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German Pages [216] Year 2017
Henrik Steffens
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495814932
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Henrik Steffens Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
VERLAG KARL ALBER
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Mit seinen Vorlesungen von 1802/1803 in Kopenhagen brachte Henrik Steffens die Ideen der deutschen Frühromantik nach Dänemark. Unter den Zuhörern jener legendären Vorlesungsreihe, die als »Durchbruch der Romantik im Norden« bezeichnet wird, waren dänische Geistesgrößen, unter ihnen Oehlenschläger und Grundtvig. Doch nicht nur der ideengeschichtlichen Wirkung dieser Vorträge ist es geschuldet, dass sie als einer der wichtigsten Texte der romantischen Philosophie in Skandinavien gelten. Denn obwohl Steffens bei seinem Versuch, Natur und Geschichte als organische Einheit zu denken, auf den Pfaden des frühen Schelling wandert, hebt er sich von diesem ab: Mit seiner Methode der »Reduktion« gibt er der spekulativen Naturphilosophie ein empirisches Fundament. Im Gegensatz zu anderen Texten Steffens’ ist die »Einleitung« daher auch heute nicht nur von historischem Interesse.
Der Autor: Henrik Steffens (1773–1845) studierte Theologie und Naturwissenschaften in Kopenhagen. Nach Studienaufenthalten in Kiel, Jena und Freiberg kehrte er nach Kopenhagen zurück und hielt dort die neun Vorlesungen zur deutschen Philosophie, die als Indledning til philosophiske Forelæsninger veröffentlicht wurden. 1804 wurde er auf eine Professur in Halle berufen, von 1811 bis 1832 war Steffens Professor in Breslau, danach in Berlin.
Bernd Henningsen, Professor für Kultur und Politik Nordeuropas am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin. Johnny Kondrup, Professor für nordische Literatur am Institut für Nordische Studien und Sprachwissenschaft der Universität Kopenhagen. Jan Steeger, Skandinavist und Philosoph, Autor und freier Journalist.
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Henrik Steffens
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen Herausgegeben von Bernd Henningsen und Jan Steeger Aus dem Dänischen übersetzt von Jan Steeger Mit einem Beitrag von Johnny Kondrup
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Henrik-Steffens-Professur am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin
© VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48493-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81493-2
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Inhalt
Bernd Henningsen Henrik Steffens’ Kopenhagener Philosophie-Vorlesungen 1802/03. Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Henrik Steffens Einleitung in die philosophischen Vorlesungen Erste Vorlesung . . . . . . . . . . . . . . . Zweite Vorlesung . . . . . . . . . . . . . . Dritte Vorlesung . . . . . . . . . . . . . . Vierte Vorlesung . . . . . . . . . . . . . . Fünfte Vorlesung . . . . . . . . . . . . . .
. Siebente Vorlesung . Achte Vorlesung . . Neunte Vorlesung . Anmerkungen . . . Sechste Vorlesung
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Johnny Kondrup Henrik Steffens’ Vorlesungen – eine Übersicht . . . . . . . . .
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Bernd Henningsen Henrik Steffens: Ein norwegisch-dänisch-deutscher Gelehrter, ein europäischer Intellektueller, ein politischer Professor . . . .
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Jan Steeger Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister
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6 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Henrik Steffens’ Kopenhagener PhilosophieVorlesungen 1802/03 Zur Einführung Bernd Henningsen
Henrik Steffens’ (1773–1845) hier aus dem Dänischen neu ins Deutsche 1 übersetzte »Einleitung in die philosophischen Vorlesungen« darf mit guten Gründen als ein klassisches Werk der modernen europäischen Geistes- und Kulturgeschichte angesehen werden, nicht nur der nordeuropäischen. 2 Die Vorlesungen, die er als »tolerierter Dozent« ab dem 11. November 1802 in Kopenhagen viermal wöchentlich unter großer öffentlicher Anteilnahme gehalten hatte, brachten mit diesem festen Datum – so die weitverbreitete Überzeugung – die Ideen der deutschen Romantik und der Naturphilosophie nach Dänemark (und Skandinavien). Spätestens seit diesen Kopenhagener Vorlesungen hat Steffens einen festen Platz in der Philosophie- und der Literaturgeschichte – als Stichwortgeber und als Hinweisträger, interessanterweise aber selten nur als kanonisierter Philosoph, mit dem sich inhaltlich auseinandergesetzt wurde. Freilich gab es bereits davor Daten, spätere erst recht, mit denen er in die (nord-)europäische Kulturgeschichte eingetragen wurde (davon wird zu sprechen sein). 3 Als unsere Übersetzung abgeschlossen war, erschien: Henrich Steffens: Einleitung in philosophische Vorlesungen. Übersetzt und mit einer Vorbemerkung versehen von Heiko Uecker. Frankfurt/M. u. a. 2012. Wir haben uns entschieden, auf der Veröffentlichung unserer Übersetzung zu bestehen, die den historisierenden Duktus vermeidet und an der Gegenwartssprache orientiert ist. 2 Zur Einordnung siehe auch Trond Berg Eriksen: Philosophiebegriff und Wissensvermittlung in Steffens’ Kopenhagener Vorlesungen. In: Otto Lorenz, Bernd Henningsen (Hgg.): Henrik Steffens. Vermittler zwischen Natur und Geist. Berlin 1999, S. 11–26; auch Fleming Lundgren-Nielsen: Henrik Steffens – katarakt og lynild. In: Danske Studier 1997, S. 187–196. 3 In der neueren Berlin-Literatur kommt Steffens wieder vor, so gibt etwa Günter de Bruyn in seinen Darstellungen des Berliner Kulturlebens manch beredtes Zeugnis von Steffens Präsenz für die Zeit nach seiner Berufung an die dortige Universität: Als Poesie gut. Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807. Frankfurt/M. 2006; und Die Zeit der schweren Not. Schicksale aus dem Kulturleben Berlins 1807 bis 1815. Frankfurt/M. 2010. 1
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Bernd Henningsen
Unter den Zuhörern der legendären Vorlesungen, die als »Durchbruch der Romantik im Norden« bezeichnet werden, waren eine ganze Reihe der (kommenden) dänischen Geistesgrößen wie der Dichter Adam Oehlenschläger (1779–1850) etwa und der Prediger Nikolai Frederik Severin Grundtvig (1783–1872); die romantischen Impulse sollen auch von dort nach Island gelangt sein, war doch auch der erste isländische Romantiker, Bjarni Thorarensen (1786–1841), zeitweise unter den Zuhörern. 4 Sie waren in der Regel nur wenig jünger als Steffens und stellen die Kohorte dar, die das dänische literarische und philosophische »Goldene Zeitalter« der zwanziger und dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts ausmachen wird. Doch nicht nur der ideengeschichtlichen Wirkung dieser Vorträge ist geschuldet, dass ihre schriftliche Fassung, die 1803 unter den Understatement-Titel »Einleitung in die philosophischen Vorlesungen« erschien, als einer der wichtigsten Texte der romantischen Philosophie in Skandinavien gilt. Denn obwohl Steffens bei seinem Versuch, Natur und Geschichte als organische Einheit zu denken, Natur- und Geisteswissenschaften unter die Prämisse einer »Sittlichkeit des Erkennens« zu stellen, auf den Pfaden des frühen Schelling wandert – mit dem er wissenschaftlich und freundschaftlich aufs Engste verbunden war –, hebt er sich von diesem ab: Mit seiner Methode der »Reduktion« gibt er der spekulativen Naturphilosophie ein empirisches Fundament, schließlich auch war er der einzige Naturphilosoph von Rang, der auch naturwissenschaftlich ausgebildet und im modernen Sinne also qualifiziert war – insofern ist es keine Überraschung, dass der Naturphilosoph auch eine »Anthropologie« 5 vorlegte. Die »Einleitung« ist daher auch heute nicht nur von historischem Interesse. Henrik Steffens hat seine Spuren aber insbesondere in der deutschen Geistes- und Kulturgeschichte hinterlassen – u. a. in der Welt der Weimarer Klassik, als Freund Schellings, als Freiwilliger in den sogenannten Befreiungskriegen 1813/15, als Professor in Halle, Breslau und Berlin, als Schriftsteller und als engagierter politischer und kultureller Zeitgenosse. Die Kopenhagener Vorlesungen und ihre Rezeption im Norden haben im deutschen intellektuellen Milieu aber offenbar nie eine Rolle gespielt, übersetzt wurden sie nicht. GleichJónas Kristjánsson: Romantikken i Island. In: Oskar Bandle u. a. (Hgg.): Nordische Romantik. Akten der XVII. Studienkonferenz der International Association for Scandinavian Studies. Basel, Frankfurt/M. 1991, S. 453–455. 5 Henrik Steffens: Anthropologie. 2 Bde. Breslau 1824. 4
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Henrik Steffens’ Kopenhagener Philosophie-Vorlesungen 1802/03
wohl zeugen sie, und das ist neben ihrer philosophischen Bedeutung ihre rezeptionshistorische und ihre kulturwissenschaftliche Relevanz, von einer europäischen intellektuellen Gemeinschaft seiner Zeit, die heute übersehen wird; Steffens und seine Vorlesungen sind kein geringer Ausweis einer im Erinnerungsschutt des 19. Jahrhunderts verborgenen europäischen intellektuellen Gemeinschaft. Durch die Rezeptionsgeschichte hindurch zieht sich die Frage nach der Schreibweise des Vornamens unseres Autors, mit jeweils vertretbaren Argumenten: Henrik, Henrich, Heinrich. 6 Von den Zeitgenossen, von der Nachwelt, aber auch von ihm selbst liegen unterschiedliche Schreibweisen vor. Ihn Henrik zu schreiben, ist die insbesondere in Skandinavien übliche Weise (im Taufregister ist er in der Tat als »Henrich« notiert, 7 und unter dieser Schreibweise hat er seine Autobiografie veröffentlicht). Darüber hinaus: Im Norwegischen und Dänischen wird ch wie k ausgesprochen (wie bei Munch), der Streit um ch oder k kann also nur in Deutschland (mit Verve) geführt werden – für norwegische und dänische Ohren ist dieses irrelevant; schon seine deutschen Studenten spotteten darüber, dass er ch wie k spricht … 8 In keiner Literatur- und Geistesgeschichte, in keiner Biografie Oehlenschlägers oder Steffens’ fehlen die Hinweise auf die Philosophie-Vorlesungen und die aus der Begegnung mit Steffens erwachsene »romantische Erweckung« des erwähnten Adam Oehlenschlägers – dem Zentralgestirn der dänischen Romantik, Autor einer der beiden dänischen Nationalhymnen; er wurde von Esaias Tegnér (1782–1846) 1829 im Dom von Lund zum »nordischen Dichterkönig« promoviert. Man weiß inhaltlich über das nach der Überlieferung 16-stündige Gespräch der beiden allerdings wenig Konkre6 Heinrich Detering liest, wie auch bei der Schreibweise des Namens Adam Oehlenschläger, daraus eine zu bedenkende intellektuelle und kulturelle Grenzgängerei: Produktive Grenzgänge: Literatur zwischen den Kulturen. In: Ders. (Hg.): Grenzgänge. Skandinavisch-deutsche Nachbarschaften. Göttingen 1996, (S. 11–27), S. 19 ff. 7 http://www.arkivverket.no/URN:kb_read?show=138&uid=838461&urnread_ imagesize=big&hode=nei&ls=1&lc=x%259CK%25B42%25B2%25AA.%25B62% 25B4R%25CAT%25B2.%25B62%25B1R2362%25051%2581B%25C5J%25D6% 2599V%2586%25C6%2516%25D6%25B5%2500%25C9N%2509%25EE [05. 03. 2013]. Ein Dank an Marit Bergner für die Recherche! 8 Dietrich von Engelhardt: Einleitung. In: Henrich Steffens: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben. 10 Bde. in 5, hg. von Dietrich von Engelhardt. Stuttgart, Bad Cannstatt 1995–96 (Neudruck der Ausgabe Breslau 1840–44), Bd. 1, S. 40.
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Bernd Henningsen
tes; sie erwähnen es in ihren Autobiografien und betonen die erweckerische Bedeutung, die es gehabt habe und was konsumiert wurde, aber die Inhalte diskutieren sie nicht, mit einer Ausnahme haben dieses auch andere nicht versucht, wie ebenso auch die Vorlesungen selbst regelmäßig nur Erwähnung erfahren, selten eine Analyse, und wenn, dann eher kurz als ausführlich. 9 Nur neun der Vorlesungen sind erhalten und publiziert, der Rest ist verschollen; es darf aber auch vermutet werden, dass es sie schriftlich nicht gegeben hat, da Steffens regelmäßig frei (und ausschweifend) sprach und auch später für seine Vorlesungen keine Konzepte anfertigte. 10 Steffens las zwischen 1802 und 1804 nicht nur zur Philosophie, auch zu Geognosie und zu Goethe; insgesamt entfaltete er eine ansehnliche Vorlesungs- und Lehrtätigkeit, schriftlich überliefert ist davon aber nichts. 11 Gehalten wurden die Vorlesungen, die ihn für eine Philosophie-Professur qualifizieren sollten, in den der Universität zugehörigen Räumen des Ehlers-Kollegium; nach seinen Angaben war der Hörsaal, der 400–500 Plätze hatte, überfüllt – eine Zahl, die mehr als übertrieben ist 12. Nicht unbescheiden ordnet er sie rückschauend in seine Biografie und in sein Denken ein: Sie sind mir wichtig, denn sie bezeichnen genau, auf welchem Standpunkte der Speculation ich damals stand, und wie klar der Fundamentalsatz der Philosophie in dessen Entwickelung mein Leben aufgegangen ist: daß Gott als die lebende persönliche Einheit ewiger lebendiger Persönlichkeiten von uns erkannt wird und so die Quelle alles Erkennens sei, schon damals, obgleich unentwickelt, vor mir lag. 13
Der Gedanke der Einheit überwölbt sein Denken, sein Schreiben, sein Leben. Die Einheit von Mensch und Natur, die Einheit von Geistesund Naturwissenschaften in der Tradition von Paracelsus, Böhme, Diese Inhalte des Gesprächs rekonstruiert 1896 konzise in seiner Dissertation anhand des Vorlesungstextes Vilhelm Andersen: Guldhornene. Et Bidrag til den danske Romantiks Historie. Kopenhagen 1896, S. 61–76, er liefert damit auch eine relevante Analyse der Steffens-Vorlesungen im Hinblick auf eine Einordnung in das romantische Denken. Meines Wissens ist das später nicht erneuert oder überprüft worden. 10 In seiner Autobiografie gibt er an, dass er ab der sechsten Vorlesung frei gesprochen habe, da er sein Aufzeichnungsheft verloren habe. Steffens: Was ich erlebte, a. a. O., Bd. 5, S. 58 f. 11 Johnny Kondrup: Efterskrift. In: Henrich Steffens: Indledning til philosophiske Forelæsninger. Udg. af Johnny Kondrup. Kopenhagen 1996, S. 188. 12 Vgl. Ebd., S. 185. 13 Steffens: Was ich erlebte, a. a. O., Bd. 5, S. 55. 9
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Henrik Steffens’ Kopenhagener Philosophie-Vorlesungen 1802/03
Spinoza, Herder, Goethe und schließlich Schelling. Natur ist in diesem System die Vorgeschichte des Geistes, an dieser Überzeugung hielt er sein Leben lang fest – später mit der ergänzenden Hinzufügung, dass Natur zur Gänze der Ausdruck von Gottes Wille sei, die Theologie wird also in die Einheit integriert. Berühmt geworden ist für diese Essenz des Einheitsdenkens der Schelling’sche Satz aus der Einleitung den »Ideen zu einer Philosophie der Natur« von 1797: »Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist soll die unsichtbare Natur seyn.« 14 Im Dänischen ist für diese philosophische Orientierung, die um die Wende zum 19. Jahrhundert einen radikalen Bruch mit der Aufklärung bedeutete, der Begriff »Organismusdenken« (organismetanken) im Umlauf. Ohne dass damit ein geschlossenes Lehrgebäude errichtet wurde – werden konnte! –, wurden seit dieser romantischen Revolution des Geistes die Begriffe Natur, Entwicklung, Persönlichkeit, Geschichte, Unbewusstes, Inspiration, Genie, Geist zu zentralen Vorstellungen der Welt- und Lebenserklärungen. Die Evolutionslehre, die Psychoanalyse, der Marxismus, der Nationalsozialismus werden als die systemischen Kinder dieses romantischen OrganismusGedankens interpretiert, weil sie mehr oder weniger an eine Geschichts-Teleologie gebunden seien. 15 Der Bruch mit den herkömmlichen europäischen Denktraditionen, den es in den Köpfen, aber tatsächlich nicht im Kalender gibt, ist mit Steffens’ Kopenhagener Vorlesungen markiert – die Zeitgenossen haben es so erlebt, die Nachwelt hat es bestätigt, daher der Aufruhr. Auf ein intellektuelles und kulturelles Erbe und, wenn man so will, eine politisch-geistige Linie im Denken und in der Kultur Norwegens verweist Rune Slagstad, wenn er den sich auf Spinoza beziehenden und vom »logisch-positivistischen ›Wiener Kreis‹« intellektuell sozialisierten Arne Næss (1912–2009) in eine Ahnenreihe stellt mit Rolf Halvdan Hofmo (1898–1966), Gustav Vigeland (1869–1943), Edvard Munch (1863–1944), Fridtjof Nansen (1861– Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur. Leipzig 1797, Bd. I, S. LXIV. 15 Aage Henriksen: Organismetænkningens grundtræk. In: Ders. u. a. (Hgg.): Ideologiehistorie I. Organsimetænkningen i dansk litteratur 1770–1870. Kopenhagen 1975, S. 11–29. – Vertiefend und kritisch dazu Erland Lagerroth: Romantiken och dagens uppbrott från1600-talsvetenskapen. In: Bandle, a. a. O., S. 64–69. – Auf die lange Linie von Steffens, der Naturphilosophie bis hin zu Darwin verweist schon Anathon Aall: Filosofien i Norden. Kristiania 1919, S. 96. 14
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1930) – und Henrik Steffens: »Schließlich erweist auch Næss sich als Repräsentant für jenen Vitalismus, der sich durch das norwegische Geistesleben seit Steffens zieht, […] es ist die Lehre von der Einheit von allem, was lebt.« 16 Bei Næss heißt dies »Lebensphilosophie«. 17 Den Kern dieses Einheitsdenkens, des Organismus-Gedankens, formuliert Goethe in seiner »Metamorphose der Pflanzen«: Dich verwirret, Geliebte, die tausendfältige Mischung Dieses Blumengewühls über dem Garten umher; […] Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern; Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz, Auf ein heiliges Rätsel. O, könnt’ ich dir, liebliche Freundin, Überliefern sogleich das glücklich lösende Wort! Werdend betrachte sie nun, wie nach und nach sich die Pflanze, Stufenweise geführt, bildet zu Blüten und Frucht. […] Aus dem Samen entwickelt sie sich, sobald ihn der Erde Stille befruchtender Schoß hold in das Leben entlässt. […] 18
Die fertige Gestalt ist im Samen bereits vorhanden, das Werden führt auf die bestimmte Entelechie, nur ein geheimes Gesetz verbirgt die Einheit. In der Vermittlung von Idee und Vorstellung von der fertigen Gestalt offenbart sich die Einheit, die in einer »Kette sich fort durch alle Zeiten verlänge« 19 diese Einheit garantiert – das geheime Gesetz wird erfüllt. Diesem romantischen Organismus-Gesetz folgend, sind Natur und Geschichte konstituiert, beide haben ein Telos. Steffens stimmt diesem Programm der Geist-Revolutionäre engagiert zu: Die Universalwissenschaft beginnt mit den Mineralien, schließt Schöpfung und Mythologie ein und zielt auf Jesus Christus; die später immer stärker werdende Hinwendung zum Christentum und zur politischen Restauration tat ihr übriges – wobei der skandinavische Milieuhintergrund seiner (Bildungs-)Sozialisation eine ideologische Abmilderung zur Folge gehabt haben wird. Aage Henriksen empfiehlt zu Recht, dass man Steffens’ Vorlesungen wie Poe16 Rune Slagstad: (Sporten). En idéhistorisk studie. Oslo 2008, S. 748. (Meine Übersetzung, BH) 17 Arne Næss: Livsfilosofi. Et personlig bidrag om følelser og fornuft. Oslo 1998. 18 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hgg. Karl Richter u. a. 21 in 26 Bänden, Bd. 6.1. München 1986, S. 14. 19 Ebd., S. 16.
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Henrik Steffens’ Kopenhagener Philosophie-Vorlesungen 1802/03
sie lesen solle. 20 Mit dieser Bemerkung trifft er die Forderung der Naturphilosophen, nicht zuletzt Schellings, der das Bündnis aller Wissenschaften zum Ziel setzt, die der Natur, Kunst und Poesie eingeschlossen; es geht für sie um die eine, ungeteilte Kultur – Novalis ist vielleicht das passendste Exempel dieser gelebten Existenzform eines aktiven Naturforschers, der zugleich produktiver Dichter war, Steffens und andere Zeitgenossen sind als weitere Beispiele zu nennen. 21 Immerhin aber hat das Einheitsdenken – und das der übrigen deutsch-skandinavischen Grenzgänger an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert – und die daraus abgeleiteten ideologischen Vorstellungen zum Bodensatz einer romantischen Konstruktion von nationalen Identitäten im Norden beigetragen, bis hin zur Konstruktion nationaler Landschaft durch Geografen und Geologen und die davon abgeleitete quasi genetische Konstruktion von Volkscharakter; die dänische Nationalhymne, aus diesem Geist geschaffen, gibt davon Zeugnis. 22 Die romantischen Naturwissenschaftler Ørsted und Steffens werden zusammen mit den Poeten und Mythologen Oehlenschläger und Grundtvig, später auch Hans Christian Andersen, eben auch Portalfiguren für das patriotische und das vaterländische, ja das nationalistische Denken. Formierung und Fortschritt der Nation folgen den gleichen organizistischen Gesetzen wie Natur und Geschichte – darauf komme ich zurück. In engem Zusammenhang mit dem Einheitsdenken steht bei Steffens die Betonung der Individualität, der Einzelpersönlichkeit und ihrem Recht auf individuelle Entfaltung (dies war ein nicht unerhebliches Motiv für die Freundschaft mit Schleiermacher). Auch aus diesem Grund ist Steffens nicht zu übergehen bei der Analyse der Traditionslinien dänischen/skandinavischen Denkens: 23 Frederik Henriksen, a. a. O., S. 13. Stefan Höppner legt zu dieser Synthese der »zwei Kulturen« demnächst eine große Studie vor: Natur / Poesie: Romantische Grenzgänger zwischen Literatur und Naturwissenschaft: Johann Wilhelm Ritter – Gotthilf Heinrich Schubert – Henrik Steffens – Lorenz Oken. Freiburg, im Druck. 22 Kenneth R. Olwig: The Jutland Chiper. In: Michael Jones, Kenneth R. Olwig (Hgg.): Nordic Landscapes. Region and Belonging on the Northern Edge of Europe. Minneapolis, London 2008, (S. 12–49) S. 23. 23 Dazu Bernd Henningsen: Die Politik des Einzelnen. Studien zur Genese der skandinavischen Ziviltheologie. Ludvig Holberg, Søren Kierkegaard, N. F. S. Grundtvig. Göttingen 1977 (= Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts; 26). 20 21
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Bernd Henningsen
Christian Sibbern (1785–1872), seit 1813 Philosophieprofessor an der Universität Kopenhagen, besuchte Steffens in Halle und Breslau und kommt tief beeindruckt nach Kopenhagen zurück, zusammen mit dem ab 1830 in Christiania (Oslo), ab 1832 in Kopenhagen lehrenden Poul Martin Møller (1794–1838) 24 markieren beide in der ersten Hälfte des Jahrhunderts dieses philosophische Bemühen um die Existenz des Einzelnen – bis ihr Schüler Søren Kierkegaard (1813–55) mit seinem Insistieren auf »der Einzelne« den theologischen, den psychologischen und den philosophischen Horizont abschreitet (auch der Kopenhagener Philosoph Harald Høffding (1843–1931) ist diesem Erbe zuzurechnen, 25 bei dem dann wiederum Niels Bohr (1885–1962) hörte). Sie waren keineswegs mit Steffens immer einig, es gibt z. T. heftigen Widerspruch, aber die hinterlassenen Spuren sind deutlich. 26 Es wäre allerdings ein Missverständnis – Helge Hultberg stellt das deutlich heraus und widerspricht damit Høffding –, dass das Kierkegaard’sche Insistieren auf der Individualität gleichzusetzen sei mit dem idealistischen deutschen Denken à la Schelling oder Steffens: Kierkegaard ist kein Anthropozentriker, sein Weltbild ist theozentrisch, der Mensch ist »ohnmächtig sündhaft« und »von der Gnade total abhängig« und stellt insofern einen »Aufruhr gegen die idealistische Selbstherrlichkeit« dar. 27 Es kann nicht verwundern, dass Steffens in den ideologischen (Graben-)Kämpfen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder auftaucht – in Deutschland (und partiell auch im Norden) als Referenzfigur für das romantisch-ideologische Einheitsdenken (= »deutsch«) und gegen das aufgeklärte Verstandesdenken (= »französisch«): Er wird, relativ wirkungslos, von durchaus prominenten Vertretern, zum Vorkämpfer eines »deutschen« Denkens gemacht; Anthroposophie, Blut-und-Boden, Vorläufer und Wegbereiter der nationalsozialistischen Ideologie interessierten sich für ihn 28 – und haben ihn hoffnungslos missverstanden, denn sie waren in der Regel unvertraut mit skandinavischen Denktraditionen, jedenfalls wussten sie nichts von Vgl. Bernd Henningsen: Poul Martin Møller oder die dänische Erziehung des Søren Kierkegaard. Eine kritische Monographie. Frankfurt/M. 1973. 25 Vgl. Harald Høffding: Søren Kierkegaard som Filosof. Kopenhagen (1892) 1919. 26 Auch Harald Høffding: Danske filosofer. Kopenhagen 1909. 27 Helge Hultberg: Steffens und Kierkegaard. In: Kierkegaardiana X, 1977, S. 190– 199. Kierkegaard polemisierte heftig gegen Steffens in Berlin 1840, dies zu einem Zeitpunkt, als er selbst seine Position noch nicht gefunden hatte – immerhin. 28 Siehe Angabe in FN 42. 24
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Henrik Steffens’ Kopenhagener Philosophie-Vorlesungen 1802/03
den jeweilige Referenzpositionen und -personen und kannten überlieferte Begrifflichkeiten nicht; sie fehlinterpretierten ihn im Dienste ihrer Ideologie und versuchten damit, ihn rückwärtsgewandt zu einer Leitfigur zu machen. Steffens wurde instrumentalisiert. Die Reaktionen des Kopenhagener (auch sehr prominenten) Publikums auf die Vorlesungen waren, gelinde gesagt, gemischt: Sie reichten von völliger Ablehnung bis zu ernsthafter Auseinandersetzung und Euphorie, jedenfalls waren sie für Monate das Stadtgespräch. 29 »Zeugen erklären einhellig, daß seine Reden der reinste Wasserfall, die Katarakte des Nils, der Niagara waren. Sie verursachten entsprechende Wirbel in der Öffentlichkeit«. 30 Grundtvig, der noch einige Jahre brauchte, bis er die romantische Geschichtsphilosophie Steffens’ begriff und weiterentwickelte, urteilte später über die Vorlesungen und charakterisierte sie als »schrecklichen Lärm«, den sein »halbdeutscher Vetter« gemacht habe, »so dass ›Regensen‹ [das benachbarte Studenten-Kolleg, BH] fast eingestürzt wäre […]« 31 Die erhoffte Berufung zum Professor scheiterte indes, die Professur ging an Niels Treschow (1751–1833), einen aus Norwegen stammenden Philosophen. Der »Kometenflug«, mit dieser Metapher wird Steffens’ zweijähriger Aufenthalt in Kopenhagen auch belegt, 32 endet 1804, damit seine physische Präsenz in der dänischen Geistesgeschichte; in den Erinnerungen seiner Zeitgenossen, in den Fußnoten ihrer Werke bleibt er gegenwärtig. Wer ihn erlebt hatte, erinnerte sich zeitlebens an ihn und berichtete von der Begegnung. Die restlichen 40 Jahre seines langen Lebens verbrachte Steffens dann als Professor in Deutschland – in Halle, Breslau und schließlich ab 1832 in Berlin, wo er auch begraben liegt. In den Grabstein auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof in Kreuzberg ist ein von Bertel Thorvaldsen (1770–1844) verfertigtes Relief eingelassen. Seine zeitgenössische deutsche Reputation ist nahezu unermesslich, er war vertraut mit allen, alle haben sich über ihn ausgelassen, alle sind von ihm Zur Rezeption siehe Flemming Lundgreen-Nielsen: Grundtvig und Steffens. Die Wechselwirkung zweier berühmter Vettern. In: Lorenz, Henningsen, a. a. O., S. 67– 88. 30 Fleming Lundgren-Nielsen: Grundtvigs Kopenhagener Abendschule. Über die Vereinigung ›Dänische Gemeinschaft‹ 1839–1843. In: Bente Scavenius (Hg.): Das Goldene Zeitalter in Dänemark. Kunst und Kultur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Kopenhagen 1994, (S. 100–109) S. 100. 31 Zit. n. Høffding: Danske filosofer, a. a. O., S. 57. 32 Henriksen, a. a. O., S. 12. 29
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Bernd Henningsen
porträtiert, zumindest erwähnt worden: Schelling, Goethe, Schiller, Hegel, Schleiermacher, Tieck, die Humboldts, die Grimms, die Schlegels … Die Zahl seiner Hörer an der Berliner Universität war recht ordentlich, im Vergleich zur Hörerzahl Hegels und später Schellings sogar beachtlich. 33 Neben anderen haben Karl Marx 1836/37 34 und später Kierkegaard ihn bei seinen Besuchen Anfang der 40er Jahre gehört, von letzterem stammen die gerne zitierten, despektierlichsten Äußerungen über Steffens und seine didaktischen und rhetorischen Fähigkeiten. Als Redner muss er ein Magier gewesen sein, sein freier Vortrag wurde von den Zeitgenossen mit einem Blitzschlag verglichen, sein Vetter Grundtvig hat dieses Bild aufgebracht. 35 Sein Deutsch hat nie den dänisch-norwegischen Akzent verloren, seine mündliche Ausdrucksweise muss für deutsche Ohren recht, nun, innovativ geklungen haben; Zeitgenossen stellten fest, dass er sich gegenüber der deutschen Sprache versündigte 36 (auch Goethe äußerte sich in diese Richtung, über dessen Dichtung Steffens wiederum im Frühjahr und Herbst 1803 Vorlesungen in Kopenhagen hielt 37). Diese Rezeptionsgeschichte ist in biografischer und medialer Hinsicht bis heute erfolgreich und dominant geblieben. Für die weitere deutsche Geistes- und Literaturgeschichte wurde Steffens indes allenfalls zu einer Nebenfigur – obwohl er zu den Gründungsvätern der Jenaer Romantik zählte, obwohl er neben Schelling zu einer Frontfigur der deutschen Naturphilosophie, obVgl. Wolfgang Virmond (Hg.): Die Vorlesungen der Berliner Universität 1810– 1834 nach dem deutschen und lateinischen Lektionskatalog sowie den Ministerialakten. Berlin 2011. 34 Werner Abelein: Henrik Steffens’ politische Schriften. Zum politischen Denken in Deutschland in den Jahren um die Befreiungskriege. Tübingen 1977, S. 18. 35 Nikolai Frederik Severin Grundtvig: »Lynildsmand …«. In: Ders.: Udvalgte Skrifter. Hg Holger Begtrup. 10 Bde. Kopenhagen 1909, Bd. 9, S. 45–48. Das Gedicht erschien apropos des Todes von Steffens zuerst in Berlingske Tidende. Vgl. auch Flemming Lundgreen-Nielsen: Henrich Steffens – katarakt og lynild. In: Danske Studier 1997, S. 187–196. 36 Richard Petersen: Henrik Steffens. Et Livsbillede. Kopenhagen 1881 (dt. Ausg. Gotha 1884), S. 388 f.; Günter Oesterle: Henrik Steffens: Was ich erlebte. Spätromantische Autobiographie als Legitimierung eines romantischen Habitus. In: Annegret Heitmann, Hanne Roswall Laursen (Hgg.): Romantik im Norden. Würzburg 2010, (S. 191–206) S. 191 f. 37 Flemming Lundgreen-Nielsen: Henrich Steffens’ Goethe-Forlæsninger i 1803. In: Steffens: Indledning. Udg. af Kondrup, a. a. O., S. 227–243; Henriksen, a. a. O., S. 12. 33
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Henrik Steffens’ Kopenhagener Philosophie-Vorlesungen 1802/03
wohl er eine prominente Gestalt des »Geistes von 1813« wurde, der nationalen Erweckung gegen Napoleon also, 38 und obwohl er seine Reputation als Novellist hatte. Die Kopenhagener Vorlesungen selbst sind – als Text und Überlieferung – schändlich behandelt worden: Die Erstausgabe von 1803 war fehlerhaft, die folgenden von 1905, 1967 und 1968 sind nicht verlässlich und nur mit knappen Realkommentaren versehen; erst 1996 erschien die erste kommentierte und wissenschaftlich zuverlässige Ausgabe 39. Eine erste Besprechung der Vorlesungs-Ausgabe erschien bereits 1803, sie war 25 Seiten lang, erschöpfte sich aber wesentlich in der Inhaltswiedergabe. 40 Ins Deutsche wurden die Vorlesungen nicht übertragen, seine Hauptwerke sind nach seinem Tod (mit der Ausnahme der Autobiografie und eines weiteren Werkes 41) nicht wieder ediert worden, auch nicht seine seinerzeit sehr populären Novellen – obwohl Steffens in Deutschland sein interessiertestes Philosophie-Publikum hatte. Warum dem so ist, muss Anlass für Spekulationen bleiben: Es mag mit der Persönlichkeit Steffens’ zusammenhängen, es mag mit dem Abklingen der Romantik zusammenhängen, es mag mit dem Interessenverlust an der Naturphilosophie Schelling’scher Prägung überhaupt zusammenhängen, vielleicht auch mit dem bereits erwähnten ideologieverdächtigen Gebrauch durch Anthroposophen und den mit Henrik Steffens als Waffe geführten Kampf der Blut-und-Boden-Apologeten in den dreißiger Jahren gegen die (französisch-westliche-zivilisatorische) Aufklärung und für das (deutsch-kulturelle) Einheitsdenken. 42 Auch die Hoffnung Klaus-Michael Meyer-Abichs vom Ende der So George F. Peters in einer Rezension zur Steffens-Studie von Werner Abelein, in: Monatshefte, Vol. 72, No. 1, 1980, S. 78–80. – Und umso erstaunter muss man feststellen, dass er in aktuellen Biografien, etwa zu Goethe, oder in den aktuellen Darstellungen zur Leipziger Völkerschlacht nicht vorkommt. 39 Kondrup, a. a. O. (darin auch die editorische Geschichte). 40 Vgl. ebd., S. 209. 41 Henrik Steffens: Anthropologie. Hg. Hermann Poppelbaum. Stuttgart 1922. Der (nicht vollständige) Band erschien exakt einhundert Jahre nach der Erstveröffentlichung im Verlag der Steiner’schen Anthroposophen »Der kommende Tag« in der Reihe »Goetheanum Bücherei« und unter ausdrücklicher Berufung auf Steiner; der Herausgeber war führendes Mitglied der Bewegung. 42 Vgl. zu letzterem Hans Friedrich Blunck (Hg.): Die nordische Welt. Geschichte, Wesen und Bedeutung der nordischen Völker. Berlin 1937. An diesem Band haben auch namhafte Gelehrte aus Skandinavien beigetragen, von denen manch einer, auch von den deutschen Kollegen, in der Nachkriegszeit ihren Ruf behalten haben. 38
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1990er Jahre hat sich nicht erfüllt, dass nämlich mit dem modernen Anwachsen eines Bewusstseins von des Menschen »natürlichen Mitseins« und einer Wegweisung für die aktuellen Umweltdebatten das Interesse an Steffens und seiner naturphilosophischen Anthropologie schaffen wird. 43 Werner Abelein stellte 1977 fest, die Steffens-Literatur »ist nicht zahlreich und kann zum überwiegenden Teil wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügen«, 44 auch Helge Hultberg stellt schon 1973 lapidar fest, dass die »Sekundärliteratur zu Steffens nicht besonders umfangreich ist.« 45 Dem ist bis heute nicht viel entgegenzuhalten, die Steffens-Literatur ist in der Tat überschaubar geblieben, 46 erst recht, wenn man die aus heutiger Sicht unerträglichen Beiträge aus der ersten Hälfte des 20. und manche hagiographische Publikation des 19. Jahrhunderts abzieht; eine gegenwärtig akzeptable Biografie Steffens’ gibt es nicht, schon gar nicht auf Deutsch, 47 und so stammen die biografischen Daten und die vielen Anekdoten aus seinem Leben in der Regel immer noch aus Steffens’ erwähnter Klaus-Michael Meyer-Abich: Naturphilosophische Anthropologie auf den Spuren von Henrik Steffens. In: Lorenz, Henningsen: Henrik Steffens, a. a. O., S. 113–125. 44 Abelein, a. a. O., S. 6. 45 Helge Hultberg: Den unge Henrich Steffens 1773–1811. Kopenhagen 1973, S. 8 (meine Übersetzung, BH). In seiner Einleitung geht er sie, souverän urteilend, durch. 46 Die von Aage Jørgensen zusammengestellte Bibliografie ist ausgesprochen nützlich, aber stark ergänzungsbedürftig: Henrich Steffens – en mosaik. (Kopenhagen) 1977, S. 147–159. – Es hat, neben wenigen Dissertationen und den Arbeiten von Abich und Hultberg, in neuerer Zeit nur noch die Arbeit von Fritz Paul gegeben: Henrich Steffens. Naturphilosophie und Universalromantik. München 1973; siehe dort die ausführliche Übersicht zur Steffens- (Forschungs-)Literatur, S. 20–33. – Zwei deutsch-skandinavische Initiativen, Steffens zu mehr wissenschaftlicher Aufmerksamkeit zu verhelfen, blieben im Grunde folgenlos; sie sind dokumentiert in Otto Lorenz, Torleif Skarstad (Hgg.): Henrik Steffens. Stavanger 1995; Lorenz, Henningsen, a. a. O. 47 Auf drei alte ist zu verweisen, die dänische von Richard Petersen, a. a. O., die auf zahlreiche, z. T. schwer zugängliche Quellen gründet – und natürlich auf Steffens’ Autobiografie –, sie nimmt über weite Strecken den Charakter eine Hagiografie ein. Eine zweite, sehr kenntnisreiche wurde von einem Autor vorgelegt, der als Nationalsozialist bekannt war und ist Viktor Waschnitius: Henrich Steffens. Ein Beitrag zur nordischen und deutschen Geistesgeschichte. I. Band Erbe und Anfänge. Neumünster 1939 (ein zweiter Band ist nicht erschienen). Eine dritte, norwegische stammt von Ingeborg Møller: Henrik Steffens. ›Norges bortblæste Laurbærblad‹. Oslo 1948 (dt. Ausg. Stuttgart 1962). Die Autorin (1878–1964) gehörte zu den Pionieren der anthroposophischen Bewegung in Norwegen, einer ihrer Söhne wurde zu einer führenden Gestalt der Anthroposophie in Norwegen. Sie bekam ihre Lebensmission direkt von Rudolf Steiner und führte ihn andererseits in norwegische Themen und die norwegische/nordische Mythologie ein. 43
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Henrik Steffens’ Kopenhagener Philosophie-Vorlesungen 1802/03
Autobiografie, die in der Tat auch eine sehr subjektive, aber ungemein ergiebige und charmante Darstellung von Kultur und Politik seiner Epoche ist; ihren literarischen Reiz gewinnt sie gerade aus dem, was Helge Hultberg ihre »Biedermeierweise« nennt, sie konstruiert, sie idealisiert – post festum. 48 So steht auch Steffens Selbstbiografie unter dem Diktum der organischen Einheit – vom Ende her werden die Ursprünge ausgebreitet und interpretiert, die Erlebnisse, Erfahrungen, das Leben als Ganzes ergeben einen Sinn vom Ende her gedacht. Insofern aber steckt mehr als »Biedermeier« hinter diesen Texten – Steffens und seine Zeitgenossen berichteten über ihr Leben und schrieben Autobiografien, weil im romantischen Einheitsdenken Leben und Werk, Persönlichkeit und Wissenschaft eine Ganzheit sind, die Innenschau bedeutet Welt- und Naturerkenntnis, nicht allein bei Steffens. 49 Aber auch das, wie angedeutet, gehört zur Rezeptionsgeschichte: Offenbar gab es noch 1933 (sic!) – also 100 Jahre nach Steffens –, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der deutschen Gesellschaft so viele Erinnerungsreste an ihn, dass ein vielschreibender Romancier und Journalist einen Roman herausbringen konnte unter dem für sich sprechenden Titel: »Volk in Flammen. Die Geschichte des Patrioten Henrik Steffens erzählt von Paul Burg«. 50 Das Werk ist sicherlich erschöpfend mit der Zuordnung »volkstümelnd«, ja mit »Kitsch« charakterisiert, also nicht von besonderer literarischer Bedeutung, die Lektüre ist eher eine ästhetische Zumutung. Die handelnden und (leider auch) sprechenden Personen sind historisch belegt, von Friedrich Wilhelm III. bis zu Napoleon, der immer noch trauernden Witwe Schillers (interessanterweise steht das Sterbehaus Schillers im Roman in Jena und nicht in Weimar!) und manch einem armen Bauern und strebenden Studenten; das brennende Moskau, die Schlacht bei Groß-Görschen – in alle Widrigkeiten ist der Held, Henrik Steffens, verstrickt, über den bereits im ersten Kapitel bedeutungsvoll informiert wird: »[…] und wir wissen genau: in Halle ist
Hultberg, a. a. O., S. 8. So auch Dietrich von Engelhardt: Naturforschung im Zeitalter der Romantik. In: Walther Ch. Zimmerli u. a. (Hgg.): »Fessellos durch die Systeme«. Frühromantisches Naturdenken im Umfeld von Arnim, Ritter und Schelling. Stuttgart-Bad Cannstatt 1997, (S. 19–48) S. 30. 50 Paul Burg: Volk in Flammen. Die Geschichte des Patrioten Henrik Steffens erzählt von Paul Burg. Leipzig 1933 (= Paul Schaumburg 1884–1948). 48 49
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Bernd Henningsen
Professor Steffens die Unruhe in der alten Uhr Alma mater – das ist ein Kerl mit deutschem Herzen!« 51 So wenig dieser Kerl »deutsch« war, so wenig war er »norwegisch«. Das nationale Etikett wurde auch ihm im Zuge der Nationsund Staatswerdungsprozesse beider Länder aufgeklebt, post festum also. Steffens war vielmehr ein engagierter Naturphilosoph, der im Zuge der Ausdifferenzierung der Wissenschaften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (die Naturwissenschaften gehörten noch zur Philosophischen Fakultät) die empirisch vorfindbare Natur mit philosophischen Mitteln versuchte zu analysieren. Seine mit dem fast gleichaltrigen Schelling entwickelte »Speculation« (so der gebräuchliche Terminus) über die Einheit von Geist und Natur war über weite Strecken ein europäisches Projekt, das lässt sich mit Steffens Denken und mit seiner Biografie zeigen.
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Ebd., S. 9.
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Einleitung in die philosophischen Vorlesungen Henrik Steffens
Erste Vorlesung Das gewöhnliche Vorurteil gegenüber der Philosophie, das anscheinend, zumindest bei der großen Masse, im gleichen Verhältnis zu der Energie steht, mit der die größten Genies unserer Zeit bestrebt sind, die Philosophie ihrer Vollkommenheit näher zu bringen, zwingt mich – um meiner selbst, und um Ihrer willen – meine Herren! zu einer kurzen vorläufigen Erklärung. Was ich bei meinen Hörern voraussetze, ist – seitens des Wissens – nichts anderes als die gewöhnliche Kultur, die man bei jedem wissenschaftlich gebildeten Menschen voraussetzen muss – seitens des Interesses – der innere Drang, das eigentliche Wesen der Dinge zu kennen, das Rätsel des Daseins zu lösen – seitens der Fähigkeit, die innere Anschauung, die | jeden einzelnen Teil zu einem Ganzen zu- 2 sammenfasst, das absolut Ganze, Eine, als das Reelle setzt, und durch diese umfassende Anschauung jede fremde Vorstellung verdrängt, die nicht notwendig im Zusammenhang mit dem Ganzen gedacht werden muss. Jeder philosophische Vortrag ist notwendig ein Kontinuum, ein organisches Ganzes, nicht nur ein Aggregat aus einzelnen Sentenzen. Alles Einzelne ist nur in seiner Verbindung mit dem Ganzen zu verstehen. Das Bindende, Ordnende ist das unveränderliche Selbe in jedem einzelnen Satz, das Identische, das alle verschiedenen Gegenstände organisiert. Ausdruck dieser Identität ist durchgreifende, absolute Konsequenz. Daher muss die Philosophie, wenn sie das ist, was sie sein soll, ein lebendiges System werden, keine tote Klassifikation. Je vollkommener es mir gelingen sollte, die systematische Einheit zu erreichen, desto unverständlicher, paradoxer, ja lächerlicher muss jeder Satz in jeder anderen Verbindung erscheinen. Das erbärmliche Mittel, Sätze aus ihrem Zusammenhang zu reißen, um sie einzeln, oder in einer erfundenen Kombination zu beurteilen – ein Mittel, dessen sich zu bedienen, die platteste Trivialität stets bereit 21 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
ist – muss immer besser gelingen, je konsequenter, je vollkommener das philosophische System ist. Ohne Wissen ist die Spekulation leer; ohne Interesse ist das Wissen ein bedeutungsloses Aggregat aus Materialien; ohne jenes Anschauungsvermögen bleibt das Interesse stehen bei einer sanften 3 Sehnsucht, einer unbestimmten Ahnung | – und die Philosophie selbst ist bloß ein pium desiderium (1) für schwache Seelen. Es ist die Absicht meiner ersten Vorlesungen, Sie zur Idee vom Problem der Philosophie zu führen. Ich gehe von Fakten aus. Ich räsoniere, ich demonstriere nicht. (2) Ich erwecke Ahnungen; aber diese geben keine Evidenz. Ich möchte Ihnen einen bedeutungsvolleren Blick auf das Leben und Dasein eröffnen, als der, zu dem uns die allgemeine Erfahrung, das tägliche Leben, beschränkt durch den endlichen Drang, führt. Aus dem tieferen Blick auf die Natur, Historie und unser innerstes Gemüt entspringt das philosophische Problem wie aus seiner eigentlichen Quelle. Jeder muss sich selbst diesem Problem hingeben, bevor es in einer zufriedenstellenden Weise gelöst werden kann. Jeder muss sein eigenes Problem lösen, nicht das eines anderen: Ich beginne mit dem Vortrag. Der ursprünglichste Trieb eines jeden lebenden Geschöpfes ist es, sein Dasein zu erhalten. Ja dieser Trieb und das Leben sind untrennbar, sind ein und dasselbe. Die Pflanze, die, eingewurzelt in der Erde, die beständige Leibesfrucht der Natur ist, wird gut ernährt in deren mütterlichen Schoß; aber ein inneres organisierendes Prinzip, das eins ist mit ihrem Wesen, ist zugleich der, wenn auch dunkle Ausdruck für diesen Trieb, ohne welchen ihr Wesen wiederum nicht gedacht werden könnte. Das Tier ist das von der Natur Losgelassene, das echte Tierische am Tier ist die Bewegung der ganzen Organisation, welche, abgesondert von dem inneren organisierenden Prinzip, der 4 bestimmte, deutlichere | Ausdruck für diesen Trieb ist, den wir willkürliche Bewegung nennen. Sein Effekt ist Handlung. Aber da Handlung eine bereits entwickelte Organisation voraussetzt, muss jedes Tier als Pflanze beginnen, und scharfsinnige Naturforscher haben bestimmt, dass das Leben des Embryos ein wahres Pflanzenleben ist. Die unvollkommensten Tiere kommen nie über das früheste Kindesalter hinaus. Die Korallen und Würmer bewegen sich kaum, oder nur langsam von der Stelle, auf der sie bei ihrer Geburt gesetzt wurden. Die Natur bringt ihnen, wie eine stillende Mutter, ihre Nahrung, und fast die einzige Äußerung einer willkürlichen Bewegung ist die, mit 22 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Erste Vorlesung
welcher sie die dargebrachte Nahrung entgegennehmen. Die Insekten werden auf den Pflanzen geboren, die sie ernähren. Je höher die Entwicklungsstufe der Tiere ist, desto länger dauert deren Kindheit, in welcher die Mutter gleichsam an die Stelle der Natur tritt; (denn bei den niederen Tieren hört die Fürsorge der Mutter schon mit der Geburt auf) – desto mehr müssen sie, wenn sie erwachsen sind, durch Handeln versuchen, ihr Dasein zu erhalten. Daher kann man bei den niederen Tieren zwar Metamorphosen unterscheiden, organische Verwandlungen, welche die höheren Tiere im Ei, oder im Mutterleib durchlaufen, aber nicht die Kindheit vom Alter. Dennoch hat die Natur bei den Tieren, selbst bei den edelsten, einen bestimmten Trieb zu einer bestimmten Nahrung angelegt, sie in bestimmte Klimate gesetzt. Der Mensch ist der Erwachsene, Reife und Freigeborene der Natur. Sie überließ uns unserer selbst und breitete alle ihre Schätze für uns aus. | Der Trieb, das eigene Dasein zu erhalten, von dem man keines- 5 falls behaupten kann, dass er dem lebendigen und vernünftigen Wesen eingepflanzt wäre, als ob dessen Dasein auch ohne ihn begreiflich wäre, ist, für sich genommen, absolut egoistisch. Sein Gegenstand ist immer das eigentlichste, innerste Wesen eines Individuums. Individuell ist ein existierendes Ding, wenn es für sich existiert, wenn ein eigenes innerliches Prinzip Ausdruck seiner Selbstständigkeit ist. Jedes existierende Individuum ist notwendigerweise lebendig; denn das, wodurch die individuelle Kraft sich selbstständig äußert, nennen wir Leben. Aus diesem Grund gibt es nur in der organischen Natur wahre Individuen. In der anorgischen (3) Natur hat jeder einzelne Gegenstand bloß Bedeutung in seiner Verbindung zum Ganzen, keine selbständige Existenz. Das gemeinsame individuelle Prinzip ist das Zentrum der Erdkugel. Der egoistische individualisierende Trieb will das Wesen, dessen Gegenstand und Ausdruck er ist, in seiner ganzen Eigentümlichkeit erhalten. Es ist uns nicht genug, überhaupt zu existieren, wir wollen notwendig auf diese und keine andere Weise existieren. Ohne diesen egoistischen Trieb könnte nichts Einzelnes bestehen. Sein Mittelpunkt ist das innerste Wesen eines lebenden Geschöpfes. Er ist das, was mit umso stärkerer Intensität und Kraft erwacht, je individueller die Entwicklungsstufe der Natur wird. Er ist das, was die anorgischen Massen dazu zwingt, den Gesetzen der Organisation zu folgen; er ist das, was das Tierreich gegen das Pflanzenreich bewaffnet, Klassen, Gattungen, | Arten verschiedener Tiere gegeneinander, das Men- 6 23 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
schengeschlecht gegen die gesamte Natur und die Menschen gegen die Menschen. – Haben wir auch nicht beschlossen, der demonstrativen Methode (4) zu folgen, die nur denkbar wäre, indem jeder Satz mit strenger Notwendigkeit mit einem absoluten Axiom verbunden wäre, welches wir nicht besitzen, das zu suchen vielmehr unser ganzer Zweck ist, ungewiss, ob wir es jemals finden werden – so sind wir nichtsdestoweniger verpflichtet, uns jeden Begriff – jeden beliebigen – mit all jener Stringenz zu denken, die unser bloß räsonierender Standpunkt zulässt. Der egoistische Trieb – so werde ich der Kürze halber den Trieb nennen, der danach strebt, das Dasein des Individuellen zu sichern – bewahrt nur das Einzelne und erhält es aufrecht. Dieser Trieb ist so unterschiedlich, so mannigfaltig wie die Individuen selbst. Das heißt: er ist unendlich mannigfaltig. Durch ihn zerfällt gleichsam das ganze Universum, das physische, genauso wie das intelligible, in ebenso viele Mittelpunkte, wie es Individualitäten birgt. Jedes einzelne Individuum tendiert, infolge dieses egoistischen Triebes, bloß nach innen, seinem eigenen Mittelpunkt entgegen. Jedes Wesen steht bewaffnet allem anderen gegenüber, jede Kraft, die nach außen geht, ist notwendigerweise störend. Was nicht mit uns ist, ist notwendig gegen uns; (5) 7 denn da jede Individualität sich selbst erhalten will, sein | eigentümliches, spezifisches Wesen, da jedes Individuum, indem es sich als dieses bestimmte Wesen setzt – durch diese Position, mit Rücksicht auf diese Position, wenn sie für sich selbst betrachtet wird – die Idee von allen anderen möglichen und wirklichen Wesen ausschließt und negiert, so kann, wie es scheint, keine Beziehung auf ein gemeinsames Ziel gedacht werden. Getrennt von allen anderen nähert sich jedes Individuum dem anderen nur, um es zu vernichten. Wie kann ein Reich bestehen, das in Uneinigkeit mit sich selbst ist? (6) – Wenn der egoistische Trieb überhandnähme, würde das Universum in lauter getrennte Individualitäten zerfallen, und da sie nur selbst bestehen könnten im allgemeinen Konflikt mit dem ganzen Universum, so würden sie selbst verschwinden und alles würde vergehen. Der individualisierende Trieb steht also in einem offensichtlichen Widerspruch zu sich selbst; er hebt sich auf, indem er versucht, sich zu erhalten. Alles besteht durch eine unendliche Harmonie. Das darf ich hier voraussetzen. Sie werden es mir schwerlich verweigern können; denn selbst das Unterschiedlichste, das Widersprüchlichste besteht ja wirk24 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Erste Vorlesung
lich nebeneinander in einem ewigen Zusammenklang – und was ist das Leben – das der Natur und des Menschen, das bloß physische und das intelligible, denn anderes als diese Harmonie aus Dissonanzen? Hinter allem Vergänglichen scheint ein Unvergängliches, hinter allem Eitlen ein Uneitles, hinter allem Tod – durch den alles Einzelne verschwindet, wie es gekommen ist (7) – ein ewiges Leben, zu strahlen in niemals verdunkelter Klarheit. Diese Einheit, | in welcher alles be- 8 steht, ist für uns nichts anderes als der Ausdruck von allem, in einer ewigen Idee. – Denken wir uns – und von unserem gegenwärtigen Standpunkt aus sind wir offenbar dazu gezwungen – diese Tendenz zur Einheit als verschieden von dem egoistischen Trieb, so kann sie offenbar nicht bezwecken, das Einzelne, als Einzelnes, zu erhalten und sich dem Egoismus des Individuellen, als solchem, zu unterwerfen. Sie versucht vielmehr, wie es scheint, das Einzelne, als Einzelnes, zu vernichten. Ich will das deutlicher machen. Wenn wir ein organisches Lebewesen betrachten – einen Menschen zum Beispiel – so zeigt die genauere Untersuchung – die Anatomie – dass es aus einer großen Menge verschiedener Teile besteht. Jedes dieser verschiedenen Teile (Organe) hat seine eigene Beschäftigung und ist nichts anderes als der spezifische Ausdruck für diese Beschäftigung selbst. – Denn denken wir uns die eigentümliche Tätigkeit weg, die das einzelne Organ charakterisiert, so verschwindet der Begriff des Organs mit. Diese Tätigkeit ist das immanente Prinzip, welches das Organ konstituiert, und ohne dieses wäre es schlicht nicht mehr, was es ist. So ist das Herz für die Zirkulation das Zentrum, das Gehirn für die Sensibilität, jedes Sinneswerkzeug der Ausdruck für seinen Sinn, jede Drüse für Absonderungen seiner eigentümlichen Materie. Würde jedes Organ seiner spezifischen, individuellen Tendenz für sich folgen, so würde es ebenso wenig bestehen können wie der menschliche Körper, der selbst ein Ausdruck | 9 für das Zusammenwirken aller dieser Teile ist. Dieses Zusammenwirken kann aber nun kein Resultat einer bloßen Verbindung der Organe sein; denn die einzelnen Organe, wenn wir sie für sich betrachten, neigen in der Tat bloß zu ihrer eigenen Beschäftigung. Das Auge will nur sehen, das Herz nur den Kreislauf fördern, die Drüsen nur deren eigene spezifische Materie absondern. Wir sind also genötigt (von unserem gegenwärtigen Gesichtspunkt aus) eine Tendenz anzunehmen, verschieden von den einzelnen Tendenzen der Organe, ja sogar dem Einzelnen widerstreitend, eine Tendenz, die bezweckt, das Ganze zu erhalten. Diese Tendenz ist nun für uns hier nichts anderes als 25 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
Ausdruck der Einheit aller einzelnen Organe; jedoch dergestalt, dass sie nicht ein bloßes Resultat aus der Verbindung der einzelnen Teile miteinander ist. Sie brauchen sich bloß das Verhältnis der einzelnen Organe in einem organischen Körper zum Ganzen recht deutlich zu denken, um einzusehen, dass das Ganze nicht aus einer bloßen Verbindung der einzelnen Teile resultieren kann, in welcher diese als das Wirkliche angesehen werden; denn das Ganze entsteht durch einen Konflikt der einzelnen Organe, welcher einen wechselseitigen Zwang hervorbringt, der gar nicht im reinen Begriff von individuellen Organen als solchen liegt, der ja sogar, für sich betrachtet, mit der reinen individuellen Tendenz im Streit liegt. In dem Augenblick, in dem Sie einen Menschen sehen, ist die Vorstellung dieser Gestalt unteilbar, vollkommen identisch, eins. In dieser einen unteilbaren Idee verliert sich die Vorstellung von der Individualität der einzelnen Teile, nicht 10 teilweise, | sondern ganz. Betrachten wir nun diese Einheitstendenz als verschieden von den individuellen Tendenzen der einzelnen Organe – und von unserem gegenwärtigen Standpunkt aus sind wir offenkundig dazu gezwungen, denn sie sind einander vollkommen entgegengesetzt –, so bezweckt die Letztgenannte, das Individuelle als solches zu erhalten, und widerstreitet der Einheit, die Erstgenannte will die Einheit behaupten und widerstreitet dem Egoismus des Einzelnen. Ich kann, ohne befürchten zu müssen, missverstanden zu werden, das soeben Ausgeführte auf das ganze Universum anwenden; denn obgleich wir das Ganze nicht, wie bei einer einfachen, endlichen Organisation, von außen überschauen können, (da es unendlich ist) so ist es doch klar, dass sich das Zusammenwirken von allem, selbst des Allerverschiedensten und Widersprüchlichsten, (welches, sehen wir auf das Einzelne an und für sich, infolge eines notwendigen Triebes bloß bestrebt ist, sein eigenes Dasein zu erhalten) auf andere Weise nicht denken lässt. Diesen Trieb werden wir, im Unterschied zu dem egoistischen, den Einheitstrieb des Universums nennen. Ich nenne ihn, ebenso wie den egoistischen, einen Trieb; denn er ist, genauso wie jener, wenn uns die Phänomene des Lebens gegeben sind, eine, obgleich aus einer inneren lebenden Quelle entspringende, doch vollkommen unwillkürliche Tendenz. Achten wir nun auf diesen Einheitstrieb, so bemerken wir:
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Erste Vorlesung
1) 2)
Dass er unendlich sein muss, wie das Universum selbst. Dass er, von unserem gegenwärtigen Gesichtspunkt aus, unterschieden werden muss vom egoistischen Trieb, weil er diesem sogar | entgegengesetzt ist, dass er folglich, einseitig betrachtet, 11 3) Dazu tendiert, alle Individualität als solche aufzuheben. Aber er ist nur, insofern es das Individuelle gibt, und ist nichts anderes als der Einheitsausdruck für alle Individualität. Er widerspricht sich also selbst und hebt sich auf, indem er sich zu erhalten versucht. Wenn sich alles in Individualitäten auflöst, kann das Einzelne selbst nicht bestehen, denn es existiert nur in seiner Verbindung mit dem Ganzen; wenn sich alles in der unendlichen Einheit auflöst und diese als Gegensatz zu dem Einzelnen betrachtet wird, kann diese Einheit selbst nicht bestehen; denn sie ist nur die Einheit aller Individualitäten. Mit solchen Widersprüchen ist nun das Leben gleichsam behaftet. Wie das einzelne Individuum bestehen kann, obwohl ein unendlicher, allmächtiger Einheitstrieb es zu verschlingen scheint; wie das Ganze bestehen kann, obwohl ein tief eingeprägter egoistischer Trieb jedes Individuelle gegen das Ganze bewaffnet, und die Individuen gegeneinander; wie sich widerstreitende und aufhebende Prinzipien verknüpfen, von welchen das erste uns das Mannigfaltige, Einzelne, Endliche gibt, das andere dagegen das Eine, Allgemeine, Unendliche, wie sie sich vereinigen können, wie sie einander durchdringen können und in dieser vollkommenen Verschmelzung das identische Daseiende, Existierende, das Leben hervorbringen – das ist uns hier ganz unbegreiflich und dürfte wohl das höchste Problem der Philosophie sein. | Davon, dass das Leben wirklich durch einen ewigen Streit dieser 12 entgegengesetzten Prinzipien besteht, kann uns eine kurze Betrachtung leicht überzeugen. Die ganze anorgische Natur ist gegen das organische Leben bewaffnet, und dieses selbst erringt nur einen temporären Sieg. In diesem Streit werden zwar die Arten erhalten, als der siegende Teil; aber die Individuen müssen ohne Ausnahme zugrunde gehen. Das Leben ist ein Übergang zum Tod; der Tod ist ein Sieg der Masse über das Leben. Die Individuen kommen nur, um zu verschwinden, der eine, allgemeine Ausdruck für ihre unendliche Mannigfaltigkeit, eine Einheit, die ohne die Individuen nichts ist, bleibt allein unverändert. Die Generation (8) ist ein Umweg, durch den wohl nicht die Individuen, aber doch die Arten erhalten werden. Jeder einzelne Mensch liegt nicht nur allein mit der Natur im 27 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
Streit – einen Kampf, den er mit allen anderen gemeinsam hat – sondern von Anfang an auch noch mit allen anderen Menschen. Jeder versucht mit gleichem Recht, die Natur zu zwingen, ihm zu dienen, und sie, soweit seine Kräfte es vermögen, zu einer Sklavin seines Egoismus zu machen, und, wäre er bloß vom egoistischen Trieb gesteuert, alle anderen Menschen zu seinem Mittel. Hierbei kommt es zu einer Kollision, die niemals vollständig aufgehoben werden kann, eine Kollision, die das ganze menschliche Leben konstituiert. Ich will diese Vorstellung genauer ausführen. Die unendliche Einheit bewaffnet nicht das eine parteiisch gegen das andere, sie ist unbeweglich gleichmütig allem gegenüber, einseitig 13 betrachtet ist sie feindselig gegenüber | jedem Individuum. Sie stemmt die ganze anorgische Natur gegen den Menschen, und in diesem Kampf müssen die Individuen immer zugrunde gehen, sie bewaffnet wiederum den Menschen gegen die gesamte Natur und in diesem Kampf bleiben die Arten erhalten. Wie die Arten, obzwar sie selbst etwas Individuelles sind, erhalten werden können, ist uns hier unbegreiflich, und ob die menschlichen Individuen einen unendlichen, unvergänglichen Keim besitzen könnten, ist eine Frage, die – von einem Gesichtspunkt aus, bei dem wir das Unendliche, Eine absolut von dem Individuellen unterscheiden, obwohl beide im Leben selbst offenbar auf eine unbegreifliche Weise eins sind – nicht einmal aufgeworfen werden kann. Denn dass in dem endlichen Konflikt alles Endliche zugrunde geht, das ist gewiss, und weiter reicht unser Gesichtspunkt hier nicht. Der Ausdruck für den Kampf des Menschengeschlechtes gegen die Natur ist die Betriebsamkeit. Sie müssen sich zu diesem Kampf vereinigen; denn dass kein Individuum dem gewachsen ist, sieht man schon daran, dass es notwendig zugrunde gehen muss. Der Ausdruck für den egoistischen Trieb, der sich nur auf das Individuelle richtet, ist der Glückseligkeitstrieb. Das ist ein wahrer Trieb, ein Instinkt, der notwendig ist wie unser Wesen und nicht erlernt werden braucht. Der Ausdruck für den Einheitstrieb des Menschen ist die Moralität, die hier aufhört ein Trieb zu sein, und ihre Quelle in der menschlichen Freiheit hat. Der Mensch oszilliert ständig zwischen dem egoistischen Glückseligkeitstrieb, der ihm gebietet, sein Eigenes, Individuelles, zu suchen, und der moralischen Einheitstendenz, die ihm gebietet, das Wohl des Ganzen zu suchen. Das Bestreben, beide Triebe zu vereinigen, nennen wir Klugheit (in der edleren Bedeutung des Wortes). 28 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Erste Vorlesung
Aber das Heiligste darf nicht der Willkür überlassen werden. Es könnten sich nicht alle auf die moralische Tendenz jedes Einzelnen verlassen, der dieser folgen kann oder nicht, weil er es will. Daher reicht der unwillkürliche Einheitstrieb der Natur in das freie Leben des Menschen hinein, und gebietet durch wechselseitigen Zwang, selbst der Willkür seinen Gesetzen zu folgen. Der Zwang, der durch den Konflikt des Egoismus der Individuen entsteht, hemmt wie eine höhere unsichtbare Hand die willkürliche Wahl von egoistischem Trieb und Moralität. Aber ganz darf und kann der Konflikt nicht behoben werden; denn mit einem vollkommenen Zwang würde die Freiheit selbst verschwinden, und daher wird durch die bürgerliche Gesellschaft der Streit zwischen dem egoistischen und dem Einheitstrieb nie vollständig aufgehoben. Die ganze Geschichte ist ein ewiger Krieg. – Der ewige Friede (9) (die liebste Träumerei der Philosophen) könnte nur entstehen, wenn die freie Einheitstendenz vollständig mit der unwillkürlichen der Natur zusammenfallen würde, wenn durch diese Identität beider aller wechselseitige Zwang verschwände, alle Widersprüche aufgehoben wären; aber diese könnten, für eine endliche Betrachtung, nie vollkommen aufgehoben werden. – Aller Zwang müsste verschwinden; denn Zwang findet nur statt, wo man unwillig besiegt wird in einem ungleichen Kampf, alle Widersprüche müssten aufgehoben werden, denn Widersprüche bestehen nur miteinander in einem notwendigen Streit. Alle Verbindungen in Staaten geben nur einen | scheinbaren Frieden, und das tägliche Leben kann 15 uns jeden Augenblick von dem niemals ruhenden Streit überzeugen, der durch diese Verbindungen wohl eingeschränkt, aber nicht aufgehoben ist. – Alle Verbindungen aus Nationen müssten (sollen sie einen ewigen Frieden hervorbringen) den Egoismus der einzelnen Nationen aufheben, das heißt diese selbst; (denn ihr Egoismus ist Ausdruck ihrer eigentümlichen Existenz), und auch sich selbst als Verbindungen zugleich. Der egoistische Trieb kann sich der Moralität annähern, wenn das Individuelle, dessen Erhaltung seine Aufgabe ist, sich selbst dem Gewöhnlichen annähert. Somit ist die eheliche Liebe edler als die, deren Gegenstand ein einzelnes Individuum ist, da sie zwei Individuen als eines setzt, somit ist die Familien-Liebe noch edler, da sie eine unbestimmte Anzahl von Individuen einschließt, somit ist der Nationalismus schließlich höher und edler, da er eine ganze Nation als ein Individuum setzt, so dass der egoistische Trieb des einzelnen Individuums sich in seiner Nation verliert. Aber die Moralität fordert 29 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
eine absolute Vernichtung des egoistischen Triebes im Falle jeder Kollision. Es gibt Handlungen, die nicht einmal der reinste Nationalismus zu heiligen vermag. Eine Betrügerei, um eine Nation zu retten, ist absolut unzulässig. Jeder suche sein Bestes, aber nicht auf seiner Familie, nicht auf seiner Freunde Kosten, jeder suche das Beste für seine Familie, für seine Freunde, aber nicht auf Kosten seiner Nation, jeder suche das Beste für seine Nation, aber nicht auf Kosten der 16 Menschheit; – | und weil der Ausdruck für die dem Menschengeschlecht innewohnende Harmonie die Moralität ist – nicht auf Kosten der Moralität. Der erste Blick auf das Ganze zeigt uns, dass alles durch einen ewigen, niemals aufhörenden Kampf entgegengesetzter Tendenzen besteht. Aber auf welche Weise finden wir uns selbst? Notwendig verwickelt in diesen Kampf, der unsere ganze Anstrengung fordert. – Wir müssen für uns selbst kämpfen, das fordert der egoistische Trieb, wir müssen für das Ganze kämpfen, das gebietet die Moralität. Jeder kennt seine Pflichten, der Mensch ist zur Handlung geschaffen, nicht zur Spekulation. Die Zeit, die fortschreitende Kultur hat die Menschheit in Widersprüche verwickelt, und nur die Tätigkeit kann uns Hoffnung geben, diese Widersprüche zwar nicht ganz, aber zumindest teilweise aufzuheben. Das bürgerliche Leben hat bereits bei der Geburt einen Eisenring um uns geschlagen: Die Zeit hält uns gefangen; gegenseitige Mängel erfordern gegenseitige Unterstützung; niemand kann, niemand darf sich dem allgemeinen Bestreben entziehen, welches das Wohl des Einzelnen durch das Ganze und das des Ganzen durch das Einzelne sucht. Die lebendige Organisation, in der wir alle verschlungen sind, darf niemals absolut ruhen, jeder Stillstand wäre ihr Tod. Warum uns auf Untersuchungen einlassen, die ewige Rätsel zu sein scheinen und uns in offenbare Widersprüche verwickeln? – Wir sind, das ist gewiss. Um uns in der bürgerlichen Gesellschaft zu orientieren, brauchen wir keine höhere Spekulation. Man kann sich sein Verhältnis zum Staat deutlich denken, ohne sich 17 in unnütze Forschungen über die Ursachen | der Bestimmtheit dieses Verhältnisses zu verlieren. Dieses bestimmte Verhältnis ist uns gegeben, und mit ihm unsere bestimmte Tätigkeit. Der beschränkte Kopf kennt nicht einmal die höheren Probleme, und dürfen wir ihm deshalb unsere Achtung versagen? Ist nicht der Mensch, der klug ist, wo er es sein darf, und moralisch, wo er es sein soll, der achtbarste, und ist nicht diese allgemeine Achtung, die ihm niemand versagen darf, der tief in unserem Wesen eingeprägte Ausdruck für eine wahre Voll30 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Erste Vorlesung
kommenheit? Hast du seltene Talente – Wohlan! Die Zeit kann sie gebrauchen, der Staat fordert ihren Gebrauch. Wozu jener ausschweifende Gebrauch deines Talents, durch das du niemandem nützt, indem du alle erheben und veredeln willst. – Also ist die Philosophie unnütz, ja schädlich, wie es scheint, – und ich beschließe meinen ersten Vortrag, dessen Inhalt ich Ihrem eigenen genaueren Nachdenken überlasse, mit einer Betrachtung, die alle nachfolgenden überflüssig zu machen scheint.
