellus de disputatione:

Notkeri magistri

Quomodo VII

= Nb, IIIm9

Quis sit dyalecticus

Quomodo VII

circumstantie

De partibus logicae

Excerptum Notgeri de

circumstantie

Comparatiuum est quod

Quis sit dialecticus

retorica

De natura quid sit

significat …

De definitione

De astronomia libri II

(Stücke aus dem 5.

philosophiae

Compotus Notgeri

Opusculum theol. des

De principalibus

Pars quaedam de

Boethius; Dicta V/VI

questionibus

philosophia

des Candidus)

(Auszug aus dem

Brief eines L. an Dominus I.

Vorhergehenden)

De Dialectica

De materia artis

Quomodo VII circumstantie

rhetorice (Auszüge)

(Anf.)

Fragment/Exzerpt aus

De partibus logicae

Cic. De Inv. I 34–36

Distributio

S2 = Cod. Sang. 820 Boethius, Commentum in periermenias Aristotelis, Buch I De Dialectica (Ekkeh.Korr. S. 60–62?) Cicero, De inventione

Neben diesen beiden Schriften zur Dialektik enthält C 121 vorwiegend Exzerpte (so einen Abschnitt aus der Consolatio-Übersetzung), Teile der Rhetorik Notkers und ein Cicero-Exzerpt, und kleinere lateinische Kapitel, die durcheinandergewürfelt erscheinen (die Überschriften passen nicht zum Inhalt, einige Textstrecken kommen doppelt und dreifach vor). In all diesem unterscheidet der Codex sich deutlich von Zürich C 98 und Cod. Sang. 820. Aber in noch etwas anderem, nämlich den Schreiberhänden. In C 121 schreiben sanktgallische Hände die ersten beiden Texte, unter den drei folgenden Händen wirken zwei unsanktgallisch und tauchen im Umfeld der Notker-Handschriften sonst nicht auf.27 Ich meine deshalb, dass die Handschrift in St. Gallen entstanden ist, aber wo finden wir dort eine ganze Reihe von geübten, || 27 Vollständiges Digitalisat und Beschreibungen unter http://www.e-codices.unifr.ch/en/list/one/ zbz/C0121. Auf Bl. 51v,15–55v,9 und 59r–72ar schreiben zwei Hände, die ich im Gegensatz zu denen der Blätter 28r–51v,14 und 55v,11–58v nicht für sanktgallisch halte. Dieselbe Einschätzung haben schon Grotans 2006, 111, und Tax 1996, Nkl, LXVII, vertreten.

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nichtsanktgallischen Schreiberhänden? Vielleicht doch in der Schule, insofern sie auch Schüler von außerhalb unterrichtete? Ich weiß nicht, ob zukünftige Weltgeistliche zur inneren Schule zugelassen waren, aber ich muss daran denken, was Ekkehart über den Ingelheimer Auftritt dreier Bischöfe berichtet, die in St. Gallen ausgebildet worden seien.28 Auch bei jungen Männern, die auf ein Bischofsamt hin studierten, ist ein Interesse am Recht und der Rechtsprechung ja natürlich. Wäre es nicht denkbar, dass der Cod. C 121 mit seinem spezifischen Textensemble eine Art Auswahlredaktion aus Notkers Schriften für externe scholastici darstellt, hergestellt von solchen scholastici selbst? Dazu würde auch passen, dass die althochdeutschen Textpartien in Graphie und Akzentuierung von Notkers sonstigem Usus recht weit entfernt sind. Eine solche Handschrift wäre dann wohl auch prädestiniert dafür, im Gepäck eines dieser künftigen Bischöfe mitgenommen zu werden und auf diese Weise an den Rhein und wohin auch immer zu gelangen. Wie schon gesagt, der Inhalt der Metzer Handschrift ähnelt dem Cod. C 121 mehr als den anderen NotkerSammlungen. Die Metzer Handschrift oder ihre Vorlage könnte auf diesem Weg aus dem Kloster St. Gallen gewandert sein, während C 121 dort blieb, aber offenkundig nicht viel benutzt wurde.

4 Der Fall des Cod. Sang. 820 Der Codex Sangallensis 820 besteht aus zwei Teilen.29 Der zweite, umfangreichere Teil (S. 63–176 mit Lagennummern von I–VII) enthält Ciceros De inventione und könnte von Notker benutzt worden sein. Man hat auch mehrfach versucht, Notkers Hand in einigen Randnotizen und den sechs althochdeutschen Glossen in der Cicero-Abschrift zu identifizieren.30 Wann der erste Teil (S. 1–62) damit zusammengebunden wurde, ist vermutlich nicht zu bestimmen. Dieser Teil ist zweispaltig geschrieben und umfasst zunächst (S. 2–51a) vom Perihermeneias-Kommentar des Boethius das erste Buch, geschrieben laut Bruckner31 im neunten und zehnten Jahrhundert, und dann, beginnend in derselben Lage, in welcher der BoethiusKommentar schließt, Notkers De dialectica, geschrieben von sechs verschiedenen

|| 28 Casus sancti Galli/Haefele 2002, Kap. 66. 29 Vollständiges Digitalisat und Beschreibungen unter http://www.e-codices.unifr.ch/en/list/one/ csg/0820. 30 Paläographisch spricht m. E. nichts dafür. Die ahd. Glossen auf S. 136/137 sind zuerst von Sonderegger 1971, 125–129, Notker zugeschrieben worden; King 2003, NklLat, 49, schließt sich an und macht auf die 18 aus Victorinus’ Kommentar stammenden Randglossen aufmerksam, die seines Erachtens ebenfalls von Notker eingetragen worden sein könnten; vgl. zuletzt zustimmend Bergmann/Stricker 2005, 558 („wohl von der Hand Notkers III.“), und ablehnend Eisenhut 2009, 202. 31 Bruckner 1936, 117–118.

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Händen, eine davon tritt nach meiner Einschätzung auch in C 98 auf (S. 56b–59b = C 98, f. 1–16).

Abb. 2: St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. Sang. 820, S. 58 (Notkers De dialectica).

Am Ende des vorletzten Abschnittes des Textes über die zweite Analytik (S. 58) hat ein Korrektor das Fehlen eines Textstückes moniert: Hanc notulam quere in quarta columna (Abb. 2). Am Ende, auf neuer Seite, ist das Stück von einer anderen Hand nachgetragen (Abb. 3). Wenn ich mir die drei Seiten anschaue, die der Nachtrag umfasst (S. 60–62), dann sehe ich dort eine weitere Korrektorenhand, die zuvor nicht in Erscheinung getreten war. Dieser Korrektor verwendet eine leicht hellere Tinte, er verbessert die sprichwörtliche Wendung ubi oculus, ibi amor, unten auf der Seite korrigiert er dum zu cum, jeweils mit einem N am Rand markiert, und er präzisiert die Interpunktion, indem er überall Schrägstriche auf oder einen Haken unter einfache Punkte setzt.32 Ich denke, dass dies alles nur zu deutlich nach Ekkehart aussieht, allerdings doch wohl eher in seinen späten Jahren.33

|| 32 Vgl. auch die Beschreibung der neuen Interpunktion bei Tax 1996, Nkl, LXXXIV, der jedoch nicht auf die Ähnlichkeit der Korrektur mit Ekkeharts sonstiger Praxis hinweist. 33 Zum Vergleich könnte man Cod. Sang. 280 (Florus von Lyon, Collectanea ex Augustino in epistolas Pauli, Ende 9. Jh.) heranziehen, in dem Ekkehart mit derselben rötlichbraunen Tinte, in der er auch den Text verbessert und annotiert, die Interpunktion überarbeitet, Glauch 2013b, Anm. 17. Die Handschriften, in denen Ekkehart sich in dieser Weise betätigt, sind zahlreich, vgl. Grotans 2006, 236.

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Abb. 3: St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. Sang. 820, S. 60 (Notkers De dialectica mit Ekkeharts Korrekturen)

Was das textgeschichtlich bedeutet, ist nicht leicht zu durchschauen. Warum hat Ekkehart allein den Nachtrag korrigiert? Hat er ihn eventuell auch erst veranlasst? Aber es gibt Indizien dafür, dass eine längere Zeit zwischen Nachtrag und Korrektur lagen. Denn wir haben von De dialectica zwei weitere Abschriften, in C 98 und im

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späten Brüsseler Codex. Die lange Interpolation ist dort in beiden Fällen integraler Teil des Traktates, aber m i t den von Ekkehart inkriminierten und für verbesserungswürdig befundenen Lesarten. Damit fallen zwei mögliche Erklärungen aus: es wäre ja denkbar gewesen, dass der Nachtrag von Ekkehart stammt, er ihn in dem Codex von einem Schreiber ergänzen ließ und ihn dann noch eigenhändig redigierte, aber dann wäre er in die anderen Textfassungen entweder gar nicht oder aber in der redigierten Fassung eingegangen. Oder Ekkehart hätte derjenige sein können, dem die Abweichung zweier Textversionen auffiel, der das Fehlende aus einem anderen Codex kopieren und nachtragen ließ und es dann noch einmal eigenhändig nach der Vorlage redigierte. Aber auch dann sollten die anderen Überlieferungen von De dialectica den Wortlaut der Endfassung n a c h der Korrektur aufweisen. Um Genaueres über den Status des interpolierten Abschnittes sagen zu können, müsste man dem Vergleich der drei Abschriften eine tiefergehende Analyse widmen, als hier möglich ist; Tax hat darauf hingewiesen, dass zwischen der Fassung in Cod. Sang. 820 (S2) und den beiden anderen (Z, G) größere Differenzen am Textende und in der Terminologie der Syllogismen bestehen, und zwar derart, dass Z und G die sonstige Notkersche Begrifflichkeit vertreten, Cod. Sang. 820 von ihr aber abweicht. Genauer gesagt: In Z wird [...] in Übereinstimmung mit Notkers anderweitigen Auffassungen über die aristotelische Logik ausgeführt, daß in der Zweiten Analytik (Abschnitt 12) die notwendigen oder apodiktischen bzw. prädikativen, das heißt für ihn die kategorischen Syllogismen behandelt werden, in der Topik (Abschnitt 13) dagegen die hypothetischen oder konditionalen. In S2 erscheinen die Inhalte beider Abschnitte vertauscht: In 12 (DE SECUNDIS ANALITICIS) werden die konditionalen, in 13 (DE TOPICIS) die prädikativen (kategorischen) Syllogismen erörtert.34

Kurz gesagt, die Topik und die zweite Analytik tauschen den Inhalt. Tax geht davon aus, dass Cod. Sang. 820 die Umarbeitung – und darüber hinaus eine Verschlimmbesserung – darstellt. Nun steht auch die Interpolation in Cod. Sang. 820 (S2) am Ende des Abschnitts DE SECUNDIS ANALITICIS und direkt vor DE TOPICIS, und sie handelt auch gerade von nomenklatorischen Differenzen und Verschiebungen: Et quia plato et post illum stoici omnem necessariam argumentationem dialecticam uocauerunt . placuit aristoteli translationem huius nominis facere . de necessariis ad probabiles argumentationes. (Ndia 251,3–6) („Während Plato und nach ihm die Stoici jede notwendige Beweisführung Dialektik nannten, schien es Aristoteles angemessen, diesen Begriff von den notwendigen auf die wahrscheinlichen Beweisverfahren zu verschieben.“)

|| 34 Tax 1996, Nkl, LXXXIII.

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Das heißt: die Konkurrenz verschiedener Bezeichnungen wird in dieser Interpolation einlässlich erklärt, und deswegen hielte ich es für möglich, dass die Interpolation, die übrigens einen abgeschlossenen Exkurs bildet und in ihrem gedanklichen Duktus für mich sehr notkerisch klingt, dem Text im Zuge der begrifflichen Umarbeitung inseriert wurde, und dass folglich der unerweiterte Text von S2 die älteste Textfassung darstellt und die Umarbeitung von Cod. Sang. 820 zu C 98 (Z) läuft.35 Das alles erklärt zwar immer noch nicht, weshalb Ekkehart nur die Interpolation redigierte, aber es macht wahrscheinlich, dass es ein Kernstück von Notkers Rekonstruktion der Aristotelischen Logik war, das Ekkehart sich hier vornahm. Und Ekkehart interessierte sich für die Systematik der Aristotelischen Logik, wie man einigen seiner Randglossen im Cod. Sang. 830 entnehmen kann.36 Allerdings, wie schon gesagt, in der weiteren Überlieferung der Notkerischen De dialectica hinterließen Ekkeharts Emendationen keine Spuren, dafür kamen sie offenbar zu spät. Auch das spricht wohl noch einmal dagegen, dass in die Brüsseler Handschrift Vorlagen eingeflossen sind, die letztlich auf den Mainzer Ekkehart zurückgehen.

|| 35 Die Abschrift von De dialectica in C 98 operiert zu Beginn (Nkl 199,11) ebenfalls mit der Reihenfolge dialectica (= Topica) – apodictica (= Secunda Analitica), bevor dies von der Hand eines Korrektors umgestellt wurde. 36 Cod. Sang. 830, S. 408: Secunda Analytica. hi duo qui sequuntur sapiunt libri. Quod opus. Aristoteles Apodicticam nominauit. Cathegoricos in ipsis per se resoluens syllogismos⋅ S. 444: In ultimo operis sui Aristotiles Topica terminauit. In quibus Conditionales syllogismos singulariter docuit. Quod opus per se dialectica nominauit; Cum totum operis sui volumen. Logicam generaliter nominasset; Sed et hi quoque tres qui sequuntur libri. Eius ultimo quoquomodo videntur consentire operi⋅|Topica autem quę Cicero ab ipso et ab aliis elicuit. alia longe res est. quamuis id ipsum portendant; Que item Boetius magnifice absoluit. Sed et Topica Aristotilis transtulit⋅

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5 Ekkehart und die sog. St. Galler Schularbeit

Abb. 4: St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. Sang. 556, S. 400 und S. 401.

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Um zum Schluss noch einen Fund zu präsentieren, einen Fund von der Sorte, von der ich mir zahlreichere erhofft hatte: Ekkehart und die sogenannte St. Galler Schularbeit. Das Textchen, von dem ich spreche, ist kein Werk Notkers, überhaupt ist der Werkbegriff hier so problematisch, wie er nur sein kann.37 Bei der sogenannten St. Galler Schularbeit handelt es sich um eine zweiseitige Aufzeichnung im St. Galler Codex 556, zu datieren wohl ins 11. Jahrhundert, bestehend aus lateinischen Sätzen und Begriffen, teils aus der Bibel, teils aus Lektüretexten wie der Consolatio, im zweiten Teil aus dem kleinen Donat, denen jeweils eine althochdeutsche Wiedergabe nachfolgt, in recht deutlich notkerischer Orthographie und teils auch seiner Übersetzungsweise (Abb. 4). Der Text in Cod. Sang. 556 bricht mit dem Lagenende ab; man kann nur raten, welchen Umfang er ursprünglich hatte. Eine Übersetzungsportion daraus ist auch, von einer anderen Hand, in Zürich Zentralbibl. C 129 (453) auf einer freien Seite eingetragen (Abb. 5a) – der Codex stammt aus St. Gallen und enthält primär ein lateinisches Bibelglossar. Die Hand ist übrigens nach meinem Eindruck identisch mit einer, die in dem rein lateinischen Notkercodex Zürich C 98 geschrieben hat (Abb. 5bc). Steinmeyer hat das Ganze als eine Übersetzungshausaufgabe betrachtet, als ein dictamen diei, das ein eher unbegabter Schüler bearbeitet hätte.38 Ganz so sicher kann ich da nicht sein. So ungeschickt finde ich die Übersetzungen nicht. Ich denke, dass es sich lohnen würde, wenn man noch einmal versuchte, das Fragment im Notker-Kontext zu situieren, zumal nach dem Fund der übereinstimmenden Schreiberhände. Das kann und will ich hier nicht tun, aber hinweisen auf die Berührungspunkte zu Ekkehart. Es sind drei: 1. Die sogenannte Schularbeit enthält eine Erläuterung des Ausdrucks In pasca annotino, der vielleicht aus einem Sakramentar oder dergleichen stammt, wo es oft eine Missa in pascha annotina gibt. Erklärt und übersetzt wird dies hier mit „Osterfest des vergangenen Jahres“: In pasca annotino i. paschale festum prioris anni i. tér férnerigo ôstertág (Schularbeit, Z. 17–19). Hierzu hat Ekkehart eine längere Randglosse eingetragen, in der er für eine andere Bedeutung eintritt: Aliter pascha est Annotinvm Conuentus compatrinorvm ad missas eiusmodi per omnes octauas sabbati sancti i. baptismi per annvm et per ordinem. cuiuscumque cum cęteris conuiuium. Quod uidimus hoc testamur. Presbyter Symbolum super infantem dicit. et mensę participat. Aquam sapientiae. || Pascha prioris anni rememori. neque fidei est. (Cod. Sang. 556, S. 400f., vgl. Abb. 4).

|| 37 Nievergelt 2013, arbeitet jetzt neu die gesamte Forschung auf und gibt zu bedenken (S. 109): „Im Verbund mit Musterbriefen überliefert, kann er aus formalen und inhaltlichen Gründen zwar nicht auch ein Musterbrief sein, doch ist er über den schulischen Kontext mit den Briefformularen verbunden und könnte daher ebenfalls Formularcharakter besitzen, also Übungsvorlage statt selber Übung sein.“ 38 Steinmeyer 1916, 123.

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Ich halte dies sicher für Ekkeharts Hand. Auch Anna Grotans ist zu demselben Urteil gekommen,39 auch wenn die Handschrift in den mir bekannten Listen von EkkehartSpuren noch nicht genannt ist.40

Abb. 5a: Zürich, Zentralbibl., Cod. C 129, Bl. 96v (Satz aus der Schularbeit) Abb. 5b: Zürich, Zentralbibl., Cod. C 98, Bl. 43r Abb. 5c: Zürich, Zentralbibl., Cod. C 98, Bl. 17r.

2. Ein zweiter Begriff aus dem liturgischen Kalender, nämlich ypapanti, also Lichtmess, wird in der Schularbeit ebenfalls glossiert, und zwar als conventus omnium aetatum (Z. 19f.). Das ist wohl nicht die korrekte Etymologie des griechischen Wortes, das „Begegnung“ heißt, und ich habe auch nirgends eine Quelle für diese Etymologie finden können, aber in Ekkeharts Liber Benedictionum ist auch dieses Kirchenfest bei den Benedictiones super lectores dabei, als Nr. 12 (De ypapanti et

|| 39 Grotans 2006, 79, Anm. 154, 140. 40 Eisenhut 2009, 419–424; wenige Ergänzungen Glauch 2013b, 500, Anm. 30.

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purificatione sanctę Marię). Darin finden wir zweimal eine Glosse zum Wort ypapanti, die der in der Schularbeit nicht entspricht, aber ähnelt:41 i. pręsentię omnium

Solis ypapanti lege gaudi voce decenti. (Cod. Sang. 393, S. 42, Z. 5) omnis ętatis. uirginis infantis. senioris. decrepitę.

Solis ypapanti celebremus festa tonanti. (Cod. Sang. 393, S. 43, Z. 17)

Item [= Debitum diei magistro]

Die zweite der Stellen gehört zu einem debitum diei magistro, also einer der poetischen Hausaufgaben, die Notker gestellt hatte. Ich will daraus nicht ableiten, dass der Verfasser der St. Galler Schularbeit oder einer ihrer Verfasser Ekkehart gewesen sei, aber die beiden Zeugnisse stützen sich gegenseitig als Belege von Notkers Praxis, Hausaufgaben zu geben, die den Festkalender reflektieren und die offenbar im einen Fall mit Worterklärungen und -übersetzungen, im anderen Fall mit Versen abgeleistet werden. Man könnte aber auch überlegen, ob die St. Galler Schularbeit insgesamt nicht eher eine Liste von auszuarbeitenden Aufgaben war. Unsicher, was solche Similien eventuell zu besagen haben, macht dann der dritte Berührungspunkt: 3. Die Schularbeit enthält auch die Übersetzung eines Pauluszitats aus dem Hebräerbrief: Fides est sperandarum substantia rerum, argumentum non apparentum. (Hebr. 11,1) Táz chît kuíshéit tére nóh úrôugôn. (Z. 7–10) Vollständiger übersetzt findet sich dieser Textauszug in Cod. Zürich C 129, Bl. 96v (s. oben Abb. 5a): Fides est sperandarum substantia rerum, argumentum non apparentum. Tiu gelóuba ist ter hábit únde daz fánt téro díngo quę sperantur, táz chîd téro man gedíngit, únde geuuíshéit téro nóh úr óugôn. Ekkehart setzt dieses Pauluszitat einmal innerhalb seiner Orosiusglossierung ein: ubi ratiocinatio deficit, fides subuenit. Nisi enim crediderimus, non intellegemus ] quia fides est argumentvm non apparentvm. (Cod. Sang. 621, 224a15, zu Orosius 6,1,5)42

Ist dies zu betrachten als ein zweifacher Reflex von Notkers Unterricht – oder doch nur als sanktgallische Allgemeinbildung? Oder konstituiert das einen Bezug zwischen Ekkehart und der Schularbeit? Am Ende bleibt alles fraglich: wo zwischen Notker und Ekkehart dieses Textchen einzuordnen sei, warum überhaupt es so ordentlich aufgeschrieben wurde, warum Ekkehart im Alter zu dieser Nebensächlichkeit zurückgekehrt ist. War das doch bloß Zufall? Der Codex enthält davor und danach eine Vita Cassiani. Mein Resüme ist kurz und nüchtern, denn viel ist nicht zusammengekommen. Ich würde sogar sagen, dass es weniger ist, als man angesichts der Ausgangslage

|| 41 Vgl. dazu auch den Artikel von Michael Klaper in diesem Band. 42 Dazu Eisenhut 2009, 334–336, jedoch ohne Verweis auf die Schularbeit.

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erwarten könnte. So wären ja Abschriften von Artes-Literatur in Ekkeharts Besitz nichts Sonderbares, aber es gibt keine Indizien dafür, daß er die Artes-Texte seines Lehrers besaß. Auch dass Ekkehart redigierend in die Texte eingegriffen hätte, ist nur in einem Fall evident, dem von De dialectica, wovon aber nichts in der weiteren Überlieferung wirksam wurde. Für eine Mainzer Zwischenstation auf dem Weg der Artes-Schriften nach Lothringen und Frankreich habe ich keine Anhaltspunkte finden können.

6 Literaturverzeichnis A Lapide, Cornelius (1697), Commentaria In Proverbia Salomonis, Antwerpen. Bergmann, Rolf/Stricker, Stefanie (2005), Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften, Bd. II, Berlin. Bruckner, Albert (1936), Scriptoria Medii Aevi Helvetica 2, Schreibschulen der Diözese Konstanz, St. Gallen I, Genf. Casus Sancti Galli (2002), Ekkehardi IV. Casus Sancti Galli. Editionis textum paravit Hans F. Haefele. Ekkehard IV., St. Galler Klostergeschichten. Übersetzt von Hans F. Haefele. Mit einem Nachtrag von Steffen Patzold, 4., erw. Aufl. (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe X), Darmstadt. Dümmler, Ernst (1869), Ekkehart IV von St. Gallen, in: ZfdA 14, 1–73. Eisenhut, Heidi (2009), Die Glossen Ekkeharts IV. von St. Gallen im Codex Sangallensis 621 (Monasterium Sancti Galli 4), St. Gallen. Glauch, Sonja (2013), Notker III. von St. Gallen. In: Rolf Bergmann (Hg.), Althochdeutsche und altsächsische Literatur, Berlin/Boston, 293–315. Glauch, Sonja (2013b), St. Gallen. In: Martin Schubert (Hg.), Schreiborte des Mittelalters. Skriptorien – Werke – Mäzene, Berlin/Boston, 492–512. Gregorius Magnus, XL Homiliae in evangelia, (Migne Patrologia Latina 76). Grotans, Anna A. (2000), The Scribes and Notker Labeo. In: Anna Grotans / Heinrich Beck / Anton Schwob (Hgg.), De Consolatione Philologiae. Studies in Honor of Evelyn S. Firchow, (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 682), Göppingen, 101–117. Grotans, Anna A. (2006), Reading in Medieval St. Gall (Cambridge Studies in Palaeography and Codicology 13), Cambridge. Hellgardt, Ernst (1979), Notkers des Deutschen Brief an Bischof Hugo von Sitten. In: Klaus Grubmüller u.a. (Hgg.), Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft. Fs. Hans Fromm, Tübingen, 169–192. Hellgardt, Ernst (2010), Notker magister nostrę memorię hominum doctissimus et benignissimus. Bemerkungen zu den ältesten Lebenszeugnissen über Notker den Deutschen. In: Stephan Müller/Jens Schneider (Hgg.), Deutsche Texte der Salierzeit – Neuanfänge und Kontinuitäten im 11. Jahrhundert (MittelalterStudien 20), München, 161–203. Liber Benedictionum/Egli (1909), Der Liber Benedictionum Ekkeharts IV. nebst den kleineren Dichtungen aus dem Codex Sangallensis 393. Zum ersten Mal vollständig hg. und erläutert von Johannes Egli (Mitteilung zur Vaterländischen Geschichte XXXI, 4. Folge 1), St. Gallen. Nievergelt, Andreas (2013), St. Galler Schularbeit. In: Rolf Bergmann (Hg.), Althochdeutsche und altsächsische Literatur, Berlin/Boston, 106–113

Ekkehart und die Werküberlieferung Notkers des Deutschen | 199

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Ekkehart IV. als Nachlassverwalter von Texten Notker Labeos? Eine Hypothese anlässlich einer bemerkenswerten Rubrizierung Notker Labeo, der sehr gelehrte und produktive St. Galler Verfasser lateinischdeutscher wie auch lateinischer Schriften, hat gewiss den Schreibern Anweisungen gegeben, wie er seine Texte kopiert haben wollte. Das war schon unumgänglich wegen seines besonderen Systems der Akzentuierung wie der Wiedergabe des Anlauts in seinen lateinisch-deutschen Bearbeitungen des Psalters (Np), der Consolatio Philosophiae des Boethius (Nb), der De nuptiis des Martianus Capella (Nc) usw. Und zumindest der Text von Nb in Cod. Sang. 825 wie etwa auch frühe Handschriften von Notkers Psalter und Computus (Ncom) können durchaus noch unter Notkers eigener Aufsicht kopiert worden sein. Auf jeden Fall zeigen diese frühen Exemplare eine sehr einfache Technik der Rubrizierung: Rot erscheinen nur die lateinischen tituli im Psalter und die zusammenfassenden, von Notker selbst stammenden Überschriften der Abschnitte in Nb und Nc wie in den Artes-Schriften (Categoriae = Nk, De interpretatione = Ni, die Rhetorik = Nr, Ncom); weiter beginnt in Np nur jeder Psalm, jedes Canticum wie auch jeder katechetische Text oder jeder Abschnitt (in Ps. 118 und in Nb, Nk sowie den weiteren Artes-Schriften) mit einer größeren rubrizierten Initiale. Es ist der Forschung nicht entgangen, dass Ekkehart einige Male auf eine ungewöhnliche Weise Texte rubriziert. In ihrer sehr gründlichen und aufschlussreichen Untersuchung von Ekkeharts IV. Glossierung von Orosius’ Historiae aduersum paganos1, die im Cod. Sang. 621 überliefert ist, hat kürzlich Heidi Eisenhut2 auf eine auffällige Rubrizierung in einer Marginalglosse durch Ekkehart IV. aufmerksam gemacht (S. 35a, unterer Rand, der Orosius-Text legt eine Ortsbestimmung [ubi] nahe; Abdruck nach der Handschrift; / = neue Zeile; alles Rote erscheint kursiviert): Nam inter septem quas sic vocant sententiarum / circumstantias UBI . postremvm non est . / E quibus quidam tale Distichon posuit . / Quis Quid Ubi Quando Cur Qui modus. / Unde facultas. / Ex his septenis sententia uim tenet omnis; Ita qu〈i〉dem. Quis. / Ubi. Cur. Facultas. Quando. Quomodo. Syl/la consul Romam Marii causa Cum legionibus Mane prima Facibus accensis Quid. Aggreditur.

|| 1 Siehe das digitalisierte farbige Faksimile dieser Handschrift wie auch der Zürcher Handschrift C 98 online unter CE SG. 2 Eisenhut 2009, 328–330 mit den Anm. 17–27. Sie stellt mit Recht fest: „Ekkeharts Verwendung von roter Tinte in einzelnen Glossen dürfte auf eine besondere Bedeutung oder Hervorhebung der entsprechenden Note hinweisen“ (ebd., 328, Anm. 17).

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Es sei darauf hingewiesen, dass Ekkehart hier in den letzten vier Zeilen eigentlich eine Interlinearglosse innerhalb seiner Randglosse anbringt. Wiederum werden die circumstantiae rubriziert, ja diesmal ganz und sogar zweimal, einmal also als Interlinearglosse (Abb. 1).

Abb. 1: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 621, S. 35.

Hier müssen wir uns auf die Rubrizierung dieser circumstantiae in der St. Galler, aber nicht von Ekkehart geschriebenen, jetzt Zürcher Handschrift C 98 (Z; Anfang 11. Jahrhundert) beschränken, dann seine Vorgehensweise mit der von ihm geschriebenen Glosse zu denselben circumstantiae in Cod. Sang 621 verknüpfen (Rotes wird auch hier kursiviert): Gleich zu Anfang von Ntr werden die circumstantiae aufgeführt: „Quis . Quid . Ubi . Quando . Cur . Quimodus . Unde facultas“.3 Es liegt auf der Hand, dass dies – abgesehen von den rubrizierten Großbuchstaben – die Termini Notkers sind. Er führt sie ebd., 49 = Z39r, etwas variiert nochmals auf: Hoc est quis fecerit . quid . ubi . cur . quando . quomodo . quibus amminiculis . uel qua materia; über quibus [...] materia findet sich von anderer Hand eine Interlinearglosse: .i. Qua facultate, wobei Qua auf Rasur steht. Etwas weiter in Ntr (NkS, 54f. = Z41v und Z42r) analysiert Notker ein Satzgefüge nach den circumstantiae, wobei jede dieser circumstantiae durch eine Interlinearglosse, wiederum mit rubriziertem Anlaut, verdeutlicht wird: „Quis, Quid, Quando, Ubi, Quare. uel Cur, Quomodo, Quibus adminiculis .i. Qua facultate“.4 Einige weitere, später in Ntr begegnende circumstantiae erscheinen nicht mehr

|| 3 NkS, 48 = Z38v; siehe auch das Faksimile, ebd., 47. 4 Ebd., 55 oben.

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rubriziert. Gerade diese Rubrizierungen zu Anfang von Ntr schlagen eine Brücke hinüber zu dem gewiss Ekkehartschen Gebrauch in der oben angeführten Stelle in Cod. Sang. 621. Die circumstantiae waren offensichtlich für Ekkehart wichtig. Es sei noch darauf hingewiesen, dass Notker auch im Ntr mehrere Termini technici (wie colon, comma und periodus, suspensio und depositio) benutzt, sie aber hier (wie auch sonst in seinen Schriften5) nie mit einem rubrizierten Anlaut beginnen lässt, geschweige denn ganz rubriziert. Es hat also allen Anschein, dass diese unnotkersche Rubrizierung nur dieser syntaktischen Terminologie in Notkers Ntr auf Anweisung Ekkeharts erfolgte; damit ist Ekkehart gerade als Glossator irgendwie auch mit diesem Artes-Text Notkers verknüpft6. Falls dies zutrifft, so gibt diese Doppelung zu mehreren Fragen und (leider weithin hypothetischen) Überlegungen Anlass7. Wenn anscheinend Notker die Abschrift von Ntr (wie wohl auch von Ndis und Ndia) Ekkehart überlassen und wohl anvertraut hat, so ist nach dem Grund zu diesem Entschluss zu fragen. Nachdem Notker in seinem Brief an Bischof Hugo von Sitten (Nep) im Detail auf seine lateinisch-deutschen Mischtexte eingegangen ist, fährt er fort: Nec solvm hec sed et nouam rhet[h]oricam et computvm nouum et alia quedam opuscula latina conscripsi.8 Es ist mehr als wahrscheinlich, dass diese opuscula latina auch Ndis, Ntr und Ndia umfassten. Falls aber Nep, wie früher allgemein angenommen, um 1015 geschrieben wurde, hatte Notker zu dieser Zeit das Alter von etwa 65 Jahren erreicht. Das war doch wohl alt genug, um die Redaktion und Niederschrift seiner rein lateinischen Texte, die ohnehin – ungleich seinen Mischtexten – kaum Kopierprobleme boten, anderen vertrauten Händen zu überlassen. Nun hat aber Ernst Hellgardt mit Recht 1015 als Datum von Notkers Brief angezweifelt: Hugo war nicht, wie man irrtümlich geglaubt hat, 1017 gestorben, sondern hat zuletzt 1017 geurkundet und kann leicht noch mehrere Jahre danach gelebt haben; er schlägt also vor, das Datum des Briefes bis 1019/1020 hinaufzurücken.9 Damit würde das Altersargument an Gewicht gewinnen: Notker wäre dann etwa 70 Jahre alt! (Er sollte 2–3 Jahre später das Zeitliche segnen und war um 1020 wohl schon zumindest körperlich geschwächt.) Die Handschrift C 98 (Z) enthält die Texte von drei ganz lateinisch geschriebenen Schriften zu den Artes: die Distributio omnium specierum nominis inter cathegorias Aristotelis (Ndis), De dialectica (Ndia) und den sog. St. Galler Traktat: Quomodo || 5 Notker glossiert seine eigenen (endredigierten) Texte nicht marginal oder interlinear; wenn er gelegentlich Verdeutlichungen anbringt, tut er das in der Zeile selbst mittels „.i.“ (id est) oder „s.“ (subaudi). 6 Zum besonders persönlichen Lehrer/Schüler-Verhältnis zwischen Notker und Ekkehart siehe den älteren Beitrag von Alfred Wolf 1961 und Ernst Hellgardts liebevoll zusammenfassende Dokumentation und Erörterung von 2010. 7 Ich nehme hier einige Gedanken wieder auf, die ich zuerst in Tax 2003, v.a. 274–280, formuliert hatte. 8 NkS, 349, Z. 18f. 9 Vgl. Hellgardt 1979, 181f.

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septem circumstantiae rerum in legendo ordinandae sint (Ntr). Was die Echtheit10 betrifft, so wird jetzt allgemein angenommen, dass zumindest Ndis11 und Ntr von Notker stammen. Diese Texte sind von mehreren Händen, aber teilweise recht primitiv und sorglos auf z.T. schlechtem Pergament kopiert worden12. Der Codex kann deshalb weniger als eine typische, d.h. auch sorgfältig und einheitlich endredigierte Gebrauchshandschrift betrachtet werden, und man bezeichnet sie, da die Texte zumindest von Ntr und Ndia recht zuverlässig aussehen, wohl am besten als einen (doch brauchbaren) Vorlage-Codex – im Hinblick auf eine handschriftlich bessere Fassung, die dann wohl auch für den Export bestimmt sein könnte. Wer käme als Empfänger oder Adressat in Betracht? Von allen drei in Handschrift C 98 enthaltenen Texten gibt es eine spätere Kopie: sie stehen in der Brüsseler Sammelhandschrift 10 615–729, die um die Mitte des 12. Jahrhunderts von Trierer Schreibern für das Kloster St. Eucharius-Matthias in Trier geschrieben wurde. Es konnte nachgewiesen werden, dass diese 3 Texte, also auch der Text von Ntr, direkt aus C 98 abgeschrieben wurden13. Dabei wurde die obige circumstantiae-Glosse nicht übernommen; das ist schade, aber nicht verwunderlich, denn Glossen sind Freigut: sie können vom Abschreiber ohne weiteres verändert, vermehrt und ergänzt, verringert und verkürzt oder überhaupt weggelassen werden. Aber Z wurde (zusammen mit einem Exemplar von Notkers Brief!) offensichtlich nach Trier ausgeliehen und dort kopiert, dann offensichtlich an die Stiftsbibliothek zurückgegeben. Notker hatte auch freundschaftliche Verbindungen mit Bischof Hugo von Sitten. Wie lange sie andauerten und wie intensiv sie waren, ist unklar, denn wir haben nur den einen Brief Notkers an ihn, und dessen Informationswert ist zwar hoch, aber auch einseitig. Dort heißt es im Anschluss an die oben zitierte Stelle: Horum (der Werke des Briefschreibers) nescio an aliquid dignum sit uenire in manus uestras〈.〉 Sed si uultis ea . sumptibus enim indigent 〈.〉 mittite plures pergamenas et scribentibus pręmia et accipietis eorum exempla.14 Für das Folgende wird wegen des Tenors des Briefes als sehr sehr wahrscheinlich angenommen, dass Bischof Hugo zumindest einige lateinische (und wohl auch andere) Schriften Notkers, darunter auch die Texte von Z, in St. Gallen auch für den eigenen Gebrauch hat kopieren lassen. Damit hätte er die Alternative: Fernleihe der || 10 Siehe Tax 2002. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass alle drei Texte echt sind. 11 Ndis lag offensichtlich in zwei Fassungen vor: ohne und mit Abschnittsüberschriften; siehe NkS, XXXIII. Diese typisch notkersche Eigentümlichkeit der rubrizierten Überschriften ist in Z bei Ntr und Ndia in integrierter Form vorhanden, im Ndis-Exemplar aber wurden sie nachträglich und meistens auf den Rändern angebracht, sind also nicht integriert. 12 Siehe NkS, XXI–XXIII, auch die Faksimiles, 47 und 195. Der Text von Ndis etwa weist mehrere Nachträge auf, so NkS, 15 (= Z7r), 16 (Z7v), 21 (= Z 10r), 35 (= Z17r), 36 (= Z17v). Insgesamt sieht das Exemplar von Ndis in Z noch wie ein Text in statu nascendi aus. 13 Siehe NkS, XXVI–XXIX. 14 NkS, 349, Z. 19–21.

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Texte (wie bei den Trierer Abschriften) nach Sitten oder sie in St. Gallen kopieren zu lassen, zugunsten von Notkers Vorschlag entschieden. Dass Notker Bischof Hugo die Initiative sowohl im Hinblick auf das Pergament wie auch auf die Entlohnung der Schreiber überlässt, ist bedenkenswert. Denn die Qualität des vom Bischof gelieferten Pergaments wie auch die Höhe der Bezahlung würden deutlich machen, ob Hugo nur (jeweils) eine einfache Gebrauchshandschrift erwartete oder ein ‚bischöfliches‘ Exemplar von höherer, repräsentativer Qualität. Wir wissen nicht, ob es in der Stiftsbibliothek eine weitere Handschrift mit den Texten von Z gegeben hat. Wenn nicht, so erlaubte die Abschrift in St. Gallen angesichts des teilweise primitiven Zustandes der Texte in Z eine erwünschte Kontrolle beim Kopieren, so dass doch das Ergebnis optimal war; auch hätten die St. Galler wohl ungerne Z in der vorliegenden Form an den Bischof ausgeliehen. Dass Ekkehart von Notkers Verbindungen mit Bischof Hugo wusste, ist wahrscheinlich genug, so dass er wohl auch Kenntnis von Notkers Brief hatte und so auch von dessen Versprechen an den Bischof. Und es würde auf der Hand liegen, dass der alte Notker, der die Abschrift der Texte in Z seinem viel jüngeren Schüler Ekkehart anvertraut hatte, ihn auch mit der Aufgabe betreut hat, die Kopierarbeit der für den Bischof bestimmten Texte zu beaufsichtigen. Diese Kopien müssten dann vor Notkers Tod im Jahr 1022 in St. Gallen veranstaltet worden und beim Bischof in Sitten eingetroffen sein. Sie sind leider nicht erhalten. Was geblieben ist, sind die Texte in Handschrift C 98, vielleicht auch die weiteren lateinischen Werke (oder nur einige) wie Nr, Ns, Ncom, an die Notker dachte und die Hugo erbeten haben könnte. Das spekulativ bleibende Ergebnis dieser Überlegungen lautet, dass Ekkehart sich zwar um Notkers Nachlass gekümmert hat, aber in dessen Auftrag und noch bei dessen Lebzeiten, wohl auch ehe Ekkehart selber im selben Jahr 1022 seine neue Aufgabe als Lehrer der Domschule in Mainz antrat. Wir haben viele St. Galler Codices mit Glossen und Notizen von Ekkeharts Hand: Heidi Eisenhut zählt in ihrer jüngsten Übersicht15 mehr als 60. Eine Durchsicht dieser Handschriften würde wahrscheinlich weitere Fälle einer besonderen Rubrizierung durch Ekkehart ans Licht bringen. Es ist zu hoffen, dass mein kleiner Beitrag zu diesem Band zu weiteren Untersuchungen auf diesem anscheinend vernachlässigten Forschungsgebiet anregen möge.

|| 15 Appendix 4: Verzeichnis der Handschriften mit Einträgen Ekkeharts IV., 419–424.

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Anna Grotans

Ekkehart IV.: Kein zweiter Palatinus Es wird meist angenommen, dass Ekkehart IV. eine Zeitlang zwischen ca. 1022 und ca. 1030 an der Domschule in Mainz unterrichtete. Die Mainzer Zeit wird sogar als „Glanzpunkt [seines] Leben[s]“ bezeichnet, obwohl ihre kausalen und chronologischen Zusammenhänge als „undurchsichtig“ beschrieben werden.1 Warum begab sich Ekkehart überhaupt nach Mainz? Wie wirkte sich diese Zeit außerhalb des Klosters auf ihn aus? Wie wurde er in Mainz und vom damaligen Gelehrten-Kreis des Reiches wahrgenommen? Warum kehrte er nach St. Gallen zurück? Es wird wohl nie möglich sein, alle Zusammenhänge, Beweggründe und Einflüsse vollständig aufzuklären – dafür sind die Quellen viel zu spärlich. Eine nähere Untersuchung des kulturellen, historischen und politischen Kontextes bringt aber einiges Wertvolles, auch wenn vieles im Bereich der Vermutungen bleiben muss. Die Quellen berichten recht wenig über Ekkeharts Mainzer Zeit. Einige Anhaltspunkte sind in Ekkeharts Werken und Glossen zu finden; anderes muss aus weiteren geschichtlichen Quellen zusammengesetzt werden. Im 80. Kapitel der Casus Sancti Galli erwähnt Ekkehart, wie er auf Befehl des Erzbischofs Aribo nach seinem Willen und Können eine metrische vita von Walther Starkhand, die sein berühmter St. Galler Bruder Ekkehart I. als Schüler geschrieben hatte, verbessert habe. Dies habe er vollbracht, als er in Mainz positus war.2 Im ersten Prolog seiner Benedictiones erwähnt Ekkehart, wie Aribo, sui temporis nominatissimo ecclesiæ quidem speculo, ihn gebeten habe, von den Männern seiner Umgebung aufgefordert, den Segensspruch Iube, domne, benedicere zu erläutern.3 Man wird wohl annehmen können, dass er diese Aufgabe in Mainz ausgeführt hat. Die aufschlussreichste Szene finden wir im 66. Kapitel der Casus. Hier beschreibt er, wie ein sancti Galli monachus scolis Magontiæ curante die Messe geleitet habe, als Kaiser Konrad am 29. März im Jahr 1030 in Ingelheim das Osterfest feierte.4 In dieser Szene helfen drei der

|| 1 Vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, II und Casus Sancti Galli/Haefele 1980, 455. 2 Quam Magontiæ positi, Aribone archiepiscopo iubente pro posse et nosse nostro correximus, Casus Sancti Galli/Haefele 1980, Kap. 80, 168. 3 Stetimus autem aliquando coram Aribone archiepiscopo, sui temporis nominatissimo ecclesiæ quidem speculo, qui nos, suis quibusdam se stimulantibus, quid in hoc nobis videretur, pandere monuit, Liber Benedictionum/Egli 1909, 1, 4–7, vgl. IV. Die Stadt Mainz kommt auch in Ekkeharts Glossen vor, so z.B. in einer Erwähnung des Instanzenzuges von Konstanz nach Mainz: translativus status est, ut, si Constantie male iudicatum sit, Mogontia appellatur, Benedictiones, 206, Anm. 14 und Dümmler 1869, 19 und 62, und unter den Orosius-Glossen in Cod. Sang. 621, S. 266b21: claudius drusus] cuius mogontie est tumulus. Id es Trûsilêh, Eisenhut 2009, orosius.monumenta.ch/seite/ 266.html?kapitel=& bildnummer=266. 4 Hellgardt 2010, 169; Casus Sancti Galli/Haefele 1980, 140–141.

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in Ingelheim anwesenden Bischöfe, ehemalige Schüler des monachus, ihrem magister beim Feiern der Messe: Erant disciplinæ loci ut semper et tunc severe, non modo in claustro, sed et in scolis exterius. Unde ætiam praeter clericos, qui apud nos sepe nutriti sunt, clarissimos æcclesiis variis multoties dedimus et episcopos. Et ut tragediam, quam dicturus sum, consoler: vidi egomet ipse Chuonrado imperatore Ingilinheim pascha agente, sancti Galli monacho scolis Magontiæ curante, officium, ut solitum est, in medio chori crebro coronati inspectu agere. Cumque manum ille ad modulos sequentiæ pingendos rite levasset, tres episcopi, hominis quondam discipuli, imperatori in throno proximi: „Ibimus,“ aiunt, „domine, et magistrum in eo, quod ipse nos docuit, iuvabimus.“ Illo hoc gratum fore dicente, descendentes sotiantur sancti Galli monacho, inclinantes inclinato opus Dei, quod docuit, reverenter cum eo perficiunt. Flebat homo cum gaudio, gratias referens sancto Gallo. Post missas peractas vix ille coactus pedes imperii, ut moris est, petere, auri uncias in eis positas sustulit. Ad imperatricem autem ridente imperatore per vim tractus, et ibi aurum eius sumpsit e pedibus. Mahthilda quoque, soror eius, anulum illi in digitum, vellet nollet, inseruit. Hæc ergo nequaquam aurium inflationi satagens dixerim, sed ut honorem doctrinæ et disciplinæ loci nostri praememorans, dampna, quæ a scolaribus pro disciplinis pertulimus, quamvis inportabilia fuerint, portabilius audiantur. („Es waren die Lehrmethoden in St. Gallen wie immer, so auch damals streng, nicht nur im Klosterinnern, sondern auch in der Schule außerhalb. Und daher haben wir denn nebst glänzenden Priestern, wie sie bei uns häufig ausgebildet worden sind, den verschiedenen Kirchen oftmals auch glänzende Bischöfe gegeben. Und um das Trauerspiel, das ich erzählen will, erträglich zu machen: als Kaiser Konrad zu Ingelheim Ostern feierte, indes ein St. Galler Mönch die Mainzer Schule leitete, da habe ich selbst erlebt, wie man, wie üblich, mitten im Chor unter den ständigen Blicken des Gekrönten Hochamt hielt. Und als nun der Mönch nach gehöriger Weise die Hand hob, um die Tonfolgen der Sequenz anzudeuten, sprachen drei Bischöfe, ehemals seine Schüler, die dem thronenden Kaiser zunächst waren: „Herr, wir möchten hingehen und dem Meister in der Kunst, die er selber uns beigebracht hat, behilflich sein.“ Der Kaiser sagte, das sei ihm lieb, und so stiegen sie hinunter, gesellten sich zu dem Mönch des heiligen Gallus, verneigten sich vor ihm, der sich seinerseits verneigte, und vollzogen das Gotteswerk, das er sie gelehrt, zusammen mit ihm in aller Ehrfurcht. Er aber weinte vor Freude und sagte dem heiligen Gallus Dank. Als die Messe zu Ende war und man ihn drängte, sich der Sitte gemäß den Füßen des Kaisers zu nähern, wollte er die Unzen Goldes, die dort lagen, kaum aufheben. Unter dem Lachen aber des Kaisers wurde er mit Gewalt zur Kaiserin gezogen und musste dort auch von ihren Füßen das Gold nehmen. Und Mathilde, ihre Schwester, steckte ihm, er mochte wollen oder nicht, einen Ring an den Finger. Dies wollte ich durchaus nicht deshalb erzählen, um der Ruhmsucht zu frönen; sondern mit dem Hinweis auf das Ansehen, das die Gelehrsamkeit und die Zucht unseres Klosters besitzen, wollte ich nur, dass die Einbußen, die wir von den Schülern um der Zuchtmethoden willen erlitten, erträglicher klingen, wenngleich sie unerträglich gewesen sind.“)

Wir nehmen an, dass der monachus Ekkehart selber war. Dass Ekkehart von sich in der 3. Person spricht und behauptet, den Ablauf wahrgenommen zu haben (vidi egomet), wurde von einigen als merkwürdig angesehen. Haefele bemerkt zurückhal-

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tend, „[s]treng dem Wortlaut der Stelle nach bezeichnet sich E. selber nicht als Mitwirkenden, sondern als bloßen Augenzeugen“.5 Heidi Eisenhut macht aber darauf aufmerksam, dass Ekkehart im Prolog zu den Casus und zum Liber Benedictionum den pluralis auctoris wählt und in den Glossen zu Orosius sehr oft im Namen von Orosius spricht. Sie fragt sich, „inwieweit in historiographischen Werken die IchForm verbreitet war oder ob es denkbar war, als Autor Perspektivenwechsel vorzunehmen, gerade wenn es sich um in den Handlungsablauf eingeflochtene (selbst erlebte) ‚Histörchen‘ mit Auflockerungscharakter handelte“.6 Andere berühmte St. Galler Lehrer kennen wir aus dieser Zeit keine; weitere Anhaltspunkte deuten eindeutig auf einen Aufenthalt Ekkeharts als magister in Mainz. Ob Ekkehart in dieser Szene von sich selber spricht oder als Augenzeuge von einem zweiten St. Galler Lehrer in Mainz, ist letztlich nicht entscheidend.7 Ekkehart ist von der Geste der Hilfsbereitschaft der ehemaligen Schüler zutiefst berührt und dankt Gallus dafür. Als Belohnung bekommt er vom Kaiser, dessen Gemahlin und ihrer Schwester Geldstücke und einen Ring. Die Szene in Ingelheim wird in die Casus eingeführt, um einen Bericht über den Klosterbrand von 937 zu unterbrechen und im Vorgriff auf die Tragödie „Trost zu spenden.“ Eingeleitet wird die Szene mit einer Äußerung über die disciplina (Zucht) und Gelehrsamkeit in St. Gallen, die hervorgehoben, ja sogar besonders gewürdigt werden. Wie Ernst Hellgardt gezeigt hat, spielt die disciplina eine wichtige Rolle im Aufbau der Casus. Es geht Ekkehart darum, den Bestand oder auch die Gefährdung der disciplina beim Wechsel der Schicksalsfälle – der fortunia et infortunia, die man im Kloster erlebte – zu thematisieren. Die disciplina wiederum wird dadurch definiert, wie genau die Mönche nach der Regel des heiligen Benedikt leben.8 In diesem Fall leiden die Mönche unter den Folgen einer allzu strengen Zucht. Den geschilderten Brand löst ein Schüler aus, der sich und seine Kameraden dadurch einer wegen eines Vergehens drohenden Bestrafung mit Rutenschlägen zu entziehen hofft. Ekkehart unterbricht hier die Erzählung mit der Ingelheimer Geschichte, um zu zeigen, wie wichtig die disciplina in der Ausbildung ist und zum Erfolg bei allen Schülern, auch bei den zukünftigen episcopi, führen kann – vermutlich auch bei denen, die in Ingelheim ausgeholfen haben. Ekkehart erwähnt die Begebenheit nicht, um zu prahlen, sondern um die Aufmerksamkeit auf das hohe Ansehen der St. Galler doctrina und disciplina zu lenken, auch wenn die Mönche von scolaribus für ihre Strenge getadelt werden. Wie Ernst Tremp zusammenfasst: „Zucht und Strenge auf || 5 Casus Sancti Galli/Haefele 1980, 456; vgl. Weber 2003, 8. 6 Eisenhut 2009, 89. 7 Auch wenn nicht Ekkehart selber, sondern ein zweiter St. Galler Mönch geehrt gewesen wäre, spräche es dafür, dass das Kloster im Bereich der Pädagogik bekannt war und seine Mönche als Lehrkräfte gefragt und geehrt. 8 Hellgardt 2001, 35.

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der einen Seite, Wissenschaft und Gelehrsamkeit auf der anderen waren es, die nach Ekkehards Überzeugung das Kloster St. Gallen einst berühmt gemacht hatten“.9 In pädagogischer Hinsicht war diese Methode durchaus wirksam, wodurch es dem Kloster öfters gelang, berühmte Persönlichkeiten – darunter Bischöfe und Äbte – auszubilden und in das Reich hinauszuschicken. Ich werde auf die Rolle der disciplina in der ottonischen Bildungs- und Klosterreform am Ende zurückkommen. St. Gallen war weithin im Reich als Quelle wissenschaftlichen Talents bekannt.10 In seinen Casus wird Ekkehart nicht müde zu betonen, wie die St. Galler scolae (externe und interne) viele Schüler in das Reich schickten, die dann glänzende Laufbahnen einschlugen. Die Ehrenliste aus dem 10. Jahrhundert ist lang: Bischof Ulrich von Augsburg (923–973), Bischof Robert von Metz (883–916), Bischof Hildeward von Halberstadt (968–996). Balderic, der später in Speyer die Schule leitete und dann dort als Bischof wirkte (970–986), erhielt ebenfalls seine Ausbildung in St. Gallen. Balderic wiederum war der magister Walters, der 1004–1027 Bischof von Speyer war und den Libellus Scolasticus dichtete, welcher uns unschätzbare Informationen über das Schulcurriculum zu dieser Zeit liefert – ein Curriculum, das auf dem St. Galler Vorbild basierte. In seinem Epitaph rühmt Ekkehart Walter und meint, seinesgleichen werde es nie wieder geben: Posthac cernatur doctor sibi par, dubitatur.11 Sicher waren die drei in der Ingelheimer Szene beschriebenen Bischöfe ehemalige Schüler Ekkeharts in St. Gallen. Oft wurden Lehrer von St. Gallen geholt. Bischof Ercanbald (965–991) berief den St. Galler Lehrer Viktor nach Strassburg, damit dieser in seiner Domschule unterrichtete. In seinen Casus berichtet Ekkehart, dass Ercanbalds Stadt dank Viktors geistlichen Talenten dementsprechend aufblühte.12 Das vielleicht berühmteste Beispiel ist Ekkeharts Namensbruder, auch palatinus oder „Höfling“ genannt: Ekkehart II., der Otto II. am Hof unterrichtet und dann als Propst in Mainz bis zu seinem Tod im Jahre 990 wirkt.13 Am Ende des 10. Jahrhunderts waren die wichtigsten „Knoten“ im bischöflichen und gelehrten Beziehungsnetz auf die eine oder andere Weise mit St. Gallen verbunden. Diese Netzwerke waren äußerst wichtig um die Jahrtausendwende. Ihre Mitglieder bildeten „Textgemeinschaften“ (‚textual communities‘), die ein gemeinsames Literaturerbe und die Art und Weise der Auslegung teilten.14 Bücher, Kommentare, Interpretationen, Lernmethoden waren ähnlich, wenn auch nie identisch. Vieles hing von den Lehrern ab, anderes von den

|| 9 Tremp 2005b, 385. 10 Vgl. Grotans 2005, 49–109; Ochsenbein 1999; Specht 1885, 313–328; Clark 1926, 91–124. 11 Epitaphium Vualtheri Spirensis episcopi, 398, 7–8. 12 Casus Sancti Gali/Haefele 1980, 162–163; mehrere Straßburger Handschriften weisen enge Beziehungen mit St. Gallen auf, z.B. Ercanbalds Evangeliar, das am Ende des neunten Jahrhunderts in St. Gallen hergestellt wurde, und der in Straßburg hergestellte Psalter Tironianum, der Sequenzen Ekkeharts I. enthält, Berschin 1986, 9 und 13. 13 Stotz 1980, 453. 14 Stock 1983, 90.

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zukünftigen Aussichten der Schüler. Dies war besonders der Fall ab dem 10. Jahrhundert. Jetzt wurden die Domschulen die großen Hauptakteure in der Erziehung der aufstrebenden Regierungselite – zum Nachteil der Klosterschulen.15 Auch St. Gallen wird seinen hohen Rang im Laufe des 11. Jahrhunderts verloren haben, als das „silberne Zeitalter“ des Klosters in ein „eisernes“ überging.16 Es gab Rivalitäten und, auf Seiten der Klöster, vielleicht auch Ängste, ins Abseits zu geraten. Trotzdem waren die magistri in einem Netzwerk des wissenschaftlichen Austauschs und der Freundschaft verbunden. Dieses zeichnete sich oft durch ihre Wissenschaft und Kunst aus, z.B. in den Briefen, Gedichten und längeren literarischen Werken, die sie einander widmeten. Wann und warum Ekkehart nach Mainz aufbrach, wissen wir nicht. Er war in St. Gallen von Kindheit an zu Hause, wurde von seinen Mitbrüdern für seine Leistungen geschätzt und war ein stolzes Mitglied der berühmten und mächtigen Reichsabtei. Er unterrichtete dort in der Schule, und ihm stand eine hervorragende Bibliothek zur Verfügung. Natürlich war ein Umzug nach Mainz förderlich für die Karriere (nicht unbedingt, dass ein Mönch daran denkt!). Er bot auch sicher die Gelegenheit, die eigene Gelehrsamkeit weiterzuentwickeln und weiter zu tradieren und möglicherweise mehr politischen Einfluss auszuüben. Vielleicht wollte Ekkehart nach dem Tod seines Lehrers Notker neu anfangen (obwohl mir diese Auffassung sehr modern vorkommt). Wie auch immer Ekkeharts persönliche Überlegungen ausgesehen haben mögen, fest steht, dass er berufen wurde und, wie sicher erwartet wurde, zugesagt hat. Vermutlich hat Aribo selbst ihn berufen. Wurde Ekkehart Aribo empfohlen, oder kannte dieser schon die Qualifikationen des Mönchs und begehrte dessen Fachkönnen, um seine Domschule zu fördern? Als gebildeter Mann hat Aribo selbst Psalmenkommentare geschrieben und mit bekannten scholares im Reich korrespondiert.17 Der angesehene Abt Bern von Reichenau führte Korrespondenz mit ihm und widmete ihm sogar einen Dialog über die Quatemberfasten.18 In einem Brief rühmt er scherzhaft die Gelehrsamkeit des Erzbischofs: „Dir hat die göttliche Vorsehung eine solche Fülle des Wissens verliehen, dass sie Dich durch das Wasser der heiligen Schriften nicht bloß bis zu den Knöcheln oder zu den Knien, sondern sogar bis zur Taille hindurchgeführt hat“.19 Nach Ekkeharts erstem Prolog zu den Benedictiones,

|| 15 Jaeger 1994, 47f. 16 Clark 1926, 92 und Duft 1999, 29. 17 Aribo […] cuius super aliquot psalmos tractatus invenitur, Ekkehard von Aura, Chronica, 193 und Annalista Saxo, Reichschronik, 675; siehe auch Richard Müller 1880, 9. Allgemeine Beschreibungen von Aribos Zeit als Mainzer Bischof sind bei Wolfram 2000, 273–276 und Hehl 2000, 263–273 zu finden. 18 Epistolae Moguntina/Jaffé, 372 (epistola 29). 19 Die Briefe des Abtes Bern von Reichenau, Nr. 13; vgl. Weinfurter 2010, 35.

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hat Aribo sich oft mit Fragen der Bildung befasst,20 und in seinem „Epitheton“ nennt Ekkehart ihn „Psalmigraphus“.21 Wann Ekkehart St. Gallen verlassen hat, wissen wir ebenfalls nicht genau. Sicher ist nur, dass er zur Zeit der feierlichen Ostermesse in Ingelheim Schulleiter in Mainz war.22 In der Literatur wird meist angenommen, dass Ekkehart bald nach dem Tod Notkers und des Abt Purchards im Jahr 1022 nach Mainz aufbrach. Dies wäre bald nach Aribos Amtsantritt 1021 gewesen und noch in der Regierungszeit Heinrichs II. (972–1024). Standen hinter der Berufung auch politische Gründe? Wir wissen, dass Aribo bei der Synode von Seligenstadt 1023 versuchte, eine einheitliche Norm bezüglich einiger kirchlicher Einrichtungen und canones für seine Kirchenprovinz festzulegen (z.B. die Quatemberfasten, das Schwatzen in der Kirche, wann man nicht heiraten darf, und verbotene Verwandtschaftsgrade bei der Heirat). In der älteren Literatur hat man oft in den Beschlüssen eine öffentliche Äußerung Aribos gegen die geplante Kirchenreform Heinrichs II. und Benedikts VIII. und eine Regelung der nationalen Kirchenpolitik sehen wollen. Aribo wurde als Gegner der lothringischen Reformen, als Held der Reichskirche, aufgefasst.23 Als weiteres Beweismittel dafür führt Bresslau an, dass an Aribos Hof der berühmte „unversöhnlichste, bitterste Gegner dieser wälschen Reformbewegung,“ Ekkehart IV. von St. Gallen, weilte, „der am Hofe Aribos den Hass gegen die Cluniacenser in noch höherem Masse eingesogen haben mochte“.24 Hat Aribo Ekkehart geholt, weil er in ihm einen Befürworter in seinem Kampf gegen die Lothringer und den Papst sah? In der neueren Literatur wird die ältere binäre Darstellung ‚päpstliche Reformer vs. kaiserliche Gegenreformer‘ für weniger brauchbar gehalten. Das alte Modell eines kaiserlichen Kirchensystems und einer vereinheitlichten, von Rom aus gesteuerten Reformbewegung wurde in der letzten Zeit problematisiert oder sogar verworfen.25 Obwohl Aribo sich wenig für die Reformen eingesetzt hat, ist es vielleicht übertrieben, ihn als aggressiven Gegenreformer zu sehen. Ob Ekkehart auch so eifrig gegen die Lothringer gekämpft hätte, ist nicht sicher. Er hätte zu dieser Zeit wenig Anlass dazu gehabt. Nach den Visiten des späteren 10. Jahrhunderts scheinen die Reformer St. Gallen eine Zeitlang in Ruhe gelassen zu haben. Erst mit der Benennung Norperts durch den Reformer Poppo von Stablo 1034 ging es wieder los, und erst nach diesem Zeitpunkt schrieb Ekkehart seine Casus und die Glossen gegen die so genannten „Popponisten“.26

|| 20 Prologus I, 1, 4–7. 21 Epitaphium Ariboni archiepiscopo Mogontino, Liber Benedictionum/Egli 1909, 398, 10. 22 Hellgardt 2010, 169 und 174. 23 Vgl. Dersch 1899. 24 Bresslau 1884 II, 526 und 415. 25 Eldevik 2007, 163; vgl. Reuter 1982 und Tellenbach 1985. 26 Siehe Feine 1955, 85–87, 89–90 und Hellgardt 2001, 29–30. Siehe auch unten S. 224f.

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1024 starb Heinrich und damit endete auch sein Reformanstoß. Aribo spielte eine zentrale Rolle in der Wahl seines Nachfolgers Konrad in Kambia – sicher auch zugunsten seiner Karriere. Mit der Krönungsfeier am 8. September 1024 in Mainz erreichte Aribo den Höhepunkt seiner Geltung. Er hatte sich gegen den Kölner Erzbischof Pilgrim (seinen Neffen) durchgesetzt und die Spitzenstellung im Episkopat errungen. Doch von Anfang an waren seine Beziehungen zum Kaiser nicht störungsfrei. Aribo weigerte sich nämlich, auch Konrads Gemahlin Gisela in Mainz zu krönen.27 Der Grund für dieses brüskierende Verhalten bleibt ungeklärt. Es wird oft in der älteren Literatur angenommen, dass Aribo Vorbehalte gegen eine zu nahe Verwandtschaft des Königspaares vorgebracht habe, aber dies lässt sich aus den Quellen nicht beweisen.28 Inwiefern Aribos Verhalten – wenn es als Affront gesehen wurde – seine Beziehung zu Gisela beeinflusst und ob Ekkehart ihn als Augenzeuge erlebt hat, wissen wir nicht. Trotz der Misshelligkeiten hat Aribo Konrads Vertrauen behalten. Im selben Jahr übertrug der neue König Aribo das Erzkanzleramt für Italien. Es scheint auch keine Spannungen zu Gisela gegeben zu haben, denn sie und Aribo intervenierten häufig gemeinsam in Urkunden von Konrad.29 Das Verhältnis zwischen dem Erzbischof und dem König kühlte sich aber im Verlauf der nächsten Jahre aufgrund eines alten Streits mit Hildesheim um den Besitz des Klosters Gandersheim ab.30 Auf der Frankfurter Synode am 23. und 24. September 1027 verlor der Erzbischof in Anwesenheit Konrads endgültig das Kloster für Mainz und erlebte eine tiefe Niederlage. Ein Jahr später, am 14. April 1028, ließ Konrad II. seinen Sohn Heinrich III. zum Mitkönig wählen und von Erzbischof Pilgrim krönen. Es scheint, dass die Mainzer Erzbischöfe ihr vornehmstes politisches Recht eingebüßt hatten.31 Aribo war offensichtlich kein einfacher Mensch und nicht immer von seinen Zeitgenossen besonders geliebt. In seiner Vita Bernwardi beschreibt Thangmar Aribos Lebensziel als „Arbeit und kompromisslose Herrschaft“32.

|| 27 Vollzogen wurde die Krönung durch Erzbischof Pilgrim von Köln, der damit einen Punkt im Ringen mit dem Mainzer Rivalen um das Krönungsrecht erzielte. Der Coronator Pilgrim scherte damit als Erster aus der Gruppe der bedeutenden lothringischen Gegner Konrads aus. Pilgrim war übrigens auch der Bruder von Giselas ehemaligem Mann, Herzog Ernst. Es stimmt, dass sich Aribo kompromisslos für den Kampf gegen Verwandtenehen des Adels engagierte. Dass er die Krönung der Königin ablehnte, muss aber nicht als Affront gegen Konrad gesehen werden. Eher erscheint es vorstellbar, dass man dem Erzbischof die Peinlichkeit ersparen wollte, mit der gemeinsamen Krönung des Königspaares eine Ehe genau der Art zu legitimieren, die er so kompromiss- wie ergebnislos im vieldiskutierten Fall des Hammersteiner Grafenpaares bekämpft hatte; Körntgen 2011, 104– 105; siehe auch Bischoff 1950. 28 Vgl. Hehl 2000, 268. 29 Hehl 2000, 268. 30 Wolfram 2000, 108–113 und 276 und Hehl 269f. 31 Hehl 2000, 272. 32 Kap. 48, 778, n.1; vgl. Wolfram 2000, 275.

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Gibt es vielleicht weitere Momente, die Ekkehart in Verbindung mit Mainz gebracht hätten? 1025 suchte der St. Galler Abt Thietbalt das Königspaar Konrad II. und Gisela in Augsburg auf, um die Privilegien seiner Abtei, die Otto III. ihr verliehen hatte, neu bestätigen zu lassen. Das entsprechende Diplom hob zugleich die von Heinrich II. befohlenen Beschränkungen bezüglich der freien Abtswahl auf. Wir wissen, dass Aribo auch bei dieser Gelegenheit in Augsburg anwesend war.33 Ein weiterer Vermittler zwischen St. Gallen und Mainz könnte der langjährige Reichenauer Abt Bern gewesen sein (1003–1048). Bern wurde in St. Gallen ausgebildet – wohl eine Generation früher als Ekkehart. Wie oben erwähnt, korrespondierte er als Abt auf der Reichenau mit Aribo. Bern, Aribo und das Königspaar kamen auf der Reichenau Pfingsten 1025 zusammen.34 Dass die St. Galler Delegation auf ihrer Rückreise auch dabei war, ist nicht undenkbar. Hellgardt schlägt vor, dass Ekkehart 1027 (noch) in St. Gallen hätte sein können, also zu der Zeit, als sich die Kaiserin Gisela mit ihrem Sohn Heinrich II. in St. Gallen aufhielt. Bei dieser Gelegenheit habe man die zwei in die Gebetsverbrüderung aufgenommen, und Gisela habe Abschriften von Notkers Psalter und seines Iob vornehmen lassen (wie wir in Ekkeharts Glosse im Liber Benedictionum lesen).35 Ist Ekkehart vielleicht nach Giselas Besuch nach Mainz gegangen? Könnte womöglich sie es gewesen sein, die ihm den Umzug nach Mainz empfahl? Wir wissen, dass Gisela öfters bei Personalentscheidungen ein großes Mitspracherecht hatte und ihre persönlichen Präferenzen kund tat, besonders bei der Vergabe führender Positionen im Reich, z.B. bei der Wahl von Bischöfen und Äbten.36 Heidi Eisenhut vermutet, dass Ekkeharts Glosse zu Gisela und die Wertschätzung, die sie Notker entgegenbrachte, auf eine besondere Beziehung zwischen Ekkehart und ihr schließen lässt.37 Die oben zitierte Ingelheimer Szene bestätigt dies. Hier wird beschrieben, wie Ekkehart für seine Teilnahme an der Messe belohnt wird. Der Gebrauch der so genannten sportula oder des presbyterium war zu dieser Zeit verbreitet, besonders an hohen Festtagen wie Ostern.38 Das Lachen des Königpaares wirkt unangebracht, konnte aber als liebevolle Reaktion gedeutet wer-

|| 33 Zur gleichen Gelegenheit wurde ein Diplom für die Abtei in Lucca ausgestellt. Dieses wurde vom italienischen Kanzler Hugo sowie von Aribo bezeugt; Wolfram 2000, 78–79. 34 Der Anlass war eine erhoffte, aber erfolglose Vermittlung zwischen dem Kaiser und den Söhnen von Giselas Schwester Matilda um Erbrechte in Burgund; Wolfram 2000, 85. 35 Hellgardt 2010, 174; siehe auch Müller 2004, 28–33. 36 Gisela wird als Intervenientin in mehr als der Hälfte aller überlieferten Urkunden Konrads II. genannt, und hiermit „übertrifft“ sie „alle anderen Königinnen des hohen Mittelalters“; Fößel 2000, 60, vgl. 125; vgl. Körntgen 2011, 111. 37 Eisenhut 2009, 89 und Anm. 81. 38 Man vergleiche hierzu Jones 1999, 116–117 und Kap. 14.4, in der Ausgabe. Siehe auch Kantorowicz 1958, 66–67, 88, 121–122 und 173–174. Vgl. Körntgen 2011, 113, der die Szene eher negativ ansieht.

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den.39 Dass nicht nur der Kaiser, sondern auch Gisela Ekkehart belohnen will, wie auch ihre Schwester, lässt auf eine besondere – durchaus positive – Beziehung zwischen den beiden schließen. Hat Gisela, die vielleicht vom Unterricht in St. Gallen während ihres Besuchs beeindruckt war, Erzbischof Aribo gegenüber Ekkehart erwähnt? Hat Ekkehart sich erst später, d.h., nach August 1027, auf den Weg nach Mainz begeben? Nichts spräche direkt dagegen, obwohl Aribos Beziehung zum Kaiser nach seiner Niederlage bei der Frankfurter Synode in diesem Jahr nicht besonders warmherzig war. Über die frühmittelalterliche Domschule in Mainz wissen wir recht wenig. Erst über die Amtszeit von Erzbischof Willigis (975–1011) sind wir besser informiert.40 Willigis habe neben den Domschülern im Skriptorium gearbeitet und Bücher korrigiert. Nach Ansicht von Hartmut Hoffmann entstanden in Mainz im ersten Drittel des 11. Jahrhunderts mehrere Klassikerhandschriften, die sich mit dem Schulbetrieb in Verbindung setzen lassen: Cicero, Donat, Martianus Capella, Boethius, Statius, Livius, Juvenal, Horaz und Macrobius.41 Auch die Dialektik war gut vertreten mit Werken von Boethius Porphyrius, dem Aristoteles latinus, Cicero und Victorinus. Gerbert von Reims etwa bittet in einem Brief aus dem Jahre 988 einen Kleriker Thietmar in Mainz um die Abschrift einer genau umrissenen Stelle aus einer Boethiushandschrift.42 In einer zu Willigis’ Zeit in Mainz geschriebenen AugustinusHandschrift, Gotha, Forschungsbibliothek Memb. I. 58, lesen wir in einem Schreibervers auf f. 16v, dass Willigis diese in seiner Bibliothek abschreiben ließ und mit seinen Schülern sorgfältig korrigiert habe, [...] ipseque cum propriis emendans cautus alumnis.43 Im Libellus de Willigisi consuetudinibus beschreibt der Autor, wie Willigis ihn „und sehr viele andere ansehnliche Frucht in den freien Künsten tragen ließ; und mit dieser Hilfe haben viele bischöfliche Würden erlangt und viele sind mit dem herrlichen Amt ihrer Propsteien ausgezeichnet worden.“44 Eine wichtige Beziehung zu St. Gallen wurde unter Willigis gefördert: Ekkehart II. von St. Gallen wurde als Dompropst und Leiter der Stiftsschule nach Mainz berufen.45 Leider haben wir keine Nachricht über seine Tätigkeit in Mainz und wissen nur, dass er am

|| 39 Wolfram 2000,73 zieht aus der Szene wichtige Informationen über den Ton am Hof Konrads, den er als „höchst ungezwungene[n], man möchte fast sagen klamaukhafte[n], grobschlächtige[n]“ sieht. 40 Vgl. Staub 2000, 302–308. 41 Hofmann 1986, 226–273. 42 Die Briefsammlung Gerberts von Reims, 123, 150–151. 43 Staub 2000, 303 und Hoffmann 1986, 237–38. 44 aliosque permultos liberalium artium fructu honestissimo fecit esse fructiferos, hisque promotionibus plurimi sunt pontificalis honoris dignitatibus praelati, plures etiam praepositurarum suarum honore gratissimo sublimate (Kap. 3, MGH SS 15/Waitz 1888, 744, 33f.). Neben der Domschule in Mainz errichtete Willigis in Aschaffenburg noch eine besondere Schule für seine Domherren; Fleckenstein 1956, 56. 45 Egler 1990, 301; vgl. Casus Sancti Galli/Haefele 1980 Kap. 89, 184.

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23. April 990 dort starb und im Stift St. Alban begraben wurde.46 Über die Domschule in Mainz unter Willigis’ direktem Nachfolger, Erchanbald (1011–1021) ist nichts bekannt. Von Aribos Zeit wissen wir leider auch nichts, nur dass Ekkehart eine Zeitlang dort ansässig war. Man nimmt an, dass Ekkehart während seiner Mainzer Zeit seine drei umfangreichsten Dichtungen verfasste: 1) die Benedictiones super lectores (dem Diakon von Trier gewidmet; im ersten Prolog schreibt Ekkehart, dass ihn der Mainzer Erzbischof Aribo über die Bedeutung des Segensspruches ‚iube, domne, benedicere‘ befragt habe); 2) die im Auftrag von Aribo als Tituli für den Dom in Mainz verfassten Versus ad picturas domus domini Mogontianae; und 3) die Benedictiones ad mensas. Letztere dienten wahrscheinlich als Modelle in der Dichtkunst und halfen auch bei Vokabelübungen.47 Es wird vermutet, dass Ekkehart einige Bücher mit nach Mainz brachte, unter anderen den Cod. Sang. 159, eine Handschrift mit vierzig Briefen des Hieronymus, Predigten von Origenes und der Schrift De anima von Cassiodor.48 Reiner Hildebrandt ist der Überzeugung, dass der Autor des Summarium Heinrici diese Handschrift in Mainz, vielleicht als Schüler Ekkeharts, gesehen und daraus eine Glosse notiert habe, die später in seinem Werk vorkommt.49 Auch eine Kopie von Notkers Psalter dürfte unter Ekkeharts Büchern gewesen sein. Die Kopie in München, Universitätsbibliothek 4to Cod. ms. 910 wurde nach Hoffmann in Mainz im zweiten Viertel des 11. Jahrhunderts geschrieben.50 Petrus Tax schlägt sogar vor, dass, falls die deutsche Glossierung in Notkers Psalter tatsächlich von Ekkehart stammt, sie auch während Ekkeharts Zeit in Mainz hätte geschrieben werden können, was die fränkische Note ihrer Sprache erklären würde: „Es würde auf der Hand liegen, dass die Np-Glossierung kontinuierlich und auch noch während dieser Amtszeit stattfand und vielleicht intensiviert wurde, das heißt, dass Ekkehart wohl auch gelegentlich mundartliches Deutsch, das für ihn anders und daher interessant war, aus dem Munde seiner Mainzer Schüler aufnahm“.51 Ob Ekkehart selber solche jüngeren oder weniger klerikalen Schüler unterrichtet hat, die eine deutsche Übersetzung nötig hätten, ist unklar. Als Vorsteher der Domschule fiel ihm nicht nur die Obsorge für diese zu, sondern auch die Oberaufsicht über alle Schulen in der Diözese, darunter

|| 46 Stotz 1980, 453. 47 Weber 2003, 39. 48 Eisenhut 2009, 93–94. 49 Hildebrandt 1992, 238, 240. 50 Hoffmann 1986, 252 beschreibt die Schrift als „recht fortgeschritten“ und „sorgfältig.“ Interessanterweise erkennt man „[i]n den Seitenmitten starke Abreibungen, die den Text kaum noch zu lesen gestatten.“ Hat Ekkehart vielleicht daran gearbeitet? 51 Bergmann/Tax 2009, 1628–1629. Es ist wohl möglich, dass wir Ekkehart die bayerische Überlieferung von Notkers Werken (Np und eventuell auch Nr und Ndis) über Mainz zu verdanken haben. Aribo selbst stammte aus einem bayerischen Adelsgeschlecht und hat den von seinem Vater angefangenen Gründungsvorgang des Klosters Göß fortgesetzt; Wolfram 2000, 273; siehe Anm. 35.

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mehrere Stiftschulen.52 Wie ich bereits erwähnte, interessierte sich Aribo sehr für Psalmenkommentare. Notkers Psalter könnte auch in diesem Kontext mit Ekkehart nach Mainz gekommen sein. Weitere Handschriften hat Ekkehart mit sich nach St. Gallen zurückgebracht. So zum Beispiel den Cod. Sang. 830, eine im ersten Drittel des 11. Jahrhunderts in Mainz entstandene Handschrift mit mathematischen und philosophischen Schriften von Boethius und mit Ciceros Topica.53 Ekkehart hat fast alle Texte sporadisch glossiert: Ciceros Topica, Boethius’ De topicis differentiis, seinen Liber divisionis und seine Rhetorica excerpta.54 Da es eher die jüngere Hand Ekkeharts zu sein scheint, hätten die Glossen während seiner Mainzer Zeit entstehen können. Eine Mischung aus St. Galler und Mainzer Händen ist in Leiden, Universitätsbibliothek, Cod. Gronov. 70 zu finden. Die Handschrift, die eine Würzburger Provenienz hat, enthält Statius, Thebais und eine Passio Mauricii und wurde gleichfalls im ersten Drittel des 11. Jahrhunderts geschrieben.55 In Deutschland, wo Latein eine Fremdsprache war, musste die Grammatik vor den anderen Fächern des Triviums geübt werden. Wie wir aus den Werken Notkers III. von St. Gallen wissen, wurden die Dialektik und Rhetorik gegen Ende des 10. Jahrhunderts wichtiger denn je zuvor. Das Curriculum von Gerbert von Rheims fängt sogar mit der Dialektik an.56 In der Wormser Briefsammlung lesen wir, wie Werke des Boethius (z.B. seine Categoriae und seine Übersetzung von Porphyrius’ Kommentar) ausgeliehen wurden. In einem weiteren Brief fragt ein Schüler nach schwierigen Punkten in Aristoteles’ Kategorien.57 Auch wenn diese Briefe eine Art Musterform annehmen und viele als Übungsstücke dienten, spiegeln sie doch die damaligen Zustände wider. In vielen werden Schüler und Lehrer in anderen Domschulen erwähnt, darunter auch die in Mainz. Im 26. Brief, datiert um 1032, antwortet ein Schüler aus der Mainzer Domschule auf einen Brief seiner Kollegen in Worms, in dem sie sich zu einem Streit mit den Würzburger Schülern äußern. Die Würzburger hatten die Wormser angeklagt, dass sie die weltliche, ja heidnische Wissenschaft zu eifrig kultivierten.58 Der Brief ist an „die auserwählten Jungen von Worms“ adressiert, die „die Studien und Künste der Athener energisch anstreben“, von einem „R. von Mainz – selber kein Grieche, eigentlich kaum des Lateins fähig (non Grecus, sed vix efectus Latinus)“, der „seine Grüße für eine übergangslose Freundschaft und feste Treue“ schickt. Eine sehr ähnliche Aussage über latinitas kommt in Ekkeharts Casus vor: In der Szene beschreibt er, wie Ekkehart II. die Herzogin Hedwig unterrichtet. An diesem Tag hat er einen jungen Klosterschüler mit auf den Hohentwiel

|| 52 Vgl. Egler 1990, 301. 53 Vgl. CESG http://www.e-codices.unifr.ch/en/description/csg/0830 mit weiteren Angaben. 54 Eisenhut 2009, 423. 55 Hofmann 2004, 28. 56 Glenn 2006, 53; Lutz 1977, 130–131. 57 Bulst 1977, Briefe 28, 32, und 51; vgl. Staub 2000, 289. 58 Vgl. Jaeger 2000.

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gebracht, Purchard, der in der Dichtkunst sehr geschickt sei und Hexameter spontan produzieren könne. Ekkehart hofft, dass die Herzogin dem Jungen ein wenig Griechisch beibringen wird, und Purchard meint dazu: Esse velim Grecus, cum sim vix, domna, Latinus („Ich wäre gerne ein Grieche, meine Dame, obwohl ich kaum Lateiner bin“).59 Kannte Ekkehart den Mainzer Brief und wurde er während seiner Amtszeit dort geschrieben? War der Schüler R. sogar Ekkeharts discipulus? Oder vielleicht Ekkehart selber?60 Wie sein Vorgänger Purchard, war Ekkehart in der Dichtkunst bewandert, eine Kunst, die in den ottonischen und salischen Schulen sehr begehrt war und sogar den Höhepunkt, das Ziel der Bildung darstellte. Als Schultext war Dichtung äußerst wichtig.61 Die Themen boten erbauliche exempla, die man mit Freude las, auswendig lernte und zu denen man immer wieder zurückkehrte. Man lernte die poetischen Bilder zu imitieren und besonders den Stil, in dem sie gebildet wurden. Die Mitglieder der damaligen Textgemeinschaft, die aus einer hypergelehrten und ähnlich ausgebildeten Elite bestand, betrieben in ihren Gedichten und Briefen ein komplexes Spiel aus Andeutungen und Intertextualität. Dieses wiederum trug wesentlich zur Prägung ihrer gruppenspezifischen Identität bei. Um die seltsamen Worte und die komplexe Syntax zu dechiffrieren, brauchte man ausgezeichnete Lateinkenntnisse und eine große Belesenheit in der klassischen und geistlichen Literatur. Außerdem konnte man mittels der Dichtkunst ausgezeichnet prahlen und miteinander konkurrieren, wie es die Wormser Briefe demonstrieren.62 Ekkehart IV. war ein erstklassiger Kandidat für den Poesieunterricht.63 Wie bereits erwähnt, hat er während seines Aufenthalts in Mainz eifrig gedichtet und umgedichtet. So hat er beispielsweise den manu fortis seines Vorgängers Ekkeharts I. korrigiert. Vielleicht wurde er sogar in Mainz mit der längeren Fassung des Gedichts vertraut.64 Als junger Mann in St. Gallen hatte er eine Dichtung über die Poetica verfasst, De lege dictamen ornandi, ein Werk, das oft als die älteste mittelalterliche

|| 59 Casus Sancti Galli/Haefele 1980 Kap. 95, 194. 60 Musterbriefe, wie die in der Wormser Sammlung, kommen auch in Cod. Sang. 556 S. 396–399 vor (CESG http://www.e-codices.unifr.ch/en/list/one/csg/0556). In der Handschrift folgen auf S. 400–401 ein kurzer Traktat, in dem grammatische Termini ins Althochdeutsche als Kontextglossen übersetzt werden. Eine Glosse von Ekkehart IV. über den Begriff pascha steht am Rand auf S. 400 und 401. Der Gebrauch von Code-Switching, wie es im Traktat vorkommt, erinnert an die Methode Notkers III. von St. Gallen und könnte aus seiner Schule stammen. Die Hand von S. 396– 399 stammt aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts, wahrscheinlich aus St. Gallen. 61 Vgl. Stotz 1981. 62 Jaeger 1994, 66–74. 63 Vgl. Weber 2003 und Wirth 1994, 111. 64 Diese Version ist wahrscheinlich nicht mit dem längeren Epos gleichzusetzen, sondern eher eine kürzere Vita in Hexametern. Schaller 1989/90, 437 aber schlägt vor, dass Ekkehart IV. mit dem längeren Gedicht während seiner Mainzer Zeit bekannt gemacht wurde.

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ars dictaminis angesehen wird.65 Seine Lebensleistung auf diesem Gebiet finden wir im Codex Sangallensis 393, sorgfältig vom Autor selbst kopiert und wiederholt umgearbeitet und glossiert, ausradiert und wieder korrigiert.66 Praktisches, angewandtes Wissen wurde natürlich ebenfalls an der Mainzer Schule behandelt, deren Hauptaufgabe die Ausbildung der Kanoniker war. Die Musik (angewandte wie auch theoretische), liturgische und weitere kirchliche Zeremonien und Riten (wovon in der Ingelheimer Szene die Früchte zu sehen sind), das Verfassen von Urkunden und anderen Dokumenten – dies alles musste gelernt und geübt werden. Ekkehart hat auch diese praktischen Aufgaben meisterhaft ausführen können. Er kannte sich sehr gut in der Musik aus.67 In seinen Benedictiones super lectores benutzte Ekkehart die musiktheoretische Einleitung des Liedes De Lantfrido et Cobbone, das um 1050 datiert wird.68 Obwohl der Casus-Text wahrscheinlich nach Ekkeharts Mainzer Zeit geschrieben wurde, zeigt er, dass er sich für das Thema eifrig interessierte und sogar die modernste Literatur darüber las. Viele von Ekkeharts dictamen debitum-Gedichten berühren sich mit der Liturgie und dienten dazu, die Schüler auf ihre vielfältige Mitwirkung am Gottesdienst vorzubereiten.69 Praktisches, Theoretisches, Ästhetisches, Geistliches und Weltliches – alles spielte eine wichtige Rolle im Lehrplan der neuen ottonischen Domschulen. Diese beschäftigten sich gezielt mit der Ausbildung politisch geeigneter Reichsdiener, zukünftiger Bischöfe und Hofkapläne. Anstelle christlicher Erziehungsziele und pastoraler Fertigkeiten fokussierte man nun auf eine den geistlichen Hofdienst durchlaufende und kirchliche Ämter bekleidende Verwaltungselite, als deren Prototyp der courtier bishop erscheint. Unter Otto dem Großen erlangten gleich mehrere, zum Teil neu gegründete, jedenfalls vorher bedeutungslose Domschulen eine Berühmtheit – darunter auch Mainz, welche diejenige der Klosterschulen, auch der bedeutendsten, eingeschlossen St. Gallen – überstrahlte.70 Stephen Jaeger hat das Konzept des „höfischen Bischofs“ weiterentwickelt und durch eine sorgfältige Analyse mehrerer Bischofsviten des 10. und 11. Jahrhunderts zeigen können, dass einige vorbildliche Charakteristika immer wieder vorkommen: episkopale Schönheit, Ausbildung in den litterae wie auch mores, d.h. ein angemessenes Benehmen, verbunden mit einem moralisch aufrechten Charakter. Diese moralischen Qualitäten seien dann schließlich als Erziehungsideale im 12. Jahrhundert in die volkssprachige Lite-

|| 65 In dem Gedicht teilt Ekkehart reichliche Hinweise über Stil und Wortwahl mit und warnt Dichter davor, Germanismen und Neologismen zu verwenden; Weber 2003, 63 und Schulz 1941, 218. 66 http://www.e-codices.unifr.ch/en/list/one/csg/0393. 67 Liber Benedictionum/Egli 1909, L–LI; in diesem Zusammenhang siehe auch den Beitrag von Michael Klaper in diesem Band. 68 Jacobsen 1977, 49 und Eisenhut 2009, 99. 69 Schulz 1941, 231–232. 70 Fleckenstein 1956, 49.

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ratur und laienadelige Kultur eingegangen.71 Ob und inwieweit Jaegers Thesen über den Ursprung und die Ausbildung eines spezifisch höfischen Verhaltenskodex im Hochmittelalter stimmen, würde ich gern in diesem Beitrag dahingestellt lassen.72 Seinen Argumenten zu den deutschen Domschulen im ausgehenden 10. und 11. Jahrhundert will ich jedoch kurz nachgehen, da sie auch aufschlussreich für unsere Ekkehart-Geschichte sein könnten. Nach Jaeger lehrten die erfolgreichsten Lehrer an den Domschulen durch ihr eigenes Beispiel, ihre Ausstrahlung. Die kunstvolle Form des Verhaltens sei nicht nur über textgebundenes Wissen, sondern auch durch das Vorbild des Lehrenden vermittelt worden: Im charismatischen Unterricht ohne intellektuellen Anspruch sei der körperlich gegenwärtige Magister, dessen Verhalten die Norm für seine Schüler stelle, selbst zugleich Text und Curriculum. Jaegers Ausführungen zufolge treten die in karolingischer Zeit gleichermaßen auf genuin christlichem Lehrstoff und artes liberales rekurrierenden Schulformen in ottonischer Zeit auseinander. Während Klosterschulen weiterhin den alten, karolingischen Bildungsstoff pflegten, bemühten sich die Kathedralschulen um die Vermittlung ethischen und vor allem ästhetischen Verhaltens. Dies war ein schwieriger Lehrauftrag für Mönche und wurde, wie Jaeger betont, daher nur selten von ihnen übernommen. Eine beeindruckende Ausnahme liefert jedoch Ekkehart II., der in vielerlei Hinsicht ein Paradebeispiel des neuen „Diensthöflings“ darstellt, besonders wie er in den Casus von Ekkehart IV. geschildert wird.73 Hier erscheint er als gut aussehender Mann – groß (procerus), stark, mit einer ausgeglichenen Figur und blitzhellen Augen, allen seinen Zeitgenossen in Bezug auf Wissen, Beredsamkeit und Dienstfähigkeit überlegen (daher meinte Otto II., dass keinem Benedikts Kutte jemals besser stand; Casus 89, 182). Ekkehart IV. betont den Erfolg seines Vorgängers, aber auch seine Strenge als Lehrer (prosper et asper) und berichtet, dass er sowohl Adlige (nobiles) als auch Nichtadlige (mediocres) ausgebildet habe, in St. Gallen wie auch anderswo, viele dabei aufwärts tragend, d.h. er unterstützte sie in ihrer Vorbereitung auf wichtige Stellen im Reich. In einer Szene, die an die bereits erwähnte Episode in Ingelheim erinnert, beschreibt er, wie einst bei einer Synode in Mainz, als Ekkehart II. das Zimmer betrat, sechs seiner ehemaligen Schüler, jetzt Bischöfe, aufstanden und ihn grüßten (Casus Kap. 89, 184–185). Im Fall Ekkeharts II. – so wie es Ekkehart IV. schildert – sind es sowohl Charisma als auch disciplina, die im pädagogischen Erfolgsrezept notwendig sind. Damit kehren wir zurück zur disciplina – Ekkeharts rotem Faden in den Casus –, die uns auch hier als solcher dienen soll. Ekkehart betont die Zucht in der St. Galler Erziehung – für Interne wie auch Externe. Es entsteht fast der Eindruck, als vertausche er den Unterricht in den mores mit dem der disciplina, die er anpreist und her|| 71 Vgl. Jaeger 1983 und 1994. 72 Siehe z.B. die Rezensionen von Reuvekamp-Felber 1999, Bond 1996 und Barrow 1996. 73 Stotz 1980, 453 bemerkt, dass Ekkehart II. Mönchtum und Gelehrsamkeit mit der Weltgewandtheit eines vornehmen Höflings vereinigt, in einer Weise, wie es selten vorkommt.

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vorhebt. Ekkehart war nicht der einzige, der sich Gedanken über die mangelnde Disziplin seiner Zeit machte. In einem Brief an seinen ehemaligen Schüler Walcherus in Lüttich beschreibt Goswin, der seit ca. 1051 in Mainz unterrichtete, den allgemeinen Verfall der disciplina in den Schulen – nicht nur in Mainz, obwohl seine Beispiele von dort stammen. Er führt diesen Verfall auf Habgier zurück, die „eine folgenschwere Ablehnung von Benehmen und Disziplin“ hervorbrachte. Das Auspeitschen von Schülern als disziplinäre Maßnahme wurde komplett aus dem Schulalltag gestrichen, und in Folge dieser neuen Nachlässigkeit vermehrten sich Untugenden wie Unkraut. Statt sich der „Gelehrtenrute“ zu unterwerfen, gaben sich die Schüler der Dummheit, Faulheit und ihrem Gott, dem Bauch, hin.74 Für den Verfall macht er das Aufkommen eines neuen Bereichs der Dialektik und ihre Lehrer verantwortlich, die er als Possenspiel und Schauspieler beschreibt. Der Niedergang des alten (traditionellen) Lernens bedeutete, Goswin zufolge, ein Ende der Religion und des disziplinierten Lebens. In einem um die Jahrhundertmitte geschriebenen Brief wendet sich Bischof Gunther von Bamberg an Meinhard, den Leiter der Domschule in Bamberg, mit der Bitte um ein Buch über den christlichen Glauben, De fide, das er ihm versprochen hatte zu verfassen. Meinhard beklagt, dass er als Leiter der Schulen zu beschäftigt sei und daher einfach keine Zeit für dieses Projekt aufbringen könne. Wenn die einzige Aufgabe, die mir anvertraut wird, das Unterrichten junger Menschen in den Geisteswissenschaften wäre – und viele frühere Autoren sprachen sich für einen solch einseitigen Lehrplan aus – dann würden die hohen Anforderungen dieser Aufgabe und das Ansehen, das man dabei erlangt, Bezahlung genug für mich sein. Nun ist es allerdings so, dass diejenigen, die als Leiter von Schulen eingesetzt wurden, mit einer doppelten Funktion zum Nutzen der Kirche beauftragt werden: sie verbrauchen den ersten Teil ihres Geschicks mit der Ausbildung von Benehmen und verschwenden den zweiten Teil mit Gelehrsamkeit.75

Hier wird der hohe Stellenwert des neuen praktischen Lehrplans, fokussierend auf Benehmen – mores – betont. Wir erfahren aus zeitgenössischen Quellen, dass Meinhard letztendlich die „weltlichen“ Studien aufgab und aus dem Schuldienst austrat, um sich der Theologie zu widmen. Wie war es mit Ekkehart? Hat er vielleicht die Rolle des charismatischen Lehrers nicht ausfüllen können? War es ihm zuwider? Wurden die mores auch in Mainz hervorgehoben? Gab es vielleicht seinem || 74 Gozechini Epistola ad Walcherum XXVII.31.618: exitialis morum et disciplinae iactura; vgl. Jaeger 1994, 223. 75 Cum me negociosissimi magistratus cura implicueris, urgues tamen et instas [...] ut novam operam, non tam arduam et difficilem quam plane impossibilem suscipiam [...] Equidem si excubiæ nostræ solis adolescentum ingeniis liberali erudicione excolendis assiderent, quod unicum curriculum pleraque veterum studia sibi vindicarunt, laboris mala famæ nominisque momenta mihi pensarent. Verum nunc qui præfecti scolarum habentur, gemina pro ecclesiastico usu functione multantur: primas enim partes formandis moribus impendunt, secundas vero litterarum doctrinæ insumunt. Weitere Briefe Meinhards von Bamberg, 238–239. Vgl. Jaeger 1994, 50.