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Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
Zweite Vorlesung Gegen Ende des 17. Jahrhunderts lebte ein Mann, der sich abgesondert von der ganzen übrigen Welt, in stiller friedlicher Einsamkeit seinen Spekulationen überließ. Niemand hat jemals mit mehr Kraft und Eifer die Wahrheit gesucht. Durch gründliche und beharrliche Forschung erwarb er sich die festeste, unerschütterlichste und beständigste Überzeugung. Diese hat er in seinen wenigen, aber gediegenen, Schriften auf eine Weise ausgedrückt, die jeden berührt hat und unwiderstehlich berühren musste, der sie liest. Er war von der Evidenz seiner Begründungen genauso überzeugt, wie von seinem eigenen Dasein. Er fürchtete die genauesten Untersuchungen nicht, gab seinem System die strengste wissenschaftliche Form, und noch hat ihn niemand widerlegt. Zu allen Zeiten hat die gewöhnliche Masse ein feiges Grauen gehabt, einen innerlichen Schreck – geboren aus der inneren Überzeugung von der eigenen Beschränktheit – für alles Außerordentliche. Der Vorwurf des Atheismus, den grässlichsten, den man einem Menschen aufbürden kann, war die gebräuchliche Waffe, mit dem ein jeder den stillen Forscher anfiel. Nicht lange vor der Zeit, 19 in der er lebte, | hatte man Vanini und Bruno (10) aufgrund derselben Beschuldigung verbrannt und noch in unseren Tagen brachte sie – dieses Mal falscher als jemals zuvor – einen der genialsten und religiösesten Männer (11) von seiner Stelle und aus seinem förderlichsten Wirkungskreis, und eine grölende Menge brach über ihn herein, um mit ihrem verwirrenden Geschrei seine gründlichen Untersuchungen zumindest zu übertönen. Was jenen tiefen Forscher vor einer so regen bürgerlichen Verfolgung rettete, war bloß seine stille, unprätentiöse Einsamkeit, und sogar wiederholte Aufforderungen konnten ihn nicht dazu bringen, sie zu verlassen. Aber man brandmarkte ihn mit dem Ausdruck »Atheist«, brachte seinen Namen, mit diesem entehrenden Zusatz in die Nachwelt, flößte den kommenden Generationen eine Abscheu vor ihm ein, wie vor einem grässlichen Abschaum. So weit brachte es der Fanatismus; aber einen einzigen Fleck auf seinen sittlichen Wert zu setzen, das vermochte auch dieser nicht, so allmächtig er auch in dieser Hinsicht zu sein pflegt, und niemals hat ein Mensch eine herrlichere, schönere und rührendere Lobrede als er erhalten, als seine verbitterten, abergläubischen Verfolger behaupteten: Der Teufel habe ihm dieses herrliche, klare, reine und lichte Gemüt gegeben, damit jener umso sicherer die Gläubigen anlocken kann. – Die letzte Zuflucht für ihre nachstellende Raserei, durch die 32 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Zweite Vorlesung
sie ihm, gegen ihren Willen, ein ewiges Andenken in Ehren setzten. Niemals kann ich mir diesen herrlichen Mann denken, in seiner stillen Einsamkeit, mit einem Licht in seiner Seele, das kein Vorfall | 20 fortzujagen vermag, mit einem inneren Frieden, den keine Nachstellungen stören können, ohne dass ein Strahl seines Lichts die schönste Hoffnung in mir weckt. Es ist merkwürdig (12), dass einer der religiösesten Männer unserer Zeit der erste war, der ihm Recht widerfahren ließ. Das war Jacobi.(13) Aber obgleich das Resultat seiner Untersuchungen war: dass die Spekulationen von jenem wirklich zum Atheismus führten, so gestatte man mir – und hier ohne weiteren Beweis, den ich erst im Nachfolgenden erbringen werden kann – dies geradezu zu bestreiten. Die Schriften jenes Mannes waren meine erste Neigung in der Philosophie. Eine innere Angst vor seinen Irrtümern stieß mich mit einem wahren Schreck zurück, während ein inneres Vergnügen über die hohe Evidenz, die in seinen Demonstrationen herrschte, mich unwiderstehlich anzog. Je länger, je beharrlicher ich ihn studierte, desto bestimmter widersprach ein unwiderstehliches Gefühl all den Beweisen, die man für seinen Atheismus anführte, obgleich ich gestehen muss, dass ich lange Zeit nicht imstande war, ihnen mit Gründen zu begegnen. Aber ein innerlicher Schauer durchfuhr meine ganze Seele, wenn ich mir vorstellte, dass ein solcher Irrtum bestehen konnte mit diesem Licht, dieser klaren Überzeugung, dieser unerschütterlichen Bestimmtheit, dieser reinen himmlischen Unschuld. Mein Gefühl siegte, Schellings wichtige Entdeckung in der Philosophie öffnete meine Augen. Ich kann zeigen, wie der Verdacht des Atheismus aufkommen konnte, ja aufkommen musste, bei denen, die nicht das richtige eigentliche | Zentrum für all seine Spekulation fanden, den wirklichen 21 Mangel in seiner Darstellung, die den Mittelpunkt verbarg – obgleich dieser in der Tat der hellste, heiligste, religiöseste Theismus ist. Jener verfolgte, verkannte – erst in späterer Zeit wieder erkannte Mann, ist Spinoza. Da dieser Teil meiner Einleitung rein subjektiv, also eigentlich nicht philosophisch ist, so finde ich keine passendere Einleitung zu der nachfolgenden Betrachtung, als die rührende Stelle in seiner Abhandlung de emendatione intellectus, in welcher er den subjektiven Grund angibt, der ihn dazu brachte, sein ganzes Leben dem Studium der Philosophie aufzuopfern: (14) Postquam me Experientia docuit, omnia, quæ in communi vita frequenter occurrunt, vana, & futilia esse: cum viderem omnia, a qui33 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
bus, & quæ timebam, nihil neque boni, neque, mali in se habere, nisi quatenus ab iis animus movebatur, constitui tandem inquirere, an aliquid daretur, quod verum bonum, & sui communicabile esset, & a quo solo, rejectis cæteris omnibus, animus afficeretur; imo an aliquid daretur, quo invento, & acquisito, continuâ ac summâ in æternum fruerer lætitiâ. Dico, me tandem constituisse: primo enim intuitu inconsultum videbatur, propter rem tunc incertam certam amittere velle: videbam nimirum commoda, quæ ex honore, ac divitiis acquiruntur, & quod ab iis quærendis cogebar abstinere, si seriam rei alii novæ 22 operam dare vellem: & si | forte summa felicitas in iis esset sita, perspiciebam, me eâ debere carere; si vero in iis non esset sita, eisque tantum darem operam, tum etiam summâ carerem felicitate. Volvebam igitur animo, an forte esset possibile ad novum institutum, aut saltem ad ipsius certitudinem pervenire, licet ordo, & commune vitæ meæ institutum non mutaretur, quod sæpe frustra tentavi. Nam quæ plerumque in vitâ occurrunt, & apud homines, ut ex eorum operibus colligere licet, tamquam summum bonum æstimantur, ad hæc tria rediguntur; divitias scilicet, honorem, atque libidinem. His tribus adeo destrahitur mens, ut minime possit de alio aliquo bono cogitare. Nam quod ad libidinem attinet, eâ adeo suspenditur animus, ac si in aliquo bono quiesceret; quo maxime impeditur, ne de alio cogitet; sed post illius fruitionem summa sequitur tristitia, quæ, si non suspendit mentem, tamen perturbat, & hebetat. Honores, ac divitias prosequendo non parum etiam distrahitur mens, præsertim, ubi hæ non nisi propter se quæruntur, quia, tum supponuntur summum esse bonum; honore vero multo adhuc magis mens distrahitur; supponitur enim semper bonum esse per se, & tamquam finis ultimus, ad quem omnia diriguntur. Deinde in his non datur, sicut in libidine, poenitentia; sed quo plus utriusque possidetur, eo magis augetur lætitia; & consequenter magis ac magis incitamur ad utrumque augendum: si autem spe in aliquo casu frustremur, tum summa oritur tristitia. Est denique 23 | honor magno impedimento, eo quod, ut ipsum assequamur, vita necessario ad captum hominum est dirigenda, fugiendo scilicet, quod vulgò fugiunt, & quærendo, quod vulgo quærunt homines. Cum itaque viderem, hæc omnia adeo obstare, quo minus operam novo alicui instituto darem; imo adeo esse opposita, ut ab uno, aut altero necessario esset abstinendum, cogebar inquirere, quid mihi esset utilius; nempe, ut dixi, videbar bonum certum pro incerto amittere velle. Sed postquam aliqvantulum huic rei incubueram, inveni primo, 34 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Zweite Vorlesung
si, hisce omissis, ad novum institutum accingerer, me bonum suâ naturâ incertum, ut clare ex dictis possumus colligere, omissurum pro incerto, non quidem suâ naturâ; (fixum enim bonum quærebam) sed, tantum quoad ipsius consecutionem: Assiduâ autem meditatione eò perveni, ut viderem, quod tum, modo possem penitùs deliberare, mala certa pro bono certo omitterem. Videbam enim me in summo versari periculo, & me cogi, remedium, quamvis incertum, summis viribus quærere; veluti æger letali morbo laborans, qui ubi mortem certam prævidet, ni adhibeatur remedium, illud ipsum, quamvis incertum, summis viribus cogitur quærere, nempe in eo tota ejus spes est sita; illa autem omnia, quæ vulgus sequitur, non tantum nullum conferunt remedium ad nostrum esse conservandum; sed etiam id impediunt, & frequenter sunt causa | interitus eorum, qui ea possident, & semper 24 causa interitus eorum, qui ab iis possidentur. Das Resultat unserer vorausgehenden Betrachtungen war folgendes: Vom egoistischen Trieb gezwungen sucht der Mensch sein eigenes Dasein in seiner ganzen Wesenheit zu erhalten, eingeschränkt durch den Zwang, der durch die Wechselwirkung aller menschlichen Individuen entsteht, ist er genötigt andere Individualitäten zu respektieren, begleitet von einem tief eingeprägten moralischen Gefühl, welches zu unterdrücken oder zu behaupten in seiner Macht steht, ist er bestrebt, die Harmonie des Ganzen zu befördern, oder sie zunichtezumachen, soweit es der äußere Zwang zulässt, bloß dem egoistischen Trieb zu folgen. Aus diesem Konflikt von egoistischem Trieb, gegenseitigem Zwang und Moralität, in Verbindung mit einem gemeinsamen Kampf gegen die Natur, entstehen alle Phänomene in der bürgerlichen Gesellschaft, insofern das Bestreben der Menschen darauf ausgerichtet ist, ihr Dasein in der Zeit zu sichern. Aber unsere Existenz ist ja in der Tat bloß in der Zeit, unser Bedürfnis ist unmittelbar gegenwärtig. Unsere ganze Tätigkeit scheint ihre zugewiesenen Grenzen zu haben, diese zu überschreiten scheint eine Vernachlässigung der heiligeren und wichtigeren Pflichten zu sein. Wir brauchen nur einen flüchtigen Blick auf das menschliche Leben zu werfen, um uns davon zu überzeugen, dass die Tätigkeit des Menschen über die Zeit hinaus reicht. Jede Wissenschaft, ohne Ausnahme, hat ein unendliches Problem, ein Ziel, das weit über das Bedürfnis der Zeit hinausgeht. | Denn obwohl sie in der bürgerlichen 25 Gesellschaft angewendet werden, obwohl deren nützliche Anwendung jedem obliegt, so ist es aus sich selbst heraus klar, dass jede 35 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
Wissenschaft einen Zweck in sich selbst hat, der nicht eingeschränkt ist durch deren Anwendung, ein Problem zu lösen hat, das völlig verschieden von den meisten Problemen ist, welche die bürgerliche Gesellschaft, als solche, zu lösen von ihr fordern könnte. Man vergleiche bloß die innere Konstruktion jeder beliebigen Wissenschaft mit ihrer Anwendung. Die Mathematik verstrickt durch eine einzige Entdeckung – zum Beispiel Newtons Attraktionssystem (15) – den menschlichen Geist in unendliche, schwierigste Probleme. Angestrengter Fleiß, Tiefsinnigkeit, die Energie des Geistes, das Herrlichste, was das Menschengeschlecht ziert, wird in stete, unruhige, niemals rastende Bewegung versetzt, um einen innerlichen tiefen Drang zu befriedigen, der wohl das Menschengeschlecht charakterisieren muss, da er niemals ganz verschwindet. Wie verschieden sind die Probleme der reinen Mathematik von denen der angewandten? Sollte ein Astronom zugestehen, dass seine ganze Wissenschaft bloß existiert, um auf Schiffsfahrten und die Chronologie angewendet zu werden? Naturforscher werden, wie unwillkürlich, von einem sonderbaren Instinkt getrieben. Sie entsagen allen Bequemlichkeiten des Lebens; keine Gefahr, keine Schwierigkeit schreckt sie ab. Eine tiefe, unerklärliche Liebe vereint sie mit all den unzähligen Gegenständen in der 26 ewig | fruchtbaren Natur. Sie durchstreifen jede Gegend auf der weitläufigen Erde. Sie häufen Gegenstände an ohne Ende; jedes Tier, jede Pflanze müssen sie kennen, genau beschreiben, unterscheiden von allen anderen; sie müssen sich – ihr unbegreiflicher Instinkt will es so – in das Innerste der Gebirge hinab graben, jede Gesteinsart müssen sie bezeichnen – Nichts darf sich, in der ganzen Natur, bewegen, kein Phänomen sich zeigen, ohne dass sie ihm auf den Grund gehen, es erforschen und mit anderen vergleichen. Für diesen Instinkt öffnet sich die Natur nach und nach und spricht zu uns; aber jede ihrer Antworten wird zu einer neuen Frage. Oft, lange genug hat man wiederholt, dass uns das Wesen der Dinge ewig verborgen bleiben muss. Oft genug wiederholte man, dass all unser Wissen eine organisierte Unwissenheit war; aber die Naturforscher ließen nicht ab, an dieser Organisation zu arbeiten, deren innerstes Prinzip, deren Fundament sie nicht kennen. Eine umfassende Liebe – ihnen selbst unerklärlich – zwingt sie zu einer sonderbaren Tätigkeit. So erwachte die Naturwissenschaft im frühesten Alter der Geschichte, wuchs, nahm zu. – Die beschützende Gottheit der Geschichte überlieferte sie sorgsam von 36 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Zweite Vorlesung
Generation zu Generation, verbarg sie vor der Rohheit einzelner Zeiten; aber sobald diese verschwunden waren, traten die Erkenntnisse vergangener Zeiten wieder hervor, weckten den schlummernden Instinkt, die Wissenschaft breitet sich stetig weiter aus, und all ihre Entdeckungen ergeben neue Probleme. Es ist, als ob | die Vernunft keine 27 Ruhe findet, ehe die ganze Natur sich ihren Gesetzen unterworfen hat. So wie man der gesamten Naturwissenschaft eine bloß kameralistische Tendenz gibt, so gibt man nicht selten der ganzen Geschichte, und ebenfalls, wenn wir auf die Evolution der Geschichte blicken, dem, wie es scheint, unwillkürlichen und sonderbaren Instinkt, durch den die Geschichte jeder verschwundenen Zeit für alle bewahrt wird, eine endliche und bloß subjektive Bedeutung. Die genauen historischen Forschungen seien nützlich, sagt man; denn wir werden aufgemuntert durch die Tugenden vergangener Zeiten, geleitet durch deren Klugheit, abgeschreckt von deren Lastern, gewarnt durch deren Verirrungen. Aber das herrliche Bestreben, durch das die historischen Wissenschaften jedes Zeitalter mit allen anderen verbinden, hat die herrlichsten, die schönsten Zeiten für uns gerettet, und sichert unserem Zeitalter eine ewige Existenz; die sonderbare Angst davor, dass ein Glied in der großen Kette verloren ginge, hat offenbar eine weit höhere Bedeutung. Da ist eine tief in unserem Wesen gründende Liebe, die das ganze Menschengeschlecht an die Vergangenheit anschließt wie einzelne Menschen an ihre Kindheit. Es ist das Bestreben der Geschichte sich selbst in ihrer ganzen Unendlichkeit in jedem Zeitraum zu erhalten. Stürbe der historische Instinkt aus, so würde die alte Zeit verschwinden, und die schönsten Epochen, die noch im innersten Gemüt jedes edleren Menschen leben, würden dann erst in der Tat vergehen. Denn obgleich nur wenige aus der ganzen Menschenmasse als Naturforscher und | Historiker heraustreten, so ver- 28 bindet doch deren Bestreben das ganze Geschlecht mit der Geschichte und der Natur. Eine tief eingeprägte Achtung für diese Untersuchungen verschwand niemals bei irgendeiner Nation, ausgenommen diejenigen, die zu verachten wir uns genötigt sehen. Wir nennen die Nationen barbarisch, deren Tätigkeit sich bloß darauf beschränkt, ihre physische Existenz zu verbessern und zu steigern, und haben auch Betriebsamkeit und Fleiß sie noch so weit gebracht, sollten sie auch – obgleich das wohl kaum möglich ist – ohne Wissenschaftlichkeit noch so viele Bequemlichkeiten erworben haben, ja selbst wenn unter ihnen der größte Wohlstand der Nation und der prachtvollste Luxus 37 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
herrschte, so vergrößert das unsere Achtung für sie nicht in der geringsten Weise. Wir fordern von jeder Nation, dass sie die Wissenschaften um derer selbst willen achten soll. Aber was will die Naturwissenschaft, was will die Mathematik, was will die Geschichte? – Ich nenne die Wissenschaften, nicht diejenigen, die sich mit ihnen beschäftigen. – Diese befördern nicht selten, von einem unbewussten Instinkt getrieben, die Zwecke der Wissenschaft, ohne sich deutlich deren Ziel zu denken. Was suchen diese Wissenschaften? Ihr Problem ist unendlich. Kann es seine Aufklärung in der Zeit finden? Was sie suchen, ist Wissen. Das Wesen des Wissens ist Wahrheit. Wahrheit ist die vollkommene Übereinstimmung zwischen Vorstellung und Gegenstand. Gegenstand sind die gesamte Geschichte und die ganze unendliche Natur. 29 | Also – wie das Tier durch ein innerliches Lebensprinzip die Masse überwindet und sie zwingt, sich seinem Wesen zu assimilieren – so scheint im Innersten des Menschen ein höheres Lebensprinzip zu keimen, das bestrebt ist, alles dazu zu zwingen, sich der Vernunft zu assimilieren; denn dass diese Ausdruck eines höheren Lebensprinzips ist, sieht jeder ein. Hier scheint eine höhere ätherische Sphäre zu sein, in welcher der Mensch frei atmen kann, wo ihn nichts einschränkt außer den ewigen Gesetzen der Vernunft. Dass diese höhere Tätigkeit eine Tendenz des Menschengeschlechts ist, das ist gewiss, dass nichts diese Tendenz zu schwächen vermag, haben wir gesehen, dass sie nicht geschwächt werden sollte, wissen wir; ob es bis in alle Ewigkeit bei der bloßen Tendenz bleiben muss oder nicht, kann uns nur eine gründliche Untersuchung sagen. Wissenschaftler suchen das Unendliche durch eine stückweise Anhäufung von Endlichem. Der Historiker sucht es durch ein Aggregat von Tatsachen, deren Verbindung, wenn sie da ist, doch wieder nur ein Endliches hervorbringt. Aber nichts in der Geschichte, keine Individualität eines einzelnen Zeitalters, keine einer einzelnen Nation, kann vollkommen verstanden werden, ohne durch deren notwendige Verbindung mit der ganzen Geschichte. Eine Anschauung des Ganzen muss also, wie es scheint, jedem einzelnen Urteil vorausgehen. Der Naturforscher häuft Phänomene auf Phänomene, versucht er auch eine theoretische Verbindung, so ist diese doch nur endlich, eingeschränkt. Aber kein einzelnes Phänomen kann gänzlich 30 verstanden werden, ohne in der notwendigen | Verbindung mit allen. Eine Anschauung der ganzen Natur scheint also jeder einzelnen Un38 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Zweite Vorlesung
tersuchung vorausgehen zu müssen. Ich behalte es mir im Nachfolgenden vor, Ihnen dieses deutlicher und anschaulicher zu machen. In der Tat, es ist unbegreiflich, was den Naturforscher und Historiker zur unablässigen Betriebsamkeit bewegte, wenn nicht eine, obschon, bei vielen dunkle, Ahnung von einer unendlichen Verbindung das tiefe, bewegende Prinzip für deren Untersuchung war. Diese Ahnung verlässt keinen Menschen jemals ganz. Selbst beim Beschränktesten schlummert sie tief in seiner Seele. Sie knüpft uns an die ganze Natur. Sie gibt allem Einfachen eine höhere, edlere Bedeutung. Sie ist es, die mit dem kommenden Morgen die lodernde, lebendige Natur für einen jeden öffnet, als ob eine innere Sonne unwillkürlich der himmlischen folgte, sie hebt das unendliche Gewimmel von Gestalten aus der allgemeinen Dunkelheit, durch sie spricht das ewige Leben der Natur, wie durch eine mystische Chiffre, zu unserem Geist und im Innern verstehen wir sie. Sie bedeckt das ganze Gewimmel von Gestalten, wenn sich das innere Licht, wie eine ewige Dunkelheit hinter alle Sterne wirft, und ein fremdes Licht uns bloß die unendliche Dunkelheit sichtbar macht. Diese Ahnung schließt uns gleichfalls der Geschichte an. Zeitalter, deren Denkweise, deren äußere Existenz einen ganz anderen Schwung hatten als unseres, bleiben uns durch sie begreiflich. Überlassen wir uns ihr, so verzichten | wir auf jenes allgemeine Postulat 31 des Verstandes, unsere Zeit und deren Denkweise zu einer Norm für alle zu machen, sie schenkt uns der Zeiten Organe, die verborgen im Vergangenen liegen. Durch sie erwachen Kämpfer aus ihrem Grab, Götter und Göttinnen wandeln unter uns, jeder Klang längst entschwundener Zeiten hallt mit seinem eigentümlichen Ton wider. Sie zaubert die herrlichsten Zeitalter in die am tiefsten herabgesunkenen hinein. Es ist, als ob in jeder geschichtlichen Epoche der Keim zu allen schlummerte. Diese Ahnung, deren Gegenstand immer unendlich ist, nennt man, wenn sie sich lebendig und schöpferisch in ihrer Herrlichkeit in einem vortrefflichen Gemüt offenbart – Poesie. Kein Mensch ist gänzlich bar jeder Poesie. Kein Zeitalter, nicht einmal das roheste, hat sie jemals ganz entbehrt. Es ist, als sei die eigene ewige Produktivität der Natur mit dem Dichter erwacht. Edle, hohe Gestalten treten hervor, eine göttliche, goldene Welt, von einer ewigen Sonne mit Leben erfüllt, eröffnet sich uns wie durch einen plötzlichen Zauberschlag. Ein unendlicher Sinn scheint sich hinter jeder Gestalt verborgen zu haben und strahlt uns mystisch entgegen. Wir sind von einem hohen, einem herrlichen Glanz umgeben; eine tiefe Sehnsucht er39 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
wacht in unserem Innersten und verbindet uns unwiderstehlich mit der wunderlichen, gaukelhaften Welt – Sie verschwindet – Die Zeit hält uns gefangen, ihr begrenzter Drang fordert unsere Aufmerksamkeit; aber die ewige Sehnsucht, die der Dichter weckte, nichts vermag sie auszulöschen. Was ist es, das uns verzaubert, wenn der Dichter singt? 32 | Sogar derjenige, der unser endliches Dasein, den Drang der Zeit, für das Höchste hält, lässt die Poesie gelten, als ein Mittel, um das Gemüt zu erfrischen, als ein behagliches Spiel. Was will das sagen? Gesteht er damit nicht eine unsichtbare Gegend ein, in der wir uns freier bewegen können? Unser eigentliches Heim, in das wir uns zurückziehen, wenn uns das Arbeiten abgestumpft hat? Man denke sich, dass alle höhere Wissenschaft und Poesie und Kunst von der Erde verschwunden wären; man würde jede Blüte des menschlichen Lebens fortreißen; man würde jedes weibliche Geschöpf zu einer Küchenpflanze erziehen, die ja gar nicht blühen soll; jeden Mann zum Futterkraut für das alles verschlingende Ungeheuer, die gegenwärtige Zeit; man würde alles Leben hinwegfegen, so dass allein der feste, aber – nackte Felsengrund des Verstandes zurück bleibt. Heilige, glanzvolle Bilder des Ewigen, Ihr bleibt, wenn alles Endliche verschwindet; Ihr weist zu einer höheren Region, wo alles unverrückbar ist. Dort lodert, in niemals verdunkelter Klarheit, der Geister, selbst der Zeiten ewige Sonne, durch die wir sind und leben, obgleich wir uns vom herrlichen Glanz nicht ernähren, noch ihre leuchtenden Strahlen zusammenflechten können, um uns mit ihnen zu kleiden. Es waren einmal Nationen, die sind verschwunden – dass sie eines Tages wieder erwachen sollten in all ihrer Herrlichkeit, ist eines jeden edleren Menschen und der Geschichte ewiger Wunsch. Jeder, der mit festen und klaren Augen die großen, herrlichen und selbst in ihren Ruinen so kolossalen Fragmente des Altertums der bedeuten33 den Nationen | zu überschauen vermag, muss notwendig in ihnen Überreste einer Zeit schauen, in welcher Wissenschaft, Kunst und Handlung in ununterbrochener Vereinigung das Göttlichste und Höchste hervorbringen konnten. Diese Vereinigung brachte jene erstaunlichen Kenntnisse des fernsten Altertums hervor, jenen tiefen, durchdringenden, hohen Blick auf die Natur, dessen Fragmente wir bewundern, ohne dass sie uns, so lange die jetzt herrschende Verfas40 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Zweite Vorlesung
sung von Natur- und Geschichtswissenschaft andauert, in der geringsten Weise begreiflich werden können, sie brachte jenes kühne, große und in der Tat kunstvolle Leben hervor, in welchem sich Handlungen wundersam mit Handlungen verbanden und ein großes bedeutungsvolles Ganzes bildeten, durch sie wurde die kühne Verwechslung der Wirklichkeit mit Allegorie hervorgebracht, weil die hohe Existenz dieser Heroen selbst nichts anderes war, als eine einzige herrliche Allegorie des Übersinnlichen, durch sie wurden schließlich die harmonischen, fließenden Töne hervorgebracht, in welche sich das herrliche Leben ergoss, wie aus einer klaren Lichtquelle, und einen göttlichen Glanz über die gesamte Geschichte warf, den die später untergegangenen Geschlechter niemals ganz zu verdunkeln oder zu trüben vermochten. Eines der sichersten Kennzeichen für den hohen und tiefen Sinn, der sich bei einer Nation äußert, wenn man sie als ein Individuum betrachtet, ist ihr Abdruck auf der Masse. Äußert eine Nation ihre ganze Energie in ihrem Kampf mit der Natur, damit sie sich ihr endliches Dasein sichern kann, so zeigt ihr Eindruck auf die Masse bloß einen höheren tierischen Instinkt – notwendig wie unsere physische | 34 Existenz – das ist die Betriebsamkeit. Ist eine Nation, ein Zeitalter von einer höheren Tendenz durchdrungen, so zwingt es selbst die Masse, seine hohe Existenz zu bezeugen. Die ungeheuren Kolosse im Orient zeigen uns noch die nahezu unbegreifliche Energie des frischen, jungen Menschengeschlechts. Als die herrliche griechische Nation verschwinden sollte, hob sie den inneren göttlichen Kern ihres höheren Daseins hervor und zwang ihn der Masse auf. Wir schauen nun, ahnungsvoll durch die bedeutungsvollen und göttlichen Gestalten der versteinerten vergangenen Welt, ihre ganze verschwundene Herrlichkeit. Die italienische Malerkunst zeigt uns noch die herrliche, glühende, poetische Religiosität ihrer Zeit. Niemand vermag es, so ungeheure Kolosse zu erbauen, seit die orientalischen Nationen verschwanden. Die Bildhauerkunst starb mit Griechenland und Rom; die höhere Malerkunst verschwand mit der italienischen Epoche. Man stelle sich vor, unser Zeitalter wäre verschwunden. Welches ewige Monument hat es sich gesetzt? Ich nähere mich dem Heiligsten. Im heiligen Licht der Religion suchen wir Trost. Keine Zeit war vollkommen irreligiös. Ich zeige stillschweigend auf den klarsten und dunkelsten Mittelpunkt. Dass die religiöse Tendenz über der Zeit liegt, sage ich bloß. Und was ist denn das endliche menschliche Leben ohne einen 41 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
höheren Strahl? Alles wackelt unter unseren Füßen, alles verschwindet blitzschnell, wie es gekommen ist. Die Welt öffnet sich für uns; Gestalten eilen uns täuschend vorbei und verschwinden; denn wir 35 verschwinden selbst. Das | unmittelbar Gegenwärtige ist der feste Punkt; aber dieser Punkt ist losgelöst. Das Vergangene ist gewesen, das Zukünftige wird kommen; der gegenwärtige Moment verschwindet, wenn wir nach ihm greifen wollen. Wir wollen alles in einen unendlichen Moment fassen, aber das Vergangene erhebt sich Stück für Stück und deutet Stück für Stück auf das Zukünftige. Wir schwimmen auf einem schwebenden Tropfen, der ständig verschwindet und wiederkommt – unruhig zwischen Erinnerung und Ahnung. Wo ist der feste Punkt, den wir alle suchen und keiner besitzt? Sollten wir ihn niemals finden, wieso sind wir dann verdammt, ihn zu suchen? Wer löst das ewige Rätsel des Daseins? –
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Dritte Vorlesung
Dritte Vorlesung | Nachdem ich in der ersten Stunde versucht habe, Sie, meine Herren! 36 darauf aufmerksam zu machen, dass ein tiefer Widerspruch an allem Lebendigen und an dem ganzen Leben haftet; nachdem ich Ihnen, in der zweiten Stunde, gezeigt habe, wie sich durch alle wissenschaftliche Tendenz hindurch ein großes und wichtiges Problem regt, das, obzwar ungelöst, unmittelbar vor uns tritt in der Poesie, und, wenn wir auf die Geschichte sehen – mit einer Kraft, die nichts hemmen kann, seine Lösung fordert – so will ich nun, indem ich das Wesen der beiden, uns hier vornehmlich wichtigen Wissenschaften, der Naturwissenschaft und der Geschichte, genauer entwickle, beweisen, dass die Resultate dieser Wissenschaften uns bloß jenem tiefen Widerspruch des Lebens näher bringen, ohne ihn jemals zu lösen – dass also die Physik (16) und die Geschichte selbst auf eine andere Wissenschaft hinweisen, die, indem sie das Hauptproblem zu lösen versucht, zugleich die der anderen Wissenschaften auflösen muss. Wenn eine derartige Wissenschaft – die Philosophie – möglich ist, so müssen die Physik und die Geschichte erst durch sie den Sinn und Bedeutung erhalten, und das Zentrum, das sie suchen. Ob sie möglich ist, muss, für das Erste unentschieden bleiben. Es ist uns genug, | dass die 37 höhere Vernunft des Menschen sie fordert, dass jede Wissenschaft sie zu erreichen sucht, dass jeder edlere Wunsch sie ahnt. Wir werden in der bürgerlichen Gesellschaft geboren. Eine gewisse Nation, eine bestimmte Sprache, eine eigene Staatsverfassung, ein gewisses Zeitalter, dessen Denkweise dieses und kein anderes Gepräge hat, eine Natur, deren unveränderliche Gesetze die feste Grundlage für alles Dasein zu sein scheinen, treten uns zwingend entgegen, sobald wir aus dem Alter der Kindheit heraustreten, uns zu orientieren beginnen, unser Verhältnis zu den äußeren Gegenständen zu erkennen beginnen, und es scheint, als ob unsere Freiheit bereits weggegeben war, bevor wir ihren Besitz geahnt haben, als ob wir unser Selbstbewusstsein bloß fanden, um zu erkennen, dass wir unsere Selbstständigkeit verloren haben. Gegenseitige Mängel erfordern gegenseitige Unterstützung, eine Unvollkommenheit wird die andere ausgleichen, und durch diese Wechselwirkung von Unvollkommenheiten wird ein Vollkommenes entstehen, von dem wir, insofern wir nur einzelne Personen in dem ewigen Drama sind, selbst keine Idee haben, denn ein Zusammenwirken aller wird das erahnte Vollkommene hervorbringen, das notwendig über dem Einzelnen liegt. 43 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
Wir finden uns selbst auf Erden umgeben von einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Gegenständen. Jeder dieser Gegenstände setzt uns in ein eigenes bestimmtes Verhältnis. Wir vermögen dieses ursprüngliche Verhältnis nicht zu bestimmen – es ist da, unveränderlich bestimmt. Wir selbst erkennen uns, als dieses eigene, von allen übri38 gen unterschiedene, | Individuum, bloß insofern, als wir eine Menge möglicher Bestimmungen außerhalb von uns setzen. Unsere eigenen Handlungen, deren Grund wir in unserem Willen, in unserer Freiheit suchen, verbinden sich, einmal ausgeführt, mit der feindlichen Macht, die uns von allen Seiten einschränkt, sie gebären andere Handlungen, ja zwingen uns zu diesen, und wir geben unsere Freiheit und Selbstständigkeit weg, selbst indem wir sie zu behaupten versuchen. Alle wissenschaftliche Untersuchung ist bestrebt, die Gründe für die erzwungenen Vorstellungen in der Vernunft selbst zu finden. Dieser Zwang entsteht – entweder durch die freien Handlungen anderer Vernunftwesen – die Phänomene, die durch die Wechselwirkungen der Handlungen aller Vernunftwesen hervorgebracht werden, konstituieren die Geschichte – oder durch die unveränderlich bestimmten Gesetze, deren erzwungenes, und absolut notwendiges Wechselspiel die Natur konstituiert. Dass unsere unwillkürlichen Vorstellungen eins sind mit ihren Gegenständen, das ist gewiss, und selbst die Einwände, die hervorgebracht werden, indem man sich auf die Unzuverlässigkeit der Sinne beruft, vermögen es niemals, diese tief in unserem Wesen gründende Gewissheit aufzuheben. Es ist diese feste Überzeugung, deren Grund wir nicht kennen, die uns stetig in all unseren Handlungen leitet. Wir bedienen uns der Gesetze der Natur, wir rechnen mit ihrer Unveränderlichkeit. Jede Handlung, die wir uns vornehmen, ist durch sie eingeschränkt, all unsere Freiheit kann sich nur innerhalb dieser, einmal bestimmten Grenzen äußern, und kein Mensch kommt auf den Gedanken zu glauben, dass es möglich wäre, 39 gegen sie zu handeln. | Diese unbewusste Gewissheit haben wir mit den Tieren gemeinsam. Aber der Mensch tritt aus der Masse heraus, und wird sich selbst Objekt seiner Handlungsweise. Eine Vorstellung ist bei einem Vernunftwesen nur insofern, als sie als diese bestimmte erkannt wird. Diese Erkenntnis ist eine niedere oder eine höhere. Die niedere erkennt nur den Gegenstand, als ein unmittelbar gegebener Zwang zu einer bestimmten Vorstellung, und setzt diesen Zwang ganz als eins mit der Vorstellung, ohne sie zu 44 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Dritte Vorlesung
unterscheiden. Wenn man ein Haus erwähnt, so erwähnt man zugleich die Vorstellung von dem Haus – ob das Haus selbst und die Vorstellung vom Haus eins sind, ist eine Frage, die dem gewöhnlichen Menschenverstand schlechthin nicht einfällt. Fragt man, woraus das Haus besteht, so nennen wir die einzelnen Bestandteile, aus denen es zusammengesetzt ist, leiten den Fragenden von Gegenstand zu Gegenstand, nennen mit dem Gegenstand zugleich die Vorstellung, ohne den geringsten Unterschied zwischen ihnen zu machen. Die geringste und gewöhnlichste Reflexion bringt uns dazu, die Vorstellung, als unsere, vom Gegenstand, als außerhalb von uns, zu trennen, und nachdem diese Trennung vollzogen wurde, ist der erste Versuch, eine Verbindung zwischen ihnen zu schaffen, sie in ein Kausalitätsverhältnis zueinander zu setzen, so dass der Gegenstand Ursache wird und die Vorstellung Wirkung. Dieser Versuch tötet nicht allein alle Philosophie, sondern es ist klar, | dass er das Problem, das er 40 eigentlich lösen will, nicht zu lösen vermag; denn das Problem ist, zu zeigen: wie die Vorstellung in uns vollkommen eins sein kann mit dem Gegenstand außerhalb von uns; aber setzen wir das Verhältnis von Ursache und Wirkung zwischen beide, so wird die Trennung permanent; denn die Wirkung liegt immer außerhalb ihrer Ursache, und kann niemals vollkommen mit dieser zusammenfallen ohne aufzuhören die zu sein, die sie ist. Alle Naturwissenschaft – und mit dieser wollen wir uns hier zuerst beschäftigen – strebt danach, durch eine – durch das freie Reflexionsvermögen gegebene, also im Wesen der Vernunft gründende – Konstruktion, den Grund zu finden für die notwendige Bestimmtheit, mit welcher sich die Naturphänomene uns offenbaren. Ich spreche hier natürlich von der theoretischen Physik, nicht von der empirischen, denn letztere gibt uns bloß Wissen von den Gegenständen und deren jeweiliges Verhältnis zueinander, ohne den Grund zur Bestimmtheit in deren Eigenschaften und Wirkungsweise anzugeben. Es gibt nichts Wichtigeres – in den Wissenschaften, ebenso wie im täglichen Leben – als sich genau, das Ziel zu denken, das man erreichen will, bevor man mit der Ausführung beginnt. Ob das bisher bei den Naturforschern der Fall gewesen ist, wollen wir hier ungeklärt lassen. Kurzum, hat die Naturwissenschaft überhaupt ein Ziel – sei es nun vollkommen unerreichbar, oder vielleicht nur durch eine unendliche Approximation zu erreichen, so kann das nichts anderes sein, als: | eine – doch wohl vernünftige – und folglich im Wesen der 41 45 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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Vernunft gründende – Konstruktion zu finden, die mit derjenigen der Natur vollkommen zusammenfallen soll und mit ihr eins wäre. Setzt man nun das Kausalitätsverhältnis als das, was allein stattfindet zwischen Gegenstand und unseren Vorstellungen; setzt man den Gegenstand, ohne diese Rücksicht auf unsere Vorstellungen, als etwas Fremdes, trennt man das Wesen der Vernunft von dem der Natur absolut, so wird alle Naturwissenschaft zunichtegemacht, und die elendige Beschäftigung, die ewigen lebenden Produkte der Natur mit fingierten Stoffen zusammenzuleimen, kann, wenn ein höheres Bestreben erst erwacht, auf keine Weise zufriedenstellend sein. Es gibt also nur einen Prüfstein für die theoretische, naturwissenschaftliche Konstruktion. Sie ist bloß dann richtig, wenn sie als dieselbe, wie die der Natur erkannt wird. Ich werde, im Nachfolgenden, beweisen, dass alle naturwissenschaftlichen Untersuchungen, die sich auf Empirie gründen, – und darauf allein gründen sich alle Theorien, die wir bisher haben, – uns bloß das große Problem der Physik ungelöst zurückgeben, dass die angenehme Hoffnung, falls die Naturforscher sie wirklich haben sollten, durch ins Unendliche fortgesetzte Untersuchungen sich der Lösung des Problems zu nähern, durch genaueres Nachdenken, schlechthin verschwinden muss, dass die Empirie durch die Tendenz, die Phänomene auf der einen Seite zu erklären – und doch – auf der anderen Seite – durch deren Erklärungen sich aufrecht erhalten will, als Empirie, sich in die 42 schrillsten Widersprüche verwickelt. Gelingt | es uns dies zu beweisen, so ist es klar, dass alle naturwissenschaftlichen Untersuchungen uns bloß ein Problem geben, das eine andere Wissenschaft lösen muss – oder sie beweist, dass es unlösbar ist. Es ist meine Absicht, die theoretisierende Empirie sich selbst widerlegen zu lassen. Dass hierbei die Achtung, die man dem empirischen Naturforscher schuldet, wenn er seine Grenzen nicht überschreitet, dass der Fleiß, das Talent, die Scharfsinnigkeit, die sich wirklich in ihren Untersuchungen ausdrücken, nicht angegriffen werden, dass ich den unschätzbaren Wert dieser Untersuchungen erkenne, dass die wahre Theorie, wenn sie überhaupt möglich ist, nicht der Erfahrungen entbehren kann, welche die Empirie gibt, das ist eine Erklärung, die ich wohl machen muss, obgleich sie, für jeden, der mich gänzlich verstanden hat, völlig überflüssig sein wird. Um dieser kritischen Untersuchung die größtmögliche Vollständigkeit zu geben, ist es notwendig, die vielerlei Zweige, in welche die
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Empirie sich geteilt hat (und welche sie ebenso viele Wissenschaften nennt) unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt zu sammeln. All die Wege, die Naturforscher gewählt haben, lassen sich auf Beobachtung und Experiment reduzieren. Die bloße Beobachtung geht nur bei einem gegebenen Produkt, das Experiment versucht, die Natur unter Bedingungen zu setzen, die sie dazu zwingen, unter unseren Augen zu wirken. Der bloße Naturbeobachter hat eine unendliche Mannigfaltigkeit von Objekten und er wird sie, | als unterschiedliche auffassen. 43 Daher ist die Beobachtung ursprünglich notwendigerweise beschreibend. Aber da der Verstand niemals zu unterscheiden vermag, ohne die unterschiedenen Dinge in einer anderen Hinsicht zu vereinen, so erhalten wir nebst den Kennzeichen, durch welche die Deskription unterscheidet, auch notwendigerweise Kennzeichen, durch welche das Unterschiedene wieder vereint wird. Dieses Vereinigungsfundament ist nun – entweder bloß subjektiv – als Hilfsmittel für das beobachtende Subjekt – und dann sehen wir an den Objekten selbst doch bloß das Mannigfaltige, da der Vereinigungsgrund, der Voraussetzung nach, bloß zu uns gehört. Hierdurch entsteht die sogenannte Naturhistorie. – Zoologie, Botanik, Oryktognosie (17). Wir werden diese Beobachtung die klassifizierende nennen. – Oder das Vereinigungsfundament ist objektiv, so dass die Mannigfaltigkeit der Objekte wirklich bloß Modifikationen einfacherer Regeln sind, die wir der Natur selbst zuschreiben. Hierdurch entsteht für die organische Natur, die komparative Physiologie; für die anorgische, das, was Werner Geognosie (18) nennt. Wir nennen diese vereinende Beobachtung die reduzierende. Das nähere Verhältnis von Klassifikation zu Reduktion wird uns die fortgesetzte Untersuchung zeigen können. An dieser Stelle ist es genug zu bemerken – dass erstere ursprünglich subjektiv ist, die andere sich sogleich als objektiv darstellt. Es war natürlich, dass man, als die Naturwissenschaft erwachte, damit begann, sich mitten in den ungeheuren Haufen der verschiedensten Gestalten zu werfen. Man | hatte sich lange nach einem Mit- 44 tel gesehnt, mit dessen Hilfe man nur einigermaßen die unendliche Mannigfaltigkeit von Formen überschauen könnte. Sobald daher Linné (19) für die organische, und Cronstedt (20) und Werner für die anorgische Natur, Unterscheidungs- und Vereinigungskennzeichen entdeckt hatten, die man gemeinhin als zweckmäßig erachtete, und dabei, zumindest eine Zeit lang, der beobachtenden Naturwissen47 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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schaft eine bestimmte Richtung gegeben hatten, so erhob sich auf einmal eine große Menge Menschen, strömte hin zu allen Gegenden der Erde, entdeckte eine stetig größere und größere Menge von neuen Formen, bis endlich das bunte Gewimmel von lebendigen Gestalten und toten Massen nach und nach die lose und oberflächlich aufgezwungene Regel verwischte, von der man anfangs so viel erhoffte, und das Ganze in ein beschwerliches Chaos zu verwandeln drohte. Von nun an verschwand der, anfangs so glühende, Eifer; aber bei denen, die einen tieferen Sinn für die Natur hatten, musste ein Verlangen nach einer genaueren Bekanntschaft mit dem ordnenden Geist, der vereinend durch alle Gestalten geht, und darin Gefallen zu finden scheint, sich in mannigfaltig wechselnden Formen zu spiegeln, notwendig erwachen. Die bloß klassifizierende Beobachtung kann nicht für sich in Anspruch nehmen, als ein Weg zur Theorie angesehen zu werden, und macht das auch nicht. Da mittlerweile eine nicht unbedeutende An45 zahl von Naturforschern glaubt, dass man die künstliche | (subjektive) Klassifikation zumindest als provisorischen Versuch ansehen kann, eine natürliche (objektive) hervorzubringen, da wir überdies durch diese Untersuchung zu einigen Resultaten geführt werden, die für uns wichtig und interessant sein könnten, so wollen wir noch etwas bei ihr verweilen. Wir wollen zuerst unsere Aufmerksamkeit auf die Klassifikation der organischen Natur wenden – teils, weil die naturwissenschaftliche Beobachtung, insofern sie der organischen Natur gilt, sich fast ausschließlich mit Klassifikation beschäftigt, und erst in neueren Zeiten eine andere Richtung bekommen hat – teils, weil sie, selbst in ihren Prinzipien, von der klassifizierenden Methode der anorgischen Natur abweicht. Meine Behauptung ist kurz folgende, dass die beschreibende Naturforschung – die der klassifizierenden zugrunde liegt – niemals eine natürliche Klassifikation hervorbringen kann, weswegen auch alle Versuche dieser Art hierzu misslingen müssen. Der Grund ist folgender: Die Deskription gibt nichts anderes als äußere Unterscheidungszeichen. Soll nun der Naturforscher die, als verschiedene erkannten Gegenstände vereinen, soll er, wenn er sie in einer Hinsicht als verschiedene, in einer anderen als identische erkennt, kurz gesagt: soll er sie unter einem Gattungsbegriff vereinen, so findet er, von seinem Gesichtspunkt aus nichts anderes als äußere Vereinigungskennzeichen. Er kann uns folglich bloß auf einzelne äußere Kennzeichen auf48 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Dritte Vorlesung
merksam machen, | durch welche die ansonsten verschiedenen Ob- 46 jekte vereint werden. Aber die Natur vereinigt nicht durch einzelne Kennzeichen. Wie zwei oder mehrere Tier- oder Pflanzenarten vollkommen verschieden sind, so sind sie, in einer anderen Hinsicht, vollkommen identisch. Wenn wir uns die allgemeine Anschauung von der Klasse der Vögel denken, so ist das eine identische Anschauung, in der sich alle Unterschiede der Arten ganz verlieren. Diese Anschauung kommt nicht durch die einzelnen Kennzeichen zustande, durch die zwei Herzkammern und die zwei Herzvorkammern, das rote, warme Blut, den Schnabel, die Federn, das Ei usw. Sie bezeichnet vielmehr den Urtypus, von welchem alle Arten Modifikationen sind. Diese Identität, durch welche die Differenzen nicht bloß teilweise, sondern ganz aufgehoben werden, und doch fortbestehen, indem sie aufgehoben sind, offenbart sich dem klassifizierenden Naturforscher unmittelbar, und zwingt ihn, seine Klassifikation als bloß subjektive auszugeben, und zu gestehen, dass die Arten wohl der Natur zugehören; aber die Gattungen, die Klassen usw., nur ihm. Er hat also gar nicht die Arten geordnet, auch wenn wir zunächst zugestehen wollen, dass er sie, als solche, zu erkennen vermag, sondern sie nur willkürlich in Haufen eingeteilt. Will er seiner Klassifikation diese Willkürlichkeit nehmen, oder, wie er sich ausdrückt, sie in eine natürliche verwandeln, so bleibt da – als ein gewöhnlicher Ausdruck für die, ohne deutliches Bewusstsein angeschaute Identität der verschiedenen Arten – nichts anderes übrig für ihn, als ein | dunkles Gefühl, das er 47 ebenso dunkel mit dem Wort Habitus zu bezeichnen versucht. Dass der Naturforscher gezwungen ist, zu einem dunklen Gefühl Zuflucht zu nehmen, sobald er objektiv klassifizieren will, ist sehr merkwürdig, und hätte vor langer Zeit die Empiriker von den Unzulänglichkeiten aller äußeren Anschauung, sobald man ein objektives Urteil über die Natur fällen will, überzeugen können. Denn es ist in der Tat derselbe Fall, der, nur nicht so deutlich, bei jedem Urteil über die Natur auftritt, das von dem einzelnen Äußeren auf das Ganze schließt. Es ist leicht einzusehen, dass der Naturforscher es nicht vermag, das dunkle Gefühl, welches er durch das Wort Habitus ausdrückt, zu deutlichem Bewusstsein zu bringen; denn entweder hebt er alle Differenz auf, wenn es ihm gelingt, alle Unterscheidungskennzeichen in Identität aufzulösen, oder er hebt die wahre Identität auf, wenn er bloß einzelne Kennzeichen, als identische setzt. Es ist wohl möglich (und in einzelnen Versuchen, wie Jussieu mit den Pflanzen und Fabricius mit den Insekten, wirklich geschehen) (21) 49 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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durch scharfsinnige Kombinationen eine Klassifikation hervorzubringen, die sich der natürlichen anzunähern scheint; aber die wahre natürliche kann nie erreicht werden, gerade weil sie den allgemeinen Ausdruck für die ganze Identität ergreifen muss, dieses, dem bloß am Äußeren der Phänomene klebenden Naturforscher, unbegreifliche Etwas, das sich mit der ganzen Gestalt zeigt, und nicht in etwas Einzelnem gesucht werden kann. 48 | Hier trennt sich das Innerliche vom Äußerlichen, denn, dass diese
Identität bloß innerlich angeschaut (22) werden kann, das offenbart sich dem Naturforscher unmittelbar durch die Unmöglichkeit, sie, durch äußere Anschauung, zu deutlichem Bewusstsein zu bringen. Weiter – da die Natur, das, was sie als verschieden gesetzt hat, zugleich als vollkommen identisch setzt, seine Unterscheidungskennzeichen ihm dagegen immer nur einzelne Vereinigungspunkte geben, so kann er überzeugt sein, dass auch jene nicht dem innerlichen Wesen der Objekte entnommen sind; sondern bloß deren äußersten und bedeutungslosesten Oberfläche, und ebenso wie seine Klassifikation, künstlich und subjektiv sind. Auch das lässt sich leicht beweisen. Denn – was will er eigentlich mit all seinen Unterscheidungszeichen? – Doch wohl ohne Zweifel Arten bestimmen. – Aber was ist eine Art (Spezies)? – Das ist eine gänzlich unbeantwortete Frage in der empirischen Naturhistorie – und Unterscheidungskennzeichen können diese Frage in alle Ewigkeit nicht auf eine zufriedenstellende Weise lösen. Alles, was der klassifizierende Beobachter anzugeben vermag, alles, was Linné, Fabricius usw. tatsächlich angegeben haben, beinhaltet nichts anderes als Regeln, nach denen man – wenn der Begriff vorausgesetzt wird – die Arten bestimmen kann. Fordert man von einem Naturforscher, dass er den Begriff deutlich und klar angeben soll, so ist er hier genötigt, sich, ebenso wie beim Habitus, 49 auf ein dunkles Gefühl zu berufen. Sagt man: | dass all die organischen Individuen, die sich von allen übrigen durch unveränderliche Kennzeichen unterscheiden, eine Art konstituieren, so weist man die Frage ab, anstatt sie zu beantworten. Denn – wie kommt man dazu in einer empirischen Wissenschaft unveränderliche Kennzeichen anzunehmen? – Und sie werden auch nicht als unveränderliche angenommen. Die Unveränderlichkeit der Kennzeichen gilt nur für diese bestimmte Art, also nicht absolut. Der Begriff gilt daher nur, nachdem ich diese einzelne Art bestimmt habe, weil das, was man von ihm verlangen konnte, war – dass er mir Regeln geben sollte, 50 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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um Arten zu bestimmen. All die Regeln, die aufgestellt wurden, sind nur Vorsichtigkeitsregeln, welche die Willkürlichkeit in der Bestimmung der Arten einschränken – beseitigt werden kann sie durch jene nie. Beseitigt werden kann sie nur durch eine allgemeine Regel, die absolute Befolgung verlangt, und eine solche ist nur möglich durch einen bestimmten Begriff von der Art überhaupt. Hieraus lässt es sich auch erklären, dass die regelloseste Willkürlichkeit ihr Spiel in der Entomologie und Botanik treibt, und beinahe eine totale Verwirrung in diesen Wissenschaften hervorzubringen droht. In Wirklichkeit ist die sogenannte Differentia specifica (23) genauso subjektiv wie die Unterscheidungskennzeichen der Gattungen; denn sie gelten nur in Hinsicht auf die (künstliche) Gattung, so dass auch Linné, der das sehr deutlich eingesehen hatte, einfach keine Differentia specifica angab, wenn die Gattung nur aus einer Art bestand; aber dann gehören ja die Arten, auf die Weise, wie sie in den Systemen aufgestellt sind, | nicht zur Natur, sondern zum System, und 50 sind ebenso künstlich wie dieses. Nehmen die Naturforscher nun ihre Zuflucht zu dem von Frisch (24), Buffon (25) und Kant vertretenen allgemeinen Artbegriff, der die Einheit der Arten als Einheit der produzierenden Kraft bestimmt, so haben sie wohl eine allgemeine Regel, aber diese nimmt auch ihren Bestimmungen nach äußeren Kennzeichen alle konstitutive Kraft, und gesteht diesen höchstens nur die Eignung zu, als richtungsweisendes Hilfsmittel zu dienen, um das Wissen zu erlangen, wie man die wahre Art suchen soll. In all den vielen mühselig ausgearbeiteten Werken – deren bedeutenden empirischen Wert herabzusetzen, lächerlich wäre – sind also die wahren Arten – wenn auch in einzelnen seltenen Fällen richtig – doch nicht nach der richtigen Methode bestimmt; und das Wissen um die Differenzen bleibt, in den klassifizierenden Systemen, in alle Ewigkeit, ebenso weit von den wahren Differenzen der Natur entfernt, wie das Wissen um die Identität in den Differenzen. Das ist gerade der Fluch, der scheinbar auf aller Empirie ruht, dass sie sich immer ein Ziel setzt, welches außerhalb ihrer Sphäre liegt. Sie glaubt beständig, sich ihrem Ziel zu nähern; aber wenn sie genauer untersucht, was sie gefunden hat, so sieht sie sich weiter davon entfernt, als jemals zuvor. Die kompliziertesten, kunstvollsten und scharfsinnigsten Antworten lösen sich, genauer untersucht, auf in die erste Frage, und nach dem langwierigsten und mühsamsten Gang sieht man sich wieder zurückgesetzt zu dem Standpunkt, von dem man ausgegangen war. 51 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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| Ein anorgischer Körper unterscheidet sich dadurch von einem organischen, dass er nicht ein vollkommen Einzelnes, Individuelles ist (was wiederum für sich ein Ganzes ist), sondern vielmehr äußerlich als eine Differenz angeschaut wird, die auf eine andere Differenz hinweist, welche wieder auf eine dritte hinweist usw. Jede dieser Differenzen dient der anderen als Supplement, und erhält nur, als Zwischenglied in einer Reihe, Sinn und Bedeutung. Ein organisches Individuum wird dagegen, als ein nach außen hin Indifferentes angeschaut – so dass sich alle inneren Differenzen wechselseitig in der Identität des Ganzen auflösen. Die einzige äußere Differenz bei einem organischen Individuum – wenn es einzeln, für sich betrachtet wird – ist die Geschlechtsdifferenz, die uns dazu zwingt das Supplement zu diesem Individuum in einem anderen zu suchen. Nun ist das Geschlecht der Ausdruck für die produzierende Kraft zweier Individuen, also erst vollendet durch den produzierenden Gegensatz und das Produkt. Dieses Produkt zeigt sich nun notwendigerweise wieder mit einer Geschlechtsdifferenz, weist also wiederum auf ein anderes Individuum hin, als dessen Supplement; bei diesen beiden Individuen muss man sich wieder vorstellen, dass sie ein differentes Produkt produzieren usw. ins Unendliche. Wir sind hierdurch gezwungen, eine Menge Individuen anzunehmen, deren Anzahl sich durch Reflexion niemals angeben lässt, und die sich progressiv in der Zeit generiert, in einer Weise – dass die Progression niemals aufhört. Alle diese Individuen müssen wir nun wieder, als ein Individuum setzen, und auf diese Weise entsteht der Begriff von der Art in der organischen Natur. 52 | Nur das Geschlecht nötigt uns dazu, in der organischen Natur, über das Individuum hinauszugehen, weshalb auch der Artbegriff nicht auf zufriedenstellende Weise ausgedrückt werden kann, außer durch die Einheit der produzierenden Kraft; aber durch die Art ist doch, zumindest für die äußere Anschauung, eine Mannigfaltigkeit an und für sich gegeben, welche, als Fundament für die Klassifikationen diese zugleich möglich macht. Vermag der Naturforscher den Begriff der Art auch nicht bestimmt anzugeben, so muss doch zumindest der Schematismus dieses Begriffes (als derjenige, der Begriff und Anschauung verbindet) dunkel vor ihm schweben, wenn er klassifizieren will. Aber ein Fossil(26) zeigt sich immer äußerlich, bloß als ein Differentes, das sein Supplement in etwas anderem suchen muss. Die Reihen, die jene Fossilien als Zwischenglieder in sich einschließen, beinhalten nun wohl ein Mannigfaltiges an äußeren Formen; aber 52 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Dritte Vorlesung
dergestalt, dass diese nicht für sich mit Bestimmtheit herausgehoben werden könnten. Da nun das Fundament der Klassifikation (das Mannigfaltige) im anorgischen Reich, seiner Natur nach, schon etwas Unbestimmtes und Wackliges hat, entstehen hierdurch Schwierigkeiten bei der Klassifikation, ja sogar bei der Beschreibung der Fossilien, insofern sie das Verschiedene, Spezifische bei jeder sogenannten Art bestimmt angeben soll – Schwierigkeiten, die sich, da sie im Wesen der Dinge liegen, auf keine Weise beheben lassen; denn eine der sogenannten Arten versteckt sich immer unmerklich in der anderen. So geht der Bergkristall unmerklich in Quarz über, der Quarz in Chalzedon, | der Chalzedon durch den Hyalit, in Opal usw. Bei Werner – 53 dem tiefsinnigsten und gründlichsten aller Mineralogen – machen die Übergänge die Seele, nicht alleine seiner Geognosie, sondern selbst seiner Oryktognosie aus; hierdurch wird die Klassifikation in der Tat zu einer Reduktion erhoben, welche nicht das Mannigfaltige, sondern das Gemeinsame, das Identische der Differenzen als das Ursprüngliche setzt. Durch diese Untersuchung ist der Streit über die Möglichkeit einer vollendeten Klassifikation der Fossilien, obschon in der größten Allgemeinheit, doch vollkommen entschieden. Eine Klassifikation lässt sich, streng genommen, in der anorgischen Natur einfach nicht denken, und ist bloß eine willkürliche Zusammenstellung; aber sobald sie als notwendig auftritt, hebt sie sich selbst auf, als Klassifikation, und versteckt sich ganz in dem höheren Reduktionsbegriff. Auch im anorgischen Reich lässt sich die Identität einer ganzen Reihe bekanntermaßen bloß durch ein dunkles Gefühl ausdrücken. Werner versuchte, die Identität einer solchen Reihe durch einen charakterisierenden Bestandteil zu erklären. Auf diese Weise sollte die Kieselerde die Klasse charakterisieren, deren Steinarten sich vornehmlich durch Härte, Glanz, Kristallisation auszeichneten; aber teils haben Versuche ihm widersprochen, teils ließ sich, auch vor allen Versuchen, begreifen, dass nicht ein einzelner Bestandteil, sondern diese bestimmte Verbindung aller Bestandteile, eine Verbindung, die | alle diese als ein Identisches setzt – was uns, wie wir später zeigen 54 wollen, kein Physiker begreiflich zu machen vermag – allein das Charakterisierende geben kann. Das hat Werner in späteren Zeiten auch eingesehen, und behauptet selbst, dass das Charakterisierende bei den Reihen durch ein eigentümliches, allen einzelnen Gliedern zukommendes dynamisches Verhältnis bestimmt wird. Diese offenherzige Erkenntnis der Grenzen von Empirie und Hinwendung zum Dyna53 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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mischen, als eine der Empirie fremde Region, gereicht diesem genialen Naturforscher fürwahr zur größten Ehre. Die empirische Beschreibung der organischen Natur zielt darauf ab, die Verschiedenheit der Arten genau anzugeben. Sie beginnt mit einem, obzwar dunklen, so doch notwendigen Gefühl, und alle, noch so genauen Deskriptionen und Determinationen vermögen es nicht, dieses Gefühl zu einem bestimmten Begriff zu erheben. Die Klassifikation geht von einem dunklen Gefühl der Identität der jeweiligen Arten aus und endet, wie sie begann. Weder die Deskription, noch die Klassifikation kann den Arten, oder der natürlichen FamilienÄhnlichkeit näherkommen. Ihr ganzer Wert besteht darin: dass sie uns ein, wohl notwendiges und unentbehrliches, aber doch untergeordnetes Hilfsmittel dazu gibt, in jedem bestimmten Fall herausfinden zu können, was die Art ist. Denn – weil das, was im Vergleich mit anderen organischen Körpern different ist, notwendigerweise auch äußerlich diese Differenz ausdrücken muss, so ist es natürlich, dass 55 man sich ebenfalls – durch Vergleich | der äußeren Kennzeichen, der Differenz stetig annähern kann, und weiß, auf welcher bestimmten Stelle man sie suchen sollte, obgleich man, um in das innerste Wesen der Differenz einzudringen, seine Zuflucht zu ganz anderen Prinzipien nehmen muss. Die mineralogische Klassifikation und Beschreibung (die letzte, insofern sie wirklich die Grenzen des einfachen Fossils angeben will) richtet sich in der Ausführung selbst zugrunde und löst sich in Reduktion auf. Der klassifizierende und beschreibende Naturforscher kann folglich niemals ein objektives Urteil fällen, weder über die Differenzen, mit denen er sich beschäftigt, noch über das Identische, das sie verbindet. Wir haben im Vorhergehenden ein vollkommen umgekehrtes Verhältnis zwischen der organischen und anorgischen Natur gefunden. Alle Versuche, durch äußere Anschauung die Identitäten der verschiedenen Arten in der organischen Natur zu bestimmen, waren vergebens. Die angestrebte Reduktion löste sich in eine Klassifikation auf (die lediglich das Mannigfaltige, als solches, wenn auch selbst nicht genauer bestimmt, bleiben ließ). Alle Versuche, die anorgischen Körper zu klassifizieren, waren vergebens; die angestrebte Klassifikation löste sich in eine Reduktion auf (die das Mannigfaltige als solches zunichtemachte). Es ist keinem Zweifel unterworfen, dass die reduzierende Beobachtung der Theorie näher kommt, als die bloße Klassifikation, ja 54 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Dritte Vorlesung
sie gründet sich offenbar auf die, obzwar nicht bestimmt gedachte, doch durch ein | unwiderstehliches Gefühl den Naturforschern auf- 56 gezwungene Idee von einer ursprünglichen Identität alles Mannigfaltigen, und ist daher, wie wir, indem wir die Untersuchung fortsetzen, einzusehen lernen werden, in der Tat nicht empirischen Ursprungs; aber die Frage ist: ob nicht die Hoffnung, durch eine bloße Reduktion eine Theorie hervorzubringen, auf einer Illusion beruht, die den klassifizierenden Beobachter in die Irre führt, ja dieselbe ist, die sich nur auf einer höheren Stufe wieder zeigt. Die Frage ist: ob nicht der bloß reduzierende Beobachter, schon durch seinen Standpunkt, von dem wahren identischen Mittelpunkt genauso notwendig ausgeschlossen ist, wie der klassifizierende von dem, was wesentlich das Einzelne charakterisiert und es zum Einzelnen macht. Das Mannigfaltige, als solches, ist der höheren Vernunft eine drückende Bürde, solange es, durch den Mangel an Verbindung, ein bloßes Aggregat ist; ja der unbegreifliche Instinkt, der die Naturwissenschaft hervorgebracht hat, ist Ausdruck des, tief in unserem Wesen gründenden Assimilationstriebs, der alles Mannigfaltige in der Einheit der Vernunft auflösen will. Die wahren Reduktionsversuche sind ebenso viele Funken der höheren Vernunft, die unwillkürlich die Schranken der Empirie durchbrechen. Wirklich lassen sich die Versuche, die vornehmlich tief ins Wesen der Natur greifen, und von bedeutendem Einfluss auf die Naturwissenschaften gewesen sind, auch nicht auf irgendeine Weise allein aus der Empirie erklären. Sie entstanden alle durch ein genialisches Losreißen von aller | Empirie. 57 Was Keppler (27) leitete, war bekanntermaßen eine wirklich poetische Anschauung der Natur. Das ganze Universum sah er als beseelt an; jeden Planeten als ein lebendes Tier, das durch ein innerliches immanentes Prinzip, existierte, und seine eigene innerliche Kraft in tausende wechselnde Formen ergoss. Wir wollen uns hier vornehmlich mit zwei wichtigen Reduktionsversuchen beschäftigen, nämlich: mit Kielmayers (28) Reduktion der organischen, und Werners der anorgischen Formen. Wie Werners Geognosie (dieses Meisterstück einer beobachtenden Reduktion) durch einen bloßen Vergleich von einfachen Fakten hervorgebracht werden konnte, ist vollkommen unbegreiflich. In der anorgischen Natur tritt einfach kein Verhältnis vollkommen rein und deutlich hervor, alles ist eingeflochten und eingereiht ineinander, die Hauptregel versteckt sich in den ungeheuren Massen, hinter tausenden Ausnahmen, und es lässt sich auf keine Weise begreifen, wie die bloß 55 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
beobachtende Empirie, bei einem Gegenstand, wie unsere feste Erdmasse, deren unbedeutendsten Teile sich nicht einmal mit einem Mal überschauen lassen, jemals dazu kommen konnte, sich über die Ausnahmen zu erheben und sie, als solche, zu erkennen. Jeder, der jemals geognostische Beobachtungen angestellt hat, wird mir das zugestehen. Nachdem die Regeln aufgedeckt sind, erkennen wir sie wohl als das, was sie sind, und bedienen uns ihrer, als ein sicherer Leitfaden bei empirischen Untersuchungen. Aber die Frage ist: wie diese Regeln 58 gefunden werden können? | Werner selbst behauptet, dass das vordringlichste geognostische Talent eine Übersichts-Fähigkeit ist; aber was bringt uns dazu, das Ganze zu überschauen? Entsteht die Idee der Formationsreihen, um deren Verhältnis zueinander, um Ablagerungsverhältnisse in Gebirgsmassiven bloß durch genaue Beobachtung der einzelnen Fälle – dass sie ohne eine solche Beobachtung nicht möglich wäre, versteht sich von selbst – so verwendet man doch keine andere Übersicht als die, zu der man, notgedrungen, geleitet wird. Jeder wird einsehen, dass ich hier bloß von der Übersicht spreche, durch die das geognostische System zuerst entstand. Diese, die offenbar ein Losreißen von allen einzelnen Beobachtungen war, trat ein, bevor die bestimmte Hauptregel gefunden war; ja durch sie fand sich diese Regel erst – sie war also ohne jede Regel, aber was da nun diese regellose Übersicht leitete, ist eben das Unbegreifliche, falls es nicht ein dunkles Gefühl war, das der bestimmten Anschauung vorausging, und auf einmal (jede geniale Erfindung ist ein Produkt des Moments), in einer dem Beobachter selbst unbegreiflichen Weise, alles Einzelne vereinte. Wenn wir lange genug an dem Einzelnen geklebt haben, werden wir durch ein solches zwingendes Gefühl darüber hinausgeführt. Haben wir nun, wie von einer Inspiration angetrieben, das Ganze überschaut, so wird (obgleich in Wahrheit auf eine unbegreifliche Weise; denn jede geniale Erfindung ist ein wahres Wunder) alles hell und klar, was vormals dunkel war. Aber diese Richtung der Anschauung, die das Ganze zuerst setzt, ist der empirischen 59 vollkommen entgegengesetzt, und | kann aus einem anderen Grund auch nicht empirisch genannt werden; denn – die Reduktion, die dabei geschaffen wird, beinhaltet wirklich, wie man durch die fortgesetzte Untersuchung nach der Entdeckung findet, eine unendliche Menge einzelner Fälle; aber der empirische Beobachter kann von seinem Standpunkt aus niemals eine unendliche Menge Fakten in einer Anschauung zusammenfassen. Kielmayer hat entdeckt, dass bei den niedersten Tieren vornehmlich die Reproduktionskraft herrscht, dass 56 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Dritte Vorlesung
die Irritabilität sich deutlicher in dem Verhältnis zeigt, wie die Reproduktion bei den Tieren der höheren Stufen zurücktritt, dass schließlich die Sensibilität, bei Tieren auf der höchsten Stufe, im selben Verhältnis hervortritt, wie die Irritabilität zurückgeht, er hat, mit dieser herrlichen Entdeckung, eine wahre Kontinuität zwischen alle animalischen Formen gebracht. Eine Idee, deren nichtempirischen Ursprung wir, nachdem wir im Vorangegangenen daran erinnert haben, nicht weitläufig zu dokumentieren brauchen. Dies – dass solche Reduktionen sich weder aus der bloßen Empirie noch aus deutlich und bestimmt gedachten höheren Grundsätzen erklären lassen, macht das Geniale und Überraschende an ihnen aus, welches einen umso sichereren und tieferen Eindruck macht, je genauer man mit den Gegenständen bekannt ist, über welche man so unerwartete und lehrreiche Aufschlüsse erhält. Hieraus lässt sich auch erklären, dass solche Männer (wie Kielmayer und Werner) ihre vortrefflichen Ideen nicht bekannt gemacht haben, oder zumindest mit einer gewissen | Ängstlichkeit geäußert haben, während andere 60 mit der größten Selbstverständlichkeit ihre Meinungen und Vorstellungen produziert haben; denn jene Männer sehen Probleme, wo diese alles ungemein begreiflich finden. Der empirische Standpunkt, auf den der geniale Naturforscher sich ursprünglich gestellt hat, vermag nämlich in keiner Weise die Probleme zu lösen, mit denen seine Entdeckungen ihn bekannt gemacht haben; von der höchsten Idee, in welcher alle diese Probleme ihre Lösung finden müssen, hat er nur eine dunkle Ahnung; er muss also notwendigerweise einen Mangel an höherem Zusammenhang in seinen Vorstellungen finden, der umso unbehaglicher und drückender werden muss, je tiefer seine Entdeckungen ins innerste Wesen der Natur gegraben haben, und je mehr er, durch fortgesetzte Untersuchungen, von ihrer Richtigkeit überzeugt ist. So wichtige Beiträge zu einer künftigen, vielleicht möglichen Theorie wie der reduzierende Beobachter auch gibt, so vermag er doch niemals, seine eigenen Probleme zu lösen oder eine Ursache zu finden für die Gesetzmäßigkeit, welche die Natur unter unseren Händen öffnet. Das wird mit der fortgesetzten Untersuchung deutlicher werden.