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Geschmack nach zu wenig disciplina? Anders als sein Vorgänger Ekkehart palatinus war Ekkehart IV. vielleicht nicht der ideale „höfische Mönch“ und Lehrer. Doch wäre wohl gerade dies eine wichtige Voraussetzung für ein Vorankommen im Domschuldienst um 1030 gewesen. Vielleicht wollte er einfach nicht die Rolle einnehmen, die vom neuen Lehrplan erwartet wurde. Anstatt in Mainz seinen Dienst fortzuführen oder an eine andere Schule zu wechseln oder innerhalb der Kirche auf einen höheren Posten befördert zu werden, kehrte Ekkehart nach St. Gallen zurück.76 Nach der Schilderung der Vita Bischofs Gedehards von Hildesheim bat Aribo um Vergebung für den Gandersheimer Streit Weihnachten 1030 in Paderborn und kündigte danach eine Pilgerfahrt nach Rom an, auf der er am 6. April 1031 in Como starb.77 Man nimmt an, dass Ekkehart bald danach nach St. Gallen zurückkehrte. Aribos Nachfolger in Mainz, der Heilige Bardo (1031–1051), war mit Kaiserin Gisela verwandt und, einigen Quellen zufolge, wurde er wegen dieser Verwandtschaft auch als neuer Erzbischof gewählt; vorher war er Dekan und dann Abt in Fulda, Hersfeld und zuletzt in Werden.78 In allen drei Orten habe er eine strenge Disziplin eingeführt, obwohl er in den Viten als milde, liebenswürdige Vaterfigur dargestellt wird. Bardo war nicht Konrads erste Wahl. Anfänglich dachte der Kaiser an Wazo von Liège, den ehemaligen Leiter der Domschule in Lüttich, der ein hochtalentierter Theologe und Anhänger der lothringischen Reformrichtung war; dieser sagte aber ab. Da er nicht von besonders hoher Abkunft war, habe er als Schulmeister Schwierigkeiten mit den Schülern der stolzen Adelsgesellschaft gehabt. Wazo verließ Lüttich, verstrickt in die Konflikte zwischen den Reformern und ihren Gegnern, und schloss sich dem königlichen Vertrauten Poppo von Stablo an, der ihn für die Aufnahme in die Hofkapelle empfahl.79 Als Konrad dann Bardo zum Erzbischof wählte (mit Giselas Hilfe), waren einige Mainzer mit ihrem neuen Erzbischof nicht ganz zufrieden: Monachus est, aliquid esse potuit in suo monasteriolo, nequaquam tali congruit solio.80 In der längeren Vita Bardonis steht sogar, monachum et hominem aspectu deformem Maguntinensi praesidere dedignantes deridebant.81 Den Kaplänen schien Bardo nicht nur hässlich, sondern auch zu dumm und ungebildet zu sein: Wegen seiner kurzen und einfachen Predigt am Weihnachtstag 1031 in der Pfalz zu Goslar wurde er von der Hofgeistlichkeit ausgelacht.82 Offensichtlich hat Bardo die || 76 Tremp 2005b, 397 behauptet, Ekkehart habe sich im Grundsatz dem Fortschritt verschlossen. Obwohl er ein Traditionalist blieb, war er offen für die Wahrnehmng von Veränderung und Fortschritt. 77 Schieffer 2009, 83–84. 78 Der Kaiser beschreibt ihn als vir magnificae virtutis, perfectae sanctitatis, ingenii singularis, vasculum castitatis, [...]. (Vita Bardonis maior, Kap. 15, 329); vgl. Wolfram 2000, 276–280. 79 Wolfram 2000, 276–277. 80 Vita Bardonis maior Kap. 15, 329. 81 Vita Bardonis, Kap. 3, 524. 82 Vita Bardonis maior Kap. 15, 329f. Vgl. auch Wolfram 2000, 277 und Althoff 1997, 379.

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Voraussetzungen der neuen courtier bishop-Figur schlecht erfüllt; hässlich und ohne Charisma und Gelehrsamkeit war er alles andere als ein ottonisch-frühsalischer Reichsbischof. Die Adligen wären sicher mit Wazo genauso unzufrieden gewesen, obwohl dieser zumindest als Gelehrter bekannt war. Über die Schule unter Bardos Führung schweigen die Quellen. Wir wissen, dass Bardo sich den Reformbewegungen der damaligen Zeit anschloss und sie in Werden auslöste; 1031 erhielt er einen Nachfolger in Hersfeld, Poppos Schüler Rudolf aus Stablo, der auch dort die Reformen einführte.83 Bardo legte Wert auf das gemeinsame Leben des Domklerus und verband in guter benediktinischer Tradition Gotteslob und Arbeit. Ein „apolitischer Oberhirte“ und „mönchischer Einfaltspinsel“ hätte aber die Reichspolitik Konrads II. und Giselas weniger gestört als der „Vollblutpolitiker“ Aribo.84 Hätte Ekkehart unter Bardo in der Domschule lehren wollen? Vielleicht. Beide waren Mönche, gleichaltrig. Die Gelehrsamkeit scheint Bardo aber nicht sehr am Herzen gelegen zu haben – sagen zumindest die Quellen.85 Es ist auch nicht klar, ob Ekkehart ganz mit den reformerischen Ansichten seines neuen Erzbischofs zufrieden gewesen wäre. Wir wissen aus den Casus Sancti Galli und weiteren Glossen, dass Ekkehart später in seiner Karriere fest unter den Gegnern der Lothringischen Reformen zu finden war. Er nennt ihre Befürworter Popponiscos scismaticos, solche, die zu den Mönchen in St. Gallen mit dem Abt Norpert geschickt wurden.86 Der Abt Norpert, der aus Stablo und Poppos Schule kam, übernahm St. Gallen 1034. War Ekkehart schon 1031 unter den Oppositionellen, gleich nach dem Tode Aribos? War dies der Hauptgrund, dass er Mainz und den neuen Erzbischof Bardo verließ? Wie schon oben erwähnt, wird Ekkeharts Anwesenheit in Mainz als Grund dafür angebegen, dass Aribo selber ein Opponent war. Ein weiterer Anhaltspunkt bei der Frage nach Ekkeharts Loyalität wäre bei seinem Freund Johannes, dem er die Benedictiones widmete und den er wahrscheinlich in Mainz kennen lernte, zu suchen. In seiner Widmung, die er nach seiner Rückkehr nach St. Gallen schrieb, nennt sich Ekkehart præspiter, betont aber seine endgültige Position als St. Galler Mönch; Johannes dagegen wird als diaconus, monachus und dann abbas des Klosters St. Maximin in Trier genannt: Iohanni diacono monacho sancti Maximini post eius cœnobii abbati Ekkehart præspiter, indignus et

|| 83 Wolfram 2000, 280. 84 Wolfram 2000, 280. 85 Als Schüler in Fulda, so lesen wir in der längeren vita, habe er die Fortschritte der anderen überflügelt; er trieb die philosophischen Studien mit glücklichem Erfolge; die profane Rhetorik entsprach weniger seiner Neigung. Er erfasste die schlichte Größe der kirchlichen Wissenschaft mit der ganzen Kraft seines Geistes; Deutschlands Geschichtsquellen 524 und Schneider 1871, 8. 86 Die Stelle steht in einer Glosse zu peccatores in Notkers Psalter; in der vorigen Glosse zu ménniscen steht uuálaha de stabulov, Notker der Deutsche, Der Psalter/Tax 1981, S. 222; vgl. Hellgardt 2001, 32–33.

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ultimus sancti Galli monachus.87 In einer weiteren Glosse zum Gedicht De sancto Remaclo episcopo (St. Remaclus, die Ruhestätte befand sich in Stablo), steht Johannes, cui hæc scripta sunt, sancti Remacli monachus erat, apud sanctum Maximinum autem Treveris abbas tandem factus est. 88 Johannes war der Neffe Poppos von Stablo, der für seinen reformerischen Eifer und Einfluss diesbezüglich bei Konrad II. wohlbekannt war; derselbe wurde ja auch von Ekkehart in seinen Glossen getadelt. Poppo hat seinem Neffen Johannes Mitte 1035 die Abtei St. Maximin in Trier und zu Jahresbeginn 1036 Limburg übertragen. Johannes starb aber plötzlich am 11. Juli 1036.89 In der älteren Literatur wird Johannes oft als Gegner der Reformen geschildert. Als Grund wird seine Freundschaft mit Ekkehart IV. angeführt.90 Tatsächlich lesen wir in der Vita Popponis, dass sich Johannes gegen die Bevormundung seines Onkels wehrte und mit einem frühen Tod bestraft wurde.91 Sein Nachfolger Bernard starb innerhalb eines Jahres, andere widersetzliche Äbte in Limburg starben gleichfalls nach kurzer Frist, oft an schrecklichen Dingen.92 Offensichtlich war es keine gute bzw. gesunde Idee, Poppo entgegenzutreten. Ob Poppos Unzufriedenheit mit seinem Neffen in Zusammenhang mit dessen reformfeindlicher Haltung stand, ist nicht klar. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu erwähnen, dass Johannes und Poppo beide zu Ostern in Ingelheim den Kaiser aufsuchten, um einen Tauschvertrag zwischen ihnen vom Kaiser bestätigt zu bekommen. Dies war aber am 18. April 1036, nicht 1030, kurz vor Johannes’ Tod.93 Ekkeharts Freundschaft mit Johan|| 87 Liber Benedictionum/Egli 1909, 3. In einer Glosse zum 49. Gedicht De sancto Remaclo episcopo, Liber Benedictionum/Egli 1909, 251, Anm. 5. 88 Liber Benedictionum/Egli 1909, XLIX, 251. Dümmler 1869, 5, nahm sogar an, dass Ekkehart Trier aus „eigner Anschauung“ kennen gelernt hatte, vielleicht „durch einen Besuch seines Freundes [Johannes]“. 89 Vita Popponis Abb. Stabulensis/Wattenbach, Kap. 20, 305 und Kap. 23, 309; Dümmler gibt fälschlich den 11. Juli 1035 als Johannes’ Todestag an, und der Fehler wird oft in der EkkehartForschung weitergeführt; vgl. Bresslau 1884, 409 und Wolfram 2000, 323. 90 Wolfram 2000, 323 und Schäfer 1991, 51. 91 Tempore quo beatum Popponem Iohanni coenobium sancti Maximini regendum accidit, contigit et ipsum quaedam in visione super eiusdem regiminis receptione didicisse. Vox namque ad eum oraculo et vere constat divino advenit, quae eam certe sententiam audire dedit [...] ‚Cum esses,‘ inquit, ‚iunior, cingebas te, et ambulabas ubi volebas; dum autem senueris, extendes manus tuas , et alius te cinget et ducet quo non vis.‘ Divinitus hoc agi oraculum mox intellexit [...] Sermonem interea super Iohannis saepe memorati regimine ad fratres habuit, et de venturis tam in se, quam in illo, verba tamquam de praeteritis conseruit. Hoc tamen saepius inculcando docebat, quod eundem iam Iohannem mortis occasus non longe respiciebat. Res itaque non post modicum ex condicto viri Dei effectum invenit, vivendique finem nimirum anno ipse dedit, Vita Popponis, Kap. 23, 309. Auch Johannes’ Nachfolger Bernardus war kaum zwei Jahre im Amt. Nach den zwei unerwarteten Sterbefällen war es offensichtlich schwierig, einen heimischen Mönch für die Stelle zu finden, und Poppo selbst übernahm das Kloster wieder. 92 Hallinger 1950, I, 497 und II, 762; Wisplinghoff 1970, 54–55. 93 Bresslau 1884, 161. Könnte die Ingelheimer Szene, die Ekkehart in seinen Casus beschreibt, bei dieser zweiten Osterfeier stattgefunden haben? Eher nicht, da Kaiserin Giselas Schwester, die Her-

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nes könnte auch vielleicht den Weg der Notkerschen Kleineren Schriften von St. Gallen nach Trier und eventuell weiter nach Westen erklären. Der Weg könnte direkt verlaufen sein oder über Mainz. Laut Isabel Knoblich entstanden mehrere der von St. Maximin in Trier Mitte des 12. Jahrhunderts erwähnten Handschriften in Mainz; einige waren schon im 10. Jahrhundert am Ort, andere hätten auch später erworben werden können.94 Es mag sein, dass widrige Winde in Mainz bliesen mit dem neuen Abt Bardo, und dass sich ein Mönch wie Ekkehart aus dem damals noch nicht reformierten Kloster St. Gallen als Domschulleiter unerwünscht vorkam. Vielleicht wirkte das neue Umfeld auf Ekkehart sogar abstoßend. Es könnte auch andere Gründe gegeben haben, die Ekkeharts Aufbruch von Mainz beeinflussten. In seiner Widmung an den verstorbenen Johannes beschreibt sich Ekkehart als præspiter ultimus monachos. Obwohl eine Zeitlang Lehrer unter den Kanonikern, war er letztendlich Mönch. In einer Glosse zu Hieronymus schreibt er prespiter et episcopus unum sunt apud veteres, sed vana gloria vetat apud modernos.95 War er vielleicht von den neuen courtier bishops enttäuscht? Mitte des 11. Jahrhunderts neigte sich der Einfluss St. Gallens auf die Ausbildung der Reichselite dem Ende zu. Keiner der neueren Schulabgänger besetzte hohe Stellen; keine neuen Lehrer wurden an andere Schulen verschickt. Die Zeit der bedeutenden Reichsabteien war vorbei. Mehrere Faktoren spielten hier eine Rolle, vor allem natürlich die monastische Reformbewegung und der Investiturstreit. Als Ekkehart nach St. Gallen zurückkehrte, war er anscheinend aus dem Gelehrtenkreis ausgetreten; er hielt keinen regen Kontakt zur Außenwelt – jedenfalls haben wir keinen Beweis für eine entsprechende Korrespondenz oder die weiterführende Pflege von Freundschaftsverhältnissen; es sind auch keine Unterlagen über weitere Schüler vorhanden. Seine Dichtungen widmete er verstorbenen Freunden oder Verwandten. Er zog sich in sein eigenes, persönliches Gelehrtenkloster zurück, wo er mit seinem Wissen arbeitete, das er in den Büchern der umfassenden Sammlung fand, die ihn dort umgab: er verbesserte, ergänzte, löschte und überarbeitete zum wiederholten Male.

|| zogin Mathilde von Schwaben, die Ekkehart bei der Gelegenheit einen goldenen Ring schenkt, schon 1034 gestorben ist, Wolfram 2006, 21. Der Ortszufall ist aber auffällig. 94 Knoblich 1996, 81–84 und Anm. 386. Einen Überblick über die Texte bieten Hellgardt 1979 und van de Vyver 1942, 182–187. Die hier in Frage kommenden Texte wären Notkers De arte rhetorica (Nr), der St. Galler Traktat (Ntr), De partibus logicae (Nl), und die Distributio (Ndis). Nl und Ndis wurden weiter im Westen verbreitet; Ndis wurde auch östlich in Bayern zusammen mit Nr verbreitet. Siehe auch oben Anm. 16 sowie die Beiträge von Glauch und Tax im vorliegenden Band. 95 Cod. Sang. 159, S. 286.

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Bernhard Zeller

Lokale Eliten im thurgauischen Umfeld des Klosters St. Gallen (8.–11. Jahrhundert): ‚Ekkeharte‘ und ‚Notkere‘ Seit seinen Anfängen um das Jahr 719 griff das auf Initiative des adeligen Großen Waldram und unter Leitung des in Rätien ausgebildeten Alemannen Otmar an der Stelle der heruntergekommenen Gallus-Zelle begründete Kloster St. Gallen auf sein näheres und ferneres Umland aus. Vielerorts konnte es aufgrund von Güterübertragungen Fuß fassen, wobei sich seine Präsenz dort, wo es im Lauf der Zeit zu einer gewissen Besitzkonzentration kam, durch eigene Wirtschaftshöfe und Eigenkirchen verdichtete. In fast allen Teilen Alemanniens erwarb St. Gallen in der Karolingerzeit Besitz oder Besitzrechte, doch kann der frühmittelalterliche Thurgau, der im Wesentlichen den Raum zwischen dem Bodensee im Norden und dem Zürichsee im Süden sowie zwischen Aare und Reuss im Westen und dem Alpsteinmassiv im Osten umfasste, mit Fug und Recht als Kerngebiet der klösterlichen Grundherrschaft bezeichnet werden. Allerdings überflügelte er andere klösterliche Besitzlandschaften wie etwa das Baarengebiet zwischen oberer Donau und oberem Neckar und vor allem die nördlichen Bodenseegaue erst im Verlauf des 9. Jahrhunderts.1 Diese allmähliche Entwicklung des Thurgaus zur primären St. Galler Interessensphäre in karolingischer Zeit lässt sich vor allem in den über 800 klösterlichen Urkunden erkennen, die bis zum heutigen Tag größtenteils im Original oder in zeitnahen, frühmittelalterlichen Einzelblattkopien erhalten geblieben sind.2 Diese Urkunden sind eine zentrale Quelle für die Rekonstruktion einer St. Galler Besitzgeschichte,3 werfen aber auch Licht auf die Beziehungen zwischen dem Kloster und der es umgebenden Welt – Beziehungen, die sich zum Teil über lange Zeit verfolgen lassen. Die St. Galler Privaturkunden dokumentieren in der Regel Rechtsgeschäfte bzw. Vereinbarungen zwischen der Mönchsgemeinschaft und Grund besitzenden Laien. Letztere konnten aus verschiedenen sozialen Schichten stammen: die Palette reicht von den Großen des Karolingerreiches bis zu an der Grenze zur Hörigkeit lebenden Bauern.4 Freilich sind Güterübertragungen von Grafen, den höchsten Repräsentan-

|| 1 Goetz 1989, hier 201. 2 Vgl. UBSG I–III. Vgl. aber auch die voranschreitende Faksimile-Edition der St. Galler Urkunden in der Reihe der ChLA I–II sowie ChLA² Cff. 3 Vgl. u.a. Caro 1901, 1902, 1905; Bikel 1941; Sprandel 1958, 28–81; mit weiterer Literatur Goetz 1989, 197–199, Anm. 1–4. 4 Jordan 2006, hier 160.

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ten des karolingischen Staates in Alemannien, selten.5 Im Fall des Thurgaus gilt es dabei zu bedenken, dass das Verhältnis des Klosters St. Gallen zu den dortigen Grafen bis ins frühe 9. Jahrhundert aufgrund der Vorkommnisse bei der karolingischen Machtübernahme in Alemannien (bei der es zu Güterentfremdungen, zur Ausschaltung des ersten St. Galler Abtes Otmar und der Unterstellung unter den Konstanzer Bischof kam) gespannt war.6 Zum anderen stammten viele der früheren Thurgauer Grafen in der Karolingerzeit nicht aus der Region und waren deshalb zur Festigung ihrer eigenen Position eher um Besitzerwerb denn um Besitzübertragungen bemüht.7 Schließlich wechselten sich in der Karolingerzeit im Thurgau nicht weniger als 15 Grafen in ihrem Amt ab, wobei von den ersten einige vorzeitig ihrer Aufgaben entbunden worden zu sein scheinen. Nur in zwei Fällen kann hingegen belegt werden, dass das Grafenamt vom Vater auf den Sohn überging – eine längere Sukzession innerhalb einer Kernfamilie ist jedoch nicht nachweisbar. Freilich gibt es Anzeichen dafür, dass die sogenannten Udalrichinger oder Gerolde sowohl zur Zeit Karls des Großen als auch in den 880er Jahren Versuche machten, die Grafschaft im Thurgau in ihrer Familie erblich zu machen, doch waren diese Bemühungen wie auch im Fall anderer bedeutender Grafenfamilien Alemanniens nie auf einen einzigen pagus oder auf eine Grafschaft beschränkt. Vielmehr zielten solche Ambitionen auf eine mehrere Grafschaften umfassende „Verherrschaftlichung“, und in der Tat übte eine ganze Reihe von Thurgauer Grafen auch anderswo Grafenrechte aus.8 Unterhalb dieses mehr oder weniger deutlich über den pagus bzw. den gräflichen Amtsbezirk hinaus verweisenden Aufgaben- und Interessenshorizonts der Grafen blieb naturgemäß Platz für kleinräumigere Macht- und Herrschaftsstrukturen. Deren Untersuchung ist auf der Grundlage der St. Galler Urkunden, von Namenseinträgen in die Libri Vitae und Nekrologien der Region, aufgrund namenskundlicher Forschungen und anderer, erzählender Quellen zu einem gewissen Grad, aber keineswegs flächendeckend oder umfassend, möglich. Nur gelegent-

|| 5 Vgl. dazu die, wie schon Goetz 1989, 198 Anm. 2, betont, nur in der Tendenz richtige Bemerkung des Notker Balbulus in den Gesta Caroli/Haefele 1954, II, 10, 67: quod reiculę sancti Galli non ex regalibus donariis, sed ex privatorum tradiciunculis collectę. 6 Vgl. v.a. Walahfrid Strabo, Vita sancti Galli/Krusch 1902, II 14, 280-337, hier 322f.; Meyer von Knonau 1870a, 1–93, hier 74–77; Walahfrid Strabo, Vita sancti Otmari/von Arx 1829, 4–6, 40–47, hier 43f.; Meyer von Knonau 1870b, 94–150, hier 99–103; Annales Sangallenses maiores/von Arx 1826, a. 760, 72–85, hier 74; Henking 1884, 265–323, hier 268f. 7 Vgl. Borgolte 1984, 109f. und 232–234. Bis in die Zeit um 800 handelt es sich um Pebo (Einheimischer?; vgl. Borgolte 1985, 191f.), Chancor (Mittelrheingebiet oder sogar aus dem Maasgebiet oder Neustrien; vgl. Borgolte 1985, 93), Warin (Mittelrheingebiet?; vgl. Borgolte 1985, 285f.), Isanbard (Sohn Warins, vgl. Borgolte 1985, 150ff.), Erchanmar (?; Borgolte 1985, 112), Udalrich I. (Elsass; vgl. Borgolte 1985, 250), Adalrich (Elsass; Udalrichinger?; vgl. Borgolte 1985, 40f.) und Scopo (unbekannt; Udalrichinger?; vgl. Borgolte 1985, 237). 8 Borgolte 1984, 110. Siehe dazu allgemein, mit weiterführender Literatur Depreux/Bougard/Le Jan 2007.

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lich erlaubt nämlich die für solche Fragestellungen an sich gute Überlieferungssituation deutlichere Einblicke in den Aufbau und die Organisationsweisen ländlicher Gesellschaften in Alemannien. Bestimmend waren in diesen Gesellschaften allem Anschein nach lokale Große, das heißt führende Mitglieder von offenbar eingesessenen Familien(verbänden), die aufgrund ihres meist ausgedehnten, geographisch aber tendenziell eher konzentrierten Besitzes an Land und Leuten innerhalb einer Kleinregion maßgeblich waren.9 Auf ihren Einfluss in ihrer engeren Heimat verweist nicht zuletzt der Umstand, dass sie dort bei zahlreichen Rechtsgeschäften Dritter als Zeugen fungierten und in den Zeugenlisten der entsprechenden Urkunden regelmäßig als Erste oder zumindest unter den Ersten angeführt wurden. Einige der lokalen Großen sind zudem auch als Amtsträger belegbar, nämlich als centuriones, centenarii und vicarii, das heißt sie fungierten in einem mehr oder weniger ausgedehnten Bereich als Hilfskräfte des zuständigen Grafen. Durch die Wahrnehmung solcher offiziöser bzw. gewissermaßen ‚staatlicher‘ Funktionen wurde ihre Herrschaft im Kleinen abgerundet, gleichzeitig wurden sie dadurch Teilhaber an der fränkischen Herrschaft bzw. am karolingischen Staatswesen in Alemannien.10 Im 9. Jahrhundert wurden die lokalen Großen in ihrer Gesamtheit mitunter als populus, d.h. als politisch handlungsfähige und handelnde Repräsentanten, des pagus und comitatus verstanden und hatten als solcher offenbar auch eine gewisse Mitsprachemöglichkeit bei Entscheidungen, die den gesamten oder zumindest größere Teile des Thurgaus betrafen. Wahrscheinlich waren sie die Garanten dafür, dass bestimmte Entscheidungen, Anordnungen, Regelungen und Beschlüsse auf lokaler Ebene umgesetzt, verwirklicht und im Alltag ‚gelebt‘ wurden, was sich vor allem im Fall von Konflikten und deren Beilegung zeigt: Als sich wohl im Jahr 853/54 der Konstanzer Bischof Salomo I. und der St. Galler Abt Grimald über Besitz und Grenzstreitigkeiten im Thurgau einigten, geschah dies zunächst in Anwesenheit König Ludwigs des Deutschen und der principes provinciae. Später wurden coram primis et mediocribus des pagus die Besitzgrenzen festgestellt.11 Als im Jahr

|| 9 Vgl. Sprandel 1958, 98–133 sowie die Arbeiten der ‚neueren Grundherrschaftsforschung‘, namentlich Rösener 1989 sowie Goetz 1989. Vgl. weiters auch die prosopographischen Untersuchungen zu den in den St. Galler Urkunden genannten Personen(gruppen), namentlich May 1976; Borgolte 1984; Borgolte 1985; Dohrmann 1985. Siehe auch den guten Forschungsüberblick bei Jordan 2006, bes. 157–160. 10 Vgl. dazu vor allem Sprandel 1958, 98–133, der die Zeugenlisten der St. Galler Urkunden eingehend analysierte und auf regelmäßig auftauchende Spitzenzeugen bzw. mehrfach gemeinsam bezeugte Schenker- und Zeugengruppen aufmerksam machte. Freilich ist die Quellenlage nicht für alle Teile Alemanniens in derselben Dichte gegeben. Die wesentlichen Beispiele stammen aus dem Thur-, Zürich- und Linzgau, teilweise aber auch aus dem St. Gallen ferneren Breisgau. Zur Stellung dieser ‚local figures‘ im karolingischen Staatsgefüge siehe mit weiterführender Literatur Airlie 2006, 93–111, bes. 110–111. 11 UBSG III, Anh. n. 7 (ChLA 105, n. 24).

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890 der Konstanzer Bischof und St. Galler Abt Salomo III. die Rechte des Klosters im Rheingau und die Grenze zwischen dem Thurgau und dem Rheingau festlegen ließ, geschah dies unter Mitwirkung der principes und primates aus den Grafschaften Thurgau, Linzgau und Rätien.12 Lokale Große fungierten also vielfach als ‚Scharniere‘ zwischen dem auf regionaler Ebene vornehmlich durch seine Grafen repräsentierten karolingischen Staat auf der einen Seite und der lokalen, von großen kirchlichen Institutionen, aber auch von ansässigen Familienverbänden und -interessen geprägten Grundherrschaft auf der anderen Seite.13 Nicht zuletzt aufgrund ihrer Mittlerstellung bildeten sie auch wichtige Bezugspersonen für die in Alemannien expandierenden kirchlichen Großinstitutionen wie das Kloster St. Gallen. Und so sind einige der in St. Galler Privaturkunden als Spitzenzeugen und/oder centenarii oder vicarii bezeugten lokalen Großen auch als advocati des Steinach-Klosters nachweisbar, mithin als lokal tätige Stellvertreter des Abtes bzw. des Konventes in weltlichen Angelegenheiten wie Gerichtssachen oder bei einfachen Rechtsgeschäften. Man vertraute in St. Gallen und anderswo offenbar darauf, dass diese Leute die ordentliche Durchführung eines Rechtsgeschäfts in ganz besonderer Weise garantieren und längerfristig auch für Rechtssicherheit sorgen konnten.14 Für den Austausch zwischen den lokalen Großen und den kirchlichen Großinstitutionen sorgte freilich auch der Umstand, dass nicht selten andere Mitglieder ihrer Familie eine geistliche Laufbahn einschlugen und in weiterer Folge in ihrer Heimat als Priester tätig waren oder aber ins Kloster St. Gallen eintraten und Mönche wurden. Aus den Familien solcher lokaler Großer aus dem Thurgau stammte etwa der St. Galler Abt Gozbert (816–837) und sein gleichnamiger Neffe, vermutlich auch der berühmte St. Galler Mönch und Schulmeister Iso, schließlich auch die meisten in St. Gallen wirkenden Mönche namens Notker und Ekkehart.15 Am Beginn ihrer nicht lückenlos erhellbaren Familiengeschichte stehen die Namen Othere und Amalung, die seit den 830er bzw. 840er Jahren in mehreren den mittleren Thurgau (etwa zwischen Wil im Westen und St. Gallen im Osten) betreffenden St. Galler Urkunden als Spitzenzeugen auftauchen. Während Othere eher im Westen dieser Kleinregion, und vornehmlich in den 840er Jahren und bis in die Zeit

|| 12 UBSG II, n. 433 (= DD. LdD, n. 69). Kehr 1934, 96–99 und n. 680. 13 Vgl. dazu grundlegend Rosenwein 1989, v.a. 49–77, 115–122. 14 Dohrmann 1985; allgemeiner: West 2009. 15 Zu Abt Gozbert, dessen Bruder Ruadi(nus) im ersten Drittel des 9. Jahrhunderts in der Umgebung des thurgauischen Wil mehrfach als klösterlicher advocatus bezeugt ist, Meyer von Knonau 1879; Duft 1964; Dohrmann 1985, 151–157; Schär 2008; Zeller 2009. Zu Iso vgl. Meyer von Knonau 1881; Duft 1974. Zu den ‚Notkeren‘ und ‚Ekkeharten‘ allgemein vgl. Meyer von Knonau 1876; ders. 1877; Ochsenbein/Schmuki 1992.

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um 860 bezeugt ist,16 taucht Amalung vornehmlich in Urkunden der 860er Jahre auf, von denen freilich die meisten im Kloster St. Gallen ausgefertigt wurden.17 Zwei Urkunden, in denen Othere als Spitzenzeuge genannt wird, erlauben seine Position etwas deutlicher zu fassen: Die beiden Dokumente betreffen die Martinskirche im thurgauischen Jonschwil, wurden von dem wahrscheinlich dort ansässigen nichtklösterlichen Schreiber Hitto ausgefertigt und gelangten wohl später mit der Kirche selbst an das Kloster St. Gallen – und ins dortige Archiv.18 Nach Auskunft dieser beiden Urkunden stand Othere dem Ort Jonschwil bzw. der dortigen Martinskirche vor und wirkte zudem auch als centurio, d.h. als Amtsträger im Thurgau. Auf Otheres herausgehobene Stellung verweist auch, dass er in einer der beiden Urkunden als venerabilis laicus bezeichnet wird.19 Anders als zu Othere lässt sich über Amalung nur ganz wenig sagen: Neben seinem Auftauchen als Spitzenzeuge in mehreren Urkunden ist seine Tätigkeit als advocatus des Klosters St. Gallen zu erwähnen.20 Im Unterschied zu Othere, der also als dem Grafen unterstellter Amtsträger erscheint, fungierte Amalung als Vertreter der St. Galler Rechte in der Kleinregion. Interessant ist nun, dass im ausgehenden 9. Jahrhundert im selben Gebiet wiederum zwei Große gleichen Namens als Spitzenzeugen in mehreren Urkunden auftauchen, nämlich ein jüngerer Othere und ein jüngerer Amalung. Der jüngere || 16 Vgl. die Belege bei Wartmann; sicher Othere I: UBSG I, n. 227 (AO = Ausstellungsort(e): Uzwil, GO = Güterort(e): Jonschwil, Spitzenzeuge), UBSG II, n. 399 (AO: ?, GO: Andwil, Spitzenzeuge), n. 407 ([Ober-, Unter-]Rindal, GO: Seen, Stettfurt, Spitzenzeuge) und Anh. n. 3 (AO: Algetshausen, GO: Algetshausen, Spitzenzeuge); möglicherweise ebenfalls Othere I: UBSG II, n. 478 (Spitzenzeuge) und n. 500 (dritter Zeuge). Zu Othere vgl. auch Sprandel 1958, 80f., 115. 17 UBSG I, n. 496 (AO: St. Gallen, GO: Züberwangen, Spitzenzeuge), n. 497 (AO: St. Gallen, GO: Züberwangen, Spitzenzeuge), n. 540 (AO: St. Gallen, GO: Thurgau, Spitzenzeuge), 545 (AO: Rickenbach, GO: Züberwangen, Spitzenzeuge); als advocatus: UBSG II, n. 530 (AO: St. Gallen, GO: Urenthal?), n. 538 (AO: St. Gallen, GO: Thurgau), n. 546 (AO: Rickenbach, GO: Hausen am Albis?, Turbenthal), n. 547 (AO: Turbenthal, GO: Thurgau), Anh. n. 8 (AO: St. Gallen, GO: Flawil); vgl. Sprandel (1958), 111, Anm. 52, 114–115; Dohrmann (1985), 77, 316 (Liste). Vgl. auch UBSG I, n. 334 und n. 403, in denen ebenfalls ein (weiterer?) Amalung genannt wird. 18 UBSG I, n. 227 und UBSG II, Anh. n. 3. Wartmann, UBSG II, 383 datierte die Urkunden nach Ludwig dem Frommen in die Jahre 814 bzw. 817; Meyer von Knonau 1877, 113f. mit Anm. 2, 115–116, und ihm folgend Sprandel 1958, 111 mit Anm. 45 sowie zunächst auch Borgolte 1978, 54–202, hier 173f. (vgl. aber relativierend ders. 1985, 19–20) und Dohrmann 1985, 165, datierten die Urkunde nach Ludwig dem Kind in die Jahre 900 bzw. 904. Zur Datierung nach Ludwig dem Deutschen und damit in die Jahre 834/41 bzw. und 844/45 vgl. ChLA² CIV, n. 25 und n. 39. – Wann die Martinskirche von Jonschwil an St. Gallen kam, ist nicht mit Sicherheit zu klären. Erst im Spätmittelalter ist sie als St. Galler Patronatskirche belegt (vgl. Sprandel 1958, 80). 19 UBSG II, Anh. n. 3: ad eclesiam sancti Martini, cui Otharii preesse dinuscitur, ad Iohaneswilare [...] Sig. Otharii centurionis; UBSG I, n. 227: ad eclesiam sancti Martini, que constructa est in ipso loco, ubi venerabilis laicus Otherius preesse dinoscitur [...] Signum Ysinbold et Prunnihilt, qui hanc traditionem fecerunt. sig. O(t)herii, qui eam sua manu accepit [...]. 20 Vgl. Anm. 17.

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Othere begegnet zwischen den 880er Jahren und dem frühen 10. Jahrhundert in einer ganzen Reihe von den mittleren Thurgau, häufiger allerdings eine Zone westlich von Wil und um Winterthur betreffenden Urkunden als Spitzenzeuge bzw. Zeuge in hervorgehobener Position.21 Wie der ältere Othere hatte auch er in Jonschwil ausgedehnten Besitz, wo sich zu dieser Zeit bereits ein mit der dortigen Martinskirche verbundener und mit Othere, aber auch mit St. Gallen in enger Beziehung stehender Konvent nachweisen lässt: In der entsprechenden Urkunde, mit der Othere Besitz in Bettenau, den er an die Jonschwiler Mönchsgemeinschaft übertragen hatte, als Prästarie zurückerhielt, wird er als potens eiusdem loci (d.h. Jonschwils) bezeichnet.22 Über das wirtschaftliche Pouvoir des jüngeren Othere und die genauere Lokalisierung seiner Besitzungen wissen wir aus einem großen Tauschgeschäft mit Abtbischof Salomo III. von Konstanz, in dessen Rahmen Othere nicht weniger als 180 Juchart und fünf Höfe in Bazenheid, weitere 175 Juchart in Wil(en) und 22 Juchart in Uzwil gegen 378 Juchart und sechs Höfe in Jonschwil eintauschte. Dabei wurde außerdem festgelegt, dass die Jonschwiler Güter nach dem Tod des Othere an das Kloster St. Gallen fallen sollten.23 Das umfangreiche Tauschgeschäft ist einerseits durch eine von Bischof Salomo III. von Konstanz ausgestellte Urkunde belegt, andererseits liegt aber auch eine durch denselben Bischof angeregte Bestätigungsurkunde König Arnulfs vor. In der entsprechenden Herrscherurkunde (einer Empfängerausfertigung) wird Othere mit dem interessanten und wenig kanzleimäßigen Titel venerabilis vir apostrophiert.24 Im Vergleich zum älteren Othere dürfte der jüngere einflussreicher und von größerer Bedeutung gewesen zu sein, was sich auch in der geographischen Westausdehnung seines Tätigkeitsbereiches (als Spitzenzeuge) widerspiegelt. Zudem erscheint der jüngere Othere unter den Großen des Thurgaus mitunter als Primus inter pares: Im besagten Jahr 890, als die Rechte des Klosters St. Gallen im Rheingau und die stritti-

|| 21 UBSG II, n. 617 (AO: Zell, GO: Eschikon, Elgg, Spitzenzeuge), n. 618 (AO: Zell, GO: Eschikon, Elgg, Spitzenzeuge), n. 638 (AO: St. Gallen, GO: Schottikon, Rumlikon, Leutmerken, Spitzenzeuge), n. 647 (AO: Oberglatt, GO: Niederhelfenschwil, Neunegg, Spitzenzeuge), n. 655 (AO: Aadorf, GO: Hettlingen, Hochfelden, erster Zeuge nach den Familienmitgliedern der Ausstellerin), n. 679 (AO: ?, GO: Buhwil, zweiter Zeuge), n. 680 (?, Mündung des Rheins, Spitzenzeuge der Zeugen aus dem Thurgau), n. 686 (AO: St. Gallen, GO: Turbenthal, Spitzenzeuge), n. 691 (AO: Aadorf, GO: Bichelsee, Wittershausen, etc., erster Zeuge nach den Familienmitgliedern des Ausstellers), n. 697 (AO: St. Gallen, GO: Aadorf, zweiter weltlicher Zeuge nach dem advocatus des Klosters), n. 727 (AO: Jonschwil, GO: Bettenau, in Urkunde genannt), n. 747 (AO: Rickenbach, GO: Gebertschwil, Spitzenzeuge), vgl. Spandel (1958), 111, 114–116, 128–129, 132 mit Anm. 45. In UBSG II, n. 647 und n. 655 wird nach Othere ein weiterer Othere als Zeuge genannt; vgl. auch die Nennung eines Othere in den Zeugenlisten der Thurgauer Urkunden UBSG II, n. 631, n. 761 und n. 774. 22 UBSG II, n. 727; Meyer von Knonau 1877, 121–123. 23 UBSG II, n. 708 (= DD. Arn., n. 151. Kehr 1940, 230f.), UBSG II, n. 712; Meyer von Knonau 1877, 117–119. 24 UBSG II, n. 708.

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ge Grenze zwischen dem Thurgau und dem Rheingau festgelegt wurden, führte er jedenfalls die Reihe der 29 Thurgauer primates an.25 Otheres enge Verbindung zur gräflichen Elite Alemanniens und seine gewichtige Stellung im Thurgau kommt auch darin zum Ausdruck, dass er in drei Urkunden, die vom Linzgauer Grafen Udalrich, von dessen Töchtern und von Bischof Salomo III. von Konstanz ausgestellt wurden und die alle drei das von Udalrich gegründete Kloster im thurgauischen Aadorf betreffen, als Spitzenzeuge fungierte.26 Die engsten Kontakte hatte der jüngere Othere freilich zu den damaligen Thurgauer Grafen, namentlich zu Adalbert „dem Erlauchten“ und später zu dessen gleichnamigen Sohn.27 Nach Auskunft einer jüngst erstmals edierten Urkunde, die aus dem Bucheinband einer in der Pfarrbibliothek St. Michael in Zug aufbewahrten Handschrift herausgelöst wurde, war Othere ein Vasall des älteren Adalbert.28 Derselben Urkunde ist neben anderen Zeugnissen zu entnehmen, dass Othere ein Bruder des Urkundenschreibers und berühmten St. Galler Mönches Notker Balbulus († 912) war,29 der die Verbindung zwischen diesem Thurgauer Großen, seiner Familie und dem Kloster St. Gallen, aber auch bis zum Königshof herstellte.30 Diese Verbindungen wurden

|| 25 UBSG II, n. 680; Meyer von Knonau 1877, 116. 26 UBSG II, n. 655, n. 691, n. 697. 27 Zu den Thurgauer Grafen mit Namen Adalbert vgl. Borgolte 1985, 21–32; Zettler 2010. 28 Das geht aus dem Rückvermerk der Urkunde hervor: Karta donationis quam fecit Adalbertus comes vassallo suo Otherre de hoba in Betinouua. Vgl. Erhart 2013, 104–113, hier 111. Posthum wurde Othere in einer Urkunde aus den 940er Jahren (UBSG III, n. 801, vgl. unten) als tribunus bezeichnet, was dafür spricht, dass er wie sein älterer Namensvetter auch ‚offizielle Funktionen‘ im Auftrag des Grafen ausübte. 29 Vgl. Erhart 2013, 111: Die Schreibersubskription der Urkunde lautet: Ego itaque Notker indignus monachus sancti Galli et frater ipsius Otherres [...] rogatus scripsi. Zu weiteren Belegen dieser Verwandtschaft vgl. den Widmungsbrief von Notkers Liber Ymnorum 11. In: von den Steinen 1948, 10: Nuper autem a fratre meo Othario rogatus […]; auch Meyer von Knonau 1877, 108. Weiter zurückreichende Verwandtschaftsbeziehungen zwischen ‚Otheren‘ und ‚Notkeren‘ werden auch durch andere Zeugnisse nahegelegt. In diesem Zusammenhang ist etwa auf eine 854 ausgestellte Urkunde aufmerksam zu machen, durch die ein Streit zwischen dem Kloster St. Gallen und einem Notger beigelegt wurde. Es ging damals um Besitzungen im Ort Brunnen, unweit von Jonschwil. Im Rahmen dieser Streitbeilegung übergab Notger immerhin 92 Joch Land zwischen Mosnang und Algetshausen sowie in Lommis (UBSG II, n. 426; ChLA² 105, n. 13). Vgl. Meyer von Knonau 1877, 130–131. In einer in Bettwiesen nahe Jonschwil ausgestellten Urkunde aus dem Jahr 868/869 erscheint ein Notger an zweiter Stelle der Zeugenliste (UBSG II, n. 578). Auf Verwandtschaftsverbindungen verweist schließlich auch das gemeinsame Auftauchen der beiden Namen in den Gedenkbüchern aus der Region, vgl. dazu Dohrmann 1985, 166. Zu weiteren, möglichen verwandtschaftlichen Verbindungen vgl. auch May 1976, 124–126; Dohrmann 1985, 183. Zu Notker Balbulus mit weiterführender Literatur vgl. von den Steinen 1948, Bd. 2; Haefele 1987; Duft 1991; Rankin 1991; ChLA² CVI, n. 8. 30 Im Widmungsbrief des Liber Ymnorum verwendet sich Notker für seinen Bruder Othere; vgl. Anm. 29. Zu Notkers Meinungen über die mediocres und pauperes, denen er selbst entstammte, Löwe 1970, 269–302, hier 282–284; Goetz 1981, 37–38.

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auch in der Folgezeit gepflegt und intensiviert: Zwischen 898 und 920 machten vier weitere Notkere in St. Gallen Profess, unter denen sich auch Notker II. medicus († 975) befand, über dessen Herkunft nichts Sicheres bekannt ist, dessen Zugehörigkeit zur Familie von Othere und Notker Balbulus wahrscheinlich ist.31 Zur selben Zeit ist in den St. Galler Urkunden auch ein jüngerer Amalung als (einziger) advocatus des Steinach-Klosters greifbar, der auch deshalb mehrfach als Spitzenzeuge in Urkunden auftaucht.32 Wie schon im Fall des jüngeren Othere scheint auch der Zuständigkeitsbereich des Klostervogtes Amalung im Vergleich zu dem seines Namensvetters größere Teile des Thurgaus umfasst zu haben, wenngleich die meisten Urkunden, in denen er vorkommt, wiederum in St. Gallen oder seiner näheren Umgebung ausgefertigt wurden.33 Irgendwann zwischen dem Ungarneinfall im Jahr 926, dem großen Klosterbrand von 937 und den frühen 940er Jahren ging das Amt des klösterlichen advocatus im Thurgau von Amalung auf einen Notker über.34 Dieser Klostervogt Notker geriet in den 940er Jahren bezeichnenderweise über das Gut Jonschwil mit dem Kloster St. Gallen in Konflikt, das nach dem wohl kinderlosen Tod des in der Urkunde als tribunus bezeichneten jüngeren Othere wie vereinbart an St. Gallen gefallen war,35

|| 31 Notker II. medicus, physicus bzw. piperisgranum Pfefferkorn (ca. 900–975) soll nach Ekkehart IV., Casus sancti Galli am Hof Ottos des Großen als Arzt gewirkt haben. In St. Gallen soll er als pictor die nach dem Klosterbrand von 937 restaurierte Galluskirche mit Wandmalereien ausgestattet sowie Bücher mit Miniaturen geschmückt haben. Schließlich soll er auch als Dichter und Musiker von liturgischen Gesängen und Begrüßungsgedichten für Königsempfänge sowie als Lehrer tätig gewesen sein. Vgl. Duft 1987; Duft 1991; Ochsenbein/Schmuki 1992, 53–62 (mit den genauen Stellenangaben in Ekkeharts IV. Casus sancti Galli/Haefele 1991). 32 Zu dieser Entwicklung der St. Galler Vogtei im 10. Jahrhundert vgl. Dohrmann 1985, 182, 313 und 319. 33 UBSG II, n. 742 (AO, GO: Niederhelfenschwil, GO: [Ober-, Nieder-]Büren, Spitzenzeuge), n. 757 (AO: St. Gallen, GO: Mammern, Wilen, Hettlingen, Madetswil), n. 776 (AO: Gossau, GO: Gebertschwil, Spitzenzeuge), UBSG III, n. 782 (AO: Gossau, GO: Niederhelfenschwil, Hohenfirst, Spitzenzeuge), n. 783 (AO: Gossau, GO: Hundwil, Hohenfirst, Spitzenzeuge); advocatus: UBSG II, n. 758 (AO: Herisau, GO: Gossau, Ädelschwil), n. 759 (AO: Herisau, GO: Gossau, Ädelschwil), n. 763 (AO: Gossau, GO: Gossau), n. 766 (AO: ?, GO: Uznach, Hochwart), n. 768 (AO: St. Gallen, GO: Kesswil), n. 770 (AO: Aadorf, GO: Büren, Bichelsee etc., Spitzenzeuge), n. 771 (AO: St. Gallen, GO: Lutenwil?), n. 773 (AO, GO: [Ober-, Nieder-]Helfenschwil, Spitzenzeuge), n. 774 (AO: St. Gallen, GO: Niederhelfenschwil), n. 775 (AO: Elgg, GO: Elgg, Rümikon etc., Spitzenzeuge), UBSG III, n. 780 (AO: St. Gallen, GO: ?), n. 781 (AO: Langdorf, GO: Lendikon, Rumlikon), n. 785 (AO: St. Gallen, GO: Arnang, Gossau), n. 787 (AO: Herisau, GO: Tuferswil, Waleschwanden), n. 793 (AO: ?, GO:?); advocatus für Dritte: UBSG II, n. 750 (AO: Herisau, GO: Gossau), n. 751 (AO:?, GO: Flawil), 752 (AO: ?, GO: Flawil). 34 advocatus: UBSG III, n. 797 (AO: Zuzwil, GO: ?), n. 799 (AO: Gossau, GO: ?, SZ). 35 UBSG II, n. 712; Meyer von Knonau 1877, 122–123.

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das Notker aber quasi heres Otharii beanspruchte und auf dem Gerichtsweg zurückzuerhalten suchte.36 Die vom Klostervogt ins Treffen geführten Erbansprüche sprechen neben den beiden Eigennamen Notker und Othere für ein tatsächliches Verwandtschaftsverhältnis zwischen den beiden. Jedenfalls zog sich die Auseinandersetzung zwischen Notker und dem Kloster in die Länge und es dauerte einige Zeit, bis man sich auf einen Kompromiss einigte. Dieser lief darauf hinaus, dass Notker gegen drei Hufen in Uzwil und eine Alpweide das praedium Jonschwil auf Lebenszeit verliehen bekam.37 Wenngleich der Streit also letztlich beigelegt wurde, scheint Notker damals seines Amtes als advocatus des Klosters verlustig gegangen zu sein, jedenfalls ist seit den 950er Jahren mit Wito ein anderer klösterlicher Vogt im Thurgau (aber auch im Breisgau und Argengau) bezeugt.38 Auch dieser hatte in der Generation des jüngeren Othere einen älteren Namensvetter, der häufig als Klostervogt, mitunter auch als Spitzenzeuge und fallweise gemeinsam mit einer Zeugengruppe um den jüngeren Othere belegbar ist.39 Es gibt auch Indizien für ein – bereits von Dohrmann vermutetes – verwandtschaftliches Verhältnis zwischen Wito und der Familie der Othere und Notkere:40 Mitte der 920er Jahre tauschte ein Wito, der mit dem späteren Klostervogt identisch sein könnte, Besitz in Arnegg gegen Güter in Gossau, die seine Schwester Kerhilt auf Lebenszeit innehaben sollte.41 Der Name dieser Schwester taucht sowohl im Umfeld des jüngeren Othere als auch des Notker Balbulus auf: Ersterer hatte eine cognata, Zweiterer eine neptis namens Kerhilt. Letztere ließ sich in den 950er Jahren als Inklusin bei St. Mang, nahe dem Kloster St. Gallen einschließen.42 Neben bzw. unmittelbar hinter diesem neuen Klostervogt Wito taucht in den Zeugenlisten von St. Galler Urkunden bis in die 980er Jahre häufig ein weiterer

|| 36 UBSG III, n. 801: Ex traditione Otharii quondam tribuni ejusque neptis Kerchildae quoddam praedium, quod Johannisvilla dicitur, in vestitura monasterii erat, quod praefatus Notgerus omni genere studii quasi heres Otharii repetere publicaque mallatione monasterio abstrahere conabatur. 37 UBSG III, n. 801. Vgl. Meyer von Knonau 1877, 126–128. 38 Vgl. Dohrmann 1985, 183. 39 Zu den zahlreichen Belegstellen für diesen Wito vgl. UBSG II, 473 (Register), Sprandel 1958, 74, 116, 118, 128–129; Dohrmann 1985 181–184 (Liste). Zumindest in UBSG II, n. 647 (AO: Oberglatt, GO: Niederhelfenschwil, Neunegg), n. 679 (AO: ?, GO: Buhwil), n. 686 (AO: St. Gallen, GO: Turbenthal), n. 697 (AO: St. Gallen, GO: Aadorf), vielleicht auch in UBSG III, n. 774 tauchen die beiden gemeinsam auf. 40 Dohrmann 1985, 181. 41 UBSG III, n. 785. Für die Identifikation: Dohrmann 1985, 183. 42 Vgl. UBSG II, n. 727 (Othere) und Casus sancti Galli/Haefele 1991, Kap. 79, 164 (Notker); vgl. auch Meyer von Knonau 1877, 124.

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Amalung als Spitzenzeuge bzw. unter den ersten Zeugen auf.43 Wahrscheinlich handelte es sich (zumindest bei den meisten Belegen) um den von Ekkehart IV. erwähnten Amalung, jenen „gebildeten Laien, ungemein gewandten Redner in Versammlungen, groß an Rat, in seiner Frömmigkeit fast wie ein Mönch“, der im Konvent großes Vertrauen und erheblichen Einfluss genoss, sodass es ihm „seit Menschengedenken“ als einzigem Laien gestattet wurde, das Kapitelhaus des Klosters zu betreten.44 Ekkehart IV. gibt uns freilich noch eine andere wichtige Information: Amalung war der Bruder des 973 verstorbenen St. Galler Mönches und BeinaheAbtes Ekkehart I., der als Dekan dafür gesorgt haben soll, dass das Gut Jonschwil nach dem Tod des vorher genannten Klostervogtes Notker auch wirklich an St. Gallen zurückfiel.45 Ekkehart I. soll außerdem im Jahr 971 maßgeblichen Anteil daran gehabt haben, dass mit Notker ein Neffe von Notker II. medicus (und noch dazu ein Neffe der früheren Äbte Thieto und Craloh) auf Empfehlung seines Vorgängers Burchard Abt von St. Gallen wurde.46 Zudem soll er vier seiner Neffen, Kinder seiner Brüder und seiner Schwestern, zu einem Eintritt ins Steinach-Kloster bewogen haben: Es handelt sich dabei um seinen Schwesternsohn Ekkehart II., genannt Palatinus (Sequenzendichter, † 990), der es über die schwäbische Herzogsfamilie bis an den Königshof und nach Mainz schaffte,47 sowie um Ekkehart III., der später wie sein Onkel Ekkehart I. als Dekan des Klosters wirkte († frühes 11. Jahrhundert).48 Zu den von Ekkehart I. ins Galluskloster ‚gezogenen‘ Neffen gehörte ferner auch Burchard, der (als zweiter dieses Namens) von 1001 bis 1022 als Abt des Steinach-Klosters wirkte, und zu guter Letzt auch Notker der Deutsche († 1022), der Lehrer Ekkeharts IV.49 Dieses Vorkommen der Leitnamen Notker und Ekkehart in der Verwandtschaft Ekkeharts IV. deu-

|| 43 UBSG III, n. 802 (AO: Gossau, GO: Schwänberg), n. 803 (AO: Gossau, GO: Hohfirst), n. 806 (AO: Gossau, GO: Herzenwil), n. 807 (AO: Uzwil, GO: Uzwil), n. 809 (AO: Gossau, GO: Burgau), n. 810 (AO: Zuzwil, GO: Zuzwil), n. 812 (AO: Gossau, GO: ?), n. 815 (AO: Gossau, GO: ?), n. 817 (AO: Gossau, GO: Zuzwil). 44 Vgl. Ekkehart IV., Casus sancti Galli/Haefele 1991, Kap. 74, 154f.: Erat [Amalungus] autem hic Ekkehardi frater, laicus admodum literatus, orator in conciliis facundissimus, consilio magnus, religione pene monachus. Qui et dulcis ad omnia erat et iocundus, in quodcumque rem, ut aiebant, vertere vellet, potentissimus. Huic soli, ut audivimus, laico ab ullius memoria capituli domum intrare permissum est. 45 Vgl. Ekkehart IV., Casus sancti Galli/Haefele 1991, Kap. 80, 166: Qui de Ioniswilare, quod [...] ipse requisivit et tentuit [...]. Vgl. Dohrmann 1985, 165. Vgl. Zu Ekkehart I., seiner Tätigkeit als Autor und Dichter und seinen Werken vgl. Stotz 1980a. 46 Nach Notker, Gesta Karoli 1954, Kap. 122, 236 habe Abt Burchard gebeten, Ekkehardo favente Notker zum Abt zu wählen. 47 Vgl. Brunhölzl 1959a. Stotz 1980b. 48 Vgl. Brunhölzl 1959b. 49 Ekkehard IV., Casus sancti Galli/Haefele 1991, Kap. 80, Kap.. 89, 168, 182. Zu Notker dem Deutschen und seinem Werk vgl. mit weiterführender Literatur Sonderegger 1987; Duft 1991.

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tet darauf hin, dass die Träger dieser Namen aus einer spätestens zu diesem Zeitpunkt miteinander versippten Familie stammten.50 In den 980er Jahren versiegen die seit dem ausgehenden 9. Jahrhundert immer seltener werdenden St. Galler Privaturkunden endgültig und auch bei Ekkehart IV. finden sich kaum noch Informationen über die Zeit – weshalb Verbindungen und Verflechtungen zwischen bedeutenden Thurgauer Familien und dem Kloster St. Gallen nicht weiterverfolgt werden können. Als Ekkehart IV. um 980 irgendwo in der thurgauischen Umgebung des Gallusklosters das Licht der Welt erblickte,51 hatten diese über mehr als anderthalb Jahrhunderte gewachsenen Beziehungen eine beachtliche Dichte erreicht: St. Gallen war zu dem geworden, was es für viele auch heute noch ist: das Kloster der Notkere und Ekkeharte.

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|| 50 Vgl. auch Dohrmann 1985, 181. 51 Der von Johannes Egli aufgrund der Tätigkeit von Ekkeharts Bruder Ymmo als Abt von Münster im Gregoriental abgeleiteten Annahme einer Abstammung aus dem Elsass ist die Forschung aus guten Gründen nicht gefolgt (Liber Benedictionum/Egli 1909). Vgl. dazu etwa Haefele 1980, 455–465, hier 456; Weber 2003, 7.

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Ernst Tremp

Zur Neuausgabe von Ekkeharts Casus sancti Galli Die Casus sancti Galli sind Ekkeharts berühmtestes und seit dem 19. Jahrhundert am weitesten verbreitetes Werk. Franz Brunhölzl zählt im zweiten Band seiner „Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters“ die St. Galler Klostergeschichten „zu den köstlichsten erzählenden Schriften des Mittelalters“1. Wie nur wenige andere Werke des lateinischen Mittelalters vermögen die Casus noch heutige Leser in ihren Bann zu schlagen. Denn Ekkehart schreibt nicht trockene Geschichte, sondern weiss Ereignisse und Anekdoten so lebendig und kunstvoll zu erzählen, dass die Namen von berühmten St. Galler Mönchen und Äbten, von Königen und adligen Damen, von Klosterschülern und wilden Kriegern noch heute lebhafte Gestalt gewinnen.

1 Entstehungszeit und -umstände Mit seinem erzählerischen Werk steht Ekkehart in einer Haustradition, die er aufgreift und fortführt. Um 883 hatte der St. Galler Mönch und Magister Ratpert († vor 912) seine Casus sancti Galli geschrieben. Sie beginnen mit der Vorgeschichte des Klosters und schliessen mit dem Kaiserbesuch Karls III. im Dezember 883 ab.2 Ekkeharts Continuatio schliesst daran an, mit einigen Rückblicken auf die Mitte des 9. Jahrhunderts, und sollte, wie der Verfasser in seinem Praeloquium festhält, bis in die Zeiten von Ekkeharts eigenem Abt Norpert (1034–1072) führen.3 Aber so weit ist die Fortsetzung nicht gediehen. Mitten im Bericht über die Regierungszeit Abt Notkers (971–975) bricht sie ab, wiederum endend mit einem Kaiserbesuch in St. Gallen, demjenigen Ottos I. vom August 972. Der Grund für den Textabbruch der Casus im Jahr 972 ist nicht bekannt. Vermutlich haben Krankheit und Tod dem Autor die Feder aus der Hand genommen, denn die Casus sind offenbar ein Alterswerk des um 980/90 geborenen Ekkehart.4 Ihre || 1 Brunhölzl 1992, zu Ekkehart: 438–446, Zitat 443; vgl. Schmuki 1995. 2 Ratpert, Casus sancti Galli/Steiner 2002. 3 Ekkehart IV., Casus sancti Galli/Haefele 52013, Praeloquium, 16: Sequuntur [...] Norpertus, cuius hodie sub regimine quidem non prout ipse et nos, ut inquiunt, volumus, sed prout possumus, vivimus. – Hier wird nach dieser Ausgabe zitiert, die den von Haefele für die bevorstehende Neuausgabe in den Monumenta Germaniae Historica bereits erstellten Editionstext enthält. 4 Ekkehart wird einige Zeit vor dem Jahr 1000 geboren sein, da er mit dem Jagdunfall des Welfen Heinrich vor 1000 persönliche Erinnerungen verbindet (Casus Kap. 21, 54: scripturi nunc sumus, quod vidimus; Ekkehart berichtet sodann über einen Besuch der Mutter Heinrichs, noch vor Ablauf

246 | Ernst Tremp

Entstehungszeit lässt sich näher eingrenzen. Einen Terminus post quem für die Abfassung der Casus liefert der Beginn der Amtszeit von Ekkeharts Abt Norpert im Jahr 1034, einen noch genaueren der Hinweis in Kap. 56 auf die Kanonisation Wiboradas im Jahr 1047.5 Der Terminus ante quem ergibt sich daraus, dass Ekkehart an einem 21. Oktober frühestens des Jahres 1057 starb: Von 1057 stammt die letzte datierbare Notiz von seiner Hand, eine Glosse in der Orosius-Handschrift Cod. Sang. 621 zum Tod von Papst Viktor II. (28. Juli 1057),6 und der 21. Oktober als Ekkeharts Todestag ist im St. Galler Nekrologium überliefert.7 Als um 1075 ein anonymer Fortsetzer die Continuatio anonyma I zu Ekkeharts Casus verfasste, wusste er bereits nicht mehr, aus welchen Gründen das Werk unvollendet überliefert ist, ob Ekkehart entgegen seiner Absicht die Casus, durch den Tod verhindert, nicht zu Ende führen konnte, oder ob der Schluss des vollendeten Werks später verloren ging.8 Die Casus sancti Galli sind Hausliteratur. Sie richteten sich an die Mitbrüder, vor allem an Ekkeharts eigene Zeitgenossen im Kloster, aber auch an die nachkommenden Mönchsgenerationen, und hatten eine gemeinschaftsbildende Funktion. In der überlieferten Form bieten sie Vergangenheitsgeschichte – dies, obwohl der Autor eine Gegenwartsgeschichte, die Darstellung auch des zeitgenössischen Geschehens in seiner Abtei, intendierte.9 Die Gegenwart ist in der geschilderten Vergangenheit wie in einem Spiegel präsent. In die Vergangenheit projizierte Ekkehart Themen und Vorstellungen, die ihn und seine Mitbrüder beschäftigten. Es sollen nämlich die Mitbrüder gewesen sein, die Ekkehart dazu bewogen, sich in diese „höchst schwierige Sache“ (rem arduam; Prael.) einzulassen. Dabei ist nicht zu übersehen, dass sich ein solches topisches Motiv gerade für gemeinschaftsstiftende Literatur, wie sie die St. Galler Klostergeschichten darstellen, gut eignet.

|| der Trauerzeit) und da er, als er nach dem Tod seines Lehrers Notker III. im Jahr 1022 die Leitung der Domschule von Mainz übernahm (Casus, Kap. 66, 140), bereits ein erfahrener Schulmeister war; vgl. Haefele 1980a, 455f.; zu Ekkehart IV. vgl. auch Eisenhut 2009, 85–101; Eisenhut 2013, 97–110. 5 Casus, Kap. 56, 124: De sancta Wiborada autem, quia liber per se est eius, amplius non loquemur, praeter quod in sanctam eam levari iam bis nostris temporibus per duos papas decretum est et sub Norperto tandem impletum. Über die Kanonisation der Wiborada berichtet die Continuatio anonyma/Leuppi 1987, Kap. 20, 122/124. 6 Cod. Sang. 621, S. 279b (zu Orosius 7, 5, 10): cum quali [veneno] et abbas quidam papam ipsum Victorem quidem nuper vicarium Petri etiam martyrio fecit (www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/csg/ 0621) (13.5.14); vgl. Eisenhut 2009, 209 mit Anm. 120. 7 Cod. Sang. 915, S. 343; Necrologia Germaniae (MGH Necr. 1), 483: XII kal. [novembris] [...] Et est obitus Ekkehardi magistri, monachi atque presbiteri (www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/csg/0915) (13.05.2014). 8 Continuatio anonyma/Leuppi 1987, Praeloquium, 58/60: Sive autem morte praeventum hoc, quod in exordio libri sui se dicturum promisit, non perfecerit aut, si perfectum, postea perditum sit, nos nescimus. 9 Zur Typologisierung von Vergangenheits- und Gegenwartsgeschichte in der mittelalterlichen Historiographie vgl. Schmale 1985, bes. 17.

Zur Neuausgabe von Ekkeharts Casus sancti Galli | 247

Ekkehart schreibt also für seine realen oder imaginären Zuhörer sowie für künftige Leser im Kloster St. Gallen. Über seine Causa scribendi ist schon öfters diskutiert worden. Ohne hier auf die verschiedenen Erörterungen und Ansichten in der Forschung im Einzelnen einzugehen, sei doch festgehalten, dass einen zentralen Beweggrund für Ekkehart der Gegensatz zwischen der Tradition des alten Reichsklosters und den neuen Vorstellungen des Reformmönchtums seiner Zeit bildete. Es ging ihm dabei nicht um „die zuständliche Lebensform eines Mönchskonvents vor der Klosterreform“10, sondern in Konfrontation mit dieser Reform. Ekkehart schilderte die Verhältnisse in früheren Zeiten kaum je ohne Seitenblick auf die Verhältnisse der eigenen Gegenwart. Es ging ihm „und seinen älteren Mitbrüdern um eine Verherrlichung der guten alten Zeit, deren letzte Blüte sie noch erlebt hatten und die durch die von ihnen nicht gutgeheissenen Reformen ihres Abtes [Norpert von Stablo] endgültig verloren schien“11.

2 Überlieferung Es liegt in der Natur von Hausliteratur, dass sie einen räumlich beschränkten Wirkungsgrad besitzt und kaum verbreitet wird. Die Überlieferung von Ekkeharts Casus sancti Galli beschränkt sich auf das Kloster St. Gallen. Hier fügte sie sich erwartungsgemäss in die Überlieferung der gesamten Reihe der St. Galler Klostergeschichten ein. Denn Ekkehart hatte nicht nur in Ratpert einen Vorgänger, sondern fand auch mehrere Fortsetzer. Die ersten Fortsetzungen wurden nach neuerer Erkenntnis von drei anonymen Autoren verfasst, die jeweils zeitgleich zum chronologischen Ende ihres Abschnittes schrieben: Der erste Fortsetzer der Continuatio casuum sancti Galli anonyma beschrieb den Zeitabschnitt der Klostergeschichte, nun klarer als bei Ekkehart nach Amtszeiten der Äbte gegliedert, von 975 bis 1076, der zweite Fortsetzer die Zeit von 1077 bis um 1100 und der dritte Fortsetzer die Zeit von 1121 bis um 1200.12 An diese schloss sich das Werk des Conradus de Fabaria an, es behandelt die Zeit von 1200 bis 1234. Conradus war der letzte Mönch, der die St. Galler Klostergeschichten in lateinischer Sprache geschrieben hat.13 Ein Jahrhundert später fand sich im äbtischen Dienstmann Christian Kuchimeister ein letzter Fort-

|| 10 So Schmale 1985, 136. 11 Schmuki 1999, 181–205, hier 187; vgl. auch: Schmuki 1995. Haefele, Casus sancti Galli 52013, Einleitung, 7 mit Anm. 15, vertritt die Auffassung, dass Ekkehart gegenüber den Reformen seines eigenen Abtes Norpert keine kritische, missbilligende Haltung eingenommen habe, sondern dass das Praeloquium in rhetorischer Formulierung ein literarisches Programm entwerfe; vgl. demgegenüber Tremp 2005a, 382f. 12 Continuatio anonyma/Leuppi 1987. 13 Cionradus de Fabaria, Casuum sancti Galli continuatio/Gschwind-Gisiger 1989.

248 | Ernst Tremp

setzer; dieser verfasste seine Nüwe Casus monasterii sancti Galli für die Zeit von 1228 bis 1329 nun aber auf Deutsch.14 Während die Nüwe Casus von Kuchimeister separat überliefert sind, bilden die lateinischen Casus von den Anfängen bis ins frühe 13. Jahrhundert, verfasst von Ratpert bis Conradus de Fabaria, eine einheitliche handschriftliche Überlieferung. Diese ist auf das Kloster St. Gallen beschränkt, wo alle Casus-Handschriften entstanden sind.

Abb. 1: Titel und Beginn des Praeloquiums in der Leithandschrift B: PRĘLOQUIUM EKKEDARDI IUNIORIS DE CASIBUS (Cod. Sang. 615, S. 51).

|| 14 Cristân der Kuchimaister, Nüwe Casus Monasterii Sancti Galli/Nyffenegger 1974. Zum ganzen Geschichtswerk vgl. Url 1969. Die lateinischen Casus von Ratpert bis Conradus de Fabaria liegen in einer bibliophilen, schön illustrierten Gesamtausgabe samt italienischer Übersetzung und knappem Kommentar vor: Cronache di San Gallo/Alessio 2004.

Zur Neuausgabe von Ekkeharts Casus sancti Galli | 249

Tab. 1: Chronologische Übersicht über die Casus-Handschriften:15 Handschrift (mit Sigle)

Datierung

Berichtszeitraum: –883

um 880–972

975–um 1200

1200–1234

Cod. Sang. 614*

um 900

Ratpert

Cod. Sang. 615 (B)*

um 1200

Ratpert

Ekkehart

Cont. anonyma

VadSlg 70 (D)

um 1450

Ratpert

Ekkehart

Cont. anonyma

Conradus de Fabaria

Cod. Sang. 610 (D1)*

1452

Ratpert

Ekkehart

Cont. anonyma

Conradus de Fabaria

VadSlg 69 (D2)

1491/95

Ratpert

Ekkehart

Cont. anonyma

Conradus de Fabaria

Cod. Sang. 612 (C)

Ende 15. Jh.

Ratpert

Ekkehart

Cont. anonyma

Conradus de Fabaria

Cod. Sang. 611 (C1)

1529/42

Ratpert

Ekkehart

Cont. anonyma

Conradus de Fabaria

Cod. Sang. 613*

1526

Conradus de Fabaria

um 840–912

Cod. Sang. 556 (V)*

1220/30

Vita Notkeri Balbuli

Obwohl es zahlreiche handschriftliche Zeugnisse Ekkeharts gibt,16 hat sich kein Autograph seiner Casus sancti Galli erhalten. Die Überlieferung setzt erst um 1200 mit Cod. Sang. 615 (Hs. B; Abb. 1) ein. Alle weiteren fünf Handschriften stammen aus dem 15./16. Jahrhundert: VadSlg Ms. 70 (D), Cod. Sang. 610 (D1), VadSlg Ms. 69 (D2), Cod. Sang. 612 (C) und Cod. Sang. 611 (C1), wobei D aus der Zeit um 1450 die älteste von ihnen ist. Sie sind Zeugen des damals in St. Gallen wieder erwachten

|| 15 Legende zur Tabelle: Cod. Sang. = Codex Sangallensis, Stiftsbibliothek St. Gallen; VadSlg = Vadianische Sammlung, Kantonsbibliothek Vadiana St. Gallen; (* = Volldigitalisat samt Beschreibung und Literaturhinweisen unter: www.cesg.unifr.ch, Stand: 13.5.14). Beschreibungen und Datierungen in: Scarpatetti 2003; Haefele 1961, 145–159; Ratpert, Casus sancti Galli/Steiner 2002, Einleitung, 81–90; www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/csg/0610 und www.e-codices.unifr.ch/de/list/ one/csg/0615 für Cod. Sang 610 und 615 (Stand: 21.5.14); „Handschriften – Archive – Nachlässe (HAN)“ für VadSlg 69 und 70: http://aleph.unibas.ch (Stand: 22.5.14). 16 Vgl. Eisenhut 2009, Appendix 4, 419–424; vgl. den Beitrag von Lenz in diesem Band.

250 | Ernst Tremp

Interesses an der eigenen Klostergeschichte. Insbesondere unter dem Pfleger und Abt Ulrich Rösch (Administrator ab 1457, Abt 1463–1491) beschäftigte man sich wieder mit den eigenen Wurzeln und dem reichen Erbe der Abtei. Die Verehrung des heiligen Gallus wurde damals wiederbelebt, indem seine Reliquien erhoben wurden, die Liturgie und die Sequenzentradition wurden erneuert, die Bibliothek durch Herstellung und Erwerb von Büchern erweitert,17 und man besann sich eben auch wieder auf die Klostergeschichte und ihre wichtigsten Zeugnisse, die Viten der St. Galler Heiligen und die Erzählungen und Berichte in den Casus sancti Galli. Überlieferungsgeschichtlich hängen alle späteren Casus-Abschriften, wie Hans Frieder Haefele in einer minutiösen Untersuchung gezeigt hat, direkt oder indirekt von B ab.18 Nur C und D fussen direkt auf der Vorlage B, während die übrigen drei Codices Kopien zweiten und dritten Grades sind: C1 hängt von C ab, D1 von D und D2 von D1. Ekkehart, Casus sancti Galli Autograph (verloren)

B Vita Notkeri Balbuli (V)

D D1

D2 C

C1

Abb. 2: Stemma der Überlieferung von Ekkeharts IV. Casus sancti Galli.

Eine weitere, indirekte Überlieferung der Casus sancti Galli Ekkeharts IV. bildet die Vita Notkeri Balbuli. Der älteste Textzeuge dieser Lebensbeschreibung Notkers des Stammlers († 912) in Cod. Sang. 556 (V), der sich zugleich als Originalhandschrift ihres anonymen Verfassers erwiesen hat, ist ins dritte Jahrzehnt des 13. Jahrhun|| 17 Lenz 2014, 362–368, 347–351, 478–481. 18 Haefele 1961, 145–159.

Zur Neuausgabe von Ekkeharts Casus sancti Galli | 251

derts zu datieren. Die Entstehung der Vita Notkeri steht im Zusammenhang mit den – damals erfolglos gebliebenen – Bemühungen St. Gallens unter Abt Ulrich von Sax (1204–1220), die Heiligsprechung Notkers des Stammlers zu erwirken.19 Abschriften der Vita sind enthalten in der Casus-Handschrift D1 (Cod. Sang. 610) und im Codex Gaisbergianus (Cod. Sang. 613), der im Zusammenhang mit der 1513 schliesslich erfolgten Kanonisierung Notkers entstanden ist. Der Autor der Vita Notkeri Balbuli verfügte für sein Vorhaben nicht über selbständige Quellen, mehr als die Hälfte des Textes der Vita stammt aus Ekkeharts Casus sancti Galli. Dabei diente die kurze Zeit vorher entstandene Abschrift B (Cod. Sang. 615) als direkte Vorlage. Ihr entnahm der Vitenschreiber wie einer Materialsammlung für sein Kompilationswerk ganze Abschnitte, zum Teil wörtlich. Da der Verfasser nicht über andere bisher unbekannte Quellen zur Person Notkers des Stammlers verfügte, dehnte er den Stoff aus den Casus sancti Galli auf nicht weniger als 35 Kapitel aus, wohingegen Ekkehart in elf Kapiteln (Kap. 33, 35–39, 41–44, 46) über Notker berichtet. Um ihn zu glorifizieren, weist der Hagiograph Notker dem Stammler auch Episoden um dessen beide Namensvettern Notker II. den Arzt (Kaiserbesuch im Jahr 972) und Notker III. den Deutschen (Schöpfer der Psalterübersetzung) zu. Ein Vergleich der aus der Casus-Handschrift B in die Vita übernommenen Stellen in Bezug auf grammatikalische Änderungen gibt Aufschluss über das philologische Können des Schreibers bzw. seine Ausbildung in der lateinischen Sprache. In diesen Änderungen wird er zum ersten Kritiker Ekkeharts. Denn nicht durch einen Kommentar, wohl aber durch stillschweigende Korrektur der Vorlage bringt er an verschiedenen Stellen seinen ‚Kommentar‘ an.20

Aufgrund dieses Überlieferungsbefundes könnte man eigentlich alle nach B entstandenen und von B abgeleiteten Handschriften für die Edition der Casus sancti Galli Ekkeharts vernachlässigen. Doch wie Haefele aufgezeigt hat, kommt ihnen stellenweise ein eigenständiger Wert zu. Denn Cod. Sang. 615 (B) ist nicht mehr in tadellosem Zustand erhalten, alle seine Blätter wurden anlässlich einer Neubindung im 16. Jahrhundert stark beschnitten. Randrubriken von einer früheren und einer späteren Hand, auch an den Rand geschriebene Nachträge und Zusätze sind manchmal fast ganz verschwunden. Bei zwei Quaternionen, die einen grösseren Schriftspiegel als die restliche Handschrift aufweisen (S. 237–268, Partien von Kap. 102–127), ist auch der Text selbst in Mitleidenschaft gezogen worden; am Zeilenanfang bzw. Zeilenende fielen hier jeweils mehrere Buchstaben dem Messer des Buchbinders zum Opfer (Abb. 3). Diese Beobachtung ist nicht neu. Haefele hat nun aber festgestellt, dass die Abschriften C und D den Zustand vor der Neubindungs-

|| 19 Vgl. Lechner 1972, bes. 26–29; Schmuki 1999, 194–197. 20 Lechner 1972, 27; vgl. Haefele 1961, 171.

252 | Ernst Tremp

und Zerstümmelungsaktion wiedergeben; sie konnten offenbar das damals noch unversehrte Exemplar B benützen. Eine Reihe von fehlerhaften Stellen in B kann daher mit Hilfe von C und D ergänzt und verbessert werden.

Abb. 3: Übergang zu einer ehemals grösserformatigen Lage innerhalb von Kap. 102 in B mit grösserem Schriftspiegel, von der gleichen Hand fortlaufend beschrieben, bei Neueinbindung im 16. Jahrhundert beschnitten (Cod. Sang. 615, Doppelseite S. 236/237).

Weitere Charakteristika der späteren Überlieferung kommen hinzu: Von den Abschriften besitzt die Gruppe um D ein anderes Gliederungsprinzip als B.21 Während B das Werk nur in einige wenige grosse Abschnitte unterteilt und innerhalb dieser mittels roter Initialen viele kleine Zäsuren vornimmt, fügt D ungefähr zwei Dutzend Kapitelüberschriften ein (Abb. 4). Diese Titel oder Rubriken zerlegen die Stoffmasse der Erzählung in kleinere Partien; die Titel sind zum Teil kürzer gefasst, zum Teil weiten sie sich zu eigentlichen Inhaltsangaben aus. Was aber die verschiedenen Abschriften von B vor allem interessant macht, ist ihre kritische Benützung durch Humanisten.22 Der St. Galler Gelehrte Joachim von Watt (Vadianus, 1484–1551) benützte und glossierte die Handschriften C, D, D1 und D2, während Vadians jüngerer || 21 Zur Gliederung in den Handschriften und in den Ausgaben vgl. Haefele 1969, 159. 22 Vgl. den Beitrag von Stefan Sonderegger in diesem Band.

Zur Neuausgabe von Ekkeharts Casus sancti Galli | 253

Kollege, der Glarner Humanist und Geschichtsschreiber Aegidius Tschudi (1505– 1572), C und C1 benützte und kommentierte. Vereinzelt tragen ihre Bemerkungen zum richtigen Textverständnis bei. Überall dort also, wo B fehler- oder lückenhaft erscheint, ist mit Vorteil die jüngere Überlieferung subsidiär heranzuziehen. In B als vermutlich direkter Abschrift des verlorenen Autographs spiegelt sich die Intention des Autors allerdings am reinsten. Schon Konjekturen in dieser Handschrift, die gleichzeitig oder etwas später vorgenommen wurden und als solche zu erkennen sind, sind mit Vorsicht zu behandeln.23

Abb. 4: Beginn der Casus und Kapitelüberschrift zu Kap. 1 in D1 (Cod. Sang. 610, S. 357, obere Hälfte).

3 Bisherige Ausgaben und Übersetzungen und ihre Rezeption Die erste Ausgabe von Ekkeharts Casus veröffentlichte der aus Bischofszell stammende Humanist und Bibliophile (oder besser: Bibliomane) Melchior Goldast (1578–1635);24 Goldast nahm die gesamte vierteilige Reihe der lateinischen St. Galler Klostergeschichten von Ratpert bis Conradus de Fabaria in den ersten Band seiner

|| 23 Vgl. Haefele 1961, 165–170, 173–178. 24 Vgl. Baade 1992; Gamper 2003.

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1606 in Frankfurt erschienenen Alamannicarum rerum Scriptores auf. Eine zweite Auflage erschien ebenda 1661, eine dritte Auflage ebenda 1730. Goldast benützte, wie Haefele nachgewiesen hat, die drei Handschriften der Klasse D (D, D1 und D2) und eine weitere, nicht identifizierte Handschrift, nicht aber die grundlegende Handschrift B.25 Die älteren St. Galler Geschichtsquellen erfuhren im Rahmen der Monumenta Germaniae Historica (MGH) in den 1820er Jahren eine Neuausgabe durch den früheren St. Galler Konventualen und damaligen Stiftsbibliothekar Ildefons von Arx (1755–1833).26 Von Arx war schon 1819 zusammen mit Johann Nepomuk Hauntinger (1756–1823), seinem ehemaligen Mitbruder und Vorgänger als Stiftsbibliothekar, als korrespondierendes Mitglied in die Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde aufgenommen worden. Im folgenden Jahr versprach er dem hier weilenden Reichsfreiherrn Karl vom Stein, dem Mitbegründer der Monumenta, die St. Galler Geschichtsquellen für dieses monumentale Quellenwerk zur deutschen Geschichte des Mittelalters zu bearbeiten. Für die ersten beiden Scriptores-Bände, die 1826 und 1829 in Hannover erschienen, steuerte er als einziges Mitglied der Gesellschaft neben dem Redaktor Georg Heinrich Pertz Bedeutendes bei. Für den ersten Band waren es die verschiedenen St. Galler Annalen. Im zweiten Band, der den Chroniken und Biographien der Karolingerzeit gewidmet war, beanspruchten die St. Galler Geschichtsquellen (Scriptores rerum Sangallensium) die ersten 183 Seiten (im FolioFormat) mit den Gallus- und Otmarsviten, einem Katalog der Bischöfe von Konstanz und der Äbte von Reichenau und St. Gallen sowie den lateinischen Casus sancti Galli von Ratpert bis Conradus de Fabaria.27 Als hervorragender Kenner der Codices seiner Bibliothek erkannte von Arx in Cod. Sang. 615 den ältesten und wichtigsten Textzeugen für Ekkeharts Casus-Fortsetzung. Er legte daher seiner Ausgabe diese eine Handschrift zugrunde und befasste sich nicht weiter mit der jüngeren Überlieferung. Ein halbes Jahrhundert nach von Arx erfolgte die dritte und bis heute letzte wissenschaftliche Ausgabe von Ekkeharts Klostergeschichten. Sie erschien 1877 in Band 15/16 der Mittheilungen zur Vaterländischen Geschichte und wurde von Gerold Meyer von Knonau (1843–1931), Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Zürich,28 besorgt. Die Textgrundlage für seine Ausgabe blieb wie bei von Arx im Wesentlichen auf Cod. Sang. 615 beschränkt, wobei Meyer von Knonau Lesefehler seines Vorgängers eliminierte. Die von Goldast eingeführte und von von Arx beibehaltene Kapitelgliederung ersetzte er durch eine Einteilung in 147 Kapitel. Diese Textgliederung stimmt nicht ganz mit der Vorlage B überein, die mit ihren

|| 25 Haefele 1961, 159f. 26 Fischer 1957; Duft 1994. 27 Vgl. Studer 1957, hier XI: Der Historiker und sein Ruf, bes. 363–366; Duft 1994, 200–202. 28 Vgl. Bonjour 1994.

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roten Initialen etwa doppelt so viele Abschnitte aufweist, sie ist aber seither gültig geblieben. Als herausragender Vertreter der kritischen Geschichtswissenschaft suchte Meyer von Knonau auch bei Ekkehart das „Tatsächliche“, den genauen historischquellenkritischen Tatbestand; das Literarische interessierte ihn hingegen nicht. Infolgedessen spürte er in den Casus mit grosser Voreingenommenheit die Fehler und Irrtümer auf, die er in seinem imponierend reichen, „fast überreichen, bis in alle Einzelheiten gehenden Sachkommentar“29 nachzuweisen sich bemühte. Auf Meyer von Knonau geht letztlich das Bild Ekkeharts zurück, das noch weit ins 20. Jahrhundert hinein das Urteil der Geschichtsforschung beeinflusste: das Bild eines auf weite Strecken unzuverlässigen, unglaubwürdigen, widersprüchlichen, sich irrenden und fabulierenden Erzählers. Unabhängig von der kritischen Geschichtswissenschaft und ganz im Gegensatz zu ihr hatten Ekkeharts Casus inzwischen eine enorme literarische Breitenwirkung entfaltet. Was ursprünglich als Hausliteratur für den kleinen Zuhörer- und Leserkreis im mittelalterlichen Kloster St. Gallen bestimmt war, wurde nun im 19. Jahrhundert zur Lektüre des gebildeten Bürgertums im deutschsprachigen Raum. Dies nicht dank einer deutschen Übersetzung des lateinischen Textes – die es noch nicht gab –, sondern dank der literarischen Bearbeitung durch Josef Victor von Scheffel (1826–1886) in seinem 1855 erschienenen historischen Roman Ekkehard. Eine Geschichte aus dem zehnten Jahrhundert. Darin verarbeitete Scheffel den Erzählstoff um Ekkehart II. Palatinus und die Herzogin Hadwig auf Hohentwiel. Die von Ildefons von Arx veröffentlichten Casus und eifrig zusammengetragene weitere Geschichtsquellen boten dem guten Lateiner Scheffel, wie er im Vorwort schreibt, „wie eine wohnliche Herberge alles, was das Herz begehrte“30. Seinen Roman versah er mit 285 wissenschaftlichen Anmerkungen und Quellenbelegen. Denn er war davon überzeugt, in der Verbindung von Geschichtsschreibung und Poesie selbst ein historisches Werk zu schaffen. Ja, mehr noch als die Wissenschaft, die sich in der Einzelanalyse, im Abstrakten und Begrifflichen verliere, könne die dichterische Intuition von der Vergangenheit ein lebendiges, umfassendes, in einem höheren Sinn auch ‚wahres‘ Bild zeichnen.31 Damit befindet sich Scheffel im Einklang mit dem grossen Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818–1897), der den historischen Roman als Gattung in die historiographische Betrachtung miteinbezog. Vielleicht kommt Scheffel der Erzählkunst Ekkeharts näher und vermittelt mit seinem grossen Gemälde ein ‚wirklicheres Bild‘ von der Wirklichkeit des sanktgallischen Mittelalters als Meyer von Knonau mit seinem sezierenden Chirurgenblick?32

|| 29 Haefele 1961, 163. 30 von Scheffel 1855, zitiert nach der Neuausgabe als Diogenes Taschenbuch 1985, 434. 31 Vgl. Eggert 1971, 64f. 32 Zum Mittelalterbild in Scheffels Ekkehard vgl. Tremp 1994.

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Nach zögernden Anfängen erlebte Scheffels Ekkehard stürmische Verbreitung. Die Wende trat nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 ein. Die Auflagen-Zahl schoss gewaltig in die Höhe und übertraf alles, was vergleichbare historische Romane erreichten.33 Das Werk wurde zum Gemeingut und Lieblingsbuch des deutschen Bürgertums, ja zum Kultbuch des wilhelminischen Zeitalters. Man feierte Scheffel überschwänglich als den „Lieblingsdichter des neuen Deutschland“34 und war überzeugt, der Ekkehard werde für alle Zeiten eine Zierde der Weltliteratur bleiben.35 Die erste eigentliche deutsche Übersetzung von Ekkeharts Casus sancti Galli schuf Meyer von Knonau 1878 in der Reihe Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit. Der Leser wird bereits in der Einleitung vor dem Werk gewarnt, „die ganze Anlage des Buches [sei] recht sorglos, eines eigentlichen Planes ermangelnd, und dabei [werde] oft eine gewisse Eilfertigkeit der Abfassung spürbar“, so dass das Buch „als Ganzes formal missglücken musste“.36 Der überkritische und voreingenommene Ton setzt sich in den Fussnoten zur Übersetzung, die selber einen schwerverständlichen Stil aufweist, fort. In der zweiten Auflage der zweiten Gesamtausgabe dieser Reihe gab 1925 Placid Bütler (1859–1928) eine stilistisch geglättete und in den Fussnoten gekürzte Ausgabe der Übersetzung Meyers von Knonau heraus. In der dritten Gesamtausgabe der Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit erschien 1958 eine neue Übersetzung von Hanno Helbling (1930–2005). Seine Sprache ist erwartungsgemäss moderner als jene Meyers von Knonau und sein Sachkommentar kürzer, hingegen weist seine Übersetzung, auf Meyer fussend, sachliche Fehler auf.

4 Auf dem Weg zu einer Neuausgabe Angesichts dieser Lage war es begreiflicherweise schon lange ein Desiderat der Forschung, die alte, ungenügende und in manchen Punkten überholte Edition der Casus sancti Galli von Meyer von Knonau durch eine Neuausgabe zu ersetzen. In Hans Frieder Haefele (1925–1997) fand sich für diese Aufgabe ein Bearbeiter mit besten Voraussetzungen. Haefele hatte als Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica bereits die Neuausgabe der Gesta Karoli Magni imperatoris Notkers des Stammlers besorgt (erschienen 1959). 1961 und 1962 veröffentlichte er im Deutschen

|| 33 Eggert 1971, Anhang, 210: Graphik. 34 So der Titel eines Aufsatzes von R. Alberti, in: Schorers Familienblatt von 1886, zit. nach: Braun 1890, 790. 35 Braun, ebd. Zu Scheffel vgl. auch Schmidt-Bergmann 2005; Berschin/Wunderlich 2003; darin bes. Wunderlich 2003. 36 Ekkehards IV. Casus sancti Galli/Meyer von Knonau, 21925, Einleitung, XIXf.

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Archiv als Vorarbeit seine bereits früher erwähnte gründliche zweiteilige Untersuchung zur handschriftlichen Überlieferung und zur sprachlichen Gestaltung der Casus.37 Darin handelt er ausführlich über die Abhängigkeiten, Lücken und Irrtümer der Überlieferung, die Korrekturen in der Leithandschrift B, die Konjekturen der Editoren, die Orthographie, die Interpunktion, die äussere Satzgliederung und innere Satzordnung, die Wortstellung, den Periodenbau und die Rhetorik Ekkeharts. Seine Untersuchungen bilden eine wesentliche und wertvolle Grundlage für die Neuausgabe. Das Hauptergebnis dieser eingehenden Analyse fasste Haefele wie folgt zusammen: Die einzelnen Geschichten der Casus muten oft harmlos an, aufs Geratewohl und leichthin wie im Geplauder erzählt. Der Eindruck trügt. Denn ihrem Stil nach sind sie berechnet und ausgeklügelt. Jedes Kapitel ist bewusst gestaltet. Der Aufbau ist durchkomponiert. Jeder Satz ist mit Bedacht gewählt, jedes Wort mit Absicht gesetzt.38

Nach seiner Berufung zum Professor für Lateinische Philologie des Mittelalters an der Universität Zürich 1963 beschäftigte sich Haefele jahrzehntelang mit der kritischen Edition, die wie schon die Ausgabe von von Arx in den MGH erscheinen sollte. Eine beträchtliche Anzahl von Aufsätzen zu Aufbau und Gehalt und zu Einzelaspekten der Casus, die im Laufe der Zeit erschienen sind, zeugt von dieser intensiven Beschäftigung; Haefele liess sich von Ekkeharts sanktgallischen Klostergeschichten „in Bann schlagen“.39 Gleichsam als Etappenziel erschien 1980 in der „Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe“ eine neue Übersetzung ins Deutsche mit parallelem Textdruck und knappstem Kommentar.40 Diese Ausgabe erfuhr grossen Zuspruch und ist inzwischen bereits in fünfter Auflage (2013), erweitert um ein Nachwort von Steffen Patzold, nachgedruckt worden. Die Textfassung dieser zweisprachigen Ausgabe zeigt den Wert der künftigen kritischen Neuedition: Indem sie erstmals die späteren Handschriften beizieht, kann sie fehlende Wörter der Haupthandschrift ergänzen und überhaupt an manchen Stellen deren Sinn erhellen. Dadurch sollte es gelingen, sich der Originalhandschrift Ekkeharts zu nähern und diese zu rekonstruieren. Als hervorragender Kenner der mittellateinischen Sprache und ausgestattet mit einem sicheren philologischen Urteil, vermochte Haefele mit dem eingeschlagenen Vorgehen „zahlreiche Konjekturen – sowohl schon in den späteren Handschriften als auch besonders bei den Editoren – zurückzuweisen und so die Eigenart und den Eigensinn der Ekkehart’schen Kunstprosa zu wahren“41. Seine vorgesehene kritische Ausgabe sollte die bereits eingeleitete Rehabilitierung von Ekkeharts Geschichtswerk vollenden. || 37 Haefele 1961, 1962. 38 Haefele 1962, 169. 39 Stotz 1998, 442. 40 Ekkehart IV., Casus sancti Galli/Haefele 52013. 41 Url 1969, 32.

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Doch trotz jahrzehntelanger intensiver Beschäftigung mit der Edition, auch in der letzten Zeit seiner schweren Krankheit, war es Haefele nicht vergönnt, „seine Arbeit daran vollendet zu sehen“42. Im zweiten Jahr nach seinem Tod am 1. Oktober 1997, im Frühling 1999, erteilte die Zentraldirektion der MGH dem Autor dieses Beitrags den Auftrag, die Edition abzuschliessen, und übergab ihm die nachgelassenen Materialien des Verstorbenen. Bei deren Sichtung ergab sich, dass der Editionstext inklusive kritischem Apparat weitgehend vollendet war. Hingegen lag nur für ungefähr ein Drittel des umfangreichen Werks (54 der 147 Kapitel) ein historischphilologischer Kommentar vor. Die Aufgabe, die Edition abzuschliessen, schien innerhalb einer überschaubaren Zeitspanne bewältigt werden zu können. Es ging zunächst darum, den Kommentar zu Ende zu führen und mit den bestehenden Teilen zu harmonisieren. Später sollten der Variantenapparat endgültig redigiert, die Einleitung verfasst und die Verzeichnisse und Register erstellt werden. Ausserdem sollte die deutsche Übersetzung, die Haefele für die Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe angefertigt hatte, in die MGH-Ausgabe übernommen werden. Denn seitdem das traditionsreiche Münchner Institut vor zwei Jahrzehnten seine ScriptoresAbteilung für zweisprachige Ausgaben geöffnet hatte, sollte zu erzählenden Geschichtsquellen des Mittelalters, wie sie Ekkeharts Casus ‚par excellence‘ darstellen, der Zugang auch für ein studentisches und ein des Lateins nicht kundiges weiteres Leserpublikum durch eine deutsche Übersetzung erleichtert werden. Als dann im darauf folgenden Jahr 2000 der neue Bearbeiter zum Stiftsbibliothekar von St. Gallen ernannt wurde und er sein hauptsächliches Wirkungsfeld von der Universität Freiburg im Üchtland nach St. Gallen verlegte, schienen eigentlich ideale Voraussetzungen für den raschen Abschluss des langjährigen Unternehmens gegeben zu sein. In der Stiftsbibliothek mit ihren Handschriftenschätzen und ihrem reichen Bestand an Sekundärliteratur zur Klostergeschichte fand er, wie weiland Joseph Victor von Scheffel, wie in einer „wohnlichen Herberge alles, was das Herz begehrte“43. Doch wie er bald feststellen musste, waren die Zeiten beschaulichen Gelehrtenlebens, wie es von Arx und Scheffel einst führen konnten, auch in der Stiftsbibliothek St. Gallen längst vorbei. Der „Tempel der Musen“44 war an der Schwelle zum 21. Jahrhundert zu einem lebhaften Mehrspartenhaus geworden. Neben der eigentlichen Bibliothek als Kernbereich war ein bedeutender Museumsbetrieb herangewachsen und daraus eine vielfältige, weit ausstrahlende Kulturinstitution geworden. Für kontinuierliches Arbeiten an einer Edition vom Umfang und Gehalt des Ekkehart’schen Opus blieb da nicht genügend Raum. Das Vorhaben kam infolgedessen nur langsam voran. Bei der Arbeit an der Kommentierung zeigte sich, dass auch die Haefele’sche Übersetzung der genauen || 42 Stotz 1998, 442. 43 von Scheffel 1855, zitiert nach der Neuausgabe als Diogenes Taschenbuch 1985, 434. 44 Titel der Jahresausstellung 1995/96 in der Stiftsbibliothek St. Gallen und des entsprechenden Ausstellungskatalogs, dort bezogen auf die Klosterbibliothek in der Barockzeit.

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Überprüfung bedarf. Seine „schöpferische, doch gleichzeitig von letztmöglicher Selbstzucht geprägte Sprache“45 hatte gewiss die weitaus beste und präziseste aller vorliegenden deutschen Übertragungen des Werkes hervorgebracht; gleichwohl ist sie vor Fehlern im Einzelnen nicht gefeit. Der Abschluss der Arbeit und das Erscheinen der von der Mediävistik mit Ungeduld erwarteten Neuausgabe sind nun in absehbarer Zeit zu erwarten. Denn der Editor ist nach seiner im Spätherbst 2013 erfolgten Emeritierung von den Verpflichtungen seines Amtes befreit und verfügt seither über das otium, das es für die Vollendung der Ekkehart-Ausgabe braucht. Ausserdem ist ihm mit der Mittellateinerin Franziska Schnoor, wissenschaftlicher Mitarbeiterin an der Stiftsbibliothek St. Gallen, eine willkommene Unterstützung in der Arbeit zur Seite gegeben worden. Im Zeichen des Internet-Zeitalters sind auch die Casus sancti Galli bereits in einer digitalen Version erschlossen und frei zugänglich. Die von Max Bänziger erstellte Plattform Monumenta.ch bietet neben zahlreichen anderen Geschichtsquellen eine nützliche Synopse der in den Codices Electronici Sangallenses zur Zeit volldigitalisierten Ekkehart-Handschriften Cod. Sang. 615 (B) und 610 (D1), verknüpft mit der Ausgabe von Haefele in der Freiherr vom Stein-Ausgabe und erweitert um die praktischen Hilfsfunktionen Wortlisten, Wortkonkordanzen und Wörterbücher.46

5 Aus der Werkstatt der Neuausgabe Zum Abschluss dieser Ausführungen seien an einigen Beispielen Einblicke in die Werkstatt der Neuausgabe gegeben. Zuerst ein Beispiel der Textkritik, dieses zeigt eine verbesserte Lesart gegenüber Meyer von Knonau, die bereits Haefele erkannt und in seine Übersetzung (und Ausgabe) hat einfliessen lassen:47 In Kap. 113 berichtet Ekkehart von zwei jährlichen Stiftungen, die Erzbischof Heinrich von Trier und Bischof Dietrich von Metz anlässlich der grossen Visitation in den 960er Jahren dem Kloster St. Gallen vergabten. Die Stiftung soll aus decem vasa vinaria und totidem salis spira bestehen. Die „zehn Fässer Wein“ geben keine Rätsel auf. Aber was bedeuten die zehn spira Salz? Von Arx übergeht die Stelle stillschweigend, im Register des zweiten Bandes der Scriptores ist nur der blosse lateinische Begriff spirum salis eingetragen. Meyer von Knonau hingegen gesteht in seiner wortreich kommentierten Ausgabe, dass er den Begriff nirgends habe finden können.48 In seiner Übersetzung für die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit musste er dann Farbe bekennen und sucht das unbekannte Wort als „Sendung“ zu

|| 45 Stotz 1998, 443. 46 www.monumenta.ch (Stand: 21.5.14). 47 Die folgende Darstellung beruht auf Haefele 1961, 188–190. 48 Ekkehards IV. Casus sancti Galli/Meyer von Knonau, 21925, 382 mit Anm. 1337.

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deuten. Helbling lässt das ominöse Wort kurzerhand aus und übersetzt: „ebensoviel Salz“, fügt allerdings in einer Anmerkung erklärend hinzu, Salzvorkommen sei im Gebiet von Speyer (!) im Mittelalter auch sonst bezeugt.49 Vor Haefele hat sich einzig Helen Edna Loth in ihrer lexikographischen Studie zu Ekkeharts Casus50 von 1936 mit der Stelle befasst. Nach ihrer Ansicht kommen zwei oder drei Deutungen in Frage: spirum könnte von spira (griechisch σπεĩρα) abgeleitet sein und einen spiral- oder kugelförmigen Behälter bedeuten, eine Art von Korb, wie man ihn im Bergbau verwendete. Möglich wäre auch eine Verbindung mit dem germanischen spera, spar, spier, spira und damit unter spirum ein Längenmass zu verstehen. Doch die Lösung des Problems liegt anderswo, in einer kleinen orthographischen Änderung: spira ist durch Spira (= Speyer) zu ersetzen. Diese Lösung hat bereits Goldast in seiner Erstausgabe gewählt, ausserdem hat Tschudi sie durch eine Randnotiz in Cod. Sang. 611 (C1) angeregt. Die Stelle erhält nun einen viel präziseren Sinn und einen neuen Zusammenhang. Die Massangabe decem vasa bezieht sich nicht nur auf den Wein, sondern auch auf das Salz. Spira gehört bereits zum folgenden Satzteil: Spira [...] confratribus mittere, d. h. die Wein- und die Salzspende sollte von Speyer aus nach St. Gallen geschickt werden, und die Wendung dazwischen condixit die dato wird endlich klar verständlich: Die beiden Prälaten verpflichteten sich, ihre Geschenksendungen an einem bestimmten Termin gemeinsam in Speyer verladen zu lassen. „Hinter dem Bericht spürt man Ekkeharts eigene Kenntnis der Verhältnisse am mittleren Rhein, der Schifffahrt auf diesem Fluss und des Handelslebens zwischen West- und Oberdeutschland“.51 Ekkehart hat Speyer sicher aus eigener Anschauung gekannt, lebte er doch während eines Jahrzehntes in der nicht weit davon entfernten Stadt Mainz, wo er als Schulmeister wirkte und bedeutende Versdichtungen schuf; auch in Metz und vermutlich ebenfalls in Trier hat er sich damals aufgehalten.52 Ein weiterer, in den bisherigen Ausgaben kaum berücksichtigter Aspekt einer Neuedition der Casus hängt mit dem breiten wissenschaftlichen Spektrum Ekkeharts zusammen. Von „Ekkeharts vielseitigem Magisterfleiss“53 zeugen neben seinem Geschichtswerk, seinen verschiedenartigen Dichtungen und seinen zahllosen Glossierungen von Werken der Schulliteratur in der Klosterbibliothek auch seine in die Klostergeschichten eingeflossenen Nachrichten zum liturgischen Leben. Die Casus sancti Galli vermitteln ein präzises Bild der liturgischen und musikalischen

|| 49 Ekkehard IV. Die Geschichten des Klosters St. Gallen/Helbling, 1958, 194 mit Anm. 709. 50 Loth 1936, Appendix, 135f., Note 5 (zit. nach Haefele 1961). 51 Ausführlich wird die Stelle dargelegt von Haefele 1961, 188–190, Zitat 190; zu Ekkeharts Kenntnissen von Räumen, Ortschaften und Wirtschaftsverhältnissen am Oberrhein vgl. auch Eisenhut 2009, 92f. 52 Haefele 1961, 190, Anm. 274; vgl. Eisenhut 2009, 93, Anm. 96–98. 53 Haefele 1980a, 464.

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Praxis im Kloster St. Gallen und in der Stadt Mainz während des 10. und 11. Jahrhunderts. Ekkehart ordnet den von ihm porträtierten Vorgängern im Kloster auch die von ihnen geschaffenen Dichtungen zu, Tropen, Sequenzen, Antiphonen usw.; in den Werkkatalogen St. Galler Verfasser zitiert er die Gesangsanfänge und fügt diesen die Melodien bei. Ein gutes Dutzend solcher mit Neumen-Noten versehener Initien ist in der Leithandschrift B enthalten54 – die auch hierdurch zu erkennen gibt, dass sie sehr nahe an das verlorene Autograph Ekkeharts heranreicht und die Intentionen des Autors von allen Abschriften am reinsten wiedergibt. Die Casus sancti Galli sind unseres Wissens das einzige hochmittelalterliche Geschichtswerk, das solche Initien mit Neumen enthält.55

Abb. 5a: Initium mit Neumen im Werkkatalog Kap. 6: von Ratpert gedichtetes Prozessionslied Ardua spes mundi, in B (Cod. Sang. 615, S. 60, Z. 4).

Abb. 5b: Ratperts Prozessionslied Ardua spes mundi mit Neumen in einer St. Galler Sammlung mit liturgischen Dichtungen, St. Gallen, um 930–950 (Cod. Sang. 381, S. 42, Z. 9 und 10).

In der Neuausgabe werden die Gedichte und Melodien nach Möglichkeit identifiziert. Dabei können wir uns glücklicherweise auf die reiche Überlieferung von neumierten Musikhandschriften aus dem Frühmittelalter im Kloster St. Gallen stützen und die jeweiligen Melodien überprüfen. Gezeigt sei dies am Beispiel des zweiten vorkommenden Initiums im Werkkatalog in Kap. 6, bezogen auf Ratpert, welcher Ardua spes mundi geschaffen habe: Ratpert qui ‚Ardua spes mundi‘, Tuotilo qui [...] et pleraque alia dictaverant (Kap. 6; B, Abb. 5a). Die Allerheiligenlitanei-Dichtung Ardua spes mundi,56 die Ratpert als Prozessionslied geschaffen und die weite

|| 54 Drei Initien mit Neumen in Kap. 6, je ein Initium in Kap. 24, 76, 94 und 123, sieben Initien in Kap. 80; vgl. die (nicht vollständige) Zusammenstellung bei Haug 1998, 963. 55 Freundlicher Hinweis von Michael Klaper. 56 Vgl. Stotz 1972, mit Textedition, 36–41.

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Verbreitung gefunden hat,57 findet sich mit weitgehend identischen Neumen u.a. in Cod. Sang. 381 (Abb. 5b), einer Musikhandschrift mit einer der ältesten Sammlungen von St. Galler liturgischen Kompositionen, geschrieben zwischen 930 und 950.58 Einen wesentlichen Teil der Arbeit an der Neuausgabe nimmt die Kommentierung in Anspruch. Dabei gilt es, sich vom Modell, das Meyer von Knonau seinerzeit mit der überbordenden, einseitig historisch-kritischen Kommentierung seiner Ausgabe befolgt hat, zu lösen. Ekkehart als Geschichtsschreiber und Zeitzeugen zu rehabilitieren, ist zwar heute kaum mehr nötig. Doch viele neue Forschungserkenntnisse in verschiedensten Bereichen sind einzuarbeiten. Allerdings sollten die Anmerkungen nicht mit rasch veraltenden bibliographischen Hinweisen überladen werden. Einzelne von Ekkehart geschilderte Gestalten, Begebenheiten oder ganze Themenfelder haben durch neue Untersuchungen ein geschärftes Profil erhalten. Als Beispiele seien das tragische Ende des jungen Mönchs Wolo59 oder die tragikomische Gestalt des Mönchs Heribald während des Ungarneinfalls von 92660 herausgegriffen. Im Fall eines so vielseitig gebildeten und bewanderten Gelehrten, wie Ekkehart es war, ist es wohl ebenso wichtig, neben der historischen Kommentierung auch die zahlreichen literarisch-philologischen Bezüge in den Casus sancti Galli sichtbar zu machen. Dazu hat Hans Frieder Haefele mit feinem Gespür bereits vieles beigesteuert.61 In den Kommentar einzuarbeiten sind auch die jüngsten Erkenntnisse zu den im Werk verschlüsselten Intentionen des Autors, seiner Causa scribendi. Wie Ernst Hellgardt überzeugend dargelegt hat, bildete für Ekkehart die Beachtung der regeltreuen Lebensführung in den Wechselfällen des Geschicks ein wichtiges, wenn nicht das zentrale Thema in seinen Klostergeschichten.62 Das Auf und Ab von Glück und Unglück (fortunia et infortunia; Prael.) als den bestimmenden Polen in der Geschichte seines Klosters gründet zwar in der Geschichtsauffassung des Boethius, dessen Consolatio philosophiae in St. Gallen zur Schullektüre gehörte. Anders als die blinde Fortuna bei Boethius hätten die Wechselfälle aber mit dem schwierigen Geschäft der unerbittlichen Wahrheitsfindung zu tun. Diese könne für die Zeitgenossen Ekkeharts zu unbequemen Einsichten führen, besonders was die „Klosterzucht“ (disciplina), die regelgetreue Lebensführung, betreffe. Die (geschilderte) Vergangenheit wird der (stillschweigend implizierten) Gegenwart gegenübergestellt. Die Casus sancti Galli können wir daher auch als einen literarischen Kommentar Ekkeharts zur Regula Benedicti vor dem Hintergrund der Reformbemühungen seiner Zeit

|| 57 Stotz 1972, Kommentar, 41–72. 58 Für den Hinweis danke ich Franziska Schnoor. Zu Cod. Sang. 381 vgl. Arlt/Rankin 1996, bes. 52 (zur Datierung). 59 Haefele 1979. 60 Tremp 2002. 61 Vgl. Haefele 1988b. 62 Hellgardt 2001, 33–35.

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interpretieren.63 Solche zahlreich vorhandenen Bezüge gilt es in der Kommentierung sichtbar zu machen.

Literaturverzeichnis Quellenausgaben Ratpert, St. Galler Klostergeschichten (Casus sancti Galli) (2002), Hg. und übers. von Hannes Steiner (MGH SS rer. Germ. 75), Hannover. Ekkehard IV., Casus sancti Galli (1606/21661/31730). Hg. von Melchior Goldast. In: Alamannicarum rerum Scriptores I, Frankfurt, 35–109, Frankfurt, 12–61. Frankfurt, 11–64. Ekkehard IV., Casus sancti Galli (1829). Hg. von Ildefons von Arx (MGH SS 2), Hannover, 77–147. Ekkehard IV., Casus sancti Galli (1877). Hg. von Gerold Meyer von Knonau (Mittheilungen zur Vaterländischen Geschichte 15/16), St. Gallen, 1–450. Ekkehard IV., Casus sancti Galli/St. Galler Klostergeschichten (52013). Hg. und übers. von Hans F. Haefele (Freiherr vom Stein Gedächtnisausgabe, Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 10), Darmstadt, 1991, 52013 (mit einem Nachtrag von Steffen Patzold). Casuum sancti Galli Continuatio anonyma (1987), Textedition und Übersetzung von Heidi Leuppi, Zürich. Cionradus de Fabaria, Casuum sancti Galli continuatio (1989). Die Geschicke des Klosters St. Gallen 1204–1234. Hg. und übers. von Charlotte Gschwind-Gisiger, Zürich. Cristân der Kuchimaister, Nüwe Casus Monasterii Sancti Galli (1974). Hg. von Eugen Nyffenegger (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker N. F. 60 [184]), Zürich/New York. Josef Victor von Scheffel, Ekkehard (1855/1985). Eine Geschichte aus dem zehnten Jahrhundert. Frankfurt a. M. (Erstausgabe); zitiert nach der Neuausgabe als Diogenes Taschenbuch 21 292. Zürich.

Deutsche Übersetzungen Ekkeharts IV. Casus Sancti Galli (1878/21891), nebst Proben aus den übrigen lateinisch geschriebenen Abtheilungen der St. Galler Klosterchronik. Übers. von Gerold Meyer von Knonau. (Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, Zehntes Jahrhundert, Bd. 11), Leipzig. Ekkeharts IV. Casus Sancti Galli (1925), nebst Proben aus den übrigen lateinisch geschriebenen Abteilungen der St. Galler Klosterchronik. Übers. von Gerold Meyer von Knonau. Zweite Auflage besorgt von Placid Bütler (Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, Zweite Gesamtausgabe, Bd. 38), Leipzig. Ekkehard IV. Die Geschichten des Klosters St. Gallen (1958). Übers. und erläutert von Hanno Helbling (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, Dritte Gesamtausgabe, Bd. 102), Köln/Graz. Hans F. Haefele (wie oben unter Quellenausgaben).

|| 63 Vgl. Tremp 2005b, bes. 71.

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Italienische Übersetzung Cronache di San Gallo (2004). A cura di Gian Carlo Alessio, Introduzione e note di Peter Erhart. Nota alle illustrazioni e apparato iconografico di Fabrizio Crivello, Turin.

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Wojtek Jezierski

Speculum monasterii Ekkehart IV and the making of St Gall’s identity in the Casus sancti Galli-tradition (9th–13th centuries)1 What manner of theatre is it, in which we are at once playwright, actor, stage manager, scene painter and audience? W.G. Sebald, Rings of Saturn

It is worth the effort to turn now to the deeds of some of our contemporary brothers for the sake of edifying the juniors, so that they, through studying and contemplating this proper way as if in a mirror, can become worthy of this way [of life] and approach it through their merits and habits. (Conradus de Fabaria, Kap. 2, 4–5)2

In this manner, a St Gall monk in the 1230s by the name Conradus de Fabaria envisaged the history of his monastery contained in the four-century-long historiographical tradition of texts known today as different continuations of Casus sancti Galli. Conradus’s own text, and implicitly this entire tradition, was supposed to constitute a mirror for him and his intended readers. In this mirror, not only the contemporary but also past and future generations reflected themselves in both their glorious and ominous past. It is evident that Conradus did not propose a metaphor of a passive picture of the past to safely gaze at. He instead offered a metaphor of the intriguing exchange one has with a mirror, which allows one to see a basically identical, yet inverted image of oneself; an image that uncomfortably stares back with a judgmental, normative flicker in the eye; an image which allows one to see himself the way others see him.3 By expanding this metaphor I would like to analyze what this pro|| 1 I would like to thank Albrecht Diem (Syracuse University) whose many helpful comments and suggestions improved this article substantially. I would also like to thank Sven och Dagmar Saléns stiftelse whose financial support enabled my visit to Deutsches Historisches Institut Warschau where this article was completed in 2012. Some sections of this article have been published as Jezierski 2012. 2 Opere precium est nunc, quorundam fratrum contemperaneorum nostrorum facta edificacioni profutura iuniorum interponere, ut quasi in speculo ipsorum contemplacione dignam investigantes viam, dignos se studeant illorum et meritis equipperare et moribus. 3 „When I look in the mirror, for example, it is necessary that I am ‚distanced‘ or ‚spaced‘ from the mirror. I must be distanced from myself so that I am able to be both seer and seen. The space between, however, remains obstinately invisible. Remaining invisible, the space gouges out the eye, blinds it. I see myself over there in the mirror and yet, that self over there is other than me; so, I am not able to see myself as such. What Derrida is trying to demonstrate here is that this ‚spacing‘

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cedure of staring into a historiographical mirror of the monastery of St Gall looked like and what it meant for six different monks working across four centuries; particular attention is paid to Ekkehart IV whose Casus seems to be the most innovative in this series of texts in many respects. To briefly recap the basic information, the first work of this tradition is the Casus sancti Galli by Ratpert, a monk of St Gall, completed at some point before 890. It is a fairly straightforward history describing the beginnings of an early medieval monastery: the arrival of St Gall and his disciples, the foundation of the monastery, the lives of the first abbots, juridical matters concerning St Gall’s constitution, and the convent’s painstaking struggle to enlarge its independence from the near-by bishopric of Constance.4 The second work is the famous Casus sancti Galli by Ekkehart IV written in the mid-eleventh century. It is a direct continuation of Ratpert’s work, though in a totally different style. It is an enjoyable and often deliberately funny text, which pours with vivid images of life within the monastic walls, infringements of malicious intruders, splendid visits paid by kings, emperors, and famous bishops, mishaps caused by abbots with too much or too little willpower, and an intrusion of barbaric Hungarians in 926.5 The third Casus is in fact a sequential composition of histories written by three anonymous authors working in the 1070s, the late eleventh, mid- and late twelfth centuries. Continuatio casuum sancti Galli, as this collection is known today, follows the chronological order of the described events, however, it lacks the juridical importance of Ratpert or Ekkehart IV’s liveliness. At times it becomes as self-centered as the predecessors’ narrating, among others, pitiful stories of the brothers of St Gall clashing with their Abbot Gerhard.6 After the second continuator takes over at the end of the eleventh century, and later when the third author takes over at some point after 1199, the text becomes more chronicle-like and focuses on the economic situation of the monastery. It also incorporates quite a lot of worldly information, but this information becomes very local and often second-hand, as the monastery’s position shifts to the margins and its status gradually decreases.7

|| (espacement) or blindness is essentially necessary for all forms of auto-affection, even tactile autoaffection which seems to be immediate.“ Lawlor 2006. „Here, again, this double reflection produces a symbolic point the nature of which is purely virtual neither what I immediately see (‚reality‘ itself) nor the way other see me (the ‚real‘ inverted image of reality) but the way I see others seeing me. If we do not add this third, purely virtual viewpoint of the Ego-Ideal, then it remains totally incomprehensible how the inverted representation of our „normal“ world can act as an ironic refusal of the invertedness that pertains to our ‚normal‘ world itself – that is, how the depiction of a strange world opposed to ours can give rise to the radical estrangement of our own‘. Žižek 2008, 13. 4 Steiner 2002; Url 1969. 5 Haefele 1961 & 1962. 6 Althoff 1990a, 163–167; Jezierski 2011, 24–30. 7 von Knonau 1877; Leuppi 1987.

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Importantly, all these mentioned texts have come to us in the form of an earlythirteenth century Codex 615; Ratpert’s and Ekkehart’s text being transcripts and the rest in the form of manuscripts which someone collected into one volume. The Casus sancti Galli tradition, however, did not die out at this point but had a third continuator; the aforementioned Conradus de Fabaria, who ca. 1234 composed the fourth Casus. Conradus’s text resembles the last two anonymous continuators. It thus includes very little insider information and quite a lot about what happened in the vicinity of St Gall: the successful and sometimes troubled appointments and activities of its abbots, St Gall’s conflicts with the counts of Toggenburg and Constance, and the chronic financial troubles of the monastery.

1 Aim of the study Surprisingly, in its entirety, and not as separate episodes, stories or pieces of information, St Gall’s remarkable historiographical tradition stretching over nearly four hundred years has not gained much attention. Very little was done to examine in what ways this tradition affected the subsequent generations of monks and writers which actively adhered to it. Although, as this entire volume attests, the literature on St Gall’s cultural heritage, its personalities, particular abbots, teachers, and authors is immense, a comprehensive study on how the identity of St Gall monks was being constructed through its entire historiographical tradition is still lacking. If we take a look at the genre of monastic narratives and house traditions in general, scholars have argued that apart from their certain well-researched functions, such as commemorative, propagative, form of consolation in times of crisis etc. – on the domestic level they often functioned as culturally structuring devices. Monastic narratives in the form of the lives of saints, gesta abbatum, and monastic chronicles mediated a certain – both conscious and unconscious – Geschichtsbewusstsein; a conception of the world and a particular disciplinary form of cultural identity.8 Furthermore, monastic communities used such texts as tools for shaping and reproducing these dispositions, emotional states, and cognitive categories in their members’ minds. As Mayke de Jong and Ernst Hellgardt argued for Ekkehart IV’s Casus sancti Galli, because this text delivered highly abstract ideals in the form of practical, historical examples – which took away some of the air of evident indoctrination and normativity – his Casus and other texts of this kind had, and were to have, profound institutional effects both on the level of community and within individual minds.9

|| 8 Röckelein 1997; de Jong 1983, 2000; Niederkorn-Bruck 2004; Schmale 1993, 143–164; Patze 1977; Goetz 1988. 9 Hellgardt 2001; Brandt 1998; Althoff 2011.

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Building on this research I would like to investigate the ideological means the Casus sancti Galli tradition activated in the processes of identification that was (un)consciously performed by their monastic readers between the ninth and thirteenth centuries. My proposition is not to treat this tradition of remembrance as a simple expression of some original identity of St Gall’s monks. It was rather a ‚reflective alienation‘, that is, the necessary step backwards a subject has to take to be able to recognize himself as an object in the mirror.10 Following some of the ideas of de Jong, I will stress the fundamental division framing monks’ minds: the claustrum vs. saeculum divide, that is, the distinction between the monastic inside and outside.11 How did Ratpert, Ekkehart IV and other writers conceptualize this division? In what different manners and lights did the writers allow their readers to see themselves? In considering these questions I will focus on five aspects: how St Gall’s historiographical tradition was invented; the Wir-Gefühl promoted by these authors; how this tradition regulated communication between claustrum and saeculum; the way it taught its monastic readers to desire and be desired by the others; and the textual limits to the reproduction of the collective subjectivity of the monks at St Gall.

2 Inventing the tradition The first question one should ask is: when was this tradition constituted? That is, was it already a tradition in its own means from Ekkehart IV, or did it commence in the twelfth century when Codex 615 was put together? Parenthetically, one should appreciate the ideological incentive that popped into the heads of the late-twelfthcentury compilers and continuators and guided them towards putting all the texts together into a single codex, almost like putting beads on a string. Codex 615 starts with the list of abbots who presided over St Gall (Abbates qui 〈prae〉 erant monasterio sancti Galli), then Ratpert’s De origine et diversis casibus monasterii sancti Galli, Ekkehart IV’s Casus sancti Galli, and the anonymous Continuatio Casuum Sancti Galli.12 It can be added that the next time all the Casus-texts from Ratpert to Conradus were collected in separate codices (such as Codex 69, Codex 610, Codex 612, and Codex 613 of the Stiftsbibliothek) was in the second half of the fifteenth century || 10 Berger & Luckmann 1991, 106–107. 11 de Jong 1981. 12 Interestingly, the tenth-century copy of Ratpert’s Casus, most likely copied from the original ninth-century manuscript, which can be found in Codex 614 is also preceded by a considerably later list of abbots presiding over St Gall which was composed in the thirteenth century: Codex 614: 76; The fifteenth-century paper Codex 610 containing all the works here in question (whose order between pages 347b and 472a appears to be directly taken from Codex 615 with addition of Conradus’s Casus) also preserves the same order, that is, the different Casus manuscripts are ordered chronologically and preceded by the list of abbots: Codex 610).

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when St Gall was facing an impending crisis. At that point recruitment patterns hit rock bottom and new monks had to be transferred from Hersfeld to St Gall. These manuscripts and codices proliferating in the late Middle Ages attest to the painstaking efforts to reignite common spirit and identity in a community slowly slipping into decadence, torn apart by diverse customs inherited from various monasteries, imposition of a new Benedictine reform in 1417, and overpowered by the rapidly growing city of Sankt Gallen.13 Returning to the question of when the Casus-tradition commenced in St Gall: there is no doubt that as a self-conscious task this tradition had already begun when Ekkehart IV decided to carry on Ratpert’s Casus. All authors taking after Ratpert explicitly referred to their predecessors underlining how important this selfimposed assignment of continuation was. Ekkehart IV stressed that before himself ‚Ratpert, a learned man, has produced a small volume on the age of St Gall, from Othmar up to Salomo Bishop of Constance, with whom we shall begin now.‘14 Ekkehart added that it was the brothers of his monastery (not the abbot! which indicates a shift from Ratpert’s more official attitude)15 who urged him to narrate the story of their monastery and that their stories are the main source for his account of the fortunes and misfortunes of the monastery.16 The first of the anonymous continuators who gripped the pen at some point in the 1070s opened his account more solemnly: Laudabile enim et satis huis loco usitatum esset, si veteres scriptores nostros de simili materia imitati fuissent, Hartmannum scilicet, qui priorem librum de casibus fecerat, et Rathpertum, hominem doctissimum, qui eundem usque ad sua tempora librum auxerat, Ekkehardum quoque iuniorem, qui a Salomone incipiens usque ad Notpertum se singula dicere velle pollicitus est, sed in Notkero finivit. (Casuum continuatio anonyma/Leuppi (1987, 58–59)

|| 13 Borst 1991, 338–355; Vogler 1995, 1153–1155. 14 Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 1980‚ preloquium, 16–17: Scripserat ante nos Radpertus, homo doctissimus, et ipse codicellum similis materie a sancto Gallo et Othmaro usque ad se ipsum, a quo nos incepisse videmur, Salomonem episcopum.; see also ibid., Kap. 9, 32–33; Kap. 31, 74–75; Kap. 38, 86–87. 15 It has been discussed to what extent Ekkehart’s and the first continuator’s works, both explicitly relying on other brothers’ stories, were criticizing their own abbots and supported the opposition in their convents in their texts. This discussion, however, is not as relevant in the context of this article which applies longitudinal perspective on the entire historiographical tradition of St Gall. For the most recent debate on this topic see: Patzold 2010. 16 Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 1980‚ preloquium, 16–17. Moniti a loci nostri fratribus id opere precium putantibus, quedam cenobii sanctorum Galli et Othmari cum infortuniis tradere fortunia, rem arduam aggressi sumus […] At vero quoniam rerum loco nostro gestarum etiam alii veritati nihil parcentes fortunia et infortunia, quomodolibet erant, edixerant, temptantes quidem et nos ea, que a patribus audivimus, ea aviditate qua illi, quam verissime datum est stilo et atramento veritatem perstringere, fortunia et infortunia loci nostri veritati nihil parcentes edisserere.

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(„It is truly praiseworthy and has been for the benefit of our monastery, that our ancient authors devoted so much space to the same topic [monastery’s history]. Namely Hartmann who wrote the first book, after him Ratpert, a learned man who continued the work until his own times. And Ekkehard the younger, who began with Salomo and promised to continue up to Norpert […] but never completed his book hindered by death.“)17

Conradus de Fabaria, the last monastic continuator from the early thirteenth century, was perhaps just as loquacious in his introduction and undertaking as his predecessor: Antiquorum gesta patrum, sicut in libro, qui de casibus monasterii succincte et compendiose scriptus, non humili stilo legentibus patere potuit, imitantes, in quantum possumus, ea que nostris acta sunt temporibus, stilo licet de parvo sciencie rivulo, explicare curabimus. (Conradus de Fabaria, Casuum sancti Galli continuation/Gschwind-Gisiger 1989, 2–3) („As we have received the deeds of our ancient forefathers, which concisely and succinctly as well as elegantly are written in the book on the fortunes of the monastery, we now would like to describe for the readers, to the extent the humble talent and teaching of our pen allow, what happened in our times.“)

The links and a sense of purpose of involvement in this larger project are clear but it would be too one-dimensional to think of these references and declarations as constatives, as merely stating what they do. It is better to think of them as performatives which actively created the relationships they merely claimed to be joining. Given their interconnections and strongly obligating overtone, it is more fruitful to conceive these texts as a series of serious speech-acts, or a discursive formation if one prefers.18 On its very local scale this formation delivered an authoritative account of the monastery’s past but also, in contradistinction to different redactions of the Annales sangallenses produced at St Gall in the tenth and eleventh centuries,19 it stipulated and fine-tuned a strongly emotional attitude for the readers to take towards their history. Furthermore, the discursive formation of all Casus-texts made serious truth claims as the readings of the subsequent continuators reveal and, more importantly, it set a horizon of acceptability for the coming statements, both in terms of preferred form and topic.20 Crucially, conjured into being, the Casus-

|| 17 See also ibid. Kap. 1, 64–65; Interestingly enough, it is only the first continuator who explicitly declares the task of carrying on this tradition, the other two simply go on. 18 Cf. Koziol 2012, 42–62; Dreyfus & Rabinow 1983, 44–78; Foucault 1972. 19 For the different redactions of Annales sangallenses see: Annales sangallenses (1826, 61–65, 69– 85); cf. Patze 1977, 90. 20 The first anonymous continuator sets his agenda of what makes past worth remembering quite explicitly: Casuum continuatio anonyma 1987, 60–61: Proinde seniores nostros arguo, qui omnia benefacta et etiam negligentias Ymmonis, Odalrici, Kerhardi, Purchardi, Thiepaldi, Odalrici, Norperti viderunt aut veraci relatione didicerunt nec tamen scripserunt. Manifestum est enim eos plura digna relatu et fecisse et dixisse.; Haefele 1969, 151; Fish 1989.

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tradition became an object of attention and, by means of circularity, it created and reproduced its own public.21 Let us consider one powerful example of the creative force of these texts that it had on the level of the monastic community. There is profound difference when it comes to the use of sources between Ekkehart IV, the late continuators on the one hand, and Ratpert on the other hand. Ratpert declaratively employed only written documents for his account,22 such as vitae, narrative texts, lists of books taken from the scriptorium and a bulk of juridical documents. He supported his narrative on direct experience and information from other brothers only implicitly. Ekkehart IV and later continuators in contrast, 23 openly declared that their main sources had been the stories and anecdotes conveyed orally and inherited from the elder brothers.24 The unspoken purpose of writing for all Casus-writers was to preserve these personal stories for posterity and it may seem that an important shift from oral to literary culture occurred there. As stated by Patrick J. Geary, however, in the case of monastic historiography and remembrance during this period we cannot really speak of a one-way transition from an oral to a written mode. They constituted one oral-written compound, in which oral and written testimony existed next to each other and enjoyed equal authority when it came to giving account of the past.25 Similarly, ever since Of Grammatology, scholars know well enough that as soon as talk about writing and speech begins, it is better you ready your post-structural firearm. Taken at face value the numerous references by Ekkehart IV to his older brothers may suggest that there was already some sort of established and selfsufficient oral tradition before he put it on parchment.26 It is very much the traditional theme of speech preceding writing, the latter being the unfortunate supple|| 21 „A public is a space of discourse organized by nothing other than discourse itself. It is autotelic […] It exists by virtue of being addressed […] The circularity is essential to the phenomenon. A public might be real and efficacious, but its reality lies in just this reflexivity by which an addressable object is conjured into being in order to enable the very discourse that gives it existence“, Warner 2005, 67, see also, 87–92) (emphasis mine). 22 Ratpert Kap. 1 [2–3], 144–145; Kap. 2 [5], 152–153; Kap. 2 [6], 156–159. 23 Ekkehart often chooses oral evidence over written, at some point explicitly rejecting the latter as it would take too much effort to extract it from the monastery’s archive: Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 1980, Kap. 25: 64–65: Sunt et alia multa […] que, quia senes interrogati in armario queri oportere tam plurima dicerent, intacta reliquimus […]. The first of the anonymous continuators, on the other hand, reveals what the limits of his knowledge are. They are set by written documents on the one hand and oral tradition on the other, clearly considered on a par. Beyond these only pure imagination would inform his report (Casuum continuatio anonyma 1987, Kap. 4, 78–79): Rogo autem, ne malivolentie aut negligentie arguar, si enim vel scripto aut fama aliqua de ipso audivissem, licet ad aliam festinem, intacta non transissem. 24 Casuum continuatio anonyma 1987, 60–61; Kap. 2, 66–67, 70–71; Kap. 3, 72–73; Kap. 5, 78–79; Kap. 16, 110–111; Kap. 19, 120–121. 25 Geary 1996, 9–16, 124–133; cf. Vollrath 1991a & 1991b. 26 de Jong 1983, 342 fn. 21.

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ment derivative of the former.27 But, as Jacques Derrida claims, the trouble is that speech as such, is unimaginable without its opposition constituted by writing which always already invades speech’s seemingly self-sufficient identity.28 So, who was the egg and who was the chicken in St Gall’s tradition of remembrance? In my opinion Ekkehart IV’s Casus was not so much re-presenting the St Gall oral narrative tradition but instituted it qua tradition, that is, as a conscious project. The author instituted it not only through delivering the material to be re-told, narrated and laughed about, but through the very pronouncement that the old monks told these stories, that there was a living oral tradition in the cloister as opposed to his Casus. Instead of simply acknowledging that the monks of St Gall listened to their older brothers who told the stories from the past, from the standpoint of Ekkehart IV’s Casus its readers learned that the older monks had the authority to tell these stories. In other words, that there was an established tradition of the living word to relate to which was charged with a strong moral obligation to perpetuate it.29 Conradus de Fabaria in his thirteenth-century Casus suggestively evoked an almost proverbial scene of cultural transmission, in which the older monks orally edified the young by narrating the stories from their own, and thus the monastery’s, past: Cum sit enim moris, ut ita dicam, naturalis senibus, iuvenilia sua facta antiquata repetere dictisque iam elapsa iunioribus ac si recencia anteponere, laudare, renovare, iam habita nichili pensare, cum non tempori, sed antiquitati dierum, corporum debilitati possunt ascribi, quit quid in eis vile iudicatur ac debile. (Conradus de Fabaria, Kap. 2, 4–5) („It appears to be, so to speak, a natural inclination of older people to tell and retell their deeds as young people for the juniors and presenting for them the long gone as if it was new and praise what already happened more than anything else. However, their judgment of what [now] seems worthless and weak should be attributed to their old age and fragility of their bodies rather than the times [they speak of].“)

Conradus additionally specified that in order to fulfill their instructive function the preceding St Gall Casus-texts, as well as his own, were to be read aloud and listened to.30 We also know that these historiographical pieces were indeed read aloud in the || 27 Derrida 1997. 28 Lucy 2004, 87–89, 118–130. 29 Geary uses a suitable distinction borrowed from Oesterreicher (1993) between Verschriftung which is a simple notation of spoken word and Verschriftlichung which qualitatively transforms the practice or transition from oral to written culture to describe the uneasy and certainly not unidirectional traffic of authority of evidence between memory, oblivion, orality, and texts in the same period: Geary 2002, 111–122; cf. Derrida 1997, 44 ff; Bell 1992, 118–121. 30 Cf. Tomaszek 2007, 239–247; Breitenstein 2011. Recently Elisabeth van Houts has taken the double nature of the process of putting monastic oral stories into writing, at once preservative and creative so to speak (van Houts 2011, 272): „The stories monks told each other filled the monastic chronicles as a manifestation of God’s work on earth, but at the same they also justified the historian’s labour and whetted his appetite for more. Thus we might say that a monastery’s historian not

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refectory with the evening meal in the early sixteenth century.31 Returning briefly to Ekkehart IV’s achievement we can repeat after Slavoj Žižek that the decisive matter of consciousness involved in the practice of narrating the monastery’s past, which the monk described and implicitly ordained, transformed the whole landscape of remembrance and tradition in St Gall.32 Ekkehart’s text therefore did something much more significant than just collecting a number of images from the internal life of St Gall. It both instituted the oral tradition as a reflexive practice in St Gall and, far more importantly, through its reference to Ratpert on the one hand and the traffic between the text and the community on the other, it ignited circulation of discourse, which is a necessary presupposition for creating a public as a form of social space. As Michael Warner put it: No single text can simply create a public, but the concatenation of texts through time, ongoing space of encounter through discourse. Only when a previously existing discourse can be supposed, and when a responding discourse can be postulated, can a text address a public.33

This compound of oral-literary relationships that existed in St Gall throughout the Middle Ages, created what Brian Stock called a textual community, that is, a community whose identity was strongly connected to a group of texts. These texts not only profoundly influenced the sociality of St Gall’s community structure but also its cognitive patterns as well as its relation to the internal and external world.34 According to Stock, texts such as those comprising the St Gall narrative tradition could ‚act as an intermediary between group interests and their ideological expression‘.35 As we are about to see, by establishing a circulation of discourse the Casus-texts Ratpert, Ekkehart and other writers also sanctioned whose opinions were allowed to circulate and had to be taken into account by this textual community. It is time to explore how these authors ideologically fused the monastery’s past with its present by establishing a timeless ‚we‘-community of monks of St Gall.

|| only generated stories himself, but by doing so also channeled and fuelled the telling of tales within the monastery.“ 31 Conradus de Fabaria Kap. 20, 52–53: Descriptis in superiori pagina casibus antecessorum nostrorum abbatum venerabilium – attendentes, quoniam omnis scriptura divinitus inspirata utilis est ad legendum, ad audiendum, quia audientes ad benefaciendum quandoque maiorum exemplis provocat, quandoque de malis vitandis cautificat […]; see also: Steiner 2002, 106–107 fns. 322–323. 32 „One does something, one counts oneself as (declares oneself) the one who did it, and, on the base of this declaration, one does something new – the proper moment of subjective transformation occurs at the moment of declaration, not at the moment of act. This reflexive moment of declaration means that every utterance not only transmits some content, but, simultaneously, conveys the way the subject relates to this content“, Žižek 2006, 16 (emphasis mine). 33 Warner 2005, 90. 34 Stock 1983, 88–92. Compare Stock’s concept with Stanley Fish’s idea of interpretive communities: Fish 1995; cf. Culler 2001. 35 Stock 1983, 526.

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3 Four centuries of Wir-Gefühl As noted by Wolfgang Eggert and de Jong, both Ratpert and Ekkehart IV expressed a strong emotional attitude towards their community, ancestors, fellow-monks and even particular spaces by using the pronouns nos and the possessive noster. I would now like to investigate whether all the authors working in this tradition actually use this kind of possessive attachment and, if so, in what circumstances and towards which elements. This should help us determine what this community historically positioned itself against and if there had been any constant elements in this abiding identification process. As pointed out by Emile Benveniste, personal pronouns such as ‚I / you / we‘ have no dictionary value and are essentially self-referential. They have to be realized in actual utterance by importing their content and reality from the discourse and context they are used in.36 Perceived as the most personal and proper forms of subjectivity, pronouns such as ‚I / we‘ are in fact empty vessels which made them perfect tools for generations of monks to forge an appearance of a stable ‚we‘ by filling it with a contemporary content.37 Ratpert, to begin with, often spoke of monasterium nostrum and its inhabitants, that is, fratres or incolae monasterii nostri and sometimes used the short form nostri or simple nos.38 It is of little surprise that Ratpert repeatedly opposed monasterium nostrum to the bishopric of Constance and – in his eyes always evil and unjust – machinations of its bishops from whose dominance St Gall monks were trying to break loose at that time.39 In fact, he used this term almost as often as his occasional || 36 Benveniste 1971, 217–230. 37 Derrida 1997, 108–109; Lucy 2004, 104–105. 38 Eggert 1984, 64–65. 39 Ratpert Kap. 2 [6], 156–157: Post haec vero Sydonius Constantiensis praesul […] instigantibus prefatis comitibus, cepit inquirere monasterium nostrum et in potestatem episcopatus redigere; Kap. 3 [9]: 164–165: Post obitum vero Iohannis episcopi Egino episcopii Constantiensis iura suscepit. Qui mox omnia insidiarum genera circa monasterium nostrum exercere non metuens […] quatenus iterum perverso more antecessorum suorum episcopatui subiceret monasterium; Kap. 5 [10], 168–169: Tunc praedictus episcopus assumens quendam presbyterum forensem, nomine Werdonem, obtulit eum ad nostrum monasterium, ut abbatem illum constituisset; Kap. 5 [11], 170–171: Quem [Bishop Wolfharius of Reims, a legate of Charlemagne] cum non lateret calumnia et iniustitia, quas passi sunt incole monasterii nostri, praedictum emunitatis praeceptum sibi ostendere rogavit; Kap. 8 [21], 194–195: Venerabilis namque Constantiensis ecclesie praesul nomine Salomon […] etiam in omnibus vellet religiose accumulare, ad nostrum monasterium nuntios direxit, censum, ut sepius praefati sumus, nefanda conditione ex monasterio ad episcopii partes condictum, sibi restitui inquirens; here also fratres nostri: Kap. 8 [19], 190–191: Causa autem extitit […] fratres nostros tristitia non parva agitari, eo quod securitas electionis eorum, que tam multis […] laboribus sepe difficillime fuerat adquisita, tam facile de eorum potestate deficiebat excussa; as well as nos, nobis, & nostros: Kap. [35], 238–239: Qui inter alia plurima consolatoria verba hoc etiam intulit promittendo: se numquam hanc securitatem nobis ablaturum, tantummodo si inter nostros valeat inveniri, qui ad hoc officium idoneus possit existere.

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appointments to abbacy in the monastery, or what could be described as fairly regular activities of abbots such as taking care of discipline, organizing community’s life or undertaking architectural projects;40 this suggests how burning an issue the conflict with Constance was and hence how important it was for the monks’ self(?) identification.41 The various nos and nostros sometimes reached as far back as 150 years forging an impression of a timeless community that included both living and dead.42 Let us pause for a moment and shed some light on what was so burning about the issue with the bishopric in Constance for Ratpert’s generation, his vision of which was written in 880s and considerably tainted the subsequent historiographical statements of this tradition. Ever since the conflict between Abbot Otmar (ca. 720–759 / 60), St Gall’s first abbot, and two Alemannic Counts Warin and Rudhard supported by Bishop Sidonius, which ended with the abbot’s expulsion and death shortly thereafter, St Gall was gradually falling under the newly founded bishopric’s influence. Ironically, it seems that at least until the late eighth century Constance was the weakest player on the local chessboard, and it was rather the monasteries of Reichenau and St Gall which had enough capacity and resources to fulfill the missionary task around the Bodensee that the early Carolingian rulers entrusted them with. Through a personal union embodied by Abbot-Bishop Johannnes who presided over St Gall, Reichenau, and Constance (760–782) and again by Abbot-Bishop Wolfleoz (812–816) – a union which was formally confirmed in Charlemagne’s diploma from 780 – the bishopric was gradually strengthened and soon gained the upper hand in the region. From 760 onwards, due to the agreement between Sidonius and Otmar’s successor, Johannes, the monastery was obliged to pay the bishopric a considerable annual rent from its incomes (one ounce of gold and one strong horse).43 It took another 70 years for the monks of St Gall and two imperial privileges of immunity – from Louis the Pious (818) and Louis the German’s confirmation of St Gall’s right to appoint their own abbot (833 & 873) – to release the monastery from both its financial and legal submission to the bishopric. From the juridical perspective, according to the 854 agreement of Ulm, virtually all traits of St Gall’s dependency from Constance, other than those strictly canonical or pastoral, had evaporated. St Gall, exactly like Reichenau, was a fully imperial monastery from that point.44 This, however, is a story told in reverse. From Ratpert’s perspective in the 880s it was as if the fight with Constance was not over but still ongoing; more examples

|| 40 Ratpert Kap. 6 [16], 182–183; Kap. 6 [16], 184–185, on this occasion he uses also noster locus; Kap. 7 [18], 188–189; Kap. 8 [20], 192–193, here also nostrum claustrum; Kap. 9 [28], 216–217; Kap. 9 [29], 220–221; Kap. 9 [31], 230–231. 41 Patzold 2008, 440–463; Eggert 1984, 65 fn. 345; Mayer 1952, 497–500. 42 Ratpert Kap. 5 [12], 172–173; Kap. 6 [15], 180–181; Kap. 9 [29], 220–221. 43 Ratpert Kap. 6 [15–16], 182–183 fn. 187. 44 Mayer 1952; Borst 1991, 32–46.

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of his anxiety followed. It is suffice to say that during this period the future bishop of Constance and St Gall’s soon-to-be abbot Salomo III were looming near the monastery making intrusions and illicit approaches creating both confusion among the monks and serious anxiety amongst the leaders of the community that a new personal union was on the horizon.45 We also know that well into the eleventh century St Gall continued to acquire various, not only imperial but also papal, immunities and privileges confirming the older agreements and sanctioning the monastery’s independence from the bishopric.46 Constance, once a real threat, gradually turned into a lasting trauma. Let us then fast forward this picture some 150 years, to Ekkehart IV’s times. As we remember, his account ends at least seventy years before he actually wrote it, which means that none of his characters were still alive at the time. This in turn makes the impression of an eternal nos and nostri, along with their overabundance in his Casus, even more intense.47 Characteristic of Ekkehart are frequent references to ‚our‘ space, for instance, locus noster, which despite being used synonymously with Ratpert’s monasterium nostrum, indicated Ekkehart’s inclination towards the affective geography of his community.48 Locus noster was a place visited by both invited, like the Irish Bishop Marcus or the commission of bishops and abbots in mid-960s, and uninvited guests, like Bishop Salomo III of Constance.49 This magnetism was perhaps an effect of a unique spirit of piety, discipline, and devotion residing there,50 but was also caused by the fama and reputation the monastery enjoyed.51 Locus noster was thus a space endowed with ambivalent qualities; it was inasmuch a space of residence and discipline (stabilitas loci) as a place to travel to. Even if these qualities were different simply because they were addressed to two distinct groups – monks and their guests respectively – they were nevertheless encompassed within one imaginary. This space, however, was further differentiated into even more intimate areas such as nostrum claustrum where the discipline had been exercised for generations in a strict manner.52 At its core, as it was pointed out by de Jong, was the claustrum nostrum, intima nostra, so revered and sacrosanct that every night it was protected || 45 Patzold 2008, 459–463; de Jong 2000; Jezierski 2008a. 46 Wiech 1999, 117–119. 47 Eggert 1984, 131 fns 793, 794; Haefele 1962, 162–163, 170. 48 For instance Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 1980, Kap. 9–10, 32–35; Kap. 11, 34–35; Kap. 124, 240–241. 49 Ibid., Kap. 2, 20–21; Kap. 5, 24–25; also: Kap. 101, 206–207: coenobium nostrum. 50 Ibid., Kap. 42, 96–97: Ut et videas loci nostri religionem […]; see also the marginal markings in the Casus-manuscripts underscoring these qualities of St Gall: Codex 615, 62, 174. 51 Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 1980, Kap. 66, 142–143: Hec ergo nequaquam aurium inflationi satagens dixerim, sed ut honorem doctrine et discipline loci nostri praememorans, dampna, que a scolaribus pro disciplinis pertulimus, quamvis inportabilia fuerint, portabilius audiantur. 52 Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 1980, Kap. 5, 24–25; Kap. 48, 108–109.

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by two circatores; and yet on this particular occasion it was infiltrated by Bishop Salomo, who broke in during the night.53 It was our nest, nidus noster, worth protecting because it was a power resource one could give or deny others access to.54 On the other side of this scale of intimacy, that is, those least private but nonetheless ‚our‘ spheres surrounding the St Gall community, the list was substantially longer. As Eggert pointed out, Ekkehart spread his noster as tentacles all around: apart from numerous yet fairly understandable terms such as abbas noster and frater noster, or even armarium nostrum and calix noster, St Gall also had a litus noster at Bodensee at which King Conrad I’s ships arrived in 911.55 Ekkehart IV went as far as to speak of montes nostri and ‚partes nostrae‘ which were almost invaded by the Hungarians in 955, or even ‚our privy‘ which is particularly memorable.56 If one adds to this innumerable pupils, famous scholars, benevolent bishops, paintings, saints, and obviously lands belonging to St Gall which Ekkehart all seized with a simple noster, his Casus sancti Galli in its cataloguing frenzy reminds of Georges Perec’s Les choses. Given the frequency and very detailed use of noster both in relation to possessions and landscape, Ekkehart far more than Ratpert assumed a proprietary attitude towards St Gall’s environment. This attitude made the monks of St Gall – if I am allowed to resort to an anachronistic parallel – similar to Mr. and Mrs. Andrews from Thomas Gainsborough’s painting, that is, proud owners. Like the sixteenth- or seventeenth-century oil paintings of art collectors being surrounded by their paintings, the Casus sancti Galli by Ekkehart IV in greater intensity than any other text in this tradition showed its readers sights; sights of what they may possess.57 Constance and its bishops, apart from Bishop Salomo’s perhaps more humorous than perilous intrusions,58 hardly established the constitutive outside – that is, both imaginary and linguistic opposition which lends the subject its temporary essence and identity59 – for Ekkehart’s nos. In the list of fears, the bishops of Constance were

|| 53 Ibid., Kap. 5, 24–25; de Jong 2000, 209–211. 54 Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 1980, Kap. 75, 156–157: Scias autem nobis animo firmissime sedisse, reo, aperto claustro, quod quidam inconsultius clauserunt, quoniam quidem nostrum est nemini manu resistere, introitum non vetare; domicilium autem, quod per sanctum Gallum nidus noster est, usque ad querelas regi dirigendas, quoquo modo illum patiamur, etiamsi alapas incusserit, velle fovere. 55 Ibid., Kap. 14, 40–41; Kap. 94, 194–195; Kap. 140, 272–273; Eggert 1984 130–134. 56 Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 1980, Kap. 29, 70–71 & Kap. 126, 244–245; Kap. 61, 132– 133; Kap. 126, 244–245: [Kunibert, abbot of Altaich] memorabilem se posteris in secessus nostri structura difficillima fecerat. 57 Berger 1972, 83–91, 104–109; Goetz 1988, 468–470, 476–479. 58 Eggert 1984, 131–132 fn. 794; Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 1980, Kap. 1, 3, 5–7, 18–31. 59 „The reference to the other is very much present as constitutive of my own identity. There is no way that a particular group living in a wider community can live a monadic existence – on the contrary, part of the definition of its own identity is the construction of a complex and elaborated system of relations with other groups“, Laclau 1995, 147–152.

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replaced by other unnamed monasteries which lacked equal scholarship or hospitality, the heathen Hungarians who caused ‚our tragedy‘,60 ‚envious bishops of our times‘, and laymen visiting the monastery.61 It was however also ‚us‘ versus Abbot Craloh with whom the convent was seriously conflicted in 953-954, ‚us‘ versus Otto I and the evil reformer Sandrat whom the emperor sent to St Gall in 973, or ‚us‘ as the object of caritas of Bishop Conrad I of Constance.62 As noted by Eggert, Ekkehart also made a very telling distinction between nos et nostri as victims of external enemies on two occasions. In the first there were some unspecified bishops (perhaps of Constance) and in the second were the heathen Saracens who threatened the monastery in 950. The distinction presumably referred to nos, that is, monks of St Gall, vis-à-vis nostri the monastery’s servants or, as Ekkehart called them otherwise, populus noster.63 One can foster an impression that Ekkehart IV’s sense of ‚we‘-community was particularly narrow in comparison with other authors considered here given so many groups or individuals he excluded or defined his group as being against. This impression however may also depend on the generally higher rate of such references he used, as well as the disproportionate length of his work which is almost as voluminous as the other three taken together. What is undeniable however is his somewhat amplified and possibly more selective level of group consciousness, which was expressed not only throughout his Casus but even spilled over to Annales sangallenses maiores in Codex 915 where at least two of the very few instances containing the possessive pronoun noster Ekkehart IV had written with his own hand. The first one mentioned Ruodmann’s intrusion into claustrum nostrum and the second reported the ensuing visitation of abbots and bishops in St Gall who scrutinized vitam nostram et regule observationem and occurred a year later, in 968.64

|| 60 Tomaszek 2013. 61 Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 1980, Kap. 7, 26–27 & Kap. 102, 206–207; Kap. 64, 136– 137, Kap. 66, 140–141; Kap. 124, 240–241: invidi monachis nunc temporis episcopi vix nobis et nostris halitum relinquentes […] moliuntur; Kap. 136, 264–265. 62 Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 1980, Kap. 73, 150–151: Sed episcopus ita est quasi pro nobis locutus; Kap. 143, 278–279: Et hec est tragedia Sandrati ypocrite iussu Ottonis magni in nos moliminum.; Kap. 113, 224–225: Talis erat sancti Chuonradi in nos caritas.; similarly: Kap. 116, 226– 227; to how important the conflict with Abbot Craloh was attest numerous marginal markings punctuating this episode in: Codex 615, 186, 192, 194. 63 Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 1980, Kap. 124, 240–241; Kap. 126, 244–245. 64 Annales sangallenses maiores a. 965 (967), 79: Ruodmann abba Augensis nocturnus claustrum nostrum et clandestinus, ut, si quid relatui proximum indagare posset, publicaret, uti lupus caulas intravit.‘; a. 966 (968), S. 79: adventus et immissio octo episcoporum ac totidem abbatum in monasterium sancti Galli, ad examinandam vitam nostram et regule observationem; see also the manuscript in Codex 915: 214; Eggert 1984, 129–130; The other notices containing pronoun noster: a. 1001, 1015, 1022: Notker, nostrae memoriae hominum doctissimus et benignissimus […] [et alii] morbo late saeviente interierunt, 1044.

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In the mid-1070s, when the first anonymous continuator took over, nos and nostri assumed yet another guise. The preface to his work is so loaded with this kind of pronouns, and has so effacing an effect on any chronological distinction that it deserves a separate treatment. Nostri for him were first and foremost the ancient forefathers, brothers of the monastery, both those whose deeds had been described, but also contemporary seniores nostros who carried this knowledge and veteres scriptores nostros who described them in the past.65 However, not knowing enough about these deeds or about the antiquitatem nostram monachis nostris nunquam persecutiones, tribulationes, detractiones and not being able to give a full account of the past was very worrisome to ‚us‘.66 The author also pointed out the two hitherto most important constitutive outsides of St Gall, that is, Bishop Sidonius and Abbot Ruodmann of Reichenau, who through their hostility towards the monastery defined what the monks were in Ratpert’s and Ekkehart IV’s age, respectively.67 In the final words of the preface there was no real distinction whatsoever between the good and evil, past and present abbots ‚we‘ had or used to have. The author’s empathy self-ejected from its historical context allowed him to fully commiserate with both his contemporary and dead fellow brothers.68 This swift blurring of past with the present and occasionally future, which the use of personal pronouns allows, continues throughout the first anonymous work; administration of the locus noster, republicam nostram together with ‚us‘ was therefore taken over by subsequent abbots,69 but the evil inflicted on ‚us‘ by Abbot Gerhard in 990s hurt not only ‚us‘ now but would be of equal pain for the entire future progeny of St Gall.70 Interestingly, in the lengthy description of the conflict between the convent and the abbot, the writer at no point used these forms himself but rather reserved them to be used by the protagonists.71 It was only Purchard’s abbacy (1001– || 65 Casuum continuatio anonyma, 58–59: Conqueror in primis […] antecessores nostros, viros iustos et sapientes, multorum patrum abbatum et fratrum laudabilia gesta non scripsisse […]. Laudabile enim et satis huic loco usitatum esset, si veteres scriptores nostros de simili materia imitati fuissent[…]; see also 60–61. 66 Casuum continuatio anonyma, 60–61: Credimus autem etiam ipsos sicut antecessores nostros et nos quoque hoc loco, quod quodammodo naturale loco et morale est, multa adversa cum aliquantulis commodis sustinuisse. 67 Casuum continuatio anonyma, 62–63. 68 Casuum continuatio anonyma, 62–63: Sed dum nostras miserias deflemus, aliquantum ab incepto digressi ad ystoriam revertamur. 69 Casuum continuatio anonyma Kap. 4, 74–75, 78–79; Kap. 6: 82–83; Kap. 18, 116–121; Kap. 19, 120–121; Kap. 20, 120–121: also ecclesiam nostram; the first anonymous speaks also of (Kap. 15, 106– 107): sanctorum nostrorum Galli et Othmari. 70 Casuum continuatio anonyma Kap. 5, 78–81: Huius [Kerhardi] enim diei non solum nos sed et omnis post nos huius loci posteritas poterit reminisci. Hec enim dies nobis et omnibus huius loci incolis maximo dolore est recolenda, in qua nobilem et florentem hunc locum […] Kerhardus suscepit regendum; cf. Goetz 1988, 480. 71 For instance: Casuum continuatio anonyma Kap. 16, 108–109.

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1022) that released ‚us‘ from this oppression and the abbot like Moses liberated ‚us‘ from this new Egyptian captivity.72 It is thus clear that in the light of the preface by the first anonymous continuator and the whole of his work, the dangers and threats of the past had come from the outside whereas in the continuator’s age both doom and deliverance were decided on the inside, in the relationship between the community and its abbots.73 The second and the third anonymous continuators’, as well as Conradus de Fabaria’s sparse uses of nos and nostri stand in stark contrast to the first anonymous author and are more straightforward, pointing simply to our abbots, church, i.e. monastery etc. without adding much to any larger scheme of St Gall’s history.74 It was only towards the end of the anonymous work when Constance once again became the defining opponent for St Gall or at least for its military force and supporters.75 This time it was in the middle of the Investiture conflict in 1092, when papal Bishop Gebhard III of Constance (1084–1110) decided to take to arms in order to once again defend his rights to the episcopal see against his contender, GegenBischof Arnold of Constance. One should add that, Arnold was a former monk of St Gall and protégé of St Gall’s Abbot Ulrich III of Eppenstein (1077–1121), who in turn sided with the emperor and for obvious reasons the anonymous continuator took his side in the conflict.76 If we now leap forward a century, we can see that Constance was not off the map for Conradus de Fabaria either. In the late 1200s, a new yet somewhat not unexpected enmity (odia antiqua) resurfaced – prefigured and presaged by the ancient ones – which involved ‚us‘, the castle in Arbon and the bishopric. This time it concerned a bloody skirmish of 1208 between the episcopal troops and St Gall’s army fighting over the strategically placed castle Rheineck.77 Conradus also revealed certain new opponents of St Gall who persecuted ‚us‘ and ‚our monastery‘, such as

|| 72 Casuum continuatio anonyma Kap. 17, 110–113: Qui [Purchardus] quasi secundus Moyses nos diu Egiptia servitute oppressos absolvit et in optatam quietem reduxit. 73 Cf. Erikson 1966, 156–159. 74 Casuum continuatio anonyma Kap. 21, 130–131: ecclesiam nostram; Kap. 22, 134–135: abbas noster; Kap. 24, 140–142: loci nostri abbas; Conradus de Fabaria Kap. 9, 20–21: ecclesia nostra; Kap. 10, 24–25: noster patronus; Kap. 13, 32–33: nostrum abbatem; Kap. 14, 34–35: nostro abbate; Kap. 15, 36–37: nostro abbati; Kap. 16, 40–41: nostram ecclesiam; Kap. 40, 96–97: dominum abbatem nostrum. 75 Casuum continuatio anonyma Kap. 33, 168–169: Gallenses nostri armati; the third continuator: Kap. 34, 174–175: nostri socii; similarly Conradus speaks of ‚our victories‘ meaning St Gall’s military force: Conradus de Fabaria Kap. 11, 26–27: nostratibus; Kap. 12, 28–29: nostrates victoria; Kap. 22, 56–57: iusticia […] dum staret pro nobis; Goetz 1988, 481. 76 Borst 1991, 149–150; Wiech 1999, 240–249. 77 Conradus de Fabaria Kap. 11, 24–25: Odia nostratuum et Arbonensium nec non Constanciensium reserantur antiqua. Pernix volat vindicta, cum quisque suam antiquam maioris respectu cause vult recolere, Constancienses sue occasione ecclesie, Gallenses equa lance […].

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Duke Berthold V of Zähringen (ca. 1160–1218) who in 1208 forcefully insisted on the acquisition of the rights to the St Gall bailiwick from the monastery which would circumscribe its immunity.78 On this particular occasion Berthold’s plans failed completely, but he and his father Duke Berthold IV of Zähringen represented an otherwise very ambitious and successful family who consolidated its possessions in both Alemannia and Burgundy since the mid-twelfth century, particularly in ducatus Zaringiae, in whose very center St Gall was located. In 1198 Berthold V was even considered as a serious candidate of the anti-Staufer faction to succeed Henry VI on the German throne, an offer he seems to have turned down persuaded by Diethelm of Krenkingen, Abbot-Bishop of Reichenau and Constance (1169 / 1189–1206).79 During these turbulent years St Gall more or less became directly involved in dynastical politics in Germany, occasionally siding against King Otto IV which brought many calamities over the ecclesia nostra.80 Among others, the monastery’s right to the bailiwick of St Gall was put into question, an occasion swiftly used by Berthold V in 1208 when the monastery was additionally weakened by its armed conflict with Constance and Arbon. Summing up the results regarding the Wir-Gefühle promoted in the St Gall tradition, we should say that apart from Conradus de Fabaria who appeared to be the only author who actually restricted using nos and noster to his contemporary brothers of St Gall, all other historiographers, and especially Ekkehart IV, were constantly out of time with their nos-references. Again and again, through their use of personal pronouns these authors obscured the distinction between their fellow monks from the past and their present hooded readers all gathering in one huge, seemingly eternal ‚we‘.81 The actual historical content of these nos and nostri can however be retrieved from what they were positioned against. And from the above analysis, one can easily notice how the constitutive outsides of St Gall’s nos evolved over the centuries thereby changing the ‚us‘ they related to. For Ratpert these were the subsequent bishops of Constance, such as Egino, Sidonius, Johannes, or Salomo I. For

|| 78 Conradus de Fabaria Kap. 10, 22–23; see also: Kap. 13, 32–33. 79 Geuenich 1991; Althoff 1990b; Zotz 1998; Borst 1991, 182–183. 80 Conradus de Fabaria Kap. 9, 18–21. 81 E.g. Conradus de Fabaria Kap. 2, 4–5: fratrum contemporaneorum nostrorum; For Ekkehart IV see particularly this seamless transition between past, present, and future groups of monks which ignores any chronology (the dates are given in parentheses): Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 1980, Kap. 56–57, 124–125: De sancta Wiborada (axed to death in 926) autem, quia liber per se est eius, amplius non loquemur, praeter quod in sanctam eam levari (in 1047 by Pope Clemens II) iam bis nostris temporibus per duos papas decretum est et sub Norperto (Abbot of St Gall, 1034–1072) tandem impletum. De sancto Uodalrico (Bishop of Augsburg, 923–973) autem, qualiter nobiscum egerit, dicta patrum quedam audivimus, que quidem in vita eius vel tercio iam scripta non invenimus.; Kap. 66, 140–141: Et ut ad nos redeamus; Kap. 104, 210–211: Monuit tandem Henricus ceteris id suadentibus abbatem, ut aliquem fratrum viam vite nostre, qua tunc degeremus, iuberet edicere.

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Ekkehart IV and the later continuators these were the oppressing Hungarians and Saracens, named and unnamed bishops, benevolent or inquisitive emperors and kings, other monasteries, as well as sometimes supportive but often hostile local counts and dukes. Just as unstable and fleeting were the social composition and volume of nos and nostros. Most often they included everybody living and working in the monastery, occasionally however they might have excluded certain groups or persons like the oppressive Abbots Craloh and Gerhard, or St Gall’s servants. Depending on the context and circumstances they could either shrink or expand, embracing only living or (also) dead and sometimes even future monks of the monastery. There was, in other words, no immortal soul to this body, no inherent essence. We can also reverse the perspective. Dispersed across this tradition there were some lasting historical cornerstones – or, to put it in a more methodologically sound parlance – nodal points, that is, a group of structurally privileged empty signifiers which enable identification.82 These were, for instance ‚Constance‘ or certain privileged names like ‚Sidonius‘ or ‚Ruodmann‘, which tied together, defined, and embodied essential sentiments and memories circulating between the convent of St Gall and its written tradition for over four centuries. The trouble with these nodal points, as with nodal points in general, is that their permanence was artificial without ceasing to be ideologically real. There was very little that historically linked the interests of Bishops Egino, Gebhard III, or Diethelm of Krenkingen apart from the simple fact that they all held the same episcopal see in Constance. Nonetheless, this did not stop the monastic mind from historically retrofitting the connections and continuations such as the odio antiqua driving each and every one of these bishops in their ancient persecutions and humiliations aimed against monks of St Gall, irrespective of whether these occurred during the era of Eigenklöstern, the Investiture conflict or the prolonged struggle between the Staufer and the Welfs. In other words, ‚Constance‘, ‚Sidonius‘ or ‚Ruodmann‘ or ‚ancient hostility‘ should thus be treated as emblems, as empty forms used by the discourse to mobilize emotions and sustain St Gall’s imaginary identity.83 It is time to consider in what other manners St Gall’s historiographical tradition allowed its readers to reflect themselves or hear their own voice.

|| 82 „The impossibility of an ultimate fixity of meaning implies that there have to be partial fixations – otherwise, the very flow of differences would be impossible. Even in order to differ, to subvert meaning, there has to be a meaning. […] Any discourse is constituted as an attempt to dominate the field of discursivity, to arrest the flow of differences, to construct a centre. We will call the privileged discursive points of this partial fixation, nodal points.“ Laclau & Mouffe 2001, 112; cf. Glasze & Mattissek 2009. 83 Cf. Jezierski 2008b, 154.

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4 Turning St Gall inside out So far I have only mentioned the self-limitation and exclusivity of the historiographical tradition in St Gall without fully exploring the implications this situation and the awareness of this fact might have had for the potential readers. To briefly recap: Codex 615 exists only in one copy that apparently has never left the monastery’s library. Other manuscripts of the texts the codex comprises are all from St Gall. More importantly, it has been observed that the low distribution of these texts suggests that all, with certain reservations for Ratpert’s ninth-century Casus, were written for purely internal use and had a classified status.84 The community of monks which delivered material for these texts was simultaneously its only intended public. The sender and receiver occupied exactly the same space. There is then a poetic air about the Casus-texts in the sense given to the term by John Stuart Mill, who thought of poetry as overheard or, more precisely, read / heard as overheard, as selfpresent and self-confessed. The opposite concept for Mill is eloquence, which fully accepts its public character, which is meant to be read and heard as heard.85 I would like to claim that the Millian distinction between poetry and eloquence furnishes the distinction within the St Gall narrative tradition as well. To better exemplify how the awareness of the tradition’s exclusivity influenced by Ekkehart IV, Conradus and others, and by extension its readers, allow me to investigate the Casus-texts comprising this tradition from one particular vantage: whose voices did they make audible? Whom did their authors allow to speak freely and directly to the reader? In contradistinction to Ekkehart IV and his continuators, the Casus composed by Ratpert was much more eloquent, mainly because of its more public status, more or less consciously opted for. It reads as if it is eagerly engaged in a debate in which, as we have already seen, it was indirectly involved. The author constantly jumps between feelings of pride of St Gall’s achievements and sorrow due to the unjust afflictions, particularly those inflicted by the bishops of Constance. Ratpert’s use of stories, documents, vitae feels often argumentative with a goal of winning a dispute.86 It is therefore quite suggestive that Ratpert used direct speech (qua spoken language and not as quotation of speech from other texts) only twice. The first occa-

|| 84 de Jong 1983, 342; Patzold 2001, 246–250 fn. 142; Jezierski 2011; Steiner 2002, 107–115; Schmale 1993, 130–132, 136. 85 Mill 1981; cf. Warner 2005, 80–81. 86 In presenting elements of St Gall’s life, for instance the appointment of Hartmut to abbacy in 872, Ratpert sometimes adds the comment that they were done according to the law, which is hardly a comment necessary for internal ears that must have been convinced of this validity all the way: Ratpert, Kap. 9 [28–29], 218–219: Post obitum vero Grimaldi fratres iuxta permissam sibi licentiam protinus cum maximo unanimitatis consensu Hartmotum sibi elegerunt abbatem; a similar legalistic overtone sounds also in other places: Kap. 3 [8], 164–65; Kap. 7 [18], 188–189; Kap. 9 [33–35], 236– 237.

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sion was a brief encounter between Charlemagne and Abbot Waldo of St Gall in 784 during which the abbot declared his commitment to the emperor and resigned from his office in St Gall to subsequently become the emperor’s personal confessor.87 The second situation was far more telling. It was an exchange between Grimald, a strongly world-oriented hence chronically absent abbot of St Gall (841–870) burdened with imperial obligations and his right hand in the monastery at that time, Hartmut, who subsequently became the abbot in St Gall (872–883). Grimald was asked by bishop Salomo I of Constance (839–71) what happened to the annual rent that the monastery was due to pay the bishopric of Constance. After returning to the monastery the abbot interrogated Hartmut as to why the monastery would not fulfill its obligations. The purpose of the ensuing exchange between the two is not to offer a glimpse into the hidden world of claustrum but to present St Gall’s collected arguments for rebutting Constance’s contentions – the immunity from Louis the Pious, its direct and unencumbered dependency upon the imperial court, St Gall being Grimald’s own beneficium at that time etc.88 The staged talk about the conflict with Constance, or a list of FAQs with well-fitting answers to be more precise, is too rich in details, over-informed – too eloquent as Mill would put it – to be reminiscent of a real conversation. Even if inserted in a work not intended for external eyes, its primary referent was outside St Gall.89 The anonymous continuators writing from ca. 1075 onwards used direct speech just as sparingly, three times to be exact. The first was a lengthy exchange at Otto III’s court in the 990s where the monks came to the emperor to resolve their conflict with Abbot Gerhard.90 As I have argued elsewhere, it is quite striking how much the

|| 87 Ratpert Kap. 4, 166–167. 88 Ratpert Kap. 8, 194–197: A quibus inquirere cepit, cur censum, sicut scriptura ipsorum continebat, ad episcopatum non persolverent. Tunc Hartmotus prae ceteris respondens: ‚Non merito‘, inquit, ‚debemus hunc censum, sicut hactenus fecimus, persolvere.‘ Grimaldus dixit: ‚Unde debet cessare census istius ad episcopatum donatio?‘ Hartmotus respondit: ‚Quia illa securitas et illa immunitas, quam nobis iste census liberam – regum donante clementia – usque huc fecit, a nobis penitus ablata est.‘ Grimaldus dixit: ‚Ob quam causam et per quem eadem libertas vobis ablata est?‘ Hartmotus respondit: ‚Utique propter vos, quia enim vobis in beneficium traditi sumus, ideo episcopo censum persolvere non debemus. In vestre enim dominationis servitute nobis sufficere credimus, et ideo in diversa partiri nequimus.‘ 89 To render visible this public and eloquent character of Ratpert’s Casus, who out of fear of the outside sealed off the delicate intimacies, a further argument, ex silentio this time, may be added. Ratpert finished his text in the early 880s, only few years after Wolo, a young monk of noble descent and pupil of one of Ratpert’s closest friends Notker Balbulus, committed suicide in 876. This event was shocking enough to be included in the contemporary Annales sangallenses maiores (a. 876 (878), S. 77), which at this point hardly noticed deaths of ordinary monks, and the memory of this death was still quite vivid in the eleventh century (Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 1980. Kap. 43–44, 96–101; cf. Haefele 1979). Ratpert, however, is totally silent about this pitiful though scandalous incident. 90 Casuum continuatio anonyma, Kap. 11–13, 94–103.

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report from this conflict implied and how much it deliberately left unsaid, again suggesting that the delicate details should be restricted to oral, not written remembrance.91 The second occasion was the monks’ clamor, not surprisingly composed of Biblical quotations, to their patron saint to relieve them of the very same oppressive abbot.92 The last instance was a personal admonition of Abbot Ulrich von Eppenstein by an unknown pilgrim, possibly Christ or St Gall himself hiding behind this figure, to acquire the relics of St Fides for the monastery in the 1080s.93 Here too, with a certain reservation for the appeal to St Gall maybe, the moments when voices other than the narrator’s were heard was when they were articulated on the outside and concerned the external affairs. Perhaps the only truly noticeable direct insider voices in this Casus were short poems and epigrams which conveyed monks’ opinions, both positive and negative, about particular persons.94 However, exactly as in the case of the afore-mentioned clamor, the highly stylistic form had an estranging effect which deprived these comments of an air of spontaneity and backstage.95 Conradus de Fabaria used direct speech statistically far more often than the two aforementioned, in absolute numbers surpassing these two considerably longer texts several times. His text also contained similarly estranged epigrams96 but most of the examples of talk and direct speech, just as in Ratpert’s case, occurred outside St Gall and often did not consider the monastery at all.97 There was also, admittedly, a number of intimate and poetic voices coming from the inside: the last will of the dying Abbot Heinrich from 1204, a report from an internal quarrel about wasted money, or Abbot Conrad I’s speeches candidly laying out the financial difficulties of the monastery for the members of the convent in the 1230s.98 Conradus’s openness should thus be appreciated especially if one considers that he wrote about very recent matters which, if leaked, could damage St Gall’s fama. The narrative of Ekkehart’s Casus finished some sixty years before the time of writing – contrary to all other Casus-texts whose content was almost always contemporary – which may explain its openness to some degree. What is characteristic of these Casus though, especially in contradistinction to Ratpert’s and the anony-

|| 91 Jezierski 2011, 28–34; There are also other instances, especially connected to the troublesome period dominated by Abbot Gerhard’s misdemeanor and crimes, where the author explicitly refrains from describing certain events, for instance: Casuum continuatio anonyma Kap. 7, 84–85: Due itaque partes dum in monasterio fuissent, una abbatem defendentium et altera mala eius opera inpugnantium, irregularia multa, que etiam pudet narrare, in loco fiebant. 92 Cf. Little 1998; Casuum continuatio anonyma Kap. 16, 108–109. 93 Casuum continuatio anonyma Kap. 25, 144–147. 94 Casuum continuatio anonyma Kap. 14, 104–105; Kap. 16, 110–111; Kap. 20, 124–125. 95 Cf. Jameson 2009, 84–85, 126–128. 96 Conradus de Fabaria Kap. 24, 60–63. 97 Conradus de Fabaria Kap. 6, 12–14; Kap. 8, 16–19; Kap. 18, 46–47; Kap. 27–28, 68–73; Kap. 37, 92–93; Kap. 43, 106–107. 98 Conradus de Fabaria Kap. 1, 2–5; Kap. 7, 14–15; Kap. 25, 62–65.

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mous authors’ versions, is that they virtually flood with direct speech. The examples are countless; virtually every figure appearing on these Casus’s pages, no matter how far back in the past, was allowed to speak freely: monks and their enemies, nameless strangers and emperors. It would in fact be easier to count whom Ekkehart IV did not allow to speak with his / her own voice if even the devil was permitted to talk in his distinct German tongue.99 One could say that the difference between Ratpert and later continuators and Ekkehart boils down to an utter banality – literary talent and skills (or a lack thereof) in textual dramaturgy. The question of form and style, however, is hardly innocent.100 In this case it indicates that these different authors joined in a common enterprise and gave different answers to the problem of privacy and exclusivity – poetics and eloquence – of the St Gall tradition. Put differently, Ratpert and other writers offered their readers widely divergent ways to appropriate themselves. Generally speaking, monastic narrative sources, especially of this kind, apart from a certain ideologically dominant voice, tended to preserve more discreet countervoices. The most autonomous form of such a counter-voice seems to have been direct speech, with which the reader could identify and in which he could reflect his own image or opinion, regardless of the fact that direct speech was habitually invented by medieval authors. A full ideological closure was simply impossible, particularly because these texts often preserved information about conflicts involving monks and monasteries thus en passant representing the interests and outlooks of competitors.101 If we apply this reasoning to the Casus-tradition, we should say that in spite of the inclination for these texts to remain polysemous and polyphonic, Ratpert and later continuators tried to effectively narrow down the number of voices and alternative points of view, which would secure the privacy and intimacy of the tradition. Judging by his use of direct speech, Ratpert took a paternalistic attitude both towards people he described as well as his readers. He did not allow his characters to speak for themselves; he spoke for them.102 Both Ratpert, the anonymous continuators, and to some degree Conradus de Fabaria too, revealed a tendency to use direct speech only in situations when the cloistral inside was confronted with the outside. It was as if they were afraid that the actual insider voices were too risky to be audible outside when put into writing. The world was a dangerous place and so a soundproof barrier had to screen the cloistral intimacies. Two perhaps inadvertent messages coming from these three texts read: 1. what happened in St Gall, stayed in St Gall and 2. the inner sense of oneself should be given primacy over the external opinion. || 99 Cf. Müller 1971; Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 1980, Kap. 41, 94–95. 100 Goodman 1992, 23–40. 101 Orning 2008, 34–40; Murray 2011, 121–131; Jezierski 2010, 37–43; Barthes 1970, 27–28, 48–49. 102 Goffman 1981, 150–152 & fn. 10.

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Ekkehart IV’s answer to the question of the monastery’s private tradition was the exact opposite. By articulating everybody’s voices, both outsiders’ and insiders’, sympathetic or destructive to St Gall, yet being sure that the situation of their expression (his text) was closed and far from public, Ekkehart reached a point where confrontation between the cloistral inside and secular outside was something monks / his readers needed to learn to deal with and not run from. Differences between these various Casus-texts may thus, to some extent, reflect the different historical circumstances in which those texts were created. St Gall in Ratpert’s times was a monastery so dependent on the external conditions – bishopric of Constance, royal immunities, relations with the Carolingian court, and fama – that it had to shut off its inner core from this lay world. Late eleventh- up to mid-thirteenthcentury St Gall, on the other hand, was so marginalized and weakened yet conscious of its waning glory that it became more of a silent spectator of the world and church politics. St Gall’s involvement on the local level was only occasional and the monks once again felt threatened by external involvement. Against these two historically distinct though effectively similar backdrops, St Gall in Ekkehart’s Casus appears as a monastery confident in its position and importance. It was also a community aware of how much it had given back to the world (Ekkehart himself was active in the Mainz cathedral in the 1030s and his Casus are full of examples of the monastery’s monks or pupils occupying important positions in Ottonian Reich), and aware of multiple ties connecting claustrum and saeculum in the form of people, gifts and services. For Ekkehart IV the insight from the outside and ambiguous consequences it could have for St Gall’s fama was a fact of life. Potentially just as malignant as benign, it was something monks had to utilize for their own benefit rather than eschew.103

5 Another man in the mirror In our exploration of how the Casus-tradition shaped and regulated the St Gall textual community’s relationship with the outside world, we should now turn to the least palpable textual phenomenon which nonetheless had a powerful effect on how monks perceived themselves. The problem to consider is what other, perhaps nonmonastic, gazes were perceptible in the mirror of the St Gall historiographical tradition? Who else stared back at the monks in their purportedly private mirror and what consequences did it have? I will address these questions only by analyzing the Casus sancti Galli by Ekkehart IV which, as we have seen, are the most worldlyoriented and open of all the texts in the Casus-tradition. His Casus also reflect a very particular moment in the development of Benedictine monasticism, especially re|| 103 de Jong 2000; Sullivan 1998; Schmid 1991; Duft 1999.

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garding its involvement with the lay world. For this reason, the following results should not be uncritically extrapolated to other authors of the Casus-texts. Let us take one concrete episode narrating the famous nocturnal break-in to St Gall by the Reichenau Abbot Ruodmann, which is only one example among many such illicit visits paid to the cloistral precincts by uninvited guests. As Ekkehart IV narrated, Ruodmann secretly entered the cloister of St Gall one night, keen to discover anything wrong that he could hold the convent accountable for; but as he spied through the rooms so well known to him he found nothing that would make his wish come true. He went out of the church, passed the dormitorium and finally hid himself in the privy, unknowingly followed by Ekkehart II. The St Gall monk did not recognize the intruder and wondered which brother would walk so sneakily at that hour and in a place ‚which we usually do not enter at night.‘104 Compressing the rich details of the rest of the story, we may say that Ekkehart II soon identified Ruodmann, caught him in a trap, and finally called upon the brothers to assist him in the public dispensing of justice to this incorrigible defamer. As mentioned above, this episode has been brought up many times and Ruodmann is truly an epitomic figure both within Ekkehart IV’s Casus and in the scholarship on the work. As observed by Steffen Patzold, in the textual economy of the Casus sancti Galli which so often traded with typologies rather than descriptions of personalities, Ruodmann was assigned the role of a slanderer;105 this is beyond doubt, but there is more to it. It should not be overlooked that there was nothing arbitrary about the textual position the wicked abbot of Reichenau occupied. On the contrary, in the context of the Casus – in fact from the angle of an entire tradition preoccupied with keeping its internal secrets to itself and inaccessible for the others – a position that threatened everything in the life of the St Gall community with exposure and scandal was simply ineffaceable.106 A fortiori, rather than simply seeing Ruodmann as an infamous spy and gossiper, which coincides with Ekkehart IV’s definition of him, one should see this figure as the very condition of having an insight into the life of the community. In other words, Ruodmann was the exploring eye of the reader, that is, primarily the monks of St Gall. His external, implicitly filthy gaze was not only included into, but basical|| 104 Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 1980, Kap. 91, 188–189: Solumque hominem nactus miratur, quisnam fratrum noctibus nobis insolitam ita iret viam illem vitabundus. 105 „Ekkehards ,Meisterspion‘ freilich ist der Reichenauer Abt Ruodmann: Ihm fällt in den ‚Casus sancti Galli‘ die Rolle des Verleumders zu. Obwohl ihn mehrere St. Galler Mönche bitten, von seinen üblen Nachreden gegen ihr Kloster abzulassen, dringt er eines Nachts sogar ‚heimlich in die Klausur ein‘, um unbemerkt zu ergründen, ‚ob er irgendetwas finden könne, das einem Verschulden gleichkomme‘ […] Nicht nur in diesem Falle, so macht Ekkehard deutlich, sondern auch bei allen anderen Versuchen, die Lebensweise der St. Galler auszuforschen und durch Denunziation bei Hofe zu manipulieren, scheitert Ruodmann kläglich und unter hohen materiellen Verlusten.“ (Patzold 2002, 303). 106 Žižek 1998, 194–195.

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ly enabled the internal gaze. He saw on behalf of the reader, so to speak.107 The infinitesimal, almost imperceptible shift between these two points of view is absolutely necessary for self-perception. It is exactly what Goffman had in mind when he wrote that even in the most intimate of the relationships at the very back of the backstage, some degree of frontstage always prevails. It is because this spacing inbetween is what enables staging and thus the perception and experience of the other as well as of the self.108 Without Ruodmann’s nocturnal intrusion, without Bishop Salomo’s illicit visits, or without monk Sandrat’s infamous visitation in 972109 there would be nothing to describe, because there would be no one to stand in for the penetrating gaze. In the literary logic of the Casus sancti Galli – and contrary to Ekkehart IV’s declared opinions – these intrusions were not regrettable occurrences that should never have taken place. They constituted a necessary condition for a text, that is to say, an object of identification to emerge. Furthermore, infringements like those of Salomo or Ruodmann were necessary in the moral and imaginary dimension of the Casus. In the age when Benedictine monasteries were considered to be very attractive factories of intercessory prayer, with which the powerful wanted to associate but the immaculacy of which had to be duly protected, St Gall’s virginal sanctity and untouchability had to be – preferably clumsily – insisted on in order to keep and reproduce its value.110 Put differently, the St Gall monastic tradition had to include the sacrilegious gaze into the image of the self.111 This well exemplifies what Jacques Lacan means when he says that ‚the object of man’s desire is essentially an object desired by someone else‘.112 One’s desire is aimed at being desired, not at the other as such. This virginal desire, as every desire in a truly Lacanian sense, was impossible to fulfill because of its paradoxical nature. Its aims were contradictory; the monks simultaneously wanted to be possessed and remain unpolluted.113 In this regard there was no real difference between the infringements by malefactors or visitations by noble personae. Both allowed the St Gall community to recognize and appropriate itself through the desire of the others. It would be a mistake, though, to conclude that the narrative tradition debated here itself contributed to the reproduction of the sanctity value. On the contrary, as previously stated, the form of the Casus-tradition was self-reflexive and self-contained – for internal eyes only – and thus consequently declined the crucial element of exchange. What this historiography instead reproduced was the submissiveness of generations of monks of St Gall to the very necessity of such exchange of sublime

|| 107 Silverman 1983, 201–215; Žižek 1998, 105–107; Žižek 2008, 13. 108 Goffman 1983, 45–46; Goffman 1959, 121, 130–131; Žižek 2006: 9–10, 53–54. 109 Jezierski 2008b. 110 Diem 2011; de Jong 1998; de Jong 1995; Rosenwein 1999. 111 Lucy 2004, 47–50. 112 Lacan 1977, 312; cf. Žižek 2006, 41–43; Muller & Richardson 1982, 33. 113 Silverman 1983, 176–177.

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commodities between claustrum and saeculum.114 The inevitable paradox embedded in Ekkehart IV’s Casus sancti Galli – a small part in an overall lesson of the Benedictine sense of obedience heading in exactly the same direction – read: to fully become a monastic subject one had to subject oneself.115 To better grasp this problem of one’s identity always being invaded by the other and dependent on the external gaze, let us take a look at a reverse situation. By describing the colorful episodes from the life of Abbot and Bishop Salomo, Ekkehart mentions that because of the bishop’s prominent position at the imperial court, many noble guests visited the monastery of St Gall. One of them was Bishop Adalbero of Augsburg (887–910) who, after hearing about the many wonders taking place in St Gall, arrived at the monastery on the day of its patron and after ‚he could witness these and many other things, he said: ‚The grace of this place is bigger than its rumor that I have heard.‘116 After that, Adalbero blessed the brothers and promised them not to come back empty-handed the following year. Even a long time after this visit, when asked by his people in Augsburg, he praised the virtues and erudition of the brothers of St Gall.117 Patzold commenting on this and similar episodes stated, again, that it was characteristic of Ekkehart’s style to use direct speech and put positive opinions about St Gall into the mouths of those standing outside the monastery.118 The problematic assumption behind this statement is that there was some content or a certain truth about St Gall that Ekkehart wanted to convey which was independent of the style of transmission; a truth that could equally well have been delivered in the form of a proposition or a positive statement. In other words, Patzold assumes that a certain core of the argument is separable from the mode of its expression; assumption that ignores the content of the form. Or that the perception of St Gall’s identity was independent of the way it was presented.119 What if, instead of taking it as a

|| 114 Žižek 1998, 23–26; Žižek 2009, 16–20; Marx 1990, 144 fn. 19; Althusser 2001, 89. 115 As Jason Glynos and Yannis Stavrakakis put it: „from a Lacanian perspective acceptance of and obedience to authority is reproduced not only at the level of knowledge and conscious consent, but also – and importantly – at the level of fantasy. Most crucially, the reproduction of this power structure relies on a libidinal, affective support transmitted via fantasy that binds subjects to the conditions of their symbolic subordination.“ Glynos, Stavrakakis 2008, see also: Glynos & Howarth 2007, 107; Jezierski 2010, 90; more generally: Foucault 2002. 116 Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 1980, Kap. 7, 28–29: Quis signa et virtutes sancti Galli a plurimis audiens, locum in die sancti Galli orandi gratia adiit et praesens plura conspiciens: ‚Maior est‘, inquit, ‚gratia loci huius quam rumor, quem audivi.‘ Devovit autem benedictione fratribus data, anno altero vita comite se rediturum et uti tunc quidem nequaquam venire nudimanum. 117 Ibid., Kap. 7: 28–31. 118 „Nicht selten nutzte Ekkehard das Stilmittel der wörtlichen Rede, um einer konventsfremden Autorität ein positives Urteil über die Lebensweise der St. Galler in den Mund zu legen“, Patzold 2002, 308. 119 Fish 1989, 297–298; Lucy 2004, 30, 94; Goodman 1992, 23–40.

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mere matter of style, we recognize once again a particular ideology of form being constitutive of this identity?120 We should then acknowledge an essential interconnectedness of the St Gall identity and the external images of it,121 pretty much the way Erving Goffman claimed about how one’s individual self-image never exactly overlaps with other people’s conceptions of him and thus makes him essentially dependent on them.122 Similarly, the theme of rumor on which Bishop Adalbero time and again fell back in his references to St Gall – that extremely powerful form of discourse without an author which always had to be reckoned with – redoubled the range of the circulation that created the monastic public.123 It seems that in Ekkehart IV’s view the Casus-tradition was bound to include opinions pouring in from the outside as well.124 Neither the sense of identity in the St Gall discursive formation nor the joint production of the convent’s self in encounters with outsiders were settled once and for all. In order to take effect they had to be constantly taken up again, with a new promise of closure but always already open.125 Again and again the same lesson from Lacan surfaces in Ekkehart’s Casus sancti Galli. A look thrown in this textual mirror by the monks of St Gall with a desire to find their true self was very often fundamentally narcissistic, hoping to discover some essence but in fact mediated by other people, names, and opinions etc. Yet every such look had something normative about itself too: it taught the monks what and who it was possible to desire in the process of self-identification.126

|| 120 Jameson 2009, 126–132. 121 „Human communication is characterized by an irreducible reflexivity: every act of communication simultaneously symbolizes the fact of communication (asserts the basic symbolic pact between the communicating subjects)“, Žižek 2006, 12. 122 „There are many occasions when it would be improper for an individual to convey about himself what others are ready to convey about him to him, since each of these two images is a warrant and justification for the other, and not a mirror image of it […] Rather the individual must rely on others to complete the picture of him of which he himself is allowed to paint only certain parts […] While it may well be true that the individual has a unique self all his own, evidence of this possession is thoroughly a product of joint ceremonial labor, the part expressed through the individual’s demeanor being no more significant than the part conveyed by others through their deferential behavior toward him“ (Goffman 1967: 84–85); cf. Luckmann 2004, 190–195. 123 Spivak 1988, 23–26; cf. Brandt 1993 & 1998; Fenster & Smail 2003; Jezierski 2011, 39–40, 42–43; Jezierski 2008a, 23–27. 124 Compare Ekkehart’s comment explicitly aiming at the external public, Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 1980, ‚preloquium‘: 16–17: Enimvero obloquiis patere non dubitamus: quoniam, ut nunc morum et temporum est, si quicquam asperum, et maxime quod discipline sit, tetigeris, si malorum libertates et impunitates non laudare videberis, velud impostor et calumniator apud eos, qui in levitate ambulant, habeberis. 125 Benveniste 1971, 67. 126 Silverman 1983, 178–179; Muller & Richardson 1982, 33–34; Žižek 1998, 173–174; Warner 2005, 105–106.

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6 Never-ending subject Finally, there is the problem of the ending. In contradistinction to Ratpert’s Casus, Ekkehart IV, their anonymous continuation and Conradus de Fabaria’s thirteenthcentury Casus were never finished and remained open. It was suggested, among others by the first anonymous continuator, that Ekkehart intended to complete his work but either abandoned the project or died in the course.127 If one reads the problem of identity into this tradition in the post-structural vein, however, the open structure of all these works except for Ratpert’s and the tradition a toto makes far more sense than a definite closure would. There is, to paraphrase Frank Kermode, a sense of no ending. It reveals, namely, a structural affinity between the open-ended situation in which the historical process of creating a collective identity was taking place and a narrative tradition consisting of histories with loose ends, projects abandoned and taken up again, and a chronic lack of finale. The ever doomed fate of collective identification, associative and oblivious patterns of collective remembrance,128 and their literary representation were structured in the same way.129 In other words, the whole historiographical tradition of St Gall was mimetic in the same sense Erich Auerbach claimed that Gregory of Tours’s chaotic Historia Francorum mimicked the chaos of social reality surrounding him.130 Remaining incomplete and open for new possibilities was thus not just the quality of the Casus-texts but also the quality of the St Gall’s collective monastic subject. Finishing and setting a limit to the number of episodes or anecdotes which the Casus-texts were composed of131 would also narratively bring the history of St Gall to an end.132 || 127 Casuum continuatio anonyma: 58–61: Ekkehardus […] sive autem morte praeventus hoc, quod in exordio libri sui se dicturum promisit, non perfecerit aut, si perfectum, postea perditum sit, nos nescimus. Patzold suggests that it was rather political reasons that stood behind the particular form of Ekkehart’s Casus. He explains this abrupt end, the lack of finale as well as the anecdotal form of the text as the author’s maneuver to shroud his critique against his contemporary Abbot Norpert. By placing his positive examples of how disciplina and caritas should be understood in the distant past, Ekkehart IV was implicitly though equivocally criticizing his abbot’s, and by extension Abbot Poppo of Stablo’s who happened to be Norpert’s teacher and reformatory ardor introduced in St Gall in Ekkehart’s own time: Patzold 2010, 45–47; cf. Jezierski 2011, 47, fn. 67. 128 Grundmann 1965, 40, 54–55; Jezierski 2010, 37–43; Geary 1996. 129 Fish 1995, 316–318. 130 Auerbach 2003, 77–95; cf. Goffart 1988, 146–147; Heinzelmann 1994, 56–57. 131 A qualification is needed here; there is, in fact, an ending of the text of the third anonymous continuator, a final ‚the end‘, which of course is not final at all. On the bottom of the last page in the Codex 615 written in a hand much different, and considerably later, than the one writing the text of the continuation, possibly belonging to one of St Gall’s librarians cataloguing the manuscripts as postulated by Ildefons von Arx, Casuum continuatio (1829, 163 fn. 13), added (Casuum continuatio anonyma Kap. 43, 198–199): Iste liber vocatur Casus monasterii et est sancti Galli et explicit in abbate Heinrico de Clingen. (Codex 615, 358). Interestingly, it was not monks of St Gall who put a definite

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On the other hand, Ratpert’s text – signed, sealed, delivered – corroborates this intuition as this was the author who was most at pains to close his work, limit the number of counter-voices, and not provide any space for uncontrolled and unwanted messages to leave St Gall. His Casus were eloquent, understood with their enunciation as public. Since this status was exactly what the author feared most, his Casus remained guarded, cautious and taciturn.