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Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
Vierte Vorlesung 61 | Es ist meine Absicht, Ihnen, meine Herren! zu zeigen, auf welche
Weise sich ein ordnender und bestimmender Geist zu verbergen scheint hinter der scheinbar regellosen Willkürlichkeit in den Produktionen der Natur, sich uns offenbart durch die Kombinationen des reduzierenden Beobachters, und die Ahnung von einem unendlichen Zusammenhang weckt. Diese Betrachtung kann ihren Gegenstand nicht erschöpfend behandeln, es reicht mir, wenn es mir gelingt, Ihnen im Tierreich, im sonderbaren Zusammenhang von Pflanzen und Tieren mit den Gebirgsmassiven eine Verbindung zwischen Gegenständen zu zeigen, die auf den ersten Blick als ewig getrennt erscheinen. Dies soll auch nichts erklären, was sich von unserem gegenwärtigen Standpunkt aus nicht erklären lässt. Ich erzähle nur und berufe mich auf Fakten, die vollkommen unbestreitbar sind. Die bedeutungsvolle Kontinuität in den Evolutionen der Natur, auf die ich Sie aufmerksam machen will, habe ich wohl gefunden, geleitet von einer höheren Idee der Natur, die ein herrliches Genie unserer Tage (29) seinem Zeitalter geschenkt hat; aber Sie werden selbst einsehen können, dass die tiefe Regel, 62 obgleich es sie unbestreitbar und unwiderlegbar gibt, | doch von unserem gegenwärtigen, empirischen Standpunkt aus, vollkommen unbegreiflich ist. Das tierische Leben besteht, in seinem ganzen Ausmaß, durch die kontinuierliche Wirksamkeit von drei Funktionen. Diese Funktionen werden, insofern sie durch ihre Wirksamkeit das tierische Leben konstituieren, Kräfte genannt. Wie begreiflich oder unbegreiflich diese Kräfte sind, kann uns hier gleichgültig sein. Sie bezeichnen unbezweifelbare Phänomene, und das ist uns genug. Die Kraft, durch welche sich die körperliche Organisation bildet und am Leben erhält, wird als Reproduktionskraft bezeichnet. Sie drückt sich in der Produktion neuer Individuen aus – Generation; in der Energie, mit der sie äußere Massen zwingt, die durch die Nahrung in den organischen Körper aufgenommen wurden, den Gesetzen der Organisation zu folgen, und dabei diese kontinuierlich zu erhalten – Assimilation; schließlich in der Energie, mit der sie die Teile der Organisation ersetzt, die durch den einen und anderen Zufall verloren gehen – die eigentliche sogenannte Reproduktion. Es ist leicht einzusehen, dass kein tierischer Körper ohne diese Kraft bestehen kann; indessen ist ihre Intensität bei den verschiedenen Tieren sehr ver58 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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schieden. Nun kann der bestimmte Intensitätsgrad dieser Kraft, wie man leicht einsieht, nicht an der Generation gemessen werden, welche die Art erhält, auch nicht an der Assimilation, welche die Individuen erhält; es gibt also kein anderes Maß für sie, als die Energie, mit der sie fehlende Teile ersetzt, | die bei verschiedenen Tieren verschie- 63 den ist. Diese Energie äußert sich am stärksten bei den niedersten Tieren, bei den Würmern, nimmt ab bei den Insekten, verliert sich noch mehr bei den Amphibien und Fischen, und ist am schwächsten bei den Vögeln und Säugetieren. Ganz verschwindet sie bei keinem Tier, und die gesamte Chirurgie gründet sich auf deren Wirksamkeit beim Menschen. Die Funktion, mittels derer die Organisation, durch ein inneres Prinzip, von innen nach außen wirkt, nennt man Irritabilität. Diese Wirksamkeit äußert sich durch die Bewegung der Muskeln, und folgt entweder aus den Gesetzen der Organisation, in welchem Fall sie auch bloß bezweckt, die Organisation, als solche, zu erhalten, wodurch die Irritabilität mit der Reproduktionskraft vereint wird, und die Bewegungen erweisen sich als unwillkürliche – oder sie folgt mittelbar aus einer höheren Kraft, in welchem Fall die Bewegungen der Muskeln willkürlich sind. Kein tierischer Körper kann ohne diese Kraft bestehen; indessen ist ihre Intensität verschieden bei verschiedenen Tieren. Ausdruck für das Maß der Intensität dieser Kraft kann nun nicht die innerliche Macht sein, mit der das Tier gegen die Massen wirkt; denn diese ist offenbar ein Produkt eines höheren Prinzips; sondern bloß die Macht, mit welcher die Muskeln einem äußeren Zwang widerstehen, und diese kann bei verschiedenen Tieren größer und kleiner sein. Die Intensität der Irritabilität ist gering bei den Würmern, steigt, je mehr sich die Würmer den Insekten nähern, und ist, im Verhältnis zur Reproduktionskraft | auf der einen, und 64 Sensibilität, über die wir sogleich sprechen sollten, auf der anderen Seite, am stärksten bei den Insekten. Die Funktion, mittels welcher die Organisation durch eine Wirksamkeit von außen nach innen hin, äußeren Gegenständen als solchen, eine bestimmte Relation zu ihrem inneren Lebensprinzip gibt, und, durch die Hilfe der Muskeln, wieder mit größerer und kleinerer Kraft auf diese zurückwirkt, nennt man Sensibilität. Sie äußert sich von einem Zentrum (Gehirn) durch die Nerven, mittels der Sinneswerkzeuge, von außen nach innen hin, und indem sie die Irritabilität der Muskeln zu einer Wirksamkeit anregt, von innen nach außen hin. In demselben Grad, wie diese Kraft hervortritt (ihre Intensität ist bei 59 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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verschiedenen Tieren sehr verschieden), erhält die ganze Organisation eine höhere und tiefere Bedeutung. Die Intensität der Sensibilität erkennt man teils an der Klarheit und Vollkommenheit, mit welcher die Sinneswerkzeuge sich zeigen, teils an der Energie, mit welcher die verschiedenen Tierklassen den äußeren Massen das Gepräge ihrer inneren individuellen Kraft aufzwingen. Kielmayer hat die ungemein wichtige Entdeckung gemacht, dass alle Tiere, von den Würmern an bis zu den Menschen, eine kontinuierliche Reihe bilden, in der die Irritabilität in demselben Verhältnis steigt, wie die Reproduktionskraft abnimmt, und die Sensibilität gleichfalls in demselben Verhältnis steigt, wie die Irritabilität abnimmt. Die Reproduktionskraft ist am stärksten bei den Würmern, 65 und sinkt die ganze Tierklasse | hindurch, bis sie am schwächsten wird bei den Säugetieren, sie nimmt also in der ganzen Reihe, von unten nach oben hin, allmählich ab. Die Irritabilität ist schwächer bei den Würmern, am stärksten bei den Insekten, Amphibien und Fischen, schwächer bei Vögeln und Säugetieren, sie nimmt also in der gesamten Reihe zuerst von unten nach oben hin zu, bis zu einem Maximum, danach wieder allmählich ab. Die Sensibilität ist am schwächsten bei den Würmern, stärker bei den Insekten, und wächst durch die Klassen der Amphibien, Fische, Vögel und Säugetiere, bis sie am stärksten ist bei den Menschen, sie nimmt also in der gesamten Reihe, von unten nach oben hin, allmählich zu. Teils, um Ihnen diese wichtige Entdeckung anschaulicher zu machen, teils auch, um Ihnen zu zeigen, wie selbst die äußere Form und das Leben der Tiere eine Kontinuität in der gesamten Reihe offenbaren und auf einen Urtypus hinweisen, der allen tierischen Formen zugrunde zu liegen scheint, will ich noch einige Betrachtungen über die Tierreihe anstellen.* Man hat meist behauptet oder bestritten, dass sich das Tierreich allmählich ins Pflanzenreich verliert. Der Hauptirrtum in diesem Streit ist der gewesen: dass man das Pflanzenreich, als die niederste Stufe des Tierreiches angesehen hat, weil doch beide offenbar entgegengesetzt sind. Würden sie eine Reihe bilden, so müssten die am 66 weitesten | entwickelten und vollkommenen Pflanzen das Pflanzenreich und das Tierreich vereinen; aber der Punkt, den beide Reiche gemeinsam haben, ist der niederste, von welchem aus die Natur in * Die weitläufigere Darstellung dieser Betrachtungen findet man in meinen Beiträgen zur innern Naturgeschichte der Erde. 1. Teil. S. 278 ff.
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beiden, in entgegengesetzter Richtung, zu dem höchsten Ziel geht, das sie zu erreichen vermag. Die Vegetation ist die Region, in der die Reproduktion ganz vorherrschend ist. Daher zeichnen sich die Pflanzen vornehmlich dadurch vor den Tieren aus, dass sich alle Organe, welche die gesamte Organisation erhalten, unmittelbar offenbaren. Alle Eingeweide sind bei den Pflanzen, gleichsam nach außen gewälzt, das Indifferente nach innen. Der Magen der Pflanzen ist ihre Wurzel (schon Boorhave (30) bemerkte, dass Tiere ihre Wurzel in sich tragen), ihre Blätter sind die Lungen und eine Anastomose (31) von lymphatischen Gefäßen zugleich, ihre Blüten sind die Geschlechtsteile. Man hat in neueren Zeiten bedeutende Einwände gegen die komplizierten inneren Strukturen hervorgebracht, die fast alle Naturforscher den Pflanzen zugeschrieben haben. Die Animalisation beginnt, indem die Irritabilität auftritt. Die untersten Tierklassen bestehen aus einer bloßen Gallerte, die fast formlos zu sein scheint. Allmählich wird die Struktur dieser ersten Tiere mehr und mehr zusammengesetzt. Die gallertartige Masse trennt sich, hat jedoch keine vollkommen bestimmte Form. Unter dem Mikroskop weisen einige Infusionstiere (32) eine wunderlich wandelbare und immer variable Form auf – (wie Möllers (33) Proteus polymorpha (34), Volvox Globator (35) und Vorticella rotatoria (36)). Bei den Polypen (37) | ist diese Form schon bestimmter; – es ist eine Ramifika- 67 tion (38). Korallen sind nichts anderes als Polypen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie ein kalkhaltiges Residuum hinterlassen. Die schon erwähnte verzweigte Form herrscht bei diesen, und mehrere Tiere machen, durch das Zusammenwachsen, ein Individuum aus. Genau wie die Individuen auf diese Weise vereint sind, gehen auch die Arten, durch fast unbemerkbare Übergänge, ineinander über, und hier, mehr als sonst im ganzen Tierreich, bilden die Arten zwischen sich eine wahre, netzförmige Ramifikation. Indem sich die Korallen den Conchylien (39) nähern, nimmt die Ramifikation ab, Tubipora (40) macht den Übergang zur Serpula (41), denn hier verschwinden die sternförmigen Öffnungen, die das Charakteristische der Zoophyten (42) ausmachen; und Tubipora unterscheidet sich gerade dadurch von den übrigen Korallen, dass die hohlen, kalkigen Röhren, ohne Ramifikation, bloß nebeneinander aufgestellt sind. Bei Serpula sind diese Röhren schon auseinander gefallen. Was die Infusionstiere und Polypen von den Mollusken (43) und Conchylien unterscheidet, ist: je simpler in ihrer inneren Struktur, 61 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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desto weniger deutliche Individualität bei dem einzelnen Tier, ebenso wie bei den Arten. Eine bloße Gärung reicht aus, um die untersten (Infusionstiere) zu erzeugen. Das bloße Dasein des Polypen legt den Grund zu einer bis ins Unendliche gehenden Vervielfältigung. Ein Polyp sprosst aus dem anderen heraus, aus einem zerschnittenen Po68 lypen werden zwei ganze Polypen. Die Natur, | die hier zu animalisieren anfing, ohne das Individuelle stark und scharf isoliert zu haben, kennt für ihre Produktionen keine Grenzen, nachdem sie erst einmal zu produzieren begonnen hat; – aber die zarte gallertartige Masse verschwindet ebenso leicht, wie sie entstand, und ungeheure Kalkberge, die wie ein Residuum zurückbleiben, zeigen uns die hinterlassenen Spuren des ersten animalisierenden Versuchs der Natur. Mollusken und Conchylien unterscheiden sich vornehmlich dadurch von den erwähnten Tieren, dass sie eine bestimmtere Form haben, und mehrere, obgleich bisher fast unbekannte, Organe. Noch ist die ganze Substanz gallertartig; aber ein jedes Tier existiert für sich. Die kalkhaltigen, röhrenartigen Wohnungen, die bei der Tubipora parallel nebeneinander gestellt sind, sind bei der Serpula auseinander gefallen. Von diesem Punkt an verliert sich die Natur in den wechselndsten Formen. Wie die Individuen sind auch die Arten bestimmter voneinander unterschieden. Indessen ist die Reproduktionskraft (wie bei den Aktinien (44), den Holothurien (45), den Medusen (46)) noch sehr stark und wirksam. Mehrere pflanzen sich auch ohne Paarung fort. Prescianis, Mangilis und Ratjes Entdeckungen (47) zeigen uns schon die ersten Spuren des hervortretenden Nervensystems, als Ausdruck der Sensibilität. Die ganze Klasse der Würmer machen zwei Familien aus. Beide fangen mit bloßen gallertartigen Massen an – die bei den Polypen pflanzenartig vereint sind, bei den Mollusken getrennt, bei diesen 69 sehr simpel sind, | bei jenen mehr zusammengesetzt – beide setzen ihre Formationen fort, bis sich ein kalkhaltiges Residuum zeigt, und es ist mehr als wahrscheinlich, dass (obgleich mit einiger Veränderung) jede Polypenart auch als Koralle vorkommt, jede Molluske auch als Conchylie oder Muschel. Das Auszeichnende bei dieser Klasse ist die starke und bestimmte Trennung des Flüssigen vom Festen. Auf der einen Seite sehen wir eine halbflüssige gallertartige Masse, auf der anderen ein vollkommen totes, anorgisches, kalkhaltiges Residuum. Das ist ein Skelett nach außen, das aber zugleich vom Tier getrennt ist. Es ist dieselbe Trennung, die wir in der anorgischen Natur finden (wo das Flüssige 62 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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immer bestimmt von dem Festen unterschieden ist), welche in der untersten Sphäre der Organisation noch fortdauert – nur, dass das Feste hier weniger kohärent, das Flüssige mehr gallertartig ist. Daher kann man das kalkige Residuum als eine Behausung für das Tier ansehen, obgleich es unwillkürlich durch den organischen Prozess abgesetzt wird. Tatsächlich haben auch viele Naturbeschreiber das kalkige Residuum als Bauten der Polypen und Würmer angesehen, auch wenn diese Tiere, streng genommen, ebenso wenig ihre Kalkhäuser bauen können, wie Säugetiere ihr Gebein. Indessen ist die Übereinstimmung des Skeletts mit den Produkten des Kunsttriebs der höheren Tiere in der Tat auffallend, und verdient, genauer erwogen zu werden. Man findet hier, so wie bei den höheren Tieren, einen deutlichen | Gegensatz zwischen dem Tier und seinem Produkt – aber 70 bei den höheren Tieren ist dieses willkürlich hervorgebracht (ein wahres Kunstprodukt); bei den untersten Tieren ist es dagegen unwillkürlich hervorgebracht, so dass das scheinbare Kunstprodukt mit dem bloßen Skelett zusammenfällt und eins mit diesem ist. Bei den Conchylien bleibt, wie bei den Korallen, ein kalkhaltiges Residuum, fast unverändert, zurück nach dem Tod des Tieres. Jedoch ist die geringe Veränderung, die mit den Conchylien und den Muscheln durch die Verwitterung vor sich geht, d. i. indem die innewohnenden tierischen Teile verschwinden, im Ganzen genommen, bedeutender als bei den Korallen. Die Korallen konstituieren nach dem Tod der Tiere eigene beachtliche Berge. Die Conchylien durchdringen, zugleich mit jenen, die gesamten Bergmassen in den jüngeren Kalkgebirgen; denn wie Würmer und Korallen die geringsten Tierarten sind (πρωτοτυπον (48) der Animalisation –), so sind sie auch in der Erdgeschichte die ältesten. Man kann die ganze Klasse der Würmer als die erste Anlage zur Bildung der Insekten ansehen, und es wird sich mit der Fortsetzung unserer Erzählung zeigen, wie die Stufe, die mit den Würmern bezeichnet wird, sich allmählich derjenigen der Insekten annähert. Eine Folge unseres Gesichtspunkts, demzufolge die Insekten die Spitze der Wurmklasse darstellen, ist der schrittweise und fast unmerkliche Übergang von den Tieren der letzten Klasse zu den Insekten, der es für die Naturforscher so schwer gemacht hat, | bestimmte Unter- 71 scheidungskennzeichen zwischen Insekten und Würmern zu finden. Bei den Würmern herrscht noch ein Streit zwischen der Irritabilität und der Reproduktionskraft. Wir steigen eine Stufe höher. Es ist für mich immer auffällig 63 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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gewesen, dass die Naturforscher die von den höheren Tierstufen so deutlich abgeschnittene Klasse der Insekten nicht, ebenso gut wie die Pflanzen, ein eigenes Reich ausmachen lassen haben. Die Insekten, die auf anderen Tieren leben und sich von ihnen nähren, sind, im Vergleich mit den übrigen, nur wenige, und selbst diese sind fast alle vom selben natürlichen Geschlecht und weichen in der äußeren Form nur wenig voneinander ab. Von diesen Ausnahmen abgesehen, scheinen alle diese Tiere, einerseits losgelassen, andererseits doch an die Pflanzen gebunden. Sie sind freigelassene Blumen, die von einer Pflanze zur anderen schweben. Alle Pflanzen sind mit Insekten besetzt, sie sind durch ihre gegenseitige Ökonomie füreinander so notwendig, dass wir uns ebenso wenig Vegetation ohne Insekten vorstellen können, wie Insekten ohne Vegetation. Ja könnten sie nicht mit umso größerem Recht als fliegende Blumen angesehen werden, da viele Pflanzen nicht einmal befruchtet werden könnten ohne Insekten? Die Natur hat sich bei den Insekten stärker individualisiert als bei den Würmern. Alles, was jene Tiere von diesen unterscheidet, lässt sich hinreichend aus diesem größeren Individualisierungsgrad erklären. Die fast einförmige Gallerte bei den Infusionstieren fing an 72 sich bei | den Polypen in Körner zu teilen. Diese Körner entwickeln sich bei den Mollusken zu deutlicheren Organen. Als diese Veränderung vor sich ging, trennten sich die Individuen, die vormals pflanzenartig vereinigt waren, die Arten isolierten sich deutlicher. Daher nahm die Mannigfaltigkeit der Arten im gleichen Verhältnis mit der Individualisierung zu. Wohl finden wir bei den Insekten noch eine gallertartige Masse; aber die bestimmtere Form der inneren Organe beweist, bei jedem einzelnen Insekt, eine individuellere Bildung. Bei den Mollusken zeigen sich zwar einzelne Organe; aber diese sind verworrener, die Nerven undeutlicher, und die Muskeln treten nur wenig ausgezeichnet aus der indifferenten Masse hervor. Wie viel bestimmter die innere Struktur der Insekten ist, haben uns insbesondere Schwammerdams und Lyonnets Entdeckungen (49) gelehrt. Hier beginnt zuerst, auf eine deutliche Weise, die Trennung zwischen dem Sensiblen und dem Irritablen, d. i. zwischen Muskel- und Nervensystem. Die Sinneswerkzeuge beginnen, wenn auch undeutlich, sich zu zeigen, und die weit mehr ausgebildeten Muskeln beweisen, dass das irritable System bei den Insekten vornehmlich hervortritt. Überhaupt ist das Muskelsystem bei den Insekten das Herrschende, und fast alle 64 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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Nerven verlieren sich in Muskeln (als bloße Bewegungsnerven), und treten nur undeutlich für sich hervor, wie Nerven für die höheren Sinne bei den ausgebildeteren Tieren. Das Rückenmark teilt sich, bei den Insekten, oben in zwei gabelförmige Äste, an | welchen die Augen 73 angesetzt sind, wie Knöpfe. Diese Augen sind nahezu ihr ganzes Gehirn. Je dunkler nun die höheren Sinne sind, desto mächtiger ist der niedrigere Sinn, nämlich das Fühlen, welches eben der einzige Sinn ist, der mittelbar durch die Muskelkraft wirkt, und daher auch nur durch unmittelbare Berührung. – Die Antennen drücken nichts anderes aus als das Maximum der Individualisierung des Fühlens, und der Grund, warum Insekten alleine diesen Sinn haben, ist der, dass keine Tierklasse, in der gesamten Reihe, das Fühlen in dem Grad hat, wie die Insekten. Das Muskelsystem ist das Herrschende bei den Insekten. Seit Lyonnets mit beinahe unglaublicher Genauigkeit angestellten Versuchen, zweifeln wir nicht mehr daran. Die außerordentliche Muskelkraft mehrerer Insekten – welche bei diesen verhältnismäßig weitaus stärker ist als bei irgendeinem anderen Tier – ist hinreichend bekannt. Sie bekunden diese entweder – wie einige Käfer, indem sie schwere Lasten wegschleppen, oder und das vorzugsweise – wie bei den hüpfenden Blattkäfern, Zikaden usw. – indem sie springen. Das Individuellere und Zusammengesetztere in der Struktur zeigt sich also, indem die beiden der Animalisation zugerechneten Kräfte (Sensibilität und Irritabilität) undeutlich hervortreten. Deren gemeinsamer Ausdruck ist vornehmlich das Muskelsystem, das sich hier als irritables System zeigt, weil die Sensibilität sich fast vollständig in der Irritabilität verbirgt. Die Nerven drücken fast ausschließlich ihre Wirkung mittelbar durch die Muskeln aus. | Ein merkwürdiges Phänomen bei den Insekten ist ihre Meta- 74 morphose. Die Würmer gebären, ebenso wie die Säugetiere, lebende Junge; aber aus einem ganz entgegengesetzten Grund. Alle Tierbildung – auch bei den vollkommensten Tieren – beginnt mit einer gallertartigen Masse, und die Metamorphose ist – im Ganzen genommen – immer größer, je höher die Entwicklungsstufe ist; aber die Würmer bleiben auf der untersten Stufe stehen, und daher durchlaufen sie keine Metamorphose. Schelling hat die vortreffliche Idee geäußert, dass Insekten, bei ihrer Verwandlung vom Ei zur Raupe, durch Puppe zum vollkommenen Insekt, dieselbe Metamorphose durchlaufen wie Pflanzen durch Stängel, Blätter und Blume, indem sie sich abwechselnd zu65 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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sammenziehen und ausdehnen, und dass die Natur bei den Insekten bloß die Brücke hinter sich abwirft, die sie bei den Pflanzen stehen lässt. In der Tat ist nichts deutlicher, als dass das vollkommen ausgebildete Insekt die abgerissenen Generationsteile (50) darstellt. Deshalb ist die Ökonomie der Raupe immer die komplizierteste. – Die Tätigkeit des ausgebildeten Tiers geht selten über den Generationsactus (51) hinaus – und selbst wenn die Kunsttriebe sich äußern, so werden sie zumeist durch geschlechtslose Insekten repräsentiert. Am auffälligsten ist dieses Verhältnis bei den Schmetterlingen. Sie nähren sich, sie bauen, sie arbeiten nur als Raupen. Der Schmetterling hat kein anderes Geschäft als das der Blume. Viele kommen ohne Mund zur Welt, wenn der Generationsactus vorbei ist, so verwelkt 75 diese lebende | Blume, und man kann ihr Leben verlängern, wenn man die Paarung verhindert. Erst bei den Insekten findet man ein deutlicheres Sexualsystem. Würmer sind noch meistens kryptogamische (52) Tiere. Wo wir unter den Insekten Anomalien mit Hinsicht auf die Generation finden, da zeigt wirklich auch die weniger vollkommene Metamorphose, dass die Art den Würmern nähersteht. Dieses ist z. B. mit den Blattläusen der Fall. Die Natur hat eine höhere Individualisierungsstufe erreicht; aber das Tier fällt gleichsam auseinander in mehrere Tiere. Eine höhere Individualität wird alles in sich vereinen. Die individuellere Bildung muss sich durch einen genaueren Konflikt zwischen dem Flüssigen und dem Festen offenbaren – und das ist auch der Fall. Das Residuum des tierischen Prozesses ist nicht mehr ein bloßer Kalk, sondern eine spezifische hornartige Masse. Die tierische Masse selbst ist nicht mehr eine bloße halbflüssige Gallerte, sondern hat sich zu festeren Organen ausgebildet, die sich mit dem Flüssigen vereinigt haben. Das Residuum ist nicht mehr vom Körper getrennt – es ist vielmehr in den Dienst der Organisation getreten. Erst hier – und bei den Würmern, die sich den Insekten nähern – finden wir ein wahres Skelett, eine deutliche Artikulation (53). Man sieht hieraus die Richtigkeit des, von Blumenbach (54) zuerst, angegebenen Unterscheidungszeichen zwischen Würmern und Insekten: dass nämlich die letzten sich von den ersten durch die eingelenkten (55) Bewegungsorgane unterscheiden – und was sind selbst die Antennen 76 anderes als | artikulierte Tentakel? So wie das Residuum höher steigt, wird es auch mehr und mehr von der anorgischen Natur getrennt. Daher sieht man nur selten Insekten unter den Residuen des Erdprozesses – im Gebirge – wo wir doch Korallen und Conchylien in un66 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Vierte Vorlesung
geheurer Menge finden. – Von den vollkommeneren Insekten findet man bloß leichte und schwache Abdrücke, als die hinterlassenen Spuren einer längst verschwundenen Form. Aber das Skelett der Insekten ist ein äußeres. Die Organisation ist, indem ihre ganze Tätigkeit von innen nach außen geht (deren Ausdruck ist die Irritabilität), gleichsam erstarrt. Aber – die individualisierende Tätigkeit geht notwendig nach innen. Eine höhere Individualität wird selbst das Residuum zurückdrängen. Ist aber das Residuum der organischen Tätigkeit ein Skelett, das nach außen gekehrt ist, so kann, weil dieses selbst in den Dienst der Organisation getreten ist, hier nicht die Grenze für die produktive Tätigkeit sein. Diese Grenze kann, wenn die Tätigkeit wirklich nur nach außen geht, bloß ein vollkommen anorgisches Produkt sein – ein Produkt also, das mit der Kalkmasse der Korallen und Conchylien korrespondiert; denn die zentrifugale Tendenz der Organisation endet notwendig als Masse, weil ihre zentripetale Tendenz sich hingegen, wo sie ihr Maximum erreicht hat, als rein individuelle Tätigkeit offenbart, deren Wirksamkeit sich durch den Kampf gegen die Masse äußert. Derartige anorgische Produkte sind nun, wie ich behaupte, die Kunsttriebe der Insekten. | Schelling, der als erster die Idee hatte, dass die Produkte der 77 Kunsttriebe als anorgische Anschüsse (56) nach außen angesehen werden müssen, hat nicht deutlich genug den Unterschied zwischen den Kunsttrieben der Insekten und dem Instinkt der höheren Tiere bestimmt. Buffon, Condillac (57), Reimarus (58) und wer sonst über die Kunsttriebe geschrieben hatte, haben den Unterschied nicht einmal geahnt, den die Natur selbst so deutlich angibt. Das Folgende wird uns lehren, wie viel Aufklärung über die Natur der Tiere sie uns verspricht. Ich will, durch Erfahrung, meinen Satz beweisen: dass die Produkte der Kunsttriebe der Insekten nur anorgische Anschüsse von einer eigentümlichen Mischung sind. Schon einige Würmer, die sich den Insekten nähern, geben einen zähen Saft von sich, in welchem unzählige Sandkörner kleben. Das Bindemittel erhärtet, und bildet mit den Sandkörnern eine sehr feine Röhre. Etwas Ähnliches findet man wieder bei den Raupen der Phryganeen (59), die sich ebenfalls zylindrische Röhren formen, welche aus Gras, Sandkörnern usw. bestehen, durch eine abgesonderte gallertartige Masse vereinigt. Die Raupen der Schmetterlinge, die Spinnen usw. brauchen für ihr Gespinst keine solche fremde Masse; sie haben genug von dem abgeson67 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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derten, zähen, erhärteten und bis zum feinsten Faden verlängerten Saft. Dass hier nichts anderes ist als ein organisches Residuum, muss jeder zugestehen. Aber auch bei den höheren, so sehr bewunderten Produkten des Kunsttriebs, findet dasselbe statt. Kein Insekt sammelt Materialien 78 von mehreren Orten, um sie – | ohne irgendeinen abgesonderten Saft – zu verbinden. Man sieht ein, dass dort, wo dieses der Fall ist, eine reine Tätigkeit das Bindende ist. Unter den Insekten bohrt sich ein Teil in verschiedene Körper ein und verbindet die Materialien (die sie immer bei ihrem Aufenthalt vorfinden) durch einen abgesonderten Saft, was z. B. mit verschiedenen Wespen der Fall ist. Ja selbst die, so oft bewunderten, Ameisen durchgraben die Erde, und befeuchten das Innere ihrer Höhlen mit einem ständig ausgeschwitzten Saft, wodurch sie Konsistenz erhalten. Auch die Smeathonschen Termiten (60) befeuchten sicher die feste Erde, in welcher sie ihre Baue anlegen, denn daraus allein lässt sich die ungeheure Härte der Termitenhaufen erklären. Andere Insekten, z. B. die Bienen, sammeln nicht Baumaterial, wie man fälschlich annimmt, – sondern Nahrung, und sowohl das Wachs als auch der Honig müssen als tierische Exkremente einer eigenen Art angesehen werden. Und was sind denn die bewunderten Produkte des Kunsttriebs anderes, als Anschüsse einer anorgischen, tierischen Masse, die teils eine andere, vorgefundene durchdringt, wie bei den Ameisen und Termiten, und in diesem Fall etwas mehr Willkürliches in ihrer Form zu haben scheint, teils für sich anschießt, und dann mehr regelmäßig – wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf – mehr kristallinisch wird, wie bei den Bienen? Es ist derselbe Fall, den wir bei den Schmetterlingen und den Raupen der Phryganeen fanden; nur sind die Bienenzellen gemeinschaftliche Anschüsse mehrerer Tiere. Sind 79 die Produkte der Kunsttriebe | nichts anderes als anorgische Anschüsse, so können wir uns über ihre Regelmäßigkeit nicht wundern. Sie sind wahre Kristalle, die regelmäßig anschießen, wo sie können; dieses ist aber bloß da möglich, wo die Kristallisation nicht von einer fremden eingreifenden Masse verhindert wird, wie bei den Ameisen und Termiten; aber auch hier zeigt die Regelmäßigkeit der Anlage eine Tendenz zur Kristallisation, die bloß teilweise verhindert wird. Ja selbst bei den Phryganeen-Raupen findet man dieselbe Regelmäßigkeit, nach welcher sich selbst der heterogenste Stoff richten muss. Die Röhren bilden undeutliche sechsseitige Zylinder, deren Ausfüllung die Raupe ist. 68 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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Nichts spricht deutlicher für unsere Idee als der Umstand, dass der Kunsttrieb bei den Insekten (sowohl bei den Raupen, als auch bei den ausgebildeten Ameisen, Bienen usw.) das Äquivalent des fehlenden Geschlechtstriebs ist. Es muss ein Produzieren sein, ebenso wie beim Geschlechtstrieb; »Aber die Bedingung jener produzierenden Kraft ist Duplizität. – Geht sie über das Produkt, so müsste im Produkt eine Duplizität sein, deren einer Faktor außerhalb des Produkts fiele, (was bei der Generation wirklich der Fall ist) – wäre im Produkt keine Duplizität, so könnte die Produktionskraft zwar weiter gehen, aber sie könnte sich nur in Produkten offenbaren, die, bei aller Regelmäßigkeit doch unorganische Produkte wären.«* (61) | Die ganze Insektenklasse wird dadurch charakterisiert, dass we- 80 der der sensible Pol (als Nerven-) noch der irritable Pol (als Gefäßsystem) für sich deutlich hervortritt. Die Sensibilität hat sich rein in die Irritabilität verloren, wie bei den Pflanzen in die Reproduktionskraft. Die ganze Klasse ist die Welt der herrschenden Irritabilität. Die höhere Welt, in welche wir jetzt hineintreten, beginnt still, wie die, die wir verlassen haben. Offenbar tritt die Natur bei den Fischen und Amphibien wieder zurück. Es ist eine Kontraktion, die notwendigerweise auf die ungeheure Expansion folgen musste. Die unterste Stufe enthält lauter Wassertiere. Die Fische sind in der sensiblen Welt dasselbe, wie die Würmer in der irritablen, und die Tiere leben wieder im Wasser, – das Element, welches den Keim zu allen Entwürfen der produzierenden Natur zu enthalten scheint. Selbst die nächste Stufe ist nur halb vom Wasser getrennt, und Frösche sind erst Fische, bevor sie Amphibien werden. Fische und Amphibien haben eine höhere Individualisierungsstufe erreicht. Es ist bekannt, dass sowohl das Gefäß- als auch das Nervensystem bei ihnen stärker hervortreten; aber die Respiration und mit dieser das zirkulierende Fluidum (62) sind nicht so ausgebildet. Die Sinne sind weit deutlicher als bei den Insekten. Die Struktur der Individuen ist mehr zusammengesetzt, die Arten sind bestimmter voneinander getrennt, ja selbst die Klassen sind durch eine stark abweichende Form getrennt. | Naturforscher, die sich 81 so oft fast unwillkürlich zu so manchen Schritt getrieben fühlten von einer dunklen Ahnung eines inneren Zusammenhangs zwischen allen Phänomenen der Natur, die sie sich selbst kaum zu erklären ver* Schellings Entwurf. Seite 196.
69 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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mochten, nahmen auch, obgleich alles gegen ihre Behauptung zu sprechen schien, einen schrittweisen Übergang von einer Form zur anderen an. Donati (63), und mit ihm ein großer Teil der jetzt lebenden Naturforscher, stellte sich vor, dass die Tierarten ineinander übergehen, wie die Fäden in einem Netz. Bonnet (64) und mehrere glaubten, dass alle Tiere durch einen schrittweisen Übergang eine geradlinige Reihe bilden. Wer glauben kann, dass bloß der Nutzen, den sich die Naturforscher aus solchen Hypothesen für die Methodologie der Naturbeschreibung erhoffen könnten, sie dazu bringen könnte, selbst dem äußeren Anschein Trotz zu bieten, tut ihnen sicher Unrecht. Es war ein Grund, der viel tiefer lag. Es war eine Ahnung von einer durch die ganze Organisation gehenden progressiven Bildung, einer Vorstellung (die sich niemals abweisen lässt) von einem allgemeinen Schema, nach welchem die Natur selbst bei der scheinbarsten Willkür sich richten müsste, die sie zu vielen falschen Hypothesen verleitete. Es ist allgemein bekannt, wie vollständig alle Versuche, die Tiere netzförmig oder nach der Linie zu ordnen, misslungen sind und wie auffallend sie das Erzwungene und Künstliche verraten; denn was kann wohl künstlicher und unnatürlicher sein, als der Übergang vom fliegenden Fisch zum Vogel, von der Fledermaus zu demselben Tier, | von Manis (65) und Dasypus (66) zu Lacerten (67). Wenn man auch 82 nicht leugnen kann, dass diese Tiere auf die Punkte hindeuten, in welchen sich die Klassen einander annähern. – Aber ist denn der Gedanke selbst, der jenen Versuchen zugrunde lag, wirklich zu verwerfen? Geht nicht eine bildende Kraft verbindend durch alle Gestalten? – Man müsste versuchen, die Diskontinuität der Formen aus einer Kontinuität in den Funktionen selbst zu erklären. Die komparative Physiologie war schon seit Langem auf dem Weg, eine Kontinuität der organischen Funktionen zu finden. Kielmayer bewies sie, und doch scheint es, als ob die Physiologen noch immer Bedenken hätten, sich einer so herrlichen Entdeckung zu bedienen, die ihnen ihre Wissenschaft, fast gegen ihren Willen, aufdrängt. Nach unserer Ansicht ist die Diskontinuität der Formen der höheren Tiere absolut notwendig. Diese Formen bilden keine gerade Reihe, auch nicht irgendein Netz. Die letztgenannte Vorstellung, die wohl etwas Richtiges an sich hat, gilt bloß für die unterste Tierstufe, – gilt hier nicht allein für die Arten, sondern ebenso für Individuen; aber stellt die Animalisation auf der untersten Stufe ein Netz dar, so werden die Fäden in diesem Netz mehr und mehr voneinander getrennt. Je höher die Tiere stehen, desto größer und auffallender ist 70 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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diese Trennung, und jetzt entstehen allmählich nicht allein verschiedene, voneinander getrennte Gattungen, sondern auch natürliche Klassen – wie verschiedene Welten, in | welchen sich die Natur versucht. Gerade weil das, was bedeutungsvoller hervortritt, die zentri- 83 petale Tendenz der Natur ist, war es notwendig, dass die äußeren Vereinigungspunkte der Klassen zurücktraten, nachdem die Formen der Animalisation individueller wurden. Die Gattungen sind stärker voneinander getrennt, die Struktur der Individuen ist komplizierter; aber die Metamorphose ist auch anders. Hier finden wir nicht mehr jene Trennung der Verrichtungen, wie bei den Insekten, wo das Tier sich nährt, tätig ist nur in der ersten Epoche der Verwandlung, aber sich bloß paart in der letzten. Hier ist dagegen die Metamorphose viel mehr zurückgedrängt, und das vollkommen ausgebildete Tier ist zugleich das tätigste. Amphibien stehen höher als die Fische; denn einige – Frösche z. B. – sind erst Fische. Dass Fische und Amphibien individuellere Bildungen sind, sehen wir schon daran: dass das Residuum des Bildungsprozesses in das Innerste der Organisation zurückgedrängt ist. Hier erst sehen wir ein wahres inneres Skelett, aber nur ein unvollkommenes. Das Skelett der Fische besteht aus Knorpel, das der Amphibien aus sehr spröden Knochen. Dass dies der erste Versuch der Natur ist, das Residuum zurückzudrängen, ist klar; denn das Absetzen der toten Masse nach außen hat noch nicht aufgehört. Fische haben, außer ihrem Knorpel im Innersten des Körpers, noch Schuppen, und viele (wie die Chondropterygii (68)) eine harte schildbildende | Bedeckung. Die Amphibien haben gleichfalls, fast alle, Schuppen oder eine schildbildende 84 Bedeckung. Man hat bis jetzt nicht begreifen können, warum Amphibien und Fische, die doch offenbar eine höhere Entwicklungsstufe als die Insekten einnehmen, gar keine Spur von Kunsttrieben zeigen. Nach unserer Ansicht ist das begreiflich; denn wenn selbst das abgesetzte Residuum in die Mitte der Organisation zurückdrängt, wie könnten dann jene Produkte, die eine vollständig nach außen gehende Tendenz aufweisen, sich hier zeigen? Über die Organisation hinaus können von jetzt an ihre Produkte selbst nicht mehr gehen; denn die Tendenz der Organisation geht offenbar nach innen, und was über die Organisation hinaus geht, kann bloß reine Tätigkeit sein, die nicht unmittelbar in ihrem Objekt erstirbt, vielmehr ein Substrat außer sich sucht. Von jetzt an erst erwacht recht deutlich die Macht der Organisation, die der äußeren Welt einen Abdruck ihres inneren Lebens 71 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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aufzwingt. Diese Macht begann sich freilich schon bei den Insekten zu zeigen; aber sobald sie über die Organisation hinausgeht, verliert sie sich gänzlich in einem unwillkürlichen Produkt. Hier erst zeigt sich eine reine Tätigkeit als solche. Das ist das erste Erwachen der Natur nach einem langen Schlummer. Die ersten Tiere der sensiblen Welt zeigen die Stufe, von welcher an die Natur ihre ganze Tendenz nach innen wendet; daher treten die einzelnen Funktionen der Organisation deutlicher hervor, daher wird es schwieriger durch äußere Kennzeichen die verschiedenen | Wege 85 zu entdecken, welche die Natur in den verschiedenen Klassen verfolgt. Selbst die unvermeidliche Rückkehr zur anorgischen Natur findet sie von nun an in der innersten Mitte des Körpers. Jetzt erst tritt die Produktivität der Natur hervor, als eine reine Tätigkeit, und äußert ihre Macht stärker und stärker, je mächtiger sie hervortritt. Das ist der wahre Unterschied zwischen dem Kunsttrieb der niedersten Tiere und dem Instinkt der höheren. Der Instinkt zeigt die erste unvollkommene Anlage zum völligen Erwachen der Natur, die erste Anlage zur Vernunft. Die auffallende Trägheit und Aponie (69) bei den Fischen und Amphibien ist von nun an begreiflich. Sie bezeichnet die erste, unvollkommene Regung des erwachenden Instinkts. Man muss, um meine Ansicht voll und ganz zu erfassen, und um mich nicht falsch zu verstehen, einen Unterschied machen zwischen der organisierenden Tätigkeit und der Organisation. Die erste, durch welche die Organisation erst entsteht, geht notwendigerweise nach innen; denn die individuelle Existenz durch ein inneres Prinzip und Organisation sind vollkommen dasselbe; aber daher nicht die letzte. (70) Die ganze Tendenz der Natur bezweckt Organisation, und die erste Anlage zum Organismus finden wir bereits, wie die fortgesetzte Untersuchung uns zeigen wird, in der anorgischen Natur. Durch diese organisierende Tendenz entstanden die Stufen der Animalisation vollkommen blind und unwillkürlich. Diese höheren oder niederen Stufen der Animalisation entstanden, d. i. es wurde der Grund gelegt zu einer Tätigkeit, | die sich innerhalb ihrer bestimmten Grenzen auf 86 sich selbst zurückwendet, beständig sich selbst reproduziert. Diese Tätigkeit geht immer nach innen – um ein Individuum zu produzieren; aber sie geht auch über das Produkt hinaus, findet ihre entgegengesetzte (und selbst in diesem Gegensatz homogene) Tätigkeit außerhalb von sich – Sie geht nach außen, um die Gattung zu produzieren. Dass diese über das Produkt hinausgehende Tätigkeit eine höhere ist, 72 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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zeigt die Natur selbst; denn – der Geschlechtstrieb ist noch immer ungewiss bei den niedersten Tieren, fehlt höchstwahrscheinlich ganz bei den niedersten, tritt zuerst recht deutlich bei den Insekten hervor, veredelt und erhöht die vollkommeneren Tiere, reißt sich fast ganz von der Masse los, und erhebt sich – in das Physische gekleidet, wie in einem ätherischen Gewand – schwebend, als Liebe über die gesamte Natur. Denn das Leben ist eine Pflanze, und das Allerschönste und Herrlichste in der Welt sind ihr Stängel und ihre Blätter und ihr Kelch – aber Liebe ist die göttlichste Blume aller Blumen, Amors und Psyches ewiger Kuss, die wahre Apotheose der produktiven Tätigkeit. Überhaupt kann jede Tätigkeit, die das Geschlecht zum Ziel hat, veredelt werden, weil sie nicht, eng gefesselt, am Produkt klebt. Der Geschlechtstrieb ist also eine Tätigkeit der Organisation, die notwendig nach außen geht. Nachdem die verschiedenen Stufen der Animalisation entstanden sind, ist jede Tätigkeit, Tätigkeit der Organisation. Eine solche ist die Ernährung. Die Organe der Ernährung entstehen | zugleich mit der Organisation; denn das ist das niedrigste und geringste Geschäft 87 der organisierenden Natur. Der wahre egoistische Trieb, der notwendig am Produkt klebt, und der, wenn er herrschend werden könnte, alle Kontinuität in der Natur zerstören würde. Wenn man bei den Polypen keinen Magen entdeckt, so ist das, weil sie ganz Magen sind. Die Ernährung zeigt uns den alles zerstörenden Egoismus des Produkts, welcher, da die Natur sich allmählich veredelt, zurückgedrängt und dem göttlichen Egoismus der Natur untergeordnet wird. Höher ist die Tätigkeit, die darauf hinausgeht, die Art zu erhalten, und – ebenso wie der Geschlechtstrieb, indem er die Art produziert, über das Produkt hinausgehen muss, so muss die Tätigkeit des Organismus, insofern sie darauf hinausgeht, die Art zu erhalten, selbst über das Geschlecht hinausgehen. Aber selbst die Erhaltung der Art – da diese, mit Rücksicht auf das Ganze, ein Individuelles ist – streitet gegen den Egoismus der Natur. Sie muss so lange fortgesetzt werden, bis diese Tendenz, die Art zu reproduzieren, eins wird mit der Tendenz, die ganze Natur zu reproduzieren; erst da hat sie ihre Vollendung, die Harmonie gefunden, die sie suchte. Sie findet sie mit der Vernunft. Die Anlage zu dieser Tendenz, die sich unverkennbar und immer deutlicher durch die ganze Tierreihe regt, ist das, was sich als Kunsttrieb und Instinkt offenbart. 73 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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Aber alle Tätigkeit der Organisation, wenn sie über das Produkt und das Geschlecht hinausgeht – wirkt mittelbar durch | die Sinne. Nach einer trefflichen Bemerkung von Eschenmayer (71), wirkt der 88 Sinn des Gesichts durch den größten Raum in kürzester Zeit – die Größe des Raums nimmt (durch Gehör, Geruch, Geschmack) ab und die Länge der Zeit zu, bis das Gefühl in jedem Zeitmoment nur einen unendlich kleinen Raum durchläuft, d. i. durch unmittelbare Berührung wirkt. Das Gefühl ist also der Sinn, durch welchen wir noch immer am meisten mit der Masse zusammenhängen – (und wirklich offenbart die Masse sich, als solche auch bloß für diesen Sinn). Aber es ist auch der Sinn, der als Erster recht deutlich hervortritt. Er wirkt mittelbar durch die Irritabilität, und hat sich daher bei den Insekten am meisten individualisiert. Mittelbar durch diesen Sinn zeigt sich also die Tätigkeit der Insekten, insofern sie über das Individuum und das Geschlecht hinausgeht (um die Art zu erhalten). Aber dann muss sich diese Tätigkeit notwendig unmittelbar in der Masse verlieren. Dies geschieht bei den Kunsttrieben, und beweist die Tendenz nach außen. Sollte diese Tätigkeit hervortreten als eine solche, so müsste das Individuum ganz von der Masse losgerissen werden, und dies geschähe nur, indem das Residuum der Organisation (durch welchen sich der organische Prozess im anorgischen verbirgt, also in der Masse) in das Innerste der Organisation zurückgedrängt würde; denn nun lässt sich keine Vereinigung mit der äußeren Welt denken, außer durch reine Tätigkeit. Dieses zeigt sich, indem die höheren Sinne, immer deutlicher, hervortreten. Hierdurch trennt die Natur ihre individuelleren Formen | immer stärker von der Masse, und kämpft mit der inneren Macht des Individuellen immer stärker gegen sie, je in89 tensiver die Trennung ist. Wir haben den Punkt gefunden, wo die Anlage zur Vernunft – selbst in der Natur – durch das Erwachen des Instinkts beginnt. Auch hier verfolgt die Natur, indem sie sich dem Gipfel ihrer Produktionen annähert, entgegengesetzte Wege. Auf der einen Seite versucht sie, noch immer das irritable System (bei den Vögeln) mehr auszubilden, und auf der anderen das sensible System (bei den Säugetieren). Hier liegt der Unterschied zwischen beiden, und man kann diesen Satz als das Prinzip für die Physiologie der Vögel und der Säugetiere ansehen. Aber nur indem die Sensibilität hervortritt, schafft die Natur die individuellste Bildung, und daher stehen die Säugetiere auf der höchsten Stufe. Auf der Intensität der Irritabilität bei den Vögeln beruht die voll74 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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kommene Ausbildung der Respirationsorgane. Es ist bekannt, dass die Luft geradewegs bis in das Innerste der Knochen dringt, und daher das Hohle der Federn. Deshalb können Vögel auch – so wie die Insekten, die irritabelsten Tiere – fliegen. Dass die Irritabilität bei den Vögeln mehr ausgebildet ist, lässt sich (wenn wir noch nicht davon sprechen wollen, dass die ganze Physiologie der Vögel dies beweist) auch dadurch zeigen: dass das weibliche Geschlecht bei den Vögeln fast allgemein das stärkere ist. Nun lässt es sich wirklich annehmen, | dass bei den Säugetieren – in specie bei den Menschen – das weibliche Geschlecht das irritablere, das männliche das sensiblere ist. Ein Gegensatz, aus welchem sich wohl all das, was physiologisch das weibliche Geschlecht charakteri- 90 siert, zuletzt ableiten lassen muss. Nehmen wir nun an, das Verhältnis der Irritabilität bei Säugetieren und Vögeln ist umgedreht, so lässt sich daraus erklären, warum das sensiblere Geschlecht bei den Vögeln das schwächere ist, bei den Säugetieren das stärkere, wohingegen das irritablere bei den Vögeln das stärkere, bei den Säugetieren das schwächere ist. Dass die innere Struktur bei diesen beiden Tierklassen komponierter und (je mehr wir uns dem Menschen nähern) desto zusammengesetzter und intensiv unendlicher wird – das ist so bekannt, dass ich Sie bloß daran zu erinnern brauche. Aber die geringere äußere Metamorphose zeigt auch deutlich eine individuellere Bildung. Das ganze Leben der Insekten ist nur Metamorphose. Ihre letzte Verwandlung ist der Übergang zum Tod. Bei den Amphibien und Fischen sind die Verwandlungen zurückgedrängt in die Kindheit. Ihr Leben beginnt erst vollkommen, wenn das Tier ganz ausgewachsen ist. Bei den Vögeln durchläuft das Tier Verwandlungen im Ei, bei den Säugetieren im Mutterleib. Die Verbindung zwischen dem toten Residuum und dem lebenden Stoff (man gestatte mir diesen uneigentlichen Ausdruck hier zu gebrauchen) ist gleichfalls enger. Der Wurm setzt eine Kalkmasse ab, welche er, als eine | völlig anorgische Last mit sich schleppen muss – Bei den Insekten ist das Skelett schon eine eigentümlich artikulierte hornartige Masse – aber doch nach außen, bei den Amphibien und Fischen halb zurückgedrängt. Die Knochen der Vögel sind hohl; aber 91 ihre Bedeckung ist eine wahre Vegetation geworden. Die Säugetiere haben mit Mark gefüllte Knochen, ihre Bedeckung ist einfacher. Der Mensch hat das vollkommenste Skelett, die geringste und einfachste Bedeckung. Der Mensch kommt nackt und hilflos zur Welt – so lau75 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
tete die allgemeine Klage über die Natur – und gerade dieses ist seine größte Zierde. Der Mensch hat eine ganze Welt gegen sich, aber dafür offenbart sich auch eine ganze Welt in seinem Innersten. Alles ist beim Menschen zurückgedrängt. Das ist die zentripetale Tendenz der Natur, die sich durch ihn offenbaren will. Von nun an ist er auf sich selbst verwiesen, und jeder, der für sich selbst steht, seinen ganzen Wert in sich selbst begründet, ist die individuellste Bildung und der wahrhafteste Mensch. Ich will mich nicht länger bei dem Instinkt der Vögel und Säugetiere aufhalten. – Es ist gewiss, dass sie einer äußeren Masse den Abdruck ihres inneren individuellen Lebens durch reine Tätigkeit aufzwingen und das umso stärker, je mächtiger der Instinkt ist. So tritt die Natur, durch immer stärkere Individualisierung dem Reich der Intelligenzen näher, und alles, was sich dort zeigt, liegt, als eine dunkle Anlage in der bewusstlosen Natur. – Auch in der | intelligenten Welt bildet die schaffende Natur Schranken, die jedem seine Grenzen anweisen. – Was in der Natur der Geschlechtstrieb ist, wird hier als Liebe verherrlicht, was in der Natur die Ernährung ist (ein 92 Produkt des Egoismus) wird hier Glückseligkeitstrieb, was in der Natur der Instinkt ist (insoweit es zur Erhaltung der Art wirkt), veredelt sich in der intelligenten Welt zur Moralität, welche die ganze Art und zugleich die ganze Natur umfasst.
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Fünfte Vorlesung
Fünfte Vorlesung | Wir entdeckten, in der vorangegangenen Stunde, einen bedeutungs- 93 vollen Zusammenhang zwischen allen Formen der Animalisation. Die ganze Tierreihe verwandelte sich für uns zu einer allmählich erwachenden Intelligenz, deren Gipfel und Zentrum, deren Höchstes und Tiefstes der Mensch war. Aber selbst Tier- (und Pflanzen-)Reihen lassen sich auf überraschende Weise mit den ungeheuren und toten Massen der anorgischen Natur verbinden. Es ist uns möglich, den Keim zu dem glühenden und wechselnden Leben, das sich, immer herrlicher, durch alle lebenden Gestalten offenbart, selbst im scheinbar bedeutungslosen Residuum der Natur zu zeigen. Dies ist die Absicht unserer gegenwärtigen Betrachtung. Die Erdarten, so wie die Chemie uns mit ihnen bekannt gemacht hat, bilden zwei Reihen, die einander offenbar entgegengesetzt sind. Das Gegensätzliche sucht sich in der ganzen Natur und daher ist der Affinitätsgrad das Maß für die Intensität des Gegensatzes. Je größer der erste, desto stärker notwendig der letzte. Die Erdarten, die auf diese Weise einander entgegengesetzte Reihen bilden, sind: auf der einen Seite: Kalk, Baryth (72), Strontian (73) – | wir werden diese Reihe 94 Kalkreihe nennen – sie geht über in Laugensalze –; auf der anderen Seite Kiesel (74), Ton, Cirkon (75), Glucine (76) usw. – wir werden diese Reihe Kieselreihe nennen – sie geht, wie die theoretische Kombination bewiesen hat, durch einige Zwischenglieder über in Öle. Beide Reihen sind durch bestimmte Kennzeichen voneinander getrennt. Der Talk (77) scheint zwischen beiden zu stehen. Diese Reihen, mit denen uns die Chemie bekannt gemacht hat, finden wir wieder deutlich getrennt voneinander in den ungeheuren Massen der Gebirge. Um dieses vollständig zu verstehen, ist es notwendig, dass wir uns mit der Struktur der Gebirge im Allgemeinen bekannt machen, so wie Werners herrliches Genie sie entdeckt hat. Das Nachfolgende (78) beinhaltet nichts anderes als völlig ausgemachte und unbezweifelbare Sätze aus Werners Geognosie.* Die ursprünglich flüssige Masse unserer Erde trat ruhig und allmählich zurück. Sie hinterließ, bei dieser schrittweisen Senkung, ein
* Die weitläufigere Vorstellung und alle chemischen und physischen Beweise der Sätze, die ich hier vortrage, finden sich in meinen oben genannten Beiträgen &c.
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Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
festes Residuum (die hinterlassenen Spuren der ersten Kontraktion der flüssigen Masse). Dass dieses Residuum wirklich durch eine ruhige Senkung der flüssigen Masse abgesetzt wurde, beweist seine innere Struktur klar und deutlich. Das älteste Präzipitat (79) – der Kern aller 95 Berge, die am höchsten steigen und | zugleich am tiefsten gehen, ist eine ganz und gar kristallinische Masse. An dieser Masse sind andere Gebirgsarten, von schiefriger Textur, so hingelagert, dass bei den großen Gebirgsmassen alle Schieferblätter parallel gehen, und ein und dasselbe Streichen und Fallen(80) haben. Diese Gebirgsarten liegen rund um den ältesten Niederschlag herum, aber begannen sich alle niedriger als jener zu erweisen. Die jüngeren schiefrigen Gebirgsarten begannen wieder niedriger als die älteren. Obgleich nun die Extreme dieser Gebirgsarten verschieden genug sind, so gehen sie doch, mit fast unmerklichen Nuancen, ineinander über. Das Ganze bildet also eine, allmählich veränderte Masse mit immer abnehmendem Niveau, und dient als Grundlage für alle späteren Niederschläge. Über dieses erste, älteste Residuum haben sich nun ungeheure Massen hingegossen, die es bedecken. Das Abweichende in ihrem Ablagerungsverhältnis sowie die Tatsache, dass diese Massen auf einmal mehrere jener ruhig abgesetzten Massen bedecken, beweist, dass sie durch ein, auf jene ruhige Senkung folgendes Steigen der flüssigen Masse niedergeschlagen sind. (Die ersten Spuren der auf die erste allmähliche Kontraktion folgenden Expansion der flüssigen Masse.) Jenes Steigen brachte die erste Spur von mechanischen Niederschlägen in die, ansonsten vollkommen chemische, Urzeit, indem die schon niedergeschlagenen Massen zerbröckelt und als Konglomerat wieder abgesetzt wurden. Wie gewaltsam jene Epochen gewesen sind, sehen wir schon daran, dass beträchtliche Massen der schon abgesetzten | 96 Gebirge – vermutlich indem die flüssige Masse plötzlich zurücktrat – wieder zerstört und fortgerissen wurden. Nur einzelne Kuppen, von größerem oder kleinerem Umfang, blieben zurück, die uns das ruhige älteste Präzipitat unter ihnen und das Verhältnis der über die älteren, hingegossenen Massen zu diesen erkennen lassen. Nach dieser Epoche sank die Masse wieder, und das hinterlassene Residuum näherte sich – indem das Mechanische überhandnahm und durch die hinterlassenen Versteinerungen der organischen Geschöpfe (die hier das erste Losreißen der isolierten Organisationen von dem allgemeinen Organismus zeigen) den jüngeren Epochen auf der einen – und durch das abnehmende Niveau der Urzeit auf der anderen Seite. Diese Gebirgsmassen verlieren sich in der Tat auch, auf der einen 78 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Fünfte Vorlesung
Seite in der Urzeit, auf der anderen Seite in der Flözzeit. Es sind die sogenannten Übergangsgebirge Werners. Nach dieser Zeit finden wir nur Lager (81), die einander meist horizontal bedecken. Das Mechanische bei den Präzipitaten nimmt immer mehr überhand. Mehrere Phänomene, vor allem die Bedeckung mit Wäldern, beweisen uns, dass die flüssige Masse öfter gestiegen ist, wodurch sie gegen die überhandnehmende Senkung kämpft; denn dass das Wasser doch – im Ganzen genommen – immer sinkt, ist unbezweifelbar. Gegen Ende der Epoche, die nach den Übergangsgebirgen folgt, finden wir ein Residuum einer gewaltsamen Expansion der flüssigen Masse, die alles bedeckt, obgleich hier, wie in der Urzeit, | beträchtliche Teile der schon abgesetzten Masse zerstört 97 und fortgerissen wurden, indem das Flüssige plötzlich zurücktrat. Diese ganze Periode ist die Flözzeit. Was wir später finden, ist nur das Resultat partieller Überschwemmungen; obwohl selbst diese oft weitläufige Strecken bedeckt haben. Sie bilden die aufgeschwemmten (82) Gebirge. Die ursprüngliche – ruhig abgesetzte – Hauptmasse teilt sich allmählich gleichsam in mehrere verschiedene Massen, welche sich durch die in der Hauptmasse vorkommenden Lager andeuten, und immer mehr überhandnehmen, je mehr sich die Urzeit der Übergangszeit nähert. Nachdem diese Trennung einmal vor sich gegangen ist, bilden die dadurch entstandenen Gebirgsarten eigene Reihen, deren Glieder zuweilen bloß zur Urzeit gehören, und nicht über sie hinauskommen, aber auch oft durch alle nachfolgenden Epochen gehen, und sich, obgleich die Glieder immer etwas verändert sind, geradewegs von der ältesten Urzeit bis zur jüngsten Flözzeit erstrecken. Eine solche Reihe nennt Werner eine Formation. Wir wollen uns hier vorzüglich mit den zwei mächtigsten und am meisten ausgebreiteten Formationen beschäftigen, mit der Wernerschen Schiefer- und KalkFormation. Die Schieferformation ist die ursprünglichste. Die Gebirgsmasse, welche sowohl die höchsten, als auch die tiefsten Punkte bildet, ist der Granit, das erste und älteste Glied dieser Formation, das ganz und gar kristallinisch ist. Das nächste Glied ist der Gneus (83), der schon | mehr schiefrig ist; darauf kommt, durch einen allmählichen 98 Übergang, der Glimmerschiefer und der Urtonschiefer.* Dass diese * Es wird für den Leser leicht sein, sich mit diesen wenigen Gebirgsarten bekannt zu machen.