7 Concluding remarks First of all, time and again I have argued against the possibility of St Gall’s autarchic self-identification despite the implicit wish of self-sufficiency underpinning its historiographical tradition. Similarly to Mayke de Jong, I too attempted to recognize how these seemingly disorganized images and stories were invested with an unconscious message constituting monastic Weltanschauung, admittedly of different intensity and proportion as we move from one Casus to another, with marginal positions on opposite points of the scale reserved for Ratpert and Ekkehart IV. In the latter’s case, it was a message of monks’ essential dependency on the outsiders who mediated the relation between the community and its imaginary collective self. In other words, the early and high medieval inside of the St Gall monastery, no matter how profound its actual or postulated isolation, was always invaded by the outside even if merely in the form of a cognitive category or the manner of self-perception.133 Second of all, the reason why this message had, to a large extent, an unconscious character was because many of the processes of identification described here were driven by discursive and textual machinery placed beyond authorial intention. These were connotation, association, binary oppositions, constitutive outsides, larger narrative structures, unspoken negotiations between collective memory and authorial vision, as well as lasting patterns of emotions shaping monastic communities’ remembrance. More generally, the analysis presented above exemplifies quite well the way ideologies organized medieval texts and larger discursive formations like this from St Gall. To think of ideology conveyed in texts or codices as some single master message, a giant theme hammered into the heads of monks reading them, is to miss the point entirely. It was often a domain of personal pronouns, names, spaces waiting in the literary structure, imaginary angles of looking, and || end to the tradition. Apart from Conradus de Fabaria who took up the pen very soon after the final continuator of the Casus-tradition, in German this time and not in Latin, there was a certain Christian Kuchimeister. He was a citizen of the city of St Gall living in the first half of the fourteenth century and explicitly adhered to the Casus-tradition in his Nüwe Casus monasterii sancti Galli (Url 1969, 46–53). 132 Jonsson 2000, 108–129, 147–150, 310 fn. 19. 133 Jezierski 2010, 60–69; Lucy 2004, 52–56; Derrida 1997, 71–73.

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mutual dependence on the exchange of gazes. As the discussed examples demonstrate, the less discernible for their audience (including the Casus-authors) the ideological function of these elements were, the more powerful and long-lasting their effects. That is because textual ideology was and is not about some grand vision falsifying the image of the world, but about the conditions of experiencing the self in the world.134 Finally, it is time to place Ekkehart IV’s Casus against this general backdrop of the Casus-tradition and evaluate his role in developing its traits after Ratpert. The decisive moment was his appreciation of the oral stories circulating in the monastery which transformed the character of this tradition entirely. At that point the oral tradition, opposed to its literary counterpart, received a self-conscious status and authority, the traces of which are discernible in Casus-texts following Ekkehart IV’s. The author’s second important modification was to open his text, and by extension the entire historiographical formation, to the lay outside world. This modification affected external opinion and monastery’s fama with which St Gall monks had to count and utilize, but it also released the internal voices which expanded the spectrum of possible positions his monastic audience could identify with. Much of this opening as well as the aforesaid amplified self-consciousness, however, were not some sheer whim of one extraordinarily talented author. To a large extent they were an indirect result of the general Benedictine institutional context colored by St Gall’s local conditions in which these Casus sancti Galli were composed. In the course of the tenth and eleventh centuries the monastery of St Gall acquired a key position in the Ottonian system of imperial monasteries and what was going on inside of the monasteries like Fulda, Reichenau or St Gall thus became a public concern. Given how deep was the monastery’s involvement with the local and imperial elites of the Reich, how often the monks were confronted with eminent guests who personally visited their cloister, how long, prestigious, and far-reaching St Gall’s lists of spiritual brothers were, and how often the monks of St Gall like Ekkehart II, Victor, Ekkehart IV himself, or abbots such as Salomo III and Notker occupied important positions in the outside world, this public concern was bound to become an internal matter as well. Summing up, one could say that Ekkehart IV occupying this impossible, externally internal position was simultaneously something more and something less than just a pen in the Casus. On the one hand, as many articles collected in this entire volume attest, Ekkehart was more than just an unconscious pen. The awareness and purpose in his selection, composition, his erudition and plotting are easily discernible. So also is the theme of fortunia et infortunia of the monastery with which he welded together the haphazard collection of stories which the Casus sancti Galli constitutes. Many of the anecdotes also show traces of Ekkehart’s own experi-

|| 134 Althusser 2001, 109–112; Lears 1985.

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ences and activity at the Mainz cathedral during the 1030s. Finally, his talent for conveying situations full of drama and humor, his sense for capturing the details of his figures which at the same time brought forward their typological and yet somehow plausible personal traits outmatched all other authors adhering to St Gall’s historiographical tradition. On the other hand, in the midst of his Casus – and more generally against the background of the entire tradition of Casus-texts – Ekkehart IV was something less than a pen. Without the patres and their stories his extraordinary imagination and talent would find no nourishment. His appreciation of the famous senatores of St Gall like Notker Balbulus or Ratpert, or the obvious repugnance felt for the slanderer Sindolf, the gossiper Abbot Ruodmann, and particularly Sandrat were all borrowed sentiments. Similar to his abounding and unusually anachronistic Wir-Gefühle, these sentiments, stored in the remembrance of the older conventuals, were never entirely his own. On the ground of the Casus sancti Galli-tradition Ekkehart – in the same way as Ratpert, Conradus, or his anonymous continuators – was in a sense only a name invested with larger discourses often devoid of any assignable author; a distant reflection of the identification processes occurring behind porous walls of a medieval monastery.135

8 Quoted literature Sources Annales sangallenses maiores. Ildefons von Arx (ed.) (1826). MGH Scriptores I. Hannover. Casuum sancti Galli continuatio. Ildefons von Arx (ed.) (1829) MGH Scriptores II. Hannover. Casuum sancti Galli continuatio anonyma. Heidi Leuppi (ed. & tr.) (1987). Zürich. Conradus de Fabaria. Casuum sancti Galli continuatio / Die Geschicke des Klosters St. Gallen 1204– 1234. Charlotte Gschwind-Gisiger (ed. & tr.) (1989). Zürich. Ekkehart IV. Casus sancti Galli / St.Galler Klostergeschichten. Hans F. Haefele (ed. & tr.) (1980). Darmstadt. Ratpert. St. Galler Klostergeschichten / Casus sancti Galli, Hannes Steiner (ed. & tr.) (2002). Hannover.

E-codices Codex 610 of Stiftsbibliothek http://www.e-codices.unifr.ch/en/csg/0610 (accessed 02-04-2013) Codex 613 of Stiftsbibliothek http://www.e-codices.unifr.ch/en/csg/0613 (accessed 02-04-2013) Codex 614 of Stiftsbibliothek http://www.e-codices.unifr.ch/en/csg/0614 (accessed 02-04-2013) Codex 615 of Stiftsbibliothek http://www.e-codices.unifr.ch/en/csg/0615 (accessed 02-04-2013) Codex 915 of Stiftsbibliothek http://www.e-codices.unifr.ch/en/csg/0915 (accessed 02-04-2013) || 135 Jezierski 2010, 38–39.

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Michael Klaper

Ekkehart IV. und die liturgische Musikpraxis des Gallusklosters Das Beispiel der Te Deum-Tropen

1 Ekkehart IV. und die Musik Ekkehart IV. von St. Gallen hat schon lange eine prominente Stellung in der Musikgeschichtsschreibung des Mittelalters inne. Zum einen ist er als Verfasser der lateinischen Übersetzung von Ratperts († um 900) deutschem Galluslied bekannt: einer Übersetzung, die Ekkehart selbst mit der zugehörigen musikalischen Notation in drei St. Galler Codices eingetragen hat, und die er geschaffen hatte, um die dulcis melodia von Ratperts Lied vor dem Vergessen zu bewahren.1 Die Melodie ist heute allerdings nicht mehr rekonstruierbar. Zum anderen und vor allem ist Ekkehart als Fortsetzer der von Ratpert begonnenen Casus sancti Galli (der Hauschronik des Gallusklosters) in die Musikgeschichte eingegangen, die er für die Zeit von etwa der Mitte des 9. bis in die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts fortgeführt hat. Die Casus Ekkeharts sind ungewöhnlich reich an Informationen über „[the] monastic musical life and liturgical practice in the early Middle Ages“2. Sie sind nicht zuletzt dadurch bekannt geworden, dass sie zahlreiche Verfasser liturgischer Musik namentlich nennen und diesen bestimmte Gesänge zuschreiben: Nach Kruckenberg3 hat Ekkehart in seine Casus insgesamt 57 Verweise auf Gesänge integriert, die in der ältesten Handschrift der Chronik (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 615) zum Teil mit neumierten Incipits zitiert werden; 13 verschiedenen Komponisten sind dabei rund 40 Stücke zugewiesen. Bemerkenswert ist weiter, dass die musikalischen Zitate nicht nur Ekkeharts profunde Kenntnis der Gesangstradition seines Klosters verdeutlichen, sondern dass sie auch ein gezielt eingesetztes literarisches und rhetorisches Stilmittel bilden. Zwar reihte sich Ekkehart mit seinen Casus in eine größere Gruppe literarischer Texte aus St. Gallen ein, die Musikalisches thematisieren, wie etwa Notkers I. († 912) Gesta Karoli Magni. Doch macht gerade eine vergleichende Gegenüberstellung mit anderen Texten deutlich, in welch hohem Maße Ekkeharts Casus und seine verstreuten autographen Notizen dafür verantwortlich sind, dass „Autoren von Musik und

|| 1 Vgl. Osterwalder 1982; Steffen 2004. 2 Kruckenberg 2013. 3 Vgl. Kruckenberg 2013.

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Texten aus der Anonymität liturgischer Überlieferung“ heraustreten:4 Mehrere St. Galler Komponisten, etwa Ekkehart I. († 973) oder Notker II. († 975), sind ausschließlich durch Ekkehart IV. als Verfasser von Sequenzen und Offiziumsgesängen respektive als Verfasser eines Otmar-Offiziums und weiterer Gesänge bezeugt.5 Auch ist durch Ekkeharts Berichte über den komponierenden Mönch Tuotilo († um 913) einer der wenigen namentlich bekannten Verfasser von Tropen greifbar:6 Durch Gesangsbeispiele, die in den Casus für seine Schöpfungen zitiert werden, konnte der Individualstil dieses Dichterkomponisten plausibel erhellt und ein Werkkatalog von ihm erstellt werden.7 Sicherlich darf man sich nicht dazu verleiten lassen, diese im zweiten Viertel des 11. Jahrhunderts geschriebene Retrospektive Ekkeharts auf das dichterischmusikalische Schaffen im Galluskloster des 9. und 10. Jahrhunderts als Zeugnis für den ‚Beginn europäischen Komponierens‘ oder für die Entstehung des neuzeitlichen Komponisten zu bemühen.8 Denn Ekkehart hatte offenbar andere Intentionen als eine Verehrung von Komponisten im heutigen Sinne. Er war vielmehr bemüht, mehr als jemals zuvor St. Gallen als Hort der authentischen römischen Gesangstradition zu etablieren. Zu diesem Zweck schrieb er zwei ältere Darstellungen des Transfers des römischen Gesangs ins Frankenreich um.9 Sowohl die Vita Gregorii Magni des Johannes Diaconus (um 875) als auch die darauf reagierenden Gesta Karoli Magni Notkers I. (aus den 880er Jahren), die Ekkehart beide kannte, hatten diesen Transfer als problematisch dargestellt.10 Der Römer Johannes führte als Ursache für die Schwierigkeiten die angebliche Unfähigkeit der fränkischen Sänger an, die römischen Melodien zu lernen und korrekt wiederzugeben, wohingegen der St. Galler Mönch Notker eine Intrige der römischen Sänger gegen die Franken behauptete. Im Unterschied dazu stellte Ekkehart den Transfer als Erfolgsgeschichte dar und wertete zugleich die Rolle St. Gallens im Transferprozess gegenüber derjenigen des konkurrierenden Metz auf: unter anderem, indem er eine in seinem Kloster viel benutzte musikalische Notationstechnik – Zusatzbuchstaben zur Neumenschrift – als eine römische Erfindung deklarierte.11 Generell war Ekkehart bestrebt, die musikalische Praxis und inbesondere die umfangreiche Eigenproduktion seines Klosters (vor allem in Form von Tropen, Sequenzen und Versus) auf das Vorbild römischer Musiker zurückzuführen, was dieser Produktion Autorität und Legitimation verschaffen

|| 4 Haug 1998, 948; Haug 2011, 17. 5 Vgl. Haug 1998, 963–966; Haug 2011, 25f. 6 Vgl. Arlt 1995, 42. 7 Vgl. Arlt 1996; Klaper 2006. 8 Vgl. Haug 2005. 9 Vgl. Rankin 1995, 371–375. 10 Vgl. Möller 2002, 110–117. 11 Vgl. Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 1980, 106–109.

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sollte:12 Eine Übereinstimmung mit Rom in musikalischen Dingen galt seit der Karolingerzeit als erstrebenswertes Ziel. In anderen Fällen begründete Ekkehart die St. Galler Gesangsproduktion mit einem auswärtigen Auftrag, was ebenfalls dazu angetan war, Neuschöpfungen zu legitimieren.13 Ekkehart schrieb zu einer Zeit, als sich in St. Gallen unter Abt Norpert (1034–1072) Klosterreformen anbahnten:14 Da mochte es dem Autor opportun erscheinen, die eigene Gesangstradition im kollektiven Gedächtnis zu verankern und vor potentiellen Änderungsbestrebungen in Schutz zu nehmen. Insgesamt lässt sich aufgrund bisheriger Forschung von Ekkehart IV. folgendes Bild zeichnen: Er war ein gelehrter Magister, der sich um die Bewahrung, Legitimation und Festigung des reichen (nicht nur im engeren Sinne liturgischen) musikalischen Erbes seines Heimatklosters verdient gemacht hat. Zum posthumen Ruhm St. Gallens als herausragendes Zentrum der mittelalterlichen Musikkultur hat er wie kein zweiter beigetragen. Auch liegen zahlreiche musikbezogene, teils mit neumierten Gesangsaufzeichnungen einhergehende Eintragungen Ekkeharts in St. Galler Handschriften vor.15 Wie ich indes im folgenden zeigen möchte, ist das Autorenprofil Ekkeharts wohl um eine weitere, noch wenig beachtete Facette zu ergänzen: um eine dichterische und wahrscheinlich sogar kompositorische Produktivität, die auf die Bereicherung der liturgischen Gesangspraxis seines Heimatklosters zielte. Somit verstand sich Ekkehart womöglich auch in dem Sinne als Erbe der verschiedenen Notkere und Ekkeharte, deren dichterisch-musikalische Produktion er in den Casus sancti Galli zu verewigen trachtete, dass er als Dichterkomponist in ihre Fußstapfen trat.

2 Te Deum-Tropen in St. Gallen und im ostfränkischen Raum Die Forschungen der zurückliegenden Jahre haben ergeben, dass die St. Galler Tropenproduktion – also das liturgisch-musikalische Neuschaffen in Gestalt von Zusätzen zu bestehenden Gesängen – ihre Blüte im 9. und 10. Jahrhundert erlebte.16 Der quantitativ bedeutendste Teil des St. Galler Tropenbestandes sind Propriumstropen (Erweiterungen von Messgesängen). Hier war man seit der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts – also zu Ekkeharts Lebzeiten – vor allem auf eine funktionale Redak-

|| 12 Vgl. Haug 2005. 13 Vgl. Klaper 2014. 14 Vgl. Tremp 2005. 15 Vgl. die Beiträge von Eisenhut und Stotz in vorliegendem Band. 16 Vgl. Björkvall & Haug 1993; Arlt 1996.

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tion und weniger auf eine Repertoireerweiterung bedacht.17 Dennoch ist das St. Galler Tropenrepertoire in bestimmten Bereichen auch über das 10. Jahrhundert hinaus substanziell erweitert worden. Das betrifft unter anderem Ordinariumstropen18 sowie tropierende Einleitungen zum Te Deum laudamus: einem hymnischen Lobpreis, der im Offizium im allgemeinen am Ende der Matutin (des Nachtgottesdienstes) gesungen wurde. Te Deum-Tropen wurden von der Forschung bislang kaum beachtet, geschweige denn als solche erkannt. Ich habe versucht, die ostfränkische Überlieferung dieser Tropen möglichst vollständig zu erfassen. Wie sich zeigen wird, hatte bei ihrer Verbreitung im Galluskloster womöglich Ekkehart IV. seine Hand im Spiel. Die Überlieferung von Te Deum-Tropen setzt im ostfränkischen Raum im ausgehenden 10. Jahrhundert ein. Nur einer dieser Tropen lässt sich auch außerhalb St. Gallens nachweisen: Quid regina poli für Weihnachten (vgl. Beispiel 1)19. Beispiel 1: Der Te Deum-Tropus Quid regina poli a) Zweizeilige Fassung (Cod. Sang. 376, Cod. Sang. 388, Cod. Sang. 390/91, Stu 106, Ox 27) Quid regina poli faciat nunc dissere nobis Nunc puerum Christum genuit gremioque locavit dissere nobis] dic pater orbis Stu 106 dic pater orbi Ox 27

Nunc] Hunc Stu 106, Ox 27

b) Fünfzeilige Fassung (Cod. Sang. 376, Cod. Sang. 382, Cod. Sang. 389, Cod. Sang. 390/91, Ba 5, Zü 132, Ka 15, Aug 149) Quid regina poli faciat nunc dissere nobis Nunc puerum Christum genuit gremioque locavit Quem puerum genuit nobis gremioque locavit Qui deus est et homo processit virginis alvo Emmanuel dictum laeti cognoscite natum faciat nunc dissere] faciat edissere Cod. Sang. 376, Aug 149 faciat nunc edissere Cod. Sang. 382, Cod. Sang. 389 Nunc] Iam Cod. Sang. 390/91 Hunc (ut vid) Ka 15 nobis gremioque] nobis gremiove Cod. Sang. 376, Cod. Sang. 382, Cod. Sang. 390/91, Zü 132, (ut vid) Aug 149 cognoscite natum] concinite laudes Cod. Sang. 382 natum] nomen Cod. Sang. 389

Der Tropus findet sich im 10. und 11. Jahrhundert (in unterschiedlichen Fassungen) in Handschriften aus Eichstätt bzw. Freising, aus Kaufungen bei Kassel und aus

|| 17 Vgl. Haug 1998, 958; Haug 2011, 28. 18 Vgl. Hospenthal 2010. 19 Für die vollständigen Signaturen der abgekürzt zitierten Handschriften vgl. das Handschriftenverzeichnis in Tabelle 1.

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dem Bodenseeraum (Reichenau, Rheinau und eben St. Gallen). In seiner offensichtlich ältesten Fassung (die wiederum zwei verschiedene Überlieferungszweige erkennen lässt) besteht Quid regina poli aus zwei Hexametern, die einen kleinen Dialog formen (vgl. Beispiel 1a): ,Frage‘: Was wird die Himmelskönigin, erläutere es uns, machen?/,Antwort‘: Sie hat uns heute den Knaben Christus geboren und in ihren Schoß gelegt. Dieses Frage-/Antwortspiel en miniature ist spätestens zu Beginn des 11. Jahrhunderts zu einem fünfzeiligen Komplex ausgebaut worden, der folgendermaßen fortsetzt (vgl. Beispiel 1b): Welchen Knaben hat sie uns geboren und in ihren Schoß gelegt? / Der Gott ist und als Mensch aus dem Mutterleib einer Jungfrau hervorgegangen ist. / Erkennt freudig in dem Neugeborenen den, der Emmanuel genannt wird! Mit dieser Erweiterung hatte der Tropus nicht nur eine längere Ausdehnung, sondern auch einen größeren liturgisch-theologischen Gehalt. Indessen ist eine derartige Länge für Te Deum-Tropen aus dem ostfränkischen Raum insgesamt nicht typisch: Vielmehr weisen alle anderen (mit nur einer weiteren Ausnahme) eine zweizeilige Form auf. Aufgrund seiner Dialogstruktur hat Quid regina poli Ähnlichkeit mit anderen, besser bekannten Tropen, etwa mit dem weit verbreiteten Quem quaeritis in sepulchro (Corpus Troporum III, 217–223): Dieser österliche Dialog der Frauen mit den Engeln am leeren Grab Christi ist wohl schon im 9. Jahrhundert entstanden und seit dem frühen 10. Jahrhundert in ost- wie westfränkischen Handschriften nachweisbar.20 Auch dieser Tropus wurde vielfach als Einleitung zum Te Deum gesungen, beispielsweise im Bodenseekloster Reichenau.21 Dialogform haben desgleichen die Introitustropen Quem quaeritis in praesepe für Weihnachten (Corpus Troporum I, 173–174) und Quem creditis super astra für die Himmelfahrt Christi (Corpus Troporum III, 173), die (wie Quid regina poli) im 10. Jahrhundert entstanden sein dürften und vor allem aus westfränkischen Quellen bekannt sind, sowie die Einleitung zum Weihnachts-Introitus Hodie cantandus est des Tuotilo von St. Gallen (Corpus Troporum I, 107). Demnach wurden im ost- und westfränkischen Bereich jeweils unterschiedliche Gegenstücke zu Quem quaeritis in sepulchro geschaffen, je nachdem für die Messfeier oder für das Stundengebet (vor dem Te Deum). Wie aus manchen Quellen explizit hervorgeht, konnten derartige Dialoge mit einer entsprechenden Rollenverteilung der Sänger im Raum regelrecht ‚inszeniert‘ werden:22 eine Möglichkeit, mit der man auch für Quid regina poli zu rechnen hat, und durch die solche Tropen zu einem der Ausgangspunkte für das mittelalterliche liturgische Spiel geworden sind. Vergleichbare dialogische Strukturen hat Peter Christian Jacobsen in Ekkeharts sogenanntem Liber Benedictionum nachgewiesen.23 Eines der Modelle hierfür dürfte der Tropus Quid regina poli gewesen sein. || 20 Vgl. Hiley 1993, 252–255; Rankin 1985. 21 Vgl. Klaper 2003, 250. 22 Vgl. Rankin 1990. 23 Vgl. Jacobsen 1977.

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Tab. 1: Verzeichnis der abgekürzt zitierten Handschriften Sigle

Signatur: Herkunft, Inhalt, Datierung

Aug 149

Augsburg, Staats- und Stadtbibl., 4o Cod. 149: Augsburg, Kollektaneenhandschrift Leonhard Wagners, frühes 16. Jh. Bamberg, Staatsbibl., lit. 5: Reichenau, Tropar-Sequentiar, 1001 Kassel, Murhardsche Bibl., 4o Ms. theol. 15: Kaufungen, Graduale und TroparSequentiar, 11./12. Jh. Oxford, Bodleian Library, Selden supra 27: Eichstätt/Freising, Tropar-Sequentiar, spätes 10. Jh. St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 174: St. Gallen, S. 1f. nachgetragene Wiborada-Antiphon und nachgetragene Übersetzung von Ratperts Galluslied, erste Hälfte 11. Jh. (Autograph Ekkeharts IV.) St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 211: St. Gallen, S. 1–3 nachgetragene Otmar-Gesänge, erste Hälfte 11. Jh. (Autograph Ekkeharts IV.?) St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 376: St. Gallen, Graduale und Tropar-Sequentiar, Mitte 11. Jh. St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 382: St. Gallen, Tropar-Sequentiar, 11. Jh. St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 387: St. Gallen, Brevier (Sommerteil), 1022–1047 St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 388: St. Gallen, Antiphonar und Tonar, 12. Jh. St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 389: St. Gallen, Antiphonar, letztes Drittel 13. Jh. St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 390/91: St. Gallen, ‚Hartker‘-Antiphonar, um 1000 St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 393: St. Gallen, Liber Benedictionum Ekkeharts IV., erste Hälfte 11. Jh. (Autograph) Stuttgart, Württembergische Landesbibl., Cod. mus. I, Bl. 63: ‚Lorcher Graduale‘, 1511/12 Stuttgart, Württembergische Landesbibl., Cod. fragm. 106: Bodenseeraum?, Missalefragment, 10./11. Jh. Zürich, Zentralbibl., Rh. 132: Rheinau, liturgische Sammelhandschrift, 11. Jh.

Ba 5 Ka 15 Ox 27 SG 174

SG 211 SG 376 SG 382 SG 387 SG 388 SG 389 SG 390/91 SG 393 Stu 63 Stu 106 Zü 132

2.1 Das St. Galler Repertoire an Te Deum-Tropen Ob Quid regina poli ursprünglich aus St. Gallen stammt oder hier rezipiert wurde, ist schwer zu sagen: Es gibt eine eigenständige ostfränkische Überlieferung dieses Tropus außerhalb St. Gallens schon im 10. Jahrhundert, doch ist die Überlieferungsbasis zu schmal für weitergehende Rückschlüsse auf Überlieferungswege. Wohl eher nicht in St. Gallen geschaffen wurde die fünfzeilige Version dieses Weihnachtstropus, die hier erst vergleichsweise spät (im 12./13. Jahrhundert) tradiert ist, und dies mit mehreren Varianten (vgl. Beispiel 1b). Fest steht allerdings, dass Te Deum-Tropen in St. Gallen im weiteren Verlauf des Mittelalters besonders kultiviert wurden, was nun wiederum für Ekkeharts Heimatkloster spezifisch zu sein scheint (vgl. Anhang). Ich konnte insgesamt 15 (bzw. 16, wenn man die fünfzeilige Version von Quid regina poli mitzählt) solcher Tropen in St. Galler Handschriften ausfindig machen. Dabei kommen mit Ausnahme von Weihnachten keine Festdubletten vor, was auf eine systematische Erweiterung des

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Bestands deutet. Dass all diese Tropen (wohl mit Ausnahme von Quid regina poli) in St. Gallen entstanden sind, wird unter anderem durch den noch darzulegenden Bezug zu Ekkehart IV. wahrscheinlich. Offenbar lag spätestens zu Beginn des 11. Jahrhunderts ein St. Galler ‚Kernrepertoire‘ an Te Deum-Tropen vor: für die wichtigen Herrenfeste Weihnachten und Ostern, für den Hausheiligen Gallus und für Allerheiligen (vgl. Beispiel 2). Beispiel 2: Te Deum-Tropen im ‚Hartker-Antiphonar‘ (Cod. Sang. 390/91, um 1000) Im Grundcorpus (von einer mit der Haupthand ungefähr gleichzeitigen Nachtragshand)24 –

Weihnachten (S. I/50) ‚Interrogatio‘ Quid regina poli faciat nunc dissere nobis. ‚Responsum‘ Nunc puerum Christum genuit gremioque locavit.



Ostern (S. II/35) Haec est alma dies in qua spoliatur avernus. Et surrexit homo deus. exultate redempti.



Gallus (S. II/131) Gaudeat his festis sacrae devotio plebis. Gallus in aeterno gaudet se vivere regno.



Allerheiligen (S. II/139) ‚Interrogatio‘ Quos laudare cupis. dic nobis ut sociemur. ‚Responsum‘ Laudamus pariter sanctos. et sanctificantem.

Diese vier Tropen stehen im Hauptcorpus des berühmten ‚Hartker-Antiphonars‘ (Cod. Sang. 390/91, um 1000) – zwar als Nachtrag, aber von einer mit der Haupthand ungefähr gleichzeitigen Hand eingetragen. Sie kehren im Grundstock eines

|| 24 Hand NHe nach Pouderoijen/de Loos 2009. Die Autoren weisen diesem Nachtragsschreiber nur den Weihnachts- und den Oster-Tropus explizit zu (vgl. Pouderoijen/de Loos 2009, 79–81). Ich gehe aber davon aus, dass auch der Gallus- und der Allerheiligen-Tropus derselben Hand zuzuweisen sind, da wichtige Merkmale, die Pouderoijen & de Loos für sie anführen (die „ziemlich schwarze Tinte“ und der „kräftige Federstrich“ sowie die Form des Majuskel-R), in diesen beiden Tropen vertreten sind. Im übrigen geht ebenso Jacques Froger offensichtlich davon aus, dass alle vier Tropen ungefähr gleichzeitig und nicht viel später als das Hauptcorpus der Handschrift aufgezeichnet wurden (vgl. Froger 1970, 36* und 85*).

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Tropar-Sequentiars der Mitte des 11. Jahrhunderts (Cod. Sang. 376)25 ebenso wieder wie in einem Antiphonar des späten 11. Jahrhunderts (Cod. Sang. 388)26 und in einer späteren umfangreichen Sammlung in einem anderen Tropar-Sequentiar (Cod. Sang. 382). In weiteren Handschriften wie einem Brevier des zweiten Viertels des 11. Jahrhunderts (Cod. Sang. 387) und in einem Antiphonar aus dem letzten Drittel des 13. Jahrhunderts (Cod. Sang. 389) tauchen nur je zwei davon wieder auf, was freilich ihren festen Platz in der liturgischen Musikpraxis des Gallusklosters bestätigt. Die weiteren Tropen des St. Galler ‚Kernrepertoires‘ (vgl. Beispiel 2) haben mit dem Weihnachts-Tropus die Form des Hexameter-Distichons ohne (leoninische) Reimbildungen gemein: Solche sind bestenfalls beim Gallus-Tropus (eher als Assonanz verwirklicht) erkennbar. Diese Versform ist insofern bemerkenswert, als Hexameter-Tropen sonst für die frühe St. Galler Tropenpraxis nur eine ganz marginale Rolle spielen.27 Ein Frage-/Antwortspiel kennzeichnet auch den AllerheiligenTropus, doch ist dies kein durchgängiges Merkmal der St. Galler Te Deum-Tropen: Alle übrigen fassen vielmehr in Aussageform prägnant den Festgedanken zusammen und enthalten mitunter auch die Aufforderung an die Kommunität, in den Lobpreis einzustimmen, wie etwa im Falle des Oster-Tropus (vgl. Beispiel 2): Dies ist der erhabene Tag, an dem die Hölle entleert wird/ Und Gott als Mensch auferstanden ist. Freut euch, ihr Erlösten! Hierin unterscheiden sich die Te Deum-Tropen kaum von zahlreichen Propriumstropen. Nur kann man über die musikalische Fassung der Te Deum-Tropen kaum Aussagen treffen, da sie ausschließlich in linienlosen Neumen tradiert sind. Der St. Galler Grundbestand an derartigen Tropen ist später erweitert worden, ohne dass sich der genaue zeitliche Verlauf dieser Erweiterungen noch bestimmen ließe. Dies hat mit der Überlieferungslage zu tun: Da in St. Gallen bis in die Zeit um 1400 kein Traditionsbruch stattgefunden hat, wurden neue liturgische Gesangshandschriften nach dem 11. Jahrhundert nur noch in Ausnahmefällen hergestellt; spätere Erweiterungen des Repertoires wurden daher auf zusätzlichen Lagen in älteren Codices oder auf freigebliebenen Blättern bzw. an den Seitenrändern festgehalten.28 Derlei Nachträge sind kaum präzise zu datieren. Hinzukommt, dass der Zeitraum, in dem ein Nachtrag erfolgte, nicht identisch sein muss mit der Entstehungszeit des nachgetragenen Gesangs. Die umfangreichsten Bestände an Te Deum-Tropen überliefern das ‚HartkerAntiphonar‘ und das Tropar-Sequentiar Cod. Sang. 382, wobei die Aufzeichnungssituation in beiden Handschriften unterschiedlich ist. Im ‚Hartker-Antiphonar‘ ist der Kernbestand von vier Tropen in mehreren Schichten und von verschiedenen Händen des 12./13. Jahrhunderts zu einem Zyklus von insgesamt zwölf erweitert wor|| 25 Vgl. Gerlings 2012. 26 Zur Datierung vgl. Hiley 2008, 277. 27 Vgl. Björkvall/Haug 1993, 171. 28 Vgl. Haug 1998, 950; Haug 2011, 21f.

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den.29 Das Tropar-Sequentiar Cod. Sang. 382 aus dem 11. Jahrhundert demgegenüber enthält innerhalb eines wesentlich später eingefügten Teils mit Ergänzungen zum Tropar eine liturgisch geordnete Sammlung von 15 Te Deum-Tropen, die von nur einem Schreiber wohl des 13. Jahrhunderts aufgezeichnet wurde.30 Dies ist die einzige von vornherein geplante zyklische Zusammenstellung solcher Tropen aus dem Galluskloster. Vergleicht man diese beiden Bestände und den Bestand von immerhin acht Te Deum-Tropen, wie er im Tropar-Sequentiar Cod. Sang. 376 in zwei verschiedenen Stadien während des 11. und 12. Jahrhunderts aufgezeichnet wurde,31 bestätigt sich zum einen der Eindruck eines ‚Kernrepertoires‘, das später ergänzt wurde (vgl. Tabelle 2): Gemeinsam sind den drei Handschriften nur die Tropen für Weihnachten, Epiphanias, Ostern, Gallus, Allerheiligen und Otmar – also über den Kernbestand hinaus solche für den zweiten St. Galler Hausheiligen und für das in St. Gallen besonders gern tropierte Epiphanias-Fest.32 Zum anderen erkennt man, dass den meisten der ‚neuen‘ Tropen ein Charakteristikum eigen ist, das die ‚älteren‘ nicht aufweisen: ein zweisilbiger leoninischer Reim (vgl. Anhang). Hier kommt nun Ekkehart IV. wieder ins Spiel. Tab. 2: St. Galler Handschriften mit Te Deum-Tropen: Bestände im Vergleich (in liturgischer Reihenfolge nach Cod. Sang. 382) Cod. Sang. 382 (13. Jh.) Weihnachten Epiphanias Purificatio Mariae Passio Domini Ostern Himmelfahrt Pfingsten Johannes Baptista Kirchweih Constantius Mariae Himmelfahrt Mariae Geburt Gallus Allerheiligen Otmar

Quid regina poli Monstrat stella deum Solis ypapanti Qui passurus Haec est alma dies Regi scandenti Qui promissus erat Quem fore queso putas Laudes summe pater Pax cui larga datur Conregnare piam Nascitur ecce pia Gaudeat his festis Quos laudare cupis Iam tenet Othmarus

Cod. Sang. 390/91 (11.–13. Jh.) x (zweimal) x x – x x x x – – x – x x x

Cod. Sang. 376 (11.–12. Jh.) x (zweimal) x – – x – – – x – – – x x x

|| 29 Zur Datierung dieser Einträge vgl. Froger 1970, 39*–42*; von Euw 2008, 499–502. 30 Zur Datierung dieser Aufzeichnung vgl. Scherrer 1875, 131. 31 Zur Datierung der Nachträge vgl. von Euw 2008, 534–537. 32 Hierzu vgl. Björkvall/Haug 1993.

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3 Ekkehart IV. als Verfasser von Offiziumsgesängen Walter Berschin hat vor einigen Jahren im Zusammenhang seiner Studien zur Entwicklung des St. Galler Otmar-Offiziums auf einen bemerkenswerten Überlieferungsbefund aufmerksam gemacht.33 Während der Namenspatron des Gallusklosters schon in spätkarolingischer Zeit ein (laut Ekkehart IV. von Ratpert geschaffenes) umfangreiches Eigenoffizium besaß, war dies bei dem hl. Otmar nicht der Fall: Das Otmar-Offizium bestand in seiner ältesten, um 900 erstmals überlieferten Form aus sehr viel weniger Gesängen, und auch noch die im ‚Hartker-Codex‘ (um 1000) stehende Fassung (die laut Ekkehart von Notker II. herrührt) setzt sich ausschließlich aus Antiphonen zusammen und enthält keine Responsorien. Erst im 11. Jahrhundert hat man sich daran gemacht, das Otmar-Offizium in eine dem Gallus-Offizium quantitativ ebenbürtige Gestalt zu bringen. Dies wird laut Berschin zuerst erkennbar an einem Doppelblatt mit zwölf neumierten Otmar-Responsorien, das dem Codex Sang. 211 vorgebunden ist (S. 1–3), und das aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts stammt. Die Aufzeichnungssituation mit zahlreichen, ganze Formulierungen betreffenden Korrekturen der Haupthand lässt Berschin zufolge keinen anderen Schluss zu, als dass hiermit das Autograph des Offiziendichters vorliege, welchen man in dieser Aufzeichnung bei der Arbeit beobachten könne: „Es wird radiert und gebessert, bis die Stelle schier unbeschreibbar ist. Erst das Loch im Pergament setzt dem fortwährenden Korrigieren ein Ende.“34 In dieser Arbeitsweise erkennt Berschin eine deutliche Parallele zu jener, die man anhand von Ekkeharts autographer Sammlung seiner Dichtungen (in Cod. Sang. 393) ablesen kann. Zudem sind praktisch sämtliche Merkmale, die Heidi Eisenhut 2009 als charakteristisch für Ekkeharts Hand dargestellt und dokumentiert hat, in der Aufzeichnung der OtmarResponsorien vorhanden.35 Die Wahrscheinlichkeit, dass Ekkehart der Autor dieser Gesänge ist, ist mithin sehr groß. Am Schluss der Responsorien-Reihe in Cod. Sang. 211 nun steht ein Te DeumTropus auf den hl. Otmar (S. 3): Iam tenet Otmarus paradysi gaudia clarus/ Suppeditans agno date laudes robore magno. Hier finden sich zweisilbige Leoniner, wie sie Ekkehart IV. bevorzugte: Dieser arbeitete (wie Stefan Weber festhält) – „wo immer möglich – den zweisilbig gereimten Leoniner in seine Dichtungen ein [...], und dies zwei oder drei Generationen bevor jener zur vollen Ausbildung und Verbreitung gelangte“.36 Sollte Ekkehart der Verfasser der Otmar-Gesänge sein, wäre er nicht nur als Dichter, sondern auch als Komponist in Erscheinung getreten. Denn dass jemand anderes als der Textdichter selbst in gleich umfänglichem Maße die

|| 33 Vgl. Berschin/Ochsenbein/Möller 1999, 25–39. 34 Ebd., 35. 35 Vgl. Eisenhut 2009, 210–214 und 430–432. 36 Weber 2003, 69.

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Notation korrigiert haben sollte, wie es in Cod. Sang. 211 der Fall ist, ist nur schwer vorstellbar. Eine Tätigkeit Ekkeharts als Verfasser von Offiziumsgesängen ist noch aus einem weiteren Grund wahrscheinlich: In einer der Handschriften mit Ekkeharts lateinischer Übersetzung des Galluslieds steht vor der Aufzeichnung dieses Gesangs eine neumierte Antiphon auf die hl. Wiborada, Gaudia de geminis (Cod. Sang. 174, S. 1). Schon lange geht man davon aus, auch diese Antiphon sei von Ekkehart IV. aufgezeichnet worden, was die Neumierung bestätigt: Offensichtlich stammen die Neumen über dem Beginn des Galluslieds und über der Wiborada-Antiphon von ein und derselben Hand. Zusammen mit der Textform der Antiphon, die aus (zur Hälfte zweisilbigen) Leoninern besteht, legt dies die Autorschaft Ekkeharts zumindest nahe.37 Hinzukommt, dass dieselbe Hand, der sich der Eintrag der WiboradaAntiphon verdankt, im vorderen Innendeckel des Codex Sang. 174 Varianten und Erklärungen zum Text der Antiphon festgehalten hat.38 Ekkeharts Glossierungswut scheint also auch vor Gesangstexten nicht halt gemacht zu haben. Die Antiphon Gaudia de geminis ist im Antiphonar des Fridolin Sicher von 1544 (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 541, f. 161v–162r) in tonhöhengenauer Notation überliefert, die mit der Neumenaufzeichnung von Ekkeharts Hand konform geht39. Auch das kompositorische Œuvre Ekkeharts ist uns somit wohl zumindest in Gestalt eines von ihm verfassten Gesangs noch zugänglich40. Was die Otmar-Gesänge in Cod. Sang. 211 betrifft, ist bemerkenswert, dass der Autor nicht nur Responsorien bereitgestellt hat, sondern zusätzlich auch einen Te Deum-Tropus, wie es ihn damals für den hl. Gallus bereits gab. Die intendierte liturgische Aufwertung des zweiten Klosterpatrons wird auf diese Weise noch deutlicher: Nichts sollte Otmar an Gesängen fürderhin mehr fehlen. Freilich war den Otmar-Responsorien Ekkeharts IV. kein Erfolg beschieden: Nach Berschin finden sie sich in keiner weiteren Handschrift und wurden noch in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts durch eine neue Responsorien-Reihe ersetzt. Weiter überliefert wurde in St. Gallen allein der Te Deum-Tropus: „[Dieser] hat sich [...] als einziges Stück der Textgruppe aus Ekkeharts IV. Kreis [...] liturgisch behauptet“.41 Dies ist unter anderem deshalb interessant, weil die übrigen Aufzeichnungen des Te Deum-Tropus ausnahmslos aus sehr viel späterer Zeit stammen (12. bis 13. Jahrhundert). Verfügten wir nicht über das Doppelblatt mit Otmar-Gesängen aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts, spräche wenig oder nichts für eine derart frühe Entstehung des Tropus. Man muss hinsichtlich der St. Galler Te Deum-Tropen also damit rechnen, dass eine || 37 Vgl. Weber 2003, 90; Berschin 2010, 196 und 203f. 38 Vgl. Osterwalder 1982, 53. 39 Vgl. die Übertragung dieses Gesangs nach dem Antiphonar des Fridolin Sicher in Hiley 2008, 292. 40 Zur Möglichkeit, dass das ganze St. Galler Wiborada-Offizium von Ekkehart stammt, vgl. Hiley 2008, 285. 41 Berschin/Ochsenbein/Möller 1999, 39.

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späte Überlieferung nicht unbedingt gleichbedeutend ist mit einer späten Entstehung. Die Vermutung, Ekkehart IV. könnte am Ausbau des St. Galler Te DeumTropenbestandes beteiligt gewesen sein, erhärtet sich durch eine weitere Beobachtung. Der Tropus zur Purificatio Mariae lautet folgendermaßen: Beispiel 3: Der Te Deum-Tropus für Purificatio Mariae Solis ypapanti celebremus festa tonanti Ubera lactenti dat filia cuncta cibanti (Cod. Sang. 382, Cod. Sang. 390/91)

Vgl. den Liber Benedictionum Ekkeharts IV., ,De Ypapanti Et Purificatione Sanctae Mariae‘, Cod. Sang. 393, S. 43 (Liber Benedictionum/Egli 1909, 60, Z. 33 und 40):

Ubera lactanti. lac porrige cuncta cibanti [...] Solis ypapanti celebremus festa tonanti (mit Interlinearglosse: omnis aetatis. virginis infantis. senioris. decrepitae)

In einer Übersetzung Ritva Maria Jacobssons42: In der Begegnung mit der Sonne [= Christus] laßt uns das Fest zu Gottes Ehren feiern. / Die Jungfrau gibt ihre Brüste dem Säugling, der alles ernährt. Dieser Tropus lässt sich nur in den beiden St. Galler Codices mit den ‚großen‘ Te Deum-Tropenbeständen nachweisen, also im 12./13. Jahrhundert. Beide Verse finden sich freilich auch – zwar nicht als Distichon, sondern durch sechs weitere Verse voneinander getrennt – im sogenannten Liber Benedictionum Ekkeharts, der autographen Gesamtausgabe seiner Dichtungen (vgl. Beispiel 3 unten): Auch hier sind sie im liturgischen Jahresablauf der Benedictiones super lectores der Purificatio Mariae zugeordnet. Sie gehören nach Ausweis der Rubriken (‚Debitum diei magistro‘ und ‚Item‘) den Dichtungen Ekkeharts aus seiner Schülerzeit an und sind somit keine Lektionssegnungen im engeren Sinne.43 Der erste Vers des Tropus findet sich im Liber Benedictionum wörtlich wieder, der zweite Vers in einer leicht abweichenden Form (wieder in einer Übersetzung Ritva Maria Jacobssons44): Die Brüste dem Säugling. Biete Milch ihm dar, der alles ernährt. Es scheint sich also so zu verhalten, dass aus zwei Versen Ekkeharts, die dieser unter seinem Lehrer Notker III. ‚dem Deutschen‘ († 1022) geschrieben hat, später ein Te Deum-Tropus gewonnen wurde. Hierfür spricht zum einen, dass die beiden Verse

|| 42 In einer E-Mail an den Verfasser des vorliegenden Beitrags vom 3. 11. 2012. Ich danke Frau Jacobsson herzlich für vielfältigen Rat und Hilfe. 43 Dazu vgl. Schulz 1941. 44 In einer E-Mail an den Verfasser des vorliegenden Beitrags vom 3. 11. 2012.

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im Liber Benedictionum (anders als im Tropus) kein Paar bilden, und zum zweiten (und hauptsächlich) eine zusätzliche Beobachtung: Der zweite Vers des Tropus enthält im Liber Benedictionum die Wendung lac porrige, an deren Stelle im Tropus dat filia steht. Der Imperativ lac porrige hat im Liber Benedictionum Sinn, da hier Maria direkt angesprochen wird – vgl. etwa im vorangehenden: Te puer arrisit. tibi quem pater innuba misit (Cod. Sang. 393, S. 43). Dies aber ist im Tropus nicht der Fall, wo ein Aufruf an die Kommunität zur feierlichen Begehung des Festtags mit einer Aussage verbunden ist: Der ursprüngliche Text dürfte dafür umformuliert worden sein. Durch die Versauswahl, die der Tropendichter getroffen hat, ist ein Distichon mit versübergreifenden Reimen entstanden: ypapanti - tonanti - lactanti (lactenti) - cibanti. Ob es Ekkehart IV. selbst war, der unter Rückgriff auf seine Dichtungen für Purificatio Mariae einen Te Deum-Tropus bereitgestellt – und auch vertont – hat, oder ob es jemand anderes war, dürfte kaum zu entscheiden sein. Auszuschließen ist die Autorschaft Ekkeharts an dem Purificatio-Tropus nicht von vornherein, auch nicht aufgrund der Überlieferungslage: Zwar ist dieser Tropus erst ein bis zwei Jahrhunderte nach Ekkeharts Tod tradiert. Andererseits aber ist auch der wahrscheinlich ihm zuzuschreibende, in jedem Fall schon im 11. Jahrhundert entstandene Otmar-Tropus erst im 12./13. Jahrhundert in liturgischen Gesangshandschriften bezeugt. Letztendlich ist es freilich gar nicht so wichtig zu entscheiden, ob nun Ekkehart IV. selbst oder ein anderer St. Galler Mönch Autor des Tropus Solis ypapanti ist. Entscheidend scheint mir vielmehr etwas anderes zu sein: die Feststellung nämlich, dass die ‚kleineren Dichtungen‘ Ekkeharts nicht nur eine (in der Sekundärliteratur gelegentlich angesprochene) Nähe zur Liturgie aufweisen,45 sondern dass diese Gedichte (obzwar vielleicht nur in Einzelfällen) auch tatsächlich liturgisch verwendet wurden. Sie sind also nicht nur (wie von Peter Christian Jacobsen hervorgehoben) Tropen ähnlich,46 sondern wurden auch als solche benutzt. Damit wird zugleich klar, dass der strukturell sehr homogene, in formaler Hinsicht von früheren Tropierungsgewohnheiten des Gallus-Klosters abweichende St. Galler Te DeumTropenbestand zumindest partiell durch Ekkeharts Dichtungen geprägt wurde. Zwar wird man Ekkehart schwerlich sämtliche Erweiterungen des Bestands zuschreiben können: Der Tropus auf den hl. Constantius zum Beispiel dürfte erst im 13. Jahrhundert entstanden sein, da sich eine liturgische Verehrung dieses Heiligen im Galluskloster vorher nicht nachweisen lässt,47 und der Tropus zur Passio Domini ist in Prosa verfasst. Dennoch lässt sich als Resultat eines festhalten: Ein ganz so randständiges Phänomen, wie zumal die ältere Literatur glauben machen wollte, waren

|| 45 Vgl. etwa Haefele 1980, 460f.; Weber 2003, 19f. 46 Vgl. Jacobsen 1977. 47 Vgl. Hospenthal 2010, 119.

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Ekkeharts lateinische Dichtungen nicht. Und auch als Komponist liturgischer Gesänge war Ekkehart erfolgreich: Die bereits zitierte, wohl von ihm stammende Wiborada-Antiphon gehörte über Jahrhunderte hinweg zum Offizium auf diese dritte St. Galler Hausheilige selbstverständlich dazu. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Passage in den Casus sancti Galli Ekkeharts, die von einer Osterfeier in Ingelheim im Jahre 1030 berichtet, in einem neuen Licht.48 Nach verbreiteter Ansicht hat sich Ekkehart hier (wiewohl von sich in der dritten Person sprechend) selbst dargestellt, wie er in Anwesenheit des Kaisers Konrad und seiner Gemahlin Gisela am Ostertag den Chorgesang zur Messe leitete und beim Anstimmen der Sequenz von drei ehemaligen St. Galler Mitbrüdern unterstützt wurde.49 Abgesehen von der Tatsache, dass der Sequenzengesang hier einmal mehr als eine besondere St. Galler Spezialität inszeniert ist (und dies im Angesicht des Kaiserpaares!), ist bemerkenswert, dass sich Ekkehart in dieser Szene als Musiker ein Denkmal gesetzt hat. Nimmt man seine nunmehr immerhin sehr wahrscheinlichen kompositorischen Aktivitäten hinzu, stellt sich die Frage, inwieweit Ekkeharts Selbstverständnis das eines Musikers und Komponisten war, der in dieser Eigenschaft die reiche Tradition St. Gallens aufrechtzuerhalten und fortzuführen beabsichtigte50.

4 Rezeption Anfang des 16. Jahrhunderts hielt sich der Augsburger Mönch und Schreiber Leonhard Wagner (1453/54–1521) in St. Gallen auf.51 Es war dies die Zeit des sogenannten ‚monastischen Historismus‘: der Rückbesinnung des benediktinischen Mönchtums auf die eigene, insbesondere auf die schon weit zurückliegende Vergangenheit. In St. Gallen war man, nach einem mittlerweile erfolgten Traditionsbruch, um eine Wiederbelebung gerade der früheren Tropen- und Sequenzenpraxis bemüht.52 Unter anderem lud man zu diesem Zweck Leonhard Wagner ein, der mit alten Handschriften bereits reiche Erfahrungen gesammelt hatte. Frucht dieses Aufenthalts war – neben der Anfertigung eines (heute bis auf zwei Blätter verlorenen) Sequentiars – eine umfangreiche Notathandschrift Wagners für Augsburg:53 eine Sammlung von Texten, die er in alten St. Galler Codices fand, und die zahlreiche Tropen einschließt || 48 Vgl. Ekkehart IV., Casus Sancti Galli/Haefele 1980, 140–143. 49 Vgl. den Beitrag von Grotans im vorliegenden Band. 50 Ich möchte insbesondere Heidi Eisenhut, Sonja Glauch, Anna Grotans und Stephan Müller für die anregenden Diskussionen während der Ekkehart-Tagung danken, die viel zu den hier vorgestellten Thesen beigetragen haben. 51 Vgl. Schmidt 1985, 152–156. 52 Vgl. Haug 1998, 959f.; Haug 2011, 29. 53 Vgl. Schmidt 1985, 156–177.

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(heute Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 4° Cod. 149). Am Schluss des Tropenabschnitts hat Wagner unter der Rubrik ‚Ante54 Te Deum Laudamus‘ den Weihnachts-Tropus Quid regina poli in seiner fünfzeiligen Fassung kopiert (die Lesarten stimmen übrigens mit dem Cod. Sang. 376 überein). Dieser Text, den Wagner offensichtlich als Tropus erkannte, hatte demnach sein Interesse geweckt. Doch damit nicht genug – der Te Deum-Tropus hat noch in einer weiteren Handschrift seinen Niederschlag gefunden: im Lorcher Graduale von 1511/12,55 das vom Augsburger Maler Nikolaus Bertschi und von Leonhard Wagner als Notator mit gestaltet wurde. Hier hat Felix Heinzer als Beischriften zu Bordüren, die den Beginn der dritten Weihnachtsmesse rahmen, eine Reihe von Versen aus Ekkeharts Liber Benedictionum entdeckt.56 Dies ist durch den vorangegangenen St. Gallen-Besuch von Maler wie auch Notator erklärlich: Es liegt hier ein Fall von später EkkehartRezeption im Zusammenhang mit dem ‚monastischen Historismus‘ vor. Interessant ist, dass innerhalb der Bordüren-Beischriften auch Quid regina poli wieder auftaucht: Von diesem Tropus wird hier die erste Zeile zitiert. Nun wird gerade dieser Te Deum-Tropus (wie gezeigt) schwerlich Ekkehart zum Verfasser haben (auch nicht die fünfzeilige Fassung). Doch legt der Überlieferungszusammenhang von ‚echten‘ Ekkehart-Texten und Quid regina poli natürlich eine Frage nahe: ob man im spätmittelalterlichen St. Gallen Ekkehart noch als Verfasser von Te Deum-Einleitungen kannte oder ihn doch zumindest als solchen assoziierte … Ganz falsch wäre diese Assoziation jedenfalls nicht gewesen!

Anhang Te Deum-Tropen in St. Gallen (in liturgischer Reihenfolge nach Cod. Sang. 382) Weihnachten (1) (Cod. Sang. 376, Cod. Sang. 388, Cod. Sang. 390/91) Quid regina poli faciat nunc dissere nobis Nunc puerum Christum genuit gremioque locavit

Epiphanias (Cod. Sang. 376, Cod. Sang. 382, Cod. Sang. 390/91) Monstrat stella deum minor hunc lavat unda lieum Fert tribus ista dies signis micat hinc date laudes lieum] ligeum Cod. Sang. 390/91

|| 54 Und nicht Antiphona, wie Schmidt 1985, 161 auflöst. 55 Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. mus. I fol. 63. 56 Vgl. Heinzer 2004, 143.

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Purificatio Mariae (Cod. Sang. 382, Cod. Sang. 390/91) Solis ypapanti celebremus festa tonanti Ubera lactenti dat filia cuncta cibanti

Passio domini (Cod. Sang. 382) Qui passurus advenisti propter nos Qui expassis in cruce manibus traxisti omnia ad te secla Qui prophetice prompsisti ero mors tua o mors Vita in ligno moritur infernus ex morsu despoliatur

Ostern (Cod. Sang. 376, Cod. Sang. 382, Cod. Sang. 387, Cod. Sang. 388, Cod. Sang. 390/91) Haec est alma dies in qua spoliatur avernus Resurrexit homo deus exultate redempti Resurrexit] Exsurrexit Cod. Sang. 382 Et surrexit Cod. Sang. 388, Cod. Sang. 390/91

Himmelfahrt (Cod. Sang. 382, Cod. Sang. 390/91) Regi scandenti celos virtute potenti Letius hac hora clangatur voce sonora clangatur voce] psallatur laude Cod. Sang. 390/91

Pfingsten (Cod. Sang. 382, Cod. Sang. 390/91) Qui promissus erat que gaudia spiritus almus Terris queque ferat canit ecce karismata psalmus

Johannes Baptista (Cod. Sang. 382, Cod. Sang. 390/91) Quem fore queso putas hodie qui nascitur infans Iste puer magnus est ut deus asserit agnus

Kirchweih (Cod. Sang. 376, Cod. Sang. 382) Laudes summe pater hodie tibi gracia mater Personet hec cunctis Othmari [in margine ergänzt: en Galli] regia sanctis hec] et Cod. Sang. 382

en Galli] ‚vel‘ hec Galli Cod. Sang. 382

Constantius (Cod. Sang. 382, Cod. Sang. 389) Pax cui larga datur Constantius associatur Per te Christe gregi tibi psallimus utpote regi

Mariae Himmelfahrt (Cod. Sang. 382, Cod. Sang. 390/91) Conregnare piam tibi matrem Christe Mariam Credimus expresse cures nobis ut adesse

Mariae Geburt (Cod. Sang. 382) Nascitur ecce pia David de stirpe Maria Archa dei fons porta poli sol stella serena

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Gallus (Cod. Sang. 376, Cod. Sang. 382, Cod. Sang. 387, Cod. Sang. 388, Cod. Sang. 390/91) Gaudeat his festis sacrae devotio plebis Gallus in aeterno gaudet se vivere regno

Allerheiligen (Cod. Sang. 376, Cod. Sang. 382, Cod. Sang. 388, Cod. Sang. 389, Cod. Sang. 390/91) Quos laudare cupis dic nobis ut sociemur Laudamus pariter sanctos et sanctificantem

Otmar (Cod. Sang. 211, Cod. Sang. 376, Cod. Sang. 382, Cod. Sang. 390/91) Iam tenet Othmarus paradysi gaudia clarus Suppeditans agno date laudes robore magno

Weihnachten (2) (Cod. Sang. 376, Cod. Sang. 382, Cod. Sang. 389, Cod. Sang. 390/91) Quid regina poli faciat edissere nobis Nunc puerum Christum genuit gremioque locavit Quem puerum genuit nobis gremiove locavit Qui deus est et homo processit virginis alvo Emmanuel dictum laeti cognoscite natum faciat edissere] faciat nunc edissere Cod. Sang. 382, Cod. Sang. 389 faciat nunc dissere Cod. Sang. 390/91 Nunc] Iam Cod. Sang. 390/91 gremiove] gremioque Cod. Sang. 389 cognoscite natum] concinite laudes Cod. Sang. 382 natum] nomen Cod. Sang. 389

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320 | Michael Klaper

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Stefan Weber

Ekkehart IV. und seine Benedictiones ad mensas Die Benedictiones ad mensas, hexametrische Speise- und Getränkesegen Ekkeharts IV. von St. Gallen, gewähren uns einen Einblick in Küche und Haushalt des Mittelalters, [belehren] uns über die Folge der Gerichte bei einer reichen Mahlzeit, über die Nahrungsmittel, welche man aus dem heimischen Boden zog oder aus fremden Ländern, namentlich Italien, einführte, über die Tiere, welche damals in unseren Wäldern gejagt wurden, heute aber ausgestorben sind, über die populärmedizinischen Ansichten, über Volksglauben und Aberglauben jener Tage.1

Dies sind die Worte des maßgeblichen Herausgebers der Benedictiones ad mensas, Johannes Egli, der vor etwas über einem Jahrhundert eine vollständige Edition von Ekkeharts Liber Benedictionum publizierte.2 Der Liber Benedictionum, der abgesehen von einem Prosaprolog poetische Texte und zugleich den Großteil der verschiedenen Dichtungen Ekkeharts enthält, ist autograph überliefert in der Handschrift 393 der Stiftsbibliothek St. Gallen.3 Nur in ihr finden sich die Benedictiones ad mensas,4 welche zusammen mit dem umfangreichsten Teil des Liber Benedictionum – den Benedictiones super lectores per circulum anni – zu dessen Namensgebung beigetragen haben.5 Die Segnungen ad mensas folgen in der Handschrift den Segenssprüchen super lectores und werden ihrerseits von den Versus ad picturas domus Domini Mogontinę – ursprünglich Tituli für einen geplanten Mainzer Wandgemäldezyklus – abgelöst.6 || 1 Liber Benedictionum/Egli 1909, XI. Vgl. Keller 1847, 100: „namentlich die »Benedictiones ad mensas« [...] [gehören] in die Reihe jener interessanten Werke, welche uns einen Blick in das innere Leben und in die landwirthschaftlichen Zustände des Mittelalters eröffnen.“; vgl. auch Dümmler 1869, 16; Manitius 1923, 565, und Schulz 1941, 219f. 2 Liber Benedictionum/Egli 1909 (Rezensionen: Weymann 1911 und Strecker 1912). 3 Zu St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 393 (= LB; 263/264 Pergamentseiten, 20,5/21 x 16/16,5cm) siehe Scherrer 1875, 134; Chroust 1904: zu Tafel 6; Liber Benedictionum/Egli 1909, III–VI; Osterwalder 1982, 54–56; Schmuki 2000, passim; Weber 2003, 13–16; Stotz 2008, passim, sowie online CESG (e-codices), St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 393. 4 Vgl. Schulz 1941, 218. 5 Vgl. Goldast 1606, 3: „composuit Benedictionum librum“; vgl. auch Liber Benedictionum/Egli 1909, VI; Schulz 1941, 201, und Schmuki 2000, 124. Die Benedictiones super lectores per circulum anni (ICL, Nr. 14606) stehen in der Handschrift auf S. 8–184, in Eglis Edition auf S. 11–280. 6 Benedictiones ad mensas (ICL, Nr. 10487; LB, S. 184–197; Liber Benedictionum/Egli 1909, 281–315). Vor Egli hatte schon Ferdinand Keller die Tischsegen ediert (Keller 1847, 106–116), allerdings ohne ein angehängtes, ursprünglich separates Dictamen debitum (Liber Benedictionum/Egli 1909, 315, V. 265–280), welches dann Ernst Dümmler seiner Untersuchung Ekkehart IV von St. Gallen beifügte (Dümmler 1869, 70f.); siehe auch Weber 2003, 30–41 und 82. Jüngst druckte Anne Schulz den latei-

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In der erhaltenen, autographen Form ist der Liber Benedictionum ein Produkt wiederholter Überarbeitung durch Ekkehart, was auch eine genaue Datierung erschwert. Es ist anzunehmen, dass der Dichter die Sammelhandschrift für seine bis dahin verfassten poetischen Werke – darunter sogar Gedichte aus seiner Schulzeit7 – frühestens Mitte der dreißiger Jahre des 11. Jahrhunderts anlegte und bis an sein Lebensende daran arbeitete.8 Das an vielen Stellen dünn und löchrig gewordene Pergament ist gezeichnet von Rasuren und trägt zahlreiche, mehrfach geänderte Nachträge, Korrekturen und Glossen.9 Es gibt keine andere Handschrift der Stiftsbibliothek, in der so viel ausradiert, hinzugefügt, kommentiert und glossiert wurde.10

Ekkehart schuf so in dem Augenblick oder besser Zeitraum, als er seine größeren und kleineren, älteren und jüngeren Dichtungen sammelte, redigierte und im Cod. Sang. 393 vereinte, „eine mit Überlegung komponierte und Vollständigkeit anstrebende Gesamtausgabe“11 seines poetischen Wirkens – und dazu gehören die Benedictiones ad mensas, deren Titel der Handschrift entnommen ist12 und die zu Ekkeharts bekanntesten metrischen Werken zählen.13 In ihnen sind seine Überarbei-

|| nischen Text nach Egli – jedoch leider fehlerhaft und mit einer nur geringen Auswahl der vielen zugehörigen Glossen – als Anhang ihrer Dissertationsschrift ab, zusammen mit einer den Druckfehlern entsprechenden deutschen Übersetzung von Paul-Gerd Jürging (Schulz 2011, 586–617, hier 594–617); Fehler im lateinischen Text zum Beispiel Lempredam statt Lampredam (V. 49), trote statt troctę (V. 51), pictis statt piscis (V. 52), cruce cactus statt cruce tactus (V. 120), Dietamen debitum statt Dictamen debitum (zu V. 265) u.v.m. (vgl. ebd., 596, 602 und 616). Zu den Mainzer Tituli (ICL, Nr. 12578; LB, S. 197–238; Liber Benedictionum/Egli 1909, 316–368) siehe den Beitrag von Helena LeitheJasper im vorliegenden Band. 7 Zu Ekkeharts Dichtungen als Schüler siehe Schulz 1941, 231–233; Stotz 1981, 2–5, und Eisenhut 2009, 87f. 8 Vgl. Schulz 1941, 234. Keller und Egli datieren die Handschrift fälschlich auf die Jahre um die Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert bzw. in die Zeit vor 1035 (vgl. Keller 1847, 99, und Liber Benedictionum/Egli 1909, II). Bevor Ekkehart seine Dichtungen im Liber Benedictionum sammeln konnte, hatte er sie in verschiedene bedeutende Handschriften der Bibliothek des Klosters St. Gallen eingetragen, zum Teil in unterschiedlichen Fassungen (vgl. Schulz 1941, 234; Weber 2003, 82–95, und Eisenhut 2009, 97–99); siehe auch das Verzeichnis der Handschriften mit Einträgen Ekkeharts IV. bei Eisenhut (ebd., Appendix 4, 419–424). 9 Vgl. Schulz 1941, 200; Osterwalder 1985, 73–82; Schmuki 2000, 124, und Stotz 2008, 36. Zu einer Systematisierung der unterschiedlichen Glossentypen Ekkeharts, der Glossen nicht nur in Cod. Sang. 393, sondern in etliche Handschriften der Klosterbibliothek eintrug, siehe Osterwalder 1985, passim, und Eisenhut 2009, 227–229, 254–298 et passim. 10 Schmuki 2000, 124. 11 Schulz 1941, 234; vgl. auch Haefele 1980, 461. 12 Vgl. LB, S. 184. 13 Vgl. Schmuki 2000, 124.

Ekkehart IV. und seine Benedictiones ad mensas | 325

tungsspuren deutlich zu erkennen:14 kein einziges der acht Pergamentblätter, auf denen die Tischsegen samt Titel geschrieben stehen, ist infolge starker oder mehrfacher Rasur ohne Löcher geblieben, und jede Seite ist glossiert. Die Benedictiones ad mensas waren nicht erst für die Aufnahme in den Liber Benedictionum gedichtet worden, sie sind älter als die Sammelhandschrift, wenngleich sich kein anderer Textzeuge erhalten hat. Ihre Abfassungszeit ist womöglich in Ekkeharts Mainzer Jahren zu suchen, als er nach dem Tod seines Lehrers Notker III. († 1022) zu Erzbischof Aribo nach Mainz gekommen war, wo er etwa ein Jahrzehnt verbrachte – vielleicht bis zum Tod des Erzbischofs im Jahr 1031 –, bevor er nach St. Gallen zurückkehrte.15 Die Benedictiones ad mensas sind, wie Ekkehart schreibt, auf Bitten seines leiblichen, vermutlich jüngeren Bruders Ymmo verfasst worden, der als Abt dem Kloster Münster im Gregoriental (St. Gregor, Gregorienmünster) in den Vogesen vorstand.16 Da Ymmos Lebensdaten – abgesehen vom Todestag – und auch der Beginn seines Abbatiats unbekannt bzw. unbestätigt sind,17 folgt hieraus keine genauere zuverlässige Datierung der Verse. Die Klosterannalen von Münster im Gregoriental brechen aufgrund von Blattverlust im 9. Jahrhundert ab und setzen dann erst wieder mit dem Jahr 1065 ein.18 Es fehlen also die Jahre, in denen Ymmo sein Amt ausübte. Aus späteren Abtslisten ist zumeist nur die Reihenfolge bekannt, nicht aber die Dauer des Abbatiats.19 Es existieren jedoch auch Listen, die dem Vorgänger Ymmos die Jahreszahl 1004, ihm selbst 1020 und seinem Nachfolger 1039 zuordnen.20 Das angeführte, nicht sicher zu bestätigende Jahr 1020 ist allerdings nicht zwangsläufig als das Todesjahr von Ekkeharts Bruder anzusehen, und das

|| 14 Vgl. Schulz 1941, 219: „In S [sc. LB] hat Ekkehart diese Dichtung intensiver bearbeitet als jede andere“. 15 Vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, If.; Schulz 1941, 214 und 217f.; Jacobsen 1977, 49; Haefele 1980, 456f. und 459, sowie Eisenhut 2009, 89–94. 16 „Ymmoni abbati de sancto Gregorio fratri germano compactę roganti“, Benedictiones ad mensas, Titel (Liber Benedictionum/Egli 1909, 281); vgl. Schulz 1941, 218. 17 Vgl. Schulz 1941, 218. Ymmo starb an einem 3. März, wie ein St. Galler Nekrologeintrag belegt: „Ymmo abb. de S. Gregorio diem. ob.“, Libri anniversariorum et necrologium monasterii S. Galli, 3. März (Baumann 1888, 468); vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, X, und Manitius 1923, 564. 18 Vgl. Dinago 1882, 77, und Ohl 1897, 66. Die Annales Monasterienses sind in Band 3 der MGH Scriptores ediert, unterteilt in eine pars prior (a. 528–828) und eine pars altera (a. 1065–1194); vgl. auch Judic 2001, 265f. 19 Vgl. zum Beispiel die Abtsliste in der Gallia Christiana: …, Adelardus, Immo/Emmo, Chaeno, … (vgl. Hauréau 1860, 561–570, hier 564; jeweils ohne Jahresangaben). Ein Terminus ante quem im Jahr 1068 ergibt sich für Chaeno aus einer Angabe zu dessen Nachfolger (vgl. ebd.). 20 …, Adelhard 1004, Ymmon 1020, Chonon 1039, … (vgl. Spach 1860, 273); … Adelhard (1004), Immo (Emmon) (1020), Chonon (1039), … (vgl. Ohl 1897, 493). An anderer Stelle heißt es bei Ohl: „Als erster Abt im XI. Jahrhundert treffen wir Oudelardus oder Adelhard, der dem Kloster bis 1004 vorstand; ihm folgten Immo oder Emmo (1039), Choino (1039) und Abo.“ (ebd., 70; wahrscheinlich ist ihm hier in der Angabe der Jahreszahl 1039 bei Ymmo ein Druckfehler unterlaufen).

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Jahr 1004 nicht als definitiver Beginn seines Abbatiats.21 Es lässt sich daraus – sofern alle Daten korrekt sind – lediglich schließen, dass Ymmo nicht vor ca. 100422 und nicht mehr nach 1039 Abt von Münster im Gregoriental war und wahrscheinlich 1020 als Abt erwähnt wurde. Wenn der Angabe zu trauen ist, dass sein Vorgänger bis ca. 1004 sein Amt versah, dann wäre dies ein Terminus ante quem non für die Entstehung der Benedictiones ad mensas.23 Diese sind Ymmo sicherlich in irgendeiner Form übermittelt worden, wobei Aussehen und Umfang dieser Fassung der Tischsegen nicht zu rekonstruieren sind.24 In der auf uns gekommenen, nachträglich und mehrfach überarbeiteten Fassung im Liber Benedictionum präsentieren sich die Speise- und Getränkesegen Ekkeharts gemäß Eglis Edition in 280 überwiegend monostichischen Hexametern wie folgt: In drei jeweils eigenständigen, einleitenden Versen wird um Gottes Hilfe bei der Vermeidung von Streit bei Tisch (… offensas super has … mensas, V. 1) bzw. um Segen für die aufgetischten Speisen gebeten (… impensis assit benedictio mensis, … superpansas repleat benedictio mensas, V. 2f.). Jeder dieser drei Verse enthält das von Ekkehart auch für den Titel der Verssammlung verwendete Wort mensa im Plural. Die Aufzählung der Speisen beginnt mit 27 Versen auf das Grundnahrungsmittel Brot: Brot allgemein (panis, panes, ęsus panum, V. 4–7), Brotlaib (panis torta, tortę panum, V. 8f.),25 halbmondförmiges Brot (panis lunatus glossiert im Akkusativ mit in || 21 Aus der Formulierung Ohls im Text und aus seiner Liste im Anhang wäre zu folgern, dass Ymmo im Jahr 1004 Abt geworden sei, und zu vermuten, dass er 1020 gestorben sei. Spach ist bei seinen Datierungen vorsichtiger als Ohl, denn er setzt kein Kreuz vor die drei angeführten Jahreszahlen, wie er es sonst für ihm bekannte Sterbejahre der Äbte tut (vgl. Spach 1860, 273). Es dürfte sich bei ihm also um Jahre handeln, in denen der jeweilige Abt erwähnt wird. Diese Annahme bestätigt sich für 1020 und 1039 bei einem Blick auf die mittelbare Quelle jener Daten, die der Abtskatalog in der ursprünglich ungedruckten, nur handschriftlich aufgezeichneten Klostergeschichte des gelehrten Benediktiners Augustin Calmet († 1757), welcher in Münster im Gregoriental das Amt des Subpriors ausgeübt und Bibelexegese unterrichtet hatte, gewesen sein dürfte. Dort heißt es: „… 24. Adelardus ou Oudelardus, jusque vers l’an 1004. 25. Emmo ou Immo, abbé en 1020. 26. Chono, en 1039 …“, Histoire de l’abbaye de Munster (Dinago 1882, 244; vgl. ebd., 78). 22 Die vorsichtigere Angabe ‚ca. 1004‘ statt exakt ‚1004‘ ergibt sich aus der Formulierung ‚jusque vers l’an 1004‘ bei Calmet (vgl. ebd., 244). 23 Analog hierzu würde dann das Jahr 1039 einen Terminus ante quem bilden, wobei Ekkehart bis dahin wieder aus Mainz zurück in St. Gallen gewesen sein dürfte und womöglich auch schon die Arbeit am Liber Benedictionum aufgenommen hatte. 24 Vgl. Schulz 1941, 219. 25 V. 8 ist nachgetragen. Egli kennzeichnet nachgetragene Verse durch Asterisk * vor Versbeginn (vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, Vorwort). Verschiedene Abweichungen oder Varianten in der obigen Aufzählung zu den Übersetzungen bzw. Deutungen von Egli (Einleitung und Kommentarapparat der Edition, ebd., XI–XIV und 281–315), Keller (Inhaltsangabe und Kommentar zur Edition, Keller 1847, 103–105 und 117–121) und A. Schulz Jürging (Schulz’ kommentierte Inhaltsangabe und Jürgings Übersetzung, Schulz 2011, 587–592 und 595–617) sind hier wie im folgenden vermerkt: Egli: ‚Torte‘, ‚ringförmiges Gebäck‘; Keller: ‚Brodkuchen‘, ‚Torten‘, ‚jede Art von Kuchen aus weissem Mehl‘, ‚Weck‘; Jürging: ‚Brotgebäck‘.

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lunę modum factum, V. 10),26 gesottenes Brot (elixum glossiert mit cesótin brot, V. 11),27 geröstetes gesalzenes Brot (frixum cum sale mixtum, V. 12),28 Brot, das durch Eier aufgeht (panis per oua leuatus, V. 13),29 Brot, das durch Hefe aufgeht (panis de fece leuatus, V. 14), gesäuertes Brot (fermentatum gloss. levatum fermento, V. 15),30 Hostienbrote (oblatę, V. 16),31 ungesäuertes Brot bzw. der daraus zubereitete Kuchen (azima, V. 17), Spelt- alias Dinkelbrot (panis de spelta, V. 18), Weizenbrot (triticeus panis, V. 19), Roggenbrot (panis sigalinus, V. 20), Gerstenbrote (ordea si panes fuerint, V. 21), Haferbrot (fuerit si panis avena, V. 22), jede Brotsorte allgemein (omne genus panis, V. 23), frischgebackenes Brot bzw. Brote (noviter cocti panes, recens coctus panis, V. 24f.),32 warme Brote (calidi panes, V. 26),33 kaltes Brot (gelidus panis, V. 27), in Asche gebackenes Brot (subcineritius, V. 28) und Brotbrocken (fragmina panum, fragmenta, V. 29f.)34. Dem Brot folgen sechs ganz allgemein gehaltene Verse Ad diversa victualia (bona, potus et ęsus, cibus et potus, omne appositum, cibus appositus, victus, V. 31– 36)35 sowie je ein Segensspruch auf das Salz (sal, V. 37) und auf Salzbrühe oder Salzlake (salsura gloss. sulza, V. 38)36. Letztere dient vielleicht als Übergang zur nächsten Gruppe von Nahrungsmitteln, den Speisefischen:37 Zuerst in einem nachgetragenen Vers gekochte Fische (pisces cocti, V. 39), dann Fische und Wassertiere allgemein (pisces, aquatile cunctum, V. 40f.),38 Stockfisch oder Thunfisch – je nach Übersetzung (marina balena, V. 42; eigentlich ‚Walfisch‘)39, Hausen (huso, V. 43),40

|| 26 Egli: ‚mondförmiges Brot‘, ‚Kipfel‘; Keller: ‚mondförmiges Brot/Brödchen‘, ‚Gipfel‘; Jürging: ‚mondförmiges Brot‘. 27 Keller: ‚gesottenes Brod‘, ‚Semmelbrödchen, denen man die Form eines Ringes gab‘. 28 Keller: ‚geröstetes und mit Salz bestreutes Brod‘ (so auch Egli), ‚Brodschnitten, die an der Röstgabel oder auf dem Rösteisen und mit Butter und Salz zubereitet werden‘; Jürging: ‚mit Salz vermischtes Röstbrot‘. 29 Keller: ‚Eierbrod‘, ‚Eierweck‘. 30 Jürging: ‚das Aufgegangene‘. 31 Der Vers ist nachgetragen. Egli: ‚Offleten‘, ‚Hostienbrot‘; Keller: ‚Oblatenbrod (Offleten)‘; Jürging: ‚Oblaten‘. 32 V. 24 ist nachgetragen. 33 Nachgetragen. 34 Egli: ‚von der Mahlzeit übrig gebliebene Brotreste‘. 35 V. 32 und 35 sind nachgetragen. 36 Egli: ‚Sulze (Brühe aus tierischen Bestandteilen)‘, ‚Salzbrühe‘, ‚Salse‘; Keller: ‚Sauce(n)‘, ‚Salse‘; Jürging: ‚Gewürztunke‘; A. Schulz: ‚gesalzene Gewürzsauce‘. 37 Vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 285, zu V. 38, und Schulz 2011, 588. Nach A. Schulz stehe auch das Salz am Anfang der Fischgruppe, da dieses „beim Trocknen, Pökeln oder Einlegen von Fisch benötigt“ wurde (vgl. Schulz 2011, 588; Zitat ebd.). 38 V. 41 ist nachgetragen. 39 Keller/Egli: ‚Stockfisch oder Thunfisch‘; Jürging: ‚Stockfisch‘ (Jürging hält ‚Thunfisch‘ für unwahrscheinlich, vgl. Schulz 2011, 597, Anm. 36); A. Schulz: ‚Stockfisch (Dorsch/Kabeljau)‘. Eine Liste der Fischnamen findet sich bei Duft (Duft 1959, 18).

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Lachs alias Salm (salmo, V. 44), Lachs (esox gloss. lahs, V. 45),41 Illanke, eine Renken-, Felchen- oder Maränenart (illanch, V. 46),42 Hecht (lucius, V. 47), Quappe alias Trüsche (trisca, V. 48),43 [(See)saibling? (rubulgra, nach V. 48)],44 (Meer)neunauge alias Lamprete (lampreda, V. 49),45 (Bach)forelle (trocta, V. 50),46 Forellenarten allgemein (omne genus troctę, V. 51), Salzhering (salsus piscis almarinus gloss. harinch,

|| 40 Die besondere Betonung der Donau (Danubii piscis huso) und die Position vor den Salmoniden lässt auch an den Huchen (‚Donaulachs‘) denken, dessen lateinischer Name ähnlich klingt (hucho). Ein Schreibfehler ist jedoch nicht möglich, da huso hier zweimal ausgeschrieben ist. 41 Egli/Keller/Duft (zu V. 44f.): ‚Salm‘ und ‚Lachs‘; Jürging (zu V. 44f.): ‚Lachs‘ und ‚Lachs‘. „Wie bekannt ist der salmo, Salm, und esox, Lachs, derselbe Fisch. Jenen Namen trägt er im Sommer, diesen im Spätherbst, wenn er in die kleinern Flüsse eintritt“ (Keller 1847, 117). In der Tat handelt es sich bei beiden Fischnamen um den Atlantischen Lachs (Salmo salar), der im deutschen Sprachgebrauch uneinheitlich je nach Alter, Jahreszeit und/oder Schwimmrichtung (flussabwärts bzw. zum Laichen aus dem Meer flussaufwärts) mal mit ‚Lachs‘, mal mit ‚Salm‘ bezeichnet wurde. 42 Ein Fisch aus der artenreichen Gattung Coregonus, deren verschiedene Arten schwierig zu unterscheiden sind und die zum Teil regionalgeprägte Namen tragen. Egli: ‚Illanch‘ bzw. ‚Rheinanke‘ als alemannischer Ausdruck für ‚Seeforelle (Trutta lacustris)‘ (Die Seeforelle gehört jedoch nicht zur Gattung Coregonus); Keller: ‚Illanken‘, ‚Illanch (Salmo lacustris)‘; Jürging: ‚Illanch‘; Duft: ‚Ill- und Rhein-Lanke‘ (‚Lanke‘ ist Nebenform von ‚Anke‘). In einer von Ekkehart glossierten Handschrift der Stiftsbibliothek St. Gallen aus dem 10. Jahrhundert (Cod. Sang. 159; vgl. Eisenhut 2009, 420) finden sich zu einem Hieronymusbrief (Epist. 52) Anmerkungen mit vier ebenfalls in den Benedictiones ad mensas genannten Fischnamen und drei Vogelnamen, von denen nur einer in dieser Form in den Tischsegen auftaucht. Unter jenen vier Fischen steht auch die Illanke: „Noui et genera et nomina piscium [gloss. lanprêdam . Illanchent . Rôten . ] . in quo littore [gloss. hal marino .] collecta sint . Calleo saporibus auium [gloss. pauonis . uicetulę [sc. ficedula] . quattulę . ]“, St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 159, S. 197 (vgl. Steinmeyer/Sievers 1882, 327); vgl. in den Benedictiones ad mensas V. 49 (lampreda), V. 52 (almarinus), V. 60 (Glosse rutin) und V. 75 (pavo); zu Cod. Sang. 159 und Ekkehart siehe auch Eisenhut 2009, 94. Bei allen hier und im folgenden erwähnten Bezügen zwischen den Tischsegen und erhaltenen St. Galler Handschriften ist zwar immer zu beachten, dass jene auch in Mainz entstanden sein können, anderseits ist das Aussehen ihrer ursprünglichen Fassung unbekannt und zum Zeitpunkt der Niederschrift im Liber Benedictionum waren Ekkehart die Handschriften seines Heimatklosters wieder zugänglich. 43 Nachgetragen. Bei Keller in der Verszählung V. 46 (hier fehlerhaft ohne das erste Wort crux ediert). 44 Nachgetragen. Der Vers ist von Egli so gedeutet worden, dass ihn V. 48 über die Quappe ersetzen sollte (vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 286, zu V. 48). Aus diesem Grund steht er bei ihm nicht im Haupttext. Keller dagegen hat den Vers aufgenommen (hier V. 49), und ab dieser Stelle unterscheiden sich die Verszählungen beider Editoren um 1. Egli kann den Fisch rubulgra nicht identifizieren und verweist auf ‚Saibling‘ als eine Vermutung Kellers (vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 286, zu V. 48); Keller deutscht den Fischnamen mit ‚Rubulger‘ ein und gibt an, er wisse nicht, um welchen Fisch es sich handeln könnte (vgl. Keller 1847, 104 und 117); Jürging: ‚Rubulger‘, ‚Saibling?‘ (mit Verweis auf Egli); A. Schulz: ‚Rubulge (Saibling?)‘; Duft: ‚Saibling‘, ‚Röthel‘. 45 Egli/Duft: ‚Lamprete‘, ‚Meerbricke‘; Keller/Jürging: ‚Lamprete‘. 46 Nachgetragen. Keller: ‚Seeforelle‘, ‚Bachforelle‘; Jürging: ‚Forelle‘.

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V. 52),47 in Salz eingelegter Fisch (piscis sale morsus, V. 53),48 (Fluss- oder Bach-) neunaugen (anguillę novies oculatę, V. 54),49 auf Speisebrettern liegender Vogel [sic!] (fercla superstans volans, V. 55),50 Aal (anguilla, V. 56),51 Teil eines gefangenen Fisches (pars prensi piscis, V. 57),52 (Fluss)barsch (perca, V. 58),53 noch einmal gekochter Fisch (piscis coctus, V. 59),54 Rotauge (rubricus gloss. rutin, V. 60),55 gebratener Fisch (piscis assus, V. 61), (Fluss)krebse (cancri, V. 62),56 noch einmal Fisch allgemein (piscis, V. 63), gepfefferte Fische bzw. gepfefferter Fisch (pisces piperati, piscis piperatus, V. 64f.),57 Wels alias Waller (walara, V. 66),58 kleine Fische (pisciculi, V. 67), Gründling und Döbel (crundula cum capitone, V. 68),59 Tausende gefangener Fischlein (millia captorum pisciculorum, V. 69),60 Biber (fiber, V. 70),61 alle erlaubten Wassertiere allgemein (omne natans licitum, V. 71) und nachgetragen der Stör (sturio, V. 72). Eine Art Übergangsvers leitet von den pisces zu den volucres über (V. 73), die erst allgemein gehalten gesegnet werden (avis, V. 74), bevor der Pfau (pavo, V. 75) die Reihe der konkreten Vögel eröffnet. Ihm folgen Fasan (phasiana gloss. id est pavo albus, V. 76),62 Schwan (cignus, V. 77), Gans (anser, anser et auca, V. 78f.),63 Kranich (grus, V. 80), Ente (aneta, V. 81), Wachtel (coturnix, V. 82),64 Taube (columba,

|| 47 Zur Schreibung almarinus vgl. oben die im Zusammenhang mit V. 46 genannte Glosse hal marino in St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 159, S. 197. 48 Keller wiederholt für diesen Vers ‚Häring‘. 49 Nachgetragen. Egli: ‚Flussneunauge‘, ‚Bachneunauge‘; Keller/Jürging: ‚Neunauge‘. 50 Jürging übersetzt frei mit „Den auf der Schüssel ‚schwimmenden‘ Fisch [...]“ und merkt an, dass die wörtliche Übersetzung ‚fliegend‘ hier nicht passen könne (vgl. Schulz 2011, 599, Anm. 38). 51 Nachgetragen. Egli entscheidet sich anders als Keller gegen die Handschrift (anguuillam) für die Schreibung anguillam (vgl. LB, S. 187). 52 Keller wiederholt für diesen Vers ‚Aal‘. 53 Nachgetragen (bei Egli nicht als nachgetragen angegeben). 54 Keller wiederholt für diesen Vers ‚Barsch‘. 55 Nachgetragen. Egli/Duft: ‚Rotforelle‘ [sc. Seesaibling]; Keller: ‚Rottel‘, ‚Cyprinus rutilus‘ [sc. Rotauge]; Jürging: ‚Rottel‘, ‚Rotforelle‘. 56 Nachgetragen. 57 V. 64 ist nachgetragen. Jürging: ‚gepfefferte Fische‘ (V. 64), ‚gewürzter Fisch‘ (V. 65). 58 Nachgetragen. 59 Nachgetragen. Egli: ‚Gründling‘ und ‚Döbel‘ bzw. ‚Alant‘ bzw. ‚Alet‘; Keller: ‚Grundel‘ und ‚Alet‘; Duft: ‚Gründling‘ und ‚Döbel‘ bzw. ‚Alet‘; Jürging: ‚Grundel‘ und ‚Karpfen‘. 60 Keller: ‚Heuerlinge‘ [sc. junge Flussbarsche]. 61 Nachgetragen? 62 Keller bezieht die Glosse fälschlich auf den vorangegangenen Vers (vgl. Keller 1847, 118 und Liber Benedictionum/Egli 1909, 290, zu V. 76). Ihre Bedeutung ist unklar, Manitius schlägt als unbefriedigende Lösung den Silberfasan vor (vgl. Manitius 1923, 565, Anm. 4). 63 V. 78 ist nachgetragen. 64 Jürging übersetzt den Vers, indem er das darin verwendete Adjektiv pernix mit dem Substantiv perdix (Rebhuhn) verwechselt, fälschlich so: „Möge wohlschmeckend sein das Rebhuhn und die scheinbar hinkende Wachtel“ (Schulz 2011, 601; vgl. ebd., 589).

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V. 83), Turteltaubenpaare (turturea paria, V. 84), alles Taubenartige (omne columbinum, V. 85), Huhn (gallina, V. 86), kastrierter Hahn alias Kapaun (castratus gallus, V. 87), Hühnchen/Hähnchen oder generell Jungvögel (tantilli pulli, V. 88),65 erlaubtes Geflügel allgemein (volucrina licentia, V. 89), Schneehuhn (perdix, V. 90),66 kleine Vögelchen (tantilli volucelli, V. 91), mit Schlingen gefangene Vögelchen (de decipulis volucelli, V. 92)67 und Vögel bzw. erlaubtes Geflügel allgemein (volucres, licitale volatile cunctum, V. 93f.). Die nächsten beiden Gruppen sind dem Schlachtvieh und dem Haarwild, also den essbaren Säugetieren gewidmet. Schlachtvieh: Rind (bos, caro bovina, V. 95f.),68 Kalb (vitulus, V. 97),69 Schaf (caro ovilla, V. 98),70 Lamm (agnus, V. 99), Ziege oder Zicklein (capella, V. 100),71 Ziegenböcklein (ędus, V. 101),72 Ziegenbock (caper, V. 102), gebratenes Fleisch (assamina carnis, V. 103), geröstetes Schulterstück (frixus armus, V. 104),73 Schwein (assus porcus, caro suilla, scultella porci, V. 105–107),74 Kochschinken (prado coctus, V. 108),75 Ferkel (porcellus, V. 109), gekochter Speck (lardum lixatum, V. 110),76 Hackfleisch (carnes conflictę gloss. kehacchot, V. 111),77 Eber gebraten und gekocht bzw. Fisch gebraten und gekocht bzw. gebratenes Fleisch allgemein (verris massa assa gloss. carnis bzw. piscis, pars verris cocta gloss. piscis,

|| 65 Egli: ‚Hühnchen‘; Keller/Jürging: ‚Hähnchen‘; A. Schulz: ‚kleine Hähnchen (Küken?)‘. 66 Nachgetragen. Der Inhalt des Verses (Sub nive se pernix mersans … perdix) deutet darauf hin, dass perdix (Rebhuhn, Birkhuhn, Schneehuhn) hier das Schneehuhn bezeichnet (so auch Egli/ Keller/Jürging). 67 Nachgetragen. Keller bezieht die mit Schlingen gefangenen Vögelchen auch auf den vorangegangenen Vers. 68 V. 96 nachgetragen? Egli (zu beiden Versen): ‚Ochenfleisch‘ [sic!]; Keller (zu beiden Versen): ‚Ochsenbraten‘. 69 Nachgetragen. 70 Keller: ‚Hammel-(Schaf-)fleisch‘. 71 Egli fasst diesen und die beiden folgenden Verse mit ‚Ziegen- und Bockfleisch‘ zusammen. Keller: ‚Ziegenfleisch‘; Jürging: ‚Zicklein‘. 72 Keller: ‚Zickleinfleisch‘. Jürging erkennt nicht die von Egli edierte Form ędi (Ekkehart selbst schreibt Edi, vgl. LB, S. 189) für haedus (junger Ziegenbock) und bezieht sie auf das Verb edere: „Das heilige Kreuz möge verhüten, dass wir Schaden nehmen, wenn wir von diesem Fleisch essen“ (Schulz 2011, 603; statt korrekt: „[...], dass wir Schaden nehmen von diesen Fleischstücken des Ziegenböckleins“). 73 Keller: ‚(Ochsen-)Schulter, gebraten‘. 74 Jürging übersetzt die Junktur assus porcus (V. 105) ohne Tierbezug mit ‚das Gebratene‘ (vgl. Schulz 2011, 603). Scultella porci (V. 107) steht hier für ‚eine Portion Schwein(efleisch)‘ (Jürging: ‚Schweinegericht‘). 75 Nachgetragen. 76 Jürging: ‚flüssig gemachter Speck‘ (vgl. Schulz 2011, 589). 77 A. Schulz druckt den lateinischen Text hier ohne die Glosse ab, und Jürging kommentiert seine Übersetzung ‚‘zusammengeschlagenes’ Fleisch‘ deshalb wie folgt: „Der Sinn dieser Wendung ist offen. Es könnte geklopftes Fleisch, aber auch so etwas wie Hackfleisch gemeint sein“ (Schulz 2011, 603, Anm. 52).

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V. 112f.), Spießbraten (assa veru caro, V. 114) sowie gekochtes und geröstetes Fleisch (carnes elixę atque refrixę, V. 115).78 Die Gruppe der Wildtiere beginnt mit zwei allgemeinen Versen auf Wildbret (ista ferina, quęque ferina, V. 116f.), von denen der zweite nachgetragen ist.79 Dann steht in einem Distichon das St. Galler Wappentier, der Bär, an erster Stelle der Aufzählung (ursus, V. 118f.).80 Weiter geht es mit Keiler (aper, V. 120),81 Hirschkuh und Bratenstücke von dieser (cerva, crustamina cervę, V. 121f.), Wisent (veson, V. 123), Auerochse alias Ur (urus, V. 124), ‚Waldrind‘ (bos silvanus, V. 125),82 Wildpferd (feralis equus, V. 126),83 weibliches Rot-, Dam- bzw. Rehwild allgemein oder speziell Damhirsch(kuh) (damma, V. 127),84 Rehbock (capreus, V. 128), Ricke (caprea, V. 129), Rehkitze (capreoli, V. 130),85 (Mufflon)widder (verbices, V. 131),86 Gemse (cambissa gloss. id est fera alpina, V. 132), Wildhase (caro leporina, V. 133),87 Murmeltier (alpinus cassus, V. 134) und noch einmal Wildbret allgemein (caro silvana, V. 135). Die nächste Gruppe besteht aus verschiedenen von Tieren gewonnenen Erzeugnissen, diversen verarbeiteten Pflanzenprodukten und Varia. Sie kann als Übergang von den tierischen zu den pflanzlichen Speisen angesehen werden: Milch (lac,

|| 78 Keller: ‚gekochtes und hernach gebratenes Fleisch‘; Jürging: ‚gesottenes und gebratenes Fleisch‘. 79 Egli kennzeichnet fälschlich beide Verse als nachgetragen. 80 Auch hier ist der zweite Vers nachgetragen. 81 Egli: ‚Wildschwein‘, ‚Eber‘; Keller: ‚Wildschwein‘; Jürging: ‚(Wildschwein-)Eber‘. Die auf aper bezogene Junktur dente petulcus in diesem Vers – vielleicht nach Vergil, Georg. IV,10: „neque oues haedique petulci“ (Mynors 1986, 83) – belegt, dass es sich bei aper (männliches oder weibliches Wildschwein) um den Keiler und nicht um die Bache handelt. 82 Wohl wieder der Auerochse, vielleicht auch noch einmal der Wisent (vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 296, zu V. 125, und Keller 1847, 104 und 119). 83 Keller: ‚verwildertes Pferd‘. 84 Egli/Keller/Jürging: ‚Dam(m)hirsch‘. 85 Egli (zu V. 128–130): ‚Rehbock‘ bzw. ‚Reh‘; Keller (zu V. 128–130): ‚Rehbock‘, ‚Reh‘ und ‚Rehböcklein‘; Jürging (zu V. 128–130): ‚Rehbock‘, ‚Ricke‘ und ‚Rehböcke‘. Eine genaue Übersetzung von dam(m)a (allgemein ein Tier aus der Familie der Hirsche, Hirschkuh, Hirschkalb, Ricke, Gemse), capreus (Reh, Rehbock, Rehkitz, Steinbock, Ziegenbock), caprea (Ricke, Steingeiß, Steinbock) und capreolus (Rehbock, Rehkitz, Gemse, Ziege) ist aufgrund der vielen Möglichkeiten schwierig. Die Gruppierung der drei letztgenannten bei Ekkehart deutet auf eine passende Übersetzung mit Männchen, Weibchen und Nachwuchs aus der Gattung Reh hin, auch wenn das Mittellateinische Wörterbuch Ekkeharts capreus als Beleg für ‚Steinbock‘ anführt (vgl. Mittellateinisches Wörterbuch, Bd. 2, Sp. 242). 86 Egli/Keller/Jürging (ausgehend von einer Nebenform für ibex): ‚Steinbock‘. Verbex/verbix ist jedoch Nebenform von vervex (Hammel) und dürfte hier ein männliches Wildschaf (Mufflon) bezeichnen. 87 Nachgetragen.