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Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
Gebirgsarten von einer Formation sind, ist evident, wenn man sich ihren auffallenden Übergang ineinander betrachtet. Sie kommen alle gleichförmig gelagert mit abnehmendem Niveau vor, und machen die Hauptmasse des ruhig abgesetzten ältesten chemischen Präzipitats aus. Die jüngeren Glieder dieser Reihe in der Urzeit (der Glimmer- und der Urtonschiefer) nehmen häufig eine talkige Natur an und es scheint überhaupt, vom geognostischen Standpunkt aus, als ob der Talk sich mehr der kieseligen als der kalkigen Reihe näherte. Ein merkwürdiges Phänomen bei den Gliedern dieser Reihe in der Urzeit ist der Kohlenstoff, der deutlich bei zwei Fossilien hervortritt, die im ganzen Lager und in mächtigen Nieren vorkommen – nämlich Graphit (Reißblei) und Kohlenblende (84). Noch mächtiger tritt der freie Kohlenstoff bei dem jüngsten Glied hervor, nämlich beim Urtonschiefer. In der Übergangszeit finden wir den Übergang von dem Urtonschiefer zum Übergangsschiefer, der in seinem Gemenge schon etwas mehr Mechanisches zeigt. Dieses ist noch mehr der Fall beim Grauwackenschiefer, der sich wieder in der eigentlichen Grauwacke, als das erste in der Tat mechanische Präzipitat, oder im ältesten Sandstein verliert. Hier tritt der Kohlenstoff noch stärker hervor. 99 | In der Flözzeit zeigt sich diese in der ersten Periode so mächtige Formation fast bloß mechanisch, und bildet hier den ältesten roten Sandstein, ein Konglomerat aus abgerundetem Kiesel mit Schieferton, und Steinkohlenlager. Dadurch tritt nun der Kohlenstoff noch mächtiger, und getrennter von der Gebirgsart, hervor, und bildet sogar eigene, bedeutende Lager. Die nachfolgenden Lager bestehen ebenfalls aus Sandstein von verschiedenen Lagern. In den aufgeschwemmten Gebirgen kommt endlich das letzte und jüngste Glied dieser Reihe vor, als ein Gemenge von Grus (85), Sand und fettem Ton mit mächtigen Braunkohlenlagern (die sich von der Steinkohle durch weniger Bitumen und eine mehr holzige Struktur unterscheiden), also wiederum mit einer bedeutenden Menge Kohlenstoff. Fast alles, was von dieser Formation in der Flözzeit vorkommt, ist also regeneriert, wieder abgesetzte, klein zerriebene Körner der Masse der Urgebirge, oft durch eine tonige, in Flüssigkeit fein verteilte und aus dieser niedergeschlagenen Masse gebunden. Die Kalkformation tritt in der Urzeit später auf, und kommt hier nur als untergeordnetes Lager im Gneus, Glimmerschiefer und Urtonschiefer vor. Der Kalk in den Urgebirgen hat eine körnige Struk-
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Fünfte Vorlesung
tur. Schon im Urtonschiefer verlieren die Kalklager diese Struktur und werden dichter. In den Übergangsgebirgen zeigt sich der Kalk bei weitem mächtiger und bildet nicht selten eigene Gebirge. Dieser Kalk hat seine kristallinische Textur verloren und hat einen dichten Bruch (86). In der Flözzeit breitet sich diese Formation | weit stärker aus, indem die 100 Koheränz beständig abnimmt. Das älteste Glied in Europa ist ohne Zweifel die Kalkformation, welche die mächtigen Gebirge in Ungarn, Krain (87), Kärnten und der Schweiz bildet. Zum jüngsten Glied gehört unsere Kreide-Formation. Kalkformationen sind am seltensten in der Urzeit und nehmen immer mehr überhand, je jünger die Gebirge werden. Also – Die Kieselreihe (denn ihre Erdarten, Kiesel und Ton, sind das, was die Schieferformation charakterisiert) tritt in den Gebirgen zuerst hervor, macht deren älteste Hauptmasse aus und schlägt sich in der Urzeit bloß chemisch, in der Übergangszeit teils chemisch teils mechanisch, in der Flözzeit fast nur mechanisch nieder – Die Kalkreihe hingegen zeigt sich in der Urzeit nur wenig, tritt stärker in der Übergangszeit hervor, und wird in der Flözzeit die vollkommen Vorherrschende. Die Versteinerungen, die in der Schieferformation vorkommen, sind fast alle von Pflanzen, diejenigen, die in der Kalkformation vorkommen, von Seetieren der unteren Klassen. Soweit das Resultat der Wernerschen Geognosie. Aber man kann diese Reihen länger verfolgen. Kohlenstoff ist das, was vornehmlich in der Schieferformation hervortritt. In ihrem jüngeren Glied zeigt er sich als Steinkohle, in ihrem jüngsten als Braunkohle. Beide sind Residuen einer bedeckten und gestörten Vegetation. Nichts ist gewisser, und alle Umstände der Weise, auf welche sie vorkommen, die deutlichen Spuren der vegetabilischen Struktur, die man so häufig bei den Steinkohlen und | fast immer bei den 101 Braunkohlen findet, beweist das hinreichend. Aber was verhindert, dass wir die Torfmoore, die immer auf Ton- und Sandlager hingelegt sind, immer von Kiesel- und Tonerde durchzogen sind, als ein lebendiges, tätiges, sich noch bildendes Glied jener großen Reihe ansehen? Hier entsteht noch immer das Öl, das sich in den älteren Gebirgen durch Bedeckung und Alter so deutlich verändert hat. Wenn wir einen Blick auf den nördlichen Teil Europas werfen, so finden wir, dass der Harz, das Thüringische Gebirge (88) und das Erzgebirge einen Halbkreis der Urgebirge bilden. In den niederen Regionen dieser Ge81 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
birgsgegenden, oder an ihrem Fuß, finden wir Flözgebirge mit Steinkohle, wo die Flözgebirge aufhören, beginnen die noch jüngeren aufgeschwemmten Gebirge mit Braunkohle, wo diese aufhören, beginnt das Torfland, das beträchtliche Gegenden in Mecklenburg und Pommern ausmacht, die sich auf der einen Seite (gegen Osten) bis nach Preußen hinein ausbreiten, auf der anderen Seite (gegen Westen) einen beträchtlichen Teil von Holstein und ganz Dänemark ausmachen. Also die wahre Fortsetzung der Schieferformation durch die Pflanzen. Auch die Kalkformation hat, wie die Schieferformation, ein sich bildendes Glied. Schon die jüngeren Kalkgebirge scheinen bloß ein Konglomerat von Seetieren zu sein. So unser Seeländischer Kalk (bei Faxe (89) und auf Saltholm), dessen oberste Bedeckung (die Kreidegebirge bei Stevns Klint und Mön) bloß ein reineres chemisches Präzipitat mit selteneren Versteinerungen zu sein scheint. Aber was sind 102 die | Korallenbänke, die in der Südsee so weitläufig ausgebreitet sind, zur beträchtlichsten Höhe anwachsen, ganze Inseln bedecken, und den Seefahrern oft so gefährlich werden, denn anderes als eine Fortsetzung der Kalkformation durch Tiere, wie die Torfmoore eine Fortsetzung der Schieferformation durch Pflanzen? Die Reisenden erzählen uns Beispiele genug von der unablässigen Wirksamkeit jener gallertartigen Tiere, durch welche das kalkige Residuum unserer Erde so erheblich vermehrt wird. Blumenbach erzählt uns, wie er von Augenzeugen erfahren hat, dass man nicht selten Schiffswracks auffischte, die innerhalb eines Dreivierteljahres ganz bedeckt mit Madreporen (90) und anderen Korallen waren; und derselbe Naturforscher führt nach dem Bericht eines englischen Schriftstellers an, dass der Hafen in Bantam, der sonst vortrefflich war, nun ganz mit Korallen ausgefüllt ist. Unsere Behauptung, dass die Torfmoore eine Fortsetzung der Schieferformation, Korallen der Kalkformation sind, und dass damit die Pflanzen auf eine merkwürdige Weise mit der einen, die Tiere mit der anderen Formation zusammenfallen, erhält eine bedeutende und höchst auffallende Bestätigung durch chemische Versuche; denn diese haben bewiesen, dass das tierische Residuum entweder (wie bei den untersten Tieren, die sich gerade dadurch der anorgischen Natur nähern) vollkommener Kalk ist, oder Horn, dessen Bestandteile mit denen des Kalks übereinstimmen, oder Knochen, der zumindest durch die Analyse Kalk zeigt, dass gleichfalls das Residuum der Pflanzen 103 entweder (wie bei den geringeren | Pflanzen, den Gräsern) ein reiner 82 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Fünfte Vorlesung
Kiesel ist, oder Holz, dessen Bestandteile mit denen des Kiesels übereinstimmen; denn das ist, durch theoretische Kombinationen geklärt, dass Stickstoff den Kalk und die tierische Organisation charakterisiert, dass Kohlenstoff den Kiesel und die vegetative Organisation charakterisiert. Die Resultate dieser Kombination sind folgende. Die ganze durch den Kiesel charakterisierte Reihe, welche die Hauptmasse der ältesten und mächtigsten Gebirge unserer Erde ausmacht, durch alle Perioden geht, durch die öligen Substanzen uns die Überreste einer verschwundenen Vegetation zeigt, sich noch (immer) an die lebendige Vegetation anschließt, als ein lebendiges und wirksames Glied (durch die Torfmoore), zeichnet sich vornehmlich durch Kohlenstoff und Wasserstoff aus, als das Charakterisierende in ihrer Mischung. Die ganze durch den Kalk charakterisierte Reihe, die in den ältesten Gebirgen unserer Erde beginnt, durch alle Perioden geht, auf die Weise, dass sie in den jüngeren mächtiger hervortritt, durch Versteinerungen uns die Ruinen einer verschwundenen Animalisation aufzeigt, noch immer sich an die lebendige Animalisation anschließt, als ein lebendig sich produzierendes Glied (durch die Korallenbänke), zeichnet sich vornehmlich durch Stickstoff und Wasserstoff aus, als das Charakterisierende in ihrer Mischung. Es ist erwiesen, dass in dem eigentlichen Lebensprozess gar kein wahres chemisches Produkt vorkommt. Was wir kennen, als ein solches Produkt, ist entweder | von der Organisation im flüssigen Zu- 104 stand abgesondert, oder in der Organisation abgesetzt, als ein festes Residuum. So entstehen die – ihrer eigentlichen Mischung nach uns chemisch unbekannten Knochen bei den höheren Tieren – und der Kalk bei den geringeren, so entsteht das, uns gleichfalls chemisch unbekannte, Holz bei den vollkommeneren, und der Kiesel bei den geringeren Pflanzen. Durch diese kalkigen und kieseligen Residuen bei den geringeren Pflanzen und Tieren werden diese das Glied, welches die Animalisation mit der Kalk- und die Vegetation mit der Schieferformation verbindet. – Aber was berechtigt uns, die Präexistenz von Kalk und Kiesel in der flüssigen Masse anzunehmen, aus welcher die Gebirge niedergeschlagen sein sollen, da wir diese Erdarten hier ohne irgendeine Präexistenz entstehen sehen? Die merkwürdige Weise, auf welche die Animalisation und Vegetation mit beiden Hauptformationen zusammenfallen, zwingt uns vielmehr, die letzten als die erste organisierende Tendenz der Natur 83 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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anzusehen. Die ganze Schieferformation ist nur das Residuum eines Prozesses, dessen charakterisierender Bestandteil – chemisch – der Kohlenstoff ist. Die ganze Kalkformation ist nur das Residuum eines Prozesses, dessen charakterisierender Bestandteil – chemisch – der Stickstoff ist. Was wir im Gebirge bloß in den Residuen erkennen, das finden wir in einem immer noch wirksamen Prozess, der diese Residuen absetzt. Von jetzt an sehen wir, in den ältesten Gebirgen, nicht nur ein Präzipitat von jenen, in einer hypothetischen Flüssig105 keit | präexistierenden Materien, wir sehen bloß die erste Regung der animalisierenden und vegetativen Tendenz der Natur. Von jetzt an erhalten auch die Versteinerungen eine höhere Bedeutung – sie zeigen uns den Punkt, von welchem aus die bloße Tendenz zur wirklichen Animalisation auf der einen, zur wirklichen Vegetation auf der anderen Seite übergeht. Ja selbst die Natur zeigt diese Tendenz, sich in individuelle Aktionen gleichsam zu zersplittern, schon früher, sogar bevor die Versteinerungen auf das Residuum eines wirklichen, obgleich verschwundenen, Organismus hinweisen. Im Granit finden wir nur sehr selten fremde, in ihm selbst abgelagerte, Gebirgsmassen, im Gneus schon häufiger, im Glimmerschiefer nimmt deren Frequenz zu, am häufigsten sind sie in den Tonschiefergebirgen – Aber zeigen diese Gebirgsmassen nicht, wie das ursprünglich einfache Residuum gleichsam auseinanderfällt in mehrere verschiedene? Zeigt dies nicht eine beständig zunehmende Individualisierung der Prozesse, durch die jene Residuen abgesetzt werden? – Tonschiefergebirge nähern sich den Übergangsgebirgen, und in diesen finden wir die ersten Spuren der Versteinerungen. Bevor ich Ihnen das Herrliche und Bedeutungsvolle in der Weise, wie Versteinerungen vorkommen, zeige, will ich Sie noch auf ein anderes sehr merkwürdiges Phänomen aufmerksam machen, das ebenfalls beweist, dass die Abfolge der Gebirge in der Urzeit und ihre 106 Veränderung eine Tendenz zur Organisation sind. Unter allen jenen | Urgebirgen ist insbesondere der Granit nackt und erlaubt nur einzelnen Moosarten kümmerlich in seinen Ritzen hervorzuwachsen: viel seltener als irgendeine andere Gebirgsart ist dieser mit einer vegetierenden Decke überzogen. Die Vegetation gedeiht besser auf den Gneusgebirgen, noch besser auf den Glimmerschiefergebirgen; diese und die Tonschiefergebirge sind fast immer mit fruchtbaren Äckern, Feldern und Wäldern bedeckt. Was nun die Versteinerungen angeht, so habe ich bereits bemerkt, dass die wahren Versteinerungen oder Abdrücke von Tieren 84 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Fünfte Vorlesung
den Kalkformationen, die der Pflanzen den Schieferformationen zugehören – Aber noch mehr. Die Tierversteinerungen, die man in den ältesten Gebirgen findet, sind Korallen, Schnecken, Muscheln usw. Fischversteinerungen findet man in viel jüngeren Gebirgen; Vogelversteinerungen – so äußert selten sie sind – in noch jüngeren, und fossile Knochen von Säugetieren findet man entweder in den neuesten Flözen oder in den allerjüngsten aufgeschwemmten Gebirgen – Also finden wir in den ältesten Gebirgen Versteinerungen der niedersten Tierstufen; allmählich treten in den jüngeren Gebirgen die Reste der höheren hervor, und bloß in den jüngsten finden wir Versteinerungen von Säugetieren – Also: dieselben Stufen der Animalisation, die jetzt zugleich da sind, sehen wir die Natur wirklich allmählich durchlaufen von dem ersten Punkt aus, der den Ursprung der Animalisation bezeichnet, bis der Mensch das Werk krönt und vollendet. Wenn wir alles bedenken, wer kann da länger daran zweifeln, dass wir berechtigt sind, in der ganzen Kalkformation | eine Tendenz 107 zur Animalisation, in der ganzen Schieferformation eine Tendenz zur Vegetation zu erkennen? Als der erste Punkt des Organismus gefunden war, als der erste Keim zur bestehenden Individualität in die, noch nirgends fixierte, animalisierende Tendenz auf der einen, und die vegetative Tendenz auf der anderen Seite geworfen war, stieg die, jetzt mehr und mehr individualisierende Natur auf eine immer höhere Organisationsstufe, bis sie durch den Menschen den Gipfel aller Individualität erreichte. Meine Meinung ist nicht die längst verworfene Buffonsche, dass alle Kalkgebirge Produkte von Tieren sein sollen. Sie ist vielmehr die entgegengesetzte. Die Kalkgebirge zeigen uns die Residuen der Tätigkeit, durch deren vollkommene Individualisierung erst die Animalisation entstand. Das ungeheure Tier, dessen Skelett die ganze Kalkreihe ist, war gerade deshalb kein Tier, die ungeheure Pflanze, deren Residuum die ganze Kieselreihe ist, gerade deshalb keine Pflanze, weil die Individualität noch nicht in ihr gekeimt hatte. Sie sehen ein, meine Herren! dass das, was ich heute vortrage, auf das Genaueste mit dem zusammenhängt, was ich in der vorherigen Vorlesung in der Natur nachwies. Im toten Residuum der Erde beginnt die Individualisierung, die sich seither von der niedersten bis zur höchsten Tierstufe selbst potenziert. Was war das also, das sich allmählich erhob in unserer Untersuchung, erst die Residuen ordnete, später die Stoffe in zwei entgegengesetzte Reihen, und | diese zwei wieder in ein merkwürdiges 108 Verhältnis zueinander setzte? – Es war der ursprünglich organisie85 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
rende Geist der Natur, der uns ansprach; aber den Schlüssel zu den Geheimnissen seiner Produktionen müssen wir im Innersten unserer eigenen Seele suchen. Denn – sobald wir unsere Zuflucht zu der Naturwissenschaft nehmen wollen, so wie sie ist, so wie sie bleiben muss, solange alle ihre Theorien empirischen Ursprungs sind, wird die Verbindung, die wir entdeckten, die individualisierende Tendenz der Natur selbst, das wunderlichste und unbegreiflichste Rätsel, so verschwindet auf einmal der Geist, der alles zusammenknüpft, und dem einen durch das andere Bedeutung gibt, so bleibt nichts anderes zurück als ein Haufen Fakten, die man jämmerlich durch Fiktionen, die sich selbst widersprechen, zusammenzuleimen versucht. Dieses hoffe ich in der nächsten Vorlesung Ihnen klar beweisen zu können.
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Sechste Vorlesung
Sechste Vorlesung | Ich will beweisen, dass die Naturforscher, solange sie hartnäckig die 109 Empirie als die einzige Grundlage ihrer Wissenschaft ansehen, solange sie nicht vorwärtsdringen zur höchsten Idee, in welcher die Totalität und nicht das Einzelne zuerst gesetzt wird, in welcher das Einzelne seine Bedeutung nur durch seine Verbindung mit dem Ganzen erhält, und durch seine unmittelbare Existenz in der Totalität, nie etwas anderes können, als höchstens ein Problem mit einer größeren Bestimmtheit aufzustellen, es niemals lösen können, nie die innerste, heilige Quelle zu der Gesetzmäßigkeit, welche die Natur unter deren Händen offenbart, schauen können, schon durch ihren Gesichtspunkt, auf ewig ausgeschlossen sind von dem Geheimnis in der Produktivität der Natur. Für den empirischen Naturforscher offenbart sich immer und notwendig das Einzelne als Einzelnes; die Verbindung ist nicht das Reelle, sondern etwas bloß Zufälliges; ja das Einzelne, als solches, existiert wirklich außerhalb der Verbindung. Soll er sich nun, ohne seinen Gesichtspunkt zu verlassen die höhere und bedeutungsvolle Verbindung erklären, die sich ihm durch einen genialischen Blick über das Ganze offenbart, so sieht er sich gezwungen, seine | Zuflucht 110 zu einzelnen Stoffen zu nehmen, um eine Ursache für deren Verbindung vorzugeben, seitdem er die Stoffe und die Verbindung voneinander trennt. Er hat also Stoffe, einzelne Körper, ohne Verbindung und eine Verbindung, die, als solche immer fremd für die Stoffe und eine Ursache ist, die außerhalb von beiden liegt. Zur Penetration von Stoff, Verbindung und Ursache, zum Identischen von Allem, das uns nie ein bloßer Stoff zeigt, zur intellektuellen Anschauung des ewigen Lebens der Natur kommt er nie. Unter seinen Händen verschwindet das Leben für ihn – die Verbindung ist ihm ein Rätsel, die Ursache fingiert, und die Masse allein bleibt zurück, als ein bedeutungsloser Stoff. – Kann das ewige Leben aus diesem toten Caput mortuum (91) entspringen? Kann man sich darüber wundern, dass die ganze Natur eine jämmerliche Mischung aus einer unendlichen Menge Ingredienzen wird, ohne Assimilation, ohne Penetration, lieblos und kalt – und der Maßstab für alle Erklärung die Produkte einer plump analysierenden Kunst? Wir wollen dieses genauer untersuchen. Wie wichtig und bedeutungsvoll sind nicht Werners Entdeckungen; die Blicke, die sie uns in die Struktur der Gebirge eröffnen, die 87 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
Regel, die unveränderlich durch das Ganze geht, die allmählich produzierende Kontraktion (das Lustspiel der Natur) und die alles störende Expansion (das Trauerspiel der Natur), das Verhältnis der Formationen zueinander, die deutliche, klare, unwiderlegbare Anschauung von der Abnahme des Wassers; und die, gleichförmig mit 111 der Senkung des Wassers, | wie aus einer allgemeinen Indifferenz hervortretenden, unendlichen Differenzen? Wie unendlich wichtig die Entdeckungen, zu denen uns Werners Geognosie Anleitung gab? Dieser merkwürdige Zusammenhang der Schieferformation mit den Pflanzen, der Kalkformation mit den Tieren? – Welchen Weg muss der empirische Naturforscher gehen, wenn er diese Verbindung genauer kennenlernen will? – Für ihn verschwindet das Mannigfaltige nie. – In der Flüssigkeit, aus der die feste Masse unserer Erde niedergeschlagen ist, präexistieren, seiner Vorstellungsweise zufolge, all die Stoffe und einzelnen Körper, aus welchen die Gebirge bestehen; deren Verbindung zwischen einander kann er nicht erklären, außer indem er seine Zuflucht zum Experiment nimmt, dass die Natur dazu zwingt, unter seinen Händen zu handeln. Also wird die experimentelle Physik (insbesondere der chemische Teil) Zentrum für all seine Erklärung: aber gesetzt auch, dass die Chemie uns die Verbindung erklären könnte, welche Voraussetzung – in jeder Wissenschaft gleich unzulässig – ist da, wenn nicht die eines Chaos, das eine Menge einzelner Körper beinhaltet, als bedeutungslose Ingredienzen – ein Chaos, das unbegreiflicher ist als die Natur selbst, deren Produktionen es erklären soll? Also verschwindet die große Vorstellung von einem produktiven Geist, der selbst unveränderlich sein ewiges Leben in tausend wechselnden Formen äußert – sie muss verschwinden – und die Empirie entdeckt nichts anderes als eine chaotische Mischung, 112 welche – die genauere Untersuchung wird uns | das lehren – niemals aufhört, dies zu sein, wo wir Gott finden. So wie die Geognosie ihre empirische Rätselauflösung nur durch das Experiment erhält, so ist dasselbe ebenso mit der komparativen Physiologie der Fall, wenn sie auf ihrem empirischen Standpunkt verharrt; denn was Sensibilität und Reproduktion eigentlich sind, wird nicht durch die bloße Beobachtung geklärt. Diese Kräfte zeigen sich als bestimmte Tätigkeitsäußerungen; aber als solche sind sie für die Anschauung mit bestimmten materiellen Massen verbunden, ja diese bestimmte Tätigkeit zeigt sich bloß als solche in und mit bestimmten Massen – Sensibilität ohne Nerven, Irritabilität ohne Muskeln, Reproduktionskraft ohne Assimilationsorgane (92) sind völlig unbe88 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Sechste Vorlesung
greiflich. Nun ist es wohl gewiss, dass sich alle diese bestimmten Tätigkeitsäußerungen zu einer vereinigen, nämlich zu der des organischen, lebendigen Individuums. Nimmt man von dieser bestimmten, einzelnen Tätigkeit (der Lebenskraft) an, dass sie das ursprünglich Bestimmende ist, das sich zu allen Lebensäußerungen wie die Ursache zur Wirkung verhält, so schneidet man mit einem Mal alle Wege zu einer Erklärung ab; denn teils wird das Identische von Ursache und Wirkung, das gerade in dem Begriff der Organisation liegt, dadurch einfach aufgehoben; wenn die Trennung von Kraft und Masse erst gemacht ist, so gibt es für beide keinen Verbindungspunkt mehr und die Idee, sich dem Geistigen unmerklich anzunähern, indem man die Materie immer feiner macht, hat etwas so Lächerliches an sich, dass man sie nicht | zu widerlegen braucht – teils wird diese Lebenskraft 113 das absolut Letzte, also unerklärbar für den Empiriker und er behält nichts anderes als eine dunkle Lebensqualität, die, man weiß nicht wodurch, die Masse verändern und lebendig machen kann. Aber eine solche Annahme ist ohnehin gegen alle konsequente Empirie; denn der höchste Grundsatz der Empirie ist, deutlich gesagt, folgender: durch den Vergleich der einzelnen Phänomene, den Begriff des Ganzen allmählich entstehen zu lassen. Das Einzelne, sich Vorzeigende sind offenbar die Materien, aus denen der menschliche Körper – wie ein Empiriker sich ausdrückt – zusammengesetzt ist. Er muss also – falls er es überhaupt wagt, die organische Natur mit seinen Prinzipien zu erklären, notwendig die Lebenserscheinungen aus dem Konflikt der gegebenen Materien erklären, also seine Lösung des Rätsels in den chemischen Laboratorien suchen, oder eingestehen, dass das organische Leben vollkommen unerklärlich ist. Ein solches Eingeständnis ist die Annahme einer Lebenskraft – und nichts anderes. Das Resultat der vorhergehenden Untersuchung ist folgendes: Ebenso wie die Klassifikation sich zur Reduktion erheben muss, um die Identität der Formen zu finden, so muss der reduzierende Beobachter seine Zuflucht zum Experiment nehmen, um die Reduktion zu begreifen, die sich für ihn ergab. Man sieht leicht ein, dass die Identität der Produkte, auch wenn sie bloß so erhalten werden soll, wie der reduzierende Beobachter sie uns liefert, eine Identität voraussetzt – bei der | produzierenden Tätigkeit selbst, in der sich alle Diffe- 114 renzen verlieren müssen; aber da nun, wie uns die fortgesetzte Untersuchung lehren wird, das Experiment niemals zur Identität aufsteigen kann, so wird die Ahnung von einer ursprünglichen Einheit, zu welcher uns die geognostische Reduktion führt (indem sie uns zeigt, wie 89 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
alle Massen vom Wasser abgerundet sind, und alle Formen aus dieser einen Flüssigkeit emporsteigen, wie aus einer allgemeinen Indifferenz), geradewegs zunichtegemacht und die Reduktion aller Stoffe auf ein gemeinsames Primordialfluidum ist nur illusorisch; denn indem der Empiriker – durch seinen Standpunkt dazu gezwungen – seine Zuflucht zum Experiment nimmt, so fällt jene Flüssigkeit schon ursprünglich auseinander in eine Menge Stoffe, und das eigentliche Problem ist wieder nur weiter zurückgerückt anstatt gelöst. Dass dasselbe mit der empirischen Erklärung der Lebenserscheinungen der Fall ist, lässt sich leicht einsehen; denn das Leben ist immer ein einzelnes, und die Organisation ist bloß dann erklärt, wenn alle Funktionen eins werden, sich ganz in der Einheit selbst verlieren, aber das Experiment haftet, wie wir erfahren werden, notwendig an Differenzen. In der experimentellen Naturforschung müssen wir also den Kern zu aller Naturtheorie suchen, insofern sie ihre Herkunft von der Empirie hat, und wenn bisher die Widersprüche, in welche sich der theoretisierende Empiriker notwendig verwickelt, nicht so stark hervorgetreten sind, so war das nur, weil der klassifizierende und re115 duzierende Beobachter eigentlich als solcher | keine theoretische Frage beantwortet, und, wenn er sie beantworten will, die wesentlichen Momente zu seiner Antwort in der experimentellen Naturforschung suchen muss. Zu diesem, dem zentralen Punkt der empirischen Theorie muss sich also unsere Untersuchung vornehmlich hinwenden, um aus der Natur des Experiments zu beweisen, dass es uns niemals mit dem wahren Wesen der Dinge und der Natur bekannt machen kann, dass, was sie auch finden, dasjenige, welches in der Natur eigentlich Natur ist, ihre Organisation, ihr Leben, ihre tiefste Quelle sich niemals für es öffnet. Das Experiment bezweckt, die Natur unter Bedingungen zu setzen, die sie dazu zwingen, uns nicht nur die bestimmten Produkte ihrer Tätigkeit, sondern auch ihre Handlungsweise bei der Produktion zu offenbaren. Entweder zeigt nun die Natur ihre Wirksamkeit durch bloße Kraftäußerung, ohne äußerlich angeschautes materielles Substrat – und dann ist sie Objekt für die sogenannte experimentelle Physik, oder ihre Handlungsweise zeigt sich als bestimmte Tätigkeitsäußerungen verschiedener Materien gegeneinander; und dann wird sie das Objekt der experimentellen Chemie. Physik und Chemie wurden zwei verschiedene Wissenschaften, 90 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Sechste Vorlesung
indem man die Wirksamkeit der differenten Materien gegeneinander von der allen Materien innewohnenden (immateriellen) Kraft trennte. Die Physik war die ursprüngliche Dynamik der neueren Naturwissenschaft. Da man lange Zeit bei den wenigen dynamischen Sätzen Kepplers und Newtons hängenblieb, | da man sich, durch sie, auf diese 116 Weise in das komplizierte System der Astronomie verwickelte, so drehte sich die Physik lange bloß um die Mechanik der Bewegungen, und man versuchte die herrschende Leere an Ideen mit mathematischen Formeln auszufüllen; man verband mit diesen Untersuchungen die über Phänomene zweideutiger Materialität, wie über Phänomene des Lichts, der Wärme, der Elektrizität und des Magnetismus. Später, als man begann, sich mehr mit den vielerlei Verhältnissen der heterogenen Materien zueinander als mit den bloßen Masseverhältnissen zu beschäftigen, als auch hier die bewunderungswürdigsten Entdeckungen gelangen, trat die Chemie mit dem nicht länger versteckten Anspruch hervor, zumindest die Phänomene der anorgischen Natur theoretisch erklären zu können, und hat in der jüngeren Zeit sogar versucht, das Rätsel der Organisation zu lösen. Die meisten Phänomene, die bisher ein Gegenstand der Physik gewesen waren, wurden in der Chemie, aufs Entschiedenste, materialisiert, und so bildete sich der jetzt herrschende empirische Gesichtspunkt der Natur, der, wenn er konsequent sein soll, notwendigerweise chemisch sein und alles aus einem Wechselspiel heterogener Materien erklären muss. Da nun auf der anderen Seite die dynamische Naturphilosophie gleichfalls mit dem Anspruch hervortrat, nicht nur allein die Masseverhältnisse konstruieren zu können, sondern sogar das innere Wesen aller Phänomene, so wurde die eigentlich sogenannte Physik (93), | 117 die bisher eine unreine Mischung halb aus Spekulation und Experiment gewesen war, vollständig spekulativ, und man weiß jetzt kaum, wo jene Wissenschaft, die noch vor kurzer Zeit eine so große Rolle spielte, abgeblieben ist, weshalb sich auch, zumindest in Deutschland, ein Physiklehrer in einer nicht geringen Verlegenheit befindet, wenn er bestimmt die Grenzen seiner Wissenschaft angeben soll. Man drückt sich immer am richtigsten aus, wenn man, wie in den ältesten Zeiten, die Bezeichnung für die ganze Naturwissenschaft verwendet und bloß die empirische Physik von der spekulativen trennt. Eine Trennung, die den einzigen echten Widerspruch angibt, welcher, einmal als solcher erkannt, niemals zerstört wird. Wohl muss die empirische (wie wir wissen) chemische Theorie, 91 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
wenn sie wirklich Mut genug hat, sich zu einer Art von Spekulation zu erheben, notwendigerweise mit Atomistik enden; man sollte also glauben, dass eine gründliche Widerlegung der Atomistik der richtige Weg wäre, um die empirische Theorie von Grund auf zu widerlegen; aber teils zerstört sich die Empirie dadurch als Empirie – indem sie die Erfahrung verlässt – teils ist die spekulative Atomistik, zumindest in Deutschland, so vollständig widerlegt, dass wohl keiner leichtfertig wagen wird, sie zu verteidigen, teils steht das wirklich scharfsinnige System von Le Sage (94) nur wie ein vornehmes Gebäude im Hintergrund, für welches man wohl allen möglichen Respekt hat, aber wo man, um sich nicht zu genieren, höchst ungern wohnt. Eine Widerle118 gung der Atomistik, die | uns überdies zu weit weg von unserem eigentlichen Weg führen würde, ist daher keinesfalls so notwendig. Ein Chemiker würde uns ohnehin gern zugestehen, die spekulative Atomistik widerlegt zu haben, aber zugleich behaupten, dass das System, welches durch seine Empirie allmählich entstehen soll, vollkommen verschieden von jenem ist, worüber, ehe es in seiner vollendeten Gestalt vorgestellt ist, sich nichts weiter sagen lässt. Die einzige Widerlegung, über welche sie, wenn sie überhaupt der Vernunft irgendein Recht zugestehen wollen, ihr Räsonnement zu beurteilen, nicht umhinkönnen nachzudenken, ist die, durch welche bewiesen wird, dass sie nicht ein einziges, auch nicht das allergewöhnlichste, aufs Genaueste untersuchte und von allen Seiten geprüfte Phänomen erklärt haben, ja von ihrem Gesichtspunkt aus nie erklären könnten. Natürlich geht diese Widerlegung nur auf die Hauptpunkte von deren Erklärung. Wenn es sich nun beweisen lässt, dass jede Erklärung nicht allein misslingen wird, sondern sogar notwendig misslingen muss, so lässt sich doch hoffen, dass sie die Erwartung aufgeben werden, dem innersten Wesen der Natur näherzutreten – und – was das Interesse der Wissenschaft vor allem fordert – sich auf die bloße Erzählung einschränken, indem sie ein für alle Mal auf alle theoretische Erklärung verzichten. Weil ein Lehrgebäude, das widersprüchlich in sich selbst ist, früher oder später notwendig vernichtet werden muss, so 119 ist es wohl keinem Zweifel unterworfen, dass dies auch | mit aller empirischen Theorie der Fall sein wird, aber wer die Hartnäckigkeit kennt, mit der man eingewurzelte Irrtümer verteidigt, wird die Notwendigkeit einsehen, diese Periode näher zu bringen. Eines der augenfälligsten Beispiele, das in Erinnerung zu bringen ohnehin um der Analogie willen hier die richtige Stelle ist, zeigt uns die Ge92 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Sechste Vorlesung
schichte der Astronomie. Es ist bekannt, dass die Astronomen, obwohl jede neue Entdeckung sie durch deren hartnäckiges Beharren auf der ptolemäischen Hypothese in immer größere und unauflösbarere Widersprüche verwickelte, lieber eine Hypothese auf der anderen anhäuften, um die Widersprüche, wenn nicht zu beheben, so doch, so gut sie konnten, zu verstecken, als zu einer neueren Ansicht ihre Zuflucht zu nehmen, die mit Leichtigkeit die meisten Widersprüche behoben hätte, aber freilich war das Herrschende vollkommen entgegengesetzt. Ich habe Sie schon vorhin darauf aufmerksam gemacht, meine Herren! dass der empirische Naturforscher, ohne seinen Standpunkt zu verlassen oder, wie es wirklich bei der Masse und Zentrifugalkraft der Fall ist, einzugestehen, dass er die absolute, unübersteigbare Grenze der Empirie gefunden hat, keine bloße Tätigkeit, keine reine Kraft annehmen kann. Die entschiedene Überzeugung hiervon brachte sie dazu, so viele Phänomene zu materialisieren; auf diese Weise wurden die Phänomene des Lichts, der Wärme, der Elektrizität, des Magnetismus aus ebenso vielen differenten Stoffen erklärt, und obwohl sie | eingestehen mussten, dass sie keine Beweise für die Mate- 120 rialität dieser Phänomene hatten, so schien sie doch diese bloße Hypothese besonders zu trösten und ihnen alles begreiflicher zu machen. Es lässt sich kaum denken, zu wie vielen Absurditäten die Naturforscher hierdurch verleitet wurden. Sie konstruierten das Licht aus Strahlen, die entweder immer unendlich nah aneinander liegen müssen, also realiter keine Strahlen waren, oder bei der geringsten Divergenz eine Abwechslung aus Licht und absoluter Dunkelheit geben mussten, was die deutliche Kontinuität des Phänomens zunichtemacht. Sie mischten Licht und Wärme miteinander wie Säuren und Alkali. Sie verbargen vor sich selbst die Absurdität, in die sie die angenommene Materialität des Lichts verwickelte, wenn sie diese Hypothese mit der Wirkungsweise des Lichts bei durchsichtigen Körpern verglichen. Denn ein durchsichtiger Körper ist dies in jedem Punkt bis ins Unendliche, und besteht nicht aus einer Menge Poren und undurchsichtigen Atomen – eine Hypothese, die uns die deutlichste Anschauung der Kontinuität der Durchsichtigkeit abspricht, das also, was wir klar erschauen, um die grundlosesten Fiktionen an die Stelle zu setzen; aber wenn das Licht ein Stoff ist, der die durchsichtigen Körper durchdringt, dann muss, wie Schelling so richtig bemerkte, der Körper in jedem Punkt porös sein, eine bloße Pore also, 93 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
gar kein Körper folglich. Um zu erklären, wie Wärme durch die Rei121 bung zweier Körper entstehen kann, wo sie | also vorher nicht war,
nahmen sie mit der größten Naivität, außer den vielen chemischen Eigenschaften, die sie der Wärmematerie zugeschrieben hatten, noch ihre bloß mechanische Verbindung mit den Körpern an, und dass sie durch Reibung aus diesen herausgepresst werden könnte, wie Wasser aus einem Schwamm. Sie kümmerten sich hierbei nicht um die deutliche Erfahrung, die ihnen zeigte, dass der Körper erstens eine unversiegbare Quelle von Wärmestoff zu haben schien, und noch so oft gerieben, durch jede neue Reibung ebenso viel Wärmestoff gab wie vorher – zweitens, dass der Körper, nachdem die Wärme ausgepresst war, nicht mehr Wärmestoff aufnahm als vorher, d. i. seine Wärmekapazität nicht veränderte. Sie haben Ventile in den Magneten gesehen, die sich öffneten und schlossen, und die erdichtete magnetische Materie in entgegengesetzten Richtungen herausließen. Sie sahen, was kein vorurteilsfreier Beobachter jemals sehen kann, entgegengesetzte elektrische Materien aus den differenten Körpern, die miteinander in Konflikt gekommen sind, herausströmen und sich bei ihrem Ausströmen als positiver und negativer Funke offenbaren. Auch wenn der Funke, wie jeder durch die einfachste Beobachtung lernen kann, in der Luft zwischen den beiden differenten Körpern entsteht und verschwindet, seine ganze Erscheinung verändert, wenn die Luft verdünnt wird, ja sich sogar zur bloßen Phosphoreszenz verwandelt. Auf diese Weise geblendet von zügellosester Phantasie, die sich bloß darin von den wildesten Schwärmereien unterscheidet, dass ihr Fundament der ewige Tod ist und ihre schaffenden, produktiven 122 Prinzipien uninteressante, | formlose Materien sind, legte sie den Grund zu dem ungereimtesten Aberglauben; denn welche größere Superstition kann es, wie Schelling zurecht sagt, wohl geben, als zu glauben, dass diese Dinge, die in der Physik oder der Chemie als Ursachen ausgegeben werden, wirklich diese Wirkungen hervorbringen, was ein wahrer Fetischismus ist. Und was ist in der Tat tödlicher für die wahre Physik als der Gesichtspunkt, von welchem aus man, wenn man Körper sieht, die zueinander gezogen werden und sich voneinander stoßen, sich nicht zu einem ursprünglich bewegenden Prinzip erheben kann, welches das Ganze organisiert, sondern uns dazu zwingt, Materien anzunehmen, die dieses ausrichten – Gott weiß warum und zu welchem Zweck. Ebenso augenfällige Widersprüche, wie die, welche sich bei der Anwendung jener erdichteten Materien zeigten, mit deren Hilfe man 94 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Sechste Vorlesung
die Phänomene erklären will, finden wir wieder, wenn wir die angenommenen Hypothesen für sich selbst untersuchen. Die Schwere von der Materie zu trennen, ist etwas, wozu uns die Erfahrung in keiner Weise berechtigt. Alles, was wir wirklich als Materie schauen, hat eine bestimmte Schwere, die größer oder kleiner sein kann, ja bis zu einem Minimum abnehmen kann; aber nie ganz verschwindet. Alle jenen vorgegebenen Materien sind imponderabel. Nehmen wir nun an, sie hätten ein Minimum an Schwere, so ist dies eine neue Hypothese, für die sie gar keinen Beweis hätten. Bei allen, selbst den leichtesten Körpern, ist doch ein Vergleich möglich, aber zwischen den leichtesten Körpern und jenen Materien, ist eine | verschlingende 123 Tiefe befestigt, die nichts aufzufüllen vermag. Oder sollten die Naturforscher wirklich glauben, dass eine ungeheure Menge Licht, Wärme, elektrische, magnetische Materie, doch zuletzt wohl ihre Schwere offenbaren könnte? Nimmt man an, sie wären absolut imponderabel, so frage ich, ob sie als Materien nicht den Raum füllen? – Aber was den Raum füllt, muss ihn doch wohl mit einem gewissen Grad an Energie füllen, dessen Ausdruck gerade die Schwere ist. Dieser Grad kann so groß oder klein angenommen werden, wie man will; aber er kann nie = 0 sein. Man hat die Grensche Hypothese (95) über die negative Masse der Wärmematerie allgemein verworfen und lächerlich gemacht; aber nicht, wie man glauben sollte um eine, sondern mehrere spezifisch verschiedene Materien anzunehmen, die alle den Raum füllen ohne einen Grad – also eigentlich gar nicht den Raum füllen, beinhaltet in der Tat einen ebenso plumpen Verstoß gegen alle, selbst dem bloß reflektierenden Verstand, notwendigen Begriffe von der Materie überhaupt. Bei der Hypothese um eine Wärmematerie potenziert sich diese Ungereimtheit; denn die Wärmematerie ist nicht bloß imponderabel, sondern auch negativ kohärent. Kann man auch den Begriff der Kohäsion vom empirischen Standpunkt aus nicht deduzieren, so kann man doch über den gegebenen Begriff reflektieren und ihn analysieren. Eine solche Analyse lehrt uns, dass die Kohäsion die Energie ausdrückt, mit welcher ein Körper (mit Rücksicht auf sich selbst) versucht, sich in seinem bestimmten Verhältnis zum Raum zu erhalten. Die Kohäsion kann nun wohl verschwinden (als | absolute) 124 oder (als relative) abnehmen bis zu einem Minimum der Intensität – wie bei den Gasarten; aber eine bestimmte Materie anzunehmen, also eine bestimmte Füllung des Raumes, deren bestimmtes formales Dasein im Raum, darin besteht, alle bestimmte Form zu vernichten; die nicht nur den Raum ohne allen Grad füllt, sondern sogar mit der 95 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
Tendenz, alle bestimmte Raumfüllung aufzuheben; ja, die selbst gerade darum diese bestimmte permanente Materie ist, weil sie aller Permanenz im Raum widerstrebt, ist doch wohl das Widersprüchlichste, das man sich denken kann. Man wende nicht ein, dass der allgemeine Konflikt die totale Zerstreuung dieses Fluidums verhindert, denn der empirische Naturforscher, für den die Materie das einzige Reelle ist, muss sich die spezifisch verschiedenen Materien doch ohne Widerspruch denken können. Und wozu haben alle diese feinen Materien der Physik geholfen? Man behauptet im Allgemeinen, dass Hypothesen einen Experimentatoren leiten können, Anleitung geben können zu nützlichen Versuchen. Ja diese Hypothese über Hypothesen, die sich in der Tat fast noch weniger beweisen lässt als die Hypothesen selbst, ist so oft nachgesprochen worden, bis sie endlich allgemeine Gültigkeit erhalten hat; aber wozu Vorstellungen, die sich auf den ersten Blick als sich selbst widersprechend und sinnlos erweisen, dem Naturforscher helfen sollen, ist fürwahr schwer einzusehen. Dass diese grundlosen Erfindungen fast gänzlich alle Ideen aus der Naturwissenschaft aus125 geschlossen haben, | ist gewiss. Hätte man, ohne eine Hypothese einzumischen, bloß erzählt, was man gesehen hat, so wären wir in vielen Hinsichten weiter. Hätte man z. B. gesagt: unsere Versuche haben uns gelehrt, dass ein Kälteprozess (der die Kohärenz vergrößert) im gleichen Verhältnis parallel geht mit einem Wärmeprozess (der die Kohärenz vermindert), dass diese Prozesse, wenn einer von ihnen die Oberhand hat, so lange wirksam sind, bis ein vollkommenes Gleichgewicht hervorgebracht ist, dass, wenn ein kohärenter Körper in einen tropfflüssigen Zustand übergeht, der Kälteprozess, bis zu einem bestimmten Grad, allein wirksam ist, bevor der Wärmeprozess sichtbar wird; dass, wenn heterogene Körper demselben Wärmegrad ausgesetzt sind, die spezifisch verschiedenen Körper, dieselbe Intensität des Kälteprozesses vorausgesetzt, verschieden erwärmt werden, so dass sich die Kälte für jeden Körper einem anderen Grad nähern muss, wenn der Wärmegrad bei allen derselbe sein soll; dass die Zeit, die verschiedene Körper brauchen, um abzukühlen, d. i. sich zusammenzuziehen, sehr verschieden ist usw., hätte man die Phänomene aufgestellt, mit denen uns die wirklich wichtigen und vortrefflichen Versuche bekannt gemacht haben, mit der Bestimmtheit, welche der bewunderungswürdige Fortschritt der experimentellen Methode zulässt, ohne ein Räsonnement über Ursachen, ohne Hypothesen usw., so würden wir ohne jeden Zweifel einen bedeutenden Schritt weiter 96 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Sechste Vorlesung
sein. Ein solcher Experimentator würde, unbewusst, die richtige Theorie aufgestellt haben, und der wahre Theoretiker würde sich | 126 leichter und schneller orientieren können. Jetzt müssen wir uns durch lange, unbegründete Untersuchungen über Eigenschaften, Wesen usw. der Wärmematerie arbeiten, die ebenso viele reine Widersprüche beinhalten, bevor es uns gestattet ist, aus diesen das reine Phänomen herauszufinden. So entstanden die Vorstellungen von der Verschlingung der Wärmematerie, von den verschiedenen Kapazitäten für diese Materie usw., die alle erdichtet sind. Aber diese prüfenden Hypothesen sollten gerade an die Stelle der allgemeinen Prinzipien treten; denn sie dienen dazu, solche Phänomene zu erklären, die, was uns die Empirie selbst deutlich genug lehrt, einen tiefgreifenden Einfluss auf alle Prozesse der Natur haben. Das Licht ist das belebende Prinzip für die ganze Erde, der Magnetismus durchdringt, wie eine permanente Polarität die gesamte Erdmasse, mit Elektrizität und Wärme schließt und beginnt jeder chemische Prozess. Nun nehme man alle diese Fiktionen aus den physischen Lehrgebäuden weg und frage sich selbst, was dort von der erworbenen systematischen Form übrig bliebe. Indem der empirische Experimentator auf diese Weise alle Kraft und Tätigkeit in der Natur materialisiert, geschieht es – wie man voraussehen konnte – dass er, anstatt der wissenschaftlichen und organischen Einheit näherzukommen, für immer alle wissenschaftliche Form zunichtemacht, trennt, was die Natur für immer vereint hat, und Differenzen statuiert, welche die Natur nicht kennt. Denn wirklich haftet das Experiment notwendig | an Differenzen, und es vermag 127 sich ebenso wenig wie die Beobachtung der wahren Identität zu nähern. Die Natur erkennt keine Theorie des Lichts, der Wärme, des Magnetismus, der Elektrizität. Man kann ohne weitere Prüfung mit Sicherheit behaupten, dass jede Theorie, die diese Phänomene isoliert betrachtet und erklären will, falsch ist. In der Natur entsteht mit einem Schlag, was das Experiment gewaltsam trennt. Man betrachte welchen Körper man will – ein Metall, Eisen z. B. Diese bestimmte Kohärenz, diese bestimmte Schwere, diese bestimmte Undurchsichtigkeit, dieser bestimmte Magnetismus, Wärmekapazität, Fähigkeit Elektrizität zu leiten, Affinität zum Sauerstoff vollkommen als eins angeschaut – ist das Eisen, und jede Trennung ist unnatürlich. Jeder Experimentator muss an den Differenzen haften, denn diese machen die jeweiligen Gegensätze und mit diesen das Experiment selbst mög97 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
lich; aber das Wesen der Natur ist Organisation, d. i. Identität aller Differenzen. Setzt man in der Natur die Differenzen als das ursprüngliche, so wird deren Tendenz, sich wechselseitig zu vernichten, indem sie einander suchen, völlig unbegreiflich – und das ungereimte Unternehmen, diese Tendenz durch neue Differenzen zu erklären – durch erdichtete Materien – macht das Problem permanent, anstatt es zu lösen. Nun sind die Differenzen das einzige, was das Experiment möglich machen kann, es kann sie also nicht verlassen, kann also 128 nicht das Leben erklären, | das bloß durch deren Tendenz, einander zu suchen, ist, kann also nie den Mittelpunkt erreichen, in welchem alles vereint ist, ohne welchen alles getrennt ist. Durch die Duplizität von Magnetismus und Elektrizität öffnet sich die ewige Identität für den Experimentator; aber da bloß jene das Experiment möglich macht, so ist die Identität für ihn verschwunden. Für ihn ist die Welt in Materien und Stoffe auseinandergefallen, er sieht wohl deren relative Verbindung, er kann deren gesetzmäßige Verhältnisse durch jene Verbindungen entdecken; aber das absolute Verbindende in der ganzen Natur, entflieht ihm notwendig. So wie beim Magnetismus und der Elektrizität die Differenzen aus der Identität heraustreten, so verlieren sie sich beim chemischen Prozess wieder in Identität, und wie ewig fremd diese dem empirischen Naturforscher ist, zeigt sich vornehmlich hier, wo sie doch selbst sich ihm als aus Differenzen entstanden offenbart, so dass die Natur, so wie sie sich durch die Duplizität von Elektrizität und Magnetismus für ihn öffnete, durch die Identität, die entsteht, indem verschiedene Stoffe einander chemisch durchdringen, sich wieder gerade für seine Augen schließt. Denn wenn sich Salzsäure mit Mineralalkali zu Kochsalz verbindet, wenn Schwefelsäure sich mit Eisen zu Vitriol neutralisiert, bei jeder chemischen Verbindung, entsteht ein bis ins Unendliche Identisches. Das ist das allgemeinste, bekannteste aller Erscheinungen; aber 129 | welcher Physiker versteht, wie zwei Materien einander durchdringen, sich wechselseitig vernichten, ein drittes in sich vollkommen Identisches bilden können? Auch hier haftet der empirische Physiker notwendig an den Differenzen. Selbst die neuere chemische Nomenklatur drückt bloß diese aus und für den bloßen Chemiker ist in Wahrheit Kochsalz nichts anderes als salzsaures Mineralalkali, das Vitriol nichts anderes als schwefelsaures Eisen, d. i. nicht das, was es in der Natur in Wahrheit ist. 98 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Sechste Vorlesung
Ich kann mich hier nicht auf eine Untersuchung über die vielen falschen Schlussfolgerungen einlassen, welche die Chemiker ständig aus ihren Analysen ziehen; aber Sie werden leicht einsehen, dass sie falsch sein müssen, da sie sich auf der Voraussetzung von einer Zusammenstellung aus Differenzen gründen, in welcher diese fortbestehen. Wir werden, in der Naturphilosophie selbst, die Gelegenheit erhalten, diesen Gegenstand genauer zu untersuchen. Die Idee, die allein die Differenzen in der Identität und die Identität in den Differenzen fassen kann, beinhaltet den Schlüssel zu aller Naturtheorie und ist nie auf einem empirischen Grund entstanden. Die absolute Identität aus allen Differenzen ist, wie die Freiheit in der intelligiblen Welt, das ewig Vorausgesetzte, das nie verstanden wird, wenn es nicht ursprünglich angeschaut wird, und ohne welches die in der äußeren Anschauung gegebene, abgeleitete Identität der einzelnen (selbst anorgischen) Körper, in welcher die äußeren Differenzen sich verlieren, wie in einem Abgrund, niemals begriffen wird. Daher vermag die Empirie | sich bloß durch eine Approximation ins Unend- 130 liche scheinbar der wahren Theorie nähern, aber kann nie den Mittelpunkt selbst, die Urquelle allen wissenschaftlichen Lichts, erreichen. Ja der empirische Naturforscher kann nie wissen, wie weit er sich dem wahren Mittelpunkt genähert hat, und ist notwendigerweise in einer ewigen Dunkelheit, bis er ihn wirklich erreicht hat, d. i. er sich als Empirie vernichtet hat. Wohl ist es wahr, dass jedes Phänomen die Unendlichkeit der Natur beinhaltet, die auch darin erkannt werden kann; aber diese Unendlichkeit des Endlichen ist das wahre identische Zentrum selbst, in allem Einzelnen dasselbe – überall für den, der sich ursprünglich in den Mittelpunkt gestellt hat, nirgendwo für den, der außerhalb von diesem ist. Ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, dass eine Theorie, die falsch ist, sich selbst widersprechend in ihren Prinzipien, schief in der Anwendung, selbst bei den gewöhnlichsten Phänomenen, nie benutzt werden kann, um das Leben der Natur im Großen zu erklären – dass sie tödlich wirken muss auf jede große Ahnung, die der reduzierende Beobachter erwecken kann – Und was die Anwendung der Chemie angeht, um das organische Leben zu erklären – brauche ich wohl an mehr zu erinnern, als daran, dass der Konflikt, in welchen jedes organische Teil durch das chemische Experiment gesetzt wird, total verschieden ist von dem, der durch das organische Leben unterhalten wird? Wie kann man von der Wirkung einer organischen Materie nach außen, auf chemische Reagenzien, ohne den gewaltsamsten 99 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen 131 Sprung, | deren Wirkung nach innen auf das organische Zentrum
erklären? Und schließlich – man vergleiche unsere physischen und chemischen Theorien mit der ewigen Natur selbst – man verlasse die chemischen Laboratorien, um die Erdkugel und ihr Leben zu überschauen. Die Sonne glüht im Mittelpunkt der Planeten, das Licht umfasst mit ewigem Glanz alles Lebendige, die ganze Erdkugel scheint eine Blume zu sein, die ihre vielfarbigen Blätter öffnet, ihr Leben am Tage ausatmet und sich nachts schließt, die Wärme ist ein ewiger Wechsel von Expansion und Kontraktion, zwischen welchen alles oszilliert, der Magnetismus hat die ganze Erdkugel durchzogen und weist stillschweigend zu einer heimlichen Regel, die Elektrizität öffnet und schließt das momentane Leben des chemischen Wechselspiels, die Luft, immer veränderbar, und in aller Veränderung immer dieselbe, der wunderliche Hauch der Erdkugel, wird eingeatmet, gebunden, wieder gelöst und umschließt alles. Das Wasser – das Indifferente, Formlose, aus welchem alle Form entstanden zu sein scheint, zirkuliert, immer wogend, zwischen dem Festen. Inzwischen gärt die bereits niedergeschlagene, anorgische Masse (das abgesetzte Skelett der Erdkugel) mit dem letzten Funken von Leben, noch flammend unter dem Äquator. Ein ewig wechselndes Leben, einförmiger unter den Polen, bunter, glühender unter dem Äquator, strömt mit steigender Energie heraus – und mitten in diesem bunten Gewimmel erhebt sich allmählich durch alle Gestalten ein mystisches Zentrum, immer 132 tiefer und tiefer verborgen im | innersten Wesen der Gestalten, in welchem es sich deutlicher offenbart, trennt sich das Einzelne vom Ganzen und wird ein Ganzes in sich selbst, die isolierte Organisation wird vollendeter; die Energie, mit welcher sie gegen die Masse kämpft, wird gewaltiger, die Abdrücke, die sie ihr aufzwingt, bedeutungsvoller. Schließlich erwacht, mit der individuellsten Schöpfung, der unsichtbarste, heiligste Mittelpunkt der Natur – die Vernunft. Selbst die Masse wird durch sie veredelt und Kunst und Poesie können Gestalten produzieren, höher, edler, unendlicher, bedeutungsvoller als die Natur selbst. Vermögen wir die Sonne zu erkennen, die alles erhellt? Können wir die ewige Grundfeste erkennen, durch die alles fest und gewiss und evident ist, ohne welche alles wackelt, unbegreiflich entsteht, verschwindet, ohne verstanden zu werden?
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Siebente Vorlesung
Siebente Vorlesung | Ich muss Sie noch einmal daran erinnern, meine Herren!, was ich 133 bereits früher gesagt habe, dass das, was ich jetzt vortrage, keine Philosophie, sondern eine Einleitung ist. Ich will versuchen, Ihnen einen höheren, bedeutungsvolleren Begriff vom Leben und Dasein zu geben. Aus einem solchen höheren Begriff entspringt die Philosophie, wie aus ihrer eigentlichen Quelle. Ich hoffe, dass Sie, wenn ich mit der Einleitung schließe, einsehen können werden, wie sich die ganze Betrachtung auf ein großes Problem konzentriert – dessen Lösung – ist es überhaupt einem Sterblichen gegeben, ein derartiges Problem zu lösen – das Bestreben der Philosophie ist. Ich beginne heute, die Geschichte zu betrachten, wie ich in der vorigen Stunde die Natur betrachtete. Dort sahen wir einen Geist, der die ganze Natur durchzogen zu haben schien, dessen Ideen sonderbar durch Gestalten zu uns sprachen. Sollten wir jemals seine heimliche Sprache verstehen können? Alles Einzelne trägt dort das Gepräge des Ewigen. Lebendig, beweglich, veränderlich, und in den vielerlei Veränderungen immer derselbe, erhebt sich ein ursprünglich freier Geist, arbeitet sich durch die mäandrischen Krümmungen der Natur – die Masse | selbst, das Materielle scheint die halbdurchsichtige Decke 134 dieses Geistes zu sein, oder richtiger, sein ewiges Organ – und die Geschichte ist seine ewige Offenbarung. Wie die ursprünglich nie geknechtete Freiheit keimend zu erwachen scheint mitten in der unveränderlichen Notwendigkeit der Natur, so scheint umgekehrt eine ewige Notwendigkeit die Freiheit der Geschichte zu bedecken, ja zu überschatten. Die Freiheit der Vernunft in der Notwendigkeit der Natur wiederzuerkennen; die Notwendigkeit der Natur in der Geschichte wiederzuerkennen, ist die philosophische Aufgabe. Kein Dasein eines vernünftigen Wesens kann isoliert gedacht werden. Es setzt, als solches, eine Wechselwirkung mit unzähligen anderen voraus. Vernünftige Individualitäten sind nur in ihrem wechselseitigen Konflikt zu verstehen. Eine höhere Individualität kann sie alle umfassen und das auf die Weise, dass der Begriff der einzelnen Individuen sich vollständig in jenem höheren Individualitätsbegriff verliert. Eine derartige individuelle Gesellschaft ist die Bürgergesellschaft, die notwendigerweise ein bestimmtes individualisierendes Prinzip in sich beinhaltet. Ausdruck für ein solches größeres Individuum ist eine Nation. Aber eine Nation, insofern sie ihren spezifischen Charakter hat, kann nicht ohne den Konflikt mit mehre101 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
ren gedacht werden. Der Ausdruck für diesen höheren Konflikt ist die Geschichte. Wie das Dasein des einzelnen Menschen eine Reihe von Ereignissen ist, deren innerliches vereinendes Prinzip sein innerstes Wesen selbst ist, so besteht die Geschichte aus einer Reihe abwechselnder Begebenheiten, in welche das einzelne Individuum mit hi135 neinfällt | – und das ganze Menschengeschlecht, die Nationen selbst in ihrem Konflikt, werden durch tausendfache Veränderungen zu einem Ziel getrieben, das keiner kennt. In dieser unendlichen Wechselwirkung, deren innerliches schaffendes Prinzip uns unbekannt ist, wirkt das ganze Menschengeschlecht zwingend auf einzelne Nationen und die Nationen zwingend auf jedes einzelne Individuum. Aber der einzelne Mensch selbst, mit einer Freiheit in seiner Brust, die wohl geknechtet, niedergedrückt – selbst bis zu einem unkenntlichen Minimum – aber niemals ganz ausgerottet werden kann, wirkt mit größerer oder geringerer Kraft zurück auf seine Nation – von seiner Nation auf das ganze Menschengeschlecht. Durch diese Wechselwirkung des Ganzen auf das Einzelne, des Einzelnen auf das Ganze, tritt ein identisches Bild hervor – die Geschichte, welche die ganze Natur voraussetzt, als Grundfeste für alles endliche Dasein, und das ganze Menschengeschlecht als Ausdruck für jene Wechselwirkung selbst. Ausdruck für die Koexistenz des Zusammenwirkens all dieser Individuen in der Geschichte und der Natur ist der Raum – der Ewigkeit beständig ruhendes Bild. Aber das Ganze ist bloß in einer Kette aus abwechselnden Begebenheiten. Ja es ist dieser beständige Wechsel, diese sich unendlich ablösenden Verwandlungen selbst. Der beständige Typus für diese Verwandlungen ist die Zeit – der Ewigkeit beständig bewegliches, fließendes und veränderliches Bild. Der merkwürdige talent- und genievolle Mensch kann nicht als 136 in einer bestimmten Zeit, | in einer bestimmten Nation lebend gedacht werden, ohne dass wir, durch sein eigentümliches Dasein, in seinem ganzen Umfang, voraussetzen müssen, dass die ganze Geschichte just den Lauf genommen hat, den sie genommen hat. Es ist, als ob es die ganze Geschichte darauf angelegt hätte, diesen Menschen zu produzieren, ohne dass man deshalb behaupten kann, dass es ihr Ziel war; so wie in einem organischen Körper, wo das Ganze durch das Hervorbringen jedes einzelnen Teils als wirksam angesehen werden muss. Dass dieses bei den bedeutenderen Menschen der Fall ist, wird wohl jeder zugestehen; denn was ist das Bewusstsein des bedeutenden Menschen anderes als ein größerer oder kleinerer, mehr oder weniger einschließender Typus des Vergangenen, individualisiert durch des102 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Siebente Vorlesung
sen besonderes Wesen? Wäre nun der Teil der Geschichte, der durch Erziehung, durch Wissen, durch besonderes Talent und Instinkt dessen Teil wurde und der, indem er auf eine individuelle Weise reflektiert wird, just dessen – des bestimmten Menschens – Dasein ausmacht, nicht so bestimmt worden, wie er geschah, so würde dieser Mensch nie auf diese bestimmte Weise existiert haben können. Aber man braucht fürwahr bloß genau die Idee erwägen, die wir notwendigerweise von der Geschichte haben müssen, um überzeugt zu werden, dass der beschränkteste, geringste Mensch, dessen Gesichts- und Wirkungskreis so gering ist, wie man ihn sich denken will, nicht als in einer bestimmten Zeit lebend, als dieses bestimmte Individuum vorgestellt werden kann, ohne dass die ganze Geschichte just diesen Lauf genommen hat, den sie genommen hat, obgleich er selbst vielleicht | 137 nie die Geschichte erwähnt gehört hat, oder eine Vorstellung von ihr hat, obgleich seine historischen Kenntnisse vielleicht nicht über die unbedeutenden Ereignisse einiger einzelner Familien in wenigen Generationen hinausreichen, ist er doch selbst – und gerade je beschränkter er ist, desto gewisser, ein Produkt des Grades an Kultur und der Denkweise, die zu dieser Zeit die Masse aus der Nation und den Stand charakterisiert, in denen er lebt – und dass diese, mit welchen er ganz zusammenfällt – ein notwendiges Produkt der ganzen Geschichte sind, brauche ich Ihnen nur zu sagen. So wirkt das Ganze mit zwingender, unwiderstehlicher Notwendigkeit auf jeden und jedes gesetzte Schicksal, die unsichtbare Hand, die das Ganze leitet, an einem bestimmten Punkt, in einer bestimmten Zeit, und ihm Eindrücke und Ideen bereitete, welche ihm, unnachgiebig, unveränderlich, wie die Naturgesetze selbst, sein ganzes Leben hindurch folgen. Keiner vermag aus dem Ring herauszutreten, den Geburt und Erziehung, bestimmt von einem unnachgiebigen Schicksal, um ihn gewunden haben. Dass der große, genievolle Mann, der, wie Caesar oder Luther, über seine Zeit hinausragt, kraftvoll in sein Zeitalter hineingreift, eine schlafende Generation weckt, dessen inneres, göttliches, flammendes Feuer die ganze Masse entzündet, dessen Geist, mit der Kraft der Götter ausgestattet, wie eine unsichtbare Kontagion, Millionen ansteckt, der, wo er hervortritt, diejenigen, die ihn umgeben, gebietend führt, weckt, entflammt – auf die ganze Geschichte wirkt, daran besteht kein Zweifel; aber | man braucht nur genau über den Begriff 138 nachzudenken, den wir notwendigerweise von der Geschichte haben müssen, um davon überzeugt zu werden, dass selbst der beschränk103 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
teste Mensch einen Einfluss auf sie haben muss, obgleich dieser auch, wenn wir auf das Ganze sehen, weil wir das unendlich Einzelne im Ganzen nicht fassen können, gänzlich unmerklich bleibt; denn jede Handlung, deren Grund Freiheit ist, ist der absolute Anfang einer vollkommen neuen Reihe von Handlungen; aber jede Handlung hat ihre Folgen, diese wieder deren Folgen usw. ins Unendliche. Auf diese Weise wirkt das Einzelne wieder auf das Ganze. In der Natur scheint sich ein ursprünglich freier Geist zu offenbaren, obgleich das Einzelne notwendig ist, umgekehrt geht dagegen ein notwendig bestimmendes Schicksal, wie eine unsichtbare Hand durch die ganze Geschichte, obgleich das Einzelne frei ist. Oder gibt es keine Notwendigkeit in der Geschichte? Keinen ewig unveränderlichen, keinen beständigen Plan? Ist die ganze Geschichte eine planlose Anhäufung von Ereignissen? Ein ewiges Wirrwarr aus Verbrechen und Blutvergießen? Kann das Dasein und die Bestimmung des einzelnen Menschen groß und bedeutungsvoll sein, wenn die ewige Evolution des ganzen Menschengeschlechts ohne Sinn ist? Offenbart sich kein Gott in dem ewigen Wechsel? Diese Verbindung aus Notwendigkeiten in dem Ganzen, obgleich die Freiheit des Einzelnen gesichert werden muss, mit der Freiheit bei jedem einzelnen Individuum, obgleich die Notwendigkeit bei 139 dem Ganzen gesichert werden muss – ist das eigentliche Problem | der Geschichte. Weil die ganze Geschichte just die Spur zu jenem Plan zeigen muss, der durch das Ganze hindurch geht; die Freiheit dagegen bloß auf das innerste Gemüt des einzelnen Individuums geht, und doch zugleich den Zentralpunkt aller philosophischen Forschung enthält, will ich hier nur versuchen, Sie auf das Planvolle im Lauf der ganzen Geschichte aufmerksam zu machen. So wie die niedersten Tiere keine Kindheit haben, so haben selbst die edelsten keine Geschichte. Ihre Geschichte fällt mit der Erdgeschichte zusammen. Ihre Wanderungen, die Überreste der großen Tiere in den nordischen Gegenden, von verschwundenen Tieren, bezeichnen die eigenen Epochen der Natur. Der Mensch hat eine Geschichte. Alles Vergangene liegt fertig vor uns. Der Geist, die Handlungen, welche die verschwundenen Zeiten auszeichneten, werden unsterblich erhalten, bewahrt von einer Gottheit, von einer Generation zur nächsten, und die besonderen Abdrücke der Zeitalter auf die Masse liegen wie Gebirgslager übereinander in den Gegenden, wo die Geschichte sich abspielte; denn das ganze Menschengeschlecht hat nie 104 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Siebente Vorlesung
an der Geschichte teilgenommen, so wie unter den Tieren nur wenige an der höchsten Entwicklung teilgenommen haben; es ist, als ob von einzelnen Orten her die ewige Sonne des Menschengeschlechts brannte, während die übrigen in ständiger Dunkelheit lebten. Mit den Göttern beginnt alle Geschichte. Hinter aller Geschichte liegt Mythologie; das ist ein Faktum, das niemand leugnen kann. Man nenne diese mythologische Zeit, wie man will, die fabelhafte, die rohe, | die Kindheit des Menschengeschlechts, Ausdrücke, die immer 140 beweisen, dass man eine Zeit zum Maßstab für die andere macht, unsere Zeit insbesondere zum Maßstab für all die anderen – dieses Faktum steht unverrückbar. Es ist, als ob alle Geschichte mit dem unmittelbar hervortretenden Glanz des Ewigen begänne, als ob alles, was jener herrlichen Periode am nächsten liegt, an dieser Herrlichkeit des Ewigen teilnähme. Der edelsten, vortrefflichsten Nationen Ideen von der Gottheit herabzusetzen, zu den allerelendsten und flachsten Absurditäten, allen höheren Sinn ihrer Religiosität wegzunehmen, um danach ihr eigentümliches Wesen erklären zu können, kann jedem zugestanden werden, nur keinem Philosophen. Ihm ist, unter allen möglichen Widersprüchen dieser der härteste, dass das glanzvollste Dasein auf einem Fundament der Unvernunft gebaut sein könnte – und kein Philosoph hat jemals daran gezweifelt, dass die Quelle alles Daseins die Religiosität ist. Außerdem ist es nicht meine Absicht zu erklären, sondern zu erzählen. Die Reinheit der Erzählung lässt keine Einmischung von irgendeiner Voraussetzung – welche auch immer – zu. Wir müssen die älteste Zeit nehmen, wie sie sich selbst zeigt, nicht wie wir glauben, sie verstehen zu müssen. Das mythologische Zeitalter, auf das ich Sie hier kurz aufmerksam machen will, ist das uralte orientalische, die Mutter der griechischen Mythologie; denn abgesehen davon, dass die orientalische Mythologie den Keim für die nordische enthalten dürfte, die sich erst in einer späteren Periode in der Geschichte zeigt, so scheint sie | selbst 141 – wie der höhere Sinn des Menschengeschlechts, ihr mit Bewusstsein schauendes Auge, von einem von Gegend zu Gegend beweglichen Punkt aus zu sehen. Hier, in der bedeutenden Linie, in welcher der glänzende Punkt sich bewegt, müssen wir die tiefe Spur zum Sinn der Geschichte finden. Der Ausdruck für die Periode der Götter ist die reinste, klarste Poesie, ihre Sprache – uns immer nur halb verständlich – Allegorie. Um 105 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
Ihnen doch leidlich eine Anschauung davon zu geben, was wir durch die Allegorie verstehen, frage ich: Was ist es, das die Gestalten der Götter in der alten Kunst verherrlicht? Was bewirkt, dass wir, sobald wir einen Apollo, eine Venus sehen, bekennen müssen, dass sie Götter sind, keine Menschen; bekennen müssen, wenn wir einen Herkules schauen, dass es der siegreiche Heros ist, wenn wir Laokoons Gruppe (96) schauen, oder Niobe (97), dass sie Verwandte der Götter sind, die ein unnachgiebiges Schicksal niederhielt. Wenn wir – mit dem Sinn für die Kunst, durch welchen sie allein ist, ohne welchen eine Gipsfigur in unseren Gärten und die alten Kunstprodukte gleich große Bedeutung haben – die stillen und hohen Gestalten der Götter sehen, so ist es, als ob all das Herrliche, das wie ein einzelner Klang in der Geschichte des Menschengeschlechts tönt, zersplittert bei allen, fast verschwunden bei den meisten, als ob das Heiligste, das sich bloß in einzelnen seligen, aber vorbeieilenden Momenten stückweise in unserem Leben äußert, wie eine tiefe und göttliche Erinnerung an 142 eine herrliche Existenz – für sich hervorträte – der freigelassene | Gott – und uns durch die ewige Gestalt harmonisch entgegen strahlte und tönte. Wenn wir den leidenden Laokoon sehen, die unglückselige Niobe, so fährt ein Schauer durch unser Innerstes, ein Schauer, ganz verschieden von dem Mitleid und der Anteilnahme, die wir bei anderer Menschen Unglück äußern. Es ist nicht der Schmerz Laokoons, der mit seinem ganzen Geschlecht untergeht, dem tödlichen Schlangenbiss mit seinen Söhnen entgegen strebend, es sind nicht Niobes Tränen und Versteinerung durch das Elend ihrer Kinder – es ist die Schlange, die sich um das ganze Menschengeschlecht gewunden hat, es ist die Anschauung der ungeheuren Masse, die versteinernd dem ganzen Geschlecht zu drohen scheint, es ist die Anschauung des tiefen Unglücks des endlichen Daseins, die wie eine Ahnung, wie ein Wurm an jedem nagt, sich in einzelnen Momenten erhebt – und welche die Menschen unserer Zeit, denen Seligkeit und ungeheurer Schmerz gleich fremd sind, so selten fühlen – es ist die grauenhafte Tragödie des Geschlechts, welche anzuschauen die herrlichere Generation – der Freude der Götter teilhaftig – den Mut hatte. Alles, was auf diese Weise zersplittert, als Freude oder Schmerz, sich undeutlich und einfach bei allen erhebt, bei jedem, in einzelnen schnell verschwindenden Momenten, das scheint in der Kunst, und ebenso in der alten Poesie, zu heiligen Bilder konzentriert – und diese Bilder, die uns in ihrer größten Individualität alles zeigen – diese Ge106 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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stalten, die eine unendliche Sprache zu enthalten scheinen, diese Wörter, die uns ewige Gestalten zeigen – machen aus, was | wir Alle- 143 gorie nennen. Eine solche allegorische Bedeutung scheint alle vernünftige Existenz zu Beginn der Geschichte gehabt zu haben. Aber diese Periode scheint sich mehr oder weniger hinter einer nachfolgenden verborgen zu haben, die wir die heroische nennen. Was jenes Zeitalter insbesondere auszeichnete, war die merkwürdige Identität dessen, das wir seither als Wort und Handlung trennen. In lebendige Handlung war alles ausgeprägt, was wir jetzt durch das Wort suchen, alle Revolutionen und Entwicklungen der Natur, alle Mysterien der Religion. Das Leben selbst, frisch, wie es aus der Gottheit entsprang, hatte unmittelbar die Bedeutung, die wir jetzt nur ahnen. Daher waren all ihre Vorstellungen lebendig. Keine Spur zu dem zersplitternden Tod, der in neueren Zeiten Wissenschaften und Poesie und, durch sie, selbst die Religion so monströs gemacht hat. Es ist bekannt, dass die ältesten Völker sich das ganze lebende Universum als ein einziges beseeltes Wesen vorstellten, das mit unendlich verschiedenen Gliedern auf das Mannigfaltigste sich rührte und bewegte; dass heilige Sagen merkwürdige Fragmente der Bildungsgeschichte der Erde bergen; dass viele Mythen der orientalischen und nordischen Urvölker, in den tiefsinnigsten Bildern, die Metamorphosen der Natur bewahren; dass viele sonderbare Kenntnisse (wie z. B. in der Astronomie, in der Metallurgie), die wir nicht ohne tiefe Einsichten erklären können, ja oft nicht ohne Bekanntschaft mit den kunstvollsten erst in unseren Zeiten erfundenen Instrumenten, uns davon überzeugen, dass | auch da, wo die Allegorien und Bilder unverständ- 144 lich sind, diesen etwas weit Tieferes zugrunde liegt als willkürlich erfundene Träumereien. Es ist gewiss, dass das ganze Leben des frühesten Menschengeschlechts Religion war, dass all ihre Vorstellungen und Handlungen eine unmittelbare Rücksicht auf das Ewige hatten, kurz: dass sie, wie auch einer der herrlichsten und tiefsinnigsten Griechen (98) über sie sagt, unter allen Menschen den Göttern am nächsten waren. Daher scheint die Natur, obgleich auf eine der gegenwärtigen Physik unbegreiflichen Weise, ihnen ihr Heiligstes geöffnet zu haben, und viele Allegorien und Mythen jener Zeit scheinen den eignen höchsten Orakelspruch der Natur über ihr innerstes Wesen zu enthalten. Daher war ihr Leben selbst bedeutungsvoller, alle Leidenschaften höher, alle Gestalten edler. Ja edler, obwohl ihnen der oberflächliche Schimmer und nichtssagende Tand unserer Zeit fehlten; unsere Wörter, die mit der Gestalt ihre eigentlichste Bedeutung ver107 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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loren haben und alles erklären, außer das, was allein der Mühe wert ist zu verstehen, unsere Wissenschaften, welche die Natur für uns geschlossen haben, und unser Dasein selbst sinnlos machen. Der Ausdruck für die heroische Zeit war noch poetisch, ihre Sprache metrisch, harmonisch, gestaltvoll – Epos. Sollte Wolfs Entdeckung (99) über die Sammlung von Gedichten, die wir unter Homers Namen haben, historische Bedeutung erlangen, so muss die Idee, die sie weckt, erweitert werden. Nicht allein der Zug nach Troja und dessen Folgen, nicht allein die Odyssee, auch der Zug der Argonauten, dessen ganze 145 Geschichte doch | außerdem in dem untergegangenen Orphischen Epos besungen wurde, auch die tragische Geschichte der argivischen Könige, der Pelopiden, der thebanischen Könige, von welchen uns Aischylos und Sophokles Fragmente hinterlassen haben, dramatisch behandelt, müssen wir als Glieder des großen griechischen Epos ansehen. Ein solches Fragment ist dann auch Homer; aber so herrlich war dieses Zeitalter, dass selbst seine Fragmente kunstvoller und in sich geschlossener scheinen als die vollständigste Geschichte der späteren Zeit. Ein Epos zu schreiben ist daher ein wahres Missverständnis und bleibt es in alle Ewigkeit. Das vermag nur die Geschichte selbst zu produzieren durch ein poetisches, episches Zeitalter, und dessen hinterlassener Klang ist das einzige wahre Epos selbst. In der späteren griechischen Periode trennten sich Wort und Handlung, die in den früheren untrennbar vereinigt waren. Handlung, als das körperliche Äußere des ganzen Geschlechts auf der einen Seite, fixierte sich als prosaische Geschichte. Das Wort, das geistige Innere des ganzen Geschlechts auf der anderen Seite, fixierte sich als prosaische Wissenschaft und Reflexion. Aber man braucht nur einen flüchtigen Blick auf dieses noch herrliche Zeitalter zu werfen, um zu finden, dass die Wissenschaft, sowie die Geschichte ihren Kern und noch erkannten Ursprung in der Religiosität der verschwundenen Zeit hatten. Diese sicherte die höhere Bedeutung in ihren Handlungen, den Mut, den edlen Nationalismus, die Kühnheit und hohen Geist für ihre Helden, die schöne Form und edle Gestalt in ihrer 146 Kunst, den tiefen Sinn in ihrer Spekulation. Noch | hielt sich die Zeit, als das eigentliche Leben wie ein Spiel für eine außerordentliche Kraft war; in lebendiger Erinnerung unter ihnen durch die isthmischen, pythischen, nemeischen, olympischen Spiele. Ihre Jahreszeiten wurden nach diesen berechnet, ihre Länder wurden eingeteilt, Entfernungen gemessen nach den olympischen Stadien. Herodot nennt keinen Helden, ohne uns zu sagen, wie oft er in jenen Spielen gewann. Wie 108 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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unbegreiflich ist uns der Enthusiasmus der klugen, aufmerksamen, weisen Griechen für ihre Athleten? Sie stellten ihnen Statuen auf, sie vergötterten sie; denn sie waren für sie die herrlichen Symbole zu der Zeit, als die endliche Existenz ein Spiel und keine Bürde war, als jede Kraft sich ungehindert äußern konnte, und der Körper selbst das durchsichtige Bild für einen höheren Geist war. Wenn man, mit einer Übersicht über das Ganze, Herodot liest – Vater und Meister aller Geschichtsschreiber – merkt man, dass die unvergleichliche Komposition, die so viele verschiedene Gegenstände, ja die gesamte damals lebende Welt, zu einem Ganzen vereint, nur möglich war durch das merkwürdige Verhältnis zu einem religiösen Mittelpunkt, durch welchen das bezaubernde Licht und die herrliche Klarheit über seine Geschichte kommt, die jeden entzückt. Alles ist von Religiosität bestimmt, von bedeutenden Aussagen der Orakel, fast alle Helden standen in Verbindung mit der epischen Zeit, und Herodot vergisst nicht, uns die Verwicklung der Umstände in jener Zeit zu erzählen, die den gegenwärtigen Streit oder die Vereinigung der Nationen und der Helden hervorgebracht hat. Wie | die Mythologie Hesiods im 147 Hintergrund des Homerischen Epos liegt, so liegt das ganze epische Zeitalter im Hintergrund der Geschichte Herodots. Die platonische Philosophie – Griechenlands edelstes spekulatives Produkt – und sein tiefstes – weist von der Seite der Wissenschaft ebenfalls zu dieser religiösen Quelle, die den eigentlichen Kern der pythagoreischen Schule ausmachte. Der Schlüssel zu den Produktionen der Natur verbarg sich in den eleusinischen Mysterien und der heimlichen Religion der Kabiren auf Samothrake. Alle griechischen Philosophen waren davon überzeugt, dass das Fundament all ihrer Weisheit im Orient gesucht werden müsse, wo diese Weisheit noch als Rest einer herrlicheren Zeit war, daher reisten ihre Philosophen, wie Pythagoras und Demokrit nach Ägypten und zum Orient; und es ist bekannt, dass es Platons wärmster Wunsch war, die Brahmanen in Benares besuchen zu können. Solange der religiöse Mittelpunkt Menschen und Nationen vereint, ihrem Leben Glanz gibt, ihrem Denken Tiefe und ihren Handlungen Bedeutung, kann die Verwicklung der Umstände zwar Streit und Uneinigkeit wecken, ja der Krieg, die notwendige Folge alles endlichen Daseins, wird nie ruhen; aber die bloße Eroberungsseuche wird niemals die Höhe erreichen, auf der die zentripetale Tendenz der Geschichte verschwunden ist. Wo sie dagegen verschwunden ist, werden die Nationen, nachdem sie erwacht sind, ihre Kraft, als die körperliche 109 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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der Masse, nach außen hin, zentrifugal, äußern. Einen solchen Kampf 148 zwischen der | intensiven Kraft eines religiösen Volkes und der exten-
siven eines bedeutungslosen hat Herodot uns bei dem Krieg zwischen Persern und Griechen geschildert. Was vermag die zerstreute, äußere Kraft gegen eine innere? Der Körper gegen den Geist? Aber bei den Griechen selbst sollte er aussterben. Wir haben gesehen, wie das Göttliche von der frühesten Zeit an zurückgetreten zu sein scheint – und in der Tat, das unnachgiebigste Schicksal, das dazu angelegt zu sein schien, das endliche Leben allen Glanzes zu berauben, um auf ein höheres hinzuweisen, legte das Gepräge seines Plans deutlich genug in die alte Geschichte. Bei den Griechen sank die Religiosität; die Philosophie wurde – teils schon bei Aristoteles – schließlich Reflexion, deren Fundament zurückgedrängt war; der ganze Charakter der Zeit nahm eine endlichere Richtung – und Griechenland wurde ein Opfer der zentrifugalen Kraft einer erwachenden Nation. Mazedonien, in der herrlichen Zeit Griechenlands nur wenig geachtet, war wie ein Vorbote der größeren und mächtigeren Nation, deren erobernde Kraft uns den tiefsten Schlaf der Religion, den höchsten Triumph des Endlichen und die traurigste Tragödie der Geschichte andeuten sollte. Bei den Römern war der Verstand das in jeder Hinsicht Hervortretende. Die Religion hatte nie die hohe Bedeutung, wie bei den Griechen und verlor sie immer mehr und mehr; man hatte kaum eine Ahnung von der Tiefe der griechischen Philosophie; der tiefe Sinn in 149 der alten griechischen Mythologie wurde durch Ovid vernichtet, | die historische Bedeutung des epischen Zeitalters war verloren, und Vergil glaubte, einen Epos schreiben zu können. Nur ihre äußere Geschichte, Dichtungen, die zum frohen Genuss des Lebens ermuntern, der Sinn für die alte Kunst – trugen noch das Gepräge der ansonsten fast verschwundenen Herrlichkeit und waren klassisch. – Aber gerade weil der Verstand das Herrschende war, trat die konstruierende Notwendigkeit der Geschichte mit einer Bestimmtheit auf, bei der man erschauert. Durch den Konflikt von Kurien, Zenturien und Tribus entwickelt sich die römische Geschichte mit einer Notwendigkeit, die fast keine Spur von Freiheit hinterließ. Die Geschichte selbst scheint nie weniger frei gewesen zu sein als in der republikanischen Periode Roms; das Bestimmende zeigt sich mit der grässlichsten Deutlichkeit, und gerade deshalb wurde es für Montesquieu und Ferguson (100) so leicht, die Gründe für den Untergang des Römischen 110 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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Reiches, die selbst in seiner glanzvollsten Epoche keimten, darzulegen, und das in der Tat vollständig. Mit den Streitigkeiten der Gracchen über die Agrargesetze erhob sich, durch Sulla, Marius, Clodius, Catilina, Caesar, eine einzige Gestalt, der Welt und der ganzen Geschichte Tyrann und Abgott. Nachdem sie sich erhoben, nahmen Verbrechen und Laster, Irreligiosität und alles, was nur die Realität des Endlichen setzt, immer mehr zu. Es war, als ob der Sinn für das Ewige aus der ganzen Geschichte verschwunden wäre. – Daher wurde zum Zentrum des Menschen, zu seinem Abgott und Teufel, ein endliches Wesen – am Anfang (insbesondere Caesar) eine der kraftvollsten und glänzendsten Gestalten der Geschichte – | die aber im Folgen- 150 den immer mehr ihre tiefe Verderbtheit zeigte. Besonders unter den Cäsaren war die glänzendste Periode der Laster. Alles, was mit Glanz hervortrat, huldigte dem allgemeinen Verderben; alle Energie und Konsequenz schien, in Bund mit dem Verbrechen getreten zu sein; Cicero und Seneca wurden verächtlich durch ihren Wankelmut und ihre Unbestimmtheit. Die Römer nannten wohl Cato den letzten Römer; aber wenn man sieht, wie die ganze römische Geschichte zusammengestoßen zu sein schien, um die Cäsaren zu erheben, wie diese lediglich die höchste Spitze des herrschenden Verbrechens ausdrückten, so kann man mit vollem Recht Nero den letzten Römer nennen – dieses merkwürdige Ungeheuer, dessen grässliche Existenz einen Wendepunkt in der ganzen Geschichte bezeichnet. Es ist merkwürdig, dass das, was in der herrlichsten Zeit der Griechen selbst den größten Helden zur Ehre gereichte, die gymnastischen Spiele, in Neros Zeit zu einer nichts bedeutenden Farce geworden waren, die man den Sklaven überließ, und die den Kaiser ebenso sehr in den Augen des Volkes herabsetzten wie das größte Verbrechen. So vollständig war die Erinnerung an die alte Zeit und deren Herrlichkeit verschwunden. Aber was für eine Entfernung von der ältesten Zeit, was für ein totaler Gegensatz zu ihr? Die Geschichte beginnt mit den Göttern – da hatte das Endliche gar keine Realität – nur was das Gepräge des Ewigen trug – jetzt | war das Endliche des einzige Reelle, und ein 151 endliches Wesen wurde ruchlos und mit dreister Verachtung gegenüber den Göttern aus der ganzen Masse herausgehoben und wie ein Abgott verehrt. Die Statuen der Kaiser wurden an die Seite der Penaten der Römer gesetzt; man opferte ihnen; man setzte sie nach ihrem Tod unter die Götter. 111 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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Die Stellung der römischen Kaiser ist die einzige in ihrer Art. Sie waren nicht allein über eine Nation hinausgehoben – die ganze damals bekannte Welt lag ihnen zu Füßen. Aber der Mensch ist dazu geschaffen mit einer widerstreitenden Macht zu kämpfen – in diesem Kampf, der das Leben ausmacht, liegt der Keim zu aller Tugend und aller innerlichen Herrlichkeit. Ein gewöhnlicher Tyrann – ein orientalischer z. B. wurde doch durch andere, durch Nachbarnationen, eingeschränkt; aber die letzten Cäsaren fanden keine Nationen, die ihnen trotzen konnten. Auf diese Weise allein, ganz allein, herausgehoben aus dem ganzen Menschengeschlecht, im Gegensatz, nicht als einzelner Mensch gegen den einzelnen, sondern als einzelner gegen das ganze Geschlecht, musste das ungeheure Tier, verderbend erwachen. Nero war in seinen ersten Jahren ein vortrefflicher Regent. Es war bekanntermaßen sogar Trajans größter Wunsch, wie Nero in seinen ersten vier Jahren regieren zu können; aber als sein Thron sicher wurde, als die ganze Welt, selbst verächtlich, vor seinen Füßen kroch, erhob er sich, wie ein grimmiges Ungeheuer – flagellum generis humani (101) – dann wandte sich die losgelassene Furie, die Einschränkung und Widerstand bei jedem unterband, zuerst gegen die, welche ihn 152 umgaben; er | mordete Mutter, Bruder und Lehrer; kämpfte gegen die ganze Natur, so dass ihn nichts zufriedenstellte, ohne dass es das Gepräge der monströsesten Unnatur trug. Schließlich wütete er gegen das ganze Geschlecht, presste die Steuern aller Provinzen aus, um sich mit einem nie gesehenen Luxus goldene Paläste zu bauen; setzte die Hauptstadt der Welt in Brand und sang, als sie brannte, mit einer furchtbaren Ironie, ein Lied über den Untergang Trojas, stachelte, von Furien getrieben, das ganze Menschengeschlecht gegen sich auf – bis er, von allen verlassen, mit der grässlichsten Angst, verzweifelt in den Abgrund stürzte, den er sich selbst geöffnet hatte. Mit ihm schließt die klassische Periode Roms. Tacitus beendet seine Annalen mit ihm, Livius kurze Zeit später. Ammianus Marcellinus, Zosimus, Cassius Dio usw. (102) sind die unreinen Quellen, aus welchen wir unser Wissen über die Regierungen Trajans und der Antoniner (103) schöpfen müssen. Mit dem höchsten Abscheu nennt man Neros Namen; ihn zu verachten, wagt man kaum; denn mit entsetzlichen und tiefen Schrecken ist diese Epoche in der Geschichte verewigt. Die Regierungen von Vespasian, Titus, Trajan, Hadrian und der Antoniner bezeichnen die Ruhezeit der Geschichte oberhalb der heftigen gewaltigen Gärung – selbst ohne kraftvolle Bedeutung, so vor112 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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trefflich die Kaiser auch waren. Trajans triumphatorische Epoche diente dazu, die Daker (104), Alemannen zu reizen und die nordischen Nationen zu wecken, welche die herabgesunkene Generation unterjochen werden sollten. | So verschwand die alte, goldene Zeit; das Heiligste wurde ein 153 Mittel für zügelloses Verbrechen; das bunte Gewimmel der Götter verließ die verruchte Erde. Keine Hand vermochte eine göttliche Gestalt hervorzuzaubern; kein heilig entzückter Sänger ließ sich hören – die Orakel schwiegen – die strahlende Sonne der Geschichte schien verloschen. Wo war Rettung für das gesunkene Geschlecht? –
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Achte Vorlesung 154 | Dass das Poetische und Religiöse in der alten Zeit, die ich die epische
nenne, zusammenfallen und eins waren; dass die Vereinigung beider das einzige Überbleibsel des damaligen Lebens ist; dass diese übriggebliebenen Töne – nach denen allein wir den Geist jener Zeit ermessen können – zu einer harmonischen Existenz zeigen, welche selbst dem Endlichen eine unmittelbare Rücksicht auf das Religiöse und Ewige gab, ist ein Faktum – und wir müssen zuerst die reine, unverfälschte Anschauung des Altertums vernichten, bevor wir in der besonderen Existenz unserer Zeit Regeln zu deren Beurteilung finden können. Warum enthält die alte Zeit in den höheren Wissenschaften, in der Poesie, in der Kunst, in der Philosophie alles, so dass wir, wenn unsere Bestrebungen über das tägliche Leben hinausgehen, fast nichts entdecken, das nicht, wie ein heiliger Keim in der alten Zeit liegt? Ist nicht das Schönste, Herrlichste, das unsere Zeit durchdringt, der Sinn für jene alte, verschwundene? Bestimmt nicht die tiefere, klarere Idee von den Alten die Kultur einer Nation? Die Geschichte hat durch die poetischen, philosophischen und eigentlich historischen Meisterwerke ihre herrlichste Epoche ver155 ewigt. | Aber indem eine Epoche verschwinden sollte, zwang sie selbst der Masse das Gepräge ihres individuellen Charakters auf. Die ungeheuren kolossalen Ruinen von Susa, Palmyra, Ninive, Babylon und die Pyramiden in Ägypten zeigen uns die ungemeine Kraft des ältesten Menschengeschlechts. Was kann mehr für den Sinn der Kunst sprechen, als jene Orte im Orient, wo, wie ein tieferes Gebirgslager, die kolossalen Massen liegen, diese, von denen viele, ihrer fast unbegreiflichen Größe wegen, glaubten, sie für eigene Produkte der Natur halten zu müssen, über denen sich die Überreste der griechischen und römischen Zeit mit Moscheen und Behausungen der Mohammedaner mischten – oder Rom selbst. Am tiefsten liegen hier die ungeheuren Kanäle, deren kolossale Größe so wenig zu der Zeit passt, in welche die römischen Schriftsteller ihren Ursprung gesetzt haben, die vielmehr (was auch einige neuere Historiker vermuten) Überreste der älteren saturnischen Zeit zu sein scheinen, mit der uns vornehmlich Dionysos von Halicarnas (105) bekannt gemacht hat. Über diesen Kanälen sieht man die herrlichsten Reste der alten Kunst, und in ihren Tempeln die vortrefflichsten Freskenmalereien der italienischen poetischen Periode. Wer kann die besonderen Zeichen dieser Zeiten mit einem historischen Auge schauen, ohne in ihnen die indi114 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Achte Vorlesung
viduellen Gepräge der verschwundenen Zeiten zu finden? – Allmählich, wie auch die Götter die Erde verlassen sollten, erwachte der Instinkt der Geschichte, ihre Gestalten durch die veredelte Kunst zu verewigen. Die Kunst ist die bedeutungsvolle Chiffre auf dem Sarkophag der Zeiten, | deren, wie durch heimliche Zauberkraft, gefesselte 156 Gestalt, deren Daseins heiligster Kern, der, weil er das Gepräge des Ewigen und Vollendeten trug, die Verheißung von seiner unverwelklichen Unsterblichkeit im Glanz seines Wesens hat. Der neuere Künstler ist der Diener und Priester der alten Kunst, durch sein Talent von der Gottheit der Geschichte selbst angestellt, um die ewige Altarflamme in ihrem Tempel zu erhalten. Die nordischen Nationen waren dazu bestimmt, die rückgratlose Generation zu unterjochen, die Spott mit dem Heiligsten trieb, das ihnen fremd geworden war. Schon in den frühesten Zeiten äußerte sich die Neigung der nordischen barbarischen Völker, in die südlicheren Länder einzufallen. Herodot erzählt von einem Einfall der Skythen in Asien. Sie drangen geradewegs in Ägypten ein; wurden aber bald wieder zurückgetrieben. Ihr kurzer Aufenthalt hinterließ keine Spur. Griechenlands intensive Kraft hinderte sie und hielt sie seitdem zurück. Später trat, man weiß nicht woher, eine gallische Nation hervor, und überschwemmte die Gegenden, in denen die alte Geschichte lebte. Roms keimende Kraft war noch nicht stark genug, ihnen zu widerstehen; Griechenlands alternde Kraft zu schwach – Brennus (106) wurde durch Rom nicht aufgehalten, bezwang Epirus, drang in das Herz von Griechenland ein, geradewegs in sein Allerheiligstes, zum delphischen Tempel. Hier erzählt man, verteidigte der Gott sich selbst – offenbarte sich in seinen Glanz; große Felsstücke stürzten nieder und zerquetschten die Gallier – ein | panischer Schrecken, ein heim- 157 liches Grausen vor Griechenlands noch nicht ausgestorbener Gottheit bemeisterte sich ihrer. Alle Kraft und aller Mut waren aus dem Heer der Gallier verschwunden und die übrig gebliebenen unbedeutenden Reste ließen sich als Gallo-Griechen in Kleinasien nieder, wo sie als Söldner dienten, bald für den einen, bald für den anderen der damals herrschenden asiatischen Regenten. Später bedrohten die Kimbern, ein nordischer Volksschlag, dessen ursprüngliches Heim man ebenso wenig kennt, Rom selbst, und obwohl der kimbrische Zug Caesars Eroberungen in Gallien vorbereitete, so diente das doch gerade dazu, die Nationen zu wecken, die später hereinstürzen sollten, um eine entartete Generation zu knechten. 115 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
Dieser Zeitraum bezeichnet einen Wendepunkt in der ganzen Geschichte. Die alte und neue Zeit sind einander vollkommen entgegengesetzt. Was jene bereits in den frühesten Zeiten verloren hatte, was durch die verschiedenen Epochen immer mehr entfloh, dem streben und trachten wir nach – das harmonische, durchsichtige Leben, ohne falsche Töne und ohne Schatten. Wenn wir bedenken, dass es die Trennung von Wort und Handlung war, durch welche die Harmonie des äußeren Lebens gestört wurde, so scheint dabei sogar ein alter, ehrwürdiger Mythos, der das Unglück der Menschen in ihren Durst nach Wissen setzt, seine Bedeutung zu erhalten. Eine Nation, die man gar nicht kannte, die inmitten der glänzendsten Nationen vollkommen unbemerkt blieb, trat hervor (und 158 das gerade, in der | eigentlichen Geschichte, zum ersten Mal in der Zeit Neros) dazu bestimmt, aus ihrem Schoß die Lehre hervorzubringen, die das Geschlecht erlösen sollte. Es ist in der Tat merkwürdig, dass die Juden in der alten Geschichte völlig unbekannt geblieben sind – vielleicht waren die erythräischen Phönizier, die nur Herodot nennt, die Juden. Ansonsten erwähnt kein alter Geschichtsschreiber dieses Volk. Ihre Geschichte kannten wir bloß aus ihren eigenen Schriften, nachdem sie hervortraten. Dasselbe ist selbst mit Christus der Fall; auch ihn kannten wir bloß durch das Christentum. Zum ersten Mal werden die Christen zu Neros Zeit erwähnt. Still und unbemerkt scheint die Gottheit der Geschichte den Keim genährt zu haben, von welchem die künftigen Generationen ihr Leben und ihre Bedeutung holen sollten, durch welchen die erwachenden Geschlechter – obgleich durch Jahrtausende hindurch – zu dem Licht regeneriert werden sollten, welches das fernste Altertum erhellte. Es war in der Tat ein versöhnter Gott, der sich offenbarte. Der Gegensatz der Religiosität in alter und neuer Zeit wird durch Schicksal und Vorsehung bezeichnet. Das Schicksal war bei den Alten der Gott aller Götter, der einzige, wahre Gott – und offenbarte sich ihnen, indem er das Herrlichste störte. Alle ihre Orakel gingen von dem gegenwärtigen Moment aus. Im Streit mit der Gottheit beteiligten sich die Väter an ungeheuren Verbrechen, welche andere erzeugten und die vortrefflichsten Geschlechter vernichteten. Sie fühlten, 159 dass sogar das Heiligste der Herrschaft | dieses gebieterischen Wesens unterstand; sie ahnten, dass selbst ihre Götter vergänglich waren. Durch die Vorsehung offenbart sich der versöhnende Gott, der zukünftige Erlösung verspricht. Der Charakter des Christentums ist 116 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Achte Vorlesung
Verachtung für das Endliche, das seine Bedeutung verloren hat, Verweis auf das Ewige, dessen Gepräge aus dem Leben verschwunden war. Sein Geist ist prophetisch. In allen nachfolgenden verwirrenden Perioden war das Christentum der innerste Kern, das Zentrum, das zuletzt alle vereinen sollte. Die dunkle Zeit der Völkerwanderungen, aus welcher alle ruhige Bildung verschwunden schien, wo nördliche Invasionen alle Versuche von südlicher Bildung störten, wo südliche Invasionen wiederum jeden nördlich sprießenden Keim vernichteten, wo alles bei der Geburt starb und verwirrt wurde, bezeichnet die tiefe Gärung, aus der die neuere Zeit entstehen sollte. Die Neigung, die Religion dem Leben näher zu bringen, die religiöse Wurzel allen Daseins selbst zu schauen, bringt notwendig Mythologie hervor. Der erste Versuch dieser Art war der Katholizismus. Es ist keinem Zweifel unterworfen, dass die katholischen Mythen ursprünglich eine hohe, religiöse und poetische Bedeutung hatten, deshalb durchdrang diese, in sich selbst vollendete und lebende, religiöse Poesie das ganze damals lebende Geschlecht, deshalb vermochte sie, die heiligste Andacht hervorzubringen und | ganze Generationen zu 160 entflammen, deshalb hatte der Katholizismus seine eigene wahre Poesie, und endete, wie die älteren, herrlichsten Epochen mit seiner eigenen Kunst. Ohne Religiosität existiert weder Poesie noch Kunst in des Wortes höchster und einzig richtiger Bedeutung, der zufolge nichts Poesie genannt wird, ohne dass es das Gepräge des Ewigen trägt. Eine Wahrheit, für welche die ganze Geschichte so deutlich spricht, von welcher man sich endlich einmal überzeugen sollte. Das Romantische bezeichnet das Leben dieser Zeit, ihrer Poesie und ihrer Kunst, und gibt uns zugleich deutlich genug den Gegensatz zu dem Antiken. Wohl entdecken wir in der frühesten und herrlichsten katholischen Periode die jugendliche Kraft, die sich nach der allgemein herrschenden Verwirrung regeneriert hatte; aber eine tiefe religiöse Sehnsucht, die keine Existenz ganz zufriedenstellen vermochte, charakterisiert das Leben und die Poesie dieser Zeit, und was ist die Poesie anderes, als die höchste Spitze, die edelste Blume, der Zeit selbst? Was die Herrlichkeit der alten Zeit insbesondere auszeichnet, ist, dass das, was sich als Wunsch, als Ahnung, als bloßes Verlangen bei uns äußert, in jener Zeit durch die Existenz vollkommen zufriedengestellt wurde. Daher sind ihre Poesie- und Kunstprodukte – die gleichsam das Göttliche konzentrierten – vollendet, organisch, mit einem Lebensprinzip in sich selbst, das ihnen Unsterblichkeit sichert. 117 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
Alles, was das Subjekt wollte, drückte sich vollständig in einem Objekt aus. Das Subjektive und das Objektive fielen vollständig zusam161 men. Aus dieser Objektivität der alten Poesie | erklärt sich ihr Wesen. Wir müssen die alte Poesie als ein wahres Naturprodukt ansehen. Idee und Gegenstand, Vorstellung und Produkt, durchdringen, identifizieren sich gänzlich. Ihre Epen, ihre Dramen, ihre Statuen, ihre Tempel, geben die permanenten Regeln für die Offenbarung der ewigen Schönheit im Endlichen. Die Meisterstücke der griechischen Kunst und Poesie zu kritisieren, ist so widersinnig, wie die Natur selbst zu kritisieren, sie drücken aus, was sie ausdrücken sollen und wollen, ganz und vollkommen. Diese Infallibilität ist wohl am deutlichsten bei den Produkten der Kunst, aber für den wahren Kenner ebenso deutlich in ihren Dichtungen. Wenn wir den notwendigen Zusammenhang nicht schauen können, so müssen wir das, wie in der Natur, unserem Mangel an Einsicht zuschreiben, nicht dem Fehler des Objektes. Die herrlichste Periode der Griechen zeigt die unverwelkliche Blume der ganzen Geschichte, durch welche sie ihr Innerstes und Heiligstes entfaltete, und lud alle Zeiten zur andachtsvollen Betrachtung ein. Die romantische Poesie, obgleich sie sich in lebendiger Gestalt bewegte, und die Ideen durch endliche Schönheit zu offenbaren suchte, gab ihnen doch allen ein subjektives Gepräge, dieses Subjektive, das über den Gegenstand hinausgeht, gesteht selbst ein, dass es nicht zufriedengestellt wird, charakterisiert die moderne Poesie, gibt ihr einen geringeren Grad an Vollendung. Selbst die glühenden, wechselnden Farben drücken eine Sehnsucht nach dem ewig unveränderlichen, göttlichen Licht der Griechen aus. Wohl war diese Zeit – die 162 glänzendste Epoche des Katholizismus – ausgezeichnet poetisch. | Die Invasionen der Sarazenen, die Verbindung mit dem Orient durch das orientalische Kaisertum und die Komnenen (107) in Trapezunt, die Kreuzzüge, die sie mit fremden Nationen bekannt machten, öffneten die Welt für sie und alles wurde durch eine glühende Andacht verherrlicht. All ihre Kriege waren religiös, das ganze Leben hatte seine Bedeutung durch die Verbindung mit der Gottheit, aber all ihre Wünsche lagen auf jener Seite des Grabes, ihr Reich war nicht von dieser Welt. Die provenzalische Poesie (108) kann man als die Grundfeste aller modernen Dichtkunst ansehen. Es war der erste Versuch, die alte und neue Kunst zu vereinigen; aber die überwiegende Subjektivität der neueren Zeit prägte sich unwillkürlich ab. Aus dieser entspringt die italienische Poesie, deren glänzendste Epoche durch 118 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Achte Vorlesung
Dante, Guarini, Petrarch und Boccaz (109) bezeichnet wird, die alle die Provenzalen kannten. Dante insbesondere war ein wahrer katholischer Dichter, bei dem das ganze Leben eine religiöse Bedeutung erhielt. Aus der provenzalischen Dichtkunst entspringt zum Teil auch die alte deutsche katholische Dichtkunst. Auch der Katholizismus ging zugrunde. Die alten Mythen verloren ihre höhere Bedeutung. Die Religion selbst wurde ein Mittel für zügelloses Verbrechen – ein Werkzeug in den Händen der Betrüger – und sie verewigte sich, bevor sie zugrunde ging, wie alle religiöse Poesie, durch ihre eigene Kunst. Mit Raphael, Michael Angelo, Lenardo da Vinci, Corregio (110) und den übrigen herrlichen Malern verschwand der edlere Katholizismus und die Malkunst | selbst ist seit- 163 dem nie wieder das gewesen, was sie damals war. Man sollte jedoch einsehen, dass die Malkunst nicht möglich ist ohne Bilderverehrung, ja dass die Bilderverehrung selbst der Ausdruck für die wahre poetische Malerei ist. Die italienische Kunst gibt uns durch ihren besonderen Charakter die äußere Anschauung der katholischen Poesie. In der Tat verhält sie sich zur antiken Poesie, wie die griechische Bildhauerkunst zur italienischen Malerei. Die Götter, die uns die Griechen zeigen, ruhig, selig, all ihre Herrlichkeit durch ihre Schönheit offenbart, die Helden, die sie verewigten, kraftvoll in sich selbst, glücklich durch ihre Existenz. Die katholische Gottheit, leidend für das gesunkene Geschlecht, eine göttliche, schmerzensreiche Frau – mater dolorosa – und ihre Helden verfolgte Märtyrer. Die lebendigen Töne, die betörenden Farben waren verschwunden, die heilige Andacht fast ausgelöscht. Was die Geschichte einmal zunichtemacht, das erhebt sich nie wieder. Sie bewaffnet sich selbst gegen die einzelnen Versuche, die vergebens die ewige Schönheit hervorzubringen bestrebt sind und den Keim des Verderbens in sich tragen. Und, in der Tat, wer mit einem allgemeinen Blick den Gang der Geschichte überschaut hat, wer gesehen hat, wie der Mensch seine herrliche Verwandtschaft mit dem Ewigen vergessen hatte – wie der eigentliche Kern des Lebens entflohen war und der Mensch fremd und allein in seiner eigenen Natur stand, könnte glauben, dass der erste Versuch hinlänglich war? | Es ist mir klar, dass das, was die Geschichte mit den neueren 164 Wissenschaften will, mit der überwiegenden Prosa, die mehr als jemals zuvor mit wahrer Irreligiosität das Endliche als das einzige Reelle setzt, ist, dass sie, beginnend von der unendlichen Menge endlicher 119 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
Punkte, die verschlossene Natur für eine künftige Generation öffnen will. Daher erhält die Natur unter den Händen der Naturforscher eine immer größere Bedeutung, beinahe gegen deren Willen, daher tritt das eigentliche Leben der Natur immer deutlicher hervor, sogar da, wo man es nicht sucht. Wenn das Endliche so mit einem Anspruch auf die Realität hervortrat, als in ihr der Katholizismus verschwand, oder als eine Sammlung bedeutungsloser Formen zurückblieb, so musste die echte Religiosität, wie ein unendliches Sehnen, wie ein nie gestilltes Verlagen, rein auf die andere Seite treten, sich ganz von aller endlichen Existenz absondern, ohne Bilder, ohne Mythen, ohne Gestalt. Ihre Poesie musste ein ahnungsvoller Schmerz werden, ihre kraftvolle Äußerung ein Protest gegen die Realität des Endlichen. Dieses ist der wahre Geist des Protestantismus, der sich gerade dadurch, was ich nicht weitläufiger zu zeigen brauche, mehr dem reinen ursprünglichen Christentum nähert. Diese aller endlichen Formen, und darum auch aller Kunst entblößte Religiosität entflammte einen großen und just den edelsten Teil von Europa – und die Schmalkaldische Koalition (111) und der da165 rauf folgende Dreißigjährige | Krieg waren der letzte Kampf für Religiosität in Europa. Die besonderen Kennzeichen unserer Zeit sind eine Irreligiosität und eine überwiegende Prosa, wie sie die Geschichte nie gesehen hat – die französische Nation, die prosaischste unter allen. Prosa nenne ich, was selbst das, welches das unverkennbare Gepräge des Ewigen trägt, zu einem bloß Endlichen herabwürdigt, Poesie das, was selbst im Endlichen das Gepräge des Ewigen findet. In der Prosa hat der Verstand seinen Sitz, er erklärt stets ein Endliches mit einem anderen, geht von Glied zu Glied in einer unendlichen Kette und merkt nicht, dass, weil in dieser Kette kein Glied für sich selbst besteht, sondern nur durch ein anderes, die Kette selbst unendlich ist und man folglich nie zu einem Glied kommt, das, indem es die Ursache seiner Existenz in sich selbst hat, zugleich die subordinierten Glieder fundiert, weder die Kette noch eines der Glieder die geringste Realität haben. In Frankreich blühte der Verstand vornehmlich. Diese Nation hatte seit der ältesten Zeit (seit den Provenzalen) keine Poesie, und, wenn diese oder die echte Poesie sich zu erheben begann, so wurde sie beinahe zerdrückt von der einschränkenden Masse des Verstandes und hatte (wie bei Pascal und Rousseau) nur ein kränkliches und höchst kümmerliches Dasein. Obgleich das heilige Dasein der ver120 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Achte Vorlesung
schwundenen Zeit dem gewöhnlichen Menschenverstand vollkommen unverständlich ist und bleiben muss, so muss er sich doch selbst zuerst eine gewisse innere Konsistenz und Energie erwerben, bevor er eine bestimmte | Äußerung über es wagt. In Frankreich bildete sich 166 ein Gesichtspunkt für jene Zeit, der so sinnlos und sich selbst widersprechend war, wie man es im Voraus erwarten konnte. Da die alte Welt selbst einen äußeren Glanz hatte, da sogar ihre bürgerlichen Einrichtungen (die äußersten Spitzen ihrer höheren Existenz) so in sich selbst vollendet waren, da die, obgleich äußerst zurückgedrängte Ahnung um unsere ursprüngliche Verwandtschaft mit dem Ewigen, nie ganz vom Verstand verdrängt werden kann, weil er mit dieser, als seiner Wurzel, selbst verschwinden würde, so konnte man der alten Zeit die entscheidendsten Vorzüge nicht absprechen; aber da das eigentliche Wesen des Altertums in der unmittelbaren Relation des Lebens und der Natur zum Ewigen besteht, und in der bestimmten Anschauung vom gemeinsamen Ursprung der Geschichte und der Natur aus der immanenten Gottheit, da diese Relation dem gewöhnlichen Menschenverstand vollkommen unbegreiflich vorkommen muss, ja, wenn er ein bestimmtes Urteil wagt, sinnlos, so wurden die Alten, mit der größten, verständigsten Naivität, zugleich zu den Tiefsinnigsten und Dümmsten, zu den Weisesten und Einfältigsten erklärt. Der Verstand sonderte sehr bedachtsam das Dumme von dem Klugen, die Torheit der alten Zeit von deren Weisheit, alle Poesie, alle Götter wurden verjagt, oder zu Menschen verwandelt. Nicht ein Strahl vom Glanz des Ewigen vermochte den bedachtsamen Verstand zu blenden. Der große, bedeutungsvolle Mythos von Kronos, der seine eigene Familie tötete, wurde zu einer Hofgeschichte | verwandelt, 167 wo Kronos ein unmenschlicher Tyrann war, der von seinem Staatssekretär Hermes verführt wurde; jüngere Schriftsteller aus einer verdorbenen Zeit wurden verwendet, um die Geschichtsschreiber der alten Zeit, (den reinen, unverfälschten und klaren Reflex ihrer Epochen), verständlich zu machen, und den alten Herodot sah man als einfältiges Kind an, das sich durch den verständigen Diodorus Siculus (112) korrigieren lassen musste. Auf diese Weise wurden nun, mehr als in einer älteren, mutigeren Zeit, die gefährlichsten Anstalten gemacht, die Herrlichkeit der alten Welt zu vernichten, wenn nicht eine wachende Gottheit sie für das Geschlecht gerettet hatte. Weil einige griechische Philosophen, indem sie die ewige Idee, die Identität aller Differenzen, das, worin das Endliche und Unendliche eins sind, als solche schauen wollten, die bunte Welt voller Bil121 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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der zurückdrängen mussten, so erfasste man diese negative Seite ihrer Philosophie, übersah geradezu die positive Position der Idee und machte sie (wie Sokrates und Platon) zu den achtbaren Repräsentanten für die Flachheit des Verstandes, und da die Griechen diese Männer zu den weisesten erklärt hatten, so glaubte man in dieser Erklärung recht deutlich das stillschweigende Eingeständnis ihrer eigenen Einfältigkeit zu finden und die Achtung, die sie im Voraus der Weisheit des modernen Verstandes opferten. Dieses Bestreben, die alte Zeit an der Trivialität unserer Zeit zu beteiligen, dieses konsequente Wegfegen von allem, was eine unmittelbare Relation zu dem Ewigen hat, und zugleich die Beschränkung 168 auf die | bloß endliche Existenz, nannte der Verstand (und hinsichtlich seiner selbst vollkommen zu Recht) Aufklärung, und die musste natürlich den allgemeinsten Beifall erhalten. Die Aufklärung ist kein Produkt des Protestantismus sondern vielmehr ein Produkt des ausgestorbenen, bedeutungslosen Katholizismus; die modernste Opposition gegen alle Religion und ihre Quelle ist die französische Prosa. Der Witz der Franzosen (vornehmlich der von Voltaire) ist der konsequenteste des Verstandes, sein ganzes Kunststück besteht darin, das Ewige in ein Endliches zu verwandeln, und danach zu bemerken, wie wenig es zu leben versteht. Das Unendliche hat sich, aller Existenz entblößt, in deren Mathematik fixiert, das Endliche blieb für deren Chemie übrig, welche die Natur ebenso unverständlich macht, wie deren verständige Reflexionen die Geschichte, und ist nichts anderes, als eine Fortsetzung des enzyklopädischen Gesichtspunktes für die Geschichte. Jede Ahnung von dem Ewigen scheint verschwunden. Wohl nahm die französische Prosa eine Zeitlang überhand und wurde mehr oder minder über ganz Europa angenommen; aber, in Deutschland insbesondere, blieb das Unendliche, nicht als eine bloße Reflexion zurück, absolut getrennt von aller Existenz (die mathematische Unendlichkeit), sondern als eine Ahnung von einem künftigen Dasein, also mit dem Gepräge des Ewigen, als der Keim zu einer erwachenden Poesie. Hier äußerte sich zuerst, mit Winkelmann (113), der poetische Sinn für die alte Zeit. Wir, der Masse näher als jene herr169 licheren Generationen den Göttern, | müssen durch die versteinerten Gestalten der Götter in die verschwundene Zeit schauen, wie in ein glitzerndes Lichtermeer, und der poetische Keim war durch Goethes Genie geweckt. Die neuere erwachende Philosophie, verspricht uns eine herrlichere Zeit. Brauche ich zu sagen, dass unsere Zeit und die ihr eigene Denk122 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Achte Vorlesung
weise die Geschichte nicht verstehen kann? Es wäre, als ob ein Ton in einem Konzert die Harmonie des Konzertes beurteilen würde, als ob ein Wort in einer Abhandlung das Nachfolgende und Vorhergehende beurteilen würde. Das Gepräge des Ewigen, das sich im rhythmischen Gang der Geschichte offenbart, muss durch eine Anschauung erkannt werden, die unabhängig von der Zeit, das Ewige selbst als ihren Mittelpunkt entdeckt. Diese zu finden, ist das Problem der Philosophie. Die alte Philosophie, die platonische, wusste das. Mitten in den prosaischsten Zeiten erhoben sich Genies, die den Mittelpunkt der Natur und der Geschichte schauten, missverstanden von ihren Zeitgenossen, je mehr die herrschende Prosa überhandnahm, desto mehr. Plotin war für sein Zeitalter nicht so unverständlich, wie Jordanus Brunus (114) und Spinoza.
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Neunte Vorlesung 170 | Sobald sich das Leben eines Menschen über die beschränkteste Not-
wendigkeit erhebt, sobald er nicht seine ganze Zeit, all seine Kraft bloß zum Lebenserhalt aufwenden braucht, nicht zu leben braucht, bloß um leben zu können, so wirft er einen Blick über das gewöhnliche Leben hinaus – Wohin? Wir hängen alle mit dem Ursprünglichen, Ewigen zusammen, wie mit einer Wurzel, von welcher wir Potenzen sind. Jedes Kind ist eine heimliche Chiffre, ein Keim zu einem eigenen, individuellen Geist, der mehr oder minder kräftig, mit einem Anschauungsvermögen von mehr oder minder großem Umfang, sich vor unseren Augen öffnet, und die ganze Erziehung, wenn sie ist, was sie sein sollte, besteht in dem tiefen Studium: Auf welche Weise wird das Ewige sich in diesem Individuum offenbaren? Still und ruhig unterwerfen sich die meisten dem Zeitgeist, das eigene Prinzip des Individuellen, das zwar nie vollkommen ausgerottet wird, äußert sich fast unmerklich durch kleine, unbedeutende Oszillationen, welche, kaum sichtbar, eine Menge mitgeteilter, selten 171 vollkommen assimilierter Begriffe bewegen, und derjenige, der | um seinen bloß physischen Aufenthalt besorgt ist, nur diesen als Zweck für seine Existenz ansieht, gelangt kaum zu einem höheren Kampf. Stärker tritt dieses oder jenes Talent hervor, das unwiderstehlich einen Menschen dazu bringt, diesen und keinen anderen Weg zu gehen, sich diese und keine andere Beschäftigung zu wählen. Es ist sicher eine Ungerechtigkeit, das Talent als so selten anzusehen, wie man es für gewöhnlich tut. Es ist gewöhnlicher, als man glaubt, und es gibt fast keine Beschäftigung, in welcher diese Gabe des Ewigen sich nicht im größeren oder kleineren Maß äußert. Gesetzt sogar, dass dieses oder jenes Talent nur einen endlichen Zweck hat, so hat es doch selbst immer eine unbegreiflichere Ursache. Es ist nicht der bloße Verstand, der einen Menschen dazu bringt, gerade diese bestimmte Beschäftigung zu wählen. Oft ist es, ja wo das Talent in einem hohen Grad hervortritt, fast immer der Fall, dass die eigentliche Klugheit einem Menschen abraten sollte, sich ganz der Ausbildung seines besonderen Talents zu überlassen; denn obwohl die bürgerliche Gesellschaft durch die Verbindung der verschiedenen Talente besteht, von welchen jedes seinen eigenen sonderbaren Zweck hat, so, da das Talent, seiner selbst unbewusst, infolge seiner eigenen Natur, ein Problem zu lösen hat, das immer über den Zweck hinausragt, den die 124 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Neunte Vorlesung
bürgerliche Gesellschaft für seine Anwendung gesetzt hat, kommt es, indem es sich auf seine eigene Weise ausbilden will, selbstständig und so, dass es keine andere Norm anerkennt | als die, welche der vom 172 Ewigen geschenkte Instinkt gibt, in eine notwendige Kollision mit der bürgerlichen Gesellschaft. Die Weisheit der Staaten besteht wohl nicht darin, diesen selbständigen Gang zu hemmen, der, früher oder später, zu ihrem eigenen Nutzen gereicht, und ein Staat macht sich niemals vorsätzlich dieses Vergehens schuldig; aber da kein mit Talent begabter Mensch mit Sicherheit dessen Ausmaß kennen, oder durch bloße Verstandesreflexion überzeugt sein kann, dass er sich nicht irrt, indem er sich (sogar vor der Entwicklung) dieses besondere Talent zutraut, da dieser Zweifel bei all denen, die ihn umgeben, natürlicherweise in einem weit höheren Grad herrschen muss, da der Staat, noch weiter entfernt vom Wissen, über die individuellen Fähigkeiten eines solchen Menschen ihm keine Aufmunterung geben kann, bevor er nicht unzweifelhafte Beweise für das Ausmaß seiner Fähigkeiten abgelegt hat, so kann ihn, wie man leicht einsieht, nichts anderes als der unbegreifliche Instinkt getrieben haben. Er überlässt sich ihm mit einer Sicherheit, die er selbst nicht versteht, unbekümmert um die Folgen, und so dürften die bloßen Klugheitsregeln, weit seltener als man glaubt, die Beschäftigung eines Menschen bestimmen. Da nun kein Mensch einen Standpunkt im menschlichen Leben wählen kann, von dem er nicht glaubt, dass er zumindest seine bürgerliche Existenz sichern könnte, so gibt es eine dunkle Gewissheit darüber, dass das Unbegreifliche, welches sich bei ihm äußert, auf die eine oder andere Weise dazu kommen wird in das Ganze einzugreifen, | obgleich der Zweck, den er sich setzt, nicht das Resultat einer 173 Reflexion über sein Verhältnis zum Ganzen oder zur bürgerlichen Gesellschaft sein kann – es ist eine tiefe Ahnung um den Zusammenhang, der in allem herrscht, und eine innere Überzeugung davon, dass das, was in dem einzelnen Gemüt erwacht, wie durch eine prästabilierte Harmonie, mit günstigen Umständen, die er nicht berechnen kann, zusammentreffen wird. Man nennt diese Harmonie, dunkel geahnt, Glück, und wenn sie, wie es fast immer bei dem ausgezeichneten Talent der Fall ist, sich wirklich offenbart – zu Recht Vorsehung. Das Genie unterscheidet sich vom bloßen Talent, das immer nur einseitig ist, dadurch, dass es die unmittelbarste Offenbarung des Ewigen selbst im Endlichen ist, und dadurch, obgleich das Individuellste, doch zugleich auch das Universellste ist. Dass das Genie den 125 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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bloßen Klugheitsregeln spottet, all die Regeln durchbricht, die man für es entwirft, sich und durch sich, seinem ganzen Zeitalter einen eigenen Weg bahnt, ist so allgemein anerkannt, dass der Unverstand daraus einen Vorwurf gezogen hat, der bloß begründet ist, wenn man von den unglücklichen Menschen spricht, die sich durch eine Art Raserei eine Gabe zutrauen, die das Ewige ihnen verweigert hat. Das Genie ist ein Strahl des Göttlichen, der dann und wann, glanzvoll aus der Masse herausbricht, und in klarer Harmonie versammelt, was das Talent einseitig zersplittert. Um ein Genie zu beurteilen, 174 kann man niemals Regeln anwenden, welche die Zeit gibt; denn | der ist kein Genie, der nicht über seine Zeit hinausragt, eine neue erschafft. Es ist, als ob sich der Geist der ganzen Geschichte mitten in der Zeit erhoben hätte. Derjenige, der bloß im Endlichen lebt, versteht das wahre Genie nie, für den wahren Denkenden ist es eine mystische Hieroglyphe, durch die das Ewige prophetisch auf eine zukünftige Zeit hinweist. Das bloße Talent ist zwar unbegreiflich in seinem Ursprung, aber es wird verständlicher, indem es sich der Zeit assimiliert, je mehr es sich ausbildet; das wahre Genie wird immer unbegreiflicher, je mehr es sich äußert, je kräftiger es seinen göttlichen Glanz offenbart. Wenn die Stimme des Genies sich hören lässt, lauscht ein jeder. Die Ideen, die Gestalten, die es produziert, sind das ewige Eigentum der Geschichte, ihre unverwelkbaren Blumen. Ganze Generationen kommen und verschwinden, ganze Nationen gehen zugrunde in dem ewigen Konflikt, die Produkte des Genies sind unvergänglich wie das Ewige, von welchem sie ihren Ursprung haben. In die bürgerliche Gesellschaft muss inzwischen jeder auf seine Weise eingreifen, er soll ein nützlicher Bürger im Staat sein, seiner Zeit dienen. Wer von uns darf sich das Genie zutrauen, das absolut über die Zeit hinausragt? Jeder von uns hat somit seine Pflichten zu erfüllen, seine Beschäftigungen, die er nicht versäumen darf. Die Frage ist bloß, ob die ganze Bestimmung des Menschen durch seinen bürgerlichen Wirkungskreis abgezirkelt ist. Die Philosophie, obgleich die Klarheit, mit der sie sonst die wahre Philosophie ist, die Zeit selbst 175 und deren eigenen Drang anschauen muss, | sich auch im täglichen Leben nützlich machen muss, hat doch ein Problem, das über die Zeit hinausreicht. Ich habe versucht Ihnen zu zeigen, meine Herren! dass es die Bestimmung des Geschlechts ist, dieses Problem zu lösen. Aber alle Forschung scheint nur zu einer unbestimmten Ahnung zu gelangen – alle Wissenschaften geben uns ihre Probleme ungelöst zurück. Das ewige Leben der Natur hat sich in verschiedene Wissenschaften 126 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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zerstreut – und doch liegt das Bewusstsein von der gemeinsamen Quelle alles Lebens deutlich bei jedem und lässt sich nicht ausrotten. Was stellt uns gänzlich zufrieden im menschlichen Leben? Ehre, Achtung, Auskommen, vermag das die ewigen Wünsche zu erfüllen, die unser Geist nährt? Warum vereinigen wir uns mit den herrlichsten Männern des alten verschwundenen Altertums, warum sind wir an seinen entschwundenen Glanz gefesselt? Warum bewundern wir den großen Mann? Warum können wir niemals dem unsere Achtung verweigern, der in tiefes Nachdenken verloren die verborgensten Geheimnisse des innersten Gemüts ergründet? So fest hängt der Mensch am Ewigen, so innerlich ist seine Verbindung mit ihm, dass ein Wort, ein tiefer Ton, in sein Innerstes einzugreifen vermag, selbst wenn er lange jede Ahnung des Höheren und Edleren unterdrückt hat. Ich kann, nach meinem vorhergehenden Vortrag, deutlicher sprechen, mich bestimmter aussprechen. Es ist das Göttliche in uns, es ist das, was eins mit allem ist, das Bild der Gottheit, unser eigentliches Wesen, das sich in einer unbestimmten Ahnung erhebt, das sich in jedem wissenschaftlichen Bestreben äußert, | das sich durch jedes Talent öffnet, das sich in seinem vollendetsten Glanz im herr- 176 lichen Genie offenbart. Ich habe lange genug nur über die endlichen Phänomene geredet, ich wende meine Betrachtung zum Ganzen hin und hoffe, auf diese Weise begreiflicher zu werden und dem eigentlichen philosophischen Problem näher zu kommen. Es gibt einen Plan in der Geschichte des ganzen Menschengeschlechts, einen Plan, in welchem sich das zügellose Spiel von Freiheit und Willkür mit Notwendigkeit verliert, in welchem sich eine Gottheit offenbart. Man könnte sagen, dass wir ihn nicht zu erfassen vermögen; aber annehmen müssen wir ihn doch, und mit ihm alles, was notwendig aus ihm folgt. Gibt es wirklich einen solchen Plan, so ist er ewig, d. i. er ist über der Zeit. Die Ewigkeit beginnt nicht, wo die Zeit aufhört. Sie ist über der Zeit; die Zeit verliert sich in ihr, wie in einem Abgrund. Ist das gewiss, so ist in der ewigen Idee, die sich in der Zeit allmählich in einer unendlichen Evolution offenbart, alles, was gewesen ist, was ist, was sein wird, zugleich wirklich. In dieser ewigen Idee ist nicht allein alles Wirkliche mit seiner Möglichkeit verbunden, sondern ebenso alles Mögliche mit seiner Wirklichkeit. In der Zeit offenbart sich diese Idee nur stückweise, nach und nach; aber die Zeit ist nur eine Modifikation des Ewigen, in welchem alles, was sein wird, schon zugleich mit dem Vergangenen gesetzt ist. Wir 127 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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können uns doch nicht das Ewige vorstellen, als ob es sich von dem Vorhergehenden bestimmen ließe, als ob seine Ideen den Umständen nach veränderlich wären, weil es vielmehr | das absolut Bestimmende 177 ist. Das Zukünftige wird also nicht, wie wir beim Ewigen sehen, durch das Vergangene bestimmt. Alles Zukünftige und alles Vergangene haben vielmehr einen absoluten Ursprung im Ewigen, in welchem alles wirklich ist. Ferner. Wir alle, mit allen Entscheidungen, Vorstellungen usw., die unsere Individualität ausmachen, sind Glieder der Kette, die sich in einem unendlichen Progress in der Zeit entwickelt; aber insofern, als wir selbst individuelle Ausdrücke für den ewigen Plan sind, der sich in dem Ganzen äußert, müssen wir selbst im Wesen des Ewigen teilnehmen, außerhalb dessen kein Ding fallen kann. Wir sind in Gottes Bild geschaffen, wie die Bibel sich ausdrückt. Alles Vergängliche und Veränderliche ist, was sein Wesen angeht, unvergänglich und unveränderlich; aber außerhalb von uns ist alles bloß Objekt für eine anschauende Vernunft. Die Vernunft ist ewig ihr eigenes Objekt, vermag daher, aus der ganzen Natur herauszutreten, besteht in sich selbst und durch sich selbst und wird die Quelle alles Objektiven. Für sie öffnet sich die Natur, gießt alle ihre Schätze für sie aus und zeigt ihre ursprüngliche Verwandtschaft durch eine Konsequenz in ihren Produktionen, welche die Vernunft gezwungen ist, als ihre eigene zu erkennen. Zu ihr spricht bedeutungsvoll die ganze vergangene Zeit, für sie öffnet sich, schwanger mit geahnten Ereignissen, die ganze zukünftige Zeit, für sie offenbart sich, wie aus tausenden Strahlen, durch alle Phänomene des Lebens, im innersten, mysteriösen Zentrum des Gemüts, eine Gottheit, | in 178 deren Bild wir geschaffen sind. Ja sogar da, wo sich keine Tendenz zu höherem Wissen äußert, ist die Moralität das Phänomen, das dunkel eine Übereinstimmung mit dem Göttlichen ahnt. Ihr Bestreben geht, obgleich unbewusst, darauf hinaus, alle Widersprüche aufzuheben, die bloß ein Produkt des endlichen Daseins sind, die schon im Wesen des Ewigen aufgehoben sind, sie sucht eine klare Harmonie, eine ewige Form, die mit aller vernünftigen Tätigkeit identisch gesetzt werden könnte, die – wenn sie allgemein wäre – der ganzen Menschheit Gottes Frieden schenken würde. Denn im Ewigen ist kein Streit; aller Streit findet nur für die endliche Betrachtung statt. Alle Koexistenz im Raum wird wohl durch eine ewige Wechselwirkung aufrecht erhalten, die wiederum durch einen ewigen Streit von entgegengesetzten Tendenzen unter128 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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halten wird; aber der Raum selbst ist nur eine Form für endliche Anschauung – das ruhende Bild der Ewigkeit im Endlichen. Im Ewigen vergeht nichts. Alle Vergänglichkeit findet nur für eine endliche Betrachtung statt. Aller Kettengang der Ereignisse, der unendliche Wechsel von Entstehen und Untergang ist in der Zeit, die selbst nichts anderes ist, als der Ausdruck für diesen Wechsel; aber die Zeit ist nur eine Form für eine endliche Anschauung – das bewegliche Bild der Ewigkeit im Endlichen. Im Ewigen ist keine Unvollkommenheit, alle Unvollkommenheit findet nur für eine endliche Betrachtung statt, ja für diese ist notwendig alles unvollkommen, | das Leben selbst ist eine Wechselwirkung aus Unvollkommenheiten, durch welche ein Vollkommenes 179 entstehen soll; aber das ist wirklich im Ewigen. Die Idee des Ewigen ist die Idee von einer ewigen Gegenwart; für das Ewige ist nichts vergangen und nichts zukünftig. Wir suchen, die Zeit im Gegenwärtigen zu fesseln; aber das Gegenwärtige ist ein Moment, den niemand begreifen kann, er verschwindet unter unseren Händen. Das unmittelbare Gefühl ist der Grund aller Existenz; aber dieser Grund wackelt, kein fester Grund ist für die endliche Betrachtung gegeben; der feste Punkt hat sich zum Ewigen zurückgezogen, und weist uns zum innersten Wesen unseres Gemüts, das eins ist mit Gott. Selbst das Unendliche ist nur ein Bild vom Ewigen; denn es hat immer ein Endliches im Gegensatz zu sich. Die unendliche Koexistenz entsteht, indem wir beständig die Menge des Endlichen vergrößern, um einen unendlichen Raum aufzufüllen. Der unendliche Wechsel in der Zeit entsteht, indem nichts Endliches das Wesentliche, Substantielle selbst bleiben kann, das weder entsteht noch vergeht. Es kann nicht entstehen, denn gesetzt, es wäre entstanden, so müsste ein Moment vorausgegangen sein, in welchem es noch nicht war; aber jener Moment müsste selbst fixiert werden; folglich müsste in jenem vorausgehenden Moment selbst etwas Permanentes gewesen sein, folglich müsste das, was jetzt entstanden ist, eine Bestimmung des Permanenten sein, nicht das Permanente, Substantielle selbst, das immer dasselbe bleibt. Das Substantielle kann ebenso wenig | vergehen; denn gesetzt, es würde vergehen, so müsste selbst etwas Per- 180 manentes zurückbleiben, durch welches der Moment, in dem es verging, fixiert wäre. Also war das, was verging, bloß eine Bestimmung des Permanenten, Substantiellen, nicht dieses selbst. Das Wesen des Ewigen besteht in der Idee, in welcher das End129 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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liche und Unendliche im Einen, Ewigen verschmolzen werden wie in einem heiligen Abgrund, in welchem sich alles Endliche verliert und gerade dadurch ewig besteht. Das materielle Universum Gottheit zu nennen, ist ein ungeheurer Irrtum; denn diese äußerlich angeschaute Welt hat bloß für eine endliche Anschauung Realität, und vermag die ewigen Urbilder, oder die Herrlichkeit der Dinge nicht auf die Weise auszudrücken, wie sie in Gott sind; denn es ist notwendig, dass alle Dinge in Gott weit herrlicher und vortrefflicher sind, als an und für sich selbst, da sie im Ewigen von den Bedingungen der Zeit befreit sind. Die Erde z. B., insofern sie entstanden ist, ist nicht die wahre Erde, sondern das, durch die endliche Anschauung, zerbrochene und unvollkommene Bild von der Erde, insofern sie weder jemals entstanden ist, noch jemals vergehen wird. Alles was auf der Erde ist, hat daher sein herrlicheres Urbild im Wesen des Ewigen. Und was ist denn jene Materie, mit welcher Ihr Euch plagt, wie mit einem Gespenst – ein Handgreifliches, das keiner jemals gegriffen hat, ein Sichtbares, das keiner gesehen hat, ein Sinnliches, Körperliches, für das Ihr | keine Sinne habt. – Was ist der Unterschied zwi181 schen einem Natur- und Kunstprodukt? Der, dass letzteres einen Begriff ausdrückt, der über die angeschaute Masse herausreicht, der das Gepräge einer endlichen Intelligenz trägt, als Mittel auf einen Zweck hinweist, der außerhalb der Masse liegt, wohingegen Begriff und Masse beim ersteren absolut zusammenfallen, und sich bloß für die Reflexion, niemals für die Anschauung, unterscheiden. Und wenn Ihr nun durch die reflektierende Analyse herausgefunden habt, dass diese Kohärenz, Dichte, Duktilität, diese elektrischen, chemischen Eigenschaften dieses bestimmte Produkt ausmachen, was bleibt dann für Euch übrig? Eine Materie, die keine ist, ein erträumtes Substrat, ohne die geringste Realität, selbst für die äußere Anschauung. Worin besteht Eure Hoffnung, die Natur zu verstehen, wenn eine Masse, absolut äußerlich, schlechthin von der Vernunft abgesondert, die Ihr nicht anschauen könnt, weil Ihr nichts anschaut außerhalb der Vernunft, Euch nicht denken könnt, weil Ihr nichts zu denken vermögt außerhalb der Vernunft, wie ein absolut Unvernünftiges, der Grund ist, auf den alles gebaut ist? Ja der Grund, den Ihr, beständig in Euren eigenen Ideen verworren, sucht – womit? – doch wieder mit der Vernunft – die Ihr selbst absolut außerhalb von diesem setzt! Das Ewige in seiner vollen Klarheit zu fassen, ist dem mensch130 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Neunte Vorlesung
lichen Geist absolut unmöglich; denn für das Ewige ist nicht allein die unendliche Wirklichkeit mit seiner Möglichkeit gesetzt; sondern sogar die unendliche Möglichkeit mit ihrer Wirklichkeit. Dass wir ein | Unendliches, als bloße Möglichkeit setzen müssen, ist eine Unvoll- 182 kommenheit, die notwendigerweise an dem endlichen Dasein haftet; aber die Möglichkeit, in welcher aller endlicher Streit, der notwendig durch den wechselseitigen Konflikt des Endlichen entsteht, aufhört, den Frieden, der bei allem Streit gesucht wird, ist wirklich im Wesen der Gottheit. Aber obwohl wir nicht imstande sind, das Ewige in seiner vollen Klarheit zu fassen, so ist es deshalb doch möglich, in dem Funken, den die Gottheit uns geschenkt hat, den Grund zu allem wirklichen Dasein in all seinen unendlichen Modifikationen zu finden. Gerade weil das Ewige den innersten Kern zu allem endlichen Dasein beinhaltet, kann die bloß endliche Betrachtung nichts finden. Alle endlichen Formen, die jede zu anderen weisen, diese wieder zu anderen, treiben uns in einen ewigen Kreis, in welchem das Wesen der Dinge ständig vor uns flieht. Da alles Endliche nichts ist, so schwindet seine Realität unter unseren Händen, und offenbart sich nicht die ewige Realität, aus welcher alles andere abgeleitet ist, so ist der tödliche Skeptizismus notwendig. Was ist es auch, das dem Naturforscher entflieht, dem bloß beobachtenden, dem reduzierenden, dem analysierenden? Ist es nicht das Identische, das Einfache, das Unsinnliche? Was verwirrt unsere historische Anschauung? Ist es nicht, dass eine endliche Zeit die übrige beurteilen wird? – Ich sprach gleich in meiner ersten Vorlesung über den Streit zwischen dem egoistischen Prinzip, welches | das Dasein des Individuellen zu sichern sucht, und dem Identischen, welches das Ganze 183 sucht. Für alle endliche Betrachtung kehrt dieser Widerspruch beständig wieder. Dass der gewöhnliche Menschenverstand nicht das Organ der Philosophie ist, lässt sich nun leicht einsehen, denn er geht immer von einem Endlichen aus – ihm ist das Problem der Philosophie fremd. Aus dem Gegensatz zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit entspringt der Unterschied von theoretischer Philosophie (deren Grund die Notwendigkeit ist), die das Mögliche in allem Wirklichen sucht, und praktischer (deren Grund die Freiheit ist), die das Mögliche wirklich zu machen sucht. In der ewigen Idee sind beide eins, ihr Ursprung 131 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Einleitung in die philosophischen Vorlesungen
ist derselbe, ihre Quelle das Absolute und Identische. Und muss nicht die Freiheit eine Herkunft mit dem Notwendigen haben? In dem ewigen Drama, das die Zeit aufführt, sind wir da nicht bloß Mitspieler, die nur eine gelernte Rolle ausführen; wir bestimmen den Gang des Stückes selbst, und doch fällt es beständig mit der ewigen Idee zusammen. Wie wäre das möglich, wenn nicht die Freiheit selbst, ursprünglich identisch mit der Gottheit war? Aber die Schranken, innerhalb derer sich die Freiheit äußert, sind durch die Naturgesetze bestimmt, welche wieder mit der Vernunft zusammenfallen, der Quelle, in welcher sich Freiheit und Notwendigkeit in untrennbarer Vereinigung verlieren. Dies ist das Innerste in uns, das Göttliche, durch welches jeder mit allem vereint ist. Das ist die hohe Tendenz, der edle Keim, der uns erweckt, der | Strahl der ewigen Klarheit, der uns erhebt, das tiefe, 184 bewegende Prinzip für alle unsere höheren Wünsche. Verschlungen in der ewigen Organisation, in welcher das Ganze und alle Teile in einer ewigen Wechselwirkung bestehen, schenkte eine Gottheit uns das organisierende Prinzip mit unserer Existenz. Diesen Keim zu heben, ihn zum Wachsen zu bringen, ist der ewige Wunsch des edleren Menschen. Eine Ahnung sagt ihm, dass hier der feste Punkt ist, um welchen sich alles bewegt, das Unveränderliche in aller Veränderung – die Quelle aller Evidenz. Ob wir sie erkennen können, sie aus allen endlichen Formen herausheben können, alle endlichen Formen in ihr erkennen können, muss die Untersuchung zeigen, zu welcher ich Sie hiermit einlade. Wir haben im Vorhergehenden bloß endliche Fakten gesammelt. Diese führten uns zu dem Ewigen, wie zu einem Zentrum, in welchem wir ihre gemeinsame Bedeutung ahnten. Wir behaupteten, dass alles Endliche seine Realität bloß in und durch das Ewige hätte, und doch leiteten wir das Ewige aus dem Endlichen her, und doch soll die Realität des Endlichen wieder durch das Ewige begründet sein. Das ist ein offensichtlicher Zirkel. Und weiter. Das Ewige blieb eine bloße Ahnung. Kann eine Ahnung der Grund aller Evidenz sein? Alles was ich vorgetragen habe, fällt durch den simpelsten Skeptizismus zusammen. Unser absoluter Grundsatz muss durch sich selbst stehen – oder unsere ganze Philosophie hat keine Realität.