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V. 136f.), Käse (caseus, lactis pressura, V. 138f.),88 Milch(produkt) mit Honig, Pfeffer und Wein (lac, mel piper et vinum, V. 140),89 Käse mit Honig (lactis pressura bzw. caseus, mel, V. 141f.),90 Ziegenmilch (lac caprinum, V. 143),91 Honig in zwei Versen (mel, nectara mellis, V. 144 und 146), zwischen die ein weiterer Vers auf gewürzten Honig nachgetragen ist (millenarum mel specierum, V. 145), Honigwaben (favi, V. 147), ein dicker Brei und ein weißgeflecktes Milchgericht, jeweils im Plural (pultes, iuttę niveis guttis, V. 148),92 Kräuterkäsekloß bzw. ein im Mörser zubereitetes Gericht aus Käse, Essig, Öl, Knoblauch und Kräutern (moretum, V. 149),93 heiße und warme flüssige Substanzen (fervores calidique liquores, V. 150),94 Würzwein oder zum Würzen verwendeter Kräutersaft (pigmentatum, V. 151; vgl. V. 246),95 geschickt bzw. nach den Regeln der Kochkunst zubereitete Speisen allgemein (arte cibi facti, V. 152),96 jede mit Pfeffer- oder Würzbrühe gewürzte Speise (omnia perfusa per hęc piperata, V. 153),97 Essig oder ein mit Essig zubereitetes Gericht (gustus aceti, V. 154),98 Senf (sinape/sinapis, V. 155), zerstoßene Kräuter (pinsę erbę, V. 156),99 (Kräuter)mischung (mixtura, V. 157),100 zerstoßene Spezereien (pinsa – gloss. tunsa – pigmenta, V. 158),101 trefflichst kreierte Kuchen (optime commentę placentę, V. 159),102 Emmer- oder Spelt- alias Dinkelkuchen (adorea, V. 160)103 und noch einmal ein tierisches Produkt, die Eier (ova, V. 161).

|| 88 Jürging (zu V. 139): ‚Druckprodukt der Milch (Quark oder Käse)‘; A. Schulz (zu V. 139): ‚Quark‘, ‚Topfen‘. 89 Nachgetragen. Egli/Keller: ‚Käse mit Honig, Pfeffer und Wein‘; Jürging/A. Schulz: ‚Milch mit …‘. 90 V. 142 (caseus) ist nachgetragen und aufgrund von Rasur nicht mehr vollständig zu erkennen. Jürging (zu V. 141): ‚Produkt aus gepresster Milch‘. 91 Nachgetragen. Keller: ‚Ziegenmilch (Käse)‘. 92 Egli: ‚Brei‘, ‚Milchgericht‘; Keller: ‚Maulbeermus von gelben und weissen Maulbeeren‘ (Keller ediert fälschlich luttis und überlegt, ob dies für luteis – Brei aus gelben Maulbeeren – stehe, vgl. Keller 1847, 112 und 120); Jürging: ‚gelber und weißer Brei‘. 93 Egli (fälschlich ausgehend von moretum als Nebenform von moratum): ‚Getränk aus Maulbeeren, Honig und Gewürzen‘, ‚Maulbeerwein‘; Keller (ebenfalls ausgehend von moretum als Nebenform von moratum bzw. moracetum): ‚Maulbeerwein‘; Jürging: ‚Maulbeerwein‘; vgl. V. 249. 94 Keller: ‚warme Getränke‘; Jürging: ‚heiße und warme Getränke‘. 95 Nachgetragen. Egli: ‚gewürzter Honigwein‘, ‚Würzwein‘; Keller: ‚gewürzter Honigwein‘; Jürging: ‚Würzwein‘. 96 Keller: ‚künstliche Speisen‘; Jürging: ‚mit Kunst bereitete Speisen‘. 97 Keller: ‚mit Pfeffer bereitete Speise‘, ‚Pfefferbrühe‘, ‚gewürzte Brühe‘; Jürging: ‚alles mit diesen Pfefferbrühen/Würzbrühen übergossene‘; A. Schulz: ‚Pfeffersauce‘, ‚Pfefferbrühe‘. 98 Egli/Keller: ‚saure Brühe aus Essig, Salz und verschiedenen Gewürzen‘, ‚mit Essig angerichtete/bereitete Speise‘; Jürging: ‚Essigprobe‘. 99 Egli: ‚aus gestossenen Kräutern bereitetes Gericht‘. 100 Egli (zu V. 157f.): ‚Spezereien‘; Keller: ‚Spezereigemenge‘; Jürging: ‚Mischung‘. 101 Keller: ‚Spezereien‘, ‚Gewürzpflanzen‘. 102 Egli: ‚Fladen‘, ‚künstlich zubereiteter Kuchen (Backwerk mit Käse, Fleisch, Obst oder gehackten Kräutern)‘; Keller: ‚Kuchen‘, ‚Fladen (Kuchenart aus einem mit Fleisch/Speck, Obst, gehackten Kräutern und Käse dicht belegtem und wohl gebackenen Blatt Teig) ‘; Jürging: ‚Fladen‘. Ekkehart

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Drei allgemeine Verse auf Hülsenfrüchte (omne legumen, istud legumen, legumina cuncta, V. 162f. und 175)104 rahmen die erste Speisegruppe aus rein pflanzlichen Produkten: Ackerbohnengericht bzw. Ackerbohnen (pulmentum fabę, fabę, V. 164f.),105 jede Art von Kichererbsen (omne genus ciceris, V. 166), Erbsen (pisę, V. 167f.),106 Linse (lens, V. 169f.),107 rotes (Linsen)gericht (rubra coctio, V. 171),108 die nicht zu den Hülsenfrüchten zählende Hirse (milium coctum, milium gloss. milium febricantibus venenum, V. 172f.)109 und die Gartenbohne (phaselus, V. 174).110 Es folgen die Baumfrüchte: allgemein (arboribus lecta dona, poma, V. 176f.),111 Olive (oleę fructus, V. 178), Früchte der Zitronatzitrone alias Zedrat (cedria poma, V. 179f.),112 Feigen und Feigenhaufen oder -brei (ficorum grossi, [ficorum] massę, V. 181),113 Datteln (dactilici palmarum grossi, V. 182),114 Weintrauben (botri, V. 183),

|| verwendet das Adverb optime metrisch etwas anstößig mit einer Kürze statt einer Länge auf der letzten Silbe (vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 302, zu V. 159); es ist aber in der Tat das Adverb gemeint, und nicht etwa der gleichlautende, mit Kürze auf der Schlusssilbe gebildete Vokativ, wie auch die untereinander korrelierenden Anfänge von V. 257f. belegen: Optime provisę … und Non bene provisę …. 103 Egli/Keller/Jürging: ‚Speltkuchen‘; A. Schulz merkt dazu an, dass ein „wohl aus Dinkel zubereitetes Gebäck, das bereits in der römischen Antike bei Eheschließungen eine Rolle spielte“, gemeint sei, und verweist auf „zahlreiche Einträge zum Stichwort ‚Speltkuchen‛ im Internet“ (vgl. Schulz 2011, 590, Anm. 22; Zitate ebd.). 104 V. 162 ist nachgetragen; auch V. 163 ist später eingefügt worden, jedoch nicht zwischen den Zeilen, sondern als Korrektur auf rasiertem Grund (vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 302, zu V. 163, und LB, S. 191). Egli/Keller/Jürging: ‚Gemüse‘. 105 V. 164 ist nachgetragen. Egli: ‚Bohne‘, ‚Saubohne‘ [sc. Ackerbohne]; Keller/Jürging (zu V. 164): ‚Bohnenbrei‘, zu V. 165: ‚Bohne‘. 106 V. 168 ist nachgetragen. Egli: ‚Erbse‘, ‚Wicke‘; Keller (zu V. 167): ‚Kichererbse‘ [sic!], zu V. 168: ‚Wicke‘. 107 V. 170 ist nachgetragen. Keller (zu V. 170): ‚rother Linsenbrei‘. 108 Egli: ‚Linse‘; Keller (wie schon zu V. 170): ‚rother Linsenbrei‘; Jürging: ‚Gericht aus Rotlinsen‘. Ekkehart verwendet hier (sit … rubra coctio lenta) in Anspielung auf lens (Linse) das Adjektiv lenta (zäh, klebrig), welches Keller und Jürging im Sinne von ‚Linsen‘ missverstehen – Keller ergänzt dabei gedanklich das Wort benedicta zum Verb sit, Jürging konkret ‚gesegnet‘, um dem Vers einen Sinn zu geben (vgl. Keller 1847, 120, und Schulz 2011, 609). 109 V. 173 ist später als Korrektur auf einem rasierten Vers geschrieben worden, wird aber anders als der ähnlich behandelte V. 163 von Egli nur im Kommentar, nicht im Haupttext als nachgetragen gekennzeichnet (vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 304, zu V. 173, und LB, S. 192). Keller: ‚Hirsebrei‘. 110 Egli/Keller: ‚Faseole‘; Jürging: ‚Bohne‘. 111 Keller/Jürging (zu V. 177): ‚Apfel‘. Das Reimwort zu poma lautet in V. 177 gemäß Eglis Edition dona, in der Handschrift steht jedoch doma (vgl. LB, S. 192). 112 Egli/Keller/Jürging/A. Schulz: ‚Zitrone‘, unter der Annahme, dass cedria hier für citrea stehe (vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 305, zu V. 179). 113 Egli/Keller: ‚Feige‘; Jürging deutet in diesem Vers (Ficorum grossis benedictio, gratia massis) das Wort grossis (von grossus = Feige) als zu massis gehörendes Adjektiv von grossus, -a, -um (dick, grob) und übersetzt demgemäß mit ‚für die großen Bündel der Feigen‘ (vgl. Schulz 2011, 609). Ein

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Granatäpfel (mala granata, V. 184), verschiedene Apfelsorten (malorum species, V. 185), Birnen (pyra, V. 186), zwei nachgetragene Verse auf Wildbirnen alias Holzbirnen (lapidosa pira, V. 187f.),115 Birnen und Äpfel (malis iuncta pira, V. 189),116 Quitten (tenera lanugine mala gloss. citonie, V. 190),117 Esskastanien (castaneę, V. 191), Pfirsich (persiceus fructus, V. 192), ‚wachsgelbe Pflaumen‘ alias Mirabellen (cerea pruna, V. 193),118 in einem Distichon Kirschen (cęrasia, V. 194f.), Sauerkirschen (amarinę Hiberianę, V. 196), Haselnüsse (avellanę, V. 197), Walnuss im Plural und Singular (nuces, nux, V. 198f.),119 jede Art von Nüssen (genus omne nucum, V. 200) sowie Baumfrüchte aller Art (quę quisque dat arbor, arboris omnis onus, V. 201f.)120. Die Speisesegen enden mit einer Gruppe, die mit ‚Gartengewächsen‘ betitelt werden kann, sowie drei sich anschließenden allgemeingültigen Versen ad omnia: Wurzelgewächse allgemein oder konkret Rettich/Radieschen (radices, V. 203),121 Samen allgemein (semen, V. 204),122 Kohlsamen oder Gemüsesamen allgemein (holeris semen, V. 205),123 Arznei(kraut) (medicina, V. 206),124 (Küchen)kraut (erba, V. 207), Gartengewächs (hortorum fructus, V. 208), Kohl oder Grüngemüse (holus, V. 209),125 Lauch (porri, V. 210), Pilze (fungi, V. 211),126 Kräuter aller Art (erbę omnigenę, V. 212), Melonen (pepones, V. 213), Knoblauch (allia, in Glosse allium, V. 214f. als Distichon),127 Kürbis (cucurbita, V. 216), Lattich oder Gartensalat (lactucę horti, V. 217),128 gehackte Kräuter in Essig bzw. Salat (concisę erbę, acetum, V. 218),129 universell verwendbare Segen (omne edulium, omne munus, V. 219–221).130 || von Ekkehart zwischen benedictio und gratia gesetztes Interpunktionszeichen (vgl. auch LB, S. 192) spricht jedoch dagegen. 114 Wie im Vers zuvor missversteht Jürging das Wort grossis, wenn er dactilicis palmarum … grossis mit ‚den großen Datteln der Palmen‘ übersetzt (vgl. Schulz 2011, 609). 115 Keller: ‚Mostbirne‘. 116 Keller: ‚Mostbirne‘ (ohne Erwähnung des Apfels). 117 Egli ediert citonie, doch Ekkehart schreibt citonię (vgl. LB, S. 193). 118 Egli/Keller: ‚Pflaume‘; Jürging: ‚wächserne Pflaume‘. 119 Egli/Keller: ‚Baumnuß‘ [sc. Walnuss]; Jürging: ‚Walnuß‘ bzw. ‚Nuß‘. 120 V. 202 ist nachgetragen. 121 Egli schreibt zu diesem und den darauf folgenden Versen allgemein: „[...] wird durch Wurzelgewächse und Heilkräuter eingeleitet“ (Liber Benedictionum/Egli 1909, XIII). Keller/Jürging: ‚Wurzelgewächse‘. 122 Nachgetragen. 123 Keller: ‚Samen‘; „Was für Samen Ekkehard unter diesem Namen verstand, ist nicht leicht mit Bestimmtheit anzugeben“ (Keller 1847, 120); Jürging: ‚Kohlsamen‘. 124 Nachgetragen. Keller: ‚medizinisches Kraut‘; Jürging: ‚(gesundheitsförderndes) Kraut‘. 125 Egli/Keller/Jürging: ‚Kohl‘. 126 Nachgetragen. 127 V. 215 ist nachgetragen. 128 Egli/Keller/Jürging: ‚Lattich‘. 129 Egli: ‚Salat‘; Keller: ‚zerschnittene Kräuter an Essig (Salat)‘; Jürging: ‚zerschnittene Kräuter in den Essig‘. 130 V. 220 ist nachgetragen.

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Nach den drei Versen ad omnia stehen die Getränkesegen, betitelt mit Benedictiones potuum. Zuerst wird in einem Vers der Wein genannt (pocula vini, V. 222), dann ohne nähere Bezeichnung noster (gloss. fratrum) potus, pocula nostra, fratrum potus, calicum munus und liquor (V. 223–227),131 bevor wieder Wein umschrieben bzw. explizit angeführt wird (munera vitis, vitibus enatus potus, vitibus enatum temetum, de vera gaudia vite, V. 228–231).132 Es folgen Falernerweine oder gute Weine allgemein (phalerna, V. 232),133 ein nachgetragener Vers auf vinum (V. 233), dann (Trauben)most im Singular und Plural (mustum, musta, V. 234f.), zwei unbestimmt formulierte Verse – wahrscheinlich auf Most134 – (calicis haustus, ‚nesciat hęc Bromius, fugiat carchesia Bachus‘, V. 236f.),135 roter Most (rubeum mustum, V. 238), frisch geschöpfter Most (musta recens hausta, V. 239), zwei Verse je auf Most/neuen Wein und alten Wein (musta et vina vetusta, vina vetustatis et novitatis, V. 240f.) und drei wieder allgemein gehaltene Verse auf berauschende Getränke (vgl. ebrietas, V. 242)136 bzw. Wein (vinum, viva de vite temetum, V. 243f.).137 Die Gruppe der Weingetränke wird mit Misch- und Spezialweinen inklusive verschiedener Metsorten abgeschlossen: (Wein)mischgetränk (Christi mixtura perflua potio pura, V. 245), Würzwein (pigmentatum, V. 246; vgl. V. 151),138 Sadebaumwein (savinatum, V. 247),139 Obstwein

|| 131 V. 226 (calicum munus) ist nachgetragen. 132 V. 229 (vitibus enatus potus) ist nachgetragen. Die V. 223–227 dürften sich auch auf den Wein beziehen (vgl. Keller 1847, 105). 133 Egli: ‚das berühmte Produkt des ager Falernus‘; Keller: ‚Wein‘; Jürging: ‚Falernerweine‘. Zu einem vermuteten Horazbezug des Verses vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 310f., zu V. 232; vgl. auch Weymann 1911, 575f. 134 Vgl. Keller 1847, 105. 135 Gemäß Handschrift charchesia (vgl. LB, S. 194). 136 Nachgetragen. 137 V. 244 ist nachgetragen. 138 Egli/Keller/Jürging: ‚mit Honig und Kräutern/Gewürzen vermischter Wein‘. 139 Egli: ‚Säbenwein‘; Keller: ‚Sefiwein?‘, ‚Salbeiwein (savinatum für salviatum)?‘, ‚mit Blättern des Sadebaums gewürzter Wein?‘; Jürging: ‚Salbeiwein‘. Sörrensen, der die auf dem berühmten St. Galler Klosterplan erwähnten Pflanzen untersucht hat (savina ist dort für den Garten des Kreuzganges belegt), hält Ekkeharts savinatum für eine Verwechslung und schlägt Wacholderwein oder doch eher Salbeiwein vor (vgl. Sörrensen 1962, 197f.). Bestandteile des Sadebaums (Juniperus sabina), auch ‚Stink-‘ oder ‚Giftwacholder‘ genannt, wurden veterinär-, aber auch humanmedizinisch verwendet (vgl. ebd., 197), und in Verbindung mit Wein ist der Sadebaum schon bei Plinius zu finden: „Herba Sabina [...]; ex vino pota regio morbo medetur“, Plinius, Nat. hist. XXIV,61/102 (König/Hopp 1993, 74); vgl. zum Beispiel auch Petrus de Crescentiis, Ruralia commoda V,39,6f. (Richter 1996, 191). Es braucht also keine Verwechslung Ekkeharts angenommen zu werden. Zu anderen Pflanzen auf dem St. Galler Klosterplan, die teilweise mit den in den Benedictiones ad mensas angeführten übereinstimmen, siehe die Listen bei Sörrensen 1962, 207–215 (Gemüsegarten), 223–234 (Heilkräutergarten) und 244–253 (Baumgarten) sowie Berschin 2002, 117f. (Heilkräutergarten) und 138–140 (Gemüse- und Baumgarten).

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(sucus pomorum, sicera,140 V. 248),141 Maulbeerwein (potio facta moris gloss. quod vocant moracetum, V. 249),142 eingekochter Wein (passum gloss. vinum coctum …, V. 250),143 Met (medo, V. 251), Met mit Beigaben (mille sapora bonis pocula medonis, V. 252),144 und Wein- und Wassermet (mulsa,145 mulsum, V. 253f.).146 Die nächste, kleine Gruppe ist dem Bier gewidmet, das in zwei Distichen abgehandelt wird: Gerstenbier (coelia gloss. i. e. ordeacea cervisa, V. 255f.) sowie gut und schlecht gebrautes Bier (optime provisa cerevisa, non bene provisa cervisa, V. 257f.).147 Den Schluss der Benedictiones potuum und auch der Benedictiones ad mensas insgesamt bilden sechs Verse über das Wasser (potus sincerus aquarum, haustus fontis, fons vivus, frigidus calix, undę, V. 259–264).148 An die Verse auf das Grundnahrungsmittel Wasser, die zusammen mit den die Speisen einleitenden Versen auf das Grundnahrungsmittel Brot rahmend wirken –

|| 140 Glossiert mit sicera est, ut Augustinus [Egli: ‚Augustus‘] ait, sucus pomis optimis expressus. Qui melle digestus ut vinum inebriat et diuturnius durat. Es ist nicht ganz klar, auf welche Augustinusstelle sich Ekkehart bezieht, vgl. zum Beispiel Augustinus, De moribus ecclesiae catholicae et de moribus Manichaeorum II,13: „bibat autem mulsum, caroenum passum, et nonnullorum pomorum expressos succos, vini speciem satis imitantes, atque id etiam suavitate vincentes; et bibat non quantum sitit, sed quantum libet“ (Migne PL 32, Sp. 1357), oder Serm. 207: „Videas enim quosdam pro usitato vino, inusitatos liquores exquirere, et aliorum expressione pomorum, quod ex uva sibi denegant, multo suavius compensare“ (Migne PL 38, Sp. 1043); wahrscheinlich wurden Hieronymus und Augustinus verwechselt, vgl. Hieronymus, Epist. 52: „sicera Hebraeo sermone omnis potio nuncupatur, quae inebriare potest, siue illa fermento conficitur siue pomorum suco aut faui decoquuntur in dulcem et barbaram potionem aut palmarum fructus exprimuntur in liquorem coctisque frugibus aqua pinguior colatur. quidquid inebriat et statum mentis euertit, fuge similiter ut uinum.“ (Hilberg 1910, 434). Diesen Brief kannte Ekkehart, denn in Cod. Sang. 159 wurde er von ihm glossiert. Es handelt sich um genau den Brief, zu dem die oben erwähnten Glossen mit den vier Fisch- und drei Vogelnamen stehen. Zu der Hieronymus-Stelle über sicera steht zu aqua pinguior colatur eine interlineare Anmerkung: „hęc est cęlia et ceruisia“, St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 159, S. 201; vgl. hierzu die V. 255–258 der Tischsegen sowie Isidor, Etym. XX,3,16–18 (Lindsay 1962, Bd. 2). 141 Egli/Keller: ‚Apfelwein‘; Jürging: ‚Saft der Äpfel, ein berauschender Trank‘; A. Schulz: ‚Apfelsaft‘. 142 Jürging: ‚Trank aus Maulbeerfrüchten‘. 143 Jürging: ‚gekochter Wein‘; A. Schulz: ‚gekochter (erhitzter?) Wein‘. 144 Vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 312, zu V. 251f.: ‚mit Gewürzkräutern versetzte[r] Met‘. 145 Glossiert mit ypocras. in mulsa bibat i. e. melle et aqua. invenitur et mulsum in com†...†. 146 Egli: ‚Honigwein‘; Keller: ‚Honigwein‘, ‚Getränk aus Honig und Wein oder Honig und Wasser‘; Jürging: ‚Trank (Hippocras)‘, ‚(Misch)trank‘; A. Schulz: ‚Würzwein ‚Hypocras‘‘. 147 Egli (zu V. 257f.): ‚Bier‘, ‚Bier aus Hafer‘; Keller (zu V. 255–258): ‚Bier‘; Jürging (zu V. 257f.): ‚bestens bereitetes Bier‘ bzw. ‚nicht gut beschaffenes Bier‘. Müller deutet coelia auch als Starkbier, im Unterschied zu cer(e)visa als Leicht- bzw. Haferbier (vgl. Müller 1941, 81, und Eisenhut 2009, 393, Anm. 296). Der V. 258 endet auf confusio sit cervisę und ist damit metrisch nicht korrekt; lies statt des handschriftlich bezeugten ceruisę (vgl. LB, S. 195) bzw. von Egli edierten cervisę (Liber Benedictionum/Egli 1909, 314) wie im vorausgehenden Vers cer〈e〉uisę. 148 Mit einer Anspielung auf vinum in V. 262.

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die Junktur ‚Brot und Wasser‘ ist schon biblisch149 –, fügte Ekkehart noch eines seiner Schulgedichte zum Thema ‚Wasser‘ bei, bestehend aus 16 Versen:150 Quellwasser im Vergleich mit Wein (fontana medicina, fons, vinum, vina, V. 265f.), Wasser und (trockenes) Brot (nudo cum pane fons, aqua cum gustamine panis, V. 267f.), reines Wasser (aqua pura, V. 269) sowie Wasser für den Körper (aqua, V. 270) neben sakral gebrauchtem Wasser für die Seele (sacra gloss. aqua, ebd.) als Übergangsvers zum (Weih)wasser in theologisch-heilsgeschichtlichem und liturgischem Zusammenhang (vgl. V. 271–280) – darunter auch in Verbindung zum Wein (vinum, V. 278) und zum Brot (panis, V. 279).151 Dies von Ekkehart mit Dictamen debitum betitelte, frühe poetische Werk ist das einzige seiner Schulgedichte im Liber Benedictionum, welches außerhalb der Benedictiones super lectores steht.152 Das Ganze ist viel und ausführlich, aber letztendlich von Ekkehart in dieser Fülle so gewollt. Es wirkt fast manisch, wenn er jede mögliche Variation einer Speise oder eines Getränkes nennt oder wenn er ganze Verse nachträglich einfügt, um neben dem Singular auch den Plural eines Nahrungsmittels – oder umgekehrt – anzuführen,153 und dann noch häufig, um nichts auszulassen, jede Art (omne genus) einer bestimmten Gruppe oder Untergruppe segnen lässt. Ekkehart kommt von einem zu anderen, folgt dabei auch Assoziationen154 und will häufig noch etwas zu-

|| 149 Vgl. zum Beispiel Ex 23,25 (hier im Zusammenhang mit Segen): „Servietisque Domino Deo vestro ut benedicam panibus tuis et aquis [...]“. 150 Zu diesem Schulgedicht siehe Stotz 1981, 3f. Da Egli das Schulgedicht als Bestandteil der Benedictiones ad mensas ansieht, datiert er das ganze Werk in Ekkeharts Jugendzeit (vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, XIV, und Schulz 1941, 200f. und 218). Manche seiner auf Einzelblättern ausgeführten Schularbeiten hatte Ekkehart im Nachlass seines Lehrers Notker III. wiedergefunden: „Dictamen debitum magistro. Hoc et cetera quę scripsi, ipse [sc. Notker] scribi iussit in cartis suis, in quibus ea post inveniens in hac sceda pro locis ascripsi, ut iuvenes nostros in id ipsum adortarer.“, Benedictiones super lectores, LIX (In evangelium de eucharistia), Marginalglosse zu V. 49 (Liber Benedictionum/Egli 1909, 279); vgl. Dümmler 1869, 3; Manitius 1923, 562f.; Schulz 1941, 231f.; Stotz 1981, 3; Stotz 2008, 36, und Eisenhut 2009, 87f. 151 V. 276 ist nachgetragen. 152 Vgl. Stotz 1981, 2, Anm. 5. A. Schulz erkennt die Verse nicht als angehängtes Schulgedicht (vgl. Schulz 2011, 591), da sie den lateinischen Text fehlerhaft abdruckt („Dietamen debitum“, ebd., 616) und ihr Übersetzer damit nichts anfangen konnte („… geschuldet“, ebd., 617). 153 Vgl. zum Beispiel die eingeschobenen V. 8 und 24 mit dem jeweils folgenden V. 9 und 25: „Hanc panis tortam faciat benedictio fortem“, V. 8 (Liber Benedictionum/Egli 1909, 284) – „Erige, Christe, manum, tortis benedicere panum“, V. 9 (ebd., 281), bzw. „Tam noviter cocti cruce panes sint benedicti“, V. 24 (ebd., 284) – „Iste recens coctus cruce panis sit benedictus“, V. 25 (ebd., 284). 154 Zum Beispiel steht der Vers auf den zu den Fischen gezählten und deshalb als Fastenspeise erlaubten Biber (V. 70) direkt vor dem Vers auf omne natans licitum (V. 71). Egli kennzeichnet den Bibervers zwar nicht als nachträglich eingefügt (vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 288), doch dürfte Ekkehart zunächst V. 69 (auf Tausende gefangener Fischlein allgemein) und V. 71 im üblichen Abstand der Verse zueinander niedergeschrieben haben, um dann zeitnah den Vers auf den Biber in gleicher Tinte zwischen den Zeilen einzufügen. Hier hatte der Dichter wohl bei omne natans licitum konkret an das Wassersäugetier denken müssen und diesem einen Vers gewidmet.

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sätzlich anbieten. So entstanden immer mehr Verse, zum Teil auch Verse, die sich bis auf einzelne Wörter gleichen.155 In der überlieferten Form tragen die Dichtungen [sc. Benedictiones super lectores, Benedictiones ad mensas, Versus ad picturas domus Domini Mogontinę] das Merkmal einer angestrebten Totalität, die Gattungsgrenzen (Benedictiones, Tituli) sprengen musste, und dadurch im Überfluss der eingearbeiteten Themen und Verweise den roten Faden vermissen lässt.156

Für die Segensverse super lectores und für die Mainzer Tituli fordert Ekkehart explizit zur Auswahl auf: Eligat inter eos sciolus lectoribus aptos (Benedictiones super lectores, Prologus II, V. 82–89).157 Ut eligantur qui benedictionibus conveniant (Benedictiones super lectores I (De adventu Domini), Marginalglosse).158 Eligantur, qui picturis conveniant (Versus ad picturas domus Domini Mogontinę, Titel).159

Für die Tischsegen würden sich derartige Aufforderungen auch anbieten, aber es findet sich diesbezüglich nichts bei Ekkehart. Dass er aber an eine Auswahl dachte, zeigen etliche Verse, für die er – entweder auf der Haupttextebene mittels Einfügung zusätzlicher Verse oder deutlicher auf der Glossenebene – Varianten wie Plural statt Singular (zum Beispiel hos caseos bzw. hunc caseum, V. 138) oder Weiblein statt Männlein (zum Beispiel cervę bzw. cervi, V. 121) eingebaut hat.160 In Eglis Edition sind solche Varianten nicht leicht zu erkennen. Der Editor setzt das, was er für Varianten hält (hier Käse im Plural), in seinen sehr umfangreichen, vor allem kulturhistorisch ausgelasteten Kommentarapparat, anderes betrachtet er als Korrektur Ekkeharts und entscheidet sich hinsichtlich der Edition des Haupttextes für das zuletzt Eingetragene (hier Hirschkuh), während er die ältere Version (Hirsch) in den

|| 155 Die vielen identischen und annähernd identischen Versteile sind auch mit ein Grund für Dümmlers negatives Urteil über den Stil der Benedictiones ad mensas: „diese sehr geschmacklosen verse, die an wiederholungen besonders reich sind, [...]“ (Dümmler 1869, 16). 156 Eisenhut 2009, 91; vgl. ebd., 92. 157 Liber Benedictionum/Egli 1909, 9. 158 Ebd., 12. 159 Ebd., 316; vgl. Schulz 1941, 206. Vgl. auch die Glosse Scribe vtrumvis in einem Textzeugen von Ekkeharts ebenfalls in den Liber Benedictionum aufgenommenen Versus ad picturas claustri sancti Galli (ICL, Nr. 4139; Liber Benedictionum/Egli 1909, 369–381). Diese Glosse findet sich nicht bei Egli, sondern steht im Apparat zur Edition in den MGH Poetae (Strecker 1937–1939, 541–546, hier 541, zu V. 2); vgl. ferner Schulz 1941, 203f., und Osterwalder 1982, 76. 160 Auch direkt innerhalb eines Verses können Varianten eingebaut sein: „[...] bona sis elixa vel assa“, V. 132 (Liber Benedictionum/Egli 1909, 297) oder „Coctos seu crudos porros [...]“, V. 210 (ebd., 309).

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Apparat aufnimmt und auf diese Weise ‚versteckt‘.161 Keller, der Herausgeber der Editio princeps der Tischsegen von 1847, ließ die Glossen unabhängig von einer eventuell abweichenden Position in der Handschrift interlinear und in dieser Hinsicht leserfreundlicher über dem Bezugswort oder -wörtern abdrucken. Bei Keller erkennt man zum Beispiel sofort, dass Ekkehart neben warmen Broten sowohl kalte Brote als auch kaltes Brot zum Inhalt seiner Verse 26f. macht162 – allerdings ist bei Keller der Entstehungsprozess der einzelnen Textschichten nicht nachzuvollziehen. Zuerst war ein Vers auf kaltes Brot da (frigidus panis), der dann von Ekkehart korrigiert wurde (gelidus panis), als er interlinear darüber einen neuen Vers nachtrug, mit dem kalte oder als Variante warme Brote jeweils im Plural gesegnet werden können (gelidi vel calidi panes). Dies wiederum ist mit etwas Mühe bei Egli abzulesen, der dann aber zu einem Ergebnis ohne Auswahl kommt:163 Hi calidi [gloss. uel gelidi] panes sint fraudis et hostis inanes. / Hic gelidus panis sit pestis et hostis inanis. (V. 26f.).164 *Hi calidi panes sint fraudis et hostis inanes. / Hic gelidus panis sit pestis et hostis inanis. (V. 26f.).165 26. Der ganze Vers steht auf Rasur und ist später eingeschoben. Die Textglosse calidi steht hier ausnahmsweise in der Zeile; die frühere Lesart heisst: gelidi. – 27. Die Worte hic gelidus und pestis stehen auf Rasur. Der Anfang des Verses hiess ursprünglich: Frigidus hic; das erste Wort ist noch deutlich sichtbar (Kommentar zu V. 26f.).166

Eglis Edition ist jedoch zusammen mit dem online frei verfügbaren Digitalisat der Handschrift167 ein guter Zugang zu Ekkeharts Benedictiones ad mensas. Egli selbst begründet sein Vorgehen im Umgang mit den Glossen wie folgt: Die Textglossen sind [...] mit einem durchgestrichenen l versehen. Sie sind so zu verstehen, dass sie die endgiltige Bereinigung des Textes, die manus posterior, darstellen; aus diesem

|| 161 „Über hunc caseum steht die Variante hos caseos (blasse Tinte)“ (ebd., 298, zu V. 138; vgl. auch Schulz 1941, 219); „Cervę ist Korrektur; ursprüngliche Lesart: cervi. Tinte verblasst. – Der Edelhirsch (Cervus elaphus) war schon zu Pfahlbauzeiten in unserem Lande ein häufiges Wild [...]“ (Liber Benedictionum/Egli 1909, 294, zu V. 121). 162 Vgl. Keller 1847, 107. 163 Vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 284. 164 Keller 1847, 107. Keller ist hier ein kleiner Fehler unterlaufen, denn er ediert calidi panes und setzt darüber die Glosse uel gelidi, während gemäß der Handschrift gelidi uel calidi zu setzen gewesen wäre (vgl. LB, S. 186). 165 Liber Benedictionum/Egli 1909, 284. 166 Ebd. 167 CESG (e-codices), Cod. Sang. 393.

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Grunde sind sie in den Text gesetzt und die ursprünglichen Lesarten im Kommentar aufgeführt worden.168

Gerade die Glossen mit dem durchgestrichenen l, also der Kürzung ł für vel, sind jedoch als Varianten zu verstehen.169 Etwas problematisch ist, dass nicht bei jeder Variante das vel-Zeichen auftaucht.170 Wenn die Glosse einen Teil des Verses metrisch und inhaltlich korrekt ersetzen kann, ist jedoch von einer Variante auszugehen, zumal Ekkehart, wenn er sich korrigieren wollte, fleißig Pergament abschabte und neu darüber schrieb.171 Vielleicht ist das Fehlen eines vel-Zeichens davon abhängig, wann der Dichter an der betreffenden Stelle gearbeitet hat. Schließlich zog sich der Überarbeitungsprozess über Jahrzehnte hin, und damit sind Änderungen im Glossierungssystem durchaus möglich. Schon Keller hatte für seine Edition von „theils Abänderungen des Ausdrucks, theils nähere[n] Bestimmungen und Erklärungen“172 als Funktion der Glossen gesprochen, wobei ersteres bei ihm eben nicht als Abänderung im Sinne einer Korrektur gilt, sondern zum Zweck, Auswahlmöglichkeiten für eine genauere Spezifizierung wie Singular oder Plural zu schaffen.173 Bei Egli verschwinden auch Varianten aus dem Haupttext, die bei der Suche nach Ekkeharts Quellen helfen können. So vermutet Egli, dass der Dichter die phalerna aus Horaz kannte, doch wenn der entsprechende Vers im Zusammenhang seiner Entstehungsgeschichte und mit den Varianten gelesen wird, erkennt man, dass wohl eher Martial direkt oder indirekt die Vorlage lieferte: Roboret interna deus hęc virtute phalerna. / *Munere divino sit huic benedictio vino. / Crux det in hoc mustum placida dulcedine gustum, / Quam sapiant gusta signata dei cruce musta. (V. 232–235).174 232. Roboret ist zweite Korrektur; die erste Lesart hiess Misceat, dann schrieb der Dichter repleat, und endlich roboret [...] Das berühmte Produkt des ager Falernus kannte Ekkehart aus Horaz [...]

|| 168 Liber Benedictionum/Egli 1909, IV. 169 „Ekkehart vermerkt dadurch ausdrücklich Varianten zu einem bestimmten Vers oder allenfalls zu einzelnen Versteilen“ (Osterwalder 1985, 78, hier Glossentyp Nr. 7); vgl. Osterwalder 1982, 76 (hier Glossentyp Nr. 6), und Eisenhut 2009, 257 und 260f. (hier Glossentyp IC). Ekkehart glossiert im Fall der oben erwähnten Varianten Hirsch/Hirschkuh das Wort cerui über der Zeile mit ł uę, wobei die Endung -uę passend direkt über der Endung -ui steht (vgl. LB, S. 190). 170 hunc caseum ist zum Beispiel über der Zeile an den entsprechenden Stellen ohne ł mit hos und der Endung -os glossiert (vgl. LB, S. 190). Vgl. auch Schulz 1941, 204 (hier auf einen anderen Text im Liber Benedictionum bezogen). 171 Vgl. ebd. 172 Keller 1847, 103. 173 Vgl. ebd. Vgl. auch – hier in Bezug zu anderen Ekkehartdichtungen – Schulz 1941, 204 und 215. 174 Liber Benedictionum/Egli 1909, 310f.

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– 235. signata dei crucis ist Korrektur (leicht radiert); ursprüngliche Lesart: condita pneumate. (Kommentar zu V. 232 und 235).175 Quid te, Tucca, iuvat vetulo miscere Falerno / in Vaticanis condita musta cadis?, (Martial, Epigr. I,18).176

Ekkeharts erste Version der Verse im Liber Benedictionum enthielt also die Junkturen misceat phalerna und condita musta, und der dazwischen nachgetragene Vers über Wein allgemein fehlte zunächst. Vor diesem Hintergrund ist der Bezug zu Martial leichter zu erkennen. Mit Eglis editorischem Vorgehen erklärt sich auch seine Nennung eines Vogels in der Fischgruppe (volans, V. 55). Er nimmt anders als Keller das Wort als vermeintliche Korrektur in den Haupttext und verweist im Apparat auf die vermeintlich ursprüngliche Lesart, mit der ein Fisch bezeichnet wird (natans), während Ekkehart hier beides anführen möchte.177 Es gibt in der Vogelgruppe sogar ein Pendant dazu: In V. 94 bietet Ekkehart neben Vogel (volatile) via Glosse mit vel-Zeichen auch Fisch an (natatile).178 Er durchbricht also die Gruppierungen nach Tierklassen, wenn er Auswahl anbietet,179 und dies erfolgt auch in der Schlachtviehgruppe, in der er unter anderem wiederum Fisch als Variante auftischt. Die besagte Stelle (V. 112) ist gleich doppelt glossiert, hier kann demnach zwischen drei Gerichten gewählt werden: ein Stück vom Eber (verris massa) oder Fleisch (carnis massa) oder Fisch (piscis massa).180 Egli gibt diese Glossen als ‚Variationen‘, nicht als Korrekturen in seinem leider viel zu wenig genutzten Glossenapparat oberhalb des umfangreichen Kommentarapparats wieder – mit der Begründung, es müsse doch im Sinne des Dichters sein, den Eber einmal zu erwähnen.181 Auch die Glosse piscis des folgenden V. 113 zu dem dort erneut genannten Eber (pars verris) ist – wenngleich nach Eglis Ansicht als Korrektur verwendet – in den Glossenapparat gesetzt.182 Tatsächlich handelt es sich || 175 Ebd. Vor den Glossen, die Egli als Korrekturen auffasst, steht jeweils das vel-Zeichen (vgl. LB, S. 194). 176 Shackleton Bailey 1990, 19; Hervorhebungen durch den Verfasser. 177 Das Wort natantem ist glossiert mit ł uolantem (vgl. LB, S. 187). 178 Egli deutet die Glosse ł natatile zu uolatile zwar als Korrektur, aber als später ausrasierte: „Die Korrektur natatile ist leicht radiert und scheint vom Dichter, weil an dieser Stelle unpassend, wieder aufgegeben zu sein“ (Liber Benedictionum/Egli 1909, 292, zu V. 94). Die Glosse selbst ist jedoch nicht rasiert, sie steht nur auf einer Rasur und ist verblasst (vgl. LB, S. 188). 179 Auch die Gruppierungen weisen darauf hin, dass die Glossen Varianten, nicht Korrekturen sind, denn es ist eher anzunehmen, dass der Dichter zum Beispiel Fisch als zusätzliche Auswahl in die Vogelgruppe aufnimmt als dass er dort aus einem Vogel einen Fisch macht. 180 Gemäß der Handschrift präsentiert sich diese Auswahl so: Über dem Versbeginn Hanc uerris massam steht leicht nach links versetzt über uerris die Glosse carnis, direkt gefolgt von der Glosse piscis in gleicher Tinte, dazwischen ist ein Punkt auf mittlerer Höhe gesetzt (vgl. LB, S. 189); vgl. auch Schulz 1941, 219. 181 Vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 293, zu V. 112. 182 Vgl. ebd., zu V. 113.

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jedoch wieder um ein Auswahlangebot.183 Diese ganze Vielfalt Ekkeharts – fast Pedanterie – geht also in der Edition verloren. Letztlich müssten Speise bzw. Getränk und das Angebot in der zugehörigen Glosse gleichberechtigt wiedergegeben werden.184 Das bedeutet auch, dass die Aufzählung der Speisen und Getränke in den edierten 280 Versen185 unvollständig im Sinne Ekkeharts ist. Er hat es einem Leser oder gar einem Editor wie Egli mit den überaus zahlreichen Änderungen und Variantenvorschlägen und den vielen bis hin zu Löchern im Pergament führenden Rasuren aber auch nicht gerade leichtgemacht.186 Ein Überblick über die möglichen Varianten mag Ekkeharts Variantenreichtum veranschaulichen (berücksichtigt sind hier allein die Speisen und Getränke direkt betreffenden Einträge): Appositi panes – Appositus panis (V. 4; Egli: ‚Variation‘, von ihm nicht in den Haupttext gesetzt) Hoc munus panum – Hunc ęsum panum (V. 5; ‚Korrektur‘) Hi gelidi panes – Hi calidi panes (V. 26; [‚Korrektur‘]) Illanch … alemannicus – Illanch … suetus datus (V. 46; ‚neuere Lesart‘) sanam virtute potente rubulgram – gravidam fungi dulcedine triscam (V. 48; ‚Korrektur‘) troctam … benedictam – troctas … benedictas (V. 50; ‚Variation‘, bei Egli nicht im Haupttext) natantem – volantem (V. 55; ‚Korrektur‘) Pars tanti piscis – Pars prensi piscis (V. 57; ‚Korrektur‘) Millia coctorum … pisciculorum – Millia captorum … pisciculorum (V. 69; ‚Korrektur‘) avem … suavem – aves … suaves (V. 74; ‚Variante‘, bei Egli nicht im Haupttext) hęc, deus, auca – anser et auca (V. 79; ‚Korrektur‘) volucrina comestio – volucrina licentia (V. 89; ‚Korrektur‘) volatile – natatile (V. 94; ‚aufgegebene Korrektur‘, bei Egli nicht im Haupttext) crustamina carnis – assamina carnis (V. 103; ‚Korrektur‘) cocto … armo – frixo … armo (V. 104; ‚Korrektur‘) Coctus … porcus – Assus … porcus (V. 105; ‚Korrektur‘) || 183 Insgesamt werden für etwas mehr als ein Viertel der Verse Varianten angeboten (vgl. Schulz 1941, 219). 184 Vgl. ebd. E. Schulz schreibt bezüglich der Varianten im Zusammenhang mit einer anderen Dichtung Ekkeharts: „jetzt besteht keine Aussicht, die einzelnen Stellen in seinem Sinne zu beurteilen, und wohl auch keine Veranlassung, die von ihm unterlassene Entscheidung nachzuholen. Denn gerade Ekkeharts Variantenwesen [...] ist ein charakteristisches Symptom der ganzen Unsicherheit und Hilflosigkeit seiner epigonalen Kunst“ (ebd., 204; vgl. auch ebd., 215). Vgl. auch orosius.monumenta (>Einführung>Projekt): „Die Glossen im Liber Benedictionum (Cod. Sang. 393) wurden durch den Editor Johannes Egli in den Fußnotenapparat verbannt und sind dadurch auf unnatürliche Weise vom Grundtext getrennt und für die Fragestellung nach ihrer Funktion kaum brauchbar.“ 185 Gemäß Edition sind es 220 ‚ursprüngliche‘ Verse (gemeint ist nicht die unbekannte Zahl in der Fassung für Ymmo, sondern die Zahl zum Zeitpunkt der ersten Niederschrift in Cod. Sang. 393), von denen sieben durch Rasur/Korrektur vollkommen neu geformt wurden und zu denen 44 nachgetragene Verse sowie die 16 Verse des angehängten Schulgedichtes auf das Wasser hinzukommen (vgl. Schulz 1941, 219 und 228; Auflistung der Verse ebd., 219, Anm. 1f.). 186 Vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, IIIf.; Strecker 1912, 233 und 236f.; Schulz 1941, 200, und Jacobsen 1977, 50.

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verris massam – carnis massam – piscis massam (V. 112; ‚Variationen‘, bei Egli nicht im Haupttext) Pars verris – Pars piscis (V. 113; ‚Korrektur‘, bei Egli trotzdem nicht im Haupttext) benedicat sit ista ferina – sapiat bene quęque ferina (V. 116f.; ‚Variation‘, bei Egli eigener Vers) Cervi – Cervę (V. 121; ‚Korrektur‘) capreoli – capreolus (V. 130; ‚Variation‘, bei Egli nicht im Haupttext) Hunc caseum – Hos caseos (V. 138; ‚Variante‘, bei Egli nicht im Haupttext) quoscumque liquores – calidosque liquores (V. 150; ‚Korrektur‘) mixtam mordentis aceti – tristis / sevi condimen aceti – gustum mordentis aceti (V. 154; ‚Korrekturen‘) Hac cruce pigmentis – Pinsis pigmentis – tunsis pigmentis (V. 158; ‚Korrektur‘ bzw. ‚Glosse‘) Grate commentis … placentis – Optime commentis … placentis (V. 159; ‚Korrektur‘) nativum … ovum – nativa … ova (V. 161; ‚Variation‘, bei Egli nicht im Haupttext) Hanc speciem ciceris – Hunc ęsum ciceris – Omne genus ciceris (V. 166; ‚Korrekturen‘) Caules – Erbas (V. 212; ‚Korrektur‘)187 vitis haustum – calicis haustum (V. 236; ‚Korrektur‘) niveo … musto – rubeo … musto (V. 238; ‚Korrektur‘)

Das Verständnis der Verse erschweren zudem die ‚Fessel des Versmaßes‘ – wie sich Ekkehart an anderer Stelle einmal ausdrückt188 – und das Bestreben, seine Gelehrsamkeit zu zeigen. Ekkehart dichtet innovativ, indem er versucht, möglichst konsequent den zweisilbig gereimten leoninischen Hexameter zu verwenden, der einsilbig gereimt schon in der Karolingerzeit in Gebrauch war,189 aber in der Form mit reinem zweisilbigen Reim dann erst in den Jahrzehnten nach Ekkeharts Tod für längere Texte in Mode zu kommen begann.190 Noch zu Lebzeiten des St. Galler Dichters war die neue Reimform zwar schon anderswo anzutreffen, jedoch kurzen metrischen Stücken vorbehalten: Eigentliches Gebiet des reinen [zweisilbigen] Leoninus ist im zweiten Drittel des 11. Jahrhunderts das Epigramm in jeder Form.191

Ekkehart hatte schon vor jenem zweiten Drittel des 11. Jahrhunderts den Großteil seiner poetischen Werke fabriziert (zumindest in deren ursprünglichen Fassungen), und die frühesten Dichtungen mit zweisilbig gereimten Leoninern in größerem Umfang stammen von ihm, auch wenn sich darunter noch einsilbige Reime oder

|| 187 Caules ist bei Ekkehart feminin statt maskulin gebraucht (Caules omnigenas … sanas). 188 Vgl. Benedictiones super lectores, Prologus II, V. 69 (Liber Benedictionum/Egli 1909, 8). 189 Vgl. Strecker 1922, passim; von den Steinen 1967, 188, und Klopsch 1972, 42f. St. Gallen gehörte im ausgehenden 9. Jahrhundert zu den Zentren, in denen der Reim ein beliebtes Stilmittel war (vgl. Strecker 1922, 243–247, und Klopsch 1972, 43). 190 Vgl. Meyer 1905, 190–193; von den Steinen 1967, 188–191; Haefele 1980, 462, und Brunhölzl 1992, 442. 191 von den Steinen 1967, 189.

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unreine zweisilbige Reime befinden.192 Er ist ein ‚Pionier‘ auf diesem Gebiet,193 und er äußert sich selbst über seine Reimtechnik: Er nennt sie consonantia duplarum plerumque syllabarum.194 Deren Anwendung bringe Einschränkungen mit sich – Ekkehart vergleicht dies mit dem zu engen Raum für die Entfaltung eines prachtvollen Triumphzuges und mit der zu kurzen Rennbahn für den Aufbau der vollen Leistung eines Athleten.195 Mögliche Kritiker sollen mit dem nesciolus Ekkehart nachsichtig sein, falls er male gedichtet habe, denn selbst der Redegewandteste könne unter der durch Reim und Versmaß bedingten Fußfessel (compes) nicht immer gehaltvolle Verse fabrizieren.196 Kritiker haben sich in der Tat gefunden, allerdings übten sie wenig Nachsicht: „hölzern und oft durch künstelei dunkel“;197 „Seine Dichtungen gelten als ungenießbar“;198 „kein Dichter von Gottes Gnaden“;199 „Aufopferung der Klarheit und fürchterliche[r] Mißhandlung des Lateins“;200 „Ekkehart IV. war ein schwer gelehrter Mann, – aber ein Dichter? Daraufhin lese man einige der Dichtungen. Wenn man diesen Wahn noch gehegt hat, so wird man bald davon geheilt sein.“201

Über Geschmack lässt sich streiten, aber die Werke gehören in der Tat nicht der höchsten Dichtkunst an und die Formulierung ‚dunkel‘ ist jedenfalls korrekt, denn

|| 192 Vgl. Werner 1931, 200–202, und von den Steinen 1967, 189; vgl. auch Brunhölzl 1992, 442. Wenn Ekkehart einsilbigen Reim setzt, gleicht er oft die davor stehenden Konsonanten an und bereitet so den zweisilbigen Reim vor (vgl. Werner 1931, 201f.). 193 Vgl. Haefele 1980, 462: „Pionierleistung auf verstechnischem Gebiet“. 194 „Tu proprium pensum solvens [gloss. ó mi Johannes sortem tuam], rogo, perspice sensum [gloss. versuum meorum] / Ferque pedem [gloss. opem] dictis tam presso tramite strictis [gloss. propter consonantiam duplarum plerumque syllabarum, ut monuisti, minus potenter, inquiens, concinnari per unam].“, Benedictiones super lectores, Prologus II, V. 93f. (Liber Benedictionum/Egli 1909, 9). Dem hier angesprochenen Johannes, einem Diakon und späteren Abt von St. Maximin bei Trier und Limburg an der Hardt († 1036), sind die Benedictiones super lectores gewidmet (vgl. ebd., 3), nicht der ganze Liber Benedictionum, wie es zum Beispiel Egli oder Manitius formulieren (vgl. ebd., If.; Manitius 1923, 562; Schulz 1941, 201, 218, 228 und 234, sowie Eisenhut 2009, 93). 195 „Qua spacium campis, ibi pervia copia pompis [gloss. in triumpho id est in campo spacioso facilis est transitio pomparum id est triumphi sumptuum], / Impedit athlętas stadium breve prendere mętas [gloss. in curriculis nimia brevitas vię obstat tendentibus per artificium ad bravium].“, Benedictiones super lectores, Prologus II, V. 74f. (Liber Benedictionum/Egli 1909, 8). 196 „Ille ego nesciolus, cui vix insulsior [gloss. insipientior] ullus / Versu [gloss. Ennii] defendar male si cecinisse reprendar [gloss. accusor]. / Compes stet numerus [gloss. concinnum si sit metrum], sale [gloss. sapore facundię ipse etiam facundissimus caret] forte caret et Homerus.“, Benedictiones super lectores, Prologus II, V. 67–69 (ebd.). 197 Dümmler 1869, 11. 198 Jacobsen 1977, 49. 199 Schmuki 2000, 124; vgl. Schulz 1941, 199. 200 von den Steinen 1967, 189. 201 Strecker 1912, 233; vgl. auch Liber Benedictionum/Egli 1909, XI; Manitius 1923, 564f.; Haefele 1980, 461f., und Brunhölzl 1992, 442.

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der Inhalt erschließt sich oft nicht ohne weiteres, nämlich nicht ohne die zum Textverständnis hinzugefügten Glossen.202 Immerhin lässt sich konstatieren, dass Ekkehart „als bedeutendster Dichter St. Gallens im 11. Jahrhundert“203 gilt und durch seine Aussagen über die Poetik „einer der frühesten Theoretiker der Dichtkunst im Mittelalter“ ist.204 Ekkeharts oben angeführte, eigene Aussagen zur Dichtkunst finden sich zwar in einem metrischen Prolog zu den Benedictiones super lectores (Prologus II), können aber auch auf die Tischsegen angewandt werden. Für jene Lektorensegen spricht er von einem Übermaß an einzubauenden Informationen zu den jeweiligen Kirchenfesten, welche nicht monostichisch – schon gar nicht mit schmuckvollen Worten – in sechs Hexameterfüße passen, und auch deshalb habe er mehr Verse verfasst als ursprünglich beabsichtigt.205 Letzteres trifft sicherlich auch für die Benedictiones ad mensas zu, deren Urfassung, die an seinen Bruder Ymmo ging, wohl deutlich weniger Verse enthielt als die erste Fassung im Liber Benedictionum.206 Anders als für die Benedictiones super lectores genügte Ekkehart bei den Tischsegen allerdings oft ein Vers, um das Gewünschte auszudrücken: ein Segensspruch pro Speise bzw. Getränk. Aber auch hier fand er nicht immer Raum genug in sechs Hexameterfüßen, um all das zu sagen, was er mitteilen wollte, denn er präsentiert in den Benedictio-

|| 202 Vgl. Keller 1847, 99; Schulz 1941, 203; Osterwalder 1982, 74f. (hier Glossentypen Nr. 1f.); Osterwalder 1985, 79 (hier Glossentyp Nr. 9), und Eisenhut 2009, 256. Die Notwendigkeit der Glossen für das Textverständnis zeigt sich – wenngleich dies für die Benedictiones ad mensas in weit geringerem Umfang als für die anderen Dichtungen gilt (vgl. Schulz 1941, 219) – auch an der Übersetzung Jürgings, die nicht immer Ekkeharts Intention entspricht, da A. Schulz dem lateinischen Text nur einige wenige Glossen beistellte, vgl. zum Beispiel: „Corpus aqua durat [gloss. id est perdurat] [...]“, V. 270 (Liber Benedictionum/Egli 1909, 315; aqua steht hier im Ablativ) – „Den Körper härtet das Wasser ab [...]“ (Schulz 2011, 617). Jene Notwendigkeit spricht auch gegen eine Deutung der Tischsegen als Memorierhilfe (vgl. ebd., 592, Anm. 28), da die Glossen zusammen mit den Versen hätten memoriert werden müssen. 203 Schmuki 2000, 124. 204 Vgl. Brunhölzl 1992, 441–443 (Zitat ebd., 443). 205 „Singulus [gloss. simplex] est sensus, quem quisque dat unice versus [gloss. per se, in hoc opusculo], / Pax [gloss. tantummodo] recitans festum nec habens de nectare [gloss. melle facundię saporem] gustum / Quod [gloss. eo] neget [gloss. non possit] ornari [gloss. materia], cui vix locus est recitari [gloss. in sex pedum verbis persolvi]. / [...] Prodigia [gloss. copiosa] materies festorum summa superstes [gloss. reliquię super benedictiones], / Quîs [gloss. quibus ipse habundat] deus et sua crux reliquis [gloss. sanctimoniis] fortissima prędux [gloss. habundat]. / Virgo suisque [gloss. virginibus] pia mater comitata Maria [gloss. habundat], / Iudicium qui dant [gloss. et apostoli] martyr confessor [gloss. et martyres et confessores] habundant / Exametros plures [gloss. plures versus sed et dictamina magistro olim data], quam pręcipiendo rogares / Me dare [gloss. ascribere] suadebant ardoreque [gloss. amore talium] perficiebant.“, Benedictiones super lectores, Prologus II, V. 71–73 und 76–81 (Liber Benedictionum/Egli 1909, 8f.); vgl. auch Schulz 1941, 233; Jacobsen 1977, 52, und Eisenhut 2009, 92. Die hier zitierte Passage bietet ein schönes Beispiel für die Notwendigkeit von Glossen, welche die Verse verständlich machen und aufzeigen, was genau Ekkehart meint. 206 Vgl. Schulz 1941, 227f.

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nes ad mensas sein Gelehrtenwissen. Hierfür nutzte er Glossen, wenn in einem Vers kein Platz mehr dafür zur Verfügung stand, oder er durchbrach den monostichischen Aufbau. So besteht der Segen auf die Kirschen aus zwei Versen, weil er die Information einbringen wollte, dass Lukullus diese in Italien eingeführt habe: Christe, tua dextra benedic cęrasia nostra. / Hiberię tellus dedit hęc Italisque Lucullus. (V. 195f.).207

Dass hier tatsächlich ein Distichon gemeint ist, belegt Ekkeharts ‚Layout‘ seiner Verse: Er gliedert sie durch Überschriften am Rand wie Super fragmenta, Benedictiones potuum oder überwiegend Item, in der Mehrzahl der Fälle mit einem deutlich vergrößerten und rubrizierten Initialbuchstaben am Anfang der Gruppe.208 Auf der untersten Haupttextebene beginnt er etwas Neues – statt mit den alle sonstigen Verse einleitenden Versalien in Majuskeln in normaler Tinte – mit rubrizierten Majuskelbuchstaben als Versalien.209 Die meisten Verse der Tischsegen beginnen – da monostichisch – mit einer solchen roten Versalie. Sogar später nachgetragene Verse oder Varianten zu Versanfängen erhielten die rubrizierte Majuskel.210 Nicht jedoch der zweite Vers zu den Kirschen, hier korrigierte er sogar eine rubrizierte Versalie zu

|| 207 Liber Benedictionum/Egli 1909, 307f. E. Schulz hält bis auf das angehängte Schulgedicht und ein Distichon 255f. alle Verse der Tischsegen fälschlich für monostichisch (vgl. Schulz 1941, 219); ihm folgt Haefele (vgl. Haefele 1980, 459). 208 Item (zu V. 10, ohne Initiale in V. 10; LB, S. 185 / Liber Benedictionum/Egli 1909, 282), Super fragmenta (zu V. 29, ohne Initiale in V. 29; ebd., 186/284), Ad diversa victualia (zu V. 31; ebd., 186/284), Item (zu V. 73; ebd., 187/289), Item (zu V. 95; ebd., 188/292), Item (zu V. 116; ebd., 189/293), Item (zu V. 136; ebd., 190/298), Item (zu V. 176; ebd., 192/305), Item (zu V. 203; ebd., 193/308), Ad omnia (zu V. 219, ohne Initiale in V. 219; ebd., 194/310), Benedictiones potuum (zu V. 222; ebd., 194/310), Item (zu V. 259, ohne Initiale in V. 259; ebd., 196/315), Dictamen debitum (zu V. 265, ohne Initiale in V. 265; ebd., 196/315). Zu V. 162–165 (V. 162–164 sind nachträglich eingefügt) würde eine solche Unterteilung ebenfalls gut passen und vielleicht ist diese durch eine dort vorgenommene Rasur verlorengegangen (ebd., 191/302f.) – allerdings wird der Beginn der Gruppe der Fische ab V. 39 auch nicht eigens hervorgehoben. Egli gibt die Überschriften wie die Handschrift am Rand des Haupttextes wieder und kennzeichnet Ekkeharts Einteilungen durch Einrücken der Verse (vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, IV). 209 Vgl. ebd. (Egli nennt hier die normalen Versalien ‚grosse Anfangsbuchstaben‘, die roten, neue Abschnitte kennzeichnenden Versalien ‚rote Initialen‘). E. Schulz erkennt die Gliederungsfunktion der roten und schwarzen Versalien, bezieht sie jedoch nur auf die Texte, die in Distichen oder in Strophen verfasst sind (vgl. Schulz 1941, 206f. und 216). 210 Zum Beispiel in den interlinear eingefügten Versen 202, 206 und 211 (LB, S. 193 / Liber Benedictionum/Egli 1909, 308f.) oder für die Variante Erbas zu Caules (V. 212; ebd., 193/309). Ekkehart ist allerdings – vielleicht abhängig vom Zeitpunkt der Eintragung – nicht ganz konsequent, so zum Beispiel im nachgetragenen V. 204 ohne rote Versalie (ebd., 193/308) oder bei den mit einem velZeichen versehenen, nicht rubrizierten Varianten Repleat und Roboret für Misceat am Versanfang von V. 232 (ebd., 194/310).

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einem Versanfangsbuchstaben in normaler braun-schwarzer Tinte.211 An dieser und an anderen Stellen erkennt man, dass der Dichter um Ordnung in seinem Werk bemüht ist. Ein weiteres Beispiel für eingebrachtes Wissen – über die positive Wirkung von Knoblauch auf den Magen, aber negative auf die Nieren – sind die Verse 214f., von denen der letztere später eingefügt worden ist und eine Versalie in normaler Tinte aufweist:212 Virtutem stomachis solitam dent allia lassis / *Sed non millenas renibus operentur arenas (V. 214f.).213 214. solitam dent al- auf Rasur. [...] 215. Der Vers ist später eingeschoben. Tinte verblasst; die zwei ersten Worte stehen auf Rasur (Kommentar zu V. 214f.).214

Der erste Vers ist glossiert mit allium stomacho bonum, renibus malum,215 und die Zusatzinformation, die Ekkehart zunächst in der Glosse anbot, wollte er dann wohl doch in einem Vers haben, weshalb er den zweiten Vers dichtete, einschob und damit ein Knoblauch-Distichon schuf.216 Der Umfang der Benedictiones ad mensas vergrößerte sich also auch durch die Präsentation von Wissen in den Versen und in den Glossen. So findet sich Wissen um die unter Fischen einzigartige Gestalt des Hechtes (Glosse zu V. 47),217 um die sich zum Schutz ihrer Küken hinkend stellende Wachtel, die so Fressfeinde fortlockt (Glosse zu V. 82),218 um das von Ärzten als gesund eingestufte Bärenfleisch (V. 118f.),219 um das Linsengericht, mit dem Esau gemäß Bibel Jakob sein Erstgeburtsrecht verkaufte (V. 170f.; vgl. Gn 25,29–34),220 um

|| 211 Vgl. LB, S. 193. Bei Egli ist an dieser Stelle die Zusammengehörigkeit der beiden Verse im Druck satztechnisch nicht wiedergegeben (vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 307f.). 212 Vgl. LB, S. 194. 213 Liber Benedictionum/Egli 1909, 309; vgl. auch Stotz 2008, 36 (mit Übersetzung des ersten Verses und der zugehörigen Glosse). 214 Liber Benedictionum/Egli 1909, 309. 215 Vgl. V. 214f. 216 Vgl. auch Stotz 2008, 36. 217 „Omnibus unus aquis [gloss. non habet species sicut alii pisces; idem ubique est] sit lucius ęsca suavis.“, V. 47 (Liber Benedictionum/Egli 1909, 286). 218 „Sit dulcis pernix simulataque clauda coturnix. [gloss. coturnix simulat se claudam, ut post se currentes a pullis abducat]“, V. 82 (ebd., 291). 219 „Et semel et rursus cruce sit medicabilis ursus. / *Hunc medici memorant sanum nullique nocivum.“, V. 118f. (ebd., 293f.). Die beiden Verse über den Bären sind als Distichon zu deuten, da der zweite, nachgetragene Vers, in dem der Bär nicht mehr namentlich genannt wird, schwerlich allein stehen kann. Allerdings beginnt dieser Vers mit einem rubrizierten Majuskelbuchstaben, der bei Ekkehart ansonsten einen neuen Abschnitt einleitet. Möglicherweise hängt dies mit einer Rasur zusammen (vgl. LB, S. 189). 220 „*Primatum sit vendenti benedictio lenti, / Sit primogenita vendens rubra coctio lenta.“, V. 170f. (Liber Benedictionum/Egli 1909, 304; vgl. ebd. zu V. 171) – „[...] da mihi de coctione hac rufa [...] vende mihi primogenita tua [...] vendidit primogenita. Et sic accepto pane et lentis edulio comedit [...]“, Gn 25,30–34.

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die bei Fieber nicht zu empfehlende Hirse (Glosse zu V. 173),221 um den Rat, Pilze vor dem Genuss siebenmal zu kochen (Glosse zu V. 211),222 um im betrunkenen Zustand todesmutig kämpfende Numantiner (V. 256)223 etc.224 Allein schon die möglichst umfassende Aufzählung von Tieren, Pflanzen und Getränken ist ein Ausdruck für einen „gewissen Hang zur Exhibition“ bei der Präsentation seines Materials.225 Die Herkunft seiner Informationen oder Vorlagen ist in manchen Fällen – wie dem aus der Bibel bekannten Kaufpreis von einem Linsengericht für ein Erstgeburtsrecht – nicht schwer zu erkennen, und der Einbau gerade von Bibelwissen oder von biblischen Ausdrücken ist nicht sonderlich auffällig. So entlehnte Ekkehart zum Beispiel wohl die an sich recht allgemein gehaltenen Junkturen pars tanti piscis bzw. pars prensi piscis (V. 57, mit Variante) aus dem Evangelium nach Johannes, denn hier stehen sowohl tantus als auch prendere im Zusammenhang mit pisces und letztere Wortverbindung ist seltener als vielleicht zunächst vermutet: [...] adferte de piscibus quos prendidistis nunc. Ascendit Simon Petrus et traxit rete in terram plenum magnis piscibus centum quinquaginta tribus et cum tanti essent non est scissum rete (Io 21,10f.).

Die Verknüpfung von pars und piscis könnte ihm aus einem anderen Evangelium im Ohr gewesen sein, wo es an prominenter Stelle heißt: „at illi obtulerunt ei [sc. Jesus] partem piscis assi et favum mellis“ (Lc 24,42). Jedenfalls diente dieser Bibelvers als Vorlage für Ekkeharts V. 61: „Piscis adest assus. benedicat eum cruce passus.“226 In jenem Evangelienabschnitt gibt sich Jesus – als cruce passus – nach seiner Auferstehung den Jüngern zu erkennen, wobei das Essen des Fisches und des Honigs eine wichtige Rolle spielt und wobei die Worte oportebat Christum pati fallen (vgl. Lc 24,36–53).227 Nicht nur der gefangene bzw. gebratene Fisch ist biblisch, auch die mit Schlingen gefangenen Vögelchen (de decipulis volucelli, V. 92) sind es, wie der bei dem Propheten Jeremia belegte Ausdruck decipula plena avibus zeigt.228 Ein Turteltaubenpaar wird bekanntermaßen bei Jesu Darstellung im Tempel erwähnt229 und || 221 „Non pariat milium [gloss. milium febricantibus venenum] febris ulli frigus et ęstum.“, V. 173 (Liber Benedictionum/Egli 1909, 304). 222 „*Sępius elixos repleat benedictio fungos [gloss. septies eos coqui iubetur].“, V. 211 (ebd., 309). 223 „Ebria qua [sc. coelia] fortes subiit Numantia mortes“, V. 256 (ebd., 314). 224 Vgl. auch Keller 1847, 102, und Liber Benedictionum/Egli 1909, XII–XIV) 225 Vgl. Eisenhut 2009, 92 (Zitat: ebd.). Vgl. auch Schulz 1941, 221: „Exhibition seiner Gelehrsamkeit, [...] ein Prahlen mit Bücherwissen“. 226 Liber Benedictionum/Egli 1909, 287. 227 „[...] et sic oportebat Christum pati et resurgere a mortuis die tertia“, Lc 24,46. Ekkeharts piscis adest klingt wie eine Antwort oder Reaktion auf die Frage Jesu in Lc 24,41: „[...] habetis hic aliquid quod manducetur?“ Zu favum bei Ekkehart vgl. V. 147. 228 „sicut decipula plena avibus sic domus eorum plenae dolo [...]“, Ier 5,27. 229 „[...] par turturum aut duos pullos columbarum“, Lc 2,24 (nach Lv 12,6, wo das Wort par jedoch nicht auftaucht).

Ekkehart IV. und seine Benedictiones ad mensas | 349

dürfte Ekkehart im Sinn gewesen sein, als er V. 84 auf Turteltaubenpaare kreierte. Die Bezeichnung für das in Asche gebackene Brot (subcineritius, V. 28) ist nicht klassisch lateinisch, sondern fand über die Vulgata Verbreitung.230 Gleiches gilt für die panis torta (V. 8f.).231 An einer Bibelstelle, an der die torta genannt wird, könnte der Dichter die Anregung für V. 104 – coctus armus mit Variante frixus armus – gefunden haben: „et armum coctum arietis tortamque […]“ (Nm 6,19). Die Junktur ficorum massę (V. 181) dürfte er aller Wahrscheinlichkeit nach aus IV Rg genommen haben,232 und im ‚Buch der Bücher‘ konnte er auch die Bezeichnung grossus für die Feige in Verbindung mit dem Wort ficus lesen.233 Zu den Versen über mulsa bzw. mulsum samt der dort zum Teil schwer lesbaren Glossen (V. 253f.) liefert die Bibel auch eine Verständnishilfe. Egli schreibt über die auf Rasur stehende Glosse Comedite pinguia234, sie sei „nach Herstellung und Inhalt zweifelhaft“.235 In II Esr 8,10 ist allerdings zu lesen: „ite comedite pinguia et bibite mulsum [...]“. Ein weiteres direktes Zitat, diesmal im Haupttext Ekkeharts (V. 266, im Dictamen debitum), ist aus dem Psalter genommen: „[...] vinum laetificat cor [...]“ (Ps 103,15; vgl. Sir 40,20). Auch die im Abschnitt über den Wein verwendete Junktur vera vitis (V. 231) ist hinreichend aus der Bibel bekannt: „ego sum vitis vera“ (Io 15,1).236 Zu Wein und Wasser schrieb Paulus im ersten Brief an Timotheus etwas, das Ekkehart mit namentlicher Nennung der beiden aufgriff: Nulli fons vivus stomacho sit, Christe, nocivus, / Timotheo vinum Paulus cui [gloss. i. e. stomacho] dat medicinam (V. 261f.).237 noli adhuc aquam bibere sed vino modico utere propter stomachum tuum et frequenter tuas infirmitates (I Tim 5,23).238

|| 230 „[...] et fac subcinericios panes“, Gn 18,6; „[...] et fecerunt subcinericios panes azymos [...]“, Ex 12,39; et passim. Vgl. auch Liber Benedictionum/Egli 1909, 284, zu V. 28. 231 „tolles adipem de ariete [...] armumque dextrum [...] tortam panis unius crustulum conspersum oleo laganum de canistro azymorum [...] ponesque omnia super manus Aaron [...]“, Ex 29,22–24; et passim. Vgl. auch Liber Benedictionum/Egli 1909, 281, zu V. 8. 232 Vgl. Schulz 1941, 224. „dixitque Esaias: adferte massam ficorum [...]“, IV Rg 20,7; vgl. Is 38,21: „et iussit Isaias ut tollerent massam de ficis [...]“. 233 „ficus protulit grossos suos [...]“, Ct 2,13; „[...] sicuti ficus cum grossis suis [...]“, Na 3,12; „[...] sicut ficus mittit grossos suos [...]“, Apc 6,13. 234 Egli edierte zunächst „Comodite pinguia“ (Liber Benedictionum/Egli 1909, 313), berichtigte sich dann jedoch (vgl. ebd., 440). Gleichwohl wiederholt er die ersten drei Buchstaben com, indem er sie auch an den Schluss der seiner Ansicht nach eigenständig vorausgehenden Glosse setzt (vgl. ebd., 312); vgl. auch LB, S. 195. 235 Liber Benedictionum/Egli 1909, 313. 236 Vgl. auch Weymann 1911, 575f. Zu weiteren Bibelbezügen im Zusammenhang mit dem Wein siehe Keller 1847, 120, und Schulz 2011, 613. 237 Liber Benedictionum/Egli 1909, 315.

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Von einfachen und weit verbreiteten Tier- und Pflanzennamen bzw. Junkturen mit diesen bis hin zu entlegenen Bezeichnungen und seltenen Wortverbindungen bot ihm die Bibel eine Fundgrube – die angeführten, keine Vollständigkeit anstrebenden Beispiele mögen dies belegen. Über 40% der Tier- und Pflanzennamen bzw. der Speisen und Getränke bei Ekkehart haben ein Pendant in den biblischen Büchern.239 Die Namen, Junkturen und sonstigen Informationen muss er nicht unbedingt in jedem Fall direkt aus diesen geschöpft haben, denn bei seiner Belesenheit konnte er sie auch leicht in der exegetischen Literatur gefunden haben.240 Dass in Ekkeharts Hexametern zuweilen auch Vergil anklingt, erstaunt ebenfalls nicht. Die Junktur arboribus lecta (V. 176) zum Beispiel dürfte vergilisch sein,241 der Hexameterschluss carchesia Bachus (V. 237) ist es mit hoher Wahrscheinlichkeit.242 Aus Vergil Buc. Ecl. I,80f. stammen in der Gruppe der Baumfrüchte, die mit dem erwähnten arboribus lecta eingeleitet werden, die Versatzstücke mitia poma (V. 177; vgl. V. 179), castaneas molles (V. 191)243 und in Abwandlung wohl auch lactis pressura (V. 139 und 141): „[...] sunt nobis mitia poma, / castaneae molles et pressi copia lactis“.244 Von einer anderen Stelle der Eklogen übernahm Ekkehart wörtlich und an gleicher Position im Vers die Bezeichnung der Quitten (tenera lanugine mala, V. 190), und bei beiden Dichtern folgen den Quitten im jeweils anschließenden Vers Kastanien sowie wiederum anschließend – bei Vergil direkt, bei Ekkehart nach einem Zwischenvers auf den Pfirsich (V. 192) – die cerea pruna: ipse ego cana legam tenera lanugine mala / castaneasque nuces, mea quas Amaryllis amabat; / addam cerea pruna (honos erit huic quoque pomo) (Vergil, Buc. Ecl. II,51–53).245

Das im Mörser zubereitete Gericht moretum (V. 149), welches Keller und Egli fälschlich als ein Maulbeergetränk deuten,246 wird von Ovid samt der Zutaten Käse und

|| 238 In dem bereits genannten Brief 52 des Hieronymus folgt der Stelle über sicera, die Ekkehart fälschlich Augustinus zuschreibt, eine Bemerkung über jenen Rat des Paulus an Timotheus bezüglich des Trinkens von Wein: „et Timotheo dolenti stomachum modica uini sorbitio relaxata est“, Hieronymus, Epist. 52 (Hilberg 1910, 434); vgl. auch St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 159, S. 201. 239 Teils finden sich nur wenige Parallelen (zum Beispiel bei den Fischen), teils zahlreiche (zum Beispiel beim Schlachtvieh). 240 Vgl. die Liste der Handschriften mit Einträgen Ekkeharts bei Eisenhut (Eisenhut 2009, Appendix 4, 419–424). 241 „[...] ex arbore lecta / aurea mala [...]“, Vergil, Buc. Ecl. III,70f. (Mynors 1986, 8). 242 „[...] cape Maeonii carchesia Bacchi“, Vergil, Georg. IV,380 (ebd., 95); „[...] libans carchesia Baccho“, Vergil, Aen. V,77 (ebd., 201); vgl. auch Weymann 1911, 576. 243 Egli ediert fälschlich „mollęs“ (Liber Benedictionum/Egli 1909, 307); vgl. LB, S. 193. 244 Mynors 1986, 3; vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 298, 305 und 307 (zu V. 139, 177 und 191). 245 Mynors 1986, 5; vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 307, zu V. 190 und 192f. 246 Vgl. Keller 1847, 104 und 120, sowie Liber Benedictionum/Egli 1909, XIII und 300, zu V. 149.

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Kräuter genannt.247 Nach dem Moretum ist aber auch ein ganzes pseudo-vergilisches Gedicht benannt, in dem ein Bauer nach anderen morgendlichen Tätigkeiten sich diese einfache Speise zubereitet, bevor er zur Feldarbeit aufbricht.248 Wenn Ekkehart diesen Text kannte, dürfte er seine Junktur lętum moretum (V. 149) von dort genommen haben, wenngleich das Adjektiv laetus im Gedicht Moretum nicht auf das gleichnamige Gericht, sondern auf Brot bezogen ist: constet ut effecti species nomenque moreti. / eruit interea Scybale quoque sedula panem, / quem laetus recipit manibus [...] (Moretum, V. 116–118).249

Vielleicht trifft dies dann auch auf Ekkeharts Ausdruck sinapis morsus acris (V. 155) zu, der in entfernt ähnlicher Form im Zusammenhang mit Gartengewächsen in Moretum verwendet wird.250 Selbst wenn dem St. Galler Dichter das pseudo-vergilische Gedicht unbekannt war, in anderen Fällen holte er sich – wie oben beschrieben – in der Tat Anregungen bei Vergil, und zum Teil sind es mehr als nur Anspielungen auf diesen. Er übernahm essentielle Versteile und auch Reihenfolgen des römischen Klassikers. Ob er sich bei manchen einzelnen Namen, für die kein direkter Bezug zu Vergil nachzuweisen ist, ebenfalls an diesem orientierte, lässt sich nicht sagen. Allein in den Eklogen hätte er aber – auch gattungsspezifisch bedingt – zahlreiche Tiere und Pflanzen finden können.251 Einiges Spezialwissen brachte die Forschung auch auf eine andere, wichtige Spur: Isidor von Sevilla und seine Etymologiae. Schon Anfang der 1940er Jahre war bekannt, dass Ekkehart reichlich aus diesem weitverbreiteten Werk schöpfte, indem er zum Beispiel bestimmte Informationen von Isidor übernahm oder indem er Ausdrücke von dort entlieh.252 Es gibt etliche Berührungspunkte zwischen den Benedictiones ad mensas und den Etymologiae, und oft werden die in beiden Werken erwähnten Nahrungsmittel in gleicher oder annähernd gleicher Reihenfolge ange-

|| 247 Vgl. Ovid, Fasti IV,367–372 (Alton/Wormell/Courtney 1988, 94). 248 Das Gedicht Moretum (ICL, Nr. 7517) ist ediert in Appendix Vergiliana (Clausen u.a. [1998], 158– 163). 249 Clausen u.a. [1998], 163. 250 „cepa rubens sectique famem domat area porri / quaeque trahunt acri uultus nasturtia morsu“, Moretum, V. 82f. (Clausen u.a. [1998], 162); allerdings sind Verbindungen von sinape / sinapis mit dem Adjektiv acer nicht ungewöhnlich. Es sei ferner darauf hingewiesen, dass im Moretum einige Gartengewächse genannt werden, die sich auch bei Ekkehart finden, so zum Beispiel alium, cucurbita, holus, lactuca, porrum oder radix, vgl. hierzu vor allem die Aufzählung Moretum, V. 68–76 (ebd., 161). 251 Unter vielen anderen agnus, alia, anser, aper, avenae, boves, capellae, caper, capreoli, cervi, columbae, cycni, dammae, haedi, hordea, oves, piri oder turtur. 252 Vgl. Schulz 1941, 221–224; vgl. auch Brunhölzl 1992, 440; Schmuki 2000, 124; Weber 2003, 35– 38, sowie Eisenhut 2009, 92, Anm. 94, und 130–132.

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führt.253 Unter den Bezeichnungen für die Obstsorten und für die Südfrüchte sind bei Ekkehart nur solche Namen zu finden, die auch bei Isidor stehen.254 Am weitesten entfernt sich der Dichter von den Etymologien in der Gruppe der Fische,255 was aber nicht bedeutet, dass diese dann alle tatsächlich in seinem Kloster aufgetischt wurden.256 Es ist vielmehr davon auszugehen, dass auch nicht von Isidor (oder Vergil oder der Bibel) übernommene Speisen und Getränke eher von literarischer als von kulinarischer Herkunft sind.257 Eine Gegenüberstellung von Ekkeharts Speisen bzw. Getränken (E) und Isidors Einträgen (I) hinsichtlich möglicher Similien und Parallelstellen – auch in der direkten Reihenfolge – ergibt folgendes Bild:258 E: Appositi panes (V. 4) I: Panis dictus quod cum omni cibo adponatur (XX,2,15) E: elixum … frixum … cum sale mixtum (V. 11f.) I: Elixum … Frixum … Salsum (XX,2,22f.)259 E: fermentatum … Azima (V. 15 und 17; V. 16 wurde nachträglich eingefügt) I: Fermentacius fermentis confectus. Azymus non fermentatus (XX,2,15) E: Triticeum panem … panem sigalinum. Ordea si panes fuerint, sint pestis inanes (V. 19–21) I: Triticum … Far … Adoreum … Siligo … Trimestre triticum … Alica … Alicastrum … Hordeum … homines salubrius [sc. eine bestimmte Art der Gerste] quam malum triticum (XVII,3,4–10; vgl. XX,2,15) E: Hunc salus ipsa salem … salsuram (gloss. sulza) (V. 37f.) I: [Sal] … Hinc et salus nomen accepisse putatur; nihil enim utilius sale et sole (XVI,2,6); Salinum vas aptum salibus. Idem et sulzica, quasi salzica (XX,4,12) E: Sit salsus piscis bonus almarinus (V. 52) I: Allec pisciculus ad liquorem salsamentorum idoneus (XII,6,39) E: fibri caro piscis voce salubri (V. 70) I: Castores … Nam testiculi eorum apti sunt medicaminibus … Ipsi sunt et fibri (XII,2,21) E: Nil noceat stomachis caro non digesta (Variante dapes indigesta) pavonis. … phasiana (V. 75f.) I: Pavo … cuius caro tam dura est ut putredinem vix sentiat, nec facile coquatur … Phasianus (XII,7,48f.)260 || 253 Vgl. Schulz 1941, 223. 254 Vgl. ebd. 255 Vgl. ebd., 222f., und Duft 1959, 17. 256 Vgl. ebd., 17f. 257 Vgl. Schulz 1941, 223. 258 Wenn etwas in der Liste nicht erwähnt wird, bedeutet dies nicht, dass es bei Isidor fehlt, sondern nur, dass über den bloßen Namen hinaus keine weiteren Bezüge zwischen beiden Autoren hergestellt werden können. 259 Vgl. Schulz 1941, 223.

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E: sine felle columbam. Turtureis paribus … Omne columbinum (V. 83–85) I: Turtur … Columbae … sine felle (XII,7,60f.)261 E: Gallinam … Castrati galli (V. 86f.) I: Gallus a castratione vocatus; inter ceteras enim aves huic solo testiculi adimuntur. … gallina (XII,7, 50)262 E: Dente timetur (auf Rasur; dazu Variante petulcus) aper … Cervi (Variante Cervę) … Imbellem dammam (V. 120f. und 127) I: Dammula … timidum animal et inbelle; de quo Martialis: ‚Dente timetur aper, defendunt cornua cervum: inbelles damae quid nisi praeda sumus?‘ (XII,1,22)263 E: vesontem … cornipotentem. … carnibus uri. bos silvanus (V. 123–125.) I: bisontes … et uros (XIV, 4, 4); Vri agrestes boves sunt in Germania, habentes cornua in tantum protensa … (XII, 1, 34)264

|| 260 Vgl. ebd., 223; zum Pfauenfleisch siehe auch Manitius 1923, 565. 261 Vgl. Schulz 1941, 223. 262 Vgl. ebd., 223. Zur metrischen Junktur sine felle columbam vgl. Arator, Historia apostolica I,662: „[...] nisi sit sine felle columba“ (Orbán 2006, 273) u.a. (vgl. ebd., zu V. 662); vgl. auch Weymann 1911, 575. 263 Vgl. Martial, Epigr. XIII,94 (Dammae): „Dente timetur aper, defendunt cornua cervum: / imbelles damma quid nisi praeda sumus“ (Shackleton Bailey 1990, 447). In den Xenia (= Epigr. Buch XIII) listet Martial 124 Distichen für Geschenke auf, nämlich überwiegend für Speisen und Getränke (ebd., 433–452), von denen sich zahlreiche Namen auch bei Ekkehart finden, jedoch ohne weitere erkennbare Zitate oder Anspielungen. Der römische Dichter beschreibt in Xenia/Epigr. XIII,63 (Capones) zwar auch das Verschneiden von Hähnen – „Ne nimis exhausto macresceret inguine gallus, / amisit testes. [...]“ (Shackleton Bailey 1990, 443) –, aber Ekkeharts Formulierung castratus gallus erinnert eher an Isidor (vgl. oben). E. Schulz, der dank Eglis Umgang mit den Varianten wohl nicht bemerkt hat, dass auch im Vers über den Keiler Martial zitiert wird, geht davon aus, dass Ekkehart dessen Epigramme nicht direkt kannte und die Junktur imbellem dammam aus Isidor übernommen haben muss (vgl. Schulz 1941, 222). Es handelt sich allerdings nicht um einen so ‚zweifelsfreien‘ und ‚beweiskräftigen Fall‘, wie Schulz angibt (vgl. ebd.), denn zum einen zitiert auch Beda Venerabilis die beiden Martialverse in einem exegetischen Werk, das Ekkehart in der Hand hatte (vgl. Beda Venerabilis, Expositio actuum apostolorum IX,36 (Laistner 1983, 47), sowie Eisenhut 2009, 422), und zum anderen stehen genau diese beiden Verse eigenständig überliefert unter dem Titel Item uersus Martialis damma in einer St. Galler Handschrift aus dem 9./10. Jahrhundert (vgl. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 899, S. 11). Cod. Sang. 899 enthält unter anderem auch die vollständige Mosella des Ausonius, in der sich ein ausführlicher Fischkatalog befindet (ebd., S. 22–45, der Fischkatalog hier S. 25–29). Trotz mancher Übereinstimmung der dort genannten Fische mit den Fischen bei Ekkehart, lässt sich über die reinen Namen hinaus kein textlicher Bezug der Tischsegen zur Mosella nachweisen; zu den deutschen Fischnamen bei Ausonius und in anderen Quellen, darunter dem mit Ekkehart in Zusammenhang stehenden Summarium Heinrici aus dem 11. Jahrhundert (vgl. Eisenhut 2009, 93f.), siehe Tischler 1995, 124f. Angemerkt sei noch, dass Cod. Sang. 899 auch ein paar Koch- bzw. Arzneirezepte beinhaltet, in denen hinsichtlich dort erwähnter Tier- und Pflanzennamen einige Parallelen zu Ekkehart zu finden sind (vgl. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 899, S. 83f. und 138–142).

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E: Capreus ad saltum … altum (V. 128) I: Saltus est densitas arborum alta, vocata hoc nomine eo quod exiliat in altum (XVII,6,8) E: Hoc mulctro lactis … Primitus hoc macti memores benedicite lacti. / Hunc caseum … lactis pressura … Lactis pressura … melle … Hoc mel dulcoret … nectara mellis … favis … favus (V. 136–147; ohne die nachgetragenen Verse) I: Caseum … Colostrum lac novum … Lac … Quactum … Mel … Omne autem mel dulce … Favum … (XX,2,33–37) E: commentis … placentis. … comedamus (Variante: libemus) adorea grata (V. 159f.) I: Placentae sunt quae fiunt de farre. Quae alii liba dicunt, eo quod libeant et placeant (XX,2,17)265 E: legumen … fabas … ciceris … pisas … lentis … rubra coctio … milium … milium … phaselum … legumina (V. 162–175, ohne die interlinear nachgetragenen Verse)266 I: Legumina … Leguminum plurima genera, ex quibus faba, lenticula, pisum, faselum, cicer, lupinum gratioria in usum hominum videntur. Faba … Primum enim homines hoc legumine usi sunt. … Faba fresa … Lentis … Faselum autem et cicer … Sed faselum … Lupinum … Medica, vicia, ervum pabulorum optima sunt. Medica … Vicia … Pisum … Ervum … (XVII,4,1–11 [= komplettes Kapitel De leguminibus])267 E: rubra coctio lenta (V. 171) I: Lentis vocata quod humida et lenta est (XVII,4,5) E: solabere triste phaselum (V. 174) I: Faselum autem et cicer Graeca nomina sunt. Sed faselum †...† Lupinum Graecum et ipsud nomen est: de quo Vergilius: ‚Tristesque lupini‘, quia vultum gustantis amaritudine contristant (XVII,4,6f.)268 E: mitia poma. … mitia … poma. … lactis pressura … Lactis pressura (V. 177, 179, 139 und 141) I: Syllempsis est …, ut ‚Sunt nobis mitia poma, et pressi copia lactis.‘ (I, 36, 5)269 E: cedria poma … Cedria virtutem dent poma ferantque salutem (V. 179f.) I: Medica arbor … Hanc … Latini citriam vocant, quod eius pomum ac folia cedri odorem referant. Malum eius inimicum venenis (XVII,7,8)270

|| 264 Ekkehart könnte seinen Vers über das ‚Waldrind‘ in Anlehnung an Isidors Bezeichnung des Auerochsen als wildes ‚Feldrind‘ gedichtet haben, um neben einem Rind des ager ein Rind der silva anzuführen. 265 Zwar sind libare (Ekkehart) und libum bzw. libet (Isidor) unterschiedliche Wörter, aber die Isidorstelle könnte Ekkehart durchaus zur Wahl seines Ausdrucks angeregt haben. Vgl. ferner auch die Position von adoreum direkt hinter dem Eintrag zu far bei Isidor XVII,3,5f. 266 V. 163 ist auf Rasur nachgetragen. 267 Vgl. Schulz 1941, 221. Zum Fehlen der Lupine bei Ekkehart und zu dessen Hirse, die nicht zu den Hülsenfrüchten gehört, vgl. ebd., 222. 268 Vgl. ebd., 221f.; vgl. auch Vergil, Georg. I,75: „aut tenuis fetus uiciae tristisque lupini“ (Mynors 1986, 31). 269 Ekkehart griff letztlich jedoch direkt auf die von Isidor zitierte Vergilstelle zurück (vgl. oben).

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E: dactilicis palmarum … grossis (V. 182) I: Palma … Fructus autem eius dactyli (XVII,7,1) E: cęrasia nostra. Hiberię tellus dedit hęc Italisque Lucullus (V. 194f.) I: Cerasus a Ceraso urbe Ponti vocata. Nam Lucullus cum Cerasum civitatem Ponti delesset, hoc genus pomi inde advexit et a civitate cerasium appellavit (XVII,7,16)271 E: fungos [in der Gruppe der Gartengewächse] (V. 211) I: Fungi [in der Gruppe der Gartengewächse] (XVII,10,18) E: Conditor hoc vinum confortet in omne venenum (V. 243) I: Veteres vinum venenum vocabant; sed postquam inventus est virus letiferi sucus, hoc vinum vocatum, illud venenum (XX,3,2) E: Sucum pomorum, siceram … (gloss. sicera est … sucus pomis optimis expressus … ut vinum inebriat …) (V. 248) I: Sicera est omnis potio quae extra vinum inebriare potest. … ex suco frumenti vel pomorum conficiatur, aut palmarum fructus in liquorem exprimantur (XX,3,16)272 E: passum (gloss. vinum coctum …) (V. 250) I: Passum … nam percutitur uva siccior et decoquitur (XX,3,14) E: mulsa (gloss. … in mulsa bibat i. e. melle et aqua …) … mulso (V. 253f.) I: Mulsum ex melle mixtum; est enim potio ex aqua et melle (XX,3,10) E: coelia … Dira per hanc (Variante Ebria qua) fortes subiit Numantia mortes. … cerevisę … cervisę (V. 255–258) I: Cervisia … Caelia … et calor ebrietatis adicitur (XX,3,17f.)273

|| 270 Varia lectio für Isidors citriam ist cidriam oder cedriam (vgl. André 1981, 89). „Medica arbor est plus que probablement le cédratier (Citrus medica Risso), et non le citronnier introduit en Europe seulement au XIVe siècle.“ (ebd., 88, Anm. 193). 271 Vgl. Schulz 1941, 223. Egli verweist auf eine entsprechende Stelle über die Einführung der Kirschen durch Lukullus bei Plinius (Nat. hist. XV,30/102) und behauptet, Ekkehart müsse diese gekannt haben (vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 307f., zu V. 194). In Cod. Sang. 621, der einen wichtigen Textzeugen der Historiae adversum paganos des Orosius enthält und den Ekkehart auf Wunsch seines Lehrers Notker III. glossierte, steht zu einer Stelle über Lukullus (Orosius, Hist. VI,3,7) die Anmerkung, dieser habe den Italern die Kirschsamen gebracht: „[Lucullus] per armeniam in mesopotamiam regressus] cerasiarum semina ab oriente accepta . italis deferens“, orosius.monumenta 232a2f/6,3,7 zu St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 621, S. 232 (vgl. Eisenhut 2009, 348). Zu Ekkeharts Glossen in der Orosiushandschrift siehe ausführlich ebd., passim. Eisenhut kommt bei ihrer Analyse zu dem Ergebnis: „Isidor gehört zu den zentralen Quellen für die Glossen im Cod. Sang. 621“ (ebd., 282; vgl. ebd., 157f.). 272 Vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 312, zu V. 248. Siehe hierzu aber auch – wie oben angeführt – Hieronymus, Epist. 52 (Hilberg 1910, 434). 273 Das Wissen um die Numantiner, die im Jahr 133 v. Chr. nach langer Belagerung durch die Römer vom Alkohol berauscht tapfer kämpfend den Tod auf sich nahmen, stammt nicht aus Isidor, sondern aus Orosius (vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 313, zu V. 255), und die entsprechende

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Isidor als Quelle darf nicht überbewertet werden – wie bei E. Schulz, wenn dieser schreibt, dass die Benedictiones ad mensas „im wesentlichen auf Grund der Etymologiae verfaßt und zusammengestellt [...] sind“.274 Ekkehart konnte mancherlei Informationen und Anregungen auch leicht bei anderen Autoren gefunden haben. Gleichwohl bleibt Isidor mit den vielen übereinstimmenden Namen und den Parallelstellen eine wichtige Quelle für die Tischsegen, nur eben keine exklusive. Manches Spezialwissen um gesundes oder schädliches Essen steht nicht in den Etymologien. Ekkehart dürfte dieses medizinischen Handschriften entnommen haben, wie auch Ausdrücke wie hunc medici memorant sanum (V. 119) oder der Verweis auf Ypocras (zu V. 253) vermuten lassen. Dass der Bär gesund ist (V. 119) und dass Haselnüsse für den Magen schädlich sind (V. 197 mit Glosse stomacho nocent), wusste nicht Ekkehart allein, sondern zum Beispiel auch schon Plinius.275 In St. Gallen existierten durchaus etliche Handschriften mit medizinischem Wissen, zum Teil mit (Sach)glossaren bzw. Namenslisten von Pflanzen und Tieren, Auszügen aus den medizinisch relevanten Abschnitten des Plinius, Rezepten etc.276 Eine eingehende || Stelle, die übrigens Isidor in seinen Etymologiae ohne den Hinweis auf die Numantiner zitiert, ist in Cod. Sang. 621 ausführlich glossiert: „Igitur conclusi diu numantini [...] vt tamquam uiris [gloss. militaribus] mori liceret; vltime omnes duabus portis subito eruperunt . larga prius potione usi [gloss. inebriati ut eo audentius insanirent in cedem] . non uini . cuius ferax [gloss. fęcundus] is locus non est . sed suco tritici per artem confecto [gloss. expresso]; Quem sucum . a calefaciendo [gloss. coquendo] celiam uocant [gloss. Alii autem a colore ceruisiam]; Suscitatur [gloss. Exsucatur] enim igne [gloss. super focvm] illa uis germinis [gloss. iam germinantis] madefactae frugis [gloss. antea irroratę aquis] . ac deinde siccatur [gloss. super torram] . et post in farinam redacta [gloss. quod barbari malz uocant] . molli suco [gloss. aquę] admiscetur; quo fermento [gloss. qua mixtura] . sapor austeritatis [gloss. temperatę quidem] . et calor ebrietatis adicitur; Hac igitur potione post longam famen recalescentes . bello sese optulerunt [...]“, St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 621, S. 187 (vgl. Eisenhut 2009, 391f. – hier mit deutscher Übersetzung – sowie orosius.monumenta 187b12–187b20f./5,7,12–14; auch Egli gibt in seinem Apparat die Orosiusstelle mitsamt der Glossen aus der Handschrift wieder, vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 313, zu V. 255). An dieser Stelle sei Helena Leithe-Jasper für die diesbezüglich anregende Korrespondenz gedankt. 274 Schulz 1941, 223. „ 275 „Nuces abellanae capitis dolorem faciunt et inflationem stomachi [...]“, Plinius, Nat. hist. XXIII,78/150 (König/Hopp 1993, 102; vgl. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 752, S. 126); „tunc mirum in modum veterno pinuescunt [sc. ursi]. illi sunt adipes medicaminibus apti [...]“, Plinius, Nat. hist. VIII,54/127 (König/Winkler 1976, 96). Die nach Eglis Auffassung „populär-medizinischen Ansichten“ des Mittelalters, die Ekkehart in seine Verse eingebaut habe (vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, XIf.; Zitat ebd.), konnten also durchaus klassisch-literarischer Natur sein. 276 Vgl. unter den erhaltenen Handschriften neben dem eben erwähnten Cod. Sang. 752 aus der Zeit um 900 zum Beispiel auch Cod. Sang. 44 (9. Jahrhundert), 105 (9./10. Jahrhundert), 217 (‚St. Galler Botanicus‘, 9. Jahrhundert), 299 (9. Jahrhundert), 751 (9. Jahrhundert), 759 (9. Jahrhundert), 761 (ca. 800) oder 762 (ca. 800). In Cod. Sang. 265 (10. Jahrhundert) findet sich der PseudoHippokratesbrief an Antiochus (S. 93–97), und in ebendiesem steht die weibliche Form mulsa anstatt der biblisch belegten Form mulsum („[...] in mulsa mellissima [...] mulsae admisceas [...]“, St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 265, S. 93); vielleicht bezieht sich Ekkehart auf diese Stelle, wenn er auf beide Formen des Wortes hinweist, indem er in seiner Glosse zu V. 253f. schreibt:

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Untersuchung dieser Codices könnte weitere Quellen Ekkeharts zu Tage fördern, zu denen jedenfalls kaum die Küche St. Gallens gehörte. In den Benedictiones ad mensas äußert sich vielmehr die Gelehrsamkeit ihres Verfassers. „Ekkehart [...] ging es um eine Präsentation seines Wissens“,277 er wollte nicht zeigen, was er alles aus der eigenen Klosterküche kannte, sondern was er in Büchern gelesen hatte.278 Es handelt sich bei den Benedictiones ad mensas in Teilen um „versifizierte Lexikographie“,279 im Ganzen um „eine Art Katalogdichtung“,280 jedenfalls nicht um Verse, die nach Vorlage konkreter realer Speisen und Getränke der St. Galler Mönche gedichtet wurden.281 Hinzu kommt noch, dass das Werk in der ursprünglichen Form durchaus in Mainz verfasst worden sein kann und somit nicht zwangsläufig auf die St. Galler Küche bezogen werden darf.282 Diese Kenntnis hat sich trotz des maßgeblichen Aufsatzes von E. Schulz in moderner ‚populär-mediävistischer‘, aber auch in wissenschaftlicher Literatur noch immer nicht überall durchgesetzt. Dass eine Zeitschrift für historisches Reenactment sich über Ekkeharts Vorlieben beim Essen oder die klösterliche Kochkultur auslässt und aus den Benedictiones ad mensas Kochrezepte macht,283 ist zwar bedauerlich, aber weniger gravierend als ein Kommentar wie „Die Vielzahl der [...] Arten zeigt den Reichtum des klösterlichen Speisezettels“284 in der nicht allzu alten Fachliteratur. In einer jüngst erschienenen umfangreichen Dissertation über Essen und Trinken im Mittelalter wird hinsichtlich der Speise- und Getränkegruppen spekuliert, ob || „Ypocras. In Mulsa bibat. id est melle et aqua. Inuenitur et mulsum in Comedite pinguia [vgl. II Esr 8,10]“, LB, S. 195; vgl. auch Liber Benedictionum/Egli 1909, 312f. (Egli geht davon aus, dass Ekkehart mit Ypocras ein gleichnamiges bzw. (h)ypocraticum oder (h)ypocrasium genanntes Mischgetränk meint, vgl. ebd., 313, zu V. 254). 277 Eisenhut 2009, 92. 278 Vgl. Schulz 1941, 221–224; Haefele 1980, 459; Weber 2003, 35, sowie Eisenhut 2009, 92 und 131f. 279 Schulz 1941, 223. So auch Haefele 1980, 459; Brunhölzl 1992, 440, und Eisenhut 2009, 132. E. Schulz bezieht seinen Ausdruck ‚versifizierte Lexikographie‘ auf den ganzen Text (vgl. Schulz 1941, 223), doch trifft dies eben nur in Teilen zu, da Isidors Etymologiae nicht Vorlage für alle Verse waren. ‚Versifiziertes Bücherwissen‘ wäre hier vielleicht ein treffenderer Ausdruck. 280 Stotz 2008, 36. 281 Vgl. Schulz 1941, 221 und 224. Dies bedeutet nicht, dass nicht auch die exotischeren der aufgelisteten Nahrungsmittel in St. Gallen vorhanden gewesen sein konnten, sondern nur, dass Ekkeharts Verse nicht als Beleg für deren Konsum angeführt werden dürfen (vgl. Schulz 1941, 223). Schon Egli musste übrigens die Frage, „ob diese Gerichte für die Mahlzeiten des Klosters wirklich so verwendet worden seien, [...] wohl in verneinendem Sinne“ beantworten, mit dem Hinweis, der Speisezettel der Mönche müsse doch bescheidener gewesen sein (vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, XIV; Zitat ebd.). Auch Manitius, der die Tischsegen noch als kulturhistorisch wertvoll einordnete, hält die Auswahl für zu umfangreich für St. Gallen (vgl. Manitius 1923, 565). 282 Vgl. Schulz 1941, 220. 283 Vgl. Schulz 2011, 586f. und 592f. Schulz bezieht sich hier auf Lutz 2008a und 2008b. Die Quelle für Lutz wiederum war Foster 1980/2001; vgl. Schulz 2011, 586f. 284 Lampen 2000, 45; vgl. ebd.: „anscheinend im Kloster verzehrte Fischarten“, „[Fische,] die er aus seiner eigenen Umgebung kannte“.

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„diese Reihenfolge aus der Bedeutung der Lebensmittel in der Klosterküche resultiert“;285 es wird sich über den Pfau als Gericht für Mönche gewundert, wo dieser doch eher eine Herrenspeise sei;286 es wird auf bei Ekkehart fehlende Aussagen hingewiesen, „ob das Fleisch [bestimmter Tiere] [...] – in Abkehr von der reinen benediktinischen Lehre – durch die Sankt Galler Brüder auch genossen werden darf“;287 und immerhin bei den Südfrüchten wird überlegt, dass es sich „wohl eher um Beispiele für die weltläufige Gelehrtheit des Autors [handelt] denn um das, was in seinem klösterlichen Lebensbereich wirklich vorhanden oder üblich war“.288 Gleichwohl wird hier davon ausgegangen, dass die Nahrungsmittel „in Sankt Gallen bekannt waren und mehrheitlich vielleicht sogar in der Klosterküche verarbeitet wurden“.289 Doch es gilt (wie oben ausgeführt): Wenn man Ekkehart etwas kennt und sich mit seiner Art und Kunst einigermaßen vertraut gemacht hat, kann man niemals glauben, daß es ihm hier irgendwie auf realistische Schilderung oder Verwertung eines „Küchenzettels“ angekommen sein könnte.290

Ebenfalls längst widerlegt ist die Ansicht, die Aufzählung der Speisen entspräche den Gängen einer mittelalterlichen Mahlzeit.291 E. Schulz hat die ‚Gänge‘ analysiert, mit dem Ergebnis: „Nun darf man den alten Deutschen in kulinarischer Hinsicht gewiß allerhand zutrauen, aber eine solche ‚Mahlzeit‘ denn doch nicht“.292 Ekkehart ordnet seine Verse nicht nach einzelnen Gängen, sondern nach in sich geschlossenen, oft von allgemein formulierten Segen umrahmten Sachgruppen,293 wobei diese Geschlossenheit der Gruppen durch Varianten und Nachträge durchbrochen werden kann. Eglis eingangs zitierte Aussagen über die Bedeutung der Benedictiones ad mensas für die Folge von Speisen einer Mahlzeit und für die kulturhistorische Forschung || 285 Schulz 2011, 587f. Als alternative Spekulation hierzu wird über eine mögliche liturgische Rangordnung nachgedacht (da Brot und Fisch am Anfang stehen) bzw. es wird auch eine Kombination beider Möglichkeiten nicht ausgeschlossen (vgl. ebd., 588). 286 Vgl. ebd., 589, Anm. 20. 287 Ebd., 589; vgl. ebd., 592. Ähnliche Anmerkungen und Überlegungen stehen ebd., 589–592. 288 Ebd., 591; vgl. ebd., 587. A. Schulz verweist auf Eglis Vermutung über antike Autoren als Ekkeharts Quelle solcher Stellen, die seine Gelehrsamkeit ausdrücken (vgl. ebd., 591, Anm. 25f.). 289 Ebd., 592. A. Schulz kritisiert zwar Foster/Lutz mit ihren Kochrezepten (vgl. ebd., 593), aber sie kennt nicht die ältere und jüngere Forschungsliteratur zu Ekkeharts Tischsegen – einzig Eglis Edition ist ihr bekannt. Ihre Überlegungen zum Charakter der Tischsegen als ‚wohl den Mönchen vorgelesene appetitanregende Segnungsformelnreihe‘ oder zum Einsatz von Reim für ‚Schwung‘ und ‚(Sprach)witz‘ etc. (vgl. ebd., 592) sind folglich zu hinterfragen. 290 Schulz 1941, 221. 291 Vgl. ebd., 220f. Zu dieser veralteten Ansicht siehe Keller 1847, 101, und Liber Benedictionum/ Egli 1909, XI. „Das Gedicht zerfällt nach einer kurzen Einleitung in 10 verschiedene Abschnitte, welche im ganzen den Gängen des Mahles entsprechen“, ebd. 292 Schulz 1941, 221. 293 Vgl. ebd., 221, und Weber 2003, 34.

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hinsichtlich einer mittelalterlichen Küche und der dort zubereiteten Lebensmittel, über deren regionale Gewinnung oder Importe etc. sind also falsch bzw. zumindest überbewertend.294 Damit ist auch der in seiner Edition häufig den Großteil der Seite einnehmende Kommentarapparat überflüssig bei zahlreichen Äußerungen wie „Ekkehard liefert durch diese Stelle die wertvolle Bestätigung, dass neben dem Wisent noch ein zweites Wildrind, der Urochs [...] bei uns vorkam“295 oder „Das Kloster St. Gallen bezog auf jeden Fall auch diese Frucht [sc. die Feige] aus dem Süden“.296 Die verwendete Gattung der Segenssprüche diente Ekkehart „lediglich als Einstieg“ für seine dichterische Entfaltung auf der thematischen Grundlage von Material, das er in der Bibliothek vorgefunden hatte.297 Am Ende entstanden daraus die in der neuen Dichtungsform des zweisilbig gereimten Leoniners ausgeführten, mit Wissen angefüllten und Vollständigkeit anstrebenden Benedictiones ad mensas. Dies macht Überlegungen zum schwer oder kaum möglichen liturgischen Gebrauch etlicher Verse an sich hinfällig. In der ursprünglichen, an Ymmo geschickten Fassung könnten alle Verse brauchbare Segenssprüche gewesen sein.298 Vielleicht waren es aber auch illustrierende Beispiele der Dichtkunst, denn Ymmo war wahrscheinlich der Empfänger von Ekkeharts Lehrgedicht De lege dictamen ornandi, welches zeitlich vor den Tischsegen verfasst worden war und nur einige wenige Beispielverse zu den Ausführungen über Poetik enthält.299 Ymmo könnte von seinem Bruder weitere || 294 Vgl. Schulz 1941, 219–221, und Haefele 1980, 459. 295 Liber Benedictionum/Egli 1909, 295, zu V. 124. 296 Ebd., 306, zu V. 181; vgl. Schulz 1941, 223f. Bereits Keller hatte den Tischsegen eine große kulturhistorische Bedeutung eingeräumt (vgl. Keller 1847, 101–103; vgl. auch Schulz 1941, 219f.). Strecker, der noch nicht um den überschätzten Stellenwert der Verse für die kulturhistorische Forschung wusste, schrieb gleichwohl in seiner Rezension der Edition Eglis: „Die Benedictiones ad mensas geben zu ganzen Abhandlungen über Flora und Fauna, Privataltertümer u. dgl. Anlaß. Diese sind sehr interessant, aber das Buch ist durch dergleichen unnötig dick und teuer geworden“ (Strecker 1912, 240). 297 Vgl. Eisenhut 2009, 92; Zitat ebd. 298 Vgl. Schulz 1941, 227. 299 De lege dictamen ornandi (ICL, Nr. 3672), ediert in den MGH Poetae (Strecker 1937–1939, 532f.; zuvor ediert: Dümmler 1869, 33f.; Übersetzung: Eisenhut 2009, 196f.). Dem Hauptteil von 31 Versen (darunter Beispielverse) folgen zwei Kostproben von neun bzw. sieben Versen Ad exemplum (V. 32– 40) bzw. Item amplius ad exemplum (V. 41–47). Zu diesem Lehrgedicht, der umfangreichsten Dichtung Ekkeharts außerhalb des Liber Benedictionum (autograph eingetragen in den bereits erwähnten, von Ekkehart glossierten Orosius-Codex: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 621, S. 352), siehe Schulz 1941, 218, Weber 2003, 62–64, sowie Eisenhut 2009, 88f. und 194–199. Ymmo war noch nicht Abt, als sein Bruder für ihn dieses Werk anfertigte (vgl. Schulz 1941, 218), und wenn die oben erwähnte Angabe ‚ca. 1004‘ als Zeitraum des Abbatiatsendes von Ymmos Vorgänger korrekt ist, müsste De lege dictamen ornandi spätestens bis dahin entstanden sein. Eisenhut weist darauf hin, dass allein aus der Widmung „Ymmoni fratri post abbati Ekkehart De lege dictamen ornandi“ (Strecker 1937–1939, 532) nicht eindeutig hervorgehe, dass es sich um den leiblichen Bruder dieses Namens handelt (vgl. Eisenhut 2009, 195). Alle Umstände sprechen jedoch dafür, dass dieser Ymmo frater post abbas mit dem in den Tischsegen genannten Ymmo abbas frater germanus identisch ist.

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Kostproben erbeten und die Tischsegen erhalten haben,300 zumal in De lege dictamen ornandi einer der Beispielverse für einen stilistisch einfachen Vers (simplex) einem Vers in den Benedictiones ad mensas stark ähnelt.301 Dies muss aber alles Spekulation bleiben, da die Urfassung der Tischsegen verloren ist. Für die erhaltene Form kann von einigen korrekten302 und vielen unbrauchbaren oder gar albernen und bei Anwendung kompromittierenden Segen gesprochen werden303 – auf das ganze Werk gesehen war es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht oder nicht mehr Ekkeharts Hauptintention, anwendbare Segenssprüche zu dichten.304 Die Benedictiones ad mensas, wie sie auf uns gekommen sind, „scheinen [...] nicht zuletzt um der Vers- und Reimtechnik willen geschrieben zu sein“,305 von einem dichtenden,

|| 300 Vgl. Schulz 1941, 227. 301 „‚Sit cibus et potus noster saturatio totus‘“, De lege dictamen ornandi, V. 24 (Strecker 1937–1939, 533) – „Sit noster [gloss. fratrum] potus domini benedictio totus“, Benedictiones ad mensas, V. 223 (Liber Benedictionum/Egli 1909, 310); vgl. auch Schulz 1941, 218, und Haefele 1980, 459. E. Schulz schließt hieraus auf einen engen zeitlichen Zusammenhang von De lege dictamen ornandi und den Benedictiones ad mensas (vgl. Schulz 1941, 218). Sollte dies zutreffen und sollte – unter der Voraussetzung, die gleichnamigen Empfänger beider Dichtungen sind identisch – zugleich die bereits mehrfach genannte Angabe ‚ca. 1004‘ in der Tat den historischen Gegebenheiten entsprechen, ergäbe sich für die Tischsegen eine – allerdings recht ungesicherte – Entstehungszeit bald nach ca. 1004. 302 Nach E. Schulz sind dies V. 2f., 31–36, 219–221 und 223–226 (vgl. Schulz 1941, 225, Anm. 1). 303 Vgl. ebd., 225. Vgl. auch Keller 1847, 100f.: „eine Menge Verse, welche [...] nichts weniger als den Charakter von Segnungen an sich tragen“; Haefele 1980, 459: „weder mit dem Stil der Liturgie noch mit der Tradition des monastischen Tischsegens so recht im Einklang“, sowie Eisenhut 2009, 132: „Der Begriff «Benediktionen» entspricht dem Vorliegenden auf jeden Fall nicht“. Hinsichtlich der Benedictiones super lectores spricht Jacobsen, der dialogisierte Partien in diesen für die Entwicklungsgeschichte geistlicher Spiele untersucht hat, von einer „Sammlung von Texten, die für den liturgischen Gebrauch bestimmt waren; mit ihnen suchte Ekkehard das Offizium weiter auszuschmücken, wie es sonst etwa durch Tropen geschah“ (Jacobsen 1977, 52; vgl. ebd., 64). 304 Hierauf deuten auch die Aufnahme des allein thematisch, nicht gattungsspezifisch passenden Schulgedichtes sowie der Einbau von Übergangsversen zwischen einzelnen Gruppen hin, die für sich betrachtet keinen sinnvollen Segen ergeben, wie zum Beispiel V. 73 über die piscibus ęquipares volucres (zu diesem Vers siehe Weber 2003, 40f.). E. Schulz gibt als wahrscheinlichste Entstehungsgeschichte an, dass Ymmo „bald nach seiner Erhebung zum Abt den dichtenden Bruder um einige poetische Tischsegen zum eigenen Gebrauch gebeten“ und von diesem wohl schon „unnötig viele Verse [...], die aber noch halbwegs brauchbar gewesen sein werden“, bekommen habe, woraufhin Ekkehart dann auf dieser Grundlage zahlreiche weitere Verse gedichtet habe und sich dabei immer weiter vom ursprünglichen Zweck der Segen entfernt habe (vgl. Schulz 1941, 227f.; Zitate ebd., 227). Schulz spekuliert zuvor, ob die Benedictiones ad mensas einen satirischen Charakter haben (vgl. ebd., 225f.), kommt aber zu dem Schluss, dass es keine Satire sein kann, da eben doch liturgisch korrekte Verse enthalten sind, zudem allgemein formulierte Segen sowie ‚übergeschriebene Gebrauchsvarianten‘ (vgl. ebd., 226f.). 305 Haefele 1980, 459; vgl. Brunhölzl 1992, 442: Ekkehart „sah in der Dichtung zuerst und vor allem die Form“.

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dem Totalitätsanspruch unterliegenden Gelehrten, der stark „zum Organisieren, Klassifizieren und Systematisieren von Wissen [tendierte]“.306 Egli äußert sich nur kurz zu Ekkeharts Schrift307 und hierbei überhaupt nicht über ein Charakteristikum, das für einen Editor – besonders hinsichtlich der Benedictiones ad mensas – nicht gerade unerheblich ist. Allgemein lässt sich Ekkeharts karolingische Minuskel als sorgfältig, wenn auch nicht konsequent gleichartig geschrieben beschreiben.308 Innovativ ist er in der Verwendung seiner Majuskeln, denn er beginnt Eigennamen meist mit einem Majuskelbuchstaben und schreibt

|| 306 Vgl. Eisenhut 2009, 132; Zitat ebd.; vgl. auch Eisenhuts Äußerung zur Frage nach Funktion und Nutzen der Tischsegen: „Eine Antwort dürfte mit der Person Ekkeharts einerseits und mit der Art und Weise des Sammelns und Bewahrens von Wissen im klösterlichen, möglichenfalls im spezifisch schulischen Umfeld zusammenhängen.“ (ebd., 132). 307 Vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, II und IV. 308 Immer noch gute Beschreibung von Ekkeharts Schrift bei Anton Chroust, der Egli hätte zugänglich sein müssen (vgl. Chroust 1904, zu Tafel 6 = LB, S. 154f. und 239f.), jetzt auch ausführliche Charakterisierung bei Eisenhut (vgl. Eisenhut 2009, 204–206 und 210–214); vgl. auch Osterwalder 1982, 59–64. Chrousts Aussage, Ekkehart meide überall das runde, unziale d (vgl. Chroust 1904, zu Tafel 6), ist inzwischen widerlegt (vgl. Hoffmann 1986, Bd. 1, 476, und Bd. 2, Tafel 192, sowie Eisenhut 2009, 210f.); unziales d im Liber Benedictionum findet sich zum Beispiel in den Glossen die (LB, S. 197), dixit (ebd., S. 199) und dubie (ebd., S. 212) – jeweils am Wortanfang. Typisch für Ekkehart ist eine Tendenz zur ‚Skelettierung‘ der Buchstaben (Hinweis und Formulierung ‚Skelettierung‘ von Tino Licht, Heidelberg) und zum Brechen von Rundungen, die schon in älteren Beschreibungen seiner Schrift angedeutet werden: der Bauch des d ist oben oft plattgedrückt, der des p zuweilen ganz eckig; der Schaft des aufrechten d ist unten manchmal rund, manchmal eckig umgebogen; e gibt es auch in eckiger Form; g ist unten meist offen; unten bzw. oben offen sind häufig auch b und p; die Schäfte von m und n können unverbunden sein; die Schulter des r steht oft separat vom Schaft, u.a.m. (vgl. Chroust 1904, zu Tafel 6, und Eisenhut 2009, 210f.; vgl. auch Osterwalder 1982, 61). Die Skelettierung – Zerlegung in Einzelbausteine – und die eckigen Formen machen aus Ekkeharts karolingischer Minuskel bei weitem noch keine frühe gotische Minuskel, in der solche Merkmale dann wieder zu finden sind, aber er schreibt diesbezüglich in einer Weise, wie sie später modern sein wird, und ist dadurch wie bei der Verwendung des zweisilbig gereimten Leoniners seiner Zeit in gewisser Weise voraus. Ebenfalls typisch für seine Schrift sind ein auffallendes, über das Mittelband weit hinausgehendes Minuskel-z in Form einer unten stark nach rechts gebogenen 7 (vgl. Chroust 1904, zu Tafel 6: „zu beachten sind die Formen des z“; vgl. auch Osterwalder 1982, 63, und Eisenhut 2009, 211) sowie besonders ein Majuskel-T, dessen Querbalken zumeist deutlich gespalten und somit mit zwei Strichen gezeichnet ist (vgl. Chroust 1904, zu Tafel 6: „merkwürdig ist der Querbalken von T gebildet“; vgl. auch Weber 2003, 14, und Eisenhut 2009, 212). Auch andere Majuskelbuchstaben aus Ekkeharts Capitalis-Alphabet sind mehr oder weniger auffällig, zum Beispiel das A ohne Querbalken, das H mit manchmal langen Querbalken nach links über den ersten Schaft hinaus, das runde, zuweilen eckige U mit Zierstrich unter die Zeile im letzten Schaft, vor allem ein E und F, bei denen die Köpfe rechts nach schräg oben gehen und im Falle des F in einer Wellenlinie enden, vgl. LB, S. 185 (A, H, U, E), 186 (F) et passim (vgl. auch Osterwalder 1982, 62, und Eisenhut 2009, 212). Das N wird von Ekkehart auch mit Zierstrich im letzten Schaft geschrieben, jedoch nicht so konsequent, vgl. LB, S. 185. Vgl. den Artikel von Lenz im vorliegenden Band.

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dann in Minuskel weiter.309 Dieses paläographische Charakteristikum ist für die Benedictiones ad mensas von Bedeutung. In ihnen finden sich einige Orts- und Personennamen, die im Cod. Sang. 393 sowie in der Edition Eglis mit Majuskel beginnen: Adam (V. 275), Augustinus (Glosse zu V. 248; bei Egli ‚Augustus‘), Bachus (V. 237), Bromius (V. 237), Aeva (V. 275), Gregorius (Titel), Hiberianus (als Adjektiv; V. 196), Itali (V. 195), Lucullus (V. 195), Numantia (V. 256), Orcus (V. 105 und 107), Paulus (V. 262), Petrus (V. 179), Satan (V. 105 und 122) und Ymmo (Titel).310 Aus diesem Rahmen fällt die mit Minuskelbuchstaben am Anfang geschriebene Benennung der Stadt Rom in der Junktur Petre de roma (V. 179)311 und – weniger auffällig – das in allen verwendeten Kasus stets klein geschriebene Nomen sacrum für Christus (V. 9 et passim).312 Es gibt jedoch weitaus mehr Namen, die gemäß Handschrift und nach Ekkeharts Willen mit Großbuchstaben begonnen werden sollen, die aber in den Editionen nicht als solche zu erkennen sind. Gemeint sind die Bezeichnungen bestimmter Speisetiere bzw. -pflanzen und bestimmter Getränke. Ekkehart legte durchaus Wert auf die Verwendung der Majuskel, denn er korrigierte an zwei Stellen innerhalb der Tischsegen die Schreibung eines Namens von Minuskelbuchstabe am Wortanfang zu Majuskelbuchstabe.313 Da der Dichter nicht jede zu segnende Speise und nicht jedes Getränk mit Großbuchstaben beginnt, stellt sich die Frage, welche Namen es sind und ob ein System dahinter steckt. In die Betrachtung kön-

|| 309 Chroust erwähnt dies nur in größerem Zusammenhang: „Zur Hervorhebung des Zeilenanfangs [bzw. Versanfangs], bei Eigennamen und nach stärkerer Interpunktion erscheinen grosse Anfangsbuchstaben, die einem Kapitalalphabet entnommen sind“ (Chroust 1904, zu Tafel 6); diesbezüglich weist er darauf hin, dass für das A statt Capitalis-Form „auch vergrösserte Minuskelform zur Anwendung [komme]“ (ebd.; vgl. Eisenhut 2009, 212). Eisenhut konstatiert, dass Personennamen groß geschrieben sein können, wobei keine Systematik dahinter zu erkennen sei (vgl. Eisenhut 2009, 212). 310 Angeführt sind hier nur die Namen, die nicht am Versanfang stehen und allein schon bedingt durch die Versalien mit einem Majuskelbuchstaben beginnen. 311 Vielleicht steht der Minuskelbuchstabe hier aufgrund der Verwendung in einer Junktur. An anderen Stellen der Handschrift wird Roma im Haupttext mit Majuskel (vgl. LB, S. 4, 25f., 49 und 127), in den Glossen mit Minuskel begonnen (vgl. ebd., S. 23, 25, 47, 135 und 141). 312 Ebenso das Nomen sacrum für deus (V. 1 et passim). Am Anfang von V. 249 steht der Vokativ Christe hiesu (so Liber Benedictionum/Egli 1909, 311), auch in der Handschrift ist hiesu hinter dem Nomen sacrum für Christe ausgeschrieben und beginnt mit einem Minuskelbuchstaben (vgl. LB, S. 195). Das Adjektiv Alemannicus in V. 46 – von Egli im Haupttext durch die ‚Korrektur‘ suetus datus ersetzt (vgl. Liber Benedictionum/Egli 1909, 285, zu V. 46) – ist zwar nicht wie bei Ekkehart an den anderen Stellen üblich mit einem Majuskelbuchstaben in Capitalis geschrieben, aber immerhin mit einem deutlich vergrößerten Anfangsbuchstaben, der zudem noch auf Rasur steht (vgl. LB, S. 187); dies ist genau solch ein a in vergrößerter Minuskelform, auf das Chroust bezüglich der Auszeichnungsbuchstaben hinweist (vgl. Chroust 1904, zu Tafel 6). Groß beginnen gemäß Handschrift auch ‚die bösen Geister‘ in der Junktur Satan et Larvę (V. 122; vgl. LB, S. 190). 313 Capellę korrigiert aus capellę (V. 100; vgl. ebd., S. 189) und Cucurbita aus cucurbita (V. 216; vgl. ebd., S. 194).

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nen manche Namen nicht einfließen, da sie am Versanfang vorkommen und demnach mit einer Versalie beginnen.314 Allgemeine Bezeichnungen wie Brot (panis), Salz (sal), Fisch (piscis), Geflügel (uolucris), Fleisch (caro), Wild (ferina), Milch (lac), Honig (mel), Hülsenfrucht (legumen), Obstfrucht (pomum), Kraut (erba), Wein (uinum) oder Wasser (aqua) sowie sinnverwandte Namen hierzu, Umschreibungen oder Verkleinerungsformen315 sind nicht mit Majuskel belegt, auch wenn sie durch einen Zustand wie coctus, assus, gelidus, piperatus, cum sale mixtus etc. spezifiziert werden. In der Gruppe der Brotspeisen finden sich nur Speisenamen mit Minuskel, und dies ist auch bei der Aufzählung der diversen Getreidesorten für Brote der Fall (panis de spelta, panis sigalinus, …). Fischarten inklusive Biber werden konsequent groß geschrieben316 – außer in Glossen mit althochdeutscher Übersetzung oder in später nachgetragenen Versen, denn hier können die Namen auch mit Minuskel beginnen.317 Für die Vögel gilt das gleiche: große Vogelartnamen,318 die in Nachträgen und den Glossen sowie hier auch bei einer später hinzugefügten Versvariante klein sein können.319 Mit Majuskel beginnt Ekkehart in dieser Gruppe zudem seine Bezeichnung für ‚alles Taubenartige‘ (omne Columbinum), während er die vielleicht von ihm eher allgemein gemeinten pulli (Jungtiere, insbesondere die jungen Hühner) mit Minuskel schreibt. In der Abteilung für Schlachtvieh ist Ekkehart etwas ungenauer bei der Schreibung: Zwar sind die speziellen Bezeichnungen wieder groß bei ihm geschrieben,320 jedoch stehen hier Minuskeln außer in Nachträgen321 bei der adjektivischen – und damit wohl die Kleinschreibung erklärenden – Verwendung von ‚Schaf-‘ (caro ouilla), aber auch bei allen Versen, die mit dem Hausschwein zu tun haben: porcus, caro suilla, noch

|| 314 Mit Versalie beginnen die Namen Azima (V. 17), Triticeus panis (V. 19), Ordea si panes (V. 21), Salmo (V. 44), Illanch (V. 46), Lampreda (V. 49), Anguillę nouies oculatę (V. 54), Cancri (V. 62), Anser (V. 78), Turturea paria (V. 84), Gallina (V. 86), Prado (V. 108), Lardum lixatum (V. 110), Capreus (V. 128), Capreoli (V. 130), Pultes (V. 148), Pulmentum fabę (V. 164), Ficorum grossi (V. 181), Malorum species bzw. Mala (V. 185 und 189; vgl. auch V. 184: Mala Granata), Castaneę (V. 191), Persiceus fructus (V. 192), Semen (V. 204), Erbę omnigenę (mit Variante Caules; V. 212) und Lactucę horti (V. 217). Hier nicht angeführte, am Versanfang stehende Namen lassen sich durch weitere Nennungen im Text den beiden Gruppen (Majuskel oder Minuskel) zuordnen. 315 Zum Beispiel natans für piscis, pisciculus zu piscis, auis oder uolans für uolucris, uolucellus zu uolucris, lactis pressura für caseus, arboribus lectum donum für pomum, munera uitis für uinum, haustus fontis für aqua etc. 316 Huso, Esox, Lucius, Rubulgra, Troctę, salsus piscis Almarinus, Uualara, Fiber, Sturio. 317 trisca (Nachtrag), trocta (Nachtrag, wiederholt am Rand), harinch (Glosse, deutsch), anguuilla (Nachtrag), perca (Nachtrag), rubricus (Nachtrag), rutin (Glosse, deutsch), crundula cum capitone (Nachtrag). Vor der Fischgruppe steht salsura mit Minuskel (ebenso die zugehörige Glosse sulza). 318 Pauo, Phasiana, Cignus, Auca, Grus, Aneta, Coturnix, Columba, Gallus. 319 pauo albus (Glosse), anser et auca (Variante), perdix (Nachtrag). 320 Bos, Agnus, Capella, Edi und Caper. 321 caro bouina (Nachtrag) und vitulus (Nachtrag; das spitze v in diesem Wort reicht etwas über und unter das Mittelband hinaus; vgl. LB, S. 188).

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einmal porcus, porcellus und zweimal uerres. Keiner dieser Namen ist nachgetragen, in eine Glosse gesetzt oder steht auf Rasur – und nur das zu caro adjektivische suilla lässt sich leicht erklären.322 Auch in der Wildsäugergruppe wird ein Name als Adjektiv in einem später eingefügten Vers klein geschrieben verwendet: Hasenfleisch (caro leporina).323 Auffällig beim Wild ist der aus unbekannten Gründen mit Minuskel geschriebene Bär (ursus) sowie die Ausdrücke für das Waldrind (bos siluanus) und das Wildpferd (feralis equus), beide ebenfalls mit einem Kleinbuchstaben. Unter den Milch- und Honigprodukten wird der Käse (Caseus) mit Majuskel begonnen,324 nicht aber lac und mel selbst.325 Bei den folgenden, diversen kleineren Lebensmitteln bis hin zu Eierprodukten ist ein System in der Schreibung am schwierigsten zu erkennen. Die Tendenz ist hier wohl, unbestimmtere Speisen klein,326 bestimmtere groß zu beginnen,327 wobei dann der Essig (acetum) – weil mit Minuskel328 – als allgemeines Lebensmittel eingeordnet werden müsste, was aber nicht unmöglich ist. Für das ebenfalls mit Minuskel geschriebene moretum ist dies wohl weniger möglich, da es ein doch recht besonderes Gericht war. In der Gruppe der Hülsenfrüchte fällt nur die Linse (lens) aus der Reihe,329 der Rest der speziellen Arten steht mit Majuskel.330 Bei den Baumfrüchten ist es wieder etwas schwieriger. Eine deutliche

|| 322 Prado, Lardum lixatum und Carnes conflictę, die zusammen mit den Versen über die Arten des Schweinefleischs genannt werden, beginnen alle mit Versalie und können deshalb nicht zugeordnet werden. 323 Mit Majuskel stehen hier folgende Tiere: Aper, Ceruus (mit Variante Cerua), Ueson, Urus, Damma, Caprea, Capreoli (mit Variante Capreolus), Uerbices, Cambissa und Alpinus Cassus (Alpinus beginnt mit einer Versalie); mit Minuskel der nachgetragene Vers auf caro siluana. 324 In dem nachgetragenen V. 142 auch caseus geschrieben. 325 Der später hinzugefügte V. 140 auf Milch mit Honig, Pfeffer und Wein zeigt einmal den umgekehrten Fall eines Nachtrages, in dem statt Minuskeln Majuskeln gesetzt sein können (Piper und Uinum; Mel mit Versalie; lac auch hier klein). Ziegenmilch steht in der Milch-/Honiggruppe nachgetragen mit klein geschriebenem Adjektiv (lac caprinum), mit Minuskel stehen ebenso nectara mellis und faui/fauus. 326 feruores, quicumque liquores (mit Variante calidi liquores), Arte cibi facti (Arte mit Versalie), Omnia perfusa per hęc piperata (Omnia mit Versalie), pinsę erbę, mixtura, Pinsa pigmenta (Pinsa mit Versalie; mit Variante tunsa pigmenta) und oua (mit Variante ouum). Das Wort pigmentatum steht mit Minuskel im nachgetragenen V. 151. 327 Pultes et Iuttę (Pultes mit Versalie), Sinape/Sinapis, commentę Placentę und Adorea. 328 So auch in der zu V. 154 gehörigen Glosse und in V. 218, in dem acetum noch einmal erwähnt wird. 329 Das Wort steht mit Minuskel sowohl in dem ursprünglichen V. 169 als auch in dem später hinzugefügten V. 170 (rubra coctio als Umschreibung des Linsengerichtes gemäß Gn 25,29–34 steht V. 171 mit Minuskeln auf einer Rasur). 330 Fabę (Pulmentum fabę (?) im nachgetragenen, schwer lesbaren V. 164; Pulmentum mit Versalie), Cicer, Pisę (pisę im nachgetragenen V. 168), Milium (milium im nachgetragenen V. 173 samt zugehöriger Glosse) und Phaselus.

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Mehrzahl wird groß geschrieben,331 unter den nicht nachgetragenen Versen bzw. Glossen stehen mit Kleinbuchstaben: Quitten (tenera lanugine mala), vielleicht weil das Obst nicht konkret genannt, sondern umschrieben wird; Walnuss im Singular (nux), nachdem sie aber im vorangegangenen Vers im Plural mit Majuskel (Nuces) geschrieben worden ist; Nüsse aller Art (genus omne nucum); Birnen (pira), ebenfalls nach einem ursprünglich direkt vorangegangenen Vers mit Majuskel beim Namen (Pyra).332 Die letzte Gruppe vor den Getränken lässt nur die Melonen mit Minuskel unerklärt (pepones), alles andere passt in ein System von Groß- und Kleinschreibung.333 Ekkeharts Benedictiones Potuum – so die Handschrift – beginnen allgemein gehalten, d.h. mit klein geschriebenen Namen: uinum und andere Ausdrücke für Wein, temetum sowie mustum bzw. musta.334 Über einen Vers mit Würzwein (pigmentatum) wird zu den spezielleren Getränken übergeleitet, die fast alle – soweit erkennbar – mit Majuskel beginnen: Sadebaumwein (Sauinatum), Obstwein (Sucus pomorum),335 eingekochter Wein bzw. Rosinenwein (Passum), verschiedene Metsorten (Medo, Mulsa)336 und zwei verschiedene Biersorten (Coelia gloss. i. e. ordeacea ceruisa, Cereuisa/Ceruisa). Ausnahme bleibt nur der Maulbeerwein (Potio facta moris)337 – hier klein geschrieben. Das Grundnahrungsmittel Wasser wird – wie bereits erwähnt – mit Minuskel begonnen. Es lässt sich festhalten, dass Ekkehart bei der Niederschrift der Tischsegen im Liber Benedictionum auf der Haupttextebene die nicht allgemeinen Speise- und Getränkearten wie Eigennamen behandelte – jedoch nicht völlig konsequent, wie einige aus der Reihe fallende, nicht anders zu erklärende Gegenbeispiele zeigen. Später war er – wie eine Betrachtung der nachgetragenen Verse belegt – nachlässiger bei dieser Schreibung. Auf der Glossenebene wendet er sein System der Groß|| 331 Oleę fructus, Cedria poma, Dactilici grossi, Botri, Mala Granata (Mala mit Versalie), cerea Pruna (das Wort cerea ist mit einer Cauda am c (çerea) geschrieben, vgl. LB, S. 193), Cęrasia, Amarinę Hiberianę und Auellanę. 332 Zwischen die V. 186 und 189 sind zwei Verse auf die Wildbirnen (lapidosa pira; in beiden Fällen mit Minuskeln) eingefügt worden. 333 Mit Majuskel: Porri, Allia (auf Rasur mit dem zur Auszeichnung verwendeten größeren Minuskel-a; allium in der zugehörigen Glosse) und Cucurbita; mit Minuskel in nachgetragenem Vers: fungi; in Minuskel auf Rasuren: radices, semen holeris und wohl auch holus. 334 In dieser Aufzählung fällt nur das Wort phalerna (Falerner oder allgemein gute Weine) etwas auf, das mit Minuskel geschrieben ist. 335 Das Wort Sucus steht zwar am Anfang von V. 248 und deshalb mit Versalie, in der zugehörigen Glosse wird es jedoch mit Majuskel begonnen. Ein von Ekkehart im gleichen Vers angebotenes Synonym – sicera – steht in Minuskel, aber auf starker Rasur. In der eben erwähnten Glosse wird es am Anfang der Glosse verwendet – dort mit Majuskel (vgl. LB, S. 195). 336 Auch mulsum mit Minuskel ist im Haupttext zu finden, steht aber in einem Vers auf starker Rasur (V. 254). In einer gegen Ende hin schwer lesbaren Glosse zu V. 253 wird dieses Wort sowohl mit Majuskel als auch mit Minuskel geschrieben. Am Anfang dieser Glosse steht der Name Ypocras mit Majuskel. 337 Potio mit Versalie. In der zugehörigen Glosse steht der Name moracetum mit Minuskel.

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schreibung nur gelegentlich an, bei den althochdeutschen Glossen der Benedictiones ad mensas in keinem Fall. Die Beobachtungen bezüglich der Groß- und Kleinschreibung sind nicht nur Spielerei, sie helfen dabei, den Text im Sinne Ekkeharts zu verstehen. So ist aller Wahrscheinlichkeit nach der oben nicht kommentierte Fisch marina Balena (V. 42) konkret mit ‚Thunfisch‘ statt artenunspezifisch mit ‚Stockfisch‘ und ebenso Damma (V. 127) mit ‚Damhirschkuh‘ statt mit ‚weibliches Rot-, Dam- oder Rehwild‘ zu übersetzen, weil diese Namen mit Majuskeln beginnen. Umgekehrt steht phalerna (V. 232) eher für gute Weine im Allgemeinen statt speziell für die Falernerweine, weil der Name klein geschrieben ist. Gleiches könnte gelten für pulli (Jungvögel allgemein statt speziell Hühnchen; V. 88), für radices (Wurzelgemüse statt konkret Rettich oder Radieschen; V. 203) oder für holus (Grüngemüse statt Kohl; V. 205 und 209). Wenngleich bei Kleinschreibung nicht mit Sicherheit behauptet werden kann, dass Ekkehart das betreffende Wort nicht als Eigennamen auffasst, zumal er in Glossen und späteren Zusätzen oder Korrekturen toleranter war, so muss zumindest bei Großschreibung – wenn ausgeschlossen ist, dass es sich um eine vers- oder interpunktionsbedingte Majuskel handelt338 – davon ausgegangen werden, dass er mit der Auszeichnung des Wortes etwas bezwecken wollte. Außerhalb der Benedictiones ad mensas, in den anderen Dichtungen Ekkeharts, finden sich ebenfalls etliche Tier- und Pflanzennamen. Stichproben, unter anderem mit der Hilfe des Wörterverzeichnisses von Egli, ergeben ein disparates Bild hinsichtlich Groß- und Kleinschreibung: Aus dem Tierreich:339 Agnvs (LB, S. 65 / Liber Benedictionum/Egli 1909, 97), agnus (ebd., 92 / 135), agnum (ebd., 39 / 53), agno (ebd., 65 / 97); anser (ebd., 3 / 3); Apes (nach Zäsur; ebd., 21 / 27), apes (ebd., 3 / 5 und 94 / 139); Aries (ebd., 91 / 135 und 136 / 196); Asellus / Aselli (ebd., 233 / 362); Asinum (nach Zäsur; ebd., 226 / 355); Boue (ebd., 226 / 355); caballi (ebd., 137 / 198, 139 / 201 und 245 / 380); camelus (ebd., 16 / 21); cerastes (Variante; ebd., 84 / 122); columbus (ebd., 162 / 247); Edos (nach Zäsur; ebd., 238 / 368); Elephantem (ebd., 223 / 352); equos (ebd., 139 / 201); Esox (nach Zäsur; gloss. lahs; ebd., 244 / 378); Leo (ebd., 162 / 246), leonis (ebd., 236 / 365); locusta / locustam (ebd., 16 / 20); lupus (auch als Glosse; ebd., 39 / 53), lupos (ebd., 162 / 247); philomela (Glosse; ebd., 80 / 117); oues (ebd., 21 / 27 und 162 / 247); Salamandra (nach Zäsur; ebd., 121 / 174); Sciniphes (auch als Glosse; ebd., 103 / 150 und 103 / 151); serpens (ebd., 64 / 96), serpentis (ebd., 235 / 365), Serpentem (ebd.); ursi (Glosse; ebd., 241 / 374). || 338 Außer für Versalien verwendet Ekkehart Majuskeln in seinen Versen gelegentlich, um die Stelle nach der Zäsur in einem Hexameter (oder auch Pentameter) auszuzeichnen, so zum Beispiel fast durchgehend in den Versus de natale domini pueris circa claustrum post crucem in dominicis canendi (ICL, Nr. 5686; Liber Benedictionum/Egli 1909, 391f.; LB, S. 253f.). In den Benedictiones ad mensas stehen an drei Stellen Namen, die mit einem Majuskelbuchstaben beginnen, nach einer Hexameterzäsur: Caper (V. 102), Caprea (V. 129) und Porrus (V. 210), vgl. LB, S. 189, 190 und 193 bzw. Liber Benedictionum/Egli 1909, 292, 297 und 309. In allen diesen Fällen dürfte die Auszeichnung mit Majuskel jedoch nicht zäsurbedingt erfolgt sein, wie die Betrachtung der anderen Zäsurstellen in den Tischsegen ergibt, an denen Ekkehart in der Regel mit Minuskelbuchstabe weiterschrieb. 339 Die Schreibung der Wörter hier und in den sich anschließenden Gruppen erfolgt wie im Vers.

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Aus dem Pflanzenreich: amigdala (nachgetragen; ebd., 45 / 62), Amigdalus (Glosse, teilweise auf Rasur; ebd., 10 / 13), amigdalus (Glosse; ebd., 81 / 118); ligustra (ebd., 3 / 3); Myrra (ebd., 39 / 53), myrra (ebd., 39 / 53), Myrram (ebd., 226 / 355 und 257 / 393); nardus (ebd., 233 / 362); nux (ebd., 10 / 13 und 81 / 118), nuce (Glosse; ebd., 10 / 13); Rosis (ebd., 167 / 257), rosis (ebd., 3 / 4 und 167 / 257), rosas (nachgetragen; ebd., 168 / 257); sethim (ebd., 92 / 135); sicomori (ebd., 230 / 360); Thus (ebd., 39 / 53 (hier nach Zäsur), 226 / 355 und 257 / 393); urticis (ebd., 258 / 397); Vaccinia (nach Zäsur; ebd., 3 / 3); Yacincti (ebd.), yaicinti [sic!] (Glosse; ebd., 29 / 40), Yacinctis (nachgetragen; ebd., 167 / 257). Varia mit Bezug zu den Tischsegen: Azima (ebd., 65 / 97); phalerna (ebd., 152 / 221); temeta (nachgetragen; ebd., 38 / 51).

Werden jedoch – allerdings wieder nur stichprobenweise – Aufzählungen oder kleinere bis größere thematische Gruppierungen, wie sie ja auch im Fall der Speise- und Getränkesegen vorliegen, aus anderen Bereichen betrachtet, scheint es eine Tendenz zur Schreibung von Namen mit Majuskel zu geben. Gold, Weihrauch und Myrrhe als Gaben der Weisen aus dem Morgenland zum Beispiel werden, wenn sie direkt hintereinander aufgezählt werden, mit Großbuchstaben geschrieben.340 In einer Liste von Edelsteinen fällt nur der mit Minuskel beginnende Topas aus der Reihe: Ametisti; Crisolitos (am Versanfang); Onichân; Sardonicis (am Versanfang); topazios; Yacinctos; Zmaragdos (ebd., 113 / 162).

Sternbilder in zwei aufeinanderfolgenden, zusammenhängenden Abschnitten von ursprünglich je vier Versen werden groß begonnen, während die gleichen Wörter in den zugehörigen Glossen konsequent klein geschrieben sind: Assellos;341 Arietis (am Versanfang); ariete (Glosse); Cancrum; can〈cro〉 (Glosse; auf Rasur); Geminos (teilweise auf Rasur); geminis (Glosse); Taurum; taurum (Glosse) (ebd., 100 / 147).342

In einer längeren Aufzählung verschiedener Insignien wird ebenso verfahren. Die Glossen bestehen alle aus Minuskelbuchstaben, die Herrscher- und Siegeszeichen des Haupttextes werden mit zwei Ausnahmen, von denen eine wahrscheinlich durch eine Rasur bedingt ist, wie Eigennamen behandelt:

|| 340 Thus (nach Zäsur), Aurum, Myrra bzw. an zwei Stellen Aurum (am Versanfang), Thus, Myrram (vgl. LB, S. 39, 226 und 257, bzw. Liber Benedictionum/Egli 1909, 53, 355 und 393). Stehen die drei Wörter in einem Vers, aber nicht in direkter Folge, wird variiert: Thura (am Versanfang), aurum, myrra bzw. Myrra (am Versanfang), aurum, Thus (vgl. LB, S. 39 und 257, bzw. Liber Benedictionum/ Egli 1909, 53 und 393). 341 Die A(s)selli sind zwar kein eigenes Sternbild, gehören aber zum Sternbild Krebs. 342 Vgl. auch die „an den Küchenzettel in den Benedictiones ad mensas erinnernde Aufzählung der Sterne und Sternbilder mit all ihren exotischen Namen“ (Eisenhut 2009, 339) an anderer Stelle (LB, S. 35, bzw. Liber Benedictionum/Egli 1909, 47f.).

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Armilla (am Versanfang; gloss. brachiale); Clauata (gloss. spinulis aureis consuta); Collaria (nach Zäsur; gloss. monilia); Diadema (gloss. circulus capitis); Florea serta (auf Rasur); Imperium (am Versanfang; gloss. gestamen rotundvm); Laurea; Mitra (gloss. cuppula); Palma; Periscelide (nach Zäsur; auf Rasur gloss. †...†illa); prętexta (p auf Rasur; gloss. uestis bellica); Purpura (gloss. augustorvm vestis); Redimicla (nach Zäsur; auf Rasur); sceptra (teilweise auf Rasur; gloss. pro sceptro); Strophium (nach Zäsur; gloss. balteus); Toga (gloss. uestis pacis); Torques (am Versanfang; gloss. circulus colli); Trabea (gloss. uestis monarchię) (ebd., 113 / 163).

Eine eingehende und systematische Analyse der Behandlung von Namen im gesamten Liber Benedictionum kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Die Beispiele mögen aber aufzeigen, dass eine solche durchaus lohnenswert sein könnte, um das Verständnis von Ekkeharts Dichtkunst zu erweitern.

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Helena Leithe-Jasper

Ekkeharts IV. Versus ad domus domini Mogontinę Mehr als nur eine Titulisammlung? Überreichliche Materialfülle [...] verführte mich, mehr Verse zu schreiben, als von dir erbeten [...] exametros plures quam pręcipiendo rogares, me dare (bened. I prol. 2,76–81).1

Diese Worte Ekkeharts IV. von St. Gallen finden sich im Prolog zu seinem umfangreichsten dichterischen Werk, den Benedictiones super lectores. Und etwas weiter (bened. I prol. 2,89) folgt auch noch der Zusatz: eligat inter eos sciolus lectoribus aptos2 – „Der Gelehrte möge aus diesen (Versen) die auswählen, die ihm für die Lektoren (bzw. die Lesungen) geeignet scheinen.“ Die eingangs erwähnte Selbsteinschätzung lässt sich ohne weiteres auch auf ein anderes umfangreiches Werk Ekkeharts übertragen: das 862 leoninische Hexameter umfassende Gedicht zu Themen aus dem Alten und Neuen Testament, das uns in Ekkeharts Autograph, dem Kodex 393 der Stiftsbibliothek St. Gallen als einzigem Textzeugen überliefert ist.3 Der vollständige Titel des Werkes lautet dort (S. 197) Versus ad picturas domus domini Mogontinę, veteris testamenti et novi, Aribone archiepiscopo iubente modulati. eligantur, qui picturis conveniant. Es handle sich somit um eine Titulisammlung zum Alten und Neuen Testament, geschaffen im Auftrag von Erzbischof Aribo von Mainz (1021–1031) für den Mainzer Dom. Und auch hier wird der ‚Benutzer‘ aufgefordert, aus der Fülle das Passende auszuwählen. Mit diesem in Anbetracht der Materialfülle von über 400 Tituli berechtigten Zusatz wird der Titel zugleich wieder relativiert. In seiner uns jetzt vorliegenden Gestalt erinnert das Werk nur noch in seiner Form an eine Titulisammlung; es sind nämlich Disticha, die in der Handschrift optisch zusammengefasst sind durch die abwechselnd mit roter und schwarzer Tinte geschriebenen Initialen. Wenn nun der Grundstein zu einer Titulisammlung auf Anregung von Erzbischof Aribo von Mainz gelegt worden sein mag, – Erzbischof Aribo, der den Wiederaufbau des Mainzer Domes übernommen hatte, seine Fertigstellung 1036 allerdings nicht mehr erlebte4 – so ist das Werk in seiner Gestalt seit dem Eintrag in die Sammelhandschrift durch zahlreiche Ergänzungen verändert worden. Bezüglich seiner

|| 1 Die Textstellen aus Ekkeharts Dichtungen sind (sofern nicht anders angegeben) zitiert nach: Liber Benedictionum/Egli 1909. Die Abkürzungen der Autorennamen und Werktitel folgen der Zitierpraxis des Thesaurus linguae Latinae und des Mittellateinischen Wörterbuches. 2 Vgl. gloss. marg., S. 8. (amplius, ut) eligantur, qui benedictionibus conveniant. 3 Vgl. dazu und zum Folgendem Leithe-Jasper 2001. 4 Vgl. dazu Sträter 1953, 24f.; vgl. auch Arnulf 1997, 227f.

374 | Helena Leithe-Jasper

Datierung lässt sich folgender Zeitrahmen abstecken: Ekkeharts Aufenthalt in Mainz (ab ca. 1022)5 kann als frühestmöglicher Entstehungsbeginn des Werkes angesetzt werden. Es ist allerdings sicher davon auszugehen, dass Ekkehart bis zu seinem Lebensende (ca. 1060)6 daran gearbeitet hat. Die Versus ad picturas domus domini Mogontinę, kurz Mainzer Tituli, sind uns, wie gesagt, in Ekkeharts Autograph überliefert. Ein erster Blick in den Kodex offenbart, wie der Autor seine Dichtungen unermüdlich und immer wieder bearbeitet und erweitert hat. Die Pergamentseiten sind durch heftige Rasuren beschädigt, ja teils durchgerieben und durchlöchert. Dies hat für den heutigen Betrachter zur Folge, dass an manchen Stellen eine korrekte Entschlüsselung des Textes nicht mehr möglich ist. Was für den ganzen Kodex gilt, gilt im Speziellen auch für die Seiten 197–238, die den Text der Mainzer Tituli enthalten. Die Verse umgeben eine große Zahl an Korrekturen, Textvarianten und Kommentaren in Form von Interlinear- wie auch Marginalglossen. Hat Ekkehart schon im Grundtext seinen furor operandi kaum zügeln können, so zeugt die überquellende Fülle an Glossen und Varianten von einem Materialüberfluss, den der Autor seinem Publikum nicht vorenthalten wollte.7 Ein naheliegender Grund für diese emsige Korrekturtätigkeit ist das enge Korsett des Versmaßes, des (oft) zweisilbigen leoninischen Hexameters. Bemerkenswert ist der weitgehend korrekte Umgang mit der Prosodie, allerdings oft auf Kosten einer klaren Aussage. Naheliegendes Vokabular konnte oftmals nicht verwendet werden, weil es prosodisch nicht passte oder sich nicht in das Reimschema fügte. Stattdessen greift Ekkehart auf entlegenes Vokabular zurück. Etliche Neologismen oder semantische Neuprägungen sind diesem Umstand geschuldet.8 Unklarheiten in der Aussage der nun ziemlich ‚dunklen‘ Verse versucht Ekkehart mit einer reichen

|| 5 Vgl. dazu Meyer v. Knonau, 1876, 14–16; vgl. auch Liber Benedictionum/Egli 1909, Iff; Weber 2003, 8. 6 Vgl. Dümmler 1869, 1f. 7 Dieser Variantenreichtum stellt auch jeden Herausgeber der Dichtungen Ekkeharts vor Probleme. Schon in den Mainzer Tituli betrifft dies an die hundert Wortvarianten und auch die eine oder andere Versvariante. Dabei ging Ekkehart nicht sehr konsequent vor, so dass diese Varianten nicht immer mit einem vel-Zeichen markiert über der betreffenden Textstelle oder am Rand zu finden wären. Mancherorts stellt sich dann die Frage, ob der betreffende Ausdruck als Variante oder als Glosse anzusehen ist. Erschwert wird dieser Umstand dadurch, dass Ekkehart sich oftmals nicht endgültig für eine Variante entscheiden, und die andere tilgen wollte. Mit Vorliebe ließ er beide Varianten stehen, um sich eventuell später zu entscheiden, oder gar eine weitere Variante hinzuzufügen. Dies hatte z.B. zur Folge, dass Egli entgegen seiner üblichen Praxis das Distichon V. 31/32, das eine Doublette zum vorangegangenen Distichon darstellt, in seinen Text aufgenommen hat und somit für das gesamte Werk 864 Verse zählt. 8 Z.B. in Ekkeharts IV. pict. Mog. die Neologismen revolamen V. 123 u. 241; connuba V. 139; praeluo V. 302; soporivus V. 392 u. a. m.

Ekkeharts IV. Versus ad domus domini Mogontinę | 375

Glossierung entgegenzusteuern. Dass dies zur Erhellung vieler Unklarheiten auch notwendig war, hat schon Stiftsbibliothekar Ildefons von Arx9 zu seinem Kommentar im Buchdeckel der Handschrift veranlasst: ex verbis et sententiis horum (sc. auctorum) et aliorum opus suum consuit [...], et in formam versuum Leoninorum coegit, tam infelici successu, ut ni ipse notis interlinearibus dicta explicaret, sensum eorum nemo facile assequeretur („Hätte er sein Flickwerk von Zitaten, gepresst in leoninische Hexameter, nicht selbst glossiert, würde ihm keiner so leicht folgen können.“)

Die reichhaltige Glossierung, die den Text begleitet, lässt sich verschiedenen Glossentypen zuordnen.10 So finden sich zum einen Verständnishilfen in Form von syntaktischen Korrekturen oder Ergänzungen. Oftmals wirkt allerdings die Wahl dessen, was glossiert wurde, befremdlich, finden sich doch auch sehr einfache syntaktische Glättungen dabei, oder ein Subjekt wird in einer zweiten Satzhälfte nochmals ergänzt. Manchmal jedoch ist das ergänzte Subjekt oder die nähere Erläuterung eines Pronomens hilfreich, um Zweideutigkeiten zu vermeiden. Zum anderen verwendet Ekkehart die Glossierung gerne, um Zusatzinformationen zu liefern. Dabei handelt es sich teils um Quellenangaben oder Zitate vorrangig aus der Bibel, die er kurz anreißt. Aber er notiert dort auch Hinweise zu rhetorischen Stilmitteln, wie zum Beispiel zur figürlichen Rede, bis hin zu eigenen kleinen Exkursen. All dies findet Platz zwischen den Zeilen oder am Rande. Ein das Werk prägendes Phänomen sind außerdem die zahlreichen typologischen Verweise, auf die ich später noch zu sprechen kommen werde. Wenden wir uns nun dem Werk als Ganzes zu. Der Inhalt der Mainzer Tituli ist entsprechend ihrem Titel eine umfassende Wiedergabe wesentlicher Episoden aus dem Alten und Neuen Testament. Dabei fanden auch Szenen Eingang, die für einen Titulus eher ungewöhnlich sind, wie z. B. das Gebet Vater unser (V. 693/4). Zusätzlich begnügt sich Ekkehart nicht mit einer bloßen Aneinanderreihung einzelner Episoden, sondern versucht die Materialfülle für den Leser durch Variationen in Stil und Abschnittslänge interessant zu gestalten. Manche Szenen werden in einem einzigen Distichon abgehandelt,11 andere füllen mehr als zehn.12 So nehmen Szenen mal einen größeren, mal einen kleineren Raum ein und lockern auf diese Art und Weise die Wiedergabe des Bibeltextes auf. Wie in Summe das ganze Werk den Umfang von Bilderzyklen sprengt, so könnten schon einzelne Episoden dank der Behandlung unterschiedlicher Teilaspekte ganze Bilderzyklen ausfüllen. Teils ist aber die ausführliche Behandlung eines Themas nicht alleine dem Bedürfnis geschuldet, || 9 Ildefons von Arx (1755–1833), seit 1824 Stiftsbibliothekar in St. Gallen. 10 Vgl. dazu und zum Folgenden Osterwalder 1985. 11 Z.B. Turmbau zu Babel, V. 107/8; Hochzeit zu Kana, V. 641/42. 12 Z.B. Brudermord, V. 63–88; Hiob, V. 241–266.

376 | Helena Leithe-Jasper

alle möglichen Aspekte darzustellen, sondern ist auch Spiegel des Ringens des Autors um die sprachlich beste Form. Bei der chronologischen Wiedergabe der Bibelszenen erlaubt sich Ekkehart hin und wieder Freiheiten; so stellt er Szenen um, um einen besseren Aufbau zu garantieren.13 Nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form der Wiedergabe variiert, so wird manche Szene rein narrativ wiedergegeben, andere sind in Dialogform gehalten.14 Häufig sind sie als theologischer15 oder moralischer Kommentar16 gestaltet, oder gar als sachbezogener Exkurs.17 Diese Kommentare sind Zeugnis von der Belesenheit des Autors, der sich unter anderem ausgiebig mit den exegetischen Schriften der Kirchenväter auseinander gesetzt hat.18 Betrachtet man alle diese Gestaltungsmittel in ihrer Summe, dann wird klar, dass Ekkehart zum einen bestrebt war, im Rahmen der Tituli seinen reichen Wissensschatz zu präsentieren, und zum anderen, die Anordnung dieser Fülle abwechslungsreich zu gestalten. Welcher literarischen Gattung gehören nun die Mainzer Tituli an? War der Grundansatz des Werkes noch der einer Sammlung an Bildbeschreibungen, so lassen Umfang des Werkes, Variation in der Gestaltung und Verknüpfung einzelner Episoden durchaus die Vermutung zu, dass Ekkehart damit in Konkurrenz zur Bibelepik treten wollte.

1 Beispiel: Hiob, V. 241–266 Um an Hand eines Beispiels zu demonstrieren, wie Ekkehart eine Szene sprachlich elaboriert und im Aufbau durchdacht gestaltet, möchte ich hier seine Wiedergabe der Geschichte Hiobs präsentieren. Sie zählt mit 26 Versen zu den längsten Einzelepisoden der Mainzer Tituli. Die Erzählung ist in ihrer chronologischen Verortung vor der Moses-Geschichte eingeordnet. Diesen Platz verdankt sie der Interpretation einer Stelle des Buches Genesis (Vulg. gen 36,33), wo unter den Nachfahren Esaus ein König Iobab erwähnt wird, der in christlicher Tradition oft mit Hiob gleichgesetzt wurde.19

|| 13 Z.B. Josef und seine Brüder, Thamar, Pilatus etc. 14 Wobei dazu der Bibeltext meistens das Vorbild ist. 15 Z.B. zur Jungfrauengeburt, V. 490–494. 16 Z.B. zu Judas, V. 755. 17 Z.B. zur Nilüberschwemmung, V. 225. 18 Zeugnis dafür bieten die vielen Glossen aus Ekkeharts Hand im Bestand der St. Galler Kodizes. vgl. dazu Scherrer 1875; Eisenhut 2009, 419–424. 19 Dazu äußerte sich auch Gregor der Große, Greg. M., moral. praef. 1,1: quia enim in libro Geneseos Iobab de stirpe Esau descendisse [...] describitur, hunc beatum Iob longe ante Moysi tempora exstitisse crediderunt.

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Die Geschichte Hiobs lag Ekkehart sichtlich am Herzen; darin folgte er St. Galler Tradition, denn sein Lehrer Notker Labeo hatte das Buch Hiob ins Deutsche übersetzt.20 Leider ist dieses Werk nicht erhalten. Ekkehart hat sich mit Gregor dem Großen und seinen Moralia in Iob ausgiebig befasst (vgl. bened. I 13), davon zeugen viele Spuren innerhalb von Ekkeharts Werken. Vor diesem Hintergrund erstaunt es auch nicht, dass sich Ekkehart mit der Ausgestaltung der Hiob-Szene besonders Mühe gab. Er feilte wohl auch längere Zeit daran, was drei eingefügte Verspaare (V. 249f., 253f. und 263f.) bezeugen, mit denen Ekkehart den Aufbau dieser Episode noch zu verbessern suchte (hier durch Asterisk gekennzeichnet). Zur betreffenden Szene im Einzelnen, es handelt sich dabei um die Verse 241–266: Post perlustratas volucri revolamine terras Astiterat domino Satanas admissus ab ipso. Numquid, ait dominus, similem Iob tamque fidelem Invenis in terris, toties quas transfuga verris? 245 Et Satan1: an frustra bonus est2, benedictio vestra Quem sic vallavit, et opes sibi3 multiplicavit4? En bona5 do6, frangas, carnem7 volo ne sibi tangas, In qua8 maiorem meus ille meretur honorem9. *Iob damnis quatitur, substantia nullificatur, 250 *Nec labat afflictus: dominus sit, ait, benedictus, Perdidit ut gratos cum supellectile natos. Astat item domino Satanas permissus ab ipso: *Num Iobis ęquiparem, non quęro scias potiorem, *Dic mihi, per terras, quas circuis atque pererras. 255 Pellem10 pro pelle 〈...〉21 hominem dare velle In carnem11 permitte12 manum13 da〈bo〉 Iob cito vanum14. Carnem15 do, frangas16, animam17 volo18 non mihi tangas; Huic19 iam maiorem patientia20 sanxit honorem.

(p. 209)

Iob Satan, ut dixit, velud in sartagine frixit. 260 Ille dolore cadit, testa ulcera 21stercore radit. Ore22 dabant festo23 reges solamina męsto: Hos fractus24 fregit25, victos ratione subegit. *Iam volo vos mutos, deus inquit, magna locutos, *Iob verbis potior petat et vobis miserebor. || 20 So Notkers eigene Auskunft in seinem Brief an Bischof Hugo von Sitten, vgl. Hellgardt 1979, 173,26: Iob quoque incepi, licet vix tertiam partem exegerim. Ekkehart spricht in seinen Benedictiones super lectores allerdings sowohl vom Buch Hiob, als auch von den Moralia Gregors des Großen: Ekkeh. IV. bened. I 44,64–67. V. 66 Gregorii pondus dorso levat ille secundus glossiert mit moralia Teutonice. Vgl. zur Frage, ob Notker nun das Buch Hiob oder Gregors Kommentar übersetzte, Wolf 1961, 156f. 21 Die Lücke, die durch heftige Rasuren und zahlreiche Korrekturen entstanden ist, dürfte sinngemäß mit einem Ausdruck zu schließen sein, der unterstreicht, dass das Ergebnis auf der Hand liegt, wie z. B. patet hic oder certum est, clarum est.

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265 Iob sospes vivit, substantia dupla redivit, Proleque septena datus est, ętateque plena. Glossen: 1 ait. 2 ille. 3 illi. 4 benedictio vestra. 5 eius. 6 permitto tibi. 7 eius. 8 carne. 9 multis virtutibus per eam factis. 10 ait. 11 eius. 12 mihi. 13 potestatem. 14 laudis tuę indignum. 15 eius. 16 ut crucies. 17 eius. 18 ut. 19 animę. 20 eius. 21 scilicet in. 22 sermone. 23 id est acuto. 24 dolore. 25 verbo.

Übersetzung:22 Nachdem er die Länder im Vogelflug durchstreift hatte, stand Satan vor dem Herrn, von ihm selbst vorgelassen. „Findest du etwa,“ spricht der Herr, „einen, der Hiob ähnlich oder ebenso gläubig ist, in (all) den Ländern, die du sooft als Flüchtiger streifst?“ (245) Darauf entgegnet der Satan: „Ist er denn ohne Lohn gut? Er, den euer Segen so schützte und die Schätze ihm vervielfachte?“ „Siehe, ich lasse zu, daß du die Güter zerbrichst. Ich will aber nicht, daß du seinen Leib antastest, durch den mein Knecht eine höhere Ehre verdient.“ Hiob wird von Verlusten erschüttert, sein Vermögen ruiniert; (250) nicht jedoch schwankt der Bedrängte. „Der Herr“, so spricht er, „sei gesegnet!“ Als er die lieben Kinder vernichtet hat, samt dem Hausgerät, steht Satan wiederum vor dem Herrn, von ihm selbst vorgelassen. „Ob du etwa einen kennst, der Hiob gleicht, sage mir – ich frage nicht nach einem, der ihm überlegen – in (all) den Ländern, die du bewanderst und durchirrst.“ (255) „Daß Haut für Haut der Mensch geben will , erlaube mir, an seinen Leib Hand anzulegen. Rasch werde ich Hiob so nichtig machen.“ „Ich erlaube dir seinen Leib zu quälen; ich will aber nicht, daß du mir seine Seele anrührst, denn dieser hat seine Duldsamkeit schon eine höhere Ehre bestimmt.“ Satan hat, wie er es sagte, Hiob wie in der Pfanne geröstet. (260) Jener stürzt vor Schmerz und reibt mit einer Scherbe die Geschwüre im Dreck sitzend auf. Mit festlichem Mund wollten die Könige Trost dem Betrübten spenden. Diese brach der Gebrochene und bezwang mit seiner Argumentation die Besiegten. „Schon will ich euch stumm“, spricht Gott, „die ihr groß daherredet. Hiob, mächtiger an Worten, soll für euch bitten, dann werde ich mich eurer erbarmen.“ (265) Hiob lebt wohlbehalten, sein Vermögen kehrte verdoppelt zurück; mit siebenfacher Nachkommenschaft wurde er beschenkt und mit hohem Alter.

Ekkehart folgt in seiner Erzählung eng dem Bibeltext und baut auch einige wörtliche Zitate in seine Verse ein.23 Inhaltlich beschränkt er sich fast ausschließlich auf die Wiedergabe der Rahmenhandlung aus den Kapiteln 1, 2 und 42 des Buches Hiob.

|| 22 Übersetzung nach Leithe-Jasper 2001, 38. 23 Vulg. Iob 1,7–10. cui dixit Dominus: „unde venis“, qui respondens ait: „circuivi terram et perambulavi eam“./ dixitque Dominus ad eum: „numquid considerasti servum meum Iob, quod non sit ei similis in terra“ [...],/ cui respondens Satan ait: „numquid frustra timet Iob Deum;/ nonne tu vallasti eum“ eqs. – Iob 2,4f. cui respondens Satan ait: „pellem pro pelle et cuncta, quae habet homo, dabit pro anima sua.“/ „alioquin mitte manum tuam et tange os eius et carnem.“ – Iob 42,7 „non estis locuti coram me rectum sicut servus meus Iob.“

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Wollen wir zunächst einen Blick auf den Aufbau der Episode werfen. Die 13 Disticha verteilen sich auf drei Einheiten: fünf Disticha zu den ersten Prüfungen Hiobs, fünf Disticha zu den zweiten Prüfungen Hiobs und drei Disticha zum Ausgang der Geschichte. Die beiden ‚Prüfungseinheiten‘ sind wiederum parallel aufgebaut. Ein einleitendes Distichon ist der Handlungswiedergabe gewidmet, wobei jeweils im zweiten Vers der Auftritt Satans geschildert wird. Darauf folgen in jeweils einem Verspaar Gottes Frage an Satan, die Antwort Satans und die Antwort Gottes darauf. Das fünfte und letzte Distichon jeder dieser Einheiten gibt die Auswirkungen dieses Gesprächs auf Hiob wieder. An diese beiden parallelen Einheiten zu den beiden Prüfungen Hiobs schließen sich drei weitere Disticha an. Zuerst wird wieder in einem Verspaar eine Handlung geschildert, nämlich wie die Freunde Hiobs diesen besuchen, um ihn zu trösten, bzw. weise Ratschläge zu geben, und Hiobs Reaktion darauf. Es folgt eine Rede Gottes über die Freunde, und zuletzt in den Versen 265/266 der Ausgang der Erzählung – die Wiedergutmachung an Hiob. Bezüglich dieser Rahmenhandlung folgt Ekkehart genau der Bibel. Auch dort begegnet man den zwei Prüfungen, die parallel gestaltet sind. Die Frage Gottes an Satan ist in der Bibel sogar zweimal wörtlich gleich. Eine so bibelnahe parallele Gestaltung hätte die ursprüngliche Fassung der Tituli noch nicht ergeben, sondern ist vielmehr dem Einfügen zusätzlicher Verspaare geschuldet. Auffälligstes Beispiel dazu sind die Verse 253/254, die die zweite Frage Gottes beinhalten. Bei Ekkehart handelt es sich dabei allerdings nicht um eine wörtliche Wiederholung der ersten Frage (V. 243/244), wie in der Bibel, sondern er variiert und steigert. Dieses Mal wird gleich klar gestellt, dass nur ein vergleichbarer Mensch gesucht werden kann, denn einen besseren kann es gar nicht geben: non quęro ... potiorem (V. 253). Insgesamt fällt der große Anteil an direkter Rede in dieser Episode auf. Natürlich liegt die Wurzel dazu im Bibelbericht: Gerade das Buch Hiob zeichnet sich durch seine Streitgespräche aus. Umso wichtiger erschien es wohl Ekkehart, dieser Form mit dem Einfügen weiterer Verse gerecht zu werden.24 Bevor aber der erste Dialog anhebt, setzt Ekkehart episch breit mit der Erzählung der Rahmenhandlung ein. Es wird geschildert, wie Satan im Vogelflug über die Lande streift und schlussendlich vor Gott tritt. Wenn man bedenkt, dass Satan in der kirchenväterlichen Exegese zu Bodenhaftung verdammt ist,25 ein bemerkenswertes Bild. In der Gestaltung dieses Bildes fühlen wir uns vielmehr an epische Szenen der Mythologie erinnert, an Götterboten, die vor Jupiter treten, oder an geflügelte Furien wie Allecto in Vergils Aeneis, deren Rundflug so gar nicht dem Willen des Göttervaters ent|| 24 Ekkehart verwendet in seinen Tituli gerne die direkte Rede, für diese literarische Gattung nicht unbedingt ein naheliegendes Stilmittel. Vgl. z. B. die Szenen der Verkündigung des Johannes an Zacharias (V. 575–582) oder die von Jesus an Maria (V. 591–598). 25 Vgl. dazu Greg. M., moral. 2,7: perambulans ergo terram circuit, quia ab illo spiritalis potentiae volatu corruens, malitiae suae pressus gravedine und 2,65: et notandum quod non transvolasse, sed perambulasse se asserit.

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spricht.26 Nebenbei bemerkt zeigt sich Ekkehart in dieser Szene nicht nur inhaltlich kreativ, sondern ist dies auch auf sprachlicher Ebene: revolamen (V. 241) ist nämlich ein Neologismus, gebildet wohl zu revolare.27 Satans Auftritt vor Gott entspricht wörtlich dem Bibeltext. Ekkehart fügt allerdings noch hinzu: admissus (bzw. permissus V. 252) ab ipso. Die Zulassung vor Gott bedarf erst dessen Genehmigung. Die Formulierung erinnert dabei an die Zulassung zu einer Audienz eines Königs. Das Herumstreifen des Satans jedoch entspricht wieder der Bibel. So fragt Gott Satan vor der zweiten Prüfung, wo dieser sich in der Zwischenzeit aufgehalten habe, und dieser antwortet: circuivi terram et perambulavi eam (Vulg. Iob 2,2). Damit lässt sich gut das Versende des eingeschobenen Verses 254 vergleichen: per terras, quas circuis et pererras. pererrare hat zusätzlich noch die Konnotation des Herumirrens. Das passt auch gut zu dem Bild, das Ekkehart vom Satan schon in Vers 244 entworfen hat, wenn er ihn als transfuga bezeichnet, als Flüchtling, als Heimatlosen. Noch ein paar Worte zu den abschließenden Verspaaren. Den Hauptteil des Buches Hiob füllen etliche Steitgespräche zum Thema Gerechtigkeit und Weisheit, die drei Freunde mit dem leidenden Hiob führen. Diese versuchen ihn darin von seiner angeblichen Schuld zu überzeugen. Abschließend stellt Gott den Freunden ein schlechtes Zeugnis aus, sie hätten über ihn (Gott) nicht recht gesprochen, so wie es sein Knecht Hiob getan hat. Nur auf Hiobs Fürbitte hin würde er ihnen sein Erbarmen schenken: Vulg. Iob 42,7: iratus est furor meus in te et in duos amicos tuos, quoniam non estis locuti coram me rectum sicut servus meus Iob. In Ekkeharts Einschätzung sprechen die Freunde ore festo – ‚mit erhabener Rede‘ (V. 261), was er zusätzlich noch mit acuto – ‚scharfsinnig, spitzfindig‘ glossiert. Hiermit begeben wir uns in den Bereich der rhetorischen Terminologie. acutum ist Fachterminus und bezieht sich beim Ornat der Rede auf das pointierte, spitzfindige Formulieren.28 Ekkehart verurteilt hier die der Rhetorik verpflichteten Freunde, die auf eine geschliffene Rede mehr Wert legen als auf die Wahrheit des Glaubens, der Hiob verpflichtet ist.29 Deswegen werden sie von ihm besiegt: hos fractus fregit, victos ratione subegit (V. 262). Und ein weiteres Mal wird diese Rhetorik der Freunde negativ dargestellt: Anstelle des non rectum loqui der Bibel spricht Ekkehart schärfer von magna locutos. Dieser Ausdruck ist eindeutig negativ besetzt und ist im Deutschen wohl mit ‚groß daher reden‘ wiederzugeben. Dies ist in der Bibel jedoch vor allem jemand anders vorbehalten. In der Offenbarung heißt es: Et datum est ei os loquens magna

|| 26 Verg. Aen. 7,557f.: te (Allecto) super aetherias errare licentius auras/ haud pater ille velit. 27 Diesem Neologismus begegnen wir bei Ekkehart noch ein zweites Mal, und zwar in pict. Mog. 123; hier schwankt der Autor allerdings zwischen den Formen revolamine und revolumine. Auch dies ein sonst nur sehr selten belegter Ausdruck (vgl. z.B. Ioh. Scott. carm. 9,80). 28 Vgl. Lausberg 1960, §540,3. 29 Vgl. auch Iob 13,4ff. prius vos ostendens (sc. Iob) fabricatores mendacii et cultores perversorum dogmatum; [...]/numquid Deus indiget vestro mendacio, ut pro illo loquamini dolos.

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et blasphemiae (Vulg. apoc. 13,5) – „Und es wurde ermächtigt, mit seinem Maul anmaßende Worte und Lästerungen auszusprechen.“30 Es ist die Rede von dem dem Meer entstiegenen Tier der Apokalypse, dem Boten des Drachen. Die Rhetorik der Freunde wird somit durch die Konnotation eindeutig in die Nähe Satans gerückt. Diese Darstellung ist bei Ekkehart kein Einzelfall. Findet sich doch eine (Art) Rhetorikschelte auch unter den Benedictiones super lectores (bened. I 40). Dort ruft der Autor zu Beginn Satan auf zu schweigen. Die heilige Kirche sei nicht seine Rednerbühne. Seine Zunge ist in Schranken gewiesen linguam coercent (V. 2),31 glossiert mit astute ornatam tuam32. Und diesen ersten Abschnitt beschließt Ekkehart dann noch mit den Worten (V. 6f.): postquam te (Satan) factor cruce fregit, non eris actor/ scęnicus et plausus tuus est per saecula clausus. - „Nachdem der Schöpfer am Kreuz dich gebrochen hat, wirst du keine Rolle mehr spielen, und der Applaus der Bühne bleibt dir in Ewigkeit verschlossen.“ Wohl kein zufälliger sprachlicher Anklang an unsere Stelle. Hiob hat nicht nur die Argumentationen der Freunde überwunden, sondern auch die des Satans. Resümierend lässt sich zu der besprochenen Episode Folgendes sagen: – Ekkehart widmet viel Aufwand der Gestaltung einer ihm wichtig erscheinenden Episode. – Sein Gestaltungswille ist am Umfang der Szene, wie auch an ihrem symmetrischen Aufbau abzulesen. – Diesen Aufbau arbeitete er allmählich im Laufe seiner Überarbeitung des Textes schärfer heraus. – Ekkehart überträgt Bibelzitate wörtlich in den Rahmen seiner Dichtung. – Er verwendet für seine Gestaltung durchaus epische Elemente und orientiert sich z. B. an Vergils Aeneis. – Eine zusätzliche Deutungsebene erschließt sich durch die Berücksichtigung der Benedictiones super lectores als parallel entstandenes und in einer Wechselbeziehung stehendes Werk. Vielleicht ist es kein Zufall, dass diese lange Episode mehr oder weniger den Abschluss der ersten Hälfte der Erzählungen zum Alten Testament bildet. Auf alle Fälle beleuchtet das Thema des geprüften Hiob, der der Versuchung widersteht und somit seinen Kampf gegen den Satan gewinnt, einen Hauptaspekt dieser typologisch geprägten Bibelparaphrase.

|| 30 Übersetzung der Bibelstellen nach der Einheitsübersetzung, Stuttgart 1980. 31 Vgl. volo vos mutos im Vers 263. Auch die Freunde sollen verstummen, da sie nicht rectum gesprochen haben. 32 Egli liest hier fälschlich acute.

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2 Beispiel: Kreuzigung und Auferstehung, V. 795–818 Das ganze Werk ist gesäumt von typologischen Bezügen.33 Auch darin folgt Ekkehart der Tradition der exegetischen Kirchenväter-Literatur. So wurden, um die Einheit von Gottes Offenbarung im Alten und Neuen Testament zu manifestieren, bzw. das Alte Testament christologisch zu deuten, Szenen und Gestalten daraus auf ihren vorausweisenden Charakter geprüft und in Bezug zu Christus bzw. der Kirche gesetzt.34 Dieser Praxis folgte auch Ekkehart. Die ständigen Querbezüge zwischen Altem und Neuen Testament verstärken den Eindruck, dass die Tituli nicht nur Einzelgeschichten wiedergeben sollen, sondern dass sie als Teile einer zusammenhängenden heilsgeschichtlichen Darstellung aufzufassen sind.35 Ekkehart wandte verschiedene Methoden an, um Bibelszenen typologisch zu kommentieren. Die einfachste davon war es, durch bloße Glossierung mit Worten wie Christus, crux oder ecclesia alttestamentarische Episoden oder Personen in Bezug zu Christus oder der Kirche zu setzen. Aber auch in den Grundtext der Tituli fügt Ekkehart gerne Elemente typologischer Deutung ein. Dies konnte durch Einflechten von Elementen aus dem Neuen Testament in den alttestamentarischen Bereich geschehen. Oder auch durch eine gezielte Wortwahl, wie ‚hier zum ersten Mal‘ oder ‚schon damals‘.36 Eine besondere Vorliebe hat Ekkehart dabei für Wortbildungen mit dem Präfix ‚prae-‘ entwickelt. Gestalten des Alten Testaments werden zu praefiguratores (vgl. bened. I 21,30). Sie vollziehen Handlungen vorausdeutend auf Christus. Diese typologischen Verweise verwendet Ekkehart nicht nur im Laufe der Paraphrase des Alten Testaments, sondern er setzt auch gezielt alttestamentarische Szenen in den Handlungsablauf der Kreuzigungs- und Auferstehungsszene. Dabei muss man erwähnen, dass diese sowohl inhaltlich, wie auch gestalterisch den Höhepunkt des Werkes darstellen. Dem Antitypus Christus mittels dieser Versatzstücke seine Typoi des Alten Testaments gegenüberzustellen, erfüllt eine ähnliche Funktion wie Vergleiche in epischer Dichtung.37 Um es überspitzt zu formulieren: Christi Aristie wird anhand der präfigurierenden Gestalten des Alten Testaments dargestellt, deren Taten – typologisch gedeutet – schon allesamt Christi Taten sind, die dieser dann durch seinen Kreuzestod und seine Auferstehung noch übertrifft. Zu den betreffenden Szenen im Einzelnen: Es handelt sich dabei um die Verse 795–818.

|| 33 Dies nicht nur in den Mainzer Tituli, sondern auch in den Benedictiones super lectores. 34 Vgl. dazu z. B. Ohly 1988, 23. 35 Vgl. dazu und zu Folgendem: Leithe-Jasper 2010, 289–304. 36 Z.B. primus: Ekkeh. IV. pict. Mog. 66 (gloss.); ante: bened. I 19,54; post(ea): pict. Mog. 73 (gloss.). 132 (gloss.); iam tunc: bened. I 18,35. 19,35 (gloss.). pict. Mog. 75. et al. 37 Vgl. auch Formulierungen wie sicut Christus patri als Glosse zu Isaaks Zustimmung homo consentit patienter (Ekkeh. IV. pict. Mog. 150).

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795 Hosti sternendo1 cruce congressus moriendo Iuste damnandi luit omnipotens mala mundi. In cruce congressus Christo Satan atque repressus Se stupet invito portas patuisse Cocito. Si 2tibi serpentis noceant ictus ferientis, 800 Aspice serpentem, cito te facit ille valentem. Hac specie postes titulat cruor et fugat hostes: Hac puer ille datus trahit ad se cuncta rogatus. Proximior lęto sitiens potatur aceto. Matrem discipulo legat3 castamque pudico. 805 Ecce deo plenus patitur Iesus Nazarenus, Rex resipiscentum4 peccata fatendo dolentum. (p. 236) Ossa dei Christi recipit nova petra sepulcri5, Ipse levans animam patri sibi porrigit unam. Morsum dans6 baratrum victor cruce Christus in atrum 810 Solus inambustus7 spoliis remeavit onustus. Ecce soporatus Samson novus atque ligatus Exilit, ut stuppa solvuntur vincula8 rupta. Robora Samsonis superans9 stragemque leonis, Antę Gazae10 portis dominus surrexit apertis. 815 Hinc11 nimis infestus ait angelus inde12 modestus: Ut iam prędixit13: Dominus, gaudete, revixit. Hic gemini testes, quibus ut nix candida vestes, Asseruere deum de morte tulisse tropheum. Glossen: 1 diabolo. 2 o quicumque. 3 commendat. 4 Iudeorum, id est fatentium. 5 nova machina busti a. corr. 6 non omnes transferens. 7 omnium hominum. 8 nervora a. corr. 9 maior illis. 10 inferni. 11 custodibus. 12 mulieribus. 13 vobis.

Übersetzung:38 (795) Mit dem zu vernichtenden Feind am Kreuz zusammengetroffen, büßt durch das Sterben der Allmächtige die Sünden der Welt, die zu Recht zu verdammen ist. Mit Christus am Kreuz zusammengetroffen und überwunden staunt der Satan, daß gegen seinen Willen die Tore der Unterwelt sich geöffnet haben. Wenn dir die Schläge der zubeißenden Schlange Schaden zufügen, (800) dann blicke die Schlange an; rasch macht dich jene gesund. In dieser Gestalt kennzeichnet das Blut die Pfosten und vertreibt die Feinde. In ebendieser zieht der (uns) geschenkte Knabe auf Bitten alles an sich. Dem Dürstenden, der schon nahe dem Tode ist, gibt man Essig zu trinken. Er vertraut die reine Mutter dem keuschen Jünger an. (805) Siehe, von Gott erfüllt stirbt Jesus von Nazareth, der König derer, die zur Einsicht kommen und durch das Bekennen ihrer Sünden diese bereuen.

|| 38 Übersetzung nach Leithe-Jasper 2001, 50.

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Ein neues Felsengrab empfängt die Gebeine Christi, des Gottes. Er selbst hebt seine Seele und reicht sie dem Vater als ihnen (gemeinsam) eine. Christus, der Sieger durch das Kreuz, versetzte einen Biß der finsteren Hölle (810) und kehrte als einziger unversengt, beladen mit Beute zurück. Siehe, ein neuer Samson, schlafend und gebunden, springt auf, und wie Flachs zerreißen die Fesseln. Der Herr übertrifft die Kräfte Samsons und das Niederringen des Löwen. Er erstand auf, nachdem er zuvor die Pforten von Gaza geöffnet hatte. (815) Es spricht der Engel, hier sehr drohend, dort mild: „Wie er euch vorausgesagt hat: Der Herr, freuet euch, ist auferstanden.“ Hier bestätigten die beiden Zeugen, die ein Gewand anhaben, weiß wie Schnee, daß Gott den Sieg über den Tod errungen hat.

Zum Aufbau der Szenen: die ersten sechs Verspaare sind der Schilderung der Kreuzigung und des Kreuzestodes Christi gewidmet. Die ersten beiden davon bieten einen episch gestalteten Bericht des Kampfes zwischen Christus und Satan und stimmen somit auch auf das Hauptthema der Überwindung des Satans, des Todes durch das Kreuz ein.39 Darauf folgen zwei Disticha typologischen Inhalts, des Weiteren ein rein narratives Verspaar, das zwei Szenen in sich vereint: der dürstende Jesus, dem ein Essigschwamm gereicht wird, und Jesus, der seine Mutter dem Jünger Johannes anvertraut, und anschließend ein Titulus zur Kreuzesinschrift.40 Darauf folgen sechs Disticha zur Grablegung und Auferstehung. Zuerst ein narrativer Titulus zur Grablegung Christi,41 dann ein episch gestaltetes Verspaar, das Christi Überwindung der Unterwelt wie eine der Taten des Herkules schildert. Daran schließen sich zwei Verspaare typologischen Inhalts an. Den Abschluss bilden zwei weitere narrative Verspaare, die die Verkündigung der Auferstehung Christi durch den Engel bzw. zwei Engel am Grab beinhalten. In Summe betrachtet fällt auf, dass Ekkehart einige Episoden aus der Kreuzigungsgeschichte, die eigentlich für eine bildliche Wiedergabe geradezu prädestiniert wären, weglässt: Die Kreuztragung, die Schächer am Kreuz, das Losen um die Kleider Jesu, die Kreuzabnahme, den zerrissenen Vorhang im Tempel. Nur wenige Bibelszenen sind gewählt, und dabei ist – auch dies fällt auf – die Chronologie der Ereignisse nicht immer eingehalten.42 Hinzu kommt, dass die Szene der Verkündigung der Auferstehung Christi in zwei Tituli abgehandelt wird – und zwar einmal nach dem Matthäus-Evangelium (ein Engel), und einmal nach dem Evangelium nach Lukas (zwei Engel/junge Männer).

|| 39 Zur Rolle Satans in Bezug zur Unterwelt vgl. Kelly 2002, 128f. 40 Am Rand mit In tabula superscriptionis glossiert. 41 Am Rand mit Epitaphium domini glossiert. Der zweite Vers (V. 808) knüpft sprachlich an die Darstellung des Kreuzestodes nach Lukas an: pater in manus tuas commendo spiritum meum (Vulg. Luc. 23,46). In erster Linie ist der Vers jedoch als Zitat aus den Psalmen zu sehen: Vulg. psalm. 24,1 ad te, Domine, levavi animam meam. 42 Nach dem Evangelium nach Johannes käme zuerst die Kreuzesinschrift, dann die Szene mit Maria und Johannes und als letzte der von Ekkehart erwähnten, der Essigschwamm.

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Betrachten wir nun die typologischen Szenen genauer. Mit dem Verspaar 799/800 erweitert Ekkehart die Szene des Kreuzestodes Christi durch Hinzufügen des Typus der ehernen Schlange. Diese Szene aus dem Buch Numeri (Vulg. num 21,8f.) fehlt im chronologischen Ablauf der Bibelparaphrase.43 Die schon bei den Kirchenvätern verbreitete Deutung der ehernen Schlange als Typus für den Gekreuzigten, bei dessen Betrachtung den Gläubigen Heil widerfährt, basiert auf einer Stelle des Johannes-Evangeliums. In Vulg. Ioh. 3,14f. spricht Jesus über den Menschensohn: et sicut Moses exaltavit serpentem in deserto, ita exaltari oportet Filium hominis/ ut omnis, qui credit in ipso non pereat, sed habeat vitam aeternam. („Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, das ewige Leben hat.“)44

Stilistisch fällt auf, dass sich der Autor mit diesem Verspaar direkt an den Leser wendet: tibi V. 799 ist glossiert mit o quicumque, und auch der Imperativ aspice V. 800 und folgendes te facit valentem beziehen den Leser in das Geschehen und somit auch in das Heil durch das Kreuz mit ein. In einem Verspaar haben wir somit den präfigurierenden Typus der ehernen Schlange, die neutestamentliche Erzählung des Gekreuzigten und die Auswirkungen auf die Gegenwart vereint.45 Im folgenden Verspaar wechselt Ekkehart zu einer weiteren typologisch gedeuteten Szene des Alten Testaments, nämlich zum Paschafest, bei dem die Israeliten die Türpfosten und den Türsturz mit dem Blut des geopferten Paschalammes bestrichen. Der Gedanke der Abwehr, vergleichbar mit dem Blick auf die eherne Schlange, wird weitergesponnen: Wie das Blut des Opferlammes den Feind abhält, so hält das Opferlamm Christus mit seinem am Kreuz vergossenen Blut das Böse ab. Formal wird der typologische Bezug in diesem Distichon schon durch das einleitende hac specie – ‚in dieser Gestalt, Form‘ unterstrichen, das sich auf das Kreuz, bzw. die Kreuzform bezieht. Ekkehart betont hierbei, dass die Israeliten die Türen mit dem Blut des Opferlammes kreuzförmig benetzten. Dieser Gedanke ist schon im Titulus || 43 Anders in den Benedictiones super lectores 23 (Vitalia ligni sanctae crucis, quod vitale nominant), wo die Schilderung der ehernen Schlange eingebettet ist in die restlichen Episoden der Geschichte von Moses; vgl. bened. I 23,26. 44 Caes. Arel. serm. 112,1: nunc vero humanum genus, quod a spiritali serpente diabolo percussum fuerat, Christum credendo respicit, et sanatur [...]; nisi quisque in Christum crediderit crucifixum, diaboli veneno perimitur. 45 Ähnliche Formulierungen wie in diesem Distichon finden sich im gleichen Kontext auch in den Benedictiones super lectores, vor allem in den Benedictiones 17, die der Karwoche gewidmet sind. Dort lesen wir in Vers 39 in cruce serpenti benedictio morsa medenti, V. 49 pendet serpentis dare vitam forma valentis und V. 52 ydris languentes serpens fac celse valentes. All diesen Textstellen gemeinsam ist ihr Bezug zur Kreuzigung und die direkte Nachbarschaft zu der auch hier erwähnten typologischen Szene des Paschafestes.