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Anmerkungen
Anmerkungen (1)
, S. 22 pium desiderium: lat. ein frommer Wunsch. , S. 22 ich demonstriere nicht: Steffens will methodisch nicht streng deduktiv vorgehen. Dazu müsste das absolute Axiom, von dem auszugehen ist, ja bereits feststehen. Vgl. Anmerkung 4. (3), S. 23 anorgisch: damals verbreitete Mode-Form für »anorganisch«. Steffens übernahm den Begriff vermutlich von Schelling, der ihn wiederum höchstwahrscheinlich von Hölderlin hat. Vgl. dazu: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 6, 1329 (im Folgenden zitiert als HWPh unter Angabe des Bandes und der Seitenzahl). Goethe spricht sich gegen die Verwendung des Begriffs aus. In einem Brief an Heinrich Carl Abraham Eichstädt (30. März 1805, 17/5039) schreibt Goethe mit Bezug auf Steffens’ Rezension Schellingsche Naturphilosophie (in: Jenaische allgemeine Literaturzeitung, 1805, Nr. 103 und 137): »Wenn Sie nur hierüber nach Einsicht entscheiden, so wünschte ich auf alle Fälle, dass Sie von dem Verfasser die Erlaubnis erhielten das unglückliche anorgisch in anorganisch zu verwandeln; es war ein Missgriff Schellings und warum soll der Missgriff eines vorzüglichen Mannes verewigt werden?» (4), S. 24 demonstrative Methode: Damit ist die deduktive Methode gemeint, die aus gegebenen Prämissen Schlussfolgerungen zieht. (5), S. 24 Was nicht mit uns ist, ist notwendig gegen uns: Anspielung auf Matthäus 12,30: »Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich.« (6) , S. 24 Wie kann ein Reich bestehen, das in Uneinigkeit mit sich selbst ist: Anspielung auf Markus 3,24: »Wenn ein Reich in sich gespalten ist, kann es keinen Bestand haben.« (7), S. 25 wie es gekommen ist: Der Originaltext (»som et kom«) ist an dieser Stelle fehlerhaft. Es bieten sich zwei Korrekturmöglichkeiten an. In der zweiten (1905) und vierten (1968) Auflage der Vorlesungen wurde zu »som et Atom« (»wie ein Atom«) korrigiert. Da Steffens jedoch in der sechsten Vorlesung (117 f., 1803) die Atomtheorie als widerlegt betrachtet, spricht mehr für die zweite Lesart, die in der dritten (1967) und fünften (1996) Ausgabe verwendet wird. Hier wird zu »som det kom« korrigiert, was mit »wie es gekommen ist« übersetzt werden kann. Für diese Lesart spricht auch eine Parallelstelle am Ende der zweiten Vorlesung (S. 34, 1803). (8) , S. 27 Generation: Fortpflanzung. (9), S. 29 der ewige Friede: Mit der Aufklärung kommt dem Gedanken des ewigen Friedens, der sich schon seit dem späten Mittelalter im europäischen Geistesleben findet, neue Bedeutung zu. Der Abbé Castel de Saint-Pierre veröffentlichte 1713 unter dem Titel Traité de la paix perpétuelle einen auf Vernunft gebauten Weltfriedensplan, den auch Jean-Jacques Rousseau 1761 zustimmend kommentierte. In Deutschland brachte die Auseinandersetzung mit Kants 1795 erschienener Abhandlung Zum ewigen Frieden, in der sich der Philosoph unter anderem für ein allgemeines Weltbürgerrecht und die Abschaffung stehender Heere aussprach, zwei Richtungen in der Philosophie hervor. Während etwa Fichte den Gedanken Kants zustimmte, lehnten sowohl Hegel als auch die deutsche Romantik die Friedensideen Kants ab. Das hatte zum einen damit zu tun, dass die Romantiker der rationalen Basis der Kantischen Friedenskonzeption (2)
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Einleitung in die philosophischen Vorlesungen kritisch gegenüberstanden, zum anderen mit der durch Befreiungskriege und erwachenden Nationalbewusstsein einhergehenden Kriegsbegeisterung. Vgl. HWPh, Bd. 2, 1117–1119. (10), S. 32 Vanini und Bruno: Der italienische Philosoph Lucilio Vanini (1585– 1619) wurde von der Inquisition als Ketzer verurteilt und in Toulouse bei lebendigem Leib verbrannt. Vanini vertrat eine pantheistische Naturphilosophie, derentwegen er des Atheismus angeklagt wurde. Giordano Bruno (1548–1600), italienischer Dichter und Philosoph, wurde ebenfalls wegen Ketzerei auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Auch er vertrat eine pantheistische Lehre der Identität von Natur und Gott und stellte die These von der Unendlichkeit des Universums auf. Brunos Philosophie beeinflusste unter anderem Spinoza, Schelling und Hegel. (11) , S. 32 einen der genialsten und religiösesten Männer: Die Rede ist hier von Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), neben Schelling und Hegel der wichtigste Vertreter des Deutschen Idealismus. Während seiner Professur in Jena wurde Fichte 1799 wegen Verbreitung atheistischer Ideen verklagt und musste seine Professur aufgeben. Nicht nur Steffens stellt übrigens den Atheismusstreit Fichtes in eine Linie mit der Verurteilung und Hinrichtung von Vanini. In dem 1800 erschienenen Buch Leben und Schicksale, Geist, Charakter und Meynungen des Lucilio Vanini zieht der Autor, der Steffens-Zeitgenosse und evangelische Pfarrer W. D. Fuhrmann, in der Vorrede dieselbe Parallele. (12), S. 33 merkwürdig: Steffens verwendet das Wort in der heute veralteten Bedeutung von »des Merkens würdig«, d. h. bemerkenswert, auffallend. (13), S. 33 Das war Jacobi: Steffens bezieht sich auf die Schrift Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn von Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819), die 1785 erschien (2., erweiterte Auflage 1789, 3., abermals erweiterte Auflage 1819). Jacobis Veröffentlichung eröffnete den Pantheismusstreit, der zu einer Spinoza-Renaissance in der damaligen Zeit führte. (14), S. 33 Postquam me … possidentur: Steffens zitiert die ersten beiden Seiten aus Spinozas Tractatus de intellectus emendatione, et de via, qua optime in veram rerum cognitionem dirigitur nach dem Originaltext, der in den Opera posthuma 1677 erschien. Steffens zitiert unter Auslassung zweier Fußnoten im lateinischen Original korrekt. In dieser Ausgabe wird das Spinoza-Zitat nach der Erstausgabe der Einleitung von 1803 wiedergegeben samt der wenigen Berichtigungen, die Johnny Kondrup in seiner textkritischen Ausgabe von 1996 vorgenommen hat. Die folgende Übersetzung der Stelle ist entnommen aus: Benedictus de Spinoza. Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes. Übers. von Carl Gebhardt. Bd. 5 der Sämtlichen Werke in sieben Bänden. Hamburg 1977, S. 3–5. Übersetzung: Nachdem die Erfahrung mich gelehrt hat, dass alles, was im gewöhnlichen Leben sich häufig uns bietet, eitel und wertlos ist, da ich sah, dass alles, was und vor welchem ich mich fürchtete, nur insofern Gutes oder Schlimmes in sich enthielt, als die Seele davon bewegt wurde, so beschloss ich endlich nachzuforschen, ob es irgend etwas gebe, das ein wahres Gut sei, dessen man teilhaft werden könne, und von dem allein, mit Ausschluss alles übrigen, die Seele ergriffen werde, ja ob es etwas gebe, durch das ich, wenn ich es gefunden und erlangt, eine beständige und vollkommene Freude auf immerdar genießen könne. (2) Ich sage: ich beschloss endlich; denn auf den ersten Blick schien es nicht rat-
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Anmerkungen sam, für etwas noch Ungewisses das Gewisse aufzugeben. Ich sah nämlich die Vorteile, die man durch Ehre und Reichtum erlangt, und ich sah, dass ich es aufgeben müsse, nach ihnen zu trachten, wenn ich mich ernstlich um ein Anderes, Neues bemühen wollte. Und wenn doch vielleicht das höchste Glück in ihnen läge, so sah ich wohl, dass ich seiner verlustig gehen müsste; wenn es aber nicht darin läge, und ich mich doch nur um diese Dinge bemühte, so müsste ich ebenfalls das höchste Glück entbehren. (3) Ich überlegte also, ob es wohl möglich wäre, zu einer neuen Lebenseinrichtung oder wenigstens zu einer Gewissheit hierüber zu gelangen, ohne die Ordnung und Gewohnheit meines Lebens zu ändern, was ich oft vergebens versucht habe. Dasjenige nämlich, worum es sich im Leben am meisten handelt und was die Menschen, wie ihre Taten zeigen, als höchstes Gut ansehen, lässt sich auf diese drei zurückführen: nämlich auf Reichtum, Ehre und Sinnenlust. Durch diese drei wird der Geist so sehr in Anspruch genommen, dass er an ein anderes Gut nicht denken kann. (4) Denn was die Sinnenlust angeht, so wird die Seele so von ihr umstrickt, als sei es ein wirkliches Gut, in dem sie ruhe, und dadurch wird sie vollkommen verhindert, an etwas andres zu denken. Aber auf ihren Genuss folgt die größte Unlust, die den Geist wenn nicht vernichtet so doch verwirrt und abstumpft. Durch das Streben nach Ehre und Reichtum wird der Geist nicht weniger eingenommen, zumal wenn sie um ihrer selbst willen gesucht werden, denn dann gelten sie als das höchste Gut. (5) Durch die Ehrsucht wird der Geist noch viel mehr eingenommen, denn die Ehre gilt immer als Gut an sich und als letzter Zweck, nach dem sich alles richtet. Sodann haben diese nicht wie die Sinnenlust die Reue im Gefolge; vielmehr steigert sich die Freude daran, je mehr man davon besitzt, und so werden wir immer mehr und mehr verlockt, beides Besitz und Freude zu vermehren. Wenn wir uns aber einmal in unsren Hoffnungen getäuscht sehen, dann entsteht daraus die größte Unlust. Schließlich ist die Ehrsucht darum ein großes Hemmnis, weil wir, um sie zu befriedigen, unser Leben notwendig nach den Begriffen der Menschen richten müssen, meiden, was sie in der Regel meiden, und suchen, was sie suchen. (6) Da ich also sah, dass dieses alles dem Streben nach einer neuen Lebenseinrichtung im Wege stehe, ja dass es ihm so sehr entgegengesetzt sei, dass man notwendig auf das eine oder auf das andere verzichten müsse, so war ich gezwungen, zu untersuchen, was für mich das Nützlichere wäre; denn ich schien ja, wie gesagt, ein gewisses Gut für ein ungewisses aufgeben zu wollen. Nachdem ich aber ein wenig über diese Sache nachgedacht, fand ich zunächst: wenn ich auf jene Dinge verzichten und zu einer neuen Lebenseinrichtung greifen wollte, so würde ich ein seiner Natur nach ungewisses Gut – wie wir aus dem Gesagten klar entnehmen können – aufgeben für ein ebenfalls ungewisses Gut, aber ungewiss nicht seiner Natur nach – denn ich suchte ja ein dauerndes Gut –, ungewiss nur, ob es zu erlangen wäre. (7) Durch anhaltendes Nachdenken kam ich aber zu der Einsicht, dass ich dann – sofern ich es nur gründlich zu erwägen vermöchte – gewisse Übel für ein gewisses Gut aufgeben würde. Ich sah nämlich, dass ich mich in der größten Gefahr befand und deshalb gezwungen war, ein wenn auch ungewisses Heilmittel mit aller Kraft zu suchen; wie ein Todkranker, der seinen gewissen Tod voraussieht,
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Einleitung in die philosophischen Vorlesungen wenn nicht ein Heilmittel angewandt wird, nach diesem wenn auch ungewissen Mittel mit aller Kraft suchen muss, denn auf ihm beruht seine ganze Hoffnung. Alle jene Dinge aber, denen die Menge nachgeht, bieten nicht nur kein Mittel zur Erhaltung unseres Seins, sondern hindern sie sogar. Und häufig sind sie die Ursache des Untergangs derer, die sie besitzen, – wenn man es so nennen darf – immer aber die Ursache des Untergangs derer, die von ihnen besessen werden. (15) , S. 36 Newtons Attraktionssystem: Damit ist das Gravitationsgesetz von Isaac Newton gemeint, das dieser 1686 erstmals in seinem Werk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica formuliert hat. Diesem zufolge zieht jeder Körper jeden anderen Körper im Universum entlang der Verbindungslinie ihrer Zentren an. Die Stärke dieser Gravitationskraft ist direkt proportional zu dem Produkt der Massen beider Körper und umgekehrt proportional zum Quadrat der Entfernung zwischen ihnen. (16), S. 43 Physik: Steffens verwendet Physik hier in der Bedeutung von Naturwissenschaft überhaupt (vgl. HWPh Bd. 6, S. 641 ff.) im Unterschied zur modernen Verwendungsweise, die Steffens in der sechsten Vorlesung (115 ff., 1803) thematisiert. Vgl. Anmerkung 91. (17), S. 47 Oryktognosie: veraltete Bezeichnung für einen Teilbereich der beschreibenden Mineralogie. In seiner Schrift Ueber Mineralogie und das mineralogische Studium (1797) unterteilt Steffens die beschreibende Mineralogie in Oryktognosie, das Wissen von den Mineralen an sich, und Geognosie, der Wissenschaft von den Mineralen in deren Verbindung zu den Gesteinsarten. Steffens ist Verfasser des vierbändigen Handbuch der Oryktognosie, das 1811 bis 1824 in Berlin erschien. (18), S. 47 was Werner Geognosie nennt: Der deutsche Mineraloge Abraham Gottlob Werner (1749–1817) wird als Begründer der Geognosie angesehen. Werner verstand darunter die empirische Erforschung des Aufbaus der Erdkruste im Gegensatz zur Geologie, die bei ihm spekulative Theorien zur Erdentstehung bezeichnete. (19), S. 47 Linné: Carl von Linné (1707–78) war ein schwedischer Naturforscher. Mit seinen Werken Systema Naturae (1735) und Species Plantarum (1753) begründete er die heute noch verwendete, binominale Nomenklatur in der Botanik und der Zoologie (vgl. dazu Anmerkung 23). (20), S. 47 Cronstedt: Der schwedische Chemiker und Mineraloge Axel Frederic Cronstedt (1722–65) gilt als einer der Begründer der modernen Mineralogie. Er unterschied zwischen einfachen Mineralien und Gesteinsarten, die aus verschiedenen Mineralien zusammengesetzt sind. Cronstedt klassifizierte die Mineralien aufgrund ihrer chemischen Zusammensetzung. (21), S. 49 Jussieu mit den Pflanzen und Fabricius mit den Insekten: Der französische Botaniker Antoine Laurent de Jussieu (1748–1836) entwickelte ein natürliches Pflanzensystem. Der dänische Zoologe und Ökonom Johann Christian Fabricius (1745–1808) begründete ein System der Insekten, bei dem er im Gegensatz zu seinem Lehrer Linné (vgl. Anmerkung 19) nicht die Morphologie der Flügel, sondern der Mundwerkzeuge in den Mittelpunkt stellte. Steffens wurde 1796 Assistent von Fabricius in Kiel, wo dieser seit 1775 als ordentlicher Professor für Ökonomie, Natur- und Kameralwissenschaften lehrte und forschte. (22) , S. 50 bloß innerlich angeschaut: Steffens spielt hier auf den Begriff der intellektuellen Anschauung an, der in Fichtes und Schellings Philosophie die
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Anmerkungen zentrale Kategorie der Erkenntnis des Absoluten darstellt. Vgl. HWPh Bd. 1, S. 349 ff. (23), S. 51 Differentia specifica: Begriff aus der aristotelischen Logik (lat. Artunterschied), der einen Begriff oder Merkmal bezeichnet, mit dem Arten derselben Gattung unterschieden werden. Vgl. HWPh Bd. 2, 235. Linné verwendete den Artunterschied in seiner binominalen Nomenklatur, die sich aus dem Namen der Gattung (genus proximus) und der Art (differentia specifica) zusammensetzt. (24), S. 51 Frisch: Johann Leonhard Frisch (1666–1743) war ein deutscher Sprachund Naturforscher. (25), S. 51 Buffon: Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707–88) war ein französischer Naturforscher. Sein Hauptwerk Histoire naturelle générale et particulière erschien zu seinen Lebzeiten in 36 Bänden. Buffons Begriff der Art unterschied sich deutlich von dem morphologischen Artbegriff Linnés. Buffon definiert als Kriterium der Zugehörigkeit zur gleichen Art die Fähigkeit, fruchtbare Nachkommen zu erzeugen. Zudem hält er die morphologischen Merkmale für nicht so wichtig für die Artzugehörigkeit wie Verhalten, Temperament und Instinkt. Vgl. hierzu: Ernst Mayr. Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt: Vielfalt, Evolution und Vererbung. Berlin 2002, S. 209 ff. (26) , S. 52 Fossil: Steffens verwendet den Begriff wie bis ins 18. Jahrhundert üblich allgemein für Ausgrabungen anorganischer Körper. Die Versteinerungen von Pflanzen und Tieren wurden damals als Gruppe den Mineralien zugeordnet. A. F. Cronstedt schließt die Fossilien allerdings bereits 1758 in seinem Werk Försök til mineralogie eller mineralrikets upställning aus der Mineralogie aus (vgl. Anmerkung 20). (27) , S. 55 Keppler: Johannes Kepler (1571–1630) entdeckte die Gesetze der Planetenbewegung, die nach ihm Keplersche Gesetze genannt werden. In dem Buch Harmonices mundi libri V (1619) spricht Kepler von einer himmlischen Harmonie, in der sich zeige, wie Gott an die Grundlegung der Welt herangegangen sei. (28), S. 55 Kielmayers Reduktion: Carl Friedrich Kielmeyer (1765–1844) war ein deutscher Naturforscher und eine der zentralen Figuren in der Biologie um 1800. Er machte mit seiner berühmten Karlsschulrede von 1793 starken Eindruck auf den jungen Schelling, der mit dieser Rede die Epoche einer neuen Naturgeschichte anbrechen sah. Vgl. hierzu: Mathias Grote. Die »Kräfte des Organischen«: Transformationen des Naturbildes in C. F. Kielmeyers Karlsschulrede. In: Verhandlungen zur Geschichte und Theorie der Biologie 13 (2007). S. 165–175. Kielmeyer vertrat die These, dass die Ontogenese eine kurze Rekapitulation der Phylogenese darstellt. Zudem definierte er fünf Kräfte, die allem Lebendigen zukommen: Sensibilität, Irritabilität, Reproduktionskraft, Sekretionskraft und Propulsionskraft. Die drei erstgenannten wurden von Schelling und mit ihm von Steffens übernommen. (29), S. 58 ein herrliches Genie unserer Tage: Steffens spricht hier von Schelling. (30), S. 61 Boorhave: Hermann Boerhave (1668–1738) war ein niederländischer Arzt und Naturforscher. (31) , S. 61 Anastomose: Verbindung zwischen zwei Blutgefäßen, Lymphgefäßen oder Nerven. (32) , S. 61 Infusionstiere: Dazu zählten damals alle mikroskopischen Tiere und
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Einleitung in die philosophischen Vorlesungen einige Pflanzen, die sich in Wasser mit aufgelöstem Pflanzenmaterial entwickeln, zum Beispiel Wimpertierchen und Flagellaten. Die Infusorien hatten in der biologischen Systematik des 19. Jahrhundert den Rang einer Ordnung. Für Schelling spielten die Infusionstiere als Mittelpunkt zwischen Tier- und Pflanzenwelt eine wichtige Rolle. Vgl. dazu: Kristian Köchy. Ganzheit und Wissenschaft: Das historische Fallbeispiel der romantischen Naturforschung. Würzburg 2007, S. 117. (33), S. 61 Möller: Der dänische Biologe Otto Frederik Müller (1730–84) machte sich als früher Mikroskopiker vor allem durch Klassifizierungen von Kleinstlebewesen der Wasserfauna verdient. (34), S. 61 Proteus polymorpha: Steffens meint hier wahrscheinlich die Amöbe Proteus diffluens, die in Otto Frederik Müllers posthumer Schrift Animalcula infusoria fluviatilia et marina (1786) vorkommt. Johnny Kondrup zufolge (vgl. Indledning, 1996. S. 265) kommt die Bezeichnung Proteus polymorpha bei Müller nicht vor. (35), S. 61 Volvox Globator: Grünalge aus der Klasse der Chlorophyceae, die im Süßwasser lebt und kugelige Kolonien mit bis zu 16.000 Einzelzellen bildet. (36), S. 61 Vorticella rotatoria: Glockentierchen. Die Glockentierchen (Vorticellidae) sind eine Familie eukaryotischer Einzeller innerhalb der Wimpertierchen. (37) , S. 61 Polypen: Der Polyp ist ein Stadium in der Ontogenese der Nesseltiere, einfacher, mehrzelliger Tiere, die im Wasser leben. Zu den Nesseltieren zählen Quallen, Blumentiere, Korallen und Hydrozoen wie der Süßwasserpolyp. (38), S. 61 Ramifikation: Steffens meint hier Verzweigung oder Verästelung. In den Beyträgen (S. 282 ff.) verwendet Steffens in diesem Zusammenhang immer »Verzweigung«. (39) , S. 61 Conchylien: Schalenweichtiere wie Muscheln, Schnecken, Tintenfische. (40), S. 61 Tubipora: Die Orgelkoralle (Tubipora musica) gehört zu den Achtstrahligen Blumentieren (Octocorallia), einer Unterklasse der Blumentiere. Sie bildet Kolonien, die aus senkrechten, parallelen – an Orgelpfeifen erinnernde – Kalkröhren bestehen. (41), S. 61 Serpula: Die Kalkröhrenwürmer (Serpula oder Serpulidae) sind eine Familie aus der Klasse der Vielborster und mit den Federwürmern verwandt. Wie der Name schon verrät, leben sie in Röhren aus ausgeschiedenem Kalk. (42), S. 61 Zoophyten: veraltete Bezeichnung für Organismen, die vermeintlich zwischen Tier- und Pflanzenreich stehen. Darunter wurden wirbellose Tiere gefasst, die äußerlich Pflanzen glichen, etwa Korallen, Schwämme und Seeanemonen. (43), S. 61 Mollusken: Weichtiere. (44), S. 62 Aktinien: Seeanemonen. (45), S. 62 Holothurien: Seegurken. (46), S. 62 Medusen: Quallen. (47) , S. 62 Prescianis, Mangilis und Ratjes Entdeckungen: Giovanni Battista Presciani (1754–1799) war ein italienischer Physiologe und Anatom. Er gab das Buch Discorsi elementari di anatomia e fisiologia (1794–96) heraus und hinterließ eine umfangreiche anatomische Sammlung. Der italienische Naturforscher Guiseppe Mangili (1767–1829) lehrte von 1799 bis 1815 als Professor für Naturgeschichte an der Universität in Pavia und forschte zu Schlangengiften, Weich-
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Anmerkungen tieren und Würmern. Mit Ratje meint Steffens den dänisch-norwegischen Naturforscher Jens Rathke (1769–1855), mit dem Steffens von 1792 bis 1794 gemeinsam in Kopenhagen studierte und der auch im Kreis um den Mediziner O. H. Mynster (1772–1818) verkehrte. Rathke schrieb bereits 1794 eine wichtige Arbeit (Om Dammuslingen, 1797 erschienen) über die Anatomie von Süßwassermuscheln, deren Nervensystem er erstmalig beschrieb. 1810 wurde Rathke Professor für Zoologie an der Universität in Kopenhagen, 1813 Professor für Naturgeschichte in Christiania. Dass Steffens Rathke hier als »Ratje« (im Original: »Ratie«) bezeichnet, ist kein Versehen. Die konsequente Fehlschreibung findet sich auch in Steffens’ Was ich erlebte (Band 2, S. 217 f.). (48), S. 63 πρωτοτυπον: Prototyp. (49), S. 64 Schwammerdams und Lyonnets Entdeckungen: Jan Swammerdam (1637–80) war ein holländischer Arzt und Naturforscher. Seine anatomischen Studien von Bienen, Wespen, Ameisen und weiteren Insekten trugen wesentlich zur Entwicklung der Entomologie im ausgehenden 17. Jahrhundert bei. Erst postum wurde sein Hauptwerk, die Bybel der natuure (1737–38), von Herman Boerhaave herausgegeben und 1752 ins Deutsche übersetzt. Pierre Lyonet (1708– 89) war ein holländischer Naturforscher und Künstler. Sein Werk Traité anatomique de la chenille qui ronge le bois de saule (1762) gilt als eines der bedeutendsten Arbeiten der Insektenanatomie im 18. Jahrhundert. (50), S. 66 Generationsteile: Geschlechtsteile. (51), S. 66 Generationsactus: Fortpflanzungsakt. (52), S. 66 kryptogamisch: mit verborgenen Geschlechtsorganen. Der Begriff setzt sich zusammen aus den griechischen Wörtern κρυπτός (kryptós) und γάμος (gámos) und bedeutet soviel wie »die sich im Verborgenen Paarenden«. Als Kryptogame werden auch Pflanzen bezeichnet, deren sexuelle Vermehrung ohne Blüten stattfindet. Der Name findet sich bereits in der Systematik Linnés (vgl. Anmerkung 19). (53), S. 66 Artikulation: Gliederung, vom lateinischen articulare »gliedern«. (54), S. 66 Blumenbach: Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) war ein deutscher Zoologe und Anatom, der vor allem als Begründer der physischen Anthropologie bekannt ist. (55), S. 66 eingelenkten: im Original »indledede« (eigentlich »indleddede«), das deutsche Wort »eingelenkte« ist dahinter in Klammern angegeben. (56), S. 67 Anschüsse: Kristallisationen. (57), S. 67 Condillac: Étienne Bonnot de Condillac (1714–80) war ein französischer Philosoph der Aufklärung und vertrat eine sensualistische Erkenntnistheorie. (58), S. 67 Reimarus: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), deutscher Aufklärungsphilosoph und Vertreter des Deismus, schrieb unter anderem das Buch Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe (1760). (59) , S. 67 Phryganeen: Köcherfliegen. (60), S. 68 Smeathonschen Termiten: Der englische Naturforscher und Entomologe Henry Smeathman (1742–86) hat als einer der ersten wissenschaftliche Studien zu Termiten erstellt. (61) , S. 69 Schellings Entwurf: Steffens zitiert hier aus Schelling: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. Jena & Leipzig 1799, S. 196 f.: »Aber
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Einleitung in die philosophischen Vorlesungen die Bedingung jener Kraft ist Duplicität. Geht sie also weiter, so müßte im Product eine Duplicität seyn, deren Einer Factor außerhalb des Products fiele. Wäre im Product keine solche Duplicität, (deren Einer Factor außer ihm läge) so könnte die Productionskraft zwar weiter gehen, aber sie könnte sich nur in Producten darstellen, die (weil Bedingung alles Organischen Duplicität) bei aller Regelmäßigkeit doch unorganische Producte wären – und diese wären die Producte des sogenannten Kunsttriebs.« (62), S. 69 das zirkulierende Fluidum: Blutkreislauf. (63), S. 70 Donati: Vitaliano Donati (1717–62) war ein italienischer Botaniker und Entdeckungsreisender, der durch seine Naturgeschichte Della Storia naturale marina dell’Adriatico (1750) bekannt wurde. Dort vertritt er eine Deutung der Natur als Netz von Lebewesen, ohne jedoch den Bezugspunkt der »Kette der Wesen« (scala naturae) zu verlassen. Vgl. Sebastian Giessmann. Netze und Netzwerke: Archäologie einer Kulturtechnik, 1740–1840. Bielefeld 2006, S. 35 ff. (64), S. 70 Bonnet: Charles Bonnet (1720–93), Schweizer Naturforscher und Philosoph, hat die »Kette der Wesen« als Stufenleiter gedeutet, in der alle natürlichen Dinge, von den Elementen bis zum Menschen, anhand ihrer Vollkommenheitsgrade aufsteigend organisiert sind. Vgl. Tobias Cheung. Vorwort. In: Charles Bonnet. Systemtheorie und Philosophie organisierter Körper. Frankfurt a. M. 2005, S. 50 f. (65), S. 70 Manis: Schuppentier. (66), S. 70 Dasypus: Langnasengürteltier. (67), S. 70 Lacerten: Eidechsen. (68), S. 71 Chondropterygii: heute als Chondrichtyes bezeichnete Klasse der Knorpelfische, die Haie und Rochen umfasst. (69), S. 72 Aponie: Johnny Kondrup (Indledning, 1996, S. 76) korrigiert an dieser Stelle von »Agonie« zu »Aponie«, vom griechischen ἀπονία (aponía), Schmerzlosigkeit. In allen anderen Ausgaben wurde diese Korrektur nicht vorgenommen. (70), S. 72 aber daher nicht die letzte: Steffens meint hier die Tätigkeit des individuellen Organismus, die im Gegensatz zur organisierenden Tätigkeit nicht nach innen geht. Vgl. Parallelstelle in den Beyträgen, S. 310. (71), S. 74 Eschenmayer: Carl August von Eschenmayer (1768–1852) war Arzt und Philosoph. Von der Naturphilosophie Schellings beeinflusst, beschäftigte sich Eschenmayer unter anderem mit tierischem Magnetismus, Sonambulismus und Religions- und Naturphilosophie. Vgl. Eduard Alberti. Eschenmayer, Carl. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 6. Leipzig 1877, S. 349 f. (72) , S. 77 Baryth: Baryt oder Bariumsulfat, auch als Schwerspat bekannt. (73), S. 77 Strontian: Strontium wurde 1790 vom Chemiker Adair Crawford (1748–95) entdeckt und nach dem Fundort Strontian in Schottland benannt. (74), S. 77 Kiesel: Silizium. (75), S. 77 Cirkon: Zirkon, Mineral aus der Klasse der Silicate. (76) , S. 77 Glucine: Beryllium, Erdalkalimetall. (77), S. 77 Talken: Talkum oder Steatit, chemische Bezeichnung Magnesiumsilikathydrat, ist ein Mineral, das oft auch synonym als Speckstein bezeichnet wird. (78) , S. 77 Das Nachfolgende: Die folgenden Abschnitte sind fast wortgetreu aus den Beyträgen, S. 16 ff. übernommen. (79) , S. 78 Präzipitat: Als Präzipitation bezeichnet man in der Chemie das Aus-
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Anmerkungen scheiden eines gelösten Stoffes als Niederschlag oder Präzipitat in Form von Flocken, Tröpfchen oder kristallinem Material. (80), S. 78 Streichen und Fallen: Streichen ist der geologische Fachausdruck für die kartografische Längserstreckung einer geneigten Gesteinsfläche. Das Fallen bezeichnet dagegen die Neigung der Falllinie, des größten Gefälles, und verläuft senkrecht zum Streichen. (81) , S. 79 Lager: eingelagerte Erz-, Mineral-, Gesteinsschicht. (82), S. 79 aufgeschwemmten: Im Original steht nach dem dänischen »opsvömmende« das deutsche Wort »aufgeschvemmte« in Klammern. (83), S. 79 Gneus: veraltete Form von Gneis, ein metamorphes Gestein, das hauptsächlich aus den Mineralen Feldspat, Quarz sowie Hell- und Dunkelglimmer besteht. (84) , S. 80 Kohlenblende: Anthrazitkohle. (85), S. 80 Grus: in kleine Stücke verwittertes Gestein, besonders aus Granit. (86) , S. 81 dichter Bruch: eine scharfe, ebene Bruchfläche. (87), S. 81 Krain: Das frühere Herzogtum ist heute Teil von Slowenien. (88), S. 81 das Thüringische Gebirge: Thüringer Wald. (89), S. 82 Faxe: Im Original steht »Fanöe«. Es ist jedoch anzunehmen, dass Steffens in diesem Kontext nicht die dänische Nordseeinsel Fanö meint, sondern Faxe, die Kleinstadt auf der dänischen Insel Seeland. Johnny Kondrup korrigiert daher in der Ausgabe von 1996 auf »Faxöe«. Dagegen spricht jedoch, dass Steffens auch in den Beyträgen, S. 26, vom »Fanöer-Bruch« in Seeland schreibt. (90), S. 82 Madreporen: veraltete Bezeichnung der Steinkorallen. (91), S. 87 Caput mortuum: lat. Totenkopf, bezeichnete in der Chemie den unbrauchbaren Rückstand einer Destillation. (92) , S. 88 Assimilationsorgane: Verdauungssystem. (93), S. 91 die eigentlich sogenannte Physik: der Teil der Naturlehre, der auch dem modernen Physikbegriff entspricht: Mechanik, Wärmelehre, Elektrizitätslehre usw., im Unterschied zur Verwendung von »Physik« zur Bezeichnung der Naturlehre im Ganzen. Vgl. Anmerkung 16. (94), S. 92 System von Le Sage: Georges-Louis Le Sage (1724–1803) war ein Schweizer Physiker, der durch die nach ihm benannte Le-Sage-Gravitation bekannt geworden ist. Mit dieser mechanischen Gravitationserklärung wollte er das Gravitationsgesetz von Newton begründen. (95), S. 95 die Grensche Hypothese: Der deutsche Chemiker Friedrich Albrecht Carl Gren (1760–98) vertrat die Phlogiston-Theorie, derzufolge Phlogiston, eine hypothetische Substanz, bei der Verbrennung aus den Körpern entweicht und bei Erwärmung in sie eindringt. In seiner Dissertationsschrift wies er diesem Stoff ein negatives Gewicht zu. (96), S. 106 Laokoons Gruppe: Die berühmte Marmorskulptur aus der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. zeigt den Todeskampf Laokoons und seiner Söhne und steht heute in den Vatikanischen Museen. (97) , S. 106 Niobe: Mittelfigur der sogenannten Florenzer Niobidengruppe, einer hellenistischen Skulpturengruppe, die in Nachbildung aus römischer Zeit erhalten ist und heute in den Uffizien in Florenz steht. (98) , S. 107 einer der herrlichsten und tiefsinnigsten Griechen: Anspielung auf Platon, der in seinem Dialog Philebos (St. 16C) Sokrates sagen lässt, dass die Menschen der Vorzeit näher bei den Göttern wohnten.
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Einleitung in die philosophischen Vorlesungen (99)
, S. 108 Wolfs Entdeckung: Der deutsche Altphilologe und Altertumswissenschaftler Friedrich August Wolf (1759–1824) stellte in seinem Fragment gebliebenem Werk Prolegomena ad Homerum (1795) die These auf, dass die Ilias und die Odyssee die gemeinsamen Schöpfungen vieler Dichter seien. (100), S. 110 Montesquieu und Ferguson: Charles-Louis de Montesquieu (1689–1755), französischer Aufklärungsphilosoph und Staatstheoretiker, brachte 1734 das Buch Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence (Betrachtungen über die Ursachen der Größe der Römer und ihres Niedergangs) heraus. Adam Ferguson (1723–1816) war ein schottischer Historiker. 1783 erschien sein Buch History of the Progress and Termination of the Roman Republic. (101), S. 112 flagellum generis humani: lat. Geißel der Menschheit. (102) , S. 112 Ammianus Marcellinus, Zosimus, Cassius Dio: spätantike Geschichtsschreiber. Ammianus Marcellinus (um 330 – um 395) war ein römischer Historiker, Zosimos (um 500) ein griechischer und Lucius Cassius Dio Cocceianus (um 163 – nach 229) ein in Kleinasien geborener und in Rom tätiger Senator, Konsul und Geschichtsschreiber. (103), S. 112 Antoniner: Sammelbezeichnung für die Kaiser der antoninischen Dynastie (138–192). Antonius Pius (84–161) regierte von 138 bis 161, Marcus Aurelius (121–180) von 161 bis 180, Commodus (161–192) von 180–192, Pertinax (126–193) und Didius Julianus (133–193) im Jahr 193. (104), S. 113 Daker: ein thrakisches Volk, das seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. die Gebiete des westlichen Schwarzmeergebietes, ungefähr im heutigen Rumänien, besiedelte. (105), S. 114 Dionysos von Halicarnas: Dionysios von Halikarnassos (um 54 v. Chr. – ca. 8 n. Chr.) war ein griechisch-sprachiger römischer Geschichtsschreiber. Sein Hauptwerk Antiquitates Romanae ist eine Frühgeschichte Roms. (106), S. 115 Brennus: gallischer Stammesfürst, der mit mehreren Stämmen 280 v. Chr. ins nördliche Griechenland einfiel und 279 v. Chr. bei Delphi den Griechen unterlag. Brennus bezeichnet keine historische Person als vielmehr einen keltischen/gallischen Adelstitel. (107), S. 118 Komnenen: Adelsdynastie im Byzantinischen Reich, von 1204 bis 1461 die Herrscher im Kaiserreich Trapezunt. (108), S. 118 provenzalische Poesie: auch Trobadordichtung genannte höfische Lyrik, die in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Südfrankreich entstand und später als Minnesang nach Deutschland kam. (109), S. 119 Dante, Guarini, Petrarch und Boccaz: Dante Alighieri (1265– 1321), Petrarca (1304–74) und Giovanni Boccaccio (1313–75) gelten als die wichtigsten Vertreter der frühen italienischen Literatur. Dass der italienische Dichter Giovanni Battista Guarini (1538–1612) mit diesen in eine Reihe gestellt wird, muss ein Versehen von Steffens sein. (110), S. 119 Raphael, Michael Angelo, Lenardo da Vinci, Corregio: Raffael (1483–1520), Michelangelo Buonarroti (1475–1564), Leonardo da Vinci (1452– 1519), Antonio da Correggio (1489–1534) waren italienische Maler und Künstler der Renaissance. (111) , S. 120 Schmalkaldische Koalition: Der Schmalkaldische Bund wurde 1531 von protestantischen Fürsten und Städten in Schmalkalden geschlossen
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Anmerkungen und wandte sich gegen die Religionspolitik des Kaisers Karl V. Im Schmalkaldischen Krieg 1546–47 zerschlug Karl V. das Bündnis. (112), S. 121 Diodorus Siculus: Diodoros (latinisiert Diodorus Siculus) war ein griechischer Geschichtsschreiber, der im 1. Jahrhundert v. Chr. lebte und eine Universalgeschichte in vierzig Bänden schrieb, von denen 15 erhalten sind. (113), S. 122 Winkelmann: Johann Joachim Winckelmann (1717–68) war ein deutscher Archäologe und gilt als der Begründer der wissenschaftlichen Archäologie und Kunstgeschichte. (114), S. 123 Jordanus Brunus: latinisierte Form von Giordano Bruno. Vgl. Anmerkung 10.
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Henrik Steffens’ Vorlesungen – eine Übersicht Johnny Kondrup
Steffens’ Vorlesungen von 1802/03 sind von der großen Vision der Einheit oder dem Zusammenhang aller Dinge geprägt, aber auch von einer Vielzahl naturwissenschaftlicher und historischer Fakten. Bei der ersten Begegnung mit dem Text kann das überwältigend wirken und dem Leser den Überblick nehmen. Daher folgt hier ein resümierender, sukzessiver Durchgang durch die Vorlesungen, und am Ende eine Übersicht über deren Aufbau (man kann also diesen Beitrag auch von hinten lesen). Der Durchgang ersetzt aber nicht die begleitenden Kommentare, derer der heutige Leser der Vorlesungen zu ihrem Verständnis bedarf.
Erste Vorlesung Einleitend richtet Steffens seine Vorlesungen an ein akademisches Publikum, das zum einen das Wesen der Dinge verstehen will und zum anderen imstande ist, eine ganzheitliche Anschauung der Dinge anzustreben. Es werden mit anderen Worten keine besonderen Kenntnisse bei den Zuhörern vorausgesetzt, allein nur metaphysischer Drang und Intuition (S. 21 dieser Ausgabe). Dann skizziert Steffens seine Methode, die im stillschweigend vorausgesetzten Vergleich mit Schellings deduktiver Methode eher empirisch und weniger logisch ausgerichtet ist; er geht von Fakten aus. Aber über diese Fakten »räsoniert« er nur und erweckt dadurch Ahnungen ohne eine logische Beweiskraft (S. 22). In seiner nur wenig älteren Abhandlung Beyträge zur innern Naturgeschichte der Erde (Freiberg 1801) verwendete Steffens den Begriff »Reduktion« für seine Methode, die einen Mittelweg zwischen Induktion und Deduktion darstellen sollte. Die Methode bestand darin, eine Reihe empirischer Fakten zu ordnen, die von anderen Wissenschaftlern zusammengetragen waren ohne Kenntnis der Schellingschen Theorie (die 145 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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es für Steffens nun zu untermauern galt) und daher zu anderen Zwecken oder überhaupt ohne Zweck zusammengetragen waren. Durch die Ordnung dieser Fakten sollen die dahinter liegenden geistigen Gesetzmäßigkeiten fast von selbst zu Tage treten. Steffens hätte den Begriff auch in den hier vorliegenden Vorlesungen verwenden können, vermeidet das aber – vielleicht weil er in der dritten Vorlesung die reduktive Methode in einem weniger schmeichelhaften Zusammenhang als eine unzureichende, unbewusste Form der spekulativen Naturphilosophie beschreibt. Hauptsächlich will Steffens mit der ersten Vorlesung zwei entgegengesetzte, einander prinzipiell ausschließende Triebe beleuchten, die durch die ganze Natur hindurchgehen: der egoistische Trieb zu Individualisierung oder Selbsterhaltung (S. 22 ff.) und der altruistische Trieb zur Einheit (S. 24 ff.). Nachdem er auf jeden der beiden Triebe hingewiesen hat, zeigt er sodann deren inneres Spannungsverhältnis auf einer bestimmten Stufe der Natur, dem menschlichen Leben: Zuerst stellt er fest, dass der Einheitstrieb auf der biologischen Ebene gegen das Individuum arbeitet und seinen Tod herbeiführt, während der Individualisierungstrieb sowohl der menschlichen Gemeinschaft als auch der Zusammengehörigkeit von Mensch und Natur entgegenwirkt. Als ein Kompromiss zwischen den Trieben wird die Art Mensch aufrechterhalten (S. 27 f.). Danach wendet sich Steffens dem historischen Leben der Menschen zu, wo sich der Individualisierungstrieb als privater Glückseligskeitstrieb zeigt, während sich der Einheitstrieb als Moralität erweist (S. 28). Doch auch außerhalb der Moralität gibt es eine mehr unwillkürlich den Egoismus dämpfende Kraft im Konflikt zwischen den Egoismen der verschiedenen Individuen; diese zwingt zu gegenseitiger Zurückhaltung und ist (zumindest zum Teil) Grundlage der Staatenbildung (S. 29). Schließlich zeigt Steffens, dass der Egoismus selbst sich der Moralität annähern kann, indem er die Eigenliebe zunächst zur ehelichen Liebe, dann zur familiären Liebe und von dort aus zur Vaterlandsliebe ausweitet. Je mehr Menschen der Egoismus umfasst, desto mehr Moralität entsteht (S. 29 f.). Steffens schließt die erste Vorlesung mit einer Frage, die zugleich rhetorisch und offenkundig zum Schein gestellt ist: Wenn das Individuum also in Widersprüche verwickelt ist, die Geistesgegenwart und Handlung verlangen, welchen Nutzen hat es da zu philosophieren? Warum also nicht die Verstandeskraft nur dazu gebrauchen, um in der bürgerlichen Gesellschaft zurechtzukommen? 146 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Henrik Steffens’ Vorlesungen – eine Übersicht
Zweite Vorlesung Die zweite Vorlesung ist die am wenigsten philosophische dieser neun Einleitungsvorlesungen. Sie ist in ihrer Struktur nicht logisch fortschreitend oder argumentierend, sondern zunächst anekdotisch erzählend, dann lyrisch besingend, unter allen Umständen aber suggestiv. Anstelle einer abstrakten und direkten Antwort auf seine Schlussfrage der ersten Vorlesung gibt Steffens eine indirekte Antwort, indem er auf die Biografie des holländischen Philosophen Baruch de Spinoza (1632–77) verweist. Spinozas Leben war nicht nur durch Selbsterhaltungs- und Einheitstrieb in verschiedenen Kombinationen bestimmt, sondern zugleich und mehr durch einen dritten: der Suche nach der Wahrheit, einem unwiderstehlichen Trieb zur Erkenntnis. In einem langen Zitat von Spinozas Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes (ca. 1660) lässt Steffens ihn mit seinen eigenen Worten alle zeitlichen Güter verwerfen zugunsten der ewigen Güter der Erkenntnis (S. 33 f.). Dass dieses Zitat im lateinischen Original wiedergegeben wird, hat auf die Zuhörer nicht arrogant gewirkt, wie es das vielleicht bei zeitgenössischen Lesern tut – die Akademiker in Steffens’ Zeit sprachen Latein. Danach fasst Steffens kurz den Schluss der ersten Vorlesung zusammen, in der die bürgerliche Gesellschaft als Wirrwarr von gegensätzlichen Trieben und Interessen beschrieben war (S. 35). Und so lautet die abstrakte Antwort auf die Frage (obgleich es so eine Sache mit der logischen Begründung der Antwort ist): Alle Wissenschaften haben eine unnütze Dimension, die den Bedarf des bürgerlichen Lebens transzendiert. Alle ernsthaften Naturforscher werden insofern durch einen tiefen, unnützen Erkenntnisdrang angetrieben – und Historiker können als Diener einer unnützen Leidenschaft der Vergangenheit selbst angesehen werden, um für kommende Zeiten zu überleben. Im Übrigen verachten wir ja auch die Nationen, die keinen Respekt für die Wissenschaften um ihrer selbst willen haben! (S. 37 f.) Steffens plädiert ferner dafür, dass die Wahrheitssuche, die alle Wissenschaftler antreibt, zugleich eine Ahnung der Einheit aller Dinge ist (S. 39). Er geht zu einer dithyrambischen, schwer verständlichen Lobpreisung dieser Ahnung über, die uns unter anderem befähigen soll, verschwundene Epochen mit ihrem eigenen Bewusstsein zu verstehen (was später Rekonstruktionshermeneutik genannt wurde). Die Ahnung soll in einer schöpferischen Form als Poesie ihren 147 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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Höhepunkt finden. Von hier aus geht Steffens weiter, teils zu einer Schilderung des Dichters, der das verschwundene Goldene Zeitalter vor unseren Augen heraufbeschwören kann, teils um selbst die Bilder des Ewigen im Zeitlichen zu besingen. Der Schluss der Vorlesung formt sich zu einer Schilderung des Goldenen Zeitalters, als die Götter noch in der Welt waren; ein Zeitalter, das beiläufig an den vorgriechischen, orientalischen Kulturen datiert wird (S. 40 f.).
Dritte Vorlesung Zu Beginn der dritten Vorlesung verspricht Steffens zu beweisen, dass die zwei Wissenschaften, die getrennt die Natur beziehungsweise die Geschichte behandeln, nicht ohne eine dritte, höhere Wissenschaft auskommen: die Philosophie (S. 43). Der Rest dieser Vorlesung sowie die drei folgenden behandeln die Naturwissenschaft, während die Geschichtswissenschaft erst in der siebenten Vorlesung an die Reihe kommt. Steffens nimmt Abstand von der (empiristischen) Auffassung, dass unsere Vorstellungen der Phänomene von diesen selbst verursacht sein sollen (S. 44 ff.). Die Zuhörer sollen damit auf seinen übergeordneten Gesichtspunkt vorbereitet werden, dass nämlich Phänomen und Gedanke, Empirie und Spekulation nicht getrennt werden dürfen – die Natur kann und darf nur auf spekulative Weise verstanden werden. Sodann will er beweisen, dass die empirische Wissenschaft nichts in der Natur erklären kann. Sie muss ad absurdum geführt werden, insofern sie den Anspruch erhebt, als erklärende und theoretische Wissenschaft aufzutreten (aber nicht insofern sie bloß Empirie sein will; innerhalb ihrer natürlichen Grenzen kann sie wertvolles Wissen mitteilen). Zu diesem Zweck müssen die beiden Methoden unterschieden werden, derer sich die empirische Naturwissenschaft bedient: die klassifizierende und die reduzierende. Die klassifizierende Methode (die unter anderem die von Carl von Linné ist) legt nur auf die äußeren Kennzeichen wert, durch sie kann man den Zusammenhang der Phänomene nicht begreifen, etwa in Arten und Gattungen. Die eigentlichen Zusammenhänge müssen aus der Anschauung und intuitiv begriffen werden, und die klassifizierende Naturwissenschaft setzt sie voraus, ohne zu wissen, wie sie zu ihnen gekommen ist! 148 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Henrik Steffens’ Vorlesungen – eine Übersicht
Die reduzierende Methode versucht ihre Kategorien mehr auf den inneren Zusammenhang der Naturphänomene zu gründen und liegt insofern der Spekulation näher. Eigentlich ist sie eine unbewusste Spekulation, ein intuitives Begreifen der Wahrheit. Aber sie liegt zum einen falsch, wenn sie meint, auf rein empirische Weise zu ihren Kategorien und Theorien zu kommen. Sie verkennt ihre eigene intuitive Dimension, ja sie verfehlt ihr eigenes Fundament, so wahr wie die Intuition vor der empirischen Ordnung kommt. Zum anderen kann sich der nur reduktiv arbeitende Wissenschaftler niemals der Einsicht in das innerste Wesen der Natur nähern, dem Geist (S. 54 ff.). Diese letzte Behauptung kann dahingehend gedeutet werden, dass Steffens seit seinen Beyträge(n) zur innern Naturgeschichte der Erde (1801), in denen er seine eigene Methode als reduktiv charakterisierte, in eine mehr spekulative Richtung gerückt ist. Aber die Akzentverschiebung kann auch der veränderten Situation zugeschrieben werden: Während die Beyträge im romantischen Deutschland entstanden, wo der Verfasser sich als selbstständig im Verhältnis zu Schelling erweisen musste, sind die Vorlesungen ein Versuch, das skeptische Dänemark von der Richtigkeit der Naturphilosophie zu überzeugen.
Vierte Vorlesung Eingangs der vierten Vorlesung, dem Vorbild Schellings folgend, kündigt Steffens an, nachzuweisen, dass die Empirie sich nicht zum ordnenden, vereinenden Geist hin kombinieren kann, der durch die vielfältigen Phänomene der Natur hindurchgeht. Notwendigerweise muss er sich auf Stichproben beschränken und wählt zwei Themen: 1. das Tierreich 2. »den sonderbaren Zusammenhang von Pflanzen und Tieren mit den Gebirgsmassiven« (S. 58) Nur das erste dieser beiden Themen wird in dieser Vorlesung behandelt, das zweite in der fünften Vorlesung. Der deutsche Naturforscher Karl Friedrich Kielmeyer (1765–1844) hat nachgewiesen, dass die Reproduktionskraft, die am stärksten bei den niederen Tieren ist, der Irritabilität weicht, die am stärksten bei den Insekten ist, und dass die Irritabilität wiederum der Sensibilität weicht, die am stärksten bei den Säugetieren ist. Das ganze Tierreich ist mit anderen Worten ein Kontinuum (S. 60 ff.). Nachdem er diesen Grundgedanken für sei149 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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ne Zuhörer herausgestellt hat, geht Steffens ins Detail und weist in einer Fußnote auf seine eigenen Beyträge zur innern Naturgeschichte der Erde (1801) hin. Die vierte Vorlesung ist im Wesentlichen eine verkürzte Ausgabe des Kapitels: »Durch die ganze Organisation sucht die Natur nichts als die individuellste Bildung«. Gewisse Passagen sind (in der Übersetzung) reine Abschriften der Beyträge, wobei selbst Druckfehler aus diesen in die Einleitung übernommen wurden. Steffens' Darstellung wirkt meist sachlich, wo es um den Zusammenhang zwischen den niedersten Tierformen geht: Infusionstierchen, Mollusken, Korallen, Würmer usw. (S. 61 ff.). Poetischer und analogisierender wird sie, wenn er zu den Insekten kommt, die teils als fliegende Blüten, teils (mit Bezug auf Schelling) als abgerissene Fortpflanzungsorgane der Blüten (S. 65 ff.) beschrieben werden. Steffens scheint sich danach in diversen Nachweisen von Kontinuität in der Insektenwelt zu verlieren (besonders hinsichtlich ihres Skeletts und ihrer »Kunsttriebe«). Als er dann endlich weiter zu Fischen und Lurchen gehen kann, geschieht das mit einer gewissen Hast und in sehr allgemeinen Wendungen. Als er beim Menschen endet, der vollkommensten und individuellsten Schöpfung der Natur, wirkt er gar kurzatmig.
Fünfte Vorlesung Steffens setzt nun bei den Gebirgsarten an, um deren Kontinuität mit dem organischen Leben zu beweisen. Die Vorlesung ist eine verkürzte Ausgabe des ersten Kapitels in der großen Abhandlung der Beyträge: »Beweiß, daß Stichstoff und Kohlenstoff Repräsentanten des Magnetismus im chemischen Process sind«. Nachdem er auf rein chemischer Grundlage eine Reihe von Erdarten, die zeitgenössisch zurückhaltend zu den Grundstoffen gezählt wurden, in zwei Verwandtschaftsreihen aufgestellt hat: Kalk- und Kieselreihe, greift Steffens auf die sogenannte Geognosie seines Lehrmeisters Abraham Gottlob Werner (1749–1817) zurück. Das heutzutage veraltete Wort, das Werner selbst geschaffen hat, bezeichnet den Teil der beschreibenden Mineralogie, der den Aufbau des Erdkörpers und die Formation und Ausbreitung der Gebirgsarten zum Gegenstand hat. Steffens spricht sich für Entstehungsgeschichte des Erdkörpers nach der »neptunischen« Auffassung aus, der zufolge die Gebirgsarten im Wesentlichen unter Wasser abgesetzt wurden. (Man 150 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Henrik Steffens’ Vorlesungen – eine Übersicht
bemerke, dass er die alternative, »plutonische« Auffassung, der zufolge die Gebirgsarten wesentlich durch vulkanische Aktivität gebildet sein sollen, nicht einmal erwähnt; die beiden Auffassungen konkurrierten um 1800 wechselseitig, als beispielsweise Goethe Neptunist und Alexander von Humboldt Plutonist waren.) In Weiterführung dieser Darlegung präsentiert Steffens die zwei großen Formationen, in die Werner die Gebirgsarten geordnet hat: Schieferund Kalkformation. Es zeigt sich, dass die Schieferformation, die am ältesten ist, die chemischen Grundstoffe enthält, welche die Kieselreihe ausmachen, und dass die Kalkformation, die am jüngsten ist, die Grundstoffe der Kalkreihe beinhaltet (S. 77 ff.). Die Altersbestimmung wird dadurch bestätigt, dass die Versteinerungen, die sich in Schieferformationen finden, von Pflanzen herrühren, die entsprechenden in der Kalkformation von Tieren. Aber Steffens geht mutig über Werner hinaus und verlängert die Schieferformation über Öl und Kohle in unsere heutigen Torfmoore, aus der sich Kieselerde bildet. Die Kalkformation wird entsprechend in die heutigen Korallenbänke verlängert, aus der Kalkerde entsteht. Auf diese Weise wird Kontinuität zwischen der Schieferformation und der Pflanzenwelt, genau wie zwischen der Kalkformation und der Tierwelt gebracht (S. 81 ff.). Steffens drückt das auch so aus, dass die Schieferformation das riesenhafte Residuum der vegetationsbildenden Tendenz der Natur sei (eine Tendenz, die chemisch durch Kohlenstoff charakterisiert ist), während die Kalkformation das Residuum der animalisierenden Tendenz sei (die chemisch durch Stickstoff charakterisiert ist) (S. 83 ff.). Am Ende wehrt sich Steffens gegen das Missverständnis (welches der französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707–88) vertrat), dass man die zwei beschriebenen Hauptformationen als Reste oder Produkte von Pflanzen beziehungsweise Tieren auffassen könnte. Seine Ansicht ist eher die entgegengesetzte, dass nämlich jede für sich die Anlage ist oder der Ansatz zu den späteren Pflanzen und Tieren, ja in letzter Instanz zum Menschen. In dem Maße, in dem sie Residuen genannt werden, sind sie es von einer immateriellen Tendenz in der Natur, die stetig höheren Formen entgegengeht – die individualisierende. Diese Tendenz selbst ist der Schlüssel zu den Geheimnissen der Natur, und mit einer letzten, hinwegfegenden Handbewegung stellt Steffens fest, dass man zu diesem nicht auf empirische Weise vordringt: Diesen »müssen wir im Innersten unserer eigenen Seele suchen« (S. 86). 151 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Johnny Kondrup
Sechste Vorlesung Mit seiner sechsten Vorlesung nimmt Steffens den Faden der dritten wieder auf, indem er zu beweisen verspricht, dass die rein empirische Wissenschaft niemals die Natur erklären kann. Vor dem Hintergrund des Beweises vom großen Zusammenhang in der Natur, den er selbst gerade vorgenommen hat, kann er mit einem gewissen Nachdruck behaupten, dass der bloße Empiriker immer das Einzelne von der Ganzheit, das Tote vom Leben fasst (S. 87 f.). Der Empiriker ist durch seine Methode gezwungen anzunehmen, dass die Phänomene durch eine Kombination (chemische Zusammensetzung) bereits bestehender Phänomene entstanden sind, und kommt so nicht über das Wirrwarr der Mannigfaltigkeit hinaus zur lebenden Einheit, die sich gerade in der Mannigfaltigkeit produziert. Des Weiteren hofft der Empiriker theoretische Fragen von Experimenten ausgehend beantworten zu können, aber das ist unmöglich, weil das Experiment sich seiner Natur nach an die Unterschiede zwischen den Dingen heftet, die das Experiment überhaupt erst möglich machen, und so können die Unterschiede nie überschritten werden zum wahren Wesen der Dinge hin, das jenseits von diesen liegt (S. 90 f., S. 97 f.). Steffens belebt seine theoretische Darstellung mit einer Reihe von lächerlichen Hypothesen, die von der empirischen Naturwissenschaft in Umlauf gebracht worden waren, als sie nach Erklärungen für ihre Beobachtungen suchte. Das gilt zum Beispiel für die Annahme besonderer stoffloser Stoffe, um die Phänomene von Licht und Wärme zu erklären, nebst nord- und südpolmagnetischer Materien, um den Magnetismus zu erklären. Biografisch kann man festhalten, dass von dieser Übersicht eine gerade Linie zu Steffens’ wissenschaftlichem Debüt im Jahr 1794 zurückgeht, wo er im Aufsatz »Die vornehmsten Hypothesen, mit deren Hilfe man die Verkalkung der Metalle zu erklären versucht hat« (Physikalsk, oeconomisk og medicochirurgisk Bibliothek for Danmark og Norge) die Theorie des französischen Chemikers Antoine Laurent de Lavoisier (1743–94) verteidigte, dass nämlich die Umbildung der Metalle zu Metallkalken der Oxidation geschuldet sei. Lavoisier, und mit ihm Steffens, sah die Oxidation von Metallen (mit dem damaligen Ausdruck also »Verkalkung«) als eine echte Verbrennung an und erklärte den Prozess als Aufnahme von Sauerstoff. Damit wurde die zuvor herrschende Hypothese angefochten, dass Metalle chemische Verbindungen wären aus Metallkalk und einem besonderen (imaginären) Stoff, Phlogiston, 152 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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der bei der Verbrennung freigesetzt würde. Steffens war tatsächlich der erste anti-phlogistische Schriftsteller in Dänemark und wird von der neueren Forschung als Vater der chemischen Revolution im Land anerkannt. 1 Die aktuelle Pointe seiner Übersicht ist, dass die (materialistische) Wissenschaft, die die Intuition fürchtet, durch den wissenschaftlichen Erklärungsbedarf selbst zu absurderen und grundloseren Spekulationen getrieben wird als die (idealistische) Spekulation, die sie verachtet. Die Pointe ist gut, auch wenn die Atomtheorie in Steffens’ Übersicht über die leicht zu durchschauenden Irrtümer der Naturwissenschaft rückt (S. 91 ff.). Steffens stellt fest, dass man keine Art von Einheit verstehen kann, wenn man nicht in der Anschauung die Einheit aller Dinge voraussetzt (S. 99), und er schließt seine Vorlesung mit einer poetischen Vision der gesamten Erde als pulsierender, lebender Organismus, von welchem aus sich die Tendenz der Vernunft in ihrer Herrlichkeit erhebt (S. 100).
Siebente Vorlesung Indem Steffens präzisiert, dass er nicht Philosophie lehrt, sondern nur ein philosophisches Problemfeld für die Zuhörer zu öffnen versucht, schreitet er von der Naturphilosophie zur Geschichtsphilosophie (S. 101). Dadurch hebt er an, das Versprechen einzulösen, das zu Beginn der dritten Vorlesung gegeben wurde. Seine übergeordnete These ist nun nicht einfach, dass eine Kontinuität zwischen Natur und Geschichte besteht, sondern die kompliziertere, dass die beiden scheinbar gegensätzlichen Reiche eines des anderen beherrschende Tendenz beinhalten. Ebenso wie der Geist sich in der scheinbaren Notwendigkeit der Natur als sich steigernde Freiheit erweist, zeigt er sich in der scheinbaren Willkürlichkeit der Natur als eine verborgene Notwendigkeit (ebd.). Den philosophischen Hintergrund für Steffens’ Geschichtsauffassung gibt Schellings System des transzendentalen Idealismus (1800). Steffens argumentiert abstrakt, aber überzeugend dafür, dass das Leben des einzelnen Menschen von der großen Geschichte determiVgl. Ole Bostrup. Dansk Kemi 1770–1807: Den kemiske Revolution. Kopenhagen 1996.
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niert ist: Wir sind alle Produkte der Vergangenheit (S. 102 f.). Weniger überzeugend wirkt seine komplementäre Behauptung, dass der Einzelne durch seine Freiheit zugleich auf den Gang der Geschichte einwirkt (S. 103 f.). Es ist offensichtlich die Notwendigkeit, die hier am interessantesten ist. Steffens bemüht sich im Folgenden den Plan im Verlauf der Geschichte zu zeigen und beginnt in den ältesten Zeiten, vor dem antiken Griechenland und vor Homer. Die ersten Perioden seiner Erdgeschichte lassen sich folgendermaßen ordnen: 1. Mythologische Zeit: Die orientalischen Kulturen rund um Euphrat und Tigris samt der ägyptischen am Nil (ca. 4. bis 1. Jahrtausend v. Chr.). Die Götter oder das Ewige traten unmittelbar hervor; die Sprache war allegorisch. 2. Die heroische Zeit: Die frühgriechische Kultur, Homers Zeitalter (ca. 8. bis 6. Jh. v. Chr.). Wort und Handlung waren eins; die Sprache war episch. 3. Die antike griechische Kultur, Hellas (5. bis 4. Jh. v. Chr.): Wort und Handlung wurden in Wissenschaft und Tat beziehungsweise Spekulation und Krieg (respektive Sport) getrennt. 4. Das römische Reich (ca. 4. Jh. bis 0): Herrschaft des Verstandes; es gab nur geringen oder keinen Sinn für die religiösen Tiefen des Daseins. Die Endlichkeit triumphierte, der Mensch wurde zum Gott erhoben (Kaisertum). In dieser niedergehenden Bewegung folgt Steffens der Geschichte vom goldenen Beginn zum niedersten, dunkelsten Punkt. Effektvoll schließt er mit der Frage: »Wo war Rettung für das gesunkene Geschlecht?« (S. 113).
Achte Vorlesung Nach einigen generellen Betrachtungen über die Kunst der neueren Zeit als eine erhaltene Erinnerung an das Goldene Zeitalter fährt Steffens mit seiner historischen Demonstration fort. Nun ist die Linie aufsteigend vom Nullpunkt: Am Nullpunkt – auch dem chronologischen – wurde Jesus Christus geboren, die folgenden Zeiten einte trotz aller Unterschiede das langsame Wachsen des Christentums, es ist der »innerste Kern« (S. 117) dieser Zeiten. Bemerkenswert ist aber, dass es nicht als ein metaphysisches oder absolutes Faktum dargestellt wird, sondern als ein historisches, also in die große Notwendigkeit integriert. Seitens 154 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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der orthodoxen Christen könnte man eine vergleichbare Skepsis gegenüber Steffens hegen, wie man sie später Hegel gegenüber ausdrückte. Die Zeit der Völkerwanderung wird als Gärungsperiode angesehen, aus der die Neuzeit geboren werden sollte, und so folgen die eigentlichen Perioden (hier nummeriert in Fortsetzung der siebenten Vorlesung): 5. Die katholische Zeit oder das Mittelalter war ein Versuch, das Religiöse wieder ins Leben zu bringen. Das Lebensgefühl war »romantisch« (dem klassischen entgegengesetzt), d. h. geprägt von einer Sehnsucht, die nicht vom endlichen Dasein befriedigt werden konnte, einer Subjektivität, die nach der Ewigkeit dürstete. 6. Die nachreformatorische Zeit oder Aufklärung war von Irreligiosität geprägt. Das Lebensgefühl war prosaisch und vom Verstand bestimmt. Hier verliert sich Steffens partiell in einer Beschimpfung der französischen Aufklärung, und es fällt schwer zu erkennen, wie diese Periode im Verhältnis zur unmittelbar vorhergehenden hinaufführen soll. Dennoch, die Periode hat auch den Protestantismus groß gemacht, der Gott näher sei als der Katholizismus, und am Ende der Vorlesung versucht Steffens den Protestantismus von der Aufklärung zu trennen. Er behauptet, etwas überraschend, dass die Aufklärung kein Produkt des Protestantismus, sondern vielmehr des ausgezehrten Katholizismus sei (S. 122)! 7. Der romantische Idealismus, der in Deutschland von Winckelmann und Goethe angekündigt worden ist, soll das geistige Wiederauferstehungswerk in der Geschichte vollbringen. »Die neuere erwachende Philosophie verspricht uns eine herrlichere Zeit« (ebd.).
Neunte Vorlesung In der neunten Vorlesung hebt Steffens in der Tat zur höchsten und letzten Frage an. Einleitend unterteilt er die Menschen in drei Kategorien, jeweils danach wie stark sich das Ewige in ihnen offenbart und wie stark ihr Sinn für das eigentliche Problem der Philosophie ist. Von unten aufsteigend sind die Kategorien: der allgemeine Bürger, das Talent und das Genie. Der Bürger ist nichts Besonderes; das Talent 155 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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ist zwar besonders, aber auch einseitig; das Genie ist zugleich individuell und universell. Das Genie ist die Offenbarung des Ewigen im Endlichen (S. 124 ff.). Hiernach geht Steffens dazu über, das Verhältnis von Ewigkeit und Endlichkeit zu beschreiben: Alles, was sich in der Zeit entfaltet, ist von dem Ewigen bestimmt. Alles Vergängliche ist in seinem innersten Wesen ewig; alles Sinnliche trägt einen Kern von Vernunft in sich; allein deshalb kann die Vernunft sich selbst im Sinnlichen, d. h. in der Entfaltung der vergänglichen Welt, wiedererkennen. Die philosophierende Vernunft, die das Organ des Ewigen im Menschen ist, kann in der Welt ihren eigenen Abdruck oder ihre Vorform finden (S. 128 ff.). Steffens’ Begriffe werden in diesem Zusammenhang so groß und schwindelerregend, dass man sich von möglichen Missverständnissen distanzieren muss: Zum einen darf man nicht das Ewige mit dem Unendlichen verwechseln; das Ewige ist höher als das Unendliche und kann als der ideelle Ort beschrieben werden, an dem das Endliche und Unendliche verschmelzen (S. 130). Zum anderen darf man sich nicht auf pantheistische Weise vorstellen, das Universum selbst sei identisch mit Gott; das Universum ist nur ein Abdruck der ewigen Urbilder der Dinge, so wie diese in oder bei Gott sind (ebd.). Philosophisch muss dies als eine Form des Panentheismus oder Platonismus bezeichnet werden. Mit einer Reihe rhetorischer Fragen erörtert Steffens abschließend die Möglichkeit, das Ewige zu begreifen, wenn man als Mensch doch darauf verwiesen ist, im Endlichen zu leben – und das Ergebnis fällt negativ aus! Zugleich wird jedoch die Notwendigkeit betont, sich zu einer Anschauung des Ewigen zu erheben, um nicht in einem lebenszerstörenden Skeptizismus zu verfallen. Der Standpunkt ist von einer gewissen Verzweiflung geprägt, die als die Erkenntnis zusammengefasst werden kann, dass es zwar unmöglich ist, das Ewige zu erfassen, aber zugleich existenziell notwendig, sich daran zu klammern (S. 131). Dieser Verzweiflung entsprechend schließt die Vorlesungsreihe mit einer logischen Zirkelbewegung, in der das Ewige und das Endliche einander voraussetzen (oder ausschließen); und die intensive Energie, deren Zeugen die Zuhörer waren, droht ihr eigenes Ergebnis zu verzehren: Wir haben im Vorhergehenden bloß endliche Fakten gesammelt. Diese führten uns zu dem Ewigen […]. Wir behaupteten, dass alles Endliche seine
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Realität bloß in und durch das Ewige hätte, und doch leiteten wir das Ewige aus dem Endlichen her, und doch soll die Realität des Endlichen wieder durch das Ewige begründet sein. Das ist ein offensichtlicher Zirkel. […] Alles was ich vorgetragen habe, fällt durch den simpelsten Skeptizismus zusammen. Unser absoluter Grundsatz muss durch sich selbst stehen – oder unsere Philosophie hat keine Realität (S. 132).
Die intellektuelle Redlichkeit in diesem Zitat ist sowohl verblüffend als auch bewunderungswürdig. Wenn man traditionell Steffens’ Vorlesungen als Ausdruck des harmonischen Weltbildes der Romantik sieht – die Voraussetzung für Adam Oehlenschläger, N. F. S. Grundtvig und so weiter – so öffnen diese anschließenden Zeilen eine Perspektive, die direkt in die Moderne führt.
Zusammenfassung In prägnanter Form können die Themen der neun Vorlesungen wie folgt zusammengefasst werden: 1. Die zwei Grundtriebe im Leben: Selbsterhaltungs- und Einheitstrieb 2. Erkenntnisdrang als ein dritter Grundtrieb 3.
Abrechnung mit der empirischen Naturwissenschaft (A)
4. 5.
Kontinuität in der Natur. A: das Tierreich Kontinuität in der Natur. B: Von der anorganischen zur organischen Natur
6.
Abrechnung mit der empirischen Naturwissenschaft (B)
7.
Der Plan der Geschichte. A: Verfall vom Goldenen Zeitalter bis zum Jahr 0 Der Plan der Geschichte. B: Wiederauferstehung vom Jahr 0 bis zur Romantik
8.
9.
Das erkenntnistheoretische Problem: Zeit und Ewigkeit
Durch diese Ordnung werden mehrere Verhältnisse deutlich. Zum einen, dass die Naturwissenschaften das große, dominierende Thema sind; sie nehmen die Vorlesungen 3, 4, 5 und 6 ein, während die Ge157 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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schichte mit 7 und 8 auskommen muss. Zum anderen, dass der naturwissenschaftliche Abschnitt wie ein Rahmen komponiert ist, in dem die positive Botschaft vom Zusammenhang in der Natur (Vorlesungen 4 und 5) umgeben ist von ihrem negativen Gegenstück, der Abrechnung mit der empirischen Wissenschaft (Vorlesungen 3 und 6). Was den historischen Abschnitt angeht, ist die Grenze effektvoll in den welthistorischen Nullpunkt gelegt, so dass der Niedergang in der 7. Vorlesung sein positives Spiegelbild in der 8. erhält. Was die beiden ersten Vorlesungen angeht, so gehören sie natürlich auch zusammen, aber mehr geradeaus als Anfang und Fortsetzung oder Frage und Antwort. Nur die 9. Vorlesung steht allein – und fasst in sich also potentiell eine Widerlegung aller vorherigen. Man könnte versucht sein, das schöne kompositorische Muster in der 1. bis 8. Vorlesung als Widerschein des wohlgeordneten Kosmos zu deuten, den Steffens so gern sehen will, und die letzte, isolierte Vorlesung als die erkenntnistheoretische Bombe unter der Vision.
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Henrik Steffens: Ein norwegisch-dänisch-deutscher Gelehrter, ein europäischer Intellektueller, ein politischer Professor* Bernd Henningsen Henrik Steffens – »Norwegens verwehtes Lorbeerblatt« 1, das »Multitalent« 2, »Kaiser Friedrich« 3 – war ganz offensichtlich eine der herausragenden Persönlichkeiten des ausgehenden 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts, er galt als »größter Stern« im Kopenhagener intellektuellen Milieu, »der für die Geologie und die Weltseele brannte«; 4 über ihn wurde zu Lebzeiten viel geurteilt, viel getratscht. Er war ein Charismatiker, ein Menschenfischer, der seine Hörer in seinen Bann schlug, der Widerspruch provozierte, selbst widersprüchlich war und der in kaum einer Lebensbeschreibung seiner Zeitgenossen fehlte. 5 Provokant, charmant, apologetisch, verächtlich * Dieser Beitrag erschien in einer ersten Fassung ohne die Nachweise unter dem Titel »Henrik Steffens. Was er erlebte. Person – Programm – Rezeption«, als Nachwort in: Bernd Henningsen (Hg.): Henrich Steffens: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben. Bd. 1. Berlin 2014, S. 215–248. – Johnny Kondrup bin ich sehr dankbar für zahlreiche Hinweise und Korrekturen, sie sind hier berücksichtigt; seinen im Erscheinen begriffenen Beitrag »Henrich Steffens og Oehlenschlägers romantiske gennembrud« konnte ich berücksichtigen. 1 Henrik Wergeland: Skabelsen, Mennesket og Messias. In: Ders.: Samlede Skrifter. Kristiania o. J., Bd. 2/2, S. 7. 2 Jorunn Sem Fure: Universitet i Oslo 1811–2011. Bok 3: 1911–1940. Inn i forskningsalderen. Oslo 2011, S. 47. 3 »Keiser Fredrik« wurde um die Jahrhundertwende in Kopenhagen ein stadtbekanntes Faktotum genannt – nach ihm erhielt der junge Steffens in Kamma Rahbeks Salon diesen Namen, siehe auch ihren Brief an Adam Oehlenschläger in: Aage Jørgensen: Henrich Steffens – en mosaik. Kopenhagen 1977, S. 60. – Vgl. Joakim Garff: SAK. Søren Aabye Kierkegaard. En biografi. Kopenhagen 2000, S. 534. 4 Ebd., S. 527. 5 In seiner Studie hat Werner Abelein eine ganze Reihe dieser Befunde zusammengetragen: Henrik Steffens’ politische Schriften. Zum politischen Denken in Deutschland in den Jahren um die Befreiungskriege. Tübingen 1977, beispielsweise S. 13 f. – Hier und im Folgenden stütze ich mich bei den historischen und biografischen Daten auf Abelein sowie auf die Autobiografie Steffens’, Henrich Steffens: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben. 10 Bde. in 5, hgg. von Dietrich von Engelhardt. Stuttgart, Bad Cannstatt 1995–96 (Neudruck der Ausgabe Breslau 1840–44);
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wird er geschildert, als streitbar aber auch als liebenswürdig – keine Nuance wird ausgelassen. Dieses weite Spektrum betrifft nicht nur die Person und ihr Handeln, auch sein Denken und seine Publikationen – seien es die wissenschaftlichen oder die literarischen – werden mit diesen Ambivalenzen aufgenommen. Mit gutem Recht kann man Steffens auch ein »verwehtes Lorbeerblatt« einer deutschen, ja einer europäischen intellektuellen Kultur nennen, insofern als man in seinem Denken und in seiner Biografie Repräsentanzen einer europäischen Geistes-Einheit feststellen kann, die von Grenzen nicht behindert war. Mit Steffens sind diese selbstredend und vorwiegend nord- und zentral-westeuropäisch zu verorten. Betrachtet man ihn im Kontext seiner Alterskohorte, so wird jedenfalls deutlich, dass sie einen europäischen Geistesraum ausfüllen, der mindestens von Stavanger bis München und von Paris bis Breslau reicht. 6 Diese europäische Einheit (und die Person Steffens) ist ins Vergessen geraten, durch die politischen Ereignisse seiner Zeit, an denen er lebhaften Anteil hatte: den Staats- und Nationsbildungsprozessen nach den anti-napoleonischen Kriegen. Mit einer gewissen Skepsis ist Steffens vor diesem Hintergrund als »Grenzgänger« (zwischen den Kulturen) – als welcher er in der Literatur nur zu gerne auftaucht – zu betrachten. »Grenzen« sind im 19. und 20. Jahrhundert mit der Erfindung des Nationalismus konstruiert worden, noch für Steffens und seine Altersgenossen waren sie im Geiste jedenfalls keine. Dass Steffens ein durch und durch politischer Mensch war – nicht immer zu seinem Vorteil –, wird bei allen Charakterisierungen nur randständig behandelt, jedenfalls nicht so benannt; dabei wäre die Person kaum besser zu beschreiben als mit dem Adjektiv »politisch«, ist er doch seine ganze professorale Berufslaufbahn hindurch in der politischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit präsent: Die Kulmisie wurde zeitgleich ins Dänische übertragen: Hvad jeg oplevede. Nedskrevet efter Hukommelsen. Kopenhagen 1840–45; von Engelhardt liefert in seiner Einleitung zur Faksimileausgabe eine gediegene Hinführung zu Leben, Werk und Wirkung, ebd., S. 9*–79*. – Eine Zusammenschau von Leben und Werk Steffens gibt Carl Henrik Koch: Den danske idealisme 1800–1880. Kopenhagen 2004 (= Bd. 3 von: Sten Ebbesen, Carl Henrik Koch (Hgg.): Den Danske Filosofis historie, 5 Bde. Kopenhagen 2002–04), S. 31–56. 6 Madame de Staël listet ihn in ihrer Kulturgeschichte der Goethe-Zeit bei den philosophisch orientierten Physikern – der Geistesraum, in dem Steffens sich bewegte, kann also getrost bis Genf und London ausgedehnt werden. Anne Germaine de Staël: Über Deutschland. (1803/1814) Frankfurt/M. 1985, S. 587.
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nationen waren, dass er flammende Reden hielt für Deutschlands Eintracht und gegen Napoleon ab 1811, dass er 1813 vom Katheder stieg, den Talar auszieht und sich als Soldat für die Befreiung (in diesem Falle von Napoleon) seines Nicht-Vaterlandes (in diesem Falle dem als Staatsnation nicht-existierenden Deutschland) zur Verfügung stellt, dass er davor und auch danach eifrig agitiert und dass er später vehement Stellung bezieht gegen die politische Turnerei Friedrich Ludwig Jahns (1778–1852), 7 dass er also der akademischuniversitären »Einsamkeit und Freiheit« 8 entflieht und sich einer gesellschaftlichen Verantwortung stellt und diese mit all ihren Widersprüchen lebt (dazu später). Er ist der Vertreter eines Gesellschaftsentwurfes, der für die politische Kultur Deutschlands eher fremd, jedenfalls ein seltener ist und eher zu der Skandinaviens passt, dass nämlich die bürgerliche Gesellschaft auch eine politische Gesellschaft, eine »Zivilgesellschaft« ist – ungeachtet der Ironie, mit der er sich als den »ungeschicktesten Seconde-Lieutenant der preußischen Armee« 9 bezeichnet. Nicht umsonst also stellt Werner Abelein fest, dass »ein der Politik gegenüber zunächst neutrales, ›privates‹ wissenschaftliches Interesse, nämlich die von Steffens vertretene Naturphilosophie, politische Dimensionen« angenommen hat. 10
Der Wahlverwandte Ausgangsweise ist auf eine – zunächst oberflächliche – Zuordnung in den Biografien und in der Rezeption Henrik Steffens’ hinzuweisen, die zur Bewertung der Rezeptionsgeschichte nicht unbedeutend ist: Steffens wird als dänisch-deutsch, als norwegisch-dänisch oder als norwegisch-deutsch verortet. Diese nationalen Etikette, die ja auch etwas Ausschließendes haben (warum nicht »europäisch«?), sind nicht nur Rechercheschlampigkeit und/oder Denkfaulheit geschuldet, Dazu im Erscheinen Marit Bergner: Henrich Steffens als öffentlicher Akteur 1806– 1819 unter besonderer Berücksichtigung seiner Rolle in der Breslauer Turnfehde. Diss. Freie Universität Berlin 2015. 8 Vgl. dazu auch Bernd Henningsen: Einsamkeit und Freiheit. Die humboldtsche Universität und die Politik. In: Henningsen, Bernd (Hg.): Humboldts Zukunft. Das Projekt Reformuniversität. Berlin 2007, S. 103–131. 9 Steffens: Was ich erlebte, a. a. O., S. 109. 10 Abelein, a. a. O., S. 6. 7
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Bernd Henningsen
sie sind in der Tat auch Ausdruck von Person, Denken und Wirkung 11: Er wurde am 2. Mai 1773 in Stavanger, an der Westküste Norwegens geboren, sein Vater (der zudem noch in der holländischen Kolonie Surinam in Südamerika geboren ist) kam aus der holsteinischen Garnisonsstadt Rendsburg, er war Feldchirurg in der dänischen Armee, nach Rendsburg wurde er 1790 wieder versetzt; die Mutter, die 1788 starb, kam aus gutbürgerlichem Hause; über sie war Steffens mit einer nicht unerheblichen Zahl dänischer Intellektueller und Kulturgrößen verwandt, mindestens bestens bekannt. Die Familie wohnte in Trondheim, in Helsingør, in Roskilde, in Kopenhagen; in Helsingør und Roskilde ging er in die Schule, in Kopenhagen wurde er – was seinerzeit durchaus üblich war – drei Jahre lang privat auf die Universität vorbereitet. Das vorgesehene Studium der Theologie tauschte er gegen das der Naturwissenschaften, war aber integriert in die der Französischen Revolution nicht abholden Geistkreise, dem »Kopenhagener Jakobinerklub« etwa; im »Bakkehus«, dem literarischen Salon des Ehepaares Kamma und Knud Lyne Rahbek (1775–1829 und 1760–1830), war er häufiger Gast. 12 Steffens wurde in Kopenhagen, Kiel, Jena, Freiberg und Halle ausgebildet, und lebte schlussendlich 40 Jahre in Deutschland: in Halle, Breslau und Berlin. Sein akademisches und literarisches Netzwerk war deutsch und skandinavisch, in gewisser Weise europäisch. Ihn als einen klassischen Vertreter der deutsch-skandinavischen »Wahlverwandtschaft« zu reklamieren, ist daher korrekt. 13 Ja, die »nationalen« Wettkämpfe gab es: In Dänemark entwickelte sich aus der auch von den Zeitgenossen vielbeachteten StruenseeAffäre von 1772 eine veritable Deutschenfeindlichkeit, 14 die Kieler und die Kopenhagener Universitäten rivalisierten, die Norweger wollten sich aus der von Henrik Ibsen später so bezeichneten und sprichwörtlich gewordenen »400jährigen Nacht«, nämlich der däIch folge hier der Zusammenfassung der biografischen Daten bei Werner Abelein, a. a. O., insb. S. 11–19 und Steffens’ Autobiografie. 12 Zum Salon der Rahbeks vgl. u. a. Anne Scott Sørensen: Blomsterpoesi – om Kamma Rahbek og Bakkehuset. In: Anne Scott Sørensen (Hg.): Nordisk salonkultur. Et studie i nordisk skønånder og salonmiljøer 1780–1850. Odense1998, S. 327–349. 13 Vgl. auch Bernd Henningsen, Janine Klein, Helmut Müssener, Solfrid Söderlind (Hgg.): Wahlverwandtschaft: Skandinavien und Deutschland 1800 bis 1914. Ausstellungskatalog, Deutsches Historisches Museum. Berlin 1997. 14 In Steffens Autobiografie ist davon die Rede apropos eines »einseitigen, dänischen Patriotismus«, Steffens: Was ich erlebte, a. a. O., Bd. 5, S. 110. 11
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Gelehrter, Intellektueller, Professor
nischen politischen und kulturellen Dominanz im Konglomeratstaat, befreien und dergleichen mehr. Aber diese ethnischen und »nationalen« Reibungen hatten andere Qualitäten, als wir uns heute darunter vorstellen. Interessanter an einer je nationalen Vereinnahmung ist – jedenfalls für die dänische und die norwegische Rezeption gilt dies –, dass es zu Henrik Steffens’ Lebzeiten eine Nation Norwegen und eine Nation Deutschland nach heutigem Verständnis nicht gab. Mit einer gewissen Berechtigung wird man zwar Deutschland zu jenem Zeitpunkt als eine Kulturnation beschreiben können, Norwegen aber wohl eher nicht (die »Kulturnation« Norwegen fand sich in Kopenhagen, die norwegische Kultursprache – und die der Macht – war das Dänische). Norwegen war zurzeit von Steffens’ Geburt ein Bestandteil des Königreichs Dänemark, eines Konglomeratstaates, dessen »Einheit« die Monarchie war, nicht die Nation, nicht das Volk. Die Nationswerdung hat mit dem Verlust der Flotte 1801, mit der Beschießung Kopenhagens durch die Briten 1807, mit dem Staatsbankrott 1813 und schließlich als Folge der antinapoleonischen Kriege dem Verlust Norwegens 1814 im Kieler Frieden zu tun, das fortan (bis 1905) in ungeliebter Personalunion mit Schweden zusammengebunden war. Die nationale Bewusstwerdung war jeweils von außen initiiert, nicht als Bewusstwerdung von innen. Wenn später noch vom »Geist von 1813« die Rede sein wird, dessen Mitbegründer Steffens wurde – jener schon mittelfristig erfolglose nationale Weckruf aus deutschen Landen, der Napoleon endgültig vertreiben sollte und der später als nationale Geburtsstunde einer deutschen (Staats-)Nation interpretiert wurde – wenn also von einem »Geist von 1813« die Rede ist, dann ist dieser auch in Zeitgenossenschaft mit dem »Geist von 1814« verbunden, üblicherweise mit der Überschrift »Eidsvoll« versehen, dem halbwegs geglückten Versuch, eine norwegische (Staats-)Nation mit eigener Verfassung und eigenem Parlament zu gründen (verhandelt im kleinen Ort Eidsvoll); einen eigenen, norwegischen König bekamen die Norweger aber nicht, erst der nach Eidsvoll mit Macht einsetzende Nationsbildungsprozess führte 1905 zur Auflösung der Union, der Erreichung der vollen norwegischen Souveränität und der Wahl eines norwegischen Königs (aus der dänischen Dynastie). Wenn man liest, wie die deutschen Geistesgrößen in Halle, Jena, Weimar, ja in Breslau und Berlin Steffens begegneten, dann erscheint die »nationale« Zuordnung jedenfalls einigermaßen absurd. Wohl 163 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
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konnte man sich über Steffens’ dänischen Akzent, den er zeit seines Lebens offenbar nicht ablegte, amüsieren, wohl wird er verantwortlich gemacht für den Import der Jenaer Romantik nach Dänemark 1802/03, wodurch es überhaupt erst zu einer nationalen dänischen (skandinavischen) Romantik gekommen sei – es gilt aber, dass die Romantik, dass die Naturphilosophie, dass die »Befreiungskriege« und dass auch die Restauration (auch deren Fürsprecher wurde Steffens) europäische Bewusstseinsprozesse waren; es handelte sich um europäische Kultur- und Politikereignisse, die erst post festum zu nationalen Großereignissen wurden. Die Frage nach der Nation war nachrangig in seiner Zeit, erst recht in seiner Jugend – wie kann es anders erklärt werden, dass ein Norweger (nach der regionalen Geburt), ein Däne (nach der Bildungssozialisation), ein Preuße (nach der beruflichen und intellektuellen Anbindung) zum Fürsprecher der (europäischen) Kriege gegen die napoleonische Vorherrschaft wird? Henrik Steffens war ein transnationaler Vagabund in einer europäischen Umbruchszeit, die man in seiner Lebensspanne politisch markieren kann mit den Polen Revolution einerseits und Restauration andererseits, geistig mit Romantik und Biedermeier. Auch wenn Geringschätzung und Verachtung gelegentlich nicht zu überlesen sind, hatte sein Name Klang; er gehörte in den Dunstkreis der deutschen Romantik wie auch der Weimarer Klassik, er war eine immer präsente Stimme in den zeitgenössischen Diskursen zu Wissenschaft, Natur und Philosophie 15, und schließlich war er Repräsentant für die politische und gesellschaftliche Restauration nach dem Wiener Kongress. Erstaunlich muss daher wirken, dass sein Ruhm mit seinem Tod verblasste: Seine Briefe sind nur verstreut ediert worden, vieles verschollen – dies ist verwunderlich, kommt doch fast die gesamte intellektuelle Oberklasse seiner Zeit darin vor, sei es als Gegenstand oder als Adressat; auch die zu seiner Zeit sehr erfolgreichen Novellen sind nicht wieder gedruckt worden. Dietrich von Engelhardt weist immer wieder daraufhin, wie weit und differenziert das naturromantische Spektrum um die Jahrhundertwende war, vgl. u. a.: Wissenschaft und Philosophie der Natur um 1800. Prinzipien, Dimensionen, Perspektiven. In: Kai Torsten Kanz (Hg.): Philosophie des Organischen in der Goethezeit: Studien zu Werk und Wirkung des Naturforschers Carl Friedrich Kielmeyer. Stuttgart 1994, S. 252–279; ausführlicher dazu mit zahlreichen Belegen für die zustimmenden, ambivalenten und polemischen Diskurse unter den Protagonisten, ders.: Quellen und Zeugnisse zur Wechselwirkung zwischen Goethe und den romantischen Naturforschern. In: Acta historica Leopoldina, Nr. 20 (1992), S. 31–55.
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In gewisser Weise ähneln sich die (politischen) Etappen seiner Biografie mit denen seiner Zeitgenossen: Anfänglich liebäugelte er mit der Französischen Revolution, dann wird er zum leidenschaftlichen Kritiker des absoluten Staates und glühender Patriot in der Endzeit Napoleons, setzt alle Hoffnungen auf das wiedererwachte Preußen und endet schließlich als ernüchterter Philosophieprofessor in der Restauration. Dass er mit einer Abhandlung auch zu den Vätern der Berliner Universität wurde, an die er erst mehr als 20 Jahre nach ihrer Gründung berufen wurde, passt ebenfalls in dieses Bild. Diese äußeren Konturen einer Biografie werden getragen von einer inneren, einer psychischen und einer philosophischen Entwicklung, die den alten Steffens vom jungen unterscheidet. Der Naturphilosoph wird über die Auseinandersetzung mit dem Christentum (und Luther) zu einem Philosophen der Persönlichkeit, des Einzelnen. 16
Jena, die »deutsche Geburtsstadt« Der Obrigkeit – nicht zuletzt dem Prinzregenten Frederik, dem späteren Frederik VI. (1768/reg.1808–39) – war er 1793, kurz nachdem die Nachricht von der Hinrichtung Ludwig XVI. nach Kopenhagen gelangt war, durch eine Unbotmäßigkeit aufgefallen, die die ganze Stadt für Tage in Atem hielt, sie hat unter der der Bezeichnung »Postamtfehde« (posthusfejden) Eingang in die dänische Politik- und Kulturgeschichte gefunden, gehört also zum dänischen Identitätsnarrativ; sie hätte mit ihrem banalen Auslöser sich zu einer Revolution auswachsen können: Der Student Steffens, für den ja eine eigene Gerichtsbarkeit galt, war auf offener Straße einer Militärabteilung in den Weg getreten, die wegen eines Massenauflaufes, deren (Bagatell-)Grund Steffens aber nicht kannte, die Straße gesperrt hatte, er wolle freien Zu- und Durchgang haben, was ihm verwehrt wurde. Nach gewalttägigen Auseinandersetzungen, die Soldaten sahen sich genötigt, gegen Steffens vorzugehen, trieb ihn die erregte Menge an, Klage zu erheben und Satisfaktion zu verlangen; es flogen Steine auf das Rathaus. Die revolutionsbereite Menge und der obstinate Student 16 Diese Genese wird in den meisten Biografien nur dargestellt, von Helge Hultberg allerdings analytisch überzeugend entwickelt, in: Den unge Henrich Steffens 1773– 1811. Kopenhagen 1973 sowie in: Den ældre Henrich Steffens 1811–1845. Kopenhagen 1981.
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konnten nur mit großen Mühen und nicht zuletzt durch eine umsichtige Nachgiebigkeit der Autoritäten beruhigt werden, der Prinzregent forderte die Universität auf, eine Kommission einzusetzen, die es Steffens verbieten solle, sich mit dem schroffen Offizier zu duellieren … Es kam nicht zur Revolution, alle Beteiligten beruhigten sich wieder – und Steffens wurde von seinen Kommilitonen als Held gefeiert … 17 Die Botanik und Mineralogie studierte er bei der »Naturhistorischen Gesellschaft« in Kopenhagen, legte dort auch ein Examen ab, was ihm 1794 einen Forschungsauftrag nach Norwegen einbrachte, den er nach einer weiteren Reise 1824 auch literarisch mit einigem Erfolg in dem 1828 publizierten Novellenzyklus »Die vier Norweger« verarbeitete 18. Als Grundlage für eine bürgerliche Existenz war dies aber nicht ausreichend, zudem endete die Auftragsreise desaströs, der wissenschaftliche Ertrag war dürftig. Immerhin erhielt er aus Kopenhagen weitere Förderung, mit der ihm ein Einstieg an der Kieler Universität gelang, an der er ab Frühjahr 1796 lehren durfte; die Promotionsprüfung legte er dort im folgenden Jahr ab mit einer Arbeit über »Die Mineralogie und das mineralogische Studium«. Mit einem auf Vermittlung des dänischen Finanzministers Schimmelmann gewährten Stipendium konnte er eine zweijährige Forschungsreise unternehmen, die ihn unter anderem nach Freiberg, schließlich 1798 nach Jena führte – justament zu einem Zeitpunkt, als der nur zwei Jahre ältere Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775– 1854), der auf Betreiben Goethes berufen worden war, dort seine Antrittsvorlesung über die Philosophie der Natur hielt; auch Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) lehrt zu der Zeit noch in Jena. Nimmt man Steffens’ Autobiographie »Was ich erlebte« als Quelle, so begann in Jena eine fruchtbare Beziehung, nicht nur mit Schelling, Henrik Stevnsborg: Fra Den store Udfejelsesfest til Tømrerstrejken. Om førindustriel, folkelig protest i København i sidste halvdel af det 18. århundrede. In: Fortid og nutid, 1980/28:4 (S. 570–599). S. 590 ff. – Das Ereignis ist auch geschildert bei Dan Ch. Christensen: Naturens tankelæser. Hans Christian Ørsted. 2 Bde. Kopenhagen 2009, Bd. 1, S. 62 ff. – Steffens geht natürlich auch ausführlich in seiner Biografie darauf ein: Was ich erlebte, a. a. O., Bd. 2, S. 280–306. 18 Henrich Steffens: Die vier Norweger. Ein Cyclus von Novellen. Breslau 1828. – Zur Reise 1794 vgl. Abelein, a. a. O., S. 12. – Bei der Reise 1824 gab Steffens den Stab zur von bereits früher geplanten Kartographierung Norwegens an Baltazar Mathias Keilhau (1797–1858), der als Begründer der norwegischen Geologie in die Annalen eingegangen ist, weiter. Zur Begegnung der beiden vgl. Rune Slagstad: (Sporten). En idéhistorisk studie. Oslo 2008, S. 33 f. 17
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sondern und in der Folge auch mit den Größen der Zeit, mit Fichte, Goethe, Schiller, Tieck, Novalis, Schleiermacher, Schlegel, Herder, den Humboldts … Es muss aber auch gestattet sein, seine Schilderungen mit einer gewissen Skepsis zu lesen und zu fragen, ob er nicht vielleicht auch die eigene Person ein wenig bescheidener hätte darstellen können … Schelling ist ganz ohne Zweifel die zentrale philosophische Inspirationsfigur für Steffens. Für sein Geschichtsverständnis ist dies insbesondere Johann Gottfried Herder (1744–1803); mit diesem als Ausgangspunkt konstruiert sich eine Schnittmenge mit seinem Vetter Nikolai Frederik Severin Grundtvig (1783–1872), dem Vater des dänischen politischen Selbstverständnisses: romantisch, teleologisch, schließlich nationalistisch. 19 Romantik und Christentum kommen in der Geschichtskonstruktion zusammen, indem der Geschichte eine teleologische Kontinuität zugewiesen wird, wobei Christus im Zentrum steht. Jena wurde zu Steffens »deutscher Geburtsstadt«. 20 Das Ziel der staatlich subventionierten Reise war jedoch nicht Jena, sondern die älteste und renommierteste bergbauwissenschaftliche Bildungsanstalt, die Bergakademie in Freiberg; 21 seine Studien hatte er also dort fortzusetzen. Das Freiberger Resultat waren die »Beiträge zur inneren Naturgeschichte der Erde« 22, sie beförderten Steffens in den Kreis der geachteten (und kritisierten) Naturphilosophen Deutschlands. 23 Dabei spielt es durchaus eine Rolle, dass Steffens gelernter und promovierter Naturwissenschaftler war, er wusste nach den Standards der Zeit, worüber er redete, wenn er über »Natur« redete – im Gegensatz zu Schelling, der zunächst Theologie, dann Philosophie studierte. In welche diesbezügliche Gemengelage Steffens versetzt war, kann man der Kritik Hegels entnehmen, die dieser nach 1822 Auf die Abhängigkeit von Herder geht schon ein William Michelsen: Tilblivelsen af Grundtvigs historiesyn. Kopenhagen 1954. Nach dieser Interpretation ist Steffens mit seinen Vorlesungen so etwas wie der Übergang und Erwecker. 20 Steffens: Was ich erlebte, a. a. O., Bd. 7, S. 4. 21 Vgl. u. a. Theodore Ziolkowski: Das Amt der Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen. Stuttgart 1992, bes. S. 30 ff. 22 Henrich Steffens: Beyträge zur inneren Naturgeschichte der Erde. Freyberg 1801. 23 Die umfangreichste Studie zu Steffens Verhältnis zur Naturphilosophie ist die von Fritz Paul, unter besonderer Berücksichtigung der universalromantischen Perspektive: Henrich Steffens. Naturphilosophie und Universalromantik. München 1973. 19
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apropos der späteren »Anthropologie« in seinem »Fragment zur Philosophie des Geistes« festmachte: Steffens […] verflicht Geologie so sehr mit Anthropologie, daß auf die letzere etwa der 10te oder 12te Teil des Ganzen kommt. Da das Ganze aus empirischem Stoffe, aus Abstraktionen und aus Kombinationen der Phantasie erzeugt, dagegen das, wodurch die Wissenschaft konstituiert wird, Gedanke, Begriff, und Methode, verbannt ist, so hat solches Werk wenigstens für die Philosophie kein Interesse. 24
Die Frage steht nach der Einheit von Geist und Natur, nach der Hierarchie im Denken – und letzten Endes nach der im Leben. Wenn Hegel im gleichen Zusammenhang feststellt, dass die »[…] spekulative Betrachtung und Erkenntnis der Natur und Tätigkeit des Geistes in neueren Zeiten bis auf die Ahnung davon […] untergegangen« ist, so ist das gegen Steffens gerichtet, der nicht unterscheiden wolle in »spekulative Betrachtung« und den »empirischen Stoffen«. Diese erste »deutsche« Lebensphase ging 1802 zu Ende, als die Rückkehr nach Dänemark angesagt war und eine dortige Etablierung möglich schien. Die deutschen Bande indes sollten vor der Abreise noch fester werden: Steffens verlobte sich mit der 17-jährigen Johanna Reichardt (1784–1855), der Tochter Johann Friedrich Reichardts (1752–1814), die Hochzeit folgte ein Jahr später. Reichhardt war preußischer Hofkapellmeister gewesen und hatte, auch wenn er 1794 wegen »revolutionärer Sympathien« in Ungnade gefallen war, 25 immerhin (auf ein mäßiges Libretto) das Requiem zum Tod Friedrich des Grossen komponiert, er hatte Lieder u. a. von Herder und insbesondere Goethe vertont, »Des Knaben Wunderhorn« war ihm gewidmet, und er ist der Komponist des klassischen deutschen Volksliedes »Bunt sind schon die Wälder«. Steffens, so darf man diese Periode summieren, war also im Alter von 30 Jahren in der deutschen intellektuellen und kulturellen Oberschicht angekommen. Dazu gibt es eine symbolträchtige Markierung in der Überlieferung (!) für die Neujahrsnacht 1800 (sic!); sie ist in der Rezeptionsgeschichte verankert, darf aber auch als fiktional gelesen werden: Als Goethe sich nach dem von ihm organisierten Maskenball des Weimarer Hofes »in ein Nebencabinet« mit
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Fragment zur Philosophie des Geistes. In: Ders.: Werke in zwanzig Bänden. Bd. 11. Frankfurt/M. 1970 (S. 517–550), S. 523. 25 Vgl. Ziolkowski, a. a. O., S. 31 f. 24
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»[e]inigen Bouteillen Champagner« zurückzog und dort das neue Jahr und das neue Jahrhundert feierte – mit Schiller, Schelling und Steffens: 26 Dieser kleine Kreis charakterisiert den Übergang zwischen den beiden Jahrhunderten. Das 18. Jahrhundert war die Zeit der Kritik und des Rationalismus […]. Aber Männer [wie diese] wiesen über ihre Zeit hinaus mit ihrem Sinn für das Ursprüngliche, das Natürliche, das Geniale – für die tiefliegenden Kräfte, deren Wesen nie gänzlich ausgeschöpft werden können, in den Formen, die ein Zeitalter oder ein Jahrhundert ihnen zu geben vermag. 27
So urteilte 1909 mit psychologischer Sensibilität für Symbolhandlungen und ihre nachwirkende Bedeutung der hochangesehene Kopenhagener Philosoph Harald Høffding (1843–1931), wobei er das romantische Denken insgesamt nicht unkritisch sieht; 28 die Jüngeren, Schelling und Steffens, waren ihm die Bannerträger eines neuen Geistes, auch in politischer Perspektive: Für Dänemark verweise die Person Steffens immerhin auf die sich ausbreitende Erkenntnis, dass die vorherrschende politische Ordnung, der Absolutismus, sich nicht mit Bürger- und Freiheitsrechten, insbesondere der Meinungsfreiheit vertrügen; für Norwegen verweise er auf den Geist von Eidsvoll, den Beginn einer parlamentarischen Ordnung nach der Lösung von Dänemark 1814. 29 Wie konstruiert die Geschichte auch immer sein mag – sie wird von Steffens erzählt, bei Goethe ist sie nicht belegt 30 – bleibt doch unabdingbar die kritische Ambivalenz, die symbolisch in der Begegnung der großen Vier in der Neujahrsnacht 1800 zusammengezogen ist: In dieser, nicht nur von Høffding verbreiteten, positiven und sehr frühen Einschätzung von einem epochalen Einschnitt 31 steckt eben auch, wie wir aus der Rezeptionsgeschichte wisSteffens: Was ich erlebte, a. a. O., Bd. 4, S. 408–412. Harald Høffding: Danske filosofer. Kopenhaben 1909, S. 40 (meine Übersetzung, BH). 28 Ebd., S. 44. 29 Ebd., S. 41. 30 In den Tagebüchern Goethes kommt Steffens nur marginal vor; das erwähnte Jahrhundertereignis ist dort nicht notiert! 31 Fritz Paul diskutiert kritisch den in der Literaturwissenschaft zentralen Begriff des »Epochen-« bzw. »Paradigmenwechsel«: Die skandinavische Romantik: Tradition oder literaturhistorischer Paradigmenwechsel? Anmerkungen zu Problemen der Epochenzäsur und der Literaturgeschichtsschreibung. In: Oskar Bandle u. a. (Hgg.): Nordische Romantik. Akten der XVII. Studienkonferenz der International Association for Scandinavian Studies. Basel, Frankfurt/M. 1991, S. 27–39. 26 27
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sen, der Gegensatz von Geist und Gefühl, von Vernunft und Empfindung und reichhaltig viel Ideologie und Missbrauch. 32
Der Komet über Kopenhagen … Henrik Steffens zog es 1802 zurück nach Kopenhagen in der Erwartung, auf eine Philosophie-Professur berufen zu werden. Von seinen im Winter 1802/03 gehaltenen Philosophie-Vorlesungen, denen das junge und das geistige Kopenhagen lauschte, ging die »romantische« Initialzündung in Dänemark aus; mit diesem Datum kamen, so die Konstruktion über den Beginn einer Epoche – die Geschichte ist für die kulturelle Konstruktion von geistigen Epochen eigentlich zu schön, um auch wahr zu sein –, die romantisch-idealistischen deutschen Ideen in den Norden. 33 Kurz nach seiner Ankunft in Kopenhagen 1802 fand das legendäre sechzehnstündige Erweckungsgespräch zwischen Steffens und Adam Oehlenschläger (1779– 1850) statt, das den jungen ehrgeizigen dänischen Dichter mit seinem mytho-poetischen Gedicht »Die Goldhörner« zum ersten Romantiker des Landes gemacht haben soll. Die nach dem Gespräch verfasste Gedichtsammlung von 1803 markiert damit den Beginn der Romantik in Dänemark fast auf den Glockenschlag. Auch wenn für Oehlenschläger die erhoffte Anerkennung Goethes ausblieb und der internationale Durchbruch nicht erfolgte – er schrieb deutsch und dänisch wie viele andere auch – so ist er doch in den skandinavischen Literaturgeschichten ganz zentral aufgeführt: in Dänemark erweckt von einem Norweger, der aus Deutschland kam. Steffens blieb die Karriere in Dänemark versagt – er kehrte nach Halle zurück und wurde dort Professor; in seinen Erinnerungen verweist er in dem Zusammenhang auf allerlei Tratsch und Klatsch, auf Mit dieser Ambivalenz, ja Dissonanz muss man die zitierte Stelle lesen (Steffens wird wenige Zeilen zuvor in die erwähnte Genealogie gesetzt: »Das Interessante an der dänischen Identitätsgeschichte ist, dass alles, was in Deutschland von Herder und Fichte zu den Katastrophen unter Wilhelm II. und Hitler führt, in Dänemark zur Volkshochschule wird, zur Genossenschaftsbewegung und zu parlamentarischer und volksnaher (folkelig) Kultur, gegründet auf das gemeinsame Gespräch und den Kompromiss – idealiter gesehen immer mit Respekt für die Minderheit.« Flemming Lundgreen-Nielsen: Grundtvig og Dansked. In: Ole Feldbæk (Hg.): Dansk identitetshistorie. 4 Bde. Kopenhagen1991–92, Bd. 3 (S. 9–187), S. 173 (meine Übersetzung, BH). 33 Zu Philosophie und Geistesleben in Dänemark der Epoche vgl. auch Koch: Den danske idealisme, a. a. O. 32
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Neid und Aftergerede, selbst die größte Sünde im protestantischen Skandinavien soll im Umlauf gewesen sein: Verbindungen zum Katholizismus. 34 Frappierend – und daher immer wieder erzählt – ist der Kopenhagener »Kometenflug« 35 Steffens’, weil er zum Einen die romantische These von der Wirkmächtigkeit des Genies bekräftigte: Im Grunde, so die verbreitete Überzeugung, begann der Geniekult im Lande mit Steffens. Zum Zweiten verweist er auf den Verfall des alten Ordnungsdenkens in Dänemark (und Europa) nach der Aufklärung, nach der Französischen Revolution und nach den (politischen, z. T. ja auch militärischen) Ernüchterungen während des ersten Jahrzehnts nach der Jahrhundertwende. Dänemark war ein absolutistischer Konglomeratstaat, der aber im Inneren nicht mehr zusammengehalten wurde durch eine allseits akzeptierte Ordnungsvorstellung – Wirtschaft, Gesellschaft und auch Politik funktionierten nicht mehr nach den Gesetzen des Absolutismus (nicht zu reden von denen der Kirche), etwas Neues kam mit der so apostrophierten »Revolution des Geistes« auf die gesellschaftliche und kulturelle Bühne. Politische Herrschaft blieb zwar weiterhin gesichert (erst 1849 wurde der Absolutismus nach einem nicht stattgehabten (!) Volksaufstand abgelöst), aber sie strahlte keinen Sinn mehr aus; die Deutungshoheit für die menschliche Existenz in Gesellschaft und eine kulturelle Legitimation lagen um die Jahrhundertwende nicht mehr bei den staatlichen und kirchlichen Institutionen, die Buchwissenschaft konnte keine Legitimation mehr geben (Grundtvigs späterer Furor gegen das geschriebene und für das »lebendige Wort« hat hierin ihren Ursprung), ein geistiges und kulturelles Vakuum hatte sich aufgetan. Und Steffens wurde zum ersten Verkünder einer neuen Weltinterpretation in Kopenhagen, daher der Massenzulauf zu seinen Vorlesungen, daher aber wohl auch die rasche Erschöpfung, nachdem die Fackel erloschen war. 36 Schon 1890 weist Valdemar Vedel, eine Portalfigur der dänischen Literaturwissenschaft, daraufhin, dass mit der »großen Idee« der Naturphilosophie, in der vorgestellten Einheit von Leben und Geist mit der Natur sich die Romantik als eine »neue Steffens: Was ich erlebte, a. a. O., Bd. 5, S. 99–102. Aage Henriksen: Organismetænkningens grundtræk. In: Ders. u. a. (Hgg.): Ideologiehistorie I. Organsimetænkningen i dansk litteratur 1770–1870. Kopenhagen 1975, (S. 11–29) S. 12. 36 Zu dieser (Ordnungs-)politischen Bewertung s. auch Henriksen, a. a. O., S. 27 ff. 34 35
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Kultur« etablierte. 37 Die spätere Forschung hat die Protagonisten der Epoche, also Steffens eingeschlossen, darum »Naturpatrioten« genannt. 38 Die kulturellen und geistigen Ereignisse in Kopenhagen um 1802/03 waren so wirkmächtig – wie konstruiert auch immer sie gewesen sein mögen –, dass sie die Vorlagen für spätere Generationen lieferten, zwei seien erwähnt: Der 23jährige Oehlenschläger veröffentlichte seine erste Poesie, die ihm seine Reputation verschaffte, unter dem lapidaren Titel »Gedichte« (Digte) – und wann immer sich ein junges dänisches Genie berufen fühlte, folgte es diesem Muster an Selbstbewusstsein; die Zahl der von jungen dänischen Talenten veröffentlichten Gedichtsammlungen unter dem lapidaren Titel Digte ist signifikant. 39 Aber auch die äußere Geschichte, das zweite Beispiel, wiederholt sich: Junges, hochbegabtes Talent, von Draußen, verschafft sich durch provokantes, aber gescheites Reden größte Aufmerksamkeit und natürlich den Neid der »Sippschaft« (dies ist der von Kierkegaard auf die Kopenhagener Tonangebenden gemünzte Begriff), die die weitere Karriere zu verhindern schafft. So bekam der 30jährige Georg Brandes (1842–1927), »Voltaire des Nordens«, wie er später und oft tituliert wurde, 1872 nicht die erhoffte (und verdiente) Ästhetik-Professur, die Adam Oehlenschläger 1810 übertragen bekommen hatte … 40 Bemerkenswert ist, dass auch bei der modernen Interpretation Valdemar Vedel: Studier over Guldalderen i dansk digtning. Kopenhagen (1890) 1967, S. 144 und S. 148. 38 Vgl. Mogens Brøndsted. Romantikforschung in Skandinavien. In: Oskar Bandle u. a. (Hgg.): Nordische Romantik. Akten der XVII. Studienkonferenz der International Association for Scandinavian Studies. Basel, Frankfurt/M. 1991 (S. 1–23), S. 6. 39 Das jüngste Beispiel ist die 2013 erschienene, ungemein erfolgreiche Gedichtsammlung eines 18jährigen »staatenlosen Palästinensers mit dänischem Pass« (Verlagswerbung): Yahya Hassan: Digte. Kopenhagen 2013; dt.: Gedichte. Berlin 2014. 40 Brandes veröffentlichte nach dem Skandal der Nicht-Berufung anonym einen Artikel unter dem Titel: »Steffens, das dänische Publikum und die dänische Obrigkeit« (Steffens, det danske Publikum og den danske Øvrighed). Vgl. Flemming Lundgreen-Nielsen: Grundtvig und Steffens. Die Wechselwirkung zweier berühmter Vettern. In: Otto Lorenz, Bernd Henningsen (Hgg.): Henrik Steffens. Vermittler zwischen Natur und Geist. Berlin 1999 (S. 67–88), S. 68. – Bernhard Glienke geht auf die Steffens-Brandes-Parallele ein und zeichnet sie komprimiert nach: Gründerjahre eines Großkritikers: Der Däne Georg Brandes in Berlin. In: Heinrich Detering (Hg.): Grenzgänge. Skandinavisch-deutsche Nachbarschaften. Göttingen 1996, S. 147–160. – Auch Ove Korsgaard: Kampen om folket. Et dannelsesperspektiv på dansk historie gennem 500 år. Kopenhagen 2004, S. 395. 37
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und Historisierung – also dem Versuch, der Geistesgeschichte einen Sinn zu geben – ein »Rhythmus im dänischen Geistesleben des 19. Jahrhunderts« diagnostiziert wird, der von drei Vorlesungsreihen entscheidend geprägt sei, 41 alle drei vom Ehrgeiz und der Aussicht der Protagonisten auf eine Universitätsanstellung getrieben, alle drei nicht nur vor akademischem Publikum gehalten: Die Vorlesungen Steffens’ 1802/03, die Vorlesungen ab 1837 von Hans Lassen Martensen (1808–84), mit denen – so die Überlieferung – der Hegelianismus nach Dänemark kam, und die erwähnten Vorlesungen Georg Brandes 1871, mit denen die literarische Moderne, »der moderne Durchbruch«, in Dänemark/Skandinavien ihren Ausgang nahm. Es soll hier nicht gelistet werden, was bei einer solchen Art der konstruierten Kulturinterpretation unsichtbar bleibt, sondern nur festgehalten werden, dass Steffens immerhin dann der erste war, der das Paradigma setzte und den Anlass gab für die Fortsetzung der geistesgeschichtlichen Konstruktion. (Nur bei Martensen hat die Strategie des public branding funktioniert, er gelangte in höchste Ämter, ist heute dagegen weitgehend vergessen, Steffens und Brandes hingegen gingen in die deutsche Emigration 42, sind der Nachwelt aber – mit Schwankungen – präsent.)
… und die Konstruktion von der Geburt der Romantik in Dänemark Die mythische Überhöhung der (universal-)romantischen Genesis in Dänemark durch das Wort Steffens’ an Oehlenschläger hat also in hervorragender Weise funktioniert, diese immer wieder diskutierte Konstruktion hat die Epochen überdauert. 43 1802 noch schreibt Oehlenschläger in einem Brief an Kamma Rahbek recht despektierlich: »[…] ich habe Steffens kennengelernt und finde in ihm ein großes Genie, und einen Menschen, mit dem ich sympathisiere, vermutlich weil er verrückt ist und exzentrisch.« 44 Von Steffens selbst Johnny Kondrup: Efterskrift. In: Henrich Steffens: Indledning til philosophiske Forelæsninger. Udg. af Johnny Kondrup. Kopenhagen 1996 (S. 159–225), S. 159. 42 Steffens wählt selbst diesen Begriff, siehe Steffens: Was ich erlebte, a. a. O., Bd. 5, S. 227. 43 … und wurde und wird gerne in Lehrbüchern verkürzt wiedergegeben, z. B. Svend Erik Stybe: Dansk idéhistorie. Kopenhagen 1978, S. 111 ff. 44 Abgedruckt bei Jørgensen, a. a. O., S. 17 (meine Übersetzung, BH). 41
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stammt in dem Zusammenhang der abwiegelnde Satz, aufgeschrieben 40 Jahre nach der Begegnung: »Man hat dennoch meinen Einfluß auf ihn überschätzt.« Gleichwohl spiegelt die Fortsetzung das Gefühl des Geschmeicheltseins: »Ich gab ihn sich selber, er erkannte den inneren Reichtum […].« 45 Die konstruktivistische Mythos von der romantische Erweckung durch Steffens ist von der Forschung immer wieder mal in Frage gestellt worden 46 – er hatte gleichwohl seine Wirkung und wurde verbreitet. 47 Oehlenschläger selbst, Steffens nicht minder wechseln ihre Positionen im Verlaufe der Jahre sowohl im Hinblick auf ihr Gegenüber als gegenüber der Romantik und der Naturphilosophie, damit die Konstruktion erleichternd; Hans Christian Ørsted schreibt am 7. November 1807 einen essaylangen, abwägenden Brief an Oehlenschläger und versucht dessen entbrannten Furor gegen Steffens zu besänftigen. 48 Vilhelm Andersen unternimmt in seiner Dissertation von 1896 anhand des Vorlesungstextes und erhaltener Korrespondenzen, die Konversion bestätigend, den Inhalt ihres Erweckungsgespräches zu rekonstruieren, er liefert damit affirmativ zum ersten Mal eine substantielle Wiedergabe des Übersprungs des Steffens’schen »neuen Denkens« auf Oehlenschläger; 49 die Gegenposition nimmt Ejnar Thomsen 1950 mit seiner Dekonstruktion der Legende von der Geburt der dänischen Romantik aus Steffens’ Geist. 50 Wie immer dem sei: In der Steffens-Überlieferung gibt es wenigstens drei Anekdoten, die von ihm bedient wurden, die gerne wiederholt wurden und die – wenn sie denn stimmen – nicht ganz belanglos für eine Bewertung von Geistes- und Kulturgeschichte sind, zweifelsfrei ist ihre Realitätshaftigkeit nicht: Das champagnerselige Silvestertreffen mit Goethe, Schiller und Schelling 1799, die Konstruktion der
Steffens: Was ich erlebte, a. a. O., Bd. 5, S. 26. Vorder-, Hintergrund und Widerlegung werden ausgebreitet von Alexandra Bänsch: »Katholisch im Kopf«. Die protestantische Romantik in Skandinavien und ihre Prätexte zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Baden-Baden 2011, S. 13– 22. 47 Korsgaard, a. a. O., spricht von einer »literarischen Revolution« und schreibt Steffens gar eine »Johannes-der-Täufer-Funktion« zu S. 205, 314 und passim. 48 Abgedruckt bei Jørgensen, a. a. O. (S. 73–84), S. 77 (meine Übersetzung, BH), auch bei Høffding zitiert, a. a. O., S. 48. 49 Vilhelm Adersen: Guldhornene. Et Bidrag til den danske Romantiks Historie. Kopenhagen 1896, S. 61–76. 50 Ejnar Thomsen: Omkring Oehlenschlägers tyske Quijotiade. Kopenhagen 1950. 45 46
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Genese der Romantik in Dänemark und seine angeblich geplante Berufung an die Berliner Universität schon 1810 … Insgesamt dürfen auch Zweifel erlaubt sein, dass das romantische Einheitsdenken in Dänemark/Skandinavien am Anfang des Jahrhunderts so unbekannt war. 51 Die romantische Schöpfung geschah keineswegs ex nihilo. Der politische, der soziale, der deutsch-dänisch-europäische intellektuelle Grenzverkehr funktionierte nämlich ganz ausgezeichnet, nicht zuletzt durch die Anwesenheit deutscher und europäischer Intellektueller in Dänemark: Klopstock lebte viele Jahre in Kopenhagen, Schiller nicht, hat aber ein dänisches Stipendium erhalten; Fichte, der seine Professur in Jena 1799 verloren hatte und für den nicht zuletzt Steffens eine Petition für eine Berufung nach Dänemark organisierte 52, war schließlich auf der Flucht vor Napoleon in Kopenhagen gestrandet, Johann Caspar Lavater (1741–1801) besuchte die Kopenhagener Salons; auch die Reisen der dänischen Gelehrten nach Deutschland (und Europa) sorgten für regen intellektuellen Austausch. Reisen, Netzwerke, politische und kulturelle Scharniere, zu denen man u. a. als ein politisches und kulturelles Zentrum das Herzogtum Holstein rechnen kann, 53 garantierten eine Art kultureller Infrastruktur. Durchaus als Schlüsselfiguren zu betrachten, waren dabei der in Pommern geborene, durch den Sklavenhandel reich gewordene dänische Finanzminister Heinrich Carl Graf von Schimmelmann (1724–82) und sein in Dresden geborener Sohn Ernst Heinrich (1747–1831), der ebenfalls Finanzminister am dänischen Hof wurde. 54 Zum Milieu der Wahlverwandten gehört auch Friedrich Christoph Dahlmann (1785–1860), in Wismar geboren, mithin schwedischer Untertan, studierte er 1802 in Kopenhagen, war also während Steffens’ Kometenflug vor Ort, zog weiter nach Halle 1804, als wieÄhnlich auch Fritz Paul: »Ein Meister aus der Ferne«: Henrik Steffens als Grenzgänger und Kulturvermittler. In: Detering, a. a. O., S. 115–131. Die Streitfrage zur Epochenbenennung Romantik vs. Biedermeier greift Erik M. Christensen auf: Guldalderen som idéhistorisk periode: H. C. Ørsteds optimistiske dualisme. In: Henning Høirup, Aage Jørgensen (Hgg.): Guldalder Studier. Festskrift tikl Gustav Albeck. Aarhus 1966, S. 11–45. 52 Vgl. Kondrup, a. a. O., S. 173. 53 Vgl. hierzu Steen Bo Frandsen: Holsten i Helstaten. Hertugdømmet inden for og uden for det danske monarki i første halvdel af 1800-tallet. Kopenhagen 2008. 54 Eine nicht unwesentliche Rolle bei dieser Form des Grenzverkehrs spielten die Salons, vgl. Anne Scott Sørensen: Min Laterna Magica – om Charlotte Schimmelmann og Sølyst. In: Sørensen, a. a. O., S. 76–100. 51
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derum Steffens dort lehrte, und zu Schleiermacher, wurde Professor in Kopenhagen und Kiel, wo er 1815 die Festansprache über die Schlacht bei Waterloo hielt, gemahnend an Deutschlands Einheit und wird damit zu einem Begründer des deutschen Nationalismus in Schleswig-Holstein; Friedrich Wilhelm IV., der Förderer Steffens, berief ihn 1842 nach Bonn, er ist einer der »Göttinger Sieben« und Mitverfasser der Paulskirchen-Verfassung. 55 Die biografischen und habituellen Parallelen zu Steffens sind augenfällig, ohne dass hier Genealogien behauptet werden sollen. Der Physiker Hans Christian Ørsted (1777–1851), viel weniger dogmatisch in seiner naturphilosophisch-romantischen Grundhaltung als Steffens, Entdecker des Elektromagnetismus und eine Zentralgestalt des dänischen »Goldenen Zeitalters« 56, »Vater der Elektrotechnik«, traf während seiner ersten europäischen Grand Tour 1801– 04 – er war also bei Steffens’ Kopenhagener Vorlesungen nicht anwesend –, insbesondere die romantischen Kreise in Jena, bevor er nach Paris weiterzog und dort Teilnehmer an den heftigen Disputen der Mechanik, der Naturphilosophie und der experimentellen Physik wurde; dieser »Gedankenleser der Natur« wurde bereits 1806 in Kopenhagen Professor. 57 Sein Beitrag zum Einheitsdenken bestand nicht nur in der Überwindung der Trennung von Magnetismus und Elektrizität (erst seit Ørsted konnte man sie zusammendenken), sondern auch in der Zusammenschau von (Natur-)Wissenschaft und Poesie. Schon mit seiner Dissertation von 1799 hatte er Kant nach Dänemark gebracht, mit dem insbesondere die dänischen Naturwissenschaftler nichts anfangen konnten – und wollten, er war also in gewisser Weise isoliert im Milieu. Er gebrauchte als Erster den Begriff »Gedankenexperiment« zur Bezeichnung von mathematischer und physikalischer Erkenntnis bei Kant. Wegen seiner abgesonderten, nicht dem Mainstream folgenden (Natur-)Wissenschaftsauffassung stand ihm als einziges Forum die von Humanisten dominierte Kopenhagener Skandinavische Literaturgesellschaft offen – vor der er 1805 Wilhelm Bleek: Friedrich Christoph Dahlmann. Eine Biographie. München 2010, die biografischen Schnittmengen mit Steffens S. 24 f. 56 Alle Aspekte von Kunst, Kultur, Wissenschaft und Politik des dänischen »Goldenen Zeitalters« werden in einem Sammelband vorzüglich behandelt: Bente Scavenius (Hg.): Das Goldene Zeitalter in Dänemark. Kunst und Kultur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Kopenhagen 1994. 57 Zu Hans Christian Ørsted siehe die voluminöse Biografie von Christensen, a. a. O.; auch Koch: Den danske idealisme, a. a. O., S. 57–85. 55
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den Vortrag »Über die Übereinstimmung elektrischer Figuren mit organischen Formen« hielt. Darin stimmte er »Steffens’ herrlicher Idee« zu, dass Sauerstoff und Wasserstoff die Repräsentanten für Ost und West, Kohlenstoff und Stickstoff für Nord und Süd seien. 58 Sein Einheitsdenken ist in dem Band gesammelt, dem er den allessagenden Titel gab »Der Geist in der Natur« (Aanden i Naturen) – was aber nicht bedeutet, dass die dänische Naturwissenschaft der Epoche, wie angedeutet, natur-romantisch dominiert war, trotz des großen Ansehens Ørsteds war bis zur Mitte des Jahrhunderts die empirisch ausgerichtete französische Schule in Vormacht. 59 Hans Christian Ørsted, so kann man es auf den Punkt bringen, war wohlvertraut mit der naturromantischen Philosophie seiner Zeit, teilweise auch in Übereinstimmung mit dieser – aber er war in erster Linie Experimentalphysiker. Insofern war er auch durch die empirische, französische naturwissenschaftliche Schule soweit immunisiert, dass er nicht der naturphilosophischen Spekulation anheimfiel. War der Physiker durchaus beeindruckt von Schelling, so war es sein Bruder, der Jurist Anders Sandøe Ørsted (1778–1860) von Fichte; 60 auch er zählte zum Kern des »Goldenen Zeitalters«, wurde nach Abschaffung des Absolutismus 1849 dänischer (Premier-)Minister und war verheiratet mit der Schwester seines Freundes Oehlenschläger – er ist schon vor Steffens der Romantik zuzurechnen. 61 Die Brüder, beide international vernetzt, hoch angesehen in ihren jeweiligen Fachgebieten, stehen paradigmatisch für die These, dass das romantische Denken sich bereits vor Steffens verbreitet hatte, 62 es war nur noch nicht auf den Begriff gekommen. Dieses mediale Ereignis passierte mit Steffens und seinen Vorlesungen 1802: Der Streit ging immer um den Dualismus von Geist und Natur – oder um die Einheit von beidem, die Einheit von Wissenschaft und Poesie. Die Debatten wurden in Paris geführt, in Jena, aber eben auch in Kopenhagen, und das vor 1802/03. Es gäbe sogar gute Gründe für 58 Vgl. Christensen: Naturens tankelærer, a. a. O., Bd. 1, S. 300–305; und ders.: Die Naturauffassung der Romantik. Hans Christian Ørsted in Paris und in Kopenhagen. In: Scavenius, a. a. O., (S. 50–57) S. 50 f. 59 Helge Kragh u. a.: Science in Denmark. A Thousand-Year History. Aarhus 2008, bes. S. 183–190. 60 Anathon Aall,: Filosofien i Norden. Kristiania 1919. S. 94. 61 Vgl. hierzu auch Uffe Andreasen: Poul Møller og romantismen – den filosofiske idealisme i Poul Møllers forfatterskab. Kopenhagen 1973, insb. S. 12–44. 62 Vgl. auch Høffding, a. a. O., S. 49 ff.
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die Anhänger der romantischen Wende anzunehmen, dass Oehlenschläger, der frühzeitig etwas Neues wollte, von Hans Christian Ørsted »aufgeweckt« worden ist und das ein paar Jahre, bevor der Komet über Kopenhagen erschien. 63 Dass Steffens mit seinem romantischen Einheits-Plädoyer auf den Widerstand Hegels stieß, liegt auf der Hand. Er befand sich damit allerdings in einer gewissen dänischen Denktradition, die von vielen, wenn nicht den meisten Philosophen geteilt wurde; in Dänemark eroberte Hegel immerhin die Theologie, die Philosophie blieb gegenüber Hegel relativ immun – insofern passt es ins Bild, dass Søren Kierkegaard zum heftigsten Kritiker Hegels wurde, war er doch mehr Philosoph denn Theologe …
Von Halle nach Breslau Das Kopenhagener Stellendesaster löste sich für Steffens glücklich mit der Berufung an die Universität Halle 1804 auf, die zu der Zeit eine der renommiertesten in Deutschland war; 64 auch der fünf Jahre ältere Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834), mit dem er sich anfreundete, war im selben Jahr nach Halle berufen worden. Die geografische Nähe zu Jena mag seine Glücksgefühle beflügelt haben, wie natürlich auch die zu Giebichenstein, dem Sitz der Schwiegereltern und der Aussicht, an deren gesellschaftlichem und kulturellem Leben teilhaben zu können. Schelling hatte Jena dagegen schon im Jahr zuvor verlassen und war nach Würzburg gegangen, 1806 zog er weiter nach München, später nach Erlangen. Steffens wird für die Studenten der Universität und die Besucher der Stadt zu einem (natur-)philosophischen, auch von der Tagesaktualität angezogenen und diese kommentierenden professoralen Guru: Joseph Freiherr von Eichendorff (1788–1857), Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858), Ludwig Börne (1786–1837), Wilhelm Grimm (1786–1859) – sie alle sprechen und schreiben vom Enthusiasmus und der assoziativen Rednergabe Steffens’ sowie seiner Anziehung auf die jungen Studenten; 65 der Kopenhagener Kometenflug setzt sich also über Halle fort – bis die Universität nach der preußischen 63 64 65
Siehe Christensen: Naturens tankelæser, a. a. O., Bd. 1, S. 120 und 278. Vgl. auch Ziolkowski, a. a. O., bes. S. 314–353. Abelein, a. a. O., S. 14 f.
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Niederlage und der Besetzung durch Napoleon geschlossen wird. Die Studenten verlassen nun die Stadt, die Professoren bekommen keine Gehälter mehr; materiell bessert sich die Lage nach der Wiedereröffnung der Universität 1808 nicht wesentlich, von vormals 1.208 Studenten kommen nur 174 zurück; Halle gehört nun zum Königreich Westphalen. 66 Für den arbeits- und stellenlosen Steffens beginnt nach der Schließung, er erhält von Schimmelmann Unterstützung, eine Wanderzeit, dabei kommt er u. a. nach Kiel, wo er – wieder in der Hoffnung auf eine Stelle im Königreich Dänemark – mit dem Kronprinzen Frederik zusammenkommt. Mitten im Krieg war die Lage für Steffens, inzwischen immerhin Familienvater, noch angespannter geworden; aber auch diesmal bleibt die Intervention ohne Ergebnis. Denn obwohl Frederik von Steffens angetan war – er hielt ihn für einen »guten Kopf« –, waren weiterhin Unbotmäßigkeiten im Umlauf, die ja in der Tat konstitutiv für Steffens waren; zudem hatte der Kronprinz bedauerlicherweise die ihm von Steffens zugesandten »Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft« gelesen, offenbar auch Einiges verstanden und musste aufgrund dieses Wissens Unbill befürchten. Frederik wollte ihm die Stellung sehr wohl geben, dieser dürfe aber – worauf sich Steffens nicht einlassen wollte – keine Vorlesungen halten, denn »Sie machen mir meine Unterthanen verrückt.« 67 Steffens, der diesen Satz wiedergibt, hatte ja den öffentlichen Auflauf wegen seiner Kopenhagener Vorlesungen selbst erlebt. Er verweist aber auch auf ein, heute würden wir sagen, beamtenrechtliches Problem, das bei dem immer lauter werdenden Gespräch mit dem Kronprinzen offenbar eine große Rolle gespielt hat: Dänemark befand sich schließlich im europäischen Krieg auf Napoleons Seite – England hatte bereits 1801 die dänische Flotte vor KopenhaEbd., S. 14. Steffens, Was ich erlebte, a. a. O., Bd. 5, S. 245. – Zur 1807-Begegnung siehe auch Christensen, a. a. O., Bd. 1, S. 399 ff. – Von Goethe gibt es zu den »Grundzügen« folgende despektierliche Äußerung in einem Brief an F. D. Wolf: »… das Büchlein hat zwar in seiner Vorrede einen honigsüßen Rand, an seinem Inhalte aber würgen wir andre Laien gewaltig. Gebe nur Gott, daß es hintendrein wohl bekomme. Vielleicht geht es damit, wie mit den Brunnenkuren, an denen die Nachkur das beste seyn soll, d. h. doch wohl, dass man sich dann erst wieder gesund befindet, wenn man sie völlig aus dem Leibe hat.« Zit. n. Dietrich von Engelhardt: Natur und Geist, Evolution und Geschichte. Goethe in seiner Beziehung zur romantischen Naturforschung und metaphysischen Naturphilosophie. In: Peter Matussek (Hg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur. München 1998, (S. 58–74) S. 61.
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gen angegriffen –, und Steffens stand (freilich beurlaubt) in den Diensten der Universität Halle, mithin, auch wenn sich die machtpolitische Situation nach 1806 verändert hatte, war er nach seinem Vertrag ein Beamter Preußens, gehörte folglich zur Anti-NapoleonKoalition. Steffens schildert die Begegnung relativ ausführlich, sie wird gerne zitiert. Allerdings ist auch die Reaktion des Regenten nicht uninteressant, der aus dem Kieler »Hauptqwartier« am 17. Februar 1807 an den Grafen Schimmelmann schreibt (die Sprache des Kronprinzen ist das Deutsche): Mein lieber Graf Schimmelmann! […] Professor Steffensen ist jetz hier, er wünschte hier in die Königs Staten angestelt zu werden, aber wie ich ihm sagte, das ich dies mit Vergnügen thuen wolte, wen er auch nicht als öffentliger Lehrer auftreten wolte, so war alles aus, erklärte mir mit einem Stoltz welcher bei Got lächerlich war, dass Warheit wäre seine Religion, und dafür wolte er leben und sterben; ich sagte ihm, er könte ja drucken und schreiben, nur nicht Vorlesungen halten, wodurch er die Köpfe verrüke etc., er blieb bei seiner Meinung und ich bei der meinigen, und so schieden wir uns. Überhaupt habe ich alle Uhrsache zu glauben, dass diese neue Philosophie das Unheil was bei diese Krigs Unruhen getroffen hat, ihm seinen Verstand, wenigstens sein gesundes Uhrteil beraubt hat, welches Schade für ihm ist, da er ein herliger Kopf ist. 68
Steffens’ kompromisslose Sturheit scheint Thema in Kopenhagen gewesen zu sein, sie wird jedenfalls so aufgenommen; und dabei waren die Sympathien auf seiner Seite. 69 Dies ist insofern anmerkenswert, als wir uns einerseits immer noch im absolutistischen Dänemark befinden, andererseits Lehr- und Meinungsfreiheit vom Regenten selbst bereits als bürgerliches Recht (mit Modifikationen) betrachtet wird; in der Salonöffentlichkeit wird es als Recht sui generis aufgefasst. Nicht zuletzt besaß Steffens schließlich durch seine Kieler Promotion das jus docendi. Trotz der kriegsbedingt bedrückenden Verhältnisse, schlägt sich Steffens in Halle weiterhin durch; dieser Lebensabschnitt ist sogar relativ produktiv, es setzen sich die Fach- und Kultur-übergreifenden Begegnungen und Zusammenarbeiten fort – vielleicht gerade besonders intensiv wegen der durch den nahegerückten Krieg so angespannten Lage: Wilhelm Grimm lebt in Halle mit Steffens im gleiAbgedruckt bei Jørgensen, a. a. O., S. 59. Vgl. Brief von Kamma Rahbek an Oehlenschläger, 14. 3. 1807 in: Jørgensen, a. a. O., S. 60.