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zur Schilderung des Paschafestes V. 290 zu finden,46 den Ekkehart mit in modum crucis überschreibt. Und auch in seinen Benedictiones super lectores macht Ekkehart davon mehrfach Gebrauch. In bened. I 19,57 lesen wir z. B. quod titulet rite cruor is signacula vitę – „Weil das Blut dem Ritus gemäß anzeigt die Zeichen des Lebens“, wobei er signacula ebenfalls mit crucem in postibus glossiert.47 Die Formulierung titulat in Vers 801 erscheint in unserem Kontext eher ungewöhnlich.48 Sie verstärkt jedoch nur den Bezug von Typus und Antitypus. Das Blut ‚markiert‘ oder ‚bezeichnet‘ die Pfosten der Tore, von denen Unheil abgehalten werden soll, wie eine Inschrift – eben wie die Inschrift am Kreuz stellvertretend steht für den Herrscher der Welt, der Unheil durch sein Kreuz abwehrt.49 Oder es präfiguriert (so die Glosse zu titulet in der genannten Benedictiones-Stelle) die signacula vitę – eben crucem, das Kreuz Christi. Der folgende Vers 802 birgt Anspielungen auf zwei Bibelstellen. Zum Einen handelt es sich dabei um Vulg. Ioh. 12,32 et ego si exaltatus fuero a terra, omnia traham ad me ipsum – „Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen“, womit Jesus auf seinen Tod am Kreuz anspielt, durch den er alle Schuld der Welt auf sich nimmt.50 Befremdlich wirkt an dieser Stelle allerdings der puer zu Versbeginn. Dieser ist einer Prophezeiung aus dem Buch Jesaja geschuldet (Vulg. Is. 9,6): parvulus enim natus est nobis, filius datus est nobis, et factus est principatus super umerum eius – „Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Die Herrschaft liegt auf seiner Schulter.“ Dieses Bild des Knaben, auf dessen Schultern die Herrschaft ruht, wurde ebenfalls als Christus, der sein Kreuz trägt, interpretiert.51 Und es findet auch in Ekkeharts Benedictiones super lectores vielerorts Erwähnung, so z.B. in bened. I 35,11 (In exaltatione sanctę crucis): hoc puer ille datus fuit imperio amplificatus, oder bened. I 17,43f.: ecce puer humero tropheum gerit imperitando/ filius ille datus sibi partos fert cruciatus. Die parallele Formgebung puer ille datus oder filius ille datus zerstreut alle Zweifel, dass auch bei unserem Vers die besagte Jesajastelle anklingen soll.52

|| 46 Ekkeh. IV. pict. Mog. 290: et cruor in postes litus ensem pellit et hostes. 47 Vgl. auch Ekkeh. IV., bened. 18,8f. ecce fores sanguis tangit quater et cruce pingit,/ rite cruor postes violans eliminet hostes. Hier steht zwar cruce schon im Text, zur Verstärkung aber glossiert Ekkehart es wiederum mit in modum crucis. Und schon bei Alcimus Avitusʼ Bibelparaphrase findet sich eine Verbindung zwischen der Markierung der Türpfosten mit dem Blut des Opferlammes und dem Kreuzzeichen, das auf die Stirn ‚gezeichnet‘ wird (vgl. Alc. Avit. carm. 5,247f.). 48 So ungewöhnlich, dass sich Egli im Index seiner Edition zur Fehlinterpretation ‚benetzen‘ hinreißen ließ. 49 Diese Verbindung, bzw. diese Formulierung findet sich auch in den Benedictiones (bened. I 35,16) in Bezug auf die eherne Schlange respice serpentem, titulum lege, crede medentem. 50 Vgl. Aug. serm. 354,6,6 (PL 39,1565). 51 Vgl. dazu Ambr. in Luc. 8,58. 52 In der zweiten genannten Benedictiones-Stelle (17,43f.) wird die Jesajaprophezeiung zusätzlich noch durch Andeutungen an das Opfer des Paschafestes gerahmt. V. 56 klingt dann nochmals das

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Der Bericht der Auferstehung beginnt mit dem Verspaar 809/810. In episch wirkendem Stil wird geschildert, wie der siegreiche Christus mit Kriegstrophäen beladen als erster und einziger die Unterwelt auch wieder verlässt. Das Vokabular birgt Andeutungen an die klassische epische Dichtung, wie z. B. an Vergil, wenn Ekkehart von spoliis onustus spricht.53 Die Spolien, die Christus dem Feuer der Hölle entreißt – auf das Feuer deutet der Neologismus inambustus54 – lassen sich wohl wie bei Hrabanus Maurus als die geretteten Menschen deuten, die dem Tod entrissen dem ewigen Leben zugeführt werden.55 Dazu passt auch der Beginn von Vers 809, das Zitat aus dem Propheten Hosea: (Vulg. Os. 13,14) ero morsus tuus inferne. Der Vers lautet in voller Länge: de manu mortis liberabo eos, de morte redimam eos, ero mors tua o mors, ero morsus tuus inferne, consolatio abscondita est ab oculis meis. („Aus der Gewalt der Unterwelt sollte ich sie befreien? Vom Tod sollte ich sie erlösen? Tod, wo sind deine Seuchen? Unterwelt, wo ist dein Stachel? Meine Augen kennen kein Mitleid.“)

Diesen Prophetenspruch hat schon Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther auf die Auferstehung Christi bezogen.56

|| Jesajazitat an, und dieses Mal kommt es zur Verknüpfung mit Simon von Cyrene, der Christi Kreuz trug, und mit Isaak, der das Holz für seine eigene Opferung trug – ebenfalls ein Typus für Christus als Opferlamm, wie auch das Paschalamm. 53 Verg. Aen. 1,289f. hunc (Caesarem) tu (sc. Venus) olim caelo spoliis Orientis onustum/ accipies secura. Eine Junktur, von der Ekkehart auch in seinen Benedictiones super lectores Gebrauch macht: bened. I 20,9 surrexit Christus spoliisque triumphat onustus. Der gesamte Kontext lässt auch an Herkules und seine Überwindung der Unterwelt denken; vgl. z.B. Hor. carm. 1,3,36 perrupit Acheronta Herculeus labor. Interessant auch die Darstellung des Stoffes beim Tragödiendichter Seneca, dessen dichterische Werke allerdings im Mittelalter so gut wie unbekannt waren. Vgl. Sen. Herc. f. 46–48. nec satis terrae patent/ effregit (sc. Hercules) ecce limen inferni Iovis/ et opima victi regis ad superos refert. und 51 et Dite domito spolia iactantem patri. Sen. (?) Herc. O. 1198–1200. spolia nunc traxi ultima/ Fato stupente, nunc ab inferna Styge/ lucem recepi. 54 Diesen Ausdruck verwendet Ekkehart noch einmal in seiner Dichtung, nämlich carm. var. I 2,12 vernat inambustus igne cremante rubus. 55 Hraban. univ. 20,2 (PL 111,535B): spolia autem eius (Christi), quae de hoste sumpsit, homines sunt in Deum credentes, qui de potestate diaboli eruti regi suo legitimo sociantur. Vgl. Vulg. apoc. 20,13f. et dedit mare mortuos, qui in eo erant, et mors et inferus dederunt mortuos, qui in ipsis erant, et iudicatum est de singulis secundum opera ipsorum./ et inferus et mors missi sunt in stagnum ignis. haec mors secunda est stagnum ignis. 56 Vulg. 1 Cor. 15,54–57: absorta est mors in victoria;/ ubi est mors victoria tua, ubi est mors stimulus tuus;/ stimulus autem mortis peccatum est virtus vero peccati lex;/ Deo autem gratias qui dedit nobis victoriam per Dominum nostrum Iesum Christum. Vgl. dazu auch Hier. in Os. 13,14 liberavit autem omnes Dominus et redemit in passione crucis et effusione sanguinis sui; oder auch Rup. Tuit. Os. 6 (PL 168,196A) Christus Dei Filius, victor mortis et auctor vitae, [...] ‚liberabo eos‘, inquit, ‚de manu mortis, redimam eos de morte‘; quos eos, nisi filios, quorum cor contritum in poenitentiae studio est?

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Diese Eingangsszene wird nun durch typologische Beispiele wie epische Gleichnisse aus der Geschichte des Samson überhöht. Die folgenden vier Verse füllt Ekkehart mit drei Szenen aus dessen Leben – der im Schlaf gefesselte Samson, der seine Fessel sprengt, der Sieg über den Löwen und die Pforten von Gaza, die aus ihren Angeln gehoben werden. Dabei sind etliche Parallelen zur Paraphrase der Samsongeschichte in ihrem eigentlichen Umfeld des Alten Testaments (V. 395-410) festzustellen. Im Gegensatz zu den typologischen Versatzstücken zur Kreuzigungserzählung verknüpft Ekkehart bei der Auferstehungserzählung die Ebenen von Typus und Antitypus. Plötzlich ist von einem Samson novus (V. 811) die Rede und sofort steht dem Leser die gesamte Geschichte von Samson vor Augen. Es bleibt nicht nur bei einem Vergleich, sondern der Typus wird durch seinen Antitypus abgelöst. Christus ist nicht nur ein neuer Samson, der all dessen positive Eigenschaften besitzt, nein, er übertrifft ihn noch darin: superans (V. 813). Und schlussendlich springt die Erzählung aus diesem typologischen Bild wieder ganz zu Christus: dominus surrexit (V. 814).57 Im Zusammenhang mit der ersten Teilepisode ist es interessant zu beobachten, dass Ekkehart sich nicht scheut, in seinem Werk im gleichen Kontext zweimal denselben Vers zu verwenden: Vers 812 ist identisch mit Vers 406. Und noch ein Detail am Rande, um Ekkeharts Arbeitsweise etwas zu verdeutlichen: Der Ausdruck vincula in ebendiesem Vers ist eine Variante für ursprüngliches nervora. Dies ist eine unklassische Pluralform zu nervus, nervi m. (die Sehne), die im Laufe des Mittelalters vereinzelt anzutreffen ist.58 Und so wie in unserem Vers 812 die unklassische Form ausgemerzt wird, so geschieht es auch in Vers 406. Ekkehart übernahm also einfach einen Vers inklusive Textvariante zur verstärkten Verknüpfung der beiden Erzählungen. Im weiteren Vergleich der beiden Samsonerzählungen lassen sich noch mehr Parallelen finden. So bringt der Versbeginn 813 robora Samsonis einen Anklang an Vers 397 robore Samsonis. Die Kraft Samsons wird in beiden Sequenzen an der Überwindung des Löwen illustriert. Für die Christus-Szene ist vor allem der Kampf und die Überwindung von Bedeutung, in der Samsonepisode geht es eher um die ‚Wunderkraft‘ der Zähne, des Kiefers, aus dem später Honig fließt. Dort (V. 397) findet sich auch die interessante Glossierung dentes leonum contrivisti. Es handelt sich hierbei um ein etwas variiertes Bibelzitat aus den Psalmen (Vulg. psalm. 3,8): quoniam tu percussisti omnes adversantes mihi sine causa, dentes peccatorum con|| 57 Der schlafende, gebundene Samson steht natürlich für den toten Jesus. Das Bibelwort ligatus (Vulg. iudic. 16,6) ist für diesen Vergleich bestens geeignet, denn im Evangelium nach Johannes heißt es ebenfalls (Vulg. Ioh. 19,40): acceperunt ergo corpus Iesu et ligaverunt eum linteis cum aromatibus, sicut mos Iudaeis est sepelire. So hilft auch ein sprachlicher Ausdruck mit, die Klammer zwischen den beiden Episoden zu verstärken. 58 So z. B. Botan. Sangall. 25,2; Tract. de caus. mul. 41.

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trivisti. – „Denn all meinen Feinden hast du den Kiefer zerschmettert, hast den Frevlern die Zähne zerbrochen.“ Mit dieser Stelle im Hinterkopf lässt sich unsere Stelle auch anders lesen: der Kampf Samsons gegen den Löwen steht für Christi Kampf gegen die adversantes, peccatores, gegen Sünder und Widersacher, gegen Satan und den Tod. Dazu passt auch, dass im gleichen Psalm, 2 Verse zuvor die Rede ist von: ego dormivi et soporatus sum, exsurrexi, quia Dominus suscipiet me – „Ich lege mich nieder und schlafe ein, ich wache wieder auf, denn der Herr beschützt mich“ (Vulg. psalm. 3,6). Die sprachliche Parallele zum soporatus Samson (V. 811) ist nicht zu übersehen; und auch zu Christus, der surrexit (V. 814), und darin seinen Typus Samson übertrifft. Hiermit stehen wir schon mitten in der dritten Episode aus der Samsonerzählung, die hier Erwähnung findet. Die geöffneten Pforten von Gaza, die schon das Interesse der Kirchenväter auf sich gezogen hatten, wurden gerne mit den Toren der Unterwelt gleichgesetzt und eigneten sich dadurch perfekt als Präfiguration der Auferstehung.59 Mit den geöffneten Pforten knüpft Ekkehart auch einen Bogen zurück zu Vers 798, wo Satan nur staunend zusehen kann, wie Christus die Pforten der Unterwelt öffnet. Während Ekkehart denselben Inhalt dort noch mythologisch umschreibt – Cocytos, der Fluss der Unterwelt, wurde schon bei Vergil60 metonymisch für die Unterwelt selbst gesetzt –, erfährt hier in V. 814 das Thema durch den biblischen Typus eine Steigerung. Ebenso lässt sich auch ein Bogen in die andere Richtung spannen: im letzten Vers unserer Erzählung treffen wir auf die ‚Engel‘, die die Auferstehung Christi verkünden, und zwar mit den Worten: asseruere deum de morte tulisse tropheum (V. 818). Ähnlich formulierte schon Tertullian, als er Christi Kampf und Sieg gegen den Tod in Worte fasst (Tert. adv. Marc. 4,20, 485,10f.): nam cum ultimo hoste, morte, proeliaturus per tropaeum crucis triumphavit. Unter dem Siegeszeichen des Kreuzes ist der Sieg errungen. Was lässt sich nun aus dem gewählten Beispiel, aus den 24 Versen zu Kreuzigung, Tod und Auferstehung Christi an Informationen zum Werk allgemein gewinnen? – Ekkehart bemüht sich bei ausgewählten Szenen, die für ihn bedeutungsvoll sind, um bewusste Gestaltung und Präsentation des Stoffes. – Er reiht einzelne Tituli nicht bloß aneinander, sondern verknüpft sie inhaltlich und sprachlich. – Er präsentiert darin Themen, die nicht erkennbar auf bildnerische Wiedergabe zielen. – Er bedient sich am eigenen Text mehrfach und kopiert nicht nur einzelne Reimpaare, sondern sogar ganze Verse.

|| 59 Vgl. dazu z. B. Greg. M. in evang. 21,7. 60 Verg. Aen. 7,562: Cocytique petit sedem – die Rede ist dort von der Furie Allecto.

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Inhaltlich wie auch sprachlich finden sich etliche Parallelen zu den Benedictiones super lectores. Er verwendet epische Elemente, vorzugsweise aus Vergils Aeneis, und setzt auch daraus Zitate ein. Er folgt in der Schilderung von Bibelszenen nicht unbedingt der Bibel-Chronologie. Er kommentiert Bibelstellen mit Prophetenworten oder Psalmenversen. Typologische Deutungen des Alten Testaments sind im ganzen Werk prominent zu finden, hier erfahren sie sozusagen einen Höhepunkt. Er bedient sich zusätzlich der Glossierung, um Zusammenhänge zu verdeutlichen (auch wenn es öfters überflüssig ist).61 Er hat keine Skrupel vor Wortneubildungen oder unklassischen Wortformen. Dies basiert oft auf dem Zwang der Versstruktur.

Ich denke, dass mit diesen beiden längeren Episoden aus den Mainzer Tituli aufgezeigt werden konnte, dass Ekkeharts Augenmerk nicht so sehr darauf lag, welche Bibelszenen sich für eine bildnerische Umsetzung eigneten, geschweige denn, ein Programm für einen Bilderzyklus zu entwerfen. Er interessierte sich vielmehr für die sprachlichen und stilistischen Möglichkeiten der prägnanten Form des Titulus, welchen er für den Versuch einer neuartigen Bibelparaphrase nutzen wollte, die eine möglichst allumfassende typologisch gedeutete Heilsgeschichte darstellen sollte. Diese beginnt für ihn mit dem ersten Tag der Schöpfung, an dem neben dem Licht auch die Engel geschaffen wurden, worauf der Engelsturz Lucifers folgte (V. 1– 4)62, und endet mit dem Jüngsten Gericht, wenn der Satan im ewigen Feuer schmort (V. 863/64)63. Sie zeigt somit die stete Auseinandersetzung der Menschen mit der Sünde, dem Satan, dessen Macht Christus in seinem Tod am Kreuz gebrochen hat. So wie Ekkehart auch schon am Schluss des eingangs zitierten Prologs sagt omnibus a morbis languens sanabitur orbis/ claudat abhinc torpens prius ora loquatia serpens,/ excutiemur Adę nova per medicamina clade. („Von allen Krankheiten wird die geschwächte Welt geheilt, stumm das einst geschwätzige Maul, kriecht die Schlange davon, durch neue Medizin werden wir vom Verderben Adams befreit“) (bened. I prol. 2,112–114).

|| 61 So z. B. die Glossierung maior illis zu superans V. 813. 62 Ekkeh. IV. pict. Mog. 1–4: Principio rerum lux primo facta dierum,/ Arida cum cęlis, magnum genus et Michahelis./ Luciferum verbis temerantem sceptra superbis/ In primo flore plasmator nudat honore. 63 Ekkeh. IV. pict. Mog. 863/864: Solvens millenas edino cum grege pęnas/ Ardet et ardebit Satanas semperque dolebit.

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Peter Stotz

Verleugnung der Wortkunst als Bekenntnis Zu den drei confutatio-Gedichten Ekkeharts IV. von St. Gallen

1 Zur Einführung 1.1 Ekkehart als Liebhaber antiker Bildung Ekkehart IV.1 ist, was die überkommene Bildung angeht, nicht als Kostverächter bekannt. In seinem Geschichtswerk und in seinen Dichtungen entdecken wir allenthalben Anspielungen auf antike Schriftsteller, auf die staatlichen, rechtlichen und kulturellen Verhältnisse der Römerzeit, erkennen wir die Anwendung dessen, was man damals an sprachlich-literarischen Fertigkeiten zum eigenen Gebrauch erlernte – kurz: werden wir seiner höchst beachtlichen Bildung gewahr. Über die rhetorisch-dichterischen Ausdrucksmittel schrieb er seinem Bruder Ymmo ein kleines Lehrgedicht de lege dictamen ornandi.2 Zeitlebens hat Ekkehart sich um wirkungsvolles Schreiben bemüht: seine Geschichte des Gallusklosters ist unmittelbar packend. Seine Dichtungen im Liber Benedictionum entsprechen zwar gewiss nicht unseren ästhetischen Idealen, zeugen jedoch auf ihre Weise von einem entwickelten Formensinn und dem Willen zu eigener Kunstausübung nach hergebrachten Kategorien. Wenn Ekkehart nun gerade darin (Benedictiones [...] per circulum anni, in den Gedichten 40 bis 42) den drei Disziplinen, welche zur Ordnung der Gedanken und zur Meisterung der Sprache anleiten, je eine confutatio, eine Widerrede entgegensetzt, ihnen die Gefolgschaft verweigert, so mag das auf den ersten Blick überraschen.

|| 1 Den behandelten Gedichten selber liegt zugrunde deren Edition in: Ekkehart, Liber Benedictionum/ Egli 1909, 206–208 (Ekkeh. IV. bened. I 40)/208–210 (41)/211–217 (42). In Ekkeharts Autograph, der St. Galler Handschrift 393, finden sie sich auf den Seiten 142f./143–145/146–150. – An Literatur seien vorab genannt: Schulz 1942 und Weber 2003.– Alle erwähnten St. Galler Handschriften sind als Digitalisate zugänglich unter Codices electronici Sangallenses, http://www.cesg.unifr.ch/de/index.htm. – Die Angabe angeführter Textstellen richtet sich, soweit möglich, nach den Zitierlisten des ThLL, des MLW und des NGML, wo auch die maßgebenden Editionen nachgewiesen sind. 2 Ekkeh. IV. carm. var. II 1, MGH Poetae 5, 532f.

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1.2 Diskurstradition der christlichen Einfachheit Aber gerade auch hiermit bewegt sich Ekkehart auf gebahnten Pfaden, er schlüpft in eine Rolle, die sich manche vor und nach ihm zu eigen gemacht haben, ja, man könnte sagen: in eine Rolle, die ihm auferlegt war. In der Tat stand es einem gebildeten Christen der Zeit wohl an, sich in die – damals seit langem gepflegte und in der Forschung viel besprochene – Diskurstradition des sermo humilis einzureihen, sich zu der Fischersprache der einfachen Jünger Christi zu bekennen.3 Vielleicht ist es gar ein Kennzeichen der Geistigkeit in hochmittelalterlichen monastischen Kreisen und deren Umgebung, sich um hohe Bildung und Rationalität zwar zu mühen, aber gleichzeitig Skepsis dagegen zu nähren. Dabei hatte nicht jeder die inneren Kämpfe eines Otloh von St. Emmeram (um 1010 – kurz nach 1079) auszufechten4. Bei manchen mochte diese Absage an die Traditionen der Antike, dieses SichAnschmiegen an die gemeine Rede von gebotener christlicher Einfachheit einem Augenblick der Besinnung vorbehalten sein, ohne das eigene Leben und Streben allzu nachhaltig zu bestimmen.

1.3 Schülerdichtung für Notker den Deutschen Ekkehart musste zu dieser Vorstellung und Haltung nicht erst durch ausgedehnte Lektüre christlichen Schrifttums gelangen, denn gewiss hatte sie sein Lehrer Notker schon früh an ihn herangetragen: Er scheint es darauf angelegt zu haben, bei den begabtesten unter seinen Schülern den Sinn zu wecken für das heikle Gleichgewicht zwischen der Aneignung der pagan-antiken Bildungsgüter und der gebotenen Abstandswahrung von ihnen. Dies wohl schon in seinen Lehrvorträgen, dann aber auch so, dass er Ekkehart dazu anhielt, in den Dichtübungen, die er ihm auferlegte, diese Gedanken zu gestalten. Denn die Confutatio rhetoricę, oder jedenfalls deren Eingangspartie, hatte einem dichterischen Tagewerk des Schülers entsprochen, und bei der Confutatio grammaticę sind (ungefähr) die letzten zwei Drittel als drei Tagespensen – von ungleicher Länge – ausgewiesen.5 Ob allerdings die drei Gedichte, so wie sie uns autograph überliefert sind, in ihrem ganzen Umfang aus dem Schulunterricht hervorgegangen sind, oder ob Ekkehart sie erst später zu dem erweitert hat, als was sie uns entgegentreten, lässt sich kaum noch feststellen. Die Confutatio grammaticę enthält in ihrer Schlusspartie eine peroratio, die sich auf die drei Stücke insgesamt beziehen könnte. Damit ließe sich vielleicht auch erklären, warum die Grammatik, die in der Abfolge der artes gewöhnlich an der Spitze steht, im Liber

|| 3 Vgl. Hagendahl 1959, Bambeck 1983. 4 Vgl. Schauwecker 1963, 52–240, Gäbe 1999, 159–178. 5 Vgl. Stotz 1981, 4.

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Benedictionum an den Schluss dieser Trias gesetzt ist. In allen drei Stücken ist die Benützung von De nuptiis Philologiae et Mercurii des Martianus Capella (wohl 2. Hälfte 5. Jh.) greifbar, am stärksten in Gedicht 41, der Absage an die Dialektik, wo keine Beischriften auf Entstehung in der Schule hinweisen. Gewiss hatte diese damals beliebte artes-Lehrschrift, deren zwei erste Bücher Notker ja auch schriftlich bearbeitet hat, in seinem Unterricht große Geltung.

1.4 Zum Begriff der confutatio Wenn bei Martianus Capella diese drei artes als weibliche Personifizierung vor die Götterversammlung treten, so könnte man sich gut vorstellen, dass auch Ekkehart seine drei Gegnerinnen sich als allegorische Frauenspersonen vorstellt. Confutatio ‚Widerlegung‘ ist ein Terminus der Rhetorik, und nach einem Zeugnis Donats (um 310–380) wird dieses Wort dann gebraucht, wenn sich die Widerrede gegen Personen richtet, während eine Widerlegung von Dingen refutatio heiße. Im patristischen Schrifttum ist etwa von confutatio haereticorum die Rede.6

1.5 Zwei verschiedene confutationes Eine solche confutatio scheint mir nun in den drei Texten allerdings auf unterschiedliche Weise stattzufinden. In der Zurückweisung der Rhetorik und der Dialektik wird das Arsenal von deren Begriffen und Methoden benützt, lediglich anders angewandt: Man bekämpft Unglauben und Gottlosigkeit mit eben den Waffen, die man der Gegnerin entwunden hat. So macht denn Ekkehart die Begrifflichkeit dieser Disziplinen in heilsgeschichtlich-pastoralem Sinne nutzbar. Diese Denkfigur ist in der christlichen Bildungsapologetik allgegenwärtig, etwa in der stehenden Rede von der spoliatio Aegyptiorum. In der Absage an die Grammatik dagegen geht es, zumindest scheinbar, um rein Formales: Biblische und für spezifisch christlich gehaltene Spracheigentümlichkeiten werden gegen – echte oder vermeintliche – pagan-antike Normen verteidigt, dies im Verfolg des Projekts einer christlichen Grammatik, zu dem manche sich bekannt haben, mit dem aber niemand so richtig ernst gemacht hat.7 – Zunächst nun eine knappe Inhaltsangabe der drei Stücke:

|| 6 Vgl. ThLL 4, 270, 67–81. 7 Vgl. Stotz 2011, 20–22.

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2 Zum Gedankengang in den drei confutationes 2.1 Confutatio rhetoricę Die Confutatio rhetoricę wird (V. 1–7) eröffnet mit einer ausladenden Apostrophe an Satan als den Patron von Lug und Trug, dem die Rhetorik – mitunter – dient. Der klassischen Trias von deren drei Anwendungsgebieten wird, ohne dass dies näher reflektiert würde, die göttliche Dreifaltigkeit entgegengesetzt8. Aber zwei von ihnen, die Lob- und die Beratungsrede, interessieren unseren Dichter nicht, ihm geht es einzig um die Gerichtsrede – und um die übermächtig gewordene Ausstülpung der Rhetorik, nämlich die Rechtswissenschaft. Der Teufel ist, wie es ja das griechische Etymon seines Namens besagt, der Ankläger, der aber zuschanden wird. Ekkehart, an den Belangen des alten Römertums interessiert, handelt (V. 8–12) von den Rollen von Prätor und Zensor vor Gericht, so, wie er sie sieht. Ihm geht es um die abmildernde Umdeutung eines eingeklagten Tatbestandes durch den Richter. Dies wird nun (V. 13–18) auf Anklage und Gericht vor Gott angewandt: Prätor ist, im Sinne einer Selbstanklage, der beichtende und bereuende Sünder oder aber Satan, der Verkläger der Brüder (Apoc. 12, 10), Zensor ist Gott oder Christus. Die Umwandlung des Tatbestandes wird einer Befreiung von Schuld gleichgesetzt. Dann (V. 19–25) kommt die Rede darauf, es sei verpönt gewesen, als Angeklagter um Gnade zu bitten. Für ‚uns‘ jedoch, die vor dem Richterstuhl Gottes Stehenden, sei dies ins Gegenteil verkehrt worden. Es folgt (V. 26–27) die Versicherung, dass ‚wir‘ uns vor zünftigen, rhetorisch versierten Anklägern ebenso wenig zu fürchten hätten wie seinerzeit Paulus vor dem Anwalt Tertullus. Gleich danach (V. 28–34) wird der Gedanke weitergeführt, dass ‚wir‘ die Kraft des Gebetes erfahren dürften, und daher die Rhetoriker alten Schlages, hier gesehen in ihrer Rolle als Ankläger, ausgedient hätten.

2.2 Confutatio dialecticę Die Absage an die Dialektik wird (V. 1–3) ihrerseits mit einer sozusagen dialektischen Gegenüberstellung eröffnet: derjenigen zwischen der Einführung des Neuplatonikers Porphyrios (ca. 234–305/310) in die aristotelische Logik und dem Heiligen Geist. Zwar selber ein Getaufter, habe Porphyrios die christliche Lehre bekämpft, statt sie für sein Tun nutzbar zu machen – was Ekkehart nun im umgekehrten Sinne, auf eine etwas eigenartige Weise, selber zu tun versucht: So wendet er (V. 4–6) den Subjektbegriff auf die Dreifaltigkeit an und setzt (V. 7–10) die Zehnzahl der || 8 Eine solche ganz im Äußerlichen verbleibende Trinitätsanalogie findet sich auch in Ekkeh. IV. cas. 51; dort geht es um den Fluss Sitter – mit lateinischem Namen(skonstrukt) Sinttriaunum –, den der heilige Gallus sanctę trinitatis amore so benannt habe.

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Kategorien mit einer – nicht näher bestimmten – dekadischen Reihe von Lehren des Evangeliums in Beziehung; im Vorübergehen erinnert er an die Zehn Gebote. Dann exerziert er (V. 11–12) mit dem Terminus proloquium, und gleich darauf (V. 13) gibt er mit dem Bekenntnis zum Trinitätsgeheimnis nach der geläufigen Formel trinus/unus ein Beispiel für eine praedicatio. Dies, um anschließend (V. 14–18) unter der Rubrik conditionale in Form einer bedingungsweisen Annahme des dreieinigen Gottes durch eine siebenfache Aussage dessen Wirken zu erweisen. Dann (V. 19–20) kommt er auf die dreiteilige Struktur des Syllogismus, der nach fünf Modi erfolge, zu sprechen. Dem syllogistischen Schließen gemäß den Regeln der Kunst (ars) stellt er (V. 21–24) geistgewirkte „Syllogismen“ gegenüber: Zunächst (V. 25–27) geht es um das Paradox der virgo/mater Maria, sodann (V. 28–30) um das glaubensmäßig zu erfassende Ineinssein der drei göttlichen Personen. Anschließend (V. 31–34) kommt Ekkehart auf die Jungfrauengeburt zurück, indem er einen nach der menschlichen Logik vorauszusetzenden Satz im Namen des Glaubens entkräftet. Im Folgenden (V. 35–37) stellt er zwei unterschiedliche Stile philosophischer Tätigkeit einander gegenüber, die er, etwas anfechtbar, auf den Wortsinn der Benennungen zweier philosophischer Schulen zurückführt: unter den Menschen umherzuwandeln oder aber, an Ort und Stelle zu meditieren. Diese Dichotomie ist für ihn (V. 38–40) christlicherseits überhöht durch die vita activa und die vita contemplativa, verkörpert durch die Schwestern Martha und Maria (vgl. Luc. 10, 38–42). Nach alledem gelangt er (V. 41–44) zu dem Schluss, die menschliche Logik sei durch die von oben kommende Weisheit durchkreuzt und entkräftet.

2.3 Confutatio grammaticę In der ausladenden Confutatio grammaticę, länger als die beiden andern Stücke zusammen, und auch dem Interpretationsbedarf nach aufwendiger als sie, stellt Ekkehart seine – oder die ihm von der Tradition vermittelte – Sicht einer spezifisch christlichen Handhabung der Sprache dar. Die einfache Sprache der Christen, vergegenwärtigt vor allem durch die lateinische Bibelübersetzung, stellt er paganantikem Wortgepränge entgegen. Dabei werden allerlei sprachliche Eigenheiten, die sich – auch, aber nicht nur – in christlichen Texten finden, als christlich gekennzeichnet. Ekkehart geht (V. 1–6) von der Figur der Grammatica bei Martianus Capella aus und beurlaubt sie gewissermaßen zugunsten der einfachen Sprache von Fischern gleich Petrus und mit Blick auf den oft ins Feld geführten Gedanken, dass die Sprache des Glaubens keine formalen Fesseln kenne. Das Gesagte führt er (V. 7–15) am Beispiel der Briefe des Paulus vor, den er, in zeittypischer Verkürzung, zumindest mittelbar, zum Lateiner, nämlich zum Renegaten von Donats Lehren, macht. Anschließend (V. 16–21) stellt er, unter Nennung Bethsaidas, des Heimatdorfes der Brüder Petrus und Andreas, deren ‚Fischersprache‘ der urbanen Redeweise gegenüber. Dies mündet (V. 22f.) in den – für die Apologetik christlicher Redeweise typi-

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schen – Beizug des paulinischen Wortes vom Kreuz. Noch an weitere Bibelstellen und biblische Personen wird erinnert: an Jesu Lieblingsjünger Johannes (V. 24f.) und an die Rede von der Christusbrautschaft der (einfachen) Gläubigen (V. 26–30). Dann folgt (V. 31–39) ein Rückblick auf die Übersetzungen der heiligen Texte aus dem Hebräischen und dem Griechischen: ihre Schlichtheit habe durch den Umsetzungsvorgang nicht gelitten. Gerade Hieronymus (um 347–419) erachte (V. 38f.) das Regelwerk Priscians, der großen grammatischen Autorität der Spätantike (Ende 5./Anfang 6. Jh.) – jünger als er! – für unnütz. Nun folgen (V. 40–50) Beispiele für Nebenformen von Wörtern, die dank ihrem Vorkommen in christlichen Texten für geheiligt hingestellt werden: fodiri für fodi, ructare für ructuare, angustiare für angustare, weiter die Genitiv-Plural-Form duorum für (angeblich normales) duum, missa statt des pluralischen missae, auch melota für melotes oder -tis. Gegen weitere grammatische Autoritäten verteidigt er fraudare statt des angeblich regelkonformeren frudare und die Perfektform iuvavi(sse) statt des normalen iuvi(sse). All diese Beispiele betreffen inner-lateinische Varianten, und so mutet es seltsam an, dass Ekkehart eingangs (V. 40–42) die Formen, die er als christliche beansprucht, unter das Signum der Übersetzungstreue stellt, gerade so, als ob ihr Gebrauch durch den Urtext vorgegeben wäre9. Ferner beruft er sich (V. 50–53) auf die gottesdienstliche Gesangspraxis und führt Gregor den Großen (um 540–604) als Autorität hierfür an: die auf ihn zurückgeführten liturgischen Gesänge galten ja für unmittelbar inspiriert. Sodann hebt Ekkehart (V. 54–56) seine Beurteilungen ab von den Lehren jüngerer Grammatiker im Fahrwasser Donats. Darauf (V. 57–63) wirft er einen Blick auf die Kirchengeschichte: Die drei sprachbezogenen Disziplinen hätten der alten Kirche schwer geschadet, weil die Häretiker sich ihrer bedient hätten; als Protagonisten nennt er einerseits Arius (um 260–um 336), andererseits Athanasius (um 295–373). Zugleich mit der Fischersprache verhöhnten die Irrlehrer (V. 64–67) die Kirche selber. Und nun (V. 68–71) kommt er auf den Zwiespalt zu sprechen, in dem die christlichen Bildungsbeflissenen seiner eigenen Zeit stehen: Zwar sind sie den hergebrachten sprachlichen Fertigkeiten zugetan, veranschlagen aber die Einfachheit der Apostel doch noch höher. Und dieser Einfachheit gilt denn der Schluss des Gedichtes (V. 72–83), näherhin dem Jesuskind und überhaupt dem Erdenleben Christi in all seiner Niedrigkeit. Diese peroratio (ab V. 57) betrifft alle drei confutationes gleichermaßen, und so scheint es sinnvoll, dass Ekkehart spätestens beim Zusammenstellen des Liber Benedictionum das Gedicht, das die erste der drei Disziplinen des Triviums betrifft, an den Schluss gestellt hat.

|| 9 Zu dieser verkürzenden Betrachtungsweise Stotz 2011a, 17–22.

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3 Zur Anordnung in der nachfolgenden Textdarbietung Ekkeharts Verse sind nicht besonders angenehm zu lesen, und in den drei Gedichten ist manches auch nicht gerade leicht zu verstehen. Dazu, sich mit den etwas widerborstigen Texten vertraut zu machen, dient am besten der Versuch einer neusprachlichen Übersetzung; einbezogen ist darin, so gut es sich machen ließ, auch Ekkeharts Selbstglossierung10. Der Übersetzung ist ein knapper Stellenkommentar in Form von Fußnoten beigegeben. Der Bearbeiter muss freilich bekennen, dass ihn die eine und andere Stelle nach wie vor etwas ratlos lässt. Was den lateinischen Text angeht, so kann die Ausgabe von Johannes Egli von 1909 im Großen und Ganzen noch immer ihren Dienst versehen. Allerdings gab eine Nachprüfung von Text und Glossen anhand (des Digitalisats) der Handschrift Anlass zu zahlreichen Berichtigungen11. Die Numerierung der Glossen, bei Egli auf jeder Druckseite neu beginnend, ist aus praktischen Gründen beibehalten (mit Unterstreichung, zur Unterscheidung von meinen Fußnotenzeichen). Eglis Sachanmerkungen sind zwar in manchen Dingen nicht mehr zeitgemäß, doch sind manche seiner Anregungen wertvoll. Dies gilt etwa für seine Hinweise auf zwei Notizen Ekkeharts in andern Handschriften, die gleichsam ein Echo auf die Confutatio grammaticę darstellen und die hier im Anhang behandelt werden.

|| 10 Anders als bei Egli sind die Glossen, so gut es eben ging, in den Haupttext eingegliedert. Enthält eine Glosse die Präzisierung von etwas im Text Gesagtem, steht sie in eckigen Klammern, dient sie der Vervollständigung des Satzes selber, in runden. 11 Nachstehend das Wichtigere, für alle drei Texte. (Einzelne Beobachtungen zur Genese des endgültigen Textes oder zur Lokalisierung des Lemmas bestimmter Glossen bleiben beiseite.) Nr. 40, V. 1, Gl. 1: efferri, nicht -re – 2, Gl. 3: astute, nicht acute – 5: Excidet aus -it – 8: fors am Ort (am Rand wiederholt) – 10, Gl. 15: Rethorica, nicht rheto- – 13, Gl. 2: id est (.i.) vor confessio erst später, confessio zunächst vielleicht als Textvariante gedacht – 14, Gl. 4: conscius, nicht -nc- – 27: zweites nec] non – 30: si (unvollständig) radiert, darüber stehendes nos vielleicht zum Ersatz bestimmt – 31, Gl. 4: infra actionem erst später – Nr. 41, V. 1, Gl. 13: zwei verschiedene Glossen, die erste zu flatus – 3, Gl. 22: zu interpungieren wohl: Porphirius hic, quamvis – in heresi fuit erst später – 4: nach flatum kein Punkt – 6 erunt, nicht erant – Gl. 2 ist nicht Glosse zu V. 6, sondern ist ein Zusatzvers (5a), wohl später als, und in Konkurrenz zu den roten Übertitelungen von V. 5 eingefügt. – 17 híc, nicht hîc (Pronomen, nicht Adverb) – 20, Gl. 19: gehört zu sophismate – 22 fit, nicht sit – 25–30, Gl. 1–6: ebenfalls alle rot – 44 am unteren Rand, erst später – Nr. 42, V. 9 (Anm.): I Cor. 2, 3 – 15: abgesehen von R[…] ganzer Vers neu geschrieben (wie 13) – 23: Gl. 15 gehört zu 22 (Verschiebung nicht gerechtfertigt) – Gl. 16 gehört zur 1. Vershälfte – confundat (nicht -et, Abkürzung sinnwidrig aufgelöst) – I Cor. 1, 27 – 24: archana später aus -ca- – 25: in Gl. 20 nach de pectore nur đ sicher lesbar, ob dei statt domini? – 41, Gl. 12: quę dico erst später – 50, Gl. 4: simplicitati, nicht -te – 52, Gl. 10, duorum: jede Silbe trägt eine Neume – 66, Gl. 20: utrique, nicht virique – 70, Gl. 32: gehört zu amplius – quam, nicht qua. – Außerdem e, nicht e caudata: Nr. 40, Titel: ecclesie – 23 precator (mit pre-Kürzung; Metrum!) – Nr. 42, 65, Gl. 19: ecclesie – 69, Gl. 31: loyce.

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4 Ekkeh. IV. bened. I 40: Zurückweisung der Rhetorik im Angesicht der Kirche und der Heiligen 112 Satan, der du dich zu Großem erdreistest [Egli S. 206 1 in der Kirche mit deiner Beredsamkeit groß zu tun], schweige still, denn du hast [2 im Angesicht der Heiligen] gar nichts zu bestellen. 2 Die Lehrsätze der Kirche werden dich niederdrücken und werden deine [3 mit List ausgestattete] Zunge zähmen. 3 Die drei Sachbereiche der Rhetoren [4 die Gerichts-, die Lob- und die Beratungsrede] weist die Betätigung des Glaubens [5 die Dreifaltigkeit] in die Schranken. [6 Kunstvolle Rede ist eine Betätigung, von der aber auch die Kirche Nutzen gezogen hat.] 4 Er [7 der Glaube] hat als Rednertribünen [8 das sind die Lesepulte] nicht Sitzbänke [9 wie in Rom] für die Monstren [10 der Laster]. 5 Dein Betrug wird von der Gerichtssache ausgeschlossen und vollführt das kühn Beabsichtigte nicht. [11 Ein Redner, der nicht nach Art der Rhetoren verfährt, wird des Platzes verwiesen. Daher heißt es in der Vita Vergils: Einmal führte er einen Prozess, und weil er ihn nicht angemessen führte, obwohl er anderweitig höchst beredt war, misslang der Prozess13.] 6 Nachdem der Schöpfer am Kreuz deine Macht gebrochen hat, wirst du nicht mehr Sachwalter sein, 7 und mit deinem Beifall im Theater ist es für immer vorbei [12 zu Ende]. 8 Für die Unseren ist die Gerichtssache [13 Die Gerichtssache ist der Gegenstand, um dessentwillen der Ankläger und der Verteidiger vor Gericht streiten.], falls sie etwa einmal auf der Rednertribüne zu betreiben ist, 9 etwas, was den Gerichtsstand zugunsten der Gefallenen anderswohin überträgt, ein Verfahren, das begnadigt. [14 Übertragener Gerichtsstand bedeutet etwa, dass, wenn in Konstanz schlecht geurteilt worden ist, nach Mainz appelliert wird14. Paulus sagte (Act. 25, 11): Ich berufe mich auf den Kaiser.] 10 Anschuldigungen, die der Prätor geschrieben hat, schreibt der Zensor um [15 Der Prätor schreibt, dass jemand der Tempelschändung schuldig sei, der Zensor dagegen: des Diebstahls. Was der Prätor für sich aufgeschrieben hat, das meint in der Redekunst das, was verdeckt angedeutet wird.]15, 11 indem er die

|| 12 Beischrift am Rande: Tagespensum für den Lehrer. 13 Don. vita Verg. 15f.: Egit et causam apud iudices unam omnino nec amplius quam semel; nam et in sermone tardissimum ac paene indocto similem fuisse Melissus tradidit; vgl. Virgilian tradition 2008, 183, 191. 14 Gemeint ist das bischöfliche Gericht in Konstanz, von dem man einen Fall an das erzbischöfliche in Mainz weiterziehen konnte. 15 Ekkehart scheint die beiden römischen Amtsbezeichnungen hier ganz so zu verwenden, als sei der praetor der (reguläre) Ankläger, der censor der (reguläre) Richter. censor war im mittelalterlichen Latein in der allgemeinen Bedeutung von ‚Richter‘ allerdings recht geläufig; vgl. z.B. MLW 2, 451, 52–64. Auf welchem Wege aber für Ekkehart der Prätor, der die Anklage ja vielmehr entgegenzunehmen hatte, selber zum Ankläger geworden ist, wäre noch zu ermitteln. Zu seinen Vorstellun-

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Gattung oder die Absicht neu fasst [16 nämlich die Art und Bestimmung16 des eingeklagten Tatbestandes], auch die Bezeichnung ändert [17 so dass er die Tempelschändung Diebstahl nennt], 12 ausforscht, worum es sich handle, mitunter auch das Eine durch das Andere vertauscht [18 was es sei, was der Prätor für sich aufgeschrieben hat, damit er es bestrafe.] 13 Hier (Egli S. 207 1 ist) der gütige Gott selber der Zensor, das Eingeständnis [2 das heißt die Beichte] (3 ist) der Prätor. 14 Der Prätor gibt ein Zeichen, der Zensor ein des Kreuzes und des Lobes würdiges. [4 Bei den Gläubigen streitet der Schuldbewusste17 es entweder ab oder bekennt es, Christus als der Zensor bestraft oder lässt die Schuld nach.] 15 Der Zensor [6 Christus] verwandelt [5 lässt nach] die Sünden, die von dem [7 zugebenden] Prätor gerügt [8 bekannt und beweint] worden sind18. 16 Oder (9 wenn) Satan selber der Prätor [10 der Rügende] ist, dann wandelt sie der Zensor [11 Christus] um. 17 Wenn es zu Reuetränen kommt, schreibt er [12 der Zensor] es sogleich um, und der Verwandelte [13 der Buße Tuende] geht [14 frei von seiner Schuld] von dannen, 18 und dem Beschuldigten droht [15 nachher] kein Schrecken [16 weder von Seiten des Prätors noch des Zensors], wenn der Fehler bereut wird19. [17 Dieser Sinn von Umwandlung lässt sich in den rhetorischen Schriften schwerlich fassen, denn Cicero hat über Dinge geschrieben, die seinen Lesern geläufig waren, wobei er das bürgerliche Recht mehr nur berührt als erklärt hat20.] 19 Auch wissen wir wohl, dass es nach den [18 rhetorischen] Darlegungen21 [19 für den Angeklagten] schimpflich ist, [20 um Gnade] zu bitten, 20 [21 deswegen] weil [22 dort] der Zensor sich in Bitterkeit selten durch Bitten erweichen lässt. [23 In Gerichtsfällen galt die Bitte um Gnade als ganz und gar ungehörig.] || gen über die Rollenverteilung im römischen Gerichtswesen siehe auch die (von Egli XLV angeführte) Scholie aus Handschrift 168, S. 129. 16 diffinio, -onis fem. ist eine Eigenheit der Sprache Ekkeharts (vgl. MLW 3, 616, 16–20). 17 Zu dieser Bedeutung von conscius MLW 2, 1499, 56–60. 18 transferre crimen, translatio criminis bezeichnen im römischen Strafrecht die Überwälzung der Schuld für eine Straftat durch den Angeklagten auf jemand anders; dazu Rhet. Her. 1, 15, 25; Gell. 6, 3, 15; auch Cic. invent. 1, 11, 15 (Causa transferetur […]) usw. Ekkehart verwendet transferre hier jedoch im Sinne von ‚vergeben, nachlassen‘. Allenfalls steht als vermittelnder Gedanke im Hintergrund, dass die Sünden der Menschen auf Christus überwälzt worden seien (vgl. etwa Is. 53, 5; I Petr. 2, 24 u. ä.). – Ekkehart selber weist in Glosse 17 darauf hin, dass dieser Wortgebrauch in den rhetorischen Lehrtexten kaum vorkomme. 19 si pęnitet error ≈ si p. erravisse. 20 Zu dieser Glosse (am Seitenfuß) bringt Egli Materialien bei. 21 Zu den Eigentümlichkeiten in Ekkeharts IV. Dichtungen gehört der Gebrauch von femininem acta im Sinne von ‚Rede, Erzählung‘; vgl. MLW 1, 402, 43–50. Zu einer Übersetzung in diesem Sinne nötigt hier aber eigentlich nur die Glosse rhetoricis. Sonst läge es nahe, in actis im Sinne von ‚in (Gerichts-)Verhandlungen‘ aufzufassen. – Zur deprecatio (als einer der beiden Formen der concessio): Cic. invent. 2, 34, 104; Rhet. Her. 1, 14, 24.

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21 Diese Gepflogenheit [24 nämlich, nicht zu bitten] ist in unseren [25 der Gläubigen] Geschäften [26 Verfahren] gänzlich in Abgang gekommen, 22 und die beste Lage ist [27 bei uns], wenn der Schuldige seine Schuld [28 im Gebet] zu beweinen bereit ist. 23 Wenn [29 nämlich] Petrus als Redner [30 für den Glauben] [32 vor Gott] (31 unsere) Angelegenheiten betreibt und der nämliche als Bittsteller [33 für die Schuldigen], 24 und auch Paulus als unser Fürsprecher [34 als Redner] mit seinem Gebet glückhaft (35 unsere Sache) betreibt; 25 zudem sollen auch alle Heiligen voller Erbarmen [36 für die Schuldigen] einstehen. 26 Auch fürchtet Paulus, wenn er vor Gericht plädiert, keine Männer wie Tertullus [37 Das ist der Apostelgeschichte (Act. 24, 1–9/10–21) entnommen], 27 noch (38 fürchten) wir das Gewicht Frontos22, auch nicht die Durchschlagskraft Ciceros. 28 Wenn hier die Bitte eines einzigen Benetzten [39 eines in der Kirche Getauften], eines Heiligen am Werke ist, 29 wird Christus [41 unser Zensor], durch (40 seine) unterwürfige Bitte alsbald erweicht, gnädig gestimmt werden. 30 Wenn (Egli S. 208 1 wir23) im Gebet stehen und, indem wir (2 unsere Sache) betreiben, das Gehörige erbitten, 31 weswegen unser Handeln mit dem Fürsten [3 des höchsten Fürsprechers] den Namen ‚Kanon‘ [4 das Te igitur innerhalb des Hochgebets24] innehat, 32 dann wird Quintilian [6 der sagt, in einer Gerichtssache sei eine Bitte schimpflich25] ein nichtiger Lehrer der Rhetorik26 [5 der Beredsamkeit] sein. 33 (7 Und wenn auch) die Rhetorik selber erdröhnt [8 wie man so sagt] und ihre Blitze [9 derentwegen dann von Ciceros Donnerschlägen die Rede ist] niedergehen lässt [10 zurücklässt]27, 34 so mögen doch jetzt die Rhetoren [11 die Meister28 dieser alten Kunst] weichen, zurückgelassen als überwunden und als träge.

|| 22 Die Briefe Frontos (2. Jh. n. Chr.) waren im Mittelalter unbekannt. Wenn Ekkehart hier – und in bened. prol. 2, 58: Frontonis gravitas – Fronto als gewichtigen Redner anführt, so nur auf Grund spätantiker Erwähnungen. An Ort und Stelle dürfte dies auf Mart. Cap. 5, 432 zurückgehen, wo Fronto nebst andern berühmten Rednern im Gefolge der Rhetorica erscheint. 23 nos sollte vielleicht si ersetzen (siehe Anm. 11), somit wäre aus dem (doppelten) BedingungsVordersatz ein Aufforderungssatz geworden. 24 Mit der Konsekrationsbitte Te igitur, clementissime pater […] (Sacr. Greg. Nr. 5) wird der Canon missae, das eucharistische Hochgebet, eröffnet. – Ekkeharts späterer Zusatz (vgl. Anm. 11) infra actionem (als Rubrik sonst dem Gebet Communicantes […] zugeordnet) bezieht sich gewiss auf die (Opfer-)Messe als ganze. Zu actio für canon: Walahfr. exord. 23, MGH Capit. 2, S. 502, 10: canon […] actio nominatur. 25 Quint. inst. 6, 1, 24; vgl. V. 19. 26 Das – auf der ersten Silbe falsch gemessene, vielleicht durch rhesis angeregte – rhetoresis dürfte Ekkeharts lexikalischem Eigengut angehören. 27 Zum hyperbolischen Gebrauch von fulmen und tonare im Zusammenhang mit der Beredsamkeit Egli zur Stelle.

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5 Ekkeh. IV. bened. I 41: Ebenso Zurückweisung der Dialektik 1 Das unbedingt Gültige29 [Egli S. 208 12 den logischen Scharfsinn] führt hier [13 in der Kirche der Geist30] der heilige Hauch ins Feld [14 Lies bei Martianus Capella nach31.], 2 dieser [15 der Geist] durchquert mit seinem Wirken die fünf [16 Gattung, Art, Begleitumstand, Differenz, Individuum] ‚Eisagogai‘ [17 Einführungen] besser32; 3 diese kennt [20 hätte gekannt]33 [18 der Platoniker] Porphyrius mehr [19 besser], wenn er mit ihm als Führer [21 mit dem Heiligen Geist als Lehrer] danach fragt34. [22 Dieser Porphyrius war, obwohl getauft, ein erbitterter Feind des Glaubens, und niemand setzte durch seinen Scharfsinn den Gläubigen jemals härter zu, in einem Irrglauben befangen35.] 4 Im Vater, durch den Sohn und den Geist, mit dessen Kraft verbunden, 5 bestehen alle Dinge unter drei Arten in Bezug auf die Subjekte36 [Egli S. 209 1 das Subjekt, vom

|| 28 artigiasus ‚Künstler‘, nach ars, artis; vgl. MLW 1, 1001, 23–25, wo an it. artigiano erinnert wird. (Aber -as- bleibt auffällig.) 29 axioma wird auch im mittelalterlichen Latein für einen grundlegenden Satz, der nicht bewiesen werden muss, gebraucht; der Dichter rückt hier, wohl zwecks plakativer Gegenüberstellung, von diesem terminologischen Gebrauch ein klein wenig ab (vgl. MLW 1, 1295, 55f.). 30 Eigentlich zwei verschiedene Glossen, siehe Anm. 11. 31 Ekkeharts Hinweis auf Mart. Cap. steht zwar am Schluss des Satzes, bezieht sich jedoch schon auf axioma. Gemeint ist 4, 327, V. 3f., betreffend den Auftritt der Dialectica vor der Götterversammlung: In coetum superum veniens primordia fandi/advehit et scholicum praestruit axioma („[…] sie hält die unumstößliche Lehre in Bereitschaft“ [o. ä.]). Hier ist nun der Heilige Geist der Handelnde. 32 Hier geht es um die fünf Prädikabilien, von Ekkehart in Anlehnung an die Einleitungsschrift des Porphyrios, in einer freilich recht auffälligen Verdinglichung, ysagogae genannt. Isidor (orig. 2, 25, 1) verwendet isagogae im Plural. Nach der Erklärung des Begriffs (‚introductio‘) gelangt er recht bald zur Erörterung von genus, species usw. Vielleicht bewegt sich Ekkehart in dessen Fahrwasser. – Für die Stelle insgesamt verweist Egli auf Mart. Cap. 4, 344ff. Allerdings erscheinen die species dort unter der (Haupt-)Bezeichnung formae, die differentia geht dem accidens voraus, und was Ekkehart als individuum bezeichnet, heißt dort proprium. Ob Ekkehart gerade auch hier Mart. Cap. folgt, muss wohl offen bleiben. 33 Faktisch nur Wechsel von der (wohl nur äußerlich, durch den Reim) motivierten Indikativform zu der (hier gegebenen) Form des irrealen Konjunktivs. 34 Zu Porphyrios und seiner von Boethius übersetzten und kommentierten ‚Eisagoge‘ (Einführung in die Kategorien des Aristoteles) sowie zu seiner Streitschrift ‚Gegen die Christen‘ Chase/Harmon 2001. 35 in heresi fuit ist Nachtrag (siehe Anm. 11). 36 Dies geht auf Mart. Cap. 4, 361 zurück, wo es heißt: Omne quicquid dicimus, aut subiectum est aut de subiecto aut in subiecto aut de subiecto et in subiecto. Subiectum est prima substantia […] – Zu diesem Thema vgl. auch Ekkeh. IV. bened. I 57, 22.

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Subjekt, im Subjekt] – 5a37 das Subjekt, vom Subjekt, wie auch im Subjekt selber – 6 ganz nah beieinander, und von all dem Erschaffenen ist noch nichts vorhanden. 738 Nach den zehn Worten der Logik [3 den zehn Kategorien], die durch ihre Wirkkraft hervorragend [4 edel] sind, 8 erlässt die neue Ordnung zehn [5 die Richtschnur des Evangeliums] (6 Worte) nach dem Glauben, voll des Geistes 9 durch Männer wie Matthäus, Lukas, Markus und den erhabenen Johannes, 10 ungeachtet der Zehnerreihe [7 in den zehn Worten des Gesetzes] der alten Gesetzestafeln. 1139 Die trügerische Kraft von in die Quere gehenden Aussagen zurücklassend, 12 ist unsere einfache Feststellung [8 die auch argumentum heißt], wenn als Aussage vorgebracht, kurz: 1340 [9 So:] Der nach Personen Dreifaltige ist der eine Gott, ohne jede Aufteilung. [10 Das nennt man aussagende Form.] 14 Auch wird durch Scheidung in zwei eine hypothetische Aussage41 bewerkstelligt: 1542 [11 So:] Wenn er nach Personen dreifaltig ist, doch seiner Göttlichkeit nach ein Einziger [12 Das nennt man bedingungsweise annehmende Form.], 1643 zeichnet sich unsere Syllogistik44 [13 das vernünftige Schließen des Glaubens] durch siebenfache Rede45 aus, 17 [14 so:] Stark ist er46 und weise, er erteilt gottgefälligen Rat, hat Wis-

|| 37 Diese von Egli als Glosse zu V. 6 missverstandene Zeile ist ein Zusatzvers, augenscheinlich erst nach den (roten) Übertitelungen von V. 5 eingefügt, in Konkurrenz zu ihnen (vgl. Anm. 11). 38 Zu den Versen 7–10 als Randtitel: Kategorien. Zu erinnern ist an die Übersetzung der Kategorienschrift des Aristoteles durch Boethius (Boeth. categ.) und deren Bearbeitung durch Ekkeharts Lehrer (St. Galler Handschrift 818, 11. Jh.). 39 Zu den Versen 11f. als Randtitel: Perierm〈enias〉, die mittelalterliche Form von Perì hermeneías, ‚De interpretatione‘, als Titel der zweiten Schrift des aristotelischen Organons, der Sache nach: ‚Lehre vom Satz‘. – Den Hintergrund zu V. 11f. bildet Mart. Cap. (4, 390), wo proloquium so definiert wird: Quod […] fuerit ex nominativo casu nominis et tertia verbi persona coniunctum, proloquium dicitur, ita ut iam necessario aut verum sit aut falsum aut dubium (folgen Beispiele). Wohl hauptsächlich mit Blick auf die letzten beiden Möglichkeiten spricht Ekkehart von der lubrica vis der proloquia. proloquium ‚Aussage‘ dient bei Mart. Cap. (und manchenorts) zur Wiedergabe von axioma; ThLL 10, 2, 1835, 6–29. 40 Zu Vers 13 als Randtitel: aussagender (sc. Syllogismus); vgl. Mart. Cap. 4, 408, wo es um den kategorischen Syllogismus geht. 41 Zu dieser Anwendung von condictum: MLW 2, 1252, 12–16. 42 Zu Vers 15 als Randtitel: konditionaler (sc. Syllogismus); Mart. Cap. 4, 414. 43 Zu den Versen 16–18 als Randtitel: ebenso. 44 syllogies ist wohl eine ad hoc-Wortbildung Ekkeharts, der Versbequemlichkeit zuliebe. 45 Zu femininem acta vgl. Anm. 21.

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sen, hat Furcht47, er schenkt Gehör. 18 Nichts ist größer als sie [15 die Rede des Glaubens], kraft ihrer Vernunftgemäßheit kämpft sie sich durch alles durch. 19 Aber (16 aus) drei Teilen besteht das alte (17 vernünftige Schließen), welches vielfältig (18 ist) in fünf Dingen, 2048 die bisweilen erfunden und durch schlüpfrigen sophistischen Trug [19 in vorgeblicher Weisheit] gefärbt [20 abgewandelt] sind. 21 Hier aber gibt es keine bemalte Tafel [21 Lies bei Martianus Capella49 nach.], hier richtet der Haken, richtet die Schlange nichts aus. 22 Nachdem die Vordersätze angenommen sind, wird50 die Schlussfolgerung [22 die drei Teile eines Syllogismus] für die Unseren gültig [23 passend]. 2351 Wenn die Vordersätze angenommen sind, (24 ergibt sich) den Unseren die Schlussfolgerung. 24 Mag durch die Kunst ein zweizeiliges System52 gegeben worden sein, so weiß der Heilige Geist doch mehr als das. 2553 [Egli S. 210 1 Obersatz:] Eine Frau, die geboren hat, die hat ja freilich zuvor Umgang mit einem Mann gehabt, 26 [2 Annahmesatz:] aber Maria gebar ein Kind und hatte doch niemals Umgang mit einem Mann. 27 [3 Schlussfolgerung:] Eine Frau blieb Jungfrau und gebar, ohne Umgang mit einem Mann gehabt zu haben. 2854 Die kreisförmige Bewegung55 des Glaubens findet ihr Ende dort, von wo sie ausgegangen ist [4 nach sophistischer Weise, jedoch wahr]: 29 [5 Ausgangspunkt:]

|| 46 híc, nicht hîc (siehe Anm. 11). – Siebengliedrig würde diese Aussage, wenn man sich an der Stelle des Adverbs piě das Adjektiv pius dächte. 47 Bei timet mag etwa an die Furcht Jesu im Garten Gethsemane gedacht sein. 48 Zu Vers 20 als Randtitel: ebenso. 49 Angespielt ist auf Mart. Cap. 4, 328, mit dem Auftritt der Dialectica vor der Götterversammlung. In der linken Hand hält sie eine vielfach gewundene Schlange, während in dextra formulae quaedam florentibus discolora venustate ceris sollerter effigiatae latentis hami nexu interius tenebantur. Gedacht ist an Syllogismusfiguren (figurae), die auf Wachstäfelchen (cerae, Plural) sorgfältig aufgezeichnet sind und mit einem verbindenden Haken (hami nexu) zusammengehalten werden; vielleicht darf man dabei an die Klammern denken, welche Diptycha/Triptycha verbinden. Ekkehart spricht von einer einzigen Tafel. Entsprechendes finden wir auch in der Buchmalerei, so sehr schön in Paris, BnF lat. 7900A, Bl. 132v; vgl. Remigius Autissiodorensis 1965, Tafel vor S. 9. Da es dann also nichts zusammenzuhalten gab, wird die Vorstellung des hamus freigesetzt: er wird (im Sinne etwa eines Angel- oder Enterhakens), parallel zu „Schlange“, für ein Werkzeug genommen, mit dem der Gegner gepackt werden kann (so gerade auch auf der genannten Abbildung). 50 fit, nicht sit (siehe Anm. 11). 51 Dieser (zusammen mit dem folgenden) am unteren Rand der Seite eingetragene Vers ist inhaltlich eine Dublette zu Vers 22. 52 Gedacht ist offenbar an die beiden Prämissen, Ober- und Untersatz, eines Syllogismus. Diese Anwendung von distichon scheint ungebräuchlich zu sein. 53 Zu den Versen 25–27 als Randtitel: Syllogismus. 54 Zu den Versen 28–30 als Randtitel: ebenso.

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Was der Vater, das ist der Sohn, und beiden gleich ist auch der Geisthauch. 30 [6 Ergebnis:] Was der heilige Geisthauch, das ist der Sohn und auch der heilige Vater. 3156 So gibt denn der Glaube den Satz vor57 und in einem auch die Argumente, 32 [7 so:] Die, welche keinen Umgang mit einem Mann hatte, gab als Jungfrau einem Kind das Leben. 33 So verliert die Logik ihre Kraft dadurch, dass Maria gebar: 34 sie, die doch die höchste Gewalt besessen hatte (mit dem Satz): wenn sie gebiert [8 für: geboren hat], hat sie vorher Umgang mit einem Mann gehabt. 3558 Die Weisheit ist [9 bei den Logikern] eine doppelte: die eine schweigt, doch die andere redet, 36 die eine [10 die peripatetische] zieht auf den Straßen umher, die andere [11 die stoische] sitzt in gemauerten Wandelhallen. 37 Die eine [12 die stoische] trachtet danach, zu reden und zu hören, die andere [13 die peripatetische] macht sich auf, um zu sehen. 38 Das erhabene Volk der Kirche kennt in noch passenderer Weise eine zweifache (14 Weisheit), 39 indem es sich hier der Betrachtung hingibt, hier dem Tun dessen, was sich ziemt; 4059 dem einen steht Martha vor, dem andern Maria. 4160 So freue sich denn (15 im) Himmel die ewig lebende Bürgerschaft, 42 welche das entkräftet, was zuvor seiner Gestalt nach kräftig war, 43 (16 welche) Menschen wie Platon und den strengen Cato61 zuschanden macht. 44 Jetzt sollen die Logiker weichen und sollen keinen durch ihre Sophistik verletzen62.

|| 55 Zu dieser Anwendung von circulus in Anlehnung an den terminologischen Gebrauch im Sinne von ‚Zirkelschluss‘: MLW 2, 600, 56–58. 56 Zu den Versen 31–34 als Randtitel: ebenso. 57 membrum bedeutet in der Rhetorik etwa ‚Satzglied‘ und wird oft als Terminus für ‚Kolon‘ angewandt (vgl. ThLL 8, 644, 50–645, 18), wird dann aber auch im Bereich der Logik, etwa im Sinne von ‚Satz, Glied eines Syllogismus‘ gebraucht; vgl. NGML M/N 351, 26–31; DBrit 1758b (membrum 4c). 58 Zu den Versen 35–37 als Randtitel: ebenso. – Egli bemerkt, dass Ekkehart den mehr empirischen Charakter der peripatetischen Schule hervorhebe, während die Stoiker auf spekulativer Grundlage die Erforschung der Wahrheit sich zum Ziele setzten. Doch geht er wohl eher vom Wortsinn der Benennungen der beiden Schulen aus; sein Ziel, die Dichotomie der beiden christlichen Daseinsweisen (V. 38–40) damit zu verknüpfen, scheint mir bereits hier angebahnt. 59 Der ganze Vers ist nachträglich an die Stelle eines andern gesetzt worden. 60 Zu den Versen 41–44 als Randtitel: ebenso. 61 Vgl. auch Ekkeh. IV. bened. prol. 2, 47: rigidum […] senem […] Catonem, wo es um die moralische Spruchsammlung in Hexameterpaaren geht, die unter dem Namen des älteren Cato (Cato Censorius, 234–149 v. Chr.) umläuft (‚Disticha Catonis‘, Ps. Cato. dist.). Dass auch an unserer Stelle hierauf angespielt sei (so Egli), ist wohl unnötig anzunehmen, angesichts von Catos sprichwörtlicher Strenge. 62 sophisticę ist wohl als Adverb zu nehmen; die metrisch bedingte Verkürzung der Schlusssilbe von Adverbien auf -ē ist nicht selten (vgl. oben V. 17), ebenso wenig die Schreibung von ę anstelle von e.

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6 Ekkeh. IV. bened. I 42: Zurückweisung der Grammatik 1 Die Grammatik soll die Messer schonen und sich die freie Zeit mit Peitschen vertreiben [Egli S. 211 1 Lies bei Martianus Capella nach63.] 2 Dem Glauben ist erlaubt, seine Worte ohne Fesseln [2 der Regeln] und ohne Gesetz auszusprechen64: 3 ihm [4 nämlich: dem Glauben], dem die Stimme der Fischer [3 nicht die der Städter] das Himmelreich aufschließt. 4 Der Fischer Petrus lehrt diesen (5 Glauben), kein Liebhaber der [6 Sprach-] Kunst. 5 Er erweist, dass die Gesetze der Grammatik [7 nämlich ihre Regeln] wenig fest sind, 6 und er zeigt, dass der Glaube dem Gehalt der Sprachkunst wenig zugetan ist65. 7 Paulus lässt in Niedrigkeit seine Stimme zu seinen (8 des Glaubens) Gunsten in kurzen (9 Briefen66) erschallen und ist vor sich selber gering [10 ohne Sprachkunst], 8 welcher, hohe und hochfahrende Worte [11 der Sprachkunst und Beredsamkeit] meidend, 9 in Einfalt [12 ohne diese beiden] Christus predigt, und zwar ihn als den gekreuzigten [13 was er freilich eine Torheit nennt67]. 10 Untersuche68 du, der du das [14 nämlich untersuchen] kannst, viele Stellen in seinen Schriften, 11 dann erkennst

|| 63 Gedacht ist an Mart. Cap. 3, 223–229, an den Auftritt der Grammatica vor der Götterversammlung. Sie trägt ein mit Elfenbein besetztes Kästchen, dem sie ihre Mittel zur Heilung von Sprachfehlern entnimmt: ein scalprum [...], quo dicebat circumcidi infantibus vitia posse linguarum, verschiedene Medikamente sowie eine Feile. Wenn Ekkehart scalpra im Plural verwendet, denkt er vielleicht (auch) an Federmesser. Und wenn ihr hier zum Zeitvertreib mit flagra geraten wird (dieses Wort nicht bei Mart. Cap.), könnte man allenfalls an Peitschen denken, mit denen Kinder ihre Kreisel antreiben. Vgl. hierzu das epische Bild in Verg. Aen. 7, 378–383, ferner Pers. 3, 51 (im Übrigen: Hurschmann 1999). Jedenfalls scheint die Rute, das im Mittelalter sonst geläufige Attribut der Grammatica, hier gerade nicht im Spiele zu sein. Denn diese soll ja ‚dienstfrei‘ sein. 64 Egli stellt diese programmatische Leugnung der Autorität der grammatischen Instanzen über das Wort Gottes in Zusammenhang mit dem Auflösungsprozess hochsprachlicher Sprachkompetenz in der Völkerwanderungszeit und hält der Kirche beigelegte Impulse praktischer Art gar für eine ihrer Ursachen. Wir sehen das heute etwas anders. 65 Petrus wird hier – und nachher, in V. 16–21, zusammen mit seinem Bruder Andreas – nicht etwa als Verfasser der ihm zugeschriebenen beiden Briefe genannt, sondern als der einfache Fischer, der er seiner Herkunft nach war. Zu der Diskurstradition des sermo piscatorius oben Kap. 1.2. 66 Damit ist brevibus adjektivisch und epistolis als dessen substantivische Ergänzung aufgefasst; weniger wahrscheinlich ist substantivisches breve (zu deutschem ‚Brief‘ entlehnt), wonach die Glosse ein Synonym enthielte. (In diesem Sinne wird die Stelle in MLW 1, 1576, 71, aufgefasst.) 67 Vgl. I Cor. 1, 23: Nos autem praedicamus Christum crucifixum, Iudaeis quidem scandalum, gentibus autem stultitiam. 68 Zu construere als grammatischem Terminus: ThLL 4, 548, 6–12; MLW 2, 1647, 19–31, usf. Hier nun ist darunter die nachvollziehende grammatische Analyse eines bereits gegebenen Textes verstanden; vgl. das (später) häufige construe sic: […].

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du, dass (15 ihr69) jeweiliger Sinn den [16 grammatischen] Bau unbehelligt hinter sich lässt [17 nicht einhält], 12 und du wirst sagen, dass der Mann in keinerlei grammatischen Lehren bewandert sei. 1370 Das erweist auch der hervorragende erste Leseabschnitt des Comes71. 14 Und er ist mehr vom Himmel gelehrt als zu den Füßen Gamaliels72, 1573 er lässt aus seinem Herzen das gute Wort hervordringen74, dies ohne Donats Gesetz. 16 Bethsaida [Egli S. 212 1 die Stadt von Andreas und Petrus] kennt diese Gepflogenheit nicht, noch die Strenge [2 die Regelhaftigkeit] in der Setzung der Wörter, 17 (3 Bethsaida), das Haus von Fischern75, deren Stimme auf dem ganzen Erdkreis erscholl [4 In die ganze Welt ist (ihre) Stimme ausgegangen (vgl. Psalm 18/19, 5; Rom. 10, 18).]. 18 Sagst du etwas auf städtische Weise [5 wenn du gemäß der Sprachrichtigkeit sprichst], dann hält diese Stadt [6 Bethsaida] es für nutzlos, 1976 wenn das überhaupt eine Stadt (7 gewesen wäre), was vielmehr, gemäß ihrer Rede [8 Sprechweise], ein ländlicher Weiler (9 war). 20 Petrus, größer [10 kraft der Autorität seines Glaubens] als der korrekt sprechende77 (12 Grammatiker) Aristarchus78, stammt von hier [11 aus

|| 69 Worauf das feminine earum hier, in der Nachbarschaft von lauter pluralischen Neutra, zu beziehen ist, wird nicht klar; allenfalls auf epistolae (vgl. oben Glosse 9). 70 Dieser Vers ist in der Handschrift später eingeschoben worden. 71 Der Comes oder Liber comitis enthält, nach der Ordnung des Kirchenjahres, die Lesungen der Messe entweder insgesamt oder aber nur die ‚Episteln‘ (Perikopen aus den Apostelbriefen und den Propheten). Vgl. Vogel 1966, 286(f.) mit Anm. 137. Die erste Perikope ist Rom. 1, 1–6, wo Paulus über seine Berufung zum Apostelamt durch Christus Zeugnis ablegt. Aber worin genau Ekkehart hier eine Aussage über dessen mangelnde formale Bildung erkennen will, wird nicht eigentlich klar. Auch ein Blick in den Kommentar zum Liber comitis, den Smaragdus von St-Mihiel († um 825) verfasste, hilft nicht eigentlich weiter. Vgl. Rädle 1974; zu unserer Perikope (gedruckt: PL 102, Sp. 15B–18B) S. 146. 220f. Smaragds Text ist überliefert in den St. Galler Handschriften 424 (Mitte 9. Jh., hier S. 5– 7) und 435 (um 810, hier S. 2–5); der Lektionartext selber etwa noch in der St. Galler Handschrift 374 (11. Jh., hier S. 211f.). 72 Vgl. Act. 22, 3: Ego sum […] nutritus […] secus pedes Gamalihel, eruditus iuxta veritatem paternae legis. 73 Der Vers wurde nachträglich an die Stelle eines andern gesetzt. 74 Vgl. Psalm 44/45, 2: Eructavit cor meum verbum bonum […]. 75 Bethsaida bedeutet ‚Haus/Ort der Fischerei‘; vgl. Haag 2003, 76; gewiss kannte Ekkehart eine derartige Wiedergabe. Bethsaida steht bei ihm geradezu emblematisch für „einfache christliche Sprechweise“; das wird bekräftigt durch zwei Einträge in St. Galler Handschriften: 159, S. 13 (vgl. Anhang I): Neque enim piscatores illi a Bethsaida […] urbanius docuerant ad literam, quam domi didicerant. Und ferner Handschrift 279, S. 424 (vgl. Anhang II): simplicitatem locutionis de Bethsaida piscatorum malle quam urbanitatis leporem. 76 Anders als Egli nehme ich nach, nicht vor Vers 19 starke Interpunktion an. Der Satz scheint mir eine Berichtigung des vorher (um des Wortspiels willen) eingeführten Begriffs urbs zu sein. 77 Zu der dichterischen Wortschöpfung rectiloquus: Alcuin. carm. 42, 6; Dungal carm. 20, 1, 2. 78 Gemeint ist der höchst einflussreiche alexandrinische Philologe und Grammatiker Aristarchos von Samothrake (ca. 216–ca. 144 v. Chr.). Erwähnungen bei Cicero, Horaz und vielen andern zeugen

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Bethsaida]; 21 Andreas (13 wurde daraufhin) angeworben und wurde durch das schlichte [14 törichte] Kreuz zu einem schlichten Menschen79. 22 Denn sie, die Paulus [15 Das Schwache in der Welt hat Gott erwählt …] sich unterstand, Torheit zu nennen, 23 die hat Gott sich erwählt [16 … um das Starke zuschanden zu machen80.], der mit seiner Kraft das Starke gebrochen hat. 24 Die Geheimnisse des Herzens81 (17 des Herrn), die heilsamen Lehren der Gottheit, 25 dieses (20 von der Brust des Herrn) Getrunkene kredenzt [19 der Welt] der (18 in seiner) Schlichtheit mächtige Johannes82. 26 Mehr gilt die Schar der Schlichten [21 der kunstlos Sprechenden] als (22 die Menge) der gelehrt Redenden. 27 Der Bräutigam [23 Christus] nimmt sich von ihnen [24 den Schlichten] eine zahlreichere Braut [25 die Kirche]83. 28 Auch sehnt er [26 der Bräutigam] sich nicht nach dem [27 beredten] Künstler, sondern nach dem in Schlichtheit Redenden. 2984 Die Kraft dessen, der das Rechte aussagt und die (Kraft der) Stimme rügt, die grammatisch richtig redet, 30 verurteilt weder Solözismen noch Barbarismen85.

|| von seinem Ansehen; auch von den Grammatikern wird er angeführt, so zweimal von Priscian. Ein Reflex seiner Geltung ist auch die Anspielung in Hier. epist. 57, 12, 2; hierzu: Bartelink 1980, 111. Zu Aristarchos selber: Pfeiffer 1978, 258–285. 79 Die Aussage, dass Andreas zum einfachen Menschen g e w o r d e n sei (simplex […] factus), mutet seltsam an; ob allenfalls factus aus Reimgründen gesetzt wurde? 80 Vgl. I Cor. 1, 27. – Die obige Plazierung der beiden Glossen(hälften) nach der Handschrift (vgl. Anm. 11); Egli glaubte sie aus inhaltlichen Gründen nach unten/hinten verschieben zu müssen. Das Bibelzitat ist dem Doppelvers wohl einfach etwas freihändig mitgegeben. Zudem steht in V. 23 fortia robore auf Rasur; der damit konkurrierende Eintrag ut confundat (nicht -et) fortia (über der 1. Vershälfte) dürfte älter sein. 81 Gedacht ist hier an das Herz als Sitz der Gedanken und Empfindungen, doch ist mit pectoris zugleich darauf angespielt, daß Johannes als der Jünger galt, der (nach Ioh. 13, 23. 25 und 21, 20) beim Abendmahl an Jesu Brust lehnte; schwach wird auch das Bild des an der Mutterbrust gestillten Kindes erweckt (ausgeprägter: Ekkeh. IV. bened. I 4, 6f.). 82 pincernare als Tätigkeit des Evangelisten Johannes auch bei Ekkeh. IV. bened. I 4, 4. 83 his bezieht sich (zufolge Synesis des Numerus) auf den Kollektivbegriff manus; numerosam als Beiwort zu sponsam zielt unmittelbar auf deren Deutung als Kirche. 84 V. 29 ist nachgetragen; das damnat von V. 30 hätte sich sehr gut auch auf das vorangegangene sponsus beziehen können. 85 rectiloquax – vielleicht eine Wortschöpfung Ekkeharts an Ort und Stelle – bezieht sich, wenn ich recht sehe, (substantivisch) auf vis (entsprechend in V. 28 loquacem), somit auf den, welcher der Sache nach das Richtige sagt. (Dagegen bezieht sich in V. 20 rectiloquo auf den Vertreter der Sprachrichtigkeit.) Zu grammaticę vocis ist wohl vim als Objekt zu reprobans aus dem Zusammenhang zu ergänzen. Verstöße gegen die Sprachrichtigkeit bleiben ohne Tadel. Genannt werden die in der grammatischen und rhetorischen Theorie üblichen Termini für sprachliche Verstöße: barbarismus betrifft solche in Einzelwörtern, soloecismus in Syntagmen. Vgl. etwa Lausberg 1990, § 470 und

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3186 Die Schlichtheit der Ausdrucksweise [Egli S. 213 1 betreffs der Wörter oder Sätze] ist von den Hebräern [2 durch die Übersetzer] den Griechen übermittelt worden. 32 Sie sagt durch diesen Vorzug [3 der heiligen Einfalt87] auch den gottesfürchtigen Lateinern zu. 33 Auch hat der Übersetzer (4 diese Worte) nicht verunstaltet, welche der Heilige Geist [5 in seiner taubenhaften Schlichtheit88] geheiligt hat, 34 wie aus dem, was in der Genesis und in den Evangelien niedergeschrieben ist, hervorgeht, 3589 was sie als Hebräisches den Griechen, als Griechisches den Lateinern übermitteln. 36 Wenn Cicero dies läse, wäre es ihm vielleicht gefällig zu schlafen, 3790 weil ja unsere Rede für ihn schwerer zu ertragen ist, als für uns die seine. 38(f.) Aber es erweist auch jeder [6 bezieht sich auf Übersetzer91] Übersetzer der Kirche den Priscian92 als nutzlosen Künstler; 39 Hieronymus legt Gewicht darauf [7 stellt es mehr als alle anderen heraus]. 40 Mag jener [8 Priscian] fodi sagen, so hat die getreue Übersetzung fodiri93 [9 der getreue Übersetzer, wie Boethius sagt: „damit ich nicht die Schuld des getreuen

|| passim. Diese Antipoden gepflegter Latinitas werden im christlichen Verweigerungsdiskurs immer wieder genannt. Die Form barbaraismos (vgl. vorher fünfsilbiges soloecismos) ist eine Konzession an das Metrum; das Wort wäre sonst im Hexameter unbrauchbar. 86 V. 31(–56): Beischrift: Pensum für den Lehrer. 87 Die Wortprägung sancta simplicitas findet sich in Rufins Übersetzung der Kirchengeschichte des Eusebius, bei Augustin, Cassiodor, Beda und Späteren. Vgl. aber insbesondere Hier. epist. 57, 12, 4, CSEL 54, S. 525, 17–526, 1: Nec reprehendo in quolibet Christiano sermonis inperitiam […], venerationi mihi semper fuit non verbosa rusticitas, sed sancta simplicitas: qui in sermone imitari se dicit apostolos, prius imitetur in vita. Vgl. Bartelink 1980, 116f. 88 Nebst der Vorstellung von der Geisttaube (Matth. 3, 16 usw.) ist auch an Matth. 10, 16, estote […] simplices sicut columbae, zu erinnern. 89 Dieser Vers ist später eingeschoben worden. 90 Dieser Vers ist an die Stelle eines getilgten getreten. 91 Das entsprechende Wort (quicumque) ist im lateinischen Text von dem für ‚Übersetzer‘ weit entfernt. 92 Egli verweist hierzu auf die bekannte, reich glossierte irische St. Galler Priscianhandschrift 904. Aber die Kenntnis Priscians darf bei damaligen Gebildeten gleich Ekkehart ohnehin vorausgesetzt werden; außerdem dient hier sein Name lediglich als Chiffre für Sprachrichtigkeit (ganz wie derjenige Donats in V. 15). Das erhellt nur schon daraus, dass sich Hieronymus (um 347–419) gegen ‚Priscian‘ (Ende 5./Anfang 6. Jh.) gewandt haben soll. 93 Zu dem (seit dem Altlatein belegten) fodire statt fodere (4. statt 3. Konjugation, auch bei den Komposita, vgl. frz. fouir): Stotz 1996–2004, 4, VIII § 108.2; Stotz 2011a, 22. 68. Schon Egli (zur Stelle) bringt Materialien bei. – Wieso fodiri eine „getreuere“ Übersetzung sein soll als fodi, wird zunächst nicht klar. Doch der Sache nach könnte sich Ekkehart hier auf eine Äußerung Ermenrichs in seinem Brief an Grimald (überliefert in der St. Galler Handschrift 265) stützen, wonach sich bei Matth. 24, 43 anhand von perfodiri (statt perfodi) erweise, dass die (göttliche) auctoritas die ratio überwinde (Ermenr. ad Grim. 11, ed. 2008, 86f., und Stotz 2011a, 20. 68). Dass Ekkehart hier die Vorsilbe perweglässt, entsprach metrischer Notwendigkeit. Es lässt sich vermuten, dass auch bei ihm, trotz

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Übersetzers auf mich lade“; war er doch ein getreuer Übersetzer des Aristoteles; diese Schuld trägt er in seinen Kommentaren ab94]; 41 sie [10 die getreue Übersetzung] wiegt gegen gelehrtes Studium die erwünschte Schlichtheit auf [11 macht ähnlich] [12 Erkunde durch Lesen bei Josephus die Beredsamkeit seiner Genesis und bei Hieronymus die Schlichtheit unserer Genesis und mach so die Probe auf das, was ich sage95.] 42 und sie ist bestrebt, den Dingen nach ihrem Gewicht, nicht nach ihrer Zahl gerecht zu werden. [13 Lies bei Cicero96 oder bei Hieronymus, in De optimo genere interpretandi97 nach.] 43 Mag dieser ructuat lesen [Egli S. 214 1 zu lesen anweisen], so die getreue Übersetzung ructat98. 44 Wenn (2 dieser) angustat liest, soll sie [3 die || allem traditionellen Reden vom fidus interpres, der Gedanke eigentlich doch mehr auf die christliche fides (und deren einfache Ausdrucksweise) geht. 94 Boeth. in Porph. comm. sec. 1, 1, CSEL 48, S. 135, Z. 5–8: Secundus hic arreptae expositionis labor nostrae seriem translationis expediet, in qua quidem vereor, ne subierim fidi interpretis culpam, cum verbum verbo expressum comparatumque reddiderim. Mit fidus interpres knüpft er an Hor. ars 133f. an: Nec verbum verbo curabis reddere fidus/interpres. Zur Diskussion der Boethiusstelle: Marti 1974, 66. 87. Ekkehart richtet hier den Blick allerdings auf die Aristotelesübersetzungen. Wer im Sinne der Treue völlig wörtlich übersetzt, lädt gegenüber dem Werk eine Schuld auf sich, die er jedoch durch die Beigabe eines Kommentars abtragen kann – damit tröstet sich auch der Urheber des vorliegenden Versuches! 95 Zunächst sind die Formen sui und nostri auffällig: Sind sie für genitivische Substantive zu nehmen, oder behandelt Ekkehart genesis etwa als Maskulinum (ein Beleg hierfür in MLW 4, Sp. 660, 2)? Der Sache nach nimmt Ekkehart Bezug auf die Antiquitates Iudaicae des Josephus († um 100 n. Chr.), worin dieser (Ant. Iud. 1, 27–2, 198) den Stoff der Genesis nacherzählt. In seinem Liber Benedictionum verweist er viermal auf einzelne Stellen dieses Werks: Ekkeh. IV. bened. I 18, 47 (Glosse 5); 21, 57 (14); 26, 46 (16) und 27, 50 (19). An Ort und Stelle geht es ihm um die Gegenüberstellung der schriftstellerisch aufbereiteten Darstellung des Genesisstoffes und der schlichten Wiedergabe des biblischen Urtextes durch Hieronymus. Ekkehart bedient sich offensichtlich der aus dem Umkreis Cassiodors stammenden lateinischen Übersetzung aus der Mitte des 6. Jahrhunderts (Cassiod. Ios. antiqu.). Die ersten fünf Bücher sind in einer modernen Edition greifbar: The Latin Josephus 1958. 96 Gemeint ist die Cicero beigelegte (heute für unecht gehaltene) Schrift De optimo genere oratorum (Cic. opt. gen.), welche Ekkehart zugänglich war; wohl näherhin §§ 14 und 23 (so nach Egli). 97 In der Schrift De optimo genere interpretandi (Hier. epist. 57), bei deren Titel sich Hieronymus an die obige ciceronische Schrift anlehnte (Bartelink 1980, 25), ist die Verteidigung des sinngemäßen Übersetzens gegenüber der Forderung strengster Wörtlichkeit der Inhalt der eigentlichen Kernpartie, Kap. 5 (bis 9). 98 In der Übersetzung verschwindet ein Doppelsinn: fida translatio kann die getreue oder aber die dem Glauben gemäße Übersetzung bedeuten. Das Wort eructare (‚herausrülpsen‘ o. ä.), volkssprachlicher Herkunft (nach erugere), meint in biblisch-bibelnaher Sprache ‚durch Rede hervorbringen‘, etwa in Psalm 44/45, 2 oder 118/119, 171; vgl. Stotz 1996–2004, 2, V § 8.3. Formen mit ructua- könnten mit dem Verbalsubstantiv ructus, -us zusammenhängen; vgl. ebenda 3, VII § 60.2. – In klassischer Zeit, und so auch in den Grammatikertexten, überwiegen die Formen auf -ta-. Wie Ekkehart zu der Ansicht kommt, die Formen auf -tua- seien die von der Norm vorgeschriebenen, bleibt dunkel. Bei Priscian jedenfalls (ille, nach V. 38) findet sich (e)ruct(u)are in keiner der beiden Lautungen; wiederum zeigt sich: ‚Priscian‘ ist hier eine bloße Chiffre. In der Vulgata kommt nur das Kompositum eructa(re) vor; wenn Ekkehart hier mit dem Simplex ruct- arbeitet, dient das wohl

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getreue Übersetzung, weil gerade das, wie Primasius sagt99, auch dort verdorben war in der heiligen Einfalt der Schreiber] mit angustiat dagegenhalten100. 45 Und mag dieser [4 Priscian] in medio duum lesen, so sie [5 die Übersetzung] duorum101. 46 Mag die Grammatik missae (6 zu lesen anweisen), so soll der Diakon doch (7 ite) missa est singen102. 47 Die Form melotis [8 „sie zogen in härenen Gewändern umher“ (circuierunt in melotis)103] findet der Glaube für gut, mag ihm [8 Priscian] auch melotibus richtig scheinen.

|| lediglich der Versbequemlichkeit. Formen auf ructu- sind erst aus später Zeit belegt; solche auf eructua- begegnen als Varianten, sodann in der Vet. Lat. und bei christlichen Schriftstellern; vgl. ThLL 5, 2, 825, 25–35. 99 Die Rede ist von Primasius, Bischof von Hadrumetum (550/560). Sucht man in Primas. in apoc. (nebst Ps. Primas. in Rom.) nach Formen von angust(i)are, stößt man auf Primas. in apoc. 2, 7, CCL 92, S. 118, Z. 274f.: Huius beatitudinis fida promissione securi non angustantur, sed cum apostolo dicunt: ‚Cor nostrum dilatatum est‘, et psalmo concinunt: ‚Viam mandatorum tuorum cucurri, cum dilatares cor meum‘. Doch vielleicht hatte Ekkehart eine allgemeinere Äußerung im Blick. Zu sancta simplicitas siehe oben, Anm. 87. Was mit der Glosse insgesamt gemeint ist, bleibt einstweilen dunkel. (Die Gen. pl.-Form scriptorum könnte außer zu scriptor auch zu scriptum gehören.) 100 Von angustus ‚eng‘ wurde schon zeitig ein Verb angustare ‚verengen‘ abgeleitet, daneben erscheint in der Spätantike, vor allem in christlichen Texten, ein (auf angustia ‚Enge‘) zurückgehendes angustiare ‚bedrängen, ängstigen‘. Dieses erkennt Ekkehart als eine biblisch-christliche Vokabel, was es (im Wesentlichen) auch ist. Eine andere Äußerung Ekkeharts (siehe Anhang II) zeigt, dass er eine liturgische Anwendung von Sap. 5, 1, adversus eos qui se angustiaverunt, im Blick hat; an dieser Bibelstelle ist allerdings -taverunt die gut bezeugte Textlesart. Weitere Vulgatastellen, an denen die Überlieferung gespalten ist: Sir. 16, 28; 27, 2; Hebr. 11, 37. 101 Neben der seit dem Altlatein gültigen Gen. pl.-Form duorum/duarum gab es die ältere Sonderform duum (vgl. Leumann 1977, 485f.). Zu (in) medio duorum vgl. Ex 25, 22: supra […] medio duorum cherubin; Zach. 6, 1: de medio duorum montium. Was Priscian betrifft, so benützt er zwar zehnmal die Form duum (in der Regel mit Neutra: generum, temporum). Er stellt die Gen. pl.-Form duorum als die übliche hin, räumt allerdings ein: quamvis in neutro differentiae causa ‚duum‘ soleat dici (Prisc. gramm. 2, S. 310, 19–21) – natürlich nur als Möglichkeit, nicht als Regel (bei ihm selber duorum bei Neutra: ebenda S. 53, 3; 126, 18). Ekkehart wittert hierin jedoch einen Angriff auf die Bibelsprache, den es abzuwehren gelte. 102 Nun wendet sich Ekkehart gegen die Verwendung der Pluralform missae, ihr stellt er den Entlassungsruf ite, missa est am Schluss der Messe gegenüber. Indessen waren zur Bezeichnung der Messe selber pluralische Ausdrücke wie missarum sollemnia und dergleichen höchst üblich (NGML M/N, Sp. 618, 7–49, usw.). Und ohnehin wäre nicht einzusehen, wieso die paganen Grammatiker den Christen zum Gebrauch von deren eigener Terminologie hätten Vorschriften machen sollen. Zu missa(e) vgl. Stotz 1996–2004, 2, V § 4.4 (und die in 5, S. 815a angegebene Literatur). 103 Hebr. 11, 37. – Das griechische meloté ‚Schaffell, rauhes Fell‘ ist im biblisch-patristischen Latein als melota (für das härene Mönchs- oder Pilgergewand) gebräuchlich geworden; auch Formen nach der 3. Deklination (Nom. sg. melotes, -tis) kommen vor (vgl. Stotz 1996–2004, 1, IV § 10.13). Die Dat./Abl. pl.-Form melotibus, die Ekkehart ‚Priscian‘ unterschiebt, scheint jedoch wenig gebräuchlich gewesen zu sein. Immerhin findet sie sich etwa in der Wiedergabe der Hebr.-Stelle in Libri Karol. 3, 16, ed. Freeman S. 408, 19.