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chen Haus, sie pflegen einen regen geistigen Austausch, Steffens geht Grimm bei der Übersetzung nordischer Mythologie und dänischer Lieder zur Hand; »er begegnet in ihm (= Steffens, BH) einen jener heillosen romantischen Charaktere ›ohne alles Gleichgewicht und Ruhe‹, in denen ›etwas zerstörendes und gewaltsam heftiges‹ rumort.« 70 In diese Zeit fällt das Erscheinen seiner ersten eigentlich politischen Schrift auf der Grundlage der 1808 gehaltenen Vorlesungen »Über die Idee der Universitäten« 71; sie sollte, zusammen mit der Expertise Wilhelm von Humboldts (1767–1835), der Rektoratsrede Johann Gottlieb Fichtes, Schellings Vorlesungen zum Gegenstand und dem Beitrag Schleiermachers zu den fünf Gründungsschriften der modernen Forschungsuniversität werden, und sie sollte ihn für eine Stelle an der noch zu gründenden Berliner Universität qualifizieren. Der Ruf der Universitäten am Beginn des 19. Jahrhunderts war miserabel, kaum jemand trauerte ihnen bei den durch die Napoleonischen Kriege veranlassten Schließungen nach, der Begriff selbst war entwertet. Und so ist es als institutionelle und als substantielle Revolution zu betrachten, was sich auf der Grundlage der genannten Gutachten in der Gründung der Berliner Universität als erstem Höhepunkt im deutschen akademischen Leben 1810 ereignen sollte – alle plädierten für einen neuen Bildungsbegriff und eine neue Institution. Universitäten werden, so auch Steffens, zu »Schulen der Selbstbildung«, deren Unterhalt dem Staat obliege, auf ihnen habe der »Geist des freien Forschens ungehindert« zu walten. »Freiheit der Wissenschaft« und »Einheit von Forschung und Lehre« sind seither zu billiger Münze geworden, am Beginn des 19. Jahrhunderts waren sie jedoch bildungs- und forschungspolitische Aufreger und markierten letzten Endes den Abschied vom überlebten mittelalterlichen Universitätskonzept. 72 Wie Werner Abelein nachgewiesen hat, 73 sind Steffens’ politische Schriften deswegen so wichtig – das ging aus dem VorhergesagSteffen Martus: Die Brüder Grimm. Eine Biographie. Berlin 2009, S. 143, die eingeschobenen Grimm-Zitate ebendort. Vgl. auch Steffens: Was ich erlebte, a. a. O., Bd. 6, S. 116 f. 71 Henrich Steffens: Über die Idee der Universitäten. Vorlesungen. Berlin 1809. 72 Zu dieser Einordnung der Steffens’schen Universitätsschrift siehe auch Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt/M. 1994, S. 176 ff. 73 Abelein, a. a. O. 70
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ten bereits hervor –, weil sie sein politisches Denken und Agieren eng mit den Methoden und den Aussagen seiner Naturphilosophie verknüpfen; der (naturphilosophische) Wissenschaftler ist vom Politiker und vom politisch denkenden Professor nicht zu trennen. Die Denkungsart ist auch in diesem Zusammenhang eine der Einheit – die von Denken und Handeln, von Motiv und Ethos, von Natur und Geist. Insofern bestimmt die Naturphilosophie die Normen, die auf historische, politische und gesellschaftliche Probleme anzuwenden sind. Die auftretenden Brüche sind dann allerdings auch zu benennen, sie werden in der Biografie, also vom letzten Lebensabschnitt her, in teleologischer Manier geglättet, rückwärts folglich in die Einheit (des Lebens) integriert; die persönliche Identität ist als eine Art Lebensmythos konstruiert. Die angestrengte materielle Lage und die politischen Spannungen lösten sich 1811 mit seiner Rückkehr nach Preußen auf: der Berufung auf eine Professur an die Universität Breslau, der zuvor die Universität Frankfurt/Oder zugeschlagen worden war. 74 Sein Ziel war die 1810 gegründete Berliner Universität gewesen, aber auch in diesem Falle stand sich Steffens – wie in Kopenhagen – offenbar selbst im Wege, bzw. andere, politisch und philosophisch Gefälligere standen vor ihm.
Vom Freiheitskrieger zum politischen Autor Breslau, wo er bis 1832 (1821/22 und 1829/30 war er dort Rektor) und bis zur dann erfolgten, immer erhofften Berufung nach Berlin bleiben musste, ist der Ort des eigentlich »politischen« Henrik Steffens. War er in Kopenhagen, dann in Halle aufgefallen durch aufmüpfiges Reden gegen die Obrigkeit bzw. die französischen Besatzer, so kulminierte sein Engagement in Breslau 1811 in erfolgreichen Aufrufen an die Studenten und die Öffentlichkeit zum Kampf gegen Napoleon (was vielen seiner Professorenkollegen gar nicht recht war; viele derjenigen, die ihm folgten, uniformierten sich auf eigene Kosten und rüsteten sich selbst aus), sowie dann folgend seinem Anschluss an die Truppen der Anti-Napoleon-Allianz und dem Einmarsch in Paris mit dem Blücher’schen Hauptquartier als, wie bereits Vgl. Volker Gerhardt/Reinhard Mehring/Jana Rindert: Berliner Geist. Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie bis 1946. Berlin 1999, S. 53.
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zitiert, selbstbezeichneter »ungeschicktester Seconde-Lieutenant der preußischen Armee«. Auf dem Weg dorthin hielt er in Gießen und Marburg despektierliche Reden gegen die Franzosen, die zu so etwas wie einem Aufstand der Massen führten. Steffens, der seine »Thätigkeit im Kriege« – kokettierend oder auch nicht – als »so unbedeutend« beschreibt, 75 befand sich in diesen Jahren gleichwohl im Zentrum dessen, was man in der Tat die »Urszene des deutschen Nationalismus« 76 bezeichnen könnte: Von August Neidhardt Gneisenau (1760–1831), Zweiter Generalquartiermeister und Blüchers Stabschef, als Verbindungsoffizier eingesetzt, irrte er auf den Bloodlands der Völkerschlacht von Leipzig in den Oktobertagen 1813 umher; zwischen preußischen, russischen, schwedischen, österreichischen und französischen Truppen gewinnt er unmittelbare Impressionen von den Ereignissen und vermag in seinen Erinnerungen eindrücklich davon zu berichten. 77 Die geschilderten Details widersprechen der durchscheinenden Bewertung, es handele sich um seine persönliche Grand Tour (von Breslau nach Paris), gleichsam um eine Bildungsreise durch das aufgewühlte, metzelnde Europa. Mit seinem Drang zur politischen und militärischen Tat war Steffens bekanntermaßen nicht allein: 78 Fichte und Schleiermacher in Berlin, Friedrich Ludwig Jahn, der »Turnvater« (1778–1852), Joseph von Eichendorff, Ernst Moritz Arndt (1769–1860) und Theodor Körner (1791–1813) sind ebensolche Beispiele. Letzterer fällt im Alter von nur 21 Jahren; noch am Vorabend des für ihn tödlichen Gefechts hatte er den Kameraden sein legendäres »Schwertlied« vorgetragen: »Du Schwert an meiner Linken, was soll dein heitres Blinken?«; er wurde zum paradigmatisch sich aufopfernden, patriotischen Helden und eine nützliche Referenz in den ideologischen, vaterländischen, nationalistischen Appellen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Schriftsteller, Studenten, Professoren in großer Zahl taten es ihnen gleich: Mit ihnen spiegelt sich die politische, die idealistische
Steffens: Was ich erlebte, a. a. O., Bd. 7, S. 226. Jens Bisky: Das grässlichste Schauspiel. In: Süddeutsche Zeitung, 31. 8./1. 9. 2013, S. 13. 77 Steffens: Was ich erlebte, a. a. O., Bd. 7, S. 290–311. 78 Vgl. etwa Torsten Lüdtke: Turner, Burschen und Philister – Studentisches Leben in Berlin zwischen Universitätsgründung und Revolution. In: Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. 6 Bde. Berlin 2010 ff., Bd. 1 (S. 269–324), bes. S. 289 ff. 75 76
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Ambivalenz wider – der des Freiheitsdrangs, initiiert durch Aufklärung und Französischer Revolution, und der der patriotischen Nationalbewegung (Arndt: »Was ist des Deutschen Vaterland?«). 79 Steffens steht anfangs auf der Seite der Freiheit – immerhin aber ist sein Franzosenhass in keiner Weise vergleichbar mit dem von Körner, Arndt, Jahn und Konsorten, er wird erst nach dem Krieg ein einigermaßen moderater Anhänger der alten Ordnung. Auf seinen eigenen Wunsch hin entlässt Friedrich Wilhelm III. Steffens am 5. Mai 1814 noch von Paris aus aus der Armee: Da Sie jetzt dem Staate durch Ihre Rückkehr zu den Wissenschaften unstreitig nützlicher sein werden, als in Ihrem jetzigen Verhältniß zur Armee, so billige ich Ihren […] Mir vorgelegten Wunsch um Entlassung aus dem Militairedienst, und ertheile Ihnen den Abschied aus demselben mit der Versicherung, daß ich die patriotische Aufopferung dankbar anerkenne, mit denen Sie Ihren Mitbürgern in der Zeit der Gefahr rühmlich vorangegangen sind. 80
Es erging ihm mit Politik und Zeitgeschehen wie mit der Philosophie: Nur selten noch wird an ihn erinnert, 200 Jahre nach dieser Urszene kommt Steffens in den Schriften und Ausstellungen zum Ereignis nicht mehr vor. Zu den Kombattanten gehörig, hat er gleichwohl nicht gekämpft, insofern wird ihn neben der politischen Empörung über die Besatzer auch seine Neugier getrieben haben, am Feldzug und an der nationalen Kampagne teilzunehmen. Es mag zu Spekulationen anregen, dass Generalfeldmarschall Gebhard Leberecht von Blücher (»Marschall Vorwärts«, 1742–1819) ihn nicht mit Namen Von Heinrich Heine ist diese Ambivalenz mit der vielzitierten Passage benannt worden: »Da sahen wir nun das idealische Flegeltum, das Herr Jahn in System gebracht; es begann die schäbige, plumpe, ungewaschene Opposition gegen eine Gesinnung, die eben das Herrlichste und Heiligste ist, was Deutschland hervorgebracht hat, nämlich gegen jene Humanität, gegen jene allgemeine Menschenverbrüderung, gegen jenen Kosmopolitismus, dem unsere großen Geister, Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Jean Paul, dem alle Gebildeten in Deutschland immer gehuldigt haben. Was sich bald darauf in Deutschland ereignete, ist euch allzuwohl bekannt. Als Gott, der Schnee und die Kosaken die besten Kräfte des Napoleon zerstört hatten, erhielten wir Deutsche den allerhöchsten Befehl, uns vom fremden Joche zu befreien, und wir loderten auf in männlichem Zorn ob der allzulang ertragenen Knechtschaft, und wir begeisterten uns durch die guten Melodien und schlechten Verse der Körnerschen Lieder, und wir erkämpften die Freiheit; denn wir tun alles, was uns von unseren Fürsten befohlen wird.« Heinrich Heine: Die romantische Schule in Deutschland. In: Heines Sämtliche Werke. 10 Bde., Leipzig o. J., Bd. 6, (S. 75–262) S. 109 f. 80 Steffens: Was ich erlebte, a. a. O., Bd. 8, S. 142 f. 79
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oder seinem Dienstgrad anredete und Aufträge erteilte sondern mit: »Herr Professor«. 81 Nach seinem Ausflug in die Soldatenkarriere, nach seinem Engagement als Freiheitskämpfer, insbesondere nachdem der romantische Elan der Naturphilosophie erlahmt war und die Kritik daran immer deutlicher wurde, machte sich der »ausrangierte Naturphilosoph […] nun berühmt mit politischer und polemischer Publizistik.« 82 Es ist dies das zweite markante politische Engagement Steffens’, es zielt ins Zentrum der politischen Auseinandersetzungen nach der restaurativen Neuordnung Deutschlands und Mitteleuropas in der Folge des Wiener Kongresses. Es geht dabei um den Gegensatz zwischen ständischer und egalitärer Gesellschaftsordnung: die »Breslauer Turnfehde«. Die Kollegenschaft und die Bildungsanstalten sind heftig bewegt, Freundschaften und Zusammenarbeiten zerbrachen an ihr, bis in die Mehrheitsverhältnisse bei den Rektoratswahlen spielten die Parteinahmen hinein. 83 Steffens stand als einer der Motoren auf der Seite der »Turnfeinde«, die das von Jahn national und politischemanzipatorisch propagierte Turnen bekämpften; Steffens betrachtete das Turnen als eine nützliche Beschäftigung, die darin gebündelte politische Mission einer Emanzipation der Gesellschaft indes als Humbug, wenn nicht als Schlimmeres. Waren Jahn und seine Bewegung noch als förderlich betrachtet worden bei der Ertüchtigung und Wehrvorbereitung der Jugend und für die Erhebung gegen Napoleon, so schlug das Pendel nach der verordneten Wiener Ruhe und der sich ausbreitenden Skepsis gegen liberale und nationale Bewegungen um – von einer erträumten Neuordnung der politischen Ordnung konnte gar keine Rede sein, nicht in Europa, erst recht nicht in Deutschland. Die aus den anti-napoleonischen Kriegen zurückgekehrten Studenten, nicht zuletzt aber auch das liberale Bürgertum, die den Nationalstaat (und eben nicht die wiedererstarkten monarchischen Einzelstaaten) wollten, rebellierten für den »Geist von 1813« und provozierten damit die restaurative Obrigkeit. Das Wartburgfest der Burschenschaften 1817, von Jahn initiiert (und eben auch die erste deutsche Bücherverbrennung in Steffens: Was ich erlebte, a. a. O., Bd. 7, S. 299. Günter Oesterle: Henrik Steffens: Was ich erlebte. Spätromantische Autobiographie als Legitimierung eines romantischen Habitus. In: Annegret Heitmann, Hanne Roswall Laursen (Hgg.): Romantik im Norden. Würzburg 2019 (S. 191–206), S. 204. 83 Abelein, a. a. O., S. 16. 81 82
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neuerer Zeit), mit dem die deutsche nationale Einheit mit markigen Worten auf die Tagesordnung gesetzt wurde, die »Breslauer Turnfehde« von 1818, schließlich die Ermordung August von Kotzebues (1761–1819) durch den Jenaer Burschenschaftler Karl Ludwig Sand (1797–1820), nicht zuletzt antisemitische Ausschreitungen, für die auch Jahn verantwortlich gemacht wurde, stellen die Höhepunkte der Ereignisgeschichte dar, die die Gründe lieferten für die »Karlsbader Beschlüsse« vom August 1819 und die nachfolgenden »Demagogenverfolgungen«; seither war beispielsweise die bislang geltende Zensurfreiheit für Professoren aufgehoben, eine Situation der Berufsverbote entstand. Die politische Lage war kontaminiert, Turnen wurde verboten (»Turnsperre«) und Jahn musste (wie manch ein universitärer Kollege Steffens’) ins Gefängnis, anschließend in die Verbannung; die Burschenschaften wurden zur Selbstauflösung gezwungen. 84 Die durch den Wiener Kongress und die nachfolgenden »Karlsbader Beschlüsse« in Europa verordnete Ruhe, konnte langfristig nicht eingehalten werden; die folgende politisch reaktionäre Restauration, die Unterdrückung nationaler, liberaler und demokratischer Bewegungen, deren Protagonisten als Demagogen denunziert wurden, bekam ihre Verstärkung mit dem Hambacher Fest 1832, als noch einmal die Forderungen nach Volkssouveränität, nach nationaler Einheit und bürgerlichen Freiheiten in den Mittelpunkt des politischen Interesses rückten. Alle Repressionen konnten nicht verhindern, dass sich im Bürgertum die Ideen von bürgerlichen Rechten und nationaler Eigenständigkeit weiter verbreiteten. Gezwungenermaßen musste dann der Deutsche Bundestag die »Beschlüsse« im Zuge der MärzRevolution 1848 abschaffen. In Breslau entstanden Schriften, die als Steffens’ politische zu bezeichnen sind, die jeweiligen Titel verweisen bereits auf den enthaltenen Sprengstoff, u. a. »Die Gegenwärtige Zeit und wie sie geworden mit besonderer Rücksicht auf Deutschland« (1817), »Turnziel. Sendschreiben an den Herrn Professor Keyßler und die Turnfreunde« (1818), »Über Kotzebues Ermordung« (1819), »Caricaturen des Heiligsten« (Bd. I 1819 und Bd. II 1821), »Die Gute Sache, eine Aufforderung zu sagen, was sei, an alle, die zu wissen meinen, veranlasst
Vgl. Hans-Joachim Bartmuss, Josef Ulfkotte: Nach dem Turnverbot. »Turnvater« Jahn zwischen 1819 und 1852. Köln, Weimar, Wien 2011.
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durch des Verfassers letzte Begegnisse in Berlin« (1819), »Über Deutschlands protestantische Universitäten. Antwortschreiben an den Herrn Präsidenten v. Lüttwitz« (1820). Diese Publikationen demonstrieren den inneren Wandel des Autors – vom Patrioten für ein einiges Deutschland in den »Befreiungskriegen« und dem Advokaten für die Freiheit des Einzelnen in der Universitätsschrift und nun zum Apologeten einer entpolitisierten akademischen Freiheit und der Vorstellung von der Universität als Beamtenbildungsstätte; politisch wird er vom Liberalen zum Konservativen (eine Entwicklung, die man auch für Wilhelm von Humboldt in diesen Jahren feststellen kann), der nicht mehr auf den Einzelnen sondern auf die Gemeinschaft und den Staat setzt. Mit Freiheit ist die Anerkenntnis der Notwendigkeit gemeint, der sozialen und politischen Notwendigkeit, die in den jeweiligen Situationen eine vorgegebene ist. Da für Steffens Leben und Werk, Denken und Handeln eine Einheit sind und von ihrem Ursprung her verstanden werden können und müssen, ist seine apologetisch zu verstehende Quintessenz von Politik, wie er sie am Ende seines Lebens formuliert, kennzeichnend, sie ist es auch für seine Zeitgenossen und lohnt daher ausführlich zitiert zu werden, von Wandel kann gar keine Rede sein, alles ist Entwicklung und also Einheit: [zuvor ist von einem nicht zu erkennenden, nur vom Weltall bestimmten Gesetz die Rede, BH] Es giebt kein klareres Bild des stillordnenden organischen Staatsgesetzes, wie es zugleich in der stillen, scheinbar von allen Seiten beherrschten Seele des tüchtigen Bürgers zum Vorschein kommt, als dieses. Er huldigt dem Gesetz, welches ihn bindet, und ist eben daher in fortdauernder geordneter freier Entwickelung begriffen. Fragt ihr, ob er conservativ oder progressiv sei, so hat dieser Gegensatz eben in ihm gar keinen Sinn; es ist ja eben dieser nichtige Gegensatz, der das Unglück aller Staaten erzeugt. Der ächte Bürger ist conservativ und legitim, weil er progressiv und liberal ist; gäbe er dasjenige auf, in seiner bestimmten Form, welches sich entwickeln soll, dann verlöre ja die Entwickelung selbst allen Sinn, ja ließe sich gar nicht denken; und gäbe er diese auf, so verlöre ja das, was er erhalten will, die bestimmte Lebendigkeit, er schleppte sich, einem Wahnsinnigen ähnlich, mit einer Leiche. 85
85 Steffens: Was ich erlebte, a. a. O., Bd. 8, S. 226. – Hans-Ulrich Wehler zitiert diesen, »nur an der Oberfläche paradox wirkenden Glaubenssatz des Besitzbürgertum« als bezeichnend für das Bürgertum des langen Vormärz: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 4 Bde. München1996, Bd. 2, S. 204.
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Mit den »Caricaturen«, die von Kierkegaard begeistert aufgenommen werden, 86 beendete Steffens seinen politisch aktivistischen Lebensabschnitt – sicherlich auch aufgrund der veränderten politischen Situation, der durchstandenen Scharmützel und der eingetretenen Kollateralschäden, hatte er mittlerweile doch Freunde und Sympathisanten verloren. Mit »Von der falschen Theologie und dem wahren Glauben« (1823) und einige Jahre später »Wie ich wieder Lutheraner wurde und was mir das Luthertum ist« (1831) rückt ein neues Thema in den Mittelpunkt – das von Religion und Theologie. Steffens wird nun zum bekennenden Altlutheraner und hat damit erneut ein aktuell kontroverses Betätigungsfeld gefunden, dessen Zentrum gerade in Breslau lag: der Konflikt zwischen Unierten und Altlutheranern (die Konfliktlinie verlief auch durch die königliche Familie). 87 Aber auch bei diesem Thema haben wir es letztenendes mit Politik zu tun, was Friedrich Engels Jahre später feststellt: [der kosmopolitische Liberalismus] entsprach dem religiösen Rationalismus. Mit dem er aus der gleichen Quelle, der Philanthropie des vorigen Jahrhunderts, geflossen war, während die Deutschtümelei konsequent zur theologischen Orthodoxie hinführte, wohin fast alle ihre Anhänger (Arndt, Steffens, Menzel) mit der Zeit gelangt sind. 88
»Die vier Norweger« Steffens’ Publikationen erfuhren in der Regel eine unmittelbare Resonanz, das gilt auch für seine literarischen Beiträge, die er mit bewunderndem Blick auf Ludwig Tieck (1773–1853) verfasste: Insgesamt legte er 16 Bände Novellen vor. Wie bereits erwähnt, suchte er Dänemark, Schweden und seine Heimat Norwegen im Jahr 1824 noch einmal für eine längere Reise auf, unternahm geologische Expeditionen, inspirierte das akademische Milieu – und verfasste nach seiner Rückkehr eine Reihe von Novellen: »Walseht und Leith«, »Die vier Norweger« und »Malcom«, die offenbar eine so große VerbreiGarff, a. a. O., S. 182. Ausführlich dazu bei Abelein, a. a. O., S. 213–224; siehe auch Torstein Jørgensen: »Wie ich wieder Lutheraner wurde«. Henrik Steffens’ kirkekamp og teologi. In: Lorenz, Skarstad, a. a. O., S. 78–88. 88 Friedrich Engels: Ernst Moritz Arndt. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Ergänzungsband / Zweiter Teil. Berlin 1967, (S. 118–125) S. 123 (= Telegraph für Deutschland, Januar 1841). 86 87
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tung fanden und auch Anlass zu Diskussionen boten, dass Anspielungen darauf auch mehr als 20 Jahre später verstanden wurden. So gibt es etwa eine polemische Äußerung von Friedrich Engels, der 1847 apropos des Schweizer »Sonderbundskrieges« in der »Brüsseler Zeitung« beiläufig die Bemerkung fallen lässt: »[…] dann bleibt euch nichts, als Henrik Steffens zu lesen und für die frostigen Norweger zu schwärmen!« 89 Der zeitgenössische Erfolg seiner literarischen Produktion – beim Publikum, nicht bei der Kritik – hat nicht verhindert, dass sie in Vergessenheit geriet: Es gibt keine Neuauflagen, die Wissenschaft hat sie weitgehend vernachlässigt. 90 Im Übergang von Romantik zu Biedermeier – so resümiert Stefan Höppner – hat Steffens als romantischer Naturforscher ein umfangreiches Erzählwerk geschaffen, das jüngeren Autoren wie etwa Heinrich Heine als Relikt früherer Zeiten erschien; ihr Urteil hat überlebt, deswegen wurde er übersehen und vergessen. Steffens war nicht der Erste und er sollte auch nicht der Letzte bleiben, der die Norwegen-Stereotypien, die sich insbesondere beim ausländischen Publikum großer Beliebtheit erfreuen sollten, bediente, sie partiell auch erfand. 91 Er fing seine Leser ein und konnte – mag sein, dass seine Reputation als akademischer Breslauer und dann als Berliner Professor bei der Rezeption ins Spiel kamen – die gebildete Lesewelt mit der Schilderung des nordischen Menschenbildes und der norwegische Landschaft faszinieren. Helge Hultberg charakterisiert Steffens’ Novellen mit ihrem stereotypen Exotismus: Steffens ist ein hervorragender Schilderer der norwegischen Natur und norwegischer Sitten, der erste in seiner Art in Deutschland […]. Eine ganz neue Welt öffnet sich der deutschen Leserwelt, und sie greift begehrlich nach ihr. Auch wird die dänische Literatur fleißig benutzt für Vergleiche und Hinweise; man kann fast eine ganze Literatur- und Geistesgeschichte aus den Romanen herausziehen. 92
89 Ders.: Der Schweizer Bürgerkrieg. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Bd. 4. Berlin 1959, (S. 391–398) S. 395 (= Deutsche Brüsseler-Zeitung, 14. 11. 1847). 90 Mit Stefan Höppners großer Studie wird dieses Desiderat erstmals aufgefüllt: Natur / Poesie: Romantische Grenzgänger zwischen Literatur und Naturwissenschaft: Johann Wilhelm Ritter – Gotthilf Heinrich Schubert – Henrik Steffens – Lorenz Oken. Freiburg, im Druck. 91 Vgl. Ivar Sagmo: »Nach Norwegen!« Zur politischen Reiseberichterstattung und Publizistik im Biedermeier und Vormärz. In: Lorenz, Henningsen, a. a. O., S. 127– 141. 92 Hultberg: Den ældre Henrich Steffens, a. a. O., S. 89 (Übersetzung von mir, BH).
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Der dänische Philosoph Poul Martin Møller (1794–1838), väterlicher Lehrer Søren Kierkegaards, bemerkt in einem Brief aus Christiania/Oslo – er hatte dort eine Philosophieprofessur inne – am 5. Mai 1829 an seinen Kollegen Frederik Christian Sibbern (1785– 1872) 93 salopp: […] auch wenn wir etwas abseits der kultivierten Welt leben, insbesondere im Winter, ist Norwegen doch kein rein tomitanisches Land 94 […]. Die Vier Norweger habe ich gelesen […]. Als Kunstwerk betrachtet, finde ich diese Arbeit ziemlich mäßig, und ich finde, dass sie fast alle die Grundfehler hat, die Steffens selbst sehr wohl bei anderen zeitgenössischen Dichtern zu benennen weiß. Zumal finde ich sie sehr zusammengestückelt […] und ohne poetische Erfindungskraft. Das was mich am meisten in dem Buch interessierte, war die Darstellung der Position des Katholizismus zum Protestantismus. 95
Die Novellen können bei aller Kritik immerhin als literarische Vorübungen für die spätere Autobiographie angesehen werden. 96 Der von Hultberg herausgelesene norwegische Exotismus als Referenz an die verbreitete Begeisterung für die Bergwelt Norwegens findet ihre Verstärkung in und aus der zeitgenössischen Faszination und der intellektuellen Obsession (damit als gelungene Vermarktungsstrategie) für Berge, Felsen, Steine, für Bergwerke und Bergleute – gebündelt in einem Ort: Freiberg. Man kann mit Fug und Recht behaupten, daß es zwischen 1790 und 1810 sehr schwierig gewesen wäre, in einem der Zentren der deutschen Romantik eine Gruppe von Intellektuellen zu versammeln, unter der nicht ein oder zwei Gäste in irgendeiner Weise mit dem Bergbau befaßt gewesen wären. 97
In der Wörter mehrfacher Bedeutung trafen sich in den Bergbauwissenschaften, nicht zuletzt in und um Freiberg, »Geist« und »Natur«; Novalis war Bergwerksinspektor in Freiberg, Alexander von Humboldt studierte dort, Theodor Körner, Franz von Baader, Gotthilf
Sibbern, seit 1813 Professor an der Kopenhagener Universität, war bei Steffens Vorlesungen 1802/03 zugegen gewesen und hatte Steffens auf seiner Bildungsreise durch Deutschland besucht. 94 Eine Anspielung auf Ovids Verbannungsort Tomis am Schwarzen Meer. 95 Poul Martin Møller og hans Familie i Breve. Hg. Morten Borup. 3 Bde. Kopenhagen 1976, Bd. 1, S. 218 f. (meine Übersetzung, BH), im Folgenden Møller-Breve. 96 Hultberg: Den ældre Henrich Steffens, a. a. O., S. 90. 97 Ziolkowski, a. a. O., S. 31. 93
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Heinrich Schubert ebenso, und Steffens’ Schwiegervater, Johann Friedrich Reichardt, hatte sich nach seiner Entlassung vom preußischen Hof nach Halle bzw. Giebichenstein zurückgezogen, wurde Salinendirektor und unterhielt einen angesehenen Salon – sie und viele andere Romantiker wurden zu »Bergaposteln«. 98 »Die vier Norweger« sind von Steffens’ Erfahrungen in Freiberg mitinspiriert; andere Bergwerke, etwa das im schwedischen Falun, waren in den intellektuellen und öffentlichen Debatten präsent. Das Bergwerk wird den Romantikern, wie es bei Hölderlin heißt, zum »Bild der Seele«; 99 dies verarbeitet Steffens in den Novellen und verschafft damit seinem Norwegenbild und der literarischen Konstruktion Evidenz. 100 Heinrich Heine spottet nicht wenig über die Novellen – »viel Scharffsinn und wenig Poesie« 101 –; anmerkungswerter aber ist, dass die Novellen, nicht zuletzt »Die vier Norweger«, intentional Naturwissenschaft und Poesie vereinen: der Naturwissenschaftler ist Poet, der Poet ist Naturwissenschaftler. Heinrich Laube (1806–84), Theologiestudent in Breslau und später Schriftsteller, Mitglied des Paulskirchen-Parlamentes und Direktor des Wiener Burgtheaters erinnert sich: Steffens ist eigentlich ein Professor der freien Künste, und er trägt die Naturgeschichte und Philosophie und das heilige Donnerwetter der Poesie und die Menschenkenntnis, er trägt alles dies vor wie eine freie Kunst, er faselt über alles […]. Bedeutende Poeten wie Heine sprechen ihm die Poesie ab; ich glaube, das rührt von einem Irrtum her: Steffens hat einen belebenden, einen erzeugend poetischen Blick für das Vegetabile, das Halbtote, das Ganztote, er macht den Schnee und die Steine und Berge lebendig, welche sich durch drei enge Druckbogen seiner Novellen erstrecken, aber er hat ein ganz ordinäres, zu unordentliches Auge für die Menschen. 102
Steffens erfuhr viel Zuspruch in Norwegen, wurde in Kopenhagen gefeiert – er war ja auch nicht länger Anwärter auf und Konkurrent für eine Stelle im lokalen akademischen Zirkus. Er war milder geworden, die durchlaufene Biografie, nicht zuletzt sein politisches Engagement haben Eindruck hinterlassen, gleichwohl wird eine Kontinuität
Ebd., S. 31 f., S. 39. Ebd., S. 32. 100 Ebd., S. 47 f. 101 Heine, a. a. O., S. 178. 102 Heinrich Laube: Reisenovellen 1835, in: Aage Jørgensen: Henrich Steffens – en mosaik. (Kopenhagen) 1977, (S. 53–55) S. 54. 98 99
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vermerkt; Møller schreibt 1824 an den romantischen Literaten Bernhard Severin Ingemann (1789–1862): Wie fandest du Steffens? Hier war alle Welt außerordentlich hingerissen von seinem Besuch. Ich habe nie einen Mann gesehen, der, also in der guten Bedeutung, die Leute bei einem Treffen mit ihm so verhexen konnte. Sibbern war wirklich ganz verrückt vor Freude über ihn. Es wäre gut, wenn man ihn dazu bekäme, sich hier im Lande niederzulassen. 103
Møller war es auch, der 1824 eine spaßige Eloge apropos von Steffens’ Besuch in Kopenhagen verfasste: »Gruß an Henrik Steffens«, darin wird dieser (wohl mit einer gewissen Ironie) als »ein Meister im Reich der Gedanken« gehuldigt, der zunächst »mit Mund und Geist« das »leichtfertige Geschlecht der Franken« bekämpft habe, dann »mit dem Stahl in der Hand gegen die aufgerüsteten Knechte Galliens« vorging, und nun schließlich an die heimischen Gestade gelangt sei: »Du wirst Dänemark nicht vergessen, denn wir haben deine Wiege als Pfand«. 104
Nach Berlin! Steffens als Dozent Der als Anhänger der Romantik und damit restaurativer politischer Ideen geltende Kronprinz Friedrich Wilhelm, sprichwörtlich als »Romantiker auf dem Thron Preußens« tituliert, Friedrich Wilhelm IV. (1795/reg. 1840–1861), hat die Berufung Steffens’ nach Berlin befördert, aber erst 1832 mit Erfolg durchgesetzt, damit war schließlich die 21 Jahre währende Warteschleife ans Ende gekommen: Soll doch Steffens bereits auf den Listen 1807 bis 1810 gestanden haben, als Fichte den Zuschlag bei der Gründung der Berliner Universität 1810 erhielt. Der Umzug Steffens’ ist wohl auch deswegen erfolgt, um das politische, das theologische und das akademische Milieu Breslaus zu befrieden. 105 Die Berufung nach Berlin markiert zugleich einen Erfolg des Kronprinzen, der die strenggläubigen Altlutheraner, zu denen Steffens gehörte, gegen seinen Vater Friedrich Wilhelm III. (1770/ reg. 1797–1840) verteidigte, der wiederum für die religiöse Einigungspolitik, die Unierten, eintrat: Der Kronprinz wollte Steffens, Møller-Breve, a. a. O., Bd. 1, S. 98 (meine Übersetzung, BH). Poul Martin Møller: Hilsen til Henrik Steffens. In: Ders.: Efterladte Skrifter. 6 Bde. in 3. Kopenhagen 21848, Bd. 1, S. 95 f. (meine Übersetzung, BH). 105 Vgl. Abelein, a. a. O., S. 225. 103 104
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nach einer intensiven Begegnung mit ihm und gegen das Votum der Fakultät, als Nachfolger Hegels auf den Philosophenstuhl berufen, wegen des Widerstands des mächtigen Kultusministers Karl vom Stein zum Altenstein (1770–1840) wurde aber auch daraus nichts, Steffens aber immerhin als besoldeter Extraordinarius für Naturphilosophie berufen 106 – Breslau hatte damit eine Konfliktperson weniger und Berlin einen Romantiker mehr … Ganz offensichtlich war die Berufung Steffens’ nach Berlin ein berufspolitisches und zugleich ein milieu- und macht-politisches Kalkül im Kosmos der Berliner und der preußischen Bildungs- und Wissenschaftslandschaft, nicht zuletzt also das des Kronprinzen: Hegels Stern war bereits vor seinem Tod 1831 am Sinken, nun bekamen die Hegel-Gegner erwartbaren Zulauf. Der Berufungsakt stellte insofern den »ersten Versuch« dar, »dem Hegelianismus entgegenzutreten und die Romantik an der Universität zu restaurieren«. 107 Nach dem Tod Altensteins 1840 erfolgten weitere Versuche, die schlussendlich in der Berufung des 65jährigen Schelling 1841 gipfelte – nicht auf den Stuhl Hegels (der war mittlerweile besetzt), auch nicht an die Berliner Universität, sondern als lesendes Mitglied an die Akademie der Wissenschaften (seine Professur in München behielt er). Damit waren nicht nur die alten Freunde in Berlin versammelt, es lief auch ein beispielsuchendes Exempel der Universitäts- und Disziplingeschichte ab: Der König wünschte nicht nur den ›ersten Philosophen‹ auf der ›ersten Universität seines Reiches‹ zu sehen, sondern es gelte ›der Drachensaat des Hegelschen Pantheismus, der flachen Vielwisserei und der gesetzlichen Auflösung der häuslichen Zucht‹ entgegenzutreten. Schelling selbst traut sich zu, innerhalb eines Jahres, ›die Hydra des Hegelianismus und alles Sumpfgevögel, das aus der Niederung pantheistischer Denkweise und dem Gestrüpp moralischer und philosophischer Begriffsverwirrung‹ aufgestiegen sei, zu vernichten. 108 Zur Berufung vgl. Gerhardt/Mehring/Rindert, a. a. O., S. 78 ff.; s. a. Heinz-Elmar Tenorth: Eine Universität zu Berlin – Vorgeschichte und Einrichtung. In: Tenorth, a. a. O., Bd. 1 (S. 3–75), S. 65, Anm. 178. Steffens hatte wohl fest mit seiner Berufung 1810 gerechnet und der Nachwelt übermittelt, er stünde in der engeren Wahl – Wilhelm von Humboldt dachte aber anders. 107 Herbert Schnädelbach: Philosophie auf dem Weg von der System- zur Forschungswissenschaft. Oder: Von der Wissenschaftslehre zur Philosophie als Geisteswissenschaft. In: Tenorth, a. a. O., Bd. 4 (S. 151–196), S. 187. 108 Ebd., zum »Zwischenspiel: Schelling« und die Umstände der Berufung Steffens, S. 186–191; vgl. zur Berufung beider auch Werner Tress: Professoren – Der Lehrkör106
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Nicht nur Steffens lauschte der Antrittsvorlesung Schellings am 15. November 1841, es waren in dem hoffnungslos überfüllten Hörsaal u. a. anwesend: Jacob Burckhardt, Friedrich Engels, Arnold Ruge, Søren Kierkegaard, Michail Bakunin. Von manch einem der Zuhörer gibt es Zeugnisse dieses Ereignisses und von den folgenden Vorlesungen sowie der Wirkung der Schelling’schen Mission – sie mündete in eine Katastrophe. Die Enttäuschungen darüber, dass Schelling die Erwartungen nicht erfüllte, sondern Altbekanntes vorlas und wiederholte, machte sich an den Hörerzahlen bemerkbar. Um nicht absehbar vor leeren Reihen zu lesen, bat er schließlich um Lehrbefreiung. 109 Dabei hatte Schelling bei herumreisenden Hörern in München noch einen außergewöhnlich guten Eindruck hinterlassen; der erwähnte Hans Martensen, späterer Bischof von Seeland, überzeugter Hegelianer und ein Reizname für Kierkegaard, erinnert sich später in seinen »Mitteilungen von seinem Leben«, nachdem er 1834 Steffens in Berlin und in München einen uninspirierenden und kaum aufgesuchten Franz von Baader (1765–1841) gehört hatte: Dieser Mann [Schelling] konnte Vorlesungen halten. Sicherlich muss man ihn als einen der größten Dozenten betrachten, den die Universitäten vorzuweisen haben. Es war nicht wie bei Steffens die Ausgießung wie ein Wasserfall. Es war ein ruhig fortschreitender Strom, eine methodisch fortschreitende Entwicklung, Moment nach Moment, während doch eine phantasiereiche Anschauung durchschien und das Ganze trug. 110
Auf diese Rezeption ausführlicher einzugehen, lohnt sich insofern, als damit auch eine Fährte gelegt ist zum Verständnis nicht nur des ersterbenden Interesses an der Romantik und der Naturphilosophie – die übergreifenden Welterklärungslehren verblassten zugunsten der Ausdifferenzierung der Fächer und Disziplinen –, in ihr ist auch ablesbar, wie es Steffens in Berlin erging und warum auch sein Stern sank. Es soll hier daher auch die wenig schmeichelhafte Reaktion Søren Kierkegaards auf Schelling wiedergegeben werden, der als dezidierter Hegelfeind offenbar auch kein Freund des Gegenstrategen per zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. In: Tenorth, a. a. O., Bd. 1 (S. 131–207), S. 194 ff. 109 Vgl. Zur Schelling-Rezeption Gerhardt/Mehring/Rindert, a. a. O., S. 83 ff. 110 Hans Martensen: Af mit Levnet. Meddelelser. Kopenhagen 1882 f., Første Afdeling, S. 148 (meine Übersetzung, BH).
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wurde. Er war am 25. Oktober in Berlin angekommen (u. a. auch wegen dessen Antrittsvorlesung) und wurde Zeuge der Schelling’schen Polemiken gegen den großen Vorgänger Hegel 111: Schelling hat angefangen, aber unter solchem Lärmen und Getöse, Pfeifen und Klopfen an die Fenster, von denjenigen, die nicht mehr hereingekommen sind, vor solch einem zusammengewürfelten Publikum, dass man fast geneigt ist aufzugeben, wenn das fortsetzt […]. Schelling selbst ist zum Anschauen ein äußerst unbedeutender Mann, er sieht aus wie ein Steuereintreiber; im übrigen versprach er die Wissenschaft und uns zugleich mit ihr zu derjenigen Blüte zu verhelfen, die sie lange verdient habe […]. Indessen, ich habe mein Vertrauen in Schelling gesetzt, und werde es unter Lebensgefahr noch einmal versuchen, ihn zu hören. Vielleicht kommt es zum Blühen schon in den ersten Stunden, und dann kann man ja mit Freude sein Leben hingeben. 112
Im Februar des folgenden Jahres urteilt er dann wesentlich schärfer: »Schelling hat mich überhaupt nicht zufriedengestellt.« 113 Wenig später: »Schelling redet grenzenlos dummes Zeug, sowohl in extensivem wie intensivem Sinne« 114, und er schreibt schließlich an seinen Bruder: Schelling redet dummes Zeug nicht zum Aushalten […]. In Berlin habe ich also nichts mehr zu erledigen. Meine Zeit lässt es nicht zu, tropfenweise einzunehmen, wofür ich kaum den Mund aufzumachen brauche, um es mit einem Male zu schlucken. Ich bin zu alt, um Vorlesungen zu hören, wie Schelling zu alt ist, um welche zu halten. Seine Lehre von den Potenzen verrät die höchste Impotenz […]. Ich glaube, ich würde ganz und gar dumm werden, wenn ich weiterhin Schelling hören würde. 115
Kierkegaard würdigt den Professor Steffens 1841 in ähnlich despektierlicher Weise; ihn stieß ab, was andere anzog: Die Straßen (in Berlin, B. H.) sind mir zu breit. Und so ist auch Steffens’ Vortrag. Man kann nicht von der einen Seite auf die andere schauen, nicht 111 Zu Kierkegaard in Berlin s. a.: Bernd Henningsen: Im Zweifel für das Leben – Sozialismus ohne Marx: Die skandinavische Erfolgsgeschichte. In: Volker Gerhardt (Hg.): Marxismus. Versuch einer Bilanz. Berlin 2001, S. 565–588. 112 Breve og aktstykker vedrørende Søren Kierkegaard. Hg. Niels Thulstrup. 2 Bde. Kopenhagen 1954–55 (im Folgenden = Br.), S. 77. (Diese und die folgenden Zitatübersetzungen von mir, BH) – An anderer Stelle: »Schelling sieht so biester aus wie ein Essig-Brauer.« Br. S. 92. 113 Br. S. 106. 114 Br. S. 108. 115 Br. S. 109 f.
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den Überblick über die Vorübergehenden halten, genau wie mit Steffens’ Vortrag; aber das versteht sich, die Vorübergehenden sind außerordentlich interessant, wie Steffens Vortrag. 116
Euphorisch dagegen erinnert sich Karl Rosenkranz (1805–79), Hegelianer immerhin und auch erster Biograf Hegels, an den dozierenden Steffens in Berlin. Es wird deutlich, dass Steffens vor dem Hintergrund des bisher Dargelegten sehr wohl seine politischen, theologischen und philosophischen Ansichten, gelinde gesagt, modifiziert hat – er ist aber noch immer das gleiche Naturell wie in Halle und Kopenhagen, ganz offenbar ein Menschenfischer: Wenn man durch den Flur der Berliner Universität in das Kastanienwäldchen nach hinten hin ausschreitet, so befindet sich zur Linken ein Auditorium, welches amphitheatralisch aufgerichtete Bänke hat und in der Mitte von vier hölzernen Säulen getragen wird […]. Der Saal war gedrängt voll. Der größte Theil der Zuhörer mußte stehen. Als Steffens sich endlich zum Katheder durchgearbeitet hatte, konnte ich ihn die ganze Stunde nicht sehn, weil ich hinter einer jener Säulen gepreßt war. Um so wunderbarer, um so geisterhafter wirkte seine Sprache auf mich ein. So etwas hatte ich noch nicht vernommen. Kraft und Wohlklang der Stimme vermählten sich hier mit einer Fülle der Phantasie, mit einem Reichthum von Kenntnissen, mit einer Frische urlebendigster Erzeugung, daß ich zum höchsten Entzücken fortgerissen wurde. Steffens sprach ganz frei und überließ sich mit völlig naiver Genialität dem begeisterten Drange seiner Gedanken. Ich habe ja viel vortreffliche Lehrer gehabt, aber einen solchen Genuß, wie Steffens, hat mir keiner gewährt. 117
Die Ambivalenz, provoziert durch die Didaktik und das Naturell Steffens’, zieht sich durch so gut wie alle Berichte der Hörer; auf sie sind wir für die Bewertung des Intellektuellen und des Professors angewiesen, weil Steffens keine schriftlichen Vorlesungsnotate hinterlassen hat. Hans Martensen hörte Steffens 1834 während seiner Deutschlandreise in Berlin: Ich hörte Steffens in Naturphilosophie und Anthropologie. Die ersten Stunden waren hinreißend, denn er weckte Ahnungen und Erwartungen über das, was noch kommen sollte; aber als es näher zu den Sachen kommen sollte und die Realitäten sozusagen ausbezahlt, da kamen mir seine Ausführungen sehr vage vor, allzu unbestimmt und schwimmend. Oft konnte
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Br. S. 77. Zit. n. Gerhardt/Mehring/Rindert, a. a. O., S. 80.
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Gelehrter, Intellektueller, Professor
man den Eindruck nicht zurückhalten, dass er unzureichend vorbereitet war und sich mit des Augenblickes Eingebungen behalf. Eine eigentliche Ausbeute, die ich mit Freude zugebe, aus seinen Schriften gezogen zu haben, hatte ich aus diesen Vorlesungen nicht. 118
Da sich diese und ähnliche Bewertungen der Lehrtätigkeit Steffens’ bei denen, die ihn gehört und erlebt hatten, über seine gesamte Dozentenzeit hindurch wiederholen, z. T. mit der gleichen Wortwahl, wird man davon ausgehen können, dass die Attraktion, die er ausübte, nicht mit dem Stoff zusammenhing, sondern mit der Persönlichkeit und ihrem Agieren, sei dies nun sein pädagogischer Eros gewesen oder die Sensationserwartungen bei seinem Publikum; schließlich auch wusste man, welche Themen man von ihm erwarten konnte: Naturphilosophie, Psychologie, Religionsphilosophie und Anthropologie – nie etwas anderes. Ein Beleg für diese These ist die Erinnerung Heinrich Laubes, der über den Dozenten schreibt: […] nur Henrik Steffens redete stürmisch poetische Gedanken über die Philosophie. Henrik Steffens ist ein sehr interessanter Mann. Sein Fehler ist’s nur, dass er mehr sein will […]. Professor Henrik Steffens hatte über Anthropologie gelesen. In dieser Anthropologie fehlten nur die Menschen, aber die Berge, Pflanzen und Steine sprachen wunderbar interessante Dinge. Wie er so dastand, der lange Norweger, mit den irren blauen Augen und der nach Himmel und Erde zeigenden Hand, da dacht’ ich fortwährend an einen alten Druiden […]. Er war eine schöne Erscheinung am Katheder, dieser lang und gerad’ gewachsene Professor. 119
Immerhin, das muss zu den Lebensdaten Steffens’ hinzugefügt werden, war er 1834/35 Rektor der Universität, wurde 1835 Mitglied der Akademie und war anscheinend auch integraler Bestandteil des Berliner akademischen Lebens, nicht zuletzt auch der Berliner Salons 120 – immer auch nahe am preußischen Hof.
118 Martensen, a. a. O., S. 91 (meine Übersetzung, BH). – Steffens las im Wintersemester 1833/34 zur Naturphilosophie viermal wöchentlich und hatte 28 Hörer, die Vorlesung zur Anthropologie hatte 50 Hörer; die angekündigte Vorlesung zur Psychologie hat er ausfallen lassen – »um nicht mit Prof. Schleiermacher zu collidieren« (Schleiermacher starb am 12. Februar 1834). Wolfgang Virmond (Hg.): Die Vorlesungen der Berliner Universität 1810–1834 nach dem deutschen und lateinischen Lektionskatalog sowie den Ministerialakten. Berlin 2011, S. 753 f. 119 Laube, a. a. O., S. 53. 120 Vgl. Hannah Lotte Lund: Die Universität in der Stadt 1810–1840. Geselligkeit – Kultur – Politik. In: Tenorth, a. a. O., Bd. 1 (S. 325–380), S. 356 f.
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Bernd Henningsen
Nachruhm Letzte Ehre zu Lebzeiten war die Einladung zur Salbung des letzten absoluten Monarchen im Norden, Christian VIII. (1786/reg. 1839– 48), 1840 in die Schlosskirche von Fredensborg; Steffens saß mit dem König zu Tisch, Hans Christian Andersen (1805–75) war dabei und weitere Zelebritäten, er wurde hoch dekoriert. Ein Wiedersehen gab es mit Bertel Thorvaldsen, Hans Christian Ørsted, Adam Oehlenschläger, Jacob Peter Mynster, Nikolai Frederik Severin Grundtvig … Steffens erfuhr also eine Art symbolischen Ablass für die erlittene Abfuhr durch den Vorgänger, Frederik VI.; es war zugleich ein symbolischer Ablass des Hofes und der Gesellschaft für die deutsche Naturphilosophie, Steffens war zum Ende seines Lebens loyaler Untertan beider Könige geworden und von diesen auch als solcher anerkannt. Parallel zu den Salbungsfeierlichkeiten hatten die skandinavischen Naturwissenschaftler – in der Erkenntnis, dass nun eine kritische Masse erreicht sei, sowohl was die Personenzahl als auch das internationale Ansehen betrifft – ein Treffen der Nordischen Naturforscher mit 303 Teilnehmern organisiert. 121 Dazu gehörten die Stars der Innung: der Däne Ørsted, der schwedische Chemiker Jöns Jacob Berzelius (1779–1848), der norwegische Astronom Christopher Hansteen (1784–1873) – aber eben auch Steffens, der damit eine symbolische Entschuldigung leistet für seine spekulativen Fehltritte und die Anerkenntnis, dass Ørsted mit seiner Experimentalphysik mehr zum Fortschritt der Naturwissenschaften beigetragen hat als er mit seiner Spekulation. 122 Steffens Karriere endete mithin in großen Ehren. Er starb zu Beginn des Jahres 1845. Das Leichenbegängnis zog am 18. Februar von seiner Wohnung in der Wilhelmstraße zum Dreifaltigkeitsfriedhof in Kreuzberg, Hunderte von Studenten und eine lange Reihe von Kutschen – auch solche des Hofes – folgten bei eisiger Kälte und Schneetreiben dem Leichenwagen. Steffens wurde unweit von Schleiermacher begraben, was zu erwähnen in keiner Hagiografie übergangen wird. Im April hielt Schelling eine öffentliche Vorlesung zum Gedenken an den Freund, bei der der gerne zitierte Satz
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Christensen, a. a. O., Bd. 2, S. 924 ff. Ebd., a. a. O., S. 961–965.
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Gelehrter, Intellektueller, Professor
fiel, dass der 72jährige »in seiner Jugend« gestorben sei. 123 In Dänemark wurden Aufsätze und Gedichte über den Verstorbenen verfasst, in zahlreichen Briefen und Nachlässen sind Erinnerungen an Steffens aufgehoben. Schon in Karl Ludwig Michelets (1801–93) »Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel«, 124 die 1837/38 erschien, wurde Steffens der gleiche philosophische Rang zuerkannt wie Franz von Baader, Friedrich Schlegel und Friedrich Schleiermacher.
Petersen, a. a. O., S. 394 ff. Karl Ludwig Michelet: Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel. 2 Bde. Berlin 1837 f., Bd. 2, S. 505–560. 123 124
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Editorische Notiz Jan Steeger
Der dieser Übersetzung zugrunde liegende Text ist die Erstausgabe der »Einleitung in die philosophischen Vorlesungen« von 1803. 1 Die am Textrand angegebenen Seitenzahlen beziehen sich darauf. Das Originalmanuskript gilt als verschollen. Die Suche verschiedener Steffens-Forscher in dieser Hinsicht blieb bislang erfolglos. Die Erstausgabe sowie die drei darauffolgenden Neuauflagen von 1905, 1967 und 1968 sind fehlerhaft. 2 Erst die Ausgabe von 1996 erfüllt den Anspruch einer textkritischen Edition. 3 Die darin von Johnny Kondrup vorgenommenen Berichtigungen wurden in unserer Übersetzung berücksichtigt. Auch bei den Anmerkungen konnte in vielen Punkten auf die Kondrup-Ausgabe zurückgegriffen werden. Der Beitrag »Henrik Steffens’ Vorlesungen – eine Übersicht« stellt eine erweiterte und übersetzte Version des entsprechenden Textes aus der dänischen Ausgabe von 1996 dar, den uns Johnny Kondrup dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat. Im Gegensatz zu anderen Ausgaben von Steffens’ Texten haben wir uns bei der Übersetzung der »Einleitung« dafür entschieden, die neue deutsche Rechtschreibung zu verwenden – aus mehreren Gründen. Zum einen wollten wir eine größtmögliche Lesbarkeit erzielen, um den Einstieg in diese von Steffens explizit als »Einleitung« titulierten Vorlesungen möglichst niederschwellig zu gestalten. Zum anderen ist Steffens’ Orthographie insbesondere bei diesen Vorlesun1 Henrich Steffens: Indledning til philosophiske Forelæsninger. Kopenhagen 1803. Das Digitalisat ist abrufbar bei Google Books unter https://goo.gl/6Otjzb. 2 Henrik Steffens: Indledning til philosophiske Forelæsninger i København 1803. Kopenhagen und Kristiania 1905. Henrich Steffens: Forelæsninger og fragmenter. Oslo 1967. Henrich Steffens: Indledning til philosophiske Forelæsninger i København 1803. Kopenhagen 1968. 3 Henrich Steffens: Indledning til philosophiske Forelæsninger. Udg. af Johnny Kondrup, Kopenhagen 1996. Digital zugänglich im Arkiv for Dansk Litteratur unter http://goo.gl/epCi53.
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Editorische Notiz
gen sehr uneinheitlich. Diese hätte in einer historisierenden Übersetzung berücksichtigt werden müssen, dem inhaltlich interessierten Leser aber keinen Erkenntnisgewinn gebracht. Dem Text geht durch diesen minimalinvasiven Eingriff semantisch nichts verloren. Eine Ausnahme bilden die Eigennamen. Hier belassen wir in der Übersetzung die von Steffens gewählten Schreibweisen. In den Anmerkungen zu diesen Personen werden dann die heute üblichen Schreibungen verwendet. Steffens’ Zeichensetzung in der »Einleitung« kann nur willkürlich genannt werden. Das ist sicher dem mündlichen Vortrag geschuldet, für den der Text geschrieben wurde, und es ist nicht davon auszugehen, dass das Vorlesungsmanuskript vor der Drucklegung noch einmal einer Korrektur unterzogen wurde. Um jedoch möglichst nah am Original zu bleiben und den mündlichen Charakter des Textes zu erhalten, haben wir die Zeichensetzung, soweit es möglich war, in die Übersetzung übernommen und nur eingegriffen, sofern dadurch die Lesbarkeit zu stark beeinträchtigt worden wäre. Einen besonderen Dank möchten wir an dieser Stelle Professor Dr. Helge Høibraaten aussprechen, der durch viele wertvolle Hinweise und kritische Einwände großen Anteil am Entstehen dieser Übersetzung hat.
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Personenregister
Aall, Anathon 11, 177 Abelein, Werner 16–18, 159, 161 f., 166, 178, 181, 185, 188, 192 Aischylos 108 Altenstein, Karl von Stein zum 193 Ammianus Marcellinus 112, 142 Amor 73 Andersen, Hans Christian 13, 198 Andersen, Vilhelm 10, 174 Andreasen, Uffe 177 Antonius Pius 112, 142 Aristoteles 110 Arndt, Ernst Moritz 183 f., 188 Baader, Franz von 190, 194, 199 Bakunin, Michail 194 Bandle, Oskar 8, 11, 169, 172 Bänsch, Alexandra 174 Bartmuss, Hans-Joachim 186 Begtrup, Holger 16 Bergner, Marit 9, 161 Berzelius, Jöns Jacob 198 Bisky, Jens 183 Bleek, Wilhelm 176 Blücher, Gebhard Leberecht 182–184 Blumenbach, Johann 66, 82, 139 Blunck, Hans Friedrich 17 Boccaccio, Giovanni 119, 142 Boerhave, Hermann 61, 137 Böhme, Jakob 10 Bohr, Niels 14 Bollenbeck, Georg 181 Bonnet, Charles 70, 140 Börne, Ludwig 178 Borup, Morten 190 Brandes, Georg 172 f.
Brennus 115, 142 Brøndsted, Mogens 172 Bruno, Giordano 32, 134, 143 Bruyn, Günter de 7 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 51, 67, 85, 137, 151 Burckhardt, Jacob 194 Burg, Paul 19 Caesar, Gaius Julius 103, 111, 115 Catilina, Lucius Sergius 111 Cato, Marcus Porcius 111 Christensen, Dan Ch. 166, 176–179, 198 Christensen, Erik M. 175 Christian VIII. 198 Cicero, Marcus Tullius 111 Clodius Pulcher, Publius 111 Commodus 112, 142 Condillac, Étienne Bonnot de 67, 139 Correggio, Antonio Allegri 119, 142 Cronstedt, Axel Frederik 47, 136 f. Dahlmann, Friedrich Christoph 175 f. Dante Alighieri 119, 142 Darwin, Charles 11 Demokrit 109 Detering, Heinrich 9, 172, 175 Dio Cassius 112, 142 Diodorus Siculus 121, 143 Dionysios von Halikarnassos 114, 142 Donati, Vitaliano 70, 140
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Personenregister Ebbesen, Sten 160 Eichendorff, Joseph Freiherr von 178, 183 Engelhardt, Dietrich von 9, 19, 160, 164, 179 Engels, Friedrich 188 f., 194 Eriksen, Trond Berg 7 Eschenmayer, Carl August 74, 140 Fabricius, Johann Christian 49 f., 136 Feldbæk, Ole 170 Ferguson, Adam 110, 142 Fichte, Johann Gottlieb 32, 133 f., 136, 166 f., 170, 175, 177, 181, 183, 192 Frandsen, Stehen Bo 175 Frederik VI. 165, 179, 198 Friedrich der Große 168 Friedrich Wilhelm III. 19, 184, 192 Friedrich Wilhelm IV. 176, 192 Frisch, Johann Leonhard 51, 137 Fure, Jorunn Sem 159 Garff, Joakim 159, 188 Gerhardt, Volker 182, 193–196 Glienke, Bernhard 172 Gneisenau, August Neidhardt 183 Goethe, Johann Wolfgang 10–12, 16 f., 122, 133, 151, 155, 164, 166– 170, 174, 179, 184 Gracchus, Gajus und Tiberius Gren, Friedrich Albrecht Carl 95, 141 Grimm, Jacob 16, 181 Grimm, Wilhelm 16, 178, 180 f. Grundtvig, Nikolai Frederik Severin 8, 13, 15 f., 157, 167, 170–172, 198 Guarini, Battista 119, 142 Hadrian 112 Hansteen, Christopher 198 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 16, 133 f., 155, 167, 173, 178, 193–196, 199 Heine, Heinrich 184, 189, 191 Heitmann, Annegret 16, 185 Henningsen, Bernd 7, 13–15, 18, 159, 161 f., 172, 189, 195
Henriksen, Aage 11–13, 15 f., 171 Herder, Johann Gottfried 11, 167 f., 170, 184 Herkules 106 Hermes 121 Herodot 108–110, 115 f., 121 Hesiod 109 Høffding, Harald 14 f., 169, 174, 177 Hofmo, Rolf Halvdan 11 Høirup, Henning 175 Homer 108 f., 154 Höppner, Stefan 13, 189 Hultberg, Helge 14, 18 f., 165, 189 f. Humboldt, Alexander 16, 151, 161, 167, 190 Humboldt, Wilhelm 16, 161, 167, 187, 193 Ibsen, Henrik 162 Ingemann, Bernhard Severin 192 Jacobi, Friedrich Heinrich 33, 134 Jahn, Friedrich Ludwig 161, 183–186 Jesus Christus 12, 116, 154, 166 Jones, Michael 13 Jørgensen, Aage 18, 159, 173–175, 180, 191 Jørgensen, Torstein 188 Jussieu, Antoine Laurent de 49, 136 Kant, Immanuel 51, 133, 176, 199 Kanz, Kai Torsten 164 Keilhau, Baltazar Mathias 166 Kepler, Johannes 55, 91, 137 Kielmeyer, Karl Friedrich 55–57, 60, 149, 164 Kierkegaard, Søren 13 f., 16, 159, 172, 178, 188, 190, 194 f. Klein, Janine 162 Klopstock, Friedrich Gottlieb 175 Koch, Carl Henrik 160, 170, 176 Kondrup, Johnny 10, 16 f., 134, 138, 140 f., 159, 173, 175, 200 Körner, Theodor 183 f., 190 Korsgaard, Ove 172, 174 Kotzebue, August von 186 Kragh, Helge 177
210 https://doi.org/10.5771/9783495814932 .
Personenregister Kristjánsson, Jónas 8 Kronos 121
Newton, Isaac 36, 91, 136, 141 Niobe 106, 141 Novalis 13, 167, 190
Lagerroth, Erland 11 Laokoon 106, 141 Laursen, Hanne Roswall 16, 185 Lavater, Johann Caspar 175 Le Sage, Georges-Louis 92, 141 Leonardo da Vinci 119, 142 Linné, Carl von 47, 50–51, 136 f., 139, 148 Livius, Titus 112 Lorenz, Otto 7, 15, 18, 172, 188 f. Lüdtke, Torsten 183 Ludwig XVI. 165 Lund, Hannah Lotte 197 Lundgren-Nielsen, Fleming 7, 15 Luther, Martin 103, 165 Lyonet, Pierre 64 f., 139 Mangili, Guiseppe 62, 139 Marcus Aurelius 112, 142 Marius, Gaius 111 Martensen, Hans Lassen 173, 194, 196 f. Martus, Steffen 181 Marx, Karl 16, 188 f., 195 Matussek, Peter 179 Mehring, Reinhard 182, 193 f., 196 Meyer-Abich, Klaus-Michael 17 f. Michelangelo Buonarroti 119, 142 Michelet, Karl Ludwig 199 Michelsen, William 167 Møller, Ingeborg 18 Møller, Poul Martin 14, 177, 190, 192 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat 110, 142 Müller, Otto Frederik 61, 138 Munch, Edvard 9, 11 Müssener, Helmut 162 Mynster, Jacob Peter 139, 198 Nansen, Fridtjof 11 Napoleon 17, 19, 161, 163–165, 175, 179, 182, 184 f. Næss, Arne 11 f. Nero 111–112, 116
Oehlenschläger, Adam 8 f., 13, 157, 159, 170, 172–174, 177 f., 178, 180, 198 Oesterle, Günter 16, 185 Olwig, Kenneth R. 13 Ørsted, Anders Sandøe 177 Ørsted, Hans Christian 13, 166, 174– 178, 198 Ovidius Naso, Publius 110 Paracelsus 10 Pascal, Blaise 120 Paul, Fritz 18, 167, 169, 175 Peters, George F. 17 Petersen, Richard 16, 18, 199 Petrarca, Francesco 119, 142 Platon 109, 122–123, 141 Plotin 123 Poppelbaum, Hermann 17 Presciani, Giovanni 62, 138 Psyche 73 Ptolemaios, Klaudios 93 Pythagoras 109 Rahbek, Kamma 159, 162, 173, 180 Rahbek, Knut Lyne 162 Raphael (Raffaello Sanzio) 119, 142 Rathke, Jens 62, 139 Reichardt, Johann Friedrich 168, 191 Reichardt, Johanna 168 Reimarus, Hermann Samuel 67, 139 Rindert, Jana 182, 193 f., 196 Rosenkranz, Karl 196 Rousseau, Jean-Jacques 120, 133 Ruge, Arnold 194 Sagmo, Ivar 189 Sand, Karl Ludwig 186 Scavenius, Bente 15, 176 f. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 8, 11, 13 f., 16 f., 19 f., 33, 65, 67, 69, 93 f., 133 f., 136–140, 145, 149 f.,
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Personenregister 150, 153, 166 f., 169, 174, 177 f., 181, 193–195, 198 Schiller, Friedrich 16, 19, 167, 169, 175 f., 184 Schimmelmann, Heinrich Carl Graf von 166, 175, 179 f. Schlegel, August Wilhelm 16 Schlegel, Friedrich 16, 167, 199 Schleiermacher, Friedrich 13, 16, 167, 176, 178, 181, 183, 197–199 Schnädelbach, Herbert 193 Schubert, Gotthilf Heinrich 13, 189, 191 Seneca, Lucius Annaeus 111 Sibbern, Freederik Christian 14, 190, 192 Skarstad, Torleif 18, 188 Slagstad, Rune 11 f., 166 Smeathman, Henry 68, 139 Söderlind, Solfried 162 Sokrates 107, 122, 141 Sophokles 108 Sørensen, Anne Scott 162, 175 Spinoza, Baruch de 11, 33, 123, 134, 147 Staël, Anne Germaine de 160 Steiner, Rudolf 17 f. Stevnsborg, Henrik 166 Struensee, Johann Friedrich 162 Stybe, Svend Erik 173 Sulla, Lucius Cornelius 111 Swammerdam, Jan 64, 139
Thorarensen, Bjarni 8 Thorvaldsen, Bertel 15, 198 Thulstrup, Niels 195 Tieck, Ludwig 16, 167, 188 Titus 112 Trajan 112 f. Treschow, Niels 15 Tress, Werner 193
Tacitus, Publius Cornelius 112 Tegnér, Esaias 9 Tenorth, Heinz-Elmar 183, 193 f., 197 Thomsen, Ejnar 174
Zimmerli, Walther Ch. 19 Ziolkowski, Theodore 167 f., 178, 190 Zosimos 112, 142
Uecker, Heiko 7 Ulfkotte, Josef 186 Vanini, Lucilio 32, 134 Varnhagen von Ense, Karl August 178 Vedel, Valdemar 171 f. Venus 106 Vergilius Maro, Publius 110 Vespasian 112 Vigeland, Gustav 11 Virmond, Wolfgang 16, 197 Voltaire, François de 122, 172 Waschnitius, Viktor 18 Wehler, Hans-Ulrich 187 Wergeland, Henrik 159 Werner, Abraham Gottlob 47, 53, 55– 57, 77, 79, 81, 87 f., 136, 150 f. Winckelmann, Johann Joachim 122, 143, 155 Wolf, F. D. 179 Wolf, Friedrich August 108, 142
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Henrich Steffens
Was ich erlebte Der Naturphilosoph und Schrift steller Henrich Steffens (1773–1845) wurde in Norwegen geboren, wuchs in Dänemark auf und verbrachte viele seiner prägenden Jahre in Deutsch land. Seine zehnbändige Autobio graphie Was ich erlebte ist ein lite rarisches wie zeitgeschichtliches Dokument ersten Ranges, das neben Goethes Dichtung und Wahrheit und Varnhagen von Enses Denkwürdigkeiten bestehen kann.
Wir legen, zum ersten Mal seit dem Erstdruck 1840 bis 1844, eine voll ständige Neuedition vor. Die zehn Bände sollen im Laufe der Jahre 2014 bis 2017 erscheinen und durch einen Zusatzband mit Einleitung, Kom mentar und Register erschlossen werden. Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Bernd Henningsen Band 1 (1840) | Klappenbroschur, 249 Seiten | € 16,90 ISBN 978-3-944720-03-6 Band 2 (1840) | Klappenbroschur, 200 Seiten | € 16,90 ISBN 978-3-944720-04-3 Band 3 (1840) | Klappenbroschur, 209 Seiten | € 16,90 ISBN 978-3-944720-14-2 Band 4 (1841) | Klappenbroschur, ca. 200 Seiten | € 16,90 ISBN 978-3-944720-85-2 (Winter 2015/2016) Band 5 (1842) | Klappenbroschur, ca. 200 Seiten | € 16,90 ISBN 978-3-944720-86-9 (Winter 2015/2016) Golkonda Verlag | Charlottenstr. 36 | 12683 Berlin-Biesdorf www.golkonda-verlag.de
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