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48 Mag es Eutychius zukommen, frudat, so dem Glauben, fraudat zu sagen104. 49 Jener [Egli S. 215 1 Servius] mag iuvit lesen, so soll doch er [2 der Glaube] iuvavit lesen und singen [3 Dabei ist die Silbe iu lang.], 50 und ich halte es für ihr [4 der Einfalt des Glaubens] unangemessen, beim Singen nach dem gewohnten Metrum [5 wonach iu kurz ausgesprochen wird] zu artikulieren105. 51 Zwar habe ich nur wenige (6 Worte) [7 beispielshalber] hergesetzt, aber tausenderlei [9 Ähnliches] lässt sich [8 für den, der vorliest] erwähnen106. 52 Die Gesänge Gregors [10 die untrüglich bekunden, was er gemeint hat, wie duorum und anderes] mögen bewirken, dass das, was ich singe, erhärtet wird, 53107 tritt in ihnen doch zutage, was der Geist seinem Ohr108 eingesungen hat. 54 Derartiges sei mir trotz den jüngeren Autoren denn doch erlaubt, 55 deren törichter Sinn, von der Sprachlehre109 Donats bestärkt, 56 allein das Eine nicht weiß: dass

|| 104 Zu fraus ‚Betrug‘ ist eine altlateinische Nebenform frus in einem alten Gesetzestext und zweimal bei Lukrez bezeugt, auch bei dem abgeleiteten Verb fraudare sind Formen auf -u- in den Handschriften vertreten (ThLL 6, 1, Sp. 1266, 80–82 bzw. 1261, 74–76). In der Grammatik des Priscianschülers Eutyches – bei Ekkehart heißt er -chius – kommt fraudare dreimal vor (Eutych. gramm. V S. 459, 1; 471, 8; 485, 30f; Varianten sind dazu nicht aufgeführt). Dieser Text ist in der St. Galler Handschrift 882 (2. Hälfte 9. Jh, S. 67–82. 115–130. 83–111) überliefert. Aber auch hier stehen an allen drei Stellen (S. 115, 17; 88, 8; 107, 13) normale Formen auf frau-. Wie Ekkehart zu der abwegigen Ansicht gelangt, als Normalform werde frudat gefordert, wäre noch zu klären. 105 Ekkehart verteidigt die Perfektform iŭvavi(sse) gegenüber dem regulären Dehnperfekt iūvisse, für das er sich auf eine bestimmte Stelle bei dem Vergilkommentator Servius (anfangs 5. Jh.) beruft: Serv. Aen. 1, 203. Zu dem seit der Kaiserzeit reichlich belegten (ad)iuvavi(sse) und -at(us) an sich: Stotz 1996–2004, 4, VIII § 112. 1. Beim Kirchengesang befürwortet Ekkehart die Längung der Stammsilbe auch bei der -visse-Form, was freilich der überkommenen Prosodie – die er selber einhält – widerspricht. Vgl. Anhang II mit Anm. 128. 106 Nachdem Ekkehart zum Schluss eine – angebliche – Eigentümlichkeit des Gregorianischen Gesanges namhaft gemacht hat, setzt er, mit dem von ihm so oft praktizierten hyperbolischen mille, zu einer Verallgemeinerung an: Noch tausend Eigenheiten der christlichen Sprache würden sich beibringen lassen – und würden sich an den Gesängen Gregors nachweisen lassen. Und weil diese für durch den Heiligen Geist inspiriert galten (siehe unten), sollten denn auch all die vielen – echten oder angeblichen – Anomalien des christlichen Lateins für unmittelbar gottgewollt gelten. Dies ein Beleg für die mittelalterliche Tendenz, auch in inner-lateinischen Spracherscheinungen unmittelbar Gottes ordnendes Walten festmachen zu wollen; vgl. Stotz 2011a, S. 19–22 passim. – In Ekkeharts Aufzeichnung in der St. Galler Handschrift 279 (siehe Anhang II) finden wir gewissermaßen das Rohmaterial zu dem in den vorstehenden Versen Entwickelten. 107 Dieser Vers ist als Ersatz für einen andern nachgetragen worden. 108 Die Form aure steht hier gewiss für den Dativ; gedacht ist an die Geisttaube, die auf Gregors Schulter sitzt und ihm die Worte und Gesänge eingibt. 109 Für grammate erwog Ekkehart als Alternative dogmate – Egli wollte darin Stabreim erkennen –, verwarf sie aber wieder.

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der die gewaltigen Kräfte des Glaubens [11 die Fähigkeiten von dessen heiliger Einfalt] nicht kennt110. 57111 Zu der Zeit, als die Kirche auf sich selber einen Geschosshagel niedergehen ließ inmitten dessen, was da aufgekommen war [12 indem die wahre mit der halbwahren (Kirche) rang], 58 hat es schweren Schaden gestiftet [Egli S. 216 1 hat es sehr geschadet112], dass die Irrlehren [2 die Irrlehrer] sich mit dreifacher Kunst [3 mit der Grammatik, der Dialektik und der Rhetorik] des Glaubens113 bemächtigten. 59 (5 Mit ebendiesen drei) Künsten galt es (4 durch die Gläubigen) Widerstand zu leisten und galt es danach zu streben, 60 dass die Schlangen114 [6 die Irrlehrer] gegenüber dem Glauben und seine [8 verschiedenartigen] Feinde durch sie [7 durch ebendiese Künste] überwunden würden, 61 welche [9 nämlich die Feinde] die kunstvoll [10 vor allem mit der dialektischen Kunst] redenden Plato und Aristoteles beleben, 62 damit, (11 wenn) Arius mit ihrer [12 der Künste] Hilfe wütete [13 ohne alle Vernunft handelte]115, Athanasius [14 der sich durch sein Glaubensbekenntnis116 als tiefgläubig erweist] damit die Oberhand gewinnen könne, 63 (15 und damit) die gegnerische Kunst [16 die Verkehrtheit der Irrlehren] mit gleicher Waffe vernichtet werden könne. 64 Diese verhöhnen, um die Fischer [17 solche: Petrus, Johannes, Andreas] ihre Ehre [18 der Einfachheit ihrer Rede] verlieren zu lassen, 65 hochfahrend in ihren Künsten, die Einfalt [19 unserer Ausdrucksweise, nämlich die der Kirche]. 66 Während sie [20 beide117: die Gläubigen und die Irrgläubigen] Derartiges erlernen und zweifachen

|| 110 Mit Gregors Autorität im Rücken wendet er sich gegen jüngere, vielleicht karolingerzeitliche Grammatiker im Fahrwasser Donats. Im Frühmittelalter war die vielleicht wichtigste Art, den Grammatikstoff zu behandeln, die Kommentierung von dessen Ars minor und maior. Mit einer Pathosformel wirft er ihnen vor, die Kraft des Glaubens zu verkennen. Angesichts dessen, dass er selber sich eines korrekten, wo nicht gar preziösen Lateins befleißigt, wirkt sie etwas theatralisch. 111 Dieser Vers ist als Ersatz für einen andern eingetragen worden. – Zu V. 57(–71) die Beischrift: Dichtung eines Tages. – In dem hier beginnenden Absatz wandelt sich Ekkeharts Gedanke: Während er sich vorher gegen die überkommenen sprachlichen Fertigkeiten abgegrenzt hat, stellt er jetzt diese selber als der Kirche dienendes Mittel zur Abwehr der in ihnen beschlagenen Häretiker hin. 112 Die Glosse gilt einzig der ungewohnten Präfigierung pernocuit, was in der Übersetzung nicht sichtbar gemacht werden kann. Belege für das erst nachantik bezeugte und selten gebliebene Wort in NGML P 2, Sp. 621, 31–36; DBrit S. 2222c. 113 fidei dürfte zunächst als Genitivobjekt zu potiri aufzufassen sein, könnte jedoch, rein formal, auch Dativobjekt zu pernocuit sein. 114 Zu dem von Ekkehart verwendeten prestis: Stotz 2011b, 336 mit Anm. 93. 115 Eine weitere Gegenüberstellung von Arius und Athanasius: Ekkeh. IV. bened. I 57, 24 (vgl. dort V. 27. 42); in 2, 33 erwähnt er dessen unheilsschwangere Geburt. 116 Das so genannte athanasianische Glaubensbekenntnis (nicht von Athanasius, sondern aus der Westkirche stammend) wird durch seine Eingangsworte Quicumque vult salvus esse […] bestimmt. 117 utrique, nicht virique (siehe Anm. 11).

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Scharfsinn [21 den der wahren Logik und der Sophistik] erkennen, 67 erbaut die einen [22 die Gläubigen] die Liebe [23 die christliche Liebe] auf [24 in der Logik], die andern [25 die Irrlehrer] macht ihre weitläufige Weisheit [26 in der Sophistik] aufgeblasen [27 hochfahrend]118. 68 Indem wir [28 deren Nachfahren] uns heute bemühen [29 bestrebt sind], uns in gleicher Weise [30 in diesen Künsten] unterrichten zu lassen, 69 erproben wir sehr Vieles, wir lieben das, was die Vernunft [31 gemäß der wahren Logik] betrifft, 70 und verehren doch noch mehr [32 als119 die Künste der gefährlichen Beredsamkeit] die uns willkommene Einfachheit [33 in welcher keine Gefahr liegt], 71 über welche Paulus nicht errötete, und die Petrus selber guthieß120. 72121 Die reine Einfalt, wem [34 welcher Tugend] könnte sie nachstehen? 73 Ihre (35 vielfältigen) Vorzüge und heilsamen Wirkungen dürfte niemand nach Gebühr benennen (36 können). 74 Sie [37 die Einfalt] verleiht mitunter, dass Unvollkommene vollendet sein können. 75 Dich, Petrus, haben die Augen Christi als Unvollkommenen erblickt: 76 (die Augen) dessen, dem all das wohlgefällig ist, was niedrig ist und (38 was) sich (39 selber) gering (40 vorkommt). 77 Er, der als Kindlein (41 in) einer krippenartigen Wiege liegt [42 während ihm eine goldene gebührt hätte], 78 ist, der König von ewiger Majestät, in Windeln gewickelt [Egli S. 217 1 während ihm Purpur gebührt hätte], 79 er, der auf der Flucht durch sein Schreien den Herodes verdammt, 80 und der als Schaf vor dem Wolf als armer Flüchtling Canopus [2 Ägypten] aufsucht. 81 Der hohe Gott hat sich ausersehen, was niedrig ist, und hat das Hohe zu Fall gebracht; 82 er stärkt das Schwache und macht das, was seinem Aussehen nach [3 zu Unrecht] stark ist, zuschanden. 83 Ihm sei Lob und Dank allezeit und über die Zeit hinaus [4 auf ewig].

|| 118 Damit ist auf I Cor. 8, 1 angespielt: scientia inflat, caritas vero aedificat. 119 quam, nicht qua (siehe Anm. 11). 120 Hierzu verweist Egli auf II Cor. 1, 12 bzw. I Petr , 5f. 121 Zu V. 72(–83) Beischrift: Geschuldetes Tagespensum.

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7 Anhang: Zwei weitere Äußerungen Ekkeharts zur Diskurstradition der Absage an die Sprachrichtigkeit 7.1 Das Zeugnis in der St. Galler Handschrift 159 In der St. Galler Handschrift 159, die in ihrem ersten Teil (Mitte 9. Jh.) vierzig Briefe des Hieronymus enthält, lesen wir auf S. 13 – zu den Worten: Mihi sufficit sic loqui, ut intellegar et ut de scripturis disputans scripturarum imiter simplicitatem122 – am Rande folgende Beischrift Ekkeharts, die gleichsam die Quintessenz der Confutatio grammaticę darstellt123: Ecce his Hieronimi verbis conveniendi sunt, qui ęcclesiam arguunt ‚angustiati‘ (vgl. V. 44) ‚perfodiri‘ (V. 40), ‚defraudavi‘ (V. 48) et mille talia extra regulam usurpare, cum etiam Gregorius eadem sentiens scripturas sanctas ‚oracula‘ nominet, eo quod et in fanis deorum oracula nullam umquam tenuissent grammaticę derivationem. Ait enim ipse ille, cuius in aurem columba rostro inseruit dictanda (V. 53): „Eloquium divini oraculi non stringitur regulis Donati.“124 Neque enim piscatores illi (V. 3f. 17. 64) a Bethsaida (V. 16–21), quamvis igneis linguis sint usi (vgl. Act. 2, 3f.), urbanius docuerant ad literam, quam domi didicerant. Legamus Paulum (V. 7– 15. 22f. 71) ad Romanos tonitruis simplicitatis fulgurantem contra inanem sęculi facundiam. („Mit diesen Worten des Hieronymus sind die zu tadeln125, welche die Kirche dafür schelten, dass sie angustiati, perfodiri, defraudavi und tausend ähnliche regelwidrige Dinge in Gebrauch habe, wo doch auch Gregor, der gleich denkt wie er, die Heiligen Schriften ‚heilige Aussprüche‘ nennt, und zwar deshalb, weil auch in den Heiligtümern der Götter die heiligen Aussprüche niemals dem folgen, was sich aus der Sprachlehre ergibt. Hat doch gerade er, in dessen Ohr die Geisttaube mit ihrem Schnabel eingegeben hat, was er diktieren solle, gesagt: ‚Die Sprechweise göttlicher Rede lässt sich durch die Regeln Donats nicht in die Schranken weisen.‘ Und es haben ja auch jene Fischer aus Bethsaida, wenn sie sich gleich feuriger Zungen bedient haben, ihre Lehren dem Wortlaut nach nicht gepflegter ausgedrückt, als sie es zu Hause erlernt hatten. Lesen wir, wie Paulus im Römerbrief mit Blitz und Donner seine einfache Rede der eitlen Beredsamkeit der Welt entgegensetzt.“)

Originell scheint mir Ekkeharts Gedanke zu sein, Gregor der Große habe in dem anzitierten Ausspruch – der von ihm und andern wohl weit überschätzt worden ist – mit (bildungsapologetischer) Absicht das Wort oraculum verwendet, um die chris|| 122 Hier. epist. 36, 14, 2, CSEL 54, S. 280. 281, 2f.; zu dem ganzen Passus vgl. Marti 1974, 89. 123 Gedruckt von Egli in Ekkehart, Liber Benedictionum/Egli 1909, 215; zu Nr. 42, V. 55 (angustiari in -iati zu verbessern, nulla in -am). Vgl. das Verzeichnis der Handschriften mit Einträgen Ekkeharts bei Eisenhut 2009, 420. 124 Vgl. Greg. M. moral. epist. 5, CCL 143, S. 7, Z. 220–222: indignum vehementer existimo, ut verba caelestis oraculi restringam sub regulis Donati. Hierzu etwa Stotz 2011a, 19. 125 Zu so gebrauchtem convenire: MLW 2, Sp. 1813, 18–22.

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tensprachlichen Anomalien mit dem Hinweis auf archaische (u. ä.) Sonderformen paganer Sakralsprache gewissermaßen zu rechtfertigen.

7.2 Das Zeugnis in der St. Galler Handschrift 279 In der St. Galler Handschrift 279 (2. Hälfte 9. Jh.), enthaltend den ersten Teil der ‚Collectanea ex Augustino in epistolas Pauli‘ des Florus von Lyon († um 860), lesen wir auf S. 424 – zu den Worten: Unde plerumque loquendi consuetudo vulgaris (Glosse: id est villana rusticitas) utilior est significandis rebus (Glosse: scilicet divinis) quam integritas litterata […]126 – am Rand den folgenden Eintrag127: Nota Augustinum simplicitatem locutionis de Bethsaida piscatorum malle quam urbanitatis leporem et facundiam forensem, cum oracula fidei repudient regulas Donati Gregorio teste: ‚duorum‘ (vgl. V. 45), ‚adiuvata‘ (V. 49), ‚eructavit‘ (V. 43), ‚qui se angustiaverunt‘ (V. 44) et mille talibus, quę melodia solvi non patitur, etiam si nudis verbis contradicatur. („Merke dir, dass Augustin die einfache Ausdrucksweise der Fischer von Bethsaida der gepflegten Eleganz und der Beredsamkeit eines Redners vor Gericht vorzieht, da ja die Aussprüche des Glaubens die Regeln Donats zurückweisen, wovon Gregor Zeugnis ablegt mit duorum, adiuvata, eructavit und qui se angustiaverunt, und mit tausenderlei Dingen dieser Art, bei denen die Melodie nicht geändert werden kann, auch wenn den Worten an sich Widerspruch erwächst.“)

Hier klingt die oben evozierte, allgemein gehaltene Stelle bei Gregor nur schwach an, dafür wird dieser auf andere Weise als Zeuge aufgeboten, nämlich durch den – durchweg auf ihn persönlich zurückgeführten – gregorianischen Gesang. Vier Stellen werden, je neumiert, angegeben, bei denen die Wortform durch die Neumen entgegen der – vorausgesetzten – Sprachrichtigkeit verbürgt sei128. Der Wortlaut der Gregorianischen Gesänge ist nach dieser Sicht durch die Melodie gesichert, die für gleichfalls göttlich inspiriert galt. Im Einzelnen lässt sich dazu Folgendes bemerken: Duorum stammt aus dem Vers In medio duorum innerhalb des Graduale Domine audivi (AMS 78). Ekkeharts Neumierung stimmt mit dessen Niederschrift in der mit ihm zeitgenössischen St. Galler Handschrift 376 (S. 188, Feria VI in Parasceve [Karfreitag]) überein. Das Wort adiuvata findet sich in dem Responsorium Ego autem

|| 126 Aug. doctr. christ. 3, 3, Z. 43–45, CCL 32, S. 81. 127 Gedruckt von Egli in Ekkehart, Liber Benedictionum/Egli 1909, S. 212, zu Nr. 42, V. 15; vgl. Eisenhut 2009, 422. 128 Alle folgenden Angaben gehen zurück auf Mitteilungen von Herrn Kollegen Michael Klaper, Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena, und von meinem Freund Rudolf Stäuble, Winterthur, denen ich für ihr Interesse und ihre liebenswürdige Hilfsbereitschaft herzlich danke. – Noch nicht gelöst ist einstweilen die Frage, woher in der damaligen Gesangspraxis Ekkehart das Beispiel iuvavit (Gedicht 42, V. 49, ohne Neumierung) bezogen hat. Für die Silbe iu- fordert er dort Langmessung; durch den nachstehend für adiuvata beigebrachten Beleg wird dies jedenfalls nicht gestützt.

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adiuvata a Domino zum Fest der heiligen Agatha (CAO 6625). Ekkeharts Neumierung entspricht weitgehend derjenigen in der St. Galler Handschrift 390 (‚HartkerAntiphonar‘, S. 123); die melodische Fassung ist dieselbe. Für eructavit, im Offizium und im Messproprium mehrfach vorkommend, kommt der Beginn des Versus Eructavit cor meum im Graduale Speciosus forma als Quelle in Betracht.129 Die Wortfügung qui se angustiaverunt ist nur an einer Stelle, und nur in der St. Galler Handschrift 391 (ebenfalls ‚Hartker-Antiphonar‘), S. 52, bezeugt, dies in der Offiziumsantiphon Stabunt iusti (nach Sap. 5, 1, CAO 5012). Ekkeharts Neumierung stimmt mit der hier vorliegenden, von einem unwesentlichen Unterschied abgesehen, überein.

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|| 129 Vgl. die Transkription im Graduale Novum, S. 41f. Die dort eingetragenen Neumen sind dem St. Galler Cantatorium, Hs. 359, S. 45, aus den Jahren 922–925, entnommen. Auch später, zur Zeit Ekkeharts, wird das Eructavit gleich neumiert. Das zeigen die St. Galler Handschriften 339, S. 50 (um 1000), 374, S. 23 (Mitte 11. Jh.) und 376, S. 107 (Mitte 11. Jh.).

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Kurt Smolak

Verba superba Ein Blick in Ekkeharts IV. Dichterwerkstatt

1 Der Gegenstand der Untersuchung Ekkehart IV. schrieb an seinen Bruder Immo, den späteren Abt von Münster im Gregoriental im Elsass, einen kurzen metrischen Lehrbrief von 31 leoninisch gereimten Hexametern über die richtige Art, ein Gedicht mit sprachlichem Schmuck zu versehen – Schmuck, ornatus (sc. orationis), die Übersetzung des griechischen κόσμος, war ja terminus technicus der antiken und auch der mittelalterlichen Rhetorik. Schon der Auctor ad Herennium im frühen ersten Jahrhundert v. Chr., danach Cicero in seinen theoretischen Schriften zur Rhetorik verwenden ihn in vielfältigem Kontext, und Quintilian, um ein weiteres Beispiel aus der römischen Tradition zu nennen, gebraucht den Begriff in seiner Institutio oratoria dreizehnmal, am dichtesten in den Kapiteln 2 und 3 von Buch 8.1 Der Zielsetzung ihrer Lehrbücher entsprechend beziehen die genannten Schriften den Begriff ornatus jedoch nie auf ein Werk der Dichtung. Nicht zufällig kommt das Wort in der hexametrischen Ars poetica des Horaz nicht vor, obwohl er sich in daktylischen Versen hätte unterbringen lassen. Doch die in der Kaiserzeit zunehmende Rhetorisierung der Dichtung, der auch die Literaturtheorie Rechnung trug und für welche die fragmentarisch erhaltene Schrift Vergilius orator an poeta zeugt,2 erlaubte eine zwanglose Übertragung des ornatusBegriffs auf poetische Produkte, ja machte sie in literaturtheoretischem Kontext sogar notwendig. In dem codex unicus, St. Gallen 621, S. 352, einem Autograph Ekkeharts, trägt das Stück die Überschrift: YMMONI FRATRI POST ABBATI EKKEHART DE LEGE DICTAMEN ORNANDI („Ekkehart an seinen Bruder Immo, den späteren Abt, über das Regelwerk, einem Gedicht Schmuck zu verleihen.“) Dictamen war im 11. Jahrhundert bereits ein möglicher Ausdruck für carmen, im Spätmittelalter wurde der Begriff übrigens auf jedes Werk der belletristischen Literatur ausgeweitet und bezog sich speziell auf den kunstvollen Brief.

|| 1 Zu der differenzierten Verwendung des ornatus-Begriffs bei den römischen Theoretikern der Rhetorik Lausberg 1990, 541–598. 2 Der Traktat hat einen Florus zum Verfasser, seine Entstehungszeit ist in das 2. Jh. n. Chr. anzusetzen, s. von Albrecht 1992, 1121–2.

422 | Kurt Smolak

1.1 Der Lehrbrief als Untergattung der lateinischen Literatur Literarische Unterweisung in Form eines Lehrbriefes, wie sie Ekkehart bietet, hatte in der lateinischen Literatur eine Tradition, die bis auf Horazens Literaturbriefe an Augustus und Florus (Epistulae 2,1–2) und seine schon erwähnte ars poetica zurückreicht3. In einem polymetrischen, aus Jamben und Trochäen bestehenden Brief warnte im Frühmittelalter, genauer gesagt in der lateinischen Literatur des westgotischen Spanien im späteren 7. Jahrhundert,4 Julian, einer der literarisch tätigen Erzbischöfe der westgotischen Residenzstadt Toledo und Verfasser einer Grammatik, einen nicht näher identifizierbaren Moduin vor dem Gebrauch moderner, rhythmischer Verse – mit dem kuriosen Hinweis auf die biblischen Patriarchen (!), die Propheten, Hiob und Jeremias, sowie auf Sokrates, Caesar, und Symmachus als biblische beziehungsweise pagan-antike Autoritäten nicht-rhythmischen Dichtens. Julian übernimmt den Katalog biblischer Musterautoren, den er um Moses erweitert, aus dem Prolog des Hieronymus zu seiner Übersetzung des Buches Hiob, in dem der Kirchenvater in der Nachfolge griechischer Quellen für die genannten biblischen Bücher eine zum Teil metrische Struktur in der hebräischen Originalsprache postuliert, jenen der paganen Schriftsteller scheint er hingegen selbst zusammengestellt zu haben, und zwar nicht ohne Irrtümer: So handelt es sich bei all den genannten Schriftstellern zum Teil um Prosaiker, die ihm sicher nicht im Original zur Verfügung standen – abgesehen davon, dass Sokrates überhaupt nichts Schriftliches hinterlassen hat. Dies gilt für alle Griechen, aber auch für fast alle Lateiner: Sokrates / Socras5, Acates (worunter wohl der griechische Lyriker Alkaios/Alcheus zu verstehen ist), Pherekydes/Ferecides, Ennius, Phokas/Focas (Verfasser einer Vergilvita in Versen), Homer/Omerus, Varro (der große römische Enzyklopädist, entweder im Original oder aus Augustinus bekannt), Caesar/Cesar, Symmachus – liegt hier eine Vermischung des hellenistischen, ebenfalls von Hieronymus im Hiobprolog, wenn auch in anderem Kontext, erwähnten Bibelübersetzers Symmachos mit dem spätrömischen als Redner und Epistolograph berühmten Stadtpräfekten von Rom, Quintus Aurelius Symmachus, vor? Aber gerade dieser aus unterschiedlichen Quellen gespeiste Katalog von Prosaikern und Dichtern bestätigt die Überlappung von – rhetorisierter – Kunstprosa und – ebenfalls rhetorisierter – metrischer Dichtung am Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter, ein Prozess, der bereits im Zusammenhang mit dem Gebrauch des Fachbegriffs ornatus festgestellt wurde.

|| 3 Zu der Gattungstradition s. Wulfram 2008. 4 Entdeckt und ediert von Bischoff 1959, 247–56 (überarbeitet in Bischoff 1966, 288–298). 5 Sokrates mochte dem Autor aus den Übersetzungen des platonischen Timaeus (durch Cicero und Calcidius), des einzigen dem Früh- und Hochmittelalter zugänglichen Werk Platons, als Dialogführer bekannt sein, so dass er ihn für einen Schriftsteller hielt.

Verba superba | 423

2 Ekkeharts poetologischer Lehrbrief In der lateinischen Literatur des Mittelalters – Julian von Toledo ist kulturell ja noch eher der Spätantike zuzurechnen –, war Ekkehart, soweit ich sehe, der erste, der die Tradition des poetologischen Lehrbriefes aufleben ließ. Zunächst der Text samt Übersetzung6:

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Dictamen verbis assuesce polire superbis, Quę sibi cognata pare fonteque sint generata: Pro binis geminos, pro pulchris pone serenos, Pro pulchris lętos, pro lętis corde quietos. Pro iusto gemma, pro nobile sit tibi stemma, Da viti gemmas, botros sibi dicito mammas. Fluctus da segeti, portum simulato quieti, Remigio alarum volet Iccarus aera sudum, Qui pulcher visus locus, effice, sit paradysus, Delitiis plenus locus appelletur amęnus, Sic etiam prata, silve, pomeria, strata, Ortus et hic rivo propior, fonti quoque vivo. Verbaque cognata sociabis et ante locata. Teutonicos mores caveas nova nullaque ponas. Donati puras semper memorare figuras. Rem pulchram visam non semper dic speciosam. Sit sale conditum, quicquid dicendo cupitum. Florida vernabunt, fabris arte polita micabunt. Pulchra quidem mulier formosa sit et speciosa, Aurum sit purum, sit mundum, sit rubicundum. His quoque germana tamen haud poterunt fore vana, Quęrenti verba florum splendore superba, Si teneant puram non degeneremque figuram. ‘Sit cibus et potus noster saturatio totus’ Simplex est prorsus, sed currit commode versus. ‘Sit fomes vitę cibus hic nectarque cupitę’, Iste figuratus facundior et mage gratus. Simplicitas pura, generosior ergo figura, Neutra spernenda propriisque locis retinenda. Arte loqui imbutos imitare sapore locutos, Ore disertorum rape tu quodcumque decorum. („Gewöhne dir an, ein Gedicht durch stolze Wörter glänzen zu lassen, die miteinander verwandt sind und der gleichen Quelle entspringen. Statt ‚je zwei‘ setze ‚zwillingshaft‘, statt ‚schön‘ ‚heiter‘, statt ‚schön‘ ‚strahlend‘, statt ‚strahlend‘ ‚innerlich ruhig‘. Statt ‚ein Gerechter‘

|| 6 Zitiert nach der Ausgabe von Strecker 1978, 532f.; Übersetzung von Kurt Smolak.

424 | Kurt Smolak setze ‚eine Gemme‘, statt ‚ein Adeliger‘ setze ‚Stammbaum‘; gib dem Weinstock ‚Gemmen‘,7 nenne die Trauben ‚Brüste‘, gib dem Saatfeld ‚Wogen‘, verwende für ‚Hafen‘ die Metapher ‚Ruhe‘, mit einem ‚Ruderwerk der Flügel‘ fliege Ikarus durch die klare Luft, kommt dir ein Ort schön vor, mache, dass er ein Paradies sei, ein Ort voll Annehmlichkeiten werde als ‚lieblich‘ bezeichnet, ebenso Wiesen, Wälder, Obstgärten und Felder, und dieser Garten sei ganz nahe an einem Bach und einer lebendigen Quelle. Zusammengehörendes und Vorangestelltes verbinde miteinander, vor Eigenheiten des Deutschen hüte dich und verwende keine neuen Wörter. Denke immer an die reinen Metaphern8 des Donat. Hast du etwas Schönes gesehen, nenne es bisweilen ‚ansehnlich‘. Mit Geist gewürzt sei alles, was du zu sagen wünschst. ‚Blühendes‘ soll ‚frühlingshaft‘ sein, von Handwerkskunst Geglättetes soll ‚glänzen‘, eine schöne Frau freilich sei ‚wohlgestalt‘ und ‚ansehnlich‘; Gold sei ‚rein‘, sei ‚sauber‘, sei ‚rötlich‘. Auch was all dem verwandt ist, wird nicht nutzlos sein für jemanden, der nach stolzen, blumig-strahlenden Wörtern sucht, wenn sie nur eine reine, nicht hässliche Metapher ergeben. ‚All unsere Speise, all unser Trank diene der Sättigung.‘ Dieser Vers ist ganz einfach, doch er läuft in angenehmem Rhythmus. ‚Es sei diese Speise und dieser Nektar Kraftquelle für das begehrte Leben‘. Dieser, metaphorisch gestaltet, ist kunstvoller und gefälliger. Einfachheit ist rein, die Metapher also edler. Keines von beiden ist gering zu schätzen und muss dem rechten Ort vorbehalten werden. Jene, die kunstvolle Rede erlernt und mit Geschmack gesprochen haben, die ahme nach, vom Mund der Sprachgewaltigen raube dir alles, was schmuck ist.“)

2.1 Sprachliche Auffälligkeiten Vers 2: pare archaische Nebenform zu klassisch pari; Vers 9: pulcher visus locus statt der zu erwartenden Konstruktion mit Supinum, pulcher visu locus, wegen des leoninischen Reims; Vers 11: pomeria „Stadtmauer (Roms)“ (gewöhnlich nur im Singular pomerium) in der Bedeutung des metrisch gleichwertigen pomaria, „Obstgärten“,9 strata „Hingestreutes“ (d.i. „Aussaat“) in der Bedeutung des klangähnlichen sata, „Saaten“, aus metrischen Gründen (trochäische Silbenfolge statt der pyrrhichischen erforderlich); Vers 12: ortus für hortus ist bloss eine orhographische Variante, welche die ursprünglich vulgärlateinische, im Mittellatein akzeptierte Aussprache wiedergibt; Vers 18: fabris (Genitiv) statt fabri10, Verwendung der Heteroklisie aus metrischen Gründen: zur Vermeidung des Aufeinandertreffens zweier Vokale (Hiat); Vers 23: non degeneremque statt neque degenerem, eine Art Wortteilung des Kompo|| 7 Die Metapher ist nach Cicero, Orator, 81 im bäuerlichen Sprachgebrauch zu verorten. Die Cicerostelle kann die Quelle Ekkeharts gewesen sein. Zur dessen mutmaßlicher Kenntnis jener CiceroKapitel s. Anm. 13. 8 Zum Begriff figura in der Bedeutung von Metapher im Mittellatein s. Mittellateinisches Wörterbuch 4, 230, 51–60 (die Stelle aus Ekkehart ist nicht angeführt). 9 Eine Kontrolle der Handschrift mittels der Online-Publikation der St. Galler Codices hat die Lesung Streckers bestätigt. Da aber die Verwendung von pomerium für „Obstgarten“ auch anderweitig belegt ist, darf angenommen werden, dass die gegenüber der Antike veränderte Bedeutung dem Autor bewusst war. 10 Die ebenfalls konsonantisch deklinierte vulgärlateinische Pluralform fabres ist für die Antike nur inschriftlich belegt (Corpus Inscriptionum Latinarum 14, 2876).

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situms (Tmesis) aus verstechnischen Gründen; Vers 27: mage archaische und poetische, auch in lateinischen Versen der Spätantike belegte Nebenform von magis, aus metrischen Gründen (pyrrhichische Silbenfolge statt der jambischen erforderlich).

2.2 Interpretation Ekkehart, der, wie die späteren mittelalterlichen artes poeticae mit wenigen Ausnahmen11 in seinem umfangreichen Œuvre die rhythmische Poesie konsequent ignorierte, obwohl sie damals in der Praxis liturgischer und profaner Dichtung längst ihren Platz hatte, empfiehlt seinem Adressaten gleich im ersten Vers, es sich zu eigen zu machen, eine Dichtung mit stolzen, das bedeutet mit erhabenen, nicht alltäglichen Wörtern zu „glätten“ und dadurch zum Glänzen zu bringen: Dictamen verbis assuesce polire superbis. Am Rande sei angemerkt, dass das Verb polire, „glätten“, schon in klassischer Zeit, zum Beispiel bei Catull, Carmina 1,2, zur Angabe der gepflegten Form eines Gedichtes in Gebrauch war.12 Es dürfte sich hierbei um eine Metapher von der Tätigkeit des Glättens des Papyrus durch Bimsstein handeln. An vorliegender Stelle ist das Attribut der ‚Wörter‘, superbis, in der auf Vergil, Aeneis 9,634, zurückgehenden Wortverbindung verbis superbis ausnahmsweise positiv besetzt – anders bei Vergil, wo die Wortverbindung für die überhebliche Rede des Remulus gebraucht wird, und anders als etwa bei Ekkehart selbst, der in seinen tituli für den Mainzer Dom, Vers 3 (s. u.), mit ebendiesen vergilischen Worten das Aufbegehren Lucifers gegenüber Gott bezeichnet. Um das im Einleitungsvers angegebene Ziel zu erreichen, nämlich verba superba zu setzen, eignete sich zunächst der Gebrauch von Synonyma, die mit den Metaphern „verwandt und aus gleicher Quelle hervorgebracht“, quae sibi cognata pare fonteque sint generata, in Vers 2 umschrieben werden – es handelt sich aber nicht um eine etymologische Verwandtschaft, sondern um eine inhaltliche, wie die folgenden Beispiele zeigen. Ekkehart schlägt also vor: an Stelle des blassen Distributivzahlwortes bini, „je zwei“, setze man das Wort gemini, „zwillingshaft“. Dies ist dem Bereich menschlichen Lebens entnommen und appelliert daher positiv an das Gefühl. Anstelle des zumindest in der Schriftsprache der Norm entsprechenden Adjektivs pulcher, „schön“ – in der gesprochenen Sprache hat sich ja bellus durchgesetzt – schreibe man serenus, „heiter, klar“, das an Schönwetter gemahnt und dadurch den Gesichtssinn und das

|| 11 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die Poetik des Johannes de Garlandia (John of Garland, Jean de Garlande) in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, der sein Werk mit Beispielen von litterae curialium und carmina scolarium, also lateinischer weltlicher Lyrik des Mittelalters, sowie einer kurzen ars rhythmica abschließt (diesen Teil der Poetria edierte Mari 1899) und Eberhard der Deutsche, Laborintus, 7, der, ebenfalls am Werkschluss, Beispiele rhythmischer Dichtung anführt und analysiert (ed. Faral, 1924, 370–377). 12 Weitere Belege finden sich Thesaurus linguae Latinae 10, 1, 2531, 53–58.

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Gemüt positiv anspricht. Dazu treten weitere an die Sinnesorgane appellierende Metaphern wie Edelsteine, die Knospen der Weinrebe, und Brüste als Metapher für pralle Weintrauben. Ekkehart flicht in diesen Katalog von ‚stolzen Wörtern‘ auch einen auctoritas-Beleg aus Ovid, Metamorphosen 8,228, der Erzählung vom Unglücksflug des Ikarus, ein, wenn er mit Verweis auf ebendiesen Mythos statt des ‚einfachen‘ Begriffs „Flügel“ eine Metapher mit explikativem Genitiv, „Ruderwerk der Flügel“, remigium alarum, vorschlägt. Diese Metapher ist allerdings nicht Ovid, sondern Vergil, Aeneis 1,301, entlehnt, wo sie im Zusammenhang mit dem eleganten Flug Merkurs vom Olymp auf die Erde verwendet wird – Ovid begnügt sich bei der Schilderung des Fluges des Ikarus allein mit dem Substantiv remigio, „Ruderwerk“, und das, Vergil verkürzt zitierend und zugleich kontrastierend, im Zusammenhang mit dem Absturz (!) des Dädalussohnes. Ekkehart kombiniert also sicher mit Absicht die beiden großen Autoritäten lateinischer epischer Sprache, zwischen denen, wie eben erwähnt, bereits eine intertextuelle Bezugnahme bestand. Die Art Ekkeharts, ornatus durch die Wortwahl zu erzielen – es besteht nach Cicero, De oratore 3,149 auch einer durch Wortgruppen – scheint sich nach einer anderen Sentenz Ciceros, und zwar Orator 80–1, zu richten: Cicero unterscheidet dort zwischen zwei Arten des ‚Schmucks durch Wörter‘, dem einfachen, simplex, und dem zusammengesetzten, collocatum. Bei ersterem handelt es sich um die hinsichtlich der Euphonie oder der Semantik optimale Anwendung gebräuchlicher Wörter in eigentlicher Bedeutung, unter letzterem versteht Cicero den metaphorischen Gebrauch oder die Anwendung altehrwürdiger und ungewöhnlicher Wörter, deren Bedeutung erst aus dem ‚umgebenden‘ Wörtern, dem Kontext, erkennbar ist.13 Die Gebundenheit Ekke-

|| 13 Cicero, Orator, 80–81: ornatus autem verborum duplex, unus simplicium alter collocatorum: simplex probatur in propriis usitatisque verbis quod aut optime sonat aut rem maxume explanat; in alienis aut translatum et tractum aliunde ut mutuo aut factum ab ipso et novum aut priscum et inusitatum ... collocata autem verba habent ornatum, si aliquid concinnitatis efficiunt, quod verbis mutatis non maneat manente sententia; ... tralatione ... qua saepissime sermo omnis utitur non modo urbanorum, sed etiam rusticorum, si quidem est eorum gemmare vitis, sitire agros, laetas esse segetes, luxuriosa frumenta; ... 92: tralata dico, ut saepius iam, quae per similitudinem ab alia re aut suavitatis aut inopiae causa transferuntur, mutata, in quibus pro proprio verbo subicitur aliud quod idem significet sumptum ex re aliqua consequenti. („Schmuck durch Wörter aber hat zweierlei Formen: die eine besteht in Einzelwörtern, die andere in Wortverbindungen. Als einfacher Schmuck im Fall von Einzelwörtern ist bei gebräuchlichen, im eigentlichen Sinn verwendeten Begriffen das gutzuheißen, was entweder vortrefflich klingt oder eine Sache am ehesten erklärt, bei ausgefallenen Wörtern aber die Qualität der Übertragung oder des wie etwas Geborgtes von anderswo hergeholten oder vom Redner selbst geschaffenen Bedeutungselements, sei es neu oder altertümlich und ungebräuchlich ... Wortverbindungen haben dann ihren Schmuck, wenn sie etwas formal Harmonisches ergeben, das bei geänderter Wortwahl nicht erhalten bleibt, wiewohl der Sinn derselbe bleibt; ... eine Metapher, die jedes Sprachniveau sehr oft verwendet, nicht nur das der städtisch Kultivierten, sondern auch das der einfachen Landleute, wo es ja in ihrer Ausdrucksweise heißt: die Weinstöcke setzen Gemmen an, die Äcker dürsten, die Saaten sind fröhlich, das Getreide schwelgt ...“) 92: „unter übertragen gebrauchten Wörtern verstehe ich, wie schon des öfteren, jene, die auf Grund einer

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harts an auctoritates aus der Antike innerhalb des allein durch den Gebrauch des leoninischen Reims nicht antikisierenden Gedichts wird besonders in den Versen 34f. deutlich. Dort warnt Ekkehart vor germanischen Neologismen, wie ein solcher etwa in dem vergilnahen Walthariusepos 1426 in dem Wort wantus für Handschuh erscheint. Er empfiehlt vielmehr die reinen Metaphern, puras figuras, nach Donat.14 Der Fachbegriff figura meint im Mittellatein ja nicht nur die rhetorischen Figuren, sondern umfasst neben den Figuren im engeren Sinn auch die Wortstellung und Wortwahl und, für Ekkehart wichtig, die uneigentliche Ausdrucksweise der Metapher. In Parenthese gesagt: Ekkehart äußert sich bekanntlich auch in seinem unter den deutschen Mittellateinern viel diskutierten Bericht über seine eigene Verbesserungstätigkeit am Waltharius negativ über die „Halblehrer“, semimagistri, die ihren Schülern die Nachahmung deutscher Wortfolgen im Lateinischen empfehlen.15 Was der Schulmann Ekkehart in der Lehrepistel mit seinen Ratschlägen meint, illustriert er anhand zweier Musterverse monastischen Zuschnitts mit dem moralisierenden, zum Maßhalten auffordernden erhobenem Zeigefinger des Lehrers, und zwar in den Versen 24 und 26: „All unsere Speise, all unser Trank diene der Sättigung“, das bedeutet „diene nur der Sättigung und nicht dem für die Erhaltung des Lebens nicht nötigen Genuss“: Sit cibus et potus noster saturatio totus. Dies sei ein ganz einfacher, simplex prorsus, aber nicht holpriger Vers, seine simplicitas sei eine reine, pura, und daher recht edle figura, im Sinne von Ciceros ornatus simplex, da ohne Metaphern und gesuchtem Vokabular. Diese simplex figura wird kontrastiert durch einen mit Figuren reichlich ausgestatten Vers gleichen Inhalts: „Es sei diese Speise und dieser Nektar Kraftquelle für das begehrte Leben“: Sit fomes vitae cibus hic nectarque cupitę. Ekkehart bezeichnet diesen Vers, der ein metaphorisch gebrauchtes, nicht alltägliches Wort, fomes, „Zündstoff“ – Erhaltung des Lebens ist ja an die sich als Wärme äußernde Energiezufuhr gebunden –, einen stilistisch überhöhenden Ausdruck, und zwar den antikisierenden des Göttertrankes nectar, und ein schmückendes Beiwort, cupitę, enthält, als figuratus und daher als „sprachlich gewandter“, facundior und „reizvoller“, mage gratus. Dazu mag kommen, dass die Begriffe nectar und cupitę die Assoziation zum „begehrten“ ewigen Leben beim himmlischen „Hochzeitsmahl des Lammes“, caena nuptiarum agni, der Johannes-

|| Ähnlichkeit entweder des Wohlklangs wegen oder aus Ermangelung (sc. einer eigentlichen Bezeichnung) von einer anderen Sache übertragen werden; als veränderte Wörter aber bezeichne ich jene, bei denen die an die Stelle des im eigentlichen Sinn gebrauchten Wortes ein anderes gesetzt wird, das dieselbe Bedeutung hat und von einer inhaltlich verwandten Sache genommen ist.“) – Übersetzung von Kurt Smolak. 14 Zu figura als terminus technicus der spätantiken Grammatik s. Thesaurus linguae Latinae 6,1,734, 14–49; allerdings findet sich keine passende Stelle aus Donat, der die Metapher zu den Tropen zählt (Grammatici Latini 4,399,15); dem Gebrauch Ekkeharts am Nächsten kommt Fronto, 181,5, der den Tropus der Metapher den Figuren unterordnet: in figuris verborum est tropos metaphora. 15 Ekkehart, Casus Sancti Galli, 80.

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apokalypse aufkommen lassen.16 Dadurch werden Speise und Trank ihrerseits überhöht und tendieren in Richtung auf das eucharistische Mahl, das irdische Abbild jenes himmlischen Hochzeitsmahles des Lammes, ohne dass dies direkt ausgesprochen wäre. Überraschenderweise, bedenkt man den einleitenden Ratschlag zum Gebrauch „stolzer Wörter“, konzediert Ekkehart in Vers 29 beide Formen, die einfache, sofern nicht holprige, und die figurenreiche, je nach dem Ort ihrer Verwendung, propriis locis. Auch hier, so scheint es, klingen die Ausführungen über den ornatus durch Wörter aus Ciceros Orator an (s. Anm. 13). Die abschließende Anweisung bildet eine inhaltliche Ringkomposition mit dem Beginn des Gedichts: Sie empfiehlt nämlich eine imitatio – von einer solchen war bisher nicht die Rede – von Autoren, die sich „mit (gutem) Geschmack“ geäußert haben, sapore locutos, was auch das Element des Esprit enthält, und deren Mund „redegewandt“, disertorum, „Schmuckes“, decorum, von sich gegeben habe. Dies verrät, dass Ekkehart von Dichtung grundsätzlich Zier im Sinne der verba superba fordert, und „(edle) Einfalt“, simplicitas, und purae figurae, auf die ihnen zukommenden Partien, loci, beschränkt wissen wollte.

3 Briefbeispiele 3.1 Erstes Beispiel Als erfahrener Pädagoge fügt Ekkehart seinen theoretischen Anweisungen zwei Beispiele metaphorischer, mit ‚stolzen Wörtern‘ durchgeführter Dichtung hinzu. Es handelt sich um zwei kurze poetische Briefe, Billets, im Umfang von neun beziehungsweise sieben leoninischen Hexametern, deren erstes ausdrücklich an Immo gerichtet ist, für das zweite ist dies nicht zuletzt wegen der ähnlichen Thematik wahrscheinlich. Ad exemplum. Item aliâs eidem aliqua. Cor geminum fratris, valeas, flos splendide matris, Tecum in floretis liceat mihi ludere lętis, Quę cruce reclusus vernans fundit paradysus. 35 Sydera promeritum, precor, Helisioque potitum Te spes atque fides solident quae maior et his est.

|| 16 Apokalypse 19,9; der Gedanke wird unterstützt durch die Ankündigung Jesu beim Letzten Abendmahl, erst im ‚Reich des Vaters‘ wieder von der ‚Frucht des Weinstocks‘ zu trinken (Matthäus 26,29; Markus 14,25).

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Sic tibi per trinum sit pax, sit vita per unum, Cum quo ridebis, specie sine quando videbis Ipsum perfecte, trahe me tecum prece macte, 40 Quem nimis optamus, facie simul ut videamus. („Als Beispiel. Ebenso bei anderer Gelegenheit an Denselben ein paar Zeilen. Zwillingsbruderherz, lebe wohl, strahlende Blüte der Mutter, es sei mir gegönnt, mit dir auf üppigen Blumenbeeten zu scherzen, die das frühlingshafte Paradies, durch das Kreuz erschlossen, ausbreitet. Dir, der du dir die Sterne verdient und das Elysium gewonnen hast, so bitte ich, mögen Hoffnung, Glaube und, was größer ist als diese, eine feste Stütze sein, so wahr dir durch den Dreifachen Friede und Leben durch den Einen zuteil werde. Mit ihm wirst du erstrahlen, wenn du ihn selbst einst ohne Spiegelung in Vollkommenheit sehen wirst, wohlan, ziehe mich in deinem Gebet mit dir, aufdass wir zusammen von Angesicht zu Angesicht den schauen, den zu schauen wir so innig begehren.“)

3.2 Zweites Beispiel Item amplius ad exemplum. Nemo fidem fari neque corde queat memorari, Nullus et auditus fuerit visusque potitus, Qualia dux apibus floreta sit ipse daturus, Quę tunc in cellis nova cogent nectara mellis 45 Aut spretis ceris bambizabunt sibi cęlis. Illuc scandamus, ibi poblite mella legamus, Quę legit examen ducis, et saturabimur. Amen. („Ebenso noch etwas, als Beispiel Niemand könnte zuverlässig aussprechen und im Herzen erwägen, kein Gehör und keine Sehkraft wäre dazu im Stande, welche Blumenbeete der Anführer von sich aus den Bienen geben wird, die dann in ihren Zellen neuen Honignektar herstellen oder die Zellen verlassend im Himmel vor sich hinsummen werden. Dorthin wollen wir emporsteigen, dort wollen wir an unseren Hinterbeinen Honig sammeln, den der Schwarmzug des Anführers sammelt, und werden satt werden. Amen.“)

3.3 Interpretation der Beispiele 3.3.1 Erstes Beispiel Der Exempelcharakter der zwei Gedichte wird schon dadurch werkimmanent betont, dass zu Beginn des ersten Billets drei Wörter gesetzt sind, die in dem vorangehenden Lehrbrief als Metaphern empfohlen werden: geminum, lętis, paradysus. In beiden Gedichten bildet je eine Paulusstelle die konzeptionelle Basis – nicht er-

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staunlich in epistolographischem Kontext, da ja Paulus von der Spätantike an Musterautor für spezifisch christliche Grußformeln war, die übrigens in der frühmittelalterlichen lateinischen Literatur des angelsächsischen Bereichs ausufern konnten.17 Genau in der Mitte des ersten Billets steht in Vers 36 der zentrale Gedanke der christlichen Liebe – in jedem, auch einem nichtchristlichen Freundschaftsbrief thematisch unerlässlich18 – beinahe wörtlich formuliert nach der paulinischen Dreiheit der Kardinaltugenden in 1 Korinther 13,13, dem berühmten ‚Hohen Lied der Liebe‘: fides spes caritas, tria haec, maior autem his est caritas, „Glaube, Hoffnung, Liebe, diese Drei. Größer aber als diese (d. h. die größte von diesen) ist die Liebe“ Auf diese zentrale Paulusstelle wird überdies mittels der Wörter perfecte (Vers 38) und facie (Vers 40) hingewiesen, liest man doch 1 Korinther 13,10 den Satz: cum autem venerit quod perfectum est, „wenn aber das gekommen sein wird, was vollendet ist“, und 1 Korinther 13,12: videmus nunc per speculum in enigmate, tunc autem facie ad faciem, „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber werden wir von Angesicht zu Angesicht schauen.“ Ein weiterer lexikographischer Hinweis auf die zu Grunde liegenden Pauluspassage findet sich in dem besonderen Gebrauch des Substantivs species in Vers 38. Dieses kommt nämlich, wie der Kontext vermuten lässt, an die Bedeutung des etymologisch verwandten speculum, „Spiegel“, welches ebenfalls in das daktylische Versmaß gepasst hätte, sehr nahe heran und wurde, vielleicht wegen der klanglichen Ähnlichkeit zu dem paulinischen facies verwendet, das im abschließenden Vers 40 gesetzt wird.19 Species verhält sich bei Ekkehart zu facies wie speculum zu facies bei Paulus. Zu dem zentralen paulinischen Abschnitt tritt wahrscheinlich eine Anspielung auf Matthäus 13,43 hinzu, wo es von den „Gerechten“, d. i. den Heiligen, heißt, sie „werden dann leuchten wie die Sonne im Reich ihres Vaters (d. i. Gottes)“, tunc iusti fulgebunt sicut sol in regno patris eorum. Vor dem Hintergrund des Sonnenvergleichs an der Evangelienstelle erhält Ekkeharts Verb ridebis, „du wirst lachen“, in Vers 38 die Bedeutung von „(er)strahlen, glänzen“. Wie im Deutschen kann nämlich auch im nachklassischen Latein „lachen“ als Metapher für das Scheinen der Sonne gebraucht werden.20 Nur vor dem Hintergrund dieses solaren Bezugs ist die Metapher an dieser Stelle verständlich.

|| 17 Smolak 2009, 83–95. 18 Thraede 1970, 125–146. Es ist auffällig, dass in Briefen antiker Christen trotz diverser sich auf das ‚Hohe Lied der Liebe‘ berufender Freundschaftsbeteuerungen gerade der das Lied zusammenfassende Vers 1 Korinther 13,13 nicht zitiert wird, wohl aber 1 Korinther 13,1–8. 19 Für species in der Bedeutung von speculum konnte keine Parallele gefunden werden. Denkbar ist auch, dass Ekkehart an das schemenhafte (mit species wird ja auch eine schemenhafte ‚Erscheinung‘ bezeichnet) Spiegelbild dachte und das Wort vor dem Hintergrund der Paulus-Stelle metonymisch anstelle der direkten Bezeichnung für Spiegel verwendete. 20 Tertullian, Adversus Marcionem 1, S. 291, l. 10 (CSEL); Marius Victor(ius) 2,533.

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Auf das im Freundschaftsbrief zentrale Thema ‚Liebe‘ wird außer durch die aufgezeigte, sehr deutliche Bezugnahme auf die Paulusstellen durch eine Anspielung auf das alttestamentliche Hohe Lied verwiesen: Die Wendung trahe me tecum in Vers 39 geht klärlich auf das Liebeswerben im alttestamentlichen Canticum Canticorum 1,3 zurück, wo es heißt: trahe me post te, curremus, introduxit me rex in cellaria sua, „Zieh mich hinter dir her! Lasst uns eilen! Der König führt mich in seine Gemächer.“ Diese Szene wurde traditionell auf Christus gedeutet, der die geliebte Seele zu sich ruft.21 An vorliegender Stelle ist der Bibelvers aber auf den Bruder übertragen, der dadurch die rühmliche Funktion eines Heilsmittlers, eines ‚Heiligen‘, erhält. Über der Grundlage dieses biblisch ausgedrückten Freundschaftstopos errichtet Ekkehart mit Hilfe der in dem Lehrbrief empfohlenen verba superba eine zweite, höhere Verständnisebene. Denn abgesehen von den in der Lehrepistel empfohlenen Wörtern geminum und den im Sinn des Autors miteinander verwandten Begriffen species und facies werden auch die Blumenbeete, floreta, vorbereitet durch die metaphorische Anrede des Bruders als „leuchtende Blume“ – übrigens ein Element der antiken Sepulkralpoesie, etwa in dem Epitaph einer gewissen Flavia Nicopolis aus Rom22 –, in ihrer frühlingshaften Pracht, vernans, angesprochen. Die Begriffe floretis (Vers 33) und vernans (Vers 34) sind ähnlich benachbart wie in florida vernabunt in Vers 18 des Lehrbriefes: ein weiterer Rückverweis auf die Theorie. In dem Billet tritt in Vers 34 noch das Wort paradysus hinzu, welches Ekkehart in Vers 9 der Epistel als gehobenen Ausdruck für einen locus amoenus, einen ‚Lustort‘, anbietet. Nun erweckt das Grußgedicht schon durch den Abschiedsgruß valeas, „lebe wohl“, gleich im ersten Vers den Eindruck, der Bruder sei fern, wenn nicht bereits gestorben. So ist etwa in Catulls Abschiedsepigramm, Carmina 101, 10 an seinen in der Troas verstorbenen Bruder – Ekkehart konnte das Epigramm freilich nicht kennen – vale das letzte Wort. Verstärkt wird dieser Eindruck durch Vers 35 mit der Aussage, der Adressat habe sich den Himmel verdient, und durch die abschließende Bitte, der Bruder möge den Dichter mit sich zu Christus ziehen. Dieser ins Jenseits weisenden Atmosphäre widersprechen aber die Futura von Vers 38 und die paulinische Grundsituation, die ja von der Gegenwart aus in die jenseitige Zukunft blickt. Dieser, wie ich meine, absichtlich überspielte Gegensatz von Diesseits und Jenseits, von Gegenwart und Zukunft, der in der Passage aus dem ersten Korintherbrief mit aller Deutlichkeit hervorgehoben ist, liegt in dem gehobenen, ‚stolzen‘ Wort paradysus, das Ekkehart in der Lehrepistel, wie erwähnt, zur Bezeichnung eines schönen Gartens empfiehlt. Das Wort enthält aber den Aspekt des irdischen und des himmlischen Paradieses – von beider Existenz war das Mittelalter und noch die frühe Neu-

|| 21 Z.B. Apponius, In canticum canticorum expositio 1, ll. 424–428. – Wie populär diese Allegorese im Lauf des Mittelalters geworden ist, geht nicht zuletzt daraus hervor, dass sie noch in dem lateinischdeutschen Weihnachtslied In dulci iubilo als abschließende Bitte gesetzt ist. 22 Carmina Latina Epigraphica, Nr. 1184,18 (= Corpus Inscriptionum Latinarum 6,18385).

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zeit überzeugt.23 Als Vorwegnahme des ewigen Lebens im jenseitigen Paradies – diesen Aspekt des Transzendenten hat der Begriff seit der Verheißung des gekreuzigten Jesus an den rechten Schächer bei Lukas 23,43 beziehungsweise seit der mystischen Entrückung des Paulus nach dem Bericht in 2 Korinther 12,4 – wurde in monastischen Kreisen aber das Leben in der Mönchsgemeinde oder in der Einsiedelei angesehen. Bereits in der Vita Pauli primi eremitae des Hieronymus geht das irdische Paradies der Eremitage des in der Wüste lebenden Paulus von Theben in Ägypten bruchlos in das himmlische über: Die Einsiedelei ist nicht mehr „Wüste“, (in) deserto, wie im Fall der biblischen Asketen Elias und Johannes des Täufers, sondern „wahrhaftig, (d. i. ganz im eigentlichen Sinn) das Paradies“, vere (!) ... (in) paradiso. Der mit 120 Jahren verstorbene Einsiedler Paulus, für Hieronymus das Urbild des Mönchs, erscheint somit in der Vita schon vor seinem Tod als Bewohner eines Paradieses, des irdischen, das sich nach seinem Tod im himmlischen fortsetzt. Die Himmelfahrt, der Aufstieg in das himmlische Paradies, des verstorbenen Eremiten wird Antonius, dem Schüler und Nachfolger das Paulus, in einer Vision geoffenbart und dadurch glaubhaft bestätigt.24 Das erste Exempelbillet Ekkeharts ist also im Sinn eines fundamental monastischen Konzepts gestaltet. Infolgedessen wäre es denkbar, dass Immo als noch im Diesseits weilend gedacht ist, aber als einer, der im Klosterleben bereits das jenseitige Paradies vorwegnimmt, indem er im Sinne von Paulus, Galater 6,14‚ „der Welt gekreuzigt“, das heißt erstorben ist. Sucht man einen historischen Anlass für die Entstehung dieses Abschiedsbillets, dann könnte er in der Erwählung Immos zum Abt von St. Georg im Gregoriental zu suchen sein. Der Brief wäre ein ‚farewell‘ im wörtlichen Sinn. Diese Hypothese kann allerdings nicht bewiesen werden.

|| 23 Zu den Paradiesesvorstellungen des Mittelalters s. den Sammelband von Peter Dinzelbacher, passim. 24 Hieronymus, Vita Pauli primi eremitae 13; demgemäß lag es im Hochmittelalter nahe, den vom Kreuzgang eines Klosters eingeschlossen Garten mit dem Paradies zu vergleichen (Aelredus Rievallensis, De spiritali amicitia 3,604). – Das Konzept einer Einsiedelei und in der Folge eines Klosters als Paradies hängt mit der geschlechtlich indifferenten Existenz der Ureltern vor dem Sündenfall zusammen, die Eremiten und Koinobiten nachzuvollziehen bereit sind, und die vielleicht schon um 700 in der Vita Gertrudis Nivalensis S. 464, l. 39, gewiss aber im 11. Jahrhundert bei dem Eremiten Petrus Damiani, epist. 28, S. 277, l. 23 mit der Wendung „engelgleiches Leben“, vita angelica, bezeichnet wurde, insofern sie eine Nachahmung des Lebens der Engel als der geschlechtslosen Paradiesesbewohner darstellt. An der zuletzt genannten Stelle wird diese Lebensführung als vita heremitica, vita perfectorum, vita sancta, vita angelica, vita benedicta, vivarium animarum gepriesen. – Als Kuriosum sei noch auf die in elegischen Distichen abgefasste Grabinschrift des 1584 verstorbenen Abtes Gregor Remer des ehemaligen Zisterzienserklosters Neuberg an der Mürz (Steiermark/ Österreich) hingewiesen, in der die Abtei Neubergensis urbs sacra, „heilige Stadt Neuberg“, genannt wird. Hier liegt eine synonyme Bezeichnung für ‚Paradies‘ vor: die ‚heilige Stadt‘ Jerusalem ist ja in der Johannesapokalypse 20–1 Symbol für das Jenseits der Heiligen, eben das Paradies. In der Inschrift ist also das Kloster indirekt als irdisches Paradies bezeichnet.

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3.3.2 Zweites Beispiel Unerlässlich für jedes Paradies ist eine blumenübersäte Wiese – man denke an die Mosaikdarstellungen in den Apsiswölbungen frühchristlicher Kirchen, etwa SS. Cosma e Damiano in Rom oder S. Apollinare in Classe in Ravenna. Auch Prudentius, um ein literarisches Beispiel zu nennen, lässt in seinem Hymnus Cathemerinon 5,121–4 die Heiligen im Paradies „über grasbedeckte Wiesen“, prata per herbida, mit zahlreichen Blumen schreiten. Die Assoziation an eine paradiesische Blumenwiese evoziert Ekkehart in den Worten floretis lętis in Vers 33, – dieses Adjektiv wird übrigens in Vers 4 der Epistel neben serenus als ‚stolzes Wort‘ anstelle des Alltagswortes pulcher empfohlen. Eine blumenübersäte Wiese lockt selbstverständlich Bienen an. Auf einer im ersten Billet durch verba superba‚ nämlich floretis lętis und paradysus, grundgelegten konzeptionellen Basis entwickelt Ekkehart in seinem zweiten Beispiel ein elaboriertes Bild der Heiligen im Paradies als eines von einem dux, das ist ein technischer Ausdruck zur Bezeichnung der Bienenkönigin, die bis in die Neuzeit überwiegend als männlich galt (man vergleiche im Deutschen ‚der‘ Weisel) – hier ist Christus gemeint –, geleiteten Bienenschwarms, unter dem einmal mehr nicht ‚beliebige‘ Heilige, sondern Mönche zu verstehen sind. Darauf weist der doppeldeutige Begriff cellis in Vers 44 hin, der sowohl die Klosterzelle als auch die Wabe, etwa bei Vergil, Georgica 4,159, bezeichnen kann. Ferner eignen sich Bienen schon wegen ihrer gemäß einer verbreiteten antiken Auffasung mutmaßlich nicht geschlechtlichen Fortpflanzung,25 der hierarchischen Struktur ihres Gemeinwesens und ihrer Arbeitsamkeit ideal als Vergleich für ein Kloster, ähnlich der Ameisenstraße, die in der Vita Malchi des Hieronymus den Helden an sein ehemaliges Leben im Kloster nicht ohne Wehmut zurückdenken lässt, aus dem er entflohen war.26 In Sinne dieser Metapher aus der Welt der staatenbildenden Insekten sagt bereits der Mönchsvater Johannes Cassianus, Institutiones 5,4,2, im frühen fünften Jahrhundert, ein Mönch sammle wie eine Biene Honig, allerdings geistigen Honig. Basistext dieses zweiten Beispiels für den Gebrauch von stolzen Wörtern ist einmal mehr eine Paulusstelle, und zwar 1 Korinther 2,9, wo Isaias 64,4 zitiert wird: „Was kein Auge geschaut und kein Ohr gehört und in keines Menschen Herz eingedrungen ist, nämlich was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben“, quod oculus non vidit nec auris audivit nec in cor hominis ascendit, quae praeparavit Deus his qui diligunt illum. Die biblischen Verse erscheinen in dem Gedicht, wie oben bereits angegeben, in folgender Form: „Niemand || 25 So zu lesen z.B. bei Vergil, Georgica 4,197–8; Ps.-Quintilian, Declamationes 13,16; Ambrosius, Exaemeron 5,67; Prudentius, Cathemerinon 3,75: alle diese Texte waren im Mittelalter grundsätzlich verfügbar. Ein spätmittelalterlicher Text fügt übrigens der sexuellen Abstinenz der Bienen auch noch ihre sparsame Lebensführung als weiteres tertium comparationis mit der monastischen Existenzform hinzu: Hee parce vivunt nec Venerem cupiunt (Novus Physiologus 1226). 26 Hieronymus, Vita Malchi monachi captivi, 7.

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könnte zuverlässig aussprechen und im Herzen erwägen, kein Gehör und keine Sehkraft wäre dazu im Stande, welche Blumenbeete der Anführer von sich aus den Bienen geben wird“. Die inhaltlich offene Formulierung bei Paulus für die Gaben Gottes mittels des Alltagswortes quae, „was“, konkretisiert Ekkehart im Anschluss an die Metaphorik des ersten Billets durch das ‚stolze‘ Wort floreta, dem er noch dazu das prägnant positiv konnotierte Pronomen qualia (vgl. im Deutschen ‚Qualität‘ für ‚gute Qualität‘) hinzufügt. Er schafft sich eben dadurch die Grundlage für das Bild des Bienenschwarmes und der Speisung durch den geistigen Honig. Die Einbeziehung des liturgischen Schlusswortes Amen in den letzten Vers27 des zweiten Billets weist darauf hin, dass die drei Stücke, der poetologische Lehrbrief und die zwei Beispiele, als Einheit konzipiert waren, die in eine Art Gebet mündet – das deuten auch die hortativen Konjunktive in Vers 46 an. Bleibt noch die Frage, warum Ekkehart in den Exempla auf das mönchische Leben unter dem Aspekt der Ausrichtung auf das Paradies abhebt. Eine mögliche Erklärung ist naheliegend: Das Wesen des Briefes im Allgemeinen und des vorangehenden im Besonderen mit seiner spezifischen Zeitengebung musste für den Schulmeister den Ausschlag für einen prospektiven Inhalt gegeben haben. Der Brief enthält nämlich qua Lehrbrief in seinen Vorschriften nur futurische Verbalformen: Imperative und jussive Konjunktive. Dieser Blickwinkel wird in den epistolographisch eingeleiteten Beispielen beibehalten. Das Bedenken der Zukunft ist im monastischen Leben aber grundsätzlich nicht auf die verbleibende Lebenszeit im Diesseits, sondern auf das ewige Leben im Jenseits gerichtet, getreu dem Rat des Paulus in Philipper 3,13, wie er selbst das Zurückliegende zu vergessen und sich dem Kommenden „entgegenzustrecken“, quae quidem retro sunt obliviscens, ad ea vero quae sunt in priora extendens me, um den „Siegespreis der Berufung von oben“, bravium supernae vocationis, zu erlangen.

4 Inhaltliche Konsequenzen ‚stolzer Wörter‘ Der Gebrauch von verba superba hat das Potential, durch die Breite des metaphorischen Bedeutungsspektrums des gewählten Wortes nicht nur sinnerweiternd, sondern auch sinnverändernd zu wirken. Am deutlichsten kommt das in dem Beispiel zum Ausdruck, das Ekkehart in Vers 4 der Lehrepistel bietet, wenn er an Stelle von lętus vorschlägt, corde quietus zu verwenden. Denn Letzteres bezeichnet einen von antiker Philosophie und kontemplativem Mönchtum angestrebten Seelenzustand, ja

|| 27 In gleicher Weise verfährt bereits im fünften Jahrhundert der Bibelepiker Marius Victor(ius), Praefatio 126.

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geradezu den der ‚jenseitigen Sabbatruhe‘, der ewigen Seligkeit.28 Gewiss, das Substantiv laetitia kann für den Zustand im ‚ewigen Sabbat‘ verwendet werden, wie etwa 3 Esdra 1,37 und auch in patristischer Prosa, doch stets mit einem spezifizierenden beziehungsweise korrigierenden Zusatz versehen.29 Demgegenüber bezeichnet laetitia – und daher hat auch das Adjektiv laetus eine besondere Konnotation – aber auch eine ausgelassene Festesfreude mit Weingenuss.30 Um das Bedeutungsfeld von laetus als Attribut von Menschen auf die spirituelle, philosophischmonastische Ebene zu begrenzen, versieht Ekkehart das synonyme Adjektiv mit dem erklärenden Substantiv corde in der Bedeutung des biblischen und christlichen Sprachgebrauchs, wie auch die in Anm. 29 zitierten patristischen Autoren bei ihren Spezifizierungen von laetitia vorgingen. Diese Überlegungen führen zu der Annahme, dass das erste, anscheinend unverfängliche laetus in Vers 3 sich auf ‚schöne‘ Dinge bezieht, wie dies Cicero an der in Anm. 14 zitierten Stelle aus dem Orator als Beispiel für eine alltägliche, auch in der bäuerlichen Sprache gängige Metapher erwähnt, und wie es Vergil im Einleitungsvers seiner Georgica (1,1) wortgleich anwendet: laetas segetes. Ekkehart scheint zwei Anwendungsbereiche des Begriffs laetus zu konstituieren, einen der Physik und einen der Ethik. Letzterer ist naturgemäß den Menschen vorbehalten. Mit dieser seiner vergleichsweise eingehenden Behandlung des Adjektivs laetus – kein anderes der empfohlenen Wörter wird zweimal angeführt, noch dazu gewissermaßen in einem Atemzug – könnte Ekkehart eine bestimmte, aktuelle Zielrichtung verfolgen: Als laetitia wurde zu seiner Zeit

|| 28 Persönliche ‚Ruhe‘ durch philosophische Reflexion zu vermitteln, war das höchste Ziel der ‚modernen‘ griechischen Philosophenschulen, allen voran der Stoa und des Epikureismus, vom Hellenismus an. In den entsprechenden lateinischen Schriften Ciceros und Senecas werden für die ‚innere Ruhe‘ die metaphorischen Begriffe quies, quietus, tranquillus, tranquilitas verwendet (vgl. z.B. Cicero, Tusculanae disputationes 2,1,2; 4,17,37: quietus animo – hier ist die Konstruktion identisch mit jener Ekkeharts – und Senecas Traktat De animi tranquillitate), als Bezugspunkte erscheinen animus, anima, mens. Erst im Christentum begegnet das „Herz“, das im Latein ursprünglich den Sitz der (praktischen) Denkkraft bezeichnete, als Organ des ‚Gefühls‘, eine semantische Entwicklung, zu der neben der Bibelsprache (Psalm 23,4 iuxta Hebraeos, Matthäus 5,8: mundo corde) Augustinus viel beigetragen hat, nicht zuletzt durch den bis heute viel zitierten Satz vom unruhigen Herzen, das erst in Gott Ruhe findet, vom Anfang der Confessiones (1,1,1). Am Ende desselben Werkes des Kirchenvaters, wo er sich mittels lexikalischer Signale auf Gedanken des Anfangs bezieht, spielt in der Exegese des siebenten Schöpfungstages die ewige Sabbatruhe Gottes und der Heiligen als quies eine zentrale Rolle (Confessiones 13,38,53). – Wenn also Ekkehart von corde quietos spricht, so verwendet er eine Hexameterklausel wie schon der pseudonyme Verfasser des Epyllions Culex in der Appendix Vergiliana, Vers 161: (stratus humi dulcem capiebat) corde quietem („auf dem Boden hingestreckt genoss er in seinem Herzen angenehme Ruhe“, d. i. Schlaf), doch in christlich-philosophischem Sinn. 29 Einige Beispiele: Hieronymus, In Isaiam 18,66: vera laetitia (von der Schau Gottes); Iohannes Cassianus, Collationes 1,13: perpetua iugisque laetitia (vom Leben der Himmlischen); Leo Magnus, Tractatus XCVII recensio β, tractatus 76, l. 200: casta laetitia (für Tauffeier empfohlen). 30 Ein Beispiel: Hieronymus, In Abacuc 1,2 (laetitia bei übermäßigem Weingenuss).

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nämlich das Weintrinken im Kloster anlässlich der caritas am Gründonnerstag bezeichnet, eigens dazu verfasste Trinklieder hießen bisweilen versus ad laetitiam.31 Dass es bei dieser Gelegenheit allzu heiter zugehen konnte, liegt auf der Hand, und wird auch in manchen der Trinklieder mittels Ermahnung zu Mäßigung indirekt angedeutet.32 Eine solche indirekte Andeutung könnte auch in der klaren Festlegung der ‚Fröhlichkeit‘ auf die ‚Seelenruhe‘ enthalten sein.33

5 Von der präskriptiven Theorie in die produktive Praxis 5.1 Bibel in Versen Die in der poetischen Praxis allgemein angewandte semantische Offenheit, die zu Assoziationen anregt, wie dies auch in dem besprochenen Beispiel für den Gebrauch ‚stolzer Wörter‘ statt lexikalischer simplicitas in vieler Hinsicht vorliegt – diese Offenheit konstituiert ja das Wesen besonders lyrischer Dichtung –, kann dort als problematisch empfunden werden, wo eben aus welchen Gründen auch immer Eindeutigkeit gefordert ist. Dies trifft in hohem Maß auf die poetischen Paraphrasen der Bibel zu, wie sie von der Spätantike an vor allem im lateinischen Kulturbereich entstanden.34 Bei deren Versifizierung kann ein ‚stolzes Wort‘ jenseits der Literalexegese unschwer eine von der zeitgleich gültigen Allegorisierung abweichende Deutung provozieren und in den Verdacht geraten, die Wahrheit zu verfälschen, ein Problem, dessen sich schon die Bibeldichter der Spätantike bewusst waren: Der Presbyter Iuvencus verwahrt sich im vierten Jahrhundert im Epilog zu seinen Evangelia gegen diesen möglichen Vorwurf dadurch, dass er die poetische Form in ihrer Gesamtheit, also lexikalisch, syntaktisch und strukturell, als bloßen „weltlichen

|| 31 So bezeichnet von Walahfrid Strabo, Carmina 82 (MGH Poetae 2, 418). – Auf diese lyrische Untergattung hat Bischoff 1950, 165–186 (erweiterter Nachdruck in Bischoff 1967, 56–77) aufmerksam gemacht und entsprechende Texte der Karolingerzeit erstmals ediert. In vielen der Texte, auch in den als Anhang publizierten in Handschriften überlieferten Caritas-Formeln, kommt dem Wortfeld von laetus große Bedeutung zu. 32 Bischoff (wie Anm. 31) 57, Anm. 2, zitiert das Oster-Abecedar Audite omnes canticum mirabile, MGH, Poetae 4, 565–569, worin es heißt: Sobria sistant nostraque convivia, „und unsere Gelage sollen nüchtern sein“ (Strophe 21,3). 33 Dass Ekkehart mit der Institution der caritates vertraut war, geht aus seinem Bericht über die caritates des Bischofs Konrad von Konstanz hervor, Casus Sancti Galli/Haefele, 113. 34 Zu den spätantiken Bibelepikern s. allgemein Herzog 1975; Kartschoke 1975; Roberts 1985; Kirsch 1989; Smolak, 1999, 7–24 (wenig geändert in Smolak 2001, 15–29).

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Schmuck der Sprache“, ornamenta terrestria linguae, bezeichnet;35 Sedulius, wahrscheinlich ebenfalls Presbyter, jedenfalls aber als Psalmensänger und Musiker der Kirche verbunden,36 bietet in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts neben seiner epischen Bibeldichtung, Paschale Carmen, ein entsprechendes Werk in Kunstprosa, das Paschale Opus, angeblich wegen der Bedenken eines gewissen Macedonius eben gegen die poetische Darstellungsweise mit ihren inhaltlichen Konsequenzen,37 und um die Wende zum sechsten Jahrhundert bezieht sich Alcimus Avitus, Bischof von Vienne, in dem Prosabrief, den er seinem Bibelepos Spiritalis historiae gesta voranstellt, mit einem Zitat aus der Ars poetica des Horaz auf die „dichterische Freiheit“, licentia poetarum, die er für sein Werk nicht in Anspruch zu nehmen verspricht. Sämtliche Bibeldichter der Spätantike postulieren somit, zum Unterschied von den figmenta der paganen (epischen) Poesie, trotz lexikalischer Zwänge der traditionellen hexametrischen Sprache absolute Wahrheit zu bieten, zweifelsfrei eine Gratwanderung, die im Grunde nicht vollständig gelingen konnte, was bereits dem philologisch kritischen Hieronymus klar war.38

5.2 Ekkeharts ‚Epigrammatisches Epos‘ Ekkehart erhielt von dem Erzbischof Aribo von Mainz, wohin er als Lehrer berufen worden war, den Auftrag, für die geplante, aber nie verwirklichte Umgestaltung der Innenausstattung des Mainzer Domes poetische Bildbeschreibungen, tituli, zu verfassen. Diese epigrammatische Untergattung hatte ihrerseits, wie die epische, eine in die Spätantike zurückreichende Tradition, die sich großer Namen wie Ambrosius und Prudentius rühmen konnte.39 Ekkehart kam dieser Aufgabe nach, indem er in Form von leoninisch gereimten hexametrischen Epigrammen die gesamte Bibel vom Buch Genesis bis zur Apokalypse auf diese Weise versifizierte und seinem Auftraggeber die Auswahl überließ – der Auftrag kam, wie erwähnt, nie zur Ausführung. Ekkehart nahm also eine bis dahin nicht da gewesene ‚mêlange des genres‘ von

|| 35 Iuvencus, Evangelia 4,805. Mit dieser Aussage kommt Iuvencus einem möglichen Vorbehalt bezüglich der Wahrhaftigkeit seiner epischen Bibelparaphrase im Sinne der Beteuerung in der Praefatio 17; 20 zuvor, zum Unterschied von der mythologischen Epik eines Homer und Vergil verkünde er nur ‚Wahres‘. 36 Sedulius, Paschale Carmen 1,23–6. 37 Springer, 2013, XVII lässt die Frage offen, ob Sedulius presbyter war, und beruft sich nur auf frühmittelalterliche Äußerungen, dass jener dem geistlichen Stand angehörte. 38 Hieronymus, Epistulae 53,7 bezieht sich im engeren Sinn auf Homer- und Vergilcentonen, gewissermaßen die Extremform der Anwendung ‚stolzer Wörter‘ auf die Wiedergabe der Bibel, was er aber als „Sache von Schulkindern und ähnlich einem Gauklertrick“, puerilia ... et circulatorum ludo similia, abqualifiziert. 39 Ein herausragendes Beispiel von tituli aus dem frühen Mittelalter sind die Verse zu den Wandgemälden mit biblischen Szenen in Reichenau-Oberzell, dazu s. Berschin/Kuder 2012; Martin 1975.

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Epos und Epigramm vor. Da er aber gemäß seiner Auffassung von Dichtung auf ‚stolze Wörter‘ nicht verzichtete – wohl deshalb, weil ihm der Bibeltext, wie schon den Bibelepikern, zwar nicht seiner Sprache nach, diese galt ja als einfache Sprache von Fischern, die auch Ungebildete verstehen sollten,40 aber auf Grund seines Inhalts zu erhaben für konsequente simplicitas erschien –, ergaben sich Aussagen, die zum einen Teil vor dem Hintergrund der zu seiner Zeit gängigen Exegese zwar verständlich sind, zum anderen aber nicht nur in lexikalischer Hinsicht den zu paraphrasierenden Bibeltext beträchtlich verändern. Dies sollen die ersten Verse der Versus ad picturas domus Domini Mogontinę 1–4 verdeutlichen.41

5.2.1 Der erste Schöpfungstag Principio rerum lux primo facta dierum, Arida cum celis, magnum genus et Michahelis. Luciferum verbis temerantem sceptra superbis In primo flore plasmator nudat honore. („Am Anfang der Dinge wurde das Licht am ersten der Tage gemacht, das trockene Land und das große Geschlecht Michaels. Der Bildner entblößt Luzifer, der das Zepter mit stolzen Worten herabwürdigte, in dessen erster Jugendblüte seiner Ehre“).42

Dem entspricht in der Hieronymus-Vulgata, auf die sich Ekkehart zweifellos bezog,43 Folgendes: In principio creavit Deus caelum et terram. Terra autem erat inanis et vacua et tenebrae super faciem abyssi, et spiritus Dei ferebatur super aquas. Dixitque Deus: ‚Fiat lux!‘ et facta est lux. Et

|| 40 Schon in den ersten Jahren des vierten Jahrhunderts merkt Lactanz, Divinae institutiones 5,1,15, an, dass die Propheten sich „in allgemein verständlicher, einfacher Sprache, eben für das Volk“, communi ac simplici sermone ut ad populum, ausgedrückt haben; weitere positive Bezugnahme auf die ‚Fischersprache‘ der Bibel bei Hieronymus (Commentarius in Matthaeum 3, l. 13; Commentarius ad Galatas 3. col. 428, l.23; Altercatio Luciferani et orthodoxi 14, col. 176, l.18) und Augustinus (Sermo 43 de Veteri Testamento col. 41, l. 110; Sermo 361, PL 39, 1608,5), Gregor d. Gr. spielt „die Worte des himmlischen Orakels (d.i. der Bibel)“ gegen „die Regeln des Donat“, von der Spätantike an die Autorität für sprachliche Korrektheit schlechthin (in der Prosa), aus (Epistula ad Leandrum 17), dessen Metaphorik Ekkehart, figurae, für Dichtung grundsätzlich empfiehlt. 41 Text nach Leithe-Jasper 2001; die Herausgeberin folgt weitgehend der ersten kritischen Edition Ekkehart IV., Liber Benedictionum/Egli 1909 und bietet eine vollständige Liste der Glossen und Textvarianten, die Ekkehart selbst in die Handschrift eingetragen hat. 42 Übersetzung von Kurt Smolak. 43 Zur zunehmend einheitlichen Verwendung der Hieronymusübersetzung aus dem Hebräischen im Lauf der Karolingerzeit s. Stotz 2012, 25–26.

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vidit Deus lucem, quod esset bona, et divisit lucem ac tenebras appellavitque lucem diem et tenebras noctem factumque est vespere et mane, dies unus. („Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und leer, und Finsternis über der Fläche des Abgrundes, und der Geist Gottes bewegte sich über die Wasser hin, und Gott sprach: ‚Es werde Licht‘, und es wurde Licht, und Gott sah das Licht, dass es gut war, und er trennte Licht und Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht, und es wurde Abend und Morgen: ein Tag.“)44

In Ekkeharts titulus fällt zunächst die starke Verknappung des Berichts auf, ferner das Fehlen der Finsternis, des Abgrundes und des Geistes beziehungsweise des Hauches Gottes. Die durch die starke Straffung entstandene Lücke sollte Raum schaffen für den Bericht von der Schöpfung der Engel, repräsentiert durch Michael, und den Sturz seines Gegners Luzifer, den Michael in den Abgrund schleudert. Dies schien Ekkehart deswegen wichtiger als eine eingehende Darstellung des Urzustandes der materiellen Welt, weil der archetypische Antagonismus von Gut und Böse, die in den Begriffen Tag und Nacht verschlüsselte diversitas angelorum – so formuliert Augustinus, De civitate Dei 11,1 –, die Entstehung der civitas Dei und der civitas terrena beziehungsweise diaboli verursachte und daher für die künftige moralische, historische und soteriologische Entwicklung der Schöpfung bestimmend war. All dies ist in der Bibel auf sprachlicher Ebene nicht enthalten, entspricht aber der zu Ekkeharts Zeit gängigen Exegese.45 Dieser konnte sich aber berechtigt, ja musste sich sogar hinsichtlich der nicht auf den engen eigentlichen Wortsinn beschränkten biblischen Sprache verpflichtet fühlen, den Genesisbericht in anderen, die vorausgesetzte Metaphorik des Grundtextes berücksichtigenden Wörtern zu präsentieren. In lexikalischer Hinsicht ist auf den Gebrauch von verba superba, nämlich die Metonymie sceptra für regnum, die Metapher flore für iuventute, das griechischlateinische plasmator für creator und das bildhafte nudare für privare hinzuweisen.46 Diese Wörter ergeben für sich genommen keine inhaltliche Veränderung der || 44 Übersetzung von Kurt Smolak. – Die deutsche Einheitsübersetzung ist hier nicht heranzuziehen, da sie auf dem hebräischen Text beruht. 45 Ekkehart konnte sich in seiner Darstellung des ersten Schöpfungstages nicht auf die spätantike Bibelepik beziehen, da die Erschaffung der Engel und der Sturz Luzifers und seiner Anhänger in patristischer Zeit noch nicht chronologisch fixiert war und nur in Prosaschriften behandelt wurde. Erst Odo von Cluny ging im zehnten Jahrhundert in seiner Bibeldichtung Occupationes 1,62–3 darauf ein (s. Leithe-Jasper 2001, 52–53): Er setzte sie ebenfalls in allegorischer Deutung von Licht und Finsternis am ersten Schöpfungstag an. Zur Einbeziehung der zeitgleichen Exegese in den Dichtungen Ekkeharts s. Leithe-Jasper 2010. 46 Zu den einzelnen Wörtern: Sceptrum (sceptra) als Metonymie für „Herrschaft“ ist bereits in der antiken Dichtung belegt, z.B. Vergil, Georgica 2,536; Aeneis 9,9; Ovid, Heroides 16,177. – Die Metapher flos für „Jugendblüte“ stellt eine Verknappung der, wie hier, als Zeitbestimmung im Ablativ häufig belegten Wortverbindung flore iuventutis (iuventae) dar, sie hat ihre nächste Parallele im ersten Jahrhundert n. Chr., und zwar im Epos des Silius Italicus, Punica 6,65: flore (nitens, „erstrahlend“) primo. – Das griechische Fremdwort plasmator findet sich ausschließlich in christlichen

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Bibel, da sie alle innerhalb der in dem biblischen Wortlaut, wenn er im eigentlichen Sinn aufgefasst wird, eben nicht enthaltenen Engelszene vorkommen. Es war, wie erwähnt, eben die Annahme, die Bibel verwende ihrerseits ‚stolze Wörter‘, um ein heilsgeschichtlich fundamentales Ereignis auszudrücken. Anders verhält es sich bei dem im Singular des Femininum substantivierten Adjektiv arida für terra in Vers 2: Dieses Wort bietet die Bibel selbst als gehobenes Synonym an, allerdings erst im Bericht über den dritten Schöpfungstag, an dem die Trennung von Wasser und Land erfolgte und wo das Wort im Sinne des kosmogonischen Konzepts der Trennungskosmogonie (‚Diakrisiskosmogonie‘) besonders sinnvoll ist. Es heißt dort Genesis 1,10: et vocavit (sc. Deus) aridam terram, „und er (d. i. Gott) nannte das Trockene Erde.“ Mit dieser Wortwahl gerät ein Element in den ersten Schöpfungstag, das dort fehl am Platz ist, denn dort bezeichnet das Wort terra nicht das trockene Land, sondern den gesamten, noch im Urzustand des Chaos befindlichen orbis terrarum im Gegensatz zum Himmel. Allerdings ist nach Isidor von Sevilla, Etymologiae 14,2 mit Hinweis auf den dritten Schöpfungstag, Genesis 1,10, arida die eigentliche Benennung für terra. Dieses ‚simple‘ Alltagswort, das Isidor von terere, „abreiben“, nämlich durch das Beschreiten mit den Füßen, herleitet und daher wenig ‚stolz‘ erscheint, vermeidet Ekkehart aber geflissentlich, und zwar auch in dem titulus zum dritten Schöpfungstag: Dort verwendet er zur Bezeichnung der nun tatsächlich trockenen Erde das ‚stolze‘, da vornehmlich poetische, Substantiv tellus, einmal mehr gemäß der Autorität Isidors. Dieser leitet nämlich tellus von der Verbalform tollimus, „wir heben auf, nehmen“ ab. Mit Aufheben meint er aber das Ernten der Feldfrüchte – und eben von der Fruchtbarkeit der Erde ist am dritten Schöpfungstag des biblischen Berichts die Rede. Während also hier das ‚stolze‘ Wort dem Sinn des paraphrasierten Bibeltextes entsprechend gesetzt ist, wird durch den Gebrauch von arida im Zusammenhang mit dem ersten Schöpfungstag, an dem Wasser und Land noch nicht geschieden waren, dem biblischen Bericht geradezu widersprochen – aber diesen chaotischen Urzustand erwähnt Ekkehart ja nicht explizit.

|| Texten, auffällig häufig in der lateinischen Übersetzung des antihäretischen Werkes des Irenaeus von Lyon. – Die Metapher nudat (honore) begegnet, ebenfalls als Hexameterklausel, in dem patristischen Bibelepos des (Ps.) Cyprianus (Gallus), Heptateuchus, Iudices 83; bei Ekkehart erhält die Metapher nudat (honore) dadurch einen auf den Namen des „Lichtträgers“, Luzifer, anspielenden ‚eigentlichen‘ Nebensinn, dass honor mitunter die Bedeutung des sinnlich wahrnehmbaren Glanzes hat, z.B. Silius Italicus, Punica 8,438; Dracontius, De laudibus Dei 1,127 innerhalb eines umfangreichen Hymnus auf das Licht des ersten Schöpfungstages. Bei Ekkehart „entkleidet“ Gott Luzifer gewissermaßen seines Lichtgewandes, des sinnfälligen Ausdrucks seiner bevorzugten Stellung (‚Ehre‘).

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5.2.2 Der zweite Schöpfungstag Eine nicht geringe Umformung des Bibelberichtes weist auch der zweite Schöpfungstag auf, bedingt durch den massiven Einsatz ‚stolzer‘, dem antiken Thesaurus entnommener Wörter. Hier Text und Übersetzung: Septemplex mundo solidatur forma secundo Atque polum flexis complexibus alligat axis. („Siebenfältige Gestalt wird am zweiten (Tag) für das All gefestigt, und die Achse bindet mit sieben Umfassungen den Himmel am Pol zusammen.“)47

Der entsprechende Vulgatatext lautet: Dixit quoque Deus: „Fiat firmamentum in medio aquarum et dividat aquas ab aquis, et fecit Deus firmamentum divisitque aquas, qua erant sub firmamento ab his, quae erant super firmamentum, et factum est ita vocavitque Deus firmamentum caelum, et factum est vespere et mane: dies secundus. („Gott sagte auch: ‚Es werde ein Gewölbe inmitten der Wasser und es scheide die (einen) Wasser von den (anderen) Wassern, und Gott machte das Gewölbe, und er schied die Wasser, die unter dem Gewölbe waren, von denen, die über dem Gewölbe waren; und so geschah es, und Gott nannte das Gewölbe Himmel, und es wurde Abend und Morgen: der zweite Tag.“)

Ekkehart vermeidet das in der Bedeutung von „Stärkung, Festigung, Stütze“ längst belegte Substantiv firmamentum48 (das Wort wäre wegen seiner vier langen Silben auch schwer im daktylisch-spondeischen Hexameter unterzubringen, bestenfalls am Versschluss eines so genannten versus spondiacus), an seine Stelle setzt er das zunächst unspezifisch erscheinende Wort forma, das in firmamentum enthaltene Bedeutungselement des Festen, Stabilen klingt nur in dem Verbum solidatur in Vers 7 nach.49 Dagegen muss das im biblischen firmamentum enthaltene singularische Element dem ptolemäischen Weltbild mit seinen sieben Sphären und dem pluralischen Attribut von forma, septemplex, „siebenfältig“, Platz machen. Der Ersatz des

|| 47 Text nach Leithe-Jasper 2001, Übersetzung von Kurt Smolak; die Übersetzung des zweiten Satzes musste freier gestaltet werden, um die Nuancen des lateinischen (griechischen) Begriffs polus, „Drehpunkt“ und (metonymisch) „Himmel“, wiedergeben zu können. Mit „Umfassungen“ sind die Planetensphären gemeint. 48 Bezeugt seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. bei dem altrömischen Komödiendichter Afranius, Comicorum Romanorum Fragmenta 241, ed. Ribbek, Leipzig 1898. Die Bedeutung „Himmel“ ist ausschließlich biblisch-christlich. 49 Vgl. Augustinus, De Genesi ad litteram 2,1: quasi quodam pavimento solidatum esse caelum, „dass der Himmel gewissermaßen durch einen Estrich gefestigt wurde“ (notiert von Leithe-Jasper 2001, 54).

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biblischen Firmaments durch das ptolemäische Kosmoskonzept, auf lexikalischer Ebene die Verwendung der ‚stolzen Wörter‘ polum (dichtersprachliches Fremdwort), axis (Metapher vom Wagen) und complexibus (eigentlich „[liebevolle] Umarmungen“), hat Folgen: Schon der Genesisexegese der Kirchenväter bereitete die Tatsche, dass die Gestirne erst am vierten Tag erschaffen wurden, das Licht aber bereits am ersten Tag, Schwierigkeiten. Einen Lösungsversuch bietet beispielsweise Ambrosius.50 Seine Erklärung, wiewohl notwendigerweise künstlich, hat es aber leichter als Ekkehart, der sich durch die Applikation des ptolemäischen Kosmosmodells auf den Genesisbericht des zweiten Schöpfungstages insofern selbst kompromittiert, als die sieben Sphären ja bereits als Träger der Himmelskörper fungieren, also auch Sonne und Mond, die als Planeten galten, bereits vor dem vierten Tag vorhanden sein mussten. Wollte man annehmen, dass Ekkehart eine konsequente narratio zu bieten beabsichtigte, so kommt man um die Annahme nicht herum, dass er sich das Firmament als ptolemäischen Sphärenkosmos zunächst noch ohne Himmelskörper, aber mit Tageslicht vorstellte. Dessen ‚Verwaltung‘ wäre demnach am vierten Tag von der neu geschaffenen Sonne übernommen worden: „Am vierten Tag erleuchtet die neue Sonne den Äther mit wieder herbeigeführtem / zurückgebrachtem Licht“, Quarta sol reduce lustrat novus aethera luce, lautet Vers 11. Die Wiederaufnahme des Begriffs lux aus Vers 1 legt diese Annahme nahe. Wenn Ekkehart in Vers 12 noch den Mond unter dem Gesichtspunkt seines Fremdlichts und der wechselnden Phasen zusammen mit einer astronomischen Erklärung vorführt,51 lässt er seinen Referenztext noch weiter hinter sich.

6 Schlussbemerkung Die Sinnerweiterung, wie sie mit ‚stolzen Wörtern‘ und ihren gegenüber dem zu Grunde liegenden ‚einfachen‘ Wort veränderten semantischen Feldern untrennbar verbunden ist, gibt dem Dichter die grundsätzliche Lizenz, die keine licentia poetarum im Sinne des Horaz ist, zur (notwendigerweise subjektiven) Deutung eines objektiven Berichts, der mutmaßlich eine Botschaft in (meistens) nicht ‚stolzen Wörtern‘ enthält und daher in lexikalischen Sinn ‚offen‘ ist. Der Abstand zwischen dem Vulgatatext und Ekkehart ist allerdings nicht so groß, wie er bei der hier exemplarisch durchgeführten Gegenüberstellung aussieht. Denn zwischen beiden stehen die Begriffe der Exegese, wie sie auch in dem in Anm. 45 genannten Abschnitt aus Odo

|| 50 Ambrosius, Exaemeron 1,4,35; 3,6,27; 4,1,1; Augustinus, De Genesi ad litteram 4,26 nimmt für die Schöpfungseinheiten 1–3 eine andere Form von ‚Tag‘ an, als sie im gängigen Begriff enthalten ist, ohne aber das Wesen jener Tage definieren zu können. 51 Die wahrscheinliche Quelle ist einmal mehr Isidor, Etymologiae 3,53,2.

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von Cluny erscheint, die neben dem biblischen Wortlaut die inhaltliche Grundlage für Ekkeharts poetische Verbalisierung abgeben. Eine genaue Analyse der lateinischen Dichtersprache Ekkeharts in Hinblick auf seine lexikalischen Quellen auf breiter Basis wäre ein entscheidender Beitrag nicht allein zum Verständnis des poeta (qui et) doctus, als welchen ihn Stefan Weber zu Recht bezeichnet hat,52 sondern überhaupt der lateinischen literarischen Kultur des süddeutschen Raumes im Übergang von der ottonischen Epoche, die früher zu Unrecht als ‚Eisernes Zeitalter‘ bezeichnet wurde, zur Entfaltung der lateinischen ‚Klassik‘ des Hochmittelalters.

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|| 52 Stefan Weber, Ekkehardus poeta qui et doctus. Ekkehart IV. von St. Gallen und sein gelehrt poetisches Wirken, Nordhausen 2004.

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